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German Pages 532 [536] Year 2021
Ion Tănăsescu Psychologie, Seiendes, Phantasie bei Franz Brentano
Ion Tănăsescu
Psychologie, Seiendes, Phantasie bei Franz Brentano
Gedruckt mit Unterstützung durch die Rumänische Nationale Behörde für wissenschaftliche Forschung, CNCS-UEFISCDI, Projektnummer PN-II-ID-PCE-2011-3-0661.
ISBN 978-3-11-052378-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-052455-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-052399-7 Library of Congress Control Number: 2021938007 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Printing and binding: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Meinen Eltern und Vlad
Vorwort Die in diesem Band zusammengestellten Arbeiten beschäftigen sich mit der Rolle, die Brentanos Denken für die Entstehung von Heideggers Seinsfrage und Husserls Auffassung von der deskriptiven Psychologie und Vorstellung der Phantasie gespielt hat. Im ersten Teil analysiere ich ausführlich die kategorialen und veritativen Bedeutungen des Seienden in Brentanos Dissertation und die Art und Weise, in der Heidegger diese Fragen rezipierte. Dabei ist es für mich wichtig, auf die folgende Unterscheidung aufmerksam zu machen: Während sich Heideggers Analyse des kategorialen Seienden und der vierfachen Bedeutung des Seienden bei Aristoteles mit Brentanos Ausführungen darüber in seiner Dissertation klar verbinden lassen, ist es schwierig, einen Hinweis dafür zu finden, dass Brentanos Behandlung des veritativen Seienden in seiner ersten Schrift eine Rolle für Heideggers Erörterung über dasselbe Problem hatte. Auch wenn das Sein der Kopula ein zentrales Thema von Brentanos Ausführungen über das Seiende als Wahres bei Aristoteles ausmacht und ein ganzes Kapitel in Heideggers Grundprobleme der Phänomenologie ausgerechnet den Titel „Das Sein der Kopula“ trägt, wird Brentano von Heidegger mit keinem Wort erwähnt. Ich interpretiere dies als Zeichen dafür, dass angesichts dieses Problems die beiden jungen Denker noch anfangs zwei grundverschiedene metaphysische Positionen bezogen haben. Hinzu kommt, dass Brentano die Frage nach der Homonymie des Seins weit über Aristoteles hinaus in die mittelalterliche Richtung des „bloß objectiv im Geiste Existirenden“ entwickelte, eine Richtung, die bei Heidegger nicht zu finden ist und die darauf hinweist, dass er sowohl unter dem Einfluss von Thomas von Aquin als auch der neuscholastischen Literatur seiner Zeit steht. In diesem Zusammenhang argumentiere ich einerseits, dass die Eigenart von Brentanos Erörterung darin besteht, dass er auf der Grundlage seiner Dissertation die Unterscheidung zwischen „objectiven“ und realen Begriffen (die Thomas nicht kennt) trifft und dass es bei ihm kein kausales Verhältnis zwischen dem kategorialen und dem veritativen Seienden gibt (wie dies bei Thomas der Fall ist). Andererseits zeige ich, dass sich die „als wahr behaupteten“ Sätze, die für Brentanos Erklärung über das Sein der Kopula zentral sind, unter dem Gesichtspunkt des Grundgedankens seiner Deduktion der aristotelischen Kategorien interpretieren lassen: Die Prädikationsweise folge der Existenzweise der akzidentellen Kategorien in der ersten Substanz. Letzten Endes liegt eine weitere entscheidende Idee des ersten Teils der Arbeit darin, dass Aristoteles’ Ausführungen über die kategorialen und nichtkategorialen Facetten der Homonymie des Seins in Met. IV 2, 1003 b 5 – 10 als eine wichtige geschichtliche Quelle zwei zentraler Themen der frühen Phänomenologie inter-
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pretiert werden können. Zum einen führt Husserls Intentionalitätsbegriff mittels Brentanos Erörterungen über den Begriff „objectiv“ und die „intentionale Inexistenz“ in der Psychologie vom empirischen Standpunkt (im Folgenden Psychologie) zur mittelalterlichen Debatte um die entia rationis und die affirmativen Aussagen über Negationen und Privationen, die sich mit der aristotelischen Äußerung über das Nichtseiende, das ein Nichtseiendes sei (Met. IV 2, 1003 b 9 – 10), verbinden lassen. Zum anderen geht Heideggers Analyse der Seinsfrage mittels Brentanos Behandlung des kategorialen Seienden in seiner Dissertation zu Thomas’ Kommentar zu Met. V 7, 1017 a 22– 30 und von hier aus zu den kategorialen Facetten der Homonymie des Seins in Met. IV 2, 1003 b 5 – 8 zurück. Im zweiten Teil der Arbeit schlage ich einen eigenen Weg in der Interpretation von Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt ein, indem ich versuche sie kohärent und bis zum Ende als einen Beitrag zur positiven Philosophie im Sinne von A. Comte und J. St. Mill zu erörtern. Dabei ist mir wichtig zu betonen, dass, auch wenn sich Brentano explizit dem Programm der positiven Wissenschaft verschreibt, seine Psychologie eine unbestreitbar metaphysische Dimension aufweist: die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele, ohne die sie nicht verstanden werden kann. Damit kommt ein wichtiges Merkmal von Brentanos Denkweise zur Sprache, das mit seiner Strategie zur Erneuerung der Philosophie eng gebunden ist: Im Unterschied zu Comte, der die metaphysische Tradition ständig kritisiert und beiseite lässt, um eine positive Philosophie aufgrund der fundamentalen positiven Wissenschaften zu etablieren, möchte Brentano die Philosophie erneuern, indem er die Verwendung der induktiven, empirischen Methode auf philosophischem Gebiet mit der Rückkehr zu den wichtigsten Momenten der aufsteigenden Phasen der metaphysischen Tradition (z. B. Aristoteles) zu verbinden sucht. Vor diesem Hintergrund besteht eine zentrale Idee meiner Arbeit darin, dass das „rein theoretische Interesse“ Brentanos, das von den Autoren, die Brentano vorwiegend für einen Exponenten einer wissenschaftlichen Philosophie halten, hoch geschätzt wird, wesentliche metaphysische Komponenten zeigt: Seine Ausführungen im Vortrag über die vier Phasen der Philosophie beweisen, dass es ihm dabei nicht um die moderne, naturwissenschaftliche Auffassung von theoretischem Interesse geht, die die Suche nach den metaphysischen Ursachen der Dinge ausklammert, um sich positiv auf die Phänomene und ihre Gesetze zu fokussieren. Im Gegenteil, Aristoteles folgend schließt das rein theoretische Interesse Brentanos die metaphysische Suche nach der ersten Ursache der Welt – Gott – zweifelsohne mit ein. Mit anderen Worten: Eine wissenschaftliche Philosophie, die ohne die Gottes- und Unsterblichkeitsfrage auskommt, verdient Brentanos Meinung nach nicht diesen Namen, sondern stellt als ein übertriebener Empirismus höchstens eine Form des zweiten Verfallsstadiums der Philosophie, des Skeptizismus, dar, wie dies bei Comte und Mill der Fall ist.
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Ist die These über die metaphysische Dimension von Brentanos Philosophie und Psychologie einmal festgelegt, lassen sich vier Argumente vorlegen, die für die Zugehörigkeit der Psychologie vom empirischen Standpunkt zur positiven Philosophie des 19. Jahrhunderts sprechen: 1. 2. 3. 4.
die allgemeine Auffassung von den Zielen der wissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnis; die Ziele von Brentanos Psychologie; die Rolle, die Comtes Stufenleiter der Wissenschaften für den Aufbau der Psychologie spielt; die methodischen Momente derselben Schrift.
Die Aufzählung weist darauf hin, dass von beiden 1874 veröffentlichten Büchern der Psychologie das erste Buch über die psychische Wissenschaft für die eben aufgestellten Thesen besonders wichtig ist. Damit unterscheidet sich die hier vorgeschlagene Interpretation fast von allen anderen Arbeiten über diese Schrift, die die Rezeptionslinie von Brentanos Schülern, z. B. Husserls, weiterführen, das Augenmerk auf das zweite, der philosophy of mind gewidmete Buch legen, die methodischen Überlegungen des ersten Buches außer Acht lassen und sie nur als von geschichtlichem Interesse betrachten. Meiner Meinung nach sind aber ausgerechnet diese Überlegungen für die Interpretation der Psychologie vom empirischen Standpunkt von Bedeutung, weil sie die Richtung und die Ziele festlegen, welche die im zweiten Buch durchgeführten Untersuchungen umsetzen sollten: Die Erörterung über die Eigentümlichkeiten und Grundklassen psychischer Erscheinungen des zweiten Buches bilden die Grundlage zur Etablierung von Brentanos Psychologie als positiver Wissenschaft, d. h. zur Auffindung der Gesetze der Sukzession und Koexistenz psychischer Zustände und der letzten psychischen Grundgesetze, die genau wie bei Comte und Mill das Gebäude der psychischen Wissenschaft absichern sollen. Wie bereits angedeutet, ist die Unsterblichkeitsfrage in diesen Rahmen eingebettet. Die von Robin Rollinger bereits 2012 veröffentlichten Inhaltsverzeichnisse der nicht erschienenen Bücher der Psychologie beweisen klar, dass Brentano das Problem der Entdeckung der genannten Gesetze und damit einhergehend die Begründung einer empirischen Psychologie nach dem Maßstab der positiven Wissenschaft bei Comte und Mill sehr ernst nimmt. Die wichtigste Schwierigkeit, auf die er auf dem Weg zur Verwirklichung seiner Absicht stößt, besteht im unzureichenden Entwicklungsstand der Physiologie seiner Zeit und in den Konsequenzen, die sich daraus für seine Psychologie als letztes Glied von Comtes Skala der Wissenschaften ergeben: Die Psychologie konnte ihre positiven Aufgaben – die Entdeckung der Gesetze der psychischen Sukzession und der letzten Grundgesetze – nicht erfüllen, solange
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die Physiologie noch weit davon entfernt war, die Erkenntnisse zur Verfügung stellen zu können, die zur Formulierung dieser Gesetze nötig waren. Ich glaube, dass dies einer der wichtigsten Gründe war, weswegen Brentano in den folgenden Jahren einen Ausweg darin suchte und fand, die psychologische Forschung von den Zwängen zu befreien, die sich aus der Einbettung seiner Psychologie in Comtes Stufenleiter der Wissenschaften ergeben. Bekanntlich trägt Brentanos Lösung zu diesem Problem den Titel „deskriptive Psychologie“, „Psychognosie“ oder „beschreibende Phänomenologie“. Es geht dabei um eine Disziplin, die sich nicht weiter mit der Ergründung der Gesetze psychischer Sukzession beschäftigt – das wird von nun an der genetischen Psychologie zugewiesen –, sondern mit der Analyse der Teile des menschlichen Bewusstseins und mit deren empirischen und apodiktischen Verbindungsweisen. Auch wenn es in der Psychologie Ausführungen gibt, die in diese Richtung führen, und die deskriptive Psychologie als eine Weiterentwicklung der empirischen Psychologie verstanden werden kann, die die Probleme löst, die sich aus den in der Arbeit von 1874 vorgeschlagenen Thesen ergeben, sollte dennoch von vornherein betont werden, dass Brentanos empirische Psychologie gegenüber seiner Psychognosie ein eigenständiges Projekt ist, dessen Ziele und methodische Schritte von denen der Psychognosie grundverschieden sind. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, führe ich weiter drei Argumente dafür an: 1.
2.
3.
Die empirische Psychologie ist keine Mereologie, d. h. keine Theorie des psychischen Teils und Ganzen wie die deskriptive Psychologie. Die erste ist auf eine dreiteilige Klassifikation der psychischen Phänomene aufgebaut, welche weiter in drei unterschiedlichen Weisen der Beziehung auf das Objekt gründet. Dagegen ist die deskriptive Psychologie auf das Kriterium der einseitigen oder wechselseitigen Abtrennbarkeit psychischer Teile gegründet, welche in eine zweiteilige Klassifikation der psychischen Akte mündet: die grundlegenden und die supraponierten Akte. Die empirische Psychologie kennt noch nicht das methodische Moment des Bemerkens und stellt noch nicht die Frage nach der Klärung der Teile, die in der evidenten inneren Wahrnehmung implizit wahrgenommen werden. Auch wenn es im unveröffentlichten Manuskript des dritten Buches der Psychologie ein paar Hinweise gibt, die sich unter diesem Gesichtspunkt interpretieren lassen, ist Brentano zu jener Zeit noch weit davon entfernt, die Verdeutlichung der impliziten Inhalte der inneren Wahrnehmung als zentrales Thema der psychologischen Analyse zu betrachten. In der 1874 veröffentlichten Arbeit spielen die aus dem Begriff entspringenden Erkenntnisse (die Axiome) noch keine Rolle zur Sicherung der Grundlage von Brentanos Psychologie und werden auch nicht in den methodischen
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Kapiteln seiner Arbeit behandelt. Die Inhaltsverzeichnisse der unveröffentlichten Bücher der Psychologie über die Urteile und Gemütsbewegungen zeigen trotzdem, dass Brentano beabsichtigte, dieses Problem darin anzuschneiden. Allerdings lässt sich meine These auch unter diesen Umständen weiter verteidigen, weil Brentano in der deskriptiven Psychologie von Anfang an die Axiome in die Diskussion einführt, diese Erkenntnisweise als selbstständiges methodisches Moment der Psychognosie ansieht und sie im methodischen Kapitel „Induktive Verallgemeinerung“ abseits der Induktion im engeren Sinn als eine der wichtigsten Quellen psychognostischen Wissens betrachtet. Die Konsequenz daraus ist, dass man mit dem heutzutage so weit verbreiteten Vorurteil, Brentanos empirische Psychologie wäre eine deskriptive Psychologie, gründlich aufräumen muss, da beide Psychologien trotz ihrer Gemeinsamkeiten so tiefergreifende Differenzen aufweisen, dass sie nicht übersehen werden können: Auch wenn die Psychognosie insofern als Weiterentwicklung von Brentanos empirischer Psychologie betrachtet werden kann, als sie Probleme erklärt, die sich aus der Komplexität des psychischen Aktes ergeben, ist sie weder eine empirische Psychologie im Sinne der Arbeit von 1874 noch lässt sie sich als eine Abteilung derselben betrachten. Der Grund dafür besteht darin, dass die Psychologie vom empirischen Standpunkt noch keine Mereologie ist und noch nicht das Moment des Bemerkens kennt. Darüber hinaus ist sie auf dem induktiv-deduktiven Modell von Mills Begriffs der positiven Wissenschaft aufgebaut. Ein weiterer wichtiger Punkt ist der folgende: Die Fokussierung auf das erste methodische Buch der Psychologie ermöglicht, dass Brentano weder als Vertreter der heutigen philosophy of mind noch als Exponent der aristotelisch-scholastischen Tradition, sondern explizit als Philosoph des 19. Jahrhunderts behandelt wird. Inspiriert von den Arbeiten Robert Scharffs und Fred Wilsons über die innere Beobachtung und Psychologie bei Comte und Mill, verfolge ich dieses Problem weit über die Grenze hinaus, bis zu der es bis jetzt behandelt wurde, indem ich Brentanos Auffassung der inneren Wahrnehmung durch ständige Bezugnahmen auf Comte, St. Mill, Cardaillac, Hamilton, Maudsley und Horwicz berücksichtige. Damit wird deutlich, wie tief Brentanos Analyse des inneren Bewusstseins in die Debatte des 19. Jahrhunderts über den richtigen Weg zur Erkenntnis des mentalen Lebens verankert ist: Der Position der letztgenannten Autoren, das Selbstbewusstsein oder die innere Beobachtung sei zwar schwierig, aber trotzdem möglich, widerspricht Comtes (und ihm folgend Brentanos) These, die unmittelbare Erkenntnis des mentalen Lebens anhand innerer Beobachtung sei unmöglich. Auf diese Weise wird gleichfalls deutlich, dass J. St. Mills Erklärungen über die Wissenschaft der menschlichen Natur und die Psychologie tieferen Einfluss
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auf wichtige Thesen der Psychologie hinsichtlich ihres Status und ihrer Methode ausgeübt haben, als bis jetzt angenommen wurde. Hier zeichnet sich ein Weg ab, auf dem diese Arbeit nur wenige Schritte macht und der weiter zu verfolgen ist, um Brentanos Position in der Philosophie des 19. Jahrhunderts mit Bezug auf die positive Philosophie von Comte und J. St. Mill angemessen beurteilen zu können. Im letzten Teil der Arbeit wird das Problem der uneigentlichen Phantasievorstellung in Brentanos Vorlesung Ausgewählte Fragen aus Psychologie und Ästhetik (1885/86) und ihr Einfluss auf Husserl behandelt. Die zentralen Thesen dieses Teils sind die folgenden: (i) Brentanos Begriffe mit anschaulichem Kern bzw. die uneigentlichen Phantasievorstellungen sind Begriffe, die aus den Anschauungen gewonnen werden; (ii) Brentanos Analyse der Phantasievorstellung hat keinen ästhetischen, sondern einen psychologischen Ansatz; (iii) Auch wenn die Vorlesung von 1885/86 der früheste Text ist, der bis jetzt veröffentlicht wurde, in dem genau zwischen der erklärenden oder genetischen und der beschreibenden oder deskriptiven Psychologie unterschieden wird und auch wenn Brentano als deskriptiver Psychologe besonders bekannt ist, behandelt er die Phantasievorstellung in seiner Vorlesung nicht nur deskriptiv, sondern sowohl deskriptiv als auch genetisch; (iv) Husserl hat Brentanos Auffassung der Phantasie auf der Ebene der anschaulichen Phantasievorstellung weiterentwickelt und gehört zu den wenigen Interpreten, die genau erfasst haben, was Begriffe mit anschaulichem Kern bei Brentano bedeuten und worin der Schwerpunkt von Brentanos Analyse liegt. Aus all diesen Gründen lässt sich dieser Teil der Arbeit als eine Weiterführung der Fragestellung des zweiten Teils auf der Ebene der Phantasievorstellung betrachten, währen die Verbindung zwischen den beiden ersten Teilen eher lose ist, weil der erste Teil Brentanos metaphysische, scholastisch geprägte Lehre von den Kategorien und die neuscholastische (katholische) Dimension seines frühen Denkens stark in den Mittelpunkt rückt. Auch wenn die Ausführungen über das Sein der Kopula in der Metaphysikvorlesung zu zentralen Thesen seiner Psychologie, z. B. seiner Urteilstheorie, führt, können die beiden ersten Teile unabhängig voneinander gelesen werden. Da ich im Laufe der Zeit feststellte, dass es kaum eine Arbeit gibt, die den Einfluss Brentanos sowohl auf Heidegger als auch auf Husserl anschneidet, möchte ich diesbezüglich einige Bemerkungen anbringen. Auch wenn sie als Ablenkung von Thema empfunden werden könnten, bin ich davon überzeugt, dass sie etwas zum Ausdruck bringen, das wohl nicht nur für mich, sondern auch für andere Autoren, die in den ehemaligen sozialistischen Ländern ausgebildet worden sind, gültig ist. Darüber hinaus könnten sie diejenigen Leser, die eine solche geschichtliche Erfahrung nicht erlebt haben, auf wesentliche Unterschiede im Verständnis der Philosophie, das in solche Erfahrungen einbezogen ist, hinweisen.
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In Rumänien stellte die geschichtliche Forschung in der Philosophie vor 1989 eine der wichtigsten Facetten der philosophischen Praxis dar. Das steht unter anderen damit in Verbindung, dass die öffentliche Äußerung freien Denkens über Jahrzehnte verboten war. Es ist daher kein Wunder, dass bedeutsame Philosophen, die vor 1945 tätig waren, sich in der Zeit danach der Übersetzungstätigkeit oder geschichtlichen Studien zuwandten und ihre eigenen Arbeiten erst Jahre nach ihrem Tod veröffentlicht wurden. Die vorliegende Arbeit ist unter diesem Gesichtspunkt in zweierlei Hinsicht relevant, da auf ihrer Grundlage meine ersten Versuche stehen, dem rumänischen Publikum einen Philosophen näherzubringen, der ihm nur sehr allgemein bekannt war. Darüber hinaus beruht sie gleichfalls auf der Überzeugung, dass die geschichtliche Forschung eine entscheidende Form der philosophischen Tätigkeit ist. Diese Überzeugung geht auf die Vorlesungen über die antike und zeitgenössische Philosophie meiner ehemaligen Professoren Gheorghe Vlăduțescu und Alexandru Boboc † zurück. Die Ernsthaftigkeit und die Leidenschaft, mit denen Gheorghe Vlăduțescu die Seinsfrage bei den alten Griechen behandelte, hinterließen einen starken Eindruck bei seinen Studenten. Darüber hinaus prägten Alexandru Bobocs Vorlesungen über die Seins- und Intentionalitätsfrage bei Brentano, Heidegger und Husserl und seine Übersetzungen aus Husserls programmatischen Schriften nachhaltig mein Interesse für die Rolle, die Brentanos Denken für die Entstehung der Seinsfrage bei Heidegger und den Intentionalitätsgedanken bei Husserl spielte. Die Übersetzungen von Brentanos Dissertation und von Husserls fünfter Logischen Untersuchung, die ich später durchführte, rühren von diesem Interesse her. Hinzu kommt, dass 1983 Gabriel Liiceanus Das Tagebuch von Păltiniș erschien, in dem das kulturell-philosophische Programm von Constantin Noica eine ausführliche Beschreibung erfährt. Noica, der eng mit Mircea Eliade und Emil Cioran befreundet war, wurde für viele Jahre in die Provinz verbannt und danach wegen Verdacht auf Umsturzideen von der kommunistischen Regierung inhaftiert. Nach seiner Freilassung und Tätigkeit beim Zentrum für Logik der Rumänischen Akademie zog er 1975 von Bukarest nach Păltiniș bei Hermannstadt in Siebenbürgen zurück, um sein philosophisches Hauptwerk Das Werden zum Sein auszuführen. Dort wurde er regelmäßig von seinen Kronschülern Gabriel Liiceanu und Andrei Pleșu besucht, die unter Noicas Führung seinem philosophischen Programm folgten. Im Grunde genommen war dieses Programm eine Art kulturellphilosophisches Training, dessen Hauptidee darin bestand, dass man, um originell denken zu können, Altgriechisch, Latein und Deutsch lernen und die wichtigsten Philosophen (unter ihnen Platon, Aristoteles, Descartes, Kant, Hegel) im Original und vollständig lesen müsse. Der 1983 erschienene Band beschreibt die Art und Weise, in der die philosophischen Gespräche zwischen Noica und seinen Schülern erfolgten und in der ihre Bildung gemäß Noicas paideischem Modell
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ablief. Das Buch wurde ein Bestseller und hatte eine gewaltige Wirkung nicht nur auf die philosophischen Kreise, sondern weit über sie hinaus auch auf Schriftsteller, Ingenieure, Ärzte oder Anwälte, die sich alle auf den Weg nach Păltiniș machten, um ihre kulturelle Erlösung über die von Noica vorgeschriebene philosophische Therapie zu erhalten. Auch wenn die meisten Vorlesungen, die ich und meine Kollegen damals besuchten, weit davon entfern waren, einen ideologischen Charakter zu haben, hat uns doch keine von ihnen klar darauf hingewiesen, dass ein ernsthaftes Studium der Philosophie nicht möglich ist, ohne die Texte im Original zu lesen. Aus diesem Grund versuchten viele von den damaligen Studenten Noicas Anforderung nachzukommen, indem sie Altgriechisch oder Deutsch zu lernen begannen. Ich selbst versuchte mehrmals teils als Autodidakt, teils mit qualifizierter Hilfe Noicas Programm zu folgen, aber wegen mangelnder Kontinuität verzichtete ich letzten Endes auf das Studium der klassischen Sprachen und begrenzte mich aufs Deutsche. Dies und mein ursprüngliches Interesse an der Rolle, die Brentanos Denken für die Entstehung von Heideggers und Husserls Philosophie spielte, steht im Hintergrund dieses Bandes. Der einzige Gedanke, der mich über die Jahre beim Studium dieser Problematik leitete, war, eine Interpretation der angesprochenen Probleme anzubieten, die in Brentanos Schriften so wenigen Stellen wie möglich widerspricht. Angesichts der Meinungsverschiedenheiten über die weiter behandelten Fragen und der Vieldeutigkeit und Tiefe von Brentanos Denken bleibt mir nur zu hoffen, dass ich dieser Anforderung nicht allzu oft nicht entsprach. Abschließend möchte ich mich bei all denjenigen herzlich bedanken, ohne deren Hilfe diese Arbeit nicht entstanden wäre: Rudolf Haller †, der mein Interesse für die Philosophie Brentanos und seiner Schule anregte und weiter unterstützte. Wilhelm Baumgartner, der mir das Manuskript von Brentanos Metaphysikvorlesung zur Verfügung stellte und im Laufe der Zeit in unterschiedlicher Weise die Beschäftigung mit Brentanos Philosophie erleichterte. Johannes Brandl, der mir die Möglichkeit bot, fast zwei Jahre im hoch-qualifizierten Milieu des Fachbereichs Philosophie an der KGW Fakultät der Universität Salzburg zu arbeiten. Klaus Hedwig, der sich ständig Zeit nahm, meine Fragen über Brentanos Philosophie zu beantworten, mir großzügig seine Fachbibliothek schenkte, und dessen Abhandlungen mich über die Jahre faszinierten und anspornten, Brentanos Philosophie weiter zu studieren. Franco Volpi †, der so freundlich war, meine ersten Arbeiten über Brentano und Heidegger zu lesen, und mich zur weiteren Vertiefung des Themas ermunterte. Robin Rollinger für die Großzügigkeit, mit der er mir das von ihm transkribierte Manuskript der Fortsetzung des zweiten und des dritten Buches von Brentanos Psychologie zur Verfügung stellte. Ulrich Melle und Thomas Vongehr dafür, dass sie mir mehrere Studienaufenthalte am Husserl-Archiv Leu-
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ven ermöglicht haben. Alexandru Surdu †, Leiter des philosophischen und psychologischen Instituts der Rumänischen Akademie, wo ich tätig bin, für die Beharrlichkeit, mit der er die geschichtliche Richtung der Forschung im Institut bewahrte.¹ Alexandru Bejinariu, Andreea Eșanu, Bianca Savu, Constantin Stoenescu und Oana Vasilescu, meinen Mitarbeitern an dem Projekt „Brentano – Comte – Mill: The Idea of Philosophy and Psychology as Science“, deren Bemerkungen, Fragen und Einwände anlässlich der wöchentlichen Lektüre des ersten Buches von Brentanos Psychologie für die Art und Weise, in der ich das Problem der Induktion und Deduktion bei Brentano behandelte, besonders wichtig waren. Dem Psychologen Augustin Cambosie, der mir zu unterschiedlichen Zeiten half, mit der Arbeit voran zu kommen. Christoph Schirmer, ohne dessen Geduld und Unterstützung, das Buch nie in dieser Form veröffentlicht worden wäre. Last but not least meinem Sohn Vlad, der mir ständig beistand und half, diese Arbeit zu beenden. Bukarest, den 5. Mai 2020
Alle in diesem Band behandelten Themen haben ihren Ursprung in der Forschungsarbeit, die ich am Institut verfolgt habe. Die vorläufigen Ergebnisse dieser Tätigkeit sind im Laufe der Zeit in den Zeitschriften des Instituts veröffentlicht worden: Revista de filosofie, Studii de istorie a filosofiei universale und Revue roumaine de philosophie.
Inhaltsübersicht Abkürzungsverzeichnis
1
Abbildungsverzeichnis
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I Das Sein der Kategorien und das Seiende als Wahres bei Aristoteles – Brentanos Lösung und Heideggers Rezeption I.
Einleitung – Heideggers Äußerungen zu Brentanos Dissertation und der scholastische Hintergrund von Brentanos erster Schrift 7
I.
Das Sein der Kategorien: Brentanos Lösung und Heideggers 15 Rezeption Die Debatte um den Entdeckungsweg der Kategorien in der Aristoteles-Renaissance Mitte des 19. Jahrhunderts 15 Brentanos anfängliche Kategorienauffassung und Heideggers 19 Rezeption derselben
I.. I..
I.
Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe: Zu den unterschiedlichen Bedeutungen des veritativen Seienden in 35 Brentanos Dissertation und ihrer Rezeption bei Heidegger I.. Das Problem 35 I.. Die zwei aristotelischen Wahrheitsbegriffe und ihre Rezeption in 39 Brentanos Dissertation I.. Die Doppeldeutigkeit der eigentlichen Bedeutung des Seienden als Wahren in Brentanos Dissertation 44 I... Die erste veritative Bedeutung des Seienden in Brentanos Dissertation 45 I... Die zweite veritative Bedeutung des Seienden in Brentanos 51 Dissertation I.. Die Fragestellung in Met. V 7, 1017 a 31 – 35 und die emphatische Bedeutung von „ist“ 56 I.. Die unwirklichen Aspekte der Seinshomonymie in Brentanos Dissertation 64 I.. Das Sein der Kopula und die „objectiven Begriffe“ – zur Frage des scholastischen Einflusses auf Brentanos Dissertation 70 I... Einleitung 70
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Inhaltsübersicht
I...
Thomas’ kausale Interpretation der aristotelischen Korrespondenztheorie der Wahrheit und Brentanos Haltung dazu 73 „Das Sein der Kopula“ bei Brentano und in Thomas’ Kommentar In V Met. lect. 9, n. 895 f. 81 Das affirmative Aussagen über Negationen, Privationen und reine Gedankendinge in Brentanos Dissertation in Hinblick auf Thomas’ 87 ens dupliciter digitur Brentanos reelle und „objective“ Begriffe und Thomas’ Unterscheidung ens extra animam – ens in mente 92 Thomas’ Einfluss auf Brentanos Analyse über das Seiende als 100 Wahres in § 2., Kap. III – Zusammenfassung Homonymie des Seins in der Metaphysikvorlesung und die Entstehung von Brentanos idiogenetischer Urteilstheorie 103 103 Einleitung Das Sein der Kopula drückt kein reales Attribut aus 108 Das Sein der Kopula bezeichnet die Wahrheit des mittels ihr 109 gebildeten Urteils Alles, was Subjekt einer wahren Affirmation werden kann, ist Seiendes im Sinne des Wahren 114 Über den Begriff des Inhalts in der Vorlesung über deduktive und induktive Logik und die Entstehung von Brentanos früher Lehre 117 über die entia rationis in seiner Dissertation und in M 96 Heidegger und die Frage nach dem „Sein der Kopula“ in 127 Brentanos Dissertation
I... I...
I... I... I.. I... I... I... I... I...
I..
I. I.. I..
Brentanos Dissertation und die katholische Wissenschaft 132 132 Der Neuscholastiker Brentano Franz Brentano und die katholische Wissenschaft 139
II Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt als Beitrag zur Positiven Philosophie des 19. Jahrhunderts 153
II.
Einleitung
II.
Franz Brentano und Auguste Comte – Zwei Strategien zur Erneuerung der Philosophie 155 Einleitung 155 Comtes Drei-Stadien-Gesetz 157
II.. II..
Inhaltsübersicht
II.. II.. II.. II..
II.
XIX
Brentanos Theorie der vier Phasen der Philosophie 163 Das reine theoretische Interesse Brentanos: Metaphysische und wissenschaftlich-positive Aspekte 174 Die Phasentheorien bei Brentano und Comte: Genetische und inhaltliche Verhältnisse 189 Brentano und Comte: Das Verhältnis zur Neuzeit und die 203 Strategien zur Erneuerung der Philosophie
Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt als Beitrag zur positiven Philosophie des 19. Jahrhunderts 210 II.. Einleitung 210 II... „Positiv“ und „metaphysisch“ in Brentanos Psychologie vom 210 empirischen Standpunkt II... Der Plan und die Herausgabe von Brentanos empirischer 218 Psychologie II.. Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven 226 Facetten II... Die positive Auffassung der Wissenschaft und Brentanos empirische Psychologie 227 II... Die traditionelle und die moderne Auffassung von der Psychologie als Wissenschaft im ersten Kapitel von Brentanos 229 Psychologie II... Comtes enzyklopädische Stufenleiter der Wissenschaften und ihre Rezeption in Brentanos Psychologie 243 244 II.... Comtes enzyklopädische Stufenleiter der Wissenschaften II.... Brentanos frühe Klassifikation der Wissenschaften und die Bezugnahme der Psychologie vom empirischen Standpunkt zur Naturwissenschaft 248 II.... Kontinuität und Diskontinuität – der doppelte Ansatz hinsichtlich der psychischen Phänomene in Brentanos empirischer Psychologie 262 II.... Der „eigenthümliche Werth der Psychologie“ – theoretische und praktische Aspekte 273 II.... Comtes Drei-Stadien-Gesetz und die Geschichte der empirischen Psychologie nach Brentano 278 II... Brentano und Comte: Innere Beobachtung und die Methode der Psychologie 283 II... Maudsleys Kritik am Selbstbewusstsein und die Methoden zur indirekten Erkenntnis fremder psychischer Phänomene in der Psychologie 300
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II... II....
II.... II.... II.... II... II.. II... II... II... II... II.... II.... II.... II... II.... II.... II.... II..
Inhaltsübersicht
Brentanos Psychologie und die methodischen Momente der Naturwissenschaft 311 Die gemeinsame Basis von Brentanos empirischer und deskriptiver Psychologie – die Eigentümlichkeiten psychischer Erscheinungen und ihre Klassifikation 311 Die induktive Auffindung empirischer Gesetze der 323 Aufeinanderfolge psychischer Erscheinungen Die Erklärung der empirischen Gesetze in der Psychologie vom 330 empirischen Standpunkt Die Gesetze der Ideenassoziation in Brentanos Psychologie 336 Die Psychologie vom empirischen Standpunkt und Brentanos 342 Antrittsvorlesung an der Universität Wien Brentanos Psychognosie oder deskriptive Psychologie 345 345 Einleitung Die deskriptiven Teile von Brentanos Psychognosie 348 Die deskriptiven Verhältnisse und Arten der Einheit in Brentanos 364 Psychognosie Induktion im breiteren und im engeren Sinn in Brentanos deskriptiver Psychologie 367 367 Einleitung Chisholms Interpretation der Induktion im breiteren Sinn bei Brentano als intuitive Induktion und ihre Kritik 372 Die mannigfachen Bedeutungen der Induktion bei 376 Brentano Zum Bemerken als Methode von Brentanos deskriptiver Psychologie 383 383 Einleitung Brentanos Charakterisierung des Bemerkens und ihre Schwierigkeiten 386 Das Bemerken als rein distinktioneller Teil der inneren Wahrnehmung 401 „Physisches Phänomen“ und „reeller Inhalt“– zu Husserls Rezeption von Brentanos empirischer Psychologie in den 408 Logischen Untersuchungen
XXI
Inhaltsübersicht
III Die Frage der uneigentlichen Phantasievorstellungen als Begriffe mit anschaulichem Kern bei Brentano und ihre Rezeption bei Husserl III.
Einleitung
III.
Die gewöhnliche Auffassung von der Phantasievorstellung
III.
Brentanos Auffassung von der Phantasievorstellung in der Vorlesung von 1885/86: Das begriffliche und das anschauliche Moment der Phantasievorstellung 439
III.
Brentanos Rezeption von Johannes Müllers Auffassung von den phantastischen Gesichtserscheinungen 453
III.
Brentanos Auffassung von den uneigentlichen Phantasievorstellungen 459 als Begriffe mit anschaulichem Kern
III.
Die wichtigsten Gruppen der Begriffe mit anschaulichem Kern als uneigentliche Phantasievorstellungen 464
III.
Die uneigentlichen Phantasievorstellungen als Begriffe mit anschaulichem Kern und die Frage nach ihrer ästhetischen Funktion 468
III.
Zu Husserls Rezeption von Brentanos Theorie über die Phantasievorstellung 473
Literaturverzeichnis Personenverzeichnis Sachregister
499
429
477 494
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Abkürzungsverzeichnis Abkürzungen für Brentanos Schriften und Manuskripte A.1.1.1
Manuskript von Brentanos Dissertation (1861– 1862), das 1999 von Th. Binder und G. Gimpl in Schönbühel entdeckt wurde. AC „Auguste Comte und die positive Philosophie“ (1869), in Die vier Phasen der Philosophie, O. Kraus (Hrsg.), Leipzig, Meiner, 1926, S. 99 – 133. S. 99 – 133. ALU Aristoteles Lehre vom Ursprung des menschlichen Geistes, Leipzig, Veit, 1911. AN Die Abkehr vom Nichtrealen (1966), F. Mayer-Hillebrand (Hrsg.), Hamburg, Meiner, 1974. AthW „Der Atheismus und die Wissenschaft“, Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland 72 (1873), S. 852– 872, 917– 929. AW Aristoteles und seine Weltanschauung (1911), mit einer Einleitung von R. M. Chisholm, Hamburg, Meiner, 21977. DG Vom Dasein Gottes (1929), A. Kastil (Hrsg.), Nachdruck Hamburg, Meiner, 1968. DPs Deskriptive Psychologie, W. Baumgartner, R. M. Chisholm (Hrsg.), Hamburg, Meiner, 1980. EL80 Manuskript der Vorlesung Deduktive und induktive Logik (1869/70), Logik (Spring 2011 Edition). R. Rollinger (Hrsg.) GÄ Grundzüge der Ästhetik (1959), F. Mayer-Hillebrand (Hrsg.), Hamburg, Meiner, 21988. GE „Über die Gründe der Entmutigung auf philosophischem Gebiete“ (1874), in Über die Zukunft der Philosophie, O. Kraus (Hrsg.), Leipzig, Meiner, 1929, S. 85 – 100. GGPh Geschichte der griechischen Philosophie (1963), F. Mayer-Hillebrand (Hrsg.), Bern, Franke, 21988. GkW „Geschichte der kirchlichen Wissenschaften“, in J. A. Möhler, Kirchengeschichte, P. B. Gams (Hrsg.), Bd. 2, Regensburg, Mainz, 1867, S. 526 – 584. GMPh Geschichte der mittelalterlichen Philosophie im christlichen Abendland, K. Hedwig (Hrsg.), Hamburg, Meiner, 1980. GPhN Geschichte der Philosophie der Neuzeit, K. Hedwig (Hrsg.), Hamburg, Meiner, 1987. Kl Kategorienlehre, A. Kastil (Hrsg.), Leipzig, Meiner, 1933. KPP Von der Klassifikation der psychischen Phänomene (1911), in F. Brentano: Sämtliche veröffentlichte Schriften, Bd. 1, Th. Binder, A. Chrudzimski (Hrsg.), Frankfurt a. M., Ontos, 2008, S. 291– 426. LRU Die Lehre vom richtigen Urteil, F. Mayer-Hillebrand (Hrsg.), Bern, Franke, 1956. LWO Meine letzten Wünsche für Oesterreich, Stuttgart, Cotta’sche Buchhandlung, 1895. M 96 Manuskript der Metaphysikvorlesung (1867– 1873; transkribiert u. ediert v. W. Baumgartner). MBS Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles (1862), Nachdruck Hildesheim, Olms, 1984. PeS Psychologie vom empirischen Standpunkte (1874), in F. Brentano: Sämtliche veröffentlichte Schriften, Bd. 1, Th. Binder, A. Chrudzimski (Hrsg.), Frankfurt a. M., Ontos, 2008, S. 1– 289. Ps 53 Manuskript von der Fortsetzung des zweiten Buches und vom dritten Buch der Psychologie vom empirischen Standpunkte (1873 – 1875; transkribiert u. ediert v. R. Rollinger). Ps 78/2a Erste, kürzere Fassung der Vorlesung Ausgewählte Fragen aus Psychologie und Ästhetik (1885/86).
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Abkürzungsverzeichnis
Ps 78/2c Zweite, längere Fassung der Vorlesung Ausgewählte Fragen aus Psychologie und Ästhetik (1885/86). PsA Die Psychologie des Aristoteles, insbesondere seine Lehre vom Nous Poietikos (1867), Nachdruck Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1967. ÜA Über Aristoteles. Nachgelassene Aufsätze, R. George (Hrsg.), Hamburg, Meiner, 1986. ÜEM Über Ernst Machs „Erkenntnis und Irrtum“, R. M. Chisholm, J. C. Marek (Hrsg.), Amsterdam, Rodopi, 1988. USE Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis (1889), O. Kraus (Hrsg.), Leipzig, Meiner, 1934. VE Versuch über die Erkenntnis, A. Kastil (Hrsg.), Leipzig, Meiner, 1925. VPhPh Die vier Phasen der Philosophie, O. Kraus (Hrsg.), Leipzig, Meiner, 1926. WE Wahrheit und Evidenz (1930), O. Kraus (Hrsg.), Nachdruck, Hamburg, F. Meiner, 1974. Y2 Manuskript der Vorlesung Die neue Logik und die in ihr nötigen Reformen (1884/85). ZPh Über die Zukunft der Philosophie, O. Kraus (Hrsg.), Leipzig, F. Meiner, 1929.
Abkürzungen für Schriften anderer Autoren und Nachschlagewerke AkW
Morgott, F. P.v., „Aristoteles und die katholische Wissenschaft“, Der Katholik (1862/erste Hälfte), S. 256 – 275. CPhP I Comte, A., Cours de philosophie positive (1830), Bd. 1, Paris, Bachelier, 21864. CPhP II Comte, A., Cours de philosophie positive, Bd. 2 , Paris, Bachelier, 1830. CPhP III Comte, A., Cours de philosophie positive, Bd. 3, Paris, Bachelier, 1838. CPhP V Comte, A., Cours de philosophie positive, Bd. 5, Paris, Schleier Frères, 1908. GK Trendelenburg, A., Geschichte der Kategorien. Historische Beiträge zur Philosophie, Bd. 1, Zwei Abhandlungen: I. Aristoteles Kategorienlehre, II. Die Kategorienlehre in der Geschichte der Philosophie, Berlin, Bethge, 1846. HWPh Historisches Wörterbuch der Philosophie, J. Ritter, K. Gründer (Hrsg.), Bd. 1– 13, Basel/ Stuttgart, Schwabe, 1971– 2007. KA Bonitz, H., „Über die Kategorien des Aristoteles“, Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Philos-hist. Classe, Bd. 10, Heft 5, Wien, 1953, S. 591– 645, Nachdruck, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1967. PhG Müller, J., Ueber die phantastischen Gesichtserscheinungen. Eine physiologische Untersuchung (1826), M. Müller (Hrsg.), Leipzig, Barth, 1927. PPS Maudsley, H., Die Physiologie und Pathologie der Seele, nach des Originals zweiter Auflage deutsch bearbeitet von R. Boehm, Würzburg, A. Stuber’s Buchhandlung, 1870. SLRI I Mill, J. St., A System of Logic, Ratiocinative and Inductive, Being a Connected View of the Principles of Evidence, and the Methods of Scientific Investigation (1843), Buch I–III, Collected Works VII, J. M. Robson (Hrsg.), University of Toronto Press, Routledge & Kegan Paul, 1974. SLRI II Mill, J. St., A System of Logic, Ratiocinative and Inductive, Being a Connected View of the Principles of Evidence, and the Methods of Scientific Investigation (1843), Buch IV–VI, Collected Works VIII, J. M. Robson (Hrsg.), University of Toronto Press, Routledge & Kegan Paul, 1974.
Abbildungsverzeichnis Abbildung Abbildung Abbildung
S. 29 S. 252 S. 258
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I Das Sein der Kategorien und das Seiende als Wahres bei Aristoteles – Brentanos Lösung und Heideggers Rezeption
I.1 Einleitung – Heideggers Äußerungen zu Brentanos Dissertation und der scholastische Hintergrund von Brentanos erster Schrift Es ist bekannt, dass Brentanos Dissertation eine erhebliche Rolle in der intellektuellen Bildung des jungen Heideggers gespielt hat.¹ Heidegger selbst hat sich über die Wichtigkeit der Dissertation Brentanos für seine Bildung mehrmals ge-
F. Brentano, Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles (MBS) (1862), Nachdruck Hildesheim, Olms, 1984. Weiter beziehe ich mich auf die folgenden Ausgaben der aristotelischen Metaphysik: Aristoteles’ Metaphysik, Neubearbeitung der Übers. v. H. Bonitz, mit Einleitung u. Kommentar hrsg. v. H. Seidl, Gr. Text in der Edition v. W. Christ, 1. Halbbd., Bücher I (A) – VI (E), 2. Halbbd., Bücher VII (Z) – XIV (N), Gr.-Dt., Hamburg, Meiner, 31989, 21984; Aristotelis opera, ex rec. I. Bekkeri, 2 Bde. (Preuß. Akad.-Ausgabe), Berlin, 1831. Überdies werde ich Brentanos Übersetzung der griechischen Terminologie verwenden. Die Abhandlungen, die seiner Dissertation gewidmet wurden, lassen sich folgendermaßen einordnen: die Arbeiten, die besonders an Brentanos Einfluss auf Heidegger interessiert sind – hier sind in erster Linie die wertvollen Schriften von F. Volpi zu erwähnen: Heidegger e Brentano, Padua, Cedam, 1976; „Heideggers Verhältnis zu Brentanos Aristoteles-Interpretation“, Zeitschrift für philosophische Forschung 32 (1978), S. 245 – 265; „La doctrinne aristotélicienne de l’être chez Brentano et son influence sur Heidegger“, in D. Thouard (Hrsg.), Aristote au XIXe siècle, Lille, Presses Universitaires du Septentrion, 2004, S. 277– 293; „Brentanos Interpretation der aristotelischen Seinslehre und ihr Einfluß auf Heidegger, in A. Denker, H. Gander, H. Zaborowski (Hrsg.), Heidegger und die Anfänge seines Denkens, Freiburg, Alber, 2004, S. 226 – 242; vgl. auch meine Abhandlung: „Das Sein der Kopula oder was hat Heidegger bei Brentano versäumt“, Studia Phaenomenologica. Romanian Journal for Phenomenology 2/1– 2 (2002), S. 97– 125. D. Yfantis’ Buch: Die Auseinandersetzung des frühen Heidegger mit Aristoteles, Berlin, Duncker & Humblot, 2009, geht nicht auf die Einzelheiten des Verhältnisses Brentano – Heidegger ein. Andererseits geht es um die Aufsätze, die Brentanos erste Schrift mit Bezug auf ihre aristotelischen und thomasischen Quellen interpretieren, ohne aber dem Verhältnis Brentano – Heidegger Aufmerksamkeit zu schenken: M. Antonelli, Seiendes, Bewußtsein, Intentionalität im Frühwerk von Franz Brentano, Freiburg/München, Alber, 2001, S. 73 – 108; K. Hedwig, „‚…eine gewisse Kongenialität‘. Brentanos Rückgriff auf Thomas von Aquin in seiner Dissertation“, in I. Tănăsescu (Hrsg.), Franz Brentano’s Metaphysics and Psychology. Upon the Sesquicentennial of Franz Brentano’s Dissertation, Bukarest, Zeta Books, 2012, S. 95 – 131; M. Antonelli, W. Sauer, „Einleitung“, in Franz Brentano, Sämtliche veröffentlichte Schriften, Bd. 4: Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles, W. Sauer (Hrsg.), Berlin, De Gruyter, 2014, S. XI–XCI. Die Analysen, die der ersten Schrift Brentanos seitens der analytischen Philosophen gewidmet worden sind, zeichnen sich dadurch aus, dass ein zentrales Thema der Dissertation Brentanos – die mannigfache fokale Bedeutung des Seienden – bei ihnen keine Rolle spielt (s. z. B. P. Simons „Brentano’s Theory of Categories: A Critical Appraisal“, Brentano Studien 1 (1988), S. 47 f.). https://doi.org/10.1515/9783110524550-003
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I.1 Einleitung – Heideggers Äußerungen zu Brentanos Dissertation
äußert.² Seinen Äußerungen lässt sich entnehmen, dass Brentanos Auseinandersetzung mit dem Seienden nach den Figuren der Kategorien für ihn äußerst wichtig war. Das ist aber nicht die einzige Bedeutung des Seienden, die Brentano in seiner Dissertation behandelt. Darüber hinaus analysiert er auch das zufällige Seiende, das Seiende als Wahres und das Nichtseiende als Falsches sowie das Seiende dem Vermögen und der Wirklichkeit nach. Die ersten zwei Bedeutungen stellen laut Brentano die uneigentlichen Bedeutungen des Seienden dar, die am Anfang seiner Schrift von den eigentlichen Bedeutungen des Seienden, den Kategorien und dem Seienden dem Vermögen und der Wirklichkeit nach unterschieden und wegen ihres uneigentlichen Charakters aus dem metaphysischen Bereich ausgeschlossen werden. Zwei dieser Bedeutungen, das kategoriale Seiende und das Seiende als Wahres, waren für die weitere Entwicklung seiner philosophischen Auffassung besonders wichtig.³ Alle oben genannten Bedeutungen des Seienden werden auch von Heidegger in seinen Vorlesungen behandelt, ohne aber nach eigentlichen und uneigentlichen Bedeutungen eingeteilt zu werden.⁴ Gelegentlich wird auch Brentano darin erwähnt. Was in all seinen Hinweisen auf Brentano besonders auffällt, ist die Abwesenheit jeglicher Bemerkung über die Analyse, die Brentano ausgerechnet in der Schrift, die Heidegger tief beeinflusst hat, der aristotelischen Wahrheitsfrage gewidmet hat. Bekanntlich handelt es sich hier um eine Frage, deren Behandlung Heidegger seit 1907 immer wieder versuchte und deren Lösung ihn letzten Endes zu einer anderen Auffassung von Phänomenologie als Husserl führte.⁵ Ein wichtiges Thema meiner Arbeit besteht darin, diese Abwesenheit näher zu erforschen. Meiner Meinung nach ist Heideggers Schweigen darüber zwar kein absichtliches, doch aber auch kein zufälliges. In seinem Hintergrund stehen zwei unterschiedliche Interpretationen der aristotelischen Metaphysik, die sich im Weiteren gleichfalls verschieden entwickelt haben. Auch wenn Brentanos Dissertation aller Wahrscheinlichkeit nach die Frage der Seinshomonymie bei Heidegger inspiriert hat, lässt sich anhand von Brentanos Analyse des Seienden als Wahren klar Vgl. z. B. Heidegger, „Preface“, in W. Richardson, Heidegger. Through Phenomenology to Thought, Den Haag, Martinus Nijhoff, 1963, S. XI, und „Mein Weg in die Phänomenologie“, in M. Heidegger, Zur Sache des Denkens, Tübingen, Niemeyer, 1969, S. 81. Vgl. dazu das von W. Baumgartner in Würzburg zur Veröffentlichung vorbereitete Manuskript M 96 der Metaphysikvorlesung (1867– 1872), wo diese Bedeutungen ausdrücklich thematisiert sind, und auch den 1933 von A. Kastil herausgegebenen Band Kategorienlehre (Kl), in dem beide Bedeutungen des Seienden ausführlich analysiert werden. Vgl. M. Heidegger, Grundbegriffe der antiken Philosophie (SS 1926), Frankfurt a. M., Klostermann, 1993, S. 149 – 170; vgl. auch ders., Aristoteles, Metaphysik Θ 1 – 3, Von Wesen und Wirklichkeit der Kraft (SS 1931), Frankfurt a. M., Klostermann, 1990, S. 45. Heidegger, „Mein Weg …“, S. 86 f.
I.1 Einleitung – Heideggers Äußerungen zu Brentanos Dissertation
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zeigen, dass die Art und Weise, in der er diese Frage anpackte, kaum etwas mit Heideggers Ansatz zu demselben Problem zu tun hat. Um diese These zu untermauern, werde ich von zwei Äußerungen Heidegger über Brentano ausgehen, um die Fragestellung kurz zu skizzieren, die in diesen Behauptungen einbegriffen ist. Dann werde ich die Frage der Seinshomonymie und die des kategorialen Seienden in Brentanos Dissertation mit Bezugnahme auf Heideggers Rezeption behandeln. Auch wenn diese Perspektive für die Behandlung des Seienden als Wahren in Brentanos Dissertation wichtig bleibt, werde ich in einem gesonderten Kapitel auch die mittelalterlichen Einflüsse auf Brentano berücksichtigen.⁶ Vor diesem Hintergrund werde ich die These verteidigen, dass Brentanos Wahrheitsanalyse, einschließlich seine Analyse des Seins der Kopula, für Heidegger keine Rolle spielte. Dagegen war Brentanos Untersuchung über die aristotelischen Kategorien für die Entstehung der Frage nach dem Sein bei Heidegger besonders wichtig. Unter den Äußerungen Heideggers über Brentanos Dissertation sind für meine Zwecke die folgenden von besonderer Bedeutung: Man hat aus dem obigen Satz von Met. Θ 1 Anf. schon im Mittelalter geschlossen, die erste leitende Grundbedeutung des Seins überhaupt – auch für die vier Weisen zusammen, nicht nur für die eine und deren Mannigfaltigkeit – sei die ousia, was man mit „Substanz“ zu übersetzen pflegt. Als müsste auch das Möglichsein und Wirklichsein und Wahrsein auf das Sein im Sinne von Substanz zurückgeleitet werden. Im 19. Jahrhundert hat man (vor allem Brentano) dazu um so mehr geneigt, als inzwischen Sein, Möglichsein, Wirklichsein als Kategorien erkannt worden waren. Es ist daher eine landläufige Meinung, die aristotelische Lehre vom Sein sei eine „Substanzlehre“.⁷
Die zweite Äußerung entstammt einer viel späteren Schrift, dem Brief an Richardson von 1963, und lautet wie folgt: […] die erste philosophische Schrift, die ich seit 1907 immer wieder durcharbeitete, war Franz Brentanos Dissertation: „Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden bei Aristoteles“ (1862). Brentano setzte auf das Titelblatt seiner Schrift den Satz des Aristoteles: to on legetai pollachōs. Ich übersetze: „Das Seiende wird (nämlich hinsichtlich seines Seins) in vielfacher Weise offenkundig“. In diesem Satz verbirgt sich die meinen Denkweg bestimmende Frage: Welches ist die alle mannigfachen Bedeutungen durchherrschende einfache, einheitliche Bestimmung von Sein? Diese Frage weckt die folgenden: Was heißt denn Sein? Inwiefern (weshalb und wie) entfaltet sich das Sein des Seienden in die von Aristoteles stets nur
Auf diese Facette von Brentanos Frühdenken werde ich mich im letzten Kapitel dieses Teils beziehen. Heidegger, Aristoteles, Metaphysik Θ 1 – 3, S. 45. Einen kritischen Überblick über die Art und Weise, in der der Terminus ousia ins Deutsche zu übertragen ist, liefern M. Frede und G. Patzig in Aristoteles „Metaphysik Z“. Text, Übersetzung und Kommentar, Bd. 2: Kommentar, München, C. H. Beck, 1988, S. 16 f.
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I.1 Einleitung – Heideggers Äußerungen zu Brentanos Dissertation
festgestellten, in ihrer gemeinsamen Herkunft unbestimmt gelassenen vier Weisen? Es genügt, diese in der Sprache der philosophischen Überlieferung auch nur zu nennen, um von dem zunächst unvereinbar Erscheinenden betroffen zu werden: Sein als Eigenschaft, Sein als Möglichkeit und Wirklichkeit, Sein als Wahrheit, Sein als Schema der Kategorien. Welcher Sinn von Sein spricht in diesen vier Titeln? Wie lassen sie sich in einen verstehbaren Einklang bringen?⁸
Wenn man diese Äußerungen mit Brentanos Analyse vergleicht, dann ist ihnen einerseits zuzustimmen, andererseits jedoch sollte man sie mit einer gewissen Distanz betrachten. Man darf ihnen insofern zustimmen, als sich anhand der Analyse Brentanos in seiner ersten Schrift ohne Zweifel zeigen lässt, dass seine Auffassung von den Kategorien eine Ousiologie ist. Diese Ousiologie beruht auf folgenden Thesen: (1) die erste Substanz ist die erste und wichtigste Bedeutung des Seienden, (2) die akzidentellen Kategorien sind nur insofern, als sie ein Verhältnis zur ersten Substanz haben, und (3) die anderen Hauptbedeutungen des Seienden – das Seiende dem Vermögen und der Wirklichkeit nach und das Seiende als Wahres im Gegensatz zum Nichtseienden als Falschem – drehen sich um das kategoriale Seiende, und zwar um seinen Bezugspunkt, die erste Substanz. Wie unten gezeigt wird, hat Brentano in seiner Dissertation alle diese Thesen vertreten. Man sollte andererseits Heidegger insofern nicht zustimmen, als Brentanos anfängliche Seinsauffassung nicht nur eine Ousiologie, sondern auch eine Alethiologie ist, die sich nicht mehr auf seine Ousiologie zurückführen lässt. Der Grund dafür besteht darin, dass in Brentanos Analyse Seinsbedeutungen involviert sind – das Sein der Kopula in einem besonderen Sinn –, die keine kategorialen Verhältnisse mehr zur Sprache bringen und die sich auch nicht auf diese Verhältnisse reduzieren lassen. Diese These ist besonders wichtig, weil sie darauf aufmerksam macht, dass Heideggers Charakterisierung der Dissertation Brentanos einseitig ist. Wenn man seine Äußerungen darüber genau liest, dann lässt sich feststellen, dass seine Rezeption von Anfang an von dem Interesse an Brentanos Behandlung der aristotelischen Kategorienauffassung geleitet wird. Dagegen wird die Wahrheitsanalyse in derselben Schrift nicht einmal erwähnt. Das interpretiere ich als ein Indiz dafür, dass die ganz einzigartige Interpretation der aristotelischen Wahrheitsauffassung in der Dissertation Brentanos für Heidegger keine Rolle gespielt hat. Das ist aber doch recht überraschend, wenn man bedenkt, was für eine wichtige Rolle der aristotelische Wahrheitsbegriff für die Bildung der Wahrheitsauffassung Heideggers gespielt hat.
Heidegger, „Preface“, in Richardson, a. a. O., S. XI.
I.1 Einleitung – Heideggers Äußerungen zu Brentanos Dissertation
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Der zweite fragliche Punkt bei der Rezeption Heideggers besteht in seiner Behauptung, dass es in Brentanos Dissertation eine „einfache, einheitliche Bestimmung von Sein“ gebe, die alle Seinsbedeutungen durchherrsche. Was Brentano betrifft, lässt sich zweifelsohne zeigen, dass gemäß seiner Ousiologie die erste Substanz diejenige einheitliche Seinsbedeutung ist, die alle anderen Bedeutungen durchherrscht. Einfach ist sie aber nicht. Darüber hinaus glaube ich, dass es im Sinne der Analyse Brentanos völlig angemessen ist, zu behaupten, dass die vier Seinsbedeutungen des Aristoteles keine „gemeinsame Herkunft“ haben können. Um die wichtigsten Aspekte der erwähnten Probleme darzustellen, werde ich zunächst eine zentrale Frage der aristotelischen Rezeption Mitte des 19. Jahrhunderts, nämlich die Frage nach der Ordnung und nach dem Weg, auf dem Aristoteles zu seiner Kategorientafel kam, behandeln. Ohne Berücksichtigung dieser Frage lässt sich weder die Bedeutung von Brentanos Lösung noch die Richtung der Rezeption Heideggers erklären. Danach werde ich Brentanos Kategorienauffassung in seiner Dissertation und Heideggers Rezeption derselben analysieren. Im dritten Kapitel werde ich mich ausführlich mit Brentanos Auffassung der Wahrheit in seiner Dissertation beschäftigen, um mich daraufhin einer Analyse der möglichen Gründe für Heideggers diesbezügliches Schweigens zuzuwenden. Da für den jungen Brentano die Auffassung Thomas von Aquins besonders wichtig war – Brentano sagte 1859, dass „er [Thomas von Aquin; Hinzufügung I. T.] ja immer noch mein Patron und Führer und so ziemlich mein Alpha und Omega ist“ – und da er sich, als er sein Dissertation schrieb, in Münster intensiv mit der scholastischen Philosophie, vor allem mit Thomas von Aquin und Suárez, beschäftigte, werde ich mich mit Thomas’ Kommentar zu Met. V 7 beschäftigen, um im darauffolgenden Kapitel den intellektuellen, katholisch geprägten Rahmen abzuzeichnen, in dem sich der junge Brentano damals bewegte.⁹
Im Lebenslauf, den Brentano 1862 an der Universität Tübingen zum Erreichen des Doktortitels in der Philosophie einreichte, bezieht er sich darauf, dass er die „mittelalterlichen Aristoteliker“ unter der Führung von Clemens in Münster studierte (M. Goes, „Franz Brentanos Promotion zum Doktor der Philosophie in Tübingen (1862)“, Mitteil. Archiv. Aschaffenburg 6 (1999 – 2001), S. 23). Brentano wechselte im SS 1859 von Berlin nach Münster, um bei Clemens die scholastische Philosophie, besonders die von Thomas von Aquin, zu studieren. Clemens machte ihn auf zwei andere, für die deutschen Philosophen jener Zeit „großen Unbekannten“ der scholastischen Philosophie, Duns Scotus und Suárez, aufmerksam. Es sprechen gute Gründe dafür, dass Clemens derjenige war, der Brentano veranlasste, als Thema seiner Dissertation „Francisci Suarii. De ente et entis passionibus doctrina“ auszuwählen. Brentano, der, wie Baumgartner und Hedwig gezeigt haben, Suárez durch eine aristotelische und thomasische Brille las, führte dieses Projekt bis Ende 1860 durch, als er es abbrach, um sich daraufhin einem anderen Thema, der mannigfachen Bedeutung des Seienden bei Aristoteles, zuzuwenden, über das er 1861– 1862 seine Dissertation schrieb (vgl. E. u. W. Baumgartner, K. Hedwig, „Franz Brentano – Die Studienjahre“, Brentano
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I.1 Einleitung – Heideggers Äußerungen zu Brentanos Dissertation
In diesem Zusammenhang ist die folgende Bemerkung von Bedeutung: Brentano studierte 1858/59 bei Trendelenburg in Berlin, der ihn in die aristotelische Philosophie einführte.¹⁰ Über diese Zeit berichtet Brentano später an Hugo Bergmann: Und als ich in Berlin an den Trendelenburgschen Lesungen des Aristoteles teilnahm, verglich ich auf der Bibliothek die Kommentare des großen Scholastikers und fand da manche Stelle glücklich erklärt, die Trendelenburg nicht verständlich machen vermochte. Auch brachte ich durch den Hinweis auf Thomas in der ,Mannigfachen Bedeutung des Seienden‘ Trendelenburg, der minder engherzig war als andere, sofort dazu, die Bedeutung der Kommentare zu würdigen.¹¹
Diese Stelle macht zum einen darauf aufmerksam, dass Brentano in seiner Jugend auf Thomas’ Kommentare großen Wert legte. Zum anderen verweist sie indirekt darauf, dass der Aquinate in jener Zeit keinen guten Ruf als Aristoteles-Kommentator genoss, was die Erwähnung von Trendelenburgs Weitherzigkeit in diesem Zusammenhang erklärt, denn in Trendelenburg scheint Brentano einen (protestantischen¹²) Interpreten des Aristoteles gefunden zu haben, der bereit war, Thomas’ exegetische Schriften über Aristoteles vorurteilslos zu lesen. Die Redewendung: „den Hinweis auf Thomas in der ,Mannigfachen Bedeutung des Seienden‘“ ist unter diesen Umständen deshalb wichtig, weil sie auf eine zentrale interpretative Möglichkeit der Dissertation Brentanos aufmerksam macht, die weit über den Rahmen der Aristoteles-Kommentierung innerhalb der „protestantischen“ Aristoteles-Renaissance des 19. Jahrhunderts hinaus geht und darin beStudien 15/1 (2017), S. 61– 74, und W. Baumgartner, K. Hedwig, „Brentano und Suárez. Materialen zum ersten Dissertationsprojekt. Anhang: Manuskriptverzeichnis“, Brentano Studien 15/1 (2017), S. 143 – 172). Alle die von mir in eckigen Klammern gesetzten Ergänzungen, die in den angeführten Texten zu finden sind, sind folgendermaßen gekennzeichnet: „[…; Hinzufügung I. T.]“. Wo diese Präzisierung fehlt, gehören sie den Herausgebern/innen oder den Übersetzern/innen der zitierten Bände. Brentano hat 1858/59 mit Trendelenburg in Berlin Aristoteles’ Metaphysik (das erste Buch), „Allgemeine Geschichte der Philosophie“ und Psychologie studiert und seine Dissertation Trendelenburg gewidmet (über das Studium bei Trendelenburg vgl. ausführlich E. u. W. Baumgartner, Hedwig, a. a. O., S. 51 ff.). H. Bergmann, „Briefe Franz Brentanos an Hugo Bergmann“, Philosophy and Phenomenological Research 7 (1946/47), S. 106, apud E. u. W. Baumgartner, Hedwig, a. a. O., S. 53. Ich möchte die Diskussion hier nicht auf der ideologisch-theologischen Ebene der Dispute zwischen der „katholischen“ und der „protestantischen Wissenschaft“ jener Zeit führen. Mir scheint es jedoch wichtig, durch die Sprachauswahl darauf hinzuweisen, dass Brentanos Dissertation in den Kreis dieser Debatte gehört und dass er darin auch das Ziel verfolgte, die Erklärungskraft von Thomas’ aristotelischen Kommentaren unter Beweis zu stellen (zum Gegensatz katholische – protestantische Wissenschaft s. unten I.4.1).
I.1 Einleitung – Heideggers Äußerungen zu Brentanos Dissertation
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steht, dass seine Dissertation – dies gilt auch für seine Habilitationsschrift – nicht nur einen nennenswerten Beitrag zur Aristoteles-Forschung, sondern auch – und das sogar in erster Linie – zur „katholischen Wissenschaft“ des 19. Jahrhunderts ausmacht. Wie bekannt, legt diese geistige Richtung großen Wert darauf, Thomas von Aquin als Kommentator der aristotelischen Philosophie wiederzuentdecken und in den Mittelpunkt der exegetischen Arbeit zu rücken.¹³ In diesem Sinne hebt Brentano am Anfang seiner Schrift über den Kreationismus des Aristoteles (1882) deutlich hervor, was er dem Leser 1862 mehr verbarg als aufdeckte, und zwar dass neben der „Aufhellung einiger der wichtigsten Lehrpunkte“ der Philosophie des Aristoteles eine ebenso wichtige Aufgabe seiner ersten zwei Schriften eben in der Eröffnung „neuer Hilfsquellen“, und zwar der Kommentare des Aquinaten, zum Verständnis des Denkens des Stagiriten bestand.¹⁴ Damit übernahm er in sein Forschungsprogramm das eben erwähnte Desiderat der katholischen Wissenschaft. Vor diesem Hintergrund werde ich weiter zeigen, dass, indem Brentano in der Analyse des kategorialen und des veritativen Seienden Aristoteles’ auf den Aquinaten zurückgreift, er nicht nur aristotelische, sondern auch eine thomasisch geleitete aristotelische Exegese schreibt und so einer grundlegenden Erwartung der katholischen Wissenschaft entgegenkommt.¹⁵ Für den weiteren Verlauf der Analyse bedeutet das, dass ich Brentanos Arbeit nicht nur als eine der wichtigsten Inspirationsquellen für Heideggers Frage nach dem Sinn vom Sein verstehe, sondern auch unter dem Gesichtspunkt des Neuscholastikers Brentano lese, welche den Wert von Thomas’ Schriften für das Verständnis der aristotelischen Philosophie betonte. Diese These ist umso wichtiger als Brentanos Manuskript A.1.1.1 der Dissertation zeigt, dass sein Rückgriff auf Thomas erheblich vielfältiger war als die gedruckte Form derselben Schrift ahnen lässt.¹⁶ Anders ge-
Vgl. unten I.4.1 und I.4.2. F. Brentano, Aristoteles Lehre vom Ursprung des menschlichen Geistes (ALU), Leipzig,Veit, 1911, S. 1. Mit Ausnahme von Trendelenburg, der seine Untersuchung über die aristotelischen Kategorien positiv aufnahm, stieß Brentanos Vorgehensweise auf Unverständnis (a. a. O., S. 1 f.; vgl. auch F. Brentano, Über Aristoteles. Nachgelassene Aufsätze (ÜA), R. George (Hrsg.), Hamburg, Meiner, 1986, S. 13 f., Trendelenburgs Äußerungen zu Brentanos Dissertation in J. Werle, Franz Brentano und die Zukunft der Philosophie. Studien zur Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftssystematik im 19. Jahrhundert, Amsterdam/Atlanta, Rodopi, 1989, S. 68, und E. u. W. Baumgartner, Hedwig, a. a. O., S. 64). Damit endet aber die Ähnlichkeit mit anderen Vertretern dieser Richtung (z. B. mit Morgott, vgl. I.4.2 unten), die Aristoteles christlich taufen wollten (vgl. Hedwig, „‚…eine gewisse Kongenialität …“, S. 106 f.). Darüber sagt Th. Binder: „Das Manuskript ist Teil des Nachlasses von Alfred Kastil, und gehört dort in den Kryptonachlass von Franz Brentano (Kryptonachlass ist ein terminus technicus für einen Nachlass im Nachlass), wo es in der Abteilung „Aristoteles“, die Signatur A.1.1.1 trägt.
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I.1 Einleitung – Heideggers Äußerungen zu Brentanos Dissertation
sagt, diejenige Arbeit, die von den Interpreten, z. B. von Volpi, Jahrzehnte lang als einer der bedeutendsten Beiträge zur Aristoteles-Kommentierung des 19. Jahrhunderts gelesen wurde, stellt in ihrer ursprünglichen, im Manuskript niedergeschlagenen Form, einen ausdrucksvollen Versuch dar, Thomas’ Erklärungen in den Dienst der Deutung der aristotelischen Philosophie zu stellen. Seine endgültige, abgedruckte Fassung wirkt hingegen viel neutraler, weil sie das Ergebnis einer von Brentano mit Absicht und konsequent verfolgten Strategie ist, seine Arbeit mit einer einzigen Ausnahme von allen expliziten Hinweisen auf Thomas zu bereinigen und so eine Schrift anzubieten, die zum Mainstream jener Zeit passte.¹⁷ Wie ich unten zeigen werde, blieb dies nicht ohne Wirkung für die Interpretation seiner ersten Schrift mit Bezug auf Heidegger, weil so Hinweise auf Thomas verwischt wurden, die, wenn sie beibehalten worden wären, einen vielfältigeren Vergleich zwischen Brentanos und Heideggers Ausführungen über die Frage nach der Homonymie des Seienden ermöglicht hätten als die gewöhnliche Analyse ihrer Auffassungen über das kategoriale Seiende.¹⁸
Entdeckt wurde das Manuskript von Georg Gimpl und mir im Jahr 1999 in Schönbühel im ehemaligen Sommerhaus Brentanos.“ (Briefliche Mitteilung vom 27.03. 2018) Über die Gründe dafür s. unten I.3.6.2. Vgl. z. B. die Interpretation der Stelle Met. IX 10 über to kyriōtata on vom Standpunkt der Ausführungen Thomas’ über das Verhältnis zwischen dem substantiellen Sein der Dinge und dem akzidentellen Charakter ihrer Erkenntnis (S. Thomae Aquinatis in duodecim libros Metaphysicorum Aristotelis Expositio, editio iam a M.-R. Cathala, O. P. exarata retractatur cura et studio P. Fr. Raymundi M. Spiazzi, O. P., Taurini, Romae, Marietti 1964 (Abkürzung: In V Met. lect. 9, n. 896; A.1.1.1, Bl. 29). Wie man weiß, schenkte Heidegger dieser Stelle große Aufmerksamkeit, weil er in Aristoteles’ Ausführungen in Met. IX 10 den Ort sieht, wo das griechische Denken über das Sein seinen Höhepunkt erreicht (s. unten S. 32).
I.2 Das Sein der Kategorien: Brentanos Lösung und Heideggers Rezeption I.2.1 Die Debatte um den Entdeckungsweg der Kategorien in der Aristoteles-Renaissance Mitte des 19. Jahrhunderts Angenommen, dass für Heidegger die Frage nach einer „einfachen, einheitlichen Bestimmung von Sein“ das leitende Thema war, so sollte von vornherein betont werden, dass Brentanos Dissertation zu einer Debatte gehört,¹ deren zentrale Frage die nach dem Weg, auf dem Aristoteles zu seiner Kategorientafel kam, und nach der Ordnung dieser Tafel selbst war. Entscheidend für diese Diskussion, an der Trendelenburg, Bonitz, Brandis, Zeller, Brentano u. a. beteiligt waren,² war Trendelenburgs Hypothese, Aristoteles halte bei der Auffindung seiner Kategorientafel an einem grammatischen Faden fest und seine Kategorien hätten einen grammatischen Ursprung.³ Wie Aristoteles für gewöhnlich davon ausgeht, dass
Zur Aristoteles-Renaissance in der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts vgl. D. Thouard, „Aristote au XIXe siècle: la résurrection d’une philosophie“, in D. Thouard (Hrsg.), a. a. O., S. 9 – 21. Die unten dargelegten drei Positionen, die diese Autoren vertraten, sind die Positionen, die in Brentanos Schrift behandelt werden und die von Bedeutung für das Verständnis seiner Interpretation der aristotelischen Kategorien sind (vgl. MBS, S. 79). A. Trendelenburg, Geschichte der Kategorien. Historische Beiträge zur Philosophie, Bd. 1, Zwei Abhandlungen: I. Aristoteles Kategorienlehre, II. Die Kategorienlehre in der Geschichte der Philosophie (GK), Berlin, Bethge, 1846, S. 33. Dieser Hypothese zufolge entspricht die Substanz dem Substantiv, die Quantität und Qualität dem Adjektiv, die Relation dem relativen Komparativ, der Ort und die Zeit den Adverbien des Ortes und der Zeit, das Tun, das Leiden, das Haben und das Liegen dem Verb (GK, S. 23 f.). Auch wenn Trendelenburg an seiner These festhält, sollte bemerkt werden, dass dies nicht der einzige Weg ist, auf dem er die aristotelische Kategorientafel erklärt. Darüber hinaus räumt er ein, dass bei Aristoteles auch eine reale Behandlung der Kategorien am Werk ist, wobei entscheidend ist, was der Sache nach das Erste ist (GK, S. 25, 58). Diese reale Betrachtung der Kategorien passt allerdings nicht gut zu ihrer logischen Betrachtung (GK, S. 189). Überdies weiß Trendelenburg genau, dass es Stellen in den aristotelischen Schriften gibt, in welchen seine Hypothese nur eine Anleitung liefert, ohne aber etwas zu entscheiden (GK, S. 26). Diese Hypothese wurde damals noch viel diskutiert und mehrfach abgelehnt (vgl. dazu A. Brandis, Handbuch der Geschichte der Griechisch-Römischen Philosophie. Aristoteles und seine akademischen Zeitgenossen, Zweiten Theils zweiter Abtheilung, erste Hälfte, Berlin, Reimer, 1853, S. 377 f., S. 400; E. Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Zweiter Teil, zweite Abteilung: Aristoteles und die alten Peripatetiker, Leipzig, 41921, Nachdruck, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1963, S. 264 f., und besonders H. Bonitz, „Über die Kategorien des Aristoteles“ (KA), Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Philos-hist. Classe, Bd. 10, Heft 5, Wien, 1953, S. 591– 645, Nachdruck, Darmstadt, Wissenschafthttps://doi.org/10.1515/9783110524550-004
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das Ganze der Sache nach früher als der Teil ist, so geht er auch hier von dem Urteil als Ganzem aus, löst es in seine Teile auf und erhält so an der Stelle der Satzprädikate die Kategorien als die allgemeinsten Prädikate, die von ihrem Subjekt, der Substanz, ausgesagt werden.⁴ Für die hier geführte Diskussion sind zwei weitere Thesen Trendelenburgs von Bedeutung. Die erste bezieht sich darauf, dass Aristoteles wenigstens für die vier ersten Kategorien – die Substanz, die Quantität, die Qualität und die Relation – eine Ordnung „nach der Entstehung der Sache“ einräumt, während er für die Abfolge der übrigen Kategorien nie eine Erklärung liefert.⁵ Die zweite Behauptung ist damit eng verbunden und besteht darin, dass sich die logische und die reale Betrachtung der Kategorien bei Aristoteles nicht gut in Einklang bringen lassen.⁶ Die Bestimmung der Kategorien als der allgemeinsten Prädikate zieht laut Trendelenburg den wesentlichen Nachteil nach sich, dass sie die reale Genesis der kategorialen Grundbegriffe unerklärt lasse.⁷ Trendelenburg zufolge ist aber eine solche Forderung für jede Kategorienlehre unumgänglich.⁸ Demgemäß soll die reale Betrachtung der Kategorien auf die metaphysischen Ursachen und Gründe jedes Seienden hinführen.⁹ Es ist aber bekannt, dass für Aristoteles die ersten Ursachen und Gründe der Dinge (Stoff-, Form-, Bewegungs- und Zweckursache) nicht in die kategoriale Reihe gehören, was Trendelenburg als ein eindeutiges Indiz dafür wertet, dass bei Aristoteles „logische Subsumtion und reale Genesis, die Aussage und das der Natur nach Frühere in einem Widerstreit“ bleiben.¹⁰
liche Buchgesellschaft, 1967, S. 31 ff., 40 – 54, in dessen Kommentar kaum ein Argument Trendelenburgs unkritisiert bleibt). GK, S. 9 – 16, 20, 149. GK, S. 76 ff., 118, 129. GK, S. 189, 362 f. Ein Beispiel für einen solchen Widerstreit liefert die Behandlung der kinēsis in der Physikvorlesung. Im fünften Buch werden ihre Arten nach den auf sie anwendbaren Kategorien bestimmt: auxēsis und phthisis gelten für das Quantum, alloiōsis für das Quale und phora für den Ort. Bei der Behandlung derselben im VIII. Buch zeigt sich aber, dass eine solche Abfolge der Sache nicht gerecht wird, weil die phora, die nach der kategorialen Einteilung den letzten Platz einnimmt, sich als unumgängliche Voraussetzung für die Existenz anderer Bewegungsarten erweist (GK, S. 188). GK, S. 187, 217. GK, S. 189. GK, S. 187 f. GK, S. 189. Hinter dem Mangel, den Trendelenburg ständig an Aristoteles kritisiert, dass sich bei ihm die logische Subsumption und die reale Genesis streiten würden, steckt gerade die Forderung, die zwei in Einklang zu bringen, eine Forderung, welche Trendelenburg im deutschen Idealismus am Werk sieht. Weder Fichte noch Hegel haben diese Frage gelöst, wohl aber seine eigene Kategorienlehre. In Trendelenburgs Behauptung, die grammatischen Beziehungen würden bei Aristoteles nur eine Anleitung liefern, ohne etwas zu entscheiden, soll deshalb nicht nur die
I.2.1 Die Debatte um den Entdeckungsweg der Kategorien
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Die zweite Position in punkto Kategorien wurde von Brandis und Zeller vertreten und betrachtet die Kategorien als die allgemeinsten Gesichtspunkte (der Gesichtspunkt der Substanz, der Qualität, der Quantität usw.), die für die Begriffsbestimmung jedes Objekts anzuwenden sind.¹¹ Laut Brandis werden sie in der Kategorienschrift aufgrund von „bloß formalen Sonderungen“ eingeleitet,¹² und es ist deshalb nicht angebracht, gleich nach ihrem realen Gehalt zu fragen.¹³ Damit weist er Trendelenburgs These zurück, dass, real betrachtet, die Kategorien ihre Ursprünge in den vier Ursachen des Seienden finden würden.¹⁴ Nach Bonitz, der die dritte Position bezieht, sind auch die Kategorien Begriffe, aber im Unterschied zu Trendelenburg, der sie als von den Satzverbindungen ab-
von ihm selbst unternommene Relativierung seiner Hauptthese über den grammatischen Ursprung der aristotelischen Kategorien (vgl. K. Oehler, „Einleitung“, in Aristoteles, Kategorien, übers. u. erläutert v. K. Oehler, Berlin, Akademie Verlag, 1986, S. 67) wahrgenommen werden, sondern auch die nachkantische Forderung nach der Einheit der logischen Subsumption und der realen Genesis der Kategorien. Wie bereits die Anm. 6 zeigte, sind die Fragen, bei denen die grammatischen Unterscheidungen nicht weiter entscheiden, eben die Fragen nach den weiteren Einteilungen jeder Kategorie in ihre Arten und Unterarten. Zur Lösung dieses Problems greift Aristoteles zur realen Analyse (GK, S. 144 ff., 231), was Trendelenburg von der Sache her als Bruch zwischen der logischen Einteilung und der Analyse interpretiert. Es ist nicht angebracht, hier auf die Einzelheiten dieser Frage einzugehen. Allerdings lohnt es sich zu bemerken, dass Trendelenburg am Ende seiner Schrift das Fazit seiner eigenen Kategorienlehre liefert, wie sie in seinen Logischen Untersuchungen (1840) ausgeführt wurde. Allerdings ist das erste Element seiner Lehre nicht die Substanz, sondern die Bewegung: „Die Bewegung als Causalität ist das Erste; aus ihr begrenzen sich die Substanzen. Wer diesen Vorgang überblickt, hat darin die Grundverhältnisse der übrigen Kategorien; mit der Bewegung die Quantität und das Maass, mit der befassenden Substanz Inhärenz und Wechselwirkung; mit der Weise der Begrenzung Materie und Form, Qualität und Relation.“ (GK, S. 376 f.; zu Trendelenburgs Philosophie vgl. Antonelli, a. a. O., S. 41– 73, und F. C. Beiser, Late German Idealism: Trendelenburg and Lotze, Oxford, Oxford University Press, 2013, S. 28 – 68) Vgl. Brandis, a. a. O., S. 394 f., 400 ff., und Zeller, a. a. O., S. 260 ff. In seiner Dissertation schreibt Brentano Zeller die These zu, die Kategorien seien „Arten der Prädicirung“ (MBS, S. 76, 84). Zeller lehnt sie aber ab (Zeller, a. a. O., S. 259). Brandis, a. a. O., S. 396; vgl. auch Zeller, a. a. O., S. 262 f.; vgl. dazu die vierfache Unterscheidung in Cat. 2, die sich aus der Kombination der Merkmale „von einem Zugrundeliegenden ausgesagt/nicht ausgesagt werden“ und „in einem Zugrundeliegenden sein/nicht sein“ ergeben: „Die Dinge werden teils von einem Zugrundeliegenden ausgesagt, ohne in einem Zugrundeliegenden zu sein. […] Teils sind sie in einem Zugrundeliegenden, ohne von einem Zugrundeliegenden ausgesagt zu werden. […] Teils aber werden die Dinge von einem Zugrundeliegenden ausgesagt und sind in einem Zugrundeliegenden. […] Teils aber sind sie weder in einem Zugrundeliegenden, noch werden von einem Zugrundeliegenden ausgesagt […].“ (Aristoteles, Kategorien, übers. u. erläutert v. K. Oehler, Berlin, Akademie Verlag, 1986, S. 9 f.) Vgl. Brandis, a. a. O., S. 394, 404. Vgl. auch Zeller, a. a. O., S. 261.
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gelöste Elemente betrachtete, legt Bonitz den Akzent darauf, dass sie Begriffe an und für sich sind. Ihre wesentliche Funktion bestehe darin, die verschiedenen Bedeutungen bereitzustellen, in denen das Seiende ausgesagt wird: Es bedeutet hiernach katēgoria nicht allein und ausschließlich, dass ein Begriff einem andern als Prädicat beigelegt, sondern auch überhaupt, dass ein Begriff in bestimmter Bedeutung ausgesprochen oder ausgesagt werde, ohne dass dadurch seiner Beziehung auf einen andern irgendwie gedacht werde. Der Plural katēgoriai wird hiernach bezeichnen können die verschiedenen Weisen, in welchen ein Begriff ausgesagt wird […] also katēgoriai toū ontos die verschiedenen Bedeutungen, welche man mit dem Aussagen des Begriffes on verbindet.¹⁵
Als verschiedene Seinsbedeutungen machen die Kategorien für Bonitz die obersten Geschlechter aus, denen jedes Seiende unterzuordnen ist.¹⁶ Aus dieser These spricht seine Überzeugung, dass der Sinn der aristotelischen Kategorientafel darin liegt, eine Übersicht über den gesamten Erfahrungsbereich dergestalt zu liefern, dass jedes wirkliche oder gedachte Seiende darin seinen Platz finden kann.¹⁷ Bonitz’ These ist gegen Trendelenburgs Behauptung gerichtet, die aristotelischen Kategorien sollten metaphysische Fragen lösen. Bonitz dagegen stellt der aristotelischen Kategorientafel keine metaphysische Aufgabe, sondern begrenzt ihr Ziel darauf, eine Übersicht über den gesamten Erfahrungsbereich zu verschaffen.¹⁸ Damit will er die erfahrungsmäßige Bedeutung der aristotelischen Kategorientafel klar von ihrer ontologischen Bedeutung trennen, weil, ontologisch gesehen, die akzidentellen Kategorien Inhärenzen der Substanz sind und ihr
KA, S. 35 f., vgl. auch S. 13. KA, S. 37. „Wenn wir von etwas Seiendem reden, das ist offenbar der Sinn des Aristoteles, so verstehen wir darunter entweder ein Ding, oder eine Qualität, oder eine Quantität, oder eine Relation, oder ein Wo, oder ein Wann u. s. f. Nun reden wir vom Seienden auf Grund der Wahrnehmung oder Erfahrung; über das gesamte weite und mannigfache Bereich dessen, was uns durch die Erfahrung gegeben wird, soll also dadurch eine Übersicht verschafft werden, dass dieses in seine obersten, allgemeinsten Geschlechter eingetheilt wird. Aristoteles ist hierbei der Überzeugung, dass er die obersten Geschlechter, und dass er sie vollständig getroffen hat.“ (KA, S. 19) „In den Untersuchungen der Metaphysik bildet […] für Aristoteles die Anwendung der Kategorien eine Einleitung, um sich zunächst über den vieldeutigen Gebrauch des on zu orientieren und das Gebiet zu überblicken, um dessen Erklärung es sich handelt, aber sie sollen keineswegs schon selbst eine Beantwortung metaphysischer Fragen in sich enthalten.“ (KA, S. 20; vgl. auch S. 23 und Zellers kritische Bemerkung dazu a. a. O., S. 262 f.)
I.2.2 Brentanos anfängliche Kategorienauffassung und Heideggers Rezeption
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nachgeordnet sind. Vom Gesichtspunkt der Klassifikation des Erfahrungsgebietes her bilden sie dagegen „eine Reihe gleichgeordnete[r] Einteilungsglieder“.¹⁹
I.2.2 Brentanos anfängliche Kategorienauffassung und Heideggers Rezeption derselben Mit Ausnahme von Trendelenburg, der glaubte, in bestimmten grammatischen Unterscheidungen den Weg gefunden zu haben, auf dem Aristoteles zu seinen Kategorien kam, sind sich alle oben genannten Autoren darin einig, dass Aristoteles keine solche Erklärung geliefert hat.²⁰ Auf unterschiedliche Weisen sind sie auch (Trendelenburg eingeschlossen) damit einverstanden, dass man wenigstens hinsichtlich der ersten Kategorien (ousia, poson, poion, pros ti) von einer bestimmten Ordnung insofern sprechen kann, als ousia am Anfang der kategorialen Reihe steht, während, wie Bonitz vorsichtig sagt, poson und poion „in besonders naher Beziehung zur ousia“ stehen.²¹ Was nun Brentano betrifft, unterscheidet er sich in zweierlei Hinsicht von all diesen Interpreten. Der Abwesenheit jeder Äußerung Aristoteles’ darüber zum Trotz glaubt er zum einen, den Weg anzeigen zu können, den der Stagirite bei der Auffindung seiner Kategorien eingeschlagen hat. Zum anderen ist er wenigstens in der Dissertation der festen Überzeugung, dass den aristotelischen Kategorien ein strenges, sogar notwendiges Kriterium zugrunde liege, und demnach, dass seine Tafel keine zufällige, sondern eine notwendige sei. Da Brentano die Anwesenheit eines solchen Kriteriums auf zwei verschiedenen Wegen begründet, werde ich dieses Kriterium zunächst kurz darlegen, um mich danach den beiden unterschiedlichen Wegen zuzuwenden. Bevor ich diesen Punkt angehe, ist es wichtig zu bemerken, dass Brentanos Versuch, die aristotelischen Kategorien abzuleiten, in der Geschichte der Aristoteles-Exegese kein Novum darstellt, sondern, wie er selbst erklärt, im Laufe der Zeit bereits von mehrehren Interpreten unternommen wurde.²² Unter diesen Exegeten hebt Brentano die Rolle von Thomas von Aquin besonders
KA, S. 21. Darüber hinaus ist Bonitz skeptisch, dass die von Trendelenburg aufgestellte Ordnung der ersten vier Kategorien nach dem Prinzip, was der Sache nach das Erste ist – Substanz, Quantität, Qualität, Relation –, bei Aristoteles durchgängig funktioniert (KA, S. 25). Bonitz’ Skepsis lässt sich auch als eine Warnung vor dem Versuch lesen, der von Brentano unternommen wurde, in der aristotelischen Kategorientafel eine strenge Ordnung durchzusetzen. Brandis, a. a. O., S. 376; Zeller, a. a. O., S. 264 f.; KA, S. 39 f. KA, S. 25; Brandis, a. a. O., S. 378 ff.; Zeller, a. a. O., S. 265 ff.; GK, S. 71 f., 211 f. Vgl. Brentanos Exzerpte aus den Kommentaren Ammonius, David, Thomas von Aquin, Zeller (MBS, S. 178 – 184).
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hervor, weil Thomas in seinem Kommentar zu Met. V 7, 1017 a 22– 30 „mit vollkommener Klarheit […] das Prinzip, das bei der Einteilung des on in die Kategorie zu leiten hat“ bestimmt habe.²³ Auch wenn dies in seiner Dissertation der einzige explizite Hinweis auf Thomas von Aquin ist, wissen wir dank den in letzten Jahren veröffentlichten Abhandlungen von Hedwig (2012), Sauer (2013) und Sauer und Antonelli (2014), dass Thomas’ Einfluss auf Brentanos Dissertation tiefer und vielschichtiger war, als diese explizite Referenz auf ihn ahnen lässt.²⁴ Aus diesem Grund werde ich weiter Thomas’ Erklärungen zu Met. V 7, 1017 a 18– 30, die von Brentano in extenso angeführt werden, referieren, weil die Art und Weise, in der Brentano die Hauptklassen der akzidentellen Kategorien bestimmt, Thomas’ Kommentar zu dieser Stelle folgt. Thomas geht davon aus, dass das Seiende kein Genus ist, das durch spezifische Differenzen in seine Arten (die Kategorien) eingeteilt wird. Denn wäre dies so, dann würden die Differenzen außerhalb des Genus (des Seienden) liegen und als Folge davon nichts sein. Was aber nichts ist, lässt sich nicht als Differenz des Seienden zugänglich machen.²⁵ Deshalb wird das Seiende in die Kategorien auf der Basis ihrer Prädikationsweise aufgeteilt, die der Existenzweise der kategorialen Bestimmungen in der ersten Substanz folgen.²⁶ Um diese Prädikationsweisen zu bestim MBS, S. 181. Vgl. den angeführten Aufsatz Hedwigs, wo die wichtigsten Stationen von Brentanos Aneignung des Denkens von Thomas aufschlussreich dargestellt und die Exzerpte aus Thomas’ Schriften aufgelistet sind, die Brentano zur Anfertigung seiner Dissertation erstellt hat. Dabei behauptet Hedwig über die „Vorstudien“ Brentanos zu seiner Dissertation: „In die eigenen Interpretationen fließen zwanglos Zitate, Verweise und Exzerpte der Thomaskommentare ein.“ (A. a. O., S. 104) Vgl. auch W. Sauer „Being as the True: From Aristotle to Brentano“, in D. Fisette and G. Fréchette (Hrsg.), Themes from Brentano, Amsterdam/New York, Rodopi, 2013, S. 193 – 226; Antonelli und Sauer, „Einleitung“, und I.3.6 unten. In V Met. lect. 9, n. 889; vgl. auch Hedwig, a. a. O., S. 115 f. Beim Studium der lateinischen Texte Thomas’ (In Met., De Ente et Ess. und De ver.) habe ich ihre englischen (Commentary on Aristotle’s Metaphysics St. Thomas Aquinas, übers. v. John. P. Rowan, Notre Dame, Dumb Ox Books, 1991) und deutschen Übersetzungen (vgl. die betreffenden bibliographischen Hinweise unten) benutzt. Da, wo nur die in der Fachliteratur üblichen Abkürzungen von Thomas’ Schriften ohne weitere bibliographische Hinweise angegeben werden, beziehe ich mich auf die Online-Ausgabe von Thomas’ Werk: S. Thomae de Aquino opera omnia, recognovit ac instruxit Enrique Alarcón automato electronico Pompaelone an Universitatis Studiorum Navarrensis aedes MM A. D., http:// www.corpusthomisticum.org/iopera.html. (19.03. 2021) Da dieser Auffassung zufolge die Prädikation der Art und Weise Ausdruck verleiht, in der die Formen der ersten Substanz aktuell inhärieren, wird sie in der einschlägigen Literatur „Inhärenztheorie der Prädikation“ genannt (vgl. dazu den ersten Teil („The Need for Entia Rationis: St. Thomas Aquinas on the Two Senses of ‚esse‘“) von Klimas’ Aufsatz „The Changing Role of Entia Rationis in Mediaeval Semantics and Ontology“, Synthese 96/1 (1993), S. 25 – 59; ders., „Theory of Language“, in B. Davies, E. Stump (Hrsg.), The Oxford Handbook of Aquinas, Oxford, Oxford
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men, geht Thomas davon aus, dass es drei Weisen gibt, auf welche das Prädikat auf das Subjekt bezogen werden kann: auf die erste Weise sagt das Prädikat aus, was das Subjekt ist, z. B. „Sokrates ist ein Mensch“. Auf die zweite Weise nennt das Prädikat etwas, was dem Subjekt immanent ist, und zwar entweder absolut – dann erhält man die Quantität vonseiten der Materie und die Qualität vonseiten der Form – oder mit Bezug auf etwas anderes – dann erhält man die Relation, etwa „Sokrates ist kleiner als Kallias“. Auf die dritte Weise nennt das Prädikat etwas, was dem Subjekt äußerlich ist. Dies kann wieder auf zwei Weisen erfolgen: entweder ist es ihm vollständig äußerlich, dann haben wir es mit den Kategorien der Umstände (des Ortes²⁷ und der Zeit) sowie mit der Kategorie „Haben“ zu tun, unter die solche Bestimmungen („gekleidet oder bewaffnet sein“) fallen, die dem Subjekt äußerlich sind, ohne jedoch zu den Umständen zu gehören; oder das Prädikat kann etwas nennen, das dem Subjekt zwar äußerlich ist, ihm jedoch unter einem gewissen Gesichtspunkt ebenfalls immanent ist, und zwar entweder als Prinzip (etwa Sokrates als wirkendes Prinzip der Tätigkeit, Holz zu schlagen) oder als Terminus (d. h. als dasjenige, auf das die Tätigkeit gerichtet ist, etwa Sokrates als Terminus der Tätigkeit, geschlagen zu werden). So zählt Thomas die Kategorien in einer Ordnung auf, die mit den Kategorien beginnt, die der ersten Substanz immanent sind, fährt mit denjenigen fort, die ihr äußerlich sind, und endet mit dem Tun und dem Leiden, die sich teilweise in der Substanz, teilweise außer ihr befinden.²⁸ Wie Hedwig aufschlussreich gezeigt hat, geht es bei Thomas nicht um eine Ableitung der Kategorien wie bei Brentano, sondern nur darum, sie aufzufinden und zu explizieren.²⁹ Was nun Brentano betrifft, übernimmt er zwar die Auffassung von dieser Ordnung, die schon bei Pseudo-Augustinus vorhanden ist,³⁰ ändert sie jedoch im Laufe seiner Erörterungen über die einzelnen Kategorien, indem er das Tun und das Leiden gegenüber den Kategorien der Umstände (dem Ort und der Zeit) vorzieht, weil so der „ontologischen Bedeutung“ der Kategorien besser Rechnung getragen und „stufenweise von den innerlichen zu den äußeren PrädikationsUniversity Press, 2012, S. 371– 389; vgl. auch H. Weidemann, „The Logic of Being in Thomas Aquinas“, in S. Knuuttila, J. Hintikka (Hrsg.), The Logic of Being, Dordrecht, Reidel, 1986, S. 181– 200. Wenn man darüber hinaus die Ordnung der Teile angesichts des Ortes in Rechnung zieht, dann bekommt man die Kategorie der Lage. In V Met. lect. 9, n. 889 – 892. Thomas’ Kommentar wird von Brentano in extenso angeführt (MBS, S. 182 f.). Vgl. dazu Hedwig, a. a. O. (S. 114 ff., 119), wo die „Divergenzen“ zwischen Brentano und Thomas angesichts der Interpretation der aristotelischen Kategorien dargestellt sind. MBS, S. 180. Brentano erkennt Pseudo-Augustinus auch das Verdienst an, „die verschiedenen Verhältnisse zur Substanz zum Prinzip“ gemacht zu haben (ebd.).
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weisen“ hinabgestiegen werde.³¹ Sein Grundgedanke dabei beruht genauso wie bei Thomas und Pseudo-Augustinus darauf, dass alle akzidentellen Kategorien in unterschiedlicher Weise ein Verhältnis zur ersten Substanz haben. Diese Beziehungen lassen sich weiter in eine Skala einordnen, in welcher die Position jeder Kategorie gemäß dem Inhärenz-Kriterium der akzidentellen Bestimmungen in der ersten Substanz streng bestimmt ist, denn jede dieser Bestimmungen ist der ersten Substanz entweder immanent oder ist teilweise in ihr, teilweise außer ihr oder ist ihr gänzlich äußerlich.³² So kommen die Qualität und die Quantität am Anfang der Skala zu stehen, weil sie zur Klasse der Kategorien gehören, die die erste Substanz von innen affizieren und bestimmen, die Qualität auf der Seite der Form, die Quantität auf der Seite der Materie.³³ Ihnen folgen das Tun und das Leiden, welche die Substanz teilweise von innen, teilweise von außen bestimmen. Nach ihnen kommen die äußeren Umstände (die Kategorien des Ortes und der Zeit), die die Substanz von außen affizieren, während der letzte Platz der kategorialen Reihe von der Relation besetzt wird, weil sie die schwächste und angesichts ihres Verhältnisses zur ersten Substanz die äußerlichste von allen Kategorien ist.³⁴ Wenn man den Anfang dieser Reihe durch die grundlegende Einteilung des on in Substanz und Akzidens ergänzt, dann erhält man einen vollständigen Überblick über den deduktiven Weg und sein notwendiges Kriterium, die Inhärenz in der ersten Substanz, auf dem Aristoteles laut Brentano zu seiner Kategorientafel gelangt ist.³⁵ Für das erwähnte Problem, nämlich das Verhältnis Brentano − Heidegger, ist es wichtig zu bemerken, dass Brentano die Anwesenheit eines solchen Kriteriums bei Aristoteles auf zwei verschiedenen Wegen begründet. Zum einen geht er davon aus, dass die Kategorien die realen Bedeutungen des Seienden sind,³⁶ und bestimmt ihr
MBS, S. 158 f. Brentano schließt die Kategorien Haben und Lage (keisthai) aus der aristotelischen Kategorientafel aus, weil sie auf die Klasse der kinēseis (Tun und Leiden) und auf pros ti zurückführbar seien (MBS, S. 164 ff., 171 f.). Aus diesem Grund werden Qualität und Quantität Inhärenzen genannt. Das Tun und das Leiden bezeichnet Brentano auch als Operationen und den Ort und die Zeit als äußere Umstände (MBS, S. 154). MBS, S. 148 – 178. Auch wenn die Relation am Ende der Kategorientafel steht, wird sie schon zu Anfang der Deduktion, und zwar mit der Einteilung der Akzidenzien in absolute Akzidenzien (alle akzidentellen Kategorien außer der Relation) und die Relationen eingeführt. Der Unterschied zwischen ihnen besteht darin, dass während die absoluten Akzidenzien die erste Substanz wirklich affizieren, die Relation „nur ganz lose an das Subject geknüpft […] [ist,] ohne es zu modifizieren“ (MBS, S. 151). Vgl. Abb. 1 unten S. 29. In seiner Interpretation spricht sich Brentano für die Position von Bonitz aus, die er aber mit Thesen anderer Interpretationen verbindet (MBS, S. 80 ff.).
I.2.2 Brentanos anfängliche Kategorienauffassung und Heideggers Rezeption
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Verhältnis zueinander mit Bezug auf das Verhältnis der Synonymie und der reinen Homonymie. Zum anderen betrachtet er die Kategorien als die obersten Genera des Seienden. Auf dem ersten Weg wird das Seiende in Hinblick auf seine kategorialen Bedeutungen verstanden. Dabei sind diese Bedeutungen weder zufällig zusammengestellt,³⁷ noch stellen sie die unterschiedlichen Arten eines ihnen übergeordneten Genus, des Seienden, dar, das durch spezifische Differenzen in acht kategoriale Spezies eingeteilt würde. Vielmehr sind die Kategorien verschiedene reale Seinsbedeutungen, die von ihrem je unterschiedlichen Verhältnis zur ersten Substanz geprägt sind. Dieses Verhältnis, das je nach Kategorie durchaus variiert, macht das Element aus, bezüglich dessen die Kategorien ähnlich oder analog sind, und stellt den Grund dafür dar, weshalb Brentano das Seiende als ein Homonym durch Analogie³⁸ betrachtet.Wenn man die folgenden acht Beispiele nimmt: „Sokrates ist ein Mensch, weise, x Kilo wiegend, gehend, geschlagen, in Athen, um 2 Uhr, kleiner als Kallias“, und sie im Sinne dieser Lehre interpretiert, dann wird mittels der Kopula „ist“ in jeder dieser Aussagen jeweils eine unterschiedliche Bedeutung des Seins ausgedrückt,³⁹ die ein jeweils verschiedenes reales Verhältnis der kate-
Das ist der Fall bei der akzidentellen Homonymie. Der Name „Ball“ bezeichnet rein zufällig sowohl einen Gesellschaftstanz als auch das runde Ding, mit dem die Kinder spielen. Aubenque hat gezeigt, dass Aristoteles zur Bezeichnung der hier behandelten Verhältnisse der akzidentellen Kategorien zur ousia nicht den Ausdruck analogia, sondern pros hen legomena benutzt (vgl. P. Aubenque, Le probléme de l’être chez Aristote, Paris, PUF, 51983, S. 198 – 206, und dagegen Seidl, „Einleitung“, in Aristoteles, Metaphysik, 2. Halbbd., S. XIX–XXVI; vgl. zu demselben Problem, J.-F. Courtine, „Différence ontologique et analogie de l’être“, in B. Mojsisch, O. Pluta (Hrsg.), Historia Philosophiae Medii Aevi. Studien zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, Bd. 1, Amsterdam/Philadelphia, Grüner, 1991, S. 163 – 179). Brentano ist sich dessen bewusst, bezeichnet jedoch dieses Verhältnis mit dem Ausdruck „Analogie durch die Hinsicht auf ein und denselben Terminus“ (MBS, S. 97), was auf den Einfluss des scholastischen Denkens auf ihn hinweist (vgl. dazu Hedwig, a. a. O., S. 104 f., 108 ff.). An sich betrachtet drückt das Sein der Kopula für Brentano nichts Wirkliches aus, sondern ist, genauso wie bei Thomas, ein bloßes Gedankending (Quodl. IX, q. 2 a. 2 co.; MBS, S. 218). Aus diesem Grund rührt ihre ontologische Tragweite von den kategorialen Bestimmungen, die im Prädikatsterm des Urteils ausgedrückt und mittels der Kopula dem Subjekt zugesprochen werden. Diese Bestimmungen, die unter die aristotelischen Kategorien fallen, werden deshalb von Thomas als substantielle Prädikate betrachtet, weil sie zur ersten Substanz gehören (In V Met. lect. 9, n. 896). Zu diesen Prädikaten gehört auch der actus essendi, der z. B. im existentialen „ist“ in „Sokrates ist“ zur Sprache kommt (vgl. dazu Schmidt, der darauf hinweist, dass die erste Operation des Verstandes, das Erfassen des Unzusammengesetzten, den actus essendi nicht erfasst, sondern er erst durch das Urteil erkannt und ausgedrückt wird (R. W. Schmidt, The Domain of Logic According to Saint Thomas Aquinas, Den Haag, Martinus Nijhoff, 1966, S. 221, 235)). Ich habe die Reihe von Beispielen jedoch nicht mit dem existentialen Urteil begonnen, weil die Lehre vom actus essendi Aristoteles fremd ist und Brentano seinerseits die Terminologie des actus essendi in
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gorialen Bestimmung zur ersten Substanz zur Sprache bringt. Im ersten Urteil geht es um ein wesentliches Verhältnis. Dagegen handelt es sich in den anderen Fällen um sieben akzidentelle Verhältnisse, die den unterschiedlichen Weisen Ausdruck verleihen, in denen die ihnen entsprechenden kategorialen Bestimmungen Sokrates affizieren – die Eigenschaft „weise zu sein“ kommt z. B. Sokrates anderes zu als die Eigenschaft „x Kilo zu wiegen“ oder „in Athen zu sein“.⁴⁰ Diese Bestimmungen sind deshalb nicht zufällig zusammengestellt, weil sie einen gemeinsamen Bezugspunkt, Sokrates, haben, den sie aus acht verschiedenen Perspektiven (aus der Perspektive seines Wesens, seiner Qualität, Quantität usw.) qualifizieren. Aufgrund der erwähnten Verhältnisse ist Brentanos Interpretation ontologisch tief in der aristotelischen Kategorienlehre verankert.⁴¹ Darüber hinaus treten sie auf sprachlogischer Ebene in acht unterschiedlichen (einer wesentlichen und sieben akzidentellen) Verwendungsweisen des kopulativen „ist“ zutage, mittels derer die kategorialen Bestimmungen von der ersten Substanz ausgesagt werden. Aufschlussreich für diese Übereinstimmung zwischen dem ontologischen modus essendi und dem sprach-logischen modus dicendi ist Brentanos Behauptung: Nichtsdestoweniger halten wir aber das als die Ansicht des Aristoteles fest, dass die Zahl und Verschiedenheit der höchsten Gattungen der Zahl und Verschiedenheit der Arten der Prädizierung entsprechend sei, […] weil gerade in dieser Eigentümlichkeit der Prädikationsweise das eigentümliche Verhältnis der Kategorie zur ersten Substanz und somit das eigentümliche Sein der Kategorie den deutlichsten Ausdruck findet.⁴²
seiner Arbeit nicht verwendet (vgl. zu Brentanos späterer Haltung zur Frage des actus essendi: F. Brentano, Wahrheit und Evidenz (WE) (1930), O. Kraus (Hrsg.), Nachdruck, Hamburg, Meiner, 1974, S. 162, 219). Darüber hinaus arbeitet Brentano in seiner Dissertation nicht mit existentialen, sondern nur mit kategorischen Urteilen. Auch wenn er später alle kategorischen Urteile auf existentiale Urteile zurückführen wird (F. Brentano, Sämtliche veröffentlichte Schriften, Th. Binder, A. Chrudzimski (Hrsg.), Bd. 1: Psychologie vom empirischen Standpunkte (PeS; im Haupttext auch als Psychologie abgekürzt); Von der Klassifikation der psychischen Phänomene, Th. Binder, A. Chrudzimski (Hrsg.), mit einer Einleitung von M. Antonelli, Frankfurt a. M., Ontos, 2008, S. 236 ff.) gibt es doch in seiner ersten Arbeit keinen Hinweis darauf, dass er bereits 1862 diesen Weg eingeschlagen hätte. Die Frage der Homonymie des Seins lässt sich weiter entwickeln, wenn man von jedem dieser Urteile sagt, dass es wahr oder falsch ist: „‚Sokrates ist ein Mensch‘ ist wahr“, wo „ist wahr“ Träger derjenigen veritativen Bedeutung des Seienden wird, die von Aristoteles das Seiende als Wahres genannt wird (vgl. unten I.3.3). Die ontologische Interpretation, die nicht für die Schrift Kategorien gilt, ist nur eine von mehreren möglichen Interpretationen der aristotelischen Kategorien (vgl. dazu die wertvolle Übersicht über die Geschichte der Rezeption der aristotelischen Kategorientafel, die Oehler in der „Einleitung“ des von ihm herausgegebenen Bandes bietet). MBS, S. 117; vgl. auch: „Denn wie etwas in der ersten Substanz existirt, so wird es auch von ihr ausgesagt, da ja die Prädicationen (im eigentlichen Sinne) nichts Anderes aussagen, als daß das
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Angesichts der zentralen Wichtigkeit, die dieser These in Brentanos Ausführungen zukommt, ist zu bemerken, dass unter allen oben erwähnten Exegeten, die auf den Gedanken einer bestimmten Ordnung der aristotelischen Kategorientafel gekommen sind, Thomas von Aquin für Brentano der bedeutendste ist, nicht nur weil in seinem Kommentar das Kriterium der kategorialen Ordnung deutlich zur Sprache kommt – das passiert auch bei anderen Interpreten (z. B. bei PseudoAugustinus oder Zeller) –, sondern weil er darüber hinaus großen Wert darauf legt, dass die unterschiedlichen Existenzweisen der kategorialen Bestimmungen in der ersten Substanz die unterschiedlichen Weisen ihrer Prädikation darüber begründen.⁴³ Auch wenn Brentano sich in § 7, zu dem die eben angeführte Stelle gehört, nicht mit dieser Frage beschäftigt, ist es für den weiteren Verlauf meiner Analyse in den Abschnitten I.3.3–I.3.4 wichtig zu betonen, dass die Urteile, die den unterschiedlichen Prädikationsweisen der kategorialen Bestimmungen über die erste Substanz Ausdruck verleihen, affirmative wahre Urteile sind, weil nur mittels ihrer die Prädikationsweise der Existenzweise folgen und sie treu reflektieren kann. Diese These ist im weiteren Kommentar Thomas’ zu Met.V 7, a 31– 35, wo das Seiende als Wahres dargestellt wird, klar einbezogen, weil Thomas darin das kategoriale Seiende als Ursache der Wahrheit der Urteile, die ihm Ausdruck verleihen, betrachtet.⁴⁴ Brentano beruft sich hingegen in § 7 nicht auf Thomas. Was er allerdings über die „als wahr behaupteten“ Sätze auf S. 34– 38 seiner Arbeit sagt, lässt sich aus der Perspektive seiner zentralen These über die Prädikationsweise, die der kategorialen Existenzweise folgt, sehr gut bewerten, weil die affirmativen wahren Urteile, die die sieben unterschiedlichen Prädikationsweisen der akzidentellen Kategorien über die erste Substanz konkretisieren, sich zweifelsohne als „wahr behauptete“ Sätze, d. h. als Sätze, die nicht nur wahr zu sein beanspruchen, sondern diesen Anspruch auch explizit machen, verstehen
Prädicat irgendwie im Subjecte sei, sei es nun wie eine Gattung in der Species oder eine Species im Individuum u. dgl., oder wie ein Accidenz in seiner Substanz.“ (S. 114; vgl. auch S. 119 f.) In diesem Punkt folgt Brentano treu Thomas’ Kommentar In V Met. lect. 9, n. 890. Thomas macht darin aber einen weiteren Schritt, den der junge Brentano nicht mitmacht, indem er die kategorialen Verhältnisse als Ursache der Wahrheit der Urteile, die sich auf sie beziehen, betrachtet (In V Met. lect. 9, n. 895 f.). MBS, S. 180 ff. In diesem Punkt folgt Brentano genau der aristotelisch-thomasischen Entsprechung zwischen den sprach-logischen Strukturen des Denkens und der kategorialen Struktur der Welt. In V Met. lect. n. 895 f. Darüber hinaus behauptet Thomas in seinem Sentenzenkommentar klar, dass alles, was von Natur aus in den Dingen ist, mittels einer affirmativen Aussage als etwas, was ist, bezeichnet werden kann: „quia omne quod haben naturale esse in rebus, potest significari per propositionem affirmativam esse; ut cum dicitur: color est, vel homo est.“ (In II Sent. d. 34, q. 1 a.1 co.) Dagegen setzt Brentano die zwei nicht in ein kausales Verhältnis zueinander.
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lassen.⁴⁵ Wie ich unten zeigen werde, besagt dies jedoch nicht, dass Brentano und Thomas angesichts dieses Problems dieselbe Position beziehen würden. Die mannigfachen, jedoch durch ihren gemeinsamen Bezugspunkt einheitlichen Verhältnisse machen genau den Grund aus, weshalb Heidegger Brentanos Auffassung als eine Substanzlehre charakterisiert. Auch in seiner Behauptung, es gebe eine „gemeinsame Herkunft“ der vier Bedeutungen des Seienden bei Aristoteles, dürften wir gewissermaßen ein Analogon⁴⁶ zu derjenigen Rolle finden, die die erste Substanz in Brentanos Dissertation spielt, denn Brentanos Analyse kann in dem Sinne rekonstruiert werden, dass sich nicht nur die akzidentellen Kategorien, sondern auch die anderen Bedeutungen des Seienden um das kategoriale Seiende herum, und zwar um seinen Bezugspunkt, die erste Substanz, drehen: Das Seiende als Wahres bewegt sich darum, weil es auf der sprach-logischen Ebene den kategorialen Verhältnissen Ausdruck verleiht,⁴⁷ während das Seiende der Wirklichkeit nach die Form jeder akzidentellen Kategorie ausmacht. Was das Seiende dem Vermögen nach betrifft, lässt es sich auf das ihm entsprechende Seienden der Wirklichkeit nach zurückführen.⁴⁸ Der zweite Weg, den Brentano einschlägt, um seine These zu beweisen, geht nicht von der Betrachtung der Kategorien als verschiedenen Bedeutungen des Seienden aus, sondern von ihrer Bestimmung als oberste Genera desselben. Als solche setzen sie eine bestimmte Materie oder ein bestimmtes Vermögen voraus. Das Genus „Substanz“ setzt die sogenannte prōtē hylē voraus, die akzidentellen Kategorien verlangen hingegen als ihre Materie das Substratum oder das Kompositum, das von der Einheit der Materie und der Form gebildet wird. Dieses Substratum spielt mit Bezug auf die akzidentellen Kategorien die Rolle des potentiellen Prinzips, das fähig ist, von den akzidentellen Formen in unterschiedlicher Weise
MBS, S. 35; s. unten I.3.3. Es geht nur um ein Analogon, weil bei Heidegger nicht die erste Substanz, sondern das on energeia die gesuchte „gemeinsame Herkunft“ der vier Bedeutungen ist (s. unten S. 31 f.). Wie unten gezeigt wird, lassen sich nicht alle Aussagen, die den Bereich des Seienden als Wahren ausmachen, als Ausdruck des kategorialen Seienden verstehen. MBS, S. 218. Dabei behandelt Brentano das Seiende dem Vermögen und der Wirklichkeit nach nicht mit Bezug auf die Erklärung der Bewegung, so wie es im vierten Kapitel seiner Arbeit der Fall ist, sondern innerhalb des kategorialen Seienden. Zeller bemerkt angesichts des Deduktionsversuchs Brentanos: „Allein die Frage ist ja nicht die, ob es überhaupt möglich ist, die 10 Kategorieen in irgend eine logische Disposition einzutragen […], sondern ob Aristoteles auf dem Weg einer logischen Deduktion zu ihnen gekommen ist. Und hiegegen spricht zweierlei: einmal, dass Arist. selbst bei der Besprechung der Kategorieen nie auf eine solche Deduktion hinweist, und sodann, dass sich keine finden lässt, welcher sie sich ungezwungen fügten.“ (Zeller, a. a. O., S. 265; vgl. auch Brentanos Antwort auf Zellers Einwände in ALU, S. 3 ff.)
I.2.2 Brentanos anfängliche Kategorienauffassung und Heideggers Rezeption
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affiziert zu werden oder sie in verschiedenen Weisen aufzunehmen.⁴⁹ Diese unterschiedlichen Aufnahmeweisen machen genau die verschiedenen Inexistenzweisen⁵⁰ oder Beziehungen der Akzidenzien zur ersten Substanz aus. Auf diesem Weg kommt Brentano wiederum zum Ergebnis, dass die Akzidenzien nur insoweit existieren, als sie eine bestimmte Beziehung auf die prōtē ousia haben oder in einer bestimmten Weise in ihr sind. Das hier dargelegte Kriterium lässt sich als Kern der Beweisführung Brentanos betrachten. Am Ende des § 13 der Abteilung über das kategoriale Seiende, in dessen Titel ausgerechnet die Wendung „Deduktion der Kategorieneinteilung“⁵¹ steht, liefert Brentano zwei Schemata,⁵² die dazu bestimmt sind, den Deduktionsverlauf der aristotelischen Kategorien zu veranschaulichen. Wie schon angedeutet, beginnt diese Deduktion mit der Einteilung des allgemeinsten Begriffs „Seiende“ in die Begriffe „Substanz“ und „Akzidenz“, setzt mit der weiteren Einteilung des Begriffs „Akzidenz“ in den Begriff der absoluten Akzidenzien und den der Relation fort, um mit der Sonderung der absoluten Akzidenzien in die Klassen der Inhärenzen (der Qualität und der Quantität), der kinēsis oder Operationen (des Tuns und des Leidens) und der Umstände (des Ortes und der Zeit) zu enden.⁵³ Der Schwachpunkt dieser Schemata besteht darin, dass sie mehr sprach-logisch als ontologisch ausgerichtet sind. Der erste Schritt dieser Einteilung ist in Brentanos Schemata so dargestellt, als ob Substanz und Akzidens zwei gleichrangige Begriffe wären. Wenn man auf die weiteren Schritte seiner Einteilung blickt, ohne seine Äußerungen über die unterschiedlichen Verhältnisse der Akzidenzien zur Substanz zu berücksichtigen, dann unterscheidet sich seine Einteilung des Seienden kaum von der Einteilung eines Genus in seine untergeordneten Spezies. Seine wiederholte Präzisierung, dass das Seiende sich hier nicht nach spezifischen Differenzen, sondern nach den
MBS, S. 110 – 112. Es ist bekannt, dass „die intentionale (wohl auch mentale) Inexistenz eines Gegenstandes“ einen wesentlichen Aspekt der Intentionalitätsfrage in Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt darstellt. Im Unterschied zu dieser Arbeit hat der Terminus „Inexistenz“ in Brentanos erster Schrift keine psychologische, sondern eine ontologische Bedeutung, die auf die unterschiedlichen Weisen hinweist, in denen die Akzidenzien der ersten Substanz innewohnen (MBS, S. 151, 163). MBS, S. 208. Es sei nur nebenbei bemerkt, dass nachdem sich Brentano in der Dissertation so sehr um den Beweis bemüht hat, dass der aristotelischen Kategorientafel ein strenges, sogar notwendiges Kriterium zugrunde liegt, behauptet er über fünf Jahre später in der Metaphysikvorlesung, die er 1867 an der Universität Würzburg hält, dass die aristotelische kategoriale Tafel „nicht erwiesen“ sei (M 96, Lektion XXXV). MBS, S. 175 (vgl. Abb. 1, S. 29); s. auch S. 177. MBS, S. 148 – 175; s. die Abb. 1; vgl. auch MBS, S. 175; s. auch 177; wie gesagt, folgt Brentano hier Thomas’ Ausführungen aus dem Kommentar zu Met. V 7.
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„verschiedenen Weisen des Verhaltens zur ousia als gemeinsamer Terminus“ scheide,⁵⁴ bringt uns nicht weiter, insofern sein Schema gerade dadurch auffällt, dass ausgerechnet das Element, das den ontologischen Nexus seiner Beweisführung ausmacht, nämlich die unterschiedlichen Verhältnisse der Akzidenzien zur ersten Substanz, in seinen Schemata auf keine Weise gekennzeichnet ist. Nach ihnen werden Begriffe eingeteilt, die in einem obersten Begriff (to on) verbunden sind, und nicht wirkliche Inexistenzweisen der akzidentellen Kategorien in der prōtē ousia.⁵⁵ Das ist kein leicht auszugleichender Mangel seiner Schemata, weil damit ausgerechnet das wichtigste Element seiner Beweisführung – die erste Substanz und die Verhältnisse zu ihr – unberücksichtigt bleibt. Eben wegen dieses Elementes dürfen die akzidentellen Kategorien nicht getrennt von der Substanz dargestellt und deduziert werden. Wenn man bedenkt, dass die Unterscheidung der verschiedenen Inexistenzweisen und der unterschiedlichen Prädikationsweisen von to on den Hauptweg ausmachen, auf dem Brentano seinen Beweis führt, dann lässt sich sagen, dass seine Deduktionsschemata dem Verlauf seines Beweisganges ganz und gar nicht entsprechen. Viel passender wäre es gewesen, die Einteilungsglieder der Schemata so darzustellen, dass sie nicht in der Luft hängen bleiben, sondern zur ersten Substanz hinführen, so wie z. B. Heidegger die aristotelische Kategorientafel dargestellt hat.⁵⁶ Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Sein der akzidentellen Kategorien in ihrem Verhältnis zur ersten Substanz besteht, die für Brentano die Hauptbedeutung des Seienden ist. Nach Brentano ist aber das Sein dieser Hauptbedeutung nicht einfach – so Heidegger –, sondern zusammengesetzt, und zwar aus der Einheit der Materie und der Form. Damit unterscheidet sich seine Lektüre der Metaphysik des Aristoteles von Heideggers Lesart wesentlich. Laut Heidegger haben die Griechen ousia als Anwesenheit, also im Falle von Aristoteles als eidos bestimmt.⁵⁷ Brentano dagegen fasst ousia hauptsächlich als prōtē ousia auf, versteht die Form als physischen Teil des Dings und legt damit ihren Grundzug nicht in der Anwesenheit (d. h. in ihrer Form) fest, sondern in ihrer Zusammengesetztheit aus Materie und Form.⁵⁸ Seine Deutung ist keineswegs zufällig, sondern maßgeblich vom Ziel
MBS, S. 177. Aubenque warf Brentano vor, die Unterscheidung von Seinsbedeutungen mit ihrer Einteilung zu verwechseln. Wer Brentanos Schemata berücksichtigt, kann seine Meinung nicht zurückweisen (vgl. Volpis Kommentar dazu in „Brentanos Interpretation der aristotelischen Seinslehre“). Heidegger, Aristoteles, Metaphysik Θ 1 – 3, S. 17, und die graphische Darstellung in Abb.1. Vgl. dazu besonders das zweite Kapitel des ersten Teils der Vorlesung Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie, Frankfurt a. M., Klostermann, 1982, S. 39 – 113, und ders., Logik. Die Frage nach der Wahrheit, Frankfurt a. M., Klostermann, 1976, S. 179 f., 190 ff. MBS, S. 140.
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Abbildung 1: Das mannigfache Aussagen des Seienden und die Einteilung der Kategorien bei Brentano und Heidegger
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seiner Beweisführung bedingt, weil Brentano seine These von einer strengen Ordnung der aristotelischen Kategorien nur durch Rekurs auf die verschiedenen Inexistenzweisen der akzidentellen Kategorien in der ersten Substanz verteidigen kann. Das ist ferner nur dann möglich, wenn diese als Substrat der Akzidenzien fungiert, nämlich nur, wenn sie nicht einfach, sondern zusammengesetzt ist. Anders gesagt: Wenn die durchherrschende Bedeutung des Seienden bei Brentano einfach wäre, dann könnte sie keinen einheitlichen Charakter der aristotelischen Kategorientafel liefern und keinen Deduktionsversuch begründen. Heidegger dagegen thematisiert das eidos nicht innerhalb der kategorialen Reihe, sondern als Aussehen, das den Endpunkt ausmacht, in dem sich die als Vermögen oder Eignung verstandene hylē erfüllt.⁵⁹ Was nun Heideggers Position angesichts der Frage nach der Ordnung und dem Auffindungsweg der aristotelischen Kategorien betrifft, sollte von vornherein gesagt werden, dass diese Frage für ihn keine zentrale Rolle spielt. Heideggers Meinung nach lassen sich in dem aristotelischen to on legetai pollachōs ein weiterer und ein engerer Sinn von pollachōs unterscheiden.⁶⁰ Das kategoriale Seiende macht den engeren Sinn aus, und wenn man Heideggers Analyse mit Brentanos Erklärung dazu vergleicht, dann zeigt sich, dass Heideggers Erörterungen in dieselbe Richtung der mannigfachen, jedoch wegen ihres gemeinsamen Bezugspunkts einheitlichen Beziehungen der akzidentellen Kategorien zur Substanz führen, wie wir sie von Brentanos Erklärungen kennen.⁶¹ Heidegger setzt die Akzente jedoch anders als Brentano, denn im Unterschied zu ihm behandelt Heidegger (1) die Kategorien nicht als reale Begriffe, sondern als veritative Ansprechungen des Seienden, und (2) thematisiert er die aristotelische Substanz als „beständige Anwesenheit“ oder als „Anwesenheit des Aussehens“ (eidos),⁶² wobei daraus seine Überzeugung spricht,
Heidegger, „Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles’ Physik B, 1“, in ders., Wegmarken, Frankfurt a. M., Klostermann, 1976, S. 346, 350; vgl. zum Verhältnis von eidos und hylē das Beispiel vom Entstehen eines Tisches, wobei das zur Umwandlung in einen Tisch ausgewählte und zugeschnittene Holz nicht in erster Linie als Materie eines Bearbeitungsprozesses, sondern auf der Basis seines Vermögens thematisiert wird, das Aussehen (eidos) „Tisch“ zustande zu bringen (a. a. O., S. 354 f.; vgl. auch ders., Aristoteles, Metaphysik Θ 1 – 3, S. 138 f., 179 ff.). Heidegger, Aristoteles, Metaphysik Θ 1 – 3, S. 15 f., 34, 45; ders., Vom Wesen, S. 77 f. Aubenque hat bereits darauf hingewiesen, dass das ein gut bekanntes Lehrstück der aristotelischen Philosophie ist (a. a. O., S. 190 – 198). Heidegger, Vom Wesen, S. 70 ff. Eng damit verbunden ist die folgende Unterscheidung: Brentano weist die Auffassungen von Zeller und Brandis über die Kategorien zurück, weil sie die reale Tragweite der Kategorien verlieren, indem sie die Kategorien als logisches Fachwerk betrachteten, in das jeder Begriff und Gegenstand einzutragen ist. Was Heidegger betrifft, bezieht er eine Position, in der seine Auseinandersetzung mit der kantischen Philosophie anklingt, und die der Position Brentanos entgegensetzt ist: „Kategorien sind nicht ‚reale Begriffe‘, sondern Fach-
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dass die Griechen „das Sein aus der Zeit“, und zwar aus der Gegenwart als einem „Charakter der Zeit“, gedacht haben.⁶³ Der wichtigste Punkt bei Heideggers Rezeption der Dissertation Brentanos ist wohl in Heideggers Behandlung des weiteren Sinns von pollachōs ausgeprägt. Diesem Sinn gemäß faltet sich die Seinsanalogie bei Aristoteles in die vier Bedeutungen des Seienden, die auch Brentano auf der Basis seiner Dissertation zugrunde legte: das Seiende „in den Gestalten der Kategorien“, das Seiende der Möglichkeit und der Wirklichkeit nach, das Wahrseiende und „das Seiende im Hinblick auf das gerade auch Mitvorhandenseiende“ (das akzidentelle Seiende).⁶⁴ Aber im Unterschied zu Brentano, der diese vierfache Unterscheidung nicht in Hinsicht auf die Frage nach der Seinsanalogie behandelt und für den die Substanz als Bezugspunkt anderer Seinsbedeutungen fungiert, thematisiert Heidegger die Seinsanalogie auf der Ebene des weiteren Sinnes von pollachōs explizit und absichtlich. Nach ihm haben Aristoteles und die Griechen in diesem Zusammenhang keine Lösung, sondern nur ein Problem formuliert, das weitergedacht werden muss: Und so erhebt sich jetzt erst die entscheidende Frage: Welches ist die Art der Einheit, in der dieses weitere pollachōs zusammengehalten ist? […] Hier wird alles dunkel. Wir finden nur immer die aufzählende Nebeneinanderstellung und daneben die Behauptung: Das on hat zu seiner Vielfachheit die Einheit der Analogie.⁶⁵
Das Ergebnis der Analyse Brentanos – die prōtē ousia ist das prōton on, um das herum sich die anderen Seinsbedeutungen drehen – hat deshalb für Heidegger keine Gültigkeit, sondern muss in Frage gestellt werden: Das erste und letzte prōton on, pros ho ta alla legetai, was also die erste Bedeutung für das im weiteren Sinne sei, ist dunkel. […] Es gilt, alles offen und fragwürdig zu lassen – und nur so vermögen wir das ungelöste innerste Fragen des Aristoteles und damit des antiken Philosophierens und damit unseres Philosophierens wirklich zu befreien und wachzuhalten.⁶⁶
werk, in welches alle realen Begriffe einzutragen sind! Nicht die Dinge in ihrer wirklichen Beschaffenheit werden darin beschrieben und nicht selbst schon festbestimmte Gattungsbegriffe (genē!), sondern die Bedingung der Möglichkeit von Gattungen überhaupt. Sind Qualität, Quantität sachhaltig? Nein, sondern Struktur der Sachhaltigkeit überhaupt!“ (Ders., Grundbegriffe der antiken Philosophie, S. 197). Dabei bezieht sich Heidegger explizit eben auf die auch von Brentano angeführten Seiten (394 ff.) aus Brandis’ Handbuch der Geschichte der Griechisch-Römischen Philosophie. Heidegger, Logik, S. 193, und Vom Wesen, S. 74, 108. Heidegger, Aristoteles, Metaphysik Θ 1 – 3, S. 12 f. A. a. O., S. 46; vgl. auch die am Anfang dieses Teils angeführte Stelle aus dem Brief an Richardson. Heidegger, Aristoteles, Metaphysik Θ 1 – 3, S. 47; vgl. auch Vom Wesen, S. 77 f.
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In dieser Vorlesung geht Heidegger nicht weiter auf die Frage nach einem solchen prōton on ein,⁶⁷ aber anderen Vorlesungen lässt sich entnehmen, dass jene Art der Einheit, die den weiten Sinn von pollachōs zusammenhält, nicht die der fokalen kategorialen Bedeutung des Seienden, sondern die des on energeia sei. Seiner Analyse der Met. IX 10 gemäß macht das Wesen die gesuchte Herkunft der vier Hauptbedeutungen des Seienden aus folgenden Gründen aus: (1) das Wesen ist nur der Wirklichkeit und nicht der Möglichkeit nach;⁶⁸ (2) es zieht sich durch die ganze kategoriale Reihe hindurch, weil jede Kategorie und jedes kategoriale Seiende ihr eigenes Wesen hat;⁶⁹ (3) seine Einfachheit und das Fehlen jeder akzidentellen Bestimmung an ihm bestimmen die Zugangsart zu ihm als ein Erfassen, in dem das Wesen nicht von einem anderen her, sondern von ihm aus und als es selbst bestimmt wird; weil das Wesen jedem Beisammen mit einem anderen entgeht, entgeht auch die Zugangsart zu ihr der in einem solchen Beisammen gewurzelten Möglichkeit, falsch zu sein; die einzige Möglichkeit, die es hier gibt, besteht darin, das Wesen zu erfassen oder nicht.⁷⁰ Wenn es nun darum geht, das Sein jedes Seienden, also auch das Sein des Wesens, von dem on hōs alēthes her zu bestimmen – und Heidegger geht es hauptsächlich darum –, dann besteht dieses Sein in der von ihm aus erfassten und entdeckten Einfachheit des Wesens.⁷¹ Daraus sieht man weiter, dass auf der Wesensebene die Seinsanalogie sich nicht als eine vierfache, sondern eher als eine Unterscheidung entfaltet, die zweifach ist: Das als Wesen bestimmte Seiende ist nur der Wirklichkeit und der Wahrheit nach, wobei seine Entdecktheit oder Wahrheit als der wichtigste seiner Seins-
Auch wenn sich der einleitende Teil dieser Vorlesung um das Thema pollachōs dreht, kommt Heidegger innerhalb der Vorlesung nicht mehr dazu, die Bedeutung seiner Analyse des Seienden der Möglichkeit und der Wirklichkeit nach für das Thema eines solchen prōton on zu erforschen. Logik, S. 183; Vom Wesen, S. 79, 93, 103. Vgl. dazu Heideggers Analyse der Farbe Rot, die sich leicht in diesem Sinne verallgemeinern lässt, Logik, S. 184 f. Die aristotelischen Kategorien sind für Heidegger die ausgezeichneten Ansprechungen des Seienden, welche „die Struktur der Sachhaltigkeit überhaupt“ angeben und jedes Seiende angesichts seines Seins bestimmen; vgl. ders., Aristoteles, Metaphysik Θ 1 – 3, S. 6 f., 15; „Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles’ Physik B, 1“, S. 322 f. und Grundbegriffe der antiken Philosophie, S. 197. Heidegger, Logik, S. 180 f., 183 f., 190, 192 f. Im Unterschied zu Brentano, der das Urteil als den eigentlichen Wahrheitsträger und das Erfassen der ta asyntheta nur als eine Nebenbedeutung des Seienden als Wahren betrachtet (MBS, S. 27 f., 30 f.), legt Heidegger den Akzent gerade auf diese Facette des aristotelischen Wahrheitsbegriffs und hält Aristoteles’ Ausführungen über die Erkenntnis der ta asyntheta in Met. IX 10 für „die höchste Spitze der ontologischen Fundamentalbetrachtungen“ der Griechen (Logik, S. 171, 174; vgl. auch Vom Wesen, S. 104– 109). Heidegger, Vom Wesen, S. 179 f., 191. Aus diesem Grund behauptet Heidegger, dass das Sein und die Wahrheit ein und dasselbe sind.
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charaktere betrachtet wird.⁷² Auch wenn Heidegger in diesem Zusammenhang das Problem der Kategorien nicht explizit stellt, lässt sich immerhin sagen, dass sich eine solche nach seiner Entdecktheit bestimmte Wirklichkeit für jede aristotelische Kategorie ausfindig machen lässt. Wenn man nun von der Wesensebene zu der Ebene des Seienden übergeht, dessen Sein nicht in einem von ihm aus entdeckten Einfachen, sondern in der Einheit und im Beisammen besteht,⁷³ dann kommt die vierte Seinsbedeutung ins Spiel, das Sein als Eigenschaft oder das akzidentelle Seiende,⁷⁴ und in eins mit dem ihm eigenen Beisammen die Möglichkeit der Falschheit.⁷⁵ All dies zeigt, dass eine mögliche Antwort auf die Frage der Seinsanalogie angesichts des weiten Sinnes von pollachōs bei Heidegger nicht innerhalb des kategorialen Seienden liegt, sondern in die Richtung des Seienden der Möglichkeit und der Wirklichkeit nach führt, das im Lichte seines Wahrheitsbegriffs weiter auszudeuten ist. Wie schon gesagt, lässt sich auch das kategoriale Seiende auf dieser Ebene rekonstruieren, während das zufällige Seiende kein Wesen hat.⁷⁶ Aus diesem Grund bin ich der Meinung, dass Heideggers Äußerungen über eine einfache Seinsbestimmung in Brentanos Dissertation eine freie Rekonstruktion der Seinsproblematik bei Brentano darstellen,⁷⁷ die nur für die Richtung seiner Rezeption von Bedeutung sind. Wenn man nun die wiederholt aufgetauchte Frage Heideggers nach einer einfachen Bestimmung des Seins vergegenwärtigt, dann zeigt sich, dass die hier von Heidegger geforderte Offenheit ihre Grenze in der Idee einer solchen einfachen Seinsbestimmung erfährt, die, so Heidegger, die Herkunft der vierfachen Unterscheidung der Seinsbedeutungen darstelle. Aus diesem Grund scheint es mir, dass der Impetus, der die Aristoteles-Renaissance im 19. Jahrhundert nach dem Weg suchen lässt, auf dem Aristoteles zu seiner Kategorientafel kam, bei Heidegger als Frage nach einer einfachen Herkunft der vier Bedeutungen des Seienden bei Aristoteles wieder auftaucht.⁷⁸ Auch wenn sich nicht behaupten lässt, dass eine solche Fragestellung die Weiterentwicklung der Fragestellung der Ari-
Heidegger, Vom Wesen, S. 190 f. Heidegger, Vom Wesen, S. 175, 178, 180. Das ist der Bereich der in ihren Verhältnissen zur Substanz betrachteten akzidentellen Kategorien. Heidegger, Vom Wesen, S. 185 ff. Im Unterschied zu Brentano, der die Form der akzidentellen Kategorien auf die prōtē ousia hin denkt, denkt Heidegger jede Kategorie auf ihre energeia hin. Heideggers Äußerungen dazu gehören zu einer späteren Periode seines Schaffens. Seine frühen Schriften, z. B. die Habilitationsschrift, liefern keinen Hinweis, dem sich die Wichtigkeit dieses Problems für sein Frühdenken entnehmen lassen würde. Wie oben bereits angedeutet wurde, wird diese Herkunft für Heidegger vom Wesen (eidos) dargestellt (vgl. die eben angeführten, besonders klaren Texte aus der Logik-Vorlesung).
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stoteles-Renaissance im 19. Jahrhundert darstellt, scheint es mir wichtig zu bemerken, dass die zwei Ansätze eine solche Ähnlichkeit aufweisen. Eng damit verbunden ist das folgende Problem: Brentanos Dissertation beruht auf dem Unterschied zwischen eigentlichen und uneigentlichen Bedeutungen des Seienden. Als eigentliche Bedeutungen des Seienden betrachtet Brentano die Kategorien und das Seiende dem Vermögen und der Wirklichkeit nach. Das Seiende als Wahres und das zufällige Seiende werden hingegen als uneigentliche Bedeutungen betrachtet und deswegen aus dem Bereich der Metaphysik ausgeschlossen.⁷⁹ Der Grund dafür ist kein willkürlicher, denn Brentano verfolgt hier getreu das aristotelische Verfahren: In Met. VI 4 lässt Aristoteles diese Bedeutungen des Seienden beiseite, weil die Ursachen des zufälligen Seienden unbestimmt sind, während das Seiende als Wahres seinen Grund nicht in den Ursachen und Prinzipien des Seienden selbst, sondern in einer Affektion des Denkens hat. Brentano übernimmt diese These und behauptet, dass der Grund des Seienden im Sinne des Wahren kein metaphysischer, sondern ein psychologisch-logischer sei. Er bestehe in den Operationen des menschlichen Verstandes, die unter Beachtung des Satzes des Widerspruchs Begriffe verbinden oder trennen.⁸⁰ Unter diesen Umständen scheint mir klar zu sein, dass, wenn man sich an das von Aristoteles in Met. VI 4 Gesagte hält, man nicht von einer „gemeinsamen Herkunft“ der vier Bedeutungen des Seienden sprechen kann. Eine solche Herkunft würde voraussetzen, dass es möglich wäre, einen Standpunkt auszudenken, der es zuließe, das Denken und die metaphysischen Prinzipien als verschiedene Gründe der uneigentlichen und eigentlichen Bedeutungen des Seienden auf einen gemeinsamen Nenner bringen zu können. Wenn man − wie Heidegger − von einer anderen Fragestellung ausgeht, dann ist es durchaus möglich, diesen Standpunkt zu beziehen. Es muss aber betont werden, dass Brentano keine solche Anschauung vertreten hat.
MBS, S. 5, 20. MBS, S. 39 ff.
I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe: Zu den unterschiedlichen Bedeutungen des veritativen Seienden in Brentanos Dissertation und ihrer Rezeption bei Heidegger I.3.1 Das Problem Es ist bekannt, dass Aristoteles zwei Auffassungen von Wahrheit vertreten hat, die sich auf die Erkenntnis unterschiedlicher Objekte beziehen: die klassisch gewordene Korrespondenztheorie der Wahrheit, die die Erkenntnis des Zusammengesetzten betrifft,¹ und die Wahrheit als Erfassen des Unzusammengesetzten.² Wie oben gesagt, analysiert Brentano in seiner Dissertation die vierfache Bedeutung des Seienden bei Aristoteles. Dabei gehören das kategoriale Seiende und das Seiende dem Vermögen und der Wirklichkeit nach dem metaphysischen Bereich an,³ während die zwei anderen uneigentlichen Bedeutungen des Seienden beiseitegelassen werden.⁴ Das Ziel der folgenden Ausführungen besteht darin, Argumente für die Hypothese vorzulegen, dass Brentano in seiner Dissertation die These der Homonymie des Seins weit über Aristoteles hinaus entwickelt, und zwar in die Richtung seiner mittelalterlichen Nachfolger, vor allem Thomas von Aquin, die im Unterschied zu Aristoteles das Seiende als Wahres nicht nur als eine Bedeutung des Seienden, sondern auch als Name für ein Gebiet des Seienden auffassen.⁵ Brentano kommt zu diesem Ergebnis, indem er von derjenigen Fassung der aristotelischen Korrespondenztheorie der Wahrheit ausgeht, die auf einer den alten Griechen vertrauten veritativen Konvention beruht und die in Met. V 7, 1017, a 31– 35 beispielhaft zur Sprache kommt. Auch wenn er diese Stelle in Einklang mit der Aristoteles-Exegese seiner Zeit interpretiert, stellt er im zweiten Teil seines Kommentars dazu eine von Thomas von Aquin unter expliziter
Met. VI 4, 1027 b 18 – 23; vgl. IX 10, 1051 b 1– 17. Met. IX 10, 1051 b 17– 33; De an. III 6, 430 a 26 ff. (dabei verwende ich die folgende Ausgabe: Über die Seele, mit Einleitung, Übers. (nach W. Theiler) u. Kommentar hrsg. v. H. Seidl. Gr. Text in d. Edition von W. Biehl, O. Apelt, Gr.-Dt., Hamburg, Meiner, 1995). MBS, S. 5, 38 ff., 75 Anm. 10. MBS, S. 9 ff., 30 ff., 39, 41. Darüber hinaus stehen Brentanos Ausführungen über die Seinshomonymie auf der Ebene des Seienden als Wahren unter dem Einfluss des spätmittelalterlichen Konzeptualismus (vgl. unten I.3.6.5). https://doi.org/10.1515/9783110524550-005
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
Bezugnahme auf den eben erwähnten Passus inspirierte These auf, die bereits aus dem Rahmen der aristotelischen Metaphysik fällt: Alles, worüber sich eine affirmative Aussage bilden lässt kann als Seiendes als Wahres betrachtet werden. Brentano illustriert diese These mit Bezug auf einen Bereich des Seienden, den des „bloß objectiv im Geiste Existirenden“,⁶ der von Gedankendingen gebildet wird, wie den Negationen und Privationen, den imaginären Gebilden (Zentauren, Jupiter usw.) oder den logischen Begriffen und den ihnen eigenen Verhältnissen.⁷ Da einerseits für Heidegger die aristotelische Wahrheitsauffassung besonders wichtig war und da andererseits Brentanos Dissertation für ihn eine wichtige Inspirationsquelle angesichts der Frage nach dem Sinn von Sein war, werde ich im letzten Abschnitt dieses Kapitels die Frage aufrollen, ob Brentanos Analyse der aristotelischen Wahrheitslehre in seiner Dissertation für den jungen Heidegger von Bedeutung war oder nicht. Um die eben genannte Hypothese zu stützen, werde ich mich von folgenden Ideen leiten lassen: I1 In seiner ersten Schrift behauptet Brentano, das veritative Seiende oder das Seiende als Wahres im eigentlichen Sinne lasse sich gemäß der aristotelischen Metaphysik in zwei verschiedenen Bedeutungen aussagen, die gleichrangig und nicht aufeinander zurückführbar seien. (I.3.3) I2 Brentanos Analyse der zweiten veritativen Bedeutung des Seienden bei Aristoteles, die er „das Sein der Copula“ nennt,⁸ beruht auf einer veritativen Konvention der alten Griechen und ist weit davon entfernt, solipsistische oder absurde Konsequenzen nach sich zu ziehen.⁹ Der Grund dafür besteht darin, dass die Kopula, die er dabei letzten Endes im Auge hat, nicht die Kopula ist, die normalerweise die kategorialen Verhältnisse in kategorischen Sätzen zum Ausdruck bringt und deren veritativer Usus von Aristoteles in Met. V 7, 1017 a 31– 35 thematisiert wird, sondern die Kopula in Sätzen, die sich trotz ihrer kategorischen Form auf unwirkliche Entitäten (Negationen, Privationen, imaginäre Gedankendinge, aber auch logische Begriffe wie Genus, Spezies, Definition usw.) beziehen. (I.3.3, I.3.5) I3 Seine Untersuchungen zur Kopula sind jedoch zu wenig aufgearbeitet, um in gebührendem Maße sowohl der Stelle Met. V 7, 1017 a 31– 35 als auch der
MBS, S. 82. MBS, S. 36 – 39. MBS, S. 37 f.; s. auch 34, 36. D. F. Krell, „On the Manifold Meaning of Aletheia: Brentano, Aristotle, Heidegger“, Research in Phenomenology 5 (1975), S. 86, 93. Met. XI 8, 1065 a 24.
I.3.1 Das Problem
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Tatsache Rechenschaft zu tragen, dass sich der gewöhnliche Gebrauch der Kopula in kategorischen Sätzen auf das außerhalb des Geistes existierende Seiende bezieht.¹⁰ (I.3.4) Im Unterschied zu Aristoteles, für den sich der Wahrheitsbegriff in Met. V 7, 1017 a 31– 35 auf die Korrespondenztheorie der Wahrheit zurückführen lässt, sodass er mithin als eine stilistische Variante derselben betrachtet werden kann, wertet Brentano die ebengenannte Stelle so, dass sie letztendlich zum Ausgangspunkt einer veritativen Bedeutung des Seienden wird, die sich nicht mehr auf das kategoriale, sondern nur auf „das bloß objectiv im Geiste Existirende“ bezieht, das weiter als ein gesondertes Gebiet des Seienden betrachtet wird. (I.3.4, I.3.5) Der entscheidende Schritt in diese Richtung besteht darin, dass Brentano den aristotelischen Gedanken der Seinshomonymie weit über den Rahmen der aristotelischen Metaphysik hinaus in eine mittelalterliche Richtung entwickelt, die nicht mehr „aristotelisch“ genannt werden kann, weil sie letzten Endes keine kategoriale Tragweite mehr hat. (I.3.5) Brentanos Behauptung, es gebe eine veritative Bedeutung des Seienden, die sich auf „das bloß objectiv im Geiste Existirende“ berufe und von der veritativen Bedeutung des Seienden der Korrespondenztheorie der Wahrheit zu unterscheiden sei, lässt sich als Zeichen dafür werten, dass er in der Interpretation von Met.V 7, 1017 a 31– 35 unter mittelalterlichem Einfluss steht: Ohne Thomas von Aquin zu nennen, schrieb Brentano seinen ganzen Kommentar zur Stelle Met.V 7, 1017 a 31– 35, um Thomas’ Behauptung zu veranschaulichen, alles, worüber sich eine affirmative Aussage bilden lasse, könne als Seiendes als Wahres betrachtet werden. Darüber hinaus steht seine Auffassung dazu unter dem Einfluss von Suárez und der neuscholastischen Literatur seiner Zeit (Hauréau, Stöckl, Ueberweg), weil er aus diesen Quellen eine entscheidende Unterscheidung für seine Dissertation: die zwischen „reellen“ und „objectiven“ Begriffen, übernimmt.¹¹ (I.3.6) Um Brentanos Interpretation von Met. V 7, 1017 a 31– 35 angemessen zu verstehen, dürfen seine Ausführungen in § 2, Kap. III der Dissertation nicht als eine Analyse der aristotelischen Korrespondenztheorie der Wahrheit, sondern als ein Beitrag zur Behandlung der Frage nach der mannigfachen Bedeutung des Seienden bei Aristoteles gelesen werden. (I.3.7.1)
MBS, S. 82.
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
I8 Brentanos Analyse des Seins der Kopula aus der Dissertation bleibt für seine weitere Behandlung des Seienden als Wahren entscheidend, da er in den folgenden Jahren, und zwar in den Vorlesungen über die Metaphysik (1867– 1872) und über die deduktive und induktive Logik (1869/70, 1870/71) an der Universität Würzburg, die These, das „ist“ bezeichne die Wahrheit des durch es gebildeten Satzes, weiter entwickelt, indem er sie aus der Perspektive seiner eigenen idiogenetischen Urteilstheorie verarbeitet.¹² (I.3.7) I9 Brentanos Ausführungen in Kap. III seiner Dissertation haben keinen Einfluss auf Heidegger ausgeübt. (I.3.8) Im Folgenden werde ich zunächst kurz die zwei aristotelischen Wahrheitsbegriffe behandeln und dabei ausführen, wie sie in Brentanos Dissertation rezipiert worden sind (I.3.2). Im dritten Abschnitt werde ich auf die Frage nach der uneigentlichen Bedeutung des Seienden im Sinne des Wahren eingehen und dabei Argumente für die These vorlegen, dass diese Bedeutung für Brentano nicht eindeutig, sondern doppeldeutig ist: Neben der ersten veritativen Bedeutung des Seienden – „A (ein beliebiges kategorisches Urteil) ist wahr“ – hebt Brentano eine zweite, ihr gleichgestellte veritative Bedeutung hervor: „S ist P“, wobei das kursiv geschriebene „ist“ eine der altgriechischen Sprache eigene veritative Konvention zur Sprache bringt und auf die Wahrheit des Urteils hinweist (I1). Im vierten Abschnitt wird die Problematik in Met. V 7, 1017 a 31– 35 und ihre Rezeption bei Brentano besprochen, wobei es für mich wichtig ist, sowohl den theoretischen Rahmen des aristotelischen veritativen „ist“ ans Licht zu bringen als auch jene Aspekte zu beleuchten, die von Brentano nicht besprochen werden (I2, I3). Im fünften Abschnitt gehe ich auf die Frage der Seinshomonymie bei Aristoteles ein und auf die Art und Weise, wie sie von Brentano über Aristoteles hinaus in der mittelalterlichen Richtung der entia rationis rezipiert wurde (I4, I5). Der sechste Abschnitt befasst sich mit den mittelalterlichen Einflüssen in Brentanos Dissertation (I6). Ihm folgt in I.3.7 eine Übersicht über die Art und Weise, in der Brentano die These über die Homonymie des Seins des Aristoteles und die Analyse des Seienden als Wahren aus der Dissertation in seinen späteren Werken entwickelt hat (I7, I8). Der letzte Abschnitt (I.3.8) beschäftigt sich mit der Frage, ob die hier besprochene Problematik für Heidegger von Bedeutung war (I9), während das vierte und letzte Kapitel dieses Teils dem Neuscholastiker Brentano gewidmet ist.
Der Ausdruck „idiogenetische Urteilstheorie“ besagt, dass das Urteil gegenüber der Vorstellung eine eigentümliche Art (idiov genos) der intentionalen Beziehung ist (vgl. F. Hillebrand, Die neuen Theorien der kategorischen Schlüsse, Wien, Hölder, 1891, S. 26 – 27).
I.3.2 Die zwei aristotelischen Wahrheitsbegriffe und ihre Rezeption
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I.3.2 Die zwei aristotelischen Wahrheitsbegriffe und ihre Rezeption in Brentanos Dissertation Wie oben erläutert wurde, gibt es bei Aristoteles zwei Begriffe von Wahrheit, die sich bezüglich ihrer Objekte unterscheiden: (1) Wahrheit als Übereinstimmung des Denkens mit den zusammengesetzten Dingen und (2) Wahrheit als Erfassen des Unzusammmengesetzten (ta asyntheta), wobei Aristoteles unter dem „Unzusammengesetzten“ einerseits den Wesensbegriff (to ti esti) und andererseits die unzusammengesetzten Substanzen (ta mē synthetai ousiai) versteht.¹³ Was die Letzteren betrifft, werden sie in der einschlägigen Literatur unterschiedlich interpretiert, und zwar entweder theologisch als Gestirngeister oder Gottheiten oder aber als Wesensformen der sinnlich wahrnehmbaren Substanzen.¹⁴ Es ist nicht nötig, dass ich mich hier für eine von diesen Interpretationen entscheide. Für meine Zwecke reicht es aus, dass Brentano sie sowohl als Wesensformen als auch theologisch versteht¹⁵ und dass sich die Unterscheidung Zusammengesetztes – Unzusammengesetztes bei Aristoteles mit der Unterscheidung der drei unterschiedlichen Arten von Substanzen, die für die Einteilung der theoretischen Wissenschaften maßgebend sind, kreuzt, ohne jedoch damit deckungsgleich zu sein. Die drei Arten von Substanzen sind: (1) die abtrennbaren, an sich selbst das
Met. IX 10, 1051 b 17– 33. Die erste Interpretation wird z. B. von A. Schwegler, Die Metaphysik des Aristoteles, Grundtext, Übers. u. Commentar, 4. Bd. des Commentars zweite Hälfte, Tübingen, 1848, S. 187; W. D. Ross, „Commentary“, in Aristotle’s Metaphysics, W. D. Ross (Hrsg.), Oxford, Oxford University Press, 1924, Bd. 2, S. 276; P. Wilpert, „Zum Aristotelischen Wahrheitsbegriff“, in F.-P. Hager (Hrsg.), Logik und Erkenntnislehre des Aristoteles, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1972, S. 114 ff.; oder P. Aubenque, „La pensée du simple dans la Métaphysique (Z 17 et Θ 10)“, in P. Aubenque (Hrsg.), Études sur la métaphysique d’Aristote. Actes du VIe symposium aristotelicum, Paris, Vrin, 1979, S. 78 ff., vertreten. Die zweite wird unter anderen von H. Seidl, „Kommentar“, in Aristoteles’ Metaphysik, 2. Halbbd., S. 494 ff. und Th. Kobusch, „Metaphysik. II. Aristoteles“, in HWPh, Bd. 5, S. 1190 f. (vgl. auch Oeing-Hanhoffs Bemerkung dazu (Oeing-Hanhoff, „Metaphysik. I“, in HWPh, Bd. 5, S. 1187) verteidigt. Eine kritische Diskussion der zwei interpretativen Richtungen unter dem Gesichtspunkt der analytischen Philosophie liefert P. Crivelli (Aristotle on Truth, Cambridge, Cambridge University Press, 2004, S. 117 ff.); s. auch die Art und Weise, in der Makin in seiner Ausgabe des IX. Buches der Metaphysik to ti esti als „definitional predicate“, bzw. als „sentences giving definitions“ und ta mē synthetai ousiai als „formal essences“ interpretiert (S. Makin, „Commentary“, in Aristotle, Metaphysics Books Θ, übers. v. S. Makin, Oxford, Clarendon Press, 2006 S. 253 – 263); Szaif deutet seinerseits die Wahrheit der ta asyntheta als „prä-propositionale Erweiterung des propositionalen Wahrheitsbegriffes“ (J. Szaif, „Die Geschichte des Wahrheitsbegriffs in der klassischen Antike“, in M. Enders, J. Szaif (Hrsg.), Die Geschichte des philosophischen Begriffs der Wahrheit, Berlin, De Gruyter, 2005, S. 22 ff.). MBS, S. 27, 32, 143.
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
Prinzip der Bewegung innehabenden physischen Substanzen, die von der Physik studiert werden, (2) die mathematischen Objekte, die zwar unbewegt, jedoch von einem „denkenden Stoff“ abhängig sind, und (3) die ewigen, unbewegten und abgetrennten Substanzen, die von der ersten Philosophie oder Theologie behandelt werden.¹⁶ Es sollte noch erwähnt werden, dass all diese Substanzen außerhalb des Geistes bestehen, und dass es bei Aristoteles im Unterscheid zum jungen Brentano kein anderes Gebiet neben diesen Bereichen gibt, das als solches in der Seele bestehen würde und aus logischen Begriffen oder imaginären Gedankendingen gebildet wäre. Bekanntlich behauptet die Korrespondenztheorie der Wahrheit, die Wahrheit bestehe in der Übereinstimmung des Denkens mit den Dingen.¹⁷ Mit Bezug auf die zusammengesetzten Dinge heißt „Sein“ „gebunden und eins“ sein, „Nichtsein“ dagegen „getrennt und mehrere sein“.¹⁸ Dieser Auffassung zufolge ist ein Urteil¹⁹ wahr oder falsch je nachdem, ob die in ihm zum Ausdruck gebrachte sachliche Verbindung oder Trennung der Dinge wirklich besteht oder nicht. Der Satz „Sokrates ist weise“ ist wahr,²⁰ weil der ersten Substanz, die den Namen „Sokrates“ trägt, die Eigenschaft „weise zu sein“ wirklich zukommt. Diese These ist bei Aristoteles eng mit dem Gedanken verbunden, dass das Urteil eine Verbindung oder Trennung von Begriffen ist, deren Wahrheit aufgrund seines Wirklichkeitsbezugs festgestellt wird.²¹ Bevor ich mich der Frage zuwende, wie diese Lehre in Brentanos Dissertation rezipiert wird, möchte ich Folgendes bemerken: Brentanos Analyse der aristotelischen Wahrheitsauffassung geht davon aus, dass bei Aristoteles „wahr“ genauso Met. VI 1, 1026 a 13 ff., XI, 7, 1064 a 10 ff., und Seidls Kommentar dazu (Aristoteles’ Metaphysik, 1. Halbbd., S. 419); zur weiteren Rezeption dieser Frage bei Brentano vgl. F. Brentano, Geschichte der griechischen Philosophie (GGPh) (1963), F. Mayer-Hillebrand (Hrsg.), Bern, Franke, 21988, S. 227; vgl. auch S. 279. Met. VI 4, 1027 b 18 ff. Vgl. dazu die wertvolle Abhandlung Tugendhats: „Der Wahrheitsbegriff bei Aristoteles“, in ders., Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1992, S. 251– 260. Um das Verhältnis zwischen Denken (Verstand) und Ding (Sache) zu beschreiben, verwendet Brentano in seiner Schrift nicht den Terminus „Korrespondenz“, sondern „Übereinstimmung“, „Conformität“ oder „Harmonie“ (MBS, S. 22– 33). Im Weiteren werde ich diese Termini als Synonyme verwenden. Met. IX 10, 1051b 11– 13. Vgl. auch C. W. A. Whitaker, Aristotle’s De Interpretatione: Contradiction and Dialectic, Oxford, Oxford University Press, 1996, S. 26 f. Der Terminus „Urteil“ wird hier im Sinne der brentanoschen Analyse als Verstandesoperation genommen, die Begriffe verbindet oder trennt (MBS, S. 30, 39; s. Met. VI 4, 1027 b 31– 1028 a 1). Brentano folgend werde ich den sprachlichen Ausdruck des Urteils „Satz“ nennen (MBS, S. 35 f.). Wie unten gezeigt wird, stellt dieses „ist wahr“ die erste Bedeutung des Seienden als Wahren für Brentano dar. De int. 16 a 9 – 13.
I.3.2 Die zwei aristotelischen Wahrheitsbegriffe und ihre Rezeption
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wie „seiend“ oder „gesund“ Homonyme nach Analogie sind.²² Solchen Termini ist es eigen, dass sie in mehreren Bedeutungen ausgesagt werden, die aber nicht zufällig zusammen auftreten, sondern sich immer um eine Grundbedeutung herum ordnen lassen.²³ Demzufolge sagt man sowohl von einem Urteil, als auch von einer bloßen Vorstellung, wie sie in der Wahrnehmung, der Phantasie oder im Denken auftritt, ebenso wie von Menschen und Dingen, dass sie wahr oder falsch seien. Allerding gibt es unter allen diesen Bedeutungen nur eine einzige, die sich auf den eigentlichen Träger der Wahrheit, das Urteil, bezieht, weil nur vom Urteil gesagt werden kann, es sei im eigentlichen Sinne des Wortes wahr oder falsch. Der Grund dafür liegt darin, dass der urteilende Verstand das einzige Erkenntnisvermögen ist, das imstande ist, die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit zu erkennen.²⁴ Da alle anderen Erkenntnisvermögen nicht so weit reichen, wird das Wahre und das Falsche von ihnen nur in uneigentlichem Sinne ausgesagt. Sie drehen sich daher um die Wahrheit des Urteils als Grundbedeutung dieses Terminus und erhalten erst durch sie ihren Sinn: „[…] so kömmt der Name Wahrheit zunächst dem wahren Urtheile zu, geht aber dann auf Begriff und Sinnesvor-
MBS, S. 91, 150. MBS, S. 95 ff. Im Hintergrund dieser These steht die Auffassung von Thomas von Aquin, das einfache Haben einer similitudo (Ähnlichkeit) mache noch keine Erkenntnis aus, die wahr oder falsch im eigentlichsten Sinne des Wortes sei.Wenn jemand z. B. „sterbliches, vernünftiges Tier“ sagt, zeigt er nur, dass er schon diese similitudo hat, d. h., dass er die substantielle Form eines gewissen lebenden Wesens mittels der sinnlichen oder intellektuellen Erkenntnis schon bekommen hat. Damit weiß er aber noch nicht, weder wessen similitudo sie ist noch ob sie wahr oder falsch ist, weil die schon erwähnten Erkenntnisstufen nicht bis zur Erkenntnis der Wahrheit hinreichen. Um dazu zu kommen, muss man über diese similitudo insofern reflektieren, als man über sie urteilt und so erkennt, wem sie zukommt: „Der Mensch ist ein sterbliches, vernünftiges Tier“. Dem Urteilsakt ist es auch bei Thomas eigen, dass er sich über sich selbst zurückbeugt, weil er nicht nur „ein Ding betrifft, insofern dieses ist“, sondern darüber hinaus seine eigene Natur erkennt. Das bedeutet weiter, dass er ebenfalls seine „Conformität“ (Brentano) mit den Dingen erkennt, denn es liegt in der Natur des Verstandes, „den Dingen gleichförmig zu werden“ (Thomas von Aquin, Von der Wahrheit. De veritate (Quaestio I), ausgewählt, übers. u. hrsg. v. A. Zimmermann, Hamburg, Meiner, 1986, q. 1, a. 9/S. 65; vgl. auch In VI Met. lect. 4, n. 1236; MBS, S. 30; Schmidt, a. a. O., S. 214, 218 ff., und Hedwig, „Confiteri circa seipsum. Über Wahrheit und Wahrhaftigkeit bei Thomas von Aquin“, in M. Gerwing, H. J. F. Reinhardt (Hrsg.), Wahrheit auf dem Weg. Festschrift für Ludwig Hödl zu seinem fünfundachtzigsten Geburtstag, Münster, Aschendorff, 2009, S. 124 f.; wiederabgedruckt in einer überarbeiteten Form, die sich auch auf Brentano bezieht, in Hedwig, Circa Particularia. Studien zu Thomas von Aquin, M. Gerwing (Hrsg.), Regensburg, Friedrich Pustet, 2015, S. 42 ff.; weiter beziehe ich mich auf diese letzte Fassung).
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
stellung und auf die äußeren Dinge über, die ja alle in engem Verhältniß zu ihm stehen.“²⁵ Brentano zieht aus seinen Darlegungen folgenden Schluss: „Der Grundbegriff der Wahrheit bleibt immer der der Übereinstimmung des erkennenden Geistes mit der erkannten Sache.“²⁶ Es sollte noch hinzugefügt werden, dass die Urteile, die für den eigentlichen Träger der Wahrheit gehalten werden, gewöhnliche kategorische Urteile der Form „S ist P“ sind.²⁷ Brentano betont, dass sie aus „reellen Begriffen“ bestehen, die den aristotelischen Kategorien unterzuordnen sind.²⁸ Von ihnen unterscheidet er die „objectiven“ Begriffe,²⁹ d. h. die Begriffe, die keinen realen Bezug haben und mittels derer Urteile gebildet werden, die sich nicht auf den kategorialen, außerhalb des Geistes existierenden metaphysischen
MBS, S. 30 f., vgl. auch S. 25, 3 f.; Crivelli bezweifelt, dass Aristoteles die Frage nach dem Wahrheitsträger gestellt habe und weist darauf hin, dass der Stagirite den Terminus „wahr“ gewöhnlich über drei Arten von Items aussagt: Objekte, wozu auch Sachverhalte gehören, mentale Zustände und sprachliche Äußerungen (Crivelli, a. a. O., S. 45). MBS, S. 33. Aufgrund dieser Stelle lässt sich Chrudzimskis Behauptung nicht verteidigen, Brentano habe die Rolle der Korrespondenz mit den Dingen angesichts der aristotelischen Wahrheitsauffassung vernachlässigt (A. Chrudzimski, Die Ontologie Franz Brentanos, Dordrecht, Kluwer, 2004, S. 60, 62, 64; vgl. dagegen MBS, S. 26, 28 f., 30 f.; Krell, a. a. O., S. 84 ff.; E. Campos, Die Kant-Kritik Brentanos, Bonn, Bouvier,1979, S. 25 f.; Ch. P. Long, Aristotle on the Nature of Truth, Cambridge, Cambridge University Press, 2011, S. 14.; I. Tănăsescu, „Categorial Relations as TruthMakers in Franz Brentano’s Dissertation“, Tijdschrift voor Filosofie 76/ 2 (2014), S. 247– 260). Später gelangt Brentano zu der Überzeugung, die Grundform des Urteils sei die existentiale und alle kategorischen Urteile seien auf existentiale Urteile zurückführbar (vgl. PeS, S. 233 – 242, und C. Stumpf, „Erinnerungen an Franz Brentano“, in O. Kraus (Hrsg.), Franz Brentano. Zur Kenntnis seines Lebens und seiner Lehre, München, Beck, 1919, S. 105 ff.). MBS, S. 82. Noch in seiner Würzburger Zeit, in den Vorlesungen über die Metaphysik, begann Brentano an dem Korrespondenz-Gedanken zu zweifeln, indem er auf diejenigen Fälle (Urteile über die Zukunft oder Vergangenheit, über Gedankendinge usw.) verweist, bei denen von keiner Übereinstimmung zwischen Denken und Sein im eigentlichen Sinne des Wortes die Rede sein kann. Diese frühe Kritik wird nach Jahren im Vortrag über den Begriff der Wahrheit (1889) wiederaufgenommen und weiterentwickelt und wird ihn schließlich und endlich dazu führen, den Korrespondenz-Gedanken zugunsten eines Wahrheitsbegriffs, der sich auf die Evidenz stützt, preiszugeben. Dabei wendet Brentano gegenüber Aristoteles zweierlei ein: „die speziellste Gestalt und Formulierung“ seiner Wahrheitstheorie und die „Unvollkommenheit seiner Auffassung vom Urteile überhaupt“ (WE, S. 18, 20; vgl. unten I.3.7.5). Brentanos letzte Behauptung nimmt Aristoteles’ Lehre vom Urteil als Verbindung oder Trennung von Begriffen ins Visier. Seiner Meinung nach wird diese Auffassung der Eigenheit des Urteils nicht gerecht, weil nicht die Prädikation eines Begriffs über einen anderen, sondern die Anerkennung oder die Verwerfung des vorgestellten Gegenstandes den Wesenszug des Urteils ausmacht (PeS, S. 231 f., 234 f.). MBS, S. 37, 41.
I.3.2 Die zwei aristotelischen Wahrheitsbegriffe und ihre Rezeption
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Bereich, sondern auf das Gebiet des „bloß objectiv im Geiste Existirenden“ beziehen.³⁰ In Met. IX 10, 1051 b 17– 33 kommt hingegen eine Wahrheitsauffassung zur Sprache, die sich auf die Wahrheit des Unzusammengesetzten (auf Wesensbegriffe und unzusammengesetzte Substanzen) bezieht.³¹ Dieser Auffassung zufolge besteht die Wahrheit nicht in einer begrifflichen Verbindung, sondern im Erfassen (Berühren (thigein)) des Unzusammengesetzten und im Sagen dessen, was erfasst wird. Worauf es dabei ankommt, ist nur, ob es erfasst wird oder nicht. Geschieht dies, dann ist das geistige Berühren und das ihm entsprechende Sagen wahr.Wird es dagegen nicht erfasst, weil jemand z. B. nicht weiß, dass das Wesen jeder Zahl darin besteht, eine unkontinuierliche Größe zu sein, oder allgemein gesprochen nicht weiß, was etwas (eine Zahl) ist, dann findet das geistige Berühren des gemeinten begrifflichen Inhalts nicht statt. Dieses Nicht-Erfassen führt aber nicht zur Falschheit oder Täuschung, denn dies findet bei Aristoteles immer nur in einer Verbindung statt, sondern es bedeutet einfach Unwissenheit.³² Das hängt bei Aristoteles eng damit zusammen, dass sich das hier in der Diskussion stehende geistige Erfassen genauso wenig täuschen kann wie ein Sinnesorgan über sein spezifisches Objekt.³³ Die Alternative besteht deshalb hier nicht in dem wahren oder falschen Erfassen, sondern im Erfassen oder Nicht-Erfassen. Im Unterschied zu seinen späteren Schriften, in denen er diese Stelle gebührend berücksichtigt, weil er sie als eine Vorwegnahme seiner These über das existentiale Urteil betrachtet,³⁴ legt Brentano in seiner Dissertation keinen besonderen Akzent auf die Behandlung des Unzusammengesetzten. Er bringt diese MBS, S. 37, 39, 82. Met. IX 10, 1051 b, 25 ff.; De an. III 6, 430 a 26 f., 430 b 27 ff. Wie gesagt, spielte diese Wahrheitsauffassung eine entscheidende Rolle für Heidegger (s. oben S. 32). Der Grund des Irrtums oder der Falschheit besteht für Aristoteles immer in der Verbindung (De an. III 6, 430 b 1). Im vorliegenden Fall handelt es sich aber um keine Verbindung, sondern um das Berühren des gemeinten Wesensbegriffs. Sofern man damit nicht in Berührung kommt, kann man es auch nicht denken oder in Urteilen einbeziehen. Wenn man nicht weiß, was die Diagonale ist, kann man nicht sinnvoll darüber sprechen: „Was Diagonale ist, davon habe ich entweder eine Vorstellung oder nicht; wahrreden oder falschreden, überhaupt also ein Urtheilen (ein kataphanai), findet hier nicht statt, sondern nur ein phanai, weil es eine einfache Vorstellung ist, um was es sich handelt.“ (Schwegler, a. a. O., S. 187) Schweglers Interpretation von thigein als Vorstellen ist in diesem Zusammenhang wichtig, weil Brentano dieselbe Verstandesoperation nicht nur als Vorstellen, sondern auch als Anerkennen im Sinne seiner Urteilstheorie deutet (WE, S. 164, 220). De an. III 6, 430 b 27– 30. Thomas von Aquin nennt das die erste Operation des Verstandes, von dem seine zweite Operation, das Urteilen, zu unterscheiden sei (In VI Met. lect. 4, n. 1232); vgl. dazu auch die Erklärungen über dasselbe Problem bei Heidegger (vgl. oben S. 32). WE, S. 136, 164, 219 f.; M 96, Bl. 31950; PeS, S. 234 f.
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
Art der Erkenntnis einfach in die Diskussion ein und versteht darunter entweder das Erfassen der Wesensbegriffe oder das Erfassen der einfachen, von jeder Materie freien Substanzen, der Gottheiten.³⁵ Allerdings unterscheidet sich seine Interpretation dieser Erkenntnisart in einem wesentlichen Punkt von der aristotelischen Auffassung: Für Aristoteles sind die beiden Erkenntnisweisen gleich wichtig, und es lässt sich aufgrund seines Textes ganz und gar nicht behaupten, dass die Erkenntnis des Unzusammengesetzten für ihn nur eine Nebenbedeutung der Wahrheit wäre. Brentano vertritt dagegen diese These, indem er die Erkenntnis durch Verbindung und Trennung der Begriffe, die im Urteil stattfindet, als den grundlegenden Wahrheitsbegriff betrachtet. In eins damit stellt er die Erkenntnis der ta asyntheta in eine Reihe mit anderen Nebenbedeutungen der Wahrheit und kommt in seiner Analyse nie mehr auf sie zurück. Das ist aufschlussreich sowohl für die Richtung seiner Rezeption, die sich auf das Urteil als den eigentlichen Träger der Wahrheit konzentriert, als auch für die Frage nach dem Einfluss, den Brentanos Interpretation der aristotelischen Wahrheitslehre auf die Behandlung der Seinsfrage beim jungen Heidegger gespielt hat.³⁶
I.3.3 Die Doppeldeutigkeit der eigentlichen Bedeutung des Seienden als Wahren in Brentanos Dissertation Alles bisher Gesagte betrifft den ersten Abschnitt „Von dem Wahren und Falschen“ des dritten Kapitels von Brentanos Dissertation. In diesem Abschnitt fasst Brentano die unterschiedlichen Bedeutungen des Wahren und Falschen bei Aristoteles zusammen, trennt sie in eigentliche und uneigentliche, betont, die Wahrheit im eigentlichen Sinne des Wortes sei nur in Urteilen zu finden, und betrachtet die Korrespondenz mit den Dingen als den Grundbegriff der Wahrheit bei Aristoteles. Der zweite und letzte Abschnitt desselben Kapitels weist unmittelbar auf den Titel der Dissertation hin und heißt: „Von dem Wahren und Falschen, in wiefern es bei den Begriffen des on hōs alēthes und des mē on hōs
MBS, S. 27 f., 32. Krell behauptet, die Wahrheitsfrage wäre ein Geschenk, das ein junger Denker, Brentano, einem anderen jungen Denker, Heidegger, gemacht hätte (Krell, a. a. O., S. 75, 94). In Anbetracht der Wichtigkeit, die dem Erfassen des Unzusammengesetzten bei Heidegger zukommt – Heidegger behauptet, das Kapitel Met. IX 10, wo Aristoteles dieses Problem behandelt, sei die Stelle, an der das antike Denken seinen Gipfel erreiche (Heidegger, Logik, S. 171 f., 179) –, und auch in Anbetracht der Tatsache, dass die Wahrheit des Urteils für Brentano die Wahrheit in ihrem eigentlichsten Sinn ist, glaube ich, dass Brentanos Behandlung der Wahrheitsfrage in seiner Dissertation für Heidegger gar keine Rolle gespielt hat (vgl. unten I.3.8).
I.3.3 Die Doppeldeutigkeit der eigentlichen Bedeutung des Seienden als Wahren
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pseudos in Betracht kömmt“. Da die gesamte Analyse der Dissertation auf die Erklärung der unterschiedlichen Bedeutungen des Seienden bei Aristoteles abzielt und sich dabei daran orientiert, wie sich die verschiedenen Bedeutungen von „ist“ sprachlich manifestieren, behandelt Brentano auch die Lehre vom Seienden bei Aristoteles als Lehre von den unterschiedlichen Bedeutungen des „ist“ im Sinne von „es ist wahr“, also im veritativen Sinne. Der Ausgangspunkt seines Beweises besteht darin, dass auch dieses Seiende doppeldeutig ist, denn es lassen sich in der aristotelischen Metaphysik zwei verschiedene Verwendungen desselben feststellen, die als zwei gleichrangige, eigentliche Bedeutungen dieses Seienden zu betrachten sind. Sie sollen von den schon behandelten Nebenbedeutungen des Wahrheitsbegriffs klar getrennt werden, weil die Letzteren von Brentano schon im ersten Abschnitt des Kapitels über die Wahrheit beiseitegelegt und für eine schon gelöste Frage gehalten werden.
I.3.3.1 Die erste veritative Bedeutung des Seienden in Brentanos Dissertation Die erste veritative Bedeutung des Seienden findet man in der Korrespondenztheorie der Wahrheit. Sie besteht darin, dass das „ist“ in der Bedeutung von „es ist wahr“ von einem ganzen Urteil ausgesagt wird, um auszudrücken, dass das Urteil mit der Wirklichkeit übereinstimmt: „‚Sokrates ist weise‘ ist wahr“, weil diese Eigenschaft Sokrates wirklich zukommt. Diese veritative Bedeutung des Seienden kommt somit in „ist wahr“ zur Sprache und bezieht sich auf den eigentlichen Träger der Wahrheit, das kategorische Urteil, das, als Ganzes betrachtet, die Stelle des Subjekts in Metaurteilen der Form „X (S ist P) ist wahr/falsch“ einnimmt.³⁷ Damit wird auch klar, dass „ist wahr“, bzw. „ist falsch“ Ausdrücke sind, die zur Metasprache gehören, weil sie auf einer Ebene auftauchen, wo nicht die mittels der Urteile zur Sprache gebrachten kategorialen Verhältnisse, sondern die Urteile als solche thematisiert werden.³⁸ Brentanos Ausführungen darüber sind ganz eindeutig: Nehmen wir an, es wolle Jemand einem Andern beweisen, daß das Dreieck als Winkelsumme 2 R habe, und er fordere als Ausgangspunkt des Beweises das Zugeständnis, daß der Außenwinkel gleich den beiden gegenüberliegenden innern Winkeln sei. Es fragt sich also, ist dies, oder ist dies nicht? d. h. ist es wahr, oder ist es falsch? – Es ist! d. h. es ist wahr. In diesem
MBS, S. 35. Vgl. dazu Hedwigs Kommentar in „Confiteri circa seipsum …“, S. 42 f.
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
Sinne stellen die Analytica posterioara die Forderung, daß man das hoti ésti der Grundsätze einer Wissenschaft vorher erkannt haben müsse.³⁹
Dieser Passus ist für die hier geführte Diskussion deshalb von Bedeutung, weil er zeigt, dass es Kontexte gibt, in denen die sprachliche Konvention gilt, „Es ist wahr/falsch“ als „Es ist/Es ist nicht“ zu verkürzen, wobei das letzte „ist“ nicht auf das kategoriale Seiende, sondern auf die Wahrheit eines Urteils verweist und in eins damit auf die mannigfache, kategoriale und veritative Bedeutung des Seienden aufmerksam macht.⁴⁰ Brentanos Hinweis auf An. Post. I 1, 71 a 11,⁴¹ wo Aristoteles die bereits vorhandene Kenntnis als Voraussetzung zum Erwerben von Wissen behandelt, ist mit Bezug auf seine späteren Äußerungen über die Art und Weise, in der er zu seiner frühen irrigen Lehre über Gedankendinge (entia rationis) gekommen ist, besonders wichtig.⁴² An der genannten Stelle 71 a 12– 14 sagt Aristoteles: „Denn es ist notwendig, von einigen Dingen im voraus anzunehmen, daß sie sind (hoti ésti), […] wie etwa vom Umstand, daß man wahrheitsgemäß alles entweder bejaht oder verneint, daß es ist“.⁴³ In seinem Kommentar dazu macht W. Detel auf die Zweideutigkeit der Redewendung „daß sie sind (hoti ésti)“ aufmerksam, die sich sowohl mit Bezug auf bestehende Tatsachen, in diesem Fall MBS, S. 34; Hervorhebung I. T. Im Ms. A.1.1.1 bezieht sich Brentano in seinem Kommentar zu dieser Stelle noch nicht auf das Sein der Kopula, sondern verdeutlicht diese Bedeutung des Seienden wie folgt: „Daß Socrates ist, ist, d. h. ist wahr oder ist nicht, d. h. ist falsch (ist eine falsche Behauptung) […].“ (A.1.1.1, Bl. 24; die eckigen Klammern verweisen darauf, dass es sich um überschriebenen Text in Brentanos Manuskript handelt.) Dieses Beispiel macht deutlich, (i) dass es die Urteilsinhalte („dass Sokrates ist“) sind, die für wahr gehalten werden, (ii) dass „ist nicht“ gemäß der eben erwähnten sprachlichen Konvention stellvertretend für „ist nicht wahr (sondern falsch)“ funktioniert und infolgedessen, (iii) dass derselbe Urteilsinhalt „dass Sokrates ist“ sowohl als wahr als auch als falsch betrachtet werden kann und somit, (iv) dass es keine feste Verbindung zwischen der Qualität des Urteils und seiner Wahrheit gibt, wie dies in Met. V 7, a 31– 35 der Fall ist. Allerdings passt das Beispiel nicht zur Richtung von Brentanos Argumentation in der endgültigen, veröffentlichten Form des Textes, die sich auf das kopulative, und nicht auf das existentiale ist fokussiert (s. weiter unten). Andererseits gehört dieses Beispiel nicht zu Aristoteles, sondern zu Thomas, der am Ende seines Kommentars zu Met. V 7, a 1031– 35 (In V Met. lect. 9, n. 896) das Beispiel „Socrates est“ anführt. MBS, S. 34. Dieser Lehre zufolge existieren die Gedankendinge (mythische Wesen wie Jupiter, Zentauren usw. oder logische Begriffe wie „Genus“, „Spezies“ usw.) nicht wirklich oder im eigentlichen Sinn, sondern im uneigentlichen Sinn, d. h. nichtwirklich oder, wie Brentano in der Dissertation sagt, „objectiv“, nur „im Geiste“ (vgl. unten I.3.7.4 und F. Brentano, Die Abkehr vom Nichtrealen (ANR) (1966), F. Mayer-Hillebrand (Hrsg.), Hamburg, Meiner, 1977, S. 201 f., 291 f.). An. Post., I 1, 71 a 12– 14 (übersetzt v. W. Detel, in Aristoteles, Analytica Posteriora, 1. Halbbd., übersetzt u. erläutert v. W. Detel, Berlin, Akademie Verlag, 1993, S. 17).
I.3.3 Die Doppeldeutigkeit der eigentlichen Bedeutung des Seienden als Wahren
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auf den Satz vom ausgeschlossenen Dritten,⁴⁴ als auch mit Bezug auf existierende Gegenstände interpretieren lässt.⁴⁵ Brentano stieß ziemlich früh auf diese Zweideutigkeit. Seinen späten Erklärungen zufolge war es ausgerechnet diese Stelle, die ihn dazu veranlasste, die Existenz von Inhalten von Urteilen zu postulieren, und die so zu dem falschen Glauben führte, das „ist“ im Sinne von „ist wahr“ (hoti ésti) habe dieselbe affirmative Funktion wie das existentiale „ist“ im Satz „Ein Baum ist“: Ich hatte mich zunächst als Lehrling an einen Meister anzuschließen und konnte, in einer Zeit kläglichsten Verfalles der Philosophie geboren, keinen besseren als den alten Aristoteles finden, zu dessen nicht immer leichtem Verständnis mir oft Thomas von Aquin dienen mußte. Da geschah es denn u. a., daß ich mich verführen ließ, das „ist“ in den Sätzen „ein Baum ist“ und „daß ein Baum ist, ist“ für gleichmäßig funktionierend zu halten. Der Anfang der zweiten Analytiken scheint dafür zu sprechen, und Thomas v. A. erklärt ausdrücklich in dem Satz „deus est“ das „est“ im Sinne von „ist wahr“.⁴⁶
Aus der Tatsache, dass ein Baum (dessen Existenz außerhalb des Geistes im existentialen Satz anerkannt wird) und der auf ihn bezogene, für wahr gehaltene Urteilsinhalt („dass ein Baum ist“) unter zwei grundverschiedene Bedeutungen des Seienden fallen, der Baum unter das kategoriale, der Verstandesinhalt unter das veritative Seiende, scheint also für den jungen Brentano keine weitere Konsequenz angesichts der anerkennenden Funktion von „ist“ zu folgen, denn ein Seiendes im Sinne des Wahren kann ebenso gut anerkannt werden wie ein kategoriales Seiendes. Das führt ihn um 1870 dazu, die Inhalte von Urteilen als Korrelate von Urteilsakten zu postulieren und sie als Objekt aller Klassen von psychischen Akten (Vorstellungen, Urteile und Gemütsbewegungen) zu betrachten, eine Position, die er in der späten reistischen Phase seines Denkens preisgibt und wiederholt ablehnt.⁴⁷ Um auf seine erste Schrift zurückzukommen, setzt Brentano darin die erste veritative Bedeutung des Seienden aufgrund von Met.VI 4, 1027 b 18 – 23 ins Licht. Seine Übersetzung und sein Kommentar dazu lauten wie folgt:
An. Post., I 1, 71 a 13 – 14. W. Detel, „Anmerkungen“, in Aristoteles, Analytica Posteriora, 2. Halbbd., übersetzt u. erläutert v. W. Detel, Berlin, Akademie Verlag, 1993, S. 12. ANR, S. 291 f. Zum Verhältnis zwischen dem psychischen Akt des Urteils und seinem Inhalt vgl. unten I.3.7.5. Der Kerngedanke seines Reismus besteht darin, dass nur das Reale existiere und Objekt der psychischen Akte werden könne (vgl. z. B. die nach 1904 geschriebenen Texte über entia rationis in ANR oder im zweiten, 1911 veröffentlichten Band seiner Psychologie vom empirischen Standpunkt).
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
„Das Seiende als Wahres und das Nichtseiende als Falsches findet sich bei Verbindung und Trennung, beides zusammen aber bei der Theilung des Widerspruchs; das Wahre nämlich hat auf seiner Seite die Bejahung bei dem Verbundenen, die Verneinung bei dem Getrennten, das Falsche aber hat auf seiner Seite bei beiden das contradictorische Gegentheil.“ […] Offenbar wird hier das Urtheil wahr und falsch, also auch seiend und nichtseiend genannt, das Urtheil selbst ist das Subject, dem das Seiende als Prädicat zukömmt. Nicht die Copula, die in dem Satze selbst Subject und Prädicat verbindet, ist darum das Sein, von dem hier gesprochen wird, zumal da auch ein verneinendes Urtheil seiend, ein bejahendes nichtseiend genannt wird, vielmehr handelt es sich hier von einem Seienden, das von dem ganzen, fertig ausgesprochenen Urtheile prädicirt wird.⁴⁸
Für das von mir verfolgte Ziel ist es wichtig zu bemerken, dass Aristoteles hier eine allgemeine Darstellung seiner Auffassung von der Wahrheit/Falschheit der Urteile aufgrund ihrer Übereinstimmung mit der Wirklichkeit liefert. Anders gesagt, bezieht er sich nicht auf die schon für wahr gehaltenen Urteile, so wie im Falle der anderen von Brentano berücksichtigten veritativen Bedeutung des Seienden (Met. V 7, 1017 a 31– 35), sondern er stellt hier seine allgemeine These angesichts der Wahrheit des Aussagesatzes auf. Die Urteile, die dabei gemeint sind, sind die kategorischen Urteile im herkömmlichen Sinne, d. h. die Urteile, deren Termini sich auf das außerhalb des Geistes existierende Seiende beziehen und somit aus „reellen Begriffen“ in Brentanos Sinn bestehen. Dem Text zufolge lassen sich vier Fälle unterscheiden: „,A ist B‘ ist wahr“, „,A ist nicht B‘ ist wahr“, „,A ist B‘ ist falsch“, „,A ist nicht B‘ ist falsch“. Wie Brentano erklärt, sind sie für das Thema seiner Untersuchung, die Homonymie des Seins, deshalb aufschlussreich, weil die erste veritative Bedeutung des Seienden – „ist wahr“ – als Prädikatsbestimmung des ganzen Urteils verwendet wird. Der Ausdruck „das ganze Urteil“ meint dabei das kategorische Urteil im Allgemeinen, gleichgültig ob es affirmativ oder negativ ist und ob in ihm eine akzidentelle oder eine wesentliche Prädikation erfolgt. Auch wenn Aristoteles in dem hier angeführten Text nicht davon spricht, wissen wir aus anderen Stellen seiner Schriften, dass er dem kopulativen „ist“ dieser Urteile eine äußerst wichtige Rolle zumisst, da es die Zeit miteinschließt und
MBS, S. 34 (Hervorhebung I. T.). Der in Klammern gesetzte Text ist Brentanos Übersetzung der Stelle Met. VI 4, 1027 b 18 – 23. In A.1.1.1 fehlt jeder Hinweis auf die Kopula, vielmehr beschränkt sich Brentano hier auf die Bemerkung, das Urteil sei das Subjekt, über das etwas ausgesagt wird. In demselben Manuskript sind alle Zitate aus Aristoteles’ Schriften ins Lateinische übersetzt. Im veröffentlichten Manuskript sind sie hingegen ins Deutsche übertragen. Laut E. u.W. Baumgartner und Hedwig beabsichtigte Brentano, seine Dissertation ins Lateinische zu übertragen (a. a. O., S. 97).
I.3.3 Die Doppeldeutigkeit der eigentlichen Bedeutung des Seienden als Wahren
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Zeichen des Aussagens des Prädikatsnomens über das Subjekt ist.⁴⁹ Dies erhebt weiter den Anspruch, dass die mittels der Kopula gebildete sprach-logische Verbindung ein wirkliches Verhältnis der Dinge ausdrückt.⁵⁰ Das bloß kopulative „ist“ der gewöhnlichen kategorischen Urteile dient also dazu, die kategorialen Verhältnisse aufzudecken und sie in Urteilen auszudrücken, die gemäß ihrer Korrespondenz mit der Wirklichkeit wahr oder falsch sind. Da „ist wahr“/„ist falsch“ Ausdrücke sind, die zur Metasprache gehören und die sich auf die mittels der Kopula gebildeten Urteile beziehen, lässt sich sagen, dass die erste veritative Bedeutung des Seienden auf der grundlegenden Rolle der Kopula beruht, den Prädikatsterm über das Subjekt auszusagen. Die Tatsache, dass Brentano in seinem Kommentar zu dieser Stelle bereits die Kopula in die Diskussion einführt und ihre Wichtigkeit betont, obwohl Aristoteles in Met.VI 4 nicht davon spricht, zeigt, dass das Sein der Kopula für ihn von vornherein ein sehr ernst zu nehmender Kandidat für eine veritative Bedeutung des Seienden ist. Wie unten gezeigt wird, steht dies in engem Zusammenhang damit, dass er das aristotelische Seiende als Wahres in dem von Thomas von Aquin abgesteckten interpretativen Rahmen der aristotelischen Metaphysik versteht: Thomas betrachtet die Kopula als Zeichen der compositionis propositionis und macht aufgrund von Met.V 7, 1017 a 31– 35 aus der Möglichkeit, mittels ihr affirmative wahre Aussagen über Dinge, die es nicht gibt, zu bilden, einen wichtigen Punkt zur Interpretation der Seinshomonymie und des Seidenen als Wahren bei Aristoteles. Eine weitere Bemerkung, die hier von Bedeutung ist, ist die folgende: Im Unterschied zu Aristoteles, der in seinem Text vollständig diejenigen Fälle aufzählt, die bei der Wahrheit/Falschheit angesichts der zusammengesetzten Dinge zur Diskussion stehen, und der dabei sowohl die affirmativen als auch die negativen Urteile in ihrem Verhältnis zur Wahrheit/Falschheit thematisiert, führt Brentano eine beachtenswerte Beschränkung ein: Die Kopula, die er dabei im Auge hat, ist weder die Kopula der affirmativen falschen Sätze (z. B. „Sokrates ist ein Barbar“), weil in diesem Fall „ein bejahendes Urtheil nichtseiend [d. h. ist falsch] genannt wird“, noch die Kopula der wahren negativen Sätze, weil in diesem Fall „ein verneinendes [Urtheil] seiend [d. h. ist wahr]⁵¹ genannt“ und so Träger der Wahrheit wird, sondern, wie sich seinen weiteren Erörterungen entnehmen lässt,
Wie unten gezeigt wird, behauptet Brentanos später, die Eigenheit des Urteils bestehe nicht in der Prädikation, sondern in der Anerkennung oder Verwerfung der Existenz des vorgestellten Gegenstandes (vgl. unten I.3.7). De int. 16 b 6 – 11, 23 ff.Wenn Heidegger von der Wahrheit als Entdecktheit spricht, hat er nicht nur die Entdecktheit der Unzusammengesetzten, sondern auch die von kategorialen Verhältnissen im Visier (Heidegger, Logik, S. 175, 178, 180, 190 f.). Die Hinzufügungen in eckigen Klammern stammen von mir.
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
die Kopula affirmativer wahrer Sätze („,Sokrates ist weise‘ ist wahr“). Brentano selbst macht diese Bemerkung nicht und verbindet seine Ausführungen aus § 2, Kap. III auch nicht mit den Analysen im fünften Kapitel seiner Dissertation, mir scheint es jedoch wichtig zu betonen, dass diese Kopula in seiner Dissertation eine äußerst wichtige Rolle spielt, weil sie diejenige ist, die den unterschiedlichen Weisen der „Accidentalität“ oder „Inexistenz“ der akzidentellen Bestimmungen in der ersten Substanz Ausdruck verleiht.⁵² Dank ihr kann also die Prädikationsweise der Existenzweise folgen und so den Deduktionsversuch Brentanos ermöglichen. Dies besagt weiter, dass die grundlegende Form des Urteils, die den kategorialen Verhältnissen „naturgemäß“ Ausdruck verleiht, das affirmative Urteil ist, weil das positive Aussagen des Prädikats über das Subjekts die Existenzweise der kategorialen akzidentellen Bestimmung in ihrem Substrat reflektiert. Wie Aristoteles’ Äußerungen in Met. VI 4 über die affirmativen und negativen Urteile, die wahr oder falsch sein können, zeigt, stellt diese Kopula nur den ersten von denjenigen vier Fällen dar, die an der eben genannten Stelle der Metaphysik eine Rolle spielen: „,A ist B‘ ist wahr“, „,A ist nicht B‘ ist wahr“, „,A ist B‘ ist falsch“, „,A ist nicht B‘ ist falsch“. Da in diesen Beispielen „ist wahr“/„ist falsch“ alternierend von den affirmativen und negativen Urteilen ausgesagt werden, kann man keine feste Beziehung zwischen der affirmativen Form des Satzes und seiner Wahrheit feststellen, so wie dies bei der anderen veritativen Bedeutung des Seienden (Met. V 7, 1017 a 31– 35) für Brentano der Fall ist, die in dieser Reihe vom ersten Beispiel veranschaulicht wird. Das bloß kopulative „ist“/„ist nicht“ der kategorischen Urteile und das veritative „ist wahr“/„ist falsch“ der auf sie bezogenen Metaurteile funktionieren dabei als eigentliche Träger der Homonymie des Seins, Ersteres mit Bezug auf die kategoriale Ebene, das Zweite mit Rücksicht auf die sich auf diese Ebene beziehenden Urteile. Angesichts der Tatsache, dass nicht nur das Seiende, sondern auch das Nichtseiende homonym ausgesagt wird,⁵³ weise ich darauf hin, dass, wenn ich weiter von der Homonymie des Seins oder von der mannigfachen Bedeutung des kategorialen oder veritativen Seienden sprechen werde, ich jene Bedeutung nicht in einem weiteren, auch das Nichtseiende umfassenden Sinne, sondern in einem engeren Sinn verstehe, der einen der vier folgenden Fällen umfasst: (i) Das kopulative „ist“ der acht Prädikationsweisen (eine davon gehört der wesentlichen, die anderen sieben gehören der akzidentellen Prädikation an) der kategorischen Urteile, die für die Existenzweise der kategorialen Be-
MBS, S. 166 f. Met. XIV 2, 1089 b 15 – 18; vgl. dazu A. de Muralt, „L’être du non-être en perspective aristotélicienne“, Revue de théologie et de philosophie 40 (1990), S. 376 ff.
I.3.3 Die Doppeldeutigkeit der eigentlichen Bedeutung des Seienden als Wahren
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stimmungen in der ersten Substanz aufschlussreich sind („Sokrates ist ein Mensch, weise, x Kilo wiegend …“). Der Fokus dabei liegt auf der Referenz des Urteiles, auf dem von ihm aufgedeckten kategorialen Verhältnis. (ii) Die erste veritative Bedeutung des Seienden: „ist wahr“ als „Prädikatsbestimmung“ des ganzen Urteils, die auf der Rolle beruht, die das kopulative „ist“ dabei spielt, den kategorialen Verhältnissen Ausdruck zu verleihen. (iii) Das kopulativ-veritative „ist“ der affirmativen wahren Urteile – die zweite veritative Bedeutung des Seienden unten, wobei zweierlei unterschieden werden muss: (iii1) das kopulativ-veritative „ist“ der affirmativen wahren Urteile, die sich auf das außerhalb des Geistes existierende Seiende beziehen, das bei Aristoteles in Met. V 7, 1017 a 31– 35 (und auch im ersten Teil von Brentanos Kommentar dazu (s. unten)) auftaucht und das zwei Funktionen hat: das kategoriale Verhältnis aufzudecken und auf die Wahrheit der mittels ihm gebildeten Sätze hinzuweisen – aus diesem Grund lässt sich die Anwendung der altgriechischen veritativen Konvention in Met. V 7, 1017 a 31– 35 als eine stilistische Fassung der aristotelischen Korrespondenztheorie der Wahrheit betrachten. Dieses „ist“ gehört zu den „als wahr behaupteten“ Sätzen Brentanos und lässt sich auch als das „ist“ der affirmativen wahren Urteile des fünften Kapitels seiner Dissertation interpretieren, die den Prädikationsweisen entsprechen, welche den Existenzweisen der Akzidenzien in der ersten Substanz folgen;⁵⁴ (iii2) das kopulativ-veritative „ist“ der affirmativen wahren Urteile, die sich mit einem Seienden befassen, das nur „bloß objectiv im Geiste“ existiert. Ihm schenkt Aristoteles in seinen Erörterungen über die Homonymie des Seins keine besondere Aufmerksamkeit, vielmehr taucht es in der Debatte darum nicht bei ihm auf, sondern bei seinen mittelalterlichen Kommentatoren (z. B. bei Thomas von Aquin). Weiter setzt es nichts Wirkliches voraus, sondern etwas, das nur im Geiste besteht, und weist auf die Wahrheit des Urteils hin. Auf diese Bedeutung des Seienden werde ich mich im Folgenden besonders beziehen.
I.3.3.2 Die zweite veritative Bedeutung des Seienden in Brentanos Dissertation Die zweite veritative Bedeutung des Seienden wird von Brentano auf der Basis von Met. V 7, 1017 a 31– 35 ins Licht gesetzt. Sie bezieht sich genauso wie die erste auf
In der einschlägigen Thomas-Literatur wird (iii1) als logisches „ist“, das das ontologische „ist“ reflektiert, thematisiert (vgl. unten S. 82 f. und die dort angeführten Quellen).
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
das Urteil, das so weiterhin der eigentliche Träger der Wahrheit bleibt. Wie sich aus dem Text ergibt, geht es hier aber in erster Linie nicht um die Übereinstimmung der Aussage mit der Wirklichkeit, sondern um die affirmative (negative) Form der Kopula, die als Zeichen der Wahrheit (bzw. Falschheit) des Urteils interpretiert wird. Diese zweite eigentliche Bedeutung des Wahrseins kommt für Brentano in Met. V 7, 1017 a 31– 35 zur Sprache: Ferner bezeichnet das „Sein“ und das „ist“, daß es wahr ist, das Nichtsein aber, dass es nicht wahr, sondern falsch ist, bei positiven sowohl, als negativen Aussprüchen, wie z. B. Sokrates ist tonkundig, d. h. dies ist wahr, oder Sokrates ist nichtweiß, d. h. es ist wahr; dagegen die Diagonale ist nicht kommensurabel, d. h. es ist falsch.⁵⁵
Die Unterscheidungen der zwei veritativen Bedeutungen des Seienden als Wahren im eigentlichen Sinn sind laut Brentano die folgenden: (1) Das erste veritative „ist“ bezieht sich auf ganze Urteile, die je nach ihrer Beziehung zur Wirklichkeit als wahr oder falsch betrachtet werden; das zweite veritative „ist“ macht hingegen „einen Bestandtheil des als wahr behaupteten Satzes selbst aus, indem es als Copula Subject und Prädicat verbindet: a ist b“ und so das Urteil bildet.⁵⁶ Wie der Text zeigt, meint Aristoteles dabei die Kopula in Sätzen, die sich auf das außerhalb des Geistes existierende Seiende beziehen, sei es eine sinnlich wahrnehmbare erste Substanz wie Sokrates, sei es ein mathematisches Objekt wie die Diagonale. Was Brentano betrifft, versteht er die Kopula als Kopula affirmativer wahrer Sätze, die sich sowohl auf kategoriale als auch auf nichtkategoriale Verhältnisse beziehen. (2) Der ersten veritativen Bedeutung des Seienden zufolge lassen sich „ist wahr“ und „ist falsch“ sowohl von den affirmativen als auch von den negativen Urteilen prädizieren. Dementsprechend ist das negative Urteil „Sokrates ist nicht ein Barbar“ wahr, während die affirmative Aussage „Sokrates ist ein Ägypter“ falsch ist. Daraus ergibt sich, dass das Wahre und das Falsche sowohl in der Affirmation als auch in der Negation zu finden sind und dass man daher auf keine feste Verbindung zwischen der Qualität des Urteils und seiner Wahrheit/Falschheit zurückschließen kann: Die affirmativen und negativen Urteile können sowohl wahr als auch falsch sein. Ihre Kopula („ist“/„ist
Met. V 7, 1017 a 31– 35, übersetzt von Brentano (MBS, S. 34 f.). In A.1.1.1 folgt gleich nach dem aristotelischen Text, der ins Lateinische übertragen ist, ein langer Kommentar von Alexander von Aphrodisias, der in dem veröffentlichten Text in der Anm. 31 wiedergegeben ist. Ich deute das als ein Indiz, dass Brentano von Anfang an diese Stelle im Sinne von Alexander, Bonitz und Schwegler, und nicht vom Aquinaten, interpretieren wollte. MBS, S. 35.
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nicht“) kann also sowohl „ist wahr“, als auch „ist falsch“ bedeuten. Dagegen bezeichnet „ist“ nach der zweiten veritativen Bedeutung des Seienden stets „ist wahr“, „ist nicht“ dagegen „ist falsch“ oder, wie Brentano sagt, „ist […] das ‚wahr‘ auf Seite der Affirmation (wenn sie bald eine positive, bald eine negative Bestimmung beilegt), das ‚falsch‘ immer auf der der Negation“.⁵⁷ Da aber Brentano zum einen seine Behauptung dem Leser nicht weiter erklärt und zum anderen seine Ausführungen darüber nicht aus der Perspektive der Seinshomonymie, sondern als Beitrag zur aristotelischen Wahrheitsauffassung gelesen wurden, erweckt sein Text den Eindruck, es würden in ihm „subjektive“ und „solipsistische“ Voraussetzungen und Konsequenzen stecken.⁵⁸ Bevor ich mich auf die Frage der letztgenannten Bedeutung des veritativen Seienden einlasse, möchte ich zwei Kommentare anbringen. Der erste besteht darin, dass Brentanos diesbezügliche Analyse zwei Teile hat: Der erste bezieht sich auf das außerhalb des Geistes existierende Seiende (S. 35 f. bis „Auch ist es sicher, daß […]“). Alle an der genannten Stelle angeführten Urteile (iii1 oben) bestehen aus reellen Begriffen, die sich auf dieses Seiende beziehen. Der zweite Teil (S. 36 von „Auch ist es sicher, daß […]“ bis S. 38: „Dies wird immer mit dem wirklichen Sein […]“) beruft sich hingegen auf das nur im Geiste existierende Seiende und bringt Urteile in die Diskussion (iii2 oben), die aus „objectiven“ Begriffen bestehen, die nichts Wirkliches ausdrücken. Wie ich weiter zeigen werde, lässt sich in jedem dieser Teile der Einfluss des mittelalterlichen Denkens auf Brentano erkennen.
MBS, S. 35. (Hervorhebung I. T.). Brentano übernimmt diese These von Alexander von Aphrodisias und betont sie wiederholt (s. auch S. 36 f.). Vgl. dazu Krell (a. a. O., S. 86, 93), der die solipsistischen Konsequenzen in Brentanos Interpretation sieht. Im gleichen Kontext behauptet Chrudzimski, Brentano würde die subjektive Seite der aristotelischen Wahrheitsauffassung privilegieren, was jedoch richtig wäre, wenn er mit dieser Formulierung den Wahrheitsanspruch im Urteil betont hätte. Seine Erklärungen dazu gehen aber in eine psychologische Richtung (Chrudzimski, a. a. O., S. 60, 64). Brentanos unzureichende Behandlung der Facetten, die in Met. V 7, 1017 a 31– 35 einbezogen sind, erklärt, weshalb seine Interpretation der aristotelischen Wahrheitsauffassung in der Dissertation bis heute so umstritten ist: Aubenque interpretiert die Kopula in der Dissertation als Kopula der Urteile im normalen kategorischen Sinn (Aubenque, a. a. O., S. 169 f.), Chrudzimski wirft Brentano dagegen vor, dass er die aristotelische Korrespondenztheorie der Wahrheit nicht gebührend berücksichtigt hätte (Chrudzimski, a. a. O., S. 60 – 64; vgl. dagegen meinen Aufsatz „Categorial Relations …“).W. Sauer behauptet mit gutem Recht, Brentanos Analyse der Kopula stehe unter dem Einfluss von Thomas, weiter glaubt er, was nicht problemlos ist (s. unten Anm. 136, S. 83), die Ursprünge der idiogenetischen Urteilstheorie Brentanos wären schon in Brentanos Behandlung der Kopula in der Dissertation zu finden (Sauer, a. a. O., S. 193, 222 ff.).
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Allerdings besteht ein wichtiger Unterschied zwischen ihnen darin, dass während Brentano im ersten Teil seines Kommentars trotz des Einflusses von Thomas von Aquin⁵⁹ im Rahmen der aristotelischen Korrespondenztheorie der Wahrheit verbleibt, seine Ausführungen im zweiten Teil weit über diesen Rahmen hinaus gehen und sich mit einem Seinsbereich beschäftigen, nämlich dem „bloß objectiv im Geiste Existierenden“, der von Aristoteles nicht als solcher behandelt wurde. Der zweite Kommentar bezieht sich auf den Wahrheitsanspruch jedes Aussagesatzes und auf die Möglichkeit seiner Betonung: Bekanntlich unterscheidet Aristoteles in De int. 4 Aussagen von Bitten und Befehlen dadurch, dass ihnen die Eigenschaft zukommt, wahr oder falsch zu sein. Ihnen ist also ein Wahrheitsanspruch eigen, der durch die Überprüfung ihrer Übereinstimmung mit der Wirklichkeit einzulösen ist: Im Aussagesatz „Sokrates sitzt“ wird der Wahrheitsanspruch erhoben, dass die Eigenschaft „zu sitzen“ Sokrates jetzt zukommt. Um jedoch festzustellen, ob dies der Fall ist oder nicht, muss überprüft (d. h. in diesem Fall wahrgenommen) werden, wie sich Sokrates jetzt angesichts der genannten Eigenschaft verhält – er kann ebenso gut stehen, gehen, schwimmen usw. Für die hier geführte Diskussion ist es wichtig zu bemerken, dass derjenige, der ein Urteil fällt, auch die Möglichkeit hat, dem Hörer gegenüber die Wahrheit seines Urteils zu betonen, indem er es mit einer besonderen Intonation ausspricht oder indem er sagt, „Es ist so/wahr, dass …“, d. h.: „Es ist wahr, dass Sokrates sitzt“. Vom semantischen Standpunkt aus besagt das anfängliche Urteil dasselbe wie das betonte Urteil, weil sein Wahrheitswert unabhängig davon ist, ob sein Wahrheitsanspruch betont wird oder nicht. Darüber hinaus macht die Betonung die Überprüfung der Tatsache, ob Sokrates jetzt wirklich sitzt oder nicht, nicht überflüssig – der Sprecher kann den Wahrheitsanspruch seines Urteils gerade deshalb verstärken, um den Hörer von der Überprüfung der Übereinstimmung mit der Wirklichkeit abzulenken. Die Betonung stellt jedoch dem unbetonten Urteil gegenüber ein Plus dar, insofern sie seinen Wahrheitsanspruch explizit macht und in den Vordergrund rückt.⁶⁰ Wie unten gezeigt wird, stand den alten Griechen eine gewisse veritative Konvention zur Verfügung, die es ihnen ermöglichte, sich auf die Wahrheit des Urteils zu beziehen und den Wahrheitswert dadurch zu verstärken, dass sie die Kopula gegenüber den anderen beiden Satztermini voranstellten und betonten. Auf diese Weise haben wir es aber nicht mehr mit dem
Dieser Einfluss besteht in der Einführung des Seins der Kopula in die Diskussion. Vgl. dazu W. D. Ross, „Commentary“, in Aristotle’s Metaphysics, W. D. Ross (Hrsg.), Oxford, Oxford University Press, 1924, Bd. 1, S. 308 f.; Ch. Kirwan, „Notes“, in Aristotle, Metaphysics, Books Γ, Δ and Ε, übers. v. Ch. Kirwan, Oxford, Clarendon Press, 1993, S. 146; Ch. H. Kahn, The Verb ‘Be‘ in Ancient Greek. With a New Introductory Essay, Indianapolis, Hacket, 22003, S. XX; Sauer, a. a. O., S. 197– 201.
