Psychoanalyse, Philosophie und Religion – wer leitet die Kultur? [1 ed.] 9783737011518, 9783847111511


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Psychoanalyse, Philosophie und Religion – wer leitet die Kultur? [1 ed.]
 9783737011518, 9783847111511

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Rolf Kühn

Psychoanalyse, Philosophie und Religion – wer leitet die Kultur?

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber https://dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung der Erzdiçzese Freiburg-im-Breisgau.  2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: .marqs / photocase.de Korrektorat: SPLENDID Text- & Webdesign, Stegemþhlenweg 25, D-37083 Gçttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-7370-1151-8

Inhalt

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Seins- und Bewusstseinsphilosophie als vergessener Anfang . 1) Vor-stellung als Erscheinensbedingung . . . . . . . . . . . 2) Selbstgegebenheit absoluten Lebens . . . . . . . . . . . . 3) Vorstellung und Unbewusstes als »Repräsentanz« in der Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Das Realitätsverständnis gemäß Sigmund Freud 1) »Realität« und »Resignation« . . . . . . . . . 2) Die Kultur zwischen Eros und Thanatos . . . 3) Realität und Sublimierung . . . . . . . . . . .

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Einleitung: Psychoanalyse als umfassende Kulturaufgabe . 1) Freuds Spannungsverhältnis zur Philosophie . . . . 2) Das Verhältnis zur Religion bei Freud und danach . 3) Postmoderne Perspektiven der Psychoanalyse . . . .

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Teil I: Philosophie und Psychoanalyse

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3. Hermeneutik und Phänomenologie der Psychoanalyse bei Ricœur und Henry . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1) Hermeneutische und lebensphänomenologische Interpretationsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2) Vergleich zwischen Ricœur und Henry in Bezug auf die Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3) Psychoanalyse und Gesamtheit der menschlichen Erfahrung . .

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Inhalt

Teil II: Psychoanalyse und Religion 4. »Illusion« und »Vatersehnsucht« als religiöse Neurose bei Freud . . 1) Illusion und Begehren in Neurose und Religion . . . . . . . . . . 2) Totemismus und Monotheismus im Verhältnis zum »Vatermord« 3) Triebökonomie und Religion als kulturelle Problematik . . . . . . 5. Mystik im Sufismus und Christentum als Frage der jouissance . 1) Verhältnis von Einheit und Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . 2) »Göttliche Erotik« und Mystik . . . . . . . . . . . . . . . . . 3) Sublimierung als »ungesagter« Objektbezug in Sexualität und Narzissmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Todesabwehr und Todeszustimmung als äußerste Wahrheitserprobung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1) Tod als Thema der Psychologie und einer philosophisch orientierten Existenzanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2) Tod und gesellschaftliches Meinen . . . . . . . . . . . . . . . 3) Passibilität des Sterbens und Problematik des »Todestriebes«

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Gesamtbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ausblick: Leben, Religion und Therapie als Ursprungsfrage . . . . . . 1) Lebens- und Religionsbestimmung im kulturellen Kontext heute 2) Die Ursprungsfrage als Primärphantasma und reine Lebensaffektabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3) Freisetzender Ursprung und »Vatermetapher« in der Kur . . . . .

Vorbemerkung

Wenn eine lebendige Kultur dadurch gekennzeichnet ist, dass sich Affekt/Vorstellung bzw. Imaginäres/Bedeutung ständig miteinander verschränken, dann kann keine einzelne Disziplin, die methodisch den einen oder anderen Aspekt der kulturellen Wirklichkeit zur Voraussetzung hat, den Anspruch erheben, die Kultur insgesamt leiten zu wollen. Unter diesem Gesichtspunkt werden im Folgenden Psychoanalyse, Philosophie und Religion kritisch untersucht, inwieweit ihre jeweilige Tendenz eine andere ist, als diese Grenze in Bezug auf das Ganze der Kultur anzuerkennen. Daraus ergibt sich notwendigerweise auch die Untersuchung hinsichtlich ihres Bezuges untereinander, wobei wir von der historischen Spannung des Verhältnisses ausgehen, die Freud in seiner Abgrenzung von Philosophie und Religion zugespitzt hat. Durch innere Weiterentwicklungen der Psychoanalyse, wie etwa bei Melanie Klein, Bion, Winnicott, Lacan und Laplanche/Pontalis, ist die Situation heute nicht mehr dieselbe, wie wir sie besonders auch unter Berücksichtigung der Postmoderne beschreiben werden. Dabei wird zugleich die epistemologische Frage geklärt, wie Hermeneutik (Ricœur) und Phänomenologie (Henry) einen maßgeblichen Beitrag leisten können, ein adäquates Selbstverständnis der Psychoanalyse zu untermauern. Als Fazit ergibt sich insgesamt eine unumgängliche Kooperation der genannten drei Disziplinen, um der gegenwärtigen individuellen wie gesellschaftlichen Symptomatik eine kulturelle Zukunft zu eröffnen, die Subjektivität und Pluralität als radikal phänomenologische Gegebenheit der Kultur als solche anerkennt. Eine absolute Leitungsfunktion durch eine einzelne Wissenschaft oder Disziplin widerspricht der Gleichursprünglichkeit von Affekt, Sinn und Realem in ihrem vielgestaltigen Wesen. In dieser Hinsicht schließt unser Buch organisch an unsere letzten Werke »Begehren und Sinn« (2015), »Diskurs und Religion« (2016), »Alles, was leiden kann« (2019) sowie »Postmoderne und Lebensphänomenologie« (2019) an, um den Zusammenhang von Symptom und Kultur als zentrale Frage unserer Zukunft offenzulegen. Freiburg im Breisgau Frühjahr 2020

Rolf Kühn

Einleitung: Psychoanalyse als umfassende Kulturaufgabe

Indem Freud der von ihm gegründeten Psychoanalyse in den 1920er Jahren die Funktion einer »weltlichen Seelsorge« zuspricht, geht er einerseits über den Anspruch der klassischen Philosophie hinaus, um sich andererseits in eine gewisse Konkurrenz zur Religion zu begeben, der er die Aufgabe nicht mehr zutraut, Individuum und Kultur miteinander zu versöhnen. Getragen vom Wunsch, bald das Entstehen eigener psychoanalytischer Hochschulen begrüßen zu dürfen, deren Aufgabe über die bereits bestehenden Lehrinstitute hinausgehe, Analytiker theoretisch und praktisch heranzubilden, fordert er für einen entsprechenden Unterrichtsplan, dass dieser »geisteswissenschaftlichen Stoff, psychologischen, kulturhistorischen, soziologischen ebenso umfassen muss wie anatomischen, biologischen und entwicklungsgeschichtlichen«.1 Das Ziel einer solch breit gefächerten Ausbildung, die analytisch-therapeutische Kur und wissenschaftliche Forschung stets miteinander zu verknüpfen habe, ist eine Veränderung des normalen wie neurotischen Individuums im Sinne der Bereicherung »seines eigenen Inneren, indem wir seinem Ich die Energien zuführen, die durch Verdrängung ursprünglich in seinem Unbewussten gebunden sind, und jene anderen, die das Ich in unfruchtbarer Weise zur Aufrechterhaltung der Verdrängungen verschwenden muss. Was wir so treiben, ist Seelsorge im besten Sinne«

– an anderer Stelle auch etwas ironisch mit Bezug auf amerikanische Verhältnisse »Heilsarmee« genannt.2 Kulturkritischer Hintergrund all dieser anvisierten psychoanalytischen Ziele und Maßnahmen ist die prinzipielle Feststellung, dass »unsere Kultur einen fast unerträglichen Druck auf uns ausübt, sie verlangt nach einem Korrektiv«.3 1 »Die Frage der Laienanalyse« (1926): GW XIV, Frankfurt/M., Fischer 71991, 207–296, hier 288; vgl. ebd., 285. 2 Ebd., 293. 3 Ebd., 285.

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Einleitung: Psychoanalyse als umfassende Kulturaufgabe

Freuds Spannungsverhältnis zur Philosophie

Ergänzt Freud diese kulturrelevanten Vorhaben noch um die analytisch-pädagogische Begleitung von Kinderneurosen, um deren stärkere Ausbrüche im Erwachsenenalter prophylaktisch begrenzt zu halten, dann lässt sich ermessen, dass dieses immense Programm in der Tat weit über jede philosophische Absicht von rationaler Erkenntnis- und Seinsbegründung hinausgeht und vielleicht am besten mit dem Begriff einer umfassenden Lebenspraxis zusammengefasst werden könnte, die Freud gleichfalls in Abgrenzung von der Medizin im Auge hat: »Der kranke Mensch ist ein kompliziertes Wesen, er kann uns daran mahnen, dass auch die so schwer fassbaren seelischen Phänomene nicht aus dem Bild des Lebens gelöscht werden dürfen.«4 Es kann natürlich nicht geleugnet werden, dass die Philosophie seit der Antike ihrerseits immer wieder versucht hat, in Alltagspraxis und gesellschaftliche Verhältnisse hineinzuwirken, wofür sicher exemplarisch die Namen von Platon wie Marx stehen können. Aber die zuvor angeführten Dimensionen der Psychoanalyse dürften selbst diesen Anspruch noch übersteigen, wobei in solchem Zusammenhang auch erwähnt sei, dass Viktor E. Frankl den Begriff der »Seelsorge« als Grundlage seines Entwurfs einer existenzanalytischen Psychotherapie hinsichtlich logotherapeutischer Sinnfindung im Kontext neuzeitlich »existentieller Frustration« wieder aufgegriffen hat.5 Wie bei der etwas früher entstandenen Daseinsanalyse Ludwig Binswangers liegt in beiden Fällen jedoch eine dezidierte Grundorientierung philosophisch-anthropologischer wie phänomenologischer Natur an Denkern wie Husserl, Heidegger, Scheler oder Jaspers vor, was im Unterschied zu Freud zeigt, dass auch andere Lösungen im Bereich der Psychotherapie in Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse gesucht wurden.6 Wir werden in den folgenden Kapiteln auf diesen originären Zusammenhang von Psychoanalyse und einer radikal phänomenologischen Lebenswirklichkeit im Einzelnen eingehen, um hier zunächst nur einleitend zu unterstreichen, dass das Verhältnis von Kultur und Leben notwendigerweise die methodischen Grenzen einzelner Disziplinen sprengt, so dass Freud sich weniger mit einer fachreduzierten Philosophie verbinden wollte als vielmehr mit Kulturgeschichte, Mythologiestudien, Religionspsychologie und -wissenschaft sowie Krankheitsbildern sowohl der Psychiatrie, Biologie, Sexualkunde als auch der 4 Ebd., 263 (Hervorhebung R.K.). 5 Vgl. Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse, Wien, Deuticke 1946; siehe ebenfalls I. Caruso, Psychoanalyse und Synthese der Existenz, Freiburg i. Br., Herder 1952. 6 Vgl. R. Kühn, Begehren und Sinn. Grundlagen für eine phänomenologisch-tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und Supervision – zugleich ein Beitrag zu Jacques Lacan, Freiburg/ München, Alber 2015, 297ff.

Freuds Spannungsverhältnis zur Philosophie

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Sprach- und Literaturwissenschaft. Bei dieser Aufzählung spielen ein persönliches Erkenntnismotiv sowie eine Kritik an der akademischen Philosophie hinein, die miteinander in Zusammenhang stehen. So schreibt Freud von sich selbst, er habe sich nie als »richtiger Arzt« gefühlt, sondern bereits »in den Jugendjahren wurde das Bedürfnis, etwas von den Rätseln dieser Welt zu verstehen und vielleicht selbst etwas zu ihrer Lösung beizutragen, übermächtig«. Und gegenüber der philosophischen Tradition heißt es hierbei distanzierend: »Wie immer sich die Philosophie über die Kluft zwischen Leiblichem und Seelischem hinwegsetzen mag, für unsere Erfahrung besteht sie zunächst und gar für unsere praktischen Bemühungen.«7 Auch wenn Freud wohl diese »Rätsel der Welt« in einem mehr allgemein-wissenschaftlichen als philosophischen Sinne verstanden haben mag, so hat seine persönliche Mitteilung auf jeden Fall erkenntniskritische bzw. epistemologische Implikationen, bei denen sich das nie reflexiv gelöste Verhältnis von »Leib und Seele« durch die abendländische Ideengeschichte als zentral erweist.8 Denn die tiefenpsychologische Frage nach der Leiblichkeit in ihrem Verhältnis zum Unbewussten und Trieb, wie Freud sie in neuer Sichtweise untersuchte, markiert damit zugleich auch die Problematik von individuellem und kulturellem Leben, welches an sich eine »zufriedenstellende« Einheit bilden sollte, anstatt »Unbehagen« oder sogar »Kulturfeindlichkeit« bzw. »Kulturversagen« hervorzurufen.9 Mit anderen Worten ist die Frage nach den manifesten »Symptomen« stets auch mit einem emanzipatorischen Aspekt verbunden, der sich heute unter postmodernen Bedingungen erneut mit aller Virulenz stellt, indem etwa von einer allseitig »gewöhnlichen Psychose« gesprochen wird.10 Wenn in den Augen Freuds die Religion auf solchem Hintergrund mehr dazu beiträgt, selbst neurotische Symptome zu generieren, als diese abzumildern, und die Philosophie seiner Epoche die Gegebenheit der Leiblichkeit noch kaum als fundierende Erscheinung für den Selbst- und Weltbezug des Menschen überhaupt erkannt hatte, dann lässt sich ermessen, warum Freud seine innovierende Psychoanalyse eher in einem gespannten

7 »Die Frage der Laienanalyse«, 282 u. 290. 8 Für eine Übersicht vgl. etwa H. Schmitz, System der Philosophie, Band 2–3 (2.1: Der Leib; 2.2: Der Leib im Spiegel der Kunst; 3.2: Der Gefühlsraum), Bonn, Bouvier 1965–1969, sowie für die gegenwärtige Diskussion E. Alloa, Th. Bedorf, Chr. Grüny u. T.N. Klass (Hgg.), Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Tübingen, Mohr Siebeck UTB 2012. 9 Vgl. Das Unbehagen in der Kultur (1930): GW XIV, 419–506, hier 419ff. u. 457f. 10 Vgl. für eine solch gegenwärtige Analyse aus der Sicht der Lacanschule R. Pirard, Le sujet postmoderne entre symptime et jouissance, Toulouse, ErHs 2010. Der Ansatz hierzu kann schon bei Freud gefunden werden, insoweit auch das Ich des Normalen »in dem oder jenem Stück« sich dem des Psychotikers annähert, da eine unbestimmte »Ichveränderung« immer möglich bleibt; vgl. »Die endliche und die unendliche Analyse« (1937): GW XVI, Frankfurt/ M., 72005, 57–99, hier 80.

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Einleitung: Psychoanalyse als umfassende Kulturaufgabe

Verhältnis zu Philosophie und Religion auffasste, als in ihnen eine Hilfe für sein Vorhaben zu erblicken. Daher bietet es sich in unserer Untersuchung zunächst an, die philosophische Tradition von der gegenwärtigen Phänomenologie her kritisch zu durchleuchten, um am Beispiel des Idealismus im 19. Jahrhundert zu sehen, dass vom philosophischen Erbe nur der Erscheinensmodus der Transzendenz und Vorstellung favorisiert wurde, anstatt auch dem Affekt und seiner leiblichen Immanenz eine eigene Phänomenalisierungsweise zuzusprechen, die gerade Freud mit Recht über die Triebrealität als Es, Unbewusstes, Libido wie Über-Ich in ihrer Besonderheit erkannte (Kapitel 1). Diese strukturelle Übereinstimmung von radikaler Phänomenologie und Psychoanalyse führt aber dazu, Freuds eigenen – ontisch begrenzten – Realitätsbegriff psychischer Instanzen im dynamischtopischen Verhältnis zur perzeptiven Innen- wie Außenwelt in Augenschein zu nehmen (Kapitel 2). Hieran wird sich die uns leitende Frage anschließen (Kapitel 3), ob zum Verständnis der psychoanalytischen Praxiswirklichkeit und ihrer theoretischen Begründung eher eine hermeneutische Methode (Ricœur) in Frage kommt oder eine lebensphänomenologische Radikalisierung derselben (Henry). Damit bietet unser I. Teil als Schwerpunkt eine kritisch vergleichende Gegenüberstellung von Philosophie und Psychoanalyse, während der II. Teil vorwiegend den Fragen von Religion, Mystik und Ethik in den Kapiteln 4–6 gewidmet ist, aber in beiden Fällen von der kontinuierlichen Untersuchung zum problematisierten Verhältnis von Leben/Kultur durchzogen bleibt. Verfolgt wird dementsprechend der von Freud selbst vorgegebene Weg, wie »Heilen und Forschen« psycho-analytisch miteinander verknüpft werden können, um besonders innerhalb der Neurose das Ich – als »die durch den Einfluss der Außenwelt emporgezüchtete höhere Organisation des seelischen Apparats« – wieder in die Lage zu versetzen, »seine Funktion der Vermittlung zwischen Es und Realität zu erfüllen«. Das heißt, sich nicht mehr »in seiner Schwäche von Triebanteilen des Es zurückzuziehen und sich dafür die Folgen dieses Verzichts in Form von Einschränkungen, Symptomen und erfolglosen Reaktionsbildungen gefallen lassen zu müssen«.11 Und in seiner Hoffnung, dass nicht nur die »nervösen Kranken« hierdurch einen Gewinn der Veränderung für ihr Leben verzeichnen können, sondern auch besonders »Geisteswissenschaftler« im Zusammenhang mit einer allgemeineren kulturellen Anwendung der Psychoanalyse, lädt Freud letztere dazu ein, »die Analyse aus intellektuellen Motiven anzunehmen«. Dies nicht nur, um »nebenbei die Erhöhung ihrer Leistungsfähigkeit zu erzielen«, sondern auch, um auf ihren Gebieten, wie wir sie zuvor erwähnten, die Analyse anzuwenden. Solche Laien- wie Lehranalytiker mit geisteswissenschaftlichem Hintergrund an den 11 »Die Frage der Laienanalyse«, 275.

Freuds Spannungsverhältnis zur Philosophie

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geplanten Hochschulen würden mithin eine Art »Hilfstruppe zur Bekämpfung der kulturellen Neurose« bilden, so dass »die Psychoanalyse trotz ihrer Schwierigkeiten zur Leistung berufen sein könnte, die Menschen für ein solches Korrektiv vorzubereiten«.12 Mit anderen Worten erblickt Freud hier also – bei ständiger »Revision« der Ergebnisse13 – eine verheißungsvolle »innere Entwicklungsmöglichkeit der Psychoanalyse«, deren gesamtkulturellen Anspruch wir mittels ihres Vergleichs mit Philosophie und Religion überprüfen wollen, um im Folgenden zusätzlich der Frage nachzugehen, wer in Zukunft überhaupt für die »Diagnose« von individuellen wie kulturellen »Symptomen« zuständig wäre. Denn immer weniger kann übersehen werden, dass auch die technisch orientierte Wissenschaft gegenwärtig mehr Probleme hervorbringt, als sie ihrerseits lösen kann, so dass die epochale Konstellation der Kulturbewältigung durch Religion – Wissenschaft – Psychoanalyse für die Zukunft neu konturiert werden muss, ohne andere Bereiche wie Ökonomie und Politik etwa zu ignorieren.14 Und hierbei lässt sich dann gleicherweise nachfragen, ob auch der Philosophie demzufolge nicht noch weitere Aufgaben zukommen, als nur »abstrakte Begriffe – böse Zungen sagen allerdings unbestimmbare Worte – zu oberst in ihre Welterklärungen einzusetzen«, wie Freud in einer ebenso polemischen wie kritischen Aussage bemerkte.15 Eine Ausnahme von einem solchen Urteil dürfte – neben Schopenhauer – nur in Bezug auf Empedokles aus Akragas gegeben sein, insofern dessen kosmische Lehre von Liebe und Streit (philia – neikos) hinsichtlich seiner eigenen Theorie eines biopsychischen Dualismus von Eros und Todestrieb als Bestätigung in Anspruch genommen wird.16 Zur exemplarischen Sondierung lässt sich somit bereits festhalten, dass das Verhältnis von Psychoanalyse/Philosophie von je zeitbedingten Orientierungen und Begrenzungen des Denkens abhing. So stand zunächst zu Beginn des letzten Jahrhunderts das Grenzgebiet von Bewusstseinspsychologie, Philosophie und

12 Ebd., 284f. In einem Brief an Oskar Pfister vom 25. November 1928 äußert sich Freud auch wie folgt zu diesem Zusammenhang: »Ich weiß nicht, ob Sie das geheime Band zwischen der ›Laienanalyse‹ und der ›Illusion‹ erraten haben. In der ersteren will ich die Analyse vor den Ärzten, in der anderen vor den Priestern schützen. Ich möchte sie einem Stand übergeben, der noch nicht existiert, einem Stand von weltlichen Seelsorgern, die Ärzte nicht zu sein brauchen und Priester nicht sein dürfen.« S. Freud u. O. Pfister. Briefwechsel 1909–1939 (Hg. I. Noth), Frankfurt/M., Fischer 1963, 263. 13 Vgl. »Psycho-Analysis« (1934): GW XIV, 297–308, hier 303. 14 Wir sind dieser Frage schon bei Lacan nachgegangen; vgl. R. Kühn, Diskurs und Religion. Der psychoanalytische Wahrheitszugang nach Jacques Lacan als religionsphilosophisches Problem, Dresden, Text & Dialog 2016, hier bes. 9ff., 32ff. u. 251ff. In der hier weitergeführten Auseinandersetzung mit Freud zu diesem Problemkomplex soll besonders auch die Rolle der Philosophie aufgegriffen sein. 15 »Die Widerstände gegen die Psychoanalyse« (1925): GW XIV, 97–110, hier 103. 16 Vgl. »Die endliche und die unendliche Analyse«, 91f.

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Einleitung: Psychoanalyse als umfassende Kulturaufgabe

Psychoanalyse im Vordergrund, wie die ältere Studie von V. Tausk zeigt.17 Nach dem Zweiten Weltkrieg überwogen nach und nach gesellschaftskritische Fragen wie etwa bei H. Marcuse,18 während in jüngerer Zeit die Grenzen der rationalen Diskussion und die Problematik von Realdefinitionen durch das Denken überhaupt in den Mittelpunkt treten, wie von psychoanalytischer Seite W. Loch19 und R. Heim20 aufzeigen möchten. Inzwischen geht die jüngste Tendenz dahin, dass eine grundsätzliche »Begegnung« nicht ganz unmöglich erscheint, wobei neue Elemente aus Neo-Marxismus, Strukturalismus, Hermeneutik und Rhetorikanalyse21 zum Beispiel Berücksichtigung finden, was zeigt, dass auf beiden Seiten ein umfassenderer kultureller Ansatz gesucht wird.22 Die vorherige »gegenseitige Frontstellung« zwischen Psychoanalyse und Religion soll andererseits hierbei nach W. Ruff23 durch ein Konzept des »Verstehens des Fremden« und des je eigenen Unbewussten aufgelöst werden, wobei für einen religiösen Glauben existentielle Zweifel als notwendig erachtet werden. Trotz aller kritischen Akzente bei G. Deleuze,24 M. Foucault25 und J.-F. Lyotard26 sowie J. Derrida27 gegenüber Freud gerade im französischsprachigen postmodernen Denken zeugen 17 »Psychoanalyse der Philosophie und psychoanalytische Philosophie«, in: Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschung 6/1 (1914) 405–412. 18 Vgl. Nachgelassene Schriften: Philosophie und Psychoanalyse (Hg. P.E. Jansen), Köln, zu Klampen 2002; außerdem R. P#rama-Ortega, »Die Religionskritik als Ideologiekritik im Rahmen der Psychoanalyse«, in: H. Gastager (Hg.), Psychoanalyse als Herausforderung. Festschrift Caruso, Wien, Verlag Verband der Wissenschaftlichen Gesellschaften Österreichs 1980, 83–90. 19 Vgl. »Über einige Zusammenhänge zwischen Psychoanalyse und Philosophie«, in: Jahrbuch der Psychoanalyse 25 (1989) 57–123. 20 »Die Psychoanalyse und die Krise des animal rationale. Aktuelle Grenzflächen zwischen Psychoanalyse und Philosophie«, in: Psychosozial 71 (1998) 89–105. 21 Vgl. H. Vetter, »Psychoanalyse und Rhetorik«, in: Mitteilungen des Instituts für Wissenschaft und Kunst 51/1 (1996): Psychoanalyse und Philosophie, 17–23. Wie stark schon Freud – vor Lacan – mit dem Sprach- und Textmodell in Bezug auf Kur und Deutung arbeitet, zeigt seine grundlegende Analogie zwischen den »Abwehrmethoden« des Ichs und »Textentstellungen« in der Überlieferung; vgl. »Die endliche und die unendliche Analyse«, 81ff. 22 W. Tress u. S. Nagel (Hgg.), Psychoanalyse und Philosophie. Eine Begegnung, Bielefeld, Asanger 1999. 23 Vgl. Perspektivenwechsel in Psychoanalyse und Religion. Reflexionen über ethische Fragen und Weltanschauungen, Gießen, Psychosozial-Verlag 2017. 24 Vgl. Capitalisme et schizophr8nie, Bd. 1: L’Anti-Oedipe, Paris, Minuit 1972 (zusammen mit F. Guattari) (dt. Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt/M., Suhrkamp 2005). 25 Vgl. »Nietzsche, Freud, Marx«, in: Cahiers de Royaumont. Philosophie VI (1967) 183–200. 26 Vgl. Economie libidinale, Paris, Minuit 1974. 27 Vgl. La carte postale de Socrate / Freud et au-dela, Paris, Flammarion 1980 (dt. Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits. 1. Lieferung: Envois/Sendungen; 2. Lieferung: Spekulieren über/auf Freud. Der Facteur der Wahrheit, Berlin, Diaphanes 1987); Mal d’archive. Une impression freudienne, Paris, Galilee 1995 (dt. Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin, Diaphanes 1997).

Freuds Spannungsverhältnis zur Philosophie

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auch deren entsprechende Schriften von dieser Öffnung hinsichtlich kultureller Pluralität unter anerkanntem Anstoß seitens der Psychoanalyse. Anders gesagt, ist die einstige Engführung auf die zeitgebundenen Fragen von Bewusstseinspsychologie und -philosophie insofern aufgesprengt, als die Umrisse des »Unbewussten« von allen Seiten heute als noch keineswegs gänzlich festgeschrieben angesehen werden, so dass auch die Perspektive, wie die Psychoanalyse die »Seele« in Bezug auf die unhintergehbare »Leiblichkeit« in den Blick nimmt, neue Dimensionen gewinnt. Man kann dies unter anderem am Vergleich zwischen E. Fromm28 und H. Marcuse ablesen, denn während sich der erste im Rahmen einer »humanistischen Religion« der »Ich-Psychologie« zuwandte, wie sie auch stark von der Psychoanalyse in den USA favorisiert wurde, hielt der zweite an den Ursachen psychischer Störungen als Konflikt zwischen Trieb und Gesellschaftsstrukturen fest. Triebtheoretische Probleme und emanzipatorische Veränderungen von Kultur und Gesellschaft als Befreiung von den destruktiven Störungen eines herrschenden Konformitätszwangs bilden daher ein zentrales Thema, dem sich auch die Philosophie inzwischen verschrieben hat, so dass hier dieses gemeinsame Untersuchungsfeld – auch nach weitgehender Enttabuisierung der Sexualität – weiterhin zur gegenwärtigen Diskussion gehört.29 Dadurch scheinen die frühen Begrenzungen auf Biologismus und Naturalismus in der Psychoanalyse grundsätzlich überwunden, um sich mehr von der Intersubjektivität und den lebensweltlichen Realitäten der Patienten her bestimmen zu lassen, die für die Phänomenologie stets ein maßgebliches Untersuchungsfeld waren, das durch die immer stärkere Berücksichtigung des »Fremden« oder der »Alterität« schlechthin in der jüngeren Moderne neue Nahrung erhielt.30 Die wenigen einführenden Hinweise zeigen bereits, dass das Verhältnis zwischen Psychoanalyse und Philosophie nicht nur vielschichtig auftritt, sondern auch von gegenseitiger Ambivalenz geprägt bleibt. Als symptomatisch kann dafür die ideengeschichtliche Vorgeschichte der Psychoanalyse, etwa durch die Romantik, im Aufeinandertreffen mit analytisch-klinischen Rekonstruktionen innerhalb einer fortbestehenden hermeneutischen Tradition angesehen werden. Andererseits existieren die verschiedenen Einwirkungen der Psychoanalyse auf die Strömungen im Bereich der Gegenwartsphilosophie, die mehr von unter28 Vgl. Ihr werdet sein wie Gott. Psychoanalyse und Religion. Schriften zur Religion. München, dtv 1993. Die personale Vorstellung eines jenseitigen Wesens wird hierbei zugunsten einer »religiösen Erfahrung« negiert, die dem Menschen trotzdem möglich bleibe. 29 Vgl. zum Beispiel A. Wintels, Individualismus und Narzissmus. Analysen zur Zerstörung der Innenwelt, Mainz, Grünewald 2000; P.V. Zima, Theorie des Subjekts, Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Wien/Tübingen/Basel, Francke 2010. 30 Vgl. B. Waldenfels u. I. Därmann (Hgg.), Der Anspruch des Anderen. Perspektiven phänomenologischer Ethik, München, Fink 1998.

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Einleitung: Psychoanalyse als umfassende Kulturaufgabe

schiedlichen Denkstilen als Systemen gekennzeichnet ist. Die Untersuchung dieser beidseitigen Ambivalenz wird notwendig sein, um sowohl unproduktiven Störungen des philosophisch-psychoanalytischen Verhältnisses als auch der Reduktion psychoanalytischer Grundbegriffe und Verfahrensweisen auf eine bloße Form von »Psychotherapie« entgegenzutreten. Eine wesentliche Frage, die sich dabei vor allem für die Philosophie in den Vordergrund drängt, besteht darin, zu untersuchen, ob es seit dem Cogito bei Descartes – vor allem mit Blick auf eine hier als grundlegend erkannte »Subjektivität« – nicht Verdrängtes innerhalb der philosophischen Reflexionsformen selbst gibt, was in Verbund mit der Frage nach der Leiblichkeit heute zumeist als Grundgegebenheit des Begehrens (d8sir) in den Blick genommen wird.31 Dabei lässt sich indes nicht verkennen, dass es nunmehr auch andere psychologische, kognitivistische und sprachanalytische Tendenzen gibt, die nicht mehr die »Psyche« als Sammelbegriff für die seelischen Prozesse einsetzen, sondern den Begriff des »Mentalen«. Diese Frage ist wirkungsgeschichtlich gleichfalls komplex, insofern die Seele-Geist-Debatte seit dem Ende des 19. Jahrhunderts mit der Eigenständigkeit einer Psychophysiologie bzw. der Einführung einer »empirischen Psychologie« – anstelle einer bis dahin »rationalen Psychologie« – als einer selbstständigen Disziplin verbunden ist. Der Versuch, den »Seelenbegriff« zu überwinden, den Freud dezidiert für seine psychoanalytische Absicht gewählt hatte, besitzt deutlich eine anti-metaphysische Stoßrichtung, denn seit der Antike und im Mittelalter waren Ontologie, Theologie wie Anthropologie mit der »Psyche« als »Selbst« des Menschen verbunden gewesen. Dabei war allerdings offengeblieben, ob die anima als unabhängige Entität (Platon) oder nur in Verbindung mit dem Körper (Aristoteles) betrachtet werden kann.32 Der »Geist« als rein noetische Wirklichkeit wurde innerhalb der metaphysischen Einstufung als höchster und edelster Teil der Seele verstanden, und wenn Freud Psyche und Seele bzw. psychisch und seelisch begrifflich nicht unterschied, wohl aber seelisch und geistig, dann findet mit dem Begriff des Mentalen gegenwärtig eine terminologische wie inhaltliche Einebnung statt, deren programmatischer Paradigmenwechsel unter zusätzlichem Einwirken der Neurowissenschaften noch verstärkt wird.33 31 Vgl. zum Beispiel A. Löwe, R. Lesmeister u. D. Krochmalnik (Hgg.), Gesetz und Begehren. Theologische, philosophische und psychoanalytische Perspektiven, Freiburg/München, Alber 2017. 32 Vgl. Aristoteles, Über die Seele (Werke Band 13), Berlin, Akademie Verlag 1994; dazu J. Derrida, Jean-Luc Nancy, Paris, Galil8e 2000, 22ff. (dt. Berühren, Jean-Luc Nancy, Berlin, Brinkmann & Bose 2007). 33 Vgl. G. Hüther u. H.G. Petzold, »Auf der Suche nach einem neurowissenschaftlich begründbaren Menschenbild«, in: H.G. Petzold (Hg.), Die Menschenbilder in der Psychotherapie. Interdisziplinäre Perspektiven und die Modelle der Therapieschulen, Wien, Krammer 2012, 207–242.

Freuds Spannungsverhältnis zur Philosophie

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Theoretisch wie analytisch-therapeutisch ergibt sich somit unter diesen Ambivalenzverhältnissen der Grundbegriffe die sowohl psychoanalytische wie philosophische Frage, was letztlich der individuelle wie kulturelle Gegenstand der »Heilung« oder »Ich-Veränderung« sein soll.34 Sofern Angst, Trauer, Melancholie oder Schuldgefühl innerhalb von Neurose, Hysterie, Psychose und Perversion sowie Destruktivität auf Verdrängungsprozesse im Sinne Freuds verweisen, die in der Kur zugleich als Manifestation der Abwehr und des Widerstandes aufgewiesen werden sollen, haben wir es im weitesten Sinne mit subjektiven Lebensbeeinträchtigungen zu tun, die zugleich auch kollektive Voraussetzungen wie Folgen implizieren. Daher haben wir im Ausgang von Freuds eigenen Worten die spezifische Wirkung der Psychoanalyse nicht auf isolierte Aspekte beschränkt, die sich etwa im Symptombegriff zusammenfassen ließen, sondern die dynamische Verschränkung von Leben/Kultur als »Ziel« der psychoanalytischen Bemühungen in Augenschein genommen. Damit sind Zugänge für ein Verständnis geschaffen, das die Eigenauffassung der Psychoanalyse nicht durch fremde theoretische Vorentscheidungen einschränkt und andererseits einen philosophischen Mitvollzug ihrer spezifischen Praxis nicht gänzlich ausschließt, soweit diese deskriptiv, konstruktiv oder spekulativ von der Analyse/Therapie offengelegt wird.35 In »Die endliche und die unendliche Analyse« spricht Freud sogar von der »Hexe Metapsychologie« im Sinne von »Spekulieren«, »Theoretisieren« und gar möglichem »Phantasieren«, um die »Bändigung« von pathogenen Triebansprüchen durch das Ich zu erreichen, auch wenn stets »Resterscheinungen« der Verdrängung bleiben werden.36 Wir wollen diese kontinuierliche Verknüpfung mit der Kultur hier kurz aus der Sicht von psychoanalytisch-gesellschaftlichen Fragestellungen für unsere Gesamtuntersuchung illustrieren, wobei Freud selbst einen Hinweis gibt, indem er die drei von ihm aufgestellten »libidinösen Typen« mit Kulturaspekten verknüpft. So vertritt der erotische Typus »sozial wie kulturell die elementaren Triebansprüche des Es«; der Zwangstypus mit seiner Selbstständigkeit und Gewissensangst wird »zum eigentlichen, vorwiegend konservativen Träger der Kultur«, während der narzisstische Typus als »Persönlichkeit« imponiert« und »die Rolle von Führern« übernimmt, so dass »der Kulturentwicklung neue Anregungen« zuteilwerden, solche Individuen aber auch »das Bestehende zu schädigen« vermögen.37 Hierdurch wird leicht einsichtbar, dass die Libidoöko34 Vgl. schon H. Kohut, Was heilt die Psychoanalyse?, Frankfurt/M., Suhrkamp 1987. 35 Zur Rolle konstruktiver Elemente innerhalb der »Deutung« als wesentliche Intervention zusammen mit dem Übertragungsphänomen vgl. »Konstruktion in der Analyse« (1937): GW XVI, 43–56. 36 Vgl. GW XVI, 61f. u. 83f.; dazu auch Jahrbuch der Psychoanalyse 80 (2020): Deutungen. 37 Vgl. »Über libidinöse Typen« (1931): GW XIV, 507–514, hier 510f.; ähnlich verlaufen die Bemühungen Freuds, die Entwicklung des Mädchens als biologische, ödipale und kulturelle

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nomie dem energetischen Kulturprozess – obwohl unsichtbar verbleibend – entspricht und tiefere Verständniszugänge für den Zusammenhang von individuellem wie kollektivem Verhalten eröffnet. Dies kann sowohl philosophisch als auch soziologisch oder auch kulturwissenschaftlich überprüft werden, wobei die angeführten »Typen« psychologisch als »extreme Ausbildungen« sich klinischen Krankheitsbildern annähern, um auf diese Weise zu erlauben, »die vermeintliche Kluft zwischen dem Normalen und dem Pathologischen auszufüllen«, wie Freud seine durchgehende Beobachtung dieses analytisch-therapeutischen Sachverhalts ebenda festhält. Zu vergessen ist in der Tat ja nicht, dass das »archaische Erbe« einseitigen »Irr- und Aberglaubens der Menschheit« auch in den »obersten Schichten der Kulturgesellschaft« heute weiterbesteht, so dass die Kur als entziffernde »Archäologie« die Differenz von Normal/Pathologisch prinzipiell als Bezug von Triebstärke und Ichbestärkung zur Auflösung solch archaischer »Abwehrmethoden« anzugehen versucht. Das Ziel dabei ist immer, die »Verfälschung« der Realität durch innere Wahrnehmung zu korrigieren und eine aktive Veränderung derselben Realität herbeizuführen, so dass diese nicht mehr durch »Flucht«, »Vermeidung« und »Unlust« entstellt werde.38 Dies bedeutet, dass sich die zuvor heuristisch gestellte Frage nach dem psychoanalytischen Heilungs- oder Veränderungseffekt als ein freies Spiel von libidinös-kulturellen Kräften erweist, während die Philosophie zumeist versucht hat, das kollektive Leben über ethische Imperative oder moralische Werte zu regeln. Wenn für den späten Freud die Kultur – bei starker Berücksichtigung des Triebpotentials an Aggression und Destruktivität – dennoch der Raum des Eros angesichts des Todestriebes bleibt, dann eröffnet das libidinös-kulturelle Spiel von Topik und Ökonomie der psychischen Prozesse ebenfalls ein neues Bild von Trieb und Unbewusstem. Über eine entsprechende Analyse der Sublimierung lässt sich nämlich erkennen, dass das »Triebhafte« den Raum zwischen Libido und Vorstellung offenhält, um ein »Unfassbares« zu umkreisen, das Heidegger, Freud und Lacan »das Ding« (la chose) genannt haben und welches nicht mit der phallischen Wiederholung der primordialen Sexualität zusammenfällt. Demzufolge kann mit M. Turnheim39 gesagt werden, dass »der Trieb, so wie ihn die analytische Theorie auffasst, etwas Elementares ist, aber ohne deswegen etwas Natürliches zu sein«. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit, zu erkennen, dass Psychoanalyse und Philosophie gemeinsam aufgerufen wären, im Sinne Lacans eine »Kartographie des Begehrens« zu erstellen,40 wo nicht nur Trieb und Verdrängung zum Anlass der Auffindung des singulären Begehrens genommen Genese in ihrer Verschränkung darzustellen; vgl. »Über die weibliche Sexualität« (1931): GW XIV, 515–538. 38 Vgl. »Die endliche und die unendliche Analyse«, 45f. u. 82f. 39 »Trieb und Werk«, in: Mitteilungen des Instituts für Wissenschaft und Kunst, 35–40, hier 38. 40 Vgl. dazu R. Kühn, Begehren und Sinn, 434ff.

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werden, sondern auch jeder philosophische Begriff – hinter seiner ideierenden Vorstellung – auf eine solch originäre passio verweist, wie sie schon Descartes gesehen hatte.41 Als Beleg für ein solch solidarisches Projekt können beispielsweise die Arbeiten von L. Althusser gelten, denn er entlehnt Freud nicht nur dessen topischen Begriff der »Instanzen« für die Bestimmung des gesellschaftlichen Verhältnisses von Überbau und Unterbau, sondern führt letztere schließlich in einem ökonomisch-energetischen Sinne auf »Praxen« von Gruppen und Individuen zurück. Damit kann greifbar gemacht werden, dass die Realität von Gesellschaft und Kultur eben auf lebendig libidinösen Strukturen beruht, wie sie Freud durch seine zuvor genannten »libidinösen Typen« beispielsweise konkretisierte, die dann aber gleichfalls der philosophischen Strukturuntersuchung zugänglich gemacht werden können, wenn die Philosophie sich phänomenologisch auf eine solch originär gegebene Trieb- oder Lebensstruktur einlässt.42 Dies schließt als Konsequenz jedoch ein, dass mit der traditionellen Gleichsetzung von psychischer Aktivität und bewusstem Handeln spätestens seit Freud zu brechen ist, um das Handeln als eine Realität sui generis zu verstehen, welche sich letztlich der Vorstellung entzieht, so wie die Philosophie dieselbe seit Kant zum Maßstab kategorial objektiver Erkenntnis schlechthin erhoben hatte. Dass das »Schicksal der Vorstellung« durch »Verleugnung« eine philosophische Ausrichtung an der Vorstellung allein problematisch macht, zeigt besonders eindringlich die fetischistische wie hysterische »Skotomisation«, sich einer gefürchteten Wahrnehmung durch die Wahrnehmung selbst zu entziehen.43 Das heißt, auch die Philosophie hätte nicht nur den prinzipiellen Zusammenhang von Affekt/Vorstellung zu berücksichtigen, wie sie es seit der Antike versucht hat, sondern in ihrer eigenen Reflexion »das Gewicht der unerwünschten Wahrnehmung und der Stärke des Gegenwunsches« innerhalb der philosophischen Konstruktion im Zusammenhang mit dem Begehren selbst auszumachen.44 Denn wenn neue philosophische Systeme die vorherigen Lehrgebäude ablösen, dann gehorcht dies nicht nur logischen oder rationalen Ansprüchen, sondern folgt auch bisher unausgesprochenen Begehrensstrukturen, so wenn etwa die Stoa den Weltlogos

41 Vgl. M. Henry, G8n8alogie de la psychanalyse. Le commencement perdu, Paris, PUF 1985, 17ff. 42 Vgl. I. Charim, »Louis Althusser und die Psychoanalyse«, in: Mitteilungen des Instituts für Wissenschaft und Kunst, 1–9. 43 Vgl. »Hemmung, Symptom und Angst« (1926): GW XIV, 113–205, hier 191f. 44 Vgl. »Fetischismus« (1927): GW XIV, 311–317, hier 313.

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mit einem neuen Wahrheits- und Gerechtigkeitspathos der Urteilsenthaltung in Zusammenhang bringt, der ethisch bis zur »Apathie« gehen kann.45 Libidinöse Instanzen und Kräfte sind daher gerade auch für den gesellschaftlich-kulturellen Bereich stets dynamisch zusammenzuführen, um »Vorstellungs-Konflikte« als Teil der psychischen wie intersubjektiven Wirklichkeit zu verstehen, die nicht vornehmlich über abstrakte Normierungen oder pragmatische Diskurse letzlich erfasst werden können.46 In analytisch-therapeutischer Terminologie wird hierbei meist von »Besetzungen« gesprochen,47 und diesen Begriff nahm Althusser ebenfalls für sich in Anspruch, um unterschiedliche Formen von »Energie« zwischen den diversen gesellschaftlichen Instanzen herauszuarbeiten. Die Philosophie kann nämlich hierdurch ihrerseits verdeutlichen, dass die »Ökonomie« als gesellschaftliches und produktives Leben engstens mit der »Ökonomie« der Psyche zusammen besteht – und daher derselbe Begriff für beide Bereiche nicht zufällig verwendbar ist.48 Auch die Dominanz gewisser »Partialtriebe« aus der Sexualitätstheorie entlehnt Althusser49 von Freud, womit er auf seine Weise nicht nur spezifische Rollenverhalten innerhalb der gruppenrelevanten »Praxen« einsichtig machen kann, sondern hierbei auch eine enge Verbindung von Leibstrukturen und Gesellschaftlichkeit zu unterstreichen vermag, ohne seine neo-marxistische Engführung dabei übernehmen zu müssen.50 Dass die »Anderen« uns in aller gesellschaftlichen Kohäsion wie Konfliktualität als äußerste Fremdheit erscheinen können, ist eine Trivialität des modernen Diskurses geworden. Dass zudem jeder sich selbst bis hin zum »Identitätsverlust« fremd zu werden vermag, hat durch Freud über seinen Begriff des »Unbewussten« dabei gegenwärtig den Platz eines treibenden Motivs eingenommen, insofern gerade auch die »Ich-Ideale« mehr den Erwartungen und Werten Anderer entsprechen als der je eigenen Wahl. Dies hat nicht nur die Analyse des »Über-Ichs« im neurotisierenden Zusammenhang mit Familie und Gesellschaft vorangetrieben, sondern es gibt heute kaum mehr einen philoso45 Vgl. R. Kühn u. M. Staudigl (Hgg.), Epoch8 und Reduktion. Formen und Praxis der Reduktion in der Phänomenologie, Würzburg, Königshausen & Neumann 2003, 11–28: »Einleitung. Von der skeptischen Epoch8 zur Gegen-Reduktion«. 46 Vgl. unter anderem M. Frank, Die Grenzen der Verständigung. Ein Geistergespräch zwischen Lyotard und Habermas, Frankfurt/M., Suhrkamp 1988. 47 Vgl. zum Beispiel den »Besetzungswandel« zwischen Ich/Über-Ich beim Humor, der »die Traumen der Außenwelt ignoriert« und sich damit den Schmerz an einem »Objektverlust« über momentanen »Lustgewinn« erspart; »Der Humor« (1928): GW XIV, 381–390, hier 385. 48 Vgl. M. Henry, Können des Lebens. Schlüssel zur radikalen Phänomenologie, Freiburg/ München, Alber 2017, 90–113: »Zur Krise des Marxismus: das Doppelantlitz des Todes«. 49 Vgl. »Über Marx und Freud«, in: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Positionen, Band 3, Berlin, Merve 1977, 143ff. 50 Zur Diskussion vgl. E. Angehrn u. J. Scheidegger (Hgg.), Metaphysik des Individuums. Die Marx-Interpretation Michel Henrys und ihre Aktualität, Freiburg/München, Alber 2011.

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phischen Diskurs, der nicht die Fremdheit bei sich und Anderen als apriorische Differenz bzw. Alterität thematisieren würde. Dabei stellte die Rezeption des »Unheimlichen« bei Freud nur eine Weise dieser Thematisierung dar, die mit dem Pluralitätsgedanken in der Postmoderne die allgemeine Struktur einer Quasi-Transzendentalität gewinnt,51 wie wir im letzten Teil dieser Einleitung noch ausführen werden. Für eine radikal phänomenologische Analyse einer originären Lebens- wie Kulturrealität ist ein solch psychoanalytisch-philosophischer Diskurs der absoluten »Fremdheit« zu hinterfragen, insoweit man nicht bei einem unaufgeklärten Erscheinensbegriff haften bleiben will, um dergestalt einseitig epistemologische – oder sogar ideologische – Vorentscheidungen im aktuellen Diskurs zu übersehen.52 Denn Fremdheit, Alterität oder Identitätsdiffusion vermag es empirisch nur dort zu geben, wo zuvor eine affektiv-leibliche Identität von »Ich« und »Selbst« ursprünglich gegeben ist, um von dieser Grundgegebenheit aus »Anderes« überhaupt erkennen zu können.53 Für diese Diskussion bilden seit Langem Marx, Nietzsche und Freud eine Trias der »Philosophie des Verdachts«, wie es Ricœur54 formulierte, um in dieser Perspektive eine fast schon kanonische Interpretation der Philosophie bzw. Kulturanalyse als »Dekonstruktion« in Anspruch zu nehmen. Dabei bleibt abgesehen von der rekurrenten These der Entfremdung, Ästhetisierung der »Selbstsorge« zusammen mit der Ökonomie des Triebhaften55 vor allem eine schon angesprochene methodische Frage maßgeblich, ob nämlich alles Denken und Verstehen in den ausschließlichen Bereich der Hermeneutik als »Entzifferung« fällt, insofern es nach Nietzsche eben nur narrative Welt- und Selbsttexte als »Interpretationen« und »Perspektiven« gebe. In Bezug auf das Verhältnis von Psychoanalyse/Philosophie impliziert dies nicht nur die Problematik, welcher Platz dem Traum und den inneren Phantasiewelten als halluzinatorischem Zugang zur imaginär fiktiven Realität und eigener Subjektivität zukommt,56 sondern ob die Psychoanalyse überhaupt in ihrem Selbstverständnis der »entziffernden« oder »dekonstruierenden« Hermeneutik allein zugeordnet werden muss. Oder bildet ihre generalisierte Aufdeckung von »Objektbesetzungen« mittels »Verdichtung« und »Verschiebung« beispielsweise nicht einen ganz 51 Vgl. J. Kristeva, Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt/M., Suhrkamp 1990. 52 Vgl. R. Kühn, Postmoderne und Lebensphänomenologie. Zum Verhältnis von Differenz und Immanenz des Erscheinens, Freiburg/München, Alber 2019. 53 Zur allgemeinen Übersicht siehe H.G. Petzold (Hg.), Identität. Ein Kernthema moderner Psychotherapie – interdisziplinäre Perspektiven, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften/Springer 2012. 54 Vgl. De l’interpr8tation. Essai sur Freud, Paris, Seuil 1965, 42ff. (dt. Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt/M., Suhrkamp 1974). 55 Vgl. G. Gödde, N. Loukidelis u. J. Zirfas (Hgg.), Nietzsche und die Lebenskunst. Ein philosophisch-psychologisches Kompendium, Stuttgart, Metzler 2016. 56 Vgl. M. Richir, Phantasia, imagination, affectivit8, Grenoble, Millon 2004.

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spezifischen Diskurs,57 den wir ebenfalls als permanent originäre Modalisierung des rein immanenten Lebens verstehen können – und nicht nur als eine besondere Form von Rhetorik und Metaphorisierung?58 Indem wir mit dieser Frage das Tableau einiger Problematisierungen abschließen wollen, die sich aus einer einleitenden Betrachtung zum Verhältnis von Psychoanalyse//Philosophie auf dem Hintergrund einer ernst zu nehmenden analytisch-therapeutischen Kulturaufgabe ergeben, bleibt vor allem noch eine Grundsatzfrage – nämlich jene der Sublimierung – aufzuwerfen, die sich ebenfalls für das Verhältnis der Psychoanalyse/Religion stellen wird. Das Verhältnis der Psychoanalyse zur Kunst kann als »angewandte Psychoanalyse« dabei den allgemeinen Problemhorizont andeuten, denn wenn die künstlerischen Werke als Bildungen des Unbewussten gesehen werden und analog zur Traumdeutung entziffert werden sollen, dann liegt das Gewicht auf latenten Gedanken hinter den manifesten Darstellungen.59 In jedem Werk gibt es jedoch etwas, das der Fassung in Gedanken widersteht. Damit wäre das Kunstwerk – aber wohl auch die Philosophie und Religion sowie jede andere kulturelle Schöpfung – weniger der Gegenstand einer abschließbaren Interpretation als vielmehr die Möglichkeit, ein unendliches Sprechen im Begehren auf den Weg zu bringen, das durch kein Wort oder Bild letztlich eingefangen werden kann. In ihrer praktischen Kur weiß die Psychoanalyse genau um diesen Sachverhalt, ohne eine notwendige Symbolisierung über »Signifikanten« auszuklammern, so dass sie diese immanente Unendlichkeit des Begehrens auch für den philosophischen wie religiösen Diskurs gelten lassen könnte, was der berechtigten Kritik daran keinen Abbruch tut, falls ein solcher Diskurs sich selbst als fixiertes Wissen oder unhinterfragbare Offenbarung festlegt. Den Bezug zum Begehren – bzw. zu Trieb, Libido oder Leben – offenzuhalten, wäre dann die vornehmste Aufgabe der Psychoanalyse gegenüber allen Kulturprodukten, damit dieselben sich nicht in einer solchen Illusion des Endgültigen verfestigen, ohne dabei der ethischen Frage des je notwendig zu Tuenden auszuweichen.

57 Vgl. Die Traumdeutung / Über den Traum (1900–1901): GW II–III, Frankfurt/M., Fischer 1948. 58 Vgl. J. Lacan, »Fonction et champ de la parole et du langage en psychanalyse«, in: Ecrits I, Paris, Seuil 1966, 111–208. 59 Vgl. unter anderem S. Freud, Der Wahn und die Träume in W. Jensens »Gradiva«. Mit der Erzählung von Wilhelm Jensen und Sigmund Freuds Randbemerkungen, Frankfurt/M., Fischer 2009, bzw. auch für die Mythologie »Zur Gewinnung des Feuers« (1932): GW XVI, 3–9, am Beispiel der Prometheusfigur, sowie A. Haynal, »Deutungs-Kunst und Neubeginn. Der Analytiker bei seiner Arbeit«, in: Jahrbuch der Psychoanalyse 43 (2001) 63–82.

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Wenn wir dieses letztere Prinzip nun auf Freuds eigene Religionskritik anwenden, dann ergibt sich heute die Frage, ob es »nach Freud« eine andere Religion als die seit einem Jahrhundert von der Psychoanalyse kritisierte Religiosität des »neurotischen Zeremoniells« und der »Verdichtung des Vaternamens« gibt. Für Freud stützt die Religion als Illusion das Gesetz in der Kultur, um es durch Triebverzicht zu erfüllen, was Lacan daraufhin insofern fortschreiben wird, als das Gesetz für ihn dem Begehren eine Richtung verleiht. Aber das Objekt des eigentlichen Genießens liegt außerhalb des Bereichs der symbolischen oder kulturellen Ordnung und kann nur dadurch verwirklicht werden, indem solche jouissance im Symptom selbst schließlich aufgesucht wird,60 das heißt in einer leiblich-symptomalen Vieldeutigkeit, welche stets ein gewisses »Verschwinden« des Subjekts im »Außerhalb-des-Sinns« (hors-sens) impliziert. Die Religion ist dann nicht länger nur Gesetzesstütze, sondern sie hilft auch zur Überschreitung auf den Genuss des begehrten Objekts (Gott, das Gute etc.) hin, wobei sie jedoch selbst keine wirkliche Überschreitung darstellt, sondern das Begehren in sich selbst immer nur weitertreibt. In einer gewissen Nähe zum bereits erwähnten unerreichbaren »Ding« (la chose) initiiert also die Religion eine Bewegung der negativen oder destruierenden Sublimierung und vermag dem Begehren eine gewisse Freiheit zu verleihen, was sie aus der Freudschen Kritik ausschließlicher Verdrängungsinstanz als »Illusion« und »Vatersehnsucht« herausführt (Kapitel 4). Da die jouissance somit letztlich weder Objekt noch Signifikanten kennt, die sie bewusst machen könnten, vermag auch die Religion nur eine Bekräftigung des Sehnens nach dem Objekt des unendlichen Begehrens zu sein. Dadurch wird allerdings unser Sein als prinzipielles Begehren durch die Religion fundamental anerkannt und gewürdigt, auch wenn sie keine ultimative Lösung für diese menschliche Grundgegebenheit darstellt, insofern die Religion ihrerseits keinen Wahrheitsbegriff zu bieten hat, der nicht Fiktion (in) der Signifikantenkette wäre. Der Wahrheitsbegriff ist dennoch nicht ganz fallen zu lassen wie bei vielen anderen Autoren in der Postmoderne,61 insofern die Religion durch die strukturell unrealisierbare Gottesidee deutlich machen kann, dass kein »Anderer« über Differenz oder Alterität hinaus existiert, der uns aus den Effekten der symbolischen Entfremdung zu befreien vermag. Mittels »Durchstreichung des Anderen« bringt uns so die Religion grundsätzlich vor die ureigenste Wahrheit, dass ein Genießen un60 Vgl. J. Lacan, Le s8minaire XXIII: Le sinthome, Paris, Seuil 2005. 61 Vgl. K. Ruhstorfer, »Verortungen: Zum Wahrheitsverständnis der Postmoderne«, in: M. Enders u. R. Kühn (Hgg.), Kritik gegenwärtiger Kultur. Phänomenologische und christliche Perspektiven, Freiburg/München, Alber 2013, 140–157.

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serer Autonomie oder Souveränität62 innerhalb der symbolischen Ordnung nur dann möglich ist, wenn wir uns zum signitiven Nichts dieser Freisetzung bekennen, wozu die Mystik exemplarische Hinweise bieten kann, da sie jegliche imaginär-symbolische Andersheit als Leere durchschreitet (Kapitel 5). Verbunden mit dem Atheismus als dem »schwierigsten Ding, das es gibt«, wäre somit die Wahrheit allen Begehrens nach Gott nicht Gott selbst, sondern ein »gottloses Begehren«.63 Sofern Lacan die »römische Religion« als die »wahre Religion« aufgrund ihrer fundierenden Selbstverwiesenheit an den anfänglichen Logos als Wort und Sprechen sieht, würde dies bedeuten, dass der christliche Monotheismus nicht so sehr im Namen eines Gottes zu sprechen hätte, um das Begehren der Menschen auszufüllen, als vielmehr jedes Objekt als Zielvorstellung zu überschreiten, so dass Begehren und jouissance nur in der je eigenen Singularität zusammenfallen können. Der »perverse Kern des Christentums« besteht nämlich gerade darin, dass durch die monotheistische Kritik des Christentums, aber auch des Judentums und Islams, ein Punkt gedanklich in Besitz genommen wird, von dem aus alles kritisiert werden kann, um sich selbst gegen andere Kritik zu immunisieren. Mit anderen Worten kann die Religion dadurch das individuelle Begehren schmälern oder einengen, anstatt diesem Begehren allen Raum zu lassen, wodurch sie dieses als reines Sehnen nach dem letzten Objekt eigentlich würdigen würde. Verallgemeinert gesagt, sprechen alle Religionen in diesem Sinne im Grunde wie die anderen »Wunschmaschinen« (Deleuze) in der Moderne, welche das Begehren des Menschen auf das Wirkliche auszurichten vorgeben, obwohl dieses sich prinzipiell jedem Wissen der Subjekte entzieht. Besonders die Wissenschaft folgt ebenfalls diesem Weg in unserer Zeit, das Begehren ständig um ein immer wieder aufgeschobenes Zielobjekt kreisen zu lassen. Anders als die Religion gibt die Wissenschaft dabei allerdings vor, es erst in Zukunft irgendwann wirklich zu erreichen, während die Psychoanalyse sowohl gegen die Religion als auch die Wissenschaft Begehren/jouissance nur im leiblich-affektiven Symptom als das anders verstandene »Unbewusste« nach Freud gelten lässt. So wäre die Wissenschaft – zusammen mit dem Kapitalismus – eine endlose Jagd mit all ihren »Gütern« nach der jouissance, während die Religion zumindest den realen Kern des symptomal-unbewussten Begehrens nicht verleugnet.

62 Über den Einfluss dieses Begriffs von Georges Bataille vgl. J.-F. Sauverzac, Le d8sir sans foi ni loi. Lecture de Jacques Lacan, Paris, Seuil 2000, 21ff. 63 Vgl. M. de Kesel, »Religion als Kritik. Kritik als Religion: Einige Reflexionen zur monotheistischen Schwäche der zeitgenössischen Kritik«, in: M. de Kesel u. D. Hoens (Hgg.), Wieder Religion? Christentum im zeitgenössischen kritischen Denken – Lacan, Zˇizˇek, Badiou u. a., Wien, Turia + Kant 2006, 15–39.

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Insofern Freud über die Notwendigkeit ständiger Revision innerhalb einer »wissenschaftlichen Analyse« sich die erkenntnismäßige Fortschrittsbewegung ebenfalls zu eigen macht, kann man fragen, ob er selbst hierbei nicht ein quasireligiöses »Absolutes« hypostasiert, welches er als »materiellen Wahrheitsgehalt« der Religion abspricht, sofern sie nur eine »historische Wahrheit« besitze.64 Insofern muss die Frage berechtigt sein, ob Freud jene »Wahrheitsliebe«, die er für die Analyse in Anspruch nimmt, nicht verlässt, die allein »auf die Anerkennung der Realität« gegründet ist und »jeden Schein und Trug ausschließt«. Eine Abschließbarkeit von »Wahrheit« durch »Fortschritt« dürfte jedoch einen solchen »Schein« der Wissenschaftlichkeit selbst darstellen. Dies lässt Freud – trotz seiner Rezeption der Feuerbachschen Projektionstheorie als »wissenschaftlicher Wahrheit« – insoweit selbst durchschimmern, als er »Analysieren«, »Erziehen« und »Regieren« die drei »unmöglichen Berufe« nennt, die in der Tat keinen letzten Abschluss in sich bergen können.65 Da die Wissenschaft aber selbst ein Opfer von Wunschdenken werden kann, ist der »Fortschritt der Wissenschaft« als Erfüllung ihrer selbst eine Projektion im Freudschen Sinne, so dass weder reine Wissenschaftsgläubigkeit noch blinde Rationalisierung den »ehrlichen Umgang« mit Religion und kritischem Rationalismus bilden können, wie Freud ihn ohne Zweifel zu praktizieren versuchte. Die zuletzt von uns angesprochene Perspektive einer nicht an den »Fortschritt« gebundenen Wahrheit führt mithin über Freuds szientistisch motivierte Religionskritik hinaus, da er sie im Namen der Wissenschaft durchführte, um sich eine definitive kulturelle Aufklärung der Religion in der Zukunft zu erhoffen, was jedoch seinerseits ein gewisses »Vordrängen« impliziert, um an die Stelle der Religion als »Illusion« die eigene »wissenschaftliche Aufklärung« zu setzen: »Immer klarer erkannte ich, dass die Geschehnisse der Menschheitsgeschichte, die Wechselwirkungen zwischen Menschennatur, Kulturentwicklung und jenen Niederschlägen urzeitlicher Erlebnisse, als deren Vertretung sich die Religion vordrängt, nur die Spiegelung der dynamischen Konflikte zwischen Ich, Es und Über-Ich sind, welche die Psychoanalyse beim Einzelmenschen studiert, die gleichen Vorgänge, auf einer weiteren Bühne wiederholt.«66

In diesem sehr spezifischen Sinne ist die Psychoanalyse jedoch nur eine »Wissenschaft«, die das Begehren über die Topologie von Symbolischem, Imaginärem und Realem »kartographisiert«, wobei eben auch die Religion die schon erwähnte Sublimierung – über die Leere des letzten Objekts – darstellt und dadurch unsere kulturelle Zukunft ohne Zweifel mitbestimmen kann. 64 Vgl. »Nachschrift 1935 zur ›Selbstdarstellung‹« (1936): GW XVI, 31–34, hier 33. 65 »Die endliche und die unendliche Analyse«, 94f. 66 »Nachschrift 1935 zur ›Selbstdarstellung‹«, 33 (Hervorhebung R.K.).

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Die Psychoanalyse ist nämlich in gewisser Weise selbst ein Symptom in der neueren Geschichte und vermag nicht zu sagen, was das Wirkliche ist, so wie es die Religion auch nicht vermag – kann aber anstelle eines solchen Wissens zumindest symbolisierende »Sinnwerte« dafür stiften. Die Psychoanalyse als »Symptom«, wobei sie allerdings die Symptome ernst nimmt, behält so einen kritischen, wenn auch je nur flüchtigen Stellenwert innerhalb der Kur bei, so wie ihrerseits die Religion durch ihre kulturelle »Sinnstiftung« keine direkte Berührung mit Gott als dem »Wirklichen« entstehen lässt. Diese zweifache Aporie der Moderne endet daher nach Freud in einer Dezentrierung jeglichen Wissens – einschließlich eines symbolisch existierenden wie real nicht-existierenden Gottes. Hinter dieser konstitutiven Schwäche des Glaubens, der somit weder irgendwelche perversen noch messianischen Machtansprüche ausüben sollte, um das »Wirkliche« ideologisch in Besitz zu nehmen, bleibt trotzdem eine gewisse subjektive wie kulturelle Hoffnung bestehen, deren Kern letztlich in der Unverfügbarkeit von Begehren/jouissance wurzelt. Letztere nicht begrifflich fassen zu können, muss in der Tat kein prinzipieller Nachteil sein, weshalb wir in unserem vorliegenden Buch die möglichen Berührungspunkte zwischen einem erneuerten psychoanalytischen Religionsdenken und einer radikalisierten Phänomenologie als Aufweis der Immanenz des Lebens im realen Sinne von »Wirklichem« als dessen »Selbstoffenbarung« sondieren möchten.67 Wenn nun ideengeschichtlich Kants wie Sades Ethik beispielsweise darin besteht, den Zugang zum Wirklichen des »Dings« imperativisch erzwingen zu wollen, um zur mythisch reinen jouissance des ursprünglich Wirklichen als Pflicht bzw. Lust zurückzukehren,68 so kann dementsprechend hier zusätzlich die Problematik von Gesetz/Liebe in der Religion angezeigt werden. Wenn letztere – entgegen Freud – in der »Nächstenliebe« einen prinzipiell unendlichen Kern des Begehrens anerkennt und würdigt, so stellt sich dennoch die Frage, ob die Dialektik zwischen Gesetz/Begehren dabei nicht schließlich durch eine inhärente Überschreitung des Gesetzes als unendliche »Transgression« aufgebrochen werden soll, um diese Dialektik aufzuheben, welche Lacan69 den mythischen »Punkt einer Apokalypse« nennt, nämlich die absolute »Über-Ich«Überschreitung durch die christliche Liebe. Diese stellt einerseits eine implodierende Selbsterfüllung des Symbolischen dar, wie gerade auch der Apostel

67 Vgl. M. Henry, Können des Lebens, 114–122: »Was ist eine Offenbarung?«. 68 Vgl. H.-D. Gondek u. P. Widmer (Hgg.), Ethik und Psychoanalyse. Vom kategorischen Imperativ zum Gesetz des Begehrens. Kant und Lacan, Frankfurt/M., Fischer 1994. 69 Vgl. Le S8minaire VII: L’8thique de la psychanalyse (1959–1960), Paris, Seuil 1986, 250f. (dt. Das Seminar. Buch 7: Die Ethik der Psychoanalyse, Berlin, Quadriga 1995); vgl. zudem unser folgendes Kapitel II,5 zur Mystik.

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Paulus zu verstehen gibt,70 sowie andererseits eine Ethik, das Wirkliche des Symbolischen als »Bereich der Leere« selbst erscheinen zu lassen. Dadurch widersetzt sich diese Liebe der Neigung eines jeden »Über-Ich«-Gesetzes, das Symbolische als solches zu realisieren, und tendiert zu der potentiellen Auslöschung des realen Mangels im Symbolischen hin, der eine konstitutive Beschränkung der symbolischen Ordnung als solche darstellt. Hier liegen subjektive, kulturelle wie religiöse Möglichkeiten, die Enthüllung der Leere im Anderen als Ästhetik und Poesie der Liebe zu fassen,71 wie wir es ebenfalls über die immanente Selbstliebe des Lebens als objektlose Zustimmung in sich selbst im Sinne seiner inneren Historialisierung verstehen, um dem »hegemonialen Phantasma« technisch-kapitalistisch angehäufter – und damit nur simulierter – jouissance auch gegenwärtig noch eine andere Möglichkeit entgegenzusetzen.72 Dies wäre dann kein »Prothesengott« wie bei Freud, sondern eine wirkliche Selbstrealisierung des affektiv-leiblichen Lebens. Inwieweit diese durch die Verwerfungen von Leiden und Tod nicht von der »Seligkeit« und »Liebe« (Spinoza, Fichte) einer immanenten Offenbarung eines solchen Lebens abgeschnitten ist, wird sicher eine ständige Rückfrage der Individuen an eine solche Liebe und ein solch absolutes Leben als das »Wirkliche« bleiben.73 Die zuvor angesprochene Liebe in den Religionen setzt im lebensphänomenologischen Sinne daher gewisse Unterscheidungen als notwendig voraus, um das Begehren nicht politisch bzw. revolutionär vereinnahmen zu lassen, wie es der Neo-Kapitalismus und die Globalisierung auf ihre Weise bereits praktizieren. Diese kriteriologischen Unterscheidungen betreffen ebenfalls die NichtIdentität von Leib/Sexualität und Denken/Vernunft sowie Diskurs/Herrensignifikant, was das religiöse Sprechen der Zukunft zu beherzigen hat. Denn sonst würde nicht nur die Verdunkelung von grundsätzlichen Unverträglichkeiten im individuellen wie gesellschaftlichen Sinne kulturell als »Unbehagen in der Kultur« im Sinne Freuds weitergezeugt, sondern auch die Intensivierung von bestehenden Machtverhältnissen. Letztere betreiben vornehmlich die Illusion von Änderungen, welche nur die Gewinnung des »Mehrwerts« von Lust als »MehrGenießen« beinhalten, ohne wirklich subjektive jouissance zuzulassen. Mit anderen Worten dürfen weder die Natur noch die Religion substantiell gedacht werden, um aufgrund irgendeiner metaphysisch bzw. ontologisch vorgegebenen 70 Für eine postmoderne Aneignung der caritas besonders nach Paulus vgl. im politischen Sinne auch A. Badiou, Paulus. Die Begründung des Universalismus, München, Sequenzia 2002. 71 Vgl. ebenfalls P. Ricœur, De l’interpr8tation, 537ff. 72 Vgl. dazu L. Chiesa, »Pasolini, Badiou, Ziz˙ek und das Erbe der christlichen Liebe«, in: M. de Kesel u. D. Hoens (Hgg.), Wieder Religion?, 107–126, hier 113f. 73 Vgl. R. Kühn, Alles, was leiden kann. Zur Ursprungseinheit von Freude und Leid, Dresden, Text & Dialog 2019, 277ff.

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»Ordnung« den Anschein von zu erwartenden Erfüllungen wie Messianismus, Revolte, Fortschritt, Befriedigung etc. hervorzurufen, welche am Wirklichen – als »Ding« oder »Liebe« – scheitern müssen, da diese außerhalb jeder bestimmten symbolischen Ordnung zu sehen sind.74 Das tiefere Scheitern des libidinösen Materialismus als »Hedonismus« in der Neuzeit enthüllt daher eine potentielle »Konversion« zur Religion hin, insofern die tiefere kulturelle Revolution von der ideologischen Revolution zu unterscheiden bleibt, wobei gerade die mystische Tradition durch das Gebot der Liebe zu Gott wie dem Nächsten eine symbolische Kastration aller Ideologie beinhaltet.75 Denn ein solches »Gebot« enthält die Position eines »Höchsten Gutes«, welches sich als Negation aller symbolischen Entfremdung in der Kultur darbietet, um dadurch allerdings nicht selbst eine neue Herrschaft zu begründen, sondern das Begehren zur imaginär entleerten jouissance in jedem Individuum hin zu befreien. Die Frage derartiger »Religion« besteht allerdings nicht darin, ob der befreiende Akt über den »Glauben« hinausgehen kann, sondern vielmehr darin, wie man in denselben eintreten könnte, ohne dass die ihm eigene genuine Kraft durch die lebensweltlichen Horizonte der Unterwerfung in der Moderne außer Vollzug gesetzt würde, weil Begehren/Phantasma im symbolischen Bereich konstitutiv sind. Hierfür dürfte kaum eine bloße Erneuerung von Tradition und Geboten in Frage kommen, aber auch nicht ein Atheismus als »Dekonstruktion« im Christentum selbst im Sinne einer »Selbstaufhebung« des letzteren.76 Denn ein Atheismus wäre als Grundlage eines »anderen Glaubens« auch wieder ein Wissen als benennende oder signitive Wahrheit, welche die leere Radikalität des selbstreferentiellen Handelns als reines Können im Verbund mit dem rein phänomenologischen Leben in Frage stellen würde.77 Wenn das »Eigene« im 74 Vgl. für weitere Untersuchungen hierüber Journal für Religionsphilosophie 6 (2017–2018): Von Gott und Gewalt. 75 Vgl. R. Kühn, Lebensmystik. Ursprüngliche Erfahrungseinheit von Religion und Ethik im Spiegel »philosophischer Mystik«, Dresden, Text & Dialog 2018, 267ff. 76 Vgl. J.-L. Nancy, La D8closion (D8construction du christianisme, I), Paris, Galil8e 2005 (dt. Dekonstruktion des Christentums, Berlin, Diaphanes 2008). 77 Der weniger anspruchsvoll auftretende Atheismus bei J. Rattner und G. Danzer führt zur Nachzeichnung einer kritischen »analytischen Religionspsychologie« gemäß Feuerbach, Nietzsche, Marx, Freud, Adler und Jung mit dem Schlussappell: »Aus der Gottesliebe soll Menschenliebe, aus dem Beten ein Arbeiten für die Kultur, aus Theologie selbständiges Philosophieren, aus dem Hoffen auf überirdische Hilfe eigener Einsatz und aus dem Verlangen nach Erlösung konkrete und humanistische Politik werden.« Religion und Psychoanalyse. Enzyklopädie der Psychoanalyse Band 3, Würzburg, Königshausen & Neumann 2009, 120. Dagegen vertritt H. Raguse die Auffassung, der Atheismus stelle keine unmittelbare Zielrichtung der Kur dar, so dass die analytisch-therapeutische Neutralität es erfordere, religiöse Vorstellungen eventuell zu analysieren, ohne sie jedoch auflösen zu müssen, insofern Religion – neben Realität und Phantasie – einen dritten Bereich kultureller Leistung im Sinne eines »Übergangsraums« (Winnicott: transitionel objects) bilde; vgl. »Religiöse Inhalte in der Psychoanalyse: Erwägungen zur psychoanalytischen Religionskritik und zur

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Unterschied zur symbolischen »Andersheit« dann bloß noch das je »Neue« oder der »Augenblick« sein könnte,78 welche nicht bereits durch einen anderen Signifikanten besetzt sind, dann wäre dies sowohl hinsichtlich des subjektiven Begehrens wie der allseits verwalteten Verfestigung im gesellschaftlichen Leben die Frage, ob eine Neuheit der Geschichte bzw. ein nunc stans im Sinne Meister Eckharts und anderer Mystiker überhaupt noch möglich ist. Heidegger79 hatte eine solche Perspektive mit der Figur des »Letzten Gottes« zu beantworten versucht, während Lacan hinsichtlich jeglicher Gottesidee pessimistisch blieb, weil für ihn jede traditionelle oder kommende Gottesidee nur das neurotischphantasmatische Material wiederbrächte, welches Leere und Nichts der wirklichen jouissance tendenziell als Objekt- wie Lebensweltabhängigkeit wieder fraglich werden ließe. Nur dürfte deutlich geworden sein, dass das erneuerte Interesse an der Frage des Zusammenhangs von Religion/Psychoanalyse, wie es etwa Badiou und Zˇizˇek gegenwärtig bekunden,80 weiterhin virulent bleibt. Es geht in der Tat um die paradoxe Verknüpfung zwischen einem Subjekt ohne ontologische Identität einerseits und einem Gesetz ohne absolute Stütze andererseits, was von den zuletzt genannten Autoren als postmoderne Dialektik besonders an Paulus und seinem Anspruch universaler Verkündigung des Christentums demonstriert werden soll.81 In der Mitte der Auseinandersetzung bleibt daher die Kernproblematik, wie die Religion zum Anspruch eines Subjekts steht, welches auf authentische Weise das symptomale Ergebnis des Wirklichen als jouissance trotz aller ödipalen Begehrensbedingungen durch Gesetz und Sprache ist. Hierbei treffen Religion

78 79 80 81

Technik der Psychoanalyse«, in: Psychotherapie Forum 16/2 (2008) 57–65; D. Winnicott, Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. Studie zur Theorie der emotionalen Entwicklung, Gießen, Psychosozial-Verlag 2002. Er führte in die Psychoanalyse auch den Begriff der good enough mother ein, die auf die Bedürfnisse des Säuglings so weit eingeht, dass dieser sich nie wie verloren fühlt, wobei das genannte »Übergangsobjekt« (Zipfel einer Decke zum Beispiel) bei Abwesenheit der Mutter eine tröstende Rolle spielt. Ist die Mutter nicht »ausreichend gut«, kommt es zu Deprivation als Grundlage für späteres antisoziales Verhalten, um einen Mangel auszugleichen. Vgl. R. Kühn, Der therapeutische Akt. Seine Singularität in Bezug auf Wissen und Wahrheit in lebensphänomenologischer und Lacan’scher Sicht, Freiburg/München, Alber 2018, 120ff. u. 213ff. Vgl. Beiträge zur Philosophie. Vom Ereignis (GA 65), Frankfurt/M., Klostermann 21994, 405ff. Vgl. A. Badiou u. B. Cassin, Es gibt keinen Geschlechtsverkehr. Zwei Lacanlektüren, Zürich, Diaphanes 2012; S. Zizˇek, Grimassen des Realen. Lacan oder die Monstrosität des Aktes, Köln, Kiepenheuer & Witsch 1993. Dies ist eine veränderte Sichtweise gegenüber der Psychoanalyse zu Beginn wie etwa bei E. Jones, Zur Psychoanalyse der christlichen Religion, Leipzig/Wien/Zürich, Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1928, wo dieser sich mit christlichen Dogmen wie der Unbefleckten Empfängnis bei der Jungfrau Maria und dem Heiligen Geist auf dem Hintergrund des »Gottmensch-Komplexes« auseinandersetzt.

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und Psychoanalyse nach Freud und Lacan insofern zusammen, als sie eine Transgression oder Subversion im Herzen der gesellschaftlichen Institutionen selbst anstoßen, die sie jedoch jeder absoluten oder theologischen Illusion im Sinne eines »Herrschaftswissens« entledigt haben. Anders gesagt, kann und soll gerade auch die Religiosität im Dienste des »Realen« (le r8el) arbeiten, indem das Subjekt auf seinen wirklichen Kern hingeführt wird, um die gleichgeschaltete marktorientierte Alltagswelt »flexibel« zu durchbrechen. Um es mit einem Titel von einer amerikanischen Kommentatorin zu sagen, soll keine »Suche nach der Liebe am falschen Ort« mehr stattfinden,82 was wir unsererseits durch die Thematisierung möglicher Parallelen zur Lebensphänomenologie und Mystik aufgreifen möchten. Denn nie ist zu verkennen, dass wir einen subjektiv unverwechselbaren Platz in den Systemen des symbolischen Wissens besitzen und eine ethische Beteiligung an einer konkreten Freisetzung aufzugreifen ist, welche der »hysterischen Verführung« durch den Anderen widersteht und die strukturelle Beraubung der eigenen jouissance rückgängig macht. Nur weigert sich die Psychoanalyse, hierfür dogmatisch eine religiös universale Macht zu beschwören, die in der Tat noch gefährlicher sein könnte als die wildesten Phantasmen jener »Monstrosität«, welche gegenwärtig unser kulturelles Imaginäre beherrscht. In dieser Beschränkung liegt der Versuch, einer »subjektiven Universalität« zu ihrem originären Recht zu verhelfen, wobei Religion und Mystik durch die Anerkennung fundamentalen Begehrens des Einzelnen dessen Fragmentierung durch trennende Signifikanten entgegenwirken können. Handelt es sich aber dabei letztlich um ein bloß »spirituelles« Gewahrwerden ohne weitere lebensweltliche Folgen, indem die Liebe nur spekulativ zum neuen Gesetz erklärt wird? Oder hofft man auf eine Gemeinschaft von »subjektiv Freigesetzten« des Gesetzes, um eine universale Gemeinschaft zu bilden, welche die »Stimme« des Realen, des »Dings« oder der Liebe der »Söhne« gegen den »Namen-des-Vaters« und somit gegen alle »Väter« hört,83 um auf Freuds Mythos von der Vatertötung anzuspielen? Die praktische Psychoanalyse arbeitet mit der Geduld einer individuellen Klärung des je subjektiven Phantasmas,84 und die Religion kann im Grunde nur auf die »Konversion« des unendlichen Begehrens 82 Vgl. J. Flower Maccannell, »Das negative Universale: Die Suche nach der Liebe am falschen Ort?«, in: M. de Kesel u. D. Hoens (Hg.), Wieder Religion?, 235–268. 83 Vgl. zur Analyse dieser Stimme im gegenwärtigen französischen Denken S. Till, Die Stimme zwischen Immanenz und Transzendenz. Zu einer Denkfigur bei Emmanuel Levinas, Jacques Lacan, Jacques Derrida und Gilles Deleuze, Bielefeld, Transcript 2013, zu Lacan besonders 25ff. u. 52ff. Lacan selbst hat dieses Thema der Stimme und des Hörens vor allem in den frühen Seminaren I–III über Ich und Psychose sowie in den weiteren Seminaren X–XI über Angst und psychoanalytische Grundbegriffe analysiert. 84 Vgl. S. Freud, »Die endliche und die unendliche Analyse«, 57ff., zur Frage, ob eine Kur verkürzt werden kann und wann sie ohne zu befürchtende Wiederkehr der Verdrängungen, Symptome und Phantasmen als beendet zu betrachten ist.

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des Einzelnen setzen und letzteres bestärken, wenn sie glaubhaft und wahr bleiben will, um nicht ihrerseits den Machtillusionen eines »Herrendiskurses« zu verfallen. Kapitalismus wie Terrorismus oder Fundamentalismus sind heute jene Formen phantasmatisch globalisierter Macht, die den Einzelnen nur in der Geste der Anpassung oder Unterwerfung gelten lassen will. Daher wäre die Stärkung des Einzelnen, wie sie sowohl Freud als auch Lacan und die Religion über eine wirkliche Klärung/Konversion von Objektidentifizierungen mit ihren Besetzungen vorsehen, ein Weg, der weder dem bloß »spirituellen« oder »esoterischen« Trend85 noch der persönlichen Abdankung durch die Gruppe oder Gesellschaft verfällt. Es bleibt folglich darauf zu achten, dass die Botschaften von universaler Liebe, Solidarität und Brüderlichkeit, wie sie heute in der Nachfolge von Levinas, Derrida, Deleuze, Lacan oder Nancy als »Vielfalt-Sein« (Badiou), »Multitude« (Negri) oder »Gemeinschaft des Heiligen Geistes« (Zˇizˇek) propagiert werden,86 gerade das nicht wieder auslöschen, was durch keinerlei Abstraktion oder Allgemeinheit jemals subsumiert werden kann – die radikale Individuierung im absolut phänomenologischen Leben. Denn eine »subjektive Gemeinschaft« der »Söhne« ohne jedes Gesetz ist gleichfalls eine solche Hypostase wie die absolut erzwungene Herrschaft durch ein politisches oder staatliches Gesetz.87 Jede Subjektivierung im Welthorizont (Symbolik) bringt nämlich eine Objektposition des Imaginären ins Spiel, welche über Kastration und Angst zum Trauma des abgrundtiefen Verlassenseins bzw. der »Hilflosigkeit« im Sinne Freuds führen kann. Was Lacan88 in seinen Spätbeiträgen daher die »Metapher der Liebe« nannte, ist das Begehren nach einem Objekt, welches »sich menschlich macht« – das heißt, Beziehung oder Berührung wird. Demzufolge besteht die Liebe keineswegs darin, sich für das Begehren des Anderen narzisstisch zu positionieren oder das Begehren des Anderen pervers objekthaft zu deuten, sondern darin, die grundlegende »Ungleichheit« bzw. »Andersheit« als Moment der Liebe bestehen zu lassen. Im Seminar XX griff Lacan dazu ent85 Vgl. M. Enders, Postmoderne, Christentum und Neue Religiosität. Studien zum Verhältnis zwischen postmodernem, christlichem und neureligiösem Denken, Hamburg, Verlag Dr. Kovac´ 2010, 235ff.; außerdem E. Frick u. A. Hamburger, Freuds Religionskritik und der »Spiritual Turn«. Ein Dialog zwischen Philosophie und Psychoanalyse, Stuttgart, Kohlhammer 2005. 86 Vgl. P. Hallward (Hg.), Think Again. Alain Badiou and the Future of Philosophy, London, Continuum 2004; S. Zˇizˇek, Die politische Suspension des Ethischen, Frankfurt/M., Suhrkamp 2005. 87 Vgl. P. Ziade, G8n8alogie de la mondialisation. Analyse de la crise identitaire actuelle, Paris, L’Harmattan 2015, 223ff., sowie aus fernöstlicher Sicht R. Ohashi, Phänomenologie der Compassion. Pathos des Mitseins mit dem Anderen, Freiburg/München, Alber 2018, hier bes. 260ff. 88 Vgl. Autres 8crits, Paris, Seuil 2001, 191–197, über das Werk der Schriftstellerin Marguerite Duras.

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sprechend Richard von Sankt-Viktor aus dem 12. Jahrhundert aus dessen Traktat »De Trinitate« auf,89 um mit diesem zu unterstreichen, dass die Liebe ein wesentlicher Aspekt Gottes sei und immer einen »Anderen« innerhalb der Dreifaltigkeit betreffe. Soll daher die Liebe nicht nur gefällig sein, sondern vielmehr vollkommen, wie der genannte mittelalterliche Theologe und Mystiker in Übereinstimmung mit dem Neuen Testament sagt, dann müssen Vater und Sohn diese Liebe im Heiligen Geist teilen. Es braucht also ein Medium der »Teilhabe«, damit Liebe sein kann. Wird hierbei der Seinsmangel des Subjekts nach Lacan sowie die Objektposition des Anderen radikal phänomenologisch reduziert, dann entfallen nicht nur das kritisierte Imaginäre und die Freudsche Kastration im schöpferischen Akt der Liebe, um sich selbst wie dem Anderen in ihrer Differenz zu entsprechen. Vielmehr entfällt auch jede intentionale Operativität als solche, insofern wir im Leben schon immer vom Leben geliebt sind – und somit grundsätzlich ebenfalls lieben können. Die endlose Objektsuche findet mithin bereits »im Anfang« selbst gemäß dem Johannes-Evangelium ihr Ende, so dass arche/telos immer schon vereint sind.90 Das heißt, Suche nach reiner Liebe wie »Gottähnlichkeit« entfallen, da sie immer schon als originäre Einheit stattgefunden haben. Religion nach Freud und Lacan wird also umso intensiver in Zukunft die Aufklärung der Frage sein müssen, was ein »Objekt« überhaupt für uns ist und ob es der Kämpfe bedarf, die wir darum führen – als Ausbeutung durch den enigmatisch Anderen oder als Ausschluss aus einer universal angesetzten Wahrheit. Da nämlich das rein phänomenologische Leben niemals Objekt oder Differenz von seinem sich selbst generierenden Wesen her zu sein vermag, sind diese Fragen im Grunde dann bereits beantwortet; sie benötigen nur eine »zweite Geburt«, um auch praktisch vollzogen werden zu können. Nach der Kenntnisnahme der psychoanalytischen Kritik kehrt dann Religion zu sich selbst im absolut phänomenologischen Sinne zurück, weil sie das Potential jeglicher Aufklärung in sich trägt, sobald Hören des Lebens und Vollzug des Lebens effektiv zusammenfallen – als schweigendes Performativ, aus dem niemand ausgeschlossen ist. Entgegen anderen früheren Äußerungen Freuds scheint eine seiner letzten Tagebucheintragungen (1933) diese Sichtweise zuzulassen, wenn er festhält: »Mystik: düstere Selbstwahrnehmung vom Reich jenseits des Ego und des Es.«91 89 Vgl. S8minaire XX: Encore, Paris, Seuil 1975, 79f. (dt. Das Seminar XX: Encore, Berlin/ Weinheim, Quadriga 1986); dazu ebenfalls E. Porge, Se compter trois. Le temps logique de Lacan, Toulouse, ErHs 1989, 146ff. 90 Insofern bleibt auch die Wirklichkeit als »Ereignis« zu durchleuchten; vgl. L. Pirktina, Das Ereignis. Martin Heidegger, Emmanuel Levinas, Jean-Luc Marion, Freiburg/München, Alber 2019. 91 Schriften aus dem Nachlass 1892–1939: GW XVII, Frankfurt/M., Fischer 1941, 152; vgl. zur Auslegung J. Derrida, Le toucher, 57ff.

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In der Psychoanalyse kann das Unbewusste nicht unmittelbar gehört werden, da die Stimme als »Patient« im Sprechen einen Zugang bietet, der sich zugleich auch wieder entzieht. Deshalb erfordert die Kur ein Hören, welches nicht zu einem Verstehen der Signifikation92 zwingt, sondern eher der Hervorbringung und Bewegung der Signifikantenproduktion als solche folgt, wohinter das Begehren selbst wirkt, dem Anderen näherzukommen. Indem dabei der Hörer (Analytiker/Therapeut) aufhorcht, wird er dadurch gehorchend, der Stimme des Anderen in sich selbst zu folgen. Wir können hier die spezifisch psychoanalytische Ethik im Hören/Sprechen festhalten, insofern solches Zu-Hören prinzipielle Anerkennung impliziert, und zwar unabhängig davon, was im Einzelnen gesagt wird.93 Solch subjektive Einverleibung der Stimme des Anderen als imperativisches »Sagen« (Dire) ist daher gerade keine Assimilation der Rede, wie es das informative Kommunikationsschema meist voraussetzt, sondern letztlich ebenfalls Verweis auf ein Schweigen, welches in der Stimme wie im Hören zwischen Verlautbarung und Stille selbst begründet ist. Auch wenn der »Namedes-Vaters« sowie das Über-Ich das reine Sprechen des Subjekts pervertieren können, um im Sprechen nicht mehr – oder noch nicht – dem eigenen Begehren zu folgen, sondern dem des Anderen, so ist die Stimme dennoch in einem das Moment der Gemeinschaftlichkeit als Beziehung wie des subjektiven Unterschieds. Wir finden folglich hier die zuvor schon hervorgehobene »subjektive Universalität« wieder, wobei die vielen öffentlichen Stimmen des Anderen die Gefahr heraufbeschwören, das Hören der eigenen Stimme beim einzelnen Subjekt zu verwischen. Das Schweigen im therapeutischen wie allgemein intersubjektiven Vollzug von Sprechen/Hören erhält jedoch in der Psychoanalyse nie den Status der Offenbarung, die das performative Schweigen des rein phänomenologischen Lebens als sein eigentliches »Wort« beanspruchen kann, insofern hier

92 Vgl. S. Till, Die Stimme zwischen Immanenz und Transzendenz, 63f.; B. Baas, De la chose / l’objet. Jacques Lacan et la travers8e de la ph8nom8nologie, Leuven, Peeters-Vrin 1998, 201ff., mit Bezug auf das Gewissen. Dass neuere Studien in diesem Sinne auch zu einem erneuerten Verständnis des Autismus veranlassen, zeigt die Untersuchung von T. Grohmann, »Für eine Onto-Ästhetik des Autismus. Synästhesien als Phänomen leiblicher Resonanz«, in: Phänomenologische Forschungen 1 (2019) 27–51. 93 Vgl. D. Sträuli, »›Ein stilles, sanftes Sausen‹: Psychotherapie, Psychoanalyse und Religion«. in: Psychotherapie Forum 16/2 (2008) 74–80. Es sei nicht Aufgabe der Analyse/Therapie, auf eine wie auch immer verstandene »Realität« zu verweisen und den Patienten zur Rationalität oder zu einem Glauben zu führen, sondern seiner »symbolischen Wahrheit« auf der Ebene zu begegnen, wo sie ihre Wirkung entfalten könne. Sollte dabei der Glaube mit einem unbewussten Phantasma verbunden sein, dann können Durcharbeitung und eventuell Auflösung notwendig werden, ohne jedoch irgendeinen Atheismus anzustreben; dazu Jahrbuch der Psychoanalyse 79 (2019): Probleme der Gegenübertragung.

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Hören/Sprechen als Inhalt/Akt des Lebens stets eins sind.94 Dennoch gelangte auch Lacan über Freud hinaus im Symptom als sinthome an den Punkt der Möglichkeit der schweigenden religio des unendlichen Begehrens, um es seinerseits als »psychoanalytische Ethik« der jouissance zu qualifizieren. Dieses Ergebnis unterstreicht nicht nur den praxisbezogenen offenen Dialog zwischen Psychoanalyse, Philosophie und radikalisiertem phänomenologischen Religionsverständnis; vielmehr ergibt sich daraus ebenfalls ein erneuertes Verständnis von »Offenbarung« bzw. »Heiligem« überhaupt.95 Dies dürfte als individuelle wie gesellschaftliche Konstellation von einem schweigenden Hören/Sprechen jenseits allen Wissens für die Zukunft nicht ohne Belang sein, insofern wir uns jederzeit Rechenschaft über die Wahrheit des »Gesagten« (Dit) als gleichzeitige Anerkennung des Anderen im Sagen als solchem abzulegen haben. Darüber hinaus scheint es gleichfalls notwendig, die abyssale Frage offenzuhalten, von welchem »Ort« aus unser Sprechen überhaupt erfolgt.96 Kommt es aus einem vorgegeben Hören des Schweigens, bevor unsere Worte sich überhaupt erheben, dann kann kein Signifikant jemals beanspruchen, der erste oder letzte zu sein, wenn er über sein »Wissen« die unsagbare »Wahrheit« nicht usurpieren will. Dies bleibt innerhalb wie außerhalb jeder geschichtlichen Religionsform zu beherzigen, um eine tiefere Verbundenheit (re-ligio) zu entdecken, als es im Augenblick kulturell den Anschein hat und worauf die Psychoanalyse mit ihrer Kritik aufmerksam zu machen vermag – obwohl das »Psychische« nicht das Ganze der Religion beinhaltet, selbst wenn sich die Psychoanalyse methodisch auf dieses Psychische einschließlich seines »archaischen Erbes« als ihren Gegenstand beschränkt. Als gegenwärtiges Fazit kann unter dem Blickwinkel einer nach Freud weitergeführten psychoanalytischen Religionskritik daher festgehalten werden, dass die Religion neben ihren destruktiv unbewussten Strebungen auch ein emanzipatorisches Potential enthält. Denn die »singuläre Universalität«, die wir herausstellten, ist zugleich auch das Wissen um jeden Verlust des Anderen, sei es im Bereich der Beziehungen unter Menschen oder der gemeinsamen Welt und Natur. Diese Ebene bedeutet daher ein reiferes Kulturniveau als die Mechanismen der Spaltung, die aus paranoid-schizoiden und depressiven Ängsten hervorgehen. Und wenn sich das »Religiöse« von Wunsch, Abwehr und Verdrän94 Vgl. M. Henry, Christi Worte. Eine Phänomenologie der Sprache und Offenbarung, Freiburg/ München, Alber 2010, 85ff. u. 139ff. 95 Zur Problematik des letzteren Begriffs vgl. Journal für Religionsphilosophie 3 (2014): Ambivalenzen des Heiligen. 96 So will T. Moser, Von der Gottesvergiftung zu einem erträglichen Gott. Psychoanalytische Überlegungen zur Religion, Stuttgart, Kreuz 2003, 20ff., die »Fähigkeit zur Andacht« als »inneren Kapellenraum der Bindung« offenhalten; vgl. auch Gott auf der Couch. Neues zum Verhältnis von Psychoanalyse und Religion, Gütersloh, Mohn 2011.

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gung im analytisch-therapeutischen Sinne befreit, dann enthält es auf seinem Grund die innere Gewissheit vom »Gutsein des Lebens« – und damit auch eines Veränderungshorizontes der Welt zum Guten hin. Bezieht man dabei die psychische Einsicht in die eigenen Aggressions- und Destruktionspotentiale mit ein, dann gewinnt die Möglichkeit, dass Liebe stärker sein kann als Hass, auch jene kulturelle Perspektive, die sich mit dem Gutsein des Lebens und der Welt als regulativem Horizont in einem ethisch-religiösen Sinne deckt. Die europäische Moderne hat nicht das Ende der Religion herbeigeführt, und wenn heute Religion, Politik und Gewalt mit Macht überall auf die Weltbühne drängen, dann kann im zuletzt genannten Sinne die Kategorie des wirklich Religiösen – die wir auch als originäre religio bezeichneten – jenen universalen Horizont einer »Erlösung« andeuten, der nicht die Ansprüche einzelner Religionen im Sinne von Konfessionen meint, sondern die »Wandlung zum Guten« hin, und zwar als eine »Religion, die bleibt« und aus der prinzipiell niemand ausgeschlossen sein muss.97 Ein solches Fazit integriert die psychoanalytische Sichtweise, dass die Religion keinen Fetischismus im Sinne eines alles ordnenden und beherrschenden Weltprinzips darstellt, sondern die hier in unserer Einleitung unterstrichene Unabschließbarkeit des immanent lebendigen Begehrens, welches zugleich die Unendlichkeit des Offenen ohne abwehrhafte »Besetzungen« verwirklicht, wie auch Freud es sich für die Kultur erhofft hatte. Diese Offenheit beinhaltet dann außerdem, dass die Psychoanalyse die von ihr reklamierte umfassende Kulturaufgabe zusammen mit Philosophie, Religion und anderen Kulturbereichen in den Blick nehmen kann, wie es die jüngere Entwicklung in diesem Diskussionsfeld nahelegt. Die Bewusstmachung von seelischen Mechanismen, die sowohl im Bereich der Philosophie und Religion als auch anderswo wirksam sind, soll nicht nur der notwendigen Selbstaufklärung dienen, sondern auch die Auseinandersetzung mit der je eigenen Vergangenheit fördern, um eben die Zukunft im Sinne der kreativen Offenheit zu ermöglichen. Die Psychoanalyse kann trotz ihrer methodischen Begrenztheit in der Tat darauf aufmerksam machen, dass unbewältigte Elemente des Vergangenen aufgearbeitet werden sollten, damit solche Zukunft gegeben bleibt, was individuell wie kollektiv gilt. Fixierte Traumatisierungen, die mit unerlösten Wünschen verbunden bleiben, beschränken die Verwirklichungsweisen von Leben wie Weltbeziehungen, was aber für Religion wie auch das wissenschaftliche Denken gilt.98 Wir hatten darauf hingewiesen, 97 Vgl. G. Burda, Psychoanalyse der Erlösung. Religion – Ethik – Politik – Film, Münster/New York, Waxmann 2016, 66ff. Der Begriff der »Erlösung« wird anderen möglichen Bezeichnungen wie Gerechtigkeit, Befreiung, Friede etc. in dieser Arbeit vorgezogen, um die Begegnung mit dem »Heiligen« besser artikulieren zu können. 98 Vgl. G. Vinnai, Jesus und Ödipus. Zur Psychoanalyse der Religion, Frankfurt/M., Fischer 1999, 199ff.

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dass die von Freud entwickelte Religionskritik sich auch auf sein eigenes Denken anwenden lässt, insoweit die Berufung auf »Wissenschaftlichkeit« ebenfalls unbewusste oder ödipale Moment noch enthält. Hinzufügen lässt sich demzufolge hier, dass der Übergang vom religiösen zum wissenschaftlichen Weltbild nicht nur Vorteile mit sich bringt, sondern auch Verluste beinhaltet, etwa wenn der Zugang zum Religiösen oder anderen Kulturbereichen nur mit einer »entziffernden« Methode erfolgt, während gerade auch geistesgeschichtliche, historische, philosophische und interkulturelle Zugänge angezeigt sind, die dann nicht nur wieder der Psychoanalyse als Richtmaß zu folgen hätten, sondern eben als epistemologische Vielfalt auch den Reichtum des philosophischen wie religiösen Phänomens angemessener erkennen und erleben lassen. Denn die benutzten Begriffe für eine Kritik entstammen bei jeder Innovation ihrerseits einer Tradition, deren Rezeption stets auch selektiv vorgeht, um neue Positionen in der symbolischen Ordnung einzunehmen, ohne jedoch dieselbe als solche verlassen zu können. In solcher Perspektive bildet daher das rein phänomenologische Leben die entscheidende Wirklichkeit bei allen Beschreibungen, Interpretationen und Orientierungen, da es in seiner immanenten oder subjektivgemeinschaftlichen Selbsterprobung die radikale Voraussetzung für all diese Bewusstseinsleistungen einschließlich des Unbewussten bleibt.

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Angesichts der methodisch-disziplinären Mannigfaltigkeit heutiger Wirklichkeitszugänge wurde daher gleichfalls die Psychoanalyse schon oftmals aufgefordert, sich der Gesellschaft wie der Welt und anderen anthropologischen, soziologischen und geschichtlichen Erkenntnisweisen zu öffnen.99 Vor der eigentlichen Postmoderne hatte bereits die Kritische Theorie der 1960er Jahre bei Adorno und Marcuse konstatieren wollen, dass ein durch das Über-Ich geschwächtes Subjekt immer stärker unter die Kontrolle der gesellschaftlichen Herrschaftsinstanzen geraten sei, so dass die traditionelle psychoanalytische Auffassung eines »Ichs« mit relativ gleichbleibender topisch-energetischer Identität – bei allen eingeräumten psychischen Spannungen und Konflikten – nicht mehr angemessen sei. Diese sich gesellschaftskritisch anbahnende »intrapsychische Pluralisierung des Subjekts« wurde dann von der bald darauffolgenden Postmoderne im eigentlichen Sinne zu einer sich schnell ausbreitenden neuen Sicht menschlicher Wirklichkeit, nämlich der, eine Vielzahl von inneren wie äußeren Identitätsformen für die jeweiligen Individuen zuzulassen. 99 Vgl. S. Mappa, »Postmodernit8 et psychanalyse«, in: Le Coq-Heron 233/2 (2018): Psychanalyse, politique et soci8t8, 20–29.

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Dies war als epochal neuartig auftretende Perspektive in der analytisch-therapeutischen »Objektbeziehungstheorie« bereits in gewisser Hinsicht schon angelegt, insofern die objektalen Bindungen als Bezug zwischen Libido/Realität nie endgültig sein können, sondern ihrer Natur gemäß etwas »Schwebendes« an sich haben.100 Anders gesagt, besaßen der psychoanalytische Begriff der Ambivalenz und die postmoderne Dekonstruktion metaphysischer Wesensidealitäten zugunsten der prinzipiellen Anerkennung von Alterität oder Pluralität eine epistemologische Affinität, die gegenseitige Würdigung wie Kritik zugleich zuließ.101 Um einen solchen Vergleich in seiner Fruchtbarkeit für die neuere gegenwärtige Diskussion zu unterstreichen, sei dies an drei kurzen Beispielen illustriert, nachdem zuvor schon die Rezeption Freuds bei Althusser angesprochen wurde. So stellt Michel Foucault die Freudsche Lehre als einen orthodoxen Korpus in Frage, weil er die – durch Wissenschafts- und Machtdiskurse – fragilisierten Körper der Individuen einer »Allmacht des Analytikers« in dessen einseitigem Deutungsanspruch ausgeliefert sieht. Zwar habe die Psychoanalyse den Patienten aus moralischen Zwängen freigesetzt, aber zugleich habe Freud »dagegen die Struktur, die die ärztliche Gestalt einhüllte, ausgebeutet, indem er deren thaumaturgischen Kräfte erweitert und dem Arzt den quasi göttlichen Status der Allmächtigkeit verliehen hat«.102 Diese Kritik im Namen einer Dekonstruktion omnipotenter Vernunft-, Interpretations- oder Heilungsansprüche gewann etwa gleichzeitig bei Gilles Deleuze und F8lix Guattari eine ähnliche Wendung hinsichtlich einer notwendig zu aktualisierenden »Religionskritik«, die mit Rückgriff auf Nietzsche den neuen Priesterbetrug attackierte: »Die Psychoanalyse übernimmt die Ausbildung eines neuen Typus von Priester, eines Pädagogen des schlechten Gewissens: es macht einen krank, aber es heilt einen auch wieder.«103 Bei Jean-FranÅois Lyotard ergibt sich aus diesen wirkungsgeschichtlichen Betrachtungsweisen der Lehre Freuds – zusammen mit einer Skepsis gegenüber den »Metaerzählungen« bei Hegel und Marx – ein unmittelbar postmodernes Plädoyer für die Inanspruchnahme der Libido als einer »subversiven Wende«: »Man muss das Auftauchen dieser Dispositive [kapitalistischer Produktionsweise] im gesellschaftlichen Körper genauso auffassen wie die Libidobeset-

100 Vgl. A. Honneth, »Objektbeziehungstheorie und postmoderne Identität. Über das vermeintliche Veralten der Psychoanalyse«, in: Psyche 54/11 (2000) 1087–1109. 101 Vgl. P.V. Zima, Moderne / Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen, Francke 42016, 305ff. 102 Histoire de la folie / l’.ge classique, Paris, Gallimard 1961, 535 (dt. Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt/M., Suhrkamp 1969). 103 Capitalisme et schizophr8ie I, 390.

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zungen des erotischen Körpers: unvereinbar, zufallsbedingt, gleichzeitig, unterbrochen.«104 Damit sind bereits zwei Gesichtspunkte gegeben, in denen sich die Auseinandersetzung zwischen Postmoderne und Psychoanalyse vollzieht, nämlich eine notwendige Weiterführung der analytisch-therapeutischen Technik und der Status des postmodernen Subjekts zwischen Triebanspruch (Begehren) und gesellschaftlichen Anpassungszwängen. Es herrscht in der Tat ein gewisser Konsens darüber, dass die Narzissmusproblematik bei den Individuen heute stärker in den Mittelpunkt rückt als die frühere Hysterie, insofern das kulturelle Umfeld immer weniger soziale Symbolsysteme bereitstellt, um die postmodern virulent gewordenen Identitätsprozesse zu begleiten und zu festigen.105 Klinisch wird zunehmend eine Spaltung zwischen psychischen Funktionen und den Vorstellungsschwierigkeiten konstatiert, um die Symbolisierung der libidinösen, ödipalen und psychosomatischen Symptome so vorzunehmen, dass das Subjekt sie in seine eigene Erfahrung zu integrieren vermag.106 Die Gründe für eine solche Entwicklung sind bekannt, indem Massenkonsum, Hedonismus, Missachtung gemeinschaftlicher Regeln die scheinbar unbegrenzte Freiheit der eigenen Meinungsäußerung und damit einen weit verbreiteten Partikularismus hervorbrachten. Dabei wurden diese soziologisch oft dargestellten Beobachtungen zusätzlich durch einen Verlust humanistischer Werte und einen technischen Rationalismus vorbereitet, was in einen allgemeinen Pragmatismus mündete. Die Pluralisierung der Weltanschauungen durch Medien und Internet führte des Weiteren zu einer »Demokratisierung« der Wahrheitskriterien, was in deren Ausprägung als »Individualismus« der Psychoanalyse prinzipiell insofern nicht fremd ist, als sie ihrerseits stets eine Kritik am triebunterdrückenden Normativen (Über-Ich) zusammen mit einer Stärkung individueller Lebenslösungen (»Bewusstwerdung«) favorisiert hatte. Dennoch besitzt ein solch postmoderner »Individualismus« eben auch bedenkliche Seiten, nämlich eine Banalisierung von Werten überhaupt zugunsten schnell aufeinanderfolgender »Lebensstile«, die sich keiner allgemein geteilten 104 D8rive / partir de Marx et Freud, Paris, Galil8e 1973, 21, außerdem 117–138: »Principales tendances actuelles de l’8tude psychanalytique des expressions artistiques et litt8raires« und 183–200: »Œdipe juif«; vgl. auch Des dispositifs pulsionnels, Paris, Galil8e 1979, sowie Anm. 26; dazu A. Goldberg, »Die postmoderne Psychoanalyse«, in: Jahrbuch der Psychoanalyse 43 (2001) 49–60, hier 51ff. Für eine neuere Übersicht zur postmodernen Philosophie siehe K. Birnstiel, Wie am Meeresufer ein Gesicht in Sand. Eine kurze Geschichte des Poststrukturalismus, München, Fink 2016, sowie R. Brunner, Psychanalyse et soci8t8 postmoderne, Paris, L’Harmatan 1997; O. Flournoy, Un D8sirable D8sir. Psychanalyse et postmodernit8, Paris, PUF 2003. 105 Vgl. Chr. Lasch, Das Zeitalter des Narzissmus, München, Beck 1986; R. Funk, Ich und Wir. Psychoanalyse des postmodernen Menschen, München, dtv 2005. 106 Vgl. H. Richard, »Une psychanalyse postmoderne?«, in: Filigrane 12 (2003) 1–19.

