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German Pages 928 [2696] Year 2020
Psychiatrische Begutachtung Ein praktisches Handbuch für Ärzte und Juristen Herausgegeben von: Harald Dreßing und Elmar Habermeyer
7., NEU BEARBEITETE UND ERWEITERTE AUFLAGE
Venzlaff Foerster Dreßing Habermeyer Mit Beiträgen von: Stephan Bork, Tübingen; Peer Briken, Hamburg; Andrea Dettling, Heidelberg; Andrea Dreßing, Freiburg; Claudia Dreßing, Freiburg; Harald Dreßing, Mannheim; Manuela Dudeck, Günzburg; Jérôme Endrass, Zürich und Konstanz; Sabine Eucker, Haina; Beate Eusterschulte, Haina; Klaus Foerster, Tübingen; Peter W. Gaidzik, Witten; Peter Gass, Mannheim; Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, Köln; Marc Graf, Basel; Matthias Graw, München; Bernd Grüner, Gießen; Michael Günter, Stuttgart; Elmar Habermeyer, Zürich; Hans-
Thomas Haffner, Tübingen; Martin Hambrecht, Darmstadt; Andreas Heinz, Berlin; Kivanc Karacay, Tübingen; Nobert Konrad, Berlin; Ralph Mager, Basel; Andreas Mokros, Hagen; Sabine Müller, Berlin; Annette Opitz-Welke, Berlin; Daniel Passow, Bad Doberan; Regina Prunnlechner, Innsbruck; Wolfgang Retz, Mainz; Anne Rohner, Haina; Henning Rosenau, Halle / Saale; Michael Rösler, Homburg / Saar; Astrid Rossegger, Zürich und Konstanz; Hans Schanda, Wien; Catharina Schmidt, Zürich; Frank Schneider, Düsseldorf; Dieter Seifert, Münster; Max Steller, Berlin; Thomas Stompe, Wien; Jochen Taupitz, Mannheim; Ludger Tebartz van Elst, Freiburg; Detlef Thieme, Kreischa; Ulrich Venzlaff †; Renate Volbert, Berlin; Michael Weber, Konstanz und Zürich; Sabrina Weber-Papen, Düsseldorf
Inhaltsverzeichnis Cover Titelblatt Copyright Vorwort zur 7. Auflage Benutzerhinweise Abbildungsnachweis Herausgeber Autorinnen und Autoren Abkürzungen
I: Prinzipien der psychiatrischen Begutachtung
Kapitel 1: Aufgaben und Stellung des psychiatrischen Sachverständigen 1.1. Einleitung 1.2. Historische Facetten 1.3. Prinzipien der psychiatrischen Begutachtung 1.4. Die Stellung des psychiatrischen Sachverständigen 1.5. Medien und Öffentlichkeit 1.6. Schlussbemerkung Kapitel 2: Forensisch-psychiatrische Untersuchung 2.1. Einleitung 2.2. Rahmenbedingungen der Untersuchung 2.3. Das gutachtliche Gespräch 2.4. Zusätzliche Informationen 2.5. Der ausländische Proband 2.6. Psychischer Befund 2.7. Weitere Untersuchungen 2.8. Vom psychopathologischen Symptom zur psychiatrischen Diagnose 2.9. Psychiatrische Klassifikationssysteme 2.10. Simulation und ähnliche Phänomene
2.11. Besondere Untersuchungssituationen Kapitel 3: Standardisierte und psychometrische Untersuchungsverfahren in der forensisch-psychiatrischen Begutachtung 3.1. Einleitung 3.2. Grundlagen 3.3. Anwendung 3.4. Rechtliche Rahmenbedingungen 3.5. Qualitätsanforderungen Kapitel 4: Neurobiologische Erkenntnisse: mögliche Relevanz für die strafrechtliche Begutachtung 4.1. Einleitung 4.2. Neurobiologische Befunde bei Pädophilie 4.3. Neurobiologische Befunde bei dissozialer Persönlichkeitsstörung und Psychopathie 4.4. Relevanz für die Begutachtung 4.5. Fazit Kapitel 5: Die Erstattung des Gutachtens 5.1. Das schriftliche Gutachten 5.2. Das mündliche Gutachten
Kapitel 6: Fehlermöglichkeiten beim psychiatrischen Gutachten 6.1. Einleitung 6.2. Fehlermöglichkeiten von der Auftragserteilung bis zum mündlichen Gutachten 6.3. Fehlermöglichkeiten in unterschiedlichen Rechtsgebieten 6.4. Verbesserungsmöglichkeiten Kapitel 7: Haftungs- und strafrechtliche Verantwortung des Gutachters 7.1. Zivilrechtliche Haftung des Gutachters 7.2. Strafrechtliche Verantwortung des Gutachters 7.3. Fazit
II: Strafrecht: Die Begutachtung der Schuldfähigkeit Kapitel 8: Rechtliche Grundlagen der psychiatrischen Begutachtung 8.1. Heranziehung und Stellung psychiatrischer Sachverständiger im Strafverfahren 8.2. Rechtliche Grundlagen der Schuldfähigkeitsbeurteilung 8.3. System und Inhalt der Bestimmungen über die Schuldfähigkeit im Strafrecht 8.4. Kompetenzverteilung zwischen Richter und Sachverständigem bei der Schuldfähigkeitsbeurteilung
8.5. Die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus, in der Entziehungsanstalt und in der Sicherungsverwahrung (§§ 63– 66a StGB) 8.6. Die weiteren Entscheidungen über die Vollstreckung der Maßregeln nach §§ 63–66 StGB Kapitel 9: Der Sachverständige im Verfahren und in der Verhandlung 9.1. Auswahl und Hinzuziehung eines Sachverständigen 9.2. Aufgaben und Pflichten des Sachverständigen 9.3. Vorbereitung und Erstattung des Gutachtens Kapitel 10: Organische psychische Störungen (einschließlich Anfallsleiden) 10.1. Einleitung 10.2. Demenz 10.3. Organisches amnestisches Syndrom: Korsakow-Syndrom (nicht durch Alkohol oder psychotrope Substanzen bedingt) 10.4. Delir (nicht durch Alkohol oder psychotrope Substanzen bedingt) 10.5. Andere psychische Störungen durch eine Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns oder eine körperliche Erkrankung 10.6. Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen durch eine Erkrankung, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns
10.7. Epilepsie Kapitel 11: Autismus-Spektrum-Störungen 11.1. Historie des Konzepts 11.2. Definition der Autismus-Spektrum-Störungen 11.3. Kriminologie 11.4. Begutachtung Kapitel 12: Hyperkinetisches Syndrom (HKS) oder Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Erwachsenenalter 12.1. Einleitung 12.2. Epidemiologie und Klinik 12.3. Diagnostische Leitlinien nach ICD-10 und DSM-5 12.4. Forensische Aspekte und Beurteilung Kapitel 13: Schlaf und Delinquenz 13.1. Einleitung 13.2. Einteilung der Parasomnien 13.3. Diagnostik der Parasomnien 13.4. Plausibilitätsbeurteilung 13.5. Gutachtliche Beurteilung
Kapitel 14: Störungen durch Alkohol 14.1. Einleitung 14.2. Akute Alkoholisierung 14.3. Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit 14.4. Alkoholische Psychosen Kapitel 15: Störungen durch illegale psychotrope Substanzen und Medikamente 15.1. Einleitung 15.2. Substanzgruppen und ihre Wirkungen 15.3. Begutachtung der Schuldfähigkeit (§§ 20 / 21 StGB) 15.4. Therapeutische Möglichkeiten Kapitel 16: Rechtsmedizinische Ansätze zur Befundinterpretation und Bewertung bei Delikten unter Alkohol- und Drogeneinfluss 16.1. Alkohol 16.2. Substanznachweis und Ergebnisinterpretation 16.3. Bewertung des aktuellen Drogenkonsums durch Urinkontrollen 16.4. Retrospektive Untersuchung einer länger zurückliegenden Drogenaufnahme durch Haaranalysen Kapitel 17: Schizophrenie, schizoaffektive und wahnhafte Störungen
17.1. Schizophrenie 17.2. Schizotype Störung 17.3. Wahnhafte Störungen 17.4. Akute vorübergehende psychotische Störungen 17.5. Schizoaffektive Störungen 17.6. Sonstige psychotische Störungen 17.7. Forschungsbedarf und Ausblick Kapitel 18: Affektive Störungen (und Anpassungsstörungen) 18.1. Verlaufsformen, Vorkommen und Ätiologie 18.2. Depression 18.3. Manie 18.4. Anpassungsstörung 18.5. Kriminologie 18.6. Begutachtung Kapitel 19: Die „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“ und andere affektive Ausnahmezustände 19.1. Begriffsbestimmung und Abgrenzung 19.2. Beurteilung 19.3. Forensisch-psychiatrische Beurteilung
Kapitel 20: Begutachtung und Behandlung von Personen mit Intelligenzminderung 20.1. Einleitung 20.2. Diagnostik der Intelligenzminderung 20.3. Intelligenzminderung und Delinquenz 20.4. Begutachtung / Schuldfähigkeitseinschätzung und Kriminalprognose 20.5. Die Patienten im Maßregelvollzug (§ 63 StGB) 20.6. Behandlungsmaßnahmen im Maßregelvollzug 20.7. Der Verlauf der Unterbringung 20.8. Gutachterliche Einschätzung des Behandlungserfolgs und einer weiterbestehenden Gefährlichkeit 20.9. Ausblick Kapitel 21: Persönlichkeitsstörungen 21.1. Einleitung 21.2. Allgemeine Grundsätze und Probleme bei der Begutachtung von Persönlichkeitsstörungen 21.3. Persönlichkeitsstörung als „schwere andere seelische Abartigkeit“ 21.4. Symptomcharakter der Tat 21.5. Einsichts- und Steuerungsfähigkeit bei Persönlichkeitsstörungen
21.6. Forensische Relevanz einzelner Persönlichkeitsstörungen 21.7. Psychopathie, dissoziale und antisoziale Persönlichkeitsstörung Kapitel 22: Paraphile Störungen und Sexualdelinquenz, Geschlechtsinkongruenz / -dysphorie und sexuelle Funktionsstörungen 22.1. Einleitung 22.2. Paraphile Störungen und Sexualdelinquenz 22.3. Geschlechtsinkongruenz / -dysphorie 22.4. Sexuelle Funktionsstörungen Kapitel 23: Traumaassoziierte Störungen 23.1. Verlaufsformen, Vorkommen und Ätiologie 23.2. Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) 23.3. Dissoziative Störungen 23.4. Kriminologie 23.5. Begutachtung Kapitel 24: Spielen, Stehlen, Feuerlegen: abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle nach ICD-10 24.1. Einleitung 24.2. Pathologisches Spielen
24.3. Pathologisches Stehlen (Kleptomanie) 24.4. Pathologische Brandstiftung (Pyromanie)
III: Strafrecht: Strafverfahren, Strafvollzug und Maßregelvollzug Kapitel 25: Begutachtung der Haft-, Vernehmungs- und Verhandlungsfähigkeit 25.1. Haftfähigkeit 25.2. Vernehmungsfähigkeit 25.3. Verhandlungsfähigkeit Kapitel 26: Psychiatrische Probleme im Justizvollzug 26.1. Rahmenbedingungen der psychiatrischen Versorgung im Justizvollzug 26.2. Spezielle Störungsbilder im Justizvollzug 26.3. Spezielle Haftsituationen 26.4. Spezielle forensisch-psychiatrische Aufgaben im Justizvollzug Kapitel 27: Unterbringung im Maßregelvollzug gem. § 63 StGB 27.1. Einleitung 27.2. Rechtliche Fragen aus psychiatrischer Sicht 27.3. Psychische Störung und Kriminalität
27.4. Behandlung im Maßregelvollzug 27.5. Begutachtungsfragen Kapitel 28: Unterbringung im Maßregelvollzug gem. § 64 StGB 28.1. Einleitung 28.2. Voraussetzungen für eine Unterbringung gem. § 64 StGB 28.3. Die Patienten 28.4. Der Verlauf der Unterbringung 28.5. Behandlungserfolg 28.6. Therapeutische Maßnahmen 28.7. Spezielle Problembereiche 28.8. Schlussbemerkungen Kapitel 29: Sicherungsverwahrung gem. § 66 StGB 29.1. Einleitung 29.2. Befunde 29.3. Abgrenzung zur Maßregel nach § 63 StGB 29.4. Therapie 29.5. Therapieunterbringungsgesetz Kapitel 30: Die Begutachtung der Kriminalprognose (Risikobeurteilung und -handhabung)
30.1. Einleitung 30.2. Prognosebereiche 30.3. Anforderungen an ein psychiatrisches Prognosegutachten 30.4. Prognoseforschung: Entwicklungsphasen und grundlegende Konzepte 30.5. Statistisch-nomothetische Prognose 30.6. Klinische Individualprognose 30.7. Integrative Kriminalprognose 30.8. Risikokommunikation 30.9. Fehlerquellen
IV: Zivilrecht Kapitel 31: Juristische Grundlagen 31.1. Das psychiatrische Gutachten 31.2. Der Psychiater als gerichtlicher Sachverständiger 31.3. Pflichten des Sachverständigen 31.4. Betreuung 31.5. Betreuungsverfahrensrecht 31.6. Besondere Fälle des Betreuungsrechts 31.7. Geschäftsfähigkeit 31.8. Prozessfähigkeit
31.9. Testierfähigkeit 31.10. Eherecht 31.11. Schadensersatzrecht Kapitel 32: Begutachtung bei zivilrechtlichen Fragen 32.1. Einleitung 32.2. Begutachtung im Rahmen des Betreuungsgesetzes (BtG) 32.3. Begutachtung der Geschäfts-, Prozess- und Testierunfähigkeit 32.4. Begutachtung der Deliktsfähigkeit 32.5. Begutachtung im Eherecht 32.6. Begutachtung im Rahmen des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) Kapitel 33: Begutachtung im Rahmen privater Versicherungen 33.1. Einleitung 33.2. Private Krankenversicherung 33.3. Private Berufsunfähigkeits(zusatz)-versicherung 33.4. Private Lebensversicherung: Leistungen bei Suizid 33.5. Private Unfallversicherung 33.6. Private Haftpflichtversicherung
V: Sozialrecht
Kapitel 34: Rechtliche Grundlagen 34.1. Einleitung 34.2. Sozialrechtsbereiche 34.3. Rechtliche Aspekte zur psychiatrischen Begutachtung in einzelnen Sozialrechtsbereichen Kapitel 35: Begutachtung bei sozialrechtlichen Fragen 35.1. Einleitung 35.2. Gesetzliche Krankenversicherung 35.3. Gesetzliche Rentenversicherung 35.4. Gesetzliche Unfallversicherung 35.5. Soziales Entschädigungsrecht 35.6. Schwerbehindertenrecht
VI: Begutachtung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Kapitel 36: Strafrechtliche Begutachtung von Jugendlichen und Heranwachsenden 36.1. Einleitung 36.2. Sachverständigenaufgaben im Jugendstrafrecht Kapitel 37: Begutachtung im Familienrecht: Sorgerecht, Umgangsrecht, Sorgerechtsentzug, geschlossene Unterbringung 37.1. Allgemeine Einführung und rechtliche Grundlagen
37.2. Grundsätze der familienrechtlichen Begutachtung 37.3. Spezifische Fragen und Probleme bei Sorgerechtsgutachten 37.4. Spezifische Fragen und Probleme bei Umgangsrechtsgutachten 37.5. Spezifische Fragen und Probleme bei Gutachten zur Einschränkung oder zum Entzug des Sorgerechts 37.6. Familienrichterliche Genehmigung einer geschlossenen Unterbringung Kapitel 38: Begutachtung im Sozialrecht: Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII, OEG) 38.1. Sachverständigentätigkeit im Rahmen des KJHG (SGB VIII) 38.2. Begutachtung von Kindern und Jugendlichen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG)
VII: Spezielle Begutachtungsfragen Kapitel 39: Fragestellungen in Zusammenhang mit der Berufsausübung: approbations- und beamtenrechtliche Fragen 39.1. Einleitung 39.2. Approbationsfähigkeit 39.3. Fragen zur Begutachtung im Beamtenrecht Kapitel 40: Begutachtung der Fahreignung
40.1. Rechtliche Grundlagen 40.2. Psychophysisches Leistungsvermögen 40.3. Kompensation und Kumulation 40.4. Alkohol 40.5. Drogen und Arzneimittel 40.6. Verstöße gegen verkehrsrechtliche Vorschriften und Straftaten 40.7. Psychische Störungen 40.8. Intellektuelle Leistungseinschränkungen 40.9. Somatische Erkrankungen Kapitel 41: Begutachtung der persönlichen Eignung nach dem Waffengesetz 41.1. Einleitung und rechtliche Grundlagen 41.2. Qualifikation des Gutachters 41.3. Ablauf der Begutachtung 41.4. Begutachtung gem. § 6 Abs. 2 WaffG 41.5. Begutachtung gem. § 6 Abs. 3 WaffG Kapitel 42: Stalking 42.1. Einleitung 42.2. Forschungsstand
42.3. Begutachtung von Stalkern im Hinblick auf Schuldfähigkeit und Prognose Kapitel 43: Die Begutachtung der Glaubhaftigkeit 43.1. Einleitung 43.2. Beurteilung der Aussagetüchtigkeit 43.3. Unterscheidung zwischen wahren und erfundenen Aussagen 43.4. Unterscheidung zwischen wahren und suggerierten Aussagen 43.5. Gesamtbewertung 43.6. Grenzen aussagepsychologischer Befunderhebungen 43.7. Spezialfall: Begutachtung bei Geständnis und Geständniswiderruf Kapitel 44: Psychiatrische Begutachtung von Suizidhandlungen 44.1. Einleitung 44.2. Epidemiologie und Risikofaktoren 44.3. Erklärungsansätze für Suizidhandlungen 44.4. Suizidprävention 44.5. Diagnostik bei Suizidalität 44.6. Maßnahmen bei Suizidalität 44.7. Begrenzte Wirksamkeit von Suizidprävention
44.8. Allgemeines zur Begutachtung von Suizidhandlungen 44.9. Begutachtung der Willensfreiheit bei Suizidhandlungen 44.10. Begutachtung bei Patientensuizid 44.11. Assistierter und erweiterter Suizid 44.12. Prognose zukünftiger Suizidgefährdung Kapitel 45: Die Begutachtung im Rahmen der Unterbringungsgesetze der Länder 45.1. Hintergrund 45.2. Rechtliche Grundlagen 45.3. Psychiatrische Aspekte 45.4. Erfahrungen 45.5. Besondere Probleme Kapitel 46: Psychiatrische Begutachtung bei asyl- und ausländerrechtlichen Verfahren 46.1. Einleitung 46.2. Ethische und professionelle Dilemmata Kapitel 47: Begutachtung im Bereich des Extremismus 47.1. Einleitung 47.2. Hintergrund und Forschungsstand
47.3. Prävalenz von Extremismus 47.4. Herausforderungen bei der Risikobeurteilung im Allgemeinen 47.5. (Erste) Implikationen für die Praxis 47.6. Ausblick
VIII: Forensische Begutachtung in den Nachbarländern Österreich und Schweiz Kapitel 48: Psychiatrische Begutachtung in Österreich 48.1. Einleitung 48.2. Strafrecht 48.3. Zivil- und Verwaltungsrecht 48.4. Arbeits- und Sozialrecht 48.5. Spezielle Begutachtungsfragen Kapitel 49: Psychiatrische Begutachtung in der Schweiz 49.1. Einleitung 49.2. Standesorganisation und Ausbildung 49.3. Strafrecht 49.4. Zivilrecht Register
Copyright Elsevier GmbH, Hackerbrücke 6, 80335 München, Deutschland Wir freuen uns über Ihr Feedback und Ihre Anregungen an: [email protected] ISBN 978-3-437-22903-9 eISBN 978-3-437-18713-1 Alle Rechte vorbehalten 7. Auflage 2021 © Elsevier GmbH, Deutschland Wichtiger Hinweis für den Benutzer Die medizinischen Wissenschaften unterliegen einem sehr schnellen Wissenszuwachs. Der stetige Wandel von Methoden, Wirkstoffen und Erkenntnissen ist allen an diesem Werk Beteiligten bewusst. Sowohl der Verlag als auch die Autorinnen und Autoren und alle, die an der Entstehung dieses Werkes beteiligt waren, haben große Sorgfalt darauf verwandt, dass die Angaben zu Methoden, Anweisungen, Produkten, Anwendungen oder Konzepten dem aktuellen Wissenstand zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Werkes entsprechen. Der Verlag kann jedoch keine Gewähr für Angaben zu Dosierung und Applikationsformen übernehmen. Es sollte stets eine unabhängige und sorgfältige Überprüfung von Diagnosen und Arzneimitteldosierungen sowie möglicher Kontraindikationen erfolgen. Jede Dosierung oder Applikation liegt in der Verantwortung der Anwenderin oder des Anwenders. Die Elsevier GmbH, die Autorinnen und Autoren und alle, die an der Entstehung
des Werkes mitgewirkt haben, können keinerlei Haftung in Bezug auf jegliche Verletzung und/oder Schäden an Personen oder Eigentum, im Rahmen von Produkthaftung, Fahrlässigkeit oder anderweitig übernehmen. Für die Vollständigkeit und Auswahl der aufgeführten Medikamente übernimmt der Verlag keine Gewähr. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden in der Regel besonders kenntlich gemacht (®). Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann jedoch nicht automatisch geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://www.dnb.de abrufbar. 21 22 23 24 25 5 4 3 2 1 Für Copyright in Bezug auf das verwendete Bildmaterial siehe Abbildungsnachweis Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. In ihren Veröffentlichungen verfolgt die Elsevier GmbH das Ziel, genderneutrale Formulierungen für Personengruppen zu verwenden. Um jedoch den Textfluss nicht zu stören sowie die gestalterische Freiheit nicht einzuschränken, wurden bisweilen Kompromisse eingegangen. Selbstverständlich sind immer alle Geschlechter gemeint. Planung: Uschi Jahn, München
Projektmanagement und Herstellung: Sibylle Hartl, München Redaktion: Karin Beifuss, Ohmden Rechteklärung: Juliana Samoilowa, Berlin Herstellung: Dietmar Radünz, Leipzig Satz: Thomson Digital, Noida, Indien Druck und Bindung: Drukarnia Dimograf Sp. z o. o., Bielsko-Biała, Polen Umschlaggestaltung: SpieszDesign, Neu-Ulm Titelfotografie: © Minimallista – Shutterstock.com Aktuelle Informationen finden Sie im Internet unter www.elsevier.de.
Vorwort zur 7. Auflage Nach wie vor fühlen sich die Herausgeber dem Anspruch der Gründer und ersten Herausgeber des Handbuchs, Ulrich Venzlaff und Klaus Foerster, verpflichtet. Das Handbuch soll den jeweiligen Sachstand aus juristischer und psychiatrisch-psychologischer Sicht darstellen. Dabei gilt es auch, die für die Begutachtung besonders bedeutsamen fachlichen und ethischen Standards dieser beiden Nestoren der forensischen Psychiatrie mit gleichbleibend hoher Qualität fortzuführen. Aufgrund neuer rechtlicher Regelungen z. B. im Maßregelrecht nehmen die Zahl der angeforderten Gutachten und die Komplexität der zu beantwortenden Fragen weiter zu. Auch in anderen Rechtsgebieten haben sich durch gesetzliche Änderungen und Rechtsprechung neue Aspekte ergeben, die bei der Begutachtung zu berücksichtigen sind. Das Handbuch der Psychiatrischen Begutachtung versucht diese Entwicklungen mit jeder Neuauflage aufzugreifen und die Leserschaft auf den jeweils neuesten Stand zu bringen. Dies betrifft auch die zu erwartenden Änderungen bezüglich der Diagnostik psychischer Störungen, die im Rahmen der Implementierung der ICD-11 zu erwarten sind. Die Vorgaben der ICD-11 wurden, soweit möglich und für die gutachtliche Arbeit bedeutsam, berücksichtigt. Auf diese Weise ist es aus Sicht der Herausgeber gelungen, dass mit der nun vorliegenden 7. Auflage den ärztlichen und psychologischen Gutachterinnen und Gutachtern sowie den in der Rechtsprechung tätigen Juristinnen und Juristen wieder ein fundiertes Nachschlagewerk an die Hand gegeben wird. Die aktuellen Entwicklungen in Psychiatrie und Rechtsprechung haben auch die Aufnahme einiger neuer Kapitel und Themen erforderlich gemacht. Neu aufgenommen wurden z. B. Kapitel zu
den Themen Autismus, Schlaf und Delinquenz, posttraumatische Belastungsstörung und Extremismus. Alle bisherigen Kapitel wurden gründlich überarbeitet; einige Kapitel, z. B. zur Prognose, zur Neurobiologie und Forensik, zur Begutachtung bei sozialrechtlichen Fragen sowie zur Begutachtung von Suizidhandlungen und bei asyl- und ausländerrechtlichen Verfahren, wurden teilweise unter neuer Autorenschaft völlig neu erstellt oder umfassend umgearbeitet. Mit der 7. Auflage, bei der Klaus Foerster weiterhin beratend zur Seite gestanden hat, liegt nun ein umfangreich überarbeitetes, erweitertes und aktuelles Handbuch für die psychiatrische und psychologische Begutachtung in allen wesentlichen Rechtsgebieten vor. Die Neubearbeitung erfolgte in einer angenehmen Arbeitsatmosphäre zusammen mit Frau Sibylle Hartl und Frau Ursula Jahn vom Elsevier Verlag sowie Frau Karin Beifuss, die als Lektorin das Handbuch gewissenhaft betreut hat. Die Leserinnen und Leser bitten wir auch zukünftig um konstruktive Kritik, Hinweise und Anregungen für die weitere Gestaltung dieses Handbuchs. Mannheim und Zürich, im Herbst 2020 Harald Dreßing und Elmar Habermeyer
Benutzerhinweise Merke Hervorhebung wichtiger Sachverhalte
Kasuistik Veranschaulichung von Sachverhalten durch Fallbeispiele aus der Praxis
Gesetze Auszüge aus Gesetzestexten und Rechtsprechung
ICD-11 Ausblick auf Änderungen in der von der WHO verabschiedeten ICD-11-Klassifikation
Box X.Y Wichtige Inhalte kurz und knapp zusammengefasst, z.?B. Diagnosekriterien, oder nähere Erläuterungen zu Sachverhalten
Abbildungsnachweis Der Verweis auf die jeweilige Abbildungsquelle befindet sich bei allen Abbildungen im Werk am Ende des Legendentextes in eckigen Klammern. E169-003 Mod. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von Springer Nature Customer Service Centre GmbH: K.-P. Dahle KP. Psychologische Kriminalprognose. 2. Aufl. Herbolzheim: © Centaurus Verlag & Media UG 2010 E1033 Nachdruck in deutscher Übersetzung aus: Andrews DA, Bonta J. The Psychology of Criminal Conduct. 5th edn., Chapter 2 – The Empirical Base of PCC and the RNR Model of Assessment and Crime Prevention Through Human Service, pp. 58–59, © 2010 Matthew Bender & Company, Inc. published by Elsevier Inc., with permission from Elsevier F755-002 Schiffer B. Die Beurteilung der tiefgreifenden Bewusstseinsstörung. Nervenarzt 2007; 78(3): 294–303. Springer Medizin Verlag F755-003 Boetticher A et al. Mindestanforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten. Nervenarzt 2005; 76: 1154–1160. Springer Medizin Verlag F755-004 Rieger M et al. Psychiatrische Beurteilung des Gewaltrisikos im Jugendalter. Nervenarzt 2009; 80(3): 295–304. Springer Medizin Verlag F762-001 Moffitt TE. Adolescence-limited and life-course-persistent antisocial behavior: a developmental taxonomy. Psychol Rev
1993; 100(4): 674–701. American Psychological Association F763-001 Erb M et al. Homicide and schizophrenia: Maybe treatment does have a preventive effect. Crim Behav Ment Health 2001; 11(1): 6–26. John Wiley & Sons F764-001 Dreßing H, Meyer-Lindenberg A. Simulation bei posttraumatischer Belastungsstörung. Versicherungsmedizin 2008; 60: 8–13. Verlag Versicherungswirtschaft L231 Stefan Dangl, München L269 Andrea Mogwitz, München T759 Prof. Dr. Michael Günter, Stuttgart
Herausgeber Prof. Dr. med. Harald Dreßing, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Bereich Forensische Psychiatrie
J 5
68159 Mannheim Prof. Dr. med. Elmar Habermeyer, Klinik für Forensische Psychiatrie
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Lenggstr. 31
Postfach 1931
CH-8032 Zürich
Autorinnen und Autoren Dr. med. Stephan Bork, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Forensische Psychiatrie und Psychotherapie
Calwerstr. 14
72076 Tübingen Prof. Dr. med. Peer Briken, Universitätsklinikum HamburgEppendorf
Institut für Sexualforschung und forensische Psychiatrie
Martinistr. 52 (W26)
20251 Hamburg Priv.-Doz. Dr. med. Andrea Dettling, Landratsamt Rhein-NeckarKreis
Gesundheitsamt
Kurfürsten-Anlage 38–40
69115 Heidelberg Dr. med. Andrea Dreßing M. A., Klinik für Neurologie und Neurophysiologie im Neurozentrum
Breisacher Str. 64
79106 Freiburg Dr. jur. Claudia Dreßing, Verwaltungsgericht Freiburg
Habsburger Str. 103
79104 Freiburg Prof. Dr. med. Harald Dreßing, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Bereich Forensische Psychiatrie
J 5
68159 Mannheim Prof. Dr. med. Manuela Dudeck, Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie des Bezirkskrankenhauses Günzburg
Akademisches Krankenhaus für die Universität Ulm
Ludwig-Heilmeyer-Str. 02 / Haus 94
89312 Günzburg Prof. Dr. phil. Jérôme Endrass, Justizvollzug und Wiedereingliederung Zürich
Hohlstr. 552
CH-8048 Zürich
und
Universität Konstanz
Fachbereich Psychologie
Arbeitsgruppe Forensische Psychologie
Universitätsstr. 10
78464 Konstanz Dipl.-Psych. Sabine Eucker, Vitos Haina gemeinnützige GmbH
Klinik für Forensische Psychiatrie
Landgraf-Philipp-Platz 3
35114 Haina Dr. med. Beate Eusterschulte, Vitos Haina gemeinnützige GmbH
Klinik für Forensische Psychiatrie
Landgraf-Philipp-Platz 3
35114 Haina Prof. (em.) Dr. med. Klaus Foerster, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Sektion Forensische Psychiatrie und Psychotherapie
Calwerstr. 14
72076 Tübingen Prof. Dr. med. Peter W. Gaidzik, Universität Witten / Herdecke
Institut für Medizinrecht
Alfred-Herrhausen-Str. 50
58448 Witten Prof. Dr. med. Peter Gass, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit
J 5
68159 Mannheim Prof. Dr. med. Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank MHBA, LVRKlinik Köln
Fachklinik für Psychiatrie
Wilhelm-Griesinger-Str. 23
51109 Köln Prof. Dr. med. Marc Graf, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel
Klinik für Forensik
Wilhelm-Klein-Str. 27
CH-4002 Basel Prof. Dr. med. Matthias Graw, Ludwig-Maximilians-Universität
Institut für Rechtsmedizin
Nußbaumstr. 26
80046 München Bernd Grüner, Sozialgericht Gießen
Ostanlage 19
35390 Gießen Prof. Dr. med. Michael Günter, Klinikum Stuttgart
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
Prießnitzweg 24
70374 Stuttgart Prof. Dr. med. Elmar Habermeyer, Klinik für Forensische Psychiatrie
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Lenggstr. 31
Postfach 1931
CH-8032 Zürich
Prof. Dr. med. Hans-Thomas Haffner, GRUS – Gesellschaft für Rechtsmedizinische Untersuchungen und Sachverständigentätigkeit mbH
Postfach 26 03
72016 Tübingen Prof. Dr. med. Dr. phil. Martin Hambrecht, Agaplesion Elisabethenstift Ev. Krankenhaus
Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie
Landgraf-Georg-Str. 100
64287 Darmstadt Prof. Dr. med. Dr. phil. Andreas Heinz, Charité – Universitätsmedizin Berlin
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Campus Charité Mitte
Charitéplatz 1
10117 Berlin Dr. med. Kivanc Karacay, Universitätsklinikum Tübingen
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Calwerstr. 14
72076 Tübingen Prof. Dr. med. Norbert Konrad, Charité – Universitätsmedizin Berlin Institut für Forensische Psychiatrie
Oranienburger Str. 285 (Haus 10)
13437 Berlin Prof. Dr. med. Ralph Mager, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel
Klinik für Forensik
Wilhelm-Klein-Str. 27
CH-4002 Basel Prof. Dr. phil. Dipl.-Psych. Andreas Mokros M.Sc. (Investigative Psychology), FernUniversität in Hagen
Fakultät für Psychologie
Universitätsstr. 27
58084 Hagen Priv.-Doz. Dr. phil. Dipl.-Phys. Sabine Müller, Charité – Universitätsmedizin Berlin
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Campus Charité Mitte
Charitéplatz 1
10117 Berlin Dr. med. Annette Opitz-Welke, c / o JVK Berlin in der JVA Plötzensee
Abt. für Psychiatrie und Psychotherapie
Friedrich-Olbricht-Damm 16
13627 Berlin Dr. med. Daniel Passow, Median Klinik Heiligendamm
Kinderstrand 1
18209 Bad Doberan Dr. med. Regina Prunnlechner, Luis-Zuegg-Str. 10
A-6020 Innsbruck Prof. Dr. med. Wolfgang Retz, Universitätsmedizin Mainz
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Untere Zahlbacher Str. 8
55131 Mainz Anne Rohner, Vitos Haina gemeinnützige GmbH
Klinik für Forensische Psychiatrie
Landgraf-Philipp-Platz 3
35114 Haina Prof. Dr. jur. Henning Rosenau, Juristische und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät
Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht,
Medizinrecht
Universitätsplatz 6
06108 Halle / Saale
Prof. Dr. med. Michael Rösler, Universitätsklinikum des Saarlandes
Institut für Gerichtliche Psychologie und Psychiatrie
Kirrberger Str.