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gewöhnlichen Fall von Urteilen zu tun, die zwar wahr zu sein beanspruchen, jedoch nicht ihren Wahrheitsanspruch verstärken, sondern, wie Brentano sagt, mit den „als wahr behaupteten“ Urteilen.⁶¹ Unter diesen Umständen ist es bemerkenswert, dass sich alles, was Brentano über die zweite veritative Bedeutung des Seienden sagt, auf den „als wahr behaupteten Satz“ bezieht, d. h. auf affirmative Aussagen, die ihren Wahrheitsanspruch betonen.⁶² Ihre Kopula besagt „ist wahr“, ist für das allgemeine Thema seiner Dissertation aufschlussreich und wurde schon im Kommentar zu Met. VI 4, 1027 b 18 – 23 in die Diskussion gebracht. Die Fokussierung auf diese Art von Urteilen macht den roten Faden aus, der sich durch seine ganze Analyse (von „Nicht die Copula, die in dem Satze selbst […]“ (S. 34) bis gegen Ende des ersten Abschnitts auf S. 38) zieht: Im Kommentar zu Met. V 7, 1017 a 31– 35 beschränkt er seine Erörterung von Anfang an auf die als wahr behaupteten Sätze und behält, wie das auf S. 35 und 37 wiederholt benutzte Lokaladverb „hier“ (nämlich in den als wahr behaupteten Sätzen) zeigt, diese Beschränkung weiter, sie erklärt auch seinen wiederholten Rekurs auf Alexander von Aphrodisias’ Formulierung, das Wahre sei in der Affirmation, sie rückt dann – und das endgültig – in den Mittelpunkt der Diskussion über die entia rationis auf S. 36 f., wo ständig nur als wahr behauptete Sätze ins Spiel gebracht werden, und sie wird weiter fortgeführt bis zum vorletzten Abschnitt des Kapitels (S. 37 f.), wo Brentano über „wahre affirmative Behauptungen“ spricht, die sich auf Objekte beziehen, welche nur in der Seele existieren. Hinzu kommt, dass alle auf S. 37 angeführten Beispiele affirmativer Urteile für das grundlegende Problem seiner Arbeit – die mannigfache Bedeutung des Seienden – relevant sind, weil sie ständig die Seinshomonymie – das kopulativ-veritative „ist“ (iii oben), das die Wahrheit des Urteils bezeichnet – auf der Ebene des „bloß objectiv im Geiste Existirenden“ veranschaulichen. Dies weist noch einmal auf den Grund hin, aus dem die affirmativen Urteile in diesem Zusammenhang eine so wichtige Rolle spielen: Sie sind Ausdruck der Homonymie des Seins sowohl mit Bezug auf Urteile, die aus „reellen“ Begriffen bestehen – die affirmativen wahren Urteile, welche die These über die Prädikationsweise, die der Existenzweise folgt, illustrieren, sind aus solchen Begriffen gebildet – als auch hinsichtlich der aus „objectiven“ Begriffen gebildeten Urteile, d. h. der Urteile, die wahr sind, ohne jedoch auf etwas Wirkliches hinzuweisen. Brentanos Fokussierung auf die als wahr behaupteten Sätze und auf ihre veritative Kopula stellt somit eine entscheidende Eigenheit seiner Analyse dar und erklärt auch, weshalb das
MBS, S. 35. Dies ergibt sich aus dem Zusammenhang seiner Ausführungen (Met. V 7, 1017 a 31– 35; Alexander von Aphrodisias’ und Schweglers Kommentare dazu (MBS, S. 35 f.)).
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bloß kopulative „ist“ nur gelegentlich in die Diskussion gebracht wird⁶³ und von dem kopulativ-veritativen „ist“ nicht explizit und klar getrennt wird – das kopulative „ist“ wird nämlich von Anfang an als kopulativ-veritatives „ist“ in Angriff genommen.⁶⁴ Das macht einen wichtigen Unterschied gegenüber Aristoteles aus, der in seinen Analysen über die Wahrheit das Augenmerk auf affirmative und negative Urteile legt, die wahr oder falsch sind, und sich nur selten, z. B. in Met.V 7, auf die veritative Kopula bezieht. Wie schon angedeutet, stellt diese Kopula nur einen von vier Fällen der gewöhnlichen Anwendung des kopulativen „ist“ in Met. VI 4, 1027 b 18 – 23 dar, und zwar denjenigen, in dem sie „ist wahr“ besagt. Vor diesem Hintergrund werde ich im nächsten Abschnitt ausführlich den theoretischen Rahmen erörtern, in dem sich Brentanos Analyse bewegt und dessen zahlreiche Facetten Anlass für die erwähnten Meinungsverschiedenheiten seiner Interpreten sind. Dieser Rahmen besteht ursprünglich aus aristotelischen Gedanken, die aber von Brentano weit über Aristoteles hinaus in eine Richtung entwickelt werden, die sich kaum mehr als aristotelisch betrachten lässt. Um dies zu zeigen, werde ich mit der Darstellung der Problematik in Met. V 7, 1017 a 31– 35 beginnen, wobei ich mich nicht nur auf Brentanos Ausführungen stütze, sondern auch die Kommentare von Schwegler, Ross und Kahn heranziehen werde, die sich als wesentlich hilfreicher als Brentanos Erklärungen erweisen werden.
I.3.4 Die Fragestellung in Met. V 7, 1017 a 31 – 35 und die emphatische Bedeutung von „ist“ Die Textstelle 1017 a 31– 35 gehört zum siebten Abschnitt der Begriffsbestimmungen, die das fünfte Buch der Metaphysik bilden. In diesem Kapitel unterscheidet Aristoteles die folgenden Bedeutungen des Seienden: (1) das akzidentelle Seiende, (2) das Seiende an sich,⁶⁵ (3) das Seiende im Sinne des Wahren, und
Vgl. seine Ausführungen über die verneinenden Urteile, die seiend (d. h. wahr) und die bejahenden Urteile, die nichtseiend, d. h. falsch genannt werden können (MBS. S. 34). Die Thematisierung des Seins der Kopula als Zeichen der Wahrheit des Satzes bleibt auch für Brentanos Behandlung des Seienden als Wahren in seiner Metaphysikvorlesung entscheidend. Angesichts dieses letzten Werkes ist es aber wichtig, zweierlei zu betonen: Zum einen packt Brentano die Kopula darin unter dem Gesichtspunkt ihrer idiogenetischen Aspekte (d. h. als Zustimmung oder Verwerfung des vorgestellten Gegenstandes) an; zum anderen bringt er das existentiale „ist“ unter demselben Standpunkt in die Diskussion (im veröffentlichten Text der Dissertation bezieht er sich nicht auf existentiale Urteile, im Ms. A.1.1.1 (Bl. 24) aber schon; vgl. unten I.3.7). Wie gesagt steht Thomas’ Kommentar zu dieser Stelle auf der Grundlage von Brentanos Deduktionsversuch der Kategorien des Aristoteles.
I.3.4 Die Fragestellung in Met. V 7, 1017 a 31 – 35
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(4) das Seiende dem Vermögen und der Wirklichkeit nach.⁶⁶ Dabei ist wichtig zu bemerken, dass all diese Bedeutungen in unterschiedlichen Verwendungsweisen des Verbs „sein“ (einai) sichtbar werden: Die ersten beiden Bedeutungen finden sich im Gebrauch des kopulativen „ist“ in Sätzen, die ausdrücken, dass etwas einem anderen entweder akzidentell („Sokrates ist weise“) oder wesentlich („Sokrates ist ein Mensch“) zukommt.⁶⁷ Zu der unter (4) genannten Bedeutung gehört zum einen die Verwendung des kopulativen „ist“ im Sinne von „ist zu etwas tauglich (vermögend)“ (etwa „Sokrates ist vermögend zu sehen“), zum anderen die Verwendung im Sinne von „ist als etwas aktiv oder wirkend“ (z. B. „Sokrates ist sehend“).⁶⁸ Dazu kommt die vierte Verwendung von „ist“ im Sinne von „es ist wahr“ und von „ist nicht“ im Sinne von „es ist falsch“, die oben als die zweite veritative Bedeutung des Seienden besprochen wurde. Anzumerken ist noch, dass unter allen Textstellen in der Metaphysik, welche die Homonymie des Seienden betreffen, die vorliegende Stelle Met. V 7, 1017 a 31– 35 die einzige ist, in der die veritative Bedeutung des Seienden unter diesem Gesichtspunkt besprochen wird.⁶⁹ Um die Bedeutung, die den Zeilen 1017 a 31– 35 innerhalb des erwähnten Kapitels zukommt, richtig einschätzen zu können, gehe ich von Ross’ Interpretation aus und von der den alten Griechen vertrauten veritativen Konvention, die Kopula ésti, die meist am Ende oder in der Mitte des Satzes vorkommt,⁷⁰ dem Nennwort und dem Prädikatsnomen voranzustellen und zu betonen, um auf die Wahrheit des Gesagten hinzuweisen: „Ésti Sōkratēs mousikos“ heißt demnach „Es
Diese Unterscheidung liegt auch der Dissertation Brentanos zugrunde (MBS, S. 5, 75, 82). Brentano differenziert aber weiter nach den eigentlichen (das kategoriale Seiende und das Seiende der Wirklichkeit und dem Vermögen nach) und den uneigentlichen Bedeutungen des Seienden (das akzidentelle Seiende und das Seiende als Wahres). Wie unten gezeigt wird, überschneidet sich diese Unterscheidung mit der Distinktion zwischen „objectiven“ und „reellen“ Begriffen. Die Beispiele, die Aristoteles in seinem Text gibt, sind alle Beispiele der akzidentellen und nicht der essentiellen Prädikation und werden ausführlich in Brentanos Dissertation behandelt (MBS, S. 13 f.). Warum Aristoteles hier kein Beispiel für eine wesentliche Prädikation anführt, ist eine äußerst kontroverse Frage. Zu den Schwierigkeiten der Interpretation des Verhältnisses des Seienden an sich zum zufälligen Seienden an dieser Stelle vgl. z. B. Ross, a. a. O., S. 306 f.; E. Tugendhat, „Über den Sinn der vierfachen Unterscheidung des Seins bei Aristoteles (Metaphysik Δ 7)“, in ders., Philosophische Aufsätze, S. 136 – 147; und Kirwan, a. a. O., S. 140 – 146. Met. V 7, 1017 b 1 ff. (übersetzt von Bonitz). In Met. IV 2, 1003 b 5 – 10, VII 1, 1028 a 10 ff. wird die veritative Bedeutung des Seienden nicht analysiert; in Met. VI 2, 1026 a 33–b 2 wird sie nur erwähnt, aber nicht besprochen. Kahn, a. a. O., S. 424– 434.
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
ist wahr, dass Sokrates tonkundig ist“.⁷¹ Ésti wird hier also nicht nur in seiner kopulativen, sondern auch in seiner veritativen Funktion thematisiert, die den Wahrheitsanspruch des dadurch gebildeten Urteils explizit macht. Met.V 7, 1017 a 31– 35 gehört damit in den Kreis der wenigen philosophischen Stellen, auf die sich Philologen als Beispiel für diese Konvention berufen können, denn Aristoteles bedient sich doch gerade hier dieser Konvention, um die Wahrheit des Satzes zu betonen.⁷² Ross’ Kommentar geht von der emphatischen Position⁷³ des ésti im griechischen Text aus und verweist damit auf eine Verwendung des kopulativen „ist“, die sowohl von seinem akzidentellen, als auch von seinem essentiellen kopulativen Gebrauch dadurch verschieden ist, dass sie auf die Wahrheit des Satzes hinweist. Betrachten wir dazu die folgenden Beispiele: „A ist (akzidentellerweise) B“ („Sokrates ist weise“; kopulatives „ist“, akzidentelle Prädikation), „A ist (wesentlicherweise) B“ („Sokrates ist ein Mensch“; kopulatives „ist“, wesentliche Prädikation) und „A ist B“, wobei das kursiv geschriebene kopulativ-veritative „ist“ das emphatisch vorangestellte ésti im aristotelischen Text wiedergibt und die Wahrheit des Satzes bezeichnet.⁷⁴ Deshalb wird dies so gelesen: „Es ist wahr, dass
Das zweite Beispiel im aristotelischen Text (ésti Sōkratēs ou leukos) sollte nach demselben Schema gelesen werden: „Es ist wahr, dass Sokrates nicht-weiß ist“. Es ist auch möglich, diesen Satz als „Es ist wahr, dass Sokrates nicht weiß ist“ zu deuten, sodass die Negation „ou“ im Nebensatz nicht dem Prädikatsterm, sondern der Kopula zugeschrieben wird (vgl. Sauer, a. a. O., S. 199, 203 ff.). Das Problem dabei besteht darin, dass das erste „ist“ ein anderes Zeichen als die Kopula, die negativ ist, hat. Damit werden die zwei Rollen – die kopulative und die veritative Funktion, die das betonte „ist“ im aristotelischen Text haben – getrennt und auf zwei verschiedene „ist“ verteilt: Das veritative „ist“, das in seiner positiven Form auf die Wahrheit des Satzes hinweist, und die negative Kopula, die nicht betont wird, und die nicht auf den Wahrheitswert des Satzes, sondern darauf verweist, dass die Eigenschaft „weiß“ Sokrates nicht zukommt. Dies führt weiter in die Richtung von Met.VI 4, 1027 b 18 – 23 (die Wahrheit liegt sowohl in der Affirmation als auch in der Negation). Anders gewendet, wenn „ou“ nach der altgriechischen veritativen Konvention der Kopula zugewiesen wird, dann sollte es am Anfang des Satzes stehen, so wie dies der Fall beim dritten Satz „Ouk éstin hē diametros symmetros“ ist. Wenn es jedoch nicht am Anfang des Satzes steht – und das tut es nicht –, dann gehört es nicht der Kopula, sondern dem Prädikatsterm an, sowie Alexander von Aphrodisias, Schwegler, Bonitz, Ross, Kirwani und Kahn in ihren Kommentaren und Übersetzungen dies gelesen haben. S. Kahns Kommentar zu dieser Stelle (a. a. O., S. 332, 355, 358 f.). Ross’ Interpretation steht im Einklang mit den Interpretationen von Alexander von Aphrodisias und Schwegler, denen Brentano folgt; vgl. dagegen Seidl, „Kommentar“, in Aristoteles’ Metaphysik, 1. Halbbd. S. 385 f.; Heidegger, der sich ebenfalls auf Schwegler bezieht, hat diesen emphatischen Gebrauch von ésti klar erkannt und kommentiert (Heidegger, Vom Wesen, S. 42, 76, 83 f., und Aristoteles, Metaphysik Θ 1 – 3, S. 14 f.). Ross, a. a. O., S. 308 f. In De int. 10 analysiert Aristoteles drei Urteilsarten: „A ist“, „A ist B“ und „A x“, wobei „x“ für ein Verb steht, das sich als „ist xd“ wiedergeben lässt: „Ein Mensch geht“ =
I.3.4 Die Fragestellung in Met. V 7, 1017 a 31 – 35
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A B ist“, wobei bemerkt werden sollte, dass sowohl die Sätze der akzidentellen als auch die der wesentlichen Prädikation im Sinne dieser veritativen Konvention umgeformt werden können, also besagt etwa „Sokrates ist weise/ein Mensch“ (kopulativ-veritatives „ist“, akzidentelle/wesentliche Prädikation): „Es ist wahr, dass Sokrates weise/ein Mensch ist“. Ähnlich verhält es sich mit dem Beispiel ouk éstin hē diametros symmetros (die Diagonale ist nicht kommensurabel). Hier besagt „ist nicht“ soviel wie „Es ist nicht (es gibt nicht) eine mit der Seite des Quadrates kommensurable Diagonale“, oder: „Es ist falsch, dass die Diagonale kommensurabel ist“.⁷⁵ Die Kopula ouk ésti weist also nicht darauf hin, dass die Aussage „Die Diagonale ist nicht kommensurabel“ falsch wäre,⁷⁶ sondern darauf, dass die Idee einer kommensurablen Diagonale zu verwerfen ist, mithin, dass es keine Diagonale gebe, der die genannte Eigenschaft zukommen würde. Im Unterschied zu der Interpretation, die behauptet, in Brentanos Analyse würden solipsistische Konsequenzen stecken, bietet also die emphatische Lesart einen Ausweg, indem sie ouk ésti auf die zwei ihm folgenden Satztermini bezieht und so das aus ihrer Verbindung resultierende Urteil zurückweist: „A ist nicht B“ = „Es ist nicht AB“ = „Es ist falsch, dass AB ist“. Es ist daher kein Wunder, dass solange diese Konvention nicht erkannt und die ihr entsprechende emphatische Lesart nicht erfasst wird, man den Eindruck hat, Brentano würde sich bei der Analyse dieser Stelle in Widersprüche verwickeln, aus denen sich allerlei solipsistische und paradoxe Konsequenzen ableiten lassen. Unter diesen Umständen ist es beachtenswert, dass dieser veritative Sinn des kopulativen ésti – die zweite veritative Bedeutung des Seienden oder „das Sein der Kopula“ in Brentanos Analyse – bei Aristoteles die Korrespondenztheorie der Wahrheit nicht ausschließt, sondern auf ihr beruht. Hinzu kommt, dass sich die Sätze, die gemäß der erwähnten Konvention wahr oder falsch sind, als Umformungen der Sätze verstehen lassen, die nach der Korrespondenztheorie der Wahrheit wahr oder falsch sind: All die von Aristoteles in Met. V 7, 1017 a 31– 35 angeführten Sätze beziehen sich auf zusammengesetzte Dinge, die außerhalb des „Ein Mensch ist gehend“ (De int. 21 b 9 – 10; vgl. auch Crivelli, a. a. O., S. 10).Was Brentano betrifft, arbeitet er in seiner Schrift nur mit Urteilen der Form „A ist B“ (s. zur Urteilslehre Aristoteles’ Whitaker, a. a. O., S. 30 – 32, 52– 61, 132– 149). Brentano verteidigt die Lesart symmetros und führt dazu in extenso Alexander von Aphrodisias’ Kommentar an, aus dem er die These (die er in seiner Analyse wiederholt betont), das Wahre liege in der Affirmation, das Falsche in der Negation, übernimmt. Eine ausführliche Analyse von Alexander von Aphrodisias’ Kommentar im Kontext von Brentanos Behandlung des Seienden als Wahren bietet Sauer (a. a. O., S. 203 ff.). Die Negation dieser Aussage wird von Aristoteles wiederholt für notwendig wahr erklärt (Met. V 29, 1024 b 19 – 21; vgl. auch An. Prior. I 23, 41 a 23 – 27, und Sir Th. Heath, Mathematics in Aristotle, Oxford, Clarendon Press, 1970, S. 22 f., 196 f.).
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
Geistes existieren, entweder als individuelle Substanzen wie Sokrates oder als mathematische Objekte wie die der Seite des Quadrates inkommensurable Diagonale, und alle sind wahr oder falsch je nach ihrer Übereinstimmung mit den von ihnen genannten Gegenständen. Die ersten zwei sind wahr, weil die Eigenschaften „gebildet zu sein“ und, was die Hautfarbe betrifft, „nichtweiß (sondern im Sommer z. B. braun) zu sein“ Sokrates wirklich zukommen. Was den dritten Satz, „die Diagonale ist nicht kommensurabel“, betrifft, so wurde schon gezeigt, wie er sich in die Negation „Es ist falsch, dass die Diagonale kommensurabel ist“ umwandeln lässt.⁷⁷ Demgemäß beruht die von Aristoteles in Met.V 7, 1017 a 31– 35 dargestellte veritative Bedeutung des Seienden auf seiner Korrespondenztheorie der Wahrheit: Das kopulativ-veritative „ist“ ist nur ein Fall des kopulativen „ist“ – und lässt sich als eine stilistische Fassung desselben betrachten. Was nun den ersten Teil von Brentanos Kommentar zu Met. V 7, 1017 a 31– 35 betrifft (S. 35 f. bis „Auch ist es sicher, daß […]“), so ist Brentanos Analyse im Vergleich zu Ross’ Erklärungen darüber ziemlich einseitig, denn weder erörtert er den kopulativ-veritativen Gebrauch des ésti noch unterscheidet er ihn explizit von seinem bloß kopulativen Usus. Wie oben schon angedeutet, erklärt sich dies dadurch, dass er sich von Anfang an auf das kopulative „ist“ in seiner veritativen Funktion, d. h. auf das kopulativ-veritative ésti, konzentriert. Hinzu kommt, dass in seinem Kommentar jeder Hinweis darauf fehlt, dass es sich in Met. V 7, 1017 a 31– 35 um eine Bedeutung des „ist“ handelt, die in seiner kopulativ-veritativen Funktion etwas mit seiner Betonung durch die Voranstellung im Satz zu tun hat.⁷⁸ Unter diesen Umständen ist nicht klar, ob die altgriechische veritative Konvention für ihn von Bedeutung war oder nicht. Auf jeden Fall zeigt seine Übersetzung, Nur nebenbei sei bemerkt, dass Brentano in der Analyse dieses Beispiels ausdrücklich auf Schweglers Auseinandersetzung mit Becker über die richtige Lesart des aristotelischen Textes hinweist. Schwegler liest mit Alexander von Aphrodisias symmetros und wendet sich gegen die von Bekker in seiner Aristoteles-Ausgabe vorgeschlagene Lesart to d’ouk éstin hē diametros asymmetros, hóti pseudos (Met.V 7, 1017 a 34 f.): „Dass die Diagonale nicht incommensurabel, d. h. dass sie commensurabel sey – dies ist allerdings eine falsche Behauptung: mit anderen Worten, der obige Satz enthält eine falsche Aussage. Allein darum handelt es sich in diesem Zusammenhange nicht, sondern vielmehr darum, an einem Beispiel darzuthun, dass das mē einai oder das ouk ésti eine Aussage als falsch bezeichne. Ésti bezeichnet (sēmainei) eine Aussage als wahr, ouk ésti als falsch (hóti pseudos). Mithin muss diejenige Aussage, zu welcher ouk ésti hinzugesetzt wird, falsch seyn. Dies ist aber die Aussage, hē diametros asymmetros nicht, sondern diese Behauptung ist vielmehr wahr; falsch ist die Behauptung hē diametros symmetros. Mithin muss hē diametros asymmetros in unserer Stelle abgeändert werden in hē diametros symmetros, wie auch Alexander gelesen hat […].“ (A. Schwegler, Die Metaphysik des Aristoteles, Grundtext, Übers. u. Commentar, 3. Bd. des Commentars erste Hälfte, Tübingen, 1847, S. 213; s. auch MBS, S. 35 f.) Sowohl Alexander von Aphrodisias’ als auch Schweglers Kommentar beruht auf der vorangestellten Position des betonten ésti im aristotelischen Text; vgl. auch Kahn, a. a. O., S. 355.
I.3.4 Die Fragestellung in Met. V 7, 1017 a 31 – 35
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dass er ihr keine Aufmerksamkeit schenkt, und in seinem Kommentar dazu beschäftigt er sich besonders mit der Verbindung der affirmativen Form des Urteils mit seiner Wahrheit. Dabei sollte man ständig vor Augen haben, dass es hier noch nicht um die aus „objectiven“ Begriffen gebildeten Urteile geht, sondern um die Urteile, die aus reellen Begriffen bestehen, sich auf das extramentale Seiende beziehen und die sich auch unter dem Gesichtspunkt der zentralen These des fünften Kapitels seiner Dissertation über die Prädikationsweise, die der Existenzweise folgt, interpretieren lassen. Wie unten gezeigt wird, steht dies in enger Verbindung damit, dass Brentano von Anfang an auf eine wichtige These von Thomas von Aquin abzielt, nämlich die These, dass alles, worüber sich eine affirmative Aussage bilden lässt, Seiendes genannt werden kann. Vor diesem Hintergrund lassen sich die wichtigsten Schritte seines interpretativen Verfahrens wie folgt rekonstruieren: (i) Er übersetzt die Stelle, an der Aristoteles die altgriechische veritative Konvention anwendet, ohne ihr gerecht zu werden, denn weder seine Übersetzung noch sein Kommentar dazu geben von der Position der Worte im altgriechischen Text Rechenschaft.⁷⁹ Der veritative Sinn des ésti/ouk ésti im aristotelischen Text bleibt so unausgedrückt. (ii) All dem zum Trotz begrenzt er von vornherein die Diskussion auf die „als wahr behaupteten“ Sätze – damit steht er in Einklang mit Aristoteles in der angeführten Stelle – und restringiert als Folge davon die Berücksichtigung der Rolle der Kopula, Subjekt und Prädikat im Urteil zu verbinden, auf die Urteile, für die Alexander von Aphrodisias’ These gilt, das Wahre sei in der Affirmation, das Falsche in der Negation. Dabei liegt die Betonung seiner Analyse auf den affirmativen wahren Urteilen, weil sie die Homonymie des Seins ausdrücklich zur Sprache bringen. (iii) Auch wenn seine Übersetzung die Pointe der in Met. V 7, 1017 a 31– 35 angewandten altgriechischen veritativen Konvention verpasst, holt er ausgehend von den Kommentaren von Alexander von Aphrodisias und Schwegler den Sinn dieser Konvention nach, um sie – in der Fassung von Alexanders Formulierung, das Wahre liege in der Affirmation – in der Analyse des „bloß rationellen Seins“ weiter zu bearbeiten.⁸⁰
Bereits Sauer machte darauf aufmerksam, sowohl in Bezug auf Brentano als auch auf Thomas (Sauer, a. a. O., S. 212, 217 f.). MBS, S. 39; Aubenque (a. a. O., S. 169 f.) versäumt das vollständig und betrachtet die Kopula bei Brentano als Kopula der normalen kategorischen Sätze. Obwohl die Wendung „das Sein der Kopula“ für Brentano die Kopula aller Sätze kategorischer Form meint, verwendet er sie besonders im Rahmen seiner Analyse des „bloß objectiv im Geiste Existirenden“ (MBS, S. 37 f.; s. auch S. 14, 34– 36, 217 f.).
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
(iv) Bevor er dies aber tut, stellt er die Unterscheidung zwischen den zwei veritativen Bedeutungen des Seienden noch einmal in einer Form zur Debatte, die sich sowohl unter dem Gesichtspunkt des bloß kopulativen als auch des kopulativ-veritativen „ist“ interpretieren lässt:⁸¹ „Trotzdem ist es gewiß richtig, daß wer das erste Urtheil fällt, ebensogut eine Gleichung zwischen dem Verstande, nämlich den darin befindlichen Vorstellungen, und den Dingen vollzieht, wie wer durch ein zweites Urtheil das erstere Urtheil selbst als mit dem Thatbestande im Einklang erklärt.“⁸² Dazu ist anzumerken, dass dies das erste Mal in Brentanos Analyse in § 2, Kap. III ist, dass er die veritative Metaebene des Urteils und seiner Kopula verlässt, um sein Interesse wieder auf die Korrespondenz zwischen dem Urteil und der Wirklichkeit zu lenken. Denn es ist zwar wahr, dass der Korrespondenzgedanke implizit bereits in den Ausführungen über die erste veritative Bedeutung des Seienden thematisiert wurde – um ein ganzes Urteil als wahr zu betrachten, muss schon klar sein, dass es auf die Wirklichkeit zutrifft –, jedoch wurde die erwähnte Gleichung in § 2, Kap. III bis zu diesem Punkt nicht explizit behandelt. Aus diesem Grund lässt sich diese Stelle sehr wohl unter dem Gesichtspunkt der ersten veritativen Bedeutung des Seienden (Met. VI 4, 1027 b 18 – 23) und des bloß kopulativen „ist“, mittels dessen Urteile gebildet werden, die wahr oder falsch sein können, interpretieren. Trotzdem glaube ich, dass es viel angemessener ist, sie unter dem Gesichtspunkt der als wahr behaupteten Sätze und ihrer veritativen Kopula zu verstehen, weil die Analyse so innerhalb des von Brentano selbst abgesteckten Rahmens der Diskussion bleibt, der von Anfang an auf die Sätze gerichtet ist, die ihren Wahrheitsanspruch explizit machen. Bevor ich diesen Abschnitt abschließe, möchte ich noch einen Vergleich aufstellen, anhand dessen sich eine wichtige Unterscheidung ergibt. In § 1, Kap. III seiner Dissertation behauptet Brentano: Denn die Wirklichkeit ist ja das, wovon, wie wir sahen, die Wahrheit unseres Urtheils abhängt; die Begriffe aber sind es, die eben von dem urtheilenden Verstande als mit dem Sein conform oder nicht conform erkannt werden, sie enthalten wenigstens eine Gleichheit mit diesem, eine Ungleichheit mit jenem Objecte, wenn sie auch die Gleichung nicht vollziehen […].⁸³
Das lässt sich als ein weiterer Beweis dafür betrachten, dass er zwischen den zwei „ist“ nicht explizit unterscheidet. MBS, S. 36. MBS, S. 31.
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Wie der Text zeigt, geht es hier um keine veritative Konvention, sondern ganz im Sinne der thomasischen Fassung der aristotelischen Korrespondenztheorie der Wahrheit um das Verhältnis zwischen Begriff und urteilendem Verstand einerseits und dem Sein der Dinge andererseits.⁸⁴ Die im Text angewendeten Modaladverbien „conform“, „nicht conform“ verweisen zum einen gerade auf dieses Verhältnis und lassen zum anderen Thomas’ Einfluss auf Brentano in diesem Punkt erkennen, weil es laut Thomas Sache der zweiten Operation des Verstandes (des Urteilens) ist, sich darüber auszusprechen, ob sie „conform“ oder „nicht conform“ mit den Dingen verfährt.⁸⁵ Zugleich sind ausgerechnet die Ausdrücke „nicht conform“ und „Ungleichheit“ diejenigen, die auf eine ganz bestimmte Möglichkeit, nämlich die der Bildung falscher Urteile, hinweisen, die in der anderen, gleich vor diesem Passus angeführten Stelle deshalb nicht herangezogen wurde, weil Brentano dort nicht die falschen, sondern die „als wahr behaupteten“ Sätze vor Augen hat. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Brentanos absichtliche Fokussierung auf die „als wahr behaupteten“ Urteile, auf ihre veritative Kopula und auf Alexander von Aphrodisias’ Formulierung, das Wahre liege in der Affirmation, die Eigenheit des ersten Teils seines Kommentars zu Met. V 7, 1017 a 31– 35 ausmacht. Sie erklärt, weshalb er das kopulative und das kopulativ-veritative „ist“ nicht voneinander unterscheidet – er nimmt von Anfang an die veritative Funktion des kopulativen „ist“ in Angriff –, und macht auch den Grund deutlich, aus dem er noch in seinem Kommentar über die erste Bedeutung des Seienden (Met.VI 4, 1027 b 18 – 23) „das Sein der Kopula“ ins Spiel bringt. Diese Fokussierung dient dem allgemeinen Thema seiner Arbeit, der Homonymie des Seins, recht gut, weil sie sich sowohl unter dem Gesichtspunkt des „reellen“ Seins und der zentralen These der Prädikationsweise, die der Existenzweise folgt, als auch unter dem Gesichtspunkt des „rationellen Seins“ bewerten lässt.⁸⁶ Was diese letzte Frage betrifft, ist es für den weiteren Verlauf meiner Analyse wichtig zu betonen, dass sich alle Urteile, die Aristoteles zur Verdeutlichung seiner Lehre über das Seiende im Sinne des Wahren anführt, auf das außerhalb des Geistes existierende Seiende beziehen und dass er zur Verdeutlichung der Seinshomonymie angesichts dieser Bedeutung des Seienden Negationen, Privationen oder Gedankendingen wie Jupiter oder Zentauren keine besondere Aufmerksamkeit schenkt. Im ersten Teil seines Kommentars zu Met. V 7 bleibt Brentano ganz innerhalb dieses aristoteli De ver. q. 1, a. 9; vgl. auch die Anm. 24, S. 41 oben. Die erste Operation ist das Erfassen des Unzusammengesetzten (In VI Met. lect. 4, n. 1232; vgl. auch Schmidt, a. a. O., S. 203 – 209). Bei Brentano meint „reell“ das, was außerhalb des Bewusstseins ist. Bei Husserl dagegen, was im Bewusstsein gegeben ist (vgl. unten II.3.4).
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
schen Rahmens. Im nächsten Abschnitt werde ich zeigen, dass er sich im weiteren Verlauf seiner Erörterung zunehmend von Aristoteles entfernt.
I.3.5 Die unwirklichen Aspekte der Seinshomonymie in Brentanos Dissertation Im zweiten Teil seines Kommentars zu Met. V 7, 1017 a 31– 35 (S. 36 ab „Auch ist es sicher, daß […]“) verlässt Brentano den Boden des aristotelischen Wahrheitsbegriffs und entwickelt seine eigene Analyse der Seinshomonymie in eine nichtaristotelische, thomasische Richtung, die des sich nur im Geiste befindenden Seienden. Dies führt ihn schließlich und endlich dazu, dass zum Seienden als Wahrem nicht nur die Urteile, die dem kategorialen Seienden Ausdruck verleihen, sondern auch die Aussagen gehören, die keine kategoriale Tragweite mehr haben, weil sie sich auf Entitäten beziehen, die nur in der Seele bestehen. Entscheidend dabei ist die Tatsache, dass Brentano im Verlauf seiner Vorgehensweise eine gewisse, von Aristoteles nur am Rande behandelte Facette der Seinshomonymie aufgreift, sie mit dem kopulativ-veritativen Gebrauch des ésti verbindet und in eine Richtung entfaltet, die weit über den kategorialen Rahmen hinaus in ein Gebiet von Entitäten führt, die nur in der Seele existieren. Um diese Entwicklung verständlich zu machen, gehe ich von dem Motto seiner Dissertation aus: to on legetai pollachōs, das im ersten Kapitel seiner Arbeit unter Bezugnahme auf die folgende Stelle erklärt wird: Einiges wird Seiendes genannt, weil es Substanz, anderes, weil es Eigenschaft der Substanz, wieder anderes, weil es ein Weg, der zur Substanz führt, oder Corruption der Substanz, oder Privation der substantialen Formen, oder Qualität der Substanz ist, oder weil es die Substanz, oder etwas von dem, was in Beziehung auf die Substanz ausgesagt wird, hervorbringt oder erzeugt, oder weil es eine Negation von etwas Derartigem oder von der Substanz selbst ist. Daher sagen wir auch, es sei das Nichtseiende ein Nichtseiendes.⁸⁷
Wenn man diesen Passus im Lichte seiner gesamten Analyse liest, ergibt sich, dass die Substanz die Hauptbedeutung des Seienden ist, um die herum sowohl ihre kategorialen Bestimmungen als auch ihre Negationen und Privationen eingeordnet werden. Demzufolge wird alles „Seiendes“ genannt, entweder weil es eine Substanz ist oder weil es ein wirkliches oder aber ein gedachtes Verhältnis zu ihr hat, und zwar als logische Negation der Substanz oder dessen, was im Ver-
Met. IV 2, 1003 b 6 – 10 (übersetzt von Brentano, MBS, S. 6).
I.3.5 Die unwirklichen Aspekte der Seinshomonymie in Brentanos Dissertation
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hältnis zu ihr steht.⁸⁸ So kann man auch sagen, dass das Nichtseiende sei, und zwar entweder als logische Negation der Substanz selbst, ihrer Attribute oder ihrer Privation.⁸⁹ Was das wiederholt in seiner Arbeit aufgegriffene Beispiel „Daher sagen wir auch, es sei das Nichtseiende ein Nichtseiendes“ (Brentanos Hervorhebung) betrifft, so drückt dieser Satz kein wirkliches Verhältnis aus (das Gleichheits- und Identitätsverhältnis ist kein wirkliches, sondern nur ein gedachtes Verhältnis).⁹⁰ Andererseits kommt nach ihm darin ein sehr wichtiger Aspekt der aristotelischen Seinshomonymie zum Vorschein, und zwar die Tatsache, dass Aristoteles diese nicht nur an den wirklichen Verhältnissen des kategorialen Bereiches, sondern auch hinsichtlich der Privationen, Negationen und der sich auf sie beziehende Identitätsurteile zu veranschaulichen wusste. Solche Gedankengebilde, so Brentano, der hier den Scholastikern (Thomas von Aquin) folgt, gehören zu einem Bereich des Seienden, der nur im Geiste existiert. Dieser Gedanke ist deshalb wichtig, weil Brentano ihn im zweiten Teil seines Kommentars zu Met. V 7, 1017 a 31– 35 mit der These Alexanders von Aphrodisias’ verbindet, die Wahrheit sei in der Affirmation,
Brentanos Kommentar zu dieser Stelle folgt genau Thomas von Aquin, weil er, genauso wie Thomas, die im Text aufgezählten Bedeutungen auf vier zurückführt, die ich ihm folgend unterordne unter die Bedeutungen des Seienden, die sich außerhalb des Geistes, und diejenigen, die sich nur im Geiste befinden. Unter diesem Gesichtspunkt lässt sich Brentanos und Thomas’ Einteilung der Bedeutungen des Seienden in Met. IV 2 wie folgt rekonstruieren: (1) das Seiende (die Negationen und die Privationen), das keine extramentale Existenz hat, sondern nur im Geiste existiert, und das sich außerhalb des Geistes befindende Seiende. Letzteres wird weiter in (2) das Seiende aufgeteilt, dem eine fertige Existenz und das Seiende, dem keine fertige Existenz zukommt (das Sein der Bewegung, der Generation und der Korruption); das Erste wird weiter geteilt (3) in das selbstständige Seiende (die Substanz) und das unselbstständige Seiende (die Akzidenzien der Substanz). Dabei vergisst Brentano nicht zu bemerken, dass die erstgenannte Bedeutung mit dem Seienden als Wahrem zusammenfällt (MBS, S. 6 f.; In IV Met. lect. 1, n. 540 – 543; vgl. auch A. Kenny, Aquinas on Being, Oxford, Oxford University Press, 2002, S. 173). Das Prädikatsnomen des Satzes „X ist nicht-schwarz“ existiert nicht wirklich als solches, sondern nur als eine der Farben (Gelb, Braun, Weiß …), die seinen Umfang ausmachen. Aus diesem Grund heißt „X ist nicht-schwarz“ dasselbe wie „X ist entweder weiß oder gelb oder braun usw.“. Allerdings ändert das nichts daran, dass die Negation „nicht-schwarz“ auf dem sprachlichen Niveau als ein Seiendes auftaucht und ausgesagt wird: „X ist nicht-schwarz“; ebenso bezeichnet, wenn gesagt wird, „X ist taub oder blind“ das Prädikatsnomen eben die Privation oder Abwesenheit der eingentümlichen Form der entsprechenden Sinnesorgane. Aus diesem Grund steht der Auffassung nichts im Wege, dass die Privation auf sprachlicher Ebene im uneigentlichen Sinne als ein Seiendes oder als ein Habitus beschrieben werden kann: „X hat die Eigenschaft, taub oder blind zu sein“ oder „X ist taub oder blind“ (MBS, S. 14, 37 f.; vgl. auch F. Brentano, Aristoteles und seine Weltanschauung (AW) (1911), mit einer Einleitung von R. M. Chisholm, Hamburg, Meiner, 21977, S. 25). MBS, S. 37.
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
die Falschheit in der Negation, um ihn weiter so zu entwickeln, dass er kaum mehr als ein aristotelischer Gedanke betrachtet werden kann. Aufschlussreich dafür ist die folgende Stelle: Auch ist es sicher, dass das „sein“ der Copula nicht eine Energie des Seins, ein reales Attribut bezeichnet, da wir ja auch von Negationen und Privationen, von rein fingirten Relationen und andern ganz willkürlichen Gedankengebilden nichtsdestoweniger etwas affirmativ aussagen, wie Aristoteles in der oben zitierten Stelle Metaph. Γ 2.: „daher sagen wir auch, es sei das Nichtseiende ein Nichtseiendes“ oder wenn wir sagen: „jede Größe ist sich selbst gleich“, wo gewiß in der Natur der Dinge von einem prós ti, wie die Gleichheit doch ist, nichts gefunden wird, oder wenn wir sagen: „die Centauren sind fabelhafte Ungethüme, Jupiter ist ein Abgott“ u. dgl. Denn dass wir mit allen diesen Affirmationen keinerlei Realität zuerkennen, leuchtet wohl ein. Das „ist“ bezeichnet also hier nur „es ist wahr“.⁹¹
Wie das Modaladverb der Erweiterung „auch“ zeigt, ist die Stelle als eine Fortführung seiner vorigen Erörterung über Met.V 7, 1017 a 31– 35 entworfen: Während Brentano im ersten Teil seiner Erklärung (S. 35 f. bis „Auch ist es sicher, daß […]“) die These aufgestellt hat, das Wahre sei in der Affirmation, erweitert er jetzt seine Analyse, indem er die zentrale These des zweiten Teils seines Kommentars einführt, die der affirmativen Aussagen über Entitäten, denen keinerlei Existenz in der kategorialen Ordnung der Welt zukommt. Negativ ausgedrückt besteht der Grundgedanke des Passus darin, dass sich die aristotelische Seinshomonymie nicht nur in die drei bereits aufgezeigten Verwendungen des „ist“ auffächern lässt: das kopulative (akzidentelle oder wesentliche) „ist“, das kopulativ-veritative „ist“ in seiner Anwendung in Sätzen, die die kategorialen Verhältnisse ausdrücken (iii1 oben), und das veritative „ist“ im Sinne von „ist wahr“ als Prädikatsbestimmung des ganzen Urteils. Neben diesen Verwendungen des „ist“, die entweder reelle Bestimmungen zur Sprache bringen (die ersten zwei) oder – das dritte „ist“ – auf ihnen beruhen, führt Brentano nun einen vierten kopulativ-veritativen Gebrauch von ésti (iii2 oben) in die Diskussion ein, der sich nicht weiter kategorial interpretieren lässt, weil die Termini, die durch ihn verbunden werden, keine realen Attribute bezeichnen. Dabei ist es wichtig zu bemerken, dass er keineswegs sagt „dass das ‚sein‘ der Copula nicht [mehr; Hinzufügung I. T.] […] ein reales Attribut bezeichnet“, als ob er damit von der Kopula, die eine Energie des Seins bezeichnet, zu der überginge, die keine solche Energie bezeichnet. Diese Bemerkung macht eine implizite Voraussetzung seiner Analyse deutlich, die von
MBS, S. 36 f.; Sauer vermutet mit gutem Recht, im Hintergrund der Redewendung „Energie des Seins“ befinde sich Thomas’ Lehre des actus essendi (Sauer, a. a. O., S. 219 ff.), denn in A.1.1.1 (Bl. 26) steht: „Auch ist es gewiß richtig, dass das ‚sein‘ der Copula nicht eine Actualität, ein actus essendi, ein reales Attribut bezeichnet […].“
I.3.5 Die unwirklichen Aspekte der Seinshomonymie in Brentanos Dissertation
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Anfang an gilt und auf der auch der angeführte Passus basiert: An sich selbst betrachtet bezeichnet die Kopula nichts Wirkliches, weil sie selbst ein „bloßes Verstandesding“ ist, das nicht „außerhalb des Geistes“ existiert.⁹² Wenn Brentano daher über die „Energie des Seins“ und über „reale Attribute“ spricht, hat er nicht das kopulative „ist“ im Visier, sondern die kategorialen Bestimmungen, die unter die von der Kopula gebundenen Satztermini fallen. Die Änderung, die in dem angeführten Passus innerhalb seiner Analyse erfolgt, betrifft also nicht die Natur der Kopula, sondern die mittels ihr verbundenen Begriffe, die keine kategoriale Bedeutung mehr haben. Diese „nicht-reale“ Verwendungsweise der Kopula wird von Brentano benutzt, um das Problem der Seinshomonymie auf der Ebene des sich nur im Geiste befindenden Seienden – des „objectiven“ Seienden oder des „bloß objectiv im Geiste Existirenden“ – zu veranschaulichen. Unter diesem Gesichtspunkt ist es aufschlussreich, dass die ihm als Beispiel dienenden Urteile entweder unwirkliche, vom Denken selbst festgelegte Beziehungen ausdrücken oder sich auf keine wirklichen Entitäten (Jupiter, Zentauren usw.) beziehen. Wie gesagt ist die Identität kein wirkliches, sondern nur ein gedachtes Verhältnis, in welches das Denken jede Entität mit sich selbst bringt.⁹³ Angesichts der Urteile, deren Termini sich auf unwirkliche, imaginäre Entitäten berufen, lohnt es sich zu bemerken, dass Brentano mit diesen Beispielen den Boden der aristotelischen Philosophie bereits verlässt, da Aristoteles weder seine Auffassung von der Wahrheit noch die von der Homonymie des Seins aufgrund der Urteile, die sich auf solche Gedankendinge beziehen, angeht: Die schon angeführte Stelle Met. IV 2, 1003 b 6 – 10 demonstriert, dass in seiner Rede über Privationen und Negationen der kategoriale Bezug ständig erhalten bleibt, weil es um Privationen und Negationen der unter die Kategorien fallenden Bestimmungen geht. Wenn er dagegen Gedankendinge wie Ziegenbockhirsch, Sphinx oder Zentaur in die Diskussion bringt, unterstreicht er, dass sie keine Definition, sondern nur eine Bezeichnung zulassen, weil sie als solche nirgends bestehen und auch keiner Kategorie unterzuordnen sind.⁹⁴ Auch wenn diese Namen, wie alle anderen Namen auch, durch sich selbst weder wahr noch falsch sind, können affirmative Urteile,
MBS, S. 218. Brentano folgt hier Thomas von Aquin treu: Nach Thomas sei das kopulative „ist“ (verbalis copula) nicht etwas in der Natur der Dinge, sondern nur im Verstandesakt, welcher Begriffe verbindet und trennt (vgl. Quodl. IX, 2, 2[3] ll. 34 ff.; ich übernehme diesen Hinweis von Kenny, a. a. O., S. 74 ff.). Im Hintergrund dieser These steht der Gedanke Aristoteles’, an sich selbst genommen bedeute das Wort „seiend“ nichts Wirkliches; im Urteil hingegen füge er die Zeit hinzu und sei Zeichen der Verbindung und des Aussagens des Prädikatsnomens über das Subjekt (De int. 16 b 6 – 11, 23 ff.). Hier stimmt Brentano Thomas’ Position in In VI Met. lect. 4, n. 1241 zu (vgl. unten S. 87). An. post. II 1, 89 b 31– 32, II 7, 92 b 5 – 8; Phys. IV 1, 208 a 31– 32.
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
die solche Begriffe als Subjekt haben, nur falsch sein, da ihnen nichts Wirkliches entspricht. Was nun Brentano betrifft, bleibt auch für ihn der kategoriale Bezug und damit einhergehend die Korrespondenztheorie der Wahrheit für die Beurteilung derartiger Entitäten entscheidend, denn er betont, dass solche Gedankendinge in sich selbst betrachtet nicht wahr, sondern falsch seien.⁹⁵ Allerdings ist es in diesem Zusammenhang beachtenswert, dass im Mittelpunkt seiner Analyse im zweiten Teil des Kommentars zu Met. V 7, 1017 a 31– 35 nicht die aristotelische Theorie der Wahrheit, sondern die Frage nach der Homonymie des Seins steht, die hier mit Bezug auf das sich nur im Geiste befindende Seiende aufgerollt wird. Diese Frage macht die Perspektive aus, in der er seine Untersuchung führt: Auch wenn solche Entitäten unter dem Standpunkt der Korrespondenztheorie der Wahrheit falsch sind, kann der Verstand Gesichtspunkte finden, von denen aus er affirmative wahre Aussage über sie bilden kann: „[…] was in sich falsch ist, kann durch Attribution wahr sein, wie z. B. wenn Einer sagen würde, die Centauren seien fabelhafte Ungeheuer.“⁹⁶ Demzufolge sind die beiden Sätze über Jupiter und
MBS, S. 31. In der Vorlesung über deduktive und induktive Logik betrachtet Brentano die Urteile über solche Gedankendinge als nicht „wirklich attributiv“ – sie sagen keine reale Bestimmung über ein reales Subjekt aus –, sondern als „pseudokategorisch“ (EL80.13.211 f.; ich beziehe mich auf das von R. Rollinger edierte Manuskript (EL80) der Vorlesung Deduktive und induktive Logik (1869/70), Logik (Spring 2011 Edition)). Zur Unterscheidung zwischen den attributiven Bestimmungen, die die Erkenntnis über einen gewissen Gegenstand erweitern, z. B. „Hans ist Bergsteiger“, und auf diese Weise synthetisch im Sinne von Kant sind, und den modifizierenden Bestimmungen, die den Status des Subjekts, über das sie ausgesagt werden, verändern – ein toter oder gemalter Mensch ist kein wirkliches, von der Form der Seele belebtes Wesen – vgl. PeS, S. 239 f., und unten den zweiten Teil, II.3.3.2. MBS, S. 31. Die Stelle, zu der diese Zeilen gehören, lässt sich nicht eindeutig im Sinne seiner späteren epistemischen Theorie der Wahrheit bewerten (vgl. in diesem Sinne Chrudzimski, a. a. O., S. 60, 64 f.), weil Brentano damals noch keine Theorie der Merkmale eines psychischen Aktes hatte. Unter diesen Umständen ist es von Bedeutung, dass er in der Dissertation an der klassisch gewordenen aristotelischen Korrespondenztheorie der Wahrheit festhält, an der er später wiederholt Kritik übt (WE, S. 3 – 30, 121– 139). Das einzige Argument, das zugunsten eines epistemischen Wahrheitsbegriffs in dieser Arbeit angeführt werden kann, besteht darin, dass ebenso wie die Wahrheit dieser Theorie zufolge in einem inneren Merkmal des psychischen Aktes besteht, und zwar in der Evidenz, mit welcher der Akt innerlich wahrgenommen wird, die Wahrheit eines Urteils genauso in seiner Qualität besteht, weil „ist“ „ist wahr“, „ist nicht“ dagegen „ist falsch“ bezeichnet (s. dazu A. Chrudzimski, B. Smith: „Brentano’s Ontology: From Conceptualism to Reism“, in D. Jaquette (Hrsg.), The Cambridge Companion to Brentano, Cambridge, Cambridge University Press, 2004, S. 198). Es sei hier noch hinzugefügt, dass Thomas von Aquin mit Nachdruck darauf hinweist, dass der Grund der Wahrheit solcher Sätze nicht außerhalb des Geistes, im kategorialen Bereich, liege, sondern im Verstand zu suchen sei (vgl. z. B., S. th. I, q. 16 a. 3 ad 2; De malo, q. 1 a. 1 ad 20; In IV Met. lect. 4, n. 574; In V Met. lect. 9, n. 896; In VI Met. lect.
I.3.5 Die unwirklichen Aspekte der Seinshomonymie in Brentanos Dissertation
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Zentauren wahr, aber nicht weil ihnen etwas Wirkliches entspricht, sondern weil sie im Einklang mit anderen Sätzen über die griechische Mythologie oder über unseren christlichen Glauben stehen.Vor diesem Hintergrund wird klar, dass man nicht unbedingt solipsistische Konsequenzen aus der Behauptung, die Wahrheit sei in der Affirmation, ziehen muss, denn es ist sehr wohl möglich, sie auch anders, und zwar in einer wohlwollenden Weise zu interpretieren: Im Unterschied zu seiner reistischen Zeit, als er fest davon überzeugt war, dass nur die wirklichen Dinge existieren und vorgestellt werden können und dass die sogenannten entia rationis (die Negationen, die Gedankendinge, im Allgemeinen „das bloß objectiv im Geiste Existirende“ der Dissertation) nur entia locutionis sind, akzeptiert Brentano unter scholastischem Einfluss in seiner Dissertation bereits die These, es gebe außer dem kategorialen Bereich noch einen anderen, und zwar den Bereich des sich nur im Geiste befindenden Seienden, der aus Entitäten (Negationen, Privationen, Genera, aber auch Gedankendingen wie Jupiter oder Zentauren) und aus den auf sie bezogenen Urteilen besteht. Mit Bezug auf all jene Entitäten kann man das kopulativ-veritative „ist“ verwenden, um affirmative Urteile über sie zu bilden, was für Brentano zugleich bedeutet, dass ihr Subjekt irgendwie in der Seele existiert.⁹⁷ Es kommt noch hinzu, dass Brentano nicht behauptet, dass diese Urteile wahr sind, weil sie affirmativ sind, sondern er behauptet etwas viel Bescheideneres, und zwar, dass affirmative wahre Sätze über derartige Entitäten, die nur „objectiv“ im Geiste bestehen, gebildet werden können.⁹⁸ Die affirmative Form der Sätze begründet also nichts, sondern zeigt nur ihre Wahrheit. Wie ich gleich zeigen werde, steht im Hintergrund dieser Position eine gewisse geschichtliche Fassung der Homonymie des Seins bei Aristoteles – die von Thomas von Aquin –, der zufolge alles, worüber sich eine wahre affirmative Aussage bilden lässt, Seiendes genannt werden kann.
4, n. 1241; zur psychologischen Aufarbeitung des idiogenetischen Aspekts des Urteils bei Brentano vgl. unten I.3.7). MBS, S. 37. Kennys Behauptung: „X is = a proposition can be formed about X“, wobei „x“ sich bei Thomas auf derartige unwirkliche Entitäten bezieht, gilt auch für Brentanos Dissertation (Kenny, a. a. O., S. 76).
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
I.3.6 Das Sein der Kopula und die „objectiven Begriffe“ – zur Frage des scholastischen Einflusses auf Brentanos Dissertation I.3.6.1 Einleitung Die Frage nach dem scholastischen Einfluss auf Brentanos Analyse des Seienden als Wahren in seiner Dissertation war bis zum bahnbrechenden Aufsatz von Werner Sauer zu diesem Thema ein unbeschriebenes Blatt: Alle diesem Problem gewidmeten Abhandlungen haben es entweder innerhalb der Aristoteles-Kommentierung (Aubenque, Antonelli) oder im Zusammenhang mit dem Einfluss von Brentanos Dissertation auf Heidegger (Krell, Volpi, meine Arbeiten) behandelt.⁹⁹ Auf die Wichtigkeit von Thomas’ Kommentaren für Brentanos Ausführungen im dritten Kapitel seiner ersten Schrift haben sie dagegen nicht verwiesen. Dabei ist es von Bedeutung, anzumerken, dass es zwischen der endgültigen veröffentlichten Form des Textes über das Seiende als Wahres und Brentanos Manuskript A.1.1.1 erhebliche Differenzen gibt. Sie erklären sich daraus, dass, als Brentano seinen Text zur Veröffentlichung vorbereitete, er konsequent die Strategie verfolgte, alle expliziten Hinweise (Ausdrücke wie „actus essendi“, „Actualität“, „Composition von Subject und Prädicat“, „substantielles Sein“ und auch die Zitate aus dem Kommentar des Aquinaten zu Met. V 7 a 1017 a 31– 35), die als Zeichen von Thomas’ Einfluss auf ihn gedeutet hätten werden können, zu tilgen und sie durch neutralere Ausdrücke zu ersetzen. Aus diesem Grund blieb von der reichen Vielfalt thomasischer Spuren, die im Manuskript A.1.1.1 zu finden sind, in der endgültigen Fassung des Textes nur eine einzige explizite, jedoch sehr umfangreiche Referenz auf den Aquinaten.¹⁰⁰ Damit zeichnet sich Brentanos erstes Buch, das damals als eine wertvolle Erklärung des Werks vom Stagiriten im Sinne der katholischen Wissenschaft rezipiert wurde,¹⁰¹ eben dadurch aus, dass die
Zum Schreiben dieses Kapitels bin ich Prof. Dr. Klaus Hedwig besonders dankbar, dessen briefliche Mitteilungen großen Wert auf den Unterschied zwischen dem ontologischen und dem kopulativen „ist“ bei Thomas gelegt haben. Für die weiter durchgeführten Analysen trage ich jedoch allein die Verantwortung.W. Sauer wirft meinem Aufsatz „Das Seiende als Wahres und das Sein der Kopula in der Dissertation Brentanos“ (Brentano Studien 10 (2002/2003), S. 175 – 193) mit gutem Recht vor, dass ich dem Einfluss von Thomas’ Kommentar zu Met. V 7, 1017 a 31– 35 auf Brentanos Analyse des Seienden als Wahren in seiner Dissertation keine Aufmerksamkeit geschenkt habe (Sauer, a. a. O., S. 194). MBS, S. 181 f. Vgl. Kap. 4 unten.
I.3.6 Das Sein der Kopula und die „objectiven Begriffe“
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expliziten Hinweise auf die katholische Tradition aus ihr durchgehend entfernt wurden. Der Grund dafür wird von Brentano selbst am Anfang seiner Schrift über den Kreationismus des Aristoteles genannt, denn, nachdem er darauf hinweist, dass einer der wichtigsten Zwecke seiner ersten aristotelischen Arbeiten in der Eröffnung „neuer Hilfsquellen“, und zwar der Kommentare der „mittelalterlichen Aristoteliker“¹⁰² (Thomas von Aquin), zum Verständnis von Aristoteles bestand, erklärt er auch, weshalb er glaubte, dass die Zeit dafür noch nicht gekommen war: Doch meine Hoffnung [angesichts der Eröffnung „neuer Hilfsquellen“; Hinzufügung I. T.] sah sich getäuscht. Daß ein des Griechischen unkundiger Scholastiker uns Aristoteles verstehen lehren solle, schien den meisten allzu paradox, als daß sie es der Mühe wert gefunden hätte, seine Kommentare auch nur einmal in die Hand zu nehmen. Viele schöpfen vielmehr aus meinen Worten den Verdacht, den meine damalige Stellung zur katholischen Kirche nahe legte, daß ich selbst, die Meinung des „Fürsten der Theologen“ überschätzend, nur mit befangenem Blicke die Schriften der Aristoteles betrachte, thomasische Lehren hineininterpretiere, ja vielleicht gar weniger darauf ausgehe, Aristoteles zu erklären, als dem Doctor Angelicus einen neuen Titel des Ruhms zu sichern.¹⁰³
Auf die Gefahr hin, dass seine erste Schrift als Beitrag zur katholischen Wissenschaft jener Zeit gelesen werden könnte,¹⁰⁴ was sie auch tatsächlich war, verzichtete Brentano im veröffentlichten Text also auf fast alle expliziten Hinweise auf den Aquinaten. Unter diesen Umständen ist es das Verdienst Sauers, aufgrund der veröffentlichten Fassung der Dissertation diese Spuren zum ersten Mal in der einschlägigen Literatur aufschlussreich und ausführlich aufgedeckt zu haben, wobei er auch die Kommentare von Alexander von Aphrodisias, Bonitz und Schwegler kritisch und im Detail berücksichtigt. Auch wenn die vorliegende Analyse im Hinblick auf die folgende Thematik viel aus Sauers Aufsatz gewonnen hat, führt sie doch in eine andere Richtung als seine Interpretation: Ich glaube nämlich, dass die Relevanz des Kommentars des Aquinaten zu Met. V 7, 1017 a 31– 35 für Brentanos Ausführungen zu jener Stelle eher begrenzt ist – in Manuskript A.1.1.1 führt Brentano die Analyse dieser Stelle zwar in thomasischer Sprache aus, aber von Anfang an und entschieden in Richtung der Kommentare von Alexander von Aphrodisias, Bonitz und Schwegler. Diese These gilt für den
ALU, S. 1; vgl. auch Anm. 9 oben in I.1. ALU, S. 1. Bereits J. F. Reiff, der Gutachter der Dissertation Brentanos, wirft ihm den „so beschränkten Standpunkt“ in der Behandlung der Kategorien vor und bemerkt, dass dieser Standpunkt „zur mittelalterlichen Autorität des Aristoteles zurückführt“ (apud E. u. W. Baumgartner, Hedwig, a. a. O., S. 100; vgl. auch Goes, a. a. O., S. 26).
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
veröffentlichten Text umso mehr, insofern als Brentano darin die expliziten thomasischen Spuren sorgfältig entfernte. Im Folgenden werde ich von der allgemeinen Charakterisierung der thomasischen Metaphysik durch L. Oeing-Hanhoff ausgehen, um mich daraufhin der Behandlung der Probleme, die für das Thema dieses Kapitels relevant sind, zuzuwenden. Noch auf der ersten Seite seiner Dissertation behauptet Brentano: „Denn das Seiende ist das Erste, was wir geistig erfassen, weil es das Allgemeinste, das Allgemeinere aber immer das der geistigen Erkenntniß nach Frühere ist.“¹⁰⁵ Die thomasische, nichtaristotelische Färbung dieser Charakterisierung des Seienden lässt sich im Lichte der folgenden Bemerkung Oeing-Hanhoffs klar erkennen: Thomas geht aber über Aristoteles hinaus, insofern nach ihm die Formel „Seiendes als solches“ nicht mehr besagt: das Seiende als Wesen betrachtet, welches Wesen Seiendes als solches konstituiert, sondern nach seinem Verständnis „Seiendes überhaupt“ meint, d. h. den allgemeinsten Begriff und das mit ihm Begriffene. Greifbar wird diese Differenz auch daran, daß Thomas im Unterschied zu Aristoteles das Sein im Sinne des Wahrseins, also das objektive Sein, das, insofern es von Natur Seiendes repräsentiert, wahr oder falsch ist, nicht aus dem eigentlichen Gegenstand der Metaphysik ausklammern kann. Er kommentiert die einschlägige Stelle bei Aristoteles zwar ohne ausdrückliche Kritik, weist aber die Behandlung dieser Seinsart „einer Wissenschaft vom Intellekt“ zu, die aber wiederum nur die ja auch den Gegenstand der Logik umfassende Metaphysik sein kann […].¹⁰⁶
Dieses Zitat sollte in Verbindung mit der Bestimmung der Aufgabe der Metaphysik bei Thomas gelesen werden, der ihr sowohl das Studium der Eigentümlichkeiten und der Prinzipien des Seienden überhaupt als auch seiner Teile zuschreibt, wobei Thomas zwei Teilgebiete besonders im Auge hat: einerseits das „von Natur Seiende“ (ens naturae), andererseits das Gedankending („ens rationis“, „ens in anima“ oder „ens in mente“).¹⁰⁷ Wie ich unten zeigen werde, ist diese Unterscheidung für das Thema des Einflusses des scholastischen, besonders des thomasischen Denkens auf Brentanos Dissertation, besonders auf seine Interpretation von Met, V 7, 1017 a 22– 35, sehr wichtig, weil sie bei Brentano in einer ganz bestimmten Form – dem Begriffspaar reelle – „objective“ Begriffe – wieder auftaucht.¹⁰⁸ Diese Form führt sowohl auf Suárez als auch auf die neuscholastische
MBS, S. 1 f.; Bereits Antonelli und Sauer haben auf den thomasischen Hintergrund dieser Stelle hingewiesen (Antonelli und Sauer, a. a. O., S. XV f.). Oeing-Hanhoff, „Metaphysik. Thomas von Aquin“, HWPh, Bd. 5, S. 1221; vgl. auch Hedwig, „‚…eine gewisse Kongenialität‘…“, S. 119. Vgl. Oeing-Hanhoff, a. a. O., S. 1220, und die dort angeführten Quellen; vgl. auch S. 1223. MBS, S. 82, 37– 41. Diese Unterscheidung erscheint in Brentanos Dissertation neben der aristotelischen vierfachen Bedeutung des Seienden.
I.3.6 Das Sein der Kopula und die „objectiven Begriffe“
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Literatur aus Brentanos Zeit zurück und ist eng mit der Frage nach der mannigfachen Bedeutung des Seienden auf der Ebene des „bloß objectiv im Geiste Existirenden“ verbunden. Außer diesem Problem sind für das Thema dieses Kapitels noch zwei weitere Punkte von Bedeutung: zum einen „das Sein der Kopula“, zum anderen diejenige Facette der Seinshomonymie, die bei Thomas in den affirmativen Aussagen über Negationen und Privationen zur Sprache kommt und die bei Brentano eine wichtige Rolle für die Art und Weise spielt, in der er die Analyse der Seinshomonymie hinsichtlich des sich nur im Geiste befindenden Seienden in § 2., Kap. III seiner Dissertation durchführt. Um Thomas’ Einfluss auf Brentano angesichts der genannten Probleme ins Licht zu setzen, gehe ich im folgenden Kapitel von der besonderen Rolle aus, die Thomas dem Seienden als Wahrem innerhalb seiner Deutung der aristotelischen Homonymie des Seins zu Anfang von De Ente et Essentia und in seinem Kommentar zu Met. V 7 zumisst.
I.3.6.2 Thomas’ kausale Interpretation der aristotelischen Korrespondenztheorie der Wahrheit und Brentanos Haltung dazu Das erste Kapitel aus De Ente et Essentia beginnt wie folgt: Man muß also (erstlich) wissen, daß das Seiende an sich, wie der Philosoph im 5. Buch der ‚Metaphysik‘ sagt, auf zweifache Weise genannt wird: auf eine Weise dadurch, daß es sich auf zehn (kategoriale) Gattungen verteilt, auf andere Weise dadurch, daß es die Wahrheit der Aussagen bedeutet. Der Unterschied dieser (beiden Weisen) ist der, daß Seiendes auf die zweite Weise all das genannt werden kann, worüber sich eine bejahende Aussage bilden lässt, auch wenn dies nichts real setzt. Auf diese Weise werden die Privationen und Verneinungen Seiendes genannt; denn wir sagen aus, daß die Bejahung der Verneinung entgegengesetzt ist, und daß die Blindheit im Auge ist. Auf die erste Weise jedoch kann Seiendes nur so genannt werden, dass dies etwas real setzt. Daher sind in der ersten Weise Blindheit und derartiges kein Seiendes.¹⁰⁹
Thomas von Aquin, Über Seiendes und Wesenheit. De Ente et Essentia, mit Einl., Übers. u. Kommentar hrsg. v. H. Seidl, Hamburg, Meiner, 1988, S. 5 (Hervorhebung I. T.). Auch wenn es Kontexte gibt, wo Thomas Aristoteles folgend oder sich im eigenen Namen äußernd von mehreren Bedeutungen des Seienden spricht (z. B. „Esse dicitur tripiliciter“ (1 Sent. d. 33 q. 1 a.1 ad 1)), bleibt doch die zu Anfang von De Ente et Ess. zur Sprache gebrachte zweifache Bedeutung des Seienden für ihn entscheidend (vgl. dazu A. Krempel, La doctrine de la relation chez Saint Thomas. Exposé historique et systématique, Paris, Vrin, 1952, S. 342 ff.; Schmidt, a. a. O., S. 75 f., und auch seine Erörterungen darüber auf S. 75 ff. und 232 ff.; vgl. auch MBS, S. 37); es ist nicht klar, ob Brentano das absichtlich tut oder nicht, aber seine Dissertation beginnt genauso wie De Ente et Essentia,
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
Für die hier geführte Diskussion ist es von Bedeutung, (i) dass Thomas in diesem Passus eine veritative Bedeutung des Seienden aufführt, die mit der ersten veritativen Bedeutung des Seienden bei Brentano – „ist wahr“ als Prädikatsbestimmung des ganzen Urteils – nicht zusammenfällt, weil er sie nicht anhand von Urteilen, die sich nur auf das kategoriale Seiende beziehen, sowie dies bei Aristoteles und Brentano der Fall ist, illustriert,¹¹⁰ (ii) dass er sie von der kategorialen Bedeutung des Seienden trennt und (iii) dass er ihren Unterschied dadurch erklärt, dass auf die erste Weise etwas als Seiendes nur betrachtet werden kann, wenn es etwas „real setzt“; dagegen lässt sich auf die zweite Weise alles für Seiendes halten, worüber eine affirmative Aussage gebildet werden kann, unabhängig davon, ob es etwas „real setzt“ oder nicht. Von den drei oben erwähnten Fragen kommen hier nur der Unterschied zwischen dem kategorialen Seienden (ens naturae) und dem veritativen Seienden (ens rationis) sowie die Frage nach den affirmativen Aussagen über Negationen und Privationen zur Sprache. Das für Brentanos Analyse des Seienden als Wahren zentrale Problem „des Seins der Kopula“ taucht in diesem Text nicht auf, ist in ihm jedoch schon implizit vorhanden, weil die Frage nach der Kopula bei Thomas mit der nach der Wahrheit des mittels ihr gebildeten Satzes eng verbunden ist.¹¹¹ Um den Rahmen dieser Frage abzustecken, werde ich mit ein paar allgemeinen Bemerkungen über das kategoriale und das veritative Seiende und über ihr kausales Verhältnis zueinander in Thomas’ Kommentar zu Met. V 7, 1017 a 22– 35 beginnen. Diese Stelle von Aristoteles’ Metaphysik ¹¹² ist für das hier verhandelte Thema deshalb wichtig, weil Thomas’ Kommentar dazu Brentanos Behandlung des kategorialen und veritativen Seienden in seiner ersten Schrift entscheidend beeinflusst hat: Sowohl Brentanos Versuch, die aristotelischen Kategorien abzuleiten als auch seine Behandlung des Seienden als Wahren in § 2., Kap. III seiner Dissertation beruhen auf Thomas’ Vorlagen im Kommentar zu Met. V 7, 1017 a 22– 35. Angesichts des letztgenannten Problems muss jedoch gleich angemerkt werden, dass Brentano selbst diesen Einfluss nicht explizit macht: Er zieht zur Interpretation von Met.V 7, 1017 a 31– 35 Alexander von Aphrodisias’, Bonitz’ und Schweglers Erläuterungen
auch eine Jugendschrift, mit einem Hinweis auf das Diktum Aristoteles’ in De caelo über den Irrtum, der am Anfang der Untersuchung klein ist, um „am Ende überaus groß“ zu werden (MBS, S. 1.; De Ente et Ess., Prooemium; vgl. auch Antonelli und Sauer, a. a. O., S. XV). Wie unten gezeigt wird, unterscheidet Thomas – anders als Brentano – diese veritative Bedeutung des Seienden nicht von dem Sein der Kopula, sondern er geht ganz natürlich von der Letzteren zur veritas propositionis über, weil die beiden für ihn zusammengehören. Vgl. z. B. In V Met. lect. 9, n. 896; S. th. I, q. 48, a. 2 ad 2. Vgl. auch Quodl. IX, q. 2 a. 2 co., wo im gleichen Kontext auf dieselbe Stelle der Metaphysik Aristoteles’ hingewiesen wird.
I.3.6 Das Sein der Kopula und die „objectiven Begriffe“
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zu Hilfe, der Name von Thomas dagegen erscheint im veröffentlichten Text nicht, auch wenn er sich im Ms. A.1.1.1 mehrfach auf den Aquinaten beruft. Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, hinsichtlich des Verhältnisses zwischen dem kategorialen und dem veritativen Seienden auf einen Unterschied zwischen Aristoteles und Brentano auf der einen und Thomas auf der anderen Seite aufmerksam zu machen: Obwohl Aristoteles in seinen Ausführungen über den Wahrheitsbegriff in Met. VI 4 und IX 10 ständig die Wahrheit des Urteils ins Verhältnis zum Gebunden- oder Getrenntsein der Dinge setzt und es an diesen Stellen Äußerungen gibt, die es ermöglichen, das Letzte als Ursache des Ersten zu verstehen, hebt er diesen Aspekt nicht besonders hervor.¹¹³ Thomas dagegen betont dies ständig sowohl in seinem Kommentar zu Met. V 7, 1017 a 31– 35 als auch zu Met. IX 10, wo er wiederholt das kategoriale Seiende für die Ursache der Wahrheit der auf es bezogenen Urteile hält.¹¹⁴ Dies ist bei ihm weiter mit der unaristotelischen, theologischen Annahme verbunden, dass hinsichtlich jedes geschaffenen Dinges zwischen esse und essentia unterschieden werden müsse und dass die zwei nur im Falle Gottes zusammenfallen würden.¹¹⁵ Was Brentano betrifft, so führt er die beiden genannten aristotelischen Stellen ¹¹⁶ an, aber im Unterschied zu Thomas bringt er das kategoriale und das veritative Seiende in Met. V 7 auf keine Weise in Verbindung:¹¹⁷ Nicht nur, dass er die zwei
„Nicht deßhalb bist du weiß, weil wir mit Wahrheit glauben, daß du weiß seiest, vielmehr weil du weiß bist, sagen wir, die wir es sagen, die Wahrheit.“ (Met. IX 10, 1051 b 6 – 9; übersetzt von Brentano, MBS, S. 29) Vgl. auch Cat. 14 b 19 – 22, wo die Existenz eines Menschen „auf irgendeine Weise als die Ursache dafür [erscheint], daß die Aussage [,Ein Mensch ist‘; Hinzufügung I. T.] wahr ist. Denn weil die Sache existiert oder nicht existiert, wird die Aussage wahr oder falsch genannt“ (übersetzt von K. Oehler). Vgl. auch A. de Muralt, a. a. O., S. 382 f. Vgl. In IX Met. lect. 11, n. 1897 ff., wo Thomas die Zusammensetzung von Materie und Form und von Subjekt und Akzidenz in den Dingen als Grundlage und Ursache der sich auf sie beziehenden Urteile sieht; vgl. auch De ver. q. 1, a. 8 ad. 6 u. a. 9; Schmidt, a. a. O., S. 220; Hedwig, „Confiteri circa seipsum …“, S. 44 f.; und Lakebrink, der diese Idee von Thomas gegen die idealistische These Hegels, der urteilende Verstand setze „das Wirklichsein der Dinge“, richtet (B. Lakebrink, Klassische Metaphysik. Eine Auseinandersetzung mit der existentialen Anthropozentrik, Freiburg, Rombach, 1967, S. 16 f.). De Ente et Ess. IV, 85 – 95; vgl. auch S. th. I, q. 3, a. 4. In der Metaphysikvorlesung bezieht sich Brentano auf diese letzte Stelle (vgl. WE, S. 219). Einer Aufzeichnung von A. Kastil zufolge, die er 1904 niedergeschrieben hat, behauptete Brentano ihm gegenüber: „Thomas hat die sonderbare, dem Aristoteles fremde Lehre, daß die Dinge aus essentia und existentia zusammengesetzt seien; doch nur die geschaffenen Dinge, nicht Gott. Hier bei Gott sei essentia = existentia.“ (WE, S. 162; vgl. auch Hedwig, „‚…eine gewisse Kongenialität‘…“, S. 119) MBS, S. 29, 34 f. Brentano greift nicht auf eine kausale Terminologie zurück, um das Verhältnis zwischen dem kategorialen und dem veritativen Seienden zu charakterisieren, sondern beschreibt dies wie folgt:
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
nicht kausal miteinander verbindet, darüber hinaus weist er in seiner Analyse des kategorialen Seienden (Kap. V seiner Dissertation) auch nicht auf die Ausführungen in § 2., Kap. III über das veritative Seiende in Met. V 7 hin und umgekehrt. Auch wenn sich die Reihe affirmativer Urteile („Sokrates ist ein Mensch, weise, x Kilo wiegend, …“), die zur Veranschaulichung der zentralen These des fünften Kapitels seiner Arbeit über die Prädikationsweise, die der Existenzweise folgt, zweifelsohne im Sinne der „als wahr behaupteten“ Sätze in § 2., Kap. III seiner Dissertation betrachten lässt, schenkt er dieser Frage am genannten Ort keine Aufmerksamkeit, sondern lenkt von Anfang an sein Augenmerk auf Alexander von Aphrodisias’ Formulierung über das Wahre, das in der Affirmation liege, und auf ihre weitere Anwendung auf die Ebene des „bloß objectiv im Geiste Existirenden“. Kurz gesagt betont Brentano kaum die Verbindung des veritativen Seienden in Met. V 7, 1031 a 31– 35 mit dem kategorialen Seienden in Met. V 7, 1017 a 22 – 30, dem es doch im genannten Kapitel unmittelbar folgt.¹¹⁸ Das macht einen wichtigen Unterschied zu Thomas aus, der dieses letzte Seiende explizit in ein kausales Verhältnis zum veritativen Seienden setzt und es ausdrücklich als seine Ursache betrachtet: Man muß aber wissen, daß jener zweite Seinsmodus [das Seiende als Wahres; Hinzufügung I. T.] sich zu dem ersten [das kategoriale Seiende; Hinzufügung I. T.] verhält wie die Wirkung zur Ursache. Denn daraus, daß sich etwas in der Natur der Dinge wirklich findet, erfolgt seine Wahrheit und Falschheit im Satz, die der Verstand, durch das Wort ‚Ist‘ bezeichnet, sofern es als verbales Bindewort (verbalis copula) fungiert.¹¹⁹
Bevor ich diese Stelle unter die Lupe nehme, möchte ich in Erinnerung rufen, dass Thomas mit der Unterscheidung der drei Weisen, in denen das Prädikat auf das Subjekt bezogen werden kann (In V Met. lect. 9, n. 891 f.), bereits zuvor den Weg eingeschlagen hat, dem Brentano in seiner Deduktion der Kategorien folgt. Dabei stellte er auch die für Brentanos Ableitungsversuch zentrale aristotelische These auf, dass entsprechend der Weisen, in denen das Seiende ausgesagt werde, auch das Sein selbst zur Ausdruck komme.¹²⁰ Auf die oben erwähnte Reihe von Bei-
„Dagegen hängt unser Denken von den Dingen ab und muß sich, um wahr zu sein, nach ihnen richten […]“ (MBS, S. 29); „Denn die Wirklichkeit ist ja das, wovon, wie wir sahen, die Wahrheit unseres Urtheils abhängt“ (MBS, S. 31). Wenn Brentano in seinen Erläuterungen über die Ableitung der aristotelischen Kategorien jedoch auf seine Ausführungen im Kapitel über das Seiende als Wahres hinweist, dann bezieht er sich nicht auf Met. V 7, sondern auf seine Ausführungen „über die Conformität von Denken und Sein“ in § 1., Kap. III, S. 27 (MBS, S. 111, Anm. 124). In V Met. lect. 9, n. 896 (übersetzt von Lakebrink, in Lakebrink, a. a. O., S. 18). In V Met. lect. 9, n. 890; vgl. auch n. 893; MBS, S. 117, 114, 119 f.
I.3.6 Das Sein der Kopula und die „objectiven Begriffe“
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spielen angewendet, besagt dies, dass entsprechend den Weisen, wie das Prädikatsnomen mittels der Kopula „ist“ von Sokrates ausgesagt wird, auch das Sein ausgedrückt wird, da die wesentlichen und die akzidentellen Bestimmungen in „Sokrates“ als erster Substanz enthalten sind.¹²¹ Demgegenüber bringt die angeführte Stelle etwas Neues ins Spiel, indem die kategoriale und die veritative Ebene kausal miteinander verbunden werden: Eben deshalb folgt die Prädikationsweise der Existenzweise, weil die Letzte von Thomas als Ursache der Ersten aufgefasst wird.¹²² Auch wenn die Kopula ein vom Verstand selbst geschaffenes Ding ist und die Möglichkeit besteht, dass er sich in seiner zweiten Operation, welche Begriffe verbindet und trennt, täuschen kann, versteht Thomas das Verhältnis dieser Ebenen zueinander kausal, indem er die mittels der Kopula durchgeführte affirmative Verbindung der Begriffe (compositio propositionis) auf das Sein der Dinge zentriert und die erwähnte Verbindung als seine sprach-logische Wirkung versteht.¹²³ Diese Tatsache ist für die hier gestellte Frage deswegen von Bedeutung, weil sie Thomas und Brentano zu unterschiedlichen Ergebnissen in der Interpretation der Met. V 7, 1017 a 31– 35 und der darin enthaltenen Beispiele führt: Trotz seiner Bewunderung für Thomas konnte Brentano ihm hier nicht folgen, da Thomas diesen Passus vor dem Hintergrund seiner kausalen Auffassung von der Wahrheit¹²⁴ und damit einhergehend außerhalb des interpretativen Rahmens interpretiert, der von der Aristoteles-Exegese des 19. Jahrhunderts (z. B. Bonitz und Schwegler) abgesteckt wurde und der auf der oben genannten veritativen Konvention beruht. Es geht hier also nicht nur darum, dass Thomas der Position der Worte im griechischen Text keine Aufmerksamkeit schenkt,¹²⁵ sondern darüber hinaus darum, dass er auf der Grundlage seines Kommentars zu dieser Stelle eine andere Auffassung über ihren Sinn als Alexander von Aphrodisias, Schwegler, Bonitz und Brentano vertritt. Daher zielen seine Ausführungen darüber nicht darauf, den veritativen Sinn des kopulativen ésti, dessen altgriechische Verwendungsweise er auch nicht in Betracht zieht, hervorzuheben und zu klären,
In diesem Sinne sagt Thomas im Sentenzenkommentar, dass sich über alles, was von Natur aus in den Dingen ist, mittels einer affirmativen Aussage sagen lässt, dass es ist (In II Sent. d. 34, q. 1 a. 1 co. (vgl. auch oben Anm. 44)). Vgl. auch De ver. q. 1, a. 8. In diesem Sinne behauptet Hedwig: „Aber im Kern hält Thomas daran fest, dass das ‚ist‘ der Kopula auf die intimste, erste und letzte Wirklichkeit einer Sache hinzielt, auf das ‚Sein‘ selbst.“ („Confiteri circa seipsum …“, S. 45) Wie gesagt ist diese Auffassung mit dem Unterschied zwischen esse und essentia verbunden. Vgl. Sauer, a. a. O., S. 212. Auch Brentano schenkt der Position der Worte keine Aufmerksamkeit, aber den Kommentaren von Alexander von Aphrodisias und Schwegler folgend interpretiert er den Text im Sinne der altgriechischen veritativen Konvention.
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
sondern darauf, das kausale Verhältnis des kategorialen und des veritativen Seienden ins Licht zu setzen: 895. Darauf […] führt er [Aristoteles; Hinzufügung I. T.] eine andere Weise des Seienden an, demgemäß „sein“ und „ist“ die Zusammensetzung des Aussagesatzes bezeichnen, welche der zusammensetzende und teilende Intellekt tätigt […]. Von daher sagt er, dass „sein“ die Wahrheit der Sache bezeichnet; oder, wie eine andere Übersetzung besser hat, dass „,sein‘ bezeichnet, dass“ irgendein Gesagtes „wahr“ ist. […] Von daher kann die Wahrheit des Aussagesatzes, die Wahrheit der Sache kraft Ursachenfunktion […] genannt werden: Denn aufgrund dessen, dass die Sache ist oder nicht, ist die Rede wahr oder falsch. […] Wenn wir nämlich sagen, dass etwas ist, bezeichnen wir, dass der [entsprechende] Aussagesatz wahr ist; und wenn wir sagen, dass es nicht ist, bezeichnen wir, dass er nicht wahr ist; und dies, sei es im Bejahen, sei es im Verneinen. Und zwar im Bejahen, so wie wir sagen, dass Sokrates weiß ist,¹²⁶ weil dies wahr ist; im Verneinen hingegen, wie „Sokrates ist nicht weiß.“, weil dies wahr ist, nämlich dass selbiger nicht weiß ist. Und ähnlich sagen wir, dass die Diagonale der Seite des Quadrates gegenüber nicht inkommensurabel […] ist, da dies falsch ist, nämlich dass selbiger nicht inkommensurabel ist.¹²⁷
In Met.V 7, 1017 a 1031– 35 verleiht Aristoteles zwar der altgriechischen veritativen Konvention Ausdruck, geht aber nicht auf die Analyse des Verhältnisses zwischen den Urteilen und den von ihnen gemeinten Dingen ein. Im Unterschied zu ihm bringt Thomas ausgerechnet diesen letzten Aspekt ins Spiel und betrachtet sie als Ursache der Wahrheit der auf sie bezogenen Urteile. Das weist schon darauf hin, dass er – anders als Brentano – Met. V 7, 1017 a 31– 35 im Sinne von Met.VI 4, 1027 b 18 – 23 (das Wahre liege sowohl in der Affirmation als auch in der Negation) versteht. Die Art und Weise, in der er die Wahrheit-Stelle in Met.V 7 deutet, macht sowohl diesen Punkt als auch die Tatsache klar, dass er den Text außer der altgriechischen Konvention liest: Das erste Beispiel steht mit dem Text von Aristoteles im Einklang und lässt sich auch unter dem Gesichtspunkt von Thomas’ Behauptung in In II Sent. d. 34, q. 1 a. 1 deuten, dass alles, was einem Ding von Natur aus zukomme, sich in einer affirmativen Aussage darüber behaupten lasse. Das zweite Beispiel weicht dagegen schon von der altgriechischen Konvention ab, der zufolge es hier um eine Affirmation mit einem negativen Prädikatsnomen („Sokrates ist nichtweiß“) geht, wie dies Alexander von Aphrodisias, Schwegler,
Sauer weist darauf hin, dass es hier um ein Textverderbnis gehe und liest im Einklang mit dem aristotelischen Text: „Sokrates ist gebildet“ (Sauer, a. a. O., S. 209). In V Met. lect. 9, n. 895; übersetzt von K. Obenauer in Thomas von Aquin, Lexikon der philosophischen Begriffe. Kommentar zu Aristoteles’ Metaphysik, 5. Buch, Deutsch-Lateinisch, Neunkrichen–Seelscheid, Editiones Scholasticae, 2016, S. 137 f.; die Übersetzung wurde Brentanos Terminologie gemäß leicht verändert.
I.3.6 Das Sein der Kopula und die „objectiven Begriffe“
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Bonitz und auch Brentano gelesen haben.¹²⁸ Thomas dagegen, arbeitet in seiner Interpretation mit einer Fassung des Beispiels, das aus dem Rahmen der altgriechischen Konvention fällt, weil es sich auf einen negativen wahren Satz bezieht, nämlich „,Sokrates ist nicht weiß‘ ist wahr“. Demgemäß liegt die Wahrheit für Thomas auch in der Negation, während der Formulierung Alexander von Aphrodisias’ und Brentanos zufolge das Wahre in der Affirmation (im gegebenen Fall mit negativen Prädikatsnomen) liegt. Demgemäß beachtet Thomas die strenge Trennung in der Interpretation von Met. V 7: Affirmation – Wahrheit / Negation – Falschheit, nicht und kommt deshalb angesichts der ersten zwei Beispiele zu demselben Ergebnis, zu dem Aristoteles und ihm folgend Brentano in Met. VI 4 gelangen: Das Wahre liege sowohl in der Affirmation „,A ist b‘ ist wahr“ als auch in der Negation „,A ist nicht B‘ ist wahr“. Was das dritte Beispiel über die Diagonale betrifft, so wurde oben schon darauf hingewiesen, dass es damals kontrovers interpretiert wurde: Bekker las asymmetros, während Bonitz, Schwegler und Brentano die Lesart Alexander von Aphrodisias’ teilten und symmetros lasen. In Thomas’ Kommentar steht dagegen: „,Die Diagonale ist nicht mit der Seite des Quadrates inkommensurabel‘ ist falsch“. Im Unterschied zur altgriechischen Konvention also, der zufolge die Kopula „ist nicht“ darauf hinweist, dass die ihr im Satz folgende Wortverbindung „die kommensurable Diagonale“ und der dieser Verbindung entsprechende affirmative Satz „Die Diagonale ist kommensurabel“ zu verwerfen, also falsch sind, liegt der Fokus von Thomas’ Interpretation nicht auf dem Verhältnis der negativen Kopula zu den ihr folgenden Satzteilen, sondern auf der Festlegung des Wahrheitswertes des ganzen Satzes. Aus diesem Grund besagt „non est“ bei ihm, dass der Satz als Ganzes falsch ist. Das weist weiter darauf hin, dass er ihn im Sinne von Met. VI 4 (der Fall „,A ist nicht B‘ ist falsch“) interpretiert. Man bemerkt also, dass Alexanders’ Formulierung, die Brentano in Met. V 7, 1017 a 31– 35 überall am Werk sieht, in Thomas’ Kommentar nicht durchgängig funktioniert: Sie trifft zwar auf das erste Beispiel zu, ist aber für das zweite Beispiel schon nicht mehr in Kraft, weil hier das Wahre nicht in der Affirmation, sondern in der Negation liegt, und sie passt auch nicht zum dritten Beispiel. Das macht einen wichtigen Unterschied zwischen Thomas und Brentano aus, der nicht leicht zu übersehen ist: Thomas geht von der compositio propositionis mittels der Kopula aus, um aufgrund einer kausalen Auffassung von der aristotelischen Korrespondenztheorie der Wahrheit, die mit der Unterscheidung esse – essentia in Verbindung steht, von dem Sein der
Vgl. dagegen Sauer (a. a. O., S. 199, 203 ff.) und Anm. 71 oben.
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
Dinge zur Wahrheit der Satzes überzugehen.¹²⁹ Brentano dagegen kommt zur Wahrheit des Satzes aufgrund einer sprachlichen Konvention, die zwar die Entsprechung zwischen Denken (Sprache) und Sein voraussetzt, die aber zugleich die zwei nicht kausal verbindet, den Unterschied zwischen esse und essentia nicht anerkennt und darüber hinaus den affirmativen Charakter des Satzes streng mit seiner Wahrheit verbindet. Das dürfte ein möglicher Grund dafür sein, weshalb Brentano trotz seiner Hochschätzung für Thomas’ Kommentare sie in diesem Zusammenhang weder anführt noch auf ihre Ergebnisse zurückgreift: Brentano möchte nämlich bei der Interpretation einer Stelle der aristotelischen Metaphysik, die in der Aristoteles-Exegese seiner Zeit intensiv diskutiert wurde, nicht auf ein Kommentar zurückgreifen, der sich wegen seiner kausalen Auffassung von der Wahrheit und des Beispiels mit der Diagonalen hinter dem Forschungsstand seiner Zeit befand. Um mich in der konfessionell geprägten Sprache einer Rezension von Brentanos Dissertation, die in der Zeitschrift Der Katholik: Zeitschr. für kath. Wiss. u. kirchl. Leben 1862 anonym veröffentlicht wurde, auszudrücken, hat sich der katholische Brentano trotz seiner Bewunderung für Thomas in der Auslegung von Met. V 7, 1017 a 31– 35 an die von protestantischer Schule gelieferten Ergebnisse angeschlossen, da sie ihm offensichtlich exegetisch besser fundiert schienen als die Erläuterungen, die Thomas dazu gibt.¹³⁰
Dabei muss jedoch bemerkt werden, dass dieses Verhältnis nicht auf dieselbe Weise für die wahren affirmativen wie für die negativen Aussagen funktioniert: Obwohl wahr ist, dass die beiden Urteilsarten Ergebnis der zweiten Operation des Verstandes sind, die Begriffe verbindet oder trennt, bezieht sich der Verstand in seinen affirmativen Aussagen unmittelbar auf die Dinge, denen er sich angleicht (De ver. q. I, a. 8.). Im Falle der negativen Urteile wie „Sokrates ist nicht weiß“ kommt Sokrates zwar eine gewisse Farbe zu, aber der Verstand gleicht sich ihr nicht an, indem er sie mittels einer affirmativen Aussage zur Sprache bringt, sondern er bezieht sich auf sie mittelbar, indem er sagt, wie Sokrates nicht ist. Die Wahrheit der Aussage wird also nicht nur von dem Ding, sondern auch von der Betrachtungsweise des Verstandes bewirkt, der das, was dem Ding positiv zukommt, negativ beschreibt. Was Thomas in folgender Stelle über die Privationen sagt, ist für die hier besprochene Frage aufschlussreich: „Ein Nichtsein ist nicht in dem Sinn Ursache der Wahrheit verneinender Sätze, als bewirke es diese Sätze im Verstand. Vielmehr bewirkt das die Seele selbst, indem sie sich etwas außerhalb der Seele Nichtseiendem anpaßt. Daher ist ein Nichtsein außerhalb der Seele nicht Wirkursache der Wahrheit in der Seele, sondern so etwas, wie Ursache nach Art eines Modells. Der Einwand betrifft aber die Wirkursache.“ (De ver. q. I, a. 8, ad 6/S. 63) „Rezension zu Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles von Franz Brentano. Freiburg, Herder’sche Verlagshandlung 1862“, Der Katholik (1862/zweite Hälfte), S. 368; vgl. auch S. 378. Mithin gehört Thomas’ Kommentar zu Met. V 7, 1017 a 31– 35 nicht zu denjenigen Stellen, über die Brentano um 1893 sagte, dass sie „einige der dunkelsten Lehrpunkte im Aristotelischen System viel richtiger in ihrem Sinn und viel tiefer in ihren Gründen erfassen konnten als unsere modernen Historiker [Bonitz, Zeller; Hinzufügung I. T.] es getan haben“ (ÜA, S. 13). Nur
I.3.6 Das Sein der Kopula und die „objectiven Begriffe“
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I.3.6.3 „Das Sein der Kopula“ bei Brentano und in Thomas’ Kommentar In V Met. lect. 9, n. 895 f. Wenn man nun von denjenigen Ausführungen von Thomas zu Met. V 7, die sich Brentano aus den genannten Gründen nicht aneignen konnte, zu denjenigen übergeht, die einen Einfluss auf ihn ausgeübt haben, dann muss erwähnt werden, dass alle drei zu Beginn dieses Kapitels genannten Ideen – „das Sein der Kopula“, die affirmativen Aussagen über Privationen und Negationen sowie der Unterschied zwischen dem außerhalb des Geistes bestehenden Seienden und dem „bloß objectiv im Geiste Existirende“ – in Thomas’ Ausführungen über Met. V 7, 1017 a 31– 35 vorhanden sind und für Brentano besonders von Bedeutung waren. Angesichts der ersten Frage ist es sehr wohl möglich, dass Thomas’ Erklärungen über die compositio propositionis und über die darin einbezogene verbalis copula in In V Met. lect. 9, n. 896,¹³¹ diejenigen waren, die Brentano davon überzeugt haben, dass „das ,sein‘ der Copula“ ein wichtiger Aspekt der aristotelischen Wahrheitsauffassung in Met. V 7 ist. Dementsprechend führte er in der veröffentlichten Fassung des Textes dieses Sein von Anfang an in die Erörterung der ersten veritativen Bedeutung des Seienden (Met. VI 4, 1027 b 18 – 23) ein und interpretierte das kopulativ-veritative „ist“ in Met. V 7, 1017 a 31– 35 in diesem Sinne. Allerdings gibt es in Bezug auf dieses Problem eine Differenz zwischen dem Manuskript und der endgültigen Fassung des Textes, die nicht bedeutungslos ist, weil Brentano im Manuskript des Kommentars zu Met. VI 4, 1027 b 18 – 23 die Kopula nicht einbezieht, sondern sich auf ein Beispiel bezieht, das nicht bei Aristoteles, sondern bei Thomas zu finden ist und das nicht für das kopulative, sondern für das existentiale „ist“ aufschlussreich ist: „Dass Sokrates ist, ist“.¹³² Die Erwähnung des Manuskripts A.1.1.1 ist in diesem Zusammenhang relevant, weil im Kommentar zu Met. V 7, 1017 a 31– 35 wiederholt nicht nur die Redewendung „das ‚sein‘ der Kopula“, sondern auch die Wendung „Composition
nebenbei sei bemerkt, dass noch am Anfang der erwähnten Rezension ausdrücklich auf die Verdienste der „protestantischen Wissenschaft“ für die Wiederbelebung des Interesses an der Philosophie des Aristoteles, der als „der große Lehrer der katholischen Philosophie“ gewürdigt wird, hingewiesen wird. Wie gesagt wird Thomas in Brentanos Arbeit ein einziges Mal angeführt, und zwar in § 14., Kap. V, während die modernen (protestantisch gesinnten) Historiker ständig zu Rate gezogen werden. „Ex hoc enim quod aliquid in rerum natura est, sequitur veritas et falsitas in propositione, quam intellectus significat per hoc verbum Est prout est verbalis copula.“ (In V Met. lect. 9, n. 896; vgl. auch Quodl. IX, q. 2 a. 2 co.) Außer diesen Stellen liefert der Index Thomisticus nur einen einzigen Beleg (In Physic., lib. 1 lect. 4 n. 2.) für diesen Ausdruck (http://www.corpusthomisticum.org/it/index.age). A.1.1.1, Bl. 24.
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
von Subject und Prädicat“ auftaucht, die in der endgültigen Fassung des Textes vermutlich deshalb nicht übernommen wurde, weil sie ein deutlicher Hinweis zur compositio propositionis bei Thomas ist.¹³³ Wie schon angedeutet, besagt die Verwendung einer thomasischen Terminologie keinesfalls, dass Brentano Met. V 7, 1017 a 31– 35 in Richtung des Aquinaten versteht, schließlich orientiert er sich von Anfang an an der Interpretation von Alexander von Aphrodisias, Bonitz und Schwegler. Aus diesem Grund sollte die Anwesenheit des Ausdrucks „Copula“ sowohl in Thomas’ als auch in Brentanos Erklärungen über die erwähnte Stelle nicht dazu verleiten, die Verschiedenheit ihrer Positionen hinsichtlich dieses Problems aus den Augen zu verlieren: Im Unterschied zu Brentano, der „ist wahr“ als Prädikatsbestimmung des ganzen Satzes und „das Sein der Copula“ aufgrund von verschiedenen Stellen (Met. VI 4, 1027 b 18 – 23 und V 7, 1017 a 31– 35) in die Diskussion einführt, klar trennt und gesondert und kontrastiv analysiert, indem er ständig unterstreicht, dass in Met.VI 4 das Wahre und das Falsche sowohl in der Affirmation als auch in der Negation liegen, während in Met. V 7 das Wahre in der Affirmation, das Falsche dagegen in der Negation sei, sind die zwei Funktionen von „ist“ in In V Met. lect. 9, n. 896 zwar distinkt,¹³⁴ werden aber von Thomas nicht getrennt, sondern zusammengenommen. Damit kann er aufgrund seiner kausalen Interpretation der Wahrheit ganz natürlich von der verbalen Kopula zur Wahrheit des Satzes übergehen, weil sich Letztere aus der Entsprechung von Sein und Denken ergibt. Hinzu kommt, dass im Unterschied zu Aristoteles (Met.V 7, 1017 a 31– 35) und Brentano, in deren Texten die Referenz auf das kategoriale Seiende zwar einbezogen, aber nicht explizit thematisiert wird und deren Analysen sich ständig auf der sprach-logischen veritativen Ebene des Verhältnisses zwischen der veritativen Kopula und der Wahrheit des Satzes bewegen, Thomas das Verhältnis zum kategorialen Seienden in seinem Kommentar ausgerechnet deshalb ständig in Betracht zieht, weil es ihm hauptsächlich darum geht, aufzuzeigen, dass die Aussage ihre Wahrheit mittels der Kopula aus dem esse der Sache schöpft. Wenn die altgriechische veritative Konvention das Beibehalten der Analyse auf der veritativen Ebene ermöglicht, setzt Thomas’ kausale Auffassung von der aristotelischen Korrespondenztheorie der Wahrheit dagegen das ständige Wechselspiel zwischen den zwei Bereichen voraus. Aufgrund dieser gut geordneten Verhältnisse zwischen dem Sein der Dinge, der Kopula und der Wahrheit des mittels ihr gebildeten Satzes bei Thomas un-
A.1.1.1, Bl. 26; In V Met. lect. 9, n. 895. Im Thomas’ Kommentar zu Met. VI 4 (und auch zu Met. IX 11) kommt die „verbalis copula“ nicht zur Diskussion.
I.3.6 Das Sein der Kopula und die „objectiven Begriffe“
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terscheidet man in der Fachliteratur zwischen einem unreflektierten ontologischen „ist“, das sich auf das substantielle Sein der Dinge bezieht, und einem kopulativen „ist“, das auf dem sprach-logischen Niveau das erste „ist“ reflektiert.¹³⁵ Auf die oben erwähnte Beispielreihe angewendet, heißt das, dass jedes zu dieser Reihe gehörende Urteil unter einem doppelten Gesichtspunkt – dem des unreflektierten „ist“ des kategorialen Seienden und dem des kopulativen „ist“ des Seienden als Wahren – beschrieben werden kann. Auf die erste Weise besagt jenes Urteil, dass Sokrates mit den ihm zukommenden wesentlichen oder akzidentellen Bestimmungen (seine Menschheit, Weisheit, Größe usw.) in der Natur der Dinge, d. h. wirklich, substantiell besteht.¹³⁶ Auf die zweite Weise werden alle genannten
Vgl. Lakebrink, a. a. O., S. 16 – 21. Ich schulde diesen Hinweis K. Hedwig, der Lakebrink folgt, wenn er behauptet: „Das ,est‘ in einem Satz (etwa ,Sokrates est homo‘ oder radikaler ,Socrates est‘) hat bei Thomas eine zweifache Referenz: 1. in Hinblick auf Sokrates selbst, der als Mensch in natura rerum existiert und ontologisch im Gefüge der Substanz sein eigenes Sein ausübt, das Thomas daher auch ein praedicatum substantiale nennt und 2. in Hinblick auf die logische Kopula, die der Intellekt selbst als ein ens rationis produziert. Zwischen diesen beiden Artikulationen des ,est‘ besteht ein Verhältnis von Ursache und Wirkung: das logische ,est‘ wird vom Intellekt hervorgebracht ex effectu des ontologischen ,Est‘, das ein Ding in Raum und Zeit besitzt und ausübt. […] Bei Thomas werden beide Bereiche verbunden, aber weder zu der einen noch zu der anderen Seite hin identifiziert. Das logische ,est‘ hat eine ontologische Implikation und umgekehrt reflektiert sich das ontologische ,Est‘ im Intellekt logisch.“ (Briefliche Mitteilung vom 02.02. 2017; vgl. auch Hedwig, a. a. O., S. 44 f.) Für eine wertvolle Diskussion desselben Problems aufgrund von Thomas’ Kommentar zu De int. vgl. auch R. M. McInerny, „Some Notes on Being and Predication“, The Thomist 22/3 (1959), S. 316 – 335, und A. Zimmermann, „,Ispum enim nihil est‘ (Aristoteles, Periherm. I, c. 3). Thomas von Aquin über die Bedeutung von der Kopula“, in Miscellanea Medievalia 8 (1971), S. 282– 295; Weidemann, a. a. O., S. 189 ff.; und Klima, „Theory of Language“, S. 376 ff. Diese Bestimmungen, die unter die aristotelischen Kategorien fallen, werden von Thomas deshalb als substantielle Prädikate betrachtet, weil sie alle zur ersten Substanz gehören (In V Met. lect. 9, n. 896). Zu diesen Prädikaten gehört auch der actus essendi Sokrates’, der im existentialen „ist“ in „Sokrates ist“ zur Sprache kommt (vgl. dazu Schmidt, dar darauf hinweist, dass die erste Operation des Verstandes, das Erfassen des Unzusammengesetzten, den actus essendi nicht erfasst, sondern erst das Urteil dazu kommt, ihn zu erkennen und auszudrücken (Schmidt, a. a. O., S. 221, 235)). Ich habe jedoch die Beispielreihe nicht mit dem existentialen Urteil begonnen, weil die Lehre des actus essendi Aristoteles fremd ist und Brentano seinerseits die Terminologie des actus essendi in seiner Arbeit nicht verwendet (vgl. zu Brentanos späterer Haltung zur Frage des actus essendi WE, S. 162, 219). Aufgrund der Wichtigkeit, die Thomas’ Kommentar zu Met.V 7, 1017 a 31– 15 für Brentanos Interpretation derselben Stelle gespielt hat und der Tatsache, dass Thomas am Ende seiner Ausführungen darüber das existentiale Urteil „Sokrates ist“ in die Diskussion einführt, sieht Sauer die Ursprünge der Urteilstheorie Brentanos in der Psychologie vom empirischen Standpunkt in der Analyse des Seienden als Wahren in der ersten Schrift Brentanos (Sauer, a. a. O., S. 193, 222 ff.). Es gibt aber kein eindeutiges Indiz dafür, dass Brentano in irgendeiner Form bereits um 1861 zu den Grundthesen seiner späteren idiogenetischen Urteilstheorie gekommen
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
Urteile nicht weiter unter dem Gesichtspunkt des kategorialen Seienden (Sokrates und seine Eigenschaften) berücksichtigt, sondern Thomas’ kausaler Deutung der Wahrheit zufolge als sprach-logische Wirkung desselben aufgefasst. Es handelt sich dabei um sprachliche oder gedankliche Inhalte des Verstandes – etwa „Es ist wahr, dass Sokrates ein Mensch, weise, … ist“ –, die das kategoriale Seiende reflektieren, die als wahr betrachtet werden können und nur im Verstand bestehen, die weiterhin durch seine zweite Operation entstehen, welche mittels der Kopula Begriffe verbindet oder trennt und die zum Bereich der entia rationis gehören.¹³⁷ Die Wahrheit im eigentlichen Sinne ist keine Eigenschaft der Dinge, sondern dieser Verstandesinhalte, und sie wird ihnen bei Thomas deshalb zugesprochen, weil sie das substantielle Sein der Dinge mittels der Kopula, die vom Verstand selbst erzeugt wird, reflektieren.¹³⁸ Dabei vergisst Thomas nicht zu unterstreichen, dass zwischen den zwei „ist“ ein asymmetrisches Verhältnis besteht: Während das von Natur Seiende unabhängig von seiner Erkenntnis existiere und es demzufolge für das so aufgefasste Seiende akzidentell sei, ob es vom menschlichen Verstand erkannt werde oder nicht, hänge die Wahrheit des menschlichen Verstandes von den Dingen ab, weil er von Gott dazu bestimmt sei, „den Dingen gleichförmig zu werden“.¹³⁹ Was nun die Art und Weise betrifft, in der diese Fragestellung in Brentanos Dissertation auftaucht, so muss gesagt werden, dass sich die zentrale These seines fünften Kapitels über die Prädikationsweise, die der Existenzweise der wesentlichen oder akzidentellen Bestimmungen in der ersten Substanz folgt, unter dem Gesichtspunkt der eben genannten Unterscheidung des ontologischen und des kopulativen „ist“ bei Thomas interpretieren lässt. Dabei ist aber zu beachten, dass weder Thomas’ Unterscheidung von esse und essentia noch seine These über das kategoriale Seiende als Wirkursache des Seienden als Wahren noch seine Auffassung vom actus essendi für Brentanos Dissertation gelten. Hinsichtlich des ersten Teils von Brentanos Kommentar zu Met. V 7, 1017 a 31– 35 (S. 35 f. bis „Auch ist es sicher, daß […]“) ist dagegen mit Nachdruck zu betonen, dass das Sein der wäre, denn zum einen arbeitet Brentano, obwohl er im Ms. A.1.1.1 gelegentlich mit einem existentialen Urteil („Sokrates ist“) operiert (Bl. 24), in der veröffentlichten Fassung des Textes nicht mit existentialen, sondern mit kategorischen Urteilen; zum anderen berichtet Stumpf, dass Brentano die Studenten erst nach Weihnachten 1870 über seine neue Urteilslehre unterrichtete (Stumpf, a. a. O., S. 106 f.). Als Ergebnis oder Produkt der zweiten Operation des Verstandes sind alle Urteile entia rationis, die als solche genauso wie die Negationen und Privationen nur im Geiste existieren (vgl. dazu Schmidt, a. a. O., S. 238 f.). Vgl. Lakebrink, a. a. O., S. 18 f. In V Met. lect. 9, n. 896; De ver. q. 1. a. 9; vgl. auch Schmidt, a. a. O., S. 238; Lakebrink, a. a. O., S. 17, und MBS, S. 29, 31.
I.3.6 Das Sein der Kopula und die „objectiven Begriffe“
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Dinge und seine Rolle als Wahrmacher der auf sie bezogenen Urteile in Brentanos Ausführungen kaum hervorgehoben wird: Sie sind zwar in seiner Analyse vorhanden, weil er darin die Unterscheidung zwischen der Wahrheit als Prädikatsbestimmung der ganzen Urteile, die das Seiende nach den Figuren der Kategorien reflektieren, und dem Sein der Kopula, welche diese Urteile selbst konstituiert trifft,¹⁴⁰ aber Brentano betont auf keine Weise die Rolle des kategorialen Seienden als Wahrmacher – dies führt er bereits in § 1., Kap. III bezugnehmend auf Met. IX 10 aus.¹⁴¹ Hinzu kommt, dass im Mittelpunkt seines Kommentars zu Met. V 7, 1017 a 31– 35 keineswegs die Unterscheidung zwischen dem ontologischen und dem kopulativen „ist“, zwischen dem Sein der Dinge und dem veritativen Sein steht, eine Unterscheidung, die auf der anderen Seite für Thomas’ Kommentar dazu entscheidend ist. Brentano ist dagegen darauf fokussiert, die veritative Bedeutung der Kopula von der ersten Bedeutung des Seienden als Wahren zu unterscheiden. Das befindet sich zum einen im Einklang mit der These, dass Brentano die erwähnte Stelle von Anfang an nicht im Sinne von Thomas, sondern von Alexander von Aphrodisias und seinen Nachfolgern interpretierte, um erst später die thomasische These über die affirmativen Aussagen über Negationen und andere Gedankendinge auf der Ebene des „bloß objectiv im Geiste Existirenden“ zu entfalten. Zum anderen lässt sich dies auch daran erkennen, dass er das Sein der Kopula und das „essentielle“ (in A.1.1.1 das „substantielle“) Sein erst gegen Ende seiner Analyse in ein explizites Verhältnis zueinander setzt, was er nicht getan hätte, hätte er ausgerechnet diese Unterscheidung in den Mittelpunkt seiner Erklärungen in § 2., Kap. III stellen wollen – denn dann hätte er mit dieser Unterscheidung beginnen sollen, was er jedoch nicht tat, weil er nicht daran, sondern am Unterschied der zwei veritativen Bedeutungen des Seienden interessiert war. Die Lage ist nicht anders in A.1.1.1, wo der Einfluss des Aquinaten viel deutlicher als in der abgedruckten Fassung des Textes zum Tage kommt: Im Kommentar zur aristotelischen These, die Homonymie des Seins lasse zu, die Privation wie etwas, was man habe, zu beschreiben, führt Brentano das „substantielle Sein“ (Thomas) der Dinge in die Diskussion ein und begründet seine Äußerungen mit den Ausführungen des Aquinaten in In V Met lect. 9. n. 896: […] denn auch für sie [für die Dinge; Hinzufügung I. T.] drückt das „sein“ der Copula kein ihnen substantielles Sein aus, sondern eben auch nur, daß etwas mit Wahrheit von ihnen
Vgl. die Stelle über die „Gleichung zwischen dem Verstande, nämlich den darin befindlichen Vorstellungen, und den Dingen“ (MBS, S. 36 und den Kommentar dazu oben S. 62 f.). MBS, S. 29.
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
affirmiert wurde. Accidit autem unicuique rei quod aliquid de ipsa vere affirmetur intellectu vel voce. Nam res non referetur ad scientian, sed e converso.¹⁴²
Zu dieser Stelle bemerkt Brentano: In solcher Weise ist denn auch die […] Stelle Met IX 10. p. 1051 a 34 zu verstehen: to de kyriōtata on alēthēs ē pseudos. Wenn ich sage Socrates ist roth, so ist das dann wahr, wenn Socr. actu roth ist, falsch wenn er actu nicht roth ist. Dem kyriōtata on, d. i. dem energeia on folgt wahr und falsch der Attribution nach.¹⁴³
Wie man weiß, hat die erwähnte Stelle den Interpreten große Schwierigkeiten bereitet,¹⁴⁴ weil Aristoteles hier das veritative Seiende als to kyriōtata on (das im eigentlichsten Sinne Seiende) betrachtet, nachdem er am Ende von Met. VI 4 das Seiende als Wahres zusammen mit dem akzidentellen Seidenen aus dem Gegenstandsbereich der Metaphysik ausgeschlossen hat. Es gehört nicht zu meinem gegenwärtigen Thema, mich mit diesem Problem zu beschäftigen. Ich weise aber darauf hin, dass Brentano – anders als Aristoteles – im Laufe der Deutung dieser Stelle dazu übergeht, das on energeia als to kyriōtata on zu verstehen und die Wahrheit des Satzes genauso wie Thomas auf dieses zu gründen. Auch wenn die zwei Bedeutungen des Seienden in Brentanos Behandlung getrennt bleiben und auch wenn an dieser Stelle nicht vom Erfassen der ta asyntheta wie bei Heidegger die Rede ist, scheint es mir wichtig zu bemerken, dass sich die Art und Weise, in der Brentano hier die zwei Bedeutungen des Seienden ins Verhältnis setzt, stärker als andere Erklärungen über das veritative Seiende im veröffentlichten Text der Dissertation mit Heideggers Ausführungen über dieselbe Stelle in Verbindung bringen lässt: Heidegger setzt gleichfalls die zwei Seienden in Beziehungen zueinander, aber weil er nicht mit einem erkenntnistheoretischen (Brentano), sondern mit einem ontologischen Wahrheitsbegriff arbeitet, wird für ihn die Wahrheit oder die Entdecktheit der ta asyntheta (und auch der Dinge) einer der wichtigsten ihrer Charaktere.¹⁴⁵
A.1.1.1, Bl. 28 f.; In V Met. lect. 9, n. 896; MBS, S. 29, 38. A.1.1.1, Bl. 29. Vgl. dazu z. B. Heidegger, der polemisch Jaegers Interpretation bespricht (Logik, S. 171 f.). Vgl. oben S. 32.
I.3.6 Das Sein der Kopula und die „objectiven Begriffe“
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I.3.6.4 Das affirmative Aussagen über Negationen, Privationen und reine Gedankendinge in Brentanos Dissertation in Hinblick auf Thomas’ ens dupliciter digitur Mit Blick auf die hier nachgezeichneten Beziehungen zwischen dem Sein der Dinge und der Wahrheit des Verstandes sagt Thomas im Sentenzenkommentar, dass alles, was auf die kategoriale Weise Seiendes ist, auch auf die zweite, veritative Weise Sein hat, weil es durch einen affirmativen Satz bezeichnet werden kann.¹⁴⁶ Es gibt aber im Bereich des Seienden als Wahren bei ihm eine Stelle, von der aus die Entsprechung zwischen dem kategorialen Seienden und dem urteilenden Verstand nicht weiter funktioniert, weil die Wahrheit der affirmativen Sätze nicht mehr vom Sein der Dinge, sondern vom Verstand selbst bewirkt wird. Es handelt sich um die affirmativen Aussagen über Negationen, Privationen oder logische Begriffe (Genus, Spezies usw.), die wahr sind, obwohl sie nichts Wirkliches setzen,¹⁴⁷ und die am Anfang dieses Kapitels als ein wichtiger Aspekt des Verhältnisses von Thomas und Brentano gerade deshalb betrachtet wurden, weil Brentano diesen Gedanken von Thomas als eine entscheidende Facette der Homonymie des Seins bei Aristoteles betrachtete. Über solche Gedankendinge, die wichtige Bestandteile des ens rationis bei Thomas ausmachen, wird im Kommentar zu Met. V 7, 1017 a 31– 35 behauptet: Weil aber der Verstand etwas, das an sich ein Nicht-Seiendes ist, als ein irgendwie Seiendes begreift, wie beispielweise die Negation und anderes, darum wird zuweilen das Sein von etwas auf die zweite und nicht auf die erste Weise ausgesagt. Man behauptet nämlich, daß die Blindheit auf die zweite Weise ist, auf Grund der Tatsache, daß der Satz wahr ist, der die Aussage enthält, daß irgendein Seiendes blind sei. Man sagt jedoch nicht, daß dieser Satz auf die erste Weise wahr sei. Denn die Blindheit hat kein Sein in den Dingen, sondern ist vielmehr der Mangel an Sein.¹⁴⁸
Im Hintergrund dieser Stelle steht Thomas’ Auffassung, dass die Erkenntnis derartiger Entitäten wie Negationen und Privationen ihren Grund nicht in den Dingen, sondern im menschlichen Verstand habe, der fähig sei „in sich selbst den Sinngehalt von Nichtseiendem“ zu erfassen.¹⁴⁹ Diese Fähigkeit des Verstandes, etwas, was nicht ist und infolgedessen nichts Kategoriales bedeutet, auf sprachlogischer, veritativer Ebene als etwas, was ist, erscheinen zu lassen, indem er über es affirmative wahre Aussagen bildet, funktioniert aber nicht nur mit Bezug auf
In II Sent. d. 34, q. 1 a.1 co. Bei Brentano tauchen noch reine Gedankendinge wie Jupiter und Zentauren auf. In V Met. lect. 9, n. 896 (übersetzt von Lakebrink, a. a. O., S. 20 f.) De ver. q. 1, a. 8; vgl. auch a. 5, und Zimmermanns Kommentar dazu, S. XXIX f.
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
Negationen und Privationen – die trotz der Tatsache, dass sie nicht wirklich bestehen, dennoch als Negation oder Privation auf etwas Wirkliches hinweisen –, sondern auch mit Bezug auf Gedankendinge, über die affirmative wahre Sätze gebildet werden können, auch wenn ihnen nichts Wirkliches entspricht, wie die Sphinx oder der Zentaur bei Aristoteles, die Sphinx oder die Chimäre bei Thomas, der Zentaur oder Zeus in Brentanos Dissertation. Derartige Entitäten, die in sich falsch sind, weil unter sie nichts Kategoriales fällt, und über die Aristoteles sagt, dass sie nur eine Bezeichnung, aber keine Definition zulassen, da sie kein Wesen haben, können als wahr „durch Attribution“, nämlich durch eine affirmative Aussage über sie betrachtet werden, wie Brentanos Beispiel „Die Centauren sind fabelfahte Ungethüme“ zeigt.¹⁵⁰ Außer dem affirmativen Aussagen über das Nichtseiende hat der Verstand auch die Fähigkeit, diejenigen Dinge in Verhältnisse zu setzen, die nicht wirklich, sondern von ihm selbst geschaffen sind, so z. B., wenn er etwas, was in sich eins ist, als „zwei“ in einem Identitätsurteil („Homo est homo“ oder „Jede Größe ist sich selbst gleich“ bei Brentano) betrachtet.¹⁵¹ Darüber hinaus schafft der Verstand seine eigenen Begriffe (die zweiten Intentionen, wie Genus, Spezies, Definition usw.), die zwar kein kategoriales Seiendes ausdrücken, aber mit deren Hilfe er die Begriffe, unter die das kategoriale Seiende fällt, ordnet und analysiert: Mittels der den allgemeinen Namen „Mensch“, „Ochs“, „Hund“ usw. zugeordneten Begriffe werden alle Individuen, die mit diesen Namen bezeichnet werden, in einer Klasse versammelt, die unter der Kategorie „Substanz“ steht.¹⁵² Was
MBS, S. 31; Aristoteles, An. post. II 1, 89 b 31– 32, II 7, 92 b 5 – 8; Phys. IV 1, 208 a 31– 32; vgl. auch Thomas’ Kommentar dazu, In Physic. lib. 4, lect. 1 n. 2. In seinen Ausführungen unterscheidet Thomas zwischen entia rationis (Negationen, Privationen, logische Begriffe wie Genus, Spezies usw.), die ein Fundament in den Dingen haben, und entia rationis (ficta wie chimaera, sphinx usw.), die keine solche Grundlage besitzen. Unter einem anderen Gesichtspunkt teilt er die Gedankendinge in entia rationis, wie Negationen und Privationen ein, die das Nichtsein in ihrer Definition einschließen, und solche, bei denen dies nicht der Fall ist: die von der Logik studierten zweiten Intentionen und die eben genannten ficta, die keine wissenschaftliche Behandlung nach dem Muster der Demonstration aus wahren Prämissen zulassen (vgl. dazu Schmidt (a. a. O., S. 81– 85) und die dort angeführten Quellen aus Thomas’ Schriften). In VI Met. lect. 4, n. 1241; MBS, S. 37; vgl. auch Krempel, a. a. O., S. 63 ff. Wie Hedwig gezeigt hat, las Brentano schon während seines Studiums bei Clemens in Münster (1859 – 61) das Lehrbuch von A. Goudin, Philosophia iuxta inconcussa tutissimaque D. Thomae dogmata (4 Bde., Lyon 1671), dessen erster Band über die Logik bereits in den Vorarbeiten zur Dissertation mehrmals angeführt wird (Hedwig, „Über die moderne Rezeption …“, S. 221; vgl. auch ders., „‚… eine gewisse Kongenialität‘…“, S. 101). Für den hier in der Diskussion stehenden Begriff „zweite Intention“ ist es von Bedeutung, dass Goudin diesen Begriff von der ersten Intention dadurch unterscheidet, dass während die erste Intention die Dinge gemäß dem Status bezeichnet, die sie von Natur aus haben (z. B. Mensch als vernünftiges Wesen), sie von der
I.3.6 Das Sein der Kopula und die „objectiven Begriffe“
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diesen abstrakten Gebilden gemeinsamen ist, kann vom Verstand weiter abstrahiert und in einem noch allgemeineren Begriff („Tier“) fixiert werden. Außer ihrer extramentalen Referenz lassen sich solche Begriffe weiter unter der logischen Perspektive des Verstandes analysieren, indem sie als zweite Intentionen charakterisiert werden: „Mensch ist ein Spezies“, „Tier ist ein Genus“, „Die Spezies (,Mensch‘) ist dem Genus (,Tier‘) untergeordnet“, „Die Verneinung ist der Bejahung entgegengesetzt“ usw.¹⁵³ Das Studium solcher Begriffe und ihrer Verhältnisse zueinander schreibt Thomas der Logik zu, die er in verschiedenen Kontexten als Wissenschaft des ens rationis, der intellektuellen Intentionen oder des Seienden als Wahren charakterisiert.¹⁵⁴ Wie oben dargelegt wurde, sind es gerade solche entia rationis – besonders die Privationen –, auf die Thomas zurückgreift, um die veritative von der kategorialen Bedeutung des aristotelischen Seienden zu unterscheiden. Diese Vorgehensweise war besonders wichtig für Brentano, besteht doch der zentrale Gedanke des zweiten Teils seines Kommentars zu Met. V 7, 1017 a 31– 35 (S. 36 von „Auch ist es sicher, daß […]“ bis S. 38 „Dies wird immer mit dem wirklichen Sein […]“) eben in der Möglichkeit affirmativer wahrer Aussagen über entia rationis. Wenn man diesen Teil zusammen mit den ihm folgenden Ausführungen bis zum Ende des dritten Kapitels berücksichtigt, so lässt sich sagen, dass Brentano diese Problematik in seiner Dissertation innerhalb von zwei verschiedenen Kontexten rezipiert hat, von denen einer logisch, der andere metaphysisch ausgerichtet ist. Was den logischen Kontext betrifft, kommt er schon am Ende des Kapitels über das Seiende als Wahres ins Spiel. Dabei schreibt Brentano, genauso wie Thomas in In VI Met. lect. 4, n. 1233, das Studium der onta hōs alēthes der Logik zu, die er im Anschluss an Brandis weiter als „bloß formale Wissenschaft“¹⁵⁵
zweiten Intention gemäß dem Status betrachtet werden, der ihnen vom Verstand selbst zugesprochen wird (z. B. „Mensch ist ein Spezies“). Hedwig weist darauf hin, dass Brentanos „Handexemplar zahlreiche Eintragungen aufweist“ (Hedwig, „Über die moderne Rezeption …“, S. 221; vgl. auch Baumgartner, Hedwig, a. a. O., S. 169, Anm. 72). Angesichts der Tatsache, dass alle Begriffe, die ihren Platz in den kategorialen Reihen finden, „unter der Betrachtung des Verstandes“ stehen, d. h., für Spezies, Genera usw. gehalten werden können, sagt Thomas, die Logik, die die intentiones intelligibiles studiere, sei der Metaphysik gegenüber koextensiv (In IV Met. lect. 4, n. 574; vgl. auch Schmidt, a. a. O., S. 44 f., 69 f., 85 ff.; M.-D. Philippe, „Originalité de ‚l’ens rationis‘ dans la philosophie de saint Thomas“, Angelicum 52/1, S. 92 f.; zum Verhältnis der zweiten Intentionen zu den Negationen (das Nichtseiende) vgl. de Muralt, a. a. O., S. 386 f., und auch Krempel, a. a. O., S. 63 ff.). In IV Met. lect. 4, n. 574; In VI Met. lect. 4, n. 1233; vgl. auch Schmidt, a. a. O., S. 43 f., und MBS, S. 39. MBS, S. 39. Im Unterschied zu Brentano, der keinen besonderen Akzent auf die geschichtlichen Facetten der aristotelischen Philosophie legt und unbekümmert von der Logik bei Ari-
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
bestimmt und den übrigen aristotelischen theoretischen Wissenschaften gegenüberstellt: Wenn wir nicht irren, so hat es die ganze Logik mit keinem andern Gegenstande zu thun, wenn sie von Genus, Spezies und Differenz, von Definition, Urtheil und Schluß handelt. Allem diesem kömmt wenigstens keinerlei Sein außerhalb des Geistes zu. Es bleibt also nur das on hōs alēthes dafür übrig; und darum wird denn auch die ganze Logik als bloß formale Wissenschaft von den übrigen Theilen der Philosophie als realen geschieden.¹⁵⁶
Im Vergleich zu den erwähnten Teilen der Philosophie (Physik, Mathematik, Metaphysik), die „allein das reelle Sein“ betrachten, studiere die Logik „das bloß rationelle Sein, das on hōs alēthes“. Bekanntlich unterscheidet Aristoteles in Met. VI 2, 1026 a 13 ff. die genannten Wissenschaften nach ihren Gegenständen: Die Physik studiere die bewegte und abgetrennte Substanz, die Mathematik die unbewegte aber nicht als abgetrennt betrachtete Substanz und die Metaphysik die ewige, unbewegte und getrennte Substanz. In seinen Ausführungen darüber kommt er aber nicht auf die Idee, den genannten Substanzen einen Bereich des rationellen Seins entgegenzustellen, zu dem die von der Logik studierten Gebilde (Genus, Spezies, Definition usw.) gehören würden. Genau dies tut aber Brentano in seiner Interpretation des Seienden als Wahren bei Aristoteles, indem er unter scholastischem Einfluss die aristotelischen Prädikabilien (Definition, Genus, Proprium, Akzidens) als onta hōs alēthes betrachtet, sie ausdrücklich zweite Intentionen nennt und in den Bereich des bloß rationellen Seins platziert, den er mit dem reellen Sein des kategorialen Seienden kontrastiert: Die drei genannten Wissenschaften betrachten „das reelle Sein […] während die Logik das bloß rationelle Sein, das on hōs alēthes, behandelt“.¹⁵⁷ Auch wenn er nicht explizit mit der mittelalterlichen, in der Nachfolge Avicennas entstandenen und auch von Thomas verteidigten Definition der Logik als Wissenschaft von den zweiten In-
stoteles spricht (MBS, S. 39), ist Brandis, auf den Brentano in diesem Zusammenhang hinweist, in dieser Hinsicht viel vorsichtiger. Er betont, dass Aristoteles den Namen „Logik“ nicht benutzt habe, und bestimmt die Aufgabe der später unter dem Namen „Logik“ zusammengestellten Analytik und Dialektik wie folgt: „Wie verschieden unter einander, so haben sie [die Analytik und die Dialektik; Hinzufügung I. T.] doch das mit einander gemein, dass sie die Regeln oder Gesetze der Verdeutlichung der Begriffe als solcher […] auszumitteln unternehmen. Sie sollten das den verschiedenen Wissenschaften Gemeinsame der Beweisführung erörtern.“ (Brandis, a. a. O., S. 142) MBS, S. 39; Hervorhebung I. T. MBS, S. 39; s. auch „Dagegen sind die Glieder jener andern Eintheilung [in Genus, Proprium, Definition; Hinzufügung I. T.] lauter zweite Intentionen und somit alle onta hōs alēthes“ (MBS, S. 123).
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tentionen arbeitet, lässt er sie klar zu, indem er Begriffe wie „Genus“, „Spezies“ usw. zweite Intentionen nennt.¹⁵⁸ Der logische Kontext, der am Ende seiner Analyse in die Diskussion eingeführt wird, hat aber mit dem metaphysischen Kontext im zweiten Teil seines Kommentars zu Met. V 7 nichts zu tun, weil nicht die Logik, sondern die Metaphysik sich mit der Frage der Homonymie des Seins beschäftigt. Ohne diese Frage überbewerten zu wollen, ist zu bemerken, dass Brentano die Seinshomonymie nicht auf rein logischer Ebene, nämlich mit Bezug auf die zweiten Intentionen („Die Spezies ist dem Genus untergeordnet“, oder wie Thomas am Anfang von De Ente et Ess. sagt, „die Bejahung ist der Verneinung entgegengesetzt“) veranschaulicht, sondern seine Beispiele sich entweder auf reine Gedankendinge (Zentauren, Jupiter) beziehen (wie gesagt greifen weder Aristoteles noch Thomas in ihren Ausführungen über die Seinshomonymie zu solchen ficta) oder den kategorialen Bezug behalten, und zwar entweder als Identitätsurteile („Jede Größe ist sich selbst gleich“), die sich kategorial interpretieren lassen, oder als Negationen bzw. Privationen des kategorialen Seienden (so z. B. das Beispiel über das Nichtseiende). Der Grund für letztere Aussage ist von Aristoteles in Met. IV 2, 1004 a 9 ff. klar ausgeführt: Es ist Sache ein und derselben Wissenschaft, nicht nur das Eine, sondern auch sein Entgegengesetztes (die Vielheit), seine Negation und seine Privation zu untersuchen, weil auch diese Letzten in Beziehung auf es ausgesagt werden, genauso wie im Falle des Beispiels über die Homonymie des Seins zu Beginn von Brentanos Schrift, demgemäß alles in Bezug auf das Eine, nämlich auf die Substanz, ausgesagt wird, entweder als ihre Eigenschaft oder als ihre Privation oder aber als ihre Negation oder als Negation der Substanz selbst.¹⁵⁹
P. Engelhardt, „Intentio“, HWPh, Bd. 4, S. 469 f.; vgl. auch Hedwig, „Über die moderne Rezeption …“, S. 221. Vgl. MBS, S. 6 f., wo Brentanos Versuch, die in Met. IV 2, 1003 b 6 – 10 aufgezählten Bedeutungen des Seienden zu systematisieren, Thomas’ Kommentar zur genannten Stelle folgt; vgl. auch Schmidt, a. a. O., S. 81. Brentano hält zwar an dieser These Aristoteles’ fest, weicht jedoch von Aristoteles (und auch von Thomas) insofern ab, als er ficta wie Jupiter und Zentauren in die Debatte einführt. Auch wenn er nicht explizit behauptet, das Studium derartiger Entitäten komme der Metaphysik zu (und zwar aus dem Grund, dass die Metaphysik diejenige Wissenschaft ist, die sich mit den homonymen Aussagen des Seins beschäftigt), bleibt jedoch festzustellen, dass er, wenn er diese metaphysische Frage angeht, im Unterschied zu Aristoteles und Thomas kein Problem darin sieht, sich auf solche Entitäten zu beziehen.
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
I.3.6.5 Brentanos reelle und „objective“ Begriffe und Thomas’ Unterscheidung ens extra animam – ens in mente Das Ergebnis des zweiten Teils von Brentanos Kommentar zu der genannten Stelle der Metaphysik des Aristoteles lautet wie folgt: Hieraus ergibt sich aber sofort ein erweiterter Umfang für das on hōs alēthes, indem nun nicht mehr Urtheile allein dazu gehören, sondern auch die Begriffe in sein Bereich gezogen werden, insofern eine affirmative Behauptung über sie gebildet, und dadurch das Sein der Copula ihnen beigelegt werden kann; sogar das Nichtseiende ist, weil es ein Nichtseiendes ist, in dieser Weise „ein Nichtseiendes seiend“, also ein on hōs alēthes, und überhaupt wird jegliches Gedankending, d. h. alles, insofern es objectiv in unserem Geiste existirend Subject einer wahren, affirmativen Behauptung werden kann, dazu gehören. Nichts, was wir in unserem Geiste bilden, ist so von aller Realität entblößt, daß es ganz von dem Gebiete des on hōs alēthes ausgeschlossen wäre […].¹⁶⁰
Die erste Bemerkung, die sich hier aufdrängt, besteht darin, dass Brentano in diesem Passus nicht sagt, die Begriffe als solche wären die eigentlichen Wahrheitsträger, denn die Begriffe sind nicht an sich, unabhängig vom Urteil, sondern nur insofern, als ihnen „das Sein der Copula“ beigelegt wird und sie damit Teil des Urteils werden.Worauf Brentano an dieser Stelle vielmehr aufmerksam macht, ist, dass es ihm zufolge außer dem kategorialen noch einen anderen Bereich des Seienden gibt, dem nichts Wirkliches entspricht, weil er nur begrifflich ist, d. h. nur aus Urteilen besteht, die aus Begriffen gebildet werden, unter die nichts Wirkliches fällt, weil sie auf keine andere Existenz als die Existenz in der Seele hinweisen: Die Negationen und Privationen, die reine Gedankendinge usw. setzen nichts Kategoriales und existieren auch nicht auf diese Weise, sondern nur „objectiv“, d. h. nur als Objekt in der Seele.¹⁶¹ Dadurch unterscheiden sie sich wesentlich von den reellen Begriffen und Urteilen, die sich auf das kategoriale Seiende berufen und die Thomas meint, wenn er behauptet, alles, was auf die erste, kategoriale Weise ens sei, könne auch auf die zweite veritative Weise so genannt werden. Das hier in der Diskussion stehende Seiende gibt es dagegen nicht auf die erste, sondern nur auf die zweite Weise, d. h. als Subjekt, das kategorial nicht relevant ist, als Subjekt einer wahren affirmativen Aussage. Das zeigt, dass Brentano sich in einem Moment der geschichtlichen Rezeption des aristotelischen Denkens befand, in dem das Seiende als Wahres nicht nur eine der vier Bedeu-
MBS, S. 37 (Hervorhebungen I. T.). Vgl. dazu oben S. 87. Darüber hinaus sind sie widerspruchsfrei und haben sogar eine gewisse „Realität“ in der Seele (MBS, S. 37, 41). Es lässt sich aus Brentanos Ausführungen nicht klar entnehmen, ob auch die reellen Begriffe „von aller Realität entblößt“ sind oder nicht.
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tungen des aristotelischen on darstellte, sondern darüber hinaus Namen eines Teilgebietes des Seiendes, nämlich des ens rationis, geworden war.¹⁶² Daher war es für Brentano möglich, die These über die Seinshomonymie nicht nur hinsichtlich des kategorialen Bereichs und der mit Bezug auf ihn gebildeten Negationen und Privationen zu illustrieren, sondern auch mit Bezug auf reine Gedankendinge wie Zentauren usw. Das zeigt, dass Thomas’ Idee, die Seinshomonymie mittels solcher Entitäten zu veranschaulichen, von entscheidender Bedeutung für Brentanos Analyse desselben Themas in seiner Dissertation war, machte sie ihn doch auf eine mögliche Entwicklung jener Facette der Homonymie des Seins bei Aristoteles aufmerksam, die zwar bei Aristoteles in Met. IV 2, 1003 b 9 f. in der Aussage über das Nichtseiende auftaucht, der Aristoteles jedoch keine besondere Rolle innerhalb seiner Ausführungen über den Wahrheitsbegriff zumisst, weil er nicht darauf kommt, den Bereich des Seienden als Wahren, der bei ihm aus Urteilen besteht, die sich auf das kategoriale Seiende berufen, mit den Urteilen auszuweiten, die kategorial nicht relevant sind, weil sie auf der kategorialen Ebene keinen Grund im Sein der Dinge, sondern nur in den Operationen des Verstandes haben. Anders gesagt: Obwohl Aristoteles die Frage der Seinshomonymie auch auf Negationen und Privationen bezieht und die Aussagen über sie als wahr oder falsch betrachtet, schreibt er diese Aussagen keinem besonderen Bereich des Seienden (ens rationis) zu, dem auch die Urteile angehören würden, die sich auf das kategoriale Gebiet berufen.¹⁶³ Im Vergleich zu seinen mittelalterlichen Nachfolgern zieht er also die Grenze des Seienden als Wahren viel enger, weil der kategoriale Bezug für ihn entscheidend ist.¹⁶⁴ Brentano aber, der im zweiten Teil seines Kommentars zu Met. V 7, 1017 a 31– 35 seinen mittelalterlichen Vorgängern folgt, und zwar im Besonderen Thomas’ These über die affirmative Aussage über Nichtexistierendes, macht ausgerechnet diesen Schritt und weist die erwähnten
Entscheidend dabei war Averroes’ Einfluss auf Thomas von Aquin: „Stärker als bei Vorgängern und Zeitgenossen steht Averroes im Hintergrund der semantischen Reflexion [Thomas’ von Aquin; Hinzufügung I. T.]: mit seiner Deutung des aristotelischen Wahrseins als innerseelischen und von der Seele hervorgebrachten und damit minderen Seins […]“ (P. Engelhardt, „Intentio“, HWPh, 4, S. 471; vgl. auch A. Maurer, „Ens Diminutum: A Note on Its Origin and Meaning“, Medieval Studies 12 (1950), S. 216 – 222). Alle Urteile, unabhängig davon, ob sie etwas Wirkliches setzen oder nicht, sind als entia rationis zu betrachten, weil sie als begriffliche Verbindungen oder Verstandesinhalte nicht außerhalb, sondern nur im Geiste existieren (vgl. MBS, S. 39; vgl. auch Weidemann, a. a. O., S. 191 ff.). Vgl. darüber Muralt, der großen Wert darauf legt, das Nichtseiende bei Aristoteles von den mittelalterlichen Interpretationen im Sinne von esse obiective zu befreien. Dabei ist es ihm wichtig zu unterstreichen, dass to prāgma bei Aristoteles nicht als Sachverhalt – was heutzutage als selbstverständlich gilt –, sondern als Ding zu deuten ist (a. a. O., S. 382– 383).
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
Aussagen einem solchen Bereich zu, den er mit dem Bereich des reellen Seienden kontrastiert: „Wenn nämlich vor Allem darüber kein Zweifel besteht, daß das on selbst, wovon der Metaphysiker zu handeln hat, ein Begriff, und zwar, da ja das bloß objectiv im Geiste Existierende schon oben ausgeschieden wurde, ein reeller Begriff ist […]“.¹⁶⁵ Meiner Meinung nach zeigt diese Stelle klar, dass Brentano anders als Aristoteles, aber im Einklang mit Thomas, in seiner Dissertation zwei Teilgebiete des Seienden angenommen hat: das des „reellen Seins“, das vom Standpunkt der vierfachen aristotelischen Bedeutung des Seienden aus thematisiert wird, und das des „bloß objectiv im Geiste Existirenden“, das nichts Kategoriales ausdrückt und mit Bezug auf welches gilt, dass alles, wovon sich eine affirmative Aussage bilden lässt, Seiendes genannt werden kann. Die zweite Bemerkung zu jener Stelle, die am Anfang dieses Abschnittes angeführt wurde, bezieht sich darauf, dass dies das erste Mal in Brentanos Arbeit ist, dass der Terminus „objectiv“ auftaucht, um den Status derjenigen begrifflichen Gebilde zu kennzeichnen, die sich nur im Geiste befinden. Hinsichtlich dieses Problems hat Hedwig in seinen grundlegenden Studien über den mittelalterlichen Einfluss auf Brentano überzeugend dargelegt, dass der Unterscheid reell – „objectiv“ bei Thomas nicht zu finden ist: Zum einen stehe im Hintergrund von Brentanos Betrachtung der Kategorien als reeller Begriffe nicht Thomas, sondern Suárez, über dessen Philosophie Brentano anfänglich promovieren wollte und der „im Begriff des Seienden […] die res“ akzentuiere.¹⁶⁶ Zum anderen verwende Thomas den Begriff „objectiv“ nicht,¹⁶⁷ sondern Brentano habe ihn aus
MB S, S. 82 (Hervorhebung I. T.); vgl. auch S. 40 f., 123 f. Da Brentano am Anfang seiner Dissertation im thomasischen, nichtaristotelischen Sinn behauptet, das Seiende sei das Erste, das geistig erfasst wird, kann aufgrund dieses Passus die Frage nach dem Verhältnis aufgeworfen werden, in welchem dieses Seiende mit dem Seienden, das nur im Geiste existiert, und mit dem reellen Seienden steht. In seinen Ausführungen lässt sich Brentano aber nicht auf dieses Problem ein, sodass die Frage dahingestellt bleibt. Angesichts dieses Verhältnisses bei Thomas behauptet Oeing-Hanhoff: „Wenn der erste konkrete Begriff ‚Seiendes‘ demnach auch zunächst und zuerst das dem Erkennen vorgegebene von Natur her Seiende darstellt und bezeichnet, so ist doch zugleich dieser von uns gebildete Begriff etwas, das als Vorstellung und Darstellung von etwas auch selbst ist. Zwar ist der Begriff des Menschen kein Mensch […], wohl aber ist der Begriff des Seienden auch selbst ein zum Bereich des mentalen oder objektiven Seins gehörendes Seiendes. So folgt die Unterscheidung der Seinsbereiche des natürlichen und des objektiven Seins unmittelbar aus dem Ansatz der thomasischen Metaphysik, deren Gegenstand das Seiende überhaupt, d. h. der Begriff ‚Seiendes‘ und das von ihm Begriffene ist.“ (A. a. O., S. 1223) Vgl. dazu Hedwig, „‚… eine gewisse Kongenialität‘…“ (S, 102 f., 124), wo aufschlussreich auf den intellektuellen Werdegang des jungen Brentano eingegangen wird. Hedwig, „Über die moderne Rezeption …“, S. 224. Hedwig verweist darauf, dass der Terminus obiective auch in systematischer Hinsicht nicht in die Erkenntnislehre Thomas’ passt, weil bei Thomas „das ‚Sein‘ eines Begriffes in seinem ‚Erkanntsein‘ besteht […], also eine Bestimmung des
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Textauszügen von Schriften von „Hervaeus Natalis, Petrus Aureoli, Durandus, Gabriel Biel, Peter d’Ailly und – vor allem – Ockham“ übernommen,¹⁶⁸ die er in der neuscholastischen Literatur seiner Zeit, besonders in den Arbeiten von Stöckl, Hauréau und Ueberweg über die mittelalterliche Philosophie gefunden habe.¹⁶⁹ Hinzu kommt, dass sich aufgrund von Brentanos Äußerungen vermuten lässt, dass den „objectiven Begriffen“ eine gewisse Realität zukomme, eine These die bereits von den konzeptualistischen Autoren (z. B. von Peter d’Ailly oder Durandus) vertreten wurde. Unter diesem Gesichtspunkt ist es bemerkenswert, dass Brentano diesen Gedanken im Ms. A.1.1.1 in einer viel schwächeren, im Vergleich zum veröffentlichten Text kaum bemerkbaren Form zur Sprache bringt: „So geschieht, daß nichts, was wir in unserem Geiste bilden, der Art ist, daß es ganz von dem Gebiete des on hōs alēthes ausgeschlossen wäre.“ Deshalb ist zu vermuten, dass er erst, als er dem Manuskript die endgültige Form gab, „die Art“ dessen weiter präzisierte, „was wir in unserem Geiste bilden“, indem er die in der Diskussion stehende Phrase mit „ist so von aller Realität entblößt“ ersetzt.¹⁷⁰ Wenn man sich nun zum einen vergegenwärtigt, dass Brentano die „objectiven Begriffe“ in eine Diskussion einführte, die als Konklusion eines Teils des Kommentars zu Met. V 7, 1017 a 31– 35 diente, der dazu geschrieben worden war, um Thomas’ These über die wahre affirmative Aussage über das Nichtseiende zu veranschaulichen, und wenn man zum anderen in Betracht zieht, dass Thomas den Begriff obiective nicht verwendet, dann sieht man, wie vielschichtig die
Erkenntnisvermögens selbst ist“ (a. a. O.); vgl. auch ders., „Der scholastische Kontext des Intentionalen bei Brentano“, in R. M. Chisholm, R. Haller (Hrsg.), Die Philosophie Franz Brentanos. Beiträge zur Brentano-Konferenz Graz, 4 – 8. September 1977, Amsterdam, Rodopi, 1978, S. 76 f. All diese Autoren bezeichnen mit dem Begriff obiective „das Objekt, den Inhalt des Erkennens im Erkennenden“ (Hedwig, „Über die moderne Rezeption…“, S. 216). In „Über die moderne Rezeption…“ (S. 224 f.) hat Hedwig die relevanten Stellen aus diesen Schriften angegeben, die sich auf die erwähnten Denker beziehen. Unter ihnen gehört Hervaeus Natalis in den Kreis der Thomisten, während die anderen Autoren dem spätmittelalterlichen Konzeptualismus zuzurechnen sind; vgl. auch ders., „Sein, objektives“ (HWPh, Bd. 9, S. 249 ff.), wo der Beitrag der genannten Autoren zur Bildung der esse obiectivum-Terminologie behandelt und der Einfluss dieser Terminologie auf Brentano analysiert wird. A.1.1.1, Bl. 27 (Hervorhebung I. T.); MBS, S. 37. Nur nebenbei sei bemerkt, dass Brentanos Äußerung über die erwähnte „Realität“ die einzige Stelle in seinen frühen veröffentlichten Schriften ist, die Chisholms Behauptung über eine Seinsweise bei Brentano „that is short of actuality but more than nothingness“ rechtfertigt (R. M. Chisholm, „Intentionality“, in P. Eduard (Hrsg.), The Encyclopedia of Philosophy, Bd. 4, New York, Macmillan, 1967, S. 201). Chisholm selbst verweist nicht auf diesen Passus. In den späteren Schriften Brentanos kommt der Gedanke einer solchen Realität nicht mehr vor, während er in der Dissertation nur an der angeführten Stelle auftaucht. Gegen Chisholms Position vgl.W. Sauer, „Die Einheit der Intentionalitätskonzeption bei Brentano“, Grazer Philosophische Studien 73 (2006), S. 2 ff.
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scholastische Tradition ist, die auf die Analyse der aristotelischen Homonymie des Seins in Brentanos Dissertation eingewirkt hat. Einerseits ist klar, dass der zweite Teil von Brentanos Kommentar zu Met.V 7, 1017 a 31– 35 unter dem Einfluss von Thomas’ These über die Entitäten geschrieben wurde, die wegen einer wahren affirmativen Aussage „seiend“ genannt werden können. Andererseits ist im Lichte der einschlägigen Literatur ebenso deutlich, dass die Art und Weise, in der Brentano die Negationen, die Privationen und die reinen Gedankendinge mittels des Terminus „objectiv“ charakterisiert, nicht thomasisch ist. Brentanos Beziehung zu Thomas in Bezug auf dieses Problem lässt sich folgender Übersicht entnehmen, denn aufgrund von Brentanos Äußerungen wissen wir: 1. dass er die Privationen, die Negationen, die reine Gedankendinge und die rein rationellen Verhältnisse als „objective“ Gebilde betrachtet, was bei Thomas nicht der Fall ist; 2. dass er Wert darauf legt, dass sie nur im Geiste bestehen, was für die mittels der „objectiven“ Begriffe genannten Entitäten auch im Falle von Thomas gilt; 3. dass dieses „bloß objectiv im Geiste Existirende“ von dem unter die Kategorien fallenden, reellen Seienden zu unterscheiden ist – bei Thomas lässt sich ebenfalls eine solche Unterscheidung (ens extra animam – ens in mente) finden, aber sie ist anderes ausgeführt als bei Brentano. 4. Dass das „objective“ Seiende Objekt einer wahren affirmativen Aussage werden kann, die kategorial nicht relevant ist – darin stimmt Brentano mit Thomas vollkommen überein, obwohl bei Thomas der Terminus ens obiective nicht auftaucht. 5. Dass die „objectiven“ Begriffe widerspruchsfrei sind – das lässt sich aber auch für die reellen Begriffe in Brentanos Dissertation und für entia rationis wie Privationen und Negationen bei Thomas behaupten. 6. Dass sie – und dies ist entscheidend – von Brentano aus der metaphysischen Perspektive der Homonymie des Seins besprochen werden.¹⁷¹ Auch wenn das von Brentano nicht explizit gesagt wird, trennt er diese Perspektive tatsächlich von der logischen Betrachtungsweise, und wenn es um die Logik geht, bringt er logische Begriffe wie Genus, Spezies, Definition in die Diskussion, die er bemerkenswerterweise nicht mittels des nichtthomasischen Begriffs „objectiv“, sondern als zweite Intentionen charakterisiert, was sehr wohl von Thomas unterschrieben werden könnte.
Thomas behandelt sie auch aus metaphysischer Perspektive (In IV Met. lect. 1, n. 539 f.), dabei bringt er aber nicht ficta wie chimaera oder sphinx, sondern logische Begriffe wie „Negation“ und „Affirmation“ in die Diskussion (vgl. z. B. De Ente et Ess., c. 1).
I.3.6 Das Sein der Kopula und die „objectiven Begriffe“
7.
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Dass diese Begriffe eine gewisse „Realität“ in der Seele haben. Diese Annahme gilt zwar generell für die spätmittelalterlichen konzeptualistischen Autoren (Duns Scotus, Peter d’Ailly, Durandus, Ockham), die die „objectiven“ Gebilde dadurch charakterisieren, dass ihnen „eine gewisse ontologischen Konsistenz“ in der Seele zukomme,¹⁷² wird aber von Thomas nicht geteilt, weil bei ihm „die Konzepte und die veritativen Aussagen keine Seinsweise haben, die irgendwie mit dem Sein (esse) der Dinge konkurrieren könnte“.¹⁷³
Wenn man nun bedenkt, dass ausgerechnet der Terminus „objectiv“ derjenige ist, der in Brentanos berühmtem Intentionalitätspassus aus seiner Psychologie vom empirischen Standpunkt als Synonym für den Ausdruck „die intentionale (auch wohl mentale) Inexistenz eines Gegenstandes“ betrachtet wird,¹⁷⁴ und dass er,
„Man wird die scholastische Terminologie des esse obiectivum wahrscheinlich im Rahmen der Ausdifferenzierung des esse-Begriffes sehen müssen. Dabei wäre zu beachten, daß das ‚Wesen‘ – in der Nachfolge Avicennas – einen bestimmten Seinsmodus besitzt, der es erlaubt, die erkannten Gegenstände auch ontologisch zu qualifizieren.“ (Hedwig, „Über die moderne Rezeption …“, S. 223) Dieser Seinsmodus wurde weiter als „esse diminutum, debile, apparens […]“ bestimmt (ebd., S. 224); vgl. dazu auch Th. Kobusch „Metaphysik. Arabische Tradition“, HWPh, Bd. 5, S. 1212. Hedwig, „Über die moderne Rezeption …“, S. 248. „Sie gebrauchen [anstatt der Redewendung „die intentionale (auch wohl mentale) Inexistenz eines Gegenstandes“; Hinzufügung I. T.] auch den Ausdruck ‚gegenständlich (objective) in etwas sein‘, der, wenn man sich jetzt seiner bedienen wollte, umgekehrt als Bezeichnung einer wirklichen Existenz ausserhalb des Geistes genommen werden dürfte. Doch erinnert daran der Ausdruck ‚immanent gegenständlich sein‘, den man zuweilen in ähnlichem Sinne gebraucht, und bei welchem offenbar das ‚immanent‘ das zu fürchtende Missverständniss ausschliessen soll.“ (PeS, S. 106) Andere relevante Stellen für dieses Problem lauten wie folgt: „Wir gebrauchen den Ausdruck ‚objectiv‘ hier und im Folgenden nicht in dem Sinne, der in neuerer Zeit der übliche ist, sondern in jenem, den die Aristoteliker des Mittelalters damit (mit dem scholastischen objective) zu verbinden pflegten, und der eine sehr kurze und präzise Bezeichnung der Aristotelischen Lehre ermöglicht. Materiell, als physische Beschaffenheit, ist die Kälte in dem Kalten; als Objekt, d. h. als Empfundenes, ist sie in dem Kältefühlenden.“ (F. Brentano, Die Psychologie des Aristoteles, insbesondere seine Lehre vom Nous Poietikos (PsA) (1867), Nachdruck Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1967, S. 80) „Die Scholastiker gebrauchen weit häufiger noch statt ‚intentional‘ den Ausdruck ‚objektiv‘. In der Tat handelt es sich darum, daß etwas für das psychisch Tätige Objekt und als solches, sei es als bloß gedacht oder sei es auch als begehrt, geflohen oder dergleichen, gewissermaßen in seinem Bewußtsein gegenwärtig ist. Wenn ich dem Ausdruck ‚intentional‘ den Vorzug gab, so tat ich es, weil ich die Gefahr eines Mißverständnisses für noch größer hielt, wenn ich das Gedachte als gedacht objektiv seiend genannt hätte, wo die Modernen, im Gegensatz zu ‚bloß subjektiven Erscheinungen‘, denen keine Wirklichkeit entspricht, das wirklich Seiende so zu nennen pflegen.“ (PeS, S. 303)
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
indem er dies tut, diesen Terminus für anwendbar auf die immanenten Objekte aller Klassen von psychischen Akten (Vorstellungen, Urteile und Gemütsbewegungen) hält, dann sieht man klar, wie eng der Sinn ist, in welchem dieser Begriff im metaphysischen Kontext seiner Dissertation genutzt wird, und zwar nur mit Bezug auf Negationen, Privationen und reine Gedankendinge, die den reellen Begriffen entgegengesetzt werden.¹⁷⁵ Dies macht darauf aufmerksam, dass die von Hedwig so aufschlussreich aufgedeckten Merkmale des Begriffs „objectiv“ bei den oben genannten spätmittelalterlichen Autoren nicht von selbst auf den Gebrauch dieses Terminus in Brentanos Dissertation übertragen werden dürfen,¹⁷⁶ weil diese Redewendung in der genannten Schrift nicht das immanente Objekt aller psychischen Akte, sondern nur das meint, was nur im Geiste existiert und „Subjekt einer wahren affirmativen Behauptung werden kann“.¹⁷⁷ Dieser enge Sinn steht auch damit in Verbindung, dass Brentano die zwei Bereiche des Seienden anders als Thomas trennt: Das zweite Glied in Thomas’ Unterscheidung ens extra anima – ens in mente besteht zwar sowohl aus Urteilen, die auf den kategorialen Bereich bezogen sind, als auch aus Urteilen, die wahr sind, ohne etwas Wirkliches zu setzen, aber Thomas nimmt die beiden zusammen und macht aus ihrer Differenz keinen entscheidenden Unterschied. Brentano, der in seiner Analyse in § 2., Kap. III von Thomas’ Formulierung, alles, was auf die erste Weise Seiendes sei, sei gleichfalls Seiendes auf die zweite Weise, keinen Gebrauch macht, legt auf diesen Unterschied großen Wert, weil er ihn als Grundlage der Teilung der zwei Gebiete des Seienden nutzt: Das „bloß objectiv im Geiste Existirende“ (die „objectiven Begriffe“, das von ihnen Bezeichnete und die mit diesen Begriffen gebildeten Urteile) und das „reelle“ Seiende, das zwar außerhalb des Geistes, in der Ordnung der Natur, als kategoriales Seiendes besteht, das aber auch auf der veritativen, sprach-logischen Ebene mittels der reellen Begriffe und Urteile – der Gegenpol der „objectiven“ Begriffen – wieder auftaucht.¹⁷⁸ Dabei ist der
Gemäß dem Gebrauch dieses Begriffs in PeS (S. 106) existieren auch diese „objectiven“ Begriffe „intentional (auch wohl mental)“ (und in diesem Sinne „objektiv“) in den psychischen Akten. Hinzu kommt, dass Brentano, um den Status des Erkannten in der Seele zu charakterisieren, in seiner ersten Schrift nicht auf die „objectiven“, sondern auf die „reellen Begriffe“ zurückgreift, die er im Sinne des Realismus Aristoteles’ versteht (MBS, S. 75); vgl. auch: „Genera, Species u. dgl. und überhaupt die Universalia existiren zwar außerhalb des Geistes und sind Dinge (vergl. de interpr. 7. p. 17, a, 38.) allein kein Universale existirt als Universale, sondern nur insofern ein darunterbegriffenes Individuum existirt.“ (MBS, S. 39). Hedwig behauptet das ebenfalls nicht, weil seine Analyse ausdrücklich Brentanos Psychologie im Auge hat (Hedwig, „Über die moderne Rezeption …“, S. 214 ff.). MBS, S. 37. Unter diesen Umständen sollte Brentanos Äußerung am Ende des zweiten Teils seines Kommentars zu Met. V 7, 1017 a 31– 31, die anlässlich der Veröffentlichung der Dissertation hin-
I.3.6 Das Sein der Kopula und die „objectiven Begriffe“
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erste Teil dieser Unterscheidung bei Brentano genauso wie bei Thomas auf den menschlichen Verstand zurückzuführen, der „etwas, das an sich ein Nicht-Seiendes ist, als ein irgendwie Seiendes begreift“.¹⁷⁹ Die Glieder des zweiten Teils hingegen werden von Brentano in kein kausales Verhältnis gesetzt. Die Tatsache, dass Brentano eine von Thomas übernommene These – die über das Nichtseiende, das wegen einer affirmativen Aussage über es als Seiendes betrachtet werden kann – auf die entia rationis anwendet, die er nicht in einer thomasischen, sondern in einer spätmittelalterlichen, konzeptualistischen Sprache des esse obiectivum beschreibt, weist zunächst auf die Vielfalt der scholastischen Tradition hin, die auf ihn Einfluss ausgeübt hat. Sie beweist aber auch, dass er das aristotelische Denken in einem Rahmen rezipierte, der von scholastischen Annahmen stark belastet ist.
zugefügt wurde – „So ist also das Sein der Copula auch nichts anderes, als jenes einai hōs alēthes, und die zuerst angeführte Stelle (E. 4.) will dies, wenn sie es weniger klar einschließt, gewiß auch nicht ausschließen“ (MBS, S. 37) –, mit Vorbehalt betrachtet werden, weil sie nur zutrifft, wenn die eben erwähnte Stelle in Met.V 7 innerhalb der aristotelischen Korrespondenztheorie der Wahrheit interpretiert wird. Wenn aber diese Stelle als Grundlage zur Einführung in die Diskussion von Entitäten, die nur im Geiste bestehen, benutzt wird, sowie dies bei Brentano der Fall ist, dann lässt sich nicht weiter behaupten, Met.VI 4 würde die Ausführungen in Met.V 7 einschließen, weil es in Met. VI 4 ganz und gar nicht um Entitäten geht, die nur im Geiste existieren, sondern um Urteile, deren Wahrheit im Sein der Dinge gründet. Dabei ist zu beachten, dass Aristoteles, anders als die mittelalterlichen Autoren (z. B. Duns Scotus), keine kategoriale Noetik, d. h. keine Lehre von dem ontologischen Status der sich nur im Geiste befindenden Objekte, entwickelt hat, während Thomas’ und Brentanos Ausführungen über das Seiende, das nur auf die zweite Weise ist, gerade in diese Richtung gehen (vgl. Oeing-Hanhoff, „Gedankending“, HWPh, Bd. 4, S. 55 – 62; ders., „Sein und Sprache in der Philosophie des Mittelalters“, in W. Kluxen (Hrsg.), Sprache und Erkenntnis im Mittelalter, Berlin, De Gruyter, 1980, S. 169; Hedwig, „Über die moderne Rezeption …“, S. 223 f.; ders., „Sein, objektives“, HWPh, Bd. 9, S. 247 ff.). In V Met. lect. 9, n. 896, übersetzt von Lakebrink, a. a. O., S. 20; vgl. MBS, S. 38: „Daß aber die Beraubung wie eine hexis und etwas, was man hat, bezeichnet werden könne, das komme daher, weil das on homonym gesagt werde, wo denn in einer Weise sogar Privation und Negation Dinge seien.“ In A.1.1.1 endet der Abschnitt, zu dem diese Stelle gehört, mit einem langen, in die endgültige Fassung des Textes nicht übernommenen Zitat aus der eben erwähnten Stelle aus Thomas’ Kommentar zur aristotelischen Metaphysik, wo behauptet wird, den Dingen sei akzidentell, ob sie erkannt werden oder nicht (A.1.1.1, Bl. 28 f.).
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
I.3.6.6 Thomas’ Einfluss auf Brentanos Analyse über das Seiende als Wahres in § 2., Kap. III – Zusammenfassung Wenn man nun die Ergebnisse dieses Kapitels angesichts des Einflusses von Thomas auf Brentanos Behandlung des Seienden als Wahren in seiner ersten Schrift zusammenzufassen sucht, dann sollte festgehalten werden, dass Thomas’ Veranschaulichung der Seinshomonymie hinsichtlich des Seienden als Wahren durch Rückgriff auf Beispiele von Negationen, Privationen oder logischen Begriffe für Brentano äußerst wichtig war, weil sie ihn davon überzeugt hat, dass die aristotelische Seinshomonymie eine Facette hat, die sich nicht auf das kategoriale Seiende zurückführen lässt, weil sie nicht etwa diesem Seienden Ausdruck verleiht, sondern sich auf das „bloß objectiv im Geiste Existirende“ bezieht. Um diese Facette der Seinshomonymie vor dem Forum der Aristoteles-Forschung seiner Zeit zu rechtfertigen, greift Brentano aber nicht zu Thomas, sondern zu Alexander von Aphrodisias’ Formulierung, das Wahre liege in der Affirmation, das Falsche in der Negation. Hinzu kommt, dass Brentano im Unterschied zu Thomas, der mit einer einzigen veritativen Bedeutung des Seienden arbeitet, in seiner ersten Schrift zwei veritative Bedeutungen unterscheidet. Die Veranschaulichung der Seinshomonymie in Hinsicht auf Negationen, Privationen und logische Begriffe auf bloß rationeller Ebene ist bei Thomas mit der Voraussetzung verbunden, dass es außer dem von Natur Seienden auch den Bereich des ens rationis gibt. Auch wenn die Gliederung von Brentanos Dissertation der vierfachen Bedeutung des Seienden bei Aristoteles folgt, lässt sich seine unter dem Einfluss der neuscholastischen Literatur seiner Zeit und von Suárez stehende Distinktion von reellen und „objectiven“ Begriffen mit dieser thomasischen Unterscheidung recht gut in Einklang bringen, weil Brentano das aristotelische Seiende, das außerhalb des Geistes besteht, auf das rationelle, objektive Seiende bezieht und damit den Rahmen seiner Untersuchung absteckt: Die Untersuchungen über die Kategorien, das dem Vermögen und der Wirklichkeit nach Seiende und auch über das akzidentelle Seiende beschäftigen sich mit dem, was extramental besteht und mittels reeller Begriffe zur Sprache kommt. Dagegen hat der ganze zweite Teil seines Kommentars zu Met. V 7, 1017 a 31– 15 mit den entia rationis zu tun, die nur in der Seele bestehen und die durch „objective“ Begriffe und Urteile ausgedrückt werden. Was nun die Frage betrifft, ob Brentanos Unterscheidung der zwei veritativen Bedeutungen des Seienden – „ist wahr“ als Prädikatsbestimmung des ganzen Urteils und das kopulativ-veritatives „ist“ – thomasisch ist, so glaube ich, dass diese Unterscheidung, so wie sie von Brentano in seiner Erörterung im ersten Teil seines Kommentars zu Met.V 7, 1017 a 31– 35 ausgeführt wird, nicht bei Thomas zu finden ist, und zwar aus folgenden Gründen:
I.3.6 Das Sein der Kopula und die „objectiven Begriffe“
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(1) Thomas trennt zwar die Kopula und die Wahrheit des Satzes, aber er ist weit davon entfernt, aus den Gliedern dieser Trennung zwei verschiedene Bedeutungen des veritativen Seienden zu machen, die kontrastierend zu analysieren wären, so wie dies bei Brentano der Fall ist. Im Gegenteil, die zwei gehören bei ihm zusammen, was sich auch darin zeigt, dass er ganz natürlich von der ersten zur zweiten übergeht. (2) Dieser Übergang beruht auf seinem kausalen Verständnis der aristotelischen Korrespondenztheorie der Wahrheit, dem zufolge das Sein der Dinge mittels der vom Verstand erzeugten Kopula die Ursache der Wahrheit des entsprechenden Satzes ist. Bei Brentano dagegen gibt es keine Spur einer solchen Auffassung von der Wahrheit. Darüber hinaus folgt er Alexander von Aphrodisias und verbindet auf enge Weise den negativen Charakter des Satzes mit seiner Falschheit, während in Thomas’ Interpretation die Negation Träger der Wahrheit ist. (3) Bei Thomas ist die Kopula nicht nur Zeichen der Wahrheit des Satzes, sondern auch der compositio propositionis. Damit wollte er ein klares Zeichen dafür setzen, dass es hier nicht um die erste, sondern um die zweite Operation des Verstandes geht, die durch die Kopula Begriffe verbindet und trennt und im eigentlichen Sinne des Wortes zur Erkenntnis der Wahrheit gelangt. Auch wenn dieser letzte Aspekt in Brentanos Analyse zur Sprache kommt, hebt er ihn nicht eigens hervor, sondern konzentriert sich auf die Verbindung zwischen der Qualität des Urteils und seinem Wahrheitswert. (4) Da Thomas die altgriechische veritative Konvention nicht berücksichtigt, gibt er der Stelle Met. V 7, 1017 a 31– 35 keinen gegenüber dem Passus Met. VI 4, 1027 18 – 23 verschiedenen Sinn, sondern interpretiert die erste im Lichte der letzten Stelle (Wahrheit/Falschheit liegen sowohl in der Affirmation als auch in der Negation). Brentano schenkt der Position der Worte im griechischen Text ebenfalls keine Aufmerksamkeit, aber er folgt Alexanders, Bonitz’ und Schweglers Kommentare dazu und interpretiert Met. V 7, 1017 a 31– 35 unter dem Gesichtspunkt der altgriechischen veritativen Konvention. Deshalb kann er aufgrund von Met. V 7 einen besonderen Sinn des Seienden als Wahren (das Wahre sei in der Affirmation) im Vergleich zu Met. VI 4 (das Wahre sei sowohl in der Affirmation als auch in der Negation) hervorheben. Dies führt ihn schließlich und endlich dazu, aufgrund der zwei Stellen der Metaphysik des Aristoteles zwei verschiedene veritative Bedeutungen des Seienden zu unterscheiden, die er disparat und antithetisch behandelt, was Thomas nicht tut. Demgemäß gehen Thomas’ und Brentanos Analysen der genannten Stelle in Met.V 7 in zwei verschiedene Richtungen: Thomas’ Kommentar rechtfertigt die Korrespondenztheorie der Wahrheit – das gilt auch für Met. IX 10, indem er die den Dingen eigenen Verhältnisse als Ursache der Wahrheit der affir-
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
mativen Urteile berücksichtigt. Auch wenn sich der erste Teil von Brentanos Kommentar zu Met. V 7 innerhalb der aristotelischen Korrespondenztheorie der Wahrheit bewegt und die altgriechische veritative Konvention der Wahrheit in Met.V 7 sich als ein Spezialfall dieser Theorie interpretieren lässt, bedient sich Brentano doch der Stellen Met. VI 4, 1027 b 18 – 23 und Met. V 7, 1017 a 31– 35, um zwei verschiedene veritative Bedeutungen des Seienden hervorzuheben. Der Grund dafür besteht darin, dass er anhand der letzteren Stelle und von Alexanders Kommentar zu ihr eine andere, auch thomasische These ins Licht setzen will, und zwar den Gedanken der Seinshomonymie auf der Ebene des „bloß objectiv im Geiste Existirenden“.¹⁸⁰ Aus diesen Gründen bin ich der Meinung, dass, obwohl es sehr wohl möglich ist, dass Thomas’ Äußerungen über Met. V 7, 1017 a 31– 35 bei Brentano die Idee suggeriert haben, das Sein der Kopula mache einen wichtigen Aspekt bei der Interpretation dieser Stelle aus, Brentanos erster Teil seines Kommentars dazu mit Thomas’ Erläuterungen darüber nicht viel zu tun hat. Hingegen lässt sich der zweite Teil des Kommentars Brentanos ohne Thomas’ Ausführungen über die Seinshomonymie angesichts der entia rationis nicht interpretieren. Hinzu kommt, dass, obwohl die Unterscheidung reelle – „objective“ Begriffe in Brentanos Dissertation auf Suárez zurückgeht, sie doch in Verbindung mit Thomas’ Unterscheidung ens extra anima – ens in mente interpretiert werden kann.
Der Unterschied beider Autoren angesichts der Interpretation von Met.V 7, 1017 a 31– 35 lässt sich auch folgendermaßen beschreiben: Thomas interpretiert die Stelle Met. V 7 in dem Sinne, in dem Brentano Met. VI 4, 1027 b 18 – 23 versteht, d. h. im Sinne der Korrespondenztheorie der Wahrheit. Brentano deutet dagegen dieselbe Stelle im Sinne von Thomas’ Ausführungen zu Anfang von De Ente et Ess., ohne darauf explizit zu verweisen. Die zwei Interpretationen drücken also unterschiedliche Facetten der aristotelischen Homonymie des Seins aus, eine „reelle“, den kategorialen Verhältnissen Ausdruck verleihende und eine unwirkliche, sich auf „das bloß objectiv im Geiste Existirende“ beziehende Facette. Diese Unterscheidung ist wichtig, weil sie mit dem Thema von Brentanos Dissertation recht gut im Einklang steht.
I.3.7 Homonymie des Seins in der Metaphysikvorlesung
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I.3.7 Homonymie des Seins in der Metaphysikvorlesung und die Entstehung von Brentanos idiogenetischer Urteilstheorie I.3.7.1 Einleitung Im Folgenden schlage ich eine Rekonstruktion von Brentanos Ausführungen im zweiten Kapitel seiner Dissertation vor, die es ermöglichen soll, die Frage aufzuwerfen, ob es nicht angemessen wäre, zu behaupten, in Brentanos Analyse in § 2., Kap. III seiner Dissertation seien nicht zwei – wie bei Aristoteles –, sondern drei Wahrheitsbegriffe einbezogen. Wenn man nämlich davon ausgeht, (1) dass das Urteil der eigentliche Träger der Wahrheit bei Brentano ist und dass der aristotelische Grundbegriff der Wahrheit ihm zufolge die Übereinstimmung des Denkens mit dem Ding ist (der erste aristotelische Wahrheitsbegriff, die erste Bedeutung des veritativen Seienden Brentanos); (2) wenn man ferner in Betracht zieht, dass er die Wahrheit als Erfassen des Unzusammengesetzten zweifelsohne als eine Nebenbedeutung der Wahrheit betrachtet (das ist normalerweise der zweite aristotelische Wahrheitsbegriff); (3) wenn man darüber hinaus berücksichtigt, dass er von der aristotelischen Stelle Met.V 7, 1017 a 31– 35 und Alexander von Aphrodisias’ Kommentar dazu ausgehend zur Behauptung kommt, das Wahre sei in der Affirmation, das Falsche in der Negation, und diese These konsequent auf Entitäten (z. B. Zentauren) anwendet, die keinerlei Existenz außerhalb der Seele haben und über die affirmative wahre Urteile gebildet werden können; (4) wenn man zudem in Rechnung stellt, dass laut Thomas und dem mittelalterlichen Konzeptualismus diese Entitäten einen Bereich des Seienden ausmachen, der gegenüber dem kategorialen Bereich als ein selbstständiges Gebiet betrachtet wird; (5) dann lässt sich die Frage aufwerfen, ob es nicht angesichts derartiger Entitäten einen eigenständigen, dritten Wahrheitsbegriff geben sollte, der von den zwei aristotelischen Wahrheitsbegriffen, der Korrespondenztheorie der Wahrheit und der Wahrheit als Erfassen der ta asyntheta, verschieden sein müsste? Auch wenn eine solche Frage interessant klingt,¹⁸¹ passt sie nicht in den Zusammenhang dieser Diskussion, denn (i) gibt es für Aristoteles keinen eigen Ich habe eine solche Interpretation, auf die ich jetzt aus den gleich angeführten Gründen
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
ständigen Bereich, in den die Negationen, die Privationen und die als zweite Intentionen betrachteten logischen Begriffe (Genus, Spezies) usw. gehören würden; (ii) geht eine solche Frage weit über die Aufgaben hinaus, die sich seine mittelalterlichen Kommentatoren gestellt haben;¹⁸² (iii) beruht sie überdies auf der falschen Annahme, Brentanos Erläuterungen in § 2., Kap. III seiner Dissertation würde einen Beitrag zur Analyse der aristotelischen Korrespondenztheorie der Wahrheit ausmachen und nicht, wie dies tatsächlich der Fall ist, eine Untersuchung der Frage nach der Homonymie des Seins auf der Ebene des „bloß objectiv im Geiste Existirenden“. Trotzdem sind Brentanos Ausführungen im dritten Kapitel seiner Dissertation für die weitere Entfaltung seines Denkens wichtig. Wie man seiner Metaphysikvorlesung klar entnehmen kann, dachte er in den folgenden Jahren weiter über die Probleme der Dissertation nach und entwickelte seine Auffassung darüber ständig weiter. Im Folgenden werde ich auf Grundlage des genannten Werkes einige der wichtigsten Aspekte dieser Entwicklung darstellen und zugleich auf die Weiterentwicklungen seiner Lösungen verweisen. Brentanos Erläuterungen in der genannten Schrift beweisen,¹⁸³ dass die aristotelische Frage nach der mannigfachen Bedeutung des Seienden für ihn zentral war, weil sie neben den Fragen nach den Teilen und den Ursachen des Seienden zu den Hauptfragen der Ontologie gehört.¹⁸⁴ Dabei ist die Unterscheidung weiter leitend, die er bereits in der Dissertation durchgeführt hat, nämlich die zwischen eigentlichen und uneigentlichen Bedeutungen des Seienden. Allerdings operiert Brentano in der Metaphysikvorlesung nicht mehr mit der vierfachen Bedeutung des Seienden bei Aristoteles, sondern mit Thomas’ Unterschied zwischen der veritativen und der kategorialen Bedeutung des Seienden.¹⁸⁵ Wie ich unten zeigen werde, entwickelt Brentano in M 96 die These weiter, das Sein der Kopula bezeichne die Wahrheit des mittels ihr gebildeten Satzes.
verzichte, in meinem Aufsatz „Franz Brentano’s Dissertation and the Problem of Intentionality“ (in I. Tănăsescu (Hrsg.), Franz Brentano’s Metaphysics …, S. 154– 169) versucht. Vgl. dazu Oeing-Hanhoff „Metaphysik“, S. 1224, und auch seine der Frage der Ontologie der entia rationis gewidmete Abhandlung „Sein und Sprache in der Philosophie des Mittelalters“. Die Vorlesung (Manuskript M 96) wurde in seiner Würzburger Zeit mehrmals vorgetragen. Vgl. dazu W. Baumgartner, F.-P. Burkard, „Franz Brentano. Eine Skizze seines Lebens und seiner Werke“, in Th. Binder, R. Fabian, J. Valent (Hrsg.), International Bibliography of Austrian Philosophy, IBÖP 1982/1983, Amsterdam/Atlanta, Rodopi, 1990, S. 17– 53; Antonelli (Seiendes, Bewußtsein …, S. 253 – 263), wo wertwolle Passagen über das Seiende als Wahres aus diesem Werk zitiert werden, und auch Chrudzimski, a. a. O., S. 70 – 79. M 96, Bl. 31946. M 96, Bl. 31948. An dieser Stelle unterscheidet Brentano zwischen dem Seienden als Wahrem und dem realen Seienden, zwischen „logischer und realer Bedeutung“ desselben.
I.3.7 Homonymie des Seins in der Metaphysikvorlesung
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Bevor ich Brentanos Behandlung der veritativen Bedeutung des Seienden in M 96 unter die Lupe nehme, möchte ich auf eine wichtige Entwicklung seiner psychologischen Auffassung verweisen, die für die hier angegangene Frage wichtig ist. In seinen Erinnerung hält es Stumpf für wahrscheinlich, dass Brentano bereits 1866/67 in der Vorlesung über die Geschichte der Philosophie, und zwar in den Ausführungen über Ockham, auf die Idee kam, die Urteile als selbstständige Klasse psychischer Phänomene von den Vorstellungen und Gemütsbewegungen abzusondern.¹⁸⁶ Stumpf geht nicht auf die Einzelheiten dieser Trennung ein, aber aus anderen, von Brentano in seiner Würzburger Zeit verfassten Werken wissen wir, dass der sachliche Grund dieser Trennung darin besteht, dass dem Urteil eine eigene intentionale Beziehung zukommt, die von der intentionalen Beziehung der Vorstellung und der Gemütsbewegung grundverschieden ist: Im Unterschied zur Vorstellung, wo das Objekt bloß erscheint, ohne dass das psychische Subjekt urteils- oder gefühlsmäßig Stellung zu ihm bezieht, wird im Urteil der Gegenstand einer Vorstellung in seiner Existenz anerkannt oder verworfen.¹⁸⁷ In der Psychologie vom empirischen Standpunkt ist diese Behauptung mit der Idee verbunden, die grundlegende Form des Urteils sei die existentiale, weil jedes kategorische Urteil sich auf ein existentiales Urteil reduzieren lasse, etwa „Ein Baum ist grün“ auf „Ein grüner Baum ist“.¹⁸⁸ Damit erweist sich die kategorische Form des Urteils als oberflächlich, weil nach Brentano das Wesen des Urteils nicht in einer Verbindung oder Trennung von Begriffen (Aristoteles) liegt – begriffliche Bestimmungen können auch in der Vorstellung (z. B. „grüner Baum“) verbunden werden –, sondern in einer gewissen Haltung zur Existenz der vorgestellten Objekte: In den existentialen Urteilen glaubt der Urteilende, dass der vorgestellte Gegenstand existiert oder er verwirft ihn.¹⁸⁹ In M 96 legt Brentano keinen besonderen Schwerpunkt auf die Idee der Zurückführbarkeit aller kategorischen Urteile auf existentiale Aussagen, sodass sich auf der Basis seiner Ausführungen keine klare Antwort auf die Frage gewinnen lässt, ob er bereits in jener Zeit auf diesen Gedanken gekommen ist oder nicht.¹⁹⁰
Stumpf, a. a. O., S. 126; F. Brentano, Geschichte der mittelalterlichen Philosophie im christlichen Abendland (GMPh), K. Hedwig (Hrsg.), Hamburg, Meiner, 1980, S. 80. PeS, S. 258 ff.; die Gemütsbewegung betrachtet ihr Objekt „als gut genehm“ oder verwirft es „als schlecht ungenehm“ (PeS, S. 258 ff.). PeS, S. 236. PeS, S. 230 ff. Es sollte jedoch bemerkt werden, dass Brentano in M 96 die Urteile kategorischer Form gelegentlich in solche der existentialen Form überträgt, um den Gedanken zu veranschaulichen, dass den Vorstellungen, die vergangene oder zukünftige Entitäten zum Objekt haben, mit einem anderen Tempus als der Gegenwart zugestimmt werden muss (M 96, Bl. 31951).
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
Wie auch immer die Antwort darauf lauten könnte, bleibt jedoch festzustellen, dass es für ihn von Bedeutung war, innerhalb der Behandlung des Seienden als Wahren in M 96 das Problem des Urteils nicht weiter als bloße Affirmation oder Negation eines Begriffes über einen anderen, sondern als Zustimmung zu einer Vorstellung anzugehen.¹⁹¹ In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass die Eigenheit der Analyse des Seienden als Wahren in M 96 daher rührt, dass sich das metaphysische Problem der Homonymie des Seins, das Brentano in der Dissertation über Aristoteles hinaus auf der Ebene des „bloß objectiv im Geiste Existirenden“ entwickelte, in M 96 mit der psychologischen Frage nach der Eigenheit des Urteils als Grundklasse von psychischen Phänomenen kreuzt. Dabei liegt die Betonung nicht weiter auf der Hervorhebung desjenigen Aspekts der Seinshomonymie, der sich in affirmativen Aussagen über Gedankendinge äußert, sondern auf der Aufarbeitung der idiogenetischen Aspekte, die jedem Urteil eigen sind, d. h. auf der Verarbeitung der Qualität des Urteils als einer intentionalen Beziehung, die darin besteht, einem vorgestellten Gegenstand zuzustimmen oder ihn zu verwerfen. Trotz der Abwesenheit der Zurückführbarkeits-These in M 96 sind in Brentanos Ausführungen über das Seiende als Wahres viele Elemente vorhanden, die als Fortbildung seiner Analyse über das Sein der Kopula und über die als wahr behaupteten Sätze aus der Dissertation in Richtung seiner idiogenetischen Urteilstheorie betrachtet werden können. Wegweisend dafür ist, dass während sich Brentano in letzterer Arbeit stark bemüht, die zwei veritativen Bedeutungen des Seienden klar zu trennen und ihre Unterschiede herauszuarbeiten, das kopulative und das existentiale „ist“ in M 96 zu den einzigen Trägern der veritativen Bedeutung des Seienden werden – Brentano weist zwar auf die andere veritative
Vermutlich übernimmt Brentano den Terminus „Zustimmung“ aus J. Schiels Übersetzung von Mills Logik, wo assent als „Zustimmung“ wiedergegeben wird (J. St. Mill, A System of Logic, Ratiocinative and Inductive, Being a Connected View of the Principles of Evidence, and the Methods of Scientific Investigation, 1843, Buch I–III (SLRI I), J. M. Robson (Hrsg.), Toronto, University of Toronto Press, Routledge & Kegan Paul, 1974, S. 87 f., 94/J. St. Mill, System der deduktiven und induktiven Logik. Eine Darlegung der Principien wissenschaftlicher Forschung, insbesondere der Naturforschung, Bd. 1. übers. v. J. Schiel, Braunschweig, Friedrich Vieweg, 1868, http://www.zeno. org/Philosophie/M/Mill,-+John+Stuart/System+der+deduktiven+und+induktiven+Logik, (14.03. 2021) S. 104 f., 113 (weiter werde ich die Paginierung sowohl der englischen als auch der deutschen Ausgabe von Mills Logik angeben); vgl. auch Heidegger, Grundprobleme, S. 277; Mills Logik wurde von Brentano in jener Zeit intensiv studiert: 1869/70 hielt er die Vorlesung Deduktive und induktive Logik (vgl. unten) und in der Psychologie verweist er mehrmals auf diese Übersetzung. Dabei sollte jedoch bemerkt werden, dass die intentionale Beziehung des Urteils in der Arbeit von 1874 nicht weiter als Zustimmung, sondern als Anerkennung charakterisiert wird (PeS, S. 230, 251), was auch für die Vorlesung Deduktive und induktive Logik gilt (s. unten).
I.3.7 Homonymie des Seins in der Metaphysikvorlesung
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Bedeutung des Seienden („ist wahr“ als Prädikatsbestimmung des ganzen Satzes) hin, schenkt ihr aber keine Aufmerksamkeit. Ein möglicher Grund dafür könnte darin bestehen, dass sein Interesse in M 96 nicht mehr auf die Beziehung des Urteils zur ihm zugeordneten Bestimmung „ist wahr/falsch“, sondern auf das Verhältnis des Urteils zur Vorstellung, auf die es sich bezieht, gerichtet ist:¹⁹² 3. Das Seiende im Sinne des Wahren ist nicht eigentlich Gegenstand der Metaphysik, denn diese hat ja nicht von etwas was speciell in unserm Geiste ist sondern im Allgemeinen von allen Dingen zu handeln und sie aus ihren Gruenden zu erkennen. ¹⁹³
Wie die letzte Äußerung zeigt, ist nicht mehr allein die Logik die Wissenschaft, die sich mit dem Studium des Seienden als Wahren beschäftigt, sondern sie teilt diese Aufgabe mit der Psychologie, und zwar deswegen, weil die Psychologie diejenige Disziplin ist, der anheimfällt, die wichtigsten Eigentümlichkeiten der Grundklassen von psychischen Phänomenen, einschließlich der Urteile, zu studieren. Unter diesen Umständen lassen sich die folgenden Thesen und Syntagmen aus Brentanos Ausführungen über das Seiende als Wahres in seiner Dissertation als Ausgangspunkte der Entwicklungslinien nennen, die über die Analyse desselben Problems in M 96 zur Urteilstheorie in seiner Vorlesung Deduktive und induktive Logik und weiter in der Psychologie vom empirischen Standpunkt führen: – Das Sein der Kopula drückt keine „Energie des Seins“, kein „reales Attribut“ aus, sondern gehört zu den „bloßen Verstandesdingen, die nicht außerhalb des Geistes existieren“.¹⁹⁴ – Das Sein der Kopula bezeichnet die Wahrheit des mittels ihr gebildeten Urteils. – Alles, was Objekt einer wahren affirmativen Aussage werden kann, gehört zum Seienden als Wahren.
Brentanos Psychologie zufolge ist jedes psychische Phänomen entweder eine Vorstellung oder hat als Urteil oder Gemütsbewegung eine Vorstellung zur Grundlage (PeS, S. 97). M 96, Bl. 31948 (die eckigen Klammern verweisen darauf, dass es sich um überschriebenen Text in Brentanos Manuskript handelt; Hervorhebung I. T.). MBS, S. 36, 218.
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
I.3.7.2 Das Sein der Kopula drückt kein reales Attribut aus Diese These ist für die Weiterentwicklung von Brentanos Analyse aus der Dissertation in die idiogenetische Richtung entscheidend, weil er in M 96 diese These auf alle Arten von „ist“ verallgemeinert: Wir sahen […], dass es [das Wort „seiend“; Hinzufügung I. T.] manchmal für sich allein nichts bedeutend nur mitausdrückt ähnlich den sogenannten synkategorematischen Worten. Dies dreifach: a) als Hilfezeitwort; b) als Copula; c) im Existentialsatz, wo es wie wir haben auch kein eigentliches reales Praedicat sondern aehnlich im vorigen Falle ein Zeichen unsrer Zustimmung ist.¹⁹⁵
Angesichts der unter Punkt c) aufgeführten These ist zu bemerken, dass sie die Einführung des existentialen „ist“ und des existentialen Satzes in die Diskussion über die Homonymie des Seins auf der Ebene des veritativen Seins markiert. Wie eben bereits gesagt, bezeichnet dies einen wichtigen Unterschied zu seiner Dissertation, wo diese Frage aufgrund des kopulativ-veritativen „ist“ und der Wahrheit als Prädikatsbestimmung des ganzen Satzes angegangen wurde. Zugleich damit wird die aristotelische Auffassung von der Wahrheit als Erfassen des Unzusammengesetzten in Met. IX 10, 1051 b 17– 33 nicht weiter als eine sekundäre, sondern als eine zweite, wichtige Bedeutung des aristotelischen Wahrheitsbegriffs betrachtet. Hinzu kommt, dass die unter Punkt c) aufgestellte These einen polemischen Gehalt hat, weil sie Thomas’ Behauptung, das existentiale „ist“ drücke ein substantielles (bei Brentano reales) Prädikat aus, im Visier hat:¹⁹⁶ Hiemit war etwas Wichtiges festgestellt. Der Fiction eine Zusammensetzung der Dinge eine essentia und ein esse (actus essendi zu welchen jene potentia), die selbst bei Philosophen 1sten Rangs wie Thomas von Aquin sich findet und die Metaphysik mit Subtilitäten und nichtssagenden Argumenten erfüllt hat, war ein für allemal Eingang verwehrt.¹⁹⁷
M 96, Bl. 31470. Dass das „ist“ des existentialen Urteils nichts Wirkliches ausdrückt, sondern nur ein Zeichen der Zustimmung zu einer Vorstellung ist, macht eine zentrale These von Brentanos idiogenetischer Urteilstheorie aus, die er sowohl in M 96 als auch in der Vorlesung Deduktive und induktive Logik (1869/70; 1870/71), EL80.13.134 verteidigt. In V Met. lect. 9, n. 896. M 96, Bl. 31470; vgl. auch Bl 31950; in der Psychologie ist die These gegen J. St. Mills Behauptung gerichtet, im existentialen „ist“ stecke das Prädikat „Existenz“ (PeS, S. 235 f.; SLRI I, S. 22 f., 94 f., 133 f./21 f., 78 f., 113).
I.3.7 Homonymie des Seins in der Metaphysikvorlesung
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Wenn man berücksichtigt, dass Brentano in M 96 die Problematik des Seienden als Wahren aus der Dissertation übernimmt und weiterführt,¹⁹⁸ und wenn man darüber hinaus in Betracht zieht, dass er in seiner ersten Arbeit weder mit Thomas’ Unterscheidung zwischen esse und essentia noch mit existentialen Urteilen operiert, dann darf man die Frage aufwerfen, ob Brentano trotz seiner Hochachtung für Thomas nicht schon in seiner ersten Schrift gewissen thomasischen Thesen kritisch gegenüberstand.
I.3.7.3 Das Sein der Kopula bezeichnet die Wahrheit des mittels ihr gebildeten Urteils In M 96 wird diese These wiederaufgenommen, auf das existentiale „ist“ ausgeweitert und aus der Perspektive von Brentanos idiogenetischer Auffassung über den Urteilsakt bewertet: Während in der Dissertation die Kopula Begriffe verbindet oder trennt, Zeichen der Prädikation ist und die Wahrheit der Aussage bezeichnet, kommen die ersten beiden Aspekte in M 96 kaum zur Sprache, vielmehr konzentriert sich Brentano hier auf den letzten Punkt, um dessen idiogenetische Tragweite aufzudecken. Aus diesem Grund ist ihm das Urteil keine zweite Operation des Verstandes, die mittels der Prädikation Begriffe verbindet oder trennt, sondern die mittels des kopulativen oder existentialen „ist“/„ist nicht“ vollzogene Zustimmung zu einer Vorstellung oder ihre Verwerfung. Als Zeichen dieser Zustimmung drückt das „ist“ kein reales Prädikat aus und weist, genau wie in der Dissertation, auf die Wahrheit des Urteils hin.¹⁹⁹ Es geht hier also nicht in erster Linie darum, dass durch das kopulative und existentiale „ist“ Verstandesinhalte gebildet würden, die sprachlich ausgedrückt und für wahr oder falsch gehalten werden, sondern darum, dass Brentano in M 96 von diesem logischen Niveau zur psychologischen Ebene übergeht, um das kopulative und existentiale „ist“ unter dem Gesichtspunkt einer Urteilstheorie zu thematisieren, (i) deren Aufarbeitung schon im Gang war, (ii) deren abgeschlossene Form sowohl in der Vorlesung Deduktive und induktive Logik als auch in seiner Psychologie dargestellt wird, (iii) die nicht propositional ist, (iv) die gegen die Interpretation von „ist“ als substantielles Prädikat (Thomas) oder als Ausdruck des Prädikats „Existenz“
Die Kontinuität der Ausführungen in den beiden Werken ist auch daran erkennbar, dass Brentano in M 96 fast mit denselben Beispielen (dem Nichtseienden, Jupiter, Diagonale usw.) operiert. An sich selbst betrachtet, bedeutet „ist“ nichts, eine These die für das kopulative „ist“ auf Aristoteles’ Ausführungen in De int. 16 b 23 ff. zurückgeht.
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
(Mill) gerichtet ist, und (v) die tatsächlich die Qualität des Urteils als Verwerfung oder Zustimmung hinsichtlich eines vorgestellten Gegenstands interpretiert:²⁰⁰ Im negativen existentialen Urteil „Ein blauer Baum ist nicht“ wird etwa die Existenz eines solchen Baumes verworfen oder die Behauptung, es gebe einen blauen Baum, für falsch gehalten. Diese gegenüber der Analyse in der Dissertation neue Funktion von „ist“ erscheint in Brentanos Behandlung des existentialen Urteils am klarsten: Der sprachliche Ausdruck [des Urteils „Ein Baum ist“; Hinzufügung I. T.] ist […] wohl eine Composition, nicht aber der inwohnende Gedanke. Ich habe nur eine Vorstellung, die eines Baums und dieser stimme ich zu, und das Zeichen dieser Zustimmung ohne jede Beimischung eines realen Inhalts ist das „ist“ das sprachlich aber nicht dem Gedanken nach Praedikat ist. So ist denn auch in der Wirklichkeit von dem Zusammentreffen einer Wirklichkeit mit einer andern, in Folge dessen die Affirmation wahr sein soll nicht die Rede. (Kant hat dies mit Recht gegen Anselmus geltend gemacht, aber schon frueher, im Mittelalter, hat S. Thomas ²⁰¹ […] Was dieses „ist“ in dem Satze „Gott ist“ bezeichnet, bezeichnet er auch in jedem anderen Existenzialsatze, nicht mehr und nicht weniger, es enthaelt keinerlei Realität. Klar hat dies Aristoteles selbst […] erkannt und ausgesprochen (wie De Interpretatione 1. und spaeter De anima III, 6. Metaphysik Th […] 10.²⁰²
Es gibt also kein reales, substantielles Prädikat „Existenz“, dem das existentiale „ist“ Ausdruck verleiht und das zum wirklichen Baum hinzukommend den Wahrmacher des betreffenden Urteils ausmachen würde. Vielmehr drückt das existentiale „ist“ für Brentano nur den Zustimmungsaspekt des Urteils aus, der gemäß seiner Psychologie mit der intentionalen Beziehung desselben, d. h. mit der Anerkennung oder Verwerfung des vorgestellten Objekts, zusammenfällt: „ist“ in „Ein Baum/Gott ist“ zeigt, dass ich der Vorstellung eines Baumes/Gottes zustimme und bezeichnet darüber hinaus die Wahrheit des so gebildeten Satzes.²⁰³
EL80.13.295 – 313; PeS, S. 233 – 242. Zu Brentanos Urteilstheorie vgl. J. Brandl, „Brentano’s Theory of Judgement“, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2014 Edition), E. N. Zalta (Hrsg.), https://plato.stanford.edu/archives/sum2014/entries/brentano-judgement/ (6.03. 2021) Brentano weist auf S. th. Ia, q. 3, a. 4 ad 2 hin; die Stelle aus M 96, wo Brentano diesen Passus kommentiert, wird von Kraus in seiner Anmerkung zu WE wiedergegeben (WE, S. 219). M 96, Bl. 31949 f. „*Jede Vorstellung der ich zustimme sobald ich ein Urtheil als wahr bezeichnen oder (was dasselbe) die Vorstellung als zustimmungswuedrig (?) oder (was dasselbe) sobald ich meine Zustimmung aussprechen will bediene ich mich dazu eines Satzes in welchem das Praedicat, sei es inhaltslos () oder inhaltsreich den Namen Seiendes erhaelt, z. B. a ist seiend (Bezeichnung meiner Bejahung), a ist nicht seiend (Bezeichnung meiner Bejahung, dass a=b falsch)*“ (M 96, Bl. 31948; die Sternchen weisen darauf hin, dass es um Bemerkungen geht, die von Brentano am Rand des Manuskripts gemacht wurden).
I.3.7 Homonymie des Seins in der Metaphysikvorlesung
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Die Analyse bewegt sich hier auf der sprach-logischen und in M 96 auch auf der psychologischen Ebene des Seienden als Wahren oder, wie Brentano an anderer Stelle sagt, auf der Ebene der bloß phänomenalen Wahrheit, d. h. auf der Ebene des Verhältnisses zwischen dem Urteil und der von ihm bejahten Vorstellung.²⁰⁴ Die Korrespondenztheorie der Wahrheit setzt aber voraus, dass man einen weiteren Schritt macht und das Verhältnis zwischen der Vorstellung, der zugestimmt wird, und dem Gegenstand, auf den sie sich bezieht, in die Debatte einführt.²⁰⁵ Es sei hier noch hinzugefügt, dass das existentiale Urteil wegen seiner einfachen Form – im Unterschied zur dreiteiligen kategorischen Aussage, die aus Subjekt, Prädikat, und Kopula gebildet ist, besteht sie nur aus zwei Bestandteilen, einem Namen (dem Subjekt) und dem ihm hinzugefügten synkategorematischen Zeichen „ist“ – geeigneter ist als die kategorische Form, um die Anerkennungsfunktion des „ist“ hervorzuheben.²⁰⁶ Dieselbe These über das „ist“ als Bezeichnung der Wahrheit und als Zustimmung zu einer Vorstellung gilt auch für das Sein der Kopula: Es bezeichnet auch die Wahrheit des Satzes – in dieser Funktion wurde es bereits ausdrücklich in der Dissertation thematisiert – und zeigt darüber hinaus, dass derjenige, der das Urteil fällt, der Vorstellung der Bestimmungen, die im Urteil als verbunden oder getrennt dargestellt werden (z. B. der Vorstellung eines grünen Baumes), zustimmt.²⁰⁷ Der Verzicht auf die Behandlung des Urteils als begriffliche Prädikation und seine Thematisierung als intentionale Beziehung eigener Art, d. h. als Anerkennung oder Verwerfung eines vorgestellten Gegenstandes,²⁰⁸ hat eine wichtige WE, S. 220, 30. Vgl. unten S. 123 f. EL80.13.291. „Das Seiende wird gebraucht einmal im Sinne des Wahren, , dann im Sinne des Sachlichen Seienden, also in einer logischen und realen Bedeutung. Als Beispiel fuer die erstere kann jede affirmative Aussage dienen, z. B. wenn ich sage: der Baum ist gruen, *so bezeichne ich den Baum als ein Gruenes Seiendes, * “ (M 96, Bl. 31948). Geschichtlich gesehen hat diese These eine mehrfache Bedeutung, denn sie ist gegen die Lehre (i) von Aristoteles, Thomas und Mill über das Urteil als Prädikation, (ii) von Thomas und Mill über das substantielle „ist“ oder das „ist“ als Ausdruck des Prädikats „Existenz“, (iii) der ehrwürdigen Tradition (Aristoteles, Kant) gerichtet, die das Denken als eine einheitliche Klasse betrachtet, die sowohl Vorstellungen als auch Urteile umfasst, während Brentano der Meinung war, die beiden würden keineswegs eine einzige Klasse ausmachen, sondern seien grundver-
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
Konsequenz angesichts Brentanos Rezeption der aristotelischen Texte über die Wahrheit, denn von nun an ist Brentano interessiert nicht nur an denjenigen Stellen, wo die Wahrheit als Übereinstimmung zwischen dem Denken, das Begriffe zusammenfügt oder trennt, und dem Verbunden- oder Getrenntsein der Dinge gefasst ist,²⁰⁹ sondern auch an den aristotelischen Texten, in denen das Denken nicht durch Verbindung und Trennung, sondern durch das Erfassen des Unzusammengesetzten zur Wahrheit kommt. Aus diesem Grund und im Unterschied zur Dissertation, in der die Erkenntnis der Wahrheit letzterer Art in Met. IX 10, 1051 b 17– 33 als eine Nebenbedeutung von Wahrheit behandelt wird, wird diese Stelle von Brentano fortan ständig in die Diskussion gebracht, wenn er die aristotelische Wahrheitsauffassung behandelt. Dabei versteht er das aristotelische thigein nicht als Vorstellung der Wesensbegriffe der unter das kategoriale Seiende fallenden Dinge (Aristoteles), sondern als Vorstellung und Anerkennung der Existenz der Gegenstände, die mittels der immanenten Objekte der Vorstellung dem Geiste gegenwärtig werden.²¹⁰ Nicht die Wesenheit der Dinge ist also in Brentanos Sicht das Objekt des als Analogon zum aristotelischen thigein betrachteten Wahrnehmens,²¹¹ sondern die von dem Urteilsakt anerkannte Existenz des vorgestellten Gegenstandes. Auch wenn das Urteil weiterhin der eigentliche Träger der Wahrheit bleibt, wird hier das, was als Urteil aufgefasst wird, nicht mehr als Prädikation, sondern als intentionale Beziehung der Anerkennung oder Verwerfung verstanden. Um diesen Punkt abzuschließen und ein weiteres Argument für die These der Kontinuität zwischen Brentanos Behandlung des Seienden als Wahren in M 96 und in seiner Dissertation darzulegen, sei noch erwähnt, dass er in M 96 die negative Kopula ausgerechnet im Sinne der altgriechischen veritativen Konvention, in der er sie Alexander von Aphrodisias folgend schon in seiner ersten Schrift thematisiert hat, in Angriff nimmt: Ohne sich auf Met. V 7, 1017 a 31– 35 oder auf seine Ausführungen darüber in der Dissertation zu beziehen, bezeichnet „ist nicht“ für Brentano hier nicht die Falschheit des Satzes (In V Met. lect. 9, n. 895), schiedene psychische Phänomene, weil ihnen intentionale Beziehungen oder Weisen der Immanenz des Objekts eigen seien, die nicht aufeinander zurückführbar sind (PeS, S. 199 ff., 202 ff., 222– 254). Vgl. die oben in I.3.1 und I.3.2 angeführten Stellen aus aristotelischen Schriften. PeS, S. 234 f.; WE, S. 220; GGPh, S. 242. Dabei sollte weiter berücksichtigt werden, dass nur die psychischen Zustände im eigentlichen Sinne des Wortes wahrgenommen werden können, weil nur sie so bestehen, wie sie uns erscheinen. Die sinnlichen Inhalte der äußeren Wahrnehmung haben dagegen nur phänomenale und intentionale Existenz, weil sie nicht wirklich existieren, wie sie uns erscheinen. Sie sind Zeichen der Wirkung physischer Kräfte auf unsere Sinnesorgane, ohne aber als solche wirklich zu sein (PeS, S. 25, 35, 108 f., 116 f., 233).
I.3.7 Homonymie des Seins in der Metaphysikvorlesung
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sondern weist daraufhin, dass das Urteil, das der positiven Vorstellung entspricht, falsch ist: „Gott ist nicht ein Geschöpf“ besagt, dass ein Geschöpf seiendes Gott nicht ist und infolgedessen, dass die Behauptung (Gott ist ein Geschöpf), die dieser Vorstellung entspricht, zu verwerfen, also falsch ist.²¹² In diesem Zusammenhang ist es ein Leichtes, die Ähnlichkeit zu bemerken, die zwischen der altgriechischen veritativen Konvention und Brentanos idiogenetischer Urteilstheorie besteht: Der altgriechischen Konvention zufolge steht die veritative Kopula am Anfang des Satzes und je nach ihrem Zeichen bejaht oder verwirft die Verbindung der ihr im Satz folgenden Termini: der gebildete, nichtweiße Sokrates oder die kommensurable Diagonale. Brentanos existentiales „ist“ übt angesichts der Vorstellung, die die Bestimmungen zusammenstellt, die im Urteil verbunden oder getrennt sind, dieselbe Funktion aus: Es stimmt der Vorstellung eines grünen Baumes („Ein grüner Baum ist“ oder „Es ist ein grüner Baum“) zu oder es verwirft die Vorstellung eines Gottes, der geschaffen ist: „Ein Geschöpf seiender Gott ist nicht“ oder „Es ist nicht ein Geschöpf seiender Gott“. Trotz dieser Ähnlichkeit bieten Brentanos frühen Texte (M 96 und EL80) kein klares Indiz dafür, dass die altgriechische veritative Konvention je eine Rolle für die Genesis seiner Urteilstheorie gespielt hat. Wie gesagt schenkt er der Position der Worte im aristotelischen Text bei der Übersetzung keine Aufmerksamkeit. Darüber hinaus beruft er sich in seinen Ausführungen über das existentiale „ist“ in M 96 weder auf Met.V 7, 1017 a 31– 35 noch auf seine Erläuterungen darüber in der Dissertation. Schließlich und endlich zeigen seine Erläuterungen über die Zurückführbarkeit der kategorischen Urteile auf existentiale Aussagen in der Vorlesung Deduktive und induktive Logik (1869/70),²¹³ dass für diese These seine Überlegungen über die Materie und Form des Urteils in ihrem Verhältnis zur Kopula und zur Negation „nicht“ als Bestandteil der negativen Prädikatsnomen wie „nichtweiß“ von entscheidender Bedeutung waren. Im Hinblick auf dieses Problem ist es beachtenswert, dass Brentano die Zurückführbarkeit jeder der vier Grundformen der kategorischen Aussagen (A, E, I, O) dadurch beweist, dass er die Kopula, genauso wie im Fall der altgriechischen Konvention, an den Anfang des Satzes stellt, und auch dass er sich der Vorgehensweise der Betonung bedient, aber nicht um die Wahrheit des Satzes hervorzuheben, sondern um herauszufinden, zu welchem Bestandteil des Urteils (zur Materie oder zur Form) die Negation „nicht“ gehört.²¹⁴
M 96, Bl. 31949. Dies ist das erste Mal, dass Brentano die Studenten über seine Urteilstheorie unterrichtete (vgl. dazu Stumpf, a. a. O., S. 106 f.). EL80.13.295 – 13.313. Die Materie des Urteils ist die Vorstellung, die vom Urteil bejaht oder verworfen wird, der Name ist der sprachliche Ausdruck der Vorstellung, und das synkategorematische Zeichen „ist“ oder „ist nicht“ macht die Form des Urteils aus und ist Träger seiner in-
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
All dies lässt sich in dem Sinne interpretieren, dass trotz der Wichtigkeit, die den Ausführungen in Met. V 7, 1017 a 31– 35 und Thomas’ Kommentaren dazu in Brentanos Dissertation zukommt, die ebengenannte Stelle keine Rolle für die Entstehung seiner idiogenetischen Urteilstheorie spielte.
I.3.7.4 Alles, was Subjekt einer wahren Affirmation werden kann, ist Seiendes im Sinne des Wahren Diese These, die von Thomas übernommen wurde und der Brentano den zweiten Teil seines Kommentars zu Met. V 7, 1017 a 31– 35 widmete, wird auch in M 96 aufgegriffen und in dem Sinne erweitert, dass Brentano behauptet, nicht nur das Subjekt, sondern auch das Prädikat könne als veritatives Seiendes betrachtet werden, weil es zu einem Urteil gehört, dessen Wahrheit von dem kopulativen oder existentialen „ist“ bezeichnet wird: Was ist also das Seiende im Sinne des Wahren? Es ist der Ausdruck unserer Bejahung. Was immer in einem affirmativen *kategorischen* Satze Praedicats oder Subjectes steht, ist dem sprachlichen Ausdrucke nach ein Seiendes, denn durch „ist“ bezeichnen wir die Affirmation. Alles also was in einem affirmativen Satze Praedicats oder auch des Subjectes kann ein Seiendes in dem Sinne genannt werden. z. B. Gott ist d. h. ist seiend, . Dies „ein Seiendes“ und (da die Sprache Gott mit ihm identificirt) Gott, sind () Seiende im Sinne des Wahren, d. h. dass sie seiend genannt werden, bezeichnet (die Wahrheit der dadurch ausgesprochenen Behauptung) die Affirmation (Annahme, Anerkennung), die Zustimmung zu der Vorstellung, von der es sich fragt, ob ihr zugestimmt oder ob sie verworfen werden soll .²¹⁵
tentionalen Beziehung. Demgemäß hat der sprachliche Ausdruck des Urteils, die Aussage, zwei Bestandteile, den Namen der Vorstellung und das zu ihm hinzukommende „ist“ oder „ist nicht“ (EL80.13.135; 13.192; vgl. auch unten S. 118 f.). M 96, Bl. 31948. Die Fortsetzung von Brentanos Text ist für die enge Verbindung, die in den beiden Schriften hinsichtlich der Behandlung des Seienden als Wahren besteht, von Bedeutung: „Freilich ist Gott auch ein reelles Seiende ( eminenten Sinne) aber darum handelt es sich hier nicht, denn, um ein andres Beispiel zu waehlen, ich kann auch sagen: Die Diagonale ist inkommensurabel d. i. incommensurabel seiend, d. i. ein Incommensurabelseiendes, Ein Nichtweisses ist ein Nichtweisses, d. i. ein Nichtweiss-seiendes. In beiden Faellen steht im Praedicat kein Seiendes im realen Sinne, und doch wird es und durch die Beilegung auch das Subject seiend genannt, beide im Sinne des Wahren, wenn auch in dem einen Falle das Subjekt auch in einem realen Sinne den Namen verdienen sollte.“ (M 96, Bl. 31948); vgl. die entsprechenden Stellen über die Diagonale und die Negation „Nichtweiß“ in MBS, S. 35 f., 14, 6, 38.