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Sichtweise mehr zuordnen lassen, sondern eher der Collage, dem unmittelbar Alltäglichen und Nächstliegenden zuneigen. Analytisch-therapeutisch betrachtet, folgen solche Verhaltensweisen reinen Primärprozessen und der freien Assoziation,107 wodurch allerdings der diesbezügliche »Pluralismus« die einzelnen Individuen eher im Lichte Hamlets als Ödipus’ erscheinen lässt.108 Mit anderen Worten ist das »Ich« in Bezug auf familiäre, berufliche und soziale Aufgaben und Beziehungen, die bisher von »solidarischer Verantwortung« geprägt waren, geschwächt, so dass wir jene narzisstischen Identitätsprobleme hier wiederfinden, die gekennzeichnet sind vom Rückzug auf sich selbst, der Angst vor der alltäglichen Unsicherheit und der inneren Leere bei wechselnden Gruppenzugehörigkeiten im Sinne eines »Neotribalismus«.109 Diese Desubstantialisierung des Subjekts hat oftmals nicht nur eine neurotisch »provisorische Existenz« allein für den Augenblick zur Folge,110 sondern diese scheinbare »Leichtigkeit des Lebens« führt zu melancholischen und psychosomatischen Symptomen, wo Ideal-Ich und Ich-Ideal schnell auseinanderklaffen, da die Sublimierung von Teilen der eigenen Biographie kaum mehr über adäquate Narrative verlaufen kann. So stehen nicht mehr die ödipalen Fragen von Trieb- und Gewissenskonflikten im Vordergrund, sondern eben die Hamletfrage: »To be or not to be.« Wenn der inneren wie äußeren Wirklichkeit über die Freudschen Sekundärprozesse im Sinne genannter Symbolisierung mittels Worten ein »Sinn« verliehen werden soll, dann gilt diese analytisch-therapeutische Aufgabe aber auch bei jenen psychosomatischen Symptomen und Weisen des acting out, die gegenwärtig die verwundbaren, auf sich selbst zurückgeworfenen Individuen in ihren postmodernen Narzissmusformen weitgehend charakterisieren, um eine neue klinische Orientierung in der Psychoanalyse herbeizuführen. Die Hamletsche Seinsfrage als »Wer bin ich eigentlich?« in all den wechselnden Lebensaugenblicken können wir daher mit den Ausführungen zum Symptom als sinthome gemäß Lacan parallelisieren bzw. mit den Analysen zur »gewöhnlichen Psychose« heute.111 Denn bei der postmodernen Ich- oder 107 Vgl. J.-L. Donnet, »Von der Grundregel zur Situation des Analysierens«, in: Jahrbruch der Psychoanalyse 43 (2001) 36–43. 108 J. Lacan hat Hamlets Seins- und Entscheidungsproblematik ein ganzes Seminar gewidmet; vgl. Le S8minaire VI: Le d8sir et son interpr8tation, Paris, Pditions de la MartiniHre 2013. 109 Vgl. M. Maffesoli, Le temps des tribus, Paris, Kliensieck 1988. 110 Vgl. bereits V.E. Frankl, »Grundriss der Existenzanalyse und Logotherapie«, in: V.E. Frankl, V.E. Freiherr von Gebsattel u. J.H. Schulz. (Hgg.), Handbuch der Neurosenlehre und Psychotherapie, Wien, Urban & Schwarzenberg 1959, 663–736. 111 Vgl. J. Godebski, Le tout dernier enseignement de Lacan. Un renouvellement de la clinique?, Paris, L’Harmattan 2015, 47ff.; zuvor schon W.R. Bion (1897–1979), der psychotische Prozesse allgegenwärtig sah, und zwar in der Nachfolge Melanie Kleins als Abwesenheit der »guten mütterlichen Brust«, was sich als Erfahrung von unerträglicher Frustration in »verfolgenden Objekten« ausdrückt. Dabei verdichten sich Heftigkeit des Gefühls der

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Identitätsfrage geht es weniger um die »Wiederkehr des Verdrängten« wie in der klassischen Kur als vielmehr um die Formulierung dessen, was der Patient wirklich selbst will, ohne es unmittelbar für sich zu wissen. Denn da er sein eigenes traumatisches Erleben als leiblich-affektives Empfinden nicht versteht, insofern eine Symbolisierungsarbeit bisher nicht geleistet werden konnte, sondern der psychische Impuls zur Wiederholung vorherrscht, muss die Klinik heute zusätzliche Wege gehen, als in der Kur nur den assoziativen Sprachausdruck zuzulassen. Um sich gegen den Impuls der Wiederholung zu schützen, hat das postmoderne Individuum oftmals eine ebenfalls schon erwähnte Spaltung des Ichs vorgenommen, um sich gegen das zu stellen, was ohne Verstehen geschehen ist. Das heißt, die Abwehr findet nicht so sehr gegen Begehren und Konflikte statt als vielmehr gegen die täglich gelebte Erfahrung, die das Ich destabilisiert. Der postmoderne Kontext führt zur Einfrierung der Affekte, um weniger stark die Gefühle von Bedrohung, Langeweile und Sinnabwesenheit empfinden zu müssen, so dass gegen die Alltäglichkeit mit ihren wiederkehrenden Ängsten hinsichtlich Panikmomenten und erwartetem seelischen Zusammenbruch ein »falsches Selbst« hervorgebracht wird.112 Diese Spaltung des Ichs gewinnt dergestalt depressive und melancholische Züge, wenn die Sprache desaktiviert wird, weil in der postmodernen Lebensweise auch der persönliche Austausch nicht mehr im Mittelpunkt von Beziehungen und Lösungssuche steht, sondern eher mediale Information, Unterhaltung und Design.113 Auf der anderen Seite wird der aggressiv perverse Charakter die Sprache in seiner Abwehr überbewertet, während die narzisstische Befriedigung ein Teilobjekt zum »FetischDiskurs« werden lässt, der alles weiß, aber von nichts etwas wissen will. »Nichts wissen wollen« ergibt sich für den narzisstischen Charakter dann, wenn das Wissen als bedrohlich für ihn auftritt, denn erst ein »integratives Denken« (als »Alpha-Element«) lässt dieses Erleben erträglich werden, was Bion an der Begegnung zwischen Ödipus und dem Seher Teiresias in Sophokles’ »König Ödipus« verdeutlichte. Da die postmoderne Epoche bis heute Werte und Wahrheiten weitgehend abbaut, besteht in diesen neuartigen Narzissmusformen kaum mehr ein Interesse an der eigenen psychischen und persönlichen Wahrheit, so dass hier die Analyse/Therapie erst eine Zeitlang diesen Verlust an Ausstoßung, erlebte Verfolgung und Bedrohung zu einer Spirale bis hin zu Desintegration und Vernichtung; siehe Second Thoughts, London, Karnac 1967. 112 Vgl. D.W. Winnicott, »Die Angst vor dem Zusammenbruch« (1974), in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse 45 (1991) 1116–1126; Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. Studien zur Theorie der emotionalen Entwicklung (1965), Gießen, Psychosozial-Verlag 2002, sowie W. van Reijen, »Das authentische Selbst – eine Aufgabe«, in: Jahrbuch der Psychoanalyse 43 (2001) 197–206. 113 Vgl. R. Ehemann, »Selfies und Dronies. Zu Chancen und Gefährdungen der Dynamisierung des Selbst in virtuellen Welten«, in: Journal für Psychoanalyse 38/59 (2018) 60–73.

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Begehren und Wahrheit zu begleiten hat, um dann zu versuchen, wie die alltäglich wiederkehrenden Traumaeffekte ins eigene resymbolisierte Erleben integriert werden können.114 Den psychosomatischen Symptomen liegen oft frühe sexuelle Eindrücke zugrunde, bei denen gleichfalls eine Spaltung hinsichtlich Wort- und Dingvorstellung eingetreten ist. Es handelt sich hier wiederum weniger um »Verdrängung« als um nicht-symbolisiertes Unbewusstes, so dass in Situationen sich anbietender erotischer Transgression beispielsweise das Subjekt von seinen eigenen Gefühlen terrorisiert wird – mit der sich steigernden Angst, es könne »sich gehen lassen« und »wahnsinnig« werden.115 Die psychosomatischen Symptome können – wie alle Symptome – als eine archaische Sprache verstanden werden, das heißt als ein leiblich-affektives sinthome im Sinne von lalangue, so wie gerade der Säugling noch keine Begriffe hat, sondern nur das Empfinden seiner körperlich-psychischen Bedürfnisse als unmittelbare Ausdrucksweise seines Lebens.116 Die physiologischen, motorischen und/oder halluzinatorischen Empfindungen des Erwachsenen als psychosomatische Problematik bilden daher die Wiederkehr dessen, was vom Ich abgespalten wurde, um in der analytisch-therapeutischen Situation, wo diese Symptome zunächst ebenso »absurd« erscheinen wie in der gelebten postmodernen Alltäglichkeit, einer Metaphorisierung der Wahrnehmung und des Handelns zugeführt zu werden. Dass hierbei die traumatischen Spuren als Narzissmus, Hysterie oder Perversion in der Übertragung wieder berührt werden, ist offensichtlich – nunmehr jedoch, um die Spaltung zwischen Dingund Wortwahrnehmung aufzuheben, das heißt besonders die Symbolabwesenheit gewisser traumatischer Ereignisse. Durchzuarbeiten sind hierzu sprachlich – wie aber auch mit Hilfe von Bildern oder anderen Gegenständen, die dem Patienten vertraut sind (Malen, Stoffe, Schreiben etc.) – jene Übertragungsphänomene, welche sich normalerweise als bekannter Umgang mit den Dingen einstellen – hier vor allem als ein »Tertiärprozess«, um »Primär-« und »Sekundärprozesse« (Begehren/Vorstellungen) wieder besser zusammenführen zu können.117 Die Regulierung von Primär- und Sekundärprozessen durch diesen dritten Prozess der »Transitionalität« (oder als »Übergangsobjekt« nach Winnicott) versucht demnach, jene Energie erneut freizusetzen, welche sich 114 Vgl. J. Kristeva, Les nouvelles maladies de l’.me, Paris, Fayard 1993, 71ff. 115 Vgl. entsprechend auch die späteren Ausführungen zur »Verführungstheorie« gemäß Freud und Laplanche/Pontalis in Teil 2 unseres »Ausblicks«. 116 Vgl. J. Lacan, »Le sinthome. De l’usage logique du sinthome, ou Freud avec Joyce«, in: J. Aubert (Hg.), Joyce avec Lacan, Paris, Navarin 1987, 11–26. 117 Vgl. D. Winnicott, »Transitional objects and transitional phenomena«, in: International Journal of Psychoanalysis 34 (1952) 89–97: Vom Spiel zur Kreativität, Stuttgart, Klett Cotta 11 2006; A. Green, »Note sur les processus tertiaries«, in: Revue franÅaise de psychanalyse 3 (1972) 407–410; R. Roussillon, »La m8tapsychologie des processus et la transitionnalit8«, in: Revue franÅaise de psychanalyse 59 (1995) 1351–1423.

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sekundär »immobilisiert« hat und primär eher »chaotisch« wirkt, nämlich als eine ständige innere Unruhe gepaart mit Ängsten, die alle Ding- wie Personenbeziehungen davon affiziert sein lässt. Mit den zuvor genannten Medien oder Objekten, die nahe einer vertrauten Dingwahrnehmung sind, kann dann der »namenlose Terror« symbolisch bearbeitet werden, welcher sich psychosomatisch, narzisstisch wie hysterisch oder pervers artikuliert, um das subjektivkulturelle »Unbehagen« (Freud) einer kreativen Lösung der jeweiligen Spaltung mit ihren internen wie äußeren Spannungen zuzuführen. Insofern das Handeln analytisch-therapeutisch gesehen allgemein dazu dient, Spannungen abzubauen, sich zu schützen oder auszuweichen, so bedeutet dies im postmodernen Kontext mit seiner ständigen Präsenz äußerer wie medialer Daueransprüche, die »psychische Realität« (Freud) durch solches acting out kurzuschließen. Anstatt letzteres nun nicht ins Leere laufen zu lassen, wodurch die Gefühle der Sinnabwesenheit nur erhöht würden, bleibt das Handeln auf ein Objekt bewusster Wahl zu lenken. Dazu kann in der Kur die »projektive Identifikation« zeitweise insofern als containing nach Bion (1896–1971) dienen, als der Analytiker/Therapeut innerhalb der Übertragung alte Kommunikationsweisen zwischen Kind/Mutter wiederholen lässt, um die frühen Objektverluste nunmehr in eine performative Kreativität des Patienten zu übersetzen.118 So wie die Mutter die träumerischen Bekundungen des Säuglings (rÞveries) aufgreift, um unerträgliche Erfahrung zu vermeiden, so übernimmt der Analytiker/Therapeut eine ähnliche Aufgabe gegenüber dem Patienten. Dies beinhaltet, im »postmodernen Spiel« nicht nur gesellschaftlich gezwungenermaßen »mitzuspielen«,119 sondern die Bedeutungslosigkeit des eigenen Ichs und seine Ausgeliefertheit an von außen diktierte Wahrnehmungen für Objektbestimmungen zu nutzen, welche der subjektiven Freisetzung für die effektiv erprobte eigene Wahrheit von Begehren/Sinn dienen.120 Die Begegnung von Psychoanalyse/Postmoderne, welche wir hier mit einigen klinisch-technischen Beobachtungen skizziert haben, verläuft demzufolge über eine erweiterte Praxis der Übertragung, die zwar in der unmittelbaren Kur die überall gegenwärtigen Kultureinflüsse momentan neutralisiert, um ihnen dann allerdings über eine Erweiterung der Übertragungsarbeit besser begegnen zu können – mit anderen

118 Vgl. W.R. Bion, Lernen durch Erfahrung, Frankfurt/M., Suhrkamp 1992; Aufmerksamkeit und Deutung (1970), Tübingen, Diskord 2006; dazu auch D. Meltzer, Studien zur erweiterten Metapsychologie. Bions Denken in der klinischen Praxis, Frankfurt/M., Brandes & Apsel 2009. 119 Vgl. H. von Fabeck, Vom Sinn zum Spiel. Ein Leitfaden in die Postmoderne, Wien, Passagen 2015. 120 Vgl. für eine ähnliche Diskussion der Innen- und Außenleitung bereits in der Moderne D. Riesman, Die einsame Masse, Reinbek, Rowohlt 1958.

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Worten seitens des Patienten durch eine symbolische Integration aller psychischen Prozesse im Sinne Freudscher Topik, Energetik und Dynamik. Das interaktionelle »Improvisieren« ist also in die Analyse/Therapie aufzunehmen, so dass Übertragung/Realität als Existenzvollzug in dessen gelebter Konkretheit die Unsicherheit, Ängste, Transgressionen wie gesellschaftlichen Zwänge der Postmoderne auf der Ebene der psychischen Identitätsbildung nicht länger im Narzisstischen, Psychotischen oder Perversen belassen. Denn auch wenn gesamtkulturell heute Werte wie Sinn einem deutlichen »Nihilismus« Platz gemacht haben,121 so kann sich kein transzendental lebendiges Individuum von der Selbsterprobung seiner rein immanenten Subjektivität lösen – wie verführerisch oder irreführend das neue (mittlerweile bereits post-postmoderne) Lebensgefühl auch sein mag. Kein Identitätsverlust oder keine Ichschwäche im psychologischen wie soziologischen Sinne vermag jemals radikal phänomenologisch zu besagen, dass die Abgründigkeit der subjektiven Erprobung als solche durch die Postmoderne aufgehoben würde. Und vielleicht ist die weitgehende Vorstellungsdekonstruktion heute daher auch ein epochaler Gewinn für die Möglichkeit einer neuen immanenten Lebensberührung, so dass gerade in diesem Bereich Tiefenpsychologie und Philosophie zu einer erneuerten Kooperation hingeleitet werden dürften, um ein tieferes Verständnis der Narzissmusproblematik aufzubringen, nämlich als Versuch der Wiedergewinnung einer originären Lebensaffektion als Ab-grund unserer Existentialität. Skepsis gegenüber einer solchen Sichtweise könnte aufkommen, wenn die gegenwärtig ständig geforderte »Arbeit am eigenen Selbst« in der dialektischen Verschränkung von Trieb und ökonomischer Verwertung des Begehrens gesehen wird, um diese Problematik hier noch schärfer zu fassen. Denn die »Flexibilität« als anhaltender Konkurrenzdruck das ganze Leben lang übersteigt die bisher geschilderte Identitätsproblematik noch insofern, als ein Arbeitszwang mit unerbittlichem Selbstzwang im Sinne der Verinnerlichung ökonomischer Verwertungslogik gerade die postmoderne Individualität dazu drängt, die flexible »Triebkalkulation« in allen Sach- und Personenverhältnissen zum rein warenförmigen »Bedürfnis« am Markt zu entfremden.122 Dadurch wird jeder – unter dem Schein von Freiheit – zum permanenten Prozess des »Aushandelns« verpflichtet, welcher das gängige Konzept des self-empowerment zu einer sedimentierten Destruktivität werden lässt, die nicht nur kulturellen »Triebverzicht« im klassischen Sinne Freuds beinhaltet, sondern »Triebverlegung« ins Zentrum des Subjekts selbst. Mit anderen Worten scheinen die Herauslösung des Trieb121 Vgl. R. Kühn, Alles, was leiden kann, 277–307: »Nihilismus und Heilsfrage«. 122 Vgl. R. Kühn, Subjektive Praxis und Geschichte. Phänomenologie politischer Aktualität, Freiburg/München, Alber 2008, 301–312: »Entfremdung als subjektive und ökonomische Bestimmung«.

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begriffs aus dem subjektiven Begehren und die Herausbildung eines spezifisch postmodernen Sozialcharakters dergestalt Hand in Hand zu gehen, dass nicht nur solches Begehren allein noch als »Bedürfnis« wahrgenommen wird, sondern eine absolute Verinnerlichung der eigenen marktabhängigen »Wertförmigkeit« stattfindet. Wie das Lyotard-Zitat zuvor schon zeigte, wäre mithin zu fragen, ob der Triebbegriff nicht einer »Desexualisierung« (Freud) unterliegt, die mit der warenproduzierenden Vergesellschaftung einhergeht und die poststrukturalistische Kritik an der Psychoanalyse zu der Frage veranlasst, ob letztere dieser Entwicklung noch etwas anderes entgegenzusetzen habe außer die Feststellung eines nunmehr in allen Bereichen waltenden »Todestriebes«.123 Die Tradition der Objektbeziehungstheorie sowie der Ich- und Selbstpsychologie innerhalb der historischen Entfaltung der Psychoanalyse implizierte nämlich auch eine gewisse Abschwächung der Freudschen Libidotheorie zugunsten der Erfassung und Behandlung »narzisstischer Persönlichkeitsstörungen«.124 Die vorherige Diskussion der letzteren als zentrales postmodernes Phänomen muss daher ohne Zweifel vertieft werden, insofern Idealisierungen und Größenphantasien des narzisstischen Charakters durch permanent marktkonforme Rationalisierung heute zu ich-fixierten Zwängen führen, welche als psychisches Formprinzip der gesellschaftlichen Sozialisierung selbst entsprechen.125 Die Frage ist dann nicht mehr allein, ob die Psychoanalyse neue »improvisierende« und »interaktionelle« Techniken im Sinne Winnicotts gegenüber den postmodernen Identitätsverlusten anzuwenden habe, sondern ob das Verhältnis von Trieb/Sozialstruktur aktuell überhaupt noch mit Freuds Metapsychologie des »psychischen Apparates« und der verschiedenen Topiken auf den Begriff gebracht zu werden vermag. »Abstrakte Arbeit« (Marx) und »Kulturarbeit« (Freud) waren genuin moderne Voraussetzungen bürgerlicher Identität.126 Heute stellen Triebaufschub und damit induzierte Unlust jedoch eine »libidinöse Qualität« dar, die als »sozialpsychologische Substanz« eine Art »neutraler Energie« bildet, welche durch unbegrenzt postmodernen Triebaufschub kontinuierlich aufgerieben wird. 123 Vgl. schon T. Düppe, »Vom Niedergang des Lebens zum Niedergang des Lebens«, in: R. Kühn u. M. Maesschalck (Hgg.), Ökonomie als ethische Herausforderung. Lebensphänomenologische Grundlagen, Freiburg/München, Alber 2009, 80–120; zu Desexualisierung und Todestrieb vgl. unsere folgenden Kapitel II,5.3 u. II,6.3. 124 Vgl. L. Gast, Narzissmus und Libido. Vom Verlust des Sexuellen im psychoanalytischen Diskurs, Tübingen, Discord 1992. 125 Vgl. E. Federn, »Bemerkungen über den Einfluss von Politik und sozialem Verhalten auf die Entwicklung der Psychoanalyse«, in: Jahrbuch der Psychoanalyse 1 (2001) 251–258; M. Thiberge, Essai sur la psychanalyse et la postmodernit8, Paris, L’Harmattan 2018, hier bes. 373–385: »L’organisation sociale, l’automate cybern8tique et la mort de l’homme«. 126 Vgl. R. Welten, »Lebendige Arbeit – eine Phänomenologie«, in: R. Kühn u. M. Maesschalck (Hgg.), Ökonomie als ethische Herausforderung, 37–53.

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Dies besagt demzufolge, dass Ich und Es sich nicht mehr vornehmlich zwischen Lust/Verbot bewegen, vielmehr sollen Arbeit und Lust so aufeinander zustreben, dass »Konkurrenz-Hedonismus« und »Arbeit am eigenen Selbst« zu einer dauernden individuellen Zwangsrationalisierung führen, die eine fetischistische Wirklichkeitssicht impliziert und dem »präödipalen Ich« in der Reduzierung seines Begehrens auf ein bloßes Bedürfnis hin oft nichts anderes mehr als eine augenblickshaft hemmungslose Triebabfuhr übrig lässt.127 »Unternehmerisches Selbst« und »polyamouröse Beziehungsarbeit« scheinen deshalb der neue auto-erotische Trend innerhalb der Nicht-Vermittlung von Trieb/ Ich zu sein, so dass aggressive Diffusion von Über-Ich und Es, Delibidinisierung der Libido und gesellschaftlicher Zwang zum narzisstischen Ich ineinander spielen. Diese brisante kulturelle Konstellation entspräche dann einem – durch Vermählung von Postmoderne/Neokapitalismus hervorgerufenen – »Todestrieb« neuer Art, der noch über die zuvor konstatierte Leere und Sinnlosigkeit hinausreichen würde. Auf diese Weise wird seit Lacan die Frage der »Mehr-Lust« (plus-de-jouir) über rein partielle Objekte der Befriedigung zunehmend virulenter für jede Analyse/Therapie, da immer deutlicher unterschieden werden muss zwischen Lust als plaisir und jouissance, um dem subjektiven Begehren gerecht zu werden. Die Ohmacht der Subjekte heutzutage kollidiert daher zweifellos mit dem bisherigen Souveranitätsanspruch aufklärerisch humanistischer »Subjektivität«, so dass eine gesamtgesellschaftliche Regression als postmoderner »Todestrieb« in Bezug auf Begehren/Trieb eben nicht nur hedonistisch narzisstische Konkurrenzmentalität hervorbringt. Vielmehr können die aggressiv-masochistischen Dispositionen hierbei zur »Selbstverneinung« der transzendental subjektiven Lebendigkeit führen,128 die sich in Gewalt wie Suizid äußert, wie die Beispiele von zahlreichen Selbstmordattentaten zeigen. Das Verschwinden des »Ödipuskomplexes« nach Freud – im Sinne der »vaterlosen Gesellschaft« nach Alexander Mitscherlichs129 bekannter Analyse schon zu Beginn der Postmoderne diagnostiziert – fördert das Abnehmen von ko-pathischer und reflexiver Diskursfähigkeit. Denn die postmoderne Krisensubjektivität mit »präödipalem« Status vermag nicht mehr genug jene kulturelle Dialektik von Trieb/Verbot zu durchlaufen, um die kriseninduzierte Todesdynamik eines ständigen Sichaneinander-Aufreibens als ohnmächtige »Konkurrenzmonade« aufzubrechen. Die daraus sich generierende psychotische, perverse wie narzisstische »Selbst127 Vgl. H.-Chr. Mennenfa, Präodipale Helden. Neure Männlichkeitsentwürfe im Hollywoodfilm, Bielefeld, Transcript 2011. 128 Vgl. M. Henry, Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, Freiburg/München, Alber 1994, 204ff. (Studienausgabe 2016); zum Terrorismus siehe P. Ziade, G8n8alogie de la mondialisation, 161ff. 129 Vgl. Auf dem Weg in die vaterlose Gesellschaft, Stuttgart, Klett Cotta 1964.

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verneinung« anstelle eines Verhältnisses von Begehren/Trieb im Sinne kreativer Freisetzung immanent erprobter Identität als originär lebendige Subjektivität tendiert daher zu jener »Selbstdestruktivität« hin, welche die späte Metapsychologie und Kulturtheorie Freuds gerade durch Eros ausgleichen wollte. Denn der »Trieb« kann prinzipiell nicht aufgehoben oder sogar zerstört werden, so dass eben die Problematik aufgeworfen wird, ob die postmodernen Bedingungszusammenhänge gesellschaftlich ein »Ich« noch zulassen, welches dem selbstaffektiven Wahrheitsanspruch von Trieb/Begehren gewachsen bleibt. Denn über analytisch-technische Anpassungen und neue Techniken für ein »unternehmerisches Selbst« hinaus will ein originär lebendiges »Begehren des Begehrens« im transzendentalen Sinne vollzogen werden, welches mit keinem narzisstischen oder gesellschaftlichen Teilobjekt jemals identisch zu sein vermag, sondern als jouissance nur ein Austragen ihrer selbst über Hedonismus und Todestrieb hinaus kennt. Bei aller kulturellen Notwendigkeit, die gesellschaftlichen Bedingungen für den Zusammenhang von Postmoderne/Psychoanalyse kritisch zu erheben, verweist die als jouissance zu berücksichtigende Triebproblematik schließlich darauf hin, dass sowohl für Postmoderne wie Psychoanalyse die radikal phänomenologische Grundmanifestation der Subjektivität nicht ignoriert werden kann, welche in ihrer Identität mit unserer Ur-Leiblichkeit besteht.130 Gesellschaftliche Ohnmacht, psychologische Identitätsverluste wie analytisch-therapeutisch adaptierte Verfahren zu deren angemesseneren Symbolisierung können mithin der Frage nicht ausweichen, was eine originär leiblich-affektive Subjektivität vor Freudscher Topik, Ökonomie und Energetik impliziert. Wenn die jouissance die selbstaffektive Verwirklichung eines jeden lebendigen Aktes im Empfinden, Denken und Handeln selbst ist, dann ist damit gleichfalls eine vor-gesellschaftliche Wirklichkeit angezeigt, die als meta-genealogische Bedingung aller Geschichte und Kultur ebenfalls die gegenwärtigen postmodernen Herausforderungen zu modalisieren vermag, welche zu einer lautlosen »Selbstabdankung« der Ipseität als originäre »Subjektivität« auffordern, weil die transzendentale Frage als solche sowohl der Psychoanalyse wie der Postmoderne obsolet erschien. Die Transzendentalität als Konkretion der reinen Subjektivität ist jedoch kein »abstrakter Begriff«, gegen den man – wie Freud – im Namen von Substanz-, Wesens- und Idealitätskritik aufbegehren kann, sondern zunächst eine rein praktische Erprobung, der niemand als unmittelbare Passibilität ausweichen kann.131 130 Vgl. M. Henry, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg/München, Alber 2002, 190ff. 131 Vgl. dazu im Einzelnen unseren »Ausblick: Leben, Religion und Therapie als Ursprungsfrage«.

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In diesem Sinne beinhalten die Übereinstimmungen wie Unterschiede von Postmoderne/Psychoanalyse eine epochale Frage, die ihr dekonstruiertes »Subjektverständnis« jeweils vergessen und daher auf die gegenwärtige »Kulturkrise« bisher nicht die adäquate Antwort gefunden hat.132 Diese kann nicht von außen kommen, das heißt aus gesellschaftlichen oder geschichtlichen Weiterentwicklungen, sondern in Rückbezug darauf, was jede Fragestellung hinsichtlich unseres »Menschseins« unausweichlich impliziert – nämlich zunächst eine sinnlich-leibliche Erfahrung, die weder an naturale noch diskursive Prozesse bzw. neo-liberale Triebanpassung veräußert werden kann. Unsere vorliegende Untersuchung bezüglich der »Leitung« von Kultur bleibt daher eine Frage nach der abyssalen Erfahrungswirklichkeit, welche unsere Subjektivität als lebendige Potentialität ausmacht und weder durch die Abstraktionen von Religion noch von Philosophie, Psychoanalyse und Wissenschaft aufgelöst zu werden vermag. Dieser Problematik gehen die folgenden Kapitel im Einzelnen nach, um die gegenseitige Verschränkung und Kritik dieser Disziplinen als »Kulturinstanzen« in ihrem jeweils begrenzen Antwortpotential vor Augen zu führen.

132 Vgl. weiterführend R. Kühn, Postmoderne und Lebensphänomenologie, 409–432: »Wovon wir berührt werden – was uns berührt«.

Teil I: Philosophie und Psychoanalyse

1.

Seins- und Bewusstseinsphilosophie als vergessener Anfang

Vorbereitet durch Descartes, wird im Idealismus der spekulativ transzendentalen Reflexion definitiv sichtbar, dass die abendländischen Seins- und Bewusstseinsphilosophien einer gemeinsamen phänomenologischen Struktur gehorchen. Schon in der griechischen Ontologie, welche der Frage des Verhältnisses von Sein und Wesen einerseits sowie von Sein und Substanz andererseits nachging, um zugleich damit das Problem einer rationalen Theologie als notwendig »Erste Philosophie« zu stellen, wurden bereits Lösungen erarbeitet, die jene Strukturgleichheit von Sein und Bewusstsein vorbereiten.133 Denn zum einen wird ein Prinzip vorausgesetzt, welches mit Gewissheit alle Verstandesbestimmungen übersteigen soll, aber dennoch von einem Akt des Denkens erfasst wird, auch wenn letztere Erkenntnisweise nicht von jener Art sein kann, wie sie den vielfältigen Dingen oder Onta eignet. Zum anderen soll es eine Schau des Transzendenten geben, welche ihrerseits alle Verstandeskategorien und jeden Diskurs übersteigt, um mit der tiefsten Innerlichkeit der Seele zusammenzufallen. Die dritte Möglichkeit der griechischen Ontologie bewegt sich zwischen dieser deduktiven und intuitiven Lösung, indem eine dialektische Konstruktion der höchsten onto-(theo-)logischen Bestimmungen wie Sein, Nichtsein, Bewegung, Selbes und Anderes vorgeschlagen wird, und zwar dergestalt, dass diese Bestimmungen sich nicht in der schweigenden Vision auflösen, sondern in der Bewegung auf die jeweilig höhere Bestimmung hin, wodurch die Ontologie als

133 Vgl. E. Husserl, Erste Philosophie (1923/24), 1. Teil: Kritische Ideengeschichte (Husserliana VII), Den Haag, Nijhoff 1956, 3ff., zur »Ersten Philosophie« als geschichtlicher Herkunft und phänomenologischer Aufgabe. Ob die »Erste Philosophie« notwendigerweise eine Theo-logie impliziere, diskutiert J.-L. Marion, De surcro%t. Etudes sur les ph8nomHnes satur8s, Paris, PUF 2001, 1–34; Ruf und Gabe. Zum Verhältnis von Phänomenologie und Theologie, Bonn, Borengässer 2000 (zusammen mit J. Wohlmuth), 13–34: »Eine andere ›Erste Philosophie‹ und die Frage der Gegebenheit«.

52

Seins- und Bewusstseinsphilosophie als vergessener Anfang

»Metaphysik der Vorstellung« zum Werden des philosophischen Diskurses selbst wird.134

1)

Vor-stellung als Erscheinensbedingung

Was die Vorsokratiker, insbesondere Parmenides und Heraklit, aber auch Anaximander, hierbei an Platon und Aristoteles weitergegeben haben, um der Problematik gerecht zu werden, dass wir das Sein immer schon voraussetzen, wenn wir in irgendeiner Weise von ihm als Natur, Mensch oder Götter sprechen, findet sich durch Kant im neuzeitlichen Idealismus wieder. Denn ein vom Neokantianismus gelöstes Verständnis seiner transzendentalen Kritik kann deutlich machen, dass ein Un-bedingtes des Denkens als Grund der Phänomenwerdung einerseits notwendig bleibt, so wie eben dem »Ersten Prinzip« der Griechen keine Dingeigenschaft zukommen konnte. In Kants Beschränkung auf die »Bedingungen der Möglichkeit« der Objektivität wird allerdings andererseits eine Ontologie als »Denken des Seins« im antiken oder scholastischen Sinne nicht mehr zugelassen. Aber durch diese Begrenzung des theoretischen Bewusstseins auf die Leistungen des »Ich denke« diesseits eines reinen Ansich der Realität ergibt sich gerade die neuzeitlich idealistische Identität von phänomenalem Sein und apriorischer Vor-stellung,135 welche von Kants Nachfolgern im Wiederaufgreifen des Ansich als Fürsich im Sinne der existentiellen wie absoluten Bewusstseinsbewegung durchreflektiert wird. Die vom Kritizismus gesetzte Grenze zwischen dem anfänglichen Prinzip und dem Phänomenalen lässt mit anderen Worten die Transzendenzproblematik umso virulenter werden, denn entweder bedeutet die Transzendenz die Möglichkeit, das Sein durch Objektivierung zu erreichen, oder sie wird zum Wesensmerkmal des Bewusstseins als solches, welches als Genesis (Fichte), Ekstasis (Schelling) oder Dialektik (Hegel) das Sein ursprunghaft in sich trägt, bevor diese Transzendenz dann endgültig als Intentionalität (Husserl) oder In-der-Welt-Sein (Heidegger) für den lebensweltlichen Daseinsbereich von der historischen Phänomenologie festgeschrieben wird.136 134 Vgl. C. Bruaire, La dialectique, Paris, PUF 1985, 93ff., zu Platons Aufstiegsbewegung der Ideenschau. 135 Vgl. M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt/M., Klostermann 1951, 85ff. (§ 19ff.). 136 Für unsere phänomenologische Auseinandersetzung mit Kant vgl. bereits: R. Kühn, Leiblichkeit als Lebendigkeit. Michel Henrys Lebensphänomenologie absoluter Subjektivität als Affektivität, Freiburg/München, Alber 1992, 51–67 u. 161–177; zu Heidegger siehe S. Grätzel u. F. Seyler (Hgg.), Sein, Existenz und Leben: Michel Henry und Martin Heidegger, Freiburg/München, Alber 2011.

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Wie immer aber eine Grenze zwischen Arch8 und Phänomen – sowie ihre mögliche Aufhebung – gedacht wird, eine solche Grenze des Erscheinens muss erfahren, erfasst oder vorgestellt werden. Damit wiederholt sich nicht nur die Frage der Strukturgleichheit von Bewusstsein und Sein innerhalb einer Problematik von Endlich/Unendlich, sondern die griechischen Vorentscheidungen hinsichtlich der Seinsmanifestation zeigen hierdurch zugleich eine Bindung der Parusie als An-wesen des Erscheinens an eine Gegenwärtigkeit oder Präsenz, die im Jetzt der Vorstellung ruht, ohne dass dieser Moment die Totalität des Seins ausschöpfen kann. Ohne hier auf den phänomenologischen Sachverhalt einzugehen, dass damit letztlich die Ontologie eine bestimmte Zeitstruktur impliziert, wie sie besonders dann Husserl und Heidegger metaphysikkritisch offenlegten, geht es uns hier vor allem um den Aufweis, dass die großen idealistischen Einheitsentwürfe auf der Grundlage der Differenz genau darin die griechische Stiftungsgeste der Philosophie wiederholen und die Frage des Erscheinens nicht nur durch die Identität von Sein/Bewusstsein engführen. Vielmehr geht die notwendigerweise radikal phänomenologische Problematik eines anfänglich reinen Selbsterscheinens des Erscheinens in der Absolutheit des Fürsich als »Subjektivität« dem Blick verloren – das heißt als ein Sich-Offenbaren eigener Art, nämlich in der Immanenz der »Selbsterprobung«, wie wir den Begriff des »Ursprungerlebens« hier präzisieren möchten.137 Zweierlei ergibt sich durch diesen kurzen Blick auf die seit Griechenland herrschende Phänomenalitätsstruktur. Einerseits wird die teilweise noch gegebene Verwechslung eines (oder des) Seienden mit dem darin verborgenen Sein aufgehoben, wie sie etwa in der »Natur« oder im anthropologisch gedachten Denken als »Mensch« auftritt. Andererseits jedoch bleibt dieser Gewinn eines reinen Seinshorizonts als Erscheinensmedium für alle ontischen Erscheinungen dem Verdikt des Sich-zeigen-Müssens unterworfen, sei es in der Vision, Theoria, Deduktion (Beweis) oder im »Verschwinden« der Negativität. Diese phänomenologische Vorgabe des »Sich-Offenbarens« als eines notwendigen »Sich-Zeigens« (Heidegger) bedeutet aber gerade die Festlegung des Erscheinens auf das Bewusstseinsfeld (oder die Daseinseröffnung), das heißt prinzipiell auf das Gegen-über des Bewusst/Seins-Horizonts als den vor-stellend visibilisierenden Ermöglichungsraum alles darin Erscheinenden. Der im Idealismus durchaus anzutreffende Versuch, mit dem Bewusstsein überhaupt eine andere Erfahrungswirklichkeit als nur das vorgestellte Sein anzusprechen, und zwar zumeist unter dem Begriff des Lebens, konnte so ohne Zweifel in eine entsprechende Analyse eintreten, je mehr die ontologisch-phänomenologische Seinsbestim137 Für die Weiterführung der Differenzdebatte im gegenwärtigen Denken vgl. R. Kühn, Postmoderne und Lebensphänomenologie. Zum Verhältnis von Differenz und Immanenz des Erscheinens, Freiburg/München, Alber 2019.

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mung die ihr eigene Deutlichkeit erreichte. Aber diese Antithese bleibt eine rein äußerliche, sobald nämlich eingesehen wird, dass im Grunde das Bewusstsein die Gegenständlichkeit der Sache (res) als solche ist, mit anderen Worten die »Subjektivität« die Ob-jektivierung der Objektivität nicht nur leistet und garantiert, sondern selbst bildet. Steht das Bewusstsein allerdings niemals anfänglich dem Sein gegenüber, sondern immer nur dem Seienden, welches es selbst in diesem Gegenüber der Vor-stellung hervorbringt, dann befindet sich der Idealismus wie seine Kritik in der Moderne eben nicht nur auf dem Boden der Cogito-Erforschung als rationale Möglichkeit der Objektbedingung, sondern bereits im ontologischen Bereich der Existenz als Befragung bzw. Verstehen des Seienden im Rahmen des ontologischen Wahrheitsmediums im Sinne des Seins als Erscheinen selbst. Innerhalb dieser letzten Frageabsicht bildet der spekulative Idealismus des Näheren den Versuch, die Phänomene für uns im Hervorbringen des Bewusstseins entstehen zu lassen und sie nicht nur »natürlich« oder »naiv« aufzunehmen. Aber gerade bei diesem vorphänomenologischen Unternehmen nimmt das Bewusstsein sehr bald auch wiederum nur den Platz eines privilegierten Seienden gegenüber der Außenheit oder Welt als Gesamtheit des Seienden ein. Ist nämlich die Existenz die Form des Seins, dann vermag auch das Bewusstsein letztlich nichts anderes als die formale Manifestationsweise dieses Seins auf dem Grund des Bewusstseins zu sein, obwohl die spekulativen Konstruktionen oder begrifflichen Beschreibungen von Fichte, Schelling und Hegel diese Hervorbringungsform immer zugleich auch als tatsächlich materiale Pro-duktion »setzen« wollen.138 Aber genau diese Subreption der Setzung gründet in der wesentlichsten Vorentscheidung des idealistischen Denkens überhaupt, dass nämlich Bewusstsein anfänglich Trennung vom Sein bedeute. Damit ist jedoch – ob als Hiatus irrationalis, »Ungrund« oder »Geist« – die Entfaltung einer Distanz gegeben, wodurch sich das Bewusstsein vorstellungsmäßig über das Sein oder diesem gegenüber stellt, auf jeden Fall sich ihm entfremdet, um eine Dimension des Anders-Werdens des Seins zu eröffnen, welche als die Geschichte des Seins von der Existenz oder vom Wissen verwirklicht wird, was zugleich die neuzeitliche Hermeneutik vorbereitet.139 Betrachtet man an dieser Stelle die klassischen Strukturen der Seins- und Bewusstseinsphilosophien in eins, so ergibt sich daraus, dass das Anderswerden, das Dif-ferieren des Seins zugleich seinem Hervorbrechen als Ek-stasis in der Gegen-wärtigkeit phänomenaler Bedingtheit entspricht, weshalb auch die phä138 Vgl. R. Kühn, Anfang und Vergessen. Phänomenologische Lektüre des deutschen Idealismus – Fichte, Schelling, Hegel, Stuttgart, Kohlhammer 2004. 139 Vgl. J. Greisch, Hermeneutik und Metaphysik. Eine Problemgeschichte. München, Fink 1993.

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nomenalisierende Dimension der Gegenwärtigkeit als das Bewusstsein selbst angesprochen werden kann, kurz gesagt als »Präsenzfeld«. Das apodiktisch Absolute als Anfang, das reine Sein in seiner Parusie als Grund, das heißt als Wesen des Erscheinens in seinem Selbsterscheinen, soll sich genau in dieser identischen Strukturvorgegebenheit von Sein/Bewusstsein entwickeln, sei es als »Wissensformen«, »Offenbarung« oder »Bewegung des Geistes«. Durch diese ontologische wie phänomenologische Grundentscheidung tritt aber gerade der Verlust einer Originarität des materialen Selbsterscheinens hervor,140 und zwar insbesondere im Bereich der Subjektivität, Innerlichkeit oder des Handelns zum Beispiel, wobei jeweils eindeutig der genannte Vorstellungs- oder Bildcharakter des Bewusstseins in den Vordergrund rückt. Einen solchen Sachverhalt machen die bisherigen Beobachtungen insofern schon als wesentliche Gesamtproblematik des Idealismus – und der Philosophie im Allgemeinen – deutlich, wie im Zusammenhang mit den keineswegs zu unterschätzenden Differenzierungen des Selbst die Vorstellung hierin eben einen ontologischen oder produzierenden Akt bilden soll, während sich in der Gegenwärtigkeit des Vorgestellten oder Inhalts das Ontische zeigt und damit die Entzweiung von Subjekt/Objekt als »Entfremdung« (Hegel, Marx). Das Sein trennt sich hierbei von sich selbst, wie erwähnt, um sich »selbst« wahrzunehmen, was genau im Sich-Vorstellen als »Entzweiung« oder »Zerrissenheit« zum Ausdruck kommt. Wie immer dabei auch die besondere Rolle des Willens, und damit letztlich der Freiheit, konzipiert wird, um das Wesen des Bewusstseins in seinem ursprünglichen Tätigsein auszumachen, so beispielsweise als »Sollen« oder »Aktuosität« (Fichte) – die Vorstellung bildet dennoch als Wesen der Erscheinensstruktur keinen besonderen Modus des Bewusstseinslebens neben anderen wie Sinnlichkeit und Verstand, sondern sie ist und bleibt die eidetische Struktur des Wesens des Bewusstseins als Medium, Darstellung, Eröffnung oder Seinstranszendenz.141 Denn insofern Gewissheit und Erscheinung stets als problematisierte Wahrheitsfrage des Erscheinens auftreten, bedeutet dies, dass die Wahrheit des Seienden mit der Gewissheit der Vorstellung zur Sprache kommt, was mit anderen Worten heißt: Der Gewissheitscharakter der Vorstellung ist die Wahrheit des Seienden als sich in einem ontologischen Medium manifestierendes gewisses 140 Dieser »Verlust der Materie« als impressionaler hyle ist schon seit Aristoteles maßgeblich für unsere ideengeschichtliche Tradition; vgl. C. Majolino, »Est individuum ineffabilile? Phänomenologische Bemerkungen über Wesen, Differenz und Selbstaffektion«, in: R. Kühn u. S. Nowotny (Hgg.), Michel Henry. Zur Selbsterprobung des Lebens und der Kultur, Freiburg/München, Alber 2002, 81–106. 141 Vgl. M. Henry, »Ph8nom8nologie de la conscience et ph8nom8nologie de la vie«, in: G.B. Madison (Hg.), Sens et Existence. En hommage / Paul Ricœur, Paris, Seuil 1975, 128–151 (nachgedruckt in: M. Henry, Ph8nom8ologie de la vie, t. V, Paris, PUF 2015, 31–44).

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»Etwas«, und zwar unter dem Gesichtspunkt der phänomenologischen Bedeutung des ontologischen Vermögens der Vorstellung. Mit dem »Gewiss-Sein« dessen, was gewiss ist, handelt es sich aber nicht nur um die Gewissheit des ens verum als solches im Sinne des ens certum, wie etwa bei Descartes,142 sondern zugleich auch um das Thema der Subjektivität, da sich Vorstellung und Vorgestelltes wie das Subjektive zum Objektiven verhalten. Die Subjektivität ist hierbei mithin die Gewissheit des Objekts unter der Bedingung seines Phänomen-Seins, was einschließt, dass letzteres als vor uns gesetzt auftritt und das »Subjekt« diese Setzung des Vor in der Horizontvorstellung bewirkt, worin es das Objekt als bewusstes erscheinen lässt. Nun ist es für die hier skizzierte Lektüre idealistischer Philosophie als Hinführung zur psychoanalytischen Kritik an Philosophie und Religion gerade entscheidend, dass Subjekt und Bewusstsein keineswegs das Selbe sind, sondern das Bewusstsein ist das Verhältnis von Subjekt und Objekt schlechthin, was für alles Objekt-Sein besagen will: in die Phänomenalität der Existenz hineingestellt zu sein und dem Bewusstsein zuzugehören. »An sich« steht folglich das Subjekt dem Objekt nicht gegenüber, ist in dem Sinne nicht hypoke&menon als Subjekti(vi)tät; vielmehr ist es das Getrenntsein des Bewusstseins, welches beide Größen hervorbringt, weshalb sich auch das Bewusst/Sein keineswegs nur mit dem Objektpol identifiziert, wie sowohl Fichte in seiner Unterscheidung von »Ich« und Bewusstsein als auch Hegel in seinem Erfahrungsbegriff als »Bewegung« zwischen Ansich und Fürsich zu verstehen geben.143 Im deutschen Idealismus wird somit einerseits deutlich, dass der Gegensatz bzw. die Differenz das dem Bewusstsein »innerlichste« Sein ist und andererseits gerade dadurch das Bewusstsein jenes Hervorbringungsgesetz darstellt, welches beide Größen – Subjekt wie Objekt – erzeugt, die selbst abstrakt bleiben, während nur ihr Verhältnis als Bezug eigentlich konkret ist, was Schelling bekanntlich veranlasste, mit gleichem spekulativen Recht vom Objektpol (Natur) wie vom Subjektpol auszugehen und damit ein Denken des biologisch-energetischen Unbewussten wie bei Freud vorzubereiten. Wenn deshalb Subjekt und Objekt jeweils nur als zwei abstrakte Momente einer einzigen Erscheinensstruktur gegeben sind, welche die schon zuvor genannte Anwesenheit ist, dann kennt die Tradition reflexiver, identischer oder hermeneutischer Bewusstseinsphilosophie im Grunde eben auch nur einen 142 Vgl. Meditationen über die Grundlagen der Philosophie (Hg. L. Gäbe), Hamburg, Meiner 1959, II. u. IV. Meditation. 143 Vgl. M. Henry, L’essence de la manifestation, Paris, PUF 1963, 863–906: »Appendice – Mise en lumiHre du concept originaire de la r8v8lation par opposition au concept h8g8lien de manifestation (Erscheinung)« (dt. Das Wesen des In-Erscheinung-Tretens, Freiburg/München, Alber 2019, 807–865: »Anhang – Beleuchtung des originären Wesens der Offenbarung im Gegensatz zu Hegels Begriff der Erscheinung [manifestation]«).

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Seinsbereich, ohne einen wirklichen Dualismus zwischen Ansich und Fürsich aufstellen zu können, wie Sartre dies später durch die Verbindung von Hegelschen und Husserlschen Elementen mittels der phänomenologisierenden Bewusstseinsleistung der Negation versucht.144 Aber genau diese herkömmliche Subjekt/Objekt-Spaltung verlangt eine zusätzliche phänomenologische Aufklärung, weil das ontologische Wesen eigentlich nur im Bewusstsein ruht, sofern alles Objekthafte als ontische Wirklichkeit seine Bestimmung durch genau dieses Bewusstsein als ontologisches Medium findet. Sofern die Situation des Subjekts als eine Realität auf ontischer Ebene nachkritisch prinzipiell aufgehoben ist, wird auch die Problematik des Subjektivitätsbegriffs eine ganz andere. Denn außerhalb seiner Bedeutung als ontologisches Ereignis der Phänomenalisierung, wodurch Seiendes zum Phänomen überhaupt für uns wird, hat das »Subjekt« keinen philosophischen Status mehr, und was unter Erkenntnis abgehandelt wird, ist die Frage der Ek-statisierung der ontologischen Dimension der Anwesenheit als Transzendenz. Die gegenwärtigende »Re-präsentation« des vorgestellten Objekts ist mithin Werk des Subjekts im genannten Sinne, welches das »Sein« des Objekts ist, was auch für die »Repräsentanz« des Triebes bei Freud gilt. Der vorhergehend erwähnte Dualismus zwischen Erscheinenkönnen und Erscheinung, zwischen Ansich und Fürsich innerhalb des Idealismus, ist daher jener zwischen dem Wesen solcher Manifestation und der ontischen Bestimmung, welche in diesem Wesen des Erscheinens – als Bewusstsein – ihren ontologischen Grund hat, der sich aus sich heraus phänomenalisiert. Die klassische Bewusstseinsphilosophie tritt daher als der Denkversuch auf, das Seiende vom Sein zu trennen, weshalb die Subjektanalyse hierbei den ontologischen Wesensbereich umschreibt, während das Objekt – auf dem Boden der prinzipiellen Untrennbarkeit von Subjekt/Objekt – das Seiende bezeichnet. In modaler Hinsicht gibt es aber dementsprechend nur eine einzige Manifestationseinheit, nämlich die Verwirklichtheit des Seienden im Subjekt, welches diesen Phänomenalisierungs- oder Erscheinensmodus als solchen im Sinne des »Bewusstseins« darstellt. Diese Einheitlichkeit definiert daher eine eidetische Struktur der Phänomenalität bei Bewusstsein und Sein, welche nicht nur deren Identität ausmacht, sondern eben auch jene von Bewusstseins- und Seinsphilosophie, wie sie im Idealismus letztlich zusammenfällt. Einheitlichkeit besagt allerdings hier zugleich Differenz im Sinne einer ursprünglichen transzendentalen Dimensionierung des Erscheinensverhältnisses als Sichtbarkeitsraum oder Entäußerung, worin sich etwas zeigen kann, womit das Subjekt als Fürsich selbst zum »Seinin«, das heißt zu Geschichte, Objektivität, Welt oder Begehren bzw. Libido wird. Dies ist im begrifflich extremen Sinne bei Hegel der Fall, während Fichte wie 144 Vgl. L’Þtre et le n8ant. Essai d’ontologie ph8nom8nologique, Paris, Gallimard 1943, 37ff.

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Schelling noch Möglichkeiten der Offenbarung im Sinne des Freiheitsgeschehens zulassen, so wenn Fichte beispielsweise programmatisch in der »Staatslehre« von 1813 formuliert, das schöpferische Handlungsprinzip als sittliches Bewusstsein enthalte die »Offenbarung« als »Urthat« der absoluten Freiheit in der Erscheinung jeder endlichen Freiheit.145 Damit wird solche Offenbarung nicht nur »die Sichtbarkeit Gottes unter der Form der Freiheit«, sondern die Religion erhält auch den Status der »selbstverstehenden Erkenntnis«, sofern sich hier die Offenbarung des Lebens an sich selbst als effektive Teilnahme am Willen Gottes seitens des freien Ich realisiere.146 Aber auch solche, in sich die Offenbarung implizierende Freiheit bleibt als moralische Aufgabe gegenüber der Welt an diese letztere gebunden, so dass innerhalb der idealistischen Spekulation Welt radikal als der Verhältnisgedanke des Bewusstseinslebens als einer UrVerräumlichung oder Ur-Verbildlichung zu verstehen bleibt, worin sich das Licht der Welt wie das Bewusstsein manifestiert. Oder es ließe sich ebenfalls sagen, das Licht manifestiere sich als das Bewusstsein, sofern mit diesem »Als« gerade jede denkbare Disjunktion als Differenz der Erscheinung im Erscheinen ek-statisch gedacht wird.147 Was Heidegger148 als »Topologie des Seins« in seinem Spätwerk zu denken versucht, das heißt im Grunde das In-einander des Aus-einander von »Erde/ Himmel« sowie von »Sterblichen/Unsterblichen«, ist in der Blütezeit des absoluten Idealismus ein Topos der Selbsttrennung, mithin ein Zwischen-Raum der Entfremdung. Wenn wir diesen Sachverhalt radikalphänomenologisch mit dem Begriff der Indifferenz zusammenfassen, der in aller Dif-ferenz als Gleichgültigkeit des Nebeneinander der Inhalte im durchaus Hegelschen Sinne waltet, dann bedeutet dies eben, dass jede »Subjektivität« als eine Phänomenalisierungsweise, welche als effektive Immanenz des Selbsterscheinens nicht in das Wesen der transzendentalen Welteröffnung eingeht, von vornherein aus dem idealistischen Ansatz ausgeschlossen sein musste, weil dessen Erscheinensbegriff gar nicht anders kann, als vom Lichthaften re-flektierend oder dif-ferierend durchzogen zu sein. So heißt es bei Hegel in Bezug auf den Begriff der Handlung: »Betrachten wir jedoch den Inhalt dieser Erfahrung in seiner Vollständigkeit, so ist es das verschwindende Werk; was sich erhält, ist nicht das Verschwinden, sondern das Verschwinden ist selbst wirklich und an das Werk geknüpft, und verschwindet selbst

145 Vgl. Die Staatslehre. Vortrag von 1813, posthum 1820: SW IV, 382. 146 Vgl. Das System der Sittenlehre nach Principien der Wissenschaftslehre (1798): SW XI, 570 u. 522. 147 Vgl. auch X. Tilliette, »La th8orie de l’image chez Fichte«, in: Archives de Philosophie 25 (1962) 541–554. 148 Vgl. Beiträge zur Philosophie. Vom Ereignis (GA 65), Frankfurt/M., Klostermann 1994, 371ff.

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mit diesem; das Negative geht mit dem Positiven, dessen Negation es ist, selbst zu Grunde.«149

Licht und Entfremdung bedingen sich daher in einem als Welttranszendenz gedachten Wahrheitsbegriff des Erscheinens, und die »Verfallenheit« oder die »Eigentlichkeit« (Heidegger), welche existenzial dabei im Spiel ist, heißt idealistisch Genesis, Potenzierung oder Dialektik, worin das Austauschgeschehen eines reinen Überstiegs gedacht werden soll. Verdichtet sich dabei die Auffassung des Subjekts als Objektivierung im Sinne von Ding- oder Inhaltszugang, dann wird eigentlich hier schon, wie angedeutet, die Bestimmung des Subjekts als »Gegenüber« fallengelassen, um die »Immanenz« des In-Seins als reine Offenheit zu bestimmen. Phänomenalität als Lichtstruktur des Erscheinens wird dann in dem radikalen Sinne zur Entfremdung, nämlich als das Objektivste – als Eröffnung der Außenheit in ihrem Außen-Werden als »Außer-sich« (Heidegger) – zum Innersten der Immanenz. Denn was »objektiver« als jedes Objekt im phänomenologischen Sinne ist, beruht in der Bedingung der Ek-sistenz als solche. Zusammen mit dem Als des Differierens wird folglich das Dass der Transzendenz als Urfaktizität zum alleinigen Existenzgesetz. Bereits Kants transzendentale Wende ist dann im Grunde schon kein Subjektivitätsdenken mehr, so wenig wie dasjenige Hegels, sondern die konsequente Folgerung, dass Subjektivität ihrem Erscheinenswesen nach nichts anderes als die Objektivität des Objekts sei. Spekulativer Idealismus als Aufklärungsbemühen um die transzendentalen Erkenntnisbedingungen im Sinne solcher Objekthervorbringung, und zwar einschließlich des »lebendigen« Bewussteinsvollzugs, lässt demzufolge durch die Strukturgesetzlichkeit der Identität von Subjekt und Objekt das spezifische Seinkönnen einer Subjektivität als reine Vollzugswirklichkeit verloren gehen. Reflexionstheoretisch übernimmt dabei der Begriff der Notwendigkeit die Wahrheitsübereinstimmung von Existenz und Erkenntnis, weil diese Notwendigkeit die solidarische Verbindung zwischen Subjekt und Objekt ausdrückt.150 Selbst dann aber, wenn in der Radikalisierung solcher Sichtweise der eigentliche Akt im Rückzug von seiner von ihm selbst aufgestellten und eingesehenen Notwendigkeit erblickt wird, weil man die »moralische« Unabhängigkeit des Subjekts von der Natur im Rückblick auf Kant integrieren will, bleibt das genannte Dilemma bestehen, wovon Fichtes wie Schellings Artikulierung des Freiheitsbegriffs als einer prozesshaften Überwindung des Nichtichs oder des Bösen zeugen.

149 Phänomenologie des Geistes (GW 9), Meiner, Hamburg 1988, 269 (»Die Individualität«). 150 Vgl. als Beispiel einer metaphysisch orientierten Reflexionsphilosophie S. Weil, Zeugnis für das Gute. Traktate, Briefe, Aufzeichnungen. München, dtv 1990, 18ff.

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Denn auch die Notwendigkeit für eine moralisch »freie« Natur verharrt als Einheit des transzendentalen Bewusstseinsaktes innerhalb der genannten phänomenologischen Einheitsstruktur, und zwar dank der zunächst zu leistenden ethischen Veranschaulichung und Zusammenführung des Mannigfaltigen in einem vorentworfenen Lichtmedium. Denn damit besteht eben die Transzendenz als eidetisches Weltwesen prinzipiell weiter, und die ontologische Freiheit als möglicherweise letzter, freigebender Akt des Rückzugs wird von der objektiv vorgestellten Notwendigkeitskonstitution gerade dadurch nochmals von der Transzendenz mitumfasst. Wie beim Willen, führt also auch eine vertiefte Freiheitsbetrachtung nicht aus dem Objektivierungsschema heraus, denn sie wird schließlich zu einer Hermeneutisierung der Subjektivität führen, wo das Verstehen der Objektivität des Objekts von der Zeitlichkeit übernommen wird, die mit dem geschichtlichen Seinshorizont zusammenfällt – in der idealistischen Freiheitsspekulation als dramatischer Zweifel an den »Mythologien«, um neuzeitlich diesen »narrativen« Bewusstseinsprozess der »Weltalter« zum existenzial Signifikanten werden zu lassen.151 Hier vollendet sich dann »Sinngebung« als Vorstellung im Existenzvollzug als Seinsverständnis, wo sicherlich das ontologische Moment gegen jede ontische Verfremdung bewahrt bleiben soll, aber die idealistische Transzendentalität wird nun mit letzter Klarsicht formuliert: »Der Rückgang auf die ekstatisch-horizontal fundierte Transzendenz der Welt gibt die Antwort, [wie das innerweltlich Seiende] als begegnendes objektiviert werden kann.«152 Freuds Annahme der äußeren wie inneren Realität als wissenschaftlich-ethische Sublimierung gegenüber dem Schicksal als an#nke unterschreibt weiterhin diese Absolutheit der Welttranszendenz, auch wenn dies nicht philosophisch transzendental begründet wird, sondern als analytischtherapeutische Kritik am Narzissmus, an dem auch die Philosophie prinzipiell leide.153 In der Willens- wie Freiheitsbestimmung, die sicherlich von Kant bis Hegel und darüber hinaus zentral für den Idealismus wie Existenzialismus ist, kehren damit aber auch die Problematiken von Bewusstseins- wie Seinsphilosophie wieder, nachdem sie ihre phänomenologische Grundstrukturierung ausgetauscht haben. Entspricht das Verhältnis von Sein/Seiendem der Ding/Bewusstseins-Relation und kennt sich das Subjekt (Dasein) nur über das Objekt (Welt), so betreibt die phänomenalisierende Bedingung des Erscheinenswesens notwendigerweise ihre eigene Manifestation. Das »Subjekt« erfährt durch deren »innere« Bestimmung seine Wahrheit, da diese Bestimmung zum Wesen dieser 151 Vgl. F.W.J. Schelling, Die Weltalter. In den Urfassungen von 1811 und 1813. Nachlassband zum Jubiläumsneudruck »Schellings Werke« (Hg. M. Schröter), München, Beck 21979. 152 M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen, Niemeyer 111967, 366 (§ 69c). 153 Vgl. dazu im Einzelnen unser folgendes Kapitel I,2.

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Manifestation als deren Grund gehört. In seiner Reinheit betrachtet, war das Subjekt in seinem Sein abstrakt, das heißt unvollendet, so dass es einen ihm fremden Gegenpol erfordert, damit das manifeste Wesen der Phänomenalität zum Ausdruck komme, was sich eben darin zeigt, dass sich der Wille nur dank eines Hindernisses als Freiheit erfahren und konkretisieren kann. Ähnlich gilt idealistisch für den Bewusstseinsbezug, sofern er in der Tat letztlich Freiheit sein soll, dass sich dessen innere Bewegtheit nur offenbare, wenn sich ihr etwas entgegenstelle. Psychologisch, ethisch wie ontologisch tritt deshalb als »Pflicht« oder »Verantwortung« allgemein das Gesetz des Transzendierens der Lebenssituationen oder -momente auf, was keinem bloß formal moralischen Prinzip entsprechen muss, sondern tiefer liegend mit einer Daseinskonstruktion als Kampf und Bewährung korreliert, die den Konflikt – Levinas154 würde sagen, den »Krieg« – in die Struktur der Ontologie selbst einschreibt, wovon Hegels Auseinandersetzung um gegenseitige »Anerkennung« von Herr/Knecht sicher das hervorstechendste Beispiel ist,155 welches innerhalb der Psychoanalse besonders dann auch von Jacques Lacan aufgegriffen werden wird. Die Zweideutigkeit dieses Anerkennungskampfes liegt nicht nur in seiner dialektischen wie symbolischen Unabschließbarkeit, sondern im Problem der Verwirklichung als solche, denn einerseits steht das Bewusstsein unter dem Gebot, sich effektiv zu objektivieren, und andererseits muss es sein Wesen des reinen Erscheinens so bewahren, dass ihm jede sichtbare Erscheinung als Ausdrucksidentität seiner selbst unangemessen bleibt. Realisiert sich das Wesen in der Bestimmung als »Quantitabilität« (Fichte) bzw. als »Negation« (Hegel) oder »Potenz« (Schelling), so birgt diese Verwirklichung jedoch niemals das Wesen als solches. Jede Manifestation wird dadurch zu einer vieldeutigen Chiffre bzw. einem Symbol, denn der An-schein verweist immer noch auf etwas »Anderes«, wodurch nicht nur die Unendlichkeit der schon genannten hermeneutischen Textinterpretationen in der Moderne vorbereitet wird, sondern die Endlichkeit als Schleier des Wesens des Erscheinens selbst auftritt. Dadurch ist die Freiheit einerseits nichts »für sich« außerhalb der zu bestimmenden Natur, Geschichte wie auch Ich/Es-Triebverschränkung, und andererseits tritt sie in ihrem Wesen als »Hervorbringung« doch auch wieder anders als das prozesshaft Beschreibbare auf, so dass die Grenze, welcher die Freiheit sich gegenübersieht, sich fortlaufend verändert, da sie als Erscheinungselement sowohl zu setzen wie auch transzendierend aufzuheben ist. Die Werdensspekulationen können daher 154 Vgl. Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München, Alber 1993, 103–119: »Ist die Ontologie fundamental?« 155 Vgl. auch paradigmatisch die »Einleitung« von Th. Buchheim zu der von ihm edierten Schrift F.W.J. Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (SW VII, 331–416), Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1997, S. IX–LV.

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nicht verhindern, dass das Wesen als sein Selbsterscheinen zum Gegenteil seiner radikalen Ankündigung wird – nämlich anstelle eines »absoluten Wissens« ein Unbestimmtes der Zukunft (Utopie, Eschatologie) oder in regressiver Rückwendung ein in sich verschlossen-expansives »Unbewusstes« zu sein, welches die akthaft unerkannte »Tiefenschicht« aller libidinös-energetischen Hervorbringungen bleibt (Schelling, Freud).156 Die Suche nach Konkretion in den Seins- wie Bewusstseinsphilosophien und deren idealistischer Identifikation ist jedoch nicht bloß eine Problematik der phänomenalen Bestimmbarkeit als solche, sondern wenn sich das reine Wesen des Erscheinens als sein Selbsterscheinen an und für sich in die Nacht seines transzendentalen Anfangs als absoluter Ursprung auflöst, dann heißt dies, dass es eben außerhalb des ontischen Elements nicht erfasst werden kann, weil es dort Ort wie Zeit seiner sich phänomenalisierenden Anwesenheit findet. Die Reinheit des Wesens des Erscheinens ist mit anderen Worten die Abstraktion seines anwesenden Seins, weshalb die Erscheinung jeweils nur eine solche dank der Vermittlung ist, welche sich in ihr einstellt. Haben Sein und Seiendes nämlich eine unverzichtbare Referenz zur Transzendenz, so hat diese Verbindung ihre letzte phänomeno-logische Bedeutung darin, das Transzendierte zu involvieren, was hier bedeutet, dass das Da-Sein in seiner Wirklichkeit sowohl ontisch wie ontologisch auftritt. Es soll nicht bloß die Abstraktion einer Anwesenheit sein, sondern zugleich auch die Anwesenheit in deren Wirklichkeitsvollzug selbst, nämlich Verstehen des Seins oder Geistes als »Wissen« des jeweilig Seienden in seiner Konkretheit oder Begegnung. Ist aber das Erscheinen in seinem reinen Wesen erst mit dem vollendeten Verstehensvollzug der Phänomeno-logie abgeschlossen? Sofern Bestimmbarkeit in einem sich ständig modalisierenden Handeln konkret ermöglicht wird, hat sich notwendigerweise vor der philosophischen oder jeglichen anderen theoretischen Erhellung das »Sein« immer schon lebendig offenbart, so dass es dergestalt als die allgemeine sowie absolute Bedingung allen Tuns des »natürlichen Bewusstseins« anzusprechen bleibt. Verwirklicht sich aber die inhaltliche Bestimmung des Seienden durch das Sein vor der Reflexion und Interpretation des Philosophierenden (was nicht zeitlich verstanden werden muss), dann setzt dies genau voraus, dass die Seinsmitteilung oder ihr Offenbarwerden nichts anderes als das genannte lebendige Erscheinen selbst ist. Erfasst das natürliche – und dann reflektierende – Bewusstsein dementsprechend das Seiende jedes Mal mit dessen Eigenschaften, so ist ihm darin das Sein 156 Zum Zusammenhang von Kampf um Anerkennung und der Problematik des Unbewussten bei Freud im Anschluss an Hegel vgl. P. Ricœur, De l’interpr8tation. Essai sur Freud, Paris, Seuil 1965, 484ff. (dt. Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt/M., Suhrkamp 1969), sowie mit Bezug auf das Verhältnis von Tod/Anerkennung auch unser folgendes Kapitel II,6.2.

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bereits gegeben, weshalb das Erscheinen des Seins stets ein ursprüngliches ist, woraus Husserl157 den Anspruch einer absoluten »Rechtsquelle« der Erkenntnis für jedes »reduzierte Phänomen« ableitete, um sich damit von metaphysischen Vorgaben zu lösen. Gegenüber der idealistischen Bewusstseinslektüre als Seinskonkretion zwischen Abstraktion und vollendetem Begriff ist daher festzuhalten, dass sich das Sein bereits dem natürlichen Bewusstsein offenbart, und zwar so, dass es diesem Bewusstsein möglich ist, zu sein, was es ist, nämlich ein Bewusstsein, welches sich auf jeweils Seiendes »bezieht«. Die hierbei gelebte Anwesenheit des Seins ist keine nur vorausgesetzte, die von der philosophischen noch spekulativ oder phänomenologisch einzuholen wäre, sondern diese Anwesenheit des Seins als je konkret modalisierte Ermöglichung des Bezugs zum Ontischen ist das Bewusstsein als »Subjektivität« selbst, die daher ebenfalls in jedem postulierten »Unbewussten« als noch ältere Bedingung gegeben bleibt. Weil dieser Bezug tatsächlich »ge-geben« ist und in dieser »Gebung« (donation)158 das Sein sich offenbar macht, hat das Bewusstsein, Subjekt, Dasein oder die Libido als Begehren (d8sir) einen effektiven Bezug zum Seienden als Phänomen oder Gesetztheit. Die Wirklichkeit dieses Verhältnisses als eines tatsächlichen Bezugs ist das Erscheinen des Seins, und als eine solch ontologische Manifestation bildet sie zugleich das Selbsterscheinen des Absoluten in seiner Phänomenalisierung als Parusie der Absolutheit dieses absoluten Erscheinens. Selbst bei aller naiv vordergründigen Interessiertheit am Seienden lebt daher das Bewusstsein immer schon in dieser parusiehaften Anwesenheit des Seins als Vollzug eines Bezugs, weshalb eben das Bewusstsein in der notwendigen Subjektivität als Impressionabilität oder »Erprobung« dieses Bezugs159 – das heißt in jeweilig immanenter Modalisierung – die Manifestation des Seins ist, ohne hier eine Onto-Theologie zu implizieren.160 Es braucht also keinen anderen »Ort« aufzusuchen, weder einen »Atopos« noch ein »Geviert« (Heidegger) oder ein »Unbewusstes« (Freud), um dieser Manifestation als Selbsterscheinen des Erscheinens beizuwohnen. Es hat bereits selbst seine unverbrüchlich lebendige Bleibe in ihm, wobei die notwendige begriffliche Unterscheidung Sein/Leben naturgemäß weitere Analysen erfordert, um auf die Klärung dieser notwendigen Differenzierung hinzuarbeiten, wie sie sich aus den gleichzeitigen Erkenntnis157 Vgl. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Band 1 (Husserliana III), Den Haag, Nijhoff 1976, 51f. 158 Zur jüngeren Diskussion dieser zentralen phänomenologischen Kategorie vgl. J.-L. Marion, Etant donn8. Ph8nom8nologie de la donation, Paris, PUF 1997 (dt. Gegeben sei. Phänomenologie der Gegebenheit, Freiburg/München, Alber 2015). 159 Vgl. R. Kühn, Lebensethos. Inkarnatorische Konkretionen originärer Lebensreligion, Dresden, Text & Dialog 2018, 11ff. 160 Vgl. M. Henry, L’essence de la manifestation, 667ff. (dt. Das Wesen des In-ErscheinungTretens, 631ff.).

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sen des spekulativen Idealismus und der neueren Phänomenologie- wie Psychoanalyseentwicklung ergibt.161 Wenn das Wesen des Bewusstseins in seinem originären Sich-selbst-Erscheinen die Parusie ist, mit anderen Worten die Anwesenheit in ihrem sich verwirklichenden Ankünftigwerden, dann kann es sich dabei auch nicht um eine erworbene »Gewohnheit« im Sinne Hegels oder um die »Sedimentierung« eines Habitus wie bei Husserl162 handeln. Habitualität als unbegrenzbares Wiederholenkönnen der transzendentalen Bewusstseinsleistungen in ihrer reinen Lebendigkeit bedeutet die Anwesenheit des »Seins« als absolute Präsenz im Sinne eines ontologischen Ursprungs, der als sich-phänomenalisierender in all seinen Gegebenheiten phänomenologisch in radikaler Hinsicht ist.163 Hält sich das natürliche Bewusstsein seinem Wesen nach in solcher Urphänomenalisierung als singulärer Wahrheit auf, so kann es diese im Prinzip weder vergessen noch ihr anderweitig den Rücken kehren, denn die »Habitualität« eines stetigen Selbstvollzugs ist die »Aktualisierung« dieser Wahrheit als solche ohne horizonthafte Distanz oder mediale Getrenntheit im Bewusstseinsfeld, auf die allein ein Blick auf »Gewohntes« im Sinne von vergangenen Vollzugswirklichkeiten hinlenken kann. Als reiner Vollzug ist sich jeder Vollzug stets selbst ge-geben, so dass er auch nicht auf das Ende eines dialektischen Prozesses warten muss, damit sich das Sein absolut als ein solcher Vollzug zeige, denn dieses Sein hat keinen Augenblick aufgehört, das Wesen des sich vollziehenden Bewusstseins zu sein. Selbst im angeblichen »Vergessen« ist diese Anwesenheit nicht gemindert, da der retentionale Rückbehalt, in dem sich ein solches Vergessen allein abhebend noch denken lässt, weiterhin eine lebendige Leistung bleibt, die rein impressional nicht dem Vergessen – oder auch »Unbewussten« – im Sinne einer Nichtmodalisierung unterliegen kann.

161 Vgl. zur Diskussion J. Laplanche, Leben und Tod in der Psychoanalyse, Olten, Walter 1974; K. Albert u. E. Jain, Philosophie als Form des Lebens, Freiburg/München, Alber 2000, bes. 35–53: »Seinsgedanke und Lebensgedanke«; P. Delhom u. A. Hilt (Hgg.), Das Leben denken. Philosophische Anthropologie und Lebensphilosophie im deutsch-französischen Gespräch, Freiburg/München, Alber 2018. 162 Vgl. Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, Hamburg, Meiner 1985, 334ff. 163 Vgl. M. Henry, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg/München 2002, 228– 231: »Das Fleisch, immemoriales Gedächtnis der Welt«; R. Kühn, Praxis der Phänomenologie. Einübungen ins Unvordenkliche, Freiburg/München, Alber 2009, 40–70: »Wiederholung als Habitualität und Potentialität«.

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Wenn Anfang und Vergessen als irgendeine Weise von Rückerinnerung somit aus dem absoluten Bewusstseinsleben in seinem Selbsterscheinen ausgeschaltet sind, dann besitzt eigentlich auch der idealistische Anruf hinsichtlich einer radikalen Veränderung im Leben dieses Bewusstseins keinen letzten phänomenologischen Boden. Findet nämlich die lebendige Seinsmitteilung als Vollzugswirklichkeit ständig statt, das heißt im Leben dieses Bewusstseins sowie als dasselbe, dann stimmt dieses Leben prinzipiell mit dem Wesen dieses Lebens als seinem inneren Sich-selbst-Erscheinen überein. Weder ein Wandel in der »Gesinnung« noch das Ergreifen eines »Urbildes« wie bei Kant, Fichte und Schelling oder die Vorstellung von einem »absoluten Bewusstsein« im Unterschied zum angeblich bloß »natürlichen Bewusstsein« wie bei Hegel vermögen dieses reine Selbsterscheinen zu erwirken, da es niemals fehlt. Dies zeigt sich besonders spannungsreich immer wieder bei den christologischen Spekulationen im Idealismus,164 sofern Absolutheit des Bewusstseins und Selbstoffenbarung dieses Absoluten zusammengedacht werden müssen, wofür Vernunft und Religion nur äußere bzw. problematische Titel sind.165 Mit dem zuletzt Gesagten ist keineswegs der idealistische Versuch als solcher gemindert, sich mit aller Kraft – welche die Philosophie in ihrer größten Motivation auszeichnen dürfte – jenem Akt des Erscheinens zuzuwenden, dank dessen das je Seiende erscheint. Denn indem sich das Bewusstsein auf das Erscheinende als solches bezieht, unternimmt es die Anstrengung, sich sein eigenes Erscheinen vorzustellen, anders gesagt die reine Manifestation als dessen Offenbarwerden. Aber dieser »Einschnitt« im Bewusstseinsleben, so gewaltig er sich geben mag und so viel reduktive Mühe er auch kostet, er ist im prinzipiellen Sinne der modalen Urphänomenalisierung nicht »größer« als die bescheidenste Leibgeste, welche die gesamte Habitualität der Wesenskorrelation von Leben/Leib als stets zur Verfügung stehende transzendentale Potentialität auf der Ebene der Bewusstseinsoder Ichhabitualität in Anspruch nimmt. »Wissenschaftslehre« der Einheit von Liebe und Leben sowie zustimmendes Sichüberlassen ohne besonderes Wollen an das »Dass« der reinen Ekstasis (Fichte) bzw. der »Karfreitagstod« des absoluten Wissens für das Ich (Hegel) bleiben im deutschen Idealismus insofern problematisch, als jegliche dadurch intendierte Umkehrung eines natürlichen Bewusstseins nicht das wahre Wissen

164 Vgl. X. Tilliette, Le Christ de la philosophie, Prol8gomHnes / une christologie philosophique, Paris, Cerf 1990, 146ff. 165 F. Seyler, Fichtes »Anweisung zum seligen Leben«. Ein Kommentar zur Religionslehre von 1806, Freiburg/München, Alber 2014.

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selbst sein kann.166 Denn die reine Ursprünglichkeit des Selbsterscheinens in der Absolutheit seiner lebendigen Parusie, Ankünftigkeit oder Offenbarung garantiert nicht nur den Seinsbezug in jedem einzelnen Bewusstseinsverhältnis zum Seienden, sondern auch das transzendentale Wissen ist seinerseits nichts anderes als die Mitteilung dieses Seins, weshalb in dieser originären, da gegenreduktiven Sichtweise das natürliche Bewusstsein als das transzendentale Bewusstsein angesehen werden kann, wodurch im Übrigen eine solche Ontologie radikaler Phänomenalisierung auch unmittelbar ein Ethos darstellt.167 Niemals vermag das Selbsterscheinen des reinen Wesens des Erscheinens ein Werk der »Bewusstseinsveränderung« zu sein, da dieses Selbsterscheinen zum reinen Wesen der Manifestation oder Offenbarung als solche gehört. Und wenn sich das Sein mitteilen muss, so wie Hegel vom absoluten Geist sagt, dass dieser sich als Wirklichkeit zu offenbaren habe, um diese Wirklichkeit zu sein, dann kann dies letztlich nur bedeuten, dass das Wesen des Seins sein lebendiges Selbsterscheinen ist – und nicht erst als geschichtliche Selbstaufklärung des Begriffs sich prozesshaft einstellt. Eine solche Wissenslogik lebt vom ununterbrochenen »Verzehr« der Selbstverlebendigung des absoluten Ursprungs, dessen Tod von vornherein allgemein ist und in der einzelnen, unaufhaltsamen Negation nur jeweils als »Verschwinden« konstatiert zu werden vermag.168 Originarität heißt für das philosophische Wissen, dass die apodiktische Seinsvermittlung als sichphänomenalisierendes Urwesen nicht dem Wissen des Philosophierenden reflektiv entstammt, sondern diese Parusie ständig jene Bedingung als Habitualität bleibt, damit sich Philosophie als solche überhaupt zu verwirklichen vermag. Damit kann man Freuds Kritik am Bewusstsein eine gewisse Berechtigung zusprechen, indem er mit dem triebhaft Unbewussten auf einen Bereich hinweist, welcher jeder Vorstellung entzogen ist, wie wir es in diesem Buch durchgehend diskutieren wollen. Daraus ergeben sich hier für eine phänomenologisch kritische Lektüre des Idealismus als strukturelle Beleuchtung des philosophischen Denkens allgemein sowie als Vorblick auf die Psychoanalyse zumindest zwei Konsequenzen. Zum einen bleibt auch das philosophische Wissen stets eine besondere Bestimmungsweise des Bewusstseinslebens als solches nämlich das »an sich« vorge166 Vgl. für die hierin implizierte mystische Tradition seit Spätantike und Mittelalter Th. Kobusch, »Freiheit und Tod. Die Tradition der mors mystica und ihre Vollendung in Hegels Philosophie«, in: Theologische Quartalschrift 164 (1984) 185–203. 167 Vgl. M. Maesschalck, Religion et identit8 culturelle chez Fichte, Hildesheim, Olms 2000; R. Kühn, Lebensethos, 189ff. 168 Für die entwicklungsgeschichtliche Unterscheidung von »Übergangsdialektik« in der Seinslehre, »Reflexionsdialektik« in der Wesenslehre und »Entwicklungsdialektik« in der Begriffslehre vgl. im Einzelnen R. Schäfer, Die Dialektik und die besonderen Formen in Hegels Logik, Hamburg, Meiner 2001.

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stellte Sein, während das »absolute Wissen« im Sinne der Originarität wie Originalität dann keinen endlichen Lebensmodus mehr darstellt, sondern die Bewusstseinsexistenz in ihrem allgemeinen Wesen des Selbsterscheinens, ohne aufzuhören, radikal subjektiv zu sein. Zum anderen verlangt dann der Vorstellungscharakter des Bewusstseins als dessen Hauptzug in der spekulativen Reflexions- als Seinsphilosophie eine andere Bestimmung, sofern das »wahre Wissen« eben nicht mehr ein verborgener Grund »im Rücken« des Bewusstseins ist, sondern das bewusste Leben als solches, das heißt als selbstaffektives.169 Die Vorstellung gewinnt dann den transzendentalen Status eines noematischen Korrelats auf der Ebene intentionaler Irrealität, um dies mit Husserl zu definieren, welche im Falle des natürlichen Bewusstseins das Objekt als Seiendes ist – in beiden Fälle jedoch ein zugesprochener »Sinn von …«. Haben wir oben die Bewusstseinsveränderung als Selbstaufklärung des Bewusstseins »an sich« zurückgewiesen, dann kann auch die Parusie nicht mehr das Hereinbrechen eines Selbsterscheinens des sich lebendig phänomenalisierenden Seins in einem eigenen Bewusstseinszustand als »Verhalten« oder partikulärem Modus darstellen, sondern die Parusie als Wesen solchen Selbsterscheinens bildet – sofern sie als das tatsächlich radikale bzw. materiale Leben dieses Bewusstseins bezeichnet wird – »die Bedingung aller Bestimmungen, die [solches Leben] sich zu geben imstande ist«. Aus diesem Grunde, wie Michel Henry170 zuzustimmen ist, verlangt die Parusie weder irgendeine Dispositionsänderung, noch vollzieht sich das Selbsterscheinen des Erscheinens in irgendeiner Vorstellung – und wäre es jene äußerste, dass alles Sein für das Bewusstsein ist oder letzteres sich von allem Wollen zurückgezogen habe, wie Hegel und Schelling es fordern. Das Sein vermag niemals in irgendeiner Weise Ob-jekt des Bewusstseins zu sein, wie schon das griechische Denken erkannte. Aber selbst in der reinen Schau oder Intuition, anders gesagt unter Aufgabe aller besonderen Intentionen auf ein isoliert thematisiertes Seiendes hin, bleibt das Objekthafte der Vor-stellung als solche bestehen, wie eben bei jeder Thematisierung – nämlich die Schau oder Theorie als Intentionalität schlechthin. Für den spekulativen Idealismus dürfte anzuerkennen sein, dass er das Bewusst/Sein im letzten nicht mehr mit einem besonderen Objekt verwechselt, aber die Möglichkeit des Bewusstseins allgemein, sofern es seit Kant vornehmlich Vorstellungsbewusstsein bleibt, ist damit nicht weniger die Objektivität, welche trotz allem eben von der Ontologie des Idealismus her letztlich das Sein selbst bedeutet – und zwar im Sinne eines Horizontes der Bestimmbarkeit, 169 Für die philosophiegeschichtliche Herkunft dieses Begriffs vgl. M. Bondeli, Kant über Selbstaffektion, Basel, Colmena 2018, sowie zuvor M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 171ff. (§ 34). 170 L’essence de la manifestation, 174f. (dt. Das Wesen des In-Erscheinung-Tretens, 188f.).

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worauf wir schon hinwiesen. Und genau darin scheint die zentrale Problematik der idealistischen Wissens- oder Begriffsbeschreibung zu liegen, denn wenn der Horizont als solcher nicht mehr thematisierbar ist, mithin kein bestimmter Akt des Erfahrens sich auf ihn zu richten vermag, dann bleibt hierbei dennoch die ob-jektive Bedeutung vorgestellten Seins gegeben, welches nicht »das Sein selbst« sein kann, aber im Rück-verweis des disjunktiv oder negativ Bestimmten an das Ursprungswesen des Erscheinungshorizontes vermeint wird.171 Eine solche Objektlosigkeit des Horizonts ist dann aber nur eine andere Formulierung für die Dunkelheit des Sich-selbst-Wissens des Erscheinenwesens. Das Sprechen von »Dunkelheit« setzt dabei die Perspektive eines verbleibenden Vorstellungsprimats voraus bzw. phänomenologisch gesprochen: die ontologisch hypostasierte All-Lichthaftigkeit des Sichtbarkeitsraumes intentional repräsentierbarer Verhältnisse. Der absolute Idealismus ist deren Paroxysmus wie Trauerarbeit – die nicht zurückgenommene Einzeichnung der Todesspur ins Fleisch des Lebendigen, ohne diesen Widerspruch aufheben zu können, obwohl das spekulative Denken aus dieser Motivation seine ganze Kraft bezieht: »Die Schwierigkeit, die in [den] Begriffen statt findet, ist allein das Festhalten am: ist, und das Vergessen des Denkens, worin die Momente ebenso sind als nicht sind, – nur die Bewegung sind, die der Geist ist.«172 Der »Todestrieb« bei Freud wird ein nicht länger am »Geist« orientierter metabiologischer »spekulativer« Versuch, dieses Verhältnis von Abwesenheit/Anwesenheit als schweigende Destruktionserfahrung im begehrenden Leben selbst aufzuweisen.173 Fallen Aufmerksamkeit oder Denken-an als An-dacht (Heidegger) eines besonderen Zugriffsaktes auf das Sein fort, weil jedes Achten-auf dem Wesen des Bewusstseins als Selbsterscheinen des Offenbarungswesens oder der Parusie bereits innewohnt, dann steht mithin auch nicht mehr das Wissen um einen transzendentalen Horizont bzw. der »Einheitspunkt« (Fichte) der Identität von Identität und Differenz selbst im Mittelpunkt der phänomenologischen Analyse, sondern gerade die Immanenz der ontologischen Bewusstseinsbedingung in allen existentiellen Bestimmungen als Lebens- oder Verstehensweisen. Die Kontingenz der Existenzverwirklichungen bedeutet aber nicht, dass sie dem Wesen des Erscheinens fremd blieben oder von ihm getrennt wären, auch wenn es sich um veränderbare Prädikate – oder sogar Existenzialien – in Bezug auf das reine Offenbarwerden der Lebensmanifestation handelt. Die radikalphänomenologische Immanenz, welche der absolute Idealismus nicht als eidetisches Selbst171 Für eine ausführliche phänomenologische Diskussion der Horizontproblematik vgl. M. Staudigl, Die Grenzen der Intentionalität. Zur Kritik der Phänomenalität nach Husserl, Würzburg, Königshausen & Neumann 2003. 172 G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 509. 173 Vgl. dazu vor allem sowohl unser hierauf folgendes Kapitel I,2 zum Realitätsverständnis bei Freud als auch II,6.3 zum Todestrieb in der jüngeren psychoanalytischen Diskussion.

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vergessen der reinen Verwesentlichung der Parusie in ihrer affektiv-impressionalen Materialisierung zu artikulieren vermag, sondern stets nur als Vergessen eines Anfangs im Rück-blick vom Hervorgebrachten aus problematisiert, bedeutet daher eine Universalstruktur der Existenz, ohne monistisch zu sein, weil dadurch die heterogenen Transzendenz- oder Horizonterscheinungen als Bestimmungs- bzw. Verstehensproblem keineswegs »aufgehoben« sind. Verneint wird durch diese Aufklärung nur, dass in irgendeiner Regression, Reduktion, Genesis oder Dialektik ein »wahres Wissen« als Rück-gang oder Meth-ode auf ein eigenes Wesen erfolgte, welches zum absoluten Wissen wurde – ohne damit andererseits jedoch gerade die sich-phänomenalisierende Absolutheit des Bewusstseins selbst als »Leben« zu leugnen, was auch für die psychoanalytische Kritik am nicht möglichen Zusammenfall von Begehren/Cogito in ihren Augen gilt.174 Die oben genannte Habitualität bedeutet daher in diesem Zusammenhang, dass die Parusie des Selbsterscheinens des sich verlebendigenden Seins von dessen Erscheinen »als« Bewusstsein (das heißt ohne jeden Vergleich hier) selbst garantiert ist. Die Struktureinheit von Noesis und Noema (Husserl) besagt dann, dass nicht nur eine Korrelationsintentionalität zwischen Bedeutung und Bewusstsein besteht, sondern dass deren Einheit als phänomenologische Bewusstseinsstruktur auch zugleich eine bestimmte Lebensweise des Bewusstseins ist, die den intendierten Sinn garantiert, in dessen existentieller wie transzendentaler Vollzugswirklichkeit die Anwesenheit des Selbsterscheinens des Bewusstseins gegeben ist. Im Denken einer idealen Figur wie des »Dreiecks« ist das Bewusstsein insgesamt ein geometrisches oder mathematisches, ohne aufzuhören, eine immanent ontologische Selbstphänomenalisierung zu implizieren. Jedes Verstehen besitzt daher einen existentiellen und ontologischen Aspekt, die nicht miteinander zu verwechseln sind, so etwa durch eine Thematisierung des wahren oder philosophischen Wissens mit begrifflichen Mitteln wie im Hegelianismus, wo es sich eben um ein existentielles Verstehen – als Bewusstseinsweise des ontologischen Verstehens – handelt. Denn existentielles Verstehen ist die Weise, ein bestimmtes Objekt zu verstehen, sowie gleichzeitig aber auch die Weise, wie sich die Existenz in einem solchen Bezug jeweils selbst versteht. Dabei ist die Existenz in einem solchen Existenzverständnis oder als Bewusstseinsweise stets vorausgesetzt, so wie jede transzendentale Bedeutung an sich den Sinnhorizont voraussetzt. Beide Voraussetzungen gehören zusammen und bilden das Selbsterscheinen des Seins, so dass auch das existentielle Verstehen seinen Grund im ontologischen Seinsverständnis findet, welches als der Grund aller möglichen Bedeutungen – einschließlich eines »Wesens der Logik« – zu 174 Vgl. R. Kühn, Begehren und Sinn. Grundlagen für eine phänomenologisch-tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und Supervision, Freiburg/München, Alber 2015, 232ff.

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betrachten ist. Denn teilt sich das Sein ursprünglich selbst in einem Bewusstsein mit, so bildet das ontologische Verstehen die allgemeine Struktur des absoluten Wesens des Erscheinens. Wenn daher die existentielle Bestimmung immer auch eine Bestimmung der Existenz selbst darstellt, dann beinhaltet das meist implizit existentielle Selbstverständnis indirekt stets auch ein existentielles Verstehen des Wesens der Existenz in seiner allgemeinen ontologischen Struktur. Da das Bewusstsein demzufolge dem Sein auf der natürlichen, wahren wie absoluten Ebene begegnet, ist mithin das ontologische Verstehen von jedem existentiellen Verständnis streng unabhängig, was des Weiteren besagt, dass es keinerlei Beeinträchtigung der universalen Seinsstruktur in ihrem lebendigen Erscheinen als Wesen seitens eines wahren oder falschen bzw. echten oder unechten existentiellen Selbstverständnisses gibt. Was es hingegen gibt, ist ein absoluter Erscheinensgegensatz zwischen der Existenz oder dem Leben in ihrem Selbstsein und der Art und Weise, wie diese Existenz sich selbst vorstellt oder versteht, und zwar bis in das dialektische »Aufheben« als Erfahrungsprozess der Wirklichkeit hinein. Denn gerade die Ideologiekritik bei Marx gegenüber Hegel macht unter anderem deutlich, dass die Bedeutungsaufhebungen in der Negation sich nicht dem ontologischen Realmoment der »Selbsterprobung« in der Erfahrung substituieren können, das heißt, kein besonderer Verstehensakt jemals das ersetzen kann, was Marx die »lebendige« oder »subjektive Arbeit« nennt, welche im Sinne einer radikalphänomenologischen Lektüre als die Materialität des Erscheinens in seiner subjektiven Erprobung als Praxis verstanden zu werden vermag.175 Kommen wir auf unseren Ausgangspunkt zurück, so bleibt mithin zu sagen, dass eine solche Phänomenologie einer originären Erscheinensmaterialität als Subjektivität reine Passibilität oder Praxis im Sinne innerer Modalisierung immer auch Erste Philosophie bedeutet. Das Bewusstsein ist insofern an sich die Wahrheit, als es sich in seiner Wahrheit immer schon versteht oder weiß. Es weiß, dass die Wahrheit des Seienden durch sein Bewusstseinswissen vom Seienden gebildet ist, das heißt durch das Bewusstsein selbst. Aber diese Wahrheit ist eben ontologisch oder begrifflich nicht transzendent als Bezug zu einem natürlichen oder philosophischen Wissen, sondern es ist die ontologische Wahrheit, welche als radikal verstandenes Bewusstseinsleben von jeder Wahrheitsvorstellung im Sinne eines besonders definierten oder gesetzten Aktes unabhängig ist. In idealistischer Terminologie ist diese originäre Wahrheit als Ansich-Sein zugleich das Fürsich-Sein, was eben keinen problematischen Bezug 175 Vgl. etwa K. Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts (Marx Engels Werke 1), Berlin, Dietz 1972, 203–333; dazu auch M. Henry, Können des Lebens. Schlüssel zur radikalen Phänomenologie, Freiburg/München, Alber 2016, 90–113: »Zur Krise des Marxismus – das Doppelantlitz des Todes«.

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des Allgemeinen zum Besonderen in der Bestimmungsgenesis oder -logik ausdrückt, sondern die Tatsache, dass das Fürsich-Sein des Bewusstseins genau seine Wahrheit bildet. Diese Urfaktizität macht sein Leben aus, ohne Urfaktum und Urstand an dieser Stelle differenzieren zu können, das heißt, ohne »stehendes Strömen« und »Gegenstück« des Ichseins in die Position eines ersten »Da« zu bringen, wo sich Bestimmbarkeit als Richtung der intentionalen »Weckung« entscheidet.176 Im Unterschied zu Husserl, der sich hier Fichtes Denken eines Ichs als eines reinen Handelns annähert, um nicht die ausschließliche Noetisierung des Bewusstseins ohne noematisches Gegengewicht (Nichtich) unterschreiben zu müssen, ist das Leben des Bewusstseins – als Leben, und nur als solches – ein Leben in der Wahrheit, welche die seinige ist. Es ist das Leben der Wahrheit selbst, nämlich als unaufhebbarer Phänomenalisierungsgrund im Sinne des immanenten Selbsterscheinens des Erscheinens. Ist solche Wahrheit aber zunächst nie transzendent, so kann sie auch niemals unbekannt oder dunkel sein, denn »dunkel« bleibt sie nur für den Blick der Vor-stellung im Gegen-über, von deren aufzuklärender Konstellation eben schon Fichte richtungweisend bemerkte: »Was das Sehen in jener Vernichtung seiner selber intuirend projicirt, und von uns, als intuirend projicirend, genetisch eingesehen wird, ist Sein, und zwar ein kräftiges Sein.«177 In Bezug auf die Welt fallen daraufhin nicht nur Bewusstsein von Welt und Bewusstsein der Einbildung von Welt als mögliches »Nichts« auseinander, wie wiederum Husserl178 gezeigt hat, sondern es kommt im Zusammenhang mit dem Idealismus und der philosophischen Tradition insgesamt insbesondere darauf an, durchgehend die Frage zu stellen, ob die innere Struktur des Selbstbewusstseins und/oder »Ichs« nicht noch weithin vom Weltbewusstsein her interpretiert wird. Dies bedeutet, nicht nur zu fragen, ob sich die Objektivität der Subjektivität substituiert, sondern letztlich festzustellen, dass die gleiche Anwendung des Bewusstseinsbegriffs auf das Selbst wie auf die Welt diesen Begriff dann eigentlich leer lässt, denn das Bewusstsein kann nicht unter seinem eigenen Begriff auf gleiche Weise wie die Welt zurückbehalten werden. Ist aber die Bewusstseinsfrage die Strukturfrage als Eidetik der Bewusstseinsphänomenalität in ihrer Phänomenalisierung als solcher, dann kann diese auch nicht wie ein »Problem« vor dem philosophischen Blick aufbrechen, was durchaus in gewisser Hinsicht Hegels Kritik an der Unmittelbarkeit in diesem Sinne als je »vermittelter« Erfahrung rechtfertigt – und zwar zum Beispiel gegenüber Fichte noch176 E. Husserl, Ms. L I, 20, 4a; zit. E. Marbach, Das Problem des Ich in der Phänomenologie Husserls, Den Haag, Nijhoff 1974, 216. 177 Die Wissenschaftslehre. Zweiter Vortrag im Jahre 1804, Hamburg, Meiner 1986, 261 (SW X, 295f.). 178 Vgl. Ideen I, § 27 u. 34.

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mals, wenn dieser das Sehen des Seins mit dem »Sich-vernichten in sich selber vor dem absolut immanenten Sein« geschehen lässt.179 Wir haben dieses »Vor« der Vor-stellung oder des Horizonts bzw. des feldhaften Gegen-über sicherlich ausreichend problematisiert, um hier für die folgende Untersuchung bemerken zu können, dass es nicht zwei unverbundene Bewusstseinsformen – mit und ohne Welt – gibt, welche sich phänomenologisch unaufgeklärt gegenübertreten könnten. Das Einheitsmotiv im spekulativen Idealismus bietet daher genau jene phänomenologische Situation, die Möglichkeit des Bewusstseins von Selbst und Welt als Bewusstsein zu erkennen, denn das Bewusstsein von Welt genügt sich auf keinen Fall selbst. Deshalb kann es auch jenes Wesen des Bewusstseins nicht einschließen, welches sich ursprünglich ohne innere Trennung oder Gespaltenheit phänomenalisiert – und in diesem Sinne »ohne Welt« ist, was nicht heißt: ohne prinzipielles Transzendenz-, Horizont- oder Zeit-Vermögen. Mit anderen Worten hat es eine streng phänomenologische Bedeutung, ein solches Bewusstsein ohne Welt (Differenz) zu denken, nämlich eine Offenbarungsrealität (Parusie) zu erkunden, welche in ihrer Immanenz als Sphäre der Selbstoffenbarung keine Weltform besitzt – mithin sich nicht im Außer-sich der Ek-stase phänomenalisiert, ohne jedoch davon getrennt zu sein,180 wie dies gleichfalls für die Psychoanalyse zu erkunden bleibt. Historialisiert sich die Phänomenalität der Transzendenz als Außer-sich im absolut rezeptiven Inneren der Immanenz selbst, dann besteht damit auch die radikal phänomenologische Möglichkeit, dass sich die Phänomenalisierung der »Welt« in der nicht-mundanen Phänomenalität des Selbsterscheinens ereignet – im »Band des Lebens«, von dem der Idealismus als Identität der Identität und der Differenz immer wieder spricht. Eidetische Analyseaufgabe ist es daher, wie das Bewusstsein »ohne Welt«, das heißt die Horizontbildung innerhalb der reinen Rezeptivität der Transzendenz, dennoch das »Bewusstsein« des Bewusstseins der Welt bleibt.181 Beruht in der Tat die Realität der Transzendenz in jenem Wesen des Erscheinens, welches sich seinerseits nicht wiederum transzendiert oder differiert, dann besitzen wir im Moment dieser inneren Unmöglichkeit des Sich-nicht-transzendieren-Könnens die höchste phänomenologische Verwesentlichung des ontologischen Gesamtprozesses des Seins als Leben, welches in allen Punkten jeweils »bei sich« bleibt, keine Distanz in sich kennt, und deshalb auch reine Passibilität genannt werden kann, die ohne jede Ausfluchtsmöglichkeit ist – weder durch Gesinnung noch durch Dialektik oder 179 Die Wissenschaftslehre, 260 (SW X, 295: 26. Vortrag; Hvh. R. K.). 180 Vgl. M. Henry, Können des Lebens, 114–122: »Was ist eine Offenbarung?«. 181 Vgl. R. Formisano, »Die Frage der Transzendenz bei Michel Henry und die Voraussetzungen der Kritik an der Philosophie Heideggers in L’essence de la manifestation«, in: S. Grätzel u. F. Seyler (Hgg.), Sein, Existenz, Leben, 55–83.

Vorstellung und Unbewusstes als »Repräsentanz« in der Psychoanalyse

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»Verdrängung«. Die Philosophien des Bewusst/Seins, der Existenz, sind daher in die Unmittelbarkeit einer Anwesenheit hinein zu führen, kraft derer es nicht mehr möglich ist, »sich« in irgendeiner Weise von »sich« zu lösen, sich zu übersteigen oder sich selbst vorzustellen. Alles, was in diesem radikal phänomenologischen Sinne wirklich ist, trägt diese Struktur der Unmittelbarkeit als Praxis oder Erprobung an sich: das Bedürfen, der Trieb, der Schmerz, die Freude, die Arbeit oder das Handeln etc., da sie im letzten mit den Darstellungen oder sprachlichen »Äußerungen«, wie Hegel die Erfahrungsgestalten nennt, unverrechenbar sind. Dieses unmittelbare Erfahren als Selbsterscheinen des Erscheinens nennen wir in seiner radikalen Immanenz Subjektivität oder Leben und wollten hier im ersten Kapitel auf deren prinzipiell unverzichtbaren phänomenologischen Status seit dem Denken der Antike bis hin zur Psychoanalyse verweisen, nämlich als jenen unaufhebbaren »Ort« der Phänomenalisierung, welcher einen absoluten Anfang in seinem eigenen originären Selbstvergessen ohne jede retentionale oder regressive Erinnerbarkeit bildet.

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Vorstellung und Unbewusstes als »Repräsentanz« in der Psychoanalyse

Nach dem bisher Festgehaltenen ist einleuchtend, dass eine klassische Phänomenologie des intentionalen Bewusstseins sich mit der psychoanalytischen Entzifferung von Bedeutungen oder Vorstellungen als einer hermeneutischen Archäologie treffen kann, weil die abendländisch ontologische Voraussetzung betreffs »Wahrheit« von beiden letztlich geteilt wird – nämlich als die Sichtbarmachung, Bewusstwerdung oder Sinnerhebung innerhalb einer Phänomenologie der Transzendenz. Strukturell gesehen, ist es dabei seit dem Idealismus gleichgültig, ob die Hervor-bringung des Sinnes als Ob-jektivierung eines Subjekts begriffen wird, welches sich darin letztlich erschöpft (so schon bei Kant), oder als Auf-brechen einer »Natur«, die dieses Subjekt dann erhellt (wie etwa Schellings »Unbewusstes« und »Potenzen«). In all diesen Fällen verharrt die Phänomenalität in der Eröffnung eines »Außen« als Erfahrungsmöglichkeit aller Objekte aus der Ek-stasis des Seins heraus, um mit Heidegger zu sprechen. Denn eine wirkliche Kritik dieser »Metaphysik der Vorstellung« ist nur dort möglich, wo ihre ekstatische Grundvoraussetzung selbst verlassen wird – und damit Bedürfen wie absolute Subjektivität oder Affekt als Begehren bzw. Trieb einer anderen Phänomenalitätsweise zugezählt werden, wie wir dies gleichfalls für die Psychoanalyse im Folgenden untersuchen wollen. Freud hat in der Tat an einigen Stellen seines Werkes eine solche Bestimmung des Unbewussten als reines Bedürfen versucht, welches nicht nur in Abhängig-

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keit vom ekstatischen Latenz- oder Virtualitätsgedanken des Bewusstwerdens her konzipiert ist. Das heißt dort, wo das Konzept des Unbewussten nicht nur dazu benutzt wird, um funktional die Endlichkeit eines jeden ekstatischen Erscheinens zu beschreiben, worin jede Erscheinungsrealität als Sinn korrelativ mit einem Nichterscheinen bzw. Verschwinden verbunden ist. Im Anschluss an Schopenhauer scheint Freud vorübergehend erahnt zu haben, dass sich das Affektiv-Unbewusste nicht darin erschöpft, die Endlichkeit eines Bewusstseinslebens anzudeuten, welches nur von einem dunklen Horizont leerer Sinnpotenzialitäten umgeben ist. So wenn er schreibt: »Die Psychoanalyse hat diesen Schritt [der Annahme unbewusster seelischer Vorgänge] nicht zuerst gemacht. Es sind namhafte Philosophen als Vorgänger anzuführen, vor allem der große Denker Schopenhauer, dessen unbewusster ›Wille‹ den seelischen Trieben der Psychoanalyse gleichzusetzen ist.«182

Wille bedeutet bei Schopenhauer genau den Ausschluss einer jeden Vorstellung aus dem phänomenologisch lebendigen Wesen der Seele, so dass der immanente Grund unseres Menschseins – der »Wille« oder eben das leibliche Bedürfen – nicht unter die Form einer »Repräsentanz« des Triebes gefasst werden kann.183 Die Grundmodalitäten unserer Erfahrung als »Subjektivität«, nämlich genau jener Wille oder der Freudsche »Trieb« als »unbewusster Affekt«, erheben sich niemals in unserem Blickfeld, das heißt in irgendeiner Art von »Welt«, und sei sie archäologisch oder biologisch-energetisch konstituiert. Und deshalb werden Wollen, Bedürfen, Affiziertwerden, Begehren usw. von uns »primär« so gelebt, dass sie unsere seelische Originarität und damit unser inneres »kulturelles Sein« als unsere unverwechselbar pathische Subjektivität selbst sind. Genau diesen Grund, diese abgründige »Nacht«, die zugleich der Grund des Seins sowie unseres eigenen Wesens ist, scheint Freud als das eigentlich »Unbewusste« im Sinne von Energie und Trieben verstanden zu haben, um damit eine neuzeitliche Revolution der Bedürfens-, Kultur- und Realitätsauffassung grundsätzlich einzuleiten. In seinem Text von 1913 »Einige Bemerkungen über den Begriff des Unbewussten in der Psychoanalyse« erkennt man deutlich diese Wende der urphänomenologischen Erscheinensproblematik.184 Freud legitimiert nämlich hier das Unbewusste keineswegs durch die bloße Latenz der meisten psychischen Gehalte für das Gedächtnis, sondern er zieht die Kraft oder phänomenologische Wirktatsächlichkeit der »unbewussten Gedanken« an sich in Betracht. Und diese 182 S. Freud, »Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse« (1917): GW XII, Frankfurt/M., Fischer 1948, 1–12, hier 12. 183 Vgl. M. Henry, G8n8alogie de la psychanalyse. Le commencement perdu, Paris, PUF 1985, 159ff.; R. Kühn, Leiblichkeit als Lebendigkeit, 311ff. 184 Vgl. GW VIII, Frankfurt/M., Fischer 1948, 429–439.

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Kraft, Wirktatsächlichkeit oder Bedürfensbewegung als »Libido« verdanken diese »Gedanken« ihrem Unbewusstsein selbst. Alles Können oder Handeln scheint hier nur in der Unsichtbarkeit unserer absoluten Subjektivität vor jeder Welt möglich zu sein, das heißt »dort«, in einem »Sitz des Lebens«, wo jegliche Mächtigkeit als die Kraft ihres Vermögens in den unmittelbaren Besitz ihrer selbst eintritt, um sich so zu ergreifen, wie und was sie ausschließlich als affektives Können ist, welches sich mit unserem transzendentalen Ego- und Leibsein selbst identifiziert. Wenn sich in dieser selbstgegebenen Originarität vor aller primär empfundenen Emotionalität keine Dif-ferenz als Raum der Möglichkeit von (Selbst-)Vorstellung mehr auftun kann, um sich darin zu sehen oder vorstellend zu erfahren, dann deshalb, weil das originär immanente Handeln niemals von sich selbst als eine Objektivität in der Vorstellung getrennt sein kann, sondern sich als Handeln oder Kraft nur in dieser »Nacht« als subjektive Praxis zu ergreifen vermag. Das Nichtsehen als urphänomenologische Bedingung des je nur lebendigen Handeln-Könnens ist die konkrete Ermöglichung oder Potentialität selbst, um Kraft, Affekt, Lebensbewegung usw. zu sein, wie es auch die Psychoanalyse ontisch oder empirisch für unser »Triebschicksal« anerkennt. Es bleibt dennoch bereits deutlich zu unterstreichen, dass auch das »metapsychologische« – mithin nicht radikal aufgeklärte – Verständnis von »Primärprozessen« immer schon eine ekstatische Vorstellungs- und Zeitkategorialität methodisch mit einschließt, die in ihrer Fundierung auf jener unsichtbar affektiven Urphänomenalität beruht, welche im eigentlichen Sinne »primär« (originär) ist. Deshalb betrat auch Freud durch die Anerkennung eines »wirksam Unbewussten, das unbewusst bleibt und vom Bewusstsein abgeschnitten zu sein scheint«, in Unterscheidung von einem »wirksamen Vorbewussten, das ohne Schwierigkeit ins Bewusstsein übergeht«,185 einen Bereich, der nicht mehr der idealistisch oder hermeneutisch eröffnete Bereich der »Metaphysik der Vorstellung« oder des »Sinns« ist. Damit wird die prinzipielle Berechtigung rein reflexiver Bewusstseinsphilosophie auf den ontologisch ekstatischen Grundlagen des abendländischen Denkens überhaupt in Frage gestellt – aber ebenso die »Verdrängung« des Bedürfens als eine bloß vorübergehende »Latenz« für Gedächtnis und Erinnerung. Wenn Kraft, Begehren und Energie als (Sich-)Bedürfen realiter die Möglichkeit ihres Könnens und Handelns nur diesseits jeder Vorstellung in sich selbst zu entfalten vermögen, dann besteht das eigentlich psychoanalytische wie phänomenologische Problem nicht mehr darin, sie um jeden Preis in ein Feld von Bedeutungen bzw. Signifikanten (Lacan) einzuschreiben, welches immer auf epistemologischen und ideologischen Vorentscheidungen (Grammatik, Logik, Deutungen, Narration) beruht, seien sie szi185 »Einige Bemerkungen über den Begriff des Unbewussten in der Psychoanalyse«, 433f.

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entistischer, erkenntniskritischer oder sprachlicher Natur. Denn die Arbeit der »Sinngebung« (Husserl, Ricœur) ist nicht der originären Kräfteannahme und -konfrontation unterzuordnen, wo diese – sekundär unverstellt – sie selbst sein können, das heißt reiner Affekt als phänomenologische Urgegebenheit. Freuds radikal genommene Affektenlehre führt so zur Inbetrachtnahme einer anderen Phänomenalität schlechthin, welche das Bedürfen sowie Begehren als libidinöse Kraft und Bewegung in seinem singulären Können bei allen Individuen es selbst sein lässt, ohne es durch Vorstellungen zu verfremden, wie sie jede ekstatische bzw. hermeneutische Phänomenologie impliziert. Damit ergibt sich eine prinzipielle Untersuchungsfrage, welche Phänomenologie überhaupt für die Psychoanalyse angemessen wäre und wie letztere sich ihrerseits dazu verhält. Vorgänger innerhalb solcher Problematisierung waren Minkowski, Scheler oder Sartre zum Beispiel, die nach diesem philosophisch-psychoanalytischen Verhältnis gefragt haben, um dessen Neuformulierung wir uns hier im Zusammenhang mit der Kultur bemühen.186 Auf dem Grund des »psychisch Unbewussten« existieren eben nicht nur die »unbewussten Vorstellungen« (die ihre scheinbar autonome »Existenz« nur der Illusion einer vorstellungsorientierten Metaphysik des »Seins« verdanken), sondern dieses »psychische Sein« ist unhintergehbarer Affekt, von dem Freud in »Das Unbewusste« schreibt, dass er nie unbewusst sei: »Wenn wir den richtigen Zusammenhang wieder herstellen, heißen wir die ursprüngliche Affektregung eine ›unbewusste‹, obwohl ihr Affekt niemals unbewusst war, nur ihre Vorstellung der Verdrängung erlegen ist.«187 Insofern also der Affekt oder das Bedürfen wie Begehren nur »unbewusst« genannt werden, da sie die Sichtbarkeit (Vorstellung) als Erscheinungsweise von »Welt« für sich zurückweisen, stehen Psychoanalyse und eine radikale Phänomenologie dann vor einer vergleichbar wesenhafteren Aufgabe. Nämlich nicht mehr den Grund unseres Seins (»Seele«) einem Licht (Schau, Theorie, Deutung) zugänglich zu machen, welches diesen Lebensgrund prinzipiell verwirft, sondern die originäre Phänomenalisierung der Phänomenalität als Affektivität ohne Worte effektiv erproben zu lassen. Für die Psychoanalyse wie für eine praktische phänomenologische Psychologie und Psychotherapie erwächst hieraus die Aufgabe, die tiefsten Schichten unseres Seins als Leben nicht mehr einfach nur negativ zu bestimmen, das heißt durch den bloßen Abweis der »Bewusstheit«. Denn selbst wenn festgehalten wird, dass die Nicht-Unbewusstheit des Affekts bei Freud das »Triebschicksal« betreffe und 186 Vgl. H.-D. Gondek u. L. Tengelyi, Neue Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/M., Suhrkamp 2011, 260–265: »Phänomenologie und Psychoanalyse – lange Jahre der Verkennung«; zuvor schon J. Rütsche, »Freud in der französischen Philosophie«, in: Philosophisches Jahrbuch 78 (1971) 401–423; aktuell auch R. Bernet, Force – Pulsion – D8sir. Une autre philosophie de la psychanalyse, Paris, Vrin 2013. 187 GW X, Frankfurt/M., Fischer 1947, 276.