66421 Homburg / Saar Priv.-Doz. Dr. rer. nat. Astrid Rossegger, Justizvollzug und Wiedereingliederung Zürich
Hohlstr. 552
CH-8048 Zürich
und
Universität Konstanz
Fachbereich Psychologie
Arbeitsgruppe Forensische Psychologie
Universitätsstr. 10
78464 Konstanz Prof. Dr. Hans Schanda, Peter-Jordan-Str. 68
A-1090 Wien Dr. med. Catharina Schmidt, Klinik für Forensische Psychiatrie
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
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CH-8032 Zürich Prof. Dr. med. Dr. rer. soc. Frank Schneider, Universitätsklinikum Düsseldorf
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40225 Düsseldorf Prof. Dr. med. Dieter Seifert, Alexianer Christophorus Klinik
Alexianerweg 60
48163 Münster Prof. Dr. phil. Max Steller, Zentrum für Aussagepsychologie Berlin
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Prof. Dr. med. Thomas Stompe, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Klinische Abt. für Sozialpsychiatrie
Medizinische Universität Wien
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A-1090 Wien Prof. Dr. jur. Jochen Taupitz, Universität Mannheim
Abteilung Rechtswissenschaft
Schloss Mittelbau – Raum M 178
68131 Mannheim Prof. Dr. med. Ludger Tebartz van Elst, Universitätsklinikum Freiburg
Zentrum für Psychische Erkrankungen
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Hauptstr. 5
79104 Freiburg Dr. med. Detlef Thieme, Institut für Dopinganalytik und Sportbiochemie
Dresdner Str. 12
01731 Kreischa Prof. Dr. phil. Renate Volbert, Psychologische Hochschule Berlin
Am Köllnischen Park 2
10179 Berlin Michael Weber M.Sc., Universität Konstanz, Fachbereich Psychologie
Arbeitsgruppe Forensische Psychologie
Universitätsstr. 10
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und
Justizvollzug und Wiedereingliederung Zürich
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Dipl.-Psych. Sabrina Weber-Papen, Universitätsklinikum Düsseldorf
Moorenstr. 5
40225 Düsseldorf
Abkürzungen a. A. anderer Ansicht a. a. O. am angegebenen Ort a. M. andere Meinung AA Arbeitsagentur AAK Atemalkoholkonzentration Abs. Absatz AcP Archiv für die civilistische Praxis (Band und Seite) ADH Alkoholdehydrogenase AG Amtsgericht Ak Alternativkommentar Alg Arbeitslosengeld Anhaltspunkte Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz, hrsg. vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, 1996 Anm. Anmerkung AP Nachschlagewerk des Bundesarbeitsgerichts (Gesetzesstelle und Entscheidungsnummer) APA American Psychiatric Association Art. Artikel aStGB altes Strafgesetzbuch (Schweiz)
AsylG Asylgesetz ATSG Allgemeiner Teil des Sozialversicherungsrechts (Schweiz) AU Arbeitsunfähigkeit AUC area under the curve AufenthG Aufenthaltsgesetz AuslG Ausländergesetz AWaffV Allgemeine Waffengesetz-Verordnung Az. Aktenzeichen BA Bundesagentur für Arbeit BAG Bundesarbeitsgericht BAK Blutalkoholkonzentration BÄO Bundesärzteordnung BayObLG Bayerisches Oberstes Landesgericht (zugleich Entscheidungssammlung in Zivilsachen; zitiert nach Jahrgang und Seite) BBG Bundesbeamtengesetz BDZ Benzodiazepin BE Blutentnahme Beschl. v. Beschluss vom bestr. bestritten BeurkG Beurkundungsgesetz BG Bezirksgericht BGB Bürgerliches Gesetzbuch BGBl Bundesgesetzblatt BGH Bundesgerichtshof (auch: amtliche Sammlung der BGHRechtsprechung in Zivilsachen; Band und Seite)
BGHSt Amtliche Sammlung der BGH-Rechtsprechung in Strafsachen (Band und Seite) BK Berufskrankheit BKV Berufskrankheitenverordnung BMA Bundesminister(ium) für Arbeit und Sozialordnung BR Bundesrat BSeuchG Bundesseuchengesetz BSG Bundessozialgericht BSGE Entscheidungen des Bundessozialgerichts (amtliche Sammlung) BSGSozR Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, hrsg. von seinen Richtern BSHG Bundessozialhilfegesetz BtBG Betreuungsbehördengesetz BT-Drs. Bundestagsdrucksache BtG Betreuungsgesetz vom 12.9.1990 (BGBl I S. 2002) BtMG Betäubungsmittelgesetz BtPrax Betreuungsrechtliche Praxis (Jahr und Seite) BU Berufsunfähigkeit BVerfG(E) Bundesverfassungsgericht (Entscheidungen) BVerwG(E) Bundesverwaltungsgericht (Entscheidungen) BVG Bundesversorgungsgesetz BVT Beschwerdenvalidierungstest BWNotZ Zeitschrift für das Notariat in Baden-Württemberg (Jahr und Seite) bzgl. bezüglich BZR Bundeszentralregister
CDT kohlenhydratdefizientes Transferrin CFS Chronic-Fatigue-Syndrom CPA Cyproteronacetat d. F. der Fälle DAT Demenz vom Alzheimer-Typ DAV Der Amtsvormund (Jahr und Seite) der Landesnotarkammer Bayerns (Jahr und Seite) DBT Dialektisch-behaviorale Therapie DD Differenzialdiagnose DGPPN Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde DNotZ Deutsche Notar-Zeitschrift (Jahr und Seite) Drs. Drucksache DSM Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders EE Expressed Emotions EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Ehe(R)G Ehe(rechtsreform)gesetz Einf. Einführung EinglHV Eingliederungshilfeverordnung Einl. Einleitung EMRK Europäische Menschenrechtskommission EStG Einkommensteuergesetz EtG Ethylglucuronid EthikMed Ethik in der Medizin (Jahr und Seite) f., ff. folgende (Seite / -n) FAMG Gesetz über Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit
FamRZ Zeitschrift für das gesamte Familienrecht (Jahrgang und Seite) FeV Fahrerlaubnisverordnung FGG Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit fMRT funktionelle Magnetresonanztomografie FMS Fibromyalgiesyndrom FS Festschrift FuR Familie und Recht (Jahr und Seite) Fußn. Fußnote G Gesetz GdB Grad der Behinderung gem. gemäß GG Grundgesetz GKV Gesetzliche Krankenversicherung GLM Good-Lives-Modell GOÄ Gebührenordnung für Ärzte GPV gesetzliche Pflegeversicherung GRV gesetzliche Rentenversicherung GsiG Grundsicherungsgesetz GUV gesetzliche Unfallversicherung GVG Gerichtsverfassungsgesetz h. M. herrschende Meinung Halbs. Halbsatz HRR Höchstrichterliche Rechtsprechung (Jahr und Nr.) i. Allg. Im Allgemeinen i. d. F. in der Fassung
i. V. m. in Verbindung mit i. d. R. in der Regel ICD International Classification of Diseases and Related Health Problems ICF Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit IfSG Infektionsschutzgesetz IV Invalidenversicherung JGG Jugendgerichtsgesetz JR Juristische Rundschau (Jahr und Seite) Jura Juristische Ausbildung (Jahr und Seite) JurBüro Das Juristische Büro (Jahr und Spalte) JVA Justizvollzugsanstalt JWG Jugendwohlfahrtsgesetz JZ Juristenzeitung (Jahr und Seite) KG Kammergericht KI Konfidenzintervall KJHG Kinder- und Jugendhilfegesetz KK Krankenkasse KOV Kriegsopferversicherung krit. kritisch KVLG Landwirtschaftliche Krankenkassen lit. littera (Buchstabe) LKD Lewy-Körper-Demenz LM Lindenmaier / Möhring, Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen (Gesetzesstelle und Entscheidungsnummer)
LSG Landessozialgericht m. Anm. v. mit Anmerkung von m. E. meines Erachtens m. w. Beisp. mit weiteren Beispielen m. w. N. / m. w. Nachw. mit weiteren Nachweisen MAO Monoaminoxidase MCS multiple Chemikaliensensibilität MdE Minderung der Erwerbsfähigkeit MDK Medizinischer Dienst der Krankenversicherung MDMA Methylendioxyamphetamin MDR Monatsschrift für Deutsches Recht (Jahr und Seite) MedR Medizinrecht (Jahr und Seite) MedSach Der Medizinische Sachverständige MeSo Medizin im Sozialrecht, Sammlung von Rechtsentscheidungen in medizinischen Fragen MittBayNot Mitteilungen des Bayerischen Notarvereins, Notarkasse und der Landesnotarkasse Bayerns (Jahr und Seite) MJ Ministerium für Justiz MRVollzG Maßregelvollzugsgesetz MS Ministerium für Soziales MschrKrim Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform (Jahrgang, Jahr und Seite) MünchKomm Münchener Kommentar zum BGB n. F. neue Fassung NJW Neue Juristische Wochenschrift (Jahr und Seite) Nr. Nummer
NJW-RR Neue Juristische Wochenschrift – Rechtsprechungs-Report (Zivilrecht, Jahr und Seite) NpSG Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetz NStZ Neue Zeitschrift für Strafrecht (Jahr und Seite) NStZ-RR NStZ-Rechtsprechungs-Report Strafrecht (Jahr und Seite) NYHA New York Heart Association NZV Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht o. n. A. ohne nähere Angaben OEG Opferentschädigungsgesetz OGH Oberster Gerichtshof für die britische Zone, auch: Sammlung der Entscheidungen (Band und Seite) OLG Oberlandesgericht, zugleich: Die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte (Jahr und Seite) OLGZ Entscheidungen der Oberlandesgerichte in Zivilsachen (Jahr und Seite) OR Odds Ratio PCL(-R) Psychopathy Checklist(-Revised) PFC präfrontaler Kortex PflRi Pflegerichtlinien PKV Private Krankenversicherung PsychKG Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten PsychKHG Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz Psych-PV Psychiatrie-Personalverordnung PTBS posttraumatische Belastungsstörung RdErl Runderlass Rdz. / Rz Randziffer
Recht Das Recht (Jahr und Nummer) Reha Rehabilitation RehaAnglG Rehabilitationsangleichungsgesetz RentV-Träger Rentenversicherungsträger RG Reichsgericht, auch amtliche Sammlung der RGRechtsprechung in Zivilsachen (Band und Seite) RGSt Amtliche Sammlung der RG-Rechtsprechung in Strafsachen (Band und Seite) Rn. Randnote RNR Risk – Need – Responsitivity Rpfleger Der Deutsche Rechtspfleger (Jahr und Seite) RPflG Rechtspflegergesetz Rspr. Rechtsprechung RStGB Reichsstrafgesetzbuch RuP Recht und Politik (Jahr und Seite) RVO Reichsversicherungsordnung S. Satz, Seite sc. scilicet (nämlich) SchlHA Schleswig-Holsteinische Anzeigen (Jahr und Seite) SchwbG Schwerbehindertengesetz SchwbR Schwerbehindertenrecht SD standard deviation, Standardabweichung SexualdelBekG Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen schweren Straftaten vom 26.1.1998 SGB Sozialgesetzbuch SGb Die Sozialgerichtsbarkeit SGFP Schweizerische Gesellschaft für Forensische Psychiatrie
SGG Sozialgerichtsgesetz SHT Schädel-Hirn-Trauma sozEntschR soziales Entschädigungsrecht Sp. Spalte SPJ structured professional judgment SSRIs selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer StÄG Strafrechtsänderungsgesetz StAZ Das Standesamt (Jahr und Seite) stdRspr ständige Rechtsprechung StGB Strafgesetzbuch StPO Strafprozessordnung Str RG Gesetz zur Reform des Strafrechts str. streitig StrUBG Gesetz zur Unterbringung besonders rückfallgefährdeter Straftäter StV Strafverteidiger (Jahr und Seite) StVG Straßenverkehrsgesetz StVollstrO Strafvollstreckungsordnung StVollzG Strafvollzugsgesetz StVollzGÄndG Gesetz zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes SV Sicherungsverwahrung SVG Soldatenversorgungsgesetz SVT Sozialversicherungsträger ThUG Therapieunterbringungsgesetz TIA transitorische ischämische Attacke TSG Transsexuellengesetz
u. U. unter Umständen umstr. umstritten UnterbrG Unterbringungsgesetz Urt. v. Urteil vom UVollzO Untersuchungshaftvollzugsordnung UV-Träger Unfallversicherungsträger v. H. vom Hundert VD vaskuläre Demenz VersR Versicherungsrecht (Jahr und Seite) VG Verwaltungsgericht Vor Vorbearbeitung Vorbem. Vorbemerkung VRAG-R Violence Risk Appraisal Guide-Revised VRS Verkehrsrechts-Sammlung (Jahr und Seite) vs. versus VV Verwaltungsvorschrift VwVfG Verwaltungsverfahrensgesetz WaffG Waffengesetz Warn. Jahrbuch der Entscheidungen zum BGB (Jahr und Seite) WarnJB Warneyers Jahrbuch der Entscheidungen des Reichsgerichts auf dem Gebiet des Zivilrechts (Jahr und Nummer) WM Wertpapiermitteilungen (Jahr und Seite) WZFP Westfälisches Zentrum für Forensische Psychiatrie Lippstadt Z. ZeileWsFPP Forensische Psychiatrie und Psychotherapie: Werkstattschriften ZDG Zivildienstgesetz ZfJ Zentralblatt für Jugendrecht (Jahr und Seite)
ZfSH / SGB Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzbuch ZfStrVo Zeitschrift für Strafvollzug ZGB Zivilgesetzbuch (Schweiz) Ziff. Ziffer ZPO Zivilprozessordnung ZRP Zeitschrift für Rechtspolitik (Jahr und Seite) ZStW Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (Jahrgang, Jahr und Seite)
I
Prinzipien der psychiatrischen Begutachtung Kapitel 1: Aufgaben und Stellung des psychiatrischen Sachverständigen Kapitel 2: Forensisch-psychiatrische Untersuchung Kapitel 3: Standardisierte und psychometrische Untersuchungsverfahren in der forensischpsychiatrischen Begutachtung Kapitel 4: Neurobiologische Erkenntnisse: mögliche Relevanz für die strafrechtliche Begutachtung Kapitel 5: Die Erstattung des Gutachtens Kapitel 6: Fehlermöglichkeiten beim psychiatrischen Gutachten Kapitel 7: Haftungs- und strafrechtliche Verantwortung des Gutachters
KAPITEL 1
Aufgaben und Stellung des psychiatrischen Sachverständigen Harald Dreßing und Klaus Foerster
1.1 Einleitung 1.2 Historische Facetten 1.3 Prinzipien der psychiatrischen Begutachtung 1.3.1 Allgemeine Aspekte der strafrechtlichen Begutachtung 1.3.2 Allgemeine Aspekte der zivilrechtlichen Begutachtung 1.3.3 Allgemeine Aspekte der sozialrechtlichen Begutachtung 1.4 Die Stellung des psychiatrischen Sachverständigen 1.4.1 Vorschriften der §§ 244/245 StPO 1.4.2 Privatgutachten 1.5 Medien und Öffentlichkeit 1.6 Schlussbemerkung
1.1. Einleitung Begutachtungen sind neben Diagnose und Therapie die dritte Säule ärztlicher Tätigkeit in sämtlichen Fachgebieten. Ein ärztliches Gutachten liegt vor, wenn der Arzt aufgrund seiner medizinischen Erkenntnisse und Erfahrungen aus Tatsachen oder Zuständen, die er selbst oder ein anderer wahrgenommen hat, mithilfe seiner Sachkunde im Hinblick auf eine bestimmte Fragestellung im Einzelfall Schlüsse zieht. Insofern sind auch Bescheinigungen, kurze Stellungnahmen oder Atteste gutachtliche Äußerungen. Zur gutachtlichen Tätigkeit heißt es in § 25 der ärztlichen Berufsordnung: „Bei der Ausstellung ärztlicher Gutachten und Zeugnisse haben Ärztinnen und Ärzte mit der notwendigen Sorgfalt zu verfahren und nach bestem Wissen ihre ärztliche Überzeugung auszusprechen. Gutachten und Zeugnisse, zu deren Ausstellung Ärztinnen und Ärzte verpflichtet sind oder die auszustellen sie übernommen haben, sind innerhalb einer angemessenen Frist abzugeben.“ In der Psychiatrie und Psychotherapie haben Aufgaben der Begutachtung wesentlich größeres Gewicht als in anderen medizinischen Fachgebieten. Psychiatrische Gutachten standen am Beginn der Psychiatrie als eigenständiges Fach. Sobald anerkannt war, dass „geisteskranke“ Straftäter als kranke Menschen nicht bestraft werden konnten, ergab sich die Notwendigkeit, diese Täter zu erkennen und von psychisch gesunden Straftätern abzugrenzen. Hieraus erwuchs die Notwendigkeit einer ärztlichen Untersuchung und der Begutachtung (➤ Kap. 1.2). Psychische Erkrankungen und Störungen können in ihren konkreten, vor allem auch sozialen Auswirkungen häufig Rechtsfragen in unterschiedlichen Bereichen (Strafrecht, Zivilrecht, Sozialrecht) tangieren. Daher sind die Aufgaben der psychiatrischen Begutachtung im Laufe der Zeit ständig umfangreicher geworden, sodass die psychiatrische Begutachtung erhebliche Bedeutung für den Betroffenen, für die Gesellschaft und auch für das Fach Psychiatrie hat.
Allgemein gesagt beschäftigt sich die psychiatrische Begutachtung mit allen Problemen und Fragen, bei denen ein psychisch kranker oder gestörter Mensch oder ein Mensch, bei dem der Verdacht auf eine psychische Krankheit oder Störung besteht, mit Rechtsfragen in Berührung kommt. Verfassungsrechtlicher Hintergrund ist das in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte Rechtsstaatsprinzip, dass neben dem Gebot der Rechtssicherheit das Postulat der materiellen Gerechtigkeit enthält. Zu deren Verwirklichung trägt insbesondere die richterliche Aufklärungspflicht, also die Suche nach dem wahren Sachverhalt als Grundlage einer zu treffenden Entscheidung, bei. Somit dient die Tätigkeit des psychiatrischen Sachverständigen auch immer der Rechtssicherheit in der Gesellschaft. Die psychiatrische Begutachtung zählt zum Teilgebiet „Forensische Psychiatrie und Psychotherapie“, zu dessen zentralen Aufgaben neben der Begutachtung die Behandlung psychisch kranker Straftäter zählt (➤ Kap. 27). Die Fragen im Rahmen aller psychiatrischen Begutachtungen beziehen sich letztlich auf Beeinträchtigungen kognitiver und voluntativer Fähigkeiten, aus denen eine Einschränkung der rechtlichen Verantwortlichkeit in Bezug auf rechtliches Handeln, rechtliche Willenserklärung oder berufliche Leistungsfähigkeit resultieren kann. Entsprechend dem prinzipiellen ärztlichen Vorgehen bei jeder Untersuchung (Erhebung der Anamnese, Erhebung des klinischen Befunds, Stellung der Prognose) können alle gutachtlichen Fragen schematisch bezogen werden auf zurückliegende Ereignisse, auf den Ist-Zustand eines Menschen und auf die Zukunft, sodass sich folgende Übersicht ergibt: • Beeinträchtigungen bzgl. zurückliegender Handlungen entsprechend der Anamnese, z. B. die Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, der Glaubhaftigkeit, der Geschäftsfähigkeit (es sei denn, es geht – in sehr seltenen Fällen – um eine prospektive Beurteilung der Geschäftsfähigkeit), der Testierfähigkeit sowie bei Haftungsfragen.
• Beeinträchtigungen im Ist-Zustand eines Menschen entsprechend dem klinischen Befund, z. B. Beurteilung von Arbeits-, Berufs- oder Dienstfähigkeit, Selbst- oder Fremdgefährdung i. S. der Unterbringungsgesetze der Länder, akuter Suizidalität, Verhandlungs-, Vernehmungsund Prozessfähigkeit. • Beeinträchtigungen, die in der Zukunft zu erwarten sind, entsprechend der Prognose, z. B. Beurteilung der Kriminalprognose, der Notwendigkeit einer Betreuung, der beruflichen Leistungsfähigkeit. Dabei ergibt sich für den psychiatrischen Sachverständigen prinzipiell und unvermeidbar ein Grundproblem: Ein Proband/Patient oder eine Institution möchte in einem rechtlichen Verfahren etwas erreichen oder verweigern, etwas tun oder nicht tun, eine Gratifikation gewähren oder dies nicht tun. Daher steht die Tätigkeit des psychiatrischen Sachverständigen im Brennpunkt unterschiedlicher, u. U. auch gegensätzlicher Erwartungen verschiedener Beteiligter, wobei dies prinzipiell nicht anders sein kann (Foerster 2002b). Für den psychiatrischen Sachverständigen geht es immer um die konkrete Beantwortung einer psychiatrischjuristischen Frage anhand des jeweiligen konkreten Einzelfalls (Foerster 2002a). Dabei geht es nicht darum, allgemein überdauernde gültige und abstrakte Feststellungen bzgl. rechtlicher Fragen zu treffen – dies ist von der psychiatrischen Begutachtung prinzipiell nicht zu erwarten. Dabei ist zu bedenken, dass die forensische Psychiatrie als Teilgebiet der Psychiatrie genau wie diese im Schnittpunkt von Medizin und Gesellschaft steht. Die gesellschaftliche Dimension der Medizin, ihre häufig unreflektierte Bindung an Normen und weltanschaulich-kulturell determinierte Denk- und Verhaltensmuster, lässt sich in der forensischen Psychiatrie häufig offener erkennen als in anderen Fächern (Leonhardt und Foerster 2002). Insofern kann die Zeitgebundenheit psychiatrischer Begutachtung nicht ausgeklammert bleiben. Das Verständnis psychischer Erkrankungen in Bezug auf forensischpsychiatrische Fragestellungen und deren gesellschaftliche und auch
gutachtliche Bewertungen sind durchaus an Zeitströmungen gebunden. Somit stellt sich auch die Frage nach dem Bedingungsgefüge, unter dessen Einfluss die psychiatrische Begutachtung ihre jeweils – auch – zeitgebundenen Maßstäbe entwickeln muss (Leonhardt und Foerster 2002). Prinzipielle Grundlage und Kern der psychiatrischen Expertise ist und bleibt das psychiatrische Interview. Nur mit dieser Methode kann man dem Probanden in seiner individuellen Komplexität gerecht werden und ihn zumindest im Ansatz verstehen. Hierbei kann es hilfreich sein, sich die prinzipiellen erkenntnistheoretischen Konzepte der Psychiatrie zu vergegenwärtigen und auch die anthropologische Dimension psychischer Erkrankungen zu bedenken (Schmidt-Degenhard 2011; Dreßing und Dreßing 2014).
1.2. Historische Facetten Eine zusammenfassende Darstellung der historischen Entwicklung der psychiatrischen Begutachtung und der forensischen Psychiatrie steht bis heute aus. Einige unsystematische Facetten seien genannt. Nach Aristoteles sollten psychisch Kranke dann nicht bestraft werden, wenn ihre Krankheit die Grundlage eines Rechtsverstoßes war, wenn sie aufgrund eines Wahns oder aufgrund von Desorientiertheit handelten (Nedopil 2007a). Auch im römischen Recht war akzeptiert, dass „furiosi“ und „fatui“ keinen „eigenen Willen“ besaßen und nicht bestraft werden konnten, wobei die Beurteilungskompetenz bei Juristen und Philosophen lag. Das kanonische Recht stimmte mit dem römischen Recht weitgehend überein. Nach der „peinlichen Gerichtsordnung“ Karls V. (1532) blieb der Geistesgestörte straffrei, „der wissentlich seyner Sinne nit het“. Frühe Begründer einer neuzeitlichen Psychiatrie wie Johann Wier und Felix Platter beschäftigten sich im Rahmen ihrer gerichtsmedizinischen Tätigkeit auch mit Problemen und Fragen, die heute der forensischen Psychiatrie zugeordnet würden. Insofern gingen von der forensischen Psychiatrie stets auch Impulse für die Entwicklung der gesamten Psychiatrie aus (FischerHomberger 1983). Allmählich entwickelte sich die ärztliche
Zuständigkeit für die straf- und zivilrechtliche Beurteilung abweichenden Verhaltens, wenngleich lange umstritten blieb, welche Fachleute – Philosophen oder Ärzte – über diese Fragen entscheiden sollten. Wichtig für die Entwicklung einer eigenständigen forensischen Psychiatrie war auch Paolo Zacchia, der als Begründer der Gerichtsmedizin angesehen wird und der sich dementsprechend auch mit heute so zu bezeichnenden psychiatrischen und forensischpsychiatrischen Fragen beschäftigte (Fischer-Homberger 1983; Janzarik 1972). Im österreichischen Strafgesetzbuch von 1768 hieß es: „Eines Verbrechens können sich all und jede ohne Unterschiede des Standes und des Geschlechts schuldig machen, welche des Gebrauchs ihrer Vernunft und freien Willen haben. Dahingegen jene, welchen es am einen oder anderen mangelt, eines Verbrechens unfähig sind.“ Im gleichen Gesetz findet sich schon eine Differenzierung zwischen Zurechnungsunfähigkeit bei den Toll- und Unsinnigen wegen „gänzlicher Gemütsverrückung“ und verminderter Zurechnungsfähigkeit. Anfang des 19. Jahrhunderts, als sich die Psychiatrie als selbstständige Wissenschaft entwickelte, waren Fragen der Begutachtung in die Lehre der allgemeinen Psychiatrie einbezogen. Ein Beispiel ist Eschenmayer, der in Tübingen als zweiter klinischer Lehrer nach Heinroth in Leipzig Vorlesungen über Psychiatrie hielt und sich auch zu Fragen der Begutachtung äußerte: „Für den Juristen hat es Interesse, weil er oft mit solchen Delinquenten zu tun hat, ob und wie oft einer aus Perturbation der Seele ein Verbrechen begangen habe: z. B. aus Blödsinn etc.“ (Holstein 1979). Die psychiatrische Begutachtung wurde immer als wichtige Aufgabe innerhalb der allgemeinen Psychiatrie angesehen, bis in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts das Interesse der allgemeinen Psychiatrie an Fragen der Begutachtung nachließ; dieser Trend hat sich allerdings wieder umgekehrt (Nedopil 2007a). Für die forensische Psychiatrie und Psychotherapie ist eine Auseinandersetzung mit ihren historischen Wurzeln von grundlegender Bedeutung, da die Arbeit des forensischen Psychiaters stets in weltanschauliche Vorstellungen und gesellschaftlich-politische Vorgaben eingebunden und insofern von
Relativität durchdrungen ist. Auch die Konzeptbildung und klinische Praxis sind hierbei keineswegs ausschließlich von wissenschaftlichen, sondern auch von außerwissenschaftlichen, soziokulturellen und sozialpsychologischen Faktoren beeinflusst (Leonhardt 2002). Dies gilt auch für die bislang lediglich in Ansätzen begonnene Auseinandersetzung der forensischen Psychiatrie mit der Zeit des Nationalsozialismus (Leonhardt und Foerster 2002; Morlock 1999; Pfäfflin 1987). Dieser Mangel kontrastiert mit den zahlreichen und umfangreichen Arbeiten zur Geschichte der klinischen Psychiatrie während des Nationalsozialismus. Ein ganz anderer Bereich der psychiatrischen Begutachtung, nämlich das Vorgehen bei der Beurteilung von Schadensersatzansprüchen nach äußeren Ereignissen und – in ganz besonderer Weise – die Entwicklung der Begutachtung von Holocaust-Überlebenden, bedürfte ebenfalls historisch-kritischer Aufarbeitung. Eine zusammenfassende Darstellung der Geschichte der forensischen Psychiatrie, die neben der konkreten Praxis der Begutachtung auch die jeweiligen theoretischen Grundlagen der Krankheitskonzepte einbezieht, bleibt somit ein Desideratum.
1.3. Prinzipien der psychiatrischen Begutachtung Die psychiatrische Begutachtung ist – wie die Begutachtung in allen anderen medizinischen Fächern auch – nie Selbstzweck. Ihre Aufgabe ist die Beantwortung der von den Auftraggebern – z. B. Gerichte der verschiedenen Rechtszweige, Staatsanwaltschaften, Ministerien, Justizvollzugsanstalten, Kliniken des Maßregelvollzugs, Berufsgenossenschaften, Versorgungsämter, Krankenkassen – gestellten Beweisfragen aus psychiatrischer Sicht. Dabei gilt immer, dass die eigentliche Rechtsfrage nie vom psychiatrischen Sachverständigen beantwortet, geschweige denn entschieden werden kann. Der psychiatrische Sachverständige hat aufgrund seiner Untersuchung (➤ Kap. 2) die Voraussetzungen
darzulegen, aufgrund derer der Auftraggeber die Rechtsfrage in eigener Wertung und Würdigung beantworten kann. In manchen Bereichen ist dieses Prinzip stark vereinfacht und „abgeschliffen“, aber auch die Beurteilung z. B. der Arbeitsfähigkeit/Arbeitsunfähigkeit ist eine gutachtliche Aufgabe. Bei allen, teilweise extrem unterschiedlichen Fragen in den verschiedenen Rechtsgebieten folgt die psychiatrische Begutachtung stets demselben Prinzip, nämlich einem dreistufigen Vorgehen: • 1. Schritt: Dieser erste Schritt – die Diagnosestellung – ist der entscheidende, denn lässt sich aufgrund der Untersuchung weder für den Untersuchungszeitpunkt noch – bei retrospektiver Beurteilung – für den zurückliegenden Zeitpunkt z. B. einer Tat oder den Abschluss eines Rechtsgeschäftes eine psychiatrische Diagnose gemäß ICD10 oder DSM-5 stellen, können keine forensischpsychiatrischen Folgerungen gezogen werden. Diagnosen außerhalb dieser allgemein anerkannten Manuale sind für die Begutachtung wertlos. Bei allen Begutachtungen, bei denen es um eine retrospektive Analyse geht, hat der Sachverständige zu bedenken, dass nicht die Diagnose zum Untersuchungszeitpunkt ausschlaggebend ist. Vielmehr besteht seine Aufgabe darin, neben der Diagnose zum Untersuchungszeitpunkt aufgrund aller erreichbaren Informationen retrospektiv eine Diagnose für den zu beurteilenden Zeitraum zu stellen. Bei allen Begutachtungen, die prognostische Überlegungen beinhalten, muss der zum Untersuchungszeitpunkt erhobene Befund in die Zukunft „projiziert“ werden. Feststellungen bzgl. der Vergangenheit und der Zukunft sind häufig nur mit einer mehr oder weniger großen Wahrscheinlichkeit, aber nicht mit absoluter Sicherheit möglich. Der Sachverständige muss bei seiner Beurteilung wissen, dass in unterschiedlichen Rechtsgebieten unterschiedliche Wahrscheinlichkeitsgrade verlangt werden; z. B. ist eine strafrechtliche Verurteilung nicht möglich, wenn richterliche Zweifel an der Schuld des
Angeklagten nicht auszuschließen sind, während die Voraussetzungen für das Vorliegen von Geschäfts- oder Testierunfähigkeit bewiesen werden müssen. • 2. Schritt: Es ist ein prinzipieller Fehler, aufgrund einer Diagnose unmittelbar die Beweisfragen zu erörtern. Vielmehr muss in einem zweiten Schritt die psychopathologische Diagnose den jeweiligen rechtlichen Begrifflichkeiten zugeordnet werden, etwa im Rahmen der strafrechtlichen Beurteilung einer der Merkmalskategorien der §§ 20/21 StGB, bei der Begutachtung der Geschäftsfähigkeit den Begriffen „krankhafte Störung der Geistestätigkeit“ (§ 104 Nr. 2 BGB), „Bewusstlosigkeit oder vorübergehende Störung der Geistestätigkeit“ (§ 105 BGB) bzw. bei Begutachtungen im Rahmen des Betreuungsrechts „psychische Krankheit, körperliche, geistige oder seelische Behinderung“ (§ 1896 BGB). Es erfolgt somit eine „Übersetzung“ der psychopathologischen Befunde und der gestellten Diagnose in juristische Begriffe. • 3. Schritt: Hier hat der psychiatrische Sachverständige die Beweisfragen zu beantworten, wobei er stets den Primat der Wertung und Würdigung durch den Auftraggeber zu bedenken hat. Daher benennt er die Voraussetzungen aus psychiatrischer Sicht, aufgrund derer die Rechtsfrage dann entschieden werden kann, wobei diese Entscheidung in der Verantwortung und Kompetenz des Auftraggebers liegt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Stellung einer Diagnose nicht genügt, um diese Voraussetzungen zu benennen. Entscheidend sind vielmehr die konkret benennbaren psychopathologischen Symptome und ihre konkreten Auswirkungen im psychosozialen Bereich. Die Einzelheiten der gutachtlichen Untersuchung, der Gutachtenerstattung und der Fehlermöglichkeiten sind in ➤ Kap. 2 und in ➤ Kap. 5 bzw. ➤ Kap. 6 ausführlich dargestellt. Folgende Aspekte sind jedoch stets zu berücksichtigen, da sie bei allen Begutachtungen bedeutsam sind.