I.3.7 Homonymie des Seins in der Metaphysikvorlesung
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Der Satz über Gott verdient in diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit, weil er für die Entstehung derjenigen Lehre wichtig war, die Brentano später für irrig hält, nämlich dass entia rationis (z. B. die „Inhalte von Urteilen“) Objekte eines Anerkennungs- oder Zustimmungsaktes werden können.²¹⁶ Wie die nach der Jahrhundertwende verfassten Texte zeigen, hält er nicht nur die Anerkennung solcher Inhalte, sondern aller entia rationis (Negationen, Gedankendinge wie Jupiter und Zentauren, Abstrakta wie Röte usw.) für falsch.²¹⁷ Angesichts dieser Lehre muss jedoch mit Nachdruck betont werden, dass sich Brentano in seinen frühen Schriften stark bemüht hat, diese These zu untermauern: Er verfasste den zweiten Teil seines Kommentars zu Met. V 7, 1017 a 31– 35, um die thomasische Fassung derselben These zu rechtfertigen, und in M 96 legt er großen Wert darauf, sie durch affirmative wahre Aussagen über Negationen zu veranschaulichen. Was er also später so entschieden zurückweisen sollte, hat er in seiner Jugend ohne Weiteres akzeptiert.²¹⁸ Was nun im erwähnten Satz das „ist“ betrifft, so funktioniert es im Sinne des Wahren, d. h., es drückt Zustimmung zur Vorstellung von Gott aus und weist auf die Wahrheit der Behauptung „Gott ist“ hin. Es besagt aber nicht, dass wir irgendwie imstande wären, Gottes Essenz oder Existenz unmittelbar zu erkennen, denn Gottes Existenz sei nur mittelbar, und zwar aus seinen Wirkungen erkennbar.²¹⁹ Brentanos späten Erklärungen zufolge, die er Kraus über die Art und Weise gibt, in der er auf seine frühere, falsche Lehre über die entia rationis als Gegenstand der psychischen Akte gekommen sei, sind dafür besonders die Erörterungen von zwei Autoren von Bedeutung: zum einen Thomas’ Kommentar zum „ist“ in „Gott ist“ als einem Seienden im Sinne des Wahren an der erwähnten Stelle der Summa Theologiae und die Tatsache, dass dieses „ist“, genauso wie das ontologische „ist“, Zustimmung ausdrückt. Zum anderen war es „der alte Aristoteles“ und seine oben dargelegten Ausführungen am Anfang der Zweiten Analytik (I 1, 71 a 12– 14) über die „bereits vorhandene Kenntnis“ als Kenntnis davon, dass etwas ist, nämlich dass der Satz vom ausgeschlossenen Dritten (wahr) ist.²²⁰ Diese ANR, S. 201, 291 f. Vgl. z. B. die Texte über entia rationis in F. Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt, Bd. 2: Die Klassifikation der psychischen Phänomene, mit Einleitung, Anmerkungen und Register hrsg. v. O. Kraus, Leipzig, Meiner, 1925, WE oder ANR. Brentano teilt diese These auch in seiner Wiener Zeit bis um die Jahrhundertwende (vgl. z. B. den Text über das Seiende als Wahres, dessen Abfassungszeit dem Herausgeber zufolge nicht nach 1902 fällt (WE, S. 30 ff.)). Vgl. S. th. Ia, q. 3, a. 4 ad 2, und Brentanos Äußerungen dazu in M 96, die von Kraus in seiner Anmerkung zu WE abgedruckt sind (WE, S. 219); vgl. auch Hedwig, „‚… eine gewisse Kongenialität‘…“, S. 119 f.; vgl. auch Anm. 98 S. 180, im zweiten Teil dieser Arbeit. ANR, 291 f.; An. Post., I 1, 71 a 12– 14, und Detels Anmerkung dazu; MBS, S. 34.
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
Äußerung hatte Brentano so verstanden, als ob „ist“ im Sinne des Wahren, d. h. als Zustimmung zu einer Vorstellung, denselben Sinn – nämlich die Anerkennung der Existenz von etwas – wie das existentiale „ist“ im Satz „Ein Baum ist“ habe. Dementsprechend könnte ein ens rationis, etwa ein Urteil, das behauptet, dass jedes ens rationis (z. B. jede Negation) mit sich selbst identisch ist, in demselben Sinne als eine erste Substanz im aristotelischen Sinne anerkannt werden, auch wenn sie nicht in demselben Sinne existieren. So erkennt denn das existentiale „ist“ für den jungen Brentano auf dieselbe affirmative Weise sowohl das veritative als auch das kategoriale Seiende an.²²¹ Aus der grundlegenden metaphysischen Trennung zwischen eigentlichen und uneigentlichen Bedeutungen des Seienden ergibt sich mithin keine Konsequenz angesichts ihrer Anerkennung oder Verwerfung, weil jede von ihnen Objekt einer wahren affirmativen Aussage werden kann (in der Dissertation) oder als Subjekt oder Prädikat eines solchen Urteils aufzutauchen vermag (in M 96). Das folgende Zitat aus Brentanos Vortrag über die Wahrheit (1889), in dem der Begriff des „Existierenden“ für alle Objekte einer affirmativen Aussage steht, ist für diese Position Brentanos aufschlussreich: Das Gebiet, für welches die bejahende Beurteilungsweise die passende ist, nennen wir nun das Gebiet des Existierenden, ein Begriff, der also wohl zu unterscheiden ist von dem Begriffe des Dinglichen, Wesenhaften, Realen; das Gebiet, für welches die verneinende Beurteilungsweise die passende ist, nennen wir das des Nichtexistierenden.²²²
Seiner späten reistischen Theorie zufolge gibt es dagegen nur das reale Seiende und nur dieses kann vorgestellt und mittels eines existentialen „ist“ anerkannt werden, während alle entia rationis zu verwerfen sind.Wenn jemand, so Brentano, an ein ens rationis, etwa einen Zentauren denkt, dann ist das, was hier im eigentlichen Sinne ist und gedacht wird, ein an einen Zentauren Denkender, der die Existenz von Zentauren im modus praesens leugnet.²²³ Um diese Position, die den
Vgl. auch WE, S. 128 f. WE, S. 24; für Brentanos spätere Haltung zu diesem Begriff vgl. WE, S. 79 f. F. Brentano, Von der Klassifikation der psychischen Phänomene (KPP) (1911), in F. Brentano, Sämtliche veröffentlichte Schriften, Bd. 1, Th. Binder, A. Chrudzimski (Hrsg.), Frankfurt a. M., Ontos, 2008, S. 409 f. Ich lasse mich hier nicht auf die Diskussion von Brentanos reistischer Position ein, die nach dem zweiten Weltkrieg Jahrzehnte lang im Vordergrund der Untersuchung stand (vgl. z. B. ANR und die Einleitung dazu von Mayer-Hillebrand). Dies stand eng damit in Verbindung, dass die Herausgeber von Brentanos Werken zwischen den zwei Weltkriegen (O. Kraus und A. Kastil) und in den ersten zwei Jahrzehnten der Nachkriegszeit (F. Mayer-Hillebrand) Anhänger dieser Auffassung Brentanos waren, die für die einzig richtige gehalten wurde. Aus diesem Grund schenkten sie der Veröffentlichung von Brentanos späteren Texte besondere Aufmerksamkeit und griffen in seine frühen Manuskripte ein, bearbeiteten und gaben sie so heraus,
I.3.7 Homonymie des Seins in der Metaphysikvorlesung
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Verzicht auf die Lehre der entia rationis als Gegenstand des wahren affirmativen Aussagens bedeutet,²²⁴ zu erhärten, verändert Brentano eine wichtige These seiner Psychologie, und zwar die These, die intentionale Beziehung der Vorstellung sei ein und dieselbe und lasse keine weiteren Differenzierungen zu. Nach 1900 verzichtet er auf sie und führt die These über die Modi des Vorstellens ein, was bedeutet, dass er jetzt zwei intentionale Beziehungen der Vorstellung anerkennt, eine in recto und eine in obliquo. ²²⁵ Mit ihrer Hilfe kann er jeden Satz, der sich auf entia rationis bezieht, auf einen Satz über das Seiende im eigentlichen Sinne (in diesem Fall über einen psychisch Tätigen) zurückführen: Wenn sich jemand ein ens rationis (z. B. einen Zentauren) vorstellt, dann stellt er in modo recto einen psychisch Tätigen vor, der in modo obliquo das betreffende ens rationis leugnet.²²⁶ Auch wenn der späte Brentano alle entia rationis auf diese Weise eliminiert, erkennt er doch an, dass sie ähnlich den Fiktionen der Mathematiker die Operationen unseres Denkens erheblich erleichtern.²²⁷
I.3.7.5 Über den Begriff des Inhalts in der Vorlesung über deduktive und induktive Logik und die Entstehung von Brentanos früher Lehre über die entia rationis in seiner Dissertation und in M 96 Werfen wir nun einen kurzen Blick auf Brentanos eigene Erklärungen hinsichtlich der Genesis seiner Theorie über die entia rationis, um sie daraufhin unter dem Gesichtspunkt seiner Ausführungen in der Dissertation und in M 96 zu bewerten. In einem Brief von 1909 an Oskar Kraus behauptet Brentano:
dass sie dem späten reistischen Standpunkt Brentanos entsprachen. Dagegen legen die Herausgeber der in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts erschienenen Werke Brentanos großen Wert darauf, den Originaltext treu zu veröffentlichen, ohne editorische Eingriffe und ohne Privilegierung seines Spätwerkes (vgl. GMPh (1980), DPs (1982), ÜA (1986), GPhN (1987), ÜEM (1988)). Wie gesagt geht diese Lehre auf Thomas’ These, alles, was Objekt einer wahren affirmativen Aussage werden könne, gehöre zum Bereich des Seienden als Wahren, und auf Aristoteles’ Ausführungen über homonyme Aussageweisen des Seienden, die in Sätzen wie „Das Nichtseiende ist ein Nichtseiendes“ zur Sprache kommen, zurück. KPP, S. 391 f., 399 f.; ANR, S. 202 f. KPP, S. 391 f., 409 f. Brentano kommt auf diesen Gedanken in seinen Erläuterungen über das Seiende als Wahres in M 96 zurück, ohne aber daraus einen zentralen Punkt seiner Analyse zu machen: „*Auch bei ein Hund ist gedacht kann ich nicht statt dessen [sagen:] ein gedachter Hund ist, wohl aber: ein einen Hund denkender ist. […]*“ (M 96, Bl. 31951, die Hinzufügung in eckigen Klammern stammt von dem Herausgeber der Vorlesung, W. Baumgartner). KPP, S. 413, 417 ff.
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
[…] es ist richtig, daß ich einst, so wie Marty es tut, Inhalte von Urteilen behandelte, als wenn sie wie Dinge Gegenstände von Vorstellungen, Urteilen und Gemütsbewegungen werden könnten. Damals wurde mir auch ein gewesener Mensch, ein zukünftiger Mensch zu einem Gegenstand der Anerkennung, und Möglichkeiten wie Unmöglichkeiten ließ ich, wie Marty es noch tut, in unendlicher Vielheit von Ewigkeit bestehen. Das also war einmal wirklich meine Überzeugung, wirklich meine Lehre. In meiner Psychologie vom empirischen Standpunkt tritt sie auf deutlichste hervor. Das negative Prädikat wird ganz so wie ein positives Merkmal behandelt […].²²⁸
Die Erwähnung der Psychologie ist in diesem Zusammenhang deswegen von Bedeutung, weil sie darauf hinweist, dass die im eben angeführten Passus dargestellte Lehre nicht nur mit seinen jugendlichen exegetischen Schriften über Aristoteles, sondern auch mit seiner eigenen philosophischen Auffassung zu tun hat, sowie sie in der Vorlesung Deduktive und induktive Logik von 1869/70 oder in der Arbeit von 1874 dargestellt wird. Dieser Vorlesung zufolge sind die Inhalte die Korrelate der psychischen Akte der Urteile genauso wie die immanenten Objekte die Korrelate der Vorstellungen sind.²²⁹ Als solche machen sie die Bedeutung des sprachlichen Ausdrucks des Urteils aus: Brentanos Meinung nach ist jeder sprachliche Ausdruck eines psychischen Phänomens (die Aussage für das Urteil, der Name für die Vorstellung) ein Zeichen dafür, dass derjenige, der ihn ausspricht, das betreffende Phänomen erlebt oder es innerlich wahrnimmt.²³⁰ Darüber hinaus bedeutet er etwas. Der Name „Mensch“ bedeutet den Sinn („vernünftiges Wesen“) der mit ihm assoziierten Vorstellung, die Aussage den Inhalt des ihr entsprechenden psychischen Phänomens des Urteils, der zeigt, dass das vorgestellte Objekt anzuerkennen oder zu verwerfen ist. Die Aussagen „Gott ist“ und „Es gibt kein Chamäleon“ zeigen an, dass in demjenigen, der sie ausspricht, die psychischen Phänomene der entsprechenden Urteilsklasse stattfinden, und bedeuten, dass die vorgestellten Objekte (Gott und das Chamäleon) anzuerkennen
ANR, S. 202. EL80.13.132. Ich beziehe mich hier nicht auf Brentanos Psychologie, sondern auf das erwähnte Logik-Kolleg, weil sich Brentano darin mit dieser Frage ausführlich befasst, während er in der Psychologie das Augenmerk auf andere Aspekte seiner Urteilstheorie legt – auf die Zurückführbarkeits-These, auf den nichtwirklichen Charakter von „ist“, auf die intentionale Beziehung des Urteils. Es sei noch bemerkt, dass Brentano den Ausdruck „Korrelat“ nicht in den beiden genannten Werken, sondern in seiner Deskriptiven Psychologie verwendet (F. Brentano, Deskriptive Psychologie (DPs), W. Baumgartner, R. M. Chisholm (Hrsg.), Hamburg, Meiner, 1980, S. 21 f.). Ich benutze ihn hier jedoch, weil für diesen Zusammenhang recht passend ist. Vgl. dazu auch die über mehr als 30 Jahre später geschriebenen Texte, in denen Brentano dieselbe Position wie im Logik-Kolleg bezieht (WE, S. 76, 81; vgl. auch den dritten Teil dieser Arbeit, S. 469).
I.3.7 Homonymie des Seins in der Metaphysikvorlesung
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oder zu verwerfen sind.²³¹ „Ist“ und „ist nicht“ lassen sich mithin auf drei unterschiedlichen Ebenen interpretieren: (i) auf sprachlicher Ebene als Bestandteil des sprachlichen Ausdrucks des Urteils, der Aussage, wo sie als Bejahung oder Verneinung die Form oder die Qualität des Urteils ausmachen: Als „synkategorematisches Existenzialzeichen“ ergänzen „ist“ und „ist nicht“ den Ausdruck der Vorstellung (den Namen) zum Ausdruck eines Urteils („Gott ist“, „Das Chamäleon ist nicht“);²³² (ii) auf psychologischer Ebene der in der inneren Wahrnehmung erlebten mentalen Zustände, wo sie die intentionale Beziehung des Urteils, also die Tatsache, dass das Urteil entweder anerkennend oder verwerfend ist, bestimmen;²³³ (iii) auf Ebene der Bedeutung oder des Inhalts des Urteils, wo sie anzeigen, wie die Gegenstände zu beurteilen sind, d. h., ob sie anzuerkennen oder zu verwerfen sind: „Die Bedeutung einer Aussage sagt durch den Ausdruck ist, dass über einen gewissen Gegenstand so zu beurteilen sei, wie er in dem durch sie ausgedrückten Urteil beurteilt wird.“²³⁴ Die Verhältnisse der drei Ebenen zueinander sind die folgenden: Die Aussage drückt das Urteil aus, zeigt es an und sagt seine Bedeutung aus. Da aber das von der Aussage angezeigte Urteil seinerseits seinen Inhalt anzeigt oder kundtut, zeigt die Aussage mittelbar, d. h., weil sie das Urteil anzeigt oder kundgibt, zugleich den Inhalt des Urteils, oder: die Aussage bedeutet ihn. Der Inhalt zeigt weiter an, wie der Gegenstand der Vorstellung, auf den sich das Urteils mittels seines „ist“ oder „ist nicht“ bezieht, zu beurteilen ist – die Aussage „Gott ist“ zeigt an, dass derjenige, der sie ausspricht, das betreffende psychische Phänomen des Urteils erlebt, welches seinerseits seinen Inhalt anzeigt, die Tatsache, dass Gott anzuerkennen ist. Dieser Gegenstand der Vorstellung und, weil das Urteil sie als ihre Grundlage nimmt,²³⁵ auch des Urteils, ist derjenige, der vom Urteil anerkannt oder verworfen wird. Der Inhalt des Urteils dagegen wird nicht beurteilt, sondern vom Urteil unmittelbar und von der Aussage mittels des Urteils angezeigt.²³⁶ Die In-
EL80.13.132 ff. EL80.13134 f.; 13.288 f.; 13.293. EL80.13.132; vgl. auch 13.194. Wie wichtig das existentiale Urteil für Brentano ist, lässt sich auch der Tatsache entnehmen, dass er die Urteile nach ihrer „Ausdrucksform“ in zwei Klassen unterteilt, die existentialen und die nichtexistentialen Urteile (EL.13.288). EL80.13.132. EL80.13.130; 13.133. Das Fundierungsgesetz psychischer Phänomene bei Brentano lautet: Jedes psychische Phänomen ist entweder eine Vorstellung oder hat eine Vorstellung zur Grundlage (PeS, S. 97). In diesem Zusammenhang spricht Brentano von einer doppelten Anzeige (EL80.13.132). Stumpf, der Brentanos Vorlesung Deduktive und induktive Logik besuchte, berichtet, dass Brentano „sowohl bei den Namen, wie bei den Aussagen das, was sie ausdrücken (die psychischen Funktionen, die sich in ihnen kundgeben) [unterscheidet; Hinzufügung I. T.] von dem, was sie
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
halte als Korrelate der Urteilsakte, die in der einschlägigen zeitgenössischen Literatur als „Gedanken“ (bei Frege) oder „Objektive“ (bei Meinong) betrachtet werden, gehören zum Bereich des Existierenden und werden vom späten Brentano entschieden abgelehnt.²³⁷ Was nun die Relevanz von Brentanos Ausführungen über das Seiende als Wahres in der Dissertation für das eben dargestellte Thema betrifft, soll von vornherein unterstrichen werden, dass jene Ausführungen von den Thesen seiner idiogenetischen Urteilstheorie weit entfernt sind.²³⁸ Das besagt aber nicht, dass sie nicht unter dem Gesichtspunkt der angeführten Stelle aus dem Brief an Kraus gelesen werden können. Die Ergebnisse einer solchen Lektüre lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Auch wenn Brentano in seiner Dissertation nicht von Inhalten von Urteilen spricht, betrachtet er die Urteile ausdrücklich als Gegenstand anderen Urteile – die erste veritative Bedeutung des Seienden hat genau dies zur Konsequenz, indem mittels ihr ein ganzes Urteil als wahr betrachtet wird. In diesem Zusammenhang geht Brentano im veröffentlichten Text zwar nicht die Frage des existentialen „ist“ an,²³⁹ er bedient sich aber der erwähnten Stelle vom Anfang der Zweiten Analytik, um diese erste veritative Bedeutung des Seienden hervorzuheben, d. h., um diejenige Verwendung von „ist“ ins Licht zu rücken, die nicht in einer affirmativen Behauptung über das kategoriale Seiende, sondern in der Bezeichnung der Wahrheit eines Urteils besteht.²⁴⁰ Darüber hinaus beschäftigt sich Brentano in seinem ersten Werk ausführlich mit derjenigen Facette der Homonymie des Seins, die in den affirmativen Aussagen über die Negationen zur Sprache kommt und welche die Negationen und Privationen als positive Prädikate behandelt.²⁴¹ Unter diesem Gesichtspunkt ist es aufschlussreich, dass ein wichtiger Teil seines Kommentars zu Met. V 7 gerade geschrieben wurde, um die Möglichkeit affirmativer wahrer Aussagen über solche entia rationis wie Negationen, Jupiter usw. in den Mittelpunkt zu stellen. Man sieht also, dass sich Brentano, obwohl er in der Dissertation die Inhalte von Urteilen nicht zur Diskussion stellt, sehr wohl mit der Veranschaulichung der Homonymie des Seins durch affirmative Aussagen über entia rationis beschäftigt.
bedeuten. Eine Aussage bedeutet, daß Etwas anzuerkennen oder zu verwerfen sei. Dies nannte Brentano den Urteilsinhalt. Er kann sprachlich in infinitivischer Form oder in Daß-Sätzen ausgedrückt werden.“ (Stumpf, a. a. O., S. 106 f.) Chrudzimski, a. a. O., S. 77; vgl. auch Kraus’ Kommentar zu WE (S. 176). Angesichts dieses Problems vertritt Sauer eine andere Position (vgl. Anm. 136 oben). In A.1.1.1, Bl. 24 führt Brentano Beispiele von existentialen Urteilen an, aber beschäftigt sich nicht ausdrücklich mit der Frage des existentialen „ist“. MBS, S. 34. MBS, S. 38.
I.3.7 Homonymie des Seins in der Metaphysikvorlesung
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Was die Analyse des Seienden als Wahren in M 96 betrifft, so wurde oben schon darauf hingewiesen, dass sie in den Kreis der Entstehung von Brentanos idiogenetischer Urteilslehre gehört. Die ausführlichen und wiederholten Erklärungen Brentanos über das kopulative und veritative „ist“, das die Wahrheit des Urteils bezeichnet, über den unwirklichen Charakter des „ist“, über die Zustimmung oder Verwerfung, die jedem kategorischen oder existentialen Urteil eigen sind, und auch sein wiederholter Rekurs auf die Beispiele von Nichtseiendem beweisen deutlich nicht nur, dass er in M 96 die Position der Dissertation weiterführt, sondern auch, dass er zugleich eine neue These im Sinne seiner eigenen Urteilstheorie aufstellt, z. B. dass im existentialen „ist“ kein wirkliches Prädikat steckt und dass es nur das Zeichen der Zustimmung zu einer Vorstellung ist, welches das Zeichen der Vorstellung (z. B. den Namen, „Gott“) zu dem des Urteils (z. B. der Aussage, „Gott ist“) macht. Hinsichtlich seiner Ausführungen über das Seiende als Wahres in den zwei Werken lassen sich die folgenden Unterschiede zwischen der Behandlung der entia rationis in ihnen hervorheben: Der Ansatz aus der Dissertation fokussiert auf das affirmative wahre Aussagen über Negationen und Privationen, ohne dass es in idiogenetischer Perspektive interpretiert wird. Dieser Ansatz wird innerhalb seiner Diskussion der Homonymie des Seins in Met. IV 2 („Das Nichtseiende ist ein Nichtseiendes“) deutlich von Aristoteles zur Sprache gebracht und weiter in Thomas’ Ausführungen in den oben genannten Schriften (De Ente et Ess., In V Met.) über das Seiende als Wahres als Objekt einer wahren affirmativen Aussage entfaltet. Brentanos Analyse des Seins der Kopula in der Dissertation entwickelt Thomas’ Position weiter, indem er neben dem kategorialen Seienden auch den Bereich des „bloß objectiv im Geiste Existirenden“ akzeptiert und die Frage nach der Homonymie des Seins ausdrücklich auf dieser Ebene aufrollt. Dabei spielt Met.V 7, 1017 a 1031– 35 eine besondere Rolle, weil Brentano aufgrund dieser Stelle und unter dem Einfluss von Thomas’ Äußerungen über die Rolle der Kopula darin die Frage nach dem Sein der Kopula in die Dissertation einführt und sie in die Richtung des sich nur im Geiste befindenden Seienden entwickelt. In diesem Zusammenhang bezieht er sich auch auf An. Post. I 1, 71 a, aber er tut dies, um die erste veritative Bedeutung des Seienden zu illustrieren, und schreibt ihr keine besondere Rolle zu. Dabei sollte mit Nachdruck betont werden, dass sich Brentanos ganze Analyse des Seienden als Wahren in der Dissertation auf die These von Aristoteles, Thomas von Aquin (und unter dem Gesichtspunkt seiner späteren Erklärungen auch J. St. Mill) stützt, das Urteil sei wesentlich Prädikation. Sein Rückgriff auf Met. V 7 und Thomas’ Kommentar dazu, mit dem Ziel, die Seinshomonymie auf der Ebene des nur im Geiste Existierenden zu veranschaulichen, gilt nur unter dieser Voraussetzung.
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
Vor diesem Hintergrund lässt sich die Position, die Brentano in M 96 angesichts der Behandlung des Urteils bezieht, als ein Übergangsstadium zwischen der traditionellen Auffassung vom Urteil in der Dissertation und in seiner eigenen Theorie über das Urteil in der Psychologie vom empirischen Standpunkt betrachten, wo er diese klar von der hergebrachten Lehre vom Urteil trennt und wiederholt die Vorteile seiner Auffassung betont. In diesem Sinne ist es beachtenswert, dass er in M 96 in Bezug auf das kopulative „ist“ die Idee wieder aufnimmt und auch auf das Prädikat des Urteils anwendet, alles was Subjekt (oder Prädikat) in einer affirmativen Aussage sein könne, gehöre zum Seienden als Wahren. Allerdings ist diese These – und das ist entscheidend für die Richtung seiner Analyse – in M 96 aus der Perspektive seiner idiogenetischen Urteilstheorie formuliert, weil das kopulativ-veritative „ist“ der affirmativen Aussage nicht nur die Wahrheit des Urteils bezeichnet, sondern auch als Zeichen der Zustimmung zu einer Vorstellung interpretiert wird.Was das existentiale „ist“ betrifft, thematisiert es Brentano in M 96 nicht als Ergebnis der Zurückführbarkeit eines kategorischen auf ein existentiales Urteil wie in der Psychologie. Die Analyse des existentialen Satzes zeigt aber deutlich, dass seine diesbezügliche idiogenetische These in der genannten Schrift mit voller Kraft am Werke ist, wird doch das existentiale „ist“ als Träger der intentionalen Beziehung des Urteils, nämlich als Zeichen der Anerkennung oder Verwerfung des vorgestellten Gegenstandes, behandelt. Auch wenn die folgende Äußerung Brentanos: „[…] denn das ist und ist nicht und was es bezeichnet, was doch gerade das Urtheil zum Urtheil macht, ist nicht in den Dingen“,²⁴² sowohl für das kopulative als auch für das existentiale „ist“ gilt, lässt sich ihre Bedeutung angesichts des letzteren „ist“ besonders deutlich hervorheben, weil sie klar die Stellung des Urteilenden gegenüber dem vorgestellten Gegenstand betont. Darüber hinaus erweitert sich der sprachliche Ausdruck einer Vorstellung durch die Hinzufügung des „ist“ zum Ausdruck eines Urteils, das die Existenz des vorgestellten Objektes annimmt, z. B. „Der grüne Baum ist“. Wenn man nun die angeführte Stelle aus Brentanos Brief an Kraus in Verbindung mit seiner Kritik an Thomas’ Auffassung des actus essendi liest,²⁴³ dann lassen sich mehrere Aspekte unterscheiden, die für die Entstehung seiner Auffassung vom existentialen „ist“ in M 96 wichtig sind: zum einen die metaphysische Perspektive der Analyse der Homonymie des Seins auf der veritativen Ebene, wo die Aufmerksamkeit darauf gerichtet ist, die unwirklichen Facetten des Sei-
M 96, Bl. 31951. Vgl. oben S. 118 f.
I.3.7 Homonymie des Seins in der Metaphysikvorlesung
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enden, z. B., dass das „ist“ kein wirkliches Prädikat ausdrückt, hervorzuheben;²⁴⁴ zum anderen und damit eng verbunden, die Zurückweisung von Thomas’ These über das existentiale „ist“ als substantielles Prädikat oder, in der Arbeit von 1874, als Prädikation von der Existenz (Mill) und seine Interpretation als Zeichen der Zustimmung zu einer Vorstellung. Unter diesem Gesichtspunkt werden die entia rationis nicht weiter als Objekt einer wahren affirmativen Prädikation, sondern als Gegenstand einer Anerkennung oder Verwerfung thematisiert. Die Veränderung, die in der Art und Weise erfolgt, in der Brentano den Grundzug des Urteils versteht, wirkt sich also auf die Art und Weise aus, in der er die entia rationis behandelt. Wie schon erwähnt, ist die Folge dieses neuen Ansatzes in Bezug auf die Frage des Urteils die Verlagerung seines Interesses von den aristotelischen Texten über die Korrespondenztheorie der Wahrheit hin zu den Texten über die Wahrheit als Erfassen des Unzusammengesetzten, das Brentano als Anerkennen im Sinne seiner Urteilstheorie versteht. Mit Blick auf diese Frage ist es beachtenswert, dass Brentano sich weder in M 96 noch in seiner Psychologie auf An. Post. I 1 bezieht. Die enge Verbindung, die er zwischen dieser Stelle und Thomas’ Interpretation des Satzes „Deus est“ im Sinne des Seienden als Wahren im Brief an Kraus herstellt und sein wiederholter Rekurs sowohl in M 96 als auch in seiner Psychologie gerade auf die erwähnte Stelle der Summa Theologiae ²⁴⁵ zeigen jedoch, dass das, was Brentano in diesem Brief über die anerkennende Funktion des „ist“ sagt, auch für M 96 gilt. Darüber hinaus bemerkt man, wenn man Brentanos Ausführungen über das kopulative „ist“ in M 96 im Lichte seiner Analyse des Seins der Kopula aus der Dissertation liest, dass ihn nicht nur die eben erwähnten Stellen dazu veranlasst haben, über die entia rationis etwas „so Irriges zu lehren“.²⁴⁶ Auch wenn er sich im Brief an Kraus nicht darauf bezieht, sollten Aristoteles’ Ausführungen in Met. IV 2 über das Nichtseiende, das ein Nichtseiendes ist, in Met. V 7 über das kopulativ-veritative „ist“ (iii1 oben), und auch Thomas’ Kommentar dazu eine Rolle bei der Entstehung seiner irrigen Lehre gespielt haben, weil sie in Form der These, alles, was Objekt einer wahren affirmativen Aussage werden könne, gehöre zum Seienden als Wahren, im Hintergrund von Brentanos Erörterungen über die anerkennende Funktion des „ist“ in M 96 stehen. Neben der ausführlichen psychologischen Aufarbeitung des idiogenetischen Aspektes des Urteils ist Brentanos Analyse des Seienden als Wahren in M 96 auch
Auch wenn die Logik und in M 96 auch die Psychologie diejenigen Disziplinen sind, die sich mit den logischen Bedeutungen des Seienden zu befassen haben, kommt das Studium dieser Bedeutungen auch der Metaphysik zu, weil eine ihrer wichtigsten Aufgaben darin besteht, die Frage der Homonymie des Seins zu klären. S. th. Ia, q. 3, a. 4 ad 2. ANR, S. 291.
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
deshalb wichtig, weil er darin die aristotelische Korrespondenztheorie der Wahrheit einer Kritik unterzieht, innerhalb derer er Behauptungen aufstellt, die er nach Jahren in seinem Vortrag über die Wahrheit (1889) wieder aufnimmt und die ihn schließlich und endlich zu einem anderen, dritten Wahrheitsbegriff, dem der Evidenz, führen werden.²⁴⁷ Da mein Thema hier nicht die aristotelische Theorie der Wahrheit, sondern die Frage nach der Homonymie des Seins ist, gehe ich nicht auf die Einzelheiten von Brentanos Kritik ein, sondern begrenze mich auf die Bemerkung, dass er in M 96 mit zwei Fassungen dieser Theorie arbeitet: eine, die von Aristoteles in Met. VI 4 und Met. IX 10 im Hinblick auf das Getrennt- oder Verbundensein der Dinge als Wahrmacher der auf sie bezogenen Urteile entwickelt wird, und auf der anderen Seite Thomas’ Charakterisierung der Wahrheit als adaequatio rei et intellectus. ²⁴⁸ Letztere Theorie ist für Brentano deshalb von Bedeutung, weil sie ihm erlaubt, die Wahrheit als Übereinstimmung zwischen der Wirklichkeit und der Vorstellung zu interpretieren, der im Urteil zugestimmt wird oder nicht – der Vorstellung eines grünen Baumes kann zugestimmt werden, der von Jupiter nicht.²⁴⁹ Hinzu kommt, dass Brentano dabei schon auf eine zentrale Idee seines späteren Vortrags kommt, und zwar auf die Behauptung, dass der schwache Punkt der Korrespondenz-These darin bestehe, dass sich eine Menge Beispiele anführen lassen, in denen man nicht von einer Übereinstimmung zwischen dem Urteil/der Vorstellung und der Wirklichkeit sprechen kann.²⁵⁰ Brentanos Kritik am aristotelischen Wahrheitsbegriff geht im Vortrag „Über den Begriff der Wahrheit“²⁵¹ genauso wie in M 96 von solchen Beispielen aus: wahre negative Urteile, Urteile, die sich auf Objekte beziehen, die nicht wirklich existieren (z. B. Jupiter, Zentauren), Urteile über zukünftige oder vergangene Ereignisse usw.²⁵² Der Vortrag kennzeichnet den Versuch, die aristotelische Korrespondenztheorie so umzubilden, dass sie auch auf solche Fälle anwendbar wird. Brentanos Idee dabei besteht darin, die Übereinstimmung zwischen Verstand und Ding mit dem Gedanken des passenden, entsprechenden Verhaltens des Urteils in Hinsicht auf sein Objekt zu ersetzen – wenn wir z. B. mit realen Dingen zu tun haben, dann wird dasjenige Urteil wahr sein, dass sich positiv zu ihnen verhält und infolge dessen die Existenz solcher Dinge anerkennt, etwa „Ein grüner Baum ist“. Wenn wir uns andererseits
WE, S. 18 – 29, 121– 150. M 96, Bl. 31949. M 96, Bl. 31950. M 96, Bl. 31950 ff. In WE, S. 3 – 29. Heidegger hat diesen Text gekannt (vgl. Sein und Zeit, Tübingen, Niemeyer, 13 1976, S. 215 und WE, S. 13). WE, S. 22 ff.
I.3.7 Homonymie des Seins in der Metaphysikvorlesung
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mit Gedankendingen befassen, dann wird dasjenige Urteil wahr sein, das sich negativ zu ihnen verhält, indem es ihre Existenz verwirft: „Ein Zentaur ist nicht“. In beiden Fällen geht es um Urteile, die sich „passend“ oder „entsprechend“ im Hinblick auf ihre Objekte verhalten.²⁵³ Der Text über die Wahrheit von 1889 beruht auf Brentanos idiogenetischer Auffassung vom Urteil und auch auf der These, dass Gegenstände, die es nicht gibt, dennoch vorgestellt werden können. Mit dem Verzicht auf diese These nach 1900 und mit der Behauptung, nur die individuellen realen Dinge existieren und vorgestellt werden können, gibt Brentano auch die Wahrheitsdefinition von 1889 auf und geht zu einer Evidenztheorie der Wahrheit über, die das Augenmerk nicht mehr auf das passende oder entsprechende Verhalten zwischen Urteil und Objekt, sondern auf ein inneres Merkmal des psychischen Aktes des Urteils, auf seine Evidenz, legt. Dieser Auffassung zufolge, die durch ihren normativen Charakter gekennzeichnet ist, kann, wenn es zwei entgegensetzte Urteile über ein und dasselbe Objekt gibt, nur eines von ihnen wahr sein, und zwar dasjenige, das mit dem Urteil desjenigen (z. B. des Philosophen) übereinstimmt, der mit Evidenz urteilt.²⁵⁴ Auf diese Weise kommt Brentano zu einem anderen, dritten Wahrheitsbegriff, der von den am Anfang dieses Kapitels dargestellten zwei aristotelischen Wahrheitsbegriffen verschieden ist.²⁵⁵ Abschließend sei noch bemerkt, dass im Unterschied zur Dissertation, wo er keine vollständige Liste der entia rationis anbietet, sondern Beispiele von Gedankendingen nur deswegen in die Diskussion einführt, um die Idee der Homonymie des Seins auf der Ebene des „bloß objectiv im Geiste Existirende“ zu veranschaulichen, Brentano in M 96 eine ausführliche, quasi vollständige Liste
WE, S. 25 ff. In seinem Kommentar dazu weist Kraus darauf hin, dass Brentano darin die Lehre von der Übereinstimmung zwischen Verstand und Ding „durch eine Lehre von der Adäquation (dem Passendsein, Zutreffendsein) des Denkens und des Existierenden bzw. Nichtexistierenden“ ersetzt hat (WE, S. 175 f.). WE, S. 132– 139. Zum Wahrheitsbegriff Brentanos vgl. J. Srzednicki, Franz Brentano’s Analysis of Truth, Den Haag, Nijhoff, 1965, besonders S. 18 – 29, 67– 110; R. Kamitz, „Franz Brentano. Wahrheit und Evidenz“, in J. Speck (Hrsg.), Grundprobleme der großen Philosophen: Philosophie der Neuzeit III, Göttingen, Ruprecht, 1983, S. 160 – 197; S. Krantz, „Brentano’s Revision of the Correspondence Theory“, Brentano Studien 3 (1990/1991), S. 79 – 89; M. van der Schaar, „Brentano on Logic, Truth and Evidence“, Brentano Studien 10 (2002/2003), S. 119 – 150; Ch. Parsons, „Brentano on Judgment and Truth“, in D. Jacquette (Hrsg.), The Cambridge Companion to Brentano, S. 168 – 196; J. Seifert, „Eine kritische Untersuchung der Brentanoschen Evidenztheorie der Wahrheit“, Brentano Studien 12 (2006/2009), S. 307– 356; F. Boccaccini, ‚La vérité efficace: l’origine du concept de vrai chez Brentano entre Evidenzphilosophie et pragmatisme‘, in I. Tănăsescu (Hrsg.), Franz Brentano’s Metaphysics and Psychology, S. 419 – 452.
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
solcher Entitäten erstellt, die nicht unter den Begriff des Seienden im eigentlichen, realen Sinne fallen: 15. Ausgeschlossen von ihm [von dem realen Seienden; Hinzufügung I. T.] sind: 1. willkürliche Fiktionen, Ausgeburten der Phantasie oder eines irrgeleiteten Verstandes wie Jupiter, Venus, Centaure, Chamäleon 2. wissenschaftliche Fictionen, wie die imaginaeren Grössen, das unendlich Kleine, der leere Raum (der Anschaulichkeit dienend), Grenzen (Linien, Punkte, Flächen, Momente u. s. f.) […] 3. Farbe, Ton, oder Farbiges, Tönendes (auch in dem Sinne von: etwas, was Farbenerscheinung erwecken kann) weil sie nur unähnliche Zeichen sind (hierher vielleicht auch Dunkel und leerer Raum) 4. die Scheinprädikate der Zustimmung: seiend, nothwendig; und der Verwerfung der nothwendigen Falschheit: möglich 5. die Negativa: Nichts, leblos, […] und die Privativa: blind […] 6. *Potentialia:* Was wie Kraft, Fähigkeit , , habituelle Kenntnis, habituelle Tugend u. s. f. eigentlich blosse Möglichkeit eines realen Seins bezeichnet. […] 7. Was wie z. B. Leiche, Thronfolger, u. dgl. eigentlich blosses Gewesensein oder Zukuenftigsein einer Realität besagt. 8. Die verba mentis: das Vorgestellte, das Behauptete. Ebenso, wovon wir sagen, dass es im Willen (im Herzen) sei, das Begehrte, Geliebte; ( auch das Gehasste) Es kann auch Nichtseiendem zukommen. Ebenso, das Gekonnte ( in der Macht ist) und was in Möglichkeit in etwas ist. 9. das Abgebildete, Gemalte als solches. 10. Das, was dem Vorgestellten, Behaupteten u. s. f. als solchem zukommt, in der Weise,wie es vorgestellt ist.Wie: Das Allgemeine, Gattung, Art, Subject, Praedicat u.dgl. […] 11. Die Collectiva und Divisiva, d. i. das, was man erhaelt, wenn der Verstand viele Dinge zu einer Einheit zusammenfasst, oder wenn er ein Ding in eine Vielheit scheidet, indem er das unvollständig Erfasste, so weit er es erfasst, als waere es vollständig und ein Ganzes fuer sich, praedicirt. a) Diese Collectiva und Divisiva, weil nur durch Thätigkeit des Verstandes gebildet, sind nicht eigentlich reale Seiende, sondern (höchstens) fiction cum fundamento in re.²⁵⁶
Wenn man bedenkt, dass sich Brentano in seinen letzten Jahren immer wieder mit der Frage der entia rationis beschäftigt, um seine späte Position über sie zu rechtfertigen, dann wird offensichtlich, dass wir es hier mit einem Problem zu tun haben, um dessen Lösung Brentano sein ganzes Leben lang aufgrund von verschiedenen Positionen gerungen hat: In der Dissertation ging er es auf der Basis einer von Thomas inspirierten These über entia rationis als Objekt wahrer affirmativer Aussagen an, während er sich nach 1904 fortwährend bemüht, diese
M 96, Bl. 31966 f.
I.3.8 Heidegger und die Frage nach dem „Sein der Kopula“
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anfängliche These zu entkräften, indem er die Urteile über entia rationis auf Urteile über das reale Seiende zurückführt.
I.3.8 Heidegger und die Frage nach dem „Sein der Kopula“ in Brentanos Dissertation Es ist erstaunlich, dass Heidegger trotz der erheblichen Rolle, die Brentanos Dissertation für seine akademische Bildung gespielt hat, in seiner Analyse der Kopula aus den Grundproblemen der Phänomenologie von 1927 mit keinem Wort den Beitrag von Brentanos Dissertation zu diesem Problem berührt.²⁵⁷ In dieser Vorlesung behandelt Heidegger ausführlich die diesbezüglichen Erklärungen von Hobbes, J. St. Mill und Lotze, ohne Brentano je auch nur zu erwähnen. All dem zum Trotz benutzt Brentano in seiner ersten Schrift wiederholt die Redewendung „das Sein der Copula“, um der Idee Ausdruck zu verleihen, dass der kategoriale Bereich nicht der einzige ist, über den wir sprechen können. Außer ihm gibt es noch den Bereich des „bloß objectiv im Geiste Existirenden“, für dessen Charakterisierung er gerade den erwähnten Ausdruck verwendet.²⁵⁸ Oben wurde bereits gezeigt, dass die Eigenart dieses Gebietes darin liegt, dass es aus Entitäten besteht, die keine kategoriale, wirkliche Natur des Seienden zur Sprache bringen, sondern imaginäre Wesen (Zentauren, Jupiter usw.), rationelle Verhältnisse (die Gleichheit) oder logische Begriffe (Genus, Spezies, Definition) darstellen. All diese Gebilde zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihren Grund nur in den Operationen des menschlichen Verstandes haben und keine kategoriale Bestimmung des Seienden ausdrücken.²⁵⁹ Wenn man nun Heideggers Analyse der Kopula bei Mill mit Blick auf Brentanos Behandlung derselben liest, dann wird deutlich, dass die von Heidegger behandelten Probleme des existentialen und des kopulativen „ist“ bei Mill genau die Probleme sind, die Brentano in seiner Analyse der Urteilstheorie Mills im zweiten Band seiner Psychologie vom empirischen Standpunkt angeht.²⁶⁰ Mills Theorie ist für Brentano äußert wichtig, weil sie ihm ein Hauptargument für eine zentrale These seiner eigenen Urteilstheorie – das Urteil sei der Vorstellung gegenüber ein eigentümliches psychisches Phänomen – bietet. Bekanntlich macht die Art der intentionalen Beziehung auf das Objekt das grundlegende Kriterium der Klassifikation Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie (SS 1927), Frankfurt a. M., Klostermann, 1997, S. 252– 321. MBS, S. 37 f. MBS, S. 38 f. PeS, S. 227– 242.
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I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
psychischer Phänomene bei Brentano aus. Anhand dieses von Brentano selbst geschaffenen Kriteriums lässt sich die These Mills gut veranschaulichen, dass das Urteil von der Vorstellung wesentlich verschieden sei, weil im Urteil ein Glauben involviert ist, der der Vorstellung fehlt. Darüber hinaus sind die Auffassungen Mills und Brentanos hinsichtlich der Kopula ähnlich. Laut Mill drückt die Kopula nichts Wirkliches aus – was ist z. B. in dem Satz „Die Zentauren sind Erfindungen der Poeten“ wirklich? –, sondern ist nur Zeichen des Prädizierens von etwas über etwas.²⁶¹ Wie schon angedeutet, drückt auch für Brentano die Kopula nichts Wirkliches aus, sondern ist genau wie die „objectiven Begriffe“ ein Verstandesding, das „außerhalb des Geistes“ nicht existiert.²⁶² Schließlich und endlich sollte noch hinzugefügt werden, dass Heidegger die Hauptthesen der Urteilstheorie Brentanos in seiner eigenen Dissertation, Die Lehre vom Urteil im Psychologismus (1914), genau analysierte und kritisierte und dabei sogar den Ausdruck „das Sein der Kopula“ verwendete. Wenn man die von ihm behandelte Urteilslehre Brentanos im zweiten Buch von Brentanos Psychologie verfolgt, dann wird die Wichtigkeit von Mills Analyse für Brentanos eigene Urteilstheorie deutlich.²⁶³ Unter diesen Umständen dürften wir erwarten, dass Heidegger an einem gewissen Punkt seiner Analyse der Kopula bei Mill Brentanos Beitrag zu demselben Problem erwähnen würde.²⁶⁴ Er tut dies aber nicht, auch wenn er später wiederholt behauptet, Brentanos Dissertation sei die erste philosophische Schrift gewesen, die er seit 1907 immer wieder durchgearbeitet habe. Diese Tatsache lässt mich vermuten, dass das, was er seit 1907 wiederholt studiert hat, nicht das Kapitel über das Seiende als Wahres, sondern die anderen Kapitel, vermutlich insbesondere das Kapitel über „das Seiende nach den Figuren der Kategorien“ war. Das bedeutet aber auch, dass Heideggers Wahrheitsauffassung andere geschichtliche Quellen hat als die aristotelische Wahrheitsauffassung, so wie sie von Brentano vermittelt wird.²⁶⁵
Heidegger, Die Grundprobleme, S. 274 ff.; vgl. auch SLRI I, S. 94 f./78 f. MBS, S. 218. Heidegger, Die Lehre vom Urteil im Psychologismus, in M. Heidegger, Frühe Schriften, Frankfurt a. M., Klostermann, 1978, S. 57– 67. Heidegger, Die Grundprobleme, S. 274. Wie sich Heideggers Äußerungen entnehmen lässt, war entscheidend für seine Interpretation der aristotelischen Wahrheitslehre und auch für die Bildung seines eigenen Wahrheitsbegriffs nicht die Auseinandersetzung mit Brentano, sondern die mit Husserl (s. dazu auch die Arbeit von E. Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin, De Gruyter, 1967). Es ist also nicht so, wie Krell behauptet, dass die Wahrheitsfrage ein Geschenk wäre, das ein junger Denker, Brentano, einem anderen jungen Denker, Heidegger, gemacht hätte (vgl. Krell, a. a. O., S. 79 – 87). Wenn die hier durchgeführte Analyse stimmt, dann spielte Brentanos Wahr-
I.3.8 Heidegger und die Frage nach dem „Sein der Kopula“
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Aufgrund des in den Abschnitten I.3.1–I.3.5 Gesagten können wir zwei mögliche Gründe anführen, weshalb Heidegger Brentanos Analyse der Kopula mit keinem Wort erwähnt. Ein wichtiger Grund scheint darin zu bestehen, dass die WahrheitsStelle der aristotelischen Metaphysik, die für Heidegger besonders wichtig war, und zwar die Stelle in Met. IX 10 über das Erfassen des Unzusammengesetzten, in Brentanos Dissertation keine besondere Aufmerksamkeit erfährt. Diese Stelle wird von Brentano zwar in die Debatte eingeführt und analysiert, aber gleich wieder beiseitegelegt,²⁶⁶ weil er sich weiter auf das Urteil als den eigentlichen Wahrheitsträger konzentriert, um seine Ausführungen darüber mit einer Diskussion über die Frage der Seinshomonymie auf der Ebene des „bloß objectiv im Geiste Existirenden“ zu beenden. Andererseits macht die erwähnte metaphysische Stelle für Heidegger den Gipfel der aristotelischen Metaphysik aus, und es spricht vieles dafür, dass das, was Heidegger in dem folgenden Passus sagt, auch für diese Stelle gilt: Was sich für die Phänomenologie der Bewußtseinsakte als das sich Bekunden der Phänomene vollzieht, wird ursprünglicher noch von Aristoteles und im ganzen griechischen Denken und Dasein als alētheia gedacht, als die Unverborgenheit des Anwesenden, dessen Entbergung, sein sich-zeigen.²⁶⁷
Der zweite Grund könnte darin bestehen, dass sich Brentanos Analyse der Kopula in eine ganz andere Richtung als die Analyse Heideggers bewegt. Wenn man Heideggers Erörterung darüber aus der Perspektive der Dissertation Brentanos liest, dann lässt sich sagen, dass die strikte Trennung zwischen dem, was in der Seele ist, und dem, was wirklich existiert (Met. VI 4), bei ihm nicht mehr gilt.²⁶⁸ Dagegen legt er die Betonung darauf, die Wahrheit und das Sein so zu denken, dass sie nicht mehr getrennt auftauchen, sondern zusammenspielen. Seine wiederholte Frage, wie das Sein des Seienden von alēthes her gedacht werden soll, ebenso wie seine Hochschätzung für Met. IX 10 weisen darauf hin.²⁶⁹ Was Brentano betrifft, schlägt er eine ganz andere Richtung ein. Auch wenn er sich vollkommen bewusst ist, dass die Kopula Bestandteil der kategorischen Urteile ist, wird das Hauptgewicht seiner Analyse darauf gelegt, dass die Kopula einen
heitsauffassung in seiner Dissertation gar keine Rolle für die Bildung von Heideggers Wahrheitsbegriff. MBS, S. 27 f. Heidegger, „Mein Weg …“, S. 87. Hinzu kommt, dass Heidegger an solch derivativen Bedeutungen des Seienden, wie den sich nur im Geiste befindenden Entitäten, zu wenig Interesse hat. Brentano wird diese Unterscheidung als Unterscheidung des realen Seienden und des Seienden als Wahren bis ans Ende seines Lebens aufrechterhalten (vgl. z. B. die Ausführungen in Kl). Logik, S. 179 f., 191.
130
I.3 Das Sein der Kopula und die „objectiven“ Begriffe
Bereich des Seienden erschließt, der keine wirkliche Natur des Seienden ausdrückt. Aus diesem Grund kann man der These, die Kopula bei Brentano sei der Ort, an dem sich das Denken den Dingen erschließe, nur mit Vorbehalt zustimmen.²⁷⁰ Eine genaue Lektüre von Brentanos Text zeigt vielmehr, dass das kopulative „ist“ für ihn der Ort ist, an dem das Denken sich sowohl den wirklichen als auch den unwirklichen Dingen öffnet. Aus diesem Grund führt Brentanos Analyse der Kopula nicht in die Fundamentalontologie Heideggers hinein, sondern dank ihrer Verbindung mit dem Terminus „objectiv“ in der Dissertation und dank der Anwendung dieses Begriffs auf die Interpretation der aristotelischen Wahrnehmungslehre in seiner Habilitationsschrift führt sie zur Intentionalitätsauffassung in seiner Psychologie vom empirischen Standpunkt²⁷¹ und von hier aus durch die Analysen Twardowskis vom Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen zur Gegenstandstheorie Meinongs und zu dem phänomenologischen Intentionalitätsbegriff Husserls. Wenn man von hier aus die aristotelische Metaphysik unter dem Gesichtspunkt der Fragestellungen betrachtet, die einen Einfluss auf Brentanos Dissertation und mittels dieser weiter auf die Bildung der frühen phänomenologischen Bewegung (Husserl und Heidegger) ausgeübt haben, so heben sich Aristoteles’ Ausführungen über die kategorialen und nichtkategorialen Facetten der Homonymie des Seins in Met. IV 2, 1003 b 5 – 10 besonders hervor, weil sie für die Entstehung von zwei Problemfeldern der frühen Phänomenologie, Husserls Intentionalitätsbegriff und Heideggers Denken über das Sein, besonders wichtig waren: Zum einen geht es um eine geschichtliche Linie, die mit der aristotelischen Äußerung über das Nichtseiende einsetzt, das ein Nichtseiendes sei (Met. IV 2, 1003 b 9 – 10), und die später die kontroversen mittelalterlichen Debatten über den affirmativen Status von Negationen und Privationen beeinflusst und generell das ens rationis prägt. Brentanos Bestimmungen des „objectiv“ Seienden in seiner Dissertation stehen in dieser Wirkungsgeschichte, die indirekt bis zur „intentionalen Inexistenz“ in seiner Psychologie weiterreicht und schließlich zu Husserls Auffassung von der Intentionalität führen wird. Zum anderen lässt sich dieselbe metaphysische Stelle aufgrund ihrer Erörterungen der kategorialen Facetten der Homonymie des Seins in Met. IV 2, 1003 b 5 – 8 auch in eine andere geschichtliche Linie einordnen, die mit dieser Stelle beginnt, mit Thomas’ Kommentar zu diesem Passus und zu Met. V 7, 1017 a 22– 30 weitergeführt wird, um schließlich von Brentano in seiner Dissertation aufgenommen zu werden
Aubenque, a. a. O., S. 169 f. Vgl. oben Anm. 174. Im letzten Teil meines Aufsatzes „Franz Brentano’s Dissertation …“ (S. 166 – 176) habe ich versucht, dieses letzte Problem mit der Frage der objektiven Begriffe in Brentanos Dissertation in Verbindung zu bringen, um zu zeigen, wie man von dieser Frage zum Intentionalitätsbegriff in Brentanos Psychologie und von hier aus weiter zu Husserls Phänomenologie übergehen kann.
I.3.8 Heidegger und die Frage nach dem „Sein der Kopula“
131
und von hier aus eine entscheidende Rolle in der Bildung der Frage nach dem Sein bei dem jungen Heidegger zu spielen. Damit können wir die aristotelische Stelle Met. IV 2, 1003 b 5 – 10 als gemeinsamen Ursprung von zwei zentralen Fragen Husserls und Heideggers betrachten. Darüber hinaus wird auch klar, dass Brentanos Dissertation nicht nur für den jungen Heidegger wichtig war, sondern für den Hintergrund von Husserls frühen Versionen und tentativen Fassungen der Intentionalität, die auf die Erläuterungen zum „bloß objectiv im Geiste Existirenden“ in Brentanos psychologischen Schriften zurückweisen.
I.4 Brentanos Dissertation und die katholische Wissenschaft I.4.1 Der Neuscholastiker Brentano Wir sind heute stark daran gewöhnt, Brentano unter dem Gesichtspunkt der heutigen brandaktuellen Themen zu betrachten, der Intentionalitätsproblematik, der philosophy of mind, der Mereologie und der formalen Ontologie, oder unter dem Gesichtspunkt des Empirismus, der mit seiner vierten Habilitationsthesis, „Die wahre Methode der Philosophie ist keine andere als die der Naturwissenschaft“,¹ gut in Verbindung zu bringen ist. Dabei erscheint seine frühe, intensive Auseinandersetzung mit Aristoteles und, eng damit verbunden, mit scholastischen Themen und Autoren, die für die katholische Wissenschaft von Bedeutung waren, als etwas, was nur von geschichtlichem Interesse ist. Allerdings wurde in der einschlägigen Literatur wiederholt darauf hingewiesen, wie wichtig diese Aspekte zur Charakterisierung des philosophischen Profils des jungen Brentano sind und wie tief die Denkmotive seiner frühen philosophischen Tätigkeit seine spätere Auffassung beeinflusst haben.² Das Folgende knüpft an die Arbeiten, die
F. Brentano, „Die Habilitationsthesen“ (1866), in ders., Über die Zukunft der Philosophie (ZPh), O. Kraus (Hrsg.), Leipzig, Meiner, 1929, S. 137. Der Grund weshalb ich hier nicht den Plural, sondern den Singular „Naturwissenschaft“ verwende wird aufgrund von folgender Bemerkung Hedwigs klar: Brentano „verwendet in der lat. Version der 4. HabilThese den Singular: „… nisi scientiae naturalis“. Sauer, Binder und auch ich nehmen an, dass in der von Kraus besorgten Ausgabe der deutschen Thesen-Übersetzungen einiges verändert, sozusagen aktualisiert und modernisiert worden ist, hier für These 4 der Übergang vom Sg. zum Pl.: „…als die der Naturwissenschaften“; […]. Wenn man die Sg. Version unterstellt, dann bezieht sich der Terminus scientia naturalis, wie auch andere Belege bestätigen, auf die moderne Naturphilosophie (Descartes, Locke, Leibniz) und letztlich auf die Physik des Aristoteles.“ (briefliche Mitteilung von 1.1. 2021). Für „den katholischen Charakter“ der frühen Aristoteles-Rezeption Brentanos und seinen Beitrag zur Erneuerung der katholischen Philosophie s. D. Münch, „Die Einheit von Geist und Leib. Brentanos Habilitationsschrift als Antwort auf Zeller“, Brentano Studien 6 (1995/96), S. 125 – 144, seine bahnbrechende Abhandlung „Franz Brentano und die katholische Aristoteles-Rezeption im 19. Jahrhundert“, in A. Chrudzimski, W. Huemer (Hrsg.), Phenomenology and Analysis. Essays on Central European Philosophy, Frankfurt a. M., Ontos, 2004, S. 159 – 198, und R. Schaefer, der Münch folgt, „Infallibility and Intentionality: Franz Brentano’s Diagnosis of German Catholicism“, Journal of the History of Ideas 68/3, S. 479 f.; vgl. auch die geschichtlich sehr gut fundierte, aufschlussreiche Darstellung von Brentanos früher Tätigkeit von E. und W. Baumgartner und Hedwig, wo der Entstehung zentraler Themen seiner Philosophie (der Intentionalität, der Mereologie usw.) besondere Aufmerksamkeit geschenkt und das familiale, soziale und geschichtlihttps://doi.org/10.1515/9783110524550-006
I.4.1 Der Neuscholastiker Brentano
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diesem Themenfeld gewidmet wurden, an und bringt Facetten von Brentanos früher philosophischer Tätigkeit ins Spiel, die mit seiner Dissertation in Verbindung stehen und für den weiteren Verlauf meiner Analyse bedeutsam sind. Dazu gehe ich davon aus, dass sich Brentanos erste aristotelische Arbeiten, die Dissertation und die Habilitationsschrift, auf zwei unterschiedlichen Ebenen interpretieren lassen: Zum einen gehören sie zu den wichtigsten Schriften der Aristoteles-Exegese der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zum anderen sind sie wichtige Beiträge zur katholischen Wissenschaft und zur deutschen Neuscholastik des 19. Jahrhunderts.³ Wie schon gesagt, legte diese philosophische Richtung großen Wert darauf, Aristoteles’ Denken unter dem Gesichtspunkt der katholischen Philosophie zu interpretieren und die Kommentare von Albert dem Großen und Thomas von Aquin zu diesem Zweck zu benutzen. Mit Blick auf diese Frage lässt sich sagen, dass Brentanos Programm, als Exeget des Stagiriten dem Verständnis der aristotelischen Philosophie neue Quellen (nämlich die Kommentare des Aquinaten) zu erschließen, diesem Desiderat der katholischen Wissenschaft genau entspricht: Brentano untermauert die Hauptthese einer notwendigen Deduktion der aristotelischen Kategorien seiner Dissertation, indem er ausdrücklich einen Kommentar der aristotelischen Metaphysik von Thomas von Aquin als Ausgangspunkt nimmt.⁴ Darüber hinaus machen die beiden Autoren für
che Milieu der Bildungsjahre des jungen Brentano gebührend berücksichtigt wird. Diese Arbeit ist auch deshalb von Bedeutung, weil darin wichtige Thesen Münchs, die Brentano und die katholische Philosophie zu eng miteinander verbinden, kritisch überprüft werden (a. a. O., S. 93 f.); zu demselben Themenfeld s. auch R. Schaeffler, Die Wechselbeziehungen zwischen Philosophie und katholischer Theologie, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1980, S. 17– 42, und E. Tiefensee, Philosophie und Religion bei Franz Brentano, Tübingen, Franke, 1998. Vgl. in dieser Hinsicht die oben erwähnte Rezension über seine Dissertation, die in der Zeitschrift Der Katholik veröffentlicht wurde. MBS, S. 181 f.; ALU, S. 1; in „Zur Methode aristotelischer Studien, und zur Methode geschichtlicher Forschung auf philosophischem Gebiet überhaupt“ (um 1893) äußerte sich Brentano deutlich über den Wert, die den mittelalterlichen Kommentaren, insbesondere denen von Thomas von Aquin, hinsichtlich des Verständnisses der obskuren Stellen Aristoteles’ zukommt: „6. In diesem Betracht stehen die erwähnten Erklärer [Bonitz, Zeller; Hinzufügung I. T.] ebensoweit hinter den Kommentatoren des Mittelalters zurück, als sie dieselben an philologischen Kenntnissen und an einer allgemeinen historisch kritischen Bildung übertreffen. Und nur dadurch ist es begreiflich, wie die verachteten Kommentare eines Thomas von Aquin einige der dunkelsten Lehrpunkte im Aristotelischen System viel richtiger in ihrem Sinn und viel tiefer in ihren Gründen erfassen konnten als unsere modernen Historiker es getan haben. – In meiner Mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles habe ich dies für das Prinzip der Kategorieneinteilung in einer Weise dargetan, daß Trendelenburg, der die Frage ganz besonders studiert hatte und gegen den meine Abhandlung ganze Bogen durch polemisierte, sich für überzeugt erklärte. Und in meiner Psychologie des Aristoteles glaube ich mit nicht minderer Sicherheit für die Lehre vom noūs
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I.4 Brentanos Dissertation und die katholische Wissenschaft
ihn den Gipfel der mittelalterlichen Philosophie aus, und, was Thomas von Aquin betrifft, so bemerkte schon der junge Brentano 1859, dass er sein „Patron und Führer […] Alpha und Omega“ sei. Hinzu kommt die folgende Stelle aus seiner Vorlesung über die mittelalterliche Philosophie aus dem Jahre 1870, die zeigt, dass sich Brentano damals trotz der Diskussion über die Infallibilität des Papstes als Vertreter einer neuscholastischen Philosophie verstand, der aus dem letzten Verfallsstadium der neuzeitlichen Philosophie heraus Zuflucht bei der aristotelischen Philosophie suchte: Verächtlich [urteilt man heute über die] Neuscholastiker. [Aber] schon jetzt [gibt es einen] Umschwung [der Philosophie] in Deutschland: das Ansehen des Aristoteles steigt, [von] Hegels Schule ausgelöst. Also das [ist] der große Fortschritt: nach den Leistungen von Hegel zu denen des alten Aristoteles.⁵
poiētikos nachgewiesen zu haben, daß außer unmittelbaren Schülern des Aristoteles nur Albertus und Thomas von Aquin, aber so weit unsere Kenntnis reicht keiner vorher und, unabhängig von ihnen auch keiner nachher, sie richtig gedeutet hätte. […] Ihnen, die nicht bloß Exegeten des Aristoteles, sondern Peripatetiker waren, lag ein in dieser Hinsicht richtigeres Verfahren sehr nahe […]. Wenn wir die vollkommeneren Mittel einer unvergleichlich entwickelteren kritischen Methode und alles was sonst uns heute zu Gebote steht, nicht vergessen, aber das, was die mittelalterlichen Erklärer ausgezeichnet, das philosophische Mit- und Nachdenken, wenn auch ohne jede Rückkehr zu scholastischer Knechtschaft, damit vereinigen: Dann, aber nicht früher, werden gewiss unsere Erklärungsversuche die des Mittelalters in jeder Beziehung hinter sich zurücklassen.“ (ÜA, S. 13 f.; Hervorhebung I. T.) An dieser Stelle verleiht Brentano der Überzeugung Ausdruck, dass die protestantische Interpretation sich besonders auf der exegetischen Ebene verdient gemacht habe. Was die sachliche Ebene des Verständnisses des aristotelischen Lehrgebäudes betrifft, so würde diese dagegen zu wünschen übrig lassen. Damit teilt er die Überzeugung anderer Vertreter der katholischen Wissenschaft im 19. Jahrhundert, die aus dem Gegensatz zwischen der exegetischen Überlegenheit der protestantischen Interpretationen und dem katholischen tieferen Verständnis der aristotelischen Philosophie ein Leitmotiv ihrer Schriften machten (s. weiter unten und Münch, „Franz Brentano und die katholische AristotelesRezeption …“, S. 186, 189). Angesichts der eben angeführten Behauptung Brentanos über seine Dissertation sollte noch bemerkt werden, dass er zwar die zentrale These einer strengen Deduktion der aristotelischen Kategorientafel durch Rückgriff auf den Kommentar des Aquinaten begründete, eine andere wichtige These seiner Schrift – die der Kategorien als Hauptbedeutungen des Seienden – aber aufstellte, indem er die Ergebnisse der „protestantischen“ Exegese (Bonitz) aufgriff (s. oben I.2.2 und MBS, S. 80 ff.). GMPh, S. 41. Brentano erwähnt als Philosophen, die diesen „Umschwung“ bewirkt haben, Trendelenburg und Rosenkranz (GMPh, S. 114). Aufgrund von Münchs Abhandlung lässt sich sagen, dass die von Brentano gemeinten „Neuscholastiker“ tatsächlich die katholischen, neuthomistischen Autoren (Klemens, Morgott) sind, die sich um die Begründung einer katholischen Wissenschaft bemüht haben, die auf die Art und Weise ausgerichtet war, in der Thomas die aristotelische Philosophie interpretierte und weiterentwickelte (Münch, a. a. O., S. 171– 195).
I.4.1 Der Neuscholastiker Brentano
135
Diese Stelle, die die Steigerung des Ansehens von Aristoteles mit dem Gedanken der Rehabilitierung der Neuscholastik in Verbindung bringt, ist für Brentanos frühes Selbstverständnis als Denker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufschlussreich. Sie zeigt, dass er um 1870 nicht nur darauf Wert legte, sich vor seinen Studenten als ein mit dem naturwissenschaftlichen Verfahren vertrauter Denker zu präsentieren,⁶ sondern auch, dass er sich nicht scheute, vor seinem Publikum als ein Neuscholastiker zu erscheinen, der daran interessiert war, die aristotelische Philosophie vom Standpunkt der neuscholastischen Themen zu nutzen.⁷ Aus anderen frühen Schriften Brentanos wissen wir, dass nach ihm ein wichtiger Weg zur Erneuerung der Philosophie im Anknüpfen des philosophischen Nachdenkens an die „hohen Punkte der Vergangenheit“ bestand. ⁸ Es steht außer Zweifel, dass Aristoteles’ Philosophie sowohl für den jungen, die Neuscholastik verteidigenden, als auch für den reifen Brentano ein solcher Punkt war: Seine ersten beiden Schriften sind Aristoteles gewidmet, 1911 veröffentlichte er nicht weniger als drei Schriften über Aristoteles, um von seinen erst 1978 veröffentlichten zahlreichen Manuskripte über Aristoteles ganz zu schweigen.⁹ Überdies hat sich Brentano über die Wichtigkeit Aristoteles’ für seinen philosophischen Werdegang kristallklar geäußert: […] wie ich denn selbst nur eine Dankespflicht erfülle, wenn ich bekenne, daß, als ich mich als Jüngling in einer Zeit tiefsten Verfalls mit der Philosophie zu beschäftigen begann, ich durch keinen Lehrer mehr als durch Aristoteles in eine entsprechendere Forschungsweise
Vgl. Stumpf, a. a. O., S. 88. Zu den unterschiedlichen Bedeutungen des Terminus „Neuscholastik“ nach 1860 bis in 20. Jahrhundert hinein vgl. den wertvollen Aufsatz von H. M. Schmidinger, „Neuscholastik“, HWPh, Bd. 6, S. 769 – 774; vgl. auch J. Drucks, Aristoteles’ Renaissance. Zur Rezeption der aristotelischen Seelenkonzeption Ende des 19. Jahrhunderts bei Franz Brentano und Anton Bullinger, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2016, S. 15. F. Brentano, „Auguste Comte und die positive Philosophie“ (AC) (1869), in ders., Die vier Phasen der Philosophie (VPhPh), O. Kraus (Hrsg.), Leipzig, Meiner, 1926, S. 133, und ders., „Über die Gründe der Entmutigung auf philosophischem Gebiete“ (GE) (1874), in ders., Über die Zukunft der Philosophie (ZPh), O. Kraus (Hrsg.), Leipzig, Meiner, 1929, S. 97. Der andere Weg besteht in der Zuwendung zu den Errungenschaften der modernen Naturwissenschaft (AC, S. 133; s. auch unten II.2.6). Es geht um „Aristoteles“, in E. v. Aster (Hrsg.), Grosse Denker, Bd. 1, Leipzig, Meyer, 1911, S. 153 – 207; um AW und um ALU; vgl. dazu auch Stumpf, a. a. O., S. 98 f. Im Ms. H 45 „‚Gesch. d. Phil.‘ Altertum (n. 25677)“ aus seiner Würzburger Zeit behauptet Brentano: „Aristoteles […] ist sozusagen ein Mann aller Zeiten, namentlich aber der Philosophie des Mittelalters […]. Die Hauptwerke der größten Philosophen des Mittelalters (soweit sie rein philosophisch) Kommentare zu seinen Schriften“ (apud Hedwig, „Vorwort“, in GMPh, S. XVI); zu Aristoteles’ Einfluss auf verschiedene metaphysische und psychologische Fragen bei Brentano (z. B. die Intentionalitätsfrage) vgl. die in dieser Arbeit angeführten Arbeiten von Volpi und Hedwig.
136
I.4 Brentanos Dissertation und die katholische Wissenschaft
eingeführt worden bin. Es galt freilich, das von ihm Empfangene mit einer Menge von wissenschaftlichen Errungenschaften späterer Zeiten in Verbindung zu bringen, und so erhielt vieles, wenn nicht alles, eine wesentlich veränderte Gestalt.¹⁰
Wenn man dieses Bekenntnis vom Standpunkt der angeführten Stelle über die Neuscholastiker aus betrachtet, dann bemerkt man, dass Brentanos frühe intensive Auseinandersetzung mit Aristoteles von der Erwartung motiviert war, mit Hilfe von Aristoteles’ Philosophie Antworten auf die Probleme zu finden, die für die neuscholastische Philosophie seiner Zeit tonangebend waren, wie z. B. das Dasein Gottes, Gottes Wissen und Wirken, die Unsterblichkeit der Seele usw.¹¹ Wie wichtig Aristoteles für das Verständnis dieses Themenkreises war, beweisen sowohl Brentanos frühe Schrift über die kirchlichen Wissenschaften¹² als auch seine Vorlesungen über die Geschichte der mittelalterlichen Philosophie. Zum einen passt die aristotelische Philosophie recht gut zu den Anforderungen der mittelalterlichen Philosophie: Die Aufgabe [war] eine doppelte: 1. die Aneignung der Tradition und 2. Neuforschung mit der richtigen Methode. Die Übergangszeit [bezieht sich] überall auf Aristoteles; […] Erst Logik, dann besonders nach Alexander von Hales und mehr noch seit Albertus Magnus [werden] sämtliche Zweige [der Philosophie studiert]. Aus ihm auch die richtige Methode: Beobachtung und scharfe Schlußfolgerung.¹³
AW, S. IV; vgl. auch ANR, S. 291. In diesem Sinne behauptet Stumpf: „So hoch er Thomas achtete und so gut er auch andere Scholastiker kannte, sie waren ihm doch nur Mitschüler, deren Meinung für ihn kein autoritatives Gewicht hatte. Aristoteles gegenüber war es anders. Er wußte wohl […], daß in der Philosophie Autorität als solche keine Rolle spielen dürfe. Aber in aristotelischen Lehren hatte er soviel Wahrheit und Tiefe gefunden, daß er ihnen eine gewisse Wahrscheinlichkeit, ein gewisses Vorrecht, gehört zu werden, zuerkannte, was natürlich eine Prüfung und Verwerfung nicht ausschloß. So stellen sich ja heute viele etwa zu Kant.“ (Stumpf, a. a. O., S. 98) Darin verfährt er ähnlich wie die Autoren der zweiten Periode der aufsteigenden Phase des mittelalterlichen Denkens (Albert der Große und Thomas von Aquin), für die die Anknüpfung an die Philosophie des Aristoteles der richtige Weg zur Lösung ihrer theologischen und philosophischen Probleme war (GMPh, S. 47; F. Brentano, „Die vier Phasen der Philosophie und ihr augenblicklicher Stand“, in VPhPh, S. 23 f.). F. Brentano, „Geschichte der kirchlichen Wissenschaften“ (GkW), in J. A. Möhler, Kirchengeschichte, P. B. Gams (Hrsg.), Bd. 2, Regensburg, Mainz, 1867, S. 526 – 584. GMPh, S. 2.
I.4.1 Der Neuscholastiker Brentano
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Dazu sollte zweierlei bemerkt werden: Die zur Diskussion stehende Tradition ist in erster Linie nicht die neuplatonische, sondern die aristotelische Tradition.¹⁴ Die Erwähnung der in der aristotelischen Tradition ausgeübten „scharfen Schlußfolgerung“ ist für Brentano deshalb wichtig, weil sie bereits auf den engen Bund verweist, den die Theologie und die Philosophie in der Scholastik eingehen: In den Kreis „der kirchlichen Wissenschaften“, deren Geschichte von Brentano 1867 behandelt wird, gehört nicht nur die Theologie, sondern auch die philosophische Reflexion oder Spekulation, die mit den Mitteln der „natürlichen Vernunft“ im Dienste der Theologie ausgeübt werden soll.¹⁵ Zum anderen ist die Wichtigkeit von Aristoteles für Brentanos Interpretation des mittelalterlichen Denkens dadurch bewiesen, dass er die Einstellung zu Aristoteles auf Schritt und Tritt dazu verwendet, die mittelelterliche Philosophie im Allgemeinen und die einzelnen Philosophen im Besonderen zu charakterisieren: Eben weil das Verhältnis zu Aristoteles ihm so wichtig ist, teilt er – was er ansonsten hinsichtlich keiner anderen philosophischen Epoche macht – die aufsteigende Phase dieser Philosophie in zwei Perioden, die erste von Abaelard bis zu Beginn der Aristoteles-Rezeption, und die zweite von Beginn dieser Rezeption bis zu dem Tode des wichtigsten mittelalterlichen Denkers und Kommentators von Aristoteles, Thomas von Aquin: So haben wir denn, nachdem wir die erste Epoche der Scholastik, von Anselm von Canterbury bis zu dem Bekanntwerden der arabischen und aristotelischen Philosophie, betrachtet haben, noch vier Epochen vor uns: die Epoche der Fortentwicklung der Philosophie und Theologie unter dem Einflusse des Aristoteles bis zu ihrem Höhepunkte in Thomas von Aquin […]¹⁶
GMPh, S. 5 ff., 33 ff., 37, 41, 100 f. Bis in 11. Jahrhundert war nur die logica vetus (Kategorien und De interpretatione) bekannt. Die Übersetzung anderer logischer, physischer und metaphysischer Schriften erfolgte erst im 12. und 13. Jahrhundert. „Spekulation“ meint hier nicht ein Denken, dem jede Erfahrung als Basis fehlt, sondern das mit den philosophischen Mitteln durchgeführte Nachdenken über die Fragen, die in den Bereich der Gotteslehre gehören. Diesem Nachdenken sollen, so Brentanos dritte Habilitationsthesis, „die theologisch festgestellten Wahrheiten“ als Leitsterne (stellae rectrices) dienen (ZPh, S. 137; zur Übersetzung des lateinischen Ausdrucks stellae rectrices durch „Leitsterne“ oder „Fingerzeige“ s. Schaeffler, a. a. O., S. 31 f.; Tiefensee, a. a. O., S. 67; Werle, a. a. O., S. 133 f.; W. Sauer, „Erneuerung der Philosophia Perennis: Über die ersten vier Habilitationsthesen Brentanos“, Grazer Philosophische Studien 58/59 (2000), S. 120). Der Grund, weshalb das philosophische Denken hier der Theologie zu gehorchen hat, wird von Brentano in seinem Habilitationsvortrag über Schelling (1866) klar angegeben: „Daß Gott Schöpfer und daß er über alle Vollkommenheit erhaben ist, lässt uns die Kreatur erkennen, daß er dreifaltig ist, lehrt sie nicht, und darum muß die reine Philosophie einer philosophisch-theologischen Spekulation es überlassen, sich in die Tiefe der Dreieinigkeit zu versenken.“ (ZPh, S. 119 f.; vgl. dazu Tiefensee, a. a. O., 74 f.) GkW, S. 540.
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I.4 Brentanos Dissertation und die katholische Wissenschaft
Die Vernachlässigung von bzw. die Annäherung an Aristoteles oder aber die Abweichung von ihm wird von Brentano in seinen Vorlesungen weiter ständig als Kriterium benutzt, um die mittelalterlichen Philosophen im Einzelnen zu charakterisieren: Wegen der Unkenntnis der aristotelischen Ontologie und Psychologie wirft er z. B. den Denkern der ersten aufsteigenden Periode vor, sie hätten eine unentwickelte Ontologie (Anselm) oder Psychologie (Anselm, Abaelard) vorgelegt.¹⁷ Was die anderen Perioden betrifft, verwendet Brentano fortwährend die aristotelische Lehre als Maßstab, um die metaphysischen, psychologischen oder ethischen Lehren sowohl der wichtigsten scholastischen Autoren – Albert der Große und Thomas von Aquin – als auch der Denker der Verfallsstadien zu beurteilen.¹⁸ Hinzu kommt, dass Brentano die Philosophie des Stagiriten auch deshalb so hoch schätzte, weil das aristotelische Nachdenken über den Verstand Gottes ihm das nachahmungswürdige Modell einer rationalen Theologie darbot.¹⁹
GMPh, S. 18 f., 26. GMPh, S. 36, 41 ff., 50 – 52, 55 – 59; vgl. auch Tiefensee, a. a. O., S. 77. Was Albert und Thomas betrifft, sagt Brentano am Ende seiner Ausführungen über Albert der Großen: „Wir sehen die Annäherung [an Aristoteles] fortschreitend, in Thomas von Aquin kulminierend.“ (GMPh, S. 47) Darüber hinaus sind beide Denker für Brentano deswegen wichtig, weil ihre theologische Spekulation die Theologie des Aristoteles ergänzt und mehr als die Spekulation anderer mittelalterlicher Theologen von aristotelischen Prinzipien durchdrungen ist (MBS, S. 143; GkW, S. 550 – 555; GMPh, S. 40 f., 44 f., 50; vgl. auch den Habilitationsvortrag „Über Schellings Philosophie“ (ZPh, S. 119 f.)). Was Thomas von Aquin betrifft, endet Brentano seine „Geschichte der kirchlichen Wissenschaften“ mit der folgenden Behauptung: „Namentlich scheint es, als solle der heilige Thomas von Aquin auf’s Neue der Engel der Schule werden.“ (GkW, S. 584) Um der Wahrheit gerecht zu werden, soll jedoch hinzugefügt werden, dass sowohl in der Schrift über die kirchlichen Wissenschaften als auch in seiner Vorlesung Brentano ständig die Theologen lobt (z. B. Bonaventura), denen eine Theologie vorschwebte, welche die Hilfsmittel „der natürlichen Vernunft“ in Klammern setzt, um Gott durch eine Erfahrung kennenzulernen, die von ihrer Liebe zu ihm her rührt (GkW, S. 559, 576 f.; vgl. auch GMPh, S. 62 f., 87 ff.). Stumpf berichtet, Brentano „legte außerordentliches Gewicht auf die Meditation […], wie sie von der mittelalterlichen Asketik und Mystik gepflegt wurde“ (Stumpf, a. a. O., S. 93; vgl. auch E. u. W. Baumgartner, Hedwig, a. a. O., S. 72 f.). In Bezug auf die Niedergangsphasen des mittelalterlichen Denkens s. die Ausführungen über Duns Scotus und über die erste Verfallsphase der mittelalterlichen Philosophie (GMPh, S. 73, 75), wo Brentano von „dem sinkenden Ansehen des Aristoteles“ spricht. Vgl. dazu Hedwig, a. a. O., S. XIV f., und Drucks, a. a. O., S. 22 f. Zur theologischen Bedeutung dieses für „die christlichen Aristoteliker“ klassischen Themas der Aristoteles-Deutung s. Schaefflers Ausführungen über die „‚Katholische Scholastik‘, Neuthomismus und historische Aristotelesforschung“ (a. a. O., S. 19 ff., 32) und auch Münchs bereits erwähnte Aufsätze, die aufschlussreiche Argumente für die These, Brentanos Habilitationsschrift Die Psychologie des
I.4.2 Franz Brentano und die katholische Wissenschaft
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I.4.2 Franz Brentano und die katholische Wissenschaft Das oben Gesagte weist auf einen wesentlichen Aspekt des frühen Schaffens von Brentano: sein Selbstverständnis als Neuscholastiker und damit einhergehend sein Katholizismus: Brentano war 1864 geweiht worden, er unterrichtete seine Studenten in Priesterrock,²⁰ sowohl seine Familie als auch er selbst hatten gute Kontakte zu den hohen ultramontanen Kreisen der katholischen Kirche und sein Vater hatte schon im Sprachrohr dieser Kreise, der Zeitschrift Der Katholik, veröffentlicht. Überdies studierte Brentano 1859 – 61 bei Clemens, dem damaligen Anführer der neuthomistischen Bewegung in Deutschland, und wollte bei ihm über Suárez promovieren. Er hatte auch gute Kontakte zu den Katholiken aus Mainz und seine Dissertation wurde kurz nach ihrer Erscheinung in einer Rezension, die in derselben Zeitschrift erschien, sehr positiv aufgenommen.²¹ Dieser Rezension zufolge stellt Brentanos erste Arbeit einen ersten Schritt zur Ausfüllung einer wissenschaftlichen Lücke dar, die in der Abwesenheit der katholischen Arbeiten über Aristoteles bestand. Unter diesen Umständen erscheint Brentanos Buch, so der Rezensent, als „ein Zeichen […], daß die Zeit wiederkommen wird, in der der ‚Philosoph‘, der große Lehrer der katholischen Philosophie seinem heimatlichen Boden wiedergegeben wird“.²² Damit trage Brentano dazu bei „den großen Lehrer der katholischen Schule des Mittelalters in die katholischen Schulen der Gegenwart zurückzuführen“.²³ Dabei vergisst der Autor weder, die Schule (die von Thomas von Aquin) zu erwähnen „in der er [Brentano, Hinzufügung I. T.] herangewachsen ist“, noch die Zwecke aufzuzählen, denen die Lektüre seines Werkes dienen könnte, und zwar
Aristoteles, insbesondere seine Lehre vom Nous Poietikos sei ein wichtiger Beitrag zur katholischen Wissenschaft, vorlegen. Vgl. Stumpf, a. a. O., S. 90 f. Zu dem prägenden Einfluss des Katholizismus auf den jungen Brentano s. Münch „Die Einheit von Geist und Leib …“, S. 125 – 128; „Franz Brentano und die katholische Aristoteles-Rezeption …“; Tiefensee, a. a. O., S. 52– 61; R. Schaefer, a. a. O., S. 481 und den erwähnten aufschlussreichen Aufsatz von E. u. W. Baumgartner, Hedwig. Vgl. D. Münchs Ausführungen in den eben erwähnten Abhandlungen, die ich hier verfolge; vgl. auch Hedwig, „‚… eine gewisse Kongenialität‘…“, S. 106 f. Zur wissenschaftlichen und konfessionellen Laufbahn des jungen Brentano vgl. Baumgartner und Burkard, a. a. O., S. 19 ff.; Tiefensee, a. a. O., S. 52– 56; Drucks, a. a. O., S. 83 – 97; und die angeführte Abhandlung von E. u. W. Baumgartner, Hedwig. „Rezension zu Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles von Franz Brentano. Freiburg, Herder’sche Verlagshandlung 1862“, Der Katholik (1862/zweite Hälfte), S. 366 – 378, S. 368. „Rezension zu Von der mannigfachen Bedeutung …“, S. 378.
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I.4 Brentanos Dissertation und die katholische Wissenschaft
[…] in katholischen Kreisen das Interesse für aristotelische Studien neu anzuregen und zugleich allen Kreisen in Erinnerung zu rufen, daß man bei diesen Studien die fruchtbarste und sicherste Anleitung bei den leider so vergessenen Werken der Scholastiker findet.²⁴
Diese Worte gelten nicht nur für Brentanos erstes Werk, sondern auch für die Schriften, in denen er sich mit den Themen der katholischen Wissenschaft beschäftigte, etwa seine Habilitationsschrift oder seine Vorlesung über die mittelalterliche Philosophie. Mit Blick auf diesen Fragenkreis ist zu beachten, dass die Katholiken damals an deutschen Universitäten keine guten Karriereaussichten hatten. Aus diesem Grund kamen sie auf die Idee, eine katholische Universität zu gründen.²⁵ Vor diesem Hintergrund erschien in Der Katholik um 1862 eine Reihe von anonym verfassten Aufsätzen, die das Verhältnis Aristoteles’ zur katholischen Wissenschaft und zu Thomas von Aquin als seinem Kommentator besprechen.²⁶ Da der erste dieser Aufsätze für mein Thema von Bedeutung ist, werde ich seinen Gedankengang kurz referieren.²⁷ Der Aufsatz „Aristoteles und die katholische Wissenschaft“ geht von der Behauptung aus, in der Neuzeit sei es dem Protestantismus gelungen, den Bruch mit dem alten (katholischen) Glauben, mit der katholischen Schule und Tradition zu bewirken, um „eine neue Wissenschaft auf völlig neuen Grundlagen […] ein-
„Rezension zu Von der mannigfachen Bedeutung …“, S. 378. Münch behauptet, Brentano sollte als Philosophieprofessor an diese Universität berufen werden („Franz Brentano und die katholische Aristoteles-Rezeption …“, S. 180 ff.); für eine andere Sichtweise vgl. E. u. W. Baumgartner, Hedwig, a. a. O., S. 93 f., die davor warnen, „Brentano und die Mainzer zu eng miteinander“ zu verbinden (Hedwig, briefliche Mitteilung vom 24.05. 2018). „Aristoteles und die katholische Wissenschaft“ (AkW), Der Katholik (1862/zweite Hälfte), I, S. 257– 275; „Der heil. Thomas von Aquin als Exeget“, Der Katholik (1862/erste Hälfte), S. 342– 358; „Aristoteles und sein Commentator Thomas von Aquin“, Der Katholik (1864/erste Hälfte), S. 1– 20, 129 – 151. Laut Münch, dem ich hier folge, ist Franz von Paula Morgott (1829 – 1900), Professor für Philosophie und Dogmatik am Lyzeum in Eichstätt und Autor mehrerer Monographien über Thoms von Aquin, der Urheber dieser Aufsätze (Münch, a. a. O., S. 175). Wenn Münchs Hypothese richtig ist, dann dürfen wir die Frage stellen, ob Morgott nicht der Autor der Rezension ist, die in derselben Nummer von Der Katholik erschienen ist. Zum geschichtlichen Kontext der katholischen Wissenschaft und zu den Verhältnissen von Brentanos Familie zu den Vertretern dieser geistlichen Strömung vgl. den eben angeführten Aufsatz Münchs, Tiefensee, a. a. O., S. 52 ff., und den Aufsatz von E. u. W. Baumgartner, Hedwig. Zur Charakterisierung der Aufgaben der „katholischen Wissenschaft“ im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts vgl. auch R. Schaefer, a. a. O., S. 482 f. Hedwig behauptet, in dem genannten Aufsatz scheine „ein Echo der Diskussionen oder Gespräche vernehmbar zu sein, die Brentano [1861; Hinzufügung I. T.] vermutlich im Moufang-Kreis geführt hat“ (Hedwig, „‚… eine gewisse Kongenialität‘…“, S. 107).
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zuleiten“.²⁸ Dabei habe die von Luther geförderte Herabsetzung der aristotelischen Philosophie eine wichtige Rolle gespielt: Sie begann mit der Forderung nach einem „reinen“, von „den scholastischen Zutaten“ befreiten Aristoteles, um daraufhin allmählich im Antiaristotelismus der neudeutschen protestantischen Philosophie (Hegel z. B.) zu gipfeln.²⁹ Wesentlich ist für den Aufsatz der Gegensatz der alten, auf der christlich (thomasisch) interpretierten aristotelischen Lehre basierenden Schule zur modernen subjektiven Philosophie des Protestantismus.³⁰ Dieser ist nicht nur dazu bestimmt, den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, sondern auch die geschichtliche Entwicklung zu erklären, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zugleich mit dem „bodenlosen Subjektivismus“ des deutschen Idealismus abspielte: die Entstehung der Aristoteles-Renaissance, die von der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin gefördert wurde und die von den Vertretern der katholischen Wissenschaft als Gelegenheit wahrgenommen wurde, über Aristoteles die Wichtigkeit der großen theologischen katholischen Tradition (Albert der Große und Thomas von Aquin) hervorzuheben. Unter diesem Gesichtspunkt ist eine Bemerkung aus der Rezension zu Brentanos Dissertation besonders wichtig: Deshalb halten wir dafür, daß unter allen wissenschaftlichen Erscheinungen unserer Zeit keine wichtiger und heilversprechender ist, als das erneuerte und ernste Interesse, welches das Studium der aristotelischen Philosophie zu finden beginnt. Wie beinahe in allen wissenschaftlichen Gebieten, so sind auch hier […] die protestantischen Arbeiten uns Katholiken vorangeeilt; […] Unser Aristoteles, so dürfen wir ihn nennen im Rückblick auf die Stellung, die er in der katholischen Wissenschaft des Mittelalters einnahm, ist zuerst durch die protestantische Wissenschaft wieder zu Ehren gebracht worden.³¹
Auch im Aufsatz über Aristoteles und die katholische Wissenschaft werden die Arbeiten von protestantischen Gelehrten, insbesondere die von dem „gründlichen Trendelenburg“, gepriesen.³² Das Lob ist aber nicht uninteressiert: Trendelenburg wird deshalb hochgeschätzt, weil er gegenüber der „subjektiven Richtung“ des deutschen Idealismus durch Rückgriff auf Aristoteles eine „mehr objektive Posi-
AkW, S. 259. AkW, S. 259. Vgl. dazu auch Schaefflers Ausführungen über die Antithese zwischen der „irregeleiteten“ protestantischen Gegenwartsphilosophie und der „‚wahren‘ […] Philosophie einer als klassisch beurteilten Periode“, die vom katholischen Standpunkt aus von „der ‚klassischen‘ Antike und ihrer Erneuerung im ‚hohen‘ Mittelalter“ gebildet wird (Schaeffler, a. a. O., S. 5 f.); vgl. auch Münch, a. a. O., S. 186 ff., und Schaefer, a. a. O., S. 482, 486 f. Rezension zu Von der mannigfachen Bedeutung, S. 367 f. AkW, S. 264.
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tion einzunehmen“ versucht. Andererseits vergisst der Verfasser nicht zu erwähnen, dass Trendelenburgs Programm, „Aristoteles aus sich selbst zu erklären“, mit Vorbehalt zu betrachten sei, eben weil er auf die mittelalterlichen Kommentatoren, vor allen auf Thomas von Aquin, keinen Wert lege.³³ Unter diesen Umständen sieht der Verfasser die Aufgabe der katholischen Wissenschaft darin, Aristoteles, der dank der protestantischen Wissenschaft zu neuem Leben erweckt worden ist, von „der Herrschaft der der Kirche abgewandten subjektiven protestantischen Kritik“ zu befreien, um ihn unter dem Gesichtspunkt der katholischen Wissenschaft auszunutzen.³⁴ Was Morgott, vermutlich Verfasser dieses Aufsatzes, dabei vorschwebt, ist aber keine Anwendung der thomasischen Kommentare für das Verständnis der obskuren Stellen in den Schriften des Aristoteles, so wie dies bei Brentano der Fall war. Vielmehr will er, dass Aristoteles zum „Organ der wissenschaftlichen Vermittlung der christlichen Ideen“ wird.³⁵ Dazu soll er nicht nur Lehrer von Thomas sein, sondern auch umgekehrt von Thomas christlich geschult werden.³⁶ Unter diesen Umständen ist es aufschlussreich, dass Morgott ausdrücklich von dem Versuch abrät, Aristoteles – so „die protestantische Wissenschaft“ (Trendelenburg eingeschlossen) – „aus sich selbst“, ohne die Einbeziehung der scholastischen Kommentatoren, zu verstehen: Will man aber das Studium der antiken Philosophie als durchaus nothwendige Propädeutik zu einem wahrhaft fruchtbaren Studium der Väter und der Scholastiker empfehlen, so ist das eine pure Täuschung. Denn ohne Zweifel wird man, um die Scholastik aus Aristoteles zu verstehen, zugleich diese selbst zu Rathe ziehen, d. h. den Aristoteles so verstehen müssen, wie die Scholastik ihn verstanden hat. Ob ihn Thomas richtig verstanden, kommt hierbei gar nicht in Frage […] Wir […] stimmen daher vollkommen dem in dieser Zeitschrift jüngst ausgesprochenen Satze bei, daß vielmehr umgekehrt der Schlüssel zum Verständnisse des Stagiriten in Thomas zu suchen sei. Nur nach einem gründlichen Studium des Aquinaten wird ein eingehendes Studium des Stagiriten unter Herbeiziehung der Resultate der neuern kritischen Forschung ebenso gefahrlos als erfolgreich sein.³⁷
Dem Verfasser geht es also nicht in erster Linie um die Renaissance des Studiums des Aristoteles, sondern um „Rechtfertigung und Verteidigung […] der alten
AkW, S. 264; vgl. auch Münch, a. a. O., S. 176, 186, 189. AkW, S. 265. AkW, S. 268; vgl. auch Hedwig, a. a. O., S. 106 f., und Drucks, a. a. O., S. 22 f. AkW, S. 270. AkW, S. 273.
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Schule“.³⁸ Diese Schule hat seit Langem, und zwar seit Albert dem Großen und Thomas von Aquin, die Sachen in „unübertrefflicher Weise“ richtig gestellt.³⁹ Vor diesem Hintergrund scheint es mir wichtig, sowohl die Unterschiede als auch die Gemeinsamkeiten von Brentanos früher Position mit Morgotts Thesen hervorzuheben. Letztere sind die Folgenden: Beide schätzen Trendelenburg und teilen dieselbe Überzeugung hinsichtlich der Rolle, die Albert der Große und Thomas von Aquin sowohl für die Aneignung der aristotelischen Philosophie durch die katholische Lehre als auch für die richtige Grenzziehung zwischen Glauben und Verstand spielten.⁴⁰ Was die Meinungsverschiedenheiten der zwei Autoren betrifft, lässt sie sich folgendermaßen beschreiben: Die Arbeiten des jungen Brentano bewegen sich sowohl auf philosophischer als auch auf theologischer Ebene. Dabei bleibt Brentano zu Formulierungen wie Thomas sei Aristoteles’ „Meister durch Christus“ auf Distanz.⁴¹ Morgott befindet sich dagegen auf einer ideologisch-theologischen Ebene. Unter diesem Gesichtspunkt ist es aufschlussreich, dass er die aristotelischen Kategorien in eine andere Richtung als Brentano in seiner Dissertation interpretiert. Wie gesagt geht Brentano von einem Kommentar des Aquinaten aus, um zu zeigen, dass bei Aristoteles eine strenge Deduktion der Kategorien möglich ist. Dabei bleibt der theologische Kontext der Kategorien eingeklammert.⁴² Ganz anders bei Morgott. Dieser geht zwar ebenfalls von Aristoteles aus, aber nur um die theologische Relevanz der Kategorien ins Licht zu setzen:
AkW, S. 275. AkW, S. 267 f., 271; vgl. auch Brentano, GkW, S. 540, 550 – 555. Alle zentralen Thesen des eben angeführten Aufsatzes: die Betrachtung der neuzeitlichen protestantischen Philosophie als Irrweg des Denkens, der ignoriert werden muss, die Überzeugung, dass eine wahre Philosophie nur auf der Grundlage der katholischen Tradition (Albert der Große und Thomas von Aquin) aufgebaut werden kann, und die These, dass die Freiheit des philosophischen Nachdenkens der Autorität der Kirche unterworfen werden muss, werden von J. Frohschammer, einem der Urheber des Terminus „Neuscholastik“, als Grundmerkmale dieser philosophischen Richtung aufgezählt (vgl. Schmidinger, a. a. O., S. 769). AkW, S. 271; GMPh, S. 40, 47. AkW, S, 270; vgl. dazu Hedwigs Bemerkung, Brentano habe von Anfang an die Grenzlinie zwischen Philosophie und Theologie klar zu ziehen gewusst (a. a. O., S. 107). Wenn die theologische Perspektive in Brentanos Dissertation gelegentlich zur Sprache kommt, dann bezieht sich Brentano nicht auf die Kategorien als solche, sondern auf die Tatsache, dass es Dinge („die reinen Geister“ und Gott) gibt, auf die die Kategorien nicht anwendbar sind (MBS, S. 143). Dabei vergisst er nicht zu erwähnen, dass „die Aristotelische Theologie sich in vieler Hinsicht wenig entwickelt zeigt“ (MBS, S. 143; vgl. zu ihrer Entwicklung bei Albert dem Großen und Thomas von Aquin: GMPh, S. 40 f., 44 f., 50).
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In Aristoteles sind die Kategorien lediglich die Grundschemen des Endlichen; in der christlichen Wissenschaft kamen dieselben in Beziehung zum übernatürlichen Glaubensinhalte, und gewannen dadurch erst rechtes Maß und feste Bestimmung auch bezüglich des Endlichen. […] Hier ist der Punkt, wo die Lehre der Kirche, wenn auch nur indirect, erläuternd und ergänzend eingriff, sogar in das Gebiet der Logik und Ontologie: hier liegt die Erlösung der Kategorienlehre.⁴³
Ein anderes Problem bezieht sich auf die Frage, ob sich die Art und Weise, in der im besprochenen Aufsatz das Verhältnis der alten katholischen Lehre zu der neuzeitlichen „subjektiv“ ausgerichteten protestantischen Philosophie als eine Vorwegnahme der Vier-Phasen-Theorie Brentanos betrachten lässt.⁴⁴ Aufschlussreich für diese Frage ist der folgende Passus: Fixiren wir die Thatsachen: Abfall von Aristoteles und der Scholastik − Anfang der modernen Philosophie; und: Verfall dieser in einen bodenlosen Subjectivismus – Wiederaufleben des Aristoteles. Wir werden sehen, dass sich hierzu auch noch die andere Tatsache einstellt: das erneuerte Studium der Scholastik.⁴⁵
Zunächst ist die Ähnlichkeit zu verzeichnen, die zwischen dem letzten Teil dieses Passus und der oben angeführten Stelle aus Brentanos Vorlesung über die mittelalterliche Philosophie besteht, wo er die Neuscholastik lobt und die Steigerung des Ansehens Aristoteles’ als Reaktion auf die Auflösung der Philosophie Hegels betrachtet.⁴⁶ Ein anderes Argument, das für die These sprechen könnte, Morgotts Aufsatz würde Brentanos Vier-Phasen-Theorie vorwegnehmen,⁴⁷ besteht darin, dass der deutsche Idealismus auch bei Brentano stark negativ belastet ist und als das letzte, äußerste Verfallsstadium der neuzeitlichen Philosophie betrachtet wird.⁴⁸ AkW, S. 269. Münch (a. a. O., S. 127) hat diese These aufgestellt und R. Schaefer hat sie übernommen. Im Aufsatz von 2007 bespricht Münch diese These nicht mehr. Brentanos Theorie über die vier Phasen der Philosophie besagt, die Philosophie jeder großen geschichtlichen Epoche beginne mit einer aufsteigenden Phase, der daraufhin gesetzmäßig drei Verfallsstadien folgen (vgl. unten II.2.3). E. u. W. Baumgartner und Hedwig beziehen sich nicht auf den Aufsatz Morgotts, verweisen jedoch darauf, dass „ähnliche Motive [des Auf- und Abstiegs der Philosophie; Hinzufügung I. T.] bei E. v. Lasaulx (,Fortschritt‘/Rückschritt‘), in Clemens’ Vorlesung über neuere Philosophie (Mystik als (,Ausartung‘ […]), im franz. Rationalismus und Positivismus (,Comte‘[…]) und nicht zuletzt im prinzipiellen Vorrang der Theorie vor der Praxis, wie ihn Aristoteles vertritt […]“ zu finden sind (a. a. O., S. 79 f.). AkW, S. 264. Vgl. S. 134 oben und GMPh, S. 41. Münch, a. a. O., S. 127. GPhN, S. 48 – 76.
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Dagegen sollte jedoch Folgendes beachtet werden: (1) Nach Brentano ist sowohl die mittelalterliche Philosophie als auch die Philosophie des Altertums und der Neuzeit von drei Verfallsstadien gekennzeichnet.⁴⁹ Von einem Verfall der scholastischen Philosophie im Mittelalter ist aber im Morgotts Aufsatz gar nicht die Rede. Hingegen bleibt Morgott an einem Bild der Scholastik haften, demzufolge sich dieselbe tatsächlich auf Albert den Großen und auf Thomas von Aquin reduzieren lässt. (2) Für Brentano beginnt der Anfang der neuzeitlichen Philosophie mit einer aufsteigenden Phase, die von der Herrschaft eines rein theoretischen Forschungsinteresses und von der Pflege einer naturgemäßen, für die Neuzeit schon naturwissenschaftlichen Methode charakterisiert ist. Im erwähnten Aufsatz wird aber die moderne Philosophie ausschließlich negativ bewertet: Es ist die Zeit der subjektiven Philosophie des Protestantismus, der durch die Rückkehr zu Aristoteles und zu seiner scholastischen, katholischen Interpretation ein Riegel vorzuschieben ist.⁵⁰ Dazu kommt noch, dass im Aufsatz über Aristoteles und die katholische Wissenschaft Sigwarts These angeführt wird, Luthers Reform könne ohne die Veränderung und Verbesserung des Zustandes der Wissenschaften nicht weiter gedeihen.⁵¹ Dabei wird die moderne Wissenschaftsauffassung als Vehikel der protestantischen Weltauffassung und als Folge davon ausschließlich negativ bewertet. Bei Brentano ist dies anders: Er beurteilt zum einen die moderne Wissenschaftsauffassung nicht konfessionell und betrachtet zum anderen die neuzeitliche Methode der Naturwissenschaft als eine wichtige Inspirationsquelle für die Neubegründung der Philosophie seiner Zeit, die sich am Beginn einer neuen aufsteigenden Phase befand, die als unmittelbare Fortsetzung der neuzeitlichen Aufstiegsphase angesehen wurde.⁵² Mithin unterscheiden sich Brentano und Morgott im Hinblick auf ihre Stellung zur modernen Naturwissenschaft grundlegend. (3) Auch wenn der deutsche Idealismus für Brentano das letzte Verfallsstadium der neuzeitlichen Philosophie ist, betrachtet ihn Brentano nicht als einen „bodenlosen Subjektivismus“, sondern er charakterisiert ihn vielmehr durch
VPhPh, S. 6 – 23. AkW, S. 259 ff. Über das „reine theoretische Interesse“ bei Brentano vgl. unten II.2.4. AkW, S. 159. H. C. W. Sigwart, Geschichte der Philosophie vom allgemeinen wissenschaftlichen und geschichtlichen Standpunkt, Bd. 2, Tübingen, Gota’scher Verlag, 1844, S. 4. AC, S. 133; F. Brentano, Geschichte der Philosophie der Neuzeit (GPhN), K. Hedwig (Hrsg.), Hamburg, Meiner, 1987, S. 105, 286; GMPh, S. 2 ff.
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seine unnatürliche spekulative Methode. Dabei wird nicht nur Hegel, sondern auch Schelling als Beispiel angeführt.⁵³ (4) Der hier zur Diskussion stehende Passus Morgotts lässt sich in Verbindung nicht nur mir Brentanos Vier-Phasen-Lehre, sondern auch mit Brentanos Schrift über das Schicksal der kirchlichen Wissenschaften bringen, in deren letzten Abschnitt Brentano behauptet: Aber auch die theologischen Leistungen des Mittelalters wurden in der Zeit nach der Reformation nicht mehr wie vordem geachtet. […] Die Reformatoren, welche die ursprüngliche evangelische Lehre zu erneuern vorgaben, konnten nicht sowohl durch spekulative als durch historische und exegetische Beweise des Irrtums überführt werden. So wandte man sich der Erforschung der Geschichte und der Erklärung der heiligen Schriften zu, und verließ die Pfade der Scholastik, die, zunächst von Augustinus angeregt, sich fast ausschließlich speculativ entwickelt hatte. Hierin bestand ja […] das Eigentümliche der mittelalterlichen Periode gerade so, wie für die moderne Theologie die überwiegend historische Forschung unterscheidend ist. […] Und so kommt es, daß heute […] das Studium der Theologie sich mit größerm Eifer auch den Lehrern des Mittelalters zuwendet. Namentlich scheint es, als solle der heilige Thomas von Aquin auf’s Neue der Engel der Schule werden.⁵⁴
Wenn man diese Stelle in Verbindung mit anderen Äußerungen Brentanos über die Neuzeit und über ihre aufsteigende Phase in Verbindung bringt, dann lässt sich eine doppelte Perspektive zur Beurteilung dieser Epoche ausmachen: Zum einen ist die Neuzeit die Epoche einer aufsteigenden Phase der philosophischen Forschung, die von Descartes, Bacon, Locke und Leibniz getragen wird.⁵⁵ Zum anderen wird sie in der Schrift über die kirchlichen Wissenschaften konfessionell beurteilt und für ein Zeitalter, nämlich dasjenige der Reformation, gehalten, das den Bruch mit der großen Tradition der theologischen Spekulation des 13. Jahrhunderts (Albert der Große und Thomas von Aquin) bewirkt hat. Unter diesen Umständen stellt Brentano seine Vier-Phasen-Theorie in der erwähnten Schrift in einer einzigartigen Form dar, weil er sich nur auf die drei ersten Epochen philosophischen Denkens (das Altertum, das Mittelalter und die Neuzeit) begrenzt, ohne sich auf die aufsteigende Phase der Philosophie seiner Zeit und auf ihre Aufgaben zu beziehen, wie er es gewöhnlich tut.⁵⁶ Dies erklärt sich daraus, dass er seine Theorie auf die Erklärung der Geschichte der Philosophie in einer Periode,
VPhPh, S. 9, 23. GkW, S. 583 f.; s. auch die Anm. 4 oben über den Gegensatz zwischen der protestantischen und der katholischen Exegese. GkW, S. 539 f.; VPhPh, S. 18 ff. In einem Text um 1870 sagt Brentano über die neuzeitliche Epoche, sie sollte in seiner Zeit fortgeführt werden (GPhN, S. 105). GkW, S. 539 f.; VPhPh, S. 23 – 36.
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dem Mittelalter, anwendet, in der ihr Fortgang mit der Entwicklung der kirchlichen Wissenschaft (Theologie) faktisch zusammenfällt: Dieß ungefähr war die Lage der Wissenschaft im christlichen Abendlande, als das Bekanntwerden des Aristoteles und seiner arabischen Commentatoren nicht bloß die Philosophie, sondern auch die Theologie mächtig umgestaltete und zu einer neuen Epoche führte. Seit Anselmus waren beide Wissenschaften immer mehr in jene enge Verbindung getreten, die dem Mittelalter eigentümlich ist. […] Die Theologie wurde vorherrschend speculativ, und die Philosophie wurde nicht zum Wenigsten darum angebaut, um der Theologie Dienste zu leisten. Darum werden wir überhaupt die Theologie die Geschichte der Philosophie theilen sehen.⁵⁷
Allerdings bleibt dabei zu beachten, dass die kirchliche Wissenschaft (also die Theologie) nur für die Zeit des Mittelalters dasselbe Schicksal wie die Philosophie teilt,⁵⁸ weil sich ihre Niedergangsphase wegen der Reformation auch in der Neuzeit fortsetzt.⁵⁹ Hier handelt es sich also um eine Entwicklung, deren aufsteigender Phase eine Verfallsperiode folgt, die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein dauert, als die katholische Wissenschaft sich wieder die Aufgabe stellt, an den Gipfel der mittelalterlichen Spekulation zurückzukehren. Morgotts Ausführungen über den Verfall und das Wiederaufleben des Aristoteles und der Scholastik lassen sich also nicht nur aus der Perspektive von Brentanos Vier-Phasen-Lehre, sondern auch unter dem Gesichtspunkt von Brentanos Erörterungen über die kirchlichen Wissenschaften und die Neuscholastik lesen. Im Unterschied zu den dem Schicksal der Philosophie gewidmeten Schriften, auf deren Grund gesagt werden kann, dass die Entwicklung der Philosophie einen gesetzmäßigen Charakter hat, bleibt für die Theologie auf der anderen Seite die Frage dahingestellt, ob ihre Geschichte auch gesetzmäßig verläuft oder nicht.⁶⁰ Die oben angeführte Stelle über die Neuscholastiker aus der Vorlesung über die mittelalterliche Philosophie Brentanos lässt sich gut in diese Perspektive einordnen, weil eine der wichtigsten Aufgaben der Neuscholastiker eben darin bestand, die Art und Weise,
GkW, S. 539; GMPh, S. 3 f. Zu den Variationsmöglichkeiten des Verhältnisses zwischen Theologie und Philosophie vgl. Tiefensee, a. a. O., S. 77 ff. Der enge Bund, den die Philosophie und die Theologie im Mittelalter eingehen, stellt auch den Grund dar, weshalb Brentano neben seinem Vier-Phasen-Gesetz und Comtes Drei-Stadien-Gesetz auch den „Einfluß, welchen die positive Religion gewinnen mußte, wo sie zu einer nennenswerten Theologie führte“ (GPN, S. 79) als ein Moment aufzählt, das für das Verständnis der Geschichte der Philosophie gewissermaßen von Bedeutung ist. Auf diesen Punkt machte Tiefensee aufmerksam (a. a. O., S. 62). GkW, S. 583 f.; GMPh, S. 4 f. Sowohl Morgott als auch Brentano geben in ihren Schriften den unterschiedlichen Entwicklungsgängen der zwei Wissenschaften Ausdruck. S. dazu unten S. 204 ff.
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in der die „Leistungen“ Aristoteles’ von Albert dem Großen und von Thomas von Aquin in den Dienst der kirchlichen Wissenschaft gestellt wurden, wieder ans Licht zu bringen.⁶¹ In diesem Zusammenhang kann man sagen, dass sich Brentano um 1867 vor zwei Aufgaben gestellt sah: Zum einen stellte sich die Aufgabe, „die evangelische Lehre“ durch die Anknüpfung an die mittelalterliche Spekulation zu erneuern, deren wichtigsten Systeme (Albert der Große und Thomas von Aquin) auf die Prinzipien des aristotelischen Denkens zurückgehen.⁶² Es geht um keine nebensächliche Aufgabe, etwas, das von Brentano nur bei Gelegenheit, z. B. im Aufsatz über die kirchlichen Wissenschaften, behandelt wird, sondern um ein Thema, dem er besondere Aufmerksamkeit schenkte und das für die Charakterisierung seines frühen Schaffens grundlegend ist.⁶³ Zum anderen ging es darum, einen
Unter diesem Gesichtspunkt ist es bemerkenswert, dass die Stelle über die Neuscholastiker in GMPh als allgemeine Einleitung zur Darstellung des Beitrags Albert des Großen zur mittelalterlichen Philosophie entworfen wird und dass auch Morgott von einem „erneuerten Studium der Scholastik“ spricht (AkW, S. 264). GkW, S. 551, 555; GMPh, S. 40 f., 50. In der Fachliteratur wurde mit gutem Recht darauf hingewiesen, dass Brentanos Texte vor allen in ihrer lang tradierten Begriffssprache eine Tiefenstruktur aufweisen, die nicht nur uns heute fremd geworden ist, sondern die bereits seine Schüler nicht mehr verstanden (K. Hedwig, „Über das intentionale Korrelatenpaar“, Brentano Studien 3 (1990/1991), S. 47, 56). Das oben Gesagte zeigt, dass diese Struktur damit in Verbindung steht, dass Brentanos erste Schriften wichtige Beiträge nicht nur zur aristotelischen Exegese, sondern auch zur katholischen Wissenschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind. In den Vorlesungen seiner Würzbürger Zeit behandelte Brentano wiederholt Themen, die für die katholische Wissenschaft und für die mit ihr eng verbundene neuscholastische Philosophie aufschlussreich sind: „Er [der Glaube; Hinzufügung I. T.] fordert auf zur Untersuchung der höchsten philosophischen Probleme: Dasein,Wissen, Wirken Gottes; Vorherwissen, Vorherbestimmung und Freiheit; das Böse; Natur und Suppositum; Arten der Einheit; Substanz und Akzidenz; reale Wahrheit und Phänomen; Seele; Unsterblichkeit; Weise der Verbindung mit dem Leib; Auferstehung; […] einheitlicher Plan Gottes. Christus Haupt.“ (GMPh, S. 2; vgl. dazu Tiefensee, a. a. O., S. 77) Im WS 1869/70 hielt Brentano die Vorlesung „Von der Unsterblichkeit der Seele“ und im WS 1872/73 „Über das Dasein Gottes“ (vgl. „Verzeichnis der Lehrveranstaltungen Brentanos an den Universitäten Würzburg und Wien“, in Antonelli, a. a. O., S. 440, und Stumpf, a. a. O., S. 105 f.). Auch nach dem Bruch mit der Kirche hat Brentano sich weiter (wenngleich kritisch) mit theologischen Themen befasst. Aber die Akzente ändern sich: Im „philosophischen Theismus“, den er sukzessiv entwickelte, wird die Theologie als wissenschaftliche Reflexion der Religion anders als in der Scholastik nunmehr als ancilla philosophiae verstanden (vgl. dazu Hedwig, „‚… eine gewisse Kongenialität‘…“, S. 107 und die dort angeführte Bibliographie).
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Neuanfang einer Philosophie zu rechtfertigen, der eine gewisse Affinität mit den Methoden der Naturwissenschaft aufwies.⁶⁴ Im folgenden Teil der Arbeit werde ich zeigen, dass ein wichtiges Merkmal von Brentanos Hauptwerk Psychologie vom empirischen Standpunkt darin besteht, dass er die traditionelle Behandlungsweise der Themen, die in den erwähnten traditionellen Schriften behandelt wurden, einklammerte, um sie unter dem modernen Gesichtspunkt einer „phänomenalen Psychologie“ zu behandeln.⁶⁵ Auch wenn Brentano sich weigert, eine solche Psychologie als positive Wissenschaft zu charakterisieren, werde ich weiter Argumente für die These vorlegen, Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt mache einen wichtigen Beitrag zum Aufbau einer positiven Philosophie im Sinne A. Comtes und J. St. Mills im 19. Jahrhundert aus.
Diese Fragestellung kommt den aktuellen philosophischen Interessen entgegen (vgl. R. Haller, „Franz Brentano, ein Philosoph des Empirismus“, Brentano Studien 1 (1988), S. 19 – 30). In GkW behandelt er dieses Thema nicht. Seine vierte Habilitationsthesis bringt aber diese Aufgabe, an deren Gültigkeit Brentano sein ganzes Leben geglaubt hat, aufschlussreich zur Sprache. PeS, S. 30, 90.
II Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt als Beitrag zur Positiven Philosophie des 19. Jahrhunderts
II.1 Einleitung Wenn man heute die Frage nach der Intentionalität in Brentanos Psychologie bespricht, dann versteht man sie als eine Frage nach der Art und Weise, in der sich das Bewusstsein auf existierende oder nichtexistierende Objekte bezieht.¹ Wenn aber Brentano das Intentionalitätskriterium in die zeitgenössische Philosophie einführte, indem er im bekannten Intentionalitätspassus der Psychologie das Intentionalitätsmerkmal aufgriff,² wollte er damit keinen Beitrag zu dem Thema liefern, wie sich das Bewusstsein auf Gegenstände beruft, sondern ein Kennzeichen dafür finden, wie sich das Gebiet der psychischen eindeutig von dem der physischen Phänomene unterscheiden lässt. Das war keine nebensächliche Aufgabe seiner Psychologie, sondern vielmehr eines ihrer Hauptanliegen, weil durch diese Abgrenzung der Gegenstandsbereich der psychischen von dem der physischen Wissenschaft getrennt wurde. Auf diese Weise machte Brentano einen ersten Schritt auf dem Weg zur Etablierung einer wissenschaftlichen Psychologie, ein Schritt, dem die Festlegung der Grundklassen von psychischen Phänomenen und ihren Eigentümlichkeiten folgen sollte.³ Zugleich stellte die Lösung dieses taxonomischen Problems einen Beitrag zum Aufbau einer induktiven Philosophie dar,⁴ denn einer seiner frühen Klassifikationen der Wissenschaften zufolge hat die Philosophie zwei Grunddisziplinen: die Metaphysik und die Psychologie, die als
Vgl. dazu die bahnbrechenden Aufsätze Chisholms, der, obwohl er genau weiß, dass das Merkmal der intentionalen Inexistenz in der Psychologie die Rolle hat, das psychische vom physischen Phänomen zu unterscheiden, doch Brentanos Intentionalität als eine Theorie über die Art und Weise versteht, in der das Bewusstsein auf nichtexistierende Gegenstände bezogen ist (Chisholm, a. a. O., S. 201; ders., „Brentano on Descriptive Psychology and the Intentional“, in E. N. Lee, M. H. Mandelbaum (Hrsg.), Phenomenology and Existentialism, Baltimore, Hopkins Press, 1967, S. 6 ff.). Chisholms Aufsätze haben auf die einschlägige Literatur einen tiefen Einfluss ausgeübt und die Richtung der Diskussion über die Intentionalität bis in unseren Tagen hinein entscheidend bestimmt (vgl. z. B. die Arbeiten von Antonelli (a. a. O., S. 364 f., 368 ff.) und Sauer („Die Einheit …“), die sich explizit auf ihn beziehen; vgl. auch meine Abhandlung „The Two Theories of Intentionality in Brentano and the Program of Psychology from an Empirical Standpoint“, Brentano Studien 13 (2015), S. 211– 231, und II.3.2.3.3 unten, wo ich für eine Interpretation dieses Problems plädiere, die die Betonung auf die Rolle setzt, die das Intentionalitätsmerkmal für die Trennung der Psychologie von anderen positiven Disziplinen in Comtes Skala der Wissenschaften spielt). PeS, S. 106 f. PeS, S. 59 f. Zur Philosophie als induktive Wissenschaft s. die aufschlussreichen Zitate, die Hedwig aus den frühen Manuskripten Brentanos wiedergibt (Hedwig, „Vorwort“, in GPhN, S. XV, Anm. 15). https://doi.org/10.1515/9783110524550-007
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II.1 Einleitung
Philosophie im engeren Sinne verstanden wird.⁵ Wenn man mithin eine induktive Philosophie etablieren will, so muss man zunächst und zuerst ihre zwei Hauptdisziplinen begründen. Von den beiden genannten Wissenschaften werde ich mich im Folgenden nur der Psychologie zuwenden und sie unter dem Gesichtspunkt ihrer Mitwirkung bei der Begründung einer induktiven, nichtspekulativen Philosophie im Sinne A. Comtes und J. St. Mills analysieren. Dabei werde ich einen besonderen Akzent auf die Interpretation von Brentanos vierter Habilitationsthese auf der Ebene der psychischen Wissenschaft setzen. Da aber für Brentano die empirische, induktive Philosophie den Auftakt zu einer neuen philosophischen Epoche bildete, die die Abkehr vom letzten Verfallsstadium der neuzeitlichen Philosophie – dem deutschen Idealismus – hin zu einer von der naturwissenschaftlichen Methode inspirierten Denkweise darstellte, und da, um diese Tatsache zu erklären, Brentano eine eigene Theorie über die Entwicklungsstadien der Philosophie ausarbeitete, die er immer wieder auf Comtes Drei-Stadien-Gesetz bezog, werde ich mit einer vergleichenden Analyse der Theorien Brentanos und Comtes über die Gesetze der Entwicklung des Geistes beginnen, um aufzuzeigen, welche Strategie zur Erneuerung der Philosophie Brentano entwickelte und was für eine Rolle seine Psychologie dabei spielen sollte.
Vgl. die folgenden Manuskripte Brentanos: M 96, Einleitung, Bl. 31753, 32078; M 98, nichtnummeriertes Blatt; Ms. LS 22, Bl. 29510 – 29513 (alle hier angegebenen Blätter aus Brentanos Manuskripten sind gedruckt in Antonelli, Seiendes, Bewußtsein …, S. 446 – 452); und Ms. H 45: „Gesch. d. Phil. Einteilung der Wissenschaften“ (n. 25253), in Hedwig, a. a. O., S. XIII ff.
II.2 Franz Brentano und Auguste Comte – Zwei Strategien zur Erneuerung der Philosophie II.2.1 Einleitung Franz Brentano hat sich in seiner Würzburger Zeit (1866 – 1873) intensiv mit der Philosophie Auguste Comtes auseinandergesetzt.¹ Die Abhandlung „Auguste Comte und die positive Philosophie“ (1869), die öffentliche Vorlesung „Auguste Comte und der Positivismus im heutigen Frankreich“ (SS 1869), Aufzeichnungen² wie etwa „Vom Gesetz der geschichtlichen Entwicklung“ (um 1870), die Psychologie vom empirischen Standpunkt (1874) und die Antrittsvorlesung an der Universität Wien, „Über die Gründe der Entmutigung auf philosophischem Gebiete“ (1874), zeigen den Verlauf und die Akzente dieser Auseinandersetzung.³ Auch
Bei diesem Kapitel handelt es sich um die überarbeitete Fassung meines Aufsatzes „Die Phasentheorie: Franz Brentano und Auguste Comte“ (Brentano Studien 15/1 (2017), S. 329 – 360). Der Text wurde an manchen Stellen stark revidiert und durch ein neues Kapitel, „Das reine theoretische Interesse Brentanos: Metaphysische und wissenschaftlich-positive Aspekte“ (II.2.4), ergänzt. Ich danke Prof. Dr. Klaus Hedwig für wertvollen sachliche und sprachliche Korrekturen der ursprünglichen Fassung des Textes. Es geht unter anderem um die Texte „Einleitung. Vom Begriff der Geschichte der Philosophie“ und „Philosophie der Geschichte der Philosophie“, die von Hedwig zusammen mit dem bereits erwähnten Text im Band Geschichte der Philosophie der Neuzeit (S. 1– 12, 77– 80, 95 – 105) ediert wurden. Trotz ihrer Wichtigkeit für das Verständnis des Verhältnisses von Brentano zu Comte wurden diese Texte in der einschlägigen Literatur bisher erstaunlich wenig berücksichtigt. Der Band ist auch deshalb wichtig, weil er außer den auf die neuzeitliche Philosophie bezogenen Texten in den Anmerkungen zahlreiche für das Verständnis von Brentanos Denken unentbehrliche Textauszüge aus bisher unveröffentlichten Manuskripten zur Philosophie, Abstraktion, Klassifikation der Wissenschaften, Methode der Philosophie usw. enthält. Aus der Abhandlung „Auguste Comte und die positive Philosophie“ ist nur der erste Teil erschienen: „Einleitung. Natur der positiven Wissenschaft“ (in Chilianeum. Blätter für katholische Wissenschaft, Kunst und Leben. Neue Folge, 2. Band, 1869). Das gleichnamige Ms. H 48 ist umfassender und wurde teilweise in GPhN (S. 247– 294) veröffentlicht; vgl. dazu Hedwigs Anmerkungen (a. a. O., S. 361– 371). Die Titel der Artikel, die als Fortsetzung des im Chilianeum veröffentlichten Aufsatzes über die Natur der positiven Wissenschaft geplant waren, sind bei Werle aufgelistet (Werle, a. a. O., S. 38). In seinem „Vorwort“ macht Hedwig darauf aufmerksam, dass Brentanos Interesse an Comte auf die französische Übersetzung von J. St. Mills Schrift Auguste Comte and Positivism (1865; in J. St. Mill, Essays on Ethics, Religion and Society, Collected Works X, J. M. Robson (Hrsg.), Toronto, University of Toronto Press, Routledge & Kegan Paul, 1969, S. 263 – 368) zurückgeht (Hedwig, „Vorwort“, in GPhN, S. XXIX; vgl. auch Hedwigs Anmerkungen dazu (S. 363 f., 368); s. auch Stumpf, a. a. O., S. 105; Werle, a. a. O., S. 130 f.; D. Fisette, „Franz Brentano et le positivisme d’Auguste Comte“, Les Cahiers Philosophiques de Strasbourg, 35/1 (2014), S. 94 f. https://doi.org/10.1515/9783110524550-008
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II.2 Franz Brentano und Auguste Comte
wenn die Texte, die Brentano Comte in seiner Wiener Zeit (1874– 1895) widmete, weniger zahlreich als die Arbeiten aus der Würzburger Zeit sind,⁴ ist Comte auch in dieser Periode für ihn ein wichtiger Gesprächspartner geblieben. So können wichtige psychologische Thesen aus Brentanos Wiener Zeit als eine Reaktion auf theoretische Positionen interpretiert werden, die er in Würzburg auf Basis der Auseinandersetzung mit Comte angenommen hat. Klarer gesagt: Brentanos spätere Unterscheidung zwischen deskriptiver und genetischer Psychologie lässt sich als eine neue Lösung auf das Problem verstehen, das er in seiner Psychologie vom empirischen Standpunkt durch die Einordnung der psychischen Wissenschaft in die von Comte übernommene enzyklopädische Stufenleiter der Wissenschaften zu lösen versuchte.⁵ Die Fragen und Themen, die Brentano in den erwähnten Schriften behandelte, decken ein breites Spektrum ab: Comtes Auffassung von der positiven Philosophie, von dem Drei-Stadien-Gesetz, von der Klassifikation der Wissenschaften, Comtes Zurückweisung der inneren Beobachtung und seine Stellungnahme zum Theismus und zur Religion.⁶ Von diesen Themen werde ich mich vor allem auf das Verhältnis zwischen Comtes Drei-Stadien-Gesetz und Brentanos Theorie der vier Phasen der Philosophie und auf die Rolle, die Comtes enzyklopädische Stufenleiter der Wissenschaften für den Aufbau von Brentanos empirischer Psychologie gespielt hat, konzentrieren. Was das erste Problem betrifft, vertrete ich die These, dass es für Brentano zwar wichtig war, eine gewisse Übereinstimmung beider Lehren zu unterstreichen, dass seine Auffassung von den vier Phasen der Philosophie jedoch eine Theorie ist, die hinsichtlich ihrer Fisette betont auch, dass die Aufmerksamkeit, die Brentano Comtes Philosophie schenkte, im Zusammenhang mit seinem Interesse für den englischen Empirismus zu sehen ist (a. a. O., S. 94). Es handelt sich hauptsächlich um den ersten Teil des Positivismus-Kollegs (1893/94); s. auch „Philosophie der Geschichte der Philosophie“ (um 1878; GPhN, S. 77– 80). PeS, S. 19, 38 f.; F. Brentano, DPs, S. 1 ff. Alle diese Fragen sind in der Fachliteratur diskutiert worden. Zum Verhältnis von Comtes DreiStadien-Gesetz zu Brentanos Lehre von den vier Phasen der Philosophie s. Hedwig, „Vorwort“, in GPhN, S. XXXIV, und im Allgemeinen die Anmerkungen in dem von ihm herausgegebenen Band; D. Münch, „Brentano and Comte“, Grazer Philosophischen Studien 35 (1989), S. 37 ff.; B. M. Mezei und B. Smith, The Four Phases of Philosophy. With an Appendix: The Four Phases of Philosophy and Its Current State by Franz Brentano, Amsterdam, Rodopi, 1998, S. 12– 16; Fisette, a. a. O., S. 102 ff. Zum Einfluss von Comtes Klassifikation der Wissenschaften auf Brentano s. Münch, a. a. O., S. 41– 50; Fisette, a. a. O., S. 107 ff. Zu Comtes und Brentanos Auffassung der Psychologie und inneren Wahrnehmung s. Münch, a. a. O., S. 46, 49; Fisette, a. a. O., S. 113, 115 – 120. Zur Frage des Theismus und der Religion s. Münch, a. a. O., S. 52; Hedwig, a. a. O., S. XXXI ff.; Werle, a. a. O., S. 39; E. Tiefensee, a. a. O., S. 332 ff.; Fisette, a. a. O., S. 106. Trotz seines Titels, Vers une philosophie scientifique. Le programme de Brentano (Paris, Demopolis, 2014), enthält der von Niveleau herausgegebene Band keinen eigenen Aufsatz über Brentano und Comte.
II.2.2 Comtes Drei-Stadien-Gesetz
157
Entstehung und auch ihrer Anwendung auf die Geschichte der Philosophie unabhängig von Comtes Theorie betrachtet werden muss. In diesem Zusammenhang ist es gleichfalls wichtig, darauf hinzuweisen, dass beide Denker sich auf die Geschichte von zwei Wissenschaften beziehen, die geschichtlich grundverschieden verlaufen sind: Die Geschichte der fundamentalen positiven Wissenschaften verläuft linear und aufwärts gerichtet, die Geschichte der Philosophie dagegen zyklisch. Eng damit verbunden ist die Tatsache, dass beide Denker durchaus unterschiedliche Strategien darüber entwickeln, wie sich die Philosophie erneuern ließe: Comte vertritt eine positive Philosophie, die sich entscheidend von der Geschichte der positiven Wissenschaften inspirieren lässt. Was Brentano betrifft, obwohl er auch glaubt, dass die Erneuerung der Philosophie die methodischen Eroberungen der positiven Wissenschaften ausnutzen müsse, unterstreicht doch mehr die Kontinuität und vor allem die Anknüpfung an gewisse Höhepunkte der philosophischen Tradition. Angesichts der zweiten Frage werde ich Argumente für die These vorlegen, dass Comtes Stufenleiter der Wissenschaften eine wichtige Rolle für die Etablierung von Brentanos empirischer Psychologie spielte, denn durch die Einbettung der Psychologie in diese Stufenleiter versuchte Brentano, den Anspruch seiner Psychologie zu rechtfertigen, eine empirische, positive Wissenschaft – genauso wie alle anderen fundamentalen positiven Wissenschaften in der Skala Comtes – werden zu können. Wie ich unten zeigen werde, liefert die Unterscheidung „genetische – deskriptive Psychologie“ aus seiner Wiener Zeit eine neue Lösung auf diese Frage, die für die Schrift von 1874 zentral war.
II.2.2 Comtes Drei-Stadien-Gesetz Für Comte ist die Philosophie „das allgemeine System der menschlichen Anschauungen“ bezüglich „der Gesamtheit der Phänomene“.⁷ Sie ist keine positive Wissenschaft, weil sie nicht zu der enzyklopädischen Leiter der positiven Wissenschaften gehört, sondern eher eine Art Disziplin, die durch Reflektion über „die Allgemeinheiten der fundamentalen Wissenschaften“ und über die Art und Weise entsteht, in der die verschiedenen Klassen von Phänomenen im Laufe der
A. Comtes Cours de philosophie positive, Bd. 1 (CPhP I), Paris, Bachelier, 1830, 21864, S. 5, 9, 59 f. Für die ersten beiden Vorlesungen aus diesem Band werde ich eine Kopie von Brentanos Handexemplar (21864) benutzen. Prof. Dr. Klaus Hedwig danke ich für die zur Verfügung gestellten Materialien. Vgl. auch GPhN, S. 278.
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II.2 Franz Brentano und Auguste Comte
Zeit erklärt wurden.⁸ Dabei sei angemerkt, dass sich Comtes Philosophieauffassung grundlegend von Brentanos Begriff der Philosophie unterscheidet. Bekanntlich war Comte ein Gegner der auf der inneren Beobachtung (oder Wahrnehmung) beruhenden Psychologie.⁹ Aber gerade die innere Wahrnehmung ist für Brentano der entscheidende Ansatz in der psychologischen Forschung.¹⁰ Dies ist hier deshalb so wichtig, weil die Psychologie für Brentano zugleich eine fundamentale philosophische Wissenschaft ist.¹¹ Nach Comte dagegen gehört sie nicht zu den fundamentalen positiven Wissenschaften der enzyklopädischen Stufenleiter, sondern ist der Physiologie untergeordnet.¹² In diesem Zusammenhang ist für die Meinungsverschiedenheit der beiden Denker aufschlussreich, dass Brentano ein von der aristotelischen Metaphysik inspiriertes Philosophieverständnis voraussetzt, das der inneren Erfahrung den ihr gebührenden Platz einräumt: So ergibt sich denn die Philosophie im engeren Sinn als die Wissenschaft, welche von dem Seienden und seinen Eigentümlichkeiten handelt, insofern es unter Begriffe fällt, welche durch innere Erfahrung gegeben sind, sei es daß sie nur durch sie gewonnen werden, oder doch nicht der äußeren Wahrnehmung ausschließlich angehören.¹³
Was das Verhältnis von Comtes Drei-Stadien-Gesetz zu Brentanos Theorie der vier Phasen der Philosophie betrifft, muss man beachten, dass die geschichtliche Entwicklung des Geistes nach Comte einem allgemeinen Gesetz folgt. Wie er ausführt, durchläuft jedes Hauptgebiet menschlichen Wissens drei Entwicklungsstadien: ein theologisches, ein metaphysisches und ein positives Stadium.¹⁴
Diese Allgemeinheiten beziehen sich auf die allgemeinen Gesetze der fundamentalen Wissenschaften, ihre Methoden (hauptsächlich Beobachtung und Experiment), die Anwendung der Mathematik in ihren Bereichen, die Verhältnisse dieser Wissenschaften zueinander usw. (CPhP I, S. 9, 59, 79, 83, 86; GPhN, S. 246 ff., 270). CPhP I, S. 29 ff. PeS, S. 44– 49. ZPh, S. 85 – 100. Ms. H 45: Gesch. d. Phil. Einteilung der Wissenschaften (n. 25253), apud Hedwig, a. a. O., S. XIII; CPhP I, S. 30 ff.; A. Comte, Cours de philosophie positive, Bd. 3 (CPhP III), Paris, Bachelier, 1838, S. 407 ff. Ms. H 45, apud Hedwig, a. a. O., S. XIII; zum Philosophiebegriff bei Brentano s. auch GPhN, S. 306, und Hedwig, „Brentano’s Hermeneutics“, Topoi 6 (1987), S. 3 f. CPhP I, S. 8 f. Zu Comtes Drei-Stadien-Gesetz s. R. C. Scharff, Comte after Positivism, Cambridge, Cambridge University Press, 1995, S. 73 – 91; M. Bourdeau, „Auguste Comte“, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2018 Edition), E. N. Zalta (Hrsg.), https://plato.stanford.edu/ archives/sum2018/entries/comte/ (21.03. 2021); W. Schmaus, „Comte’s General Philosophy of
II.2.2 Comtes Drei-Stadien-Gesetz
159
Diesen Stadien entsprechen drei verschiede Typologien der Philosophien: die theologische, die metaphysische und die positive Philosophie, die sich darin unterscheiden, dass sie die Phänomene in unterschiedlicher Weise erklären.¹⁵ Da das letzte – positive – Stadium für das hier behandelte Thema besonders wichtig ist, werde ich zunächst die Art und Weise skizzieren, in der Brentano die ersten beiden Stadien rezipiert, um mich danach seiner Analyse des dritten Stadiums und den ihm eigenen relativen Erkenntnissen zuzuwenden. Die ersten zwei Stadien zeichnen sich dadurch aus, dass sie versuchen, absolute Erklärungen über die Naturprozesse zu liefern. Ihr Ziel besteht darin, „das innere Wie und Warum der Prozesse“, „die innere Natur der Dinge“ und ihre „wirkenden und Endursachen“ anzugeben.¹⁶ Im theologischen Stadium erscheinen die gesuchten Ursachen als übernatürliche Kräfte, die diese Vorgänge bewirken.¹⁷ Dagegen kommt dem metaphysischen Stadium eine Übergangsfunktion zu, die zum positiven Stadium weiterführt. Seine Eigenart besteht darin, die übernatürlichen Kräften durch metaphysische oder abstrakte Entitäten zu ersetzen. Sie sind den zu erklärenden Dingen oder Prozessen nicht mehr transzendent, sondern gehören ihnen als akzidentelle Formen an und erklären ihre Wirkungen: „Was ist es, wodurch ein Körper dem Eindringen eines anderen widersteht? – Seine Widerstandskraft. Was ist der Grund, weshalb das Gold schwer ist? – Seine Schwerkraft.“¹⁸ Eine Erscheinung zu erklären, heißt also in beiden Stadien, die (übernatürliche oder abstrakte) Kraft anzugeben, die das jeweilige Phänomen erzeugt. Beide Stadien sind auf absolute Einsichten gerichtet, d. h. auf Erkenntnisse, die „die inneren Prinzipien und Erklärungsgründe“ der Dinge und natürlichen Vorgänge erklären wollen.¹⁹ Science“, in M. Bourdeau, M. Pickering, W. Schmaus (Hrsg.), Love, Order, & Progress. The Science, Philosophy, & Politics of Auguste Comte, Pittsburgh, University of Pittsburgh Press, 2018, S. 34– 41. CPhP I, S. 9. CPhP I, S. 9. Brentano, „Vom Gesetz der geschichtlichen Entwicklung“, in GPhN, S. 100; vgl. auch S. 247 und Brentanos Aufsatz von 1869, „Auguste Comte und die positive Philosophie“, S. 104. CPhP I, S. 9; GPhN, S. 247; vgl. auch S. 100 und AC, S. 104. GPhN, S. 102; s. auch CPhP I, S. 9; GPhN, S. 101, 247; AC, S. 104, 132; vgl. auch Wundts Erörterungen dazu (W. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, Leipzig, Engelmann, 1874, S. 5). Diese Stellen zeigen klar, dass Brentano sich Comtes Kritik der metaphysischen Denkweise zu eigen gemacht hat, wonach die akzidentellen Formen der Substanz anhaften (s. auch die Kritik Martys daran in A. Marty, Deskriptive Psychologie, M. Antonelli, J. Chr. Marek (Hrsg.), Würzburg, Könighausen & Neumann, 2011, S. 105 f.). Es sei darauf hingewiesen, dass diese traditionelle Auffassung von Brentano in seiner Dissertation verteidigt wurde (MBS, S. 148 – 178). GPhN, S. 247; AC, S. 104 f.; vgl. zu den folgenden Passagen meine Abhandlung: „Empfindung, äußere Wahrnehmung und physisches Phänomen als Gegenstand der Naturwissenschaft in Brentanos empirischer Psychologie“, Revue roumaine de philosophie 1– 2 (2011), S. 103 – 131.
160
II.2 Franz Brentano und Auguste Comte
Im Unterschied zu diesen Stadien zielt die positive Phase des menschlichen Geistes nicht auf absolute, sondern nur auf relative Erkenntnisse, d. h. auf die Herstellung der Verbindungen zwischen den Erscheinungen und ihren allgemeinen Gesetzen und darüber hinaus auf die Zurückführung dieser Gesetze auf noch allgemeinere letzte Gesetze. ²⁰ Das positiv allgemeinste Gesetz ist nach Comte das Gravitationsgesetz, das die uns am meisten vertrauten Erscheinungen (z. B. den Fall eines Körpers) und ebenso die Laufbahn der Satelliten um die Planeten und der Planeten um die Sonne erklärt.²¹ Comtes Argumentation, die Brentano genau referiert, geht dahin, dass es nicht vernünftig sei, absolute Erkenntnisse über die Dinge und ihre Ursachen zu suchen oder zu fordern. Vergleichbare Unternehmen gehören nicht in die positive, sondern in die theologische oder metaphysische Phase der Entwicklung des Geistes, in der sich Forscher auf die Suche nach absoluten Begriffen wie der inneren Natur, dem Ursprung und den Endursachen der Dinge und der Welt konzentriert hatten.²² Mit der Entstehung der positiven Epoche des Geistes bei Galilei, Bacon und Descartes und in den dann einsetzenden
AC, S. 114 f. Dies sind die zwei Bedeutungen des Terminus „Erklärung“ bei Comte (zu demselben Begriff vgl. weiter AC, S. 105, 111, 118). Da die Thesen über Comte in Brentanos Antrittsvorlesung „Über die Gründe der Entmutigung auf philosophischem Gebiete“ (GE) an der Universität Wien (April 1874) wiederaufgenommen wurden, werde ich auf die Parallelstellen in dieser Vorlesung hinweisen (vgl. ZPh, S. 89 f.; vgl. auch CPhP I, S. 5, 14 f.). Aufgrund von Brentanos Ausführungen in AC und in seiner Antrittsvorlesung lässt sich die hier zur Diskussion stehende Erklärung als ein Modell rekonstruieren, das aus folgenden Momenten besteht: (1) „Beobachtung der Erscheinungen und ihrer Aufeinanderfolge“; (2) Suche nach Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Fällen; (3) Ermittlung der „allgemeinen und unveränderlichen Beziehungen der Erscheinungen, d. i. Gesetze ihres Zusammenhangs“; (4) Erklärung der Erscheinungen, indem sie gewissen allgemeinen Tatsachen (Gesetzen) untergeordnet werden; (5) weitere Zurückführung dieser Gesetze auf allgemeinere letzte Grundgesetze (AC, S. 105, 111; ZPh, S. 89; die ersten zwei Momente sind der Antrittsvorlesung entnommen, wo das Modell ausführlicher als in AC dargestellt wird). In diesem Zusammenhang kann man sagen, dass Brentanos frühe Schriften zu Comte gute Argumente für eine Interpretation seiner vierten Habilitationsthesis liefern, nach der die Methode der Philosophie mit der Methode der Naturwissenschaft identisch ist (Mezei und Smith, a. a. O., S. 2). Eine weniger strikte Interpretation besagt, dass Philosophie und Psychologie nicht identisch, sondern analog zur Naturwissenschaft verfahren, d. h., dass sie ähnlich wie die Naturwissenschaft ihre Grundbegriffe aus der Erfahrung des eigenen Objekts schöpfen (vgl. dazu F. Volpi, „War Franz Brentano ein Aristoteliker? Zu Brentanos und Aristoteles’ Auffassung der Psychologie als Wissenschaft“, Brentano Studien 2 (1989), S. 13 – 29; vgl. auch Hedwig: „Vorwort“, in GPhN, S. XXXVI ff.; „Brentano’s Hermeneutics“, S. 4 f.; „Deskription. Die historischen Voraussetzungen und die Rezeption Brentanos“, Brentano Studien 1 (1988), S. 31– 45). CPhP I, S. 54; A. Comte, Cours de philosophie positive, Bd. 2 (CPhP II), Paris, Bachelier, 1830, S. 188; vgl. auch AC, S. 111, und ZPh, S. 90. AC, S. 105; ZPh, S. 89, 95; CPhP I, S. 9 ff. Laut Comte besteht die Eigenheit der positiven Philosophie darin, die innere Natur der Dinge beiseite zu lassen (CPhP I, S. 9, 17).
II.2.2 Comtes Drei-Stadien-Gesetz
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Entwicklungen der Naturwissenschaften erweisen sich diese Verfahren als überflüssig, weil sie für die Wissenschaft keine lösbaren Ziele angeben.²³ Weder kann noch will der Wissenschaftler nach Comte auf Was-Fragen der Art „Was ist die Gravitation?“ oder „Was ist die Schwere der Körper und welches sind ihre Ursachen“ antworten, weil sie der naturwissenschaftlichen Forschung fremd sind.²⁴ Dagegen beabsichtigt der Wissenschaftler – und darin liegt seine zentrale Aufgabe –, die Ähnlichkeiten zwischen den verschiedenen Erscheinungen zu erfassen, z. B. zwischen dem Fall eines Erdkörpers und der Laufbahn der Planeten um die Sonne, um in ihnen trotz aller Verschiedenheiten die Manifestation ein und desselben Gesetzes ausfindig zu machen, der Gravitation. Dieses Gesetz „zeigt streng genommen lediglich eine einfach allgemeine, mathematisch feststellbare Tatsache ohne jede chimärische Erforschung der inneren Natur und ersten Ursache der himmlischen Wechselwirkung und der irdischen Schwerkraft“.²⁵ Als Folge lassen sich feste Größen als relativ erweisen, die zuvor als absolute, unzerstörbare Eigenschaften der Körper galten, so wie es sich etwa beim Gewicht verhält, das eine Größe bezeichnet die von der Position des Körpers bezüglich des Erdmittelpunktes abhängt und sich proportional zur Masse und umgekehrt proportional zum Quadrat seiner Entfernung von diesem Punkt verhält.²⁶ Zusammenfassend gesagt ist die Wissenschaft für Comte ein Unternehmen, das nur mit relativen Erkenntnissen arbeitet, d. h. mit Verhältnissen zwischen Phänomenen und ihren Gesetzen, und das versucht, diese Gesetze auf letzte Grundgesetze zu reduzieren, ohne dabei an metaphysischen Begriffen (innerer Natur, letzter (z. B. wirkender) Ursache der Dinge) interessiert zu sein. In seinem Aufsatz befürwortet Brentano sowohl Comtes Ausschluss einer Suche nach letzten Ursachen aus dem Bereich der Wissenschaft als auch seine
CPhP I, S. 19 f., 52. AC, S. 117; ZPh, S. 95 f.; CPhP I, S. 17 f.; CPhP II, S. 188 f., 198. CPhP II, S. 188 (meine Übersetzung). CPhP II, S. 187. Obwohl Brentano dieses Beispiel nicht aufgreift, lässt sich aufgrund des Unterschieds der Masse und des Gewichts eines Körpers gut veranschaulichen, was eine relative Erkenntnis besagt. Während die Masse eine Grundeigenschaft des Körpers ist, die nicht von den Umgebungsbedingungen abhängt und deren Wert mit Bezug auf jeden himmlischen Körper konstant bleibt, ist das Gewicht ortsabhängig und variiert je nach Stärke des Gravitationsfeldes, dessen Einwirkung der Körper unterzogen wird (einer Gewichtskraft (Fg) von 1 N auf der Erde entspricht z. B. eine Gewichtskraft von 0,17 N auf dem Mond und von 2,65 N auf dem Jupiter). Unter diesen Umständen lässt sich sagen, dass die Erkenntnis der Masse einen absoluten Wert hat, während der Wert der Schwere eine mit Bezug auf die Stärke des jeweiligen Gravitationsfeldes relative Größe ist.
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II.2 Franz Brentano und Auguste Comte
Ideen zum lediglich relativen Charakter der menschlichen Erkenntnis, d. h. ihre Begrenzung auf die Phänomene und ihre Gesetze.²⁷ Bevor ich diesen Abschnitt abschließe, möchte ich Folgendes bemerken: In seiner Psychologie übernimmt Brentano die These der Begrenztheit unseres Wissens auf die Phänomene und bringt sie in Verbindung mit der Frage der äußeren Wahrnehmung. Damit werden die physischen Phänomene als Inhalt der äußeren Wahrnehmung betrachtet. Sie existieren – das ist für Brentanos Kritik an den physischen Phänomenen typisch – „nur phänomenal und intentional“.²⁸ Auf diese Weise ändert Brentano die Perspektive Comtes und legt das Gewicht auf die Unterscheidung „intentional/phänomenal“ – „wirklich“, die für ihn zentral ist, während Comte primär mit den Verhältnissen zwischen den Phänomenen und ihren Gesetzen befasst war. Hinzu kommt, dass Brentano die neuzeitliche Kritik der äußeren Wahrnehmung ins Spiel bringt.²⁹ Dabei wird durchgehend die Überlegenheit der inneren Wahrnehmung betont, mithin der Psychologie und der psychischen Phänomene gegenüber der Naturwissenschaft, die sich auf die Erkenntnis der Inhalte der äußeren Wahrnehmung, also der physischen Phänomene, reduziert.³⁰
ZPh, S. 96; s. auch F. Brentano, „Der Atheismus und die Wissenschaft“ (AthW), Historischpolitische Blätter für das katholische Deutschland 72 (1873), S. 853 f. Auf die Erkenntnis der äußeren Welt angewendet besagt dies, dass die primären Qualitäten nicht an sich, absolut, sondern nur in ihren relativen Größen und Verhältnissen zueinander erfahren werden können. Diese These vom relativen Wert oder der nur phänomenalen Wahrheit der sinnlichen Erkenntnis wird von Brentano schon früh, in seiner Metaphysikvorlesung vertreten und bleibt im Grunde genommen trotz der wichtigen Veränderungen, die in seinem Denken erfolgten, bis zum Ende seiner wissenschaftlichen Karriere bestehen (in der Metaphysikvorlesung behauptet er: „Wir geben zu, daß die absolute Grösse nicht erkennbar [ist; Hinzufügung I. T.], sondern nur die relative. Aber diese s. z. s. allein von Bedeutung.“ (M 96, Bl. 31768; „Metaphysikvorlesung. I. Theil. Apologetik des Vernunftwissens gegen Skeptiker und Kritiker (Transzendentalphilosophie)“, in W. Baumgartner, „Franz Brentano: ‚Großvater der Phänomenologie‘“, Studia Phaenomenologica 3/1– 2 (2003), S. 37) PeS, S. 109. PeS, S 25. PeS, S. 25. Nur nebenbei sei bemerkt, dass die eher assoziative Gleichung Naturwissenschaft – äußere Wahrnehmung – physisches Phänomen nicht ohne Weiteres schlüssig ist, weil die Naturwissenschaft nicht direkt auf die äußere Wahrnehmung zugreift, sondern auf wissenschaftlich bearbeitete Beobachtungen und Ergebnisse von Experimenten. In Brentanos Analysen dagegen tauchen diese wissenschaftlichen Vermittlungen nicht auf, sondern nur die äußere Wahrnehmung (PeS, S. 25 ff., 35, 109 f.; in den Vorlesungen über deskriptive Psychologie arbeitet er bereits mit solchen wissenschaftlichen Vermittlungen (DPs, S. 33, 51; vgl. auch unten II.3.3.5)). Dagegen sei bemerkt, dass sich die Naturwissenschaft mit den aufgrund der äußeren, „trügerischen“ Wahrnehmung erzielten Ergebnissen sehr gut zurechtfindet und sie erfolgreich für ihre Zwecke anwendet. Darüber hinaus weiß Brentano genau, dass die Psychologie kein Gesetz aufzuweisen hat, das in seiner Allgemeinheit und Erklärungskraft den Gesetzen der Naturwissenschaft
II.2.3 Brentanos Theorie der vier Phasen der Philosophie
163
Vor diesem Hintergrund lohnt es sich hinsichtlich der Art und Weise, in der Brentano den Terminus „Phänomen“ bei Comte rezipiert, zweierlei zu bemerken: Zum einen unterstreicht Brentano, dass Phänomen im Cours de philosophie positive keinen Gegensatz zu einem unerkennbaren Ding an sich meint, sondern dass es im Verhältnis zu anderen Dingen steht, deren Eigenschaften relativ erkennbar sind.³¹ Zum anderen und im Unterschied zur Psychologie, wo er genau zwischen dem Empfindungsinhalt (dem physischen Phänomen, etwa der gesehenen Farbe) und seiner physischen Ursache unterscheidet,³² folgt Brentano im Aufsatz aus dem Jahre 1869 durchaus Comte, d. h., er versteht „Phänomen“ als Synonym zu „Tatsache“ und verwendet den Terminus zur Bezeichnung für Vorgänge in der Natur: z. B. der Fall eines Körpers, die Planetenbewegung um sie Sonne.³³ Dies entspricht Comtes These, dass die Phänomene Objekte der Beobachtung und des Experimentes sind und nicht, wie bei Brentano, Inhalt der psychischen Akte.³⁴ Wie bereits erwähnt, erfolgt die Erklärung der Phänomene im positiven Stadium des Denkens weder durch übernatürliche Kräfte (die theologische Philosophie) noch durch abstrakte Entitäten (die metaphysische Philosophie), sondern durch allgemeine Gesetze (die positive Philosophie).³⁵
II.2.3 Brentanos Theorie der vier Phasen der Philosophie Brentano hat die Anfänge seiner Theorie der vier Phasen der Philosophie um 1860 konzipiert und sie erstmals in der Geschichte der kirchlichen Wissenschaften (1867) dargestellt, um sie dann im Laufe seiner weiteren Lehrtätigkeit und in seinen
gleichkäme. (PeS, S. 6 f.; s. dagegen Mills Behauptungen über die Assoziationsgesetze, die für die Psychologie dieselbe Rolle wie das Gravitationsgesetz für die Astronomie spielen (J. St. Mill, Auguste Comte et le positivisme, Paris, G. Baillière, 1868, S. 56 (Brentanos Handexemplar enthält zahlreiche Einträge an dieser Stelle)). In seiner Psychologie erwähnt Brentano zwar Mills Analyse der Assoziationsgesetze, betrachtet sie aber nicht als letzte Gesetze der Koexistenz und Sukzession psychischer Phänomene (PeS, S. 27 ff.); zur Kritik der Assoziationsgesetze s. J. Müller, Ueber die phantastischen Gesichtserscheinungen. Eine physiologische Untersuchung (PhG) (1826), M. Müller (Hrsg.), Leipzig, Barth, 1927, S. 84 ff., und die sich auf ihn beziehenden Äußerungen Brentanos in DPs, S. 4, 56. AC, S. 113 f.; zu Brentanos Auffassung von dem Verhältnis zwischen Phänomen und Seiendem an sich s. PeS, S. 25 f., 35, 108 f., 115 f.; DPs, S. 129, 131. PeS, S. 25 f., 115 f. AC, S. 111 f., 114, 118; GPhN, S. 254; vgl. auch F. Wilson, „Mill and Comte on the Method of Introspection“, Journal of the History of the Behavioral Sciences 27 (1991), S. 109. CPhP I, S. 9; PeS, S. 117. CPhP I, S. 9.
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II.2 Franz Brentano und Auguste Comte
Schriften wiederaufzunehmen.³⁶ Der Theorie zufolge ist die geschichtliche Entwicklung der Philosophie einer allgemeinen Gesetzlichkeit unterworfen, nach der die Philosophie in allen geschichtlichen Epochen (Antike, Mittelalter und Neuzeit) einen Zyklus durchläuft, der mit einer aufsteigenden Phase beginnt, um daraufhin gesetzmäßig mit drei absteigenden Phasen fortzufahren.³⁷ Das erste Entwicklungsstadium ist dadurch gekennzeichnet, dass in der Philosophie ein „reines theoretisches Interesse“ und eine naturgemäße Methode vorherrscht.³⁸ Brentanos Gesetz zufolge lässt das theoretische Interesse in der ersten Abstiegsphase (IIa) nach und die Forschung wird zunehmend von praktischen Motiven geleitet.³⁹ Aus der Abnahme des theoretischen Interesses ergibt sich das zweite Stadium des Verfalls, die Skepsis (IIb), die den Verlust des Vertrauens in die Fähigkeit des Menschen bewirkt, sichere Erkenntnisse zu erlangen. Das skeptische Misstrauen ist psychologisch jedoch unbefriedigend, weil es dem GkW, S. 538 ff.; AC, S. 131 ff.; GPhN, S. 1 f., 79, 95 – 105; VPhPh, S. 3 – 32; vgl. auch Stumpf, a. a. O., S. 89 f. Im Folgenden beschränke ich mich auf eine allgemeine Darstellung von Brentanos Lehre. Vgl. ausführlich zu diesem Problem die wertvollen Arbeiten von Werle und von Mezei und Smith, a. a. O.; ein Gesamtüberblick über dieses Thema im Kontext des 19. Jahrhunderts liefert L. Geldsetzer, Die Philosophie der Philosophiegeschichte im 19. Jahrhundert – Zur Wissenschaftstheorie Philosophiegeschichtsschreibung und -betrachtung, Meisenheim am Glan, Anton Hain, 1968. VPhPh, S. 7 ff.; GGPh, S. 14 f., 20, 25; GPhN, S. 193 ff.; in DG arbeitet Brentano nicht mit einer Drei- (Mezei und Smith, a. a. O., S. 13 f.), sondern schon mit einer Vier-Phasen-Theorie (Vom Dasein Gottes (DG) (1929), A. Kastil (Hrsg.), Nachdruck Hamburg, Meiner, 1968, S. 85 f.). VPhPh, S. 8. Die Psychologie und Metaphysik als philosophische Grunddisziplinen sind die Hauptträgerinnen des „reinen theoretischen Interesses“ Brentanos (GGPh, S. 310). In anderen Zusammenhängen spricht Brentano von „rein theoretische[m] Interesse“ (GPhN, S. 286; vgl auch Anm. 100 unten). Weiter verwende ich besonders den Ausdruck „reines theoretisches Interesse“, weil Brentano ihn in seiner Charakterisierung des ersten Kriteriums der aufsteigenden Phase benutzt (VPhPh, S. 10). Die Kennzeichnung „naturgemäß“ ist bei Brentano nicht ohne Weiteres mit „empirisch“ oder „auf Erfahrung begründet“ gleichzusetzen. Die theologische Suche nach einer ersten Ursache der Welt folgt einer naturgemäßen, aber keiner empirischen Methode, die bei der Gotteserkenntnis nicht greift (Die Lehre vom richtigen Urteil (LRU), F. Mayer-Hillebrand (Hrsg.), Bern, Franke, 1956, S. 64). Wie gesagt stellt Brentano die Vier-Phasen-Theorie erstmals in Möhlers Kirchengeschichte dar, aber er führt dabei nur das erste Kriterium auf (das theoretische Interesse), während er keinerlei „naturgemäße Methode“ erwähnt (GkW, S. 538 ff.). Außerdem fällt auf, dass die Methode nur bei der Charakterisierung der aufsteigenden Phase und des letzten Verfallsstadiums der Philosophie thematisiert wird. VPhPh, S. 7– 9; Mezei und Smith liefern eine aufschlussreiche Charakterisierung der Verfallsphasen in Brentanos Theorie (a. a. O., S. 30 – 33). In II.2.4 unten wird gezeigt, dass „dem reinen theoretischen Interesse“ Brentanos die Suche nach den Ursachen und Gründen der Dinge und letzten Endes der ersten Ursache der Welt, Gottes, wesentlich ist. Unter diesen Umständen besagt die Abschwächung des theoretischen Interesses, dass sich der forschende Blick von diesen Ursachen und Gründen ab- und den praktischen Fragen zuwendet.
II.2.3 Brentanos Theorie der vier Phasen der Philosophie
165
menschlichen Bedürfnis nach Erkenntnis und Wahrheit nicht nachkommt. Aus der Reaktion darauf resultiert das letzte, „äußerste“ Verfallsstadium, in dem versucht wird, das Bedürfnis nach Erkenntnis und Wahrheit durch eine unnatürliche Erkenntnis zu befriedigen, die Spekulation (IIc). Dabei „erdichtet man sich ganz unnatürliche Erkenntnisweisen, Prinzipien, die ohne alle Einsicht sind, geniale unmittelbar intuitive Kräfte“, denen jede wirkliche Basis fehle.⁴⁰ Diesem Gesetz zufolge ließe sich die philosophische Bewegung in ihren großen Epochen folgendermaßen abzeichnen: Altertum: I.Von den Vorsokratikern bis hin zu Aristoteles; IIa. Die Stoa und der Epikureismus; IIb. Die Skepsis der neueren Akademie, der Pyrrhonismus und der Eklektizismus; IIc. Der Neuphythagoreismus und der Neuplatonismus.⁴¹ Mittelalter: I. Von Anselm bis Thomas von Aquin; IIa. Die Scotisten;⁴² IIb. Der Nominalismus (Ockham); IIc. Die Mystik (Bonaventura, Meister Eckhart) und die philosophische Spekulation (Nikolaus von Kues).⁴³ Neuzeit: I. Von Bacon bis Locke; IIa. Aufklärung in Frankreich und Deutschland, Berkeley; IIb. David Hume, Thomas Reid; IIc. Von Kant und dem deutschen Idealismus bis Schopenhauer.⁴⁴ Im Unterschied zu Comte, der die Philosophie fortwährend als Teil des gesellschaftlichen Systems betrachtet und dabei ihre wechselseiteigen Verhältnisse im Prozess der Durchsetzung des positiven Geistes im Visier hat, kommt das Verhältnis Gesellschaft – Philosophie bei Brentano nur mit Bezug auf die erste
Für die Geschichte der mittelalterlichen Philosophie lässt sich festhalten, dass Brentano die letzte Phase nicht nur negativ beurteilt, sondern (ausgenommen allerdings Nikolaus von Kues und Raimundus Lullus) die „mystische Theologie“ durchaus schätzt (Johannes Gerson, Johannes Tauler), da sie versuche, „das Interesse von der argumentierenden Speculation zur Mystik hinzuwenden“ und dabei die Erkenntnis Gottes in die „Liebe“ verlegt (GkW, S. 539 f., 576 f.; GMPh, S. 87– 95; VPhPh, S. 15 ff.). In diesem Sinne berichtet später Stumpf, Brentano habe „außerordentliches Gewicht auf die Meditation […], wie sie von der mittelalterlichen Asketik und Mystik gepflegt wurde“ gelegt (Stumpf, a. a. O., S. 93). VPhPh, S. 9 – 13; vgl. auch GMPh, S. 1– 5. Aufgrund von Brentanos Ausführungen über die unterschiedliche Art und Weise, in der die erste Abstiegsphase geschichtlich auftaucht, lässt sich sagen, dass nur das erste Merkmal dieses Stadiums, das Nachlassen des theoretischen Interesses, allgemeingültig ist. Das zweite Merkmal, die Vorherrschaft der praktischen Motive, ist zwar für die Stoa und die Epikureer im Altertum und für die Aufklärung in der Neuzeit, nicht aber für das erste Verfallsstadium der mittelalterlichen Philosophie, den Scotismus, gültig. Brentanos Meinung nach sind darin nicht praktische, sondern psychologische Gründe bestimmend, nämlich die Eifersucht, die Rechthaberei und der Wunsch der Scotisten, das Ansehen der Dominikaner in den Schatten zu stellen, um ihre eigene Position stärker hervorzuheben (VPhPh, S. 13 f.; GMPh, S. 66 – 69). VPhPh, S. 13 – 18. VPhPh, S. 18 – 23.
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II.2 Franz Brentano und Auguste Comte
Verfallsphase zur Sprache: Die gesellschaftlichen Probleme veranlassen, dass sich das reine theoretische Interesse abschwächt und die praktischen Motive (Stoa und Epikureismus in der Antike, die Aufklärung in der Neuzeit) bestimmend werden. Abgesehen von dieser Phase ist Brentanos Analyse immanent ausgerichtet, sie bezieht sich nur auf die Geschichte der Philosophie.⁴⁵ Da aber nach Comte jedes echte wissenschaftliche Gesetz fähig ist, die Phänomene nicht nur zu erklären, sondern auch vorauszusehen,⁴⁶ stellt sich die Frage, ob und inwieweit sich Brentanos Gesetz auch auf den zukünftigen Verlauf der Philosophie anwenden lässt. Seine Äußerungen dazu sind nicht eindeutig. Die Texte, in denen er diese Frage anschneidet, scheinen verschiedene Lösungen zu liefern: Im Ms. H 45, das auf die frühe Würzburger Lehrtätigkeit zu datieren ist, aber darüber hinaus auch als Einleitung des gesamten Vorlesungszyklus über die Geschichte der Philosophie diente,⁴⁷ behandelt er seine Vier-Phasen-These als ein wissenschaftliches Gesetz, dessen Vorhersagen über die zukünftige Entwicklung der Philosophie fast sicher sind: „Es [das Gesetz; Hinzufügung I. T.] erlaubt einen Blick in die Zukunft, in der sich der Verlauf der Geschichte höchstwahrscheinlich in gleicher Weise abspielen wird.“⁴⁸ Auch wenn er in dem wahrscheinlich späteren Text „Vom Gesetz der geschichtlichen Entwicklung“ auf die Möglichkeit der Voraussage der zukünftigen Entwicklung der Philosophie nicht verzichtet, bringt er darin doch eine flexiblere Auffassung zur Sprache, indem er die Möglichkeit einer Abweichung von dem früher fast sicher vorgeschriebenen Verlauf der philosophischen Phasen zulässt:
Vgl. z. B. CPhP V, S. 136 – 139; VPhPh, S. 8, 11, 19. CPhP I, S. 51; ZPh, S. 96. Das Manuskript Ms. H 45 liegt in drei Fassungen vor, wobei die zweite und die dritte Version in die „Einleitung“ zur Geschichte der griechischen Philosophie eingegangen sind (GGPh, S. 355). Die Textauszüge der dritten Fassung, die sich auf den Begriff der Geschichte der Philosophie beziehen, wurden von Hedwig in GPhN, S. XL, 1– 12, 300 ediert. Da Brentano seine Würzburger Lehrtätigkeit mit einer Vorlesung über die Geschichte der Philosophie beginnt (WS 1866/67), die er dann in jedem Wintersemester bis 1870 wiederholt, lässt sich vermuten, dass die in dieser Einleitung dargelegte Auffassung vom Gesetz der geschichtlichen Entwicklung der Philosophie älter ist als die Version, die sich im Text „Vom Gesetz der geschichtlichen Entwicklung“ (um 1870) findet. GGPh, S. 23; s. auch: „[…] besonders interessant ist es, daß sich keine fortschreitende Entwicklung und Erweiterung zeigt, sondern nach dem Aufstieg ein gesetzmäßiger Verfall“ (GGPh, S. 15; Hervorhebung I. T.); vgl. auch die folgende Stelle in Brentanos Vortrag über Plotin, „Was für ein Philosoph manchmal Epoche macht“ (1876): „Die Geschichte der Philosophie zeigt uns wiederholt Zeiten des Verfalles, und dieser Verfall ist ein allmählicher und erfolgt nach festen Gesetzen.“ (VPhPh, S. 55)
II.2.3 Brentanos Theorie der vier Phasen der Philosophie
167
b) Blick in die Zukunft. Wenn wieder Verfall [eintritt, dann] die drei Stadien. c) Nicht jedoch [ist] gewiß, daß wieder Verfall [eintritt]. Die Gefahren [sind] offenbar mit der Zeit mehr und mehr verringert, insofern: α) die vollkommen ausgebildete Wissenschaft mehr Kraft hat, dem Verfall zu widerstehen […] β) eine größere Beteiligung auf diesem wie auf allen wissenschaftlichen Gebieten und an der Geistesbildung überhaupt. γ) Anfang praktischer Bewährung. Hoffen wir also!⁴⁹
Aufgrund von Brentanos Erklärungen ist es nicht klar, welche Bedeutung dem Begriff „Wissenschaft“ hier zukommt. Handelt es sich etwa um die philosophische Wissenschaft des vierten Zeitalters der Philosophie, deren Etablierung eines der wichtigsten Ziele von Brentanos Tätigkeit war? Auch wenn die Philosophie gerade die Phase ihres äußersten Verfalls erlebt hatte und sich die Psychologie als grundlegende philosophische Disziplin noch in ihrem anfänglichen Stadium befand, scheint mir aufgrund der Tatsache, dass sich Brentanos empirische Psychologie schon auf den Weg zu ihrer modernen, positiven Entwicklung gemacht hatte, dass diese Antwort am plausibelsten ist.⁵⁰ Wie auch immer die Antwort auf diese Frage ausfallen mag, muss jedoch bemerkt werden, dass der Verfall der zukünftigen Philosophie dieser Stelle zufolge keinen „höchstwahrscheinlich“ gesetzmäßigen Charakter mehr zu haben scheint, weil man auf ihrer Basis auf eine Weiterentwicklung der Philosophie hoffen darf, die von keinen Niedergangsphasen unterbrochen wird. Mit Bezug auf dieses Problems behauptet Werle: „Verfall ist nicht grundsätzlich ein der Philosophie gleichsam per se immanentes Schicksal“, und folgert daraus, dass Brentano eine „wissenschaftliche, nicht dem Verfall ausgesetzte Philosophie“ anstrebte.⁵¹ Werles These trifft einen äußerst wichtigen Punkt von Brentanos Auffassung, indem sie die Möglichkeit eröffnet, Brentanos Ausführungen über die Vier-Phasen-Lehre im Lichte eines Ideals wissenschaftlicher Philosophie zu verstehen, die nicht regelmäßig in Trümmer zerfällt. Darüber hinaus würde sie gut zu Comtes Drei-Stadien-Gesetz passen, weil die Philosophie so in ein Endstadium eintreten würde, das dem positiven letzten Stadium der positiven Wissenschaften bei Comte entspräche. Da diese Hypothese zum einen für die hier verhandelte Frage wichtig ist und zum anderen Brentanos Äußerungen darüber zu skizzenhaft
GPhN, S. 95. Die unter den Punkten β und γ aufgezählten Themen finden ihre Parallelen bei Comte (CPhP I, S. 35 ff.; vgl. auch PeS, S. 38 ff.). PeS, S. 39 f. Da ich mich hier nicht auf Brentanos Metaphysik, sondern nur auf seine Psychologie beziehe, lasse ich die Frage offen, ob es hier auch um die Philosophie als Metaphysik geht. Werle, a. a. O., S. 82.Werle bezieht sich nicht auf die eben angeführte Stelle aus GPhN, sondern nur auf Brentanos Ausführungen in AC.
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II.2 Franz Brentano und Auguste Comte
und zerstreut sind, um eine endgültige Entscheidung darüber zu treffen, werde ich im Folgenden die Argumente darstellen, die für und gegen die These über eine nicht dem Verfall ausgesetzte Philosophie vorgelegt werden können. Ich beginne mit den Einwänden, die in Brentanos Texten fest verankert und zahlreicher als die positiven Argumente sind. 1. Brentano behauptet ungefähr zur gleichen Zeit (1870), die Geschichte der Philosophie gleiche eher der Geschichte der schönen Künste als dem Verlauf der positiven Wissenschaften.⁵² Allerdings lässt sich dies als Argument für eine zyklische Entwicklung der Philosophie bewerten. 2. Es ist ziemlich sicher, dass ein solcher Idealfall der geschichtlichen Entwicklung der Philosophie zu Brentanos Zeit kaum erreichbar war, weil die beiden philosophischen Disziplinen, die Brentano als fundamental ansah, die Metaphysik und die Psychologie, damals noch weit davon entfernt waren, als Wissenschaften etabliert zu sein.⁵³ 3. Die Hypothese einer Philosophie, die nicht weiter verfällt, ist erklärungsbedürftig, denn wenn die Merkmale einer aufblühenden philosophischen Epoche die Herrschaft des theoretischen Interesses und eine naturgemäße Methode sind, dann bleibt aufgrund von Brentanos Text offen, wie sich diese Merkmale in einer solchen zukünftigen Epoche zueinander verhalten sollen, damit das theoretische Interesse nicht weiter korrumpiert wird.Würde es z. B. ausreichen, dass die Philosophie die Methode der Naturwissenschaft übernimmt?⁵⁴ Die Ausführungen in II.2.4 unten zeigen dagegen, dass eine von der Naturwissenschaft inspirierte philosophische Methode nicht hinreicht, um eine gewisse philosophische Auffassung für eine Erscheinung einer aufsteigenden Phase zu halten. 4. Brentano nimmt den Gedanken einer Philosophie, die nicht verfällt, nicht wieder auf, sondern kommt im letzten Text (1895) zu diesem Thema auf seine Vier-Phasen-Theorie zurück und bleibt dabei, ohne zu versuchen, Comtes Ideen weiter zu entwickeln.⁵⁵ Das macht einen wichtigen Unterschied zu seiner Antrittsvorlesung an der Universität Wien (April 1874) aus, in der Comtes Skala der Wissenschaften eine zentrale Rolle spielt, indem Brentano,
GGPh, S. 2; GPhN, S. 1. ZPh, S. 85 – 100; vgl. auch unten II.3.2.3.2. Zum Verhältnis des theoretischen Interesses zur naturgemäßen Methode vgl. Mezei und Smith, a. a. O., S. 32 f. VPhPh, S. 5 – 32. Das gilt auch für die Vorträge über Schellings Philosophie (1866/1889) und über die Zukunft der Philosophie (1893).
II.2.3 Brentanos Theorie der vier Phasen der Philosophie
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ohne Comte zu nennen, die Psychologie in diese Skala einordnet, um das Vertrauen seiner Studenten in die Zukunft der Philosophie zu erwecken.⁵⁶ 5. Aus der Tatsache, dass der Eintritt des Verfalls nicht sicher ist, folgt nicht, dass er ausgeschlossen ist: Er kann ebenso gut eintreten wie ausbleiben. 6. Wenn die Philosophie in eine ständige aufsteigende Phase eintreten würde, dann wäre sie den fundamentalen Wissenschaften bei Comte ähnlich, deren geschichtliche Entwicklung mit dem Eintritt in ihre positive Phase kulminiert. Die geschichtliche Entwicklung der Philosophie würde dann ein (letztes?!) Stadium erreichen und damit einem anderen Gesetz als zuvor unterstehen. Zugleich würde das Phasen-Gesetz Brentanos nur für die Epochen gelten, die diesem Endstadium vorangehen. Die Folge davon wäre, dass die Geschichte der Philosophie sozusagen in sich selbst geteilt und letztlich verschiedenen Gesetzmäßigkeiten – der erste Teil dem zyklischen Gesetz Brentanos, der letzte Teil Comtes Gesetz der positiven Entwicklung der Wissenschaft – unterstehen würde. 7. Die Hypothese, die Philosophie würde in Brentanos Zeit nicht wieder verfallen, sondern sich wie eine positive Wissenschaft weiterentwickeln, versäumt den nicht ganz unwichtigen Aspekt, dass das „reine theoretische Interesse“ Brentanos metaphysisch stark belastet ist. Dementsprechend lässt es sich nicht durch den Ausschluss metaphysischer Fragen im Sinne Comtes bereinigen und positivieren, weil solche Fragen Brentanos Meinung nach dem menschlichen Geist zentral sind.⁵⁷ 8. In jüngster Zeit wurden Versuche unternommen, Brentanos Vier-PhasenTheorie auf die Geschichte der Philosophie des 20. Jahrhunderts anzuwenden.⁵⁸ Ihr Ergebnis besteht allerdings darin, dass sich im Unterschied zur angelsächsischen Philosophie, derer Entwicklung im 20. Jahrhundert noch nicht beendet ist, die zeitgenössische kontinentale Philosophie bereits in einer Periode befinden würde, die recht gut als Bestätigung von Brentanos Gesetz dienen könnte: Die von Brentano und seiner Schule, einschließlich dem jungen Husserl,⁵⁹ auf den richtigen Weg gebrachte Philosophie wäre mit dem späten Husserl, Heidegger und Levinas wieder in Verfall geraten.⁶⁰ Diese
Vgl. unten II.3.2.7. Vgl. unten II.2.4. Vgl. den schon angeführten Aufsatz von Mezei und Smith. Vgl. Anm. 104 unten. Mezei und Smith schließen aber nicht aus, dass auch die angelsächsische Philosophie verfallen kann, und weisen auf die bereits manifesten Zeichen des Niedergangs hin (Mezei und Smith, a. a. O., S. 39 – 75).
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II.2 Franz Brentano und Auguste Comte
Ausführungen gehen aber nicht in die Richtung von Werles Hypothese, sondern in Richtung einer Philosophie, die regelmäßig verfällt. Trotzdem lässt sich die Hypothese einer „nicht dem Verfall ausgesetzten Philosophie“ nicht einfach aus der Diskussion eliminieren, denn die erwähnten Widersprüche sind nicht einwandfrei und überdies gibt es Behauptungen in Brentanos Text, die diese These untermauern und in ein neues Licht setzen. Was die Gegenargumente zu den genannten Einwänden betrifft, so sind dies die Folgenden: Zu 2.
Zu 3. Zu 8.
Auch wenn die Psychologie noch weit davon entfernt war, eine positive Wissenschaft zu sein, machte sie sich damals doch schon, mitunter auch durch Brentanos Psychologie, auf den Weg dahin. Dies läuft weiter darauf hinaus, dass die Zeit nicht weit entfernt war, in der die praktischen Folgen dieses Prozesses eintreten sollten.⁶¹ Um einer aufsteigenden Phase anzugehören, reicht es nicht aus, dass sich eine philosophische Auffassung (etwa Mills oder Comtes) die Methode der Naturwissenschaft aneignet.⁶² Die Anwendung von Brentanos Phasen-Lehre auf die Philosophie des 20. Jahrhunderts beruht auf einer Interpretation seines „reinen theoretischen Interesses“ als positiv-wissenschaftlichen Interesses, die seine wesentlich metaphysischen Züge verkennt. Unter diesen Umständen lässt sich der junge Husserl z. B. nicht in die aufsteigende Phase der zeitgenössischen Philosophie einordnen, eben weil in seinen Schriften die Gottesfrage nicht auftaucht.
Darüber hinaus gibt es im angeführten Text eine Behauptung, die ein starkes Argument für eine nicht-verfallende Philosophie, darstellt: „Insbesondere das Positive auch in der dritten [Periode], (welche eine besonders kurze aufsteigende Zeit hat), [ist] nicht völlig zum Durchbruch gekommen. Das vierte [Zeitalter] wird es in dieser Beziehung ergänzen müssen.“⁶³ Auf der Basis dieses Textes lassen
GPhN, S. 95; PeS, S. 38 ff. Vgl. unten II.2.4. „Vom Gesetz der geschichtlichen Entwicklung“, in GPhN, S. 105. Die aufsteigende Phase der griechischen Philosophie hat 300 Jahre gedauert (GGPh, S. 327), die der Neuzeit (Bacon ist 1561 geboren, Leibniz starb 1716) nur halb so lang. Normalerweise nennt Brentano seine eigene Philosophie nicht „positiv“. Die hier angeführte Stelle stellt abgesehen von einer Äußerung aus seinem Aufsatz über Comte (AC (1869), S. 133) eher eine Ausnahme dar. Dies lässt sich dahingehend interpretieren, dass Brentano um 1870 für eine kurze Zeit die weitere Entwicklung der
II.2.3 Brentanos Theorie der vier Phasen der Philosophie
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sich zwei Argumentationslinien entwickeln: Die eine läuft auf die Idee einer nicht dem Verfall ausgesetzten Philosophie hinaus, die andere weist die Schwierigkeiten auf, die mit Brentanos Begriff des „reinen theoretischen Interesses“ verbunden sind.⁶⁴ Aus beiden Perspektiven ist dieser Passus deshalb wertvoll, weil Brentano normalerweise die Neuzeit und seine eigene philosophische Epoche getrennt behandelt.⁶⁵ Die eben angeführte Stelle macht es jedoch möglich, die zwei Perioden als Einheit zu betrachten, weil ihr zufolge die Zeit nach 1600 genau wie bei Comte den Auftakt einer einzigen geschichtlichen Epoche bildet, innerhalb derer die Durchsetzung des positiven Stadiums des Denkens in zwei Phasen verlaufen soll: einmal innerhalb der aufsteigenden Phase der neuzeitlichen Philosophie, in der es ihm nicht gelang, sich vollständig zu verwirklichen, das zweite Mal in Brentanos Zeit, als der Prozess der Durchsetzung der positiven Forschung auf philosophischem Gebiet mittels einer von der Naturwissenschaft inspirierten Denkweise wiederaufgenommen und zu Ende gebracht werden sollte. Als möglicher Grund, weshalb das Positive in der ersten Periode nicht zur Herrschaft gekommen ist, nennt Brentano die kurze Dauer der Neuzeit und nicht etwa die Tatsache, dass der „positive Geist“ sich damals nur in der Astronomie durchsetzte⁶⁶ oder dass in der Neuzeit die traditionellen metaphysischen Fragestellungen (die Gottesfrage oder die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele) weiter bestimmend waren. Wenn man die Texte der Vorlesung über die neuzeitliche Philosophie unter die Lupe nimmt, dann sieht man, dass sich Brentano darin nicht auf die Astronomie bezieht und mit der Art und Weise, in der sich die neuzeitlichen Denker mit metaphysischen Problemen auseinandersetzten, ausführlich beschäftigt. Daraus folgt, dass nicht die Ausklammerung derartiger Fragen denjenigen Charakter ausmachen sollte, der in der Neuzeit nicht vollkommen zum Durchbruch gekommen ist und dem Brentanos Zeit helfen soll, sich durchzusetzen. Worauf bezieht sich dann „das Positive“ in Brentanos Text? Seine Erklärungen zeigen, dass er dabei auf die Beobachtung als Hauptquelle philosophischer Erkenntnis abzielt: Dass Descartes und Locke psychologische Beobachtungen betrieben haben, schätzt er hoch ein und beurteilt die Auffassung anderer Philosophen je nach ihrer Einstellung zur Beobachtung.⁶⁷ Wenn man
Philosophie seiner Zeit als im Einklang mit Comtes Auffassung von der Entwicklung der positiven Wissenschaften befindlich auffasste. Vgl. unten II.2.4. Vgl. unten S. 204. Vgl. dazu Schmaus, a. a. O., S. 39. „Vieles [hat Locke] mit Descartes gemein: das Hauptverdienst des Descartes, die psychologische Beobachtung, übt auch er und mit größerer Sorgfalt.“ (GPhN, S. 28; vgl. auch S. 6, 19, 34, 47, 305; vgl. auch ZPh, S. 129 ff., und Meine letzten Wünsche für Oesterreich (LWO), Stuttgart, Cotta’-
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II.2 Franz Brentano und Auguste Comte
zudem in Betracht zieht, dass es ihm zufolge zwei philosophische Grundwissenschaften gibt, die Metaphysik und die Psychologie, und dass seine frühe Definition der Philosophie aristotelisch klingt, aber einen Inhalt vorweist, der nicht auf Aristoteles, sondern auf die Neuzeit, auf Descartes, zurückgeht – die Philosophie studiere das Seiende „insofern es unter Begriffe fällt, welche durch innere Erfahrung gegeben sind […]“ –,⁶⁸ dann sieht man klar, was Brentano in dem angeführten Text hinsichtlich der Aufgabe seiner Zeit vorschwebt: die Etablierung einer induktiven Philosophie, die in ihren beiden Grunddisziplinen, der Metaphysik und der Psychologie, auf die Beobachtung gestützt sein sollte.⁶⁹ Die Aufgabe seiner Zeit bestand also nicht darin, die metaphysischen Fragen aus der Philosophie auszuklammern, wie dies bei Comte und Mill der Fall ist, sondern sie auf der Basis der in der Neuzeit entstandenen phänomenalen, nicht-substantiellen Wissenschaftsauffassung zu lösen. In diesem Sinne sagt Brentano am Ende des ersten Teils seiner Metaphysikvorlesung: Ueber d[ie] Methode. Dass sie [die Metaphysik; Hinzufügung I. T.] wie die Naturwissenschaft der Induction bedarf. […] Dass sie andere Wissenschaften namentlich naturwissenschaftliche Resultate verwerthet. […] Aber schon jetzt, bald Chemie, bald Physik, bald Physiologie ja selbst Mathematik [werden verwertet; Hinzufügung I. T.].⁷⁰
Um zu meinem Thema zurückzukehren: Es ist beachtenswert, dass Brentanos Idee, die zwei Perioden als eine einzige Epoche der Durchsetzung des positiven Geistes zu betrachten, als Analogon zu Comtes Verfahren angesehen werden kann, über die Verfallsphasen hinwegzusehen, um ausschließlich die aufsteigenden Phasen einer Wissenschaft in Betracht zu ziehen.⁷¹ Unter diesen Um-
sche Buchhandlung, 1895, S. 33), wo Brentano den Verfall der Philosophie auf den Verlust ihrer „naturwissenschaftlichen Methode“ zurückführt) Ms. H 45, apud Hedwig, a. a. O., S. XIII. Zur Philosophie als induktive Disziplin vgl. Anm. 15 in Hedwig, a. a. O., S. XV; vgl. auch unten II.3.2.3.2. In jener Zeit spricht Brentano noch unbekümmert von psychologischer Beobachtung: „Beobachtung und Experiment, besonders psychologische Selbstbeobachtung. Diese [war] nun die Methode der ersten Philosophen. Sie hatten also die richtige Methode, wie das richtige Interesse“ (Ms. H 45, in GPhN, S. 305, Anm. 18). In der Psychologie dagegen benutzt er die Redewendung „psychologische Selbstbeobachtung“ nicht mehr, weil er eine solche für unmöglich hält (PeS, S. 44 ff.). Hinzu kommt, dass Brentano sowohl in der Metaphysikvorlesung als auch in der Psychognosie mit apodiktischen Erkenntnissen arbeitet, die aus dem Begriff entspringen. M 96, Bl. 31820. Dieses Blatt und auch das unten angeführte Blatt 31815 wurden nicht in „Metaphysikvorlesung. I. Theil. Apologetik …“ veröffentlicht. Ich beschäftige mich hier nicht mit Brentanos Metaphysik (vgl. dazu M. L. Lamberto, Deskriptive Metaphysik. Die Frage nach Gott bei Franz Brentano, Frankfurt a. M. Peter Lang, 2017). AC, S. 131.
II.2.3 Brentanos Theorie der vier Phasen der Philosophie
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ständen scheint mir, dass Brentanos Behauptung „Nicht jedoch [ist] gewiß, daß wieder Verfall [eintritt]“ eben die Möglichkeit eines solchen Zeitalters im Auge hat, in dem das positive Denken nicht nur in den fundamentalen positiven Wissenschaften, sondern auch in der Philosophie vorherrscht. Wenn man von der Schwierigkeit absieht, dass das „reine theoretische Interesse“ Brentanos wegen seiner metaphysischen Komponenten nicht dieselbe Bedeutung hat wie bei Comte und Mill,⁷² dann steht das eben Gesagte sowohl mit Comtes Auffassung von der endgültigen Herrschaft des positiven Geistes auf allen Gebieten der Kultur als auch mit Brentanos eigenen Äußerungen im Aufsatz über Comte im Einklang, wo er der Philosophie die Aufgabe stellt, sich einer positiven Behandlung der Probleme zuzuwenden.⁷³ Ein anderer wichtiger Punkt dabei ist folgender: Brentanos Behauptung über eine Philosophie, die nicht weiter verfällt, gehört demselben Text, „Vom Gesetz der geschichtlichen Entwicklung“ (um 1870), an, in dem er seiner Epoche die Aufgabe stellt, der Durchsetzung des positiven Geistes Hilfe zu leisten. Dabei nimmt er die bereits 1869 in dem Aufsatz über Comte aufgestellte These, Comtes Gesetz lasse sich auf die aufsteigende Phase der Philosophie anwenden, wieder auf und präzisiert sie weiter, indem er zeigt, wie sie auf die Neuzeit anwendbar ist: Die positive Denkweise setzt sich in der Moderne und seiner eigenen Epoche gegen die theologische und metaphysische Betrachtungsweise durch.⁷⁴ Das ist der Zusammenhang, in dem er behauptet, seine Zeit müsse dem positiven Geist zum Durchbruch verhelfen. Auch wenn seine diesbezüglichen Ausführungen in „Vom Gesetz der geschichtlichen Entwicklung“ skizzenhaft bleiben, ist es beachtenswert, dass er acht Jahre später in „Philosophie der Geschichte der Philosophie“ dieselbe These der Anwendbarkeit von Comtes Gesetz auf die aufsteigenden Phasen seiner Lehre wiederaufnimmt, um sie in der Vorlesung „Philosophie der Geschichte der Philosophie, Darlegung der Ursachen der Blüte und des Verfalles und Charakteristik der bedeutendsten Erscheinungen. (Eine Propädeutik zum Selbststudium philosophischer Schriftsteller), 2st.“ im Sommersemester 1878, 1880 und 1883 vorzutragen.⁷⁵ In seinem klassischen Text zu diesem Thema, „Die vier Phasen der Philosophie und ihr augenblicklicher Stand“ (1895), ist von dieser Argumentationslinie gar nichts zu finden, und Brentano hält sich nicht weiter damit auf, das Verhältnis seiner Theorie zu Comtes Stadien-Lehre
Vgl. unten II.2.4. AC, S. 133. In AC bezieht er sich ausführlich nur auf die Antike. GPhN, S. 77– 80, 326; Antonelli, a. a. O., S. 443 f.
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II.2 Franz Brentano und Auguste Comte
zu erklären. Darüber hinaus taucht darin weder der Name „Comte“ noch „Mill“ auf, vielmehr rechtfertigt Brentano das Vertrauen in die Zukunft der Philosophie, indem er empfiehlt, Anknüpfungspunkte „in der Geschichte der modernen und antiken Philosophie“ und „in den Leistungen […] der Mathematik und Naturwissenschaft“ zu finden.⁷⁶ Damit scheint die Bedeutung von Comtes Theorie für seine Phasen-Lehre verlorengegangen zu sein. Was die Frage nach der Vorhersehbarkeit weiterer Entwicklungen der Philosophie aufgrund seines Phasen-Gesetzes betrifft, so steht es für ihn außer Frage, dass sich die zeitgenössische Philosophie in einer Übergangszeit zu einer neuen Aufstiegsphase befindet.⁷⁷ Angesichts der Perioden, die dieser Phase folgen, sind letzten Endes seine Äußerungen zu allgemein, um ihnen einen eindeutigen Sinn beimessen zu können. Wenn man von den eben angeführten Ausführungen Werles ausgeht und die zwei schon besprochenen Texte über die gesetzmäßige Entwicklung der Philosophie berücksichtigt, dann lässt sich auf jeden Fall sagen, dass Brentano in der Einleitung der Vorlesung über die griechische Philosophie mit einem starken Begriff der Gesetzmäßigkeit in der geschichtlichen Entwicklung der Philosophie arbeitet, der keine Ausnahme zu kennen scheint. Dagegen bringt der spätere, um 1870 geschriebene Text eine nuanciertere Auffassung ins Spiel. Die These einer gesetzmäßigen Entwicklung der Philosophie wird zwar beibehalten, jedoch lässt Brentano die Möglichkeit offen, davon in dem Sinne abzuweichen, dass die Philosophie dem Verfall nicht notwendig unterworfen ist und so dem positiven Stadium Comtes näherkommt.
II.2.4 Das reine theoretische Interesse Brentanos: Metaphysische und wissenschaftlich-positive Aspekte Es gibt mehrere Gründe, die dafür genannt werden können, weshalb Brentano weder Comte noch Mill als Vertreter der in seiner Zeit neu aufsteigenden Phase der Philosophie anführt. Sie sind teils metaphysischer, teils erkenntnistheoretischer Natur. Mit den erkenntnistheoretischen Gründen werde ich mich nicht weiter beschäftigen, sondern ich begrenze mich darauf, zu bemerken, dass sie hauptsächlich darin bestehen, dass Comte und Mill die nach Brentano wichtigsten Quellen sicherer Erkenntnis, die Evidenz der inneren Wahrnehmung und die aus
VPhPh, S. 28. Dies gilt auch für die Vorträge „Über Schellings Philosophie“ (1867/1889) und „Über die Zukunft der Philosophie“ (1893) (der Hinweis auf Comte (ZPh, S. 40) ist in dem letzten Vortrag bedeutungslos). VPhPh, S. 23 f.
II.2.4 Das reine theoretische Interesse Brentanos
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den Begriffen entspringenden apodiktischen Erkenntnisse, die Axiome, nicht wertschätzen.⁷⁸ Was die metaphysischen Aspekte dieser Frage betrifft, so kommen diese dann zum Tragen, wenn man von der Hypothese ausgeht, dass das „reine theoretische Interesse“ Brentanos nicht nur wissenschaftlich-positive, sondern auch metaphysische Komponenten aufweist. Diese Komponenten werden ersichtlich, wenn man aufgrund von Comtes Ausführungen hinsichtlich des Verhältnisses des metaphysischen und positiven Stadiums des Denkens und von Brentanos VierPhasen-Lehre eine Unterscheidung zwischen zwei geschichtlichen Formen des „reinen theoretischen Interesses“ Brentanos trifft: die traditionelle, metaphysische Form, die in Altertum und Mittelalter sowohl für die Philosophie als auch für die Wissenschaft gilt und die auf die Suche nach den Ursachen und Prinzipien der Substanzen abzielt, und die positive, wissenschaftliche Form, die sich beginnend mit der Neuzeit nicht weiter mit dem Studium der Substanzen, sondern den Phänomenen beschäftigt, auf naturwissenschaftlichem Gebiet auftaucht und sich – je nach Autor in unterschiedlichem Maße – auf philosophischer Ebene gegen die metaphysische Form durchzusetzen sucht. Wie oben bereits angedeutet, ist die Herrschaft des „reinen theoretischen Interesses“ ein Hauptmerkmal jeder aufsteigenden Phase und seine Schwächung einer der wichtigsten Faktoren, die den Verfall nach sich ziehen. Wenn Brentano dieses Interesse in seiner Vier-Phasen-Lehre charakterisiert, bringt er es in Verbindung mit dem Staunen als Ansporn philosophischer Forschung bei Platon und Aristoteles.⁷⁹ Aristoteles’ Erwähnung in diesem Zusammenhang ist besonders wichtig, weil sich aus seinen Ausführungen in Met. I 2 klar ergibt, welches reine theoretische Interesse Brentano im Auge hat, wenn er daraus ein Zeichnen der aufblühenden philosophischen Phase macht: Es geht um die traditionelle, metaphysische Form des theoretischen Interesses, das sich den ersten Prinzipien und
Vgl. dazu Brentanos Äußerungen über Mills Geringschätzung der aus den Begriffen entspringenden Erkenntnisse in seiner „Apologetik des Vernunftwissens gegen die Skeptiker und Kritiker“, dem ersten Teil seiner Metaphysikvorlesung (M 96, S. 31815; zu Mills empiristischer Haltung zu apodiktischen Wahrheiten vgl. SLRI I, Buch II, Kap. 5 f., und R. Fumerton, „Mill’s Epistemology“, in Ch. Macleod, D. E. Miller (Hrsg.), A Companion to Mill, Haboken, Wiley, 2016, S. 198 ff.). Auf Comte bezieht er sich im erwähnten Werk nur episodisch, unter anderen auch deshalb, weil Comte die Psychologie als Wissenschaft und damit einhergehend das Problem der evidenten inneren Wahrnehmung ablehnt. Die erwähnten Quellen spielen eine zentrale Rolle für Brentanos Absicht, eine wissenschaftliche Philosophie zu begründen (vgl. dazu F. Brentano, Versuch über die Erkenntnis (VE), A. Kastil (Hrsg.), Leipzig, Meiner, 1935 (S. 3 ff.), wo er seine Philosophie als Konkurrentin der neukantianischen Fassung der wissenschaftlichen Philosophie darstellt). VPhPh, S. 9; vgl. auch ZPh, S. 23, 25 und GPhN, S. 286.
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Ursachen der Dinge und, darin eingeschlossen, der ersten Ursache der Welt – Gott – zuwendet. Das befindet sich recht gut damit im Einklang, dass Brentano in seinen Vorlesungen über das Dasein Gottes den Zweifel an Gottesbeweisen als Merkmal des philosophischen Verfalls betrachtet: In der Anerkennung der Bündigkeit der Gottesbeweise waren die längste Zeit hindurch schier alle hervorragenden Denker miteinander einig. Aristoteles wie Plato, Locke und Newton wie Descartes und Leibniz stimmten dafür. Erst im Zusammenhang mit einem allgemeinen Verfall der Philosophie ist der Zweifel aufgetaucht und mächtig geworden.⁸⁰
Das bedeutet zugleich, dass Brentanos Charakterisierung des reinen theoretischen Interesses metaphysisch stark belastet ist, weil er in seiner Rede über die vier Phasen der Philosophie implizit eine theologisch-metaphysische Annahme trifft – die bejahende Einstellung zur Gottesfrage –,⁸¹ die als tazites Kriterium für die Beurteilung philosophischer Auffassungen angesichts ihrer Einordnung in sein Schema über den Entwicklungsgang der Philosophie angewendet wird. Nun veranschaulicht Brentano bekanntlich die Vier-Phasen-Lehre mittels der bereits abgelaufenen geschichtlichen Epochen: Altertum, Mittelalter und Neuzeit.⁸² Was die Gegenwart betrifft, beschreibt er seine eigene Zeit entweder als eine Übergangsperiode oder als Anfang der aufsteigenden Phase des vierten Zeitalters.⁸³ Wie schon ausgeführt, erwecken seine Texte den Eindruck, dass diese neue Epoche nach demselben Gesetz wie die drei anderen Epochen verlaufen soll. Was die Dauer der neuzeitlichen Epoche betrifft, endet seine Darstellung im Vortrag „Die Vier Phasen der Philosophie“ mit dem deutschen Idealismus, und zwar mit Hegel.⁸⁴ Wenn man allerdings seine um 1870 gehaltenen Vorlesungen über die neuzeitliche Philosophie einbezieht, sieht man, dass die geschichtlichen Darstellungen seiner eigenen Zeit sehr nahe kommen, ist doch die letzte philosophische Erscheinung, die darin behandelt wird, Schopenhauer (1788 – 1860).⁸⁵ Angesichts dieser Tatsache und auch der Erwähnung anderen Autoren, die zum Teil ebenfalls in seiner Zeit lebten, etwa Hamilton (1788 – 1856), der für einen
DG, S. 203. Vgl. VPhPh, S. 30 f. Vgl. GMPh, S. 4; AC, S. 131 f.; VPhPh, S. 7– 23; DG, S. 85 – 88. VPhPh, S. 23; AC, S. 133; ZPh, S. 97, 130. In LWO hält er auch den Herbartismus für ein „Uebergangssystem“ zu einer wissenschaftlichen Philosophie, dem die Hohlheit der „pomphaft aufgebauschten Lehrsysteme“ des deutschen Idealismus klar war, ohne dass es ihm jedoch gelungen wäre, die Philosophie auf die Erfahrung aufzubauen (LWO, S. 10, 36, 62). GMPh, S. 4; AC, S. 132; VPhPh, S. 23; DG, S. 87. GPhN, S. 76; vgl. auch Brentanos Text „Schopenhauer“ (1915), wo Schopenhauers Philosophie ausdrücklich als Erscheinung des dritten Stadiums der Dekadenz betrachtet wird (VPhPh, S. 91).
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Skeptiker gehalten wird,⁸⁶ stellt sich die Frage, ob die Neuzeit Brentano zufolge wirklich mit dem Niedergang des deutschen Idealismus endet oder aber sich auch nach Hegels Tod fortsetzt, und zwar bis in seine Zeit hinein? Oder sollten wir seine Äußerungen vielmehr so interpretieren, dass der deutsche Idealismus für ihn das Ende der neuzeitlichen Philosophie im konventionellen Sinne bezeichnet, während die erwähnten philosophischen Auffassungen Weiterentwicklungen der in der Neuzeit vor dem deutschen Idealismus ausgebildeten Verfallserscheinungen sind? Die Tatsache, dass Brentano die Philosophen, die in seiner eigenen Zeit lebten – Brentano wurde 1838 geboren – unter der Rubrik Neuzeit anführt, lässt sich unter beiden Gesichtspunkten interpretieren. Wie auch immer die Antwort auf diese Fragen lauten mag, zeigen sie, wie vielschichtig die philosophische Landschaft von Brentanos Zeit ist.⁸⁷ Zum einen geht es um eine Übergangszeit, in der die skeptischen oder unnatürlichen Weiterentwicklungen der Verfallsperioden der Neuzeit überlebten und sich weiter entwickelten, z. B. im Neukantianismus. Zum anderen geht es um den Anfang einer neuen Epoche, die mit Brentano und nur mit ihm und mit keinem anderen Philosophen beginnen sollte, also weder mit Comte noch mit Mill. Übrigens tauchen diese Namen nicht in den Vorlesungen über die Neuzeit auf, sondern im ersten Teil der Metaphysikvorlesung, wo Brentano sie für Skeptiker hält.⁸⁸ Allerdings beziehen sich seine Erörterungen an der eben erwähnten Stelle weder auf die Vier-Phasen-Lehre noch auf die Gottesfrage, sondern auf die Quellen sicherer Erkenntnis.⁸⁹ Vor diesem Hintergrund entspricht die Betrachtung beider Autoren als Skeptiker unter erkenntnistheoretischem Gesichtspunkt ihrem Skeptizismus angesichts der Gottesbeweise.⁹⁰ Jedoch bin ich der Meinung, dass die Erwartung, Brentano sollte die zwei Autoren als Vertreter der neuen aufsteigenden Phase betrachten, nicht unbegründet ist, weil sich sein Anspruch, der Verkünder einer neuen philosophischen Epoche zu sein, nicht ohne die Einbeziehung von Comtes und Mills Erörterungen über die Ziele und Methode der philosophischen Forschung denken lässt. Von diesem GPhN, S. 47. Vgl auch unten S. 207 f. M 96, Bl. 31820. Vgl. z. B. M 96, Bl. 31815. Vgl. dazu Brentanos Erörterungen über Comte und Mill in DG (S. 159 – 167), wo sowohl von Mill als auch von Bain behauptet wird, dass sie „in übertriebener Weise Empiristen“ seien und wo sie ins Verhältnis zu Humes Skeptizismus gesetzt werden (S. 166); vgl. auch Brentanos Brief an Mach (20.05.1895), wo „Comte und Kirchhoff […] als Vertreter eines inkonsequenten, J. St. Mill und Mach als Vertreter eines vorgeschrittteneren Positivismus“ betrachtet werden (F. Brentano, Über Ernst Machs „Erkenntnis und Irrtum“ (ÜEM), R. M. Chisholm, J. C. Marek (Hrsg.), Amsterdam, Rodopi, 1988, S. 204).
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Standpunkt aus ist es aufschlussreich, dass Brentano 1869 Comte entschieden gegen den Vorwurf verteidigte, ein Anhänger des Skeptizismus Humes sowohl angesichts des relativen Charakters unseres Wissens als auch der Erkenntnis von Ursachen zu sein: Auch daß den Dingen Größe und Gestalt, Ort, Zeit und Bewegung […] zukommen, ist er [Comte; Hinzufügung I. T.] weit entfernt zu bestreiten. Es ist allerdings richtig, daß er uns die absolute Erkenntnis in Bezug auf die Mehrzahl dieser Bestimmungen im speziellen abspricht. Aber hierin liegt kein skeptischer Irrtum, sondern im Gegenteil eine leicht zu bestätigende Wahrheit. […] – Nein, nein! Comte verdient hier keinen Tadel; in diesem Punkte müssen wir alle zu den Skeptikern stehen [Hervorhebung I. T.]. Und was anderes also bleibt, das uns von ihnen unterscheiden könnte, wenn nicht die Behauptung der Erkennbarkeit der wahren Verhältnisse der Dinge? – Die absolute Größe eines Körpers ist nicht bestimmbar, die relative können wir mit Genauigkeit messen und berechnen; […] Das also ist, was uns von den Skeptikern trennt, und es entfernt uns von ihnen weit und auf tausend Meilen. Denn man muß nicht glauben, daß in jenen Beziehungen der Dinge nur etwas Geringfügiges von uns erkannt werde, da vielmehr gerade sie das überwiegend Wichtige sind. […] – die relativen örtlichen und zeitlichen Bestimmtheiten, die Unterschiede des Beisammen und Auseinander, des Zugleich und Früher und Später, die relative Ruhe oder Bewegung, die Verhältnisse der Größen und Dimensionen sind für uns von einem ganz anderen Belange. Auf ihrer Erkenntnis allein beruhen Mechanik und Kunst, und Theorie und praktisches Leben. Comte hat also hier an den Skeptizismus kein allzugroßes Zugeständnis gemacht, er hat nicht das Interesse der Wissenschaft geopfert; er ist nicht skeptischer als wir selbst, nicht skeptischer als jeder echte Philosoph sein muß.⁹¹
Wenn man dazu noch Brentanos Lob an Comte zu Beginn seines Aufsatzes berücksichtigt: „[…] dennoch ist vielleicht kein anderer Philosoph der neuesten Zeit, der in so hohem Maße unsere Beachtung verdiente, als gerade Comte“,⁹² dann bemerkt man, dass sich seine Haltung zu Comte in der Metaphysikvorlesung bereits geändert hat.⁹³ Ich erkläre mir Brentanos skeptische Haltung zu den zwei Autoren angesichts ihrer Zugehörigkeit zur aufblühenden Phase der Philosophie seiner Zeit dadurch, dass ihre Einstellung zu metaphysischen Fragen (Dasein Gottes, Unsterblichkeit der Seele) für Brentano zur Beurteilung ihrer philosophischen Anschauungen ebenso wichtig war wie ihre erkenntnistheoretische Position. Darüber hinaus bin ich der Meinung, dass sich die Abwesenheit der zwei Namen innerhalb von Brentanos Erläuterungen über die neue philosophische Phase seiner Zeit als ein AC, S. 114 f.; vgl. auch VPhPh, S. 28 f. und GPhN, S. 253 f. AC 99; vgl. auch: „Comte hat klare Blicke getan in die Mißstände unserer Philosophie und in die Übel unserer Zeit überhaupt; er hat ihre Torheiten und Bedürfnisse oft besser als viele andere erkannt“ (AC, S. 101). M 96, Bl. 31820.
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Zeichen dafür interpretieren lässt, dass Brentanos Ansicht über die Rolle des theoretischen Interesses für die Charakterisierung einer aufsteigenden philosophischen Auffassung auf ein wichtiges Problem zu stoßen droht, wenn man versucht, sie nicht nur auf die schon vergangenen Epochen, sondern auch auf seine eigene Zeit zu übertragen. Dieses Problem besteht in dem Verhältnis des neu anbrechenden positiven Interesses der Naturwissenschaft zu dem traditionell verfassten theoretischen Interesse der Philosophie und taucht bereits beim Anwenden seiner Lehre auf die Denker der Neuzeit auf, die sich auf wissenschaftlichem oder methodischem Gebiet besonders verdient gemacht haben, nämlich bei Bacon und besonders bei Descartes. Im Grunde von Descartes’ Metaphysik liegt das traditionell aufgefasste theoretisch-philosophische Interesse. Dagegen verfährt er in seiner Mechanik ganz im Sinne der neuzeitlichen naturwissenschaftlichen Auffassung über das theoretische Interesse.⁹⁴ Dieses Problem spitzt sich weiter gravierend zu, wenn man versucht, Comtes und Mills Ansichten, die auf den jungen Brentano stark eingewirkt haben, unter dem ersten Kriterium der aufsteigenden Phase zu bewerten. Demgemäß sollten auch Comtes und Mills Ausführungen unter dem Gesichtspunkt eines reinen theoretischen Interesses beurteilt werden, das großen Wert auf das Auffinden der ersten Ursachen der Dinge legt. Dagegen bestand Comtes und Mills Glaubensbekenntnis gerade darin, das Objekt des traditionell verfassten theoretischen Interesses aus ihren Untersuchungen auszuschließen, um der Naturwissenschaft folgend die philosophische Arbeit auf die Ergründung der Verhältnisse der Phänomene zu richten. Mit anderen Worten: Um Brentanos Philosophie der Geschichte der Philosophie angemessen zu interpretieren, muss man genau zwischen den schon erwähnten geschichtlichen Formen des theoretischen Interesses unterscheiden: seiner traditionellen, stark metaphysisch geprägten Form, die in der Antike und im Mittelalter vorherrschte und in der Metaphysik der Neuzeit weiterlebt, und seiner positiven Form, die zunächst in naturwissenschaftlichen Kontexten auftaucht, dann in Comtes und Mills Schriften ausgearbeitet wird und programmatisch die traditionelle Auffassung hinter sich lässt, um sich den Gesetzen der Phänomene zuzuwenden. Brentanos Ausführungen zur ersten Form des reinen theoretischen Interesses haben besonders die Entwicklung der Philosophie in ihren ersten drei Stadien im Blick und vertragen sich problemlos mit der Frage nach dem „Urgrund der Welt“.⁹⁵ Das modern verfasste theoretische Interesse erscheint dagegen nicht in diesen Schriften, sondern in anderen frühen Arbeiten, z. B. in der Psychologie, im Aufsatz über Comte, wo er Comte gegen den Vorwurf des Skeptizismus verteidigt
Vgl. GPhN, S. 13 – 20; CPhP III, S. 401 f. VPhPh, S. 29.