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keine Aussage über den »Trieb« als solchen bilde, bliebe damit die Frage nach der radikal phänomenologischen Bestimmung der Affektivität noch offen, wonach ihr ein transzendentales Eigenwesen losgelöst von jeder »Repräsentanz« zukommt, was gemeint ist, wenn Henry188 schreibt, dass »der Grund des Unbewussten als Affekt nichts Unbewusstes sein kann«. Wenn Freud sich einerseits aus praktischen Gründen der Kur/Analyse gegen vorgegebene Wesensaussagen der Philosophie mit einem gewissen Recht gewandt hat, wie wir schon in unserer Einleitung unterstrichen, so kann dies andererseits nicht die Frage verdecken, wie viel philosophische oder epistemologische Vorentscheidungen in seinem neuen wissenschaftlichen Paradigma unaufgeklärt blieben: »Auch der Analytiker lehnt es ab zu sagen, was das Unbewusste ist, aber er kann auf das Erscheinungsgebiet hinweisen, dessen Beobachtung ihm die Annahme des Unbewussten aufgedrängt hat. Der Philosoph, der keine andere Art der Beobachtung kennt als die Selbstbeobachtung, vermag ihm dabei nicht zu folgen.«189

Denn jede Weise, das Einwirken eines biologischen oder sonstigen materiellen Faktors auf eine seelische Realität zu erklären, bleibt in der Tat hypothesengebunden, weil dabei immer schon eine mögliche epistemische Einheit als solche vorausgesetzt ist, die aber an sich erst konstituiert werden soll. So ist gerade die »Repräsentanz«-Theorie Freuds ein Postulat ohne wirklichen phänomenologischen Aufweis,190 da die topische Trennung von Bewusst/Unbewusst nur auf ontisch »metapsychologische« Weise wiedergibt, was zwei Wesensformen der Phänomenalität als solche entspricht – der Dingphänomenalisierung als Erscheinen und Verschwinden in der Weltekstasis einerseits und der urimpressionalen Leiblichkeit als »Fleischlichkeit« (chair) des selbstnarrativen Affekts in seinem absolut subjektiven Bedürfen andererseits.191 Im Ekstatisch-Dimensionalen, das heißt im idealistischen Begriff, in Husserls Noematik oder Heideggers »Lichtung« unter anderem, sind Affekt/Welt voneinander wie getrennt. Aber da der Blick und die Ekstase ihrerseits sich immanent selbstaffizieren, vermag nichts an das Licht des Sichtbaren zu treten, was nicht zuvor zu seinem eigenen Können im unsichtbaren Sich- oder Lebensbedürfen seines eigenen Pathos in selbst-offenbarender »Narrativität« der Triebmodalisierung ge-worden ist. Der Versuch, tiefenpsychologisch in der »projektiven Identifikation« nur die Bewusstwerdung des Unbewussten als deutbares Gefühl, als Affekt zwingender Übertragungskraft auf den Analytiker (als Vater, Mutter, »Container«) zu fassen, macht daher aktuell deutlich, wie sehr das Vorstellungsdenken mit seinen diagnostisch-technischen Schemata weiterhin vorherrscht. Das methodische oder 188 189 190 191

G8n8alogie de la psychanalyse, 369. »Die Widerstände gegen die Psychoanalyse« (1925): GW XIV, 97–110, hier 104. Vgl. P. Ricœur, De l’Interpr8tation, 139f. Vgl. M. Henry, Inkarnation, 149–264: »Phänomenologie des Fleisches«.

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theoretische Bewusstsein des Analytikers soll auch hier das »Licht« hinsichtlich dessen bringen, was virtuell oder indirekt intendiert ist, und zwar aufgrund früher »Spaltungen« oder »Verdrängungen«: »Da projektive Identifizierung, zum Beispiel als Rückzug in den Leib der Mutter verstanden, Ungetrenntheit in der Intimität sucht, wird in diesem Rückzug immer auch die psychische Verarbeitung vermieden, die mit der Wahrnehmung von Realitätsaspekten beginnt, welche Trennung repräsentieren könnten.«192

Auf welchem Hintergrund jedoch werden hier »Spaltungen« konstatierbar, wenn nicht die »Psyche« bereits als »Differenz« oder »Selbstentfremdung« festgelegt wurde? Und was bedeutet »Intimität« wirklich, wenn sie in ihrem originär phänomenologischen Grund rein affektiver Immanenz verstanden wird? Daher setzen Vorstellungsaktualisierung wie deren affektive Bindung an »Widerstand« stets schon einen Affekt als »Meta-Genealogie« voraus, welche diese oder andere Vorstellungen ständig hervorbringt oder verdrängt. Deshalb bleibt das Vorstellungsschicksal der phänomenologisch autonomen Affektselbstbestimmung untergeordnet, und es gibt kein »Heil« durch irgendein distanziertes Erkennen, wie wir hier mit der Herausstellung inner-affektiver Intensität prinzipiell auch für die Kulturfrage festhalten möchten. Die Bewusstwerdung ist nicht jenes Ziel, bei der die affektiv triebhafte Bedürfnisübertragung als Veränderung ihrer selbst nur ein »Mittel« wäre, denn das Ziel affektbestimmter Triebwiederholung als »Wiedererleben« kann nur das singulär ipseisierte Leben selbst sein.193 Das heißt seine inner-narrative oder pro-duktive Erfüllung, und zwar allein durch sich selbst, was der Begriff »Glück« oder »Seligkeit« für das Wesen des Lebens bei Spinoza und Fichte aussagt. »Wahrheit« ist daher eine rein subjektive Kategorie, mein unmittelbar leibliches Fleisch, das ich den Dingen impressional verleihe, so dass Wahrheit originär niemals die »Übereinstimmung« mit einer Theorie oder einem distanziert Objektiven (»Realität«) im Sinne einer gedanklichen oder ethischen »Einsicht« darstellen kann. Für jede Wahrheit ist und bleibt das originäre, nie unterbrochene SichGeben des selbstaffektiven, urimpressionalen Pathos notwendig. Von solch grundsätzlich fleischlicher Wahrheit zeugt jedes Bedürfen, welches nicht durch ausschließlich intentionale Projektionsbündelung in jeder Art von Psychologie verkannt und domestiziert werden darf, wenn man sein phänomenologisches 192 H. Hinz, »Projektive Identifizierung und psychoanalytischer Dialog«, in: Psyche 7 (1989) 615–631, hier 618f., sowie B. Fink, Grundlagen der psychoanalytischen Technik. Eine Lacanianische Annäherung für klinische Berufe, Berlin/Wien, Turia + Kant 2013, 239–270, zur Problematik der »Projektiven Identifikation«. 193 Für dieses lebensphänomenologische Verständnis von »Übertragung« vgl. auch M. Henry, »Mitpathos als Gemeinschaft«, in: Affekt und Subjektivität. Lebensphänomenologische Beiträge zur Psychologie und zum Wesen des Menschen, Freiburg/München, Alber 2005, 140–162, hier 154ff.

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Eigenwesen als je individuierten Grund allen Erscheinens erproben will, welches unser »Menschsein« als radikalphänomenologische Wirklichkeit selbst bildet. Natürlich kann man diese Sichtweise unter Berufung auf ein historisches Phänomenologieverständnis mit entsprechendem Korrelat der »Person« als »autonomem Subjekt« innerhalb von Psychologie und Medizin in Frage stellen.194 Aber eine radikalphänomenologische Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse bietet den Vorteil, dass man nicht länger im Praxisfeld einer bloß »idealen Beraterfunktion«195 verharren kann, sondern der reine Affektaustausch bei Neurose, Depression, Perversion, Traumatisierung und anderen seelischen Konflikten mittels der Übertragung zu erproben ist. Im Folgenden bleibt daher auch die Diskussion mit Jacques Lacan zu integrieren, der in seiner Spätzeit ab 1960 bereits zwischen der Unmöglichkeit unterscheidet, dass die symbolische Repräsentanz das »Reale« (le r8el) abdecke, und dem Genießen (jouissance), welches sich nur teilweise solch lebensweltlichen Signifikanten unterwirft und daher einen realen Rest – das »Objekt a« – hinterlässt. Dieses vom imaginär vorgestellten Objekt unterschiedene »Objekt a« stellt einen nicht assimilierbaren Überschuss dar, der einerseits als Ursache des Begehrens auftritt und andererseits auf die an sich verhüllte Gegenwart des »Objekts a« als Ursprung der Angst zurückverweist. Das Begehren erscheint auf diese Weise rätselhaft und verfestigt sich schlechthin im »Phantasma« zum »Partialobjekt« (Freud), welches das Subjekt für den Anderen zu sein glaubt. Die Kur/Therapie besteht im Durchqueren dieses »Phantasmas«, um die ursprüngliche Identifizierung aufzugeben; mit anderen Worten darin, die Spannung zwischen dem Begehren nach Anerkennung und deren vermeintlichem Anspruch im Bedürfen festzuschreiben und dadurch auflösen zu wollen. Das Freudsche Unbewusste ist in seinem libidinösen Wirken für Lacan damit eine gleichzeitige Öffnung und Schließung, deren »Pulsieren« Tiefe und Innerlichkeit ausschließt. Insofern das Subjekt zwischen der singulären Wahrheit des Begehrens und dem »Wissen« darüber in seinem Bedürfen gespalten ist, gelangt diese Wahrheit erst zu ihrem eigentlichen Sprechen, wenn affektiv wie existentiell erprobt wird, »dass keine Sprache je das Wahre über das Wahre sagen kann«.196 Einschließlich »Gott« als 194 Vgl. S. Rinofner-Kreidl, »das Leben aus sich selbst sagen lassen: das Berliner Modell einer lebensphänomenologisch fundierten Psychotherapie«, in: Phänomenologische Forschungen (2007) 193–218. 195 Vgl. T. Rendtorff, Ethik. Grundelemente, Methodologie und Konkretionen einer ethischen Theologie, Tübingen, Mohr Siebeck, 2. durchges. Aufl. 2011, 231–223. 196 Vgl. J. Lacan, »La science et la v8rit8«, in: Pcrits, Paris, Seuil 1966, 246 (dt. Teilübers. Schriften I–III, Olten, Walter 1973). Da in unserer vorliegenden Untersuchung Freuds Psychoanalyse mehr Raum als Lacans kritische Weiterentwicklung derselben einnimmt, dürfen wir an dieser Stelle auf unsere bereits existierenden Arbeiten zu letzterem verweisen: Bedürfen und Sinn, 211–466; Diskurs und Religion. Der psychoanalytische Wahrheitszugang nach Jacques Lacan als religionsphilosophisches Problem, Dresden, Text &

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imaginäres Identifikationsobjekt soll damit jede apriorische bzw. offenbarte Wahrheit in ihrem Aussageinhalt getroffen sein, was unsere Auseinandersetzung mit der psychoanalytischen Philosophie- wie Religionskritik in den nachfolgenden Kapiteln bestimmen wird. Aber auch der von Lacan – wie bei Freud schon – unternommene Versuch der Entflechtung des Begriffs des Unbewussten vom Irrationalen, um das Unbewusste als regelhafte »Sprache« von »Verschiebungen«, »Verdichtungen« und »Symbolisierungen« im Sinne von Ellipse, Pleonasmus, Allegorie, Metapher etc. aus der Rhetorik einsichtig zu machen, vergisst, dass das »Irrationale« nur irrational aus der Sicht der hypostasierten Vernunft ist. Damit wird nicht nur weiterhin das Unbewusste vom Vorstellungsbewusstsein her – und grundsätzlich als »Bewusstwerden« zu diesem hin – bestimmt, sondern es unterbleibt fatalerweise gerade eine phänomenologische Aufklärung des Unbewussten und seiner »Sprache« als originäres »Wort des Lebens« (Henry). Erst die von vornherein als selbstverständlich angenommene »Dunkelheit« des so genannten Unbewussten erlaubt es, überhaupt vom Irrationalen zu sprechen, denn in sich ist die Affektrealität als Trieb oder Begehren reine Selbsttransparenz des Pathos, wie wir schon unterstrichen. Da insbesondere nach Descartes das reine Ego aus der Sicht radikaler Epoch8 nur diese pathische oder passible Affektivität sein kann, die als cogitatio jeweils im Denken, Gehen wie Empfinden zum Beispiel auf gleiche Weise gegeben ist, kann diese »Sprache« des Affekts als rein immanente »Narrativität« auch keinem Textmodell mehr entlehnt sein. Die »Ich-Aussage« innerhalb einer strukturalen Textreferentialität würde sich genau an jenem Cartesianischen Apriori der absoluten Lebensselbstphänomenalisierung stoßen, dass alles Mundane durch den »absoluten Zweifel« gänzlich aufgehoben ist. Auch ein Text kann als Bedeutung nur im Licht einer Differenz oder Distanz erscheinen, was Jacques Derrida auf seine Weise der subtilen differentiellen »Randeinschreibungen« durch Sinnsupplemente immer wieder deutlich gemacht hat.197 So bleibt die Frage, ob eine – phänomenologisch gesehene – Psychoanalyse Freuds wie Lacans und ihrer Nachfolger im Feld objektivierender Wissenschaftlichkeit heute insgesamt eine Verantwortung für das zu übernehmen in der Lage ist, was in der vorgegebenen Welt noch »leben« lässt und

Dialog 2016; Der therapeutische Akt. Seine Singularität in Bezug auf Wissen und Wahrheit in lebensphänomenologischer und Lacan’scher Perspektive, Freiburg/München, Alber 2018, 83–241. 197 Vgl. M. Henry, Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, Freiburg/München, Alber, 1994, 97f., wo die fundamentale Auseinandersetzung mit der strukturalistischen Textanalyse vor allem am Beispiel von Merleau-Pontys Cogitoauslegung erfolgt. In Bezug auf Heidegger, Freud, Lacan und Postmoderne allgemein siehe ebenfalls »Die Kritik des Subjekts«, in: Affekt und Subjektivität, 33–50.

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vielleicht auch als »Liebe« des Vollzugs der Verwandlungen und Verheißungen für das Wesen des »Anderen« jenseits der Faktizität der Person fähig ist.198 Nimmt die Betonung auf das Begehren (d8sir) besonders in der französischen Psychoanalyse und Phänomenologie gegenwärtig den Vorrang ein,199 so werden in anderen psychoanalytischen Richtungen nach Freud eher der Aggressionsund Todestrieb wie bei Melanie Klein, der primäre Narzissmus nach H. Kohut200 bzw. die Bildung »gespiegelter Selbstaffektivität« als erstes vorreflexives Selbstbild durch aktive Bezugsaufnahme zu Anderen wie bei E.H. Erikson201 in den Mittelpunkt gestellt. Diese für Klinik und Psychotherapie sehr wichtigen Erweiterungen der ursprünglichen Freudschen Psychoanalyse entstanden aus der Notwendigkeit, bestimmten seelischen Phänomenen besser gerecht zu werden, so etwa Spätfolgen bei Vergewaltigung, die neben Traumatisierung immer auch eine Objektidentifikation des Opfers mit dem Täter beinhalten.202 Aber radikalphänomenologisch gesehen, arbeiten diese späteren Ansätze nach Freud ebenfalls mit jeweils ersten hypothetischen Setzungen, selbst wenn sie aus dem praktischen Umgang mit den »Symptomen« erhoben sein sollen und heute die gesellschaftlichen Bedingungen der Postmoderne als neue Gegebenheiten mit berücksichtigen.203 Denn ob der »Ödipuskomplex« oder ein ursprünglicheres Aggressionsempfinden wegen »Vernichtungsangst« in Bezug auf die Mutter gegeben sei, die das Kind eigentlich töten wolle, wie nach M. Klein,204 oder ein ursprünglicheres symbiotisches »Heil«-Sein im primären Narzissmus angenommen wird, der nach Kohut wie auch bei Bion und Winnicott die Therapiebegegnung zu einer 198 Vgl. G.-F. Duportail, Les institutions du monde de la vie. Merleau-Ponty et Lacan, Grenoble, Millon 2008, 159f. u. 205f. 199 Vgl. M. Fäh, »Das Menschenbild der Psychoanalyse Sigmund Freuds«, in: H.G. Petzold (Hg.), Die Menschenbilder in der Psychotherapie. Interdisziplinäre Perspektiven und die Modelle der Therapieschulen, Wien, Krammer 2012, 345–368, hier 363; B. Baas, Le d8sir. Parcours philsophiques dans les parages de J. Lacan, Löwen, Peeters 1992; R. Barbaras, Le d8sir et la distance. Introduction / une ph8nom8nologie de la perception, Paris, Vrin 1999. Dabei ist bei d8sir gemäß der Tradition sowohl an den conatus (Spinoza) wie appetitus (Leibniz) und den »Willen zur Macht« (Nietzsche) zu denken. 200 Vgl. Narzissmus, Frankfurt/M., Suhrkamp 1971. 201 Vgl. Identität und Lebenszyklus (1959), Frankfurt/M., Suhrkamp 1973; von D.N. Stern weitergeführt durch empirische Säuglingsforschung; vgl. Die Lebenserfahrung des Säuglings, Stuttgart, Klett-Cotta 1992. 202 Vgl. M.B. Buchholz, »Das Selbst – Über den Individualismus hinaus. Einige Befunde der Säuglingsforschung – neuere psychoanalytische Perspektiven«, in: H.-G. Petzold (Hg.), Identität. Ein Kernthema moderner Psychotherapie – interdisziplinäre Perspektiven, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2012, 295–332, hier 298f. 203 Vgl. dazu bereits unsere Einleitung Teil 3: »Postmoderne Perspektiven der Psychoanalyse«. 204 Vgl. Das Seelenleben des Kleinkindes (1963), Stuttgart, Klett-Cotta 1983, sowie zur Diskussion der Kleinschen Position bei J. Lacan, Le d8sir et son interpr8tation, Paris, Edition de la MartiniHre 2013, 32ff., 74ff., 510ff u. 562ff.

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erneuerten, stets wohlwollenden Mutter-Kind-Beziehung werden lässt, um eine im frühen Erleben bedingte »Ichschwäche« zu überwinden – es bleiben in radikalphänomenologischer Betrachtungsweise diese Vorstellungen von Mutter, Kind, Aggressionsobjekt oder Bezugsselbst etc. zunächst radikal einzuklammern. Erst diese Epoch8 befreit von bestimmten empirischen »Objektivitäten« als Anfangspostulaten, um ein vor jeder Repräsentation gegebenes singuläres »Leben« in Anschlag zu bringen, dessen (mit-)pathische Selbstnarrativität im analytisch-therapeutischen Austausch dann aufzugreifen ist. Denn beispielsweise die »Mutter« in einer Art »Urszene« anfänglich zu lieben oder zu hassen, setzt bereits voraus, dass es überhaupt ein immanent-affektives Selbsterscheinen von Hass oder Liebe im Sinne einer Lebensselbstaffektion gibt, die nicht erst durch eine Objektrepräsentanz gesetzt ist. Ist das Pendeln bei Freud zwischen begrifflicher Logik und beobachtender Erfahrung sowohl typisch wie problematisch in seinem methodischen Vorgehen,205 auch wenn die Kur eine besondere Praxis erfordert, so erklärt sich dies aus einer gewissen »Amphibolie« des Cogito seit Descartes bereits, welches sowohl »Bewusstes« wie »Unbewusstes« umfasst oder zumindest zulässt.206 Gibt es aber weder Sinnhermeneutik noch Anruf als letzten Boden einer ekstatisch intentionalen Phänomenologie in der Erbfolge des Idealismus, dann ist damit auch entschieden, dass der Mensch nicht ausschließlich als transzendent verwiesenes »Fragewesen« oder »blindes Begehren« zu definieren ist, sondern als eine je einmalige Intensität des vorgängigen Schweigens des Lebens selbst zu bestimmen bleibt.207 Fällt nämlich hierbei Transzendenz in jeglichem Sinne von Horizont fort, weil eine Frage wie ein Anruf sich nur in letzterem entfalten können, dann ist der »Mensch« eben jene rein pathische oder affektive Erprobung, die als die gleichzeitige Gewalt wie Seligkeit der Passibilität als Selbstpräsenz des Lebens im Zusammenhang mit der Psychoanalyse zu analysieren bleibt. Dieses Schweigen wäre das je Unmittelbarste als das Sich-selbstVernehmen des Lebens in jeder unserer immanent narrativen Modalitäten.208 Und ohne Zweifel werden wir uns von diesem »Ort« her fragen müssen, ob die »Normalität« oder das »Pathologische« das letzte Wort des Lebens ausmacht, falls allein die originäre Affektabilität die konkret transzendentale Ermöglichung in diesen manifesten Erscheinungen bildet. Mit anderen Worten könnte

205 206 207 208

Vgl. P. Ricœur, De l’interpr8tation, 377ff. Vgl. M. Henry, G8n8alogie de la psychanalyse, 79. Vgl. R. Kühn, Begehren und Sinn, 204ff. Auch Psychoanalytiker wie W.R. Bion greifen auf diesen »Nullpunkt« des Schweigens in jeder Analyse/Therapie zurück; vgl. K.H. Witte, Zwischen Psychoanalyse und Mystik. Psychologisch-phänomenologische Analysen, Freiburg/München, Alber 2010, 48ff.

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man auch von einer »therapeutischen Reduktion« sprechen,209 das heißt als Abkehr von jedem Dogmatismus und der Vorherrschaft eines Logozentrismus der Deutung oder Konzeptualisierung, insofern jeder analytischen Matrix, die stets auch eine fragmentierende Schematisierung der affektiven Leiblichkeit darstellt, eine vor-begriffliche Sphäre der Immanenz vorausliegt, welche die Unterscheidung von Subjekt/Objekt noch nicht kennt. Auf dieser Ebene herrscht dann nicht nur das genannte Schweigen des Lebens, welches sich in keinem Begriff fassen lässt, sondern auch die Unauftrennbarkeit von praktischer Bejahung des passiblen Mich und der möglichen Bildung von Begriffen – eine Einheit in der pathischen oder intensiven Immanenz von Ego-cogito-cogitatio, wo noch keine wissenschaftlich-intentionale Bestimmung des Ichs gegeben ist, und somit auch keine sprachliche Bestimmung dieser vor-begrifflichen Ipseität.210 Was sich im originären Schweigen des Lebens als rein affektiv-leibliche Selbst-Narrativität offenbart, unterliegt somit zunächst keinem Apriori in wissenschaftlichen, philosophischen oder psychoanalytischen Termini. Vielmehr handelt es sich allein um eine rein phänomenologische Materie, welche den Ausgangspunkt jeder Analyse/Therapie bildet und im weiteren Sinne die transzendentalen Bezüge der Innerweltlichkeit wie Intersubjektivität mit deren vielfachen Figuren und Konstellationen grundlegt. Daraus ergibt sich hier am Ende unseres ersten Kapitels schon deutlich, dass der Begriff der Analyse/Therapie radikaler anzusetzen ist, als er von den verschiedenen Therapieformen zumeist verwandt wird, was nunmehr in einem detaillierteren Durchgang durch Freuds Denken vorgestellt werden soll. Als Vorgriff auf die dabei sich einstellenden Ergebnisse lässt sich an dieser Stelle bereits festhalten, dass sich Freuds Konstanzprinzip der »Reizerregung« als die Permanenz der Selbstaffektion zu verstehen gibt, so wie die Entropie der libidinösen Energie als jene ständige »Affektentladung« wirkt, die dem Subjekt in der Angst als Unmöglichkeit einer Trennung vom rein phänomenologischen Leben entgegentritt. Damit sind die Fragen der »psychischen Realität« letztlich nicht in irgendeiner Es-Vergangenheit aufzusuchen, sondern in einem je aktuellen Jetzt des Lebens, so dass sich die Freudsche Mythologie der ödipalen Archaik und Dynamik mit ihren Prozessen des Unbewussten als der stets anwesende Un-grund des Lebens erweist. Ist aber das »Unbewusste« dieses »Ungedachte« des Lebens selbst, dann klärt das analytisch-therapeutische Material von Verwerfung und Verdrängung nur einen Schein an der psychischen Oberfläche mit ihren regressiven Bestimmungen auf, die nicht mit der ursprüngli209 Vgl. R. Arsenic-Zamfir, Le corps dans la philosophie franÅaise contemporaine: Michel Henry et Gilles Deleuze, philos. Diss. Universit8 de Bourgogne (Dijon) 2006, 80f. 210 Für eine subjektive Singularität entgegen einer rein sprachlichen Bestimmung von Subjekt/ Unbewusstem plädiert ebenfalls M. Thiberge, Essai sur la psychanalyse et la postmodernit8, Paris, L’Harmattan 2018, 21–26: »La psychanalyse est-elle une th8rorie de l’.me?«

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chen Phänomenalität des Lebens in dessen Selbsterscheinen als solchem identisch sind. Denn das Verschwinden im Unbewussten ist als Grenzphänomen der Vorstellbarkeit (Repräsentanz) die Präsenz der Selbstgegebenheit des Lebens schlechthin, wodurch sich ein unablässiger Übergang von Vorstellung/Verdrängung ergibt. Die idealistische wie psychoanalytische Problematik eines unbewusst hervorbringenden »transzendentalen Bewusstseins« birgt mithin ein ontologisches Gesetz der unaufhörlichen Reversibilität von Bewusst/Unbewusst, das heißt die rein praktisch historiale Erprobung der Lebensankünftigkeit als solche, die nur über eine solche Grenzgegenwart deiktisch zugänglich wird. Sexualität, primäres Kindsein, das Unbewusste als Affekt sowie die individuellen Symptome als »Unbehagen« in einer triebabhängigen Kultur sind dann als die rein phänomenologische Passibilität in jeder subjektiven Erprobung selbst zu lesen, so wie ebenfalls der Bezug zwischen Begehren/Erinnerung Vorstellungen entspricht, die teilweise nie in eine Wahrnehmung eingegangen sind, ohne die Selbstaffektion des Lebens dabei verlassen zu haben. Jede Reizerregung in ihrer endogenen Konstanz bleibt daher von der absoluten Subjektivität als Ipseität bestimmt, von der sich das Leben niemals löst, weshalb die Gesetzmäßigkeit von Lust/Unlust als Freude/Schmerz ohne Unterlass an den immanenten Prozess des absolut phänomenologischen Lebens erinnert. Und wird der »Affektbetrag« zu einer möglichen »Schwere des Lebens« in Freuds Sprache, dann berühren wir damit nicht nur eine »Verdrängung«, sondern eben diesseits jeglicher empirischen Triebgeschichte die ursprüngliche Historialität des Lebens, in der die Angst als Begleiterin aller Affekte eine nicht genutzte Libido als Energie bedeutet, die sich als subjektive Lebensbewegung in ihrer kreativen Hervorbringung freisetzen will. Auf diese Weise sind Trieb/Leben identische Wirklichkeiten, welche schließlich die Annäherung von Psychoanalyse und radikaler Phänomenologie in diesem Sinne erlauben.

2.

Das Realitätsverständnis gemäß Sigmund Freud

Indem Freud den »Todestrieb« einführt, der eine Revision des »Lustprinzips« als des primären Gegenspielers des »Realitätsprinzips« beinhaltet, stellt sich die Frage, worin diese neue Dimension des Realitätsbegriffs besteht, denn bis dahin galt, gegen die Widerstände des Ichs »das Freiwerden des Verdrängten« als »Zulassung solcher Unlust unter Berufung auf das Realitätsprinzip zu erwirken«.211 In anderen Schriften bildete das »Nützliche« das wohlverstandene Interesse des Menschen als eines lebenden Wesens, das sich der Zeit und den Notwendigkeiten einer Existenz innerhalb der Gesellschaft anzupassen hat, so dass die »Realität« das Korrelat des Bewusstseins und des Ichs darstellt. Wenn nun aber das Lustprinzip, welches sich hinter dem Nützlichen als Weg der Befriedigung unserer Bedürfnisse verbirgt, selbst vom Todestrieb durchwaltet wird, dann verhärtet sich sogar noch die bis dahin durchgehende Sichtweise des Schicksals als Ananke, die Freud stets in der Perspektive des unausweichlichen Todes für jeden Menschen gesehen hatte.212 Mit anderen Worten ist es das von der Romantik übernommene Thema des Eros, welches die nüchterne Einschätzung der Weltnotwendigkeit als Schicksal noch einmal verstärkt und über eine wirkungsgeschichtliche Abhängigkeit von der szientistischen Weltanschauung seiner Epoche hinausführt.213

211 Vgl. Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften, Frankfurt/M., Fischer 2014, 191– 250: »Jenseits des Lustprinzips« (1920), hier 205. 212 Vgl. P. Ricœur, De l’interpr8tation. Essai sur Freud, Paris, Seuil 1965, 342ff. (dt. Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt/M., Suhrkamp 1974). 213 Man kann natürlich auch noch hinter die Romantik zurückgehen und bei Jakob Böhme schon Motive finden, die dann über Schopenhauer und Nietzsche bis hin zu Freud und Jung ihren Einfluss ausübten; vgl. Th. Lerchner, »Perspektiven auf die Seele: Grundrisse zu einer philosophischen Hntergrundsgeschichte tiefenpsychologischer Systeme«, in: Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch 45 (2019) 3–29.

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1)

Das Realitätsverständnis gemäß Sigmund Freud

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Denn zur selben Zeit, in der Freud den Dualismus von Eros/Thanatos einführt, verstärkt er auch seine Analyse der Illusion als der letzten Bastion des Lustprinzips. In den Schlusskapiteln von »Die Zukunft einer Illusion«214 erklärt Freud 1927, dass die Religion keine Zukunft mehr habe, da ihre Mittel, die Menschen mit der »Schwere des Lebens« auszusöhnen (nämlich durch Gebotszwang und Jenseitströstung auf dem archaischen Hintergrund von Schuldund Gewissensangst), erschöpft seien. Die Religion werde durch den wissenschaftlichen Geist abgelöst werden, der dann für eine nachreligiöse neue Kulturphase die allein durch die Menschen legitimierten Gesetze festlegen würde, die sich ausschließlich am gesellschaftlichen Interesse orientierten. Freuds Hoffnung basiert hierbei im Grunde einzig darauf, dass in der Tat die Verhinderung des geistigen Fortschritts durch die Religion als »universelle Neurose« im Sinne einer »infantilen Abhängigkeit« überwunden werden könne, um die menschlich konstitutive »Hilflosigkeit« als frühe Bedingung des Kindseins selbst in die Hand zu nehmen.215 Daher spricht er in diesem Zusammenhang von einer »Erziehung zur Wissenschaftlichkeit« hin und bekennt sich zu »unserem Gott Logos«, der keinerlei »Entschädigung« für die Leiden des Lebens gewähre.216 Es ist offenkundig, dass Logos/Ananke das Doppelantlitz des anderen »Gottes« bilden, den eine Wissenschaft ohne Illusion verkörpere. Gegen Ende seines Lebens hat Freud mithin eine Realitätsauffassung, die den Begriff der Nützlichkeit verlängert, wie er ihn zuvor gegen die Fiktionen des Begehrens als Lust und Narzissmus entwickelt hatte. Diese Realität der reinen Welt-Ananke ohne jeden Bezug zu einer Vaterfigur oder einem transzendenten bzw. inneren Gott steht mithin für eine anonyme Notwendigkeit ohne jeden Namen, das heißt ohne einen Bezug zwischen den Naturgesetzen und unseren Illusionen, die aus der Hilflosigkeit des Kindes und dessen Begehren nach Tröstung geboren werden. Aber Freud spricht gleichfalls von einer »Resignation« sowie »Unterwerfung« gegenüber einem solchen Weltzustand als reiner Notwendigkeit, sodass man sich fragen kann, ob er hier zuletzt eine umfassende »Weisheit« anstrebt, die über den rein psychologischen Gesichtspunkt der sinnlichen Realitätswahrnehmung hinausgeht. Die Anerkennung der an#nke wäre dann nicht nur ein Prinzip der letztmöglichen seelischen Einstellung gegenüber der Wirklichkeit, sondern in gewisser Weise das Symbol einer Weltsicht, welche als »Weisheit« auf die »Schwere des Lebens« 214 Gesammelte Werke XIV, Frankfurt/M., Fischer 71991, 325–580. 215 Zum Zusammenhang dieser Hilflosigkeit mit dem Geburtstrauma und der daraus resultierenden Angst vor Gefahr mit der Unterscheidung von Realangst und neurotischer Angst vgl. »Hemmung, Symptom und Angst« (1926): GW XIV, 111–206, hier 163ff. 216 Vgl. ebd., 378, sowie unser folgendes Kapitel II,4.2.

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antwortet.217 Würde man Freud eine Philosophie leihen wollen, dann käme hier sicher Spinozas Realitätsverständnis von einer allumfassenden Substanz in Frage, die eine Askese des Begehrens mit der »zweiten Erkenntnisart«, nämlich der Vernunft, verbindet, um die leiblich-affektiv bedingte »erste Erkenntnisart« des Imaginären zu begrenzen.218 Dann ließe sich von diesem spinozistischen Hintergrund aus folgern, dass Freud mit seiner »weisheitlichen Resignation«, wie sie Ricœur219 in seiner Freud-Interpretation ins Spiel bringt, eine rein intuitive »dritte Erkenntnisart« anstrebt, die aber in seiner Psychoanalyse so wenig entwickelt ist, dass man sich auch auf die bloße Annahme des Schicksals im Sinne der amor fati bei Nietzsche beschränken könnte. Zumindest ließen diese philosophischen Parallelen bei Freud sichtbar werden, dass er eine Sublimierung sucht, durch welche die Liebe über Narzissmus wie Todesangst (und damit über die infantile Tröstung mit ihrer »Vatersehnsucht«) hinausgeht, was sich auch mit dem mehrfach von ihm angeführten Namen Schopenhauers verbinden ließe.220 Ohne Zweifel besitzen Resignation und Sterbenmüssen eine enge Verbindung miteinander, sodass sich die Notwendigkeit des Todes als Realität in mein Begehren selbst einzuschreiben hat. Denn das natürliche Streben des letzteren besteht darin, den Tod aus der Perspektive des Lebens auszuschließen, wodurch Begehren/Unsterblichkeitsverlangen miteinander korrelieren, so wie im »Unbewussten« keine Widersprüche existieren.221 Aber nach Freuds eigenen Worten müsse das Leben selbst »riskiert« werden, damit es sein Interesse für uns nicht verliere. Des Weiteren sei die Todesangst ein Abkömmling des Schuldgefühls, wie Freud schon am Ende von »Das Ich und das Es« (1923) sagte,222 sodass Gewissensangst wie Todesangst im Sinne der Kastrationsangst zum Gegenstand der »Verarbeitung« werden sollten. Wenn der Tod mithin als Todesannahme eine Aufgabe des Lebens als solches darstellt, wie es auch der Text zum »Motiv der Kästchenwahl«223 symbolisch vorschlägt oder wie ihn ebenfalls das Schweigen im Traum bedeutet, dann ergibt sich daraus für die »Resignation« gegenüber der 217 Vgl. Das Unbehagen in der Kultur : GW XIV, 419–506, hier 444f. 218 Vgl. H. Ricard, De Spinoza / Lacan. Autre Chose et la mystique, Paris, EME & InterCommunication 2015, 17ff. 219 Vgl. De l’interpr8tation, 36f. 220 Vgl. etwa »Selbstdarstellung« (1925): GW XIV, 33–96, hier 86. M. Thiberge, Essai sur la psychanalyse et la postmodernit8, Paris, L’Harmattan 2018, 130–142, verweist außer auf Freud auch auf die Schicksalsvorstellung bei Reik, Rank und Szondi. 221 Vgl. »Ein religiöses Erlebnis« (1928): GW XIV, 393–396, in Bezug auf eine intuitive Unsterblichkeit, welche als narzisstische Rückkehr in den Schoß der Mutter bzw. als psychotisches Erleben eingeordnet wird. 222 Vgl. Das Ich und das Es, 251–295, hier 295. 223 GW X, Frankfurt/M., Fischer 92012, 24–37; zur Todesangst als »Analogon der Kastrationsangst« vgl. auch »Hemmung, Symptom und Angst«, 160 u. 170. Außerdem A. Batthy´any, Zur Psychologie einer Grundangst. Über abwehrende und existentielle Zugänge zum eigenen Tod, Freiburg/München, Alber 2019, 41ff., sowie unser folgendes Kapitel II,6.

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Das Realitätsverständnis gemäß Sigmund Freud

universellen Notwendigkeit, dass anstelle der Wahl unter dem libidinösen Einfluss des Begehrens im Grunde der Fatalität des Schicksals zu gehorchen bleibe. Denn der Tod als »absoluter Herr« auch im Sinne Hegels und Lacans224 lässt sich nicht wählen, sondern er verlangt eine Einübung in die unerbittliche Notwendigkeit des Sterbens. Insofern kann die wahre Annahme des Todes keine phantasmatische Regression in den mütterlichen Schoß sein, sondern die Durchquerung der wissenschaftlichen Weltsicht als seelische wie existentielle Erprobung. Aber damit ist die Antwort betreffs der »Resignation« noch nicht vollständig, denn die Annahme des Unausweichbaren scheint für Freud keine bloß intellektuelle Erkenntnis zu sein, sondern eine affektive Aufgabe im Zentrum des Verhältnisses von Libido/Narzissmus als solches. Dadurch verändert sich ebenfalls die Natur des »Realitätsprinzips« als einer Problematik, die sich bloß aus der Verdrängungskonstellation von Erinnerung, Wiederholung und aktueller Nicht-Wahrnehmung subjektiv verneinter Wirklichkeit ergibt.225 Die Kunst als Erfahrungsdimension zwischen Wissenschaft (Notwendigkeit) und Religion (Illusion) kann hierbei verdeutlichen, dass es eine nicht-zwanghafte Befriedigung innerhalb der ästhetischen Kreation wie Rezeption gibt, wodurch Phantasmen ohne Scham und Angst betrachtet werden können und wobei auch die kindliche Unterwerfung unter die »Vatersehnsucht« aufgehoben ist. Gewiss, der Künstler entfernt sich wie der Neurotiker von der Realität, aber er schafft durch sein Kunstwerk eine neue Realität, in der sich ebenfalls die anderen Menschen als Betrachter oder Hörer wiedererkennen können. Denn auch sie kennen wie der Künstler jenes Unbefriedigtsein, welches sich aus dem Verzicht durch die Anforderungen seitens der äußeren wie inneren Realität (Natur, Über-Ich, Triebregungen) ergibt. Aber durch die ästhetische Bildung einer neuen Realität zeichnet sich in der Kunst eine Aussöhnung zwischen Lust- und Realitätsprinzip ab. Das heißt, zwischen »ästhetischer Verlockung« und »religiöser Illusion« gibt es einen dritten Weg der »Erziehung zur Notwendigkeit«, der sowohl den unbelehrbaren Narzissmus als auch den Infantilismus des Trostverlangens korrigiert.226 Nach »Der Humor« von 1928227 als Ergänzung zum früheren Text »Witz und seine Beziehung zum Unbewussten« (1905)228 geschieht keine Erhebung über 224 Vgl. R. Kühn, Begehren und Sinn. Grundlagen für eine phänomenologisch-tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und Supervision, Freiburg/München, Alber 2015, 269–296: »Der ›aufgeschobene‹ Tod im Begehren«. 225 Vgl. »Die Verneinung« (1927): GW XIV, 9–11. 226 Vgl. unter anderem »Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens«: GW VIII (1909–1913), Frankfurt/M., Fischer 71991, 236f. 227 Vgl. GW XIV, 383–389. 228 Vgl. GW VI (1906–1909), Frankfurt/M., Fischer 1968, 266.

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den Narzissmus, indem wir uns humorvoll über ein Unglück hinwegsetzen. Die Sublimierung entspricht nämlich hierbei einem Sieg der Unverwundbarkeit des Ichs, das durch die äußere Realität keine Traumatisierung seitens der Welt erleidet. Es findet demzufolge keine »Resignation« statt, sondern eine Verwirklichung des Lustprinzips, welches sich im Humor zudem vom Über-Ich abzusetzen vermag. Dies stellt für Freud allerdings ebenfalls eine Illusion dar, weil die Realität im Grunde beiseitegeschoben werde. Das Ich wird – mit anderen Worten – in gewisser Weise vom Über-Ich getröstet, womit letzteres nur seine Abhängigkeit von der frühen Elterninstanz bestätigt, weshalb Freud diese quasiphilosophische Resignation über den Humor auch vehement ablehnt, als wolle er sagen: Ja, Annahme des Lebens und des Todes, aber nicht um einen so geringen Preis! Die wirkliche Resignation gegenüber der Notwendigkeit als an#nke muss eine persönliche und aktive Aufgabe werden, und Humor wie Kunst können nur auf eine letzte »Weisheit« als analytisch-therapeutische Ethik vorbereiten, insoweit sie als ein Schweben zwischen Illusion und Realität uns helfen, das Schicksal lieben zu lernen.229 Wenn zuletzt die Kultur ein Kampf zwischen den beiden kosmischen Giganten Eros und Thanatos sein soll, dann vermag die Todesannahme nicht ohne Zusammenhang mit dem unbesiegbaren Eros zu geschehen – und deshalb kann die Zustimmung in unser Sterben nicht einfach eine Verwirklichung des Todestriebes sein. Im Text »Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci« von 1910 wird in der Tat ausgeführt, dass die Umsetzung der Libido in intellektuelle Neugierde und wissenschaftlich-technische Erfindungen eine Macht zu lieben bildet, anstatt die Libido abzutöten und somit verkümmern zu lassen. Wenn nach Leonardo die Weltnotwendigkeit reich an »unendlichen Gründen« sei, die noch nicht zu subjektiven Erfahrungen wurden, dann müsse jeder Mensch als einer der Versuche ohne Zahl verstanden werden, durch welche die Natur zur Existenz hindränge.230 Zweifellos ist hier wiederum ein spinozistischer Akzent bei Freud vernehmbar ; darüber hinaus aber zeichnet sich noch eindringlicher das schon genannte romantische Lebensthema in seinem Denken genauer ab, welches zugleich mit seinem Szientismus und dem entsprechenden luziden Realitätsbegriff immer bestanden hat, um eine gewisse Synthese der Weltnotwendigkeit und der Liebe zum Leben miteinander zu verbinden. Die Todesannahme bei Freud hat daher zwei Gesichter, einerseits das Sterben als Naturgegebenheit 229 Vgl. P. Ricœur, De l’interpr8tation 353f.; sowie J. Lacan, Le S8minaie. Livre VII: L’8thique de la psychanalyse (1959–1960), Paris, Seuil 1986 (dt. Das Seminar. Buch 7: Die Ethik der Psychoanalyse, Berlin, Quadriga 1995) und M. Thiberge, Essai sur la psychanalyse et la postmodernit8, 28ff., über die Psychoanalyse als ständig singuläre Veränderung. 230 Vgl. GW VIII, 210f., wo das ganze Zitat auf Italienisch lautet: »La natura H piena d’infinite ragioni che non furano mai in isperienza.« Siehe auch »Goethe-Preis 1930«: GW XIV, 543– 550, hier 547.

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ohne Ausflucht zu akzeptieren und andererseits diesen Tod nicht zu lieben, wie Eros lehrt, der gegen Aggression und Selbstzerstörung kämpft, um das Leben zu lieben. Die frühe Alternative von Lust- und Realitätsprinzip, die nicht vereint werden konnten, fordert eine höhere Einheit, die schließlich auch anders als bei Spinoza und Nietzsche ist. Denn ganz am Ende von »Das Unbehagen in der Kultur« lesen wir in Bezug auf »die Schicksalsfrage der Menschenart«, die sich aufgrund der »Beherrschung der Naturkräfte« mittlerweile so weit gebracht habe, »einander bis auf den letzten Mann auszurotten«: »Und nun ist zu erwarten, dass die andere der beiden ›himmlischen Mächte‹, der ewige Eros, eine Anstrengung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner zu behaupten. Aber wer kann den Erfolg und Ausgang voraussehen?«231 Primär- und Sekundärprozesse bilden nun zwei wichtige Bedingungen des hier weiter zu erörternden Realitätsprinzips sowie dessen Bezugs zur objektalen »Besetzung«, weil dies ökonomisch das Realitätsprinzip Freuds232 als Korrelat des äußeren Wahrnehmungsbewusstseins ergänzt. Bisher haben wir schon erkannt, dass das Wirkliche nicht nur das Gegenteil der narzisstisch bedingten Halluzination bedeutet, sondern vor allem jene harte Notwendigkeit, welche schließlich als Ananke die Position des Narzissmus aufzugeben zwingt. Wir wollen jedoch noch einmal vor die Situation der Remythisierung durch Eros/Thanatos zurückkehren, um ebenfalls die klinischen Aspekte der Funktion des Wirklichen als Realitätsprinzip nicht außer Acht zu lassen. Sowohl Phantasma, Neurose wie Psychose als auch die Träume sind halluzinatorische Besetzungen des Begehrens auf dem Hintergrund des Lustprinzips, die sich innerhalb des »Primärprozesses« vollziehen, der im »Sekundärprozess« als Verwirklichung im Bereich der Realität keineswegs abwesend ist, insoweit hier die Befriedigung die Erfüllung von Bedürfnissen, Wünschen, Lust etc. auf verschlungenen längeren Wegen bedeutet. Deshalb kann man sogar das Lustprinzip als Grenzbegriff im Sinne einer methodischen Fiktion verstehen, denn es ist in seiner phantasmatischen Existenz in allen normalen wie pathologischen Formen von Träumen, Illusionen und Idealen gegeben. Auf solchem Hintergrund scheint das Lustprinzip eben nicht nur unhintergehbar in all seinen »Umkleidungen« zu sein, sondern das Realitätsprinzip ist seinerseits nicht leicht als Aufgabe der Sublimierung zu verwirklichen. Dadurch gehören alle Objektbesetzungen in den Kreislauf der Realität, deren »erzieherisches« Maß durch die »Unlust« geprägt ist, obwohl die Verwirklichung des Realitätsprinzips selbst ein hedonistisches Moment beibehält. Aber wie die 231 GW XIV, 506. 232 Vgl. zum Beispiel »Jenseits des Lustprinzips«, 219f. u. 297f.; dazu auch bereits R. Kühn, »Wirklichkeit/Realität«, in: R. Brunner u. M. Titze (Hgg.), Wörterbuch der Individualpsychologie, München/Basel, Reinhardt 21995, 557–564.

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Diskussion um den Schicksalsbegriff als Ananke und Tod bereits gezeigt hat, ist die rein halluzinatorische Befriedigung eine biologische Sackgasse, da sie unausweichlich zum Misserfolg führen würde. Paradoxerweise müssen wir daher am Realitätsprinzip als einer Forderung des primären Lustprinzips selbst festhalten, um ersteres unter diesen frühen Bedingungen Freuds, die er niemals ganz aufgegeben hat, als einen »kalkulierten Hedonismus« zu verstehen.233 Dieses Schema des objektbezogenen »Sekundärprozesses« wurde mithin analytischtherapeutisch beibehalten, um weiterhin die Unterscheidung von Halluzination und Wahrnehmung sowie die aufmerksame Erkundung neuer Reize durchzuführen, die dann mit den erinnerten Reizungen durch das Wahrnehmungsurteil verglichen werden, wie wir es auch bei Kant234 finden. Mit anderen Worten wohnen wir hier einem Übergang von der beobachteten Realität zu einer gedachten Wirklichkeit bei, und zwar auf der Basis der zusätzlichen Erinnerungsspuren vernommener Worte, wozu sich die motorisch-muskuläre Beherrschung hinsichtlich der so wahrgenommenen Realität gesellt,235 die nicht vom zeitlichen Abstand zwischen Reizabfuhr und Ideierung getrennt zu werden vermag. Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Urteil sind mithin Übergangsmodalitäten zwischen Antizipation, Vergangenheitsintegration und Realitätsidentifikation, wobei all diese Elemente bereits in den Schriften ab 1895 gegeben sind.236 Wenn der »Wunsch« – wie in der »Traumdeutung« von 1900 – eine gewisse Unhintergehbarkeit des Lustprinzips offenlegen kann, dann betrifft diese Sichtweise jenes psychische Streben, die Ursprungsform der halluzinatorischen Besetzung dieses »Wünschens« zu unterstreichen. Zwischen Reiz und Erinnerungsbild der Befriedigung existiert nämlich die Auslösung einer seelischen Bewegung, um die einstige Wahrnehmung wiederherzustellen, das heißt die innere Situation der ersten Befriedigung. Die Wiederkehr der Wahrnehmung ist somit die Verwirklichung einer »Wunscherfüllung«, wobei die Besetzung der Wahrnehmung durch den aktuellen Bedürfnisreiz den kürzesten Weg solcher Wunscherfüllung darstellt. Insofern gibt es den ständigen Versuch, eine perzeptive Identität zu erstellen, damit sich die Wahrnehmung und die Stillung des Bedürfnisses zu erfüllen vermögen. Der kürzeste Weg ist jedoch in den we233 Vgl. Ricœur, De l’interpr8tation, 298f.; sowie insgesamt zum Hedonismus S. Knöpker, Existenzieller Hedonismus. Von der Suche nach Lust zum Streben nach Sein, Freiburg/ München, Alber 2009. 234 Vgl. Kritik der Urteilskraft (Kants Werke Akademie Textausgabe V), Berlin, De Gruyter 1968, 181ff. (Einleitung II). 235 Dies entspräche der phänomenologischen Analyse des Zusammenhangs von sinnlichen Impressionen und Kinästhesen bei Husserl, Merleau-Ponty und Henry etwa; vgl. M. Henry, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg/München, Alber 2002, 81ff., 174ff. u. 181ff. 236 Vgl. bes. Entwurf einer Psychologie (1895), veröffentlicht als Aus den Anfängen der Psychoanalyse, London, Imago Publishing 1950.

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nigsten Fällen unmittelbar gegeben, weshalb sich hier alle Register von halluzinatorischen Ersatzformen etwa als Nacht- und Tagträume bzw. als Phantasmen und neurotische Symptome einstellen, um die ungebrochene Herrschaft des Lustprinzips anzuzeigen. In dieser Perspektive drückt das Realitätsprinzip dann eher eine durchzuführende Aufgabe als die Beschreibung einer gewöhnlich stattfindenden Funktion aus, woraus zweierlei für die analytisch-therapeutische Praxis deutlich wird. Zum einen ist das Lustprinzip als Automatismus von Wunsch/Halluzination zu durchkreuzen und zum anderen bleibt die letztlich ethische Komponente des Realitätsprinzips zu erkennen, die Freud eben in seinen Schriften immer stärker bis hin zur »Weisheit der Resignation« in die Ananke unterstreichen wird, wie wir zu Beginn aufzeigten. Es existiert mithin auf der »hedonistischen« Ebene der Psyche eine allgemeine Tendenz, den Triebquellen von Lust und Wünschen verhaftet zu bleiben, denn die Loslösung von dieser Fixierung bedeutet eine Anstrengung, die als »Verzicht« charakterisiert werden kann, aber im Grunde die Einführung einer gewissen »Denkarbeit« impliziert, um das Realitätsprinzip im Sinne einer angemesseneren Wirklichkeitserfahrung vom bloßen »Phantasieren« zu trennen. Für das Kind beginnt dies bereits in seinem Spiel, um sich danach immer stärker in der Unterwerfung unter reale Objektansprüche auszudrücken. Hierbei unterstreicht das Kapitel VII der »Traumdeutung« die Schwierigkeit dieser Aufgabe, wodurch verständlich wird, warum Freud eine solche Ethik des Realitätssinns vor allem mit dem Geist der »wissenschaftlichen Arbeit« verband. Im Zusammenhang damit macht die Einschreibung des Prinzips Lust/Unlust in die topische Systematik des Unbewussten, Vorbewussten und Bewussten nämlich deutlich, dass das Realitätsprinzip auf der gleichen Seite eingeordnet wird wie die Verneinung und der Gegensatz sowie das Zeitverhältnis.237 Die »Realitätsprüfung«, welche damit verbunden ist, impliziert dann als besondere psychische »Einrichtung« die Unterscheidung von Realitätsgefühl und Halluzination, die über das Wahrnehmungsurteil des Bewusstseins verläuft, um so ein »Bewusstwerden« zu ermöglichen, welches als »Realitätserfahrung« mit dem »System Bewusstsein« solidarisch ist. Neben der »Zensur«, die vor der libidinösen Besetzung von Triebansprüchen des Vorbewussten und Bewussten schützt, um nicht durch »Abwendung« bzw. »Entziehung« von Wirklichem in psychotische oder neurotische Realitätsflucht abzugleiten, übernimmt damit das Realitätsprinzip eine wesentliche Aufgabe des topisch betrachteten »seelischen Apparates« mit seinen verschiedenen Bewusstseinsschichten. Jede topische Regression als Realitätsverlust setzt demzufolge eine Veränderung des »Systems Bewusst« voraus, wobei der Bezug zur Integration des ökonomischen Aspekts von 237 Vgl. Das Ich und das Es, 117–154: »Das Unbewusste« (1915), hier 137ff.; ebenso »Die Verneinung«, 8ff.

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Freud weiterhin als notwendige Aufgabe gesehen wurde. Der Rahmen dazu jedoch ist klar abgesteckt, denn das »Realitätsprinzip« übernimmt die zentrale Aufgabe der äußeren Wirklichkeitserkennung gegenüber einer inneren Welt, wodurch die ebenso triebhaften wie ethischen Aspekte dieses Verhältnisses unmittelbar gegeben sind. Während nämlich das »Ich« im Wesentlichen der »Repräsentant« der Außenwelt ist, bleibt das »Über-Ich« der »Anwalt« der inneren Welt des Unbewussten. Auf diese Weise ist der sowohl individuelle wie kulturelle Konflikt von Ich/Idealen auf dem Hintergrund des Kontrastes von Real/Psychisch im Sinne der genannten inneren und äußeren Welt vorbereitet.238 Durch Letzteres wird ebenfalls einsichtig, dass das Verbleiben im libidinösen Lustprinzip eine primäre Autoerotik verlängert, die nicht der erzieherischen Funktion der Unlust als Frustration ausgesetzt wurde. Die Latenz der Sexualität vermag einen solchen Archaismus – wie in der Pubertät – weiterzuführen, während die Ichtriebe sofort mit den Widerständen des Wirklichen in Konflikt geraten.239 Daher tritt das Realitätsprinzip als das Ergebnis eines Kampfes auf, der sich sowohl auf der Ebene des Begehrens als auch des Phantasmas zu vollziehen hat, um alle Modalitäten von Vorstellung und Affekt sowie den Zusammenhang von Sprache/Begehren zu betreffen. Die Theorie der Libidostadien bei Freud integriert deshalb die Frage des Realitätsprinzips und der »Objektwahl« in diese genetische Betrachtungsweise der Libido, um zugleich die Verbindung mit dem Sekundärprozess wieder aufgreifen zu können. Aus den »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« von 1924 ist bekannt, dass der Trieb in der Tat ein »Ziel« kennt, aber dies unter der Bedingung von variablen Objekten. Diese Ursprungsorientierung des Begehrens bleibt dergestalt dem permanenten Herrschaftsbereich des Lustprinzips unterworfen, das als »Objektwahl« an die Theorie der libidinösen Stadien geknüpft ist. Das Realitätsprinzip tritt hierbei im genitalen Stadium auf, genauer gesagt mit der Unterordnung der objektalen Liebe unter die Fortpflanzung. Hierdurch fügt sich die anfängliche Autoerotik in den Dienst der letzteren ein, womit das Realitätsprinzip zugleich in Beziehung zum Anderen tritt, allerdings nicht nur im Sinne eines anderen Körpers und eines anderen Begehrens, sondern als Gebundenheit an das Schicksal der menschlichen Gattung. Auf diesem Weg sind die Verzichte betreffs der verschiedenen Positionen der Sexualität gegenüber der Realität als Objektverluste strukturiert. Durch das Aufgebenmüssen der mütterlichen Brust geht nicht nur die Autoerotik zum Teil verloren, sondern es ergibt sich eine rückwärts gewandte Sehnsucht des an sich prospektiven Charakters der Sexualität als solche, die als innere narzisstische Fatalität an den eigenen Körper und die Mutter 238 Zum Verhältnis von Traum/Realitätsprüfung im Sinne eines nicht mehr gegebenen Objekts vgl. zudem »Hemmung, Symptom und Angst«, 205f. 239 Vgl. auch »Jenseits des Lustprinzips«, 206ff., sowie »Selbstdarstellung«, 60ff.

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gebunden bleibt. Der Ödipuskomplex bedeutet hierbei insofern einen kritischen Punkt, als die Neurosenbildung uns bei diesem Anlass ihren inzestuösen Charakter offenbart. Denn indem der Junge ein Kind von der Mutter möchte und die Tochter dasselbe vom Vater, wird dieses unmögliche Begehren notwendigerweise einem Verbot unterworfen. Daher ist der Weg der genital bedingten Realität nicht nur von verlorenen Objekten gesäumt, sondern gleicherweise von verbotenen und verweigerten Objekten.240 Wenn Freud daraufhin für die Folge dieser Genese der Libido in objektaler Hinsicht das »Real-Ich« vom »Lust-Ich« abhebt, dann beinhaltet dies die Trennung von »Wünschen« und dem real »Nützlichen«. Das geträumte oder phantasmatisch Angenehme wird mithin durch das nützlich Angenehme ersetzt, wodurch wiederum das Realitätsprinzip als Garant der Erfüllung des Lustprinzips fungiert. Unter ethnographisch-geschichtlichem Aspekt, wie in »Totem und Tabu«, können daher Libidostadien und exemplarische Weltanschauungsforrmen miteinander korrelieren; das autoerotische Stadium entspreche der »Allmacht das Denkens«, welche mit der prä-animistischen Technik der Magie verknüpft sei.241 Dem genitalen Stadium der Libido entspreche die Anerkennung der Natur insgesamt, aber diese frühgeschichtliche Betrachtungsweise lässt Freud vor allem ein »schlechtes Unendliches« im Sinne Hegels aufdecken: das Thema der Gläubigkeit in die göttliche Allmacht, weshalb das Realitätsprinzip hier die Rückführung des Begehrens ins Nützliche als das Endliche bedeutet. In gewisser Weise markiere die Religion einerseits den Sieg des Realitätsprinzips über das reine Lustprinzip, wenn wir an ihre Verbote und Vorschriften denken. Da dies aber in der Form von Illusion hinsichtlich einer unendlichen Vaterfigur als »gütige Vorsehung« erfolgt, sei sie andererseits zugleich die Gestalt der Vollendung des Begehrens, wie deren notwendige Aufhebung durch die Wissenschaft als gesellschaftliche Nützlichkeit im post-religiösen Zeitalter dokumentiere. Denn der wissenschaftliche Geist erfülle das Realitätsprinzip als Prinzip dieses Nützlichen über das rein Angenehme hinaus, insofern letzteres nur dem »Lust-Ich« folge, welches die phantasmatischen Ziele der Allmacht und Unsterblichkeit im Auge habe. Das Realitätsprinzip gelange mithin erst zu seiner 240 Über die Entwicklung der Triebtheorie bei Freud besonders in Zusammenhang mit der Neurose als »Triebabwehr« und »Überbesetzung« der Realität seitens des Ichs durch übersteigerte intellektuelle Mittel vgl. »Hemmung, Symptom und Angst«, 140f., 149f. u. 155ff. sowie 187f. Zum besonderen Zusammenhang mit »Widerstand« und »Durcharbeitung« als Phase der Kur nach Anerkennung der Verdrängung siehe ebd., 191ff., wobei Freud fünf Arten des Widerstands auflistet. Für das genannte Verhältnis Tochter/Vater siehe zum Beispiel B. Heberle, »Die Vater-Tochter. Überlegungen zur Psychodynamik der ödipalen Fixierung«, in: Jahrbuch der Psychoanalyse 43 (2001) 108–154. 241 Vgl. Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker : GW IX (1912), Frankfurt/M., Fischer 92012, 93ff.

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Durchsetzung beim Erwachsenen, wenn dieser fähig geworden sei, auf die verlorenen archaischen Objekte zu verzichten, das heißt nicht allein auf die verbotenen inzestuösen Objekte, sondern gleichfalls auf die illusorischen Objekte letzter Tröstungen und Kompensationen durch ein ewiges Leben. Die andauernde »Trauerarbeit« kennzeichnet daher den langen Weg zur wahren »Nützlichkeit« hin, die keine Idole mehr kennt. Ob es noch andere Dimensionen der Wirklichkeit gibt, die Freud vielleicht nicht ausreichend gesehen hat, ist hier nicht die entscheidende Frage, da die Korrelation von Verzicht/Notwendigkeit im Realbezug jedes Menschen – sowie in kulturell-gesellschaftlicher Hinsicht – nicht in Abrede gestellt werden kann. Die Frage der Funktion der Realität gegenüber dem Ich zeigt sich in solcher Perspektive in Verbindung mit dem Narzissmus, der in ökonomischer Weise als »Reservoir« der Libido angesehen werden kann. Solange die Realitätsverschränkung von Notwendigkeit/Wissenschaft in Bezug auf die äußere Realität nicht deutlich erkannt wurde, bleibt die Libido eine provisorisch affektive Besetzung in objektaler Hinsicht als narzisstische Realitätsverzerrung durch Liebe und Hass. Nimmt man die mögliche Sublimierung hierbei hinzu, dann bilden die sukzessiven Objektorientierungen eine Veränderung des Ichs als eines sekundären Narzissmus, insoweit ein ökonomischer Bezug zwischen Identifikation, Sublimierung, Desexualisierung und primär egohaftem Narzissmus gelebt wird, wie wir dies im 3. Teil dieses Kapitels noch genauer aufzeigen werden.242 Von der Weltnotwendigkeit im wissenschaftlichen Sinne her gesehen, signalisiert die narzisstische Objektbesetzung die Schwierigkeit der eigenen Selbstrücknahme in Bezug auf ein ungetrübt wahrgenommenes Weltsein, denn die Aufmerksamkeit für einen selbst bedeutet Unaufmerksamkeit für die affektive Andersheit der uns umgebenden Dinge und Personen.243 Die analytischtherapeutische Wahrheit des Konflikts von Lust- und Realitätsprinzip birgt daher eine »Demütigung«, welche Freud244 in allgemein weltanschaulicher Hinsicht von Kosmologie und Anthropologie an Namen wie Kopernikus und Darwin festmachte.245 Was durch diese Entdecker zu ihrer Zeit für das allgemeine Bewusstsein verletzt wurde, war die narzisstische Sichtweise der Menschen, sich im Zentrum des Welt- und Geschichtsgeschehens zu wähnen. Das 242 Vgl. indes bereits M. Wetzel, Lebens-Poetische Philosophie. Band 1: Gesamtansatz – Grundlinien. Leben/Dasein und Reflexion, Psychoanalyse und Sublimation. Lebensgeschichte und Identität, Würzburg, Königshausen & Neumann 2006. 243 Für eine weiter geführte Analyse vgl. bereits R. Kühn, Leere und Aufmerksamkeit. Studien zum Offenbarungsdenken Simone Weils, Dresden, Text & Dialog 2014, 13–41: »Dimensionen der Aufmerksamkeit in cartesianischer und phänomenologischer Tradition«. 244 Vgl. »Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse« (1917): GW XII, Frankfurt/M. Fischer 71991, 3–12. 245 Vgl. »Die Widerstände gegen die Psychoanalyse« (1925): GW XIV, 99–110, hier 99.

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anti-narzisstische Wirklichkeitsverständnis bei Freud, welches somit letztlich den imaginären Platz des Menschen im Kosmos ausgehend von seiner libidinösen Dynamik betrifft, lässt zusätzlich das Über-Ich in solcher Sichtweise nicht unberührt. Hat nämlich das auf die Ananke hin ausgerichtete Ich seine Aufgabe der Vermittlung zwischen Es/Realität erkannt, dann obliegt ihm ebenfalls eine angemessene Vermittlung zwischen Es/Über-Ich, das heißt zwischen Libido/ Todestrieb im Sinne der schon genannten letzten Schriften Freuds. Insoweit die individuellen wie kulturellen Idealisierungen als Verbote und Gebote des ÜberIchs eine »Grausamkeit« als überhöhte »Triebbeherrschung« bergen, muss die Psychoanalyse in ihrem immanenten Ethikverständnis als Kur/Therapie solche überhöhten Ansprüche des Über-Ichs hinterfragen, ohne die vorher dargestellten Imperative von Verzicht sowie Notwendigkeitsanerkennung in Bezug auf die Realität aufzugeben.246 Demnach etabliert sich zwischen der ökonomischen Aufgabe des Ichs und der sowohl therapeutischen wie epistemologischen Aufgabe der Psychoanalyse als solche eine Aktwirklichkeit, die als das je situativ verlebendigte »Realitätsprinzip« in der analytisch-therapeutischen Begegnung angesehen werden darf. Dem Patienten werden keine Werte suggeriert oder sogar vorgeschrieben, sondern er erprobt in seiner eigenen Person – mittels der Übertragung – den Gegensatz von Lust- und Realitätsprinzip, von Narzissmus und Über-Ich-Gehorsam, um in seiner »inneren Welt« einen modifizierten Wirklichkeitsbezug zur Geltung bringen zu können. Dies kann als »Selbsterkenntnis« gewertet werden, sofern das »Bewusstwerden« mit einem geänderten »Realitätsgefühl« zusammenfällt und effektiv in der weiteren Existenz am Werk bleibt. Anders gesagt, ist das Begehren als solches eine ständige, subjektiv ethische Erprobung, um weder den narzisstischen noch den kulturellen Idolen zu verfallen, die hinter ihrer libidinösen Idealisierung von Ich und Über-Ich stets auch Verurteilungen implizieren, welche als implizite oder offene Aggressivität gegenüber Welt und Anderen auftreten. In diesem Sinne sind für Freud die Menschen als begehrende wie ethische Wesen nie an ein Ende mit dieser inneren wie äußeren Bewegung der Realitätsanerkennung gekommen.

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Die Kultur zwischen Eros und Thanatos

Um nun die Relevanz des schon erwähnten Kampfes zwischen Eros/Thanatos in kultureller Hinsicht besser zu verstehen, ist die romantisch motivierte »Spekulation« über Leben und Tod bei Freud noch detaillierter aufzugreifen und 246 Vgl. M. Thiberge, Essai sur la psychanalyse et la postmodernit8, 369–373: »Pratique psychanalytique: pratiques sociales, singularit8«.

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epistemologisch einzuordnen.247 So muss gefragt werden, welches überhaupt die »Repräsentanz« des Todestriebes ist, sofern jeder Trieb analytisch-therapeutisch nur unter solch repräsentierter Bedingung wahrgenommen werden kann, ohne an sich erkennbar zu sein. Durch den Begriff der Wiederholung gelangte Freud nämlich von einer meta-biologischen Betrachtung zu einer meta-kulturellen oder universalen Einschätzung des Todestriebes. Die Annäherung an den Todestrieb nennt er im Zusammenhang mit dem Eros als Lebenstrieb zunächst »spekulativ«,248 um anzudeuten, dass dessen destruktive Manifestation nicht in irgendwelcher »Repräsentanz« unmittelbar entziffert wird, sondern hypothetisch gesetzt auftritt. Diese spekulativen Voraussetzungen beziehen sich auf biologische und psychische Funktionen eines vitalen Prozesses, um dann gleichfalls in klinischen Phänomenen festgehalten und schließlich als Zerstörung auf individueller wie kultureller Ebene einer umfassenden Geschichtsdeutung zugeordnet zu werden. Der schon mehrfach erwähnte Text »Jenseits des Lustprinzips« ist werkgenetisch in Verlängerung mit den ganz frühen Arbeiten ab 1892 über die automatische Regulierung des »seelischen Apparates« zu sehen, das heißt des energetischen Systems eines Auf- und Abbaus von »Spannungen«. Hierdurch verwiesen die Grundgegebenheiten von Lust/Unlust an die Erregungsmenge der Reize, welche innerlich empfunden werden, und es ergibt sich auch für die Schrift von 1920, dass die psychische Bemühung darin bestehe, die Reizungen auf niedrigstem Niveau – oder zumindest als konstant – zu etablieren. Insofern kann Freud folgern, dass das Lustprinzip dem Prinzip der Konstanz entstamme.249 Wie lässt sich jedoch daraufhin von einem »Jenseits« desselben Lustprinzips sprechen, wenn diese allgemeine Hypothese der Beständigkeit vorherrscht? Hier geht Freud nun einen Schritt weiter, indem er – spekulativ – eine »Wirksamkeit« von Strebungen postuliert, die älter als das Lustprinzip selbst sein sollen, mithin nicht mehr von letzterem abhängen. Er versucht auf mannigfache Weise, seinen Leser davon zu überzeugen, dass man nicht vom »seelischen Leben« des Menschen sprechen könne, ohne dafür Phänomene aufzudecken, die dem Selbsterhaltungsprinzips widersprächen – und wäre es nur tendenziell, wie das Kapitel II von »Jenseits des Lustprinzips« herausarbeitet.

247 Vgl. P. Ricœur, De l’interpr8tation, 297ff. 248 Vgl. »Jenseits des Lustprinzips«, 191f. u. 209ff. 249 Vgl. zum »Reizschutz« der inneren »Besetzungsinnervation« und zur Ich-Oberfläche des Wahrnehmungsbewusstseins »Notiz über den ›Wunderblock‹« (1925): GW XIV, 3–8; »Jenseits des Lustprinzips«, 195f., wo auch die biologische Theorie Fechners von der »Tendenz der Stabilität« herangezogen wird. Zur Diskussion H.-G. Meissner (Hg.), Leidenschaft der Wahrnehmung. Psychoanalyse mit ihren Beziehungen zu Psychotherapie, Philosophie und zu den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, München, Kindler 1976.

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In Anlehnung an das komplexe Kapitel VII seines Werkes über »Traumdeutung« bleibt in der Tat zu verstehen, wie wir zuletzt darstellten, dass das Lustprinzip nur die Primärprozesse beherrscht, mit anderen Worten die Kurzschließung des Begehrens durch eine quasi-halluzinatorische Erfüllung. Das Realitätsprinzip tritt damit als jene Instanz auf, die dem Menschen nahebringt, dass er zeitweilig seine Befriedigung aufzuschieben habe, um auf dem Weg zur Lust eine gewisse Unlust in Kauf zu nehmen. Wie ist dieser Einschnitt zu bewerten, um anzuerkennen, dass es ein »Jenseits« des Lustprinzips gibt, obwohl Freud stets unterstreicht, die Sexualität zeige prinzipiell, dass ein Großteil des menschlichen Seelenlebens jeglicher »Erziehung« widerstrebe, da das Individuum kaum gewillt erscheint, den längeren Weg der Unlust auf sich zu nehmen, um dennoch schließlich zu einer Befriedigung seines Lustverlangens hinzufinden? Auch hier wissen wir durch Freuds vorhergehende Schrift »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« (1924), dass von der Befriedigung ausgeschlossene Teile der Triebregung sich Substitute suchen, die das Ich als Unlust empfindet, was besonders in der Neurose der Fall ist und deren subjektives Leiden ausmacht. Aber auch hier gilt die wichtige analytisch-therapeutische Erkenntnis, dass in der Unlust für das Ich das Lustprinzip am Werk bleibt. Aber zusätzlich gilt ebenfalls, dass eine solch indirekte Bestätigung des Lustprinzips letzteres erschüttert, da es nur mit seinem Gegenteil zusammen erfahren werden kann. Das Kinderspiel des »Fort-Da«, welches Freud innerhalb seiner Familie beobachtet hatte, ist in dieser Hinsicht nicht nur eine spielerische Verarbeitung der vorübergehenden Abwesenheit der Mutter als eines frustrierenden Verlusts, sondern es wird von Freud auch als Rache gedeutet, indem das weggeworfene Spielzeug die ausgeschlossene Mutter vertritt. Freud findet mithin in dieser Symbolik250 eine Wiederholung am Werk, die als Rache auf einen Vernichtungswillen hinweist – und damit auf einen Todestrieb, der nicht erinnert wird. Wiederholt werden nämlich vom Patienten alle Situationen der Hilflosigkeit und des Misserfolgs, die das Kind besonders zur Zeit des Ödipuskomplexes durchlebte. Diese Basis scheint gering, um im Kapitel IV von »Jenseits des Lustprinzips« den Todestrieb ausdrücklich zu postulieren und zudem mit zwei Weisen der psychischen Energie zu verbinden, die Freud schon in der Zeit der »Studien über Hysterie« (1895) Josef Breuer entlehnt hatte: die »freie« Energie und die »gebundene« Energie. Da das Bewusstsein eine Filterfunktion innehat, um die inneren wie äußeren Wahrnehmungen aufzunehmen oder abzuwehren, ergibt 250 Das Motiv der Rache entdeckt Freud ebenfalls im Fall einer Tierphobie beim »kleinen Hans«, dessen kindliche Angstneurose durch die Kastrationsandrohung seitens des Vaters gegeben ist; vgl. »Hemmung, Angst und Symptom«, 129–139. Für eine generelle Analyse R. Schindler, fort-da. Psychoanalyse intensiv / extensiv. Artikel & Essays, Baden (CH), Vissivo 2017.

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sich, dass der Schutz gegen zu starke Reize eine wichtigere Aufgabe für den lebendigen Organismus bedeutet als ihre Entgegennahme.251 Aber das Entscheidende besteht darin, dass es hinsichtlich der Triebe keinerlei Abwehrschirm gibt, und mit diesem fundamentalen psychischen Sachverhalt einer permanent inneren Erregung lässt sich die genannte Energieverteilung nach Breuer verbinden, so dass nunmehr die Konzeption einer »gebundenen Energie« die automatische Regulierung des seelischen Apparates durch das alleinige Lustprinzip verhindert. Letzteres vermag seine Wirkung nur zu entfalten, wenn jene Energie, die immer somatisch wie psychisch anströmt, in einen gewissen Ruhezustand gekommen ist. Damit hat Freud jene vorgängige Funktion ausgemacht, die dem Lustprinzip vorausliegt und betreffs des Todestriebes weiter analysiert werden musste. Denn noch ist nicht der Todestrieb als solcher plausibilisiert, den Freud sucht. Aber verständlicherweise ergibt sich über die Traumatisierung ein Hinweis darauf, insofern hierbei der Schutz gegen zu starke Reise durchbrochen wurde. Die freien Energien haben einen Damm gesprengt, indem sie nicht – zeitlich vor dem Lustprinzip – gebunden werden konnten. So erfolgte ein energetischer Einbruch, der in ökonomischer Perspektive als »Gegenbesetzung« und »Überbesetzung« bezeichnet wird.252 Hierzu führt Freud zugleich eine Unterscheidung zwischen Angst und Schreck ein, indem er die angstvolle Erwartung einer Gefahr von jenem schreckhaften Zustand unterscheidet, in den man gerät, ohne durch die Angst darauf vorbereitet gewesen zu sein. Die Furcht als weitere Unterscheidung im Zusammenhang mit Gefahr bezieht sich dabei stets auf einen bestimmten Gegenstand, so dass vor allem die Angst eine positive Funktion im Rahmen des Schutzes gegen zu starke Reize erhält, die eine psychische Gefahr darstellen. Die »traumatische Neurose«, von Freud oft als grundlegendes analytisch-therapeutisches Beispiel aus der Klinik wie Geschichte angeführt,253 kann – verglichen mit der Traumdeutung – dann nicht mehr länger als »Wunscherfüllung« eingestuft werden. Sie muss daher der Zugehörigkeit zum Lustprinzip entzogen werden, um einem Widerstand älter als das Lustprinzip selbst zugeordnet zu werden. Mit anderen Worten versuchen die Träume der traumatischen Neurose im Nachhinein die Reize zu beherrschen, die durch die Angst nicht erleichtert oder aufgehoben werden konnten, wie es auch die »Kriegsneurosen« gezeigt hatten. Damit ist die kompulsive Wiederholung als Ausnahme vom Lustprinzip bestätigt, insofern die Aufgabe der Bindung trau-

251 Vgl. auch »Hemmung, Symptom und Angst«, 120ff.; »Die Frage der Laienanalyse«, 189f. 252 Vgl. »Jenseits des Lustprinzips«, 215f. 253 Vgl. zum Beispiel »Hemmung, Symptom und Angst«, 159f., sowie Das Unbehagen in der Kultur, 499f.

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matischer Eindrücke jenem Zustand vorausgeht, welcher Lust verheißt oder Unlust vermeiden will. Was demzufolge bisher im Zwang zur Wiederholung ungeklärt blieb, war sein »triebhafter« oder sogar »dämonischer« Charakter,254 den Freud jetzt in seiner spekulativen Annäherung an den Todestrieb im Sinne des »Triebhaften« als die allgemeine Natur der Triebe und des organischen Lebens insgesamt offenlegen will. Und der theoretische Durchbruch von »Jenseits des Lustprinzips« stellt sich an dieser Stelle als jener entscheidende »Drang« dar, welcher den Organismus dazu zwingt, einen früheren Zustand wiederherzustellen, den er unter der Einwirkung äußerer Erregungskräfte aufzugeben gezwungen war. Diese dem organischen Leben inhärente »Trägheit« wird auf eine Stufe mit dem »Lebenstrieb« gestellt, so dass die bisher spekulative Hypothese des Todestriebes ihren Höhepunkt als Umschlagpunkt herkömmlicher anthropologischer Annahmen erfährt. Der Mensch wird letztlich nicht durch den äußeren Tod bedroht, sondern eine innere Bewegung führt ihn zum Tode, so dass das Ziel des Lebens insgesamt der Tod selbst ist.255 Das Leben ist dergestalt kein Wille zur Veränderung oder zur Entfaltung, sondern der so genannte »Selbsterhaltungstrieb« bildet den Versuch des Organismus, seine eigene Weise des Sterbens zu verteidigen. Durch die komplexe Natur der Anpassung an die äußeren irdischen Lebensbedingungen verlängert sich der innere Weg zum Tod hin, indem er sich individuell zugleich singularisiert. Der geistige Fortschritt und die ethische Sublimierung bilden daher eine Flucht nach vorn, die von der inneren Trägheit des Lebens verschieden ist. Worauf Freud den Leser durch seine spekulative Hypothese, klinische Beobachtungen und biologische Parallelen aus dem Leben der Tierwelt vorbereiten will, ist die Anerkennung des Todes als Gestalt der Natur – mithin auf die Anerkennung des unerbittlichen Gesetzes der Natur als Ananke.256 Aber zugleich ist diese Feststellung ohne weitere Illusion der Umkehrpunkt zum Eros hin, denn weil das Leben von innen her auf den Tod zuläuft, stellt die Sexualität die Ausnahme in dieser Bewegung zum Tod hin dar. Thanatos offenbart mithin den Sinn von Eros als Gegenbewegung des Todes, insoweit die Sexualtriebe wahrhaftige Lebenstriebe sind, die den anderen Trieben entgegenwirken, da diese zum Todesschicksal hinführen. Wichtiger als die Feststellung eines deutlichen Dualismus, worauf wir noch eingehen werden, ist in diesem Zusammenhang die epistemologische wie analytisch-therapeutische Einsicht, dass die Ersetzung der Libido durch Eros eine neue Triebtheorie erfordert. Die Neurosendeutung Freuds hatte von Beginn an den Gegensatz zwischen dem Sexualtrieb und den 254 Vgl. »Jenseits des Lustprinzips«, 220f. 255 Vgl. ebd., 223f. 256 Vgl. ebd., 228ff.

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anderen Trieben herausgestellt,257 aber neu ist nunmehr, dass der Kampf gegen den Tod nicht dem Leben als Eros inhärent ist, sondern der Sterbliche kämpft mit etwas Sterblichem in sich selbst. Und da dieser Kampf mit Hilfe von Eros stattfindet, ist hierbei der Andere mit einbeschlossen, so dass der Kampf zwar individuell erfolgt, aber ebenfalls jenen langen Anpassungsweg hinsichtlich Natur wie Kultur beinhaltet, die immer auch von erotischen Bezügen abhängen. Allein gibt es für Freud kein Lebenwollen in der Natur des Menschen, sondern das isoliert Lebendige als Organismus und Wiederholungszwang wie Reizverarbeitung ist der Tod selbst. Eros ist für Freud die Grundlage der libidinösen Zusammenschlüsse unter den Menschen, die von Paaren und Gruppen bis hin zu den großen Organisationen künstlicher Kollektivitäten wie Kirche und Militär reichen. Aber bereits auf der Ebene der Zellen suggeriert er die Anwendung dieser Erostheorie, die schon den Zellen eine Sexualität zuschreiben will, wodurch der Todestrieb in ihnen etwas neutralisiert werde.258 Diese Verallgemeinerung der Sexualität bis hin auf die zellulare Ebene vereinfacht nun keineswegs den Dualismus von Eros/ Thanatos, denn es entsteht dadurch eine Dramatik des Für und Wider, anstatt die beiden Bereiche voneinander abzugrenzen. Wie wir schon sahen, verfolgt jeder lebendige Organismus, mithin jedes Individuum, seinen eigenen inneren Tod. Andererseits jedoch tritt diese Bewegung zugleich als Leben auf, denn der Narzissmus ist als solcher eine Gestalt des Lebens. In dieser Perspektive bewahrt Eros jegliches Leben, so dass diese individuelle Erhaltung von der gegenseitigen Bindung der Zellen als Soma herrührt. Dieser radikalisierte Dualismus drückt daher eher ein gegenseitiges Sich-Überkreuzen von zwei Reichen aus, die sich in ihrer inneren Ausdehnung entsprechen. Freud ist immer Dualist gewesen, aber die Art und Weise der Gegenüberstellung hat sich ständig verändert. Er unterschied anfangs Sexualtriebe und Ichtriebe, so wie er einen Gegensatz von Objekt und Ich analysierte. Als der Narzissmus als Begriff von ihm eingeführt wurde, ergab diese theoretische Unterscheidung eine topisch-ökonomische Sichtweise und beinhaltete einen Konflikt von »Besetzungen«. Der neue Dualismus von Eros/Thanatos ersetzt nicht einfach die vorhergehenden Dualismen, sondern verstärkt sie, denn die narzisstische Libido des Ichs ist eine Form des Eros und somit auf der Seite des Lebens. Der Gegensatz von Sexual- und Ichtrieben sowie Todes- und Lebenstrieb deckt sich nicht vollkommen, wird aber auch nicht aufgehoben; er gibt vielmehr zu verstehen, dass der neue Dualismus aus »Jenseits des Lustprinzips« nicht länger Ziele und Objekte betrifft, sondern die Triebe als energetische Kräfte selbst, wobei Freud bislang den Trieb als »Anreiz für die seelische Tätigkeit« 257 Vgl. »Selbstdarstellung«, 58ff. 258 Vgl. »Jenseits des Lustprinzips«, 232ff.

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ausgehend von den »Körperbedürfnissen« bestimmt hatte.259 Deshalb ist diese Dualität ebenfalls nicht in irgendeine höhere Einheit aufzulösen, so dass Ichtriebe, Sexualtriebe, Lebenstriebe und Todestrieb jede Form der Libido durchqueren, was dann eine Verifikation für die anfangs erwähnte »Repräsentanz« des Todestriebes als solcher ergibt. Demzufolge ist auch jede Objektliebe zugleich Lebenstrieb und Todestrieb, da der Narzissmus als Eros eine sich ignorierende Liebe und verborgene Todeskultur ist. Überall, wo die Sexualität am Werk bleibt, wirkt auch der Tod, weshalb man unterstreichen kann, dass der Triebdualismus bei Freud wirklich antagonistisch geworden ist. Es handelt sich nämlich nicht mehr nur um qualitative Unterschiede, wie in der ersten Triebtheorie zwischen »Hunger und Liebe«,260 bzw. um Besetzungsunterschiede im libidinösen Bezug auf Ich oder Objekte wie in der zweiten Triebtheorie. Der Dualismus ist jetzt eine Auseinandersetzung geworden, welche die Schrift »Das Unbehagen in der Kultur« einen »ewigen Kampf« gigantischen Ausmaßes nennen wird.261 Aber es gibt in dieser Auseinandersetzung einen Unterschied, der besonders zu beachten ist, insofern das Leben in seinen diversen Manifestationen als Ausdruck seiner selbst zu uns spricht, während der Todestrieb durch sein schweigsames inneres Wirken gekennzeichnet bleibt. Daraus ergibt sich allgemein epistemologisch wie analytisch-therapeutisch eine spezifische Schwierigkeit, nämlich die nicht mögliche Anwendung der »Entzifferung« als eines durchgehend gleichen Interpretationszugangs in Bezug auf Eros und Thanatos. Freuds letzte Werke können daher nur in der Weise einer hypothetischen Spekulation einerseits und einer partiellen Entzifferung des schweigenden Todes andererseits in der inneren Bewegung des Begehrens selbst vorgehen. Dadurch ergibt sich eine zweifache methodische wie inhaltliche Verlagerung der Analyse, indem die Wiederholung immer stärker zur Zerstörung wird, so wie die rein biologische Ebene zunehmend in Richtung einer kulturellen Betrachtung verlassen wird. Der erste Punkt wird konkretisiert durch die Fassung des Wiederholungszwangs als Aggressivität, welche die Doppelgestalt von Sadismus/Masochismus annimmt. Der Sadismus beinhaltet ein Thema von vorgenitaler Sexualität und Perversionsformen, die seit den »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« präsent sind. War anfangs der Masochismus ein gegen das Ich gekehrter Sadismus, so will Freud jetzt die Regression zu einem primären Masochismus hin festhalten, der dazu dient, die Wichtigkeit von Über-Ich, Gewissen und Schuldgefühl theoretisch auszubauen.262

259 Vgl. »Die Frage der Laienanalyse« (1926): GW XIV, 307–296, hier 227. 260 Vgl. ebd., 227. 261 Vgl. GW XIV, 492f., sowie »Die Widerstände gegen die Psychoanalyse«, 105f., zu den verschiedenen Stadien des Dualismusbegriffs. 262 Vgl. »Jenseits des Lustprinzips«, 239f.

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1920 hatte Freud die beiden Begriffe »Vermischung« und »Entmischung« noch nicht zu seiner Verfügung, um das Zusammenwirken von Todestrieb und Sexualität bzw. deren getrennten Ablauf zu beschreiben. Diese beiden Begriffe werden dann deutlicher den Abstand zwischen dem Todestrieb und seinen Erscheinungen anzeigen, aber bis dahin sind weder die objektalen Beziehungen in Sadismus/Masochismus noch das Fort/Da-Spiel ausschließlich Zerstörung über den Wiederholungszwang. »Das Unbehagen in der Kultur« vollendet diese Überlegung, während in den Kapiteln IV–V von »Das Ich und das Es« (1923) die Vereinigung der Topik von Ich, Es und Über-Ich mit der dualistischen Theorie aus »Jenseits des Lustprinzips« (1920) erfolgt. Absolut betrachtet, betrifft der Triebdualismus von Eros/Thanatos eigentlich nur das Es, aber alle drei topischen Instanzen besitzen eine ökonomische Dichte, welche als »Vermischung« und »Entmischung« einer an sich neutralen Energie dahin führen können, dass sich erotische Strebungen mit destruktiven verbinden, um die »Besetzungs«-Macht insgesamt zu erhöhen. Mit anderen Worten erlauben die Mischungs-Verhältnisse eine energetische Analyse, wo die Funktion der Energie in verschiedenen Systemen offengelegt werden kann – mithin sowohl topisch wie ökonomisch. So lässt diese Ausarbeitung die »Schmerzlust« im erotischen Masochismus als »libidinöse Miterregung« im Sinne einer »Nebenwirkung« verstehen, wobei allerdings die »Bändigung« des Todestriebes durch die Libido als eine primäre »Legierung« aufgefasst werden kann. Als sukzessive »Umkleidungen« manifestieren sich diese je nach dem libidinösen Stadium als eine andere energetische Organisation: Verzehrtwerden (Oralität), Geschlagenwerden (Anal-Sadismus), Kastrationsphantasma (phallisches Stadium) oder Phantasma des passiven Koitus (genitales Stadium).263 Es ist vor allem die Relektüre des Über-Ichs, welche innerhalb der Topik von der energetischen Sichtweise des Todestriebes den größten Gewinn verbuchen kann. Als »Abkömmling« des Vaterkomplexes ist, analytisch-therapeutisch betrachtet, das Über-Ich dem Es näher als dem wahrnehmungsorientierten Ich. Aber warum zeichnet gerade die Grausamkeit das Über-Ich aus? Dieser befremdliche Charakter verbindet sich – scheinbar überraschend zunächst – mit dem Widerstand gegenüber der seelischen Heilung. Sobald jedoch der »moralische« Aspekt dieses Widerstandes als eine Art »Selbstbestrafung« durch das Leiden erkannt wird, tritt das unbewusste Schuldgefühl deutlicher hervor, das eine gewisse Befriedigung durch das Kranksein erfährt. Diese unbewusste Kohärenz lässt sich mit der Zwangsneurose und Melancholie in Verbindung 263 Vgl. Das Ich und das Es, 297–318: »Das ökonomische Problem des Masochismus« (1924); zur »Kastrationsandrohung« beim Jungen und zum »Penisneid« beim Mädchen auch »Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds« (1925): GW XIV, 19–30, hier 28f., sowie zur Entwicklung der Geschlechtlichkeit des Kindes allgemein »Die Frage der Laienanalyse«, 238ff.

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bringen sowie mit der individuellen wie kulturellen Gewissensstrenge im Allgemeinen. Die entscheidende Entdeckung durch Freud wäre also hier der Zusammenhang zwischen Vergehen und Tod, was die innerste Verbindung zwischen Über-Ich und Es darstellt. Der triebhafte oder ökonomische Charakter des Über-Ichs enthält daher nicht nur libidinöse Restbestände aus dem Ödipuskomplex, sondern er wird nunmehr als Zerstörungswut dank der »Entmischung« des Todestriebes gesehen. Der Zusammenhang von Destruktion und Todestrieb sei stärker als alle Ideen des Gewissens, wie sie durch Erziehung, Lektüren oder sonstige verbale Interventionen vermittelt werden. Die Melancholie illustriert vor allem, dass sich das Über-Ich der sadistischen Disposition bemächtigen kann, wodurch jene erwähnte Grausamkeit plausibel wird, die das Über-Ich ebenso auszeichnen kann wie das Es. Mit anderen Worten hat sich die destruktive Komponente im Über-Ich festgesetzt, um sich gegen das Ich zu wenden. Die »überlauten« Stimmen innerhalb der Zwangsneurose sind in diesem Sinne die »Repräsentanz« des an sich schweigenden Todestriebes.264 Eingeklemmt zwischen einem destruktiv sich gebärenden Unbewussten und einem tyrannischen Gewissen hat das Ich keine andere Wahl gegenüber solcher Tendenz des Thanatos, als sich selbst oder die Anderen aggressiv zu behandeln. Das Paradox dabei ist zweifach, denn je mehr ein Individuum unter solchen Bedingungen seine Aggressivität nach außen trägt, umso strenger wird es mit sich selbst in seinem »Ich-Ideal«. Die aus der Zwangsneurose bekannte Konsequenz in moralisch-religiöser Hinsicht hieraus ist, dass die ethische Grausamkeit einem »Höchsten Wesen« zugesprochen wird, das dann ohne Mitleid die »Sünden« oder das Böse im individuellen wie allgemeinen Sinne bestraft.265 Zwischen moralischem Masochismus und Erotik gibt es mithin eine verborgene Verbindung für Freud, da einerseits ein Bezug zwischen unbewusstem Schuldgefühl und Widerstand gegenüber der Heilung existiert und andererseits zwischen Gewissensangst und libidinöser Elternabhängigkeit als Instanz des Verbots. Damit wird allerdings das sowohl masochistisch wie erotisch fungierende Über-Ich zum »Vertreter« des Es, wobei diese libidinöse Verbindung mit dem »Vaterbild« durch immer entferntere und unpersönlichere Gestalten ersetzt zu werden vermag, die letztlich in der Schicksalsmacht terminieren, von deren parentaler Repräsentanz sich die meisten Menschen kaum zu lösen wissen. Allerdings müssen auch die Nuancen zwischen dem Sadismus des libidinösen Über-Ichs und dem »moralischen Masochismus« des Ichs gesehen werden, insofern der erstere »eine unbewusste Fortsetzung der Moral« im Unbewussten 264 Vgl. Das Ich und das Es, 251–296: »Das Ich und das Es« (1923), hier 286ff.; ebenso »Die endliche und die unendliche Analyse« (1937): GW XVI, Frankfurt/M., Fischer 72005, 57–99, hier 84. 265 Vgl. »Zwangshandlungen und Religionsübungen«: GW VII, 129–139; dazu auch unser folgendes Kapitel II,4.

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des Ichs darstellt. Hingegen ist das Strafbedürfnis des Ichs jenes Verlangen, welches sich aus dem Geschlagenwerden durch den Vater ergibt und seinen Platz im »erogenen Masochismus« einnimmt, was daher eine »Resexualisierung der Moral« zum Ausdruck bringt. Die normale Bewegung des Gewissens besteht aus der Desexualisierung des Ödipuskomplexes, so dass es jene resexualisierte Moralität ist, welche die monströse Vermischung von Liebe und Tod bewirkt und eine perverse Sublimierung des Leidens als »Lust« bildet. Es bleibt daher geboten, normale Moralität von der Grausamkeit des sadistischen Charakters sowie vom masochistischen Selbstbestrafungswillen zu unterscheiden, auch wenn sie als kulturelle Form der Triebunterdrückung zusammenspielen, um das Schuldgefühl beim Ich hervorzurufen oder sogar noch weiter zu verstärken. Freud interessiert sich hier daher besonders für die Beschreibung des pathologischen Schuldgefühls in der Zwangsneurose und Melancholie, ohne die Bezüge zur gewöhnlichen Moralität deutlicher herauszuarbeiten.266 Wir wissen, dass sich das Über-Ich in der Melancholie am unmittelbarsten als Todestrieb bis hin zum Suizid offenbart,267 während in der Zwangsneurose eher eine Verteidigung des eigenen Ichs vor dem Tod vorgenommen wird, um stattdessen die Liebesobjekte in Hassobjekte zu verwandeln. Innerhalb des kulturellen »Unbehagens« lässt sich daher ein ständig nach außen gekehrter Hass feststellen, den die Individuen nicht »verarbeitet« haben, so dass ein zweifacher Kampf stattfindet, nämlich gegen das Über-Ich und das Ich, und dieser Kampf wird als andauernde »Vermischung« von »Verantwortung« und »Schuldgefühl« aktualisiert.268 Auf diese Weise existiert eine Annäherung zwischen Entmischung, Desexualisierung und Sublimierung, insoweit der Sadismus des Über-Ichs als eine sublimierte Form der Destruktivität erscheint, um dadurch zu einer »reinen Kultur des Todestriebes« zu werden. Denn die Entmischung der Destruktivität von der Desexualisierung lässt Thanatos für das Über-Ich mobilisiert sein, wodurch die Desexualisierung des Sadismus nicht weniger gefährlich auftritt als die Resexualisierung des Masochismus. Die ebenso außerordentliche wie erschreckende Entdeckung Freuds zeigt sich demzufolge darin, dass der Todestrieb sich sublimieren kann, wobei die Kastrationsangst die Triebbasis dieses gesamten Prozesses ausmacht. Am Ende von »Das Ich und das Es« ist in der Tat zu lesen:

266 Vgl. zur Diskussion A. Lambertino, Psychoanalyse und Moral bei Freud, Bonn, Bouvier 1994. 267 Vgl. Das Ich und das Es, 171–190: »Trauer und Melancholie« (1917), dazu auch J. Press, »Jenseits der Melancholie. Von ›Trauer und Melancholie‹ zu ›Die Angst vor dem Zusammenbruch‹«, in: Jahrbuch der Psychoanalyse 75 (2017) 67–94. 268 Vgl. Das Unbehagen in der Kultur, 484ff.

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Das Realitätsverständnis gemäß Sigmund Freud

»Hingegen lässt sich sagen, was sich hinter der Angst des Ichs vor dem Über-Ich, der Gewissensangst, verbirgt. Vom höheren Wesen, welches zum Ichideal wurde, drohte einst die Kastration, und diese Kastrationsangst ist wahrscheinlich der Kern, um den sich die spätere Gewissensangst ablagert, sie ist es, die sich als Gewissensangst fortsetzt.«269

Die Genese der Illusion, die wir im Zusammenhang des Realitätsprinzips mit der Religion betrachtet hatten, erweist sich somit als von der Furcht her nicht nur an die Gewissensangst gebunden, sondern sie selbst bleibt nach Freud ohne Todestrieb unverständlich, welcher eben nicht nur auf der biologisch-individuellen Ebene wirkt – sondern vor allem auch im kulturellen Bereich am Werk ist. Greifen wir deshalb diese Frage nach dem Verhältnis zwischen Kultur und Todestrieb weiterführend auf, dann muss sie hierbei der noch größeren Problematik des Bezugs von Eros gegenüber dem Tod folgen. Die libidinöse Ökonomie innerhalb des Kulturlebens gehorcht im Sinne Freuds einer allgemeinen »Erotik« als jenem Vitalprozess, der die Menschen durch gegenseitige Libidobeziehungen zu immer größeren Gemeinschaftsformen zusammenführt.270 So wie das Individuum vom Kindsein zum Erwachsenen heranreift, so sind Liebe und Arbeit die Frucht von Eros und Ananke. Aber selbst, wenn es die Menschen bis zu einer »prothesenhaften Gottähnlichkeit« durch ihre Naturbeherrschung gebracht haben, bleibt eine tiefe Unzufriedenheit in ihrer kulturellen Existenz gegeben, was sich bis zur »kulturfeindlichen« Tragik hin steigern kann. Die libidinösen Beziehungen zur Bildung von Gemeinschaftsformen setzen in der Tat Energien voraus, welche der individuellen Sexualität entzogen werden, die dergestalt der Gefahr der Verkümmerung ausgesetzt ist. Wenn dies auch noch keine Tragik im absoluten Sinne einschließen muss, so doch einen Mangel an Glück und Zufriedenheit im Inneren der Kultur. Das hierbei von Freud diskutierte Gebot der »Nächstenliebe« aus der jüdisch-christlichen Tradition verkenne zudem, dass es neben den erotischen Triebregungen, die in der Gesellschaft zum Teil unterdrückt werden, zusätzliche aggressive Bestrebungen gegenüber den Mitmenschen als »Nächsten« gibt. Daher spricht Freud lieber von den »Nebenmenschen«, die nicht nur nicht alle »liebenswert« seien, sondern dass letztlich im Sinne Hobbes eine prinzipielle Feindschaft zwischen den Menschen herrsche: Homo homini lupus.271 Hiermit tritt demzufolge der »Todestrieb« als eine anti-kulturelle Macht auf, wie sie ebenfalls in »Massenpsychologie und Ich-Analyse« (1920) beschrieben wird. In Übereinstimmung mit der schon zitierten Schrift »Das Unbehagen in der Kultur« bildet daher die Kulturentwicklung einen Kampf zwischen den 269 »Das Ich und das Es«, 294f.; vgl. ebenfalls »Die Frage der Laienanalyse«, 190ff. 270 Vgl. Das Unbehagen in der Kultur, 491f. 271 Vgl. ebd., 470f.

Die Kultur zwischen Eros und Thanatos

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Trieben des Lebens und der Selbstzerstörung, und in diesem Kampf bestehe seinem Wesen nach unser ganzes Leben, so dass die Entwicklung von Zivilisation und Kultur, welche Freud nicht begrifflich voneinander trennt, den Kampf um die Existenz selbst darstellt.272 Aber Freud bleibt eben nicht nur bei dieser evolutionären Sichtweise Darwins allein stehen, sondern der Kampf zwischen Eros/Thanatos hat im letzten kosmische Züge, die jedoch nicht nur »spekulativ« auf der biologischen Ebene bleiben wie in »Jenseits des Lustprinzips«, sondern an den Phänomenen von Hass und Krieg entziffert werden müssen. Anders gesagt, zeichnet sich eine progressive Offenbarung des Todestriebes durch die drei Ebenen des Biologischen, Seelischen und Kulturellen ab, die eine mythische Antwort durch Eros gemäß dem »Gastmahl« Platons erhalten.273 Dadurch verändert sich gleichfalls Freuds Auffassung des Schuldempfindens, weil es in »Das Ich und das Es« durch die Grausamkeit des Über-Ichs sowie durch sadistische oder masochistische Züge bei Melancholie oder Zwangsneurose gekennzeichnet war.274 Innerhalb der Kultur wird das Schuldgefühl jedoch zu einem Mittel dieser Kultur selbst, und zwar nicht mehr gegen die Libido, sondern gegen die Aggressivität. Damit übernimmt die Kultur die Interessen des Eros, indem letzterer sich auf diesem Weg gegen den tödlichen Egoismus wendet, so dass der Hauptverzicht durch die Kulturanforderung weniger das Begehren betrifft als die erwähnten Aggressionstriebe. Folglich reicht es auch nicht mehr, die Gewissensangst nur als eine Spannung zwischen dem Ich und Über-Ich zu bestimmen, vielmehr findet sie nunmehr auf einer größeren Bühne statt: »Denn das Schuldgefühl ist der Ausdruck des Ambivalenzkonflikts, des ewigen Kampfes zwischen dem Eros und dem Destruktions- und Todestrieb.«275 Ohne Zweifel wirkt die kulturelle Funktion der Schuldgefühle durch das psychologische Moment der Gewissensangst,276 aber wir befinden uns dennoch auf diese Weise im Zentrum des kulturellen »Unbehagens«. Der Ambivalenzkonflikt wird als unbewusster Triebdualismus von Eros/Thanatos nicht als solcher erkannt, um sich somit als komplexer Gefühlszustand der »Unzufriedenheit« auszuwirken, wobei die Instanzen von Ich, Es und Über-Ich jetzt in diesen größeren Konflikt von Eros/Destruktion integriert sind. Die Konsequenz hieraus ist fatal, denn die Kultur setzt den Tod dort ein, wo an sich Eros wirken sollte, so dass das Verhältnis von Leben/Tod völlig umgekehrt auftritt. Die pessimistische Sichtweise aus »Jenseits des Lustprinzips« wurde so noch ge272 Vgl. ebd., 480f. 273 Bei J. Lacan dient dasselbe »Gastmahl« als Vorlage für eine Interpretation der Übertragungsliebe; vgl. Le S8minaire VIII: Le transfert, Paris, Seuil 2001 (dt. Die Übertragung. Das Seminar VIII, Wien, Passagen 2007). 274 Vgl. »Das Ich und das Es«, 268ff. 275 Das Unbehagen in der Kultur, 492. 276 Vgl. ebd., 483.

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steigert, da die Kultur sich der Mittel der inneren Gewalt (Schuld, Angst) gegen die äußere Gewalt bedient, um das Leben gegen den Tod durchzusetzen. Die kulturelle »List« im Sinne Hegels erreicht dergestalt ihren Höhepunkt, indem sie den Tod gegen den Tod arbeiten lässt, wie Ricœur unterstreicht.277 Freud ist sich dieser Uminterpretation bewusst, denn er schreibt ausdrücklich in Bezug auf das Ende seines Werkes »Das Unbehagen in der Kultur«: Dieser neue Inhalt des Schuldgefühls »mag den Aufbau der Abhandlung gestört haben, entspricht aber durchaus der Absicht, das Schuldgefühl als das wichtigste Problem der Kulturentwicklung hinzustellen und darzutun, dass der Preis für den Kulturfortschritt in der Glückseinbuße durch die Erhöhung des Schuldgefühls bezahlt wird«.

Das Gewissen wird damit selbst zur »Feigheit« wie bei Hamlet, denn der Tod des Todes im Innern der Kultur, die an sich für Eros arbeiten soll, führt in diesem Augenblick dazu, dass »das Schuldbewusstsein durch die Kultur erzeugt« ist und daher »zum großen Teil unbewusst bleibt« bzw. eben als »Unbehagen zum Vorschein« kommt«.278

3)

Realität und Sublimierung

Wenn keine Vorstellung über die Triebe als solche direkt möglich ist, dann stellt dies einerseits die Frage nach dem Sinn der möglichen »Sublimierung« entsprechender triebhafter Objektwahl sowie andererseits nach dem spekulativen Status insbesondere des Todestriebes. Denn in letzterem Fall gäbe es dann nicht nur ein Überborden des Verständnisses durch eine mythische Repräsentation, sondern die Metabiologie der Spätzeit Freuds würde – trotz der Analogie zu A. Weismanns Theorie über Tod und Unsterblichkeit der Einzeller279 – näher der Dichtung und Philosophie sein, wie erneut der Rekurs auf die Eros-Rede des Aristophanes aus Platons »Gastmahl« zu bedenken gibt.280 Die Freudsche Lehre von Eros/Thanatos böte unter diesen Bedingungen mithin eher einen Beitrag zur »Naturphilosophie« im Sinne der Romantik und des deutschen Idealismus als zu einer »Bewusstseinsphilosophie«, die auch das »Unbewusste« zu berücksichti277 278 279 280

Vgl. De l’interpr8tation, 325. GW XIV, 493f. u. 495. Vgl. »Jenseits des Lustprinzips«, 230f. Vgl.. ebd., 242ff.; ebenfalls »Die Widerstände gegen die Psychoanalyse«, 105. Obwohl Freud allgemein jede Philosophie als »Baedeker« ablehnt, um nicht die »Lebensreise« vom »Standpunkt ihrer höheren Bedürftigkeit« abzuleiten; vgl. »Hemmung, Symptom und Angst«, 193. Es dürfte dies eine gewisse Ambiguität Freuds gegenüber der Philosophie offenbaren, die wir schon in unserer Einleitung herausstellten.

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gen versuchte, wie etwa bei Schelling.281 Dies würde unterstreichen, dass der Mensch aus psychoanalytischer Sicht zunächst vor allem ein Wesen des Begehrens als »Lust« darstellt, bevor er ein »Sprachwesen« (parlÞtre) bildet, um hier einen späteren Begriff aus Lacans Psychoanalyse282 aufzugreifen. Die Sublimierung erhielte dadurch die Funktion, zwischen einer »Mythologie des Begehrens« und einer »Wissenschaft des psychischen Apparates« zu vermitteln, das heißt innerhalb einer vom Todestrieb durchwirkten Kultur und ihrer antidestruktiven Aufgabe, welche zugleich mit der Realitätsanerkennung korreliert. Wiederholungszwang, Trägheit des Lebens sowie Destruktivität bilden auf jeden Fall drei zentrale Themen aus »Jenseits des Lustprinzips«, die den »Verlust« im Blick haben, der vom Fort/Da-Spiel her als »Negativität« im Sinne der unaufhebbaren Differenz von Anwesenheit/Abwesenheit verstanden werden kann. Dann wäre auch die Sublimierung ein ethisch geforderter Umgang mit dieser Differenz, sofern sie nicht einfach neurotisch oder psychotisch verkannt wird, sondern eine kreative Fiktion hervorbringt. Als sekundäre Objektwahl bejaht letztere etwas Neues im Rahmen der Realität, wie in der Kunst beispielsweise, ohne ausschließlich dem Phantasma oder Narzissmus verfallen zu sein.283 Freud selbst sagt zu der Schwierigkeit, etwas Neues anzunehmen und psychisch zu integrieren: »Die Quelle dieser Unlust aber ist der Anspruch, den das Neue an das Seelenleben stellt, der psychische Aufwand, den es fordert, die bis dahin zur angstvollen Erwartung gesteigerte Unsicherheit, die es mit sich bringt.« Davon hebt er andererseits kritisch den »Reizhunger« ab, »der sich auf alles Neue stürzt, und darum, weil es neu ist«.284 Anders gesagt, hebt die Sublimierung auf solche Weise die Verdrängung des Begehrens nicht gänzlich auf, was letztlich auch im Sinne einer »Ur-Verdrängung« nicht möglich ist.285 Vielmehr findet eine Bejahung der Realität des Unbewussten statt, welche zugleich ein »intellektueller Ersatz der Verdrängung« ist.286 »Bewusstwerden« zusammen mit der Sublimierung enthalte dadurch eine »Realitätsprüfung«, die ein Wirklichkeitsurteil enthält, welches den bloßen Gesichtspunkt der Lust verlässt, um aus diesem Nein ein Ja der Realität zu 281 Vgl. R. Kühn, Anfang und Vergessen. Phänomenologische Lektüre des deutschen Idealismus – Fichte, Schelling, Hegel, Stuttgart, Kohlhammer 2004, 127ff. 282 Vgl. »Fonction et champ de la parole et du langage en psychanalyse«, in: J. Lacan, Ecrits I, Paris, Seuil 1966, 111–208; dazu auch E. Ragland-Sullivan, Jacques Lacan und die Philosophie der Psychoanalyse, Weinheim/Berlin, Quadriga 1969; B. Taurek (Hg.), Psychoanalyse und Philosophie: Lacan in der Diskussion, Frankfurt/M., Fischer 1992. 283 Vgl. P. Ricœur, De l’interpr8tation, 332ff. u. 453ff. 284 »Die Widerstände gegen die Psychoanalyse«, 99; besonders zur Erwartungsangst vgl. auch »Hemmung, Symptom und Angst«, 197f. 285 Vgl. ebd., 121f. 286 Vgl. »Die Verneinung«, 7; dazu ebenfalls S. Zˇizˇek, Verweilen beim Negativen. Psychoanalyse und die Philosophie des deutschen Idealismus II, Wien, Turia + Kant 1995.