Es ist selbstverständlich, dass der Psychiater auch in seiner Tätigkeit als Sachverständiger Arzt ist, d. h., er kann seine ärztliche Identifikation nicht vernachlässigen (Nedopil 1999b; Venzlaff 1975, 1983). Aus dieser prinzipiellen ärztlichen Grundhaltung darf allerdings nicht gefolgert werden, dass es Aufgabe des Gutachters sei, zu verzeihen oder zu entschuldigen. Verständnis ist jedoch auch möglich, ohne zu entschuldigen und ohne die an den Rechtsnormen orientierte Objektivität zu gefährden (Nedopil 1989). Verstehen kann mit Schmidt-Degenhard (1997) als der Versuch gesehen werden, den Probanden in seiner biografisch gewordenen Individualität zu erkennen. Dabei schließt die Intention des Verstehens eine reine Beobachterposition aus; vielmehr ist vom Verstehenden das Einbringen seiner Person mit all ihren Resonanzflächen gefordert. Hieraus folgt unmittelbar, dass der Sachverständige gefordert ist, seine eigenen emotionalen Empfindungen, Reaktionen und Gefühle zu erkennen und zu reflektieren; d. h., er muss in der Lage sein, Aspekte von Übertragung und Gegenübertragung zu erkennen und zu berücksichtigen. Die eigenen emotionalen Reaktionen können wichtige diagnostische Hinweise sein, und sie können Hinweise auf das innere Erleben des Probanden geben. Erkennen und Reflexion der eigenen Gefühle verhindern, dass sich diese unkontrolliert auf das eigene Handeln, d. h. in diesem Fall auf die gutachtliche Stellungnahme, auswirken (Burgemeister 1999; Foerster 1996). Selbstverständlich ist eine Begutachtung keine Therapie; dennoch kann das gutachtliche Gespräch vielleicht Anlass für den Probanden sein, biografische Verwerfungen, missglückte interpersonale Prozesse (Schmidt-Degenhard 1997), die Entwicklung seines Lebens, die gewordene Biografie, ggf. auch die Straftat, die zur psychiatrischen Untersuchung führte, unter neuen, ihm bislang möglicherweise verschlossen gebliebenen Aspekten zu sehen. Psychiatrische Begutachtung kann sowohl eine Chance (Nedopil 1989) als auch eine Gefahr bedeuten: Häufig haben Probanden vage, meist nicht realisierbare Hoffnungen und Erwartungen an die Begutachtung. Solche Hoffnungen sind in der Begutachtungssituation i. d. R. zwar unerfüllbar, dennoch können
durch die Begutachtungen psychodynamische Veränderungen in Gang gesetzt werden (Schorsch 1983). Wie vertragen sich nun diese Überlegungen mit der vom Sachverständigen zu fordernden Neutralität und Objektivität? Neutralität bedeutet gerade nicht emotionale Abstinenz, emotionale Distanz und fehlende Empathie, sondern im Gegenteil die Fähigkeit, die eigene Emotionalität zu erkennen, zu bedenken und ggf. bei diagnostischen Überlegungen zu berücksichtigen. Nach SchmidtDegenhard (1997) ist die forensisch-psychiatrische Begutachtung als ein in einer zwischenmenschlichen Beziehung fundierter Akt praktischer Hermeneutik zu betrachten, in dem es um die verstehende Erfassung biografischer Sinnzusammenhänge und Motivationsgefüge geht. Diese Aufgaben erfordern eine ständige selbstkritische Reflexion der Rolle als ärztlicher Gutachter (Dreßing 2017).
1.3.1. Allgemeine Aspekte der strafrechtlichen Begutachtung Grundlage der psychiatrischen Begutachtung zur Schuldfähigkeit sind die §§ 20/21 StGB (➤ Kap. 8). Die Formulierung „… bei Begehung der Tat …“ bedeutet, dass es in der Begutachtung darum geht, die Tatzeitpersönlichkeit zu rekonstruieren und die gutachtlichen Aussagen hierauf auszurichten. Die in den genannten Paragrafen aufgeführten vier Merkmalskategorien bedeuten zwar verschiedene Kategorien psychischer Störungen, sollen sich nach dem Willen des Gesetzgebers in ihren praktischen Auswirkungen auf die Einsichtsoder Handlungsfähigkeit indessen in etwa gleichen, da die Reihenfolge der Aufzählung nicht als Rangordnung, sondern als analoger Diagnosekatalog zu verstehen ist (Venzlaff 1975): • Das Merkmal „krankhafte seelische Störung“ umfasst sowohl die schizophrenen und affektiven Psychosen als auch die hirnorganisch und körperlich verursachten Störungen sowie diejenigen psychopathologischen Störungen, die auf
die Einwirkungen psychotroper Substanzen zurückgehen. Hirnorganisch oder toxisch bedingte Bewusstseinseinschränkungen sind daher nach der Systematik des § 20 StGB als „krankhafte seelische Störung“ zu subsumieren. • Das Merkmal „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“ meint ausschließlich die nicht durch definierbare Krankheiten entstandenen Bewusstseinseinschränkungen wie Zustände von Übermüdung, Erschöpfung, Schlaftrunkenheit, Schreck, Zorn, Panik, Erregung oder Gefühlsabstumpfung in extremen Situationen (➤ Kap. 19). • Mit dem Merkmal „Schwachsinn“ sind die intellektuellen Minderbegabungen gemeint (➤ Kap. 20). • Das Merkmal „schwere andere seelische Abartigkeit“ bezieht sich auf „neurotische“ Störungen (➤ Kap. 18, ➤ Kap. 24, ➤ Kap. 32), Persönlichkeitsstörungen (➤ Kap. 21), sexuelle Deviationen (➤ Kap. 22) und Abhängigkeitserkrankungen (➤ Kap. 14, ➤ Kap. 15). Der sehr unglückliche Begriff „seelische Abartigkeit“ entspricht dabei keineswegs der Terminologie einer modernen Psychiatrie und ist geeignet, unschöne Assoziationen an obsolete Psychopathiebegriffe bis zu den Degenerationstheorien des 19. Jahrhunderts aufkommen zu lassen. Dieses terminologische Relikt verschleiert, dass hier Menschen gemeint sind, die sich in schweren seelischen Krisen, am Kulminationspunkt pathologischer seelischer Entwicklungen oder unter dem Druck des manchmal unabwendbaren Verhängnisses einer devianten Sexualität befinden, wobei dies nicht „Abarten“ oder „Spielarten menschlichen Seins“ sind, sondern Patienten, die zu ihrer Heilung psycho- und soziotherapeutischer Hilfe, mitunter auch somatischer Maßnahmen bedürfen. Es wäre daher besser, statt eines solchen diskriminierenden Begriffs von einer „schweren anderen seelischen Störung“ zu sprechen, womit auch ein systemlogischer Zusammenhang mit der ersten Merkmalskategorie hergestellt wäre.
Entsprechend der Systematik des Gesetzes hat der psychiatrische Sachverständige die von ihm gestellte Diagnose einer der genannten vier Merkmalskategorien zuzuordnen und in einem zweiten Schritt die konkreten Auswirkungen der psychischen Gestörtheit auf Einsichts- bzw. Handlungs- oder Steuerungsfähigkeit zu beurteilen, d. h. die Auswirkungen auf die kognitiven bzw. voluntativen Fähigkeiten des konkreten Menschen einzuschätzen. Hiermit beschreibt der psychiatrische Sachverständige die Voraussetzungen, aufgrund derer dann der Richter in einem eigenen Wertungs- und Würdigungsakt die normativen Schlüsse zieht. Keinesfalls darf sich der Sachverständige zu Formulierungen versteigen wie etwa: „Ich bescheinige erheblich verminderte Schuldfähigkeit“, was ein krasser Fehler und ein ebenso krasses Überschreiten der eigenen Kompetenz wäre. Die neue alte Diskussion um die Willensfreiheit In der 4. Auflage dieses Handbuchs wurde die Erörterung der Willensfreiheit im Rahmen der Erörterung der strafrechtlichen Begutachtung als eine „frühere Diskussion“ charakterisiert. Diese Diskussion ist nunmehr erneut zu führen, da einige neurobiologische Forscher Willensfreiheit und Steuerungsfähigkeit als „Illusion“ bezeichnen. Dies führt dazu, dass von diesen Forschern die Abschaffung des Schuldstrafrechts zugunsten eines reinen Maßnahmerechts gefordert wird (Übersicht bei Geyer 2004). Ausgangspunkt für die Argumente der Neurobiologen waren die früheren Experimente von Libet, wobei jedoch Konsens darüber herrscht, dass diese Experimente nicht für eine Infragestellung der Willensfreiheit taugen (Kröber 2007; Küchenhoff 2006). Dennoch ist es sinnvoll, die interdisziplinäre Diskussion zu diesen Fragen fortzuführen, da sie ein Beispiel für die Erörterung des Problembereichs Determinismus/Indeterminismus sind. Allerdings ist zu bedenken, dass diese Fragen keineswegs neu sind, sondern eine alte philosophische Diskussion wiederaufleben lassen. Insofern ist zu fragen, ob die neurobiologischen Argumente dazu taugen, die zu diesen Themen bislang formulierten psychiatrischen Standpunkte
zu widerlegen. An dieser Stelle können nur einige kursorische Argumente aus psychiatrischer Sicht zusammengefasst werden. Umfassende Übersichten zu diesem Fragenkomplex aus philosophischer, juristischer und psychiatrischer Perspektive finden sich u. a. bei Czerner (2006), Heinze et al. (2006), Hoff (2005), Kröber (2007), Küchenhoff (2006) und Reemtsma (2006). Auf ein grundsätzliches Problem der interdisziplinären Debatte macht Kröber (2007) aufmerksam mit seinem Hinweis, dass die Diskussion gelegentlich daran kranke, dass mit Begriffen unscharf umgegangen werde und dass Begrifflichkeiten häufig nicht ausreichend definiert seien. Insoweit ist prinzipiell zunächst einmal zu fragen, was unter einem „freien Willen“ verstanden werden soll. Häufig wird gemutmaßt, dass ein solcher freier Wille ein Wille sei, der absolut unabhängig, unbedingt und durch nichts festgelegt sei. Ein solcher abstrakt verstandener freier Wille, nicht verknüpft mit der Lebensgeschichte eines Menschen, dessen Erleben und Intentionen, wäre nicht als der Wille dieser konkreten Person anzusehen (Bieri 2001). Ein solcher, sozusagen abstrakter, Wille ist allerdings nicht vorstellbar. Ein entscheidend wichtiges Argument bei der Debatte muss immer wieder in Erinnerung gerufen werden: Es geht um verschiedene Beschreibungsebenen, um unterschiedliche Perspektiven, die nicht vermischt werden dürfen. Hoff (2005) sprach in diesem Zusammenhang davon, dass die von manchen Neurobiologen geforderte Ersetzung des Begriffssystems von Personen und Verantwortlichkeit durch ein neurobiologisches Bezugssystem lediglich ein „Sprachspiel“ durch ein anderes ersetze, wobei keineswegs zu folgern sei, dass ein neurobiologisches Bezugssystem eine höhere Validität besitze. In sehr pointierter und kritischer Weise charakterisiert Reemtsma (2006) die Debatte um die „Willensfreiheit“ als Scheinproblem mit dem Hinweis, dass die Neurobiologen ungenügende philosophische und historische Kenntnisse hätten. Von philosophischer Seite wird überzeugend ein kompatibilistischer Ansatz vertreten, wonach Willensfreiheit und eine deterministische Auffassung der Welt i. S. der Naturgesetze miteinander vereinbar seien (Pauen 2006). Welche Bedeutung haben Ü
nun diese hier nur orientierend skizzierten Überlegungen für die strafrechtliche Begutachtung? Im früheren § 51 Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) war nach Klärung der Frage, ob eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit vorliege, die Frage zu erörtern, ob bei der Tatausführung durch den Täter ein Ausschluss der „freien Willensbestimmung“ vorlag (Kröber 2007). Bei Stellungnahmen i. R. des früheren § 51 RStGB ging es nicht um den philosophischen Begriff der Willensfreiheit (Lammel 2001), sondern stets um die Frage menschlicher Entscheidungs- und Motivationsspielräume. Somit geht es ausdrücklich nicht um das letztlich metaphysische Problem der Willensfreiheit mit der Frage, ob der Mensch über einen freien Willen verfüge oder nicht, sondern nur um ein pragmatisches, sozial-vergleichendes Urteil im Kontext eines pragmatisch-sozialen Schuldbegriffs (➤ Kap. 8). Die vom psychiatrischen Sachverständigen geforderte Aussage zur Einsichtsoder Steuerungsfähigkeit kann daher nicht am Problem der Beurteilung der Willensfreiheit scheitern, da das Strafrecht nach seiner Struktur nicht vom Postulat einer absoluten Willensfreiheit und einer abstrakten „Wahlmöglichkeit zwischen Gut und Böse“ ausgeht, sondern von einem eingeschränkten, der Wirklichkeit entsprechenden pragmatischen Freiheitsbegriff. Das in diesem Zusammenhang angeführte Argument des „Anders-handelnKönnens“ wird nicht im Kontext eines abstrakten indeterministischen Freiheitsbegriffs gesehen, sondern damit ist gemeint, „dass ein durchschnittlich anderer in einer solchen äußeren und inneren Situation generell anders, d. h. normgemäß, hätte handeln können, dass ihm nach unserer Erfahrung Handlungsspielräume zur Verfügung standen“ (➤ Kap. 8). Die Aussage vom „Anders-handeln-Können“ spielt sich somit unterhalb der Beurteilung der Willensfreiheit ab. Dabei betrifft die De- oder Exkulpierung eines Straftäters nur den Sonderfall, bei dem aus psychopathologischen Gegebenheiten das Normwidrige des Verhaltens nicht erkennbar war oder bei dem die Fähigkeit eingeschränkt bzw. aufgehoben war, das Verhalten normgerecht zu steuern. Dabei ist das Kriterium für die Beurteilung der Schuldfähigkeit nicht die psychiatrische Diagnose, auch nicht die Ausrichtung an einem wie auch immer definierten psychiatrischen
Krankheitsbegriff, sondern entscheidend ist die psychopathologische Symptomatik mit ihren konkreten Auswirkungen auf das Verhalten des Täters. Zusammenfassend gibt die manchmal etwas aufgeregt geführte Debatte keinen Anlass, irgendeine Relevanz für die konkrete Sachverständigentätigkeit daraus abzuleiten. Dabei ist es interessant, dass die Vertreter der Neurobiologie (Übersicht bei Geyer 2004) im Rahmen dieser Diskussion bislang ausschließlich strafrechtliche Fragen erörtern, obwohl die Beurteilungsprobleme bei Akzeptanz oder Verneinung von „Willensfreiheit“ bei zivilrechtlichen Fragen oder sozialmedizinischen Problemen, bei denen es dezidiert um die Beurteilung der „Willensanspannung“ geht, keineswegs kleiner wären (Foerster 2006). Selbstverständlich sind Schuldfähigkeit, aufgehobene oder verminderte Schuldfähigkeit keine psychiatrischen Diagnosen, sondern juristische Konstrukte, auf deren Vorliegen oder Nichtvorliegen nur mittelbar geschlossen werden kann. Dabei ist die verminderte Schuldfähigkeit i. S. des § 21 StGB kein „Zwischending“ zwischen Schuldunfähigkeit und Schuldfähigkeit, sondern ein Unterfall der prinzipiell gegebenen Schuldfähigkeit (➤ Kap. 8). Die Bestimmungen der §§ 20/21 StGB können innerhalb einer gleitenden Skala von Einschränkungsmöglichkeiten der Selbstverfügung durch Krankheiten oder Störungen durch den Gesetzgeber gesetzte Markierungspunkte sein, Grenzen festzulegen, bei deren Erreichen bzw. Überschreiten sich die Rechtsfolgen einer Tat ändern. Dabei kann der Maßstab für eine forensisch-psychiatrische Einschränkung der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit weder aus einer kriminellen Lebensführung, aus einer Erhellung der Tatmotive oder aus der Annahme oder Vermutung eines „unbewussten Motivs“ abgeleitet werden. Auch die Schwere einer Tat als solche oder ein brutales Vorgehen des Täters können kein Gradmesser für eine Einschränkung der Selbstverfügung sein. Das Beurteilungsraster für den psychiatrischen Sachverständigen bleibt das psychopathologische Referenzsystem, wobei nochmals zu betonen ist, dass der Sachverständige aus psychiatrischer Sicht die Voraussetzungen benennt, die möglicherweise Rechtsfolgen nach
sich ziehen können. Eine endgültige Bewertung wird durch die hierzu befugten juristischen Auftraggeber vorgenommen, wobei dies auch nicht anders sein kann, da es sich beim Rechtssystem um ein System sui generis (Reemtsma 2006) handelt, das eigene Normen und Richtlinien entwickelt hat. Insoweit muss der psychiatrische Sachverständige auch die diesbezüglichen Vorgaben akzeptieren, darunter die Vorgabe, dass in die Beurteilung der Schuldfähigkeit neben den empirisch-wissenschaftlichen Aspekten stets auch normative Aspekte einfließen müssen.
1.3.2. Allgemeine Aspekte der zivilrechtlichen Begutachtung Auch bei der zivilrechtlichen Begutachtung geht der psychiatrische Sachverständige mehrstufig vor: Diagnosestellung, Zuordnung zu den jeweiligen zivilrechtlichen Begriffen, Benennung der Voraussetzungen zur Beantwortung der Rechtsfrage aus psychiatrischer Sicht. Dabei hat der psychiatrische Sachverständige zu beachten, dass die rechtlichen Begriffe in den verschiedenen zivilrechtlichen Bereichen unterschiedlich sind, unterschiedliche Bedeutungen haben und dass auch unterschiedliche Beweisregeln gelten (➤ Kap. 31). Das konkrete psychiatrische Vorgehen wird in ➤ Kap. 32 und ➤ Kap. 33 dargestellt. Im Gegensatz zum Strafrecht muss sich der psychiatrische Sachverständige bei einem Teil der zivilrechtlichen Begutachtungen, nämlich der Begutachtung der Geschäftsfähigkeit – und in Analogie auch bei der Begutachtung der Testierfähigkeit – mit der Problematik des „freien Willens“ auseinandersetzen, da dies in § 104 Ziff. 2 BGB gefordert wird. Damit würden sich prinzipiell die gleichen Probleme zur Frage der „Willensfreiheit“ stellen, wie sie oben skizziert wurden. Interessanterweise ist dies ein Aspekt, der bei den bisherigen Diskussionen kaum Erwähnung findet. Es wird nicht dargelegt, wie im Zivilrecht vorgegangen und wie hier die Handlungsfähigkeit bestimmt werden soll. Vermutlich ergeben sich auch keine Alternativen zum bisherigen pragmatischen Vorgehen
(Schreiber 2006). Bei der Begutachtung der Geschäfts-, Prozess- und Testierunfähigkeit ist es von erheblicher Bedeutung, dass die jeweiligen Voraussetzungen und Folgerungen bewiesen werden müssen. Umfangreiche Aufgaben für den psychiatrischen Sachverständigen ergeben sich im Bereich des Betreuungsrechts mit teilweise außerordentlich komplexen Fragestellungen (➤ Kap. 31, ➤ Kap. 32). Bei versicherungsrechtlichen Problemen, insbesondere bei Haftungsfragen zur Beurteilung von Schadensersatzansprüchen nach Unfällen, hat der Sachverständige zu berücksichtigen, dass diesbezüglich nach wie vor teilweise erhebliche Widersprüche zwischen juristischer und psychiatrischer Nomenklatur bestehen, was an dem aus psychiatrischer Sicht untauglichen Begriff der „Rentenneurose“ deutlich wird (➤ Kap. 31, ➤ Kap. 32, ➤ Kap. 33).
1.3.3. Allgemeine Aspekte der sozialrechtlichen Begutachtung Auch bei der sozialrechtlichen Begutachtung geht der psychiatrische Sachverständige mehrstufig vor: Diagnose, Zuordnung zu normativen Begriffen und Beantwortung der Beweisfragen. Hier hat der Sachverständige stets zu berücksichtigen, dass die anspruchsbegründenden Tatsachen nachgewiesen sein müssen. Dies gilt sowohl für den Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung als auch für das Vorliegen von krankheitsbedingten Beeinträchtigungen im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung (➤ Kap. 34, ➤ Kap. 35). Einen Grundsatz „in dubio pro aegroto“ wie fälschlicherweise manchmal angenommen wird, gibt es im Sozialrecht nicht. In verschiedenen sozialrechtlichen Bereichen existieren teilweise unterschiedliche Normierungen gleicher Begriffe, was zu Verwirrungen und Missverständnissen führen kann. Es ist allerdings vom psychiatrischen Sachverständigen zu verlangen, dass er diese Begriffe kennt und korrekt anwendet. Auch hier gilt, dass der psychiatrische Sachverständige die Voraussetzungen für die
rechtliche Entscheidung aus der Sicht seines Fachgebiets darlegt, d. h. konkrete Einschränkungen aufgrund psychischer Störungen oder Krankheiten benennt, aber keinesfalls die eigentliche Rechtsfrage entscheidet.
1.4. Die Stellung des psychiatrischen Sachverständigen Es gibt keine gesetzliche Definition des Sachverständigen. Jeder approbierte Arzt kann zum Sachverständigen bestellt werden. Sicher herrscht Einigkeit darüber, dass unter einem Sachverständigen derjenige zu verstehen ist, der sein Fachgebiet infolge seiner eigenen Kenntnisse, die er durch Ausbildung und Erfahrung erworben hat, beurteilen kann und somit befähigt ist, aufgrund dieser Fachkunde zu urteilen. Die Rolle des Sachverständigen gegenüber dem Auftraggeber wird am treffendsten als die des Beraters benannt. Gerade dieser Punkt mag ein Aspekt sein, warum diese Rolle manchem Arzt nicht behagt, da er vermeintlich nicht mehr „eigener Herr“ ist, sondern im Auftrag einer Institution tätig wird (Foerster 1992). Bei seiner Tätigkeit steht der psychiatrische Sachverständige stets in einem mehrfach determinierten Verantwortungsverhältnis (Foerster 2003). Er trägt Verantwortung: • gegenüber dem von ihm untersuchten Probanden, der häufig nicht nur Proband, sondern auch Patient ist, • für seine eigene fachliche Position als Vertreter seiner Wissenschaft und • gegenüber dem Auftraggeber und damit letztlich gegenüber der Gesellschaft. Voraussetzungen für die Tätigkeit von Sachverständigen Unmittelbar auf diese Verantwortung heben die Vorschriften über den Sachverständigeneid gem. § 79 StPO bzw. § 410 ZPO ab. Hiernach ist der Sachverständige verpflichtet, sein Gutachten
unparteiisch und nach bestem Wissen und Gewissen zu erstatten. Damit sind die Voraussetzungen, auch die ethischen Prinzipien, für die Tätigkeit von Sachverständigen formuliert (Foerster 2003): • Unparteiisch bedeutet Unabhängigkeit gegenüber den vielfältigen, häufig kontradiktorischen Erwartungshaltungen von Prozessbeteiligten. Es bedeutet auch Unabhängigkeit und Widerstand gegenüber dem Ansinnen, sich als psychiatrischer Sachverständiger funktionalisieren zu lassen, d. h. gegenüber dem Versuch, nichtpsychiatrische Probleme mithilfe des psychiatrischen Sachverständigen vermeintlich elegant lösen zu wollen. Derartige Gefahren, hinter denen letztlich ein Abschieben der Verantwortung durch den Auftraggeber steht, können sich vielfältig ergeben. Zur Unabhängigkeit und Unparteilichkeit zählt auch die Wahrung der Kompetenzgrenzen. Dem psychiatrischen Sachverständigen ist es in foro nicht möglich, allgemeine gesellschaftliche oder psychische Fragen zu lösen. Nicht für jedes sozial dysfunktionale oder destruktive Verhalten ist der psychiatrische Gutachter zuständig. • Die Forderung nach bestem Wissen verlangt einen kompetenten Sachverständigen. Folgende Anforderungen muss ein qualifizierter psychiatrischer Sachverständiger erfüllen (Foerster und Dreßing 2014): – Die gründliche Beherrschung des gesamten eigenen Fachs ist selbstverständlich. Insofern kann der forensische Psychiater vielleicht als der letzte psychiatrische „Generalist“ angesehen werden, der die Gesamtheit der diagnostischen und psychopathologischen Probleme beurteilen kann. Dabei sollte er auch in der Lage sein, offene fachliche Fragen als solche zu erkennen und zu benennen. Auch muss er sich in selbstkritischer Weise fragen, ob er möglicherweise eine Meinung vertritt, die von der Mehrzahl der Fachkollegen nicht geteilt wird. Es ist anzustreben, dass der psychiatrische Gutachter über die
Facharztanerkennung hinaus über die Schwerpunktbezeichnung „Forensische Psychiatrie“ verfügt. Psychiatrische Gutachten erfordern eine umfassende – i. d. R. auch körperliche Untersuchung –, sodass sie nicht alleinverantwortlich von Psychologen erstellt werden können. – Es ist zu verlangen, dass er Grundkenntnisse der Rechtsgebiete besitzt, deren Fragen er bearbeitet. Er sollte auch die aktuelle Diskussion im juristischen Schrifttum zur Kenntnis nehmen, soweit diese seine Tätigkeit betrifft. – Der psychiatrische Sachverständige muss die Fähigkeit besitzen, in einer integrativen Gesamtschau aus der Fülle der jeweils zu beurteilenden Tatsachen diejenigen Tatsachen herauszuarbeiten, die für die jeweilige juristische Fragestellung wesentlich sind. Ferner muss er dazu in der Lage sein, häufig komplizierte psychiatrische Sachverhalte und Schlussfolgerungen für den Auftraggeber verständlich darzustellen und an belegbaren Kriterien orientiert zu begründen. Auch komplizierte Sachverhalte können in einer klaren und unmissverständlichen Sprache dargelegt werden. – Schließlich muss der Sachverständige stets seine Kompetenz und vor allem die Grenzen seiner Kompetenz beachten. Er muss sich stets bewusst sein, dass nicht er eine Entscheidung trifft, sondern dass er mit seiner Tätigkeit die Voraussetzungen für die jeweilige juristische Entscheidung schafft. • Mit der dritten Forderung des Sachverständigeneides nach bestem Gewissen werden die persönliche Integrität und Vertrauenswürdigkeit des Sachverständigen angemahnt. Diese Vertrauenswürdigkeit des Sachverständigen gehört zum Fundament der Wahrheitsfindung und damit zum Fundament der Rechtssicherheit in unserer Gesellschaft. Der vertrauenswürdige Sachverständige ist nicht der vermeintlich in allen Fragen völlig objektive
Sachverständige, sondern es ist der Sachverständige, der weiß, dass er selbst als Person bei der psychiatrischen Begutachtung auch ein Untersuchungsinstrument ist, und der diese Tatsache reflektiert. Es ist vom psychiatrischen Sachverständigen zu verlangen, dass er den ethischen Rahmen seiner Tätigkeit bedenkt. Dieser lässt sich auf der Grundlage eines Vorschlags der American Academy of Psychiatry and the Law in fünf Punkten zusammenfassen (Foerster 2002b, 2003): 1. Der psychiatrische Sachverständige muss qualifiziert sein, wobei dies sowohl für seine fachliche als auch für seine persönliche Kompetenz und Qualifikation gilt. 2. Der psychiatrische Sachverständige muss vertrauenswürdig sein. Dies bedeutet, dass er seine eigene Position, seine Aufgaben und die Grenzen seiner Aufgaben stets berücksichtigt. Er darf keinen Gutachtenauftrag übernehmen, für den er fachlich nicht kompetent ist. 3. Der psychiatrische Sachverständige muss den Probanden über seine Aufgaben und über seine Stellung informieren. Hierzu gehören folgende Punkte (Nedopil 1999b): die Rolle des Gutachters, den Verfahrensgang der Begutachtung, die möglichen Konsequenzen der Begutachtung, das Fehlen von Schweigepflicht des Gutachters gegenüber den Auftraggebern, wobei die Schweigepflicht gegenüber Dritten (z. B. Angehörigen oder Medien) natürlich gegeben ist, das Verweigerungsrecht des Probanden bei der Begutachtung, die Grenzen gutachtlicher Kompetenz. Es muss dem Probanden aufgrund der Aufklärung ausdrücklich klar sein, welchem Zweck die Begutachtung dient. 4. Der psychiatrische Sachverständige darf, von wenigen methodisch bedingten Ausnahmen abgesehen (z. B. verstorbene Probanden), sein Gutachten nur aufgrund einer persönlichen Untersuchung erstatten.
5. Innerhalb des vorgegebenen rechtlichen Rahmens muss der psychiatrische Sachverständige Vertraulichkeit wahren. Das bedeutet, dass keine grundsätzliche Offenbarungspflicht bzgl. aller bekannt gewordenen Informationen aus der Privat- und Intimsphäre besteht (Wuermeling 1990). Mögliche Rollenkonflikte Der psychiatrische Sachverständige kann in mehrfache Rollenkonflikte geraten. Eine Überidentifikation mit dem Probanden kann die Gefahr mit sich bringen, dass sich der Gutachter in einer falsch verstandenen Helfer- und Therapeutenrolle sieht. Möglicherweise führt dies dazu, dass er leichtfertig und unbegründet eine De- oder Exkulpierung vorschlägt, das Vorliegen von Schadensersatzansprüchen oder die Voraussetzungen einer Rentengewährung bejaht. Der Sachverständige ist auch kein zusätzlicher Verteidiger, der den Probanden im Strafprozess „herauspaukt“, wie ein gängiges Vorurteil immer noch lautet. Bei einer Identifikation mit dem Ankläger bzw. einer negativen Gegenübertragung zum Probanden besteht die Gefahr, dass sich der Sachverständige in einer kriminalpolitischen Retterrolle sieht und sich zur Wiederherstellung von Recht und Ordnung berufen fühlt oder der Meinung ist, er müsse – aus seiner Sicht – unberechtigte Renten- oder Haftungsansprüche durch seine Expertise zurückweisen. Seine Aufgabe ist es immer, die psychiatrischen Befunde und Voraussetzungen darzulegen, nicht die Rechtsfrage zu entscheiden. Gefährlich ist es, wenn der Sachverständige glaubt, den Ausgang eines Verfahrens für oder gegen den Angeklagten bzw. eines Zivilrechtsstreits bestimmen zu müssen. Auch der Kontakt zum Probanden mag ambivalent sein (Nedopil und Müller 2012): Um seine Aufgaben einer fundierten Exploration erfüllen zu können, ist eine Beziehung zum Probanden unabdingbar, er muss diesbezüglich empathisch sein. Andererseits benötigt er Distanz, muss sich vom Probanden abgrenzen können und u. U.
auch ein gewisses Misstrauen haben dürfen. Dennoch darf dies nicht dazu führen, dass er zum kaltschnäuzigen Zyniker wird. Schließlich muss der Sachverständige in der Lage sein, ganz unterschiedliche Reaktionen von außen auf sein Handeln zu ertragen. Er muss auch Frustrationen aushalten können und zu emotionaler und intellektueller Anstrengung fähig sein (Foerster 2002b, 2003).
1.4.1. Vorschriften der §§ 244/245 StPO Gemäß § 244 Abs. 4 StPO kann ein weiterer Sachverständiger gehört werden, „wenn die Sachkunde des früheren Gutachters zweifelhaft ist, wenn sein Gutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, wenn das Gutachten Widersprüche enthält oder wenn der neue Sachverständige über Forschungsmittel verfügt, die denen eines früheren Gutachters überlegen erscheinen“. Zweifel an der Sachkunde des früheren Gutachters können entstehen, wenn er nicht auf der Höhe seiner Wissenschaft ist, wenn Qualifikationen fehlen, die gerade für die Beurteilung der Beweisfrage wichtig wären, wenn er sich mit abweichenden früheren Untersuchungsergebnissen nicht auseinandersetzt, wenn er seine Meinung wechselt, ohne dies begründen zu können, wenn er sich weigert, seine Untersuchungsmethoden offenzulegen und wenn er von wissenschaftlichen Kriterien abweicht, die in seinem Fach anerkannt sind oder die Billigung der Rechtsprechung gefunden haben (Ziegert 2000; Strafverteidiger 3/2000: 118; BGH-Beschl. v. 7.7.1999). Dabei ist jedoch zu bedenken, dass Widersprüche ein Gutachten nur dann infrage stellen, wenn sie sich nicht auflösen lassen. Nach Auffassung der Rechtsprechung gibt es für den Bereich der Psychiatrie keine überlegenen Forschungsmittel. Dies ist insoweit auch sicher richtig, wenn unter „Forschungsmittel“ das methodische Vorgehen des Sachverständigen verstanden wird. Wird der Begriff „Forschungsmittel“ in diesem Sinne interpretiert, so hat in der Tat kein psychiatrischer Sachverständiger eine andere „überlegene“ Methode. Insoweit ist es wohl kaum möglich, mithilfe dieser gesetzlichen Regelung einen zusätzlichen psychiatrischen
Sachverständigen zu beauftragen, da die persönlichen Kenntnisse und Erfahrungen des Gutachters mit dem Begriff des „überlegenen Forschungsmittels“ gerade nicht gemeint sind (Ulsenheimer 1996; Ziegert 2000). Somit haben die Auftraggeber stets die Verantwortung, einen kompetenten und qualifizierten Sachverständigen zu beauftragen. Über seinen Verteidiger kann der Angeklagte selbst einen Sachverständigen i. S. eines „präsenten Beweismittels“ laden (§ 20, § 245 Abs. 2 StPO). Ein von der Verteidigung geladener Sachverständiger hat im Justizalltag allerdings oftmals einen schweren Stand (Ulsenheimer 1996). Die meisten Sachverständigen sind daher selten oder gar nicht bereit, auf Ladung des Verteidigers im Gerichtssaal zu erscheinen, sodass diese Möglichkeit der Selbstladung wenig praktische Bedeutung hat (Ziegert 2000). Die von den Sachverständigen hierbei häufig geäußerten Bedenken sind aus revisionsrechtlicher Sicht jedoch unbegründet (Detter 1995). Kontroversen über die Bestellung des Sachverständigen können leicht vermieden werden, wenn Gericht und Staatsanwaltschaft der Verteidigung vor Auswahl eines Sachverständigen Gelegenheit zur Stellungnahme geben (Foerster 2008; Ulsenheimer 1996).