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und auch einmalig die Aufgabe seiner Epoche als eine Rückwendung „zu einer positiven Behandlung der Philosophie“ bestimmt.⁹⁶ Dabei ist zu beachten, dass sich Brentano der antimetaphysischen Konsequenzen der neuen Auffassung über die Aufgabe der naturwissenschaftlichen Forschung (z. B. die Ausklammerung der Gottesfrage oder der Frage nach der Unsterblichkeit der Seele aus dem philosophischen Gebiet) vollkommen bewusst war.⁹⁷ Zugleich liegt einer der Hauptzüge seines Denkens gerade darin, dass er diese Konsequenzen nicht ziehen wollte. Im Gegenteil, er versucht die metaphysischen Fragen dadurch an die positive Forschungsweise anzupassen, dass er einerseits auf wissenschaftlicher Ebene, z. B. in seiner Psychologie, im Geiste des modernen theoretischen Interesses verfährt und sich auf das Studium der Phänomene und ihrer Verhältnisse zueinander begrenzt. Andererseits will er die metaphysischen Fragen nicht ausklammern, sondern nimmt sie auf der Ebene der psychischen phänomenalen Wissenschaft wieder auf und versucht, sie auf naturwissenschaftlicher Basis zu lösen.⁹⁸ Anders gesagt war Brentano nie bereit, die Verwissenschaftlichung des „reinen theoretischen“, philosophischen Interesses so weit zu betreiben, dass die metaphysische Fragestellung über Bord geworfen wird, um das philosophische Nachdenken nur auf diejenigen Fragen zu restringieren, die positiv behandelt werden können. In diesem Sinn behauptet er:
AC, S. 133. Diese Vielfältigkeit ist auch in Brentanos bekanntem Ausdruck „naturgemäße Methode“ abzulesen, denn darin lassen sich drei verschiedene Bedeutungen unterscheiden: (i) Beobachtung und Experiment in der neuzeitlichen positiven Wissenschaft, (ii) innere Wahrnehmung, aber auch Beobachtung im frischen Gedächtnis im Rahmen der empirischen und deskriptiven Psychologie, (iii) spekulativ-theologisches Denken. Vgl. dazu den Paragraphen 2 des ersten Kapitels des ersten Buches seiner Psychologie. Zur metaphysischen Dimension von Brentanos Psychologie vgl. unten II.3.1.1. Für die Art und Weise, in der es Brentano versteht, die wissenschaftlichen Ergebnisse unter metaphysischem Gesichtspunkt zu interpretieren, vgl. DG, wo er erklärt, dass in der Ausführung der Gottesbeweise nicht apriorisch, sondern naturwissenschaftlich, empirisch zu verfahren sei: Die vier Beweise „sind […] eins in ihrer Methode. Diese ist bei keinem von ihnen apriorisch; vielmehr gehen alle von der Erfahrung aus. Unsere Methode wird bei jedem der Beweise diejenige sein, welche die Naturwissenschaft befolgt, wenn sie aus beobachteten Erscheinungen auf ihre Ursache schließt. Auch wir schließen bei jedem von der Wirkung auf die Ursache.“ (DG, S. 209 f.) Die Beweise sind: „1. Der teleologische Beweis aus der vernünftigen Ordnung in der Natur. 2. Der Beweis aus der Bewegung. 3. Der Beweis aus der Kontingenz. 4. Der psychologische Beweis aus der Natur der menschlichen Seele“ (DG, S. 208; vgl. auch GGPh, S. 277 f., und S. Krantz Gabriels Abhandlung: „Can We Have Scientific Knowledge About God? Brentano on Comte’s Metaphysical Skepticism“, in I. Tănăsescu, A. Bejinariu, S. Krantz Gabriel, C. Stoenescu (Hrsg.), Brentano and the Positive Philosophy of Comte and Mill. With Translations of Original Writings on Philosophy as Science by Franz Brentano, Berlin, De Gruyter (im Erscheinen)).
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Ohne das Wesen des Stoffes zu erkennen, haben wir doch erkannt, dass derselbe wesentlich inkorruptibel ist, ohne das Wesen des Geistes zu erkennen, vermögen wir vielleicht doch zu zeigen, daß er auf immerwährenden Bestand wohlgegründete Hoffnung hat; und ohne das Wesen des Urgrundes der Welt zu erkennen, mögen wir doch zu einer vernünftigen Überzeugung durchdringen, daß die Welt zum Besten von ihm geordnet ist.⁹⁹
In Grunde genommen liegt an der Basis dieser Stelle eine philosophische Einstellung, die behauptet, die Theorie als Ergründung der ersten Ursache der Welt sei der nutzbringenden Wissenschaft überlegen. Diese Einstellung geht auf die erwähnte Stelle der aristotelischen Metaphysik zurück, wo gesagt wird, die Erforschung nach den ersten Ursachen und Prinzipien verfolge keine nutzbringenden, sondern rein theoretische Ziele und diese Art der Erkenntnis sei eben deshalb anderen Erkenntnisarten überlegen, weil sie nicht um etwas anderes, sondern um ihrer selbst willen erfolge.¹⁰⁰ Die Neuzeit (Bacon), Comte und Mill stimmen dieser Einschätzung nicht weiter zu, sondern ihre neue Form von theōria, die im Ermitteln der Gesetze der Natur besteht, ist unter anderem auch deshalb so wichtig, weil sie die technische Beherrschung der Natur ermöglicht. In diesem Sinne folgt Brentano Comte, als er im Manuskript „Auguste Comte und die positive Philosophie“ (H 45) behauptet: Betrachtet man das Ganze menschlicher Leistungen, so ist ohne Zweifel das Studium der Natur bestimmt, als wahre rationelle Basis der Aktivität auf die Natur zu dienen. Nur die Erkenntnis der Gesetze der Natur gestattet uns die Herbeiführung von Bedingungen, welche zu dem von uns erwünschten Erfolg führen.
VPhPh, S. 29. Met. I 2, 982 a 14– 16; 982 b 24– 27; 983 a 5 – 11. Vgl. auch ZPh, S. 23 ff. In der „Einleitung“ zu seiner Vorlesung über die Geschichte der Philosophie sagt Brentano: „[Dagegen finden wir nur] wenige Träger der philosophischen Erkenntnis: α) Schwierigkeit, [da die Philosophie] den Sinnen am fernsten [ist]. […] β) Kein Gewinn außer der Wahrheit, rein theoretisches Interesse“ (GPhN, S. 7; vgl. auch ZPh, S. 22 f., 25). In demselben Sinn spricht er in der Metaphysikvorlesung (M 96, Bl. 31820) „über den großen […] rein theoretischen Werth“ der metaphysischen Untersuchungen; vgl. auch: „2. Zweck […] keiner minder nützlich – keiner edler Weisheit“ (M 98, nicht-nummeriertes Blatt; in Antonelli, a. a. O., S. 448) und: „3. Zweck. Die Metaphysik scheint vielen zwecklos , weil unnütz. Aber wenn auch, so ist sie begehrenswerth als die schönste und edelste Wissenschaft. Sie hat aber, wie alle theoretischen secundär auch einen praktischen Wert als Grundlage anderer Wissenschaften insbesondere der Ethik und Politik.“ (M 96, Bl. 31753; in Antonelli, a. a. O., S. 450) Dabei sagt Brentano nichts davon, dass, wenn Comte von dem praktischen Wert der theoretischen Wissenschaften spricht, er nur die positiven Wissenschaften im Auge hat und die Suche nach dem metaphysischen Grund der Welt aus dem Bereich der positiven Forschung ausschließt.
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Science, d’òu prévoyance, prévoyance d’òu action: das ist die Formel, die mit Genauigkeit das allgemeine Verhältnis von Wissenschaft und Kunst bezeichnet.¹⁰¹
Auch wenn Comte in seinen Ausführungen hervorhebt, dass die Rolle der theoretischen Wissenschaften sich nicht darin erschöpft, Grundlage der technischen Disziplinen zu sein, sondern ihr Hauptziel darin besteht, das Grundbedürfnis unseres Verstandes – die Gesetze der Phänomene kennenzulernen – zu befriedigen, bemerkt man anhand dieser Stelle deutlich, dass bei ihm nicht diejenige aristotelische Trennung zwischen den nutzbringenden und den rein theoretischen Wissenschaften vorherrscht, die sich auf der Suche nach den ersten Prinzipien befinden. Wie bereits angedeutet, lässt Comte in seinem positiven System keinen Raum für eine solche Suche zu. Deshalb glaube ich, dass Brentanos Werk trotz der ihm wesentlichen Aneignung der modernen positiven Wissenschaftsauffassung unter dem Gesichtspunkt von Comtes Drei-Stadien-Gesetz als eine Konzeption zu beurteilen ist, die nicht der positiven Epoche des Denkens angehörig ist, weil sie sich bewusst als Weiterentwicklung der metaphysischen Tradition versteht. Die erwähnte Doppeldeutigkeit des reinen theoretischen Interesses taucht bereits in Brentanos frühen Schriften in aller Deutlichkeit auf: Einerseits sind da sein Aufsatz über Comte, seine Antrittsrede an der Universität Wien, seine Psychologie, wo die positive Form des philosophischen Interesses eindeutig zur Sprache kommt. Andererseits zeigen seine Habilitationsschrift (1867), seine frühen Vorlesungen über die Unsterblichkeit der Seele (1869/70) und Dasein Gottes (1872/73) und auch seine metaphysischen Vorlesungen, dass er an der traditionellen, metaphysischen Sichtweise des philosophischen Interesses festhält, nämlich an jener Denkweise, die in dem „Urgrund der Welt“ ihren festen Punkt findet und zu deren Untermauerung er absichtlich die Ergebnisse der Naturwissenschaft nutzt.¹⁰² Es gibt viele wichtige Thesen Brentanos, die sich ohne die
GPhN, S. 278. „Kunst“ ist hier als praktische, auf die technische Beherrschung der Natur gerichtete Wissenschaft verstanden. Brentano bezieht sich dabei auf die folgende Passage in Comtes Cours „Sans doute, quand on envisage l’ensamble complet des travaux de tout genre de l’espèce humaine, on doit concevoir l’étude de la nature comme destinée à fournir la véritable base rationnelle de l’action de l’homme sur la nature, puisque la connaissance des lois des phénomènes, dont le résultat constant est de nous les faire prévoir, peut seule évidemment nous conduire, dans la vie active, à les modifier à notre avantage les uns par les autres.“ (CPhP I, S. 50 f.; vgl. auch Hedwigs Anmerkungen zum Text und GPhN, S. 13; vgl. auch Marty, a. a. O., S. 7 f.) Das gilt auch für die metaphysische Dimension von Brentanos Psychologie. Die traditionelle, aristotelisch-scholastische Dimension Brentanos Denkens lässt sich klar in dem Titel seiner Lehrveranstaltungen an der Universitäten Würzburg (1866 – 1873) und Wien (1874– 1895) ablesen. In Großen und Ganzen behandelte Brentano darin die folgenden Themen: (1) Geschichte der Philosophie (1866/67, 1867/68, 1868/69, 1869/70, 1870, 1871/72, 1874), Aristoteles’ Philosophie (1876,
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Einbeziehung des Verhältnisses der zwei Formen philosophischen Interesses zueinander nicht verstehen lassen: die Einstellung zur Unsterblichkeit der Seele in der Psychologie vom empirischen Standpunkt, seine Hochschätzung für theistische Denker, seine Haltung zu Comte und Mill usw. In Anbetracht des weiteren Verlaufs meiner Analyse setzte ich schon jetzt als gesichert voraus, dass der Grund, aus dem die Namen „Comte“ und „Mill“ in Brentanos Vorträgen über die Zukunft der Philosophie gegen Ende seiner Wiener Zeit nicht auftauchen, in deren Einstellung zu metaphysischen Fragen, z. B. zur Gottesfrage, besteht.¹⁰³ Um die Bedeutung dieser Tatsache richtig einschätzen zu können, muss berücksichtigt werden, dass beide Autoren die von Brentano selbst aufgestellten Kriterien für die Anerkennung einer Philosophie als Erscheinungsform der aufsteigenden Phase einhalten: Ihre Schriften tragen den methodologischen Entwicklungen in den Naturwissenschaften restlos Rechnung und lassen sich als Ausdruck des modern gefassten theoretischen Interesses verstehen. Aber vielleicht liegt gerade darin der Grund, weswegen Brentano so zurückhalten dabei
1878) und Philosophie der Geschichte der Philosophie (1878, 1880, 1883); (2) Metaphysik (1867, 1868, 1868/69, 1869, 1870, 1874/75, 1877/78, 1881, 1882/83, 1886/87) und Dasein Gottes (1872/73, 1879, 1891/92); (3) Psychologie (1871, 1872/73, 1874/75, 1875, 1876/77, 1877, 1879/80, 1880, 1883, 1885/ 86, 1887/88, 1888/89, 1890/91) und Unsterblichkeit der Seele (1869/70, 1879); (4) Logik (1869/70, 1870/71, 1875, 1877, 1878/79, 1882, 1884/85); (5) Praktische Philosophie (seit WS 1875/76, jährlich bis zum Ende seiner Lehrtätigkeit in Wien, WS 1894/95). Außerdem gibt es einige Themen, die Brentano nur einmal vortrug: „Auguste Comte und der Positivismus im heutigen Frankreich“ (1869), „Ausgewählte philosophische Fragen“ (1875/76), „Von den Sophismen und ihrer Anwendung auf philosophischem Gebiete“ (1876), „Transzendentalphilosophie“ (1883/84), die den Vorlesungen über Metaphysik zugeordnet werden kann: der erste Teil dieser Würzburger Vorlesung trägt den Titel: „Apologetik des Vernunftwissens gegen Skeptiker und Kritiker (Transzendentalphilosophie)“, „Ausgewählte Fragen aus Psychologie und Ästhetik“ (1885/86), „Zeitbewegende philosophische Fragen“ (1893/94) und „Meine Philosophie, Übersicht über die Ergebnisse eigener Forschung nebst geschichtlicher Einleitung“ (1894/95) (vgl. dazu „Verzeichnis der Lehrveranstaltungen Brentanos …“, in Antonelli, a. a. O., S. 439 – 445). Aus rechtlichen Gründen, die (kontrovers ausgelegt) die Eheschließung ehemaliger katholischer Priester betrafen, wurde Brentano im Herbst 1880 seines Ordinariats enthoben (vgl. dazu LWÖ und Antonelli, a.a.O., S. 440). Ab WS 1883/84 hält er deshalb keine weiteren Lehrveranstaltungen mehr. Es sei hinzugefügt, dass die Metaphysik und die Psychologie nach Brentano die zwei philosophischen Grunddisziplinen sind, dass er in der Vorlesung „Ausgewählte Fragen aus Psychologie und Ästhetik“ (1885/86) erstmals in seinen bis jetzt veröffentlichten Schriften nicht nur zwei verschiedene Aspekte der psychologischen Forschung, sondern zwei psychische Wissenschaften, die deskriptive und die genetische Psychologie, unterscheidet (GÄ, S. 34– 36), die sich auch auf die Grundalgen der praktischen Disziplinen Logik, Ethik und Ästhetik auswirken (PeS, S. 37; DPs, S. 76). Wie gesagt kommen dazu noch die Gründe, die sich auf die erkenntnistheoretischen Fragen beziehen.
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II.2 Franz Brentano und Auguste Comte
ist, sie als Verteidiger der neu anbrechenden Phase seiner Epoche anzuführen. Vielleicht waren ihre Auffassungen seiner Meinung nach zu positiv, um sie als Vertreter des neu aufsteigenden Stadiums der Philosophie seiner Zeit zu qualifizieren. Vielleicht sind für Brentano das modern aufgefasste theoretische Interesse und die Befriedigung des methodischen Kriteriums allein nicht ausreichend, um einen Denker als Repräsentanten einer neu anbrechenden philosophischen Entwicklung anzuerkennen.¹⁰⁴ Darüber hinaus sollte man seiner Meinung nach eine optimistische Haltung zur Gottesfrage haben, so wie dies bei den früheren Denkern und bei Brentano selbst der Fall war.¹⁰⁵ Wir dürfen vermuten, dass der Grund dafür darin liegt, dass Brentanos Meinung nach die wissenschaftlichen Probleme und die auf sie bezogene philosophische Reflexion nicht die einzigen und vielleicht nicht die wichtigsten philosophischen Probleme sind. In diesem Sinne behauptet er in seiner 1874 gehaltenen Antrittsvorlesung: „[…] es bleibt ihr [der Philosophie; Hinzufügung I. T.] ein Kreis von Fragen, auf deren Beantwortung nicht verzichtet werden muß und, im Interesse der Menschheit, nicht verzichtet werden kann.“¹⁰⁶ Ich glaube, dass diejenigen Probleme, auf die sich Brentano hier bezieht, in erster Linie nicht erkenntnistheoretischer und wissenschaftlicher, sondern metaphysischer Natur sind. In der Antrittsvorlesung lässt sich Brentano nicht weiter auf die Behandlung dieser Fragen ein. Dagegen zeigt er in der Psychologie klar, welcher Art die Probleme sind, die er in derselben vor Augen hatte: Hiezu kommt aber noch das besondere und unvergleichliche Interesse, welches ihr [der Psychologie; Hinzufügung I. T.] eigen ist, insofern sie uns über unsere Unsterblichkeit belehrt und hiedurch in einem neuen Sinne die Wissenschaft der Zukunft wird. Der Psychologie fällt die Frage über die Hoffnung auf ein Jenseits und auf die Theilnahme an einem vollendeteren Weltzustande zu.¹⁰⁷
Dies lässt sich weiter dahingehend interpretieren, dass die Bewunderung für die Methode der Naturwissenschaft bei Brentano Hand in Hand geht mit der Möglichkeit, aufgrund von wissenschaftlichen Ergebnissen Argumente für metaphy-
Aus diesem Grund teile ich nicht die Meinung von Mezei und Smith, der junge Husserl wäre zusammen mit Brentano als Vertreter der neu aufsteigenden philosophischen Phase zu betrachten, denn die Gottesfrage spielt beim jungen Husserl gar keine Rolle (Mezei und Smith, a. a. O., S. 42– 48). VPhPh, S. 30 ff.; DG, S. 203. ZPh, S. 98. PeS, S. 41 f. Die Überlegenheit, die Brentano der Psychologie gegenüber der Naturwissenschaft beimisst, steht eng damit in Verbindung (PeS, S. 35 f., 42.).
II.2.4 Das reine theoretische Interesse Brentanos
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sische Fragen vorzulegen.¹⁰⁸ Meiner Meinung nach bilden ausgerechnet die metaphysischen Fragen einen der Hauptgründe, weshalb Brentano andere philosophische Wege geht als Comte oder Mill. Denn für Brentano gibt es neben den wissenschaftlichen und erkenntnistheoretischen auch metaphysische Probleme, auf deren Behandlung eine aufsteigende philosophische Epoche „im Interesse der Menschheit“ nicht verzichten darf, wie groß auch immer das Ansehen der Wissenschaft und der positiven Forschung sein mag.¹⁰⁹ Dies zeigt zugleich, dass durch die zyklische, gesetzmäßige Entwicklung der Philosophie bei Brentano bereits vorausgesetzt wird, dass jede neu aufsteigende Phase die metaphysische Fragestellung wieder aufzunehmen hat. Demgemäß dürfen nur diejenigen Denker zu der neu aufsteigenden Phase gehören, die wie Brentano die metaphysische Reflexion von Aristoteles, Thomas von Aquin, oder Leibniz weiterführen.¹¹⁰ Dieselbe Doppeldeutigkeit angesichts des positiv gefassten theoretischen Interesses – er lässt es zu, aber in Grenzen – kann auch hinsichtlich seiner vierten Habilitationsthesis ins Licht gesetzt werden. Brentano lässt sich zwar von der Methode der Naturwissenschaft inspirieren und nimmt, wie ich weiter zeigen werde, ihre wichtigen methodischen Momente sowohl ins Programm als auch in die Ausführungen der Psychologie auf. Allerdings fühlt er sich dabei auf keine Weise gezwungen, die metaphysische Fragestellung preiszugeben, denn er sieht
PeS, S. 33 f., 90 f. Wie oben angedeutet, geht die skeptische Haltung in denjenigen erkenntnistheoretischen Fragen, die für Brentano von Bedeutung waren, bei beiden Autoren mit dem Ausscheiden von metaphysischen Fragen aus der philosophischen Rede Hand in Hand. Mill z. B., dessen Psychologie Brentano hochschätzt, schenkt in seinen Ausführungen über die Wissenschaft von der menschlichen Natur der Unsterblichkeit der Seele keinen Raum, also einem Problem, das Brentano zufolge zu jeder Psychologie gehört, wie empirisch auch immer sie verfahren sollte (vgl. SLRI, Buch VI, Kap. 3 f.). VPhPh, S. 31; AW, S. 151. Unter diesen Umständen interpretiere ich Brentanos Empfehlung, den Verfall der neuzeitlichen Philosophie durch die „Anknüpfung an die Höhepunkte der Vergangenheit“ (AC, S. 133) zu überwinden, nicht als Zeichen des Einflusses von Lasaulx auf ihn (vgl. dazu R. Schaefer, „Learning from Lasaulx: The Origins of Brentano’s Four Phases Theory“, in D. Fisette, G. Fréchette, F. Stadler (Hrsg.), Franz Brentano and Austrian Philosophy, Dordrecht, Springer, 2020, S. 181– 196), sondern als Beleg dafür, dass solche „Höhepunkte“ (z. B. Aristoteles’ Philosophie) für die Bedeutsamkeit metaphysischer Fragen und der damit verbundenen „naturgemäßen Methode“ in jeder neu ansteigenden Phase der Philosophie lehrreich sind. Das besagt zugleich, dass wir aufgrund des vorherigen geschichtlichen Verlaufs der Philosophie schon imstande sind, die Merkmale der an- und absteigenden Phasen, z. B. das reine theoretische Interesse für die erste Ursache der Welt, zu erkennen und auf den heutigen Stand der Philosophie anzuwenden, wie es Brentano selbst zu seiner Zeit versuchte.
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II.2 Franz Brentano und Auguste Comte
kein Problem darin, die naturwissenschaftliche Methode zu metaphysischen Zwecken zu nutzen.¹¹¹ Wenn das eben Dargelegte richtig ist, dann beweist dies Folgendes: Brentano operiert mit seinen Kriterien zur Einordnung einer philosophischen Auffassung in das Schema seiner Phasen-Lehre nicht sauber: Sein erstes Kriterium, das „reine theoretische Interesse“, zieht metaphysische Implikationen nach sich, die unausgesprochen bleiben, aber seine Haltung zu Denkern wie Comte oder Mill bestimmen, deren Philosophie das modern verfasste theoretische und wissenschaftliche Interesse paradigmatisch verkörpert. Allerdings entspricht ihre antimetaphysische Haltung nicht Brentanos Erwartungen. Dementsprechend gilt: Weder konnte noch wollte Brentano Comte und Mill als Vertreter der neu aufsteigenden Phase seiner Zeit anerkennen, denn ihre Überlegungen waren keine Weiterbildung der großen theistischen Philosophien der Vergangenheit. Die obigen Überlegungen zeigen zugleich, dass Brentano die Unterschiede zwischen den traditionellen und den neuzeitlichen Auffassungen über die Ziele der philosophischen und wissenschaftlichen Erkenntnis nie explizit unter der Rubrik „reines theoretisches Interesse“ thematisiert und in seine Ausführungen über die Vier-Phasen-Lehre integriert hat, auch wenn er die wesentlichen Unterschiede zwischen der modernen und der traditionellen Wissenschaftsauffassung in seiner Psychologie deutlich gesehen und zusammengefasst hat.¹¹² Das lässt sich aufgrund von zwei Passagen aus seinen frühen Schriften klar aufzeigen. Im Ms. H 48 behauptet Brentano: Günstiges Kriterium dieses Zusammenstimmens [von Comtes und Aristoteles’ Klassifikation der Wissenschaften; Hinzufügung I. T.] für die Theorien. Günstiges Kriterium für unsere Zeit. Neu anbrechende Periode. Wie auch anders, wenn rein theoretisches Interesse? Und naturwissenschaftliche Methode?¹¹³
Angesichts dieser Behauptung sollte jedoch hervorgehoben werden, dass Aristoteles’ und Comtes Klassifikationen der Wissenschaften nur eine äußerliche Ähnlichkeit aufweisen, hinter der tiefgreifendere Unterschiede in Bezug auf die Ziele des theoretischen Wissens stecken. Wenn man die drei theoretischen Wissenschaften des Aristoteles (Mathematik, Physik und Metaphysik) in Betracht
Vgl. PeS, S. 34 f., 90 f. Vgl. die ersten zwei Paragraphen der genannten Schrift. GPhN, S. 286.
II.2.4 Das reine theoretische Interesse Brentanos
187
zieht¹¹⁴ und die mittleren Wissenschaften (Astronomie, Physik, Chemie, Biologie) in Comtes Skala unter der allgemeinen Bezeichnung „Naturwissenschaft“ oder „Physik“ zusammenfasst, dann sieht man, dass Brentano dabei eine Analogie zwischen zwei Reihen von Wissenschaften vor Augen hat, deren ersten zwei Glieder: die Mathematik und die Physik, trotz des gemeinsamen Namens völlig unterschiedliche Inhalte haben, nämlich die traditionelle und die neuzeitliche Wissenschaftsauffassung. Was ihr letztes Glied betrifft, weisen sie gar keine Ähnlichkeit mehr auf, denn die soziale Physik Comtes hat mit der aristotelischen Metaphysik gar nichts zu tun. Mithin kann die Metaphysik des Aristoteles und die Metaphysik im Allgemeinen in Comtes enzyklopädischer Stufenleiter der Wissenschaften auf keinen Fall ihr Pendant finden, denn Comte weist die metaphysische Suche nach den inneren Gründen der Dinge als unverträglich mit dem positiven Stadium des Denkens entschieden zurück.¹¹⁵ Er vertritt also bewusst eine Verengung des reinen theoretischen Interesses der Wissenschaften auf ausschließlich dasjenige, das in der Erfahrung gegeben ist, nämlich die Phänomene und ihre Gesetze. Brentano übernimmt diese Idee, zugleich will er sich aber nicht darauf begrenzen, sondern möchte die aufgrund des wissenschaftlichen Interesses erzielten Ergebnisse dazu nutzen, um Beweise für die Existenz eines göttlichen Wesens, das nicht in der wissenschaftlichen Erfahrung gegeben ist, vorzulegen. Aus diesem Grund schwebt ihm in einem späteren Text (von 1889) vor, die Philosophie im Allgemeinen, d. h. sowohl die Psychologie als auch die Metaphysik, in Comtes Stufenleiter der Wissenschaften einzuordnen, obwohl ihm die Schwierigkeit dieses Verfahrens nicht entgeht.¹¹⁶ Das soll uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses Verfahren unter dem Gesichtspunkt von Comte und Mill nicht zulässig ist. Die andere Passage bezieht sich auf die Hilfe, die seine Epoche bei der in der Neuzeit noch nicht völlig ausgeführten Durchsetzung des positiven Geistes zu leisten hat. Dabei taucht die folgende Schwierigkeit auf: Wenn das „reine theoretische Interesse“ Brentanos in den zwei Perioden ein und dieselbe Bedeutung, die des positiven Interesses, hat, dann trifft dies nicht auf die geschichtliche Wirklichkeit der aufsteigenden Phasen zu, denn die metaphysischen Fragen spielten in der Philosophie der Neuzeit eine äußerst wichtige Rolle, etwa bei Descartes oder Leibniz. Wenn seine Behauptung dagegen besagen sollte, dass
Normalerweise ist die Reihenfolge: Physik, Mathematik, Metaphysik (Met. VI 1, 1026 a 13 ff.; XI, 7, 1064 a 10 ff.). Der Bequemlichkeit halber kehre ich die Stellung der ersten zwei Wissenschaften um. Vgl. oben II.2.2. Vgl. die von Kraus veröffentlichten ausgesonderten Blätter des Manuskripts der Konferenz über Schelling (1866 und 1889; in ZPh, S. 163 f.; vgl. auch unten S. 261 f.).
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II.2 Franz Brentano und Auguste Comte
seine Epoche das in der Neuzeit nicht gelungene Positivieren des philosophischen Interesses zu verwirklichen hat, dann ist dazu zu bemerken, dass ein solches Positivieren nie seine Bewilligung finden würde. Seine Kompromisslösung besteht deshalb in einem theoretischen Interesse, das zwar auf wissenschaftlicher Ebene positiv verfährt, das aber zugleich die metaphysischen Fragen nicht ausschließt, sondern sie in die Sprache der positiven Wissenschaft überträgt und für ihre Lösbarkeit aufgrund von wissenschaftlichen Fakten argumentiert.¹¹⁷ Das „reine theoretische Interesse“ Brentanos weist also zugleich wissenschaftliche und metaphysische Komponenten auf, denn es schließt die Gottesfrage oder die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele nicht aus, sondern ist recht gut mit ihnen vereinbar.¹¹⁸ Letzten Endes zeigt das oben Gesagte, dass diejenigen Interpretationen, die in der Nachfolge des Wiener Kreises in Brentano ausschließlich einen Vertreter der heute so wichtig gewordenen wissenschaftlichen Philosophie sehen, der Komplexität seines Denkens nicht gerecht werden.¹¹⁹ Denn für Brentano war es zwar äußerst wichtig, die Philosophie induktiv, auf wissenschaftlich erwiesene Tatsachen aufzubauen, aber das hindert ihn nicht daran, zugleich die These zu verteidigen, die Philosophie und jede ihrer aufsteigenden Phase sei ohne metaphysische Fragen nicht zu denken. Im Gegenteil zeigen seine Schriften deutlich, dass solche Fragen ihr ebenso wesentlich angehören wie die moderne positive Wissenschaftsauffassung und dass zwischen den beiden kein Widerspruch besteht, weil die wissenschaftlichen Tatsachen die metaphysischen Hypothesen nicht widerlegen, sondern untermauern. Aus diesem Grund sind ihm zufolge Comte und Mill keine Vertreter der aufsteigenden Phase seiner Zeit, sondern Befürworter der Weiterentwicklung der zweiten Verfallsphase der Neuzeit, nämlich des Skeptizismus.¹²⁰
Vgl. dazu seine Ausführungen über die Unsterblichkeitsfrage in der Psychologie (PeS, S. 32 ff.) und unten. Brentanos Ausführungen (ZPh, S. 15 f.) über „ein metaphysisches, ein im eminenten Sinn philosophisches Interesse“ im Zusammenhang der Diskussion über „die Natur der Seele“ oder das Verhältnis von Darwins Hypothese zu einem schöpferischen göttlichen Verstand als Grund der Ordnung in der Natur weisen deutlich auf die Wichtigkeit der metaphysischen Dimension seines theoretischen Interesses hin. Vgl. z. B. P. Weingartner, „Einleitung“, in Franz Brentano, Über die Zukunft der Philosophie, Leipzig, Meiner, 21968, S. VII-XIV. Hier ist eine weitere Untersuchung des Manuskripts der Vorlesung über den Positivismus (1893/94) nötig, um zu überprüfen, ob die hier aufgestellte Hypothese bekräftigt werden kann oder nicht.
II.2.5 Die Phasentheorien bei Brentano und Comte
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II.2.5 Die Phasentheorien bei Brentano und Comte: Genetische und inhaltliche Verhältnisse In welchem Verhältnis genau steht nun Brentanos Vier-Phasen-Lehre zu Comtes Drei-Stadien-Gesetz? Ist sie in ihrem Anwendungsbereich und Entwicklungsgang eine Ausnahme von Comtes Gesetz? Ist sie ein spezieller Fall desselben? Oder lässt sich im Gegenteil Comtes Gesetz als Teil von Brentanos Theorie interpretieren, die man ihrerseits als eine Ergänzung oder Weiterentwicklung von Comtes Theorie auf einem Gebiet betrachten könnte, das Comte weniger beachtet hat? Oder handelt es sich doch um zwei verschiedene Theorien, die unabhängig voneinander entworfen und von Brentano nur deshalb in Verbindung gebracht wurden, um gewisse Übereinstimmungen seiner Lehre mit Comtes Theorie zu unterstreichen? Was die letzte Frage betrifft, lässt sie sich unter zwei Gesichtspunkten diskutieren: hinsichtlich der Entstehung beider Theorien und mit Blick auf ihre Inhalte. Vom ersten Gesichtspunkt aus betrachtet, kann man sagen, dass die VierPhasen-Lehre für die intellektuelle Orientierung des jungen Brentano besonders wichtig war, weil sie ihm half, sich vom „bangen Zweifel“ an der Philosophie zu befreien, der ihn inmitten seiner persönlichen (und gesundheitlichen) Krise 1860 befiel.¹²¹ Die Probleme betrafen vor allem die radikale Wende in der Einschätzung des deutschen Idealismus, der anfänglich überwältigende Zustimmung gefunden hatte, um nur wenig später vollständige Ablehnung zu erfahren. Für Brentano ließ sich diese Tatsache nicht in den Zusammenhang der geschichtlichen philosophischen Entwicklung einordnen und letztlich auch nicht begreifen. Bekanntlich bestand Brentanos Lösung und intellektuelle Befreiung schließlich darin, im deutschen Idealismus das letzte Verfallsstadium der neuzeitlichen Philosophie zu erblicken.¹²² Von ihrer Entstehung her also hat Brentanos Vier-Phasen-Lehre mit
S. ausführlich dazu Werle (a. a. O., S. 60 – 71) und die dort angeführten Quellen. Dagegen behaupten Mezei und Smith, Brentanos Vier-Phasen-Theorie würde unter dem Einfluss Comtes stehen (Mezei und Smith, a. a. O., S. 12). Wenn allerdings Brentano schon um 1860 zur Phasentheorie gelangte und erst später, durch die Lektüre der 1868 erschienenen französischen Übersetzung von J. St. Mills Auguste Comte and Positivism (1865), auf Comte aufmerksam wurde, dann spielte Comtes Drei-Stadien-Gesetz gar keine Rolle bei der Entstehung von Brentanos Sicht der Philosophiegeschichte (vgl. dazu Stumpf, a. a. O., S. 89 f.; Werle, a. a. O., S. 61 f.). Wie ich unten zeigen werde, legt Brentano jedoch großen Wert darauf, die Übereinstimmung zwischen seiner und Comtes Theorie zu beweisen. Stumpf, a. a. O., S. 89 f.; Werle, a. a. O., S. 61 f.
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II.2 Franz Brentano und Auguste Comte
Comtes Theorie nichts zu tun, ganz einfach weil sie nicht in Verbindung mit ihr steht. Was den Inhalt der beiden Theorien betrifft, zeigen Brentanos wiederholte Hinweise auf Comte in mehreren Texten aus seiner Würzburger und Wiener Zeit hingegen deutlich,¹²³ dass die nähere Betrachtung des Verhältnisses seiner eigenen Theorie zu Comtes Drei-Stadien-Gesetz wichtig für ihn war und er bemüht war, gewisse Übereinstimmungen seiner Lehre mit Comtes Gesetz hervorzuheben. Dafür lassen sich allgemeine und spezifische Gründe anführen. Die allgemeinen Gründe sind die folgenden: Comtes positive Philosophie verkörpert für Brentano das Paradigma einer auf „Beobachtung und Vernunft“ gegründeten und von der Naturwissenschaft inspirierten Philosophie, deren empirischer, antispekulativer Charakter Brentanos Zustimmung fand.¹²⁴ Dazu kommt, dass beide Denker ihre Theorien mittels Induktion und Verallgemeinerung gewisser Tatsachen zu umfassenderen Gesetzen entwickelt haben und beide darin vom naturwissenschaftlichen Verfahren inspiriert wurden.¹²⁵ Was Brentano selbst betrifft, analysiert er die Geschichte der Philosophie wie ein Naturwissenschaftler: Er listet die zu erklärenden geschichtlichen Tatsachen (die aufsteigende Phase und die drei absteigenden Stadien eines jeden Zeitalters und ihre philosophischen Hauptfiguren) auf, nennt sie „Erscheinungen“ und ist interessiert an der Entdeckung ihrer Spezifika: So sind etwa die Herrschaft des theoretischen Interesses und die „naturgemäße Methode“ wichtige Merkmale jeder aufsteigenden Phase. Er behandelt sie nicht getrennt, sondern geht auf die „wesentlichen Zusammenhänge der Ereignisse“ jeder geschichtlichen Epoche ein¹²⁶ und sucht nach den „allgemeinen Gründen der Erscheinungen“, den „Ursachen der Blüte und des Verfalls“.¹²⁷ Die angeführten Texte zeigen klar, dass Brentano in jener Zeit mit einem Wissenschaftsbegriff arbeitet, der von Comte und den britischen Vertretern der positiven Philosophie (J. St. Mill, Bain) übernommen wurde und an den Gesetzen der Sukzession der Phänomene interessiert ist, also vorwiegend kausalerklärende (später genetische) Züge trägt. Dabei demonstriert
Es geht um den Text „Philosophie der Geschichte der Philosophie“ (um 1878; GPhN, S. 77– 80; s. auch AC, S. 131 ff.). CPhP I, S. 9; AC, S. 99 ff.; GPhN, S. 248. PeS, S. 89. Diese Zusammenhänge werden in AC als „feste Gesetze“ oder „unveränderliche Verhältnisse von Aufeinanderfolge und Ähnlichkeit“ angesehen (AC, S. 105). GPhN, S. 77 f., 248, 326; AC, S. 105; CPhP I, S. 9; die Begriffsbestimmung der empirischen Psychologie als Wissenschaft folgt insofern demselben Muster, als sie die „Eigentümlichkeiten“ und die „Gesetze von Coexistenz und Sukzession psychischer Erscheinungen“ studiert (PeS, S. 21, 27)
II.2.5 Die Phasentheorien bei Brentano und Comte
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Brentano, dass er als positiver Philosoph zu arbeiten weiß, der die Phänomene erklärt, indem er sie einem allgemeinen Gesetz unterordnet.¹²⁸ Allerdings entfällt der nächste Erklärungsschritt im Sinne Comtes, nämlich die Zurückführung der allgemeinen Regelmäßigkeiten auf letzte, allgemeine Gesetze – in unserem Fall die Zurückführung von Brentanos Vier-Phasen-Lehre auf Comtes Gesetz der Entwicklung des menschlichen Geistes –, da, wie unten gezeigt wird, nicht alle Phasen eine Parallele zu Comtes Theorie aufweisen, sondern dies nur für ein Stadium in Brentanos Lehre gilt. Die spezifischen Argumente sind die folgenden: Comtes Gesetz gilt für den Entwicklungsgang aller Gebiete des Geistes, also auch für die Philosophie und ihre Geschichte.¹²⁹ Unter diesem Gesichtspunkt kann es als ein letztes Gesetz der geschichtlichen Entwicklung des Geistes betrachtet werden, weil es kein allgemeineres Gesetz gibt, auf das Comtes Gesetz zurückgeführt werden könnte. Dagegen hat Brentanos Theorie nur eine beschränkte Anwendbarkeit, weil sie nur für die Geschichte der Philosophie gilt.¹³⁰ In dieser Hinsicht ist sie allgemein gültig, weil sie das Auftreten jeder neuen Phase aus ihrer Geschichte erklären kann. Aber wegen der begrenzten, auf die Philosophie zugeschnittenen Anwendbarkeit handelt es sich letztlich nur um ein spezielles Gesetz. Dabei stellt sich die Frage, ob für die zwei eben genannten Gesetze das paradigmatische Verhältnis gilt, das von Comte in seinem Cours als ein wichtiger Sinn des Terminus „Erklären“ hervorgehoben wurde, und zwar die Zurückführung eines weniger allgemeinen Gesetzes auf ein allgemeineres, und eventuell auf ein letztes Gesetz.¹³¹ Wenn dies zuträfe, dann wäre Brentanos Vier-Phasen-Lehre ein Spezialfall von Comtes Gesetz und wir stünden dann vor einem Fall, der dem entsprechenden
PeS, S. 27 ff., 59 ff. Brentano versteht also sein Vier-Phasen-Gesetz als ein empirisches Gesetz, welches die Aufeinanderfolge der geschichtlichen philosophischen Erscheinungen dadurch erklärt, dass es sie „allgemeineren Tatsachen“ – z. B. Brentanos Gesetz – unterordnet (GPhN, S. 77– 80, 95, 326). Aber dieses Gesetz droht die geschichtliche Pluralität stark zu vereinfachen. Aus diesem Grund haben einige Interpreten seine Theorie nicht als empirisches Gesetz, sondern als Idealtypus eingeschätzt (vgl. dazu Werle, a. a. O., S. 86– 95, und ihm folgend Mezei und Smith, a. a. O., S. 23– 35; vgl. zum Begriff des Idealtypus M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen, Mohr, 1922, S. 189– 214, und H. Girndt, „Idealtypus“, HWPh, Bd. 4, S. 47 f.; zu den Schwierigkeiten von Brentanos Vier-Phasen-Theorie und den Einwänden, die gegen sie erhoben wurden, s. die Angaben in den entsprechenden Bibliographien). CPhP I, S. 8. In einigen Texten überträgt Brentano die Theorie auch auf die Geschichte der schönen Künste, die gleichfalls durch Verfallsphasen gekennzeichnet sei (vgl. GPhN, S. 1; GGPh, S. 23; VPhPh, S. 7). CPhP I, S. 10, 16.
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II.2 Franz Brentano und Auguste Comte
Paradebeispiel in den Naturwissenschaften gleichen würde, nämlich der Zurückführung von Keplers Gesetzen auf Newtons Gravitationsgesetz.¹³² Um diese Frage zu beantworten, gehe ich von der Tatsache aus, dass sowohl Comte als auch Brentano ihre Gesetze induktiv und aus dem Kontext verschiedener geschichtlicher Realitäten und Verhältnisse heraus entwickelten. Comtes Gesetz bezieht sich auf die Geschichte der positiven, fundamentalen Wissenschaften, Brentanos Vier-Phasen-Theorie hingegen auf die Geschichte der Philosophie. Es handelt sich um zwei Geschichtstypologien, die allerdings verschiedene Entwicklungsdynamiken aufweisen. Die positiven Wissenschaften befanden sich ab dem 17. Jahrhundert in einer stetigen, auch von den Sachgebieten her umfassenden Aufwärtsbewegung, innerhalb derer die positive Erklärung der Phänomene sukzessive akzeptiert wurde.¹³³ Dagegen weist die Geschichte der Philosophie einen zyklischen Verlauf auf. Auch wenn Comte einräumt, dass eine positive Wissenschaft noch Elemente ihrer theologischen und metaphysischen Vorstufen enthält,¹³⁴ ist ihm die Idee völlig fremd, dass eine fundamentale positive Wissenschaft ihren positiven Status irgendwie verlieren könnte, um in eine theologische oder metaphysische Phase zurückzufallen.¹³⁵ Das positive Stadium des Wissens, in dem Phänomene durch Gesetze und nicht mittels übernatürlicher oder abstrakter Entitäten erklärt werden, lässt sich nicht rückgängig machen. Darüber hinaus verläuft die Entwicklung der positiven Wissenschaften nicht zyklisch. Kurz gesagt, die verschieden verlaufenden Entwicklungen der fundamentalen Wissenschaften und der Geschichte der Philosophie sprechen stark gegen die These, Brentanos Geschichtstheorie sei ein Spezialfall von Comtes Gesetz. Für Brentano selbst gilt, dass die Philosophie, auch wenn sie zu den induktiven Wissenschaften zu zählen ist, doch nicht in den Kreis der positiven Wis-
CPhP I, S. 10, 16, 46; AC, S. 105; SLRI II, S. 849/542. CPhP I, S. 20, 43; GPhN, S. 103. CPhP I, S. 11, 48. Vgl. dazu Comtes Behauptung, dass wenn der menschliche Geist eine theologische oder metaphysische Theorie aufgegeben habe, er sie nie wieder aufnehme (A. Comte, „Considérations philosophiques sur les sciences et les savants“ (1825), in Système de politique positive, ou Traité de sociologie, instituant la religion de l’humanité, Bd. 4, Appendice général – quatrième partie, Paris, Carilian-Goeury, 1854, S. 145). Darin ist sich Comte mit Brentano einig, der ebenfalls einräumt, dass die Geschichte der fundamentalen Wissenschaften im Unterschied zur Geschichte der Philosophie und der schönen Künste von keiner Verfallsphase, sondern nur von Stillstandsperioden befallen wird: „Während die anderen Wissenschaften fast durchwegs einen stetigen Fortschritt darbieten, der nur bald größer, bald geringer ist und im schlimmsten Falle einmal durch eine Periode völligen Stillstandes unterbrochen wird, gibt es in der Geschichte der Philosophie Zeiten des offenbarsten Verfalles.“ (GGPh, S. 2)
II.2.5 Die Phasentheorien bei Brentano und Comte
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senschaften gehört.¹³⁶ Abgesehen davon gibt es „manche Wissenschaften“ (Philosophie), deren Entwicklung „wiederholt und in höherem Maße als bei anderen Wissenschaften“ von Verfallsperioden unterbrochen wird.¹³⁷ In mehreren Texten setzt sich Brentano mit der Frage auseinander, weshalb sich Comtes Drei-StadienGesetz nicht einfach auf die Philosophie übertragen lässt. Seine Ausführungen legen nahe, dass es dafür objektive und subjektive Gründe gibt. Die objektiven Gründe beziehen sich auf den zyklischen Entwicklungsgang der Philosophie. Die subjektiven, psychologischen Gründe bestehen zunächst darin, dass Comte „nur auf die aufsteigende Linie der Entwicklung, nicht auf den Verfall, der zeitweise die Fortschritte mancher Wissenschaften unterbricht, Rücksicht genommen“ hat.¹³⁸ Darüber hinaus weist Brentano darauf hin, dass Comte die beiden fundamentalen philosophischen Wissenschaften (Metaphysik und Psychologie) und deren Geschichte nicht hinreichend gekannt hat.¹³⁹ Was die Geschichte der Metaphysik anbelangt, betont Brentano wiederholt, dass Comtes Verständnis dieser Disziplin von der traditionellen Auffassung erheblich abweicht. Es gehe bei Comte nicht um „die allgemeinste Wissenschaft des Seienden als Seienden“, die Aristoteles auch Theologie nennt und die „nach den ersten Gründen der Dinge“ sucht, sondern um die Erklärung der Phänomene mittels abstrakter Entitäten.¹⁴⁰ Eng damit verbunden ist die kritisch begründete Annahme, der Theismus sei mit der positiven Forschung nicht verträglich.¹⁴¹
GPhN, S. 10. AC, S. 131. AC, S. 131. Aber die Idee des Verfalls ist Comte keineswegs fremd, da die theologischen und die metaphysischen Erklärungsformen verschwinden und abgelöst werden (CPhP I, S. 42; vgl. dazu auch B. Savu, „Comte and Brentano: Elements for a Theory of Decline“, in I. Tănăsescu, A. Bejinariu, S. Krantz Gabriel, C. Stoenescu (Hrsg.), Brentano and the Positive Philosophy of Comte and Mill. With Translations of Original Writings on Philosophy as Science by Franz Brentano, Berlin, De Gruyter (im Erscheinen)). AC, S. 126 f., 133; GPhN, S. 263. GPhN, S. 263; siehe auch Hedwigs Anmerkungen dazu. AC, S. 120 f. Sowohl im Comte-Aufsatz als auch im Ms. 48 gibt sich Brentano einige Mühe, zu beweisen, dass man die positive Forschungsweise à la Comte mit dem Theismus in Einklang bringen könne. Seine Argumente sind die folgenden: (1) Die positive Forschung behauptet nicht, dass die Phänomene und die Welt keine erste Ursache hätten, sondern nur, dass wir keinen Einblick in das Wesen dieser Ursache haben und nicht wissen, wie sie wirkt (AC, S. 119 f.; GPhN, S. 257). Unter diesem Aspekt gleicht die positive Philosophie der theologia negativa, die gleichfalls davon ausgeht, Gott sei nur negativ zu bestimmen (AC, S. 120; vgl. auch AthW, S. 854, 858 f., 862). (2) Die Tatsache, dass die erste Ursache in Analogie zu unserem Willen gedacht wird, stellt kein Argument gegen sie dar, da Analogien nicht ohne Weiteres auszuschließen sind (AC, S. 120 f.; GPhN, S. 258 f.). (3) Die Annahme einer ersten Ursache der Welt ist sowohl mit der Existenz „der sekundären Ursachen und ihrer Gesetze“ als auch mit der These „einer natürlichen Ordnung der
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II.2 Franz Brentano und Auguste Comte
Im Gegensatz zu seinem Vortrag „Die vier Phasen der Philosophie und ihr augenblicklicher Stand“ (1895), in dem sich Brentano nicht auf Comtes DreiStadien-Gesetz bezieht, zeigen die von ihm bis um 1878 geschriebenen und den Studenten bis 1883 vorgetragenen Texte,¹⁴² dass er nicht den Eindruck erwecken möchte, seine Lehre sei mit Comtes Gesetz nicht vereinbar. Im Gegenteil ist es wichtig für ihn, die Übereinstimmung der zwei Theorien zu betonen.¹⁴³ Deshalb sucht er nach einer Interpretation, die es ihm ermöglicht, Comtes Gesetz auf die Philosophie in ihrem zyklischen Verlauf anzuwenden. Wie schon angedeutet, besteht seine Lösung darin, Comtes Drei-Stadien-Gesetz auf die jeweilige aufsteigende Phase der geschichtlichen Epochen zu beschränken. Allerdings demonstrieren seine Texte, dass er in einer verhältnismäßig kurzen Zeit (1868 – 1870) von einer Position, die behauptet, jede aufsteigende Phase verlaufe die drei Stadien von Comtes Gesetz, zu einem nuancierteren Standpunkt übergeht, der besagt, in jeder geschichtlichen Epoche sei je ein Charakter aus Comtes Stadien vorherrschend:¹⁴⁴ Die aufsteigende Phase des Altertums ist theologisch, die des Mittelalters metaphysisch und die der Neuzeit und seiner eigenen Zeit positiv, ohne dass jedoch in der jeweiligen Phase die anderen zwei Charaktere ausgeschlossen werden.¹⁴⁵ Was die Verfallsperioden betrifft, so wurden diese von Comte vernachlässigt und folglich nicht in seiner Theorie berücksichtigt. Comtes Gesetz, das den Anspruch erhebt, für die ganze Geschichte des menschlichen Denkens zu gelten, scheint also hier an eine Grenze zu stoßen, denn es zeigt sich, dass es auf diejenigen Gebiete des Geistes, deren Geschichte zyklisch verläuft, nur begrenzt anwendbar ist. Daher lässt sich sagen, dass die Vier-Phasen-Theorie Brentanos insofern Comtes Gesetz ergänzt, als sie diejenigen philosophischen
Dinge“ kompatibel, weil sie weise wirkt (AC, S. 122 f.; GPhN, S. 259 ff.). Es lohnt sich zu bemerken, dass Brentano J. St. Mill folgend darauf hinweist, dass Comte in seinem späteren Werk Système de politique positive das Dasein Gottes „für wahrscheinlicher“ hält, da so „die Ordnung der Welt besser begreiflich wäre“ (GPhN, S. 260; s. auch Hedwigs Anmerkung dazu; AC, S. 123). Der Text „Philosophie der Geschichte der Philosophie“ (um 1878; GPhN, S. 77– 80), wo er sich ebenfalls auf das Verhältnis seiner Phasen-Lehre zu Comtes Gesetz bezieht, gehört einer Vorlesung über dasselbe Thema an, die im SS 1878, 1880 und 1883 vorgetragen wurde. GPhN, S. 104. Die These über die beschränkte Anwendbarkeit von Comtes Gesetz auf seine Phasen-Lehre ist schon im Manuskript H 48, „Auguste Comte und die positive Philosophie“ (um 1868), vorhanden, das auf der Grundlage des gleichnamigen Aufsatzes (1869) steht (GPhN, S. 77– 80, 95 – 105, 246– 294, 362). In „Vom Gesetz der geschichtlichen Entwicklung“ (um 1870; GPhN, S. 95 – 105) verleiht er ihr ihre endgültige Form. Man darf vermuten, dass Brentanos Ausführungen dazu auch für den Text „Philosophie der Geschichte der Philosophie“ (um 1878) gelten. Darin ist Brentano mit Comte einverstanden, der ebenfalls behauptete, dass die drei Charaktere zugleich bestehen können (CPhP I, S. 11, 48).
II.2.5 Die Phasentheorien bei Brentano und Comte
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Erscheinungen – nämlich die Verfallsphasen – erklärt, die bei Comte ausgeklammert werden. In diesem Zusammenhang ist es nur konsequent, wenn Brentano um 1870 behauptet, seine Theorie ausgearbeitet zu haben, um die Verfallsphasen der Philosophie zu erklären: 23. Wir sehen aber auch, wie kein Konflikt mit dem früher von uns betrachteten Gesetz der vier Stadien [besteht]. Jenes [Comtes Gesetz; Hinzufügung I. T.] [ist] der aufsteigenden Entwicklung, dieses vorzüglich den leider viel weiter ausgedehnten Zeiten des Verfalls angehörig. (Dies löst sogar die Rätsel und Schwierigkeiten der Durchführung des anderen [Gesetzes]).¹⁴⁶
Brentano verteidigte die These der nur begrenzten Anwendbarkeit von Comtes Drei-Stadien-Gesetz sowohl im Aufsatz aus dem Jahre 1869 als auch in anderen Texten.¹⁴⁷ Im ersten Text wendet er Comtes Gesetz auf jede aufsteigende Phase an und zeigt, wie alle Stadien Comtes anhand der aufblühenden Epoche der griechischen Philosophie veranschaulicht werden können, indem er all die von Comte unterschiedenen Stadien darin identifiziert: Thales, Anaximander, Anaximenes und Heraklit waren Hylozoisten, Empedokles war Polytheist, Anaxagoras war Monotheist – Hylozoismus, Polytheismus und Monotheismus sind die Phasen des theologischen Stadiums bei Comte. Auch wenn Aristoteles „in vielen seiner Lehren, wie in der von Potenz und Akt, von Substanz und Akzidenz usw. noch nicht von aller metaphysischen Auffassung frei“ war, glaubt Brentano trotzdem, dass er „seinem Grundcharakter nach […] bereits ein positiver Forscher“ gewesen sei.¹⁴⁸ Comtes Ausführungen über die griechische Philosophie zeigen hingegen, dass er sie als Teil des gesellschaftlichen Systems, und zwar des militaristischen
GPhN, S. 104. Dies würde die Entstehung seiner Lehre gut erklären, die immerhin auch die Frage zu beantworten sucht, wie man den radikalen Wechsel von der enthusiastischen Rezeption des deutschen Idealismus hin zu seiner totalen Zurückweisung erläutern kann. Im Vortrag über die Vier-Phasen-Lehre (1895) bezieht sich Brentano nicht weiter auf Comtes Gesetz, sondern erklärt die Geschichte der Philosophie nur auf der Basis seiner Theorie.Von daher lässt sich sagen, dass er Comtes Drei-Stadien-Gesetz wenigstens bis 1883 in die Erklärungen über den geschichtlichen Verlauf der Philosophie einbezogen hat. AC, S. 132 (Hervorhebung I. T.); vgl. auch GGPh, S. 42, 47, 51 f., 54. Dabei beschreibt Brentano Empedokles’ Philosophie als einen abstrakten „geistigen Theismus, der sich zunächst in der Form einer Art von Polytheismus […] zu vollziehen beginnt“ (GGPh, S. 90; vgl. auch S. 79, 88); zu Anaxagoras vgl. GGPh, S. 97. Was Comte betrifft, erwähnt er außer Aristoteles in seiner konzisen Darstellung der griechischen Philosophie keinen dieser Denker (CPhP V, S. 137 ff.). Nur nebenbei sei bemerkt, dass Brentano auch am eben angeführten Ort eine kurze Darstellung seiner PhasenLehre anbietet.
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II.2 Franz Brentano und Auguste Comte
Polytheismus, analysiert.¹⁴⁹ Die Trennung der Philosophie von der Wissenschaft, die in der hellenistischen Zeit erfolgte, macht das wichtigste Moment dieser Entwicklung aus. Vor diesem Hintergrund unterscheidet er zwei geschichtliche Linien, die je nach dem Verhältnis der beiden Disziplinen zueinander verlaufen. Die erste Linie beginnt unter dem Einfluss der „entstehenden Positivität“ der Wissenschaft, und zwar der Mathematik, die durch die Beiträge von Thales und Pythagoras die einfachsten, allgemeinsten und abstraktesten Phänomene, die mathematischen Ideen, positiv behandelt.¹⁵⁰ Dabei entlehnt die Philosophie die Idee der Ordnung von der Wissenschaft, um sich weiter theoretisch oder, wie Comte sagt, spekulativ bis zu ihrem Höhepunkt, dem enzyklopädischen System Aristoteles’, zu entwickeln.¹⁵¹ Die andere geschichtliche Linie beginnt mit Sokrates und führt mit Pyrrhon und Epikur zur Verleugnung der Wirklichkeit der äußeren Welt.¹⁵² Ein wichtiges Moment in diesem Zusammenhang besteht in der hellenistischen Trennung zwischen Philosophie und Wissenschaft. Als Konsequenz daraus verliert die Philosophie ihren theoretischen „spekulativen Aufschwung“, um sich politischen und moralischen Fragen zuzuwenden.¹⁵³ Damit weist Comtes Analyse eine wichtige Parallele zu Brentanos Theorie auf, der ebenfalls von einer Schwächung des reinen theoretischen Interesses und der Zuwendung zu praktischen Fragen in der ersten Verfallszeit der antiken Philosophie in der Stoa und im Epikureismus spricht.¹⁵⁴ Hinzu kommt, dass bei Brentano die Verfallsphasen gesetzmäßig auf
CPhP V, S. 133 – 139. CPhP V, S. 134 f. CPhP V, S. 137 f. Comte betrachtet Aristoteles nicht nur als Philosophen, sondern auch als Wissenschaftler (S. 136). Darin kündigt sich schon der spätere Gegensatz zwischen dem metaphysischen und dem positiven Geist an, der der Idee der Naturgesetze große Bedeutung beimisst; vgl. dazu auch A. Comte, „Considérations philosophiques …“, S. 167 f. CPhP V, S. 138 f. VPhPh, S. 10 f. Im Unterschied zu Comte behandelt Brentano Pyrrhon und Epikur nicht zusammen, sondern ordnet sie zwei unterschiedlichen Verfallsphasen zu. Es ist nicht meine Aufgabe, hier einen Vergleich aufzustellen zwischen Brentanos Phasen-Lehre und Comtes Stadien-Theorie, so wie sie in den Erörterungen über die Geschichte der Menschheit in den letzten zwei Bänden seines Cours dargestellt ist. Trotzdem ist es wichtig zu bemerken, dass eine angemessene Beurteilung beider Theorien nur dann durchgeführt werden kann, wenn diese Frage nicht nur aufgrund der ersten beiden Vorlesungen aus Comtes Cours, wie auch in dieser Arbeit der Fall ist, behandelt wird, sondern auch unter Einbeziehung von Comtes zerstreuten Äußerungen in den sechs Bänden seiner Schrift über die Autoren und Probleme, die für Brentanos Phasen-Lehre von Bedeutung sind. Die Tatsache, dass die von Hedwig bereits 1987 veröffentlichten Texte bis heute kaum beachtet wurden, zeigt, dass weder die Comte- noch die Brentano-Forschung für dieses Thema ein besonderes Interesse hatte.
II.2.5 Die Phasentheorien bei Brentano und Comte
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eine nicht besonders komplizierte Weise zu einer neuen aufsteigenden Phase führen. Bei Comte hingegen handelt es sich um einen vielschichtigen, breit angelegten geschichtlichen Prozess: dem der Schwächung der Dominanz theologischer Denkweise und der Vorbereitung des Durchbruchs der positiven Philosophie mittels des metaphysischen Denkens. Dieser Prozess ist bereits am Werk in der Periode des symbiotischen Zusammenspiels zwischen Wissenschaft und Philosophie und setzt sich in der hellenistischen Zeit weiter fort, um je nach wissenschaftlichem Bereich bis ins 19. Jahrhundert hinein weiterzuwirken. Was die beiden anderen geschichtlichen Epochen (das Mittelalter und die Neuzeit) anbelangt, beschränkt sich Brentano in seinem Aufsatz von 1869 darauf, den aufsteigenden Phasen einen positiven Charakter beizumessen, ohne aber auf die Frage einzugehen, wie man die Denker dieser Epochen in die von Comte unterschiedenen Abschnitte einordnen könnte.¹⁵⁵ Der Text „Vom Gesetz der geschichtlichen Entwicklung“ (1870) liefert eine viel nuanciertere Antwort auf diese Frage, denn hier entwickelt Brentano die Lösung aus seinem Aufsatz über Comte weiter, indem er hinzufügt, dass trotz der Vielfalt der Stadien, die in jeder aufsteigenden Phase am Wirken sind, eines von ihnen vorherrschend ist: Nur in den einzelnen aufsteigenden Epochen könnte also dieses Gesetz [zum] Einteilungsprinzip werden. Aber keine [dieser Epoche] im einzelnen zeigt vollständig in ihrem vollen Charakter die drei Stadien. 26. Irgendwie kann man indessen sagen, dass das Altertum dem ersten, das Mittelalter dem zweiten, die neuere Zeit dem dritten Stadium entspreche, insofern die Hauptentwicklungen des betreffenden Charakters dem größeren Teil nach der einen oder anderen der Perioden angehören. Nur nicht mit völligem Ausschluß [anderer Charaktere aus Comtes Stadien; Hinzufügung I. T.] [kann dies behauptet werden].¹⁵⁶
AC, S. 132. GPhN, S. 105. Nach dieser These ist die Diversität der Stadien in der aufsteigenden Phase der griechischen Philosophie der Vielfalt der Geschichte der fundamentalen Wissenschaften in gewissen Perioden ähnlich, in denen ebenfalls Merkmale aller drei Stadien koexistieren (CPhP I, S. 11, 48). In dem acht Jahre später geschriebenen Text „Philosophie der Geschichte der Philosophie“ verteidigt Brentano dieselbe These der begrenzten Anwendbarkeit von Comtes Gesetz: „6. Die wesentlichsten Momente, welche beim Verständnis der Geschichte der Philosophie in Betracht kommen, sind […]: 1) Das Gesetz der vier Stadien, welches jede große Periode der Geschichte der Philosophie gleichmäßig unterscheiden läßt. 2) Das Gesetz der drei Phasen der aufsteigenden Entwicklung, welche bei der Philosophie analog wie bei anderen allgemeinen, auf der Erfahrung beruhenden Wissenschaften gefunden werden.“ (GPhN, S. 79)
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II.2 Franz Brentano und Auguste Comte
Vergegenwärtigen wir uns, was Brentano hier sagt: Die philosophischen Erscheinungen jeder einzelnen aufsteigenden Phase lassen sie als Phänomene entweder des theologischen oder des metaphysischen oder des positiven Stadiums einordnen. Die Art und Weise, in der sie in die unterschiedlichen aufsteigenden Phasen eingeteilt werden, ist folgende: In der Antike herrscht die theologischen, im Mittelalter die metaphysischen, in der Neuzeit und in Brentanos Epoche die positiven Auffassungen vor. Neben diesen dominanten Tendenzen tauchen auch die philosophischen Erscheinungen auf, die den anderen Stadien zugeordnet werden können. Daher kann Comtes Gesetz weiterhin für alle Sachgebiete als gültig betrachtet werden, weil es – wenngleich begrenzt – auch für die Geschichte der Philosophie in Hinblick auf ihre aufsteigenden Phasen gilt. Allerdings ist seine Anwendbarkeit darauf defizitär, weil die Verfallsstadien nicht berücksichtigt werden.¹⁵⁷ Wenn man einen Schritt weitergeht und die so beschriebenen aufsteigenden Phasen hinsichtlich ihrer Hauptmerkmale betrachtet, dann bemerkt man, dass sich die Erklärung durch übernatürliche Kräfte des theologischen Stadiums und die durch abstrakte Entitäten der metaphysischen Phase mit Brentanos „reinem theoretischem Interesse“ und der „naturgemäßen Methode“ ebenso gut vertragen wie das positive Stadium. Aus der Tatsache, dass Comtes drei Stadien so unterschiedliche Bedeutungen haben, ergibt sich also, dass auch die zwei Merkmale der aufsteigenden Phasen Brentanos keine allgemeingültige Bedeutung haben können, sondern dass sie sich je nach der Epoche verändern sollten. Ich habe schon aufgezeigt, welch unterschiedliche Bedeutung das „rein theoretische Interesse“ Brentanos hat und was für Konsequenzen sich daraus ergeben.¹⁵⁸ Das angeführte Zitat zeigt auch, wie zweideutig das Verhältnis der zwei Theorien zueinander ist. Zum einen kann gesagt werden, dass Brentanos VierPhasen-Lehre ein Spezialfall von Comtes Theorie insofern ist, als sich ihre aufsteigenden Phasen durch Comtes Gesetz beschreiben lassen. Allerdings geht es
Hedwig macht zu Recht darauf aufmerksam, dass sich Brentano Comtes Drei-Stadien-Gesetz gegenüber zurückhaltend verhält, weil Comtes Theorie nicht ausreicht, die Verfallsperioden und die Übergangszeiten in der Geschichte der Philosophie zu erklären (Hedwig, „Vorwort“, S. XXXIV). In AC wirft Brentano Comte vor, der Begriff „Metaphysik“ verkehre „sich ihm […] in den eigenen Händen“, weil er von der berechtigten Zurückweisung der Annahme, wir könnten Gott „in seiner Ursächlichkeit […] begreifen“ zu dem unbegründeten Gegensatz zwischen der positiven Forschung und „jeder Spekulation, die in einem göttlichen Verstand den Ursprung der Welt erblickt“ übergehe (AC, S. 119 f.). Allerdings kann man denselben Einwand auch gegen Brentanos Gebrauch des Terminus „positiv“ erheben, betrachtet Brentano doch die theologische Spekulation des 13. Jahrhunderts über den Urgrund der Welt als „positive Forschung“ (AC, 120, 132; vgl. auch die Anm. 15 und 18 im letzten Kapitel vom ersten Teil dieser Arbeit).
II.2.5 Die Phasentheorien bei Brentano und Comte
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hier um einen sehr laxen Sinn der Redewendung „Spezialfall“, weil Comtes Gesetz nur auf eine der vier Phasen Brentanos anwendbar ist. Zum anderen zeigen Brentanos Texte deutlich, dass seine Lehre von Anfang an von Comte unabhängig ist, denn seine Ausführungen gehen nicht in die Richtung der eben dargestellten Spezialfall-Hypothese, sondern bestehen darin, Comtes Theorie in seine VierPhasen-Lehre, und zwar in die aufsteigende Phase, zu integrieren.¹⁵⁹ Unter diesen Umständen kann Comtes Gesetz nicht als eine hinreichende Basis der Phasenlehre betrachtet werden, die die erforderliche Erklärung für die philosophischen Erscheinungen der aufsteigenden Phasen liefern würde, sodass Brentano sie dadurch ergänzt, dass er die von Comte übergangenen Phänomene des Verfalls hinzufügt. Im Gegenteil, Brentano entwirft von Anfang an ein eigenes Konzept zur Erläuterung der Philosophiegeschichte unabhängig von Comte. Auch wenn sich dieses Konzept in die Sprache Comtes übersetzen lässt, beruht es nicht auf dem Gedanken, dass die Phänomene in der aufsteigenden Phase der Philosophie „positiv“ oder mittels der Gesetze erklärt werden, sondern darauf, dass in dieser Phase das rein theoretische Interesse und „eine naturgemäße Methode“ vorherrschen.¹⁶⁰ Dass eine aufsteigende Periode auch vom Standpunkt Comtes aus bewertet werden kann, heißt also nicht, dass Comtes Gesetz für Brentanos Theorie entscheidend gewesen wäre. Aus diesem Grund halte ich Brentanos Vier-PhasenLehre für eine von Comtes Gesetz unabhängige Theorie, die ein Gebiet des Geistes abdeckt, das gegenüber den positiven Wissenschaften einen anderen Entwicklungsgang aufweist. Mit Blick auf die Gemeinsamkeiten beider Theorien sei hinzugefügt: Beide beruhen auf Gesetzen, die die Abfolge der geschichtlichen Entwicklungen zu erklären versuchen und die mit dem Gedanken von Stadien arbeiten. Dabei darf aber ihr Hauptunterschied nicht vergessen werden, der sich auf die verschiedenen Entwicklungsstrukturen bezieht. Wenn man die Prozesse vergleicht, lässt sich sagen, dass die Strukturen selbst und die geschichtlichen Formen des theoretischen Interesses, die ihnen eigen sind, voneinander unabhängig sind und dass der Durchbruch des positiven Geistes in den fundamentalen Wissenschaften den Verfall der neuzeitlichen Philosophie nicht verhindern konnte. Im Gegenteil sah der deutsche Idealismus kein Problem darin, die wissenschaftlichen Entde-
Vgl. AC, S. 131 f.; GPhN, S. 79, 104 f., 362. Das bestätigt noch einmal, dass Brentanos Theorie unabhängig von Comte entworfen wurde (vgl. dagegen Mezei und Smith, a. a. O., S. 12). Die Tatsache, dass der Name Comte im Vortrag von 1895 nur episodisch auftaucht, weist ebenfalls auf die Berechtigung dieser Hypothese hin. VPhPh, S. 8.
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ckungen der Neuzeit in seine Systeme zu integrieren.¹⁶¹ Von Brentanos Ausführungen über die Rolle des reinen theoretischen Interesses in der aufsteigenden Phase der Philosophie und seine Abnahme zugunsten des praktischen Interesses in der ersten Verfallsphase ausgehend, lässt sich sagen, dass sich das theoretische Interesse der fundamentalen Wissenschaften in der positiven Epoche von diesem Prozess unberührt zeigte.¹⁶² Außerdem bleibt zu beachten, dass sich Brentano auf Comtes Drei-Stadien-Gesetz nur in Texten beruft, die sich allgemein mit Gesetzen in der Geschichte der Philosophie befassen. In den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie hingegen beruft er sich nicht auf Comtes Theorie, sondern nur auf sein Vier-Phasen-Gesetz.¹⁶³ Aufschlussreich für die Eigenständigkeit Brentanos gegenüber Comte ist zudem, dass Brentano um 1868, also ganz am Anfang seiner Beschäftigung mit Comte, daran denkt, Comtes Gesetz zu korrigieren, indem er ihm eine andere Begründung, nämlich eine aus der Geschichte der Philosophie, gibt: Wahrheit in Comtes Phasen. Wenn man so etwas reformiert, [haben] die Phasen und ihre Aufeinanderfolge viel Wahres. 1. Man muß 1.) Restringieren. 2). Nur von der aufsteigenden Linie, nicht von Verfall [ausgehen] (und nicht glauben, dass jedes ganz erreicht oder zu unterst wiederbegonnen [werde]). 3) Bedenken wegen der Begründung. Vielmehr aus der Tradition [die] Lösung. Hinweis auf die Philosophen Fichte, Schelling, Hegel.¹⁶⁴
Der Text zeigt, dass Brentano schon von Anfang an sehr sicher ist, dass sein eigenes Gesetz richtig ist und dass, um Comtes Gesetz anwendbar zu machen, es ausschließlich auf die aufsteigenden philosophischen Phasen restringiert werden muss: Auf diese Weise lässt sich nämlich ausmachen, dass in der Antike der theologische, im Mittelalter der metaphysische und in der Neuzeit der positive Charakter in der aufsteigenden Phase vorherrschten.
Vgl. die „Deduktion“ und „die Konstruktion der Materie“ in Schellings System des transzendentalen Idealismus (1800), Leipzig, Philipp Reclam, 1979, S. 105 ff.; vgl. auch F. Brentano, „Über Schellings Philosophie“, in ZPh, S. 103 – 132, und GPhN, S. 63 – 66. Wie schon angedeutet, bewertet Brentano auch die Ergebnisse der Naturwissenschaft zur Bestätigung seiner Metaphysik. VPhPh, S. 8; CPhP I, S. 50 ff. In seiner Vorlesung über die mittelalterliche Philosophie bezieht sich Brentano nur einmal und eher nebenbei auf Comte (GMPh, S. 2). In den Vorlesungen über die neuzeitliche Philosophie wird Comte nicht erwähnt (GPhN, S. 1– 76). Was das Kolleg über die griechische Philosophie betrifft, hat die Herausgeberin die Abschnitte über Comte ausgelassen, weil sie „eher störend als fördernd“ gewirkt hätten (GGPh, S. 357). Ms. H 48, in GPhN, S. 362. Es ist der bis jetzt früheste veröffentlichte Text Brentanos, in dem er an die Begrenzung der Gültigkeit von Comtes Gesetz denkt.
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Brentanos Behauptung, Comtes Philosophie sollte ihre Begründung nicht in der Geschichte der Wissenschaften, sondern der Philosophie haben, ist hingegen kaum nachvollziehbar, weil Comtes Gesetz sich auf eine Geschichte bezieht, die keinen zyklischen Charakter hat.¹⁶⁵ Wenn man trotzdem versucht, sich auf Brentanos Vorschlag einzulassen, dann glaube ich, dass seine Ausführungen unter dem Gesichtspunkt von drei wichtigen Annahmen verstanden werden sollten, die eine begrenzte Anwendung von Comtes Gesetz möglich machen: i) Jeder letzten Verfallsphase der Philosophie folgt ein aufsteigendes Stadium der neuen geschichtlichen Epoche. ii) Der deutsche Idealismus ist die letzte Verfallserscheinung der Neuzeit. iii) Demgemäß muss ihm ebenfalls eine neue aufblühende Phase folgen, in der dem in der Neuzeit schon begonnenen Prozess der Durchsetzung des positiven Geistes dazu verholfen wird, sich vollkommen zu verwirklichen. Allerdings sollten die metaphysischen Fragen dabei nicht aus-, sondern eingeschlossen werden und anhand der Resultate dieses Durchsetzungsprozesses untermauert werden. Auf diese Weise würde auch die Geschichte der Philosophie eine Reihe von Stadien aufweisen, die in groben Zügen Comtes Gesetz entsprächen und als empirische Basis seiner Entdeckung dienen könnten.¹⁶⁶ Zugleich wird aber deutlich, dass nicht nur die geschichtliche Entwicklung der Philosophie, sondern auch Brentanos eigenes Gesetz diesem Ansatz zufolge als Grundlage von Comtes Theorie fungiert. Überdies bemerkt man so, dass es bei Brentano keinen klaren Unterschied zwischen den zwei Formen des „reinen theoretischen Interesses“ gibt: seiner traditionellen Form, die in der Philosophie der Neuzeit weiter vorherrschend ist, und seiner wissenschaftlichen Form, die ihren Anfang in der Naturwissenschaft nimmt und sich in derselben durchsetzt, um sich von dort aus dank Comte (und Mill) auch auf die philosophische Ebene zu erheben. Es geht im letzten Fall um ein anderes „reines theoretisches Interesse“ als das philosophische Interesse der Neuzeit, um ein Interesse, das nichts von den metaphysischen Fragen und von ihrer Begründung durch wissenschaftliche Tatsachen wissen will und die Philosophie nicht als metaphysisches Nachdenken, sondern als Reflexion über die Allgemeinheiten der positiven Wissenschaften auffasst. Abschließend möchte ich noch einmal die Frage nach der Beziehung von Brentanos Phasen-Lehre zu Comtes Stadien-Gesetz thematisieren. Wie schon
Comte begründet sein Gesetz auf der Geschichte der fundamentalen Wissenschaften und in Analogie zu den psychologischen Entwicklungsphasen (CPhP I, S. 11). PeS, S. 89.
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angedeutet, kommt Brentano im Vortrag „Die vier Phasen der Philosophie“ von 1895 auf die ursprüngliche, 1867 in der Arbeit über die kirchlichen Wissenschaften schon dargestellte Form seiner Theorie in dem Sinne zurück, dass er die aufblühenden Phasen seiner Lehre nicht mehr in Verbindung mit Comtes Drei-StadienGesetz bringt. Darin sind sich die beiden Texte ähnlich: Weder 1867 noch 1895 bezieht sich Brentano auf Comtes Gesetz. Es gibt jedoch einen Unterschied, der nicht übergangen werden darf: Brentano hatte 1867 noch nicht die französische Übersetzung von Mills Arbeit über Comte gelesen, welche ihn auf die Wichtigkeit von Comtes Philosophie aufmerksam machte. Der fast 30 Jahre später verfasste Text hingegen stellt das Ergebnis eines Prozesses intensiver Auseinandersetzung mit der Frage nach der richtigen Auffassungsweise des Verhältnisses beider Theorien zueinander dar. Das Resultat dieses Prozesses besteht ganz einfach darin, dass Brentano sich nicht weiter auf Comtes Gesetz bezieht.¹⁶⁷ Die Gründe dafür sind nicht ganz klar. Tatsache ist aber, dass der einzige Verweis auf Comte im Vortrag von 1895 negativ ist: Und, wie ein lebendiges und reines theoretisches Interesse, so besitzen diese ältesten Hellenen auch eine naturgemäße Methode. Es mag dies wundernehmen, indem viele – und auch Comte hat das Vorurteil begünstigt, – heute die Meinung hegen, dass die Menschen zunächst ganz sach- und naturwidrig vorgegangen und erst sehr spät auf eine entsprechendere Forschungsweise verfallen sein. Aber bei der Kindheit des Menschen war es ähnlich, wie bei der Kindheit jedes einzelnen. Lavoisier macht darauf aufmerksam, wie rasch unsere Kinder von Entdeckung zu Entdeckung fortschreiten, von der Natur selbst den richtigen Weg der Forschung geführt.¹⁶⁸
Dem Hinweis auf Lavoisier kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu. Wie schon angedeutet, ist Comtes Theorie nicht nur empirisch, sondern auch psychologisch fundiert: In der Kindheit erklärt man die Phänomene mittels übernatürlicher Kräfte, d. h. theologisch, in der Jugend metaphysisch, und im reifen Alter positiv.¹⁶⁹ Meiner Meinung nach hat Brentanos Behauptung gerade diese These Comtes im Visier, denn mit ihr ist der Hinweis verbunden, dass schon in der Kindheit positiv verfahren kann. Seine Berufung auf die Autorität, die von
In ihren Anmerkungen zu GGPh hat F. Mayer-Hillebrand verkannt, dass es eine Entwicklung in Brentanos Auffassung des Verhältnisses seiner Phasen-Theorie zu Comtes Lehre gibt. Aus diesem Grund hat sie Brentanos diesbezügliche Äußerungen aus der „Einleitung. Was ist die Geschichte der Philosophie“ (GGPh, S. 1– 23) ausgelassen (vgl. dazu GGPh, S. 357). Wie die oben angeführten Stellen zeigen, waren diese Bemerkungen keineswegs fehl am Platz, sondern passen sehr gut in diesem Zusammenhang. VPhPh, S. 10; A.-L. de Lavoisier, Traité élémentaire de chimie, présenté dans un ordre nouveau, et d’après les découvertes modernes (1789), Bd. 1, Paris, Chez Cuchet, 21793, S. VII ff. CPhP I, S. 11; AC, S. 106.
II.2.6 Brentano und Comte: Das Verhältnis zur Neuzeit
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einem der Begründer der Chemie als positiver Wissenschaft ausgeht, soll sein Argument nur verstärken. Auch wenn die Behandlung der Ionier in der Vorlesung über die Geschichte der griechischen Philosophie viel früher angesiedelt ist als der Text von 1895, unterstreicht Brentano bereits darin die Rolle, die die naturgemäße Methode, die Beobachtung der Natur, bei ihnen spielte.¹⁷⁰ Anders gesagt kann man die Naturphänomene theologisch erklären: Thales, Anaximander, Anaximenes waren Hylozoisten, Empedokles war Polytheist und Anaxagoras Monotheist, und trotzdem arbeiteten sie alle in einer elementaren Weise positiv, d. h. nach einer „naturgemäßen Methode“. Die Anführung der Schrift von Gomperz ist in diesem Zusammenhang deshalb signifikant, weil Gomperz die Rolle der „vertieften Beobachtung der Naturprozesse“ für die ionische Spekulation hervorhebt und ihre Überlegungen über den Urstoff und die Unzerstörbarkeit des Stoffes als „eine geniale Vorwegnahme moderner Lehren“ betrachtet.¹⁷¹ Dementsprechend haben die ersten griechischen Denker, die sich unter die Kategorien der theologischen Denkweise Comtes subsumieren lassen, keineswegs mit einer spekulativen oder naturwidrigen Forschungsmethode operiert. Zugleich erweisen sich damit beide Kriterien Brentanos als hinreichend, um die geschichtliche Entwicklung der aufsteigenden Phase der Philosophie zu erklären.
II.2.6 Brentano und Comte: Das Verhältnis zur Neuzeit und die Strategien zur Erneuerung der Philosophie Wie verschieden die Positionen sind, die Brentano und Comte beziehen, wird in ihrer unterschiedlichen Behandlung der Neuzeit deutlich: Für Comte ist die Neuzeit die Epoche des aufstrebenden positiven Geistes, der die wichtigsten empirischen Wissenschaften (Astronomie, Physik, Biologie, Chemie, soziale Physik oder Soziologie) umfasst. Diese Revolution beginnt im 17. Jahrhundert mit Bacon, Descartes und Galilei¹⁷² und geht dann in einen kontinuierlichen Prozess In seinen Ausführungen über das Wasser als Prinzip der Welt bei Thales listet Brentano ausführlich die Beobachtungen auf, die auf dieser These basieren. Wenn Comte dagegen die griechische Philosophie analysiert, bezieht er sich keineswegs auf Thales (CPhP V, S. 137 ff.). Hinzu kommt, dass Brentano bereits im Aufsatz über Comte auf die Wichtigkeit von Beobachtung und Induktion für die ersten griechischen Denker hingewiesen und die theologischen und metaphysischen Anschauungen als Ergebnis des Gebrauchs dieser Methoden betrachtet hat. Es scheint aber, dass er erst fast 30 Jahre später die Konsequenzen daraus gezogen hat. VPhPh, S.10; vgl. auch Th. Gomperz, Griechische Denker. Eine Geschichte der antiken Philosophie (1895), Bd. 1, Berlin, Vereinigung Wissenschaftlicher Verleger, 41922, S. 38 f., 435. Die Entstehung der positiven Epoche des Geistes fällt mit der aufsteigenden Periode der Philosophie der Neuzeit in Brentanos Vier-Phasen-Theorie zusammen. Die Hauptvertreter dieser
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II.2 Franz Brentano und Auguste Comte
über, dessen Höhepunkt die physikalischen Entdeckungen der Neuzeit sind und der mit der von Comte selbst etablierten sozialen Physik oder Soziologie endet.¹⁷³ Bei Brentano teilt sich die Zeitepoche vom 17. Jahrhundert bis zu seiner eigenen Zeit in verschiedene Abschnitte: die Neuzeit, die im Viertakt-Tempo seiner Lehre mit Bacon, Descartes, Locke und Leibniz beginnt, um danach durch die drei absteigenden Phasen hindurch in der Auflösung der Systeme des deutschen Idealismus („die äußerste Entartung menschlichen Denkens“) zu enden. Danach setzt die Epoche ein, in der Brentano selbst lebt und als Philosoph wirkt. Es handelt sich dabei um eine Übergangszeit, in der sich durch die Abwendung von der spekulativen, unnatürlichen Methode der idealistischen Philosophie ein Neubeginn der Philosophie ankündigt, in dem eine naturgemäße und der Naturwissenschaft affine Methode praktiziert wird.¹⁷⁴ Es geht bei Brentano also um eine Periode, in der der Zyklus der neuzeitlichen Philosophie beendet ist und die aufsteigende Phase einer neuen philosophischen Zeitepoche anbricht.¹⁷⁵ Wenn man die Perspektive erweitert und die Neuzeit nicht nur philosophisch und wissenschaftlich, sondern auch konfessionell betrachtet und Brentanos Urteil darüber heranzieht, zeichnet sich ein Zeitalter ab, in dem sich durch die Reformation ein Bruch mit der großen Tradition der theologischen Spekulation des 13. Jahrhunderts (Albert der Große und Thomas von Aquin) vollzogen hat.¹⁷⁶ Diese Tradition entstand in der Übergangszeit der Patristik und erreichte ihren Höhepunkt in Thomas von Aquin, um danach wegen ihrer engen Verbindung mit der scholastischen Philosophie dieselben Verfallsstadien zu durchlaufen, letztlich zu „verderben“.¹⁷⁷ Die Parallelen zwischen beiden Entwicklungen jedoch enden hier. Die Philosophie kündigt in der Neuzeit die Kooperation mit der Theologie auf und tritt in ihre eigene aufsteigende Phase ein, während die
Phase sind für Brentano Bacon, Descartes, Locke und Leibniz. Im Unterschied zu Comte gehört Galilei nicht dazu, weil er „auf philosophischem Gebiete nicht eigentlich nachgewirkt“ habe (VPhPh, S. 151). CPhP I, S. 20 ff. VPhPh, S. 8 f., 23, 27 ff., 133; ZPh, S. 130 f. Normalerweise behandelt Brentano die Neuzeit und seine Epoche getrennt: „Zweimal schon im Laufe der Geschichte sah sich die Philosophie in der Lage, die Trümmer vorhergegangener Forschungen hinwegräumen und von neuem mit der Legung eines Fundamentes beginnen zu müssen. Und jetzt befindet sie sich zum dritten Male in dieser Lage.“ (GGPh, S. 15) Eine Ausnahme bildet der Text „Vom Gesetz der geschichtlichen Entwicklung“ (um 1870), in dem er der Philosophie seiner eigenen Zeit die Aufgabe zuweist, den Durchbruch und Erfolg des positiven Geistes zu vervollständigen (GPhN, S. 105; vgl. auch oben (S. 171) und VPhPh, S. 18, 27 f.). GkW, S. 583 f. Zu der Art und Weise, in der sich Comte auf Katholizismus und Protestantismus bezieht s. die Vorlesungen 54 und 55 im fünften Band seines Cours. GkW, S. 583 f.; GMPh, S. 4 f.
II.2.6 Brentano und Comte: Das Verhältnis zur Neuzeit
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kirchlichen Wissenschaften (wegen der Reformation) zunehmend an Bedeutung verlieren. In diesem Zusammenhang sind daher mit Blick auf die Neuzeit drei verschiedene Richtungen zu unterscheiden: (1) der Fortschritt der positiven Naturwissenschaften, den wir seit dem 17. Jahrhundert auf allen wissenschaftlichen Gebieten finden, (2) die Philosophie, die mit einer aufsteigenden Phase beginnt und im Idealismus danach wieder dem Niedergang anheimfällt, und (3) die kirchliche Wissenschaft (als Theologie), die sich seit dem Spätmittelalter bis in das 19. Jahrhundert hinein auf einer absteigenden Linie bewegt.¹⁷⁸ Die Epoche, die dann folgt, ist doppelseitig gekennzeichnet einerseits durch den Verfall des deutschen Idealismus, aber simultan durch die neu einsetzende Aristoteles-Renaissance vor allem in Berlin, etwas später im Umkreis des Katholizismus dann auch in Mainz, wo sich Philosophen und Wissenschaftler (auch Brentano) darum bemühten, zur theologischen Wissenschaft des 13. Jahrhunderts zurückzukehren, um dort die „rechten Anknüpfungspunkte“¹⁷⁹ für die Gegenwart zu finden. All dies zeigt, dass die Geschichte der kirchlichen Wissenschaft (Theologie, als Explikation der Offenbarung) eigentlich nur in ihrer mittelalterlichen Periode durch die Vier-Phasen-Lehre konkordant beschrieben werden kann und dass die Frage offen bleiben muss, ob Brentanos Geschichtstheorie weiter reicht. Genauer gesagt ist es nicht klar, ob Brentanos Theorie auch für die Neuzeit zur Anwendung kommen kann, weil die theologische Verfallsperiode bis weit in die Moderne reicht, also die Theologie hier keineswegs mit aufsteigender Phase einsetzt. Der Anfang der Moderne fällt also nicht mit dem Beginn einer aufblühenden Theologie zusammen, was als Indiz dafür gewertet werden kann, dass die kirchliche Wissenschaft (Theologie), in deren Kontext Brentano erstmals seine Vier-PhasenLehre schriftlich dargestellt hat, nur partiell in seine Theorie passt.¹⁸⁰ Wenn man dagegen die Kriterien offener formuliert – was Brentano allerdings nicht tut –, dann könnte man sagen, dass die geschichtlichen Prozesse der kirchlichen Wissenschaft (Theologie), der Philosophie und der schönen Künste eine gewisse Ähnlichkeit aufweisen, die darin bestünde, dass ihre Entwicklungen alternierend als Aufstiegs- und Verfallsphasen verlaufen.¹⁸¹ Meiner Meinung nach lässt sich eine Lösung dieser Frage nur dann finden, wenn man von der Hypothese ausgeht,
GkW, S. 562 ff.; s. GMPh, S. 65 ff. GkW, S. 583. Von dem Standpunkt Comtes Stadien-Lehre würde die Rehabilitation der katholischen Wissenschaft (Theologie) im 19. Jahrhundert kein Problem darstellen, weil sie der Restbestand eines überholten Stadiums in der Epoche des positiven Geistes wäre (CPhP I, S. 11, 48). Wie gesagt, bezieht sich Brentano in allen anderen frühen Texten, in denen er seine VierPhasen-Theorie darlegt, nicht auf die kirchliche Wissenschaft (Theologie), sondern nur auf die Philosophie und auf die schönen Künste.
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II.2 Franz Brentano und Auguste Comte
dass Brentanos frühen Schriften das Ergebnis eines Versuchs sind, an den „Höhepunkten der Vergangenheit“ der theologischen Spekulation des 13. Jahrhunderts (vor allem des Aquinaten) in dem Sinne anzuknüpfen, dass er zentrale Themen dieser Tradition auf der Linie der „strengen Schlussfolgerung“ und der Ergebnisse der neuzeitlichen, positiven Wissenschaften zu untermauern versuchte.¹⁸² Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich Brentanos theologisch-spekulative Erklärungen in den genannten Schriften auch als Korrektiv der neuzeitlichen Geschichte der von der katholischen Tradition inspirierten theologischen Spekulation verstehen, um dem seit fünf hundert Jahren andauernden Niedergang einen Riegel vorzuschieben und eine gewisse Korrespondenz mit der Aufstiegsphase der Philosophie zu erreichen, wie sie im Mittelalter bei Thomas von Aquin der Fall gegeben war. Dabei ist zu beachten, dass Brentano seine theologisch-spekulative Überlegungen in Verbindung mit der katholischen Kirche besonders in seinen frühen Schriften (auch in der Arbeit über die kirchlichen Wissenschaften) formuliert hat, in denen er sich als Repräsentant der katholischen Tradition verstand. Später, nach dem Ersten Vatikanischen Konzil (1869 – 1870), distanziert er sich dann zunehmend von der katholischen Kirche, verlässt sie offiziell (1879) und vertritt einen philosophischen Theismus, für den es kennzeichnend ist, dass die Philosophie einen Vorrang vor der Theologie besitzt. Die Hoffnung auf eine neue Aufstiegsphase der theologischen Spekulation, die er 1867 in der eben erwähnten Schrift ankündigte, hat sich nicht erfüllt. Die spekulative Theologie verfällt nach dem Erstem Vatikanischen Konzil vor allem mit der Erhebung der Unfehlbarkeit des Papstes zum Dogma (1870). Abschließend sei bemerkt, dass Brentano trotz der Verschiedenheit der beiden Positionen im Comte-Aufsatz betont, dass seine philosophische Arbeit die positive Philosophie wieder aufnehme und in gewissem Sinne fortsetze: „Unseren Tagen bleibt es vorbehalten, zu einer positiven Philosophie sich zurückzuwenden.“¹⁸³ Diese Bemerkung ist auch deswegen wichtig, weil er in allen anderen um 1890 gehaltenen Vorträgen weder Comte noch Mill noch den Begriff „positiv“
Vgl. DG, S. 208, oben Anm. 98 auf S. 180 und GMPh, S. 2 f. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, geht es um Arbeiten wie seine ersten drei Habilitationsthesen, teilweise die Habilitationsvortrag (1866) und die Metaphysikvorlesung (1867– 1872), die Habilitationsschrift (1867), GKW (1867), die Vorlesungen über die Unsterblichkeit der Seele (1869/70) und Dasein Gottes (1872/73. AC, S. 133. 23 Jahre später hält Brentano seine Epoche für „die Zeit einer universellen Revolution, oder, besser gesagt, einer Reformation der Philosophie von Grund aus“ (ZPh, S. 12). Diese Reformation, die den Eintritt in das neue „goldene Zeitalter der Philosophie“ markiert, besteht darin, dass auch auf geisteswissenschaftlichem Gebiet „ein Verfahren nach Analogie der Naturwissenschaft“ eingesetzt wird (ZPh, S. 45).
II.2.6 Brentano und Comte: Das Verhältnis zur Neuzeit
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erwähnt, sondern sich vorwiegend auf Naturwissenschaftler und auf sich selbst als Erneuerer der Philosophie bezieht.¹⁸⁴ Ich interpretiere diese Differenz als Zeichen dafür, dass sich Brentano bewusst ist, teilweise einen anderen Weg zur Erneuerung der Philosophie als Comte eingeschlagen zu haben, einen Weg, der die metaphysischen Fragen nicht ausschließt. In seiner Antrittsvorlesung in Wien heißt es: Die Gegenwart ist aber dann wohl eine Zeit des Überganges von jener entarteten Weise des Philosophierens, zu einer naturgemäßeren Forschung. In einem solchen Augenblicke werden die philosophischen Ansichten natürlich am meisten auseinandergehen. Die einen stehen noch ganz unter dem Einflusse der letzten Systeme; andere suchen in früheren Zeiten Anknüpfungspunkte; wieder andere beginnen völlig neu, indem sie sich von vorgeschritteneren Wissenschaften Winke für die Methode entnehmen; und die allermeisten stellen in verschiedenen Verhältnissen Mischungen von alten und neuen Elementen dar.¹⁸⁵
Comte ist ein exzellentes Beispiel für den dritten Punkt. Seine positive Philosophie beginnt in dem Sinn „völlig neu“, als sie auf die Geschichte der fundamentalen positiven Wissenschaften zurückgreift und sie zu integrieren versucht.
ZPh, S. 3 – 48, 103 – 107, 122 – 132. Der Vortrag über die Zukunft der Philosophie ist unter anderem auch deshalb wichtig, weil Brentano darin Bacon, Descartes, Locke und Condillac, nicht aber Mill und Comte als Verteidiger der naturwissenschaftlichen Methode anführt (ZPh, S. 8). Um präzise zu sein: Comte wird in dem Vortrag zwar erwähnt, aber der Hinweis auf ihn hat keine Bedeutung für die hier angesprochene Frage (ZPh, S. 40). ZPh, S. 97. Im Unterschied zur „Einleitung“ zur Vorlesung über die Geschichte der Philosophie, in der dieselben Verfallszeichen (Umwälzung der philosophischen Systeme, Mangel an einer gemeinsamen Tradition) aufgezählt werden, die aber zugleich in eine klare Verbindung mit seiner Vier-Phasen-Lehre gebracht werden (GPhN, S. 1– 7), kommt diese Lehre in Brentanos Antrittsvorlesung nur episodisch zur Sprache (ZPh, S. 97). Anstatt von Verfall spricht Brentano hier wiederholt von dem „zurückgebliebenen Zustand der Philosophie“ (ZPh, S. 94 f., 99). Zugleich werden die Autoren, die in den Ausführungen über die Vier-Phasen-Lehre als Vertreter des ersten (Wolf) und dritten (Kant, Fichte, Schelling, Hegel) Verfallsstadiums betrachtet werden, in der Antrittsvorlesung viel neutraler, und zwar als Vertreter der dogmatischen, kritischen und absoluten Philosophie charakterisiert (ZPh, S. 88; vgl. hingegen GPhN, S. 48 – 73; vgl. auch PeS, S. 38. Mezei und Smith (a.a.O., S. 14 f.) behaupten, Brentano würde im Vortrag über die Zukunft der Philosophie die Termini „dogmatisch“, „kritisch“ und „absolut“ zur Beschreibung seiner PhasenLehre benutzen. Dagegen gibt es im Text selbst keinen Hinweis weder auf diese Lehre, noch auf diese Termini). Dies erklärt sich daraus, dass Brentano wusste, dass die katholischen Kreisen ihm nicht eben gewogen waren, und dass er die Stimmung nicht weiter anheizen, sondern vielmehr die Empfindlichkeit seines Publikums reduzieren wollte (vgl. dazu VPhPh, S. 58 f.; Baumgartner und Burkard, a. a. O., S. 27, und M. Antonelli, „Eine Psychologie, die Epoche gemacht hat“, in F. Brentano, Sämtliche veröffentlichte Schriften, Bd. 1: Psychologie vom empirischen Standpunkte, Von der Klassifikation der psychischen Phänomene, hrsg. von Th. Binder und A. Chrudzimski, mit einer Einleitung von M. Antonelli, Frankfurt a. M., Ontos, 2008, S. XXX–XXXIV).
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II.2 Franz Brentano und Auguste Comte
Was Brentano betrifft, ist seine Philosophie für den letzten Punkt aufschlussreich, weil sie das Abwenden von der spekulativen unwissenschaftlichen Methode des deutschen Idealismus dadurch durchführt, dass sie die „Anknüpfung an die Höhepunkte der Vergangenheit“¹⁸⁶ mit der „Benutzung der Fortschritte der Naturwissenschaft“, auch mit deren Methode verbindet. Diese Methode soll als Inspirationsquelle für die Philosophen fungieren, die ein Organon finden müssen, das dem Gegenstand der fundamentalen philosophischen Wissenschaften, d. h. der Metaphysik und der Psychologie, angemessen ist. Auf diese Weise sollen sie bei den Interessierten das verlorene Vertrauen an der Philosophie wiedererwecken und sie davon überzeugen, dass die Philosophie genauso wie die Naturwissenschaft ein Feld ernsthafter Arbeit ist.¹⁸⁷ Im Unterschied zu vielen zeitgenössischen Philosophen, die über erkenntnistheoretische Fragen den Weg in den Neukantianismus fanden,¹⁸⁸ orientiert sich der junge Brentano an Aristoteles und der älteren katholischen Tradition, aber auch an dem methodologischen Verfahren der modernen Naturwissenschaften und damit einhergehend an dem Positivismus Comtes und J. St. Mills.¹⁸⁹
Wie bereits angedeutet, geht es um Philosophen – Aristoteles, Thomas von Aquin, Descartes oder Leibniz –, für die die metaphysischen Fragen wichtig waren. Dabei sollte noch bemerkt werden, dass im Unterschied zu seinen frühen Schriften, in denen er die mittelalterliche Philosophie hochschätzte (s. z. B. GMPh, S. 41), sie im Vortrag über die vier Phasen der Philosophie (1895) – auch aus polemischen Gründen (VPhPh, S. 152) – der antiken und der neuzeitlichen Philosophie gegenüber herabgewürdigt wird (VPhPh, S. 27 f.; vgl. auch Werle, a. a. O., S. 85). ZPh, S. 85 – 100; vgl. auch Husserl: „In einer Zeit des Anschwellens meiner philosophischen Interessen und des Schwankens, ob ich bei der Mathematik als Lebensberuf bleiben oder mich ganz der Philosophie widmen sollte, gaben Brentanos Vorlesungen den Ausschlag. […] Zuerst aus seinen Vorlesungen schöpfte ich die Überzeugung, die mir den Mut gab, die Philosophie als Lebensberuf zu wählen, nämlich, daß auch die Philosophie ein Feld ernster Arbeit sei, daß auch sie im Geiste strengster Wissenschaft behandelt werden könne und auch sein müsse.“ (E. Husserl, „Erinnerungen an Franz Brentano (1919)“, in ders., Aufsätze und Vorträge (1911– 1921), T. Nenon, H.-R. Sepp (Hrsg.), Hua XXV, Den Haag, Martinus Nijhoff, 1987, S. 304 f.) Vgl. dazu die wertvolle Arbeit von K. Ch. Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1986, und F. C. Beiser, The Genesis of Neo-Kantianism, 1796 – 1880, Oxford, Oxford University Press, 2014. Diese Verwendung des empirischen Verfahrens der Naturwissenschaft, nicht dagegen der Glaube, dass er in einer Zeit lebe, in der die Religion sich in ihre höhere Form (die Philosophie) verwandeln hätte (Mezei und Smith, S. 14), steht im Hintergrund von Brentanos Behauptung, seine Epoche sei „die Zeit einer universellen Revolution oder einer Reformation der Philosophie aus dem Grund aus“ (ZPh, S. 12; vgl auch 45, und PeS, S. 90, wo er die induktiv-deduktive Methode Mills zum Beweis der Unsterblichkeitsfrage anwenden will). Andererseits wenn man das auf der Seite 148 oben Gesagte über die zwei Aufgaben, vor die sich Brentano um 1867 gestellt sah, ernst nimmt, dann muss das eben Behauptete durch die Bemerkung ergänzt werden, dass die „An-
II.2.6 Brentano und Comte: Das Verhältnis zur Neuzeit
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Nach Brentano kann also der echte Weg zur Erneuerung der Philosophie nicht, wie bei Comte, in der Vernachlässigung der philosophischen Tradition und in der Etablierung einer positiven Philosophie auf der Linie der fundamentalen Wissenschaften bestehen. Vielmehr ist ihm zufolge die Rückkehr zu den wichtigsten Momenten der aufsteigenden Phasen in der philosophischen (metaphysischen) Tradition, z. B. Aristoteles, ebenso notwendig wie die Verwendung der induktiven, empirischen Methode auf philosophisch-metaphysischem und psychologischem Gebiet. Nach dieser Rekonstruktion soll also die Philosophie nicht unabhängig von der philosophischen Tradition im Sinne Comtes, sondern empirisch und in Verbindung mit ihr neu beginnen. Im folgenden Kapitel werde ich mich nicht mit den traditionellen, aristotelisch-scholastischen Facetten von Brentanos psychologischem Denken, sondern mit der Anwendung der empirischen, positiven Methode in der Psychologie beschäftigen und dabei das Augenmerk auf das Verhältnis der Psychologie vom empirischen Standpunkt zur positiven Philosophie Auguste Comtes und J. St. Mills legen.
knüpfung an die Höhepunkte der Vergangenheit“ für den damaligen katholischen Priester Brentano nicht nur im Sinne seiner vierten Habilitationsthesis, sondern auch im Sinne der Erneuerung der kirchlichen, katholischen Wissenschaft durch das Zurückkehren zur theologischen Spekulation von Thomas von Aquin verstanden werden kann. Diese Fragestellung, die in Verbindung mit seinen ersten drei Habilitationsthesen steht, kommt auch in den Ausführungen über den Theismus im Aufsatz über Comte zur Sprache (AC, S. 119 ff.).
II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt als Beitrag zur positiven Philosophie des 19. Jahrhunderts II.3.1 Einleitung II.3.1.1 „Positiv“ und „metaphysisch“ in Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt Franz Brentano wird mit gutem Recht nicht den Denkern zugerechnet, die im 19. Jahrhundert die positive Philosophie vertreten haben.¹ Auch wenn er sich in seiner Jugend intensiv mit den Schriften A. Comtes und J. St. Mills auseinandersetzte und ihre Ideen in seine eigenen Schriften und Vorlesungen integrierte, hat sich Brentano ständig davor gehütet, sich selbst oder seine Werke mittels der Bezeichnung „positiv“ zu charakterisieren.² Hinzu kommt, dass er sich im Laufe der Zeit in zunehmendem Maße von Comtes und Mills Positionen distanzierte und sich auf sie nur noch gelegentlich und eher kritisch bezog.³ All dem zum Trotz werde ich weiter die These verteidigen, dass Brentanos 1874 an der Universität Wien gehaltene Antrittsvorlesung „Über die Gründe der Entmutigung auf philosophischem Gebiete“ und in einem ganz besonderen Maße seine auf die evidente innere Wahrnehmung fundierte Psychologie vom empirischen Standpunkt Beiträge zur positiven Philosophie im Sinne Comtes und Mills darstellen. Die Gründe, aus
Vgl. Kraus (a. a. O., S. 2, 7 f., 20, 66), der Külpes Behauptung entschieden zurückweist, Brentano und Marty hätten eine Art positive Philosophie vertreten, weil sie die Philosophie als Psychologie auffassen und sie nach der Methode der Naturwissenschaft aufbauen wollen. Kraus wendet zu Recht ein, dass Brentano nicht nur die Psychologie, sondern auch die Metaphysik als eine fundamentale philosophische Disziplin, sogar „als Philosophie im höchsten Sinne“ betrachtete (vgl. O. Külpe, Die Philosophie der Gegenwart in Deutschland, Leipzig, Teubner, 1908, S. 18 f.). Von Wright (Explanation and Understanding, London, Routledge & Kegan Paul, 1971) analysiert Mill und Comte als Vertreter des Positivismus, ohne Brentano zu erwähnen, auch wenn Brentano in seiner Erörterung über den methodologischen Monismus zweifelsohne einen Platz hat. Um Comtes und Mills Auffassung vom Positivismus des 20. Jahrhunderts abzugrenzen, werde ich weiter nicht von der „positivistischen“, sondern von der „positiven Philosophie“ der beiden Denker sprechen. Damit stehe ich sowohl mit dem Titel von Comtes Cours als auch mit der Art und Weise in Einklang, in der Mills Redewendung „positive philosophy“ von E. Gomperz ins Deutsche übertragen wurde (J. St. Mill, Auguste Comte und der Positivismus, Leipzig, Fues’s Verlag, 1874, S. 1 und passim). Seine Äußerung in AC (S. 133) bildet die Ausnahme hiervon. Vgl. z. B. die von J. Müller inspirierte Kritik an Mills Assoziationsgesetzen (DPs, S. 4). https://doi.org/10.1515/9783110524550-009
II.3.1 Einleitung
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denen ich die Psychologie nicht restlos der positiven Philosophie zuordne und sie nicht für eine positive Psychologie halte, sind die folgenden: 1. Comtes negative Einstellung zur Metaphysik und zum Theismus lässt sich nicht auf Brentanos Psychologie und im Allgemeinen auf Brentanos Denkweise übertragen.⁴ Vielmehr gehören für Brentano die metaphysischen Themen zu den wichtigsten Kernfragen jeder aufsteigenden Phase der Philosophie. 2. Comte spricht der Psychologie jeden wissenschaftlichen Status ab und schließt sie aus der Reihe der positiven Wissenschaften aus. 3. Bei den Autoren, die den vom Selbstbewusstsein gelieferten Erkenntnissen nicht jeden Wert absprechen und mit Comtes Verdikt angesichts der Psychologie nicht einverstanden waren, weil sie für eine positive Psychologie eintraten, z. B. Henry Maudsley, beruht die positive Psychologie hauptsächlich nicht auf dem inneren Bewusstsein, sondern auf der Analyse der physiologischen Bedingungen des mentalen Lebens.⁵ Unter diesen Umständen ist es schwierig, die Psychologie als positive Disziplin zu betrachten, weil sie mit einer Methode – der inneren Wahrnehmung – arbeitet, die nicht weit von derjenigen Methode entfernt ist – der inneren Beobachtung –, die Comte zur Zurückweisung der Psychologie führte. Darüber hinaus möchte Brentano in der Psychologie vom empirischen Standpunkt ausgesprochen metaphysische Themen, und zwar insbesondere die Unsterblichkeitsfrage, behandeln.⁶ Im Unterschied zu Comte wollte er also nicht auf jede metaphysische Fragestellung verzichten. Im Gegenteil spielten die Seele und die Unsterblichkeitsfrage von Anfang an eine äußerst wichtige Rolle in seinem Denken: Die Habilitationsschrift war demjenigen Teil der aristotelischen Seele gewidmet, der unvergänglich und unsterblich ist, in einem früheren Manuskript betrachtet er die Unsterblichkeit der Seele als „den Gipfel der Psychologie“,⁷ in der Psychologie charakterisiert er sie als eine „Frage, welche zu allen Zeiten das lebhafteste Interesse hervorgerufen hat“,⁸
Vgl. oben II.2.4. Vgl. dazu die Ausführungen über Maudsley in II.3.2.5 unten. Stumpf berichtet, dass Brentano noch im WS 1869/70 diese Frage in „28 Vorlesungsstunden“ behandelte (Stumpf, a. a. O., S. 105). Auf die Wichtigkeit der Unsterblichkeitsfrage für die brentanosche Psychologie wurde in der einschlägigen Literatur wiederholt hingewiesen (vgl. Rollinger, der mit Nachdruck diese Facette seiner Psychologie hervorhebt („Brentano’s Psychology from an Empirical Standpoint: Its Background and Conception“, in I. Tănăsescu (Hrsg.), Franz Brentano’s Metaphysics and Psychology, S. 261– 310); vgl. auch Antonelli, „Eine Psychologie, die Epoche gemacht hat“, S. IX f.). PeS, S. 90.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
und sie gehört zweifelsohne in den Kreis derjenigen „Fragen, auf deren Beantwortung […], im Interesse des Menschheit, nicht verzichtet werden kann“.⁹ Unter diesem Gesichtspunkt ist es aufschlussreich, dass eines der Hauptthemen des sechsten, letzten Buches seiner Schrift eben die Frage nach der Unsterblichkeit des psychischen Lebens ist und dass er ihre Lösung für die „höchste theoretische Leistung“ seiner empirischen, modern aufgefassten Psychologie hält. Um die Eigenart dieser Schrift gegenüber anderen psychologischen Schriften Brentanos genau zu erfassen, sollte betont werden, dass sie sich von seinen früheren, metaphysisch ausgerichteten Arbeiten (der Dissertation und der Habilitationsschrift) dadurch unterscheidet, dass sich Brentano darin programmatisch für eine Wissenschaftsauffassung entscheidet, die ohne metaphysische Begriffe, im Klartext ohne den Begriff der Seele, auskommt, denn sie ist von vornherein auf positive Grundlagen aufgebaut: Im Einklang mit der im 17. Jahrhundert zum Durchbruch gekommenen Auffassung der positiven Wissenschaft hat sie nicht mit (seelischen) Substanzen, sondern nur mit (psychischen) Phänomenen und ihren Gesetzen zu tun.¹⁰ Dieser programmatisch aufgeklärten Auffassung von der psychischen Wissenschaft zum Trotz, und auch trotz der Tatsache, dass die Unsterblichkeitsfrage nicht gut zu ihr passt,¹¹ weil sie keine „Verifikation durch direkte Erfahrung“ zulässt, übernimmt Brentano dieses Thema in seiner Schrift und hält es für ein Hauptproblem ihres letzten Buches. Auch wenn diese Vorgehensweise den heutigen Leser verwundern mag, ist sie für die Art und Weise aufschlussreich, in der Brentano die von der metaphysischen Tradition inspirierten Fragestellungen mit den neuzeitlichen Ansätzen der positiven Wissenschaft verbinden will: Zum einen wird die Unsterblichkeitsfrage in die Sprache der phänomenalen psychischen Wissenschaft übertragen, denn in der Arbeit von 1874 geht es nicht weiter um die Unsterblichkeit der Seele, sondern um den „Fortbestand des psychischen Lebens nach dem Zerfalle des Leibes“. Zum anderen werden die modernen Methoden der Induktion und Deduktion A. Bains und J. St. Mills zur Hilfe genommen, um sie zu lösen.¹² Die folgende Stelle, an der Brentano zugleich die überlieferte metaphysische Tradition, die physiologischen Ergebnisse seiner Zeit und auch Mills Auf-
ZPh, S. 98; vgl. auch DPs, S. 154, 156. PeS, S. 25 – 30, 41 f. In den späteren Texten über die deskriptive Psychologie nimmt Brentano den Begriff der Seele wieder auf und bestimmt die Psychologie als Wissenschaft von der Seele (DPs, S. 146, 154 ff.). PeS, S. 90. PeS, S. 3, 80 ff.
II.3.1 Einleitung
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fassung vom Verhältnis zwischen Induktion und Deduktion aufgreift,¹³ ist für die ihm eigentümliche Mischung zwischen Traditionellem und Modernem aufschlussreich: Denn die Frage nach der Möglichkeit eines Fortbestandes des psychischen Lebens bei der Auflösung des leiblichen Organismus, ist eigentlich eine psychophysische Frage; nur eine von denen, die nach unserer früheren Auseinandersetzung, wegen des Uebergewichts psychischer Betrachtungen, der Psychologie, nicht der Physiologie zuzuweisen sind. Ob es uns freilich möglich sein wird, durch Induction auf psychischem Gebiete allgemeine Thatsachen zu finden, welche für eine Deduction zur Entscheidung der Unsterblichkeitsfrage die Prämissen liefern; ob wir nicht genöthigt sein werden, so tief in die Metaphysik einzugehen, dass der sichere Pfad in unbestimmten, haltlosen Träumereien sich verliert; ob nicht auch die Thatsachen, welche wir der Physiologie zu entlehnen haben, bei dem jetzigen Zustande dieser Wissenschaft, auf allzuwenig Vertrauen Anspruch machen können: – das sind Fragen, die wohl nicht mit Unrecht aufgeworfen werden dürften, über die aber hier zu entscheiden nicht des Ortes ist.¹⁴
Die metaphysische Ausprägung der Untersuchung im letzten Buch seiner Arbeit widerspricht also nicht Brentanos Denkweise, sondern steht damit recht gut im Einklang, weil sie seiner Anforderung entspricht, das letzte Verfallsstadium der neuzeitlichen Philosophie sowohl durch die Anknüpfung an die „Höhepunkte der Vergangenheit“ als auch durch die Berücksichtigung der methodischen Eroberungen der Naturwissenschaft zu überwinden. Aber wenn Brentanos Psychologie weder unter dem Gesichtspunkt ihrer metaphysischen Dimension noch vom Standpunkt ihrer Hauptmethode, der inneren Wahrnehmung, für positiv gehalten werden kann, warum bestehe ich so stark darauf, sie als einen Beitrag zur positiven Philosophie des 19. Jahrhunderts zu lesen? Mein Hauptargument dafür besteht darin, dass man seine Psychologie ohne die Einbeziehung der positiven Auffassung Comtes und Mills über die Ziele und die Methode der Wissenschaft nicht verstehen kann. Anders gesagt, jede Lesart, die diese Aspekte vernachlässigt – z. B. die Lektüre als eine Vorwegnahme der deskriptiven Psychologie oder unter dem Gesichtspunkt von Brentanos spätem Reismus oder ihres Einflusses auf die Theorien seiner Schüler und Enkelschüler –, ist der Gefahr ausgesetzt, nicht zu verstehen, wie tief Brentanos Schrift der positiven Auffassung seiner Zeitgenossen verschuldet ist und welch tiefen Einfluss diese Auffassung auf ihn ausgeübt hat. Gemäß diesen Lesarten ist die Psychologie nicht als eine Schrift der Philosophie des 19. Jahrhunderts anzusehen, sondern als Es geht um Mills „inducto-deductive methodology“ (G. Scarre, „Mill on Induction and Scientific Method“, in J. Skorupski (Hrsg.), Cambridge Companion to Mill, Cambridge, Cambridge University Press, 2006, S. 127); vgl. unten II.3.2.6.2. PeS, S. 90.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
ein Werk, dessen Bedeutung mit Bezug auf seine Weiterentwicklungen bei Brentano und seinen Schülern und bei den Nachfolgern im 20. Jahrhundert (z. B. Chisholm) zu betrachten ist.¹⁵ Man versäumt dabei aber wesentliche Facetten von Brentanos Arbeit, denn Brentano distanziert sich zwar von der Einstellung Comtes zum Theismus, zur Metaphysik und Psychologie, zugleich greift er aber auf Comtes positive Auffassung von der Wissenschaft zurück, nach der die Auffindung der Gesetze der Phänomene die Hauptaufgabe der Wissenschaft ausmacht, und glaubt außerdem, dass die positive Betrachtungsweise mit der Behandlung der Unsterblichkeitsfrage kompatibel sei. Darüber hinaus vergisst man weiter, dass Brentano sich zwar Comtes Auffassung von der Psychologie und ihrer Methode nicht angeeignet hat, er jedoch durchaus in Mills positive Auffassung von der „phänomenalen Psychologie“¹⁶ und ihrem methodischen Weg einwilligt.¹⁷ Seine Arbeit von 1874 ist also ein wissenschaftliches Gebäude, das auf theoretische und methodische Pfeiler gestützt ist, die Brentano von Mill und trotz seiner komplexen Haltung zu Comte auch von diesem übernimmt. Wenn die Behandlung des Terminus „positiv“ bei Comte nicht seine Anwendung auf eine Psychologie, die auf der cartesischen, evidenten inneren Wahrnehmung begründet ist, verbieten würde und wenn dieser Ausdruck nicht so paradox klingen würde, würde ich die Psychologie als eine positive Wissenschaft bezeichnen, die im totalen Gegensatz zu Comte und seinen Anhängern, z. B. Maudsley, auf den Daten der inneren Wahrnehmung aufbaut und die zugleich positive und metaphysische Ziele verfolgt: Aufgrund der von evidenten inneren Wahrnehmungen gelieferten Ergebnisse soll sie die empirischen Gesetze psychischer Phänomene entdecken,¹⁸ sie auf die höchsten Gesetze reduzieren und darüber hinaus die
Vgl. z. B. Routledge Handbook of Brentano and the Brentano School, U. Kriegel (Hrsg.), London, Routledge, 2017, wo Brentanos deskriptive Psychologie und sein später Reismus unter eigenständigen Rubriken behandelt werden. Seine empirische Psychologie hingegen erfährt keine eigene Darstellung, obwohl wichtige Probleme dieser Schrift (Intentionalität, Einheit des Bewusstseins) in eigenen Kapiteln diskutiert werden. PeS, S. 90. Hinzu kommt, dass Brentano Comtes Auffassung teilt, innere Beobachtung sei nicht möglich, und aus diesem Grund Mill dafür kritisiert, dass er diese These Comtes nicht schätzte (PeS, S. 47 f.). Mills (Cardaillacs und Hamiltons) Verteidigung einer Psychologie, die auf innerem Bewusstsein (innerer Beobachtung) und dem Studium des mentalen Lebens, insofern sich dies noch frisch im Gedächtnis befindet, beruht, ist auch als direkte Reaktion auf Comtes Ablehnung der Psychologie zu sehen (vgl. unten II.3.2.4). Brentano formuliert im Manuskript des zweiten Buches auch Gesetze über die Eigentümlichkeiten, die Grundklassen und das simultane Verhältnis der Phänomene zueinander in der Einheit des Bewusstseins, z. B., dass jedes psychische Phänomen entweder Vorstellung sei oder
II.3.1 Einleitung
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Unsterblichkeitsfrage unter Zuhilfenahme der Ergebnisse positiver Forschung behandeln. Diese Charakterisierung trifft auf wesentliche Aspekte von Brentanos Psychologie zu und zeigt, wie komplex das theoretische Profil dieser Schrift ist. Überdies zeigt sie auch, wie einseitig die Interpretation der Psychologie als Werk der philosophy of mind ist. Eine solche Interpretation konzentriert sich auf das zweite Buches dieser Schrift und vergisst dabei, dass die Ziele, die in diesem Buch verfolgt werden: die Trennung zweier Grundklassen von physischen und psychischen Phänomenen und die Feststellung der Klassen der Letzteren, nur eine vorbereitende Rolle bei der Etablierung einer Psychologie nach dem Modell der positiven Wissenschaft bei Comte und Mill spielen, nämlich für die Entdeckung der empirischen, psychischen Gesetzte und die Reduzierung dieser Gesetze auf letzte Gesetze.¹⁹ Da in Brentanos Werk von 1874 die metaphysische Fragestellung in einen Rahmen eingebettet ist, der unter dem Einfluss von positiven Auffassungen über die positive Wissenschaft steht, ist Vorsicht geboten, wenn es darum geht, die positiven von den metaphysischen Facetten dieser Arbeit zu unterscheiden. Wenn man diese Aspekte jedoch klar trennen will, dann lassen sich mit Ausnahme der Ausführungen über die Unsterblichkeitsfrage²⁰ die Analysen der ersten zwei Bücher und, insofern die im Manuskript verbliebenen Texte uns das beurteilen lassen, auch die der folgenden drei Bücher der Psychologie als Erörterungen über die psychischen Erscheinungen verstehen, die im Einklang mit Comtes und Mills Ansichten über die Zwecke und die methodischen Momente der positiven Wissenschaft durchgeführt werden. Aus diesem Grund betrachte ich sie als einen Beitrag zur positiven Philosophie des 19. Jahrhunderts. Auch wenn das letzte Buch der Psychologie eine Frage in Angriff nimmt, die dank ihrer metaphysischen Implikationen den Rahmen einer positiv durchgeführten Untersuchung sprengt, ist es für die hier verteidigte These wichtig zu bemerken, dass auch sie sowohl angesichts ihrer Formulierung – nicht „die Unsterblichkeit der Seele“, sondern „die Unsterblichkeit des [aus mentalen Zuständen bestehenden psychischen; Hinzu-
eine Vorstellung zur Grundlage habe. Im Unterschied zu den empirischen Gesetzen der Aufeinanderfolge mentaler Zustände lassen sich diese Gesetze nicht weiter auf höhere allgemeine Gesetze reduzieren (vgl. S. 317 ff. unten). Diese Gesetze sollen deshalb von den Gesetzen der Koexistenz mentaler Phänomene Mills, etwa von den Gesetzen der Intensität und der Kontiguität der Vorstellungen, die simultan verlaufen (SLRI II, S. 852/459; PeS, S. 28), unterschieden werden, weil Letztere keine Gesetze der Fundierung psychischer Phänomene (Brentano), sondern Regelmäßigkeiten der simultanen Ideenassoziation sind. Dazu kommt noch die Behandlung der Unsterblichkeitsfrage, die nach Brentano mit der positiven Forschungsweise kompatibel ist. PeS, S. 30 ff., 41, 90.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
fügung I. T.] Lebens – als auch in methodischer Absicht, d. h. aufgrund von Induktion und Deduktion, „positiv“ behandelt werden sollte.²¹ Anders gesagt: Auch wenn Brentanos empirische Psychologie sich nicht restlos auf die positive Philosophie zurückführen lässt, lässt sie sich auch nicht ohne sie verstehen, weil viele ihrer wichtigen zentralen Themen der positiven Philosophie entlehnt wurden. Angesichts der Art und Weise, in der Brentanos Verhältnis zu Comte und Mill in den letzten Jahrzehnten beurteilt wurde, ist zu bemerken, dass der Einfluss Comtes auf Brentano wiederholt thematisiert wurde.²² Dabei geht Münch in einem bahnbrechenden Aufsatz über Comte und Brentano von der Frage aus: „[H]ow can we deal with psychical phenomena in the framework of positive philosophy?“ Er weist auch ausdrücklich darauf hin, dass die Rolle der inneren Wahrnehmung in der Psychologie darin besteht, „a new realm of positive scientific research“ zu erschließen, der eine „positive“ Psychologie ermöglicht.²³ All dem zum Trotz hält er diese Schrift nicht für einen Beitrag zur positiven Philosophie des 19. Jahrhunderts, sondern betonnt besonders ihren aristotelischen Charakter, ohne darauf hinzuweisen, dass die Erschließung des psychischen Bereichs mittels der inneren Wahrnehmung nur den ersten Schritt Brentanos in die Richtung einer „positiven“ Psychologie ausmacht. Ein Schritt, dem ausgehend von psychologischer Induktion die Entdeckung der Gesetze der Koexistenz und Sukzession sowie der Gesetze der Merkmale und Grundklassen psychischer Phänomene²⁴ folgen sollte.Was die Gesetze der Koexistenz und Sukzession betrifft, so sollten sie weiter auf letzte psychische Gesetze reduziert werden. Mit anderen Worten: Das positive Verfahren Brentanos im Jahr 1874 begrenzt sich nicht auf die Eröffnung des psychischen Gebietes mittels der inneren Wahrnehmung – dies würde auch für seine
PeS, S. 33, 88 ff. Vgl. Münch, „Brentano and Comte“; P. Simons, „Introduction to the Second Edition“, in F. Brentano, Psychology from an Empirical Standpoint, O. Kraus, L. McAlister (Hrsg.), mit einem neuen Vorwort von P. Simons, A. C. Rancurello, D. B. Terell, L. McAlister (Übers.), London, Routledge, 1995, S. XV–XVI; und Antonelli, a. a. O., S. X.; vgl. auch die bibliographischen Angaben oben in Anm. 6, S. 156. Die Rolle, die Mills Auffassung bezüglich der psychischen Wissenschaft für Brentanos Psychologie spielte, wurde hingegen bis jetzt wenig behandelt (vgl. E. Valentine, „British Sources in Brentano’s Psychology from an Empirical Standpoint (1874), with Special Reference to John Stuart Mill.With an Appendix: Two Unpublished Letters of Franz Brentano to J. St. Mill“, Brentano Studien 15/1 (2017), S. 291– 328; Baumgartens Aufsatz, „Brentanos und Mills Methode der beschreibenden Analyse“, Brentano Studien 2 (1990), S. 63 – 79, bezieht sich nicht auf Brentanos empirische, sondern nur auf seine deskriptive Psychologie). Münch, a. a. O., S. 36, 50. Auf der Basis von Brentanos Ausführungen im 1874 veröffentlichten Werk lässt sich nicht darauf zurückschließen, dass er sich in den unveröffentlichten Kapiteln des zweiten Buches seiner Psychologie mit solchen Gesetzen befassen wollte.
II.3.1 Einleitung
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deskriptive Psychologie gelten –, sondern es besteht darüber hinaus ebenfalls darin, dass die aufgrund der inneren Wahrnehmung erzielten Ergebnisse unter dem Gesichtspunkt von weiteren Desideraten der positiven Forschung bewertet werden sollten. Ein weiterer Grund, weshalb die Arbeit von 1874 nicht als Teil der positiven Philosophie aufgefasst wurde, ist, dass man diese Schrift vor dem Hintergrund von Brentanos aristotelischer Psychologie und im Allgemeinen seiner aristotelisch-thomasischen Anschauung interpretiert hat.²⁵ Eine solche Interpretation läuft aber Gefahr, die Eigenart der Psychologie gegenüber seiner aristotelischen Psychologie aus dem Auge zu verlieren, denn außer der Unsterblichkeitsfrage und der aporetischen Methode der Untersuchung übernimmt Brentano in der Arbeit von 1874 nicht die aristotelische, sondern die positive Auffassung über die Ziele und die Methode der positiven Wissenschaft. Die für seine Nachfolger so wichtigen Untersuchungen des zweiten Buches seiner Arbeit waren 1874 dazu bestimmt, die Grundlagen zu bilden, auf deren Basis die zu jener Zeit durchführbaren Ziele der Psychologie als positiver Wissenschaft – die Entdeckung der empirischen Gesetze der Sukzession, der Koexistenz, der Merkmale und der Grundklassen psychischer Phänomene – erreicht werden konnten. Weder seine Schüler noch der Herausgeber dieses Werkes, Oskar Kraus, oder die zeitgenössischen Interpreten haben diesen Zielen und dem ersten Buch, in dem sie dargestellt werden, besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Letzten Endes sind sie Brentano im Laufe der Zeit selbst fremd geworden und wurden schließlich und endlich der genetischen Psychologie zugewiesen.²⁶ Das ändert aber nichts daran, dass die Zwecke und die ihnen zugeordneten methodischen Momente eine ganz entscheidende Rolle beim Errichten seiner Psychologie gespielt haben. Denn wenn es zum einen wahr ist, dass Brentanos empirische Untersuchungen 1874 in ein letztes, metaphysisch geprägtes Buch münden sollten, das trotz der positiven Behandlungsweise für seine aristotelisch-katholische Bildung relevant ist, ist es zum anderen ebenso wahr, dass diesem Buch fünf andere Bücher vorangehen, in denen das Projekt einer als positive Wissenschaft verfassten Psychologie sowohl abgesteckt als auch angesichts der zu jener Zeit erreichbaren Zwecke (der induktiven Auffindung der empirischen Gesetze) in die Tat umgesetzt werden sollte. Wie auch immer man den interpretativen Standpunkt wählt, sind Brentanos Äußerungen dazu kristallklar und können nicht übersprungen werden.²⁷ Unter diesem Gesichtspunkt ist zu sagen, dass die Einbettung der Psychologie in Comtes Stufenleiter der positiven
Vgl. Münch, a. a. O., S. 33 – 37; Simons, a. a. O., S. XVII; und Antonelli, a. a. O., S. XXVI ff. DPs, S. 4 f. PeS, S. 59 f.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
Wissenschaften eine Tatsache ist, deren eigenartige Bedeutung für Brentanos Schrift in ihrer vollen Tragweite noch nicht erfasst wurde.²⁸ Vor diesem Hintergrund gibt es tatsächlich vier Argumente, die für die Zugehörigkeit der Psychologie vom empirischen Standpunkt zur positiven Philosophie sprechen: 1. die allgemeine Auffassung von den Zielen der wissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnis; 2. die Ziele von Brentanos Psychologie; 3. die Rolle, die Comtes Stufenleiter der Wissenschaften beim Aufbau seiner Psychologie spielte; 4. die methodischen Momente derselben Schrift. All die unter diesen Punkten aufgezählten Themen sind von Brentano aus Comtes und Mills Schriften übernommen und jedes von ihnen stellt einen Meilenstein bei der Begründung seiner Psychologie und seiner Antrittsvorlesung dar. Unter diesen Umständen spielt es für mich gar keine Rolle, dass Brentano seine Psychologie nicht als eine positive, sondern als eine empirische Wissenschaft kennzeichnet, dass er schon im Aufsatz über Comte deutlich zu erkennen gibt, dass er Comtes positive Auffassung wegen ihrer Stellung zum Theismus nicht vollkommen teilen kann, und auch nicht, dass das Thema des letzten Buches seiner Schrift von der metaphysischen Tradition herrührt – wie schon angedeutet, ist die Verbindung dieser Tradition mit neuzeitlichen methodischen Ansätzen für Brentano charakteristisch.²⁹ Dagegen ist für mich entscheidend, dass Brentano die wichtigsten Schritte zur Etablierung der Psychologie dadurch macht, dass er in die Fußstapfen Comtes und Mills tritt und dass die Ergebnisse der Arbeit von 1874 zweifelsohne unter dem Gesichtspunkt der Ziele der positiven Wissenschaft jener Autoren bewertet werden können.
II.3.1.2 Der Plan und die Herausgabe von Brentanos empirischer Psychologie Um das eben Gesagte besser zu verstehen, möchte ich an dieser Stelle ein paar Bemerkungen über den Inhalt von Brentanos Psychologie und über die Richtungen ihrer Rezeption machen. Es ist wohlbekannt, dass die Psychologie vom empirischen Standpunkt sechs Bücher umfassen sollte: das erste über „die Psychologie als Wissenschaft“, das
Vgl. unten II.3.2.3.2. Vgl. oben S. 208 f.
II.3.1 Einleitung
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zweite „von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen“, die folgenden drei über „die Eigentümlichkeiten und Gesetze“ jeder Grundklasse von psychischen Erscheinungen (den Vorstellungen, Urteilen und Gemütsbewegungen), und das sechste Buch über das Leib-Seele-Problem und die Unsterblichkeitsfrage.³⁰ Wie man aus der Angabe auf dem Frontblatt seines 1874 erschienen Werkes „In zwei Baenden. Ersten Band“ entnehmen kann, machen die 1874 veröffentlichten beiden Bücher den ersten Band aus, während der zweite Band aus den folgenden vier Büchern gebildet werden sollte.³¹ 1911, als Brentano vor die Frage gestellt wurde, ob er die Kapitel über die Klassifikation von psychischen Phänomenen aus der Arbeit von 1874 ins Italienische übersetzen lassen sollte, entschied er sich dazu, den betreffenden Teil der Arbeit in seiner ursprünglichen Fassung auf Deutsch wieder zu veröffentlichen. Der Grund dafür besteht darin, dass jene Fassung in dieser Form auf seine Zeitgenossen gewirkt hatte und „manche angesehene Psychologen“, die die Lehren teilten, die darin dargestellten werden, nicht bereit waren, Brentanos spätere Positionen mit nachzuvollziehen.³² Andererseits fügte Brentano den Kapiteln V–IX des zweiten Buches seiner ursprünglichen Arbeit einen umfangreichen Anhang hinzu, in dem er die wichtigsten „Fortbildungen“ und „berichtigenden Modifikationen“ der 1874 vertretenen Thesen darstellte. In diesem Zusammenhang spricht er nicht vom zweiten Band der Psychologie vom empirischen Standpunkt, sondern von einer „zweiten […] erweiterten Neuausgabe des deutschen Originals“.³³ Wenn man nun die Rezeption von Brentanos Hauptschrift bei seinen Schülern und Herausgebern berücksichtigt, bemerkt man, dass sie gegenüber seiner deskriptiven oder späteren, reistischen Psychologie von Anfang an nicht als ein selbstständiges Projekt rezipiert wurde, sondern dass seine Ausführungen darin
PeS, S. 3. F. Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte, in zwei Baenden, erster Band, Leipzig, Duncker & Humblot, 1874, S. III. Von den vier Büchern schrieb Brentano 1874/75 ein paar Kapitel des dritten Buches über die Vorstellungen (Ms. Ps 53) nieder. Dagegen sind von den letzten drei Büchern nur die Inhaltsverzeichnisse angefertigt (sie wurden von R. Rollinger veröffentlicht (in Rollinger, a. a. O.). Warum Brentano seine Psychologie nicht beendet hat, ist eine Frage, die in der Fachliteratur keine eindeutige Antwort erfahren hat (vgl. dazu unter anderem O. Kraus, „Einleitung. Auch ein Wort zur Krise in der Psychologie“, in F. Brentano, Vom sinnlichen und noetischen Bewußtsein (Psychologie/Band III), S. XIX f.; Werle, „Franz Brentano und seine Schüler. Aspekte fruchtbarer und problematischer Beziehungen“, Brentano Studien 2 (1990), S. 91– 103; und Rollinger, a. a. O.). KPP, S. 293. KPP, S. 294. Nur nebenbei sei bemerkt, dass Brentano im „Vorwort“ keine Verbindung zwischen der 1911 entstandenen Schrift und der deskriptiven Psychologie, die er in den letzten Wiener Jahren aufgearbeitet hat, herstellt.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
entweder als deskriptive Untersuchungen betrachtet wurden oder aber als Analysen, die von Brentano später, und zwar in seiner reistischen Zeit, berichtigt wurden.³⁴ A. Martys 1888/89 gehaltene Vorlesung³⁵ über die deskriptive Psychologie verdient vor diesem Hintergrund besondere Aufmerksamkeit, weil der Plan von Brentanos empirischer Psychologie auf ihrer Grundlage steht. Allerdings veränderte Marty diesen Plan, indem er gewisse Teile der Schrift Brentanos, z. B. den methodologischen Teil, ausließ. Außerdem ergänzte er ihn, weil er darin Probleme behandelte, die im dritten, im Manuskript verbliebenen Buch und im vierten und fünften ungeschriebenen Buch von Brentanos Psychologie behandelt werden sollten. Dabei ist Martys Vorgehensweise aufschlussreich: Er überspringt die drei methodologischen Kapitel von Brentanos Schrift und lässt nach der Einleitung einen Abschnitt über die „allgemeinen Eigentümlichkeiten des Psychischen im Unterschiede zum Physischen“ folgen, der deutlich auf das erste Kapitel des zweiten Buches der Psychologie verweist.³⁶ Ihm folgen drei Abschnitte
Die Ausgabe Binder und Chrudzimski setzt nicht die letzte Rezeptionslinie fort, sondern Antonelli legt in seiner „Einleitung“ großen Wert darauf, Brentanos Psychologie nicht „im Lichte theoretischer und methodologischer Ansätze zu lesen, die Brentano erst fünfzehn Jahre später entwickelt“ (Antonelli, a. a. O., S. XXXVI; vgl. auch XVII).Was die Rezeption von Brentanos Schrift bei ihren Herausgebern vor dem zweiten Weltkrieg betrifft, s. die schon angeführte Schrift Kraus’ und die „Einleitung“ zu seiner Ausgabe von Brentanos empirischer Psychologie. In Bezug auf Husserls Rezeption der Schrift Brentanos als deskriptiver Psychologie s. unten II.3.4. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass mit Ausnahme von Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis (USE, 1889) Brentano bis 1907, als die Untersuchungen zur Sinnespsychologie erschienen, keine weitere psychologische Schrift veröffentlichte (vgl. Baumgartner und Burkard, a. a. O., S. 17– 53). Aus diesem Grund sahen sich seine Schüler, die in Wien Vorlesungen nicht über die empirische, sondern die deskriptive Psychologie besuchten, genötigt, auf sein einziges veröffentlichtes psychologisches Werk, nämlich die Psychologie vom empirischen Standpunkt, zurückzugreifen (vgl. z. B. Twardowski, Zur Lehre vom Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen. Eine psychologische Untersuchung, Wien, Alfred Hölder, 1894, S. 1, 8 ff., oder Husserls fünfte Logische Untersuchung und die Beilage zu derselben Schrift; zu Brentanos publizistischer Zurückhaltung s. Kraus, Franz Brentano …, S. VII, 1 ff.; Werle, a. a. O.; ders., Franz Brentano und die Zukunft der Philosophie, S. 36 – 47; und Mezei und Smith, a. a. O., S. 23 f.). A. Marty, Deskriptive Psychologie, M. Antonelli, J. Chr. Marek (Hrsg.), Würzburg, Könighausen & Neumann, 2011; zu Martys Psychologie vgl. Antonellis „Die deskriptive Psychologie von Anton Marty. Wege und Abwege eines Brentano-Schüler“ in Marty, a. a. O., insbesondere S. XXII f. Stumpf und Marty sind die wichtigsten Schüler Brentanos in seiner Würzburger Zeit (1866 – 1873). Husserl, Meinong, Twardowski, Ehrenfels und Höfler gehören zur viel zahlreicheren Gruppe der Studenten, die Brentanos Vorlesungen in seiner Wiener Zeit (1874– 1895) besuchten. Marty, a. a. O., S. 9 – 35; vgl. PeS, S. 95 – 117. In diesem Kapitel fasst Marty die wichtigsten Ergebnisse des zweiten Buches von Brentanos Psychologie zusammen. Dabei ist zu beachten, dass im Unterschied zur Martys deskriptiver Psychologie, innerhalb derer Marty mit derselben dreigliedrigen Klassifikation psychischer Phänomene arbeitet wie die Psychologie, Brentano in der
II.3.1 Einleitung
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über die „deskriptiven Eigentümlichkeiten des Vorstellungslebens“, die „deskriptiven Gesetze des Urteilsgebietes“, die „deskriptiven Fragen des Gemütslebens“ und auch ein letzter Teil „von den Relationen auf psychischem Gebiete“.³⁷ Das letzte Kapitel gehört nicht zum ursprünglichen Plan der Psychologie, die ersten drei Abschnitte hingegen entsprechen ihm genau, denn Brentano sollte sich in diesen Büchern genau mit diesen Problemen befassen.³⁸ Oskar Kraus, der Herausgeber der Psychologie in der Zwischenkriegszeit, setzt die Linie der Rezeption dieser Schrift als unselbstständiges Projekt fort. Dabei unterstreicht er sowohl in selbstständigen Arbeiten als auch in den Anmerkungen zur Psychologie, dass Brentano 1874 die deskriptive und die genetische Psychologie noch nicht getrennt hat, auch wenn er in seinen Analysen die zwei Perspektiven nicht verwechselt.³⁹ Er weist zudem darauf hin – und darin stimmt er mit den schon erwähnten Schülern Brentanos überein –, dass das zweite Buch der Arbeit von 1874 „deskriptiver ‚psychognostischer‘ Natur“ sei.⁴⁰ Im Unterschied zu ihnen aber (z. B. zu Husserl), die diese Schrift als Vorwegnahme von Brentanos deskriptiver Psychologie lasen, rezipiert Kraus die Schrift von 1874 als ein Werk, dessen Thesen im Lichte von Brentanos späteren reistischen, auch im Anhang der Schrift von 1911 dargelegten Positionen zu berichtigen sind.⁴¹ Dementsprechend deskriptiven Psychologie eine zweigliedrige Klassifikation benutzt, nämlich diejenige von grundlegenden und supraponierten Akten (DPs, S. 84). Eng damit verbunden ist die Tatsache, dass das Kriterium der Einteilung der psychischen Phänomene in der deskriptiven Psychologie nicht die Weise der intentionalen Beziehung (KPP, S. 218 f.), sondern die einseitige oder wechselseitige Trennbarkeit der psychischen Phänomene ist (vgl. DPs, S. 12, 84, und meinen Aufsatz „Franz Brentano and Anton Marty – Two Versions of Descriptive Psychology?“, in M. Antonelli, Th. Binder (Hrsg.), Die Philosophie Franz Brentanos, Leiden, Brill (im Erscheinen)). Marty, a. a. O., S. V–VII. Die Themen des letzten Buches der Psychologie, das Leib-Seele-Problem und die Immortalitätsfrage, wurden von Marty in seiner Deskriptiven Psychologie nicht übernommen. Ein weiterer Unterschied zwischen den beiden Autoren besteht darin, dass während Brentano in seiner Wiener Zeit nie über genetische Psychologie vorgetragen hat, Martys Vorlesung über deskriptive Psychologie stets von einer Vorlesung über genetische Psychologie gefolgt wurde (vgl. dazu M. Antonelli, „Anton Marty. Wege und Abwege eines Brentano-Schülers“, in Marty, a. a. O., S. XXII; eine Übersicht über Martys genetische Psychologie liefert Rollinger (R. Rollinger, „La psychologie génétique. La conception brentanienne de l’explication de l’esprit exposée dans les cours d’Anton Marty (Prague 1889)“, in C.-E. Niveleau (Hrsg.), Vers une philosophie scientifique. Le programme de Brentano, Paris, Demopolis, 2014, S. 153– 186). Kraus, a. a. O., S. 21 f., vgl. auch die Anmerkungen zu dieser Schrift, S. 255 f., 260 f., 263, 268 und passim. Kraus, Franz Brentano …, S. 22. Kraus, „Vorwort des Herausgebers“, in F. Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt (1874), Bd. 1, unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1924, O. Kraus (Hrsg.), Hamburg, Meiner, 1973, S. XIV. Wie schon angedeutet, verteidigt Brentano im Unterschied zu seiner frühen Zeit, in
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
schickte Kraus seiner Ausgabe (1924) von Brentanos Psychologie eine sehr umfangreiche „Einleitung“ voran, in der er tatsächlich nicht den Inhalt dieser Schrift, sondern die spätere Ansicht Brentanos zu den zentralen Thesen – in erster Linie über die Intentionalitätsfrage – der Psychologie behandelte. Dabei kritisiert er wiederholt die Art und Weise, in der Meinong und Husserl Brentanos frühere Positionen weiterentwickelt haben.⁴² Die „empirische Psychologie“ wird so bei Kraus zu einer Kennzeichnung für Brentanos späte reistische Auffassung, die er gegenüber den Theorien anderer Schüler Brentanos fortwährend verteidigt und als die einzig legitime Erbin der Psychologie betrachtet. Kraus’ Erwähnung ist in diesem Zusammenhang auch aus zwei anderen Gründen von Belang. Zum einen behauptete er, Brentano bevorzuge, „Einzeluntersuchungen [den 1911 erschienenen Band seiner Psychologie; Hinzufügung I. T.] zu veröffentlichen“, anstatt die 1874 veröffentlichte Schrift umzuarbeiten, weil er 1874 die deskriptive von der genetischen Psychologie noch nicht getrennt habe.⁴³ Angesichts dieser Behauptung lassen sich zwei Gründe nennen, weshalb Brentano 1911 nur die letzten Kapitel der Psychologie veröffentlichte: (1) der fehlende Unterschied zwischen der deskriptiven und der genetischen Psychologie in der 1874 veröffentlichten Schrift – Brentano erwähnt dieses Problem in dem Band von 1911 mit keinem Wort;⁴⁴ (2) die Tatsache, dass Brentano wichtige Thesen der Psychologie nach der Jahrhundertwende nicht weiter teilte – Brentano bezieht sich 1911 von vornherein darauf.⁴⁵ Zum anderen beschreibt Brentano, wie schon erwähnt, seine 1911 erschienene Schrift nicht als den zweiten Band seiner Psychologie. ⁴⁶ All dem zum Trotz edierte Kraus 1924 den 1911 unveröffentlichten Teil der Psychologie als ihren ersten und die 1911 veröffentlichte Schrift als ihren zweiten Band.⁴⁷ Damit entfernt sich seine Ausgabe vom ursprünglichen Plan der Psychologie, denn ihr zweiter Band sollte die drei Bücher über „die Eigentümlichkeiten und Gesetze“ der Vorstellungen, über die Urteile und Gemütsbewegungen und außerdem ein letztes Buch über die
der er glaubte, dass nicht nur das Reale, sondern auch das Nichtreale, z. B. die Gedankendinge, vorgestellt werden könne, nach der Jahrhundertwende eine strenge reistische Position, derzufolge nur das Reale im eigentlichen Sinne existiere und Gegenstand der Vorstellung sein könne. Die „Einleitung“ wurde 1924 unter dem Titel Franz Brentanos Stellung zur Phänomenologie und Gegenstandstheorie (Leipzig, Meiner) veröffentlicht. Kraus, Franz Brentano …, S. 21. Wie unten gezeigt wird, hat Brentano diese Perspektiven im Manuskript des dritten Buches der Psychologie klar getrennt. Allerdings betrachtete er sie nicht als selbstständige psychologische Disziplinen, wie dies in seiner Wiener Zeit der Fall ist. KPP, S. 293 f. KPP, S. 294. Der zweite Band erschien 1925.
II.3.1 Einleitung
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Unsterblichkeitsfrage und über das Leib-Seele-Problem enthalten.⁴⁸ Hinzu kommt, dass Kraus 1928 den 1924 und 1925 bereits erschienenen Bänden den angeblich dritten Band derselben Schrift (Vom sinnlichen und noetischen Bewußtsein (Psychologie/Band III)) folgen lässt. In der „Einleitung“ dazu weist er ausdrücklich darauf hin, mit der Herausgabe dieser Schrift den ursprünglichen Plan von Brentanos Psychologie nicht weiter auszuführen, sondern späte Manuskripte über die sinnlichen und noetischen Akte zu veröffentlichen. Es gehe hier um ein Problem, das in der Psychologie bereits beinhaltet ist, aber wegen der Wichtigkeit der dreiteiligen Klassifikation der psychischen Phänomene in Vorstellung, Urteil und Gemütsbewegung von Brentano nicht weiter entwickelt wurde.⁴⁹ Das Studium dieses Problems ist einer „phänomenalen oder phänomenologischen Psychologie“ zugehörig, die von Kraus als Gegenpol zu Husserls Phänomenologie und Meinongs Gegenstandstheorie verstanden wird.⁵⁰ Diese Bemerkungen sind deswegen von Bedeutung, weil sie zeigen, dass Brentanos Psychologie Jahrzehnte lang in einer von Kraus festgelegten Form rezipiert wurde, die mit dem ursprünglichen Plan Brentanos nicht übereinstimmte, sondern davon motiviert war, Brentanos Werk von 1874 unter dem Gesichtspunkt seiner späteren reistischen Philosophie kritisch darzustellen. Darüber hinaus ist die Darlegung des Plans der Psychologie deshalb wichtig, weil man zwischen ihm und dem Projekt von Brentanos Psychologie, so wie es in den Zielen dieser Arbeit konkretisiert wird, genau unterscheiden muss. Im Hinblick darauf kann die 1874 veröffentlichte Schrift im besten Fall nur als Verwirklichung ihrer ersten Ziele, der Trennung der psychischen von den physischen Phänomenen und der Festlegung der Grundklassen und der empirischen Gesetze der Ersten, verstanden werden. Dagegen konnte einer der wichtigsten Zwecke seiner Arbeit, und zwar die Auffindung der letzten psychischen Gesetze, 1874 nicht erreicht werden.⁵¹ Und das bleibt auch für den hypothetischen Fall gültig, dass Brentano nicht nur die ersten beiden Bücher, sondern den ganzen Plan
PeS, S. 3. Kraus, „Einleitung“, S. XX f. Es geht dabei ausschließlich um späte Texte Brentanos, die für seinen Reismus relevant sind. Damit entfernt sich Kraus vollkommen von Brentanos ursprünglichem Projekt der Arbeit von 1874. Tassones Behauptung, Kraus hätte beansprucht, der von ihm 1928 herausgegebene Band wäre die Ausführung der vierten und fünften Bücher von Brentanos Psychologie, ist unbegründet (B. G. Tassone, From Psychology to Phenomenology. Franz Brentano’s Psychology from an Empirical Standpoint and Contemporary Philosophy of Mind, Hampshire/New York, Palgrave Macmillan, 2012, S. 269). Kraus, a. a. O., S. XXI. Die Einleitung trägt einen Untertitel, „Auch ein Wort zur Krise in der Psychologie“, der bereits auf die Absicht von Kraus hinweist, seine Polemik gegen Husserl und Meinong weiterzuführen. Dieses Ziel entspricht genau Comtes Auffassung von der positiven Wissenschaft.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
seiner Arbeit ausgeführt haben sollte. Denn das Erreichen dieses Ziels hing nicht von der vollständigen Ausführung des Plans der Psychologie ab, sondern von den Bedingungen, die mit den Entwicklungsstadien der Physiologie seiner Zeit zu tun haben.⁵² Auf den weiteren Verlauf meiner Analyse Bezug nehmend, lassen sich die folgenden allgemeinen Züge der dargelegten Rezeptionsrichtungen hervorheben: 1. Keine von ihnen betrachtet die Psychologie vom empirischen Standpunkt als ein selbstständiges, unabhängiges Projekt gegenüber seiner deskriptiven oder späteren Psychologie.⁵³ 2. Keine von ihnen (einschließlich Brentano selbst in der Auflage der Psychologie von 1911) hat die letzten Ziele der Psychologie von 1874 im Blick: die Entdeckung der Gesetze der Sukzession und Koexistenz psychischer Phänomene und ihre Reduzierung auf letzte Gesetze. 3. Keine von ihnen hat Brentanos Ausführungen im ersten methodologischen Buch der Psychologie in Betracht gezogen.⁵⁴ 4. In Konsequenz daraus hat keine von ihnen die Bedeutung analysiert, die Brentano der Entdeckung dieser Gesetze zumisst. Damit einhergehend hat keine von ihnen die Hypothese aufgestellt, Brentanos Äußerungen über die Ziele der psychischen Wissenschaft und die Untersuchungen der Psychologie, mittels derer er diese Ziele in die Tat umsetzen wollte, seien Analysen im Sinne von Comtes und Mills Ansichten von den Zwecken der positiven Wissenschaft. ⁵⁵ Das oben Gesagte zeigt, dass Brentanos Psychologie nicht unabhängig von ihrer weiteren Entwicklung rezipiert wurde. Das steht eng damit in Verbindung, dass ihr zweites Buch schon von Anfang an sowohl für Brentanos Schüler als auch für ihre Nachfolger im Fokus der Aufmerksamkeit stand, weil Brentano darin seine Geistesphilosophie darstellte. Als Folge davon ist das erste methodologische Buch
Vgl. unten II.3.2.3.3. Simons und Antonelli verfolgen in ihren „Einleitungen“ zur Psychologie diese Rezeptionslinie nicht weiter. Brentano weist später diese Ausführungen der genetischen Psychologie zu. Man muss jedoch anerkennen, dass Kraus in Bezug auf die genetische Richtung der Analysen Brentanos in der Psychologie viel aufmerksamer als andere Schüler Brentanos war. Allerdings betont er dabei die Wichtigkeit von Brentanos Diskussionen über das psychophysische Grundgesetz Fechners, ohne jedoch den Zielen der Psychologie, die später der genetischen Psychologie anheimfallen, Aufmerksamkeit zu schenken (PeS, S. 22 ff.; Kraus, Franz Brentano …, S. 21 f.). In den Kreis dieser Untersuchungen gehören auch die über die Eigentümlichkeiten und Grundklassen von psychischen Phänomenen, mithin Ausführungen, die für seine philosophy of mind von Bedeutung sind.
II.3.1 Einleitung
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derselben Schrift im Schatten geblieben. Für das hier aufgerollte Problem, die Zugehörigkeit von Brentanos empirischer Psychologie zur positiven Philosophie im Sinne A. Comtes und J. St. Mills, sind aber ausgerechnet die in diesem Buch behandelten Fragen nach der Auffindung der psychischen (höchsten) Gesetze äußerst wichtig, weil sie zeigen, dass Brentano ins Forschungsprogramm der Psychologie solche Thesen, Ziele und methodischen Momente übernahm, die für die positive Philosophie Comtes und Mills zentral sind. Deswegen werde ich näher auf diese Frage eingehen und auf die Konsequenzen verweisen, die sich daraus für die weitere Entwicklung von Brentanos Psychologie ergeben. Eine dieser Konsequenzen besteht darin, dass Brentanos deskriptive Psychologie das Ergebnis eines Prozesses bildet, in dem er sich vom Wissenschaftsbegriff Comtes und Mills entfernt, um ein eigenes Modell der psychischen Wissenschaft zu entwickeln, das den Zwängen entgeht, die sich aus der Einordnung der Psychologie in Comtes Stufenleiter der Wissenschaften ergeben. Wenn man nun Brentanos These in Betracht zieht, die Metaphysik und die Psychologie seien die fundamentalen philosophischen Disziplinen,⁵⁶ und seine bekannte vierte Habilitationsthesis – „Die wahre Methode der Philosophie ist keine andere als die der Naturwissenschaften“⁵⁷ – auf Basis dieses Gedankens interpretiert, dann lautet sie wie folgt: „Die wahre Methode der Metaphysik und der Psychologie ist keine andere als die der Naturwissenschaften“. Im Weiteren werde ich die Metaphysik beiseitelassen, um mich auf die Psychologie zu konzentrieren und dabei die Frage aufzuwerfen, in welchem Sinn in ihrem Fall diese Behauptung zu interpretieren ist und was sie angesichts der These der Zugehörigkeit von Brentanos Psychologie zur positiven Philosophie im Sinne Comtes und Mills bedeutet. Heißt das z. B., dass die Methode der Psychologie mit der Methode der Naturwissenschaft identisch ist, was als Beweis für einen allgemein gültigen methodologischen Monismus bewertet werden könnte, oder aber meint Brentano damit, dass die Psychologie insofern analog zur Naturwissenschaft zu verfahren hat, als sie ihre Begriffe aus der Erfahrung ihres eigenen Gegenstandes, der psychischen Zustände, schöpft?⁵⁸ In letzterem Fall bleibt es jeder philosophischen Disziplin vorbehalten, die Art und Weise festzustellen, wie ihr methodologischer Weg auszusehen hat, was in die Richtung eines methodologischen Partikularismus führen kann. Wie auch immer die Antwort auf diese Frage ausfallen mag, steht es außer Zweifel, dass Brentano mittels seiner vierten Habilitationsthese einen methodo Vgl. unten II.3.2.3.2. ZPh, S. 137. Diese These hat eine starke Wirkung auf seine Schüler ausgeübt (vgl. dazu Stumpf, a. a. O., S. 88 f., und Kraus, a. a. O., S. 19). Vgl. oben S. 160, Anm. 20.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
logischen Monismus vertritt, der auch von der positiven Philosophie vertreten wird⁵⁹ und der behauptet, dass die physische und die psychische Wissenschaft im Grunde genommen ein und dieselbe Methode haben, die auf der Erfahrung, und nicht auf einem spekulativen Prinzip wie im deutschen Idealismus, beruht. Wie ich weiter zeigen werde, ist dieser methodologische Monismus in Brentanos Wiener Zeit vollkommen mit dem Gedanken eines methodologischen Partikularismus vereinbar, der behauptet, jede Wissenschaft müsse ihre eigene empirische Methode ausarbeiten, und zwar je nach der Eigenart ihres Gegenstandes und der Schwierigkeiten, auf die sie in der Behandlung ihrer Probleme stößt.⁶⁰
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten Die Psychologie vom empirischen Standpunkt ist wohl die bekannteste und einflussreichste Schrift Brentanos.⁶¹ Die in diesem Werk behandelten Probleme haben die Weichen sowohl für die weiteren psychologischen Untersuchungen Brentanos als auch für die Arbeiten seiner Schüler gestellt. Im Folgenden werde ich diese Schrift einer Analyse unterziehen, die diejenigen Aspekte hervorhebt, die ihre Zugehörigkeit zur positiven Philosophie beweisen. Dazu gehe ich von folgender Charakterisierung aus: Die empirische Psychologie Brentanos 1. beruht auf der Methode der cartesischen evidenten inneren Wahrnehmung, 2. wird durch fortwährende Bezugnahme auf die Naturwissenschaft gebildet, 3. übernimmt in ihrem Programm Ziele und 4. Methoden der Naturwissenschaft, 5. verwendet die aufgrund der inneren Wahrnehmung erzielten Ergebnisse, die wesentlichen Merkmale und die Klassifikation psychischer Phänomene, um Ziele zu erreichen, die einer kausalerklärenden, positiven Wissenschaft eigen sind.
Vgl. die oben angeführte Schrift von Wrights, der diese These der positiven Philosophie Comtes und Mills darstellt. Von Wright bezieht sich leider nicht auf Brentanos Schriften über die Philosophie und ihre Methode, die in dieselbe Richtung gehen wie die Arbeiten der beiden Autoren. Vgl. dazu meinen Aufsatz „Monism and Particularism: Methodology in Brentano’s Psychology“, Axiomathes 29/4 (2019), S. 397– 412. Wie gesagt arbeitet Brentano in der deskriptiven Psychologie mit einem anderen Wissenschaftsbegriff als demjenigen von Comte und Mill. Für einen zugleich konzisen und ausdifferenzierten Überblick über die Psychologie des 19. Jahrhunderts vgl. E. Scheerer, „Psychologie“, HWPh 9, S. 1613 – 1628.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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Die vier oben angegebenen Argumente für die These der Zugehörigkeit der Psychologie zur positiven Philosophie (II.3.1.1) sind in diese Charakterisierung von Brentanos Werk aus dem Jahr 1874 einbezogen.
II.3.2.1 Die positive Auffassung der Wissenschaft und Brentanos empirische Psychologie Um die hier zur Debatte stehende Frage aufzurollen, gehe ich von den folgenden Zitaten aus J. St. Mills Schriften aus: The fundamental doctrine of a true philosophy, according to M. Comte, and the character by which he defines Positive Philosophy, is the following – We have no knowledge of anything but Phaenomena; and our knowledge of phaenomena is relative, not absolute. We know not the essence, nor the real mode of production, of any fact, but only its relations to other facts in the way of succession or of similitude. These relations are constant; that is, always the same in the same circumstances. The constant resemblances which link phaenomena together, and the constant sequences which unite them as antecedent and consequent, are termed their laws. The laws of phaenomena are all we know respecting them. Their essential nature, and their ultimate causes, either efficient or final, are unknown and inscrutable to us.⁶² § 1. [What is meant by Laws of Mind] What the Mind is as well as what Matter is, or any other question respecting Things in themselves, as distinguished from their sensible manifestations, it would be foreign to the purposes of this treatise to consider. Here, as throughout our inquiry, we shall keep clear of all speculations respecting the mind’s own nature, and shall understand by the laws of mind, those of mental Phenomena; of the various feelings or states of consciousness of sentient beings.⁶³
Das erste Zitat verleiht Comtes und Mills Überzeugungen hinsichtlich des Gegenstands wissenschaftlicher Forschung Ausdruck. Ihrer Ansicht nach haben wir keinen Einblick in die inneren Ursachen der Phänomene, sondern der Gegenstandbereich der Wissenschaft wird aus den Phänomenen und ihren konstanten Verhältnissen gebildet. Was in Mills Charakterisierung der positiven Philosophie fehlt, in Comtes und Brentanos Ausführungen darüber dagegen gebührend betonnt wird, ist die Zurückführung der empirischen Gesetze auf letzte Gesetze. Im zweiten Zitat Mills wird das positive Konzept der Wissenschaft auf die Wissenschaft der menschlichen Natur angewandt. Diese Disziplin, so Mill, beschäftige sich mit keiner metaphysischen Natur des Geistes, sondern nur mit
Mill, Auguste Comte and Positivism, S. 265 f. SLRI II, S. 849/455.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
Phänomenen und ihren gesetzmäßigen Verbindungen. Brentano, der Comte wie gesagt durch die französische Übersetzung von Mills Buch über Comte entdeckte, teilte noch in seinem Aufsatz über Comte die positive Auffassung von den Zwecken der Wissenschaft, einschließlich der Zurückführung der empirischen Gesetze auf letzte Gesetze. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass er, auch wenn er in demselben Aufsatz Aristoteles für einen positiven Denker hält, nicht vergisst, diejenigen Aspekte seiner Lehre klar zu benennen, die von der positiven Betrachtungsweise nicht berücksichtigt werden können: die SubstanzAkzidenz- und die Materie-Form-Lehre.⁶⁴ Das ist aufschlussreich für die Art und Weise, in der Brentano seine psychische Wissenschaft im Jahr 1874 konzipiert. Es ist ausgerechnet diese positive Auffassung von der Wissenschaft als Wissenschaft über die Phänomene, und nicht über die Substanzen, die Brentano bewusst zur Basis seiner Psychologie machte: „Wir erklären also in dem oben angegebenen Sinne die Psychologie für die Wissenschaft von den psychischen Erscheinungen.“⁶⁵ Die Weise, in der er dies ausführt, verdient besondere Aufmerksamkeit, weil er in den ersten zwei Paragraphen seiner Schrift weder den Terminus „positiv“ noch den Namen Comte erwähnt, auch wenn er sich letzten Endes dazu entschließt, die Psychologie nicht im Sinne der traditionellen Betrachtungsweise, sondern als eine „phänomenale Psychologie“ im Sinne von Mills Wissenschaft über die menschliche Natur auszuführen.⁶⁶ Da für die Diskussion über die Zugehörigkeit von Brentanos Psychologie zur positiven Philosophie des 19. Jahrhunderts diese Abwesenheit besonders wichtig ist, werde ich weiter die Gründe dafür hinterfragen. Dazu werde ich einen Vergleich zwischen den genannten Paragraphen und den beiden einleitenden Vorlesungen aus Comtes Cours anstellen, der dazu geeignet ist, die Bedeutung von Brentanos Vorgehensweise im ersten Kapitel seiner Schrift und in der Antrittsvorlesung an der Universitäten Wien in den Mittelpunkt zu rücken.
AC, S. 132. PeS, S. 35. PeS, S. 30, 90. Brentano hält Mills Psychologie für eine „ausschliesslich phänomenale Wissenschaft“, wobei „ausschliesslich“ zweierlei bedeutet: dass Mill die metaphysischen Fragen in Klammern setzt und dass Brentanos Psychologie keine „ausschliesslich phänomenale“, sondern eine bloß phänomenale Disziplin ist, da sie die phänomenal verstandenen metaphysischen Fragen als legitime Themen psychologischer Forschung betrachtet; vgl. auch Brentanos Ausführungen in DG (S. 159 – 167), wo von Mill und Bain gesagt wird, sie wären „in übertriebener Weise Empiristen“.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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II.3.2.2 Die traditionelle und die moderne Auffassung von der Psychologie als Wissenschaft im ersten Kapitel von Brentanos Psychologie Im ersten Paragraphen seiner Schrift behandelt Brentano die traditionelle Auffassung von der Psychologie als „Wissenschaft von der Seele“. Dabei fasst er unter diesen Namen sowohl die aristotelische als auch die cartesische Auffassung von der Seele. Da seine Habilitationsschrift der aristotelischen Psychologie und insbesondere demjenigen Teil daraus gewidmet ist, der für die metaphysische Tragweite der Psychologie aufschlussreich ist – und zwar die Unsterblichkeitsfrage –, werde ich einige Aspekte von Brentanos Schrift referieren, die für mein Thema von Bedeutung sind. In seiner Habilitationsschrift, Die Psychologie des Aristoteles, insbesondere seine Lehre vom Nous Poietikos (1867), liefert Brentano eine Analyse der „psychologischen Erkenntnislehre“ Aristoteles’, die darauf zielt, die menschlichen Erkenntniskräfte zu erklären, die mit dem aristotelischen noūs poiētikos zu tun haben.⁶⁷ Da sowohl Pflanzen und Tiere als auch Menschen Substanzen sind und die vegetativen und sensitiven Kräfte auch der menschlichen Seele eigen sind und die Vorbedingung bilden, damit sich ihre Denkkraft betätigt, bietet Brentano am Anfang seiner Untersuchung eine Synopsis über die Art und Weise an, in der sich die genannten Kräfte auf unterschiedlichen Stufen des Lebens entwickeln.⁶⁸ Der Ausgangspunkt seiner Untersuchung ist die Frage, was die Seele ist und welcher Kategorie sie unterzuordnen sei.⁶⁹ Brentano beantwortet diese Frage, indem er sich die Methode Aristoteles’ zu eigen macht, „aus der Erkenntnis der Wirkungen und Thätigkeiten in die Natur der Kräfte einzugehen“.⁷⁰ Die in Frage stehenden Operationen und Tätigkeiten sind die folgenden: Ernährung, Wachs-
PsA, S. 1 f. Brentano weist von vornherein auf die enge Verbindung hin, die zwischen der aristotelischen Erkenntnislehre und der Immortalitätsfrage besteht (PsA, S. 1). Zu dieser Schrift Brentanos vgl. das schon erwähnte Buch Drucks, die von „einer christlich-katholisch geprägten Aristotelesinterpretation“ bei Brentano spricht (a. a. O., S. 13); vgl. auch D. Münch, „Die Einheit von Geist und Leib …“, Brentano Studien 6 (1995/96), S. 125 – 144. PsA, S. 51, 55. In der Psychologie verweist Brentano bereits darauf, dass sich das psychologische Gebiet im Laufe der Zeit verengt habe, weil die Pflanzen nicht mehr als beseelt betrachtet wurden (PeS, S. 20). PsA, S. 41; De an. I 1, 402 a 23 – 25. PsA, S. 39, 41 ff.; De an. II 4, 415 a 14– 20. Comte geht ebenfalls vom Studium der Wirkungen, d. h. der als logischen Tatsachen verstanden Theorien und der Vorgehensweisen, mittels deren sie hergestellt wurden, aus, aber im Unterschied zu Aristoteles, Brentano und Mill ist er nicht an der Erkenntnis der Seele – sie und die Psychologie setzt er in Klammern –, sondern an den Gesetzen der Entwicklung dieser Wirkungen interessiert (vgl. unten II.3.2.4).
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
tum, Erzeugung, Empfinden, örtliche Bewegung, Denken.⁷¹ Die ersten drei sind dem Pflanzenbereich eigen und kommen der vegetativen Seele zu. Auf dem tierischen Gebiet kommen noch die sensitiven Kräfte und die Bewegung hinzu, während der Mensch dadurch charakterisiert ist, dass ihm das Denken als eigenartige Kraft zukommt. Dabei ist zu beachten, dass die Ergründung der vegetativen und sensitiven Seele bei Aristoteles in den Kreis der Physik gehört, da „die Betrachtung der Seele zum Teil Gegenstand der Physik ist, insoweit sie nämlich nicht ohne den Stoff besteht“.⁷² Die Untersuchung der intellektiven Seele dagegen kommt nicht der Physik, sondern der Metaphysik zu.⁷³ In diesem Zusammenhang bezieht sich eine wichtige Frage darauf, worin das Prinzip der genannten Operationen besteht.⁷⁴ Brentano löst diese Frage, indem er von der aristotelischen, bereits in der Dissertation ausführlich behandelten Auffassung von der Substanz als Einheit der Materie und Form ausgeht.⁷⁵ Dabei taucht die Seele als substantielle Form, erste Entelechie oder Energie der Pflanzen, Tiere und Menschen auf.⁷⁶ Die Form, die Seele, ist zwar nicht dasselbe wie das beseelte Seiende, sie macht jedoch einen wesentlichen Bestandteil von ihm aus, das innere Prinzip seiner Tätigkeiten. Die Operationen kommen nicht direkt der Seele, sondern dem Beseelten zu, dennoch werden sie dank der Seele betätigt, die sie in Gang bringt, indem die Seele die Organe bestimmt, die bei der Betätigung der genannten Operationen involviert sind, jene Operationen zu erfüllen.⁷⁷ Wenn der Körper stirbt, dann verliert er seine beseelende vegetative oder sensitive Form und wird den Veränderungen ausgesetzt, denen jeder leblose Körper ausgesetzt ist. Für die hier verhandelte Frage ist es wichtig, auf den folgenden Unterschied zwischen den Pflanzen und Tieren einerseits und dem Menschen andererseits aufmerksam zu machen: Während bei den ersten die Seele als das innere Prinzip der Operationen die Materie ihres Körpers sowohl belebt als auch mit ihr in den Tod geht, gibt es in
PsA, S. 53 f.; De an. II 2, 413 a 22– 25. Met. 1026 a 5 f. (übersetzt von Bonitz). H. Seidl, „Einleitung“, in Aristoteles, Über die Seele, S. XVIII f., und H. Busche, „Psychê“, in O. Höffe (Hrsg.), Aristoteles-Lexikon, Kröner, Stuttgart, 2005, S. 506; vgl. auch GGPh, S. 228. Auch wenn sich Brentano in der Psychologie wollkommen bewusst ist, dass es Grenzfragen (z. B. psychophysische Fragen) gibt (PeS, S 22 ff.), die sowohl von der Naturwissenschaft als auch von der Psychologie behandelt werden können, gibt es bei ihm eine tiefgreifende Trennung zwischen Physik und Psychologie, die bei Aristoteles nicht zu finden ist. Diese Trennung bildet den begrifflichen Rahmen, innerhalb dessen er die Psychologie aufbaut (vgl. unten II.3.2.3.2). PsA, S. 43. MBS, S. 111 f. PsA, S. 46, 50; De an. II 2, 412 a 27 ff.; PeS, S. 19 f. Zur Kritik dieser Lehre vgl. Brentanos Ausführungen in „Über voraussetzungslose Forschung“ (1901) in VPhPh, S. 143. PsA, S. 50 f., 55; De an. I 1, 402 a 23 – 25.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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der menschlichen Seele abseits von seinen sterblichen (vegetativen und sensitiven) Bestandteilen noch einen Teil, der nicht mit der Materie vermischt ist und den Tod überdauert.⁷⁸ Brentanos folgende Behauptung ist dafür aufschlussreich: […] jener Teil von ihr, der frei von Materie ist, wird von diesem Tode nicht berühret werden, sondern als eine Substanz für sich ein Leben fortführen, das überhaupt nicht enden wird. […] und sie ist wirklich eine solche, da wir aus den Operationen des Menschen nachweisen werden, dass er nur theilweise sterblich ist.⁷⁹
Es ist ausgerechnet diese Frage, der seine Habilitationsschrift gewidmet ist, die Brentano in der Psychologie übernehmen will. Allerdings hat er dabei nicht ihre traditionelle, sondern eine moderne Form im Auge, nämlich die Frage nach dem „Fortbestand des psychischen Lebens bei der Auflösung des leiblichen Organismus“.⁸⁰ Wie bereits erwähnt, nennt Brentano im ersten Paragraphen seines Werkes neben der aristotelischen Ansicht auch die cartesische Auffassung über die Seele
Die Tierseele ist eben deshalb sterblich, weil sie das innere Prinzip der Kräfte (Ernährungskraft, wahrnehmende Kraft usw.) ist, die als Träger den Leib haben. PsA, S. 52. Für die bis jetzt besprochene Problematik in PsA vgl. auch Brentanos Erörterungen über die aristotelische Psychologie in GGPh (S. 284– 294). Der noūs poiētikos spielt eine zentrale Rolle in der Erkenntnis der intelligiblen Formen, weil er Brentano zufolge als „bewußtlose wirkende geistige Kraft“ auf die Phantasmen wirkt, die sich in dem Zentralorgan des sensitiven Teils (dem Herzen) befinden. Auf diese Weise ermöglicht er die Vollendung der intelligiblen Formen, die der Möglichkeit nach schon in den Phantasmen enthalten sind. Das stellt zugleich die Hervorbringung der intelligiblen Formen in den noūs dynamei dar, ein Prozess, der vom jungen Brentano als mittelbare Einwirkung des noūs poiētikos auf den noūs dynamei aufgefasst wird (PsA, S 173 f. und passim; Trendelenburg hat der Interpretation Brentanos nicht zugestimmt (vgl. den Brief an Brentano vom 18.08.1867, in E. u. W. Baumgartner, Hedwig, a. a. O., S. 58 f.). Wie man bemerkt, unterscheidet Brentano dabei die die intelligiblen Formen aufnehmende Kraft, den noūs dynamei, vom noūs pathētikos, der seiner Ansicht nach die Phantasie ist (PsA, S. 208; dieser Passus ist meinem Aufsatz: „Die intentionale Inexistenz. Eine Auseinandersetzung mit der scholastischen Interpretation des Intentionalen bei Brentano“, New Europe College Yearbook 1997/ 1998, S. 501, 523 entnommen). Diese Erklärung ist deshalb wichtig, weil Brentano die Tatsache, dass wir Gedanken oder abstrakte Begriffe haben, in anderen frühen Schriften als Beweis für die Unsterblichkeit der Seele nutzt (Ps 62/54011– 54012, in Rollinger, a. a. O., S. 275 f.). PeS, S. 90. Brentano hat dieses Problem in den Vorlesungen an der Universität Würzburg ausführlich behandelt (vgl. dazu den eben angeführten Aufsatz Rollingers). Es sei noch bemerkt, dass Brentanos Auseinandersetzung mit der Unsterblichkeitsfrage nicht nur das Ergebnis seines frühen intensiven Studiums von Aristoteles ist. Die Lage steht eher so, dass er sich eben wegen der Wichtigkeit dieses Problems für die katholische Tradition, in deren Geist er gebildet wurde, mit diesem Thema bei Aristoteles befasste.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
als substantiellem Träger der psychischen Eigenschaften.⁸¹ Dabei hebt er aber einen wichtigen Unterschied zwischen Aristoteles und Descartes nicht hervor, und zwar den, dass die cartesische Sichtweise auf einem bestimmten Gegensatz beruht, dem zwischen res extensa und res cogitans, der bei Aristoteles nicht zu finden ist und der von Brentano als Unterscheidung zwischen zwei völlig verschieden Klassen von Phänomenen auf der Basis seiner Psychologie ausgelegt wird.⁸² Mit Blick auf diese Frage ist zu beachten, dass, auch wenn Descartes die seelischen Zustände nicht als psychische Phänomene, sondern als Akzidenzien der seelischen Substanz auffasst, er ständig betont, dass sie als Objekte der inneren Wahrnehmung klar und distinkt, d. h. evident, wahrgenommen werden.⁸³ Brentano dagegen dissoziiert im ersten Kapitel seiner Arbeit die zwei Thesen: Zum einen schreibt er die cartesische Sichtweise über die mentalen Zustände als Aktualisierungen der Seelensubstanz der traditionellen Auffassung von der Psychologie zu (§ 1, Kap. I). Zum anderen übernimmt er die cartesische, nichtaristotelische These der Evidenz der inneren Wahrnehmung, bestimmt den Gegenstandsbereich der Psychologie nicht als seelische Substanz, sondern als psychisches Phänomen und betrachtet die Evidenz als Grund der Wirklichkeit mentaler Erscheinungen (§ 2, Kap. I). Darüber hinaus werden die Ergebnisse der inneren Wahrnehmung und der Methode des Studiums psychischer Phänomene, die sich noch frisch im Gedächtnis befinden, bei Cardaillac, Hamilton und Mill als Grundlage der psychologischen Induktion und Deduktion benutzt, um die empirischen Gesetze der Koexistenz und Sukzession psychischer Phänomene aufzufinden und sie auf letzte psychische Gesetze zurückzuführen.⁸⁴ Bevor ich diesen Abschnitt abschließe, möchte ich Folgendes bemerken: In einer 1993 erschienen Arbeit begründete Münch die These, Brentanos Psychologie sei „wesentlich durch Aristoteles geprägt“, durch mehrere, sowohl inhaltliche als auch methodische und formale Argumente. Das methodische Argument bezieht sich auf die wichtige Rolle, die die aristotelische Aporetik in der Psychologie spielt. Damit hat Münch vollkommen Recht, schließlich greift Brentano nicht nur im
In einem Manuskript über das Leib-Seele-Problem behauptet Brentano: „Wir verstehen unter menschlicher Seele eine Substanz, die in uns die Trägerin des Denkens, Wollens, Empfindens, kurz aller innerlich bewussten Akte ist.“ (LS 23/676; apud Rollinger, a. a. O., S. 272; vgl. auch Brentano, M 96, Bl. 31791/„Metaphysikvorlesung. I. Theil. Apologetik …“, S. 41) Vgl. dazu Volpi, a. a. O., S. 16, 24. Vgl. z. B. die zweite Meditation in R. Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie (1641), übers. u. hrsg. v. A. Buchenau, Hamburg, Meiner, 31992. Vgl. unten II.3.2.6.3. Die Naturwissenschaft hat dies anhand der äußeren Wahrnehmung und Beobachtung schon geleistet.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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ersten Buch, so Münch,⁸⁵ sondern überall in seinem Werk auf diese Methode zurück, um eine „dialektisch kritische Übersicht“ über verschiede psychologische Anschauungen zu liefern.⁸⁶ Um der Wichtigkeit dieses methodischen Mittels willen darf jedoch nicht vergessen werden, dass Brentano sich in den methodischen Kapiteln II–IV seiner Schrift nur gelegentlich auf Aristoteles bezieht.⁸⁷ Und dies aus gutem Grund, denn Brentano wollte in der Psychologie nicht die aristotelische Methode der psychologischen Forschung aus der Habilitationsschrift weiterführen.⁸⁸ Dagegen machte er sich in dieser Arbeit die methodischen Ansätze der Neuzeit, sowie sie bei Comte, Mill, Bain u. a. zum Vorschein kommen, zu eigen.⁸⁹ Damit gelangen wir zum formalen Argument, das sich auf die Parallelen bezieht, die zwischen dem Aufbau von Brentanos Psychologie und De anima gezogen werden können.⁹⁰ Ich glaube jedoch, dass solche Parallelen hier nicht besonders hilfreich sind, weil bei ihnen die Gefahr besteht, wesentliche Unterschiede zwischen dem Programm der aristotelischen Psychologie und der Habilitationsschrift Brentanos einerseits und Brentanos Psychologie andererseits au-
D. Münch, Intention und Zeichen. Untersuchungen zu Franz Brentano und zu Edmund Husserls Frühwerk, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1993, S. 51. PeS, S. 91. Vgl. seine Hinweise auf Aristoteles’ Beobachtungen über die Tiere (PeS, S. 55, 70) oder andere Menschen (PeS, S. 70). Wie schon angedeutet, besteht diese Methode darin, von der Beobachtung der Wirkungen und Tätigkeiten der Substanzen auszugehen, um auf die Natur der sie bewirkenden Kräfte einzugehen. Es sei hinzugefügt, dass Brentano die Psychologie verfasste, um Würzburg verlassen und eine Stelle an einer anderen Universität annehmen zu können. In diesem Sinne empfahl ihm sein Bruder Lujo in einem Brief von 1873, „bald irgendeine Arbeit, ganz neutraler Art, […] auch keine vom Dasein Gottes oder irgendwelcher Dinge, die Parteifrage sein könnte“ zu schreiben (apud W. Baumgartner, „Brentano und die Österreichische Philosophie“, in A. Chrudzimski, W. Huemer (Hrsg.), Phenomenology and Analysis: Essays on Central European Philosophy, Frankfurt a. M., Ontos, 2004, S. 132 f.). Es handelt sich um das Studium der physischen Erscheinung aufgrund von innerer Wahrnehmung, ihrer noch frisch im Gedächtnis befindlichen Erinnerung, der Induktion und der Deduktion usw. Vgl. dazu Münch (a. a. O., S. 51 f.) die zusammenfasend behauptet: „Brentano folgt in der Gliederung seines Werkes Aristoteles also darin, daß er die einzelnen Teile [die drei Grundklassen psychischer Phänomene; Hinzufügung I. T.], in die der Gegenstand der Psychologie zerfällt, nach der Bestimmung des Grundbegriffs der Psychologie behandelt.“ Simons (a. a. O., S. XVII) und Antonelli („Eine Psychologie …“, S. XXVI ff.) stimmen dieser Ansicht Münchs zu. Wie verschieden die Inhalte sein können, die unter solche allgemeinen Analogien fallen, lässt sich daraus erkennen, dass Brentanos Erklärungen über die Grundklassen psychischer Erscheinungen (Vorstellungen, Urteile und Gemütsbewegungen) den traditionellen, aristotelischen Erörterungen über das Wahrnehmungs-, Denk- und Bewegungsvermögen entsprechen.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
ßer Acht zu lassen. Um dies klar zu machen, möchte ich die folgende Stelle aus Über die Seele heranziehen: Zuerst ist es wohl nötig auseinanderzusetzen, zu welcher Gattung die Seele gehört und was sie ist, ob sie ein bestimmtes Etwas oder Wesenheit ist, oder ob sie eine Qualität oder eine Quantität […] ist, ferner ob sie zum Möglichen gehört, oder ob sie eher eine Art Erfüllung ist. […] Auch ist zu untersuchen ob sie teilbar oder teillos ist, und ob jede Seele gleichartig ist oder nicht; […] ferner aber, wenn nicht viele Seelen, sondern viele Seelenteile vorhanden sind, ob man zuerst die ganze Seele zu untersuchen hat oder die Teile. Schwer ist auch, bei diesen zu bestimmen, welche voneinander unterscheidbar sind, und ob man zuerst die Teile untersuchen muß oder ihre Leistungen […] Schwierigkeit machen auch die Affektionen der Seele: Betreffen sie alle gemeinsam auch den Träger der Seele, oder gibt es eine Affektion, die der Seele allein eigentümlich ist?⁹¹
Diese Stelle zeichnet klar den Gang der Untersuchung ab, die Aristoteles in De anima und Brentano in seiner Habilitationsschrift ausgeführt haben. In der Arbeit von 1874 verneint Brentano nicht den Wert dieser Vorgehensweise, aber mit Ausnahme der Unsterblichkeitsfrage, die im letzten Satz des aristotelischen Textes zur Sprache kommt, setzt er den Begriff der Seele und alle mit ihm zusammengehörenden Fragen absichtlich in Klammern und entscheidet sich dazu, die psychologische Problematik modern zu behandeln. Dementsprechend ist seine Psychologie keine aristotelische Forstsetzung der Habilitationsschrift – keine Vermögenspsychologie –, die nach dem Wesen der Seele und ihrer Teile fragen würde.Vielmehr ist sie eine Wissenschaft, die sich ganz im Sinne von Comtes und Mills Auffassung der Wissenschaft mit den psychischen Phänomenen und ihrer Erklärung mittels empirischer Gesetze beschäftigt. Unter diesen Umständen kann die Darlegung der traditionellen Auffassung über die Psychologie im ersten Paragraphen seines Werkes dahingehend aufgefasst werden, dass Brentano darin nicht nur die traditionelle Auffassung von dem Gegenstandsbereich der Psychologie, sondern auch die Perspektive darstellt, in der er die Habilitationsschrift ausgeführt hat. Auch wenn er 1874 diesen Ansatz nicht ablehnt, zeigt doch seine erklärte Absicht, das psychologische Untersuchungsfeld modern zu behandeln, dass er die traditionelle Vorgehensweise nicht weiter fortsetzen will. Seine Äußerungen über den modernen Charakter der Psychologie sind also auf der interpretativen Ebene ernst zu nehmen. Aus diesem Grund bin ich der Meinung, dass man mit Bezug auf die Frage nach dem aristotelischen Charakter der Psychologie dreierlei unterscheiden muss, nämlich die programmatischen, methodologischen und inhaltlichen Aspekte dieser Arbeit.
De an. I 1, 402 a 23 – 403 a 5 (Aristoteles, Über die Seele (1959), S. 5 f.).
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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Angesichts des inhaltlichen aristotelischen Charakters von Brentanos Arbeit aus dem Jahr 1874 gibt es in der einschlägigen Literatur einen breiten Konsens darüber, dass die Intentionalitätsfrage,⁹² Brentanos Lehre über die sekundäre Beziehung des psychischen Phänomens zu sich selbst und sein Fundierungsgesetz der psychischen Phänomene aristotelischen Ursprungs sind.⁹³ Was die Frage nach dem Einfluss Aristoteles’ auf das Programm und die Methode von Brentanos Psychologie anbelangt, ist die Lage weniger klar. Aufgrund der Rolle, die die aristotelische Aporetik in der Psychologie spielte, der Tatsache, dass Brentano sowohl in seiner Habilitationsschrift als auch in der Arbeit von 1874 den besonderen Status des Gegenstandes psychologischer Forschung in einer aristotelischen Terminologie beschreibt – er spricht genau wie in der Habilitationsschrift über die besondere Würde und den exakten Charakter dieses Gegenstandes⁹⁴ –, und der erwähnten Analogie zwischen dem Aufbau der zwei Schriften entstand der Eindruck, der weiter bestehen blieb, dass Aristoteles nicht nur inhaltlich, sondern ganz allgemein, d. h. auch methodisch und programmatisch, einen tiefen Einfluss auf die Psychologie ausübte.⁹⁵ Und dies sogar bei den Autoren, denen die Rolle von Comtes und Mills Thesen für den Aufbau von Brentanos Psychologie nicht entgangen war. Um solchen Unklarheiten vorzubeugen, glaube ich, dass man die oben aufgezählten Gesichtspunkte klar trennen muss: Programmatisch gesehen geht die Unsterblichkeitsfrage, die allerdings in der Arbeit von 1874 nicht traditionell, sondern modern abgehandelt wird, auf die aristotelisch-scholastisch-katholische Tradition zurück. Andererseits haben sowohl die Bestimmung des Gegenstandsbereichs der empirischen Psychologie als Studium der psychischen Phänomene (und nicht der Seele) als auch seine Ziele – die Feststellung der Merkmale psychischer Phänomene und ihrer Grundklassen, die Ergründung der Gesetze ihrer Sukzession und Koexistenz und die Zurückführung dieser Gesetze auf letzte Gesetze – mit Aristoteles nicht viel zu tun. Und wenn ich das sage, dann beziehe ich mich nicht auf die aristotelischen Inhalte von Brentanos Psychologie, sondern darauf, dass diese Inhalte in einen Rahmen eingebettet sind, der nicht Angesichts der Intentionalitätsfrage muss weiter unterschieden werden zwischen den interpretativen Ansätzen, die den aristotelischen Ursprung von Brentanos Intentionalitätsgedanken anerkennen, aber dennoch darauf bestehen, dass Brentano die aristotelische These mittels scholastischer Interpretamente auffasst (vgl. dazu aufschlussreich die schon angeführten Arbeiten von Hedwig), und solchen Ansätzen (z. B. Münch, a. a. O., S. 42 f., 53 f.), die diesem Aspekt keine Aufmerksamkeit schenken und Brentanos Intentionalitätsbegriff unmittelbar von Aristoteles her interpretieren. Vgl. z. B. Volpi, a. a. O., S. 21 ff.; Münch, „Brentano and Comte“, S. 33 ff.; und ders., Intention und Zeichen, S. 52 ff. PsA, S. VI, 1; PeS, S. 36, 41 f. Vgl. Münch, a. a. O., S. 93, 50 – 55; 246; vgl. auch Antonelli, „Eine Psychologie …“, S. XXVI–XXX.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
aristotelisch, sondern neuzeitlich ist.Wenn man hier auch aristotelische Einflüsse entdecken will, dann heißt das, völlig zu verkennen, worin der Unterschied zwischen der traditionellen und der modernen Wissenschaftsauffassung und damit einhergehend worin das Ringen Comtes um das Vordringen des positiven Geistes im wissenschaftlichen Bereich besteht.⁹⁶ Hinzu kommt, dass die Methode der Psychologie nicht die der Psychologie des Aristoteles ist. Im Gegenteil ist sie von der Neuzeit stark geprägt, denn sie beruht auf der cartesischen Evidenz der inneren Wahrnehmung. Zu den methodischen Mitteln kommen andere hinzu, unter denen es solche gibt, z. B. das Studium der Tiere, die auch bei Aristoteles zu finden sind. Aber im Grunde genommen ist die Methode von Brentanos Psychologie ganz modern verfasst und seine methodologischen Überlegungen im ersten Buch bringen keine aristotelischen, sondern zeitgenössische Sichtweisen (Comte, Mill, Bain, Fechner u. a.) über die Art und Weise zum Ausdruck, in der der methodische Ansatz zu den psychischen Phänomenen zu denken ist. Abschließend muss auch betont werden, dass die Psychologie nicht nur auf zentrale Thesen aristotelischen Ursprungs, sondern auch auf Inhalte begründet ist, die Aristoteles fremd sind. Es ist wohlbekannt, dass Aristoteles weder mit dem Gegensatz der physischen und der psychischen Welt noch mit der Evidenz der inneren Wahrnehmung noch mit der Unterscheidung zwischen äußerer und innerer Wahrnehmung arbeitet. Was die äußere Wahrnehmung betrifft, ist sie in diesem Zusammenhang besonders relevant, denn der Stagirite verteidigt eine These, die im scharfen Gegensatz zu Brentanos Ausführungen über den trügerischen Charakter der äußeren Wahrnehmung steht: Aristoteles zufolge täuscht sich der Sinn nicht über seinen eigenen Gegenstand. Das Sehen täuscht sich nicht Zum Unterschied zwischen aristotelischer und moderner Wissenschaftsauffassung vgl. aufschlussreich K. Lewin, „Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie“, Erkenntnis 1, 1930/31, S. 421– 466.Vor diesem Hintergrund ist Tassones These, in Brentanos Psychologie hätten wir es mit einem aristotelischen Realismus zu tun, der durch die modernen Auffassungen von Autoren wie Comte und Mill ergänzt würde, nicht stichhaltig, weil man die substantielle aristotelische Ansicht über die Wissenschaft nicht auf einen gemeinsamen Nenner mit der phänomenalen Wissenschaftstheorie Comtes und Mills bringen kann (Tassone, a. a. O., S. 79, 105, 119, 277). Was den aristotelischen Realismus betrifft, ist er in Brentanos Habilitationsschrift richtig am Platz, wo Brentano über die Unfehlbarkeit des Sinnes angesichts seiner eigenen Formen und über die wirkliche Existenz der Letzteren spricht. Da aber keine von diesen Voraussetzungen in die Psychologie übernommen wird, ist es auch schwierig zu verstehen, was denn der aristotelische Realismus angesichts der sinnlichen Erkenntnis in dieser Schrift bedeuten könnte. Auch Tassones Versuch, Brentanos Gebrauch des Terminus „Phänomen“ in der Psychologie nach dem Leitfaden des altgriechischen Verbs phainein zu interpretieren, ist fehl am Platz, weil so Brentanos Begriff des Phänomens Heideggers Interpretation desselben Terminus in Sein und Zeit zu nahe kommt (Tassone, a. a. O., S. 91 f., 107; Heidegger, Sein und Zeit, S. 28 f.).
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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über die Farbe, das Gehör über den Ton usw., weil die sinnliche Erkenntnis in der Aufnahme der Form des Dinges ohne ihre Materie besteht.⁹⁷ Wenn man hier von Täuschung spricht, dann bezieht sich dies nicht auf die Aufnahme der Form durch den Sinn, sondern auf ihre Zuschreibung zu einem anderen Gegenstand als dem, dem sie wahrhaft zukommt, etwa wenn jemand wegen einer falschen Identifikation behauptet, der Weise sei Hippias und nicht Diares.⁹⁸ In der Psychologie haben wir es dagegen nicht mit aristotelischen Formen, sondern mit physischen Phänomenen zu tun, die als Zeichen der Wirkung einer physischen Kraft auf das Sinnesorgan aufgefasst werden.⁹⁹ Aus diesem Grund lässt sich von den physischen Phänomenen nicht sagen, dass sie wie die aristotelischen Formen wirklich bestehen, denn im Laufe der Zeit haben sich viele Beweise gesammelt, die zeigen, dass die Vermutung ihrer wirklichen Existenz zu Widersprüchen führt. Die Art und Weise, in der Brentano die sinnliche Erkenntnis in der Psychologie und auch in anderen, früheren, nicht Aristoteles gewidmeten Arbeiten versteht, ist also nicht dem aristotelischen, sondern dem neuzeitlichen Denken zuzuordnen.¹⁰⁰ Wenn man diese Frage überdies im Zusammenhang mit dem Problem der inneren Wahrnehmung betrachtet, dann ergibt sich ganz klar, wie verschieden die methodischen Ansätze von Aristoteles’ und Brentanos Psychologie sind. Die aristotelische Psychologie beruht auf der mittels der äußeren Wahrnehmung durchgeführten Beobachtung der Wirkungen und Tätigkeiten unterschiedlicher Substanzen – Ernährungs-, Bewegungs-, Wahrnehmungstätigkeit usw. –, um von hier aus in die Natur der Kräfte einzudringen, die sich mittels dieser Tätigkeiten manifestieren. Auch wenn die aufgrund der äußeren Wahrnehmung gemachten Beobachtungen für die Psychologie von Bedeutung sind, ist die wichtigste Quelle psychologischer Erkenntnis darin nicht die äußere, sondern die innere Wahrnehmung. Die unterschiedlichen Bewertungen der äußeren Wahrnehmung bei den zwei Autoren und ihre Ersetzung durch die innere Wahrnehmung als Hauptquelle psychologischer Erkenntnis bei Brentano zeigen, wie verschieden das aristotelische und das neuzeitliche Paradigma der psychischen Wissenschaft sind. Das deutet zugleich darauf, dass die Rede über die cartesische Dimension von Brentanos Psychologie nicht zu unterschätzen ist, weil die Arbeit von 1874 nicht nur auf aristotelische Lehrstücke, sondern auch auf zentrale Thesen aus Descartes’ Philosophie zurückgreift: die Evidenz der inneren Wahrnehmung oder den starken Gegensatz zwischen res extensa – der Welt der physischen Phäno De an. II 12, 424 a 18 – 20. De an. II 6, 418 a 14– 16, 20 – 23. Ich lasse mich hier nicht auf diese Frage ein, die ich ausführlich in meinem Aufsatz „Die intentionale Inexistenz …“ behandelt habe. PeS, S. 35, 116 ff. Vgl. PeS, S. 25; M 96, Bl. 31767/„Metaphysikvorlesung. I. Theil. Apologetik …“, S. 36.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
mene – und res cogitans – der Welt der psychischen Phänomene bei Brentano.¹⁰¹ Ohne diese cartesischen Gedanken lässt sich die Psychologie ebenso wenig verstehen wie ohne die Thesen des Stagiriten oder die Ideen Comtes und Mills. Ein anderes wichtiges Problem ist das folgende: Die Hervorhebung der Wichtigkeit des aristotelischen Erbes für die Psychologie steht recht gut im Einklang damit, dass Brentanos Nachfolger von den zwei veröffentlichten Büchern dieser Arbeit dem zweiten besondere Aufmerksamkeit schenkten. Es geht also gerade um das Buch, in dem er Fragen anschneidet, die auf Aristoteles zurückführen. Die Bedeutsamkeit des ersten Buches wurde dagegen heruntergespielt. Dieses Buch ist aber gerade dasjenige, aufgrund dessen besonders für die Zugehörigkeit der Psychologie zur positiven Philosophie des 19. Jahrhunderts argumentiert werden kann, denn darin stellt Brentano mit Klarheit das Programm, die Ziele und die Methode seiner Schrift vor. In eins damit legt er auch die Richtung fest, in der die in den folgenden Büchern durchgeführten Untersuchungen über die Eigentümlichkeiten und Gesetze der psychischen Phänomene im Allgemeinen und ihrer einzelnen Grundklassen im Besonderen zu interpretieren sind. Die heute so hoch bewerteten Analysen über die allgemeinen Merkmale psychischer Phänomene und ihre Klassen sollten also ursprünglich weder die Grundlage für die Weiterentwicklung zur deskriptiven Psychologie oder zu seiner reistischen Spätphilosophie¹⁰² noch den Ausgangspunkt der Theorien seiner Schüler oder Nachfolger, z. B. Chisholm, bilden. Vielmehr bilden sie das Fundament zum Errichten einer Psychologie gemäß den Zielen der modernen, positiven Wissen-
Hier geht es also nicht in erster Linie darum, dass Brentano Descartes nicht anführt, sondern darum, dass er in einem neuzeitlichen, von Descartes geprägten Rahmen denkt. Übrigens zeigen seine Ausführungen über Descartes in GPhN (um 1870; S. 18 f.), dass er den cartesischen Gedanken der Evidenz und der psychischen Beobachtung besonders schätzt. Auch in M 96 wird die Rolle der inneren Wahrnehmung als Quelle sicherer psychologischer Erkenntnis betont (M 96, Bl. 31767; Antonelli (a. a. O., S. XXXIX) bewertet Descartes’ Einfluss auf Brentanos Psychologie anders; vgl. auch Münch, Intention und Zeichen, S. 59, 246 f.). Zum Unterschied zwischen dem epistemischen Wert der inneren und der äußeren Wahrnehmung vgl. auch den ersten Teil, „Die Wahrnehmung in ihrer Beziehung zu der objectiven Räumlichkeit und Zeitlichkeit“ (Ueberweg, System der Logik und Geschichte der logischen Lehre, Bonn, Adolph Marcus, 31868, S. 67– 94), auf den Brentano hinweist (M 96, Bl. 31767/„Metaphysikvorlesung. I. Theil. Apologetik …“, S. 36). Im Unterschied zu Brentano, der die Evidenz der inneren Wahrnehmung an dem eben angeführten Ort betont (vgl. auch PeS, S. 109), thematisiert Ueberweg sie in Verbindung mit dem Selbst- oder Ichbewusstsein, das als „eine potenzirte innere Wahrnehmung gilt“ (Ueberweg, a. a. O., S. 74.). Für die weitere, kritische Entwicklung dieses Problemfeldes bei Husserl vgl. die „Beilage: Äußere und innere Wahrnehmung. Physische und psychische Phänomene“ zum dritten Band der Logischen Untersuchungen. Die erste Rezeptionslinie ist für Brentano selbst, die zweite für den Herausgeber der Psychologie, Kraus, relevant.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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schaft, die auf die Entdeckung der Gesetze der Koexistenz und Sukzession psychischer Erscheinungen und auf ihre Zurückführung auf letzte Gesetze ausgerichtet ist. Wie schon gesagt, sind diese Ziele nicht im zweiten, sondern im ersten Buch der Psychologie festgelegt. Die Ausführungen über die moderne Auffassung der psychischen Wissenschaft im ersten Kapitel der Psychologie kommen meiner These entgegen, weil Brentano darin der psychischen Wissenschaft das Studium der psychischen Erscheinungen und ihrer Gesetze, und nicht der seelischen Substanz zuschreibt. Auch wenn in seinen Erklärungen darüber weder der Begriff „positiv“ noch der Name „Comte“ auftauchen, was er als moderne Auffassung darstellt, ist gerade jene positive Ansicht, die Comte zufolge durch die Untersuchungen Bacons, Descartes’ und Galileis¹⁰³ zum Durchbruch gekommen ist. Wie oben bereits erörtert, ist diese Betrachtungsweise an keiner Substanz und keinen inneren Ursachen der Dinge, sondern nur an den Phänomenen und ihren konstanten Verhältnissen interessiert. Dabei muss zweierlei bemerkt werden: Einerseits bezieht sich Brentano auf Humes Kritik der Seelensubstanz, die behauptet, wir können in unserem Bewusstsein nur einzelne mentale Zustände, aber nie eine Seele, die als ihr Träger fungieren würde, erfassen.¹⁰⁴ Damit wird aufgehört, die mentalen Zustände als Aktualisierung einer Seelensubstanz, die hinter den Phänomenen stehen würde, zu betrachten. Andererseits referiert er ausführlich die Problematik von Mills „ausschließlich phänomenaler Psychologie“ und unterstreicht dabei, dass angesichts der neuen, für ihn „modernen“, für Comte und Mill hingegen „positiven“ Auffassung der psychologische Themenkreis keineswegs beeinträchtigt wird, denn der Psychologie bleibt auch nach der Ausschließung der Seelensubstanz ein reiches Feld der Untersuchung erhalten.¹⁰⁵ Die Aneignung dieser neuen Betrachtungsweise stellt Brentano vor die Frage, ob er in das Forschungsprogramm einer phänomenalen Psychologie die Unsterblichkeitsfrage übernehmen kann und will. Wie schon angedeutet, ist seine Antwort darauf affirmativ und damit macht er den Weg für die Errichtung der Psychologie frei. Vor diesem Hintergrund ist auch klar, dass seine Äußerungen über Mill als Vertreter einer „ausschließlich phänomenalen Psychologie“ nicht auf ihn selbst zutreffen, denn seine Psychologie will keine solche Disziplin sein, sondern eine empirische Wissenschaft, die sich um die Unsterblichkeitsfrage kümmert. Es ist
Comtes Äußerungen über Descartes als Vertreter der positiven Denkweise beziehen sich nicht auf die cartesische Sicht über den menschlichen Geist – unter diesem Gesichtspunkt wird Descartes’ Denken für eine metaphysisch-theologische Philosophie gehalten –, sondern auf seine Mechanik (CPhP III, S. 401 ff.). PeS, S. 32 f. PeS, S. 27.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
deshalb kein Zufall, dass seine Ausführungen über die Geschichte der Psychologie gerade mit einer Diskussion über die Unsterblichkeitsfrage enden,¹⁰⁶ schließlich sind sie von Anfang an darauf ausgerichtet, sodass dies genau dem Plan der Arbeit entspricht. Von hier aus auf Comte blickend, wird deutlich, weshalb Comte mit einer solchen Konstruktion nicht einverstanden hätte sein können: Comtes Auffassung von den Verhältnissen der drei Stadien zueinander lässt keine Wissenschaft zu, die in ihre positive Phase eintritt und gleichzeitig absichtlich solche metaphysischen Überreste beibehält. Seiner Meinung nach sind die metaphysischen und theologischen Stadien der positiven Wissenschaft zu überwinden und nicht in einer modernen Form aufrechtzuerhalten.¹⁰⁷ Es ist deshalb äußerst wahrscheinlich, dass er sich geweigert hätte, eine Wissenschaft als positive Disziplin anzuerkennen, die eine solche metaphysische Bürde trägt und zugleich programmatisch nur an den Phänomenen und ihren Gesetzen interessiert ist. Der Terminus „positiv“ ist deshalb bei ihm so besetzt, dass er stets die kritische Distanz zu denjenigen Stadien ausdrückt, die als Reste der zu überwindenden theologisch-metaphysischen Tradition angesehen werden.¹⁰⁸ Hinzu kommt, dass bei Comte fast eine prinzipielle Unverträglichkeit zwischen dem Terminus „positiv“ und der psychischen Wissenschaft besteht. Demgemäß hält Comte die Psychologie für „die letzte Umwandlung der Theologie“ (dernière transformation de la théologie“; Übers. I. T.) und schließt sie aus seiner Klassifikation der Wissenschaften aus, weil sie auf einer Methode – der inneren Beobachtung oder dem Selbstbewusstsein – beruht, die nie einen wissenschaftlichen Charakter annehmen kann.¹⁰⁹ Abschließend sei zu diesem Punkt noch bemerkt, dass Brentano keine der dargestellten Auffassungen entschieden ablehnt, sondern sich ihnen gegenüber wohlwollend verhält. Aus diesem Grund behauptet er, dass beide gerechtfertigt seien und seine Auswahl für die moderne Auffassung besonders aus pragmatischen Gründen erfolge: Die moderne Auffassung vereinfacht die Untersuchung, weil sie von weniger metaphysischen Präsuppositionen als die traditionelle Sichtweise abhängt: […] Die neue Erklärung des Namens Psychologie enthält nichts, was nicht auch von den Anhängern der älteren Schule angenommen werden müsste. Denn mag es eine Seele geben oder nicht, die psychischen Erscheinungen sind ja jedenfalls vorhanden. Und der Anhänger
PeS, S. 30 ff. Vgl. z. B. das, was er über die Spitzfindigkeit der Metaphysiker sagt, die, um ihre überholten Auffassungen zu retten, sie an moderne Anforderungen anzupassen versuchen (CPhP I, S. 31). Vgl. dazu unten II.3.2.3.5. CPhP I, S. 30 ff.; vgl. auch unten II.3.2.3.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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der Seelensubstanz wird nicht leugnen, dass alles, was er in Bezug auf die Seele feststellen könne, auch eine Beziehung zu den psychischen Erscheinungen habe. Es steht also nichts im Wege, wenn wir, statt der Begriffsbestimmung der Psychologie als Wissenschaft von der Seele, die jüngere uns eigen machen. Vielleicht sind beide richtig. Aber der Unterschied bleibt dann bestehn, dass die eine metaphysische Voraussetzungen enthält, von welchen die andere frei ist, dass diese von entgegengesetzten Schulen anerkannt wird, während die erste schon die besondere Farbe einer Schule an sich trägt, dass also die eine uns allgemeiner Voruntersuchungen enthebt, zu welchen die andere uns verpflichten würde. Und indem so die Annahme der jüngeren Fassung uns die Arbeit vereinfacht, gewährt sie noch einen anderen Vortheil als den der Erleichterung der Aufgabe. Jede Ausscheidung einer gleichgültigen Frage ist als Vereinfachung auch Verstärkung. Sie zeigt die Ergebnisse der Forschung von wenigeren Vorbedingungen abhängig und führt so mit grösserer Sicherheit zur Ueberzeugung hin. Wir erklären also in dem oben angegebenen Sinne die Psychologie für die Wissenschaft von den psychischen Erscheinungen. ¹¹⁰
Man bemerkt also, dass bei Brentano die Geschichte der Psychologie von keinem starken Gegensatz markiert ist und dass ihr Verlauf nicht einem Gesetz unterworfen wird, das in der Überwindung oder Ausschließung ihrer theologisch-metaphysischen Aspekte ein Zeichen des Erreichens des positiven Stadiums einer Wissenschaft sehen würde. Im Gegenteil scheint Brentano zu behaupten, dass es gewisse Fragen gibt, z. B. die Unsterblichkeitsfrage, die, wenn mir dieser Ausdruck erlaubt ist, überstadiale Gültigkeit haben. Zusammenfassend lassen sich mehrere Ebene im Aufbau von Brentanos Psychologie unterscheiden: – Die aristotelisch-scholastische Ebene, die in Brentanos Ausführungen über die Würde des psychischen Gegenstandes, die Unsterblichkeitsfrage (im ersten Buch), die Intentionalität, das innere Bewusstsein oder das Fundierungsgesetz psychischer Phänomene (im zweiten Buch) zur Sprache kommt. Es geht bei all diesen Punkten um zentrale inhaltliche Fragen der Psychologie, ohne die diese Schrift nicht zu denken ist. Zu ihnen gesellt sich noch die aporetische Methode der Untersuchung. – Die cartesische Ebene, der die These der Evidenz der inneren Wahrnehmung, die Unterscheidung der inneren und äußeren Wahrnehmung und der stake Gegensatz zwischen der Welt der psychischen und der physischen Phänomene Ausdruck verleiht.
PeS, S. 34 f.
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–
II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
Die positive Ebene: Comtes und Mills Auffassung vom Programm, den Zielen und Methoden der positiven Wissenschaft, die in Verbindung mit der empiristischen Tradition (Locke, Hume) zu sehen ist.¹¹¹
Diese Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern will nur auf die Vielfältigkeit des Profils von Brentanos Psychologie hinweisen.¹¹² Wenn man weiter nach dem Verhältnis dieser Ebenen zueinander fragt, dann lässt sich sagen, dass Brentano die Probleme, die sich aus der Umsetzung des positiven Konzepts der Wissenschaft in der Psychologie ergeben, dadurch zu lösen versucht, dass er auf die cartesische Evidenz der inneren Wahrnehmung und auf die aristotelisch-scholastische Tradition zurückgreift.Wie schon angedeutet, ist das kein Widerspruch, sondern steht mit seiner Absicht durchaus im Einklang, die Philo Vor diesem Hintergrund lässt sich also die Behauptung nicht bekräftigen, Brentano ginge es darum, „die Psychologie des Aristoteles von ihrem ‚metaphysischen Ballast‘ zu befreien und durch die positive Methode aufzufrischen“ (Antonelli, a. a. O., S. XXVIII f.), denn (i) ist Brentanos empirische keine aristotelische Psychologie mehr und Aristoteles operiert nicht mit der Evidenz der inneren Wahrnehmung; (ii) das, was in dieser Wahrnehmung zugänglich ist, sind keine aktualisierten Formen, sondern psychische Phänomene, deren Verhältnisse zueinander gemäß der positiven Auffassung über die Ziele der wissenschaftlichen Forschung zu studieren sind, d. h. als Basis zur Gewinnung der induktiven Gesetze der Sukzession und Koexistenz psychischer Phänomene, die weiter auf letzte Gesetze zu reduzieren sind. Unter diesen Umständen ist es nicht von Bedeutung, dass Brentanos Lehre von der sekundären Beziehung des Aktes zu sich selbst auf Aristoteles zurückgeht, sondern was hier von Belang ist, ist die cartesische Evidenz, die die innere Wahrnehmung kennzeichnet. Außerdem ist auch nicht klar, ob das, was für Trendelenburg und seine Schüler, z. B. R. Eucken, galt, nämlich „Aristoteles als Methodentheoretiker“ zu betrachten (vgl. auch Werle, a. a. O., S. 65 ff.), im Zusammenhang der hier geführten Diskussion besonders relevant ist. Denn gemäß dem oben Gesagten besteht Brentanos Strategie für die Erneuerung der Philosophie nicht nur im Anschluss an die Höhepunkte der aufsteigenden philosophischen Phasen (Aristoteles, Thomas, Descartes u. a.), sondern auch in der Verwendung der neuzeitlichen, methodischen, nichtaristotelischen Ansätze der Naturwissenschaft. Wie ich schon angedeutet habe und weiter zeigen werde, hat Brentano in das Programm der Psychologie viele methodische Momente und die ihnen entsprechenden Ziele der Naturwissenschaft integriert. Das ist auch der Grund, weswegen ich behaupte, dass Brentanos Ergründung der Eigentümlichkeiten der psychischen Phänomene aufgrund der cartesischen evidenten Wahrnehmung im Werk von 1874 Ziele verfolgt, die der modernen positiven Wissenschaftsauffassung eigen sind. Wie ich weiter ausführen werde, wird das Brentano letzten Endes dazu führen, einen methodologischen Partikularismus auszuarbeiten, der behauptet, jede Wissenschaft habe je nach der Eigenart ihres Gegenstandes und der Schwierigkeiten, auf die sie in ihrem Vorgehen stoße, ihre eigene Methode auszuarbeiten. Das methodische Moment des Bemerkens in der deskriptiven Psychologie bringt einen solchen methodologischen Partikularismus zur Sprache (vgl. unten II.3.3.5). Es gibt nämlich andere Facetten von Brentanos Psychologie, auf die ich mich nicht bezogen habe: Antonelli betont z. B. mit gutem Recht, dass Brentano es vermeiden wollte, „die psychophysische Einheit in Frage zu stellen“ (a. a. O., S. XXXIX).