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machen. Der Übergang vom »anfänglichen Lust-Ich« zum »endgültigen RealIch« bestehe mithin nicht mehr in der Frage allein, wie viel vom Wahrgenommenen »aufgenommen« wurde, sondern vielmehr darin, wie viel von der im Ich präsenten Vorstellung in der Realität überhaupt »wiedergefunden« werden kann. Die genannte Differenz von Abwesenheit/Anwesenheit bleibt als Finden/ Wiederfinden gegeben, aber der libidinöse »Verlust« der verloren gegangenen Objekte von einst als »Abwesenheit« führt nicht in die Verweigerung der Realität durch »Verneinung«, sondern zu einer erneuerten »Anwesenheit«. Im Intervall dieser Differenz, welche prinzipiell die Sublimierung zu durchschreiten hat, erfolgt mithin eine erste kritische und ethische Erprobung, aus der sowohl eine wirklichere Welt als auch ein wirklicheres Ich hervorzugehen vermag. Mit anderen Worten ergibt sich in der Zusammenschau von Ästhetik, Fort/Da und Verneinung ein Verschwinden/Erscheinen, das zugleich der Kreation und dem Wiederfinden nach dem Verlust durch Wahrnehmungsurteil und Idol-Dekonstruktion entspricht. Im Wahrnehmungsurteil mit einem »verneinenden Symbol« wird demzufolge eine erste Stufe der Unabhängigkeit von der Verdrängung und dem Zwang zum Lustprinzip erreicht. Dies kann von der Sublimierung dann auf einer höheren Stufe weitergeführt werden, insofern hier die Bejahung der objektalen Wirklichkeit im Sinne einer produktiven »Anerkennung« hinzutritt, die zugleich eine »Entmischung« der Triebregungen als eine gewisse libidinöse Neutralisierung enthält. Wenn folglich die Sublimierung eine nützliche oder ästhetische Neuschöpfung von »Sinn« in Übereinstimmung mit der Realität als Natur insgesamt bedeutet, dann bleibt des Weiteren noch nach der topischökonomischen Relevanz von Idealität überhaupt zu fragen, nämlich in Bezug auf Konzepte wie Bedeutung, Intention und Motivation. Die Psychoanalyse Freuds als entziffernde oder dekonstruierende Betrachtung jeder Bewusstseinsreflexion, die sich selbstständig glaubt, ist allerdings keine grundsätzliche Verkennung jeglichen Bewusstseins als »Bewusstwerden«, wie gerade das Verhältnis von Wahrnehmungsurteil und Realitätsbezug unter Durchstreichen des ausschließlichen Lustprinzips zeigte. Was gesucht wird, ist ein »wissenschaftlich« orientiertes Bewusstsein, das von jeder rein narzisstischen »Subjektivität« unterschieden wird, um ein analytisch-therapeutisches Bewusstsein zu erreichen, welches die Regeln der Entzifferung oder Deutung auf dem erkannten Hintergrund von libidinösen Primärprozessen ernst nimmt.287 Der Realismus Freuds, vor allem auch im Hinblick auf die Metabiologie des »Todestriebes«, ist keine Rückkehr zu einem unreflektierten Naturalismus, 287 Zur »Deutung« der »Entstellungen« betreffs des vom Patienten gelieferten »Materials« vgl. »Die Frage der Laienanalyse«, 241ff., woran sich die Frage nach der Übertragung im Zusammenhang mit »Krankheitsgewinn« und »Verliebtheit« als »Übertragungsneurose« anknüpft.

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sondern eher ein Realismus, welcher jedes als unmittelbare Gewissheit empfundene Bewusstsein in Frage stellt. Dies bildet eine Entsprechung zur »Demütigung« unseres Narzissmus, um allerdings eine neue Qualität von »Bewusstsein« zu erlangen. Methodisch gesehen, kann man in diesem analytischtherapeutisch erneuerten »Bewusstsein« ein notwendiges Verhältnis zwischen empirischem Realismus und kritischem Idealismus erblicken, da eine epistemologische Reflexion über die Gültigkeit von psychischen, anthropologischen und kulturellen »Tatsachen« mit Blick auf die umfassende Weltwirklichkeit angestrebt wird. Die Aufhebung der unmittelbaren Gewissheit, um die Reiz- und Sinneswahrnehmung der inneren wie äußeren Welt einer solchen Entzifferung zuzuführen, ist das Zusammenspiel von topischen wie energetischen »Verschiebungen«, »Verdichtungen«, »Besetzungen« etc., die im Kantischen Sinne als transzendental verstanden werden können. Dadurch wird ein neues Erfahrungsfeld an Objektivität und Intelligibilität operativ konstituiert, was viele geführte Diskussionen um das »Unbewusste« etwa relativiert, um zu erkennen, dass die Psychoanalyse Freuds eben einen neuen Wirklichkeitsbereich überhaupt organisiert.288 Dieser kann nicht einfach in bestehende Natur- und/oder Geisteswissenschaften integriert werden, sondern verbindet Realität und Erfahrungsurteile für eine spezifische Bedeutungsebene miteinander. So bemerkt Freud selbst in Bezug auf die unterschiedlichen geistes- und naturwissenschaftlichen Begriffsbildungen: »Die Grundvorstellungen oder obersten Begriffe der naturwissenschaftlichen Disziplinen werden immer zunächst unbestimmt gelassen, vorläufig nur durch den Hinweis auf das Erscheinungsgebiet erläutert, dem sie entstammen, und können erst durch die fortschreitende Analyse des Beobachtungsmaterials klar, inhaltsreich und widerspruchsfrei werden.«289

Die Wissensrekonstruktion der Psychoanalyse kann von einer intentionalen Sinnebene aus eine »Archäologie« genannt werden,290 die nach der Aussage von »Die endliche und die unendliche Analyse« (1937)291 jeweils zu einem Zeitpunkt beendet wird, da sie bei bestimmten gedeuteten Signifikanten anlangt und da288 Vgl. dazu O. Urbanitsch, Wissenschaftstheoretische und philosophisch-anthropologische Aspekte der Freudschen Psychoanalyse, Basel, Birkhäuser 1983; M.B. Buchholz u. Chr. Gödde (Hgg.) Macht und Dynamik des Unbewussten. Anschlüsse, Auseinandersetzungen in Philosophie, Medizin und Psychoanalyse. Das Unbewusste – Ein Projekt in drei Bänden, Gießen, Psychosozial-Verlag 2005. 289 »Selbstdarstellung«, 85; vgl. ähnlich »Die Widerstände gegen die Psychoanalyse«, 102ff. Dazu ebenfalls H. Steinbauer, Die Psychoanalyse und ihre geistesgeschichtlichen Zusammenhänge mit besonderer Berücksichtigung von Freuds Theorie der Literatur, Basel, Birkhäuser 1987. 290 Mit Anlehnung an M. Foucault, L’arch8ologie du savoir, Paris, Gallimard 1966. 291 Vgl. GW XVI (1932–1939), Frankfurt/M., Fischer 72003, 59–91.

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durch ein Ende unter Bezug auf die Einsicht des Patienten findet.292 Gewonnen aus der Deutung archaischer Primärprozesse unter dem Gebot eines zu beachtenden äußeren Realitätsanspruchs wird eine subjektiv konfigurierte Wirklichkeit erreicht, die in ihrer Singularität als eine endliche Ordnung möglicher psychischer Kombinationen in epistemologischer Hinsicht angesehen werden kann. Eingebettet in typische Strukturen von Topik und Ökonomie wird mit anderen Worten ein endlicher bzw. »unbewusster« Mechanismus aufgedeckt, der zugleich die psychische wie äußere Realität nach Maßgabe geglaubter und notwendig »nützlicher« Bedeutungen betrifft. Die Sublimierung bildet dabei jene Weise, die Quasi-Natur der Triebkräfte und ihrer freien oder gebundenen Energie im Verbund mit dem genannten Mechanismus der Primär- und Sekundärprozesse von Narzissmus und Objektwahl in Augenschein genommen zu haben. Das »unmittelbare Bewusstsein« des Patienten oder Analysanden in seiner scheinbaren Gewissheit kann sich dadurch zugunsten einer neuen wie realen Sachlage verschieben, die dem Realismus der Kur inhärent ist – und über dergestalt anders wahrgenommenen »Sinn« ebenfalls zu nunmehr besser bekannten Mechanismen von »Motivationen« als »Triebschicksal« und »sublimierter Objektwahl« führt. Mit Freuds eigenen Worten zum »therapeutischen Ziel« ausgedrückt: »Wir wollen das Ich herstellen, es von seinen Einschränkungen befreien, ihm die Herrschaft über das Es wiedergeben, die es infolge seiner frühen Verdrängungen eingebüßt hat, [um so] die Konflikte besser als durch einen Fluchtversucht zu erledigen.«293 Der analytisch-therapeutische Realismus einer psychisch-empirischen Realität des Es, Ichs und Über-Ichs einschließlich ihrer libidinösen Genese und Interdependenz ist mithin kein Realismus des Unerkennbaren – der Triebe als solche, wie wir schon unterstrichen haben. Er ist nicht die Biologie oder Neurowissenschaft derselben, sondern der »psychischen Instanzen«, auch wenn dabei zuletzt der »geräuschlos arbeitende Todes- oder Destruktionstrieb« schwieriger offenzulegen ist als etwa das »Libidoreservoir« hinsichtlich Narzissmus und Sublimierung.294 Affektive Besetzungen und Abfuhren sind ebenso »Realitäten« wie die topischen Verhältnisse, denn der Kern des Unbewussten besteht aus entsprechenden ökonomischen Vorgängen, die entziffert und be292 Vgl. N. Langlitz, Die Zeit der Psychoanalyse. Lacan und das Problem der Sitzungsdauer, Frankfurt/M., Suhrkamp 2005, 84ff. 293 »Die Frage der Laienanalyse«, 232, wobei Freud von keiner »natürlichen Gegnerschaft« zwischen Ich und Es ausgeht, auch wenn ihr Bezug oft wie das Verhältnis von »Front und Hinterland« erscheint, ebd., 223 u. 225. 294 Vgl. »Selbstdarstellung«, 83f.; zur weiteren Diskussion auch J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M., Suhrkamp 1968; R.P. Warwitz, Zwischen Verstehen und Erklären. Die widerständige Erfahrung der Psychoanalyse bei Karl Jaspers, Jürgen Habermas und Jacques Lacan, Würzburg, Königshausen & Neumann 1990; P. Ricœur, De l’interpr8tation, 363ff.

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stimmt werden müssen. Es soll nämlich eine individuell wie kulturell angezeigte »realistischere« Haltung gegenüber Welt und »Nebenmenschen«, Schicksal und Tod erzielt werden, wie es die immanente Ethik der Psychoanalyse als stets mögliche »Sublimierung« durchscheinen lässt. Ein solcher Realismus des Erkennens wie Sublimierens auf der Ebene von Gedächtnis, Wahrnehmung und Wort als frühesten »Erinnerungsspuren« schließt folglich eine Hypostasierung des Unaussprechbaren oder Abyssalen aus und vermeidet jede Mythologisierung eines angenommenen Ursprungs im philosophischen oder religiösen Sinne. Wenn mithin aktuelle Wahrnehmung und unbewusst psychische Prozesse nicht identisch sein können, dann ist jedes »Objekt« – wie das »Ich« selbst – eine praktische Aufgabe bzw. eine »diagnostische Wirklichkeit«, aber keine absolute Realität. Vielmehr eine solche Wirklichkeit, deren relativer oder situativer »Sinn« operativ durch Interpretation zu erschließen bleibt, ohne zu einer endgültigen Sinnidentität hinzuführen, der eine eindeutige Bedeutung zukäme, worin die Psychoanalyse sich methodisch mit Phänomenologie, Hermeneutik und Postmoderne trifft.295 Besonders der ästhetisch wie ethisch motivierte Charakter der Sublimierung trägt den Realbezug, insoweit einer Fluidität oder Elastizität zwischen Fiktion und Realität stattgegeben werden kann, ohne in die Illusion eines Absoluten zurückzufallen, wie Freud sie an der Religion als einer nicht mehr weiter »lernfähigen« Ordnung kritisierte.296 Die energetische Realität der Topik konstituiert sich mithin in einem rein epistemologischen Sinne, so dass das Unbewusste in diesen Instanzen »wirklich« ist, ohne für das Bewusstsein des entsprechenden Subjekts einen erkennbaren realen Status zunächst zu besitzen. Denn der Zusammenhang von Topik/ Unbewusstem ergibt sich aus einer Konstruktion von Anzeichen und Symptomen, die erklärenden Modellen im Sinne der Entzifferung unterworfen werden,297 woraus sich im Übrigen eine weitere Eigenart des analytisch-therapeutischen Realismus ergibt. Die Symptome und Anzeichen der topisch-ökonomischen Bewegung bei einem Patienten oder Analysanden erfahren nämlich »Sinn« durch einen Anderen, das heißt in einer intersubjektiven Konstellation, wo die Realität des Unbewussten durch den Analytiker/Therapeuten nach bestimmten Verstehens- und Deutungsregeln manifest wird.298 Die Übertragung als Dialog wie Konflikt zwischen zwei Subjekten als jeweilig singulärem Bewusstsein ist daher nicht nur ein methodisches Mittel, sondern sie ergibt eine 295 Vgl. zum Beispiel P.V. Zima, Moderne / Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen, Francke 42016, 150ff. u. 305ff. 296 Vgl. Die Zukunft einer Illusion, 371f. 297 Zur Symptombildung und versuchter Integration des Symptoms durch das Ich vgl. »Hemmung, Symptom und Angst«, 124ff. 298 Vgl. hierzu ebenfalls S. Achim, Sinn als Bedeutung. Bedeutungstheoretische Untersuchungen zur Psychoanalyse Sigmund Freuds, Berlin, De Gruyter 1989.

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Wirklichkeit über die sprachliche Referenz hinaus (einschließlich Schweigen, Körpersprache oder acting out),299die stets den Faktor des augenblicklichen »Einfalls« als Unvorhersehbarkeit einschließt. Dies unterstreicht noch einmal den rein operativen Charakter der Realitätsbegegnung als nicht voraussagbar und lässt letztere zu einer singulären Erprobung als »Wahrheit« werden. Wäre der Realismus der Psychoanalyse ein naiver Realismus, so würde er das »Ergebnis« als Effekte der Kur/Therapie in das Unbewusste kausal zurückprojizieren. Dies wäre eine mythologisierende Vorgehensweise, anstatt die Wirklichkeit des Unbewussten eine Realität sein zu lassen, die keine Idealität des Sinns an sich ist. Das Unbewusste lässt sprechen – und damit gibt es zu denken, ohne das Ende der Analyse/Therapie vorwegnehmen zu können, welches für den Patienten/Analysanden zugleich auch das Ende der Übertragung und der intersubjektiven Situation als Form dieser spezifischen Begegnung ist.300 Betrachten wir abschließend die Sublimierung in ihrer inneren Struktur noch genauer, so ist sie allgemein zunächst eine Umwendung des libidinösen Ziels, ohne eine Objektsubstituierung zu bilden. Diese Umwendung ist näherhin mit den vorbereitenden Akten der Geschlechtsvereinigung verwandt, denn Berühren, Sehen, Verbergen wie Zeigen gehören zur sexuellen Lust, welche aus diesen sinnlichen Einzeleindrücken selbstständige oder neue Ziele hervorgehen lassen kann. Durch diese libidinöse Umwendung wie Aufteilung gehört die Sublimierung von vornherein in den ästhetischen und damit kulturellen Bereich.301 Indem Freud die Frage der Sublimierung zudem an die erogenen Zonen des Körpers bindet, macht er auf den besonderen Charakter dieser sexuellen Trieberscheinung aufmerksam, um am Ende der »Abhandlungen« die Sublimierung als dritte mögliche Triebverwirklichung neben Neurose und Perversion anzusiedeln.302 Wenn die beiden letzteren auf die Verdrängung bezogen werden, so ist die Sublimierung hingegen eine Triebabfuhr in andere Bereiche hinein als nur die Sexualität, wie wir dies für die ästhetische Schöpfung sowie – innerhalb von Analyse/Therapie – für eine aufmerksamere Realitätsbegegnung bereits unterstrichen hatten, welche nicht mehr ausschließlich narzisstisch im neurotischen oder perversen Sinne geprägt ist.

299 Vgl. hierzu näherhin G. Salomon, »Therapiekörper. Hilfreiche Erfahrungen zwischen körpertherapeutischen und analytischen Denkweisen«, in: Psychoanalyse & Körper 35/2 (2019) 52–60. 300 Vgl. R. Kühn, Der therapeutische Akt. Seine Singularität in Bezug auf Wissen und Wahrheit in lebensphänomenologischer und Lacan’scher Perspektive, Freiburg/München, Alber 2018, 90ff. 301 Vgl. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie: GW V (1904–1905), Frankfurt/M., Fischer 1968, 55ff. 302 Vgl. ebd., 140f.

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Unter diesen weiterhin geltenden libidinösen Bedingungen wird damit die Verdrängung zu einer Unterart der Sublimierung, um beide an »konstitutionelle Dispositionen« zu binden, die als »Charakterzug« wiederum an die sexuelle Vollzugsweise von Fixierung, Sublimierung und Unterdrückung gebunden sind. Da nun aber ein Charakter nicht ohne Vorgang von zuvor erfolgten Idealisierungen denkbar ist, ergibt sich mithin eine Verbindung zwischen den letzteren und der Sublimierung. Wenn die Idealisierung bekannterweise das Triebobjekt betrifft, so hat es die Sublimierung hingegen mit dessen Ausrichtung und Ziel zu tun. In diesem Sinne setzt Freud die Sublimierung der Verdrängung gegenüber, um zwar deren ungebrauchte Energie weiterhin zu benutzen, allerdings als eine Objektverlagerung, die nicht mehr dem rein reaktiven Mechanismus der verdrängten Trieborientierung unterliegt. Nimmt man die weitere Erkenntnis Freuds aus »Das Ich und das Es« hinsichtlich des Über-Ichs hinzu, dann ergibt sich für die Sublimierung eine Desexualisierung, insoweit ein Libidoaustausch zwischen Objekt und Ich stattfindet. Das heißt, die sexuelle Objektlibido ändert sich in eine narzisstische Libido, wodurch das Ich dann andere Objektbefriedigungen als die geschlechtlichen in Aussicht nehmen kann.303 Gegenüber seinen früheren Texten kennt Freud nunmehr eine neutralisierte oder »desexualisierte« Energie, die nicht nur eine Verlagerung von erotischen oder destruktiven Tendenzen bedeutet, sondern eine Identifikation, die zwar nicht vom Vaterbild/Über-Ich gelöst ist, aber als Sublimierung mehr darstellt als eine bloß infantile Verschiebung von frühen nicht erfüllten sexuellen Zielen im Sinne der kindlichen poly-perversen Sexualität. Wir haben diesen neuen Zusammenhang von nicht-ödipaler Objektbesetzung und innerer Loslösung vom ausschließlichen Narzissmus, was eine Desexualisierung der Objektziele einschließt, als eine »kreative« oder »elastische« Realitätswahrnehmung gekennzeichnet. Bei dieser wird schließlich deutlich, dass sie als höhere ästhetische bzw. ethische Verwirklichung des Menschen in seinem »Bewusstwerden« etwas »Erhabeneres« (Sublimes) einschließt als jenen Dualismus, welcher Freud bis dahin lange geleitet hatte, nämlich Trieb/Über-Ich bzw. Begehren/Autorität und Reaktion/ Vater. Das Begehren reißt sich in der Sublimierung gewissermaßen von sich selbst los, differenziert das Über-Ich über das bloße Vaterbild einschließlich »Schicksal« in einem engen Abhängigkeitssinne hinaus. Es findet folglich ein »Kompromiss« zwischen zwei Vorgängen statt, zwischen der Verinnerlichung des »Außen« (Vater, Autoritäten etc.) und der Differenzierung des »Inneren« (Libido, Es, Narzissmus etc.). Die Sublimierung kann daher auch als eine Integration des Archaischen in eine offene Teleologie bezeichnet werden, die zugleich eine Neubestimmung des Ichs beinhaltet, welche die ökonomische 303 Vgl. »Das Ich und das Es«, 277f.

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Wirkweise von Begehren, Trieb und Energiebesetzungen für eine Dialektik oder Ethik des Anderen öffnet, ohne dabei zwangsneurotischen Strukturen der Moral im Sinne der Vaterfiguren als Idole zu folgen. Denn das Begehren, über die Identifizierung wie ein Anderer zu sein, ist stets auch ein »Habenwollen« im Sinne der Oralität. Falls die Sublimierung dem nicht ebenfalls verfallen soll, dann bedeutet sie immanent zugleich eine andere »Selbstwerdung« des Bewusstseins als »Ich« innerhalb der Dialektik oder Ethik des Begehrens. Das Ideal der Identifikation bleibt in der Tat ein Substitut des verlorenen Narzissmus der Kindheit, so dass ein anderes »Bewusstwerden« als »Selbsterkenntnis« auch ein Minimum neuer ethischer Signifikanten mit sich bringen dürfte. Die »Selbstachtung« bei Freud304 scheint daher darauf hinzuweisen, dass das Durchschreiten der Phantasmen als Phantasierwelten des Ichs nicht nur die Bedrohung der Kastration zur Kenntnis nimmt, sondern durchaus dieses ethische Minimum der Selbstachtung jenseits der topisch-ökonomischen Mechanismen entwickelt. Anders gesagt, hat die Vermeidung der »Regression« als innere Differenzierung des Narzissmus im Sinne »durchgearbeiteter« Realitätswahrnehmung eine »Progression« zu beinhalten,305 welche die »Selbstachtung« mit dem Nochnicht-Gesagten der Sublimierung verbindet, was für die analytisch-therapeutischen Prozesse ein anderes Umgehen mit Notwendigkeit und Zeit als Realität einschließt. In dieser Hinsicht ließe sich prospektiv sagen, dass die Sublimierung ein »Nicht-Wissen« meiner selbst im Sinne einer nie abgeschlossenen, jedoch aufgetragenen »Selbstachtung« bildet, um sich selbst über Objekte und deren vorübergehende Teilidentifikationen weiterzuentwickeln. Freud erblickt darin die »höchste Leistung des Ichs«, um »sich vor der Realität zu beugen, oder deren Partei zu ergreifen und sich gegen die Außenwelt zur Wehr zu setzen« – was insgesamt dann mit dem »Um und Auf der Lebensklugheit« identifiziert wird.306 Archaischer und teleologischer Aspekt der »Selbstachtung« erscheinen kulturell oder ästhetisch als Selbstwerdung und Selbstanerkennung des Ichs in zentralen Gestalten wie »König Ödipus« und »Hamlet«.307 Diese tragischen Figuren waren nicht nur Anlass für Freud, Psychoanalyse und Literatur als Forschungsgebiete miteinander zu verknüpfen, sondern prinzipiell Leiden, Selbststolz und Hemmung des Handelns angesichts eines nicht direkt selbst verschuldeten Schicksals als grundlegend analytisch-therapeutische Themen aufzugreifen. Die Sublimierung, die bei Ödipus und Hamlet stattfindet, beinhaltet die Frage nach dem »kulturellen Objekt« als Verbergung und Entber304 Vgl. »Zur Einführung des Narzissmus«: GW X (1915–1917), Frankfurt/M., Fischer 1968, 160. 305 Vgl. P. Ricœur, De l’interpr8tation, 514f. 306 »Die Frage der Laienanalyse«, 228; vgl. dazu E.Th. Haas, »Ödipuskomplex und Ödipusfabel. Lebenstatsachen bei Sophokles«, in: Jahrbuch der Psychoanalyse 43 (2001) 207–238. 307 Vgl. »Selbstdarstellung«, 89f.

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gung schlechthin, mithin in einer sowohl phänomenologischen wie psychoanalytischen Erscheinensdialektik, die wir als durchgehende Frage der Realitätsbegegnung innerhalb der topisch-ökonomischen Bewegung von Abwesenheit/Anwesenheit bzw. Fort/Da hervorhoben. Traum, Neurose, Kreation stehen daher in einer gewissen Analogie zueinander, da es um eine mythisch-poetische Archäologie wie Teleologie geht, die entweder in der Fixierung von Wünschen/ Phantasiegebilden stehenbleibt308 oder aber über die ästhetische Sublimierung als »Lockmittel« für das eigene Selbst und Andere eine symbolische Realität vielfältiger subjektiver Zugänge für Selbst- wie Welterkenntnis schafft, wie wir am Ende dieses Kapitels nochmals mit Freuds eigenen Worten unterstreichen möchten: »Aber im Unterschied von den asozialen, narzisstischen Traumproduktionen waren [die Werke der Künstler] auf die Anteilnahme anderer Menschen berechnet, konnten bei diesen die nämlichen unbewussten Wunschregungen beleben und befriedigen. Überdies bedienten sie sich der Wahrnehmungslust der Formschönheit als ›Verlockungsprämie‹.«309

Die Regression hat sich in einem solch sublimierten Kunstwerk oder kulturellen Symbol zu einer progressiven Wirklichkeit von Zukunftsmöglichkeiten eigener wie gesellschaftlicher Existenz hin entwickelt, womit über das »kulturelle Objekt« – im Gegensatz zur archaisch-narzisstischen Destruktivität – der Weg für eine gegenseitige Anerkennung ohne Zwang und zu große Triebunterdrückung eröffnet wird. Die »Schwere des Lebens« als Unnachgiebigkeit von Schicksal und Tod bzw. Ananke verschließt sich nicht als Horizont menschlicher Möglichkeiten, die als sublimierte Werke zugleich »Bildung« oder »Erziehung« in der von Freud eingeforderten illusionsfreieren Kulturzukunft durch den Eros verwirklichen: »Die Psychoanalyse schlägt vor, mit der Strenge der Triebverdrängung nachzulassen und dafür der Wahrhaftigkeit mehr Raum zu geben.«310 Die Illusion der Vatersubstitute als Idole der fremdbestimmten Unterwerfung wäre damit über eine solche Möglichkeit gebannt, ohne jedoch die ästhetischen Rechte der Phantasie als produktiv Imaginäres zu verkürzen, worin die offenen Perspektiven der nicht neurotisch oder pervers verstellten Realitätszugänge angedeutet werden. Die Ambiguität des Sakralen wie der Technik-Wissenschaft hat bei Freud ihren Ausdruck im Begriff des »Prothesengottes« gefunden,311 um sowohl die religiösen wie epistemischen Erkenntnisambitionen an eine Bescheidung zu 308 Vgl. ebenfalls J. Lacan, Le mythe individuel du n8vros8 ou po8sie et v8rit8 dans la n8vrose, Paris, Seuil 2007. 309 »Selbstdarstellung«, 90. 310 »Die Widerstände gegen die Psychoanalyse«, 107. 311 Vgl. Das Unbehagen in der Kultur, 450f.

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Das Realitätsverständnis gemäß Sigmund Freud

gemahnen, die über die analytisch-therapeutische Erprobung des Begehrens mit dessen nie völlig aufklärbaren inneren Prozessen wie äußeren Objekten verläuft. Daher verweist die Ambiguität des Religiösen wie aller Erkenntnisintentionen auf eine Subjektivität, die sich rein phänomenologisch als originäre Verschränkung von Trieb und Leiblichkeit offenbart und auf deren nie gänzlich sichtbar zu machende immanente Wirklichkeit die Kultur eine stets fortgeführte Antwort über Fiktion und Wissen zu geben versucht.312 »Realität« im Freudschen Sinne kann mithin nicht abschließend erkennbar sein, sondern seine »weisheitliche Resignation« gegenüber der Ananke von Unbewusstem wie Weltgesetzlichkeit verweist auf eine ethisch-ästhetische Aufgabe, die keine der Facetten innerer und äußerer Wirklichkeit im Vorhinein irgendeiner theoretischen Vorentscheidung als Ausschluss von Realitätsaspekten unterwirft. Die analytisch-therapeutische Realitätsbegegnung auf dem Hintergrund solcher Topik/Ökonomie erweist sich damit als eine permanente Realitätsaussetzung, deren radikal phänomenologische Bedingung das Selbstempfinden als lebendige Erprobung bildet, welche sich in jeglichem Begehren als Lust/Unlust bzw. Freude/Schmerz affektiv bekundet. Transzendental betrachtet, ist damit die Affektivität die Weise der inneren wie äußeren Manifestation des Realen des Lebens in seiner unaufhebbar leiblichen Selbstgegebenheit, was Freud indirekt anerkannte, wenn er festhielt, dass über die »Psychologie der Gefühlsvorgänge« wie Schmerz und Trauer wenig Wissen vorliege,313 so dass hierzu die radikal phänomenologischen Ansätze weiter verfolgt werden könnten. Andererseits mag die Philosophie zu Beginn der Psychoanalyse aus einer gewissen Verkürzung des eigenen Bewusstseinsbegriffs heraus den neuen Wissenschaftsanspruch spezifischer Natur bei Freud abgelehnt haben, da seinen Worten nach die Psychoanalyse »ein Verfahren sui generis ist, etwas Neues und Eigenartiges, was nur mit Hilfe neuer Einsichten – oder wenn man will, Annahmen – begriffen werden kann.«314 Dies sollte kein Grund mehr dafür sein, dass die Psychoanalyse ihrerseits eine mittlerweile – vor allem phänomenologisch – weitergeführte

312 Vgl. auch W. Bohleber (Hg.), Psyche 63/7 (2009): Kulturtheorie und Philosophie im Horizont der Psychoanalyse; N.M. ProenÅa, »Le malaise de la culture. La Barbarie de Michel Henry aprHs Das Unbehagen in der Kultur de Freud«, in: M. Enders u. R. Kühn (Hgg.), Kritik gegenwärtiger Kultur. Phänomenologische und christliche Perspektiven, Freiburg/München 2013, 216–225. 313 Vgl. »Hemmung, Symptom und Angst«, 202f. Zu einer direkten Anerkennung der Affektivität als Grund des Triebs unter Bezug auf das Denken Michel Henrys gelangt M. Thiberge, Essai sur la psychanalyse et la postmodernit8, 38ff., um so das Ziel der Psychoanalyse in der Ermöglichung singulären »Lebenkönnens« (vivabilit8) zu unterstreichen. 314 »Die Frage der Laienanalyse«, 216, mit Hinweis darauf, dass die Psychoanalyse nicht wie »ein philosophisches System entstanden« sei; vgl. ebenfalls »Die Widerstände gegen die Psychoanalyse«, 103f.

Realität und Sublimierung

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Philosophie ablehnt,315 da beide Disziplinen diesseits der noch nicht überwundenen Hypostase der Wissenschaften als »Positivismus« an einer plural subjektiven Kulturverwirklichung arbeiten, welche die Aufgabe unserer Zukunft bei allen individuellen wie gesellschaftlichen Identifikationskonflikten zu sein scheint.

315 Vgl. zum Beispiel zur Diskussion Th. Fuchs, Psychopathologie von Leib und Raum. Phänomenologisch-empirische Untersuchungen zu depressiven und paranoiden Erkrankungen, Stuttgart, Kohlhammer 2000.

3.

Hermeneutik und Phänomenologie der Psychoanalyse bei Ricœur und Henry

Die Ansätze von Ricœur und Henry für eine Auseinandersetzung zwischen Phänomenologie und Psychoanalyse stammen aus den Jahren 1965 und 1985, nachdem es zuvor bereits andere bedeutende philosophische Stellungnahmen zu Freud von Scheler, Minkowski, Sartre und Merleau-Ponty gegeben hatte, wie wir schon erwähnten. Aber erst jetzt beginnt eine breitere Diskussion der Rezeption der Psychoanalyse durch Ricœur und Henry als Vergleich zwischen beiden Denkern im Bereich der Hermeneutik und Phänomenologie.316 Dies impliziert eine neue Aktualität, der wir in diesem Kapitel nachgehen wollen, um die Relevanz eines affektiv-energetischen Ursprungsverhältnisses von Begehren und Sinn im Zusammenhang von Reflexion und Psychoanalyse deutlich zu machen. Zu hoffen bleibt erneut, dass auch die Tiefenpsychologie allgemein sich einem solchen Dialog in Zukunft nicht verweigern wird, auch wenn natürlich ihre eigene Grundorientierung zunächst in einem rein praktischen Verhältnis zum Analysanden oder Patienten besteht. Letzteres war jedoch bereits seit Freud stets von Ansprüchen hinsichtlich der »Aufklärung« lebensweltlicher und kultureller »Realität« getragen, insofern der Trieb und das Begehren alle individuellen wie gesellschaftlichen Bereiche berührt, sei es Kunst, Religion oder auch die »Massenpsychologie« mit Bezug auf Aggression und Krieg.

316 Vgl. J.-S. Hardy, J. Leclercq u. C. Sautereau (Hgg.), Paul Ricœur et Michel Henry. Entre h8ritages et destin8es ph8nom8nologiques, Louvain, Presses Universitaires 2016, hier vor allem Teil III »Affect et pulsion« (111–210); sowie als Philosoph und Psychoanalytiker D. Tiaja, »La vie de la subjectivit8 corporelle. L’entre-jeu de l’int8riorit8 et de la subjectivation. Henry et Ricœur«, in: Revue Internationale Michel Henry 9 (2018) 45–83.

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1)

Hermeneutik und Phänomenologie der Psychoanalyse bei Ricœur und Henry

Hermeneutische und lebensphänomenologische Interpretationsgrundlagen

Für Paul Ricœur (1913–2005) geht das Begehren (d8sir) der Selbstaffirmation des Bewusstseins voraus, um so von der archaischen Kraft der Triebe zur Sprache übergehen zu können, was in der analytisch-therapeutischen Beziehung als Kur dazu verhelfen soll, die eigene Endlichkeit als unmittelbare NichtEntsprechung mit sich selbst durch die Hermeneutik als ursprüngliche Wahrheit zu überwinden, das heißt, eine notwendige symbolische oder kulturelle Vermittlung des eigenen »leeren Selbst« zu erreichen.317 In diesem Sinne greift die Freudsche Analyse/Therapie nach seinem Verständnis die ursprünglich positive Erfahrung des Begehrens auf, was nicht ausschließt, dass sich die Zeitlichkeit solcher Erfahrung als halluzinatorische Gestaltung der eigenen Vergangenheit darbietet. Mithin ist der Ursprung des Begehrens bei Ricœur noch nicht als vollendete »Subjektivierung« gegeben, denn der Narzissmus wirkt sich gerade entfremdend als Abstraktion oder Idealbild vorgestellter ursprünglicher Selbstheit (Ipseität) aus.318 Dadurch bleibt die genannte Endlichkeit die NichtEntsprechung des Begehrens mit sich selbst und verlangt eine sprachliche Übersetzung innerhalb der Kur, wodurch die »Repräsentanz« im Sinne Freuds auch als »Ausdruck« (expression) dieses Begehrens verstanden werden kann. Für Ricœur ist diese psychoanalytisch angenommene »Repräsentanz« der Triebwirklichkeit daher einerseits die Ausrichtung auf eine Wahrheit als Objekterkenntnis hin sowie andererseits Ausdruck des Lebens als Anstrengung (effort) der Selbstverwirklichung und Subjektbestimmung, die er auch »konkrete Reflexion« nennt.319 Mit Hegel ließe sich sagen, da er phänomenologisch zum Verständnis von »Archäologie« und »Teleologie« der Psyche eingesetzt wird,320 es handle sich um eine Aktivität ohne Subjekt, denn der Sinn ist das Ziel des »absoluten Geistes«, während für Freud der unbewusste Sinn als arch8 in der

317 Vgl. De l’Interpr8tation. Essai sur Freud, Paris, Seuil 1965, 52ff. u. 461f. (dt. Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt/M., Suhrkamp 1969); Hermeneutik und Psychoanalyse, München, Kösel 1974 (frz. Le conflit des interpr8tations. Essais sur l’herm8neutique, Paris, Seuil 1969). Für eine Kurzinformation über Ricœur vgl. B. Liebsch, »Ricœur, Paul«, in: Th. Bedorf u. K. Röttgers (Hgg.), Die französische Philosophie im 20. Jahrhundert. Ein Autorenhandbuch, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009, 291–298. 318 Zur »narzisstischen Identifikation« (Rank) und dem »Ich-Ideal« als Prozess der Idealisierung und Regression auf kindheitliche Affekte hin gemäß Freud vgl. P. Ricœur, De l’Interpr8tation, 152ff u. 227ff. 319 Vgl. ebd., 73ff. u. 456f. 320 Vgl. ebd., 363–516.

Hermeneutische und lebensphänomenologische Interpretationsgrundlagen

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Psyche ruht.321 Ricœur verbindet diese beiden Sichtweisen miteinander, wodurch die Kultur insgesamt – wie für die Psychoanalyse – Begehren und zu interpretierendes Leben im hermeneutischen Sinne darstellt. Dadurch gehören »Fortschritt« und »Regression« ihm zufolge im energetischen Sinne zusammen, denn die Bewegung der Subjektivierung als Begehren, zu sein – und nicht nur Objekte zu haben –, ist ein ständiger Prozess auf Möglichkeiten hin.322 Die »Archäologie des Begehrens« ist also durch die »Teleologie« im Sinne einer Aneignung als Anstrengung nach vorne hin geöffnet, um sich in der »Eschatologie« einer Existenz als Verwirklichung von Begehren und Anstrengung hermeneutisch wie ethisch zu vollenden, wobei Ethik hier umfassend im Sinne Spinozas als conatus gedacht wird.323 Die Nichthintergehbarkeit des Lebens als Grund dieser Bewegung wird zur Bewusstheit durch das Leben selbst, was für Ricœurs Hermeneutikverständnis heißt: Wahrheit des Lebens als Ipseität des symbolisch vermittelten Selbstbewusstseins, wodurch sich das Begehren als »Licht des Lebens« selbst darstellt.324 Die schon erwähnte Sprache übernimmt dabei die notwendige Symbolisierung des Lebens, wobei Freuds metapsychologisches Verhältnis von Identifikation und Sublimierung auch für Ricœur in der »Selbstachtung« zusammenfindet.325 Anders gesagt, vollendet sich die narzisstische Illusion der Identifikation sowohl in Bezug auf ein unmögliches »unmittelbares Selbstbewusstsein« sowie hinsichtlich des primär »verlorenen Objekts« als eschaton einer »Poetik« der Sublimierung. Energetik und kulturelle Symbolik werden hierbei philosophisch über die Einbildungskraft (imagination) miteinander verbunden, um die »Intrige« der Subjektivierung in der Zirkularität von Metaphorik und Reflexion hermeneutisch zu vermitteln.326 Freuds Psychoanalyse wird dementsprechend als Theorie unbewusster Triebe in ihrer besonderen Konstellation zwischen Verdrängung 321 Vgl. ebenfalls »Le conscient et l’inconscient«, in: P. Ricœur, Le conflit des interpr8tations, 89–109. 322 Zur Problematik des »verlorenen Objekts« und den Entwicklungsstadien der Libido als Oralität/Analität vgl. De l’Interpr8tation. 142ff., 210ff., 229ff. u. 533f. Die »lange Geschichte« der Objektbesetzungen als »Haben« hierbei auch im Sinne Kantischer Anthropologie der »Habsucht« wird jedoch mit Hegels Bewusstseinsteleologie zusätzlich im Sinne eines »Seinsverlangens« verstanden, hierzu bes. ebd., 483ff., 502f. u. 528f. 323 Vgl. De l’Interpr8tation, 55f.; dies wird 104f. auch auf die Traumdeutung angewandt. 324 Vgl. ebd., 481ff. 325 Vgl. ebd., 236ff. u. 500ff., wobei Ricœur die »Identifikation« als »implizite Teleologie« bei Freud deutet. 326 Vgl. ebd., 519ff., sowie sowohl seine späteren Werke Soi-mÞme comme un autre, Paris, Seuil 1990 (dt. Das Selbst als ein Anderer, München, Fink 1996); L’Unique et le Singulier. L’int8grale des entretiens d’Edmond Blattchen, Paris, Alice 1999; als auch in Auseinandersetzung mit Levinas: Autrement. Lecture d’»Autrement qu’Þtre au-del/ de l’essence«, Paris, PUF 1997. Dazu L. Metzger, Philosophische Interpretation des Selbst. Untersuchungen zur Subjekttheorie bei Paul Ricœur, Münster, Lit 2015.

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Hermeneutik und Phänomenologie der Psychoanalyse bei Ricœur und Henry

und Repräsentanz als Bereicherung der philosophischen Reflexion im Sinne einer Erweiterung des »hermeneutischen Feldes« um primär opake Kräfte verstanden, die sich nur mit Hilfe der »Übertragung« deuten lassen, was der Philosophie als solcher nicht möglich sei.327 Gemeinsam ist Übertragung wie Reflexion nur die Struktur einer Bewusst-Werdung (devenir conscient), durch die der Patient sein Begehren als sein »Selbst« auf dem Horizont einer von Fixierungen gelösten Sinnfindung zu ergreifen vermag. In diesem Prozess ist für Ricœur die Symbolisierung wichtiger als das Begehren selbst, insofern letzteres sich als unersättliche Anfrage (demande) gibt.328 Ricœur sieht sehr deutlich, dass das Sprechen von »primären« Gegebenheiten in der Psychoanalyse – wie etwa primäre Verdrängung, primärer Narzissmus oder Masochismus – keinerlei Transzendentales beinhaltet. Es handelt sich nämlich beim Primären im Sinne Freuds nicht um etwas Fundierendes oder Legitimierendes, sondern psychologisch um etwas, das den psychischen »Entstellungen« und »Umkleidungen« vorausgeht. Die halluzinatorische Erfüllung des Begehrens liegt auf diese Weise allen einzelnen Phantasmabildungen voraus, und dergestalt entscheidet die primäre Verdrängung über die ganz frühen Fixierungen im unbewussten Verhältnis von Trieb/Vorstellung, so wie auch der primäre Narzissmus alle objektalen Ausrichtungen der Libido beschreibt. Niemals ist dieses »Erste« in der psychoanalytischen Theorie jedoch eine Reflexion im philosophischen Sinne, die etwas argumentativ oder rational begründen möchte. Insofern kann man von der Psychoanalyse nicht verlangen, dass sie die Fragen nach einem radikalen Ursprung beantwortet bzw. danach, ob es einen solchen überhaupt gibt – und sei es auf der Ebene der Wirklichkeit oder der Werte. Alle Ideale und Illusionen werden stets im Sinne des Freudschen »Triebschicksals« betrachtet,329 und zwar als »Abkömmlinge« der psychischen »Repräsentanz« des Triebes. Ästhetische Schöpfungen, moralische Ideale oder Illusionen der religiösen Sphäre330 bieten sich immer nur als Elemente einer 327 Vgl. ebenfalls »Une interpr8tation philosophique de Freud«, in: P. Ricœur, Le conflit des interpr8tations, 7–26. 328 De l’Interpr8ation, 340f., was indirekt auf entsprechende Analysen bei J. Lacan verweisen dürfte; vgl. Le S8minaire VI: Le d8sir et son interpr8tation, Paris, Pditions de la MartiniHre 2013. Lacan wird unter vielen anderen Autoren – besonders amerikanischen Psychoanalytikern und Epistemologen der 50er und 60er Jahre – in De l’Interpr8tatation, 386f. Anm. 37 u. 415f. zitiert, um ihm hinsichtlich des Primats der Energetik (d8sir) zuzustimmen und zugleich von dessen struktural-linguistischer Interpretation des Unbewussten Abstand zu nehmen. 329 Vgl. Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften, Frankfurt/M., Fischer 2014, 79–102: »Triebe und Triebschicksale« (1915); zur weiteren Diskussion der »Ursprungsfrage« siehe Teil 2 unseres »Ausblicks«. 330 Vgl. De l’Interpr8tation, 243–275, das Kapitel über »Illusion« hinsichtlich der Religion als infantiler Neurose und rituelle Zwänge einschließlich des Gefühls der Schuldhaftigkeit; sowie die genauere Unterscheidung von Glauben/Religion in Abhebung vom Sakralen ebd.,

Hermeneutische und lebensphänomenologische Interpretationsgrundlagen

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ökonomischen Bilanz des Triebes dar, das heißt als zu zahlender Preis von Lust/ Unlust mit deren »Einschreibungen« und »Gegeneinschreibungen« in Objekte von Liebe und Hass. In dieser Hinsicht kann Ricœur331 festhalten, dass die psychoanalytische Theorie der Kultur, die für sein hermeneutisches Interesse besonders relevant ist, eine »angewandte Psychoanalyse« darstellt, die ihre kulturellen Analogien aus der vorher von Freud grundgelegten Deutung der Neurose und des Traumes bezieht, nach deren Modell die Kultur insgesamt interpretiert wird.332 Die Zukunft gehört hierbei nach Freud der Wissenschaft, die von jeder religiösen Illusion emanzipiere, mit anderen Worten eine »Erziehung zur Realität« hin ermögliche, wo die an#nke als »unser Gott Logos« von den Menschen schließlich akzeptiert werde, wie wir bereits im Kapitel zuvor über den Realitätsbegriff bei Freud gesehen haben. Hierbei übernehme die Kunst die Hinleitung zu einer »umfassenden Weisheit«, wo es kein göttliches Vaterbild mehr gebe und die Liebe zum Schicksal als libidogeläutertes Verhältnis von Begehren/ Notwendigkeit auftrete. Diese Weisheit als »Resignation« oder »Unterwerfung« unter die Natur sei nämlich zugleich identisch mit dem Ablassen vom Narzissmus – und damit von der egogebundenen Angst, sterben zu müssen, um dergestalt frei vom kindlichen Wunsch nach Tröstung zu werden. Insoweit die Kunst jeweils eine bisher unbekannte Wirklichkeit erschafft, ist sie nicht nur Versöhnung mit der unbeugsamen Natur, sondern sie erlaubt ebenfalls ein neues symbolisches Schweben zwischen Illusion und Realität, um auf diese Weise das Schicksal lieben zu können. Nach Ricœur dürfte daher der »ewige Eros«, der die Kunst nach Freud bewegt, eine ständig gesuchte Vermittlung zwischen den beiden konkurrierenden Orientierungen bei ihm an Szientismus und Romantik als Liebe zum Leben darstellen.333 Allerdings bleibt auch für Ricœur die Frage, ob der kulturelle Pessimismus Freuds, wie er mit dem Verzicht auf gewisse individuelle wie gesellschaftliche Erfüllungen der Libido verbunden ist, dem ganzen Problem der kulturellen Symbolisierung gerecht wird. Denn die Methode der Entzifferung des singulären Seelenlebens – etwa eines Künstlers wie Leonardo da Vinci – will zugleich eine genetische Methode der Kultur als solche sein, die aber wohl nicht nur unter die stereotype Symbolisierung durch Regression und Masken des Begehrens subsumiert werden kann, wie es die Traumdeutung vorgibt. Hingegen sei die Aufdeckung der Idole innerhalb der kulturellen Formen der Menschheit ohne 344ff. u. 547–574. Siehe im Einzelnen auch unser folgendes Kapitel II,4 über die Religionskritik bei Freud. 331 Vgl. ebd., 166ff. u. 211ff. 332 Zur Kulturanalyse Freuds als Spannung zwischen Eros, Thanatos und Ananke vgl. kritisch ebd., 327ff. u. 468ff. 333 Vgl. ebd., 350ff.

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Hermeneutik und Phänomenologie der Psychoanalyse bei Ricœur und Henry

Zweifel ein notwendiger Beitrag der Psychoanalyse zur Hermeneutik der Kultur, die zugleich dadurch einen Hinweis auf das Sublimierungsvermögen von Trieb und Begehren allgemein bilde. Wenn aber die ästhetische Sublimierung Werke hervorbringe, die durch ihre allgemeine Anerkennung über die Begrenzung der Psychoanalyse hinsichtlich individueller »Triebschicksale« hinausweisen, dann liege es nahe, aufgrund der semantischen Struktur des Symbols hermeneutisch unbegrenzte Symbolisierungen anzunehmen, zu deren Erforschung auch andere Methoden wie gerade die Phänomenologie und Religionswissenschaft mit einzubeziehen seien. Da die Psychoanalyse durch die Demaskierung von Verdrängungen und Ersatzbildungen als »Verschiebungen« beispielsweise weitere Verweise in Bezug auf die kulturellen Zeichen freigebe (so etwa beim Lächeln der Mona Lisa über die verlorene enge Mutterliebe zu Leonardo hinaus), eröffne sich die Suche nach einem abwesenden Signifikanten schlechthin.334 Denn hinter der Abwesenheit dieser Mutter, die nach Freud in diesem Einzelfall maßgeblich für die libidinöse Herausbildung künstlerischer Sublimierung gewesen sein könnte, bietet sich durch die prinzipielle Verschränkung von Subjekt und Kultur die Weite des philosophisch zu integrierenden »hermeneutischen Feldes« prinzipiell an, um gerade die Erfahrung der Abwesenheit oder Leere im »verwundeten Cogito« als solchem zu überbrücken. Deshalb konnte Ricœur diese Abwesenheit eines letzten Signifikanten auch als Negativität im Hegelschen Sinne bzw. als Verneinung nach Freud aufgreifen, um dadurch zu unterstreichen, dass das Bewusstsein über die Anerkennung eines solch primordialen Verlustes als des »verlorenen Objekts« die heilsame Erprobung des »Real-Ichs« wie der »Realität« selbst machen kann, um sich vom primär narzisstischen »Lust-Ich« zu lösen – und damit von jenen Verdrängungen, die sich im negativen Urteil ausdrückten.335 Für Ricœur betont damit die Psychoanalyse nicht nur die »Abwesenheit des Objekts« als »verlorenes Objekt« des Begehrens, sondern die Abwesenheit »ist der Ort selbst, wo die Psychoanalyse sich aufhält«, um therapeutisch »im Feld des Wortes« (parole) zu ihrer eigenen Verwirklichung zu gelangen, was einschließt, dass besonders das Sprechen in der Kur von der »Dialektik« zwischen Anwesenheit/Abwesenheit des Triebobjekts durchzogen ist.336 Objektverlust und Trauerarbeit bedeuten mithin das Durchschreiten einer dialektischen Negativität in Bezug auf eine »BewusstWerdung«, die dann zugleich eine »Erziehung des Begehrens« beinhaltet, um den »Übergang zum Symbol« zu ermöglichen, das seinerseits als Befriedigung 334 Vgl. auch ebd., 562f. 335 Vgl. ebd., 188f., 328–335 u. 564, wo diese Abwesenheit auch mit Begriffen wie Mangel (manque) und Wunde (b8ance) wie bei Lacan belegt wird; dazu schon S. Freud, Das Ich und das Es, 319–326: »Die Verneinung« (1925). 336 Vgl. De l’Interpr8tation, 388ff. u. 404f., wodurch Wahrnehmung und Sprache dasselbe Schicksal teilen.

Hermeneutische und lebensphänomenologische Interpretationsgrundlagen

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über eine Identifikation die Anerkennung eines Begehren beim Anderen umfasst und auf diese Weise die Anerkennung zwischen zwei Bewusstseinen überhaupt. Diese Hegelsche Perspektive wird nicht von außen an Freud herangetragen, insofern dessen »operative Begriffe« selbst dialektisch seien, wie etwa die duale Begegnung in der Kur als Werden einer singulären Wahrheit über die intersubjektive Sitzungsstruktur.337 Nach Michel Henry (1922–2002)338 erheben sich indes die Grundmodalitäten unserer Erfahrung als »Subjektivität«, vergleichbar mit dem Freudschen Trieb als »unbewusstem Affekt«,339 niemals radikalphänomenologisch vor unserem Blick in irgendeiner Art von »Welt« – und sei sie archäologisch wie bei Ricœur, passiv-synthetisch im Sinne Husserls340 oder biologisch-metapsychologisch wie in der Psychoanalyse.341 Was Henry das immanente »Wort des Lebens« in all

337 Vgl. ebd., 495ff. 338 Zur ersten Stellungnahme Henrys gegenüber Ricœur vgl. G8n8alogie de la psychanalyse. Le commencement perdu, Paris, PUF 1985, 383, Anm. 58, sodann für den Tagungsband J. Greisch u. R. Kearney (Hgg.), Paul Ricœur, les m8tamorphoses de la raison herm8neutique, Paris, Cerf 1991, 127–143: »Ricœur et Freud: entre psychanalyse et ph8nom8nologie«; nachgedruckt in: M. Henry, Ph8nom8nologie de la vie, t. II: De la subjectivit8, Paris, PUF 2003, 163–182, hier 168ff. Zuvor hatte Henry schon einen anderen Beitrag für eine RicœurFestschrift verfasst: »Ph8nom8nologie de la conscience et ph8nom8nologie de la vie«, in: G.B. Madison (Hg.), Sens et Existence. En hommage / Paul Ricœur, Paris, Seuil 1975, 128– 151; nachgedruckt in: M. Henry, Ph8nom8nologie de la vie, t. V, Paris, PUF 2015, 31–44. Außerdem gibt es drei Briefe Henrys an Ricœur vom 23. Februar u. 19. Juni 1983 sowie vom 1. Januar 1984, welche die Bedeutung von De l’Interpr8tation für die Redaktion seines eigenen Werkes G8n8alogie de la psychanalyse hervorheben; vgl. Revue Internationale Michel Henry 1 (2010) 15–18; ein vierter Brief vom 28. November 1986 bezieht sich auf seinen Beitrag »Ricœur et Freud«, in: J.-S. Hardy, J. Leclercq u. C. Sautereau (Hgg.), Paul Ricœur et Michel Henry, 15. Im letzteren Sammelband werden in der Einleitung, 3–14, ebenfalls Notizen zitiert, die Henry für diesen Beitrag bzw. in seinem Handexemplar von De l’Interpr8tation hinterlassen hat. 339 Vgl. M. Henry, G8n8alogie de la psychanalyse, 159ff.; »Heidegger, Descartes, Nietzsche: Schopenhauer et le ›courant souterrain‹ de la m8taphysique«, in: Les Etudes philosophiques 102/3 (2012) 307–313; Können des Lebens. Schlüssel zur radikalen Phänomenologie, Freiburg/München, Alber 2017, 46–62: »Die Frage der Verdrängung nach Schopenhauer und Freud«. Letzterer Beitragsband kann zugleich als Einführung in das Denken Henrys gelesen werden; er umfasst die weiteren Texte: »Nicht-intentionale Phänomenologie und GegenReduktion«, »Das Geheimnis der letzten Werke Kandinskys«, »Die Krise des Okzidents«, »Zur Krise des Marxismus – das Doppelantlitz des Todes«, »Was ist eine Offenbarung?«, gefolgt von Hinweisen zur deutschsprachigen Henry-Literatur. 340 Vgl. C. Serban, »De l’hyl8tique / l’herm8neutique. Henry et Ricœur face / Husserl«, in: J.-S. Hardy, J. Leclercq u. C. Sautereau (Hgg.), Paul Ricœur et Michel Henry, 111–132. 341 Vgl. ebenfalls F. Seyler, Eine Ethik der Affektivität: Die Lebensphänomenologie Michel Henrys, Freiburg/München 2010, 206ff.; N.M. ProenÅa, »La signification de l’inconscient: psychoanalyse, herm8neutique et ph8nom8nologie de la vie«, in: J.-S. Hardy, J. Leclercq u. C. Sautereau (Hgg.), Paul Ricœur et Michel Henry, 111–132; Chr. Thiboutot, »Le sujet entre approches ph8nom8nologique et psychanalytique: la lecture et la contribution de Michel

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Hermeneutik und Phänomenologie der Psychoanalyse bei Ricœur und Henry

unseren impressionalen Vollzügen nennt,342 impliziert daher das Nichtsehen als ur-phänomenologische Bedingung des je lebendigen Handeln-Könnens. Dieses bildet die transzendental konkrete Potentialität selbst, um Kraft, Affekt, Lebensbewegung als Anstrengung usw. zu sein, was als ein lebensphänomenologisches Grundprinzip für das hier im Vergleich mit Ricœur unternommene Psychoanalyseverständnis angesehen werden kann. Ricœur erblickt in der Notwendigkeit der Hermeneutik des »zweifachen Sinns« (double sens) als Verbergen/Entbergen im Symbol eine »transzendentale Logik« des »Begehrens zu sein«,343 während für Henry jedoch die ursprüngliche Transzendentalität durch die unmittelbare Selbstbewegtheit dieses Begehrens schlechthin bestimmt ist, wodurch die Sinnwerdung dieses Begehrens über Vorstellung und Sprache nur einen sekundär re-präsentierenden Effekt darstellt. Dies lässt radikal- oder lebensphänomenologisch verständlich werden, warum der Affekt als innere Bewegung des Triebes dessen Verwirklichung oder Entlastung anstrebt344 – und nicht zunächst einen sprachlichen Ausdruck im Sinnbereich. Denn letzterer kann nie jene primordiale Angst aufheben, welche mit Affekt und Trieb als solchen verbunden bleibt, nämlich als die passible »Abgründigkeit« der Erprobung des Lebens schlechthin, welche sich bis zur »Unerträglichkeit« hin steigern kann.345 Bei Freud entspräche diese »Unerträglichkeit« der »Schwere des Lebens« als einer ständigen Abhängigkeit von der Natur (an#nke) sowie als einer grundlegenden »Unzufriedenheit«, sein Glück in der Kultur nicht verwirklichen zu können. Es, Über-Ich und Realität sind die drei herrschenden Instanzen im Inneren und Außen des Menschen, die seine »Selbstachtung« hinsichtlich der »Hilflosigkeit« eines dauernd schwachen Kindes zutiefst in Frage stellen und nach Vaterfiguren als Ersatz rufen lassen, wofür die Religion den genetischen wie kulturellen Prototyp darstelle.346 In klinischen Termini entspräche dies der frühen Traumatisierung und der Abwehr als Latenz der Neurose mit der drohenden Rückkehr des Verdrängten. Allerdings bleibt die »Unerträglichkeit« gemäß Henry insofern noch radikaler, als die rein passible Geburt im Leben eine

342 343 344 345 346

Henry«, in: Collection Cercle interdisciplinaire de recherches ph8nom8nologiques 2 (2007) 74–81. Vgl. M. Henry, Affekt und Subjektivität. Lebensphänomenologische Beiträge zur Psychologie und zum Wesen des Menschen, Freiburg/München, Alber 2005, 64–90: »Pathos und Sprache«. Vgl. De l’Interpr8tation, 59. Vgl. M. Henry, G8n8alogie de la psychanalyse, 182f.; dazu N.M. ProenÅa, »La signification de l’inconscient: psychoanalyse, herm8neutique et ph8nom8nologie de la vie«, 127f. Vgl. M. Henry, Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, Freiburg/München, Alber 1994, 290ff. (Studienausgabe 2016). Vgl. P. Ricœur, De l’Interpr8tation, 264f. u. 469ff.

Vergleich zwischen Ricœur und Henry in Bezug auf die Psychoanalyse

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»Gewalt« des Geborenwerdens ohne jede Alternative oder Freiheit darstellt.347 Darüber hinaus widmet Freud seine Schriften vor allem der Frage nach Lust/ Unlust, über die das Realitätsprinzip letztlich nicht den Sieg davonträgt, was wiederum in gewisser Weise der Unaufhebbarkeit von Sich-Erfreuen/Sich-Ertragen bei Henry entspricht, die allerdings eine originäre – und nicht nur empirisch-psychologische – Grundgegebenheit bilden. Letztlich dürften jedoch alle topischen wie metapsychologischen Instanzen bei Freud, seien es Über-Ich, Es, Realitätsprinzip oder Todestrieb, das Leiden in vielgestaltiger Form auf alles Leben ausweiten, während die Lust hingegen nur einfach zu sein scheint, mithin ohne Stufungen wie schon bei Platon. Für Henry beinhalten Freude/Leid hingegen die unendliche Modalisierung und Oszillation absoluter Lebenshistorialisierung in einem apriorischen Sinne als Sich-Geben und Sich-Empfangen des rein phänomenologischen Lebens.

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Vergleich zwischen Ricœur und Henry in Bezug auf die Psychoanalyse

Der Psychoanalyse von Freud bis Lacan und darüber hinaus ist jedes Ursprungsund Einheitsdenken suspekt, wie wir schon mehrfach unterstrichen, weshalb sie ihren eigenen analytischen Kern als intersubjektiven Vollzug gegen jedes theoretische Erfassen absichert, den Akt der »Deutung« und »Übertragung« dabei von außen verstehen zu wollen. Allerdings hat die Psychoanalyse ihrerseits für solche Praxis als Voraussetzung eine epistemologische Minimalannahme, die nicht ohne geringe praktische wie theoretische Konsequenzen bleibt, nämlich das libidinös »Unbewusste«. Zwischen diesen beiden Polen, vermittelt durch die topische wie energetische Annahme der »Repräsentanz«, bewegt sich der zuletzt entfaltete hermeneutische und radikalphänomenologische Verständnisversuch Ricœurs und Henrys, wobei für den ersteren das zu versöhnende »verwundete Cogito« und für den zweiten eine »passible Ipseität« im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht. Die Psychoanalyse kennt keine sol347 Außer der Untersuchung von K. Wondracek, Psychoanalyse und Lebensphänomenologie. Ein Beitrag zur Klinischen Psychologie, Freiburg/München, Alber 2013, vgl. weitere interdisziplinäre Beiträge aus Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie zur Lebensphänomenologie von R. Ballb8, »Die Lebensphilosophie M. Henrys: mit den Augen eines Psychiaters«, in: R. Kühn u. S. Nowotny (Hgg.), Michel Henry. Zur Selbsterprobung des Lebens und der Kultur, Freiburg/München, Alber 2002, 243–264; E. Galact8ros, »Apport de Michel Henry / la pratique de la vie immanente dans l’intersubjectivit8 de la rencontre m8dicale«, in: J.-M. Brohm u. J. Leclercq (Hgg.), Michel Henry, Lausanne, L’Age d’homme 2003, 408– 418; M. Schadt, »Psychiatrie und Lebensphänomenologie«, in: G. Funke, R. Kühn u. R. Stachura (Hgg.), Existenzanalyse und Lebensphänomenologie: Berichte aus der Praxis, Freiburg/München, Alber 2005, 11–20.

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che rein phänomenologische Ipseität als transzendentale Einheit von Freude und Schmerz bzw. Lust/Unlust, so dass sie auch kaum vom individuellen Leiden spricht, sondern operativ von »Störungen«, »Verdrängungen« und »Verwerfungen«. Für Henry ist jedoch jedes subjektive Leid mit dem originären »SichErtragen« (se supporter) des absolut phänomenologischen Lebens selbst unzertrennbar verbunden,348 wodurch auch keine Analyse/Therapie dieser Leitfrage als bloß »narzisstische Illusion« oder »phantasmatisches Allmachtsgefühl« mit neurotischer Genese entsprechenden regressiven Identifikationen ausweichen kann.349 Ricœur kennt in seiner Frühschrift über die »Fehlbarkeit des Menschen« eine »Pathetik des Elends« als radikale Diskrepanz zwischen Endlichkeit/Unendlichkeit, die durch Platon und Pascal motiviert ist,350 um daraus eindringlich ein »dezentriertes Subjekt« im Bereich von Erkennen, Handeln (Willen), Fühlen und lebensweltlicher Geschichte zu erarbeiten. Dies steht Freuds kulturpessimistischer Dualität von Libido/Ich bzw. Realität/Sublimierung oder Begehren/Über-Ich näher351 als der ursprünglichen Einheit der Ipseität im Sinne transzendentaler Affektivität in der Lebensphänomenologie Henrys, selbst wenn Ricœur Kultur an Kunst und Sublimierung als »prospektives Symbol« einer Zukunft des Menschen in jeweiliger »Anerkennung« des Anderen binden will. Er verzichtet mithin nicht auf einen ethischen Anspruch der »Würde des Menschen« dank einer Verheißung der »Möglichkeiten des Menschen« durch Bildung und Erziehung im Bereich des Politischen und Kulturellen.352 Daraus ergeben sich naturgemäß ganz unterschiedliche Lesarten der Psychoanalyse, denn insofern Ricœur ein »unmittelbares Wissen« des Bewusstseins ablehnt, um stattdessen eine subjektivierende »Hermeneutik des Sinns« zu entwickeln, destruiert Henry jede Bewusstseinsvorstellung als adäquaten Zugang zur lebendigen Ipseität, um dergestalt das originär »affektive Bewusstsein« 348 Vgl. M. Henry, Affekt und Subjektivität, 124–139: »Leid und Leben«. 349 M. Schneider, selbst Psychoanalytikerin, hebt diese mangelnde Berücksichtigung des Leids bei Freud hervor; vgl. »Le sujet en souffrance«, in: A. David u. J. Greisch (Hgg.), Michel Henry, l’Epreuve de la vie, Paris, Cerf 2001, 281–298. 350 Vgl. Philosophie de la volont8 I: Le volontaire et l’involontaire, Paris, Aubier 1950 (dt. Das Willentliche und das Unwillentliche, München, Fink 2016); Philosophie de la volont8 II: Finitude et culpabilit8, t. 1: L’homme faillible; t. 2: La symbolique du mal, Paris, Aubier 1960 (dt. Phänomenologie der Schuld, Band 1: Die Fehlbarkeit des Menschen; Band 2: Symbolik des Bösen, Freiburg/München, Alber 1971). In De l’Interpr8ation, 480, verweist Ricœur auf die Ergebnisse von Le volontaire et l’involontaire zurück; ebd., 528f., auf L’homme faillible. 351 Vgl. P. Ricœur, De l’Interpr8tation, 441–451, zur Frage des Subjekts bei Freud; sowie zur Problematik seines Realitätsprinzips und Dualismus ebd., 277ff. u. 309f. Ricœur erkennt im Realitätsprinzip aber auch eine Art »Klugheit« im Aristotelischen Sinne an und würdigt dies als Grundlage einer »Ethik der Psychoanalyse«; vgl. ebd., 295f. u. 537ff., in Bezug auf Freuds Auslegung von »König Ödipus«. 352 Vgl. ebd., 546ff.

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(passio) in einem für jede »Deutung« und für jeden »Sinn« unsichtbaren (ontologischen) »Unbewussten« selbst zu erblicken, wobei eine entsprechende Descartes-Interpretation im Hintergrund steht.353 Der Annahme Ricœurs, dass sich Psychoanalyse und intentionale Phänomenologie im Sinne Husserls einander annähern lassen, stimmt Henry zu, was die Auslegung von menschlichen Sinnstiftungen im Welthorizont betrifft, ohne dass diese dadurch allerdings in ihrem naturierenden Hervorbringungsprinzip des absolut phänomenologischen Lebens selbst erfasst würden. Die Ablehnung einer unmittelbaren Selbstgewissheit des Ego bei Freud wie Ricœur wird daher zu jenem maßgeblichen Einwand, dass die intentional begehrende Sinnbildung letztlich einer anonym fungierenden Subjektivität bzw. einem ontisch-empirischen Prozess »in der dritten Person« ausgeliefert wird. Diese Opazität nährt das hermeneutische Unterfangen schlechthin, insoweit jeder Sinn von weiteren Horizonten mit aktiven und passiven Synthesen umgeben ist, welche eine solche Hermeneutik als prätendierte »Sammlung des Sinns«354 allerdings ebenso unendlich werden lassen wie durch die »asymptotischen« Deutungsinterventionen in der Kur. Nach unserem Verständnis sind für eine effektiv analytisch-therapeutische Arbeit daher drei Stufen für eine Annäherung an die »primäre Traumatisierung« zu integrieren, nämlich deren ko-affektiver Mitvollzug als »Empathie«, der existenzhermeneutische Sinnaufweis bisheriger Biographie und die gegen-reduktive Ipseisierung als absolutes Pathos. Dem entspricht die Auffassung von Marc Maesschalck, hinsichtlich der Traumatisierung eben prinzipiell von drei notwendigen Genealogien zu sprechen: 1) der gemeinsamen lebensweltlichen Verortung von Patient/Analytiker ; 2) der assoziativ dekonstruktiven Vorstellungsarbeit für nicht fixierte Sinnzusammenhänge (Affekt/Repräsentanz) und 3) der Reduktion analytisch-therapeutischer Intentionalität, um die je eigene Selbstgegebenheit des rein Pathischen im Sinne lebendiger Passibilität vom Patienten wie Analytiker/Therapeuten erproben zu lassen.355 Werden diese drei Bezüge für die analytisch-therapeutische Praxis zusammen berücksichtigt, dann lassen sich Ricœurs wie Henrys Beitrag zur Psychoanalyse integrativ lesen, ohne Phänomenologie zu Psychoanalyse – und umge353 Vgl. L’Essence de la manifestation, Paris, PUF 1963, 5ff. (dt. Das Wesen des In-ErscheinungTretens, Freiburg/München, Alber 2019, 23ff.); G8n8alogie de la psychanalyse, 17–52: »Videre videor«; Inkarnation. Eine Phänomenologie des Fleisches, Freiburg/München, Alber 2001, 107–124. 354 Vgl. De l’Interpr8ation, 38–42: »L’interpr8tation comme r8collection du sens«. 355 Vgl. »Attention et subjectivation. D’une r8duction ›contre-path8tique‹«, in: M. Enders (Hg.), Immanenz und Einheit. Festschrift zum 70. Geburtstag von Rolf Kühn, Leiden/Boston, Brill 2014, 46–62, hier 51ff.; außerdem S. Brookmann, »Leben im Trauma. Zur Bewegung der Lebensselbststeigerung bei Traumatisierung«, in: R. Kühn (Hg.), Pathos und Schmerz. Beiträge zur phänomenologisch-therapeutischen Relevanz immanenter Lebensaffektion, Freiburg/München, Alber 2017, 109–135.

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kehrt – werden zu lassen.356 Die »Schranke«, die Ricœur mit Freud zwischen den Sinnbereichen Unbewusst/Bewusst festhält, ist dann vielleicht geringer, als er vorgibt, insofern er selbst keine Verschränkung von analytisch-therapeutischer Praxis und Theorie für sich vornimmt, sondern eine rein philosophische Arbeit durchführt, obwohl er später bekennt, dass sein Freud-Kommentar wie eine Art »Lehranalyse« für ihn selbst gewesen sei.357 Dies wird verständlich, wenn man an seine strukturelle Übereinstimmung zwischen dem intentionalen Bewusstsein und dessen begehrender Sinn-Teleologie denkt, sich stets neue – unendlich offene – kulturelle Sinnfelder zu erschließen, welche die zunächst verborgene energetische »Archäologie« des Subjekts und die daran geknüpfte Hermeneutik der Symbole als »Narrativität« der Subjektivierung zusammenführen.358 Damit holt er allerdings weder die Praxis der »Wiederholung« noch der »Übertragung« von libidinösen Kräften in der psychoanalytischen Kur unmittelbar ein, die nichts distanziert Reflexives haben, wie auch Ricœur weiß. Er begnügt sich deshalb mit der Heimholung des Affekts in ein über Husserl hinaus erweitertes »hermeneutisches Feld« und in eine von Hegel inspirierte Dialektik gegenseitiger »Bewusstseins-Anerkennung«,359 während Henry diese Kraft als originären Affekt mit dem Sich-Erleiden/Sich-Erfreuen der Ipseität selbst korreliert. Diese kann durch keine analytisch-therapeutische »Technik« beherrscht werden und entzieht sich dadurch gleichfalls dem klassischen Sinnverstehen als reflexiv fundierter »Hermeneutik« bzw. »Bewusstseinsdialektik«. Einigkeit mit Ricœur besteht allerdings darin, dass die Psychoanalyse keine reine Beobachtungswissenschaft darstellt,360 sondern sich gerade auf epistemologisch singuläre Weise der rein praktischen Problematik des individuellen Übergangs von Trieb/Sinn mit all seinen Konflikten stellt. Aber lässt sich dieser Übergang in der Tat vollkommen im Raum der Vorstellung als »Repräsentanz« von affektiven Trieben verstehen, wie Freud und Ricœur anzunehmen scheinen? Letzterer gesteht zu, dass der Trieb diesseits der Schranke zwischen Bewusst/Unbewusst unerkennbar für den Bereich der Bedeutung bleibt. Aber das dezentrierte Subjekt hinsichtlich einer solchen Abhängigkeit soll dennoch den Weg in eine gewisse Befreiung von dieser libidi-

356 Vgl. P. Ricœur, De l’Interpr8tation, 396–439, zum Verhältnis von Phänomenologie und Psychoanalyse. 357 Vgl. Kritik und Glaube. Gespräch mit FranÅois Azouvi und Marc de Launay, Freiburg/ München, Alber 2009, 47f. 358 Vgl. Temps et r8cit I–III, Paris, Seuil 1983–85 (dt. Zeit und Erzählung I–III, München Fink 1988–91); dazu S. Scharfenberg, Narrative Identität im Horizont der Zeitlichkeit, Zu Paul Ricœurs »Zeit und Erzählung«, Würzburg, Königshausen & Neumann 2011. 359 Vgl. De l’Interpr8tation, 352ff. 360 Vgl. ebd., 377–395.

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nösen Unterwerfung einschlagen können,361 indem Ricœur grundsätzlich eine phänomenologische Homogenität zwischen Bewusst/Unbewusst annimmt. Dies heißt aber nicht nur, dass es sich um eine »relative Andersheit« handelt, wie es auch die Psychoanalyse weitgehend annimmt,362 sondern letztlich um eine Gleichstellung der Phänomenalität selbst zwischen Bewusst/Unbewusst – nämlich des Bewusstseins insgesamt als Re-präsentation. Henry hebt deshalb kritisch hervor, wie wir schon in unserem ersten Kapitel zum Idealismus unterstrichen, dass der Übergang des latenten in ein aktuelles Bewusstsein in seiner Phänomenalisierung ein »Bewusst-Werden« darstellt, welches das Bewusstsein selbst als diese Bewegung des intentionalen Werdens bestimmt.363 Damit ist eben die Repräsentanz der archaisch-psychischen Wirklichkeit in die zeitliche Ekstase der Bedeutung eingeschrieben, während das phänomenologische Eigenwesen des Triebes für immer in seiner nicht-repräsentierbaren affektiven »Nacht« verbleibt. Der methodische wie inhaltliche Unterschied zwischen Ricœur und Henry besteht daher grundsätzlich zwischen Homogenität und Heterogenität des Erscheinens, welches sich nicht ohne ein zunächst rein immanentes Selbsterscheinen phänomenalisieren könnte, auf welches Freud in seiner Anerkennung des Affekts als dynamisch unbewusste Triebwirklichkeit grundsätzlich verwiesen hat, um effektiv sein zu können. Ricœur schließt dabei die Zugänglichkeit zu einem entsprechend »radikalen Ursprung« kategorisch aus, und zwar mit einem letztlich religionsphilosophischen Argument, dass sich das »Ganz Andere (Tout-Autre) als Logos in unserem Fleisch (chair) vernichtet«, während Henry gerade dieses Fleisch und die Selbstoffenbarung des absoluten Lebens in eins sieht.364 Wo allein eine Phänomenalisierung durch die Intentionalität oder das Wort (parole) vorausgesetzt wird, welche eine affektive Teleologie des Begehrens – bzw. der »Begierde« nach Hegel365 – semantisch zu integrieren versucht, kann es schließlich nur eine permanente Sinnprojektion als Hermeneutik des endli361 Zur Abhängigkeit von Über-ich/Es mit der unaufhebbaren Verschränkung von Gewissensangst/Todestrieb vgl. ebd., 297ff. u. 315f. 362 Wir können hier nicht auf die praktische Problematik eingehen, dass es hinter der »Verdrängung«, die prinzipiell bewusst werden kann, noch eine fundamentalere »Urverdrängung« oder »Verwerfung« (forclusion) gibt, die jedem Zugang zum Entstehen des Begehrens (d8sir) als solches entzogen sei, wie Lacan dies nach wenigen Hinweisen bei Freud weiter ausgearbeitet hat; vgl. J.-C. Maleval, La forclusion du Nom-du-PHre. Le concept et sa clinique, Paris, Seuil 2000, 33ff.; R. Kühn, Begehren und Sinn, 232ff. 363 Vgl. ebenfalls M. Henry, Affekt und Subjektivität, 93–105: »Genealogie des Freudianismus« u. 106–123: »Phänomenologie und Psychoanalyse«; »Signification du concept d’inconscient pour la connaissance de l’homme« (1986), in: M. Henry, Auto-donation. Entretiens et conf8rences, Paris, Beauchesne 2004, 87–110. 364 Vgl. P. Ricœur, De l’Interpr8tation, 548; M. Henry, Inkarnation, 412: »In der Tiefe seiner Nacht ist unser Fleisch Gott.« 365 Vgl. P. Ricœur, De l’interpr8tation, 491–495: »L’ind8passable de la vie et du d8sir«.

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chen Selbst geben. Bei Freud wie bei Ricœur verharrt die dadurch gegebene Dezentrierung des Bewusstseins als ein konfliktuelles »Zerrissensein« des Selbst zwischen einem Phantasma der Unterwerfung (Trieb) und angestrebter Selbsttransparenz (Sinn).366 Dadurch verbleibt die analytische Kur wie die reflexiv phänomenologische Vermittlung von Trieb/Vorstellung in einem unaufgeklärten Phänomenalisierungsverständnis angesichts unserer originären Subjektivität als Ipseität im Sinne von Sicherleiden/Sicherfreuen. Weder Ricœur noch Henry wollen zum anfänglich biologischen Naturalismus wie allgemeinen Szientismus Freuds zurück. Aber es ist zu fragen, inwieweit eine energetische Hermeneutik und Symbolik der Kraft nicht dennoch davon auf der empirischen Objektebene berührt bleibt, selbst wenn Ricœur eine transzendentale Einbildungskraft berücksichtigt, welche die »Intrige« der Subjektivität durch die Verschränkung von energetischer Symbolik und produktiv Imaginärem fassen soll. Denn das sich durch sein ganzes Werk ziehende Postulat einer Versöhnung, die sowohl den Einzelnen als auch die Geschichte umfasst, ist gerade jene narrative Hermeneutik, welche die aus der Einbildungskraft geborenen Metaphern als »Intrigen« der Erfahrung zu vereinen sucht, ohne daraus eine Totalisierung der Geschichte im Sinne Hegels abzuleiten, sondern sie als »Eschatologie« in der Perspektive einer »poetisch-teleologischen« Durchdringung von Verbergung/ Entbergung in Bezug auf unser Bewusstsein verstehen möchte.367 Dadurch wird die Sublimierung Freuds zur »symbolischen Funktion« schlechthin, von der ethisch die Problematik einer Verblendung und Selbsteinsicht als »Schicksal« durch Sophokles’ Tragödie »König Ödipus« Zeugnis ablegt, wo »Regression und Progression« als »Selbstachtung« des Bewusstseins schließlich zusammenfallen.368 Henry setzt dagegen ein unmittelbares Sich-selbst-Ergreifen der Subjektivität als ihre je singuläre Selbstaffektion, was keineswegs ausschließt, dass er der transzendental lebendigen Einbildungskraft eine ursprüngliche Vermittlung zwischen Leben/Welt zukommen lässt. Dies hat zugleich zur Folge, dass sich die 366 Bei Ricœur wird dies zudem durch den Konflikt zwischen den unterschiedlichen Hermeneutiken noch verschärft, wodurch das Subjekt eben »zerrissen« werde; vgl. De l’Interpr8tation, 65f. u. 516ff. 367 Vgl. P. Ricœur, ebd., 515f., 544f., 550f. u. 563f.; La m8taphore vive, Paris, Seuil 1975 (dt. Die lebendige Metapher, München, Fink 1986); zum empirischen statt phänomenologisch konstituierenden Objektbezug hierbei vgl. C. Serban, »De l’hyl8tique / l’herm8neutique. Henry et Ricœur face / Husserl«, 28ff. Dabei meint die Intrige eine Verwicklung von Ereignissen, die gemäß dem Prinzip einer »übereinstimmenden Unvereinbarkeit« (discordance concordante) die Geschichte mit dem Erlebten verbindet; siehe P. Ricœur, Temps et r8cit, t. I:. L’intrigue et le r8cit historique, Paris, Seuil 1983 (dt. Zeit und Erzählung I, München, Fink 1988); C. Del Mastro, »De la co-r8f8rence / la co-impression. La ph8nom8nologie henryenne du langage au prisme de Temps et r8cit de Ricœur«, in: J.-S. Hardy, J. Leclercq u. C. Sautereau (Hgg.), Paul Ricœur et Michel Henry, 73–98, hier 86ff. 368 De l’Interpr8tation, 514ff., 541ff. u. 550ff.

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subjektive Beladenheit mit der passiblen »Last des Lebens«, die bis zur schon genannten »Unerträglichkeit« reichen kann, vorübergehend über Bilder oder Halluzination davon zu lösen versucht, ohne sich allerdings jemals wirklich vom originären Leben trennen zu können.369 Hier liegt demzufolge die größte Schwierigkeit für eine rein umwelthaft orientierte Analyse/Therapie, insofern sie vorrangig das »Lustprinzip« mit dem »Realitätsprinzip« (Ananke) versöhnen will und dabei nach Freud und anderen einen spekulativen »Todestrieb« annehmen muss, den auch »Eros« nicht wirklich ausgleicht, sofern die libidinöse Bildung von Gemeinschaften und Gewissenslast als Schuldgefühl kulturell immer zusammenspielen.370 Die Debatte zwischen Ricœur und Henry zur epistemologischen Einschätzung der Psychoanalyse läuft folglich darauf hinaus, dass es – radikalphänomenologisch gesehen – keine Repräsentanz des Affekts als Pathos oder Lebenspassibilität gibt. Hiermit klärt sich, dass 1) die transzendentale Affektivität das Wesen des lebendig Unbewussten selbst darstellt und 2) dadurch dieses ontologisch Unbewusste sich effektiv seiner selbst »bewusst« ist, nämlich als je unmittelbar affektive Selbsterprobung. Die »Archäologie« der Psyche als Begehren im Sinne Ricœurs kann daher nicht allein auf dem Hintergrund einer sprachlich sichtbar gemachten Sinnbildung ansetzen,371 sondern hat die pathische Originarität der unsichtbar verbleibenden Affektivität mit einzuschließen. Damit lässt Henry gegenüber Freud wie Ricœur die Wirklichkeit des rein phänomenologischen Lebens zu einer unbedingt vorausliegenden Selbstgebung werden, wodurch die tiefsten libidinösen Kräfte der Psyche nicht ins Außen der Welt als Prozess unstatthafter Anonymisierung des selbstaffektiven Lebens verlegt werden können.372 Obsolet ist damit das anfängliche Vorhaben Freuds, die nervösen »Bahnungen« organisch materieller Effekte im seelischen Leben wiederfinden zu wollen,373 was

369 Vgl. Die Barbarei, 278ff. Das Romanwerk Henrys ist eine zusätzlich fiktionale Konkretisierung dieses Verhältnisses von Imaginärem und Leben; vgl. R. Kühn, Wie das Leben spricht. Narrativität als radikale Lebensphänomenologie. Neuere Studien zu Michel Henry, Chams (CH), Springer 2016, 277–312, zu dieser bildhaften Meta-Genealogie des Individuums. 370 Vgl. S. Freud, Das Ich und das Es, 191–210: »Jenseits des Lustprinzips« (1920). Dies gilt auch für die ebenso umfangreiche wie wertvolle Untersuchung von Marc Thiberge, der die Psychoanalyse von den Prämissen Freuds wie Lacans gelöst sehen möchte, um allerdings das unzerstörbare singuläre Begehren dennoch gesellschaftlich bedingt sein zu lassen; vgl. Essai sur la psychanalyse et la postmodernit8, Paris, L’Harmattan 2018, 27–31: »De la psychanalyse / l’a-psychanalyse«. 371 Vgl. De l’Interpr8tation, 79f. u. 516ff., zum Verhältnis Sprache/Kraft unter Einschluss des Symbols als Wort (parole). 372 Vgl. M. Henry, »Phänomenologie des Lebens«, in: Affekt und Subjektivität, 13–32. 373 Vgl. hierzu auch P. Ricœur, De l’Interpr8tation, 82–98: »Une 8nerg8tique sans herm8neutique«.

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Jacques Lacan374 dann für die Lehranalyse und Kur durch den Primat der Signifikantenkette und ihrer subjektiven Verknüpfungen aufhob. Mit Henry steht am Anfang jeglicher »Subjektivierung« die ursprüngliche, affektiv-leibliche Phänomenalisierungseinheit von Leben/Welt als Einheit von Begehren/Sinn, was als radikalphänomenologisches Ergebnis dann in der Analyse/Therapie fruchtbar gemacht werden kann.375 Dabei ist die methodisch zu berücksichtigende Erscheinensheterogenität von Affekt/Vorstellung nicht zu verkennen, die jedoch für den Patienten/Analysanden auf ihre originäre Wurzel zurückzuführen ist – nämlich als unmittelbar transzendentale »Geburt« oder »Selbstumschlingung« im Leben.376 Affizieren und Affiziertwerden sind somit schließlich identisch, weshalb auch jede Vorstellung daraufhin in ihren affektiven Ursprung zurückgeführt zu werden vermag, ohne damit die analytisch-therapeutischen Schritte zu vermischen, das heißt Vorstellungsklärung als individueller wie lebensweltlicher Sinn über die Sprache in der talking cure einerseits sowie Vollzug von Übertragung/Gegenübertragung als rein libidinöser Affektaustausch andererseits. Denn der Affekt (Trieb) gibt sich als Hervorrufen oder Verdrängen von Vorstellungen, die für das jeweilige Subjekt schmerzvoll sind oder Unlust hervorrufen, wodurch jedoch das originäre »Er-leiden« der Ipseisierung über die affektive Wiederholung in der Übertragung ergriffen zu werden vermag, wodurch die Analyse/Therapie selbst in einem meta-genealogischen Bezug zum Leben als solchem steht. Gegenüber der genannten »Pathetik des Elends« oder der »Dezentrierung des Subjekts« gemäß Ricœur beinhaltet dies, dass sich eigentlich kein Ich als »Mich« im Sinne der Ipseität in seiner originären Passibilität jemals wirklich verlieren kann – eine fundamentale Gegebenheit, die an sich über die affirmation originaire im Sinne Jean Naberts auch bei Ricœur377 grundsätzlich präsent war. In seinem Freud-Buch hat sie sich allerdings nicht effektiv durchgesetzt, weil die gesuchte epistemologische Erweiterung der Her374 Vgl. zum Beispiel Le S8minaire livre XVIII: D’un discours qui ne serait pas du semblant, Paris, Seuil 2007. 375 Vgl. R. Kühn, Der therapeutische Akt. Seine Singularität in Bezug auf Wissen und Wahrheit in lebensphänomenologischer und Lacan’scher Perspektive, Freiburg/München, Alber 2018, 120ff. 376 Vgl. M. Henry, »Ich bin die Wahrheit«. Für eine Philosophie des Christentums, Freiburg/ München, Alber 1997, 213–240: »Die zweite Geburt«. Ricœur erwähnt ebenfalls eine »neue Geburt«, die er aber als »zweite Naivität« bezeichnet und mit dem Bewusstwerden gleichsetzt, um nunmehr »seine Kindschaft vor sich und den Tod hinter sich zu sehen«; De l’Interpr8tation, 566. Anders gesagt, bleibt er hier auf der symbolisch-existentiellen Ebene, wie es seiner hermeneutischen Teleologe und Eschatologie entspricht, ohne diese Geburt in eine radikale Originarität des Lebens selbst zu verlegen. 377 Vgl. »L’acte et le signe selon Jean Nabert«, in: Le conflit des interpr8tations, 211–221; Hermeneutik und Strukturalismus, München, Kösel 1973 (als Band 2 von Le conflit des interpr8tations).

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meneutik um den psychoanalytischen Bereich des Triebes im Vordergrund stand. Oder anders gesagt, ist diese »Ur-Bejahung« zwar ein »unüberwindbar« passives Leben wie das Begehren, aber sie durchquert die Unendlichkeit der Kulturgestalten als ihre notwendigen »Zeichen«. Dadurch vermittelt sie im Sinne Platons das Selbe und das Andere, um eine Befriedigung nur durch die gegenseitige »Anerkennung« im Sinne Hegels zu finden. Dergestalt bleibt diese »UrBejahung« ein unmittelbarer Ausdruck des Lebens, aber letzteres fungiert als Differenz zwischen Ego und Selbst, so dass die Verbindung zwischen Leib und Selbst teleologisch bleibt. Das heißt, über Begehren, Sprache und Übertragung lässt sich eine vorübergehend hermeneutische »Sammlung« durch die analytisch-therapeutische Beziehung erstellen.378 Mit dem frühen Ricœur gesprochen, bleibt dieses Leben als Dialektik des Bewusstseins dennoch eine »Traurigkeit der Kontingenz« bzw. ein »Konflikt der Werte« im Sinne eines »unauflösbaren Problems«.379 Die genannte ursprüngliche Einheit von Sich-Erleiden/Sich-Erfreuen gemäß Henry bzw. von Lust/Unlust bei Freud ist hingegen konstitutiv immer schon unaufhebbar gegeben, wodurch die mögliche »Unerträglichkeit« des Lebens nicht verneint wird, wie wir festhielten, aber nicht in das Phantasma einer »Bereinigung der Affekte« oder einer bloßen »Anpassung« an die Realität verfallen kann. Denn die permanent »endogene Erregung«, von der Freud380 für Libido und Trieb somatisch ausgeht und in seinen zwei unterschiedlichen Topiken beibehält, ist letztlich als das sich ständig selbst-affizierende Leben zu verstehen, von dem es diesseits der psychologischen Vorstellungsebene keine Distanzierung zu geben vermag. Wird eingesehen, dass Freude/Leid bzw. Lust/ Unlust eine radikalphänomenologische Ursprungseinheit bilden, dann kann auch nachvollzogen werden, dass Leiden/Kraft originär einander bedingen,381 wie es Nietzsche und Kierkegaard ebenfalls schon erkannt hatten, wodurch Phänomenologie wie Psychoanalyse diesem Ab-grund der menschlichen Erfahrung als je unhintergehbarer Erprobung nicht ausweichen können. Das Gespräch zwischen Ricœur und Henry mit Blick auf die Psychoanalyse kreist somit um diese Abgründigkeit, ohne sich dadurch dem »Verdacht«382 einer unstatthaften theoretischen »Ursprungseinheit« oder metaphysischen »Letztfundie378 Vgl. De l’Interpr8tation, 78f. u. 491f. 379 Vgl. Le volontaire et l’involontaire, 115 u. 422; dazu S. Davidson, »La ph8nom8nologie de la vie – entre Henry et Ricœur«, in: J.-S. Hardy, J. Leclercq u. C. Sautereau (Hgg.), Paul Ricœur et Michel Henry, 33–46, hier 43ff. 380 Vgl. Das Ich und das Es, 125–136, zum »topischen Gesichtspunkt« des Unbewussten und die dadurch gegebene innerseelische Anspannung. 381 Vgl. R. Kühn, Alles, was leiden kann. Zur Ursprungseinheit von Freude und Leid, Dresden, Text & Dialog 2019. 382 Vgl. P. Ricœur, De l’Interpr8tation, 42–46: »L’interpr8tation comme exercice du soupÅon«.

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Hermeneutik und Phänomenologie der Psychoanalyse bei Ricœur und Henry

rung« auszuliefern. Gewiss, Verdacht und Vertrauen gehören bei Ricœur zusammen wie Symbol und Reflexion in ihrer Zirkularität, aber dadurch wird die Abgründigkeit der gelebten »Präsenz« ebenfalls eine Spannung zwischen Gedächtnis und Hoffnung.383 Demzufolge muss die Selbstapperzeption als unmittelbares Gefühl der Subjektivierung im Sinne einer r8flexion r8fl8chissante stets die Ebenen von Sprache, Reflexion, Selbstaneignung und Ipseität in solcher Subjektivierung durchlaufen, um sich im Sinne Spinozas ethisch zu vollenden,384 obwohl eine Ursprungseinheit radikalphänomenologisch zuvor als transzendentale Bedingung im Sinne von Affekt oder conatus gegeben sein muss, um diese Bewegung von Begehren/Anstrengung überhaupt vollziehen zu können.

3)

Psychoanalyse und Gesamtheit der menschlichen Erfahrung

Angesichts der Psychoanalyse in ihrer Praxis ergibt sich die epistemologische wie ontologische Frage, ob sie in ihrem singulären Wissen nur ein besonderes Feld der menschlichen Erfahrung erfasst oder deren Gesamtheit zulässt. Für Henry ist letztere in der Einheit der ursprünglichen Ipseität als Passibilität und Potentialität gegeben, für Ricœur in der triebhaften Wurzel des Symbols, welches einen umfassenden Sinn einer solchen »Semantik des Begehrens« entfalten möchte, auch wenn diese nicht in einer einzigen allgemeinen Hermeneutik vereinigt werden kann.385 Sofern das Symbol an das Wort (parole) gebunden ist, in dem es zum begehrenden Ausdruck kommt, wird in diesem Wort die Unzertrennbarkeit von Archäologie (Trieb) und Teleologie (Sinn) des Subjekts gestiftet, um auf diese Weise die Gesamtheit der menschlichen Erfahrung als eschatologische Grenzidee auszudrücken, ohne deren Metapher des »Horizontes« für ein Absolutes überschreiten zu können.386 Eine intentionale Phänomenologie als offene Hermeneutik des Sinns wäre dabei jedoch nicht in der Lage, wie wir erwähnten, aus sich selbst heraus das praktische Eigenwesen der analytisch-therapeutischen Erfahrung einzuholen, so dass die Frage zum Schluss hier eben umgekehrt lautet, ob die Psychoanalyse ihrerseits die volle menschliche Erfahrung als ab-gründige Erprobung ermöglicht. Denn nicht die ursprüngliche Ipseisierung des individuierten Lebens ist ihr topisch-energetischer 383 Vgl. ebd., 516ff. u. 551ff. – Gedächtnis wie Anerkennung bilden zentrale Themen in den letzten Werken Ricœurs; vgl. La m8moire, l’histoire, l’oubli, Paris, Seuil 2000 (dt. Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München, Fink 2004); Parcours de la reconnaissane, Paris, Gallimard 2004 (dt. Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkennen, Frankfurt/M., Suhrkamp 2006). 384 Vgl. De l’Interpr8tation, 49ff. 385 Vgl. ebd., 359ff.u. 482f. 386 Vgl. ebd., 548f.

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Ausgangspunkt, sondern ein je ontisch konstruierter Begriff von Unbewusstheit, Verdrängung und Trieb. In dieser Hinsicht erweist sich die Lebensphänomenologie als Angebot an Hermeneutik wie Analyse/Therapie, solch deskriptive Grenzen zu hinterschreiten, um diesseits bloß »interdisziplinärer Epistemologie« den wirklichen Einheitsgrund der menschlichen Erfahrung in deren Tiefe wie Gänze in den Blick zu nehmen – und zwar nicht nur in einen erweiterten theoretischen Blick, sondern eben als abyssalen Vollzug jedes Individuums als Freude und Leid in deren unzertrennbarer Selbstaffektion. Insofern geht es hermeneutisch wie psychoanalytisch nicht um eine Psychologie des Verhaltens mit dem Ziel der bloßen »Anpassung« an das Wirkliche oder die gesellschaftliche Realität, sondern um das illusionsfreie Durchqueren einer je singulären »Geschichte des Triebes« als Begehren. Bezüglich dessen »Semantik« hält auch Ricœur aus seiner reflexiven Sicht heraus fest, dass die Psychoanalyse als epistemologisch einmalige Erfahrung dadurch zugleich »eröffnet wie begrenzt wird«,387 indem sie die »Abwesenheit« in die Konstitution des Ego selbst einführt – mithin gemäß unseres Vergleichs zwischen Ricœur und Henry weder ein Cogito noch eine Ipseität als Erfahrungsbedingung kennt. Was Freud jedoch generell mit der Phänomenologie teilt, ist die »Reduktion« als eine »regressive Orientierung«, um die Illusion eines Ego aufzuheben, dessen »Selbstgegebenheit« unmittelbar in der Reflexion präsent wäre, ohne seine hyletisch passive Konstitution anzuerkennen, die eine Parallele zum energetischphantasmatisch »Unbewussten« in jedem Wahrnehmungsurteil selbst bildet.388 Dabei misst Ricœur selbst der Bewegung der interpretativen Integration mehr Bedeutung zu als der »impressionalen Materie« der Hyle als solche, was den maßgeblichen Unterschied zu Henry389 als Phänomenologie einer absolut originären Materialität der Erfahrungsbedingung ausmacht. Während sich die phänomenologische »Semantik des Begehrens« daher Schicht um Schicht als Sinnteleologie verwirklicht, offenbart die Psychoanalyse auf praktisch-therapeutische Weise die triebhafte Unaufhebbarkeit dieser passiven Genese, welche nur einen anderen Namen für die »Verdrängung« darstellt. Dabei bildet die Leiblichkeit ohne Vorstellung aber gerade jenes »Modell«, welches – ontisch für Ricœur und ontologisch für Henry – die transzendentale Bedingung für »jedes denkbare Unbewusste« ausmacht, nämlich das Begehren als Sinn in einem Leib, das heißt als signitive Praxis oder »inkarnierter Sinn«, dem bereits Merleau-

387 Vgl. ebd., 391ff. u. 402ff. 388 Vgl. ebd., 563f. 389 Vgl. Ph8nom8nologie mat8rielle, Paris, PUF 1990 (zum Teil dt. in: M. Henry, Radikale Lebensphänomenologie. Ausgewählte Studien zur Phänomenologie, Freiburg/München, Alber 1992).

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Ponty verpflichtet war.390 Auf dieser fundamental leiblichen Ebene allen Erscheinens führt mithin die Phänomenologie zur Psychoanalyse hin, um in solcher ungeteilt leiblichen Existenz auch der Psychoanalyse reflexiv einen ursprünglichen Ort anzubieten, wo sie ihre spezifisch analytisch-therapeutische Erfahrung in die Ganzheit der menschlichen Erfahrung einbringen kann.391 Phänomenologische Reduktion und psychoanalytische Regression treffen sich mithin ohne Schwierigkeit im genetischen Verständnis des bekannten »Fort/Da-Spiels« gemäß Freud,392 um den abwesenden Sinn solcher Erfahrung zugleich als Begehren nach einer Anwesenheit (Mutter) zu lesen. Aber die Phänomenologie kann diese begehrende Sinnbewegung nur in ihrer Ambiguität des Impliziten lateral erfassen, während die Kur in der Übertragung direkt mit dem entsprechenden Affekt in Berührung kommt – oder in Trauer und Melancholie deren narzisstischem Objektverlust regressiv nachgehen kann.393 Die phänomenologisch aufweisbare Ambiguität des Impliziten bzw. Mitgemeinten (Husserl) schwingt daher nach Ricœur in jeder menschlichen Erfahrung mit und könnte als die tragisch begrenzte »Ganzheit der Erfahrung« bezeichnet werden, insoweit nicht nur jede Intentionalität (Sinn) davon ergriffen wird, sondern ebenfalls die Subjektivität als solche (Cogito). Die Gesamterfahrung des Bewusstseins wäre dann als diese Ambiguität, stets Abwesenheit oder Differenz zu sein, selbst prinzipiell unbewusst, was sich mit der Analyse/Therapie deckt, weil beide Disziplinen dann kein »unmittelbares Wissen« irgendeiner Totalität mehr zulassen. Auch die intersubjektive Ebene würde diesbezüglich beide zusammenführen, da es keine Gegebenheit ohne den praktischen Hintergrund der Lebenswelt als Alterität gibt, die in der Psychoanalyse durch Verbote, Transgression und Verletzungen des Narzissmus wie den Ödipus-Komplex stets präsent ist.394 Allerdings bleibt der durchgehend konstitutive Unterschied bestehen, dass all diese reduktiven Phänomenerkenntnisse in der Phänomenologie vom Subjekt ausgehen, welches diese Reduktion methodisch vornimmt, während die Kur in die unmittelbare Bewegung der Affekte und Triebe selbst eintritt, 390 Vgl. R. Kühn, Postmoderne und Lebensphänomenologie. Zum Verhältnis von Differenz und Immanenz des Erscheinens, Freiburg/München, Alber 2019, 123–175: »Der Leib/WeltChiasmus bei Maurice Merleau-Ponty als Opazität«. 391 Zur inzwischen in dieser Hinsicht erfolgten Weiterentwicklung in der Psychoanalyse vgl. P. Geißler u. G. Heisterkamp (Hgg.), Psychoanalyse der Lebensbewegungen. Zum körperlichen Geschehen in der psychoanalytischen Therapie. Ein Lehrbuch, Wien/New York, Springer 2007. 392 Vgl. »Jenseits des Lustprinzips«, 199ff.; dazu auch J. Derrida, La carte postale de Socrate / Freud et au-dela, Paris, Flammarion 1980, 417–420 (dt. Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits. 1. Lieferung: Envois/Sendungen; 2. Lieferung: Spekulieren über/auf Freud. Der Facteur der Wahrheit, Berlin, Diaphanes 1987). 393 Vgl. S. Freud, Das Ich und das Es, 171–190: »Trauer und Melancholie« (1917). 394 Vgl. P. Ricœur, De l’Interpr8tation, 405ff.

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um jede gedachte Subjektgewissheit aufzuheben. Die analytisch-therapeutische »Technik« des »Durcharbeitens« ist daher keine Reflexion, und da Henry dies deutlich erkannt hat, forderte er eine radikalisierte Phänomenologie, um die originäre Ab-gründigkeit des Affekts in seiner unsichtbar passiblen Eigenwesentlichkeit bestehen zu lassen. In diesem Sinne gibt es in der Tat eine wirkliche »Schranke« oder sogar einen »Ausschluss« aus dem Feld des nur implizit oder latent Bewussten, wobei sich dieser Ausschluss auf der libidinösen Ebene von Topik und Energetik als »Entstellung«, »Verschiebung« oder wiederholte »(Gegen-)Einschreibung« zeigt, welche sich durch alle subjektive Erfahrung mit deren permanentem Begehren ziehen. Mit anderen Worten ist die analytisch-therapeutische »Technik« eine Arbeit als »Durcharbeiten« jener Widerstände, die sich der Bewusstwerdung des Verdrängten entgegenstellen. Das »Deuten« ist dabei sowohl eine Hermeneutik als auch eine Energetik, insofern es nicht um das Ersetzen einer Unkenntnis durch eine Erkenntnis geht, sondern um den Bruch mit den Widerständen, die in ihrem Entstehen mit einer Unlust verbunden waren. Das »Durcharbeiten« enthält demnach ebenfalls »Implizites« und »Mitgemeintes« wie in der Husserlschen Phänomenologie intentionaler Sinnkonstitution, aber die eigentliche »Arbeit« der analytisch-therapeutischen Technik besteht im inter-subjektiven Auffinden des triebhaft Affektiven mittels der Übertragung.395 Der Unterschied zur klassischen Phänomenologie ergibt sich demzufolge daraus, dass die »Erinnerung« letztlich kein thematisches Erinnern an vergangene Erlebnisinhalte der individuellen Erfahrung ist, sondern die affektiven Spuren dieser Erinnerung treten in die Dynamik der Übertragung selbst ein, um sich darin als immanent modalisierende Affekterprobung zu verkörpern. Genau aus diesem rein praktischen Vorgang ist die philosophische bzw. hermeneutische Sinnreflexion ausgeschlossen, da sich eine solche Technik zur Auffindung neurotischer Widerstände von allen denkbaren intentionalen Äquivalenten der Phänomenologie unterscheidet. Denn die analytisch-therapeutische Durcharbeitung des »Automatismus« der Wiederholung als acting out versucht die ursprüngliche Traumatisierung wiederzubeleben, um in dieser rein affektiven Wiederholung des Traumatischen zugleich dessen Auflösung als Aufhebung der Widerstände der unbewussten »Erinnerung« zu sein.396 In dem Maße, wie der Widerstand der Unlust einer primären Nicht-Befriedigung entstammt, arbeitet die Kur dabei als praktische Regel mit der Erfahrung der Frustration, um jede Befriedigung durch die intersubjektive Beziehung zu 395 Vgl. ebenfalls Riss. Zeitschrift für Psychoanalyse 89 (2018): Übertragung. 396 Vgl. entsprechend die Ausführungen Freuds zur Genese der Symptombildung besonders bei Phobien und Zwangsneurose in »Hemmung, Symptom und Angst« (1926): GW XIV, Frankfurt/M., Fischer 71991, 113–205, hier 118ff.

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vermeiden, die nur das neurotische Verhalten andauern ließe, indem sie es bestärkt. Solches Verhalten mit seinem Symptom gehört nämlich zu einer Anfrage, welche in letzter Instanz das Begehren bewegt, um objektal erfüllt zu werden. Vielmehr führt die analytisch-therapeutische Arbeit dazu, hinter den Widerständen und ihrer Wiederholung singulär zu erproben, dass »das Begehren in seinem Wesen eine Anfrage (demande) ohne Antwort« darstellt, wie Ricœur treffsicher formuliert.397 Die phänomenologische Reduktion vermag dazu den genetischen Hintergrund vorzubereiten, aber sie kann über die zuvor erwähnte Ambiguitätsstruktur nicht praktisch wie in der Kur ein rein immanentes »Begehren ohne Anfrage« bewirken, da der zu erprobende Affekt ohne Objekt eben einer anderen Phänomenalisierungsweise zugehört, wie Henry398 dies dank seiner weiter radikalisierten Auffassung einer notwendigen »GegenReduktion« angemessener zu verstehen geben kann. Das heißt, die Analyse/ Therapie bleibt eine singuläre »Praxis« oder »Erfahrung«, die mit keiner anderen Praxis und deren implizit horizonthaften Vorstellungsverweisen vergleichbar ist.399 Aber insoweit jeder Affekt mit seinen möglichen Widerständen und Wiederholungen im rein subjektiven Leben als solchem wurzelt, bleibt die passible Selbstaffektion gleichfalls der Psychoanalyse als einer solchen Praxis originär vorgelagert. Hier nähert sich die radikalisierte Phänomenologie daher dem »technischen« Vollzug der Psychoanalyse an, da die Gegen-Reduktion gerade ein »Leben« aus dieser unsichtbar leiblichen Selbstaffektion allein heraus ohne weitere Vorstellung (Repräsentanz) darstellt. Dadurch vermag das hermeneutische Verständnis der Psychoanalyse im Rahmen einer gesamtkulturellen symbolischen Erfahrung bei Ricœur zugunsten einer immanent »subjektiven Praxis« (Henry) weitergeführt zu werden,400 die als der gemeinsame Kern der Lebensphänomenologie und Psychoanalyse angesehen werden kann, um die analytisch-therapeutische »Technik« als Vollzugsweise der inneren Modalisierungen jeder Art lebendiger Ipseität selbst zu erproben und zu verstehen. Dieser Gesichtspunkt erhärtet sich noch dadurch, dass Ricœur der analytischen Konzeptualisierung des Subjekts als eine dezentrierten Evidenz zustimmt, um allerdings die Apodiktizität einer »lebendigen Selbstgegenwart« des Ego im Sinne Husserls nicht gänzlich aufzugeben. Diese »Anti-Phänomenologie« 397 De l’Interpr8tation, 438f., was eine Überstimmung mit einer Grundposition Lacans darstellt; vgl. beispielsweise J. Lacan, Le S8minaire XVII: L’envers de la psychanalyse, Paris, Seuil 1991, 61ff., über Wahrheit und jouissance. 398 Vgl. Können des Lebens, 9–27: »Nicht-intentionale Phänomenologie und Gegen-Reduktion«. 399 Vgl. auch R. Kühn, Der therapeutische Akt, 198ff. u. 213ff. 400 Vgl. ebenfalls F. Seyler, Eine Ethik der Affektivität, 116–133: »Lebendiges Tätigsein und Pathos«; R. Formisano, »Vie et repr8sentation. Henry et Ricœur sur le problHme de la praxis«, in: J.-S. Hardy, J. Leclercq u. C. Sautereau (Hgg.), Paul Ricœur et Michel Henry, 195– 206.

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Freuds hinsichtlich eines irrtümlich »unmittelbaren Bewusstseins« führt nämlich dazu, eine dialektisch erweiterte Hermeneutik des »Selbst« (soi) unter Berücksichtigung der analytisch-therapeutischen Topik und Energetik zur Geltung zu bringen. Indem die vielfältigen psychischen Prozesse des Unbewussten in die Reflexion aufgenommen werden sollen, kann die Kraft des Begehrens zu einem »semantischen Moment« der Sinnfindung als Bewusst-Werden hinführen, welches für die effektive Ganzheit der menschlichen Erfahrung offen wird. Ego wie Objekt werden dabei in Übereinstimmung mit Freud zu bloßen Variablen der Triebziele, so dass einerseits das Triebobjekt wie ein »transzendentaler Leitfaden« (Husserl) fungiert und andererseits der Narzissmus als Zentrum des Cogito selbst gleichfalls für die Reflexion vermerkt werden muss. Dies bildet die äußerste Erprobung für eine reflexive Hermeneutik, denn die Entlarvung des Ego wie des Objekts als rein libidinöse Kraftvariablen lassen als ständig narzisstischer Austausch ihrer gegenseitig triebhaften Verwirklichung nur ein »falsches Cogito« übrig, welches sich als »Widerstand gegen die Wahrheit« erweist.401 Diese Freudsche »Demütigung«, das Cogito nur als narzisstischen Widerstand verstehen zu können, lässt für Ricœur allein die Möglichkeit noch zu, trotz allem dieses »Triebschicksal« von Objekt und Subjekt als Prozess der genannten »Bewusst-Werdung« weiterhin als Einschreibung in das Feld potentiellen Erfahrungssinns zu verstehen, so dass sich das Unbewusste und Bewusste letztlich in dieser Perspektiv homogen bleiben, wie wir schon zeigten. Damit wird allerdings die »lebendige Selbstgegenwart« des Cogito als erwähnte »ursprüngliche Bejahung« (affirmation originaire) im apodiktischen Leben und Begehren402 in den ausschließlichen Vorstellungsbereich verlegt, während Henry403 durch die Ursprünglichkeit von Leib/Affekt als immanente Ipseität gerade die Freudsche Auffassung von Trieb und Unbewusstem im radikalisierten Rahmen eines passiblen Selbst (»Mich«) noch diesseits jedes Narzissmus integrieren kann. Freudscher »Realismus« des Unbewussten und die Erkenntnis irgendeines »Unaussprechbaren« oder »Abgründigen« schließen sich allerdings für Ricœur nicht ganz aus, weil dieser Realismus durch ein wissenschaftliches Bewusstsein 401 Vgl. De l’Interpr8tation, 445ff. 402 Dieser Begriff einer transzendentalen Implikation der Kantischen Selbstapperzeption des Cogito geht auf Ricœurs Lehrer Jean Nabert zurück; vgl. P. Ricœur, »L’acte et le signe selon Jean Nabert«, in: Le conflit des interpr8tations, 211–221. De l’interpr8tation, 41f., spricht diesbezüglich von einem »ursprünglichen Wort«, welches mich im Symbol als mich »anrufenden Sinn« miteinbezieht, während ebd., 491f., dieselbe »Urbejahung« zugleich als die Unhintergehbarkeit von Leben und Begehren verstanden wird. Letztere verwirklichten jedoch erst im genannten »Wort« ihre eigene notwendige »Differenzierung«, um »lebendiges Zeichen« (Gestalt) zu sein. Ansonsten bleibt nach Ricœur das Leben fundamental die Opazität des »Selbstbewusstseins«. 403 Vgl. G8n8alogie de la psychanalye, 368ff.; Affekt und Subjektivität, 99ff. (»Genealogie des Freudianismus«).