1.4.2. Privatgutachten Gutachtenaufträge an den psychiatrischen Sachverständigen kommen i. d. R. von Gerichten aller Rechtszweige, von Staatsanwaltschaften, Versicherungen, Krankenkassen, Gesundheitsämtern, Berufsgenossenschaften, Oberschulämtern, Ministerien, Kliniken und Justizvollzugsanstalten. Auftraggeber können aber auch Rechtsanwälte sein, die Organe der Rechtspflege sind. Unter Sachverständigen ist umstritten, ob solche Aufträge angenommen werden sollen oder nicht. Übernimmt der Sachverständige einen derartigen Auftrag, so ist er verpflichtet, sein Gutachten unparteiisch und nach bestem Wissen und Gewissen zu erstatten – wie in allen anderen Fällen auch. Die dennoch möglichen Schwierigkeiten bei der strafrechtlichen Begutachtung wurden von Nedopil (2007) benannt: Ein Verteidiger könnte das von ihm in
Auftrag gegebene Gutachten bei ungünstigem Ergebnis für den Mandanten zurückhalten, womit zu erwarten sei, dass von Verteidigerseite nur solche Gutachten ins Spiel gebracht werden, die den Erwartungen der Verteidigung entsprechen. Insofern könnte der Eindruck von Parteilichkeit entstehen. Ferner sei zu bedenken, dass bei einem Privatgutachten der Proband derjenige ist, der den Sachverständigen unmittelbar bezahlt. Zwar werden den Probanden bei Behördengutachten über die Verfahrenskosten auch die Kosten für die Begutachtung in Rechnung gestellt. Dennoch mag sich die Frage stellen, ob in Fällen eines Privatgutachtens finanzielle Implikationen eine Rolle spielen könnten. Auf eine diesbezüglich unproblematische Ausnahme ist jedoch zu verweisen, nämlich auf die Begutachtung der Fahreignung (➤ Kap. 40). Diese erfolgt formal und liquidationsmäßig stets im Auftrag des Probanden, wobei klar ist, dass die Begutachtung ohne die Aufforderung der Führerscheinstelle nicht zustande gekommen wäre. Es ist auch zu bedenken, dass ein Privatgutachten Korrektiv eines nicht ausreichend qualifizierten Gutachtens sein kann, das im Auftrag einer Institution erstattet wurde. Schließlich sind noch die Fälle zu bedenken, in denen Gerichte oder Staatsanwaltschaften prinzipiell keine Aufträge geben: bei Wiederaufnahme- oder Gnadenverfahren. Letztlich lassen sich für diese Fragen keine generellen Richtlinien aufstellen. Es sollte jedem psychiatrischen Sachverständigen selbst überlassen bleiben, wie er hiermit umgeht.
1.5. Medien und Öffentlichkeit Die Medien spielen im Hinblick auf das Wissen über Kriminalität und damit auch die Einstellung der Bevölkerung zur Kriminalität eine wesentliche Rolle. Die Bevölkerung bezieht ihr Wissen über das Kriminalitätsgeschehen nahezu ausschließlich aus den Medien (Kury 2000). Die Medien haben aber ein anderes Interesse als das einer exakten, präzisen und wissenschaftlich sauberen Information. Berichte werden danach ausgewählt, inwieweit sie auf Interesse bei den Käufern stoßen dürften, d. h., der Bericht muss gelesen bzw.
gesehen werden. Das Problem von Berichten über psychiatrische Gutachtertätigkeit oder über den Maßregelvollzug ist, dass sie häufig nicht differenziert genug sind, um die meist komplexen Zusammenhänge darstellen zu können. Insofern trägt Berichterstattung in den Medien selten zur Aufklärung und Information bei, sondern steigert möglicherweise eine unberechtigte Kriminalitätsfurcht in der Öffentlichkeit. Schon Kerner und Feltes (1980) fanden bei einer Analyse der Berichterstattung über Kriminalität in Tageszeitungen, dass sich 22 % der Berichte mit Straftaten gegen das Leben beschäftigen, während diese Straftaten innerhalb der polizeilichen Kriminalstatistik lediglich 0,08 % ausmachen. Bei einer Analyse Schweizer Zeitungen fanden Hoffmann-Richter und Dittmann (1998), dass weniger als 2 % der Artikel ohne negativen Anlass über die forensische Psychiatrie informierten. Die Situation hat sich leider in den letzten Jahren trotz Antistigmakampagnen nur wenig gebessert. Nach wie vor wird in den Medien bevorzugt das Bild des gefährlichen psychisch Kranken transportiert (Conrad von Heydendorff et al. 2016). Eine erhebliche Diskrepanz findet sich auch bei der Schilderung von sexuell motivierten Tötungen. Rüther (1998) hat in einer Analyse die Zahlen der Presseberichte den Zahlen der Taten gegenübergestellt: 1990 gab es 55 Sexualmorde mit 100 Berichten, und 1997 gab es 30 Sexualmorde mit 800 Berichten. Häufig werden von den Berichten in den Medien einfache Antworten und klare Entscheidungen auf schwierige Fragen erwartet, womit die immer notwendige Differenzierung und ausgewogene Darstellung häufig nicht vorgenommen werden. Nedopil (1999a) weist darauf hin, dass die psychiatrische Begutachtung ein Fenster sei, durch das die Öffentlichkeit die Psychiatrie allgemein betrachte, und sie tue dies mit Vorurteilen. Somit sei es auch eine Funktion der Gutachter, als Vermittler wissenschaftlicher Kenntnisse zu fungieren. Die Gutachter hätten somit auch bzgl. der Öffentlichkeit und der Medien eine wichtige Funktion wahrzunehmen: Sie sollten sich mit beiden Seiten, den wissenschaftlichen Erkenntnissen wie auch den Rezipienten dieser Erkenntnisse, auseinandersetzen.
Neben den Medien können auch Interessenverbände in der Öffentlichkeit eine Rolle spielen, die gelegentlich versuchen, auf behandelnde Ärzte oder Sachverständige Druck auszuüben. Als Beispiel seien Patienten mit sogenannten umweltbezogenen Körperbeschwerden (➤ Kap. 35) genannt, die meist in ein paratherapeutisches Milieu eingebunden sind und häufig von nahezu militanten Interessengruppen unterstützt werden, die sachlich argumentierende Wissenschaftler und Ärzte bis zur persönlichen Verunglimpfung attackieren können. Ähnliche Probleme können sich z. B. bei den Themen „Mobbing“ oder „Burnout“ ergeben. Der Sachverständige sollte im Umgang mit den Medien, mit der Öffentlichkeit wie auch mit möglicherweise problematischen Interessenverbänden sein eigenes Profil und seine Standfestigkeit bewahren (Nedopil 1999a).
1.6. Schlussbemerkung Der psychiatrische Sachverständige ist häufig in einem komplexen Feld unterschiedlicher Erwartungshaltungen tätig. Dieses komplexe Spannungsfeld erfordert einen ständigen Reflexionsprozess über die eigene Position als Gutachter wie auch über die prinzipiellen Möglichkeiten und Grenzen gutachtlichen Handelns (Foerster 2002b). Der Sachverständige ist aufgerufen, sich dieser grundsätzlichen Schwierigkeiten bewusst zu bleiben. Trotz dieser Schwierigkeiten muss vom psychiatrischen Sachverständigen verlangt werden, ein in seinen diagnostischen Feststellungen transparentes und in seinen Schlussfolgerungen nachvollziehbares und kriterienorientiertes Gutachten als wichtige Entscheidungshilfe rechtlicher Fragestellungen vorzulegen.
Literatur Bieri P (2001). Das Handwerk der Freiheit. München: Hanser. Burgemeister W (1999). Zur Gegenübertragung in der Begutachtungssituation. MedSach 95: 150–152. Conrad von Heydendorff S, Meyer-Lindenberg A, Dreßing H (2016). Stigmatization of mentally ill patients by media coverage of Germanwings disaster. Int J Soc Psychiatry 62:
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KAPITEL 2
Forensisch-psychiatrische Untersuchung Harald Dreßing und Klaus Foerster
2.1 Einleitung 2.2 Rahmenbedingungen der Untersuchung 2.2.1 Raum und Zeit 2.2.2 Aufklärung des Probanden 2.2.3 Anwesenheit dritter Personen 2.2.4 Aktenstudium 2.3 Das gutachtliche Gespräch 2.4 Zusätzliche Informationen 2.4.1 Frühere Behandlungsunterlagen 2.4.2 Fremdanamnestische Informationen 2.5 Der ausländische Proband 2.6 Psychischer Befund 2.6.1 Verhaltensbeobachtung 2.6.2 Psychische Funktionen 2.6.3 Persönlichkeitsdiagnostik 2.7 Weitere Untersuchungen 2.7.1 Körperliche Untersuchung 2.7.2 Apparative Untersuchungen 2.7.3 Testpsychologische Untersuchung
2.7.4 Aktuarische Prognoseinstrumente 2.8 Vom psychopathologischen Symptom zur psychiatrischen Diagnose 2.9 Psychiatrische Klassifikationssysteme 2.10 Simulation und ähnliche Phänomene 2.10.1 Definitionen 2.10.2 Feststellung vorgetäuschter Beschwerden 2.11 Besondere Untersuchungssituationen 2.11.1 Untersuchung gegen den Willen des Probanden? 2.11.2 Verweigerung der Untersuchung 2.11.3 Das Amnesieproblem 2.11.4 Der Umgang mit Leugnung oder Geständnis
2.1. Einleitung Die forensisch-psychiatrische Untersuchung bedeutet für den Sachverständigen wie für den Probanden eine gänzlich andere Situation als die psychiatrische Exploration in der Konstellation Arzt / Patient in der Praxis oder Klinik. Im Unterschied zur klinischen Untersuchung, bei der es ausschließlich um Diagnostik und Therapie geht, geht es bei der gutachtlichen Untersuchung zusätzlich darum, dass der Sachverständige zu einer Beantwortung der ihm gestellten Beweisfragen gelangt, was in einem überschaubaren zeitlichen Rahmen der Fall sein muss. Auch dies ist anders als bei einer klinischen Behandlung, bei der diagnostische und therapeutische Maßnahmen längerfristig durchgeführt werden können. Dabei ist die forensisch-psychiatrische Untersuchung durch eine Reihe äußerer Formalien und inhaltlicher Besonderheiten charakterisiert. Zusätzlich zu den Erkenntnismöglichkeiten, die der
Psychiater bei seiner klinischen Tätigkeit hat, besitzt er als Sachverständiger weitere Informationen, z. B. die Kenntnis von Akten, Vorakten und Zeugenaussagen. Kern der psychiatrischen Untersuchung ist das psychiatrische Gespräch (➤ Kap. 2.3), das durch standardisierte Untersuchungsverfahren und ggf. psychologische Testuntersuchungen ergänzt werden kann. Eine orientierende körperliche und neurologische Untersuchung ist i. d. R. Bestandteil der gutachtlichen psychiatrischen Untersuchung. Apparative Verfahren werden nur eingesetzt, wenn ihr Ergebnis für die gutachtliche Fragestellung relevant ist (➤ Kap. 2.7.2). Nach Erhalt des schriftlichen Gutachtenauftrags muss der Sachverständige prüfen, ob die Beweisfragen sein Fachgebiet betreffen, ob er in der Lage ist, sie zu beantworten, und ob er die Begutachtung in einem angemessenen zeitlichen Rahmen durchführen kann. Etwaige Unklarheiten bei den Beweisfragen sollten vorab mit dem Auftraggeber geklärt werden. Zusatzuntersuchungen müssen vom Auftraggeber genehmigt werden, sofern dies nicht bereits im Gutachtenauftrag formuliert ist.
2.2. Rahmenbedingungen der Untersuchung 2.2.1. Raum und Zeit Eine qualifizierte forensisch-psychiatrische Untersuchung kann nur durchgeführt werden, wenn hierfür ein ungestörter Raum und genügend Zeit zur Verfügung stehen. Ein ungestörter Raum ist nicht vorhanden, wenn der Sachverständige im Arztzimmer einer Klinik ständig durch das Telefon oder ein piepsendes Suchgerät gestört wird. Das Gleiche gilt für eine Ecke in einem größeren Besucherraum einer Justizvollzugsanstalt oder den Flur einer Maßregelvollzugsklinik. Der Zeitaufwand für eine psychiatrische Untersuchung schwankt je nach Fragestellung und zu beurteilender Psychopathologie in weiten Grenzen. Die Diagnose einer Demenz oder einer akuten schizophrenen Psychose ist bei deutlicher Ausprägung der
psychopathologischen Symptomatik meist sehr rasch zu stellen. Ein sehr hoher Zeitaufwand kann dagegen insbesondere bei folgenden Fragestellungen erforderlich werden: Ausführungen zur Kriminalprognose, Erhellung einer schwierigen Persönlichkeitspathologie, sexualpathologische Fragestellung, Beurteilung schwieriger Zusammenhangsfragen zwischen äußeren Ereignissen und nachfolgender psychopathologischer Symptomatik, Verdacht auf Simulation. Ein genereller Zeitraum für eine Untersuchung lässt sich nicht verbindlich angeben. Wenn jedoch z. B. bei einer schwierigen Persönlichkeitsdiagnostik der Zeitaufwand weniger als 2 Stunden beträgt, so ist ein qualifiziertes Gutachten kaum zu erwarten. Je nach Fragestellung kann es notwendig sein, die Untersuchung an mehreren Tagen durchzuführen. Prinzipiell ist davon auszugehen, dass die Gefahr potenzieller Fehleinschätzungen umso größer wird, je kürzer die Begutachtung dauert.
2.2.2. Aufklärung des Probanden Der Sachverständige sollte sich über die Identität des Probanden Gewissheit verschaffen, am besten durch Vorlage des Personalausweises oder Passes. Der Proband muss über den gutachtlichen Auftrag und die Beweisfragen informiert werden. Ihm muss klar sein, dass bezüglich dessen, was in der Untersuchungssituation besprochen wird, dem Auftraggeber gegenüber keine ärztliche Schweigepflicht besteht und der Gutachter ggf. über Inhalte des Explorationsgesprächs als Zeuge vernommen werden kann. Der Proband muss über den Untersuchungsablauf, die Aufgaben und die Funktion des psychiatrischen Sachverständigen informiert sein. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass das psychiatrische Gutachten eine Entscheidungshilfe für den Auftraggeber darstellt, dass aber der psychiatrische Sachverständige keinesfalls selbst die anstehende Rechtsentscheidung trifft. Er ist ausdrücklich darüber aufzuklären, dass er zu Angaben gegenüber dem psychiatrischen Sachverständigen und zur Mitarbeit bei der Untersuchung nicht
verpflichtet ist, d. h., der Proband muss über sein Schweigerecht informiert sein (Foerster und Dreßing 2014; Dreßing 2019).
Merke Dem schriftlichen Gutachten sollte ein Hinweis auf die erfolgte Belehrung und Aufklärung vorangestellt werden. Bei strafrechtlichen Fragen sollte der Sachverständige den Probanden darauf aufmerksam machen, dass es nicht zu den Aufgaben des Sachverständigen gehört, Feststellungen zur Tat zu treffen oder Beweise zu würdigen. Es ist auch nicht seine Aufgabe, das Gericht bei der Strafzumessung zu beraten. Probleme bei der Aufklärung und Belehrung des Probanden können sich ergeben, wenn dieser akut psychisch erkrankt ist, etwa wenn er sich in einem akuten psychotischen Zustand befindet. Es kann sich dann für den Sachverständigen die Frage stellen, ob eine Untersuchung überhaupt sinnvoll durchgeführt werden darf, da der Proband über seine Rechte, vor allem über sein Schweigerecht gar nicht korrekt informiert werden kann. Berücksichtigt man hier die Definition der Vernehmungsfähigkeit (➤ Kap. 25.2), wonach dies die Fähigkeit bedeutet, Fragen in ihrem Sinngehalt aufzunehmen und in freier Willensentschließung und Willensbestätigung Antworten und Erklärungen in verständlicher Form abzugeben, kann diese Fähigkeit bei akuter psychopathologischer Symptomatik aufgehoben sein. In solchen sicher seltenen Fällen sollte bzgl. des weiteren Vorgehens zunächst Rücksprache mit dem Auftraggeber und dem Rechtsvertreter des Probanden gehalten werden.
2.2.3. Anwesenheit dritter Personen Das klinische und therapeutische Gespräch findet in einer ungestörten Zweiersituation statt. Es gibt keinen Grund, warum dies im gutachtlichen Gespräch anders sein sollte. Grundsätzlich ist die Anwesenheit dritter Personen während der Exploration und der
Untersuchung kontraproduktiv und kann den Aufbau einer Beziehung zwischen Proband und Gutachter stören (Hausotter 2007). Dabei ist auch zu bedenken, dass die Mitteilungen des Probanden bei Anwesenheit von Angehörigen (Partner, Eltern, Kinder) verfälscht sein können, sodass diese Personen während des gutachtlichen Gesprächs nicht anwesend sein sollten. Selbstverständlich kann vor oder nach der Exploration mit den Angehörigen gesprochen werden, falls dies der Wunsch des Probanden und der Angehörigen ist. Eine Anwesenheit von Angehörigen ist bei der Glaubhaftigkeitsbegutachtung nicht möglich (➤ Kap. 43). Gelegentlich wird der Wunsch nach Anwesenheit von Verteidigern, Prozessvertretern in Zivilverfahren oder juristischen Beiständen geäußert, dies auch im Rahmen der sozialmedizinischen Begutachtung (Claas 2007; Roller 2007). Hierbei gelingt es meist jedoch, durch eine ausführliche Information über den Ablauf der Untersuchung den Wunsch nach Anwesenheit dieser Personen abzubauen. Hilfreich dabei ist das Angebot eines Dreiergesprächs vor und nach der Begutachtung. Beharrt der Proband bzw. sein Rechtsvertreter auf dessen Anwesenheit, so ist es eine Frage des persönlichen Stils des Sachverständigen, ob er damit einverstanden ist. Falls er zustimmt, ist jedoch vorab eindeutig abzustimmen, dass die Rechtsvertreter bzw. Beistände zuhören, aber keinesfalls in das Gespräch eingreifen. Eine eindeutige Rechtslage im Sinne einer gefestigten oder gar höchstrichterlichen Rechtsprechung, dass ein psychologisch oder auch medizinisch zu Begutachtender eine Begleitung durch einen Beistand oder eine Tonaufzeichnung beanspruchen könne, existiert bisher nicht (OLG Hamm, Beschl. v. 3.2.2015–14 UF 135 / 14). In zwei obergerichtlichen Entscheidungen (OLG Zweibrücken FamRZ 2000, 1441; LSG Rheinland-Pfalz NJW 2006, 1547) wurde ein Anspruch auf Anwesenheit einer Begleitperson allerdings anerkannt. Bei Schuldfähigkeits- und Prognosegutachten gibt es kein Recht auf die Anwesenheit Dritter. Das Recht des Beschuldigten, sich in jeder Lage des Verfahrens anwaltlicher Hilfe zu bedienen, führt nicht zu einem Anwesenheitsrecht des Verteidigers bei der Exploration
(BGH 3 StR 239 / 02). Auch bei der personalärztlichen Untersuchung zur Frage der Dienstfähigkeit besteht kein Anwesenheitsrecht Dritter (Hamburgisches OVG, 1 Bs 102 / 06). Sofern der Proband einen Betreuer mit dem Aufgabenkreis Gesundheitsfürsorge hat, der bei der gutachtlichen Untersuchung anwesend sein möchte, ist diese Frage im Einzelfall i. d. R. im gemeinsamen Dreiergespräch zu klären. Sehr selten bitten Probanden um eine Bandaufnahme des Untersuchungsgesprächs. Ihr Wunsch sollte unter Einschaltung des Auftraggebers und unter Berücksichtigung des persönlichen Stils des Sachverständigen geklärt werden. Eine generelle Ablehnung ist ebenso wenig sachgerecht wie eine generelle Forderung nach einem solchen Vorgehen. Eine spezielle Konstellation ergibt sich allerdings bei der Begutachtung der Glaubhaftigkeit, die in ➤ Kap. 43 im Einzelnen geschildert wird.
2.2.4. Aktenstudium Die Kenntnis der Akten ist für den psychiatrischen Sachverständigen unbedingt erforderlich. Die gelegentlich zu hörende juristische Meinung, der psychiatrische Sachverständige möge sein Gutachten ausschließlich aufgrund der persönlichen Untersuchung und ohne Kenntnis der Akten erstatten, ist nicht korrekt. Auch die von einigen Gerichten ausdrücklich formulierte Forderung, der Gutachter solle auf das Zitieren von Vorbefunden und Vorgutachten verzichten, sollte nicht unwidersprochen bleiben. Das Zitieren relevanter Anknüpfungsbefunde in einem Gutachten ist notwendig, weil nicht davon ausgegangen werden kann, dass dem späteren Leser des Gutachtens die komplette Aktenlage zugänglich ist. Die Forderung einiger Gerichte, auf die Darstellung eines Aktenauszugs zu verzichten, dürfte dem Problem geschuldet ein, dass einige Gutachter durch überlange Aktenauszüge den Umfang des Gutachtens aufblähen und die Kosten dadurch in die Höhe treiben. Natürlich sollten in der Darstellung der Vorgeschichte anhand der Akten nur Anknüpfungsbefunde zitiert werden, die der Gutachter selbst auch verwertet. Diese Darstellung ist jedoch unverzichtbar,
und dies sollte mit dem auftraggebenden Gericht auch vorab geklärt werden, wenn im Gutachtenauftrag anderslautende Forderungen gestellt werden. Bei vernünftiger Erklärung, warum ein Aktenauszug notwendig ist, kann mit den Gerichten i. d. R. diesbezüglich auch immer eine einvernehmliche Lösung gefunden werden. Der Sachverständige benötigt bei jeder Begutachtung, sei es im straf-, zivil- oder sozialrechtlichen Bereich, stets die kompletten Akten. Bei Prognosegutachten ist es darüber hinaus unabdingbar erforderlich, sämtliche vorhandenen Vorakten beizuziehen (➤ Kap. 30). Ob der Sachverständige bereits vor dem ersten Gespräch die Akten detailliert liest oder sich zunächst einen orientierenden Überblick verschafft, ist eine Frage des persönlichen Stils. Vor Abschluss der Exploration muss der Sachverständige die Akten allerdings vollständig durchgearbeitet haben.
2.3. Das gutachtliche Gespräch Von Ausnahmen abgesehen, kommt der Proband nicht auf eigenen Wunsch zur psychiatrischen Begutachtung. Häufig weiß er entweder gar nicht oder nicht genau, wie die Untersuchung durchgeführt wird. In vielen Fällen sind dem Probanden auch die Fragestellungen nicht bekannt. Manchmal besteht ein vages Unbehagen bis hin zu ausgesprochener Angst vor der Untersuchung. Dem Untersucher gegenüber ist der Proband möglicherweise voreingenommen oder sogar misstrauisch. Falls der Proband bereits begutachtet wurde, besitzt er Vorerfahrungen oder Vorinformationen. Aus all diesen Gründen sollte der Sachverständige beim ersten Gesprächstermin immer bestrebt sein, eine Atmosphäre zu schaffen, die es dem Probanden erlaubt, sich dem ihm unbekannten Untersucher gegenüber ohne Ängste und Misstrauen zu öffnen. Im Rahmen eines Vorgesprächs ist der Proband zunächst über die Fragestellung, den Ablauf sowie die Position und Stellung des Gutachters zu informieren. Viele Probanden haben entweder gar keine oder nur eine sehr unklare Vorstellung von der Rolle des psychiatrischen Sachverständigen.
Merke In diesem Vorgespräch muss dem Probanden deutlich gemacht werden, dass der Sachverständige sein Gutachten unparteiisch, nach bestem Wissen und Gewissen erstattet (§ 79 StPO, § 410 ZPO). Gelegentlich sind sich Probanden unsicher, ob sie an der Begutachtung mitwirken sollen. In diesen Fällen empfiehlt es sich, nach dem Vorgespräch eine zeitliche Zäsur vorzunehmen und dem Probanden Gelegenheit zur Überlegung bzw. zur Rücksprache mit seinem Rechtsvertreter zu geben. Gestaltung der Untersuchungssituation: • Als Erstes ist der Proband über die Untersuchungssituation, die gutachtlichen Fragestellungen und seine Rechte zu informieren. Dabei sollte der Proband insbesondere auf sein Recht zu schweigen sowie auf den Umstand hingewiesen werden, dass der Gutachter ggf. auch über die Inhalte der Exploration als Zeuge vor Gericht vernommen werden kann und dabei nicht der ärztlichen Schweigepflicht unterliegt. • Als Einstieg in das Untersuchungsgespräch empfiehlt sich zunächst eine unstrukturierte Gesprächsführung, etwa über die aktuelle Befindlichkeit des Probanden, oder die Erörterung der konkreten derzeitigen Lebenssituation. Dieser erste Gesprächsabschnitt sollte es dem Probanden ermöglichen, diejenigen Punkte anzusprechen, die ihn akut beschäftigen, bedrücken oder die aus seiner Sicht die wesentlichen Aspekte sind. Ein solches Vorgehen fördert das Entstehen einer entspannten, angstfreien Atmosphäre. Im gutachtlichen Gespräch ist allerdings nicht mit einer ähnlichen initialen Spontaneität des Probanden zu rechnen wie in einem ärztlichen Beratungs- oder Therapiegespräch. Daher kann sich der Untersucher auch in dieser Gesprächsphase oft nicht nur rezeptiv verhalten, sondern ist
gefordert, die beim Probanden, der sich möglicherweise zum ersten Mal in seinem Leben in einer derartigen Gesprächssituation befindet, häufig bestehenden Hemmungen behutsam zu verringern. Voraussetzungen sind hier immer Offenheit, Ehrlichkeit und transparentes Vorgehen aufseiten des Sachverständigen. • Manche Probanden möchten bereits in dieser ersten Phase des Gesprächs über den Tatvorwurf bzw. – bei sozialmedizinischen Begutachtungen – über ihre Beschwerden oder Erkrankungen sprechen. Ist dies der Fall, sollte der Sachverständige die Exploration flexibel handhaben. Der Spontaneität der Darstellung des Probanden ist der Vorzug vor einer rigiden Strukturierung durch den Untersuchenden zu geben. • Auch die biografischen Daten und der Lebenslauf sollten spontan berichtet werden, falls der Proband hierzu in der Lage und auch willens ist. Eine solche spontane Darstellung wird jedoch häufig den Anforderungen an die gutachtliche Klärung nicht genügen, sodass der Sachverständige hier i. d. R. detailliert explorieren muss. Folgende Punkte sind zu berücksichtigen, wobei dies nicht schematisch geschieht, sondern sich aus dem Gesprächsverlauf entwickelt: – Familienanamnese mit psychosozialer Situation der Familie, Geschwisterzahl, Familienatmosphäre und ggf. familiäre Belastung mit psychischen und somatischen Erkrankungen – Schwangerschafts- und Geburtsumstände – Frühkindliche Entwicklung – Vorschulische und schulische Entwicklung – Pubertät und frühes Erwachsenenalter – Sexualanamnese – Berufliche Entwicklung – Partnerschaften, Ehe, Familie, Kinder – Biografische Konfliktsituationen – Ggf. Vorstrafen – Sozioökonomische Verhältnisse
– Frühere psychische und körperliche Erkrankungen – Aktuelle Erkrankungen bzw. Störungen – Konsum psychotroper Substanzen – Freizeitgestaltung – Tagesablauf – Selbsteinschätzung – Die vorstehende Liste ist je nach Fragestellung zu variieren. So ist z. B. eine detaillierte Sexualanamnese bei Sexualdelinquenz oder bei der Beurteilung von Folgen sexuell belastender Erlebnisse erforderlich. Dabei sollte über die Aufzählung äußerer objektiver Daten hinaus auch das innere Erleben des Probanden in seinen jeweiligen Lebenssituationen erfasst werden. • An die Erhebung der biografischen Anamnese schließt sich die ausführliche Diskussion der konkreten gutachtlichen Fragen an. Ist der Proband bei der strafrechtlichen Begutachtung bereit, Angaben zu der ihm vorgeworfenen Tat zu machen, so ist diese Erörterung der Kernbereich der gutachtlichen Untersuchung, wobei es neben der Exploration der äußeren Tatabläufe stets um die Schilderung der konkreten psychischen, emotionalen und affektiven Befindlichkeit des Probanden geht. Bei unklaren Tatabläufen ist es keinesfalls Aufgabe des psychiatrischen Sachverständigen, hierzu Feststellungen zu treffen oder sich als „Ermittlungsbeamter“ zu betätigen. Widersprüche zwischen den Angaben des Probanden, der Aktenlage und den Feststellungen des Sachverständigen sind zu benennen und in ihrer Wertigkeit für die forensisch-psychiatrische Schlussfolgerung zu erörtern, ohne jedoch den Primat der richterlichen Beweiswürdigung zu berühren. Die gutachtliche Untersuchung ist keine Vernehmung. Die Intentionen des psychiatrischen Sachverständigen sind anders gelagert als die der polizeilichen Vernehmung: Dem Sachverständigen geht es vorrangig um die Erfassung der psychischen, ggf. psychopathologischen, Symptomatik und der emotionalen Befindlichkeit des Täters.
• Bei der sozialmedizinischen Begutachtung ist der Kern der Untersuchung i. d. R. die Schilderung der psychischen und körperlich-funktionellen Symptomatik des Probanden. Diese Schilderung sollte der psychiatrische Sachverständige entgegennehmen, ohne hierzu eine Stellungnahme abzugeben. • Zum Schluss der Untersuchung hat es sich bewährt, den Probanden ausdrücklich zu fragen, ob aus seiner Sicht weitere Gesichtspunkte erörtert werden sollten oder ob alles ihm Wichtige und Wesentliche angesprochen wurde. Ein entsprechender Hinweis geht in das schriftliche Gutachten ein. Gelegentlich wünschen die Probanden nach Abschluss der Untersuchung Auskunft darüber, in welcher Weise der Sachverständige sich äußern wird. Eine generelle Richtlinie lässt sich hierfür nicht nennen. Falls der Sachverständige bereit ist, seine diagnostischen Einschätzungen und Schlussfolgerungen zu erörtern, so sollte er dies stets mit dem ausdrücklichen Hinweis auf die alleinige Entscheidungskompetenz des Auftraggebers verbinden. Eine Rechtsberatung ist nicht Sache des Sachverständigen. • Bei der Entscheidung darüber, ob der Sachverständige das Gutachtenergebnis mit dem Probanden bespricht, können folgende Aspekte bedacht werden: Zum einen kann natürlich argumentiert werden, dass der Proband durchaus einen – ethischen, nicht rechtlichen – Anspruch haben kann, das Gutachtenergebnis, das für ihn erhebliche Bedeutung hat, mit dem Sachverständigen zu besprechen. Bei Gutachten zur Schuldfähigkeit oder zur Prognose kann die Mitteilung des Gutachtenergebnisses durchaus diagnostische Relevanz haben, wenn der Proband mit einem anderen Ergebnis gerechnet hatte und als Reaktion bis dahin möglicherweise verborgene impulsive Züge zum Ausdruck kommen. Generelle und verbindliche Richtlinien lassen sich für diese Entscheidung jedoch nicht angeben.
Prinzipiell muss der Sachverständige berücksichtigen, dass sich bei der psychiatrischen Untersuchung immer eine Beziehung zwischen Proband und Sachverständigem konstelliert, wobei dieser Interaktion zwischen Proband und Sachverständigem durchaus Bedeutung zukommen kann. Auch der Sachverständige reagiert bei der Untersuchung emotional, genauso wie der Arzt in der ArztPatient-Beziehung affektiv reagiert. Eine Forderung nach emotionaler Abstinenz des psychiatrischen Sachverständigen ist unrealistisch.
Merke Statt emotionaler Abstinenz ist ganz im Gegenteil zu fordern, dass sich der Sachverständige seiner gefühlsmäßigen Stellungnahme und seiner emotionalen Reaktion bewusst wird und diese reflektiert, um der Gefahr zu begegnen, dass seine emotionale Reaktion unreflektiert in das Gutachtenergebnis einfließt (Creutz 1993; Foerster 1996, 2004). Dabei kann die Grundhaltung des psychiatrischen Sachverständigen als „illusionslose Empathie“ (Feuerlein 1998) charakterisiert werden.
2.4. Zusätzliche Informationen 2.4.1. Frühere Behandlungsunterlagen Bei der Begutachtung zu berücksichtigen sind Berichte über frühere psychiatrische, psychotherapeutische, psychosomatische stationäre oder ambulante Therapien. Voraussetzung ist selbstverständlich, dass der Proband mit der Beiziehung dieser Unterlagen einverstanden ist und die früher behandelnden Ärzte schriftlich von ihrer Schweigepflicht gegenüber dem Gutachter entbindet. Die Beiziehung solcher Unterlagen ist auch dann sinnvoll, wenn
derartige Behandlungen längere Zeit zurückliegen, da auf diese Weise eine Längsschnittbetrachtung des Krankheits- bzw. des Lebensverlaufs des Probanden erleichtert wird. Ist der Proband bereits begutachtet worden, so sind diese Gutachten unbedingt beizuziehen. Hilfreich kann auch die Beiziehung der Krankenversicherungsdaten sein, wenn es darum geht festzustellen, ob es vor einem in Rede stehenden Ereignis schon psychische Vorerkrankungen oder Behandlungen gab (Dreßing und Foerster 2014a, b). Bei sozialmedizinischen Begutachtungen zur Dienstfähigkeit kann auch die Kenntnis der Personalakten des Probanden sinnvoll sein (Creutz 1993).
2.4.2. Fremdanamnestische Informationen Ist der psychiatrische Sachverständige der Meinung, dass er zusätzliche Informationen benötigt, etwa von Angehörigen, Bekannten oder anderen Personen aus dem Umfeld des Probanden, so hat er dies mit dem Auftraggeber abzustimmen. Keinesfalls darf der psychiatrische Sachverständige Angehörige oder andere Personen eigenmächtig explorieren, da dies eine ihm nicht zustehende selbstständige Ermittlungstätigkeit wäre. Im Strafverfahren haben Angehörige ein Zeugnisverweigerungsrecht. Hierüber müssen sie aufgeklärt werden, was durch den Sachverständigen prinzipiell nicht möglich ist. Dieses Problem kann dadurch gelöst werden, dass Angehörige, die ein Zeugnisverweigerungsrecht besitzen, vor einer Exploration durch den Sachverständigen richterlich belehrt werden. Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass der psychiatrische Sachverständige anregt, diejenigen Bezugspersonen, die aus seiner Sicht relevante Informationen beitragen können, als Zeugen in die Hauptverhandlung zu laden. Bei der sozialrechtlichen Begutachtung haben Angehörige ebenfalls ein Zeugnisverweigerungsrecht, worauf sie hinzuweisen sind. Auch bei Einverständnis des Probanden empfiehlt es sich, die Genehmigung des Gerichts zur Befragung von Angehörigen einzuholen.