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
243
sophie durch die Einbeziehung der neuzeitlichen methodischen Ansätze und die Anlehnung an die Ergebnisse der aufsteigenden Phasen der Philosophie zu erneuern. Das erste Kapitel der Psychologie endet mit einem Paragraphen über den eigentümlichen Wert der Psychologie, wo er – ohne Comte zu nennen – den Anspruch seiner Psychologie, eine moderne phänomenale Wissenschaft zu werden, durch Ruckgriff auf Comtes Stufenleiter der Wissenschaften rechtfertigt. Da dieses Lehrstück aus Comtes Philosophie für den Aufbau von Brentanos Psychologie äußerst wichtig ist und ich darüber hinaus beabsichtige, die zwei einleitenden Vorlesungen Comtes mit den ersten Paragraphen der Psychologie zu vergleichen, werde ich im Weiteren Comtes Hierarchie der Wissenschaften und ihre Rezeption in Brentanos Schrift darstellen, um mich danach ausführlich dem Vergleich beider Schriften zuzuwenden.
II.3.2.3 Comtes enzyklopädische Stufenleiter der Wissenschaften und ihre Rezeption in Brentanos Psychologie Bekanntlich stellt Comte in der ersten Vorlesung seines Cours das Drei-StadienGesetz über die Entwicklung des menschlichen Geistes dar, um in der zweiten Vorlesung die Stufenleiter der Wissenschaften darzulegen. Diese Ordnung ist nicht zufällig, denn Comtes Klassifikation der Wissenschaften zeigt die Reihe auf, in der sich der positive Geist im Laufe der Zeit in unterschiedlichen Wissenschaften durchgesetzt hat, und zwar beginnend mit der Wissenschaft, der Mathematik, die die einfachsten, allgemeinsten und unabhängigsten Phänomene studiert, um danach allmählich in allen ihr folgenden Wissenschaften zum Durchbruch zu kommen. Die zwei Lehrstücke Comtes sind also wesentlich miteinander verbunden und lassen sich nicht getrennt voneinander betrachten: Das allgemeine Gesetz, das über diese ganze Geschichte [des menschlichen Geistes; Hinzufügung I. T.] waltet, und das ich in der vorangehenden Vorlesung dargelegt habe, lässt sich nicht angemessen verstehen, wenn seine Anwendung nicht mit der eben festgelegten Stufenleiter der Wissenschaften verbunden wird.¹¹³
Es ist sehr wichtig, die innige Verbindung der zwei Gedanken Comtes hervorzuheben, weil sich Brentanos Rezeption dieses Problems eben dadurch charakterisiert, dass er in der Psychologie diese Verbindung auflöst, um nur eine von beiden Ideen, nämlich Comtes enzyklopädische Stufenleiter der Wissenschaften, CPhP I, S. 78; vgl. auch S. 19 und 68 (meine Übersetzung).
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
zu benutzen. Trotz seiner Wichtigkeit für seine Vier-Phasen-Lehre kommt Comtes Drei-Stadien-Gesetz in der Psychologie nicht zur Sprache.
II.3.2.3.1 Comtes enzyklopädische Stufenleiter der Wissenschaften Comtes Klassifikation der Wissenschaften geht von der grundlegenden Einteilung in theoretische und praktische Erkenntnisse aus.¹¹⁴ Die theoretischen Erkenntnisse werden weiter in die „abstrakten und allgemeinen“ und die „konkreten, partikularen, deskriptiven“ Wissenschaften unterteilt. Comtes Interesse gilt nur den theoretischen Wissenschaften, weil jene auf „die Entdeckung der Gesetze“ unterschiedlicher Klassen von Phänomenen abzielen und die Basis der konkreten Wissenschaften bilden.¹¹⁵ Eine wichtige Annahme des Ansatzes von Comte besteht darin, dass es ihm zufolge bei den fundamentalen Wissenschaften eine natürliche Ordnung und Verkettung gibt, die der Ordnung der Phänomene entspricht.¹¹⁶ Diese Phänomene bilden eine Reihe, die „durch den Grad der Einfachheit […] oder der Allgemeinheit“ ihrer Glieder bestimmt wird, „woraus ihre sukzessive Abhängigkeit folgt“.¹¹⁷ Aus diesem Grund beginnt die Reihe mit den allgemeinsten, einfachsten und unabhängigsten Erscheinungen, die von der Geometrie und der rationellen Mechanik studiert werden,¹¹⁸ setzt sich fort mit den astronomischen, physischen, chemischen und biologischen Phänomenen, um mit den speziellsten, kompliziertesten und abhängigsten von ihnen, den sozialen Erscheinungen, zu enden.¹¹⁹ Jede neue Ordnung von Phänomenen baut auf der ihr vorangehenden Ordnung auf und stellt ihr gegenüber eine Komplikation mit neuen Elementen und Verhältnissen dar, welche die Wirkung der vorigen Erscheinungen modifizieren: Z. B. sind „alle chemischen Phänomene […] notwendig komplizierter als die physikalischen. Abhängig, ohne sie zu beeinflussen. (Schwere, Wärme, Elektrizität etc. und außerdem etwas eigentümliches, was die anderen modifiziert)“.¹²⁰ Trotz dieser Modifizierung erscheint keine neue Klasse gegenüber der ihr vorhergehenden Klasse als etwas „völlig Heterogenes“, so wie
CPhP I, S. 50; GPhN, S. 277 ff., 285 f. CPhP I, S. 56; GPhN, S. 282 f. CPhP I, S. 49 f.; GPhN, S. 290 f. CPhP I, S. 68, 71; vgl. auch Ms. H 48, S. 4; GPhN, S. 291. Comtes Meinung nach umfasst die Mathematik einerseits die abstrakte Mathematik oder den Kalkül und andererseits die konkrete Mathematik, d. h. die allgemeine Geometrie und die rationelle Mechanik (CPhP I, S. 86). CPhP I, S. 71 ff.; GPhN, S. 292 f. Ms. H 48, S. 6; vgl. CPhP I, S. 69.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
245
dies bei Brentano der Fall sein wird.¹²¹ Aus diesem Grund kann gesagt werden, dass es bei Comte eine Kontinuität in der Zunahme der Komplexität der Phänomene gibt, die allerdings von einem Diskontinuitätsmoment durchbrochen wird, das die Eigenheit jeder neuen Klasse von Phänomenen gegenüber anderen Klassen ausmacht. Um das Verhältnis von Brentano und Comte angesichts dieses Problems klar zu machen, ist es nötig, drei Prinzipien zu unterscheiden, die die Grundlage von Comtes Hierarchie von Phänomenen bilden: 1. das Abhängigkeitsprinzip, das darin besteht, dass jede neue Klasse von Phänomenen auf der vorangehenden Ordnung von Erscheinungen aufgebaut ist und nur auf ihrer Basis funktionieren kann; 2. das Kontinuitätsprinzip, das darin besteht, dass jede neue Klasse von Phänomenen diejenigen Phänomene funktionell enthält, die ihr in der Hierarchie vorangehen; 3. das Emergenzprinzip: Jede neue Ordnung von Erscheinungen taucht gegenüber anderen Phänomenen als etwas Neues auf, weil sie neue Elemente und Verhältnisse ins Spiel bringt, die die vorhergehenden Phänomene integrieren und ihre Wirkung ändern.¹²² Wie ich unten zeigen werde, haben wir es bei Brentano nicht mit dem Emergenz-, sondern mit dem Heterogenitätsprinzip zu tun, weil bei ihm die psychischen Phänomene die ihnen vorangehenden Erscheinungen nicht wirklich und funktionell (Comte), sondern nur intentional enthalten und ihnen gegenüber etwas völlig Verschiedenes sind. Vor diesem Hintergrund ist es beachtenswert, dass im Unterschied zu Brentano, der die Anwesenheit einer neuen Qualität auf der Ebene des mentalen Lebens feststellt, es gegenüber der physischen Welt für etwas völlig Heterogenes betrachtet, und bei dem die Heterogenität die Diskontinuität mit dem physiologischen und dem physischen Bereich markiert, die Emergenz der Phänomene bei Comte mit der Kontinuität seiner Hierarchie Hand in Hand geht: Auch wenn die höheren Phänomene anderer Qualität sind als ihre vorhergehenden Erscheinungen, sind Letztere in die Komposition und das Funktionieren Ersterer wirklich einbezogen. Unter diesem Gesichtspunkt lässt sich sagen, dass die höheren Phänomene ihre vorangehenden Erscheinungen wirklich, und nicht nur intentional und phänomenal, wie dies bei Brentano der Fall ist, enthalten. Das Leben einer Zelle als biologisches Phänomen z. B. ist etwas radikal Neues ge CPhP I, S. 75; PeS, S. 66. Vgl. CPhP I, S. 69. Auf der Ebene der positiven Wissenschaften entsprechen diesen Prinzipien die Abhängigkeit und zugleich die epistemologische Autonomie jeder positiven Wissenschaft in Comtes Skala gegenüber ihren vorangehenden Disziplinen.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
genüber den Eigenschaften der chemischen Elemente und Gebilde wie Sauerstoff, Glucose, Fettsäure usw. Trotzdem besteht sie aus den chemischen Prozessen der Assimilation und Dissimilation, die weiter aus gewissen chemischen Reaktionen (etwa Oxidation) bestehen, in denen die eben genannten chemischen Faktoren involviert sind. Allerdings enthält die Zelle diese Elemente nicht intentional und phänomenal und ist selbst keine chemische oder physische Erscheinung, sondern ein selbstständiges biologisches Phänomen, das durch eigene Funktionen (Reaktion auf Reize, Stoffwechsel, Wachstum usw.) gekennzeichnet wird. Bei Comte haben wir es also mit Verhältnissen funktioneller Dependenz zu tun, die damit eng verbunden sind, dass die höheren Phänomene die niederen Erscheinungen wirklich enthalten. Das zeigt klar, in welchem Sinn bei ihm die Emergenz mit der Kontinuität der Phänomene wirklich einhergeht: Wir haben es nicht überall, wo wir uns mit physischen und chemischen Phänomenen beschäftigen, auch mit biologischen Erscheinungen zu tun. Umgekehrt lassen sich das Leben und die ihm eigenen Phänomene nicht analysieren, ohne die chemischen und physischen Prozesse zu berücksichtigen, aus denen es besteht. Man findet kein Analogon dieses Verhältnisses bei Brentano, denn, auch wenn in der Psychologie die mentale von der physiologischen Ebene abhängt, gibt es bei ihm keinen wirklichen physiologischen Teil der psychischen Phänomene, der in ihre Struktur übernommen und integriert würde, um eine neue Qualität, die des psychischen Lebens, zu bewirken. Wenn mir dieser Ausdruck erlaubt ist, würde ich hinsichtlich Brentanos These der Heterogenität psychischer Erscheinungen gegenüber den physischen Phänomenen von einer Emergenz ohne Kontinuität sprechen. Dagegen geht es bei Comte um ein funktionelles Enthaltensein, das von dem intentionalen Enthaltensein Brentanos zu unterscheiden ist.¹²³ Dabei sollte der Akzent nicht auf „Enthaltensein“, sondern auf „funktionell“ gesetzt werden, denn das, was für die Zwecke meiner Analyse wichtig ist, und zwar die Art und Weise, in der die höheren Phänomene die niederen enthalten, ist unter Comtes Gesichtspunkt Nebensache. Der Grund dafür besteht darin, dass ihm die Verhältnisse der funktionellen Abhängigkeit, und nicht die des Inseins wichtig sind. Hinzu kommt, dass Comte alle Klassen von Phänomenen weiter in zwei große Ordnungen teilt, und zwar gemäß der grundlegenden Distinktion zwischen den Phänomenen der unorganischen (astronomischen, physischen und chemischen) und der organischen (biologischen und sozialen) Körper. Die letzten sind „komplizierter“ und „partikulärer“ als die ersten und hängen von ihnen ab.¹²⁴ Diese
Ich übernehme die Terminologie des Enthaltenseins und des Inseins von Münch (a. a. O., S. 68 – 73). CPhP I, S. 69; GPhN, S. 291.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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Tatsache sollten wir uns genau vor Augen halten, weil Brentano in der Psychologie mit Comtes Hierarchie von Phänomenen arbeitet. Aber im Unterschied zu ihm, der eine Linie zwischen den unorganischen und den organischen Phänomenen zieht und dessen Hierarchie in dem eben erörterten Sinn Kontinuität aufweist, legt Brentano die grundlegende Unterscheidung seiner Hierarchie in den Bereich des Organischen, und zwar zwischen den physiologischen und den psychischen Phänomenen, und lässt zwischen den so getrennten Klassen keine Kontinuität im Sinne Comtes zu.¹²⁵ Unter diesen Umständen trennt seine berühmte „intentionale […] Inexistenz des Gegenstandes“ nicht nur zwei in der Hierarchie der Phänomene aufeinander folgende Klassen von Erscheinungen, sondern das ganze empirische Erkenntnisgebiet in zwei Gegenstandsbereiche, nämlich den Gegenstandsbereich der Naturwissenschaft und den der psychischen Wissenschaft. Dem Abhängigkeitsverhältnis seiner Hierarchie von Erscheinungen entsprechend baut Comte seine enzyklopädische Stufenleiter der fundamentalen Wissenschaften auf: Mathematik, Astronomie, Physik, Chemie, Biologie, soziale Physik oder Soziologie.¹²⁶ Das Konstitutionsprinzip dieser Skala besteht darin, dass jede neue Wissenschaft sich auf der Grundlage der Disziplinen aufbaut, die ihr in der Stufenleiter vorausgehen. Dementsprechend vermag jede neue Wissenschaft ihr positives Stadium erst anzutreten, nachdem die ihr in der Skala vorausgehende Wissenschaft in das positive Stadium eingetreten ist.¹²⁷ Comtes Meinung nach sind die Naturwissenschaften aus seiner Skala in der Neuzeit bereits in ihre positiven Phase eingetreten, in manchen von ihnen – z. B. in der Mathematik und der Astronomie – hat sich der positive Geist schon durchgesetzt und mittels seines Cours de philosophie positive soll auch die Soziologie ihre
PeS, S. 65 f. Dabei lohnt es sich zu bemerken, dass Brentano das Intentionalitätsmerkmal in erster Linie nicht unter dem Gesichtspunkt seiner Rolle in Comtes Stufenleiter der Wissenschaften, nämlich um die psychischen von den physiologischen Phänomenen zu unterscheiden, thematisiert, sondern es unter einem noch allgemeineren Standpunkt anpackt, und zwar um das psychische von dem physischen Phänomen im Allgemeinen und damit einhergehend die psychische von der physischen Wissenschaft zu trennen. Darüber hinaus nutzt er es aus der Perspektive seiner Rolle für die Lösung weiterer Probleme der empirischen Psychologie (z. B. der Klassifikation psychischer Erscheinungen) (PeS, S, 66, 96, 214, 218 ff.). CPhP I, S. 75, 88; GPhN, S. 293 f.; vgl. dazu Schmaus, a. a. O., S. 41 ff. Mit Ausnahme der Mathematik beachtet jede von diesen Wissenschaften sowohl das Prinzip der hierarchischen Abhängigkeit als auch das der epistemischen Autonomie (vgl. dazu Guillin, „Comte and Social Science“, in Bourdeau, Pickering und Schmaus (Hrsg.), Love, Order, & Progress …, S. 137). CPhP I, S. 71 ff.; GPhN, S. 289.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
positive Phase antreten.¹²⁸ Von daher ist die Etablierung des positiven Geistes auf wissenschaftlichem Gebiet fast beendet.¹²⁹ Brentano, der einen anderen Weg zur Erneuerung der Philosophie einschlägt, sieht die Dinge anders. Im Unterschied zu Comte sieht er seine Epoche nicht als die Zeit des endgültigen Sieges des positiven Geistes, sondern als Periode einer neuen aufsteigenden Phase der Philosophie, die auf der Verbindung der Höhepunkte der philosophischen Tradition mit einer Methode, die von der Naturwissenschaft inspiriert wird, beruht. Ich habe oben darauf hingewiesen, dass die Anknüpfung an diese Punkte bei Brentano mit der Möglichkeit, für die metaphysischen Fragen wie die nach dem Dasein Gottes oder der Unsterblichkeit der Seele aufgrund von naturwissenschaftlichen Beweisen zu argumentieren, innig verbunden ist. Unter methodologischem Gesichtspunkt geht es hingegen um eine Zeit, in der die Philosophie versuchen muss, sich die völlig ausgebildeten Methoden der Naturwissenschaft anzueignen. Im Folgenden werde ich zeigen, wie Brentano dieses Desiderat in der Psychologie in die Tat umzusetzen versucht. Dazu beginne ich mit der Erörterung der Art und Weise, in der Comtes Skala der Wissenschaften in dieser Schrift rezipiert wird.
II.3.2.3.2 Brentanos frühe Klassifikation der Wissenschaften und die Bezugnahme der Psychologie vom empirischen Standpunkt zur Naturwissenschaft In seiner 13. Habilitationsthese tritt Brentano in die Fußstapfen Leibniz’ und behauptet: „Nichts ist im Verstande, was nicht früher in einem Sinne war, der Verstand selbst ausgenommen.“¹³⁰ Von dieser Stelle ausgehend, kann gesagt werden, dass es bei Brentano zwei Hauptquellen menschlichen Wissens gibt: einerseits die empirische Erkenntnis der äußeren und inneren Welt, die mittels der äußeren und inneren Wahrnehmung erfolgt, wobei anzumerken ist, dass nur die zweite Wahrnehmungsart für ihn evident und sicher ist. Andererseits das apodiktische Wissen, das mittels der aus den Begriffen entspringenden Erkenntnisse oder
Vgl. dazu Schmaus, a. a. O., S. 39 f. Comtes Skala sollte nicht linear, d. h. in dem Sinn verstanden werden, dass jede neue positive Disziplin erst dann auftaucht, wenn die ihr vorangehenden Wissenschaften das Stadium ihrer positiven Entwicklung schon erreicht haben. Ihr Kerngedanke ist vielmehr, dass jede neue Wissenschaft (z. B. die Biologie) ihre eigenen Phänomene erst dann positiv studieren kann, wenn die ihr in der Skala vorhergehenden Disziplinen (die Chemie, die Physik) die Gesetze ihrer Erscheinungen entdeckt haben (CPhP I, S. 69). Allerdings schließt das weder die Parallelentwicklung der Wissenschaften noch ihrer Wechselwirkung aus. CPhP I, S. 19 f., 49. ZPh, S. 139.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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Axiome zur Sprache kommt, etwa Urteile der Art „Wenn a > b, dann b < a“ oder wenn jemand „A“ und „die Nichtexistenz von A“ zusammen vorstellt und diese Vorstellung in ihm das Urteil verursacht (motiviert): „Es ist unmöglich, dass A und die Nichtexistenz von A ist“.¹³¹ Brentanos frühe Klassifikationen der Wissenschaften basieren auf dieser grundlegenden Einteilung, denn fast überall, wo er diese Frage in Angriff nimmt, trennt er scharf die Wissenschaften, deren Erkenntnis sich a priori, aus den reinen Begriffen entwickelt, z. B. die Mathematik, von den induktiven, auf Erfahrung beruhenden Wissenschaften: die Philosophie mit ihren zwei Grunddisziplinen, die Metaphysik und die Psychologie.¹³² Allerdings besagt das nicht, dass das apodiktische Wissen für die Philosophie nicht wichtig wäre. Im Gegenteil zeigen seine frühen Schriften, dass sie sich nicht lediglich auf induktive Erkenntnisse begrenzt, sondern dass die aus den Begriffen gewonnenen Erkenntnisse eine wichtige Rolle für das philosophische Nachdenken spielen.¹³³ Vor diesem Hintergrund muss betont werden, dass es in der Psychologie vom empirischen
„Indem ich diese [„A“ und „die Nichtexistenz von A“; Hinzufügung I. T.] zusammen vorstelle, stelle ich einen Widerspruch vor und aus der Vorstellung entspringt die Verwerfung.“ (EL80.13.363; vgl. M 96, Bl. 31766 f., 31815 ff.; vgl. auch Hedwig (a. a. O., S. XVII) und die dort angeführten bibliographischen Angaben) „A“ und „die Nichtexistenz von A“ stellen die zusammengesetzte Materie der Vorstellung dar, aus der das apodiktische Urteil insofern entspringt, als der Versuch, diese Materie zu denken, das Urteil verursacht oder motiviert. Hinsichtlich des Begriffs „Motiv“ behauptet Brentano „Jedes Urteil hat ein gewisses Motiv, also eine Ursache, aus welchem es entspringt“ (EL80.13.212; vgl. auch LRU, S. 128 f., 167 f.; DPs, S. 149 ff.; und Baumgartners und Chisholms Bemerkungen darüber in DPs, S. 167 f.). Vgl. GPhN (S. 96 f.). Dort unterscheidet er zwischen den Klassen „der mathematischen (rein demonstrativen)“ und „der philosophischen [Wissenschaften] im weitesten Sinne [Erfahrungswissenschaften], welche statt mit bloßen Verhältnissen von Gleichheit und Verschiedenheit, auch mit Verhältnissen ursächlicher Beziehungen […] sich befassen. Unterschied in der Weise, wie sie ihre Gesetze feststellen: die einen a priori, die anderen a posteriori durch tatsächliche Beobachtungen im einzelnen.“ Vgl. auch GPhN, S. 303; M 96, Bl. 31753, und Ms. LS 22 (in Antonelli, Seiendes, Bewußseins …, S. 449 ff.). Zum induktiven Charakter der Philosophie vgl. GPhN, S. 103; vgl. auch die von Hedwig angeführten Stellen aus den Manuskripten Brentanos (Hedwig, a. a. O., S. XV, Anm. 15.). Das bemerkt man deutlich im ersten Teil der Metaphysikvorlesung, wo die Axiome, die innere Wahrnehmung und in gewissem Maße auch die äußere Wahrnehmung für sichere Quelle der Erkenntnis gehalten werden, da Brentano eine abgesicherte Erkenntnisbasis braucht, um seine Beweise auszuführen. Wenngleich es ihm im „Vorwort“ der Psychologie um „eine gewisse ideale Anschauung“ geht, die mit seinem empirischen Standpunkt kompatibel sei (PeS, S. 3), operiert er in der 1874 veröffentlichten Arbeit nicht mit Axiomen. Die Inhaltsverzeichnisse des vierten und fünften Buches der Psychologie zeigen hingegen, dass er die Frage der Axiome darin durchaus abhandeln wollte (Rollinger, „Brentano’s Psychology …“, S. 286 ff.). In der Deskriptiven Psychologie greift er von vornherein neben den aus der Erfahrung gewonnenen Gesetzen die Gesetze auf, die aus dem Begriff entspringen und intuitiv zu erfassen sind (DPs, S. 28, 73 f.).
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
Standpunkt zwei Klassifikationen der Wissenschaften gibt. Die erste ist von Comte übernommen, ist explizit und deutlich sichtbar. Die zweite wird nur nebenbei erwähnt, sie ist allerdings sehr wichtig, weil sie den Rahmen bildet, in dem Brentano Comtes enzyklopädische Stufenleiter der Wissenschaften rezipiert und innerhalb dessen er die Psychologie aufbaut. Sie ist zugleich der Einteilung der Naturwissenschaften bei Comte übergeordnet, weil sie eine Klassifikation der philosophischen Disziplinen im Allgemeinen ist: Es gibt Tatsachen, welche auf dem Gebiete der äußern und innern Erfahrung in gleicher Weise nachweisbar sind. […] Und diese umfassenderen Gesetze werden, gerade wegen ihres weiten Umfanges, weder dem Gegenstande der Naturwissenschaft noch dem der Psychologie eigentümlich sein. […] Auch sind sie zahlreich und bedeutend genug, um für sich einen besondern Zweig der Forschung zu beschäftigen, und dieser Zweig ist es, den wir als Metaphysik von Naturwissenschaft und psychischer Wissenschaft zu unterscheiden haben.¹³⁴
Was Brentano hier ausführt, ist ein Teil seiner frühen Klassifikation der Wissenschaften. Nach einer bestimmten Fassung dieser Klassifikation, und zwar in Ms. H 45, lautet sie: I. II. 1. 1) 2) a) b) 2.
Übernatürliche Wissenschaft Natürliche Wissenschaft (einseitige Unabhängigkeit)¹³⁵ abstrakte Wissenschaft Mathematik Philosophie im weiteren Sinn physische Wissenschaft psychische Wissenschaft (philosophische Wissenschaften im engeren Sinn¹³⁶) Konkrete Wissenschaft.¹³⁷
Die Bedeutung dieser Stelle lässt sich wie folgt aufklären: (1) Die Philosophie ist genauso wie die Mathematik eine natürliche, abstrakte Wissenschaft, die im Unterschied zur Mathematik, die deduktiv arbeitet,¹³⁸
PeS, S. 22 f. (Hervorhebungen I. T.). Hedwig weist darauf hin, dass die Trennung der natürlichen Wissenschaft von der Theologie auf Thomas von Aquin zurückgeht (Hedwig, a. a. O., S. XIII). Aus dem Zusammenhang ergibt sich, dass Brentano den Plural verwendet, weil er die Psychologie und die Psychophysik im Auge hat (GPhN, S. XIV). Ms. H 45, „Gesch. d. Phil. Einteilung der Wissenschaften“ (n. 25253) apud Hedwig, a. a. O., S. XIII. Brentano fügt zu den einzelnen Termini dieser Einteilung fünf Anmerkungen hinzu, auf die ich mich weiter beziehe. Eine Aufzählung der Manuskripte, in denen sich Brentano mit diesem Problem beschäftigt, liefert Hedwig in GPhN, S. 326 Anm. 6. Vgl. dazu den Kommentar, den Brentano in der Anmerkung zur Mathematik macht (H 45, in GPhN, S. XIII f.).
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
251
induktiv verfährt und die zwei Disziplinen umfasst: die physische und die psychische Wissenschaft. Wie schon bemerkt, macht diese grundlegende Trennung den Rahmen aus, innerhalb dessen die Psychologie errichtet wird. (2) Brentano nennt die psychische Wissenschaft ausdrücklich „philosophische Wissenschaft im engeren Sinn“, was darauf hinweist, dass ihm zufolge die Psychologie eine fundamentale philosophische Disziplin ist – die andere ist die Metaphysik.¹³⁹ Diese innige Beziehung zwischen Psychologie und Philosophie erklärt die Begriffsbestimmung der Philosophie im Manuskript H 45, die aristotelisch klingt, aber einen neuzeitlichen Inhalt hat: „die Philosophie im engeren Sinn“ ist eine „Wissenschaft, welche von dem Seienden und seinen Eigentümlichkeiten handelt, insofern es unter Begriffe fällt, welche durch innere Erfahrung gegeben sind […]“.¹⁴⁰ (3) Die so verfasste Psychologie „läßt sich nicht trennen“, was heißt, dass ihr Gegenstandsbereich eine Einheit bildet, innerhalb derer sich kein Unterschied angeben lässt, der dem Unterschied zwischen „den Gebieten der äußeren und inneren Erfahrung“ analog wäre.¹⁴¹ Seine spätere Unterscheidung zwischen der deskriptiven Psychologie, die die Elemente des Bewusstseins und ihre Verbindungsweise behandelt, und der genetischen Psychologie, die die Gesetze ermittelt, nach denen die psychischen Phänomene entstehen und vergehen,¹⁴² hebt diese These nicht auf, denn die beiden Psychologien studieren nicht verschiedene Bereiche, sondern ein und denselben Gegenstand, das Bewusstseinsleben, aber unter verschiedenen Gesichtspunkten. Hinzu kommt, dass sich an die Psychologie als philosophische Wissenschaft im engeren Sinne unmittelbar die moderne Wissenschaft der Psychophysik anschließt.¹⁴³ Die graphische Darstellung dieser Einteilung sieht wie auf folgender Seite aus.¹⁴⁴ Was an dieser Klassifikation verwundert, ist, dass darin die Metaphysik nicht auftaucht. Diese Lücke lässt sich schließen, wenn man berücksichtigt, dass die erwähnte „Philosophie im weiteren Sinn“ in anderen frühen Manuskripten, z. B. in M 96 oder in M 98, als „theoretische Philosophie“ oder „Metaphysik im wei-
GPhN, S. XIII. GPhN, S. XV; vgl. auch oben S. 158. GPhN, S. XVI. DPs, S. 1– 10. Vgl. Brentanos Anmerkung zur psychischen Wissenschaft (GPhN, S. XIV). Ich füge die Metaphysik aufgrund anderer früherer Manuskripte (M 96, M 98) hinzu.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
Abbildung 2: Frühe Klassifikation der Wissenschaften (Ms. H 45; um 1870)
teren Sinne“ auftaucht.¹⁴⁵ Aufgrund dieser Texte lässt sich folgende Übersicht erstellen: 1. die theoretische Philosophie als Philosophie oder Metaphysik im weiteren Sinne;
M 96, Bl. 32078 (in Antonelli, a. a. O., S. 446); M 98, nicht-nummeriertes Blatt (in Antonelli, a. a. O., S. 448; vgl. Abb. 3 unten).
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
2.
3.
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die „Metaphysik (im engern Sinne) oder Ontologie (im weitern Sinne)“, die weiter in folgende Disziplinen geteilt wird: „1. Apologetik (gegen die Scepsis), […] 2. Ontologie (im engern Sinne) Bedeutungen des Seienden Allgemeinste Attribute Ursachen 3. < (philosophische)> Theologie Dasein Gottes […] 4. Kosmologie […]“;¹⁴⁶ die Psychologie („die philosophische Wissenschaft im engeren Sinn“ im Ms. H 45), die folgende Themen zu behandeln hat: „1. Vom Wesen der menschlichen Seele Wesen Vereinigung mit dem Leib Seelentheile & Kraefte im Allgemeinen 2. von der vegetativen Seele 3. von der sensitiven Seele Vorstellen Wahrnehmen Zustimmen Begehren & Fühlen, Bewegung 4. von der intellectiven Seele Vorstellen Zustimmen Wollen Wirken 5. Ursprung & Unsterblichkeit der Seele“.¹⁴⁷ Die psychische Wissenschaft ist dabei ganz traditionell verfasst und die angeführte Gliederung stellt in groben Zügen den Plan von Brentanos Habilitationsschrift dar.
Dabei bewegt sich Brentanos Klassifikation in M 96 auf aristotelischer Ebene, und er teilt genau wie der Stagirite die Wissenschaften in die theoretischen, praktischen und poetischen Disziplinen. Die Rolle aber, die er der Psychologie in diesem Zusammenhang beimisst, zeigt bereits die Abweichung von Aristoteles deutlich. Oben wurde schon darauf hingewiesen, dass Aristoteles die theoretischen Wissenschaften in Physik, Mathematik und erste Philosophie einteilt und jeder dieser Disziplinen das Studium eines sich außerhalb des Geistes befinden
M 96, Bl. 32078 f. (in Antonelli, a. a. O., S. 446). Diese Gliederung der metaphysischen Thematik beruht auf der Struktur der Erörterung der aristotelischen Metaphysik in der Vorlesung über die griechische Philosophie. Darin unterscheidet Brentano unter der Rubrik: „II. Metaphysik“ (GGPh, S. 237): „A.Vom Seienden im allgemeinen“, wo er dieselbe Frage nach der mehrfachen Bedeutung des Seienden wie in seiner Dissertation behandelt (S. 240 – 253), und „B. Von den Ursachen und Prinzipien des Seienden“ (S. 253 – 260). Ihnen schickt er zum einen „Aristoteles’ Apologetik der Prinzipien der Philosophie – des Wissens gegen den Skeptizismus“ (S. 238 – 240) voraus und lässt zum anderen folgen: „III. Theologie“ (261– 277) und „IV. Kosmologie“ (277– 284). Wie gesagt begann Brentano seine Lehrtätigkeit an der Universität Würzburg mit Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (WS 1866/67, 1867/68, 1868/69, 1869/70, SS 1870, WS 1871/72) und der Metaphysik (SS 1867, WS 1868/69, SS 1869, 1870, 1872) und trug über beide Problemfelder auch in seiner Wiener Zeit vor (vgl. dazu oben Anm. 101, S 182 f.). Auch wenn seine Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie getrennt veröffentlicht wurden, Brentano betrachtete sie als Ganzes und verfasste eine gemeinsame Einleitung dazu, den Text „Was ist die Geschichte der Philosophie“ (GGPh, S. 1– 23; GPhN, S. XL, 1– 12, 300 – 307). M 96, Bl. 32078 (in Antonelli, a. a. O., S. 446 f.). Auch die Gliederung der psychologischen Thematik entspricht der Darstellung der aristotelischen Psychologie in GGPh (S. 284– 296; vgl. auch das Inhaltsverzeichnis von PsA).
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
Seienden zuschreibt.¹⁴⁸ Da aber in der Neuzeit sowohl der traditionelle Wissenschaftsbegriff als auch das aristotelische Seiende als Gegenstand der Wissenschaft fragwürdig wurden, hat es die Philosophie Brentano zufolge nicht weiter mit einem aristotelisch aufgefassten Gegenstandsbereich, sondern mit einem Seienden zu tun, das unter die Begriffe fällt, die in erster Linie aus der inneren Erfahrung gewonnen werden. Demgemäß ist das Seiende im eigentlichen Sinn nicht mehr das, was sich unmittelbar in der sinnlichen Erkenntnis zeigt und unter die aristotelischen Kategorien subsumiert wird,¹⁴⁹ sondern das Seiende, das in der inneren Erfahrung auftaucht, die psychischen Phänomene. Daher lässt sich die Psychologie bei Brentano nicht wie bei Aristoteles aus der Reihe der theoretischen Wissenschaften ausklammern, sondern sie wird eigenständiges Mitglied der Klassifikation der theoretischen Wissenschaften: Mathematik,¹⁵⁰ Naturwissenschaft, psychische Wissenschaft und Metaphysik, die als letzte Disziplin diejenigen Tatsachen, z. B. die Kausalität, zu studieren hat, die sowohl auf dem psychischen als auch auf dem physischen Gebiet gültig sind.¹⁵¹ Es sei hier noch darauf hingewiesen, dass die Psychologie sowohl im Manuskript H 45 als auch in M 96 auf derselben Ebene steht wie die Naturwissenschaft.¹⁵² Damit ist der Rahmen der Psychologie vom empirischen Standpunkt abgezeichnet, in dem die psychische Wissenschaft durch ständige Bezugnahme auf die Naturwissenschaft etabliert und das psychische Phänomen im ständigen Vergleich mit dem physischen Phänomen charakterisiert wird. Die ersten oben besprochenen zwei Paragraphen derselben Schrift sind dafür besonders aufschlussreich, weil Brentano darin die traditionelle und die moderne Wissen-
Vgl. oben Teil I, S. 40, 90. PeS, S. 25, 35, und GPhN, S. 15, 33. Die Mathematik ist nicht weiter traditionell als Wissenschaft aufgefasst, die ein Seiendes studiert, das zwar unbewegt, aber von einem „denkenden Stoff“ abhängig ist (vgl. oben Teil I, S. 40), sondern modern, als deduktive, apriorische Disziplin, die mittels „Analyse von Begriffen und Deduktion […] aus blossen Vorstellungen von Grössen unmittelbar die Kenntnis gewisser Verhältnisse gewinnt und daraus alle verwickelteren Gesetze ableitet“ (LS 22, in Antonelli, a. a. O., S. 451; vgl. auch GPhN, S. 97). Vgl. LS (in Antonelli, a. a. O., S. 452); vgl. auch PeS, S. 21. In der „Einleitung“ zu M 96 findet man fast dieselbe Klassifikation wie die oben angeführte aus H 45. Nach der Einteilung der philosophischen Wissenschaft in eine psychische und eine physische Disziplin fügt Brentano hinzu: „Dazu eine Wissenschaft die über beide [über die psychische und die physische Wissenschaft; Hinzufügung I. T.] steht, wie der allgemeine Teil über dem besonderen, die Wissenschaft des Seienden als solchen. Diese ist die Metaphysik.“ (M 96, Einleitung, Bl. 31753; in Antonelli, a. a. O., S. 450) Vgl. Abb. 2 oben.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
255
schaftsauffassung sowohl mit Bezug auf die Naturwissenschaft als auch auf die Psychologie veranschaulicht. Wenn man nun Comtes Hierarchie der Wissenschaften unter dem Gesichtspunkt dieser früheren Klassifikation Brentanos berücksichtigt, dann bemerkt man zum einen, dass die Mathematik zusammen mit den anderen abstrakten positiven Wissenschaften eine vertikal fortlaufende Reihe bildet, in der jede neue Wissenschaft auf die ihr vorangehende Wissenschaft gründet: Die Biologie etwa baut auf die Gesetze der Chemie, Physik, Astronomie und Mathematik auf. Mithin ist die Mathematik bei Comte auf keinen Fall von den ihr folgenden positiven Wissenschaften (Astronomie, Physik, Chemie, Biologie) getrennt und die soziale Physik führt die Reihe der positiven Naturwissenschaften problemlos fort. Bei Brentano hingegen ist die Mathematik als deduktive Wissenschaft von den induktiven Wissenschaften im Allgemeinen gesondert, während die Psychologie mit der Naturwissenschaft (d. h. mit der Astronomie, Physik, Chemie und Biologie) auf derselben Ebene steht und ihr als Gegenstück zugeordnet wird.¹⁵³ Angesichts dieser Einteilung behauptet Brentano in einer Anmerkung zum Manuskript H 45: „Aristoteles schied Natur- und Geisteswissenschaft. Andere schieden, dem Namen nach ihm gleich, der Sache nach aber verschieden, Wissenschaften der äußeren und der inneren Erfahrungsobjekte (z. B. Mill). Es scheint dies besser und praktischer.“¹⁵⁴ Mills Erwähnung in diesem Zusammenhang ist deshalb relevant, weil er von Brentano als Vertreter der modern aufgefassten, phänomenalen Psychologie angeführt wird.¹⁵⁵ Auch wenn Mill seine Psychologie nicht auf der Evidenz der inneren Wahrnehmung aufbaut und nicht Vgl. Abb. 3 auf S. 258. H 45, apud Hedwig, a. a. O., S. XIV; vgl. SLRI II, S. 844, 849/449, 455. Hamilton operiert mit demselben Unterschied wie Mill (Sir. W. Hamilton, Lectures on Metaphysics and Logic, I, Edinburgh/London, Blackwood, 21861, S. 377 ff.). Wie gesagt unterteilt Aristoteles die theoretischen Wissenschaften in Physik, Mathematik und Metaphysik. In diesem Rahmen ist der Gegenstandbereich der Psychologie – was die Seele ist und welches ihre Eigenschaften sind – zum Teil der Physik, zum Teil der Metaphysik zugehörig (vgl. oben S. 230). Bei Aristoteles gibt es daher keine Einteilung in Natur- und Geisteswissenschaften. Wie lässt sich dann Brentanos Behauptung erklären? Angesichts dieser Frage bemerkt K. Hedwig, der Herausgeber von Brentanos Vorlesung über die neuzeitliche Philosophie: „Aber es gibt eine Ausnahme [von der Teilung der Wissenschaften in die theoretischen, praktischen und poetischen Disziplinen; Hinzufügung I. T.], scheint mir, wenn man die Kennzeichnungen der Werke selbst meint, also nicht systematische, sondern rein literarische Kriterien anlegt. In GGPh, 221, n. 17 heißt es etwa: Aristoteles ‚… teils naturwissenschaftliche [Werke], teils psychologische …‘. Die Anm. in GPhN, XIV ff. sind ja keine hist. exakten Exegesen, sondern Versuche, die eigene Position der Philosophie im Kontext von Naturwissenschaften, Psychologie und Theologie zu finden, daher ist vieles auch schematisiert gesagt“ (briefliche Mitteilung vom 17.03. 2019). PeS, S. 30.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
wie Brentano die These der „völligen“ Heterogenität der psychischen gegenüber den physischen Phänomenen behauptet, spielt die erwähnte Dichotomie der Wissenschaften eine wichtige Rolle in seiner Logik, weil sie den Auftakt des sechsten, der Behandlung der moralischen Wissenschaften gewidmeten Buches bildet. Die Frage, die sich dabei stellt, ist, ob „die Gedanken, die Gefühle und die Handlungen empfindender Wesen […] in demselben strengen Sinne Gegenstand der Wissenschaft sind, wie die äußeren Gegenstände der Natur“.¹⁵⁶ Wenn die Antwort bejahend ausfällt, und Mill zufolge ist es so, dann stellt sich die weitere Frage, ob die Methode der induktiven Forschung, die die Verallgemeinerung der Methoden der Naturwissenschaften darstellt, auch auf das Studium dieser Phänomene selbst anwendbar ist.¹⁵⁷ Brentanos Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften findet also ihre genaue Parallele in Mills Erklärungen über das Verhältnis zwischen der Naturwissenschaft und den moralischen Wissenschaften angesichts ihrer Methoden. Dabei bleibt jedoch zu bedenken, dass Mills methodologische Überlegungen darauf zielen, die Wissenschaft der menschliehen Natur in praktischer Absicht auszuarbeiten: Aufgrund der Assoziationsgesetze gilt es allgemeine Sätze aufzustellen und Voraussagen zu machen, die „für die Zwecke der politischen und socialen Wissenschaft“ nützlich sind.¹⁵⁸ Brentano hingegen erkennt zwar die Wichtigkeit dieser Frage,¹⁵⁹ die mit der positiven Wissenschaftsauffassung innig verbunden ist, macht aber zugleich aus der Behandlung der Unsterblichkeitsfrage ein zentrales Thema seiner Arbeit und trennt sich damit klar von Mills Vorgehensweise, die die Behandlung der metaphysischen Fragen absichtlich beiseitelegt.¹⁶⁰ In diesem klassifikatorischen Rahmen wird Comtes enzyklopädische Stufenleiter in der Psychologie vom empirischen Standpunkt rezipiert. Dabei wird sie
SLRI II, S. 844/449. SLRI II, S. 833 ff./435 – 438. Mill beantwortet diese Frage positiv, weist aber darauf hin, dass die Komplexität der geistigen und sozialen Phänomene auch die Verwendung anderer Methoden, z. B. die historische oder die umgekehrte deduktive Methode, als die der Naturwissenschaften erfordern (SLRI II, VI, 10; PeS, S. 89). SLRI II, S. 847/454. PeS, S. 37 ff. Die Tatsache, dass Brentano Mills Ausführungen über die Unsterblichkeitsfrage in seinem Buch über Hamilton als Argument dafür wertet, Mills Auffassung von der Psychologie sei mit der Unsterblichkeitsfrage kompatibel, sollte uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein solches Problem in Mills Logik, die ganz „positiv“ aufgefasst ist, keine Rolle spielt (vgl. J. St. Mill, An Examination of Sir W. Hamilton’s Philosophy (1865), Collected Works IX, J. M. Robson (Hrsg.), Toronto, University of Toronto Press, Routledge & Kegan Paul, 1979, Kap. XII; SLRI I, S. 8 f./8; SLRI II, S. 849/455; PeS, S. 33).
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
257
einigen wichtigen Veränderungen unterworfen: Die Biologie wird von der Physiologie und die Soziologie von der Psychologie ersetzt, wobei die Psychologie eine fundamentale Wissenschaft wird, die unter anderem auch die Rolle hat, die Soziologie zu fundieren.¹⁶¹ Damit bekommt Comtes Stufenleiter der Wissenschaften eine äußert wichtige Legitimationsrolle für Brentanos Anspruch, eine wissenschaftliche Psychologie zu etablieren, weil die Einbettung seiner Psychologie in Comtes Skala besagt, dass sie gemäß Comtes Drei-Stadien-Gesetz und den notwendigen Fundierungs- und Kontinuitätsverhältnissen seiner Skala früher oder später in ihr positives Stadium eintreten muss. Im Klartext soll sie sich vom Studium der seelischen Substanz und ihrer Ursachen abwenden, um sich positiv mit der Ergründung der psychischen Phänomene und ihrer Gesetze zu beschäftigen. Damit einhergehend soll sie auf Grundlage der ihr in der Skala vorangehenden Wissenschaft, nämlich der Physiologie, fundiert werden.¹⁶² Dagegen – und das soll ausdrücklich betont werden – zeigen Brentanos frühere Klassifikationen der Wissenschaften, dass die Psychologie nicht in Kontinuität mit den positiven Naturwissenschaften (wie Comtes Soziologie) einzuordnen ist und auch nicht in ihre Reihe gehört, sondern ihnen gegenüber als eine gleichrangige Disziplin anzusehen ist.¹⁶³ In der Arbeit von 1874 scheint Brentano dieser Schwierigkeit nicht bewusst zu sein, denn er behandelt die Psychologie dort sowohl als krönenden Gipfel nach Comtes Skala der Wissenschaften als auch als gleichberechtigtes Glied in der Einteilung der induktiven Wissenschaften.¹⁶⁴ Das Problem dabei besteht darin, dass, wenn die Psychologie auf derselben Ebene steht wie die Naturwissenschaft, sie nicht in Comtes Hierarchie der Wissenschaften einbezogen werden kann und umgekehrt. Darüber hinaus stößt das letzte Schema auf ein weiteres Problem, weil es Wissenschaften in ein und derselbe Hierarchie vereinigt, die methodisch grundverschieden sind: Die Naturwissenschaft beruht hauptsächlich auf der äußeren Wahrnehmung und Beobachtung, während die empirische Psychologie in der inneren Wahrnehmung gründet. Solche Schemata wären für Comte deshalb nicht annehmbar, weil sie vereinigen, was bei ihm unverträglich ist, nämlich positive Wissenschaften, die ihr metaphysisches Stadium bereits überwunden haben, und eine Wissenschaft, die programmatisch an ihrer metaphysischen Dimension festhält und mit einer metaphysischen Methode, der inneren Beobachtung und Wahrnehmung, arbeitet.
PeS, S. 39 f., 3; ZPh, S. 28, 91 ff., 100. Vgl. Abb. 3 gleich unten. Vgl. oben Abb. 2 und Abb. 3 gleich unten. PeS, S. 19, 38 ff.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
Abbildung 3: Frühe Klassifikation der Wissenschaften (M 96; um 1870)
Diese Ungereimtheiten erklären sich letztendlich daraus, dass Brentano, um die Psychologie zu etablieren, zwar Comtes Stufenleiter aufgreift, sie aber in einen Rahmen einbettet, der dazu gedacht ist, den Stellenwert der Metaphysik und der Psychologie als philosophischen Grunddisziplinen hervorzuheben. Die meta-
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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physische Dimension dieses Rahmens – in M 96 gehört die philosophische Theologie zur „Metaphysik (im engern Sinne) oder Ontologie (im weitern Sinne)“¹⁶⁵ – und die Unsterblichkeitsfrage werden ausdrücklich erwähnt, stehen aber nicht recht im Einklang mit dem positiven Charakter von Comtes enzyklopädischer Stufenleiter. Hinzu kommt, dass die Einteilung der Philosophie im weiteren Sinne in eine physische und eine psychische Wissenschaft auf der Unterscheidung zwischen äußerer und innerer Wahrnehmung beruht, die, wie ich weiter zeigen werde, mit der cartesischen Trennung zwischen res extensa (der Welt der physischen Phänomene) und res cogitans (der Welt der psychischen Phänomene) innig verbunden ist. Das macht klar, dass Brentano Comtes Stufenleiter der Wissenschaften nur dazu nutzt, um den Anspruch seiner Psychologie auf Wissenschaftlichkeit im modernen, positiven Sinn zu rechtfertigen. Die hier angeführten Texte und die Art und Weise, in der sich seine Psychologie weiterentwickelte, beweisen aber, dass er nie bereit war, die Konsequenzen, die sich aus der Einordnung der Psychologie in Comtes Skala ergeben, bis zum Ende zu ziehen, um eine Psychologie à la Horwicz oder Maudsley zu etablieren. Die Division der Wissenschaften in den Manuskripten H 45 und M 96 und am Anfang der Psychologie ¹⁶⁶ demonstrieren, dass die früheren Einteilungen der Wissenschaften für den jungen Brentano wichtiger waren als Comtes enzyklopädische Stufenleiter. Aus diesem Grund trennt er die Mathematik als deduktive Disziplin von den induktiven Wissenschaften, um Letztere weiter in Metaphysik, psychische und physische Wissenschaft einzuteilen, wobei die letzten beiden Disziplinen eine Dichotomie mit zwei gleichberechtigten Gliedern bilden. Wie die obigen graphischen Darstellungen (Abb. 2 und 3) zeigen, wird die Psychologie nicht tatsächlich auf die ihr in Comtes Skala der Wissenschaften vorhergehende Physiologie (Maudsley z. B.) gegründet, sondern steht der Naturwissenschaft als eine selbstständige Wissenschaft gegenüber. Dies bleibt auch dann gültig, wenn man berücksichtigt, dass Brentano sowohl im Manuskript H 45 als auch in der Arbeit von 1874 an die Psychologie stets die Psychophysik als Bindeglied zwischen den beiden Gliedern der genannten Dichotomie anschließt.¹⁶⁷ Auch wenn sich dadurch ein gemeinsamer Bereich, der der Empfindungen, abzeichnet, der sowohl von der psychischen als auch von der physischen Wissenschaft abgehandelt wird, bleibt die Psychologie der Naturwissenschaft auf gleichem Niveau entgegengestellt.
M 96, Bl. 32078 f. (in Antonelli, a. a. O., S. 448); vgl. oben S. 253. PeS, S. 21 f. GPhN, S. XIV; PeS, S. 22 ff.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
Wie schon angedeutet, kommt man auf diese Weise zu einem verblüffenden Ergebnis, denn es ist schwierig zu verstehen, wie ein und dieselbe Wissenschaft, die Psychologie, sowohl auf derselben – in Brentanos eigener Klassifikation der Wissenschaften – als auch auf einer höheren Ebene – in Brentanos von Comte inspirierten Hierarchie der Wissenschaften – gegenüber der Naturwissenschaft stehen kann.¹⁶⁸ Anders gesagt, Brentanos grundlegende Trennung in eine physische und eine psychische Wissenschaft verträgt sich nicht so recht mit dem Fundierungsverhältnis in Comtes Stufenleiter der Wissenschaften, weil Letztere auf dem Gedanken eines kontinuierlichen Übergangs von einer Wissenschaft zu einer höheren, auf sie gegründeten Disziplin beruht, dem sich Brentanos klassifikatorische Dichotomie – physische vs. psychische Wissenschaft – widersetzt. Das ist nur dann möglich, wenn die Psychologie nicht als eine einzige Wissenschaft betrachtet wird, sondern, was in Brentanos Wiener Zeit so sein wird, in zwei Wissenschaften geteilt wird, nämlich in die genetische Psychologie, die in Comtes Skala der Wissenschaften problemlos ihren Platz als ihr letztes Glied findet, und die deskriptive Psychologie, die von der genetischen Psychologie und damit einhergehend auch von den anderen Wissenschaften in Comtes Skala abgesondert wird und die wegen ihrer Reinheit und Exaktheit mit der Mathematik und der Mechanik in Verbindung gebracht wird.¹⁶⁹ Es gibt also zwei Dichotomien, die die Grundlage des Rahmens bilden, in dem Comtes Stufenleiter der Wissenschaften und auch seine Hierarchie von Phänomenen in der Psychologie rezipiert werden: die zwischen den deduktiven und induktiven Wissenschaften und, was Letztere betrifft, die zwischen Psychologie und Naturwissenschaft, eine Dichotomie, die wesentlich mit der Trennung der „Gebiete der äußeren und inneren Erfahrung“¹⁷⁰ verbunden ist. Eine Konsequenz daraus ist, dass man in Brentanos Frühwerk genau zwischen den verschiedenen Kontexten unterscheiden muss, in denen er die Frage nach der Einteilung der Wissenschaften angeht. Wenn Brentano den Anspruch seiner Psychologie auf den Status einer positiven Wissenschaft und so das Vertrauen seiner Zuhörer in die Zukunft der Philosophie stärken möchte, dann greift er Comtes Skala der Wissenschaften auf.¹⁷¹ Wenn er hingegen wirklich an die Klassifikation der Wissenschaften herangeht, dann arbeitet er mit einem klassifikatorischen Schema, das metaphysisch stark belastet ist und Comtes Grundgedanken deutlich widerspricht. Innerhalb dieses Schemas, und zwar in der Abteilung induktive Wissenschaft, scheidet er als gleichrangige Glieder die physische und die psychische
Vgl. die Abb. 2 und 3 oben. DPs, S. 3 f. Ms. H. 45, apud Hedwig, a. a. O., S XIV. PeS, S. 39 f.; ZPh, S. 91 ff.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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Wissenschaft und setzt sie mit Mills Ausführungen über Wissenschaften der äußeren und inneren Erfahrungsobjekte in Verbindung. Diese Idee ist bei ihm weiter mit der cartesischen Evidenz der inneren Wahrnehmung und mit der von Descartes ausgeführten Scheidung zwischen res extensa und res cogitans (zwischen der inneren Welt der psychischen Phänomene und der äußeren Welt der physischen Phänomene Brentanos) verbunden. Das schon Gesagte zeigt, dass das Problem der Klassifikation der Wissenschaften in Brentanos Psychologie nicht bis zum Ende gedacht ist, weil Brentano dabei mit Thesen operiert, die sich nicht so recht miteinander vertragen. Brentano befreit sich von dieser Ungereimtheit erst in seiner Wiener Zeit, als er aus der Unterscheidung zwischen genetischer und deskriptiver Psychologie eine Hauptangelegenheit macht und Erstere als kausalerklärende Wissenschaft beiseitelegt, um sich auf die deskriptive Psychologie zu konzentrieren. Ich möchte die Ausführungen zur Frage der Klassifikation der Wissenschaften mit einem Zitat aus einer Vorlage zu § 28 aus Brentanos Vortrag über Schellings Philosophie (1889) abschließen: § 28. Nur einen Zweifel könnte man erheben! Wenn sicher, daß nicht anders, doch nicht sicher, daß auf diese Weise. Folgen wir der Stufenleiter der Wissenschaften, wie sie und wesentlich durch ihre größere und geringere Komplikation und Abhängigkeit vorgezeichnet ist. So finden wir sie mit mehr und mehr Schwierigkeiten ringen: und darum auch nicht mit gleicher Vollkommenheit ihr Ziel erreichen. Wäre es nicht denkbar, daß bei den philosophischen Fragen die Schwierigkeiten so groß wären, daß sie unüberwindlich und die Lösung aufgrund von Tatsachen, wie sie denn anderen Wissenschaften gelingt, zur Unmöglichkeit wird?¹⁷² Dann wäre denn doch unser Verfahren [der Begründung der Philosophie auf Tatsachen; Hinzufügung I. T.] als ein hoffnungsloses ebenso ungeeignet als irgendwelches andere, und wie jedes Streben nach Unmöglichem als unvernünftig zu verdammen.¹⁷³
Auch wenn Brentanos Argumentation in die gegensätzliche Richtung einer auf die Erfahrung begründeten Philosophie, die fähig ist, ihre Fragen zu lösen, geht, zeigt diese Stelle, dass er auch den Fall bedenkt, in dem die philosophischen Probleme nicht auf empirischer Basis gelöst werden können. Angesichts dieser Hypothese sind zwei Thesen von Bedeutung: (i) es ist sicher, dass die philosophische Forschung nur auf Tatsachen zu begründen ist – „Wenn sicher, daß nicht anders“; (ii) dagegen scheint es nicht ebenso sicher, dass die Vorgehensweise der Naturwis Obwohl „eine Verifikation durch directe Erfahrung bei der Unsterblichkeitsfrage jedenfalls nicht stattfinden kann“, sollte ihre Lösung „auf allgemeine Tatsachen sich stützen, die […] induktiv festgestellt wurden“ (PeS, S. 90). ZPh, S. 163.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
senschaft auf die Fragen der Philosophie zu übertragen ist – der letzte Teil des Satzes: „doch nicht sicher, daß auf diese Weise“. An der angeführten Stelle nennt Brentano keine Wissenschaft, deren Probleme nicht empirisch lösbar wären. Im vorangehenden Absatz bezieht er sich dagegen auf Psychologie, Soziologie, Logik und Metaphysik, die die von der Naturwissenschaft benutzte empirische Methode zu verfolgen haben, um ihre Fragen zu klären.¹⁷⁴ Wenn man berücksichtigt, dass Brentano hier einerseits Comtes enzyklopädische Stufenleiter der Wissenschaften vor Augen hat und andererseits ihm zufolge sowohl die psychologischen als auch die metaphysischen Probleme zu den schwierigsten Fragen gehören – wir können weder Gott noch seine Ursächlichkeit direkt erkennen –,¹⁷⁵ dann lässt uns die hier angeführte Stelle an die Möglichkeit denken, die Metaphysik oder die theoretische Philosophie in Allgemeinen als das letzte Glied in Comtes Skala der Wissenschaften aufzufassen, weil (i) die Metaphysik schon in § 27 benannt wird; (ii) das Objekt ihrer Untersuchung das schwierigste und „den Sinnen am fernsten“ ist;¹⁷⁶ (iii) Brentanos Gottesbeweise auf Tatsachen beruhen und absichtlich die empirische Methode der Naturwissenschaft verfolgen.¹⁷⁷ Auf diese Weise könnte man also einen Mangel von Comtes enzyklopädischer Stufenleiter der Wissenschaften beheben, auf den die an der Metaphysik interessierten Autoren nachdrücklich hingewiesen haben.¹⁷⁸
II.3.2.3.3 Kontinuität und Diskontinuität – der doppelte Ansatz hinsichtlich der psychischen Phänomene in Brentanos empirischer Psychologie Die Spannung zwischen dem positiven Charakter von Comtes Stufenleiter der Wissenschaften und der metaphysischen Tragweite von Brentanos frühen Klassifikationen spiegelt sich in der doppelten Perspektive wider, in der in der Arbeit von 1874 die psychischen Phänomene und die Psychologie als Wissenschaft behandelt werden. Die erste Perspektive – nennen wir sie, aus Gründen, die unten klar werden, die Kontinuitätsperspektive – ist unter dem Einfluss von Comte ausgearbeitet und ordnet die psychischen Phänomene in die von Comte über-
ZPh, S. 128 f. AC, S. 119 f.; vgl. auch PeS, S. 19, 34 f., 90 f. GPhN, S. 7. Vgl. DG, S. 208 ff. In seinem Buch über die Klassifikation der Wissenschaften beklagt R. Flint, der auch Priester war, ständig die Tatsache, dass Autoren wie Comte, Spencer oder Bain in ihrer positiven Klassifikation der Wissenschaften der Metaphysik oder der Theologie keinen Platz einräumten (R. Flint, Philosophy as Scientia Scientiarum, and A History of Classifications of the Sciences, Edinburgh/ London, Blackwood, 1904, S. 176, 238, 244).
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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nommene Hierarchie der Wissenschaften. Diese Betrachtungsweise hebt sowohl die einseitige Fundierung der Phänomene und der ihnen zugeordneten Wissenschaften als auch ihre Kontinuität hervor. Diese Perspektive kommt an folgender Stelle klar zum Ausdruck: Die allgemeinen theoretischen Wissenschaften bilden eine Art Scala, bei welcher jede höhere Stufe auf der Grundlage der niederen sich erhebt. Die höherstehende Wissenschaft betrachtet mehr verwickelte, die niedere einfachere Phänomene, und diese gehen mit in jene Verwickelung ein. So hat der Fortschritt der höherstehenden natürlich den der niederen Wissenschaft zur Voraussetzung […].¹⁷⁹
Was das Verhältnis zwischen den beiden für mein Thema wichtigen Wissenschaften, Physiologie und Psychologie, betrifft, sagt Brentano kristallklar: Dass die Physiologie so spät sich entwickelte, erklärt sich leicht. Sind doch ihre Phänomene viel zusammengesetzter als die der früheren Wissenschaften und stehen in Abhängigkeit von ihnen, wie die der Chemie zu denen der Physik und die der Physik zu denen der Mathematik selbst wieder im Abhängigkeitsverhältnisse stehen. Aber eben so leicht wird es sich dann begreifen lassen, warum die Psychologie bisher keine reicheren Früchte trug. Wie die physicalischen Phänomene unter dem Einflusse der mathematischen Gesetze, die chemischen unter dem Einflusse der physicalischen, und die der Physiologie unter dem Einflusse von ihnen allen stehen: so sind wieder die psychologischen Phänomene von den Gesetzen der Kräfte beeinflusst, welche ihnen die Organe bilden und erneuern.¹⁸⁰
Der Grundgedanke dieses Passus besteht in dem Abhängigkeitsverhältnis der unterschiedlichen Klassen von Phänomenen und der ihnen entsprechenden Wissenschaften und in der These eines ständigen Übergangs von einer Ordnung zu einer anderen Ordnung von Phänomenen. Das ist mit der Kontinuität von Comtes Skala der positiven Wissenschaften vollkommen kompatibel. Wie oben dargelegt wurde, besteht ein wichtiges Moment von Comtes Hierarchie im Übergang von den Phänomenen der unorganischen zu jenen der organischen Körper und damit einhergehend von der Chemie zur Biologie.¹⁸¹ Hinzu kommt, dass dieser Ansatz im ersten Buch der Psychologie besonders zur Sprache kommt.¹⁸² Das Problem, das sich hier erhebt, besteht in der Frage, wie sich eine Disziplin, die hauptsächlich mit einer Methode – der der inneren Wahrnehmung –
PeS, S. 38 f. PeS, S. 39. CPhP I, S. 69 f. Vgl. auch PeS, S. 2, 19, 43 f., und CPhP I, S. 69 ff. Neben diesen expliziten Hinweisen gibt es auch implizite methodische Indizien, die sich auf Comtes Sicht über den Sinn des Terminus „Erklärung“ beziehen, auf die ich unten verweisen werde.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
arbeitet, die nie Beobachtung werden kann, in eine enzyklopädische Stufenleiter der Wissenschaften einordnen lassen kann, zu der nur Disziplinen gehören, welche ausnahmslos die Bedingung einhalten, auf Beobachtung zu basieren. Die von Brentano in der Psychologie implizit gegebene Antwort kann dahingehend interpretiert werden, dass dies eben deshalb möglich ist, weil die Psychologie vom empirischen Standpunkt nicht dieselbe ist wie seine spätere deskriptive Psychologie. Im Unterschied zu jener Disziplin, welche die Elemente des Bewusstseins und ihre Verbindungsweise ausfindig machen soll,¹⁸³ setzt sich die Psychologie Ziele, die mit den Zielen der Naturwissenschaft zusammenfallen, nämlich die Festlegung der empirischen Gesetze der Sukzession und der Koexistenz psychischer Phänomene und ihre Erklärung mittels letzter psychischer Gesetze.¹⁸⁴ Diese Ziele sind für die Einordnung der Psychologie in Comtes Skala besonders wichtig, weil eben die Möglichkeit, sie zu erreichen, der Psychologie die nötige Rechtfertigung liefert, sich als Glied der genannten Skala zu behaupten. Wie ich unten zeigen werde, geht es um Gesetze, die aufgrund der Verallgemeinerung der in der inneren Wahrnehmung erfassten Merkmale und Verhältnisse psychischer Erscheinungen formuliert werden und die nicht aus der Analyse der Begriffe entspringen, so wie dies bei den Gesetzen der deskriptiven Psychologie teilweise der Fall ist.¹⁸⁵ Diese Gesetze der Psychologie, die sich sowohl auf die Sukzession als auch auf die Koexistenz der psychischen Phänomene beziehen, und die Möglichkeit, sie aus letzten psychischen Gesetzen abzuleiten, stellen den wichtigsten Faktor dar, der es Brentano ermöglicht, seiner Psychologie die Zukunft einer fundamentalen positiven Wissenschaft in Comtes enzyklopädischer Stufenleiter zuzuschreiben. Die andere Perspektive, die die wahre Meinung Brentanos angesichts dieses Problems wiedergibt, ist die der völligen Heterogenität der psychischen Phänomene gegenüber allen ihnen in Comtes Skala vorangehenden Erscheinungen. Ein wichtiger Unterschied zwischen dieser Heterogenität und Comtes Emergenz oder Irreduzibilität jeder neuen Klasse von Phänomenen auf die anderen Klassen besteht darin, dass bei Comte die Irreduzibilität mit der Kontinuität¹⁸⁶ seiner Hierarchie von Phänomenen Hand in Hand geht – wie schon gezeigt wurde, enthalten die höheren Phänomene, obwohl sie von anderer Qualität sind als ihre vorhergehende Erscheinungen, die Letzteren wirklich, und nicht bloß intentional oder phänomenal, wie dies bei Brentano der Fall ist: Das Leben einer Zelle als biologisches Phänomen besteht auch aus physischen und chemischen Phänomenen. DPs, S. 1. PeS, S. 62 f. DPs, S. 73 f. Aus diesem Grund werde ich unten von einer „milderen“ Form der Heterogenität der Phänomene bei Comte sprechen.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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Allerdings ist es selbst kein physischer oder chemischer Prozess, sondern ein selbstständiges biologisches Phänomen, das durch eigene Funktionen (Reaktion auf Reize, Stoffwechsel, Wachstum usw.) gekennzeichnet ist. Was Brentano betrifft, ist das nicht der Fall, denn in seiner Skala der Phänomene und der Wissenschaften besteht ein besonderes Moment, das sich nicht als Übergangs-, sondern als Zäsurpunkt beschreiben lässt und das zeigt, dass es bei ihm keine Kontinuität in Comtes Sinne zwischen der Welt der psychischen und der der physischen, chemischen und physiologischen Phänomene gibt. Anders als bei Comte, aber in voller Übereinstimmung mit seinen frühen Klassifikationen der Wissenschaften liegt dieser Punkt nicht zwischen Chemie und Biologie, sondern zwischen dem letzten Glied der Naturwissenschaften, der Physiologie, und der Psychologie, und dementsprechend zwischen den physiologischen und den psychischen Phänomenen. Der Zusammenhang, in dem er diesen Zäsurpunkt in die Diskussion bringt, ist die Analyse von Horwicz’ Versuch, die Psychologie auf die Physiologie dadurch zu gründen, dass er aus „der Organisation und Gliederung des leiblichen Lebens“ Aufschluss über die „allgemeinste Organisation und Gliederung des Seelenlebens“ erzielen wollte.¹⁸⁷ Horwicz’ Behandlungsweise stützt sich auf den Gedanken, dass jeder seelische Prozess ein stoffliches Substrat hat. Diese These bringt ihn dazu, die Physiologie für das „methodologische Vehikel der Forschung“ der Psychologie zu halten.¹⁸⁸ Unter diesen Umständen charakterisiert sich seine Position dadurch, dass der Rückgriff auf die Physiologie bei ihm mit der Hervorhebung des Selbstbewusstseins als Quelle psychologischer Erkenntnis einhergeht, was einen wichtigen Unterschied zwischen ihm und Autoren wie Comte¹⁸⁹ oder Brentano ausmacht: Man sieht hieraus, daß die Seele ein für die wissenschaftliche Erforschung in der That höchst ungünstiges Objekt ist, ja daß ihre genauere Erforschung schlechterdings unmöglich wäre, wenn wir nicht an der Evidenz des Selbstbewußtseyns andererseits ein so vorzügliches Mittel klarer, schneller und überzeugender Beobachtung hätten, ein Beobachtungsmittel, welches uns bei gewissenhafter und umsichtiger Anwendung allerdings in den Stand setzt, diese Nachtheile bis zu einem gewissen Grade zu umgehen. Aber auch dieses Beobachtungsmittel unterliegt wiederum einigen höchst bedenklichen Schwierigkeiten, welche seine Anwen-
PeS, S. 63; Horwicz, „Methodologie der Seelenlehre“, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik. Neue Folge 60/61 (1872), S. 189 f. A. Horwicz, Psychologische Analysen auf physiologischer Grundlage. Ein Versuch zur Neubegründung der Seelenlehre, I. Theil, Halle, Pfeffer, 1872, S. 175, apud PeS, S. 64; vgl. auch Horwicz, „Methodologie der Seelenlehre“, S. 190, 201. Ohne Comte explizit anzuführen, bezieht sich Horwicz doch auf den Grundgedanken von Comtes Drei-Stadien-Gesetz (a. a. O., S. 188 f.).
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
dung oft fast unmöglich und seine Ergebnisse oft höchst fehlerhaft und unzuverlässig machen.¹⁹⁰
Angesichts des weiteren Verlaufs meiner Analyse soll bemerkt werden, dass Comte und ihm folgend Brentano die Selbstbeobachtung deshalb ablehnten, weil sie es nicht für möglich hielten, dass jemand zugleich Objekt und Subjekt sein, d. h., einen psychischen Zustand gleichzeitig erleben und ihn beobachten könne.¹⁹¹ Im Unterschied zu ihnen vertritt Horwicz die Auffassung, dass sich das Selbstbewusstsein „gesteigert und geschult zur wissenschaftlichen Selbstbeobachtung“ bilden lässt und die Seele auf diese Weise die Fähigkeit gewinnt, zugleich Subjekt und Objekt zu sein.¹⁹² Andererseits ist er sich der Einschränkungen des Selbstbewusstseins vollkommen bewusst¹⁹³ und sucht deshalb nach einem anderen Weg, der Komplexität des seelischen Lebens gerecht zu werden. Wie schon angedeutet, führt dieser Weg durch die Physiologie hindurch. Horwicz’ Beweisführung ist die folgende: Jede einzelne Wissenschaft bildet sich durch ein dreifaches Entlehnen aus: Sie entlehnt (i) die allgemeinen Prinzipien (das Identitätsprinzip, den Satz des Widerspruchs) von der Philosophie, (ii) die Grundbegriffe, die ihr nötig sind (z. B. den Begriff der Größe) und auch (iii) den so wichtigen Erfahrungsstoff von anderen Wissenschaften.¹⁹⁴ Die Frage, die sich hier stellt, lautet: Aus welcher Wissenschaft soll die Psychologie ihr Erfahrungsmaterial hernehmen? Horwicz’ Antwort lautet: Aus derjenigen Disziplin, „welche den nächst höheren Gattungsbegriff behandelt“, nämlich aus der Physiologie, weil sie sich mit demjenigen Begriff beschäftigt, der angesichts seiner Allgemeinheit dem Begriff von der Seele am nächsten steht und ihre Gattung bildet, nämlich dem
Horwicz, a. a. O., S. 179. Vgl. unten II.3.2.4. Horwicz, a. a. O., S. 169 f., 186. Zu einer Fragestellung, die in eine ähnliche Richtung geht, vgl. Wilson, a. a. O., S. 116 f. Die Schnelligkeit mit der die psychischen Zustände aufeinander folgen, die Veränderung des psychischen Prozesses als Resultat des Versuches, ihn zu beobachten, die Tatsache, dass das seelische Leben das Resultat einer langen Entwicklung ist, deren Anfänge und Verlauf sich dem Studium mittels des „Hauptwerkzeuges“ des Psychologen, des Selbstbewusstseins, entziehen, und auch der Einfluss, den die überlieferten Begriffe und die in ihnen niedergeschlagenen allgemeinen Lebenserfahrungen auf die psychologische Beobachtung ausüben, sind ebenso viele Umstände, die die Selbstbeobachtung erschweren oder unmöglich machen (Horwicz, a. a. O., S. 172 f.). Horwicz, a. a. O., S. 183.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
267
Begriff des Lebens.¹⁹⁵ Dabei ist Horwicz’ Rekonstruktionsversuch der Beziehung zwischen den beiden Begriffen eben dadurch gekennzeichnet, dass sein Ziel, das seelische Leben aus den physiologischen Prozessen abzuleiten, der Gefahr ausgesetzt ist, den spezifischen Unterschied des seelischen Lebens aus den Augen zu verlieren, was Brentano ihm auch vorwirft.¹⁹⁶ Das eben beschriebene Verhältnis zwischen dem Begriff des Lebens und dem der Seele kommt auch dadurch zur Sprache, dass zwischen den physiologischen und den psychischen Prozessen eine innige Wechselwirkung besteht und die Ersteren die unmittelbaren Bedingungen für das Vorkommen der Letzteren bilden.¹⁹⁷ Dank dieser innigen Beziehungen ist Horwicz der Meinung, dass die Physiologie für die Psychologie nicht nur eine Hilfs-, sondern auch eine Grundwissenschaft wäre, die ihr dieselbe Hilfe wie die Mathematik der Physik leisten würde.¹⁹⁸ Ausgerechnet das ist der Punkt, an dem Brentanos Polemik gegen Horwicz’ Auffassung des Verhältnisses zwischen Physiologie und Psychologie ansetzt. Zum einen erkennt Brentano die Wichtigkeit physiologischer Untersuchungen für die Psychologie an. Zum anderen hält er aber umso mehr an dem Prinzip der Irreduzibilität des psychischen Lebens fest und lehnt jede reduktionistische Position (Comtes, Horwicz’, Maudselys) ab, weil er der Meinung ist, dass die Lösung psychologischer Fragen auf der Basis des Studiums des Bewusstseinslebens und nicht seiner physiologischen Bedingungen zu finden ist. Diesbezüglich behauptet er, dass es zwischen den beiden Wissenschaften um eine Beziehung gehe, die nicht nur vom Verhältnis zwischen Mathematik und Physik, sondern auch von allen anderen Beziehungen in Comtes Skala der Wissenschaften grundverschieden sei. Um diesen Unterscheid hervorzuheben, stellt er einen Vergleich zwischen den Phänomenen auf, die von der Psychologie und Physiologie einerseits und Physiologie und Chemie andererseits studiert werden, um daraus auf den besonderen Stellenwert der psychischen Erscheinungen zurückzuschließen: […] das Ergebniss eines sorgsameren Vergleichs und einer Berücksichtigung aller Umstände scheint uns mit Sicherheit vielmehr dahin zu führen, dass bei weitem mehr Aufschluss von den chemischen über die physiologischen, als von diesen über die psychischen Erschei-
Horwicz, a. a. O., S. 183, 188. In den angeführten Passagen habe ich durchgängig diejenigen zusammengesetzten Worte, die durch Doppelstrich (Gattungs=Begriff) verbunden werden, zusammengeschrieben. Vgl. dazu PeS, S. 66, und sehr klar Horwicz’ Erklärung angesichts der „höheren psychischen Gebilde“, die er „aus den niederen physiologischen [Gebilden; Hinzufügung I. T.] ableiten will“ (a. a. O., S. 203). Horwicz, a. a. O., S. 189. Horwicz, a. a. O., S. 188, 205.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
nungen zu erwarten ist. Die physiologischen Processe erscheinen den chemischen und physischen gegenüber in Wahrheit nur wie eine höhere Complication. […] Der umfassendere Begriff des chemischen Phänomens ist als ein einheitlicher für die Umwandlungen des Unorganischen wie für das Leben im physiologischen Sinne nachgewiesen. Es fehlt viel daran, dass von dem Begriffe des Lebens, wenn er auf physiologischem und psychischem Gebiete angewandt wird, das Gleiche gesagt werden könnte. Im Gegentheil sieht man sich, wenn man den Blick von Aussen nach Innen wendet, wie in eine neue Welt versetzt. Die Erscheinungen sind völlig heterogen, und selbst die Analogien verlassen uns gänzlich oder nehmen einen sehr vagen und künstlichen Charakter an. Das war ja auch der Grund, wesshalb wir vorher bei der fundamentalen Eintheilung des empirischen Wissensgebietes die psychische und die physische Wissenschaft als Hauptzweige von einander schieden.¹⁹⁹
Wie der Passus klar zeigt, ist nicht die Redewendung „höhere Complication“, sondern „völlige Heterogenität“ diejenige, die das Verhältnis zwischen den Bedeutungen des Begriffs „Leben“ auf physiologischer und psychologischer Ebene am besten hervorhebt, denn Brentano zufolge besteht das Leben auf der psychischen Ebene in der Koexistenz und Sukzession psychischer Erscheinungen. Auf physiologischem Niveau hingegen besteht es in den organischen Prozessen im Gehirn. Auch wenn diese Prozesse etwas qualitativ Neues gegenüber anderen Ordnungen von Phänomenen in Comtes Hierarchie darstellen, funktionieren sie doch aufgrund physischer und chemischer Prozesse, die wirkliche Komponente der physiologischen Erscheinungen des Gehirns ausmachen. Was das psychische Leben betrifft, hängt es zwar wesentlich vom zerebralen physiologischen Leben ab,²⁰⁰ es besteht aber nicht aus physiologischen Prozessen, sondern ist ihnen gegenüber etwas völlig Neues. Wenn man weiter nach den Bestandteilen des psychischen Lebens fragt, dann zeigen Brentanos Ausführungen in der Vorlesung über die deskriptive Psychologie, dass es dabei nicht um physiologische, sondern um wirkliche psychologische Teile psychischer Erscheinungen geht, welche ein-
PeS, S. 65 f. (Hervorhebung, I. T.). Angesichts dieser Passage sollte Folgendes bemerkt werden: Mit dem Wort „Analogien“ bezieht sich Brentano auf Horwicz’ These, dass wichtige physiologische Unterschiede dem Psychologen als „Vehikel der Forschung“ dienen könnten, um bedeutende psychologische Unterschiede zu entdecken, die ihnen entsprechen, so wie man z. B. aufgrund des physiologischen Unterschieds zwischen „sensibler und motorischer Nerventätigkeit“ auf den psychologischen Unterschied „zwischen theoretischer und praktischer Grundrichtung […] des Seelenlebens“ kommen könnte (vgl. PeS, S. 66 f., und die dort angeführte Schrift Horwicz’). Husserl zählt zu den wenigen Interpreten, die die Wichtigkeit dieses Passus für Brentanos psychologische Auffassung erfasst haben (Logische Untersuchungen (1900/01), U. Panzer (Hrsg.), Hua XIX/II, Den Haag, Martinus Nijhoff, 1984, S. 755 f.). Ich behaupte also nicht, dass die psychischen Phänomene nicht ohne das physiologische Leben des Gehirns existieren, weil es Brentano zufolge sehr wohl möglich ist, dass das psychische Leben nach dem Tod fortdauern könnte (PeS, S. 42).
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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seitig oder wechselseitig abtrennbar sind.²⁰¹ Hinsichtlich dieser Teile lassen sich weitere distinktionelle Teile unterscheiden, und zwar wirkliche distinktionelle Teile – die primäre Beziehung des Aktes zu seinem immanenten Objekt und seine sekundäre Beziehung zu sich selbst – und intentionale distinktionelle Teile: das immanente Objekt des Aktes, das im Akt nicht wirklich, sondern intentional, nämlich als Form oder Intention im traditionellen Sinn, existiert. Es gibt also keine wirkliche physiologische Komponente des Aktes, sondern die physiologischen Phänomene können genau wie alle anderen Phänomene nur intentionale Teile, d. h. immanente Objekte, des Aktes werden. Daraus ergibt sich, dass von den drei Prinzipien aus Comtes Hierarchie von Phänomenen – dem Abhängigkeits-, dem Kontinuitäts- und dem Emergenz- bzw. Irreduzibilitätsprinzip – nur das erste und das letzte für das Verhältnis des Psychischen zum Physischen Gültigkeit haben. Anders gesagt hängt bei Brentano das Psychische vom Physiologischen ab und ist nicht auf es reduzierbar, ohne dass jedoch die psychischen Erscheinungen die physiologischen Phänomene in der Weise enthalten, in der die physiologischen und biologischen Phänomene die ihnen in der Hierarchie vorangehenden Erscheinungen enthalten. Infolge dessen ist bei Brentano das Kontinuitätsprinzip nicht weiter in Kraft, und an Stelle des wirklichen, funktionellen Enthaltenseins in Comtes Hierarchie von Phänomenen kommt bei ihm das intentionale Insein (Inexistenz) ins Spiel, d. h., das psychische Phänomen kann als Objekt jede Art von Phänomenen, einschließlich anderer psychischer Phänomene, enthalten.²⁰² Darüber hinaus – und darin sieht man klar die strenge Trennung cartesischen Ursprungs zwischen res extensa und res cogitans in der Psychologie ²⁰³ – tauchen die psychischen Phänomene bei Brentano gegenüber den anderen Klassen von Erscheinungen als etwas völlig Heterogenes auf, was in Comtes Hierarchie der Phänomene nicht so ist. Dies steht weiter eng damit in Verbindung, dass die psychischen Erscheinungen mittels einer Methode studiert werden, die nie Beobachtung werden kann. Aus diesem Grund unterscheidet sie sich wesentlich von der Methode der Naturwissenschaften, die mit einer Art von Wahrnehmung arbeitet, die Beobachtung werden kann: Die Astronomie arbeitet mit der Beobachtung, Physik und Chemie mit dem Experiment, die Biologie mit dem Vergleich und die Soziologie mit der historischen Methode.²⁰⁴ Als Folge daraus lässt Comte in der enzyklopädischen Stufenleiter der Wissenschaften in seinem Cours keine Disziplin zu, die wie Brentanos Psychologie nicht auf der äußeren, sondern auf der
DPs, S. 12 ff. PeS, S. 106 f.; vgl. auch Münch, a. a. O., S. 68 – 73. Vgl. dazu Volpi, a. a. O., S. 16, 24. Zur Methode der positiven Wissenschaften bei Comte vgl. Schmaus, a. a. O., S. 46 – 51.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
inneren Wahrnehmung beruht und damit einhergehend sich nicht auf äußere, sondern auf innere Erscheinungen fokussiert. Wenn man davon ausgeht, dass wir es bei Comte mit einem methodologischen Dualismus der analytischen und der holistischen Methoden derjenigen Wissenschaften, die sich einerseits mit den unorganischen und andererseits mit den organischen Körpern beschäftigen, zu tun haben, dann findet dieser Dualismus seine Entsprechung in Brentanos Gegenüberstellung der äußeren und inneren Wahrnehmung. Die erste steht bei Brentano für die Naturwissenschaft, die andere für die Psychologie. Dieser methodische Dualismus Brentanos, an dem Husserl ausdrücklich Kritik übt, hat aber nicht mit der analytischen oder synthetischen Betrachtungsweise der Phänomene, sondern mit dem epistemischen Wert beider Wahrnehmungen zu tun: die innere Wahrnehmung ist evident, die äußere nicht. Es ist ausgerechnet diese strakt betonte Heterogenität zwischen der psychischen und der physischen Welt, die Brentanos Intentionalitätsbegriff hervorhebt und die den Rahmen bildet, in dem seine Arbeit verortet ist. Auch wenn Brentano die Wechselwirkung zwischen Geist und Körper ständig unterstreicht und er Descartes dafür kritisiert, eine „klaffende Trennung“ zwischen den zwei Welten postuliert zu haben,²⁰⁵ gibt seine Redewendung „völlig heterogen“ eben der cartesischen Dichotomie res cogitans – res extensa Ausdruck, die bei ihm „in verwandelter Form“, d. h. als Gegensatz der psychischen und der physischen Erscheinungen im Allgemeinen, wiederkehrt.²⁰⁶ Dieser Gegensatz, den Husserl in den Logischen Untersuchungen wieder kritisch in Angriff nimmt,²⁰⁷ liegt der Psychologie ebenso sehr zugrunde wie die cartesische evidente innere Wahrnehmung. Er macht einen Grundpfeiler seiner Arbeit aus und steht in inniger Verbindung mit der Frage nach der Fortdauer des psychischen Lebens nach dem Tod. Die erwähnte Zäsur zwischen den zwei Klassen von Phänomenen entspricht weiter genau „der fundamentalen Eintheilung des empirischen Wissensgebietes“ und der ihr zugeordneten induktiven Wissenschaften in Naturwissenschaft und Psychologie, also der Tatsache, dass Brentano die Psychologie nicht in eine Reihe mit den Naturwissenschaften Comtes einordnet, sondern sie als ihr Gegenstück auf dieselbe Ebene stellt. Das steht auch damit in Verbindung, dass, obwohl die Einbettung der Psychologie in Comtes Skala den Eindruck erweckt, sie würde zu denselben Methoden (der Beobachtung, dem Experiment usw.) wie die anderen Naturwissenschaften greifen, die Psychologie auf der cartesischen evidenten in PeS, S. 21 ff. In GPhN (S. 19) behauptet er: „Nicht bei aller Ausdehnungslosigkeit [findet sich Geistigkeit]; so hätte er vielmehr die Einheit von Körper und Geist gefunden, während jetzt [eine] klaffende Trennung [besteht]. Dies [ist] der größte und unheilvollste Fehler.“ CPhP III, S. 402; Volpi, a. a. O., S. 24. Husserl, a. a. O.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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neren Wahrnehmung beruht, die unter Comtes Gesichtspunkt nicht als positive Methode akzeptiert werden kann. Letzten Endes wird der Gegensatz zwischen den zwei Welten von Phänomenen auch von der oben erwähnten Doppeldeutigkeit Brentanos angesichts des Verhältnisses zwischen Psychologie und Physiologie bestätigt. Es geht zum einen um J. St. Mills Position, die Brentano als Schlussfolgerung der Debatte um das Verhältnis zwischen den zwei Disziplinen am Ende des ersten Buches der Psychologie anführt: Die Hilfsmittel der psychologischen Analyse zu verwerfen und die Psychologie auf Data zu gründen, wie sie die Physiologie bis jetzt darbietet, scheint mir ein sehr grosser Irrthum im Principe zu sein und ein sehr ernstlicher Irrthum in der Praxis. Wie unvollkommen auch die psychische Wissenschaft sein mag, so stehe ich doch nicht an zu behaupten, dass sie bedeutend weiter vorgeschritten ist, als der ihr entsprechende Theil der Physiologie: und die erstere für die letztere hinwegzugeben, scheint mir eine Verletzung der wahren Regeln der inductiven Philosophie, eine Verletzung, welche in einigen sehr wichtigen Zweigen der Wissenschaft von der menschlichen Natur irrige Schlüsse nach sich zieht und ziehen muss.²⁰⁸
Mills Befürwortung der psychologischen Analyse entspricht vollkommen Brentanos Bevorzugung der Behandlung psychischer Phänomene aufgrund der inneren Wahrnehmung. Zugleich kommt in der angeführten Stelle eine andere Sicht des Verhältnisses zwischen Physiologie und Psychologie zur Sprache als bei Horwicz und in Brentanos enzyklopädischer Stufenleiter. Gemäß dieser Skala ist die Physiologie eine junge Wissenschaft, die auf dem Weg ihrer Positivierung noch nicht erheblich fortgeschritten ist. All dem zum Trotz ist sie reifer und fortgeschrittener als die Psychologie, die als die jüngste, positive Wissenschaft eben begann, sich auf der Grundlage der Physiologie zu etablieren.²⁰⁹ Daraus ergibt sich klar, dass die hier gemeinte Psychologie nur eine auf der Physiologie fundierte Disziplin (z. B. Maudsleys oder Horwicz’ physiologische Psychologie) sein kann. Mill sieht die Dinge dagegen anders, denn er erkennt zwar die Wichtigkeit physiologischer Forschung für die Psychologie, aber behauptet doch, dass die Psychologie fortgeschrittener sei als die Physiologie. Brentano stimmt seinerseits dieser These zu, weil er dabei nicht die physiologische Psychologie, sondern die auf der inneren Wahrnehmung basierende psychische Wissenschaft oder „die ältere Psychologie“ im Blick hat.²¹⁰
SLRI II; S. 851 f./458. PeS, S. 38 ff. PeS, S. 58.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
Die zwei oben in die Diskussion gebrachten Ansätze können diese Sachlage gut erklären: Die These über die Physiologie als eine Wissenschaft, die reifer als die Psychologie ist, passt gut sowohl zu Comtes Stufenleiter der Wissenschaften als auch zu der Ansicht, die die Kontinuität der Phänomene und ihrer einseitigen Abhängigkeit hervorhebt (einschließlich der späteren genetischen Psychologie). Auch wenn Mill die These der völligen Heterogenität der psychischen gegenüber den physiologischen Phänomenen nicht vertritt, steht sein Ansatz, das psychische Leben aufgrund psychologischer und nicht physiologischer Analyse zu behandeln, mit Brentanos Position in der Polemik gegen Horwicz durchaus im Einklang. Es handelt sich dabei um eine Vorgehensweise, die nicht auf die Erklärung des Psychischen aufgrund des Physiologischen abzielt, sondern das Psychische betrachtet, als ob es unabhängig von seinem physiologischen Substrat wäre. Auch wenn dieser Standpunkt bei Brentano einen wesentlichen Beitrag zur Klärung der Verhältnisse beider Bereiche zueinander (z. B. zur Identifikation und Charakterisierung der in dieses Verhältnis einbezogenen psychischen Elemente, etwa der Empfindungen) zu leisten vermag,²¹¹ befürwortet Brentano keinen physiologischen, sondern einen psychologischen Ansatz: die Festlegung auf psychologischem Weg (i) der Merkmale psychischer Phänomene und der auf sie bezogenen Gesetze, (ii) ihrer Hauptklassen, (iii) der Gesetze ihrer Aufeinanderfolge und Koexistenz und (iv) der höchsten psychischen Gesetze. Der gemeinsame Nenner all dieser Ziele besteht darin, dass sie alle aufgrund der inneren Wahrnehmung ausführbar sind. Wie ich unten zeigen werde, ist sich Brentano dabei vollkommen bewusst, dass mittels der inneren Erfahrung gewonnene Gesetze psychischer Sukzession ungenaue empirische Verallgemeinerungen sind, die durch die Analyse der physiologischen Bedingungen ihres Entstehens und Vergehens weiter erklärt werden sollten. Mithin stößt die Psychologie an eine Grenze, die ihrer Abhängigkeit von der Physiologie in Comtes Stufenleiter der Wissenschaften Ausdruck verleiht. In Abschnitt II.3.3 werde ich zeigen, dass Brentanos Trennung zwischen einer genetischen und einer deskriptiven Psychologie in seiner Wiener Zeit es ihm erlaubt, ein Feld psychologischer Untersuchung abzusondern, das im großen Maße von der Physiologie unabhängig ist. Das lässt sich weiter auch so deuten, dass die anhand von innerer Wahrnehmung ausgeführte empirische Psychologie am besten dann Erfolg hat, wenn es darauf ankommt, die psychischen von den physischen Phänomenen klar zu trennen und die Grundklassen der Ersteren festzulegen, um sie weiter – wie etwa in der Wiener Zeit – in mereologischer Perspektive zu behandeln. Wie ich unten zeigen werde, hängt die deskriptive Vorgehensweise nicht in einem solchen Maß von der Phy-
PeS, S. 22 ff., 28; vgl. auch SLRI II, S. 849/455.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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siologie ab, dass nur die Berücksichtigung des physiologischen Substrats des mentalen Lebens zum Erfolg führen kann. Will aber der empirische Psychologe die Gesetze psychischer Sukzession ausfindig machen, dann kann er nicht umhin, die Ergebnisse der Physiologie aufzugreifen.
II.3.2.3.4 Der „eigenthümliche Werth der Psychologie“ – theoretische und praktische Aspekte Das erste Kapitel von Brentanos Psychologie endet mit einem Paragraphen über den eigentümlichen Wert der Psychologie. Er ist an dieser Stelle deshalb so wichtig, weil darin Comtes enzyklopädische Stufenleiter der Wissenschaften eine zentrale Rolle spielet, denn Brentano verwendet sie, um sowohl den theoretischen als auch den praktischen Anspruch der Psychologie auf den Status einer theoretischen Wissenschaft im modernen Sinn zu begründen. Unter theoretischem Gesichtspunkt rechtfertigt er damit den Anspruch, eine psychische Wissenschaft etablieren zu wollen, die in Einklang mit Comtes und Mills Erwartungen steht und sich nicht mit dem Studium der Substanzen und ihrer Eigenschaften, sondern der Phänomene und ihrer Gesetze beschäftigt. Diese Rolle von Comtes Hierarchie der Wissenschaften taucht mit Klarheit an vier verschiedenen Stellen von Brentanos Schriften auf: Zum einen im „Vorwort“ der Psychologie, wo er behauptet, der Psychologe müsse […] das zu gewinnen trachten, was die Mathematik, Physik, Chemie und Physiologie, die eine früher, die andere später, schon erreicht haben; einen Kern allgemein anerkannter Wahrheit, an welchen dann bald […] von allen Seiten her neue Krystalle anschiessen werden. An die Stelle der Psychologieen müssen wir eine Psychologie zu setzen suchen.²¹²
Eine zweite Stelle findet sich im ersten Absatz des ersten Buches, wo er die hierarchische Struktur von Comtes Stufenleiter aufgreift, um der Idee Ausdruck zu verleihen, dass alle anderen Wissenschaften der Unterbau der Psychologie seien, sie hingegen ihren „krönenden Abschluß“ bilde.²¹³ Die dritte Stelle findet sich in § 1 des zweiten Kapitels über die Methode der Psychologie, wo die Methode der einfachsten Wissenschaft, der Mathematik, mit der der kompliziertesten Wissenschaft, der Psychologie, verglichen wird, um so
PeS, S. 3. PeS, S. 19.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
einen Einblick in die Komplexität und die Schwierigkeit der letzten zu vermitteln.²¹⁴ Eine vierte Stelle bilden die Ausführungen in seiner Antrittsrede an der Universität Wien, wo Brentano das Vertrauen in die Philosophie seiner österreichischen Studenten dadurch erwecken möchte, dass er die Metaphysik in den Hintergrund rücken lässt, die Philosophie mit der Psychologie identifiziert, sie in Comtes Stufenleiter der Wissenschaften einführt und so den Eindruck vermittelt, dass sie ebenso wie die ihr vorangehenden Disziplinen fähig sei, in einer nicht so fernen Zukunft eine reife Wissenschaft zu werden.²¹⁵ Die so aufgefasste Wissenschaft hat unter theoretischem Gesichtspunkt die folgenden Vorteile gegenüber der Naturwissenschaft: 1. Ihr Gegenstand ist der der Naturwissenschaft überlegen, weil sie mit Phänomenen zu tun hat, welche wahrhaft und wirklich bestehen, während die physischen Phänomene nicht wirklich existieren, sondern nur intentional und phänomenal.²¹⁶ 2. Die psychischen Phänomene sind schöner und erhabener als die physischen Erscheinungen; zugleich stehen sie uns näher als die Phänomene der Naturwissenschaft.²¹⁷ 3. Die psychische Wissenschaft hat es mit Phänomenen zu tun, die auch den Tod überdauern; die Naturwissenschaft dagegen befasst sich mit Phänomenen, die nur im Diesseits bestehen. Diese Bemerkung weist darauf hin, dass Brentanos ständige Bevorzugung der psychischen gegenüber der physischen Wissenschaft nicht nur erkenntnistheoretisch, sondern auch metaphysischtheologisch fundiert ist, weil von den zwei Disziplinen die Psychologie diejenige ist, der der Verdienst zukommt, die Unsterblichkeitsfrage anzuschneiden.²¹⁸ Auf diese Weise wird auch deutlich, dass die Psychologie trotz ihrer Einbettung in Comtes Skala der Wissenschaften Züge aufweist, die sowohl für ihre metaphysische Tragweite als auch für die traditionelle Ansicht über die Psychologie auf-
PeS, S. 43 f. Wie oben bereits ausgeführt, ist die Mathematik als erste Disziplin in Comtes Stufenleiter die einfachste Wissenschaft, weil sie mit dem Studium der einfachsten Erscheinungen (der mathematischen Ideen) beschäftigt ist. GE, S. 92 ff. Im Vortrag bezieht sich Brentano auch auf die Möglichkeit der praktischen Anwendbarkeit der Philosophie, die hauptsächlich als Psychologie verstanden wird (VPhPh, S. 94 f.; vgl. auch unten II.3.2.7). PeS, S. 35 f., 109 f. PeS, S. 36. PeS, S. 41 f., 90.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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schlussreich sind. Zugleich ist es wichtig zu bemerken, dass Brentano an allen erwähnten Stellen weder den Namen Comte noch den Terminus „positiv“ verwendet. Comtes Klassifikation der Wissenschaften kommt aber nicht nur eine theoretische, sondern auch eine wichtige praktische Legitimierungsfunktion zu, denn Brentano referiert – wieder, ohne Comte zu nennen – ausführlich Comtes Hierarchie der Wissenschaften eben unter dem Gesichtspunkt ihrer praktischen Nutzbarkeit: Genauso wie bei anderen positiven Wissenschaften sollte auch in der Psychologie das Antreten ihres positiven Stadiums wichtige praktische Konsequenzen nach sich ziehen. Das junge Alter der Psychologie beweist also nichts angesichts ihrer praktischen Anwendbarkeit, weil sie sich als letztes Glied der theoretischen Skala der Wissenschaften in derselben Lage befindet, in der die anderen theoretischen Wissenschaften einmal waren. Es steht aber in Comtes enzyklopädischer Stufenleiter geschrieben, dass die Gesetze der späteren Phänomene erst dann entdeckt werden können, wenn die Gesetze ihrer vorangehenden Ordnungen der Erscheinungen aufgefunden worden sind. Erst nach ihrer Feststellung lässt sich die Frage nach ihrer praktischen Nutzbarkeit stellen. Zu einer Zeit, in der die Physiologie erst ihre ersten Erfolge erzielte, konnte die Psychologie auch noch nicht sehr weit auf diesem Weg fortgeschritten sein. Allerdings ist dieser Anfang hoffungsvoll, denn es gibt keinen Grund zu glauben, dass das, was in den anderen Wissenschaften gesetzmäßig schon passierte, in der Psychologie ausbleiben sollte.²¹⁹ Damit streifen wir eine Facette von Brentanos Psychologie, die für ihre neuzeitliche Dimension relevant ist: Im Unterschied zur aristotelischen Psychologie, die das zu ermittelt hat, was die Seele ist, und zu ergründen hat, welche Eigenschaften ihr zukommen, ohne sich jedoch um die praktische Anwendbarkeit ihrer Erkenntnisse zu kümmern, räumt Brentano der praktischen Anwendung in seinen Ausführungen über den Wert der Psychologie viel Platz ein. Er weist ausdrücklich darauf hin, dass die Psychologie nicht nur die Ästhetik, Logik und Ethik, sondern auch die Erziehungswissenschaft und die Politik zu begründen habe. Hinsichtlich der Letzteren hebt er hervor, dass der Fortschritt der theoretischen Wissenschaften es eben in seiner Epoche ermögliche, eine wissenschaftlich fundierte Politik zu betreiben, weil erst jetzt die Zeit gekommen sei, in der die Politiker nicht als
PeS, S. 38 ff.; GE, S. 92– 95. Angesichts der Möglichkeit, dass die Physiologie zu einer positiven Wissenschaft wird, behauptet Brentano in seinen Ausführungen über Bacon in GPhN (S. 14): „Damit hängt zusammen, daß er die Mathematik unterschätzt. Er würde sich aber verwundern, wenn er sähe, wie man jetzt in vielen und gerade den schwierigsten Zweigen der Naturwissenschaft vorzugsweise deduktiv verfährt (wie [in der] Physiologie), aus induktiv gefundenen allgemeinen Prinzipien und unter Begleitung der Verifikation des Deduzierten a posteriori.“
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
blinde Empiriker, sondern aus theoretischen Gründen, d. h. aus der Erkenntnis psychologischer Gesetze heraus, handeln und die Wirkung ihrer Handlungen voraussehen könnten. Diese Gesetze, so Brentano, sollten nicht nur die individuelle Entwicklung fördern, sondern auch die nötigen Mittel liefern, um die zerrütteten sozialen Zustände seiner Zeit zu lindern.²²⁰ Im Hintergrund von Brentanos Erörterungen steht zum einen die moderne Wissenschaftsauffassung, die auf die praktische Anwendbarkeit ihrer Erkenntnisse großen Wert legt, und zum anderen Mills Ansicht über die Wissenschaft von der menschlichen Natur, wie er sie im letzten Buch seiner Logik ausführt. Mill zufolge sollen die allgemeinen Assoziationsgesetze dieser Wissenschaft als Basis zur Ableitung der empirischen Gesetze anderer moralischer und sozialer Wissenschaften von der Ethologie (Erziehungskunst) bis hin zur Nationalökonomie dienen.²²¹ Im Unterschied zu Mills Erklärungen aber, die ausführlich ausgearbeitet sind und klar zeigen, wie die Assoziationsgesetze in die Gesetze anderer Wissenschaften einbezogen sind,²²² bleiben Brentanos Erörterungen darüber nur skizzenhaft. Auch wenn er auf die Rolle hinweist, welche diese Gesetze für die psychische Wissenschaft spielen,²²³ ist er weit davon entfernt, ihnen dieselbe Wichtigkeit wie Mill zuzuschreiben: Mill betrachtet sie als letzte psychische Gesetze, die in der Psychologie dieselbe Rolle wie die Gravitationsgesetze in der Physik und die Gesetze der Gewebe in der Biologie spielen sollten.²²⁴ Überdies misst Brentano das Studium dieser Gesetze in seiner Wiener Zeit der genetischen Psychologie zu.
PeS, S. 37 f., 40. Die Voraussage der Entwicklung der Phänomene ist ein zentraler Punkt der modernen, positiven Wissenschaftsauffassung (CPhP I, S. 51; ZPh, S. 96). PeS, S. 27 ff.; SLRI II, S. 847 f., 852 f., 861 f. und passim/454, 459 ff., 468 ff. und passim; ders., System of Political Economy (1848), Collected Works II, J. M. Robson (Hrsg.), Toronto, University of Toronto Press, Routledge & Kegan Paul, 1965, S. 20 f.; vgl. auch PeS, S. 41. Im Hintergrund von Mills Analyse steht die ältere utilitaristische Tradition Benthams und seines Vaters, die die Erkenntnis der Gesetze der menschlichen Natur als Basis von politischen Handlungen auffassten (vgl. dazu aufschlussreich F.Wilson, „Mill on Psychology and the Moral Sciences“, in: J. Skorupski (Hrsg.), Cambridge Companion to Mill, Cambridge, Cambridge University Press, 2006, S. 206 – 254; zu der Rolle, die die Assoziationsgesetze bei Mill spielen, vgl. auch Wilson, „Mill and Comte on the Method of Introspection“, S. 107– 129). Vgl. dazu sehr deutlich Mills Äußerungen in SLRI II, S. 869/478; vgl. auch S. 862/469; vgl. auch unten S. 296; vgl. dazu E. Nagel, „Introduction“, in: E. Nagel (Hrsg.), John Stuart Mill’s Philosophy of Scientific Method, New York, Hafner, 1950, S. XLIII, und T. Ball, „Psychology, Associationism, and Ethology“, in Ch. Macleod, D. E. Miller (Hrsg.), A Companion to Mill, S. 145 – 159. Vgl. dazu unten II.3.2.6.4. PeS, S. 27 ff.; Mill, Auguste Comte and Positivism, S. 290.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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Darüber hinaus erwartet Brentano von der Erkenntnis psychologischer Gesetze – und damit weicht er wiederum von Mill ab –, dass sie die nötigen Kenntnisse zur Verfügung stellt, die den regelmäßigen Verfall der Kultur lindern könnten.²²⁵ Wenngleich seine Äußerungen dazu sehr karg sind und er sich in diesem Zusammenhang nicht auf seine Vier-Phasen-Lehre bezieht, lassen sie sich doch als Ergänzung zu den Erklärungen über den kulturellen Untergang verstehen, der in Analogie zu dem Verfall der Philosophie zu denken ist: Anders als in der Vier-Phasen-Lehre, wo das Wiederaufleben des reinen theoretischen Interesses und die Wiederaufnahme einer naturgemäßen Methode die nötigen Mittel sind, damit die Philosophie den Verfall überwinde und eine neue Aufstiegsphase antrete, soll die Erkenntnis der psychologischen Gesetze das Heilmittel liefern, um den Verfall der Kultur zu verhindern. Unter diesen Umständen erscheint seine Behauptung „c) Nicht jedoch [ist] gewiß, daß wieder Verfall [eintritt]. Die Gefahren [sind] offenbar mit der Zeit mehr und mehr verringert, insofern: α) die vollkommen ausgebildete Wissenschaft mehr Kraft hat, dem Verfall zu widerstehen […]“²²⁶ in einem neuen Licht, weil das Ausgeführte zeigt, dass es sehr wohl möglich ist, dass diejenige Wissenschaft, die dank ihrer reifen Ausbildung mehr Kraft hat, dem Untergang zu widerstehen, die Psychologie oder „die philosophische Wissenschaft im engeren Sinn“ sein könnte.²²⁷ Brentanos Charakterisierung der Psychologie als Wissenschaft der Zukunft hat alle diese Facetten im Blick. Sie zeigt, dass er hier nicht traditionell, aristotelisch, sondern in dem von Bacons Ausspruch „Wissen ist Macht“ geprägten Rahmen der modernen Wissenschaftsauffassung denkt.²²⁸ Diese Ansicht teilt er mit Comte und Mill. Mit Comte einerseits, der in der zweiten Vorlesung seines Cours deutlich auf die Rolle hinweist, die die Erkenntnis der Gesetze der Phänomene für den Erfolg technischen Handelns spielt.²²⁹ Mit Mill andererseits, der, wie gesagt, die Wissenschaft der menschlichen Natur als Basis anderer moralischer Wissenschaften betrachtet. Neben dieser modernen Dimension gibt es eine andere, traditionelle Facette in Brentanos Auffassung der Psychologie als Wissenschaft der Zukunft. Sie ist metaphysisch ausgerichtet und besteht darin, dass das Wort „Zukunft“ sich nicht nur auf die weitere Entwicklung der psychologischen Forschung und ihrer praktischen Fruchtbarkeit in den folgenden Jahrzehnten, sondern auch auf den Fort-
Brentano bezieht sich da noch nicht auf die Rolle, die die Erkenntnis psychischer Gesetze bei „normalen“ Individuen für die Erklärung der komplizierten Gesetze krankhafter psychischer Erscheinungen spielt. Das führt er später im dritten Kapitel über die Methode der Psychologie aus. GPhN, S. 95. GPhN, S. XIII. Vgl. GPhN, S. 13. CPhP I, S. 50 f.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
bestand des psychischen Lebens nach dem Tod bezieht. Im Unterschied zu den Gesetzen der Naturwissenschaft, die nur im Diesseits gültig sind, gelten die psychischen Gesetze auch in Jenseits.²³⁰ Das Zusammenspiel der beiden Bedeutungen in der Psychologie verweist auf die innige Verbindung, die Brentano in seiner Schrift zwischen den überlieferten Themen und dem neuzeitlichen Ansatz der Naturwissenschaft herstellen will.
II.3.2.3.5 Comtes Drei-Stadien-Gesetz und die Geschichte der empirischen Psychologie nach Brentano Oben wurde auf die Möglichkeit hingewiesen, einen Vergleich zwischen den ersten zwei Vorlesungen in Comtes Cours und dem einleitenden Kapitel der Psychologie aufzustellen. Auf diese Weise kann man Comtes Drei-Stadien-Gesetz ins Verhältnis zu Brentanos Sichtweise über die Geschichte der empirischen Psychologie setzen. Die zentrale Frage, die sich dabei stellt, ist die folgende: Warum beschreibt Brentano die Geschichte der Psychologie mittels des Begriffspaars „traditionell – modern“ und nicht durch Comtes Trinom „theologisch – metaphysisch – positiv“, so wie es sich aus der Einbettung der Psychologie in Comtes Hierarchie der Wissenschaften ergeben würde. Die einfache und wohl berechtigte Antwort darauf ist, dass Brentano in der Arbeit von 1874 eine Rekonstruktion der Geschichte der Psychologie darstellt, die den metaphysischen und modernen („positiven“) Zielen seiner Schrift entspricht. Auch wenn ich an der Richtigkeit dieser Antwort nicht zweifle, werde ich weiter zeigen, dass die Sachlage, die hinter dieser Tatsache steckt, viel komplizierter ist, als sie in Brentanos Ausführungen über die Geschichte der Psychologie erscheint. Dazu gehe ich von folgender Gegenüberstellung aus: – Comtes Drei-Stadien-Gesetz über die Entwicklung des menschlichen Geistes vs. Brentanos Ausführungen über die traditionelle und moderne Auffassung von der Psychologie; – Comtes Stufenleiter der Wissenschaften vs. Brentanos modifizierte Stufenleiter der Wissenschaften als Basis zur Rechtfertigung des Anspruchs der Psychologie, keine spekulative, sondern eine empirische Wissenschaft zu sein. Wie man bemerkt, findet von den beiden Grundgedanken der ersten zwei Vorlesungen in Comtes Cours nur der letzte sein Pendant im einleitenden Kapitel der
Wie schon angedeutet, macht dies einen wichtigen Grund aus, weswegen die Psychologie vor der Naturwissenschaft den Vorrang hat.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
279
Psychologie. Der Terminus „positiv“, Comtes Drei-Stadien-Gesetz und die wesentliche Verbindung zwischen diesem Gesetz und der enzyklopädischen Stufenleiter der Wissenschaften bei Comte bleiben in Brentanos Ausführungen dagegen aus. Allerdings ist dies von Comtes Standpunkt aus kaum akzeptabel, denn das Stadien-Gesetz macht die treibende Kraft seiner Klassifikation der Wissenschaften und der allgemeinen Auffassung von der Entwicklung des menschlichen Geistes aus: Eben weil der positive Geist zur Herrschaft in den ersten Wissenschaften seiner Skala gekommen ist, eben deshalb können die höheren Wissenschaften, die auf ihnen gründen, ihr positives Stadium antreten. Anders gesagt: Ohne den Durchbruch des positiven Geistes in Wissenschaften wie Physik, Chemie oder Physiologie hätte die Psychologie gar keine Zukunft, weil sie laut Comtes Terminologie in ihrem theologisch-metaphysischen Stadium steckengeblieben wäre. Damit stoßen wir auf ein Problem, das trotz Brentanos Schweigen darüber nicht undiskutiert bleiben darf und das bereits Erwähnung gefunden hat: Auch wenn Brentano Comtes These über die Klassifikation der Wissenschaften aufgreift, tauchen weder Comtes Name noch der Begriff „positiv“ noch die innige Verbindung der zwei Hauptgedanken Comtes in Brentanos Erklärungen auf. Stattdessen beschreibt Brentano die Geschichte der Psychologie mittels des Begriffspaars „traditionell – modern“. Um die Bedeutung dieser Tatsache zu würdigen, vergegenwärtigen wir uns den breiteren Hintergrund, vor dem sie erfolgt: – In den Erörterungen über die Anwendung der Vier-Phasen-Lehre auf die Geschichte der Philosophie beschäftigte sich Brentano intensiv mit der Frage nach dem Verhältnis seiner Lehre zu Comtes Drei-Stadien-Gesetz. Diese Auseinandersetzung erfolgte nach 1869, also in seiner Würzbürger Zeit, d. h. in einem Zeitraum, an dessen Ende er die Psychologie schrieb. – Die Psychologie hat eine Zukunft nur, weil sie keine spekulative, sondern eine theoretische Wissenschaft ist, die zur positiven Stufenleiter der positiven Wissenschaften Comtes gehört und ihrem Standard entspricht. – Die Psychologie ist neben der Metaphysik eine fundamentale philosophische Wissenschaft. In seiner Antrittsvorlesung ist die These so weit entwickelt, dass Brentano der Metaphysik keine Aufmerksamkeit schenkt und fast die Philosophie mit der psychischen Wissenschaft identifiziert.²³¹ In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, warum ein Gesetz, das für die Geschichte der Philosophie im Allgemeinen gilt, nicht für die Geschichte einer ihrer grundlegenden Disziplinen, nämlich für die Geschichte der Psychologie,
Vgl. unten II.3.2.7.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
gelten sollte? Die Antwort darauf liegt darin, dass Brentano die Vier-Phasen-Lehre nur mit Bezug auf den geschichtlichen Verlauf der Philosophie im Allgemeinen entwickelte, ohne sich weiter mit der Frage auseinanderzusetzen, ob dieses Gesetz auch für die fundamentalen oder anderen philosophischen Disziplinen wie Logik, Ethik usw. gilt. Die Texte zeigen, dass sein Gesetz auf diese Wissenschaften nur insoweit zutrifft, als sie Bestandteile einer philosophischen Weltanschauung sind, die zu einer auf- oder absteigenden Phase philosophischer Entwicklung gehören – die aristotelische und thomasische Metaphysik und Psychologie gehören der aufsteigenden Phase, die des mittelalterlichen Nominalismus dagegen dem absteigenden Stadium an. Hinzu kommt, dass die Psychologie eine zentrale Rolle als philosophische Grunddisziplin nur in Brentanos Zeit spielte²³² – bei Aristoteles z. B. ist ihr Gegenstandsbereich zwischen der Physik und der Metaphysik aufgeteilt. Aus der Allgemeingültigkeit von Brentanos Gesetz ergibt sich also nicht, dass es ebenfalls für die Geschichte einzelner philosophischer Disziplinen gilt. Dementsprechend scheint es, dass es nicht viel Sinn macht, nach der Anwendbarkeit von Comtes Gesetz auf die Geschichte der Psychologie zu fragen, denn zum einen beschreibt Brentano selbst die Geschichte der empirischen Psychologie nicht mittels der Vier-Phasen-Lehre und zum anderen ist Comtes Gesetz ihm zufolge nur teilweise auf die Geschichte der Philosophie anwendbar. Trotzdem ist damit die Frage noch nicht gelöst, denn es gibt auch andere wichtige Gründe, die hinter der Abwesenheit des Namens „Comte“ und seiner Terminologie im betreffenden Kapitel der Psychologie stecken. Sie weisen auf die Grundannahmen der Auffassungen der beiden Autoren hin. Das erste Argument besteht darin, dass Comtes negative Einstellung zum Theismus und zur Unsterblichkeitsfrage seine Drei-Stadien-Terminologie zur Beschreibung der Geschichte einer Disziplin kaum empfahl, die von ihm im Allgemeinen zurückgewiesen wurde und die von Brentano so entworfen wurde, dass sie eine ausgesprochen metaphysische Frage in ihr Programm aufnahm. Dies ergibt sich klar, wenn man versucht, Comtes Terminologie des Drei-Stadien-Gesetzes auf die Geschichte von Brentanos empirischer Psychologie zu übertragen. Dementsprechend sollten wir diese Geschichte in drei Stadien oder, was bei Comte auch manchmal vorkommt, in ein theologisch-metaphysisches und ein positives Stadium einteilen. Dabei muss mit Nachdruck hervorgehoben werden, dass die beiden ersten Stadien stark von einer negativen Bedeutung belastet sind, die von
Vgl. dazu K. Twardowski, „Psychology vs. Physiology and Philosophy“ (1897), in K. Twardowski, On Actions, Products and Other Topics in Philosophy, J. Brandl, J. Woleński (Hrsg.), A. Szylewicz (Übers.), Amsterdam/Atlanta, Rodopi, 1999, S. 41– 69, und seine abschließende Anmerkung dazu im „Self-Portrait“ (in On Actions, Products and Other Topics in Philosophy, S. 31).
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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ihrem Verhältnis zum positiven Stadium herrührt. Anders gesagt, der negative Ruf, den die ersten zwei Phasen bei Comte haben, empfiehlt sie kaum für die Darstellung der Geschichte einer Wissenschaft, der Brentano zufolge trotz der verschiedenen Stationen ihrer Geschichte doch ein Thema, nämlich die Unsterblichkeitsfrage, angehört, das wegen seiner Wichtigkeit eine überstadiale Bedeutung für die Menschheit hat.²³³ Wenn man aber dem Terminus „positiv“ seinen Schrecken nimmt, indem man ihn mit einem anderen, viel neutraleren, z. B. mit „modern“, ersetzt, der begrifflich nicht so gefasst ist, dass er die Überwindung anderer, obsoleter Stadien ausdrückt, und wenn man darüber hinaus an die Stelle der beiden ersten, negativ belasteten, Termini einen anderen Ausdruck, z. B. „traditionell“, stellt, dann erhält man gerade Brentanos Begriffspaar „traditionell – modern“.²³⁴ Sowohl Comtes begriffliches Trinom „theologisch – metaphysisch – positiv“ als auch Brentanos Binom „traditionell – modern“ sind dazu bestimmt, die geschichtliche Entwicklung des menschlichen Geistes (bei Brentano in der Psychologie) zu beschreiben. Allerdings kommt in Brentanos Unterscheidung der chronologische Aspekt mehr zum Vorschein. Außerdem ist sie nicht so stark von einem gegensätzlichen Charakter geprägt wie Comtes Trinom und passt viel besser als Comtes Terminologie zu seinem Versuch, neuzeitliche Ansätze mit traditionellen Fragen zu verbinden. Das zweite Argument für die These, die Abwesenheit des Terminus „positiv“ in Brentanos Text sei keine zufällige, sondern eine wohl bedachte Tatsache, ist das folgende: Wenn wir das nicht annehmen, dann ist es schwer zu erklären, warum Brentano Comtes Skala der Wissenschaften nicht Skala der positiven Disziplinen, wie dies bei Comte ausdrücklich der Fall ist, sondern ständig die der abstrakten Wissenschaften nennt.²³⁵ Denn es ist bei Comte klar, dass alle positiven Wissenschaften abstrakte, theoretische Disziplinen sind und dass das Thema seiner Schrift in der Analyse ihres geschichtlichen Entwicklungsgangs und nicht in der Behandlung der konkreten oder praktischen Wissenschaften besteht. Dabei geht es um abstrakte Wissenschaften, die anders als die theoretische Wissenschaft der Metaphysik Brentanos bereits in ihr positives Stadium eingetreten oder auf dem Weg dahin sind – das verweist noch einmal auf die innige Verbindung der
ZPh, S. 98. Comte erkennt zwar an, dass die ersten Stadien notwendige Etappen der Entwicklung des menschlichen Geistes sind (CPhP I, S. 8 ff.). Das bedeutet aber nicht, dass er in irgendeiner Weise damit einverstanden wäre, tradierte Lehrstücke im positiven Stadium des Denkens aufrechtzuerhalten. Die zweite Vorlesung aus Comtes Cours trägt den Titel „Exposition du plan de ce cours, ou considération générales sur la hiérarchie des sciences positives“ (CPhP I, S. 47; vgl. auch PeS, S. 38 ff., ZPh, S. 93 ff.).
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
Skala Comtes mit dem Drei-Stadien-Gesetz. Dagegen ist eine solche Verbindung in Brentanos Psychologie nicht zu finden, weil er die Einteilung der Geschichte der Psychologie in ihre traditionellen und modernen Epochen und die Frage nach der Skala der Wissenschaften getrennt behandelt: Die Skala der theoretischen Disziplinen in der Psychologie ist zwar eine Skala der phänomenalen Wissenschaften, dabei hat aber der Terminus „phänomenal“ nicht dieselbe Bedeutung wie „positiv“, weil er mit metaphysischen Fragen durchaus kompatibel ist.²³⁶ Darüber hinaus liegt die Betonung in der Behandlung der Stufenleiter der Wissenschaften in der Psychologie nicht auf ihrer theoretischen, sondern auf ihrer praktischen Funktion, weil Brentano dem Einwand vorbeugen möchte, dass die Psychologie wegen ihrer praktischen Unfruchtbarkeit keine Zukunft habe. Von hier aus betrachtet sieht man klar, dass wir es bei Comte nicht mit einer Skala der modernen, sondern der theoretischen, abstrakten, positiven Wissenschaften zu tun haben und dass der Terminus „modern“ bei Brentano keine stark geprägte kritische Funktion wie „positiv“ bei Comte hat, sondern hauptsächlich darauf hinweist, dass die psychische Wissenschaft in ihre chronologisch markierte moderne Phase eingetreten ist. Allerdings steht dieser Eintritt bei Brentano wesentlich damit in Verbindung, dass sie auf ihre traditionelle Fragestellung, die Unsterblichkeitsfrage, nicht verzichtet, sondern sie in moderner Form aufrechterhält. Hier befinden wir uns an einem Punkt, an dem sich Comtes und Brentanos Wege endgültig trennen, denn das, was Brentano zufolge unbedingt beizubehalten ist, macht bei Comte ein wichtiges Hindernis zur Positivierung einer theoretischen, abstrakten Wissenschaft aus. Die Abwesenheit des Begriffs „positiv“, der in Comtes Stufenleiter deshalb so wichtig ist, weil er die Richtung der Entwicklung der theoretischen Wissenschaft angibt, weist daher darauf hin, dass wir es in der Psychologie mit einer freien, manchmal nicht-comtischen Rezeption von Comtes Gedanken zu tun haben. Diese Rezeption entspricht aber dem Entwurf einer empirischen Psychologie, die in ihrem Programm Aspekte zu verbinden versucht, die Comte zufolge nicht zu verbinden, sondern klar zu trennen und verschieden zu bewerten und behandeln sind. Als letztes Argument für die erwähnte Abwesenheit lässt sich anfügen, dass in jener Zeit Versuche unternommen wurden, z. B. Maudselys Buch über die Physiologie und Pathologie der Seele, die Brentano in seiner Schrift ausführlich analysiert und die die Absicht verfolgen, eine positive Psychologie aufzubauen. Allerdings messen sie der inneren Wahrnehmung eine geringere Rolle zu und
Vgl. oben II.2.4 über Brentanos „reines theoretisches Interesse“.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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betrachten die physiologische Methode, nämlich die Erforschung der organischen Bedingungen des Seelenlebens, als Hauptmethode der Psychologie.²³⁷ Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Brentano eine Psychologie wollte, die im Unterschied zu Mill und gegen Comte auf der evidenten inneren Wahrnehmung beruht, die sich sowohl die Ziele als auch die methodischen Momente der neuzeitlichen Naturwissenschaft aneignet, die darüber hinaus aber eine ausgeprägte metaphysische Facette hat und die nicht „positiv“, weder im antitheologisch-metaphysischen Sinn noch im Sinne ihrer Fundierung durch die Physiologie, ist. Der Ausdruck „empirisch“ aus dem Titel seiner Arbeit ist gerade dazu bestimmt, alle diese Aspekte zum Vorschein kommen zu lassen.
II.3.2.4 Brentano und Comte: Innere Beobachtung und die Methode der Psychologie Auch wenn Brentano die Psychologie in Comtes Stufenleiter der positiven Wissenschaften einbaut, besteht die wichtigste Methode seiner psychischen Wissenschaft in der evidenten inneren Wahrnehmung.²³⁸ Damit weicht er wesentlich von Comte ab, weil bei Comte jede positive Wissenschaft auf der äußeren Beobachtung basiert und es keinen Platz für eine Disziplin gibt, die auf der inneren Wahrnehmung oder Beobachtung beruht.²³⁹ Aus diesem Grund schließt er die Psychologie aus seiner Skala aus und ersetzt sie mit der physiologischen Phrenologie, deren Gegenstandsbereich von dem Studium der phrenologischen Organe ausgemacht wird, die die unterschiedlichen seelischen Funktionen erfüllen. Die innere Wahrnehmung macht bei Brentano einen Teil des inneren Bewusstseins aus. Das Letztere bezeichnet die Tatsache, dass ich mir meiner mentalen Zustände bewusst bin, wenn ich sie erlebe. Wenn ich z. B. etwas sehe, dann bin ich mir bewusst, etwas zu sehen.²⁴⁰ Dieses Bewusstsein von den eigenen psychischen Phänomenen oder Akten wird von Brentano als realer Teil des psychischen Phänomens und zugleich als Beziehung des Phänomens zu sich selbst
Vgl. PeS, Buch I, Kap. 3, §§ 5 f. Vgl. PeS, S. 44– 49, und Kap. 2 und 3 des zweiten Buches derselben Schrift. Zu unterschiedlichen Methoden der positiven Wissenschaften vgl. Schmaus, a. a. O., S. 45 – 52. Vgl. PeS, S. 25, und besonders § 2 des dritten Kapitels des zweiten Buches, wo Brentano wiederholt über Evidenz spricht und sich dabei explizit auf Descartes bezieht (PeS, S. 159 f.).
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
betrachtet.²⁴¹ Die folgende Äußerung Brentanos in der deskriptiven Psychologie ist für das Verständnis dieses Problems besonders wichtig: „Wir erfassen uns selbst nicht wie in einem abstrakten Begriff, sondern wie in einer konkreten, individuellen Anschauung […].“²⁴² Dementsprechend hat das innere Bewusstsein eine intuitive Natur, die von Brentano in der Psychologie in Einklang mit seiner dreiteiligen Klassifikation der psychischen Phänomene in Vorstellungen, Urteile und Gemütsbewegungen aufgeklärt wird: Wenn ich etwas sehe, dann stelle ich mir den Sehakt vor, urteile, dass der Sehakt, den ich jetzt erlebe, ist, und erlebe ihn zugleich als angenehm oder unangenehm.²⁴³ Dabei ist zunächst zu beachten, dass Brentano nicht den Anspruch erhebt, seine Auffassung vom inneren Bewusstsein sei originell. Vielmehr verweist er ausdrücklich darauf, dass sie „von der großen Mehrzahl der Psychologen“ anerkannt wurde, und beschäftigt sich ausführlich mit der aristotelischen Lehre dazu.²⁴⁴ Darüber hinaus sollte beachtet werden, dass sich das psychische Subjekt mittels des inneren Bewusstseins nicht nur eines der Teile des Aktes, etwa seiner primären Beziehung zum primären Objekt (der Farbe, dem Ton usw.), sondern des ganzen Aktes bewusst ist. Mithin wird der Akt von sich selbst allen seinen Teilen nach im inneren Bewusstsein erfasst: Ist ja das Bewusstsein, welches die Vorstellung des Tones begleitet, ein Bewusstsein, nicht sowohl von dieser Vorstellung, als von dem ganzen psychischen Acte, worin der Ton vorgestellt wird, und in welchem es selber mitgegeben ist. Der psychische Act des Hö rens wird,
Da das Objekt dieser Beziehung der mentale Zustand selbst und nicht sein immanenter Gegenstand ist, wird der psychische Zustand von Brentano als sekundäres Objekt des Aktes betrachtet und von seinem primären Gegenstand unterschieden (PeS, S. 173 f., 348 f., 394 f.). DPs, S. 62 (Hervorhebung, I. T.). Vgl. PeS, Kap. 2 und 3 des zweiten Buches und als das Fazit (PeS, S. 173 f.). Da nicht alle psychischen Akte als etwas Angenehmes oder Unangenehmes erlebt werden, verzichtet Brentano später auf die dreiteilige Zusammensetzung des inneren Bewusstseins und erkennt nur die innere Vorstellung und Wahrnehmung als seine Teile an (PeS, S. 395; DPs, S. 83). Aus diesem Grund teilt er in dieser letzten Schrift die psychischen Erscheinungen hinsichtlich ihrer sekundären Beziehung „in rein noetische Akte und epithymetische Akte, d. i. Akte mit dem Charakter der Affekte: Es sind solche, in welchen das Subjekt zum sekundären Objekt nicht bloß vorgestellt (vorstellend) und evident erkennend, sondern auch durch eine Gemütsbewegung in intentionaler Beziehung steht“ (DPs, S. 103; vgl. auch S. 169 f.). Allerdings darf Brentanos Theorie des inneren Bewusstseins nicht in dem Sinne verstanden werden, dass ich einen Akt erleben und damit einhergehend ihn in getrennten, sich zugleich mit ihm abspielenden Akten vorstellen und evident anerkennen würde. Mithin ist sein inneres Bewusstsein keine innere Beobachtung. Dagegen besagt die Theorie, dass, wenn ich einen Akt erlebe, ich mir dieses Aktes mittels seines inneren Bewusstseins bewusst bin und in diesem Bewusstsein wenigstens zwei Teile vorhanden sind: das innere Vorstellen und das evidente Urteilen. PeS, S. 149 ff.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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abgesehen davon, dass er das physische Phänomen des Tones vorstellt, zugleich seiner Totalität nach für sich selbst Gegenstand und Inhalt.²⁴⁵
Wie Brentanos spätere Analyse zeigt, ist sich der Akt nicht explizit, sondern implizit seiner Teile bewusst. Demgemäß werden seine Teile in der inneren Wahrnehmung nicht explizit und evident, sondern implizit wahrgenommen.²⁴⁶ Seiner Klassifikation der psychischen Akte entsprechend hat das innere Bewusstsein in der Psychologie drei rein distinktionell abtrennbare Teile: innere Vorstellung, Wahrnehmung und Gemütsbewegung. Erstere ist nach seiner allgemeinen Theorie über die Vorstellung zu interpretieren: „Wir reden von einem Vorstellen, wo immer uns etwas erscheint. Wenn wir etwas sehen, stellen wir uns eine Farbe […] vor.“²⁴⁷ Wenn ich eine Farbe sehe, dann bin ich mir wegen der sekundären Beziehung des Aktes davon bewusst, und die innere Vorstellung besteht gerade darin, dass der Akt sich selbst in seinem eigenen inneren Bewusstsein erscheint. Diese innere Vorstellung enthält kein immanentes Objekt, mittels dessen sie sich auf ihr primäres Objekt, den ganzen Empfindungsakt, beziehen würde, sowie dies der Fall bei der primären Beziehung des Aktes ist, der sich mittels seines immanenten Objekts (der gesehenen Farbe) auf das primäre Objekt (die wirkliche Farbe) bezieht.²⁴⁸ Der Grund dafür besteht darin, dass es hier kein immanentes Objekt gibt oder, wenn man die Immanenz-Terminologie beibehalten will, dass das immanente Objekt der inneren Vorstellung dasselbe ist wie ihr primärer Gegenstand, der Empfindungsakt. Brentanos spätere Behauptung (1888/89), Phänomen und Ding an sich würden zu Unrecht in Opposition zueinander gestellt,²⁴⁹ hat gerade diesen Tatbestand im Blick, weil im genannten Fall das Ding an sich (der psychische Akt) dasselbe ist wie das erscheinende Phänomen. Die innere Vorstellung lässt also kein immanentes Objekt als epistemischen Vermittler zwischen ihr und ihrem Gegenstand zu, weil sie direkt, unmittelbar und anschaulich ist: „Wir erfassen uns selbst nicht wie in einem abstrakten Begriff, sondern wie in einer konkreten, individuellen Anschauung […]“, sagt Brentano aufschlussreich dazu.²⁵⁰ Die innere Wahrnehmung, so wie sie in der Psychologie gefasst ist, bezeichnet dagegen denjenigen psychischen, rein distinktionell unterscheidbaren Teil des
PeS, S. 148; vgl. auch S. 157 f. DPs, S. 31, und II.3.3 unten. PeS, S. 219 (Hervorhebung, I. T.). Brentano folgend beziehe ich hier die Position des gemeinen Mannes und erlaube mir die Fiktion, die vorgestellte, nur intentional und phänomenal existierende Farbe würde auch wirklich als Eigenschaft wirklicher Dinge bestehen (DP, S. 14, 158). DPs, S. 129. DPs, S. 62.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
inneren Bewusstseins, der in solch existentialen Urteilen zur Sprache kommt wie: „Der (von mir jetzt erlebte) Seh-, Hör-, Riech- Denkakt usw. ist“. Brentanos idiogenetischer Urteilstheorie zufolge steckt in dem existentialen „ist“ kein Prädikat (keine Eigenschaft) „Existenz“, die mittels des „ist“ dem Subjekt des Urteiles, dem psychischen Akt, zugewiesen würde, sondern es drückt nur die bloße Anerkennung des psychischen Aktes, der in der Vorstellung erscheint, aus: Ich erkenne an, dass der Akt, der mir in der inneren Vorstellung erscheint, ist oder jetzt von mir erlebt wird.²⁵¹ Diese Wahrnehmung, sagt Brentano mit Descartes, sei evident, was heißen soll, dass es tatsächlich nicht möglich ist, dass ich ein psychisches Phänomen erlebe, das mir anders erscheint, als es ist.²⁵² Die Möglichkeit der Täuschung bezieht sich nicht auf den Akt selbst, sondern nur auf sein primäres Objekt – wenn ich z. B. ein Klingeln höre, ohne dass jemand geklingelt hat, täusche ich mich nicht darüber, dass ich einen Hörakt erlebt habe, sondern nur über sein Objekt – dem gehörten Ton entspricht nichts Wirkliches. Die Evidenz der inneren Wahrnehmung bürgt für die wirkliche Existenz der psychischen Phänomene, deren Wirklichkeit auf diese Weise epistemisch gesichert ist, und macht einen der Grundpfeiler von Brentanos Denken über die Psychologie als philosophische Wissenschaft aus: Die Richtigkeit der inneren Wahrnehmung ist in keiner Art erweisbar, aber sie ist mehr als dies, sie ist unmittelbar evident; und wer skeptisch diese letzte Grundlage der Erkenntnis antasten wollte, der würde keine andere mehr finden, um ein Gebäude des Wissens darauf zu errichten.²⁵³
Aus diesem Grund behauptet Brentano, sie sei die einzige Wahrnehmung im eigentlichen Sinne des Wortes (wahr-nehmen).²⁵⁴ Trotz ihrer Evidenz ist die innere Wahrnehmung keine innere Beobachtung, weil Letztere ein selbstständiger Akt ist, der sich gleichzeitig mit dem primären Akt abspielt und ihm zugewendet ist. Dagegen macht die innere Wahrnehmung ein Teil des psychischen Phänomens aus, der zugleich mit ihm erfolgt, weil der Akt bei Brentano so beschaffen ist, dass,
PeS, S. 161– 163, 227– 236. Aus diesem Grund behauptet Brentano, der Begriff „Existenz“ habe seinen Ursprung in der inneren Erfahrung (PeS, S. 233). PeS, S. 25, 108 f., 115, 139, 158; vgl. auch DPs, S. 129. PeS, S. 159. Brentano betont noch in der Metaphysikvorlesung die Evidenz der inneren Wahrnehmung gegen die Angriffe des Skeptizismus und nimmt dieselbe Problematik in den betreffen Kapiteln der Psychologie wieder auf (vgl. M 96, Bl. 31767, 31796 – 31805/„Metaphysikvorlesung. I. Theil. Apologetik …“, S. 35 f., 42– 44). PeS, S. 109.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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wenn er sich auf sein primäres Objekt bezieht, er sich simultan und nebenbei ebenfalls auf sich selbst beruft.²⁵⁵ In Bezug auf die physischen Phänomene gilt die These der Evidenz ihrer Wahrnehmung nicht, weil sich im Laufe der Zeit viele Beweise gesammelt haben, die zeigen, dass sie anders existieren können, als sie erscheinen – der im Wasser als gebrochen erscheinende Stab ist in Wirklichkeit nicht gebrochen. Daher schreibt Brentano ihnen keine wirkliche, sondern eine nur phänomenale und intentionale Existenz zu.²⁵⁶ Die Tatsache, dass Brentano in der Psychologie die äußere Wahrnehmung nicht unter dem Gesichtspunkt ihrer wissenschaftlichen Bearbeitung, d. h. als Ausgangspunkt der Beobachtung, betrachtet, sondern ständig ihren trügerischen Charakter hervorhebt, weist wiederum auf den cartesischen Rahmen seiner Analyse hin, unterstreicht doch Descartes in seiner Suche nach einem „festen und unbeweglichen Punkt“ der Erkenntnis ständig den unsicheren Charakter der sinnlichen Erkenntnis.²⁵⁷ Das so verstandene Erleben von eigenen psychischen Phänomenen im inneren Bewusstsein bildet die Grundlage der Psychologie, weil jene das Material liefern, das vom Psychologen im Sinne der positiven Wissenschaftsauffassung Comtes und Mills weiter bearbeitet wird: Die aufgrund der inneren Wahrnehmung aufgedeckten psychischen Phänomene sollen von den physischen Phänomenen klar unterschieden,²⁵⁸ in Gruppen aufgeteilt und klassifiziert werden. Von da aus sollen sie weiter gemäß der positiven Forschungsweise benutzt werden, denn die aufgrund der inneren Wahrnehmung entdeckten Verhältnisse der Sukzession und Koexistenz mentaler Zustände sollen als induktive Basis zur Auffindung der Vgl. dazu Brentanos Erörterungen über die innere Vorstellung, die sich auf die innere Wahrnehmung übertragen lassen (PeS, S. 147). PeS, S. 25, 35, 109, 115. Dabei ist zweierlei zu bemerken: Brentano leugnet nicht prinzipiell, dass physische Phänomene auch wirklich existieren können, sondern seine Rede von ihrer intentionalen und phänomenalen Existenz weist darauf hin, dass es sehr wohl möglich ist, dass sich ihre phänomenale Existenz als trügerisch erweisen kann (PeS, S. 111). In der deskriptiven Psychologie wird der Gesichtspunkt geändert, unter dem das physische Phänomen betrachtet wird: Es wird nicht mehr kausalerklärend (genetisch) in Bezug auf seine physische Ursache berücksichtigt, sondern deskriptiv, als intentionales Korrelat des psychischen Aktes. Deshalb behauptet Brentano, es könne bemerkt werden und auf diese Weise zu Erkenntnissen kommen, die zwar nicht evident, doch aber sicher und präzise seien (vgl. unten II.3.3.5.2). Trotz ihrer Wirklichkeit kann man den psychischen Phänomenen gleichfalls eine intentionale Existenz zuschreiben, wenn sie etwa Gegenstand anderer psychischer Akte sind, die auf sie gerichtet sind – ich denke z. B. an die Freude, die ich erlebt habe, als ich einen alten Freund wiedergetroffen habe. Vgl. z. B. die ersten zwei Meditationen in Descartes, a. a. O. Ein besonderer Fall ist der von physischen Phänomenen, die in der Phantasie erscheinen und für psychische Erscheinungen gehalten werden (PeS, S. 45 f., 95, 115, 117). Vgl. dazu auch DPs, S. 61 f.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
empirischen Gesetze ihrer Koexistenz und Sukzession dienen, die daraufhin auf letzte, höchste Gesetze zurückgeführt werden sollen. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass Wilhelm Wundts Grundzüge der physiologischen Psychologie in demselben Jahr, 1874, erschienen sind. Wundt bestimmt die Aufgabe seiner Psychologie folgendermaßen: Sie [die physiologische Psychologie; Hinzufügung I. T.] sucht die letzteren [die psychischen Elementarphänomene; Hinzufügung I. T.] zu finden, indem sie zunächst von den physiologischen Vorgängen ausgeht, mit denen sie im Zusammenhang stehen. So nimmt unsere Wissenschaft nicht sogleich inmitten des Schauplatzes der innern Beobachtung ihren Standpunkt, sondern sie sucht von aussen in denselben einzudringen. Hierdurch wird es ihr gerade möglich, das wirksamste Hulfsmittel der erklärenden Naturforschung, die experimentelle Methode, zu Rathe zu ziehen.²⁵⁹
Was Wundt hier ankündigt, ist das Programm einer psychischen Wissenschaft, die zwischen Physiologie und Psychologie vermittelt, weil sie die Lebensvorgänge, die „zwischen äusserer und innerer Erfahrung in der Mitte stehen“ studiert. Dazu nimmt sie den Weg „von außen nach innen“, indem sie sich die Methode der Experimentalphysiologie aneignet, ohne es jedoch zu unterlassen, die entscheidende Rolle, die dabei der inneren Beobachtung zukommt, zu betonen.²⁶⁰ Was Brentano betrifft, betont er zwar die Wichtigkeit der physiologischen Untersuchungen zur Erklärung psychischer Phänomene, ist jedoch kein Anhänger der von Comte, Maudsley und Horwicz, unternommenen Versuche, die Psychologie auf Physiologie zu reduzieren.²⁶¹ Eine durch die naturwissenschaftlichen Mittel der Beobachtung und Experimente ausgeführte physiologische Psychologie kommt für ihn also nicht in Frage, unter anderem auch deshalb nicht, weil er sich als Exponenten der alten, auf innerer Wahrnehmung beruhenden psychologisch(‐metaphysisch)en Tradition versteht.²⁶² Um Wundt zu paraphrasieren, nimmt Brentano seinen Standpunkt nicht „von außen“, sondern „inmitten“ des Bewusstseinslebens und versucht es von innen zu beleuchten. Wie schon gesagt, war Brentano fest davon überzeugt, dass das Überwinden des letzten Verfallsstadiums der neuzeitlichen Philosophie nur durch das Anschließen an die Methode der Naturwissenschaft möglich sei. Aber gerade hinsichtlich der inneren Wahrnehmung stößt seine Absicht, die Philosophie aufgrund der naturwissenschaftlichen Methode zu erneuern, an eine Grenze, die Wundt, a. a. O., S. 5. Zur wesentlichen Rolle des „Selbstbewusstseins“ oder der „inneren Beobachtung“ für Wundts physiologische Psychologie vgl. Wundt, a. a. O., S. 2 f. PeS, Buch I, Kap. 3, §§ 5 – 7. PeS, S. 58; vgl. auch die Ausführungen in II.3.2.3.3 oben.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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nicht zu überwinden ist und die zeigt, dass seine Absicht, das Programm der positiven Forschung in die Psychologie zu übernehmen, nicht restlos auf das psychische Gebiet zu übertragen ist: Im Unterschied zur Naturwissenschaft, die mit einer Wahrnehmung arbeitet, die sich zur wissenschaftlichen Beobachtung, d. h. zum absichtlichen und aufmerksamen Studium der zu ergründenden Phänomene, steigern lässt, operiert der empirische Psychologe mit einer Wahrnehmung, die trotz ihrer Evidenz nie Beobachtung werden kann. Der Grund dafür besteht darin, dass jeder Versuch, die psychischen Erscheinungen zu beobachten, während sie erlebt werden, zu ihrer Veränderung oder ihrem Aufhören führt – der Versuch, einen Wutzustand zu beobachten, während er erlebt wird, führt zu seiner „Abkühlung“.²⁶³ Damit streifen wir ein Problem, das zum eigentlichen Thema unseres Kapitel führt, weil eine zentrale These von Comtes Cours de philosophie positive eben in der Behauptung besteht, die innere Beobachtung als psychologische Methode sei unmöglich, weil niemand Objekt und Subjekt zugleich sein kann – niemand kann seine mentalen Zustände zugleich erleben und beobachten, d. h. aufmerksam studieren.²⁶⁴ Auch wenn Comte nicht verneint, dass wir uns unserer psychischen
PeS, Buch I, Kap. 2, § 2, und S. 60 f.; vgl. auch M 96, Bl. 31804 f./„Metaphysikvorlesung. I. Theil. Apologetik …“, S. 43. Aus diesem Grund greift Brentano auch Mills These über das Studium psychischer Phänomene, die noch frisch im Gedächtnis sind, auf (PeS, S. 49 ff.; vgl. auch unten S. 294 ff.). Es ist nicht klar, ob Maudsleys Diskussion über dasselbe Problem Einfluss auf Brentano ausgeübt hat oder nicht – Brentano zitiert ihn nicht in den Erörterungen über dieses Problem (PeS, S. 44 f.), sondern erst später, wenn er sich explizit mit Comtes Haltung zur inneren Beobachtung beschäftigt (S. 46 ff.). Es lohnt sich trotzdem zu bemerken, dass Maudsley den eigentlichen Wert von Comtes Kritik an dem genannten Problem gerade darin sieht, dass er gezeigt hat, dass der Versuch, die intellektuellen Funktionen zu beobachten, ihre Modifikation zur Folge hat (H. Maudsley, „Recent Metaphysics“, Journal of Mental Science (1866), S. 545). CPhP I, S. 31 f. Die psychologische Methode ist den anderen drei von Comte aufgeführten Methoden entgegenzustellen: die theologische, die metaphysische und die positive Methode (CPhP I, S. 8 f.). Comte zufolge besteht ihre Eigenart darin, dass derjenige, der sie anwendet, zugleich Subjekt und Objekt ist. Zu Comtes Kritik an dieser Verdoppelung in seinen Jugendschriften vgl. L. Clauzade, L’organe de la pensée: Biologie et philosophie chez Auguste Comte, Besançon, Presses Universitaires de Franche-Comté, 2009, S. 32 ff. Es ist ein Gemeinplatz in der Comte-Forschung, dass sich Comtes Einwände gegen die innere Beobachtung und die Psychologie nicht auf die assoziationistische Psychologie Mills und auf das von ihm befürwortete „internal consciousnes“ (Mill, Auguste Comte and Positivism, S. 296) bezieht, sondern die französische, eklektische Schule jener Zeit (P.-P. Royer-Collard, V. Cousin, Th. Jouffroy) im Visier hatte (Scharff, a. a. O., S. 21 ff.; Schmaus, a. a. O., S. 29 – 34; eine ausführliche Analyse dieser Geistesströmung liefert J. Brooks III, The Eclectic Legacy: Academic Philosophy and the Human Science in Nineteenth-Century France, Newark, University of Delaware Press, 1998). Vgl. dazu auch Wilson (a. a. O.), der die Kritik der schottischen Schule der common sense philosophy (Lord Kames, Reid) an den Thesen der Assoziationspsychologie Berkeleys und Humes aufschlussreich analysiert
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
Phänomene bewusst sind, während wir sie erleben, misst er dieser Tatsache keinen Wert angesichts des wissenschaftlichen positiven Studiums des Geistes bei und verwirft deswegen jede auf die innere Beobachtung fundierte Psychologie, die ein Überrest des theologischen Stadiums des Denkens sei.²⁶⁵ Demgemäß weigert sich Comte, der Psychologie den Status einer positiven Wissenschaft zu verleihen, und setzt an ihre Stelle die physiologische Phrenologie. Brentano, der sich stark bemüht hat, seine Vier-Phasen-Theorie in Einklang mit Comtes Drei-Stadien-Gesetz zu bringen, stimmt Comtes These in Bezug auf die Selbstbeobachtung der psychischen Phänomene zu, wirft ihm aber zugleich vor, dass er keinen Unterschied zwischen dieser und der inneren Wahrnehmung mache und ihm infolgedessen entgehe, dass die einzige Quelle der Erkenntnis des eigenen psychischen Lebens nicht die Beobachtung des Verhaltens anderer Personen, sondern dessen Erleben im inneren Bewusstsein sei.²⁶⁶
sowie Galls und Comtes Positionen hinsichtlich der seelischen Funktionen und auch Comtes Kritik der inneren Beobachtung als Weiterentwicklungen dieser Kritik sieht. Darüber hinaus stellt er Mills Auseinandersetzung mit Comte angesichts des inneren Bewusstseins im Lichte von Mills Reaktion auf diese Kritik überzeugend dar. CPhP I, S. 30; Scharff, a. a. O., S. 38. Comtes Kritik an der Psychologie und der inneren Beobachtung ist gegen V. Cousin gerichtet. Cousin vertrat einen spiritualistischen Eklektizismus, der die Philosophie auf der Psychologie begründen wollte und unter dem Einfluss des deutschen Idealismus Hegels stand – wie gesagt, lehnt Brentano den deutschen Idealismus ab. Der Erfolg seiner Vorlesung über die Geschichte der Philosophie löste die polemische Reaktion des Mediziners F. Broussais aus, der in seiner Schrift De l’irritation et de la folie, ouvrage dans lequel les rapports du physique et du moral sont établis sur les bases de la médecine physiologique (1828) die These Cousins, die Psychologie sei die Wissenschaft vom Menschen und die innere Beobachtung ihre echte Methode, entschieden ablehnt und diese Stelle für die Physiologie und ihre Methode, die äußere Beobachtung, reklamiert. Comte schrieb bereits 1828 einen Aufsatz über diese Schrift (Comte, „Examen du Traité de Broussais sur l’irritation“ (1828), in A. Comte, Système de politique positive, ou Traité de sociologie, instituant la religion de l’humanité, Bd. 4, Appendice général – sixième partie, Paris, Carilian-Goeury, 1854, S. 217– 229; vgl. zu Cousins Psychologie und Comtes Kritik an ihr Scharff, a. a. O., S. 21 f.; Clauzade, a. a. O., S. 68 – 72; Schmaus, a. a. O., S. 29 ff.; vgl. zum Verhältnis Comte – Broussais, Clauzade, a. a. O., S. 72– 78). Sowohl in diesem Punkt als auch in der Verwerfung der von Comte unternommenen Auflösung der Psychologie in einer Phrenologie folgt Brentano Mill (Auguste Comte and Positivism, S. 296 f.; PeS, S. 44, 48). Brentano wendet jedoch gegen Mill ein, er habe Comtes Kritik der inneren Beobachtung nicht wertgeschätzt (PeS, S. 48). Zum Verhältnis Comte – Mill angesichts der Frage der inneren Wahrnehmung vgl. Th. Heyd, „Mill and Comte on Psychology“, Journal of the History of the Behavioral Sciences 25, April 1989, S. 125 – 138; F. Wilson, a. a. O.; Scharff, a. a. O., S. 19 – 44; Schmaus, a. a. O., S. 29 – 34; vgl. auch Maudsleys Kritik an Mill in seiner Rezension zu Mills Buch über Hamilton und seine Verteidigung von Comtes These über die Psychologie (Maudsley, a. a. O.).
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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Hinsichtlich dieses Problems wurde in der heutigen Comte-Forschung behauptet, im Hintergrund von Comtes Argumentation gegen die innere Beobachtung stünden seine Einwände gegen die These des Eklektikers V. Cousin, wir könnten unmittelbar die Art und Weise beobachten, in der der Wille unsere Bewegungen beeinflusst. Comte, der hinsichtlich dieser Frage Humes Position einnehme, verwerfe diese These und behaupte, wir würden nur erkennen, dass der Wille die Bewegungen unseres Köpers beeinflusse, ohne einen Einblick in den physiologischen Mechanismus dieser Einwirkung zu haben.²⁶⁷ Unter diesem Gesichtspunkt gebe es keinen Unterschied zwischen Comte und Mill, weil Mill gegen Hamilton dieselbe These angesichts der Wahrnehmung der unmittelbaren Wirkung des Willens auf den Körper wie Comte verteidigt habe.²⁶⁸ Mills Kritik an Comte laufe daher ins Leere, weil sie verschiedene Ziele verfolgten: Mills Einwände gegen Comte würden sich auf die unmittelbare Erkenntnis mentaler Zustände beziehen, die mittels der Assoziationen verbunden werden. Dagegen habe Comtes Kritik die direkte Erkenntnis der Art und Weise vor Augen, in der der Wille auf Muskeln und Nerven wirke.²⁶⁹ Man muss jedoch klar sagen, dass dies nicht der Punkt ist, den einerseits Comte in seiner Kritik an der metaphysischen Psychologie Cousins und andererseits Mill und Brentano in ihrer Kritik an Comte vor Augen haben. An der erwähnten Stelle in Comtes Cours geht es weder um den Willen noch um seinen Einfluss auf den Intellekt, sondern um die Erkenntnis der intellektuellen Operationen des Geistes durch ihre direkte Beobachtung. In Bezug auf diese Operationen verwirft Comte zum einen entschieden jede Möglichkeit, sie unmittelbar beobachten zu können.²⁷⁰ Zum anderen bringt er mit keinem Wort die Möglichkeit ihrer Erkenntnis aufgrund ihres Erlebens im inneren Bewusstsein ins Spiel, auch wenn er die These nicht verwirft, dass wir uns ihrer bewusst sind. Das lässt sich sehr wohl als Argument dafür verwenden, dass diese Art der direkten Erkenntnis mentaler Zustände ihm zufolge für das positive Studium der intellektuellen Funktionen des Menschen nichts wert ist. Wie sich aus dem Zusammenhang seiner Ausführungen entnehmen lässt, hält Comte wegen der Unmöglichkeit, zugleich psychisches Objekt und Subjekt zu sein, den Weg des unmittelbaren Erkennens der intellektuellen Operationen für verschlossen, ohne je für einen Moment die Möglichkeit zu erwägen, sie aufgrund von innerer Wahrnehmung zu
Schmaus, a. a. O., S. 30 f. Brentano bezieht sich ebenfalls auf dieses Problem (AC, S. 120 f.). Schmaus, a. a. O., S. 31. Schmaus, a. a. O., S. 31. CPhP I, S. 30 ff.; ders. „Examen …“, S. 219 f. Comte hält auch in der Vorlesung 45 seines Cours an dieser Position fest (CPhP III, S. 407 f.).
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analysieren.²⁷¹ Er lässt deshalb die psychologische Methode beiseite²⁷² und wendet sich dem indirekten Studium des Geistes auf der Basis des von Blainville übernommenen Unterschieds zwischen den statischen und den dynamischen Perspektiven der Analyse zu: Unter statischem Gesichtspunkt handelt es sich um „das physiologische Studium unserer intellektuellen Organe“ aufgrund der „Bestimmung der organischen Bedingungen“ des mentalen Lebens.²⁷³ Die dafür zuständige Wissenschaft ist die Physiologie der gefühlsmäßigen (affective) und intellektuellen Funktionen des Menschen, oder die physiologische Phrenologie. Sie ist die Wissenschaft, die bei Comte die Psychologie ersetzt. Im Cours wird sie vorläufig für die dritte allgemeine Ableitung der zur Biologie gehörenden Physiologie gehalten.²⁷⁴ Ihre Aufgabe besteht darin, für jede phrenologische Funktion das zerebrale Organ festzustellen, das dazu bestimmt ist, sie zu erfüllen.²⁷⁵ Im dritten Band seines Werkes (1838) liefert Comte kein vollständiges Bild dieser
Tatsächlich ist das der Hauptpunkt von Mills Kritik an Comte, nämlich dass Comte der direkten Erkenntnis der mentalen Zustände aufgrund ihres direkten Erlebens keinen Wert zuschreibt (Mill, Auguste Comte and Positivism, S. 296 f.). Unter diesem Gesichtspunkt spielt die Tatsache gar keine Rolle, dass weder Mill noch Brentano Cousins Auffassung in ihrer Auseinandersetzung mit Comte in die Diskussion bringen. Denn Comte lehnt nicht nur Cousins Psychologie, sondern jede Psychologie, einschließlich die der beiden Autoren, ab, die sich auf die direkte Erkenntnis der psychischen Phänomene gründet. Scharffs Argument, Comte habe nicht verneint, dass wir uns unserer mentalen Zustände bewusst sind, ist in diesem Zusammenhang nicht relevant, weil das Problem nicht darin besteht, sondern in dem Wert – nämlich keinem –, den Comte dieser Erkenntnis und der auf sie gegründeten Psychologie zumisst (Scharff, a. a. O., S. 38). Die Tatsache, dass Comte keine explizite und klare Haltung zum inneren Bewusstsein im Sinne vom Mill eingenommen hat, heißt also nicht, dass er damit und mit Mills assoziationistischer Psychologie einverstanden gewesen wäre. Zu Comtes Einwände gegen die Psychologie vgl. aufschlussreich Guillin, die drei Gründe nennt, weshalb Comte die Psychologie für gescheitert hält: Unter methodologischem Gesichtspunkt arbeitet sie mit einer kontradiktorischen oder fruchtlosen Methode, in wissenschaftlicher Perspektive liefert sie keine echten, sondern nur falsche oder chimärische Ergebnisse, und vom architektonischen Standpunkt aus findet sie keinen Platz in Comtes Stufenleiter der Wissenschaften (V. Guillin, „Comte and Social Science“, in Bourdeau, Pickering und Schmaus (Hrsg.), Love, Order, & Progress …, S. 144 ff.). CPhP I, S. 30; CPhP III, S. 408 f. Horwicz (oben II.3.2.3.3) und Maudsley (vgl. unten II.3.2.5) stimmten ihm zu. CPhP III, S. 405. Die zwei anderen Abteilungen der Physiologie sind die vegetative und animalische Physiologie. Wenn diese zwei Zweige der Physiologie weit genug entwickelt sind, dann soll die Phrenologie eine bloße Unterteilung der animalischen Physiologie werden. CPhP III, S. 408 f., 421. Vgl. zu diesem Problem auch L. Clauzade, „Auguste Comte’s Positive Biology“, in Bourdeau, Pickering und Schmaus (Hrsg.), Love, Order, & Progress …, S. 93 – 127.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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Funktionen,²⁷⁶ sondern begrenzt sich darauf, den allgemeinen Rahmen ihrer Klassifikation abzuzeichnen: Er unterscheidet zwischen gefühlsmäßigen und intellektuellen Vermögen und teilt die ersten weiter in Begierden (penchants) und Gefühle und die letzten in sinnliche, der Beobachtung dienende Vermögen und Vermögen der Überlegung.²⁷⁷ Diese Einteilung entspricht genau der Lokalisierung der phrenologischen Organe des zerebralen Apparates: Die Begierden haben ihren Sitz im hinteren Teil des Gehirns, die Gefühle im mittleren und die intellektuelle Funktionen im vorderen Teil desselben.²⁷⁸ Vor diesem Hintergrund weist Comte die theologisch-metaphysische Philosophie zurück, die die Gefühle dem Intellekt unterordnet und so eine Kluft zwischen Mensch und Tier statuiert, indem sie nur dem Ersteren ein intellektuelles Vermögen zuschreibt und das Letztere für einen „Automaten ohne Seele“ hält (Descartes). Die genaue Beobachtung der Tatsachen im Geist der positiven Forschung zeigt jedoch für Comte zweifelsohne, dass die Gefühle vor den intellektuellen Funktionen den Vorrang haben und die erwähnte Kluft zu schließen ist: Zum einen gehört die Spezies „Mensch“ der zoologischen Skala an und ist deshalb in Kontinuität mit anderen tierischen Spezies zu analysieren. Zum anderen sind die Tiere mit gefühlsmäßigen und intellektuellen Funktionen ausgestattet.²⁷⁹ Man sieht also, dass Comtes Klassifikation der seelischen Funktionen mit ihrer anatomischen Lokalisierung Hand in Hand geht und er der inneren Wahrnehmung der mentalen Zustände keine Aufmerksamkeit schenkt. Dagegen baut Brentano die Psychologie auf der inneren Wahrnehmung auf, ohne sich mit der Frage zu beschäftigen, was die anatomische Grundlage seiner dreiteiligen Klassifikation der psychischen Phänomene in Vorstellung, Urteil und Gemütsbewegung ist.
Das macht er in seiner späteren Schrift Système de politique positive (1851– 1854; vgl. dazu Bourdeau, a. a. O.). CPhP III, S. 422. Clauzade macht darauf aufmerksam, dass Comte in der Vorlesung 56 seiner Schrift noch die praktischen Vermögen in die Diskussion einführt und in seinem späteren Werk Système de politique positive mit der dreiteiligen Klassifikation der Vermögen in die intellektuellen, gefühlsmäßigen und praktischen Funktionen arbeitet (Clauzade, „Auguste Comte’s Positive Biology“, S. 123). CPhP III, S. 421, 423 f. Für eine ausführliche Diskussion dieses Problemfeldes s. das schon erwähnte Buch Clauzades. CPhP III, S. 401 ff., 410 ff., 421; vgl. auch „Examen …“, S. 221, 226. In diesem Zusammenhang wird ein anderer Grund deutlich, weshalb Comte die traditionelle Psychologie ablehnt: Wegen der besonderen Stellung, die sie dem Menschen zuschreibt, studiert sie seine seelischen Funktionen an sich, unabhängig vom Körper, von der Welt, zu der sie gehören, und auch von den Funktionen anderer Spezies der zoologischen Skala, so wie die positive Denkweise es fordert (vgl. dazu auch Guillin, a. a. O., S. 142).
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
Unter einem dynamischen Gesichtspunkt geht es hingegen um das Erkennen des Entwicklungsganges des menschlichen Geistes auf der Basis seiner theoretischen Ergebnisse und Verfahren. Auf diese Weise kommt man auf die drei Methoden, die den drei Stadien entsprechen und deren sich die Menschheit in ihrer Geschichte bedient hat: die theologische, die metaphysische und die positive Methode. Wir haben es also hier nicht mit der Erkenntnis der individuellen mentalen Zuständen und ihrer Charakterisierung und Klassifikation zu tun, so wie dies bei Brentano der Fall ist, sondern mit dem Kern der positiven Philosophie: Comte weist sowohl die Psychologie als auch die innere Beobachtung entschieden zurück, weil sie keinen Zugang zu den intellektuellen Funktionen liefern, die seinem Zweck dienen, nämlich der Feststellung der „logischen Gesetze des Geistes“, z. B. des Drei-Stadien-Gesetzes.²⁸⁰ Obwohl dieses Gesetz auch auf individueller, psychologischer Ebene gültig ist,²⁸¹ wurde es von Comte nicht aufgrund von psychologischer Beobachtung der intellektuellen Funktionen einzelner Personen entdeckt, sondern indem er vom Studium der Ergebnisse intellektueller Tätigkeit ausgeht, um von hier aus auf das Verfahren zurückzuschließen, dessen Resultate sie sind. Man bemerkt so, wie unterschiedlich Comtes Behandlung der Themen „Psychologie“ und „innere Beobachtung“ und ihre Rezeption bei Mill (und Brentano) ausfallen: Im Cours weist Comte nicht nur Cousins, sondern auch jede andere, auf die innere Wahrnehmung oder Beobachtung fundierte Psychologie zurück, weil sie nicht zum statischen bzw. dynamischen positiven Studium des menschlichen Geistes beitragen können. Mill und Brentano dagegen rezipieren Comtes Kritik nicht auf diesem Level, sondern nur auf der Ebene einer auf das innere Bewusstsein (Mill) oder die innere Wahrnehmung (Brentano) gegründeten Psychologie. Allerdings droht die Unmöglichkeit der inneren Wahrnehmung, Beobachtung werden zu können, den Anspruch der Psychologie auf den Status einer empirischen Wissenschaft aufzuheben, weil es Wissenschaften gibt, die ohne Experiment auskommen. Ohne Beobachtung, so Brentano, gebe es aber keine Wissenschaft.²⁸² Brentano findet eine Lösung hierfür, indem er wiederum Mills Erklärungen aufgreift, der in seiner Kritik an Comte darauf hinweist, dass ein wichtiger Teil unserer psychischen Erkenntnisse von der Beobachtung der eben erlebten psychischen Phänomene herrühre. Auch wenn wir manchmal die eigenen psychischen Zustände während ihres Erlebens nicht beobachten können, ist
CPhP I, S. 30. CPhP I, S. 11 f. PeS, S. 49. Wie schon angedeutet, sieht Wundt in der experimentellen Methode eine der wichtigsten Erkenntnisquellen seiner physiologischen Psychologie (Wundt, a. a. O., S. 2– 5).
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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es doch möglich, die noch frisch im Gedächtnis gebliebenen Zustände gleich darauf aufmerksam zu studieren.²⁸³ Vor diesem Hintergrund wird klar, warum Brentano Mill in der Psychologie so hoch schätzt: Im Unterschied zu Comte, der die auf der inneren Beobachtung (oder Wahrnehmung) beruhende Psychologie kategorisch ablehnte und der Psychologie keinen wissenschaftlichen Status einräumte, befürwortete Mill eine solche Psychologie, die darüber hinaus, so Brentano, die Unsterblichkeitsfrage nicht ausschließt. Mill liefert Brentano also einen Ausweg aus der Sackgasse, in die Comte zufolge diejenigen geraten, die eine metaphysische Psychologie befürworten. Das soll uns jedoch nicht über wichtige Unterschiede zwischen Brentanos und Mills psychologischer Auffassung hinwegtäuschen: 1. Mill wollte eine Psychologie, die reine positive Wissenschaft ist; Brentano dagegen eine phänomenale, modern verfasste Psychologie, die stark metaphysische Züge trägt.²⁸⁴ 2. Bei Mill gibt es eine „Wissenschaft von der menschlichen Natur“, die sich mit dem Studium der Gedanken, der Gefühle und der menschlichen Handlung beschäftigt.²⁸⁵ Diese Wissenschaft fasst die Psychologie als ihren „allgemeinen und abstracten Theil“ auf, der die „einfachen oder elementaren Gesetze des Geistes“ zu studieren hat, aus denen die Gesetze anderer Wissenschaften abzuleiten sind.²⁸⁶ Bei Brentano dagegen gibt es keine Disziplin, die der Wissenschaft von der menschlichen Natur entspricht, denn die Psychologie ist bei ihm zwar der abstrakten theoretischen Wissenschaft „Philosophie“ untergeordnet, aber ihr kommt nicht das Studium der menschlichen Handlungen zu, sondern sie befasst sich mit dem Seienden „insofern es unter
Mill, Auguste Comte and Positivism, S. 296 ff.; PeS, S. 49 ff. Es geht hier nicht um eine eigene Idee Mills, sondern er übernimmt sie von Hamilton, dessen Ausführungen über das Studium psychischer Phänomene im Gedächtnis auf Cardaillac zurückgehen (vgl. dazu J. Cardaillac, Études élémentaires de philosophie, I, Paris, Hachette, 1830, S. 3 f.; Hamilton, Lectures …, S. 379; Wilson, a. a. O., S 119). In „Recent Metaphysics“ (S. 547 f.) wirft Maudsley Mill vor, dass eine Psychologie, die sich auf die Beobachtung mentaler Zustände gründet, nicht die Ergebnisse vernachlässigen könne, die die Physiologie und ihre Methode über die Art und Weise liefert, in der die Krankheiten des Gehirns die Leistungen des Bewusstseins affizieren. Mill, Auguste Comte and Positivism, S. 296; SLRI II, S. 849/455. Wie bereits gesagt, findet die Unsterblichkeitsfrage keinen Platz in Mills Erörterungen über die Wissenschaft der menschlichen Natur aus seiner Logik; vielmehr behauptete Brentano aufgrund von Mills Äußerungen im Buch über Hamilton, Mills Psychologie sei verträglich mit dieser Frage (Mill, An Examination …, Kap. XII, und PeS, S. 33). SLRI II, S. 844/449. SLRI II, S. 853/460.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
Begriffe fällt, welche durch innere Erfahrung gegeben sind […]“.²⁸⁷ Wie schon gezeigt, hat die Philosophie zwei Grunddisziplinen, die Psychologie und die Metaphysik, und es ist deshalb falsch, zu sagen, dass die Psychologie allein ihren „allgemeinen und abstracten Theil“ bilden würde. Mills Psychologie ist in praktischer Absicht verfasst, weil die letzten psychologischen Assoziationsgesetze die Grundlage bilden, die als Basis der Voraussagen der Politik und der sozialen Wissenschaft dienen sollen, und aus der die Gesetze der moralischen und sozialen Wissenschaften abgeleitet werden.²⁸⁸ Darüber hinaus sind die letzten Gesetze des Geistes nicht psychophysischer, sondern psychischer Natur.Wie schon gezeigt wurde, erwähnt Brentano zwar die praktischen Folgen der Psychologie, ohne diese Frage aber weiter zu entwickeln.²⁸⁹ Er erwähnt auch Mills Gesetze der Ideenassoziation, stimmt aber nicht Mills These zu, sie wären für die Psychologie das, was das Gravitationsgesetz für die Physik sei, und, ohne sie explizit zurückzuweisen, behauptet er, die letzten Gesetze der Psychologie seien nicht rein psychischer Natur, sondern sollten „psychophysischen Charakter erhalten“, weil sie den physiologischen Bedingungen der psychischen Phänomene gerecht werden sollten.²⁹⁰ In seinen Ausführungen über die Wissenschaft von der menschlichen Natur betrachtet Mill als Grundmethoden der Psychologie die Beobachtung und das Experiment.²⁹¹ Er bezieht sich dagegen mit keinem Wort auf die innere Wahrnehmung. Um genau zu sein: Mill ist vollkommen klar, dass wir uns unserer eigenen psychischen Zustände bewusst sind, während wir sie erleben, und erkennt auch die Wichtigkeit dieses Erlebens als direkte Quelle psychologischer Erkenntnis an.²⁹² Aber er thematisiert diese Tatsache nicht als innere Wahrnehmung, die nach Brentano ein Bestandteil des erlebten psychischen Zustandes selbst ist, und betont auch nicht ihre Evidenz. Im Gegenteil, er folgt Hamilton und Cardaillac,²⁹³ behandelt die erwähnte Tatsache als psychologische Selbstbeobachtung und hebt die mit ihr verbundene Schwierigkeit hervor: Es ist nicht einfach, einen psychischen Zustand zu beobachten, während er
Ms. H 45, apud Hedwig, a. a. O., S. XIII. SLRI II, S. 847/453. PeS, S. 36 ff.; vgl. oben II.3.2.3.4. PeS, S. 27 ff., 62 f.; Mill, Auguste Comte and Positivism, S. 290. Brentanos Äußerung findet ihre Parallele in Mills Behauptung über die Möglichkeit, die psychologischen Gesetze aus „den Gesetzen des tierischen Lebens“ abzuleiten (SLRI II, S. 851/458). SLRI II, S. 851, 855/457 f., 463. Mill, Auguste Comte and Positivism, S. 296. Hamilton, Lectures …, S. 375 f.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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erlebt wird, weil dies, wie die beiden Autoren zeigten, eine Teilung der Aufmerksamkeit erfordert. Einerseits ist die Aufmerksamkeit vom Vollzug des psychischen Aktes selbst in Anspruch genommen. Andererseits ist sie in den Vollzug des beobachtenden Aktes, der sich mit dem ersten Akt zugleich abspielt, einbezogen. Im Fall von intensiv erlebten Akten ist eine solche Verdoppelung nicht möglich, weil die Aufmerksamkeit völlig in ihr Erleben involviert ist. Und auch in den Fällen, die leichter als die intensiven Gemütsbewegungen zu beobachten sind, bleibt die Selbstbeobachtung eine schwierige Operation.²⁹⁴ Unter diesem Gesichtspunkt muss man also keinen Unterschied zwischen innerer Wahrnehmung und Beobachtung machen, weil sich bei Mill gar keine Frage nach der inneren Wahrnehmung stellt.²⁹⁵ Dementsprechend waren im Unterschied zu Comte und Brentano, die glaubten, dass es nicht möglich ist, auf psychologischer Ebene zugleich Objekt und Subjekt zu sein, Cardaillac, Hamilton und Mill der Meinung, dass die innere Beobachtung eine schwierige, aber doch mögliche Operation ist. In diesem Sinne behauptet Mill: In the first place (i. e. as regarding the rejection of the psychological observation), M. Comte might be referred to experience, and to the writings of his countryman M. Cardaillac and our own Sir William Hamilton, for proof that the mind can not only be conscious of, but attend to, more than one, and even a considerable number, of impressions at once.[…] It is true that attention is weakened by being divided; and this forms a special difficulty in psychological observation, as psychologists (Sir William Hamilton in particular) have fully recognized; but a difficulty is not an impossibility.²⁹⁶
Diese Stelle zeigt klar, dass Mill dabei eine auf die mentalen Zustände gerichtete Aufmerksamkeit vorschwebt, die sich zugleich mit ihrem Erleben abspielt. Diese Aufmerksamkeit ist kein wirklicher Teil der Akte wie bei Brentano, sondern ein
Hamilton, Lectures …, S. 375 f. Ein relevantes Beispiel für diese These ist z. B. der Fall, in dem jemand etwas (ein Haus) sieht und zugleich seinen Sehakt zu beobachten versucht. Es geht also nicht um solche Fälle, in denen eine Person sich mitten in einer psychischen Tätigkeit, etwa dem Hören einer Melodie, plötzlich bewusst wird, dass sie die Melodie hört (vgl. dazu Wilson, a. a. O., S. 116). In diesem letzten Fall geht es nicht um eine absichtlich verfolgte Teilung der Aufmerksamkeit zwischen dem erlebten Akt und dem Akt, der ihn gleichzeitig beobachtet, sondern um eine empirische Begebenheit, um eine spontane, plötzlich erfolgte Änderung der Richtung der Aufmerksamkeit. Das steht eng damit in Verbindung, dass Mill seine Wissenschaft von der menschlichen Natur und damit auch die Psychologie und Ethologie nicht auf der Evidenz der inneren Wahrnehmung, sondern auf Beobachtung und Experiment aufbaut (SLRI II, S. 851/458). Mill, Auguste Comte and Positivism, S. 296; vgl. auch SLRI I, S. 4 f./6 f., und SLRI II, 457/851, die klar zeigen, dass Mill die innere Beobachtung für ein Hauptmittel psychologischer Erkenntnis hielt.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
selbstständiger mentaler Akt.²⁹⁷ Wie ich oben schon zeigte, ist die These über die Schwächung der Aufmerksamkeit durch ihre Teilung ein zentrales Motiv bei denjenigen Autoren, z. B. Horwicz, die eine auf die Physiologie fundierte Psychologie verteidigten und zugleich sowohl die Rolle als auch die Schwierigkeiten der psychologischen Selbstbeobachtung hervorhoben.²⁹⁸ Dabei ist wichtig zu betonen, dass der Akzent bei Mill nicht auf der Schwierigkeit der inneren Beobachtung, sondern auf der Möglichkeit ihrer Überwindung, und zwar durch die Beobachtung im Gedächtnis, liegt: Secondly, it might have occurred to M. Comte that a fact may be studied through the medium of memory, not at the very moment of our perceiving it, but the moment after: and this is really the mode in which our best knowledge of our intellectual acts is generally acquired. We reflect on what we have been doing, when the act is past, but when its impression in the memory is still fresh.²⁹⁹
Mithin zählt Mill hier zwei wichtige Quellen der Erkenntnis psychischer Phänomene auf: die psychologische Beobachtung und das Studium psychischer Zustände, die noch frisch im Gedächtnis sind. Was Brentano betrifft, kritisiert er zwar Comte, weil er die Wichtigkeit der inneren Wahrnehmung als eines wissenschaftlichen Mittels zum Studium mentaler Funktionen aus den Augen verloren hat, wendet aber zugleich Mill gegenüber ein, dass er Comtes Kritik an der inneren Beobachtung nicht gerecht würde.³⁰⁰ Angesichts des Studiums von psychischen Phänomenen im Gedächtnis integriert Brentano die Position der drei Autoren in die Psychologie und fasst sie als Grundlage psychologischer Experimente auf, ohne jedoch diesen Experimenten die Wichtigkeit zuzuschreiben, die ihnen Mill beimisst: Das Behalten noch frischer psychischer Erscheinungen im Gedächtnis lässt sich Brentano zufolge insofern als Basis psychischer Experimente nehmen, als man zunächst gewisse psychische Phänomene, z. B. Empfindungen, hervorruft. Daraufhin sollen sie, solange sie noch frisch im Gedächtnis sind, aufmerksam studiert werden, um herauszufinden, aus welchen Teilphänomenen sie bestehen und welche Folgen (z. B. angenehme oder unangenehme Empfindungen) sie nach sich ziehen – etwa: aus welchen Teilen besteht ein gewisser Geschmack, z. B. der der bitteren Schokolade, und wie wird er erlebt (angenehm oder unangenehm)? Die psychische
Wie schon erwähnt, ist die innere Wahrnehmung Brentano zufolge kein selbstständiger Akt, sondern ein Teil des psychischen Aktes selbst, der in seiner Richtung auf sich selbst besteht. Horwicz, a. a. O., S. 169 f. Mill, a. a. O., S. 296 f. PeS, S. 48.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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Beobachtung ist somit möglich, aber nicht während des Erlebens des mentalen Zustandes, sondern gleich danach in der Erinnerung.³⁰¹ Allerdings operiert das Gedächtnis nicht mit den psychischen Phänomenen selbst, sondern nur mit ihrer Erinnerung, sodass sich die Evidenz und die Untrüglichkeit der inneren Wahrnehmung nicht auf die Beobachtung im Gedächtnis übertragen lässt, die untreu und unsicher sein kann. Die Uneinigkeit der Philosophen angesichts der Grundklassen psychischer Phänomene und der Frage, „ob eine Gefühlsregung, Lust oder Unlust, jedes psychische Phänomen begleiten“, rühren daher.³⁰² Wenn man nun auch Brentanos deskriptive Psychologie in die Betrachtung einbezieht, dann lassen sich die folgenden Positionen angesichts der inneren Wahrnehmung und Beobachtung und ihrer Rolle in der Fundierung einer wissenschaftlichen Psychologie unterscheiden: 1) Es gibt keine zuverlässige Methode zur direkten Erkenntnis des mentalen Lebens. Die innere Selbstbeobachtung und die Psychologie als Wissenschaft sind unmöglich (Comte). 2) Die innere Selbstbeobachtung ist schwierig, aber möglich (Cardaillac, Hamilton, Mill, Horwicz und in einem gewissen Maße Maudsley). Die Schwierigkeit der Selbstbeobachtung kann dadurch überwunden werden, dass die psychischen Phänomene studiert werden, gleich nachdem sie erlebt wurden und so lange sie sich noch frisch im Gedächtnis befinden (Cardaillac, Hamilton, Mill und Brentano in der Psychologie). Die direkte Erkenntnis des mentalen Lebens und die Psychologie als Wissenschaft sind möglich. 3) Die innere Selbstbeobachtung ist unmöglich. Die direkte Erkenntnis des mentalen Lebens und die Psychologie als Wissenschaft sind trotzdem möglich, und zwar durch die evidente innere Wahrnehmung der eigenen mentalen Zustände (Brentanos empirische und deskriptive Psychologie). Im folgenden Abschnitt werde ich zeigen, dass die psychische Selbsterkenntnis durch die innere Wahrnehmung und das Studium psychischer Phänomene, die sich frisch im Gedächtnis befinden, bei Brentano nicht ausreichen, um eine empirische Psy-
Genauso wie Brentano und Mill (und man könnte sagen gegen Comte) ist auch Husserl davon überzeugt, dass das Studium psychischer Phänomene (in seiner Sprache intentionaler Erlebnisse) möglich ist, aber im Unterschied zu Mill und Brentano bevorzugt er es, sie als „Gegenstände[] reflektiver, innerer Anschauungen“ zu thematisieren (vgl. Hua XIX/2, S. 765, und unten II.3.4). PeS, S. 50 f.; vgl. auch S. 239. Maudsley (a. a. O., S. 545 – 548) ist auch dazu geneigt, der Beobachtung im Gedächtnis einen gewissen, bescheidenen Wert für das Studium des mentalen Lebens einzuräumen, bemerkt aber zugleich gegen Mill (und Brentano), dass diese Methode weit davon entfernt sei, als wissenschaftliche Beobachtung gelten zu können, und hebt in aufschlussreicher Weise den veränderlichen Charakter des Gedächtnisses hervor.
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chologie zu etablieren. Darüber hinaus ist es nötig, Methoden in die Untersuchung miteinzubeziehen, die zur indirekten Erkenntnis fremden psychischen Lebens beitragen. II.3.2.5 Maudsleys Kritik am Selbstbewusstsein und die Methoden zur indirekten Erkenntnis fremder psychischer Phänomene in der Psychologie Die Betrachtung der psychischen Phänomene in der inneren Wahrnehmung und ihre Beobachtung im Gedächtnis ziehen die Gefahr nach sich, dass die Psychologie sich zu einer solipsistischen Wissenschaft entwickeln kann. Der Grund dafür liegt darin, dass sie auf diese Weise nur auf das Studium des eigenen psychischen Lebens begrenzt wird und das Risiko eingeht, psychische Besonderheiten einzelner Individuen als allgemeingültig zu betrachten. Um dieses Hindernis zu überwinden, schlägt Brentano vier Wege vor, um die Ergebnisse der direkten Ergründung des eigenen mentalen Lebens aufgrund einer indirekten Erkenntnis fremden psychischen Lebens auszubauen: (1) „Indirekte Erkenntnis fremder psychischer Phänomenen aus ihren Äußerungen“.³⁰³ Dabei ist es wichtig, auf eine entscheidende Annahme in Brentanos Vorgehensweise hinzuweisen: Auch wenn seine Psychologie krankhafte Erscheinungen psychischen Lebens zu Rate zieht, ist sie „keine Pathologie der Seele“ (Maudsley), sondern eine Wissenschaft von „normalen“ gesunden Menschen, die voraussetzt, dass die Grundklassen psychischer Phänomene (Vorstellungen, Urteile und Gemütsbewegungen) für jedes einzelne Individuum dieselben sind. Was einer aufgrund des Studiums eigener mentaler Zustände erfährt, lässt sich also auf das psychische Leben anderer Personen übertragen und verifizieren, weil die erlebten psychischen Phänomene menschlicher Individuen der Gattung nach dieselben sind.³⁰⁴ Unter diesen Umständen sind die sprachlichen und verhaltensmäßigen Äußerungen des mentales Lebens als Zeichen zu betrachten, die die Rolle haben, den anderen anzuzeigen, dass die Person, welche den betreffenden Ausdruck, z. B. die Redewendung „Prima“ benutzt, einen gewissen mentalen Zustand (z. B. Befriedigung) erlebt.³⁰⁵ Damit streifen wir die Frage nach den Funktionen der Ausdrücke bei Brentano, die er in seinen Vorlesungen über Logik, Ästhetik und Psychologie weiter thematisierte.³⁰⁶ PeS, S. 7. Diese Frage taucht bei Husserl als Konstitution des alter ego wieder auf (vgl. unten S. 465). PeS, S. 51 ff. Diese Annahme ist auch für die deskriptive Psychologie gültig (DPs, S. 37). WE, S. 76 – 83. Vgl. oben Teil I, S. 118 f., und Teil III, S. 469.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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Hier ist der angemessene Ort, um ein paar Bemerkungen über das Werk des englischen Physiologen Henry Maudsley (1835 – 1918) zu machen, die für die folgenden methodischen Momente der indirekten Erkenntnis fremder psychischer Phänomene bei Brentano wichtig sind. In seiner Physiologie und Psychopathologie der Seele beklagt Maudsley, dass die Erkenntnisse, die auf der Basis des metaphysisch-psychologischen Selbstbewusstseins gewonnen würden, keine Anwendung auf das „praktische Studium der Irrenheilkunde“ hätten.³⁰⁷ Demgemäß möchte er eine Analyse des Seelenlebens vollziehen, die die Grundlage eines solchen Studiums bilden kann. Seiner Meinung nach ist die dazu nötige Methode nicht das Selbstbewusstsein, sondern die objektive, physiologische Methode, die von den materiellen Bedingungen des mentalen Lebens Rechenschaft gibt.³⁰⁸ Ihm zufolge ist diese Methode „für diejenigen bestimmt, die sich mit den neuesten Fortschritten der Physiologie und mit dem gegenwärtigen Stand der psychologischen Physiologie [z. B. Benecke; Hinzufügung I. T.]³⁰⁹ in Deutschland bekannt gemacht haben und mit den Schriften einheimischer Schriftsteller, wie Bain, Herbert Spencer […] vertraut sind“.³¹⁰ Für mein Thema ist es wichtig zu bemerken, dass Maudsley seine Auswahl für die physiologische Methode aufgrund einer tiefergreifenden Kritik an der Methode des Selbstbewusstseins und der darauf basierenden Psychologie rechtfertigt.³¹¹ Dabei ist er der festen Überzeugung, dass das direkte Bewusstsein (das Selbstbewusstsein oder die innere Beobachtung bei Comte und Brentano) keine sichere Grundlage für eine empirische, induktiv verfahrende Psychologie bilden kann,
Henry Maudsley, Die Physiologie und Pathologie der Seele (PPS), nach des Originals zweiter Auflage deutsch bearbeitet von R. Boehm, Würzburg, A. Stuber’s Buchhandlung, 1870, S. VIII. Brentano arbeitet in der Psychologie nicht mit dem englischen Original (The Physiology and Pathology of the Mind, New York, Appleton, 1867), sondern mit der deutschen Übersetzung von Maudsleys Schrift. Diese Methode ist der objektiven Methode, d. h. dem Studium des Seelenlebens aufgrund seiner intersubjektiv verifizierbaren Grundlagen und Äußerungen, untergeordnet. Vgl. Maudsley, „Recent Metaphysics“, S. 553. PPS, S. VIII. In seiner Rezension zu Mills Buch über Hamilton ist Maudsley gegenüber Bain zurückhaltend und zieht Mills Äußerung in Zweifel, Bain hätte zur Begründung einer positiven Psychologie im Sinne der positiven Auffassung Comtes beigetragt (Mill, Auguste Comte and Positivism, S. 298). Maudsley behauptet dagegen, Bain sei kein Vertreter der positiven, physiologischen Methode, weil seine Analysen der alten psychologischen Methode tief verschuldet seien, wenig Sinn für die physiologische Betrachtungsweise zeigten und dem Stand der physiologischen Forschung seiner Zeit nicht entsprächen („Recent Metaphysics“, S. 548 f.).Vor diesem Hintergrund kann ich Morands Behauptung, „Maudsley was […] an admirer of Alexander Bain […]“, nicht zustimmen (D. Moran, „Brentano’s Concept of Descriptive Psychology“, in D. Fisette, G. Fréchette, F. Stadler (Hrsg.), Franz Brentano and Austrian Philosophy, Dordrecht, Springer, 2020, S. 87). PPS, S. VII f.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
weil es kein „zuverlässiger, genügender Zeuge“ dafür ist, was sich in der Seele abspielt.³¹² Die Einwände, die er gegen die psychologische Methode erhebt, lassen sich je nach ihren Zielen in zwei Gruppen teilen: Einwände gegen die Zuverlässigkeit des Selbstbewusstseins und Einwände gegen seine Vollständigkeit. Die ersten Einsprüche lauten wie folgt: (i) Innere Beobachtung ist schwierig durchführbar und es gibt nur wenige Personen, die dazu fähig sind;³¹³ (ii) ihre Ergebnisse variieren je nach Beobachter und sind nicht intersubjektiv kontrollierbar;³¹⁴ (iii) als solche genommen ist Selbstbeobachtung unnatürlich und widersprüchlich, weil sie voraussetzt, dass sich das Bewusstsein von außen nach innen wendet, und dabei die mentalen Zustände in eine Art Stillstand bringen will, in dem sich im Bewusstsein nichts weiter abspielt und nichts weiter zu beobachten ist;³¹⁵ (iv) der Irrsinnige kann sich ebenfalls auf das Zeugnis seiner inneren Beobachtung berufen.³¹⁶ Die Argumente gegen die Vollständigkeit des inneren Bewusstseins rühren von Maudsleys Unterscheidung zwischen Zuständen des Bewusstseins und der Seele her: Ein Bewusstseinszustand sei das, was das Selbstbewusstsein zu beobachten beanspruche. Ein Seelenzustand könne dagegen sowohl bewusst als auch unbewusst, d. h. unbemerkt vom Selbstbewusstsein erfolgen, so wie es der Fall im Traum oder Delirium sei.³¹⁷ Aus diesem Grund sei die Klasse der Seelenzustände viel breiter als die von Bewusstseinszuständen, welche in sie einzuschließen sei. Demgemäß seien auch die Beobachtungen des Selbstbewusstseins „von geringem Werth, weil es nur mit einem kleinen Theil von dem in Beziehung steht, worüber man Auskunft verlangt“.³¹⁸ Dementsprechend lauten seine Einwände gegen die Vollständigkeit des Selbstbewusstseins folgendermaßen: (i) Es gibt seelische Phänomene – die Anfänge des psychischen Lebens in der Kindheit und das seelische Leben von Tieren –, die einfacher als die von er-
PPS, S. 9. PPS, S. 9. Maudsley ist damit einverstanden, dass die Anwendung der psychologischen Methode in gewissen Grenzen nutzbar ist, und unter diesem Gesichtspunkt gleicht seine Position der Position von Cardaillac, Hamilton, Mill und Horwicz (PPS, S. 5, 24 f.).Was er hingegen in seiner Schrift entschieden ablehnt, ist ihre Einstufung als einziger Weg der psychologischen Forschung und ihre Bevorzugung gegenüber der physiologischen Methode, die seiner Meinung nach viel angemessener als die introspektive Methode ist, um vom Seelenleben Rechenschaft zu geben. PPS, S. 9. PPS, S. 9 f., 32. Maudsley Argument geht auf die berühmte Kritik Comtes am Selbstbewusstsein zurück (vgl. CPhP I, S. 30 ff., und auch ders., „Recent Metaphysics“, S. 545). PPS, S. 10, 24. Vgl. dazu Brentanos Kritik an der Existenz unbewusster psychischer Phänomene (PeS, S. 129 ff.). PPS, S. 10, 14 f., 27.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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wachsenen Menschen sind und die dem Selbstbewusstsein verschlossen bleiben; (ii) es gibt mentale Zustände, und zwar die pathologischen seelischen Erscheinungen, über die die „introspektiven Psychologen“ nichts wissen wollen, die aber sehr dazu geeignet sind, die Basis einer induktiven Psychologie zu erweitern, weil sie Informationen über das mentale Leben liefern, die anders nicht zu bekommen sind. Der Grund dafür rührt daher, dass sie es zulassen, den Verlauf des mentalen Lebens unter den von Natur aus veränderten physiologischen Bedingungen zu beobachten, welche wir nicht imstande sind, künstlich herzustellen;³¹⁹ (iii) das Selbstbewusstsein gibt keine Rechenschaft von den organischen Bedingungen des mentalen Lebens;³²⁰ (iv) die äußeren Eindrücke werden gewöhnlich ohne die Teilnahme von Gehirn oder Seele verarbeitet;³²¹ (v) das Selbstbewusstsein liefert keinen Aufschluss über die Art und Weise, in der sich die Residua (die Spuren, die die ehemaligen mentalen Zustände in der Seele hinterlassen haben, die habituellen Dispositionen bei Brentano) im Bewusstsein fixiert haben und „wie sie latent in der Seele sich verhalten“;³²² (vi) „Das Bewusstsein enthüllt uns nichts von dem Process, durch welchen eine Vorstellung eine andere hervorruft, und hat keine Gewalt über die Art und Weise ihrer Reproduktion“;³²³ (vii) Das Gehirn reagiert unbewusst auf die Stimuli, die es von den inneren Organen erhält.³²⁴ All diese Einwände sind für Maudsley ebenso viele Beweise, dass eine empirische Psychologie, die auf dem Selbstbewusstsein beruht, keine induktiv verfahrende Wissenschaft sein kann, weil ihre Methode unsicher ist. Darüber hinaus gibt es eine Menge von Tatsachen des Seelenlebens, die sie vernachlässigt.³²⁵
PPS, S. 11 f. Angesichts der Bedeutung dieser methodischen Momente für das Studium des mentalen Lebens stimmt Maudsley mit Comte, Broussais und Brentano überein. In seiner Rezension von Mills Buch weist Maudsley mit Nachdruck darauf hin, dass das krankhaft gestörte seelische Leben eine Art Ersatz für die Experimente, die nicht angestellt werden können, darstelle: „As a matter of fact, the defects of memory which are met with in consequence of disease of the brain are so numerous and so various in kind and degree, that it is impossible to give an adequate idea of them except by enumerating them in detail; and yet these experiments provided for us by nature, these changes in the conditions of the problem, which are exactly what we should wish to produce artificially if we had them not, are made no use of in mental science, because psychologists insist on discarding the physiological method.“ (Maudsley, „Recent Metaphysics“, S. 547 f.; vgl. auch PPS, S. 27) PPS, S. 12 f. PPS, S 13 ff. PPS, S. 15. PPS, S. 16. PPS, S. 19 f. PPS, S. 19 f. Der Ausdruck „empirische Psychologie“ (empirical psychology) taucht gelegentlich auch bei Maudsley auf (S. 9); viel öfter spricht er aber von einer „induktiven Psychologie“ (PPS, S. 10 f. und passim).
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Auch wenn Maudsley dieser Methode nicht jeden Wert abspricht,³²⁶ weist er doch jeden Versuch zurück, die Ergebnisse der Physiologie für die Zwecke der introspektiven Psychologie zu nutzen, und spricht sich deutlich dafür aus, das Seelenleben aufgrund der physiologischen Methode zu studieren, denn sie allein sei fähig, von den organischen Bedingungen des mentalen Lebens Rechenschaft zu geben.³²⁷ Maudsleys wiederholte Gegenüberstellung von Psychologie und Physiologie macht auf eine wichtige Annahme seiner Vorgehensweise aufmerksam, denn, ohne Comte zu benennen, ordnet er die Psychologie implizit in Comtes Stufenleiter der Wissenschaften ein und weicht so von Comtes Ausschließung der Psychologie aus der Reihe der positiven Wissenschaften wesentlich ab: Es muss reiflich erwogen werden, dass die Seele die letzte, die höchste und vollendetste Stufe der Entwicklung der Natur darstellt und eben deshalb auch der letzte, complicirteste und schwierigste Gegenstand der menschlichen Forschung sein muss. Freilich ist gegenwärtig noch keine Aussicht auf eine positive Psychologie vorhanden; denn für ihre Entfaltung ist die Vollendung der übrigen Wissenschaften nothwendig und es ist, wie bekannt, noch nicht sehr lange, dass der Geist der Metaphysik aus der Astronomie, Physik und Chemie gewichen ist, und dass diese Wissenschaften nach zweitausendjährigen, unnützen und wechselnden Träumereien feste Grundsätze bekommen haben. Noch später hat sich die Physiologie aus dem Nebel erhoben und dies aus entgegengesetzten Gründen: 1) ist sie vollständig abhängig von den physikalischen und chemischen Wissenschaften, 2) ihre festen Beziehungen zur Psychologie drohten, sie zum Opfer des metaphysischen Geistes zu machen. Doch das Umgekehrte geschah und wir haben keinen Grund zur Verzweiflung, sondern zur Hoffnung.³²⁸
Wie gesagt schlägt Brentano in der Psychologie denselben Weg der Einordnung der Psychologie in Comtes Skala der positiven Wissenschaft ein. Im Unterscheid
PPS, S. 24; vgl. auch PeS, S. 48. Locke ist der einzige, dem Maudsley das Verdienst zuerkennt, in seinem Essay die psychologische introspektive Methode in der richtigen, d. h. gemäßigten und nutzbringenden Weise angewandt zu haben. Die Tatsache, dass Lockes Nachfolger ihm aufgrund derselben Methode widersprechen, hält Maudsley für ein Zeichen dafür, dass Lockes Resultate mehr seiner Begabung als seiner Methode verschuldet waren (PPS, S. 19 f., 24 f.). Brentanos Vorwurf, Maudsley hätte Lockes psychologische Beobachtungen nicht geschätzt, ist nicht begründet (PeS, S. 70; vgl. dagegen Maudsley, a. a. O., S. 25). Nur nebenbei sei bemerkt, dass Maudsley in „Recent Metaphysics“ J. St. Mill vorwirft, in seinen psychologischen Analysen den Stand von Lockes Essay nicht überwunden zu haben („Recent Metaphysics“, S. 540). PPS, S. 24; zu Maudsleys Haltung gegenüber der Bewertung physiologischer Untersuchungen in der traditionellen Psychologie vgl. oben seine Kritik an Bain. PPS, S. 26 (Hervorhebung I. T.). Maudsley ist mit Mill und Brentano darin einig, dass die Psychologie berechtigt ist, als selbstständige Wissenschaft zu bestehen, und weist Comtes Auflösung der Psychologie in der Phrenologie zurück (PPS, S. 36).
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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zu Maudsley aber ist er von der Möglichkeit und dem Wert einer auf die innere Wahrnehmung gegründeten Psychologie überzeugt. Dagegen zeigt das Zitat, dass Maudsleys Kritik an der introspektiven Psychologie und an ihrer subjektiven Methode daher rührt, dass er sich als Anhänger einer positiven Psychologie verstand, die sich einer objektiven Methode bedient. Es geht um eine Methode, die in dem intersubjektiv verifizierbaren Studium der unterschiedlichen Formen des Seelenlebens besteht und der auch die physiologische Methode unterzuordnen ist.³²⁹ Maudsley zählt dabei vier Formen der objektiven Methode auf, die ich deshalb wiedergebe, weil sie alle im zweiten Kapitel des methodologischen Buches der Psychologie ihr Pendant finden:³³⁰ „Das Studium des Entwicklungsgangs der Seele […] am Thier, am Wilden, am Kind“; „Das Studium der Entartung der Seele“; „Das Studium der Biographie und besonders der Autobiographie, das oben schon als die Anwendung positiver Methode auf das menschliche Leben bezeichnet wurde“; und „Das Studium der Fortschritte oder Rückschritte der menschlichen Seele, die uns die Geschichte lehrt“.³³¹ Mit dieser Aufzählung entfaltet Maudsley das ganze Spektrum der objektiven Methode. Sie ist dazu geeignet, eine vollständige empirische Basis einer positiven Psychologie zu liefern, die induktiv zu verfahren hat und „sich mit der Beobachtung des ganzen Umfanges der menschlichen Natur befasst“.³³² Brentano, der Maudsley aufmerksam las, glaubte dagegen, dass eine empirische, induktiv verfahrende psychische Wissenschaft nicht auf der Physiologie, sondern auf der Evidenz der inneren Wahrnehmung zu begründen sei. Darüber hinaus weist er die Hypothese über die Existenz unbewusster psychischer Zustände zurück und sichert so die Vollständigkeit der empirischen Basis seiner Psychologie: Da nämlich die Klasse der Seelenzustände nicht umfangreicher, sondern gleich der der bewussten Zustände ist, fallen Bewusstsein und Seele zusammen und jeder psychische Akt ist dem inneren Bewusstsein zugänglich. Andererseits stimmt er Maudsleys Vorwurf implizit zu, dass eine induktive Psychologie, die die einfachen und pathologischen mentalen Zustände nicht in Betracht zieht, nicht vollständig sein kann, und setzt seine Darstellung über die
PPS, S. 9, 26. Damit möchte ich nicht sagen, dass Brentano seine Methode der indirekteren Erkenntnis fremden psychischen Lebens von Maudsley übernimmt. Zum einen behandelt er sie anders als dieser, zum anderen war sie in der Epoche weit verbreitet: Comte folgt z. B. Broussais und legt großen Wert darauf, die pathologischen Krankheitserscheinungen zu studieren. Ich glaube jedoch, dass eine angemessene Diskussion der Beziehungen von Brentanos Psychologie zu Maudsleys Auffassung diesen methodologischen Aspekt nicht außer Acht lassen sollte. PPS, S. 27 f. PPS, S. 28.
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Wege, auf denen von der Selbsterkenntnis zur indirekten Erkenntnis fremder psychischer Phänomene überzugehen ist, wie folgt fort. (2) „Studium eines Seelenlebens, das einfacher als das unserige ist“.³³³ Dabei besagt „einfach“, dass das psychische Leben entweder minder entwickelt ist („Beobachtung und Experiment an Neugeborenen“, Beobachtungen an Kindern oder an den „Erwachsenen bei Völkerstämmen“) oder dass gewisse Gattungen der Phänomene ganz abwesend sind, so wie dies z. B. bei Blindgeborenen der Fall ist.³³⁴ Darüber hinaus subsumiert Brentano unter diesen Titel auch die Beobachtung an Tieren, die unter dem doppelten Gesichtspunkt der minder entwickelten und der Abwesenheit gewisser psychischer Funktionen studiert werden können: Uebrigens wird nach jeder Theorie, die sich nicht so weit von dem gesunden Menschenverstande entfernt, dass sie den Thieren alles psychische Leben abspricht, die Erforschung und die Vergleichung ihrer psychischen Eigenthümlichkeiten mit denen des Menschen für den Psychologen von grösstem Werthe sein.³³⁵
Dieses Zitat ist hier von Bedeutung, weil es zeigt, dass Brentano in diesem Punkt mit Maudsley einverstanden ist und nicht der theologisch-metaphysischen (cartesischen) Tradition zugehört, die von Comte verurteilt wurde. Wie gesagt hält diese Tradition Tiere für Automaten, schreibt ihnen keine intellektuellen Funktionen zu und postuliert so eine nicht zu schließende Kluft zwischen Mensch und Tier.³³⁶ Aber im Unterschied zu Comte, der den Menschen in die zoologische Skala einordnet, um ihn mit den Mitteln der positiven Forschung zu ergründen, stellt Brentano den Vergleich zwischen Mensch und Tier auf, um die metaphysische These über die Unsterblichkeit der menschlichen Seele zu begründen: Die abstrakten Begriffe und die ihnen zugeordneten psychischen Phänomene sind nicht dem Tier, sondern nur dem Menschen eigen und gehören einem Teil der menschlichen Seele an, die den Tod überdauert.³³⁷
PeS, S. 7; vgl. auch Maudsley, a. a. O., S. 11 f., 27; CPhP III, S. 408. PeS, S. 55. PeS, S. 56. CPhP III, S. 402. Im Inhaltsverzeichnis des sechsten Buches der Psychologie steht: „III. Kapitel: Fortsetzung […] § 4. Die Tiere wenigstens sind sterblich. Der Mensch ist ihnen physiologisch und psychisch verwandt“ (apud Rollinger, a. a. O., S. 293). „Schon oberflächliche Betrachtung zeigt den grandiosen Unterschied der Begabung des Menschen und der Tiere. Die nähere psychologische Analyse aber zeigt als die Wurzel des Unterschieds den Besitz und Mangel der abstrakten Begriffe, woran der der höheren Urteile und Phänomene von Liebe und Haß knüpft. Größe der Kluft. […] Die höheren psychischen Phänomene gehören zu einem physischen Teil für sich. Dieser ist übersinnlich, nicht erzeugt, aus nichts ge-
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(3) Die „Betrachtung krankhaften Seelenlebens“, die Maudsleys Ansicht nach eine wesentliche Rolle für die Begründung einer positiven Psychologie spielt, ist auch für die Erklärung wichtiger Probleme der Psychologie von Belang. Dabei ist zu bemerken, dass Brentano diese Frage anders als Maudsley behandelt, nämlich unter dem Gesichtspunkt ihres Beitrags zur Entdeckung der empirischen Gesetze einer Psychologie, die auf den Grundalgen der inneren Wahrnehmung aufbaut. Unter diesen Umständen kann die Beobachtung des krankhaften Seelenlebens dem Studium der Ideenassoziation Abhilfe leisten, indem sie zeigt, wie die sogenannten fixen Ideen die Assoziationskette modifizieren. Darüber hinaus stoßen wir mit der Behandlung der Art und Weise, in der die abnorme Entwicklung gewisser anatomischer Organe die psychischen Funktionen verändert, auf das Thema „Verbindung der psychischen Phänomene mit unserem leiblichen Sein“,³³⁸ also auf das Leib-Seele-Problem, das abgesehen von der Unsterblichkeitsfrage den Schwerpunkt des sechsten Buches der Psychologie bildet. Was Brentano in diesem Zusammenhang über die Dienste sagt, welche die physiologischen Untersuchungen bei der Behandlung dieses Problems leisten können, nimmt er im letzten Abschnitt des ersten Buches wieder auf, wo er ausdrücklich die Wichtigkeit der physiologischen Forschungen hervorhebt: Die Forschung, die hier sich um die Frage [nach dem Fortbestand des psychischen Lebens nach dem Tod; Hinzufügung I. T.] bewegt, welche zu allen Zeiten das lebhafteste Interesse hervorgerufen hat, wird offenbar einen in mancher Beziehung neuen Charakter annehmen müssen. Sie wird einerseits nicht umhin können, auf einige Gesetze der Metaphysik, mehr als es sonst eine phänomenale Psychologie thut, Rücksicht zu nehmen; und andererseits wird auch von den Ergebnissen der Physiologie hier mehr noch als in den früheren Untersuchungen Anwendung zu machen sein. Denn die Frage nach der Möglichkeit eines Fortbestandes des psychischen Lebens bei der Auflösung des leiblichen Organismus, ist eigentlich eine psychophysische Frage; nur eine von denen, die nach unserer früheren
schaffen, unvergänglich, wenn er nicht etwa durch Vernichtung untergeht. Und gegen sie schützen die allgemeinsten und darum schlechthin ausnahmslosen kosmologischen Gesetze. So ist die Unsterblichkeit des Menschen seinem edelsten Teile nach gesichert.“ (Ps 62/54011– 54012; apud Rollinger, a. a. O., S. 275; vgl. auch GPhN, S. 19; Ps 62 ist das Manuskript von Brentanos Vorlesung über die Psychologie im SS 1871, das anlässlich der im WS 1872/73 gehaltenen Vorlesung zu demselben Thema korrigiert wurde. Vgl. auch Rollingers Kommentar dazu, der auf den aristotelischen Hintergrund dieser Stelle hinweist und darauf aufmerksam macht, dass „physischer Teil“ in diesem Zusammenhang ein terminus technicus ist, der dazu bestimmt ist, die Trennbarkeit der Seele vom Körper hervorzuheben (Rollinger, a. a. O., S. 274)). PeS, S. 56.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
Auseinandersetzung, wegen des Uebergewichts psychischer Betrachtungen, der Psychologie, nicht der Physiologie zuzuweisen sind.³³⁹
Wenn man diese Äußerungen in Verbindung mit dem Inhaltsverzeichnis des sechsten Buches der Psychologie liest,³⁴⁰ dann bemerkt man sofort, dass die metaphysische Dimension seiner Schrift ohne die Einbeziehung der Ergebnisse physiologischer Forschung nicht zu denken ist und dass Brentano mit der späteren Unterscheidung zwischen genetischer und deskriptiver Psychologie und mit der Zuwendung zu deskriptiv-psychologischen Fragen ein Problemfeld der Psychologie beiseitelegte, das ihm in der Arbeit von 1874 äußerst wichtig war und dessen Ergründung nur mithilfe der Physiologie möglich war.³⁴¹ Darüber hinaus kommt im Zusammenhang mit der Diskussion der krankhaften seelischen Erscheinungen eine Frage in den Blick, die für das erste Buch seiner Arbeit zentral ist, nämlich die Frage nach den Gesetzen der Koexistenz und Sukzession krankhafter psychischer Phänomene. Die Lösung, die er dafür vorschlägt, besteht darin, den Verlauf krankhafter Erscheinungen aus den Gesetzen der Sukzession psychischer Phänomene gesunder Menschen abzuleiten.³⁴² Abschließend sei noch bemerkt, dass Brentano angesichts der Bedeutung krankhafter seelischer Erscheinungen für das Studium des Menschen nicht nur mit Maudsley, sondern auch mit Comte übereinstimmt, der Broussais folgend die Analyse derselben Phänomene zur Behandlung der seelischen Funktionen empfahl. (4) „Studium hervorragender Thatsachen im Leben Einzelner wie in dem der Völker“.³⁴³ Brentanos Ausführungen über die Weltgeschichte in diesem Paragraphen sind deswegen bedeutsam, weil auf ihrer Basis ein anderer wichtiger Unterschied zwischen ihm und Comte deutlich wird: Auch wenn Comte sein Drei-
PeS, S. 90. Gemäß dem Original wurde „Anseinandersetzung“ mit „Auseinandersetzung“ ersetzt (F. Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte, in zwei Baenden, erster Band, Leipzig, Duncker & Humblot, 1874, S. 95). Das Inhaltsverzeichnis wurde von Rollinger (a. a. O., S. 293 ff.) veröffentlicht. In DPs spricht Brentano über den „unabhängigsten von den wirklich ablösbaren Teilen des menschlichen Bewußtseins“, der empirisch nicht positiv, sondern nur negativ zu ergründen sei. Dieser Teil, der die psychischen Akte individualisiert und für die Metaphysik von Bedeutung ist (DPs, S. 81 ff.), wird jedoch nicht explizit mit der Unsterblichkeitsfrage in Verbindung gebracht. Wie schon angedeutet, wurde in der einschlägigen Literatur (Rollinger, a. a. O.; Antonelli, „Eine Psychologie …“) auf die metaphysische Tragweite der Arbeit Brentanos aus dem Jahr 1874 hingewiesen. PeS, S. 56 f. Dieses Problem wird im folgenden Kapitel des ersten Buches wiederaufgenommen und weiterentwickelt (PeS, S. 77– 80). PeS, S. 57 f.; vgl. auch PPS, S. 27 f.