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konstituiert wurde, welches etwa dem Zusammenhang von empirischer Natur und transzendentalem Idealismus innerhalb der Kategorienlehre bei Kant entspreche. Allerdings gesteht auch Ricœur zu, dass es sich in der Psychoanalyse um eine »singuläre Realität« handelt, nämlich um eine endliche Gestalt psychischer Verflechtungen, die in der Kur innerhalb der topisch-energetischen Notwendigkeit ihres internen »Mechanismus« betrachtet werden. Mit anderen Worten handelt es sich um einen Realismus »affektiver Repräsentanz« – und nicht um die Wirklichkeit des Triebes selbst, welcher nur über die »Affektentladungen« erkennbar werde.404 Dadurch bestätigt Ricœur seine Sichtweise der Homogenität von Bewusst/Unbewusst als ein mögliches hermeneutisches Feld und dringt nicht in die rein phänomenologische Frage wie Henry vor, ob eben die Psychoanalyse nicht gerade ihre letzte epistemologisch praktische Entsprechung in einer Lebensrealität besitze, die sowohl der empirischen Energetik als auch der spekulativen Tragik von Eros/Thanatos vorausliegt und somit gerade an der Gesamtheit der menschlichen Erfahrung als Ab-gründigkeit teilhaben lässt, welche den empirisch-naturalistischen Rahmen sprengt. Denn der »Mechanismus« der singulären Erprobung von Widerständen und narzisstisch fixierten Wiederholungen kann nicht davon absehen, dass diese Prozesse letztendlich mit der absolut individuierten Subjektivität in ihrer Passibilität als Affektabilität konfrontieren. Ricœur erkennt für die Beziehung in der Kur das »unberechenbare Ereignis« der singulären Begegnung zwischen Analytiker/ Therapeut und Patient an, das heißt eine je inter-subjektive Realität, die über die Lehranalyse einer »Didaktik« der Übertragung unterliege. Dadurch werde vermieden, dass die insgesamt »diagnostische Wirklichkeit« der Analyse/Therapie zu einer »Mythologie« der scheinbaren Erkenntnis werde, »das Unbewusste in einem Patienten denken zu können«.405 Damit ist die Gefahr der szientistischen Hypostase des Unbewussten gebannt, aber nur um den Preis, die Frage nach seiner ontologischen Wirklichkeit als originärer Lebensaffektion oder affirmation originaire im Sinne prinzipieller Erfahrbarkeit nicht weiter gestellt zu haben.406 Für Ricœur ist die Wahrheit des »verwundeten Cogito« durch Triebabhängigkeit und Narzissmus dessen »originäre Wahrheit« als Nichtübereinstimmung mit sich selbst, wie gezeigt wurde. Dies schließt allerdings phänomenologisch wie hermeneutisch nicht aus, wie es für die französische Denktradition seit 404 Vgl. De l’Interpr8tation, 453f. Diese Wahrheit wird dann später mit Hegel als sukzessiv durchlaufene Gestalten des »Geistes« verstanden, nicht jedoch als Wahrheit irgendeines undialektischen »Bewusstseins« ohne Verschränkung von Archäologie/Teleologie; vgl. ebd., 481ff., zu Ricœurs Hegelinterpretation. 405 Ebd., 457f. 406 Vgl. insgesamt zu dieser letzten Problematik den Tagungsband J.-S. Hardy, J. Leclercq u. C. Sautereau (Hgg.), Paul Ricœur et Michel Henry (2016).

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Descartes maßgeblich ist, dass das sum als Begehren dem cogito vorausliegt und alle menschliche Erfahrung grundlegt.407 In diesem Sinne will er daher ebenfalls in Freuds Schriften eine »Unruhe« (hantise) des »Archaischen« erkennen, die sich ideengeschichtlich auf die Verbindung mit der Lebenspriorität in der Romantik zurückführen lasse, so dass ein gewisses »Abyssales« ebenfalls in der Konzeptualisierung des Unbewussten vor allem als »Es« gegeben sei. Dieses Es sei in der Tat nach Freud unzerstörbar, kenne keine Zeit und keine Realität im äußeren Sinne, sondern bilde die »Tiefe menschlicher Existenz« wie etwa schon bei Schopenhauer und Nietzsche. Wenn dadurch auch eine relative Nähe zur abgründigen Passibilität in der Sichtweise Henrys als Fundament jeder unserer Erfahrungen gegeben ist, so wird dieses »Es« jedoch im Sinne eines anonymen »Es spricht« (Åa parle) verstanden, nämlich als die verborgene Anwesenheit all jener affektiven Impressionen und Triebregungen, die noch nicht als »psychische Repräsentanz« zum Ausdruck gekommen seien. Es ist dieser ontische wie anonyme Charakter der »Abgründigkeit« des Unbewussten als »Es«, welcher einer radikalisierten Aufklärung harrt. Denn es lässt sich phänomenologisch wie analytisch-therapeutisch nicht leugnen, dass all diese ältesten affektiven Spuren und Strebungen ein Mich implizierten, welches sich letztere als seine inneren Modalisierungen zuzählen kann. Denn nichts Affektives erscheint ohne ein gleichzeitig gegebenes »Ichgefühl« im Sinne einer transzendentalen Selbstapperzeption, das heißt als ein je leiblich bestimmtes Existenzgefühl, auch wenn dieses gerade nicht reflexiv eingeholt werden kann. Die »Verwundung« oder »Demütigung« des Cogito in Bezug auf einen nicht einlösbaren umfassenden Bewusstheitsanspruch als Synthese all seiner Erfahrungen schließt nämlich keineswegs aus, dass eine solch abgründige Affektion das Affiziert-werdenKönnen als apriorische Affektabilität beinhaltet, worin als originäre Passibilität letztlich Affiziertes/Affizierendes zusammenfallen, um den Ab-grund »meiner« Ipseisierung im Leben schlechthin zu bekunden.408 Die innere Zeitlosigkeit des Unbewussten wie die Unzerstörbarkeit der Affekte, die immer gegeben sind, auch wenn sie nicht in die Vorstellung gelangen, sind in dieser Perspektive zwar ein Quasi-Originäres, aber sie halten das seelische Leben über die »Repräsentanz« nur in einer Nachträglichkeit jeweils fest, welche in der Zeit nach Freud auch die Postmoderne als konstitutiv für alles Erscheinen qua Bewusstsein grundlegt.409 Positiv bleibt daran, wie gerade Ri407 Vgl. De l’Interpr8tation, 461f.; dazu zum Beispiel J.-F. de Sauverzac, Le d8sir sans foi ni loi. Lecture de Lacan, Paris, Aubier 2000. 408 Vgl. M. Henry, Können des Lebens, 53f., in Bezug auf Schopenhauer und Freud; Das Wesen des In-Erscheinung-Tretens, 600ff. 409 Vgl. Chr. Kirchhof, Das psychoanalytische Konzept der »Nachträglichkeit«. Zeit, Bedeutung und die Anfänge des Psychischen, Bielefeld, Psychosozial-Verlag 2009; P.V. Zima, Moderne / Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen, UTB 42016, 160ff.

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cœur herausstellt, dass der Narzissmus als Ursprungsform des Begehrens letzteres zur unhintergehbaren Bedingung all unserer libidinösen Objektausrichtungen macht. Gebunden an die Leiblichkeit als primäre Wirklichkeit dieses Narzissmus, in die das frühe Kind ganz eingetaucht ist, gibt es damit ein Pendant zur lebensphänomenologisch aufgewiesenen Affektabilität als Urgegebenheit all unserer immanenten Modalisierungen. Diese wurzeln dann allerdings nicht in einem narzisstisch verstandenen »egobezogenen Archaismus«, sondern ursprünglicher in der Selbstliebe des rein phänomenologischen Lebens, in der dieses sich selbst wie jeden von uns durch die Ipseisierung affiziert.410 Damit wird der Narzissmus hinterschritten, ohne zu leugnen, dass er das Zentrum des bewussten Cogito bildet, denn im je aktuellen Augenblick der passiblen Geburt im transzendentalen Leben gibt es noch gar keine Ichform, die sich selbst narzisstisch als Idol verehren könnte. Die absolute Empfänglichkeit des Lebens als »Mich« im Akkusativ kann daher radikalphänomenologisch darauf aufmerksam machen, dass wir über die Festschreibung des Narzissmus als »Primärgegebenheit« eine Egoität fixieren, von der die Analyse/Therapie in ihrer singulären Ethik eigentlich befreien will. Löst man das unzerstörbare Begehren als Ersterprobung aus dieser topisch-energetischen Engführung heraus, dann wird seine Unzerstörbarkeit diesseits des Narzissmus zu einem Hinweis auf eine noch ältere Vorgegebenheit, die als rein phänomenologisches Leben seine Unzerstörbarkeit erst wirklich fundiert.411 Auch Ricœur fordert unter anderen Voraussetzungen, dass der Narzissmus ein Minimum an ethischer Differenzierung impliziere, anstatt nur energetische Regression zu sein, um überhaupt eine Sublimierung zu ermöglichen.412 Damit ist das Begehren auch nicht nur der »stumme Grund« jeder Symbolisierung,413 sondern selbst zunächst jenes immanente »Wort des Lebens«, welches als affektive Präsenz ohne Aufschub in uns spricht. Gewiss ist das Begehren als die Wurzel des Sprechens (Dire, parole) anzusehen, aber der Affekt geht nicht nur in dieser Sprachfunktion auf, wie Henry414 schon deutlich machte. Deshalb lässt sich die Psychoanalyse – phänomenologisch wie hermeneutisch betrachtet – schließlich als jene singuläre Grenzerkenntnis verstehen, die in der affektiven Repräsentanz oder der verdrängten Vorstellung das auffinden möchte, was bisher an »Erfahrung« nicht in die Vorstellung gelangt ist. Aber das von Ricœur hierbei parallelisierte Verständnis des sum als Begehren durch den 410 Vgl. M. Henry, Affekt und Subjektivität, 19ff. 411 Vgl. bereits R. Kühn, Diskurs und Religion. Der psychoanalytische Wahrheitszugang nach Jacques Lacan als religionsphilosophische Problematik, Dresden, Text & Dialog 2016, 179– 193: »Selbstoffenbarung und Vergöttlichung«. 412 P. Ricœur, De l’Interpr8tation, 512f. 413 Vgl. ebd., 475f. 414 Vgl. »Ricœur et Freud«, 173f.

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conatus bei Spinoza und mittels des Übergangs zwischen den einzelnen Perzeptionen als app8tition bei Leibniz415 ist tiefer gesehen ein Hinweis auf eine Lebensoriginarität, die sich nicht im Sprechen- und Denkenwollen als bewusstem Ausdrucksverlangen (expression) des Subjekts erschöpft, um dergestalt der Eigenwesentlichkeit von Begehren und Affekt oder Trieb im Sinne einer unmittelbaren Lebensselbstoffenbarung in jedem radikal ipseisierten Individuum gerecht zu werden.416 Bestimmt man die Psychoanalyse als eine solche »Grenzerkenntnis« zwischen Affekt/Vorstellung, dann lässt dies eine grundsätzliche Offenheit für die Integralität der menschlichen Erfahrung überhaupt zu. Die Psychoanalyse schreibt dabei in der Tat keine eigenen reflexiv thematischen Inhalte vor, sondern überlässt deren immanente Gewissheit als »Wahrheit ohne Wissen« der singulären Erprobung einer jeden Ipseität,417 welche reduktiv die Abwesenheit des »verlorenen Objekts« als Phantasma durchquert hat. Folglich muss die Analyse/Therapie auch keine originäre Radikalität dieser Ipseität ausschließen, die letztendlich weder Symbol noch Metapher benötigt,418 um die rein phänomenologische Absolutheit dieser Originarität zu erproben, welche die Kategorie der Andersheit nicht kennt, sofern diese eine logisch vorgegebene Denkform darstellt, um alle denkbaren Differenzen des sichtbaren Erscheinens zu erfassen. Diese strukturelle Offenheit der Psychoanalyse für einen rein selbstaffektiven Vollzug ohne jedes bestimmte Wissen erlaubt deshalb einen Dialog mit einer entsprechenden Phänomenologie des Lebens,419 so dass unsere kulturelle Zukunft von dieser erneuerten epistemologischen Konstellation diesseits von Szientismus und Hermeneutik Impulse empfangen kann, deren Triftigkeit zur unausweichlichen Wahrheitserprobung der »Pluralität« ohne totalisierendes Allgemeines nach der Postmoderne gehört. Ricœur begnügt sich in seiner 415 Vgl. B. Spinoza, Ethik (lateinisch–deutsch), Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1967, Teil II, Prop. 12, 16 u. 23; G.W. Leibniz, Monadologie, Paris, PUF 1954, Art. XIV; dazu P. Ricœur, De l’Interpr8tation, 475f. u. 572f. 416 Vgl. ebenfalls J.-M. Longneaux, »Kann man materiale Phänomenologie betreiben, ohne Spinozist zu sein?«, in: R. Kühn u. S. Nowotny (Hgg.), Michel Henry, 55–80; S. Brunfaut, »Qu’est-ce que ›raconter l’histoire de la vie‹?«, in: J.-S. Hardy, J. Leclercq u. C. Sautereau (Hgg.), Paul Ricœur et Michel Henry, 99–109. 417 Vgl. R. Kühn, Der therapeutische Akt, 218ff. 418 Vgl. J. Leclercq, »Peut-on vivre sans la m8taphore? R8flexion sur l’id8ologie et l’utopie, Henry entre Ricœur et Derrida«, in: J.-S. Hardy, J. Leclercq u. C. Sautereau (Hgg.), Paul Ricœur et Michel Henry, 59–73. 419 Zur weiteren Lebensanalyse aktuell in Bezug auf Transhumanismus, Biowissenschaften und Biopolitik vgl. ebenfalls P. Delhom u. A. Hilt (Hgg.), Das Leben denken. Philosophische Anthropologie und Lebensphilosophie im deutsch-französischen Gespräch, Freiburg/München, Alber 2018, 191ff; U. Balzaretti, Leben und Macht. Eine radikale Kritik am Naturalismus nach Michel Foucault und Georges Canguilhem, Weilerswist, Velbrück Wissenschaft 2018.

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Hermeneutik damit, alle kulturelle Symbolik, auch die religiöse wie zum Beispiel »Gott« als »Vater«, aus einem Phantasma der »Urszene« (scHne primitive) abzuleiten, da die Doppelung seines Symbolbegriffs sowohl dieses archaische Phantasma des Objektverlustes als »Ursprung« impliziert als auch eine mythisch-poetische Sinnneuschöpfung über das »kreative Sein der Sprache«. Dadurch wird zugleich unsere humanitas durch Name und Gesetz einschließlich notwendiger Insitutionen in Politik, Ökonomie und Bildung grundgelegt. Die Symbolik hebt also das Phantasma nicht auf, sondern erschließt weitere Möglichkeiten darüber hinaus, wobei ein Rückfall in die regressiven Idole als »Wiederkehr des Verdrängten« im Sinne der »Wiederholung« Freuds stets gegeben bleibt.420 Aber jeder phantasmatischen »Regression« liegt materialphänomenologisch stets eine originäre Selbstgegebenheit voraus, da auch noch jedes Phantasma über das affizierende Begehren in der Selbstaffektion des Lebens wurzelt und bis zu dessen Originarität hin erneut durchquert werden kann, wie Psychoanalyse und radikalisierte Phänomenologie gemeinsam für den individuellen wie kulturellen Kontext heute einsichtig machen können.421 Es muss diesbezüglich nicht geleugnet werden, dass gemäß dem Ricœurschen Symbolverständnis dasselbe eine Interpretation hinsichtlich des Phantasmas selbst in die Wege leitet, um die Menschen aus ihren Archaismen herauszuführen, damit sie andere geläuterte Gestalten in Bezug auf Schuld- und Trosterfahrungen angemessener innerhalb ihrer Bewusstwerdung über eine kreative Einbildungskraft erschaffen. Insofern ist eine Hermeneutik von Ethik, Kunst und Religion wie auch Wissenschaft sicher nicht obsolet, so dass jedes Individuum über dergestalt kulturell weitergereichte Verwirklichung von Erfahrungen zu seinen eigenen Erprobungen gelangen kann – was Nietzsche die »große Jagd« nannte.422 In dieser Hinsicht scheint auch Freud eine Wirklichkeit zuletzt anerkannt zu haben, die über den Schicksalscharakter der blinden an#nke hinausgeht. Sollte diese Wirklichkeit eros heißen und mit der »Natur« selbst zusammenfallen,423 dann wäre diese »Unendlichkeit an Erfahrungen«, die wir als wirkmächtige »Energien« im Sinne der Psychoanalyse in uns trügen, nur eine andere Umschreibung jenes »Lebens«, welches den phänomenalisierenden Abgrund solcher immanent unbeschränkten Erfahrungsnuancen seinem Wesen nach bildet und somit letztlich für alle Kultur maßgeblich bleibt.

420 421 422 423

Vgl. De l’Interpr8tation, 565ff. Vgl. nochmals Teil 3 unserer Einleitung »Postmoderne Perspektiven der Psychoanalyse«. Vgl. dazu M. Henry, Die Barbarei, 218f. Vgl. R. Kühn, Alles, was leiden kann, 37ff.

Teil II: Psychoanalyse und Religion

4.

»Illusion« und »Vatersehnsucht« als religiöse Neurose bei Freud

Es zeigt sich methodisch bei Freud als Ausgangspunkt für seine Religionskritik, dass sie einen doppelten Aspekt besitzt, nämlich die individuelle Neurose als Ausweichen vor der Realität sowie – phylogenetisch vermittelt – die Religion als kulturelle Illusion, welche die Menschen von ihrer Einstimmung in die wissenschaftlich aufgeklärte Notwendigkeit der Welt abhält: »Die wissenschaftliche Arbeit ist aber für uns der einzige Weg, der zur Kenntnis der Realität außer uns führen kann.«424 Dennoch enthält die Psychoanalyse als »Forschungsmethode« und »parteiloses Instrument«425 an sich keine Entscheidung für Glaube oder Unglaube und ist von Freuds persönlichem Agnostizismus unabhängig.426 Sie intendiert die »Dekonstruktion« der Religion im Sinne des darin enthaltenen Phantasmas, wie es sich durch die primär halluzinatorische »Besetzung« unseres Begehrens ergibt. In topisch-triebökonomischer Hinsicht besteht Religion dann in der »Rückkehr des Verdrängten«, wodurch sich werkgenetisch bei Freud der Zusammenhang mit Traum und Neurose ergibt, nach deren innerpsychischen Erscheinungsweisen als »Analogieschluss« auch Religion und Kultur interpretiert wurden, das heißt nach dem analytisch-therapeutischen Prinzip der »regelmäßigen Überdeterminierung psychischer Akte und Bildungen«.427 Im Vorgriff auf seine grundlegende Religionsdarstellung als individuell wie geschicht424 Die Zukunft einer Illusion: GW XIV, Frankfurt/M., Fischer 71991, 325–380, hier 354. 425 Vgl. ebd., 360. 426 Vgl. Der Mann Moses und die monotheistische Religion: GW XVI, Frankfurt/M., Fischer 7 2005, 231: »Wir können nur bedauern, wenn gewisse Lebenserfahrungen und Weltbeobachtungen es uns unmöglich machen, die Voraussetzung eines solchen höchsten Wesens [wie bei den Gläubigen] anzunehmen«, die Freud für zu »optimistisch und idealistisch« hält; ebd., 238. Dazu A.-M. Rizzuto, Why did Freud Reject God? A Psychodynamic Interpretation, New Haven/New York, Yale University Press 1998, welche die religiöse Atmosphäre in Freuds Elternhaus herausarbeitet, geprägt durch eine geliebte katholische Kinderfrau und die jüdischen Unterweisungen seines Vaters. 427 Vgl. Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker (GW IX), Frankfurt/M., Fischer 92012, 36f., 103f. u. 122; zur Neurosenbildung auch GW XVI, 235f.

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lich permanent erzeugte »Vatersehnsucht« lässt sich schon hervorheben, dass Freud am Ende von »Totem und Tabu« (1912) das »totemistische System« aus den Bedingungen des »Ödipuskomplexes« mit Inzestverbot und »Vaterkomplex« in eins zusammenfasst.428 Die Einheit von Totem und Vater als Urahn sei dann zugleich die Geburt der Gottesidee und impliziere in der Totemmahlzeit als »sakramentaler Kommunion« sowohl die »Reue« wie »Gottähnlichkeit«, sofern eben das Opfertier »Gott« selbst sei, zusammen mit ersten sozialen Gestaltungen.429 In metapsychologischen Kategorien lässt sich auch allgemein für das »religiöse Empfinden« festhalten: »Das Urteil der eigenen Unzulänglichkeit im Vergleich des Ichs mit seinem Ideal ergibt das demütige religiöse Empfinden, auf das sich der sehnsüchtige Gläubige beruft.«430 Wir werden diese Grundauffassung als Bezug zwischen »Hilflosigkeit« und »Vatersehnsucht« als durchgehende psychologische Religionserklärung bei Freud wiederfinden, wobei die genetische Erklärung der »archaischen Erbschaft« seit der Urhorde zu Beginn der Menschheitsgeschichte für alle weitere Arbeiten bestimmend bleibt. Denn eine bloß auf Mitteilung begründete Tradition könne nicht die überwältigende Macht erklären, welche die Religion selbst über Vernunft und Wissenschaft erziele, so dass eine tiefer liegende Psychodynamik in Anspruch zu nehmen sei, um den Glauben an Götter und letztlich an ein einziges göttliches Wesen zu verstehen. Dass Freud selbst dabei einen »Mythus« von Urhorde und Vatermord als »Urverbrechen der Menschheit wie des Einzelnen« erschafft,431 hängt neben ethnologisch-historischen Rekonstruktionsversuchen damit zusammen, dass er den »Mythus« selbst »wissenschaftlich« auffasst, nämlich als »Darstellungen unseres psychischen Inneren, als Faktoren und Verhältnisse des Unbewussten«, die sich in der »Konstruktion einer übersinnlichen Realität« wie Jenseits, Unsterblichkeit, Sündenfall, Gut und Böse spiegeln. Diese Aussagen gegenüber Wilhelm Fließ432 bezeugen mithin

428 Vgl. GW IX, 170f., ähnlich 150f. u. 160ff., sowie zur Zusammenfassung des Totemismus ebd., 122f., als auch GW XIV, 344f., wo die Identität des »Motivs der Vatersehnsucht mit dem Bedürfnis nach Schutz gegen die Folgen der menschlichen Ohnmacht« zur »Abwehr kindlicher Hilflosigkeit« grundlegend betont wird. 429 Vgl. GW IX, 167f. Im Moses-Buch (GW XVI, 101–246) werden die Hauptelemente des »totemistischen Systems« im Teil »Anwendung« (186–198) mit Bezug auf die jüdische Religionsgeschichte wieder aufgegriffen, hier bes. 189f. 430 S. Freud, Das Ich und das Es. Metapsychologische Studien, Frankfurt/M., Fischer 2014, 304. 431 Vgl. »Dostojewski und die Vatertötung« (1928): GW XIV, 397–418, hier 406; dazu A. Hamburger, »Das Motiv der Urhorde. Ererbte oder erlebte Erfahrung in Freuds Totem und Tabu«, in: W. Mauser u. J. Pfeiffer (Hgg.), Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse 24 (2005): Kulturtheorie, 45–86. 432 Vgl. Aus den Anfängen der Psychoanalyse: Briefe an Wilhelm Fließ. Abhandlungen aus den Jahren 1887–1902, Frankfurt/M. Fischer 1962, 252; vgl. auch Zur Psychopathologie des Alltagslebens (GW IV), Frankfurt/M., Fischer 1944, 287f. Auch 1932 im Brief an Einstein

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Freuds Bemühen, Metaphysik in Metapsychologie zurückzuverwandeln. Letztere soll die überweltlichen Ideen – außer in der Religion etwa auch bei Platon – in die Realität zurückführen, die im Unbewussten der »Triebschicksale« mächtig ist. Eine diesbezügliche Trieblehre nennt Freud ausdrücklich »unsere Mythologie«, da »Triebe mythische Wesen sind, großartig in ihrer Unbestimmtheit«.433 Die Verquickung von Atheismus und Mythologie zeigt aber auch, dass Freud selbst von einer gewissen Wehmut über einen Verlust der religiösen Dimension durchzogen bleibt, insofern er an der Sinneinheit solcher »Realität« festhält, die eine quasi-religiöse »Ergebung« impliziert, auch wenn sie rational oder wissenschaftlich abgestützt wird.434 Daraus folgt zugleich, dass er keinem den »Unglauben« aufdrängen will, sondern jeden vor die Aufgabe gestellt sieht, individuell mit den Folgen des »Vaterkomplexes« fertigzuwerden, wenn in der neueren Kulturentwicklung dieser notwendige Vorgang nicht mehr durch die Religion »abgenommen« werde, bei der sich »die Menschen aller möglichen Unaufrichtigkeiten und intellektuellen Unarten schuldig machen«. Auch der Philosophie wirft Freud vor, nur »eine verschwommene Abstraktion« von »Gott« zu schaffen, wo letzterer »nur mehr ein wesenloser Schatten ist und nicht mehr die machtvolle Persönlichkeit der religiösen Lehre«,435 was seiner allgemeinen Abstraktionskritik an der Philosophie entspricht, wie wir schon in unserer Einleitung zeigten. Jedoch soll all diese Kritik nicht als »Stellungnahme zum Wahrheitswert der religiösen Lehren« verstanden werden, sondern ausschließlich als Beitrag zu »ihrer psychologischen Natur als Illusion«.436 Aber diese psychoanalytische Selbstbegrenzung schließt praktisch nicht aus, »dass die Idee eines Lebenszwecks mit dem religiösen System steht und fällt«, da die Religion wie keine andere kulturelle Instanz »die Frage nach einem Zweck des Lebens zu beantworten weiß«, auch wenn sie damit die »gewaltsame Fixierung eines psychischen Infantilismus und Einbeziehung in einen Massenwahn« vornimmt.437 Freuds Kulturziel ist in der Tat ein pragmatisches, nämlich das Streben des Menschen nach Nutzen und Lustgewinn zusammenfließen zu lassen und dabei als »Sublimierung« die entsprechenden intellektuellen, wissenschaftlichen und ästheti-

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(»Warum Krieg?«) spricht er von »unseren Theorien« als »eine Art von Mythologien«, auf die wohl auch jede Naturwissenschaft – wie die Physik – hinauslaufe. Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (Studienausgabe Band I), Frankfurt/M., Fischer 1991, 514. Für seine anfänglich rein physiologisch und neurologisch orientierten naturwissenschaftlichen Forschungen vgl. »Selbstdarstellung«: GW XIV, 33–96, hier 35f., sowie folgende Anm. 533 für seine »Welt-Ergebung«. Vgl. GW XIV, 353, 355 u. 452. Ebd., 356. Ebd., 433 u. 443f.

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schen Leistungen zu integrieren,438 um auf diese Weise eine Loslösung von der geschichtlichen Vorherrschaft der Religion über das kulturelle Leben herbeizuführen. Gegenüber Ethik wie Religion bringt Freud schließlich die Psychoanalyse für eine mögliche »therapeutische Verwendung« innerhalb der zukünftigen Kulturentwicklung selbst ins Spiel, um die »neurotisch« gewordenen Kulturstrebungen in eine andere Richtung zu lenken, obwohl angesichts des untilgbaren »menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstriebes« keinerlei Prognose für den Ausgang des Kampfes zwischen Eros und Todestrieb möglich sei, wie es am Ende von »Das Unbehagen in der Kultur« (1930) heißt.439

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Illusion und Begehren in Neurose und Religion

In der genannten »Vatersehnsucht« als »Wurzel aller Religionsbildung«440 ist das »Ideal der Machtfülle und Unbeschränktheit« der Religion von Beginn an mitgegeben und führt zu ständigen »Vaterersatzbildungen«,441 die im Traum und in der Neurose ihre Parallelen besitzen, denn auch hier herrscht eine Illusion vor, insofern darin jeweils ein Verhältnis zur Wirklichkeit gegeben sei, welches auf Scheinaussagen individueller Gläubigkeit beruhe. Diesen Kritikpunkt wird Freud gegenüber der Religion nie mehr aufgeben, aber da er sich 1907 in dem kürzeren Text »Zwangshandlungen und Religionsübungen« zum ersten Mal explizit mit der Religion auseinandersetzte,442 tritt zugleich mit dem später diskutierten illusionären Aspekt hier der rituelle Gesetzesgehorsam in den Mittelpunkt. Durch dieses »Zeremoniell« ergibt sich das Verhalten einer »Nachahmung« in frühen Kulturen wie beim Zwangsverhalten, welches den Boden der Analogie zwischen Neurose und Religion liefert, während in den darauffolgenden ethnologisch-historischen Konstruktionen wie »Totem und Tabu« (1912) bzw. »Der Mann Moses und die monotheistische Religion« (1939) der Versuch unternommen wird, diese Übereinstimmung in einer genetischen Identität zu gründen. Aber selbst auf der Ebene bloßer Analogie sollte nicht vergessen werden, dass die »Zwangsneurose« sowie die »heiligen Handlungen« der Religionsausübung einen Sinn besitzen, der einen »deutbaren« Vergleich erlaubt, wodurch sich vielfältige Vergleichspunkte ergeben: Gewissensangst bei einem rituellen Fehler, Isolierung des rituellen Ablaufs gegenüber äußeren Störungen, Skrupel für kleinste Details, die zu einer immer komplizierteren Entwicklung des Zeremoniells wie der Lehre führen. Außerdem bestehe ein 438 439 440 441 442

Vgl. ebd., 453f. GW XIV, 419–506. Vgl. GW IX, 173f., 185 u. 189. Vgl. ebd., 179f. u. 187. Vgl. GW VII, Frankfurt/M., Fischer 1948, 129–139.

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Zusammenhang zwischen Bußakten, Gebetsanrufungen und »Schuldbewusstsein«, denen zusammen mit der »Erwartungsangst« die Aufgabe zukomme, eine befürchtete Strafe abzuwenden. Die rituelle Observanz als Gebotsbeachtung gewinnt über die Gewissensangst die psychologische Bedeutung einer schützenden Maßnahme. Allerdings muss hierbei – wie für die Kulturanalyse allgemein – auch hervorgehoben werden, dass das Schuldgefühl eine »verhängnisvolle Unvermeidlichkeit« darstellt. Aber solange es nicht überwältigend wird, kann es die Aggressionsneigungen des Menschen bremsen, und die Grenzen zwischen Pathologie und Normalität von Gewissen und Schuld können nicht scharf gezogen werden, wie wir wissen, so dass die Pathologie als eine Übertreibung normaler psychischer Dispositionen erscheint.443 »Das Unbehagen in der Kultur« wird dann im Einzelnen den Zusammenhang von Schuldbewusstsein, Gewissen und Liebesverbot als Motiv des »Bösen« und »sozialer Angst« darlegen, die insgesamt das kulturrelevante Phänomen der introjizierten Aggression bestimmen. Reue und Buße treten dabei besonders angesichts individuellen Unglücks als »Schicksal« auf, das dann die Elterninstanz ersetze. Somit ist es für die Psychoanalyse – entgegen der herkömmlichen Auffassung – der erzwungene Triebverzicht, welcher das Gewissen hervorbringt, da mit jedem Verzicht das Über-Ich gestärkt wird, wobei für die Ich-Instanz all diese psychischen wie kollektiven Vorgänge von der Angst begleitet werden, sofern sie den Grundaffekt bei allen libidinösen Strebungen sexueller oder aggressiver Natur darstellt.444 Am Ende des Textes von 1907, der all diese Themen in Bezug auf die Religion vorbereitet, steht daher schon wie eine Art Leitmotiv der bekannte Satz, dass »die Zwangsneurose als pathologisches Gegenstück zur Religionsbildung aufzufassen [ist], die Neurose als eine individuelle Religiosität, die Religion als eine universelle Zwangsneurose zu bezeichnen [ist]«. Dem entspricht hinsichtlich des »neurotisch läppischen« Charakters der Zwangshandlungen die Aussage: »Die Zwangsneurose liefert ein halb komisches, halb trauriges Zerrbild einer Privatreligion.« Freud stellt sich dabei nicht die religionsphilosophische oder -wissenschaftliche Frage, ob der Verlust des eigentlich symbolischen Sinns in der Gesetzesbefolgung zum Wesen der Religion gehört oder nur eine Entartung darstellt,445 auch wenn er bemerkt, dass die Religionen immer wieder »ruckweise einsetzenden Reformen unterliegen, welche das ursprüngliche Wertverhältnis herzustellen bemüht sind«. Die entsprechende Regression beim Zwangsneurotiker wird ausschließlich durch einen »meist sexuellen« Triebverzicht und 443 Vgl. GW XIV, 332f. 444 Vgl. ebd., 482ff. u. 495f. 445 Einen Ausschluss aller theologischen Prämissen aus der Religionspsychologie fordert aktuell S. Heine, »Sigmund Freud und die Religion«, in: Aufklärung und Kritik 3 (2010) 197– 209.

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dessen »Verschiebung« erläutert,446 was aber ebenfalls die Frage offenlässt, wie der Mensch als solcher zugleich religiös und neurotisch sein kann. Was Freud an diesem Verhältnis allein bewegt, ist die Tatsache, dass die »menschliche Kulturentwicklung« über die Religionen als ein »Stück der Triebverdrängung gelenkt wird, indem sie den einzelnen seine Trieblust der Gottheit zum Opfer bringen lassen«. Durch diesen Ausschluss, »dem Ich primäre Lust« über »Triebbetätigung« zu gewähren,447 wird der Privatcharakter der »individuellen Religiosität« zu einer allgemein kulturellen Problematik, welche die nützlichen, intellektuellen und ästhetischen »Linderungsmittel« angesichts eines Lebens beinhaltet, welches »für uns zu schwer ist«.448 Deshalb werden phylogenetisch die Übereinstimmungen zwischen Neurose/ Religion zu klären sein, was über die Schrift »Die Zukunft einer Illusion« auf unsere Anfangsfrage des Verhältnisses von Illusion/Realität auf dem Hintergrund des Triebverzichts als ökonomischer Konflikt des Begehrens im Sinne von Lust und Wunschverlangen zurückverweist.449 In dieser Untersuchung von 1927 hatte Freud mithin »weniger die tiefsten Quellen des religiösen Gefühls« im Auge als »das, was der gemeine Mann unter seiner Religion versteht«.450 Als gesellschaftliche Auswirkung kann in der Tat bereits die »zeremonielle Zwangshandlung« zu einer »Übermoral« führen, was dann die notwendige Berücksichtigung der »historischen Realität« für die gleichzeitige Analogie wie Unterschiedlichkeit zwischen Neurotikern und »Wilden« unterstreiche und den Bezug zwischen Psychoanalyse und »Völkerpsychologie« nuanciere. Für die geschichtliche Entwicklung als ständige Wiederkehr von Gefühlsambivalenz und Vaterkomplex werde nämlich eine »Massenpsyche« nicht ohne Schwierigkeit vorausgesetzt, was aber Freud nicht daran hindert, ein »Unbewusstes der

446 Vgl. GW IX, 88f. u. 91f., für die frühe Kulturstufe, wobei andererseits hier die Zwangsneurose auch ein »Zerrbild der Religion« genannt wird, während der Totemismus als »erster Versuch einer Religion« überhaupt auftrete, wo die »Aussöhnung mit dem Vater« seitens der Söhne der Urhorde bewerkstelligt werde; vgl. ebd., 174; ebenso GW XVI, 189 u. 208: »erste Erscheinungsform der Religion«; sowie zum »Zwangscharakter, der den religiösen Phänomenen zukommt«, nämlich als Zusammenhang von Wiederholung und Verdrängung. 447 GW XII, 138f. u. 132. Es sei daran erinnert, dass der Trieb als solcher für Freud nie ein Objekt des Bewusstseins zu sein vermag, sondern nur durch die Bindung eines Affekts an die Vorstellung erkennbar wird, wozu auch Wünsche und Phantasien gehören. Dafür steht der analytisch-therapeutische Begriff der Repräsentanz, welche den Trieb über sein Ziel im Seelenleben zugänglich macht und den Triebreiz als Bedürfnis definiert; vgl. Das Ich und das Es, 79–102: »Triebe und Triebschicksale«. 448 Vgl. GW XIV, 452f. 449 GW IX, 86ff., verwendet Freud zum Beispiel auch den Ausdruck »begehrende Strömung«. 450 Vgl. ebd., 451.

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Völker« anzunehmen.451 Dabei kann zurückbehalten werden, dass gerade der Ambivalenzkonflikt als bleibender Faktor der Psychodynamik Freuds Anthropologie zu einer konfliktuellen oder sogar tragischen Sichtweise der Menschheit führte, insofern das Ringen der ambivalenten Kräfte nie ein Ende finde, was dieser Anthropologie zugleich einen ontologischen Charakter verleiht. Wie bereits bekannt, haben daher Ethik und Religion bei Freud eine gemeinsame Wurzel im »Ödipuskomplex«, denn sie entstammen genetisch »dem Willen des Vaters« und beinhalten für Kinder wie Völker den erwähnten »Triebverzicht«.452 In dieser Hinsicht ist die Theorie der Illusion ein Teilaspekt der Idealisierung, und es bleibt wichtig zu erkennen, wie sich die Religion von der möglichen Sublimierung wie etwa in der Ästhetik unterscheidet, die nicht derselben Illusion unterliege.453 Die ödipale Wurzel von Ethik und Religion beruht auf zwei verschiedenen seelischen Prozessen, die in der Introjektion des Ideals einerseits und der Projektion des Allmachtsgefühls andererseits bestehen, welche beide wiederum mit der Funktion des Über-Ichs zusammenhängen. Die deskriptive wie klinische Bedeutung dieser Unterscheidungen betreffen genau diese Problematik des Ideals als Verinnerlichung einer »Autorität« im Modus eines unpersönlichen Imperativs, dessen lebensweltliche Quelle über Identifikation zugunsten eines bloßen Indikativs vergessen wurde.454 Was dabei näherhin die Illusion betrifft, so bedeutet sie im Rahmen religiöser Gläubigkeit eine Haltung gegenüber der Realität, welche von vaterähnlichen Figuren abhängig sei und deshalb von Freud455 als »infantiler Vaterkomplex« bezeichnet wurde. Ideengeschichtlich lässt sich festhalten, dass die diesbezügliche Illusionsproblematik zum Teil ein Erbe des herrschenden Rationalismus und Szientismus in Freuds Epoche war. Insoweit für die positivistische Erkenntnisposition jede Aussage ohne Sinn sein soll, wenn sie über feststellbare Tatsachen hinausgehe, schließen sich religiöse Dogmen und wissenschaftlicher Geist prinzipiell aus. Entsprechend heißt es in »Die Zukunft einer Illusion«, dass es »gegen die Vernunft« als »äußere Realitätserkenntnis« keinerlei möglichen Einwand gebe.456 Dass diese »Vernunft« zugleich Fortschritt der Wissenschaft 451 Vgl. ebd., 189ff., u. GW XVI, 197ff. u. 206ff., wobei Tradition als »unbewusste Erinnerungsspuren« durch »Gegenbesetzungen« verstanden wird, die einen »Widerstand« gegen das zu Erinnernde implizieren können. Jedoch hätten »die Menschen immer gewusst, dass sie einen Urvater besaßen und erschlagen haben«, was sich in »rezenten realen Wiederholungen des Ereignisses« zeige. 452 Vgl. GW XVI, 227f., 235. u. 241. 453 Vgl. GW IX, 111; dazu ausführlicher P. Ricœur, De L’Iinterpr8tation. Essai sur Freud, Paris, Seuil 1965, 175ff. u. 537ff. (dt. Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt/M., Suhrkamp 1969), sowie unsere Kapitel I,2.3 und II,5.3. 454 Vgl. GW XIV, 489. 455 Vgl. GW IX, 64f. u. ö. 456 Vgl. GW XIV, 344f.

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bedeutet, ergibt sich aus der Tatsache, dass Freud eine organische Korrelation zwischen unserem »seelischen Apparat« und der »Erkennung der Außenwelt« in Anspruch nimmt, so dass die Welt als Außenrealität so erscheint, wie sie der Eigenart dieses Organismus entspricht, und wir ein Teil dieser Welt selbst sind.457 Die einzige »innige Verbundenheit«, die Freud mithin kennt, ist die Verbundenheit des Ichs mit der Umwelt im Sinne »passender Vorstellungsinhalte«, die progressiv verbessert werden können und aus denen jedes Gefühl einer kosmischen oder religiösen »Unbegrenztheit« auszuschließen sei.458 Auf solchem Hintergrund ist Freud sich der Vehemenz seiner Kritik an der Religion durchaus bewusst, aber die psychoanalytische Berechtigung seiner Analyse betrifft dennoch allein die Entzifferung des verborgenen Verhältnisses zwischen Gläubigkeit und Begehren. Diese im Wortlaut harte Kritik an der Religion hat nichts Analytisches an sich, sondern betrifft nur jene Ökonomie des Begehrens, sich hinter religiösen Aussagen zu verbergen. Die mit der Religion in Zusammenhang gebrachte »Illusion« meint daher keineswegs den Irrtum im epistemologischen Sinne,459 sondern ihren Bezug zu anderen psychischen Phantasmen, wie es besonders das Ende von Kapitel 5 aus »Die Zukunft einer Illusion« deutlich macht. Nach dessen Aussagen ist es analytisch-therapeutisch zentral, dass die Illusion von den »Wünschen« des Menschen abstammt, indem das darin enthaltene Begehren den Hauptfaktor bildet, ohne den Bezug zur »Realität« berücksichtigen zu wollen. Der Illusionsbegriff ist mithin dadurch spezifiziert, dass die Illusion darauf verzichtet, vom Wirklichen bestätigt zu werden.460 Dadurch gebe es ein verschwiegenes Einverständnis zwischen Wunscherfüllung und Nicht-Verifizierbarkeit der illusionären Wirklichkeitsannahme, so dass auch der Unterschied zum klinischen Wahn nur graduell sei, wo der Konflikt mit der Realität sichtbar hervorbricht.461 Auch wenn es wahnhafte Formen des Religiösen selbst gibt, so identifiziert Freud dennoch nicht die Religion unmittelbar mit dem Wahn, sondern über die erwähnte Analogie mit 457 Vgl. ebd., 388f. 458 Vgl. ebd., 425. 459 Vgl. ebd., 353. Infolge des Zusammenhangs von »unserem Denkorgan und der Einrichtung der Welt« plädiert Freud erkenntnistheoretisch mehr für das Zusammenspiel »konvergierender Ereignisse« als für eine monokausale Erklärung; vgl. GW XVI, 215; zur genaueren Bestimmung des Realitätsbegriffs bei Freud vgl. auch P. Ricœur, De l’Interpr8tation, 277ff. u. 341ff., sowie bereits unser vorheriges Kapitel I,2. 460 Vgl. GW XIV, 353f. 461 Vgl. die Hinweise auf die wahnhaften Affektbesetzungen des Gottes- und Weltbildes im Fall Schreber, die Freud mit der Bildung von Geistern und Dämonen parallelisiert; vgl. GW IX, 112f. Das Moses-Buch qualifiziert dann die »Glaubenssätze der Religion« als »psychische Symptome«, die »Wahnideen« entsprächen, mithin als »Wiederkehr vergangener Wahrheit« Zwangscharakter besäßen; vgl. GW XVI, 191f. u. 238f. GW XIV, 367, vergleicht die »Verleugnung der Wirklichkeit« in der Religion auch mit der Amentis, das heißt »einer glückseligen halluzinatorischen Verworrenheit«.

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dem Traumerleben wird – wie bei der rituellen Observanz – der Regressionscharakter religiöser Phantasmen auf deren primären Ausdruck hin als »Illusion« festgehalten. Diese Regression drückt Freud in »Totem und Tabu« letztlich dergestalt aus, »dass für jeden der Gott nach dem [leiblichen] Vater gebildet ist, […] und Gott im Grunde nichts anderes ist als ein erhöhter Vater«.462 Hierbei bleibt zu verstehen, dass für Freud die »Erhaltung des Psychischen« die analytisch-therapeutische Voraussetzung ist, um ein ehemaliges Trauma dem Vergessen zu entreißen. Allerdings sei es aber auch unmöglich, das seelische Leben, welches alles Vergangene enthält, »durch anschauliche Darstellung zu bewältigen«, so dass die Arbeit an der Regression einer Archäologie gleichkommt, wie sein Beispiel von der Stadt Rom und ihrer sedimentierten Geschichte der Ausgrabungen zeigt.463 Dass Verlangen, Wunsch oder Begehren zusammen mit der Furcht einen fundamentalen Bezug zur Religion haben, ist ein seit der Antike bekanntes Thema (Demokrit, Epikur etc.), so dass die spezifische analytisch-therapeutische Sichtweise in der Verbergung dieses Verhältnisses und dessen Dekodierung besteht. Hierbei stellt diese Kritik keine bloße Variante des positivistischen Rationalismus dar, sondern sie geht ihrer eigenen psychologischen Aufgabe nach, indem jeder sich fragen kann, wie weit er selbst die Auflösung der Idole – einschließlich eines ideologischen Atheismus – bei sich geführt hat. Freud stellt keine Ursprungsfragen zu Wirklichkeit, Werten und Religion im philosophischen Sinne, sondern er verfolgt die religiösen Vorstellungen in ihrer Schwebe zwischen Verzicht und Befriedigung angesichts der »Schwere des Lebens«. Diese versteht sich als ständige Abhängigkeit von der Natur bzw. an#nke, wie wir dies in unserem Kapitel zu Freuds Realitätsverständnis untersuchten, sowie als grundlegende »Unzufriedenheit«, sein Glück in der Kultur nicht verwirklichen zu können. Es, Über-Ich und Realität einschließlich des Todes sind die drei herrschenden Instanzen im Inneren und Außen des Menschen, die seine »Selbstachtung« hinsichtlich der »Hilflosigkeit« seines Seins als eines dauernd »schwachen Kindes« zutiefst in Frage stellen und nach Vaterfiguren als Ersatz rufen, die in den frühesten Kulturen von den Geistern vertreten werden.464 In

462 GW IX, 177; vgl. auch die Abhängigkeit der Objektwahl und Religion durch die Eltern, ebd., 111f. 463 Vgl. GW XIV, 426ff.; dazu J. Assmann, »Monotheismus, Gedächtnis und Trauma. Sigmund Freuds archäologische Lektüre der Bibel«, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 2 (1999) 227–244; »Sigmund Freud und das kulturelle Gedächtnis«, in: Psyche 58 (2004) 1–25. 464 Vgl. GW IX, 112f. u. GW XIV, 360f. Für die »großen Muttergottheiten« gibt Freud keine Erklärung und verweist nur auf den Übergang zum Patriarchat, was in gewisser Weise den Ödipuskomplex als allgemeinen Anfang »von Religion, Sittlichkeit, Gesellschaft und Kunst« relativieren dürfte; vgl. ebd., 180, 188 u. 490f. Sowie GW XVI, 188f. u. 221f., den sehr kurzen Hinweis auf das Matriarchat, wobei der Übergang zum Patriarchat einen »Kultur-

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klinischen Termini entspricht dies der frühen Traumatisierung und der Abwehr als Latenz der Neurose mit der drohenden »Rückkehr des Verdrängten«.465 Die hierzu detaillierter aufzugreifende phylogenetische Analyse ist daher notwendig, um den Abstand zwischen der anfangs genannten »neurotischen Privatreligion« und der Entstehung der Dämonen und Göttergestalten zu erklären, wozu der individuelle Ödipuskomplex allein nicht genügen kann. Es ist also der Weg über den historischen Menschheitsbeginn zu nehmen, um die Mächtigkeit, Heiligkeit und Größe des »religiösen Phänomens« besser zu verstehen,466 das heißt in der Sprache von »Der Mann Moses und die monotheistische Religion«467 jenen »Zwangscharakter«, wie er dem religiösen Phänomen eigen ist. In der Zeit von 1907 bis 1939 wechselt dabei, wie erwähnt, der epistemologische Anspruch Freuds von einer zunächst einfachen Analogie zwischen Zwangsneurose und Religion hin zu einer in seinen Augen historisch nachgewiesenen Identität, wobei allerdings gerade der ethnologisch-historische Wert dieser Konstruktion schon mehrfach in Frage gestellt wurde.468

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Totemismus und Monotheismus im Verhältnis zum »Vatermord«

Als Entstehung des Verbots folgt die genetische Religionserhellung dem Werden der psychischen Prozesse in topisch-energetischer Hinsicht,469 die sich von der Genese der Illusion als weitgehend verweigerter Realitätsbezug unterscheidet.

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fortschritt« als »Sieg der Geistigkeit über die Sinnlichkeit« darstelle, insofern der Vater als abstrakte Voraussetzung auftrete. Vgl. ebd., 171ff., 177ff., 191f. u. 377, für ausführliche Bemerkungen zur »traumatischen Neurose« mit Latenz, Zwang, sexuell-aggressiven Eindrücken in der Kindheit als Erinnerungsspuren und narzisstischen Ich-Kränkungen. Insofern hierbei nicht nur »selbsterlebte, sondern auch bei der Geburt mitgebrachte Inhalte wirksam sein mögen«, spricht Freud von »Stücken phylogenetischer Herkunft« als einer »archaischen Erbschaft«; vgl. ebd., 204f. sowie GW XIV, 477f. Die Heiligkeit kommt vor allem dem zu, »was nicht berührt werden darf«, und Inzestscheu wie Exogamie zeigen, dass dahinter der »Wille des Urvaters« steht; vgl. GW XVI, 228f.; zur Problematik des Berührens in der abendländischen Tradition allgemein J. Derrida, Berühren, Jean-Luc Nancy, Berlin, Brinkmann & Bose 2007. Vgl. GW XVI, 208f. Speziell in Bezug auf die »Auserwähltheit« im jüdischen Monotheismus lautet es ebd., 191: »Es ist die Religion des Urvaters, an die sich die Hoffnung auf Belohnung, Auszeichnung, endlich auf Weltherrschaft knüpft.« Vgl. P. Ricœur, De l’Interpr8tation, 249ff.; J. Lacan, Le S8minaire livre XVII: L’envers de la psychanalyse, Paris, Seuil 1991, 130ff. Denn das Topische ist hier »gleichzeitig genetisch«, so wie sich das Es nur durch die Genese vom Unbewussten unterscheide; vgl. GW XVI, 202f. Dabei ist gleichzeitig eine Dynamik als »Verteilung der psychischen Energien« mit zu sehen, die sich in »Besetzungen und Überbesetzungen« manifestieren.

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Spielt in der Genese des Über-Ichs die Introjektion die entscheidende Rolle, so ist es bei der ethnologisch-historischen Religionsinterpretation die Rolle der Projektion, welche noch hinter dem Totemismus als Wurzel der Religion aufzusuchen bleibt. Ähnlich wie Auguste Comte470 geht Freud von einem Drei-StadienGesetz der Menschheitsentwicklung aus, welches deren geistige Weltanschauungsmodelle erklären soll. Auf eine animistische oder mythologische Konstruktion folge eine religiöse und schließlich die wissenschaftliche.471 Was für unseren Zusammenhang an dieser Dreiteilung von Interesse ist, besteht in der psychoanalytischen Parallele zu den exemplarischen Momenten des Begehrens oder der Libido, nämlich Narzissmus – Objektwahl – Realitätsprinzip. Methodisch betrachtet, griff die Sichtweise der Psychoanalyse als Entsprechung von Religionsentwicklung und Werden des Begehrens in die Auswahl des ethnologischen Materials ein, um bei der ersten Phase des Animismus noch ein voranimistisches Stadium zu unterscheiden. Es habe hier noch keinerlei ausdrücklichen Glauben an Geister gegeben, was auch die Projektion in transzendente Figuren ausschließe. Freud gesteht die sehr begrenzte Beweislage für eine solche Annahme des ersten Religionsstadiums ein, um dennoch zu behaupten, die anfängliche Weltsicht der Menschheit sei eine »psychologische Theorie« gewesen. Ein noch heute gültiges Anzeichen hierfür sei die Magie, wobei letztere den ältesten und wichtigsten Teil der »animistischen Technik« bilde. Die Beschreibung dieser Technik übernimmt Freud weitgehend von J. G. Frazer,472 aber analytisch-therapeutisch betrachtet handelt es sich dabei um eine »Technik des Begehrens«, die als Wunschverlangen den »nachahmenden« und »ansteckenden Charakter« der Magie annehme. Sowohl in seiner Traum- als auch Neurosendeutung hatte Freud diese beiden magischen Prozesse bereits unter seiner Konzeption von der »Allmacht der Ideen« als einer »Überbewertung des psychischen Prozesses« vereinigt.473 470 Vgl. Cours de philosophie positive, Paris 1830–1841 (dt. Heidelberg 1883–1884, Auswahl in 2 Bänden); Die Soziologie. Positive Philosophie, Hamburg, Meiner 1974. 471 Vgl. GW IX, 108f., wo Freud luzide bekennt, dass »aber in dem Vertrauen auf die Macht des Menschengeistes, welcher mit den Gesetzen der Wirklichkeit rechnet, ein Stück des primitiven Allmachtsglaubens weiterlebt«, auch wenn der Mensch sich »in der wissenschaftlichen Weltanschauung […] zu seiner Kleinheit bekennt und sich resigniert dem Tode wie allen anderen Naturnotwendigkeiten unterworfen hat«. 472 Vgl. Totemism and Exogamy, 4 Bände, London 1910; The Golden Bough. A Study in Magic and Religion, London 1890 (dt. Der goldene Zweig. Das Geheimnis von Glauben und Sitte der Völker, Leipzig. Teubner 1928). Zur Diskussion siehe schon G. Roheim, Psychoanalyse und Anthropologie, Frankfurt/M., Suhrkamp 1974; aktuell M. Thiberge, Essai sur la psychanalyse et la postmodernit8, Paris, L’Harmattan 2018, 127–150, zur »Rückkehr zur Anthropologie«. 473 Vgl. GW IX, 93ff., zum Animismus, hier 96f. u. 106; sowie zur Magie, die »noch keine Religion« sei, ebd., 97f. u. 102ff. Zu den Zitaten und Hinweisen auf Frazer, aber auch Darwin, Smith, Atkinson, Durkheim, Reinach ebd., 125ff., 132, 137f., 142f., 152f. 186, 194f.

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Diese magische Technik des Prä-Animismus bildet mithin eine geschichtlich genetische Zeugenschaft für jenen Primärprozess, wie er in Kapitel 7 der »Traumdeutung« postuliert wurde,474 um hier die Interferenz von Begehren/Realität zu dokumentieren. Denn die nahezu halluzinatorische Befriedigung des magisch-animistischen Begehrens ist der »Sinn« einer Triebwirksamkeit, die sich als Verfälschung der Realität auswirkt. Sofern es sich hierbei um eine Projektion der »Allmacht der Ideen« handeln soll, bleibt allerdings ein gewisser Unterschied bei einem solchen Vergleich festzuhalten, der nicht ganz überzeugt. Im Narzissmus gibt es ohne Zweifel eine Überbewertung des Ichs, aber nicht unbedingt seiner Effizienz, während die Magie stärker einen Welt- als einen Ichbezug darstellt. Außerdem ist nicht unmittelbar nachvollziehbar, dass das »Denken des Primitiven« noch »stark sexualisiert« gewesen sei, woraus sich seine Gläubigkeit an diese »Allmacht der Ideen« ergebe.475 Jedoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass Freud hier für die genetische Problematisierung der Religion etwas Grundsätzliches erkennt, nämlich ihren Bezug zum Gedanken der Allmacht schlechthin, was analytisch-therapeutisch mit Recht auf die psychische Problematik des Begehrens als »infantile Wunscherfüllung« zurückverweist. Was hierbei für unsere Untersuchung von strukturellem Interesse ist, besteht in der Konsequenz der Gleichsetzung von Prä-Animismus, Allmachtsidee und Narzissmus, mit anderen Worten in der Verschiebung der Allmachtsidee, welche dem Begehrem als solchem zugehört. Denn die »neurotische Währung« kennt nur Vorstellungen mit intensiven Affektbesetzungen, wodurch in jeder Neurose immer auch ein Stück »Aberglaube« zur Abwehr der ständig ängstigenden »Unheilserwartung« und letztlich des Todes stecke.476 Andererseits sieht Freud, dass sich zwar die Idealvorstellungen von Allmacht und Allwissenheit in den Göttern als »Kulturidealen« verfestigt hätten, aber die »Gottähnlichkeit« des Menschen durch wissenschaftlich-technischen Fortschritt nur zu einem menschlichen »Prothesengott« geführt habe, ohne sich in solcher Angleichung an Gott glücklich fühlen zu können.477 Daraus ergibt sich, dass die »Verschiebung« in eine Perspektive eingeschrieben wird, welche die Geister des Animismus, die Götter der Religionen und die wissenschaftliche Notwendigkeitssicht der Welt miteinander zu verbinden vermag. Dies geschieht innerhalb der innerpsychischen Entwicklung der Libido, welche sich vom primären Narzissmus zur objektalen Fixierung hin bewegt, wie sie durch die Elternkonstellation ödipal angestrebt wird, um sich in

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u. 239. GW XVI, 241, bekennt Freud, »aus der ethnologischen Literatur herauszugreifen, was [er] für die analytische Arbeit brauchen konnte«. GW II/III, Frankfurt/M., Fischer 1944. Vgl. GW IX, 109ff. Vgl. ebd., 107f. Vgl. GW XIV, 450f.

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der genitalen Reife zu vollenden,478 wo die Objektwahl den Anforderungen der gesellschaftlichen Konvention und der Realität untergeordnet wird. Diese Parallele erlaubt es Freud, die entsprechende geschichtliche Entwicklung der Religion bis hin zu einem möglichen Verzicht auf die Allmachtsidee durch die Wissenschaft zu konstruieren. Mit anderen Worten kennzeichnet dieser Weg die Geschichte der an#nke, wie sie sich als Notwendigkeit dem menschlichen Narzissmus entgegensetzt, weshalb Freud für sich selbst auch von »unserem Gott Logos An#nke« an einer Stelle spricht, die wir schon zitierten, nämlich von einem »Gott«, der keine »Entschädigung für uns verspricht«.479 Warum jedoch religiös dieser auferlegte Verzicht durch das Schicksal nicht der Natur als notwendiger Realität zugutekommt, erklärt der Mechanismus der erwähnten Projektion, wie er vom Modell der Paranoia her bereitgestellt wird. Aus letzterer greift Freud ein Moment heraus, welches in der triebökonomischen Lösung eines ständig gegebenen Ambivalenzkonflikts zwischen Zuneigung und Ablehnung beruht480 oder auch in der Trauerarbeit der Melancholie auftritt. Während letztere aber jenen Hass introjiziert, der einst mit der Liebe gegenüber Personen oder Dingen verbunden war und sich nun gegen das eigene Ich wendet, projiziert die Paranoia die innerpsychischen Prozesse nach außen. Auf diese Weise würden die »Geister« geboren, mithin als Projektion unserer eigenen unbewussten, latenten oder aktuellen seelischen Prozesse.481 In der Tat kann die Projektion nicht Rechenschaft vom systematischen Charakter des Animismus insgesamt als der ersten theoretischen Weltsicht ablegen. Dazu bedarf es eines weiteren Mechanismus, wie er der »Traumarbeit« entlehnt ist und auch von der Paranoia illustriert wird, nämlich der »sekundären

478 Zur autoerotischen Fundierung des Lustgewinns im eigenen Körper und entsprechend narzisstischer Objektbesetzung vgl. ebd., 109f., wobei Freud auf seine Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie von 1905 verweist, was auch im Moses-Buch als Zusammenhang von kindlicher Sexualität und Neurosenbildung wieder aufgegriffen wird; vgl. GW XVI, 179f. u. 476f. Grundsätzlich gehören Lustgewinn und Vermeidung von Schmerz und Unlust zu den »imperativen Primärvorgängen« der Psyche. 479 GW XIV, 378f.; vgl. unser vorheriges Kapitel I,2.1. 480 Vgl. GW IX, 26–94, Teil II: »Das Tabu und die Ambivalenz des Gefühlsvorgangs«. Der Paranoiker verbindet Verfolgungswahn bei sich und Verantwortungssteigerung gegenüber anderen, um sie für das eigene Unheil seiner Empfindung verantwortlich zu machen, so wie es im Sohn-Vater-Verhältnis die Ambivalenz von Hochschätzung und Misstrauen gibt; vgl. ebd., 64f. u. 113f., sowie GW XIV, 492f. 481 Für eine ausführliche Interpretation der Paranoia vgl. den schon erwähnten Fall Schreber : »Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides)« (1912), in: GW VIII, Frankfurt/M., Fischer 1948, 294– 316; für die Trauerarbeit siehe »Trauer und Melancholie« (1917), in: S. Freud, Das Ich und das Es, 171–190 (GW X, 428–446). Dazu M. Kleiner, »Die Psychose bei Freud und Lacan«, in: Riss. Zeitschrift für Psychoanalyse Freud – Lacan 85 (2017) 80–97, zum Fall Schreber bes. 81–86.

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Bearbeitung«.482 Diese dient dazu, dem Traum als innerer Rationalisierung einen Anschein von Einheit im Sinne intelligibler Kohärenz zu verleihen, welche in der Religion – als der methodischen Parallele zum Traum – deren »abergläubische« Rechtfertigung betrifft. In beiden Fällen handelt es sich um einen Schirm, wie er zwischen Erkenntnis und Realität errichtet wird, und diese Scheinkonstruktion ist zu durchbrechen, um den Grund des traumatischen Konflikts zu erreichen. Denn die vorgetäuschte Rationalität stellt nur ein Instrument der Strategie des libidinösen Begehrens dar, um den zusätzlichen Faktor einer Verzerrung des Wirklichen abzugeben, auch wenn Freud im IV. Teil von »Totem und Tabu« seine pathologische Interpretation des Animismus abmildert, nachdem er schon am Ende vom III. Teil »den heutigen Wilden eine Feinheit der seelischen Tätigkeit« zuerkannt hatte.483 Diese Grundmechanismen von »Allmacht des Denkens« und »Projektion« solcher Allmachtsidee auf die Realität sind den ödipalen Mechanismen zeitgleich, von denen etwa die »Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben« (1919), bekannt unter dem Namen des »kleinen Hans«, Zeugnis ablegt.484 Wenn auch das psychoanalytische Material wie Paranoia einerseits und Phobie andererseits disparat erscheint, so gibt es doch Übergangssymptome hierbei wie die Zoophobie, welche als Angst vor der Kastration mit dem narzisstischen Element des Ödipuskomplexes einen Zusammenhang herstellen lässt – so wie sie die Pferde beim »kleinen Hans« symbolisieren, denen er sich, aus unbewusster Angst vor dem Vater, draußen nicht zu nähern traute. Und insoweit als das Thema des Narzissmus und des Allmachtgefühls zusammengehören, so ist damit auch die Verbindung zum animistischen Denken gewahrt, wobei ebenfalls die paranoide Ambivalenz und ihre Projektion einen Vergleich bereithalten. Wenn somit der Übergang zwischen dem III. und IV. Teil von »Totem und Tabu« gesichert erscheint, das heißt zwischen dem »Allmachtsdenken« und der »infantilen Wiederkehr des Totemismus«, so bleibt jedoch zusätzlich das dem Totemismus eigenständige Thema der Aussöhnung hervorzuheben. Die ethnologische Basis liefert hierzu die Totemmahlzeit, welche Ausdruck der Verbindung des jeweiligen Gottes oder Urahns mit den Gläubigen ist und den Ursprung der Gesellschaftsordnung wie moralischer Gebote und der Reli-

482 Vgl. GW IX, 82f. u. 116f. 483 Vgl. ebd., 121, sowie 122–194: »Die infantile Wiederkehr des Totemismus«. 484 Vgl. GW VII, 243–377; siehe auch die Hinweise GW IX, 156f., insbesondere die Prinzipien der Verschiebung und Ambivalenz in Bezug auf Vater/Tier; ähnlich zu Zoophobie und Kastrationsangst GW XVI, 190f., wobei Freud mit Hinweis auf Ägypten und das Judentum auch in der Beschneidung einen »symbolischen Ersatz der Kastration« erblickt, nämlich als anzunehmenden »Willen des Vaters«.

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gion überhaupt bilde.485 Über die zuvor genannten psychischen Faktoren hinaus, die eine Verinnerlichung dieser archaischen Institutionen des Totemismus darstellen, findet sich das eigentlich Religiöse desselben im Schuldgefühl, welches dem Ödipuskomplex entstammt. Aus diesem – trotz aller historischen Annäherung – nebelhaft verbleibenden Beginn der Menschheit schälen sich insgesamt drei Deutungszentren heraus: Die Gesellschaftsordnung entspringt dem Bund unter den Brüdern; die Moral dem Gehorsam, der daraus hervorgeht, während das Schuldbewusstsein der Religion zugeschlagen wird. Dadurch tritt die Religion als der Versuch auf, das affektive Problem des Vatermordes durch die Söhne und des Schuldempfindens bei dieser »Urhorde« zu lösen, um die Versöhnung mit dem »beleidigten Vater« zu erhalten: »Alle späteren Religionen erweisen sich als Lösungsversuche desselben Problems, variabel je nach dem kulturellen Zustand, in dem sie unternommen werden, und nach den Wegen, die sie einschlagen, aber es sind alle gleichzielende Reaktionen auf dieselbe große Begebenheit, mit der die Kultur begonnen hat, und die seitdem die Menschheit nicht zur Ruhe kommen lässt.«486

Die Totemmahlzeit schließt über das religiös begründete Empfinden einer Urschuld daher noch ein weiteres wichtiges Element für jede Religionsstruktur ein, welche im Mahl als Erinnerungsfeier an den Sieg über den Vater besteht, deren Sinn aber ebenso verborgen ist wie der Sinn der Auflehnung der Söhne. Letztere birgt in ihrem religiösen Zeugnis vornehmlich die Tendenz der Söhne, den Platz des Vatergottes selbst einzunehmen. Freud wendet dies ausdrücklich auf das Christentum an, denn unter all den in diesem Kontext genannten antiken Sohnesreligionen »ist im christlichen Mythus die Erbsünde des Menschen unzweifelhaft eine Versündigung gegen Gottvater. Wenn nun Christus die Menschen von dem Drucke der Erbsünde erlöst, indem er sein eigenes Leben opfert, so zwingt er uns zu dem Schlusse, dass diese Sünde eine Mordtat war«.

Auch im Opfer Christi findet sich daher die analytisch diagnostizierte Ambivalenz wieder, welche einerseits die Schuld am Vatermord bekennt und dieselbe versöhnen möchte sowie andererseits die Gottwerdung der Söhne selbst beinhaltet, welche durch ihre Religion diejenige des Vaters ersetzten. Das von 485 Vgl. GW IX, 171f.; kurz zusammengefasst in der Formel vom »Schuldbewusstsein der Söhne« und dem »Sohnestrotz« als den »beiden treibenden Faktoren der Religionsentwicklung«, ebd., 183. Dies wird illustriert an den »jugendlichen Göttern« wie Attis, Adonis etc., die zugleich die Liebesgunst ihrer Muttergöttin genießen und deshalb vom Vatergott bestraft werden. Eine ähnliche Figur bilden der Held in der griechischen Tragödie mit seiner »tragischen Schuld«, aber auch Hamlet und die Brüder Karamasov. 486 Ebd., 175; zur Problematik des Brüderbündnisses als postulierte Einheit vgl. J. Lacan, L’envers de la psychanalyse, 132f.

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Freud angenommene Wiederaufleben des latenten Totems in der christlichen Eucharistiefeier enthält somit die hervorgehobene Ambivalenz als Versöhnung mit dem Vater und dessen Substituierung durch den Sohn (Christus), dessen Fleisch und Blut die Gläubigen zu sich nehmen: »Die Sohnesreligion löst die Vaterreligion ab. Zum Zeichen dieser Ersetzung wird die alte Totemmahlzeit als Kommunion wieder belebt, in welcher nun die Brüderschar vom Fleisch und Blut des Sohnes, nicht mehr des Vaters genießt, sich durch diesen Genuss heiligt und mit ihm identifiziert.«

Diese Ablösung von der Vaterreligion wird über die Kommunion mit Christus in der Eucharistie als eine explizite »Beseitigung des Vaters« herausgehoben.487 Was Freud nach seiner analytisch-therapeutischen Perspektive aufdeckt, ist eigentlich keine wirkliche Geschichte der Religion, da sich deren totemistische Anfänge stets unzerstörbar wiederholen. Dies liegt an einer dramatisch affektiven Konstellation, die insoweit geschichtlich nicht überwunden werden kann, als sie den getöteten Vater und die Reue der Söhne als bleibenden Archaismus mit seiner Gefühlsambivalenz betrifft. Auf dieser Ebene sind die ethnologischhistorischen Mängel an Belegen letztlich unerheblich, denn den historischen Übergang vom Totem zu den Göttern vermag die Psychoanalyse nicht zu erhellen, um an der Hauptthese von der »Vatersehnsucht« festzuhalten: »Wenn die Psychoanalyse irgendwelche Beachtung verdient, so muss unbeschadet aller anderen Ursprünge und Bedeutungen Gottes, auf welche die Psychoanalyse kein Licht werfen kann, der Vateranteil an der Gottesidee ein sehr gewichtiger sein.«488 Das folgende Buch »Der Mann Moses und der Monotheismus« wird hierzu einige weitere Vorschläge machen, aber dies ändert nichts Wesentliches am konstatierten Wiederholungsaspekt der Religion mit der Sequenz von Allmachtsgedanke – paranoide Projektion – Verschiebung des Vatergottes auf das Totemtier – rituelle Erinnerung an Vatermord und Sohnesrevolte als Elemente der »naiven Religion«, die zugleich ihre »Wahrheit« bedeute. Dogmatische und 487 GW IX, 185f., 240 u. 245, sowie GW XIV, 485 u. 502. Außerdem sieht Freud eine Parallele zu jenen Fremden, die von frühen Stämmen zum König gemacht wurden, um bei einem Fest getötet zu werden; vgl. ebd., 66, sowie GW XVI, 190 u. 194. Siehe auch M. Cavell, Freud und die analytische Philosophie des Geistes. Überlegungen zur einer psychoanalytischen Semantik, Stuttgart, Klett-Cotta 1997, 296f., zum Verhältnis von Sündenfall und Ödipuskomplex sowie zur Urhordentheorie (Darwin) und zum Kampf zwischen Eros/Thanatos. Ähnlich G. Vinnai, Jesus und Ödipus. Zur Psychoanalyse der Religion, Frankfurt/M., Fischer 1999, der die christliche Lehre von Tod und Auferstehung Christi als »Chiffren« eines unbewussten Dramas auslegt, das Freud seinerseits mit dem antiken Ödipus thematisiere. Durch diese Parallele sollen die Tiefendimensionen der individuellen wie kollektiven Geschichte im Sinne eines »Symptoms« unbewusster Wurzeln »sozialpsychologischer Geheimnisse« unserer Kultur deutlich werden, wobei kritisch auch von der Psychoanalyse selbst »Verdrängtes« bewusst zu machen sei; vgl. bes. 181ff. 488 GW IX, 177.

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theologische Weiterführungen sind als Theorieelemente der religiösen Lehren späterer Zeiten »Rationalisierungen«, welche die Verzerrung zwischen Religion/ Vernunft und damit hinsichtlich der Realität als an#nke nur verstärken.489 Warum hat Freud nun so viel Zeit und Mühe für sein »Moses«-Buch als eine andere Geschichte religiöser Ursprünge aufgewandt, wenn darin die regressive Wiederholungsthese von »Totem und Tabu« keineswegs in Abrede gestellt wird? Eher handelt es sich sogar um eine Verstärkung des religiösen Wiederholungsdramas, denn Freud macht aus Moses nicht nur einen Ägypter und verzichtet damit auf den narzisstischen Stolz, dass das Judentum – dessen »Volk man selbst zugehört«490 – der Welt den ethischen Monotheismus gebracht hat. Auch Jahwe als Gott des hebräischen Volkes ist eine sublimierte Wiederkehr des »Vaters der Horde«, der nur langsam eine »Entwicklung zur höheren Geistigkeit« erfahren habe, die Freud als »Primat der Intelligenz« vor allem im Bilderverbot verankert sieht, was eine Erhebung über die Sinnlichkeit und damit Triebverzicht einschließe.491 Was gegenüber den Ansprüchen des Narzissmus und des Lustprinzips dann allein noch aufrechterhalten werden kann, ist eben die Zustimmung zu der unnachgiebigen Notwendigkeit als Gesetz für das menschliche Leben in seiner »Schwere« und »Hilflosigkeit«. Möglicherweise war Moses für Freud persönlich eine Vaterfigur, mit der er sich bereits in »Der Moses des Michelangelo« (1917)492 auseinandergesetzt hatte, um diesen Moses als ästhetisches Phantasma zu verherrlichen, als religiöses Phantasma hingegen zu 489 Vgl. GW XIV, 431f. 490 Vgl. GW XVI, 104, wie Freud gleich zu Beginn dieser Moses-Studie von sich selbst hervorhebt. In der 1930 geschriebenen »Vorrede« zur hebräischen Übersetzung von Totem und Tabu bekennt Freud, dass er »die Zugehörigkeit zu seinem Volk nie verleugnet hat, seine Eigenart als jüdisch empfindet und sie nicht anders wünscht«. Sein Buch kenne jedoch »keinen jüdischen Standpunkt«, mache »keine Einschränkung zugunsten des Judentums«, und er hoffe, »dass die voraussetzungslose Wissenschaft dem Geist des neuen Judentums nicht fremd bleiben kann«; GW XIV, 569. In einem Brief an Pfister nennt Freud sich selbst auch einen »gottlosen Juden«; vgl. S. Freud – O. Pfister. Briefwechsel 1909–1939 (Hg. I. Noth), Frankfurt/M., Fischer 1963, 64; ebenso. GW XIV, 394: »an infidel jew«. 491 Vgl. GW XVI, 168f., 220f. u. 231. In dieses Gottesbild Jahwes seien ebenfalls charakterliche Züge des Moses wie »Zornmütigleit und Unerbittlichkeit« eingegraben worden (ebd., 217), die Freud in seiner Schrift über den Moses des Michelangelo schon unterstrichen hatte. Auf den Zusammenhang von Geistigkeit und Schrift (Thora) verweist Freud ebenfalls ebd., 223, um aber auch zu betonen, dass das jüdische Volk nie eine Harmonie zugleich mit der körperlichen Tätigkeit erlangt habe wie die Griechen. Im Gegensatz von Sinnlichkeit/ Geistigkeit lässt sich – wie für die zentrale Rolle des Eros – zudem ein platonisches Erbe erkennen. 492 Vgl. GW X, 172–201; siehe ebenfalls »Nachtrag zur Arbeit über den Moses des Michelangelo«: GW XIV, 319–322; wo die Beherrschung der Leidenschaft (Zorn) erneut unterstrichen wird. Zum »Erbe des Moses« auch W. Hegener, »Freud der Ägypter. Eine Spurensuche. Überlegungen zum Verhältnis von Bild und Schrift«, in: Jahrbuch der Psychoanalyse 43 (2001) 159–180; K. Wondracek, Psychoanalyse und Lebensphänomenologie. Ein Beitrag zur Klinischen Psychologie, Freiburg/München, Alber 2013, 129ff.

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vernichten.493 Denn einen »Rausch der Gottesergebenheit« im Sinne »religiöser Ekstase« lehnt Freud allgemein ebenso ab wie den »Rausch moralischer Askese« in Bezug auf den Moses-Gott und die »ethischen Höhen im Judentum«, denn einerseits würden die Gebote immer strenger als »zwangsneurotische Reaktionsbildung« und andererseits »dienen sie insgeheim der Bestrafung«.494 Dem entspricht systemimmanent, dass er ein »religiöses Erlebnis« – wie etwa hinsichtlich der Fortdauer nach dem Tod – nur als »Muttersehnsucht« oder »halluzinatorische Psychose« verstehen kann, um sich dergestalt Gott in allem zu unterwerfen.495 In ähnlicher Weise wird das »ozeanische Gefühl« der All-Einheit oder Schrankenlosigkeit verstanden, um darin nicht die konfessionsfreie »Quelle aller Religiosität« wie Romain Rolland zu sehen, sondern nur das primäre Gefühl des »Lust-Ichs«, welches sich noch nicht von seiner »Empfindungsmasse« gelöst habe, um als begrenztes Ich der Außenwahrnehmung ein »Draußen« von sich abzusondern.496 Um die Ursprünge der monotheistischen Religion zu erhellen, greift Freud also ebenfalls auf einen Mord zurück, wie er am Anfang des Totemismus als »Vatermord« stattgefunden haben soll, um den Übergang zum Monotheismus als eine Verstärkung desselben Motivs zu konstruieren. Viele Thesen des »Moses«-Buches, das ausdrücklich als »Anschluss« zu »Totem und Tabu« zu sehen sei, sind ohne Zweifel reine Hypothesen, so die kaum haltbare Annahme, Moses sei ein Anhänger des ägyptischen Aton-Kultes als Verehrung eines universalen und tolerant ethischen Gottes gewesen.497 Selbst die Konstruktion Atons nach dem Vorbild des Pharaos Ikhnaton (Amenhotep vor Namenswechsel) darf nicht überbewertet werden, zumal was den Bezug zur Religion der Hebräer betrifft. Unter dem Einfluss von Otto Rank498 wird Moses als antiker »Held« bzw. »großer Mann«499 gesehen, der von seinem Volk getötet wurde, wodurch der Kult

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Vgl. P. Ricœur, De l’Interpr8tation, 190f. Vgl. GW XVI, 243f. Vgl. »Ein religiöses Erlebnis«: GW XIV, 393–396. Vgl. ebd., 421ff., den Anfang von Das Unbehagen in der Kultur, dazu H. u. M. Vermorel, Sigmund Freud et Romain Rolland. Correspondance 1923–1936. De la sensation oc8anique au Trouble du souvenir sur l’Acropole, Paris, PUF 1993. 497 Vgl. GW XVI, 151f., 155, 160, 166, 186f. u. 239f., wobei die erneute Bekräftigung der Religion als eine »Menschheitsheurose« unter dem Eindruck des Nationalsozialismus und Freuds Exil nach England niedergeschrieben wurde. 498 Vgl. Der Mythus von der Geburt des Helden, Wien, Deuticke 1909, zit. GW XVI, 106f.; zur »Atonreligion« ebd., 119ff. 499 Vgl. GW XVI, 214–219, das Moses-Kapitel »Der große Mann«. Die Größe des Moses beziehe sich letztlich darauf, »dieses Volk geschaffen zu haben«; ebd., 213f., weshalb er für die Juden als ein »Vaterbild« zu sehen sei; ebd., 217; dazu E. List (Hg.), Der Mann Moses und die Stimme des Intellekts. Geschichte, Gesetz und Denken in Sigmunds Freud historischem Roman, Innsbruck/Wien, Studienverlag 2008.

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des Moses-Gottes auf Jahwe als »Vulkangott« übergegangen sei.500 Auf diese Weise habe der frühere Gott des Moses (Aton) seinen Ursprung verbergen können, um auch die Erinnerung an den an Moses begangenen Mord vergessen zu lassen. Ernst Sellin501 hatte zwar schon 1922 eine ähnliche These bei der Auslegung der Propheten Hosea und Deuterojesaja aufgestellt und dann wieder fallen gelassen, aber was vor allem von den Fachleuten in Frage gestellt wird, ist die Verdoppelung der Mosesgestalt in einen Anhänger des Aton-Kultes und den Moses der Jahwe-Tradition. Die weitere Hypothese Freuds, die jüdischen Propheten seien die Ursache für die Wiederkehr des mosaisch ethischen Gottes und damit für die Wiederkehr des »traumatischen Erlebnisses« selbst,502 das verdrängt gewesen war, ergibt ein Zusammenfallen der Wiederkehr als Vorstellung und des Verdrängten in affektiver Hinsicht. Dadurch habe das jüdische Volk über die Erinnerung an einen Mord der westlichen Kultur sein Modell der Selbstanschuldigung überliefert, um die Tat als solche zugleich zu verbergen. Als hermeneutisches Prinzip der traumatischen Wiederholung lässt sich folglich unterstreichen, dass »die Geschichte in großartiger Verdichtung erzählt wird, als ob sich ein einziges Mal [in der Urhorde] zugetragen hätte, was sich in Wirklichkeit über Jahrtausende erstreckt hat und in dieser langen Zeit ungezählt oft wiederholt worden ist«.503 Freud kennt keine explizite Auseinandersetzung mit exegetischen Fragen, wie etwa zum komplexen Verhältnis zwischen Propheten und Priestertum in Israel, auch wenn er um die Zwei-Quellen-Theorie des Pentateuch weiß.504 Orientiert an der Interpretation der Neurose, gilt sein Interesse der Psychologie des Gläubigen, hier des Judentums, wobei der Mord am ägyptischen Moses zu einer ethisch sublimierten Figur Gottes als Vatergestalt hinführen soll, um gleichzeitig die analytisch-therapeutische Problematik von Schuldbewusstsein und ödipalem Sohn- oder Kindsein zu verschärfen. Denn der mosaische Monotheismus sei nicht nur ein Erbe des Totemismus, sondern das hebräische Volk schaffe sich in der Person des Moses des Gesetzes vom Berg Sinai einen herausragenden Ersatz 500 Vgl. ebd., 133f.,144ff., 174ff. u. 232f. 501 Mose und seine Bedeutung für die israelitisch-jüdische Religionsgeschichte, Leipzig, Deichen 1922 (Reprint EOD Network 2018); zit. GW XVI, 135f., 153f., 163, 173 u. 200. Sellin behandelt hierin noch weitere Moses-Traditionen wie den Moses als Gottesknecht oder als inspirierten Hirten und großen Priester bzw. Visionär. Vgl. zur neueren Diskussion J. Assmann, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München, Hanser 1998 (Neuaufl. 2000). 502 Vgl. GW XVI, 154f., 168f. u. 218. 503 Ebd., 186. 504 Vgl. ebd., 140ff.; zum Vergleich beispielsweise P. Ricœur, An den Grenzen der Hermeneutik. Philosophische Reflexionen über die Religion (Hg. V. Hoffmann), Freiburg/München, Alber 2008, 41–84: »Hermeneutik der Idee der Offenbarung«; De l’Interpr8tation, 516–575: »Herm8neutique: les approches du symbole«.

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der göttlichen Vaterfigur, gefolgt von Jesus Christus im Neuen Testament, wo Ostern die Auferweckung des Moses bedeute. Der Apostel Paulus führe seinerseits zu den prähistorischen Quellen zurück, indem er sie durch seine Konzeption von der »Erbsünde« als verstärktem »Schuldbewusstsein« erneuert, da nur der Tod Christi als Sohn Gottes diese Schuld gegenüber Gott sühnen konnte.505 Christus selbst tritt dabei als »Rebell« auf, als Führer der Horde der Söhne und Brüder im Sinne einer schon erwähnten »Sohnesreligion« anstelle der »«Vaterreligion«, um dadurch mit dem aufbegehrenden Helden der griechischen Tragödie gemäß O. Rank verglichen werden zu können.506 Mithin konnte der psychoanalytisch gesuchte Übergang vom »Totem« zum »Gott« (abgesehen von einer frühen Phase mit Dämonen und Geistern)507 nur in der Wiederholung eines Mordes erreicht werden, um zugleich eine Intensivierung der religiösen Effekte wie Schuld und gehorsamer Unterwerfung unter Gott als »Vater« herbeizuführen. Im Unterschied zum Christentum des Paulus sei das Judentum beim »großen Vater« stehengeblieben, was analytisch bedeutet, dass es »ein Fall von ›Agieren‹ anstatt zu erinnern war«, wie die therapeutische Arbeit mit dem Neurotiker zeige.508 Auch wenn Freud um gewisse Lücken in seiner historischen Dokumentation weiß und ihm »psychologische Wahrscheinlichkeiten« wichtiger sind,509 ist er nicht geneigt, die Realität der geschichtlichen Kette dieses traumatischen Grundereignisses von Vatermord und schuldhafter Reue zu schmälern. Sowohl jedes Individuum als auch die Kollektivitäten bewahren hinter unbewussten Gedächtnisspuren die Eindrücke des Vergangenen,510 so dass der erzählte Mythus strukturell dazu dient, analytisch-therapeutisch die »Verschiebungen« der Erinnerungen innerhalb der halluzinatorischen Funktion zu verfolgen, wie dies 505 Vgl. GW XVI, 192, 244 u. 353, wo diese Sichtweise als wahnhafte »Erlösungsphantasie« entsprechend dem allgemein religiösen Zusammenhang von Wünschen/Wahn im Sinne von »Illusion« qualifiziert wird; siehe dazu H. Westerink, »The Great Man from Tarsus. Freud on the Apostle Paul«, in: Psychoanayltic Quarterly 76 (2007) 217–235. Auch in Dostojewskis »Christusideal« findet Freud hauptsächlich den Versuch einer »Strafbefreiung« wieder ; vgl. GW XIV, 411f. 506 Vgl. GW XVI, 196f. 507 Vgl. GW IX, 28f. 508 GW XVI, 195. 509 Vgl. ebd., 114; er spricht in Bezug auf seine Moses-Darstellung außerdem von Konstruktion, Rekonstruktion oder bloßen Mutmaßungen »im Widerspruch zur Geschichtsforschung«; ebd., 127f., 132f., 141f., 150, 161, da ihn in vermuteten »Text-Entstellungen« durch Tradition und biblische Geschichtsschreiber das »Unterdrückte und Verleugnete« als »schicksalsschwerer Inhalt der jüdischen Religion« interessiere, nämlich die »Latenz« des Vatermordes und dessen Wiederkehr ; ebd., 144, 148, 170ff. Daher ist zu verstehen, dass er seine »Anforderungen an eine historisch-psychologische Untersuchung weit gemildert habe«; ebd., 212. 510 Vgl. GW IX, 36f. u. GW XVI, 201 u. 206.

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weiterhin im Vergleich zur Neurosendeutung mit ihren »Zwangshandlungen« geschieht.511 Die »Erbschaft« des mythischen Vatermordes und dessen Folgen entziehen sich jeder direkten Mitteilung, aber diese affektive Fortsetzung muss postuliert werden, um den Abgrund zwischen individueller Psychologie und Völkerpsychologie zu überbrücken.512 Im Namen des epistemologisch postulierten Fortschritts innerhalb der Psychoanalyse soll dieser Schritt also »gewagt« werden, so dass der Freudsche Mythos der Urhorde und des Vatermordes mehr als eine vorübergehende Arbeitshypothese darstellt – er garantiert den Zusammenhalt in theoretischer Hinsicht selbst, um jenen »besessenen Charakter« zu verstehen, welcher dem »religiösen Phänomen« eigen sei.513

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Wir haben zeigen können, dass nach Freud die »Wiederkehr des Verdrängten« innerhalb der Religion in analytisch-therapeutischer Hinsicht ein traumatisches Ereignis voraussetzt. Ausgeleuchtet wurde in diesem Zusammenhang bisher noch nicht ausreichend der Begriff der Kultur, unter dem die verschiedenen Bereiche von Ästhetik, Ethik und Religion versammelt sind. Hierbei trifft letztere als triebökonomische Funktion auf den kulturellen Bereich im Übergang von der Neurose als »Privatreligion« zum religiösen Phänomen als »universaler Neurose«, wobei allerdings auch gesehen wird, dass der allgemein zwangsneurotische Charakter der Religion davor schützen kann, »eine persönliche Neurose auszubilden«.514 Hinzu tritt die zuletzt dargestellte »Verschiebung« als »Vaterkomplex« vom Totem hin zu Geistern und Göttern sowie schließlich zum Gott Abrahams, Moses und Christi. Dadurch wird die Hervorbringung religiöser Phantasmen mit ihren neurotischen Effekten innerhalb eines geschichtlich institutionellen Rahmens untersucht, welcher das Traumobjekt auf ein kulturelles Objekt hin übersteigt. Die »Wiederkehr des Verdrängten« auf der Kollektivebene verschränkt somit die Triebökonomie mit der Funktion der Kultur, wodurch die Verschiebung des Allmachtsgedankens, der quasi-paranoiden Projektion sowie die »Aussöhnung« der Söhne mit dem beleidigten Vatergott ihren Sinn über die einzelnen »Triebschicksale« hinaus gewinnt. Innerhalb der Untersuchung von »Die Zukunft einer Illusion« bildet die Kultur weiterhin die Frage des Begehrens und seiner »Wunscherfüllung«, wozu 511 Vgl. GW IX, 36ff., einschließlich des Ambivalenzcharakters im neurotischen Gefühlsleben. 512 Vgl. etwa ebd., 32f., 129f. u. 144f., die Kritik an W. Wundt, Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte (10 Bände), Band II: Religion und Mythus, Leipzig, Teubner 1900. 513 Vgl. GW XVI, 207f. 514 Vgl. GW XIV, 367.

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sich schon 1920 das Thema von Eros/Thanatos aus »Jenseits des Lustprinzips«515 gesellte, um später ausführlicher für die Kulturentwicklung fortgeführt zu werden, da sie »sich die Weltherrschaft teilen«.516 Freud lehnt es ab, »Zivilisation« und »Kultur« voneinander zu unterscheiden, um nicht gemäß einer klassischen Differenzierung den nützlichen Aspekt der Naturbeherrschung von einer scheinbar desinteressierten idealen Dimension der Bildung von Werten zu trennen.517 Hat diese Unterscheidung jenseits der Psychoanalyse auch einen begrenzten Sinn, so gilt dies im Raum der »Besetzungen« und »Gegenbesetzungen« durch die Libido kaum. Denn was mit »Eros und An#nke« bezeichnet wird, sind »die Eltern der menschlichen Kultur«, anders gesagt Erotik und Arbeit, die zur Bildung von Gemeinschaften führen, welche sowohl Glücksbefriedigung wie Abhängigkeit implizieren. Eros vertritt hierbei im Anschluss an Platons »Symposion« die Energie der Libido, womit der Mensch »Liebesobjekte« suche, um seine Bedürfnisse zu stillen, wobei eine Objektbesetzung durch Identifizierung abgelöst werden kann. Es kommt mithin durch Nachahmung zu einem Ich-Ideal, das zugleich als »Desexualisierung« einen Sublimierungsprozess einzuleiten vermag, der höheren Zielen wie in der Kultur dient. Freud selbst fasst seine Erkenntnisse aus »Jenseits des Lustprinzips« zusammen, die »spekulativ« besagten, Eros wolle das Leben und die menschlichen Vereinigungen erhalten, während Thanatos als der gegensätzliche Trieb diese Einheiten wieder in den »uranfänglichem anorganischen Zustand zurückführen« wolle. Somit ließen sich »aus dem Zusammen- und Gegeneinanderwirken dieser beiden [Triebe] die Phänomene des Lebens erklären«. Der Aggressionstrieb tritt dabei als »Abkömmling des Todestriebes« auf, um als Objektgerichtetheit die Herrschaft über die Natur zu bewerkstelligen, so dass schließlich der Kampf zwischen Eros/Thanatos die Kulturentwicklung überhaupt als »Lebenskampf der Menschenart« ausmache.518 Der Kulturbegriff Freuds impliziert somit zum Teil den analytisch-therapeutischen Sachverhalt des Über-Ichs in topischer Sicht, insoweit auch die Kultur zunächst als Verbot (Tabu) der sexuellen und aggressiven Versuchungen verstanden werden kann, welche die gesellschaftliche Ordnung bedrohen. In dieser Hinsicht bedeutet jede Kultur einen Verzicht universeller Art auf Inzest, 515 Vgl. Das Ich und das Es, 191–250; J. Laplanche, Leben und Tod in der Psychoanalyse, Olten, Walther 1994; P. Ricœur, De l’Interpr8tation, 245ff. u. 297ff. 516 Vgl. GW XVI, 460f. u. 481. 517 Vgl. GW XIV, 326f. u. 332ff.; zur Begriffsgeschichte G. Wolters, »Zivilisation«, in: J. Mittelstraß (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 8, Stuttgart, Metzler 2018, 676f. 518 Vgl. GW XIV, 477f. u. 481, was im Brief an Einstein 1932 »Wozu Krieg?« (ebd., 22f.) ebenfalls unterstrichen wird; dazu der ausführliche Kommentar von P. Ricœur, De l’Interpr8tation, 319ff., sowie unser weiteres Kapitel II,6.3.

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Kannibalismus und Mord, womit eine solche Verzichtsleistung einen »wertvollen psychologischen Kulturbesitz« darstellt, insofern durch das Über-Ich eine »Verinnerlichung« von Verboten, Idealen und Wertungen statt äußerer »Zwang« stattfinde.519 Der Mechanismus der »Introjektion« zeigt hierbei, dass Kultur und Über-Ich nur zwei verschiedene Namen für dieselbe Wirklichkeit sind. Aber der kulturelle Aspekt der letzteren enthält noch zwei Zusätze, nämlich die ästhetische Befriedigung als eine bessere Verinnerlichung der Kultur im Sinne eines sublimierten Begehrens anstelle bloßer Verbote, so dass etwa die Kunst eine »Ersatzbefriedigung« biete und gleichzeitig »aussöhnend« wirke.520 Die aggressiven Tendenzen des Individuums erweisen sich hingegen auf der Kollektivebene als gewaltbereite Identifikationen mit einer Gruppe,521 anstatt mit Hilfe des Über-Ichs zu einer »Wendung der Aggression nach innen« zu führen, so dass der Hass hier eine narzisstische Befriedigung beinhaltet, welche die gesellschaftlichen Sanktionen im Inneren einer Kultur verstärkt. Ästhetik wie Narzissmus verbleiben hier – wie Eros und Thanatos – im bekannten psychoanalytischen Triebrahmen, der sich hinter jeder idealisierten Gestalt verbirgt: »Ist die Kultur der notwendige Entwicklungsgang von der Familie zur Menschheit, so ist unablösbar mit ihr verbunden, als Folge des mitgeborenen Ambivalenzkonflikts, als Folge des ewigen Haders zwischen Liebe und Todesstreben, die Steigerung des Schuldgefühls, vielleicht bis zu Höhen, die der Einzelne schwer erträglich findet.«522

Zur geläufigen Analyse des Über-Ichs als Instanz der Idealisierung und des Verbots tritt nun auf der kulturellen Ebene die Aufgabe hinzu, das Individuum gegen die Übermacht der Natur zu schützen, da sie unsere Kräfte weit übersteigt. Bevor wir in diesem Zusammenhang erneut die Frage der Illusion thematisieren, ist leicht zu erkennen, dass die Schutzfunktion des Über-Ichs im kulturellen Kontext darin besteht, die individuellen »Opfer« in Bezug auf den Triebverzicht zu verringern bzw. die Menschen mit denjenigen »Entbehrungen« zu versöhnen, die nicht aufgehoben werden können, und ihnen kompensatorische Befriedigungen für die abverlangten Opfer zu gewähren. Dies nennt Freud den »seelischen Besitz« der Kultur, und in solchem Besitz soll der eigentliche Sinn der Kultur gesucht werden, die allerdings über den erzwungenen Triebverzicht bei vielen die Gefahr der »Kulturversagung« in sich berge.523 Hierbei haben die religiösen Vorstellungen die »größte Bedeutung«, da ihnen »die Aufgabe zuge519 Vgl. GW IX, 6ff. u. 101f., sowie GW XVI, 188f. 520 Vgl. GW XIV, 335. 521 Für das Judentum tritt nach Freud besonders der Stolz über das Auserwähltsein durch einen abstrakt überhöhten Gott Jahwe hinzu, was zugleich zu narzisstischer Absonderung von anderen führe; vgl. GW XVI, 222f. u. 225. 522 GW XIV, 493. 523 Vgl. ebd., 331 u. GW XIV, 445 u. 457f.

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teilt ist, uns die Rätsel der Welt aufzuklären und uns mit den Leiden des Lebens zu versöhnen«. Aber diese religiösen Lehren hätten »gerade die allerschwächste Beglaubigung«,524 weshalb Freud auf den Mythos vom archaischen Vatermord zurückgreifen wird, um die Diskrepanz zwischen kultureller Bedeutung der Religion und ihrer intellektuellen Unglaubwürdigkeit über das »psychologische« Gewicht phylogenetischer Erbschaft zu füllen. Das »Unbehagen in der Kultur« treibt die kulturelle Frage unter den Vorgaben des »Todestriebes« weiter, aber die Verschränkung von Über-Ich/Kultur und Triebökonomie lässt die Frage nach der »Härte« oder »Schwere des Lebens« und ihrer Beantwortung als eine stetige Dringlichkeit erscheinen. Diese umfasst mehrere Ebenen, nämlich die schon angeführte Schwäche des Menschen angesichts der gewaltigen Naturkräfte sowie der permanenten Todesbedrohung, die Freud ein »schmerzliches Rätsel« nennt,525 wobei die Bedrohungen der Menschen untereinander im Sinne des klassischen Satzes Hobbes’ vom homo homini lupus hinzutreten. Denn die Menschen fügen sich gegenseitig Leid zu, indem sie andere ausbeuten oder sich als Sexualpartner unterwerfen.526 Was die »Lebenskunst« aller Zeiten zur Bewältigung der Lebenshärte angeboten habe, seien Ablenkungen, Ersatzbefriedigungen und Rauschstoffe, wobei Schönheit, Kunst und allgemein kreatives Schaffen hinzuträten, um »Glück« und »Libidoökonomie« miteinander in einen relativen Ausgleich zu bringen, der von jedem individuell aufzufinden sei.527 Da dieser Ausgleich durch »Kontrast« und »Geschmeidigkeit« der »Libidoverschiebungen« gekennzeichnet sei, um gegen eigenen Körper, Außenwelt und Beziehungen mit Anderen eine gewisse Befriedigung zu finden, stelle die Religion hierbei einen zu einseitigen Weg dar : »Die Religion beeinträchtigt dieses Spiel der Auswahl und Anpassung [der individuellen Libidoökonomie], indem sie ihren Weg zum Glückerwerb und Leidensschutz allen in gleicher Weise aufdrängt. Ihre Technik besteht darin, den Wert des Lebens herunterzudrücken und das Bild der realen Welt wahnhaft zu entstellen, was die Einschüchterung der Intelligenz zur Voraussetzung hat.«528 524 GW XIV, 349. In Bezug auf die angebrachten Zweifel gegenüber der Religion lehnt Freud auch jede spiritistische Antwort, das credo quia absurdum der Kirchenväter wie auch die pragmatische »Als-ob-Fiktion« Vaihingers bzw. inneres oder ekstatisches Erlebnis im Sinne von »Intuition« und »Selbstversenkung« als Glaubensbeweis ab; vgl. ebd., 350f. u. 354, sowie 430f. die Kritik an Yoga und Trance, die eine nicht mögliche »Wiederholung des uneingeschränkten Narzissmus« voraussetzen würden. 525 GW XIV, 336f. 526 Vgl. ebd., 470f. 527 Vgl. ebd., 432ff. 528 Ebd., 443f. Diese »Entwertung des Lebens« sieht Freud schon mit dem Sieg über das Heidentum durch das frühe Christentum beginnen; vgl. ebd., 445f. Er scheint nur eine Ausnahme zu kennen, die mit dem Namen von Franz von Assisi verbunden ist, der es mit der »Ausnützung der Liebe für das innere Glücksgefühl am weitesten gebracht« habe, indem er ein »zärtliches Empfinden« als »allgemeine Menschen- und Weltliebe« entwi-

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Insgesamt ist die Kultur kein »Weg zur Vollkommenheit«, und insofern die Problematik des Aggressionstriebes über den Triebverzicht des Einzelnen und die ethische Einwirkung eines »kulturellen Über-Ichs« einer gewissen Lösung zugeführt werden kann, für die alles eingesetzt werden müsse, besteht die Hauptaufgabe darin, »individuelle Freiheit« und »kulturelle Massenansprüche« in einen Einklang zu bringen, der aber stets gefährdet bleibt.529 »Schwere« oder »Härte des Lebens« und Schwachheit des Ichs korrelieren folglich miteinander, denn dieses Ich wird vom Es, dem Über-Ich und der Realität bedrängt, wodurch sich drei Formen der Furcht ergeben: die tabuabhängige Furcht, deren neurotische Form sowie die Furcht als »Gewissensangst«. In »Die Zukunft einer Illusion« fügt Freud noch verstärkt ein Merkmal hinzu, welches in der tiefen »Unzufriedenheit« des Menschen besteht und sich bis zur »Kulturfeindlichkeit« hin entwickeln kann.530 Auf narzisstische Weise kann der Einzelne in der Tat sein Glück nicht verwirklichen und die ihm obliegenden geschichtlichen Aufgaben verfolgen, da sie durch seine Aggressivität in hohem Maße zum Misserfolg verurteilt sind. So erweist sich die gewollte »Selbstachtung« des Menschen grundsätzlich beeinträchtigt, und er sucht Trost, wobei ihm die Kultur entgegenkommt, da sie eben nicht nur Verbote kennt, sondern ebenfalls Schutz bietet – und dies gerade im Namen der Religion. Letztere unterscheidet sich daher in triebgenetischer Hinsicht von der Moral, indem sie dem Menschen Erleichterung für seine Trieblast (»Sünde«) gewährt, mit dem schwersten Schicksal einschließlich des Todes versöhnt und dem Menschen eine jenseitige Belohnung für alle Entbehrungen verheißt. Aber dieser Ausweg aus dem Verzicht ist zugleich eine Rückkehr diesseits davon, insofern der Trost gerade dem Wunschbegehren zugedacht wird. Denn wie alle Situationen der kindlichen Hilflosigkeit als Abhängigkeit wiederholt die religiöse Tröstung auch den Prototyp aller Trostgestalten – die Vaterfigur. Weil der Mensch für immer schwach wie ein Kind bleibt, verlässt ihn die Sehnsucht nach dem »Vater« nicht. Angesichts der stärkeren Natur bildet sich der infantil bleibende Mensch daher Götter, die dem Vaterbild entsprechen, wodurch Hilflosigkeit, Sehnsucht und

ckelte. Dies hält Freud aber nicht davon ab, das universale Gebot der Nächstenliebe als nicht annehmbar zu deklarieren, da hierbei der Wert des Einzelnen relativiert werde und »nicht alle Menschen liebenswert« seien; ebd. 461, 468 u. 503f. Zusammen mit dem Gebot der Feindesliebe »ist [dieses] Gebot die stärkste Abwehr der menschlichen Aggression und ein ausgezeichnetes Beispiel für das unpsychologische Vorgehen des Kultur-Über-Ichs. Das Gebot ist undurchführbar, eine so großartige Inflation der Liebe kann deren Wert herabsetzen; nicht die Not beseitigen.« Zudem habe die allgemeine Menschenliebe, die Paulus forderte, das Christentum nicht daran gehindert, Intoleranz gegenüber den »draußen Verbliebenen« zu üben; ebd., 47f. 529 Vgl. ebd., 454ff. u. 501ff. 530 Vgl. ebd., 445.

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Trost zusammengehörten und sich als »Vatersehnsucht« wiederholen, die Ruhe und Frieden bringen soll. Damit jedoch erfüllt die Religion – psychologisch gesehen – den tiefsten Wunsch des Menschen und ersetzt die Wissenschaft in ihrer Anerkennung der reinen Notwendigkeit als an#nke. In diesem Sinne entsteht die Religion mehr noch aus dem Begehren selbst und seinen objektalen Wunschvorstellungen als aus der Furcht: »Somit sind alle Schrecken, Leiden und Härten des Lebens [durch eine spätere Existenz nach dem Tod] zur Austilgung bestimmt. […] Im Grunde [barg der väterliche Kern jeder Gottesgestalt] eine Rückkehr zu den historischen Anfängen der Gottesidee. Nun, da Gott in Judentum und Christentum ein ›Einziger‹ wurde, konnten die Beziehungen zu ihm die Innigkeit und Intensität des kindlichen Verhältnisses zum Vater wiedergewinnen.«531

Wenn dies jedoch letztlich in der »bedingungslosen Unterwerfung« unter »Gottes ›unerforschlichen Ratschluss‹« ende, so folgert Freud wohl mit Blick auf seine eigene »Ergebung« in die an#nke, »hätte man sich wahrscheinlich den Umweg ersparen können«.532 Freud selbst wird die Haltung gegenüber den »Schicksalsnotwendigkeiten« zu einer stoischen Akzeptanz hin entwickeln, »gegen die es eine Abhilfe nicht gibt, die wird [der Einzelne] eben mit Ergebung ertragen lernen«, um die so frei gewordenen Kräfte für ein mögliches Leben für alle einzusetzen, damit »die Kultur keinen mehr erdrückt«. Das heißt, das »tief religiöse« Gefühl menschlicher Ohnmacht und Kleinheit ist nicht länger das Wesen der Religiosität, weil die »Reaktion« darauf, »sich demütig mit der geringfügigen Rolle des Menschen in der großen Welt zu bescheiden«, einen zusätzlich gegebenen »irreligiösen« Schritt darstelle.533 Die triebökonomische Sicht der Kultur bietet folglich eine Psychoanalyse der »göttlichen Vorsehung«, die wohlwollend über die Natur bei all ihrer Härte wache und als gerechter und weiser »Wille« über das Schicksal hinaus angesehen wird, womit Kultur wie Religion »aus dem selben Bedürfnis hervorgehen« – nämlich aus der Suche nach Schutz in der Hilflosigkeit durch einen starken Vater.534 Freud erblickt in dieser Vorsehungsfunktion die höchste Form der Religion, was als eine Kurzformel für das religiöse Phänomen überhaupt den 531 Vgl. ebd., 337f., 341, 352 u. 451f.; dazu W.G. Neumann, Der Tod der Liebe, des Lebens und des Glücks. Freuds Religions- und Kulturkritik, Frankfurt/M., Suhrkamp 1989. 532 Vgl. GW XIV, 434f. 533 Vgl. ebd., 373f., 356 u. 359. 534 Vgl. ebd., 340f. u. 352f., wobei der Anspruch einer spezifischen »Offenbarung« selbst schon »ein Stück des religiösen Systems« ausmache; ebd., 345; zur Diskussion dieser traditionellen Voraussetzung in postmodernen Zeiten A. Batthy#ny, Zur Psychologie einer Grundangst. Über abwehrende und existentielle Zugänge zum eigenen Tod, Freiburg/ München, Alber 2019, 41ff., mit Rückbezug auf Freud.

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Endpunkt der geschichtlichen Endwicklung der Religion erneut mit der historischen Ursprungsidee Gottes zusammenführt. Der »Gott« ist durch die Jahrhundert hindurch wieder eine einzige Person geworden, an die sich der Mensch nunmehr in seiner inneren Beziehung wie ein Kind an seinen Vater wenden kann. Im Rahmen der Kultur ist die Religion damit aus der »Privatreligion« der Neurose herausgenommen und geht aus demselben Bedürfnis hervor wie die anderen Kulturformen, welche im Schutz vor der Übermächtigkeit der Natur bestehen. Diese direkte Herleitung des Monotheismus scheint den langen Umweg über frühere Dämonen und Geister, über Totems sowie männliche wie weibliche Göttergestalten im Polytheismus zu verkürzen.535 Aber damit hat Freud keineswegs den »Vaterkomplex« aus »Totem und Tabu« durch das Motiv der menschlichen Hilflosigkeit ersetzt, sondern letzteres Motiv ist »nur weniger tief verborgen« als dieser »Vaterkomplex«.536 Denn der Zusammenhang zwischen der »tieferen« und »manifesten« Erscheinungsweise bleibt für die Psychoanalyse stets herzustellen, das heißt hier zwischen dem Vaterkomplex und dem Schutzbedürfnis des Menschen. In der analytisch-therapeutischen Triebökonomie ist die Kulturfunktion der Tröstung durch die Religion das entsprechende Gegenstück zur Libido als Begehren, mithin als prinzipielle Sehnsucht nach dem Vater, womit methodisch die Struktur von »manifestem« und »latentem« Trauminhalt als Analogie angewandt wird. Die Hilflosigkeit des Erwachsenen wiederholt deshalb die Situation des Kindes wie im Traum, so dass der »verborgene« Sinn der Religion für die Psychoanalyse Freuds konstitutiv die ewige Wiederholung der Vatersehnsucht beinhaltet. Schaut man auf die genannte Analogie mit dem Traum und der Neurose im klinischen Sinne von Wunscherfüllung und Triebkonflikt, dann ist die Religion in dieser Hinsicht mit ihnen identisch. Was jedoch verleiht ihr ihre eigene Stärke und Wirkmächtigkeit im kulturellen Bereich? Die »Vorstellungen« der Religion sind für Freud nicht das Residuum der eigenen Erfahrung oder das Endergebnis der Reflexion bzw. von Beweisen, da diese Ideen als Verwirklichung der ältesten »Begehren« und »Begehrlichkeiten«537 zugleich die stärkste und hartnäckigste Kraft der Menschheit bilden: »Das Geheimnis ihrer Stärke ist die Stärke dieser Wünsche.« Wenn die Religion demzufolge die Verwirklichung des libidinösen Begehrens ist, dann kann sie auch nicht die wesentliche Grundlage der Sittlichkeit bilden. Und deshalb beweise die Geschichte, dass »die Unsittlichkeit zu allen Zeiten in der Religion keine mindere Stütze gefunden hat als die Sittlichkeit«. Daraus folgt für Freud, der in der sittlichen Lebensführung als »Verzicht« 535 Zum ägyptischen Polytheismus vgl. GW XVI, 116ff.; allgemein folgten nach dem Polytheismus des Totemismus erste Götter und dann eine »einzige Vatergestalt«, ebd., 189f. 536 Vgl. GW XIV, 334ff. u. 347ff. 537 Begriffe, die Freud in Totem und Tabu verwendet; vgl. GW IX, 69.

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ein »praktisches Menschheitsinteresse« sieht, die prinzipielle Revision des Bezuges zwischen Religion und Kultur in der Neuzeit, wo »es eine größere Gefahr für die Kultur bedeutet, wenn man ihr gegenwärtiges Verhältnis zur Religion aufrecht hält«.538 Denn wenn das religiöse Phänomen als Trost ein enges Verhältnis zum Begehren und den Einschränkungen desselben aufweist, dann ist es möglich, dass die Kultur die Religion überleben wird, insofern die Kultur auf zwei wesentlichen Säulen beruht – auf der Beherrschung der Naturkräfte und der Beherrschung unserer Triebe. In einer post-religiösen Kultur werden die kulturellen Verbote als Einschränkungen nur noch eine gesellschaftliche Rechtfertigung besitzen, insofern deren Gesetze und Institutionen »rationell« allein einen menschlichen – und nicht mehr göttlichen – Ursprung besitzen. Allerdings ist die Religion auch keine reine Illusion, weil sie eben »bedeutsame historische .Reminiszenzen« weitergibt, wie gerade den Vatermord »in einer gewissen Umformung und Verkleidung«.539 In diesem Sinne spricht das Werk »Der Mann Moses und der Monotheismus« von einem – wenn auch nicht »materiellen«, so doch »historischen« – »Wahrheitsgehalt der Religion« und erwähnt kurz den Übergang vom Henotheismus zum Monotheismus.540 Freud musste auf der Wirklichkeit der archaischen Erinnerung in letzterem bestehen, um überhaupt die Analogie der Religion mit der Zwangsneurose in einer tieferen Identität begründen zu können. Wenn in der Tat die Analogie zwischen religiöser Illusion und Traum im infantilen Charakter des »Vaterkomplexes« ihre Wurzeln haben soll, dann besitzt die Analogie mit der Neurose dieselbe Grundlage, sofern auch kollektiv gilt, dass »die Menschheit als Ganzes in ihrer säkularen Entwicklung in Zustände gerät, welche den Neurosen analog sind, und zwar aus denselben Gründen, weil sie in den Zeiten ihrer Unwissenheit und intellektuellen Schwäche die für das menschliche Zusammenleben unerlässlichen Triebverzichte nur durch rein affektive Kräfte zustande gebracht hat«.