2.5. Der ausländische Proband Der psychiatrische Sachverständige hat häufig ausländische Probanden zu begutachten, sei es im Strafverfahren oder auch bei der sozialmedizinischen Begutachtung. Dabei umfasst der Begriff „ausländischer Proband“ eine sehr heterogene Gruppe, sodass bei der Begutachtung unterschiedliche Probleme auftreten können. Die erste Frage ist natürlich, ob der Proband der deutschen Sprache so weit mächtig ist, dass eine qualifizierte Exploration möglich ist. Ist dies nicht der Fall, wäre es ideal, wenn die Begutachtung durch einen die Muttersprache des Probanden sprechenden Sachverständigen durchgeführt werden könnte. Dies ist jedoch nur in den seltensten Fällen möglich, sodass die Untersuchung mithilfe eines Dolmetschers erfolgen muss, wodurch bereits die Untersuchungssituation durch die Anwesenheit eines Dritten verändert wird. Dabei ist vorab zu klären, ob der Proband mit dem in Aussicht genommenen Dolmetscher einverstanden ist. Gelegentlich gibt es hier Vorbehalte. In diesem Fall müssen diese vor der Exploration geklärt werden. Ebenfalls geklärt werden muss, ob der Dolmetscher auch tatsächlich die Sprache bzw. den speziellen Dialekt des Probanden spricht, da sich hier andernfalls unliebsame Überraschungen ergeben können. Bei der Untersuchung weiblicher Probanden ist zu klären, ob Vorbehalte gegenüber einem männlichen Dolmetscher bestehen bzw. ob es günstiger ist, wenn eine Frau dolmetscht. Aus der Sicht erfahrener Dolmetscher wird die Beachtung folgender Punkte empfohlen (Bischoff und Loutan 2000): • Vorbereitung des Untersuchungsgesprächs mit dem Dolmetscher • Direktes Ansprechen des Probanden • Verwendung von einfachen, für den Probanden verständlichen Formulierungen • Genügend Zeit und Geduld des Untersuchers • Ggf. Nachbesprechung mit dem Dolmetscher
Unter Berücksichtigung dieser Aspekte, die auch der eigenen Erfahrung entsprechen, ergibt sich unmittelbar, dass die Untersuchung mithilfe eines Dolmetschers einen erheblich höheren Zeitaufwand bedeutet. Gerade die Vorbereitung des Gesprächs ist wichtig, weil in diesem Vorbereitungsgespräch der Dolmetscher unbedingt dazu anzuhalten ist, sowohl die Fragen des Untersuchers als auch die Antworten des Probanden wörtlich zu übersetzen. Ist dies nicht der Fall, kann es Probleme z. B. bei der Erfassung formaler Denkstörungen geben, wenn es um die subtile Beurteilung von Satzbau und Wortwahl geht. Manche Dolmetscher neigen dazu, die von ihnen als defizitär erlebte Antwort des Probanden zu glätten und die möglicherweise vorhandenen psychopathologisch bedingten logischen Inkonsistenzen zu beseitigen (Kröber 2005a). Sowohl der Proband als auch der Dolmetscher sind vorab darauf hinzuweisen, dass der Dolmetscher ausschließlich die Aufgabe der Übersetzung hat und dass es ihm nicht zusteht, eigene Einschätzungen oder Bewertungen vorzunehmen. Falls der Proband dazu neigt, das Gespräch mit dem Dolmetscher und nicht mit dem psychiatrischen Sachverständigen zu führen, ist dies zunächst zu registrieren. Es sollte jedoch vermieden werden. Daher empfiehlt es sich, immer den Probanden direkt anzusprechen, so als ob man die gleiche Sprache spräche. Ganz ungünstig ist es, wenn sich der Untersucher mit seinen Fragen an den Dolmetscher wendet („Fragen Sie ihn, ob …“). Außer der Sprachproblematik können weitere Aspekte wichtig sein (Kröber 2005a): • Kommt der Proband aus einem vergleichbaren kulturellen Kontext, oder hat er einen völlig andersartigen soziokulturellen Hintergrund? Kenntnisse über andere kulturelle Hintergründe hat der psychiatrische Sachverständige i. d. R. nicht, sodass er auf diesbezügliche Fragen auch keine fachkundige Auskunft geben kann. • Lebt der Proband schon längere Zeit in Deutschland oder erst seit sehr kurzer Zeit?
• Besteht eine Integration in deutsche Sozialstrukturen, oder lebt der Proband in einem seiner Herkunft entsprechenden kulturellen Umfeld? Diese Informationen sind für die Darstellung der biografischen Entwicklung eines Probanden sehr wesentlich, zumal dann, wenn der Proband in Deutschland in einer andersartig geprägten „Parallelgesellschaft“ lebt. Vor allem bei der sozialmedizinischen Beurteilung können sich hier erhebliche Probleme ergeben, wenn nichtdeutsche religiöse und kulturelle Muster den Alltag der Probanden bestimmen (Waltner 2006). Trotz der genannten Schwierigkeiten ist es i. d. R. mithilfe eines Dolmetschers möglich, gravierende psychische Störungen sicher festzustellen bzw. auszuschließen, also etwa eine schizophrene Psychose, eine affektive Psychose oder ein demenzielles Syndrom. Sehr schwierig kann es bei der Beurteilung von strukturellen Auffälligkeiten in der Persönlichkeit werden, weil sich die Symptome von Persönlichkeitsstörungen auch im Sozialverhalten zeigen. Hier sollte Wissen darüber vorhanden sein, welche Verhaltensweisen in dem kulturellen Kontext, dem der Proband entstammt, noch akzeptiert sind, welche nicht und welche als auffällig gelten (Kröber 2005a). Möglicherweise müssen hier Fragen offenbleiben, wobei der Sachverständige ggf. auf vorhandene diagnostische Unsicherheiten hinweisen muss.
2.6. Psychischer Befund Die Erhebung des psychischen bzw. psychopathologischen Befunds ist das Kernstück der psychiatrischen Begutachtung. Ein Gutachten, in dem ein eigenständiger Abschnitt „Psychischer Befund“ fehlt, ist unbrauchbar. Der psychische Befund beschreibt das Querschnittsbild der seelischen Verfassung des Probanden zum Untersuchungszeitpunkt: das Verhalten des Probanden, das der Sachverständige beobachtet, und das Erleben, von dem der Proband berichtet. Damit sind die beiden Dimensionen der Befunderhebung benannt: die Beobachtung
des Verhaltens und der Aussagen des Probanden durch den Untersucher sowie die subjektive Schilderung eigenen Erlebens durch den Probanden. Die Aufgabe des Untersuchers ist es, die Fremd- und Selbstbeurteilung miteinander in Beziehung zu setzen, Übereinstimmungen zu schildern bzw. Widersprüche zu erwähnen und zu diskutieren. Dabei hat der Sachverständige streng darauf zu achten, dass der von ihm geschilderte Befund tatsächlich sein Befund ist und dass es nicht zu einer Vermischung von anamnestischen Angaben mit der Einschätzung des Sachverständigen kommt – bedauerlicherweise ein immer noch sehr häufig vorkommender Fehler (➤ Kap. 6). Selbstverständlich genügt allein die Beschwerdeschilderung eines Probanden niemals, um hieraus eine Diagnose abzuleiten, sondern entscheidend ist der vom Sachverständigen erhobene Befund (Stevens und Foerster 2000). Ein prinzipielles, allerdings nicht ausräumbares methodisches Problem darf nicht außer Acht gelassen werden: Bei der Erhebung des psychischen Befunds handelt es sich um den Befund zum Untersuchungszeitpunkt. Bei der Begutachtung geht es jedoch häufig nicht um den Untersuchungszeitpunkt – abgesehen von der Einschätzung akuter Fremd- und Selbstgefährlichkeit bei der Beurteilung der Unterbringungsbedürftigkeit (➤ Kap. 45) – , sondern um die retrospektive Beurteilung eines psychischen Zustands zu einem zurückliegenden Zeitpunkt (z. B. Beurteilung von Schuldfähigkeit oder Geschäftsfähigkeit) oder um die Beurteilung eines zukünftig zu erwartenden Zustands (z. B. Begutachtung der Prognose oder der Betreuungsbedürftigkeit).
Merke Hieraus folgt, dass sich die psychiatrische Begutachtung in all diesen Fällen nicht allein auf den zum Untersuchungszeitpunkt erhobenen Befund beziehen kann, sondern der zum Untersuchungszeitpunkt erhobene Befund muss in einer retrospektiven bzw. prospektiven Analyse
auf den mutmaßlichen Befund des rechtsrelevanten Zeitpunkts bezogen werden. Geht es um die Feststellung überdauernder psychopathologischer Merkmale oder überdauernder Persönlichkeitseigenschaften, so ist dies nicht schwierig. Geht es dagegen um die Erfassung vorübergehender psychopathologischer Phänomene, etwa im Rahmen von affektiven Ausnahmezuständen (➤ Kap. 18), bei Intoxikationen (➤ Kap. 15) und bei impulsiven Tathandlungen (➤ Kap. 19), so können hieraus ganz erhebliche Probleme erwachsen. Das Gleiche gilt für die Beurteilung vorübergehender psychopathologischer Auffälligkeiten bei Geschäftsabschlüssen, sofern diese nicht präzise dokumentiert sind (➤ Kap. 32). Die Probleme bei der prospektiven Einschätzung im Rahmen der Prognosebegutachtung werden in ➤ Kap. 30 dargestellt.
2.6.1. Verhaltensbeobachtung Hierzu zählt die Wiedergabe aller Beobachtungen und Feststellungen, die der Sachverständige während der Untersuchung gemacht hat. In diesem Teil des Befunds ist auch das äußere Erscheinungsbild des Probanden zu beschreiben: Kleidung, Körperpflege, Gestik, Mimik und Physiognomie. Zu schildern sind der Gesamteindruck des Probanden, mögliche Auffälligkeiten im Verhalten und in der Gesprächssituation. Dargestellt wird die Art des Probanden, mit der Untersuchungssituation als solcher umzugehen, vor dem Hintergrund der Frage, inwieweit der Proband sowohl kognitiv als auch emotional erreichbar und inwieweit er auskunftswillig und auskunftsbereit ist. Hierzu zählt auch die Einschätzung der Kooperationsfähigkeit des Probanden. Geschildert werden sollten auch die Gesprächsatmosphäre und die Art und Weise, wie der Proband sich dem Sachverständigen gegenüber verhält.
2.6.2. Psychische Funktionen
Zur Erhebung des psychischen Befunds ist es sinnvoll, ein strukturiertes Vorgehen zugrunde zu legen, bei dem die gesamte Symptomatik bestimmten, im Einzelfall detailliert zu beschreibenden Bereichen zugeordnet wird: • Bewusstsein: quantitative Einschränkung (Bewusstseinsverminderung) oder qualitative Veränderung (Bewusstseinseinengung, Bewusstseinsverschiebung) • Orientierung: zeitlich, örtlich, situativ, zur Person • Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen: Auffassungsprobleme, Konzentrationsstörung, Kurz- und Langzeitgedächtnis • Sprechverhalten und Sprache: Klang, Modulation, Störungen, Sprachverständnis und Ausdrucksvermögen • Formales Denken: Verlangsamung, Hemmung, umständliches Denken, eingeengtes Denken, Perseverationen, Grübeln, Gedankendrängen, Ideenflucht, Vorbeireden, Sperrung, Gedankenabreißen, Neologismen, Zerfahrenheit • Inhaltliches Denken: Zwänge, Hypochondrien, Phobien, überwertige Ideen, Wahn • Sinnestäuschungen: Halluzinationen, Illusionen • Ich-Störungen: Derealisation, Depersonalisation, Gedankenausbreitung, Gedankenentzug, Gedankeneingebung • Affektivität: depressiv, ängstlich, euphorisch, dysphorisch, gereizt, unruhig, jammerig, gesteigertes Selbstwertgefühl, Schuldgefühle, Verarmungsgefühle, Hoffnungslosigkeit, Gefühl der Gefühllosigkeit, Ratlosigkeit, affektarm, Ambivalenz, Affektlabilität, affektstarr • Antriebs- und psychomotorische Störungen: antriebsarm, antriebsgehemmt, antriebsgesteigert, motorisch unruhig, Hypokinese, Stupor • Sonstige Auffälligkeiten: bizarres Verhalten, theatralisches Verhalten, Selbstbeschädigung, Suizidalität, Aggressivität, sozialer Rückzug, soziale Umtriebigkeit
2.6.3. Persönlichkeitsdiagnostik Außer dem deskriptiv-phänomenologischen Befund ist bei der psychiatrischen Untersuchung immer auch die Persönlichkeitsstruktur eines Probanden zu erfassen und zu beschreiben. Dabei ist zu bedenken, dass die Variationsbreite von persönlichen Zügen, ggf. auch persönlichen Akzentuierungen, sehr groß ist, ohne dass vorschnell von einer Persönlichkeitsstörung gesprochen werden darf. Das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung ergibt sich aus den allgemeinen Kriterien der ICD-10 für die Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen (F60). Auf in der ICD-11 zu erwartende Änderungen in der Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen wird in ➤ Kap. 21 eingegangen. Bei Probanden mit Persönlichkeitsstörungen und Konfliktreaktionen zeigen sich die auffälligen Symptome weniger in spezifischen psychopathologischen Symptomen, sondern mehr in akzentuierten Persönlichkeitszügen, Beziehungsstörungen und auffälligem sozialem Verhalten. Die Einschätzung der Persönlichkeit erfolgt immer über die biografische Längsschnittbeurteilung. Dabei sind zur Beschreibung der Persönlichkeit wie auch der Persönlichkeitsstörung Aspekte der Selbstwahrnehmung und Selbsteinschätzung (Wünsche, Bedürfnisse, Gefühle) und der Fremdwahrnehmung ebenso zu beachten wie die Beziehungsfähigkeit, das Vorliegen biografisch überdauernder Konfliktbereiche inkl. eventuell vorhandener inadäquater Konfliktlösungsversuche und eine Beschreibung des psychosozialen Funktionsniveaus. Unbedingt zu benennen sind auch Ressourcen und Kompetenzen, die in der Persönlichkeit liegen, um auf diese Weise zu vermeiden, dass die Schilderung der Persönlichkeit des Probanden ausschließlich defizitäre Züge aufzeigt.
2.7. Weitere Untersuchungen Aufgrund des gutachtlichen Gesprächs und der Exploration entscheidet der psychiatrische Sachverständige, ob weitere Untersuchungen durchzuführen sind. Dabei hat er zu
berücksichtigen, dass nur solche Untersuchungen sinnvoll sind, von denen weitere Informationen zur Beantwortung der Beweisfragen zu erwarten sind.
2.7.1. Körperliche Untersuchung Eine orientierende körperliche und neurologische Untersuchung ist i. d. R. Bestandteil der forensisch-psychiatrischen Untersuchung. Es ist zu fragen, wann die körperliche Untersuchung auf jeden Fall erforderlich ist und wann darauf ggf. verzichtet werden kann. Unbedingt erforderlich ist eine körperliche Untersuchung dann, wenn es sich um eine psychiatrische Erstuntersuchung handelt, weil zu klären ist, ob eine ggf. festgestellte psychopathologische Symptomatik möglicherweise organische Ursachen hat und ob zusätzlich körperliche Erkrankungen vorliegen. Ebenso unabdingbar ist eine körperliche Untersuchung bei alkohol- und drogenabhängigen Probanden, da sich in diesen Fällen aus den körperlichen Befunden Rückschlüsse auf Verlauf und Stadium der Erkrankung ziehen lassen. Bei der sozialmedizinischen Begutachtung ist eine körperliche Untersuchung ebenso zu fordern wie bei der Beurteilung der Fahrtauglichkeit. Auf eine körperliche Untersuchung kann verzichtet werden, wenn sich der Proband in klinischer Behandlung, z. B. im Maßregelvollzug, befindet oder wenn es um sehr lange zurückliegende Taten geht, bei denen von einer später durchgeführten körperlichen Untersuchung keine Relevanz zu erwarten ist.
2.7.2. Apparative Untersuchungen Bedarf für apparative Zusatzuntersuchungen wie Elektroenzephalografie (EEG), Computertomografie (CT), Magnetresonanztomografie (MRT), Positronenemissionstomografie (PET) besteht nur dann, wenn ihr Ergebnis für die Beweisfragen relevant sein kann. Eine routinemäßige Durchführung solcher Untersuchungen ist nicht angezeigt.
Auch die Durchführung von laborchemischen Untersuchungen ist nur dann erforderlich, wenn sich hieraus Relevanz für die Fragestellung ergibt, z. B. Drogenscreening und CDT-Bestimmung bei der Beurteilung der Fahrtauglichkeit. Auch die Messung von Medikamentenspiegeln zur Einschätzung der Beschwerdenvalidität ist kein obligat zu fordernder Bestandteil der Begutachtung. Die Ergebnisse sind nämlich oft schwer zu interpretieren, da sie von der Aktivität der abbauenden Enzyme abhängen. Entscheidend ist deshalb auch nicht der gemessene Blutspiegel, sondern allenfalls der fehlende Nachweis der Substanz. Bestimmt werden sollten auch nur Substanzen, die in den letzten 12–15 Stunden vor der Blutentnahme vom Probanden als eingenommen angegeben wurden. Der Aussagewert von Medikamentenspiegeln im Begutachtungsprozess ist deshalb äußerst limitiert.
2.7.3. Testpsychologische Untersuchung Psychodiagnostische Untersuchungen dienen entweder der Evaluierung bzw. Quantifizierung bestimmter Störungsbilder (z. B. Tests zur Erfassung des Schweregrads von depressiven Syndromen, Angststörungen, Persönlichkeitsstörungen oder Suchtproblemen), oder sie zielen auf eine diagnoseunabhängige Erfassung charakterlicher Grundstrukturen ab (z. B. sogenannte projektive Persönlichkeitstests wie das Rorschach-Formdeuteverfahren, Tests zur Erhebung von Aggressivitätsfaktoren oder anderen Persönlichkeitsmerkmalen). Grundsätzlich muss hierbei unterschieden werden zwischen Selbstbeurteilungsinstrumenten, die der Proband nach eigenem Gutdünken ausfüllt, und Fremdratings, bei denen der Untersucher nach einer standardisierten Methode vorgeht, zumeist anhand eines Fragebogens inkl. eines vorgegebenen Auswertungsschemas. Keiner näheren Erläuterung bedarf, dass bei der Anwendung und Auswertung von Selbstbeurteilungsinstrumenten prinzipiell eine kritische Zurückhaltung geboten ist, da gerade bei Begutachtungen in einem forensisch-psychiatrischen Kontext prozesstaktische Erwägungen aufseiten des Probanden die Testergebnisse in erheblichem Maß
tendenziös verfälschen können. Aufschlussreich können Selbstbeurteilungsinstrumente dann sein, wenn ihre Ergebnisse erhebliche Diskrepanzen zu Fremdbeurteilungsskalen oder zum psychopathologischen Befund ergeben. Bei dieser Konstellation ist u. U. an eine Aggravation einer Symptomatik zu denken. Dementsprechend ist eine testpsychologische Untersuchung nur dann erforderlich, wenn sich aus ihrem Ergebnis zusätzliche Hinweise für die Beantwortung der Beweisfragen ergeben. Bei der Begutachtung der Fahrtauglichkeit geht es stets auch um leistungspsychologische Parameter, sodass hier eine neuropsychologische Untersuchung immer in die Begutachtung integriert ist. Im Übrigen ist zu bedenken, dass es keinen psychologischen „Test“ zur Beantwortung irgendeiner rechtlichen Fragestellung geben kann. Auch bei einer testpsychologischen Untersuchung ist stets die Motivation des Probanden zu berücksichtigen. Das Ergebnis einer Testuntersuchung bedarf der Interpretation und Beachtung des konkreten Verhaltens in der Untersuchungssituation und der Einschätzung der Motivation (Kröber 2005b). Die Verbesserung dieser Einschätzung ist mit Untersuchungen zur Beschwerdenvalidierung möglich (➤ Kap. 2.10). Eine testpsychologische Untersuchung kann – außer bei der Beurteilung der Fahrtauglichkeit – sinnvoll sein, wenn es z. B. um die präzisere Einschätzung eines demenziellen Syndroms geht. Hierbei ist die testpsychologische Untersuchung i. d. R. in Frühstadien zweckmäßig; bei einem bereits stark ausgeprägten demenziellen Syndrom ist die Untersuchung entbehrlich. Sinnvoll ist eine testpsychologische Beurteilung ferner zur Beurteilung der intellektuellen Leistungsfähigkeit, und zwar weniger im Hinblick auf den Gesamt-IQ als im Hinblick auf das Leistungsprofil, auf Leistungsstärken und Leistungsschwächen (Kröber 2005b). Persönlichkeitsfragebögen sind i. d. R. ebenso wie Selbstbeurteilungsbögen entbehrlich. Die Informationen, die ihnen zu entnehmen sind, führen nicht über die Ergebnisse einer detaillierten biografisch orientierten Exploration hinaus. Werden Selbstbeurteilungsbögen eingesetzt, so ist es irreführend, wenn in
der Auswertung zu lesen ist, der Proband „ist“ depressiv, statt dass korrekt festgestellt wird, der Proband „schildert sich als depressiv“ (Kröber 2005b). Weiter ist grundsätzlich – wie auch bei der psychiatrischen Exploration – zu berücksichtigen, dass ein testpsychologischer Befund zum Untersuchungszeitpunkt erstellt wird, wobei entweder in die Vergangenheit oder in die Zukunft zu extrapolieren ist.
2.7.4. Aktuarische Prognoseinstrumente Im Rahmen kriminalprognostischer Begutachtungen werden zunehmend standardisierte, sogenannte aktuarische Prognoseinstrumente angewandt (➤ Kap. 30). Hierzu liegen umfangreiche Ergebnisse vor (Dahle 2006, 2008). Gut erforscht und für den klinischen Einsatz geeignete Prognoseinstrumente sind z. B. die Historical Clinical Risk-20 Scale (HCR-20, Webster et al. 1997), die Sexual Violence Risk-20 (SVR-20, Boer et al. 1997), die Psychopathy Checklist (PCL-R, Hare 1991), der Violence Risk Appraisal Guide (VRAG; Eher und Rettenberger 2011) und der Static-99 (Rettenberger und Eher 2006). Im deutschsprachigen Raum hat sich außerdem der Einsatz der sogenannten Dittmann-Liste (Dittmann 2000) bewährt, auch wenn hierzu weniger wissenschaftliche Daten vorliegen als zu den Prognoseskalen aus dem angloamerikanischen Raum. Der Vorteil dieser Prognoseinstrumente liegt auf der Hand: Die standardisierte Vorgehensweise verringert die Gefahr „blinder Flecken“ oder unvollständiger Befunderhebungen bei der Prognosebegutachtung; die Validität (Vorhersagegüte) und die Reliabilität (Zuverlässigkeit) der Untersuchungsverfahren sind wissenschaftlich evaluiert; für den Nichtpsychiater wird zudem die Transparenz und Nachvollziehbarkeit der gutachtlichen Argumentation erhöht. Auf der anderen Seite dürfen aber auch die prinzipiellen Nachteile standardisierter Prognoseinstrumente nicht außer Acht gelassen werden: Es sind, methodisch bedingt, lediglich statistische Aussagen möglich, mit denen sich die Besonderheiten des individuellen Einzelfalls u. U. nicht hinreichend erfassen lassen. Zudem liegt der Schwerpunkt der standardisierten
Prognoseinstrumente überwiegend auf den statischen, d. h. unveränderlichen, Parametern (biografische Eckdaten; DelinquenzVorgeschichte), wohingegen die dynamischen Variablen, d. h. diejenigen Aspekte, die einer therapeutischen Einflussnahme im Straf- oder Maßregelvollzug zugänglich sind, weitaus schwieriger zu erfassen sind. Insofern sind standardisierte Prognoseinstrumente mittlerweile integraler Bestandteil qualitativer Mindestanforderungen bei kriminalprognostischen Begutachtungen (Kröber 2006) – sie stellen jedoch letztlich nur Hilfsmittel im Kontext einer möglichst umfassenden gutachterlichen Herangehensweise dar, welche die Aufklärung der in einem konkreten Anlasstatgeschehen realisierten individuellen Risiko- und Schutzfaktoren zum Ziel hat.
2.8. Vom psychopathologischen Symptom zur psychiatrischen Diagnose Ein Symptom ist definiert als die kleinste Beschreibungseinheit psychopathologischer Phänomene. Dabei handelt es sich entweder um beobachtbare Verhaltensweisen in der Untersuchungssituation oder um vom Patienten berichtete Störungen. Auf der nächsten Ebene der Diagnostik werden Symptome zu Syndromen zusammengefasst. Ein Syndrom ist eine typische Konstellation von Symptomen, jedoch keine spezifische Konstellation. Es handelt sich bei einem Syndrom um bestimme Kombinationen von Symptomen, die überzufällig häufig festzustellen sind, z. B. depressives Syndrom, paranoides Syndrom, halluzinatorisches Syndrom. Die psychiatrische Diagnose ist zu verstehen als die Integration von Symptomen und / oder Syndromen, den Ergebnissen zusätzlicher Untersuchungen und der Berücksichtigung aller Informationen. Die gutachtliche Aufgabe ist jedoch mit der Stellung einer Diagnose noch nicht abgeschlossen. Bei der Begutachtung geht es immer auch um die Einschätzung des Grades und Ausmaßes einer
ggf. vorliegenden psychopathologischen Symptomatik, d. h. um die Einschätzung des Schweregrades. Die Beurteilung des Schweregrades ist für alle forensisch-psychiatrischen Fragen von allergrößter Bedeutung, da die rechtliche Bewertung grundsätzlich nicht von der Diagnose, sondern in erster Linie vom Grad und Ausmaß der psychopathologischen Symptomatik abhängt.
Merke Der psychiatrische Sachverständige hat die Aufgabe, die von ihm festgestellten Befunde zu quantifizieren, d. h., er muss sie in ihrem Schweregrad, ihrer Intensität, ihrem Ausmaß, ihrer Ausprägung und ihren Auswirkungen auf die konkrete Lebenswirklichkeit des Probanden einschätzen.
2.9. Psychiatrische Klassifikationssysteme In der Psychiatrie gibt es aktuell zwei Klassifikationssysteme, die Internationale Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10, Kapitel V [F]) der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die demnächst von der ICD-11 abgelöst werden wird, und das Diagnostische und Statistische Manual psychischer Störungen (DSM-5) der American Psychiatric Association (APA) (Dreßing und Meyer-Lindenberg 2016). Grundlage beider Systeme ist die operationalisierte Diagnostik. Die Merkmale operationalisierter psychiatrischer Diagnostik sind u. a. die folgenden (Hoff 2001): • Deskriptives Vorgehen • Kriterien bzw. Kriterienverbindungen für jede Diagnose • Komorbiditätsprinzip • Orientierung am Schweregrad („quantitativer Zugang“) • Ätiologische Neutralität (Theoriefreiheit)
Mithilfe der operationalisierten Diagnostik wurde eine deutliche Verbesserung bei der Transparenz des diagnostischen Vorgehens bzgl. der Einschätzung psychischer Störungen erreicht. Beide Klassifikationssysteme sind heute die Grundlage einer zeitgemäßen psychiatrischen Diagnostik. In Deutschland ist die ICD-10 verbindlich und demnächst die ICD-11. Für einige forensische Fragestellungen können zusätzlich aber auch die teilweise davon abweichenden Diagnosekriterien des DSM-5 verwendet werden. Da der Zeitpunkt der Einführung der ICD-11 in Deutschland noch nicht feststeht, sich für einige forensische Fragestellungen aus der neuen Klassifikation aber bedeutsame Änderungen ergeben werden, wird darauf in den entsprechenden Kapiteln dieses Buches hingewiesen. Sowohl die ICD als auch das DSM tragen zu einer besseren Verständigung unter Psychiatern wie auch zur Verbesserung der Kommunikation mit den Auftraggebern i. S. einer Verbesserung der Transparenz bei der Diagnosefindung bei.
Merke Im forensisch-psychiatrischen Kontext ist zu bedenken, dass beide Klassifikationssysteme nicht für forensisch-psychiatrische Fragen, nicht für die psychiatrische Begutachtung und nicht für die Rechtsanwendung entwickelt wurden, sondern zur Verbesserung der Reliabilität psychiatrischer Diagnostik. Dabei ist zu berücksichtigen, dass aus der Zuordnung einer psychopathologischen Symptomatik zu den Begriffen eines der Klassifikationssysteme keinesfalls unmittelbar eine forensisch-psychiatrische Folgerung abgeleitet werden darf. In DSM-5 heißt es hierzu ausdrücklich, dass allein aus der Feststellung einer diagnostischen Kategorie gemäß diesem Klassifikationssystem nicht gefolgert werden darf, dass „rechtliche oder andere nichtmedizinische Folgerungen“ gezogen werden
können (➤ Kap. 6.7). Daher muss die operationalisierte Diagnostik sowohl im klinischen als auch im forensisch-psychiatrischen Bereich durch folgende Aspekte erweitert werden (Hoff 2001): • Differenzierte psychopathologische Befunderhebung • Einzelfallbezogene individuelle Schweregradbestimmung der psychopathologischen Symptomatik
2.10. Simulation und ähnliche Phänomene In Praxis und Klinik gehen Ärzte i. d. R. davon aus, dass die vom Patienten geklagten Beschwerden und Funktionsbeeinträchtigungen in der geschilderten Form tatsächlich bestehen. Dies ist allerdings nicht immer der Fall. Sowohl bei der klinischen Tätigkeit als auch bei der Begutachtung ist davon auszugehen, dass Patienten bzw. Probanden durchaus nachvollziehbar die Tendenz haben können, Beschwerden und Beeinträchtigungen ergebnisorientiert vorzutragen. Dabei fällt es dem vorwiegend therapeutisch orientierten Arzt häufig nicht leicht, an diese Möglichkeit überhaupt zu denken. Es ist jedoch Realität, dass es in allen medizinischen Situationen Täuschungsmöglichkeiten gibt. Hierbei ergeben sich einige bislang nicht oder nicht ausreichend geklärte Fragen. Zu nennen sind vor allem die unterschiedliche Nomenklatur mit der Abgrenzung ähnlicher Phänomene und die Feststellung eines derartigen Verhaltens sowie seiner Häufigkeit im gutachtlichen Kontext. Deshalb ist ein wesentlicher Bestandteil jeder Begutachtung psychischer Störungen die Beurteilung, ob die von dem Untersuchten berichteten Beschwerden und Funktionsstörungen tatsächlich in der geklagten Form bestehen oder ob die Darstellungen wesentlich von motivationalen Einflüssen verzerrt sind.
2.10.1. Definitionen
Das Vortäuschen nicht vorhandener Beschwerden und Beeinträchtigungen ist zunächst einmal eine Verhaltensweise. Zur besseren Einschätzung sind folgende Definitionen gebräuchlich: • Simulation ist das bewusste und absichtliche Vortäuschen von Beschwerden oder Störungen zu bestimmten klar erkennbaren Zwecken. • Aggravation ist die bewusste verschlimmernde bzw. überhöhende Darstellung einer krankhaften Störung zu erkennbaren Zwecken. • Verdeutlichungstendenzen sind in Begutachtungssituationen üblich und dürfen nicht mit Simulation oder Aggravation gleichgesetzt werden. Dabei handelt es sich um den mehr oder weniger bewussten Versuch, den Gutachter vom Vorhandensein der geklagten Symptomatik zu überzeugen. Zunehmende Verdeutlichung kann auch mit einem desinteressierten, oberflächlichen oder unfreundlichen Untersucher zusammenhängen (Widder und Foerster 2018). Aus den genannten Definitionen ergibt sich, dass die Abgrenzungen unscharf sind und die geschilderten Verhaltensweisen ineinander übergehen können. Besondere Schwierigkeiten können dann auftreten, wenn tatsächlich psychopathologische Phänomene oder Auffälligkeiten in der Persönlichkeitsstruktur vorliegen, diese aber nicht in dem Maße ausgeprägt sind, wie sie dargeboten werden. Vorgetäuschte Beschwerden können in allen gutachtlichen Situationen auftreten und die unterschiedlichsten Formen, Merkmale und Methoden aufweisen. Dabei können alle psychischen Symptome und funktionellen körperlichen Beeinträchtigungen vorgetäuscht werden. Am häufigsten sind das Vorbringen tatbezogener Erinnerungslücken (➤ Kap. 2.11.3), die Schilderung kognitiver Einschränkungen nach tatsächlichem oder vermeintlichem Schädel-Hirn-Trauma oder nach Beschleunigungsverletzungen, die Angabe von Anfällen oder von Schmerzen (➤ Kap. 35) sowie die Schilderung von depressiven
Verstimmungen und Angstzuständen. Bei krasser und plumper Vortäuschung von Beschwerden muss differenzialdiagnostisch auch an eine bislang nicht erkannte psychopathologische Störung gedacht werden, etwa eine beginnende demenzielle Symptomatik oder eine bislang nicht erkannte ausgeprägte intellektuelle Minderbegabung. Abzugrenzen sind auch die artifiziellen Störungen, bei denen Beschwerden oder Symptome ebenfalls vorgetäuscht werden, allerdings mit der Motivation, die Krankenrolle einzunehmen und Ärzte zu nicht indizierten therapeutischen Eingriffen zu veranlassen (➤ Kap. 2.10.2).