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Stadien-Gesetz auf der Ebene der individuellen psychischen Entwicklung illustriert,³⁴⁴ leugnet er entschieden jede auf der inneren Wahrnehmung fundierten psychologischen Analyse und bevorzugt das Studium intellektueller und gefühlsmäßiger Funktionen aufgrund ihrer Ergebnisse und ihrer anatomischen Organe. Im Gegensatz zu ihm und Maudsley befürwortet Brentano die ältere, auf die innere Wahrnehmung gegründete Psychologie und behauptet: Freilich, wenn die Betrachtung der Phänomene der menschlichen Gesellschaft auf die psychischen Phänomene des Einzelnen Licht wirft, so ist doch auch das Umgekehrte, und wohl in reicherem Maasse, der Fall, und es wird im Allgemeinen der naturgemässere Weg sein, wenn man aus dem was man beim Einzelnen gefunden für das Verständniss der Gesellschaft und ihrer Entwickelung, als wenn man umgekehrt aus der Betrachtung dieser für die Probleme der individuellen Psychologie Aufschlüsse zu gewinnen sucht.³⁴⁵
Darin bekundet sich schon, was im einleitenden Kapitel der Psychologie angedeutet wird und in seiner Antrittsvorlesung klar zutage tritt, nämlich die Bevorzugung der Psychologie gegenüber der Soziologie und dass Brentano zufolge weder die Phrenologie noch die Physiologie noch die Soziologie, sondern die Psychologie die fundamentale Wissenschaft vom Menschen ist, die die anderen Wissenschaften vom Menschen, einschließlich der Soziologie, zu fundieren hat.³⁴⁶ Wenn man nun die Untersuchungen in der Schrift von 1874 unter dem Gesichtspunkt der Anwendung der eben besprochenen methodischen Mittel betrachtet, dann ist klar, dass sie hauptsächlich auf der Basis der inneren Wahrnehmung und Beobachtung im Gedächtnis ausgeführt werden. Gelegentlich greift Brentano auf Ergebnisse aus der Beobachtung von Tieren oder des Studiums krankhafter seelischer Erscheinungen zurück. In der Gesamtheit der Psychologie kommt diesen Mitteln jedoch nur eine sekundäre Bedeutung zu: Brentano wendet sie an, um Fragen zu lösen, die sich aus der Analyse ergeben, die er anhand der inneren Wahrnehmung durchgeführt hat, z. B. die Frage nach der Einheit des Bewusstseins, oder ob es unbewusste psychischen Phänomene gibt oder nicht.³⁴⁷ Auch wenn die Wege der indirekten Erkenntnis fremden psychischen Lebens nicht die Hauptmethode seiner Schrift ausmachen, werfen sie doch ein neues Licht auf Brentanos programmatische Aussage zu Beginn seiner Schrift, „Mein Standpunkt in der Psychologie ist der empirische; die Erfahrung allein gilt mir als CPhP I, S. 11 f. PeS, S. 58. PeS, S. 37, 41 f. In seiner Antrittsvorlesung behauptet Brentano ausdrücklich, die sozialen Erscheinungen würden zu den psychischen Erscheinungen gehören (ZPh, S. 100). PeS, S. 123 ff., 183 f., 190 f.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
Lehrmeisterin“,³⁴⁸ denn sie zeigen, dass die hier zur Diskussion stehende Erfahrung nicht nur die innere, sondern auch die äußere, d. h. die Erfahrung ist, die auf der äußeren Wahrnehmung beruht. Die Tatsache, dass diese Facette seiner Methodologie gewöhnlich übersehen wird, steht für mich recht gut damit im Einklang, dass die geschichtliche Rezeption seiner Schrift sich besonders auf das zweite Buch seiner Arbeit konzentriert hat. In diesem Zusammenhang ist es beachtenswert, dass Brentano in der Darstellung der erwähnten sekundären methodischen Mittel diese nie in Verbindung mit der äußeren Wahrnehmung bringt, sondern sich zu ihrer Charakterisierung ständig solcher Begriffe wie „Studium“, „Beobachtung“ oder „Betrachtung“ bedient.³⁴⁹ Es geht mithin um Begriffe, deren wissenschaftlicher Status unzweifelhaft ist, denn die von ihnen bezeichneten wissenschaftlichen Vorgehensweisen werden nicht wie die äußere Wahrnehmung für trügerisch gehalten. Wie schon angedeutet, assoziiert Brentano in der Psychologie die Naturwissenschaft mit der äußeren Wahrnehmung, um den niedrigeren Status der physischen Phänomene im Vergleich zu den psychischen Phänomenen hervorzuheben, die so erscheinen wie sie existieren und deren Überlegenheit und Erhabenheit in enger Verbindung mit der Unsterblichkeitsfrage steht.³⁵⁰ Diese metaphysische Facette seiner Psychologie macht den Hauptgrund aus, weshalb Brentano Comtes positiver Auffassung nicht bis zum Ende, sondern nur in seinen ersten Schritten folgen konnte, nämlich in Bezug auf die Festlegung der Ziele psychologischer Forschung, in der Ergründung der Merkmale der psychischen Phänomene, in ihrer Klassifikation, in der Auffindung der Gesetze ihrer Koexistenz und Sukzession und in der Reduzierung dieser Gesetze auf letzte Gesetze. Den Begriff der Seele möchte er aber nicht aus der Psychologie verbannen, sondern setzt ihn in der Arbeit von 1874 in Klammern, um ihn später in der deskriptiven Psychologie wieder hervorzuholen.³⁵¹ Dagegen wird die Unsterblichkeitsfrage in der Arbeit von 1874 in einer modernen Gewandung beibehalten. Eine Positivierung der Psychologie im Sinne von Comtes Ausschluss der metaphysischen Begriffe wollte Brentano also nicht, sondern er betrachtet die eben erwähnten positiven Ziele als vereinbar mit der Unsterblichkeitsfrage, die er mithilfe der Daten und methodischen Mittel der positiven Forschung bejahend lösen will. Ganz anders bei Comte: Auf der Basis seiner Äußerungen über die Psychologie ist klar, dass die metaphysischen zentralen Begriffe der Psychologie
PeS, S. 3. Vgl. dazu auch die Erörterungen über das Bemerken unten. PeS, S. 41 f. DPs, S. 146, 154.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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Brentanos dem theologisch-metaphysischen Stadium des Denkens angehören. Auf sie und auf jede auf innere Beobachtung gegründete Psychologie muss der positive Forscher verzichten. Auch wenn Comte die Möglichkeit einer auf der inneren Wahrnehmung beruhenden Psychologie nicht erwägt, gibt es in seinem Cours kaum ein Indiz dafür, dass er eine solche Psychologie befürwortet hätte.³⁵² Im Gegenteil, er schließt nicht nur diese, sondern jede Psychologie aus der Stufenleiter der positiven Wissenschaften aus, was die kritische Reaktion nicht nur der Anhänger (Mill, Brentano) einer Psychologie, die sich auf die direkte Kenntnis psychischer Erscheinungen gründet, sondern auch der Verteidiger einer positiven Psychologie (Maudsley) auf den Plan rief. Trotz dieses Unterschieds zwischen ihm und Brentano darf jedoch nicht vergessen werden, dass Brentano Comtes Zurückweisung der inneren Beobachtung nachvollzieht und Mill dafür kritisiert, diesen Aspekt von Comtes Auffassung nicht geschätzt zu haben.³⁵³ Darüber hinaus stimmt Brentano, auch wenn er nicht darauf hinweist, mit Broussais, Comte und Maudsley hinsichtlich der Wichtigkeit der Betrachtung der krankhaften Seelenerscheinungen und der einfacheren Formen des Seelenlebens für das Studium der psychischen Funktionen des Menschen überein.³⁵⁴
II.3.2.6 Brentanos Psychologie und die methodischen Momente der Naturwissenschaft II.3.2.6.1 Die gemeinsame Basis von Brentanos empirischer und deskriptiver Psychologie – die Eigentümlichkeiten psychischer Erscheinungen und ihre Klassifikation Im vorigen Kapitel habe ich die Haupt- und Nebenmethoden charakterisiert, auf deren Basis das eigene und das fremde psychische Leben aufgedeckt werden können.³⁵⁵ In den letzten beiden Kapiteln des methodischen Buches seiner Schrift befasst sich Brentano hingegen mit den methodischen Momenten, mittels derer die Ergebnisse, die aufgrund dieser Methoden (hauptsächlich der inneren
Wie gesagt wollte Comte die seelischen Funktionen nur auf der Basis ihres organischen Substrats und ihrer Ergebnisse studieren. PeS, S. 48. In dieser letzten Hinsicht stimmt er auch mit Broussais überein. Ich habe im Vorwort darauf hingewiesen, dass Brentanos empirische und deskriptive Psychologie auf unterschiedlichen Klassifikationen der psychischen Phänomene beruhen. Unter diesen Umständen bilden die Merkmale und die Klassifikation mentaler Zustände in der Psychologie insofern die Basis der Psychognosie, als Letztere die Problematik der Psychologie unter einem mereologischen Gesichtspunkt weiterentwickelt.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
Wahrnehmung) erzielt wurden, weiter bearbeitet werden sollen. Im Hintergrund dieser Momente steht die induktiv-deduktive Methodologie, die Mill zufolge das Modell aller Entdeckungen und aller Rechtfertigung in der Wissenschaft ausmacht. Bekanntlich besteht dieses Modell aus drei Stufen: (i) induktive Feststellung der allgemeinen Gesetze, (ii) Deduktion der Weise, in der sie unter besonderen Umständen wirken, (iii) induktive Bestätigung der Ergebnisse der Deduktion.³⁵⁶ Dementsprechend sind die betreffenden Kapitel der Psychologie so betitelt: „Von der Induktion der höchsten psychischen Gesetze“ (Kap. III), „Ungenauigkeit ihrer höchsten Gesetze. Deduktion und Verifikation“ (Kap. IV). Im Folgenden werde ich diese Momente anhand einer Gegenüberstellung der methodischen Schritte der Naturwissenschaft, so wie sie in Brentanos frühen Schriften dargestellt werden, und der methodischen Momente der Psychologie in den genannten Kapiteln analysieren. Neben der allgemeinen Auffassung von den Zielen der wissenschaftlichen Forschung und der Rolle von Comtes enzyklopädischer Stufenleiter der Wissenschaften für den Aufbau der Psychologie machen diese Momente das letzte wichtige Argument für die Zugehörigkeit von Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt zur positiven Philosophie im Sinne von Comte und Mill aus. Ausgehend von Brentanos Ausführungen im Aufsatz über Comte und seiner Antrittsvorlesung an der Universität Wien (April 1874) besteht das methodische Verfahren der Naturwissenschaft aus folgenden Momenten: 1. die „Beobachtung der Erscheinungen und ihrer Aufeinanderfolge“;³⁵⁷ 2. die Suche nach Ähnlichkeiten zwischen den verschiedenen Fällen; 3. die Ermittlung der „allgemeinen und unveränderlichen Beziehungen der Erscheinungen, d. i. Gesetze ihres Zusammenhangs“; 4. die Erklärung der Erscheinungen, indem sie gewissen allgemeinen Tatsachen (Gesetzen) untergeordnet werden; 5. die weitere Zurückführung dieser Gesetze auf noch allgemeinere Grundgesetze.³⁵⁸
SLRI I, S. 491 f./10 ff.; vgl. dazu Scarre, „Mill on Induction and Scientific Method“, S. 127; vgl. auch D. H. Ruben, Explaining Explanation, New York, Routledge, 22012, S. 98 – 123. Was Brentano nicht aufführt, ist das Experiment, weil es nicht in allen positiven Wissenschaften, z. B. in der Astronomie, möglich ist und in der Psychologie nur sehr begrenzt angewendet werden kann – er spricht z. B. von mentalen Experimenten mit den eigenen psychischen Phänomenen aufgrund ihres Studiums im Gedächtnis (PeS, S. 49 f.). Im Aufsatz über Comte sind nur die letzten zwei Punkte erwähnt. Die ersten drei methodischen Schritte werden hingegen in Brentanos Antrittsvorlesung in die Diskussion gebracht (ZPh, S. 157; vgl. auch AC, S. 105, 111; ZPh, S. 89).
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
313
Diese allgemeine Auffassung über die Methode der Naturwissenschaft steht im Hintergrund der methodischen Erörterungen seiner 1874 veröffentlichten Schrift: Tabelle 1: Die methodischen Momente der Naturwissenschaft und Brentanos Psychologie ³⁵⁹ NW Die Methode der Naturwissenschaft
Die Methode Brentanos Psychologie
„Die Beobachtung der Erscheinungen und Die innere Wahrnehmung der eigenen ihrer Aufeinanderfolge“ psychischen Phänomene
Die Methoden der indirekten Erkenntnis fremder psychischer Phänomene
Die Suche nach Ähnlichkeiten zwischen den verschiedenen Fällen
Die chemische Analyse³⁶⁰
a
Die Beobachtung der eigenen psychischen b Phänomene im Gedächtnis
PeS
Die Ermittlung der Gesetze des Zusammenhangs der Erscheinungen
c
Die Feststellung der allgemeinen Eigen tümlichkeiten der psychischen Phänomene (PeS, Buch II, Kap. I–IV) Die Bestimmung der Grundklassen von psychischen Phänomenen anhand ihrer natürlichen Verwandtschaft (PeS, Buch II, Kap. V–IX) Die Bestimmung der letzten psychischen Elemente (Empfindungen), „aus welchen die verwickelteren Phänomene hervorgehen“ (PeS, Buch I, Kap. III, § ; Buch III (im Manuskript)) Die Bestimmung der empirischen Gesetze a über die Eigentümlichkeiten und Grundklassen psychischer Erscheinungen (das unveröffentlichte Manuskript des zehnten Kapitels des zweiten Buches) Die induktive Feststellung der allgemeinen b Gesetze der Sukzession psychischer Phä-
Das 6. Moment wird nicht in einem gesonderten Abschnitt behandelt, ist aber implizit in Brentanos Analyse enthalten. Das 11. Moment stellt ein nicht-positives, methodisches Moment dar, das „eine dialektisch kritische Übersicht“ sowohl über „die verschiedenen denkbaren Annahmen“ als auch über Schwierigkeiten eines Problems liefert (PeS, S. 91). Brentano behandelt die Bestimmung der letzten psychischen Elemente in Analogie zur chemischen Analyse nicht in den zwei genannten Schriften (AC, GE), sondern in der Psychologie. Ich ordne der chemischen Analyse keine Nummer zu, weil sie zu spezifisch ist. Allerdings stellt die Zergliederung eines komplexen Phänomens in seine Bestandteile ein wichtiges methodisches Moment jeder Wissenschaft dar.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
(Fortsetzung) NW Die Methode der Naturwissenschaft
Die Methode Brentanos Psychologie
PeS
nomene „auf Grund ausschließlicher Betrachtung der Aufeinanderfolge psychischer Erscheinungen“ in der inneren Wahrnehmung (PeS, Buch I, Kap. III, Kap. IV, §§ , )
Die Erklärung der Erscheinungen durch ihre Subsumtion unter allgemeine Gesetze
Die Deduktion von besonderen Gesetzen der Sukzession komplexerer psychischer Phänomene aus allgemeinen Gesetzen (PeS, Buch I, Kap. III, § , Kap. IV, § )
Die induktive Bestätigung von spezielleren Gesetzen (PeS, Buch I, Kap. IV, §§ , )
Die weitere Zurückführung dieser Gesetze Die Feststellung der höchsten, letzten auf noch allgemeinere Grundgesetze (GE, psychischen Grundgesetze (PeS, Buch I, S. , ; s. auch AC, S. , ). Kap. III, § )
Nachweis der Unsterblichkeit der Seele aufgrund von induktiven Verallgemeinerungen, von daraus deduktiv abgeleiteten Aussagen, von bestimmten metaphysischen Voraussetzungen und Berücksichtigung einiger Ergebnisse der Physiologie, jedoch unter Ausschluss ihrer Überprüfung durch direkte Erfahrung (PES, erstes Buch, Kap. , § ). Die aristotelische „Zusammenstellung der Aporien“
Wie schon bereits angedeutet wurde, besteht der wichtigste Unterschied zwischen den Methoden der zwei Wissenschaften in ihrem Ausgangspunkt: Im Unterschied zur Naturwissenschaft, die ihre Phänomene beobachten kann, arbeitet der empirische Psychologe mit einer Methode, der inneren Wahrnehmung, die nie Beobachtung werden kann. Um diesen Mangel auszugleichen, greift Brentano auf die von Cardaillac, Hamilton und St. Mill befürwortete Methode des Studiums psychischer Phänomene, die sich noch frisch im frischen Gedächtnis befinden, und auf die Methode der indirekten Erkenntnis fremden mentalen Lebens zurück. Trotz dieses Unterschiedes spielen die ersten zwei methodischen Momente (1a, 1b) in der Psychologie dieselbe Rolle, die die Beobachtung in der Naturwissenschaft spielt: Sie erschließen den psychischen Gegenstandsbereich und ermöglichen seine weitere Ergründung. Aufgrund des Erlebens eigener psychischer Phänomene im inneren Bewusstsein und ihres Studiums im frischen Gedächtnis, stellt
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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der empirische Psychologe induktiv die allgemeinen Eigentümlichkeiten fest, die die psychischen von den physischen Phänomene unterscheiden: Die psychischen Phänomene sind entweder Vorstellungen oder haben Vorstellungen als ihre Grundlage, sind unausgedehnt, einheitlich, innerlich und auf evidente Weise wahrnehmbar, sie existieren nicht nur intentional, sondern auch wirklich³⁶¹ und sind charakterisiert durch „die intentionale (auch wohl mentale) Inexistenz eines Gegenstandes“, durch die „Beziehung auf einen Inhalt“ oder durch die Ausgerichtetheit auf ein immanentes Objekt.³⁶² Zusammenfassend behauptet Brentano: „Dasjenige Merkmal, welches die psychischen Phänomene unter allen am Meisten kennzeichnet, ist wohl ohne Zweifel die intentionale Inexistenz.“³⁶³ „Kein physisches Phänomen zeigt etwas Aehnliches.“³⁶⁴ Die Eigentümlichkeit der intentionalen Inexistenz oder der Beziehung auf einen Inhalt macht zugleich das Kriterium aus, anhand dessen das dritte methodische Moment ausgeführt wird, und zwar die Klassifikation der psychischen Erscheinungen anhand ihrer natürlichen Verwandtschaft in drei Grundklassen: Vorstellungen, Urteile und Gemütsbewegungen. Wie schon gesagt, begrenzt sich der erste Band der Psychologie auf die Verwirklichung der Zwecke, die den zweiten und dritten methodischen Momenten zugeordnet werden: die Feststellung der allgemeinen Eigentümlichkeiten psychischer Phänomene und ihrer fundamentalen Klassen. In der 1874 veröffentlichten Schrift gibt es keine Äußerung Brentanos, die explizit auf die Gesetze hinweist, die sich auf die Eigentümlichkeiten und Grundklassen psychischer Erscheinungen beziehen. Unter den Manuskripten seiner Psychologie befinden sich jedoch vier Kapitel, die die Fortsetzung des 1874 schon veröffentlichten zweiten Buches darstellen: „Von der Enge des Bewusstseins und der Erschöpfung“ (Kap. X)³⁶⁵; „Über Bains Gesetz der Relativität und Mills Gesetz der Beziehung auf kontradiktorische Gegensätze“ (Kap. XI)³⁶⁶; „Von der Gewohnheit“ (Kap. XII)³⁶⁷; „Von dem Gesetze der Selbstförderung“ (Kap. XIII)³⁶⁸. Diese Kapitel sind deshalb
Die psychischen Phänomene existieren intentional, wenn wir uns z. B. an sie erinnern (PeS, S. 109, 117). PeS, S. 96 – 117. PeS, S. 115. PeS, S. 107. Ps 53/53121. Ich danke Robin Rollinger für die Erlaubnis, das von ihm transkribierte Manuskript des dritten Buches (Ps 53) heranzuziehen. Ps 53/53142. Ps 53/53157. Ps 53/53201. Bains Gesetz der Selbstförderung besagt, dass die Lustgefühle, die auf gewisse muskuläre Tätigkeiten gerichtet sind, die Lebensfunktionen erhalten und fördern. Dagegen wird
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
als Fortsetzung des zweiten Buches zu sehen, weil Brentano sich darin mit psychologischen Tatsachen beschäftigt, die in jedem psychischen Bereich gültig sind: die Enge des Bewusstseins, die darin besteht, dass uns zu einem gewissen Zeitpunkt nur „ein enges Gebiet“ psychischer Erscheinungen bewusst wird,³⁶⁹ die Erschöpfung,³⁷⁰ die Abhängigkeit mentaler Zustände von ihrem physiologischen Substrat,³⁷¹ die Gewohnheit, das Gesetz der Selbstförderung. Wegen des Mangels jeglichen Hinweises in der Arbeit von 1874 auf die etwaige Absicht, das bereits 1874 erschienene zweite Buch der Psychologie weiterzuführen, ist nicht klar, ob die betreffenden Kapitel schon vor der Veröffentlichung ausgearbeitet worden waren und aus irgendeinem Grund beiseitegelegt wurden, oder aber, ob sie erst nach der Veröffentlichung des Buches als Übergang und Vorbereitung auf die Thematik der folgenden Bücher in Angriff genommen wurden. Auf jeden Fall erklärt die Allgemeingültigkeit der erwähnten Tatsachen auf psychischem Gebiet ihren Platz am Ende des zweiten Buches, und die Vermutung liegt nahe, dass Brentano sie deshalb nach dem Abschluss des Kapitel über die Klassifikation psychischer Erscheinungen in die Analyse einführt, weil sie als Grundlage gewisser Untersuchungen dienen können, die in den folgenden Büchern durchgeführt werden sollten: Die Gewohnheit z. B. bildet die Basis des im dritten Buch behandelten Themas der Assoziation, während das Gesetz der Selbstförderung für die im fünften Buch behandelten Fragen der Gemütsbewegungen von Bedeutung ist. Ein anderer wichtiger Hinweis darauf, weshalb diese Kapitel im Zusammenhang mit den folgenden Büchern der Psychologie und als Übergang zu ihnen entworfen worden sein könnten, besteht darin, dass Brentano ganz zu Anfang des zehnten Kapitels die wichtigsten Ergebnisse seiner Erörterung im 1874 veröffentlichten zweiten Buch in Form von neun Gesetzen zusammenfasst. Dieses Fazit ist für sein Verständnis des Begriffs „Gesetz“ besonders relevant. Es lautet wie folgt: Von den Gesetzen der Psychologie, auch denjenigen, welche sich nicht auf einen engen Kreis spezialisierter Erscheinungen beziehen, greifen ihrer Mehrzahl nach nicht über eines der drei Gebiete hinaus, die wir als die Grundklassen der psychischen Phänomene bestimmt haben. Immerhin bleiben gewisse allgemeinste Tatsachen, die jede Seelenerscheinung in gleicher und gleich unmittelbarer Weise angehen. So wurden in den vorausgegangenen Untersuchungen folgende Gesetze festgestellt:
sie durch die unangenehmen Gefühle geschwächt und vermindert (vgl. A. Bain, The Senses and the Intellect (1855), New York, Appleton, 31874, S. 283). Ps 53/53127. Ps 53/53131 ff. Ps 53/53135: „[…] daß jeder psychische Akt von gewissen physiologischen Vorgängen begleitet und in gewisser Weise von ihnen abhängig ist“.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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1. Alle psychischen Phänomene sind Vorstellungen oder haben Vorstellungen zur Grundlage. 2. Jedes psychische Phänomen ist Bewusstsein, d. h. es hat eine Beziehung auf einen Inhalt. 3. Jedes psychische Phänomen ist ein Vorstellen, ein Urteilen oder ein Lieben oder Hassen. (Es gibt nur drei fundamental verschiedene Weisen des Bewusstseins.) 4. Alle psychischen Phänomene sind bewusst. Das Bewusstsein von jedem psychischen Phänomen ist aber dreifach; und es ergaben sich dafür, näher betrachtet, folgende drei Gesetze: 5. Jedes psychische Phänomen wird vorgestellt mit einer Intensität, welche seiner eigenen (beziehungsweise der Intensität der ihm zu Grunde liegenden Vorstellung) gleich ist. 6. Jedes psychische Phänomen wird anerkannt mit voller Gewissheit und Evidenz. ³⁷² 7. Jedes psychische Phänomen wird geliebt oder gehasst; genauer gesprochen, es ist Gegenstand eines Gefühles der Lust oder Unlust, […] 8. Kein psychisches Phänomen erscheint räumlich ausgedehnt. […] 9. Alle psychischen Phänomene, von welchen jemand gleichzeitig inneres Bewusstsein hat, sind Teilphänomene eines real-einheitlichen Phänomens […].³⁷³
Wenn man diese Gesetze unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen Ziele seiner Schrift interpretiert, dann wird deutlich, dass sie „die wesentlichen allgemeinsten Tatsachen“ zum Ausdruck bringen,³⁷⁴ die (1) das psychische vom physischen Gebiet trennen, (2) die natürliche Klassifikation psychischer Erscheinungen und ihr Verhältnis zueinander festlegen und (3) die bipolare Struktur (die primäre und sekundäre Beziehung des Aktes) sowie die Unausgedehntheit und die Einheit mentaler Zustände aufweisen. Die so aufgestellten Gesetze sind unter der Annahme gültig, dass es kein unbewusstes psychisches Phänomen gibt, und beziehen sich auf das psychische Leben „normaler“ erwachsener Menschen. Damit wird auch vorausgesetzt, dass die physiologischen Prozesse, die die Grundlage des psychischen Lebens bilden, „normal“ verlaufen. Die eben angeführte Aufzählung zeigt auch, dass Brentano den positiven Zweck der Festlegung der Gesetze psychischer Phänomene in der Psychologie sehr ernst nimmt. Darüber hinaus beweisen sie, dass er unter dem Begriff „Gesetz“ nicht nur die empirisch feststellbaren, konstanten Verhältnisse der Sukzession und Koexistenz psychischer Erscheinungen versteht, sondern auch die allgemeinen Aussagen, die die wichtigsten Merkmale dieser Phänomene generalisieren. Es geht dabei um Verallgemeinerungen, die ihren Ausgangspunkt in gewissen Merkmalen haben, die der empirische Psychologe an einzelnen, im inneren Bewusstsein er-
Die wirkliche Existenz psychischer Zustände, die von der Untrüglichkeit der evidenten inneren Wahrnehmung gesichert wird, bleibt in Brentanos Aufzählung aus. Ps 53/53121 ff. Ps 53/53123. Brentano verwendet die Redewendung „Tatsache“ als Synonym zu „Gesetz“.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
lebten psychischen Phänomenen feststellt – z. B. dass dem eben erlebten mentalen Zustand ein Objekt immanent ist –, im frischen Gedächtnis studiert, und die dann für alle Klassen von psychischen Phänomenen für gültig gehalten werden. In diesem Sinne behauptet Brentano: Die Behauptung von Bacon, dass man immer zunächst die mittleren und dann erst, in allmäligem Aufsteigen, die höchsten Gesetze aufzusuchen habe, hat sich bekanntlich in der Geschichte der Naturwissenschaften nicht bewahrheitet, und kann darum auch für den Psychologen keine Geltung haben. Richtig ist nur so viel, dass man bei der Induction der allgemeinsten Gesetze die gemeinsame Eigenthümlichkeit, wie natürlich zunächst an Individuen, so dann an speciellen Gruppen findet, bis sie zuletzt in ihrem vollen Umfange feststeht.³⁷⁵
Die Art und Weise, in der Brentano seine Analyse fortführt, legt nahe, dass die hier zur Diskussion stehenden Gesetze Gesetze der Aufeinanderfolge psychischer Erscheinungen sind. Wenn man aber den Terminus „Gesetz“ nicht nur auf derartige Verhältnisse anwendet, sondern auch auf die im ersten Kapitel des zweites Buches der Psychologie genannten Eigentümlichkeiten bezieht und sie somit eben als Gesetze dieser Eigentümlichkeiten versteht, dann sieht man, dass diese Stelle nicht nur im Sinne der Entdeckung der allgemeinen Regelmäßigkeiten psychischer Sukzession, sondern auch der allgemeinen Gesetze interpretiert werden kann, die für jedes psychische Phänomen gelten, unabhängig davon, ob es im Werden begriffen ist oder nicht. Aus diesem Grund muss klar zwischen den Gesetzen der Sukzession und Koexistenz psychischer Phänomene und solchen Gesetzen unterschieden werden, die sich auf die Merkmale, auf die Grundklassen und auf die Einheit psychischer Erscheinungen beziehen. Zwischen ihnen gibt es folgende tiefgreifendere Differenzen: Im Unterschied zu den psychischen Grundgesetzen, in deren Formulierung die physiologischen Bedingungen psychischer Sukzession eingehen sollten, enthalten die eben dargestellten Gesetze keinen Hinweis auf die Physiologie. Im Unterschied zu den empirischen Verallgemeinerungen, die auf der Basis der Erfahrung der Aufeinanderfolge mentaler Zustände in der inneren Wahrnehmung aufgestellt werden und die eben wegen ihrer Ab-
PeS, S. 59. Im Hintergrund dieser Äußerung Brentanos steht Mills Kritik an Bacons These, die Induktion solle schrittweise von den mittleren zu den höchsten Gesetzen verfahren. Mill zufolge sollte von Anfang an versucht werden, die allgemeinen Gesetze zu formulieren, um sie danach zur Sicherung der niedrigeren Gesetze zu benutzen (vgl. dazu Mills aufschlussreiche Erörterungen in SLRI II S. 870 ff./479 ff.). Brentanos Empfehlung in seiner deskriptiven Psychologie (DPs, S. 72), das induktive Verfahren solle versuchen, die festgestellten Merkmale auf eine soweit wie möglich ausgedehnte Klasse psychischer Erscheinungen zu verallgemeinern, ist vor diesem Hintergrund zu verstehen.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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hängigkeit von unbekannten physiologischen Bedingungen nur „im Durchschnitt“ gültig sind und viele Ausnahmen erleiden, sind die neun aufgezählten Gesetze für jedes psychische Phänomen gültig und lassen sich anhand von Brentanos späteren Äußerungen als Ergebnis einer vollständigen Induktion aufgrund empirisch notwendiger Gründe betrachten, die mit unendlicher Wahrscheinlichkeit wahr sind.³⁷⁶ Darüber hinaus und auch im Unterscheid zu den erwähnten empirischen Verallgemeinerungen, die eben wegen der physiologischen Einflüsse weiter erklärt werden sollten, lassen sich die oben aufgezählten neun Gesetze nicht weiter erklären. Dementsprechend gibt es keine psychologische Aussage, die allgemeiner ist als sie und aus der sie abgeleitet werden könnten. Die erwähnten Tatsachen, die das psychische Werden in Klammern setzen und die die wesentlichen Merkmale der Struktur psychischer Akte zum Ausdruck bringen und ihre Grundklassen festlegen, lassen sich in diesem Sinne als letzte psychische Tatsachen oder Gesetze begreifen. In diesem, aber nur in diesem Sinne kann man also behaupten, dass Brentano 1874 in seiner eigenen Weise das positive Desiderat der induktiven Festlegung letzter Gesetze schon erreicht hat. Es geht um letzte Gesetze, die von der Genesis der mentalen Zustände absehen und mit derer Auflistung Brentanos Forschung darüber schon abgeschlossen ist. Angesichts der Abwesenheit jeder diesbezüglichen Äußerung Brentanos soll die Frage nach dem Verhältnis, in welchem diese letzten Gesetze zu den anfangs des vorletzten angeführten Passus erwähnten Gesetzen der drei Grundklassen psychischer Phänomene stehen, offen bleiben. Diese Analyse, die gewissermaßen statisch auf das Bewusstseinsleben fokussiert ist, um die Eigenschaften psychischer Zustände hervorzuheben, wird in der deskriptiven Psychologie weiter fortgeführt. Das hängt damit zusammen, dass sich das psychologische Interesse Brentanos in seiner Wiener Zeit ändert, er ist nun nicht mehr an der Sonderung des psychischen vom physischen Gebiet interessiert – diese hat er schon 1874 verwirklicht –, sondern er behandelt das mentale Leben jetzt als ein Ganzes und es geht ihm dabei darum, die letzten wirklichen und rein distinktionell abtrennbaren Teile desselben und die Weisen ihrer Verbindung zu finden. Er verfolgt also nicht mehr das Ziel, die entdeckten Eigentümlichkeiten psychischer Phänomene als allgemeine Gesetze aufzufassen oder die Gesetze ihrer Sukzession aufzufinden, sondern analysiert sie als Teile des mentalen Lebens, um das, was in der inneren Wahrnehmung unklar erscheint, deutlich zu machen. Auch wenn er dabei gegenüber der 1874 veröffentlichten Schrift neue Stücke, z. B. die logischen oder die sich durchwohnenden Teile, ins
Vgl. dazu DPs, S. 72; VE, S. 88, 101 f.; und II.3.3.4 unten.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
Spiel bringt, hält er weiter an der bipolaren Struktur des Aktes und der These der Einheit des Bewusstseins fest. Unter diesen Umständen hebt die Tatsache, dass die Stilart der Analyse, die die psychologische Genesis ausklammert und später als deskriptiv betrachtet wurde, schon im Werk von 1874 ausgeführt wird, nicht die Unabhängigkeit der empirischen Psychologie vom Projekt der deskriptiven Psychologie auf, denn: (1) Brentano betrachtet 1874 die bereits damals erzielten Ergebnisse als Basis für die weitere Untersuchung der Gesetze der Koexistenz und Sukzession psychischer Zustände; (2) die Eigentümlichkeiten der psychischen Phänomene sind noch nicht unter dem Gesichtspunkt der Theorie des Teils und des Ganzen ausgearbeitet; (3) das klassifikatorische Kriterium der psychischen Erscheinungen in beiden Schriften – die intentionale Beziehung auf ein Objekt und die Trennbarkeit psychischer Phänomene – sind verschieden. Aus diesem Grund lässt sich das Verhältnis beider Werke so beschreiben, dass die Analyse, die den Merkmalen und Grundklassen psychischer Erscheinungen im zweiten veröffentlichten Buch der Psychologie gewidmet ist, die gemeinsame Basis der weiteren Untersuchungen Brentanos sowohl in den folgenden Büchern der Psychologie als auch in der deskriptiven Psychologie bildet. Vor diesem Hintergrund erscheint die deskriptive Psychologie als eine Fortbildung und gleichzeitig als eine Unterbrechung des 1874 in Angriff genommenen Projektes einer empirischen Psychologie. Anders gesagt ist die Psychologie vom empirischen Standpunkt ein selbstständiges Projekt gegenüber Brentanos deskriptiver Psychologie, aber nicht umgekehrt, denn die deskriptiven Analysen aus Brentanos Wiener Zeit lassen sich nicht ohne die Ergebnisse der Untersuchungen aus dem 1874 veröffentlichen Werk verstehen. Eine wichtige Konsequenz des eben Ausgeführten besteht darin, dass, wenn Brentano zu Beginn seiner Psychologie von den „Eigenthümlichkeiten und Gesetzen“ psychischer Erscheinungen spricht,³⁷⁷ die hier zur Diskussion stehenden Gesetze nicht unbedingt als Gesetze der Sukzession verstanden werden sollten. Sie lassen sich ebenso gut als die neun oben aufgezählten Gesetze über die Merkmale und Grundklassen psychischer Phänomene auffassen. Das weist darauf hin, dass wenngleich die empirische Psychologie jener Zeit weit davon entfernt war, Grundgesetze der psychischen Sukzession entdecken zu können, doch nicht gänzlich ohne sie auskommen musste, denn sie hatte immerhin die neun schon aufgezählten Gesetze zur Verfügung. Der Umstand, dass das zehnte, im Manuskript verbliebene Kapitel des zweiten Buches Brentanos Psychologie bis heute nicht veröffentlicht wurde, ermöglicht jedoch die Interpretation seiner Rede über die Gesetze psychischer Erscheinungen in dieser Schrift nur in dem positiven
PeS, S. 19, 21; vgl. auch S. 36, 42.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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Sinne der Gesetze der Sukzession und Koexistenz. Damit wird ebenfalls der Eindruck erweckt, dass die empirische Psychologie jener Zeit nur zu Gesetzen gelangen könnte, die es nötig haben, weiter erklärt zu werden. Außer der Reihe der neun Gesetze führt er in demselben Kapitel noch ein Gesetz an, das „öfter stillschweigend wie etwas Bekanntes“ gilt: „Alle psychischen Phänomene unterliegen einem Entstehen und Vergehen.“³⁷⁸ In seinen weiteren Erklärungen geht er auf die Bedeutung dieses Punktes nicht weiter ein. Daraus, dass er es getrennt von den neun erwähnten Gesetzen behandelt, folgt aber, dass das Problem der Genesis und der Gesetze der Aufeinanderfolge psychischer Erscheinungen von der Frage ihrer Eigentümlichkeiten und Grundklassen genau zu unterscheiden ist. Überdies wird es möglich, darauf zu schließen, dass das erste Thema erfolgreich erst nach der Lösung des zweiten behandelt werden kann. Was das vierte methodische Moment betrifft, wurde es in der Arbeit von 1874 kurz dargestellt, ohne aber ausführlich erörtert zu werden. Allerdings führte Brentano im Manuskript des dritten Buches Analysen über die Eigentümlichkeiten (die sinnliche Qualität und die Intensität) der Empfindungen durch, die sich als Behandlung ihrer rein distinktionellen Teile in der deskriptiven Psychologie verstehen lassen.³⁷⁹ Vor diesem Hintergrund ist es beachtenswert, dass Brentano noch am Anfang des dritten Buches den deskriptiven vom genetischen Ansatz deutlich trennt: „1. Zweifach ist die Aufgabe, die wir hinsichtlich der Vorstellungen zu lösen haben. Wir müssen sie beschreiben und die Gesetze feststellen, welchen sie in Entstehung und ihrem Verlaufe unterworfen sind.“³⁸⁰ Wenn man dieses Zitat unter dem Gesichtspunkt der neun Gesetze, die als Abschluss des zweiten Buches erarbeitet wurden, liest, dann ist zu bemerken, dass sich die Unterscheidung der zwei Ansätze eben dann in den psychologischen Diskurs einführen lässt, wenn das psychische schon klar vom physischen Gebiet getrennt wurde. Aber im Unterschied zu seiner Wiener Zeit, als er die beiden Aspekte nicht nur scharf trennte, sondern auf ihrer Grundlage zwei verschiedene Psychologien bildete, begrenzt sich Brentano im Manuskript des dritten Buches auf die Trennung beider Perspektiven. Mit Blick auf dieses Problem sollte auch bemerkt
Ps 53/53123 f. Aufgrund von Brentanos Text wird deutlich, dass das, was er hier „allgemeine Tatsachen“ oder „Gesetze“ nennt, tatsächlich allgemeine Feststellungen über das mentale Leben sind. PS 53/53043; vgl. auch PS 53/53029. In Ps 53 spricht Brentano bereits davon, dass sich die sinnliche Qualität und die Intensität einer Empfindung durchdringen (vgl. PS 53/53.030, 53050; vgl. auch den kurzen Paragraphen „Sich durchwohnende Teile“ (DPs, S. 20)). In Untersuchungen zur Sinnespsychologie (1907) hat sich Brentano weiter mit dieser Frage auseinandergesetzt. Ps 53/53002.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
werden, dass die Rolle der Beschreibung in der deskriptiven Psychologie darin besteht, alle wirklichen und distinktionellen Teile anzugeben, um auf diese Weise eine umfassende, (quasi)vollständige Analyse des Bewusstseinslebens zu ermöglichen. Dadurch versucht Brentano ein Problem zu lösen, das in den veröffentlichten Büchern der Schrift von 1874 nicht auftaucht, auf das er aber im Manuskript des dritten Buches der Psychologie gerade in Verbindung mit der Frage der Beschreibung stößt: die Unmerklichkeit und „die Missdeutlichkeit“ der Vorstellungen und die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten angesichts der Beschreibung des vorgestellten Inhalts und der Klassifikation der Vorstellungen.³⁸¹ In den weiteren Erörterungen im Manuskript des drittes Buches kommt Brentano auf das Thema „Beschreibung“ nicht zurück, sondern seine Analysen über die Wahrnehmungs- und Phantasievorstellung, über die Klassifikation der Vorstellungen oder über die Gesetze der Ideenassoziation in den betreffenden Kapiteln zielen alle auf die Behandlung der Frage, ob die sinnlichen Vorstellungen der Empfindungen mit der Raumvorstellung ursprünglich verbunden sind, wie seine nativistische Theorie behauptet, oder aber die zwei Vorstellungen ursprünglich getrennt entstehen und nur anhand der Erfahrung und des Eingriffs der Phantasie zusammengesetzt werden, wie die empiristische Tradition (Locke, Berkeley) behauptet.³⁸² Als solche wird also die Frage nach der Beschreibung des psychischen Lebens der Vorstellungen nicht systematisch als eine selbstständige Theorie über die Teile des vorstellenden Bewusstseins ausgearbeitet. Auch wenn wichtige Komponenten seiner späteren deskriptiven Unterscheidungen (z. B. die sinnliche Qualität und die Intensität als sich durchwohnende Teile des sinnlichen Inhalts) in der Analyse der Vorstellung im dritten Buch schon vorhanden sind, zeigen sowohl die angefertigten Kapitel als auch die unterschiedlichen Fassungen des Inhaltsverzeichnisses dieses Buches an,³⁸³ dass er darin nicht auf eine Analyse der Vorstellungen abzielte, die sich auf ihre letzten wirklichen und distinktionellen Teil konzentriert, so wie dies der Fall bei der Analyse der Empfindungen in der deskriptiven Psychologie sein wird. Sein Fokus liegt vielmehr auf Themen,
Ps 53/53002– 53013. In den betreffenden Kapiteln geht Brentano die Frage an, die auch von Stumpf in seinem Buch Über den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung (Leipzig, Hirzel, 1873) abgehandelt wurde. In den Erinnerungen an Brentano berichtet Stumpf, dass er während der Ausarbeitung seines Buches dieses Problem intensiv mit Brentano besprach und Brentano an der Frage sehr interessiert war (Stumpf, „Erinnerungen an Franz Brentano“, S. 136, 143 f.). Brentano hat sich mit diesem Problem selbstständig beschäftigt (vgl. Philosophische Untersuchungen zu Raum, Zeit und Kontinuum, S. Körner, R. M. Chisholm (Hrsg.), mit Anmerkungen von A. Kastil, Hamburg, Meiner, 1976). Sie wurden von Rollinger (a. a. O., S. 281– 284) veröffentlicht.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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die sich mit der Fragestellung der assoziationistischen Psychologie jener Zeit überschneiden und die an den Gesetzen der Sukzession der Vorstellungen interessiert sind.
II.3.2.6.2 Die induktive Auffindung empirischer Gesetze der Aufeinanderfolge psychischer Erscheinungen Die methodischen Momente 1– 4 in der Tabelle 1 oben und die durch sie erzielten Ergebnisse sind im Zusammenhang dieser Diskussion sehr wichtig, weil sie als gemeinsame Basis von Brentanos weiteren Analysen sowohl in der empirischen als auch in der deskriptiven Psychologie angesehen werden können. In Deskriptive Psychologie entwickelt Brentano den eben genannten vierten Schritt und die Frage nach der Einheit des Bewusstseins, um eine Erörterung des Bewusstseins zu liefern, die mittels der Theorie vom psychischen Teil und Ganzen ausgeführt wird. Dazu zergliedert er das einheitliche Leben des Bewusstseins in seine wirklichen Teile, die psychischen Phänomene, analysiert ihre Verhältnisse zueinander anhand des Kriteriums ihrer einseitigen oder wechselseitigen Abtrennbarkeit, erhält so nicht drei, wie in der Psychologie, sondern zwei Grundklassen psychischer Erscheinungen – die grundlegenden und die supraponierten Akte – und hebt in Bezug auf jeden wirklichen psychischen Bewusstseinsteil weitere Teile hervor, die nicht wirklich, sondern nur rationell, distinktionell aus ihnen abgesondert werden können.³⁸⁴ Damit wird auch klar, dass die deskriptive Psychologie nicht auf dem Kriterium der Art und Weise der intentionalen Beziehung auf ein immanentes Objekt, wie dies in der Psychologie der Fall ist, sondern auf dem der Abtrennbarkeit psychischer wirklicher Teile des Bewusstseins und ihrer weiteren distinktionellen Teile aufgebaut ist. Um von diesen rein distinktionell erfassbaren Teilen Rechenschaft zu geben, zeigt er ein neues methodisches Moment auf, das Bemerken, dessen Rolle darin besteht, die Teile hervorzuheben, die in der Einheit des Bewusstseins implizit vorhanden sind, ohne aber explizit erfasst zu werden.³⁸⁵ Im Unterscheid zu dieser deskriptiven Entwicklung entfaltet Brentano die Analyse der Ergebnisse, die 1874 auf der Basis der ersten vier methodischen Schritte gewonnen wurden, in die Richtung von Comtes und Mills Ausführungen über die Ziele der positiven Wissenschaft, und zwar in die Richtung der Auffindung der empirischen Gesetze der Sukzession psychischer Phänomene und der letzten psychischen Gesetze, aus denen sie abgeleitet werden sollen. Aus diesem
Zwei von diesen Teilen, die Intentionalität und die Richtung des psychischen Aktes auf sich selbst, sind aus der Psychologie übernommen. DPs, S. 31.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
Grund bilden die von 5 bis 9 aufgezählten methodischen Momente ebenso viele Argumente für die Zugehörigkeit der Psychologie zur positiven Philosophie des 19. Jahrhunderts, weil sich mittels ihrer die Richtung deutlich abzeichnet, in der die anhand der ersten methodischen Momente erzielten Resultate weiter nutzbar gemacht werden sollen. Diese Schritte stehen auf einer Linie mit der späteren genetischen Psychologie Brentanos und manche von ihnen weisen deutlich auf Mills und Bains Ausführungen in ihren logischen Arbeiten hin. In diesem Zusammenhang ist der fünfte methodische Schritt aufschlussreich, denn er zeigt, dass der Zweck der ihm vorangehenden Momente 1874 nicht darin bestand, Ergebnisse zu erzielen, die in Brentanos deskriptiver Psychologie weiter bearbeitet werden. Im Gegenteil sollten sie das empirische Fundament für das Erlangen der obersten Ziele der Psychologie – der Feststellung der Gesetze der Sukzession psychischer Phänomene und der psychischen Grundgesetze – liefern. Brentanos Ausführungen dazu sind überaus deutlich: Aus der Betrachtung der allgemeinen Eigenthümlichkeiten wird sich das Eintheilungsprincip der psychischen Phänomene ergeben, und daran sofort die Bestimmung ihrer Grundclassen knüpfen, wie die natürliche Verwandtschaft sie fordert. Denn ehe dies geschehen, wird es unmöglich sein, in der Erforschung der psychischen Gesetze, die ja grösstentheils nur für die eine oder andere Gattung von Phänomenen gelten, weitere Fortschritte zu machen. Was sollte aus den Forschungen des Physikers werden, der mit Wärme, Licht und Schall experimentirte, wenn ihm nicht diese Phänomene durch eine, allerdings sehr naheliegende, Classification in natürliche Gruppen geschieden wären? So würde sich denn auch der Psychologe, der noch nicht die verschiedenen Grundclassen psychischer Erscheinungen gesondert hätte, vergeblich um die Feststellung der Gesetze für ihre Succession bemühen.³⁸⁶
Wir befinden uns hier an einem Punkt, von dem aus die positive (kausalerklärende) Richtung von Brentanos Analyse deutlich wird, denn, wie schon angedeutet, besteht einer der wichtigsten Zwecke der positiven Wissenschaft gerade darin, die Gesetze der Sukzession der Phänomene ausfindig zu machen. Mit den §§ 1– 2 des dritten Kapitels des ersten Buches der Psychologie gelangen wir ebenfalls an den Punkt, an dem sich die empirische Forschung und das ihr zugeordnete Projekt von der deskriptiven Untersuchung und im Allgemeinen vom Projekt der deskriptiven Psychologie klar trennt³⁸⁷: Erstere geht zur Entdeckung der Gleichförmigkeiten der Sukzession psychischer Phänomene und ihrer Grundgesetze über und wird deshalb dazu gezwungen, die Gesetze des physio PeS, S. 59. Kraus hat dies klar gesehen (vgl. O. Kraus, „Anmerkungen“, in F. Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt (1874), Nachdruck Bd. 1, O. Kraus (Hrsg.), Hamburg, Meiner, 21973, S. 263, Anm. 2).
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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logischen Substrats psychischer Erscheinungen in Betracht zu ziehen. Dagegen setzt die deskriptive Psychologie das Werden des psychischen Lebens in Klammern, konzentriert sich statisch auf das Bewusstseinsleben zu einem gewissen Zeitpunkt und verfolgt daraufhin das Ziel, seine wirklichen und distinktionellen Teile und ihre deskriptiven Verhältnisse zueinander ausfindig zu machen.³⁸⁸ Diese Teile und ihre Verhältnisse stellen weiter die Grundlage der genetischen Psychologie dar, weil sie die Grundbegriffe und ihre eigenen Verhältnisse darstellen, die in die Behandlung der Gesetze der Sukzession mentaler Erscheinungen einbezogen sind. Auch wenn Brentano die Wichtigkeit physiologischer Forschung für die deskriptive Psychologie wiederholt hervorhebt, ist Letztere in entscheidendem Maße von der physiologischen Forschung unabhängig. Im Gegenteil entfaltet Brentano in der Psychologie die Analyse in die Richtung der positiven Wissenschaft, denn er will die Gesetze ausfindig machen, mit deren Studium er sich in der Wiener Zweit nicht weiter beschäftigt, weil sie der genetischen Psychologie zugemessen werden. Dementsprechend ist die Psychologie vom empirischen Standpunkt nicht nur eine Schrift der Philosophie des Geistes des 19. Jahrhunderts, in deren zweitem Buch Grundfragen der philosophischen Debatte des 20. Jahrhunderts – z. B. die Intentionalitätsfrage – eingeführt werden. Darüber hinaus ist sie auch ein Werk, in dem dieselben zentralen Fragen als Grundlage psychologischer Analysen benutzt werden, die zur von Comte und Mill etablierten positiven Philosophie des 19. Jahrhunderts gehören, weil sie bewusst die Ziele der positiven Wissenschaft verfolgen. Ich habe oben bereits darauf verwiesen, dass Brentano kein Problem darin sah, diese Ziele in eine Schrift zu übernehmen, in der auch die Unsterblichkeitsfrage behandelt werden sollte. Wie die Momente 5 – 9 der obigen Tabelle zeigen, arbeitet der empirische Psychologe mit genau denselben methodischen Vorgängen wie der Naturwissenschaftler. Das hat eine wichtige Konsequenz angesichts der Art und Weise, in der Brentanos vierte Habilitationsthese, „Die wahre Methode der Philosophie ist keine andere als die der Naturwissenschaft“, mit Bezug auf die Psychologie interpretiert werden kann. In der einschlägigen Literatur wurde zum einen behauptet, dass diese These im Sinne der methodischen Identität zwischen den beiden Disziplinen aufgefasst werden muss.³⁸⁹ Zum anderen haben diejenigen Autoren, die Brentanos Denken in geschichtlicher Perspektive interpretieren, die Position verteidigt, Brentanos These sei im Sinne der Analogie der Methode DPs, S. 84. Das gilt auch für die Phänomene der ursprünglichen Assoziation, d. h. für die Wahrnehmung dynamischer Einheiten wie einer Melodie oder Bewegung. Auch wenn die Zeit in den Ablauf dieser Phänomene einbezogen ist, geht es hier nicht wie in der genetischen Psychologie um Fragen des psychischen Werdens (s. unten S. 361 f.). Mezei und Smith, a. a. O., S. 2.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
zwischen der Naturwissenschaft und der Philosophie zu verstehen.³⁹⁰ Die obige Tabelle zeigt, dass angesichts der fundamentalen philosophischen Disziplin der Psychologie die zweite Position Recht behält, denn die Psychologie verwendet zwar dieselben methodischen Momente wie die Naturwissenschaft, um ihre höheren Ziele zu erreichen, nutzt aber in ihrem Ausgangspunkt eine Methode, die mit der Methode der Naturwissenschaft nicht identisch, sondern nur analog zu ihr ist: Eben weil die eigenen psychischen Phänomene nicht beobachtet werden können, während sie erlebt werden, eben deshalb greift Brentano für ihre Erkenntnis auf die evidente innere Wahrnehmung und ihr Studium, solange sie sich frisch im Gedächtnis befinden, zurück.Vom methodischen Standpunkt aus haben wir es hier mit einem methodologischen Partikularismus zu tun, der besagt, die Philosophie habe grundsätzlich dieselbe Methode wie die Naturwissenschaft. Allerdings lässt er dem Philosophen bzw. Psychologen genug freien Raum, damit er eine eigene Methode nach der Eigenart seines Gegenstandsbereiches und der Schwierigkeiten, auf die er stößt, wenn er sich damit beschäftigt, ausarbeiten kann.³⁹¹ Die Methodologie von Brentanos empirischer Psychologie beweist das deutlich, und Brentanos spätere Äußerungen dazu sind ebenfalls kristallklar.³⁹² In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass ein wichtiger Unterschied zwischen der Natur- und der psychischen Wissenschaft eben darin bestand, dass die Psychologie jener Zeit noch weit davon entfernt war, ihre letzten Grundgesetze entdeckt zu haben. Auch wenn sich Brentano in den methodischen Kapiteln seiner Arbeit ausführlich mit der Art und Weise befasst, in der die der Naturwissenschaft eigenen methodischen Schritte auf die Psychologie zu übertragen sind, und er zugleich auf die Schwierigkeiten dieser Übertragung verweist, kommt er 1874 in der Anwendung dieser Momente nicht sehr weit. Abgesehen von der Tatsache, dass die 1874 erschienenen Bücher nicht die Ziele verfolgen, die den methodischen Momenten 5 – 9 zugeordnet sind, liegt ein weiterer Grund für diesen Tatbestand darin, dass die Physiologie jener Zeit noch nicht weit genug entwickelt war, um dem empirischen Psychologen die Ergebnisse liefern zu können, die er benötigt hätte, um diese methodischen Verfahren in seiner Forschung erfolgreich einzusetzen. Oben habe ich darauf hingewiesen, dass Brentano Horwicz’ und Maudsleys physiologische Methode scharf kritisiert. Der Ansatz seiner Kritik besteht darin, dass er beweisen will, dass der empirische Psychologe „auf Grund ausschließlicher Betrachtung der Aufeinanderfolge psychischer Erscheinungen“ in der in-
Hedwig, Deskription …, S. 40; Volpi, a. a. O., S. 19. Vgl. dazu meinen Aufsatz „Monism and Particularism …“. DPs, S. 163; ZPh, S. 32 ff.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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neren Wahrnehmung wenigstens bis zu einem gewissen Maß dieselben Ziele wie der Naturforscher erzielen kann. Er kann nämlich anhand der Gleichförmigkeiten der Sukzession psychischer Phänomene, die in der inneren Wahrnehmung erfasst werden, induktiv die empirischen Gesetze psychischer Sukzession aufstellen. Es handelt sich dabei um ungenaue Gesetze, die weitere Erklärung benötigen, und für die viele Ausnahmefälle gelten.³⁹³ Wenn ich z. B. immer wieder erlebe, dass sich meine affektive Stimmung nach einem bestimmten Geschmackserlebnis, z. B. von Alkohol, verändert, und dieselbe Tatsache auch bei anderen Personen in meinem sozialen Milieu bemerke, dann kann ich diese wiederholte Feststellung verallgemeinern und behaupten: „Der Konsum alkoholischer Getränke ändert die affektive Stimmung des Konsumenten“. Auch wenn es von Fall zu Fall große Variationen gibt, lässt sich dies doch als eine empirische Verallgemeinerung betrachten, die für die meisten Personen gilt.³⁹⁴ Brentanos Ausführungen zeigen, dass solche empirischen Gesetze eine zentrale Rolle für das methodische Verfahren der Psychologie spielen, weil sie den Knotenpunkt darstellen, um den herum die methodischen Momente 6 – 9 kreisen. Wie gesagt gelten diese Gesetze für den „normalen“ Menschen. Damit setzten sie voraus, dass der Verlauf physiologischer Prozesse, die ihnen entsprechen, „normal“ abläuft.³⁹⁵ Auch wenn Brentano dabei gegen Maudsley polemisiert, der den Wert der psychologischen Methode in Zweifel zieht, seine Ausführungen darüber zeigen, dass beide darin einverstanden sind, dass das Studium „normaler“ und „anormaler“ Fälle nicht den Gegenstand von zwei verschiedenen Wissenschaften, sondern ein und derselben psychologischen Disziplin ausmachen.³⁹⁶ Aus diesem Grund glaubt Brentano, dass die Gesetze für die komplizierten, „anormalen“ Fälle, die unter physiologisch veränderten, „anormalen“ Bedingungen erfolgen, aus den Gesetzen des „normalen“ Ablaufs des mentalen Lebens abgeleitet werden können.³⁹⁷ Es handelt sich hier um den von Mill und Bain übernommenen methodischen Schritt der Deduktion der komplizierteren Gesetze aus den Gesetzen der einfacheren Phänomene, die mittels der psychologischen Induktion entdeckt wurden. Die Gültigkeit dieser Deduktion lässt sich weiter induktiv überprüfen,
PeS, S. 62, 78; vgl. auch dazu unten II.3.3.4. PeS, S. 75, 78 f. Dabei ist es sehr wohl möglich, dass ein und dieselbe Quantität von Alkohol auf verschiedene Personen sehr unterschiedlich wirkt und dass es auch Personen gibt, bei denen sie keine Wirkung zeigt. Diese Fälle sind dann als Ausnahmen zu verzeichnen. PeS, S. 78. Maudsley, a. a. O., S. VII. PeS, S. 56 f., 79, 89.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
indem z. B. auf Fälle in der klinischen Erfahrung verwiesen wird, die die Ergebnisse der Deduktion bekräftigen.³⁹⁸ Es ist bemerkenswert, dass Brentano Mill folgend auch den umgekehrten Fall in die Diskussion bringt, nämlich den Fall, in dem die empirischen Regelmäßigkeiten der Aufeinanderfolge psychischer Phänomene zuerst induktiv aufgestellt werden, um sie danach aus höheren gesetzmäßigen Verhältnissen zu deduzieren. Im Unterschied zur deduktiven Methode, welche die Gesetze, die durch Ableitung gewonnen werden, durch empirische Beweise verifiziert, verfährt der empirische Psychologe nun umgekehrt, indem er am Anfang induktiv empirische Regelmäßigkeiten aufstellt, die danach durch Ableitung aus höheren Gesetzen zu sichern sind. Es handelt sich hier um die umgekehrte deduktive oder um die historische Methode. Mill zufolge habe Comte auf diese Weise sein Drei-StadienGesetz entdeckt.³⁹⁹ In seinen Erörterungen darüber hebt Brentano die Rolle dieses methodischen Vorgangs in der psychologischen Forschung klar hervor: Diese sogenannte historische Methode ist auch ausserhalb der Geschichte auf psychischem Gebiete oft mit grösserem Vortheile als die gewöhnliche deductive Methode anwendbar. Die vorbereitende directe Induction zeigt der Ableitung Weg und Richtung. Die Erfahrung des gemeinen Lebens hat sich bereits oft zu solchen niederen empirischen Gesetzen erhoben und sie selbst in die Form von Sprüchwörtern gekleidet. „Jung gewohnt, alt gethan“, „aller Anfang ist schwer“, […] „Abwechselung gefällt“ […] – sind Ausdrücke für solche empirische Generalisationen. Und so bleibt denn nur noch die Erklärung, Verification und schärfere Begrenzung durch Unterordnung unter die allgemeineren und einfacheren Gesetze […] als Aufgabe des Psychologen übrig.⁴⁰⁰
Überdies zeigen seine Ausführungen, dass die empirischen Gleichförmigkeiten, die anhand des Erfassens der Sukzession mentaler Zustände in der eigenen inneren Wahrnehmung entdeckt werden, auch als „eine vorbereitende direkte Induktion“ angewendet werden können. Diese Induktion wird unter anderem von Brentano dazu genutzt, um Entscheidungen angesichts der Fragen zu treffen, die von den Psychologen kontrovers diskutiert werden.⁴⁰¹
Mill SLRI I, S. 491/9 ff.; SLRI II, S. 862/470; vgl. auch A. Bain, Logic. Part Second. Induction, London, Longmans, 1870, S. 283 f.; PeS, S. 78 f., 88. Vgl. das gleichnamige Kapitel des sechsten Buches von Mills Logik, insbesondere SLRI II, S. 914 f., 928/538 f., 554 f.; vgl. auch PeS, S. 89. PeS, S. 89; vgl. auch ZPh, S. 32 ff. Vgl. dazu die Stellen, an denen Brentano die Verifikation durch die innere Erfahrung aufgreift, um eine strittige Frage zu lösen oder die Richtigkeit einer These zu überprüfen (PeS, S. 136, 141, 144 und passim). Die aristotelische Aporetik ist die angemessene Methode zur Darstellung dieser Fragen.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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Es ist ausgerechnet das oben dargestellte dreiteilige, von Mill angewendete Modell – induktive Gewinnung der Gesetze für die „normalen“ Fälle, Deduktion der Gesetze für die komplizierteren Fälle und induktive Verifikation der Deduktion –, das Brentano einsetzen will, um eines der Hauptziele der positiven Wissenschaft, die Auffindung der Gesetze der Aufeinanderfolge psychischer Erscheinungen aufgrund innerer Wahrnehmung, für seine Psychologie zu erreichen.⁴⁰² Ich möchte die Analyse dieses Problems mit einer letzten Bemerkung über das induktive Verfahren Brentanos abschließen. Brentano arbeitet in der Psychologie nicht nur mit der Induktion, die auf dem Erleben eigener mentaler Zustände im inneren Bewusstsein beruht. Im Gegenteil warnt er schon von Anfang an davor, die psychische Wissenschaft nur auf der Grundlage der Selbsterkenntnis etablieren zu wollen und bezieht deshalb andere methodische Mittel, die Erkenntnis fremder psychischer Erfahrung des wenig entwickelten oder „anormalen“ psychischen Lebens, mit ein. Das gilt auch für die Anwendung der psychischen Induktion anhand der eigenen psychischen Erfahrung. Außer den methodischen Kapiteln, die diesem Problem gewidmet sind, bezieht er sich 1874 nur selten explizit auf dieses Verfahren. Allerdings zeigt seine ausführliche Auseinandersetzung mit Bains Gesetz der Selbstförderung in dem im Manuskript verbliebenen 13. Kapitel des zweiten Buches, dass er darunter eine aufmerksame Betrachtung aller bekannten Fälle versteht, welche die Berücksichtigung und Erklärung von Ausnahmefällen miteinschließt. In diesem Zusammenhang weisen seine Erklärungen darauf hin, dass es dabei nicht nur auf Fälle ankommt, die in der eigenen psychischen Erfahrung erprobt sind, sondern dass es ihm ebenso wichtig ist, die Ergebnisse psychologischer Induktion sowohl anderer Psychologen als auch des gemeinen Mannes heranzuziehen.⁴⁰³ Das entspricht genau dem nicht-positiven methodischen Moment, dessen Einsatz Brentano dem Psychologen am Ende des methodisches Buches der Psychologie empfiehlt, und zwar die aristotelische „Zusammenstellung der ‚Aporien‘“.⁴⁰⁴ Sie spielt eine vorbereitende Rolle für die
PeS, S. 88; SLRI I, S. 491 f./9 ff.; vgl. auch Bain: „Induction is necessarily the prior source of truths; the Deductive propositions are obtained from Inductions. We must commence with observation of fact, and thence rise to Inductive generalities, before we can proceed downwards in the way of deduction.“ (a. a. O., S. 4; vgl. auch S. 284) Dieses Modell gehört mithin zu Brentanos Begriff einer positiven Wissenschaft. Auf seiner Grundlage möchte er auch die Unsterblichkeitsfrage angehen, wobei er ausdrücklich bemerkt, dass „eine Verification durch direkte Erfahrung“ nicht möglich sei (PeS, S. 90). Ps 53/53201– 229. „Sie zeigt die verschiedenen denkbaren Annahmen sowie für jede von ihnen die ihr eigenthümlichen Schwierigkeiten und gibt insbesondere über die widerstreitenden Ansichten, sei es einzelner bedeutender Männer, sei es der Massen eine dialektisch kritische Uebersicht.“ (PeS, S. 91) Dieses methodische Moment wurde mit gutem Recht der traditionellen, aristotelischen
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
eigene psychologische induktive Forschung und kommt in der Arbeit von 1874 häufig zur Anwendung.⁴⁰⁵
II.3.2.6.3 Die Erklärung der empirischen Gesetze in der Psychologie vom empirischen Standpunkt In der 1874 erschienenen Schrift treten die neun oben aufgezählten Gesetze nicht zu Tage. Dagegen befasst sich Brentano mit den Gesetzen der Sukzession und Koexistenz psychischer Erscheinungen, die auf psychologischem Wege entdeckt wurden. Es handelt sich um empirische Wahrheiten, die weiter erklärt werden sollen, um wissenschaftlichen Charakter zu bekommen.⁴⁰⁶ Ihre Erklärung erfolgt zum einen durch das Heranziehen der physiologischen Bedingungen, unter denen die Sukzession psychischer Phänomene erfolgt: Die Veränderung der affektiven Stimmung als Folge des Verzehrs alkoholischer Getränke lässt sich z. B. physiologisch dadurch erklären, dass die Assimilation des Alkohols im Blut Wirkung auf den Stoffwechsel in den Nervenzellen hat.⁴⁰⁷ In dieser Hinsicht ist zu beachten, dass Brentano ausdrücklich darauf hinweist, dass die Physiologie des Gehirns jener Zeit noch nicht imstande war, in gebührendem Maße die nötigen Kenntnisse für solche Erklärung anzubieten.⁴⁰⁸ Zum anderen werden die empirischen Gesetze dadurch erklärt, dass sie aus höchstens psychologischen Gesetzen abgeleitet werden, in deren Formulierung die physiologischen Vor- und Mitbedingungen psychischer Sukzession namhaft gemacht werden.⁴⁰⁹ Damit wird deutlich, dass Brentano in der Psychologie ein weiteres wichtiges Desiderat der positiven Wissenschaft übernahm, und zwar die Zurückführung der empirischen Gesetze auf letzte psychische Grundgesetze. Diese Zurückführung macht die zweite Bedeutung des Terminus „Erklärung“ bei
Dimension von Brentanos Psychologie zugerechnet (vgl. Münch, „Brentano and Comte“, S. 36; Antonelli, a. a. O., S. XXVII). Außer diesem methodischen Hinweis bezieht sich Brentano in den letzten drei methodischen Kapiteln des ersten Buches nur dreimal auf Aristoteles, und zwar in Verbindung mit Aristoteles’ Beobachtungen über die Tiere und andere Menschen sowie im Zusammenhang der Diskussion von Maudsleys Position hinsichtlich einer auf der Physiologie begründeten Psychologie (PeS, S. 55, 70, 75). Dagegen erscheint der Name „Aristoteles“ wiederholt in anderen Kapiteln seiner Schrift. Aus diesem Grund behauptet Titchner: „Brentano’s Psychology is essentialy a matter of argument […]“ (E. B. Titchener, „Brentano and Wundt: Empirical and Experimental Psychology“, American Journal of Psychology 32 (1921), S. 111). Vgl. dazu Mills klare Behauptungen dazu in SLRI II, S. 861 f./468 ff. PeS, S. 77 f. PeS, S. 80. PeS, S. 62, 78.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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Comte – die erste ist die Unterordnung der Phänomene unter ein allgemeines Gesetz – aus und stellt für Mill eine Grundbedingung dafür dar, dass eine empirische Wahrheit wissenschaftlichen Charakter bekommt: Erst wenn die empirisch gefundenen Wahrheiten aus allgemeinen Wahrheiten abgeleitet werden, erst dann sind sie nicht nur induktiv begründet, sondern auch deduktiv gesichert.⁴¹⁰ Wie schon angedeutet, erreicht Brentano in dem 1874 erschienen Werk nur die ersten zwei Ziele der positiven Wissenschaft: die Feststellung der allgemeinen Eigentümlichkeiten und der Grundklassen psychischer Phänomene.⁴¹¹ Allerdings weisen seine methodischen Ausführungen deutlich darauf hin, dass die Psychologie genau in die Richtung der oberen Ziele der positiven Wissenschaft gehen sollte: Damit sie sich als gleichberechtigtes Mitglied in Comtes Skala der Wissenschaften behaupten kann, soll sie die aufgrund psychischer Induktion und Deduktion gefundenen Gesetze weiter erklären, d. h., sie aus letzten Gesetzen ableiten, so wie sich die Keplerschen Gesetze aus Newtons Gravitationsgesetz ableiten lassen. Diese psychischen Grundgesetze,⁴¹² von deren Formulierung die Physiologie und Psychologie jener Zeit noch weit entfernt waren, sollten die „nächsten und unmittelbaren physiologischen Vor- und Mitbedingungen“ der unmittelbaren Aufeinanderfolge psychischer Phänomene angeben oder, wenn es um psychische Phänomene geht, die nach einer gewissen Zeit aufeinander folgen, sollten sie die physiologischen Prozesse, die für sie relevant sind, zum Ausdruck bringen. Wäre dies erreicht [d. h. wären die physiologischen Vor- und Mitbedingungen erkannt; Hinzufügung I. T.], so würden wir höchste psychische Gesetze von einer Fassung erhalten, welche zwar nicht dieselbe durchsichtige Klarheit, wohl aber dieselbe Schärfe und Genauigkeit wie die Axiome der Mathematik besässen, höchste psychische Gesetze, welche als Grundgesetze im vollen Sinne des Wortes zu betrachten wären. Unsere jetzigen höchsten Gesetze aber würden in etwas veränderter Form als derivative Gesetze wiederkehren, und der größte Teil, wenn nicht das ganze der Psychologie einen halb und halb psychophysischen Charakter erhalten.⁴¹³
CPhP I, S. 10; SLRI II, S. 861 f./468 ff. Auf diese Weise sollten nach Mill die empirischen Wahrheiten der Ethologie aus den letzten allgemeinen Assoziationsgesetzen des Geistes, welche die Psychologie studiert, abgeleitet werden (SLRI II, S. 868 f./478). Es kommen die oben dargestellten, neun letzten Gesetze hinzu. Brentano nennt sie „psychische Grundgesetze“, aber angesichts seiner Behauptungen über den „halb und halb psychophysischen Charakter“ der so etablierten empirischen Psychologie und auch der Tatsache, dass diese Gesetze auch die physiologischen Bedingungen angeben sollten, ist nicht klar, warum sie nicht für „psychophysische Grundgesetze“ gehalten werden sollten. PeS, S. 62 f.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
Um die Bedeutung dieser Stelle zu erfassen, ziehe ich folgende Äußerungen Mills über die letzten Grundgesetze der Psychologie und das Verhältnis der Ethologie zu dieser Wissenschaft in Betracht: Diese einfachen oder elementaren Gesetze des Geistes [die Gesetze der Ideenassoziation; Hinzufügung I. T.] sind durch die gewöhnlichen Methoden der experimentellen Forschung bestimmt worden; auch konnten sie in keiner anderen Weise bestimmt werden. […] Es ist klar, dass complexe Gesetze des Denkens und Fühlens aus diesen einfachen Gesetzen nicht allein abgeleitet werden können, sondern dass sie in der That daraus abgeleitet werden müssen.⁴¹⁴ Kurz, die Gesetze der Charakterbildung sind derivative, aus den allgemeinen Gesetzen des Geistes hervorgehende Gesetze, und können durch Deduction aus diesen allgemeinen Gesetzen erhalten werden, indem man eine gegebene Reihe von Umständen voraussetzt und dann sieht, was den Gesetzen des Geistes zufolge der Einfluss dieser Umstände auf die Charakterbildung sein wird.⁴¹⁵
Brentanos Behauptungen über die „psychischen Grundgesetze“ beziehen sich nicht auf die Art und Weise, in der sie gewonnen werden sollten. Aufgrund seiner Ausführungen lässt sich jedoch vermuten, dass sie nicht auf dem hypothetischdeduktiven Weg Whewells, sondern auf dem induktiven Weg Mills und Bains zu gewinnen sind.⁴¹⁶ Das besagt weiter, dass Brentanos 1874 veröffentlichte Psychologie nicht nur auf der Evidenz der inneren Wahrnehmung gegründet ist und metaphysische Ziele (die Unsterblichkeit der Seele) verfolgt, sondern auch, dass sie angesichts ihrer höheren Ziele 5 – 9 nach den Maßstäben von Mills und Bains induktiver Philosophie zu errichten war. Darüber hinaus zeigen Brentanos und Mills hier zur Rechenschaft gezogenen Texte, dass Brentanos Grundgesetze dieselbe Stellung in seiner Psychologie haben wie Mills Gesetze der Ideenassoziation in der Wissenschaft von der menschlicher Natur: Aus den letzten induktiv gewonnenen Grundgesetzen sollten die höchsten psychischen Gesetze der damaligen empirischen Psychologie abgeleitet werden.⁴¹⁷ Diese Gesetze sollten weiter als Basis für die Deduktion speziellerer Gesetze dienen, die anhand der Induktion zu verifizieren waren.⁴¹⁸ Damit steht fest, dass das induktiv-deduktive Modell, das Mill im sechsten Buch seiner Logik heranzieht, um aus den grundlegenden Gesetzen des Geistes die Gesetze der moralischen und sozialen Wissenschaften abzuleiten, auch für das Erreichen der oberen, 1874 nicht verwirklichten Zwecke
SLRI II, S. 853/460. SLRI II, S. 869/ 477. PeS, S. 61 f., 88. Zur Debatte Mill – Whewell angesichts dieser Frage vgl. Scarre, a. a. O., S. 127– 135. PeS, S. 63. PeS, S. 88 f.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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der Psychologie anzuwenden ist:⁴¹⁹ induktive Gewinnung der Grundgesetze, Ableitung der spezielleren Gesetze, induktive Prüfung der Deduktionsergebnisse. Anders gesagt: Die auf der Evidenz innerer Wahrnehmung aufgebaute empirische Psychologie Brentanos hat dieselbe induktiv-deduktive Struktur wie Mills Auffassung von der Wissenschaft der menschlichen Natur. Auch wenn Brentano auf diese Frage nicht eingeht, lässt sich dies auch auf die neun Gesetze über die Eigentümlichkeiten und Grundklassen psychischer Phänomene anwenden, denn sie sind ebenfalls letzte Gesetze, die mittels induktiver Verallgemeinerungen psychischer Eigentümlichkeiten, die in der inneren Wahrnehmung entdeckt werden, gewonnen werden.⁴²⁰ Es kommt hier auf die Gesetze an, die nicht aus dem Begriff entspringen und nicht apodiktisch sicher sind, sondern die das Ergebnis einer Induktion sind, die auf der Basis empirisch notwendiger Gründe in dem Sinne als vollständig betrachtet werden kann, dass die Wahrscheinlichkeit, ein psychisches Phänomen zu finden, das diese Bedingungen nicht einhält, infinitesimal klein ist. Eine solche Induktion liefert also Gesetze, die unter praktischen Gesichtspunkten ebenso sicher wie die Axiome sind und die sich auf die Eigentümlichkeiten psychischer Phänomene und ihrer Teile beziehen.⁴²¹ Was die Gesetze der Sukzession psychischer Phänomene betrifft, die aus letzten Gesetzen psychophysischen Charakters abgeleitet werden sollen, so bleibt ihre Entdeckung ein Desiderat der empirischen Psychologie jener Zeit, und wir können nicht wissen, was für eine Rolle die Mathematik dabei spielen wird. Brentano jedenfalls meint dazu: „für Anwendung der Mathematik wird dabei immer Raum bleiben“.⁴²² Zu jener Zeit war die Mathematik in der psychologischen Forschung trotzdem nur begrenzt anwendbar, weil man von allen psychischen Erscheinungen nur die Intensität der Empfindungen der äußeren Sinne messen konnte. Dagegen waren die Intensität der Empfindungen der inneren Organe und die der höheren psychischen Phänomene des Urteils und der Gemütsbewegung nicht berechenbar.⁴²³
Zu diesen Zielen gehört auch der Beweis der Unsterblichkeitsfrage (vgl. PeS, S. 90). Hier bleibt die Frage nach der Art und Weise, in der diese Gesetze deduktiv verwertet werden können, dahingestellt. Vgl. dazu unten das Kapitel II.3.3.4 über die Induktion. Brentanos Behauptungen über die Mathematik lassen sich gut als Argument für die hier verteidigte These über die Zugehörigkeit der Psychologie zur positiven Philosophie verwenden, weil sowohl Comte als auch Mill in der Anwendung der mathematischen Instrumente in der Naturwissenschaft ein Zeichen ihrer Positivierung sahen. PeS, S. 86.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
Das macht einen Grund aus, weshalb die auf induktivem psychischem Wege aufgestellten Gesetze psychischer Sukzession inexakt bleiben müssen. Der andere Grund liegt in der unzureichenden Erkenntnis des physiologischen Substrats des Verlaufes mentalen Lebens. Trotzdem glaubt Brentano, dass die auf der Basis der inneren Wahrnehmung durchgeführte empirische Psychologie nicht erfolglos ist, weil sie doch damals noch imstande ist, mittels psychologischer Induktion empirische Generalisationen zu entdecken, die zwar keine Grundgesetze sind, aber doch einen hohen Grad der Allgemeinheit besitzen.⁴²⁴ Wie gesagt gründet die Unfähigkeit der Psychologie jener Zeit, ihre umfassenden Generalisationen aus letzten Grundgesetzen abzuleiten, auf ihrer Abhängigkeit von der Physiologie und auf der ungenügenden Entwicklung der Letzteren. Damit stoßen wir auf ein zentrales Problem des Aufbaus der Psychologie, das aus ihrer Einordnung in Comtes Stufenleiter der Wissenschaften herrührt. Als die jüngste Wissenschaft der Skala konnte die Psychologie nicht umhin, sich auf der Grundlage einer Wissenschaft aufzubauen, die auf dem Weg ihrer positiven Entwicklung selbst noch nicht sehr weit fortgeschritten war, nämlich der Physiologie. Deshalb konnte sie der empirischen Psychologie nicht die erforderlichen Erkenntnisse liefern, die zur Aufstellung ihrer letzten Grundgesetze nötig waren. Die Folge davon war, dass die bis dahin entdeckten psychischen Generalisationen nicht durch die Ableitung aus psychischen Grundgesetzen gesichert und erklärt werden konnten. Eines der wichtigsten Desiderate der positiven Wissenschaft, und zwar die Erklärung der induktiv aufgestellten Gesetze mittels letzter psychischer Grundgesetze, war daher eben wegen der unzureichenden Fortschritte der Physiologie nicht erreichbar. Alles, was eine empirische, auf die innere Wahrnehmung gegründete Psychologie liefern konnte, waren ungenaue Ergebnisse, die durch Ableitung aus letzten Gesetzen und durch die Angabe der physiologischen Bedingungen der psychischen Sukzession weiter erklärt werden hätten müssen. Damit ist das Schicksal der Psychologie als kausalerklärender Wissenschaft eben wegen der Abhängigkeitsverhältnisse in Comtes Hierarchie der Wissenschaften mit dem Schicksal der Physiologie untrennbar verbunden. Als kausalerklärende Disziplin war die psychische Wissenschaft noch nicht fähig, eine deduktive Disziplin zu sein, welche die höchsten Grundgesetze der Sukzession anzugeben im Stande ist, aus denen die induktiv aufgestellten Generalisationen abgeleitet werden können.
„Obwohl unsere psychische Induction nicht bis zu den eigentlichen Grundgesetzen vordringen kann, so erreicht sie doch Gesetze von einer sehr umfassenden Allgemeinheit. Es wird darum möglich sein, aus ihnen wieder speciellere Gesetze abzuleiten.“ (PeS, S. 88; vgl. auch S. 61 f., und Bain, a. a. O., S. 284 f.)
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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Wenn man nun Brentanos Äußerungen im „Vorwort“ seiner Arbeit über denjenigen „Kern allgemein anerkannter Wahrheit“, auf dessen Grundlage „an die Stelle der Psychologien […] eine Psychologie“ zu setzen möglich sein wird, im Sinne der genannten letzten Grundgesetze interpretiert,⁴²⁵ dann ist klar, dass die Psychologie vom empirischen Standpunkt mit der Festlegung der Eigentümlichkeiten und der Grundklassen psychischer Phänomene wichtige Schritte in diese Richtung machte.⁴²⁶ Von dem Desiderat der Erklärung dieser Gesetze aus letzten Grundgesetzen war sie trotzdem eben wegen ihrer Abhängigkeit von der Physiologie weit entfernt. Im Gegensatz zu seiner Wiener Zeit, in der Brentano Mills Position einnimmt und zunehmend skeptisch bezüglich der Frage wird, ob die Physiologie jemals imstande sein wird, die dazu erforderlichen Kenntnisse aufzubringen,⁴²⁷ ist er in der Arbeit von 1874 recht optimistisch. Der Grund seines Optimismus liegt darin, dass die in Comtes enzyklopädischer Stufenleiter der Wissenschaften niedergeschlagene geschichtliche Erfahrung zeigt, dass die positive Forschungsweise allmählich und notwendig fortschreitet und in allen Wissenschaften der Skala zum Durchbruch kommt.⁴²⁸ Folglich gibt es keinen Grund dafür, an der Fähigkeit der physiologischen Forschung zu zweifeln, in der Zukunft einmal dasjenige Entwicklungsstadium zu erreichen, das es möglich macht, die physiologischen Bedingungen aufzudecken, die für die Aufstellung der höchsten psychischen Gesetze relevant sind.⁴²⁹ Allerdings bleibt ihre Entdeckung eine zukünftige Aufgabe der empirischen Psychologie, zu deren Erfüllung sie auf die Hilfe der Physiologie notwendig angewiesen ist.⁴³⁰ Das eben Gesagte zeigt, dass sich die Rolle der inneren Wahrnehmung in der Psychologie nicht nur auf die Feststellung der Eigentümlichkeiten psychischer
PeS, S. 3. Dieser Kern lässt sich im Sinne von Erkenntnissen über die wichtigsten Merkmale psychischer Zustände und ihre Grundklassen und auch im Sinne der neun oben aufgelisteten, sich auf sie beziehenden letzten Gesetze (die Intentionalität des Bewusstseins, das Gesetz der Fundierung psychischer Phänomene usw.) interpretieren. Dabei dürfen die Gesetze über die Merkmale und Klassen mentaler Erscheinungen nicht vergessen werden. DPs, S. 4 f. Hier wird der Einfluss der methodischen Momente der Naturwissenschaft bei Comte auf den Aufbau der Psychologie klar, denn, wenn dies nicht zuträfe, was für einen Sinn hätte es dann gehabt, dass Brentano der Psychologie eine Aufgabe stellte, die von der damaligen psychophysischen Forschung nicht gelöst werden konnte? Meine Antwort besteht darin, dass er so einmal mehr nachweisen konnte, dass die Psychologie irgendwann in der Zukunft gemäß ihrer Position in Comtes Skala eine fundamentale positive Wissenschaft werden könnte. Vgl. dazu Brentanos Behauptung über die (positive) Entwicklung der Physiologie (GPhN, S. 14). PeS, S. 80.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
Erscheinungen und ihrer Grundklassen begrenzt. Mittels ihr sollten auch die empirischen Regelmäßigkeiten der Sukzession psychischer Phänomene ausfindig gemacht werden, die sich weiter als empirische Gesetze induktiv verallgemeinern lassen. Solche konstanten Verhältnisse psychischer Aufeinanderfolge sollten daraufhin deduktiv aus Grundgesetzen abgeleitet werden, die mithilfe der Physiologie zu entdecken waren. Damit gelangt der empirische Psychologe an einen Punkt, an dem seine psychologische Methode der inneren Wahrnehmung auf ihre Grenze stößt, weil sie nicht mehr ausreicht, um die weiteren Ziele der empirischen Psychologie umzusetzen, sondern sich genötigt sieht, die physiologische Methode und ihre Ergebnisse zu Rate zu ziehen. Das entspricht genau der Stellung von Brentanos Psychologie in Comtes Stufenleiter der Wissenschaften. Es weist zugleich auf eine unvermeidbare Grenze der psychologischen Forschung hin, die Brentano später dank seiner Unterscheidung zwischen genetischer und deskriptiver Psychologie umgehen konnte.
II.3.2.6.4 Die Gesetze der Ideenassoziation in Brentanos Psychologie In seinen „Erinnerungen an Franz Brentano“ berichtet Stumpf: Psychologie tritt zum erstenmal im Sommer 1871 unter den Vorlesungsgegenständen auf. Brentano teilte sie damals in zwei Hauptabschnitte: 1. von den psychischen Phänomenen und ihren Gesetzen, 2. vom Substrat der psychischen Phänomene und der Unsterblichkeit der Seele. […] Eingehend behandelte er die Assoziationslehre [im ersten Abschnitt; Hinzufügung I. T.], wobei die Arbeiten der englischen Psychologen ausgiebig berücksichtigt wurden. Er erkannte nur ein Grundgesetz an, das er etwa so formulierte: „Jede Vorstellung hinterläßt eine Disposition zum Auftreten einer ähnlichen Vorstellung unter ähnlichen psychischen Zuständen.“⁴³¹
Stumpfs Äußerungen sind im Zusammenhang meiner Diskussion deshalb bedeutsam, weil sie klar auf die Rolle der Gesetze der Ideenassoziation in der Psychologie hinweisen. Diese Gesetze spielen bei Mill dieselbe Rolle in der Psychologie wie das Gravitationsgesetz in der Physik oder die Gesetze der Gewebe in der Biologie.⁴³² Brentano dagegen teilt diese Auffassung nicht, sondern ist mit Bain der Meinung, dass die Psychologie eben wegen ihrer Abhängigkeit von der Phy-
Stumpf, a. a. O., S. 135; vgl. auch Marty, „Franz Brentano. Eine biographische Skizze“, in ders., Gesammelte Schriften, 1. Bd. 1. Abteilung, J. Eisenmayer, A. Kastil, O. Kraus (Hrsg.), Halle a. S., Niemeyer, 1916, S. 97– 103. Mill, Auguste Comte and Positivism, S. 290.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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siologie kein letztes Gesetz aufweisen kann, das als Analogon der physischen Grundgesetze angesehen werden könnte.⁴³³ Ein anderer wichtiger Unterscheid zu Mill ist der folgende: Mill hält die Assoziationsgesetze für Gesetze, die nicht auf physiologischem Weg, sondern induktiv durch psychologische Beobachtung und Experiment gewonnen werden.⁴³⁴ Auch wenn er die Möglichkeit zulässt, dass diese Gesetze „aus den Gesetzen des thierischen Lebens“ abgeleitet werden könnten, ist er zugleich sehr skeptisch, dass die zukünftigen Fortschritte der Physiologie die Kenntnisse, die zum Erreichen dieses Zieles unerlässlich sind, liefern könnten.⁴³⁵ Was Brentano betrifft, greift er diese Möglichkeit 1874 auf und spricht von letzten psychischen Grundgesetzen, die ebenfalls auf induktivem Wege zu finden sind und in derer Formulierung die physiologischen Vor- und Mitbedingungen der Sukzession psychischer Phänomene angegeben werden sollten. Aus diesem Grund sollte „der größte Teil […] der Psychologie einen halb und halb psychophysischen Charakter“ erhalten.⁴³⁶ Unter diesen Umständen lässt sich die Frage aufwerfen, ob die von Mill genannten Gesetze der Ideenassoziation diejenigen „obersten und allgemeinsten Gesetze der Succession psychischer Phänomene“ sind,⁴³⁷ die Brentano als die letzten zu jener Zeit erreichbaren Gesetze betrachtet. Da Brentanos Psychologie nicht bis zum Ende ausgeführt ist,⁴³⁸ ist es schwierig, diese Frage zu beantworten. Auf jeden Fall spricht vieles dafür, dass die Gesetze der Assoziationspsychologie von James, John St. Mill, Bain und anderen für die Etablierung der Psychologie keine geringe Rolle gespielt haben dürften: In den Kapiteln über die Urteile und Gemütsbewegungen verteidigt Brentano wiederholt Mills Position, die Regelmäßigkeiten, nach denen ein Urteil oder eine Gemütsbewegung andere Phänomene dergleichen Art erzeugten, seien nicht auf die Gesetze der Ideen- oder Vorstellungsassoziation zurückführbar.⁴³⁹ Darüber hinaus befasst sich ein ganzes
Bain, a. a. O., S. 284; PeS, S. 61 f. SLRI II, S. 851, 853/457, 460. SLRI II, S. 851 f./457 f. Brentano teilt Mills Skeptizismus gegenüber der weiteren Entwicklung der physiologischen Forschung erst in seiner Wiener Zeit (DPs, S. 4 f.). PeS, S. 63. PeS, S. 61. In DPs hebt Brentano den ungenauen Charakter der Assoziationsgesetze hervor (DPs, S. 4). PeS, S. 244 f.; SLRI II, S. 856/463. Im Unterscheid zu Brentano, der am deutschen Idealismus wiederholt Kritik übt und sich in der Psychologie ausführlich mit den Thesen der britischen Assoziationspsychologie beschäftigt, erkennt Wundt die Wichtigkeit der idealistischen deutschen Tradition (Leibniz, Kant) für seine Psychologie unumwunden an. Wundts Ausgangspunkt für die Behandlung dieses Themas ist nicht die britische Assoziationslehre, sondern die Art und Weise, in der Herbart diese Lehre rezipierte und umbildete (vgl. dazu aufschlussreich K. Danziger, „Wundt and the Two Traditions in Psychology“, in R. W. Rieber (Hrsg.), Wilhelm Wundt and the
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
Kapitel des Manuskripts des dritten Buches ausführlich mit der Geschichte dieses Problems von Aristoteles bis zu James Mill und Hamilton.⁴⁴⁰ Hinzu kommt, dass er im Manuskript des vorletzten, unveröffentlichten Kapitels des zweiten Buches die Gewohnheit als eine Tatsache auffasst, die auf dem ganzen psychischen Gebiet gültig ist. Wenn man seine Ausführungen darin genau unter die Lupe nimmt, dann bemerkt man, dass er sich hier mit einem Phänomen beschäftigt, das in die von Mill aufgezählten Gesetze der Ideenassoziation, z. B. das Kontiguitätsgesetz, wesentlich einbezogen ist und dem ersten allgemeinen psychologischen Gesetz Mills, „jeder geistige Eindruck habe seine Idee“, ähnelt⁴⁴¹: Das Hauptgesetz aller Gewohnheit ist dieses: (1) Hat irgendein psychisches Phänomen einmal stattgefunden, so bleibt in Folge davon eine Disposition für es selbst und für ihm ähnliche Phänomene zurück. Oder, mit anderen Worten und noch etwas vollständiger ausgedrückt: Durch jedes psychische Phänomen wird das Eintreten eines gleichen oder ähnlichen Phänomens unter gleichen oder ähnlichen Bedingungen vorbereitet. ⁴⁴²
Die Tatsache, dass das Phänomen der Gewohnheit daraus folgt, dass jede psychische Erscheinung entsteht und vergeht,⁴⁴³ macht besser begreiflich, weshalb Brentano das Gesetz, das sich auf diese Tatsache bezieht, außer der Reihe der
Making of a Scientific Psychology, New York, Plenum Press, 1980, S. 77 ff., und ders., „Wundt and the Temptations of Psychology“, in R.W. Rieber, D. K. Robinson (Hrsg.), Wilhelm Wundt in History. The Making of a Scientific Psychology, New York, Springer, 2001, S. 74– 79). „Blick auf die überlieferte Lehre von der Ideenassoziation“ (Ps 53/53104). Wie sich aus dem Zusammenhang ergibt, behandelt Brentano dieses Thema, weil die Assoziationsgesetze bei den Autoren, die die empiristische Position hinsichtlich der Raumvorstellung verteidigten (Hartley, Bain), erklären, wie die visuelle Empfindung mit der Raumvorstellung verbunden wird (Ps 53/ 53040). Ps 53/53161. Vgl. dazu SLRI II, S. 852/459 und auch Mills Behauptung: „Wenn, gleichgültig durch welche Ursache, irgend ein Zustand des Bewusstseins einmal in uns erregt worden ist, so kann ein niedrigerer Grad desselben Zustandes des Bewusstseins, ein dem ersteren ähnlicher, aber weniger intensiver Zustand des Bewusstseins in uns hervorgebracht werden, ohne dass die Ursache, welche ihn zuerst erregte, zugegen wäre.“ (SLRI II, S. 852/458) Dieses Gesetz bildet zwar die Grundlage der Assoziationsgesetze, gehört jedoch nicht zu ihnen (vgl. dazu auch Mills spätere Erklärungen über dasselbe Thema in An Examination …, S. 177 f.). Ps 53/53161. „Alle unsere psychischen Phänomene fanden wir dem Entstehen und Vergehen unterworfen. Aber beim Vergehen zeigt sich zugleich ein gewisser Bestand, und mit dem flüchtigen Gewinn eines Phänomens verbindet sich ein dauerndes Erwerben. Auch diese Tatsache gilt für alle Klassen gemeinsam, und ist auf den Verlauf unserer Seelenerscheinungen in jeder Hinsicht von wesentlichem Einfluss.“ (Ps 53/53157).
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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Gesetze, die sich auf die Merkmale und die Grundklassen mentaler Zustände berufen, anführt: Jenes Gesetz befasst sich nicht mit der Struktur psychischer Akte, sondern mit ihrem Werden und kann so als Basis anderer, sich auf dasselbe Problem beziehenden Gesetze betrachtet werden. Auch wenn Brentano die Gewohnheit nicht aus dem Gesetz des psychischen Werdens ableitet, ist es doch möglich, diesen Schritt zu machen, indem man berücksichtigt, dass das Auftreten jedes neuen psychischen Phänomens eine Disposition zu seiner zukünftigen Wiederholung schaffen kann: „Schon mit dem ersten Phänomen fängt die Disposition der Gewohnheit sich zu bilden an.“⁴⁴⁴ Brentanos Ausführungen darüber sind deshalb so wichtig, weil sie zeigen, dass er sich 1874 ausführlich mit der später der genetischen Psychologie zugeschriebenen Erörterung der Regelmäßigkeiten psychischer Aufeinanderfolge auseinandergesetzt und sich in dem unveröffentlichten Manuskript der Psychologie in erheblichem Maße um ihre Ergründung bemüht hat.⁴⁴⁵ Das Thema der Gesetze der Aufeinanderfolge und Koexistenz der (psychischen) Phänomene, das der positiven Philosophie so zentral war, stellte mithin ein Hauptanliegen seiner 1874 durchgeführten empirischen Untersuchungen dar. Schließlich und endlich zeigen die im Manuskript verbliebenen Inhaltsverzeichnisse der unveröffentlichten Bücher der Psychologie, dass die Assoziationslehre und die mit ihr verbundene Frage der Disposition ein wichtiges Forschungsgebiet der Psychologie ausmachten. Dementsprechend widmete Brentano diesem Thema in einer Fassung des dritten Buches die folgenden Kapitel: „Blick auf die hergebrachte Lehre der Assoziation“ (Kap. IV), „Von der ursprünglichen Assoziation“ (Kap. V), „Von der erworbenen Assoziation“ (Kap. VI), „Weitere Be-
Ps 53/53164. Neben dem „Hauptgesetz aller Gewohnheit“ zählt Brentano fünf weitere allgemeine Tatsachen auf dem psychischen Gebiet auf: (2) „Jede Gewohnheit hat eine Stärke […] Je stärker eine Gewohnheit ist, um so leichter, um so ausnahmsloser und mit um so größerer Vollkommenheit treten die betreffenden Erscheinungen ein.“ (Ps 53/53162) (3) „Die Gewohnheit zu einem Akte wird am meisten durch besonders ausgezeichnete ähnliche Akte und durch Wiederholung gebildet und gefördert; durch entgegengesetzte wird sie, wenn diese vorausgegangen sind, in ihrer Ausbildung gehemmt oder auch ganz und gar verhindert; wenn dieselben aber nachfolgen, geschwächt und aufgehoben. Dabei sind lange dauernde Akte wie wiederholte Akte in Anschlag zu bringen.“ (Ps 53/53163) (4) „Die Gewohnheiten mindern sich und schwinden mit der Zeit bei vernachlässigter Übung.“ (Ps 53/53164) (5) „Die Gewohnheiten unterscheiden sich voneinander nicht bloß in Bezug auf ihre Stärke, sondern auch in Bezug ihre Dauerhaftigkeit.“ (Ps 53/53165) (6) „Die Gewohnheit wirkt leichter, je ähnlicher die Verhältnisse sind.“ (Ps 53/53168) Stumpfs oben angeführte Äußerung über die ersten psychologischen Vorlesungen Brentanos zeigt, dass Brentano von Anfang an diesen Weg betrat.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
trachtungen über die erworbene Assoziation“ (Kap. VII).⁴⁴⁶ Auch wenn er kein Kapitel aus dem Inhaltsverzeichnis des vierten und fünften Buches angefertigt hat, zeigen die darin aufgeführten Titel, dass die Assoziation und die Disposition wichtige Themen dieser Bücher darstellen.⁴⁴⁷ Wenn man diese Titel unter dem Gesichtspunkt von Mills Behauptung liest, die Gesetze, nach denen ein Glaube einen anderen erzeugt oder wir von Natur aus gewisse Gegenstände begehren, seien Assoziationsgesetze,⁴⁴⁸ dann ergibt sich klar, dass Brentano hier ein Problem angeht, das von den Vertretern der Assoziationspsychologie aufschlussreich erörtert wurde. Auf diesem Weg zeigt sich wieder, wie vielfältig das Profil der Psychologie ist. Sie ist eine Schrift, der wesentlich eine metaphysisch-aristotelische Dimension zukommt, die aber zugleich aufgrund der cartesischen evidenten inneren Wahrnehmung ein Programm in die Tat umsetzen will, das von der positiven Philosophie übernommen wird, und in deren unveröffentlichten Büchern wichtige Themen der assoziationistischen Tradition entfaltet werden sollen. Das stellt weiter ein Zeichen der Selbstständigkeit von Brentanos Psychologie gegenüber seiner deskriptiven Psychologie dar. Denn es ist einerseits klar, dass die Erörterungen über die Eigentümlichkeiten, über die Grundklassen psychischer Erscheinungen und über die Gesetze, die sich auf sie beziehen und nicht weiter erklärbar sind, in die Richtung der deskriptiven Psychologie weisen. Andererseits ist es ebenfalls offenkundig, dass diese Eigentümlichkeiten in der Arbeit von 1874 die Basis bilden, auf deren Grund die Ziele der positiven Wissenschaft auf psychischem Gebiet umgesetzt werden sollten. Auch wenn die Ergründung der Gesetze psychischer Sukzession, der Assoziationsgesetze und der Disposition später der genetischen Psychologie zugewiesen werden, kann die Arbeit von 1874 ohne die Behandlung dieser Fragen nicht gedacht werden. Die bis jetzt durchgeführte Analyse zeigt, wie wichtig die Auffindung der Gesetze psychischer Aufeinanderfolge aufgrund der Verallgemeinerung der Suk-
Rollinger, a. a. O., S. 284. Rollinger hält die Fassung, der die angeführten Kapitel angehören, für die reifste Form unter allen Inhaltsverzeichnissen des dritten Buches, weil sie vom thematischen Standpunkt aus die vollständigste ist. „Von dem Scharfsinn und anderen günstigen Dispositionen (z. B. Herrschaft des Wollens über die Phantasie)“ (Kap. XII des vierten Buches); „Von dem mannigfachen Ursprung der Liebe“, „Was wird ursprünglich geliebt?“, „Die Dispositionen zu richtigen und sittlichen Gemütsbewegungen und ihre Ausbildung“ (Kap. V, VI, IX des fünften Buches (Rollinger, a. a. O., S. 286, 288)). SLRI II, S. 856/463. Rollinger macht darauf aufmerksam, dass Brentano die psychologische Analyse nicht auf die Ergründung der Assoziationsgesetze beschränken wollte, sondern ihr auch die Behandlung der Unsterblichkeitsfrage zuschrieb (Rollinger, a. a. O., S. 267). Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass die Gesetze der Assoziation bei Brentano mit dem Begriff der positiven Wissenschaft eng verbunden sind.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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zessionsverhältnisse, die in der inneren Wahrnehmung erfasst werden, für das Programm der Psychologie ist. Auch wenn in der einschlägigen Literatur dieses Problem gewöhnlich übersprungen wird und nur diejenigen Erörterungen Aufmerksamkeit genießen, die Brentano dem Erreichen der ersten beiden Ziele der Psychologie widmete, glaube ich, dass es hier nicht um ein sekundäres, sondern um ein zentrales Problem seiner Psychologie geht, welches dem Projekt dieser Schrift wesentlich ist. Wenn man die metaphysische Dimension dieses Werkes beiseitelegt, dann zeigt sich, dass diese Wissenschaft durch die Methode der inneren Wahrnehmung zentrale Ziele der positiven Wissenschaft – die Entdeckung der Gesetze psychischer Aufeinanderfolge – erreichen will, die dann weiter unter Zuhilfenahme der Physiologie mittels letzter Grundgesetze erklärt werden sollen. Das Versäumnis sowohl seiner Schüler als auch der heutigen Exegese, diesen wesentlichen Aspekt zu berücksichtigen, macht den Hauptgrund aus, weshalb Brentanos empirische Psychologie bis heute nicht klar von seiner deskriptiven Psychologie getrennt und nicht als ein ihr gegenüber selbstständiges Projekt angesehen wird. So ist das Vorurteil, das schon bei Brentanos Schüler, z. B. bei Husserl, aufgekommen ist, dass die zwei Psychologien ein einziges, einheitliches Ganze bilden würden, so tief verwurzelt, dass es viel einfacher ist, auf diejenigen Interpretationen zu verweisen, die diesen Weg nicht eingeschlagen haben, als umgekehrt.⁴⁴⁹ Darüber hinaus lässt es das Gesagte zu, eine wichtige Lücke in Bezug auf Brentanos Auffassung von der genetischen Psychologie auszufüllen. Bekanntlich sind Brentanos Ausführungen darüber ziemlich karg: Er beschränkt sich darauf, ihre Aufgabe, das Studium der Gesetze psychischen Werdens, anzugeben und sie von der deskriptiven Psychologie abzusondern, um sie daraufhin beiseite zu lassen. Seine Ausführungen über die psychische Induktion und ihre Rolle bei der Entdeckung der Gesetze mentaler Aufeinanderfolge in der Schrift von 1874 zeigen aber, dass es sehr wohl möglich ist, die genetische Psychologie für eine Art von Psychologie zu halten, die nicht, wie dies bei Horwicz und Maudsley der Fall ist, das psychische Leben mittels seines physiologischen Substrates erklären will, sondern die – genau wie die deskriptive Psychologie – zur inneren Wahrnehmung greift, um mit ihrer Hilfe Verhältnisse aufzudecken, die daraufhin als empirische Gesetze der Sukzession verallgemeinert werden. Erst für die weitere Erklärung dieser Gesetze aus höheren und höchsten Gesetzen sollte die Physiologie dieser Psychologie zur Seite stehen.
Antonelli z. B. verweist darauf, dass Brentanos empirische Psychologie nicht von vornherein deskriptiv zu lesen sei, ohne jedoch auf die tiefergreifenden Unterschiede der zwei psychologischen Projekte einzugehen (a. a. O., S. XVI f.).
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
Vor diesem Hintergrund lassen sich zwei Bedeutungen dessen unterscheiden, inwiefern die Psychologie vom empirischen Standpunkt ein Fragment geblieben ist: (1) Sie ist ein Fragment geblieben, weil von den sechs geplanten Büchern nur die ersten zwei im Jahr 1874 erschienen sind. Das dritte Buch über die Vorstellungen ist als Manuskript erhalten geblieben, während von den folgenden drei Büchern über die Urteile, Gemütsbewegungen, das Leib-Seele-Problem und die Fortdauer des psychischen Lebens nach dem Tod nur die Inhaltsverzeichnisse ausgearbeitet wurden. (2) Diese Schrift ist auch deswegen ein Fragment geblieben, weil damals die Bedingungen dafür noch nicht reif genug waren, dass die Physiologie ihre Aufgabe als positive Wissenschaft hätte erfüllen können, um so die Entdeckung der letzten psychischen Gesetze zu ermöglichen. Mit anderen Worten: Die empirische Psychologie jener Zeit konnte eines ihrer wichtigsten Ziele als positive Disziplin, nämlich die Erklärung ihrer empirischen Gesetze aus letzten Grundgesetzen, eben wegen der Abhängigkeitsverhältnisse in Hinsicht auf Comtes Stufenleiter der Wissenschaften nicht erreichen.
II.3.2.7 Die Psychologie vom empirischen Standpunkt und Brentanos Antrittsvorlesung an der Universität Wien Aus der thematischen Vielfalt der Psychologie übernimmt Brentano in der Antrittsvorlesung an der Universität Wien am 22. April 1874 nur denjenigen Teil, der für die Möglichkeit sprach, die Methodologie der Naturwissenschaft auf die Psychologie zu übertragen. Ein möglicher Grund dieser einseitigen Übernahme besteht darin, dass er von seinem Erscheinungsbild als katholischer Priester, der sich mit Problemen beschäftigt, die dem Geiste der modernen Naturwissenschaft und Weltanschauung nicht entsprechen, Abstand nehmen wollte.⁴⁵⁰ Aus diesem Grund möchte er den Eindruck erwecken, er sei ein „regenerator philosophiae“,⁴⁵¹ dessen Aufgabe darin bestehe, das verlorene Vertrauen der Wiener Studentenschaft in die Philosophie wieder herzustellen.⁴⁵² Ich möchte hier nicht auf die
Zum Erscheinungsbild Brentanos als Metaphysiker s. Antonelli, a. a. O., S. XXX ff. Im Unterschied zu seinem Aufsatz über Comte, wo er zu zeigen versucht, dass die moderne Naturforschung mit der Theismus-Frage vereinbar ist (AC, S. 119 ff.), unternimmt er in der Antrittsvorlesung keinen solchen Versuch. Ich übernehme diesen Ausdruck von Werle (a. a. O., S.V). Brentanos Gegner, die gegen seine Position zur eherechtlichen Frage in „Das Vaterland“, Zeitung für die österreichische Monarchie polemisierten, nannten ihn auch „“Regenerator der Philosophie in Oesterreich“ (vgl. LWO, S. 16 – 28, 64). ZPh, S. 100.
II.3.2 Brentanos empirische Psychologie und ihre positiven Facetten
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Einzelheiten dieser Frage eingehen, sondern beschränke mir darauf, den Gang seiner Argumentation wiederzugeben. Die Zusammenfassung der Erörterungen über die enzyklopädische Stufenleiter bei Comte aus der Psychologie stellt den Ausgangspunkt seiner Beweisführung dar. Brentanos Hauptidee besteht darin, das Gesetz der Durchsetzung des positiven Geistes in Comtes Stufenleiter der Wissenschaften sei der Hauptgrund für die Wiederbelebung des Vertrauens in die Philosophie und in ihre Zukunft. Dazu trifft er die folgenden theoretischen Entscheidungen: Im Unterschied zu seinen frühen Klassifikationen der Wissenschaften, wo die Metaphysik eine wichtige Position einnimmt und ihr sowohl die Psychologie als auch die Naturwissenschaft untergeordnet werden,⁴⁵³ identifiziert Brentano in seiner Antrittsvorlesung die Philosophie mit der Psychologie und erwähnt die Metaphysik nur episodisch und ohne Gewicht auf sie zu legen.⁴⁵⁴ Zugleich ist die so betrachtete Psychologie eine Disziplin, die reibungslos in Comtes Skala der positiven Wissenschaften ihnen Platz findet und die nicht aufgrund innerer Wahrnehmung, sondern der Methode der Naturwissenschaft, d. h. der „Beobachtung und Erfahrung“, aufgebaut wird.⁴⁵⁵ Auch wenn sich die Erfahrung da leicht im Sinne des Erlebens eigener psychischer Phänomene im inneren Bewusstsein oder in der inneren Wahrnehmung interpretieren lässt, ist für die hier aufgestellte These beachtenswert, dass keine von diesen metaphysischen Syntagmen in Brentanos Vorlesung auftaucht. Auf diese Weise sind die Voraussetzungen geschaffen, dass die Psychologie als die jüngste Disziplin in Comtes Skala der Wissenschaften denselben gesetzlichen Entwicklungsgang wie die ihre vorangehenden Wissenschaften hat. Wie schon erwähnt, herrschte der positive Geist damals schon in der Astronomie, Physik und Chemie. Zugleich begann seine unumgängliche Durchsetzung schon in der Physiologie, und es war nur eine Frage der Zeit, bis er auch in der Psychologie (und Philosophie) die Führung übernehmen würde. Brentano zufolge gibt es keinen Zweifel daran, dass er auch in diesen Wissenschaften regieren wird. Aus diesem Grund gibt es auch keinen Zweifel an der Zukunft der Philosophie.⁴⁵⁶ Man bemerkt aber, worin der Preis besteht, den Brentano bezahlen muss, um bei den Interessierten das Vertrauen in die Zukunft der Philosophie wieder zu
Vgl. oben S. 258. ZPh, S. 96, 99. Am Anfang eines Kollegs über „ausgewählte metaphysische Fragen“ (WS 1874/ 75) behauptet Brentano, er habe absichtlich gewählt, den Beweis für die These, die Philosophie sei eine Wissenschaft, anhand der Psychologie und nicht der Metaphysik zu erbringen, weil so die Beweisführung einfacher sei (vgl. dazu Werle, a. a. O., S. 113). ZPh, S. 85, 90. ZPh, S. 98 f.; vgl. auch PeS, S. 39 f.
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erwecken und sein Bild als Philosoph, der nach der Methode der Naturwissenschaft arbeitet, zu gestalten: die Identifizierung der Philosophie mit einer Psychologie, die nicht mit einer analogen, sondern mit derselben Methode wie die Naturwissenschaft arbeitet. Es kommt hinzu die Veränderung oder die Vernachlässigung zentraler Themen der Psychologie, nämlich der Idee der völligen Heterogenität der psychischen Phänomene gegenüber allen anderen Phänomenen und der These, dass ihr Studium eben wegen dieser Heterogenität eine Forschungsmethode (die innere Wahrnehmung) fordert, die nie Beobachtung werden kann. Was die erste Frage betrifft, taucht die Idee der völligen Heterogenität des Psychischen gegenüber dem Physischen in der Antrittsvorlesung nicht auf. Dagegen legt Brentano die Betonung auf eine „gemilderte“ Fassung dieser These, die auch von Comte vertreten wird und die behauptet, dass es einen kontinuierlichen Übergang zwischen den unterschiedlichen Ordnungen der Phänomene gebe und dass jede neue Klasse von Phänomenen zwar eine Komplikation, jedoch nichts radikal Neues gegenüber den anderen Klassen von Erscheinungen sei: Es ist nun klar, daß, wenn es Phänomene gibt, die sich ähnlich zu den physiologischen, wie diese zu den chemischen und die chemischen zu den physischen verhalten: die Wissenschaft [die Psychologie; Hinzufügung I. T.], welche sich mit ihnen beschäftigt, in einer noch unreiferen Phase der Entwicklung sich finden muß. Und solche Phänomene sind die psychischen Zustände.⁴⁵⁷
Es sollte aber unterstrichen werden, dass die Heterogenitäts-These in der Arbeit von 1874 ganz anders klingt: „Im Gegentheil sieht man sich, wenn man den Blick von Aussen nach Innen wendet, wie in eine neue Welt versetzt. Die Erscheinungen sind völlig heterogen, und selbst die Analogien verlassen uns gänzlich oder nehmen einen sehr vagen und künstlichen Charakter an.“⁴⁵⁸ Angesichts der Frage der inneren Wahrnehmung bringt Brentanos Behauptung, die „Beobachtung und Erfahrung“ als Methode der Naturwissenschaft sei auch die Methode der Philosophie und Psychologie, den Nachteil mit sich, dass so die Eigenart der Psychologie gegenüber anderen Psychologien, z. B. der physio-
ZPh, S. 93 f. PeS, S. 66 (Hervorhebung I. T.). Im ersten Kapitel der Psychologie ist Brentano viel vorsichtiger hinsichtlich der Beschreibung der Verhältnisse der psychischen zu den physiologischen Phänomene, denn er behauptet nicht, die psychischen Erscheinungen würden sich gegenüber den physiologischen Phänomenen wie die chemischen gegenüber den physischen Phänomenen verhalten, sondern erklärt ihre Beziehung zueinander, indem er auf den Einfluss aufmerksam macht, den die Gesetze der niederen Phänomene auf die höheren Klassen von Phänomenen ausüben (PeS, S. 38 ff.).
II.3.3 Brentanos Psychognosie oder deskriptive Psychologie
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logischen Psychologie Wundts, außer Acht bleibt.Wie oben gezeigt wurde, beruht die psychische Wissenschaft bei ihm auf dem Studium psychischer Erscheinungen im inneren Bewusstsein, ein Ansatz, der in seinen Wiener Jahren weiterentwickelt wird. Vor diesem Hintergrund werden die Gründe deutlich, weshalb sich Brentano in einem Brief an Marty auf seine von Comte inspirierten Ausführungen in der Antrittsvorlesung zurückhaltend bezieht: […] jene meiner Schriften, die am meisten einschlug und doch relativ wenig originell und unbedeutend war … Das Maß des Beifalls, den der Vortrag fand, war mir zunächst rätselhaft. Doch erklärt er sich daraus, daß ich darin mit Klarheit ausspreche, was die durchgebildete Überzeugung der ganzen Welt ist.⁴⁵⁹
In folgendem Kapitel werde ich einige der entscheidenden Veränderungen analysieren, die zentrale Thesen von Brentanos Psychologie in seiner deskriptiven Psychologie erfahren.
II.3.3 Brentanos Psychognosie oder deskriptive Psychologie II.3.3.1 Einleitung Im letzten Jahrzehnt seiner Tätigkeit in Wien hielt Brentano mehrmals Vorlesungen über das Thema dieses Kapitels: „Deskriptive Psychologie“ (1887/88), „Deskriptive Psychologie oder beschreibende Phänomenologie“ (1888/89) und „Psychognosie“ (1890/91).⁴⁶⁰ Gemäß dem 1982 veröffentlichten Text besteht die Aufgabe der Psychognosie darin, die letzten Elemente des Bewusstseins aufzufinden und ihre Verbindungsweisen zu analysieren. Auf diese Weise hofft Brentano darauf, die in der inneren Wahrnehmung implizit wahrgenommenen Teile klar zu machen. Allerdings kommt Brentano auf den Gedanken, dass unsere Vorstellung Teile haben, die nicht bemerkt werden, schon in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts, denn ein ganzes Kapitel des Manuskripts des dritten Buches seiner Psychologie wird ausgerechnet der Darstellung der Fälle gewidmet, in de-
ZPh, S. 156 f. Kraus weist darauf hin, dass Brentano die Antrittsvorlesung für „wenig originell“ hielt, weil er sich darin an Comte anlehnte. Der von Baumgartner und Chisholm 1982 veröffentlichte Band enthält neben der Vorlesung von 1890/91 einen Anhang, in dem Texte über die innere Wahrnehmung, den Inhalt der Empfindungen, das Perzipieren und Apperzipieren und die Problematik der deskriptiven Psychologie enthalten sind (DPs, S. 121– 164).
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
nen Teile des vorgestellten Inhalts entweder nicht bemerkt oder falsch gedeutet werden. Dabei hat Brentano ausschließlich die Vorstellung der sinnlichen Inhalte im Blick und stellt noch nicht die Frage nach den unbemerkten Inhalten der inneren Wahrnehmung wie in den Wiener Jahren. Dies deutet darauf hin, dass das Thema des Bemerkens und der Beschreibung der Teile der wahrgenommenen Objekte in Brentanos Psychologie mit Bezug auf die Inhalte der sinnlichen Vorstellungen auftaucht, um erst danach hinsichtlich der impliziten Inhalte des inneren Bewusstseins in die Diskussion gebracht zu werden. Es kommt hinzu, dass Brentano in der Vorlesung Ausgewählte Fragen aus Psychologie und Ästhetik (1885/ 86), dem bis jetzt ersten veröffentlichten Text, in dem er nicht nur zwei Ansätze, sondern zwei psychologische Disziplinen unterscheidet, die Aufgabe der deskriptiven oder beschreibenden Psychologie noch nicht als Analyse der Bewusstseinselemente und ihrer Verbindungsweisen, sondern als Beschreibung des Gebietes der inneren Wahrnehmung bestimmt. Das Thema der Ergründung dieses Gebietes ist auch für die Psychologie zentral, aber einerseits nimmt Brentano 1874 die Daten der inneren Wahrnehmung nicht als Basis zu ihrer Beschreibung, sondern als Ausgangspunkt für die Entdeckung der Gesetze ihrer Sukzession. Andererseits bezieht er sich, wenn er im Manuskript des dritten Buches der Psychologie den deskriptiven vom genetischen Ansatz trennt, nicht auf die Inhalte innerer, sondern äußerer Wahrnehmung, nämlich auf die sinnlichen Inhalte. Das macht einen wichtigen Unterschied aus, der klar festgestellt werden muss, um die verschiedenen Stationen seiner Auffassung von Bemerken und Beschreibung genau zu erfassen. Wie gesagt taucht die Differenz beider Aspekte einer psychologischen Untersuchung in der Vorlesung von 1885/86 schon als Unterschied zweier psychologischer Disziplinen auf. Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass das Verhältnis beider Wissenschaften in der Vorlesung von 1885/86 und der von 1890/ 91 nicht auf dieselbe Weise aufgefasst wird. 1890/91 verfolgt Brentano nicht das Ziel, die Psychognosie einer besonderen Klasse psychischer Phänomene auszuführen wie in der Vorlesung über die Phantasieerscheinungen, sondern bietet eine allgemeine Übersicht über die von ihm inzwischen etablierte deskriptive Psychologie an. Auch wenn er immer wieder auf die Hilfe hinweist, die die genetische der deskriptiven Psychologie leistet, betont er nachdrücklich die Überlegenheit der Psychognosie, die genauso wie die Mathematik oder Mechanik eine exakte Wissenschaft ist, die mit sicheren und ausnahmslosen Erkenntnissen operiert. Darüber hinaus hat sie annähernd rein psychischen Charakter, weil sie in großem Maße von der Physiologie unabhängig ist. Dagegen ist die genetische Psychologie stark von dieser Wissenschaft abhängig, hat keinen rein psychischen, sondern psychophysischen Charakter und arbeitet mit Erkenntnissen, die nur im Durch-
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schnitt gültig sind und viele Ausnahmen zulassen. Außerdem macht die Psychognosie die Grundlage der genetischen Psychologie aus.⁴⁶¹ In der Vorlesung von 1885/86 bietet Brentano hingegen einen viel gemäßigteren Überblick über die Beziehung beider Disziplinen zueinander, denn nachdem er betont hat, dass die erklärende Psychologie der schwierigste Teil der Psychologie sei,⁴⁶² hebt er nicht die Überlegenheit der beschreibenden oder deskriptiven Psychologie hervor, sondern verweist mit Nachdruck auf die Schwierigkeiten derselben und warnt davor – was er in der Vorlesung von 1890/91 nicht mehr tut –, das Verhältnis der beiden Disziplinen nach dem Muster der Beziehung zwischen Anatomie und Physiologie aufzufassen: „Wie die Anatomie bereits hochentwickelt war, als die Physiologie noch im Anfang stand, so wäre dies auch bei der deskriptiven Psychologie denkbar. Doch dies ist nicht der Fall.“⁴⁶³ Der Grund dafür rührt von der Schwierigkeit her, auf die er schon in seiner Schrift von 1874 stieß: Die Erkenntnisse, die aufgrund innerer Wahrnehmung unmittelbar gewonnen werden können, reichen nicht aus, um die empirische Psychologie zu begründen, weil sie sich auf das eigene psychische Leben begrenzen und die psychologische Selbstbeobachtung nicht möglich ist. Auch wenn die deskriptive Psychologie andere Ziele als die empirische Psychologie hat, zeigen Brentanos Ausführungen, dass allein die evidente innere Wahrnehmung zur Verwirklichung ihrer Ziele ebenfalls nicht ausreicht. Dafür legt er drei Argumente vor: a) nicht jede psychognostische Aussage stammt unmittelbar aus der inneren Wahrnehmung, denn die allgemeinen psychognostischen Gesetze sind entweder durch Induktion in weiterem oder engerem Sinn, oder durch Deduktion oder durch ihre Verbindung gewonnen; b) Auch im Fall der partikularen Urteile kann sich der Psychognost nicht nur auf die innere Wahrnehmung verlassen, weil er gleichfalls das Studium der Phänomene im Gedächtnis zu Rate ziehen soll.⁴⁶⁴ c) „[…] nicht alles, was in die innere Wahrnehmung fällt, wird bemerkt.
DPs, S. 5 – 9, 76, 147, 155 – 158. „[…] wir sagen müssen, der Hauptwert der Psychognosie besteht darin, daß sie für die genetische Psychologie die Basis lege“ (DPs, S. 76). Hinsichtlich dieses Problems setzt Marty die Akzente anders: „Der Wert der Psychologie ist teils ein theoretischer, teils ein praktischer, und zwar kommt der größere theoretische Wert der genetischen Psychologie zu. Immerhin ist auch der deskriptive Teil wertvoll.“ (Marty, a. a. O., S. 7) Auch in der Vorlesung von 1890/91 verweist er darauf (DPs, S. 28). GÄ, S. 37; vgl. dagegen DPs, S. 6, 9. In der Vorlesung über Ästhetik spricht Brentano von deskriptiver oder beschreibender Psychologie und von erklärender Psychologie, die er auch genetische Psychologie nennt (GÄ, S. 36 – 40, 87). GÄ, S. 37 f.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
[…] Was aber nicht bemerkt wird, ist für die beschreibende Psychologie nicht vorhanden. Der Gesamtzustand ist dann, obwohl wahrgenommen, unklar. Ähnliches gilt, wenn die Teile und ihre Zugehörigkeit zum Ganzen nicht bemerkt werden.“⁴⁶⁵
Damit kündigt sich in der Vorlesung von 1885/86 schon die Schwierigkeit an, die die Analyse des Bemerkens in der Vorlesung von 1890/91 zu überwinden versucht. Demgemäß haben wir es 1885/86 nicht mit den Äußerungen eines Psychognosten zu tun, der von der Überlegenheit der deskriptiven gegenüber der genetischen Psychologie überzeugt ist. Im Gegenteil geht es darin um vorsichtige Überlegungen, die auf die Schwierigkeiten der psychognostischen Herangehensweise hinweisen. Wie seine weiteren Analysen der Phantasievorstellung zeigen, ist ihm klar, dass die deskriptive Perspektive allein nicht dazu ausreicht, sondern dass auch der erklärende Ansatz benötigt wird. Dagegen legt Brentano in der Vorlesung von 1890/91 die genetische Psychologie von vornherein beiseite, um sich auf die Darstellungen der mereologischen und methodischen Register der deskriptiven Psychologie und auf ihre Anwendung auf das Studium des mentalen Lebens zu fokussieren.
II.3.3.2 Die deskriptiven Teile von Brentanos Psychognosie Im vierten Kapitel des zweiten Buches seiner Schrift von 1874 stellt Brentano die Frage, ob mehrere psychische Akte, die zugleich im Bewusstsein vorhanden sind, als eine Mehrheit von Dingen, die nebeneinander bestehen, oder aber als eine Einheit zu betrachten sind. Seine Antwort geht dahin, dass es dabei nicht auf ein Kollektiv oder eine Menge von physischen Dingen (eine Herde oder ein Heer z. B.) ankommt, sondern man es mit einer wirklichen psychischen Einheit zu tun hat, die aus Teilen oder, wie er sie nennt, „Divisiven“ besteht.⁴⁶⁶ Wenn ich z. B. etwas sehe und zugleich höre oder mir das wünsche, was ich sehe, dann stellen die hierin einbezogenen psychischen Phänomene: der Seh-, Hör- und Wunschakt keine Menge der psychischen Akte dar, die wie die physischen Dinge nebeneinander stehen, sondern bilden eine einzige wirkliche psychische Einheit, die aus mehrere Teilen zusammengesetzt ist, und die deshalb nicht einfach ist.⁴⁶⁷ Um diese Einheit zu analysieren, greift Brentano zunächst auf die Abhängigkeitsverhältnisse, die zwischen den Teilen bestehen, zurück: Auch wenn die sich zugleich abspielenden Seh- und Hörakte eine Einheit bilden, kann jeder
GÄ, S. 38. PeS, S. 175 ff. PeS, S. 175; DPs, S. 10 ff.
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unter ihnen weiter bestehen oder aufhören, ohne dass damit das Bestehen des anderen Aktes beeinträchtigt wird. Was das andere Beispiel betrifft, kann ein Vorstellungsakt, eine visuelle Empfindung z. B., ohne den auf ihm fundierten Wunsch existieren – ich kann etwa einen Apfel sehen, ohne gleich zu wünschen, ihn zu genießen. Die umgekehrte These gilt aber nicht, weil gemäß dem Fundierungsgesetz psychischer Erscheinungen Brentanos kein Urteils- und Gemütsakt ohne eine Vorstellung existieren kann.⁴⁶⁸ Mit Blick auf dieses Problem stellt Brentano eine Reihe der Verhältnisse dar, die auf der Innigkeit der Verbindungen zwischen ihren Teilen beruht: Die Verbindung zwischen sekundärer und primärer Beziehung des Aktes ist inniger als die zwischen dem supraponierten und dem vorstellenden Akt, die ihrerseits inniger ist als die zwischen zwei Akten, die zu einem gewissen Zeitpunkt eine psychische Einheit bilden, ohne voneinander abhängig zu sein.⁴⁶⁹ Diese Unterscheidungen sind für die Gesetze der Ideenassoziation besonders wichtig und lassen sich als ein Zeichen der Wichtigkeit der assoziationistischen Psychologie für den Aufbau der Psychologie deuten. 1874 werden diese Beziehungen noch nicht mittels der mereologischen Sprache des Ganzen und Teiles konsequent analysiert, sondern als unterschiedliche Arten der „Innigkeit der Verbindung“ aufgelistet, die auf dem psychischen Gebiet gültig sind. Wenn man sie jedoch in die mereologische Terminologie der Psychognosie überträgt, dann ist das erste Verhältnis ausgerechnet deshalb inniger als das zweite, weil die zwei Elemente, die es ausmachen, sich nicht wirklich, sondern nur rationell abtrennen lassen. Zwischen ihnen gibt es also nur eine rein distinktionelle Abtrennbarkeit. Unter diesen Umständen kommen die zwei anderen Verhältnisse deshalb nach ihr, weil die Verbindungen ihrer Teile schwächer sind als die Verbindungen der Teile, die nicht wirklich, sondern nur distinktionell ablösbar sind: Die Verbindung zwischen den sinnlichen Vorstellungen und den auf sie fundierten Urteils- oder Gemütsakten ist zwar schwächer als die zwischen den zwei Richtungen des Aktes, die nur zusammen existieren können, aber stärker als die gleichzeitige momentane Verbindung von zwei Akten, die unabhängig voneinander bestehen können. Oben wies ich darauf hin, dass der vierte methodische Schritt der Psychologie in der Analyse der „letzten psychischen Elemente“ des Bewusstseins, „vorzüglich
PeS, S. 177 ff. PeS, S. 181 f. Hinsichtlich der Komponente des inneren Bewusstseins lassen sich weitere Unterschiede feststellen: Die innere Vorstellung und Wahrnehmung eines Höraktes erleiden Veränderungen nur in Abhängigkeit vom ihm, die begleitenden Gefühl dagegen auch aus anderen Gründen, z. B. wegen der Stimmung des Hörers (PeS, S. 181).
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
[…] der Empfindungen“,⁴⁷⁰ besteht, und dass die Erklärungen, die als Verwirklichung dieses methodischen Schritts angesehen werden können, im Manuskript des dritten Buches zu finden sind, wo der deskriptive schon von Anfang an vom genetischen Ansatz abgetrennt wird. Auch wenn sich die Untersuchungen der Arbeit von 1874 abwechselnd unter die eine oder die andere Perspektive einordnen lassen, sollte klar gesagt werden, dass Psychologie vom empirischen Standpunkt nicht auf dem Unterschied „genetisch – deskriptiv“ beruht und keine deskriptive Psychologie ist. Es kommt hinzu, dass die Frage nach der Einheit des Bewusstseins in dieser Schrift nicht in Verbindung mit der nach ihren „ersten psychischen Elementen, […] den Empfindungen“ behandelt wird: Brentano spricht im betreffenden Kapitel zwar ständig über die Teile, die als „Divisive“ der Einheit des Bewusstseins gesehen werden können, und betrachtet die Empfindungen als solche Teile, seine Analyse läuft aber nicht dahin, diese Teile zu unterscheiden und zu klassifizieren, sondern verfolgt das Ziel, die mannigfache Weise ihrer Verbindungen zu erklären.⁴⁷¹ Auch im Manuskript des dritten Buches verfolgt Brentano nicht das Ziel, das Bewusstsein bis in seine letzten distinktionellen Teile zu zergliedern. Trotzdem gibt es in den ersten zwei Kapiteln Erörterungen, die deutlich in Verbindung mit diesem Thema stehen und wegweisend für dieses sind: Was die Untersuchung [hinsichtlich der Beschreibung der Vorstellungen; Hervorhebung I. T.] besonders schwierig macht, ist die Undeutlichkeit oder mangelhafte Deutlichkeit der Vorstellungen. Jede Beschreibung enthält, wie John Stuart Mill mit Recht hervorhebt, mehr als die Wahrnehmung; sie enthält Vergleich und Deutung. Wer sagt: Dies ist rot, sagt, dass es in Ansehung der Farbe mit gewissen früher gesehenen Gegenständen übereinstimme, zu einer Klasse mit ihnen gehöre. Damit, dass etwas richtig wahrgenommen wird (was bei unseren Vorstellungen wegen der Evidenz der inneren Wahrnehmung immer der Fall ist), ist nicht gesagt, dass es auch richtig gedeutet wird.⁴⁷²
Dieser Passus macht darauf aufmerksam, dass die Evidenz, mit der der Akt innerlich wahrgenommen wird, keine Klarheit hinsichtlich des vorgestellten Inhalts und seiner Teile verschafft. Wenn ich etwa ein Quadrat sehe, das mittels seiner Symmetrieachsen in vier Quadrate, die verschiedene Farben haben, geteilt wird, dann ist es ziemlich sicher, dass ich daraufhin den ganzen Vorstellungsinhalt hinsichtlich der Farbe eines jeden seiner Bestandteile beschreiben kann. Wenn das Experiment allerdings weitergeführt wird und jedes der vier Quadrate in
PeS, S. 61. PeS, S. 175 – 188. Alle diesen Themen werden in der deskriptiven Psychologie weiterentwickelt. Ps 53.002 f.; vgl. SLRI II, S. 664/199 f.
II.3.3 Brentanos Psychognosie oder deskriptive Psychologie
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weitere vier Quadrate, die ebenfalls unterschiedlich gefärbt sind, geteilt wird, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass ich nur eine ungenaue Beschreibung davon bieten kann: Ich werde die Farbe einiger Quadrate genau benennen, in Bezug auf andere werde ich mich aber irren oder ganz und gar nicht imstande sein, etwas von ihrer Färbung zu behaupten. Im letzten Fall geht es um die Unmerklichkeit der vorgestellten Inhalte, während es im vorletzten um ihre Missdeutlichkeit geht, d. h. um die falsche Einordnung und Klassifizierung der wahrgenommenen Teile – das von mir für blau gehaltene Quadrat entpuppt sich z. B. als violett. In diesem Zusammenhang ist beachtenswert, dass Brentano mehrmals Fälle in die Diskussion einbringt, in denen Teile des vorgestellten Inhalts nicht bemerkt werden.⁴⁷³ Brentanos Ausführungen im ersten Kapitel des dritten Buches, „Von der Undeutlichkeit der Vorstellungen“, gehen alle in dieselbe Richtung eines vorgestellten Inhalts, der aus Teilen besteht, die entweder hinsichtlich der Klasse, zu der sie gehören, falsch gedeutet oder nicht bemerkt werden. Für meine weitere Analyse ist es von Bedeutung, dass er das Problem der Beschreibung mit Bezug auf das primäre vorgestellte Objekt anpackt und noch nicht von den in der inneren Wahrnehmung implizit wahrgenommenen Teilen spricht. Dementsprechend werden die Ausdrücke „beschrieben/bemerkt werden“ hinsichtlich der Teile der empfundenen sinnlichen Inhalte und nicht mit Bezug auf die explizit oder implizit wahrgenommenen Inhalte der inneren Wahrnehmung benutzt.⁴⁷⁴ Letzten Endes besteht ein anderer wichtiger Unterschied zwischen den zwei Psychologien darin, dass Brentano in der Arbeit von 1874 die wichtigsten Merkmale und Klassen psychischer Erscheinungen feststellen will. Dazu nimmt er tatsächlich als Ausgangspunkt die Art und Weise, in der die psychischen Phänomene in der eigenen inneren Erfahrung auftauchen, um auf dieser Grundlage ihre Merkmale in kritischer Diskussion mit der philosophischen Tradition und mit seinen Zeitgenossen zu finden. Auch wenn die Einheit des Bewusstseins eine von diesen Eigenschaften ist, bildet nicht sie, sondern die im inneren Bewusstsein aufgedeckten Tatsachen den Auftakt seiner Untersuchung, und diese werden als Basis benutzt, um die Gesetze der Sukzession psychischer Erscheinungen ausfindig zu machen.
Angesichts solcher Beispiele sagt Brentano: „Und gäbe es solcher Fälle viele, so würde die Psychologie, auch als beschreibende Wissenschaft, für immer ein elendes Stückwerk bleiben.“ (Ps 53.008) Das Bemerken macht das wichtigste methodische Moment der deskriptiven Psychologie aus (vgl. unten II.3.3.5). Dabei werden die sinnlichen Inhalte nicht weiter in der kausalerklärenden Perspektive der Naturwissenschaft, sondern ausschließlich als immanentes Objekt der Vorstellung thematisiert.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
Dagegen geht Brentano in der deskriptiven Psychologie ausgerechnet davon aus, dass das Bewusstsein eine Einheit bildet, deren Teile und ihre Verhältnisse zueinander genau zu unterscheiden sind und die in der inneren Wahrnehmung nicht explizit, sondern implizit erfasst werden. Das Kriterium, aufgrund dessen die Unterscheidungen durchgeführt werden sollen, besteht ausgerechnet in der Idee der Abtrennbarkeit psychischer Erscheinungen, die in dem Abhängigkeitsverhältnis des Fundierungsgesetzes mentaler Zustände in der Psychologie involviert ist. In seiner Wiener Zeit wird diese Idee weiterentwickelt und verfeinert, denn in der Schrift von 1874 stellt Brentano zwar die Merkmale der psychischen Phänomene fest, kommt jedoch nicht so weit, sie als distinktionelle Teile des Bewusstseins zu analysieren, wie dies in der Psychognosie der Fall ist. Eine Folge davon ist, dass die intentionale Beziehung, die in der Psychologie als klassifikatorisches Kriterium psychischer Zustände fungiert, wegen der neuen deskriptiven Fragestellung in den Schatten gerät. Die These der Abtrennbarkeit mentaler Erscheinungen rückt dagegen in den Mittelpunkt und stellt das Klassifikationskriterium psychischer Erscheinungen dar. Auf diese Weise befürwortet Brentano eine Klassifikation der psychischen Akte, die nicht drei, sondern zwei Grundklassen hat: die grundlegenden und die supraponierten Akte.⁴⁷⁵ Die Urteile und die Gemütsbewegungen werden mithin angesichts ihres gemeinsamen Merkmals der Fundierung auf eine Vorstellung zur einzigen Klasse der supraponierten Akte vereinigt. Auch wenn der abstrakten Vorstellung eine andere intentionale Beziehung als dem Urteil und der Gemütsbewegung eigen ist, wird sie trotzdem in die Klasse der supraponierten Akte eingeführt, weil sie durch Abstraktion aus sinnlichen Vorstellungen gewonnen ist. Damit werden die sinnlichen Vorstellungen die Basis aller anderen Akte.⁴⁷⁶ Unter diesen Umständen verfährt Brentano wie folgt: Er geht von der Einheit des Bewusstseins zu einem gewissen Zeitpunkt aus, zergliedert sie in ihre wirklichen Bestandteile, um unter ihnen diejenigen abzusondern, welche die Unterklasse der Akte bilden, die allen anderen psychischen Phänomenen zugrunde liegen. Auf diese Weise bekommt er letzte wirkliche psychische Teile oder Elemente, die alle anderen psychischen Akte fundieren, ohne aber selbst auf andere Elemente fundiert zu sein. Die Existenz der supraponierten Akte ist von ihnen abhängig, aber nicht umgekehrt. Wir kommen so auf die letzten wirklichen
DPs, S. 84. Der Klasse der grundlegenden oder fundamentalen Akte gehören zum einen die Empfindungen und zum anderen die Proterästhesien (Proterosen oder Phänomene der ursprünglichen Assoziation) an (DPs, S. 88, 89, 102; vgl. dazu unten S. 361 f.). Es ist auch möglich, dass die supraponierten Akte sich aufeinander fundieren, die Urteile und die Gemütsbewegungen auf die abstrakten Vorstellungen, wie z. B im Urteil „Es gibt keine Wahrheit“ (DPs, S. 20).
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Bausteine des Bewusstseins, die sich wirklich weder weiter teilen noch fundieren, sondern nur individualisieren lassen. Mit dem Erreichen der letzten wirklich abtrennbaren Teile in Brentanos deskriptiver Psychologie hat es jedoch nicht sein Bewenden, denn diese Teile lassen sich weiter analysieren, d. h. in Teile trennen, die nicht wirklich, sondern nur rationell oder distinktionell ablösbar sind.⁴⁷⁷ Die Eigenart von Brentanos analytischem Verfahren kommt in folgendem Passus klar zu Tage: Indem wir unsere Aufmerksamkeit auf einen einzelnen Teil konzentrieren, werden in ihm wieder Teile unterscheidbar werden. Und aufs Neue wiederholt sich dann der Prozeß der Ordnung und sukzessiv die Reihe durchlaufenden Konzentration bis die nicht weiter teilbaren Elemente erreicht sind.⁴⁷⁸
Der allgemeine mereologische Rahmen der Diskussion dieses Passus beruht auf dem Unterschied zwischen wirklich und distinktionell ablösbaren Teilen. Die letzten Teile sind entweder durch Distinktion im eigentlichen oder im uneigentlichen, modifizierenden Sinn gewonnen. Im Hintergrund dieser Unterscheidung steht die zwischen den bereichernden oder determinierenden und den modifizierenden Attributen. Wir sprechen dann von einem determinierenden Attribut, wenn seine Zuschreibung zu einem gewissen Objekt unsere Erkenntnis davon bereichert, ohne jedoch seinen ontologischen Status zu modifizieren: „Ion spricht Chinesisch“ z. B. erweitert meine Erkenntnis über Ion, weil ich nicht wusste, dass er dieser Sprache kundig ist. Im Unterschied zu solchen determinierenden Eigenschaften verändern die modifizierenden Attribute (etwa „tot“ oder „gemalt“) den ontologischen Status des Objekts, weil ein toter oder gemalter Mensch kein Mensch mehr ist, denn er hat seine wesentliche Bestimmung, die Lebendigkeit, verloren. Mithin geht es in diesem Fall um eine Distinktion im uneigentlichen oder im modifizierenden Sinn, und die Teile, die durch sie gewonnen werden, werden von Brentano distinktionelle Teile im modifizierenden Sinn genannt.⁴⁷⁹ Ihnen gegenüber stehen die Teile, die durch Distinktion im eigentlichen Sinn gewonnen werden, die logischen und die sich durchwohnenden Teile, die Teile der psychischen Diploseenergie und des intentionalen Korrelatenpaars. Mittels der Entde Die Teile, die nicht weiter wirklich abtrennbar sind, nennt Brentano „Elemente“. Im Fall der distinktionellen Teile dieser Elemente, die nicht weiter rationell ablösbar sind, spricht er „von Elementen der Elemente […] (nämlich von bloß distinktionellen Teilen der letzten ablösbaren Teile)“ (DPs, S. 13 f.). DPs, S. 60. Vgl. dazu PeS, S. 240; DPs, S. 19 f., 25 ff., und J. König, „Beilage. Der Gebrauch des Terminus ‚modifizierend‘ bei Brentano“, in Sein und Denken. Studien im Grenzgebiet von Logik, Ontologie und Sprachphilosophie, Halle, Niemeyer, 1937, S. 219 – 222.
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ckung dieser Elemente wird die Erkenntnis psychischen Lebens erweitert und vertieft. Das zeigt, dass das, was oben für wirkliche Bausteine oder „letzte Elemente“ des Bewusstseins gehalten wurde, nicht einfach, sondern komplex ist, weil es eine Struktur aufweist, deren Komponenten das Ergebnis der Fortsetzung der analytischen Verfahrensweise sind, das nur auf distinktionellem oder rationellem Weg zu gewinnen ist. Aus diesem Grund nennt sie Brentano distinktionelle oder rein distinktionelle Teile. Ihre Einbeziehung in die Diskussion über die Struktur psychischer Akte zeigt, dass das Bewusstsein in keinem seiner wirklich abtrennbaren Teile einfach ist. Zugleich beweist sie, dass es hier auf ein Ganzes ankommt, das nicht durch die Addition mehrerer Teile derselben Art (wie etwa bei einem Steinhaufen) oder durch ihre mechanische Zusammensetzung nach dem Muster physischer Kräfte entsteht. Dagegen geht es hier um ein psychisches Ganzes, das in der Psychologie als etwas „völlig Heterogenes“ gegenüber dem Physischen betrachtet wurde und dessen grundlegende Struktur aus der bipolaren Richtung des Aktes gebildet wird, die sowohl aus psychischen, wirklichen, nur distinktionell abtrennbaren Teilen: der Beziehung auf das primäre Objekt und der Beziehung auf das sekundäre Objekt, als auch aus nichtwirklichen, sondern intentionalen, nur distinktionell abtrennbaren Teilen: dem immanenten Objekt, besteht.⁴⁸⁰ Das Verhältnis der beiden wirklichen psychischen Teile zueinander wird von Brentano unterschieden sowohl von der Beziehung der logischen Teile „Genus“ und „Spezies“ aufeinander – die primäre Beziehung des Aktes ist nicht das Genus der sekundären Beziehung und umgekehrt – als auch von dem Verhältnis der sich durchwohnenden (sich gegenseitig durchdringenden) Teile, z. B der sinnlichen Qualität und dem von ihr besetzen Ort, die auch nicht wirklich, sondern nur rationell unterscheidbar sind.⁴⁸¹ Die primäre und die sekundäre Beziehung des Aktes bilden deswegen eine andere Art psychischer Einheit, denn sie kommen
Bei Brentano hat alles, was wirklich ist, d. h. genauso besteht, wie es erscheint, psychischen Charakter. Von diesem Sinn des Wortes soll seine mereologische Bedeutung unterschieden werden, die sich auf die wirkliche Abtrennbarkeit der psychischen Akte voneinander bezieht. Neben den psychischen, wirklichen Teilen und den ihnen eigentümlichen sich durchwohnenden Teilen (DPs, S. 20) gibt es andere unwirkliche Teile: die logischen, die intentionalen, die ihnen eigentümlichen durchwohnenden Teile, und die durch modifizierende Distinktion zu gewinnenden Teile. In DP spricht Brentano nicht von den sich durchdringenden, sondern von den sich durchwohnenden Teilen. Allerdings benutzt er den ersten Ausdruck in demselben Sinn im Manuskript des dritten Buches der Psychologie (Ps 53.016 f., 050). Wenn ich weiter den Ausdruck „sich durchdringen“ verwende, dann benutze ich ihn, weil so das zur Diskussion stehende Verhältnis besser zum Ausdruck kommt.
II.3.3 Brentanos Psychognosie oder deskriptive Psychologie
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zwar zusammen – das erfolgt auch bei den sich durchwohnenden Teilen –, aber im Unterschied zu ihnen lassen sie sich nach den verschiedenen Richtungen auf verschiedene Objekte unterscheiden. Darüber hinaus kann man mit Bezug auf sie andere sich durchwohnende Teile unterscheiden.⁴⁸² Hinzu kommt, dass es sich im Unterschied zu den wirklich ablösbaren psychischen Teilen, den psychischen Akten, deren Entstehen, Bestehen und Aufhören voneinander unabhängig sein können, bei der primären und sekundären Beziehung um eine Art psychischer Einheit handelt, die aus zwei Teilen besteht, die nur rationell trennbar sind und die nur zusammen entstehen und vergehen.⁴⁸³ Die beiden Beziehungen machen die grundlegende Struktur des psychischen Aktes bei Brentano aus, die wegen der Innigkeit ihrer Verbindung von ihm an erster Stelle angeführt wird, wenn es in der Psychologie darauf ankommt, die Reihe der Innigkeit der Verbindungen, in der sich die Einheit des Bewusstseins bemerkbar macht, darzustellen.⁴⁸⁴ Damit kommt man zu vier psychischen Teilen in Brentanos Psychologie: die grundlegenden oder supraponierten Akte, die wirklich einseitig oder gegenseitig ablösbar sind, und die beiden Teile der psychischen Diploseenergie, die nicht wirklich, sondern nur distinktionell abtrennbar sind. Hinsichtlich der letzten distinktionellen Teile lassen sich andere distinktionelle Teile unterscheiden oder bemerken. Dem Urteil „Der von mir jetzt erlebte psychische Akt ist“, das dem inneren Bewusstsein eigen ist, sind folgende durchwohnende Teile eigen: bejahende Qualität, Gerichtetheit auf das Objekt, den Akt, dessen Teil sie ist, Evidenz, assertorische Modalität. Hingegen kommen im Urteil der äußeren Wahrnehmung „Es gibt die gesehene Farbe“ die folgenden durchwohnenden Teile zur Sprache: affirmative Qualität, Richtung auf ein Objekt, die als wirklich betrachtete Farbe, blinder Charakter, assertorische Modalität.⁴⁸⁵ Darüber hinaus enthält es als intentionalen, nur distinktionell ablösbaren Teil den immanenten Gegenstand, die gesehene Farbe, die von der wirklichen Farbe
„Den Teilen der intentionalen Objekte entsprechen nämlich Teile der darauf bezüglichen psychischen Akte. Wenn sich also z. B. beim Sehen im Objekt örtliche Bestimmtheit und Farbe durchwohnen, so sind dem entsprechend in ihm das Ortsehen und Farbsehen als sich durchwohnende Teile zu unterscheiden.“ (DPs, S. 99; vgl. auch S. 62) Ob den sich durchwohnenden Teilen der primären Beziehung auch Teile der darauf bezüglichen sekundären Beziehung entsprechen, sagt Brentano nicht (vgl. dazu unten II.3.3.5.3). Dabei spielt die primäre Beziehung des Aktes die entscheidende Rolle, weil die sekundäre Beziehung nur mit ihr und auf ihrer Grundlage erfolgt (PeS, S. 145 ff.). Zur Analyse der psychischen Diploseenergie vgl. DPs, S. 22– 25. Vgl. DPs, S. 14, 20.
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zu unterscheiden ist.⁴⁸⁶ Es kommt hinzu, dass die beiden Teile der psychischen Diploseenergie Spezies des Genus „Beziehung“ sind.⁴⁸⁷ Im Unterschied zur sekundären Beziehung des Aktes zu sich selbst, die Brentano nicht selbstständig behandelt, beschäftigt er sich in einem eigenständigen Paragraphen mit der primären Beziehung des psychischen Phänomens auf das immanente Objekt. Wegen der mereologischen Perspektive der Analyse wird dieses Verhältnis nicht weiter mittels Redewendungen beschrieben, welche die Immanenz des Objekts im Bewusstsein ausdrücken, sondern als intentionales Korrelatenpaar betrachtet.⁴⁸⁸ Es geht hier um ein Paar, das nicht aus zwei wirklichen, psychischen Teilen, sondern aus zwei Elementen besteht, die unterschiedlichen Charakter haben. Das erste Element, das psychischen Charakter hat, ist die Beziehung des Aktes auf sein Objekt. Das zweite Element ist nicht wirklich, sondern insofern intentional, als es im Bewusstsein in der Weise der aristotelischscholastischen Form, der Spezies, Intention oder des immanenten Objekts besteht. Um seine Verschiedenheit von der Wirklichkeit des psychischen Aktes hervorzuheben, schreibt Brentano ihm intentionale Inexistenz zu. Es kommt hier auf die Existenz an, die in der aristotelisch-scholastischen Perspektive der erkannten sinnlichen Form im seelischen Vermögen zukommt und die von der Wirklichkeit der akzidentellen Form in der ersten Substanz zu unterscheiden ist.⁴⁸⁹ Allerdings wird die sinnliche Erkenntnis in der Psychologie nicht unter traditionellem, sondern unter modernem Gesichtspunkt, und zwar als Erkenntnis des physischen Phänomens verstanden: Im Unterschied zu den psychischen Erscheinungen, die genauso bestehen, wie sie der inneren Wahrnehmung erscheinen, besteht das physische Phänomen nur intentional und phänomenal.⁴⁹⁰ Da-
DPs, S. 14, 20. Außer diesen Teilen gibt es noch das individualisierende Moment jedes psychischen Aktes. Es ist psychischer Natur, kann ohne sie bestehen, lässt sich einseitig von ihnen trennen und durchdringt sie einseitig (DPs, S. 61, 75, 81 ff.). Die durchgeführte Analyse weist schon darauf hin, dass das Ziel von Brentanos mereologischen Unterschieden letzten Endes darin besteht, die bipolare Struktur der wirklich abtrennbaren Teile des Bewusstseins zu analysieren. PeS, S. 214, 218 f.; DPs, S. 21. Vgl. PsA, S. 80; PeS, S. 106 f. Ich lasse mich hier nicht auf diese Frage ein, die ich an anderen Stellen ausführlich behandelt habe (Tănăsescu, „Die intentionale Inexistenz …“; „The Intentionality of Sensation and the Problem of Classification of Philosophical Sciences in Brentano’s Empirical Psychology“, Axiomathes 27 (2017), S. 243 – 263). Der umfassendste, ausdifferenzierteste Blick auf die mannigfachen (thomasischen und konzeptualistischen) Facetten von Brentanos Intentionalitätsbegriff ist in den zahlreichen Aufsätzen, besonders in „Der scholastische Kontext …“ und „Über die moderne Rezeption …“ zu finden, die Hedwig im Laufe der Zeit diesem Thema gewidmet hat. PeS, S. 109.
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gegen existieren die ihm entsprechenden physischen Kräfte wirklich. Auch wenn die Einwirkung dieser Kräfte auf die Sinnesorgane das Erscheinen physischer Phänomene zur Folge hat, vermitteln diese Phänomene nur eine sehr allgemeine Erkenntnis von ihren Ursachen: Alles, was über sie mit Sicherheit gesagt werden kann, beschränkt sich darauf, dass die physischen Kräfte wirklich bestehen und dass ihre Welt zeitlich analog eindimensional und räumlich analog dreidimensional der Welt der physischen Phänomene ist. Demgemäß sind die physischen Phänomene kein treues Abbild ihrer Kräfte, sondern nur ein Zeichen ihrer Einwirkung.⁴⁹¹ Brentanos berühmte Redewendung „die intentionale (wohl auch mentale) Inexistenz“ bringt die Immanenz des Objekts im psychischen Akt zum Ausdruck. Wenn man sie darüber hinaus mit der intentionalen und phänomenalen Existenz der physischen Phänomene in Verbindung bringt, dann ist es ausgerechnet die eben besprochene erkenntnistheoretische Diskrepanz zwischen dem sinnlichen Inhalt der äußeren Wahrnehmung und der ihm entsprechenden physischen Kraft, die zu Tage tritt. Im Unterschied zur Psychologie, wo das physische Phänomen sowohl kausal als Resultat der Einwirkung physischer Kräfte als auch unabhängig davon, und zwar als Inhalt der sinnlichen Akte, angepackt wird,⁴⁹² wird die erste Betrachtungsweise in der deskriptiven Psychologie beiseitegelegt, und die letzte weitergeführt. Die genannte erkenntnistheoretische Diskrepanz, die dem Beiwort „intentional“ anhaftet, klingt jedoch in der deskriptiven Psychologie weiter nach. Husserls Maxime, die Analyse rein deskriptiv, d. h. nur auf der Basis der in der Einheit des Bewusstseins vorhandenen Inhalte und unter Ausschaltung jeder erkenntnistheoretischen Betrachtung, zu führen, gilt also für die Psychognosie nicht. Dagegen ist es bei Brentano nicht wichtig, dass beide (wirklichen und intentionalen) Teile der primären Beziehung im Bewusstsein vorhanden sind und deshalb den Inhalten des Bewusstseins zugerechnet werden können, sondern dass die beiden einen unterschiedlichen epistemischen Stellenwert haben: Die Existenz der psychischen Phänomene ist wirklich und sicher, weil die Evidenz der inneren Wahrnehmung für sie bürgt. Auch wenn die physischen Phänomene im Bewusstsein existieren, kann die äußere Wahrnehmung wegen ihres trügerischen Charakters für ihre wirkliche Existenz nicht garantieren. Aus diesem Grund existieren sie nicht wirklich, sondern nur „phänomenal und intentional“.⁴⁹³ Um wie Husserl beide Klassen von Phänomenen als gleichberechtigte „reelle“ Inhalte
Vgl. dazu Tănăsescu, „Die intentionale Inexistenz …“ und „Empfindung, äußere Wahrnehmung…“. PeS, S. 115 ff.; vgl. auch Tănăsescu, „Empfindung, äußere Wahrnehmung…“, S. 111 ff. PeS, S. 109.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
des Bewusstseins zu berücksichtigen, soll man diese epistemische Fragestellung in Klammern setzen, die Empfindungsakte auf ihre sinnlichen Inhalte reduzieren und zugleich ein anderes Ergründungsmittel der Einheit des Bewusstseins als die innere Wahrnehmung, und zwar die phänomenologische Reflexion, einsetzen.⁴⁹⁴ Ein anderer wichtiger Aspekt von Brentanos psychognostischer Auffassung ist der folgende: In dem Werk von 1874 behauptet Brentano, die intentionale Inexistenz sei den psychischen Phänomenen ausschließlich eigentümlich und macht daraus das entscheidende Kriterium, um die Welt der psychischen von der der physischen Erscheinungen zu trennen.⁴⁹⁵ In der Psychognosie hält er an dieser These weiter fest, indem er ausdrücklich bemerkt, dass ein „immanentes“ Objekt „ausschließlich dem Bewußtsein eigen“ ist.⁴⁹⁶ Aber gemäß dem mereologischen Zusammenhang seiner Schrift beschreibt er die Körperwelt nicht weiter als Welt der physischen Kräfte, sondern mittels der Beziehungen, an denen sie Teil hat: Gibt es, wie wir gemeiniglich glauben, eine bewußtlose Körperwelt mit sinnlichen Qualitäten, oder statt ihrer mit einer Masse, von was immer für einer uns unanschaulichen Beschaffenheit gewisse Räume erfüllend, so hat sie gewiß an mancherlei andern Relation, von Teil und Ganzem, von Übereinstimmung und Verschiedenheit, von Ursache und Wirkung u. dgl. Anteil. Aber schlechterdings hat sie nicht an solcher intentionalen Relation teil. Daher „psychische Relation“. Dies bringt offenbar in das Gebiet des Bewußtseins eine gewisse Verwicklung, welche in den von uns betrachteten sinnlichen Phänomenen nicht gegeben war.⁴⁹⁷
Vgl. unten II.3.4. Dieses Problem bleibt in der Psychognosie weiter wichtig: „[…] denn wir hätten in der Tat anschauliche [physische und psychische; Hinzufügung I. T.] Vorstellungen, deren Inhalte gar nichts miteinander gemein hätten, wie z. B. sogenannte physische Phänomene im Gegensatz zu psychischen. Jene enthalten nichts als Qualität in einer gewissen Helligkeit, Intensität und das sie individualisierende Moment der örtlichen Bestimmtheit; diese dagegen nichts von allem eben Genannten außer in ganz uneigentlicher Weise. Aber diese privativen Gegensätze dienen allerdings dazu, das Psychische, welches jetzt im Inhalt unseres Gesamtbewußtseins liegt, von jenen sogenannten physischen Phänomenen zu unterscheiden und als etwas Besonderes bemerkbar zu machen.“ (DPs, S. 61) DPs, S. 22. DPs, S. 22 (Hervorhebung I. T.). Man bemerkt, dass das Verhältnis der zwei Welten zueinander nicht mehr wie in der Psychologie mittels des Ausdrucks „völlig heterogen“ beschrieben wird, sondern Brentano spricht von einer „gewissen Verwicklung“, die sich mit dem Hinzukommen der sekundären Beziehung steigert. In diesem Zusammenhang sei noch darauf hingewiesen, dass Brentano, obwohl er wiederholt die Idee betont, die deskriptive Psychologie bilde die Grundlage der genetischen Psychologie, kausal-genetische Ausdrücke („Ursache“, „wirken“) aufgreift, um die primäre Beziehung des Aktes zu charakterisieren: „Bei diesen [intentionalen; Hinzufügung I. T.] Korrelaten zeigt sich, wie schon Aristoteles hervorhob, die Eigentümlichkeit,
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Die bisher besprochenen Teile sind Elemente, die durch Distinktion im eigentlichen Sinn gewonnen werden. Abgesehen von ihnen bringt Brentano weiter die Teile ins Spiel, auf die man durch modifizierende Distinktion kommt. Wie schon angedeutet, haben solche Teile einen anderen ontologischen Status als die Teile, aus denen sie gewonnen werden. Brentano erklärt sie, indem er sie im Vergleich mit den logischen Teilen behandelt. Nehmen wir die folgende Reihe: „Empfinden, Sehen[/Farbempfinden; Hinzufügung I. T.], Rotsehen“.⁴⁹⁸ Das Empfinden ist logischer Teil des Farbempfindens, weil es seine Gattung ist. Als solches hält es die Bedingungen ein, die alle logischen Teile einzuhalten haben: Es ist vom Farbempfinden einseitig abtrennbar, was in Bezug auf seine gesamten Spezies gilt, denn es ist in jeder von ihnen: Tonempfinden, Geruchsempfinden usw., enthalten. Die Spezies lassen sich dagegen nicht einseitig von ihm trennen, weil sie dadurch aufhören würden, als solche zu bestehen. Andererseits ist „Sehen“ die Gattung des „Rotsehens“, weil zwischen ihnen dasselbe Verhältnis wie zwischen Empfinden und Farbempfinden herrscht. Rotsehen ist dagegen nur eine von seinen Spezies, die mit der spezifischen Differenz gleich ist.⁴⁹⁹ In diesem Zusammenhang führt Brentano den Fall in die Diskussion ein, in dem jemand einwendet, dass man es hier nicht mit einem Unterschied der Spezies innerhalb eines Genus, sondern mit der Unterscheidung der Akte nach ihren Objekten (Rot, Grün, Gelb usw.) zu tun hätte. Als Folge davon käme man auf ein anderes Verhältnis als das der einseitigen distinktionellen Abtrennbarkeit der Gattungsbestimmtheit, weil die Objekte, das Rot z. B., nicht die Gattungsbestimmtheiten „Empfinden“ oder „Sehen“ enthalten würden. Demgemäß wären sie von dem Akt ablösbar. Anstatt einer einseitigen würden wir es also mit einer gegenseitigen Ablösbarkeit zu tun haben.⁵⁰⁰ Brentanos Antwort geht dahin, dass die Schlussfolgerung deshalb nicht richtig ist, weil sie die spezifische Differenz des Farbsehens falsch interpretiert: Diese Differenz besteht nicht in der jeweils entsprechenden Farbe, sondern im Empfinden dieser Farbe. Die Spezies der Farbempfindung sind dementsprechend nicht Rot, Grün usw., sondern „Rotempfinden“, „Grünempfinden“ usw. Die Farbe, auf die es in „Rotsehen“ ankommt, ist keine wirkliche Entität, die unabhängig
daß das eine allein real, das andere dagegen nichts Reales ist. So wenig ein gewesener Mensch, so wenig ist ein gedachter etwas Reales. Der gedachte Mensch hat darum auch keine eigentliche Ursache und kann nicht eigentlich eine Wirkung üben, sondern indem der Bewusstseinsakt, das Denken des Menschen gewirkt wird, ist der gedachte Mensch, sein nichtreales Korrelat, mit da.“ (DPs, S. 21) DPs, S. 26. DPs, S. 20 f., 26. DPs, S. 26.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
vom empfindenden Akt besteht, sondern ausgerechnet der intentionale Teil der primären psychischen Beziehung „Rotsehen“. Als solcher ist er keine wirkliche, sondern nur eine empfundene Farbe. Aus diesem Grund ist sie nicht eigentlich als wirklicher Teil im Sehakt enthalten, und der Akt ist nicht eigentlich farbig. Aristoteles, auf den Brentano in diesem Zusammenhang hinweist, beschreibt die Sachlage, indem er sagt, der Sehakt sei „gewissermaßen“ farbig, nämlich nicht im eigentlichen Sinne wie ein wirkliches Individuum, das gefärbt ist, sondern nur insofern er die Form der Farbe ohne ihre Materie enthalte.⁵⁰¹ Brentano greift zur modifizierenden Distinktion, eben um das mereologische Verhältnis zwischen Farbsehen und gesehener Farbe einerseits und Farbe andererseits zu erklären.⁵⁰² Das Problem, auf das es dabei ankommt, ist folgendes: In welchem Sinn lässt sich sagen, dass Farbe Teil der gesehenen Farbe oder des Farbsehens ist? Um seine Antwort zu verstehen, sollte man einerseits bedenken, dass Brentano versucht, seine Mereologie deutlich darzustellen, indem er absichtlich die Position des gemeinen Mannes bezieht, der seinen Sinnen traut und infolgedessen annimmt, dass die Farben nicht nur intentional und phänomenal, sondern auch wirklich existieren.⁵⁰³ Andererseits sollte man die Richtung seiner Analyse erfassen, die nicht kausal-genetisch, von der als wirklich angenommenen Farbe (der physischen Kraft in der Psychologie) zum Ergebnis ihrer Einwirkung auf das Sinnesorgan, der gesehenen Farbe, verfährt, sondern von dem Korrelatenpaar ausgeht, um das Verhältnis seiner Teile zu dem Objekt, das dem intentionalen Korrelat entspricht, nämlich der Farbe, zu erklären. In diesem Zusammenhang ist es beachtenswert, dass Farbe sich nicht durch Distinktion im eigentlichen Sinne aus den Elementen des intentionalen Korrelatenpaars gewinnen lässt, weil das Verhältnis zwischen ihr einerseits und Farbsehen und gesehener Farbe andererseits nicht zu den Verhältnissen gehört, die zwischen den Teilen im eigentlichen Sinn gelten. Es handelt sich also weder um das Verhältnis der sich durchwohnenden Teile zueinander noch um das der psychischen Diploseenergie noch um das des intentionalen Teils des Farbsehens zu diesem letzten, weil nicht die Farbe, sondern die gesehene Farbe das intentionale Korrelat ausmacht, noch um das Verhältnis der logischen Teile, „Farbe“ – „Rot“, „Grün“ usw., zueinander, weil die gesehene Farbe keine wirkliche Farbe wie Rot oder Grün ist, um „Farbe“ als ihr Genus zu haben. In anderen Worten sind
DPs, S. 26, 170 f.; De an., III 2, 425b 22. Mit Bezug auf die Farbe als Teil des Farbsehens und der gesehenen Farbe spricht Brentano von „Objekten im Akt und in seinem intentionalen Korrelat“, was es weiter möglich macht, von „Teilen dieser Teile (also der Objekte) in mannigfacher Art“ zu sprechen (DPs, S. 80; vgl. auch S. 27). DPs, S. 14.
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die Genera der wirklichen Dinge nicht die Genera der modifizierten Dinge: Tier ist nicht das Genus des toten, sondern des lebendigen Menschen. Dementsprechend ist Farbe in diesem Zusammenhang weder ein durchwohnender noch ein logischer noch ein intentionaler Teil der Elemente des intentionalen Korrelatenpaares, weil sie weder intentional im farbigen Sehen noch als logischer Teil in der gesehenen Farbe enthalten oder wirklich mit dem farbigen Sehen durchdrungen ist. Was besagt dann, dass sie ihr Teil ist? Wie schon angedeutet, ist sie Teil im modifizierenden Sinn, d. h. in jenem Sinn, der mit der Veränderung des ontologischen Status des Gegenstandes als Folge der Zuschreibung eines modifizierenden Attributs zu ihm einhergeht: Farbe ist in gesehener Farbe und in dem Farbsehen enthalten so wie Mensch im toten oder gemalten Menschen oder Ton im gewesenen Ton enthalten ist. Der Mensch, der Ton, die Farbe, um die es da geht, ist kein wirklicher, jetzt lebender Mensch, kein jetzt tönender und gehörter Ton, keine jetzt strahlende und gesehene Farbe, sondern ein modifiziertes Objekt (Mensch, Ton Farbe), und zwar eben in dem Sinne des ihm zugesprochenen modifizierenden Attributs.⁵⁰⁴ Abseits von der Erörterung des Verhältnisses des intentionalen Korrelatenpaares zu dem Objekt, das dem intentionalen Korrelat entspricht, verwendet Brentano die modifizierten Teile, um das psychische Phänomen der ursprünglichen Assoziation, der Wahrnehmung einer sich in der Zeit konstituierenden Einheit, etwa dem Hören einer Melodie oder dem Sehen einer Bewegung, zu analysieren. Dabei unterscheidet er zwischen der letzten Sequenz oder Grenze dieser Einheit, der aktuellen Empfindung, und den gleich unmittelbar vor ihr schon erfolgten Empfindungen, der Proterästhesie, Proterose oder dem Phänomen der ursprünglichen Assoziation. Auch wenn sie mit der jetzigen Sensation ein perzeptives Kontinuum bilden, ist ihr Objekt kein jetzt empfundenes, sondern ein unmittelbar vor ihm wahrgenommenes Objekt. Das Besondere dabei ist: […] daß gewisse Qualitäten so oder anders näher bestimmt nicht wie in der Empfindung, sondern in der Art verändert auftreten, daß sie als vergangen und mehr und mehr vergangen vorgestellt werden. Denken wir, der Vorstellung entspräche eine Wirklichkeit, so wäre sie kein Ton, sondern ein gewesener Ton, keine Farbe, sondern eine gewesene Farbe […] „Gewesen“ verhält sich zu „Ton“ nicht wie eine determinierende, bereichernde, sondern eine modifizierende Bestimmung. Ton ist im gewesenen Ton nicht eigentlich, sondern modifiziert enthalten und kann
Mit Blick auf die Möglichkeit, aus dem modifizierten Objekt das ursprüngliche Objekt zu gewinnen, spricht K. Schumann von einer „demodifizierenden […] Distinktion“ (vgl. K. Schumann, „Der Gegenstandsbegriff in Brentanos ‚Psychognosie‘“, Brentano Studien 5 (1994), S. 172).
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darum auch nicht durch ein eigentliches, einfaches Distinguieren (Bemerken), sondern nur durch ein modifizierendes Distinguieren daraus gewonnen werden.⁵⁰⁵
Demgemäß gilt zwischen Ton und vergangenem Ton dasselbe Verhältnis wie zwischen Farbe und gesehener Farbe, denn beide sind nicht im eigentlichen, sondern im uneigentlichen, modifizierten Sinne in den vergangenen oder wahrgenommenen Phänomenen enthalten. Ton und Farbe sind mithin weder wirkliche noch im eigentlichen Sinne distinktionelle Teile des gehörten Tons oder der gesehenen Farbe, sondern nur ihre modifizierten Teile.⁵⁰⁶ Neben den schon erwähnten Teilen, die sich in der Einheit des Bewusstseins zu einem gewissen Zeitpunkt bemerken lassen, gibt es nach Brentano noch einen wirklich ablösbaren Teil, das individualisierende Moment jedes psychischen Aktes. Im Unterschied zu allen anderen Teilen, die wirklich oder distinktionell im eigentlichen oder uneigentlichen Sinn explizit bemerkbar sind, ist es in jedem Akt implizit vorhanden, ohne aber explizit bemerkt werden zu können. Der Grund dafür besteht darin, dass das methodische Verfahren des Vergleiches aufgrund positiver oder privativer Gegensätze auf es nicht anwendbar ist, denn es gibt keinen anderen Teil, der als sein Gegensatz fungieren kann.⁵⁰⁷ Brentano zufolge ist es einseitig von allen wirklich ablösbaren Teilen trennbar⁵⁰⁸ und bleibt wirklich bestehen, wenn alle psychischen Akte, etwa im Schlaf oder in Ohnmacht, aufhören zu existieren.⁵⁰⁹ Andererseits bestehen die wirklich ablösbaren Teile nicht ohne es, weil alle von ihm durchdrungen sind.⁵¹⁰ Es handelt sich hier um eine komplizierte mereologische Sachlage, die daher rührt, dass es um einen Teil geht, der alle anderen wirklich ablösbaren psychischen Teile (Akte) durchdringt, der aber einseitig von ihnen wirklich ablösbar ist. Brentanos Äußerung, er sei „in
DPs, S. 19; vgl. auch S. 88 f., 92– 98, und W. Baumgartner, R. M. Chisholm, „Einleitung“, in DPs, S. XVIII ff. Um seiner Hörerschaft die psychognostischen Thesen verständlicher zu machen, erlaubt sich Brentano neben der Fiktion, die sinnlichen Inhalte würden wirklich existieren, noch eine weitere, und zwar, „die Sensation von dem Zusammenhang mit der Proterose fiktiv losgelöst für sich zu betrachten“ (DPs, S. 96). Damit wird die aktuelle Empfindung nicht weiter als Teil oder äußere Grenze eines perzeptiven Kontinuums (etwa der Wahrnehmung einer Bewegung oder Melodie), sondern für sich selbst betrachtet, was die mereologische Analyse vereinfacht (DPs, S. 97 f.). Diese Vereinfachung gilt auch für die hier durchgeführte Analyse. DPs, S. 95 ff. DPs, S. 75. Damit gleicht das hier zur Debatte stehende Verhältnis dem Verhältnis zwischen logischen Teilen, weil das Genus von der Spezies auch einseitig ablösbar ist. Die Abtrennbarkeit ist aber keine wirkliche, sondern nur eine distinktionelle. DPs, S. 81 f. DPs, S. 61, 82.
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unserem Bewußtsein mitbeschlossen ([als] ein sich durchwohnender Teil mit zwei andern)“⁵¹¹ entnehme ich, der individualisierende Teil sei ein wirklicher Teil jedes Aktes, der mit der primären und sekundären Beziehung der psychische Diploseenergie eine Einheit der sich durchwohnenden Teile bildet und der weiter bestehen bleibt, nachdem die Teile der psychischen Dienergie zugleich mit ihrem Akt aufgehört haben zu existieren. Angesichts seiner Erkennbarkeit kann das individualisierende Moment durch kein bis jetzt erwähntes methodisches Mittel ins Licht gesetzt werden. Mithin lässt sich seine Existenz weder evident erleben noch bemerken noch induktiv verallgemeinern, sondern nur deduzieren: Wie keine Spezies ohne Differenz und kein Individuum ohne individualisierende Differenz bestehen kann, genauso kann es kein einzelnes psychisches Phänomen ohne das es individualisierende Moment geben.⁵¹² Es gibt jedoch empirische Gründe, die für seine Existenz sprechen: „Wir erfassen uns selbst nicht wie in einem abstrakten Begriff, sondern wie in einer konkreten, individuellen Anschauung und sind doch außerstande von dem individualisierenden Moment Rechenschaft zu geben.“⁵¹³ An solche induktive Feststellungen lassen sich weitere, wenige Folgerungen anknüpfen, weil die Mittel, die dem Psychognost zur Verfügung stehen, um es zu beschreiben, gering sind: Es erhält sich konstant in allen Teilen, die es durchdringt, ist nicht räumlich, besteht weiter im Schlaf oder im Ohnmachtszustand und ist wahrscheinlich ohne intentionale Beziehung zu sich selbst.⁵¹⁴
DPs, S. 82. DPs, S. 75; vgl. auch USE, S. 143. DPs, S. 62. Brentanos Ausführungen über diesen Teil sollten im Zusammenhang mit jenen über die Unsterblichkeit des psychischen Lebens in der Psychologie gelesen werden: Genauso wie dort lässt sich die Existenz dieses Teils nur deduzieren und genauso wie dort sind die induktiv gewonnenen Kenntnisse behilflich, um ihm gewisse Bestimmungen zuzusprechen (PeS, S. 90; DPs, S. 75). Es kommt hinzu, dass Brentano in beiden Schriften auf die Wichtigkeit metaphysischer Fragestellung für die Behandlung dieses Themas hinweist (PeS, S. 90; DPs, S. 81). Man kann auch vermuten, dass genauso wie in der Schrift von 1874 die Verifikation zur Behandlung dieser Frage nicht anwendbar ist. DPs, 81 f.: „Nicht unwahrscheinlich, wenn nicht sicher [ist es], dass [das individualisierende Moment] wie auch anderes [intentional wirkt], sonst [gäbe es] keine Dienergie.“ Brentano verwendet „Dienergie“ und „Diploseenergie“ als synonym. Später charakterisiert Brentano diesen Teil in metaphysischer Sprache als letzten subsistierenden Teil (und in diesem Sinne als Substanz) der psychischen Akzidenzien (Akte), die als seine Erweiterungen verstanden werden. Dieser Teil sei geistiger Natur. Nicht das Gehirn, sondern er denke, fühle, empfinde usw. Er sei nicht räumlich, gebe den Akzidenzien Einheit und werde auch Seele genannt (vgl. dazu Kl, S. 150 – 165 und die Anmerkungen dabei; vgl. auch DPs, S. 101, 158).
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Das bereits Ausgeführte zeigt, dass es in Brentanos Psychognosie auf ein rein analytisches Verfahren ankommt, das seinen Ausgangspunkt in der Tatsache der Einheit des Bewusstseins nimmt, um es von hier aus in seine letzten wirklich und distinktionell abtrennbaren Teile zu zergliedern. Vor diesem Hintergrund wird es dann möglich, das Bewusstsein und die ihm eigenen Verhältnisse zu einem gewissen Zeitpunkt quasi vollständig zu beschreiben. Die Rolle, welche die distinktionellen Teile dafür spielen, lässt sich folgender Behauptung Brentano deutlich entnehmen: „[…] das Unterscheiden eines rein distinktionellen Teils macht das Wesen besonderer abtrennbarer Teile aus“.⁵¹⁵
II.3.3.3 Die deskriptiven Verhältnisse und Arten der Einheit in Brentanos Psychognosie Auch wenn Brentano das nicht explizit sagt, glaube ich, dass seine Analyse der Teile des Bewusstseins Anspruch auf Vollständigkeit erhebt: Es gibt keinen anderen Teil des Bewusstseins als die von ihm aufgezählten Teile: die einseitig oder gegenseitig wirklich ablösbaren psychischen Teile (das individualisierende Moment psychischer Akte und die grundlegenden und supraponierten Akte), die durch Distinktion im eigentlichen Sinne gewonnenen determinierenden Teile: die Teile der psychischen Diploseenergie⁵¹⁶ und des intentionalen Korrelatenpaars, die logischen und die sich durchwohnenden Teile, und die Teile, die durch Distinktion im uneigentlichen Sinne gewonnen werden, „die Objekte im Akt und in seinem intentionalen Korrelat“.⁵¹⁷ Demgemäß haben wir es mit folgenden mereologischen Verhältnissen zu tun: 1. Die wirkliche Ablösbarkeit: die einseitige Ablösbarkeit des individualisierenden Momentes von allen wirklich abtrennbaren Teilen, die es durchdringt, die gegenseitige Abtrennbarkeit der grundlegenden Akte voneinander und die einseitige Ablösbarkeit der grundlegenden von den supraponierten Akten.
DPs, S. 27. Z. B. zeigt das Erfassen der intentionalen Beziehung, die einem gewissen Akt eigen ist, welcher Klasse der psychischen Akte er angehört. Unten werde ich zeigen, dass sich Teile der sekundären und primären Beziehung des Aktes weiter unterscheiden lassen, und zwar je nach dem Teil des primären Objekts, der zugleich mit ihm explizit vorgestellt wird. DPs, S. 27. Es geht hier nicht um das immanente Objekt des Aktes, sein intentionales Korrelat, sondern um das Objekt, das durch modifizierende Distinktion aus Farbsehen zu erhalten ist: Im Farbsehen ist die Farbe als modifiziertes Objekt enthalten.
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2.
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Die distinktionelle Ablösbarkeit der determinierenden Teile: die einseitige distinktionelle Trennbarkeit des Genus von seiner Spezies und die bloß distinktionelle Ablösbarkeit aller anderen determinierenden Teile. Die durch modifizierende Distinktion vollzogene einseitige Ablösbarkeit des modifizierten Teils von den Teilen der psychischen Diploseenergie und den Phänomenen der ursprünglichen Assoziation.
Dem oben Gesagten lässt sich entnehmen, dass Brentano in der deskriptiven Psychologie die Betonung nicht auf die Einheit, wie in der Psychologie, sondern auf die Ablösbarkeit der Teile legt. Trotzdem soll, um Klarheit darüber zu verschaffen, auch die erste Frage in die Diskussion gebracht werden, eben weil die Mannigfaltigkeit der mereologischen Verhältnisse in unterschiedlichen Formen der Einheit der Teile gründet. Dementsprechend gibt es mehrere Formen der Einheit in der Psychognosie, die Hand in Hand mit der wirklichen oder distinktionellen Ablösbarkeit geht. Die Einheit, die zwischen dem individualisierenden Moment⁵¹⁸ und dem psychischen Akt besteht, ist tatsächlich die Einheit dreier sich durchwohnender Teile: des individualisierenden Moments und der primären und sekundären Beziehung als Komponente der psychischen Dienergie. Sie ist anders als die Einheit der gegenseitig wirklich ablösbaren Akte (des Seh- und Hörakts z. B.) oder der grundlegenden und der supraponierten Akte, denn die Letzteren werden von den Ersteren fundiert, aber nicht individualisiert. Sie ist gleichfalls verschieden von der Einheit der logischen Teile, denn auch wenn sowohl das Genus als auch das individualisierende Moment von dem logischen oder psychischen Ganzen, dem sie angehören, einseitig abtrennbar sind, bleibt doch der Unterschied bestehen, dass das individualisierende Moment weiter besteht, nachdem der von ihm individualisierte Akt aufgehört hat, zu existieren. Was die logischen Teile betrifft, behauptet Brentano noch in der Dissertation, das Universale als Universales sei nicht als solches, sondern nur insofern das unter ihm begriffene Individuum existiere. Im Klartext existiert das Genus nicht ohne seine Spezies und die Spezies nicht ohne die Individuen, die unter sie fallen.⁵¹⁹ Die bloß distinktionellen Teile verleihen weiter unterschiedlichen Formen der Einheit Ausdruck: Die Einheit beider Richtungen des Aktes ist eine zwischen zwei wirklichen psychischen Teilen, die anders gerichtet sind, während die Einheit der primären Richtung zwischen einem wirklichen und einem intentionalen Teil stattfindet. Diese Teile kommen, genauso wie die wirklichen Teile der psychi-
In der Arbeit von 1874 spricht Brentano nicht davon. MBS, S. 39.
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schen Diploseenergie, nur zusammen, ohne sich gegenseitig wie die sinnliche Qualität und die örtliche Bestimmtheit zu durchdringen. Mit den Teilen des intentionalen Korrelatenpaares verlassen wir den Boden der Beschreibung der wirklichen Teile des Bewusstseins, um ein neues mereologisches Verhältnis ans Licht kommen zu lassen: Die primäre Beziehung enthält nicht wirklich, im eigentlichen, sondern nur im uneigentlichen Sinne ihr intentionales, unwirkliches Korrelat. Der psychische Akt enthält dagegen die primäre und sekundäre Beziehung wirklich. Wie gesagt lässt sich keiner von den eben erwähnten Teilen distinktionell einseitig trennen nach der Art, in der das Genus von seinen Spezies einseitig getrennt wird. Andrerseits ist das Genus nicht intentional, im uneigentlichen Sinne, sondern wirklich, im eigentlichen Sinne, in seinen Spezies enthalten, weil beide logische Teile sind. Die Einheit der sich durchwohnenden oder „concrescenten“ Teile⁵²⁰ ist wieder einzigartig, weil die Teile nicht aufgrund ihrer Allgemeinheit (die logischen Teile) oder ihrer verschiedenen Richtungen auf Objekte unterschieden werden können und weil keiner unter ihnen weder im eigentlichen noch im uneigentlichen Sinne den anderen enthält. Sie durchdringen sich wirklich, ohne dass einer von ihnen den anderen wirklich (im psychologischen oder logischen Sinne) oder intentional enthält.⁵²¹ Was die Teile im modifizierten Sinne betrifft, lässt sich kaum von einer Einheit sprechen, die sie zum Ausdruck bringen würden, denn das Verhältnis zwischen Farbsehen und gesehener Farbe einerseits und Farbe als einem aus ihnen durch modifizierende Distinktion zu gewinnenden Teil andererseits lässt sich schwerlich als eine Einheit betrachten. Wie schon angedeutet, setzt dieses Verhältnis die Veränderung des Status des Objekts voraus.
DPs, S. 79. DPs, S. 79. Nur nebenbei sei bemerkt, dass es im Unterschied zu anderen rein distinktionellen Teilen, die eine klar ausgeprägte Struktur, z. B. die bipolare Richtung des Aktes oder seine intentionale Beziehung, aufweisen, im Fall der sich durchwohnenden Teile um ein minimal definierten Verhältnis geht, das zwei Bedingungen einhält: die Teile müssen nur zusammenkommen, und es gibt verschiedene, sich nicht aufeinander reduzierende Gesichtspunkte (die Position Brandis’ und Zellers angesichts der Kategorien (vgl. oben Teil I, S. 17, 30) unter denen sie zu beschreiben sind.
II.3.3 Brentanos Psychognosie oder deskriptive Psychologie
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II.3.3.4 Induktion im breiteren und im engeren Sinn in Brentanos deskriptiver Psychologie II.3.3.4.1 Einleitung Als Ganzes genommen können die oben aufgelisteten Verhältnisse nicht Anspruch auf Vollständigkeit erheben, weil es in Brentanos deskriptiver Psychologie auch andere Verhältnisse als die schon angeführten gibt.⁵²² Es handelt sich um die logischen Verhältnisse, die in den apodiktischen Gesetzen der Psychognosie zum Ausdruck kommen und das Ergebnis der Analyse der Begriffe ausmachen: „Er [der Psychognost] muß, wo die Notwendigkeit oder Unmöglichkeit der Vereinigung gewisser Elemente aus den Begriffen selbst erhellt, diese allgemeinen Gesetze intuitiv erfassen.“⁵²³ Aus dem Begriff „Evidenz“ als durchwohnendem Teil des Urteils entspringt z. B., dass es unmöglich ist, Evidenz außerhalb des Urteils zu finden. Der Grund dafür liegt darin, dass die Evidenz die Eigenschaft derjenigen Urteile ist, an deren Wahrheit nicht gezweifelt werden kann. Es geht hier also nicht um die einseitige Ablösbarkeit der logischen Teile, sondern um das unmittelbare Erfassen der logischen Verhältnisse wichtiger psychognostischer Begriffe, die als solche für alle unter die Begriffe fallenden Instanzen gelten. Aus dem Denken des Begriffs „Evidenz“ ergibt sich mithin, dass sie unmöglich die Eigenschaft einer anderen Art psychischer Akte als der Urteile sein kann. Wenn man von Evidenz spricht, dann spricht man notwendig von der Evidenz eines Urteils. Ein anderes Beispiel: Aus dem Begriff des Urteils als eines psychischen Aktes, der die Existenz eines vorgestellten Objekts entweder anerkannt oder verwirft, entspringt, dass es unmöglich ist, eine andere intentionale Beziehung für das Urteil anzunehmen als die der Anerkennung oder der Verwerfung.⁵²⁴ Dementsprechend geht es hier nicht um Verhältnisse der gegenseitigen oder einseitigen wirklichen oder distinktionellen Abtrennbarkeit der Teile im eigentlichen oder im modifizierten Sinn, sondern um logische Verhältnisse der Notwendigkeit oder Unmöglichkeit, die den Begriffen der psychognostischen Teile selbst eigen sind: Da Evidenz wesentlich die Eigenschaft gewisser Urteile ist, ist in ihrem Begriff der Begriff des Urteils analytisch gedacht, sodass aus dem Denken des ersten Begriffs notwendig der zweite Begriff entspringt. Das intellektuelle Verfahren, mittels dessen diese Verhältnisse entdeckt werden, besteht somit nicht
Damit korrigieren ich meine Behauptung (Tănăsescu, „Monism and Particularism …“, S. 410), wo ich sagte, die Verhältnisse der Teile zueinander könnten Anspruch auf Vollständigkeit erheben. DPs, S. 73; VE, S. 55, 80. DPs, S. 4, 71– 74.
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in der Trennung der Teile, sondern in dem intuitiven, unmittelbaren, direkten Erfassen der erwähnten Verhältnisse psychognostischer Begriffe. Dieses Verfahren, das intuitiv derartige Verhältnisse erfasst, wird später „Induktion im breiteren Sinn“ genannt.⁵²⁵ Diese Bezeichnung ist zunächst dadurch gerechtfertigt, dass sein Ausgangspunkt wie in jeder gewöhnlichen Induktion eine gewisse psychische Erfahrung, das Denken eines Begriffs (des Urteils z. B.),⁵²⁶ ist. Auf dieser Grundlage sind dann seine logischen Verhältnisse unmittelbar zu erfassen oder zu apperzipieren: Es ist unmöglich, beim Urteil eine andere intentionale Beziehung als die der Anerkennung oder Verwerfung zu finden, denn ausgerechnet dies ist die Definition des Urteils. Darüber hinaus findet die Redewendung „im breiteren Sinn“ ihre Rechtfertigung darin, dass das so entdeckte logische Verhältnis für die ganze Klasse der unter diesen Begriff fallenden Phänomene gilt. Es kommt damit zu einem allgemeingültigen Urteil nicht anhand einer Verallgemeinerung aufgrund eines oder mehrerer Einzelfälle, wie die Induktion im engeren Sinn verfährt, sondern auf der Basis der logischen Verhältnisse der Begriffe, die durch Analyse aufgedeckt werden. Beide Induktionen führen zu allgemeinen Urteilen, bei der Induktion im engeren Sinn geht es aber um eine assertorische Allgemeinheit, die auf der Basis der Erfahrung ein-
VE, S. 80 ff. Oben wurde darauf hingewiesen, dass Brentano solche Erkenntnisse, die aus dem Begriff entspringen, Axiome nennt (vgl. dazu S. 248 f. über die Verursachung (das Motivieren) der Urteile durch die Materie der Vorstellung, die ihnen zugrunde liegt). In derartigen Zusammenhängen spricht Brentano auch von der „Analyse der Begriffe“ (VE, S. 55, 80). In GGPh (S. 232) nennt er sie „vollständige Induktion“: „Bei der vollständigen Induktion aber liegt ein unmittelbares Erfassen des oder der Begriffe vor. Aus den Begriffen ergeben sich die obersten Sätze, z. B. das Ganze ist größer als der Teil.“ Auch wenn Brentano am Anfang der Psychologie von „einer gewissen idealen Anschauung“ spricht, die mit seinem empirischen Standpunkt in der Psychologie kompatibel sei (PeS, S. 3), erwähnt er sie nicht in den methodischen Kapiteln seiner Arbeit. Dem Inhaltsverzeichnis des vierten Buches der Psychologie zufolge sollte jedoch die Induktion im weiteren Sinn vermutlich in folgenden Kapiteln genutzt werden: „Von dem apodiktischen Charakter der Urteile“ (Kap. IV), „Von dem mannigfachen Ursprung der Urteile“ (Kap. V), „Von der Evidenz der Axiome“ (Kap.VI), „Von der Natur der Axiome“ (Kap.VII). Dagegen wird sie absichtlich als methodisches Verfahren im methodischen Teil der deskriptiven Psychologie ausgeführt. VE, S. 9 – 11, 50 – 56, 78 – 82; vgl. auch USE, S. 82. Diese Erfahrung beruht ihrerseits auf anderen psychischen Erfahrungen, im Fall des Urteils auf dem Erleben einzelner Urteilsakte im eigenen psychischen Leben. Dieses Erleben, in dem das Moment des inneren Bewusstseins mit seiner dreiteiligen Richtung auf die primäre Beziehung des Aktes einbeschlossen ist, macht die Erfahrung aus, aus der der Begriff „Urteil“ gewonnen wird. Wenn Brentano in seinen Schriften immer wieder betont, dass solche Urteile trotz ihres apodiktischen Charakters „Perzeption und Apperzeption“ voraussetzen (USE, S. 111; VE, S. 53, 80, 82), dann meint er damit eben das Wahrnehmen und das deutliche Erfassen der Teile und der ihnen eigenen Verhältnisse, die im Erleben eigener psychischer Akte einbezogen sind.
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zelner Fälle gewonnen wird. Daher sind ihre Ergebnisse nicht absolut sicher, sondern höchstens unendlich groß wahrscheinlich.⁵²⁷ Auch wenn der Ausgangspunkt der Induktion im breiteren Sinn eine Erfahrung, das Denken eines Begriffs, ist, sind in diesem Fall keine weiteren Erfahrungen nötig. Dagegen werden die dem Begriff eigenen Verhältnisse aufgehellt und in eins damit die theoretischen Möglichkeiten ausgeschlossen, die damit verbunden sind: Wenn ein psychisches Phänomen Urteil ist, dann muss es affirmativ oder negativ sein. Mithin ist es unmöglich, dass seine intentionale Beziehung weder affirmativ noch negativ ist, und darin eingeschlossen ist es unmöglich, dass das Urteil eine Vorstellung ist. Man könnte einwenden, dass mittels derartiger Urteile nicht viel gewonnen wird, weil sie letzten Endes analytische, triviale psychologische Wahrheiten darstellen, die keine neuen Erkenntnisse ins Spiel setzen, sondern sich darauf beschränken, anders zu formulieren, was schon allgemein bekannt war. Ein solcher Einwand vernachlässigt jedoch die Rolle dieser Urteile in der deskriptiven Psychologie Brentanos: Der Grund, der Brentano dazu veranlasste, ihnen eine solche Bedeutung beizumessen, liegt ausgerechnet darin, dass er durch sie zu festen, allgemeingültigen psychologischen Wahrheiten gelangt, die eine sichere Grundlage der deskriptiven Psychologie bieten. Eine solche Grundlage fehlt sowohl dem 1874 veröffentlichten Werk als auch der genetischen Psychologie. Brentanos Aussagen über die Ungenauigkeit dieser Wissenschaften und ihrer Gesetze heben genau diesen Aspekt hervor. Neben dem Verfahren der Induktion im breiteren Sinn verwendet Brentano in der deskriptiven Psychologie weiter die Induktion im engeren oder gewöhnlichen Sinn, auf die er in der Arbeit von 1874 so großen Wert gelegt hat: Aufgrund wiederholter Beobachtung eines Merkmals in mehreren Fällen wird es auf die ganze Klasse verallgemeinert und für den Ausdruck eines Gesetzes gehalten, das für die betreffende Klasse gilt.⁵²⁸ Wenn man etwa bei einem blauen Punkt des phäno-
VE, S. 88. In dem späteren Text „Nieder mit den Vorurteilen“ (1903) bezieht er sich auf die aristotelische Auffassung von der Induktion und beschreibt das Verhältnis der zwei induktiven Verfahren zueinander wie folgt: „[…] so gibt es doch einen engeren Begriff von Induktion, welcher sich auf solche Fälle beschränkt, wo das Gesetz nicht auf Grund der bloßen deutlichen Apperzeption mit unmittelbarer absoluter Sicherheit einleuchtet. Die Analyse des Begriffs, der als unmöglich zu verwerfen ist, zeigt uns hier keine Elemente, die wir als positiv widerstreitende oder als kontradiktorische oder als Korrelativa von kontradiktorischen oder positiv widerstreitenden unmittelbar zu erkennen vermögen, und doch sind wir auf Grund der Erfahrung im einzelnen zu der Überzeugung berechtigt, daß etwas, was wir tatsächlich finden, ausnahmslos so gefunden werde, ja gar nie anders gefunden werden könne. Diese Erkenntnisse allgemeiner Gesetze werden darum jenen, die unmittelbar aus der Analyse der Begriffe entspringen, mit Recht entgegengesetzt, […] Hier
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menalen Sehraumes feststellt, dass die sinnliche Qualität sich mit der örtlichen Bestimmtheit durchdringt, und wenn man dasselbe Verhältnis bei einem roten Punkt beobachtet, dann soll man dieses Verhältnis gleich als wesentliches Merkmal des Begriffs „Punkt des visuellen Raumes“ verallgemeinern: „In jedem Punkt des visuellen Raums dringen sich die räumliche Bestimmtheit und die visuelle Qualität durch“.⁵²⁹ Das induktive Verfahren endet aber nicht damit, sondern soll weiter fortgesetzt werden, indem versucht werden soll, herauszufinden, ob dasselbe Verhältnis des Durchdringens zwischen dem Ort und der sinnlichen Qualität auch auf andere Sinne, den Hörsinn z. B., zu übertragen ist.⁵³⁰ In diesem Zusammenhang bemerkt Brentano: „Bei den Eigentümlichkeiten, welche bei gewissen Elementen des Seelenlebens bemerkt werden, muß man
schöpfen wir das allgemeine Prinzip unmittelbar aus den durch die Wahrnehmung gegebenen Vorstellungen; dort gelangen wir zu ihm durch einen eigentlichen Schluß. Hier haben wir auf Grund einer einzigen deutlichen Beobachtung absolute Sicherheit für die allgemeine Gültigkeit des Gesetzes, und sie kann als absolute gar nicht weiter vermehrt werden; dort haben wir keine absolute Sicherheit, glauben aber doch, der Annahme des Gesetzes vor seiner Verwerfung den Vorzug geben zu sollen, und dieser Glaube verstärkt sich durch Wiederholung der gleichen Beobachtung in anderen und anderen Fällen.“ (VE, S. 80 f.; Hervorhebung I. T.) DPs, S. 72. Das ist kein apriorisches Gesetz, wie Morand in Bezug auf alle Gesetze der deskriptiven Psychologie vermutet (D. Moran, „Brentano’s Concept of Descriptive Psychology“, S. 88), sondern eine empirische Verallgemeinerung. Sie entspringt nicht aus einem Begriff, weder der räumlichen Bestimmtheit noch der visuellen (sinnlichen) Qualität, sondern ist ein empirisches Gesetz, das mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr ist. Unter diesen Umständen lässt sich die Behauptung, die apriorischen Gesetze der deskriptiven Psychologie wären „more exact than the laws of physics“ (Morand, a. a. O., S. 87), auch nicht bestätigen, weil Brentano die deskriptive Psychologie nicht nur mit der apriorischen Wissenschaft der Mathematik, sondern auch mit der empirischen Wissenschaft der Mechanik ausdrücklich vergleicht (DPs, S. 3). Wie ich schon angedeutet habe, operiert er in der deskriptiven Psychologie nicht nur mit apriorischen, sondern auch mit empirischen Gesetzen, d. h. nicht nur mit Induktion im weiteren, sondern auch im engeren Sinn. DPs, S. 72 f. Dabei betont Brentano ausdrücklich, dass Vorsicht geboten sei, denn es sei sehr wohl möglich, dass für die anderen Sinne das genannte Verhältnis nicht in demselben, sondern nur im analogen Sinn gelte. Das Beispiel der sich durchdringenden Teile des sinnlichen Inhalts wurde von Brentano nicht zufällig ausgewählt, denn es geht hier um ein Verhältnis, das eine wesentliche, „allgemeine Charakteristik“ der sinnlichen Inhalte darstellt. Wenn man bedenkt, dass das Herausfinden und die Analyse dieser Inhalte ein zentrales Thema von Brentanos deskriptiver Psychologie ausmacht, und, wie das genannte Beispiel zeigt, die Induktion im engeren Sinn ein wichtiges methodisches Instrument dazu ist, dann ergibt sich, wie wichtig sie zur Etablierung der deskriptiven psychischen Wissenschaft ist. Auch wenn die Induktion im breiteren Sinn hinzukommt, ist Brentanos Psychognosie bei weitem nicht nur eine apriorische, sondern auch eine induktive Wissenschaft (DPs, S. 154, 156; vgl. dazu auch Mareks (teilweise selbst‐)kritische Bemerkungen über dieses Problem in ders., „Psychognosie – Geognosie: Apriorisches und Deskriptives in der deskriptiven Psychologie Brentanos“, Brentano Studien 2 (1989), S. 53 – 63).
II.3.3 Brentanos Psychognosie oder deskriptive Psychologie
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möglichst zu verallgemeinern suchen, damit die Induktion ihre Aufgabe erschöpfend löse […].“⁵³¹ Der Ausdruck „erschöpfend“ ermöglicht es, das Ergebnis solcher Verallgemeinerungen als allgemein gültig für die ganze Klasse der psychognostischen Elemente zu halten. Dagegen hält sie Brentano 12 Jahre später für „keine erschöpfende“ Induktion,⁵³² weil sie im Unterschied zur vollständigen Induktion⁵³³ nicht alle Fälle berücksichtigt. Trotzdem führte sie genauso wie die Induktion in der deskriptiven Psychologie zu allgemeingültigen Behauptungen: „[…] und doch sind wir auf Grund der Erfahrung im einzelnen zu der Überzeugung berechtigt, daß etwas, was wir tatsächlich finden, ausnahmslos so gefunden werde, ja gar nie anders gefunden werden könne“.⁵³⁴ Damit zeigt sich auch klar, worin der Unterschied des Beiwortes „erschöpfend“ in beiden Werken liegt: In der Psychognosie bezieht er sich darauf, dass das Ergebnis der Verallgemeinerung trotz der kleinen Zahl der berücksichtigten Fälle als gültig für alle Instanzen der betreffenden Elemente betrachtet werden kann. Dagegen verweist der Ausdruck „keine erschöpfende [Aufzählung der einzelnen Tatsachen; Hinzufügung I. T.]“ im Text von 1903 darauf, dass wir es im Unterschied zur vollständigen Induktion hier mir einem unvollständigen Verfahren zu tun haben, auf dessen Grund jedoch allgemeine Behauptungen aufgestellt werden, die als Naturgesetze gelten. Mithin ist da nicht die Zahl der berücksichtigten Fälle, sondern die Allgemeingültigkeit der Aussage von Bedeutung. Anders als die Induktion im breiteren Sinn schließt diese Induktion die Möglichkeit der entgegengesetzten Fälle nicht auf der Basis apriorisch-begrifflicher, sondern empirisch-notwendiger Verhältnisse aus. Meiner Meinung nach führt sie Brentanos Überlegungen über die neun Gesetze der Eigentümlichkeiten und Grundklassen psychischer Phänomene aus dem Manuskript des zweiten Buches seiner Psychologie fort und macht zusammen mit der Induktion im breiteren Sinn das induktive Verfahren der deskriptiven Psychologie aus. Dies zeigt deutlich, dass Brentano in der Psychognosie nicht auf die induktive Verallgemeinerung aus der Arbeit von 1874 verzichtet, sondern sie weiter behält und auf ihre Rolle mit Nachdruck hinweist: Als er die Schritte des Verfahrens des DPs, S. 72. „Es sind dies solche Fälle, wo die Aufzählung der einzelnen Tatsachen,von denen man zu einer allgemeinen Behauptung aufsteigt, keine erschöpfende ist […]“ (VE, S. 78). Im Unterschied zur Vorlesung über die Geschichte der griechischen Philosophie, wo Brentano anstatt von „Induktion im breiteren Sinn“ von „vollständiger Induktion“ spricht, versteht er letztere Redewendung in dem 1903 diesem Thema gewidmeten Kapitel im normalen Sinne des Wortes, d. h. als ein Verfahren, das sich auf „eine erwiesenermaßen vollständige Aufzählung aller besonderer Fälle“ stützt (vgl. „Das Problem der Induktion“, in VE, S. 75). Neben ihr bringt er 1903 auch den „Beweis durch Rekurrenz“ (die vollständige Induktion der Mathematiker) ins Spiel (VE, S. 76 f.). VE, S. 81; Hervorhebung I. T.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
Psychognosten zu Beginn der Vorlesung aufzählt, stellt er sie in eine Reihe und zwar als Abschluss der ersten vier methodischen Schritte, um danach mit der Induktion im weiteren Sinn fortzufahren. 3) a) b) c) d) 4)
Damit der Psychognost seine Absicht erreiche, hat er ein Mehrfaches zu leisten. Er muß erleben, er muß bemerken, er muß, was er bemerkt, fixieren um es zu sammeln, er muß induzierend verallgemeinern; er muß, wo die Notwendigkeit oder Unmöglichkeit der Vereinigung gewisser Elemente aus den Begriffen selbst erhellt, diese allgemeinen Gesetze intuitiv erfassen;⁵³⁵
Derselbe Unterschied ergibt sich mit Klarheit aus seinen Ausführungen aus dem Kapitel über induktive Verallgemeinerung, wo er nach ein paar einleitenden Bemerkungen (§§ 1– 3) mit der nur schrittweise durchführbaren Induktion im engeren Sinn beginnt, um mit dem Punkt 7 zur Behandlung der Induktion im weiteren Sinn, die sich nicht schrittweise vollzieht, überzugehen. Die Induktion im engeren Sinn wird somit auch in der deskriptiven Psychologie beibehalten. Im Unterschied zu der Schrift von 1874, wo ihre Aufgabe darin bestand, die Gesetze der Sukzession psychischer Phänomene aufzudecken, dient sie in Brentanos Psychognosie dazu, Erkenntnisse über die psychognostischen Teile des Bewusstseins zu vermitteln.
II.3.3.4.2 Chisholms Interpretation der Induktion im breiteren Sinn bei Brentano als intuitive Induktion und ihre Kritik Hier ist der angemessene Ort, die folgende Bemerkung zu machen: In der einschlägigen Literatur hat man wegen der Rolle, die die Induktion im breiteren Sinn bei Brentano spielt, den apriorischen Charakter von Brentanos deskriptiver Psychologie stark betont.⁵³⁶ Damit wurden aber Brentanos Hinweise außer Acht ge-
DPs, S. 28. B. Müller hat in seiner Übersetzung diesen Aspekt verkannt und die Induktion im breiteren Sinn in dieselbe Reihe mit den ersten vier methodischen Schritten eingeordnet (Descriptive Psychology, B. Müller (Hrsg. und Übers.), London, Routledge, 1995, S. 31). Damit bleibt aber die wesentliche Unterscheidung Brentanos zwischen der Erkenntnis, die aus der Erfahrung geschöpft wird, und der, welche aus den Begriffen entspringt, auf der Strecke. Brentanos 13. Habilitationsthese weist auf diesen Unterschied hin. Vgl. dazu J. C. Marek, „Zum Programm einer deskriptiven Psychologie“, Grazer philosophische Studien 28 (1986), S. 211– 234, und die dort angeführten Quellen. Auch wenn Brentano die Induktion im breiteren Sinn als intuitives Erfassen der begrifflichen Verhältnisse auffasst (DPs, S. 28, 72), verwendet er nicht den Ausdruck „intuitive Induktion“, sondern diese wird, wie gleich gezeigt wird, von Chisholm in die Diskussion gebracht.