538 Vgl. GW XIV, 358 u. 400. 539 Ebd., 352, 361 u. 365f.; vgl. GW IX, 171ff., wo auch festgehalten wird, dass die Reue über den Vatermord zum »sozialen Brudergefühl« führte mit dem Verbot des »Brudermordes«: »Du sollst nicht töten!«; ähnlich GW XVI 188f., zur »Brüdereinigung« als erster Form sozialer Organisation mit Triebverzicht, das heißt, nicht mehr »alle Frauen« besitzen zu können wie noch der Urvater ; dazu kritisch J. Lacan, L’envers de la psychanalyse, 117ff. 540 GW XVI, 250ff. u. 237f.; vgl. GW XIV, 365f. GW IX, 122, hieß es bereits analog, dass die Psychoanalyse nicht »versucht sein werde, etwas so Kompliziertes wie die Religion aus einem einzige Ursprung abzuleiten. […] Erst eine Synthese aus verschiedenen Gebieten der Forschung kann entscheiden, welche relative Bedeutung dem hier zu erörternden Mechanismus [der infantilen Wiederkehr] in der Genese der Religion zuzuteilen ist.« Am Ende des Moses-Buches heißt es dennoch apodiktisch: Mit dem einzigen Gott und all seiner Macht im Judentum war »damit die Herrlichkeit des Urhordenvaters wiederhergestellt, und die ihm geltenden Affekte konnten wiederholt werden« (GW XVI, 242).

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Dies ändere aber nichts daran, dass »sich die Abwendung von der Religion mit der schicksalsmächtigen Unerbittlichkeit eines Wachstumsvorgangs vollziehen muss, und dass wir uns gerade jetzt mitten in dieser Entwicklungsphase befinden«.541 Dem historischen Wert gewisser religiöser Lehren zollt Freud »Respekt«, aber dies hindert ihn insgesamt nicht daran, die »historischen Reste [der] religiösen Lehrsätze« als »gleichsam neurotische Relikte« zu verstehen, die eine kulturelle Ersetzung verlangen, anders gesagt eine »Erziehung zur Realität«, die nicht mehr auf das »Narkotikum« der religiösen Tröstung setzt und dem »psychologischen Ideal« folgt, welches im »Primat der Intelligenz« beruht.542 Im Brief an Einstein über die psychologischen Gründe der Kriegsbereitschaft parallelisiert er allerdings Psychoanalyse und Gebot der Nächstenliebe in gewisser Weise: »Die Psychoanalyse braucht sich nicht zu schämen, wenn sie hier von Liebe spricht, denn die Religion sagt dasselbe: Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst. Das ist leicht gefordert, aber schwer zu erfüllen.«543 Deshalb hebt er in demselben Brief erneut auf eine Erziehung führender Kultureliten ab, was implizit auf seine These von der Religionsablösung für die kulturelle Zukunft hinweist. Dieses Thema war bereits deutlich in »Die Zukunft einer Illusion« angezeigt und bildet auch die Leitidee des »Moses«-Buches, denn im letzteren geht Freud auf die der Neurose eigene Latenz ein, und zwar im Zusammenhang mit dem »Phänomen der Latenz« in der Geschichte des Judentums. In diesem gebe es insofern eine Latenz, als ein Bezug zwischen dem Mord an Moses und der Wiederkehr der Moses-Religion bei den Propheten gegeben sei. Freud drückt dies explizit als eine Überkreuzung von klinischer Deskription und triebökonomischer Erklärung aus: »Die einzige befriedigende Analogie zu dem merkwürdigen Vorgang, den wir in der jüdischen Religionsgeschichte erkannt haben, findet sich auf einem scheinbar weit abgelegenen Gebiet; aber sie ist sehr vollständig, sie kommt der Identität nahe. Dort begegnet uns wieder das Phänomen der Latenz, das Auftauchen unverständlicher, Erklärung heischender Erscheinungen und die Bedingung des frühen, später vergessenen Erlebnisses.«544

In der Genese der individuellen Neurose gibt es die Sequenz von frühem Trauma – Abwehr – Ausbruch der Neurose – teilweise Rückkehr des Verdrängten. Damit 541 GW XIV, 366f. 542 Vgl. ebd., 371ff. Im »Nachwort zur ›Frage der Laienanalyse‹« (1926): GW XIV, 293, erkennt Freud auch an, dass »Freunde unter den protestantischen und neuerlich auch katholischen Geistlichen oft ihre Pfarrkinder von ihren Lebenshemmungen befreien, indem sie ihre Gläubigkeit herstellen, nachdem sie ihnen ein Stück analytischer Aufklärung über ihre Konflikte geboten haben.« 543 GW XVI, 23. 544 GW XIV, 176f.; vgl. ebd., 456.

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konnten die Geschichte und die neurotische Genese des Individuums einander angenähert werden: »Im Leben der Menschenart ist Ähnliches vorgefallen wie in dem des Individuums. Also dass es auch hier Vorgänge gegeben hat sexuell-aggressiven Inhalts, die bleibende Folgen hinterlassen haben, aber zumeist abgewehrt, vergessen wurden, später, nach langer Latenz zur Wirkung gekommen sind und Phänomene, den Symptomen ähnlich in Aufbau und Tendenz, geschaffen haben.«545

In dieser als Identität präsentierten Analogie vollendet sich Freuds Psychoanalyse der Religion, um epistemologisch in seinem Werk die gegenseitige Wirkweise von Traum- und Neurosendeutung sowie der Kulturbetrachtung beibehalten zu können. Dies wird vom »Moses«-Buch als methodischer These des Zusammenhangs von Latenz und Zwang bestätigt, insoweit die Neurose hier allgemein als »Überbleibsel (survival) der Urzeit« definiert wird.546 Wir werden im folgenden Kapitel über Mystik im Judentum, Christentum und Islam aus der Sicht Lacans überprüfen, ob die Freudschen Ergebnisse seiner Religionskritik nicht unter neueren psychoanalytischen Voraussetzungen weitergeführt werden können, um auch dem kulturellen Kontext heute gerechter zu werden.

545 Ebd., 185f. 546 Vgl. GW XVI, 177 u. 180f.

5.

Mystik im Sufismus und Christentum als Frage der jouissance

Im Christentum als »wahrer Religion« nimmt nach Lacan die Liebe den Platz der alles ordnenden Ursache an, das heißt den Platz jenes Begehrens, welches zugleich eine »Entsinnlichung« des Leibes und der Geschlechtlichkeit erfährt, insoweit letztlich die Liebe Gottes auf die Seligkeit hin orientiert sei.547 Im Judentum und Islam wird dieser Platz vornehmlich vom Gesetz eingenommen, welches Begehren wie Geschlechtlichkeit entsprechenden Geboten unterstellt, wobei die Sufimystik eine gewisse Ausnahme davon bildet, da sie weniger dem Text des Korans folgt als der eigenen inneren Erfahrung der Einheit mit Allah, auch wenn dieser absolut transzendent bleibt, mit anderen Worten der schlechthin Andere (A) gemäß dem strukturalistisch-analytischen Denken Lacans. Anstatt »Vater« zu sein, was eine gewisse Wesensverwandtschaft mit Allah einschlösse, die im Islam undenkbar ist, bildet er vor allem das Eine, welches von jeder Kreatur unterschieden bleibt. Nach Hubert Ricard548 in der Nachfolge Lacans erlaubt aber gerade diese Position Allahs, die eine nicht-geschlechtliche oder duale darstellt, eine Sublimierung der menschlichen Liebe zu ihm, die bei den Sufi-Mystikern eine alles überbordende Mächtigkeit im poetischen Ausdruck und im praktizierten Glauben des Alltagslebens gewinnt, so dass man – wie für das Christentum – von einer »Religion der Liebe« sprechen kann.549

547 Vgl. J. Lacan, Le Triomphe de la religion pr8c8de de Discours aux Catholiques, Paris, Seuil 2005 (dt. Der Triumph der Religion, welchem vorausgeht: Der Diskurs an die Katholiken, Wien, Turia + Kant 2009). 548 Vgl. De Spinoza / Lacan. Autre Chose et la mystique, Paris, Seuil 2015, 206–220: »Mystique musulmane. L’amour de l’Un«. 549 Vgl. E. Tabatabaei, »Sufismus – die wichtigste geschichtliche Erscheinung der inneren Seite der islamischen Offenbarung«, in: Jahrbuch für Religionsphilosophie 16 (2017) 59–79; A. Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam: die Geschichte des Sufismus, München, Insel 3 1995.

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Mystik im Sufismus und Christentum als Frage der jouissance

Verhältnis von Einheit und Liebe

Nun ist das Eine nicht nur von den Religionen thematisiert worden, sondern es findet sich an herausragender Stelle bereits bei Heraklit und Platon sowie im Neo-Platonismus. Vor allem bei Platon hat es die Verneinung jeglichen Attributs zur Folge und schließlich des Seins selbst. Lacan550 versetzte dieses Eine ins Zentrum seiner theoretischen Untersuchungen zur analytisch-therapeutischen Praxis, wie all seine Seminare zeigen – allerdings mehr als Henologie denn als Ontologie. Durch den »einzigen Zug« (trait unaire) im Sprechen und Handeln des Subjekts kann er so die »ideal« genannte Identifikation bestimmen, wodurch das ausschließlich Eine jedoch zur reinen Differenz wird. Denn insoweit das Eine aus der Signifikantenkette als Signifikant ausgeschlossen ist, berührt dieses Eine das Reale, das seinerseits nicht mehr symbolisierbar ist. In der Wiederholung ihrer »Mehr-Lust« (Objekt a) richten sich die einzelnen Individuen als »Sprachwesen« (parlÞtre) durch dieses Eine als »einzigen Zug« ihrer Identifikationen auf die – als Lust (plaisir) – unerreichbare jouissance aus,551 was unmittelbar einen Bezug zur Mystik ergibt. Denn die radikale Transzendenz Allahs als Einheit ist gerade im Sufismus Gegenstand des mystischen Begehrens als höchste jouissance. Für Lacan vertritt nun das »Ich denke nicht«, sofern »ich« nur im Vollzug »bin«, den »einzigen Zug« des Subjekts, welches sich gerade in der Bewegung seines Begehrens im Sprechen nicht selbst als Identität kennt – wodurch dieser Ort des Sich-nicht-DenkenKönnens den Ort seines »Fehlens-an-Sein« (manquer / Þtre) darstellt.552 Hieraus lässt sich mit einigem Recht folgern, dass die Frage nach der möglichen Bestimmung einer eigenen Identität durch das Subjekt angesichts der genannten radikalen Transzendenz Gottes als absolute Andersheit ins Zentrum der Mystik des Sufismus gehört. Aber da die unaufhebbare Distanz zwischen Schöpfer und Geschöpf im Islam prinzipiell bestehen bleibt, wird diese Aporie zum Aspekt des »Zunichtewerdens« (fana) des Ichs. Hierbei wird das mystische Subjekt nicht nur seines eigenen Seins beraubt, sondern auch jeder Beziehung – und sei sie negativ – hinsichtlich der Einzigkeit des Einen Gottes (Allah): 550 Vgl. Le S8minaire XIX:… ou pire, Paris, Seuil 2011, 125–212: »L’Un qu’il n’accHde pas au deux«; dazu auch J. Le Brun, Le Pur Amour de Platon / Lacan, Paris, Seuil 2002. 551 Vgl. N. Braunstein, La jouissance. Un concept lacanien, Paris, Point Hors Ligne 1992. 552 Vgl. R. Kühn, Begehren und Sinn. Grundlagen für eine phänomenologisch-tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und Supervision – zugleich ein Beitrag zu Jacques Lacan, Freiburg/München, Alber 2015, 211ff., sowie 332ff. für den kritischen Bezug zu Descartes’ cogito. Ebenso zum problematischen »Sein des Subjekts« H. Ricard, De Spinoza / Lacan, 165–175: »La pluralit8 des acceptions de l’Þtre dans Encore«, hier 168ff.; D. Finkelde, Exzessive Subjektivität. Eine Theorie tathafter Neubegründung des Ethischen nach Kant, Hegel und Lacan, Freiburg/München, Alber 2015.

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»Entsagung hat keinen Wert. Ich war drei Tage in der Entsagung, am vierten Tag war ich damit fertig. Am ersten Tag entsagte ich dieser Welt, am zweiten Tag entsagte ich dem Jenseits, am dritten Tag entsagte ich allem außer Gott. Als der vierte Tag kam, war mir nichts geblieben als nur Gott. Ich fühlte eine verzweifelte Sehnsucht. Dann hörte ich eine Stimme, die mich anredete: ›O Bayazid [Bastani], du bist nicht stark genug, um es mit Mir allein auszuhalten.‹ Ich sagte: ›Gerade das will ich.‹ Da sagte die Stimme: ›Du hast gefunden, du hast gefunden.‹«553

Mit Lacan gesprochen, gerät folglich jegliche Symbolik in eine Auflösungserscheinung, die in ihrem Bezug zum Einen ebenfalls die Aufhebung jeglicher Rede und allen Denkens zur Folge hat. Dadurch wird das »Ich denke nicht« zum Ort der Konfrontation des Subjekts mit seinem genannten »Fehlen-an-Sein«, das heißt als originärem Mangel an möglicher Fixierung eines Ideals, um sich in einer Identifikation mit einem solchen Ideal selbst bestimmen zu können. Im Judentum wird Gott sicher auch als »Vater« gedacht, wie gerade Freud in seiner Religionskritik herausarbeitete, wie wir zuletzt sahen, aber selbst dann scheidet ein »erotischer Bezug« im Lacanschen Sinne zu Jahwe aus. So ist etwa das »Hohelied« im Alten Testament eher ein Dialog zwischen Jahwe und seinem Volk als mit einer einzelnen Seele, auch wenn die spätere christliche Rezeption teilweise diese Richtung einschlug, etwa bei Origines bzw. später als Dialog zwischen Christus und der Kirche. Denn erst die »Fleisch gewordene« Christusfigur (Joh 1,14) und die vorherrschende Rolle von Frauen in der christlichen Mystik seit dem frühen Mittelalter scheinen hier einen solch »erotischen Bezug« zum trinitarischen Gott innerhalb der »Brautmystik« möglich gemacht zu haben, wie die Bewegung der Beginen ab dem 12. Jahrhundert in den Niederlanden oder später die mystischen Erfahrungen Theresas von Avila unterstreichen.554 Für Lacan ist nun das Verhältnis der Trinität zum Einen insofern eine spezifische Gegebenheit des Christentums als der »wahren Religion«, insofern letztere unter den monotheistischen Religionen den dualen Bezug zugunsten einer rein relationalen Trias überschreitet, wie er sie selbst in seinen »Borromäischen Knoten« für die Bezüge von Realem-Imaginärem-Symbolischem (RIS) voraussetzt.555 Der »nicht-mögliche Geschlechtsverkehr« im Denken Lacans bleibt in diesem Zusammenhang zu sehen, nämlich als eine dual nie statthabende »Verschmelzung«, welche nur dem Imaginären der phallischen Lust gehorche, die allerdings dergestalt den sich Liebenden als Wesen des 553 Zit. A. Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam, 79. 554 Vgl. G. Hofmann u. W. Krebber, Die Beginen. Geschichte und Gegenwart, Kevelaer, Butzon & Bercker 2008; H. Ricard, De Spinoza / Lacan, 223–246: »Hadewijch d’Anvers«. 555 Vgl. F. Wörler, Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale. Lacans drei Ordnungen als erkenntnistheoretisches Modell, Bielefeld, Transcript 2015; für die Aufwertung des Relationsbegriffs innerhalb der Trinitätslehre vgl. H. Ricard, De Spinoza / Lacan, 141–153: »Le R8el de Dieu selon Thomas d’Aquin«.

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»Mangels« die jouissance darüber hinaus verbiete.556 Struktural analytisch gesehen, zeigt sich indes, dass gerade die MystikerInnen in ihrem nicht-phallischen Bezug zur Andersheit Gottes (Gesetz, Name, Vater etc.) eine solch andere, »nicht-kopulative« jouissance in ihrer Möglichkeit verkörpern. Dies bedeutet, dass die göttliche Liebe selbst den Platz des Begehrens (d8sir) einnimmt. Dadurch ist – anders als im Judentum und Islam – nicht nur eine Integration des Eros in die Liebe Gottes hinein gegeben, sondern ebenfalls eine »weibliche Position« des Menschen gegenüber Gott,557 anders gesagt: eine Liebe des Menschen als reine Empfängnis, wie sie sich grundlegend bei Eckhart und Johannes vom Kreuz finden lässt.558 Im Islam ist durch den nicht-vermittelten Bezug zum Einen auch die erotische Symbolik abwesend, um eine solche Vermittlung zu übernehmen. Mit anderen Worten bleibt im Islam – und dies trotz einer überschwänglichen Liebeslyrik gerade im Sufismus – nur die Möglichkeit, das Subjekt allein im Realen angesichts des Einen ohne jedes Maß zu verorten: »Der wahre Mystiker kann Gott in jeder Form seiner Erscheinung und jeder Gestalt seiner Offenbarung anerkennen. Der, der kein Mystiker ist, dagegen kann ihn nicht anerkennen außer in seinem eigenen Glauben. Wenn also Gott sich in einer anderen Gestalt vor ihm offenbart, wird er ihn abstreiten.«559

Neben Bastani und Ibn Arabi hat sicher al-Halladsch die Einung mit Allah am weitesten getrieben, indem er ausrief: »Ich bin die göttliche Wahrheit.« Aber sein »Zunichtewerden« in Gott hinein ist keine Verneinung des Subjekts schlechthin, denn es gibt ein Weiterleben (baq,) in Gott. Aber soll man hier von »Identifikation« sprechen, auch wenn diese Auflösung des Ichs dem sufischen Ideal der Eins-Werdung mit Gott entspricht? Einerseits muss etwas vom Subjekt weiterhin gegeben sein, und sei es nur im Sinne des Abgrunds, welcher die göttliche und menschliche Natur voneinander trennt. Andererseits absorbiert das Sein oder – besser – das Reale Gottes das Subjekt in gewisser Weise, denn es findet hier nicht sein wirkliches Wesen wie beispielsweise im Atman des Hinduismus und Buddhismus, sondern es löst sich in Gott auf, sofern sich im Realen 556 Vgl. A. Badiou und B. Cassin, Es gibt keinen Geschlechtsverkehr. Zwei Lacanlektüren, Zürich, Diaphanes 2012. 557 Freud kennt hingegen nur ein »weiblich passives« Verhalten in Bezug auf das masochistische Strafbedürfnis des Ichs innerhalb von Kastrationsdrohung und Vateridentifizierung; vgl. »Dostojewski und die Vatertötung« (1928): GW XIV, Frankfurt/M., Fischer 71991, 408f. Hinsichtlich der negativ beurteilten Mystik als narzisstisches »ozeanisches Gefühl« vgl. H. u. M. Vermorel, Sigmund Freud et Romain Rolland. Correspondance 1923–1936. De la sensation oc8anique au Trouble du souvenir sur l’Acropole, Paris, PUF 1993); P.L. Assoun, »Freud et la mystique«, Nouvelle Revue de Psychanalyse 22 (1980) 53–75. 558 Vgl. B. Ses8, »Jean de la Croix et l’invention du f8minin«, in: Invention du f8minin, Paris, CamgagnePremiHre 2006, 215–222; J.S. Riha, »L’8criture mystique ou la jouissance d’Þtre«, Filozofski vestnik 31/2 (2010) 95–119. 559 Ibn Arabi, zit. E. Tabatabaei, »Sufismus«, 76.

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alles an vorgegebenen Bestimmungen auflöst. Dies wird durch das bekannte Bild vom Falter verdeutlicht, der sich dem Licht der Kerzenflamme nähert, um darin zu verbrennen.560 Damit wird klargestellt, dass dem Falter weder das Licht noch die Wärme der Kerze genügt, sondern er stürzt sich in die Flamme, so dass nichts mehr von ihm verbleibt – weder Körper noch Name oder sonstige Attribute. Aber was wie eine Vernichtung aussieht, ist ein »Besitzen« anstelle einer bloßen »Vision«, denn das Reale der Wirklichkeit ist die verbrennende Flamme. Diese rein spirituelle Liebe hat jedoch, folgt man Lacan, keine Konsequenzen für die Interpretation der Geschlechtlichkeit und Seligkeit, sondern die Sufimystik unterstreiche eher ein Privileg der reinen Immanenz. Mithin erweist sich das »Zunichtewerden« des Ichs als eine jouissance in der Gegenwärtigkeit des Lebens, das nicht mehr von den Referenzen der »phallischen Lust« geprägt ist, sondern eine Sublimierung über alle konventionellen Vorgaben hinaus bedeutet, was den Sufismus der Unmittelbarkeit des radikal phänomenologischen Lebens nahe sein lässt. Denn die Aussage: »Ich bin die göttliche Wahrheit«, für die alHalladsch in Bagdad 922 ans Kreuz geschlagen wurde, kann im Sinne der Lebensaffektion, welche sich selbst und uns absolut affiziert, in Anlehnung an das Johannes-Evangelium mit den Worten übersetzt werden: »Deine Wahrheit als Leben ist meine Wahrheit, und deine Wahrheit ist meine Wahrheit als Leben«.561 Aber wenn der Sufi-Mystiker das Reale als Immanenz des Lebens erreicht, bleibt dann nicht dennoch die Tragik, dass seine Gottesliebe nicht das Verkosten der Seligkeit selbst kennt, die das Wesen des Lebens als solches ist, wie etwa auch philosophisch bei Spinoza und Fichte?562 Im Christentum bilden Gottesliebe und unio innerhalb der Mystik jene Korrelate, die das Reale (zusammen mit der Symbolik und der Imagination des Einen über die Wirklichkeit des Todes) nicht vom Ziel einer Seligkeit in Gott ohne Grenzen trennen. Letztere ist mit der Unsterblichkeit der Seele verbunden, während im Sufitum Leid und Freude als eine irreduzibel gelebte Liebe zusammen auftreten, welche über alle sinnlichen Gegebenheiten hinausgeht, so wie al-Halladsch Tortur und Tod als Gott-Liebender durchlebte. Analytisch-therapeutisch gesehen, wäre dies keine maso-

560 Vgl. L. Massignon, La Passion de Hall.j, martyr mystique de l’Islam, t. III: La doctrine de Hall.j, Paris, Gallimard 1975, 52ff.; A. Schimmel, Al-Halladsch. »O Leute, rettet mich vor Gott«, Freiburg/Basel/Wien, Herder 1985. 561 Vgl. M. Henry, Paroles du Christ, Paris, Seuil 2000, 137f. (dt. Christi Worte. Eine Phänomenologie der Sprache und Offenbarung, Freiburg/München, Alber 2010). 562 Vgl. R. Kühn, Lebensmystik. Ursprüngliche Erfahrungseinheit von Religion und Ethik im Spiegel »Philosophischer Mystik«, Dresden, Text & Dialog 2018, 79ff. u. 157ff.; zum Johannes-Evangelium ebd., 11ff.; sowie zu Spinoza ebenfalls H. Ricard, De Spinoza / Lacan, 17–38: »Le d8sir et l’amour chez Spinoza«; sowie zuvor schon E. Jain und R. Margreiter (Hgg.), Probleme philosophischer Mystik. Festschrift für Karl Albert, Sankt Augustin, Academia 1991.

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chistische Position,563 denn was im Sufismus gesucht wird, ist jenes Reale, das Leiden wie Freude auf ganz unvorhersehbare Weise verteilt sein lässt, was ebenfalls an Nietzsches Dionysische Bejahung des Lebens erinnert,564 auch wenn der Sufi-Mystiker die Weise der Widerfahrnis von Freude/Leid nur von der göttlichen Allmacht her denken kann. Aus der Sicht Lacans hat eine Bestimmung durch einen fixierten Signifikanten notwendigerweise die subjektive Ausrichtung des Begehrens zur Folge, worin sich die Frage der ex-sistence des Subjekts als ständiges Verfehlen seines Seins oder Wesens selbst entscheidet. Der Sufi gelangt so angesichts des schlechthin Anderen (Allah) zu einer spezifischen Erkenntnis Gottes, welche von der rein glaubensmäßigen Anerkennung seiner Rolle als Schöpfer verschieden ist – unterschieden durch dessen Hoheit und Transzendenz, die der Koran-Text vornehmlich zum Ausdruck bringt. Aber die so gewonnene »Identifikation« muss dem Sufi-Mystiker entgleiten, denn er findet sich einem Ideal (Realen) ohne Vermittlungen (Symbolik und Imaginäres) gegenüber, die seiner Suche einen Namen geben könnten. Innerhalb der jouissance des gänzlich differenten Einen gibt es keine Garantie des »Vaters« (Phallus, Name, Gesetz etc.) mehr, so dass der Sufi-Mystiker sich mit der »Kluft« des abwesenden »Dings« (la Chose) konfrontiert erfährt, wie Lacan das unerreichbare Objekt (a) des Begehrens nennt. Was im Sufismus daraufhin vom Realen als dem Einen erprobt wird, sind daher dessen »Löcher«, und zwar – verglichen mit dem Christentum – ohne die imaginäre Überlagerung durch die Seligkeit als Unsterblichkeit in Gott. Die Größe und Wahrheit des Sufismus wäre es dann im Sinne des Lacanschen Mystikverständnisses, diese reine Ordnung des Realen in der liebenden Beziehung zu seinem Gott Allah als dem Einzig-Einen prinzipiell ausgemacht zu haben.565 Halten wir den schon angesprochenen Vergleich mit einer radikal phänomenologischen Lebensmystik und dem Christentum kurz fest, so ergibt sich als Zwischenrgebnis bereits, dass es im Sufismus eine Innerlichkeit zwischen Allah, dem Sufi-Mystiker und seinen Mitmenschen gibt, die als alltäglich gelebte Praxis im Sinne eines »Ko-Pathos« aus der Einheit mit Gott heraus im unmittelbaren

563 Vgl. S. Freud, Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften, Frankfurt/M., Fischer 2014, 297–310: »Das ökonomische Problem des Masochismus« (1924); dazu auch unser folgendes Kapitel II,6.3. 564 Vg. R. Kühn, Lebensethos. Inkarnatorische Konkretionen originärer Lebensreligion, Dresden, Text & Dialog 2017, 46–62: »›Wir die Guten – die Glücklichen …‹ – eine radikalphänomenologische Nietzschelektüre«. 565 Durch den Zusammenhang von unzerstörbarem Begehren und der Aufhebung jeglicher »Verdinglichung« des Verhältnisses zum absolut Anderen sieht auch M. Thiberge, Essai sur la psychanalyse et la postmodernit8, Paris, L’Harmattan 2018, 66f., u. 151ff., einen möglichen Bezug zwischen Mystik und dem Psychoanalyseverständnis nach Lacan.

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Leben gegründet ist.566 Die immanente Lebensübereignung wird in einem absoluten Grundvollzug erprobt, der seine Referenz nicht mehr aus dem äußeren Weltbezug oder den orthodoxen Textvorgaben des Korans bezieht, sondern aus der Fülle des Realen selbst, welche der Einheit mit Allah entspricht. Leiden wie Freuden sind in ihrer rein immanenten Historialisierung das Originäre des Lebens selbst; das heißt, es ist Allah, der sie in ihrer jeweilig konkreten Affektion schickt. Somit sind Leid und Freude nicht äußeren Ereignissen geschuldet, sondern sie entsprechen einem innerlichen Grundempfinden lebendiger Einheit mit Gott als einer sufischen »Lebensmystik« diesseits einer bloßen Konformität mit den Geboten Mohammeds. Aber solches Leiden als »Askese« sowie die Freude als untrennbares Ko-Pathos verknüpfen sich innerhalb einer mystischen Praxis als unmittelbar göttliche Wahrheit der Offenbarung des Einen und intersubjektiver Beziehungen: »Jeder, der in diesem Haus einkehrt, erhalte Essen und man frage ihn nicht nach seinem Glauben. Denn da er ein Leben an der Seite des erhabenen Gottes verdient – so besteht kein Zweifel, dass er seine Mahlzeit an meinem Tisch verdient.«567 Mit anderen Worten müssen die Gegensätze in den menschlichen Beziehungen nicht erst über Regeln versöhnt werden, sondern sie bilden originär bereits eine göttliche Einheit. Dadurch überwinden Sufismus wie eine radikale Phänomenologie des Lebens einen bloß formalen Monotheismus, auch wenn die absolute Transzendenz Allahs von ersterem nicht in Frage gestellt wird.568 Denn Gott ist keine Wirklichkeit jenseits unseres originären Empfindens, sondern er bildet das Reale der unmittelbaren Lebendigkeit als Immanenz selbst, in welcher der Sufi-Mystiker Gott erfährt. Wenn es hierbei einen Unterschied zur »Lebensmystik« gibt, dann bestünde er darin, dass im Sufismus die Ontologie der Transzendenz Allahs nicht reduziert wird, wie es eine radikale Lebensphänomenologie tut, welche jede Transzendenz – auch jene des Wesens und der Offenbarung Gottes – in der Immanenz der selbstaffektiven »Selbstumschlingung« (8treinte) gegründet sein lässt,569 so dass auch das »Höchste 566 Vgl. M. Lahoud, »Sufismus und Lebensphänomenologie«, in: Jahrbuch für Religionsphilosophie 16 (2017) 80–85; zum Begriff des Ko-Pathos siehe M. Henry, Affekt und Subjektivität. Lebensphänomenologische Beiträge zur Psychologie und zum Wesen des Menschen, Freiburg/München, Alber 2005 140–161: »Mitpathos und Gemeinschaft«; ebd., 124–139, in Bezug auf die Einheit von Freude/Leid der Beitrag »Leid und Leben«. 567 Ausspruch des Sufi Abul-Hasan-Kharaqani, wie er noch heute als Motto in seinem Mausoleum zu lesen ist; zit. E. Tabatabaei, »Sufismus«, 79. 568 Vgl. zur aktuellen Diskussion F. Bensiama, Psychoanalyse des Islam, Berlin, Matthes & Seitz 2017, wo der Leidensdruck im gegenwärtigen Islam durch Verbot von Lust zur Aggression gegenüber Ambivalenzen – bis hin zum Terror – führe. 569 Zur Diskussion um den Seins- und Lebensbegriff in Bezug auf Gott in der christlichen Tradition vgl. M. Henry, C’est Moi la V8rit8. Pour une philosophie du christianimsue, Paris, Seuil 1996, 40ff. (dt. »Ich bin die Wahrheit«. Für eine Philosophie des Christentums, Freiburg/München, Alber 1997); auch J.-L Marion, Dieu sans l’Þtre (1982), Paris, PUF 22002 (dt.

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Mystik im Sufismus und Christentum als Frage der jouissance

Sein« in der Originarität des Absoluten des sich-selbst-gebenden Lebens wurzelt. Es geht in in unserer Untersuchung jedoch keineswegs darum, den Sufismus in radikale Phänomenologie zu übersetzen, sondern nur darum, sichtbar zu machen, dass die Gegebenheit der unmittelbaren Selbstaffektion als zentraler Kern eines mystischen Islams in der lebendigen Erprobung der Einheit Allahs präsent ist, so wie die MystikerInnen sie erproben. Damit zeichnet sich prinzipiell die Möglichkeit ab, dass eine Lebensmystik der Einheit als des »Realen« schlechthin eben auch interreligiös ihre Tragweite besitzt, ohne diese strukturelle Übereinstimmung zu einer hermeneutischen Gleichstellung der dogmatischen Glaubensinhalte von Islam und Christentum zu erheben, die jeweils eine historisch geformte Lesart darstellen.570 Was Lacan als prinzipielle Position des Subjekts gegenüber dem Einen und dem absolut Anderen unterstreicht, hat seine Parallele in dem radikal phänomenologischen Aufweis, wie eine Offenbarung der Einheit in Gott/Allah überhaupt möglich ist – nämlich in der »Passibilität« eines absolut sich-selbst-gebenden Lebens, in dessen Immanenz Leiden und Freuden als Grundoffenbarung der Lebensempfängnis schon immer vereint sind. Und da dies bei allen Lebendigen der Fall ist, die je gelebt haben und leben werden, wird in dieser Einheit des Ko-Pathos auch die Liebe unter den Menschen in ihrer originären Wirklichkeit gestiftet. Wenn durch den Logos oder Christus die Wahrheit eine bevorzugte Relation im Christentum darstellt, dann muss im Sinne Lacans über Freuds Religionskritik hinaus dieser Aspekt analytisch-therapeutisch – wie auch für die interreligiöse Mystik – letztlich als »Wahrheit des Subjekts« verstanden werden. Denn indem das Subjekt spricht oder denkt, drückt es darin – wenn auch unbewusst – die Wahrheit seines Begehrens als »Ich bin« aus, ohne letzteres denken zu können.571 Diese Verschränkung von Wahrheit/Ich im Begehren allein stellt die symbolischen Artikulierungen des Einen (Gottes) im Judentum und Islam in Frage, insofern hier das Gesetz (Thora) oder der Text (Koran) die göttliche Liebe verdecken, die dann der Apostel Paulus als »Gnade« hinter allem Gesetzesanspruch privilegierte.572 So impliziert die Trinität im Christentum kein ImagiGott ohne Sein, Paderborn, Schöningh 2009). Speziell zum radikalphänomenologischen Offenbarungsbegriff M. Henry, Können des Lebens. Schlüssel zur radikalen Phänomenologie, Freiburg/München, Alber 2016, 114–122: »Was ist eine Offenbarung?« 570 Was wir hier für den Sufismus ausführen, wurde an anderer Stelle bereits für den Buddhismus unternommen; vgl. R. Kühn, Lebensreligion. Unmittelbarkeit des Religiösen als Realitätsbezug, Dresden, Text & Dialog 2017, 144–154: »Buddhismus und Ipseität«; sowie für den Hinduismus A. Navigante, »Das Problem der Selbst-Affektion in nicht-christlichen Religionen am Beispiel des Hinduismus«, in: Jahrbuch für Religionsphilosophie 16 (2017) 86–122. 571 Vgl. … ou pire, 149–167: »Le savoir sur la verit8«. 572 Vgl. für gegenwärtig unterschiedliche Pauluslektüren M. Henry, C’est Moi la V8rit8, 142– 167: »L’homme en tant que ›Fils dans le Fils‹«; I. Benyamini, Narzisstischer Universalismus.

»Göttliche Erotik« und Mystik

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näres der dual erotischen Vereinigung, sondern das Reale des sexuellen NichtVerhältnisses, wie es über die Position des Phallus als ein Drittes angezeigt ist, da die phallische Lust die effektive jouissance darüber hinaus verhindert. Die Trinität wie die Trias der »Borromäischen Knoten« lässt zum Symbolischen/Imaginären das Reale hinzutreten, welches in der dargestellten mystischen Erfahrung die Wahrheit der jouissance über alle Bestimmungen hinaus – auch des bloß formal oder ontologisch Einen – als Immanenz bzw. unmittelbares Leben erprobt. Dadurch legt der jüngere analytisch-therapeutische Diskurs in seiner möglichen Vergleichbarkeit mit der inter-mystischen Erfahrung jene strukturell unbewussten Gegebenheiten offen, welche den Theologien des Christentums und Judentums wie auch des Islams als Weltreligionen zugrunde liegen.573

2)

»Göttliche Erotik« und Mystik

Zieht man den Kreis noch weiter und versteht jede Mystik auch als kulturelle bzw. ästhetische Praxis, dann erlaubt Lacan – wie die radikalisierte Lebensphänomenologie – eine Interpretation unserer Beziehung zum idealisierten Anderen (A), welcher zugleich den Ort des Begehrens selbst darstellt. Denn der Mystiker vernichtet sich entweder in den absolut Anderen als den Einzig-Einen hinein (Islam) oder er integriert auch das Symbolische und Imaginäre des Eros in die Liebe Gottes, die selig macht (Christentum). Man kann folglich festhalten, dass die MystikerInnen innerhalb von RIS als dem umfassend lebensweltlichen Knotengewebe unserer ex-sistence kulturell weder das Symbolische, Imaginäre noch das Reale je isoliert als Einzelwahrheit festhalten, sondern eine für sie singulär privilegierte Position verwirklichen, welche die jouissance über Symbolik/Imaginäres hinaus ist – nicht um das Reale als drittes Element zu ergreifen, sondern um sich selbst vom Realen (Einen, Liebe) ergriffen zu fühlen. Dies verweist ebenfalls auf den Zusammenhang von Symptom/Mystik,574 insoweit das Symptom jeweils eine spezifische Weise des unbewusst Realen darstellt, welches je singulär als »freisetzender Akt« Leben ist. Die MystikerInnen lassen sich in dieser Singularität nicht durch die konventionellen Diskurse der kulturellen Welt beirren (Herrendiskurs, Tradition und Hysterie oder Perversion wie Zwang), sondern sie finden über die Liebe Gottes zusammen mit dem Realen des Todes – sei es Zunichtewerden oder Seligkeit – die alles ordnende Primordialiät Eine psychoanalytische Untersuchung der Paulusbriefe mit Freud und Lacan, Berlin, Merve 2013. 573 Vgl. bereits R. Kühn, Diskurs und Religion. Der psychoanalytische Wahrheitszugang nach Jacques Lacan als religionsphilosophische Problematik, Dresden, Text & Dialog 2016. 574 Vgl. J. Lacan, Le mythe individuel du n8vros8 ou po8sie et v8rit8 dans la n8vrose, Paris, Seuil 2007; Le S8minaire XXIII: Le Sinthome (1975–1976), Paris, Seuil 2005.

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Mystik im Sufismus und Christentum als Frage der jouissance

wieder, das heißt eine nicht-narzisstische Liebe, die nicht mehr die Spiegelung des eigenen Imaginären als »Ich« ist.575 In diesem Sinne haften die MystikerInnen an nichts Äußerem als Andersheit (A) mehr, ohne die Welt neurotisch verlassen zu müssen, da die Immanenz ihrer Erfahrung mit »Gott« zugleich lebendiges Ko-Pathos mit allem Erscheinen (Natur, Schöpfung, Gesellschaft) als »subjektive Praxis« darstellt.576 Dass sich die Liebe Gottes an die Stelle des Symbolischen setzen kann, um dadurch auch die Position des begehrenden Subjekts einzunehmen, ist insofern keine Undenkbarkeit, als die Liebe nicht die »Befriedigung« beabsichtigt, wie Freud577 dies für die Libido annahm, sondern das Sein. Die Anfrage (demande), welche wir zur Befriedigung unserer Bedürfnisse an die Anderen (A) richten, sind letztlich Anfragen an die Liebe des Anderen, sich in seinem Wesen selbst über Sprache oder Symbolik zu offenbaren. Insofern will die Liebe über allen Schein (semblant) hinaus,578 und was die MystikerInnen uns individuell wie kulturell verdeutlichen können, besteht gerade in dem grundlegenden Sachverhalt, dass die Liebe Gottes anstelle des Symbolischen, um es zu ordnen, zu einer Aufforderung wird – Nächstenliebe oder Ko-Pathos, welche beide über das regelnde Gesetz hinausgehen.579 Dies bezeugen Christentum wie Sufismus, wobei dieser »Anruf«, um hier auch eine zentrale Debatte in der gegenwärtigen Phänomenologie mit aufzugreifen,580 für die MystikerInnen mit jenem Subjekt identisch ist, welches als Eins-Sein die vereinende Liebe schlechthin darstellt. Dieses Subjekt als Absolutes verwesentlicht in gewisser Weise das Sein wie die Liebe selbst, um sie in allen Dingen durch das Selbsterscheinen des einen Lebens 575 Für eine neuere Diskussion vgl. H. Beck, Das Prinzip Liebe. Ein philosophischer Entwurf, Berlin, Lang 2018, der den Unterschieden von eros, love und caritas im Sinne von ontologischer, menschlicher und göttlicher Liebe nachgeht. Solchen theoretisch möglichen Ontologisierungen stellt Lacan seine analytisch-therapeutische Lektüre als nicht formalisierbaren Zusammenhang von Unbewusstem/Begehren im Sinne des »singulären Aktes«, dem wir im 3. Teil dieses Kapitels als Bezug zwischen Sublimierung und Narzissmus detaillierter nachgehen werden, gegenüber. 576 Vgl. R. Kühn, Alles, was leiden kann. Zur Ursprungseinheit von Freude und Leid, Dresden, Text & Dialog 2019, 37–64: »Natur als Leiden und Ästhetik«. 577 Vgl. S. Freud, Das Ich und das Es, 191–250: »Jenseits des Lustprinzips« (1920), hier 195f. 578 Vgl. J. Lacan, Le S8minaire XVIII: D’un discours qui ne serait pas du semblant, Paris, Seuil 2007. 579 Vgl. R. Kühn, Der therapeutische Akt. Seine Singularität in Bezug auf Wissen und Wahrheit in lebensphänomenologischer und Lacan’scher Perspektive, Freiburg/München, Alber 2018, 141ff.; ebenfalls N. Langlitz, Die Zeit der Psychoanalyse. Lacan und das Problem der Sitzungsdauer, Frankfurt/M., Suhrkamp 2005, 252ff. 580 Vgl. beispielsweise J.-L. Marion, Ruf und Gabe. Zum Verhältnis von Phänomenologie und Theologie. Bonn, Borengässer 2000, sowie die Marion-Texte zu Gabe, Opfer und Vergebung in: W. Schweidler u. E. Tardivel (Hgg.), Gabe und Gemeinwohl. Die Unentgeltlichkeit in Ökonomie, Politik und Theologie: Jean-Luc Marion in der Diskussion, Freiburg/München, Alber 2015.

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zusammenzuführen, welches sich in allem nur selbst lieben kann, wie gerade Eckhart unterstrich.581 Mit anderen Worten ist diese absolute Liebe ohne äußere Regel in ihrem unendlichen Wesen, das alle Dinge umfasst. Christi Worte von den »Lilien des Feldes, die weder spinnen noch weben« (Luk 12,27), sind für Lacan582 jenseits der inzwischen etablierten Diskurse hinsichtlich der Naturprozesse eine prinzipielle Bestimmung des »Unbewussten«, welches als »Wissen« – ohne jede weitere repräsentierbare Vorgabe – permanent »spinnt und webt«. Dieses vorreflexive Wissen, von den theologischen Dogmatiken meist ausgeblendet, ist genau die Position der zuvor genannten Liebe und der Weg zur möglichen Anerkennung des je subjektiven Begehrens bei jedem Individuum. Im Christentum wie Islam wird der Leib durch sublimierende Desexualisierung und Tod »entsinnlicht«, aber der Bezug zu einem Auferstehungsleib der Seligkeit – über die »leeren Gräber« der Institutionen hinaus – zeigt analytisch-therapeutisch den Platz an, welcher das Begehren als Unbewusstes einnehmen kann. Und wenn die MystikerInnen im Judentum, Christentum und Sufismus einem Einzig-Einen Gott folgen, der nicht nur ideal ist, sondern selbst liebend, dann wird der Ort angezeigt, sich in ihrer jouissance diesem »göttlichen Begehren« als Liebe oder Einheit zu überlassen. Innerhalb von RIS bedeutet solche Liebe, Gott als dem Realem zu folgen – das heißt überall dorthin, wo dieses Reale überraschend anders als jede Konvention und Regel sich ereignet, in religiöser Sprache: reiner »Wille Gottes«, der mit der göttlichen jouissance als ewig lebendiger »Selbstumschlingung« (Henry) identisch ist. Indem die christliche Mystik eine unmittelbar liebende Beziehung zu Gott oder Christus kennt, ist sie in der Immanenz des Lebens verankert, auch wenn der Bezug zu einer letzten ausstehenden Seligkeit bestehen bleibt. Diese direkte Beziehung zu einem liebenden Gott, der seinen Willen in allem kundtut, kann mit Lacan eine »göttliche Erotik« genannt werden, wobei dieser Bezug als Verhältnis zum Realen allen Erscheinens nicht nur eine spezifische Verwurzelung für das Subjekt bedeutet. Letzteres hält in der Tat nicht mehr an einem »phallischen Vater« über Gesetz, Name und Symbolik fest, sondern folgt einer jouissance, welche ohne Finalität in einer zunächst vermittelnd gegebenen Symbolik ist. Die christlichen MystikerInnen wie Hadewijch von Antwerpen,583 Eckhart oder Johannes vom Kreuz zusammen mit Theresa von Avila584 geben 581 Vgl. R. Kühn, Lebensmystik, 41ff. 582 Vgl. Le S8minaire XXI: Les non-dupes errent (1973–74). Staferla-Version 2015, Sitzung 18. Dezember 1973. 583 Vgl. Buch der Briefe (Hg. G. Hofmann), St. Ottilien, EOS 2010. 584 Vgl. Das Buch meines Lebens. Gesammelte Werke I (Hg. U. Dobhan), Freiburg/Basel/Wien, Herder 82013, Kap. 10,1: Bei den Bemühungen, lesend, schauend, nachsinnend ihm nahe zu sein, »widerfuhr es mir, dass mich ganz unverhofft ein Gefühl der Gegenwart Gottes

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sich einer subjektiv liebenden Erfahrung mit Gott hin, wobei man innerhalb der Mystikgeschichte des Christentums sehen kann, wie Bernhard von Clairvaux585 diesen Begriff der Erfahrung für die Beziehung der Seele zu Gott speziell als »Christusmystik« ins Zentrum rückt, auch wenn er sich selbst noch stark an Zitate aus der Schrift und den Kirchenvätern bindet. Besonders spätere Mystikerinnen wie etwa Hadewijch und Theresa haben uns dann ihr ganz persönliches Verhältnis gegenseitiger Liebe von Seele/Gott hinterlassen, wobei die »göttliche Erotik« im Sinne Lacans ein Verhältnis des reinen Begehrens bedeutet, welches eine Transgression des traditionell Symbolischen darstellt.586 Auch im Sufismus haben wir diese Bewegung jenseits der Gesetzesmoral feststellen können, aber es ist nicht zu leugnen, dass besonders in der christlichen Mystiktradition gerade die Frauen von ihrer liebenden Begegnung mit Gott als einer subjektiv erfahrenen jouissance gesprochen haben, welche im Mittelalter auch von der höfischen Minne beeinflusst war.587 Aber der Erfahrungsbegriff bei Bernhard von Clairvaux zeigt auch, dass nicht irgendeine Unerreichbarkeit der Liebe (la Dame) wie in der Minne besungen wird, sondern – wie später im Sufismus – eine bestimmte Form des Realen angestrebt ist. Die Seligkeit als die Liebe zu Gott über die Endlichkeit des Todes hinaus wird in gewisser Weise bereits eine Wirklichkeit im jetzigen Leben, anstatt nur eine Hoffnung für das Jenseits zu beinhalten. Anders gesagt, verwandelt sich nach Lacan die Symbolik einer kommenden Seligkeit in ein Hier und Jetzt als Ewigkeit Gottes selbst, denn die jouissance des mystischen Gottesverhältnisses ist mit der Verheißung der Ewigkeit bereits identisch, was die Integration des Leidens in dieselbe als Freude keineswegs ausschließt. Philosophischtheologisch wird dies im Mittelalter meist im Sinne eines neu-platonischen Exemplarismus formuliert, wonach alle Dinge in der Ewigkeit Gottes unter der Form ewiger Wesensideen gegeben sind.588 Die MystikerInnen leben diese Wesenhaftigkeit Gottes und aller Dinge dann als das, was sie selbst sind, nämlich die Unendlichkeit des Wesens Gottes als seine Liebe zu allem in ihrer eigenen Erfahrung. Damit ist eine ausreichend symbolische Vermittlung gegeben, damit

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überkam, so dass ich in keiner Weise zweifeln konnte, dass Er in meinem Innern weilte oder ich ganz in Ihm versenkt war.« Siehe auch R. Welten, »The Night in John of the Cross and Michel Henry. A Phenomenological Interpretation«, in: Studies of Spirituality 13 (2003) 42– 59. Vgl. Rückkehr zu Gott. Die mystischen Schriften (Hg. B. Schellenberger), Düsseldorf, Patmos 2006. Vgl. J. Lacan, Le S8minaire VII: L’8thique de la psychanalyse (1959–1960), Paris, Seuil 1986, 55f. (dt. Das Seminar. Buch 7: Die Ethik der Psychoanalyse, Berlin, Quadriga 1995); S. Lippi, Transgressions. Bataille, Lacan, Paris, ErHs 2008. Vgl. schon D. de Rougement, L’amour et l’occident, Paris, Gallimard 1939. Vgl. W. Beierwaltes, Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, Frankfurt/M., Klostermann 22016.

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die Mystik nicht in ein rein Imaginäres oder eine Psychose abgleitet.589 Dies wird durch die genannte ständige »Aufforderung« – wie ebenfalls im Sufismus – verhindert, nämlich in dieser Liebe zu bleiben und nichts zu akzeptieren, was nicht diese Liebe beinhaltet – also keinen besonderen Werken den Vorzug zu geben, ohne indes vom Handeln zu lassen. Deshalb ist auch die Nächstenliebe oder das intersubjektive Ko-Pathos im authentisch mystischen Sinne nur im lebendigen Rahmen dieser absoluten Gottesliebe angezeigt, mit anderen Worten sind die anderen Menschen mit jener Liebe Gottes selbst zu lieben, mit der er sich selbst liebt. Allerdings besitzt die Substitution des Gesetzes durch die Liebe eine Konsequenz, die man mit den MystikerInnen als die nicht abtragbare ontologische »Schuld der Liebe« (dette) bezeichnen kann, insofern wir von uns selbst aus nichts zurückerstatten können, was nicht schon die absolute Ursprungsgabe der Liebe oder des Lebens Gottes selbst wäre.590 In diesem Sinne bleibt auch in der mystischen Erfahrung – bis auf wenige Augenblicke – meist eine Sehnsucht, noch nicht genug zu lieben, um damit das Begehren ganz Liebe werden zu lassen, denn Begehren allein ist noch nicht Lieben im Sinne des Lebens im Realen oder Einen. Diese ontologische, nicht moralische »Schuld« gegenüber der Liebe hält daher eine Differenz innerhalb der Symbolik des Einen oder der Liebe Gottes offen, damit die MystikerInnen nicht Opfer eines Phantasmas werden, welches die Liebe Gottes nur imaginär lebt, anstatt sie als das Reale effektiv zu erproben. Lebensmystisch gesprochen, leben wir zwar stets schon in der originären Unmittelbarkeit unserer selbstaffektiven Lebensempfängnis,591 aber dies schließt die Wirklichkeit der existentiellen Leiden nicht aus. Deren immanente Einheit mit der Freude bildet eine immer wieder zu verwirklichende Aufgabe, obwohl die Einheit im Abgrund des Lebens gegeben ist. Somit ließe sich sagen, dass die »Schuld« der Liebe das »Er-Leiden« dieser Liebe selbst ist, welche die ex-sistence als Begehren im Sinne Lacans nicht aufhebt, auch wenn die Einheit mit Gott als ständige Immanenz erfahren werden darf. Die erwähnte »Entsinnlichung« des Leibes in Hinsicht auf Geschlechtlichkeit und zukünftige Seligkeit bei Gott gemäß Lacan kann somit nicht in einem absolut verneinenden Sinne verstanden werden, insofern die Leiden des Lebens in die Freude desselben als seine originäre Selbstaffektion integriert sind. Die jouissance der MystikerInnen der jüdisch-christlichen Tradition kennt mithin in allem die Präsenz eines göttlichen Begehrens, welches einen nicht-imaginären 589 Vgl. die schon ältere, aber immer noch wertvolle Untersuchung von P. Janet, De l’angoisse / l’exstase. Ptudes sur les croyances et les sentiments I: Un d8lire religieux, Paris, Alcan 1926; ebenso folgende Anm. 620. 590 Vgl. auch F. Seyler, Eine Ethik der Affektivität: Die Lebensphänomenologie Michel Henrys, Freiburg/München, Alber 2010. 591 Vgl. R. Kühn, Alles, was leiden kann, 11–35: »Das ›originäre Wie‹ als unsagbarer Ursprung«.

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»Vater« oberhalb des Gesetzes impliziert. Würde man in der Tat den analytischtherapeutischen »Namen-des-Vaters« völlig ausschließen,592 der jedes subjektive Begehren in den Ort des Anderen (A) einschreibt, dann müsste man subjektiv wie kulturell gleichfalls eine vollkommene Trennung zwischen Religion und Mystik postulieren. Aber unter den MystikerInnen gibt es die einfachsten Frauen und Männer, die ihr gewöhnliches religiöses Leben in allem weiterführen. Ohne die Finalität ihres Handelns in die Werke zu verlegen, leben sie eine ko-pathische Praxis in der Alltäglichkeit selbst, so dass diese nicht von der Immanenz des mystischen Lebens getrennt ist. In dieser Hinsicht wird die jouissance der Gottesliebe als Einheit nicht in den Dingen, Werken und Aufgaben als solchen erfahren, sondern als die »andere Seite« dieser jouissance – über den imaginärsymbolischen »Vater« als Phallus hinaus. Denn der symbolisch Andere (A) ist als »Loch« dieses Anderen der Ort, wo sich die »Kastration« einschreibt,593 die als »Abgeschiedenheit« (Meister Eckhart), »Dunkle Nacht« (Johannes vom Kreuz) oder »Zunichtewerden« (al-Halladsch) zuvor angesprochen wurde. Wenn aber die Kastration eine fundamentale Gegebenheit für jedes Subjekt in Existenz und Psychoanalyse darstellt, dann lässt sie sich nicht auf den »Ödipuskomplex« wie bei Freud594 begrenzen, sondern impliziert im Zusammenhang mit einer möglichen »anderen jouissance« ein mystisch Reales, das prinzipiell von jedem Menschen in jeder Kultur verwirklicht werden kann. Denn die Kastration bedeutet eine lebendige Transgression der symbolischen Vermittlungen und Diskurse, um ein radikal Anderes darüber hinaus als Eines bzw. Reales erscheinen zu lassen, in die sich die MystikerInnen aller Religionen und Traditionen strukturell eingeschrieben haben, insofern sie die Unmöglichkeit jeglicher Sprache erfahren, um dergestalt letztlich das Unsagbare als Wesen der jouissance selbst zu erproben.595 Dies will nicht besagen, dass diese Erfahrung der »Kastration« als Sprachabwesenheit für die »Selbstumschlingung« mit dem Einen und Absoluten des Lebens (Gottes, Gottheit) eine Verneinung der poetischen und erotischen Metaphern darstellt.596 Aber letztere sind nicht das Wesen 592 Vgl. J. Lacan, Des Noms-du-PHre, Paris, Seuil 2005. 593 Vgl. Lacan, … ou pire, 181ff.; P. Valas, »Passe et mystique, un 8trange voisinage«, Revue de la Psychanalyse du Champ lacanien 4 (November 2006) 22–33. 594 Vgl. »Fetischismus« (1927): GW XIV, 311–317, hier 314f. 595 Zur entsprechenden Mystikrezeption ebenfalls bei Jacques Derrida im Sinne von »Wie nicht sprechen« vgl. M. Enders, »Zur Dekonstruktion negativer Theologie und zur Transformation mystischer Theologie bei Jacques Derrida«, in: B. Goebel u. F. Su#rez-Müller (Hgg.), Kritik der postmodernen Vernunft. Über Derrida, Foucault und andere zeitgenössische Denker, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007, 119–145. 596 Vgl. J. Leclercq, »Peut-on vivre sans la m8taphore? R8flexions sur l’id8ologie et l’utopie: Henry entre Ricœur et Derrida«, in: J.-S. Hardy, J. Leclercq u. C. Sauterau (Hgg.), Paul Ricœur et Michel Henry. Entre h8ritages et destin8es ph8nom8nologiques, Louvain, Presses Universitaires 2016, 59–72.

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der mystischen Erfahrung selbst, sondern nur Hinweise darauf, dass die immanente Einigung oder Veränderung als »singulärer Akt« im Sinne der »Kastration« jeglicher imaginären »Ichheit« (Narzissmus) stattgefunden hat.597 Das Imaginäre, Poetische oder Erotische bildet dann nicht mehr die Position einer »komplementären«, sondern einer »supplementären« jouissance, wie Lacan sie nennt, welche die Andersheit des Anderen (A) als Gegenstand der Imagination durchgestrichen hat, um ausschließlich von der Wirklichkeit der ständigen »Aufforderung« der Liebe Gottes her zu leben.598 Gesetz, Begehren und Wissen sind auf diese Weise als phallische Ordnungsfaktoren der Diskursivität der Andersheit aufgegeben, um dem singulär lebendigen Akt in seiner immanenten Wahrheit Platz zu machen, die nur der Einzelne zu erproben vermag, was zugleich eine kulturelle Universalität einschließt. Dieses Vermögen der MystikerInnen, die ex-sistence als Immanenz zu leben, umschließt daher eine noch unausgeschöpfte Fraternität mit dem modernen Subjekt, dem sich weder die Religion noch die Psychoanalyse versperren müssen, denn Lacan kann gegen Freud599 zeigen, dass nicht die »Wissenschaftlichkeit« das »Unbehagen in der Kultur« anstelle der Religion zu lösen vermag, sondern nur eine jouissance, die jeder erproben kann, ohne davon ein »Wissen« zu haben. Dies wäre der ex-sistente Gottesbezug in Lacans Verständnis der Mystik, wie er sicher im Gespräch mit radikaler Phänomenologie und Postmoderne sowie Ethik und Kultur weiterhin zu berücksichtigen bleibt, um der Eigenständigkeit eines »mystischen Diskurses« auch heute gerecht zu werden.

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Dass die Mystik eine sublimierte Form der Religion bietet, steht nach dem bisher Ausgeführten außer Zweifel, aber die Frage ist, ob eine solche »Sublimierung« nur eine spezifische Anwendung der letzteren im Freudschen Sinne bildet, sich nämlich unter dem Einfluss eines Ideals oder Verzichts auf unmittelbare Befriedigung zu einer höheren ethischen Ebene zu erheben. Im Zusammenhang mit der klassischen Psychoanalyse würde dies dann individuell und kulturell einen Prozess der »Verschiebung« sexueller Aktivität auf andere Bereiche wie den ästhetischen, religiösen und wissenschaftlichen etwa bedeuten. Freud kor597 Vgl. bereits H. Müller, Die Lehre vom Unbewussten und der Glaube an Gott. Ein Gespräch zwischen Psychoanalyse und Glauben – Jacques Lacan und Simone Weil, Düsseldorf, Patmos 1983. 598 Vgl. R. Kühn, Alles, was leiden kann, 169ff., in Bezug auf Symptom, Verbot und Begehren. 599 Vgl. Das Unbehagen in der Kultur (1930): GW XIV, 419–507, hier 497ff.

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reliert sogar eine gewisse energische Eroberung des Sexualobjekts »mit der ähnlichen Verfolgung anderer Ziele«.600 Aber dann könnte man zu dem irrigen Schluss gelangen, dass sublimierte Ziele umso leichter erreicht würden, falls sexuelle Befriedigung gelingt. Jedoch führt auch die Umkehrung dieser »vulgären Vorstellung« keineswegs zu einem direkteren Verständnis der Sublimierung,601 wie zuletzt der Bezug von Mystik/jouissance nach Lacan zeigte, der hierbei eine Trans-gression sowohl der »Lust« als auch eines jeden »Signifikanten« am Werk sieht. Dabei unterliegt die Regelung von Sexualität wie Phallus der Kastration, wie wir schon herausstellen konnten, das heißt in beiden Fällen dem ursprünglichen Verlust oder Mangel im subjektiven Sinne eines abwesenden Signifikanten des »Urverdrängten«, wie Freud diesen Begriff bereits kannte.602 Latent wie dieses Urverdrängte – oder sogar ganz verborgen – ist auch jener Signifikant, der es bezeichnen soll. Dadurch wird die Bezeichnungsfunktion als solche problematisch, dass nämlich etwas bezeichnet werden soll, das gar nicht gesagt werden kann. Kastration und Mystik gehören daher strukturell in dem Sinne zusammen, als es unmöglich ist, irgendwann alles zu sagen. Damit bekommt allerdings der subjektive Leib als originäre Sexualität bzw. Erotik oder Libido eine Unmöglichkeit als Erleben oder Ausdruck aufgebürdet, die nur Unzugänglichkeit und Phallus miteinander korrelieren lassen kann, was die jouissance als »Erotik Gottes« eben zu übersteigen versucht. Insofern stoßen in der Sexualität eine unvorstellbare Vorstellung mit dem Verlorenen des Urverdrängten zusammen, so dass der Phallus nicht nur eine individuell imaginäre Schöpfung eines jeden Subjekts der »Lust« ist, sondern ebenfalls eine symbolische Konvention oder Ordnung, die von vornherein alle lebendigen Subjekte betrifft. Demzufolge ist die Sexualität je singulär wie außergewöhnlich in ihrem Vollzug – zugleich aber auch paradoxerweise ganz alltäglich durch die Wiederholung des Geschlechtsaktes. In seiner intimen Zurückgezogenheit als »Nacht der Liebenden« nach einem Ausdruck Michel Henrys603 impliziert daher der Geschlechtsvollzug einen Bruch mit dem Alltag, um allerdings in seiner Wiederholung ohne endgültige Befriedigung – selbst durch häufigen Wechsel der Sexualpartner – eine grundlegende Anfrage an eben diese Wiederholbarkeit hervorzurufen. Dass sich hier neurotische »Reaktionsbildungen« im Sinne 600 Vgl. »Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervosität«: GW VII (1906–1909), Frankfurt/M. Fischer 1948, 129. 601 Vgl. M. Turnheim, »Trieb und Werk«, in: Mitteilungen des Instituts für Wissenschaft und Kunst 51/1 (1996) Psychoanalyse und Philosophie, 35–40, hier 35f. 602 Vgl. J.-C. Maleval, La forclusion du Nom-du-PHre. Le concept et sa clinique, Paris, Seuil 2000, 42ff. 603 Vgl. R. Kühn, Begehren und Sinn, 151ff.; vgl. auch M. Henrys Roman L’amour les yeux ferm8s, Paris, Gallimard 1976.

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Freuds einstellen können, ist offensichtlich, und damit erhebt sich auch umso schärfer nochmals die Frage, ob die Sublimierung in dieser Perspektive eine bloße Leitung der sexuellen Energie in andere »Kanäle« wie beispielsweise des Schönen oder Erhabenen sei.604 Aufgrund der genannten Problematik von Geschlechtsakt und Wiederholung dürfte sich mithin ergeben, dass die Sublimierung eine »Dekonstruktion« gerade dieser Voraussetzung von Phallusfunktion und Wiederholbarkeit in die Wege zu leiten hat. Regelt nämlich der Phallus die Wiederholbarkeit des Sexualvollzugs als selbstverständliche Suche nach Lust, dann dürfte die Sublimierung eher der Forderung nach der unwiederholbaren Einmaligkeit und dem unsagbaren wie unvorstellbaren Signifikanten gehorchen. Kurz gesagt, nähert sich die Sublimierung durch eine solche Analyse der prinzipiellen Überschreitung der phallischen Routine, was etwa bei Michel Foucault605 zur Forderung an die Sexualität als einen Ort der Kreativität bzw. einer ästhetischen Ethik der »Selbstsorge« wurde. Wie unsere Untersuchung zur Mystik in Christentum und Islam zeigen konnte, ist die mystische jouissance ihrerseits eine Sublimierung, welche jenseits aller etablierten Vorstellungen etwas von jenem unbekannten Realen, Einen oder »Gott« zu erproben gibt, das nicht durch den Phallus als gesetzmäßige Signifikanten der Wiederholung symbolisiert ist. Insoweit wäre die Mystik in Bezug auf die Geschlechtlichkeit ebenfalls die Weise, in letzterer eine Wirklichkeit zum Vollzug gelangen zu lassen, die gleichfalls ein Unvorhersehbares gelten lässt – eine jouissance jenseits der Lust, wie sie die Sufimystik gerade als »Erotik Gottes« zu erproben versucht, ohne dabei dem Problem der radikalen Transzendenz oder Andersheit Allahs allerdings ganz gerecht werden zu können, insofern er sich außerhalb jeglichen denkbaren Bezuges befindet. Anders gesagt, muss es einen Übergang von der Existenz des phallischen Objekts in der Sexualität (»Lust«) zu einer Evokation des unvorstellbaren »Dings« (Eine, Reale, Gott, Ko-Pathos etc.) in der Sublimierung geben. Wenn Lacan606 daher sagt, dass die Sublimierung »ein Objekt zur Würde des Dings (la Chose) erhebt«, dann kann dies nicht den konventionellen Phallus betreffen, sondern nur einen Vollzug, der sich der Repräsentation entzieht, aber dennoch wie ein Kunstwerk zugleich einem allgemeinen Urteil im Sinne des »Erhabenen« bei Kant zugänglich bleibt, das heißt, Liebe, Schöpfung oder Leben als mögliche wortlose Erprobung für jeden strukturell zugänglich macht. Denn im künstlerischen Werk bzw. im Naturschönen gibt es ein Zeigen oder Darstellen, aber das Gezeigte entzieht sich der alltäglich utilitären Wahrnehmung, so dass sich das 604 Vgl. bereits die Ausführungen in unserem Kapitel I,2.3: »Realität und Sublimierung«. 605 Vgl. Histoire de la sexualit8 III: Le souci de soi, Paris, Gallimard 1984, 315ff. (dt. Sexualität und Wahrheit 3: Die Sorge um Sich, Frankfurt/M., Suhrkamp 1986). 606 L’8thique de la psychanalyse, 133.

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darin Vorgestellte der Repräsentation als »Dar-stellung« durch ein Verschwinden entzieht. Auch im Phallus gibt es notwendigerweise ein Verschwinden durch die Kastration, um das Scheitern der Konvention (Gesetz, Routine etc.) anzuzeigen, während die Sublimierung diese Funktion des Verschwindens jedes Mal schöpferisch neu setzt oder zulässt. Das heißt, das künstlerische Werk oder die reine religio entziehen sich einem definitiven Zeigen und Sehen-Lassen, so wie »Gott« als das Eine oder die Liebe sich dem identifizierenden Besitz durch irgendeinen »Namen-des-Vaters« entzieht. Damit verlassen wir die Freudsche Interpretation der Kunst wie Religion als einer bloßen Latenz von verborgenen oder archaischen Gedanken, sei es Mutterkomplex wie angeblich bei Leonardo da Vinci oder Vatertötung seit dem Totemismus und in der Menschheitsentwicklung danach, um das »Urverdrängte« vielmehr als jenen »Signifikanten« aufzufassen, der nie in einem Diskurs gesagt zu werden vermag. Jedes künstlerische Werk widersetzt sich in der Tat einer endgültig abschließenden Interpretation, indem es eben eine unendlich subjektive Rezeption und Symbolisierung erlaubt, so wie nach Lacan in der Analyse/Therapie das »rätselhafte Ding« umkreist wird, welches kein »Objekt« ist, sondern das Begehren als »Ich« in dessen singulärer »Wahrheit« ohne diskursives Wissen.607 Die Sublimierung innerhalb einer originären religio als »Mystik« ist dann gleichfalls die Öffnung über alle phallischen Signifikanten hinaus, einschließlich des »Namens Gottes«, sofern dieser keinerlei phallische Bedeutung mehr besitzt, sondern als »Name« (Gott, Liebe, Eines, Reales, Schöpfer, Andersheit, Transzendenz, ex-sistence etc.) jeweils das Darüber-Hinaus jeglichen Namens andeutet, was radikal phänomenologisch am besten als Immanenz des Lebens vor jeglicher Sprache selbst bezeichnet werden kann.608 Die psychoanalytische Theorie der Sublimierung wäre dann nicht länger eine solche der sexuellen Energie, die in andere Bereiche geleitet wird oder allein Verdrängtes hinter künstlerischen und kulturellen Leistungen aufsucht, sondern Bruch mit dem Primat der Vorstellung und Bewusstwerdung, wie wir dies bereits bei Freud in epistemologischer Perspektive diskutierten.609 Jedes Werk kann daraufhin weiterhin dem Trieb als Begehren zugeordnet werden, aber letzteres ist als jouissance keine biologische, phallische oder symbolische Faktizität mehr, obwohl es all diese Bereiche durchquert. Vielmehr ist solches Begehren in seiner sublimierten Selbstbewegung eine lebendige Unmittelbarkeit diesseits seiner phantasmatischen Fixierungen. Wenn in dieser Dimension die Leere der Vorstellung eine Fülle an originärer Lebendigkeit ausmacht, so wie auch die Architektur beispielsweise um die Leere herum errichtet wird bzw. die Malerei und 607 Vgl. M. Turnheim, »Trieb und Werk«, 38f. 608 Vgl. R. Kühn, Diskurs und Religion, 194–209: »Der ›religiöse Diskurs‹«. 609 Vgl. unsere vorherigen Kapitel I,1 u. 3.

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Literatur durch perspektivische Illusion und narrative Fiktion das Vorstellungssfreie umkreisen, so kann die Sublimierung daher als »die Befriedigung an Strebung am Wechsel ihres Objekts« bezeichnet werden,610 so wie auch schon Freud schrieb, dass die Triebanteile »beliebig oft gewechselt werden«.611 Sieht man radikal phänomenologisch die Triebanteile als Momente des Begehrens selbst, dann kann ein solcher »Wechsel« gegenreduktiv bis hin zur genannten Vorstellungsfreiheit gehen, insofern im reinen Begehren als Selbstbewegung des Lebens keinerlei welthaftes Objekt oder dessen Horizont mehr gegeben ist. Die »Sublimierung« wäre demzufolge ein anderer Name für die »Selbststeigerung des Lebens«, welche alle intentionalen Objekte affektiv-leiblich ermöglicht und verfleischlicht, ohne darin eigenwesentlich aufzugehen. Mit anderen Worten macht ein solch lebendiges oder transzendentales Begehren in keinem dieser Objekte sein eigenes Selbsterscheinen fest, ohne dabei jedoch die Freude des ontologischen Reichtums aller Dinge als innere Modalisierung zu verkennen. Dies führt direkt zur Neubestimmung des Verhältnisses von Sublimierung und Narzissmus, denn wenn die Mystik im Zusammenhang unseres Kapitels den Verzicht auf einen primären wie sekundären Narzissmus als Besetzungsenergie von Ich und allem Objektalen bedeutet, dann ist damit die Selbstliebe des Begehrens nicht verneint, die als »Liebe Gottes« oder »Vernichtetwerden« im Einen ihre »Erotisierung« unmittelbar aus dem immanenten Leben selbst empfängt. Die Sexualität wird damit nicht abgetötet, denn sie ist nicht länger die Quelle einer narzisstischen oder masochistischen Egoität, wie jetzt noch zu zeigen bleibt. Das psychoanalytische Konzept des Narzissmus meint seit Freud und Karl Abraham (1877–1925) eine primäre Objektabwesenheit, um sich ganz auf das eigene Ich libidinös zu beziehen. In »Triebe und Triebschicksale« lässt Freud durchscheinen, dass der Hass älter sei als die Objektliebe, denn das narzisstische Ich impliziere eine ursprüngliche Verweigerung der Außenwelt, welche Erregung über Empfinden und Wahrnehmung verursache. Damit sind gewisse Vorgaben für Aggressivität, Destruktion, Masochismus und Todestrieb später gemacht, die wir im nächsten Kapitel 6 noch genauer diskutieren werden. Abraham612 sah dann im Narzissmus vor allem einen neurotischen Widerstand mit negativen Effekten innerhalb der Übertragung, da sich durch den narzisstischen Stolz »ein ungewöhnliches Maß von Trotz« herausbilde, wodurch in 610 Vgl. J. Lacan, L’8thique de la psychanalyse, 339. 611 Vgl. »Triebe und Triebschicksale«, 85; im Folgenden 93ff. 612 Vgl. Gesammelte Schriften, Band 1: Psychoanalytische Methodik, Gießen, PsychosozialVerlag 1999, 279. Er differenzierte auch Freuds psychosexuelle Entwicklungstheorie um weitere Sub-Phasen: frühe und spätere orale (kannibalistische) Stufe als Narzissmus und Totaleinverleibung des Objekts; frühe und spätere anal-sadistische Stufe als Objektliebe mit Genitalausschluss; siehe ebenfalls S. Freud u. K. Abraham, Briefwechsel 1907–1925, 2 Bände (Hgg. E. Falzeder u. L.M. Hermanns), Wien, Turia + Kant 2000.

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jeder Bemerkung des Analytikers/Therapeuten eine »Demütigung« erlebt werde. Dazu gesellen sich Neid und die Tendenz, »alles selbst und allein zu machen«, so dass der Andere durchgehend zum Objekt von »Geringschätzung« werde, die sich zugleich mit Aggressivität und Todestrieb verbinde. Auch Wilhelm Reich unterstreicht den »Charakterpanzer« des narzisstischen Menschen mit seiner stolzen und ironischen Haltung, die auf einer verdrängten Aggressivität beruhe und leicht zu Todeswünschen führe, auch wenn Reich den Todestrieb Freuds als solchen ablehnt.613 Mit Melanie Kleins (1882–1960) »Objektsbeziehungstheorie«614 ergibt sich sodann eine ausführliche Analyse von Gier, Neid und Eifersucht, welche die Mechanismen von Projektion und Introjektion einschließt, was für unseren Zusammenhang insofern von Bedeutung ist, als gerade die Mystik mit diesen »Urkonflikten« narzisstischer Prägung einen Umgang zu ihrer Verwandlung hin findet. So betrifft die Gier nicht nur ein Begehren ohne scheinbare Sättigung, sondern auch einen Objektbezug, der jedes Maß überschreitet. Melanie Klein sah darin den Versuch, die »mütterliche Brust« vollständig zu leeren und anschließend mit »bösen Objekten« zu füllen, welche als Introjektion dann die Aggressivität zu legitimieren scheinen. Allgemeiner gesagt, bedeutet der Narzissmus hier eine idealisierende Objektbesetzung, welche als Phantasma einen Teil des eigenen Selbst und der subjektiven Leiblichkeit bildet. Die mystische Antwort hierauf kann nicht nur eine bessere äußere »Realitätsprüfung« im Sinne Freuds sein, vielmehr muss der phantasmatische Bezug als solcher zwischen dem Objektalen und dem Ich durchschaut werden, um eine Erfüllung des Narzissmus sowohl durch das eigene Ich als auch durch irgendein Objekt ad absurdum zu führen. Lacan sah diese Möglichkeit in der Konfrontation mit dem Realen bzw. Einen, welche die Loslösung von idealisierenden Signifikanten erfordern, um dem »Überraschenden« der »Erotik Gottes« Raum zu geben, die weder die eigene noch die projizierte Idealität aufsucht, um dem Narzissmus sein innerstes triebhaftes Motiv für Gier, Neid, Eifersucht und Aggressivität zu entziehen. Denn der Neid ist nichts anderes als der Zorn und die Wut gegenüber einer anderen Person, die etwas besitzt, das ich selbst – allein für mich – genießen möchte. Dies beinhaltet jedoch, die jouissance ebenso in einen symbolisierten Besitz als Phallus einschreiben zu wollen wie über die Eifersucht eine Liebe für sich zu beanspruchen, die nicht dem »Rivalen« gehören darf, sondern ausschließlich mir. Dahinter steht für Melanie Klein anfänglich ebenfalls die »mütterliche Brust« als »gutes Objekt« diesmal, das alles gibt, ohne sich ihr 613 Vgl. Charakteranalyse. Technik und Grundlagen für studierende und praktizierende Analytiker, Selbstverlag 1933; erweiterte Ausgabe Köln, Kiepenheuer & Witsch 1970, 200ff. 614 Vgl. Seelische Urkonflikte. Liebe, Hass und Schuldgefühle, Frankfurt/M., Fischer 1992; Die Psychoanalyse des Kindes, München, Kindler 1973; dazu R. Caper, Seelische Wirklichkeit. Von Freud zu Melanie Klein, Stuttgart, Klett-Cotta 2000.

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jedoch jemals angleichen zu können. Anders als bei Freud gibt es mithin einen primär narzisstischen Objektbezug, aber dieser hat sich als Phantasma auf innere Objekte verlagert, die um jeden Preis bewahrt werden sollen und nach außen dann Hass oder Zerstörungsaffekte zeitigen. Dem geht allerdings das Erleben ursprünglicher Ängste voraus, die alle um die Schwäche des Ichs und dessen fundamentale Furcht möglichen »Zusammenbruchs« im Sinne Winnicotts kreisen. Auch die MystikerInnen kennen diese Angst, so wie etwa Theresa von Avila angesichts ewiger Höllenpein drei Tage wie im Koma lag. Aber schließlich wird die eigene Ohnmacht von ihr im ontologischen und existentiellen sowie ethischen und religiösen Sinne gesehen und angenommen, ohne sie als phantasmatischen Neid auf ein Unverfügbares zu projizieren, wie es die »Mutter« im Erleben des Kindes nach Melanie Klein in einem paranoid-schizoiden Sinne bleibt. Die »Ohn-macht« als Nichts, Nacht, Abgeschiedenheit, Vernichtetwerden etc. führt daher in der Mystik nicht zu einer negativen Übertragung, sondern wird als prinzipielle Leere akzeptiert, in die sich ein Unsagbares und Unvorstellbares (das Reale, Eine, Gott etc.) einzuschreiben vermag – nämlich im Modus des »Besitzes« als Entzug oder Verschwinden, was als »abwesende Anwesenheit« ohne Signifikant erprobt werden kann, mit anderen Worten als Immanenz des absolut unmittelbaren Lebens in seiner unaufhebbaren Passibilität.615 Was die verschiedenen Psychoanalytiker seit Freud für das Verhältnis zwischen Narzissmus und Übertragung beschreiben, kann daher auf jeden Ich- und Objektbezug einschließlich intersubjektiver Andersheit als »Beziehung« überhaupt angewandt werden, so dass der Bezug zwischen Mystik/Narzissmus etwas Grundlegendes offenbart. Ohne die psychopathologischen Verzerrungen oder »Masken« durch einen primär aggressiven wie masochistischen Narzissmus in Abrede stellen zu müssen, bewegt sich unsere Ursprungsanalyse desselben jedoch um die rein phänomenologische Frage der passiblen Selbstgegebenheit des »Ichs« als Mich. Denn was erlaubt es letztlich, dass ein »Ich« überhaupt Ich sagen kann, und zwar nicht nur als sprachlicher Indikator in einer Satzaussage, sondern vielmehr als notwendiges unmittelbares »Selbstwissen« um sich selbst im Sinne immanenter Selbsterprobung dieses selbstaffektiven Ichs? Letztendlich muss die konkrete oder material phänomenologische Möglichkeit einer lebendigen Ipseisierung apriorisch vorausliegen, damit das Ich solche »Selbstheit« als Identität zwischen dem erprobten »Mich« und dem präpositional ausgedrückten »Ich« über das Personalpronomen überhaupt vollziehen kann.616 Jeder Narzissmus im analytisch-therapeutischen Sinne setzt diese originäre Ipseität vor einem primär psychologischen Narzissmus voraus, der bereits ein mani615 Vgl. R. Kühn, Lebensmystik, 292ff. 616 Vgl. M. Henry, Affekt und Subjektivität, 33ff.

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festes Ich sowie den phänomenologischen Selbstbezug darauf in Anspruch nimmt. Die Mystik hinterfragt prinzipiell diese Inanspruchnahme des Ichs für etwas, das nicht das Reale oder Eine bzw. »Gott« ist, um eben keine Illusion hinsichtlich eines narzisstisch besetzen Selbst- oder Objektbezugs aufkommen oder bestehen zu lassen. In dieser Hinsicht liegt die Mystik als Abwesenheit von Phallus und Signifikanten der Psychoanalyse als Theorie und Praxis voraus, was Lacan ohne Zweifel durch seine Analyse der jouissance bezeugen kann, und die Kur ist das Kreisen um diese singuläre Wahrheit eines Vor-Narzisstischen, ohne dabei »Religiöses« oder »Mystisches« in ihrem Verlauf doxologisch thematisieren zu müssen. Die analytisch-therapeutische Rückfrage an den narzisstischen Selbst- und Objektbezug betrifft praktisch vornehmlich jene projektiven und introjektiven Identifikationen, welche sich als »Allmacht« verstehen, wie Freud sie schon als affektiv oder erotisch fundierte »Gedankenallmacht« im Totemismus als Magie aufgefundenen hatte. Die Mystik als Konfrontation mit der Kastration im Sinne subjektiver Ohnmacht der ex-sistence nach Lacan kann daher als Rückführung jedes magischen Bezugs als »Aberglaube« auf die zuvor genannte Leere verstanden werden, die als phallische Namensabwesenheit die strukturelle Loslösung der Bedeutungsfunktion als Re-präsentation vom Ich wie Realen bzw. Einen beinhaltet. Dass paranoide Ängste schizoiden Zusammenbruchs des Ichs Auslöser für die »Skotomisation« der perzeptiven Allmachtsprojektion auf alle Dinge und andere Personen bilden, um triebhafte Aggression und entsprechenden Neid mit Eifersucht im Verhalten zu generieren, hat neben Melanie Klein ebenfalls Herbert Rosenfeld617 danach offengelegt. Während Freud618 die psychoanalytische Behandlung vollständig narzisstischer Personen im Sinne von totaler (psychotischer) »Abwendung ihres Interesses von der Außenwelt« in Bezug auf Personen und Dinge noch für unmöglich, da unheilbar, hielt, betrachtet Rosenfeld eine solche Behandlung als möglich, obwohl ein solcher Patient alles unternimmt, um den Analytiker/Therapeuten von dessen Unvermögen zu überzeugen. Beispielsweise wird letzterer zur Ablage aller »bösen Objekte«, damit sich ein solch narzisstischer Patient im Gefühl eigener umfassender Gutheit sonnen kann. Diese von Allmachtsphantasien genährte Idealisierung macht in der Tat jeden Zugang zu seiner seelischen Wirklichkeit wie zur Außenwelt schwierig, und eine entsprechende Analyse/Therapie vermag nur Fortschritte zu erzielen, wenn die Gefühle von Neid hinter der Frustration als Auslöser einer depressiven 617 Vgl. »On the Psychopathology of Narcissism: A Clinical Approach« (1965), in: Psychotic Studies, London, Karnac 2000, 169ff.; siehe außerdem O.F. Kernberg, Objektbeziehungen und Praxis der Psychoanalyse, Stuttgart, Klett-Cotta 1981. 618 Vgl. »Zur Einführung des Narzissmus« (1914): GW X (1915–1917) Frankfurt/M., Fischer 1948, 139.

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Disposition einsichtbar werden. Auf dem Weg dahin können Reaktionsbildungen immer wieder zu heftigen schizoiden Widerständen führen, so dass die aggressiven Anteile hier nach und nach integriert werden müssen. Wenn Freud hinsichtlich solch schizophrener und paranoider Patienten mangels ihres Introspektionsvermögens eine Kur für undurchführbar hielt, so bleibt jedoch zu sehen, dass psychotische Elemente in jedem Individuum gegeben sind, weshalb auch die Psychoanalyse nach Freud einige Fortschritte in diesem Bereich erzielen konnte.619 Denn die narzisstische Übertragung als Allmachtsphantasma impliziert unzutreffende Anfragen an die introjizierten Objekte, was zugleich die Unterscheidung von Sich und Anderen im eigenen »Selbst« schwierig macht. Wenn immer wieder diskutiert wird, inwieweit die narzisstischen und psychotischen Anteile gleichfalls bei den MystikerInnen eine Rolle spielen,620 dann ist dies genau die Frage, bis zu welchem Grad entsprechende Phantasmen nicht mehr auf »Gott« projiziert werden, um die eigene Ohnmacht durch »Gottähnlichkeit« zu verschleiern,621 ohne die Gefühle von Affektion, Liebe und Beziehung selbstaggressiv oder masochistisch leugnen zu müssen. Wenn nämlich die Mystik keinerlei Bezug zu Phallus/Signifikanten mehr beibehält, sondern das bedingungslose Geltenlassen einer sublimierten und je neuen schöpferischen Beziehung zum Realen oder Einen, dann geht es nicht nur um »Triebentmischung« zwischen Eros und Thanatos nach Freudscher Auffassung. Auch ergibt nicht länger ein Gefühl der Demütigung für eine »narzisstische Kränkung« das Motiv der mystischen unio, sondern die genannte »Ohnmacht« ist ausschließlich jene immanent erprobte »Gewalt des Lebens«, deren »Wunde« auf ein absolut phänomenologisches Voraus oder Mehr des Lebens hinweist, ohne jemals im Begehren als Liebe zurückerstattet werden zu können, wie wir es bei Hadewijch von Antwerpen schon unterstreichen konnten. Wie jede so genannte »Psychopathologie« ist auch der Narzissmus bedingt durch ein Zuviel des Lebens, durch ein Übermaß jener Passibilität unserer Geburt in diesem transzendentalen Leben, die in ihrer immanent affektiven Schutzlosigkeit als ein »Auf-sich-geworfen-Sein« erprobt wird, ohne die Außenwelt irgendwie noch als Fluchtraum benutzen zu können. Führt man daher die narzisstische Grunderfahrung der objektalen oder welthaften Nicht-Bedeutsamkeit noch einen Schritt weiter, nämlich als Kern der Passibilität in deren reiner Selbstaffektion, wo das Leben ausschließlich sich selbst berührt, dann leitet 619 Wir verweisen hier nochmals auf die Diskussion über die zunehmende »gewöhnliche Psychose« als narzisstische Identitätsbrüche im Kontext der Postmoderne; vgl. Einleitung Teil 3. 620 Vgl. B. Skodlar u. J. Ciglenecki, »Psychose als missglücktes Abenteuer. Mystische Erfahrungen und ihr psychotherapeutisches Potenzial«, in: Psycho-logik. Jahrbuch für Psychotherapie, Philosophie und Kultur 10 (2015) 151–169. 621 Vgl. R. Kühn, Diskurs und Religion, 179ff., zur Frage der »Vergöttlichung«.

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diese radikale Affektabilität durch das Leben allein zu dem, was Meister Eckhart unsere radikal phänomenologische Ursprungsgegebenheit als »Gott-Erleidende« nannte: »Der Mensch ist ein Gott-Erleidender […], und dein Erleiden ist dein höchstes Wirken […], wenn Du nämlich diese Geburt in dir erfahren willst.«622 Jeder Leser wird nach all den bisherigen Ausführungen nachvollziehen können, dass wir kein narzisstisches Verhalten als solches legitimieren wollen, zum Beispiel die bekannte »narzisstische Wut«, die alles beim Anderen verachtet und mit sadistischer Kraft vernichten will, weil man sich als narzisstisches Ich selbst verfolgt und kontrolliert vorkommt.623 Mit der Mystik wollten wir nur auf die tiefste »Wunde« hinweisen, die der Narzissismus radikal phänomenologisch offenbart, nämlich kein Selbst ohne Bezug sein zu können. Denn das narzisstische Beharren auf dem »Ich« zeigt gerade das affektive Wissen darum, dass dieses Ich aus sich selbst heraus nicht möglich ist – und manifestiert sich aus diesem Grund als Angst vor der Auflösung.624 Die Psychoanalyse lässt weitgehend die Grundängste seit dem späteren Freud aus dem Todestrieb entstehen, auch wenn dessen genaue Konzeptualisierung weiterhin umstritten ist, wie wir noch im folgenden Kapitel zeigen werden. Die Angst um die Desintegration als Auflösung oder psychisch-physischen »Zusammenbruch« des Ichs nach Winnicott setzt aber voraus, dass dieses Ich sich eben originär zunächst als Empfängnis im Leben erprobt und mithin eine unsichtbare Bezüglichkeit verwirklicht, die noch vor jeder »Projektion« im analytisch-therapeutischen Sinne angesichts dieser Angst die Selbstaffektion solch originärer Bezogenheit auf »Anderes« – das Leben – schlechthin erfährt. Ein solch ursprünglicher Bezug ist dann im Sinne Kierkegaards625 durch einen »Sprung« gekennzeichnet, das heißt, sein Selbst als Bezug zu erfassen, ohne diesen selbst gründen zu können. Die Projektion auf die »mütterliche Brust« nach Melanie Klein und Winnicott, der daraus eine Verstärkung des Narzissmus beim Patienten als wohlwollende Zuwendung während der Kur ableitete, ist daher ein sekundärer Vorgang, da die »gute Brust« der Mutter nicht der originäre Lebensbezug als solcher ist. Deshalb wird die Primärangst der inneren Auflösung oder Zerrissenheit auch gegen eine neue Angst eingetauscht, welche die Angst vor der mütterlichen Brust als dem »bösen Objekt« geworden ist. Schizoider Widerstand wie paranoide Idealisierung bzw. die halluzinatorische Besetzung des »guten Objekts« als ein Phan622 Deutsche Predigten und Traktate (Hg. J. Quint), München, Diogenes 1979, 431 (Predigt 58). 623 Vgl. H. Kohut, Narzissmus, Frankfurt/M., Suhrkamp 1971, 63ff. 624 Vgl. D.W. Winnicott, Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse. Aus den »Collected Papers«, Frankfurt/M., Fischer 1997, 145ff. 625 Vgl. Die Krankheit zum Tode (Ges. Werke 24–25), Gütersloh, Mohn 1984, 85: »Indem sich das Selbst zu sich selbst verhält und indem es selbst sein will, gründet das Selbst durchsichtig in der Macht, die es setzt.«

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tasma der Allmacht, welche dann das »böse Objekt« insgesamt verneint und vernichten will, bilden mithin Affekte einer narzisstischen Urangst, solange nicht die rein immanente Ursprünglichkeit des absoluten Lebensbezuges als nicht-repräsentierbare Fundierung des Ichs im rein passiblen Mich verwirklicht wird. Wenn die »projektive Identifikation« mithin einen Mechanismus ursprünglicher Abwehr bildet, um gute wie schlechte Selbstanteile nach außen zu verlagern, um sie dann als Objekte von Liebe und Hass zu erleben, dann bedeutet die Sublimierung, welche wir hier im Zusammenhang mit Narzissmus und Mystik problematisierten, eine Gegenbewegung derartiger Identifikationen. Durch Reduktion der besetzten Objekte unterscheidet sich die Person von ihren Objekten, da nicht mehr die Kontrolle auf aggressive oder narzisstische Weise über das gehasste oder geliebte Objekt gesucht wird, sondern dessen Eigenleben, wie es besonders das je einmalige Kunstwerk verdeutlichen konnte. Die Mystik geht sogar noch einen Schritt weiter und gesteht der »Schöpfung« insgesamt die Möglichkeit eines Ko-Pathos zu, der primäre Besetzungen als Identifikationen und Verschmelzungen aufhebt, um zumeist in einer poetisch-mystischen Sprache das Eigenwesen aller Dinge bejahen zu können, die insgesamt dem Einen entstammen. Auch W. R. Bions Beobachtungen zur projektiven Fragmentierung der Objekte, die zugleich eine psychotische Fragmentierung von Empfinden, Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Urteil einschließt, sind über eine gelungene Sublimierung aufgehoben. Denn das Objekt ist nicht länger ein eingelagerter Teil der narzisstischen Person, da die Sinne nicht mehr an fixierte Wahrnehmungsvorstellungen als »Skotomisation« gebunden sind, sondern sich schöpferisch befreien für die Aufnahme von Neuem. In solcher Perspektive wird innerhalb der Mystik eben die gesamte Schöpfung (Welt) nicht länger aus der eigenen narzisstischen Sicht in eingeengter »Lektüre« wahrgenommen, sondern dank einer »entleerten Aufmerksamkeit« als das, was sie ohne Bedeutungsverzerrung für sich selbst ist. Simone Weil nannte dies die »De-kreation«, das heißt eine Form philosophisch-mystischer Reduktion mit Nähe zur Phänomenologie.626 Da eine ähnliche Verwandlung durch die Lehranalyse aufseiten des Analytikers/Therapeuten stattgefunden haben sollte, könnte man mit Lacan sagen, dass deren »Selbstlegitimierung« von keinem Wissen mehr herkommt, sondern von dem, was der Analytiker ist.627 Die Sublimierung innerhalb der Übertragungsphänomene wäre dann die Ebene des jeweilig singulären Seins, das nicht einem vorausbestehenden Theoriewissen angeglichen wird, sondern in seiner eigenen 626 Vgl. R. Kühn, Leere und Aufmerksamkeit. Studien zum Offenbarungsdenken Simone Weils, Dresden, Text & Dialog 22019, 42ff. 627 Vgl. N. Langlitz, Die Zeit der Psychoanalyse, 258ff.

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Wahrheit zu existieren vermag – was sich in der Folge als schöpferische »Freisetzung« in allen Bezügen auswirkt. Deshalb sollte der Analytiker/Therapeut seine eigenen narzisstischen und psychotischen Anteile kennengelernt haben, damit sie nicht zu Abwehrmechanismen gegenüber den geäußerten wie verschwiegenen Gefühlen des Patienten werden und möglicherweise in die »Deutungen« einfließen. Er kann sich mithin nicht länger hinter seinem theoretischen Sozialisationswissen verbergen, da sonst die narzisstische Gefahr bestünde, zu wissen, was der Patient (noch) nicht weiß, wogegen die – nie im Vorhinein festgelegte – analytisch-therapeutische Erfahrung innerhalb der Kur insgesamt spricht.628 Die Sublimierung solch imaginärer »Allmächtigkeit« löst daher die Illusion eines universalen Wissens zugunsten der Singularität der jeweiligen Patienten auf, so wie ebenfalls die Mystik jedes einzelne Ding »in Gott« erblickt, um sein Eigenwesen dergestalt zu achten. Wir beschreiben hier keinerlei Idealzustand, sondern die strukturelle Möglichkeit, wie Sublimierung und Mystik in der Kulturwirklichkeit heute einen Weg bahnen könnten, die psychologisch narzisstischen wie perversen Elemente in eine Originarität zurückzuführen, wo sie nicht mehr von Urängsten und deren Abwehr genährt sind, sondern in die Selbstliebe des unmittelbaren Lebens und dessen auto-jouissance transformiert werden, die der Narzissmus als seine phänomenologische Vorbedingung vergessen hat.629 In der Kur müssen ohne Zweifel weiterhin Angst, Neid, Hass und Zerstörungstendenzen entgegengenommen werden, so wie sich auch die MystikerInnen mit diesen affektiven Gegebenheiten zu konfrontieren haben, um sie in die genannte Quelle der Liebe zurückzuverwandeln, die für sie die »Erotik Gottes« ist. Sublimierung wie Mystik setzen sich daher ohne phantasmatisch fixierte Einschränkung dem Realen aus, um jene Vorstellungsfreiheit zu verwirklichen, die jedes Mal am Anfang vom erwähnten schöpferisch Neuen steht, welches dann auch von allen Anderen prinzipiell als kulturelle Möglichkeit ergriffen zu werden vermag.630 Die symbolische Kommunikation ohne Fixierung auf den Phallus als fremdverfügte gesellschaftliche Wiederholung gehört daher ebenso zum kulturellen Wesen neuer sublimierter Zugänge zum Wirklichen wie die mystische Sprache, die Bedeutungskonventionen aufbricht, um Widerstände und Abwehr von Mechanismen unmöglicher Veränderung zu befreien und das 628 Vgl. M. Thiberge, Essai sur la psychanalyse et la postmodernit8, 455–469: »Condition pour une soci8t8 de psychanalystes«. 629 Zum »Vergessen des Lebens« vgl. M. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 186ff.; Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg/München, Alber 2002, 291ff. 630 Zur Rolle der kulturellen »Aneignung« durch »Nachahmung« vgl. M. Henry, Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, Freiburg/München, Alber 1994, 355ff., mit Rückgriff auf den Soziologen Guillaume de Tarde, was natürlich eine weitgehend geteilte gesellschaftliche Symbolik mit einschließt.

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»Ungesagte« des Begehrens freizusetzen. Wenn der Narzissmus durchgehend eine Über-Idealisierung beinhaltet, die alles Erscheinende der Kontrolle des allmächtig gewähnten narzisstischen Ichs unterwirft, dann ist die Mystik die Rückführung einer solch phallischen Begrenzung des Gegebenen auf das originäre Erscheinen-Können aller Manifestation als Selbsterscheinen des leiblichaffektiven Lebens, welches kein Ich, Selbst oder Subjekt im psychologischen Sinne ist, sondern ein sich-gebender oder kreativer Erscheinensvollzug dank transzendentaler »Subjektivität«. Die Mystik bzw. immanente religio dieser lebendigen, realen oder »göttlichen« Ursprungsbezüglichkeit in allem Erscheinenden befreit den Narzissmus daher sowohl von seiner Selbstidealisierung als Selbstschutz vor Demütigungen und Frustrationen als auch von den entsprechenden aggressiven Tendenzen mit Allmachtsphantasien, die keine Abhängigkeit oder Ohnmacht gegenüber Anderen oder in seinem eigenen Inneren zulassen, weil unter anderem die Ursprungsgegebenheit des passiblen Mich als relatio im Sinne Kierkegaards verkannt wird. Die Mystik bei Meister Eckhart und ihre philosophische Interpretation durch Michel Henry ist daher nicht ohne Grund eine »Phänomenologie der Geburt« als jenes transzendentale Ursprungsgeschehen, welches kein Phantasma der Übermächtigkeit oder Arroganz zulässt, da die reine Passibilität solcher Gebürtigkeit jede Selbstüberschätzung im Sinne der Fundierung des eigenen Ichs durch dieses selbst grundsätzlich ausschließt.631 Demütigung, Neid, Hass und aggressive Strebungen sind als affektive Erprobungen im Bereich des Mystischen daher von vornherein einer Motivations- oder Signifikantenreduktion unterworfen, um im wahrgenommenen Abstand zur ungeschuldeten Geburt im Leben jene »Erotik Gottes« im Sinne Lacans auszumachen, welche als Ko-Pathos die signitive Offenheit für das ganze Sein als »Schöpfung« oder »Leben« nicht ausschließt: »Gutheit aber ist das, worin Gott ausschmilzt und sich allen Kreaturen mitteilt.«632 Der Narzissmus prätendiert ein Absolutes seiner selbst, anstatt das Absolute als nicht-phallische Bezüglichkeit in der jeweiligen jouissance eines ent-idealisierten Aktes oder Symbolischen zu verstehen. Auch die Todeswünsche im Narzissmus und Masochismus mit ihrem Hang zu Depression oder Melancholie auf der Basis ursprünglicher Traumatisierungen durch die »Urkonflikte« nach Melanie Klein633 bergen noch die absolute Selbstreferenz der Beherrschung, anstatt dem Absoluten oder Realen der objektal unbesetzten Lebensbezüglichkeit ihr immanent effektives Werk zu überlassen. Vergessen wir nicht, dass auch jeder Narzissmus ein subjektives Leiden 631 Vgl. J. Reaidy, Une relecture ph8nom8nologique contemporaine de la mystique eckhartienne de »la Naissance de Dieu dans l’.me« par Michel Henry, Paris, Cerf 2012. 632 Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, 234 (Predigt 18). 633 Vgl. dazu auch unser weiteres Kapitel II,6.3.

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diesseits aller psychopathologischen Aspekte darstellt, dann bleibt es die Aufgabe von Analyse/Therapie jenen Weg der Selbstveränderung begehbar zu machen, welcher nicht zu einem neuerlich phantasmatisch besetzten »Ich« führt, sondern an jenen Punkt, wo Mystik und religio als »Kastration« sich immer schon bewegen – am Ort der transzendentalen Geburt als reine Bezüglichkeit. Die Psychoanalyse muss denselben als solchen nicht benennen, aber auch sie ist nicht vom »Punkt Null« ausgeschlossen, wie W. R. Bion ihn genannt hat.634 Ob die Mystik eine leitende »Systemrelevanz« für die heutige Kultur innehat, lässt sich naturgemäß nicht so leicht beantworten wie im Falle der Religionen, die in dieser Hinsicht erst von der Moderne zurückgedrängt wurden, weil sie kein sicheres Wissen mehr im Sinne der säkularisierten »Selbstbehauptung« liefern konnten, wenn man der These von Hans Blumenberg folgen will.635 Auf der anderen Seite scheinen die neuen Formen an »Spiritualität« Freuds Religionskritik im Anschluss an Kant und Feuerbach insoweit in Frage zu stellen, als es eben nicht mehr vor allem darum geht, das gesamtgesellschaftliche System durch religiöse Gebote zu stützen. Vielmehr sollen andere bereichernde Selbstund Weltzugänge gefunden werden, welche nicht unbedingt rein vernunftbasiert auftreten, sondern sich mehr einer »Lebensästhetik« angleichen. Paradoxerweise hat Freud indessen diese Entwicklung durch seine Kultur- wie Religionskritik selbst beflügelt, da auch er letztendlich weder eine Versicherung in der Wissenschaft noch durch die Natur einsichtig machen konnte. Eher favorisierte er in seinem Spätwerk ein »schwebendes Subjekt«, welches sich im internen Konflikt der topisch-energetischen Instanzen von Ich-Es-Über-Ich in gewisser Weise ständig neu erfinden muss, was dann die Postmoderne aufgriff.636 Auf dieses Subjekt »ohne Wurzeln« antwortet heute die Spiritualität als eine offensichtliche Sehnsucht nach Kontinuität, während die Mystik weder einem Metaphysischen noch Naturalem im weitesten Sinne verpflichtet ist, sondern gerade jene phallische, symbolische oder welthafte »Unsicherheit« akzeptiert, die auch Freud kannte, indem er jeder Versuchung für sich widerstand, einen »festen Boden« durch »Wunschphantasien« zu erstellen – es sei denn, man fasst seine ethische »Resignation« hinsichtlich der Ananke als ein säkular Absolutes auf: 634 Vgl. Second Thoughts (1967), London, Karnac 1993, 105f.; dazu W. Wiedenmann, Wilfred Bion. Biographie, Theorie und klinische Praxis des Mystikers der Psychoanalyse, Gießen, Psychosozial-Verlag 2007, sowie nochmals K.H. Witte, Zwischen Psychoanalyse und Mystik. Psychologisch-phänomenologische Analysen, Freiburg/München, Alber 2010, 95ff. 635 Vgl. B. Goebel, »Nach der Apokalypse der Vernunft. Hans Blumenbergs Kritik der Apokalyptik im Rahmen seines philosophischen Programms«, in: B. Goebel u. F. Suarez-Müller (Hgg.), Kritik der postmodernen Vernunft, 177–202. 636 Vgl. vor allem hierzu die Beiträge von R. Lesmeister, D. Finkelde und G. Schneider in: E. Frick u. A. Hamburger (Hgg.), Freuds Religionskritik und der »Spiritual Turn«. Ein Dialog zwischen Philosophie und Psychoanalyse, Stuttgart, Kohlhammer 2005.

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»Für die [religiöse Weltanschauung] ist es aber nicht wesentlich, ob sie das Ideal menschlichen Handelns in Christus, Buddha oder Confucius sieht und zur Nachahmung empfiehlt. Ihr Wesen sind die frommen Illusionen von Vorsehung und sittlicher Weltordnung, die der Vernunft widersprechen.«637

In der neueren Spiritualität geht es jedoch weniger um Vorsehung und Sittenordnung als um die individuelle wie kulturelle Problematik einer nicht-relationalen Negativität schlechthin. die an sich in Bezug auf Kierkegaard oder die Lebensphänomenalität nicht haltbar ist. Ob die Spiritualität heute beides miteinander verbinden kann – Verzweiflung bzw. Melancholie der postmodernen Negativität und »Sprung« in eine vorreflexive, unmittelbar lebendige Relation – ist kaum beantwortet, was jedoch für die Mystik als Erprobung des Abgrunds unserer Erfahrung in jeder Bindung und Beziehung außer Frage steht. Sollte sich demnach die gegenwärtige Kultur noch stärker mit solcher »Bodenlosigkeit« oder »Nicht-Kontinuität« interreligiös wie interkulturell konfrontiert erleben, dann besitzt die Mystik ein Hinweispotential zum Durchschreiten dieser postmetaphysischen Gegebenheit.638 Zumal sie weniger die gesellschaftliche Systemrelevanz insgesamt in den Blick nimmt als die Wirklichkeit dessen, wozu jede Subjektivität ko-pathisch in der Lage bleibt: Phantasma, Signifikant oder Phallus samt Narzissmus, Masochismus wie Sadismus hinter sich zu lassen. Dass diese Problematik von der allgemeinen gegenwärtigen Einstellung zu Sterben und Tod sowohl verschärft wie verdrängt wird, wollen wir deshalb weiterführend im folgenden letzten Kapitel untersuchen.

637 Brief an Oskar Pfister vom 16. Februar 1929, in: S. Freud u. O. Pfister. Briefwechsel 1909–1939 (Hg. I. Noth), Frankfurt/M., Fischer 1963, 267f.; vgl. nochmals unser Kapitel I,2.1 sowie M. Thiberge, Essai sur la psychanalyse et la postmodernit8, 127–148 u. 205–207: »Les processus sans sujet et leur enjeu« sowie »L’inconscient freudien«. 638 Es sei darauf hingewiesen, dass eine entsprechende Einübung solch neuer Erfahrungen parallel zur Mystik auch oftmals in der Ästhetik gesucht wird; vgl. zum Beispiel J.-L. Lyotard, Des dispositifs pulsionnels, Paris, Galil8e 1994, 71–90 u. 197–214: »Freud selon C8zanne« sowie »Plusieurs silences« in der Musik.

6.

Todesabwehr und Todeszustimmung als äußerste Wahrheitserprobung

Die Frage der Verdrängung eigenen Sterbens im gegenwärtigen alltäglichen Erleben wird schon seit vielen Jahren von der Terror-Mangement-Theorie (TMT)639 untersucht, die sich mit empirischen Erhebungen aus dem sozialpsychologischen Forschungsfeld zum verdrängten Wissen um die individuelle Sterblichkeit befasst. In anderen aktuellen Studien wird eine solch affektive Abwehr mit dem reflexiven Gewinn verglichen, der sich aus einer wissentlich existentiellen Einstellung zum eigenen Sterben ergeben könnte. Die Hauptthemen von Alexander Batthy´any beispielsweise sind daher die Ängste und Repräsentationen, welche die Individuen von ihrer aktiven Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod abhalten, obwohl alle das mehr oder weniger deutliche »Wissen« mitbringen, dass sie eines Tages sterben müssen. Es ist diese Zwiespältigkeit zwischen letzterem Wissen und dem konkreten Ausweichen vor einer Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit, welche auch uns zunächst in diesem Kapitel beschäftigt, bevor wir zu einer phänomenologischen und kulturellen Diskussion der Todesfrage im postmodern geprägten gesellschaftlichen Kontext übergehen. Auf dem Weg dahin sollen auch epistemologisch die Psychologie und ihre statistischen Forschungen mit der Frage nach einer direkten persönlichen Sterblichkeitsbewältigung konfrontiert werden, was philosophisch wie therapeutisch den »positiven Impuls sowohl für die eigene Lebensverantwortung als auch für die Sinnhaftigkeit unseres individuellen Daseins« zu implizieren vermag.640 Ergänzend dazu ergibt sich aus unserem Gesamtzusammenhang der Freudschen Religions- und Kulturproblematik bisher eine Diskussion der Weiterentwicklung des Begriffs des »Todestriebes« innerhalb der Psychoanalyse, da über die theoretische Weiterführung nahezu in allen Lebenserscheinungen analytisch-therapeutisch eine negative Logik der »Masken 639 Vgl. B.L. Burke, A. Martens u. E.H. Faucher, »Two decades of terror management theory : A meta-analysis of mortality salience research«, in: Personality and Social Psychology Review 14/2 (2010) 52–73. 640 A. Batthy´any, Zur Psychologie einer Grundangst. Über abwehrende und existentielle Zugänge zum eigenen Tod, Freiburg/München, Alber 2019, 12.

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Todesabwehr und Todeszustimmung als äußerste Wahrheitserprobung

des Todes« installiert wird, die ihre spezifische Herausforderung für Kur und Übertragung als letale Vorstellungsdekonstruktion betrifft.

1)

Tod als Thema der Psychologie und einer philosophisch orientierten Existenzanalyse

Die Frage nach dem Umgang mit der eigenen Sterblichkeit in Auseinandersetzung mit einer diesbezüglichen Flucht und Abwehr ist zunächst notwendig, um andere Zugänge zum eigenen Tod, zur Vergänglichkeit und Sinnfrage allgemein sowie in Bezug auf eine mögliche Aussöhnung mit dem eigenen Tod zu finden. Aspekte hierbei, die besonders in methodischer Hinsicht für ein Gespräch zwischen Psychologie und Philosophie heute relevant sind, zeigen nämlich, wie weit Alltagsbewusstsein und philosophisches Bewusstsein auseinanderliegen, was zugleich auch schon ein Licht auf unsere kulturelle wie gesellschaftliche Situation insgesamt wirft.641 Während die Sexualität beispielsweise weitgehend inzwischen enttabuisiert ist, findet ein Sprechen über den eigenen Tod eher selten oder gar nicht in der Öffentlichkeit statt, obwohl der »Tod des Anderen« in den Medien allgegenwärtig ist. Daraus lässt sich schließen, dass die meist unbewusste Abwehr ebenfalls mit der sozialen Funktionsrolle zu tun hat, die jemand beruflich als seine »Ersetzbarkeit« direkt erfährt, wenn er sich illusionsfrei zu seiner Sterblichkeit etwa am Arbeitsplatz bekennt. Insofern kann ein erstes Ergebnis lauten, dass die Angst vor dem eigenen Sterben zur Verdrängung führt, aber diese Verdrängung dann auch wiederum die Angst oder Verlegenheit vor dem Tod ihrerseits verstärkt. Denn die abgewehrte Wirklichkeit eines solch zentralen Lebensthemas hinterlässt notwendigerweise affektive Folgen, die dann bei bestimmten Gelegenheiten wie Katastrophen, Unfall, Krankheit usw. umso vehementer hervorbrechen können, wie zum Beispiel als traumatische Angst vor dem physischen und psychischen »Zusammenbruch«,642 worauf wir zuletzt in Bezug auf den Narzissmus schon hinwiesen. Blickt man auf die wissenschaftstheoretisch bekannte Tatsache, dass disziplinäre Grenzen immer auch willkürliche inhaltliche Festlegungen beinhalten,643 so bedeutet dies hier, dass die psychologischen Erhebungen zur individuellen 641 Vgl. A. Nassehi u. G. Weber, »Verdrängung des Todes – Kulturkritisches Vorurteil oder Strukturmerkmal moderner Gesellschaften? Systemtheoretische und wissenssoziologische Überlegungen«, in: Soziale Welt 39/4 (1988) 124–136. 642 Vgl. D.W. Winnicott, »Die Angst vor dem Zusammenbruch« (1974), in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse 45 (1991) 1116–1126. 643 Vgl. Chr. Thiel, »Theorie«, in: J. Mittelstraß (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 8, Stuttgart, Metzler 22018, 20–29; M. Thiberge, Essai sur la psychanalyse et la postmodernit8, Paris, L’Harmattan 2018, 53–69: »L’Univers des modHles«.