2.10.2. Feststellung vorgetäuschter Beschwerden Die bloße Feststellung in einem Gutachten, dass sich kein Anhalt für Simulation oder Aggravation ergeben hat, ist nicht hinreichend. Vielmehr sind die Befunde mitzuteilen, auf denen diese Feststellung beruht (Widder 2018), und diese Feststellung ist durch gutachtlich erhobene Befunde zu belegen. Grundsätzlich liegt es im Ermessen des Gutachters, die aus seiner Sicht für die spezifische Fragestellung notwendigen Befunde zur Einschätzung der Beschwerdenvalidität zusammenzustellen. Diesbezügliche Vorgaben des Auftraggebers – etwa die Forderung nach Durchführung bestimmter Beschwerdenvalidierungstests – sind aus gutachtlicher Sicht abzulehnen. Beschwerdenvalidierungstests sind weder ein obligat zu fordernder Bestandteil eines Gutachtens, noch sind sie ein besonderes gutachtliches Qualitätsmerkmal (Dreßing et al. 2011). Grundsätzlich können sich aus den folgenden Quellen Hinweise auf eine nicht authentische Beschwerdenschilderung ergeben (Widder und Gaidzik 2018): • Aktenlage: Ergeben sich z. B. widersprüchliche Befunde in der Akte? • Anamnese und Beobachtung in der Explorationssituation: Die folgenden Hinweise lassen an Simulation oder
Aggravation denken (Winckler und Foerster 1996): – Zwischen den subjektiven, häufig massiven Beschwerdeschilderungen und dem Verhalten des Betroffenen in der Untersuchungssituation besteht eine auffällige Diskrepanz. – Die subjektiv geschilderte Intensität der Beschwerden steht in einem Missverhältnis zur Vagheit der Schilderung der einzelnen Symptome. – Angaben zum Krankheitsverlauf sind wenig oder gar nicht präzisierbar. – Das Ausmaß der geschilderten Beschwerden steht nicht in Übereinstimmung mit einer entsprechenden Inanspruchnahme therapeutischer Hilfe. – Ungeachtet der Angabe schwerer subjektiver Beeinträchtigungen erweist sich das psychosoziale Funktionsniveau des Betroffenen bei der Alltagsbewältigung als weitgehend intakt. – Das Vorbringen der Klagen wirkt appellativ, demonstrativ oder theatralisch. – Die Angaben des Probanden weichen erheblich von fremdanamnestischen Informationen und der Aktenlage ab. – In der Gegenübertragungssituation kann die Empfindung des Unechten, des Falschen entstehen, gelegentlich auch das Gefühl des Gekränktseins oder des Zorns. • Neurologischer Befund: Verschwindet z. B. eine Standunsicherheit im Romberg-Versuch bei Ablenkung? Liegt die Trefferquote bei der Prüfung der Propriozeption unter 50 %? • Psychopathologischer Befund: Stehen z. B. die subjektiven Beschwerdenschilderungen in Diskrepanz zu den psychopathologischen Befunden? • Fragebögen, Selbstbeurteilungsinstrumente: Ergibt sich z. B. eine Diskrepanz zwischen einem Befund in einem Selbstbeurteilungsinstrument (z. B. Beck-
Depressionsinventar) und einem Fremdrating (z. B. Hamilton-Depressionsskala). • Beschwerdenvalidierungstests (BVT): Ergebnisse eines BVT sollten immer nur in einer kritischen Gesamtschau bewertet werden (Dreßing et al. 2010, 2011; Spirig und Jokeit 2018). Eine Übersicht psychologischer Verfahren der Beschwerdenvalidierung findet sich bei Merten (2014). Die überwiegende Zahl der heute zur Verfügung stehenden BVTs wurde von neuropsychologischer Seite entwickelt, um die Authentizität kognitiver Störungen nach Schädel-HirnVerletzungen zu überprüfen. Sie beruhen im Wesentlichen auf drei Grundprinzipien: 1. Scheinbar schwere Aufgabe: Eines der ältesten und einfachsten Verfahren ist der sogenannte Rey-Test (Rey 1958). Hierbei werden dem Probanden unter der Vorgabe, dass es sich um einen schwierigen Gedächtnistest handelt, 15 Zeichen präsentiert, die er sich einprägen und wiedergeben soll. Tatsächlich ist die kognitive Aufgabe aber so einfach, dass nur schwere Demenzerkrankungen zu Ergebnissen führen, die unter dem Cut-off von 9 Zeichen liegen. Kann eine Demenzerkrankung ausgeschlossen werden, sind auffällige Ergebnisse im Rey-Test recht spezifisch für eine Simulation. Da das Testverfahren aber leicht durchschaubar ist, ist die Sensitivität gering. 2. Leichte vs. schwere Aufgabe: Tests dieser Art beruhen auf der simplen Erfahrung, dass für die Bewältigung schwerer Aufgaben mehr Zeit benötigt wird als für einfache Testaufgaben. Treten hier Diskrepanzen oder unplausible Muster auf, sind diese nicht physiologisch zu erklären und sprechen für eine bewusstseinsnahe Verfälschung der Testergebnisse. 3. Alternativwahlverfahren („forced choice“): Werden bei einem Wiedererkennungstest zuvor demonstrierter Wörter, Zahlen, Symbole oder Bilder mehrere Möglichkeiten angeboten, so entspricht die minimale
Wiedererkennungsrate selbst bei schlechten Gedächtnisleistungen der Ratewahrscheinlichkeit. Wird diese unterschritten, können Testergebnisse mit hoher Spezifität einer bewussten Simulation zugeordnet werden, da ein solch schlechtes Ergebnis vom Probanden gerade das Vorhandensein kognitiver Fähigkeiten erfordert. Die heute zur Verfügung stehenden Beschwerdenvalidierungstests wie z. B. der Test of Memory Malingering (Tombaugh 1996) oder der Word Memory Test (Green 2005) kombinieren diese Grundprinzipien. Im Sinne der diagnostischen Zielsetzung ist ein BVT umso effizienter, je mehr die subjektiv vom Probanden wahrgenommene Schwierigkeit die objektive Schwierigkeit des Tests übersteigt. Als weiteres Screeninginstrument kann der „Strukturierte Fragebogen simulierter Symptome (Structured Inventory of Malingered Symptomatology, SIMS)“ (Cima et al. 2003) eingesetzt werden. Allerdings zeigen Studien, dass sich in diesen Tests auch bei eindeutig psychisch kranken Patienten, die keinen Entschädigungsanspruch verfolgen, auffällige Ergebnisse im Sinne eines falsch positiven Befunds ergeben können (Kirchhoff und Steinert 2019; Praus et al. 2020). Zwar mag es bei der Abklärung hirnorganischer Schäden möglich sein, sich bei der Überprüfung der Authentizität geklagter Beschwerden schwerpunktmäßig auf BVTs zu stützen. Bei psychiatrischen Fragestellungen inkl. der Beurteilung somatoform determinierter Schmerzsyndrome ist dies jedoch kritisch zu sehen. So darf ein Simulationsverdacht nicht allein mit dem Ergebnis eines oder mehrerer BVTs oder mit dem Ergebnis im SIMS begründet werden. Sofern das Ergebnis in einem BVT unterhalb der erwarteten Norm liegt, kann nur festgestellt werden, dass das Anstrengungsverhalten nicht den Erwartungen entspricht. Die Zuordnung eines auffälligen Befunds zur Rubrik „Simulation“ oder „Aggravation“ ist in einem zweiten Schritt vom Gutachter im klinischen Gesamtkontext zu bewerten.
• Medikamentenmonitoring: Die Bestimmung des Blutspiegels von Medikamenten ist aufgrund sehr unterschiedlicher Aktivitäten der abbauenden Enzyme i. d. R. bezüglich der Beurteilung der Authentizität von Probandenangaben nur von eingeschränktem Wert. Verwertbar ist deshalb letztlich nur die Information, ob das Medikament überhaupt nachweisbar ist oder nicht. Wenn der Proband angibt, das Medikament in den letzten 12– 15 Stunden vor der Blutentnahme eingenommen zu haben und überhaupt kein Medikamentennachweis gelingt, weckt dies erhebliche Zweifel an der diesbezüglichen Angabe des Probanden. Da Probanden vor einer Blutentnahme aber immer auch über Sinn und Zweck dieser Untersuchung aufzuklären sind und eine solche Untersuchung auch ablehnen können, ist der Wert des Medikamentenmonitorings gering.
Merke Die Einschätzung der Authentizität geklagter Beschwerden muss immer in einer Gesamtschau iim Sinne einer Konsistenzund Plausibilitätsanalyse erfolgen, die sich auf die Ergebnisse der klinischen Exploration und der Verhaltensbeobachtung inkl. einer körperlichen und neurologischen Untersuchung des Probanden stützt. Der sorgfältig erhobene psychopathologische Befund ist und bleibt die wesentliche Beurteilungsbasis. Dabei ist dann zu beurteilen, inwieweit die Informationen aus den unterschiedlichen Informationsquellenquellen – Akte, selbst erhobener psychopathologischer und neurologischer Befund, ggf. zusätzlich erhobene Testbefunde – in sich konsistent und plausibel sind. Es ist die Aufgabe des Sachverständigen, dem Auftraggeber des Gutachtens detailliert darzulegen, aufgrund welcher konkreten
Befunde vom Vorliegen einer bestimmten Diagnose auszugehen ist und welche Funktionsstörungen hieraus folgen. Darüber hinaus ist zu beachten, dass auch der Nachweis vorgetäuschter Symptome das zusätzliche Vorhandensein authentischer neurotischer Krankheitssymptome nicht ausschließt. In solchen Konstellationen kann der Gutachter u. U. nur zu einem non liquet kommen. Er kann ausführen, dass zwar davon auszugehen ist, dass eine krankheitswertige neurotische Symptomatik vorhanden ist, aufgrund der zusätzlich nachweisbaren Übertreibungstendenzen des Probanden das Ausmaß der tatsächlichen Krankheit aber nicht abzuschätzen ist. Der Umgang mit Probanden, bei denen der Sachverständige den Verdacht oder möglicherweise die Gewissheit hat, dass sie simulieren, ist schwierig. Wie soll sich der Sachverständige verhalten? An erster Stelle stehen auch hier die Transparenz und die Grundhaltung der Authentizität des Sachverständigen, d. h., er sollte seinen Verdacht oder seine Gewissheit benennen, zumal die Probanden diese Einschätzung des Sachverständigen häufig unausgesprochen spüren. Die Formulierung des Verdachts der Simulation muss nicht in jedem Fall zu einem Abbruch des Gesprächs oder zu einer Konfrontation zwischen Proband und Sachverständigem führen. Weitere Möglichkeiten sind erneutes Nachfragen nach der Symptomatologie oder eine neutrale Beendigung des Untersuchungsgesprächs. Im schriftlichen und ggf. im mündlichen Gutachten vor Gericht sollte der Sachverständige keine kränkenden Formulierungen verwenden; z. B. kann er von einer Antwortverzerrung sprechen oder davon, dass die geschilderte Beschwerdesymptomatik medizinisch nicht erklärt werden kann. Ist die Situation jedoch eindeutig und klar, sollte er sich auch nicht scheuen, den Begriff Simulation zu benutzen. Ein weiteres sehr wichtiges Phänomen in diesem Zusammenhang ist die Dissimulation. Dissimulation bedeutet das Verbergen oder Verschweigen tatsächlich vorhandener Beschwerden und Krankheitssymptome. Auch Dissimulation kann bei der Begutachtung zu Schwierigkeiten führen. Befürchtet der Proband
durch das wahrheitsgemäße Einräumen tatsächlich vorhandener psychopathologischer Symptome negative Konsequenzen für sich, so kann er die Symptome dissimulieren, etwa dann, wenn ein schizophren Erkrankter seine Halluzinationen oder Wahninhalte nicht schildert. Bei abhängigen Probanden wird das Ausmaß des Substanzkonsums bzw. der Schweregrad der Abhängigkeit häufig bagatellisiert. Das Gleiche gilt für die Verneinung sexuell devianter Wünsche und Fantasien, obwohl sie tatsächlich vorhanden sind. Aus den Schwierigkeiten im Umgang mit Simulation und Dissimulation ist zu folgern, dass die gutachtlichen Feststellungen stets auf eine möglichst breite und detaillierte Beurteilungsgrundlage gestützt werden müssen, wobei sich die Begutachtung grundsätzlich nicht ausschließlich auf die Eigenangaben des Probanden stützen darf. Je schmaler und eingeschränkter die Grundlagen sind, desto größer ist die Gefahr falscher Schlussfolgerungen (➤ Kap. 6). Zu bedenken ist weiterhin, dass es Probanden mit einer sogenannten artifiziellen Störung gibt. Sie täuschen körperliche oder seelische Symptome vor, wobei die Tatsache der Täuschung den Betroffenen bewusst ist, sie jedoch nicht auf die Erlangung einer Entschädigung abzielen. Vielmehr ist das Ziel dieses Verhaltens, die Krankenrolle einzunehmen und die Ärzte zu veranlassen, eigentlich nicht indizierte diagnostische Verfahren oder medizinische Eingriffe durchzuführen. Die Häufigkeit ist aufgrund der störungsimmanenten Täuschung schwierig zu bestimmen; es ist von einer nicht unerheblichen Dunkelziffer auszugehen (Kapfhammer 2018). Gutachtlich ist die artifizielle Störung von differenzialdiagnostischer Bedeutung im Rahmen der Beschwerdevalidierung.
2.11. Besondere Untersuchungssituationen 2.11.1. Untersuchung gegen den Willen des Probanden?
Eine psychiatrische Untersuchung gegen den ausdrücklichen Willen eines Betroffenen ist nur sehr eingeschränkt möglich. Liegen massive psychopathologische Symptome vor, etwa ein psychotisches Verhalten, das durch Sinnestäuschungen, Wahninhalte oder Realitätsverlust determiniert ist, so ist dies häufig einer Verhaltensbeobachtung zugänglich, was auch bei der Einschätzung eines demenziellen Syndroms der Fall sein kann. Bei der forensischpsychiatrischen Untersuchung geht es jedoch i. d. R. nicht um die Beurteilung derartiger akuter psychopathologischer Auffälligkeiten, sondern um die Klärung länger zurückliegender Symptome, die Beurteilung von Persönlichkeitsauffälligkeiten oder prognostische Einschätzungen. All dies ist nur im eingehenden Gespräch möglich. Ist ein Proband zu einem solchen Gespräch nicht bereit, so kann die Begutachtung entweder gar nicht oder nur auf der Basis rudimentärer Informationen durchgeführt werden. Hierbei handelt es sich neben der Verhaltensbeobachtung um die Kenntnis der Akten, die Verwertung von Fremdinformationen und ggf. den Eindruck und die Angaben des Probanden in der Hauptverhandlung, sofern eine solche stattfindet. Schlussfolgerungen aus einem unauffälligen Verhalten eines Probanden in der Hauptverhandlung sind dabei nur begrenzt möglich, da es sich auch um die Dissimulation möglicherweise vorhandener psychopathologischer Phänomene handeln könnte (➤ Kap. 2.10). Immer wieder ergibt sich die Frage, ob es zweckmäßig ist, einen Probanden zur gutachtlichen Untersuchung im straf- oder zivilrechtlichen Rahmen vorführen zu lassen. Durch eine solche Vorführung kann die Begutachtung von vornherein so erheblich belastet sein, dass die Untersuchung nicht durchgeführt werden kann, zumal auch in diesen Fällen der Proband selbstverständlich über seine Rechte, insbesondere das Schweigerecht zu informieren und zu belehren ist. Stehen hinter der Weigerung des Probanden jedoch mangelnde Informationen oder Ängste vor der Untersuchung, so kann eine entsprechende Aufklärung dazu führen, dass der Proband trotz der Vorführung zur Untersuchung bereit ist.
2.11.2. Verweigerung der Untersuchung Verweigert ein Proband seine Mitarbeit grundsätzlich, so ist eine gutachtliche Aussage nur in sehr engen Grenzen möglich (zum Vorgehen bei der Untersuchung gegen den Willen des Probanden ➤ Kap. 2.11.1). Eine subtile Art der Verweigerung kann bei der strafrechtlichen Begutachtung auch das Schweigen des Probanden zum Tatvorwurf bedeuten. Die in solchen Fällen gelegentlich zu hörende Argumentation, auch bei schweigenden Probanden müsse der psychiatrische Sachverständige ein Gutachten abgeben, ist differenziert zu betrachten. Selbstverständlich hat der Proband das Recht, keine Angaben zu machen. Insoweit kann sich eine sachverständige Äußerung nur auf andere Datenquellen beziehen, z. B. auf Zeugenaussagen zum Zustand eines Probanden zum Tatzeitpunkt oder auf Befunde, die bei einer tatzeitnahen Untersuchung oder stationären Aufnahme erhoben wurden. In einem solchen Fall ist es denkbar, dass ein Gutachten nach Aktenlage erstattet wird (Kröber 2013). Der Proband hat auch das Recht, eine begonnene Untersuchung im Verlauf abzubrechen und weitere Angaben zu verweigern. Eine solche Verweigerung kann auf Kalkül beruhen, das Resultat eines Missverständnisses sein, aus der Interaktion zwischen Sachverständigem und Proband entstehen und auch einmal Ausdruck einer gravierenden psychischen Störung sein. In solchen Fällen sollte der Sachverständige die Untersuchung erst dann beenden, wenn eindeutig klar ist, dass eine weitere Mitarbeit des Probanden nicht zu erwarten ist. Insgesamt ist festzuhalten, dass bei zum Tatvorwurf schweigenden Probanden die Möglichkeiten, eindeutige gutachtliche Aussagen zu treffen, eingeschränkt sind. Nimmt ein Proband ambulante gutachtliche Termine nicht wahr, so kann eine stationäre Begutachtung erwogen werden. Diese darf maximal 6 Wochen dauern (§ 81 StPO, § 68b FGG). Dabei ist die Frage der Verhältnismäßigkeit einer solchen stationären Begutachtung zu beachten und diese ggf. mit dem Auftraggeber zu erörtern.
2.11.3. Das Amnesieproblem Sowohl bei strafrechtlichen als auch bei sozial- und versicherungsrechtlichen Begutachtungen kann sich das Problem ergeben, dass der Proband bzgl. eines zu beurteilenden Ereignisses, sei es einer Tat, eines Unfalls oder eines belastenden Ereignisses, unterschiedlich ausgeprägte Erinnerungslücken angibt. Die Angabe einer solchen Erinnerungslücke ist mit der prinzipiellen, nicht ausräumbaren methodischen Schwierigkeit verbunden, dass keine Feststellungen über den inneren Zustand, das subjektive, emotionale Erleben des Betroffenen bzgl. des zu beurteilenden Zeitpunkts getroffen werden können. Objektivierbare diagnostische Außenkriterien oder apparative Untersuchungen stehen für die Einschätzung von Erinnerungslücken nicht zur Verfügung. Bei der Beschreibung sollte eine möglichst präzise Darstellung gegeben werden. Die pauschale Formulierung „Erinnerungslücke“ ist nicht brauchbar. Unter phänomenologischen Gesichtspunkten können Amnesien nach der Länge der Erinnerungslücke sowie danach differenziert werden, ob der Verlust bzw. der Wiedereintritt des Erinnerungsvermögens abrupt oder schleichend erfolgte. Der Erinnerungsverlust kann vollständig oder partiell mit Erinnerungsinseln sein. Zu unterscheiden sind anterograde und retrograde Amnesien. Bei der anterograden Amnesie wird die Situation nach dem zu beurteilenden Ereignis nicht mehr erinnert; bei der retrograden Amnesie werden Situationen vor dem Ereignis nicht erinnert. Kongrade Amnesie bedeutet, dass ausschließlich das Ereignis selbst, also z. B. die Tat, der Unfall oder das sonstige Ereignis, von der Erinnerungslücke betroffen ist. Die Gründe für Erinnerungsstörungen können sehr unterschiedlich sein: • An erster Stelle zu nennen sind akute organische Beeinträchtigungen des zentralen Nervensystems. Dies ist der Fall bei Schädel-Hirn-Traumata, bei passageren Durchblutungsstörungen, die zum klinischen Syndrom einer
akuten amnestischen Episode führen können, und bei epileptischen Krampfanfällen. Unter strafrechtlichen Aspekten spielen diese Störungen keine Rolle. Bei der sozialund versicherungsmedizinischen Beurteilung ist die Angabe von Erinnerungsstörungen nach Schädel-Hirn-Trauma häufig (➤ Kap. 35). • Bei Intoxikationen mit psychotropen Substanzen können schwere vorübergehende Störungen kognitiver Funktionen auftreten. Dies gilt für Intoxikationen mit Alkohol oder Benzodiazepin-Tranquilizern und auch für Mischintoxikationen. Allerdings ist es nicht möglich, aus der Angabe einer Erinnerungslücke auf eine bestimmte Intensität einer Intoxikation mit psychotropen Substanzen zu schließen. In einer früheren Untersuchung wurden Korrelationen zwischen der Angabe der Amnesie und der Deliktschwere gefunden, jedoch kein Zusammenhang zwischen der Ausprägung und der Zeitdauer der Erinnerungsstörung und der Höhe der Blutalkoholkonzentration (Barbey 1990). • Ein im gutachtlichen Kontext sehr problematischer Begriff ist die sogenannte dissoziative Amnesie gemäß ICD-10. Die Problematik ergibt sich aus der Definition (Diagnostische Kriterien für Forschung und Praxis, 4. A. 2006), wonach eine dissoziative Amnesie folgendermaßen gekennzeichnet sein soll: „… entweder eine teilweise oder vollständige Amnesie für vergangene Ereignisse oder Probleme, die traumatisch oder belastend waren oder noch sind. Die Amnesie ist so ausgeprägt und zu lang anhaltend, um mit einer normalen Vergesslichkeit oder durch eine gewollte Simulation erklärt werden zu können; die Schwere und das Ausmaß der Amnesie können allerdings von einer Untersuchung zur anderen wechseln (F44.0).“ • Die Schwierigkeit der gutachtlichen Beurteilung liegt bei einer solchen recht unscharfen Definition auf der Hand, wobei sich die Probleme vor allem um die Einschätzung einer Simulation zentrieren (➤ Kap. 2.10).
Grundsätzlich ist dabei zu bedenken, dass mit der psychopathologischen Diagnostik eine eindeutige Differenzierung zwischen einer z. B. toxisch bedingten Amnesie und einer postdeliktisch entstandenen Amnesie nicht immer zu erreichen ist. Ebenso ist es nicht möglich, verlässlich zwischen einer Schutzbehauptung und einer tatsächlich vorhandenen Erinnerungslücke zu unterscheiden. Hinreichend valide und reliable diagnostische Kriterien existieren hierfür nicht. Dieser nicht auszuräumenden Unschärfe bei der Beurteilung von Amnesien steht traditionell ein hoher, aus psychiatrischer Sicht allerdings sachlich nicht zu begründender Stellenwert gegenüber, der einer Erinnerungsstörung sowohl von Laien als auch von juristischer Seite häufig noch immer beigemessen wird.
Merke Die Gleichsetzung von Erinnerungsunfähigkeit mit einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der Handlungsfähigkeit ist nicht zu begründen. Aus dem Umstand, dass ein Mensch sich an ein bestimmtes Geschehen nicht mehr erinnern kann, ist nicht ohne Weiteres abzuleiten, dass dieser Mensch zum Zeitpunkt des betreffenden Ereignisses in einem psychisch schwer gestörten Zustand gewesen sein muss. Bei der strafrechtlichen Beurteilung gewinnt die Angabe einer Erinnerungslücke erst im Kontext mit weiteren psychopathologischen Symptomen oder konkreten Auffälligkeiten des Tatverhaltens einen indiziellen Stellenwert, wie dies auch die revisionsrechtliche Sicht ist (Maatz 2001). Zu bedenken sind ferner Störungen der Erinnerungsfähigkeit, die postdeliktisch im Rahmen unterschiedlich bewusstseinsnaher Prozesse auftreten. Meist lassen sich komplexe Motivbündel diskutieren. Zu nennen ist der Wunsch nach Rechtfertigung und Entlastung („Das kann ich doch nicht gewesen sein“), ebenso
Stabilisierungsbemühungen labiler Ich-Funktionen durch Ausklammerung nicht bewusstseinsfähiger Inhalte oder abgewehrte Schuldgefühle. Der in diesem Zusammenhang gelegentlich verwendete Begriff „Verdrängung“ ist differenziert zu beurteilen. Mit diesem Begriff ist i. d. R. nicht der Fachterminus Verdrängung i. S. der psychoanalytischen Theoriebildung gemeint. Hier bedeutet Verdrängung ein Vorgehen, durch welches das Subjekt versucht, mit einem Trieb zusammenhängende Vorstellungen in das Unbewusste zurückzuverlagern oder dort festzuhalten. Die Verdrängung erfolgt in den Fällen, in denen die Befriedigung eines Triebes im Hinblick auf andere Forderungen Gefahr läuft, Unlust hervorzurufen. Im weiteren Sinn wird der Ausdruck Verdrängung in einer Bedeutung verwendet, die sich dem allgemeinen Begriff von Abwehr annähert (Laplanche und Pontalis 1973). Hiermit ist die Tatsache gemeint, dass ein nicht bewusstseinsfähiger Inhalt im Rahmen einer unzureichenden Konfliktlösung in das Unbewusste verlagert wird. Im forensisch-psychiatrischen Kontext bedeutet die Verwendung des Begriffs „Verdrängung“ oft nicht mehr als Vergessen oder auch schlicht nur den Unwillen, Auskunft zu geben (Glatzel 2003). Für die Einschätzung der Wertigkeit einer Erinnerungslücke sind stets die Angaben zu berücksichtigen, die der Proband im Laufe des Verfahrens gemacht hat. Die Mitteilung tatbezogener Einzeldetails in tatzeitnahen Vernehmungen spricht sehr dafür, dass es sich bei einer später vorgebrachten Erinnerungslücke um ein sekundäres Phänomen handelt. Daher ist eine umfassende Kenntnis der Verfahrensakte inkl. der Aussagen von Zeugen und Opfern über den konkreten Zustand des Täters unbedingt erforderlich. Habel und Schneider (2002) haben die folgenden Kriterien aufgestellt, die für die diagnostische Verwertbarkeit amnestischer Lücken bei Intoxikationen sprechen: • Es fehlt eine Ereignisfixierung. • Die zeitliche Sequenzierungsfähigkeit ist gestört (Zeitgitterstörung). • Es gibt Übergänge und Abstufungen mit teilweisem, undeutlichem und traumähnlichem Erinnern.
• Es kommt zu Erinnerungsinseln. • Normalerweise nimmt die Amnesie durch rekonstruktive Bemühungen in der postalkoholischen Phase eher ab, nicht jedoch zu. Bei der sozial- und versicherungsmedizinischen Begutachtung können unterschiedliche Probleme im Bereich der Erinnerungsfähigkeit auftreten. Am häufigsten wird der Sachverständige mit der Angabe lang dauernder Amnesien nach Schädel-Hirn-Traumata konfrontiert, wobei die Zeitdauer der Amnesie häufig nicht den in den Akten enthaltenen Informationen entspricht. Problematisch werden kann die Angabe von Erinnerungsstörungen bei der Einschätzung der posttraumatischen Belastungsstörung (➤ Kap. 35) und im Rahmen der Beurteilung von asyl- und ausländerrechtlichen Verfahren (➤ Kap. 46). Hier kann es zu einem weiteren Problem kommen, nämlich Pseudoerinnerungen oder falschen Erinnerungen (False-MemorySyndrom, Stoffels und Ernst 2002). Derartige Symptome treten meist bei der Beurteilung von tatsächlichen oder vermeintlichen psychischen Folgen belastender äußerer Ereignisse auf. Die Schilderungen der Probanden können ganz erhebliche diagnostische Schwierigkeiten bereiten und auch im Bereich der Glaubhaftigkeitsbeurteilung relevant werden (➤ Kap. 43).
2.11.4. Der Umgang mit Leugnung oder Geständnis Wird bei der strafrechtlichen Begutachtung eine Tat völlig geleugnet, so kann dies sowohl im Erkenntnisverfahren als auch bei der Prognosebegutachtung zu Schwierigkeiten führen. Im Erkenntnisverfahren steht der psychiatrische Sachverständige vor einem Dilemma: Die Behauptung des Beschuldigten kann richtig sein, wenn er tatsächlich nicht der Täter war; es kann eine reine Verteidigungsstrategie bei dennoch zutreffendem Tatvorwurf sein, oder das Bestreiten kann psychopathologisch determiniert sein, z. B. bei dissoziativen oder wahnhaften Störungen. Bevor im
Erkenntnisverfahren jegliche Stellungnahme vom Sachverständigen abgelehnt wird, können Alternativen bedacht werden: Möglicherweise kann die psychiatrische Diagnostik ohne Bezug zum Tatvorwurf dargestellt werden; evtl. ist es auch möglich, die Biografie des Probanden vor dem Hintergrund fremdanamnestischer Angaben zu erörtern. Im Rahmen der Prognosebegutachtung (➤ Kap. 30) ist die Bedeutung des weiteren Leugnens der verurteilten Tat umstritten (Bock und Schneider 2003). Eine ganz andere für den Sachverständigen schwierige Situation kann entstehen, wenn ein bislang leugnender oder schweigender Proband dem Sachverständigen gegenüber ein Geständnis ablegen will oder wenn ein Proband unaufgefordert von weiteren, bislang unbekannten Straftaten berichtet. Hierdurch kommt der Sachverständige in eine zwiespältige Situation: Einerseits ist es selbstverständlich nicht die Aufgabe des Sachverständigen, ein Geständnis entgegenzunehmen, andererseits kann es für den Probanden möglicherweise Hilfe und Entlastung bedeuten, sich dem Psychiater als einer neutralen und sachkundigen Person gegenüber zu öffnen und „reinen Tisch“ zu machen. In diesen Fällen sollte der Sachverständige den Probanden nochmals auf die Belehrung (fehlendes Schweigerecht und Weitergabe der Informationen an den Auftraggeber) hinweisen und ihn an seinen Verteidiger verweisen.
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KAPITEL 3
Standardisierte und psychometrische Untersuchungsverfahren in der forensischpsychiatrischen Begutachtung Andreas Mokros
3.1 Einleitung 3.2 Grundlagen 3.2.1 Objektivität 3.2.2 Reliabilität 3.2.3 Validität 3.2.4 Nebengütekriterien 3.3 Anwendung 3.3.1 Intelligenztests 3.3.2 Neuropsychologische Tests 3.3.3 Selbstberichtsfragebogen 3.3.4 Fremdbeurteilungsskalen: diagnostische Verfahren 3.3.5 Verfahren zur Beschwerdenüberprüfung 3.3.6 Projektive Verfahren 3.4 Rechtliche Rahmenbedingungen 3.5 Qualitätsanforderungen
3.1. Einleitung In einem Übersichtsartikel, der 1989 in der Zeitschrift Science veröffentlicht wurde, verglichen die Autoren Robyn Dawes, David Faust und Paul Meehl zwei Methoden der Diagnostik und Beurteilung miteinander: klinische Einschätzungen, die vom Beurteiler intuitiv geleistet wurden, und sogenannte aktuarische (oder statistische) Einschätzungen, deren Schlussfolgerungen auf der Anwendung einer expliziten numerischen Methode basierten. Synonym verwendete Begriffe sind informell, subjektiv oder impressionistisch für die klinisch-intuitive Einschätzung und formal, mechanisch oder algorithmisch für die aktuarisch-statistische Vorgehensweise (vgl. Grove und Meehl 1996). Wie die Übersichtsarbeit von Dawes et al. (1989) nahelegt, haben sich nach aktuarisch-statistischen Methoden gewonnene Bewertungen und Prognosen gegenüber den klinisch-intuitiven Einschätzungen in verschiedenen Bereichen als überlegen erwiesen, darunter z. B. die Abschätzung des Verlaufs von Hirnerkrankungen oder des Morbus Hodgkin. Eine systematischere Auswertung zu dieser Fragestellung, bezogen auf den Bereich der Vorhersage oder Prognostik, ist die Metaanalyse von Grove et al. (2000): Auf der Grundlage von 136 Einzelstudien aus unterschiedlichen Bereichen (somatische Medizin, Psychiatrie / Psychologie, Persönlichkeitsbeurteilungen sowie Schule und Ausbildung) waren aktuarische Prognosen verglichen mit klinischen Einschätzungen demnach in der weit überwiegenden Anzahl der Fälle genauer oder zumindest ebenbürtig; lediglich in acht Einzelstudien war die klinische Einschätzung treffsicherer. Zu
einem ähnlichen Ergebnis kommt eine Metaanalyse von Ægisdóttir et al. (2006): Unter 48 bewerteten Effekten waren statistische Verfahren in gut der Hälfte der Fälle (25) überlegen, während lediglich in fünf Fällen klinische Methoden besser waren; für 18 Effekte (gut ⅓) ergab sich kein Unterschied zwischen den Methoden. Eine Metaanalyse für den Bereich der Legalprognostik bei Sexualstraftätern anhand von 110 Einzelstudien stützt diesen Befund (Hanson und Morton-Bourgon 2009). Nach Maßgabe dieser Untersuchung waren unstrukturierte Einschätzungen im Schnitt weniger genau als die Ergebnisse einschlägiger aktuarischer Verfahren, und zwar sowohl in Bezug auf die Vorhersage erneuter Sexualdelikte als auch im Hinblick auf anderweitige Gewalt- oder jedwede Rückfalldelikte. Zudem zeigte sich in der Studie von Hanson und Morton-Bourgon (2009: 8, Tab. 3), dass die Anpassung der Ergebnisse aktuarischer Prognoseverfahren anhand klinischer Erwägungen durchweg zu einer Verschlechterung der Trefferquote führte, und zwar im Mittel von einer hohen zu einer mittelgradigen Effektstärke. Diese zusätzliche Auswertung basierte auf drei prospektiven Einzelstudien. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen Storey et al. (2012) sowie Wormith et al. (2012).
3.2. Grundlagen Im Vergleich mit einer klinisch-intuitiven Form der Befunderhebung bieten standardisierte psychologische Untersuchungsinstrumente wie Fragebogen oder Interviewleitfäden verschiedene Vorteile: größere Objektivität, eine umfassende (und konzeptgetreue) Erfassung des fraglichen Konstrukts und vor allem die Möglichkeit eines Abgleichs mit Normdaten, sodass individuelle Abweichungen gegenüber dem Durchschnitt quantifiziert werden können. Dementsprechend haben standardisierte Untersuchungsinstrumente in der forensisch-psychiatrischen Begutachtung in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen. Nichtsdestotrotz sind der Nützlichkeit standardisierter Untersuchungsinstrumente im forensischen Kontext mitunter enge Grenzen gesetzt, etwa aufgrund leichter Durchschau- und damit Manipulierbarkeit, z. B. von Persönlichkeitsfragebogen. Im vorliegenden Kapitel sollen Grundlagen, Indikationen und Möglichkeiten zur Anwendung und Interpretation standardisierter psychologischer Untersuchungsinstrumente im Rahmen der forensischpsychiatrischen Begutachtung erläutert werden. Grundsätzlich sind standardisierte psychologische Untersuchungsinstrumente eine sinnvolle Erweiterung zur Informationsgewinnung, müssen aber letztlich mit dem klinischen Eindruck zu einer Gesamteinschätzung abgeglichen werden.