II.3.3 Brentanos Psychognosie oder deskriptive Psychologie
373
lassen, für seine Psychologie gelte das, was für andere induktive Wissenschaften gültig sei,⁵³⁷ nämlich dass die deskriptive Psychologie eine empirische Disziplin nicht nur in dem Sinne ist, dass sie ihre Begriffe aus der Erfahrung schöpft, sondern auch, dass sie einen Teil ihrer Gesetze durch Induktion im engeren Sinn gewinnt. Meines Wissens ist Johann C. Marek der Einzige, der das 1989 hervorgehoben hat, nachdem er in einem früheren Aufsatz wie Kraus, Kastil, Chisholm, Smith und Mulligan die These des apriorischen Charakters von Brentanos Psychognosie verteidigt hat.⁵³⁸ Aus diesem Grund unterscheidet er zwischen „enumerativer“ und „intuitiver Induktion“ und packt ihre Rolle in Brentanos deskriptiver Psychologie an: Johnson unterscheidet zwischen intuitiven Induktionen auf dem Gebiet des Formalen und denen im Bereich der Erfahrung. Als Beispiel für die letztere Art führt er den Fall an, wo man aufgrund einer Erfahrung von Rot, Orange und Gelb zur Einsicht gelangt, daß der qualitative Unterschied zwischen Rot und Gelb größer ist als der zwischen Orange und Gelb. Bedeutsam für die intuitive Induktion ist, daß bereits eine Erfahrungsinstanz als Grundlage zur Verallgemeinerung dient. Allerdings ist diese Erfahrungsinstanz nicht von der Art, wie die einzelnen Erfahrungen bei der enumerativen Generalisierung. Sie diene nicht als Rechtfertigungsinstanz der Verallgemeinerung, sie motiviere nur zur Einsicht in etwas Allgemeines.⁵³⁹
Im Hintergrund dieses Passus steht Chisholms Auffassung, Brentanos Erfassen der Verhältnisse der Notwendigkeit oder Unmöglichkeit, die den Begriffen der deskriptiven Psychologie eigen sind, sei nach dem Muster von Johnsons Theorie über die intuitive Induktion aufzufassen: The source of what Brentano takes to be our „apodictic“ knowledge of these truths [for example, „There are no colors other than red, yellow, blue (possibly) green, white, and their admixtures“; Hinzufügung I. T.] would seen to be what W. E. Johnson described in his Logic as „intuitive induction“. Brentano is perhaps most clear about this type of apprehension when he discusses what he takes to be our knowledge of ethics. In describing how we come to know, for example, that knowledge as such is worthly of love, he says that when we apprehend ourselves as „correctly loving“ a given act of knowing, the goodness of all acts of knowing „becomes obvious at a single stroke, so to speak, and without any induction from particular cases.“ It is quite clear, I think, that he would describe our apprehension of the „theorems“ just cited in a similar way. He would say that, in apprehending one conforming instance of the theorem in question, we see ipso facto that there can be no disconfirming instance. This is the type of apprehension that ennables the de-
DPs, S. 71 ff., 154; vgl. auch ZPh, S. 32 ff., und meinen Aufsatz „Monism and Particularism …“. Vgl. Marek, a. a. O. Ch. J. Marek, „Psychognosie – Geognosie: Apriorisches und Deskriptives in der deskriptiven Psychologie Brentanos“, Brentano Studien 2 (1989), S. 53 – 63.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
scriptive psychologist to affirm what is „apodictically“, or necessarily, true, whether what is affirmed is „analytic“ or not.⁵⁴⁰
Ich glaube, dass die Art und Weise, in der Chisholm Brentanos Induktion in weiteren Sinn als intuitive Induktion interpretiert, aus folgenden Gründen revisionsbedürftig ist: Wenn Johnson in seiner Logik behauptet: „For example, in judging upon a single instance of the impressions red, orange and yellow, that the qualitative difference between red and yellow is greater than that between red and orange“,⁵⁴¹ dann meint er damit, dass das Verhältnis der drei Farben zueinander, das anhand eines einzigen Beispiels festgestellt wird, für alle Fälle gilt, die diesem Fall ähnlich sind. In diesem Sinn gilt es als paradigmatische Instanz für sie. Diese Induktion ist als „intuitiv“ qualifiziert, weil es auf ein unmittelbares Erfassen eines Verhältnisses ankommt, das für allgemeingültig gehalten und von Johnson als ein „intuited universal“ betrachtet wird.⁵⁴² Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, zwei Bemerkungen zu machen: Das Problem mit Johnsons, von Chisholm übernommener Auslegung von intuitiver Induktion besteht darin, dass sie nicht aus einem Begriff, sondern aus einer einzelnen Erfahrung entspringt. Diese Erfahrung kann nicht für ein Analogon von Brentanos Induktion im breiteren Sinn weder im theoretischen noch im praktischen Bereich gehalten werden. Im theoretischen Bereich deshalb nicht, weil eine einzelne Instanz nicht ihr Begriff ist und dementsprechend die Betrachtung der Ersteren nicht als das Denken eines Begriffes, aus dem das Erfassen der Unmöglichkeits- oder Notwendigkeitsverhältnisse entspringt, angesehen werden kann. Im praktischen Bereich auch deshalb nicht, weil Brentano, wenn er in Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis von einer apodiktischen Erkenntnis spricht, „die mit einem Schlage und ohne jede Induktion besonderer Fälle“⁵⁴³ erfolgt,
R. M. Chisholm, „Brentano’s Descriptive Psychology“, in Akten des XIV. Internationalen Kongresses für Philosophie, Bd. 2, Wien, Herder, 1968, S. 169 f. W. E. Johnson, Logic, Bd. 2, Cambridge, The University Press, 1922, S. 192. Johnson, a. a. O., S. 193. „Intuitiv“ besagt sowohl bei Brentano als auch bei Johnson direkt, unmittelbar. Für eine andere Meinung vgl. Chisholm, der behauptet, die Induktion wäre „intuitiv“, weil ihr Schluss nicht problematisch, sondern notwendig ist (Chisholm, a. a. O., S. 171). USE, S. 82. Diese Redewendung wurde in der einschlägigen Literatur (Chisholm, a. a. O.; Th. de Boer, „Die deskriptive Methode Franz Brentanos: Ihre zwei Funktionen und ihre Bedeutung für die Phänomenologie“, in Akten des XIV. Internationalen Kongresses für Philosophie, Bd. 2. Wien, Herder, 1968, S. 194) so verstanden, als würde sie sich auf die gewöhnliche Induktion beziehen, in der man von mehreren Einzelfällen zu einem allgemeinen Urteil über die ganze Klasse übergeht (Brentanos Induktion im engeren Sinn). Allerdings bemerkt man, wenn man Brentanos Text genau unter die Lupe nimmt, dass eine solche Lesart nicht richtig ist, weil Brentano dabei einen
II.3.3 Brentanos Psychognosie oder deskriptive Psychologie
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keinen, auch nicht einen paradigmatischen Einzelfall, sondern eben die Situation im Auge hat, in der aus einem Begriff, dem Begriff „Dieb“ z. B., ein als richtig charakterisierter Hass zu ihm entspringt. Da aber der Hass aus dem Begriff entspringt und ein richtiger Hass ist, entspringt auch notwendig, dass das, was für ihn gilt, auch für alle ihm untergeordneten Fälle gilt. ⁵⁴⁴ Auch wenn der Begriff „Dieb“ und die mit der Dieberei verbundene Verleugnung induktiv aufgrund der Erfahrung mehrerer Einzelfälle des Diebstahls gebildet werden, ist nicht die Begriffsbildung die Ebene, auf der die Diskussion über Brentanos Auffassung von der aus dem Begriff entspringenden Erkenntnis geführt werden soll. Es sind daher zwei verschiedene Sachen in der Verleugnung eines einzelnen Diebstahls das Verleugnen aller einzelnen Diebstähle abzulesen, d. h. sie für eine paradigmatische Situation zu halten, die für alle anderen ähnlichen Situation gilt, oder aber alle Diebstähle zu leugnen, weil aus dem Begriff des Diebs ein als richtig charakterisierter Hass zu ihm entspringt und damit einhergehend die Verleugnung aller Fälle, die unter diesen fallen. Nur in diesem letzten, aber nicht im vorherigen Fall, haben wir es mit dem ethischen Analogon (der richtigen und als richtig charakterisierten Gemütsbewegung) der apodiktischen, aus dem Begriff entspringenden Urteile im theoretischen Bereich zu tun. Aus diesem Grund bin ich der Meinung, dass, wenn es darauf ankommt, eine Parallele zu Johnsons intuitiver Induktion bei Brentano zu finden, diese nicht in Brentanos Induktion im weiteren Sinn (Chisholm), sondern in Brentanos Lehre von der Induktion im engeren Sinn zu suchen ist. Auch wenn Brentano in seinen Ausführungen darüber gewöhnlich von mehreren Einzelfällen ausgeht, führt er auch aus der Geometrie genommene Beispiele an, die als paradigmatische Fälle gelten.⁵⁴⁵ Unabhängig davon, ob er einen einzigen oder mehrere Fälle in Betracht zieht, kommt er letzten Endes genau wie Johnson zu allgemeinen Aussagen, die für alle Individuen derselben Klasse notwendig gelten. Die folgende Stelle, in der er sich auf mehrere Fälle bezieht, zeigt dies klar: So […] z. B., wenn man auf Grund vielfacher Erfahrung behauptet, daß alle Menschen, ja alle Organismen sterblich seien. Hier wird aus dem faktischen Sterben vieler auf das notwendige Sterben aller als auf ein Naturgesetz geschlossen. Man ging aus von einfachen assertorischen Erkenntnissen und endigte mit einer apodiktischen Behauptung.⁵⁴⁶
ganz anderen Vorgang im Auge hat, und zwar den Übergang vom Begriff zu den Individuen, die seine Merkmale veranschaulichen. USE, S. 82. Vgl. VE, S. 88 – 93, 103. VE, S. 79. Wenn man Johnsons Auffassung von der intuitiven Induktion unter dem Gesichtspunkt von Brentanos von J. St. Mill übernommener Empfehlung liest, sobald wie möglich vom Einzelfall zur Formulierung des allgemeinen Gesetzes überzugehen, dann lässt sich sagen,
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
Dabei soll ausdrücklich bemerkt werden, dass es hier um eine Behauptung geht, die nicht absolut sicher, sondern nur unendlich wahrscheinlich wahr ist, was für alle Schlüsse der Induktion im engeren Sinn gilt: Eine Induktion im engeren Sinn dagegen üben wir nur dann, wenn wir aus einer oder mehreren Erfahrungstatsachen ein allgemeines Gesetz erschließen. Und hier ist die Erkenntnis des Gesetzes keine absolut sichere, und wir sind auch nicht immer im gleichen Maß geneigt, ihr zu vertrauen.⁵⁴⁷ Diese wenige Sätze […] genügen, um uns erkennen zu lassen, daß die Induktion [im engeren Sinn; Hinzufügung I. T.], richtig angewandt, ein vernünftig gerechtfertigtes Schlußverfahren ist; ja daß sie oft auf Grund ganz weniger Fälle oder selbst eines einzigen zu einer geradezu unendlich großen Wahrscheinlichkeit eines Gesetzes führen kann, die dann der absoluten Sicherheit, wenn auch nicht eigentlich mit ihr identisch, doch praktisch äquivalent ist.⁵⁴⁸
II.3.3.4.3 Die mannigfachen Bedeutungen der Induktion bei Brentano Vor diesem Hintergrund glaube ich, dass man, um Brentanos Auffassung von der Induktion richtig zu erfassen, zweierlei unterscheiden sollte: 1. Die Induktion im engeren Sinn. Sie kann keine apodiktische, sondern nur eine assertorische Notwendigkeit liefern, d. h. Erkenntnisse, die unendlich wahrscheinlich wahr sein können. Je nach dem psychologischen Bereich, wo sie angewendet wird, haben wir zu unterscheiden: a) Induktion im engeren Sinn in ihrer Anwendung auf die empirische und genetische Psychologie. Es geht um eine Induktion, die wegen der Abhängigkeit der psychischen von den physiologischen Phänomenen und dem unzureichenden Entwicklungszustand der Physiologie jener Zeit als Ergebnis Gesetze liefern kann, die nur im Durchschnitt gültig sind und viele Ausnahmen zulassen.⁵⁴⁹ b) Induktion im engeren Sinn in ihrer Anwendung auf die deskriptive Psychologie. Es geht um eine Induktion, die „ihre Aufgabe erschöpfend löse“, und die als Ergebnis psychognostische Gesetze hat, die unendlich wahrscheinlich wahr sein können und die keine Ausnahme dulden, weil sie „scharf und genau“ sind, z. B. nimmt jede visuelle sinnliche Qualität einen gewissen Ort des phänomenalen Raumes ein.⁵⁵⁰ Dasselbe lässt sich über die Gesetze behaupten, die Brentano im Manuskript des zehnten Kapitels des zweiten
dass Johnsons Einsicht eben wegen seiner These über „intuited universals“ ganz gut dieser Empfehlung entspricht, weil sie schon nach dem ersten Fall zur allgemeinen Aussage übergeht. VE, S. 81 f. VE, S. 88; Hervorhebung I. T. DPs, S. 3 ff. DPs, S. 4, 72; VE, S. 88.
II.3.3 Brentanos Psychognosie oder deskriptive Psychologie
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Buches seiner Psychologie anhand der Merkmale psychischer Phänomene aufstellt. 2.a. Die Induktion im breiteren Sinn im theoretischen Gebiet im Allgemeinen. Es geht um die Induktion des allgemeinen Gesetzes, das aus dem Begriff entspringt: Aus dem Begriff des Urteils entspringt, dass es entweder affirmativ oder negativ ist oder dass es keine Vorstellung und keine Gemütstätigkeit ist, eben weil das Urteil kein Non-Urteil ist.⁵⁵¹ Die Erfahrung, die hier involviert ist, ist nicht das Erleben eines einzelnen Urteils, sondern eben das Denken des entsprechenden Begriffs. Dieses Denken ist das, was die Einsicht in das allgemeine Gesetz veranlasst oder motiviert. Dementsprechend handelt es sich hier um das Erleben eines Denkaktes, der sich auf einen allgemeinen Begriff bezieht, und nicht um das Erleben eines einzelnen Urteilsaktes. Jene Erfahrung motiviert keine Verallgemeinerung, sondern die Apperzeption, d. h. das klare Bemerken der Verhältnisse, die den Begriff kennzeichnen. Daraus, dass sie dem Begriff eigen sind, ergibt sich auch, dass sie auch für jedes Individuum gültig sind, das unter ihn fällt. Aus diesem Grund betrachtet Brentano sie in der Vorlesung über die griechische Philosophie als eine vollständige Induktion. 2.b. Die Induktion im breiteren Sinn im ethischen Gebiet. Von dieser Art der Erfahrung, die auf dem theoretischen Gebiet erfolgt, muss der Fall der psychischen Phänomene unterschieden werden, die im praktischen Bereich aus dem Begriff entspringen, der dem unter Punkt 2. ausgeführten Fall analog ist. Um Brentanos Position hinsichtlich dieses Problems angemessen zu interpretieren, sollte man zum einen darauf achten, dass das, was unmittelbar aus dem Begriff entspringt, kein apodiktisches Urteil, sondern eine als richtig charakterisierte Liebe (oder ein als richtig charakterisierter Hass) ist.⁵⁵² Das apodiktische Urteil
De Boer behauptet hinsichtlich Brentanos deskriptiver Psychologie, Begriffe empirischen Ursprungs könnten kein apodiktisches, notwendiges Urteil fundieren (De Boer, a. a. O., S. 198 f.). Das Urteil „Es ist unmöglich, dass Rot ein Ton, ein Geruch oder ein Geschmack ist“ stellt aber ein solches, aus dem Begriff „Rot“ entspringendes apodiktisch sicheres Urteil aus. Ebenfalls entspringt, wenn man die Farbe als sinnliche, visuell wahrnehmbare Qualität auffasst, die entweder Rot oder Gelb oder Blau oder Grün oder Weiß oder Schwarz oder eine von ihren Mischungen ist (DPs, S. 71 f.), aus dem so bestimmten Farbbegriff, dass es unmöglich ist, dass es andere Farben gibt als die, deren Spezies eben aufgezählt wurden. Dabei geht es nicht darum, dass wir es hier mit Begriffen empirischen Ursprungs zu tun haben oder dass es andere als die von uns wahrnehmbaren Farben geben könnte, sondern um die Art und Weise, in der der Begriff bestimmt wird, und als Folge davon um das, was daraus entspringt (vgl. dazu Brentanos Äußerungen über die Klanganalyse bei Helmholtz, die in dieselbe Richtung der hier vorgeschlagenen Interpretation verweist (VE, S. 10, 82; vgl. auch DP. S. 7)). Dadurch nehme ich an, dass die Liebe, die aus der Vorstellung der Erkenntnis entspringt, ein Akt ist, den ich jetzt erlebe, und nicht einer, den ich kurz vorher erlebt habe, um gleich daraufhin
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
verleiht dieser Liebe Ausdruck, aber nicht es, sondern die Liebe entspringt unmittelbar aus dem Begriff. Wie unten gezeigt wird, reicht die Analyse des Begriffs nicht aus, damit eine Liebe aus ihm entspringt, sondern es ist noch eine andere gefühlsmäßige Bedingung zu erfüllen. Zum anderen sollten klar die Kontexte, der Vortrag „Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis“ (1889) und der Brief an Kraus von 1904, unterschieden werden, wo Brentano dieses Problem anpackt. Im Vortrag geht es darum, zu zeigen, dass es im praktischen Bereich ein Analogon der evidenten Urteile gibt, und zwar die richtige und als richtig charakterisierte Liebe.⁵⁵³ Dazu nennt Brentano vier Beispiele: „Jemand liebt die Erkenntnis im Allgemeinen, die Freude im Allgemeinen, die richtige und als richtig charakterisierte Liebe im Allgemeinen und das Vorstellen im Allgemeinen“. Diese Fälle leuchten uns in der inneren Erfahrung als Akte der Liebe ein, die nicht nur richtig, sondern als richtig zu charakterisieren sind.⁵⁵⁴ Aus diesem Grund sagen wir über ihr Objekt, dass es nicht nur geliebt und liebbar, sondern auch liebenswert ist. Um mich auf ein Beispiel zu beziehen, kommt es hier nicht auf eine einzelne Erfahrung, einen einzelnen Erkenntnisakt z. B., an,
im frischen Gedächtnis auf ihn zu reflektieren, wie Chisholms Rekonstruktionsversuch von Brentanos ethischer Theorie vermutet. Zugleich glaube ich, dass Chisholms Behauptung: „The inner correctness of an emotion is not itself a feeling. That is to say, it is not a higher order emotion which has the given emotion as its object“ (Chisholm, „Correct and incorrect emotion“, in ders., Brentano and Meinong Studies, Amsterdam, Rodopi, 1982, S. 74) nur insofern wahr ist, als sie richtig hervorhebt, dass die Richtigkeit des Liebesaktes keine neue Gemütsbewegung ist, die sich auf den jetzt erlebten Liebesakt bezieht, so wie die These der inneren Beobachtung oder des Selbstbewusstseins annehmen würde. Andererseits ist seine Charakterisierung unzureichend, weil sie Brentanos Lehre vom inneren Bewusstsein keine Aufmerksamkeit schenkt und damit verkennt, dass der Charakter des Aktes, „richtig und als richtig charakterisiert zu sein“ (seine „inner correctness“ in Chisholms Sprache), zum sekundären Bewusstsein des Aktes gehört. Anders gewendet: Auch wenn der genannte Charakter kein neuer Liebesakt ist, macht er doch denjenigen Teil des inneren Bewusstseins des Liebesaktes aus, der darin den Gemütsbewegungen als der dritten Klasse in Brentanos Klassifikation psychischer Phänomene entspricht. Durch die Ausdrücke „richtig“ und „als richtig charakterisiert“ möchte Brentano darauf aufmerksam machen, dass es einen Unterschied gibt zwischen einem, der „aus gewohnheitsmäßigem Drang oder instinktiv“ eine gewisse Gemütstätigkeit erlebt, er liebt etwa die Freude, und dem, der sie nicht nur erlebt, sondern im inneren Bewusstsein die Richtigkeit der betreffenden Gemütstätigkeit erfasst (ANR, S. 293 f.). In Brentanos deskriptiver Psychologie kommt es letzten Endes immer darauf an, ob man gewisse Charaktere, die Evidenz des Urteils und das ihr entsprechende emotionelle Analogon, erlebt und bemerkt. Der, dem eine solche ostensive, stiftende Erfahrung, die bei Brentano als letzte Legitimationsinstanz fungiert und die Rede über seinen Fundationismus rechtfertigt, nicht erlebt hat, der kann mit seiner deskriptiven Psychologie nicht viel anfangen. USE, S. 23 f.; vgl. auch den späteren Text „Vom Lieben und Hassen“ (1907) in USE, S. 151 f. und PeS, S. 258 ff.
II.3.3 Brentanos Psychognosie oder deskriptive Psychologie
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der mit (einer als richtig charakterisierten) Freude oder Liebe erlebt wird und der deshalb als Basis der Verallgemeinerung „Alle Erkenntnisakte sind liebenswert, also gut“ dient, sondern darauf, dass aufgrund eines aufgezeichneten Merkmals eines Liebeaktes, des Liebeaktes des Erkenntnis im Allgemeinen z. B., das im inneren Bewusstsein bemerkt ⁵⁵⁵ wird, und zwar aufgrund der Tatsache, dass in der sekundären Richtung des Aktes auf sich selbst ein gefühlsmäßiger, rein distinktioneller Teil vorhanden ist, der sich auf die primäre Beziehung des Liebesaktes bezieht, dessen Charakter mittels der Redewendung „richtig und als richtig charakterisiert“ wiedergegeben wird, auf diesem Grund also die „Liebenswürdigkeit“ oder die „Güte“ des primären Objektes des Liebesaktes, der Erkenntnis im Allgemeinen, ergibt. Daraus, nämlich aus dem liebenswerten Charakter der Erkenntnis im Allgemeinen, wird dann weiter deutlich der wertwolle Charakter aller einzelnen Erkenntnisakte. Damit führt die Beweisführung vom Allgemeinen zum Einzelnen und nicht umgekehrt. Für meinen Zweck ist es wichtig zu betonen, dass das, was hier deutlich wird, der liebenswerte Charakter einzelner Instanzen des genannten Begriffs ist, und dass dieser Charakter nicht unmittelbar aus dem Begriff „Erkenntnis“, sondern aus seinem Charakter „liebenswert“ oder „gut“ entspringt. Wie angedeutet, kommt ihm diese Eigenschafft aufgrund des Merkmals „richtig und als richtig charakterisiert“ zu, das die sekundäre Liebe des Liebesaktes zu sich selbst kennzeichnet. Diese Induktion lässt sich auch als eine vollständige betrachten, weil das, was für den Begriff gültig ist, auch für die ganze Klasse gilt, für die er steht. Im Vortrag von 1889 geht es Brentano darum, zu beweisen, dass es nicht nur niedere, sondern auch höhere Gemütstätigkeiten gibt und dass in Bezug auf sie nur ein einziges ethisches Verhalten richtig sein kann. Im Brief an Kraus von 1904 ändert er die Fragestellung, denn er will nicht mehr zeigen, wie aus der Güte der Erkenntnis die Güte einzelner Erkenntnisakte einleuchtet, sondern wie Liebe selbst aus dem Begriff „Erkenntnis“ entspringt. Der Ausgangspunkt der Erörterung wird von der Frage gebildet, warum es trotz des empirischen Ursprungs ethischer Begriffe dennoch apodiktische Axiome in seiner Ethik gebe. Brentano Beweisführung läuft folgendermaßen: In „2 + 1“ als analytische Definition von „3“ ist nicht der Gedanke enthalten, dass ihre Summe notwendig „3“ ist. Um zu diesem Gedanken zu kommen, man muss die betreffende Begriffsbestimmung negieren, nämlich „2 + 1 ist nicht 3“. Dem, der auf diese Formel reflektiert, kommt unmittelbar der Gedanke: „2 + 1 ist nicht 3 ist unmöglich“. Aus solchen Urteilen, die die
Vgl. dazu das Kapitel über das Bemerken unten.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
aus dem Begriff entsprungenen Urteile paradigmatisch veranschaulichen, lässt sich dann den Begriff „unmöglich“ abstrahieren.⁵⁵⁶ Der Begriff „Erkenntnis“ steht aber nicht in demselben Verhältnis zum Begriff „gut“ wie „3“ zu „2 + 1“. „Gut“ ist also nicht analytisch in „Erkenntnis“ eingeschlossen wie „2+1“ in „3“. Deshalb bewirkt die Vorstellung „nicht gute Erkenntnis“ nicht ihre apodiktische Verwerfung: „Eine nicht gute Erkenntnis ist unmöglich“. Demnach kann man, wenn man nur auf theoretischem Boden, d. h. nur bei der Analyse des Begriffs, bleibt, nicht zum genannten Urteil kommen. Dazu soll noch ein gefühlsmäßiges Element einbezogen werden, und zwar wenigstens einmal die Erfahrung eines Liebeaktes erlebt zu haben, die aus dem Begriff „Erkenntnis“ entsprungen ist. Dieses Element gehört also nicht zum Inhalt des Begriffs und lässt sich deshalb nicht durch logische Analyse aus ihm herausfassen:⁵⁵⁷ Und so ist denn noch eine andere Erfahrung notwendig, nämlich die, daß aus dem Begriffe der Erkenntnis eine Liebe zu ihr entspringt, die, eben indem sie so entspringt, als richtig charakterisierte Liebe auftritt. Ein rein intellektuelles psychisches Wesen würde wohl aus „2 + l ist nicht 3“ zur apodiktischen Verwerfung dieses Satzes, nicht aber aus „Erkenntnis ist nicht gut“ (wobei wir den Begriff des Guten a priori gegeben denken müßten) zur apodiktischen Verwerfung dieses Satzes geführt werden. Allein andererseits vollzieht sich die Erfahrung, deren wir benötigen, ganz analog der Erfahrung des apodiktischen Urteils „3 welches nicht 2 + l ist, ist unmöglich“. Denn auch jene als richtig charakterisierte Liebe entspringt aus dem Begriff, und das eben charakterisiert sie als richtig. Und so haben Sie ganz recht, wenn Sie einen sehr bemerkenswerten Unterschied zwischen diesem Fall, zum allgemeinen Urteil zu gelangen und jenem, der im engern und eigentlichen Sinne so genannten Induktion, finden. Diese gibt nur Wahrscheinlichkeit (im besten Falle unendlich große), hier aber haben wir absolute Sicherheit des apodiktischen Urteils.⁵⁵⁸
Es ist wichtig, nochmals zu unterstreichen, dass Brentano hier nicht über die Erfahrung eines einzelnen Erkenntnisaktes spricht, die mit Freude oder Liebe im inneren Bewusstsein erlebt wird. Er spricht ebenfalls nicht über einzelne Beispiele, die dem allgemeinen Satz „Alle Erkenntnisakte sind gut“ als Rechtfertigungsinstanz dienen. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist in Brentanos auf der Er-
USE, S. 109 f.; vgl. auch AC, S. 117 f. Wie angedeutet, verwendet Brentano auch das Wort „motivieren“, um das hier zur Debatte stehende Verhältnis zu beschreiben. USE, S. 111. Unter diesen Umständen ist es aufschlussreich, dass Brentano gegen Aristoteles einwendet „das Gute als gut“ erkennen zu wollen, ohne die Liebe, die daraus entspringt, zu berücksichtigen: „[…] wie soll man erkennen, daß etwas zu lieben ist, ohne die Erfahrung der Liebe“ (USE, S. 79).
II.3.3 Brentanos Psychognosie oder deskriptive Psychologie
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fahrung begründeter deskriptiver Psychologie die Annahme wohl begründet, dass das Erleben einzelner Erkenntnisakte als Basis zum Bilden des Begriffs „Erkenntnis“ genommen wird und dass demjenigen, der keine solche Erfahrung gemacht hat, auch der Sinn von Brentanos Analysen zur Erkenntnis im Allgemeinen und zur Liebe zu ihr verschlossen bleiben muss. Andererseits soll mit Nachdruck betont werden, dass es in der angeführten Stelle nicht auf solche Erfahrungen einzelner Akte ankommt, sondern auf eine als richtig charakterisierte Liebe, die nicht aus einzelnen Erkenntnisakten, sondern gerade aus dem Begriff „Erkenntnis“ entspringt. Das, was entspringt, ist mithin nicht ein apodiktisches Urteil, sondern eine als richtig charakterisierte Gemütstätigkeit, und das, aus dem es entspringt, ist ein Begriff und nicht eine einzelne Instanz. Erst diese aus dem Begriff entspringende Liebe soll dann in dem Urteil „Es ist unmöglich, dass die Erkenntnis nicht gut (liebenswert) ist“ zum Ausdruck kommen, aber nicht dieses Urteil, sondern die Liebe ist das ethische Analogon ⁵⁵⁹ der aus dem Begriff entspringenden, apodiktischen Urteile im theoretischen Bereich.Während aber diese apodiktischen Urteile negativ sind, ist die Liebe positiv. Es geht somit hier um eine ‚apodiktische‘ Liebe,⁵⁶⁰ die mit dem empirischen Charakter von Brentanos Psychologie gut verträglich ist, weil sie zum einen erlebt ist, und zum anderen in ihrem Hintergrund das Erleben einzelner Akte steht.⁵⁶¹ Diese Liebe ist weiter nicht zu verstehen als distinktioneller Teil der sekundären Beziehung zu sich selbst, sondern macht die primäre Beziehung des Aktes auf sein begriffliches Objekt aus. Erst diese Beziehung ist von der sekundären Richtung des Aktes zu sich selbst begleitet, der dem gefühlsmäßigen, rein distinktionellen Teil angehört, der mittels der Redewendung „richtig und als richtig charakterisiert“ wiedergegeben ist. Brentanos Fundierungsgesetz psychischer Phänomene, „Jeder psychische Akt ist entweder eine Vorstellung oder ist auf einer Vorstellung fundiert“, drückt sich da also in der Form einer Gemütstätigkeit aus, die aus einer begrifflichen Vorstellung entspringt. Nur solche Akte, die aus dem Begriff und nicht aus einzelnen Erfahrungen entspringen, können Anspruch darauf erheben, das ethische Analogon des apodiktischen, aus dem Begriff entsprungenen Urteils zu sein. Wenn man nun die Zeit jenseits des Phänomens der ursprünglichen Assoziation in die Diskussion einführt und nach den gesetzmäßigen Verhältnissen fragt, nach denen sich der Verlauf der wirklich ablösbaren Elemente des Bewusstseins entwickelt, dann verlässt man den Boden der Psychognosie und betritt Die Analogie mit den aus dem Begriff entspringenden Urteilen stellt einen wesentlichen Punkt in Brentanos Argumentation dar. Vgl. dazu sehr deutlich Brentanos etwas spätere Erklärungen darüber (USE, S. 152– 154; vgl. auch O. Kraus, Die Werttheorien. Geschichte und Kritik, Brünn, Rohrer, 1937, S. 170). USE, S. 111; vgl. auch S. 152.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
das Land der genetischen Psychologie. Wenn man darüber hinaus die eben dargestellte psychologische Mereologie als Fortentwicklung der Analyse betrachtet, die Brentano in der 1874 erschienenen Arbeit der „Innigkeit der Verbindung“ der „Divisive“⁵⁶² und der Suche nach den letzten Elementen des Bewusstseins widmete, dann lässt sich sagen, dass er gegen Ende seiner Wiener Zeit schon einen Weg entdeckt hat, auf dem die psychologische Forschung in sehr großem Maß den Zwängen entgeht, die sich aus ihrer Einbettung in Comtes Skala der Wissenschaften und aus dem unzureichenden Zustand der Entwicklung der Physiologie ergeben. Es geht um die Verselbstständigung der Analyse zur „Innigkeit der Verbindung“ und zu den Elementen des Bewusstseins in der Psychologie als Theorie des Teiles und des Ganzen in der deskriptiven Psychologie. Diese Theorie ist in erheblichem Maß unabhängig von der Ergründung der Gesetze der Koexistenz und Sukzession psychischer Phänomene in der genetischen Psychologie und verfügt über sichere, ausnahmslos gültige Gesetze, die für die Arbeit des Psychognosten einen festen Boden schaffen. Ich möchte die Erörterung dieser Frage mit einem Ausblick auf die Rolle abschließen, die das Verfahren der Zergliederung des Ganzen in seine Teile bei Mill spielt. Zu Beginn seiner Kapitel über Beobachtung und Experiment behauptet Mill: Aus der vorhergehenden Auseinandersetzung ergiebt sich, dass das Verfahren, das die Folgen, welche in der Natur mit irgend welchen Antecedentien verknüpft sind, oder […] welches untersucht, wie Naturerscheinungen sich als Ursache und Wirkung auf einander beziehen, in gewisser Hinsicht ein analytisches Verfahren ist. Es kann als gewiss angesehen werden, dass eine jede Thatsache, welche zu existiren anfängt, eine Ursache hat, und dass diese Ursache unter den Thatsachen, welche unmittelbar vorhergingen, gefunden werden muss. […] Es bleibt nun die Aufgabe, diese complexe Gleichförmigkeit in die einfacheren Gleichförmigkeiten, welche sie zusammensetzen, aufzulösen, und einem jeden Theil des weiten Antecedens denjenigen Theil der Folgen zuzuweisen, der von ihm abhängig ist. Wir haben dieses Verfahren, insofern es eine Auflösung eines complexen Ganzen in die es zusammensetzenden Elemente ist, ein analytisches genannt, es ist jedoch mehr als eine blosse geistige Analyse; die blosse Betrachtung einer Naturerscheinung, und ihre Trennung durch den Verstand allein, kann dem Zwecke, den wir nun im Auge haben, nicht entsprechen, obgleich eine solche Trennung der unerlässliche erste Schritt ist. […] um dies [d. h. „von welchen der Antecedentien eine jede Folge beständig abhängig ist“; Hinzufügung I. T.] zu bestimmen, müssen wir uns bemühen, eine Trennung der Thatsachen, nicht in unserm Verstande allein, sondern in der Natur zu Stande zu bringen; die Analyse durch den Verstand muss jedoch vorhergehen.⁵⁶³
PeS, S. 175 f. SLRI I, S. 442 f./379.
II.3.3 Brentanos Psychognosie oder deskriptive Psychologie
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Dieses Zitat macht klar, worin die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede zwischen der Art und Weise liegen, in der Brentano und Mill das analytische Verfahren auffassen. Sowohl bei Brentano als auch bei Mill kommt es darauf an, ein Ganzes in seine Teile zu zergliedern. Bei Mill geschieht das, um die so gewonnenen Teile als Folge der ihnen vorhergehenden Ursachen weiter zu ergründen. Anders gewendet ist Mills analytisches Verfahren nicht deskriptiv in Brentanos Sinn, weil er ständig die in der Diskussion stehenden Teile in einer kausalen Perspektive anpackt und ihre Verbindung hauptsächlich als eine Verbindung zwischen Antezedens und Folge berücksichtigt. Dementsprechend ist Mill nicht daran interessiert, die deskriptiven von den genetischen Aspekten zu trennen, weil es ihm letzten Endes darum geht, mittels der induktiven Methode die kausalen Verhältnisse zwischen den Erscheinungen, zu denen das analytische Vorgehen hinführt, und ihren Antezedenzien aufzudecken. Mill versteht mithin seine analytische Verfahrensweise nicht als Deskription in Brentanos Sinn, d. h. als eine Analyse, die das Werden des Bewusstseins methodisch in Klammern setzt, um sich auf seine Elemente und ihre Verbindungsweise zu fokussieren. Wenn Mill dagegen über Beschreibung spricht, dann bezieht er sich nicht auf solche Prozeduren, sondern darauf, dass die Beschreibung einer Beobachtung ständig über die Grenze dessen hinausgeht, was in der Beobachtung gegeben ist, weil jede Beschreibung zugleich eine Klassifikation ist. Wenn ich z. B. die beobachteten sinnlichen Daten als „weiß“ beschreibe, klassifiziere ich sie zugleich, denn ich zeige durch meine Wortwahl, dass sie denjenigen ähnlich sind, die von mir und anderen mittels desselben sprachlichen Ausdrucks beschrieben worden sind. Beschreibung ist also bei Mill kein analytisches, sondern ein klassifikatorisches Verfahren. Als Hilfsoperation der Induktion soll sie klar von dem getrennt werden, was Brentano durch den allgemeinen Namen „Beschreibung“ bezeichnet, nämlich das methodische Verfahren der Psychognosie.⁵⁶⁴
II.3.3.5 Zum Bemerken als Methode von Brentanos deskriptiver Psychologie II.3.3.5.1 Einleitung Die Methode von Brentanos empirischer Psychologie ist letzten Endes dazu gedacht, die psychischen von den physischen Phänomenen zu trennen, die Grundklassen Ersterer festzulegen und auf dieser Basis induktiv die Gesetze der Koexistenz und Sukzession psychischer Zustände ausfindig zu machen. Dagegen setzt sich die Methodologie der deskriptiven Psychologie zum Ziel, die Teile des
SLRI Buch IV, Kap. 1, §§ 1– 3; vgl. dazu Hedwig, „Deskription …“.
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Bewusstseins und ihre Verhältnisse zueinander zu unterscheiden und zu analysieren. Dazu muss Brentano methodische Mittel einsetzen, die dazu führen. Unter ihnen spielt das Bemerken eine besondere Rolle. Die Reihe der methodischen Schritte, in die es eingeordnet wird, sieht wie folgt aus: das Erleben, das Bemerken, das Fixieren, die induktive Verallgemeinerung und die deduktive Verwertung. Abgesehen vom ersten und den letzten zwei dieser Momente bestand die Methodologie der Psychologie vom empirischen Standpunkt aus folgenden Schritten: die Deduktion aus allgemeinen Gesetzen von spezielleren Gesetzen der Sukzession komplexerer psychischer Phänomene, die induktive Bestätigung der spezielleren Gesetze, die induktive Feststellung der höchsten, letzten psychischen Grundgesetze.⁵⁶⁵ Demgemäß liegt die Neuigkeit der deskriptiven Methodologie im zweiten Schritt, dem Bemerken, das auf die innere Beobachtung in der Psychologie hinweist: Wie schon dargelegt wurde, besteht eine Hauptthese von Brentanos Psychologie darin, dass die innere Beobachtung deshalb nicht möglich sei, weil der Versuch, die psychischen Phänomene zu beobachten, während sie erlebt werden, zu ihrer Änderung führe. Darin stimmt Brentano mit Comte überein und unterscheidet sich von Cardaillac, Hamilton und St. Mill, und in unterschiedlichem Maß von Horwicz und Maudsley, die die These verteidigten, die innere Beobachtung sei zwar schwierig, aber möglich.⁵⁶⁶ Horwicz z. B. glaubte, das Abspielen beider Akte, des zu beobachtenden Aktes und seiner Beobachtung, sei nur dann möglich, wenn der Beobachter eine so große psychische Energie habe, dass sie zum Vollzug beider Akte hinreiche.⁵⁶⁷ Auf der Basis der obigen Ausführungen über dieses Problem lässt sich die Frage aufwerfen, ob es hier auf ein intuitives Verfahren ankommt, welches das Pendant der äußeren Beobachtung der Naturwissenschaft ausmacht und das zugleich mit dem zu beobachtenden Phänomen abläuft. Unter diesen Umständen stellt sich die Frage, ob das psychognostische Bemerken identisch mit der inneren Beobachtung ist oder nicht, d. h. ob es zugleich Es kommt die Bestimmung der letzten psychischen Elemente (Empfindungen) hinzu, die im 1874 veröffentlichten Band zwar erwähnt, aber nicht weiter entwickelt wird, und die Bestimmung der empirischen Gesetze über die Eigentümlichkeiten und Grundklassen psychischer Erscheinungen in dem unveröffentlichten Manuskript des zehnten Kapitels des zweiten Buches der Psychologie (s. oben S. 317 ff.). Es gibt gewisse Äußerungen bei Marty, die darauf hinzuweisen scheinen, dass die innere Beobachtung eigener psychischer Zustände, während sie erlebt werden, für ihn möglich ist (vgl. A. Marty, „Von der Methode der allgemeinen deskriptiven Psychologie“ (1909/1910), in Marty, Nachgelassene Schriften Bd. 3: Über Wert und Methode einer allgemeinen beschreibenden Bedeutungslehre, O. Funke (Hrsg.), Bern, Franke, 1950, S. 99, 102. Vgl. oben S. 265 ff. und die dort angeführte Bibliographie.
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mit dem Erleben des Aktes erfolgt oder nicht, und darin eingeschlossen, ob es ein selbstständiger Akt oder aber ein Teil der inneren Wahrnehmung ist. Darüber hinaus ist zu fragen, ob es intuitiver Natur und evident ist oder nicht. Meine Antwort darauf ist, (i) dass Brentanos Bemerken keine innere Beobachtung in dem oben angeführten Sinn, sondern eine einfache Anerkennung ist,⁵⁶⁸ (ii) dass es sehr wahrscheinlich ist, dass es nicht ein selbstständiger Akt, sondern ein Teil des inneren Bewusstseins ist, (iii) dass es nicht nur intuitiver Natur ist, sondern auch Denkkomponenten aufweist, (iv) dass für seine Durchführung nicht wichtig ist, ob es sich zugleich mit dem Akt, dessen Teil zu bemerken ist, abspielt oder nicht – beide Fälle sind möglich –, und (v) dass sich aufgrund von Brentanos Text die Frage nicht eindeutig entscheiden lässt, ob das Bemerken evident ist oder nicht: Brentano behauptet zwar, das Bemerken sei evident,⁵⁶⁹ aber angesichts der Tatsache, dass ein großer Teil seiner Analyse dem Bemerken sinnlicher Inhalte gewidmet ist und dass diese Inhalte nicht evident wahrgenommen werden können, ist die These über ihr evidentes Bemerken nicht einfach zu verstehen. Auf jeden Fall verweist das schon erwähnte Verhältnis zwischen dem Bemerken und dem Erleben eines Aktes auf den Kern des Problems, um das es sich hier handelt: Wegen der Komplexität des psychischen Aktes wird nicht alles, was im inneren Bewusstsein erlebt wird, auch explizit wahrgenommen oder bemerkt. Brentanos Ausführungen zeigen, dass es Teile gibt, das individualisierende Moment z. B., die nie bemerkbar sind. Ihre Präsenz in jedem psychischen Akt kann nur aufgrund der Deduktion bewiesen werden.⁵⁷⁰ Dagegen sind die rein distinktionellen Teile diejenigen, auf die Brentanos Erörterung über das Bemerken besonders zutrifft. Bevor ich das wichtigste Argument für diese Thesen vorlege, möchte ich darauf hinweisen, dass das Problem des Verhältnisses des Bemerkens zur inneren Beobachtung nicht von Brentano selbst, sondern von mir aufgeworfen wird, eben um Brentanos methodische Neuigkeit vor dem Hintergrund der vorherigen Diskussion über die Methode der Psychologie bei Cardaillac, Hamilton, Comte, Mill, Horwicz und Maudsley darzustellen. Um die schon aufgestellten Thesen zu untermauern, werde ich meine Argumentation in zwei Abschnitte einteilen: Im ersten werde ich die Schwierigkeiten darstellen, die sich aus der Interpretation von Brentanos Erklärungen über das Bemerken ergeben, wenn man sie im Zusammenhang mit anderen wichtigen Thesen seiner Psychologie liest. Im zweiten Abschnitt werde ich eine Kompromisslösung vorschlagen, die es möglich macht, sowohl über ein explizites, nichtevidentes, der äußeren Wahrnehmung zugehö-
DPs, S. 34. DPs, S. 31, 33, 65. DPs, S. 32, 62.
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riges als auch über ein explizites, evidentes, der inneren Wahrnehmung zugehöriges Bemerken zu sprechen.
II.3.3.5.2 Brentanos Charakterisierung des Bemerkens und ihre Schwierigkeiten Das Hauptgewicht von Brentanos Analyse dieses Problems liegt auf der Durchführung des Bemerkens und der Einführung der Studenten in seine Handhabung.⁵⁷¹ Seine Hauptthese dabei ist, dass das Bemerken ein explizites – manchmal sagt er auch evidentes – Wahrnehmen der Teile ist, die in der inneren Wahrnehmung der einzelnen Akte oder eines Gesamtzustandes des Bewusstseins einbezogen sind. ⁵⁷² Dabei geht es nicht nur um die wirklich ablösbaren Teile, sondern auch um die distinktionellen Teile im eigentlichen oder modifizierten Sinn. Immer wenn es um das explizite Wahrnehmen, Erfassen oder Distinguieren eines Teils geht, der in der inneren Wahrnehmung nicht explizit, sondern implizit wahrgenommen wird, haben wir es mit einem Bemerken zu tun. Die Bestimmung des Bemerkens als explizites Wahrnehmen oder einfache Anerkennung weist schon auf die Klasse psychischer Erscheinungen hin, der das Bemerken zu unterordnen ist, und zwar der Klasse der Urteile, genauer gesagt der Unterklasse der einfachen affirmativen Urteile der Form „Es gibt den wirklich oder nur distinktionell im eigentlichen oder modifizierten Sinn abtrennbaren Teil“. Mithin ist das Bemerken kein Vorstellen. Um jedes Missverständnis auszuschließen, unterscheidet Brentano diese Urteile weiter von negativen Prädikationen, die In diesem Sinne behauptet Brentano noch in der Vorlesung von 1885/86: „Nach all dem ist es wohl nicht mehr unbegreiflich, daß die beschreibende Psychologie zurückgeblieben ist. Was ihre Fortschritte bis jetzt hemmte, ist: 1. Mangel an besonderer Übung, namentlich für das Bemerken und die Beschreibung der psychischen Phänomene. 2. Mangel an Methode sowohl zur Forschung und Prüfung als auch zur Übersetzung anderer. 3. Mangel an Arbeitsteilung“ (GÄ, S. 40). In der genannten Vorlesung gibt es kein besonderes Kapitel über die Methode. Dagegen wird, wenn man die Vorlesung von 1890/91 in Betracht zieht, deutlich, dass Brentano inzwischen die nötige Methode zur Etablierung der deskriptiven Psychologie schon entworfen und in didaktischer Absicht herausgearbeitet hat (vgl. dazu die Abteilung „Das richtige Verfahren des Psychognosts“ (DPs, S. 28 – 76). Es ist sehr wohl möglich, dass sich die „Arbeitsteilung“, die Brentano hier vorschwebt, auf die Trennung der psychognostischen Untersuchung je nach den Hauptklassen und Unterklassen psychischer Erscheinungen, den (sinnlichen und abstrakten) Vorstellungen, den Urteilen, den Gemütsbewegungen, bezieht (DPs, S. 60, 81, 107). In Martys Vorlesung über deskriptive Psychologie von 1894/95 gibt es keinen methodischen Teil. Der Text „Von der Methode der allgemeinen deskriptiven Psychologie“ (1909/ 1910) zeigt, dass er sich in den folgenden Jahren diesem Thema zugewandt hat. DPs, S. 33, 35.
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das Bemerken eines Unterschieds ausmachen: „A ist nicht B“, etwa „Rot ist nicht Orange“. Im Unterschied dazu ist das hier in der Diskussion stehende Bemerken keine negative Prädikation, sondern ein Distinguieren eines Teils, der in dem Ganzen implizit wahrgenommen wird, z. B. des logischen Teils „Farbe“, der in dem logischen Ganzen der Spezies „Rot“ implizit wahrgenommen wird: „Es gibt das Genus ‚Farbe‘ in der Spezies ‚Rot‘ (oder in jeder seiner Spezies)“.⁵⁷³ Was das Verhältnis des Bemerkens zur Klasse der Gemütsbewegungen betrifft, so ergibt es sich aus dem Vergleich, den Brentano zwischen den Verben „bemerken“ einerseits und „auffallen“ und „aufmerken“ andererseits aufstellt. „Auffallen“ gehört in dieselbe Reihe der Gemütszustände wie „befremdet sein“ oder „sich wundern“ und ist deswegen kein Urteil. Im „Aufmerken“ ist hingegen ein emotionelles Moment, die Begierde (etwas zu bemerken zum Beispiel) eingeschlossen, das zwar zum Vollzug des Bemerkens beitragen kann, aber nicht mit ihm identisch ist, eben weil das Bemerken ein einfaches anerkennendes Urteil ist.⁵⁷⁴ Das wichtigste Argument für die Unterscheidung zwischen der inneren Beobachtung und dem Bemerken als einfacher Anerkennung eines Teils rührt von dem Ziel her, das Brentano mit diesem methodischen Mittel verfolgt. Er geht davon aus, dass das, was evident im inneren Bewusstsein erfasst wird, ein Ganzes ist, dessen Teile auch wahrgenommen werden, aber nicht explizit und evident, sondern implizit oder, wie er manchmal sagte, konfus. ⁵⁷⁵ In der evidenten Wahrnehmung des Aktes ist also die implizite, konfuse Wahrnehmung seiner Teile eingeschlossen.Wenn ich z. B. auf der Straße plötzlich vor einem fremden Gesicht stehe, nehme ich es als Ganzes und nicht allen seinen Details nach wahr. Die Züge des Gesichts werden nur insofern wahrgenommen, als sie sozusagen das Gesamtbild des Gesichts ausmachen. Die Wahrnehmung der einzelnen Züge, der Form der Lippen, der Nuance der Augenfarbe oder ganz spezifischer Zeichen (etwa der Spur einer Narbe), erfolgt nicht gesondert, sondern nur als Teil des Ganzen.⁵⁷⁶ In diesem Sinn werden sie implizit und konfus wahrgenommen. Zum psychischen Gebiet übergehend, erfasse ich mich, wenn ich das fremde Gesicht
DPs, S. 34, 37. Brentano unterscheidet es auch von den positiven Prädikationen wie „Dieser Fleck ist farbig“ oder „Rot ist eine Farbe“. Das letzte Beispiel veranschaulicht gut seine Behauptungen, solche affirmative Prädikationen könnten mit dem Bemerken als einfache Anerkennung innig verbunden seien, denn, auch wenn „Rot ist eine Farbe“ in der Prädikation der Gattung über eine ihrer Spezies besteht, ist es doch nicht dasselbe wie die einfache Anerkennung der Gattungsbestimmtheit „Farbe“ im logischen Ganzen, der Spezies „Rot“ (DPs, S. 35, 37). DPs, S. 34 ff. DPs, S. 31, 52, 60. DPs, S. 24, 66; vgl. auch Marty, „Von der Methode …“, S. 92.
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wahrnehme, innerlich, evident als einer, der einen sinnlichen Akt erlebt. In dieser inneren Wahrnehmung ist die intentionale Beziehung auf das primäre Objekt und das innere Bewusstsein des Aktes eingeschlossen.⁵⁷⁷ Die Wahrnehmung des psychischen Ganzen ist evident, weil sie ein assertorisches evidentes Urteil ist: „Es gibt den sich in mir jetzt abspielenden Akt“.⁵⁷⁸ In ihr ist zugleich die implizite Wahrnehmung der eben aufgezählten Teile eingeschlossen. Allerdings werden diese Teile nicht explizit, sondern implizit wahrgenommen. Die Frage, die sich jetzt stellt, ist, ob sich aus der allgemeinen These, wer ein Ganzes anerkennt, erkennt auch seine Teile an,⁵⁷⁹ und aus der tatsächlichen evidenten Anerkennung des ganzen psychischen Aktes auch die evidente explizite Anerkennung seiner Teile ergibt? Ist das Beiwort „explizit“ in diesem Zusammenhang koextensiv mit „evident“, und ist die Evidenz, mit der den Akt wahrgenommen wird, auch auf die implizite Wahrnehmung seiner Teile übertragbar? Brentano stellt diese Frage nicht explizit und ich vermute, dass er diesen Weg eben deswegen nicht einschlägt, weil eine solche Fragestellung ihn dazu geleitet hätte, die Fehlbarkeit der inneren Wahrnehmung angesichts der implizit und konfus wahrgenommenen Teile anzuerkennen: Die innere Wahrnehmung des psychischen Ganzen ist zwar evident, aber das schließt nicht aus, dass die in ihr konfus und implizit wahrgenommenen Teile anders sein könnten als sie in der evidenten Wahrnehmung des Ganzen erscheinen – ich kann mich etwa als einer erleben, der einen rein blauen Fleck wahrnimmt, ohne dass dies jedoch wahr ist.⁵⁸⁰ Die Evidenz, mit der die psychischen Akte erfasst werden, dehnt sich also nicht von selbst auf die Wahrnehmung ihrer Teile aus, denn diese werden nicht explizit, sondern nur konfus wahrgenommen und unterliegen so dem Irrtum. Die implizite und konfuse Wahrnehmung der Teile, die in der evidenten und expliziten Wahrnehmung des ganzen Aktes eingeschlossen ist, kann sich auf diese Weise als fehlbar erweisen: Auch wenn ich mich im inneren Bewusstsein als einen erfasse, der einen intuitiven Akt gegenwärtig erlebt, ist es sehr wohl möglich, dass dieses Erfassen insofern fehlerhaft ist, als der intentionale Teil der primären Beziehung des Aktes anders ist, als er mir erscheint. Brentanos wiederholte Behauptungen, es gebe nicht Grade der Evidenz, das Bemerken sei evident und könne nicht irrig sein, machen den Versuch aus, diese Schwachstelle der inneren Wahrnehmung, die von der komplexen Struktur des psychischen Aktes herrührt, auszugleichen.⁵⁸¹
Vgl. dazu DPs, S. 48. DPs, S. 31. PeS, S. 231; DPs, S. 34. DPs, S. 31 ff.; vgl. dazu das Beispiel mit der Wahrnehmung eines ins Rote spielenden blauen Flecks unten. DPs, S. 31, 35, 65.
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Auch wenn er selbst diesen Zusammenhang nicht herstellt, bin ich jedoch der Meinung, dass es sehr wohl möglich ist, dass ihm dabei die Idee eines inneren Bemerkens vorschwebte, das zugleich mit dem expliziten Erfassen eines Teils des primären Objekts in der primären Beziehung des Aktes, die das ganze Objekt vorstellt, erfolgt. Auf die Struktur des psychischen Aktes angewendet, bedeutet dies, dass alle Teile, die das psychische Phänomen bei Brentano aufweist, die primäre und sekundäre Beziehung des Aktes auf sich selbst und alle darin involvierten nur distinktionell im eigentlichen oder modifizierten Sinn abtrennbaren Teile, implizit anerkannt werden. Allerdings verbürgt ihre Zugehörigkeit zum Akt nichts in Bezug auf ihre evidente Wahrnehmung, denn ich kann mich wenigstens hinsichtlich mancher distinktionellen Teile täuschen. Um ein Beispiel zur äußeren Wahrnehmung wieder aufzugreifen, erfasse ich mich, wenn ich einen solchen Akt erlebe, explizit als einen, der jetzt einen Wahrnehmungsakt erlebt, und wegen der Evidenz der inneren Wahrnehmung bin ich mir absolut sicher, jetzt ein Wahrnehmender und z. B. kein Phantasierender oder sich an etwas Erinnernder zu sein. In dieser Anerkennung ist zugleich die Anerkennung des intentionalen Korrelats involviert, nämlich dass ich nicht nur ein Wahrnehmender, sondern ein etwas (einen blauen Fleck) Wahrnehmender bin. Da Brentano seine Vorlesung in didaktischer Absicht verfasste,⁵⁸² kann ich mir vorstellen, dass mein Psychognosieprofessor mich darauf aufmerksam macht, dass der Fleck, den er absichtlich auf die Tafel projizierte, nicht nur blau, sondern rötlich blau ist. Ich habe es also nicht mit einer reinen Farbe (reinem Blau), sondern mit einer von ihren Nuancen zu tun. Dementsprechend habe ich mich geirrt, indem ich das Letztere für das Erstere gehalten habe. Die Evidenz, mit der ich das Urteil fälle, „Ich bin jetzt ein einen blauen Fleck Wahrnehmender“, beschränkt sich also nur auf die perzeptive Qualität des Aktes „Ich bin jetzt ein Wahrnehmender (, der einen blauen Fleck als Objekt hat)“ und gilt nicht für sein intentionales Korrelat, „Das von mir jetzt wahrgenommene Blau ist“, weil diese Redewendung bei jemandem den Eindruck erwecken kann, dass ich ein reines Blau wahrnehme. Die implizite Wahrnehmung des intentionalen Korrelats, die in der Wahrnehmung des ganzen Aktes eingeschlossen ist, beweist sich damit als fehlerhaft. Das Korrelat ist nicht so, wie es mir erscheint.⁵⁸³ Als Folge davon stellt von den zwei Ausdrücken „ein Wahrnehmender, dem ein blauer Fleck erscheint“ und „ein Wahrnehmender, dem ein ins Rote spielender
Vgl. dazu „Das didaktische Modell Brentanos“, in W. Baumgartner, „Vom Bemerken und: Wie man ein rechter Psychognost wird“, Grazer philosophische Studien 28 (1986), S. 241– 251. Die Analyse ist von mir ausgedacht aufgrund des Beispiels bei Brentano (DPs, S. 49).
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
blauer Fleck erscheint“ nur der zweite eine richtige Beschreibung der Tatsache dar, um die es hier geht. Die Richtigstellung der anfänglichen impliziten Fehlwahrnehmung bedarf deshalb eines neuen Bemerkens des fehlerhaft erfassten Teils. Wir wissen aber von der Psychologie, dass der sinnliche Inhalt nur intentional und phänomenal existiert und die äußere Wahrnehmung deshalb nicht evident ist, weil ihr Objekt anders sein kann, als es anhand des Sinnesinhaltes erscheint. Wie kann man dann von seinem Bemerken sagen, dass es evident sei und den Irrtum ausschließe? Brentanos Äußerungen darüber sind nicht klar, jedoch ist es möglich, sie so zu deuten, denn wir dürften in gewissen Grenzen von einem solchen Bemerken sprechen, und zwar dann, wenn der sinnliche Inhalt nicht weiter in seiner Beziehung zu der physischen Ursache, sondern rein deskriptiv als Korrelat der primären Beziehung verstanden wird und sein wiederholtes Bemerken zu demselben Ergebnis führt.⁵⁸⁴ Ein solches Ergebnis ist zwar nicht evident wie die Resultate der inneren Wahrnehmung, aber dennoch lässt sich aufgrund der Sicherheit, mit der Brentano die Psychognosie der sinnlichen Inhalte durchführt, und seiner Erörterung über die Induktion im engeren Sinne und den sicheren und exakten Charakter psychognostischer Erkenntnis sagen, dass wir es hier mit sicheren psychognostischen Ergebnissen zu tun haben. Um evidentes Wissen und Bemerken geht es aber nicht.⁵⁸⁵ Das Hauptwort „Wahrnehmender“ ist andererseits in beiden Redewendungen enthalten. Ich werte das als Zeichen dafür, dass das, was im Akt nicht implizit und konfus, sondern explizit und evident von Anfang an anerkannt wird, der Akt in Hinblick auf seine primäre Beziehung ist. Das gilt unabhängig davon, was sein primäres Objekt ist und wie es beschrieben wird. Was die zwei Ausdrücke betrifft, die sich nicht auf die primäre Beziehung, sondern auf ihren intentionalen Teil berufen, „das jetzt von mir wahrgenommene ins Rote spielende Blau ist“ und „das jetzt von mir wahrgenommene reine Blau ist“ (und zwar im uneigentlichen Sinn, als Inhalt eines evident wahrgenommenen Aktes), lässt sich nur der erste als Ergebnis eines Bemerkens verstehen. Dagegen ist der zweite fehlerhaft, weil er den Unterschied „Stich ins Rote“ des intentionalen Korrelats versäumt und die Möglichkeit nicht ausschließt, es mit einem reinen Blau zu verwechseln. Das weist darauf hin, wie wichtig die theoretische Aufladung von Brentanos Theorie des Bemerkens ist, denn konfus und implizit können mitwahrgenommen werden alle Elemente, die seiner Mereologie zufolge einem Akt zukommen: die primäre und sekundäre Beziehung des Aktes, das intentionale Korrelat und seine Brentano spricht an vielen Stellen seiner Vorlesung über die Wiederholung des Versuchs, implizite Teile explizit wahrzunehmen (DPs, S. 33, 35, 126 und passim). DPs, S. 4 ff., 71 ff.Vgl. dazu die Ausführungen über die Anwendung der Induktion im engeren Sinn auf die psychognostischen Fragen oben S. 369 ff.
II.3.3 Brentanos Psychognosie oder deskriptive Psychologie
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nur rationell abtrennbaren, durchwohnenden, logischen und modifizierten Teile.⁵⁸⁶ Brentanos Bemerken ist ausgerechnet dafür bestimmt, die implizit wahrgenommenen Teile klar zu machen, d. h. sie explizit wahrzunehmen: Wir […] verstehen dabei unter dem Bemerken ein inneres Wahrnehmen, und zwar ein explizites Wahrnehmen von solchem, was implizite in der Wahrnehmung unseres Bewußtseins beschlossen war.⁵⁸⁷
Es ist nicht einfach, diese Stelle zu interpretieren, weil Brentano hier von einem inneren, expliziten Wahrnehmen der Teile spricht, die implizit im Bewusstsein enthalten waren. Zum einen bringt er nicht das für seine Psychologie so wichtig gewordene Stichwort „Evidenz“ ins Spiel. Zum anderen weist das Präteritum „war“ darauf hin, dass es hier um einen zeitlichen Prozess gehen kann: Die Teile, die anfänglich im inneren Bewusstsein implizit wahrgenommen wurden, werden erst mittels des Bemerkens explizit erfasst. Dabei stellt sich gleich die Frage, ob dieses Erfassen evident sei.⁵⁸⁸ Wenn man jetzt versucht, die oben genannten Beispiele im Lichte des Kriteriums des expliziten Bemerkens zu lesen, haben wir es im ersten Fall, „ein Wahrnehmender“, mit einer evidenten Wahrnehmung zu tun, die deshalb keine Bemerkung ist, weil sie von Anfang an explizit ist. Der zweite Fall, „ein einen blauen Fleck Wahrnehmender“ oder „ein Wahrnehmender, der einen blauen Fleck sieht“, drückt aus, was implizit in der ersten Wahrnehmung hinsichtlich ihres intentionalen Teils mit wahrgenommen wird, und macht daher den Fall einer impliziten konfusen Wahrnehmung des intentionalen Teils aus, der in der
Wie angedeutet, geht es im Fall der impliziten Wahrnehmung der primären Beziehung um ein evidentes Wahrnehmen, was auch für die sekundäre Beziehung gilt, denn im inneren Bewusstsein ist nicht nur die primäre Beziehung, sondern der ganze Akt bewusst (PeS, S. 148). Das innere Bewusstsein weist drei distinktionelle Teile auf: das innere Vorstellen, das Wahrnehmen und den gefühlsmäßigen Teil. Die Evidenz, die das zweite Moment kennzeichnet, dient Brentano dazu, um den Studenten den Unterschied zwischen evidenten und nichtevidenten, aus dem Drang gefällten Urteilen zu erklären. Das dritte Moment spezifiziert sich z. B. im Fall des ethischen Axioms „Die Erkenntnis ist liebenswürdig“ in einer als richtig charakterisierten Liebe, die erlebt und bemerkt werden muss, damit jemand lernt, was ein ethisches Axiom ist. Für denjenigen, der eine solche als richtig charakterisierte Liebe nicht erlebt hat, ist es kaum möglich, die Bedeutung von Brentanos ethischen Axiomen zu erfassen. DPs, S. 33; vgl. auch Marty, „Von der Methode der allgemeinen deskriptiven Psychologie“ (1909/1910), S. 92, wo er Brentanos Ausführungen über das Bemerken zusammenfasst. PeS, S. 109 f., 114 ff. Die sinnlichen Inhalte und das Bemerken ihrer Teile (DPs, S. 38, 49 ff. und passim) spielen eine äußerst wichtige Rolle in Brentanos Psychognosie. Er widmet der Behandlung dieses Problems selbstständige Kapitel in seinen Vorlesungen und 1907 veröffentlichte er eine Schrift, die ausgerechnet den Titel Untersuchungen zur Sinnespsychologie trägt.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
expliziten und evidenten Wahrnehmung des Aktes als Ganzen mit beschlossen ist und der sich letzten Endes als irrtümlich erweist. Erst im dritten Fall, „ein einen ins Rote spielenden blauen Fleck Wahrnehmender“ („ein Wahrnehmender, der einen ins Rote spielenden blauen Fleck sieht“), geht es um ein Bemerken, d. h. um eine explizite Wahrnehmung des Aktes in Bezug auf seinen intentionalen Teil, die tatsächlich die Richtigstellung der zweiten impliziten Wahrnehmung als Folge der Anweisungen des psychognostischen Professors darstellt.⁵⁸⁹ Vor diesem Hintergrund werde ich weiter die oben aufgeworfenen Fragen nach dem zeitlichen Verhältnis zwischen der inneren Wahrnehmung und dem Bemerken aufrollen. Brentanos Behauptungen zeigen, dass das zeitliche Verhältnis zwischen den beiden nicht nach dem Muster des gleichzeitigen Verlaufs von innerer Wahrnehmung und Beobachtung zu denken ist. Es kommt hinzu, dass der Versuch, das Phänomen innerlich zu beobachten, während es erfolgt, zu seiner Veränderung führt. Dagegen alteriert das Bemerken nicht den zu bemerkenden Teil, sondern macht ihn explizit. Wenn man jetzt von Brentanos Behauptungen ausgeht, die evidente, explizite Anerkennung des Ganzen sei zugleich eine implizite Anerkennung seiner Teile und das Bemerken sei die explizite Anerkennung eines Teils, der in der evidenten Wahrnehmung des Aktes schon implizit anerkannt werde, dann ergibt sich, dass sich die zwei nicht zugleich abspielen können, denn ein Teil kann nicht simultan implizit und konfus in der evidenten Wahrnehmung des ganzes Aktes und explizit in dem auf ihn gerichteten Bemerken erfasst werden. Dementsprechend ist die evidente Anerkennung des Ganzen nicht zugleich das explizite Bemerken seiner Teile, sondern nur ihre konfuse Mitanerkennung.⁵⁹⁰ Diese Mitanerkennung kann explizit gemacht werden, ist es aber nicht von Anfang an. Wenn dies jedoch geschieht, wie in der erwähnten Lernsituation, dann sieht es so aus, als ob das Bemerken ein Teil der inneren Wahrnehmung wäre, denn die explizite Anerkennung des Teils erfolgt zugleich mit der inneren evidenten Wahrnehmung des Aktes: Ich erkenne mich von vornherein an als ein einen ins Rote spielenden blauen Fleck Wahrnehmender. Der Teil wird damit nicht implizit und konfus, sondern explizit wahrgenommen, d. h. bemerkt. Die innere Wahrnehmung hat sich also hinsichtlich eines Teils verfeinert, der vorher nur mitwahrgenommen wurde.⁵⁹¹
Vgl. dazu DPs, S. 49, 54, 62, und Marek, „Psychognosie – Geognosie …“, S. 55. DPs, S. 31. Vgl. dazu unten II.3.3.5.3.
II.3.3 Brentanos Psychognosie oder deskriptive Psychologie
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Das Beispiel zeigt noch einmal, dass das Bemerken normalerweise nicht zugleich, sondern nach dem Wahrnehmen des Aktes, dessen Teil zu bemerken ist, erfolgt. Das führt wieder zu der Frage nach seiner Evidenz, denn Brentano betont ständig, dass nur das, was aktuell im Bewusstsein abläuft, evident wahrzunehmen oder zu bemerken ist.⁵⁹² Allerdings wurde oben schon bewiesen, dass das simultane Sich-Abspielen der inneren Wahrnehmung und einer anderen Operation (etwa der inneren Beobachtung) bei Brentano verboten ist, und es gibt keinen Hinweis darauf, dass er in der deskriptiven Psychologie auf diese These verzichtet hätte. Das Studium (das Bemerken) der Phänomene im frischen Gedächtnis bringt uns ebenfalls nicht weiter, weil das Gedächtnis, wie frisch es auch immer sein mag, den Irrtum nicht ausschließen kann.⁵⁹³ Um Klarheit über dieses Problem zu verschaffen, ziehe ich den folgenden Passus zu Rate: Dauert die Erscheinung kurz, so muß man zum Voraus soviel als möglich allerhand Präparative bereitstellen. Dies […] b) weil vielleicht das Bemerken Zeit braucht. (1) [Die] Entstehung jeder psychischen Funktion erfordert eine gewisse Zeit, wie z. B. der Wechsel psychischer Zustände […] (indes könnte vielleicht gleichzeitig mit der Erscheinung, welche ja auch entsteht, einmal das Bemerken entstehen, wie die Wahrnehmung der Gesamtheit des aktuellen Bewußtseins mit diesem). […] (2) Manches Bemerken scheint anderes Bemerken (einzuschließen oder) vorauszusetzen. Wie z. B. das Bemerken eines durchwohnenden Teils, ein Bemerken des Konkretums, dessen Teil er ist, und das eines logischen Teils (der Gattungsbestimmtheit) das Bemerken des betreffenden logischen Ganzen. […] Indes auch hier [nämlich im Fall der Differenz zwischen Helligkeit und Örtlichkeit bei Viollet; Hinzufügung I. T.] könnte einmal das eine und andere Bemerken gleichzeitig statthaben. (Ähnlich wie die Lust oder Widerwille bei dem Auftreten einer gewissen sinnlichen Qualität gleichzeitig mit dieser, und ein Urteil mit der Vorstellung, die ihm zu Grunde liegt, wie ja auch die innere Wahrnehmung mit der Vorstellung und dem Objekt) [auftritt/bemerkt wird].⁵⁹⁴
Vgl. die betreffenden Kapitel über das innere Bewusstsein in der Psychologie. Der Anspruch des Bemerkens auf Evidenz gründet in seiner Bestimmung als „inneres Wahrnehmen“, denn die innere Wahrnehmung ist immer evident. PeS, S. 49 ff. Das Studium der Phänomene im frischen Gedächtnis bleibt nach wie vor ein wichtiges Mittel des Psychognosten (vgl. z. B. Brentanos Äußerung über die Unterschiedslosigkeit des individualisierenden Teils „in den Phänomenen, welche das Gedächtnis bewahrt, nach denen wir frisch erleben“ (DPs, S. 75; vgl. auch S. 64, 126)). DPs, S. 47 f. Die Zeitlichkeit des Bemerkens wird von Brentano zu den entfernten Bedingungen des Bemerkens gerechnet. Ich habe zu der von den Herausgebern des Bandes vorgeschlagenen Ergänzung „auftritt“ in den letzten eckigen Klammern des Passus den Ausdruck
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
Dieses Zitat zeigt, wie groß die Bandbreite der Interpretationsmöglichkeiten von Brentanos Bemerken ist: 1. Erstens weist es darauf hin, dass die innere Wahrnehmung der allgemeine Name ist, dem sozusagen die ‚Provinzen‘ des Bemerkens unterzuordnen sind: Jedes Mal, wenn wir von dem psychischen Ganzen und seiner Wahrnehmung zum Studium seiner Teile übergehen, gehen wir von der expliziten, evidenten Wahrnehmung des psychischen Ganzen zum Studium seiner wirklichen oder rein distinktionellen, nur implizit bemerkten Bestandteile über. Der Name dieses methodischen Schrittes, dessen Endergebnis in dem expliziten Wahrnehmen eines Teils besteht, ist das Bemerken. Ein wichtiges Merkmal des Bemerkens besteht deshalb darin, dass es einem Teil des Ganzen ständig zugeordnet wird. Wenn man dies als eine formelle Bedingung des Bemerkens betrachtet und an ihm festhält, dann ist das Wahrnehmen des Ganzen kein Bemerken, eben weil es explizit nicht auf seine Teile, sondern auf das Ganze ausgeht. 2. Ich interpretiere Brentanos Behauptung über die Dauer des Bemerkens als ein schlagendes Argument für die These, das Bemerken erfolge normalerweise nicht zugleich, sondern erst nach dem Ablauf des Aktes, dessen Teil zu bemerken ist. 3. Die angeführte Stelle ist deshalb interessant, weil sie in Verbindung mit Brentanos Ausführungen über die „Innigkeit der Verbindung“ aus der Psychologie gedeutet werden kann. Wie gesagt ordnet Brentano darin die möglichen Fälle aufgrund der zunehmenden Stärke der Verbindung ihrer Elemente (ihrer wirklichen oder aber nur distinktionellen Ablösbarkeit in der Sprache der deskriptiven Psychologie): die selbstständigen Akte, die zu einer gewissen Zeit, in der Einheit des Bewusstseins gebunden werden, die Verbindung zwischen den Akten, die in Brentanos Gesetz der Fundierung psychischer Erscheinungen zum Ausdruck kommt, und die Verbindung zwischen der primären und sekundären Beziehung des Aktes.⁵⁹⁵ Das, was im ersten Abschnitt der angeführten Stelle über die Wahrnehmung des Gesamtzustandes des Bewusstseins, die zugleich mit diesem Zustand erfolgt, gesagt wird, wirft die folgende Frage hinsichtlich des Verhältnisses der zwei Operationen auf: Ist die Wahrnehmung eines Bewusstseinszustandes, der nicht aus einem, sondern aus mehreren wechselseitig abtrennbaren Akten besteht, zugleich ein explizites, evidentes Wahrnehmen (Bemerken) seiner Teile oder nicht? Mit anderen Worten: Werden die wirklich abtrennbaren Teile, die Akte, die einen solchen Zustand bilden, von vornherein auch evident und explizit wahrgenommen und in diesem Sinne bemerkt – wie gesagt, hat das Bemerken
„bemerkt wird“ hinzugefügt, weil das Brentanos Äußerung; „Indes auch hier könnte einmal das eine und andere Bemerken gleichzeitig statthaben“, besser entspricht. PeS, S. 177 f.
II.3.3 Brentanos Psychognosie oder deskriptive Psychologie
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nur mit einem Teil zu tun – oder aber werden sie am Anfang nur implizit und konfus und erst danach explizit und evident wahrgenommen? Wenn ich mir bewusst bin, einen Zustand des Bewusstseins zu erleben, der aus den Akten x, y und z besteht, z. B. ich sehe und höre die Person, die mich anspricht, und spüre zugleich den Duft ihres Parfüms, wie ist dann diese Tatsache zu beschreiben? Nehme ich evident und explizit nur den Gesamtzustand meines Bewusstseins wahr, ohne jedoch seine Bestandteile evident und explizit wahrzunehmen? Oder aber ist der Ausdruck „Gesamtzustand“ in diesem Zusammenhang nicht sehr zutreffend, weil er darauf anspielt, etwas Neues und Selbstständiges gegenüber seinen Teilen zu sein, während es bei Brentano viel angemessener ist, davon zu sprechen, dass ich einen Bewusstseinszustand erlebe, der aus der Einheit dreier verschiedener psychischer Akte besteht? Unter diesen Umständen bin ich mir nicht nur der Gleichzeitigkeit der Akte, die die Einheit bilden, und ihrer Einheit selbst, sondern auch eines jeden unter ihnen, und zwar gerade als Bestandteil dieser Einheit, bewusst. Erlebt und evident wahrgenommen (bemerkt) wird daher jeder unter ihnen, allerdings nicht getrennt, sondern eben in ihrer Einheit und Gleichzeitigkeit. Aus diesem Grund ist es weder möglich, einen Akt, der zur Einheit gehört, nicht wahrzunehmen,⁵⁹⁶ noch ihn anders wahrzunehmen, als er ist. Hier sprechen wir also vom evidenten, expliziten Bemerken einzelner, wirklich ablösbarer psychischer Teile (Akte), das zugleich mit der evidenten, inneren Wahrnehmung des Gesamtzustandes des Bewusstseins erfolgt. Aus diesem Grund lässt sich im inneren Bewusstsein des gesamten Bewusstseinszustandes die evidente, innere Wahrnehmung desselben und das evidente, innere Bemerken seiner konstituierenden Bestandteile (nämlich der psychischen Akte) unterscheiden: „Ein aus der Einheit von drei zugleich abspielenden Akten bestehender Gesamtzustand ,des aktuellen Bewußtseins’ existiert (wirklich)“. Es geht dabei um Akte (Teile des Bewusstseinszustandes), die von Anfang an evident und explizit wahrgenommen werden. Das Bemerken, das hier in der Diskussion steht, ist kein selbstständiger Akt – keine innere Beobachtung –, sondern ein distinktioneller Teil des inneren Bewusstseins, der innerhalb von ihm und hinsichtlich der in ihm evident und explizit erfassten einzelnen psychischen Akte erfolgt. Von einer inneren, evidenten Wahrnehmung des Gesamtzustandes des Bewusstseins, die aus einem mehrfachen Bemerken als ihren wirklichen, nur rationell abtrennbaren
Brentano bezieht sich in seiner Vorlesung oft darauf, dass „nicht bemerkt sein“ nicht dasselbe wie „nicht vorhanden sein“ bedeutet (DPs, S. 39, 64, 71 und passim). Diese These geht auf Mills Erörterungen über die Fehler der Beobachtung im 5. Buch seiner Logik zurück.
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Bestandteilen besteht, und zwar je nach dem einzelnen Akt, der in dem entsprechenden Bemerken erfasst wird, spricht Brentano aber nicht.⁵⁹⁷ 4. Um Brentanos Äußerung: „(2) Manches Bemerken scheint anderes Bemerken (einzuschließen oder) vorauszusetzen. Wie z. B. das Bemerken eines durchwohnenden Teils, ein Bemerken des Konkretums, dessen Teil er ist [voraussetzt (Hinzufügung I. T.)] […]“ zu verstehen, soll man seine „analysierende“⁵⁹⁸ Vorgehensweise in die Diskussion einbeziehen: Brentanos Mereologie geht von dem psychischen Ganzen aus und zergliedert es weiter in Teile, bis man zu dem Punkt kommt, wo keine weitere Trennung möglich ist. Die wichtigsten Stationen, die die Ergebnisse dieses analytischen Vorgangs markieren, sind: das psychische Ganze, seine wirklichen psychischen Teile (die primäre und die sekundäre Beziehung) und die Teile dieser Teile. Von durchwohnenden Teilen sprechen wir schon von dem ersten Niveau ab. Dabei sind die primäre und sekundäre Beziehung des Aktes keine sich durchwohnenden, sondern zwei wirkliche, nur rationell trennbare Elemente des Aktes. Demzufolge hat Brentano, wenn er in seinem Text vom Bemerken eines Konkretums spricht, nicht das Verhältnis der zwei Beziehungen zueinander, sondern das des psychischen Aktes zu jeder von ihnen, zu ihren Elementen und darüber hinaus die Verhältnisse, die diesen Elementen eigen sind, im Visier.⁵⁹⁹ 5. Es ist nicht klar, wie der letzte Teil des Passus: „(Ähnlich wie die Lust oder Widerwille bei dem Auftreten einer gewissen sinnlichen Qualität gleichzeitig mit dieser, und ein Urteil mit der Vorstellung, die ihm zu Grunde liegt, wie ja auch die innere Wahrnehmung mit der Vorstellung und dem Objekt) [auftritt/bemerkt wird]“ zu deuten ist. Wenn man vom Verb „auftritt“, das die Herausgeber am Ende der Stelle hinzugefügt haben, ausgeht, dann man kann ihn problemlos verstehen, weil alle psychognostischen Elemente, auf die sich die drei Beispiele beziehen, zugleich im Bewusstsein auftreten. Darüber hinaus steht dies gut mit der an der angeführten Stelle unter Punkt (1) ausgeführten Möglichkeit der Entstehung des Bemerkens zugleich mit der zu bemerkenden Erscheinung in Einklang. Andererseits gehört die Stelle nicht zu den Ausführungen des Punktes (1), sondern zu (2), wo die Rede nicht vom simultanen Auftreten, sondern vom simultanen Bemerken ist – dieselbe Idee wird unmittelbar vor der jetzt angesprochenen Stelle ins Spiel gebracht: „Indes auch hier könnte einmal das eine und
Wie ich unten zeigen werde, ist es auch möglich, das Bemerken als distinktionellen Teil der inneren Wahrnehmung zu verstehen. Brentano spricht in seinen Texten oft über die „analysierende Beobachtung, Bemerken oder Beschreibung“ (DPs, S. 126, 129). Vgl. dazu Brentanos Ausführungen über die Psychognosie des Urteils (DPs, S. 20, 52).
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andere Bemerken gleichzeitig statthaben.“⁶⁰⁰ Wenn man deshalb die Hinzufügung „auftritt“ mit „bemerkt wird“ ersetzt, dann ist es durchaus möglich, die im Text genannten Teile simultan zu bemerken. Die Analyse, die weiter folgt, bestätigt die schon aufgestellte These, Brentanos Bemerken sei in erster Linie auf das explizite Erfassen eines in der inneren Wahrnehmung konfus wahrgenommen Teiles gerichtet.⁶⁰¹ Was das erste Bespiel betrifft, ist anzumerken, dass ich Lust oder Wiederwille nicht unmittelbar an der sinnlichen Qualität erlebe, sondern an der primären Beziehung auf das Objekt, z. B. an dem Schokoladengeschmack.⁶⁰² Beide, die primäre Beziehung des Schmeckens und die Lust an ihr, sind psychische, wirkliche, nur distinktionell abtrennbare Teile der psychischen Dienergie, die als solche im inneren Bewusstsein evident und explizit wahrgenommen werden. Die sinnliche Qualität, der erlebte Schokoladengeschmack, wird aber nicht evident wahrgenommen, denn sie ist nicht Objekt der sekundären, sondern der primären Beziehung des Aktes, nämlich des Schmeckens. Die Schokolade schmeckt zwar gut, aber angenehm ist nicht das Stück Schokolade, sondern sein Schmecken, die primäre Richtung auf die entsprechende sinnliche Qualität. Im Text behauptet Brentano, beide, d. h. sowohl der gefühlsmäßige, rein distinktionelle Teil als auch die sinnliche Qualität, können gleichzeitig bemerkt werden. Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied zwischen dem Bemerken eines wirklichen Teils der psychischen Dienergie und dem Bemerken der sinnlichen Qualität. Beide werden von vornherein in primärer und sekundärer Beziehung explizit erfasst, aber der gefühlsmäßige, rein distinktioneller Teil wird auch evident bemerkt, während die sinnlichen Inhalte nie evident wahrgenommen oder bemerkt werden können.⁶⁰³ Daraus ergibt sich, dass „explizit“ und „evident“ nicht dieselbe Bedeutung mit Bezug auf das Bemerken haben: Auch wenn das Bemerken des intentionalen Korrelats (in unserem Fall des Schokoladegeschmacks) explizit ist, ist es nicht evident, denn die Erkenntnis, die die sinnlichen Inhalte über ihre Gegenstände vermitteln, ist nie evident. Dagegen ist das Erfassen des Aktes im inneren Be DPs, S. 48; vgl. auch: „Die beschreibende Psychologie muß sonach die Zusammenhänge analysiert haben, um klar sagen zu können, was gegeben und wie es beschaffen ist. Und dies ist ein vielfaches Bemerken.“ (GÄ, S. 38) Hinsichtlich der sinnlichen Inhalte besagt dies, dass das Bemerken in erster Linie nicht auf das evidente, sondern auf das explizite Erfassen ihrer Teile gerichtet ist. PeS, S. 108, 163. Die Sache steht ähnlich mit dem dritten Beispiel, weil Brentano hier gleichfalls von einem simultanen Bemerken von Teilen (dem immanenten Objekt, der primären Beziehung des Aktes) spricht, die unterschiedlichen epistemischen Stellenwert haben. Brentanos Gebrauch des Wortes „Bemerken“ mit Bezug auf all diese Elemente weist noch einmal auf die Doppeldeutigkeit dieses Begriffs in seiner Psychognosie.
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wusstsein sowohl explizit als auch evident. In diesem Sinn lässt sich also von einem expliziten, aber nicht evidenten Bemerken sprechen, das den intentionalen Teil explizit erfasst. Die Teile des inneren Bewusstseins werden außerdem evident wahrgenommen. Was jedoch der sinnliche Inhalt mit diesen Teilen gemeinsam hat, besteht darin, dass er nicht weiter in kausaler Perspektive,⁶⁰⁴ sondern deskriptiv, d. h. als intentionales Korrelat des Aktes, berücksichtigt wird. In diesem Zusammenhang erhebt alles, was über ihn gesagt wird, den Anspruch, wissenschaftliche Erkenntnis zu sein, denn es wird in einem wissenschaftlichen Rahmen formuliert, der beansprucht, mit „scharfen und präzisen“ Erkenntnissen zu operieren.⁶⁰⁵ Die Tatsache, dass Brentano die sinnlichen Inhalte behandelt, als ob sie wirklich existieren würden, entspricht gut dieser Annahme.⁶⁰⁶ Der zweite Fall scheint einfacher zu sein, weil er sich auf das simultane Bemerken von zwei Akten, dem Urteil und der ihm zugrundeliegenden Vorstellung, bezieht. Allerdings ist auch diese These fragwürdig, denn die innere Wahrnehmung, die den Urteilsakt erfasst, erfasst dadurch nicht ebenfalls die intentionale Beziehung der Vorstellung, und zwar aus folgendem Grund: Wenn man davon ausgeht, dass das, was im inneren Bewusstsein hinsichtlich der primären Beziehung des Aktes erfasst wird, die Klasse bestimmt, der der Akt angehört, dann erfassen wir im inneren Bewusstsein nicht zwei intentionale Beziehungen – die des Urteiles und die der es fundierenden Vorstellung –, sondern nur ein einziges intentionales Verhältnis, das des Urteils.⁶⁰⁷ Brentanos Grundgesetz der Fundierung psychischer Phänomene⁶⁰⁸ heißt also nicht, dass sowohl die Beziehung des supraponierten als auch die des grundlegenden Aktes innerlich wahrgenommen wird, sondern dass etwas, um beurteilt werden zu können, im Bewusstsein gegeben (vorgestellt) sein muss.⁶⁰⁹ Mithin ist die evidente Wahrnehmung des Urteilsaktes keine evidente Wahrnehmung der primären Beziehung der Vorstellung. Das läuft weiter darauf hinaus, dass Brentanos Behauptung über das gleichzeitige
In der Psychologie werden sie sowohl in der kausalen Perspektive der Naturwissenschaft als auch psychologisch, d. h. als Inhalt der Empfindungen, betrachtet. DPs, S. 3 ff. DPs, S. 14. Aufgrund Brentanos Texte lässt sich nicht sagen, dass die primäre intentionale Beziehung der Vorstellung als rein distinktzioneller Teil in der primären intentionalen Beziehung der Urteile und der Gemütsbewegungen involviert wäre, denn die intentionalen Beziehungen der Letzteren lassen sich nicht aus der Beziehung auf ein Objekt der Ersteren ableiten. Husserl kritisierte im dritten Kapitel der fünften Logischen Untersuchung dieses Gesetz Brentanos gründlich. PeS, S. 185, 219, 223.
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Bemerken beider Akte tatsächlich eine Ableitung aus dem Fundierungsgesetz psychischer Erscheinungen darstellt. 6. Brentanos Erörterungen über die Präparative, die wegen der kurzen Dauer des Bemerkens nötig sind, um es zu vollziehen, zeigen, dass er mit diesem methodischen Moment wichtige Schritte in die Richtung der Verwurzelung der Methode der Naturwissenschaft in der psychognostischen Behandlung der sinnlichen Inhalte macht. Sein allgemeiner methodischer Monismus – die Methode der Philosophie (Psychologie und Metaphysik) ist keine andere als die der Naturwissenschaft – bekleidet hier die Form eines methodischen Partikularismus, der stark auf der These beruht, jede Wissenschaft solle im Rahmen des methodischen Monismus ihre eigene Methode herausarbeiten, und zwar je nach der Eigenart ihres Gegenstandes und der Schwierigkeiten, auf die sie stößt.⁶¹⁰ Die Unklarheit der inneren Wahrnehmung hinsichtlich der in ihr implizit und konfus wahrgenommenen Teile macht eine solche Schwierigkeit aus, und das Bemerken ist das methodische Mittel, sie zu überwinden. Die Verwirklichung dieses Zwecks, nämlich das explizite Erfassen der implizit wahrgenommenen Teile, ist die einzige Sache, die dabei von Bedeutung ist. Wie zahlreiche Stellen in seiner Vorlesung zeigen, scheut Brentano nicht davor zurück, die naturwissenschaftliche Methode des künstlich eingerichteten Experiments aufzugreifen, um gewisse Merkmale der sinnlichen Inhalte zu bemerken – er spricht von der Lichtinduktion im Fall des simultanen Kontrastes –, und sieht, wie ein Naturwissenschaftler, kein Problem darin, das Experiment zu wiederholen, bis der implizit wahrgenommene Teil bemerkt wird.⁶¹¹ Unter diesen Umständen wird auch die starke Opposition evidente, innere Wahrnehmung – nichtevidente, trügerische äußere Wahrnehmung insofern relativiert, als Brentano zulässt, dass auch über die sinnlichen Inhalte sichere Erkenntnisse zu erlangen sind, und zwar mittels des aufgrund der äußeren Wahrnehmung vollzogenen Bemerkens. Auf diese Weise wird die Betonung nicht weiter auf das Verhältnis der sinnlichen Inhalte zu ihren physischen Ursachen gelegt, wie dies an vielen Stellen der Psychologie der Fall ist, sondern auf ihre Behandlung als implizit wahrgenommene Teile des immanenten Objekts und, wie ich unten zeigen werde, des psychischen Ganzen. Um Husserl zu paraphrasieren,
Ich lasse mich hier nicht weiter auf die Einzelheiten dieses Problems ein, die ich in meinem Aufsatz „Monism and Particularism …“ ausführlich behandelt habe. DPs, S. 33, 35, 44, 50 ff., 126; vgl. auch Marty, „Von der Methode …“, S. 98 f. Unter diesen Umständen lässt sich Simons Behauptung (a. a. O., S. XVI), Brentano wäre nicht an psychologischen Experimenten interessiert, nicht bestätigen.
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erfolgt da eine „Änderung“ des erforschenden Blicks,⁶¹² aber nicht von der natürlichen zur phänomenologischen Einstellung, sondern von der Einstellung der Naturwissenschaft, der empirischen und genetischen Psychologie, zur psychognostischen Einstellung, die darauf gerichtet ist, die in der nichtevidenten äußeren und der evidenten inneren Wahrnehmung implizit wahrgenommenen Teile mittels des Bemerkens explizit zu machen. Die These, wonach die sinnlichen Inhalte nur phänomenalen und intentionalen Charakter haben, ist aufrechterhalten. Allerdings wird sie nicht weiter in die Diskussion gebracht, denn das, was in den Mittelpunkt rückt, ist die mereologische Perspektive des implizit – explizit wahrgenommenen Teils und des Ganzen. Auch wenn man es hier nicht mit evidenten Erkenntnissen der inneren Wahrnehmung zu tun hat, kommt man aufgrund des Einsetzens der naturwissenschaftlichen methodischen Mittel und des wiederholten Bemerkens zu Ergebnissen, die höchstwahrscheinlich und vom praktischen Gesichtspunkt ebenso sicher wie die Ergebnisse der inneren Wahrnehmung sind.⁶¹³ Alles, was hier von Bedeutung ist, besteht in der Überwindung der Unvollständigkeit der Psychognosie durch das Bemerken der implizit wahrgenommenen Teile. Ob sich das Bemerken nachträglich oder zugleich mit der inneren Wahrnehmung abspielt, ob es ohne oder mit methodischen Präparativen, anhand eines oder mehrerer Versuche erfolgt, ist nicht wichtig.Von Bedeutung ist nur das Ergebnis, denn nur es kann zur Vervollkommnung der Psychognosie beitragen. Zugleich verweist das noch einmal darauf, dass wir es in der deskrip-
E. Husserl, Phänomenologische Psychologie. Vorlesungen Sommersemester 1925, W. Biemel (Hrsg.), Hua IX, Den Haag, Martinus Nijhoff, 1962, S. 237. Mit Bezug auf die Bedingungen des Bemerkens behauptet Brentano: „Hier haben wir aber eine psychogenetische Frage vor uns und eine exakte und erschöpfende Beantwortung ist für uns unmöglich. Immerhin werden wir uns schon beträchtlich gefordert sehen, wenn wir auch nur in inexakter Weise einige darauf bezügliche Bestimmungen geben, welche im Durchschnitt der Fälle sich wahr erweisen. Ja so unbefriedigend sie für unser theoretisches Interesse sind und so wenig sie praktisch für den Einzelfall eine untrüglich sichere Folge gestatten, so dürfen wir doch behaupten, daß sie bezüglich unserer praktischen Zwecke im Verlauf längerer Dauer und öfterer Wiederholung der Versuche uns im wesentlichen den Mangel exakterer Kenntnis ersetzen.“ (DPs, S. 33; vgl. auch Mills Ausführungen, die derselben Argumentationslinie folgen (SLRI II, S. 847/ 453 f.)) Allerdings beeinträchtigt die psychogenetische Natur der Bedingungen des Bemerkens nicht den sicheren Charakter des psychognostischen Wissens. Im Unterschied zu den Ergebnissen der genetischen Psychologie, die nur durchschnittlich gültig sind und viele Ausnahme zulassen, sind die der Psychognosie sicher, denn sie gelten für alle Fälle: Jeder sinnlichen Qualität kommt eine gewisse örtliche Bestimmtheit zu und jedes Violett ist eine Mischung von Rot und Blau (DPs, S. 4, 72 f.). Es kommt hinzu, dass man genau unterscheiden muss zwischen den Kontexten, in denen Brentano solche wichtigen Thesen der Psychognosie aufstellt, und dem didaktischen Kontext seiner Ausführungen über das Bemerken, in dem er seine Studenten für die Handhabung der psychognostischen Methode vorbereiten will.
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tiven Psychologie mit drei Arten von Erkenntnissen zu tun haben: (i) die höchstwahrscheinlich sichere Erkenntnis über die sinnlichen Inhalte, die das Ergebnis des Bemerkens und der Anwendung der Induktion im engeren Sinn ist, (ii) die evidente assertorische Erkenntnis der inneren Wahrnehmung und (iii) die Axiome, die das Ergebnis der Induktion im breiteren Sinn ausmachen.⁶¹⁴ Demzufolge kann man von einem doppelten Sinn des Bemerkens sprechen: zum einen im Zusammenhang mit dem immanenten Objekt, etwa dem sinnlichen Inhalt, zum anderen in unmittelbarer Verbindung mit der inneren Wahrnehmung. Wie ich gleich zeigen werde, lässt sich dieses letzte Bemerken als rein distinktioneller Teil der evidenten inneren Wahrnehmung verstehen. In beiden Fällen wird ein Teil explizit wahrgenommen und das Bemerken ist nicht irrig. Allerdings führt dies im ersten Fall zur Sicherheit, im zweiten Fall dagegen zur Evidenz.
II.3.3.5.3 Das Bemerken als rein distinktioneller Teil der inneren Wahrnehmung Die vorherige Beweisführung stützt sich auf Brentanos Analyse des Bemerkens im Zusammenhang mit dem expliziten Erfassen einzelner Teile des primären Objekts. Die folgende Stelle erschließt die Möglichkeit, das Augenmerk weiter auf das explizite Wahrnehmen besonderer Teile zu legen und außerdem das Bemerken mit der inneren Wahrnehmung zu verbinden und als einen ihrer distinktionellen Teile zu erklären. In diesem Sinne behauptet Brentano: Wenn wir von einem Ganzen, das wir vorstellen, einen besonderen Teil nicht bloß implizite, sondern explizite vorstellen, so werden wir wohl dieses explizite Vorstellen immer auch bemerken.⁶¹⁵
Vgl. dazu die Erörterungen in II.3.3.4 und II.3.4. DPs, S. 58. Vgl. auch: „Wie wir gesehen haben, ließen sich Fälle anführen […] wo ein deutliches Wahrnehmen mit Unterscheidung, d. h. mit klarem Bemerken einzelner Bestandteile gegeben ist.“ (GÄ, S. 74) Vgl. ebenso: „3. Manchmal wird nicht bloß das Ganze, sondern in einer besonderen Apperzeption auch ein Teil apperzipiert. Das eine wie andere Objekt wird dann erfaßt, aber nicht das eine als Teil des andern erfaßt. 4. Aber auch das geschieht manchmal. Dann sagen wir, das Ganze werde nicht bloß dem Ganzen nach, sondern auch noch, insofern es einen Teil enthalte, apperzipiert oder es werde diesem Teil nach deutlich apperzipiert.“ (DPs, S. 162) Ich interpretiere die Apperzeption des Ganzen als Erfassen in innerer Wahrnehmung und die Apperzeption des Teils als das, was ich weiter für das Bemerken halte. Wenn Brentano von „Vorstellen“, „Wahrnehmen“, „Urteilen“ usw. spricht, hat er den Akt und nicht sein intentionales Korrelat im Visier. Hingegen ist „Vorstellung“ zweideutig, denn sie kann sowohl den Akt, als auch sein immanentes Objekt, das Vorgestellte, bezeichnen (PeS, S. 96 f., 219 f.).
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Wenn jetzt das Beispiel wieder aufgegriffen wird, in dem ich aufgrund der Anweisungen des Psychognosieprofessors den Stich ins Rote explizit bemerken lerne, dann gelange ich anhand seiner Hinweise zu einem Ergebnis, zu dem ein erfahrener Psychognost schon von Anfang an gekommen war, und zwar, sich von vornherein sowohl das Ganze als auch einen besonderen Teil vorzustellen. Dementsprechend erfasst er sich selbst in der inneren Wahrnehmung als einer, der sich den Teil explizit vorstellt: Er nimmt sich selbst nicht nur als jemanden wahr, der den ganzen blauen Fleck anschaut, sondern auch als jemanden, der sich die Rötlichkeit dieses Flecks vorstellt. Darüber hinaus kann er seine Aufmerksamkeit ausschließlich auf diesen Teil richten, um ihn als primäres Objekt der Urteile oder Gemütsbewegungen zu berücksichtigen: „Die Rötlichkeit des blauen Flecks gefällt mir“ oder in der Sprache der inneren Wahrnehmung ausgedrückt: „Ich bin ein einen rötlich blauen Fleck Wahrnehmender, der dabei Lust empfindet“.⁶¹⁶ Ich habe oben darauf verwiesen, dass die sinnlichen Vorstellungen in der deskriptiven Psychologie die Grundlage aller anderen psychischen Erscheinungen ausmachen. Aus diesem Grund setzt sich Brentano intensiv mit ihren sinnlichen Inhalten und mit den Schwierigkeiten auseinander, auf die die psychognostische Behandlung stößt, wenn man versucht, ihre implizit wahrgenommenen Teile mittels der „analysierenden Beschreibung“ des Psychognosten explizit zu machen.⁶¹⁷ Als Folge davon wird das Thema „Bemerken“ stark mit der Analyse des sinnlichen Objekts verbunden. Dies wirft weiter die Frage auf, wie man über ein evidentes, dem Irrtum verschlossenes Bemerken derartiger Teile sprechen kann, wenn eine Grundthese von Brentanos Psychologie ausgerechnet in dem phänomenalen und hinsichtlich ihrer physischen Ursache trügerischen Charakter der sinnlichen Inhalte besteht. Meine Antwort darauf war, dies sei nur dann möglich, wenn der sinnliche Inhalt nicht weiter innerhalb dieses Verhältnisses, sondern rein deskriptiv als intentionaler Teil des psychischen Aktes thematisiert wird. Brentanos lapidare Äußerung über die explizite Vorstellung eines Teils im primären Objekt und über das Bemerken dieses expliziten Vorstellens im inneren Bewusstsein erschließt die Möglichkeit, seine Lehre vom Bemerken im Zusammenhang mit der inneren Wahrnehmung weiter zu vertiefen. Unter diesen Umständen ist das Bemerken das explizite, evidente, gegen Irrtum resistente innere Wahrnehmen des expliziten Vorstellens des Teils des Ganzen (der Rötlichkeit des blauen Flecks). Brentano erklärt in der Vorlesung nicht weiter, in welchem Verhältnis dieses innere Bemerken mit dem Apperzipieren oder Wahrnehmung
Vgl. Anm. 10, S. 455. DPs, S. 129; vgl. auch 126.
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des ganzen Aktes steht. Wenn man allerdings seine Erörterungen darüber im Text „PERZIPIEREN, APPERZIPIEREN, deutlich Apperzipieren, kopulativ Apperzipieren, transzendent Apperzipieren“ berücksichtigt, dann kann das Bemerken, wenn das explizite Vorstellen des Teils des Ganzen (des Stichs ins Rote) als Teil der primären Beziehung des Aktes auffasst, als derjenige Teil der sekundären perzeptiven Beziehung des Aktes zu sich selbst verstehen, der diesem Teil der primären Beziehung in der sekundären Beziehung entspricht und ihn evident erfasst. In anderen Worten ist das Bemerken ausgerechnet derjenige Teil der inneren Wahrnehmung, der innerhalb des inneren Bewusstseins dem primären Vorstellen des Stichs ins Rote korrespondiert und es evident erfasst. Dies hat unter anderen den Vorteil, mit Brentanos wiederholter Charakterisierung des Bemerkens als evidentes Wahrnehmen des Teils in Einklang zu stehen.⁶¹⁸ Wenn in dem primären Vorstellen nicht nur eine, sondern mehrere Eigenheiten des primären Objekts explizit vorgestellt werden, dann ist zu vermuten, dass man in der inneren Wahrnehmung des ganzen Aktes mehrere Bemerken rein distinktionell unterscheiden kann, die dem expliziten Vorstellen der Teile des primären Objekts in der äußeren Wahrnehmung entsprechen. Anhand von Brentanos Text lässt sich in diesem Fall insofern von einer Verdeutlichung des Ganzen sprechen, als Teile, die vorher implizit wahrgenommen wurden, jetzt explizit erfasst werden. Dieser Prozess kann weiter fortgesetzt werden, bis kein Teil mehr bleibt, der andere Teile enthält, d. h. bis es in der inneren Wahrnehmung des Aktes keine weiteren implizit wahrgenommenen Teile gibt. In diesem Fall haben wir es mit einem vollständig verdeutlichten psychischen Ganzen zu tun: 5. So kann es [das Ganze; Hinzufügung I. T.] denn auch noch vielen andern Teilen nach, ja nach einer Vielheit von Teilen, die zusammen dem Ganzen gleich ist, apperzipiert sein. Es ist dann durchwegs etwas verdeutlicht apperzipiert. Doch bleibt es noch immer mangelhaft deutlich apperzipiert, wenn apperzipierte Teile Teile enthalten, welche bloß perzipiert oder zwar apperzipiert, aber nicht als Teile der Teile apperzipiert sind.⁶¹⁹
DPs, S. 31, 33, 65. Die genannte Übereinstimmung steht mit der Übereinstimmung zwischen den Teilen der primären Beziehung des Aktes und den Teilen des primären Objekts gut in Einklang: „Den Teilen der intentionalen Objekte entsprechen nämlich Teile der darauf bezüglichen psychischen Akte. Wenn sich also z. B. beim Sehen im Objekt örtliche Bestimmtheit und Farbe durchwohnen, so sind dem entsprechend in ihm das Ortsehen und Farbsehen als sich durchwohnende Teile zu unterscheiden.“ (DPs, S. 99) DPs, S. 162. „6. Ähnlich durch Apperzeption besonderer Teile eines Kontinuums als Teile desselben das Kontinuum verdeutlicht werden kann, kann auch durch Apperzeption besonderer logischer Teile eines logischen Ganzen als Teile desselben dieses verdeutlicht werden.“ (DPs, S. 162)
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Wie angedeutet, ist Brentanos Position angesichts des Bemerkens nicht eindeutig, weil seine Erörterung darüber sich sowohl auf das Bemerken des sinnlichen Inhalts als auch der Eigenheiten psychischer Akte, die innerlich wahrgenommen werden, etwa der Evidenz gewisser Urteile oder der Eigenheit gewisser Gemütsbewegungen, „richtig und als richtig charakterisiert“ zu sein, bezieht.⁶²⁰ Ich bin trotzdem der Meinung, dass eine derartige Betrachtungsweise nicht die Interpretation des Bemerkens als denjenigen Teil der inneren Wahrnehmung ausschließt, der evident und explizit den Teil der primären Beziehung des Aktes erfasst, der explizit ein Element des primären Objekts als Ganzes vorstellt. Wenn dies als Ergebnis eines didaktischen Prozesses betrachtet wird, stoßen wir nicht weiter auf die Schwierigkeit, dass ein und derselbe Teil zugleich sowohl implizit und konfus in der inneren Wahrnehmung als auch explizit und evident im Bemerken erfasst wird, denn der Teil wird schon von Anfang an implizit und konfus im inneren Bewusstsein wahrgenommen – ich nehme mich als jemanden wahr, der einen blauen Fleck anschaut. Seine Rötlichkeit bemerke ich jedoch nicht. Da es in diesem Fall kein äußeres Bemerken des Stichs ins Rote gibt, gibt es auch kein inneres, ihm entsprechenden und es evident erfassendes Bemerken, das als ein rein distinktioneller Teil der inneren Wahrnehmung zu betrachten wäre. Allerdings gehört, nachdem ich gelernt habe, die genannte Eigenheit zu bemerken, diese nicht weiter zu den Teilen, über die Brentano sagt, sie würden implizit und konfus wahrgenommen, denn es ist aufgrund seiner Äußerungen zu vermuten, dass sich ein Teil der inneren Wahrnehmung distinguieren lässt, der sich ausgerechnet auf das explizite Vorstellen des Stichs ins Rote in der primären Beziehung des Aktes bezieht.⁶²¹ Dabei ist beachtenswert, dass nicht der Stich ins Rote, sondern sein Vorstellen explizit und evident in der inneren Wahrnehmung erfasst wird – der Stich ins Rote dagegen wird nur explizit bemerkt. Auf diese Weise wird auch die oben erwähnte Schwierigkeit gelöst, und zwar die des Bemerkens als eines zweiten Aktes abseits von dem primären Akt, eine These, die schon in der Psychologie zurückgewiesen wurde. Als rein distinktioneller Teil der inneren Wahrnehmung ist das Bemerken kein zweiter Akt, denn er gehört schon zum inneren Bewusstsein. Die innere Wahrnehmung weist aber keinen solchen Teil auf, bis der in der primären Beziehung des Aktes ihm entsprechende Teil nicht vorgestellt ist: Ich bin nämlich kein Bemerkender des Vorstellens des Stichs ins Rote, bis ich nicht gelernt habe, diese Eigenschaft des blauen Flecks zu sehen. DPs, S. 52. Brentanos Behauptung „Wir haben, sagten wir früher, bei den psychischen Phänomenen keine räumlichen Größen. Aber doch eine analoge Zusammensetzung von stetig zusammenhängenden Teilen. Dem gesehenen Raum z. B. entspricht Stück für Stück ein Teil des Sehens“ (DPs, S. 62) steht gut damit im Einklang.
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Auch wenn Brentano von solchen Teilen in seiner allgemeinen Darstellung der distinktionellen Teile im eigentlichen Sinn nicht spricht, zeigen seine Ausführungen über das Bemerken, dass es durchaus möglich ist, weitere distinktionelle Teile sowohl der sekundären Beziehung der inneren Wahrnehmung als auch der primären Beziehung zu unterscheiden, und zwar je nach dem Teil des primären Objekts, der mit dem Objekt als Ganzem explizit vorgestellt wird. Was die Frage betrifft, ob das Bemerken intuitiven Charakter hat oder nicht, bin ich der Meinung, dass das Bemerken nicht nur intuitiv erfolgt, weil es Momente aufweist, in denen die Denkoperationen „Vergleich“, „Assoziation“ und „Klassifizieren“ einbezogen werden.⁶²² Den Äußerungen Brentanos über die Äquivalenz des Distinguierens mit dem Bemerken kann entnommen werden, das Bemerken bestehe in einem expliziten Erfassen und Herausheben der Teile, die implizit wahrgenommen werden.⁶²³ Das kann nicht erfolgen, wenn die Eigenheiten der betreffenden Teile nicht gegenüber anderen Teilen durch Vergleich, Assoziation und Klassifizieren hervorgehoben werden: Ich kann nicht das Merkmal „Stich ins Rote“ des Blaus bemerken, ohne es mit anderen Nuancen dieser Farbe zu vergleichen und in der entsprechenden Klasse einzuordnen. An diesem Punkt wird die theoretische Ladung von Brentanos psychognostischer Lehre vom Bemerken wieder klar, denn um einen Teil bemerken zu können, muss man sich schon vorher sowohl das Register der Teile als auch die mit ihm verbundene Theorie angeeignet haben. Damit zeigt sich weiter, dass das Bemerken ein Instrument ist, mittels dessen Brentanos „analysierende Beschreibung“ des Bewusstseins verwirklicht wird. Wenn er deswegen an unterschiedlichen Stellen seiner Schriften in wichtigen Momenten der Analyse das Wort „bemerken“ nutzt, ist das kein Zufall.⁶²⁴ Im Gegenteil weist es darauf hin, dass es um das Resultat eines methodischen Werkzeuges geht, das Brentano dabei hilft, die Psychologie auf seine eigene Weise als Psychognosie aufzubauen, und zwar im Einklang mit der Eigenart ihres Objekts und den Schwierigkeiten, auf die ihre Behandlung stößt.
Der Vergleich und die Assoziation sind die wichtigsten Mittel, um das Bemerken durchzuführen (vgl. gleich unten und DPs, S. 49 – 60). Brentano legt in seiner Erörterung über das Bemerken keinen besonderen Akzent auf das Klassifizieren. Ich führe es jedoch aufgrund seiner Ausführungen über Vergleich, Deutung und Beschreibung im unveröffentlichten Manuskript des dritten Buches seiner Psychologie in die Diskussion ein, und weil es mit dem Bemerken sachlich verbunden ist. Da das Klassifizieren mittels eines Namens erfolgt, steht es in Verbindung mit dem dritten methodischen Moment von Brentanos Psychognosie, dem „Fixieren“ (DPs, S. 35, 65 f., 69). DPs, S. 19. USE, S. 23.
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Abschließend sei noch ein Wort über die Bedingungen des Bemerkens verloren. Brentano teilt sie in entferntere und nähere Bedingungen.⁶²⁵ Die näheren Bedingungen sind zum expliziten Bemerken eines konfus erfassten Teils besonders wichtig, weil sie sich auf die Operationen berufen, anhand derer das Bemerken wirklich statthat: den Vergleich und die Assoziation. Unter ihnen ist der Vergleich bei weiten die wichtigste. Seine Wichtigkeit rührt daher, dass er die einfachste Weise ist, einen implizit wahrgenommenen Teil zu bemerken, indem er in Beziehung zu anderen Teilen gesetzt wird, die in gewissen Hinsichten mit ihm übereinstimmen, in anderen dagegen verschieden sind.⁶²⁶ Unter diesen Umständen macht ihre Gemeinsamkeit den Hintergrund aus, vor dem die Eigenheiten der zu bemerkenden Teile hervorgehoben werden können. Um das genannte Beispiel wieder aufzugreifen, empfiehlt Brentano, wenn es darum geht, jemanden zu lehren, einen von ihm übersehenen Teil (den Stich ins Rote) zu bemerken, ihm vorerst ein reines Blau darzustellen und es daraufhin mit einem rötlichen Blau zu vertauschen. Auf diese Weise wird er dazu veranlasst, die zwei Eindrücke zu vergleichen und zu erfassen, dass im zweiten Fall das Blau eine Eigenheit aufweist, den Stich ins Rote, die im ersten Fall nicht vorhanden war. Das Bemerken verläuft also hier als ein Verfahren, das im Vergleich zwischen den intentionalen Teilen von zwei Wahrnehmungsakten und im Erfassen und der Festlegung ihrer Differenzen und Gemeinsamkeiten besteht. Auch wenn das nicht dem Bemerken zugerechnet wird, betont Brentano, dass ein bemerkter Unterschied erst dann relevant wird, wenn er sprachlich fixiert wird.⁶²⁷ Brentano stellt mehrere Wege dar, auf denen der unbemerkte Stich ins Rote explizit bemerkbar wird, für meinen Zweck reicht es aus, hervorzuheben, dass es hier nicht auf einen Akt der inneren Beobachtung, der sich zugleich mit dem Sehakt vollzieht, sondern auf ein Verfahren ankommt, das dem Experiment in der Naturwissenschaft (etwa in der Physiologie der Sinnesorgane) gleicht.⁶²⁸
Zu den entfernten Bedingungen gehören die physische und psychische „Normalität“ der Personen, die das Bemerken ausüben sollten, die Tatsache, dass sie die natürliche Disposition zur wissenschaftlichen Arbeit haben und soweit wie möglich von tief eingewurzelten Vorteilen frei sind, die sie daran hindern könnten, das zu bemerkende Phänomen zu erfassen (DPs, S. 37– 49). Vgl. dazu den Abschnitt „Ein fiktives Beispiel“ (DPs, S. 14 ff.). DPs, S. 65 f. Wie gesagt geht das mit dem Klassifizieren der bemerkten Eigenheit einher. Vgl. seine Erörterungen über die Lichtinduktion (DPs, S. 50). Wie oben angedeutet, wenn Brentano ein Bemerken zulassen würde, das als getrennter Akt zugleich mit dem zu bemerkenden Akt entstehen würde, dann würde er in seiner Psychognosie die Position verlassen, die er in der Psychologie zusammen mit Comte so entschieden verteidigte, nämlich die Unmöglichkeit von zwei sich simultan abspielenden Akten. In eins damit würde er der These von Cardaillac, Hamilton und Mill entgegenkommen, die Beobachtung sei schwierig, aber trotzdem möglich.
II.3.3 Brentanos Psychognosie oder deskriptive Psychologie
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Was die Assoziation betrifft, nutzt Brentano die Gewohnheit, die aufgrund der Gesetze der Assoziation vorliegt, um das Bemerken zu erleichtern: Wenn etwa jemand daran gewöhnt ist, zugleich mit der Wahrnehmung unterschiedlicher Farbnuancen auch ihre Namen auszusprechen, und vor einer Tafel steht, auf die mehrere Farbnuancen projiziert werden, dann wird er beim Hören der Redewendung „Stich ins Rote“ seine Aufmerksamkeit auf diejenige Farbnuance lenken, die bei ihm einen solchen Eindruck erweckt.⁶²⁹ Abschließend möchte ich noch einmal auf zwei der wichtigsten These dieser Arbeit hinweisen: Zunächst zeigt das Ausgeführte deutlich, warum Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt keine deskriptive Psychologie ist – sie kennt noch nicht das Bemerken, und das Herausfassen der implizit wahrgenommenen Teile stellt für sie noch kein zentrales Thema dar. Dagegen will Brentano in der Psychologie die Ergebnisse der inneren Wahrnehmung dazu nutzen, die Gesetze der Sukzession mentaler Zustände und die letzten psychischen Gesetze zu finden. Wie man dieses Ziel mit dem Herausfinden der implizit wahrgenommen Teile für gleichbedeutend halten kann, ist für mich nicht einfach zu verstehen. Darüber hinaus weist dies darauf hin, dass Brentanos methodologische Überlegungen in seinen Schriften nicht nebensächlichen Charakter haben, denn sie beweisen, wie tief die Psychologie vom empirischen Standpunkt in der Schuld der positiven Philosophie von Auguste Comte und John St. Mill steht, und welch innige Beziehungen es zwischen den Schriften der drei Denker gibt. Damit einhergehend lassen sie es zu, die geschichtliche Stellung von Brentanos Psychologie besser zu beurteilen. Im Unterschied zu Husserls Wissenschaft des Bewusstseins, die auf das Studium des Wesens der intentionalen Erlebnisse ausgegangen ist, ist Brentanos deskriptive Wissenschaft des Bewusstseins auf die Klärung und Beschreibung der Teile angelegt, die im inneren Bewusstsein implizit wahrgenommen werden. „Das Unterscheiden eines rein distinktionellen Teils macht das Wesen besonderer abtrennbarer Teile aus“ ist das Motto seines Strebens.
DPs, S. 59.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
II.3.4 „Physisches Phänomen“ und „reeller Inhalt“– zu Husserls Rezeption von Brentanos empirischer Psychologie in den Logischen Untersuchungen Brentanos deskriptive Psychologie hat Husserl von Anfang an interessiert: Er studierte bei Brentano in einer Zeit,⁶³⁰ in der Brentano seine deskriptive Psychologie ausarbeitete, er besuchte 1885 – 86 Brentanos Vorlesung Ausgewählte Fragen aus Psychologie und Ästhetik, wo der Unterschied zwischen erklärender und deskriptiver Psychologie klar ausgeführt wird, er sammelte ständig Manuskripte von Brentanos Vorlesungen, unter ihnen auch ein Manuskript über deskriptive Psychologie, und in seiner Philosophie der Arithmetik liefert er eine „Psychologie der Begriffe Vielheit, Einheit und Anzahl“.⁶³¹ Unter diesen Umständen ist es kein Wunder, dass er Brentanos Analysen aus dem zweiten Buch der Arbeit von 1874, wo die ersten zwei Ziele der Psychologie hinsichtlich der Merkmale und der Grundklassen psychischer Erscheinungen verwirklicht werden, von vornherein als deskriptive Untersuchungen rezipierte und den Untersuchungen keine Aufmerksamkeit schenkte, die die Zugehörigkeit dieser Schrift zur positiven Philosophie beweisen konnten. Diese Bemerkung ist deshalb wichtig, weil Husserls Rezeption von Brentanos Werk von seinen Interpreten übernommen und bis in unsere Tage hinein übermittelt wurde, so etwa, wenn man es für selbstverständlich hält, dass Brentanos Erörterungen im zweiten Buch der Psychologie als deskriptive Untersuchungen zu interpretieren seien.⁶³² Dabei
Husserl studierte an der Universität Wien ausgerechnet in der Zeit (1884– 1886), in der Brentano begann, über deskriptive Psychologie vorzutragen. Im Unterschied zu Anton Marty, der auch die Unterscheidung deskriptive – genetische Psychologie von Brentano übernahm, der aber ab 1888/89 an der Universität Prag wiederholt über die beiden Disziplinen vortrug (vgl. Antonelli, „Die deskriptive Psychologie von Anton Marty …“, S. XXII f.), unterrichtete Brentano nie über genetische Psychologie. Husserls Interesse an deskriptiver Psychologie stimmt also mit der Richtung von Brentanos Forschungen überein. E. Husserl, „Philosophie der Arithmetik. Logische und psychologische Untersuchungen“ (1891), in Philosophie der Arithmetik. Mit ergänzenden Texten (1890 – 1901), L. Eley (Hrsg.), Hua XII, Den Haag, M. Nijhoff, 1970, S. 6; vgl. auch S. 287, und Über den Begriff der Zahl. Psychologische Analysen (1887), Hua XII, S. 295; K. Schuhmann, Husserl-Chronik (Denk- und Lebensweg Edmund Husserls), Husserliana, Dokumente I, Den Haag, Nijhoff, 1977, S. 13 – 17; D. Moran, „Husserl’s Critique of Brentano in the Logical Investigations“, Manuscrito 23/2 (2000), S. 167, und Abschnitt III.8 unten. Vgl. z. B. D. Münch, „The Relation of Husserl’s Logical Investigations to Descriptive Psychology and Cognitive Science“, in D. Zahavi, F. Stjernfelt (Hrsg.), One Hundred Years of Phenomenology: Husserl’s Logical Investigations Revisited, Dordrecht, Kluwer, 2002, S. 207; Moran, a. a. O., S. 197 f.; vgl. auch Morands Aufsatz: „Brentano’s Concept of Descriptive Psychology“, der
II.3.4 „Physisches Phänomen“ und „reeller Inhalt“– zu Husserls Rezeption
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wird völlig außer Acht gelassen, dass es, um eine psychologische Untersuchung in Brentanos Sinn für deskriptiv zu halten, nicht ausreicht, sie auf die innere Wahrnehmung zu stützen. Darüber hinaus kommt entscheidend hinzu, dass sie in einem mereologischen Rahmen unter der Einbeziehung des methodischen Moments des Bemerkens durchgeführt wird. ⁶³³ Auch wenn diese beide Aspekte als Weiterentwicklungen von Brentanos Erklärungen aus der Psychologie angesehen werden können, muss klar gesagt werden, dass man es in der Arbeit von 1874 mit keiner deskriptiven Mereologie, sondern mit einer Aufzählung der unterscheidenden Wesenszüge der zwei Klassen von Phänomenen zu tun hat, die noch nicht als Teile und Elemente betrachtet werden. Darüber hinaus gibt es in der genannten Schrift kein methodisches Moment des Bemerkens, sondern Brentano spricht nur vom Studium psychischer Erscheinungen aufgrund der inneren Wahrnehmung und ihrer Erinnerung im frischen Gedächtnis. Dagegen versteht Husserl unter „Deskription“ eine Betrachtung der intentionalen Erlebnisse, die auf das Erfassen und auf die Klärung ihrer reellen (immanenten) und intentionalen Inhalte gerichtet ist. Das weicht deutlich von Brentanos Begriff von Beschreibung ab, der auf die Klärung der implizit wahrgenommenen Teile abzielt.⁶³⁴ Der Unterschied, der sich
die Ergebnisse seiner vorher angeführten Arbeit wiederaufnimmt und sie durch die Analyse von Brentanos Schrift von 1874, die von vornherein als deskriptive Psychologie verstanden wird, erweitert (D. W. Smith stimmt auch der Behauptung, Brentanos empirische Psychologie wäre schon eine deskriptive Disziplin, zu; vgl. D. W. Smith, „Descriptive Psychology and Phenomenology: From Brentano to Husserl to the Logic of Consciousness“, in D. Fisette, G. Fréchette, F. Stadler (Hrsg.), Franz Brentano and Austrian Philosophy, S. 51). In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass Morands Arbeiten wertvolle Bemerkungen über die Richtung enthalten, in der Husserl Brentanos Intentionalitätsbegriff entwickelt, und über die Veränderungen, die dabei involviert sind. Andererseits sind seine Ausführungen über Brentanos Psychologie in der 2020 veröffentlichten Abhandlung stark revisionsbedürftig, weil er (i) keinen Unterschied zwischen den beiden Psychologien macht, sondern sie als eine Einheit betrachtet (Morand, a. a. O., S. 73, 77 ff.), (ii) den Unterschieden in der Klassifikation der psychischen Erscheinungen und in den methodischen Momenten beider Psychologien keine Aufmerksamkeit schenkt (ebd., S. 91– 95) und (iii) Kraus Anmerkung über die Differenz zwischen der deskriptiven und genetischen Psychologie zu § 1, Kap. I des ersten Buches als Teil Brentanos Arbeit von 1874 betrachtet und aus diesem Grund zu Behauptungen über die Rolle der apriorischen Gesetze in Brentanos Psychologie kommt, die nicht stichhaltig sind (O. Kraus, „Anmerkungen“, in F. Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt (1874), Nachdruck Bd. 1., O. Kraus (Hrsg.), Hamburg, Meiner, 21973, S. 255 – 278/„Notes“, in F. Brentano, Psychology from an Empirical Standpoint, O. Kraus, L. McAlister (Hrsg.), mit einem neuen Vorwort von P. Simons, A. C. Rancurello, D. B. Terell, L. McAlister (Übers.), London, Routledge,1995, S. 29; Morand, a. a. O., S. 87 f., 96). DPs, S. 1– 65. Hua XIX/1, S. 21 (A, S. 16). Hua XIX/2, S. 765 f. (Alle bibliographischen Hinweise sind solche auf Husserliana XIX/1 und XIX/2. Wo ich es notwendig fand, mich auf die Unterschiede zwischen der zweiten und der ersten Auflage dieser Schrift zu beziehen, benutzte ich die gewöhnlichen
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
da zwischen ihm und Husserl hinsichtlich der deskriptiven Analyse abzeichnet, wird gewöhnlich übersehen, was ja auch kein Wunder ist, solange nicht unterschieden wird zwischen (i) der empirischen Analyse der Schrift von 1874, die auf der inneren Wahrnehmung beruht und deren Ergebnisse zur Durchsetzung der Ziele einer Disziplin dienen, die als positive Wissenschaft verstanden wird, (ii) der deskriptiven Analyse in Brentanos Wiener Zeit, die auf der inneren Wahrnehmung und dem Bemerken basiert, im Rahmen der mereologischen Distinktionen durchgeführt wird und sich als Aufgabe die Verdeutlichung der implizite wahrgenommenen Teile stellt, und (iii) der deskriptiven Analyse Husserls in den Logischen Untersuchungen, die auf die Klärung der immanenten und intentionalen Gegebenheiten intentionaler Erlebnisse und auf das Erfassen ihrer Arten gerichtet ist. Vor diesem Hintergrund sollten die folgenden Unterschiede in Husserls und Brentanos Auffassung von der Psychologie beachtet werden: 1. In der ersten Auflage der Logischen Untersuchungen operiert Husserl mit einer Begriffsbestimmung der Psychologie, die Brentanos Unterscheidung zwischen deskriptiver und genetischer Psychologie schon integriert hat: Die Psychologie hat – deskriptiv – die Icherlebnisse (oder Bewußtseinsinhalte) nach ihren wesentlichen Arten⁶³⁵ und Komplexionsformen zu studieren, um dann – genetisch – ihr Entstehen und Vergehen, die kausalen Formen und Gesetze ihrer Bildung oder Umbildung aufzusuchen.⁶³⁶
Diese Definition von psychischer Wissenschaft ist von Brentanos Auffassung der empirischen Psychologie deutlich verschieden, weil Letztere sich zum Ziel setzt, die Gesetze der Sukzession und Koexistenz der psychischen Phänomene zu stu-
Siglen A oder B. Wo die Unterschiede zwischen beiden Auflagen nicht von Bedeutung sind, ließ ich die Sigle beiseite. Die erste Auflage steht Brentanos deskriptiver Psychologie näher als die zweite, die von Husserl unter transzendentalem Gesichtspunkt revidiert wurde.) Bei Brentano gibt es einerseits nur drei Arten von psychischen Phänomenen: Vorstellungen, Urteile und Gemütsbewegungen. Dagegen behauptet Husserl, dass es viel mehr „Arten und Unterarten der Intention“ gebe, als Brentano angenommen habe (Hua XIX/I, S. 381). Andererseits beschäftigt sich die deskriptive Psychologie Brentanos mit den Elementen des Bewusstseins und ihren Verbindungsweisen. Dabei werden die psychischen Phänomene als Bewusstseinszustände aufgefasst und nicht einem Ich zugeschrieben (DPs, S. 12– 27). Hua XIX/1, S. 370 (A, S. 336). Diese Stelle gehört zum § 7 „Wechselseitige Abgrenzung der Psychologie und Naturwissenschaft“ der 5. Logischen Untersuchung und wurde von Husserl in der zweiten Auflage seiner Schrift ausgelassen. Die hier gemeinte Psychologie wird an einer anderen Stelle „empirische Wissenschaft“ genannt (Hua XIX/1, S. 7). Husserls Begriff der empirischen Psychologie trennt die deskriptiven und genetischen Seiten der psychologischen Forschung und stellt sie zugleich klar zusammen, was bei Brentano in der Arbeit von 1874 noch nicht der Fall ist.
II.3.4 „Physisches Phänomen“ und „reeller Inhalt“– zu Husserls Rezeption
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dieren, ohne in ihrer Ergründung weder im Brentanos noch in Husserls Sinne deskriptiv zu verfahren. 2. Husserls Rekonstruktion von Brentanos Lehre vom physischen Phänomen in § 2 seiner Beilage zu den Logischen Untersuchungen erfolgt in streng deskriptiver Weise, weil er darin die physischen Phänomene ständig „rein deskriptiv […] unter Absehen von aller Transzendenz“ betrachtet und sie für Sinnesqualitäten hält, „die für sich schon eine geschlossene Einheit bilden, möchte es so etwas wie Sinne und Sinnesorgane geben oder nicht“.⁶³⁷ Allerdings verkennt Husserl dabei die Eigenart von Brentanos Analyse der psychischen Phänomene in der Psychologie, denn von Brentanos Standpunkt aus lassen sich die genannten Transzendenzen nicht eliminieren: Im Unterschied zu seiner deskriptiven Psychologie, wo die Frage der sinnlichen Inhalte deskriptiv aufgerollt wird, packt sie Brentano in der Arbeit von 1874 unter doppeltem Gesichtspunkt an: als Inhalt der psychischen Phänomene – das ist die psychologische Perspektive, die in den Wiener Jahren als deskriptive Behandlung derselben fortgesetzt wird – und als Zeichen der Wirkung einer physischen Ursache auf das Sinnesorgan – das ist der Ansatz der Naturwissenschaft, dem Brentano in der Vorlesung über deskriptive Psychologie nicht weiter folgt, sondern den er der genetischen Psychologie zumisst.⁶³⁸ Diese doppelte Perspektive entspricht genau dem Standpunkt, den er in der Psychologie einnimmt: Er baut die psychische Wissenschaft durch ständige Bezugnahme auf die Naturwissenschaft. Dies hat weiter zur Folge, dass auch die Merkmale der psychischen Phänomene durch ständige Bezugnahme auf die Charakteristika der physischen Phänomene festgestellt werden, wobei diese Phänomene unter dem Gesichtspunkt der Naturwissenschaft thematisiert werden, und zwar in kausaler Beziehung auf die sie bewirkenden Kräfte. In diesem Sinne behauptet Brentano: Die Empfindungen sind zwar auch psychische Zustände. Allein offenbar ist ihre Aufeinanderfolge dieselbe wie die der in ihnen vorgestellten physischen Phänomene. Und für diese, so weit sie von der physischen Reizung der Sinnesorgane abhängt, hat der Naturforscher die Gesetze festzustellen.⁶³⁹
Hua XIX/2, S. 755. Husserls Behauptung: „Es ist auffallend, daß man es nie versucht hat, auf diese anschaulichen Zusammengehörigkeiten [z. B., dass jene sinnliche Qualität lokalisiert wahrgenommen wird; Hinzufügung I. T.] eine positive Bestimmung für die physischen Phänomene zu gründen“ (Hua XIX/2, S. 755), bestätigt die These, er lese Brentanos Psychologie als eine deskriptive Wissenschaft, weil Brentano im veröffentlichten Band seiner Schrift weit davon entfernt ist, die Behandlung derartiger „Zusammengehörigkeiten“ für ein zentrales Thema seiner Vorgehensweise zu halten – das gilt auch für das Manuskript des drittes Buches der Psychologie. Dagegen stellt die Analyse des sinnlichen Inhalts ein grundlegendes Problem der Psychognosie dar. PeS, S. 28; vgl. auch S. 115 ff.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
Hier geht es also um kausale Zusammenhänge, die der Behandlung der physischen Phänomene in der Arbeit von 1874 wesentlich sind und die nicht auf das Aufrollen der psychognostischen Frage nach dem sinnlichen Inhalt, seiner Teile und ihrer Beziehungen zueinander zurückgeführt werden können.⁶⁴⁰ Indem aber Husserl in seiner Rekonstruktion deskriptiv verfährt, ersetzt er Brentanos komplexe Behandlung des physischen Phänomens in der Psychologie mit seinem Ansatz und liest sie schon als ein deskriptives Werk, ohne jenen Erörterungen Brentanos, die auf die enge Beziehung seiner Schrift zu Comtes und Mills positiver Philosophie verweisen, gerecht zu werden. Anders gewendet haben wir es, wenn wir wie Husserl die kausalen Verhältnisse außer Acht lassen, mit keiner empirischen, sondern eben mit einer deskriptiven Psychologie zu tun. Das steht gut damit in Einklang, dass Husserl auch verkennt, dass Lockes kausale Theorie der Wahrnehmung, die er ständig kritisiert,⁶⁴¹ für Brentanos Analyse der sinnlichen Inhalte in der Psychologie entscheidend ist.⁶⁴² Demgemäß glaube ich, dass Husserls folgende Behauptung mit Bezug auf der Psychologie nicht weiter gilt: Die physischen Phänomene sind nun nicht mehr als die Erscheinungen definiert, welche aus der Einwirkung der Körper auf unsere Seele mittels der Sinnesorgane herrühren; […] [es; Hinzufügung I. T.] ist jetzt einzig und allein der deskriptive Charakter der Phänomene, so wie wir sie erleben, maßgebend.⁶⁴³
In diesem Zusammenhang sind Brentano Erklärungen über die Ziele der Naturwissenschaft und über die Verhältnisse zwischen dem Verlauf der physischen Phänomene und dem der ihnen zugeordneten physischen Kräfte am Ende des erstes Kapitels des zweites Buches keine „erklärenden metaphysischen Hypothesen“, die innerhalb einer phänomenologischen Rekonstruktion der Psychologie in Klammern gesetzt werden sollen, denn sie stecken den Rahmen ab, in dem die Frage des physischen Phänomens 1874 aufgerollt wird.⁶⁴⁴ Darüber hinaus
DPs, S. 9, 76, 129. Hua XIX/2, S. 752 f., 756. PeS, S. 25, 115 ff. Das gilt auch für die Art und Weise, in der der Gegenstand der äußeren Wahrnehmung in Brentanos Vorlesung über Ästhetik und Psychologie (1885/86), die von Husserl besucht und hoch geschätzt wurde, behandelt wird: „β) Der sogenannte Gegenstand ist nicht eigentlich Gegenstand der äußeren Wahrnehmungsvorstellung, sondern nur ihre Ursache, ein in sich Unbekanntes, welches nur gewisse andere Wirkungen voraussagen läßt. Bei der inneren Wahrnehmung dagegen ist der wahrgenommene Gegenstand wirklich.“ (GÄ, S. 76) Hua XIX/2, S. 756 f. Hua XIX/2, S. 757.
II.3.4 „Physisches Phänomen“ und „reeller Inhalt“– zu Husserls Rezeption
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weisen sie auf die moderne Prägung des Wissenschaftsbegriffs hin, mit dem Brentano in der Arbeit von 1874 operiert.⁶⁴⁵ Eine Analyse der physischen Inhalte an sich, so wie Husserls deskriptiver Ansatz sie fordert, fällt also aus dem Rahmen von Brentanos Psychologie, weil sie sich auf Voraussetzungen stützt, die mit Comtes und Mills Auffassung von den Aufgaben der Wissenschaft im Allgemeinen und der Naturwissenschaft in Speziellen wesentlich verbunden sind. Husserl hingegen will eine Wissenschaft etablieren, die von solchen Voraussetzungen frei ist.⁶⁴⁶ 3. Eine der wichtigsten Konsequenzen von Husserls Rekonstruktion des Status des physischen Phänomens in der Beilage zu den Logischen Untersuchungen ist die folgende: In seiner Erörterung darüber weist Husserl zwar darauf hin, dass die intentionale Inexistenz des Objektes (in unserem Fall des physischen Phänomens) die Rolle hat, zwischen zwei Klassen von Phänomenen und dem Gebiet der Naturwissenschaft und der Psychologie zu trennen, fokussiert sich aber auf die deskriptiven Merkmale der äußeren und inneren Wahrnehmung und der ihnen entsprechenden Phänomene. Dabei haben seine Erklärungen über die Äquivokationen der Termini „wahrgenommen“ und „Erscheinung“ zur Folge, dass sie den Begriffsrahmen von Brentanos empirischer Psychologie aufheben,⁶⁴⁷ um ihn mit einer phänomenologischen Analyse zu ersetzen, in der Brentanos Grundthesen über die wichtigsten Unterscheidungen zwischen dem Psychischen und dem Physischen ihre Gültigkeit verlieren. Dementsprechend spielen „die intentionale […] Inexistenz eines Gegenstandes“ und die Unterscheidung „äußere – innere Wahrnehmung“ keine wichtige Rolle mehr. Husserls Argumentationslinie geht dahin, dass „physisches Phänomen“ bei Brentano sowohl den sinnlichen Inhalt des Bewusstseins (der sinnlichen Vorstellung und der äußeren Wahrnehmung) als auch die physischen Dinge mit ihren Eigenschaften, die durch die objektivierende Auffassung der genannten Inhalte uns erscheinen, bezeichnet.⁶⁴⁸ Die äußere Wahrnehmung ist nicht evident und sogar trügerisch. – Dies ist zweifellos, wenn wir unter den „physischen Phänomenen“, welche sie wahrnimmt, die physischen Dinge, bzw. ihre Eigenschaften, Veränderungen usw. verstehen. Indem nun Brentano diesen eigentlichen und allein zulässigen Sinn des Wortes wahrgenommen mit dem uneigentlichen
PeS, S. 115 ff. Neben Mill verweist Brentano in diesem Zusammenhang noch auf Kant und Ueberweg. Husserl zitiert ausführlich die betreffenden Stellen (Hua XIX/2, S. 757 f.; vgl. auch S. 759). Hua XIX/1, S. 371; vgl. auch S. 26 ff.; Hua XIX/2, S. 756. Vgl. dazu auch M. Stepanians, „Es war mir nicht gegeben, Mitglied seiner Schule zu bleiben – Husserls Kritik an Brentano“, in S. Centrone (Hrsg.), Versuche über Husserl, Hamburg, Meiner, 2013, S. 42. Hua XIX/2, S. 763 ff., 767, 774.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
vertauscht, der statt auf die äußeren Gegenstände, vielmehr auf die der Wahrnehmung reell angehörigen, präsentierenden Inhalte bezogen ist; und indem er, hierin konsequent, nicht nur jene äußeren Gegenstände, sondern auch diese Inhalte als „physische Phänomene“ bezeichnet: erscheinen nun auch diese letzteren durch die Trüglichkeit der äußeren Wahrnehmung betroffen.
Hier liegt ein tiefergreifendes Missverständnis von Brentanos Position, das von Husserls deskriptivem Rekonstruktionsversuch herrührt. Brentano fasst das physische Phänomen ständig nur als Inhalt eines sinnlichen Aktes auf. Als solches wird es fast überall in der Arbeit von 1874 als Resultat der Einwirkung einer physischen Kraft auf die Sinnesorgane verstanden.⁶⁴⁹ Da die Kraft auf sie wirkt, erscheint dem Bewusstsein ein physisches Phänomen: „eine Farbe, […] die ich sehe; ein Accord, den ich höre“.⁶⁵⁰ Derjenige, der die sinnlichen Inhalte für eine wirkliche Eigenschaft der Dinge halte, so behauptet Brentano unter dem Einfluss der neuzeitlichen Ansicht über die sekundären Qualitäten, könne sich leicht täuschen. Aus diesem Grund hält er die äußere Wahrnehmung für trügerisch und nichtevident.⁶⁵¹ Darüber hinaus und im Einklang mit dem naturwissenschaftlichen Ansatz thematisiert Brentano die sinnlichen Inhalte nicht im phänomenologischen Verhältnis zu den phänomenalen Dingen, die mittels ihrer erscheinen, sondern zu den physischen Kräften, die ihnen entsprechen und auf die Sinne wirken. Auch wenn Brentano auf die „missbräuchlichen“ Versuche hinweist, diese Kräfte selbst als Phänomene zu betrachten, folgt er der von Husserl ausgeklammerten naturwissenschaftlichen Perspektive und trennt sie scharf voneinander.⁶⁵² Es kommt hinzu, dass er in der Psychologie noch weit davon entfernt ist, das Bemerken und die Beschreibung der sinnlichen Inhalte als ein Hauptanliegen der psychologischen Analyse zu betrachten.⁶⁵³ Wenn er dagegen in der deskriptiven Psychologie dieses Problem angeht, dann spricht er nicht weiter vom trügerischen Charakter sinnlicher Phänomene, sondern betrachtet sie deskriptiv als intentionale Korrelate der sinnlichen Akte und als Gegenstand des Bemerkens, auch wenn er sich davor hütet, ihrem Bemerken Evidenz zuzuschreiben.
Vgl. dazu sehr klar Brentanos Ausführungen in PeS, S. 115 ff., die von Husserl in extenso angeführt werden (Hua XIX/2, S. 757 f.). PeS, S. 97. PeS, S. 25, 109 ff. PES, S. 115 ff. Das ist auch für das dritte Buch derselben Schrift gültig, denn Brentano schneidet zwar in den ersten zwei Kapiteln dieses Buches die Frage der Undeutlichkeit, Einheit und Vielheit der Vorstellungen an, bietet aber keine Theorie des psychischen Teils und des Ganzen an, die dazu bestimmt wäre, diese Fragen zu klären.
II.3.4 „Physisches Phänomen“ und „reeller Inhalt“– zu Husserls Rezeption
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Vor diesem Hintergrund wird ein anderer wichtigen Unterschied zwischen den Ansätzen beider Denker deutlich: Da Husserl an kausalen Zusammenhängen nicht interessiert ist, setzt er die sinnlichen Inhalte nicht in Beziehung zu ihren physischen Kräften (Brentano), sondern in ein deskriptives Verhältnis zu den ihnen entsprechenden Eigenschaften „der phänomenalen äußeren Dinge“.⁶⁵⁴ Die Einwirkung dieser Dinge auf die Sinnesorgane setzt er dagegen in Klammern. Dies macht es möglich, dass der sinnliche Inhalt nicht weiter als Ergebnis derartigen Einwirkungen, sondern unter zwei unterschiedlichen Gesichtspunkten betrachtet wird, die beide seine reelle oder wirkliche Präsenz im Bewusstsein hervorheben. Der erste Standpunkt betrachtet den sinnlichen Inhalt als Anhaltspunkt der apperzeptiven Charaktere des Aktes, die ihn auf eine gewisse Weise interpretieren und so das Erscheinen „der phänomenalen äußeren Dinge“ ermöglichen.⁶⁵⁵ Der andere Standpunkt hält ihn für das Objekt anderer nachträglich auf ihn reflektierenden Akte. In dieser letzten Perspektive lässt sich keine weitere Differenz zwischen einem sinnlichen Inhalt, einem apperzeptiven oder positionellen Charakter des intentionalen Erlebnisses oder diesem Erlebnis selbst anmerken, weil alle ebenso reell oder wirklich in der Einheit des Bewusstsein anwesend sind und Objekt nachträglicher reflexiver Akte werden können. ⁶⁵⁶ Diese ihre grundlegende Bestimmung kann weiter ergänzt werden, indem z. B. die Rolle erklärt wird, die jedes von ihnen angesichts der gesamten Leistung des intentionalen Aktes erfüllt – ein gewisser intentionaler Akt ist etwa nach Husserl Intention eines Objekts eben dadurch, dass sein apperzeptiver Charakter auf eine gewisse Weise die Sinnesinhalte auffasst. Oder aber man kann den sinnlichen Inhalt ins Verhältnis zu seiner Ursache setzen, ihn als physisches Phänomen verstehen und ihn angesichts der Tatsache, dass er nicht wirklich existiert, wie es scheint, nur für intentional und phänomenal existierend halten, wie Brentano dies tut.⁶⁵⁷ Das ändert aber nichts daran, dass es, deskriptiv betrachtet, keinen Unterschied bei den reellen Inhalten des Bewusstseins hinsichtlich ihrer Präsenz darin und hinsichtlich der Möglichkeit, sie in weiteren reflektierenden Akten zu studieren, gibt. Husserl sagt das nicht explizit, aber seine Erörterungen darüber lassen sich dahingehend rekonstruieren, dass Brentano den besprochenen Aspekt des physischen Phänomens ausgerechnet deshalb nicht thematisiert hat, weil er es nicht unter dem Gesichtspunkt seiner Anwesenheit im Bewusstsein berücksichtigt hat, sondern in
Hua XIX/2, S. 765. Hua XIX/1, S. 399 f.; Hua XIX/2, S. 764 f. Hua XIX/2, S. 767 f., 773, 765, 774 f.; Hua XIX/1, S. 410. Brentano könnte dieser These nicht zustimmen, weil damit eine der wichtigsten Unterscheidungen seiner Psychologie, die zwischen „wirklich“ und „phänomenal und intentional“, aufgehoben wird. PeS, S. 25, 35, 108 f., 115 ff.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
Bezug auf seine physische Ursache, auf die äußere Wahrnehmung und im Gegensatz mit dem psychischen Phänomen, das nur wirklich existiert. Damit stößt man auf einen Punkt, in dem sich die Inadäquatheit von Husserls Rekonstruktionsversuchs klar zeigt: Eben weil der genetisch-kausale Zusammenhang der Behandlung physischer Phänomene in der Psychologie wesentlich ist, kann man ihn nicht, so wie Husserl dies will, ausklammern. Anders gewendet ist die Behandlung des physischen Phänomens als Empfindungsinhalt in der Arbeit von 1874 nicht dasselbe wie seine spätere deskriptive Analyse und lässt sich auch nicht auf sie zurückführen, weil sie mit dem Programm der Etablierung einer empirischen psychischen Wissenschaft im Sinne von Comte und Mill und mit der Abgrenzung von deren Gegenstandsbereich durch ständige Bezugnahme auf die Naturwissenschaft in enger Verbindung steht.⁶⁵⁸ 4. Wie verschieden das Ergebnis von Husserls Rekonstruktion des Status des physischen Phänomens bei Brentano von der Ausrichtung von Brentanos Psychologie ist, lässt sich auch daran erkennen, dass Husserl am Ende seiner Erörterungen nicht zu zwei verschiedenen Klassen von Phänomenen kommt, denen zwei verschiedene Disziplinen, die Naturwissenschaft und die Psychologie, entsprechen, sondern schon in der ersten Auflage der Logischen Untersuchungen zu dem Unterschied zwischen dem empirischen Ich und seinen Erlebnissen einerseits und seinem intentionalen Korrelat, der physischen Welt, andererseits gelangt.⁶⁵⁹ Diese Welt besteht zwar unabhängig vom Ich, wird aber in der Phänomenologie ständig als die vom Ich intendierte Einheit behandelt. Dabei soll stark betont werden, dass bei Husserl „intentional“ nicht „immanent“ besagt („immanentes Objekt“), wie dies bei Brentano der Fall ist, sondern das, was die intentionalen Erlebnisse vermeinen oder intendieren. Damit kommt Husserl vom hochscholas-
Es sei auch darauf hingewiesen, dass Brentano die Charakterisierung des sinnlichen Inhalts mittels des Grundzuges seines Charakters, immanentes Objekt der sinnlichen Akte zu sein, auch in den Vorlesungen über deskriptive Psychologie beibehält, wo dieser Inhalt deskriptiv, d. h. ohne Einbeziehung seines Verhältnisses zu der ihm entsprechenden physischen Kraft, betrachtet wird (DPs, S. 144 f., vgl. auch S. 89, 120). Unter diesen Umständen nimmt Brentano Abstand von der kausalen Charakterisierung der Empfindung (DPs, S. 135 ff.) und definiert sie folgendermaßen: „Empfindung sei eine fundamentale Vorstellung realen physischen Inhalts“ (DPs, S. 133; ich habe die Transkription „psychischen“ mit „physischen“ ersetzt); „Eine Empfindung, sage ich, ist eine fundamentale Vorstellung von realen physischen Phänomenen (Gegenständen)“ (DPs, S. 139; aus der Vorlesung 1887/87). In demselben, in der zweiten Auflage ausgelassenen § 7 wird die physische Welt als intendiertes Nicht-Erlebnis betrachtet: „Die Unterscheidung der Erlebnisse (Bewußtseinsinhalte) von den in Erlebnissen vorgestellten (und sogar wahrgenommenen, bzw. urteilsmäßig für existierend gehaltenen) Nicht-Erlebnissen bliebe nach wie vor das Fundament für die Scheidung der Wissenschaften als Forschungsgebiete […]“ (Hua XIX/1, S. 371; A, S. 338).
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tischen Sinn des Wortes „intentio“ zu seiner ursprünglichen Bedeutung „gerichtet auf“ zurück, die anfänglich im theologischen Bereich („gerichtet auf Gott“) verwendet wurde.⁶⁶⁰ Unter diesen Umständen gehört der sinnliche Inhalt nicht zur physischen Welt der intendierten phänomenalen Dinge, sondern zum Bewusstsein des empirischen Ich, genauer gesagt zu seinem reellen Gehalt. Das phänomenale Ding gehört dagegen zu seinem intentionalen Gehalt.⁶⁶¹ Was den reellen Gehalt betrifft, so besteht er aus allem, was erlebt wird und als Folge davon reell oder wirklich in der Einheit des Bewusstseins gegeben ist: das intentionale Erlebnis mit seinen eigenen Bestandteilen, den apperzeptiven und setzenden Charakteren und seinen sinnlichen Bestandteilen.⁶⁶² Wenn ich z. B. ein Haus sehe, dann erfolgt meine Wahrnehmung dadurch, dass die dem gesehenen Haus entsprechenden Sinnesinhalte (die den phänomenalen Eigenschaften des Hauses korrespondierenden erlebten visuellen Inhalte, die geome-
Vgl. dazu Engelhardt, a. a. O., S. 466; auch Antonelli („Eine Psychologie …“, S. LV–LX) und Sauer („Die Einheit …“, S. 1– 26) arbeiten mit den Redewendungen „intentionales Objekt“ und „intentionales Korrelat“. Anders als Husserl, auf den sich die zwei Autoren nicht beziehen, verstehen sie die zwei Termini nicht als synonym, sondern fassen das „intentionale Korrelat“ als immanentes Objekt des psychischen Aktes auf. Dagegen besagt „intentionales Objekt“ das, was von dem intentionalen Korrelat durch modifizierende Distinktion zu gewinnen ist. Ich gehe hier nicht auf die Intentionalitätsfrage ein, sondern verweise dafür auf die grundlegenden Studien von K. Hedwig, die in diesem Band angeführt wurden. Im Unterschied zu Sauer und Antonelli, die nur den thomasischen Hintergrund von Brentanos Intentionalitätsbegriff berücksichtigen und dadurch zu der Interpretation, die Anfang der 70er Jahre des vorherigen Jahrhunderts von Spiegelberg und Marras verteidigt wurde, zurückkehren, zeigte Hedwig überzeugend, dass im Hintergrund von Brentanos Formulierung „intentionale (auch wohl mentale) Inexistenz eines Gegenstandes“ (PeS, S. 106) die spätmittelalterliche konzeptualistische Fassung des Begriffs „objektiv“, und nicht Thomas’ Auffassung von der Intention steht (vgl. dazu auch meine Abhandlungen: „Die intentionale Inexistenz …“; „The Two Theories of Intentionality in Brentano and the Program of Psychology from an Empirical Standpoint“, Brentano Studien, 13 (2015), S. 211– 231; „The Intentionality of Sensation …“, und auch „Franz Brentano’s Dissertation …“, dessen Hypothese über die drei aristotelischen Wahrheitsbegriffe ich nicht weiter teile). Hua XIX/2, S. 763 ff.; Hua XIX/1, S. 21. In anderen Zusammenhängen beschreibt Husserl den hier zur Diskussion stehenden Gegensatz als Unterscheidung zwischen dem „phänomenologischen, also rein deskriptiven Gehalt“ oder dem „aktuellen […] Inhalt“ einerseits und dem „intentionalen Gehalt“ oder „idealen, intentionalen Inhalt“ andererseits (Hua XIX/1, S. 21 (A, S. 16), 371 (A, 338)). Hua XIX/1, S. 357, 362, 387. In der ersten Auflage der Logischen Untersuchungen machen den Gegenstandsbereich der Psychologie nicht die psychischen Phänomene in Brentanos Sinn, sondern die reellen Inhalte, einschließlich Brentanos physischer Phänomene, aus (Hua XIX/1, S. 370). Das stellt den ersten Sinn des Begriffs „Bewusstsein“ bei Husserl dar: „Bewußtsein […] als Verwebung der psychischen Erlebnisse in der Einheit des Erlebnisstroms“ (Hua XIX/1, S. 356; vgl. auch S. 389 f.).
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
trischen farbigen Formen) auf eine gewisse Weise apperzipiert, gedeutet oder interpretiert werden, nämlich als das Erscheinen dieses roten Hauses, vor dem ich stehe.⁶⁶³ Dieser Charakter der Apperzeption (B) oder Interpretation (A) ist Husserls Begriff der Wahrnehmung wesentlich, weil die wahrnehmende Intention eines physischen Objektes durch die objektivierende Apperzeption sinnlicher Inhalte erfolgt.⁶⁶⁴ Um die Selbstständigkeit dieses Inhalts von der Wirklichkeit des von ihm intendierten Gegenstandes zu unterstreichen, geht Husserl einen Schritt weiter und sagt, dass es für die deskriptive Sachlage gleichgültig ist, ob der vermeinte oder intentionale Gegenstand wirklich existiert oder nicht.⁶⁶⁵ Von dem reellen Inhalt unterscheidet Husserl ständig den intentionalen Gehalt des Aktes, den von dem Akt vermeinten phänomenalen Gegenstand, das „Haus“ genannte Ding.⁶⁶⁶ Es ist weder erlebt noch in der Einheit des Bewusstseins vorhanden noch aus seinen reellen Bestandteilen konstituiert, sondern als Träger der phänomenalen Eigenschaften ist ihm äußerlich,⁶⁶⁷ von den intentionalen
Hua XIX/1, S. 358 ff.; Hua XIX/2, S. 763 ff.; vgl. zu diesem Problem auch A. Bejinarius Abhandlung „Descriptive and Intentional Contents. Considerations on Husserl’s Logical Investigations from Brentano’s Empirical Point of View“, in I. Tănăsescu, A. Bejinariu, S. Krantz Gabriel, C. Stoenescu (Hrsg.), Brentano and the Positive Philosophy of Comte and Mill. With Translations of Original Writings on Philosophy as Science by Franz Brentano, Berlin, De Gruyter (im Erscheinen). Hua XIX/2, S. 761 f.; Hua XIX/1, S. 399 f. Entscheidend zum Verständnis dieses Problems ist folgende Behauptung Husserls: „Man versteht zugleich, daß dasselbe, was in Beziehung auf den intentionalen Gegenstand Vorstellung (wahrnehmende, erinnernde, einbildende, abbildende, bezeichnende Intention auf ihn) heißt, in Beziehung auf die zum Akte reell gehörigen Empfindungen Auffassung, Deutung, Apperzeption heißt.“ (Hua XIX/1, S. 399 f.) Hua XIX/1, S. 358, 386 f., 439 f. Brentano hat dasselbe Problem vor Augen, als er behauptet: „Jedes psychische Phänomen ist durch das charakterisirt, […] was wir, […] die Richtung auf ein Object (worunter hier nicht eine Realität zu verstehen ist), oder die immanente Gegenständlichkeit nennen würden.“ (PES, 106) Im 7. Paragraphen der ersten Auflage wird die Unterscheidung zwischen dem reellen und intentionalen Inhalt zum Fundament der Trennung der Forschungsbereiche der physischen und psychischen Wissenschaft. Auch wenn Husserl in beiden Auflagen der Beilage zu seiner Schrift letzten Endes dazu kommt, das physische Phänomen Brentanos als psychisches Phänomen (Erlebnis) zu betrachten, übernimmt er in dem genannten Paragraphen den traditionellen Sinn des Terminus „Phänomen“ als das, was erscheint, und stellt fest, dass nicht alles, was psychisch ist – etwa die habituellen Dispositionen –, erscheint und deshalb Phänomen ist. Aus diesem Grund behauptet er: „Die Definition der Psychologie als Wissenschaft von den psychischen Phänomenen ist also nicht anders zu verstehen, als die der Naturwissenschaft als Wissenschaft von den physischen Phänomenen. Die betreffenden Phänomene bezeichnen beiderseits nicht das durch sie zu erschöpfende Objektgebiet der Wissenschaft, sondern nur die nächsten Angriffspunkte der wissenschaftlichen Forschungen.“ (Hua XIX/1, S. 371) Diese Eigenschaften bestehen aus einem dem Sinnesinhalt analogen Stoff (Hua XIX/2, S. 764, 770).
II.3.4 „Physisches Phänomen“ und „reeller Inhalt“– zu Husserls Rezeption
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Akten vermeint und im eigentlichen Sinne wahrgenommen.⁶⁶⁸ Trotz ihrer Äußerlichkeit werden solche Gegenstände als intentionale Inhalte des Bewusstseins betrachtet, weil sie irgendwie in ihm enthalten sind, und zwar als die ihnen entsprechenden reellen Inhalte – als die betreffenden Sinnesinhalte – , mittels deren Apperzeptionen die phänomenalen Gegenstände vermeint werden und dem Ich als Gegenstände erscheinen.⁶⁶⁹ Auf diese Weise verliert das physische Phänomen bei Husserl die Rolle des Gegenbegriffs zum psychischen Phänomen, die es bei Brentano spielte. In eins damit existiert es im Bewusstsein nicht mehr „phänomenal und intentional“, sondern „reell“ und „wirklich“, und zwar ebenso reell und wirklich wie das ganze intentionale Erlebnis selbst und seine anderen reellen Charaktere. Es kommt hinzu, dass es in weiteren reflektierenden Akten genauso evident wie diese Charaktere studiert werden kann. Daran erkennt man deutlich, wie groß der Abstand zwischen Husserls und Brentanos Auffassung von dem physischen Phänomen ist, denn aus dem eben genannten Grund betrachtet Husserl den sinnlichen Inhalt (Brentanos physisches Phänomen) als psychisches Phänomen oder Erlebnis in seinem Sinn: […] Von Wichtigkeit ist es aber zu beachten, daß 1. die psychischen Phänomene in diesem Sinn nicht identisch sind mit denjenigen im Sinne Brentanos, […] denn in die Sphäre der Erlebnisse überhaupt gehören auch die sämtlichen Sinnesinhalte, die Empfindungen.⁶⁷⁰
Vor diesem Hintergrund sieht man auch klar, wie der theoretische Rahmen von Brentanos empirischer Psychologie aufgehoben wird, denn durch die Einbeziehung der Klasse der physischen Phänomene Brentanos in die Klasse der psychischen Phänomene oder Erlebnisse Husserls verliert diejenige Unterscheidung, die an der Basis von Brentanos Versuch steht, die Psychologie durch ständige Bezugnahme zur Naturwissenschaft zu etablieren, der Gegensatz „psychisches – physisches Phänomen“, ihre Gültigkeit.⁶⁷¹ Als Folge davon ergibt sich eine entscheidende Veränderung im Begriff der psychischen Wissenschaft, denn die Psychologie hat von nun an nicht nur die intentionalen Akte oder Erlebnisse (die
Hua XIX/2, S. 763 ff.; Hua XIX/1, S. 358 ff. Hua XIX/1, S. 358. Hua XIX/2, S. 771; vgl. auch Hua XIX/1, S. 378, 382, 384. „Psychisches Phänomen“ bezeichnet damit eine sehr weite Klasse in der Phänomenologie, die sowohl die physischen Inhalte (die physischen Phänomene Brentanos) als auch die intentionalen Erlebnisse (die psychischen Phänomene Brentanos) umfasst. Dagegen gilt bei Brentano der Gegensatz „intentionales – nicht-intentionales Erlebnis“ („psychisches – physisches Phänomen“), weil bei ihm nicht ihre Anwesenheit in Bewusstsein, sondern ihr verschiedener epistemischer Status entscheidend ist.
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
psychischen Phänomene Brentanos), sondern alle Erlebnisse, einschließlich die Sinnesinhalte (die physischen Phänomene Brentanos), zu studieren. Der so abgesteckte psychologische Forschungsbereich lässt sich durch das Ausklammern der naturalistischen Apperzeptionen und Setzungen, die den intentionalen Erlebnissen als psychischen Zuständen animalischer Wesen eigen sind, phänomenologisch weiter verfeinern und im Sinne der reinen Phänomenologie „einer rein immanenten […] Wesenserforschung“ unterziehen: Mit Rücksicht darauf, daß auch jederlei Erlebnisse […] zu Gegenständen reflektiver, innerer Anschauungen werden können, heißen dann alle Erlebnisse in der Erlebniseinheit eines Ich „Phänomene“: Phänomenologie besagt demgemäß die Lehre von den Erlebnissen überhaupt, und, darin beschlossen, auch von allen in Erlebnissen evident ausweisbaren, nicht nur reellen, sondern auch intentionalen Gegebenheiten. Die reine Phänomenologie ist dann die Wesenslehre von den „reinen Phänomenen“, denen des „reinen Bewußtseins“ […]⁶⁷²
Auf diese Weise fällt der Gegenstandsbereich der deskriptiven Psychologie und der Phänomenologie Husserls mit seinem ersten Bewusstseinsbegriff: „Bewußtsein als der gesamte reelle phänomenologische Bestand des empirischen Ich“ zusammen, dessen Umfang auch den Umfang seines dritten Begriffs von Bewusstsein (des intentionalen Aktes oder psychischen Phänomens Brentanos) einschließt.⁶⁷³ 5. Husserls Bestreben, mittels „rein deskriptiver Merkmale“ eine Abgrenzung der zwei Klassen von Phänomenen Brentanos zu erreichen, die programmatisch „metaphysisch unverbindlich“ ist,⁶⁷⁴ ist für seine Ansicht von der deskriptiven Psychologie und Phänomenologie aufschlussreich, passt aber nur gelegentlich zu Brentanos Auffassung von der Psychologie: 1874 operiert Brentano mit dem Begriff einer phänomenalen Psychologie im Sinne Mills, aber sein Grund dafür besteht nicht darin, dass er von Anfang an programmatisch eine metaphysikfreie Definition der Psychologie wollte – in seiner Habilitationsschrift befasst er sich ausführlich mit der metaphysischen Psychologie Aristoteles’ –, sondern er machte sich die Definition der Psychologie als Wissenschaft der psychischen Phänomene zu eigen, weil diese Definition die psychologische Forschung vereinfacht, denn sie hängt von weniger Voraussetzungen ab als die traditionelle
Hua XIX/2, S. 765; vgl. auch Hua XIX/1, S. 23 f., 387, und Husserls Äußerung, je nach der Einoder Ausschaltung der psychologischen Apperzeption könne eine und dieselbe Analyse psychologische oder aber rein phänomenologische Bedeutung gewinnen (Hua XIX/1, S. 383; vgl. auch S. 23 f., 360). Hua XIX/1, S. 356. Hua XIX/2, S. 756; Hua XIX/1, S. 28.
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Definition.⁶⁷⁵ Allerdings zeigen seine späteren Texte deutlich, dass Brentano sich mit dem Begriff einer Psychologie ohne Seele (A. Lange) nicht zufriedengeben konnte, sodass er in den 1901 der Psychognosie gewidmeten Texten den metaphysischen Begriff der Seele wieder einführt und die Psychologie als Wissenschaft von der Seele, von den psychischen Tätigkeiten und Beziehungen bestimmt.⁶⁷⁶ Es kommt hinzu, dass Brentanos Übergang von der empirischen zur deskriptiven Psychologie, der sein Analogon in Husserls Übergang von der deskriptiven Psychologie zur Phänomenologie findet, nicht deshalb erfolgte, weil ihm eine metaphysikfreie Psychologie vorschwebte, sondern daher rührt, dass ihm die deskriptive Psychologie den Weg zu einer psychologischen Analyse bahnt, die von den Ergebnissen der Physiologie nicht mehr abhängig ist. 6. Husserls Auffassung von der deskriptiven Psychologie ist von Brentanos Ansicht darüber verschieden: Bei Brentano ist die deskriptive Psychologie Theorie des Teils und des Ganzen, d. i. Mereologie, die alles darauf setzt und damit auch ihr Ende hat, die Elemente des menschlichen Bewusstseins zu ergründen, um die in der inneren Wahrnehmung konfus wahrgenommenen Teile explizit zu bemerken.⁶⁷⁷ Ihr oben angeführten Motto, „Das Unterscheiden eines rein distinktionellen Teils macht das Wesen besonderer abtrennbarer Teile aus“, lässt sich dahingehend interpretieren, dass sie mit den Bewusstseinszuständen und ihren immanenten Korrelaten beginnt und endet, ohne je ein vom Bewusstsein unabhängig existierendes Gebiet der Wesenheiten anzunehmen, wie dies bei Husserl der Fall ist. Dabei versteht es sich von selbst, ohne aber je eine Rolle zu spielen, dass die psychischen Phänomene Zustände des „normalen“ menschlichen Bewusstseins sind. Dagegen ist die deskriptive Psychologie für Husserl keine selbstständige Mereologie, sondern eine „bloße Vorstufe“ der empirischen Psychologie und der Phänomenologie: Die Ergebnisse der Deskription der „Vorstellungs-, Urteils-, und Erkenntniserlebnisse“ sollen sowohl als Vorbereitung der empirischen psychologischen Forschung nach den Gesetzen der Genesis mentaler Zustände als auch als „Unterlage für jene fundamentalen Abstraktionen, in welchen der Logiker das Wesen seiner idealen Gegenstände und Zusammenhänge mit Evidenz erfaßt“ benutzt werden.⁶⁷⁸ Unter diesem Gesichtspunkt besteht die Aufgabe der Deskription nicht in der Verdeutlichung der implizit wahrgenommenen Teile intentionaler Erlebnisse, sondern in der genauen Unterscheidung der reellen und intentionalen Inhalte der Bewusstseinsakte. Dabei unterstreicht PeS, S. 25 f. Wie gesagt gehört die Unsterblichkeitsfrage zum Programm der Psychologie von 1874. DPs, S. 146, 154 ff.; was die früheren Texte betrifft, vgl. Rollinger a. a. O. DPs, S. 1– 27. Hua XIX/1, S. 23 f. (A, S. 18).
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
Husserl ständig, dass die Psychologie die Erlebnisse als Zustände des „normalen“ Menschen in natürlicher Einstellung auffasse und aus diesem Grund nur zur „empirischen Allgemeinheit“ gelangen könne.⁶⁷⁹ Dagegen zielt die Phänomenologie auf apriorische Erkenntnisse. Um dazu zu kommen, fasst sie die psychischen Akte nicht weiter als mentale Zustände des Bewusstseins individueller Personen, die in einer wirklichen Welt leben und auf andere physische oder psycho-physische Dinge (auf andere Personen) bezogen sind. Im Gegenteil schaltet der Phänomenologe „alle empirischen (naturalistischen) Apperzeptionen und Setzungen“ aus.⁶⁸⁰ Er setzt zum einen den Glauben in Klammern, dass die intentionalen Akte Zustände eines wirklichen, in der Welt existierenden Ich sind (d. i. den Setzungscharakter des Aktes). Er neutralisiert zum anderen die Zugehörigkeit des Aktes zum individuellen Bewusstsein, indem er den erlebten psychischen Inhalt, den intentionalen Akt einer Wahrnehmung z. B., nicht weiter als Bestandteil irgendeines Bewusstseins eines empirischen Ich apperzipiert (d. i. seine natürliche Apperzeption), sondern sie als exemplarischen Einzelfall für die äußere Wahrnehmung nimmt.⁶⁸¹ Das so gesäuberte „reine“ Erlebnis dient dann als Basis der Wesensanschauung, indem der Phänomenologe die reinen Spezies des reellen und intentionalen Inhalts seines exemplarischen Einzelfalls abstraktiv erfasst, begrifflich fixiert (die Spezies „sinnlicher Inhalt“, „apperzeptiver Charakter“, „Intention des intentionalen Gegenstandes“, „Setzungscharakter“, „intentionaler Gegenstand“) und in einer apriorischen Wesensaussage über die Spezies „äußere
Hua XIX/1, S. 23; Hua XIX/2, S. 761. Es ist nicht klar, ob Husserl die Rolle gekannt hat, die die Axiome und die von ihnen vermittelten Erkenntnisse über die apriorischen Unmöglichkeiten der psychognostischen Elemente in Brentanos deskriptiver Psychologie spielen. Unter Brentanos Gesichtspunkt lässt sich deshalb gegen Husserl einwenden, dass es, um apriorische Erkenntnisse zu gewinnen, nicht nötig ist, die natürliche Einstellung auszuklammern, denn man kann sehr wohl in dieser Einstellung bleiben und trotzdem zu apriorischen Erkenntnissen gelangen, und zwar dann, wenn man die Notwendigkeit oder Unmöglichkeit der Beziehungen, die dem Inhalt der psychognostischen Grundbegriffe eigen sind, bemerkt oder apperzipiert. Wie schon gesagt, lässt sich auf einen solchen Einwand erwidern, dass derartige Erkenntnisse keine wichtigen Entdeckungen, sondern triviale Wahrheiten darstellen. Mit Blick auf sie bemüht sich Kraus, die Aufmerksamkeit des Lesers von Husserls Phänomenologie zu Brentanos Psychognosie zu lenken, die, so Kraus, genau wie die Phänomenologie mit apodiktischen Urteilen arbeitet. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass ein solcher Kenner von Brentanos Psychologie wie Kraus dafür ausgerechnet in der Einleitung zu einem Werk Brentanos plädiert, in dem die Frage der Axiome weder im methodischen Teil noch in seinem zweiten Buch angepackt wird. Andererseits kommt Kraus jedoch hinsichtlich Brentanos Schrift von 1874 zu demselben Ergebnis wie Husserl, denn beide haben die Eigenart von Brentanos Psychologie gegenüber seiner späteren Psychognosie verkannt (Kraus, „Einleitung“, S. LXXXV–XCIII). Hua XIX/1, S. 23, 370. Hua XIX/1, S. 16.
II.3.4 „Physisches Phänomen“ und „reeller Inhalt“– zu Husserls Rezeption
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Wahrnehmung“ zusammenstellt: Die äußere Wahrnehmung ist Intention eines ihr äußeren, nie adäquat erfassten intentionalen Gegenstandes mittels der Apperzeption ihrer sinnlichen Inhalte. ⁶⁸² In diesem Zusammenhang lohnt es sich zu bemerken, dass Husserl im Unterschied zu Brentano, der der deskriptiven gegenüber der genetischen Psychologie den Vorrang gibt und Erstere als die Basis der anderen Wissenschaften, einschließlich der genetischen psychischen Wissenschaft, berücksichtigt,⁶⁸³ noch in der ersten Auflage seiner Schrift einen Schritt weitergeht, die deskriptive Psychologie der Phänomenologie unterordnet⁶⁸⁴ und Letztere als die fundamentale Wissenschaft betrachtet, in der alle anderen Wissenschaften wurzeln: Die reine Phänomenologie stellt ein Gebiet neutraler Forschungen dar, in welchem verschiedene Wissenschaften ihre Wurzeln haben. Einerseits dient sie zur Vorbereitung der Psychologie als empirischer Wissenschaft. Sie analysiert und beschreibt (speziell als Phänomenologie des Denkens und Erkennens) die Vorstellungs-, Urteils-, Erkenntniserlebnisse, die in der Psychologie ihre genetische Erklärung, ihre Erforschung nach empirisch-gesetzlichen Zusammenhängen finden sollen.⁶⁸⁵
Diese Stelle macht den sachlichen Grund klar, warum Husserl den Unterschied „empirische – deskriptive Psychologie“ nicht stark betont: Er hält Letztere für einen Teil der Psychologie als empirische Wissenschaft, der sich mit der Beschreibung der Erlebnisse beschäftigt, deren Erklärung hinsichtlich ihrer Sukzession und Koexistenz das Ziel der empirischen Psychologie ausmacht.⁶⁸⁶ Wenn man die Unsterblichkeitsfrage in der Arbeit von 1874 beiseitelässt, dann lässt sich sagen, dass die Hauptziele der empirischen Psychologie bei Brentano und Husserl zusammenfallen, denn letzten Endes hat die Psychologie bei beiden die Aufgabe, die Gesetze der Sukzession und Koexistenz psychischer Phänomene zu erklären. Es macht jedoch einen Unterschied, ob man als Ausgangspunkt der Behandlung dieser Frage die Ergebnisse der inneren Wahrnehmung in Bezug auf die wichtigsten Merkmale und das Nacheinander mentaler Zustände nimmt, um sie in
Hua XIX/1, S. 6 f., 358 ff., 382 f., 396, 412 f.; Hua XIX/2, S. 762. Angesichts der Inadäquatheit der äußeren Wahrnehmung sagt Husserl, dass sie nie adäquate Wahrnehmung werden könne, weil ihre Intention ständig nur einseitig erfüllt sei (Hua XIX/2, S. 769 f.); vgl. auch seine Behauptung, dass „die dreidimensionale Raumform in keinem Bewußtsein adäquat anschaubar ist“ (Hua XIX/ 1, S. 370). DPs, S. 9 f., S. 76, 129. Hua XIX/1, S. 23. Hua XIX/1, S. 6 f. In der zweiten Auflage definiert Husserl die Psychologie „als Erfahrungswissenschaft von psychischen Eigenschaften und Zuständen animalischer Realitäten“ (Hua XIX/1, S. 12 (B, S. 7)).
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II.3 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt
einen wissenschaftlichen Rahmen einzubetten, der von Comtes und Mills Begriff der positiven Wissenschaft inspiriert wird (Brentano), oder aber von Anfang an die sekundäre Richtung des Aktes zu sich selbst und damit einhergehend die „kontinuierliche Aktion innerer Wahrnehmung“ in Zweifel zieht (Husserl) und zulässt, dass alles, was in der Einheit des Bewusstseins gegeben ist, nachträglich mittels reflektierender Akte evident studiert werden kann. ⁶⁸⁷ Wie oben gezeigt wurde, beschränkt sich die evidente Erkenntnis bei Brentano auf das gegenwärtige innere Wahrnehmen und Bemerken. Alles, was über die Grenze dieser Sphäre hinausgeht, kann keinen Anspruch auf Evidenz erheben. Es kommt hinzu, dass Brentano, wenn er in seiner Wiener Zeit die deskriptive und die genetische Psychologie klar trennt und Erstere als Basis der Zweiteren nimmt, zur Bezeichnung der Wissenschaft, der die beiden Disziplinen unterzuordnen sind, nicht das Beiwort „empirisch“ nutzt, sondern ganz einfach nur von der „Psychologie“ spricht. Meiner Meinung nach ist seine Wortwahl nicht zufällig, denn wenn Husserl über die Psychologie als empirische Disziplin spricht, dann hat er eine umfassende Disziplin im Visier, die (i) „die empirischen Zustände animalischer Wesen“ studiert, (ii) deren beschreibender Zweig die Deskriptionen der „Arten und Unterarten“ der intentionalen Erlebnisse dieses Wesens als Aufgabe hat, (iii) deren deskriptive Ergebnisse eine weitere phänomenologische Umwandlung in dem Sinne erfahren können, dass ihre spezifischen „naturalistischen Apperzeptionen und Setzungen“ suspendiert werden und als Gegenstand einer Betrachtung angesehen werden, die auf das Erfassen ihrer Wesenheiten gerichtet wird.⁶⁸⁸ Vor diesem Hintergrund ist beachtenswert, dass Husserls Erörterungen deutlich zeigen, dass der Unterschied zwischen ihm und Brentano hinsichtlich der Auffassung von der empirischen Psychologie nicht in ihrem Verhältnis zum positiven Wissenschaftsbegriff liegt, denn die empirische Psychologie ist bei beiden Autoren unter diesem Begriff einzuordnen.⁶⁸⁹ Es bleibt jedoch der Unterschied bestehen, dass der phänomenologische Begriff davon sich auf die Unterscheidung „deskriptive – genetische Psychologie“ stützt und die reinen Deskriptionen als Basis apriorischer Feststellungen über das Wesen intentionaler Erlebnisse benutzt. Dagegen operiert Brentanos empirische Psychologie nicht mit idealen Wesenheiten und kennt noch nicht den Unterschied beider Disziplinen, sondern
Hua XIX/1, S. 366. Hua XIX/1, S. 24, 381, 370. In diesem Sinne behauptet Husserl: „Erklären im Sinne der Theorie ist das Begreiflichmachen des Einzelnen aus dem allgemeinen Gesetz und dieses letzteren wieder aus dem Grundgesetz. Im Gebiet der Tatsachen handelt es sich dabei um die Erkenntnis, daß, was unter gegebenen Kollokationen von Umständen geschieht, nothwendig, das ist nach Naturgesetzen geschieht.“ (Hua XIX/1, S. 26)
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fundiert ihre Suche nach den induktiven Gesetzen der Sukzession und Koexistenz psychischer Phänomene auf die Ergebnisse der inneren Wahrnehmung in Bezug auf die Merkmale und Grundklassen psychischer Erscheinungen. Darüber hinaus ist die deskriptive Psychologie, auch wenn sie „zur Vorbereitung“ der genetischen Psychologie dient, bei Brentano – anders als bei Husserl – nicht nur ein Mittel zur Lösung erkenntnistheoretischer oder genetischer Fragen, sondern macht selbst einen selbstständigen Bereich aus, den des gegenwärtigen Bewusstseins,⁶⁹⁰ dessen implizit wahrgenommene distinktionellen Teile zu klären sind. Die Analyse der Konsequenzen, die sich aus diesem Unterschied ergeben, macht ein Problem aus, das noch nicht geklärt wurde.
Vgl. dazu auch die Ausführungen über die Proterästhesie S. 361 f.
III Die Frage der uneigentlichen Phantasievorstellungen als Begriffe mit anschaulichem Kern bei Brentano und ihre Rezeption bei Husserl
III.1 Einleitung Brentano behandelte das psychische Phänomen der Phantasie in einer Vorlesung, die er 1885/86 unter dem Titel Ausgewählte Fragen aus Psychologie und Ästhetik hielt.¹ Uns stehen heute zwei Fassungen dieser Vorlesung zur Verfügung: die erste und kürzere Fassung rollt ausführlicher als die zweite Fassung die Frage der Begriffsbestimmung der Ästhetik auf.² Die zweite Fassung ist unter sachlichem Gesichtspunkt viel umfangreicher und vielseitiger und stellt die Grundlage des Vorlesungstextes dar, der von der Herausgeberin Franziska Mayer-Hillebrand 1959 in dem Band Grundzüge der Ästhetik veröffentlicht wurde.³ In groben Zügen besteht der Inhalt der Vorlesung darin, dass Brentano in ihrem ersten Teil seine Auffassung von der Ästhetik zu Tage bringt, um im letzten Teil auf die Analyse der Art und Weise einzugehen, in welcher der Begriff „Phantasie“ vom gemeinen Mann und von den Philosophen verstanden wurde. Was Brentanos Auffassung von der Ästhetik betrifft, werde ich mich mit ihr nicht weiter beschäftigen, weil sie in der Fachliteratur aufschlussreich behandelt wurde.⁴ Diesbezüglich beschränke ich mich darauf, zu erwähnen, dass die Äs-
F. Brentano, Ausgewählte Fragen aus Psychologie und Ästhetik, in Grundzüge der Ästhetik (GÄ) (1959), F. Mayer-Hillebrand (Hrsg.), Hamburg, F. Meiner, 1988. Neben dieser Ausgabe werde ich mich unter den Signaturen Ps 78/2a und 78/2c auf die Fragmente aus der maschinengeschriebenen kürzeren und längeren Fassung der Vorlesung beziehen, die in einer veränderten Form in GÄ veröffentlicht wurden. Brentano hat die Frage der Phantasie auch in anderen Schriften behandelt, z. B. in PsA, S. 102– 104; PeS, S. 45 f., 95 – 97, 117; DPs, S. 68, 101. Ich werde mich auf diese Schriften nur gelegentlich beziehen, weil sie nicht auf das Problem der uneigentlichen Phantasievorstellungen als Begriffe mit anschaulichem Kern eingehen. Dr. Thomas Binder (Forschungsstelle und Dokumentationszentrum für Österreichische Philosophie, Graz) danke ich herzlich für die Erlaubnis, gewisse Seiten aus der längeren Fassung der Vorlesung nachzuschlagen. Diese Fassung steht auf der Grundlage des einleitenden Teils der veröffentlichen Vorlesung (GÄ, S. 225). Der Text des Manuskripts wurde gekürzt, verändert und an die späte reistische Auffassung Brentanos angepasst. Er und die Abhandlung „Das Genie“ bilden die erste Abteilung des Bandes: „Begriffsbestimmung der Ästhetik. Die Bedingungen für die Entstehung von Kunstwerken. Das Genie“. Zum Inhaltsverzeichnis des Bandes und den von der Herausgeberin durchgeführten Veränderungen vgl. ihre „Einleitung“ und Anmerkungen (GÄ, S. IX–XV, 225 – 236); vgl. auch J.-C. Gens, „L’esthétique brentanienne comme science normative“, Studia Phaenomenologica 4/1– 2 (2004), S. 32 f. Zusätzlich zu den Quellen, die in der vorhergehenden Anmerkung angegeben werden, vgl. auch G. Ch. Allesch, „Das Schöne als Gegenstand seelischer Intentionalität. Zu Brentanos deskriptiver Ästhetik und ihren problemgeschichtlichen Hintergründen“, Brentano Studien 2 (1989), S. 131– 139; R. Haller, „Bemerkungen zu Brentanos Ästhetik“, Brentano Studien 5 (1994), S. 177– 186; und W. Huemer, „Brentano on Beauty and Aesthetics“, in U. Kriegel (Hrsg.), Routledge Handbook of https://doi.org/10.1515/9783110524550-010
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III.1 Einleitung
thetik genauso wie die Ethik und Logik eine praktische Disziplin ist, die auf psychologischen Grundlagen beruht. Ihr Ziel besteht darin, uns zu lehren, „mit richtigem Geschmack Schönes und Unschönes zu empfinden […] und uns Anweisungen gibt, um es hervorzubringen und für die Gesamtheit eindrucksvoll und wirksam zu machen“.⁵ Was die Frage der Phantasievorstellung im Allgemeinen und die der uneigentlichen Vorstellung der Phantasie im Besonderen betrifft, bin ich dagegen der Meinung, dass der Sinn der Analyse, die Brentano diesem Thema widmete, noch nicht angemessen verstanden wurde. Unter den in der Fachliteratur aufgestellten Thesen werde ich mich weiter besonders auf zwei fokussieren. Die erste These behauptet, Brentano würde in seiner Vorlesung eine Analyse der Phantasievorstellung liefern, die für die Rolle derselben im künstlerischen Schaffen aufschlussreich sei.⁶ Diese These beruht auf dem Titel der Vorlesung, auf Brentanos Erörterungen über die Ästhetik im ersten Teil seiner Vorlesung und auch auf der Behauptung, die Phantasievorstellung sei für das Schaffen der Künstler sehr wichtig.⁷ Der zweiten These zufolge ist der Begriff der Phantasievorstellung in der genannten Vorlesung ganz und gar nicht klar.⁸ Diesen Thesen gegenüber behaupte ich: (1) Nach der in der Vorlesung 1885/86 durchgeführten Analyse hat die Phantasievorstellung in erster Linie nicht die Rolle, das kreative Schaffen des Künstlers zu erklären, sondern sie verfolgt das Ziel, die Eigenart der Phantasievorstellung gegenüber der Wahrnehmungsvorstellung angesichts ihrer Rolle im gewöhnlichen psychischen Leben zu erläutern. Anders gesagt meint der Terminus „Phantasievorstellung“ in der Vorlesung 1885/86 nicht die schöpferische Phantasie des Künstlers, sondern die Phantasievorstellung als gewöhnliches psychisches Phänomen. Brentano zufolge wird es dem Psychologen erst dann möglich, dieses Phänomen zu studieren, wenn es ihm gelingt, es von anderen, ähnlichen Phänomenen zu trennen. Die Tatsache, dass sich Brentano in seiner Behandlung der Phantasie nur selten auf das künstlerische Schaffen bezieht, während er die Phantasievorstellung der eigenen und der fremden psychischen Phänomene „als gegenwärtig, vergangen oder zukünftig“ wiederholt in die Diskussion bringt,⁹ macht klar, dass der Schwerpunkt seiner Erörterung nicht im Bereich der Ästhetik, sondern dem der Psychologie
Brentano …, S. 202– 209; außerdem meine Arbeit „Brentano on Genius and Fantasy“, in U. Kriegel (Hrsg.), a. a. O., S. 210 – 215. GÄ, S. 5. Vgl. z. B. die Bemerkung der Herausgeberin (GÄ, S. XII f., besonders 235 f.). GÄ, S. 36, 40. Vgl. z. B. Allesch, a. a. O., S. 135. GÄ, S. 85.
III.1 Einleitung
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liegt.¹⁰ Wie ich unten zeigen werde, bedeutet das trotzdem nicht, dass sie unter ästhetischem Gesichtspunkt nicht verwertet werden kann, denn sie lässt sich als eine vorbereitende Stufe zur Analyse der Rolle der Phantasievorstellung im künstlerischen Schaffen betrachten.¹¹ (2) Was die zweite These betrifft, bin ich der Meinung, dass Brentanos Text trotz der Unklarheit des Begriffs „uneigentliche Phantasievorstellung“ die Mittel zur Verfügung stellt, um deutlich festzustellen (a) in welcher Richtung er den Begriff von der Phantasie versteht, (b) welches seine wesentlichen Merkmale sind und (c) auf welche Phänomene er anwendbar ist. Den weiteren Analysen möchte ich eine Bemerkung vorausschicken: Die Vorlesung 1885/86 ist der früheste Text, der bis jetzt veröffentlicht wurde, in dem Brentano die Unterscheidung zwischen der erklärenden oder genetischen und der beschreibenden oder deskriptiven Psychologie explizit ausführt.¹² Wenn man die Art und Weise, in der er das Problem der Phantasievorstellung in der Vorlesung anpackt, unter diesem Gesichtspunkt berücksichtigt, wird deutlich, dass man es hier mit keiner rein deskriptiven Analyse zu tun hat. Im Gegenteil greift Brentano, um die Auffassung des gemeinen Mannes und des Philosophen zu charakterisieren, beide Perspektiven auf, indem er auf Schritt und Tritt sowohl deskriptive Merkmale wie etwa die Intensität des vorgestellten Inhalts als auch genetische Merkmale – die Wahrnehmungsvorstellung entsteht z. B. durch Reizung der Sinnesorgane, die Phantasievorstellung dagegen nicht – ins Spiel bringt. Diese Bemerkung ist deshalb wichtig, weil sie zeigt, dass dem Eindruck, der von Brentanos Vorlesung über deskriptive Psychologie (1890/91) erweckt werden kann, nämlich, dass er nach der expliziten Trennung beider Disziplinen weiter nur deskriptiv zu verfahren hätte, mit Vorbehalt zu begegnen ist. Die hier in der Diskussion stehende Vorlesung zeigt, dass Brentano, wenn es darauf ankommt, ein schwieriges psychologisches Problem zu lösen, beide Ansätze zu nutzen weiß.
Der Terminus „uneigentliche Phantasievorstellung“ wird tatsächlich nur in der Vorlesung und in einem Text über das Wertverhältnis der Vorstellungen verwendet. Er taucht dagegen nicht in anderen Texten auf, in denen Brentano die Frage der Rolle der schöpferischen Phantasie des Künstlers anpackt (vgl. den Index des Bandes (GÄ, S. 168 f., 256 f.)). Diese Tatsache konnte schon Zweifel hinsichtlich der ästhetischen Tragweite der Analyse Brentanos in der Vorlesung von 1885/ 86 erwecken. Wenn man diese Analyse mit Brentanos Ausführungen über die Phantasie des Künstlers in anderen Texten aus dem Band (z. B. in „Das Genie“ oder in „Zur Klassifikation der Künste“) vergleicht, dann ergibt sich, dass es einen thematischen Unterschied zwischen den letzten zwei Schriften und den Ausführungen in der Vorlesung über die Verschiedenheit der Phantasie- und der Wahrnehmungsvorstellung gibt (GÄ, S. 88 – 123, 199 – 216). Vgl. unten III.7. GÄ, S. 3 f., 36 – 40, 87.
III.2 Die gewöhnliche Auffassung von der Phantasievorstellung Weiter werde ich Argumente für die aufgestellten Thesen vorlegen, indem ich von der Gliederung von Brentanos Analyse der Phantasievorstellung ausgehe. Meine Hypothese dabei ist, dass diese Thesen in den Bestandteilen dieser Gliederung einbezogen sind. Sie lassen sich mittels einer Analyse ans Licht bringen, welche die Ergebnisse von Brentanos Versuch heranzieht, den Sinn des Terminus „Phantasie“ zu klären und die Frage zu beantworten, ob die Phänomene, die normalerweise mit diesem Wort bezeichnet werden, wahrhaft miteinander verwandt sind und eine einzige Klasse bilden oder nicht.¹ Die wichtigsten Bestandteile der Gliederung von Brentanos Vorlesung sind die folgenden: (1) eine womöglich vollständige Aufzählung der Phänomene, die vom gemeinen Mann als Phänomene der Phantasie betrachtet werden, und der Bedeutungen, in denen er den Terminus verwendet (§§ 35– 37); (2) die Analyse der Auffassungen seiner Vorgänger von der Phantasievorstellung in ihrem Verhältnis zur Wahrnehmungsvorstellung; dabei sollen zum einen den Sinn, in dem sie den Begriff verstanden haben, und zum anderen die Phänomene, die sie mit diesem Wort bezeichnet haben, in Betracht gezogen werden (§§ 38 – 48); (3) die Erforschung der erzielten Ergebnisse (a) um zu ergründen, ob es eine begriffliche Bestimmung gibt, die dem gewöhnlichen und dem philosophischen Verständnis des Terminus gemeinsam ist (§§ 49 – 50, 58.1); (b) um ein Merkmal, das begriffliche Moment der Phantasievorstellung, festzulegen, das einerseits eine klare Trennung der Phantasievon den Wahrnehmungsvorstellungen zulässt und andererseits mit der Teilung der Phänomene der Phantasie je nach der Wahrnehmung, auf die sie sich beziehen, im Einklang steht (§§ 51– 54, 56 – 57, 59 γ); (c) um aufgrund des so erzielten Begriffs von uneigentlicher Phantasievorstellung die gewöhnliche und die philosophische Auffassung von der Phantasie kritisch zu bewerten (§§ 54– 55, 58. 2– 3), und (d) um zu untersuchen, ob dieser Phantasiebegriff auf alle Unterklassen der Phantasievorstellung anwendbar ist oder nicht, und um, wenn dies nicht zutrifft, die Bedeutung dieser Tatsache hinsichtlich der Aufgabe, den Sinn des Terminus „Phantasievorstellung“ eindeutig festzustellen, zu klären (§ 59).² Weiter werde ich mich auf den ersten und letzten Punkt beziehen, weil sie zur Erörterung von Brentanos Auffassung von der Phantasievorstellung besonders geeignet sind. Im Voraus ist zu bemerken, dass Brentano die Phantasie nicht im
GÄ, S. 40 – 42, 45 f., 68 f., 72, 76, 83 – 87. GÄ, S. 41– 42, 45, 68 f., 72, 76, 83 – 87. https://doi.org/10.1515/9783110524550-011
III.2 Die gewöhnliche Auffassung von der Phantasievorstellung
433
Sinne der Veranlagung, etwas zu fingieren, sondern von Betätigung versteht.³ Es ist auch wichtig zu beachten, dass sich Brentanos Systematisierung der Phänomene, die vom gemeinen Mann als Phänomene der Phantasie betrachtet werden, als ein Versuch verstehen lässt, eine möglichst vollständige Aufzählung der Phänomene festzulegen, welche die Basis seiner Analyse bildet. Brentanos Hauptgedanke dabei ist, dass der Laie die Phantasievorstellungen als anschauliche Vorstellungen versteht, die keine Wahrnehmungsvorstellungen sind. Brentano zufolge zerfällt „die ganze Welt der Erscheinungen […] in zwei großen Klassen“,⁴ die Klasse der physischen Phänomene, die Gegenstand der äußeren Wahrnehmung sind, und die Klasse der psychischen Phänomene, deren Studium der inneren Wahrnehmung anheimfällt. Diese Einteilung bildet die Grundlage der Klassifikation der Phantasievorstellungen, die dementsprechend in zwei Unterklassen eingeteilt werden: die Phantasievorstellungen in Bezug (1) auf die äußere und (2) auf die innere Wahrnehmung. Bevor ich mich auf die Einzelheiten dieser Einteilung einlasse, möchte ich auf eine wichtige Unterscheidung zwischen der gewöhnlichen Auffassung und der Ansicht Brentanos über die Wahrnehmung aufmerksam machen. Der gemeine Mann schenkt der inneren Wahrnehmung wenig Aufmerksamkeit und konzentriert sich normalerweise auf die äußere Wahrnehmung, die er übrigens für eine wahrhafte Wahrnehmung hält. Brentano behauptet dagegen, sie sei nicht eine Wahrnehmung im wahren Sinne des Wortes,⁵ weil sie sich in Bezug auf ihre Objekte, die physischen Phänomene, sehr oft irrt. Aus diesem Grund glaubt er, die innere Wahrnehmung sei „die einzige Wahrnehmung im eigentlichen Sinne des Wortes“, denn sie erfasse ihre Objekte, die psychischen Phänomene, genauso, wie sie seien.⁶ Wie ich unten im sechsten Abschnitt dieses Teils zeigen werde, bleibt diese Auffassung von der Wahrnehmung nicht ohne Konsequenzen für Brentano, denn wenn die Wahrnehmung im echten Sinne des Wortes nur die innere Wahrnehmung ist und die Phantasievorstellungen in Bezug auf die Wahrnehmungsvorstellung klassifiziert werden, dann stellt sich die Frage, ob die Phantasievorstellung der inneren Wahrnehmung nicht die einzige Phantasievorstellung im wahren Sinne des Wortes ist. Brentano stellt diese Frage in seiner Vorlesung nicht explizit, aber es gibt zwei Gründe dafür, dass sie in seiner Analyse implizit schon vorhanden ist. Der erste Grund wird im folgenden Passus dargestellt:
GÄ, S. 43 ff. PeS, S. 95. Das bedeutet, dass sie nicht etwas als wahr annimmt oder dafür hält (PeS, S. 109). PeS, S. 108 f.; GÄ, S. 72– 76.
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III.2 Die gewöhnliche Auffassung von der Phantasievorstellung
[Solange der gemeine Mann nicht die Unterscheidung zwischen der äußeren und der inneren Wahrnehmung hinsichtlich ihres Wahrheitswertes erfasst hat; Hinzufügung I. T.] ist es nicht erstaunlich, daß auch der Begriff Phantasievorstellung nicht konsequent homolog gebildet wurde. Wie sollen wir nun dazu Stellung nehmen? Sollen wir die homologe Umbildung vollziehen? Eine gedeihliche Reform wird nicht leicht sein, und jedenfalls ist sie nur nach Richtigstellung des gesamten Tatbestandes möglich.⁷
Das zweite Argument bezieht sich darauf, dass Brentano diese Umbildung implizit vollzieht, weil er sich, wenn er Beispiele für die uneigentlichen Phantasievorstellungen anführt, nicht mit den uneigentlichen Phantasievorstellungen der äußeren, sondern mit denen der inneren Wahrnehmung beschäftigt. Erstere bleiben bei seiner Analyse ausgespart, obwohl er sich in der Vorlesung mit der anschaulichen Vorstellung der äußeren Wahrnehmung beschäftigt und in gewissen Grenzen, d. h. hinsichtlich der Merkmale des empfundenen oder des in der Phantasie vorgestellten Inhalts, mit dem Laien einverstanden ist.⁸ Was nun die gewöhnliche Einteilung der Phantasievorstellungen in die zwei Unterklassen betrifft, beginne ich mit den Phantasievorstellungen der inneren Wahrnehmung. Der gemeine Mann unterscheidet mit Bezug auf sie zwei weitere Gruppen: (2a) die Vorstellung der fremden psychischen Phänomene; diese Phänomene können nie in der eigenen inneren Wahrnehmung erlebt und vorgestellt
GÄ, S. 76. Brentano ist z. B. damit einverstanden, dass die Intensität des wahrgenommenen Inhalts größer als die des Inhalts der Phantasievorstellung ist. Er ist sich aber zugleich dessen bewusst, dass es hier um fließende Verhältnisse geht und dass es keine scharfen Grenzen zwischen der Wahrnehmungs- und der Phantasievorstellung gibt, wie die Halluzinationen und die Fieberzustände zeigen, deren Intensität die Intensität der Wahrnehmungsvorstellungen einholt und sogar übersteigt (Y 2, S. 56 ff., 71). Aus diesem Grund behauptet er sowohl in der Vorlesung aus dem Jahre 1885/86 als auch in der Vorlesung, die er ein Jahr zuvor hielt, Die neue Logik und die in ihr nötigen Reformen (1884/85), dass es zwischen den beiden kontinuierliche Übergänge gebe (Y 2, S. 57; Ps 72/c, Bl. 19761). Was die letztere Vorlesung betrifft, beschäftigt sich Brentano darin mit den Phantasievorstellungen, die der äußeren Wahrnehmung entsprechen. Dabei betont er ständig ihre „große Verwandtschaft“ (Y 2, S. 60) und den Beitrag, den die anschauliche Phantasievorstellung zur Verwirklichung der Wahrnehmung leistet, etwa ihre Rolle in der Wahrnehmung von Bewegung – während die Wahrnehmungsvorstellung nur die gegenwärtige Sequenz einer Bewegung erfasst, ergänzt die Phantasie sie mit den eben vergangenen Momenten, die mit dem wahrgenommenen Moment ein Kontinuum bilden (Y 2, S. 57, 75; vgl. oben die Ausführungen über die Proterästhesie, S. 361 f.). Husserl hat beide Vorlesungen besucht und sie hoch geschätzt (E. Husserl, „Erinnerungen an Franz Brentano (1919)“, in Aufsätze und Vorträge (1911– 1921), S. 308 f.). Ich beziehe mich weiter auf die Nachschrift Eduard Leischings von der Vorlesung „Die elementare Logik und die in ihr nötigen Reformen“ (Y 2, Buch I) des Husserl-Archivs der Universität zu Köln. Dr. Dirk Fonfara danke ich herzlich dafür, dass er mir 2006 eine Kopie dieser Nachschrift zur Verfügung gestellt hat.
III.2 Die gewöhnliche Auffassung von der Phantasievorstellung
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werden, und (2b) die Vorstellung der eigenen psychischen Phänomene als vergangen oder zukünftig.⁹ Was die Phantasievorstellungen der äußeren Wahrnehmung betrifft, sind sie für den gemeinen Mann bei weitem die wichtigsten. Aus diesem Grund behauptet Brentano, der Laie glaube, die Phantasievorstellungen im eigentlichen Sinne des Wortes seien diejenigen, die der Wahrnehmungsvorstellung ähnlich sind und den Charakter der Halluzination haben.¹⁰ Anhand seines Textes kann man die folgenden Klassen unterscheiden: (1a) Phantasievorstellungen, die mit Bezug auf die Empfindungsvorstellungen entstehen; sie lassen sich weiter je „nach dem Unterschied der Sinne (Phantasievorstellungen des Gesichts, Gehörs usw.)“¹¹ einteilen; (1b) die Halluzinationen und die Fieberphantasien; (1c) die Nachbilder;¹² (1d) die Träume; (1 f) die Vorstellungen der physischen Phänomene als vergangen oder zukünftig.¹³ Von diesen Unterklassen beschäftigt sich Brentano mit der Art und Weise, in welcher der Laie die Phantasievorstellung betrachtet, die mit Bezug auf Empfindungen entstehen, am ausführlichsten. Es geht um die Vorstellungen, die trotz ihrer Verschiedenheit von den Empfindungen eine gewisse Ähnlichkeit mit diesen zeigen. Der gemeine Mann unterscheidet sie voneinander aufgrund eines genetischen und eines deskriptiven Merkmals. Unter genetischem Gesichtspunkt besteht die Unterscheidung darin, „daß unter Empfindungen Vorstellungen verstanden werden, die durch die Einwirkung eines äußeren Gegenstandes entstünden; bei den Phantasievorstellungen sei dies nicht der Fall“.¹⁴ Die deskriptive Unterscheidung bezieht sich dagegen auf die Intensität des vorgestellten Inhalts und besteht darin, dass der Inhalt der Phantasievorstellung eine geringere Intensität als der der entsprechenden Empfindungsvorstellung hat.¹⁵ Neben den Phantasievorstellungen, die mit Bezug auf die innere und äußere Wahrnehmung entstehen, zählt der Laie noch die Phänomene zu den Phantasievorstellungen, die Brentano unter dem Namen Hineinphantasieren zusam-
GÄ, S. 44. Ich stelle mir etwa vor, wie es wäre, wenn einer von meinen jetzigen Wünschen irgendwann in der Zukunft in Erfüllung gehen würde, oder ich erinnere mich, vor gewisser Zeit einen bestimmten Wunsch oder eine bestimmte Hoffnung gehegt zu haben. GÄ, S. 45. GÄ, S. 43. Es handelt sich um die Bilder, die nach der Entfernung des Gegenstandes ein paar Momente vor den Augen bleiben (GÄ, S. 43). GÄ, S. 43. GÄ, S. 43. Die Phantasievorstellung (einer Farbe z. B.) hat normalerweise eine geringe Intensität, Treue und Vollständigkeit gegenüber der Wahrnehmungsvorstellung. Die Fieberphantasien und die Halluzinationen machen eine Ausnahme davon, weil derjenige, der sie erlebt, keinen Unterschied zwischen ihrem Inhalt und dem Inhalt der Wahrnehmungsvorstellung mehr macht (GÄ, S. 43).
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III.2 Die gewöhnliche Auffassung von der Phantasievorstellung
menfasst.¹⁶ Es geht um die Erscheinungen, die darin bestehen, dass der wahrgenommene Gegenstand durch den Eingriff der Phantasie verändert wird, etwa wenn jemand sich vorstellt, wie es wäre, wenn der Künstler in dem Gemälde, das er gerade anschaut, eine gewisse Figur anders gemalt oder einen anderen Gegenstand hinzugefügt hätte. In derartigen Fällen mischt sich die Phantasie durch ihre Tätigkeit in die Empfindungsvorstellung dadurch ein, dass sie Teilvorstellungen erzeugt, die mittels ihrer Inhalte den empfundenen Inhalt verändern.¹⁷ Auch wenn Brentano das nicht sagt, darf man in Hinblick auf seine Absicht, diese Unterklasse von allen anderen psychischen Phänomenen der Phantasie zu unterscheiden, vermuten, dass Letztere keine absichtliche Veränderung des wahrgenommenen Inhalts durchführen. Dabei soll noch hinzugefügt werden, dass die Weise, in welcher der gemeine Mann die Phantasievorstellung behandelt, und zwar unter ständiger Bezugnahme auf die Wahrnehmung, auch für Brentanos Auseinandersetzung mit dem Begriff der Phantasie bestimmend ist. Brentano fasst die Art und Weise, in welcher der Laie die Phantasievorstellung auffasst, wie folgt zusammen: Die Phantasievorstellung sei der Wahrnehmungsvorstellung wesentlich ähnlich, weil beide anschaulichen, konkreten Charakter haben.¹⁸ Die Frage, die sich angesichts dieser Auffassung stellt, besteht darin, ob die Phänomene, die vom Laien für Phantasievorstellungen gehalten werden, wirklich miteinander verwandt sind und eine natürliche Klasse bilden oder nicht. Wenn sie keine solche Klasse bilden – und Brentano ist wirklich dieser Meinung –, dann begeht die gewöhnliche Auffassung von der Phantasie den Fehler, Phänomene in eine Klasse zusammenzufassen, die miteinander nur oberflächlich verwandt sind, während sie tatsächlich nicht denselben Charakter tragen. Das Register der Phänomene, die vom gemeinen Mann als Phantasieerscheinungen betrachtet werden, ermöglicht Brentano, ein paar Kriterien herauszustellen, anhand derer er die Art und Weise analysiert, in welcher der Begriff der Phantasie in der Geschichte der Philosophie und der Psychologie verstanden wurde – der zweite
GÄ, S. 44 f. In dem von F. Mayer-Hillebrand herausgegebenen Band taucht die Unterscheidung zwischen den Phantasievorstellungen mit Bezug auf die äußere und innere Wahrnehmung und denjenigen im Sinne eines Hineinphantasierens als Unterscheidung zwischen „passiv aufgenommene[n] Vorstellungen“ der Phantasie und „Phantasie als Tätigkeit im eigentlichen Sinne“ auf (GÄ, S. 43 – 44). Im Manuskript Ps 78/2c (Bl. 19628 – 19632) findet man diese Unterscheidung nicht. Darüber hinaus hat sie den Nachteil, dass sie nicht auf alle in der Vorlesung als Phantasievorstellungen betrachteten Phänomene anwendbar ist – es ist z. B. nicht klar, warum die Halluzinationen als „passiv aufgenommene Vorstellungen“ zu berücksichtigen sind. Vgl. Ps 78/2c, Bl. 19632. GÄ, S. 45; Brentanos Meinung nach stimmt die Auffassung von der Phantasie des Laien mit der aristotelischen Lehre davon überein (GÄ, S. 46 – 48).
III.2 Die gewöhnliche Auffassung von der Phantasievorstellung
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Punkt in der oben erwähnten Aufzählung.¹⁹ Unter diesen Kriterien bezieht er sich besonders darauf, ob seine Vorgänger den Begriff eindeutig oder zweideutig bestimmt haben, ob sie die ganze Klasse der Phänomene oder nur einen Teil davon berücksichtigt haben und ob sie ihre Auseinandersetzung mit der Frage der Phantasie auf genetischer Ebene, d. h. auf der Ebene des Entstehens und Aufhörens der Phänomene, oder aber auf deskriptivem Niveau, d. h. auf dem Niveau deskriptiver Merkmale der Erscheinungen und ihrer Verbindungsweise, geführt haben. Es ist hier nicht der Ort, auf die Einzelheiten seiner geschichtlichen Darstellung einzugehen.²⁰ Es ist jedoch wichtig zu bemerken, dass Brentano dabei die Phantasievorstellung unter ständiger Bezugnahme auf die Wahrnehmungsvorstellung und unter dem Gesichtspunkt ihrer systematischen Stelle innerhalb der Klassifikation der psychischen Phänomene durch seine Vorgänger behandelte. Die Philosophen, die er dabei heranzieht, sind die folgenden: Aristoteles und Thomas von Aquin für das Altertum und Mittelalter, angelsächsische Autoren, wie etwa Hume, James und J. St. Mill, Hamilton und Bain, und auch deutsche Philosophen wie Herbart, Lotze, Johannes Müller, Fechner und Wundt für die Neuzeit.²¹ Das Fazit der geschichtlichen Analyse der Theorien seiner Vorgänger lautet wie folgt: Die Phantasievorstellung ist eine den Wahrnehmungsvorstellungen ähnliche Vorstellung, welche aber nicht Wahrnehmungsvorstellung ist. Sie verdient um so mehr den Namen der Phantasievorstellung, je mehr sie sich der Wahrnehmungsvorstellung angleicht.²²
Vgl. S. 432. Diese Erörterung macht den größten Teil der Vorlesung aus, der dem Begriff der Phantasie gewidmet wird (GÄ, S. 45 – 68). Wie man bemerkt, lässt Brentano Kant und den deutschen Idealismus vollständig beiseite. Das ist für die Art und Weise, in der er die Geschichte der neuzeitlichen Philosophie versteht, kennzeichnend. GÄ, S. 72. Die These über die Ähnlichkeit der zwei Vorstellungen ist auch in der Vorlesung von 1884/85 vorhanden (Y 2, S. 60). Wie sich aus dieser Vorlesung und auch aus dem geschichtlichen Teil der Vorlesung von 1885/86 ergibt, bezieht sich diese These auf die anschaulichen Phantasievorstellungen. Die Pointe von Brentanos Analyse in der letzten Vorlesung besteht aber ausgerechnet darin, dass er versucht zu zeigen, dass diese These auch für die uneigentlichen Phantasievorstellungen gilt. Wie unten dargelegt wird, nähern sich die uneigentlichen Phantasievorstellungen den Wahrnehmungsvorstellungen nicht unmittelbar – unmittelbar sind sie verschieden –, sondern mittelbar, und zwar mittels ihres anschaulichen Kerns, d. h. mittels der anschaulichen Vorstellungen, aus denen die uneigentlichen Phantasievorstellungen gewonnen werden.
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III.2 Die gewöhnliche Auffassung von der Phantasievorstellung
Damit trifft sich die Auffassung der Philosophen mit der gewöhnlichen Ansicht über die Phantasie, denn beide betonen aufgrund ihres anschaulichen Charakters ihre Ähnlichkeit mit der Wahrnehmungsvorstellung.
III.3 Brentanos Auffassung von der Phantasievorstellung in der Vorlesung von 1885/86: Das begriffliche und das anschauliche Moment der Phantasievorstellung Was nun Brentano betrifft, so lässt sich seine Position gegenüber diesen Auffassungen gut verstehen, wenn man die Klassifikation der Phantasievorstellungen aufgreift, die er gegen Ende seiner Vorlesung liefert. Ihr zufolge gibt es folgende Unterklassen von Phantasievorstellungen: 1. Vorstellungen, die zur inneren Wahrnehmung, 2. Vorstellungen, die zur äußeren Wahrnehmung in Beziehung gesetzt wurden. Die erste Gruppe enthält zwei Untergruppe, anschauliche Vorstellungen des inneren Gedächtnisses und gewisse unanschauliche, uneigentliche, aber der Anschauung sich nähernde Vorstellungen von psychischen Phänomenen – als gegenwärtig, vergangen oder zukünftig. Die zweite Gruppe hat drei Untergruppen: a. Anschauliche, subjektive Empfindungsvorstellungen von Physischem (Halluzinationen, Nach-empfindungen). b. Anschauliche äußere Gedächtnisvorstellungen. c. Unanschauliche, uneigentliche, aber der Anschauung sich nähernde Vorstellungen von physischen Phänomenen als gegenwärtig, vergangen oder zukünftig.¹
Wie man bemerkt, steht die Teilung in äußere und innere Wahrnehmung gleichfalls auf der Grundlage dieser Klassifikation der Phantasievorstellungen. Die Tatsache, dass die erste Unterklasse der ersten Gruppe und die ersten zwei Unterklassen der zweiten Gruppe anschaulichen Charakter haben und dass Brentano sich in den Arbeiten, die er sowohl vor als auch nach seiner Vorlesung ausgeführt hat,² besonders mit den anschaulichen Phantasievorstellungen beschäftigte, macht eine implizite Annahme seiner Vorgehensweise in der Vorlesung klar. Diese Annahme besteht darin, dass er die gewöhnliche Ansicht über die anschaulichen Phantasievorstellungen nicht einfach zurückweist, sondern mit ihr in großen Maß implizit einverstanden ist.³ Allerdings wendet er gegen sie ein, dass sie den wahren, uneigentlichen Charakter der meisten Phantasievorstellungen (der letzten Unterklasse
GÄ, S. 85. In dieser Klassifikation fehlt die Gruppe der Vorstellungen der fremden Individualität. PeS, S. 95 ff., 115 ff. Im Manuskript Ps 82/2, das den Titel „Phantasie“ trägt, behauptet Brentano: „Der empfehlenswerteste Gebrauch für ‚Phantasie‘ dürfte also dieser sein: PHANTASIE bedeutet EINE BLOSSE SINNLICHE TÄTIGKEIT“; vgl. auch PsA, S. 102– 104; PeS, S. 45 f., 95 ff., 117; DPs, S. 68, 101. Vgl. dazu Ps 78/2a, Bl. 19907 f. https://doi.org/10.1515/9783110524550-012
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III.3 Brentanos Auffassung von der Phantasievorstellung in der Vorlesung
von beiden Gruppen) verkannt und sie mit den anschaulichen Vorstellungen zusammengestellt hat. Aus diesem Grund kommt seine kritische Einstellung zur Ansicht des gemeinen Mannes in der Vorlesung besonders zu Tage, während seine Übereinstimmung damit in den Hintergrund rückt. Bevor ich Brentanos Einstellung zu den Thesen der gewöhnlichen und philosophischen Auffassung von der Phantasievorstellung und auch seine Lösung dazu darstelle, möchte ich bemerken, dass seine Analyse aus der Vorlesung aus dem Jahre 1885/86 nicht den Charakter einer bis zum Ende ausgearbeiteten Lösung hat. Sie ähnelt eher einer Hypothese, die sich um eine gut gegliederte zentrale These herum ordnet und die nur skizzenhaft dargestellt wird. Um die Bedeutung dieser Hypothese ans Licht zu bringen, werde ich unten Brentanos Thesen aufgreifen, die er in anderen Schriften, etwa in seiner Vorlesung über deskriptive Psychologie, aufstellt und die zum Verständnis seiner Hypothese von Bedeutung sind. Es kommt hinzu, dass sich trotz des unvollständigen Charakters seiner Analyse klar feststellen lässt, dass er in der Vorlesung eine eigene These über die uneigentlichen Phantasievorstellungen verteidigt, die nur begrenzte Gültigkeit hat.⁴ Diese These behauptet, die Phantasievorstellungen seien Begriffe mit anschaulichem Kern, ein Ausdruck, der trotz der Meinung der Interpreten einen klaren Sinn in Brentanos Psychologie hat. Darüber hinaus soll berücksichtigt werden, dass die Formulierung seiner These über gewisse Phantasievorstellungen nur einen Teil der Erörterung über die Phantasie bildet. Seine Erklärungen zeigen, dass es für ihn ebenso wichtig ist, die Schwierigkeiten darzustellen und kritisch zu besprechen, auf welche die Philosophen und der gemeine Mann stoßen, wenn sie versuchen, ihre Thesen auf alle von Brentano aufgestellten Unterklassen der Phantasievorstellungen anzuwenden.⁵ Dementsprechend werden alle Unterklassen von Phantasievorstellungen, die von ihm, dem gemeinen Mann und den Philosophen aufgezählt wurden, in seiner Analyse herangezogen und kritisch gewertet. Eine eigene Position bietet er dagegen nur hinsichtlich der letzten Gruppen seiner Klassifikation. Was nun Brentanos eigene These über die uneigentlichen Phantasievorstellungen betrifft, bemerkte ich schon, dass sie nur eine begrenzte Gültigkeit hat, nämlich für die Vorstellung der psychischen und physischen Phänomene als vergangen, gegenwärtig oder zukünftig und für die Vorstellung von der fremden Individualität.⁶ Der Grundgedanke dieser These besteht darin, dass die Unterscheidung zwischen der uneigentlichen Phantasievorstellung und der Wahrnehmungsvorstel Vgl. unten III.6. GÄ, S. 83. Wie sich Brentanos eigener Klassifizierung der Phantasievorstellungen entnehmen lässt, fallen diese Unterklassen mit den letzten Gruppen (d. h. mit den uneigentlichen Phantasievorstellungen) seiner Klassifikation zusammen.