Tod als Thema der Psychologie u. einer philosophisch orientierten Existenzanalyse

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Sterbeeinstellung gerade in einer postreligiösen oder nachmetaphysischen Epoche erfolgen. In dieser wird die Frage nach einem reifen oder womöglich sogar versöhnten Umgang mit der eigenen Sterblichkeit nicht nur im öffentlichen Diskurs meist ausgeklammert, sondern es findet sogar eine Unterbewertung oder Bagatellisierung des Todes statt, wie beispielsweise in der modernen Esoterik, wo mit vermeintlichen Gewissheiten über das Jenseits gehandelt wird. Eine andere gesellschaftliche Verlagerung geschieht, indem die individuelle Todesproblematik in den Bereich der Bioethik mit eingeschränkten Fragestellungen zu Organspende und Todeszeitpunkt oder der transhumanen Futurologie übergleitet, wo der Tod ebenfalls für überwindbar gehalten wird.644 Hierbei ist ergänzend zu den psychologischen Daten, die für ein verbreitetes »Unbehagen« angesichts des Todes sprechen, zudem auf den postmodernen Sachverhalt des mehr oder weniger vollzogenen Bruchs mit den Glaubenstraditionen zu verweisen, die ein jenseitiges Überleben annahmen,645 so dass mit deren Wegbrechen für die meisten Menschen verstärkt die »individuelle Auslöschung« neben dem allgemein konstatierten Unbehagen ins Zentrum rückt. Das heißt, von vielen wird ein rein innerweltliches Zurückgeworfensein auf sich selbst empfunden, das gleichzeitig mit einem Bewusstsein von der Endlichkeit oder Vergänglichkeit aller Dinge verbunden ist. Es geht mithin nicht nur um die Problematik des Sterbens, sondern um die grundlegende Frage für jeden, was es psychologisch und anthropologisch bedeuten kann, an der Welt teilzuhaben und zugleich zu wissen, dass all dies einmal ein Ende nehmen wird. Dabei können plötzliche Begegnungen mit dem eigenen Tod durchaus je besondere Folgen zeitigen, wie etwa ein Wiederfinden des Kindheitsglaubens oder andere Formen von Konversion, wobei »Todesnäheerfahrungen« mit Vorblick auf das Jenseits in der Fachliteratur jedoch eher kritisch beurteilt werden.646 Jüngere philosophische Analysen in Bezug auf den Tod647 sind ohne Zweifel nach diesem kurz dargestellten Befund um die psychologischen Ergebnisse zu einem weit verbreiteten »Unbehagen« angesichts der eigenen Sterblichkeit zur Ergänzung heranzuziehen. Und auf der anderen Seite bleibt dieses rein empi644 Vgl. auch D. Knoblauch u. A. Zingerle (Hgg.), Thanatosoziologie: Tod, Hospiz und die Institutionalisierung des Sterbens. Einleitung, Berlin, Duncker & Humblot 2005. 645 Vgl. etwa M. Striet, Gottes Schweigen. Auferweckungssehnsucht – und Skepsis, Mainz, Grünewald 32018. 646 Vgl. A. Batthy´any, Zur Psychologie einer Grundangst, 152ff.; K. Annette, »Death and the Great Consilience: The Theory of Essence Unifies Death-Related Anomalous Experiendes«, in: Consilience. Developing the Foundation of a New Scientific Paradigm, 18th Annual Meeting. Society for Scientific Exploration, 5.–8. Juni 2019, Broomfield, Colorado. 647 Vgl. unter anderem V. Jank8l8vitch, Der Tod, Frankfurt/M., Suhrkamp 2005; J. Derrida, »Den Tod geben«, in: A. Haverkamp (Hg.), Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin, Frankfurt/M., Suhrkamp 1994, 331–445; P. Ricœur, Lebendig bis in den Tod. Fragmente aus dem Nachlass (Hg. A. Chucholowsi), Hamburg, Meiner 2011.

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risch konstatierte Unbehagen mit der existenzanalytischen Frage weiterzuführen, was wir denn eigentlich am Tod fürchten. Hierbei kann zum Bespiel festgehalten werden, dass im aktiven mittleren Erwachsenenalter die Angst vor diesem Tod größer ist als im höheren Alter bzw. dass zu rigider Kontrolle neigende Personen oft eine stärkere Angst empfinden als jene, welche die prinzipielle Unvorhersehbarkeit aller Ereignisse im Leben mehr oder weniger für sich gelten lassen können. Was daraufhin aber dennoch eine konkrete Frage bleibt, ist nicht so sehr, dass es überhaupt »Schicksalhaftes« zu geben scheint, sondern warum dieses gerade in mein Leben und jetzt eingebrochen ist. Das heißt, das generelle »Vulnerabilitätsgefühl«648 ist nicht nur mit der allgemein menschlichen Situationseinschätzung von Gewissheit/Ungewissheit korreliert, die an sich jedes Ereignis betrifft, sondern trotz aller postmodernen oder postreligiösen Attitüden verharrt weiterhin die grundlegende Frage, ob blinder Zufall oder ein vertrauenswürdiges Schicksal über allem waltet. Selbst wenn die Religionen ihrerseits die Antwort hierauf der »Unerforschlichkeit der Wege Gottes« überließen, so zielte letztere doch über eine rein kausale Schicksalserklärung hinaus, so dass es auch heute empirisch noch immer so ist, dass »die wenigsten Menschen glauben können oder wollen, in einer solchen Welt des scheinbar blinden Schicksals (oder Zufalls) zu leben«. Aber diese Formel funktioniert zumeist nur so lange, wie eben Andere von Leid und Sterben betroffen sind, und sie wird brüchig, wenn das eigene Leben in seiner prinzipiellen Vulnerabilität direkt getroffen wird. Und diesbezüglich zeigen gerade die psychologischen Erhebungen, dass die wenigsten Menschen gern an ihr eigenes Bedrohtsein einschließlich der Ungewissheit hinsichtlich des individuellen Todeszeitpunktes erinnert werden möchten.649 Wenn demzufolge prinzipiell der existentielle Sachverhalt gegeben ist, dass wir durch unsere Vulnerabilität als solche bedroht sind, dann ist »Todesangst« nur eine Facette davon, ohne ein einheitlich begründetes Konstrukt im psychologischen Sinne bilden zu können, selbst wenn diese Todesangst einen starken Affekt beinhaltet. Was wir aus solchen Befunden als weitere Ergebnisse entnehmen können, ist demzufolge dreierlei: 1) die Bedingtheit und Verletzlichkeit unseres Daseins überhaupt; 2) die Vergänglichkeit als eine Frage nach 648 Seit Levinas hat sich der Begriff der Verletzbarkeit oder Vulnerabilität verstärkt in Philosophie, Psychologie und Soziologie als fester anthropologischer Terminus eingebürgert; vgl. Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München, Alber 31992. 306ff. Zur Analyse der ethischen Vorrangstellung des »Todes des Anderen« vor meinem eigenen Tod im Unterschied zu Heideggers Todesanalyse als »Eigentlichheit« des Daseins vgl. auch E. Levinas, Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, München, Hanser 1995, 239–251: »Sterben für …«; Dieu, la mort et le temps (Hg. J. Roland), Paris, Grasset 1993. 649 Vgl. ergänzend zur Anm. 641 ebenfalls A. Batthy´any, Zur Psychologie einer Grundangst, 37f.

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dem Dasein insgesamt sowie 3) das Bewusstsein um ein sterbliches »Ich« mit einem fragilen »Selbstwertgefühl«, sofern wir das »Unbehagen« vor dem Tod überhaupt zulassen. Denn letzteres Unbehagen ist in der Tat nicht nur eine Verunsicherung, sondern oft auch eine »Entmutigung« (Alfred Adler), so dass es in Übereinstimmung mit gegenwärtigen philosophischen Ansätzen weniger um ein »Sterben Lernen« (wie bei Platon und in der weiteren klassischen Tradition) als um ein »Leben Lernen« geht.650 In letzterer Perspektive kann sich die freie bzw. verantwortungsvolle Beschäftigung mit dem eigenen Tod (anstelle des »metaphysischen Leichtsinns«, den schon Max Scheler651 angesichts der häufigen Verdrängung kritisierte) in eine existentielle Stellungnahme gegenüber dem vermuteten, geglaubten oder akzeptierten »Nicht-Sein« von Ich und Existenz wandeln – gefolgt von der Entschiedenheit eines entsprechenden persönlichen Handelns. Mit anderen Worten tritt dann an die Stelle der Dialektik von Unwissenheit/ Wissen in Bezug auf den Tod die Dialektik von Freiheit/Schicksal, welche die eigene Lebensführung im Angesicht des bewusst angenommenen Todes zu einer jeweiligen Entscheidung hinsichtlich dessen macht, was ich im Augenblick für mein Leben als sinn- und wertvoll erachte. Damit wäre nicht nur der unbewussten Verdrängung Einhalt geboten, sondern es änderte sich zugleich auch das Zeitverhältnis als Ganzes in Bezug auf mein Tun und Handeln, denn es unterliegt dann nicht mehr im Sinne der Existenzanalyse der Illusion einer scheinbar unausschöpflichen Zeitreserve. Vielmehr kehrt sich das Provisorische eines »ausprobierenden Daseins« in die Eröffnung eines »Freiraums« einer eigenen Lebensverwirklichung um, die psychologisch nicht länger abhängig ist vom gesellschaftlichen Meinen und Wollen der Anderen. Und gleichfalls wäre dann auch die Frage für einen jeden entschieden, dass ein sterbliches Ich oder Selbst nicht mehr den Zweifel mit sich herumtragen muss, ob sich ein solches Lebensengagement angesichts des unsicheren Werdens überhaupt lohne. Dies schließt letztlich ebenfalls ein Hinterfragen von jeglicher Weltanschauung als einem »kognitiv Unbewussten« ein, insofern unser Alltagserleben gerade auch für die Todesauffassung von solchem »Weltsicht-Verhalten« bzw. von traditionellen Todessymbolen wie Sarg, Grab, Friedhof etc. diffus genährt ist.652 Auf diesem Hintergrund einschließlich der Diskussion der jeweiligen psychologischen und ideologischen Verdrängungs- und Fluchtstrukturen vor dem eigenen Sterben sowie durch den Verweis auf eine notwendige Erörterung der religiös motivierten Unsterblichkeitsfrage in Theologie, Philosophie und Litera650 Vgl. zum Beispiel P.J. Cozzolino u. L.E. Blackie, »I die, therefore I am. The pursuit of meaning in the light of death«, in: A. A. Hicks u. C. Routledge (Hgg.), The experience of meaning in life, New York, Springer 2013, 83–104. 651 Vgl. Schriften aus dem Nachlass, Bd. 1: Ethik und Erkenntnislehre, Bern, Francke 1957, 44. 652 Vgl. A. Batthy´any, Zur Psychologie einer Grundangst, 44f., 93–97 u. 144–149.

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tur653 lässt sich dann das Bemühen um eine Thanato- und Existenzpsychologie in einer philosophisch orientierten Synthese zusammenführen. Diese war bekannterweise schon der logotherapeutischen Existenzanalyse Viktor E. Frankls654 unter Einschluss Kierkegaards, Schelers und Heideggers eigen. Als Hauptargument gegenüber den eingangs genannten TMT-Erhebungen kann man daher mit A. Batthy´any655 die Beobachtung ins Feld führen, dass diese Untersuchungen sich nur auf rein affektive Faktoren beschränken, während er zusätzlich die Möglichkeit sieht, sich darüber hinaus einen rationalen Zugang zur Todesproblematik als Lebensfrage zu verschaffen, was nicht unbedingt religiös gebunden wäre. Als existenzanalytisches Modell dient hierbei die zuvor genannte Zeitumkehrung bei Frankl, die nicht nur auf das Befürchtete des Todes schaut (was bei neurotischen und depressiven Personen besonders stark ist), sondern auf das sinnvoll Erbrachte im Leben. Dies bedeutet, dass die Vergangenheit dann nicht allein als eine Wirklichkeit verbleibt, Mögliches ins Sein gehoben zu haben, sondern dieses existentiell einmal frei und verantwortungsvoll Verwirklichte geht nach Frankl wie Batthy´any auch niemals mehr verloren – weder der Person, die entsprechend einem individuell »Gesollten im Werden« gehandelt habe, noch der Geschichte eines gewesenen Seins überhaupt. Dass dazu ebenfalls die Unterscheidung zwischen »zuständlicher und gegenständlicher Angst« sowie der »Angst vor sich selbst« geklärt werden muss, um Todesangst und Mut zum Handeln voneinander zu trennen, gehört immanent zur psychologischen wie existentiellen Betrachtungsweise als solcher.656 In methodischer Hinsicht ist dies ohne Zweifel ein Gewinn, der eben für Psychologie wie Philosophie gleichermaßen wichtig ist, denn es zeigt sich dadurch, dass eine bloß zuständlich affektiv orientierte Thanatopsychologie ihre eigenen Voraussetzungen betreffs notwendiger phänomenologischer Gegebenheiten des Intentionalen nicht epistemologisch genug reflektiert. Ohne nun diesen berechtigten Übergang in eine philosophische Betrachtungsweise in Verbund mit existenzanalytisch-therapeutischen Implikationen zu verkennen, 653 Hierzu kann ebenfalls Jean Pauls »Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass da kein Gott sei«, als Beispiel aus dem Siebenkäs (Erstes Blumenstück) berücksichtigt werden, wo es zu Beginn heißt: »Ich will mit geringerem Schmerz die Unsterblichkeit als die Gottheit leugnen: dort verlier ich nichts als eine mit Nebeln bedeckte Welt, hier verliere ich die gegenwärtige, nämlich die Sonne derselben.« Vgl. zu dieser Thematik in der Literatur allgemein auch H.H. Jansen (Hg.), Der Tod in Dichtung, Philosophie und Kunst, Darmstadt, Steinkopf, 2. veränderte Aufl. 1988, sowie die Konzeption der Unsterblichkeit dank des Seins als »Ort schöpferischer Treue« im existenzdialogischen Denken von Gabriel Marcel, Gegenwart und Unsterblichkeit, Frankfurt/M., Knecht 1961. 654 Vgl. zum Beispiel Der leidende Mensch. Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie (1975), Bern, Huber 32005, 129–139: »Das Problem der Sterblichkeit«. 655 Vgl. Zur Psychologie einer Grundangst, 69–91,141–144, 164–167 u. 186f. 656 Vgl. ebd., 130–144 u. 201–208.

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die angesichts der je individuellen Todesproblematik als Daseinsproblematik mit ihren Ängsten angezeigt sind, wird allerdings zu wenig bedacht, dass eine durch sinnvolles Handeln gestaltete eigene Lebensvergangenheit keine wirklich aufweisbare Gewissheit eines solchen »Gewesen-Seins« beinhaltet.657 Es bleibt nämlich darauf zu verweisen, dass ein solcher Seins- und Zeitlichkeitsbegriff trotz religiöser Neutralität seinerseits im Sinne Freuds nicht ohne metaphysische Prämissen auskommt, die als mögliche »unbewusste Verdrängung« ebenso wie die religiösen und ideologischen analysiert werden müssen. Betrachtet man diesen Zusammenhang von Todesangst und ihrer Abwehr unter anderem eben auch psychoanalytisch, so ergibt sich, dass gleichfalls eine Vergewisserung mittels der »vollen Scheunen« der Vergangenheit (Frankl) durchaus noch eine verdrängte narzisstische Ich-Idealisierung mit deren unbewussten Dominanzstrebungen enthalten kann. Das heißt, es reicht nicht, sich nur auf das bekannte Diktum Sigmund Freuds658 zu berufen: »[U]nser Unbewusstes glaubt nicht an den eigenen Tod«, da die Triebregungen »überhaupt nichts Negatives, keine Verneinung« kennen – »Gegensätze im Unbewussten zusammenfallen«, um eine weitere tiefenpsychologische Untersuchung hinsichtlich eines metapsychologisch angenommenen »Todestriebes« beiseitezulassen.659 Denn für Freud ist der Tod insofern nicht im Unbewussten gegeben, wie er nicht »verdrängbar« ist, was aber nicht ausschließt, dass gerade in den zwanghaften Wiederholungen eine Tendenz zum Tode hin am Werk ist, welche der Lebenswirklichkeit entgegensteht,660 wie wir am Schluss dieses Kapitels bei der Diskussion um den »Todestrieb« innerhalb der jüngeren Psychoanalyse noch genauer weiterführen werden.

657 Vgl. zur Diskussion W. Rohr, Viktor E. Frankls Begriff des Logos. Die Sonderstellung des Sinnes in Substanz- und Relationsontologie, Freiburg/München, Alber 2009, 187ff.; R. Kühn, Logoth8rapie et ph8nom8nologie. Contributions / la compr8hension de l’analyse existentielle de Viktor E. Frankl, Paris, L’Harmattan 2015, 44ff. u. 174ff. 658 Zeitgemäßes über Krieg und Tod, Wien, Litres 2017, 56; zit. A. Batthy´any, 42. 659 Vgl. zur narzisstischen Haltung als beibehaltenem »Ich-Ideal« angesichts des Todes etwa M. M’Uzan, »La vie avant la mort«, in: Psychanalyse et fins de vie. Actes du colloque, Etudes freudiennes, hors s8rie, Paris 2001, der die Angst vor Kastration, Liebesentzug wie beim Säugling durch Abwesenheit der Mutter etc. beim Sterben darstellt. Sowie für einen konkreten Fallbericht H. Heymanns, »Eine Winterreise. Zur psychoanalytischen Psychotherapie einer Hochbetagten zwischen Depression, physischer und psychischer Gebrechlichkeit und beginnender Demenz«, in: Jahrbuch der Psychoanalyse 75 (2017) 95–124. 660 Vgl. S. Freud, Das Ich und das Es. Metapsychologische Studien, Frankfurt/M., Fischer 2014, 191–250: »Jenseits des Lustprinzips«, hier 221ff.; M. Thiberge, Essai sur la psychanalyse et la postmodernit8, 69–77: »L’homme, la vie, la mort«, der darauf verweist, dass in der gegenwärtigen Biologie »das Leben nicht mehr existiert« und der Tod – wie schon bei Freud – auf der Zellebene als immanenter Prozess gesehen wird.

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Insoweit das Begehren ein unbedingtes Interesse am Leben beinhaltet, kennt es keinen Tod, wie auch Paul Ricœur661 in seiner Freudinterpretation ausführt. Die Furcht vor dem Tod als egobezogene Angst ergibt sich erst durch das Schuldgefühl, welches nach Freud die Menschen über Religion und Über-Ich ergreift. Aber andererseits ist die Integration des Todes in unser Leben auch keine freie Wahl, da er als Schicksal im Sinne der an#nke unausweichlich ist. Die Annahme des Todes darf daher nicht zu einer Regression in den mütterlichen Schoß führen, sondern ergibt sich aus der rein wissenschaftlichen Sicht der Welt bei Freud als Notwendigkeit. Auf diese Weise wird die Todesannahme als »Resignation« eine persönlich affektive Aufgabe, das heißt eine korrigierende Stellungnahme innerhalb der Libido, mithin im Herzen des primären Narzissmus selbst. Da hierbei die Kunst als »ästhetische Verführung« nach Freud zwischen Religion und Wissenschaft anzusiedeln ist, ist sie weder neurotischer Trost noch nackte Notwendigkeit der Naturbetrachtung, sondern eine sublimierende »Versöhnung« mit dem Leben und der furchtbaren Gegebenheit des Todes. Mit Ricœurs Worten erlaubt die Kunst nämlich eine Symbolisierung von Schicksal und Welt, die aus der genannten »Resignation« eine »Weisheit« werden lässt, die auch mit der amor fati bei Spinoza und Nietzsche vergleichbar ist. Da die kulturelle Ästhetik zugleich ein »Schweben« zwischen dem Imaginären bzw. der Illusion und dem Wirklichen ermöglicht, verhilft sie ebenfalls gemäß Ricœur auch zu einer Annahme der Wirklichkeit im Sinne der Freudschen »Realität«. In Bezug auf den Tod impliziert dies schließlich eine Liebe zum Leben, welches dann Eros und Notwendigkeit zugleich zulasse, wodurch nicht der Tod als solcher geliebt werden kann – wohl aber der »ewige Eros« als Leben. Damit finde außerdem eine gewisse Versöhnung zwischen Szientismus und Romantik statt, wie Freud durch seine Schriften hindurch diese beiden unterschiedlichen Positionen seines Denkens immer wieder angesichts der »Realität« zu vereinen gesucht hat, wie wir dies schon in Kapitel 2 darstellten und was in Ricœurs Augen durch den hermeneutischen Doppelcharakter des Symbols von Verbergen/Entbergen weiter verständlich gemacht werden könne.662 In einer strukturalistisch radikalisierten Weiterführung Freuds hat Jacques Lacan663 daraufhin schon in den 1950er/60er Jahren die ethisch-psychoanaly661 Vgl. De l’Interpr8tation. Essai sur Freud, Paris, Seuil 1965, 245ff. (dt. Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt/M., Suhrkamp 1969). 662 Vgl. ebd., 353f. u. 516ff. 663 Vgl. Das Seminar. Buch 7: Die Ethik der Psychoanalyse, Berlin, Quadriga 1995. Dazu N. Langlitz, Die Zeit der Psychoanalyse, Frankfurt/M., Suhrkamp 2005, 201–213: »Das futur ant8rieur als eigentliche Zeitform des Unbewussten«; R. Kühn, Begehren und Sinn. Grundlagen für eine phänomenologisch-tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und Supervision – zugleich ein Beitrag zu Jacques Lacan, Freiburg/München, Alber 2015, 269– 296: »Der ›aufgeschobene‹ Tod im Begehren«.

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tische »Freisetzung« für eine »Existenz zwischen zwei Toden« herausgearbeitet, die nicht nur den physischen Tod betrifft, sondern gerade auch jegliche ontologische Inanspruchnahme von »Sein« für eine imaginär-phantasmatische Bestätigung von »Ich« als Subjekt oder Selbst einschließlich seines vermeintlich souveränen Zeitlichkeitsbezuges. Lässt man sich jenseits von Psychologie und Philosophie demzufolge radikal auf die Todesfrage ein (wobei auch die Deutung der Psychoanalyse dann nicht mehr die letzte Referenz zu sein vermag), so tritt erst die Brüchigkeit aller Verhaltens-, Denk- und Sinnkategorien in den Blick, ohne die kurz skizzierte logotherapeutische Praxisrelevanz der Existenzanalyse bei Frankl und die Ausrichtung der Psychoanalyse als Ethik bei Lacan unter anderem gänzlich zu verkennen. Anders gesagt, verpflichtet man sich keinem irgendwie gearteten Nihilismus, wenn die Seins- als Vergangenheitsversicherung hinterfragt wird. Denn der Tod bleibt als irrelative Faktizität die Begegnung mit der Wahrheit des Realen als Sein oder Leben schlechthin, ohne hierfür theoretisch vorzuentscheiden, worin diese »Wahrheit« letztlich bestehen wird – ewiges Leben, Auslöschung, Nichtsein, Reinkarnation etc. Zusätzlich tritt dabei zugleich die phänomenologisch berechtigte Frage auf, ob diese äußerste »Wahrheit« nicht ebenfalls schon in jedem Lebensaugenblick selbstaffektiv erprobt werden kann, so dass weder Zukunft/Tod noch Vergangenheit/Wirklichkeit die entscheidende Problematik bilden, sondern die rein passive Lebensselbstgegebenheit als solche diesseits aller Disziplinen und ihrer Diskurse. Elemente für beide Hinterfragungen – nämlich einer Ontologie der Zeit wie des Todes als Eschatologie – finden sich etwa bei Hegel, Heidegger, Simone Weil und Jank8l8vitch sowie bei Henry, Levinas, Ricœur und Derrida,664 um uns hier auf Autoren der Neuzeit und Gegenwart zu beschränken. Zu dieser letztlich transzendentalen Erfahrungsabgründigkeit des Sterbens hinzuleiten, scheint uns eine unverzichtbare Aufgabe zu sein, und zwar ergänzend zu notwendigen psychologischen wie psychoanalytischen Einstellungs- und Verhaltensanalysen gegenüber unserer narzisstisch neurotischen Angst bzw. Flucht vor dem Tod einschließlich herkömmlicher wie aktueller Beschwichtigungen.

664 Vgl. außer Anm. 647 bereits auch S. Weil, Zeugnis für das Gute. Traktate, Briefe, Aufzeichnungen, München, DTV 1990, 13–44: »Die Gottesliebe und das Unglück«; Zur weiteren Diskussion J. Bergeron, Vie et nort chez Heidegger, Henry et Levinas, Ma%trise Philosophie, Universit8 du Qu8bec 2010; R. Kühn, Alles, was leiden kann. Zur Ursprungseinheit von Freude und Leid, Dresden, Text & Dialog 2019, »Ausblick: Nihilismus und Heilsfrage«.

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Im Folgenden soll die Herausforderung des Lebens durch den Tod im Sinne der genannten Erfahrungsabgründigkeit radikal phänomenologisch vertieft werden, um von daher eine weitergeführte Antwort auf die scheinbare »Vernichtung« des Individuums durch das Sterben zu gewinnen. Es ist eine Antwort, welche prinzipiell weder von den Wissenschaften noch von der Gesellschaft kommen kann, denn sie haben beide keine solche Antwort auf diese äußerste Leiderfahrung eines jeden Menschen. Fragt man sich nämlich ohne Vorbehalt, was gegenwärtig unsere gesellschaftliche und kulturelle Umwelt der Wirklichkeit des Todes für jeden Einzelnen sowie für ihre eigene prekäre Entwicklung gegenüberzustellen hat, so ist es entweder das achselzuckende bis zynische ZurKenntnis-Nehmen endlicher Nichtigkeit oder die gattungsgeschichtliche bzw. politische »Erhöhung« in ein scheinbar umfassenderes Ziel hinein, hieße es Weiterleben der menschlichen Spezies als solche oder das Sich-Übergeben an eine größere »Aufgabe«, die fortdauere – repräsentiert durch Staat, Nation oder globalen Fortschritt. In diesem gesellschaftlichen Appell, den individuellen Tod nicht überzubewerten, mischen sich seit der Antike subtile Vorstellungen vom Weiterleben im Namen eines hinterlassenen Werkes oder fortzusetzender Initiativen im öffentlichen Bereich, die über den Tod des Einzelnen hinausreichen,665 wozu wir auch die zuvor dargestellte Vergewisserung über die eigenen vergangenen »Leistungen« zählen, selbst wenn sie persönlich verantwortet sind. Zweideutig sind all diese Vorstellungen insofern, als sie mit der gesellschaftlichen Meinung selbst verquickt bleiben, welche als oberste anzustrebende wie praktizierte Maxime nur das Prestige kennt. Das heißt, einen Namen im »kollektiven Bewusstsein« zu besitzen, um auf diese Weise in die »Geschichtsbücher« einzugehen, wovon das »Internet« heute mit seinen »Homepages« und »Foren« eine neue Variante einschließlich der Suggestion von Dauerhaftigkeit oder sogar »Ewigkeit« darstellt. Den Tod in dieser Hinsicht als störendes Element einer an sich scheinbar kontinuierlichen Geschichtsentwicklung hinter sich zu lassen, verkennt nicht nur, dass die Geschichte kein wirkliches »Buch des Lebens« darstellt, in dem die Namen aller Lebendigen verzeichnet sind, die sich vom Leben als solchem affizieren lassen, wie es in der Apokalypse 20,12 des Neuen Testaments heißt. Vielmehr wird auch verkannt, dass die gesellschaftliche Verquickung von Bedeutsamkeit und Prestige, welche den Überlieferungsstrang der Geschichte zumeist bestimmen, von einer Rezeption abhängt, die zugleich mit dem Prestige 665 Zur Ideengeschichte des Todesbegriffs einschließlich ethischer Fragen vgl. auch S. Blasche, »Tod«, in: J. Mittelstraß (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 8, 84–88 (mit weiterer Literatur).

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und ihrem Meinungsdiktat ebenfalls die Macht installiert. Einen »Namen über den Tod hinaus« zu besitzen, einen solchen Ruhm innerlich anzustreben oder sogar öffentlich erkämpfen zu wollen, verkennt zutiefst, dass eben mit dem innerweltlichen Tod jede selbstgegründete Mächtigkeit dahinfällt, wie Heidegger666 deutlich erkannte. Insofern bilden die öffentlichen »Todesüberwindungen« eine doppelte Illusion hinsichtlich dessen, was als »wichtig« zu erachten ist, sowie in Bezug auf das intendierte Weiterleben »im Namen« einer solch ephemeren Wichtigkeit, die durch Vergessen und Traditionsabbrüche in ihrem Wesen selbst gekennzeichnet ist. In irgendeiner Weise geschichtlich überleben zu wollen, bedeutet daher in aller Klarheit, sich durch solche Versuche der Selbstinthronisierung der immemoriablen »Wahrheit des Lebens« als dem originär »Realen« entziehen zu wollen, indem diese Wirklichkeit verkannt wird, weil sie nicht im Bereich des Geschichtlichen, Öffentlichen oder Gesellschaftlichen als erinnerbare »Größe« erscheint, wie leicht einsichtig sein dürfte. Hierzu könnte man die These von Bruno Latour667 heranziehen, dass jedes Wissen nicht nur einer langen Kette von Veränderungen unterliegt, sondern alle Wiederholungen von Wissen auf ein singuläres »Ereignis« zu Beginn solcher Tradition verweisen, welches letztlich nur das rein phänomenologische Leben in seiner Selbstaffektion zu sein vermag. Deshalb kann die Moderne auch nach Latour als jener Versuch verstanden werden, die Vermittlung von Natur und Gesellschaft im Sinne eines totalisierenden Anspruchs von sich aus unsichtbar zu machen und dergestalt scheinbar über das »Unverfügbare« der Wahrheit des Realen zu verfügen. Damit bliebe es die Aufgabe einer Kultur, welche sich gerade gegenwärtig vom »Leben Lernen« her verstehen will, auch die ununterbrochene Immanenz des Lebens als Affektion alles Lebendigen aufzugreifen – und damit die abgründige Immemoriabilität des Lebens in allem Geschichtlichen wachzuhalten.668 Solche Kultur würde dann durchaus die notwendige Ökonomie, Ethik, Ästhetik, Wissenschaft und Religion im öffentlichen Raum fortschreiben, aber eben nicht im Namen einer illusionären Mächtigkeit geschichtlicher Erinnerung, sondern als die je innere Historialität des Sich-Erleidens wie Sich-Erfreuens aller Individuen. 666 Vgl. Sein und Zeit, Tübingen, Niemeyer 111967, 237ff. (§§ 47–53). Allerdings stellte Yvonne Picard schon früh seine Konzeption des »Vorlaufens in den Tod« in Frage, da der Tod einem anderen Zeitmodus als der Unmittelbarkeit angehöre und deshalb in der Vermittlung gedacht werden müsse; vgl. »Le temps chez Husserl et Heidegger« (1941), in: Deucalion 1 (1946) 93–124, was auch von Levinas für die Ethik des Anderen aufgegriffen wurde. Für eine vertiefte phänomenologische Untersuchung siehe F. Dastur, La mort – essai sur la finitude, Paris, PUF 2007. 667 Vgl. Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin, Diaphanes 1996. 668 Vgl. darüber R. Kühn, Lebensethos. Inkarnatorische Konkretionen originärer Lebensreligion, Dresden, Text & Dialog 2017, 188ff.

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Letztere können zusammen mit dem jeweilig individuellen Sterben nicht aus diesem ewig lebendigen Gesetz des individuiert Historialen heraustreten, welches zugleich immer auch das phänomenologische Prinzip des Ankünftigwerdens des Absoluten des Lebens in seinem Selbsterscheinen als solchem darstellt. Eine solche Kultur bräuchte weder etwas von dem Überwältigenden aller wirklichen Schönheit noch vom Entsetzen des uns überkommenden Leids in seinen oft fassungslosen Ausmaßen zu leugnen, wie es etwa Homers »Ilias«, spätgotische Kreuzigungen oder Gemälde von Callot sowie Goya festhielten Aber eine diesbezügliche Kultur litte nicht daran, jenes absolute Leben, welches alles Lebendige affiziert, in machtfixierenden Bedeutungen oder Bildern festzuschreiben, um auf diese Weise phantasmatisch oder narzisstisch den Tod überwinden zu wollen. Denn die Moderne wie Postmoderne leidet seit der Auflösung verbindlicher Ästhetik669 und Werte an einer gleichzeitigen Selbstinthronisierung des »Ichs«, indem jeder – über einen abstrakt demokratischen oder marktbestimmten Freiheitsbegriff – strukturell gezwungen wird, »sich« als einmaliges Individuum in den Geschichts- und Gesellschaftsverlauf einzubringen, auch wenn dies im psychologischen Sinne nur mit Abwehr- und Fluchtverhalten vor dem Tod als dem »absoluten Herrn« (Hegel, Lacan) möglich ist, wie wir bereits zu Beginn dieses Kapitels herausstellen konnten. Indem jede religiöse Instanz im Nihilismus dahinfiel, welche den bleibenden Wert des Individuellen als solches prinzipiell unterstrich, sei es als »Ebenbild« oder »Kind Gottes« etwa, muss sich der Einzelne nunmehr über seine Leistungen in seiner Bedeutsamkeit selbst bewähren. Das heißt, er muss alles daran setzen, dass er im Namen eines »weltgeschichtlich« wichtigen Seins als »Ich« Anerkennung findet.670 In diesem Sinne beschrieb schon Hegel mit Recht die Konstellation der Moderne als einen Kampf der Bewusstseine, in dem jeder sowohl Herr wie Sklave ist, solange der Kampf um die Durchsetzung von Vorstellungen geht, die jedes Ich als wichtig oder unwichtig erscheinen lassen. Die moderne Dialektik der Freiheit als eines solchen Kampfes um anerkannte Identität führt jedoch notwendigerweise zur Brüchigkeit derselben, wenn dieser Kampf in keinem Augenblick zur Ruhe kommt, sondern an allen Fronten der (Post-)Moderne und ihrer Folgeerscheinungen – privat wie öffentlich – ununterbrochen ausgefochten werden muss, wie es sowohl Sartre wie Lacan für ihr Denken kritisch integriert haben.671 Denn zu669 Vgl. G. Dufour-Kowalska, L’art et la sensibilit8 de Kant / Michel Henry, Paris, Vrin 1996. 670 Vgl. zum Beispiel A. Wintels, Individualismus und Narzissmus. Analysen zur Zerstörung der Innenwelt, Mainz, Grünewald 2000, sowie auch schon unsere Einleitung Teil 3. 671 Vgl. dazu A. Pillen, Hegel in Frankreich, Freiburg/München, Alber 2003, sowie auch R. Kühn, Diskurs und Religion. Der psychoanalytische Wahrheitszugang nach Jacques Lacan als religionsphilosophisches Problem, Dresden, Text & Dialog 2016, 32–46: »Andersheit und Wissen im Herr-Knecht-Verhältnis«.

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mindest für den frühen Sartre führt der Blick des Anderen zu meiner objekthaften Entfremdung, und ich kann diese Vergegenständlichung zum An-sich nur abwehren, indem ich meinerseits den Anderen im »Kampf der Blicke« objektiviere, mit anderen Worten ihm die Uneigentlichkeit eines Für-sich als »Tod« bzw. »Verhärtung« zuspreche. Allerdings gibt es in späteren moralphilosophischen Analysen Sartres auch andere Betrachtungsweisen, nämlich an die Stelle der »Begierde«, mir alles als Objekt einzuverleiben, tritt eine »Konversion« mit einer »ursprünglichen Wahl« (choix originel), die nicht nur die eigene Freiheit als Freiheit will, sondern ebenfalls den Anderen dergestalt mit einbezieht, dass dieser seine Freiheit in einer gemeinsamen geschichtlichen Dialektik verwirklichen kann, wodurch Begriffe von Sein als »Freude«, »Gabe«, »Appell« und »Mitleid« auftreten.672 In Hegelscher Sichtweise, um diesen Punkt der Anerkennungsdialektik und des Todes noch zu präzisieren, hat das Selbstbewusstsein die Natur sich gegenüber. Es ist daher notwendigerweise ein leibliches Selbstbewusstsein, das nicht als reine Substanz im Sinne eines absoluten Bei-sich-Seins gedacht wird, weshalb der Tod die Manifestation dieser Nicht-Substantialität bedeutet. In der Todesangst wird dieser Widerspruch von Selbst/absolutem Sein auch vom Selbstbewusstsein selbst erfahren. Daher ist der Tod für Hegel der »absolute Herr«, was mit anderen Worten heißt, dass das Selbstbewusstsein in der Todesangst seine Abhängigkeit von der Leiblichkeit erfährt. Es erfährt in diesem Moment seinen Organismus nicht mehr als Vermögen über die äußere Natur, sondern diese wirft den Leib als in sich zurückgedrängte Kraft bzw. Begehren auf sich selbst zurück. Dadurch wird offenbar, dass der Leib nicht nur ein willenloses Instrument des Selbstbewusstseins darstellt, sondern eine eigene Existenz besitzt, die jedoch vom Vermögen abhängig ist, den äußeren Naturkräften widerstehen zu können. Diese in sich zurückgedrängte Kraft erprobt das Selbstbewusstsein in der Todesangst, sofern seine Kraft der Natur bisher widerstand, so dass innerhalb dieser Todeserfahrung ein »Beben von allem Fixen« erfolgt, wie Hegel sagt.673 Alle Lebensfunktionen sind bei dieser Erfahrung aufgelöst, um in die Einheit zurückgenommen zu werden, in der auch nach Hegel das Leben als solches erprobt wird. In diesem Sinne ist die Erprobung der Todesangst die 672 Vgl. J.-P. Sartre, L’Þtre et le n8ant. Essai d’ontologie ph8nom8nologique, Paris, Gallimard 1943, 477ff. (dt. Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek, Rowohlt 1993); Cahiers pour une morale (geschrieben 1947/48), Paris, Gallimard 1983, 298, 412ff. u. 481ff. (dt. Entwürfe für eine Moral, Reinbek, Rowohlt 2005). 673 Phänomenologie des Geistes, Hamburg, Meiner 1988, 130f.; dazu P.G. Cobben, »Das Verhältnis zwischen Bruder und Schwester. Derridas Deutung von Hegels Antigone«, in: B. Goebel u. F. Suarez-Müller (Hgg.), Kritik der postmodernen Vernunft. Über Derrida, Foucault und andere zeitgenössische Denker, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007, 147–176, hier 150f.

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Erfahrung des leiblichen Bei-sich-Seins, wodurch zu Tage tritt, dass das angenommene reine Bei-sich-Sein des »Selbstbewusstseins« eigentlich eine Abstraktion des leiblich erfahrenen Bei-sich-Seins ist. Mithin ist das Selbstbewusstsein keine Substanz, die als absolutes Wesen aller Wirklichkeit der Natur gegenübersteht, sondern das bestimmte Wesen seines eigenen Organismus. Demzufolge wird im reinen Selbstbewusstsein dieser Erfahrung nach Hegel die Einheit des leiblichen Lebensprozesses als solche gefasst, wodurch das Selbstbewusstsein dann als das Wesen seiner eigenen leiblichen Natur betrachtet werden kann. Ein Selbstbewusstsein, welches in der Todesangst das reine Wesen seines eigenen Lebensprozesses erfährt, hat damit die Fremdheit der eigenen Natur überwunden, aber als reines Wesen eines bestimmten Lebens ist es immer noch nicht absolut. Denn der Substantialität des Selbstbewusstseins wird immer noch durch den Tod widersprochen, obwohl die Todesangst gezeigt hat, dass das eigene Leben dem Selbstbewusstsein nicht fremd ist. Hieraus folgt nach Hegel, dass sich das Selbstbewusstsein nicht nur als das Wesen seines eigenen Lebens zur Geltung zu bringen hat, sondern das Wesen des Wesens des Lebens überhaupt. Wenn mithin das Selbstbewusstsein die Bestimmtheit seines singulären Lebens überwindet, das heißt, seine Sterblichkeit transzendiert, kann es seine Substantialität retten, wie die zuvor genannte Analyse des Herr/Knecht-Verhältnisses ausführte, wonach der Knecht über die Arbeit für den Herrn letztlich seine Arbeit als Ausdruck der allgemeinen Freiheit versteht, die der Herr im Wissen um seinen Tod immer schon verwirklicht hat.674 Die Bedrohung durch den Tod, meinen Namen in der Welt auszulöschen, stellt sich auf diese Weise daher nicht erst am Ende unserer sichtbaren Existenz ein, sondern in jeder Situation ist der Einzelne vom »Tod« als mögliche äußere Nichtbeachtung seines Wesens bereits bedroht, sofern er sein »Ich« nicht als unersetzbar in den alltäglichen wie gesellschaftlichen Bedeutungskampf einbringen kann, wovon die Medien die je momenthafte Inszenierung heute dokumentieren – jemand tritt auf die Fläche der Bildschirme, um in dieser Realität eines virtuellen »Da« gleich darauf dem Nächsten schon wieder Platz zu machen und morgen allzumal vergessen zu sein.675 Eine Kultur, die von solch illusionshafter Medialität lebt, beschleunigt mithin ohne Zweifel die Angst vor dem je augenblickshaften gesellschaftlichen Tod sowie vor dem Kampf dagegen, weshalb das Ich im Namen seiner »Freiheit« alles unternimmt, um ein solches Schicksal nicht erleiden zu müssen, jedoch auf diese Weise sein inneres wie 674 Vgl. insgesamt zu Hegels Dialektik A. Sell, Der lebendige Begriff. Leben und Logik bei G.W.F. Hegel, Freiburg/München, Alber 2015. 675 Zur entsprechenden Analyse des Fernsehens und verwandter Medien vgl. M. Henry, Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, Freiburg/München, Alber 1994, 297ff. (Studienausgabe 2016).

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äußeres Leid nur vermehrt. Eine solche Kultur führt zu einem unausweichlichen Paradox, nämlich den Tod einerseits individuell vergessen machen zu wollen, indem sie ihn andererseits zu jedem Augenblick sowie an jedem Ort der Öffentlichkeit bereits exekutiert. Dass all diejenigen, die aufgrund ihrer sozialen oder politischen Ausgeschlossenheit keinen Zugang zur Repräsentation in dieser Medialität besitzen, als Rezipienten an diesem Vorstellungsspiel dennoch teilnehmen, erhöht nur die Dramatik des gesellschaftlich-kulturell verfügten Todes, nämlich für ihr eigenes Leben sich Ersatzbilder verschaffen zu müssen, deren Akteure ihnen ein eigenes »wahres Leben« vorgaukeln, welches dann gerade nicht mehr seinem historial singulären Sich-Erleiden und Sich-Erfreuen folgt, sondern der medialen Substitution.676 In diesem Sinne ist bereits vor dem physischen Tod jedes Einzelnen der gesellschaftliche Tod in seinem Leben installiert, weil das Innere als die subjektive Immanenz in ihrer je eigenen Historialität gar nicht mehr vernommen und damit auch dem kulturellen Leben keine originäre oder individuelle Erneuerung mehr zugeführt wird. Ist anzunehmen, dass für eine ars moriendi unter den Bedingungen der (Post-)Moderne heute eine Rückkehr zum rein phänomenologischen Leben notwendig wäre, damit der Sterbende das Absolute des Lebens in sich selbst überhaupt noch ergreifen kann, indem er sich von dessen »Wahrheit« als dem »Realen« ergriffen weiß, dann zielt eine Wiederbelebung der Kulturalität als unfragliche Präsenz solchen Lebens in all dessen Ausdrucksweisen auf die Hinterfragung jener Substitute oder Simulakren insgesamt ab,677 welche sich im Namen der genannten hypostasierten Objektivitäten wie Todesschatten über die Manifestation des Lebens in seinem ihm ursprünglichen Erscheinen legen. Dadurch würde das Bemühen um eine ethische, religiöse wie ästhetische und analytisch-therapeutische ars moriendi im Schoß jeder lebendigen Kultur zum gleichzeitigen Einsatz für eine solche Kultur selbst, denn wo um die in allem ankünftig werdende Gewissheit des absolut phänomenologischen Lebens zu jedem Augenblick gewusst wird, dort vollzieht sich dann gleichfalls auch die reine Kulturalität im angeführten Sinne. Sie besteht in der Tat darin, dass in allem Denken, Fühlen und Tun der nie abwesenden Historialität des Lebens – als Wesen unserer Existenz selbst – unser »affektives

676 Vgl. ebenfalls A. Bozga, The Exasperating Gift of Singularity. Husserl, Levinas, Henry, Bukarest, Zeta Books 2009; sowie A. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Frankfurt/M., Suhrkamp 2017. Michel Serres geht daher auch der Frage nach, welche Risiken ein Leben ohne Tod bieten würde, wenn die zukünftigen biotechnischen Möglichkeiten Wirklichkeit werden sollten. Die »Natur« wäre dann insgesamt verfügbar, aber damit könnten neue, unbegrenzte Ängste für den Menschen auftreten; vgl. Hominescence, Paris, Fayard 2001. 677 Vgl. hierzu die Analysen von J. Baudrillard, Simulacres et simulation, Paris, Gallimard 1981.

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Fleisch« als Weise ihrer inneren Verwirklichung dargeboten wird,678 ohne der Illusion irgendeiner sakrifiziellen oder leistenden Genugtuung bzw. Versöhnung zu verfallen. So vermag das radikal individuierte Leben in allem aus sich selbst heraus zu wachsen, was wir als die »Heilsfrage« ohne jede Vorstellung im Zusammenhang mit der Einheit von Freude/Leid einschließlich des Sterbens hier festhalten können. Dadurch ist der Tod als individuelle wie kulturelle Stagnation ausgeschaltet, so dass an deren Stelle neue Weisen von Erfahrung erprobt werden können, in denen sich die Individualitäten der Selbststeigerung des Lebens in ihrem je eigenen Pathos wie auch des gemeinschaftlichem Mitpathos anvertrauen.679 Eine solche Kultur lebt dann nicht mehr von abstrakten oder globalen Zielen, die mit ideologisch verbrämter Macht erreicht werden sollen, sondern von der Einheit des Lebens, welche im jeweiligen Augenblick bereits Fülle ist, so dass keine irreellen oder imaginären Substitute mehr dafür geschaffen werden müssen. In dieser Hinsicht ist ein radikal- oder lebensphänomenologisches Bedenken des Todes unter all seinen individuellen wie gesellschaftlichen Formen – über existenz- und psychoanalytische Implikationen hinaus – eine sicher heilsame Notwendigkeit im Sinne des durch nichts ersetzbaren Lebens selbst, welches allein eine »Zukunft« gegen jedweden »Tod« in sich trägt, sofern wir uns nur von solchem Leben und seiner inneren Affektion wirklich berühren lassen. Der über den Schelerschüler Paul-Ludwig Landsberg beeinflusste Personalismus eines Emmanuel Mounier (1905–1950)680 postulierte daher bereits eine Todesbereitschaft, die sich in werthaften Engagements fähig zur Selbsthingabe zeigt, um auf diese Weise in einem anti-utilitaristischen Sinne ein Gabe-Denken großherziger Akte (gratuit8) zu favorisieren, das mit der »Verausgabung« (d8pense) bei Bataille verglichen werden kann, auch wenn die »Person« bei Mounier einer einheitlicheren Anthropologie gehorcht als die Spannung von

678 Vgl. ausführlicher R. Kühn, Praxis der Phänomenologie. Einübungen ins Unvordenkliche, Freiburg/München, Alber 2009, 321–345: »Ars moriendi als Lebensästhetik in der Moderne«. 679 Zur Diskussion siehe M. Maesschalck, Transformation de l’8thique. De la ph8nom8nologie radicale au pragmatisme, Brüssel, Peter Lang 2010, 163–185: »Ph8nom8nologie radicale et pragmatisme comme th8ories de la norme. En dialogue avec Michel Henry et Rolf Kühn«. 680 Vgl. E. Mounier, R8volution personnaliste et communautaire (1935), in: Œuvres I, Paris, Seuil 1961, 127–416. Viktor E. Frankl vertrat eine ähnliche Position in Bezug auf solche Todesbereitschaft, wie zu Beginn ausgeführt wurde. Einen entsprechenden Personbegriff im Sinne des »Verströmens« freier Akte aus Liebe findet sich auch bei Jacques Maritain (1882–1973), der im Übrigen darauf aufmerksam macht, dass der Freiheitsbegriff hinter Aufklärung und Säkularisierung auf die christliche Heilsgeschichte (imago Dei) zurückgeht; vgl. Humanisme int8gral (1936), in: Œuvres ComplHtes, Band 6, Paris, Descl8e de Brouwer 1984. Dennoch bleibt auch hier ein Vergleich mit Batailles »Verausgabung« durch Exzess und Tod möglich.

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Kontinuität/Diskontinuität bei Bataille.681 Da Paul Ricœur zur Gruppe der Zeitschrift »Esprit« gehörte, die Mounier in den 1930er Jahren gegründet hatte, enthält sein Denken ebenfalls eine gewisse Weiterentwicklung dieses Gedankengutes unter phänomenologischen Vorgaben im Ausgang von Husserl, Gabriel Marcel und Jaspers. Durch sein ganzes umfangreiches Werk zieht sich nämlich das Postulat einer Versöhnung, die sowohl den Einzelnen als auch die Geschichte umfasst, das heißt eine narrative Hermeneutik, welche die aus der Einbildungskraft geborenen Metaphern als »Intrigen« der Erfahrung zu vereinen sucht, ohne daraus eine Totalisierung der Geschichte im Sinne Hegels abzuleiten. Affiziert durch ein radikal Böses (Kant) und dem Leid jeglicher Form seitens Schuld, Gewalt und Tod ausgeliefert, besteht die genannte »Versöhnung« bei Ricœur682 deshalb darin, wie wir schon zuvor bei seiner Freudinterpretation des Todes sahen, den Horizont der Geschichte offenzuhalten für eine absolute Andersheit. Ihr zu folgen, impliziert durch die Unterscheidung von Selbstheit (ips8it8) und Selbigkeit (mÞmet8) eines »dezentrierten Subjekts« bzw. »verwundeten Cogito« eine individuelle wie politische Ethik im Sinne von zu verwirklichenden »Kontexten guten Lebens« und »gerechten Institutionen«. Mithin bleibt auch hier angesichts des Todes stets eine persönliche wie geschichtliche Herausforderung gegeben, ohne die Absolutheit der transzendenten Andersheit durch Schrift oder Bild fixieren zu können.

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Dass Liebende gemeinsam in den Tod gehen, um ihre gegenseitige Vertrautheit in diesem leben zu können, weil die Welt ihnen ein solches Zusammensein scheinbar verwehrt, verweist darauf, dass der Tod in der Tat nicht als Beendigung jeglicher ersehnten Gemeinschaftlichkeit gedacht werden muss. Andererseits genügt aber auch nicht das Verständnis des Todes als eines bloßen 681 Vgl. detaillierter R. Kühn, Postmoderne und Lebensphänomenologie. Zum Verhältnis von Differenz und Immanenz des Erscheinens, Freiburg/München, Alber 2019, Kapitel I,4: »Trieb und Erotik in der Lebensphänomenologie und bei Georges Bataille«. In diesem Zusammenhang bliebe auch noch einmal an die gegenwärtige Phänomenologie der Gebung/Gabe (Donation) bei Jean-Luc Marion zu erinnern; vgl. vorheriges Kapitel II,5, Anm. 556. 682 Vgl. außer unserem vorherigen Kapitel 3 auch B. Bengard, Rezeption und Anerkennung. Die ökumenische Hermeneutik von Paul Ricœur im Spiegel aktueller Dialogprozesse in Frankreich, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2015, sowie zum Vergleich A. Assmann, Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München, Beck 2018.

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Schlafes. So antwortet etwa der Tod im Gedicht (1774) von Matthias Claudius,683 das Schubert dann so eindringlich vertonte: »Sei gutes Muts! Ich bin nicht wild, / Sollst sanft in meinen Armen schlafen.« Denn entgegen einer solchen Form von Optimismus und Naturalismus, welche aus dem Sterben nur eine Metamorphose gleich dem Nicht-Erwachen aus dem Schlaf machen, steht heute zu gewiss die existentielle Wirklichkeit meines zukünftigen Todes als ein unumkehrbares Ende all meiner welthaften oder naturalen Bezüge. Der Tod ist hierbei das Daseinsende schlechthin, insofern ich durch meinen Tod keine weiteren Projekte meines Ichs über das Abbrechen solcher intentionalen Möglichkeiten im Sterben hinausdenken kann. Insofern hat Heidegger684 zunächst recht, wenn er im Da-Sein als »Sein zum Tode« die äußerste Freiheitsmöglichkeit unserer selbst als »Eigentlichkeit« erblickt, worin sich solches Da-Sein im Vorhinein entschlossen ergreift, um diese letzte Möglichkeit als seine »Ganzheit« bereits in jedem Jetzt zu antizipieren, was wir als »irrelative Faktizität« bereits unterstrichen. Auf diese Weise glaubte Heidegger, das »Sein-zum-Tod« als Freiheit von der »Man«-Verfallenheit her analysieren zu können, während Levinas dieser Sichtweise die »Verantwortlichkeit« gegenüberstellte, damit der Andere nicht getötet werde oder in seinem Sterben nicht allein sei. Eine solche »Substitution« für den Anderen ist dann nicht mehr ontologisch, sondern ethisch, so dass an die Stelle der Angst auch eher die Unruhe für den Anderen nach Levinas tritt, die keine Freiheit für den eigenen Tod kennt, wodurch der Tod selbst die Stelle der radikalen Transzendenz als absolute Andersheit wie das »Antlitz des Anderen« einnimmt.685 Wenn der Schlaf daher nicht als eine einfache Vorform des Todes aufgefasst zu werden vermag, da welthafte wie naturale Möglichkeiten im Tod ihr sicheres Ende finden, so bleibt im Zusammenhang von Schlaf/Tod allerdings noch die weitere Möglichkeit gegeben, auch den Tod vom radikal phänomenologischen Leben her zu denken. Der Schlaf kann in der Tat als immanente Offenbarung des reinen »Mich« in der Selbstvergessenheit des Lebens bestimmt werden,686 so dass es hier eine individuelle Todesahnung zu beschreiben gilt, die sich mitten im Leben selbst ganz plötzlich durch ein äußeres Ereignis wie Unfall oder Sterben anderer Menschen oder im eigenen Inneren unzurückweisbar einstellen kann. Als reines Gefühl sagt mir eine solch affektive Todesahnung, dass ich an sich auch nicht (mehr) im Leben sein könnte, weil sich das Leben von mir eventuell zurückzieht. Das Paradoxe einer solchen Erfahrung des vorweg geahnten Todes 683 Werke in einem Band, München, Winkler 1968, 86; Franz Schubert, Der Tod und das Mädchen, Opus 7, Nr. 3. Das Sujet vom Tod und Mädchen existierte bereits in der bildenden Kunst seit ca. 1500. 684 Vgl. Sein und Zeit, § 52. 685 Vgl. E. Levinas, Dieu, la mort et le temps, 49, 84 u. 107. 686 Vgl. R. Kühn, Praxis der Phänomenologie, 225–231: »Schlaf und Passibilität des Lebens«.

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ist es, dass ich sie eben im Leben mache, denn in dem Augenblick selbst, in dem mich das mögliche Sterbenkönnen oder Sterbenmüssen dergestalt ergreift, bin ich noch ein wahrhaft Lebendiger mit all jenen Potentialitäten, welche eine solch subjektive Lebendigkeit transzendental ausmachen. Ist der dann gedachte Tod nicht nur irreell, während das Gefühl desselben als Ahnung durchaus affektiv in seiner ganzen Schärfe gegeben ist? Wie kann ich den absoluten Gegensatz zu meinem Leben denken, wenn letzteres konstitutiv jeden Tod aus sich ausschließt, insofern dort, wo Leben gegeben ist, kein Tod zu herrschen vermag? Diese Fragen verstehen sich auf jenem radikal phänomenologischen Hintergrund, dass der Tod – wie insbesondere bei Heidegger – von der Welt her gedacht wird, wo er das Ende unserer sichtbaren Vermögen und einen Leichnam bedeutet, was aber noch keine letzte Aussage über die lebendige Leiblichkeit als solche beinhaltet, deren transzendentale Selbstgegebenheit als »Fleisch« gerade nicht mundan fundiert ist.687 Achten wir noch genauer auf diese innere Todesahnung, so bedeutet jenes Gefühl, das Leben verlieren zu können, mit genau derselben Gewissheit, dass ich mich nicht selbst ins Leben gesetzt habe, das heißt nicht der Ursprung meines Lebens bin, sondern in ihm originär ohne Unterbrechung gezeugt werde. Und in diesem Erproben eines nicht von mir geschaffenen Lebens, welches in seiner ihm eigenen absoluten Selbstaffektion nach Meister Eckhart »Ungeborenheit« besagt,688 zeigt sich bis zu einem gewissen Grade eine Parallele zum Schlaf. Denn im Sterben – und sodann radikal im Tod – tritt jenes erwähnte rein passible Mich hervor, welches bereits im Schlaf der Nacht als Abwesenheit des Ichs erlebt wird. Im Schlaf bin ich in der Tat zunächst reine Passibilität in der »Selbstvergessenheit« des Lebens. Mit dem Erwachen zum hellen Bewusstsein allerdings kann ich gar nicht anders, als die Intentionen des Tages zu ergreifen, mit anderen Worten meinen Projekten eines wachen Bewusstseins zu folgen, welches sich in all seinen Vorstellungen und Akten als ein »Ich denke« einstellt, wie unter anderem Kant ausführte und Heidegger als »Sorge« existenzial zu fassen versuchte.689 687 Vgl. M. Henry, G8n8alogie de la psychanalyse. Le commencement perdu, Paris, PUF 1985, 395f.; J. Bergeron, Vie et mort chez Heidegger, Henry et Levinas, 67f., der ebenfalls betont, dass das immanente Selbsterscheinen des Lebens nicht an die Welt oder das Sein als Bedingung gebunden ist. 688 Vgl. J. Reaidy, »Die Geburt im Leben bei Meister Eckhart und Michel Henry«, in: R. Kühn u. S. Laoureux (Hgg.), Meister Eckhart – Erkenntnis und Mystik des Lebens. Forschungsbeiträge der Lebensphänomenologie, Freiburg/München, Alber 2008, 159–185. 689 Vgl. M. Henry, Affekt und Subjektivität. Lebensphänomenologische Beiträge zur Psychologie und zum Wesen des Menschen, Freiburg/München, Alber 2005, 18ff. Der Traum wäre auf diesem Hintergrund zunächst nicht so sehr die halluzinatorische Besetzung eines meist sexuell konnotierten »Wunschdenkens« wie bei Freud in seinem frühen Werk über die »Traumdeutung« von 1900 als vielmehr eine imaginäre Selbstverbildlichung des imma-

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Das schlafende Cogito der Nacht kann tagsüber nur durch eine mühsame Epoch8 und Gegenreduktion in ein reines Mich des originären Cogito »verwandelt« werden, weshalb Husserl690 schon von der »Tortur« und »personalen Einsamkeit« eines solch reduktiven Entschlusses sprach, um der »lebendigen Gegenwart« des immanenten Bewusstseinsflusses gerecht zu werden. Der Tod leistet hingegen eine solche Reduktion endgültig, und zwar »mit einem Schlage«, denn im definitiven Sterben erfahre ich wohl, dass ich absolutes Mich in meinem Lebensursprung bin und von mir selbst her eben keinerlei Möglichkeiten besitze, mich diesem absoluten Ursprung irgendwie substituieren zu können. Im Unterschied zum Schlaf lässt mir der Tod überhaupt keine Illusion des Ichs mehr, in meinem tiefsten Grund ein rein lebensaffektives Mich zu sein. Und weil diese Zerstörung der transzendentalen Ich-Illusion als freiheitliche oder reflexive Selbstsetzung nur im Tod möglich ist, während der Schlaf wieder vom täglichen Erwachen abgelöst wird, sollte man die Analogie von Schlaf/Tod, wie sie seit Antike und Romantik gegeben ist, nicht als eine bloß metaphorische Identität betrachten. Besteht nämlich das »Reale« unseres Lebens zuletzt darin, einmal den Illusionscharakter der eigenen Ichleistungen zu durchbrechen,691 um in der ausschließlich reinen Affektion des Lebens und deren Selbstvergessenheit als »Un-grund« die »Wahrheit des Realen« leben zu können, dann sollte dem Tod nicht jene einmalige existentielle Schärfe oder jenes »eschatologische« Gewicht genommen werden, welches ihm beispielsweise auch bei Simone Weil als definitiver »De-kreation« anhaftet.692 Verfolgt man mithin die literarisch und philosophisch oft beschworene Analogie von Schlaf/Tod noch etwas weiter, so muss die Frage geklärt werden, ob der Tod sozusagen nur die »Rückseite« des Lebens sei, so wie der Schlaf die Nachtseite des Tages darstellt. Da ontologisch wie phänomenologisch eine prinzipielle Gleichwertigkeit zwischen Leben und Tod ausgeschaltet ist, insofern dort, wo Tod ist, kein Leben sein kann, ohne in einen begrifflichen Widerspruch oder in vermittelnde Einheits-Dialektiken einer metaphysischen »Versöhnung« wie bei Hegel zu geraten, bleibt jedoch von der Todesahnung im Leben her ein nenten Lebens, um seine unsichtbare Selbstaffektion in ihrer Historialität fiktiv zu erproben, das heißt als Potentialitäten, die noch der Verwirklichung harren. Dieser Themenbereich wurde in der Lebensphänomenologie noch nicht eingehend behandelt und würde gerade auch in Bezug auf die Psychoanalyse eine eigenständige Untersuchung erfordern, die wir hier nicht liefern können. Vgl. für einige Hinweise M. Henry, Ph8nom8nologie de la vie, t. III: De l’art et du politique, Paris, PUF 2003, 309–324: »Narrer le pathos«. 690 Vgl. Erste Philosophie (1923/24), II. Teil: Theorie der phänomenologischen Reduktion (Husserliana VIII), Den Haag, Nihoff 1959, 23ff. 691 Vgl. M. Henry, »Ich bin die Wahrheit«. Für eine Philosophie des Christentums, Freiburg/ München, Alber 1997, 186–213: »Das Vergessen seines Sohnseins durch den Menschen: ›Ich, Mich‹ – ›Mich, Ego‹«. 692 Vg. R. Kühn, Leere und Aufmerksamkeit. Studien zum Offenbarungsdenken Simone Weils, Dresden, Text & Dialog 2014, 53ff.

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anderer Aufweis noch möglich. Alles, was ich denke, erfasse ich in einer Intention des wachen oder objektivierenden Bewusstseins, indem alles, was ist, für das Ich solchen Bewusstseins (Daseins) »ist«. Es bleibt daher strukturell unmöglich, dass das Ich einer solch ego-logischen Intentionalitätsstruktur bzw. »Sorge« jemals ein passibles Mich wahrhaft zu denken vermöchte, weil jenes Mich in der Nacht des Lebensgrundes eben keine thematische Gegebenheit des Ich-Horizonts darstellt, sondern eine rein affektive Gegebenheit im Absoluten des Lebens selbst, welches für immer ein ursprüngliches Voraus in Bezug auf jede mögliche Erinnerung und Reflexion beinhaltet. Das Mich vom Ich her nicht denken zu können, so wie wir stringent den Schlaf in seiner reinen Passibilität nicht von der wachen Aktivität her zu erfassen vermögen, bedeutet mithin eine konstitutive Unmöglichkeit. Deshalb tritt der Tod, wie immer die Phasen des Sterbens im Einzelnen aussehen mögen,693 als eine Unbedingheit auf, in deren Gewalt sich das Ich als Mich erfährt, ohne diesen »Übergang« irgendwie selbst leisten zu können. Denn solange das Ich die reflexive Herrschaft im Vermeinen, Vorstellen, Erinnern und Handeln ausübt, solange kann auch das Mich als reines Erscheinen in seinem lebendigen Selbsterscheinen nicht offenbar werden – dies geschieht erst dann, wenn das Ich tatsächlich »gestorben« ist. Wir verstehen eine solche Aussage in keinem bloß ethischen oder spirituellen Sinne,694 so wie wir etwa sagen, eine schwierige Entscheidung oder widrige Umstände seien »wie ein Tod« erlebt worden. Vielmehr enthält das Sterbenmüssen des Ichs, um das rein lebendige Mich in absoluter Selbstgegebenheit erproben zu können, eine phänomenologische Notwendigkeit wesenhafter Natur. Alle Bemühungen, dieser Apodiktizität auszuweichen, führen in den zuvor erwähnten Naturalismus oder in einen dialektischen Paralogismus, welcher der Geburt des Menschen im absoluten Grund des Lebens nicht gerecht wird, so wenn Epikur beispielsweise vom autonomen

693 Vgl. die bekannten Untersuchungen von E. Kübler-Ross, Leben bis wir Abschied nehmen, Gütersloh, Mohn 41991; Interviews mit Sterbenden, Freiburg/Basel/Wien, Herder 2018, wobei allerdings dieses Phasenmodell der 5 Stufen in der wissenschaftlichen Sterbeforschung umstritten ist; siehe R.D. Konigsberg, The Truth about Grief. The Myth of the Five Stages an the New Science of Loss, New York, Simon & Schuster 2011. Auf die Frage vom »guten« oder »idealen Tod« als Leitbild in der heutigen Gesellschaft und die damit verknüpfte Problematik von Palliativmedizin und/oder Euthanasie können wir hier nicht weiter eingehen; vgl. zum Beispiel J. Wittkowski (Hg.), Sterben, Tod und Trauer. Grundlagen, Methoden, Anwendungsfelder, Stuttgart, Kohlhammer 2003; M. Stolberg, Die Geschichte der Palliativmedizin. Medizinische Sterbebegleitung von 1500 bis heute, Frankfurt/ M., Mabuse 2011. 694 Über den Bezug zur Mystik wie zu Hegel hierbei vgl. Th. Kobusch, »Freiheit und Tod. Die Tradition der mors mystica und ihre Vollendung in Hegels Philosophie«, in: Theologische Quartalschrift 164 (1984) 185–209.

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Ich her argumentierte: »Ist der Tod da, bin ich nicht mehr da, und solange ich bin, ist der Tod noch nicht da.«695 Jene Todesahnung mitten im Leben, jenes Gefühl, anders gesagt, irgendwann nicht mehr »sein« zu können, weil sich das Leben von uns zurückgezogen hätte, enthält genau – in der Weise des absolut zu nehmenden Gefühls in seiner Selbstgewissheit – den Umschlag des Ichs ins Mich. Solange ich mich als »Ich« denke, weiß ich mit welthafter Sicherheit, dass ich eines Tages sterben werde, was die eingangs angeführten psychologischen Abwehrreaktionen und Ängste hervorruft. Aber jene Todesahnung als Gefühl des Nicht-mehr-Seins sagt mir ebenfalls, dass ich jenen Augenblick noch im Leben erfahren werde, so wie Gabriel Marcel696 gleichsam als ein Echo auf Epikur bemerkte, der Tod sei nur eine andere Weise zu empfinden. Zu empfinden jedoch vermag sich das reine Leben nur als Mich sowie im Mich, während es ein Leben als »Etwas« niemals gibt. Ist das Ich jene Instanz schlechthin, alles Erscheinende als jeweiliges Etwas in seiner Gegen-ständlichkeit zu denken, so vermag es eben grundsätzlich jenes Leben nicht zu erfassen, welches »im Tod« das reine Empfinden des Michs erprobt, indem es im Leben den »Tod des Ichs« zu erfahren hat, um die Erprobung des reinen Michs überhaupt machen zu können. Denn die Todesahnung ergreift die zeitliche Kontingenz des Ichs, während die »Unheimlichkeit« der abgründigen Angst697 dabei eine affektive Manifestation jenes Michs ist, wie es unsichtbar im Selbstvergessen des Lebens auf dessen Grund ruht, ohne eben die Wahrheit dieser Wirklichkeit vorstellungsmäßig durch Bilder oder Vorstellungen fixieren zu wollen, wie wir bereits als wichtigstes Ergebnis festhielten. Liebe und Schlaf vermögen daher in dem Maße als Hinweise auf jene letzte Erprobung des »Realen« aufgefasst und gelebt zu werden, wie beide ein Leben in reiner Passibilität voraussetzen, um sich in ihrer rein phänomenologischen Gegebenheit vollziehen zu können. Von daher wäre auch eine weiter bestehende »Gemeinschaftlichkeit der Toten« anzudenken, sofern wir die Verstorbenen zwar nicht mehr wahrnehmen, uns aber ihrer dennoch sehr wohl affektiv erinnern.698 Allerdings möchten wir hier eher nochmals insbesondere unterstreichen, dass der Tod nur die höchste Lebendigkeit freigibt, ohne diese selbst sein zu können. Denn lebendig im strengen, radikal phänomenologischen Sinne des Wortes ist nur das Leben, das absolute Leben, welches den Tod niemals kennt, ohne hier weiter auf religiöse, insbesondere christologische Implikatio695 Vgl. Von der Überwindung der Furcht. Katechismus, Lehrbriefe, Spruchsammlung, Fragmente (Hg. O. Gigon), München, Insel 1991. 696 Vgl. bereits vorherige Anm. 653. 697 »Heimisch im Unheimlichen« sein zu können, um »jene sinnlose Angst psychisch zu bearbeiten«, wie Freud gegen Schicksal und Tod ausführt, ist hier nicht mehr möglich; vgl. Die Zukunft einer Illusion: GW XIV, 338f. 698 Vgl. M. Henry, Affekt und Subjektivität, 160ff. (»Mitpathos als Gemeinschaft«).

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nen von Tod/Auferstehung einzugehen, wie sie unserer Leiblichkeit als »Fleisch« eingeschrieben sind.699 Das Ich hingegen kennt den Tod, muss ihn erfahren – nicht nur in sich selbst, im Freigeben seiner illusorischen »Eigentlichkeit«, um verwandelt zu werden, ohne bis an diesen Punkt aufzuhören, Ich zu sein. Vielmehr, um jenen »Un-Grund« zu erproben, den es als solchen schon immer vergessen hat – den Grund seines Lebens, welcher sich allein im Mich der reinen Passibilität offenbart. So verhilft uns eine voraussetzungslose Besinnung dazu, den Tod in seiner Radikalität nicht als metaphorischen Schlaf zu verkürzen sowie das Leben nicht bloß als ein mögliches »Wiedererwachen« danach gelten zu lassen. »Vom Tode erwachen« kann daher nicht bedeuten, dasselbe Ich der gewohnten Wahrnehmung fortzusetzen, sondern vom Tod dieses Ichs gegenüber dem Leben »zu erwachen«, mit anderen Worten als endgültig reines Mich in der ausschließlichen Selbstgegebenheit des Lebens zu leben, was keine Ewigkeit bedeuten muss, sondern den Ursprung dieses Mich in seiner Wahrheit als Wirklichkeit – diesseits aller Zeit – zu erproben. Dieser radikal phänomenologische Verständnisversuch eines Sterbens im Leben gibt uns zugleich die Möglichkeit, die Problematik des Todestriebes bei Freud in diesem rein immanenten Bereich der Selbstaffektion nochmals kritisch aufzugreifen. Im strikten Sinne würde der metapsychologische Begriff eines »Todestriebes«, den wir für die Kulturbeschreibung als Aggressions- und Destruktionstrieb bei Freud schon berücksichtigt hatten,700 im Zusammenhang mit einem absolut oder originär phänomenologischen Leben keinen Sinn ergeben. Freud bekannte ausdrücklich in einem Brief an Oskar Pfister vom 7. Februar 1930, dass »der Todestrieb [ihm] kein Herzensanliegen ist«, sondern eine »unvermeidliche Annahme aus biologischen wie aus psychologischen Grunden«.701 Denn dadurch konnte geklärt werden, warum das Phänomen des Hasses sich nicht problemlos in seine anfängliche Triebtheorie einschreiben ließ, welche den Rahmen von Sexual- und Ichtrieben abgab, die ihrerseits mit der Eroswirklichkeit als Prinzip für Bindungen und Selbsterhaltung dann in Anspruch genommen werden konnten. Innerhalb der psychoanalytischen Lehrentwicklung gab es daher später zwei ganz unterschiedliche Tendenzen, nämlich entweder den Todestrieb als zu »spekulativ« überhaupt abzulehnen oder ihn in einem allgemeineren Sinne nur als »Aggressivität« gelten zu lassen, womit sich das Hassphänomen erhellen ließ. Historisch relevant ist hierfür beispielsweise die Kontroverse zwischen Freud und Wilhelm Reich,702 der zwar den unbewussten 699 Vgl. R. Kühn, Gabe als Leib in Christentum und Phänomenologie, Würzburg, Echter 2004, 97–108: »Passion und Sterben Christi«. 700 Vgl. vor allem unser vorheriges Kapitel I,2.2. 701 S. Freud u. O. Pfister. Briefwechsel 1909–1939 (Hg. I. Noth), Frankfurt/M., Fischer 1963, 272. 702 Vgl. Charakteranalyse. Technik und Grundlagen für studierende und praktizierende Analytiker, Selbstverlag 1933; erweiterte Ausgabe Köln, Kiepenheuer & Witsch 1970, Kapitel:

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Wunsch nach »Selbstzerstörung« anerkannte, aber aus ideologisch marxistischen Gründen keinen gesellschaftlich oder kulturell wirksamen Todestrieb. Um diese danach weiter gegebene sterile Gegenüberstellung von theoretischer Ablehnung und Zustimmung zu überwinden, schlug Jean Laplanche703 etwa vor, den »Todestrieb« als einen »Trieb zu sterben« zu verstehen bzw. als ein »Sich-Sterben-Lassen«. Eine solche Lösung mildert zwar die ursprünglichen Freudschen Implikationen dieses Begriffs ab, wie beispielsweise die rein biologisch gedachte Rückkehr in einen anorganischen Zustand, aber dadurch ist die von uns zuletzt angesprochene Wirklichkeit des Lebens in einem radikal originären Sinne ebenfalls nicht beantwortet. Der »Trieb zu sterben« enthält in seiner weniger spekulativen Fassung als Freuds metapsychologische Konzeption die Einsicht, dass der »Todestrieb« klinisch nicht wirklich erweisbar ist. Daher traten für die weitere Diskussion vor allem folgende Aspekte hinsichtlich der analytisch-therapeutischen Praxis nach und nach in den Vordergrund: die Formen des Narzissmus, der Trieb-Objekt-Bezug, die schon erwähnte Aggressivität insbesondere als Masochismus sowie das Verhältnis von Gegenübertragung und Tod. Der Narzissmus ist zweifellos in libidinöser Hinsicht eine Weise der Selbsterhaltung, wie wir dies schon in unseren Kapiteln zuvor mehrmals darstellten,704 aber da er sich zwischen Ichbezug und Objektbezug bewegt, kann gerade der letztere selbstzerstörerische Elemente enthalten. Nämlich in dem Fall, wo sich entweder Objektidentifikationen mit Aggressivität verbinden, wie Jacques Lacan705 schon 1948 festhielt, oder in jenem anderen Fall, wo durch diesen Objektbezug ein Verhältnis zum Außen eintritt, das eine Loslösung des Subjekts von sich selbst enthält. Damit wäre aber die objektale Liebe etwas anderes als bloß »verschobener« Narzissmus, so dass eine vorherige Individuierung gefordert würde, welche den Grund des subjektaufhebenden Objekt-Narzissmus erst abgäbe. Es existiert hierbei eine gewisse Nähe zur lebensphänomenologischen Ipseisierung, die ebenfalls jedem Narzissmus vorausliegt, insofern der Ichbezug als »Selbstliebe« nämlich in dem vorgängigen »Sich-selbst-Lieben« oder »Sich-selbst-Affizieren« des Lebens gegeben ist. Aber da auch die Psychoanalyse nach Freud im Dualismus oder in der Differenz der primären Erscheinensbedingungen von Realität/Trieb verharrt, enthält der Begriff eines »Der masochistische Charakter«; zur Nachzeichnung dieser Debatte L. De Marchi, Der Urschock: Unsere Psyche, die Kultur und der Tod, Darmstadt, Luchterhand 1988. Nach W. Reich ebenfalls E. Fromm, Anatomie der menschlichen Destruktivität, Stuttgart, DVA 1974. 703 Vgl. Probl8matique IV. L’inconscient et le Åa, Paris, PUF 1981; Leben und Tod in der Psychoanalyse, Olten, Walter 1994. 704 Vgl. Einleitung Teil 3 u. Kapitel II,5.3. 705 Vgl. »L’agressivit8 en psychanalyse«, in: Revue franÅaise de Psychanalyse 12/3 (1948) (auch in: Ecrits, Paris, Seuil 1966); M. Thiberge, Essai sur la psychanalyse et la postmodernit8, 177–190: »La causalit8 lacanienne«.

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originären »Anti-Narzissmus« zugleich das permanente Zerrissensein des Subjekts, nämlich zwischen Individuierung und objektalen Bezügen, was gerade dem Wirken von Eros und Thanatos auf derselben Ebene entspräche, auch wenn ihre Ausrichtung je unterschiedlich ist.706 Ähnlich sah es Andr8 Green,707 der einen »negativen Narzissmus« als »dunklen Schatten« der Vereinigungstendenz von Eros ins Spiel bringt, um die psychische Aktivität der Objektlibido im Sinne einer »negativen halluzinatorischen Verwirklichung des Begehrens« aufzufassen. Diese bedeute weder Lust noch Unlust, sondern eine »indifferente Wirklichkeit« gegenüber den Bewegungen der menschlichen Triebe. Die Metamorphose der Rückkehr zur unbelebten Materie nach Freud wird mithin bei Green die Trägheitstendenz in einem psychischen Sterben, wo der Narzissmus des Lebens und der Narzissmus des Todes als ergänzende Konzeption des Lustprinzips einen Lebensbegriff voraussetzen, dessen Vollzüge stets fraktal bleiben, das heißt, keine originär selbstaffektive Einheit im Sinne des rein phänomenologischen Lebens kennen. Dies wird zusätzlich von jener Auffassung unterstrichen, welche die Kräfte des so genannten Todestriebes im »Nicht-Gestalthaften« (non-figuratif) des unbewussten Repräsentanten erblickt, nämlich als eine undenkbar negative Einheit, wie sie für den phallischen Referenten konstitutiv ist. Um Unterschied zu Lacan erblickt Serge Leclaire hierin aber nicht nur eine Problematik unmöglicher Signifikanten für den ursprünglichen Mangel als »Fehlen-des-Seins« (manque d’Þtre) des Subjekts, sondern des Phantasmas des Mordes am »idealen Kind« in uns. Dieses zu tötende oder zu verherrlichende »allmächtige Kind« als unser Existenzbeginn ist jener unbewusste Repräsentant des primären Narzissmus, wie ihn auch Freud stets als infantile »Allmachtsphantasie« hervorgehoben hatte. Aber bei Leclaire708 ist dieses »ermordete Kind« der »verfemte Teil«, welcher als ebenso notwendiger wie unmöglicher »Mord« bei jedem objektalen Bezug verwirklicht werde. Für Analyse wie Therapie bedeutet dies praktisch, alle sekundären Vorstellungsbildungen im Leben zu dekonstruieren, welche die Notwendigkeit dieses »Mordes am Kind« als absolutes Wunschphantasma ver706 Vgl. F. Pasche, »L’antinarcissisme«, in: A partir de Freud, Paris, Payot 1969, 101–122. 707 Vgl. »Pulsion de mort, narcissisme n8gatif, fonction d8sobjectalisante«, in: La pulsion de mort. Premier Symposium de la F8d8ration Europ8enne de Psychanalyse 1984, Paris, PUF 1986, 134–149. 708 Vgl. On tue un enfant. Un essai sur le narcissisme primaire et la pulision de mort, Paris, Seuil 1975. Es wäre hier für eine umfassende Diskussion das »Urkind« im Sinne Husserls mit einzubeziehen, welches noch keinerlei transzendentalen Erfahrungshorizont welthafter Konstitutionsmöglichkeiten herausgebildet hat, mithin ebenfalls einem ontisch Primären vorgelagert ist; vgl. Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, 3. Teil (Husserliana XV), Den Haag, Nijhoff 1973, 605ff. Dazu auch R. Kühn u. R. Stachura, Pathogenese und Fülle des Lebens. Eine phänomenologisch-psychotherapeutische Grundlegung, Freiburg/München, Alber 2005, 101ff.

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hindert haben. Ohne die angezeigte Durcharbeitung entsprechender Vorstellungen in Frage zu stellen, wird aber erneut für uns sichtbar, dass das »Leben« hier psychoanalytisch nur als potentielle Vorstellungserscheinung gefasst wird. Somit kann sich eine ursprüngliche Selbstgegebenheit (»Kind«) nur als »Tod« manifestieren, wodurch ein ursprünglicher Dualismus ins Leben eingeschrieben bleibt, der radikal phänomenologisch mehr als problematisch ist. Dieser Dualismus impliziert in der Tat, dass der Narzissmus mit tiefer Destruktivität gegenüber dem eigenen Selbst korreliert ist, womit angenommene archaische und prä-objektale Tendenzen, welche die Unterscheidung von Innen/Außen noch ignorieren, zwar das theoretische Feld des psychoanalytischen Todesbegriffs erweitern und dergestalt gleichfalls besser die »Masken des Narzissmus« erkennen – den dabei verwandten Lebensbegriff jedoch unaufgeklärt lassen. In gewisser Weise verstehen mithin die jüngeren psychoanalytischen Interpretationen des Todestriebes denselben hauptsächlich als einen Tod des Individuums selbst, bevor sie ihn als einen Tod auffassen, der dem Anderen aggressiv oder sadistisch zugefügt wird. Wenn nun der Sexualtrieb ursprünglich den einzig wahren Trieb nach Freud darstellte, dann liegt es nahe, den Todestrieb weniger als einen »schweigenden Trieb« zu sehen, der allem Streben vorausliegt, als vielmehr im Sinne einer vereinheitlichenden sexuellen Energie, wo sich die sexuellen Lebenstriebe und die sexuellen Todestriebe in Bezug auf ihre energetische Funktion, ihr Ziel sowie hinsichtlich des Ichs und ihrer Objektquelle unterscheiden. Als sexueller Lebenstrieb ist hier – wie bei Freud – das Konstanzprinzip am Werk, das heißt die Einheitsbildung von Beziehungen, deren Objektquelle nach Laplanche ein umfassendes »regulierendes Objekt« bildet. Die sexuellen Todestriebe vollzögen sich hingegen nach dem Prinzip der »freien Energie« (Breuer), wobei sich durch solch »entmischte Energie« (Freud) in vernichtender Weise für das Objekt eine totale Triebentladung realisiere, wodurch das Ich selbst destabilisiert werde. Zwar ist in beiden Fällen eine gemeinsame libidinöse Energie gegeben, aber der Todestrieb verfolgt dennoch letztlich die Auflösung des Lebenstriebes selbst – und nicht nur dessen Aufspaltung.709 Damit nähert sich der sexuelle Todestrieb am meisten dem an, was psychoanalytisch als der Primärprozess des Es angenommen wird. Dadurch ergebe sich des Weiteren eine unendliche Verlagerung der sexuellen Strebungen, und zwar entlang jener Assoziationsketten der Objekte, die auf ihren bloßen Bedeutungsaspekt reduziert würden, so dass eine Triebentladung auf kürzestem Weg eintritt – mithin ohne Rücksicht auf die Existenz des Objekts als solches. Auf diese Weise wird der sexuelle Todestrieb zu einem reinen Vorstellungstrieb, insofern die signitiven Hinweise, denen er als »Indiz« folgt, kein Triebobjekt als 709 Vgl. J. Laplanche, »La pulsion de mort dans la th8orie de la pulsion sexuelle«, in: La pulsion de mort, 82–119.

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Ganzes mehr zulassen. Dies hat insoweit einen vergleichbaren Bezug zur rein phänomenologischen Lebenswirklichkeit, als diese sich ebenfalls von der bloßen Vorstellung abhebt, die dem Erscheinensraum der Irrealisierung der Dinge in ihrer sinnlichen Selbstgegebenheit angehört,710 um in der leiblich-affektiven Phänomenalisierung die anfängliche Gänze des Erscheinens gelten zu lassen. Für ein solches Verständnis reicht allerdings die Duplizität Leben/Intentionalität in methodischer Hinsicht aus, ohne irgendeine todesähnliche Komponente in Anspruch nehmen zu müssen. Diese genannte Position von Green verstärkt nur die letale Sichtweise, denn nach ihm tritt der Todestrieb nicht nur als Zerstörung des Objektbezuges auf, sondern der Objektbesetzung schlechthin, welche zurückgenommen wird – und zwar als Trauer, die einen negativen Narzissmus im Sinne eines Strebens zum Punkt Null von Libido und Objekt hin ausdrückt. Mit anderen Worten wird in diesem Fall die objektale Funktion der Symbolisierung mittels der Libido als Lebenstrieb bzw. Eros aufgehoben. Die bis an diesen Punkt nachgezeichnete psychoanalytische Diskussion schwankt dergestalt zwischen zwei Polen; einerseits gibt es den Todestrieb als Trieb an sich und andererseits als Prinzip eines negativen Gegentriebes, der bis zu einem totalen objektalen Verlust gehen kann. Das libidinöse Objekt bleibt zwar noch gegeben, aber nur als »Hinweis« bzw. »Indiz« für eine Lust, die sich selbst sucht, ohne das Objekt als solches zu bewahren, so wie schon für Freud der Sexualtrieb als Ziel die Lust allein kennt, sein Objekt hingegen als sekundär angesehen wird. Klinisch erweitert gesehen, kann das Trauma des Objektverlustes zu einer »wesenhaften Depression« mit starker Somatisierung führen, weil die Lebensbewegung geschwächt wurde und dadurch die Personstruktur selbst fragilisiert auftritt.711 Der Todestrieb mündet dergestalt in die Selbstzerstörung ein, indem er sich sozusagen als Energie im triebhaften Sinne selbst angreift und nicht mehr für die Aggression gegenüber der Außenwelt im Sinne der »Bemächtigung« zur Verfügung steht. Bei all diesen metapsychologischen Konstruktionen bleibt phänomenologisch gesehen undeutlich, woher die Kraft des Todestriebes als solcher kommt, denn auch er muss sich im Leben und durch das Leben vollziehen, denn sonst bliebe er ein bloßer Begriff ohne jede affektiv-leibliche Wirkung. In letzter phänomenologischer Konsequenz muss aber gesehen werden, dass in der Tat jede »Selbstzerstörung« aus dem Leben selbst kommt, wenn es nämlich so scheint, als vermöchte es sich nicht mehr selbst zu »ertragen«. Die »Selbstzerstörung des Lebens« ist daher eine äußerste transzendentale Frage, wie sich die Subjektivität als solche über-

710 Vgl. M. Henry, Affekt und Subjektivität, 16ff. 711 Vgl. R. Marty, Les mouvements individuels de vie et de mort, Paris, Payot 1976.

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haupt verneinen kann – und zwar paradoxerweise innerhalb der Kraft des Lebens selbst, welche sie verneinend noch in Anspruch nimmt.712 Die Aggressivität als aktiver Aspekt jeder Handlung, die es dem Organismus ermöglicht, ein Gleichgewicht in Bezug auf einen Reiz durch die von außen erwachsene Spannung zu erreichen, kann im Sinne des Freudschen Lustprinzips, welches stets ein Bedürfnis befriedigt, als Ausdruck des Lebens betrachtet werden. Diese frühe Position Freuds bis zur Wende in den 1920er Jahren, die dann den Todestrieb spekulativ einführte, wäre als immanente Gegebenheit eines jeden Triebes aufzufassen. Aufgrund der Unterscheidung von einer sadistischen Komponente der Libido und dem Todestrieb an sich bildeten sich hierzu weitere Differenzierungen für die Diskussion des Aggressionstriebes heraus. So wurden zum Beispiel Aggression und Aggressivität unterschieden, wobei nur letztere dem Todestrieb selbst entstammen soll, während die Aggression der Funktion des intentionalen Tuns zugeordnet wurde.713 Die Frage hierbei ist, woher jedoch die fundamentale Gewalt rührt, die in beiden Formen am Werk ist. Hierfür wird die Differenz zwischen Ich/Anderem in Anspruch genommen, da sich im Alteritätserleben die Alternative auftue: »Überleben oder Sterben«. Dies müsse keinen direkten Tötungswillen des Anderen implizieren, sondern folge imaginären Phantasmen, die sich bereits zuvor zwischen Eltern und Kind herausgebildet hätten. Die Gegenseitigkeit von phantasierter Kindesund Elterntötung als »Mutter« und »Vater« bildet die Urszene einer prä-symbolischen Einschreibung, welche zugleich das ödipale Phantasma strukturiert, um dann diese – auch genital mitbedingte – Erstgewalt libidinös und objektal einzusetzen. Geschieht dies nicht, dann würden die zerstreuten Fragmente der Libido im Gegenzug zu imaginären Entwürfen von Aggressivität, Sadismus und Masochismus. Hierbei interessiere nur die Selbsterhaltung des Subjekts, während die Bestimmung des Objekts wiederum sekundär bleibe, was in gewisser Weise auch einer Prä-Ambivalenz entspricht, die weder durch Hass noch durch Liebe konstituiert sei, um als dynamisches Element innerhalb der Sexualität überhaupt benutzt zu werden.714 Übergehen wir diesbezüglich die weitere psychopathologische Differenzierung dieser Anfangsgewalt hinsichtlich einer sado-masochistischen Organisation der Psyche, so ergibt sich grundsätzlich die Frage, ob Destruktions- und Todestrieb nicht fundamentaler zu unterscheiden bleiben. Denn der letztere 712 Vgl. M. Henry, Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, Freiburg/München, Alber 1994, 295ff. Zur weiteren Diskussion auch R. Kühn u. R. Stachura, Pathogenese und Fülle des Lebens: 67–81: »Trauma und Verzweiflung«. 713 Vgl. S. Lebovici u. R. Diatkine, »L’agression est-elle un concept m8tapsychologique?«, in: Revue franÅaise de Psychanalyse 36/1 (1972) 34–51. 714 Vgl. J. Bergeret, »G8n8alogie de la destructivit8«, in: Revue franÅaise de psychanalyse 48/4 (1984) 65–79.

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kann niemals direkt erfasst werden, sondern erscheint nur »vermischt« mit Zerstörungsprozessen, die sich gegen Objekte oder das Ich wenden.715 Klinisch kennen wir zwanghafte Wiederholung, traumatische Neurose und negative therapeutische Reaktion, die schon nach Freud alle eine letale Tendenz in sich bergen und auf der psychischen Ebene der Spannungen und Konflikte zu totalen Reizentladungen mit entsprechender Somatisierung führen, was das Ich von seinen narzisstischen Besetzungen leert.716 Hierbei handelt es sich um eine Variation des Todestriebs, so dass das Subjekt im Weiteren weder eine gewisse Erregung noch deren Entladungen selbst hervorbringen kann, vielmehr Zeichen von brutaler Zerstörung erkennen lässt bzw. eine unendlich zwingende, das heißt perverse Lustsuche. Diese offenbart sich in einem massiven Übergang zum acting out, dessen Gewalt jene affektiven Quantitäten ins Spiel bringt, die dieser Gewalt proportional sind. Allerdings lässt sich in diesem Zusammenhang auf eine gewisse Ambiguität des Freudschen Begriffs des »Bemächtigungstriebes« hinweisen,717 der sowohl der Handlung als auch dem Todestrieb solche »Bemächtigung« als »Aggression« im Sinne von »Aktivität« zuerkennt. Denn dies würde heißen, dass derselbe Begriff die Tendenz der triebhaften Vereinigung des Lebens umfasst wie die zerstörerischen Strebungen des Todestriebes. Sowohl gegen einen Triebmonismus als auch -dualismus wäre allerdings in Erinnerung zu rufen, dass die »Bemächtigung« weder sexuell noch selbsterhaltend ist, sondern die anfänglich intentionale Bezüglichkeit jeglicher Alteritätserfahrung.718 Nun lässt sich nicht leugnen, dass es in der Praxis analytisch-therapeutische Misserfolge gibt, indem selbstzerstörerische Kräfte zu existieren scheinen, die mächtiger als der Lebenstrieb selbst auftreten. Hier wird als manifeste Aggressivität ein nicht weiter auflösbarer Masochismus angenommen, wo sich ein organischer Todesinstinkt für diese Selbstzerstörung als unaufhebbar seitens der klinischen Beobachtung aufdränge. Der von Freud bereits angenommene primäre Masochismus wird auf diese Weise zu einer korrelativen Gegebenheit des Todestriebes. Andererseits war der originäre Masochismus stets auch erogener Herkunft und somit mit dem Leben primär verbunden. Letztere Auffassung würde dann bedeuten, dass die libidinös bedingte Verbindung zwischen To715 Vgl. M. de M’Uzan, De l’art / la mort, Paris, Gallimard 1977. 716 Für Julia Kristeva artikuliert sich die Gemeinsamkeit von Depression, Melancholie und Todestrieb als Zusammenbruch der biographischen und logischen Sequenz des Begehrens, wodurch der Todestrieb als primäre Diskontinuität von Trauma und Verlust auftrete; vgl. Soleil noir. D8pression et M8lancholie, Paris, Gallimard 1987 (dt. Schwarze Sonne. Depression und Melancholie, Frankfurt/M., Fischer 2007). 717 Vgl. »Das ökonomische Prinzip des Masochismus«, in: S. Freud, Das Ich und das Es, 297– 310, hier 303f. 718 Vgl. J. Gillibert, »De l’objet pulsionnel de la pulsion d’emprise«, in: Revue franÅaise de psychanalyse 46/25 (1982) 45–62.

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destrieb und Eros einen spezifischen Widerstand im Inneren des Subjekts darstellt. Trotz seiner Verbindung mit dem Todestrieb würde dann ein solch primärer Masochismus eine Schranke gegenüber letzterem bilden. Und dies schlösse wiederum ein, dass sich dann in solchem Masochismus ein »Selbst« im Sinne eines archaischen »Ichs« herausbilden würde, welches das Subjekt selbst begründet und gleichzeitig die objektale Wirklichkeit mit konstituiert.719 Was wäre dann aber der zuvor erwähnte sich kasteiende Masochismus? Wie schon angedeutet, finde hier eine Abriegelung des Lebenstriebes statt, indem dieser in jeder objektalen Befriedigung abseitsgeleitet wird. Die in der »primären Hilflosigkeit« (Freud) enthaltene Erregung wird auf masochistische Weise überbesetzt, was eine beinahe unendliche Wirkung auf die halluzinatorische Befriedigung des Begehrens ausübt und somit die Bildung des inneren Objekts erschwert. Gegenüber den Möglichkeiten der Außenprojektion mit ihren Objekten ergibt sich vielmehr ein Verzicht auf andere Widerstandsweisen, so dass sich ein solcher Masochismus in der Tat abtötend auswirken kann. Theoretisch weitergeführt, kann man dann zu der Auffassung gelangen, dass sich primärer Masochismus und Todesinstinkt bis hin zur Dissoziation und Zerstückelung verbinden, aber auch im Verbund mit Eros einen Verzicht seiner selbst in der Liebe zum Anderen hervorrufen. Daraus ergäbe sich dann eine zweifache Masochismusform, zum einen primär als Verzicht auf Eigenes und zum anderen als ein sadistischer Außenbezug, wenn Leid und Gefahr das Überleben in Frage stellen. Mit anderen Worten ist der primäre Masochismus eine Form narzisstischer Liebe, wenn er im Subjekt verharrt, um erst um Außer-Sich zum Sadismus zu werden. Dann wäre der Masochismus nicht nur negativ zu sehen, sondern er verbände sich im Tun mit dem Leben, was voraussetzt, dass der Todestrieb einerseits Zerstörung impliziert, aber auf der anderen Seite als Trennung, Unterscheidung oder Individuierung ebenfalls eine neutrale bzw. sogar vitale Konnotation besäße. Gleicherweise bedeutet auch Eros nicht nur vereinheitlichenden Lebenstrieb, sondern durchaus monströse Zusammenfügungen oder anarchische Verklammerungen von undifferenzierten Einheiten, die wie in der Katatonie einer todesähnlichen Verdinglichung gleichkommen. Es muss also zugestanden werden, dass es auch unvollständige Verknüpfungen durch Eros gibt, die den Tendenzen des Todestriebes ähneln können. In kritischer Rückwendung auf Freud wird dann gleichfalls der Wiederholungszwang nicht allein dem Todestrieb mehr zugeordnet, sondern auch dem Lebenstrieb, denn er sei eine Art »demiurgisches Gedächtnis« als »Instinkt des Instinktes«. Damit wird der Wiederholungszwang zur triebhaften Funktion schlechthin und zeichnet nicht weiterhin den Todestrieb als solchen aus. Bei 719 Vgl. B. Rosenberg, »Masochisme mortifHre et masochisme gardien de la vie«, in: Les Cahiers du Centre de Psychoanalyse et de Psychoth8raoie 5 (1982): Masochismes.

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anderen Autoren wird der Todestrieb sogar ganz aufgehoben, denn wenn es eine »rohe Erregung« gebe, die sich daraufhin in sexuelle Erregung wandle, dann sei dies nicht länger durch einen primären Masochismus einzufangen, wie Freud ihn beschrieben hatte. Damit fällt ebenfalls eine primäre Verbindung zwischen Libido und Todestrieb dahin, welche die biologische Konstitutionsbedingung für den primären Masochismus wäre. Man kann sich zudem fragen, ob der Masochismus nicht über den ökonomischen Aspekt des Triebhaften hinaus ist, denn als erogener Masochismus kommt er dann in seine deskriptive Wahrheit, wenn er sich insgesamt nicht mehr in einen moralischen Masochismus verwandelt und jede Macht verliert, um das individuelle Leben in seinem Tod festzuhalten.720 All diese thematischen Weiterentwicklungen haben eines gemeinsam, nämlich dass sie in der Tat den »schweigenden Todestrieb« mit jenen Verbindungen konfrontiert sein lassen, die den Lebenstrieb und Todestrieb zusammen auftreten sehen. Die Frage bleibt deshalb schließlich, welche ökonomischen Aspekte dem Todestrieb im Geschehen der Analyse/Therapie selbst zukommen. Versteht man die »Arbeit« des Todestriebes im Lacanschen Sinne prinzipiell als »Suche nach dem Phallus«,721 der stets eine Heterogenität gegenüber den Einheitstendenzen des libidinösen Lebens bleibt, dann handelt es sich in der jüngeren psychoanalytischen Diskussion um unbewusste Repräsentanten, welche das »Nicht-Gestalthafte« einer undenkbaren Einheit bilden. Nichts könnte mithin gesagt oder vorgestellt werden, wenn der Todestrieb nicht ständig die phallische Referenz gegenwärtig sein ließe, weshalb Analyse/Therapie auf weiten Strecken um die Demaskierung und den »Tod« von Lebensgestaltungen kreist, die dem phallischen Referenten ihren letalen Tribut zu zahlen hätten. Bei Freud entspricht dies der Einschreibung des Unbekannten in das Es als »negative Arbeit«. Auf diese Weise wird der Tod als solcher verinnerlicht, nämlich als Sterben der Idealisierungen, die sich das Undenkbare als Last aufbürden wollen. 720 Vgl. J. Gillibert, »G8n8alogie de la destruction«, in: Revue franÅaise de Psychanalyse 48/4 (1984) 153–172. 721 Im Übrigen sei hier erwähnt, dass Lacan den Begriff des »primären Masochismus« für überholt hält, denn in seiner Analyse bindet er Todestrieb und Wiederholung an jenen Augenblick, »wo das Begehren sich vermenschlicht«, das heißt, als »Mord am Ding« in die Verunendlichung des Begehrens als symbolische Ordnung eintritt; vgl. »Fonction et champ de la parole et du langage en psychanalyse«, in: Ecrits I, Paris, Seuil 1966, 111–208. Das Schweigen des Todestriebs korreliert daher mit dem Schweigen im Diskurs als Intervall der Signifikantenkette, in die sich das subjektive Leben einschreibt, weshalb Lacan den Todestrieb anerkennt, aber sprachlich versteht; siehe auch »Subversion du sujet et dialectique du d8sir dans l’inconscient freudien«, in: Ecrits II, Paris, Seuil 1971, 151–192 (dt. »Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten«, in: Schriften II, Berlin/Weinheim, Quadriga 1991, 105–204). Siehe ebenfalls J. Rouzel, La lettre de l’inconscient. Freud, Lacan et quelques autres au pied de la lettre, Paris, L’Harmattan 2016, mit Bezug auf die Anwendung in der Kur.

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Gewiss löst eine solch letale Verinnerlichung als Todestrieb in der äußeren Objektverwerfung die Identifikation auf, aber dies nur, um den zuvor untersuchten Narzissmus in seiner Emergenz auf mythische Weise einzuholen, welche das Sterben des Todes im Todestrieb selbst zu einem Undenkbaren macht, um allein die tödliche Ökonomie des Lustprinzips bestehen zu lassen. In der Analyse/Therapie wird die Verbindung von Unbekanntheit des Todes und gesuchter Finalität zu einem subjektiven Feld des »Intensiven«, welches metaphorisiert und in gewisse Grenzen gelenkt werden kann.722 Dass hierbei die heftigsten Todesängste auftreten, liegt auf der Hand, denn das Undenkbare des Todestriebes als innerer Prozess entspricht seiner ebenso schweigenden wie unablässigen Spurenaufhebung des Subjekts, das heißt seiner Auflösung der Objektbesetzungen, welche eine undenkbare Vernichtung hervorbrechen lassen kann. Die Repräsentanten, welche diese Bewegung begleiten, müssen daher innerhalb der seelischen Aktivität der Triebökonomie metabolisiert werden, um den Todestrieb nicht nur abstrakt aufscheinen zu lassen, sondern als verbunden mit der unmittelbaren analytisch-therapeutischen Praxis.723 Für die Aktualität der Theorie des Todestriebs ergibt sich daraus insgesamt eine Vielfalt an Todestrieben, so dass sich beispielsweise die Komplexität der sexuellen Impulse in ein und demselben subjektiven Leben manifestiert und vermischt. Das Geschick dieser Todestriebe substituiert sich diesen Sexualtrieben, wenn letztere in eine Konfliktsituation ohne Antwort gelangen, während andere Formen des Todestriebes keinerlei Überkreuzung mit der Sexualität eingehen. Denn in ihrer ursprünglichen Gegebenheit bedeuten diese Todestriebe eine Ekstase der Vernichtung, die auf keine der gewöhnlich lebensweltlichen Orientierungsperspektiven reduziert zu werden vermag. Somit kann Thanatos als die Darstellung aller Formen der Vernichtung, Zurückweisung, des Hasses und negativer Loslösungen betrachtet werden, wodurch das innere wie äußere Konstanzprinzip Freuds erschüttert wird, und zwar auf allen Ebenen triebhafter oder sexueller Spannungen, um dem Subjekt seine hinfälligen Gleichgewichte – oder deren Suche – zu dokumentieren. Damit situiert sich der Todestrieb im Bereich der anfänglichen Gewalt, der archaischen Aggressivität und Selbstzerstörung, wobei dieser Ursprungsbereich – zusammen mit dem antagonistischen Eros – nur der Raum eines hypothetisch postulierten »Ursprünglichen« sein kann, insofern die Lebenswirklichkeit als solche nicht in ihrer rein phänomenologischen Originarität befragt wird. Aber die psychoanalytische Annahme einer solchen Ursprungsgewalt, die etwa auch bei Emmanuel Levinas als Anfangstrauma gegeben ist, hat ihre relativ vergleichbare 722 Vgl. G. Rosolato, »La psychanalyse au n8gatif«, in: Topique 18 (1977) 28–43. 723 Vgl. N. Zaltzman, »Baiser la mort? Une sexualit8 m8lancholique«, in: Topique 38 (1986) 46– 63.

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Analogie in der »Gewalt des Lebens« vor jeglicher existentiellen Form von Selbstzerstörung. Denn die reine Passibilität ist es, die uns ohne jede vorhergehende Freiheit in der Absolutheit eines solchen Lebens geboren sein lässt, ohne dies irgendwie im Sinne einer Psychose verstehen zu müssen.724 Nimmt man insbesondere den Hass als Maske des Todestriebes, dann gibt es im Zusammenhang mit den vorherigen Analysen einen radikalen Hass, welcher im skizzierten Ursprungsbereich anfänglicher Gewalt die prinzipielle Unlust gegenüber der objektalen Erregung hervorruft, das heißt eine Lust der Selbstzerstörung, die in Verbindung mit der Leiblichkeit die Auslöschung des Bedürfens selbst beinhaltet. Auf diese prä-objektale Weise greift die archaische Aggressivität als radikaler Hass die leibliche Räumlichkeit im Sinne eines »Außer-Sich« an, mithin als ein »Jenseits des Lustprinzips« in der Terminologie Freuds. Dieses Außer-Sich des eigenen Selbst entspreche gewachsenen Bildungen der mütterlichen Psyche mit einem Übermaß an zu zahlreichen oder zu rätselhaften Signifikanten, die das Kind in seinem Empfinden und Verstehen übersteigen, falls eine weitere mütterliche Intervention diese psychische Gefahr nicht banne.725 Schon genannte Autoren sprechen hier von einer »perversen Verführung«, die innerhalb der Beziehung von Analyse/Therapie im Hass der Gegenübertragung wiederkehren kann.726 Diese Verstrickung von Verführung/ Hass durch die anfängliche Situation des Kindes mit der Mutter tritt oft als eine ständige Prägung auf, die als »psychischer Tod« eine Reihe von Effekten der Gegenübertragung zeitigt. »Wie vom Tod berührt zu werden« ist ebenso einer dieser Effekte wie »im Lebendigsten getroffen zu sein«, wobei Jean-Bertrand Pontalis727 allerdings nicht von »magischen Signifikanten« des Todestriebes sprechen möchte, insofern dadurch nur die Abwesenheit der seelischen Realität verdeckt werde, die es gerade wieder herzustellen oder neu zu erfinden gilt. Sind für die klinische Annäherung an das physische Sterben letztlich die Referenzen auf einen spekulativen Begriff des Todestriebes besser aufzugeben, um nicht den Kontakt mit der Wirklichkeit dieser letzten Phase der Existenz zu

724 Vgl. R. Kühn, Lebensreligion. Unmittelbarkeit des Religiösen als Realitätsvollzug, Dresden, Text & Dialog 2017, 12ff.; E. Levinas, Die Spur des Anderen, 316ff. Zur Psychose siehe B. Hase u. J. Schlimme, »Wahnsinnes-Erzählungen. Weltanschauung und lange anhaltende Psychoseerfahrung«, in: Psycho-logik. Jahrbuch für Psychotherapie, Philosophie und Kultur 12 (2017) 143–163. Zur abschließenden Diskussion der »Ursprungsfrage« siehe auch unseren Ausblick Teil 2. 725 Hierzu sind vor allem auch schon die Analysen von Melanie Klein maßgeblich gewesen; vgl. M. Klein, Das Seelenleben des Kleinkindes (1963), Stuttgart, Klett-Cotta 1983, sowie unser vorheriges Kapitel II,5.3. 726 Vgl. J. Laplanche, Entre s8duction et inspiration, Paris, PUF 1999. 727 Vgl. Entre le rÞve et la douleur, Paris, Gallimard 1977, 15–38 u. 135–142: »A partir du contretransfert: le mort et le vif entrelac8s« sowie »Sur le travail de la mort«.

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Todesabwehr und Todeszustimmung als äußerste Wahrheitserprobung

verlieren,728 so scheint sich für die psychoanalytische Auseinandersetzung mit den Formen des Todestriebes als unbewusste Geschichte der »Triebschicksale« Freuds Darstellung aus seinem Text »Das Motiv der Kästchenwahl« anzubieten.729 Die Mutter in ihrer dritten Gestalt nach Geburt und Ödipus wird hierin im Verlauf des Lebens die »schweigende Göttin des Todes«, die jeden Menschen am Ende seines Lebens in ihre Arme nimmt. Hängt dies möglicherweise mit Freuds Wunsch eines Inzeststrebens zusammen, womit sich das unbewusste Überdauern des Inzesttabus innerhalb der Erstellung des Begriffs des Todestriebes bei ihm zeigen würde? Oder handelt es sich um eine neurotische Kompromissgestalt der verbotenen Mutter, die nun im Tod selbst wiederkehrt?730 Wenn Freud sich diesen Zusammenhang selbst nicht bewusst gemacht hat, dann läge in der Verknüpfung von Inzest/Tod eine für seine Psychoanalyse eigene »Unsterblichkeit« – nämlich ein »unendlicher Exzess des Lebens« nach Slavoj Zˇizˇek: »Die eigentliche Lehre der Psychoanalyse ist, dass das menschliche Leben nie einfach ›nur Leben‹ ist. Menschen sind nicht einfach lebendig, sie sind besessen von dem seltsamen Trieb, das Leben exzessiv zu genießen, und hängen leidenschaftlich an einem Überschuss, der hervorsticht und den normalen Gang der Dinge zum Scheitern bringt.«731

Wie aufgezeigt, spricht besonders die jüngere Psychoanalyse demzufolge überall vom Tod, der sich ins Leben selbst einnistet, so dass ein gewisser »Monismus des Nichts« gegeben sei, der Gefahr läuft, dass das »Begehren des Todes« mit dem »Tod des Begehrens« identisch wird. Aber lenkt tatsächlich alles Leben zum Tod hin, womit sich ein unzugängliches Jenseits oder Diesseits des Analysierbaren überhaupt ergäbe? Die Logik, welche hier am Werk ist, dürfte dann eine solche der Substantialisierung des Todestriebes sein, nämlich als Zerstörung und Selbstzerstörung, Apathie und Gewalt oder Nirvana und Erregungsleere bzw. Auflösung, Entsymbolisierung und Trennung. Es ließe sich dann insgesamt festhalten, dass solche Logik hier die Wiederholung als Tautologie des Diskurses schlechthin wäre.732 Dabei bliebe allerdings die Frage offen, ob die verschiedenen Manifestationsweisen des Todestriebes nicht wie mythische Wesen wirken, die sich weniger klinisch beobachten lassen, als vielmehr einen transindividuellen Kampf anzeigen, der sich bei allen Menschen wiederfindet. Dadurch wäre der Todestrieb eine Art Ursprungssymbol für den metapsychologischen »Apparat der Seele« (Freud), über dessen spekulative Existenz die Psychoanalyse als eine 728 Vgl. M. de M’Uzan, De l’art / la mort, 120ff. 729 In: GW X (1913–1917), Frankfurt/M., Fischer 1948. 730 Vgl. R. Barande, »La pulsion de mort comme non-transgression«, in: Revue franÅaise de Psychanalyse 31/1 (1968) 15–31. 731 Parallaxe, Frankfurt/M., Suhrkamp 2006, 61, wo sich dieselben radikal phänomenologischen Fragen hinsichtlich einer solchen Lebensbewertung stellen. 732 Vgl. M. Neyraut, Les logiques de l’inconscient, Paris, Hachette 1977.