3.2.1. Objektivität Merke Objektivität bezeichnet den Grad, in dem eine Einschätzung oder ein Befund unabhängig von der Person des Beurteilers zustande kommt. Liegen die Beurteilungskriterien klar auf der Hand und stehen dieselben Informationen zur Verfügung, sollten verschiedene Experten zur gleichen Einschätzung gelangen. Der Begriff der Objektivität ist weiter zu differenzieren in die Bereiche der Durchführungs-, Auswertungs- und Interpretationsobjektivität (vgl. Lienert und Raatz 1998). Während der Begriff der Durchführungsobjektivität auf die Untersuchungsbedingung (und deren weitgehende Unabhängigkeit von der Person des Untersuchers) abzielt, bedeutet Auswertungsobjektivität, dass bei der Kombination und Gewichtung einzelner Informationen festgelegte Schritte zu befolgen sind. Der Begriff der Interpretationsobjektivität schließlich bezieht sich auf die Eindeutigkeit, mit der ein bestimmtes Ergebnis einer bestimmten Bewertung oder Einordnung entspricht, etwa in Bezug auf den Schweregrad einer psychischen Störung. Wesentliche Maße zur Bewertung der Objektivität sind verschiedene statistische Koeffizienten zur Bestimmung der Beurteilerübereinstimmung (vgl. Greve und Wentura 1997). Unter diesen Maßen ist sicherlich der von Cohen (1960) eingeführte Kappa-Koeffizient (k) der gebräuchlichste. Im Unterschied zu z. B. Prozentangaben ist k zufallskritisch, d. h., k berücksichtigt das Ausmaß an Übereinstimmung, das allein durch Zufall zu erwarten wäre. Der Wertebereich von k reicht von -1 bis +1, wobei höhere Ü
Werte auf eine stärkere Übereinstimmung der Einschätzungen zweier Beurteiler hinweisen. Um zumindest von einer moderaten Beurteilerübereinstimmung sprechen zu können, sollten die k-Werte oberhalb von .40 liegen (Landis und Koch 1977). Letztlich gilt aber, wie Bertrand Russell es formulierte: „Even when the experts all agree, they may well be mistaken.“ Im vorliegenden Zusammenhang soll dieser Satz verdeutlichen, dass Objektivität (i. S. von Beurteilerübereinstimmung) allenfalls eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung für die Gültigkeit eines Befunds oder einer gutachterlichen Einschätzung sein kann. Vielmehr ist hierfür ausschlaggebend, ob für den verwendeten Test oder das eingesetzte Verfahren ein sinnvoller empirischer Zusammenhang mit der in Rede stehenden Eigenschaft oder Störung gegeben ist (➤ Kap. 3.2.3).
3.2.2. Reliabilität Merke Reliabilität bezeichnet die Zuverlässigkeit einer Messung oder Beurteilung. Das Ausmaß dieser Zuverlässigkeit, der Reliabilitätskoeffizient (Rel), wird definiert als der Anteil der Varianz der wahren Werte an der Varianz der beobachteten Messwerte, sodass gilt: 0 5
> 10
[0, ∞]
1
LR-d
≤ 0,5
≤ 0,2
≤ 0,1
[0, ∞]
1
NNTe
≤ 8,9
≤ 3,6
≤ 2,3
[1, ∞]
naf
Vgl. Kraemer et al. (2003). AUC = Area under the Curve (Fläche unter einer ROC-Kurve). d = standardisierter Mittelwertunterschied nach Cohen (1992). r = Produkt-Moment-Korrelationskoeffizient. rpb = punktbiserialer Korrelationskoeffizient (zwischen einer kontinuierlichen und einer dichotomen Variablen). LR = Likelihood-Quotient. NNT = Number Needed to Treat (Anzahl der notwendigen Behandlungen). a.
Keine Mindest- oder Höchstwerte definiert.
b.
Unter der Annahme einer Basisrate für das Vorliegen des dichotomen Merkmals in Höhe von 50 % (Rice und Harris 2005); bei Basisraten 50 % ergeben sich niedrigere Grenzwerte für kleine, mittlere und große Effekte, und zwar umso mehr, je näher sich die Basisraten an 0 % bzw. an 100 % annähern. c.
Positiver LR mit den Empfehlungen zur Bewertung der Effektstärke nach Jaeschke et al. (1994). Alternative Empfehlungen für geringe Effektstärken sind 3 (Kass und Raftery 1995) bzw. 5 (Goodman 1999), 10 (statt 5) für mittelgradige Effektstärken (Goodman 1999) und 20 (statt 10) für hohe Effektstärken (Kass und Raftery 1995). d.
Negativer LR mit den Empfehlungen zur Bewertung der Effektstärke nach Jaeschke et al. (1994).
e.
NNT mit den Empfehlungen von Kraemer et al. (2003): Anzahl der behandelten (oder exponierten) Probanden, die einen Behandlungserfolg zeigen / ein Kriterium aufweisen, verglichen mit der Kontroll- (oder nicht exponierten) Gruppe. NNT = 1 wäre ein perfektes Ergebnis in Behandlungsstudien, weil jeder behandelte Proband einen Behandlungserfolg und jeder unbehandelte einen Fehlschlag zeigen würde (Kraemer et al. 2003). Ist die Behandlung ineffektiver als die Kontrollbedingung, verwendet man keine negativen NNT-Werte, sondern berechnet stattdessen die Number Needed to Harm (NNH). f.
Nicht definiert; sehr große Werte würden Nulleffekte nahelegen (Kraemer et al. 2003).
Angesichts der oftmals dichotomen Entscheidungen und Beurteilungen im forensisch-psychiatrischen Bereich (Entlassung ja / nein; Gefährdung ja / nein; Mossman 1994b) findet anstelle des ProduktMoment-Korrelationskoeffizienten r oftmals die Variante rpb (der punktbiseriale Korrelationskoeffizient) Verwendung. Allerdings sind sowohl d als auch rpb anfällig für Verzerrungen durch Unterschiede in der Basisrate des zugrunde liegenden Merkmals (McGrath und Meyer 2006). Der Koeffizient AUC hingegen ist hiervon unbeeinflusst (Mossman 1994a), was die Popularität dieses Effektstärkemaßes im Bereich der kriminalprognostischen Forschung erklärt. Man kann sich die Bedeutung des AUC-Koeffizienten, der in der Praxis durch die Wilcoxon-Statistik geschätzt werden kann, wie folgt verdeutlichen: Wenn man nach Zufall je eine Person aus der Stichprobe der Rückfälligen und der Stichprobe der Nichtrückfälligen zieht, wie wahrscheinlich ist es dann, dass der letztlich rückfällige Proband im Vorhinein den höheren Kennwert in einem Risikoprognoseinstrument hatte? Um die diagnostische Nützlichkeit eines psychologischen Verfahrens beurteilen zu können, sind weitere Kriterien bedeutsam, nämlich zum einen die Frage, wie wahrscheinlich mit einem Test z. B. Kranke korrekt als krank erkannt werden können (Sensitivität bzw. Richtig-Positiv-Rate) und zum anderen die Frage, wie wahrscheinlich Gesunde anhand des Tests korrekt als nicht erkrankt zurückgewiesen werden (Spezifität bzw. Richtig-Negativ-Rate). Das Komplement zur Sensitivität ist die Falsch-Negativ-Rate (übersehene Kranke), das Komplement zur Spezifität die Falsch-Positiv-Rate (irrtümlicherweise für krank erklärte Gesunde) (➤ Kap. 30). Das Quotenverhältnis aus Richtig-Positiv-Rate und Falsch-Positiv-Rate bezeichnet man als positiven Likelihood-Quotienten (engl. Likelihood Ratio; LR + ; Deeks und Altman 2004). Um aus dem positiven Likelihood-Quotienten eines Tests abzuleiten, ob ein bestimmter Testwert im Einzelfall mutmaßlich auf
das Vorliegen einer Erkrankung hindeutet, ist aber auch die Auftretenshäufigkeit der Störung zu beachten. Ein Beispiel (aus Beck-Bornholdt und Dubben 2002: 122 ff.): Ein Mastdarmkrebs-Screeningtest habe eine Richtig-Positiv-Rate von 50 % und eine Falsch-Positiv-Rate von 3 %. Die 1-Jahres-Inzidenz für Mastdarmkrebs liege in der Altersgruppe der Betroffenen (75- bis 79-jährige Männer) bei 0,2 %, also wären etwa 200 Erkrankte unter 100.000 Männern dieses Alters zu erwarten. Von den 200 Erkrankten würde der Test etwa 100 korrekt als krank identifizieren (gemäß der Richtig-Positiv-Rate), jedoch auch der Falsch-Positiv-Rate entsprechend von den 99.800 Gesunden irrtümlicherweise etwa 2.994 als krank deklarieren, d. h., die Wahrscheinlichkeit, unter der Bedingung eines positiven Screeningbefunds tatsächlich krank zu sein, läge lediglich bei 100 / (100 + 2.994) = 0,032 oder 3,2 %. Obwohl der Test im vorangegangenen Beispiel einen hohen LR+-Wert aufweist (.50 / .03 ≈ 17), muss man einen sehr hohen Anteil falsch positiver Ergebnisse gewärtigen. Denn umgekehrt verweist der Quotient aus Falsch-Negativ-Rate und Richtig-Negativ-Rate (der negative Likelihood-Quotient, LR-) in Höhe von (.50 / .97 ≈ 0,52) auf eine nur geringe Effektstärke für den Ausschluss der betreffenden Erkrankung. Dementsprechend ist es u. U. problematisch, Screeningtests zu verwenden, wenn die Prävalenz der fraglichen Störung oder Auffälligkeit niedrig ist, weil dann mit vielen falsch positiven Resultaten zu rechnen ist (Streiner 2003). Daher dürfte es z. B. schwierig sein, ohne im Vorhinein entsprechendes tatnahes Verhalten beobachtet zu haben, allein aufgrund von Risikomerkmalen jene Schüler zu identifizieren, die eine besondere Gefährdung aufweisen, einen Amoklauf zu begehen. Aus demselben Grund wäre es nicht vertretbar, z. B. forensische Testverfahren zur Bestätigung oder zum Ausschluss einer pädophilen Neigung als Screeningtests bei Lehramtsanwärtern einzusetzen (vgl. Mokros et al. 2013). Forensisch-psychiatrische und -psychologische Sachverständige arbeiten nicht verdachtsunabhängig. Für die Anwendung diagnostischer Verfahren bedeutet dies, dass das Bestehen eines Tatverdachts und ggf. der klinische Eindruck die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer entsprechenden Störung erhöht. Hierdurch nimmt auch die Wahrscheinlichkeit für richtig positive Testbefunde zu. Bei der Bewertung von Testverfahren ist allerdings zu beachten, dass die Richtig- und Falsch-Positiv-Rate (und somit LR+ und LR–) zwischen verschiedenen Stichproben variieren kann (Brenner und Gefeller 1997; Miettinen und Caro 1994; Moons et al. 1996). Es kommt durchaus vor, dass bei medizinischen Diagnosen die Sensitivität eines Tests mit der Wahrscheinlichkeit verwechselt wird, dass ein Proband tatsächlich an der betreffenden Störung leidet, wenn der Test diesen Schluss nahelegt (vgl. Diaconis und Freedman 1981: Täuschung der Transposition bedingter Wahrscheinlichkeit). Dawes (1986) nennt als Beispiel hierfür einen Chirurgen, der allen Frauen mit einem bestimmten Mammografiebefund rät, sich das Brustgewebe operativ entfernen zu lassen, ohne die Prävalenz hinreichend zu beachten.2 Als Schlussfolgerung ergibt sich aus dem oben Dargestellten:
Merke Ein positiver Testwert erhöht die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Störung oder des gemessenen Merkmals, er ist jedoch kein definitiver Beweis für das Vorliegen der Störung oder des Merkmals (Howson und Urbach 2006). Oder anders formuliert: Halte es für möglich, dass du dich irrst (Lindley 2007). Schließlich ist bei der Bewertung der Ergebnisse standardisierter Verfahren zu beachten, dass selbst solche Verfahren, die auch das gleiche inhaltliche Konstrukt abzielen (also miteinander hoch korreliert sind) keineswegs identische Ergebnisse liefern, zumal im Einzelfall. Dass zwei Tests – bis auf den zufälligen Messfehler – in der Stichprobe gleiche Ergebnisse zeitigen würden, wäre nur für parallele Tests zu erwarten (die – nach evtl. erforderlicher Skalentransformation – den gleichen Erwartungswert und die gleichen Varianzen und Kovarianzen untereinander sowie Korrelationen mit externen Variablen aufweisen müssten; Votaw 1948; Wilks 1946; vgl. Lehmann 1983). Andererseits sollten konvergente Tests durchaus ähnliche Ergebnisse erbringen. Deutliche Diskrepanzen bedürfen daher der Erklärung.
3.2.4. Nebengütekriterien Abgesehen von den zuvor dargestellten Gütekriterien haben Lienert und Raatz (1998) noch die Merkmale Normierung, Vergleichbarkeit, Ökonomie und Nützlichkeit als sogenannte Nebengütekriterien betont. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die geeignete Normierung. Beispielsweise ist es für forensisch-psychiatrische oder -psychologische Fragestellungen zur intellektuellen Leistungsfähigkeit oftmals unerheblich, wie der Proband im Vergleich mit anderen Strafgefangenen abschneidet, und eine Normierung auf Grundlage von Inhaftiertenstichproben daher irrelevant. Vielmehr ist zur Beurteilung z. B. der Intelligenz bedeutsam, wie das Problemlösevermögen des Probanden in Relation zu den entsprechenden Fähigkeiten einer möglichst repräsentativen und hinsichtlich des Alters parallelen Stichprobe aus der Gesamtbevölkerung zu bewerten ist. Dabei ist aber zu beachten, dass allein die Unterteilung nach Altersgruppen möglicherweise bedeutsame Unterschiede zwischen diesen Subgruppen nivelliert (Wottawa 1980): Die durchschnittlichen Testleistungen 7-jähriger Kinder, die zur Schätzung eines IQ von 100 in dieser Altersgruppe Anlass geben würden, sind – absolut betrachtet – niedriger als die durchschnittlichen Testleistungen 17-jähriger Jugendlicher, die ebenfalls zur Ableitung eines IQ von 100 für 17-Jährige führen würden. Weitergehende Unterteilungen (etwa der Vergleich mit den Daten hirngeschädigter Patienten oder den Ergebnissen von Alkoholikern) können je nach Fragestellung sinnvoll sein, müssen aber bei der Ergebnisdarstellung klar bezeichnet werden. Ansonsten würde das individuelle Leistungsvermögen überschätzt. Ebenso kann bei der Bewertung des IQ die Verwendung veralteter Normen zu einer Überschätzung des individuellen IQ führen (sogenannter Flynn-Effekt; Flynn 1987). Der Flynn-Effekt, der mutmaßlich auf kulturelle Entwicklungen und eine zunehmende allgemeine Vertrautheit mit dem Aufgabentyp standardisierter Leistungstests zurückgeht (Flynn 2011), beschreibt den Umstand einer Zunahme durchschnittlicher Intelligenztestleistungen, wonach Probanden heute tendenziell höhere Testergebnisse erzielen, als dies vor Jahren der Fall gewesen wäre. Verwendet man veraltete Testnormen, würde die individuelle Intelligenz also tendenziell überschätzt, weil der Mittelwert der Testleistungen, der einst bei der Eichung des Tests zu einem IQ von 100 Anlass gab, heutzutage von der Mehrzahl der Probanden übertroffen würde. Nach Maßgabe von sechs Stichproben aus deutschsprachigen Ländern, die in der Originalarbeit von Flynn (1987) Erwähnung fanden, nämlich aus Deutschland (3), Österreich (1) und der Schweiz (2), lag die Größenordnung des vermeintlichen Zuwachses pro Jahr im Median bei 0,7 IQPunkten. Nach Maßgabe einer Metaanalyse von 285 Studien aus den USA und Großbritannien von den 1950er-Jahren bis 2010 ist der Effekt vorhanden, aber mit einem mittleren Zuwachs von 2,3 IQ-Punkten pro Dekade schwächer (Trahan et al. 2014). Aus neuester Zeit gibt es Hinweise für eine Stagnation oder gar Umkehrung des Effekts (Dutton et al. 2016). In den USA kann der Flynn-Effekt tödliche Konsequenzen zeitigen: Während intellektuelle Beeinträchtigungen mit einem IQ 70 (Flynn 2006). In Deutschland, Österreich oder der Schweiz ist immerhin zu befürchten, dass Minderbegabten aufgrund des Flynn-Effekts eine mögliche Schuldminderung bei der Strafzumessung, vor allem aber eine geeignete Behandlung (i. S. einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus) vorenthalten werden könnte. Neben der Zusammensetzung und der Aktualität der Normstichprobe ist jedoch auch die Differenzierungsfähigkeit des Testverfahrens zu berücksichtigen. Der Mehrfachwahl-WortschatzIntelligenztest (MWT-B; Lehrl 2005) differenziert z. B. vornehmlich im Bereich niedriger und mittlerer sprachlicher Intelligenz; für die Diagnostik sprachlicher Hochbegabung wäre das Verfahren denkbar ungeeignet. In ähnlicher Weise ist der Mini-Mental-Status-Test (MMST; Folstein et al. 1990) nicht sensitiv genug, um bereits diskrete Beeinträchtigungen der geistigen Leistungsfähigkeit zu erkennen. Ipsative Messungen, bei denen die Testwerte eines Probanden nicht (wie bei der normativen Messung) zu denjenigen anderer Probanden in Relation gesetzt, sondern vielmehr untereinander verglichen werden, können zur Erhellung individueller Stärken und Schwächen aufschlussreich sein (Wottawa 1980). Allerdings ist darauf zu achten, individuelle Testwertdifferenzen nicht als notwendigerweise pathologische Anzeichen überzuinterpretieren, insbesondere dann nicht, wenn die individuellen Kennwerte an deren eigener Streuung standardisiert worden sind. Hierdurch können nämlich auch triviale Unterschiede außer Proportion geraten. Geeigneter ist die kombinierte
Darstellung aus durchschnittlichen und individuellen Testwertprofilen (Wottawa 1980; zur Methodik von Profilvergleichen s. Huber 1973). Crawford et al. (1998) haben elaboriertere Methoden zur Beurteilung der Differenz von Testwerten in Einzelfällen bzw. zum Vergleich individueller Kennwerte mit Referenzwerten entwickelt (vgl. Crawford und Garthwaite 2005, 2007). Schließlich ist gerade bei umfassenden (neuro-)psychologischen Testbatterien zu beachten, dass es umso eher zu falsch positiven Einzelbefunden von vermeintlichen Funktionsdefiziten kommt, je mehr Einzeltests durchgeführt werden: Wer oft wirft, wirft auch mal daneben. Dementsprechend sind einzelne abnormale Kennwerte in neuropsychologischen Testbatterien auch bei Gesunden zu erwarten (Binder et al. 2009). Eine Methodik zur Abschätzung der allein durch Zufall zu erwartenden abnormalen Einzelbefunde haben Ingraham und Aiken (1996) vorgelegt; diesbezüglich ist aber zu beachten, ob die Einzeltests in einer Batterie voneinander unabhängig oder miteinander korreliert sind.
3.3. Anwendung Am Beispiel des § 63 StGB (Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus) soll die Auswahl psychologischer Tests veranschaulicht werden. Selbstverständlich können zahlreiche weitere straf- oder zivilrechtliche Fragestellungen durch den Einsatz psychologischer Verfahren erhellt werden, etwa die Beurteilung der Verantwortungsreife nach § 105 JGG oder die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Zeugen. Insofern dienen die folgenden Ausführungen zur exemplarischen Illustration; sie sind keineswegs als erschöpfende Darstellung gedacht. Drei von vier Eingangskriterien der Schuldfähigkeitsbeurteilung können Funktionsbereiche zugeordnet werden. Dies gilt für die krankhafte seelische Störung, den Schwachsinn und die sogenannte schwere andere seelische Abartigkeit (➤ Tab. 3.2). Die tiefgreifende Bewusstseinsstörung im juristischen Sinne hat hingegen kein funktionales Korrelat. Andererseits empfiehlt sich bei der Beurteilung, ob zum Tatzeitpunkt eine extreme Gefühlsaufwallung i. S. einer Explosiv- oder Schreckreaktion vorgelegen hat, durchaus eine orientierende Beschreibung der intellektuellen Leistungsfähigkeit, der Persönlichkeitsstruktur und möglicher neuropsychologischer Defizite, weil diese Merkmale sehr wohl Einfluss auf die Bereitschaft zu einer affektiven Entgleisung gehabt haben könnten. Neben den vier Eingangsmerkmalen wird in § 63 StGB danach gefragt, ob der entsprechende Zustand fortbestehe und infolgedessen eine Gefährlichkeit des Probanden weiterhin gegeben sei. Daher lässt sich auch die kriminalprognostische Bewertung unter das Schema in ➤ Tab. 3.2 subsumieren, obwohl strukturierte Verfahren zur Kriminalprognose vor allem im Rahmen von Prognosegutachten im engeren Sinne bedeutsam sind, etwa im Hinblick auf § 454 Abs. 2 StPO.
Tab. 3.2 Schuldfähigkeit (§§ 20, 21 StGB) und Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB): Eingangsmerkmale und zugehörige Störungsbilder mit betroffenen Funktionsbereichen und zur Abklärung geeigneten psychologischen Testverfahren Eingangskriterien / Mögliche Störungsbilder Fragen
Relevante Funktionsbereiche
Auswahl tauglicher Testverfahren
Krankhafte seelische Störung
• Aufmerksamkeit, Gedächtnis, exekutive Funktionen (Handlungsinitiierun g und -steuerung)
• Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung (TAP) • Wechsler Memory ScaleRevised (WMS-IV) • Farbe-WortInterferenztest • Behavioral Assessment of the Dysexecutive Syndrome (BADS) • Demenz-Test (DT)
Kognitive Flexibilität
• Wisconsin Card Sorting Test (WCST)
Planungsvermögen
• Turm von London (TL)
Impulskontrolle
Subtest Go / Nogo (TAP)
Affektregulation
• Beck-DepressionsInventar (BDI) • Hamilton Depression Scale (HAMD) • Toronto-AlexithymieSkala
• Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis • Affektive Störungen • Degenerative Hirnerkrankungen • Entzündliche Hirnerkrankungen • Schädel-Hirn-Trauma • Akute Intoxikation
Schwachsinn
Mindestens leichtgradige Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung
• Intelligenz • Lebenspraktische Fertigkeiten
• Weitgehend sprachfreie Tests der fluiden Intelligenz: Adaptiver Matrizentest (AMP), GrundintelligenztestSkala 2-Revision (CFT 20-R), Standard Progressive Matrizen (SPM) • Umfassender Intelligenztest: Wechsler Intelligenztest Erwachsene (WAIS-IV)
Schwere andere seelische Abartigkeit
•
Persönlichkeitsstruktur
Persönlichkeitsstörungen • Depravation infolge von Sucht • Störungen der sexuellen Präferenz • Neurotische, Impulsund Belastungsstörungen
Strukturierte Interviews: SCID-5-PD, IPDE (ggf. Fragebogen: PID-5, PSSI, IKP, NEO-PI-R, FPI-R)
Sexuelle Präferenzen
Clarke Sex History Questionnaire (ggf. SSPI o. Ä.)
Eingangskriterien / Mögliche Störungsbilder Fragen
Gefahr weiterer rechtswidriger Taten
Relevante Funktionsbereiche
Auswahl tauglicher Testverfahren
Ggf. Angst- und Zwangssymptomatik oder Störungen der Impulskontrolle
Klinische Selbstberichtsfragebogen: STAI, ADHS-E
Gewaltneigung allgemein
HCR-20, PCL-R, VRAG
Disposition zu sexueller Gewalt
SORAG, Static-99, Stable2007, Acute-2007
Bei der Zusammenstellung der empfohlenen Verfahren in ➤ Tab. 3.2 ist versucht worden, so weit wie möglich Leistungstests und Fremdbeurteilungsverfahren den Vorzug vor Selbstberichtsfragebogen zu geben. Lediglich bei der Beschreibung von Beschwerden und Symptomen im Hinblick auf Affekt, Angst und Zwang oder bei der Selbstcharakterisierung mittels Persönlichkeitsfragebogen ist die Introspektion des Probanden u. U. erforderlich. Diese Introspektion kann jedoch störungsbedingt beeinträchtigt sein oder intentional verfälscht wiedergegeben werden (i. S. sozialer Erwünschtheit, s. u.).
3.3.1. Intelligenztests Die Auswahl empfohlener Intelligenztests in ➤ Tab. 3.2 hat nicht nur die Hauptgütekriterien (Objektivität, Reliabilität und Validität) im Auge, sondern orientiert sich zusätzlich daran, so wenig bildungsabhängig wie möglich zu sein und aktuelle bevölkerungsrepräsentative Normen für verschiedene Altersgruppen vorzuhalten. Dabei ist aber darauf hinzuweisen, dass beim SPM-Test (Raven 1958; Raven et al. 1998) lediglich computergestützte Versionen entsprechende Normen bieten, während die letzte Fassung des Handbuchs zur Papier-und-Bleistift-Version (Horn 2009) nur Werte für Schüler und Studierende enthält. Mittlerweile ist der SPM-Test in ein Verfahren namens Ravens’s 2 integriert worden, für das auch in der Papier-und-Bleistift-Form Normen vorliegen (Pearson Clinical Assessment Deutschland 2019). Auch der CFT 20-R liegt mit umfassenderer aktueller Normierung in zweiter Auflage vor (Weiß 2019). Schließlich ist zu beachten, dass sich die gutachterliche Feststellung der Voraussetzungen für das juristische Eingangskriterium des sogenannten Schwachsinns keineswegs in der Nennung eines Intelligenzquotienten (mit Konfidenzintervall) erschöpft, sondern vielmehr ein Abgleich der Testleistung mit den lebenspraktischen Fähigkeiten des Probanden erfolgen muss. Nur wenn die Betrachtung der Lebensverhältnisse und des Werdegangs der Betreffenden darauf hindeuten, dass sie allenfalls einfache Routinetätigkeiten übernehmen können und nur bedingt zu einer selbstständigen Lebensführung in der Lage sind, kann eine entsprechende Diagnose gestellt werden.
3.3.2. Neuropsychologische Tests Zur Feststellung und Quantifizierung anderweitiger kognitiver Einbußen als jener, welche die Intelligenz betreffen, sind i. Allg. neuropsychologische Tests besonders geeignet (s. hierzu auch die Übersichten bei Littmann 2005; Larrabee 2011). So kann die computergestützte Beurteilung der Aufmerksamkeitsleistung mithilfe der Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung (TAP; Zimmermann und Fimm 2012) z. B. zur Bewertung des Ausmaßes der Negativsymptomatik im Rahmen einer schizophrenen Erkrankung ebenso nützlich sein (Reed et al. 2002) wie für die Abschätzung von Funktionsdefiziten nach Schädel-Hirn-Trauma. Die Subtests zur Geteilten Aufmerksamkeit, zum Arbeitsgedächtnis und – bei basalen Einschränkungen – zur Alertness haben sich hierfür als besonders praktikabel erwiesen. Zwar liegen auch empirisch gut überprüfte Papier-und-Bleistift-Verfahren zur Bewertung von Aufmerksamkeit und Konzentrationsvermögen vor – z. B. FAIR-2 (Moosbrugger und Oehlschlägel 2011) oder d2R (Brickenkamp et al. 2010) – , jedoch erfordern jene aufgrund ihrer Konzeption als Geschwindigkeitstests auch ein gewisses Maß an Fingerfertigkeit und handmotorischer
Geschicklichkeit von den Probanden, während die reine Anwendung von Reaktionstasten wie bei der TAP mögliche Artefakte aufgrund mangelnder Geschicklichkeit weitgehend ausschließt. Im Hinblick auf Einschränkungen der kognitiven geistigen Flexibilität, die sich u. a. in Perseverationen bei geistigen Anforderungen niederschlagen kann, hat sich z. B. der WisconsinKartensortiertest (WCST, Heaton et al. 1993) bewährt. Alternativ erscheint der Ruff Figural Fluency Test (Feldmann und Melchers 2004) tauglich. Allerdings liegen nach Kenntnis des Autors weder für den WCST noch für den Ruff Figural Fluency Test deutschsprachige Normen vor, jedenfalls was die Papierund-Bleistift-Versionen betrifft. Erhöhte Irritierbarkeit durch widerstreitende gedankliche Einflüsse kann etwa mithilfe des Farbe-Wort-Interferenztests (Bäumler 1985), besser bekannt als Stroop Test, erfasst werden. Das Planungsvermögen i. S. der zielorientierten Sequenzierung gedanklicher Vorgänge kann durch den Turm-von-London-Test (Tucha und Lange 2004) erfasst werden. Zur Abschätzung der Fähigkeit zur Impulskontrolle kommt der Subtest Go / Nogo aus der TAP infrage, wobei die Aufgabenstellung auch selektive Aufmerksamkeit bzw. eine Kategorisierungsleistung erfordert. Eine differenzierte Bewertung mnestischer Funktionen, die sowohl Erwerb und Wiedergabe abprüft, und zwar auch über längere Intervalle, ermöglicht die revidierte Fassung der Wechsler Memory Scale (WMS-IV, dt. von Petermann und Lepach 2012). Ergänzend kann der nonverbale Corsi-Blockspannen-Test (Milner 1971) als Test für die Leistungsfähigkeit des visuell-räumlichen Arbeitsgedächtnisses eingesetzt werden (Vandierendonck et al. 2004; Schellig 1997). Schwerwiegende Defizite in exekutiven Funktionen können durch die Testbatterie BADS (Wilson et al. 2000) alltagsnah erfasst werden; bei Verdacht auf eine neurodegenerative Erkrankung kommt z. B. der Demenz-Test (Kessler et al. 1999) infrage. In jedem Fall erlaubt eine Auswahl der vorgenannten neuropsychologischen Tests eine exaktere Beurteilung von Einschränkungen des formalen Denkens, als dies mithilfe des populären Sich-erklären-Lassens von Sprichwörtern geleistet werden kann; eine Normierung eines solchen Tests zur Erläuterung von Sprichwörtern (mit entsprechenden Kodierungsrichtlinien) haben übrigens Barth und Küfferle (2001) vorgelegt.
3.3.3. Selbstberichtsfragebogen Affektive Störungen können u. a. mithilfe von Selbstberichtsfragebogen zur Symptomatik depressiver Erkrankungen (BDI-II; Hautzinger et al. 2009) oder mit der Toronto-Alexithymie-Skala (TAS-26; Taylor et al. 1985) in der deutschen Fassung von Kupfer et al. (2001) abgeschätzt werden. Auch zur Beurteilung des Schweregrads und der Auftretensbedingungen von Angst- oder Zwangsstörungen als mögliche Voraussetzung für die juristische Zumessung einer schweren anderen seelischen Abartigkeit sind u. U. Symptomchecklisten oder Beschwerdefragebogen erforderlich. Über die psychologische Persönlichkeitsdiagnostik im Kontext der Schuldfähigkeitsbegutachtung informieren z. B. Scheurer und Richter (2005). Die Verwendung von allgemeinen Persönlichkeitsfragebogen, etwa nach Eysencks Drei-Faktoren-Modell der Persönlichkeit wie im Fall des revidierten Eysenck Personality Questionnaire (EPQ-R; dt. von Ruch 1999) oder nach der einflussreicheren Fünf-Faktoren-Theorie der Persönlichkeit von Costa und McCrae, z. B. anhand des revidierten NEOPersönlichkeitsinventars (NEO-PI-R; dt. von Ostendorf und Angleitner 2004), erbringt für forensischpsychiatrische Zwecke oftmals kaum einen Erkenntnisgewinn, weil die Antworten im Prinzip in die eine wie die andere Richtung moduliert werden können. Zudem dürfte auch für einen unterdurchschnittlich begabten Probanden klar sein, dass z. B. das Bejahen der Frage, ob man mitunter gern Tiere necke oder quäle, nicht unbedingt ein günstiges Licht auf ihn werfen dürfte. Im Rahmen des Alternativmodells zur Erfassung von Persönlichkeitsstörungen nach dem DSM-5 (APA 2013; dt. Fassung APA 2015) sind vier von fünf Merkmalsdomänen der B-Kriterien maladaptive Varianten der Persönlichkeitsfaktoren im Sinne von Costa und McCrae: negative Affektivität (statt emotionaler Stabilität), Verschlossenheit (statt Extraversion), Antagonismus (statt Verträglichkeit) und Enthemmtheit (statt Gewissenhaftigkeit); lediglich Psychotizismus als fünfte Domäne entstammt Eysencks Persönlichkeitstheorie und hat keine direkte Entsprechung im Fünf-Faktoren-Modell (➤ Kap. 21).
ICD-11 In ähnlicher Weise wird die dimensionale Konzeptualisierung der Persönlichkeitsstörungen in der ICD-11 voraussichtlich anhand der Domänen negative Affektivität (statt emotionaler Stabilität), Distanziertheit (statt Extraversion), Dissozialität (statt Verträglichkeit) und Disinhibition (statt Gewissenhaftigkeit) erfolgen, zuzüglich einer weiteren Domäne (Zwanghaftigkeit), die keine direkte Entsprechung im Fünf-Faktoren-Modell hat.