III.3 Brentanos Auffassung von der Phantasievorstellung in der Vorlesung
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lung weder eine Unterscheidung der Gattung der intentionalen Beziehung (Lotze und, wie man hinzufügen kann, Husserl),⁷ noch eine Unterscheidung der Intensität des vorgestellten Inhalts (die Herbartianer und Lotze),⁸ sondern eine Unterscheidung des vorgestellten Inhalts ⁹ selbst ist. Um die Bedeutung dieser These zu erfassen, soll von vornherein gesagt werden, dass sich für Brentano die Phantasievorstellungen zwischen Empfindungen und Begriffen befinden und dass die uneigentlichen Phantasievorstellungen aus einem begrifflichen, abstrakten Moment bestehen, der auf einen anschaulichen Inhalt wesentlich hinweist. ¹⁰ Dieses begriffliche Moment, das die gewöhnliche Auffassung von der Phantasievorstellung völlig übersieht, und auch seine enge Verbindung mit dem anschaulichen Moment veranlassen Brentano dazu, den Begriff der uneigentlichen Phantasievorstellung auf der Basis der Unterscheidung zwischen anschaulichen und unanschaulichen Vorstellungen in die Diskussion einzuführen. Wenn man von der Behauptung ausgeht, dass eine Vorstellung umso anschaulicher ist, je mehr Einzelheiten über einen Gegenstand sie enthält,¹¹ dann ergibt sich, dass nur die Wahrnehmungsvorstellung dem eigentlichen Sinn der Redewendung „anschauliche Vorstellung“ entspricht, weil nur sie den Gegenstand in allen seinen uns zugänglichen Einzelheiten zeigt. Im Vergleich zur Wahrneh-
GÄ, S. 80; was Husserl betrifft, vgl. Hua XIX/I, S. 377– 389. GÄ, S. 78 f. GÄ, S. 82. Alle drei genannten Merkmale machen deskriptive Charakteristika aus. Wie schon angedeutet wurde, hat die Herausgeberin die Terminologie der Vorlesung an Brentanos späte reistische Terminologie angepasst. Aus diesem Grund wurde „Inhalt“ im Sinne von „immanentem Objekt“ überall mit „Gegenstand“ ersetzt, was zu der falschen These führen kann, dass sich der Unterschied zwischen Wahrnehmungsvorstellung und Phantasievorstellung nicht auf den Inhalt der zwei Vorstellungen, wie Brentano tatsächlich behauptet, sondern auf den mittels dieses Inhalts gemeinten Gegenstand bezieht. Wie die unten angeführte Unterscheidung zwischen der abstrakten Phantasievorstellung „rotes Quadrat“ und seiner anschaulichen Vorstellung in der Phantasie zeigt, ist es aber nicht der Gegenstand, sondern der (abstrakte oder anschauliche) Inhalt der Vorstellungen, der da verschieden ist. Damit wird klar, dass man, um Brentanos Auffassung von der Unterscheidung zwischen Phantasie- und Wahrnehmungsvorstellung aus seiner Vorlesung verstehen zu können, auf seine ursprüngliche Terminologie zurückkommen und „Gegenstand“ mit „Inhalt“ (immanentem Objekt) ersetzen muss (vgl. zu dieser Ersetzung GÄ, S. 229, Anm. 36, 108, 234). Es kommt hinzu, dass der veröffentlichte Text nicht nur durch die Auslassung der Beispielanalysen und einiger Darlegungen Brentanos über die Auffassung von Phantasievorstellung seiner Zeitgenossen gekürzt wurde, sondern dass sich auch die Art und Weise, in der die Herausgeberin ihn stilisiert und ergänzt hat, hinsichtlich gewisser wichtiger Fragmente seiner Vorlesung als ungenau erweist (vgl. unten Anm. 33). Aus diesem Grund ist es nötig, eine neue ungekürzte Ausgabe der Vorlesung zu edieren. GÄ, S. 87, 83. GÄ, S. 168.
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III.3 Brentanos Auffassung von der Phantasievorstellung in der Vorlesung
mungsvorstellung ist die Phantasievorstellung ärmer, weil ihr anschaulicher Inhalt den Gegenstand, auf den er bezogen ist, weniger intensiv und treu wiedergibt.¹² Überdies ist er unbestimmter als der Inhalt der entsprechenden Empfindung, weil er gewisse Details des empfundenen Gegenstandes beiseitelässt.¹³ Was die unanschaulichen Vorstellungen betrifft, so sind sie unbestimmter als die anderen Vorstellungen, weil sie von einer Menge individualisierender Einzelheiten des Inhalts der anschaulichen Vorstellungen absehen, um sich auf die Merkmale zu konzentrieren, die angesichts des intendierten theoretischen oder praktischen Zweckes als relevant betrachtet werden.¹⁴ In der Vorlesung charakterisiert Brentano die Wahrnehmungsvorstellung als Vorstellung im eigentlichen Sinne des Wortes, weil ihr Inhalt vollständig anschaulich ist, während die unanschaulichen Vorstellungen ziemlich unpräzise als Vorstellungen behandelt werden, deren Inhalt mehr oder weniger anschaulichen Charakter hat.¹⁵ Überdies behandelt er die Wahrnehmungsvorstellungen und die unanschaulichen Vorstellungen in einer solchen Weise, dass die Kontinuität ihrer Anwendungsbereiche ins Licht rückt. Aufgrund seines Textes lassen sich ein paar Beispiele anführen, die für das Verständnis der erwähnten Unterscheidungen und der Problematik der uneigentlichen Phantasievorstellungen hilfreich sein könnten. Das erste Beispiel bezieht sich auf die Vorstellungen der unmöglichen Gegenstände, z. B. die abstrakte Vorstellung eines runden Quadrates.¹⁶ Auch wenn die Merkmale, die in einem solchen Objekt in Verbindung gebracht werden, getrennt angeschaut werden können, macht der Versuch, sie zusammen zu denken, den extremen Fall einer gänzlich unanschaulichen Vorstellung aus, weil es unmöglich
GÄ, S. 71, 154, 168; Ps 78/2c, Bl. 19760. Ein von Brentano oft verwendetes Beispiel bezieht sich auf ein Forte, das in der Phantasie mit der Intensität eines Pianissimo vorgestellt wird. Die Vorstellung des Gesichts eines Freundes in der Phantasie enthält z. B. nur die Züge, die zu seinem Erkennen wichtig sind (GÄ, S. 82; Ps 72/c, Bl. 19757). In seiner Analyse legt Brentano keinen besonderen Akzent auf dieses Merkmal. Ich hebe es jedoch hervor, weil er von der unbestimmten Theorie über die Phantasievorstellung spricht, nach der die Phantasievorstellung ihren Gegenstand unbestimmter darstellt als die ihr entsprechende Wahrnehmungsvorstellung (GÄ, S. 65, 78, 233). LRU, S. 65 f., 80 ff. GÄ, S. 80. GÄ, S. 80. In seiner Schrift Zur Lehre vom Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen (S. 24) beschäftigt sich Twardowski ausführlich mit der Unterscheidung zwischen dem Inhalt und dem Gegenstand einer Vorstellung: Der Inhalt bezieht sich auf den Gegenstand. Die widersprechenden Eigenschaften, etwa die Eigenschaft, „rund zu sein“ und „quadratisch zu sein“, bilden zwar den Inhalt der Vorstellung, aber kommen nicht ihm, sondern dem von ihm vorgestellten Gegenstand zu. Was Brentano betrifft, so beschäftigt er sich im Kolleg von 1885/86 besonders mit dem Inhalt oder dem immanenten Objekt der Vorstellung.
III.3 Brentanos Auffassung von der Phantasievorstellung in der Vorlesung
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ist, den Inhalt der genannten Vorstellung je anschauen zu können: Es ist nicht möglich, sich ein rundes Quadrat oder einen quadratischen Kreis vorzustellen.¹⁷ Neben diesem Beispiel stellt das uneigentliche Vorstellen einen anderen wichtigen Fall dar, der für die hier geführte Diskussion von Bedeutung ist. Seine Bedeutsamkeit rührt daher, dass er es zulässt, ein wichtiges Merkmal der uneigentlichen Phantasievorstellung bei Brentano aufzudecken: Im Unterschied zu den „uneigentlich vorgestellten Begriffen“,¹⁸ deren Gegenstände nie „in einer adäquater Weise“, d. h. anschaulich vorgestellt werden können, zeichnet sich die Phantasievorstellung unter anderem dadurch aus, dass ihr Gegenstand adäquat, d. h. mittels einer Anschauung vorstellbar ist.¹⁹ Über die uneigentlichen Vorstellungen, die diese Bedingung nicht erfüllen, sagt Brentano dagegen: Uneigentlich stellen wir solches vor, wovon wir keine genau entsprechende Vorstellung haben, oft gar nicht haben können. Hierher gehört z. B. die inadaequate Weise, wie wir Gott vorstellen durch Analogien, die wir den kreatürlichen Dingen entnehmen. Wir bezeichnen mit dem Namen „Gott“ das, worauf unsere Analogien zielen. Was das aber ist, entzieht sich unserer Vorstellung […]. Auch Begriffe wie „unendlich“, „grenzenlos“, „ewig“ vermögen wir nicht in adäquater Weise zu bilden.Wir können nur durch Analogiebildung zu ihnen gelangen, indem wir uns einen überblickbaren Raum sehr erweitert oder ein periodisches Ereignis wie den Wechsel von Tag und Nacht vervielfacht denken. Ähnlich ist es aber auch, wenn wir Gegenstände nennen, deren einzelne Mermale wir wohl fassen können, die aber wegen ihrer Komplikation für uns nicht mehr vorstellbar sind. Eine Million, eine Billion können wir nicht eigentlich mehr vorstellen und nennen sie, ohne den Namen genau zu verstehen.²⁰
Außer diesen Fällen, die zeigen, was eine Phantasievorstellung nicht ist, kann man aufgrund des Textes von Brentano eine Reihe von Beispielen ausdenken, die es erlauben, den Übergang von der Wahrnehmungsvorstellung zur anschaulichen Phantasievorstellung und von hier aus weiter zur uneigentlichen, abstrakten Phantasievorstellung deutlich zu erfassen. Die erwähnte Reihe besteht aus folgenden Beispielen: das Sehen eines roten Quadrates, sein anschauliches Vorstellen in der entsprechenden Phantasievorstellung: die anschauliche Phantasievorstellung des eben gesehenen Quadrates, und drei unanschauliche, uneigentliche, abstrakte
Im „Anhang“ zur Ausgabe von 1911 der Psychologie beschreibt Brentano diese Phänomene als Vorstellungen, die keine anschauliche, sondern nur eine attributive Einheit zulassen, d. h. eine Verbindung, die dadurch entsteht, dass die Eigenschaft, „rund zu sein“, einem Gegenstand, der viereckig ist, zugesprochen wird (KPP, S. 400 f.). Die Vorstellungen mit attributiver Einheit stellen die einzige Weise dar, in der das Absurde vorstellbar ist (vgl. LRU, S. 65). LRU, S. 64 f. Vgl. unten die erste Bedingung, die eine Vorstellung einzuhalten hat, um eine uneigentliche Phantasievorstellung zu sein. LRU, S. 64; Hervorhebungen I. T.
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III.3 Brentanos Auffassung von der Phantasievorstellung in der Vorlesung
Vorstellungen, die sich auf denselben Gegenstand beziehen und die ihn mehr oder weniger unbestimmt vorstellen: „ein rotes Quadrat“, „ein rotes, gleichseitiges, rechtwinkliges Viereck“, „das gleichseitige, rechtwinklige Viereck“.²¹ Das erste Beispiel steht für die anschauliche Wahrnehmungsvorstellung, das zweite steht für die anschauliche Phantasievorstellung und bringt gut sowohl die Auffassung des gemeinen Mannes als auch die der zahlreichen Philosophen angesichts der anschaulichen Charakters der Phantasievorstellung und ihrer engen Verwandtschaft mit der Wahrnehmungsvorstellung zum Ausdruck.²² Wie schon gesagt sind diese Phantasievorstellungen für Brentano, obwohl er kein besonderes Gewicht auf ihre Analyse legt, nicht bedeutungslos. Da sich aber der gemeine Mann nur auf sie fokussiert und dabei den wahren uneigentlichen Charakter der meisten Phantasievorstellungen versäumt, geht es Brentano in seiner Vorlesung darum, die Fehler dieser Auffassung aufzudecken und zu korrigieren: Zum einen beruht sie auf einer falschen Auffassung von der äußeren Wahrnehmung, weil sie diese Wahrnehmung irrtümlicherweise als eine glaubwürdige, wahrhafte Erkenntnis betrachtet.²³ Zum anderen verkennt sie das begriffliche Moment der Phantasievorstellung, eben weil sie diese Vorstellung ausschließlich unter dem Gesichtspunkt ihres anschaulichen Charakters und ihrer Ähnlichkeit mit der äußeren Wahrnehmung denkt. Dementsprechend kommt sie nicht auf die Idee, dass der Phantasievorstellung eine begriffliche Dimension ebenso wesentlich eigen ist wie ihre anschauliche Seite. Was die letzten Beispiele betrifft, sind sie uneigentliche, mehr oder weniger bestimmte abstrakte Vorstellungen desselben Gegenstands. Der Ausdruck „ein rotes, gleichseitiges, rechtwinkliges Viereck“ z. B. stellt ihren Gegenstand mittels der begrifflichen Bestimmungen seiner Farbe und seiner Spezies als geometrische Figur vor, während „das gleichseitige, rechtwinklige Viereck“ von der Farbe absieht und nur seine allgemeine Definition als geometrische Figur wiedergibt. Diese Beispiele sind deshalb wichtig, weil jedes von ihnen seinen Gegenstand unbestimmter als das ihm vorangehende Beispiel vorstellt, und die These Brentanos schon andeuten, dass die uneigentlichen Phantasievorstellungen ihr Objekt nicht anschaulich, sondern in einer unterschiedlichen Weise begrifflich vorstellen. Unter diesem Gesichtspunkt ist es nicht zufällig, dass Brentano seine eigene Auffassung über die uneigentliche Phantasievorstellung in unmittelbarem Anschluss an die Diskussion der These, dass die Phantasievorstellung ihren Gegenstand unbestimmter als die Wahrnehmungsvorstellung vorstelle, einleitet. Diese These wird von der unbestimmten Theorie Meynerts und Machs über den Unter Ps 78/2c, Bl. 19754. Unter diesem Gesichtspunkt sind die Phantasievorstellungen sinnliche Anschauungen des Objekts, die weniger intensiv und treu sind als die Empfindungen (GÄ, S. 45 f. und passim). Vgl. dazu oben, S. 433.
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schied zwischen Wahrnehmungs- und Phantasievorstellung vertreten. Trotz seiner gelegentlichen Kritik an ihr zeigen seine Äußerungen, dass er der Meinung ist, dass diese Position unter allen besprochenen Theorien über die Phantasie der Wahrheit am nächsten kommt: Was sollen wir nun von der unbestimmten Fassung sagen? Wenn sie richtig sein sollte, so müsste irgendwelcher andere Unterschied des Vorstellens bei Gleichheit des Inhaltes gegeben sein. 30. Nun gibt es allerdings einen solchen, und er ist der einzige, der für das eine und andere Vorstellen bei gleichem Inhalt gefunden wird. Es ist der zwischen vollkommen anschaulichem und einem mehr oder minder unanschaulichem Vorstellen. Dieses letztere ist wieder ein mehrfaches selbst bei gleicher Annäherung an die Anschaulichkeit im Ganzen […] sodass also neben dem einen, anschaulichen sehr mannigfach verschiedene Fälle von unanschaulichem Vorstellen desselben Inhaltes als möglich sich ergeben.²⁴
Wie dem Text zu entnehmen ist, lässt sich ein Unterschied finden, der zur Bestätigung der unbestimmten Auffassung dienen kann, und zwar der Unterschied zwischen der Vorstellungsweise der Empfindung und der Phantasievorstellung. Auch wenn Brentano seine eigene Lösung auf dieser Unterscheidung aufbaut und sie als verträglich mit der unbestimmten Theorie berücksichtigt, legt er keinen Wert auf diese Übereinstimmung. Im Gegenteil: Er weist die unbestimmte Auffassung zurück, weil sie nur für zusammengesetzte Inhalte wie „rotes Quadrat“ gilt. Auf einfache Fälle ist sie dagegen nicht anwendbar, denn sie kann z. B. nicht den Unterschied zwischen der Wahrnehmung eines wirklichen Kanonendonners und seiner Vorstellung in der Phantasie erklären. Hier geht es um einen einfachen Fall, in dem der in der Phantasie vorgestellte Kanonendonner nicht unbestimmter, sondern weniger intensiv als der wirkliche Donner vorgestellt wird.²⁵ Was nun die Reihe der angeführten Beispiele betrifft, hat sie die Rolle, sowohl den unbestimmten Charakter der uneigentlichen Phantasievorstellung als auch sein begriffliches Moment ans Licht zu bringen. Wie oben angedeutet wurde, wird dieses Moment von Brentano in enger Verbindung mit einem anderen Moment der uneigentlichen Phantasievorstellung gedacht. Dieses Moment ist anschaulicher Natur, wird von ihm „intuitiver Kern“ genannt und lässt sich für die erwähnten Beispiele anhand von anschaulichen Phantasievorstellungen exemplifizieren, die
Ps 72/c, Bl. 19754 (Hervorhebung I. T.; im letzten Satz habe ich „weder“ durch „wieder“ ersetzt). Brentano spricht hier vom „gleichen Inhalt“, obwohl er weiter die oben angeführten Beispiele nennt, die zeigen, dass nicht der Inhalt, sondern der durch ihn vorgestellte Gegenstand gleich ist. „Inhalt“ meint also hier „der mittels des Inhalts vorgestellte Gegenstand“. Die Herausgeberin hat „Inhalt“ mit „Gegenstand“ ersetzt (GÄ, S. 80). Ps 72/c, Bl. 19756.
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der uneigentlichen Phantasievorstellung vorangehen.²⁶ Aufgrund dieser Bemerkung kann schon gesagt werden, dass die uneigentliche Phantasievorstellung Brentano zufolge begrifflichen Charakter hat und auf der Basis eines intuitiven Kerns gewonnen wird. Angesichts der genannten Beispiele lässt sich zweierlei bemerken: In der einschlägigen Literatur wurde die Phantasievorstellung im Lichte ihrer begrifflichen Dimension besonders interpretiert.²⁷ Brentanos Analyse zeigt, dass er einerseits glaubt, dass den meisten Phantasievorstellungen ohne Zweifel ein begriffliches Moment zukommt. Andererseits ist er jedoch weit davon entfernt, diese These zu verallgemeinern.²⁸ Sowohl das Beispiel des anschaulichen Vorstellens eines roten Quadrates in der Phantasie als auch die zahlreichen Hinweise auf die anschaulichen Vorstellungen in seiner Vorlesung zeigen, dass er von der wichtigen Rolle der anschaulichen Vorstellung für das Bewusstseinsleben und von ihrer Ähnlichkeit mit der Wahrnehmungsvorstellung völlig überzeugt ist.²⁹ Wie schon gesagt wurde, schenkt er aber diesem Thema keine besondere Aufmerksamkeit, eben weil es normalerweise als Paradebeispiel der Phantasievorstellung beachtet wird.³⁰ Die zweite Bemerkung bezieht sich darauf, dass das begriffliche Moment, das der uneigentlichen Phantasievorstellung wesentlich ist, nicht an sich,³¹ sondern in enger Verbindung mit den zwei anderen anschaulichen Vorstellungen innerhalb der Reihe von Beispielen gedacht werden muss. Der Grund dafür besteht darin, dass dieses Moment sich als Ergebnis eines genetischen Vorgangs, und zwar der Abstraktion, verstehen lässt, die auf der Grundlage der anschaulichen Phantasievorstellung eines roten Quadrates erfolgt.³² Weiter werde ich versuchen, das Verhältnis des begrifflichen Momentes der uneigentlichen Phantasievorstellung zu den ihr vorangehenden anschaulichen Vorstellungen aufgrund einer Passage aus einem Typoskript des Manuskripts der
GÄ, S. 83. Vgl. z. B. Haller, a. a. O., S. 182 f. Vgl. das oben Gesagte über die implizite Zustimmung Brentanos zu der Art und Weise, in der die anschauliche Phantasievorstellung gewöhnlich charakterisiert wird. GÄ, S. 82. Im Unterscheid zu Brentano hat sich Husserl mit den anschaulichen Phantasievorstellungen besonders befasst (s. unten III.8). Ps 78/2c, Bl. 19759; GÄ, S. 83. Wie sich Brentanos Text entnehmen lässt, gibt es Bereiche psychischer Erfahrung, z. B. die Vorstellung eigener psychischer Phänomene als vergangen oder zukünftig oder die Vorstellung fremder psychischer Phänomene, die nur mittels der uneigentlichen Phantasievorstellung vorgestellt werden können, d. h. nur auf der Basis des Verhältnisses des begrifflichen Moments der uneigentlichen Phantasievorstellung zu ihrem anschaulichen Kern (Ps 78/2c, Bl. 19764– 19765; GÄ, S. 83 f.).
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Vorlesung zu erklären, das zwischen den zwei Weltkriegen im Brentano-Archiv in Prag entstanden ist. Die Passage lautet: 35. Wir sagten also: [die Wahrnehmungsvorstellungen und die Phantasievorstellungen sind] dem Inhalte nach verschieden. Obj.: „Aber, wenn anderer Inhalt, Anderes vorgestellt! – es scheint aber dasselbe!“ Antwort: „Ja, ja! Anderes vorgestellt; ausser uneigentlich [denn im uneigentlichen Sinne wird dasselbe vorgestellt]“. […] Begriff des uneigentlichen Vorstellens […] 36. Machen wir Anwendung. Nicht denselben Inhalt[,] sagten wir[,] ausser uneigentlich. Dies aber [der Inhalt im uneigentlichen Sinne] ist durch das betreffende Phänomen in begrifflicher Verbindung mit anderen Momenten. Surrogatvorstellungen. Kann doch ein solches geschehen ohne ein homogenes Element. 37. Dies worauf wohl Johannes Müller [hinweist:] wenn durch blosse Grenzen. Sogar blosser Name [kann uneigentliche Vorstellung sein], wenn Assoziationen an ihn [verbunden werden].³³
Dabei soll bemerkt werden, dass der Text das begriffliche Moment der uneigentlichen Phantasievorstellung und seine Verbindung mit Momenten, deren Charakter noch nicht erklärt ist, besonders hervorhebt. Sein Hauptgedanke besteht darin, dass die Wahrnehmungs- und die uneigentliche Phantasievorstellung sich durch ihre Inhalte unterscheiden: Der Inhalt der Wahrnehmungsvorstellung ist anschaulich, der der Phantasievorstellung begrifflich. Anders gesagt, die Weise des Vorstellens, anschaulich im ersten Fall, unanschaulich, begrifflich im zweiten,
Ps 78/2c, Bl. 19758; die eckigen Klammern stammen von mir. Die veröffentliche Fassung des Textes hat die folgende Form: „56. Wir sagen also: Empfindungen und Phantasievorstellungen sind ihrem Gegenstande nach verschieden. Das heißt aber, daß anderes vorgestellt wird; es scheint jedoch dasselbe zu sein. – Die Antwort auf diesen Einwand muß lauten, es wird anderes vorgestellt, weil es sich in einem Fall (bei den Phantasievorstellungen) um ein uneigentliches Vorstellen handelt. Dies führt uns auf den Begriff des uneigentlichen Vorstellens. 57. Beim uneigentlichen Vorstellen sind Surrogatvorstellungen gegeben. Diese enthalten entweder auch das betreffende Phänomen, jedoch in begrifflicher Verbindung mit anderen Momenten, oder aber ist das eigentliche (anschauliche) Element gar nicht vorhanden. Dies verstand wohl Johannes Müller unter uneigentlichem Vorstellen. Selbst ein bloßer Name kann für die eigentliche Vorstellung eintreten, wenn beide assoziativ verbunden sind. Dann aber entsteht das, was wir eine Phantasievorstellung nennen würden.“ (GÄ, S. 82 f.) Dabei ist zu beachten, (a) dass die Herausgeberin „Inhalt“ mit „Gegenstand“ ersetzt hat, (b) dass den drei letzten Sätzen des eben angeführten Textes zufolge sowohl Brentano als auch J. Müller die Ansicht vertreten, dass ein bloßer Name, der mit einer anschaulichen Phantasievorstellung durch Assoziation verbunden ist, als eine uneigentliche Phantasievorstellung betrachtet werden kann. Was J. Müller betrifft, lässt sich seinem Text nicht klar entnehmen, dass die Verbindung zwischen dem Namen und seiner anschaulichen Vorstellung − wohl aber die zwischen dem Begriff und einer anschaulichen Vorstellung − für ihn wichtig war (vgl. unten S. 456 f.).
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macht das aus, was die zwei Vorstellungen grundlegend unterscheidet. Auf den Einwand, dass der Differenz der vorgestellten (anschaulichen und begrifflichen) Inhalte zum Trotz derselbe Gegenstand (dasselbe wahrgenommene rote Quadrat) vorgestellt wird, antwortet Brentano, dass es nicht um eine Identität im eigentlichen Sinne geht, weil sie voraussetzen würde, dass sowohl der Inhalt als auch der mittels dieses Inhalts vorgestellte Gegenstand der zwei Vorstellungen dieselben wären, was auf den besprochenen Fall nicht zutrifft, weil die Art und Weise des Vorstellens verschieden ist.³⁴ Denselben Inhalt in uneigentlichem Sinn zu haben, heißt also, dass der Gegenstand, der schon anschaulich vorgestellt wurde, auch mittels eines begrifflichen Inhalts vorgestellt wird. Brentanos Äußerung über die „begriffliche Verbindung mit anderen Momenten“ scheint mir zum Verständnis der Besonderheit der uneigentlichen Phantasievorstellung gegenüber den anderen uneigentlichen Vorstellungen, z. B. den Vorstellungen, die in der Logikvorlesung behandelt wurden, sehr wichtig. Diese Äußerung weist darauf hin, dass nicht nur der begriffliche Inhalt, sondern auch die Verbindung, welche die uneigentliche Phantasievorstellung mittels dieses Inhalts mit anderen Momenten hat, zum Verständnis der uneigentlichen Phantasievorstellung grundlegend ist. Die angeführte Stelle erklärt weder die Natur dieser Momente noch, ob sie wesentlich oder nur akzidentell zur uneigentlichen Phantasievorstellung gehören. In Anbetracht des skizzenhaften Charakters der Analyse Brentanos besteht alles, was hier versucht werden kann, darin, gewisse Hypothesen aufzustellen, die
Vgl. in diesem Sinne Brentanos Behauptungen über die Identität von zwei Begriffen in LRU, S. 76. Die These, beide Vorstellungen stellten denselben Inhalt unterschiedlich vor, lässt sich mit der Art und Weise gut in Verbindung bringen, in der Brentano noch in seiner Habilitationsschrift die Rolle der aristotelischen Phantasie versteht. Seiner Meinung nach ist der aristotelische vous poietikos „eine bewußtlos wirkende geistige Kraft“, die auf das Zentralorgan des sensitiven Teils des Körpers (das Herz) wirkt, um die Vollendung der intelligiblen Formen zu bewirken, die schon in den Phantasmen, die sich im Herz befinden, enthalten sind (PsA, S. 173 f.). Es gibt zwei Stellen in Brentanos Vorlesung, die darauf hinweisen, dass er das Verhältnis zwischen der schon vollendeten intelligiblen Form und derselben Form, die dem Vermögen nach im sinnlichen Phantasma schon enthaltenen ist, als eine Vorwegnahme seiner eigenen Auffassung von der Beziehung der uneigentlichen Phantasievorstellung zu ihrem anschaulichen Kern betrachtet: „Implizite liegt sie [Brentanos eigene Auffassung] aber eigentlich schon in dieser ältesten [aristotelischen] Theorie.“ (Ps 72/c, Bl. 19760) „38. Eigentümliche Stellung zu Aristoteles. […] Implizite wie schon gesagt in seinen […] Aussagen. Und dennoch so wenig explizit seine Ansicht, dass [sie] gewiss zunächst befremdet. Anschaulich [,] nicht begrifflich war ihm die Phantasie. Eine eigentliche, nicht uneigentliche Vorstellung. Und er machte […] zwischen der einen und anderen keinen Unterschied. Bei ihm deskriptiv keine strenge Scheidung von den Empfindungsvorstellungen. In Wahrheit hier vielmehr keine strenge Scheidung von solchen Begriffen, welche niemand mehr zu den Phantasievorstellungen rechnen würde.“ (Ps 72/c, Bl. 19763; Hervorhebung I. T.; die Hinzufügungen in eckigen Klammern stammen von mir)
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daraufhin gemäß der Kohärenz zu bewerten sind, die Brentanos Text in ihrem Licht bekommt. Zur Formulierung dieser Hypothesen werde ich Thesen aufgreifen, die Brentano in anderen Schriften ausführlich behandelte und die für das Verständnis der hier besprochenen Probleme von Bedeutung sind. Ich bin mir dessen bewusst, dass eine solche Verfahrensweise leicht für Spekulation gehalten werden kann. Aber angesichts des unvollendeten Charakters von Brentanos Analyse und der Art und Weise, in der sie in der einschlägigen Literatur interpretiert wurde, höre ich lieber diesen Vorwurf als die in der Fachliteratur schon zum Gemeinplatz gewordene These von der Unklarheit der uneigentlichen Phantasievorstellungen als Begriffe mit anschaulichem Kern³⁵ oder als der Ansatz, welcher diese Begriffe unbedingt unter ästhetischem Gesichtspunkt interpretieren will und sie deshalb als „Symbol-Vorstellungen“ oder „anschauliche Begriffe“ betrachtet.³⁶ Was nun die erwähnten Hypothesen betrifft, ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass Brentano zwei Bedingungen formuliert, die eine uneigentliche Vorstellung einzuhalten hat, um als Phantasievorstellung betrachtet zu werden. Es sind diese Bedingungen, die meinen Hypothesen zugrunde liegen. Die erste Hypothese bezieht sich darauf, dass die in dem eben angeführten Text nicht weiter präzisierten Momente einen anschaulichen Charakter haben und sich als intuitiver Kern der Phantasievorstellungen verstehen lassen. Die zweite Hypothese lautet, das Verhältnis des abstrakten Momentes der Phantasievorstellung zu den erwähnten anschaulichen Momenten lasse sich auf zwei unterschiedliche Weisen interpretieren: Zum einen und in erster Linie genetisch, d. h. als Abstraktionsvorgang, mittels dessen von einem gewissen anschaulichen Kern, sei er eine Wahrnehmungsoder eine anschauliche Phantasievorstellung, zu dem Begriff übergegangen wird, in dem die anschaulichen Eigenschaften abstrakt ausgedrückt und zusammengestellt werden – man geht von dem wahrgenommenen oder in der Phantasie anschaulich vorgestellten roten Quadrat zum Begriff „rotes Quadrat“ über. Zum anderen kann das erwähnte Verhältnis auch als eine aufgrund des Abstraktionsprozesses gestiftete Assoziation zwischen dem Begriff und den Anschauungen, aus denen er gewonnen wurde, verstanden werden.³⁷ Unter diesen Interpretationsmöglichkeiten hat meiner Meinung nach die Abstraktion den Vorrang zum Verständnis von Brentanos Theorie.³⁸ Allerdings zeigen seine Ausführungen in der deskriptiven Psychologie, dass die
Vgl. z. B. Allesch, a. a. O. S. 135. F. Mayer-Hillebrand, „Vorwort“, in GÄ, S. XIII, und „Anmerkungen“, S. 235 f. Neben dieser Assoziation ist die Assoziation zwischen dem Namen und dem von ihm bezeichneten Begriff zum Verständnis von Brentanos Auffassung von Bedeutung. DPs, S. 58 ff. In seiner Vorlesung bezieht sich Brentano explizit auf die Abstraktion (GÄ, S. 83; vgl. auch S. 81). Er erwähnt auch explizit die Assoziation. Den Hinweisen darauf kommt jedoch
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Assoziation nicht einfach beiseitegelegt werden kann, weil sie für die Diskussion über die Begriffe mit anschaulichem Kern eine wichtige Rolle spielt. Da Johannes Müllers Auffassung von der Tätigkeit der Phantasie als Erweitern und Begrenzung der Formen für die Behandlung der hier angekündigten Fragen von Bedeutung ist, werde ich auch sie darstellen. Die erste unter den erwähnten Bedingungen hebt die Korrespondenz zwischen den uneigentlichen und eigentlichen Phantasievorstellungen hervor und behauptet „daß die eigentliche Vorstellung des uneigentlich Vorgestellten eine Anschauung im engeren Sinn ist oder aus einer Vielheit von Anschauungen sich zusammensetzt“.³⁹ Im Unterschied zu den uneigentlichen Vorstellungen aus der Logikvorlesung (die Vorstellung von Gott oder von Begriffen wie „unendlich“, „grenzenlos“, „Million“ usw.) und auch zu den Vorstellungen mit atributiver Einheit (die des Absurdums z. B.), die nicht anschaulich vorgestellt werden können, bezieht sich die erwähnte Bedingung gerade darauf, dass sowohl der Gegenstand als auch der Inhalt der uneigentlichen Phantasievorstellung anschaulich vorgestellt werden können. ⁴⁰ Wie unten gezeigt wird, ist sowohl diese als auch die ihr gleich folgende Bedingung zur Vorstellung der psychischen Phänomene der fremden Individualität und der eigenen psychischen Phänomene als vergangen oder zukünftig wichtig, weil sie darauf verweist, dass die Begriffe, mittels derer wir uns in solchen Fällen auf die Zukunft oder Vergangenheit beziehen,
keine besondere Bedeutung zu: „(N. B. Besprechung des Falls, wo einer etwas wiedererkennt. J. St. Mill meint: Assoziation des Gleichen an das Gleiche. Vielmehr der begleitenden Umstände.)“ (Ps 78/c, Bl. 19761; vgl. auch unten S. 457 f.) Dieselbe These über die Assoziation wird vier Jahre später in der Vorlesung über deskriptive Psychologie wiederaufgenommen (DPs, S. 56 ff.). Diese Seiten gehören zu Brentanos Ausführungen, wo er sich auf die Begriffe beruft, die „aus konkreten Anschauungen gewonnen“ werden und die zum Verständnis seiner Auffassung von den Begriffen mit anschaulichem Kern in der Vorlesung von 1885/86 besonders relevant sind. Im letzten Teil dieser letzten Vorlesung, wo er seine eigene Theorie über die uneigentliche Phantasievorstellung darstellt, ist der Gedanke der Assoziation zweimal implizit vorhanden: einerseits als Verbindung zwischen dem Namen und einem ihm entsprechenden Bild (Ps 78/c, Bl. 19757; GÄ, S. 82); andererseits in der These der „ästhetischen Erfahrungen, die sich in ähnlicher Weise [an die Phantasievorstellungen] wie an die anschaulichen Vorstellungen knüpfen“ (Ps 78/2c, Bl. 19769; Hinzufügungen I. T.). Wie unten gezeigt wird, geht es hier um die Assoziationen der Phantasiebilder, die von den uneigentlichen Phantasievorstellungen im Hörer erweckt werden. GÄ, S. 83. Hier ist die uneigentliche Phantasievorstellung im Verhältnis zu der ihr entsprechenden anschaulichen Vorstellung gesetzt. Dabei bleibt dahingestellt, wie dieses Verhältnis aufzufassen ist: als genetischer Abstraktionsvorgang oder umgekehrt als Veranschaulichung oder Exemplifikation eines Begriffs. Auch wenn Brentano das nicht als solches sagt, lässt sich vermuten, dass die erste Bedingung ausgerechnet die Rolle hat, die Begriffe der Phantasie von anderen Begriffen zu trennen.
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Gebilde sind, die aus dem Erleben der eigenen psychischen Phänomene in der inneren Wahrnehmung geschöpft werden.⁴¹ Die zweite Bedingung zeigt, dass die Verbindung zwischen Begriff und Anschauung bei den uneigentlichen Phantasievorstellungen genetischen Charakter hat: Daß die uneigentliche Vorstellung überwiegend mittels einer […] Anschauung zustande kommt, welche der Hauptsache nach ähnlich jener eigentlichen Vorstellung [ist]. […] ich stelle mir z. B. in der Phantasie ein rein rotes Quadrat vor, indem ich die Anschauung eines neblich weißlichroten (grau rötlichen) Quadrats benutze.⁴²
Um diese Stelle zu interpretieren, gehe ich davon aus, dass es sich im ersten Satz um drei Vorstellungsarten handelt, die dieselben wie in der oben besprochenen Reihe von Beispielen sind: die uneigentliche Phantasievorstellung, die Wahrnehmungsvorstellung, und – zwischen ihnen – die Anschauung, aufgrund derer die uneigentliche Phantasievorstellung entsteht.⁴³ Um vom Ähnlichkeitsverhältnis einer Anschauung und einer „eigentlichen Vorstellung“ sprechen zu können, muss man also schon voraussetzen, dass die zwei unabhängig voneinander bestehen.⁴⁴ Auf diese Weise gelangt man zu einer Kette, die aus drei Vorstellungen gebildet wird: die uneigentliche und die anschauliche Phantasievorstellung und die „eigentliche Vorstellung“ (die „Anschauung im engeren Sinn“⁴⁵). Vor diesem Hintergrund lässt sich dieser Passus so verstehen, dass die uneigentliche Vorstellung eines rein roten Quadrates aus einer anschaulichen Phantasievorstellung „eines neblich weißlichroten (grau rötlichen) Quadrates“ gewonnen wird, die ihrerseits der Wahrnehmungsvorstellung, aus der sie geschöpft wird, ähnlich ist. Unter diesen Bedingungen scheint mir sicher, dass die zweite Bedingung einen genetischen Prozess zum Ausdruck bringt, der in zwei unterschiedlichen
In diesem Sinne sagt Brentano: „Für uns ist von Wichtigkeit, daß der Tendenz nach alles Vergangene und Zukünftige nur durch die Phantasie zugänglich wird.“ (GÄ, S. 47).Vgl. auch: „Also das kann man sagen, daß alles Sache der Phantasie ist, was Vergangenes oder Künftiges vorstellt.“ (Y 2, S. 33; vgl. auch S. 32, 46 ff.) Ps 78/2c, Bl. 19759 (die Hinzufügungen in eckigen Klammern stammen von mir). Ich verstehe die Anschauung als Phantasievorstellung, eben weil sie im Text implizit als eine Erscheinung betrachtet wird, die von der „eigentlichen Vorstellung“, d. h. von der Wahrnehmungsvorstellung des Objekts, verschieden ist. Die vermittelnde Position der anschaulichen Phantasievorstellung zwischen Wahrnehmungsvorstellung und Begriff steht mit der aristotelischen Vermittlungsfunktion der Phantasie zwischen Wahrnehmung und Denken gut im Einklang (vgl. dazu PsA, S. 98 ff., 144– 154). Vgl. dazu die Diskussion über die erste Bedingung oben.
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Weisen interpretiert werden kann: zum einen als Abstraktionsvorgang, mittels dessen die uneigentliche Phantasievorstellung aufgrund einer anschaulichen Phantasievorstellung, die ihrerseits aufgrund einer Wahrnehmungsvorstellung gebildet wird, entsteht;⁴⁶ zum anderen als ein Assoziationsvorgang zwischen einer anschaulichen Phantasie- oder Wahrnehmungsvorstellung und der uneigentlichen, begrifflichen Phantasievorstellung „rein rotes Quadrat“, die auf der Basis dieser Vorstellungen erhalten wurde. Solche Assoziationen zwischen Anschauungen und Begriffen lassen sich anhand von Brentanos Ausführungen in der deskriptiven Psychologie als Verbindungen auffassen, die auf Abstraktionsvorgängen gegründet werden: Der durchgeführte wiederholte Abstraktionsvorgang lässt als Spur eine Disposition zurück, die es möglich macht, den Begriff mit der ihm zugrundeliegenden Anschauung assoziativ zu verbinden, ohne dass der Abstraktionsprozess erneut erfolgt.⁴⁷ Auch wenn die Assoziation durch die Abstraktion gestiftet wird, gehen die assoziierten Begriffe und die Anschauungen eine andere Art der Verbindung als die der Abstraktion ein. Dabei soll noch bemerkt werden, dass der Terminus „Begriff“ von Brentano in seiner Logikvorlesung in ein dreistelliges Schema eingebettet wird, dessen zwei andere Elemente der Name, der mit ihm assoziativ verbunden ist, und der Gegenstand, der von dem Namen mittels des Begriffs bezeichnet wird, sind.⁴⁸ Aus diesem Grund lässt sich vermuten, dass die Assoziation zwischen Begriff und Anschauung bei Brentano ebenfalls als Assoziation zwischen dem mit dem Begriff verbundenen Namen und der dem Begriff entsprechenden Anschauung erfolgt.⁴⁹ Das lässt sich wohl als ein Grund betrachten, weshalb Brentano in der angeführten Stelle, die sich auf J. Müller bezieht, von der Assoziation zwischen Name und Begriff spricht, während sich J. Müller in seiner Schrift Ueber die phantastischen Gesichtserscheinungen. Eine physiologische Untersuchung (1826) nur auf die Assoziation zwischen Begriff und Anschauung beruft. Um den Kontext von Brentanos Stellung zu J. Müller zu erklären, werde ich weiter J. Müllers Ansicht über die phantastischen Gesichtserscheinungen referieren.
Diese letzte Variante steht sowohl mit der ersten Bedingung als auch mit der aristotelischen Lehre von der Phantasie als Vermittler zwischen Wahrnehmung und Denken im Einklang. PsA, S. 103 f.; DPs, S. 57. Vgl. die Darstellung der Funktionen der Namen bei Brentano unten S. 469 f. und Teil I, S. 118 f. Es gibt in DPs, S. 56 – 60 ein paar Hinweise, die in diese Richtung verstanden werden können.
III.4 Brentanos Rezeption von Johannes Müllers Auffassung von den phantastischen Gesichtserscheinungen Es gibt zahlreichen Hinweise, dass Johannes Müller für Brentano in der Zeit um 1885 ein wichtiger Gesprächspartner war: Brentano bezieht sich in der Vorlesung aus dem Jahre 1885/86 oft auf Müller, im Wintersemester 1887/89 erfolgte die Veranstaltung Brentanos: „In Gemeinschaft mit den Studierenden: kritische Besprechung ausgewählter philosophischer Schriften (Johannes Müller, Über die phantastischen Sinneserscheinungen (!), 1st.“,¹ und Müllers Name taucht auch in der Vorlesung über deskriptive Psychologie aus dem Jahre 1890/91 auf.² Auch wenn Brentano Kritik an Müllers Ansichten über die Phantasieerscheinungen übt, räumt er ein, dass sich Müllers These über den Unterschied zwischen Empfindung und Phantasie als Unterschied ihrer Betätigungsweisen weiter verteidigen lässt. Die Empfindung ist Müller zufolge eine organische Wirkung, die sich von den mechanischen und den chemischen Wirkungen dadurch unterscheidet, dass der Sinn durch dieselbe Art von Qualität auf verschiedene Stimuli reagiert: 5. […] Es ist gleichviel, wodurch den Muskel gereizt wird, durch Galvanismus, durch chemische Agenzien, durch mechanische Irritation […] auf alles, was ihn reizt, was ihn affiziert, reagiert er sich bewegend, die Bewegung ist also die Affektion und die Energie des Muskels zugleich. Es ist gleichviel wodurch man das Auge reize, mag es gestoßen, gezerrt, gedruckt, galvanisiert werden oder die ihm sympathisch mitgeteilten Reize aus anderen Organen empfinden, und auf alle diese verschiedenen Ursachen, als gegen gleichgültige und nur schlechthin reizende empfindet der Lichtnerve seine Affektion als Lichtempfindung, sich selbst in der Ruhe dunkel anschauend. Die Art des Reizes ist also in Beziehung auf die Lichtempfindung überhaupt ein durchaus Gleichgültiges, sie kann nur die Lichtempfindung verändern. Einen anderen Zustand als Lichtempfindung und Farbenempfindung in der Affektion, oder Dunkel in der Ruhe gibt es für die Sehsinnsubstanz nicht.³
Im Unterschied zu dem Sehorgan, dessen Lebensform oder spezifische Sinnesenergie⁴ sich in dem Empfinden von Licht, Farbe und Dunkel äußert, ist die Phantasie nach Müller eine „dichtende Vorstellung“, deren Lebensform oder
Vgl. „Verzeichnis der Lehrveranstaltungen Brentanos …“, in Antonelli, Seiendes, Bewusstsein …, S. 444. DPs, S. 4, 56. J. Müller, Ueber die phantastischen Gesichtserscheinungen, S. 18 f. PhG, S. 20 f., 27 ff. https://doi.org/10.1515/9783110524550-013
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III.4 Brentanos Rezeption von Johannes Müllers Auffassung
Tätigkeit darin besteht, in dem Sehfeld Formen zu beschränken und zu erweitern.⁵ Dabei soll bemerkt werden, dass die von der Phantasie begrenzten Formen nicht leuchtend und farbig sind, sondern nur so werden, wenn die Sehsinnsubstanz mit der ihr eigenen Lebensform, dem Empfinden von Licht und Farben, auf die Tätigkeit der Phantasie reagiert.⁶ Brentanos Hinweis auf Müller in dem oben angeführten Text: „wenn durch blosse Grenzen“,⁷ bezieht sich wohl auf diese Facette der Tätigkeit der Phantasie, Formen im Sehfeld zu begrenzen. Darüber hinaus wird, wenn man berücksichtigt, dass die Unterscheidung zwischen Empfindung und Phantasie auch nach Brentano eine Unterscheidung der Betätigungsweise ist, wobei die uneigentliche Phantasievorstellung abstrakt vorstellt, was die Empfindung anschaulich vorstellt, klar, weshalb Brentano am Ende seiner Darstellung von Müllers Auffassung sagt, diese Unterscheidung „wäre vielleicht genügend“,⁸ um die zwei Vorstellungen zu trennen. Eine andere These Müllers, die für die Art und Weise wichtig ist, in der Brentano das Verhältnis zwischen Begriff und Empfindung denkt, bezieht sich auf die Tätigkeit der Phantasie in Hinblick auf (a) ein aufgrund der Aufregung des Sinnesorganes aufgefasstes sinnliches Objekt und (b) ein sinnliches Objekt, das nur vorgestellt ist, ohne aber empfunden zu sein. Müllers Ausführungen darüber rühren von der Kritik her, die er an den Gesetzen der Ideenassoziation im Englischen Empirismus übt. Nach diesen Gesetzen erfolgt die Assoziation aufgrund der Verhältnisse, die sich zwischen anschaulichen Vorstellungen je nach ihrer Ähnlichkeit oder ihrer Gegensätzlichkeit abspielen. Allerdings wird auf diese Weise der wichtigste Faktor versäumt, welcher die Vorstellungen in Beziehung bringt, und zwar die Tätigkeit der Phantasie, ihr Eigenleben: 168. […] Wenn die Phantasie das Ähnliche und zugleich das Entgegengesetzte assoziiert, wo ist denn das Lebensgesetz der Phantasie, durch welches begreiflich wäre, wie sie beides tun kann, ohne anders als in ihrem Leben tätig zu sein? In den sogenannten Assoziationsgesetzen liegt das Gesetzmäßige bloß in dem Inhalt der Vorstellungen, in den Objekten der Assoziation, nicht in dem Assoziierenden, in der Phantasie selbst, und die empirische
PhG, S. 83, 85 f. PhG, S. 32: „§ 39 […] alles, was ich mir einbilden will, ist bloße Vorstellung, vorgestellte Begrenzung im dunkeln Sehfeld, es leuchtet nicht, es bewegt sich nicht organisch im Sehfelde, auf einmal tritt der Moment der Sympathie zwischen dem Phantastischen und den Lichtnerven ein, urplötzlich stehen Gestalten leuchtend da, ohne alle Anregung durch die Vorstellung. Die Erscheinung ist urplötzlich, sie ist nie zuerst eingebildet, vorgestellt und dann leuchtend.“ Vgl. oben S. 447. GÄ, S. 78.
III.4 Brentanos Rezeption von Johannes Müllers Auffassung
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Psychologie wiederholt hier, was sie immer getan hat, sie stellt Beziehungen zwischen den Produkten auf und läßt das Leben des produzierenden Geistes gehen.⁹
Müllers Analyse zielt gerade darauf ab, diese Tätigkeit der Phantasie angesichts der zwei eben genannten Gegenstände hervorzuheben. Was den sinnlich aufgefassten Gegenstand betrifft, äußert sich die Tätigkeit der Phantasie, Formen zu begrenzen und zu erweiterten, darin, dass sie eine immerwährende Abstraktion angesichts des wahrgenommenen Gegenstandes durchführt, indem sie sich auf einen seiner Teile begrenzt, um daraufhin diesen Teil durch den ganzen Gegenstand hindurch zu verfolgen: 171. Die Phantasie, in ihrer lebendigen Wirksamkeit ewig ihre Objekte in schneller Flucht und wie in einem Strome wechselnd […] Sinnliches Vorstellen ist ihre Energie, das sinnlich Vorgestellte immer zu verändern, zu beschränken, zu erweitern ist das Lebendige in ihrer Energie. Man kann ein äußeres sinnliches Objekt nicht betrachten, ohne in ewiger Veränderung bald dieses, bald jenes erweiternd, beschränkend sich lebhafter einzubilden, wir können eine zusammengesetzte architektonische Figur nicht beschauen, ohne eine immerwährende Abstraktion der sinnlichen Vorstellung, welche bald diesen, bald jenen durch den ganzen durchstrebenden Elementarteil im Sinne festhält.¹⁰ Hier ist uns nur die der
PhG, S. 84. Am Ende seiner kritischen Analyse der Assoziationsgesetze fasst Müller seine Position zusammen: „Wir haben demnach die einzelnen Assoziationsgesetze nicht nötig, denn die Verbindung des Ähnlichen, die Verbindung des Entgegengesetzten […] geschieht als ein Einfaches und nicht Widersprechendes in dem Erweitern und Beschränken des Vorgestellten, in der Subsumtion des Einzelnen unter das Allgemeine und der Verwirklichung des Allgemeinen in dem Einzelnen. Mit Recht sagen wir daher, die Assoziationsgesetze […] sind dem Eigenleben der Phantasie […] gleichgültig. Dieses Eigenleben der Phantasie ist schon in jeder Sinnesaktion vorhanden, erweiternd, abstrahierend, in dem gegebenen Äußeren sinnliche Formen schaffend […] Dieses Eigenleben ist auch das allein Wesentliche in den Assoziationen.“ (PhG, S. 86 f.) Hier zeichnet sich ein wichtiger Unterschied zwischen Brentano und Müller angesichts der Art und Weise ab, in der sie die Phantasie thematisieren, weil die Betonung bei Brentano nicht auf der Tätigkeit oder dem Eigenleben der Phantasie, sondern auf der Analyse ihrer Gebilde: der Phantasievorstellungen, liegt. J. Müllers „immerwährende Abstraktion“, d. h. die Begrenzung der Aufmerksamkeit auf ein ausgewähltes Element, findet ihre genaue Entsprechung in Brentanos Vorlesung: „Unsere Vorstellungstätigkeit ist eine Einheit. Dennoch sind Teilvorstellungen zu unterscheiden in Rücksicht auf Teile des Vorgestellten […] Die Einteilung kann dabei von verschiedenen Gesichtspunkten aus gemacht werden. 1. In Rücksicht auf die Zusammengehörigkeit der Teile in der Vorstellung selbst (Teilanschauungen im engen und weiten Sinn). 2. In Rücksicht auf andere Klassen psych. Funktionen und Unterschiede, die in ihnen bestehen, z. B. insofern ein Teil exklusiv Grundlage eines anerkennenden oder verwerfenden Urteiles, oder eines Interesses wird. (Gedanken, Begriffe). Abstraktion* ohne eigentliche Loslösung der Teile (*indem der betreffende Akt des Urteils oder des Interesses und dgl. sich auf einen Teil der Gesamtvorstellung bezog und von allen übrigen absah […]“ Ps 72/c, Bl. 19755 (Hervorhebung I. T.).
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III.4 Brentanos Rezeption von Johannes Müllers Auffassung
Phantasie notwendige Veränderung ihres Objektes erkennbar, ihr lebendiger Fortschritt im Erweitern, Beschränken des sinnlich Aufgefaßten.¹¹
Der zweite Fall bezieht sich auf ein sinnliches Objekt, das nicht wirklich empfunden, sondern nur vorgestellt wird. Er ist für die hier geführte Diskussion deshalb wichtig, weil er zeigt, um welche Art der Begrenzung es geht, wenn man von der Anschauung zum Begriff und umgekehrt übergeht. In diesem Sinne sagt Müller: 173. Auch ohne die Beschränkung auf ein äußeres sinnliches Objekt ist die Phantasie auf gleiche Weise und noch freie, tätig; denn ihr Leben bleibt hier sich selbst gleich. Sei das sinnliche Objekt ein bloß vorgestelltes, so wirkt die Phantasie, insofern sie lebt, beschränkend, erweiternd in dem Begriff des sinnlich Vorgestellten, gerade so wie sie im äußeren sinnlichen Objekte tätig ist. Sie kann das sinnlich Vorgestellte nicht in dieser seiner allgemeinen Beschränkung festhalten, sie faßt ein Einzelnes in dem sinnlich Vorgestellten auf, […] sie bleibt auch bei diesem nicht stehen, erweitert vielleicht im nächsten Augenblick dieses Konkrete zu einem Allgemeinen durch die Vorstellung des in dem Konkreten als Prädikat vorhandenen Allgemeinen.Von diesem Allgemeinen geht sie wieder beschränkend, erweiternd zu den dem Allgemeinen einwohnenden anderen Konkreten. […] 175. Hier ist kein Springen und Hüpfen von Assoziiertem zu Assoziiertem, sondern ein immerwährendes Erweitern und Beschränken des sinnlich Vorgestellten […] Die Assoziation besteht also hierin nur in der Subsumtion des Einzelnen unter ein Allgemeines und in dem Bilden des Allgemeinen zu einem Konkreten. Mit Unrecht sagt man hier, dem ersten Einzelnen wird das zweite Konkrete assoziiert. Das zwischen beiden liegende Ähnliche oder das Allgemeine ist ein notwendiger Akt des Fortschrittes.¹²
Dem Text lässt sich entnehmen, dass die Operationen der Beschränkung und Erweiterung sowohl vom angeschauten Merkmal zu seinem Begriff als auch umgekehrt erfolgen. In beiden Fällen besteht die Beschränkung darin, dass die Aufmerksamkeit sich auf den den Einzelfall subsumierenden Begriff oder auf das den Begriff verwirklichende angeschaute Merkmal fokussiert. Obwohl es selbstverständlich ist, dass jeder Begriff mit einem Namen verbunden ist, bezieht sich J. Müller nicht auf diese Assoziation, sondern nur auf jene zwischen Begriff und Anschauung: Diese letzte erweitert sich durch den Subsumierungsvorgang zum Begriff des in ihr anschaulich Vorgestellten, ebenso wie die Erweiterung und PhG, S. 85. Dies kann z. B. der Fall sein, wenn jemand vor einem Kirchenfenster steht, das aus verschiedenen geometrischen Figuren gebildet wird, und seine Aufmerksamkeit nur auf eine von ihnen lenkt, um danach zu verfolgen, wie diese Figur (ein Quadrat z. B.) durch das ganze Kirchenfenster hindurch genutzt wird, oder, die Grenze der Wirklichkeit überschreitend, um sich vorzustellen, wie ein derartiges Fenster aussehen würde, das nur aus Quadraten oder aus mit ihm verwandten Figuren bestehen würde. PhG, S. 85 f.
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Beschränkung auch in die umgekehrte Richtung verlaufen können, und zwar durch die Konkretisierung des Begriffs in einem ihm untergeordneten Merkmal.¹³ Das Problem des Namens und der ihm eigenen Verhältnisse wird also nicht von J. Müller, sondern von Brentano in die Diskussion gebracht.¹⁴ Obwohl Brentano in der Vorlesung von 1885/86 von der Assoziation spricht, schenkt er ihr keine besondere Aufmerksamkeit. Hingegen stellt die Assoziation in seiner Vorlesung über die deskriptive Psychologie (1890/91) ein wichtiges Mittel zum Bemerken der Teile dar, die in dem wahrgenommenen Gegenstand vorhanden sind, ohne aber explizit wahrgenommen zu werden.¹⁵ In der Analyse, die Brentano der Erklärung dieser Rolle der Assoziation widmete, sagt er: 46. Fragt man: Was assoziiert werde? So glauben viele, daß es immer nur Vorstellungen vom Charakter der Empfindung seien, indem, wenn man die betreffenden Empfindungen schon früher einmal gehabt, diese später, nur meist abgeschwächt, wiederkehrten. 47. Das ist aber ganz falsch. Zwar gibt es wohl auch solche: im Traum, oder im Fieber. Mit Recht weist Johannes MÜLLER darauf hin, daß nicht bloß Vorstellungen vom Charakter der Empfindung, sondern auch Begriffe assoziiert werden. Mit dem Namen Farbe, mit dem Namen 5 usw. assoziieren wir eine Vorstellung, welche den Empfindungen heterogen, welche ein Begriff ist. 48 […] Es müßte denn einer es [das Gesetz der Assoziation desselben an dasselbe; Hinzufügung I. T.] so verstehen, daß dasselbe begrifflich und in konkreter Anschauung aneinander [assoziiert wird].¹⁶
Vgl. dazu auch DPs, S. 58. M. Müller macht darauf aufmerksam, dass J. Müller in der Zeit, in der er seine Arbeit schreibt, unter dem Einfluss von Schellings Identitätsphilosophie stand (M. Müller, „Anmerkungen“, in PhG, S, 100). J. Müllers Ausdrücke „das Leben des produzierenden Geistes“, das „Bilden des Allgemeinen zu einem Konkreten“, „die Verwirklichung des Allgemeinen in dem Einzelnen“ sind auf diesen Einfluss zurückzuführen (PhG, S. 84, 86). Dabei soll hinzugefügt werden, dass Brentano zwei Bedeutungen des Terminus „Phantasie“ bei Johannes Müller unterscheidet: im eigentlichen, engeren Sinn stellt die Phantasie die Tätigkeit des begrifflichen Denkens, die Abstraktionen durchführt, dar; im uneigentlichen, weiteren Sinn ist die Phantasie die Tätigkeit, die Formen im Sehfeld vorstellt und bestimmt (GÄ, S. 61 f.). Es ist hier nicht der Ort einer eingehenden Diskussion dieser Frage, ich möchte jedoch bemerken, dass Müllers Text nicht so deutlich für das Verständnis der Phantasietätigkeit als begriffliches Denken plädiert, wie Brentano behauptet. Der Titel seiner Schrift: Ueber die phantastischen Gesichtserscheinungen weist auf die Tätigkeit der Phantasie als Begrenzung der Formen im Sehfeld hin. Der zweite Teil seiner Schrift, in der er die Geschichte des Problems darstellt, beschäftigt sich besonders mit den in diesem letzten Sinne verstandenen Phantasiegebilden. Die Ausführungen des dritten Teils des Buches sind die einzigen, welche die Interpretation der Phantasietätigkeit als begriffliches Denken unterstützen, aber auch hier beginnt J. Müller mit einer Diskussion über die Tätigkeit der Phantasie als Beschränkung der Formen im Sehfeld (PhG, S. 82– 87). DPs, S. 33. DPs, S. 56 (Hervorhebung I. T.). In diesem Zusammenhang soll Brentanos Behauptung – „Mit recht weist Johannes Müller darauf hin, daß nicht bloß Vorstellungen vom Charakter der Emp-
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Dass der hier angeführte Text zur Interpretation der oben exzerpierten Stelle aus Ps 78/2c, Bl. 19758 §§ 35 – 37¹⁷ wichtig ist, lässt sich daran erkennen, dass Brentano hier von der Heterogenität des Begriffs und der Anschauung spricht. In demselben Sinne weist er in Ps 78/2c, Bl. 19758 darauf hin, dass die Begriffe, die den Surrogatvorstellungen eigen sind, in Verbindungen mit Momenten, mit denen sie kein homogenes Element haben, kommen können. Wie der zuletzt angeführte Text zeigt, sind die Elemente, deren Heterogenität hier in der Diskussion steht, die Begriffe und die konkreten Anschauungen.
findung, sondern auch Begriffe assoziiert werden“ – so verstanden werden, dass nicht Begriffe, sondern Begriffe mit den ihnen entsprechenden Anschauungen assoziiert werden (vgl. oben die angeführte Stelle aus §§ 173 – 175 in Müllers Buch). Man assoziiert also Brentanos Meinung nach nicht nur ähnliche (z. B. anschauliche) Vorstellungen gleicher Art, sondern auch heterogene Vorstellungen, die darin ähnlich sind, dass sie abstrakt und anschaulich denselben Gegenstand vorstellen. S. oben S. 447.
III.5 Brentanos Auffassung von den uneigentlichen Phantasievorstellungen als Begriffe mit anschaulichem Kern In diesem Rahmen fasst Brentano seine eigene Auffassung von der uneigentlichen Phantasievorstellung zusammen. Sie steht uns in zwei Fassungen zur Verfügung. Die erste Fassung drückt seine programmatische These aus und gehört zum Vorlesungsmanuskript, das von F. Mayer-Hillebrand veröffentlicht wurde: „Tatsächlich sind die meisten Phantasievorstellungen nicht Anschauungen, sondern Begriffe mit anschaulichem Kern.“¹ Die zweite Fassung gehört zum kürzeren Manuskript der Vorlesung Ps 78/2a, wurde nicht im veröffentlichten Band aufgenommen und erlaubt ein klares Verständnis des Verhältnisses der uneigentlichen Phantasievorstellung zu ihrem anschaulichen Kern: „Die gewöhnlichen Phantasievorstellungen sind Surrogatvorstellungen für Anschauungen, deren Inhalt sie uneigentlich vorstellen, während ihr eigentlicher Inhalt ein Gedanke mit anschaulichem Kern ist.“² Um diese Passagen zu interpretieren, werde ich zwei anderen Texte Brentanos zu Rate ziehen: der erste bezieht sich auf das Wertverhältnis der Vorstellungen und beweist die Wichtigkeit des Abstraktionsprozesses für das Verständnis des in beiden Texten angesprochenen Verhältnisses des Begriffs zu seinem anschaulichen Kern. Der zweite Text gehört zur deskriptiven Psychologie und weist auf die Verschwommenheit der Grenze zwischen den Begriffen mit anschaulichem Kern, die uneigentliche Phantasievorstellungen sind, und denen, die dies nicht sind, hin. Der erste Text lautet: „Es ist der Vorgang der Abstraktion, der uns von den anschaulichen zu den allgemeineren Vorstellungen führt, doch kann auch in den abstraktesten Vorstellungen immer noch ein anschaulicher Kern aufgewiesen werden.“³ Dem Passus aus Ps 78/2a zufolge sind die uneigentlichen Phantasie-
GÄ, S. 83; vgl. auch: „Wahre Natur der Phantasiebilder. a). [Sie haben einen] anschaulichen Kern. Ergänzende und berichtigende Bestimmungen [sind bei ihnen] produktiv vorhanden.“ (DPs, S. 101) Ps 78/2a, Bl. 19908. GÄ, S. 168; vgl. auch die folgende Stelle aus Ps 72/c, Bl. 19760: „Die begriffliche Ergänzungen, wie in ähnlichen Fällen oft, nicht bemerkt; und noch weniger die Teilanschauungen, aus welchen sie genommen […] Ich darf um so weniger einen Stein auf andere werfen, als selbst spät zur richtigen Einsicht […] gelangt.“ Brentano betont mehrmals in seinen Schriften diese These: „Um diese Frage in befriedigender Weise zu beantworten, müssen wir vor allem den Ursprung des Begriffs des Guten aufsuchen, der, wie der Ursprung aller unserer Begriffe, in gewissen konkret anschaulichen Vorstellungen liegt. Wir haben anschauliche Vorstellungen physischen Inhalts; sie https://doi.org/10.1515/9783110524550-014
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III.5 Brentanos Auffassung von den uneigentlichen Phantasievorstellungen
vorstellungen begriffliche Surrogate für den Inhalt anschaulicher Vorstellungen. Auch wenn in der Passage aus dem Text über das Wertverhältnis der Vorstellungen nicht behauptet wird, dieser Inhalt sei dasselbe wie der anschauliche Kern der Surrogatvorstellungen, interpretiere ich ihn so und behaupte, die uneigentlichen Phantasievorstellungen seien der abstrakte, begriffliche Ausdruck ihres anschaulichen Kernes, d. h. des Inhalts der ihnen entsprechenden anschaulichen Vorstellungen. Diesem Text zufolge ist klar, dass der anschauliche Kern, von dem in Ps 72/a und 72/c gesprochen wurde, im Sinne von Anschauungen verstanden werden kann, aus denen die Begriffe abstrahiert werden. Die Begriffe mit anschaulichem Kern sind daher ausgerechnet die Begriffe, die durch Abstraktion aus Anschauungen gewonnen werden. In seiner Vorlesung weist Brentano mehrmals darauf hin, dass man bei der Bestimmung der Phantasievorstellungen als Begriffe mit anschaulichem Kern Gefahr läuft, sie mit den Begriffen, die keine solchen Vorstellungen sind, zu verwechseln. Ich werde die hier zur Debatte stehenden Unterschiede anhand des folgenden Passus hervorheben: c) Die Begriffe werden aus konkreten Anschauungen gewonnen und haben, wenn wir sie später nochmals denken, immer konkrete Anschauung zur Unterlage. Ist nun in irgend einem Fall eine konkrete Anschauung gegeben und zwar ein Gegenstand, mit welchem wir uns aufmerksam beschäftigen, und wird durch irgend ein Mittel, welches die Ideenassoziation an die Hand gibt, der Begriff aufgerufen, so ist es wahrscheinlich, daß die erwähnte Anschauung für ihn als Unterlage genützt wird und so der betreffende Zug in der Anschauung bemerkt wird.⁴
zeigen uns sinnliche Qualitäten, in eigentümlicher Weise räumlich bestimmt. Aus diesem Gebiet stammen die Begriffe der Farbe, des Schalles, des Raumes und viele andere.“ (USE, S. 16; vgl. auch S. 53 f., wo Brentano zeigt, dass es nicht nur Anschauungen physischen, sondern auch psychischen Inhalts gibt) „Bei einer solchen meinen viele, sie müßten immer nach allgemeinen Bestimmungen greifen, und sie vergessen dabei, daß das letzte und wirksamste Mittel der Verdeutlichung überall in dem Hinweis auf die Anschauung des einzelnen bestehen muß, aus welcher wir alle allgemeinen Merkmale schöpfen. Was soll alle Verdeutlichung des Begriffes Rot oder Blau, wenn ich jemand nicht ein Rot und ein Blau vor die Augen bringe?“ (WE, S. 29; vgl. auch PeS, S. 96 f.). Obwohl Brentano hier nicht den Ausdruck „Begriffe mit anschaulichem Kern“ nutzt, ergibt sich klar aus dem Text, dass es sich dabei um Begriffe handelt, die aus den Anschauungen geschöpft werden, d. h. um Begriffe mit anschaulichem Kern. DPs, S. 58.
III.5 Brentanos Auffassung von den uneigentlichen Phantasievorstellungen
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Wenn jemand z. B. einen farbigen Gegenstand sieht und daran gewöhnt ist, nicht nur den Namen⁵ der Farbe auszusprechen, sondern darüber hinaus auch ihre Nuance anzuerkennen und zu nennen, dann kann der farbige Gegenstand, den er gerade sieht, als Unterlage zum Bemerken und Aussprechen des Namens der betreffenden Farbnuance fungieren, etwa, indem sein Psychognosieprofessor in den betreffenden Fällen „marineblau“ oder „in Rot spielendes Blau“ ausspricht. Wie sich aus den Ausführungen in demselben Kapitel über die Rolle der Gewohnheit für die Bildung der Assoziation ergibt, beruht die gleichzeitige Anwesenheit des Begriffs und der ihm entsprechenden Anschauung im Bewusstsein auf der durch die Durchführung der Abstraktion gestifteten Assoziation zwischen ihnen. Aufgrund der Merkmale, die im Begriff zusammengefasst sind, erfasst der Psychognost die dem Begriff entsprechenden anschaulichen Teile, die in der Gesamtanschauung schon implizit anwesend sind. Damit werden sie explizit wahrgenommen oder bemerkt. Es ist klar, dass die Verbindung, die in diesem Fall zwischen Begriff und Anschauung besteht, sowohl von der anschaulichen Einheit der Wahrnehmungsvorstellungen als auch von der oben besprochenen attributiven Einheit der Begriffe, die nicht anschaulich vorstellbar sind, verschieden ist.⁶ Sie ist auch von der äußerlichen Einheit distinkt, die daher rührt, dass die zwei heterogenen Momente von einem ihnen äußeren psychischen Akt eines Urteils oder einer Gemütsbewegung einheitlich betrachtet werden.⁷ Brentanos Ausführungen über die Rolle der Assoziation zur Durchführung des Bemerkens in der deskriptiven Psychologie zeigen, dass es hier um eine besondere Art der Verbindung geht, und zwar die der Assoziation, die einen Begriff mit der Anschauung verbindet, aus welcher er gewonnen wurde. Es gibt keinen Hinweis im Brentanos Text, dass die so verbundenen heterogenen Momente eine einheitliche Vorstellung bilden würden. Auf jeden Fall soll bemerkt werden, dass ein solcher Begriff, der assoziativ mit einer anschaulichen Phantasievorstellung verbunden und im Bewusstsein gleichzeitig mit ihr vorhanden sein kann, beide Bedingungen erfüllt, um eine Phantasievorstellung zu sein.⁸ Schließlich und endlich sollen die Begriffe mit anschaulichem Kern als uneigentliche Phantasievorstellungen von den Gesamtvorstellungen unterschieden
Über die Rolle, die das Nennen beim Bemerken spielt, sagt Brentano: „52. Die einfachste Weise, wie wir die Assoziation dazu benützen, einen etwas bemerken zu lassen, ist, daß wir es ihm namhaft machen.“ (DPs, S. 59) KPP, S. 400 f. In diesem letzten Fall handelt es sich nach Brentano um Verschmelzung von Vorstellungen (GÄ, S. 81). Vgl. dazu die Ausführungen auf S. 450 f. oben.
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III.5 Brentanos Auffassung von den uneigentlichen Phantasievorstellungen
werden, welche die künstlerischen Phantasievorstellungen des Dichters oder des Dramaturgen im Bewusstsein des Empfängers erwecken werden. Diese Gesamtvorstellungen bestehen aus dem begrifflichen Moment der schöpferischen Phantasievorstellungen und aus den Assoziationen der Phantasie- und der Erinnerungsvorstellungen, welche die uneigentlichen Phantasievorstellungen im Hörenden wachrufen:⁹ Noch etwas spricht für die Geltung des Satzes, daß reichere Vorstellungen begehrenswerter sind als dürftigere. Wir finden mehr Gefallen an einer Landschaft oder an einem Theaterstück als an einem Buntpapier oder Tapetenmuster, wenn auch die Figuren sehr gefällige Linien bieten und die Farben Pracht und Glanz haben. Warum? An dieses bloße Arabeskenwerk und die Farbflächen knüpfen sich keine Assoziationen, wohl aber assoziieren sich an die Landschaft und an das Theaterstück eine Menge von Phantasievorstellungen und Erinnerungsbildern, so daß die Gesamtvorstellung, die dabei wachgerufen wird, viel reicher ist.¹⁰
Allerdings ist es sehr wohl möglich, dass die Assoziationen, um die es hier geht, nach einem anderen Muster – dem der Gesetze der Ideenassoziationen – erfolgen, als dem, welches den uneigentlichen Phantasievorstellungen eigen ist, nämlich die Assoziation zwischen dem Begriff und der Anschauung, die als Folge eines
Brentano hat eine fragwürdige Klassifikation der Künste zusammengestellt, die auf dem Vorrang des Begriffs gegenüber den anderen künstlerischen Ausdrucksmitteln (dem Bild, dem Ton usw.) beruht. Dieser Klassifikation zufolge kommt an erster Stelle die Poesie, weil sie mit Begriffen arbeitet und so als die geistreichste unter den Künsten betrachtet werden kann. Ihr folgen die bildenden Künste und die Musik: „So mögen wir denn im Grunde vornehmlich drei Künste unterscheiden, für die dann auch zugleich die Rangordnung geklärt ist. Obenan steht die Poesie, die, indem sie des Wortes als Begriffe weckenden Zeichens sich bedient, vornehmlich durch die Begriffe selbst wirkt. Sie ist die geistigste Kunst und kommt in ihrem Adel der Philosophie selbst nahe. […] Ihr zunächst aber steht dann die bildende Kunst und zwar eben darum, weil sie in den Gestalten, die sie uns bietet und durch die sie unmittelbar auf uns wirkt, viel bestimmter und sicherer ein begriffliches Denken in uns aufzurufen vermag. Der Kunst, die sich an das Ohr wendet, der Musik, gebührt, so schätzbar sie uns auch ist, entschieden die letzte Stelle.“ (GÄ, S. 211 ff.; vgl. auch S. 209) Man sollte jedoch beachten, dass es in GÄ auch Äußerungen gibt, die dieses intellektualistische Kriterium der Klassifikation abmildern und darauf deuten, dass das, was Brentanos Ansicht nach wirklich zählt, die Suggestionskraft der Phantasievorstellungen ist. Diesen Äußerungen zufolge zeichnen sich die schöpferischen Phantasievorstellungen dadurch aus, dass sie eine Fülle von Affekten und Assoziationen von Bildern oder psychischen Phänomenen bei ihren Empfängern erwecken. Brentano weist der Poesie auch unter diesem Gesichtspunkt die erste Stelle zu, weil sie am meistens die Fähigkeit hat, Assoziationen von psychischen Phänomenen wachzurufen (GÄ, S. 156, 208 ff.; Ps 78/2c, Bl. 19631). GÄ, S. 154 (Hervorhebung I. T.); die These von den Assoziationen, die das Betrachten der Kunstwerke in ihrem Empfänger bewirkt, wird von Brentano mehrmals betont (S. 155 – 160, 168 f., 218 f.).
III.5 Brentanos Auffassung von den uneigentlichen Phantasievorstellungen
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Abstraktionsvorganges entsteht, oder die Assoziation zwischen dem Namen und dem Begriff. Wie sich dem Text aus Ps 78/2a entnehmen lässt, lassen sich der als Inhalt einer Surrogatvorstellung verstandene Gedanke und die ihm entsprechenden Anschauungen nicht als Teile einer einzigen Gesamtvorstellung verstehen, sondern ihre Verbindung besteht darin, dass der Begriff in einer uneigentlichen, abstrakten Weise seinen anschaulichen Kern vorstellt.¹¹ Auch wenn die Assoziation ein wichtiges Verfahren in Brentanos Ästhetik und Psychologie ist, kann nicht gesagt werden, dass die Begriffe mit anschaulichem Kern Gesamtvorstellungen sind, die durch Assoziation zwischen einer begrifflichen Vorstellung und den anschaulichen Vorstellungen, die von ihr im Bewusstsein des Hörenden erweckt werden, entstehen. Brentanos Äußerungen über „die Menge von Phantasievorstellungen“, die sich assoziieren, wenn ein Kunstwerk betrachtet wird, verweisen jedoch auf einen möglichen Übergangsweg von der Analyse der Rolle der uneigentlichen Phantasievorstellungen im gewöhnlichen psychischen Leben zur Behandlung ihrer Rolle für das künstlerische Schaffen.¹² In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu beachten, dass es, obwohl die Begriffe mit anschaulichem Kern bei Brentano mit dem Gedanken, dass sie aus Anschauungen gewonnen werden, wesentlich verbunden sind, nicht dieser genetische Aspekt ist, den er hervorhebt, sondern die Tatsache, dass die Begriffe der Phantasie in einer uneigentlichen Weise ihren anschaulichen Kern vorstellen. Mithin liegt die Betonung nicht auf der genetischen Seite des Problems, auf dem Übergang von Anschauungen zum Begriff mittels eines Abstraktionsvorganges, sondern darauf, dass die abstrakten Merkmale, die im Begriff zusammengestellt werden, in einer uneigentlichen Weise den sinnlichen Inhalt ihrer Abstraktionsbasis vorstellen. In seiner Vorlesung lässt Brentano zu, dass diese Begriffe der Phantasie nicht klar von anderen Begriffen unterschieden werden können, die nicht solche Vorstellungen sind − schließlich und endlich kann gesagt werden, dass jeder Begriff, unabhängig davon, ob er sich auf Außendinge wie Häuser oder Bäume oder auf mentale Zustände (Hoffnung, Freude, Trauer) bezieht, in einer uneigentlichen Weise, d. h. nicht anschaulich, sondern abstrakt, sein Objekt vorstellt. Brentanos Meinung nach zeigt dies aber nur, dass die Phantasievorstellung kein psychologischer Grundbegriff ist.¹³ Allerdings bleibt seine fundamentale These über die eigentliche Natur der meisten Phantasievorstellungen davon unberührt, eben weil sie den Charakter einer empirischen, induktiven Feststellung über die meisten Phantasievorstellungen hat.¹⁴
Vgl. oben S. 449. Vgl. unten S. 468 f. GÄ, S. 87. GÄ, S. 83.
III.6 Die wichtigsten Gruppen der Begriffe mit anschaulichem Kern als uneigentliche Phantasievorstellungen Um die Art und Weise genauer zu erforschen, in der das Verhältnis zwischen Begriff und seinem anschaulichen Kern in Brentanos Vorlesung über Psychologie und Ästhetik funktioniert, werde ich weiter ein paar Beispiele analysieren, die zu den wichtigsten Unterklassen der uneigentlichen Phantasievorstellungen gehören. Es handelt sich um die letzten Gruppen der zwei Klassen in Brentanos Klassifikation der Phantasievorstellungen, zu denen, so Brentano, die meisten Phantasievorstellungen gehören: die Vorstellung der fremden psychischen Phänomene und der physischen und der eigenen psychischen Phänomene als vergangen oder zukünftig.¹ Im Unterschied zur oben betrachteten Reihe von Beispielen, die es uns erlaubt hat, drei Vorstellungsarten in ihrem genetischen Verhältnis zueinander zu veranschaulichen, und deren Gegenstand, das rote Quadrat, direkt wahrnehmbar ist, beziehen sie sich alle erwähnten Unterklassen auf die Phänomene, die nicht unmittelbar wahrgenommen werden können. Die Analyse dieser Gruppen ermöglicht es in höherem Maß als die Analyse der Vorstellungen des roten Quadrates, die Rolle der uneigentlichen Phantasievorstellungen im gewöhnlichen psychischen Leben zu verstehen: Mittels der uneigentlichen Phantasievorstellungen können wir uns auf Phänomene beziehen, die nicht unmittelbar wahrnehmbar sind, weil sie entweder zu anderen Personen oder zur Vergangenheit oder Zukunft gehören. Unter den genannten Klassen fallen die Vorstellungen der fremden psychischen Erscheinungen und der eigenen psychischen Phänomene als vergangen oder zukünftig in die Unterklasse der Phantasievorstellungen der inneren Wahrnehmung. Dagegen gehören die Vorstellungen der physischen Phänomene als vergangen oder zukünftig in die Unterklasse der Phantasievorstellungen der äußeren Wahrnehmung. Dabei muss von vornherein gesagt werden, dass alle diese Phänomene von Brentano als abstrakte Vorstellungen oder Begriffe betrachtet werden, und dass ihr unterscheidendes Merkmal gegenüber anderen Begriffen, z. B. den Begriffen, die keine anschauliche, sondern nur eine attributive Einheit haben, darin besteht, dass die uneigentlichen Phantasievorstellungen durch Abstraktion aus einem gewissen anschaulichen Kern, sei es einer anschauliche Phantasievorstellung oder einer Wahrnehmungsvorstellung, erhalten werden.
Ps 78/2c, Bl. 19764– 19767; GÄ, S. 83 – 85. https://doi.org/10.1515/9783110524550-015
III.6 Die wichtigsten Gruppen der Begriffe mit anschaulichem Kern
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Was die Vorstellung der fremden psychischen Phänomene betrifft – die Frage des alter ego bei Husserl² – behauptet Brentano, dass wir es mit Phantasievorstellungen der fremden Individualität zu tun haben, wenn man ein literarisches Kunstwerk liest oder mit jemanden spricht oder von jemandem etwas erzählt bekommt usw.: Unmöglichkeit eine fremde Individualität eigentlich vorzustellen. (Im Zusammenhang damit Unmerklichkeit des eigenen individualisierenden metaphysischen Teils, welcher gleich bleibt durchs ganze Leben.) Aber wir meinen. Und sprechen dann von Phantasievorstellungen, z. B. beim Sprechen mit jemandem, bei einer Erzählung – Geschichte oder Dichtung – beim Anblick von Gebärden, – Gemälden usw.³
Vgl. dazu E. Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, S. Strasser (Hrsg.), Hua I, Den Haag, Martinus Nijhoff, 1963, S. 121– 177. Brentano hat diese Frage in seiner Psychologie unter der Rubrik „Indirekte Erkenntnis fremder psychischer Phänomene aus ihren Äußerungen“ (PeS, S. 7, 51– 55) behandelt, wo er sowohl die sprachlichen als auch die nichtverbalen Äußerungen der psychischen Phänomene als ihre Zeichen betrachtete (vgl. oben im zweiten Teil, II.3.2.5). Was die nichtverbalen Äußerungen betrifft, bezieht sich Brentano weder in seiner Vorlesung von 1885/86 noch in der Psychologie auf Ueberweg. Aus der Metaphysikvorlesung wissen wir aber, dass Ueberweg eine wichtige Quelle für Brentanos Ausführungen über die innere und äußere Wahrnehmung war (Brentano, „Metaphysik. I. Theil. Apologetik …“, S. 36). Ich referiere weiter Ueberwegs Erörterungen darüber in seinem System der Logik, weil sie zum Verständnis der hier zur Debatte stehenden Frage hilfreich sind. Die Erkenntnis fremder Personen auf der Basis ihrer nichtverbalen Äußerungen beruht nach Ueberweg auf den gesetzmäßigen Verbindungen eigener leiblicher Zustände mit gewissen innerlich wahrnehmbaren psychischen Phänomenen. Aufgrund derartiger Beziehungen lassen sich Assoziationen bilden, denen zufolge wir vermuten, dass genauso wie unsere leiblichen Zustände mit gewissen seelischen Phänomenen verbunden sind, auch die körperlichen Zustände der von uns wahrgenommenen Personen mit ihren psychischen Phänomenen verbunden sein sollen. Diese Vermutung, die von sich aus „instinktartig“ funktioniert, gestattet es uns, aus der äußeren Wahrnehmung gewisser Gebärden anderer Personen auf ihre seelischen Zustände (etwa aus dem Zittern der Hände auf den Angstzustand) rückzuschließen. Logisch betrachtet handelt es sich hier um einen Schluss der Analogie: „Wie sich unsere eigene somatische Erscheinung zu unserer psychischen Realität verhält, so die andere somatische Erscheinung zu der (hiernach vorauszusetzenden) fremden psychischen Realität.“ (Ueberweg, System der Logik …, S. 79; s. auch 95 f.; vgl. zum selben Problem Husserl, a. a. O. S. 140 f.; ich habe die Erklärungen, die sich auf Ueberweg beziehen, aus meinem Aufsatz: „Empfindung, äußere Wahrnehmung …, S. 118 f., übernommen) Ps 78/2c, Bl. 19764. Auch wenn Brentanos Ausdrücke: „Erzählung – Geschichte oder Dichtung – beim Anblick von […] Gemälden“ als ein Argument gegen die psychologische und für die ästhetische Tragweite seiner Analyse aus der Vorlesung benutzt werden können, interpretiere ich diese Stelle in dem Sinne, dass die uneigentlichen Phantasievorstellungen sowohl im Alltag („beim Sprechen mit jemand[em]“, „beim Anblick von Gebärden“) als auch beim Empfangen der Kunstwerke auf dieselbe Weise funktioniert. In ihrer Edition hat Mayer-Hillebrand den Satz über den eigenen individualisierenden metaphysischen Teil nicht übernommen. Wie gesagt, behandelte Brentano dieses Problem in den Vorlesungen über deskriptive Psychologie, die er zwischen
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III.6 Die wichtigsten Gruppen der Begriffe mit anschaulichem Kern
Der Grund der Unmöglichkeit, fremde psychische Phänomene vorzustellen, besteht darin, dass die innere Wahrnehmung Zugang nur zu eigenen psychischen Zuständen gewährleistet. Um diesen Mangel auszugleichen, greift man zu den uneigentlichen Phantasievorstellungen, die dadurch entstehen, dass „der anschauliche Kern unserer eigenen, den fremden ähnlichen psychischen Phänomene […] eine gewisse Abstraktion und begriffliche Determination“ erfährt.⁴ Aufgrund dieser Passage lässt sich sagen, (1) dass der hier gemeinte anschauliche Kern psychischen Charakter⁵ hat und dass ihn die eigenen psychischen Phänomenen, so wie sie in der inneren Wahrnehmung erfasst und erlebt werden, ausmachen; (2) dass die hier in der Diskussion stehende Abstraktion sich dahin gehend interpretieren lässt, dass die eigenen psychischen Phänomene abgetrennt vom Kontext ihres Auftretens (dem eigenen psychischen Leben) und als psychische Zustände betrachtet werden, die von anderen Personen ebenso wie von mir selbst erlebt werden können; (3) dass die „begriffliche Determination“, von der Brentano hier spricht, in der Festlegung des Begriffs des psychischen Phänomens (Freude, Traurigkeit, Hoffnung usw.), unter den die eigenen und die fremden psychischen Phänomene unterzuordnen sind, besteht. Dieses letzte Moment macht die abstrakte, begriffliche Seite der uneigentlichen Phantasievorstellung der psychischen Phänomene fremder Individualität aus – der mentale Zustand anderer Personen wird mittels des ihm übergeordneten Begriffs vorgestellt, während sein anschaulicher Kern von meinen eigenen schon erlebten psychischen Phänomenen, die unter denselben Begriff fallen, ausgemacht wird. Überdies lassen sich die eben angeführten Ausführungen Brentanos über die Abstraktion und die begriffliche Determination der eigenen psychischen Phänomene als ein schlagendes Argument für die Wichtigkeit des Abstraktionsvorgangs in Brentanos Lehre von der uneigentlichen Phantasievorstellungen bewerten.⁶ Ein anderes Beispiel bezieht sich auf die uneigentliche Phantasievorstellung der eigenen psychischen zukünftigen Phänomene: „Wenn ich z. B. dies dächte oder wollte, würde ich Gefühle von Lust oder Schmerz haben“.⁷ In diesem Fall, genauso wie im vorherigen, werden die gemeinten Phänomene nicht in der inneren
1887 und 1891 an der Wiener Universität hielt (DPs, S. 81 ff.; vgl. oben II.3.3.2). Unter diesen Umständen lässt sich der Satz gleichfalls als ein weiterer Beleg dafür anführen, dass die Ausführungen in der Vorlesung 1885/86 für das allgemeine Programm der deskriptiven Psychologie Brentanos von Bedeutung sind. GÄ, S. 83. Vgl. dazu USE, S. 53 f., wo Brentano von Anschauungen psychischen Inhalts spricht. Wie oben schon angedeutet wurde, spielt dabei die durch den Abstraktionsprozess gestiftete Assoziation zwischen Begriff und Anschauung ihre Rolle. GÄ, S. 84; vgl. auch S. 44.
III.6 Die wichtigsten Gruppen der Begriffe mit anschaulichem Kern
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Wahrnehmung gegenwärtig erlebt. Im Gegenteil ist das, was im inneren Bewusstsein gegenwärtig auftaucht, der psychische Akt eines hypothetischen Urteils, das sich auf die betreffenden psychischen Phänomene mittels ihnen entsprechender begrifflicher Bestimmungen bezieht. Die Aussage: „Wenn ich ein gewisses Gemälde sähe, dann würde ich Lust spüren“, besagt nicht, dass ich jetzt den betreffenden Sehakt erleben würde, der von Lustgefühlen begleitet werden wäre, sondern nur, dass ich ihn mir in der Phantasie begrifflich vorstelle. Allerdings ist es durchaus möglich, dass das begriffliche Vorstellen des möglichen Sehaktes von anschaulichen Vorstellungen des ehemaligen Sehaktes des Gemäldes begleitet wird, die aufgrund der Disposition entstehen können, die der ursprüngliche Sehakt im Bewusstsein hinterlassen hat. In dem jetzigen Zusammenhang geht es aber nicht darum, sondern um das Verhältnis uneigentlicher Phantasievorstellungen zu ihrem anschaulichen Kern, d. h. um die uneigentliche, abstrakte Weise, in der sie ihn darstellen. Wenn man dieses Verhältnis weiter im Lichte von Brentanos Behauptung liest, die letzte Quelle zur Erklärung eines Begriffs bestehe in der Angabe der Anschauungen, aus denen er gewonnen werde,⁸ dann kann man folgern, dass die anschaulichen Vorstellungen der inneren Wahrnehmung, in denen jede einzelne Person ihre eigenen psychischen Akte erfasst,⁹ den anschaulichen Kern der Begriffe als uneigentliche Phantasievorstellungen (des Begriffs des Denkens, des Wunsches usw.) ausmachen.¹⁰ Vor diesem Hintergrund scheinen die zwei Bedingungen, die nach Brentano eine uneigentliche Phantasievorstellung einzuhalten hat, darauf hinzuweisen, dass ein Begriff sich nur dann als Phantasievorstellung betrachten lässt, wenn er in einem anschaulichen Zusammenhang in dem Sinne einbezogen ist, dass er sich sowohl anhand einer Anschauung veranschaulichen lässt (die erste Bedingung) als auch aus gewissen Anschauungen gewonnen werden kann (die zweite genetische Bedingung).
Vgl. oben S. 459 f. und USE, S. 16, 53 f.; WE, S. 29; PeS, S. 96 f. Wie schon gesagt, äußert sich das innere Bewusstsein in der Psychologie in einer dreifachen Weise: als anschauliche Vorstellung der inneren Wahrnehmung, als Urteil der inneren Wahrnehmung und als Gemütsbewegung des betreffenden psychischen Aktes. Später verzichtet Brentano auf die These, eine Gemütsbewegung gehöre zum inneren Bewusstsein jedes einzelnen psychischen Aktes (PeS, S. 163 ff.; KPP, S. 395; vgl. auch die schon angeführte Stelle über die anschauliche Vorstellung der inneren Wahrnehmung „Wir erfassen uns selbst nicht wie in einem abstrakten Begriff, sondern wie in einer konkreten, individuellen Anschauung […]“ DP. S. 62). Was die uneigentlichen Phantasievorstellungen der äußeren Wahrnehmung betrifft, werden sie von Brentano nur erwähnt, aber nicht bis ins Detail analysiert. Ihre Erklärung ist den schon behandelten Beispielen ähnlich.
III.7 Die uneigentlichen Phantasievorstellungen als Begriffe mit anschaulichem Kern und die Frage nach ihrer ästhetischen Funktion Wie oben gesagt wurde, besteht eine wichtige These dieser Arbeit darin, dass der Terminus „Phantasie“ in der Vorlesung von 1885/86 nicht in ästhetischer, sondern in psychologischer Perspektive ausgearbeitet wird. Dabei soll gleich hinzugefügt werden, dass dies die Möglichkeit einer ästhetischen Behandlung der Rolle der Phantasievorstellungen für das künstlerische Schaffen nicht ausschließt, weil die psychologische Analyse der Phantasievorstellung als eine Vorstufe zu ihrer ästhetischen Bewertung betrachtet werden kann. Auf diese Weise kann man einen Weg finden, auf dem es möglich wird, von der Funktion der uneigentlichen Phantasievorstellungen im gewöhnlichen psychischen Leben zu ihrer künstlerischen Rolle überzugehen. Diese These kann verteidigt werden, wenn man die wenigen Zeilen,¹ die Brentano diesem Problem in seiner Vorlesung widmete, in Verbindung mit den Texten in Grundzüge der Ästhetik bringt, die sich auf die Fähigkeit der Poeten oder Dramaturgen beziehen, beim Empfänger ihrer Kunstwerke eine Menge von Affekten und „Phantasievorstellungen und Erinnerungsbildern“ zu erwecken.² Im Unterschied zur Vorlesung von 1885/86, in der die These in den Vordergrund rückt, die uneigentlichen Phantasievorstellungen stellten die Anschauungen, aus den sie gewonnen werden, abstrakt vor, steht im Mittelpunkt der Analyse der künstlerischen Phantasievorstellung weder der Begriff noch sein Verhältnis zu Anschauungen, sondern vielmehr das künstlerische Ausdrucksmittel und seine Suggestionskraft. ³ Aufgrund Brentanos Ausführungen darüber lässt sich sagen, dass die Begriffe mit anschaulichem Kern aus der Vorlesung auch eine ästhetische Funktion übernehmen können,⁴ wenn die Ausdrücke, die mit ihnen verbunden sind, unter ästhetischem Gesichtspunkt wertvoll sind. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig zu beachten, dass, auch wenn den Ausdrücken der Poeten eine begriffliche Seite zukommt, es nicht diese Seite ist, die hier von Bedeutung ist, sondern ihre Fähigkeit, im Leser gewisse Wirkungen und Assoziationen von Bildern zu erwecken.⁵ Wie schon gesagt wurde, hat der
Vgl. Brentanos Äußerung über die Phantasievorstellungen und die an sie geknüpften ästhetischen Erfahrungen am Ende der Vorlesung (GÄ, S. 86 f.). GÄ, S. 154; vgl. auch S. 138, 168 f., 219. GÄ, S. 154, 168 f. GÄ, S. 86 f. GÄ, S. 155 f., 219. https://doi.org/10.1515/9783110524550-016
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Name bei Brentano die folgenden Funktionen: (a) drückt das psychische Phänomen aus, das sich im Sprechenden abspielt, (b) weist auf die als immanentes Objekt der nominellen Vorstellung verstandene Bedeutung des Namens hin, und (c) bezeichnet den Gegenstand.⁶ Außerdem hat der Name einer Vorstellung der schöpferischen Phantasie noch die besondere Eigenschaft, Assoziationen von Bildern und Affekten in seinem Empfänger zu erwecken. In diesem Zusammenhang lassen sich zwei Interpretationsmöglichkeiten der Position Brentanos angesichts der Frage nach der Verwandtschaft der Wahrnehmungs- und Phantasievorstellung unterscheiden. Die erste Interpretation, die auf der in der Vorlesung durchgeführten Analyse beruht, lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass die Begriffe der Phantasie mit den Wahrnehmungsvorstellungen darin verwandt sind, dass sie denselben Gegenstand mittels verschiedener Inhalte vorstellen. Hier geht es nicht um eine Verwandtschaft im eigentlichen Sinn, d. h. um eine Ähnlichkeit, die darin besteht, dass den zwei Vorstellungen, wenn auch in unterschiedlichem Grade, dieselben Eigenschaften zukommen.⁷ Vielmehr handelt es sich um eine Ähnlichkeit im uneigentlichen Sinne, d. h. um eine Ähnlichkeit, die von der unterschiedlichen (abstrakten oder anschaulichen) Vorstellungsweise desselben Gegenstandes herrührt. Obwohl ihr Bezugspunkt, der vorgestellte Gegenstand, derselbe ist, beziehen sich die zwei Vorstellungen auf ihn vermittelt durch Inhalte unterschiedlichen Charakters.⁸ Die zweite Interpretationsmöglichkeit bezieht sich auf die Wirkungen der Wahrnehmungs- und der uneigentlichen Phantasievorstellungen und geht davon aus, dass die Phantasievorstellungen genauso wie die Wahrnehmungsvorstellungen von anschaulichen Wirkungen (Assoziation von Bildern z. B.) begleitet werden können, die ästhetisch wertvoll sind. Die Analyse, die Brentano dieser Frage in der Vorlesung widmete, ist jedoch zu skizzenhaft, um einen klaren Überblick über die Lösung dieses Problems anbieten zu können: Zum einen bringt er, wenn er die Art und Weise behandelt, in der die Phantasievorstellungen auf das gewöhnliche psychische Leben einwirken, nicht die Möglichkeit in die Diskussion, dass die uneigentlichen Phantasievorstellungen von den assoziativ verbundenen anschaulichen Vorstellungen begleitet werden. Im Gegenteil deutet sein Text an, dass, wenn es um die Vorstellung der eigenen psychischen Phänomene als vergangen, gegenwärtig oder zukünftig oder der psychischen Phänomene fremder Individualität geht, die anschaulichen Vorstellungen nicht unbe LRU, S. 47; vgl. auch oben den ersten Teil, S. 118 f. Das ist z. B. mit dem hergebrachten Intensitätsunterschied zwischen der Wahrnehmungs- und der anschaulichen Phantasievorstellung der Fall, deren Inhalt normalerweise schwächer ist als der Inhalt der Empfindung. Vgl. dazu oben S. 448.
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dingt nötig sind und dass die uneigentlichen, abstrakten Vorstellungen zu diesem Zwecke ausreichend sind. Zum anderen findet man am Ende seiner Vorlesung die oben erwähnte Äußerung über die ästhetische Wirkung der uneigentlichen Phantasievorstellungen. Sie verweist deutlich auf die anschaulichen Vorstellungen, die in diesem Fall die uneigentlichen Phantasievorstellungen begleiten: Man könnte noch hinzufügen: insbesondere [dann hat man es mit uneigentlichen Phantasievorstellungen zu tun], wenn die Annäherung [an die Wahrnehmungsvorstellungen] so weit geht, dass gewisse Analysen, gewisse Einwirkungen zur Weckung anderer Vorstellungen (nach den Gesetzen des Vorstellungsverlaufs) und auch insbesondere gewisse ästhetische Erfahrungen sich in ähnlicher Weise [an sie] wie an die anschaulichen Vorstellungen knüpfen […] 54. Auf diese Art wohl am besten. Die weitesten Gruppen bisher[riger] Anwendung [sind] dabei.⁹
An dieser Textstelle kommt die erwähnte Besonderheit gewisser Begriffe mit anschaulichem Kern, gewisse Assoziationen von Bildern im Bewusstsein desjenigen wachzurufen, der sie vorstellt, klar zur Sprache.¹⁰ Diese begleitenden Erscheinungen sind für die ästhetische Wirkung von uneigentlichen Phantasievorstellungen wichtig, haben anschaulichen Charakter und Merkmale wie Intensität oder anschauliche Fülle. Diese Merkmale können weiter derart variieren,¹¹ dass sie ästhetische Erfahrungen erwecken, die den Erfahrungen, die von der äußeren Wahrnehmung wachgerufen werden, ähnlich sind. Mit Hinblick auf dieses Problem lässt sich behaupten, dass Brentano die anschauliche Seite der Phantasievorstellung, die sowohl vom gemeinen Mann als auch von den Philosophen hervorgehoben wurde, dadurch nachzuholen versucht, dass er die Rolle betont, die der anschauliche Kern (die anschaulichen Vorstellungen) für die uneigentlichen Phantasievorstellungen spielt, und zwar entweder für den Abstraktionsvorgang, mittels dessen die Begriffe gewonnen werden, oder für die Veranschaulichung der uneigentlichen Phantasievorstellungen oder für die Assoziationen, die von den uneigentlichen Phantasievor-
Ps 78/2c, Bl. 19769; die Hinzufügungen in eckigen Klammern stammen von mir. Ich führe das Manuskript 78/2c an, weil es deutlicher als der gedruckte Text zeigt, worin die Art der in der Diskussion stehenden Einwirkungen besteht, und dass Brentano diese Lösung als angebracht betrachtet. GÄ, S. 155 f. GÄ, S. 79; vgl. gleich unten die Ausführungen über die Art und Weise, in der Husserl Brentanos Lehre rezipierte.
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stellungen wachgerufen werden und die nach den gewöhnlichen Assoziationsgesetzen erfolgen. Aufgrund der geschilderten Auffassung von den uneigentlichen Phantasievorstellungen als Begriffe mit anschaulichem Kern zieht Brentano am Ende seiner Vorlesung noch einmal die Ansicht des gemeinen Mannes in Betracht. Seiner Meinung nach hat der Laie den wahren Charakter der Phantasievorstellungen verkannt, weil er der Phantasievorstellung nur anschaulichen Charakter zugeschrieben hat, während ihr außerdem ein begriffliches Moment wesentlich zukommt.¹² Wie oben gesagt wurde, werden die Phantasievorstellungen in der Vorlesung von 1885/86 nicht unter ästhetischem, sondern unter psychologischem Gesichtspunkt betrachtet. Dabei soll unterstrichen werden, dass Brentano die Anwendbarkeit seiner Bestimmung der Phantasievorstellungen auf einige Unterklassen der Phantasievorstellungen begrenzt, und zwar auf die Vorstellung der fremden psychischen Zustände, der eigenen psychischen Phänomene und der physischen Erscheinungen mit Bezug auf Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. ¹³ In Anbetracht dieser Tatsache lässt sich wohl keine bessere Charakterisierung der uneigentlichen Phantasievorstellungen finden als die, dass sie Begriffe sind, die aus Anschauungen gewonnen und mittels derer die Phänomene der fremden Individualität, die physischen und die psychischen Phänomene als vergangen, gegenwärtig oder zukünftig vorgestellt werden. Darüber hinaus wird aufgrund der Stelle über die ästhetische Wirkung der uneigentlichen Phantasievorstellungen aus der Vorlesung ein möglicher Weg sichtbar, über den die uneigentlichen Phantasievorstellungen eine ästhetische Funktion übernehmen könnten, und zwar durch die Erweckung anschaulicher Phantasievorstellungen, welche die uneigentlichen Phantasievorstellungen begleiten und sich gemäß den Gesetzen der Vorstellungsassoziationen miteinander verbinden.¹⁴
GÄ, S. 84 f. GÄ, S. 86. Davon ausgehend lässt sich sagen, dass sich die Begriffe der Phantasie von anderen Begriffen dadurch unterscheiden, dass sie sich auf die erwähnten Vorstellungsunterklassen beziehen und dass sie aus einem intuitiven Kern (anschaulicher Vorstellung) gewonnen und anhand einer anschaulichen Vorstellung veranschaulicht werden können. Darüber hinaus kann ihnen unter ästhetischem Gesichtspunkt die Eigenschaft zukommen, bei ihrem Empfänger gewisse Assoziationen wachzurufen. Die im ersten Satz genannten Bedingungen werden von Brentano in seinem Text ständig verteidigt und machen den Sinn der Redewendung „Begriffe mit anschaulichem Kern“ aus. Die zuletzt erwähnte Bedingung wird in seinem Text nur gelegentlich erwähnt. Trotzdem habe ich sie in die Diskussion gebracht, eben weil Brentano in seiner Vorlesung über die „ästhetischen Erfahrungen“ spricht, die mit den uneigentlichen Phantasievorstellungen verbunden sind. Es kommt hinzu, dass auf diese Weise ein möglicher Weg zum Übergang von der
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Der heterogene Charakter der sinnlichen und begrifflichen Momente, die mittels der Phantasievorstellung in Verbindung gebracht werden, veranlasst Brentano am Ende seiner Vorlesung dazu, zu behaupten, es gebe keine Theorie im eigentlichen Sinne über die Phantasievorstellung, weil sie teilweise in den Bereich von Anschauungen, teilweise in den Bereich von Begriffen fallen würden. Das ist auch der Grund, weshalb der Terminus „Phantasievorstellung“ keinem der genannten Begriffe in der theoretischen Bedeutung entspricht. Brentanos Anliegen, die Eigenart der Phantasievorstellungen als Begriffe mit anschaulichem Kern gegenüber anderen Begriffen, die keine solchen Vorstellungen sind, herauszustellen, ist einmalig in seinen bis jetzt veröffentlichten Schriften. Wie schon angedeutet wurde, beschäftigt er sich in den Arbeiten, die er sowohl vor als auch nach der Vorlesung aus dem Jahre 1885/86 verfasste, nur mit anschaulichen Vorstellungen der Phantasie.¹⁵
psychologischen zur ästhetischen Analyse der uneigentlichen Phantasievorstellungen ersichtlich wird. Nur nebenbei bemerkt, spricht Brentano in der Vorlesung über deskriptive Psychologie (1890/ 91) nicht von uneigentlichen Phantasievorstellungen als Begriffen mit anschaulichem Kern, sondern von den Begriffen, die aus den Anschauungen gewonnen werden und auch von Phantasiebildern, die einen anschaulichen Kern haben (DPs, S. 58, 101).
III.8 Zu Husserls Rezeption von Brentanos Theorie über die Phantasievorstellung Brentanos Vorlesung von 1885/86 war wenigstens für einen von seinen ehemaligen Studenten wichtig, und zwar für Edmund Husserl.¹ Wie sich aus „Phantasie und Bildbewußtsein“, dem dritten Teil der Vorlesungen aus dem Wintersemester 1904/05 über „Hauptstücke aus der Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis“ ergibt, stellte Brentanos Auffassung von der Phantasie die wichtigste Quelle für Husserls Ansicht über dieses Thema dar.² In Husserls Hand bekommen aber Brentanos Gedanken eine andere Form als in der Vorlesung von 1885/86. Brentano zufolge gibt es keinen grundlegenden Unterschied zwischen der Wahrnehmungs- und Phantasievorstellung, denn sie haben dieselbe intentionale Beziehung, und zwar die der Vorstellung. Da es aber laut Husserl nicht nur drei Arten intentionaler Beziehung gibt wie bei Brentano: Vorstellungen, Urteile und Gemütsbewegungen, sondern jede Art von intentionalem Akt ihre eigene intentionale Beziehung hat, unterscheidet er streng zwischen der intentionalen Beziehung der Wahrnehmung und der Phantasie.³ Husserls These dabei ist, dass die traditionelle Denkweise, den Unterschied zwischen den zwei Vorstellungen hinsichtlich ihrer Intensität, Fülle, Dauerhaftigkeit oder Möglichkeit ihrer willkürlichen Variation zu verstehen, nicht stichhaltig ist, weil es hier im Grunde genommen um zwei verschiedene Auffassungsweisen gehe, die den Gegenstand als gegenwärtig im Fall der Wahrnehmung oder aber als vergegenwärtigt im Fall der Phantasie deuten. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die intentionale Bezie-
Sowohl Husserls Erinnerung an Brentano als auch seine expliziten Hinweise auf ihn in „Phantasie und Bildbewußtsein“ zeigen, dass er Brentanos Vorlesung von 1885/86 besonders schätzte: „Intensiv beschäftigten ihn […] deskriptive Probleme der Phantasie, und zwar besonders das Verhältnis von Phantasievorstellung und Wahrnehmungsvorstellung. Diese Vorlesungen waren ganz besonders anregend, weil sie die Probleme im Fluß der Untersuchung zeigten, während Vorlesungen wie die über praktische Philosophie […] trotz der kritisch-dialektischen Darstellung – in gewissem Sinne – dogmatischen Charakter hatten, d. h. den Eindruck fest erreichter Wahrheiten und endgültiger Theorien erweckten und erwecken sollten.“ (E. Husserl, „Erinnerungen an Franz Brentano (1919)“, in Aufsätze und Vorträge (1911– 1921), S. 308; vgl. auch Husserl, „Phantasie und Bildbewußtsein“, in Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen. Texte aus dem Nachlass (1858 – 1925), E. Marbach (Hrsg.), Hua XXIII, Den Haag, Martinus Nijhoff, 1980, S. 7, 92; und Briefwechsel, Bd. 1: Die Brentanoschule. In Verbindung mit E. Schuhmann hrsg. von K. Schuhmann, Dordrecht, Kluwer Academic, 1994, S. 35 f.) Hua XXIII, S. 92. Hua XIX/I, S. 381. https://doi.org/10.1515/9783110524550-017
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hung Brentanos, die für alle Vorstellungsarten allgemeingültig ist, als ein „Differenzenloses“, eine „zwecklose Form“, die der Komplexität der deskriptiven phänomenologischen Sachlage nicht gerecht wird.⁴ Eng damit verbunden ist die Tatsache, dass Brentano Husserls Meinung nach die Auffassungsweise, die jedem intentionalen Akt eigen ist, nicht ausreichend berücksichtigt hat. Wir befinden uns hier an einem Punkt, von dem aus Husserl Brentanos Auffassung von der Phantasie in die Richtung seiner Phänomenologie interpretiert. Dieser Interpretation zufolge macht die Möglichkeit der Veränderung des Vorstellungsinhalts und der ihm eigenen Verhältnisse die empirische Basis aus, welche uns zum einen wichtige Hinweise liefert, damit ein anschaulicher Inhalt als wahrgenommener oder aber als phantasierter Inhalt interpretiert wird. Zum anderen hindert sie uns daran, ihn willkürlich als Inhalt einer Phantasie- oder einer Wahrnehmungsvorstellung aufzufassen.⁵ Eine andere These Husserls, die für die hier geführte Diskussion von Bedeutung ist, bezieht sich darauf, dass Husserl Brentanos Unterscheidung zwischen der eigentlichen Wahrnehmungsvorstellung und der uneigentlichen Phantasievorstellung als Zeichen dafür hält, dass Brentano schon auf seinen Gedanken, die Auffassungsweise der zwei Vorstellungen wäre verschieden, gekommen sei.⁶ Bevor ich auf die Einzelheiten dieser Frage eingehe, möchte ich darauf hinweisen, dass Husserl die uneigentlichen Phantasievorstellungen Brentanos als „indirekte, durch Beziehungen, durch Begriffe vermittelte Vorstellungen“ versteht.⁷ Im Unterschied zur Wahrnehmungsvorstellung, in welcher der Gegenstand selbst⁸ „leibhaftig“ gegenwärtig ist,⁹ stellt die Phantasievorstellung ihn „indirekt“, d. h. mittels des Begriffs, unter den er fällt, vor. Davon ausgehend wird es möglich, den Punkt zu nennen, wo sich Husserls eigene Thesen über das Verhältnis zwischen Wahrnehmungs- und Phantasievorstellung in die Rekonstruktion der Lehre Brentanos einschleichen und dazu führen, dass sie anders als in Brentanos Vorlesung von 1885/86 lautet. Unter diesem Gesichtspunkt ist wieder Husserls Idee von Bedeutung, Brentano zufolge gebe es keinen wesentlichen Unterschied zwischen den anschaulichen Inhalten der Wahrnehmungs- und der Phantasievor-
Hua XXIII, S. 14, 16. Hua XXIII, S. 93 f., 108; vgl. auch Brentano, Ps 78/2c, Bl. 19761. Hua XXIII, S. 93. Brentano war nicht bereit, die Einzigartigkeit der intentionalen Beziehung der Vorstellung aufzugeben und ihre Vervielfältigung, die er schon bei Lotze und Stumpf ausgeführt sah, zuzulassen (Brentano, GÄ, S. 78; Ps 78/2c, Bl. 19747 f.; Hua XXIII, S. 8 ff., und Marbachs Kommentar zu diesem Problem (a. a. O., S. XLVI–L, LIII f.). Hua XXIII, S. 93. Hua XXIII, S. 106. Hua XIX/I, S. 365 und passim.
III.8 Zu Husserls Rezeption von Brentanos Theorie über die Phantasievorstellung
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stellung. Was darüber entscheidet, ob wir es hier mit einer Wahrnehmungs- oder einer Phantasievorstellung zu tun haben, so Husserl, ist ausgerechnet die Weise, in der die anschaulichen Inhalte aufgefasst werden.Wie schon angedeutet wurde, spielen die Merkmale dieser Inhalte und ihre Verhältnisse eine wichtige Rolle für ihre Auffassung in der einen oder anderen Weise.¹⁰ Ich habe oben aber darauf hingewiesen, dass Brentano sich in seiner Vorlesung nicht mit der anschaulichen, sondern mit der unanschaulichen, uneigentlichen Phantasievorstellung beschäftigte, eben weil er die gewöhnliche Auffassung vom anschaulichen Charakter der Phantasievorstellung korrigieren wollte. In diesem Zusammenhang sind die uneigentlichen Phantasievorstellungen tatsächlich Begriffe mit anschaulichem Kern, die nicht konkret, sondern uneigentlich, abstrakt den Inhalt der Anschauungen vorstellen, aus denen sie gewonnen werden. Darüber hinaus weisen sie auf diese Anschauungen wesentlich hin. Allerdings soll dabei unterstrichen werden, dass dieser Hinweis bei Brentano keine Auffassungsweise ist, was Husserl auch an ihm tadelt, wenn er behauptet, dass Brentano „das Wesen der Auffassung […] als objektivierende Deutung nicht erfasst“ habe.¹¹ Anders gesagt macht Husserls Gebrauch des Terminus „Auffassung“ zur Interpretation von Brentanos Lehre darauf aufmerksam, dass er die brentanosche Theorie auf einer Ebene rezipiert und entwickelt, die von Brentano aus den oben genannten Gründen nicht beabsichtigt war: die Ebene der anschaulichen Phantasievorstellung.¹² Brentano dagegen war 1885/86 besonders mit den uneigentlichen Phantasievorstellungen befasst. Unter dem Gesichtspunkt von Husserls Analyse lässt sich sagen, dass diese Ungereimtheit nicht zufällig ist. Manchen seiner Bemerkungen über die unei-
Es geht hier um die schon erwähnten Merkmale der Intensität oder der Flüchtigkeit der wahrgenommenen oder phantasierten Inhalte oder um die Leichtigkeit, mit der sie verändert werden können: Der Inhalt einer Wahrnehmungsvorstellung kann z. B. nicht ebenso leicht wie der Inhalt einer Phantasievorstellung modifiziert werden (Hua XXIII, S. 93 f., 108). Die Auffassung (Apperzeption, Deutung oder Interpretation) ist für Husserl derjenige Charakter des intentionalen Aktes, dessen Funktion darin besteht, einen anschaulichen Inhalt in einer gewissen Weise zu interpretierten: Die gehörten Töne werden etwa als „Zwitschern der Vögel“, die gesehenen farbigen Formen als das Haus, das mir erscheint, gedeutet (Hua XIX/I, S. 358 f., 394 ff., 406 f.). Hua XXIII, S. 9. Ich habe oben bereits darauf angespielt, dass Brentano sich in der Vorlesung „Die neue Logik und die in ihr nötigen Reformen“ aus dem Jahre 1884/85 ausführlich mit der anschaulichen Phantasievorstellung beschäftigte. Seine Analysen bewegten sich aber in eine andere Richtung als Husserls Untersuchungen, weil es Brentano nicht um die anschauliche Vergegenwärtigung der psychischen Phänomene in der Phantasie (Husserl), sondern um die Frage der Phantasievorstellung der äußeren Wahrnehmung geht.
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gentliche Phantasievorstellung bei Brentano lässt sich entnehmen,¹³ dass die Schwierigkeit hinsichtlich der Phantasievorstellung nicht darin besteht, ihren Gegenstand mittels begrifflicher Bestimmtheiten vorzustellen, sondern ihn anschaulich zu vergegenwärtigen. Um mich auf eine Gruppe von Phantasievorstellungen, die sowohl von Brentano als auch von Husserl besonders herangezogen wurde, nämlich die Vorstellung der eigenen psychischen Phänomene als vergangen oder zukünftig oder der fremden Individualität, zu beziehen, legt die phänomenologische Vorgehensweise die Betonung nicht auf ihr uneigentliches begriffliches Vorstellen, sondern auf ihre anschauliche Vergegenwärtigung in der Phantasie nach „allen gattungsmässigen Momenten“.¹⁴ Husserls Meinung nach schenkte Brentano diesem Problem zu wenig Aufmerksamkeit. Das besagt weiter, dass Brentano die theoretische Tragweite des anschaulichen Vorstellens der psychischen Erscheinungen in der Phantasie nicht erfasst hat.¹⁵ Unter diesen Umständen lassen sich Husserls eigene Untersuchungen in der Vorlesung von 1904/05 als eine phänomenologische Entwicklung von Brentanos Erörterung der Phantasievorstellung auf einer Ebene, die Brentano nicht besonders in Blick hat, auffassen. Im Unterschied zur heutigen Exegese, die zu keinem klaren Ergebnis in Hinblick auf die Bedeutung der uneigentlichen Phantasievorstellung bei Brentano kam, zeigen Husserls Ausführungen, dass er sowohl den Sinn dieses Begriffs als auch die Probleme erfasst hat, die in Brentanos Analyse einbezogen sind und deren theoretische Bedeutsamkeit erst durch die phänomenologische Analyse sichtbar geworden ist. Darüber hinaus – und darin unterscheidet sich Husserl wieder von allen Interpreten, einschließlich der Herausgeberin des Bandes über Brentanos Ästhetik – hat Husserl genau gesehen, dass Brentanos Auseinandersetzung mit dem Unterschied zwischen der Wahrnehmungs- und Phantasievorstellung keinen ästhetischen, sondern einen psychologischen Einsatz hat.¹⁶
Hua XXIII, S. 96. Hua XXIII, S. 96 f., 99. Husserl hat sich mit dieser Frage in der Vorlesung von 1904/05 intensiv auseinandergesetzt. Auf der Grundlage dieses Texts steht meine Abhandlung:“Le concept psychologique de la représentation de la fantaisie chez Brentano et sa réception chez Husserl“, Studia Phaenomenologica 10 (2010), S. 45 – 75. Im Unterschied zu der französischen Fassung werden hier Johannes Müllers Auffassung von der Phantasievorstellung, die Rolle der Assoziation und Brentanos Ausführungen über die hier behandelten Probleme in seiner Deskriptiven Psychologie herangezogen.
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Personenverzeichnis Albert der Große 136, 138, 141, 143, 146, 148, 204 Alexander von Aphrodisias 52 f., 55, 58 – 61, 63, 65, 71, 74, 76 – 79, 82, 85, 100 f., 103, 112 Allesch, Christian G. 429 f., 449 Ammonius 19 Anaxagoras 195, 203 Anaximander 195, 203 Anaximenes 195, 203 Anselm 137 f., 165 Antonelli, Mauro 7, 17, 20, 24, 70, 72, 74, 104, 148, 153 f., 159, 173, 181, 183, 207, 211, 216 f., 220 f., 224, 233, 235, 238, 242, 249, 252 – 254, 259, 308, 330, 341 f., 408, 417, 453 Aristoteles VII, 1 f., 7 – 9, 11 – 19, 22 – 24, 26, 28, 30 – 40, 42 – 52, 54, 56 – 61, 63 – 67, 69 – 75, 77 – 83, 86 – 88, 90 – 94, 97 – 101, 103 – 106, 109 – 112, 115, 117 f., 121, 123 f., 129 f., 132 – 145, 147 f., 160, 165, 172, 175 f., 182, 185 – 187, 193, 195 f., 208 f., 228 – 238, 242, 253 – 255, 280, 330, 338, 358, 360, 380, 420, 437, 448 Aster, Ernst von 135 Aubenque, Pierre 23, 28, 30, 39, 53, 61, 70, 130 Augustinus 146 Averroes 93 Avicenna 90, 97 Bacon, Francis 146, 160, 165, 170, 179, 181, 203 f., 207, 239, 275, 277, 318 Bain, Alexander 177, 190, 212, 228, 233, 236, 262, 301, 304, 315 f., 324, 327 – 329, 332, 334, 336 – 338, 437 Ball, Terence 23, 276 Baumgartner, Wilhelm XIV, 1, 8, 11 – 13, 48, 71, 89, 104, 117 f., 132, 138 – 140, 144, 162, 207, 220, 231, 233, 249, 345, 362, 389 Beiser, Frederick C. 17, 208 Bejinariu, Alexandru XV, 180, 193, 418 https://doi.org/10.1515/9783110524550-019
Bekker, Immanuel 60, 79 Bergmann, Hugo 12 Berkeley, George 165, 289, 322 Binder, Thomas 1, 13, 24, 104, 116, 132, 207, 220 f., 429 Blainville, Henry Ducrotay de 292 Boboc, Alexandru XIII Boccaccini, Frederico 125 Boer, Theodore De 374, 377 Bonaventura 138, 165 Bonitz, Hermann 2, 7, 15, 17 – 19, 22, 52, 57 f., 71, 74, 77, 79 f., 82, 101, 133 f., 230 Bourdeau, Michel 158 f., 247, 292 f. Brandis, August Ch. 15, 17, 19, 30 f., 89 f., 366 Brandl, Johannes XIV, 110, 280 Brentano, Franz VII–XV, 1, 7 – 15, 17, 19 – 149, 153 – 243, 245 – 251, 253 – 365, 367 – 425, 429 – 437, 439 – 455, 457 – 476 Brooks III, John I. 289 Broussais, François 290, 303, 305, 308, 311 Burkard, Franz-Peter 104, 139, 207, 220 Busche, Hubertus 230 Campos, Eliam 42 Cardaillac, Jean de 214, 232, 295 – 297, 299, 302, 314, 384 f., 406 Centrone, Stefania 413 Chisholm, Roderick M. 1 f., 65, 95, 118, 153, 177, 214, 238, 249, 322, 345, 362, 372 – 375, 378 Chrudzimski, Arkadiusz 1, 24, 42, 53, 68, 104, 116, 120, 132, 207, 220, 233 Cioran, Emil XIII Clauzade, Laurent 289 f., 292 f. Comte, Auguste VIII–XI, XV, 1 f., 135, 144, 147, 149, 153 – 163, 165 – 175, 177 – 183, 185 – 211, 213 – 218, 223 – 229, 233 – 236, 238 – 240, 242 – 248, 250, 255 – 260, 262 – 283, 287 – 299, 301 – 306, 308, 310 – 312, 323, 328, 330 f., 333 – 336,
Personenverzeichnis
342 – 345, 382, 384 f., 406 f., 412 f., 416, 418, 423 Cardaillac, Jean-Jacques Severin de XI, 214, 232, 296 – 298, 299, 302, 314, 384 f., 406 Condillac, Étienne de 207 Courtine, Jean-François 23 Cousin, Victor 289 – 292, 294 Crivelli, Paulo 39, 42, 59 Danziger, Kurt 337 David 19 Davies, Brian 20 Descartes, René 132, 146, 160, 171 f., 176, 179, 187, 203 f., 207 f., 232, 237 – 239, 242, 261, 270, 283, 286 f., 293 Detel, Wolfgang 46 f., 115 Drucks, Janina 135, 138 f., 142, 229 Duns Scotus 11, 97, 99, 138 Durandus 95, 97 Eliade, Mircea XIII Empedokles 195, 203 Engelhardt, Paul 91, 93, 417 Epikur 196 Eșanu, Andreea XV Fabian, Reinhard 104 Fechner, Gustav Theodor 224, 236, 437 Fichte, Johann Gottlieb 16, 200, 207 Fisette, Denis 20, 155 f., 185, 301, 409 Flint, Robert 262 Fréchette, Guillaume 20, 185, 301, 409 Frede, Michael 9 Frohschammer, Jakob 143 Fumerton, Richard 175 Gabriel Biel 95 Galilei, Galileo 160, 203 f., 239 Geldsetzer, Lutz 164 Gens, Jean-Claude 429 Gerwing, Manfred 41 Gimpl, Georg 1, 14 Girndt, Helmut 191 Goes, Martin 11, 71 Gomperz, Theodor 203, 210 Goudin, Antonio 88
495
Gründer, Karlfried 2 Guillin, Vincent 247, 292 f. Haller, Rudolf XIV, 95, 149, 429, 446 Hamilton, William Sir XI, 176, 214, 232, 255 f., 290 f., 295 – 297, 299, 301 f., 314, 338, 384 f., 406, 437 Hartley, David 338 Hauréau, Jean Barthélemy 37, 95 Heath, Thomas Sir 59 Hedwig, Klaus XIV, 1, 7, 11 – 13, 20 f., 23, 41, 45, 48, 70 – 72, 75, 77, 83, 88 f., 91, 94 f., 97 – 99, 105, 115, 132, 135, 138 – 140, 142 – 145, 148, 153 – 158, 160, 166, 172, 182, 193 f., 196, 198, 231, 235, 249 f., 255, 260, 296, 326, 356, 383, 417 Hegel, Georg Wilhem Friedrich 16, 75, 134, 141, 144, 146, 176 f., 200, 207, 290 Heidegger, Martin VII f., XII–XIV, 7 – 11, 13 – 15, 19, 22, 26, 28 – 36, 38, 43 f., 49, 58, 70, 86, 106, 124, 127 – 131, 169, 236 Heraklit 195 Herbart, Johann Friedrich 337, 437 Hervaeus Natalis 95 Heyd, Thomas 290 Hillebrand, Franz 38 Hintikka, Jaakko 21 Horwicz, Adolf XI, 259, 265 – 268, 271 f., 288, 292, 298 f., 302, 326, 341, 384 f. Huemer, Wolfgang 132, 233, 429 Hume, David 165, 177 f., 239, 242, 289, 291, 437 Husserl, Edmund VIII f., XII–XIV, 8, 63, 128, 130 f., 169 f., 184, 208, 220 – 223, 233, 238, 268, 270, 299 f., 341, 357, 398 – 400, 407 – 425, 434, 441, 446, 465, 470, 473 – 476 Jacquette, Dale 125 Jaeger, Werner 86 Johannes Gerson 165 Johannes Tauler 165 Johnson, William Ernest
373 – 376
Kahn, Charles H. 54, 56 – 58, 60 Kamitz, Reinhardt 125
496
Personenverzeichnis
Kant, Immanuel 42, 68, 110 f., 136, 165, 207, 337, 413, 437 Kastil, Alfred 1 f., 8, 13, 75, 116, 164, 175, 322, 336, 373 Kenny, Anthony 65, 67, 69 Kepler, Johannes 192 Kirchhoff, Gustav Robert 177 Kirwan, Christopher 54, 57 Klima, Gyla 20, 83 Knuuttila, Simo 21 Kobusch, Theodor 39, 97 Köhnke, Klaus Christian 208 Krantz Gabriel, Susan 180, 193, 418 Kraus, Oskar 1 f., 24, 42, 110, 115 – 117, 120, 122 f., 125, 132, 135, 187, 210, 216 f., 219 – 225, 238, 324, 336, 345, 373, 378 f., 381, 409, 422 Krell, David F. 36, 42, 44, 53, 70, 128 Krempel, A. 73, 88 f. Kriegel, Uriah 214, 429 f. Külpe, Oswald 210 Lakebrink, Bernhard 75 f., 83 f., 87, 99 Lamberto, Maria Luisa 172 Leibniz, Gottfried Wilhelm 132, 146, 170, 176, 185, 187, 204, 208, 248, 337 Levinas, Emmanuel 169 Lewin, Kurt 236 Liiceanu, Gabriel XIII Locke, John 132, 146, 165, 171, 176, 204, 207, 242, 304, 322, 412 Long, Christopher P. 42 Mach, Ernst 2, 177, 444, 447 Macleod, Christopher 175, 276 Makin, Stephen 39 Marbach, Eduard 473 f. Marek, Christian Johann 2, 159, 177, 220, 370, 372 f., 392 Marty, Anton 118, 159, 182, 210, 220 f., 336, 345, 347, 384, 386 f., 391, 399, 408 Maudsley, Henry XI, 2, 211, 214, 259, 271, 288 – 290, 292, 295, 299 – 309, 311, 326 f., 330, 341, 384 f. Maurer, Armand 93 Mayer-Hillebrand, Franziska 1, 40, 46, 116, 164, 202, 429, 436, 449, 459, 465
McInerny, Ralf M. 83 Meister Eckhart 165 Melle, Ullrich XIV Meynert, Theodor 444 Mezei, Balász M. 156, 160, 164, 168 f., 184, 189, 191, 199, 207 f., 220, 325 Mill, James 338 Mill, John Stuart VIII f., XI f., XV, 2, 106, 108, 110 f., 121, 123, 127 f., 149, 154 f., 163, 170, 172 – 175, 177, 179 – 181, 183, 185 – 190, 193 f., 201 f., 206 – 210, 212 – 216, 218, 224 – 229, 232 – 236, 238 f., 242, 255 f., 261, 271 – 273, 276 f., 283, 287, 289 – 292, 294 – 299, 301 – 304, 311 f., 314 f., 318, 323 f., 327 – 333, 335 – 338, 340, 350, 375, 382 – 385, 395, 400, 406 f., 412 f., 416, 418, 420, 423, 437, 450 Miller, Dale E. 175, 276 Möhler, Johann Adam 1, 136, 164 Moran, Dermot 301, 370, 408 Morgott, Paula Franz von 2, 13, 134, 140, 142 – 148 Moufang, Christoph 140 Müller, Benito 372 Müller, Johannes 2, 163, 210, 437, 447, 450, 452 – 458, 476 Müller, Max 2, 163, 457 Münch, Dieter 7, 9, 42, 132 – 134, 138 – 142, 144, 156, 216 f., 229, 232 f., 235, 238, 246, 269, 330, 408 Muralt, André de 50, 75, 89, 93 Nagel, Ernst 276 Newton, Isaac 176, 192, 331 Nikolaus von Kues 165 Niveleau, Charles-Eduard 156, 221 Noica, Constantin XIII f. Ockham, William 95, 97, 105, 165 Oehler, Klaus 17, 24, 75 Oeing-Hanhoff, Ludger 39, 72, 94, 99, 104 Parsons, Charles 125 Patzig, Günther 9 Peter d’Ailly 95, 97 Petrus Aureoli 95
Personenverzeichnis
Philippe, Marie-Dominique 89 Pickering, Mary 159, 247, 292 Platon XIII, 175 Pleșu, Andrei XIII Pseudo-Augustinus 21 f., 25 Pyrrhon 196 Raimundus Lullus 165 Reid, Thomas 165, 289 Reiff, Jakob Friedrich 71 Reinhardt, Heinrich J. 41 Richardson, William 8 – 10, 31 Rieber, Robert W. 337 f. Ritter, Joachim 2 Robinson, David K. 338 Rollinger, Robin D. IX, XIV, 1, 68, 211, 219, 221, 231 f., 249, 306 – 308, 315, 322, 340, 421 Ross, William David Sir 39, 54, 56 – 58, 60 Ruben, David-Hillel 312 Sauer, Werner 7, 20, 53 f., 58 f., 61, 66, 70 – 72, 74, 77 – 79, 83, 95, 120, 132, 137, 153, 417 Savu, Bianca XV, 193 Scarre, Geoffrey 213, 312, 332 Schaefer, Richard 132, 139 – 141, 144, 185 Schaeffler, Richard 133, 137 f., 141 Scharff, Robert C. XI, 158, 289 f., 292 Scheerer, Eckart 226 Schelling, Friedrich 137 f., 146, 168, 174, 187, 200, 207, 261, 457 Schmaus, Warren 158 f., 171, 247 f., 269, 283, 289 – 292 Schmidinger, Heinrich M. 135, 143 Schmidt, Robert W. 23, 41, 63, 73, 75, 83 f., 88 f., 91 Schopenhauer, Arthur 165, 176 Schuhmann, Karl 408, 473 Schwegler, Albert 39, 43, 52, 55 f., 58, 60 f., 71, 74, 77 – 79, 82, 101 Seidl, Horst 7, 23, 35, 39 f., 58, 73, 230 Seifert, Josef 125 Sigwart, Heinrich Christoph Wilhelm von 145 Simons, Peter 7, 216 f., 224, 233, 399, 409
497
Smith, Barry 68, 156, 160, 164, 168 f., 184, 189, 191, 199, 207 f., 220, 325, 373, 409 Smith, David Woodruff 409 Srzednicki, Jan 125 Stepanians, Markus 413 Stjernfelt, Frederik 408 Stoenescu, Constantin XV, 180, 193, 418 Stöckl, Albaert 37, 95 Stump, Eleonore 20 Stumpf, Carl 42, 84, 105, 113, 119 f., 135 f., 138 f., 148, 155, 164 f., 189, 211, 220, 225, 322, 336, 339, 474 Suárez, Francisco 11 f., 37, 72, 94, 100, 102, 139 Surdu, Alexandru XV Szaif, Jan 39 Tănăsescu, Ion 7, 42, 104, 125, 180, 193, 211, 356 f., 367, 418 Tassone, Biagio G. 223, 236 Thales 195 f., 203 Thomas von Aquin VIII, 7, 11, 13, 19 f., 25, 35, 37, 41, 43, 47, 49, 51, 54, 61, 65, 67 – 69, 71 – 73, 78, 83, 93, 108, 121, 133 f., 136 – 143, 145 f., 148, 165, 185, 204, 206, 208 f., 250, 437 Thouard, Denis 7, 15 Tiefensee, Eberhard 133, 137 – 140, 147 f., 156 Titchener, Edward Bradford 330 Trendelenburg, Adolf 2, 12 f., 15 – 19, 133 f., 141 – 143, 231, 242 Tugendhat, Ernst 40, 57, 128 Twardowski, Kazimierz 130, 220, 280, 442 Ueberweg, Friedrich
238, 465
Valent, Juta 104 Valentine, Elizabeth 216 Van der Schaar, Maria 125 Vlăduțescu, Gheorghe XIII Volpi, Franco XIV, 7, 14, 28, 70, 135, 160, 232, 235, 269 f., 326 Von Wright, Georg Henrik 210, 226 Vongehr, Thomas XIV Weidemann, Herman
21, 83, 93
498
Personenverzeichnis
Weingartner, Paul 188 Werle, Josef 13, 137, 155 f., 164, 167, 170, 174, 189, 191, 208, 219 f., 242, 342 f. Whitaker, C. W. A. 40, 59 Wilpert, Paul 39 Wilson, Fred XI, 163, 266, 276, 289 f., 295, 297
Yfantis, Dimitrios
7
Zahavi, Dan 408 Zeller, Eduard 15, 17 – 19, 25 f., 30, 80, 132 f., 366 Zimmermann, Albert 41, 83, 87
Sachregister Abstraktion 155, 352, 421, 446, 449, 452, 455, 457, 459 – 461, 464, 466 Abtrennbarkeit 323, 349, 352, 354, 359, 362, 364 f., 367, 394 – einseitige 221, 250, 263, 272, 323, 342, 359, 364 f., 367 – gegenseitige 221, 323, 359, 364, 367, 410 actus essendi 23 f., 66, 70, 83 f., 108, 122 Affirmation 52 f., 55, 58 f., 61, 63, 65 f., 69, 76, 78 f., 82, 96, 100 f., 103, 106, 110, 114 Akt XI, 47, 68, 98, 115, 118, 125, 163, 195, 221, 223, 232, 242, 269, 283 – 287, 297 f., 305, 308, 316 f., 319 f., 323, 339, 348 – 350, 352, 354 – 360, 362 – 368, 374, 377 – 379, 381, 384 – 399, 401 – 404, 406, 414 – 420, 422, 424, 455 f., 461, 467, 473 – 475 – grundlegender 221, 323, 352, 355, 364 f., 398 – reflektierender 415, 424 – supraponierter X, 221, 323, 349, 352, 355, 364 f., 398 Akzidenz 22, 27 f., 30, 51, 65, 75, 148, 195, 228, 232, 363 – absolutes 22, 27 Alethiologie 10 als richtig charakterisiert 375, 377 – 381, 391, 404 Analogie 23, 31, 41, 187, 193, 201, 206, 233, 235, 268, 277, 313, 325, 344, 381, 443, 465 Analogon 26, 112, 172, 246, 337, 374 f., 378, 381, 421 Analytisch 7, 39, 270, 353 f., 367, 369, 379 f., 383, 396 Anatomie 347 Anerkennung 42 f., 49, 106, 110 – 112, 114 – 116, 118, 122 f., 176, 183, 186, 224, 235, 284, 286, 367 f., 385 – 389, 392 – explizite 388, 392 Anschauung XI, 34, 157, 178, 203, 217, 233, 249, 284 f., 299, 363, 368, 420, 439, https://doi.org/10.1515/9783110524550-020
443 f., 449 – 452, 456 – 463, 466 – 468, 471 f., 475 – sinnliche 41, 112, 162, 219, 223, 236 f., 254, 287, 293, 321 f., 346, 349, 351 f., 354, 356 – 358, 362, 366, 370, 376 f., 383, 386, 388, 390 f., 393, 396 – 402, 404, 411 – 417, 419, 423, 444, 448, 455 f., 460, 463, 472 Antike 8, 31 f., 39, 44, 135, 141 f., 145 f., 164 – 166, 173 – 176, 179, 194, 196 – 198, 200, 203, 208, 437 Apodiktisch 172, 175, 248 f., 333, 367 f., 374 – 377, 379 – 381, 422 Aporetik 232, 235, 314, 328 f. Apperzeption 345, 368 f., 377, 401 – 403, 418 – 420, 422 – 424, 475 – deutliche 82, 85, 368 – 370, 401, 470 – naturalistische 420, 422, 424 – objektivierende 418 a priori 249, 380 Aristoteles-Renaissance 12, 15, 33 f., 141, 205 Arithmetik 408 Assoziation 325, 339 f., 352, 361, 365, 381, 405 – 407, 447, 449 f., 452, 454 – 457, 461 – 463, 465 f., 468 – 471 Ästhetik 1 f., 183, 275, 300, 346 f., 408, 412, 429 f., 463 f., 468, 476 Astronomie 163, 171, 187, 203, 247, 255, 269, 304, 312, 343 Attribut 15, 65 – 67, 107 f., 253, 353, 361 – determinierendes 353, 361 – modifizierendes 361 Auffassung 8, 10 f., 14, 20 f., 26, 30, 35, 37, 40 – 44, 48, 65, 67, 77, 79 f., 82, 84, 87, 101, 104 f., 108 f., 116, 118, 122, 125, 128, 130, 132, 156, 159 f., 163, 166 – 168, 170 f., 173 f., 176 f., 179 f., 184, 186, 193, 195, 198, 202, 210, 212 – 218, 222 f., 227 – 232, 234, 236, 239 f., 242, 256, 266 – 268, 277 – 280, 284, 292, 295, 301, 305, 310 – 313, 333, 336, 341, 346, 358, 369, 373, 375 f., 410, 413, 417 – 421,
500
Sachregister
424, 429, 431 – 433, 436, 438 – 441, 444 f., 448 – 450, 453 f., 459, 471, 473 – 476 – objektivierende 413 Aufklärung 165 f. Aussagen 18, 23 f., 26, 29, 36, 49 f., 54 f., 64, 66 f., 73 f., 80 f., 85, 87 – 89, 91, 93 f., 97, 105 f., 113, 115, 117 – 121, 126, 314, 317, 369, 375, 448 Axiom X, 175, 249, 331, 333, 368, 379, 391, 401, 422 Bedeutung 7 – 12, 18, 21 – 24, 26 f., 30 – 38, 40 f., 44 – 53, 55 – 57, 59 f., 62 f., 65, 67, 72 – 74, 81, 83, 85 f., 91, 94, 100 – 108, 111, 116, 118 – 123, 129, 133, 135, 138 – 141, 160, 167, 173 f., 180, 183, 187, 196, 198, 202, 205, 207, 214, 218, 224, 228, 250, 253, 268, 278 – 282, 303, 308 f., 321, 330, 332, 342, 354, 369, 374, 376, 391, 397, 416, 420, 432, 440 f., 450., 457, 469, 472, 476 – eigentliche 8, 24, 32, 34, 36, 41 f., 44 – 46, 50, 52, 57, 72, 84, 92, 101, 103 f., 108, 112, 116 f., 126, 129, 222, 254, 286, 289, 334, 353, 359 f., 362, 364, 366 f., 370, 380, 386, 389, 405, 413, 418, 433, 435 f., 441 f., 447 f., 450 f., 455, 457, 459, 463, 469, 472, 474 – mannigfache 7, 9, 18, 26, 29 f., 46, 50, 139 – 141, 340, 350, 356, 360, 368, 376 – reale 22, 104, 111 – uneigentliche 8, 34 f., 57, 104, 116 – veritative 24, 36 – 38, 45 – 53, 55, 57, 59 f., 60, 62, 74, 81, 85,100 – 102, 105 f., 120 f. – vierfache 17, 31 – 33, 35, 57, 94, 100, 104 Begriff 17 f., 27 f., 30 – 32, 34 – 37, 39 – 42, 44, 46, 48, 53, 55, 57, 61 – 63, 67 f., 70, 72, 77 f., 80, 84, 87 – 92, 94 – 98, 100 – 102, 104 – 106, 109, 112, 116 f., 124, 126 – 128, 130, 155, 158, 160 f., 166 f., 171 f., 174 f., 191, 198, 206, 212, 225, 231, 234, 236, 239, 248 f., 251, 254, 264, 266 – 268, 279, 282, 284 – 286, 296, 306, 310, 316 – 318, 329, 333, 340, 363, 367 – 370, 372 – 375, 377 – 381, 397, 408 – 410, 417 – 421, 423 f., 429 – 432,
434, 436 f., 440 f., 443, 447 – 452, 454 – 464, 466 – 472, 474 – 476 – mit anschaulichem Kern XI, 429, 440, 449 f., 459 – 461, 463 f., 468, 470 – 472, 475 – objectiver 35, 37, 42, 53, 55, 57, 61, 67, 70, 72, 92, 95 – 98, 100, 102, 128 – reeller 94, 100, 408 Begriffsbestimmung 17, 56, 190, 241, 251, 379, 410, 429 Bemerken X f., 17, 19, 22, 25, 34, 40, 48, 54, 57, 65 – 67, 86, 91, 108, 113, 162 f., 174, 188, 194, 196, 215 f., 232, 242, 247, 275, 287, 289, 301, 307, 310, 321, 323, 346, 348, 351, 355, 362 f., 372, 377, 379, 383 – 407, 409 f., 414, 421, 423 f., 432, 437, 440, 446, 457, 461 – explizites 385 f., 391 f., 395, 398, 406 Beobachtung 136, 156, 158, 160, 162 f., 171 f., 180, 190, 203, 211, 214, 232 f., 237 f., 240, 249, 257, 264 – 266, 269 f., 283 f., 286 – 291, 293 – 302, 304 – 307, 309 – 314, 330, 337, 343 f., 369 f., 378, 382 – 385, 387, 392 f., 395 f., 406 – äußere 283, 290, 384 – innere XI, 156, 158, 211, 214, 240, 257, 283 f., 286, 288 – 291, 294 f., 297 f., 301 f., 311, 384 f., 387, 393, 395, 406 Beschreibung 207, 280, 322, 344, 346, 350 f., 366, 383, 386, 390, 396, 402, 405, 407, 409, 414, 423 Bestandteil 87, 111, 113 f., 119, 129, 230 f., 268, 280, 296, 313, 350, 352, 394 – 396, 401, 417 f., 422, 432 Bestimmtheit 178, 355, 358, 366, 370, 400, 403, 476 – örtliche 178, 230, 355, 358, 366, 370, 400, 403 Bestimmung 9, 11, 15 f., 20 – 26, 32 f., 50 f., 53, 64, 66 – 68, 72, 77, 83 f., 94, 105, 107, 111, 113, 127, 130, 144, 178, 233, 235, 292, 313, 324, 353, 361, 363, 384, 386, 393, 400, 411, 415, 432, 444, 459 f., 467, 471 Bewegung 16 f., 26, 40, 65, 130, 139, 165, 178, 180, 230, 237, 253, 291, 325, 361 f., 434, 453
Sachregister
Bewusstsein 63, 153, 211, 214, 239, 241, 283 – 287, 290 – 292, 294, 301 – 303, 305, 314, 317, 322, 329, 343, 345 f., 348 – 352, 354 – 357, 364, 368, 378 – 380, 385, 387 f., 391, 393, 395 – 398, 402 – 404, 407, 414 f., 417, 419 – 422, 425, 453, 461 – 463, 467, 470 – inneres XI, 284, 317, 391, 393, 404 – sekundäres 378 Bewusstseinszustand 302, 394 f. Beziehung 16, 18 f., 22, 27, 30, 38, 50, 52, 64, 67, 86 f., 91, 96, 105 – 107, 110 – 112, 114, 117 – 119, 122, 127, 134, 144, 160, 170, 178, 201, 219, 221, 235, 238, 241 f., 249, 251, 267, 269, 283 – 285, 302, 304 f., 307, 312, 315, 317, 320, 323, 344, 347, 349, 352, 354 – 358, 360, 363 – 369, 379, 381, 388 – 391, 394, 396 – 398, 403 – 407, 411 f., 414, 418, 421 f., 439, 441, 448, 453 – 455, 465, 473 f. – auf einen Inhalt 315, 317 – auf ein Objekt 320, 323, 398 – intentionale 105 f., 111 f., 117 – 119, 320, 352, 363, 366 – 369, 388, 398, 473 – primäre 162, 269, 284 – 286, 317, 349, 351, 354 – 358, 360, 363 – 366, 368, 379, 381, 388 – 391, 394, 396 – 398, 401 – 405 – psychische 47, 68, 98, 105 – 107, 112, 115, 118 f., 125, 153 f., 156, 163, 180, 183, 212 – 216, 219 – 221, 223 – 226, 228, 231 f., 234 – 242, 245 – 247, 250 f., 253 f., 256, 259 f., 262, 264 – 274, 276, 278 f., 282 – 290, 294, 296 – 300, 302, 305 – 326, 328 – 342, 344 – 358, 360 – 368, 370, 376, 381, 383 – 385, 387 – 389, 393 – 397, 399, 402 – 404, 406 f., 409 – 411, 413 – 423, 429 f., 433 – 436, 439 f., 450 f., 460 – 469, 471, 476 – sekundäre 108, 193, 235, 242, 269, 284 f., 309 f., 317, 349, 354 – 356, 358, 363 – 366, 378 f., 381, 389 – 391, 394, 396 f., 403, 405, 414, 424 Biologie 187, 203, 236, 247 f., 255, 257, 263, 265, 269, 276, 289, 292, 336 Blau 110, 351, 369, 377, 388 – 392, 400, 402, 404 – 406, 460 f. Blindheit 73, 87
501
Charakter 8, 14, 30 f., 80, 86, 101, 118, 121, 125, 132, 147, 162, 167, 171, 178, 190, 194, 197, 200 f., 216, 234 – 236, 240, 249, 259, 262, 268, 281, 284, 287, 296, 299, 307, 330 f., 333, 337, 344, 346, 354 – 357, 368, 372 f., 378 f., 381, 390, 400, 402, 405, 407, 412, 414 – 419, 422, 435 f., 438 – 440, 442, 444 – 449, 451, 457, 463, 466, 469 – 473, 475 – apperzeptiver 415, 422 – reeller 419 – setzender 417 Chemie 172, 187, 203, 247 f., 255, 263, 265, 267, 269, 273, 279, 304, 343 Chimäre 88 Deduktion 22, 26 f., 133 f., 200, 212 f., 216, 232 f., 254, 312, 314, 327 – 329, 331 f., 347, 384 f. deduktiv 1, 22, 38, 68, 106 – 109, 113, 117 – 119, 250, 254 f., 259 f., 275, 314, 328, 331 – 334, 336, 384 Definition 36, 39, 67, 88, 90, 96, 127, 172, 368, 379, 410, 418, 420, 444 Denken 7 f., 13 f., 20, 23, 25, 34, 39 – 44, 47, 53, 67, 72, 76, 80, 82, 92, 99, 103 f., 111 f., 117, 125, 129 f., 133, 136 – 138, 143, 146, 148, 155, 162 f., 171, 173, 175, 177, 180, 182, 187 f., 194, 197, 204, 209, 211, 230, 232, 236 f., 239, 241, 249, 262, 277, 281, 286, 290, 308, 311, 325, 332, 353, 359, 361, 367 – 369, 374, 377, 380, 392, 423, 442 f., 451 f., 457, 460, 462, 467 Deskription 160, 326, 383, 409, 421, 424 Deutscher Idealismus 16, 141, 144 f., 154, 165, 176 f., 189, 195, 199, 201, 204 f., 208, 226, 290, 337, 437 Dienergie 353, 355 f., 360, 363 – 366, 397 Ding 14, 16 – 18, 23, 25, 28, 31, 39 – 42, 44, 46, 49, 59, 62 f., 66 f., 69, 75 – 78, 80, 82 – 88, 93, 97 – 99, 101, 103, 107 f., 112, 118, 122, 124 – 126, 130, 143, 159 – 161, 163 f., 176, 178 f., 187, 193 f., 233, 237, 239, 248, 271, 285, 348, 361, 413 – 415, 417 f., 422, 443 – an sich 163, 285
502
Sachregister
– äußeres 404, 455 f. Disposition 26, 303, 336, 338 – 340, 406, 418, 452, 467 Distinguieren 362, 386 f., 404 f. Distinktion 57, 100, 246, 353 f., 359 – 361, 364 – 366, 410, 417 – modifizierende 68, 353 f., 359 – 361, 364 – 366, 417 Drang 378, 391 Drei-Stadien-Gesetz 147, 154, 156 – 158, 167, 182, 189 f., 193 – 195, 198, 200, 202, 243 f., 257, 265, 278 – 280, 282, 290, 294, 309, 328 Eigenheit 42, 49, 55, 63, 106, 160, 245, 403 – 406 Eigenschaft 10, 24, 33, 40, 45, 54, 58 – 60, 64 f., 84, 91, 161, 163, 232, 246, 255, 273, 275, 285 f., 319, 351, 353, 367, 404, 413 – 415, 417 f., 423, 442 f., 449, 469, 471 Einfachheit 32, 244 Einheit 17, 26, 28, 31 – 33, 95, 126, 132, 139, 148, 153, 171, 214, 229 f., 242, 251, 270, 309, 317 f., 320, 323, 325, 348 – 352, 354 f., 357 f., 361 – 366, 394 f., 408 f., 411, 414 – 418, 424, 443, 450, 455, 461, 464 – des Bewusstseins 63, 214, 251, 264, 295, 302, 309, 317, 320, 323, 335, 338, 345, 349 – 358, 362, 364, 366, 372, 381 – 384, 394 f., 405, 407, 410, 413, 415, 417 – 419, 422, 424 Eklektizismus 165, 290 Element 17 f., 23, 28, 106, 192 f., 207, 244 – 246, 251, 264, 272, 313, 345, 349 f., 352 – 354, 356, 359 – 361, 367, 369 – 372, 380 – 384, 390, 394, 396 f., 404, 409 f., 421 f., 447, 452, 455, 458 empirisch 164, 180, 185, 190, 201 f., 209, 217, 247, 249, 261 f., 268, 270, 272 f., 283, 289, 297, 305, 308 f., 314 f., 317 – 319, 324, 327 f., 330 f., 333 f., 336, 339, 363, 368, 370 f., 373, 377, 379, 381, 400, 410, 421 – 424, 463 Empirismus VIII, 132, 156, 175, 454
Empfindung 159, 259, 272, 298, 313, 321 f., 333, 338, 345, 349 f., 352, 357, 361 f., 384, 398, 411, 416, 418 f., 435, 439, 441 f., 444 f., 447, 453 f., 457 f., 465, 469 Enge des Bewusstseins 315 f. ens extra animam 92, 96 ens in anima 72 ens in mente 72, 92, 96, 98, 102 ens rationis 72, 74, 83, 87, 89, 93, 100, 116 f., 130 Entelechie 230 entia locutionis 69 entia rationis VIII, 20, 38, 46 f., 55, 69, 84, 88 f., 93, 96, 99 f., 102, 104, 115 – 117, 120 f., 123, 125 – 127 Entität 36, 64, 66 – 69, 87 f., 91, 93, 96, 99, 103, 105, 126 f., 129, 159, 163, 192 f., 198, 359 – unwirkliche 36, 64, 67, 69, 102, 121 f., 130, 354, 366 Epikureismus 165 f., 196 Erfahrung 18, 137 f., 158, 160, 164, 172, 176, 180, 187, 197, 212, 225 f., 249 – 251, 254 f., 260 f., 272, 286, 288, 296, 309 f., 314, 318, 322, 328 f., 335, 343 f., 351, 368 f., 371 – 375, 377 f., 380 f., 446, 450, 468, 470 f. – innere 158, 172, 251, 254 f., 260 f., 272, 286, 288, 296, 328, 351, 378 Erfahrungswissenschaft 249, 423 Erfassen 23, 32, 35, 39, 43 f., 63, 72, 80, 83, 86 f., 103, 108, 112, 123, 129, 133, 161, 212, 239, 249, 284 f., 328, 332, 346, 360, 363 f., 367 f., 372 – 374, 376, 386, 388 f., 391, 397 – 399, 401, 405 f., 409 f., 424, 441, 443, 467 – explizites 386, 389, 397, 399, 401, 405 – intuitives 372, 384 Erkenntnis XI, 2, 14, 32, 35, 41, 44, 68, 84, 87, 99, 101, 112, 161 f., 165, 171, 174 f., 177 f., 181, 186, 218, 220, 229, 231, 236 – 238, 248 f., 254, 265, 276 f., 286 f., 290 – 292, 294, 296 – 301, 305 f., 309, 313 f., 326, 329, 334, 353 f., 356 f., 372, 374 – 381, 390 f., 397 f., 401, 424, 444, 465, 473 – apodiktische 172, 175, 248 f., 374
Sachregister
– assertorische 375, 401 – direkte 212, 214, 291 f., 296, 299 – 301, 311, 314, 328 f., 368 – indirekte 292, 300 f., 306, 309, 313 f., 465, 474 Erklärung 14, 16, 18 – 20, 26, 30, 43, 45, 47, 53, 56, 60, 66, 70, 81 f., 85 f., 115, 117, 121, 127, 146, 159 f., 163, 167, 171, 192 f., 195, 198 f., 206, 231, 233 f., 239 f., 256, 263 f., 267, 272, 276 f., 279, 288, 294, 307, 312, 314, 321, 327 – 330, 334 f., 338, 341 f., 350, 381, 385, 409, 412 f., 423, 440, 457, 465, 467 Erlebnis 415 – 419, 422 – intentionales 417, 419 Erleiden 319, 349 Erscheinung 97, 139, 141, 159 – 161, 168, 173, 176, 180, 190 f., 195, 198 f., 215, 219, 228, 232 f., 239 – 241, 244 – 248, 264, 267 – 270, 274 f., 277, 284, 287, 289, 298, 300, 303, 308 f., 311 – 318, 320 f., 323 – 326, 329 f., 333, 335 f., 338 – 340, 344 f., 349, 351 f., 356, 358, 383 f., 386, 393 f., 396, 399, 402, 408 f., 412 f., 425, 433, 436 f., 451, 454, 464 f., 470 f., 476 Ethik 181, 183, 275, 280, 379, 430 Ethologie 276, 297, 331 f. evident 175, 210, 214, 226, 232, 242, 248, 270, 283 – 287, 299, 315, 317, 326, 340, 347, 363, 378, 385, 387 – 395, 397 – 404, 413, 419 f., 424 Evidenz 2, 24, 42, 68, 124 f., 174, 232, 236 – 238, 241 f., 255, 261, 265, 283, 286 f., 289, 296 f., 299, 305, 317, 332 f., 350, 355, 357, 367 f., 378, 388 f., 391, 393, 401, 404, 414, 421, 424 – assertorische 355, 368, 375 f., 388, 401 – unmittelbare 134, 145, 267, 291, 316, 331, 367 – 369, 374, 401, 444 Existenz 16, 47, 49, 65 f., 75, 92, 97, 103, 105, 108 – 112, 115 f., 122 – 125, 187, 193, 236 f., 286 f., 302, 305, 317, 352, 356 f., 363, 367 – extramentale 61, 65, 89 – intentionale 112, 287, 357 – phänomenale 287, 357
503
„das bloß objectiv im Geiste Existirende“ 36 f., 43, 51, 54 f., 61, 67, 69, 73, 76, 81, 85, 94, 96, 98, 102, 104, 106, 121, 125, 127, 129, 131 Experiment 158, 162 f., 172, 180, 269 f., 288, 294, 296 – 298, 303, 306, 312, 337, 350, 382, 399, 406 Falschheit 33, 43, 48 f., 52, 66, 76, 79, 101, 112, 126 Farbe 32, 65, 80, 126, 163, 237, 241, 284 f., 350 f., 355, 359 – 362, 364, 366, 374, 377, 387, 389, 403, 405, 414, 435, 444, 453 f., 457, 460 – 462 Fiktion 117, 126, 285, 362 fixieren 372, 384, 405 Fleck 387 – 392, 402, 404 – blauer 110, 389 – ins Rote spielender blauer 390 Form 13 f., 16 f., 20 – 22, 26, 28, 33, 36, 41 f., 45 f., 50, 52, 58 f., 61 f., 64 f., 68 – 70, 72, 75, 83, 95, 105, 109, 111, 113, 119 f., 123, 146, 159, 175, 179, 181 – 183, 194 f., 199, 201 f., 208, 219, 223, 228, 230 f., 236 f., 240, 242, 264, 269 f., 282, 297, 305, 311, 316, 328, 331, 340, 356, 360, 365, 381, 386 f., 399, 410, 417, 429, 447 f., 450, 454 f., 457, 473 – 475 Freude 287, 378 – 380, 463, 466 Ganzes X, 45, 62, 79, 120, 126, 149, 253, 319, 337, 345, 354, 365, 367, 383, 387 f., 392, 394, 396, 399, 403, 404 – psychisches 365, 388, 394, 396, 399, 403 Gebiet des Seienden 35, 37, 98 Gebilde 36, 89 f., 94, 96 f., 127, 246, 267, 451, 455 – imaginäres 36, 40, 67, 126 f. Gedächtnis 42, 76, 105, 140, 180, 208, 214, 232 f., 289, 295, 298 – 300, 309, 312 – 314, 318, 322, 326, 336, 347, 378, 393, 409, 434, 473 Gedankending 23, 36, 40, 42, 46, 63, 67 – 69, 72, 85, 87 f., 91 – 93, 96, 98 f., 106, 115, 125, 222 Gefühl 256, 293, 295, 316 f., 349, 466
504
Sachregister
Gegenstand 27, 30, 42, 49, 56, 68, 72, 90, 94, 97, 105 – 107, 110 – 112, 115, 117 – 120, 122 f., 130, 159, 208, 220, 222, 225 – 227, 230, 233, 235 – 237, 241 f., 247, 250 f., 254, 256, 274, 284 f., 287, 304, 315, 317, 327, 355, 361, 399, 412 – 414, 417 f., 422, 424, 429, 433, 435 f., 441 – 445, 447 f., 450, 452, 455, 457 f., 460 f., 464, 469, 473 f., 476 – intentionaler 284, 299, 361, 402, 410, 415, 421 f., 424, 473 gegenständlich 97 Gehalt 17, 42, 45 f., 89, 108 – 110, 116, 146, 177, 213, 239, 249, 287, 292, 310, 318, 331, 354, 369, 374, 389, 417 f., 436, 449 Gehirn 268, 293, 295, 303, 330, 363 Geist 1, 13, 36 f., 40, 42 f., 46 – 48, 51 – 55, 60 f., 63 – 65, 67 – 69, 73, 76, 81, 84 f., 90, 92 – 100, 102, 104, 106 f., 112, 121, 125, 127 – 129, 131 f., 139, 143, 154, 158, 160, 165, 169, 171 – 173, 180 f., 187, 191 f., 194, 196, 199, 201, 203 – 205, 208, 228 f., 231, 236, 239, 243, 247 f., 253, 270, 278 f., 281, 290 – 296, 304, 325, 331 f., 342 f., 455, 457 Gemütsbewegung XI, 47, 98, 105, 107, 118, 219, 222 f., 233, 284 f., 293, 297, 300, 315 f., 333, 337, 340, 342, 352, 375, 377 – 379, 381, 386 f., 398, 402, 404, 410, 461, 467, 473 Genus 20, 23 – 27, 31, 36, 46, 73, 87 – 91, 96, 104, 126 f., 234, 266, 300, 306, 324, 354, 356, 359 – 362, 365 f., 387, 441 Geometrie 244, 375 Geruch 377 Gesamtzustand des Bewusstseins 386, 394 f. Geschichte 1 f., 12, 15, 19, 23 f., 31, 39 f., 105, 136 – 138, 145 – 147, 155 – 157, 163, 165 f., 168 f., 173 f., 179, 181 – 183, 190 – 198, 200 – 207, 238, 240 f., 243, 253, 278 – 282, 290, 294, 305, 318, 328, 338, 371, 381, 436 f., 457, 465 – der Philosophie 1 f., 11 – 13, 15, 23, 47, 81, 90, 99, 104 f., 132, 134 – 137, 144 – 147, 154 – 160, 163 f., 166 – 169, 171 – 174, 176, 178 – 209, 211, 213, 220, 225, 232,
242 f., 248 f., 251, 253, 255, 259 – 262, 266, 274, 277, 279 f., 290, 325 f., 342 – 344, 399, 436, 462 Gesetz IX f., 90, 147, 154 f., 158 – 166, 169 f., 173 f., 176, 179, 181 f., 187, 189 – 195, 197 – 202, 204, 212, 214 – 217, 219, 221 – 225, 227 – 229, 232, 234 f., 238 – 244, 248 – 251, 254 f., 257, 263 f., 272 f., 275 – 280, 288, 294 – 296, 307 f., 310, 312 – 325, 327 – 344, 346 f., 349, 351, 367, 369 – 373, 375 – 377, 382 – 384, 394, 398, 407, 409 – 411, 421, 423 f., 454, 457, 462, 470 f. – apodiktisches 333, 367 – der Assoziation 291, 316, 339 f., 407, 450, 452, 454, 457, 461, 476 – der Sukzession und Koexistenz IX, 224, 242, 287, 317 f., 321, 330, 410, 423 f. – deskriptives 370, 373, 412, 415 – empirisches 191, 214 f., 217, 223, 227 f., 232, 234, 264, 276, 288, 307, 313, 323, 327 f., 330, 341 f., 370, 384 – induktives 242, 424 Gewohnheit 315 f., 338 f., 407, 461 Glaube 47, 69, 128, 140, 143, 148, 208, 340, 370, 422 – blinder 355 Gott 1, 75, 84, 110, 113 – 115, 118 f., 121, 136 – 138, 143, 148, 164 f., 172, 176, 178, 182 f., 193 f., 198, 206, 233, 248, 253, 262, 416, 443, 450 Gottesbeweise 176 f., 180, 262 Grundgesetz IX, 160 f., 224, 312, 314, 318, 320, 324, 326, 330 – 337, 341 f., 384, 398, 424 – psychophysisches 224, 296, 331 Gut 11 f., 15 f., 25, 30, 47, 53 f., 63, 66, 70, 82, 100, 102, 105, 128, 132, 136, 139 f., 147 f., 160 – 162, 167, 169, 176, 188, 195, 198, 202, 210, 212 f., 233, 238, 242, 272, 310, 320, 329, 333, 376, 379 – 381, 387, 396 – 398, 403 f., 412, 439 f., 444, 448, 451, 459 Hass 375, 377 Hassen 317, 378 Helligkeit 358, 393
Sachregister
Homonymie 8 f., 14, 23 f., 35, 37 f., 48 – 51, 53, 55, 57, 61, 63 – 69, 73, 85, 87, 91, 93, 96, 100, 102 – 104, 106, 108, 120 – 125, 129 f. – des Seins VII, 9, 23 f., 33, 35, 38, 48, 50 f., 54 – 57, 61, 63, 66 – 69, 73 f., 85, 87, 91, 93, 96, 102 – 104, 106 – 108, 120 – 125, 130 Hypothese 15, 35 f., 140, 167 – 170, 175, 188, 199, 205, 224, 261, 305, 412, 417, 432, 440, 448 f. Ich – empirisches 416 f., 420, 422 Ideenassoziation 215, 296, 307, 322, 332, 336 – 338, 349, 454, 460, 462 Identität 67, 325, 448 idiogenetisch 38, 53, 56, 69, 83, 103, 106, 108 f., 113 f., 120 – 123, 125, 286 immanent 21 f., 97 f., 112, 118, 166, 269, 284 f., 318, 354 – 356, 364, 397, 399, 401, 409 f., 416, 418, 420 f., 441 f. Induktion XI, XV, 190, 203, 212 f., 216, 232 f., 312, 318 f., 327 – 329, 331 – 334, 341, 347, 367 – 377, 379 f., 383, 390, 401 – im breiteren Sinn 368 – 372, 374, 377, 401 – im engeren Sinn XI, 154, 158, 250 f., 253, 277, 367 f., 370, 372 – 376, 390, 401, 450 f. – intuitive 165, 284, 368, 372 – 375, 385, 388, 405, 445 f., 449, 471 – unvollständige 371, 440 – vollständige 22, 125, 189, 224, 292, 305, 319, 322, 338, 368, 371, 377, 379, 432 f. induktiv 1, 38, 68, 106 – 109, 113, 117 – 119, 153 f., 172, 188, 192, 209, 217, 242, 249, 251, 255 – 257, 259 – 261, 270, 275, 287, 301, 303, 305, 312 – 315, 318, 323, 327 – 334, 336 f., 363, 369 – 373, 375, 383 f., 424, 463 Inexistenz 27, 50, 97, 130, 153, 231, 237, 247, 269, 315, 356 – 358, 413, 417 – intentionale VIII, 27, 97, 130, 153, 231, 237, 247, 269, 315, 356 – 358, 413, 417 Inexistenzweise 20, 25, 27 f., 30, 50 f., 55, 61, 63, 76 f., 84
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Inhalt 43, 47, 84, 95, 110, 112, 115, 117 – 120, 130, 162 f., 172, 187, 189 f., 218, 220, 222, 233, 235 f., 251, 285, 315, 317, 322, 345 f., 350 f., 357 f., 362, 370, 380, 385, 390 f., 397 – 402, 404, 408 f., 411 – 419, 421 – 423, 429, 431, 434 – 436, 441 – 443, 445, 447 f., 450, 454, 459 f., 463, 466, 469, 474 f. – deskriptiver 156, 220 f., 261, 308, 311, 320, 324, 336, 347, 353, 367, 370, 372 f., 377 f., 381, 383, 408, 410 f., 413, 420, 422, 429, 437 – reeller 415, 417 – 419, 421 f. – sinnlicher 385, 414, 418, 422 Inhärenz 17 f., 22, 27 Intensität 215, 317, 321 f., 333, 358, 431, 434 f., 441 f., 470, 473, 475 intentional 27, 38, 95, 97 f., 105 f., 110 – 112, 114, 117 – 119, 122, 127, 130, 148, 153, 162, 221, 231, 237, 245 – 247, 264, 269, 274, 285, 287, 315, 320, 323, 352 – 358, 360 f., 363 – 369, 388 – 392, 397 f., 400, 403, 406 f., 409 f., 413 – 422, 424, 441, 473 – 475 Intentionalität 7, 130 – 132, 153, 214, 241, 323, 335, 429 Interesse 10, 62, 81, 107, 123, 129, 132, 140 f., 145, 149, 155 f., 164 – 166, 168 – 176, 178 – 188, 190, 196, 198 – 202, 208, 211 f., 244, 277, 282, 307, 319, 400, 408, 455 – praktisches 178 – theoretisches VIII, 164, 181, 186, 201 f., 282, 400 – wissenschaftliches 166, 214 ist, passim 7 – 28, 30 – 36, 38 – 60, 62 – 130, 132 – 135, 137 – 148, 153, 155 – 162, 164 – 178, 180 – 182, 184, 186 – 209, 211 – 232, 234 – 243, 245 – 251, 253 – 310, 312 f., 315 – 321, 323 – 425, 429 – 434, 436 f., 439 – 464, 467 – 469, 472 – 476 – existentiales 23, 56, 81, 83, 106, 108 – 110, 113 – 116, 119 – 123, 127, 286 – kopulatives 23 f., 38, 48 – 51, 56 – 58, 60, 62 f., 66 f., 70, 77 f., 82 – 84, 106, 108 f., 114, 121 – 123, 127, 130
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Sachregister
– kopulativ-veritatives 38, 51, 55 – 60, 62 f., 66, 68 f., 78, 81 f., 100, 108, 121 – 123 – ontologisches 51, 70, 83 f., 115 – veritatives 52, 66, 100 Jupiter 36, 46, 63, 66 – 69, 87, 91, 109, 115, 120, 124, 126 f., 161 Kategorie XII, 2, 8 – 10, 13, 15 – 34, 42, 56, 67, 71, 74, 76, 83, 88, 94, 96, 100, 133 f., 137, 143 f., 203, 229, 254, 366 – Deduktion der Kategorien VII, 21, 76, 143 – Figuren der Kategorien 8, 85, 128 – Ordnung der Kategorien 11, 15 f., 19, 21, 25, 30 – Schema der Kategorien 10 Kategorientafel 11, 15, 18 f., 22, 24 f., 27 f., 30, 33, 134 Katholizismus 139, 204 f. Kausalität 254 Klassifikation 1, 19, 24, 115 f., 127, 153, 155 f., 186, 207, 219 – 221, 223, 226, 240, 243 f., 247 – 255, 257 f., 260 – 262, 265, 275, 279, 284 f., 293 f., 310 f., 315 – 317, 322, 343, 352, 378, 383, 409, 431, 433, 437, 439 f., 462, 464 – der psychischen Phänomene X, 1, 24, 115 f., 162, 207, 221, 223, 235, 238, 242, 246, 257, 259, 261 f., 264, 284, 286, 290, 292 f., 296, 300, 307, 310 f., 313, 316, 320, 324, 336, 344, 352, 357, 377, 386, 410 f., 419 f., 433, 437, 450, 465 f., 469, 475 – der Wissenschaften 2, 15, 141, 145, 153 – 156, 158, 186 f., 201, 240, 243 f., 248 – 250, 252, 255 – 263, 265, 273, 275, 278 f., 334, 343, 416 Kompositum 26 Konkretum 393, 396 Kontiguität 215 Kontinuum 322, 361 f., 403, 434 Kopula 9, 23, 36 – 38, 48 – 50, 52 – 59, 61 – 63, 66 f., 74, 77, 79, 81 – 85, 101, 109, 111 – 113, 121, 123, 127 – 130 – affirmative 25, 36 f., 47, 49 – 52, 55 f., 61, 66 – 69, 73 f., 76 – 81, 85, 87 – 89,
92 – 96, 98 f., 102 f., 106 f., 111, 114 – 117, 120 – 123, 126, 130, 355, 386 f. – negative 49 f., 52 f., 56, 58, 78 – 80, 101, 110, 112 f., 118, 124, 211, 280 f., 386 f. – veritative 55 f., 62 f., 82, 113 Körper 159 – 161, 163, 178, 230, 246, 263, 270, 291, 293, 307, 412, 448 Korrelat 47, 118, 120, 287, 358 – 361, 364, 366, 389 f., 397 f., 401, 414, 416 f., 421 – intentionales 287, 364, 366, 389, 398, 401, 417 Korrelatenpaar 148, 353, 356, 360 f., 364, 366 – intentionales 356, 364, 366 Korrespondenztheorie der Wahrheit 35, 37, 40, 45, 51, 53 f., 59 f., 63, 68, 73, 79, 82, 99, 101 – 104, 111, 123 f. Kosmologie 253 Kraft 8, 78 f., 122, 126, 159, 167, 230 f., 237, 269, 277, 279, 357, 360, 414, 416, 448 Lage 21 f., 85, 147, 204, 231, 235, 275 Leiden 15, 21 f., 27, 221 Liebe 138, 165, 306, 317, 340, 377 – 381, 391, 449 Logik 1 f., 28, 31 – 33, 38 f., 44, 49, 68, 72, 86, 88 – 91, 96, 106 – 109, 113, 117 – 119, 123, 129, 136, 144, 183, 238, 256, 262, 275 f., 280, 295, 300, 328, 332, 353, 374, 395, 421, 430, 434, 465, 475 Lust 299, 317, 393, 396 f., 402, 466 f. Materie 17, 21 f., 26, 28, 30, 44, 75, 113, 200, 228, 230 f., 237, 249, 360, 368 Mathematik 90, 117, 158, 172, 174, 186 f., 196, 208, 243 f., 247, 249 f., 253 – 255, 259 f., 263, 267, 273 – 275, 331, 333, 346, 370 f. Mechanik 178 f., 239, 244, 260, 346, 370 Metaphysik 7 – 9, 12, 18, 23, 28, 30 – 32, 34, 36 – 40, 42, 45, 49 f., 56 – 58, 60, 72 – 75, 78, 80, 86, 89 – 92, 94, 97, 99, 101, 104, 107 f., 110, 123, 129 f., 133, 153, 158, 164, 167 f., 172, 179, 181, 183, 186 f., 193, 198, 200, 208, 210 f., 213 f., 225, 230, 240, 249 – 255, 258 f., 262,
Sachregister
274, 279 – 281, 296, 304, 307 f., 342 f., 399, 465 Mereologie X f., 132, 360, 382, 390, 396, 409, 421 Methode XII, 132 – 134, 136, 145 f., 149, 154 f., 158, 160, 164, 168, 170, 172, 177, 180, 184 – 186, 190, 198 f., 202 – 204, 207 – 214, 216 f., 225 f., 229, 232 f., 235 f., 238, 240 – 242, 248, 256 f., 262 f., 269 – 271, 273, 277, 283, 288 – 290, 292, 294 f., 299 – 305, 311, 313 f., 325 – 328, 332, 336, 341, 343 f., 374, 383 – 387, 391, 399 f. – deduktive 256, 328 – empirische VIII, 164, 208 f., 226, 262 – induktiv-deduktive XI, 208, 312, 332 f. – induktive VIII, 209, 318, 329, 369 – 371, 383 – naturgemäße 145, 164, 168, 180, 185, 190, 198 f., 202 – 204, 277 – spekulative 146, 180, 203 f., 208, 226 – umgekehrte deduktive 2, 15, 138, 146, 160, 256, 269, 328 Methodologie 265, 310, 312, 326, 342, 383 f. Mittelalter 9, 23, 97, 99, 104, 110, 133 – 135, 139, 141, 145 – 147, 164 f., 175 f., 179, 194, 197 f., 200, 206, 437 Modifikation 219, 289 modifiziert 244, 278, 361 f., 364 – 367, 386, 389, 391, 475 Möglichkeit 10, 12, 31 – 33, 49, 54, 63, 77, 89, 118, 120, 126, 166 f., 173 f., 184, 213, 248, 262, 264, 274 f., 278, 286, 291, 296, 298, 305, 307, 311, 337, 342, 361, 369, 371, 390, 396, 401 f., 415, 468 f., 473 f. Moment 92, 126, 147, 160, 185, 196 f., 209, 215, 217 f., 225, 242, 263, 265, 283, 291, 298, 301, 303, 311 – 315, 321, 323 – 327, 329, 335, 351, 356, 358, 362 – 365, 368, 384 f., 387, 391, 399, 405, 409, 432, 434 f., 439, 441, 444 – 449, 454, 458, 461 f., 466, 471 f., 476 – anschauliches 443 – begriffliches 281, 381, 445 f., 457, 462, 471, 476
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– individualisierendes 356, 358, 362 – 364, 385, 393, 465 – methodisches 313, 323, 329, 363, 368, 370, 409 Monismus 210, 225 f., 399 Mystik 138, 144, 165 Naturwissenschaft 132, 135, 145, 149, 159 – 162, 168, 170 – 172, 174, 179 f., 182 – 185, 187, 190, 192, 200 f., 204 – 206, 208, 210, 213, 225 f., 230, 232, 242, 247 f., 250, 254 – 257, 259 f., 262, 264 f., 269 f., 274 f., 278, 283, 288 f., 310 – 314, 318, 325 f., 333, 335, 342 – 344, 351, 384, 398 – 400, 406, 410 – 413, 416, 418 f. Negation VIII, 36, 52 f., 58 – 61, 63 – 67, 69, 73 f., 78 f., 81 f., 84 f., 87 – 89, 91 – 93, 96, 98 – 101, 103 f., 106, 113 – 116, 120 f., 130 Neuscholastik 38, 132 – 136, 139, 143 f., 147 f. Neuzeit 1, 80 f., 88 f., 91, 94 f., 97 – 99, 125, 132 f., 135, 140 f., 144 – 147, 149, 155, 164 – 167, 170 – 177, 179 – 182, 186 – 188, 194, 197 f., 200 – 205, 208, 212 f., 229, 231, 233 f., 236, 238 – 240, 242 f., 247, 251, 254, 259, 273, 276 – 278, 282, 310, 342, 356, 412, 437 Nichtexistierendes 93 Nichtseiendes VIII, 64 – 66, 92, 117, 121, 123, 130 Nominalismus 165, 280 Notwendigkeit 367, 372 f., 376, 422 Objekt 17, 35, 39 f., 42 f., 47, 52, 55, 60, 92, 95 – 99, 105, 107, 110, 112, 115 – 118, 121 – 127, 153, 160, 163, 179, 232, 262, 265 f., 269, 284 – 287, 289, 291, 297, 315, 318, 320, 323, 346, 351, 353 – 361, 364, 366 f., 378 f., 381, 388 – 390, 393, 396 – 399, 401 – 405, 413, 415 – 418, 433, 441 f., 444, 451, 454 – 456, 463, 469 – immanentes 167, 285, 315, 323, 351, 358, 401, 416 f., 469 – intentionales 287, 356, 364, 366, 389, 398, 401, 417
508
Sachregister
– mathematisches 52 – primäres 285 – 287, 390, 402 – sekundäres 284, 341 Ontologie 42, 104, 132, 138, 144, 253, 259, 353 Operation 22 f., 27, 34, 43, 63, 77, 80, 83 f., 93, 101, 109, 117, 127, 229 – 231, 291, 297, 393 f., 406, 456 – erste 23, 43, 63, 83 – zweite 43, 63, 77, 80, 84, 101, 109 Ort 14 – 16, 21 f., 27, 76, 130, 178, 195, 213, 238, 301, 354, 370, 372, 376, 437, 457 Örtlichkeit 393 Ousiologie 9 – 11, 26 Partikularismus 225 f., 242, 326, 399 Patristik 204 Perzipieren 345 Phänomen VIII, 105 – 107, 112, 118 f., 127 – 129, 148, 153, 157, 159, 161 – 163, 166, 175, 179 f., 182, 187, 190 – 193, 196, 198 f., 202, 212, 214 – 217, 219 f., 223 f., 226 – 228, 232 – 248, 251, 254, 256, 259 – 265, 267 – 277, 283, 285 – 290, 294 f., 298 – 302, 306, 308 – 310, 312 – 315, 317 – 321, 323 – 328, 330 f., 333, 335 – 339, 343 f., 346 – 348, 351 f., 356 – 358, 361 – 363, 365, 368 f., 371 f., 376 – 378, 381 – 384, 389, 392 f., 398, 404, 406, 408 – 421, 423 f., 429 – 437, 439 f., 443, 446 f., 450 f., 462, 464 – 467, 469, 471, 476 – chemisches 244, 246, 263 – 265, 267 f., 344 – physisches 159, 162, 315, 408, 413 – 415, 419 – psychisches 106 f., 112, 118 f., 127, 153, 162, 180, 214 f., 219, 221, 223 f., 232, 234 – 236, 238, 242, 245 – 247, 251, 254, 257, 259, 261 f., 264 f., 268 f., 274, 283 f., 286 f., 290 – 294, 296, 298 – 307, 309 – 313, 315 – 321, 323 f., 326, 331, 333, 336, 338 f., 344, 348, 351 f., 354, 356 – 358, 361, 363, 369, 377, 384, 386, 389, 404, 410 f., 415, 417 – 421, 429 f., 433 – 437,
439, 450 f., 460, 462, 464 – 467, 469, 471, 475 f. – fremdes psychisches 300 f., 305 f., 309, 311, 314, 329, 430, 434, 439 f., 446, 450, 464 – 466, 469, 471 – sinnliches 454 – 456 phänomenal 111 f., 149, 162, 172, 180, 212, 214, 223, 228, 236, 239, 243, 245 f., 255, 264, 274, 282, 285, 287, 295, 307, 356 f., 360, 370, 376, 390, 400, 402, 414 f., 417 – 420 Phänomenologie 8, 127, 129 f., 162, 222 f., 345, 374, 416, 419 – 423, 473 f. Phantasie 41, 126, 231, 287, 322, 340, 429 – 434, 436 – 442, 445 f., 448 – 457, 462 f., 467 – 469, 471 – 476 Phantasieerscheinung 346, 436, 453 Phantasievorstellung 322, 348, 429 – 437, 439 – 452, 454 f., 459 – 476 – anschauliche XII, 434, 437, 439, 443 – 447, 451 f., 464, 471, 475 – uneigentliche XII, 429, 431 f., 434, 437, 439 – 452, 454, 459 – 472, 474 – 476 Phantasma 448 Phase 1 f., 47, 135 – 137, 144 – 147, 156, 158, 160, 163 – 179, 183 – 188, 190 – 192, 194 – 205, 207 – 209, 211, 240, 242 f., 247 f., 280 – 282, 344 – Abstiegsphase 164 f. – Aufstiegsphase 145, 174, 206, 277 Philosophie XII–XIV, 1 f., 8, 11 – 15, 17, 28, 30 – 32, 39 f., 50, 67, 81, 89, 94 f., 105, 125, 132 – 145, 147 – 149, 153 – 160, 163 – 179, 181 – 183, 185 – 197, 199 – 211, 213, 215 – 218, 221, 223, 225 – 228, 233, 237 – 239, 243, 247 – 255, 261 f., 265, 271, 274, 277, 279, 288 – 290, 293 – 296, 312, 324 – 326, 332 f., 339 f., 342 f., 371, 374, 377, 407 f., 412, 429, 437, 473 – angelsächsische 169, 437 – induktive 154, 172, 249 – positive VIII f., XII, 1 f., 50, 52 f., 58, 113, 118, 120, 135, 147, 149, 153, 155 – 160, 163, 165, 167 – 175, 179 – 182, 185, 187 f., 190 – 201, 203 – 207, 209 – 218, 223 – 228, 236, 238 – 243, 245, 247 f., 255 – 257, 259 f., 262 – 264, 269, 271, 275 f.,
Sachregister
278 – 283, 287, 289 – 295, 301, 304 – 307, 310 – 313, 317, 319 f., 323 – 325, 329 – 331, 333 – 335, 339 – 343, 362, 387, 407 f., 410 – 412, 418, 423 f. Phrenologie 283, 290, 292, 304, 309 Physik 30, 32, 40, 90, 132, 172, 186 f., 203 f., 230, 247 f., 253, 255, 263, 267, 269, 273, 276, 279 f., 296, 304, 336, 343 Physiologie IX f., 158, 172, 213, 224, 257, 259, 263, 265 – 267, 271 – 273, 275, 279, 282 f., 288, 290, 292, 295, 298, 301, 304 f., 307 – 309, 314, 318, 326, 330 f., 334 – 337, 341 – 343, 346 f., 376, 382, 406, 421 Politik 181, 275, 296 Positivierung 271, 282, 310, 333 Prädikat 16, 21, 23, 50, 61, 76, 83, 108 – 111, 114, 116, 118, 120 – 123, 286, 456 Prädikation 20, 25, 42, 48 – 50, 52, 57 – 59, 109, 111 f., 121, 123, 128, 386 f. Prinzip 19 – 21, 26, 40, 133, 203, 226, 230 f., 247, 267, 370 Privation VIII, 36, 63 – 67, 69, 73 f., 80 f., 84 f., 87 – 89, 91 – 93, 96, 98 – 100, 104, 120 f., 130 pros hen legomena 23 Proterästhesie 352, 361 f., 425, 434 Psychognosie X f., 172, 311, 345 – 349, 352, 357 f., 361, 364 f., 367, 370 – 373, 381, 383, 390 – 392, 396 f., 400, 405 f., 411, 421 f. Psychognost 347 f., 363, 367, 372, 382, 386, 389, 393, 402, 461 Psychologie IX, XI, 1 f., 12, 24, 27, 47, 83, 97 f., 105 – 110, 115, 117 f., 122 f., 127 f., 130, 133, 138, 149, 153 – 160, 162 – 164, 167 – 170, 172, 175, 179 f., 182 – 188, 190, 193, 207 – 244, 246 – 251, 253 – 301, 303 – 327, 329 – 337, 339 – 358, 360, 363, 365, 367 – 373, 376 – 378, 381 – 386, 390 f., 393 f., 397 – 402, 404 – 425, 429 – 431, 436, 440, 443, 449 f., 452 f., 455, 457, 459, 461, 463 – 467, 472, 476 – aristotelische 217, 229, 231, 233, 237, 242, 253, 275
509
– deskriptive VII, X–XII, 1, 118, 157, 159, 162, 180, 183, 212 – 214, 216 f., 219 – 222, 224 – 226, 238, 242, 244, 249, 251, 260 f., 264, 268, 272, 284, 287, 299 f., 310 f., 318 – 325, 340 f., 345 – 348, 350 – 352, 357 f., 364 f., 368 – 374, 376, 378, 382 – 384, 386, 391, 393 f., 401 f., 407 – 414, 416 – 418, 420 f., 423 – 425, 431, 435, 437, 440 f., 449 f., 452 f., 457, 459, 461, 465 f., 472 – 474, 476 – empirische IX–XI, 154, 156 f., 167, 180, 212, 214, 216, 220, 222, 235, 242, 257, 262 , 272, 278, 280, 282, 299, 301, 303, 311, 320, 323, 326, 330 – 336, 341 f., 347, 376, 383, 408, 410, 412 f., 419, 421, 423 f., 454 f., 463, 474 – genetische X, XII, 156 f., 183, 189 f., 217, 221 f., 224, 251, 260 f., 272, 276, 308, 321, 324 f., 336, 339 – 341, 346 – 348, 350, 358, 369, 376, 382 f., 400, 408 – 411, 423 – 425, 431, 435, 437, 446, 450 f., 463 f., 467 – induktive 301, 303, 305, 332 – physiologische 2, 159, 163, 211 f., 245 – 247, 265, 267 – 269, 271 – 273, 283, 288, 290 – 292, 294, 296, 301 – 305, 307 f., 316 – 319, 325 – 327, 330 f., 334 – 337, 341, 344 f., 376, 452 – positive 211, 282, 301, 305, 307, 311 psychophysisch 213, 224, 230, 242, 296, 307, 331, 333, 335, 337, 346 Pyrrhonismus 165 Quadrat 59 f., 78 f., 161, 350 f., 441 – 446, 448 f., 451 f., 456, 464 Qualität 15 – 19, 21 f., 24, 27, 31, 46, 52, 64, 68, 101, 106, 110, 119, 162, 234, 245 f., 264, 321 f., 354 f., 358, 361, 366, 370, 376 f., 389, 393, 396 f., 400, 411, 414, 453, 460 Quantität 15 – 19, 21 f., 24, 27, 31, 234, 327 Räumlichkeit 238 reell 37, 42, 48, 53, 55, 57, 61, 63, 66, 72, 90, 92, 94, 96, 98, 100, 102, 357, 409, 413, 415, 417 – 422 Reflexion 93, 137, 148, 184 f., 201, 358
510
Sachregister
Reformation 146 f., 204 – 206, 208 Reismus 47, 213 f., 223 reistisch 47, 69, 116 f., 219 – 223, 238, 429, 441 Relation 15 – 19, 21 f., 27, 42, 53, 66, 73, 221, 227, 358, 408 Rot 32, 55, 350, 359 f., 370, 373, 377, 387 f., 390, 392, 400, 417, 441, 443 – 446, 448 f., 451 f., 460 f., 464 Satz – als wahr behaupteter 25, 51 f., 55, 61 – 63, 76, 106 Scholastik 71, 97, 136 – 138, 140, 142, 144 – 148 Scotisten 165 Seele 2, 35, 40, 55, 64, 68 f., 80, 92 f., 97 f., 100, 103, 129, 136, 148, 171, 178, 180, 182 f., 185, 188, 206, 211 f., 215, 219, 221, 223, 229 – 232, 234 f., 239 – 241, 248, 253, 255, 265 – 267, 275, 282, 293, 300 – 307, 310, 314, 332, 336, 342, 363, 412, 421 Seiendes 1, 7 – 12, 23, 24 – 26, 31 – 37, 47 – 49, 51 – 53, 55 – 57, 61, 63 – 66, 68 – 70, 72 – 74, 76, 80, 82 – 89, 90 – 94, 98 – 100, 104, 106 – 111, 113 – 115, 117, 120 f., 128, 133, 139, 154, 163, 231, 249, 254, 359, 453 – als Seiendes 36 f., 74, 99 – als Wahres VII, 8, 10, 24 – 26, 31 – 37, 48 f., 57, 70, 76, 86, 89, 92, 100, 104, 106 f., 115, 117, 120 f., 128 – an sich 56 f., 73, 163 – außerhalb des Geistes existierendes 37, 48, 51 – 53, 63 – der Möglichkeit nach 32, 231 – der Wirklichkeit nach 8, 10, 26, 31 – 35, 57, 100 – im Sinne des Wahrseins 72 – kategoriales VII, 9, 26, 33, 47, 64, 74, 76, 82 – 85, 87 f., 90 – 92, 98, 121 – mannigfache Bedeutung des Seienden 1, 7, 9, 11 f., 37, 55, 73, 80, 104, 133, 139 – reales 23, 66, 68, 107 – 110, 359 – veritatives VII, 114 – zufälliges 8
Sein
XII, 1 f., 7 – 28, 30 – 85, 87 – 95, 97 – 140, 142 f., 145 – 149, 153 – 164, 166 – 191, 193 – 214, 216 – 226, 228 – 236, 238 – 240, 242 – 245, 247 – 251, 253, 255 – 257, 259 – 262, 264 – 267, 269 – 272, 274 – 332, 334 – 356, 358 – 360, 362 – 379, 381 – 413, 415 – 424, 429 – 437, 439 – 450, 452 – 457, 459 – 461, 463 – 466, 468 – 476 – rationelles 61, 63, 90 – reelles 114 – substantielles 70, 85, 108 – 110, 123 Sein der Kopula VII, XII, 7, 10, 23, 35, 46, 49, 59, 61, 63, 70, 73 f., 81, 85, 102, 104, 106 – 109, 111, 121, 127 f. Seinsmodus 76, 97 Selbstbewusstsein XI, 211, 240, 265 f., 288, 300 – 303, 378 Sensation 356, 361 f., 417 Setzung – naturalistische 420, 422, 424 Setzungscharakter 422 Sinn – äußerer 236, 259, 346 Sinnesorgan 43, 65, 112, 237, 357, 360, 406, 411 f., 414 f., 431, 454 Skala der Wissenschaften IX f., 153, 156 f., 168, 187, 218, 225, 243 f., 247 f., 250, 257, 259 – 262, 264, 267, 269, 272 – 275, 278 f., 281 f., 292, 304, 312, 331, 334 – 336, 342 f., 382 Skeptizismus VIII, 164 f., 177 – 179, 188, 253 Soziologie 203 f., 247, 257, 262, 269, 309 Spekulation 137 f., 146 – 148, 165, 198, 203 f., 206, 209, 449 Spezies 23, 27, 36, 46, 87 – 91, 96, 104, 127, 293, 354, 356, 359, 362 f., 365 f., 377, 387, 422, 444 spezifische Differenz 20, 23, 27, 359 Sphinx 67, 88, 96 Stadium 158 f., 163 – 165, 167, 169, 171, 174 – 176, 184, 187, 191 f., 195, 197 f., 201, 205, 241, 247 f., 257, 275, 279 – 281, 290, 311 – Verfallsstadium 134, 144 f., 154, 164 f., 189, 207, 213, 288 Staunen 175
Sachregister
Stich ins Rote 390, 402 – 407 Stoa 165 f., 196 Subjekt 16, 21, 23, 45, 48 – 50, 61, 67 – 69, 75 f., 92, 98, 105, 107, 111, 114, 116, 122, 266, 284, 286, 289, 291, 297 Substanz 9 – 11, 15 – 28, 30 f., 33, 39 f., 43 f., 50 – 52, 60, 64 f., 77, 83 f., 88, 90 f., 116, 148, 159, 175, 195, 212, 228 – 233, 237, 239, 257, 273, 356, 363 – abtrennbare 39, 285, 319, 353 f., 356, 364, 386, 389, 391, 394 f., 397 – bewegte 11, 90, 475 – erste 10 f., 20 – 28, 30, 40, 50 – 52, 77, 83 f., 116, 356 – unbewegte 40, 90 Substrat 30, 50, 265, 272 f., 311, 316, 325, 334, 336, 341 Synonymie 23 Tätigkeit 21, 132 f., 167, 229 f., 233, 237, 294, 297, 315, 345, 421, 436, 450, 454 f., 457 Teil X, 9, 13, 15 – 17, 20 f., 28, 31 f., 35, 38, 51, 53 f., 60, 63 – 66, 68, 72, 84, 89 – 93, 95 f., 98 – 100, 102, 104, 114 f., 118, 120, 130, 135, 143 f., 149, 155 f., 165, 169, 172, 174 – 177, 183 f., 189, 195, 197 f., 211, 217 – 222, 229 – 231, 233 f., 238, 246, 249 f., 254 f., 262, 268 f., 283 – 286, 293 f., 297 f., 300, 302, 306 – 308, 319 – 323, 325, 331, 333, 337, 342, 345 – 368, 370, 372 f., 378 f., 381 – 383, 385 – 407, 409 f., 412, 414, 417, 421 – 423, 425, 429 f., 433, 437, 440, 448, 450, 452, 455, 457, 461, 463, 465, 469, 473 – abtrennbarer 364, 395, 407, 421 – distinktionell 269, 285, 319, 321 – 323, 325, 349 f., 352 – 355, 359, 362, 364 – 367, 381, 385 f., 389, 391, 394, 396 f., 401, 403, 405, 407, 421, 425 – wirklich 18, 22, 28, 31, 40, 45 f., 53 f., 60, 65, 67 – 69, 76, 83, 88 f., 97, 110, 112, 118, 124, 127 – 130, 162, 165, 177, 231, 236 f., 245 f., 260, 264, 268 f., 274, 285 – 287, 297, 308, 315, 317, 319, 322 f., 325, 348 f., 352 – 357, 359 – 367, 381, 386,
511
394 – 398, 406, 412, 414 f., 417 – 419, 422, 436, 445, 456, 462 – distinktioneller 379, 381, 395, 397, 401, 404 – individualisierender 442 – logischer 24, 34, 87, 91, 104, 137, 359, 361, 403 – sich durchdringender 363, 365 Theologie 40, 133, 137 f., 143, 146 – 148, 165, 180, 193, 204 – 206, 240, 250, 253, 255, 259, 262 – spekulative 180, 206 Tier 41, 89, 229 f., 233, 236, 293, 302, 306, 309, 330, 361 Ton 31 f., 126, 237, 284 – 286, 361 f., 377, 462 Tun 9, 15, 21 f., 27, 55, 60, 91, 100, 102, 118, 124, 126, 187, 190, 212, 224, 229, 235 – 237, 245 f., 254, 270, 274, 282, 294, 326, 348, 359, 364, 371, 375, 377, 386, 389 – 391, 395, 400 f., 403, 409, 412, 431, 454, 465, 470, 475 Unlust 299, 317 Unmöglichkeit 118, 261, 291, 294, 367, 372 – 374, 406, 422, 465 f. Unsterblichkeit 136, 148, 171, 178, 180, 182 – 185, 188, 206, 211 f., 215, 231, 248, 253, 306 f., 314, 332, 336, 363 Unsterblichkeitsfrage VIII, 188, 208, 211 – 215, 217, 219, 223, 229, 231, 234 f., 239 – 241, 256, 259, 261, 274, 280 – 282, 295, 307 f., 310, 325, 329, 333, 340, 420, 423 Ursache 16 f., 25, 34, 75 – 78, 80, 83, 101, 104, 159 – 161, 163 f., 173, 175 f., 178 – 181, 185, 190, 193, 227, 239, 249, 253, 257, 287, 338, 357 – 359, 382 f., 390, 399, 402, 411 f., 415, 453 – erste VIII, 16, 161, 164, 176, 179, 181, 185, 193 – wirkende 21, 159, 161, 231, 448 Urteil(en) XI f., 16, 23 – 25, 32, 38, 40 – 56, 58 f., 61 – 69, 74 – 76, 78, 80, 83 – 85, 87 f., 91 – 93, 98 – 103, 105 – 116, 118 – 125, 127 – 129, 134, 138, 141, 145 f., 204, 219, 222 f., 233, 249, 284, 286, 293, 300, 306, 315, 317, 333, 337, 341 f., 347,
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Sachregister
349, 352, 355, 367 – 369, 374 f., 377 – 381, 386 – 389, 391, 393, 396, 398, 401 f., 404, 410, 421 – 423, 455, 461, 467, 473 – analytisches 364, 382 f. – apodiktisches 377, 381 – evidentes 385 f., 388, 390 f., 394, 402 f. – existentiales 105, 113, 122 – kategorisches 38 Verallgemeinerung XI, 190, 256, 264, 272, 314, 317 – 319, 327, 333, 340, 368, 370 – 373, 377, 379, 384 – induktive XI, 314, 333, 371 f., 384 Verbindungsweise X, 251, 264, 345 f., 383, 410, 437 – apodiktische X Verdeutlichung 63, 90, 403, 410, 421, 460 Vergleichen 243, 405 f. Verhältnis 7, 10, 14, 22 – 26, 28, 30, 36, 40, 47, 49, 51 – 53, 55, 63 – 66, 67 – 69, 74 – 80, 82 – 88, 89, 92 f., 94, 96, 98 f., 102, 107 f., 111, 113, 121, 123, 137, 140, 144, 156, 158, 163, 165, 168, 173, 177, 179, 182, 188 f., 191, 194, 196, 198, 203, 209, 213 f., 216, 242, 245, 256, 263, 267 – 269, 271 f., 278 f., 281, 286, 290, 317, 319 f., 332, 346 f., 349, 354, 356, 358 – 360, 362, 366, 368 – 370, 374, 380, 385, 387, 392, 396, 398 f., 402, 414 f., 424, 432, 446, 448 – 450, 454, 464, 467 f., 473 f. – gedachtes 64 f., 67 – kategoriales 10, 25 f., 36, 47, 51 f., 66, 87 f., 92, 94, 98, 102 – mereologisches 366 – rationelles 30, 51, 96, 127 – wirkliches 23, 49, 51, 53, 55, 64 f., 67 – 69, 87 f., 92 f., 98, 108, 121, 123, 128, 286, 360 Verifikation 212, 261, 275, 312, 328 f., 363 veritative Konvention 35 f., 38, 51, 54, 57 – 61, 63, 77 f., 82, 101 f., 112 f. Vermögen 8, 10, 26, 30 f., 34 f., 57, 100, 181, 293, 356, 369, 443, 448 Verstand 23, 34, 40 f., 43, 62 f., 68, 75 – 77, 80, 83 – 85, 87 – 89, 93, 99, 101, 109,
112, 116, 124 – 127, 134, 138, 142 f., 148, 154, 182, 188, 198, 201, 206, 209, 223, 229, 248, 274, 284, 305, 320, 356, 363, 374, 382, 390, 409 f., 414, 429 f., 432, 435 f., 447, 449, 452, 458, 460 Verstandesakt 67 Verwerfung 42, 49, 56, 109 – 112, 114, 116, 121 – 123, 126, 136, 249, 290, 367 f., 370, 380 apodiktische 380 Vier-Phasen-Theorie 144, 146 f., 164, 167 – 169, 175 – 177, 186, 189, 191 f., 194 f., 198 f., 203, 205, 207, 244, 277, 279 f., 290 Vorsokratiker 165 Vorstellung 38, 41, 43, 47, 62, 85, 94, 98, 105 – 119, 121 – 124, 127 f., 130, 214 f., 219 f., 222 f., 233, 249, 254, 284 – 287, 293, 300, 303, 315, 317, 321 – 323, 336, 342, 345 f., 349 – 352, 358, 361, 368 – 370, 377, 380 f., 386, 393, 396, 398, 401 f., 410, 413 f., 416, 418, 421, 423, 431, 433 – 437, 439 – 465, 467, 469 – 474, 476 – abstrakte 89, 159, 163, 192 f., 195, 198, 231, 244, 250, 255, 281 f., 284 f., 295, 306, 352, 363, 386, 441 – 444, 449, 460, 463 f., 466 f., 469 f. – anschauliche 358, 411, 433 f., 436 – 452, 454, 458 – 461, 463 f., 466 f., 469 – 476 – begriffliche 43, 93 f., 105, 111, 230, 371 f., 381, 432, 439, 441, 444, 446 – 448, 452, 457, 459 f., 462 f., 466 – 468, 472, 476 – der inneren Wahrnehmung 119, 162, 174, 211, 213 f., 216 f., 226, 232, 236 – 238, 241 f., 255, 257, 261, 263 f., 270 – 272, 282 f., 285 – 288, 290, 293 f., 297 – 300, 305, 307, 309, 311 f., 314, 318 f., 327, 332 – 336, 341, 343 – 347, 350 – 352, 356 f., 385 f., 388 – 390, 392 f., 396 f., 399 – 405, 407, 409 f., 412, 421, 423 f., 433 f., 451, 464, 466 f. – explizite 401 – 404 Wahrheit 2, 10 f., 24 f., 28, 32, 35, 38 – 46, 48 – 52, 54 – 58, 61 f., 65, 67 – 69, 73 – 80, 82, 84 – 87, 99, 101 – 104, 107 –
Sachregister
116, 120 – 125, 129, 136 – 138, 148, 162, 165, 175, 178, 181, 200, 268, 273, 330 f., 335, 352, 367, 369, 422, 445, 448, 473 Wahrheitsbegriff 10, 32 f., 37 – 40, 42, 44 f., 64, 68, 75, 86, 93, 103, 108, 124 f., 128 f., 417 Wahrheitswert 54, 58, 79, 101, 434 Wahrnehmen 112, 253, 368, 386, 391, 393 f., 401 – 403, 424 Wahrnehmung 18, 41, 112, 119, 156, 158 f., 162, 175, 180, 210 f., 213 f., 216 f., 226, 232 f., 236 – 238, 241 f., 248 f., 255, 257, 259, 261 – 264, 269 – 272, 283 – 291, 293 – 300, 305, 309 – 311, 313 f., 317 – 319, 322, 325 – 329, 332 – 335, 340 f., 343 – 347, 349 – 352, 355 – 358, 361 f., 370, 385 – 405, 407, 409 f., 412 – 415, 417 f., 421 – 424, 432 – 436, 439, 444 f., 447, 449, 451 f., 464 – 467, 469 f., 473 – 476 – äußere 112, 158 f., 162, 232, 236 – 238, 241, 249, 257, 287, 310, 346, 355, 357, 385, 389 f., 399, 403, 412 – 415, 422, 433, 435, 465 – evidente 242, 387 – 392, 394 f. – explizite 388, 391 f., 394, 401 f. – implizite 66, 263, 346, 387 – 392, 401, 410, 439, 446, 448 – innere X f., 68, 119, 156, 158, 161 f., 174, 180, 210 f., 213 f., 216 f., 232 f., 236 – 238, 241 f., 249, 255, 257, 259, 263 f., 270, 272, 282 – 288, 290 f., 293 – 300, 305 f., 309, 311, 313 f., 317 – 319, 326 – 329, 332 – 336, 343 – 347, 349 – 352, 358, 388 – 390, 392 – 405, 407, 409 f., 412, 421, 423 f., 433 f., 436, 439, 451, 464,466 – konfuse 387 f., 391 f. Wesen 8, 24, 28, 30 – 33, 41, 43, 46, 58, 68, 72, 88, 97, 105, 118, 127, 181, 187, 193, 234, 253, 256, 364, 380, 407, 420 f., 424, 475 Wesenserforschung 420 Wissen 20, 46, 48, 73, 76, 96, 105, 135 f., 148, 158, 162, 178, 186, 192 f., 201, 248 f., 253, 277, 286, 303, 333, 373, 390, 400, 465
513
Wissenschaft 1 f., 12 f., 39, 46, 70 – 72, 81, 89 – 91, 107, 132 – 134, 136 – 142, 144 – 149, 153 – 158, 160 – 163, 167 – 173, 175, 178, 180 – 188, 190, 192 f., 196 f., 199 – 203, 205 – 209, 211 – 218, 223 – 229, 234, 236 f., 239 – 245, 247 – 251, 253 – 257, 259 – 264, 266 – 283, 286, 288, 290, 292, 294 – 297, 299 f., 303 – 305, 309, 311 – 314, 323 – 327, 329 – 335, 340 – 346, 351, 369 f., 373, 399, 407, 410 f., 413, 416, 418 – 421, 423 f. – apriorische 254, 370, 372 f., 409, 422, 424 – deduktive 254 f., 259 f., 334 – empirische 157, 203, 218, 239, 278, 294, 305, 370, 410, 416, 423 – induktive 192, 249, 251, 255, 257, 259 f., 270, 303, 305, 370, 373 – katholische 1 f., 12 f., 70 f., 80 f., 132 – 134, 138 – 148, 155, 162, 183, 205 – 209, 217, 231, 235, 342 – kirchliche 1, 136 – 138, 146 – 148, 163, 202, 205 f., 209 – physische 153, 247, 250, 254, 259, 268, 274 – positive VIII f., XI, 149, 156 – 159, 167 – 169, 171, 173, 180 – 182, 188, 192, 199, 201, 203, 206 f., 211 f., 214 – 218, 223 f., 227, 240, 242, 245, 255 – 257, 260, 263 f., 269, 271, 275 f., 279, 281 – 283, 287, 290, 295, 304, 311 f., 323 – 325, 329 – 331, 334 f., 340 – 343, 410, 423 f. – protestantische 12, 80 f., 134, 141 – 146 – psychische IX, 154, 156, 183, 212, 216, 224 – 226, 228, 237, 239 f., 247, 250 f., 253 f., 259 f., 271, 273 f., 276, 282 f., 288, 305, 326, 329, 334, 345, 370, 410 f., 416, 418 f., 423 – von der menschlichen Natur XI, 185, 228, 271, 276 f., 295 – 297, 333 Zeichen 37, 49, 52, 56, 58, 67, 70, 101, 108 – 113, 118 f., 121 – 123, 126, 128, 139, 169, 179, 185, 207, 237, 241, 300, 304, 333, 340, 349, 357, 387, 390, 411, 462, 465, 474 synkategorematisch 108, 111, 113, 119
514
Zeit
Sachregister
11 f., 14 f., 19, 21 f., 27, 31, 35, 37, 42, 47 f., 67, 69, 71, 73, 80, 83, 95, 97, 100, 104 – 106, 115, 124, 135 f., 139, 141, 145 – 148, 155 – 158, 166 – 174, 176 – 179, 183 – 186, 188, 190, 192, 194 – 197, 204, 206 – 208, 210 – 212, 217, 220 – 222, 224, 226, 229, 236 f., 243, 248, 253, 260 f., 272, 275 – 277, 279 f., 282, 287, 289, 301, 307, 319 – 323, 325 f., 330 f., 333 – 335, 337, 339, 342 f., 352, 356, 361, 376, 381 f., 393 f., 408, 410, 424, 435, 453, 457 Zentaur 36, 46, 63, 67, 69, 87 f., 91, 93, 103, 115 – 117, 124 f., 127 f. Zergliederung 313, 382
Ziegenbockhirsch 67 Zustand 30, 145, 207, 213, 266, 284, 296, 299 f., 318, 338, 382, 394 f., 451, 453, 466 – psychischer 105, 119, 128, 163, 190, 213 – 217, 220, 224, 226, 232 f., 235, 238 f., 241 f., 246 f., 250, 264, 268 f., 271 – 273, 277, 287 – 289, 291, 295 f., 298 – 302, 305 f., 308, 311, 313 – 321, 323 – 331, 333 – 337, 339 – 341, 343, 345 f., 349, 351 f., 354 – 356, 364, 367 f., 371 f., 377 f., 381 – 384, 386, 393 – 395, 398 f., 404, 407 – 410, 421, 423 – 425, 446, 465 Zweckursache 16