Passibilität des Sterbens und Problematik des »Todestriebes«

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Art Tragik der Psyche wie der Ethik verfügen würde, um jedes Übermaß zu verstehen und eventuell zu sublimieren. Es bliebe dann allerdings immer noch gegenreduktiv zu vertiefen, ob das Leben – verstanden in seiner rein phänomenologischen Selbstgebung – eine solche Idee des Todestriebes überhaupt zulässt. Dessen Wirklichkeit müsste ja in diesem Leben selbst begründet sein, welches eine Differenz zu sich selbst in seinem immanent affektiven Selbsterscheinen ausschließt. Wenn aber keine ursprüngliche Differenz gegeben ist, lässt sich auch nur von einem ontischen Dualismus ausgehen, wie Freud es stets getan hat, da er antagonistische Kräfte benötigte, um die unbewusste Logik von Topik und Ökonomie energetisch dynamisieren zu können. Verglichen mit der zuvor von uns ausgeführten Passibilität des Mich, welches im Sterben seinen absolut phänomenologischen Anfang als reine Lebensempfängnis wiederfindet, fallen solche Antagonismen als konstruierte Vorstellungen über ein Ursprungsgeschehen dahin. Das Primäre ist nicht das Originäre, auch wenn dieses Primäre sehr früh zu psychischen Verzerrungen führen mag, welche die weitere Existenz eines Individuums beeinträchtigen können. Aber es handelt sich um Verzerrungen im Leben, welche weiterhin eine Modalisierung desselben bedeuten, in der die reine Potentialität des Lebens als die stets gegebene Selbstoffenbarung seiner inneren Veränderung von Freude/Schmerz keineswegs aufgehoben wird. Diese Nicht-Aufhebung des Eigenwesens des Lebens im radikal phänomenologischen Sinne ständig historialer Selbstveränderung wie auch »Selbststeigerung« bleibt die Grundlage für alle lebendigen Rückverwandlungen von letalen Tendenzen, die nicht in einem substantialistisch hypostasierten »Todestrieb« gebündelt werden sollten. Jede immanente Modalisierung enspricht einem transzendentalen Vollzug der Subjektivität insgesamt, indem diese dem Leben »zustimmen« kann, das heißt dem »Realen« einer inneren Lebensselbstverwirklichung ohne Tod, da dieser in keinem Vollzug gegeben ist, insofern letzterer die apodiktische Lebendigkeit jeweils voraussetzt. Den Todestrieb in analytisch-therapeutischer Hinsicht mit Blick auf eine gewisse Logik des objektal fixierten Begehrens aufzudecken, findet daher seine Grenze an jener effektiv originären Passibilität, die ein solcher Todestrieb nicht zu hinterschreiten vermag, weil sich in dieser originären Selbstaffektion das Leben immer schon ohne irgendeine Einschränkung bejaht – das heißt, ohne Negativität oder Differenz selbst »umschlungen« hat. Demzufolge kann der Todestrieb weder für die Todesabwehr noch für die Todeszustimmung letztlich herangezogen werden, da es sich in der äußersten Wahrheitserprobung des Sterbens als Passibilität des Mich um die reine Präsenz des »Lebens des Lebens« (Augustinus, Hegel, Maine de Biran, Fichte, Henry) selbst handelt. Begriffe wie Realität, Schicksal, Ananke, Unbewusstes oder Todestrieb sind bei Freud säkularisierte Hypostasierungen eines negativ »Absoluten«, das er indirekt benötigt, um seine »Resignation« vor dem Wirklichen in eine sublimierte Ethik zu verwandeln,

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Todesabwehr und Todeszustimmung als äußerste Wahrheitserprobung

welche die »Selbstachtung« aufrechterhalten möchte, ohne weiter nach deren ursprünglich immanenter Ermöglichung fragen zu müssen. Darin folgt ihm die neuere Psychoanalyse insoweit, als sie eine Logik der Differenz oder Alterität bevorzugt, um die letale bzw. nicht-relationale Negativität der Idealisierungen prägnanter hervortreten lassen zu können. Dies ist heuristisch legitim, klärt uns aber gerade nicht über die transzendental lebendige Kraft des Vollzuges selbst auf, mit der sie auch wieder rückgängig gemacht werden können – und es ist dieselbe passible Kraft, welche sich im Sterben als diejenige des Lebens und unserer selbst erweisen dürfte.

Ausblick: Leben, Religion und Therapie als Ursprungsfrage

Anstatt abschließend eine äußere Bewertung an die Religions- wie Kulturkritik Freuds insgesamt heranzutragen, wie sie etwa schon bei O. Pfister,733 A. Görres,734 J. Rudin,735 P. Ricœur,736 J. Scharfenberg737 oder H. Westerink738 vorliegt, kann vertiefend nochmals auf die inner-psychoanalytische Diskussion durch Jacques Lacan verwiesen werden, die wir bei Gelegenheit zuvor schon dokumentiert hatten. In der Spätphase seines zunächst strukturalistischen Denkens steht nicht mehr das Gesetz als »Phallus« im Mittelpunkt, sondern das Begehren als jouissance unabhängig von jeder imaginär-symbolischen Signifikantenverknüpfung. Lacan blieb nicht bei einem äußeren Verhältnis der Religion zur Psychoanalyse im Sinne der »Vatermetapher« stehen, da er einerseits hinter Freuds Szientismus noch dessen Begehren entdeckt, den »Vater zu retten«, und andererseits in den tragenden Konzepten der analytisch-therapeutischen Arbeit (Andersheit, Übertragung, »Name-des-Vaters« etc.) einen religiösen Charakter des »Subjekts der Wissenschaft« im Konflikt zwischen Wissen/Wahrheit wiedererkennt.739 Da diese Problematik besonders seinem analytisch-ethischen Bemühen um den »psychoanalytischen Diskurs« überhaupt entspricht, versuchte er, der Psychoanalyse einen spezifischen Status »jenseits des Ödipuskomplexes« zuzuweisen, um letztlich als Zielrichtung der Kur die leiblich-af733 Vgl. neben dem schon genannten Briefwechsel mit Freud auch O. Pfister, »Religionswissenschaft und Psychoanalyse«, in: Aus der Welt der Religion 6, Glessen, Topelmann 1927. 734 Vgl. Methode und Erfahrung der Psychoanalyse, München, Kösel 1958. 735 Vgl. Psychotherapie und Religion, Freiburg/Olten, Walter 1960. 736 Vgl. De l’Interpr8tation, Essai sur Freud, Paris, Seuil 1965, 547ff. (dt. Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt/M., Suhrkamp 1974). 737 Vgl. Sigmund Freud und seine Religionskritik als Herausforderung für den christlichen Glauben, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 41990; E. Nase u. J. Scharfenberg, Psychoanalyse und Religion, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1977. 738 Vgl. Controversy and Challenge. The Reception of Sigmund Freud’s Psychoanalysis in German and Dutch-speaking Theology and Religious Studies. Psychoanalysis and its Reception, Bd. 1, Berlin/Wien, Turia + Kant 2009. 739 Vgl. J. Lacan, Autres 8crits, Paris, Seuil 2001, 135ff.

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Ausblick: Leben, Religion und Therapie als Ursprungsfrage

fektive Identifikation mit dem je singulären sinthome vorzuschlagen, welches den einzigen Zugang zu einem echten Atheismus biete.740 Dadurch wird sich im 2. und 3. Teil unseres Ausblicks auch noch genauer die Frage nach einem »Ursprung« in Psychoanalyse und radikaler Phänomenologie heute stellen.

1)

Lebens- und Religionsbestimmung im kulturellen Kontext heute

Vor allem mit Blick auf das Opfertier der Totemmahlzeit sprach Freud die grundlegende Erkenntnis aus, dass das »Band« zwischen Mensch und Tier/Gott eigentlich das Leben sei.741 Aber er führt weder diese Bestimmung eines solch absolut gegebenen Lebens als re-ligio weiter, noch zieht er das radikal phänomenologische Wesen solchen Lebens selbst in Betracht. Nur die romantische Spekulation über das biologisch gedachte Leben ist – neben dem Szientismus – in seinem Werk durch Schopenhauer und Nietzsche immer präsent gewesen und hat vor allem ihren Ausdruck als Analyse von Eros und Thanatos gefunden,742 wie wir an mehreren Stellen in den vorherigen Kapiteln aufwiesen. Geht man zudem davon aus, dass Freud erkenntnistheoretisch auf dem englischen Empirismus und Sensualismus fußt, der Vorstellungen auf Sinneseindrücke zurückführt, die inneren Empfindungen und äußeren Einflüssen entstammen,743 dann kann nicht erstaunen, dass »Leben« bei ihm funktional nur im Sinne »allgemeinster Lebensvorgänge« verstanden wird, die sich in seinem Spätwerk hauptsächlich als Bindungs- und Destruktionstrieb darstellen.744 Diese Begrenzung rein phänomenologischer Lebenswirklichkeit wird auch an Freuds Gefühlsbestimmung deutlich, die er nur über den »Vorstellungsinhalt« vornehmen will bzw. über ein »starkes Bedürfnis« als »Energiequelle«, ohne zu sehen, dass selbst das Bedürfnis bereits das originäre Leben voraussetzt. So lasse 740 Vgl. J. Lacan, Le S8minaire XXIII: Le Sinthome, Paris, Seuil 2005; S. Askofar8, »Du nom-dupHre au sinthome: Lacan et la religion«, in: Estudios pesquisasem psicologia 1 (2008) 12–23. 741 Vgl. Totem und Tabu: GW IX, Frankfurt/M., Fischer 92012, 167f. 742 Vgl. ebenfalls G. Gödde, »Gewissen und Moral im Kontext des Freud-Nietzsche-Diskurses«, in: R. Lesmeister u. E. Metzner (Hgg.), Nietzsche und die Tiefenpsychologie, Freiburg/ München, Alber 2009, 31–54. 743 Bei aller Besonderheit der »psychischen Realität« setzt dies ein »Minimum an Realismus« auch bei Freud voraus, vgl. bereits P. Dalbiez, La m8thode psychanalytique et la doctrine freudienne, Paris, Descl8e de Brouwer 1936. Des Weiteren muss auch ein je »unbewusster Inhalt« erscheinen oder gegeben sein, so dass er ebenfalls von der phänomenologischen Grundstruktur des Verhältnisses Sein/Erscheinen abhängig ist. Zur Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Bio- und Neurowissenschaft siehe M. Thiberge, Essai sur la psychanalyse et la postmodernit8, Paris, L’Harmattan 2018, 95ff. 744 Vgl. GW XIV, Frankfurt/M. Fischer 71991, 499, während Leben an sich stets singulär ist.

Lebens- und Religionsbestimmung im kulturellen Kontext heute

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sich eben das »religiöse Gefühl« nur bis zur »Hilflosigkeit« und »Vatersehnsucht« das Kindes zurückverfolgen, aber eine Sichtweise des Gefühls als »fons et origo« sei nicht möglich, da das primäre Ich noch ganz in dem Es aufgehe.745 Eine ähnliche Unbestimmtheit ist ebenfalls kritisch bei Lacan festzuhalten, denn auch jeglichem Symptom liegt das Leben im phänomenologisch ontologischen Sinne noch voraus,746 so dass selbst die fundamentale »Vatermetapher« bereits einen sekundär ontischen Effekt darstellt,747 ohne die jouissance des reinen Begehrens als Leben jemals erfüllen zu können. Denn um irgendein »Objekt« überhaupt lieben oder hassen zu können, muss die lebendige »Selbstaffektion« vor allem Narzissmus dazu bereits gegeben sein. Nimmt man demzufolge eine entsprechende Religionsbestimmung aus dieser psychoanalytischen Rückbindung an einen vorausgesetzten Vorstellungs- oder Signifikantenprimat als »Repräsentanz« heraus, dann ergibt sich jene ursprüngliche religio, die dem empirisch-ontischen Vorwurf der neurotischen »Vatersehnsucht« enthoben ist. Denn im unmittelbar sich-gebenden Leben herrscht in der Tat keine Differenz mehr, welche eine solche »Sehnsucht« als Glauben oder Hoffnung motivierte, da das »Band des Lebens« dieses Leben in seiner unhintergehbaren Manifestation selbst bildet. Eine solch originäre »Lebensreligion«, wie wir sie nennen, ermöglicht demzufolge heute einen »religiösen Diskurs«, welcher die klassische Kritik der Psychoanalyse zu integrieren vermag, ohne eine Verneinung des »religiösen Phänomens« in seiner ihm eigenen Selbstgegebenheit vornehmen zu müssen. Letztere liegt diesseits aller neurotisch-symptomalen Verzerrungen, auch wenn diese auf der biographischen Ebene als Effekte des Zusammenhangs von Affekt/Vorstellung möglich bleiben, insofern das Leben ständig zwischen Hervorbringung/Verdrängung oszilliert.748 In seinem rein passiblen Wesen folgt das Leben dennoch dabei allein seinen immanenten Modalisierungen von Freude/Leid, welche die unmittelbare Vollzugsweise der religio als absolut subjektive Affektabilität innerhalb der Originarität von Begehren/jouissance selbst bilden. Ein diesbezügliches Gespräch zwischen »Lebensreligion« und Psychoanalyse darf demzufolge als Teil

745 Vgl. GW XIV, 422f. u. 428f. 746 Vgl. R. Kühn, Der therapeutische Akt. Seine Singularität in Bezug auf Wissen und Wahrheit in lebensphänomenologischer und Lancanscher Perspektive, Freiburg/München, Alber 2018, 83–106. 747 Zu dieser grundlegenden Unterscheidung eines ontologisch und ontisch Unbewussten vgl. M. Henry, Affekt und Subjektivität. Lebensphänomenologische Beiträge zur Psychologie und zum Wesen des Menschen, Freiburg/München, Alber 2005, 91–105 u. 106–123; dazu bereits unser Kapitel I,1.3. 748 Vgl. R. Kühn, Lebensreligion. Unmittelbarkeit des Religiösen als Realitätsbezug, Dresden, Text & Dialog 2018; sowie für die interreligiösen Implikationen Jahrbuch für Religionsphilosophie 16 (2017): Lebensreligion interreligiös.

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Ausblick: Leben, Religion und Therapie als Ursprungsfrage

einer erneuerten Kulturanalyse749 frei von jeglicher Illusion gewertet werden – sei sie dogmatisch religiös, wissenschaftlich oder psychoanalytisch.750 Denn eine religio, die mit der reinen Passibilität des Lebens in eins fällt, benötigt keinerlei »Unterwerfung« unter »Gott« mehr, da sich unsere Empfänglichkeit solchen Lebens bedingungs-los ereignet – diesseits eben jeder Schuldempfindung und Gesetzesobservanz, jedoch im gleichursprünglichen Ko-Pathos mit allen originär Lebendigen. Diese nicht-kausale Möglichkeit einer rein transzendentalen Fundierung ohne weitere reflexive Vorstellung, wie es die Patienten oft selbst als ein »Absolutes« für sich erleben, kann deshalb der Frage nicht ausweichen, ob damit indirekt eine religiöse oder spirituelle Dimension in der Analyse/Therapie angesprochen ist. Dass es historisch gesehen Zeiten gegeben hat, wo es heißen konnte: »Die Psychoanalyse gegen die Religion« und »Die Religion gegen die Psychoanalyse«, steht außer Zweifel, aber heute ist nicht mehr so sehr von einer »Wiederkehr der Religion« die Rede als vielmehr von einer neuen »Erfahrung des Religiösen« überhaupt. Das heißt, das gegenwärtige individuelle Empfinden befreit sich von den institutionellen Aspekten der bisher etablierten Religionen (wenn wir vom Fundamentalismus absehen), denn was als »religiös« empfunden wird, ist weitgehend eine emotionale Erfahrung, die mit einem gewissen Sinn der »Transzendenz« einhergehen kann, aber vor allem eine gelebte subjektive Erfahrung bedeutet. Wollte Freud mit der Religion im Namen von aufgeklärter Wissenschaftlichkeit definitiv an ein Ende kommen, so ist es heute genau dieses »Gefühl des Religiösen« als »Spiritualität«, welches alle offiziellen Diskurse in Frage stellt, da sie auf das nicht antworten, was die Individuen in ihrem Inneren betrifft. So gibt es eine künstlerische Erfahrung wie eine therapeutische Erfahrung – und eben auch vermehrt eine »religiöse Erfahrung«, die sich in das besondere demokratische Empfinden der Individuen als »Freiheit« einschreibt, um jene Situation hinter sich zu lassen, die Freud gerade kritisiert hatte, nämlich nicht so sehr die subjektive Seite als vielmehr die kollektiven Aspekte der Religion im Sinne von Ritus und Gesetz, da sie mit seiner Analyse der Zwangsneurose als eines Unterworfenseins unter kleinmütige Regeln, Praktiken und Einengungen übereinstimmten. Mit anderen Worten ging es um die »Zeremo749 Für das entsprechende Kulturverständnis als Verzicht oder Lebenssteigerung vgl. N.M. ProenÅa, »Le malaise de la culture. La Barbarie de Michel Henry aprHs Das Unbehagen in der Kultur de Freud«, in: M. Enders u. R. Kühn (Hgg.), Kritik gegenwärtiger Kultur, Phänomenologische und christliche Perspektiven, Freiburg/München 2013, 216–225. 750 Kritisch zu berücksichtigen bliebe hier auch, ob sich nicht innerhalb der psychoanalytischen Institutionen implizit religiöse Phänomene wie Konformismus und Dogmatismus herausbilden, die sich auf Ausbildung wie Forschung negativ auswirken; vgl. Th. Pollak, »Psychoanalyse als Religion? Zur kirchlichen Verfasstheit psychoanalytischer Institutionen«, in: Psyche 11 (2014) 24–39.

Lebens- und Religionsbestimmung im kulturellen Kontext heute

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nien« einer »privaten Religion«, die als Neurose tragikomische Züge hatte und daher der Aufklärung durch die Psychoanalyse als »Wissenschaft« zu harren schien. Dennoch kann man Freud nicht ganz absprechen, dass er 1907 in dem entsprechenden Text über Triebhandlungen und religiöse Praktiken durchaus eine »Psychoanalyse der Religion« im Sinn hatte, insofern letztere in ihrem Zentrum einen Verzicht durch Verbot auf Triebbefriedigung einschließe. Dies spiegelt heute nicht ohne Weiteres mehr das allgemeine Empfinden wider, da sich das Bewusstsein von Schuld und Angst gegenüber »göttlichen Strafen« eher zugunsten der Anerkennung eines berechtigten »Genießens« (Lust) verändert hat.751 In einem anderen Text von Freud aus dem Jahre 1928 mit dem Titel »Ein religiöses Erlebnis«752 wird allerdings auch sichtbar (selbst wenn er darin jeden Gedanken an die Unsterblichkeit zurückweist), dass er dennoch schon die subjektive Seite der religiösen Erfahrung neben der kollektiv-neurotischen festgehalten hat. Dies hat allerdings nicht verhindert, in der Religion aufgrund seiner Lehre vom archaisierten Ödipuskomplex eine wesentliche Illusion zu diagnostizieren,753 mit anderen Worten der Meinung zu sein, dass die Psychoanalyse in der Lage sei, das aufzudecken, was der Religion selbst verborgen bleibe. Lacan griff nun all diese kritischen Fäden durchaus wieder auf, aber er sah in der Religion eben prinzipiell eine subjektive Erfahrung, anstatt hauptsächlich nur den neurotischen oder illusionären Aspekt festzuhalten, Deshalb wandte er sich explizit auch dem Zusammenhang von Mystik und Subjektivität zu, das heißt einem »Wissen« des Subjekts, welches – wie die Psychoanalyse – niemals in das Feld der Wissenschaft eintrete.754 Damit bewegte sich Lacan außerhalb der sterilen Alternativen, die Religion als Illusion abzutun oder als konfessionelle Wahrheit zu validieren, denn er war der Auffassung, dass weder die Psychoanalyse noch die Wissenschaft mit der Religion an ein Ende kommen könne, was mit dem Wahrheitsbegriff selbst zusammenhängt. Habe in der Tat das Judentum vor allem den Aspekt von Gesetz und Gehorsam in den Vordergrund gestellt,755 so sei das Christentum hingegen eine Religion der Wahrheit, was heiße, dass sie die Wirklichkeit des Wahren über ein bloß objektiv erreichbares Wissen stelle, was auch Lacan für seine Psychoanalyse gerade in Anspruch nahm. In den 1970er Jahren sah er bereits einen gewissen Sieg der 751 Vgl. auch nochmals unsere Einleitung Teil 3 und Kapitel II,4.3. 752 GW XIV, 591–594. 753 Vgl. nochmals Die Zukunft einer Illusion (1927): GW XIV, Frankfurt/M., Fischer 71991, 325– 380. 754 Vgl. Le S8minaire VI: Le d8sir et son interpr8tation, Paris, Editions de la MatiniHre 2013, 485f., sowie unser Kapitel II,5. 755 Vgl. in diesem Sinne ebenfalls Chr. Jung, »Jüdische Mystikkritik im 20. Jahrhundert. Martin Buber und Franz Rosenzweig«, in: Salzburger Jahrbuch für Philosophie 64 (2019) 69–96.

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Ausblick: Leben, Religion und Therapie als Ursprungsfrage

Religion voraus, da sie eben in der Lage sei, die Folgen der Wissenschaft abzufedern und all den Erschütterungen durch dieselbe einen Sinn zu geben.756 Dieser »Sinn« besteht für Lacan gemäß seinem Denken in der Fähigkeit der Religion, das »Reale« zu berücksichtigen, was für ihn nicht ausschließt, dass es auch eine Menge »falscher Religionen« gebe. Deshalb erscheint die »Wiederkehr des Religiösen« in dieser Perspektive als eine epochale Notwendigkeit, nämlich dem entgegenzuwirken, was bisher eine Dysfunktion des »Sinns« als kulturelle Krise hervorgerufen hat. Aber so wie Freud sich kritisch mit den Monotheismen beschäftigt hat (wobei der Islam weitgehend ausgeklammert blieb), so hinterfragt auch Lacan einen Religionsbegriff, der nur »Triebverzicht« verlange, da es auch eine »Weisheit« gebe, welche die »Lust« (jouissance) in eine gewisse Ordnung lenke könne, wodurch sie therapeutische Funktionen zu gewinnen scheint. Lacan denkt hierbei allerdings nicht an eine unmittelbare »Gesundheit« durch die Religion, so wie Statistiken angeblich belegen können, dass Sinngläubigkeit die Lebenserwartung bei religiös und spirituell eingestellten Individuen um 29 % verlängere. Vielmehr erblickt er im psychoanalytischen Sinne die mögliche Bedeutsamkeit der Religion in der »Erfahrung der Wahrheit«, woraus sich dann als nicht direkt anvisierter Effekt Heilungsaspekte einstellen könnten. Wenn also Therapie/Analyse wie die Religion sich außerhalb des wissenschaftlichen Feldes im üblichen Sinne befinden, dann ergibt sich hier somit eine gewisse Parallele zwischen Religion und Therapie, da es sich um den wesentlichen Unterschied von Wissen und Glauben für das Subjekt handelt. Die Religion hat einen anderen Status als alle objektiven Bereiche, die auf dem Beweisbaren beruhen, wie auch Kant diesen Unterschied für Vernunft und Glaube in theoretischer und praktischer Hinsicht in Anspruch genommen hatte.757 Es geht hier nicht um den logischen Status des Glaubens, denn es ist durchaus möglich, dass implizit dabei für den Einzelnen immer noch eine Funktion des »Wissens« subjektiv mitgegeben bleibt, welches die Rolle einer Hoffnung innerhalb des Glaubens stützt. Nicht zu übersehen ist allerdings, dass die »religiöse Erfahrung« heute dort strukturell einspringt, wo das aufgeklärte Wissen sich als obsolet erwiesen hat. Jedoch geht es nicht darum, etwa die ethischen und geistigen Mängel der Wissenschaftlichkeit aufzuweisen, um dann in diese Leerräume das Religiöse als

756 Für die weitere Zeitdiagnose der folgenden Jahrzehnte vgl. etwa W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Berlin, Acta Humaniora 72008; F. Madioni, Figures du vide. Psychopathologie et hypermodernit8, Paris, L’Harmattan 2017. 757 Vgl. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (Kants Werke: AkademieTextausgabe VI), Berlin, De Gruyter 1968, 1–202.

Lebens- und Religionsbestimmung im kulturellen Kontext heute

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neue Sicherheit einzuschreiben, da dies wiederum nichts anderes als den Willen offenbaren würde, die »Religion« wieder triumphieren zu sehen.758 Es geht vielmehr darum, grundsätzlich zu erkennen, dass das wissenschaftliche Wissen nichts »Anderes« über sich hinaus erblickt, was ihm als Fundament dienen könnte, weshalb jede Wissenschaft hinsichtlich unseres Handelns willkürliche Maximen aufstellt, welche sie prinzipiell nicht einlösen kann, da es ein älteres vorhergehendes »Lebenswissen« gibt, wie Michel Henry759 es nannte, welches uns transzendental affiziert und als immanent praktische Gewissheit leitet. Daher konnte die Religion ihre ablehnende Haltung gegenüber der Wissenschaft in den letzten Jahrhunderten auch nach und nach aufgeben, um sich nunmehr als »Erfahrung des Religiösen« genau in diese Lücke der Handlungsmotivation als praktische »Lebensführung« (Rendtorff) einzuschreiben. Hierbei handelt es sich um keine »Gottesbeweise« mehr, sondern um eine unbenennbare Anwesenheit Gottes im Sprechen (Dire) als solchem, welches nach Lacan eine unbewusste Verbindung zwischen dem Signifikanten und dem Signifikat herstellt, was eben bereits ein »Wissen« vor dem Subjekt voraussetze. In dieser psychoanalytischen Sichtweise wäre daher der »Glaube« jenes Vertrauen, welches wir der Sprache grundsätzlich entgegenbringen, nämlich dass »sie spricht« – und in diesem Sinne ist »Gott« für Lacan das »Sprechen der Wahrheit« in mir. Wenn nun die Therapie/Analyse wesentlich Gespräch ist, dann wäre aus solcher Sicht das Religiöse nicht nur generell darin anwesend, sondern in einem engeren Sinne auch »Gott« als jener »Andere«, der als »Ort« des Wortes in Anspruch genommen wird. Und wenn es keine abschließbare Symmetrie zwischen dem Symbolischen (Bedeutungen) und dem Imaginären (Phantasma) gibt, dann gibt es nach Lacan dennoch eine Instanz über das zufällig Eine und Andere hinaus. Ob es sich hierbei um eine Laizisierung oder Logifizierung Gottes handelt, wie Lacan760 es selbst diskutiert, sei dahingestellt, denn es geht hier nur um die Frage, ob es prinzipiell eine Verbindung zwischen Religion/Therapie zu geben vermag, während Freud den Gott der Bibel als eine bloße »Verdichtung« aufgefasst – und damit »geteilt« – hatte.761 Wenn Lacan mithin ein gewisses Genießen (jouissance) durch das Begehren zulässt, auch wenn es letztlich in keinem bestimmten Objekt festgeschrieben 758 Vgl. nochmals Le Triomphe de la religion pr8c8de de Discours aux Catholiques, Paris, Seuil 2005 (dt. Der Triumph der Religion, welchem vorausgeht: Der Diskurs an die Katholiken, Wien, Turia + Kant 2009). 759 Vgl. F. Charoy, »Lebensführung und Lebensethos – zur Frage ethischer Vermittlung bei Trutz Rendtorff und Michel Henry«, in: M. Enders (Hg.), Immanenz & Einheit. Festschrift zum 70. Geburtstag von Rolf Kühn, Leiden/Boston, Brill 2015, 127–149. 760 Vgl. S8minaire XX: Encore, Paris, Seuil 1975. 761 Vgl. S. Freud, Der Mann Mose und die monotheistische Religion (1939): GW XVI, Frankfurt/ M., Fischer 72005, 101–248.

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werden kann, dann hebt er hierdurch diese Freudsche »Aufteilung Gottes« wieder auf, denn es gibt in Lacanscher Sicht sowohl einen sprachlich-wissenschaftlichen Gott (Grund der Signifikanz) als auch einen im Begehren verborgenen Gott (Genießen), so dass hier die wirkliche »Verdichtung« von beiden Aspekten die therapeutische Funktion von »Gott« enthalten könnte. Wenn Freud nämlich in der Religion nur den Triebverzicht problematisierte und den religiösen oder theologischen Charakter der Sprache in der Therapie verkannte, dann hat er selbst damit nur ein Verbot eingeführt, welches eigentlich nicht die jouissance als solche betrifft, sondern nur das sexuelle Verhältnis als imaginäre »Kopulation«. Mit anderen Worten ist dadurch eine ursprüngliche Gegebenheit wie das Begehren rationalisiert oder verneint, welches aber gar nicht als solches verneint werden kann, weshalb für Lacan »Gott« keinen Namen für das Verbot darstellt, sondern gerade aus der nicht-sexuellen dualen Beziehung hervorbricht, wie sie auch im analytisch-therapeutischen Gespräch maßgeblich ist, ohne das Begehren beim Patienten/Therapeuten zu verleugnen. Lacan bleibt mithin der Linie Freuds insofern treu, als er »Gott« in die Genealogie des Begehrens (»Trieb«) einschreibt, aber er situiert sich nicht aufseiten des Verbotes eines solchen »Genießens«, sondern in der Möglichkeit eines Übermaßes des Begehrens selbst, welches auf diese Weise ein »Unendliches« einführt.762 Das Verbot in der Sicht Freuds, welches in den weiteren Konzeptualisierungen vom »Über-Ich« und »psychischen Apparat« wiederkehrt, ist daher eine Hinzufügung zu einem ursprünglicheren Verhältnis – und als solche unnötig. Natürlich war das diagnostizierte kulturelle »Triebverbot« ein zeitgenössisches Echo auf damalige jüdisch-christliche und bürgerliche Verhaltensweisen gerade auch in der Sexualmoral. Aber was es mit Lacan zu verstehen gilt, besteht darin, dass das Verbot oder der Verzicht in Bezug auf das Begehren gar nichts an der Struktur des Genießens als solches ändert. Dies gilt auch für die heutige Zeit, wo die Tabus in Bezug auf »Lust« weitgehend aufgehoben erscheinen, denn es bleibt trotz allem ein Abgrund im Begehren, sofern es stets als Übermaß seiner selbst auch radikal phänomenologisch auftritt. Und insofern kann man sagen, dass Freud nur einen kulturellen Schein hinsichtlich dieses Abgrundes offengelegt hat – nämlich den Schein einer Lösung durch Verbot oder Verzicht. Wenn heute die beiden letzteren durch Stimulierungen und Anreize jeder Art aufgehoben oder zumindest relativiert zu sein scheinen, dann hat sich am Grundproblem jedoch gar nichts geändert. Denn das Begehren gehorcht keiner Objektivität, weshalb auch die Frage kulturell neu aufbricht, ob »Gott« nicht ausgehend vom »Ge-

762 Dies wird gegenwärtig auch mit Fragen nach Vermögen und Grenzen des Leibes verknüpft; vgl. A. Böhler, K. Kruschkova u. S. Granzer (Hgg.). Wissen wir, was ein Körper vermag? Rhizomatische Körper in Religion, Kunst, Philosophie, Bielefeld, Transcript 2019.

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nießen« prinzipiell »erlebt« werden kann, welches ohne Zweifel im Sprechen und Erproben von »religiöser Erfahrung« heute mitgegeben ist. Wenn es mithin ein solches Gleiten gegenwärtig zu einer größeren Akzeptanz religiöser bzw. spiritueller Erfahrung hin gibt, vor der sich auch die Therapie/ Tiefenpsychologie nicht versperren kann, dann auch deshalb, weil Verbote schlechthin heute einem Verdacht unterliegen, denn das »Wie es Dir gefällt!« scheint immer stärker zu einem allgemeinen Konsens in unserem gesellschaftlichen Leben zu avancieren. Das heißt, die allgemeinen Normen haben sich jetzt eher zu rechtfertigen als die Transgressionen im Verhalten, sofern sie nicht gewalttätig sind (wie dies besonders die aktuellen Debatten um Kindesmissbrauch zeigen),763 was dem Status des Imaginären einen neuen Stellenwert verleiht. Und zwar dergestalt, dass die liberalen Gesellschaften zwar kodifiziert kein Absolutes mehr kennen oder gelten lassen, aber als Zivilgesellschaft dem Einzelnen in seiner jeweiligen Gläubigkeit tolerant begegnen. Staat, Kirche, Universität, Parlament und Militär sowie andere öffentliche Institutionen haben nicht mehr den kulturellen Kredit, um ein zweifelsfreies oder sogar absolutes Wissen zu besitzen und durchzusetzen. Dies hat dann insbesondere in unserem Zusammenhang zur Folge, dass auch die Analyse/Therapie für ihre Praxis einen neuen Hintergrund gewinnt, nämlich in ihrem Tun ein subjektives Wahrheitsgeschehen zu durchlaufen, welches nicht mehr unbedingt unter dem methodischen Vorbehalt von Atheismus, Laizismus, Objektivität oder Humanismus zu subsumieren wäre wie zur Zeit Freuds und in den Jahrzehnten darauf. Vielmehr wäre ein zusätzliches Register für die Therapie aufgeschlagen, ohne zwischen Wissenschaftlichkeit und Religion wählen zu müssen, weil es sachhaltig für das subjektive Selbst des Patienten um Veränderungen geht, die jenseits einer solch künstlichen Dichotomie liegen – ihn aber dennoch in seiner Gesamtexistenz als Begehren/Sinn betreffen, wie es gerade im »religiösen Erleben« heute in Anspruch genommen wird. Wie wir zuvor schon sagten und in unserer gesamten Untersuchung unterstrichen, ist mit der Frage des Verbotes und dessen Aufhebung die Virulenz des Begehrens keineswegs beantwortet, und wenn das phantasmatisch äußerste Begehren stets ein Begehren dessen bleibt, was dem Gesetz oder Phallus unterliegt, dann ist es trotzdem eine Illusion, anzunehmen, das Gesetz richte sich gegen das Begehren. Vielmehr wäre die grundsätzliche Konstellation, die heute kulturell neu zu bedenken bleibt, jene primordiale

763 Vgl. Jahrbuch der Psychoanalyse 70 (2015): Gewalt – Zerstörung – Transformation; Studia Phaenomenologica 19 (2019): Conflict and Violence; J. Rouzel (Hg.), Clinique Psychanalytique et lien social, Paris, L’Harmattan 2016.

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Gegebenheit, dass das Begehren das Herz des Gesetzes selbst ausmacht – und nicht umgekehrt,764 um sich von solchem »Gesetz« freizusetzen. Dass es speziell in der Psychoanalyse noch eine bestimmte Nostalgie hinsichtlich der Bedeutung des Gesetzes gibt, die Bemühung, dessen Relevanz auch für die heutige Gesellschaft einzufordern, versteht sich aus der kurzen Geschichte dieser Disziplin heraus.765 Aber wenn gegenwärtig eine Mutation in Bezug auf das Verbot und den Verzicht stattfindet, dann wäre eine solche Position für die Therapie und Kultur heute allgemein problematisch, die sich einem neuen Empfinden öffnen müssen, welches Gott und Eros im Sinne eines Begehrens ohne Objekt (Illusion, Imaginäres, Phantasma) neu zu bewerten hat, indem die Patienten mit gewandelten Einstellungen in die Kur kommen. Diese mögen weiterhin narzisstisch, neurotisch wie pervers sein, aber in Bezug auf Gläubigkeit und Religion bzw. Spiritualität wären diese Vorstellungen dann nicht mehr so einfach mit dem Verdacht eines bloßen »Infantilismus« wie noch bei Freud zu belegen, sondern ebenfalls als Ausdruck eines neuen »Unbewussten« einschließlich »Gott« aufzugreifen und durchzuarbeiten.766 Denn das Begehren folgt einer eigenen Ordnung, die nicht zu vergleichen ist mit dem bloß Nützlichen der »Realität«, und wenn das Religiöse auch weiterhin das Gefühl der Schuldhaftigkeit unter seine Obhut nimmt, so doch eher im Sinne eines Wertes oder einer Stellungnahme, die aus der Existenz nicht wegzudenken ist. Demzufolge ist der in früheren Zeiten schmerzende Brand der Verbote vielleicht erloschen, aber damit ist noch nicht das Feuer das Absoluten selbst verloschen, welches der Mensch im Begehren als mögliche jouissance mit sich trägt.

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Die Ursprungsfrage als Primärphantasma und reine Lebensaffektabilität

Um zu klären, ob sich auf solchem Hintergrund auch die radikal phänomenologische Ursprungsfrage im Gespräch mit der Psychoanalyse weiterführend einbringen lässt, soll anhand der Untersuchungen von Jean Laplanche (1924–

764 Vgl. zu dieser Diskussion J. Lacan, Le S8minaire VII: L’8thique de la psychanalyse 1959–1960, Paris, Seuil 1986 (dt. Das Seminar. Buch 7: Die Ethik der Psychoanalyse, Berlin, Quadriga 1995). 765 Vgl. M. Thiberge, Essai sur la psychanalyse et la postmodernit8, 401–410: »L’inconscient, est-il politique?« 766 Dies war schon die Position V.E. Frankls in den 1940er Jahren; vgl. Der unbewusste Gott. Psychotherapie und Religion (1948), München, Kösel 1994, auch wenn seine Prämissen noch einer metaphysischen Anthropologie folgen.

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2012) und Jean-Bertrand Pontalis767 auch deren Konzeption noch aufgegriffen werden. Wir haben in unseren Ausführungen zuvor mehrmals unterstrichen, dass es für Freud kein Ursprungsdenken im philosophischen oder metaphysischen Sinne gibt, denn er will es auf metapsychologische Gegebenheiten zurückführen, an deren Anfang im analytisch-therapeutischen Sinne eine »Urverdrängung« als »Urszene« steht, begleitet von einem Phantasma der Verführung, Kastration oder Rückkehr in den mütterlichen Schoß.768 Diese Phantasmen bilden zugleich ein »archaisches Erbe« bei allen Menschen, welches es ihnen erlaubt, sich innerhalb der symbolischen Ordnung (Phallus) zu entwickeln, deren weltanschauliche Stadien Totemismus, Religion und Wissenschaft sind. Diese ersten Phantasmen stellen allerdings keine unmittelbare Repräsentation dar, sondern bedeuten gerade für die jüngere Psychoanalyse – besonders seit Lacan – eine Einschreibung des Symbolischen in unsere leiblich-symptomale Wirklichkeit, die sich beim Kind als phantasmatische Aktivität zugleich mit der »Autoerotik« herausbildet, insofern der Leib die Unmittelbarkeit von Bedürfen, Begehren und Lust darstellt. Durch die mütterliche Brust und Pflege dieser leiblichen Bedürfnisse tritt nun ein, was Laplanche und Pontalis eine »Verführung« (s8duction) in einem erweiterten Sinne im Anschluss an Freud genannt haben, das heißt eine sexuelle Reizerregung durch Erwachsene, welche über die anfängliche Fassungskraft des Kindes hinausgeht. Die Befriedigung illusionärer Wünsche ist nach Freud an die Trennung von Innen/Außen gebunden, wie wir wissen, wobei dieses psychisch Innere im Gegensatz zur Wahrnehmung der Außenrealität allein dem Lustprinzip folgt. Der verborgene »Ursprung« ist demnach hier ein Unbewusstes, welches insoweit die Phantasmen hervorbringt, als es ausschließlich diesem Lustprinzip folgt. Genau deshalb wird in der Kur die Konfrontation mit der Realität favorisiert, da deren Anerkennung in der Neurose auf halbem Wege stehengeblieben sei. Die »psychische Realität« – als dritter Bereich zwischen Unbewusstem und äußerer Realität – ist daher der spezifische Bereich der unbewussten Wunschphantasien, welche den fiktiven Ausdruck des Phantasmas bilden und von der Philosophie zumeist unter dem Begriff der Phantasie und des Imaginären untersucht wur-

767 Vgl. Fantasme originaire – Ffantasmes des origines – Oorigines du fantasme, Paris, Hachette 1961 (dt. Urphantasie – Phantansmen über den Ursprung – Ursprünge der Phantasie, Frankfurt/M., Fischer 1992); J. Laplanche, Die allgemeine Verführungstheorie und andere Aufsätze, Tübingen, Diskord 1988 (Neuaufl. Frankfurt/M., Brandes & Apsel 2017); Entre s8duction et inspiration: l’homme, Paris, PUF 1999; Probl8matiques VI: L’aprHs-coup. La »Nachträglichkeit« dans l’aprHs-coup, Paris, PUF 2006; Neue Grundlagen für die Psychoanalyse. Die Urverführung, Frankfurt/M., Fischer 2011. Dazu Chr. Dejours u. F. Votalolovo (Hgg.), La s8duction / l’origine. L’œuvre de Jean Laplanche, Paris, PUF 2016. 768 Vgl. »Hemmung, Symptom und Angst« (1926): GW XIV, 111–206, hier 145ff.

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den.769 Freud selbst hat für diesen Bereich seine anfängliche These von der realen »sexuellen Verführung« des Kindes durch Erwachsene als Grund des Traumas aufgegeben, weil er erkennen musste, dass das Trauma das Phantasma selbst ist – nämlich die Maske der spontanen Manifestation der kindlichen Geschlechtlichkeit. Das Kind verbirgt dahinter seine autoerotische Aktivität, so dass sich der grundlegend latent neurotische Zusammenhang von Sexualität, Trauma und Abwehr ergibt. Hierbei teilte Freud das Trauma der »Verführungsszene« in zwei Stufen ein; einerseits ein genital gesehen »vorgeschlechtliches Erleben«, insofern das anfängliche Kind weder die somatischen Bedingungen sexueller Erregung noch das Vorstellungsvermögen zur Integration eines solchen Erlebens besitzt. Nach der Pubertät als der zweiten Stufe des Traumas bringt die Erinnerung der »Urszene« eine effektiv sexuelle Erregung hervor, welche das Ich ohne Abwehrmöglichkeiten lässt. Denn diese sind normalerweise gegen die äußere Realität gerichtet, so dass sich jetzt eine pathologische Abwehr einstellt, nämlich die »Verdrängung« der Erinnerung, was als »nachträglich primärer Prozess« angesehen wird. Dieses psychogenetische Schema der Sexualität beim Kind enthält nun für Laplanche und Pontalis zwei zentrale Aussagen. Zum einen breche die Sexualität wie von außen in eine – traditionell gesehen – »unschuldige« Kinderwelt ein und bringe eine Abwehrreaktion hervor, die in ihrem Ereignischarakter als solche nicht pathogen ist. Aber es stelle sich zum anderen eine Unlust ein, deren Ursprung die Erinnerung der »Urszene« sei, weil das wie von außen hereinbrechende Ereignis als ein innerer »fremder Körper« erfahren werde. Insofern der Trieb hierbei kein entlastende Entladung herbeizuführen vermag, befinde sich das kindliche Subjekt in einem Zustand der »Hilflosigkeit« (Freud). Das Entscheidende ist hierbei nun für die Frage des Zusammenhangs von Ursprung/ Phantasma, dass es die Erinnerung ist, welche eine weit beträchtlichere Wirkung hervorbringt als das Ereignis selbst. Demzufolge wird die eigentliche metapsychologische Problematik darin erblickt, dass das seelische Trauma von etwas ausgeht, das bereits »da« ist – ein »Da«, welches gerade in seiner Bildung zu erklären bleibt, wozu die »erste Szene« als »Ur-Szene« dient. S#ndor Ferenczi (1873–1933) hatte die Theorie der Verführung ebenfalls wieder aufgegriffen, indem er vorschlug, dass die Erwachsenen in die kindhafte Sprache der Zärtlichkeit die Sprache ihrer Leidenschaft einführen, denn das Kind erfährt – selbst

769 Vgl. etwa B. Spinoza, Ethik (Opera – Werke II), Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1967, Teil II–IV, über die Affekte; in phänomenologischer Hinsicht M. Richir, Phantasia, imagination, affectivit8, Grenoble, Millon 2004.

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wenn es keine tatsächlich sexuelle Verführung gegeben hat – die Introjektion der Erotik der Erwachsenen in seine leiblich-psychischen Affekte.770 Wenn Freud mithin die These einer Perversion der Erwachsenen in Bezug auf den familiären Missbrauch eines Kindes aufgibt, da nicht alle Väter pervers sein könnten, dann ergibt sich eine neue theoretische Konstellation hinsichtlich kindlicher Sexualität, Ursprungsphantasma als Wunschphantasie und Ödipuskomplex. Denn beim letzteren stelle sich zusammen mit dem Schuldgefühl gerade im hysterischen Phantasma der Verführung durch den Vater bei weiblichen Patientinnen ein Bezug zwischen Symptom der Hysterie und kindlich sexuellem Phantasma her, der Ausdruck des Ödipuskomplexes sei.771 Damit kreist die Diskussion der sexuellen »Urszene« als »Ursprungsmythus« stets um Gegensatzpaare wie Subjekt/Objekt, Konstitution/Ereignis, Innen/Außen und Imaginär/Wirklich, woraus sich für die Analyse/Therapie ergibt, dass durchgehend – wie beim Traum – ein manifestes Material mit einem latenten Inhalt hinter dem Symptom gegeben sei. In diesem Sinne sagen die genannten Autoren, dass Freud nie darauf verzichtet hätte, die von ihm gesuchte »Urszene« auf eine rein imaginäre Schöpfung zurückzuführen,772 um mit dem Begriff der »Urphantasie« wie im Fall des »Wolfsmanns«773 eine Ursprünglichkeit anzuzeigen, die das individuelle und phantasierte Erleben übersteigt. Da solche Ursprungsphantasmen nicht in der jeweiligen Biographie direkt aufzufinden sind, versuchte er über die Gattungsgeschichte eine archaische Struktur festzuhalten, was jedoch über jedes aufweisbare historische Ereignis hinausgehe, wie wir ausführten.774 Wenn einiges dafürspricht, dass die Patienten in neurotischer Hinsicht meist dieselben Ursprungsphantasmen in die Kur einbringen und diese Phantasmen jedes Mal mit demselben Inhalt gebildet werden, dann liegt dem eben für Freud ein phylogenetisches Organisationsprinzip zugrunde. Mit dessen Hilfe schließe das Kind die Lücken seines je individuellen Erlebens, was allerdings für Laplanche und Pontalis theoretisch gerade einschließt, dass nicht der subjektive Ereignischarakter das ursprüngliche Movens bildet, sondern eine andere Wirklichkeit vorausliegt.775 In Übereinstimmung mit Claude L8vi-Strauss und 770 Vgl. »Die Leidenschaften der Erwachsenen und deren Einfluss auf Charakter und Sexualentwicklung der Kinder«, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 19 (1933) 5–15; »Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind (Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft)«, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 19 (1933) 16– 27; S. Freud u. S. Ferenczi, Briefwechsel, 3 Bände (Hgg. E. Falzeder u. E. Brabant), Wien, Böhlau 1993–2005. 771 Vgl. S. Freud, »Selbstdarstellung« (1925): GW XIV, 51–97, hier 59ff. 772 Vgl. J. Laplanche u. J.B. Pontalis, Fantasme originaire fantasmes des origines origines du fantasme, 54f. 773 Vgl. »Hemmung, Symptom und Angst«, 134f. 774 Vgl. unser Kapitel II,4.2. 775 Vgl. »Hemmung, Symptom und Angst«, 59f.

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Jacques Lacan wird dieses »Wirkliche«, welches die imaginäre Bildung des Phantasmatischen speist, als eine Vorform der schon genannten »symbolischen Ordnung« betrachtet.776 Was strukturell an Freuds Mythen vom »Urvater« hierbei maßgeblich bleibt, ist die Unzugänglichkeit dieser Ur-Gestalt für das jeweilige Subjekt. Damit liegt allerdings bei Freud eine nur relative Synthese vor, die im Grunde keine ist, denn das phylogenetisch weitergetragene Unbewusste, welches eine ursprünglich konstitutive Gegebenheit für jeden Menschen sein soll, erschließt sich allein über eine analytisch-therapeutische Rückinterpretation in der Kur, die dann nur eine strukturelle Parallele zum subjektiven Erleben sein kann, da dieses ursprüngliche Unbewusste nicht direkt aufzufinden ist. Der Ödipuskomplex, welcher dieser Ursprungshypothese ohne eigentliche Vermittlung beigefügt wird, ist hingegen ein subjektives Erleben des Patienten selbst, das durch eine individuelle Deutung in Bezug auf die Elternkonstellation erschlossen werden kann. Der Begriff, welcher eine Zuordnung von Struktur/ Erleben bildet, ist bei Freud jener der schon erwähnten »Urphantasie«, wodurch angezeigt sein soll, dass der Ursprung des Phantasmas in die Struktur des ursprünglichen Phantasmas integriert wird, und zwar als »Familienlegende« wie beispielsweise beim »Wolfsmann«.777 Ebenso wie der Mythus in der Entwicklung der menschlichen Weltanschauungen sollen die Ursprungsphantasmen eine »Lösung« mittels fiktiver Repräsentation für das bieten, was dem Kind hinsichtlich der Sexualität als ein Rätsel erscheint. Mit anderen Worten wird in diesen Ursprungsphantasmen der »Ursprung« des Individuums imaginiert, und zwar in einem doppelten Sinne. Wenn nämlich die Phantasmen der »Verführung« das subjektive Aufkommen der Sexualität darstellen sollen, so bieten die Phantasmen der Kastration (von der Mutter aufgezehrt, vom Vater bestraft zu werden) die Möglichkeit, den Ursprung der Geschlechtsdifferenz zu erklären. Die Konvergenz von thematischem Inhalt, Struktur und Funktion enthält dadurch Hinweise auf jenes Wahrnehmungsfeld, in dem sich die Suche nach den unbewussten »Anfängen« herausbildet, so dass 776 Die umfangreichen Arbeiten zum Mythos (welche an eine Kontroverse mit Sartre über die analytische wie dialektische Vernunft geknüpft sind) zeigen deutlich die strukturalistische Abkehr von jedem Cartesianismus oder Subjektivismus bei L8vi-Strauss, insofern hier eine »Rationalität ohne Subjekt« erschlossen werden soll, in welcher die Mythen nicht länger als vom Menschen gemacht erscheinen, sondern »sich im Menschen denken«, was an die strukturale Gleichsetzung von Sprache und Unbewusstem bei Lacan erinnert, der dieses Denken früh rezipierte; vgl. Les Mythologiques I–IV, Paris, Gallimard 1964–71 (dt. Mythologica I–IV, Frankfurt/M., Suhrkamp 1976) sowie C. Cl8ment, Claude L8vi-Strauss, Paris, PUF 2003; J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M., Suhrkamp 61994, 422–442: »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen«. 777 Vgl. S. Freud, »Mitteilung eines der psychoanalytischen Theorie widersprechenden Falls von Paranoia«: GW X (1915–1917), Frankfurt/M., Fischer 92012, 91–119.

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die Annahme einer bestimmten phantasmatischen Urszene den »Ursprung« des Subjekts als solches ergibt. In der Sprache Lacans lässt sich mithin sagen, dass die Ursprungsphantasmen mittels einer imaginären Inszenierung die Einschreibung des Symbolischen in die Wirklichkeit des subjektiven Leibes darstellen.778 Man muss daher den Versuch Freuds anerkennen, dass er das Phantasma durch eine wissenschaftliche Theorie fassen wollte, um auf diese Weise mittels der phantasmatischen Funktion jenen »Ursprung« zu plausibilisieren, wie die menschliche Sexualität zur Wirklichkeit bei jedem Subjekt wird – was von einer radikal phänomenologischen Analyse in Bezug auf eine originär transzendentale Lebensaffektabilität weitergeführt werden kann, deren leiblichimpressionale Wirklichkeit den prinzipiellen Zusammenhang von Hervorbringung/Hervorgebrachtem betrifft, der nicht auf rein empirische Feststellungen reduziert werden kann. Nach Freud, der stets den Begriff »Phantasie« benutzte und letztere sowohl als unbewusst wie bewusst betrachtete, hat sich etwa im Französischen die Unterscheidung von phantasme und fantasme eingebürgert. Mit ersterem Begriff sind das Unbewusste und die Primärinhalte gemeint, während der zweite Begriff die nächtlichen Träume ausdrücken will. Freud fand in den Phantasien (fantasmes) den topisch-energetischen Übergang vom bewusstem zum unbewussten System, was die »Verdrängung« und die »Wiederkehr des Verdrängten« einschließt. Dabei ist es die libidinöse »Besetzung«, welche die Grenze dieses Übergangs auszeichnet, so dass die Verdrängung jenen Prozess bildet, welcher die transgressiven »Wunschphantasien« zurückweist, das heißt, aus der bewussten Vorstellung entfernt. Die Freudsche Metapsychologie findet dergestalt eine Strukturverwandtschaft zwischen Phantasie und Traum, wie auch bei der Erklärung des religiösen Phänomens, denn die Erregung der psychischen Systeme geht von den unbewussten Phantasien bis zum Vorbewussten, wo Traumreste oder Übertragungsgedanken geschöpft werden können. Allerdings ist die Phantasie auch in der »sekundären Traumbearbeitung« gegeben, insofern in der metaphorischen Traumerzählung gerade Inszenierungen zurückbehalten werden, welche in die nächtlichen Phantasien oder Träume vom Tag vorher übernommen werden. Die zwei Modalitäten der Phantasie im Traum, mithin die sekundäre Bearbeitung der verborgenen Traumreste und der unbewusste Wunsch, tauschen sich untereinander aus, indem sie sich gegenseitig symbolisieren. Unterscheidet man nun mit Laplanche und Pontalis ursprünglich unbewusste Phantasmen (phantasmes) und bewusste Phantasien (fantasmes oder phantasie), dann muss für den ersten Fall das ursprünglich unbewusste »Urphantasma« vom verdrängten unbewussten Phantasma abgehoben werden. Da 778 Vgl. J. Laplanche u, J.B. Pontalis, Fantasme originaire – Fantasmes des origines – Origines du fantasme, 69f.

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dennoch beide miteinander vermengt sind, finden wir hier sowohl die Struktur als auch das Imaginäre wieder.779 Der nächtliche Traum benutzt alles aus dem individuellen Erleben wie ursprüngliche Phantasmen, die der Familienlegende entnommen und daher durch den Ödipuskomplex strukturiert sind. Bleiben Imaginäres und Struktur hierbei also zu unterscheiden, so gilt andererseits ebenfalls, »Ich« und »Subjekt« voneinander zu trennen. Der nächtliche Traum ist immer um den »Ichpol« herum gruppiert, während das »Subjekt« invariabel ist, folglich seinen Traum lebt, beladen von den geträumten Ich-Szenen.780 Das originäre Phantasma hingegen kennt keine Subjektivierung, welche mit der Präsenz des Subjekts in der Urszene parallel wäre, so dass das Kind beispielsweise eine Person unter anderen des Phantasmas ist.781 Und in dieser Hinsicht besitzt die Erinnerung, die als Struktur fungiert, eine Verwandtschaft mit dem Ursprungsphantasma, was erklärt, warum die Struktur des Phantasmas eine Inszenierung mit vielfältigen Zugängen bietet. Schon für Freud wurzelt das Phantasma (»Phantasie«) mithin nicht in einer biologischen Faktizität, was man daran erkennt, dass er nicht die Triebe mit dem Instinkt der Tiere analogisiert, sondern die Ursprungsphantasmen des Menschen. Daraus ergibt sich für das Subjekt des Phantasmas eine strukturelle Reihung von Somatisch – Es – Phantasma (Phantasie) – Abwehrmechanismen des Ichs, denn das Phantasma findet seinen Ursprung in der halluzinierten Befriedigung des Begehrens. Auf diese Weise soll die besondere innerpsychische Zeitlichkeit des Begehrens in seinem Hervorbrechen selbst erfasst werden, was als eine analytisch-therapeutische »Konstruktion« angesehen werden kann, da ein Vorher und Nachher zugleich als Moment des Übergangs aufgefunden wird – mithin das mythische Moment der Auftrennung zwischen Bedürfnisbefriedigung und Wunscherfüllung. Anders gesagt, gibt es hier zwei Zeitformen einer wirklichen Erfahrung und deren halluzinatorischer Wiederbelebung, so wie es hier auch ein erfüllendes Objekt und ein Zeichen gibt, welches sowohl die Einschreibung desselben als auch reine Abwesenheit ist. Dies ist folglich jenes »mythische Moment«, in dem Laplanche und Pontalis die Aufspaltung des libidinösen oder erotischen »Hungers« (Freud) und der Sexualität in einem »Ursprungspunkt« festmachen wollen.782 Hinsichtlich der Autoerotik des Kindes bedeutet dies das Auftreten einer »Lustprämie« (Freud), welche ein Zusatzeffekt der Stillung des erotischen 779 Vgl. ebd., 107f. – Wir verwenden Phantasma durchgehend für die »Urverdrängung« als »Ursprungsphantasma« wie für das (erinnerbare) »verdrängte Phantasma« und Phantasie im Zusammenhang mit Traum und Wunsch. 780 Vgl. P. Ricœur, De l’interpr8tation, 99ff. 781 Vgl. S. Freud, »Ein Kind wird geschlagen«: GW XII (1917–1920), Frankfurt/M., Fischer 1948, 54–69. 782 Fantasme originaire – Fantasmes des origines – Origines du fantasme, 90f.

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»Hungers« ist. Und hier erkennen wir zugleich das Ziel der ganzen Untersuchung zum Ursprung betreffs unserer kulturellen Lebenswelt, insofern sich der sexuelle Trieb von seiner nicht-sexuellen Funktion trennt, welche die »Selbsterhaltung« (Freud) betrifft. Die menschliche Sexualität wird auf diese Weise dem Phantasma ausgeliefert, wodurch eine Zirkularität zwischen Sexualität und Bedürfnis eintritt, die beide dem Hervorbrechen des Phantasmas geschuldet sind. Für das Kind differenziert sich die Funktion des Saugens an der mütterlichen Brust als Autoerotik aus, wo die Lippen sich im Sinne Freuds »selbst küssen«, da hier jede Trennung von Objekt und Subjekt aufgehoben ist – was für die genitale Sexualität eben nicht gilt. Dass sich beide, Autoerotik und Sexualität, stets miteinander vermischen, ist in dieser Perspektive die Grundfrage der Kultur und ihrer versuchten Entflechtung in der Psychoanalyse, insoweit es keine Verschmelzung der Geschlechter gibt (Lacan). Die mütterliche Pflege bedeutet ebenfalls ein Ursprungsmodell für alle kulturellen Beziehungen, denn es sind Begegnungen zwischen dem Begehren, den mütterlichen Phantasien und den Ursprungsphantasmen, die über die Leiböffnungen die Szene für das Phantasma bilden, welches sich dann in den späteren Begegnungen als Oralität oder Analität, das heißt als Nehmen und Verweigern, lebensweltlich wiederholt. Das Begehren ist dabei nicht einfach das Hervorbrechen des Triebes, sondern in seiner Bindung an die Ursprungsphantasmen zugleich die Wahl der frühesten Abwehrreaktionen als Introjektion und Projektion sowie als Verneinung und Selbstaggression, wie wir schon bei Narzissmus und Todestrieb untersuchten.783 Strukturell gehören deshalb die Inszenierung des Begehrens und die Funktion des Phantasmas als Wunsch und Abwehr zusammen, wie sie überall im kulturellen Miteinander zu beobachten sind. Dass der deskriptiv schwierig zu erfassende Übergang von Bedürfen/Begehren ein Ursprüngliches beinhaltet, das individuell wie kulturell äußerst relevant ist, steht mithin analytisch-therapeutisch wie lebensphänomenologisch außer Zweifel. Es bleibt jedoch die Problematik gegeben, ob die letztmögliche Auskunft hier ein imaginär ontisches Phantasma ist oder eine phänomenologisch ontologische Lebensaffektabilität als ipseisierende Ursprungsgegebenheit.784 In ihrer klinischen Grundausrichtung hat die Analyse/Therapie notwendigerweise ein besonderes Interesse am Verdrängungs- und Abwehrproblem des frühen sexuellen Traumas, wie es Freud durch seine Studien zur Hysterie begründet

783 Vgl. unsere vorherigen Kapitel II,5.3 und II,6.3. 784 Vgl. M. Henry, G8n8alogie de la psychanalyse. Le commencement perdu, Paris, PUF 1985, 8ff. u. 343ff., der darauf hinweist, dass diese imaginäre, halluzinatorische oder onirische natura naturans letztlich von keiner Text- oder Sprachstruktur angemessen ergriffen werden kann, da sie ontologisch dem rein affektiven Leben geschuldet bleibt, wie wir seit unserer Einleitung unterstreichen konnten.

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hatte.785 Es liegt dennoch ein epistemologisches Apriori vor, von dem die Ursprungsfrage nicht abhängig sein kann, wie immer man sie fasst, sofern »Ursprung« etwas Bedingungsloses bezeichnen will, was wir durch die radikal phänomenologische Wirklichkeit des »Lebens« ausdrücken. Der Begriff der »Verführung« macht in solchem Zusammenhang zwar mit Recht darauf aufmerksam, dass Innen/Außen miteinander verschränkt sind – mithin ein äußeres Ereignis wie ein endogenes Erleben gegeben ist, wodurch ein Zuviel wie ein Zuwenig in der Dialektik menschlicher Sexualität als Grundform des Begehrens gekennzeichnet ist. Das seelische Trauma entspringt demzufolge gleichzeitig in einem Zu-früh und Zu-spät eines Ereignisses, weshalb jede Erinnerung, die sich zwischen Bedürfnis/Begehren einschreibt, nur das zu symbolisieren vermag, was in der Tat schon »da« war und somit nicht »ursprünglich«, sondern als imaginäre Inszenierung erinnert wird. Obwohl also jede »erste Szene« als »Ur-Szene« unbegreifbar bleibt, muss das Subjekt sich analytisch-therapeutisch dennoch daran ausrichten, da es deren Bedeutung rein passiv erlebt, nämlich für das Kind jene Sexualität, die es vorher nicht kannte, welche aber unaufhebbar nunmehr zu ihm gehört. Rein psychoanalytisch kann demzufolge von einem »Subjekt vor dem Subjekt« gesprochen werden, was lebensphänomenologisch im strengen Sinne nicht möglich ist, insofern die Ipseisierung durch die originäre Lebensaffektabilität jeweils ein Individuum zeugt, welches im radikalen Ursprungsbereich keine Distanz zu sich kennt und sich dergestalt – von keinem Phantasma imaginär fundiert – als »Mich/Ich« erprobt. Die Kultur versucht sich allerdings genau an dieser Stelle des unmittelbaren Übergangs von Bedürfnis/Begehren bzw. Ipseisierung/Subjektivierung phallisch einzuschreiben, so dass diese lebensweltlichen Angebote biographisch wie Gesetze oder Notwendigkeiten angenommen werden. Aber als Symbolisierungen sind sie nicht mit dem radikal individuierten Ursprung selbst zu verwechseln, weshalb sich gegenwärtig auch die mannigfachsten Identitätsdiffusionen ergeben, indem dieser Unterschied nicht beachtet wird. Exemplarisch haben wir dafür in Bezug auf das Kind Ferenczis Unterscheidung der Sprache der Leidenschaft seitens der Sexualität der Erwachsenen erwähnt. Tritt solche Sprache beim Kind als phallisches Begehren auf, so ist das Verbot zugleich mitgegeben – und damit das Gefühl von Schuld, Neid, Wut und Hass, die wiederum narzisstisch bzw. autoerotisch als eigene Vernichtung erlebt werden können, wie wir schon mit Melanie Klein sahen.786 Denn dadurch wird beim Kind jene fundamentale Unlust erklärbar, die sich bei der frühen sexuellen Erregung einstellt und ebenfalls Verdrängung und Abwehr hervorruft, was sich dann als »Kulturverneinung« später zuspitzen kann – weshalb sich nicht so 785 Vgl. »Selbstdarstellung«, 47ff. 786 Vgl. unser vorheriges Kapitel II,5.3.

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einfach Th. W. Adornos Diktum unterschreiben ließe, Freuds Psychoanalyse sei »nichts mehr als ihre Übertreibungen«.787 Der Mythus als Phantasma dringt demnach gemäß der leiblich-sexuellen Zeitlichkeit sui generis eines Zuviel und Zuwenig in das Kind ein, was eine gewisse biologische Entwicklung einschließt, aber zugleich das Zu-früh der Geburt und das Zu-spät hinsichtlich der Pubertät. Hingegen ist die Ipseisierung durch das Leben ohne Temporalität, weshalb sie stets neu und in jeder immanenten Modalisierung als Affektabilität am Werk ist, so dass es hier auch keinen Hiatus zwischen Wahrheit des Unbewussten und Fühlen des Affekts in Bezug auf einen »zurückphantasierten Ursprung« wie bei C.G. Jung gibt.788 Für die Tiefenpsychologie bleibt daher nur eine Wirklichkeit, welche sich als Fiktion manifestiert, das heißt als Phantasma eines »Ursprungs«, dem ich als solchem niemals beiwohne. Von daher rührt mit einer gewissen logischen Konsequenz bei Freud die schon erwähnte Konzeption eines »schwebenden Subjekts«, welches sich in der symbolischen Ordnung nirgendwo festmachen kann,789 woraus dann Lacan seinerseits folgerte, dass eine religiöse Frage in der Analyse/Therapie fortbestehe, wenn der »Ursprung« (das Reale, das Ding) weder durch Wissenschaft noch die Kur beantwortet zu werden vermag. Die psychische Realität des Phantasmas bleibt ohne diese Unterscheidung, die für die Kulturorientierung heute zentral ist, rein imaginär, was aber nicht heißt, dass das Phantasma seelisch nicht gegeben wäre. Diese Spannung in der »Verführung« zwischen vor-subjektiver Struktur und phantasmatischem Ereignis auszuloten, impliziert analytisch-therapeutisch nicht nur eine flexible oder »schwebende Logik« der Gegensätze. Für Sexualität und Kultur bedeutet dies zusätzlich, dass alle subjektiv gelebten Ereignisse mit »Verbot« und »Umkleidungen« (Freud) maskenhaft konfrontiert sind, insofern Phantasma und Verführung als symbolische bzw. phallische Erregung nicht voneinander zu trennen sind und als Struktur des »Ursprungs« nicht über das Imaginäre aufgeklärt werden können. Fassen wir die erläuterte Position von Laplanche und Pontalis zum psychoanalytischen »Ursprungsdenken« kritisch zusammen, dann gibt es einerseits ein fast transzendentales Schema »typischer Phantasmen« wie beispielsweise vorgeburtliches Leben im mütterlichen Schoß,790 traumatisch miterlebter Koitus 787 788 789 790

Vgl. Minima Moralia, Frankfurt/M., Suhrkamp 1970, 56. Vgl. W. Giegerich, Der Jungsche Begriff der Neurose, Frankfurt/M., Peter Lang 1999, 176ff. Vgl. bereits unser vorheriges Kapitel II,5.3. Vgl. auch O. Rank, Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse, Leipzig, Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1924 (Nachdruck Gießen, PsychosozialVerlag 2004); dazu S. Freud, »Hemmung, Symptom und Angst«, 196ff.; G. Meyer, Angst, Tod und das Begehren nach dem Mutterleib. Geschichte der Urszenen in der Psychoanalyse, Frankfurt/M., Brandes & Apsel 2004. – Wäre die Geburtsangst das älteste Phantasma, dann fiele die Kastration durch den Ödipuskomplex dahin, weshalb Freud sich von Rank diesbezüglich distanzierte. In Lacans Augen herrscht hier die Vorstellung einer primordialen

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der Eltern, Verführung oder Kastration und andererseits eine postmoderne Sichtweise solch phantasierter »Urszenen« im Sinne strukturalistischer »Nachträglichkeit«, wie sie besonders Derrida zum Zentrum seiner »Dekonstruktion« gemacht hatte.791 Das heißt, die Struktur ist in gewisser Weise autonom im Sinne einer organisierenden Signifikanz, welche kein Subjekt jemals als seine singuläre Wahrheit einzuholen vermag, aber dennoch als »psychische Realität« in sich trägt, um damit eine gewisse Wirklichkeit seines subjektiven Lebens fiktiv zu berühren. Dieses Leben tritt jedoch nicht radikal phänomenologisch als Selbstgebung im Sinne einer unmittelbaren Lebensaffektabilität auf, sondern als eine imaginär geprägte Symbolkette, die wie ein innerer struktureller »Diskurs« als phallische Möglichkeit von Erfahrungen überhaupt fungiert, die dann phantasmatisch in ihrer individuellen Kontingenz erlebt werden. Kulturell bedeutet dies zugleich, dass die strukturell nachträgliche Gesetzmäßigkeit des Zusammenhangs von psychischem Erleben/Ereignis als Bedürfen/Begehren eine Austauschstruktur bildet, in die sich das unbewusst Parentale wie Archaische eingeschrieben haben und als alltägliche »Besetzungen« über Objekte und Beziehungen »inszeniert« werden.792 Positiv gesehen, handelt es sich dabei nicht nur um eine bloße »Kombinatorik« von isolierten Elementen, sondern um die Konfiguration von unbewusstem Begehren, die allerdings weder als Ipseisierung noch als Ko-Pathos eine unmittelbare Gemeinschaftlichkeit im Ursprung des Lebens selbst gewährt, was die lebendige Kulturation erst konkret ermöglicht. In der klassischen Analyse/ Therapie tritt daher die »Familienlegende« (Ödipuskomplex) in den Vordergrund, wobei jedes »Gesagte« (Dit) retroaktiv auf die »Ursprungsfrage« dieser Legende im Sinne von »Wunschphantasien« (fantasmes) zurückbezogen wird. Assoziative Hinweise aus Träumen und anderen Formen des individuellen Erlebens (Lapsus, Vergessen, Symptome etc.) haben Indexfunktion auf einen »ursprünglichen Anfang« hin, der sich – gedeutet – jedoch nur als »Inszenierung« erweist. Dadurch sei das Subjekt imaginär »gegründet«, und zwar zwischen einem phantasierten Akt der Zeugung (Geburt) und der Kindschaft, anEinheit im Mutterleib vor, die ebenfalls aufgrund seines Subjektverständnisses als »Fehlenan-Sein« verworfen wird, denn dann wäre die Kur der Versuch, diese Einheit nochmals wieder zu ermöglichen. 791 Vgl. R. Kühn, Radikalisierte Phänomenologie. Heidegger, Levinas, Derrida, Marion, Frankfurt/M., Peter Lang 2003, 143ff.; mit Bezug auf Freud siehe J. Derrida, La carte postale de Socrate / Freud et au-dela, Paris, Flammarion 1980, 406–416: »Platon derriHre Freud«, wo er hinter Bemächtigung, Lust- und Todestrieb eine Problematik der Macht/Autorität am Werk sieht (dt. Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits. 1. Lieferung: Envois/ Sendungen; 2. Lieferung: Spekulieren über/auf Freud. Der Facteur der Wahrheit, Berlin, Diaphanes 1987). 792 Vgl. M. Thiberge, Essai sur la psychanalyse et la postmodernit8, 479–489: »Postface pour une post-modernit8 d8lib8rative«.

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ders gesagt zwischen kontingentem Elternkoitus und ödipaler Triade von Mutter-Kind-Vater. Gewiss wird dem subjektiven Leib hierbei eine affektive Primordialität zuerkannt, aber nur in dem Maße, wie sich die phantasmatische Symbolik in ihn einschreibt. Dies wird dann im Übergang von der frühen leiblichen Autoerotik zur späteren genitalen Sexualität hin als »Menschwerdung« in deren besonderer Dialektik von Zuviel/Zuwenig in jedem libidinösen bzw. phallisch bedingten Bedürfen/Begehren gefasst. Mit anderen Worten ist die Inszenierung eines letztlich unbewussten Begehrens stets eine »Subjektivierung« im Modus von Abwehrmechanismen, mithin keine ursprüngliche oder unmittelbare Subjektivität im Sinne von absoluter Lebensaffektabilität ohne Deformierung oder Masken. Die »Phantasie«, welche phantasmatisch den Ursprung zu symbolisieren versucht, ist daher analytisch-therapeutisch weniger die transzendentale Einbildungskraft (Imagination) im Sinne Kants und Heideggers793 als das »Phantasieren« einer imaginären Welt, wobei allerdings das Schöpferische dieser Aktivität zu würdigen ist, darüber hinaus in dieser Tätigkeit die selbstaffektive Lebensursprünglichkeit in ihrem Selbstbegehren als »Selbststeigerung« zu erkennen. Die strukturelle Nachträglichkeit von Ereignis/Erleben lässt zudem das Phantasma in seiner Ausdehnung unbegrenzt sein, weil es analytisch-therapeutisch stets auch mit der perzeptiven Außenrealität und den kulturellen Ansprüchen konfrontiert, weshalb es kein absolut Ursprüngliches im Sinne einer a-kosmischen Lebenselbstgebung umfassen kann, wodurch überhaupt erst jede Transzendenz in der Immanenz einschließlich des Imaginären ermöglicht ist.794 Auf der anderen Seite durchzieht das Phantasma die gesamte »psychische Realität«, ist sogar schließlich deren Kern, so dass es analytisch-therapeutisch als ein »Reales« betrachtet wird, in welches außerdem das Archaische und Parentale als transindividuell »typische Ereignisse« eingetreten sind, um mit dem subjektiven Erleben Konstellationen einzugehen, die sich nicht grundsätzlich einer Sublimierung widersetzen. Aber trotz dieser Offenheit für eine gewisse affektive Subjektivierung des nachträglich erlebten Phantasmas bleibt die radikal phänomenologische Zentralfrage bestehen, wer prinzipiell Struktur, Phantasma und Nachträglichkeit als Erleben eigentlich eint, damit sich überhaupt ein subjektives Erleben ergeben kann. Zwar gestand schon Freud zu, dass die »Phantasien« (fantasmes) sich ebenfalls dem Bewusstsein nähern und dort solange verharren können, wie ihre »Besetzung« nicht zu intensiv ausfällt.795 Aber diese Feststellung dient haupt793 Vgl. M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt/M., Klostermann 1951, 117ff. (§§ 26–33). 794 Vgl. M. Henry, Affekt und Subjektivität, 19ff. 795 Vgl. Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften, Frankfurt/M., Fischer 2014, 117– 154: »Das Unbewusste« (1915), hier 141ff.

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sächlich dazu, Analogien oder Übergänge zwischen perversen, paranoiden und hysterischen Phantasmen zuzulassen, wodurch das gesamte libidinöse Leben des Subjekts durch eine Phantasmatik geprägt ist. Zwar liegt hier gleichfalls wieder die erwähnte Struktur dem einzelnen subjektiven Erleben voraus, aber diese generalisierte Phantasmatik ist weniger eine bloße Thematik als vielmehr eine Dynamik. Diese findet ihren libidinösen Ausdruck in Bewusstsein und Handeln, indem stets neues objektales Material herangezogen wird, mit anderen Worten sich im kulturellen Austausch symbolisiert und individualisiert. Insoweit das Phantasmatische nach Freud grundsätzlich auf die halluzinatorische Besetzung einer Erinnerung von Befriedigung zurückgeht, mithin ein Begehren als »Wünschen« darstellt, das phallisch-objektal wiederholt wird, kann es phänomenologisch nicht auf eine »wache Intentionalität« des Subjekts im Sinne Husserls zurückgeführt werden, so dass es eine Mittelstellung zwischen bewusster Anschauung (Intuition) und originärer Lebensaffektabilität (Pathos) einnimmt.796 Dies erlaubt es nicht nur, die analytisch-therapeutischen Hinweise von Freud, Lacan sowie Laplanche und Pontalis für eine Problematisierung der »Ursprungsfrage« zu berücksichtigen, sondern auch kategorial zu erkennen, dass in beiden Perspektiven der »Ursprung« niemals ein Objekt sein kann, das imaginär als Ursache vorstellbar wäre. Ursprung im radikal phänomenologischen Sinne ist hierbei genauer Ipseisierung – und nicht bloß eine Inszenierung als Sequenz von symbolisierender Teilnahme und Rollenzuteilung an das »Subjekt«, die es tiefenpsychologisch erst zu einem solchen werden lassen, und zwar stets in der primordialen Gegensätzlichkeit von Begehren/Verbot sowie Verneinung/Projektion. Entscheidend für Analyse/Therapie bleibt hierbei die tiefenpsychologisch kaum abgeschlossene Untersuchungsfrage, was letztlich den »Ursprung« der Neurose bildet, die für Freud primär sexuell bedingt war, nämlich als Triebverzicht aus Kastrationsangst. Lebensphänomenologisch bleibt die Ursprungsfrage eine Selbstgebung transzendentaler Subjektivität als reine Empfänglichkeit des Lebens, mithin als ein »Mich/Ich«, welches nie von seiner lebendigen Ipseität getrennt ist und auch nicht mit »mythischen Konstruktionen« geklärt werden kann.797 Ein »phantasmatisches Leben«, sollte es die anfängliche und allgemeine Form des Lebens sein, wäre kein unmittelbares Leben, sondern als halluzinatorisch begehrtes Leben ein unwirkliches Leben, weil sich eine Distanz zwischen originär gelebter Selbstaffektion und dem Aufschub des phantasmatischen »Wünschens« einschiebt – selbst wenn der Affekt der Halluzination als Pathos 796 Dies wäre insofern zu nuancieren, wenn etwa schon für Husserl die »passiven Synthesen« als vor-intentionale Teleologie des Bewusstseins mitberücksichtigt werden; vgl. T. Nakamura, »Die Phänomenologie des Unbewussten als Grenzproblem bei Husserl«, in: Phänomenologische Forschungen 1 (2019) 99–116. 797 Vgl. zu diesen epistemologischen Fragen schon unsere Kapitel I,1.3 und I,2.

Freisetzender Ursprung und »Vatermetapher« in der Kur

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eine immanente Modalisierung des Lebens bildet. Versteht man solche Distanz, Differenz oder Dialektik der Nachträglichkeit in analytisch-therapeutischer Hinsicht als »traumatische Urszene«, weil keine Erinnerung ein solches Ereignis jemals einzuholen vermag, dann kann allein die Weiterführung des Traumas auf die »Ursprungsgewalt des Lebens« im Sinne reiner Passibilität hin diese ontische Kontingenz von Erleben/Ereignis als Spannung von Zuviel/Zuwenig aufheben. Dass die Phantasmatik als eine regulierende Struktur zum Beantwortungsversuch der Grundrätsel menschlicher Existenz heuristisch hinführen kann, muss dadurch nicht in Zweifel gezogen werden, wobei jedoch sowohl die Gesamtheit der menschlichen Erfahrung als auch ihre prinzipielle Ab-gründigkeit zu berücksichtigen bleibt.798 Das heißt, dass außer der Psychoanalyse gerade auch Philosophie und Phänomenologie neben Ästhetik und Religion hierbei nicht ausgeschlossen werden können, wie wir durchgehend mit Blick auf die Kulturwirklichkeit forderten. Eine vor-subjektive Struktur des Erlebens verhilft begrenzt zu einer mythischen Anerkennung der menschlichen Grundrätsel, womit eine Einbettung in die Geschichte möglich ist – das eigentliche Wer der subjektiven Erfahrung bleibt allerdings weiterhin unbeantwortet. Und eine intergenerative Erklärung übergibt das einzelne Erleben dabei zusätzlich einer historischen Kontingenz, die radikal phänomenologisch hinterfragt werden muss, sofern die jeweilige Erfahrung als selbstaffektive Erprobung eine phänomenologisch absolute ist, nämlich notwendigerweise stets individuiert und demnach konkret bestimmt.

3)

Freisetzender Ursprung und »Vatermetapher« in der Kur

Wir können nunmehr insgesamt festhalten, dass die biographische, symbolische wie strukturelle Ursprungs- und Vatermetapher in der Phänomenologie wie Tiefenpsychologie eine grundlegende Rolle spielt und darunter einerseits das »Prinzip des Lebens« wie bei Husserl und Michel Henry bzw. andererseits das unbewusste Gesetz als »Ödipuskomplex« oder die religiös-gesamtgesellschaftliche »Symbolisierung« (Phallus) in allen kulturellen Diskursen verstanden werden kann. Die entscheidende Frage dürfte daher bleiben, ob im letzteren Fall für jedes Individuum ebenfalls eine grundsätzlich vorzeitliche Bejahung durch das originäre Leben gegeben ist, die jeder Verneinung bis hin zur möglichen Selbstzerstörung vorausliegt, oder ob Verwerfung, Verdrängung und Verführung die Grundkonstitution des Subjekts als dessen erste phantasmatische Wahrheit allein bilden. Über diese kann – mittels Erinnerung und Deutung – kein objekthaftes Wissen erzielt werden, so dass der analytisch-therapeutische Prozess 798 Vgl. unser vorheriges Kapitel I,3.3.

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Ausblick: Leben, Religion und Therapie als Ursprungsfrage

von vornherein auf einer anderen Ebene angesiedelt ist als jedes thematische oder erinnerbare Wissen. Dieser singuläre Beziehungsakt zwischen Patient/ Therapeut kann daher weder zu einem phallischen »Vater« zurückführen, der weiterhin der phantasmatischen Vorstellung anhaftet, um gewissenhaft (neurotisch) gehört oder psychotisch (narzisstisch) gesucht zu werden, noch lässt sich dieser »Vater« allerdings völlig aufheben, insofern jedes Symptom im Kern einen Ersatz davon darstellt. Das Symptomale widersetzt sich einer vollkommenen Auflösung als »Heilung« (Sinn), wie Freud sie dachte, will man den älteren Zusammenhang von Begehren und jouissance als lebendiges Ursprungsprinzip nicht aufheben, ohne das kein menschliches Wesen zu existieren vermag, wie Lacan799 dies besonders am sprachlich singulären Werk eines James Joyce illustrierte. Wenn der therapeutische Akt in der Kur auch die Vaterübertragung auf den Analytiker aufheben muss, um den besonderen Wahrheitsbezug zwischen Patient und Therapeut nicht einer erneuten imaginären Substitution zu überlassen, wie sie im lebensweltlichen Kontext mit seinen kulturellen Konflikt- und Leidfolgen immer wieder geschieht, dann ist damit gleichfalls die Unterbrechung einer Wiederholung angesagt, die sich sonst im scheinbaren Wissen um die eigene Lust (plaisir) und die des Anderen immer wieder neu nährt. Sofern dabei die singulär subjektive Wahrheit als möglicher Effekt eines solch therapeutischen Aktes kein vorgegebenes reflektiertes Wissen um das psychologisch vorausgesetzte »Ich« oder »Selbst« mehr zurücklassen kann, konfrontiert die dabei mitgegebene Angst mit jenem »Realen«, das letztlich das Unbekannte des eigenen lebendigen Leibes ist.800 Letzteren sieht die Lebensphänomenologie allerdings durch die ursprüngliche Lebensselbstaffektion mit dem absolut phänomenologischen Leben als Passibilität in jedem Bedürfen schon verbunden, wie wir zuletzt in Bezug auf die Verführungsproblematik bemerkten, auch wenn diese reine Lebensempfänglichkeit als passibler Un-Grund keinem Bewusstseinsakt jemals zugänglich wird und daher als ein ontologisch »Unbewusstes« angesprochen wurde. Damit ist hier der »Vater« als leiblich-affektives Ursprungs-»Prinzip« letztlich auch kein Name, Bild, Symbol oder Phantasma mehr, die gläubig, mystifizierend oder diskursiv zur eigenen Versicherung in Anspruch genommen werden können, sondern die nicht-metaphorische, rein phänomenologische Einheit mit dem Leben schlechthin. Es bleibt in solch einer radikal phänomenologischen Wirklichkeit nur die immer wieder von uns herausgestellte konkret transzendentale Möglichkeit, 799 Vgl. Le s8minaire XXIII: Le sinthome, 167ff.; für die Analyse der Psychose hierbei vgl. M. Titze, Die Organisation des Bewusstseins. Strategien der Typisierung von »normaler« und schizophrener Weltauffassung, Freiburg/München, Alber 2011, 156ff. 800 Vgl. J. Lacan, Le s8minaire X: L’angoisse, Paris, Seuil 2004, 185ff.

Freisetzender Ursprung und »Vatermetapher« in der Kur

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diesen ebenso originären wie unhintergehbar subjektiven Zusammenhang von Leben/Lebendigem als einen stets neu gebürtigen Prozess praktisch zu erproben, in dem sowohl das absolute als auch das individuierte Leben in einem nichtwelthaften – sondern metageschichtlichen Verhältnis – ineinander als »Geburt« ankünftig werden. Es wäre dergestalt ein immanent »Reales« am Werk, welches nicht nur das je hereinbrechende Unmögliche diesseits von Imaginärem und Symbolischem in jeder Ereignisstruktur bildet, sondern ein wirkliches »Sein« als Leben beinhaltet. Dies hinterschreitet als existentieller Ab-Grund unserer jeweiligen Erprobung jegliche gedachte Substanz oder ein bloß triebschicksalhaftes Faktum der Unvorhersehbarkeit und birgt somit fundamentaler noch eine prinzipielle Lebenszusage als originäre Selbstgebung, die keinem weiteren äußeren bzw. phantasmatischen Urteil von Bejahung oder Verneinung mehr unterliegt. Die Angst, welche hierbei keineswegs ausgelöscht wird, ist die Angst, sich vom Leben in keinerlei Weise distanzieren oder sogar trennen zu können, so wie die »Vatermetapher« als kastrierender Ödipuskomplex oder projizierter »Gott« nur dieses originäre Leben verbirgt, welches diesseits solcher Metaphern ohne Unterbrechung unsichtbar am Werk ist. Wie also einen Akt praktisch vollziehen, der in seiner subjektiven wie therapeutischen Relevanz nicht länger an ein vorgegebenes Wissen des Patienten oder Analytikers gebunden ist, sofern auch jede »Deutung« nur an einen Sinn als »Ab-Sinn« zugleich rührt,801 aber dennoch eine Kraft oder Potentialität in der abyssalen Freisetzung zur eigenen Wahrheit hin in Anspruch nimmt? Denn ein solcher Freisetzungsakt ruht in seiner letzten Ermöglichung im rein phänomenologischen Leben selbst, welches die Quelle für alle immanenten Modalisierungen des Fühlens, Denkens und Handelns ist. Auch wenn es sich bei diesem Akt um keine philosophische Erkenntnis mehr im klassischen Sinne handelt, die stets um die allgemeine Wissenssuche als »Wahrheitsliebe« seit Platon und Aristoteles802 bis hin zu Descartes und Husserl kreiste, so wird dennoch in einem diesbezüglichen Akt eine originäre Fundierung in Anspruch genommen, die letztlich transzendental zu nennen bleibt, ohne intentional zu sein.803 Diese Kraft zur Freisetzung beruht nicht bloß auf der unbewussten Empirie eines ontisch oder natürlich unendlichen Begehrens, welches zugleich auch absolut sich selbst affizierendes Leben ist. Mit Lacan, Laplanche und Pontalis kann man darin 801 Vgl. R. Schindler, »Das Fenster zum Hof: Sinn, Unsinn, Ab-Sinn. Streiflichter auf die ternäre Verknüpfungslogik Lacans in ihrer Verbindung zur Deutung«, in: Riss. Zeitschrift für Psychoanalyse Freud – Lacan, Baden, Vissivo Verlag 2017, 9–21. 802 Für letztere bleibt durchaus schon eine Zuordnung von sensitiven und intellektiven Seelenteilen durch die Tugend gegeben, so wie es eine Korrelation von Unbewusst/Bewusst durch die Sublimierung bei Freud gibt; vgl. B. Schwaier, »Nikomachische Ethik und Psychoanalyse. Eine Annäherung«, in: Salzburger Jahrbuch für Philosophie 64 (2019) 157–172. 803 Vgl. J.-F. de Sauverzac, Le d8sir sans foi ni loi. Lecture de Lacan, Paris, Aubier 2000, 304ff.

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übereinstimmen, dass es keine vorgegebene Wahrheit vor dem Sprechen des Patienten innerhalb der Analyse/Therapie gibt, so dass der therapeutische Akt stets einen rein singulären »Sinn« zu ergreifen hat, der im Ursprung des Begehrens selbst liegt, sich aber als eine solche Erprobung eben bisher noch nicht diesseits kultureller Vermittlungen artikulieren konnte. Die ethisch-analytische Gemeinschaftlichkeit, welche sich folglich in der Kur als »Beziehung« etabliert bzw. schon immer phänomenologisch vorgegeben ist, hat von der »Mehrlust« bzw. »Verführung« eines jeden geglaubten Sinnes auf die ur-anfänglich singuläre jouissance zurückzugehen, die dann an keine Phantasmatik mehr gebunden ist, sondern dem abgründigen Realen des Lebens selbst entspricht. Damit wird auch die strukturalistische wie postmoderne Vorgabe der Metonymie der Signifikanten als Bewegung des Begehrens im Diskurs des Patienten unterlaufen, um Zeit und Wissen als Erwartung im Vorgriff auf einen jeweilig kulturrelevanten »Sinn« zugunsten des in sich selbst ankünftig werdenden subjektiven Lebens zu ergreifen, welches prinzipiell kein kausales Einwirken von außen auf sich selbst als reine Immanenz kennt. Für Lacan bedeutete dies vor allem die Annahme eines »Lochs« oder »Schnitts« in der Signifikantenkette, welche immer auch durch den reziproken Genuss des Anderen im Sinne der lebensweltlichen Anerkennung garantiert zu sein scheint. Dies hat die radikal phänomenologische Sprachkritik804 schon immer dahingehend aufgehoben, als das Leben sich in keiner welthaften Sprache oder phantasmatischen Vorstellung jemals auszusagen vermag. Vielmehr ist in der originären Gegenseitigkeit von Leben/Lebendigem eine affektiv-leibliche Unmittelbarkeit des absoluten »Wortes des Lebens« am Werk, welches als Impression wie Affekt mit diesem Leben selbst identisch ist und entsprechend vernommen werden kann – was bei Freud hinter seinen Entropie-Begriffen wie der somatisch endogenen »Reizerregung« oder dem abzureagierenden »Affektbetrag« verborgen bleibt. Folglich unterliegt eine originär effektive Gemeinschaftlichkeit von Patient/ Therapeut keinem kulturell-gesellschaftlichem »Herrendiskurs« (Hegel, Lacan) mehr, der über traditionelle Vater- oder Gesetzesfiguren zugleich das »Gute« als intentional zu Erreichendes impliziert, sondern jedes Bedürfen/Begehren ist bereits das »Gute des Lebens« selbst, sofern dessen impressionale Wirklichkeit in solchem Bedürfen und Begehren als Selbstgebung immanent zum Ausdruck kommt. Der therapeutische Akt kennt in ontischer wie existentieller Hinsicht gewiss einen Platz der Leere, wo der Schein von Wahr/Falsch in Bezug auf einen die jouissance erfüllenden »Sinn« erkannt wird, was Freud seinerseits als phan804 Vgl. M. Henry, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg/München, Alber 2002, 73ff.; R. Kühn, Lebensethos. Inkarnatorische Konkretionen originärer Lebensreligion, Dresden, Text & Dialog 2018, 116–135: »Radikalphänomenologische Narrativität und Transparenz des Lebens«.

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tasmatisch »psychische Realität« in den Mittelpunkt stellte und von seinen postmodernen Nachfolgern als das Durchschreiten jeglichen Phantasmas zugunsten des Realen in den Vordergrund gehoben wurde.805 Wenn jedoch die singuläre Wahrheit als absolutes »Wort des Lebens« eine je unmittelbar konkrete Erprobung ist, welche den imaginär-symbolischen Mangel eines jeden Objekts im Sinne der genannten Leere unterstreicht, dann ist eine solche »Kastration« metapsychologischer Natur ursprünglich bereits dem Subjekt mitgegeben. Es gibt nämlich keine Wahrheit seines »Seins« in irgendeinem verführerisch phantasmatischen Objekt, weshalb auch kein Anderer (und sei es der gedachte oder geglaubte Vater bzw. Gott) jemals für das »Ganze des Sinns« (Allgemeines, Totalität, Natur etc.) als »Ursprung« vor jeder Vorstellung einzustehen vermag, worauf sich das Begehren in seiner transgressiven jouissance bezieht. Insofern ist diese Leere im Bereich der Bedeutungen das Innehalten im je neu ergriffenen Elan einer Zielsuche, die als »das Ding« (Lacan) prinzipiell keinen Abschluss kennen kann. Kastration, Privation, Frustration wie Verführung im Bereich von Realem, Imaginärem, Symbolischem und Phantasmatischem sind daher strukturelle Momente einer grundsätzlichen »Verwerfung«, gegen die sich das neurotisch zwanghafte oder hysterisch narzisstische »Alles oder Nichts« immer wieder aufbäumt, um andere mögliche Perspektiven des Welt- und Selbstbezuges existentieller Offenheit als »Sublimierung« zu verkennen.806 Wenn somit kein »Vater« (Tradition, Gesetz, Phallus, Gesellschaft etc.) den abschließenden Sinn garantiert, dann muss das rein phänomenologische Leben im welthaften Sinne wortlos sein, oder, anders gesagt, vermag es sich in der Welt nicht diskursiv darzustellen, ohne jedoch im impressional leiblichen Bezug zu allen Dingen (Natur) im Sinne ko-pathischer Gemeinschaftlichkeit alles Lebendigen abwesend zu sein. Das scheinbar Ganze als Totalität oder Allgemeines ist damit nicht nur eine Frage analytisch-therapeutisch aufzuklärender Fixierungen zugunsten anderer Existenzmöglichkeiten, sondern das »Ganze des Lebens« ist im rein phänomenologischen Anfang oder Ursprung bereits gegeben. Daher muss es nicht in irgendeiner illusionären Zukunft gesucht werden, wo die Objekte leicht einen phantasmatischen Schein der Erfüllung annehmen, die sie nicht bieten können. Durch die signitive Leere stößt der sich freisetzende Akt zu einer immer schon gegebenen Fülle der subjektiven Ermächtigung oder Potentialität vor, deren rein subjektive Wahrheit keinen Bezug mehr zum Verhältnis von Signifikant/Signifikat als Phantasmatik besitzt, sondern die vormetaphorische wie vor-metonymische Wirklichkeit des Lebens als einzigen Un805 Vgl. M. Thiberge, Essai sur la psychanalyse et la postmodernit8, 257–272: »Ordre symbolique culturel et fonction chaotique psychique«. 806 Vgl. R. Kühn, Begehren und Sinn. Grundlagen für eine phänomenologisch-tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und Supervision – zugleich ein Beitrag zu Jacques Lacan, Freiburg/München. Alber 2015, 232ff.

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Grund oder Reales gelten lässt. Erst hierdurch leitet der phallische Verlust jeglicher »Mehrlust« oder »Verführung« in die rein akthafte jouissance der einzelnen Lebensvollzüge als solche über, welche nicht mehr der Fiktion des Sinns als einer Totalität und Erfüllung durch Andere(s) unterliegen. Denn das Leben ist sich selbst stets unmittelbare Freude (jouissance), und damit auto-jouissance im Sinne Henrys, woran jeder Augenblick der Erprobung prinzipiell als konkrete Ermöglichung teilhat.807 Wenn mithin im phantasmatischen Gesetzes- oder Phallusbereich stets eine Verbindung zwischen jouissance und Schein besteht, welche das Subjekt als Wunde und Mangel durchzieht, dann muss auch nochmals ein abschließender Blick auf die Religion fallen, in der Gott onto-logisch zumeist als »Vater« gesehen wird, dem nach jüdisch-christlichem Kontext »Liebe« gebührt. Wird dieser Gott im Sinne von Sein und Existenz gedacht, so muss des Weiteren gesehen werden, dass damit einerseits das Wesen Gottes als Selbstliebe oder auto-jouissance außerhalb jeglicher kulturellen Weltbezüge aus dem Blick gerät und andererseits ein solch existierender »Gott« nach dem Werk »Totem und Tabu« von Freud immer schon tot ist, insofern er als »Besitzer aller Frauen« im Sinne absoluten Genusses und aller Macht von den Söhnen getötet wurde.808 Wenn diese Tötung für Freud zugleich der Kastration des Subjekts entspricht, dann heißt dies ebenfalls, dass ein solcher »Ur-Vater« nichts von der singulär freisetzenden Wahrheit erkennen lässt, mithin von jeglicher signitiven Bedeutung in der Analyse/Therapie zu lösen ist, wodurch auch die »Liebe zum Vater« keinen letzten oder ewigen Objektbezug des »Guten« mehr darzustellen vermag, da dies libidinös, phantasmatisch wie ethisch einer Unterwerfung gleichkäme. Mit anderen Worten löst das Verständnis des rein phänomenologischen Lebens als »Selbstfreude« (auto-jouissance) radikal von jeder objektalen wie sublimierten Liebe als begehrendem Erwarten eines sich wiederholenden Objektsinns ab. Dadurch kann die kulturell-lebensweltliche Signifikantenkette durchaus als ein »Tod« gesehen werden, insofern sich hierin das Reale (des Lebens) als unmög807 Vgl. Affekt und Subjektivität, 27ff. u. 124ff., wo wir auto-jouissance mit »Selbstfreude« in Analogie zu »Sich-Selbst-Erleiden« (se souffrir soi-mÞme) übersetzt haben. Für die Übersetzungsprobleme von jouissance im tiefenpsychologischen Sinne von Lust, Wollust, Vergnügen (Pläsier), Genießen vgl. C.-D. Rath, »Einige Beziehungen zwischen Lacanscher jouissance und Freudscher Lust«, in: Riss. Zeitschrift für Psychoanalyse Freud – Lacan, Baden, Vissivo Verlag 2017, 22–39, hier 29f. All diese Konnotationen sind jeweils mitzuhören, auch wenn wir hier den »therapeutischen Akt« letztlich auf die immanente jouissance des rein phänomenologischen und subjektiven Lebens als passible Vollzugswirklichkeit beziehen, um die imaginären und signitiven Mitmeinungen von jouissance im Diskurs (Wissen) hiervon besser abgrenzen zu können. 808 Vgl. J. Lacan, Des Noms-du-PHre, Paris, Seuil 2005, 65ff.; dazu auch R. Kühn, Diskurs und Religion. Der psychoanalytische Wahrheitszugang nach Jacques Lacan als religionsphilosophische Problematik, Dresden, Text & Dialog 2016, 90ff.

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lich erweist. Die immanente Unmittelbarkeit eines jeden affektiv-leiblichen Lebensvollzugs wäre von solchem Tod allerdings nicht betroffen Denn wenn die immanent subjektive auto-jouissance ebenso unmittelbar ist wie das Leben in seiner Selbstgebung als solcher, dann ist auch »Gott« als »Vater« kein Objekt sich unterwerfender Liebe mehr, sondern der lebendige Un-Grund selbst wird zum Vollzugswesen des Handelns schlechthin, um damit zugleich die auto-jouissance im Handeln als solchem zu sein. Alle gegebenen Objektbezüge können daher letztendlich als religiös bezeichnet werden, denn sie tendieren implizit zu einem »Höchsten Gut« hin, für das seit dem griechischen Denken »Gott« stand, sei er gedacht als »Gutes jenseits des Seins« nach Platon oder als »unbewegter Beweger« bei Aristoteles, wobei das innere göttliche Leben dem Menschen jedoch als begrenzt körperhaftem Wesen verwehrt blieb. Alle individuellen wie lebensweltlichen Diskursordnungen greifen phantasmatisch dieses Ziel eines unendlichen Gegenstandes in seiner Fülle tendenziell auf, wofür im analytisch-therapeutischen Bereich nach Lacan vor allem »Die Frau« (La Femme) steht, sofern sie die vollkommene jouissance des Mannes zu versprechen scheint, um als Mutter bereits eine solche »Verschmelzung« als »Verführung« der verheißungsvollen Totalität für das Kind versprochen zu haben. Der hierzu oft von ihm angeführte Satz, dass es »keinen Geschlechtsverkehr gibt«, will nicht diesen als solchen verneinen, sondern darauf hinweisen, dass es keine mythisch sexuelle Vereinigung gibt, die in irgendeiner Weise das je singuläre Begehren von Mann und Frau aufheben könnte.809 Wenn aber genau in diesem Verhältnis kein Signifikant das Begehren ein für allemal benennen oder wissenschaftlich bzw. kulturell fassen (»schreiben«) kann, dann bleibt noch grundsätzlicher zu sehen, dass jeder imaginäre Einheitsbezug analytisch-therapeutisch anzufragen bleibt, insofern es niemals irgendeine »Kopulation« mit dem Sein gibt, wie wir sie in allen Weltverhältnissen über die Sprache wie Handlung ständig anstreben. Analytisch-therapeutisch existiert daher ein mythisches – und nicht nur genetisches – Moment in der primären (Objekt-)Bejahung, aus der sich libidinös alle qualitativen Dingurteile ableiten, denn diese Bejahung beruht auf einer vorgängigen Verwerfung der vermittelnden symbolischen Ordnung, wodurch unser phantasmatisches Verhältnis zum Sein nicht transparent werden kann. Es herrscht hier mit anderen Worten eine verdunkelte, das heißt scheinbar unmittelbare Verbindung zwischen dem Realen und Symbolischen vor, welche sich 809 Vgl. insbesondere unter Einbeziehung der propositionalen Aristotelischen Wahrheitslogik von Allgemein/Partikulär und Wahr/Falsch als Widerspruchsprinzip A. Badiou u. B. Cassin, Es gibt keinen Geschlechtsverkehr. Zwei Lacanlektüren, Zürich, Diaphanes 2012. Dem entspricht bei M. Henry die Unmöglichkeit, im Geschlechtsakt jemals die Ipseität des Anderen in ihrer je eigenen immanenten Lebendigkeit empfinden zu können; vgl. Inkarnation, 329ff.

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schon nach Freud810 somatisch-affektiv bis in die Strukturierung von Wort- und Triebrepräsentanz durchhält. Die phantasmatische Halluzination ist ein nichtwahnhaft psychotischer Ausdruck hiervon, aber die Verneinung als Verwerfung wirkt in jeder kindlich frühen Traumatisierung, so dass ein Subjekt späterhin nicht einmal mehr etwas von seiner fundamentalen »Ur-Verdrängung« wissen will und seine Existenzurteile in Bezug auf alles Repräsentierte dementsprechend gefärbt oder abwehrend ausfallen. Da diese unbewusste Dialektik nicht als reflektierbares Wissen zugänglich ist, kann auch der »therapeutische Akt« in der Kur immer nur vom Partikulären des je Gesagten aus voranschreiten, um in den Existenz- und Attributivurteilen des Patienten der Spur solcher frühen Verwerfung wie Verführung zu folgen. Was aber noch älter als die primäre Verneinung (Verwerfung) und Bejahung (Verführung) ist, haben wir durchgehend als die Immemoriabilität des rein phänomenologischen Lebens in jedem Bedürfen als Affekt darzustellen versucht. Denn so wird verständlich, warum die nie zurückgenommene »Bejahung des Lebens« als unsere Selbstgebung »im Ursprung« keinem Wort, Symbol und Bild zugänglich ist – und daher auch in den alltäglichen Lebensvollzügen als immanente Unmittelbarkeit diskursiv, existentiell wie kulturell bzw. ideologisch leicht geleugnet bzw. vergessen werden kann.811 Wenn mithin in diesem Sinne jeder Objektbezug wie Diskurs letztlich eine implizit »religiöse« Affirmation beinhaltet, die jenseits des imaginär phantasmatischen Zusammenhangs von Mehrlust/Schein auf das grundlegendere Verhältnis von singulärer Wahrheit/jouissance als Selbstgebung des Lebens abzielt, dann bleibt jeder »therapeutische Akt« von der Wachsamkeit für das illusionshafte Verhältnis von Bitte/Anfrage bzw. Opfer/Verweigerung strukturiert. Was Lacan812 den MystikerInnen in den Mund legte: »Ich bitte Gott, mir zu verweigern, was ich ihm (als Opfer) darbiete«, wäre dann identisch mit der rekurrenten Patientenaussage: »Das, was ich begehre, ist nicht das, was ich als Sinn ergriffen habe und immer noch zu ergreifen versuche.« Wenn Lacan dies in seinem Spätwerk hauptsächlich über das »Objekt a« als Ursache jeden Begehrens und den »Borromäischen Knoten« von Realem, Imaginärem und Symbolischem (RIS) mit dem vierten Term des Symptoms als sinthome zusammen artikuliert, dann kann hier für uns wie den Leser die Schlusseinsicht festgehalten werden, dass ein solch therapeutischer Akt an sein relatives Ziel gelangt ist, wenn der Patient Objekt, Ich und Selbst libidinös innerhalb der lebensweltlich-kultu810 Vgl. »Die Verneinung« (1925), in: Das Ich und das Es, 319–326; dazu auch J. Lacan, »R8ponse au commentaire de Jean Hyppolite sur la Verneinung de Freud«, in: Ecrits, Paris, Seuil 1966, 312–331. 811 Zum »Selbstvergessen des Lebens« vgl. M. Henry, »Ich bin die Wahrheit«. Für eine Philosophie des Christentums, Freiburg/München, Alber 1997, 186ff. 812 Vgl. hier Le s8minaire XIX: … ou pire, Paris, Seuil 2011, 76f. u. 92f.

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rellen Symbolik zukünftig zu trennen weiß. Das Moment der Leere oder Trennung hierbei kann jedoch radikal phänomenologisch nicht auf irgendeinem Nichts gegründet sein. Denn der Akt zur Trennung von Objekt/Ich als je phantasmatischer Seinssetzung des Selbst impliziert jene vorgegebene Kraft, die nur dem rein phänomenologischen Leben als solchem entstammen kann, insofern es durch seine immanente Ankünftigkeit eine gegenseitige Innerlichkeit von Subjektivität/Leben verwirklicht, welche keinerlei Bedingung in irgendeinem Außen mehr besitzt. Auf dieser letzten Ebene vermag sich der »therapeutische Akt« in der Tat von keinem vorgegebenen Wissen oder einer äußeren kulturellen Institution her mehr zu legitimieren, sondern nur von sich selbst aus. Damit setzt auch die Leere aufseiten des Analytikers/Therapeuten fundamental ein nicht-psychologisches Begehren voraus, das nur die genannte ko-pathische Gemeinschaftlichkeit mit dem Leben sein kann. Diesem Leben ist prinzipiell keine menschliche Manifestation fremd, sofern es das Sprechen des Patienten wie aller Individuen originär motiviert und für die Kultur insgesamt offen ist, welche deshalb von keiner bestimmten Instanz »geleitet« werden kann – sei es Philosophie, Wissenschaft, Religion oder Psychoanalyse. Vielmehr ist solches Ko-Pathos als »Beziehung« oder »Begegnung« stets als subjektiv-gemeinschaftliche Ankünftigkeit des ursprünglichen Lebens zu erproben und je nach Kon-text in allem – für absolut gehaltenen – phantasmatischen Sinn zu »dekonstruieren«. Dies betrifft notwendigerweise auch jene mythischen Elemente, die mit einem tiefenpsychologischen oder sonstigen weltanschaulichem Sprechen von »Ursprung« verbunden sind, da in der Tat jedes »Gesagte« einer sekundären »Nachträglichkeit« verpflichtet ist. Diese sollte sich nicht dem Originären phantasmatisch, phallisch oder verführerisch substituieren, ohne aufzuhören, in all diesen archaischen und psychischen Ausdrucksphänomen die ständig immanente Modalisierung des je singulären Lebens selbst am Werk zu sehen – und entsprechend subjektiv wie kulturell zu würdigen. Denn da Kultur und Leben letztlich dieselbe Wirklichkeit sind, insofern die Kultur gleichzeitig das »Objekt« des Lebens wie sein »Subjekt« im Sinne der immanenten Historialisierung bildet, vermag es in der Tat keinerlei Leitungsoder Organisationsanspruch zu geben, der sich als »Kulturinstanz« außerhalb des Lebens stellen könnte. Kennt nämlich das rein phänomenologische Leben keine Distanz oder Nachträglichkeit in sich selbst, dann lässt sich auch von keinerlei Ebene her in intentionaler Weise auf das Leben einwirken. In dieser Hinsicht ist demzufolge die Analyse/Therapie ein unmittelbar kulturelles Tun im Sinne des selbstaffektiven Lebens, da durch den subjektiv freisetzenden Akt als Effekt der Kur das jeweilige Individuum seine singuläre Wahrheit erprobt, welche zugleich die höchste Verwirklichung der »Kulturation« als solche darstellt – nämlich Subjektivität und Leben als jene Einheit zu verwirklichen, deren

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»originäres Wie« mit der ipseisierenden Ankünftigkeit des absolut phänomenologischen Lebens selbst zusammenfällt. Denn die Kultur als »Objekt« ist die Geschichte aller im Leben geborenen Individuen, das heißt die Metagenealogie ihres immanenten Werdens, so dass sie in ihrer passiblen Ab-gründigkeit zugleich jene Subjektivität bezeugen, welche als transzendentale Lebendigkeit das »Subjekt« aller kulturellen Ausdrucksphänomene darstellt. Hierüber vermag keine äußere Instanz als Verfügungs- oder Leitungsmacht postuliert werden, da sie in allen denkbaren gesellschaftlichen oder politischen Konstellationen immer weniger wäre als dieses Leben in seiner jeweilig absolut ko-pathischen Subjektivierung selbst.813 Die von uns in diesem Buch hauptsächlich berücksichtigten und diskutierten kulturellen »Instanzen« wie Philosophie, Psychoanalyse und Religion können im besten Sinne nur eine Hinweisfunktion für diese Kulturation als subjektivgemeinschaftliche Metagenealogie übernehmen: die Philosophie als phänomenologische Klärung des fundamentalen Erscheinensgesetzes von Anwesenheit/ Abwesenheit aller Manifestation; die Analyse/Therapie als subjektive Verwirklichung dieses ständigen Übergangs im Sinne der praktischen Differenz von Wissen/Wahrheit sowie die Religion als Symbolisierung dieser Ursprungsgegebenheit ohne Archaismen als Mythen und Phantasmen. Und da die Wissenschaft sich nur im rein ekstatischen oder transzendenten Erscheinen mit ihrer Finalität der Objektivierung bewegt, kann sie sich den genannten Disziplinen nicht kulturrelevant substituieren, die je auf ihre Weise als Grenzproblematik der Herausarbeitung der reinen Phänomenalität in deren lebendigem Selbsterscheinen verpflichtet sind. Der Übergang von Bewusst/Unbewusst unterliegt hierbei keiner ausschließlichen Methode zur Erkenntnis des einen oder anderen, sondern gehört ins Zentrum dieser reinen Phänomenalität als unaufhebbarer Bezug von Affekt/Vorstellung bzw. Leben/Sein. Um deren sichtbares/unsichtbares Verhältnis kreist alle Kultur seit Menschheitsbeginn, um sie als »Geschichte« der nicht begrifflich fixierbaren Individuierung auf der Ebene von Wort, Bild und Symbol mit ihren Sublimierungseffekten als Gedächtnis und Verheißung generativ weiterzureichen – als inneres »Wort des Lebens«, das zu jeder singulären Immanenz in Resonanz treten kann.

813 Vgl. R. Kühn, Subjektive Praxis und Geschichte. Phänomenologie politischer Aktualität, Freiburg/München, Alber 2008, 392ff.; sowie bereits Anm. 749 und M. Thiberge, Essai sur la psychanalyse et la postmodernit8, 489–492: »Civilisation/Barbarie« mit Verweis auf M. Henry.

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