Ein Selbstberichtsfragebogen für das DSM-5-Alternativmodell zur Erfassung von Persönlichkeitsstörungen ist das Personality Inventory for DSM-5 (PID-5), das auch in deutscher Sprache vorliegt, und zwar in einer Langfassung mit 220 Items (frei verfügbar unter: www.hogrefe.de/fileadmin/user_upload/hogrefe_de/Downloads/DSM-5_Online-Material/PID-5.pdf) und in einer Kurzfassung mit 25 Items (frei verfügbar unter: www.hogrefe.de/fileadmin/user_upload/hogrefe_de/Downloads/DSM-5_Online-Material/PID-5BF.pdf). Ein analoges Verfahren im Hinblick auf die Konzeption von Persönlichkeitsstörungen gemäß ICD-11 liegt nach Kenntnis des Verfassers bislang nur in englischer Sprache vor (Personality Inventory for ICD-11, PiCD; Oltmanns und Widiger 2018). Für weiterführende Informationen zu diagnostischen Verfahren im Hinblick auf das DSM-5-Alternativmodell s. Rek und Zimmermann (2018). Bedeutsamer als globale Persönlichkeitseigenschaften erscheinen daher im forensisch-psychiatrischen Zusammenhang bestimmte Dispositionen, die in Zusammenhang mit Delinquenz stehen. Es ist anzunehmen, dass langfristig heutzutage experimentell genutzte Verfahren, etwa der Iowa Gambling Task (Bechara et al. 1994) oder der Balloon Analogue Risk Task (Lejuez et al. 2002) i. S. objektiver Persönlichkeitstests an Bedeutung gewinnen werden, um etwa die Risikobereitschaft oder die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub (als Teilaspekte des Merkmals Impulsivität) zu untersuchen. Einstweilen kann Impulsivität z. B. explorativ mithilfe der Barratt-Impulsivitätsskala (BIS-11; Patton et al. 1995) erfasst werden. Allerdings handelt es sich bei der Normstichprobe der deutschsprachigen Version (Preuss et al. 2008) um eine Gelegenheitsstichprobe, für die zudem nur der Mittelwert und die Streuung (SD) der Werteverteilung angegeben werden, sodass allenfalls eine grobe Einteilung (durchschnittlich, unteroder überdurchschnittlich) erfolgen kann, je nachdem ob der Kennwert eines Probanden im Bereich einer SD-Einheit um den Mittelwert der Normstichprobe oder darunter bzw. darüber liegt. Eine mögliche Alternative wäre die Kurzfassung des UPPS-Fragebogens (dt. von Keye et al. 2009), wobei nach Kenntnis des Autors hierfür bislang noch keine Normdaten publiziert worden sind. Der Kurzfragebogen zur Erfassung von Aggressivitätsfaktoren (K-FAF; Heubrock und Petermann 2008) betrifft ebenfalls ein forensisch-psychiatrisch bedeutsames Merkmal. Im Unterschied zur Vorgängerversion beinhaltet der K-FAF allerdings keine Kontrollskala für Offenheit mehr. Die Reliabilitätskoeffizienten der Subskalen des K-FAF liegen nur teilweise im zufriedenstellenden (Erregbarkeit, Selbstaggressivität) bis guten Bereich (Gesamtwert Aggressivität), für eine Subskala (Aggressionshemmung) hingegen deutlich darunter (Rel = .55). Neben den Normdaten einer teilweise aus Studierenden der Psychologie bestehenden Eichstichprobe stehen zusätzlich die Skalenwerte einer Gruppe von 54 Straftätern und 6 Straftäterinnen zur Verfügung, was die vergleichende Einordnung von Probandenkennwerten zwischen Norm- und Straftäterstichprobe ermöglicht. Zudem stehen für den KFAF Versionen in türkischer und russischer Sprache zur Verfügung, allerdings ohne entsprechende Normen. Die deutsche Fassung des Multiphasic Sex Inventory (MSI; Deegener 1996) wurde zwar häufig in der Begutachtung von Sexualstraftätern eingesetzt. Mit Vergleichsgruppen von 20 Kindesmissbrauchern, 19 Vergewaltigern und 110 Medizinstudenten war die Normierung des Verfahrens jedoch unzureichend. Zwischenzeitlich wurde zwar eine Neunormierung vorgenommen (Fehringer et al. 2016), allerdings kann auch die Neuauflage des Verfahrens nicht alle Bedenken zerstreuen (s. Testrezension von Schmidt 2017). Zudem ist der Fragebogen mit 300 Items sehr umfangreich, und die Verwendung negativ gepolter Items führt bei Probanden mitunter zu Verständnisproblemen, etwa ob man mit „richtig“ oder „falsch“ auf die Frage „Ich habe noch nie ein Mädchen sexuell belästigt“ antworten müsste, wenn man dies tatsächlich noch nie getan hat.
Soziale Erwünschtheit Diverse Selbstberichtsfragebogen enthalten sogenannte Offenheits- oder (andersherum kodiert) Lügenskalen, mit deren Hilfe Antwortverzerrungen festgestellt werden sollen, so etwa das revidierte Freiburger Persönlichkeitsinventar (FPI-R; Fahrenberg et al. 2010) oder das EPQ-R (Ruch 1999). Wie Paulhus (1984) zeigen konnte, umfasst das Konstrukt der sozialen Erwünschtheit zwei Komponenten: zum einen Selbsttäuschung und zum anderen Eindruckskontrolle (engl. „impression management“). Während Ersteres auf die i. d. R. unbewusste Neigung abzielt, eigene Eigenschaften oder Fähigkeiten verzerrt darzustellen (etwa i. S. einer Selbstidealisierung), beschreibt der Begriff der Eindruckskontrolle das Bestreben, sich selbst in einem möglichst günstigen, zumindest aber unverfänglichen Licht zu präsentieren. Die Selbsttäuschung zeigt sich vornehmlich in der Leugnung intrapsychischer Konflikte oder Unsicherheiten, wohingegen die Eindruckskontrolle in der Zuschreibung unwahrscheinlicher Tugenden deutlich wird. Ein Beispiel für Selbsttäuschung wäre die Behauptung, niemals Groll gegen die eigenen Eltern gehegt zu haben; ein Beispiel für Eindruckskontrolle hingegen die Aussage, immer höflich und zuvorkommend zu sein, auch zu sehr unfreundlichen Mitmenschen. Eine deutschsprachige Fassung des ursprünglich von Paulhus entwickelten Balanced Inventory of Desirable Responding (BIDR) wurde von Musch et al. (2002) vorgelegt, wobei die Reliabilität der Subskalen mit Werten von .64 und .66 (geschätzt über die interne Konsistenz) für Selbsttäuschung und Eindruckskontrolle im Hinblick auf Einzelfallbeurteilungen zu gering ist. Problematisch an solchen Kontrollskalen ist allerdings, dass es sich bei der Bereitschaft, sozial erwünscht zu antworten, offenbar nicht um eine stabile Eigenschaft oder situative Tendenz handelt, die klar abgrenzbar wäre, sondern vielmehr um eine Disposition, die mit anderen Persönlichkeitseigenschaften eng verwoben ist. So verweist eine Metaanalyse von Ones et al. (1996) z. B. darauf, dass emotionale Stabilität und Gewissenhaftigkeit mit dem Grad sozial erwünschter Antworttendenzen positiv korreliert seien. Ebenso konnten Costa und McCrae (1983) zeigen, dass Skalen zur sozialen Erwünschtheit auch inhaltliche (sprich: eigenschaftsbezogene) Aspekte abbilden und nicht nur Selbst- oder Fremdtäuschung. Daher ist bei der Interpretation der Ergebnisse von Offenheits- oder Lügenskalen Vorsicht geboten, zumal die Werte mit dem Alter des Probanden zusammenhängen. Im Durchschnitt weisen ältere Probanden höhere Ausprägungen sozial erwünschter Antworttendenzen auf als jüngere (z. B. Soubelet und Salthouse 2011). Höhere Kennwerte in Bezug auf soziale Erwünschtheit können demnach auch Ausdruck besonderer Gewissenhaftigkeit (oder Zwanghaftigkeit) oder höheren Lebensalters sein. Eine vorschnelle Interpretation des gesamten Fragebogenprotokolls als nicht authentisch muss folglich vermieden werden. Daher sollte ein hoher Schwellenwert auf entsprechenden Skalen festgelegt werden, der zum Verwerfen des Fragebogenprotokolls führen würde. Eysenck (1976) hat hierfür z. B. einen Wert vorgeschlagen, der gegenüber dem Mittelwert der Normstichprobe um mehr als zwei SD-Einheiten nach oben abweichen würde. Dass Strafgefangene darüber hinaus durchaus in der Lage sind, ihre Antworten in Selbstberichtsfragebogen im Sinne von Dissimulation negativer Merkmale (sogenanntes „faking good“) oder einer Aggravation / Simulation von Symptomen („faking bad“ bzw. „malingering“) zu modulieren, zeigte bereits eine Studie von Gendreau et al. (1973), und zwar unter Verwendung des Minnesota Multiphasic Personality Inventory (MMPI). Neben der inhaltlichen Auswahl von Antworten i. S. der sozialen Erwünschtheit kann die Authentizität eines Fragebogenprotokolls auch aus anderen Gründen infrage gestellt sein. Einer dieser Gründe ist die Akquieszenz (oder Ja-Sage-Tendenz) bzw. die Nein-Sage-Tendenz (vgl. Weijters et al. 2010). Ein weiteres Problem stellt die mangelnde Ausschöpfung sämtlicher Antwortalternativen bei mehrfach gestuften Selbstbeurteilungsskalen dar: Möglicherweise wählt der Proband sehr häufig die neutrale Mittelkategorie („weiß nicht“ oder „neutral“) und gelegentlich die Optionen „stimme eher zu“ oder „stimme eher nicht zu“, fast nie jedoch die Optionen „stimme voll zu“ oder „stimme überhaupt nicht zu“. In der Folge ergibt sich ein blandes Durchschnittsprofil, und es bleibt offen, ob dies einen unauffälligen Menschen beschreibt oder eher Ausdruck des Wunsches ist, möglichst unauffällig zu erscheinen. Die Akquieszenz (oder alternativ die Nein-Sage-Tendenz) lässt sich bei binären Antwortformaten (ja / nein) über einen Binomialtest abprüfen, wenn aus Stichprobendaten der Erwartungswert für die Anzahl der Ja-Antworten bekannt ist. Um andererseits bei mehrstufigen Antwortformaten einen Eindruck
davon zu erlangen, ob der Proband das Spektrum der Antwortalternativen ausschöpft, kann man den relativen Informationsgehalt des Antwortprofils nach der Formel berechnen, die bei Mittenecker und Raab (1973) wiedergegeben ist.
3.3.4. Fremdbeurteilungsskalen: diagnostische Verfahren Das Ausmaß und die Ausprägung von Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis können mithilfe von psychiatrischen Fremdbeurteilungsverfahren wie der Positive and Negative Symptom Scale (PANSS; Kay et al. 1999) beschrieben werden. Für affektive Störungen steht als psychiatrische Fremdbeurteilungsskala z. B. die Hamilton Depression Scale (HAMD; CIPS 1977) zur Verfügung (kritisch zur HAMD z. B. Stieglitz 2007). Weniger als bei der Beurteilung der Voraussetzungen für das Vorliegen einer deoder exkulpierungsrelevanten krankhaften seelischen Störung spielen Fremdbeurteilungsverfahren jedoch im Zusammenhang mit Diagnosen eine Rolle, die unter die schwere andere seelische Abartigkeit subsumiert werden können. Insbesondere bei der Klärung der Frage, ob eine Persönlichkeitsstörung vorliegt, kommen Fremdbeurteilungsverfahren zum Einsatz. Taugliche Verfahren in dieser Hinsicht sind etwa das Strukturierte Klinische Interview für DSM-5® – Persönlichkeitsstörungen (kurz: SCID-5-PD; Beesdo-Baum et al. 2019) oder die deutsche Fassung der International Personality Disorder Examination (IPDE; Mombour et al. 1996). Dabei handelt es sich jeweils um Leitfäden für halbstrukturierte Interviews. Auch wenn z. B. das SCID-5-PD einen Screeningfragebogen beinhaltet, aufgrund dessen sich Verdachtsdiagnosen ergeben können, die im nachfolgenden Interview näher beleuchtet werden sollten, stellen diese Selbsteinschätzungen des Probanden weder alleinige Ein- noch gar Ausschlusskriterien für mögliche weitere oder andere Persönlichkeitsstörungen dar; d. h., auch anderweitige (z. B. fremdanamnestische) Informationen oder der Eindruck aus der Verhaltensbeobachtung sollten Grundlage sein, um mögliche diagnostische Kriterien für Persönlichkeitsstörungen im Interview eingehend zu erfragen. Wie eine ältere Übersichtsarbeit von Zimmerman (1994) nahelegt, führt die Verwendung (halb-)strukturierter Interviews bei der Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen in der Tat zu einer besseren Beurteilerübereinstimmung als eine klinisch-intuitive Vorgehensweise. So ergaben sich bei Verwendung halbstrukturierter Interviews zur Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen mittlere kWerte zwischen .62 und .77, während Diagnosen aufgrund unstrukturierter klinischer Interviews erheblich weniger Übereinstimmung aufwiesen (.01 ≤ k ≤ .49, Median = .23). Der zusätzliche Einsatz von Selbstberichtsverfahren für Persönlichkeitsakzentuierungen oder störungsanaloge Eigenschaften – z. B. Inventar Klinischer Persönlichkeitsakzentuierungen von Andresen (2006), Persönlichkeitsstil- und Störungsinventar von Kuhl und Kazén (1997), Konfliktverhalten situativ von Klemm (2002), Narzissmus-Inventar von Deneke und Hilgenstock (1989) oder Borderline-PersönlichkeitsInventar von Leichsenring (1997) – ist vertretbar, jedoch können deren Ergebnisse den diagnostischen Befund von Fremdbeurteilungsverfahren allenfalls ergänzen, nicht aber grundlegend verändern (s. hierzu auch die ausführliche vergleichende Darstellung bei Littmann 2014). Die auf der Diagnose einer Persönlichkeitsstörung aufbauende Frage, ob diese auch als schwere andere seelische Abartigkeit aufzufassen sei (vgl. Kröber 2014), kann durch die Skala zur Erfassung des Funktionsniveaus der Persönlichkeit (SEFP) (APA 2015), die im Anhang des DSM-5 im Alternativmodell für die Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen enthalten ist, eine Objektivierung erfahren. Die SEFP sieht vor, für die Bereiche Identität, Selbststeuerung, Empathie und Nähe jeweils kriteriengeleitet eine Einstufung auf einer fünfstufigen Skala vorzunehmen (von 0: keine oder geringfügige Beeinträchtigung bis 4: extreme Beeinträchtigung). Dies steht weitgehend in Übereinstimmung mit den Empfehlungen, bei der Einstufung einer Persönlichkeitsstörung als schwere andere seelische Abartigkeit u. a. Auffälligkeiten in der Affektregulation, Einengungen der Lebensführung, Beeinträchtigungen in der Beziehungsgestaltung, unflexible Denkstile, Störungen des Selbstwertgefühls sowie Schwächen in psychischen Abwehrmechanismen und in der Realitätsprüfung zu beachten (Boetticher et al. 2005). Für die Diagnostik von Psychopathie i. S. von Cleckley oder Hare kommt vor allem der Einsatz der Psychopathy Checklist in ihrer revidierten Fassung (PCL-R; Hare 2003; dt. von Mokros et al. 2017) oder in der Kurzfassung (PCL:SV; Hart et al. 1995, deutschsprachige Handbuchbeilage von Freese 1999) infrage (➤ Kap. 21, ➤ Kap. 30).
Schließlich ist denkbar, dass Fremdbeurteilungsverfahren in Bezug auf das Tatverhalten für die forensisch-psychiatrische Diagnostik und Prognostik an Bedeutung gewinnen werden (Lehmann et al. 2018; Osterheider und Mokros 2006). In den letzten Jahren wurden entsprechende Skalen für die Diagnostik sexueller Präferenzstörungen, konkret: Pädophilie (Seto und Lalumière 2001; Dahle et al. 2014) und Sadismus (Mokros et al. 2014) entwickelt, ebenso für die Abschätzung des Risikos erneuter Delinquenz bei Sexualstraftätern (Dahle et al. 2010). Beispielhaft sei hier die revidierte Screening Scale for Pedophilic Interests (SSPI-2) von Seto et al. (2017) erläutert. Die SSPI-2 soll abzuschätzen erlauben, ob bei einem Probanden möglicherweise eine pädophile Neigung vorliegt. Hierfür werden fünf Kriterien anhand der aktenkundigen Informationen über die einschlägigen Delikte von Personen kodiert, die sexuelle Missbrauchsdelikte an Kindern begangen haben: mindestens ein männliches Opfer, mehr als ein Opfer, mindestens ein Opfer im Alter von 11 Jahren oder darunter, mindestens ein Opfer außerhalb der (erweiterten) Familie des Probanden sowie Besitz / Verbreitung / Herstellung von Kinderpornografie. Als vorhanden gewertete Merkmale werden jeweils mit einem Punkt gewertet, sodass der Höchstwert in der SSPI-2 fünf Punkte beträgt.3 Die Beurteilerübereinstimmung bei der Kodierung entsprechender Tatverhaltensweisen ist für die Sexueller-Sadismus-Skala (SeSaS) (Mokros et al. 2014) und für die Screening-Skala Pädophilen Tatverhaltens (Dahle et al. 2014) als gut zu bezeichnen; ebenso ergaben sich Hinweise für die konvergente Validität mit anderweitigen Verfahren bzw. mit klinischen Diagnosen, teilweise auch Hinweise auf inkrementelle Validität gegenüber bestehenden Verfahren (so z. B. beim Tatbild-Risiko-Score, Dahle et al. 2010). Ein Vorteil solcher Tatverhaltensskalen ist ihre nichtreaktive Struktur: Ihre Ergebnisse können vom Probanden nicht i. S. positiver Eindrucksbildung verfälscht werden. Andererseits sind die Werte auf entsprechenden Skalen nur so aussagekräftig, wie es der Detailreichtum und die Fülle der vorliegenden Informationen zum Tatbild erlauben.
3.3.5. Verfahren zur Beschwerdenüberprüfung Verfahren zur sogenannten Beschwerdenvalidität oder zur Simulationsdiagnostik zielen darauf ab, das Übertreiben vorhandener Symptome (Aggravation) oder das Vortäuschen nicht vorhandener Symptome (Simulation) erkennbar zu machen. Bei den entsprechenden Verfahren handelt es sich entweder um Symptomchecklisten oder um Leistungstests. Ein Beispiel für eine entsprechende Symptomcheckliste ist der Strukturierte Fragebogen Simulierter Symptome (SFSS; Cima et al. 2003), der deutschen Version des Structured Inventory of Malingered Symptomatology (SIMS; Smith und Burger 1997). Der SFSS umfasst 75 Aussagen, die mit „ja“ oder „nein“ zu beantworten sind. Je mehr unplausible Symptome für vermeintlich vorliegende psychische Störungen angegeben werden, desto größer ist der Verdacht auf Aggravation oder Simulation, wofür neben bereichsspezifischen Grenzwerten auch ein übergeordneter Trennwert angegeben wird. Wie Mossman (2000) dargestellt hat, ist die Belastbarkeit einer entsprechenden Interpretation (sprich: überschwelliger Kennwert als Indiz für Simulation) jedoch nicht nur von der Trennschärfe des Verfahrens (also seiner Sensitivität und Spezifität) abhängig, sondern auch von der Auftretenshäufigkeit des Phänomens Simulation i. Allg. (vgl. hierzu ➤ Kap. 3.2.3). Belastbare Schätzungen zur Häufigkeit von Simulation und Aggravation sind aber nach Dreßing et al. (2011) in Deutschland nicht verfügbar. Wie die Autoren des SFSS vor dem Hintergrund dieser Unwägbarkeiten ausführen, sei das Verfahren jedoch ohnehin nicht als diagnostischer Test zur Beurteilung von Einzelfällen geeignet: „Unsere Ergebnisse machen deutlich, dass in einer gemischten Stichprobe von ehrlich antwortenden Personen, instruierten Simulanten und forensisch-psychiatrischen Patienten die diagnostischen Genauigkeitswerte für den SFSS recht akzeptabel sind, solange man den SFSS eher als Screeningmethode betrachtet und nicht als ein Instrument, welches im Einzelfall eine Entscheidung, ob der Patient simuliert, liefert […].“ Cima et al. (2003: 982)
Auch in einer Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) heißt es: „Keineswegs darf ein auffälliger Befund in einem BVT [Anm.:
Beschwerdenvalidierungstest] von vornherein mit Simulation gleichgesetzt werden“ (Dreßing et al. 2011: 3); vielmehr müsse eine Einordnung entsprechender Testergebnisse in das Gesamtbild einer umfassenden neurologisch-psychiatrischen Untersuchung erfolgen. Die alternative Form von Beschwerdenvalidierungs- oder Simulationstests sind Leistungstests, die so konstruiert sind, dass der aggravierende oder simulierende Proband bei der Bearbeitung kognitiver Aufgaben, etwa zur Merkfähigkeit, erheblich mehr Fehler macht oder Zeit benötigt, als zu erwarten wäre; d. h., ein Versagen bei einfachsten Aufgaben oder eine überzufällig hohe Fehlerquote dienen als Hinweise für Aggravation bzw. Simulation. Ein Beispiel für ein solches Verfahren ist die Testbatterie zur Forensischen Neuropsychologie von Heubrock und Petermann (2000). Ein anderes Beispiel ist der Amsterdamer Kurzzeitgedächtnistest (AKGT; Schmand et al. 2005). Eine Übersicht weiterer Verfahren geben Merten et al. (2009). „Die Diagnostik der Beschwerdenvalidität ist in gewisser Weise ein Täuschungsprozess“, wie Bush (2007: 72) darlegt. Beispielsweise wäre die Instruktion, es handele sich bei einem vorliegenden Verfahren um einen Gedächtnistest, kaum hinreichend, wenn faktisch die Leistungsmotivation des Betreffenden überprüft werden soll. Eine solche Vorgehensweise steht nach Auffassung des Verfassers im Widerspruch zu der Maßgabe, wonach der Proband seine Einwilligung zur Teilnahme an psychologischen Testverfahren nach entsprechender Information erteilen oder verweigern können muss – erst recht, wenn für den Betreffenden viel vom Ergebnis der Testung abhängt, was bei der forensisch-psychiatrischen / forensisch-psychologischen Begutachtung nahezu regelhaft der Fall ist.
3.3.6. Projektive Verfahren Die Konzeption projektiver Verfahren basiert auf der Annahme, dass relativ unspezifische oder uneindeutige Anregungsbedingungen Reaktionen aufseiten des Subjekts bedingen, die dessen Neigungen, Motiven oder Persönlichkeitsstruktur entsprechen würden, und – psychodynamisch gedeutet – anhand des Abwehrmechanismus der Projektion zutage treten würden. Was in der (oftmals bildhaft) dargestellten Situation des projektiven Tests gesehen werde, sei demnach eine Zuschreibung, die gleichsam einen Spiegel eigener Regungen darstellen soll. Bekannte projektive Verfahren sind etwa der Rorschach-Test (Rorschach 1921 / 1992), in dessen Rahmen zehn symmetrische Bildkarten („Tintenkleckse“) vom Probanden zu deuten sind, oder der Wartegg-Zeichentest (Wartegg 1939, zit. nach Soilevuo Grønnerød und Grønnerød 2012), der aus acht Feldern mit rudimentären Schwarz-WeißSymbolen besteht, die der Proband zeichnerisch vervollständigen soll. Daneben gibt es halbstrukturierte projektive Tests, in denen geschlossene Fragen zu den Teststimuli beantwortet werden sollen (z. B. das Multi-Motiv-Gitter [MMG] von Schmalt et al. 2000). Teilweise erfordern die projektiven Verfahren auch die Niederschrift einer verbalen Äußerung auf die Anregungsbedingung, z. B. beim Thematischen Apperzeptionstest (Murray 1943) oder bei der Rosenzweig Picture Frustration Study (Hörmann und Moog 1957). Letztere soll u. a. der Erfassung von Aggressivität dienen, ebenso wie der Foto-Hand-Test (Belschner et al. 1971), in dessen Rahmen 34 Fotografien einer Hand dahingehend gedeutet werden sollen, was die Hand gerade mache. Gelegentlich kommt es in der forensisch-psychologischen Begutachtung sogar vor, dass etwa der sogenannte Baumtest (Koch 1949 / 2008) verwendet wird, bei dem die Aufgabe dabei darin besteht, einen Baum zu zeichnen. Schwerwiegende Zweifel an der Tauglichkeit bestehen hinsichtlich der meisten oben genannten projektiven Verfahren, da sie sich ebenso wie andere psychologische Tests und Fragebogen an den Gütekriterien messen lassen müssen, aber nur wenige Belege für z. B. die Validität projektiver Verfahren vorliegen. In einer Metaanalyse von 12 Einzelstudien (Soilevuo Grønnerød und Grønnerød 2012) betrug der gewichtete Validitätskoeffizient von Deutungen des Wartegg-Zeichentests im Hinblick auf Diagnosen der betreffenden Probanden lediglich rpb = .10. Die durchschnittliche Höhe der Validitätskoeffizienten diverser Rorschach-Kodierungsparameter im Hinblick auf das Vorliegen von Psychopathie betrug nach einer Metaanalyse von Wood et al. (2010) rpb = .06. Sowohl den Baum- als auch den Wartegg-Zeichentest hat der deutsche BGH (1 StR 618 / 98, Ziff. 43) ausdrücklich als unzureichend bewertet: „Zwei weitere verwendete Tests (Wartegg-Zeichentest und Baum-Zeichentest) weisen dagegen Mängel in den Gütekriterien auf.“4
Scheurer und Richter (2005: 52) bezeichnen projektive Verfahren als „obsolet“, führen aber an, dass sie möglicherweise weniger anfällig für Verfälschungstendenzen seien. Schretlen (1997, zit. nach Wood et al. 2003) zufolge sei jedoch keineswegs strittig, dass Antworten in projektiven Tests manipuliert werden könnten, sondern allenfalls, ob solche Verfälschungstendenzen im Protokoll des projektiven Tests entdeckt werden könnten. Ein Beispiel, das Meloy und Gacono (1995, zit. nach Wood et al. 2003) anführen, veranschaulicht diesen Punkt; demnach hatte ein forensischer Proband die unverfänglichen Standardantworten zum Rorschach-Test aus einem Lehrbuch auswendig gelernt. Die Verfügbarkeit der Bildtafeln projektiver Tests samt vorgeschlagenen Deutungen im Internet trägt sicherlich nicht dazu bei, authentische Aussagen zu gewährleisten. Schließlich ist fraglich, ob die Grundannahme projektiver Verfahren überhaupt als gegeben angenommen werden kann. Projektive Verfahren sind gewissermaßen ein Klischee für den psychologischen Test an sich. Folglich verhält sich ein Proband vermutlich eher entsprechend der Aufforderungscharakteristik (vgl. Orne 1962) eines solchen Verfahrens, sprich: Er spielt das Spiel der Klecksdeutung mit oder eben nicht. Jedenfalls gehen die Antworten innerhalb projektiver Verfahren keineswegs ausschließlich auf eine Aktivierung des Abwehrmechanismus der Projektion zurück (McGrath und Carroll 2012; vgl. Berk 1992). Schließlich sind die Normierungen projektiver Verfahren in den meisten Fällen (mit Ausnahme des MMG) unzulänglich oder veraltet. Für den Rosenzweig-PF-Test stehen z. B. nur jene Normdaten zur Verfügung, die Rauchfleisch (1979) Ende der 1970er-Jahre erhoben hat. Überdies ist die Testvorlage als solche veraltet: Zeichnungen von Telefonen mit Wählscheibe und Aussagen wie „Die Vermittlung hat mir die falsche Nummer gegeben“ entsprechen nicht mehr der Lebensrealität heutiger Probanden. Angesichts der Defizite projektiver Verfahren wenden Apologeten der Methodik mitunter ein, sie würden die Verfahren nicht im engeren Sinne psychodiagnostisch einsetzen, sondern allenfalls spekulativ, um Hypothesen zu generieren. In ähnlicher Weise äußerte z. B. Clauß (1976: 409): „Die Ergebnisse p. T. [Anm.: projektiver Tests] können den Vl. [Anm.: Versuchsleiter] allenfalls zur Hypothesenbildung anregen, keinesfalls jedoch die Grundlage einer Finalentscheidung über die Vp. [Anm.: Versuchsperson] bilden.“ Gleichwohl ist nicht auszuschließen, dass der Rezipient des Gutachtens nur weniger genau zwischen dem Generieren von Hypothesen und dem Feststellen von Befunden zu unterscheiden vermag, zumal wenn beides im Gewand psychologischer Verfahren daherkommt.
Merke Hypothesen auf Grundlage projektiver Verfahren sollten im Gutachten nicht referiert werden, auch um eine letztlich unbegründete Beeinflussung des Rezipienten durch derlei Hypothesen zu vermeiden.
3.4. Rechtliche Rahmenbedingungen Wie bereits dargestellt, ist im Hinblick auf psychodiagnostische Verfahren zu beachten, dass die Verwendung der projektiven Testverfahren Wartegg-Zeichentest und Baumtest vom BGH aufgrund unzureichender Gütekriterien moniert wurde (BGH 1 StR 618 / 98, Ziff. 43). Im selben Jahr (1999) verneinte der BGH andererseits die Auffassung, wonach eine gutachterliche Einschätzung auf Grundlage des Rorschach-Tests „mit den Erkenntnissen der Wissenschaft nicht in Einklang [stehe]“ (1 StR 207 / 99, Ziff. 18), und zwar u. a., weil ein damals aktuelles Lehrbuch zur forensischen Psychiatrie (Rasch 1999: 346) noch mit den Worten darauf verwies: „Das Verfahren ist die wohl bekannteste projektive Testmethode“ (so auch in der 3. A.: Konrad und Rasch 2004: 365). Weggelassen wurde in der Begründung der BGH-Entscheidung 1 StR 207 / 99 allerdings der Zusatz, wonach das Rorschach-Verfahren „[…] universitär kaum noch vermittelt wird“ (Rasch 1999: 347; Konrad und Rasch 2004: 366). Mit der Verwertbarkeit projektiver Verfahren bei familiengerichtlichen Prozessen setzt sich Fehnemann (1979; vgl. Berk 1992) anhand zweier OLG-Beschlüsse auseinander (OLG Frankfurt: 1 UF 566 / 77, OLG München: 26 UF 834 / 78). Während der Beschluss des OLG Frankfurt vom 15.12.1978 den möglichen Nutzen projektiver Verfahren für einen ersten Zugang zur kindlichen Psyche hervorhob (Wegener 1979), kritisierte das OLG München in seinem Beschluss vom 18.9.1978 die Subjektivität bei der Interpretation und die fragliche wissenschaftliche Fundierung projektiver Verfahren (März 1979).
Ausweislich einer Auswertung von 116 Gutachten aus dem Bereich des OLG Hamm (Salewski und Stürmer 2012; Stürmer und Salewski 2014) stellen projektive Verfahren die am häufigsten verwendete Kategorie dar; sie kamen in 47 Gutachten zum Einsatz. Salewski und Stürmer (2012: 22) resümieren: „Die auf dieser Basis gewonnenen Erkenntnisse erfüllen damit nicht die Standards einer wissenschaftlichfundierten entscheidungsorientierten Einzelfalldiagnostik.“
3.5. Qualitätsanforderungen Neben den Empfehlungen von Einzelautoren oder Autorengruppen zur Abfassung forensischpsychiatrischer oder -psychologischer Gutachten (u. a. Boetticher et al. 2005; Kröber 2005; Kröber et al. 2019; Volbert und Dahle 2010) haben sich auch Berufsverbände auf entsprechende Standards verständigt, und zwar in Bezug auf psychologisches Testen (Häcker et al. 1998) oder allgemeiner im Hinblick auf die Erstellung psychologischer Gutachten (Föderation Deutscher Psychologenvereinigungen 1994). Im Hinblick auf psychologische Testverfahren wird den Entwicklern z. B. empfohlen, auf die Prävalenzabhängigkeit von Fehlklassifikationen hinzuweisen (Häcker et al. 1998), wie in ➤ Kap. 3.2.3 erläutert. Außerdem sollten dem Anwender Angaben zur geschätzten Reliabilität und zum Standardmessfehler zur Verfügung gestellt werden. Anwender selbst müssten darauf achten, bei der Interpretation von Testergebnissen nur dann auf empirische Validitätsbelege zu verweisen, wenn solche Nachweise auch tatsächlich existieren (Häcker et al. 1998). Dementsprechend sollte die Verbindung zwischen Testdaten und klinischer Beurteilung empirisch fundiert sein, was aber die Ableitung von Hypothesen aus den Testdaten nicht verhindern sollte. Das Diagnostik- und Testkuratorium der Föderation Deutscher Psychologenvereinigungen hat Qualitätsstandards für psychologische Gutachten erarbeitet (Föderation Deutscher Psychologenvereinigungen 2017). Als unabdingbare Qualitätsanforderungen gelten demnach zum einen die wissenschaftliche Fundierung der Vorgehensweise (z. B. die Formulierung überprüfbarer Fragestellungen und die Spezifikation von Entscheidungskriterien zu deren Beantwortung) und zum anderen Transparenz und Nachvollziehbarkeit. So sollte u. a. erläutert werden, auf welche Weise bestimmte Ergebnisse ermittelt und warum daraus bestimmte Schlüsse gezogen wurden. Andernfalls sei nicht festzustellen, ob das Gutachten überhaupt auf zutreffenden Annahmen basiere und ob Befunde in angemessener Weise aus Anknüpfungstatsachen hergeleitet worden seien. Hierfür sei im schriftlichen Gutachten u. a. zwischen Untersuchungsergebnissen und deren Interpretation zu trennen. Außerdem sollte die Auswahl verwendeter Verfahren dokumentiert und begründet werden. Schließlich sei darauf zu achten, die Fragestellungen des Auftraggebers zu beantworten und nur diese und nicht anderweitige Problemstellungen zu bearbeiten. Abschließend sei auch auf die Mindestanforderungen an die Qualität von Sachverständigengutachten im Kindschaftsrecht der Arbeitsgruppe Familienrechtliche Gutachten (2015) hingewiesen.
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Eine exaktere Interpretation würde besagen: Zwei Drittel entsprechender Intervalle um die Messwerte enthalten (bei wiederholter Stichprobenziehung) den gesuchten wahren Populationsparameter (Scurich und John 2012). 2
Aus der Beobachtung, dass die Mehrzahl der untersuchten Frauen mit Brustkrebs (H) im Vorhinein einen entsprechenden positiven Befund D hatte, P(D|H) = 93 %, folgerte der Arzt unzulässigerweise, dass ein positiver Befund in einer Vielzahl von Fällen Brustkrebs bedeuten würde, P(H|D) ≅ 33–50 %. Tatsächlich würde P(H|D), also die Wahrscheinlichkeit, an Brustkrebs erkrankt zu sein, unter der Bedingung eines entsprechenden positiven Befunds rechnerisch anhand der Stichprobendaten aber nur etwa 12 % betragen (Dawes 1986). 3
Seto et al. (2017) berichten in der Validierungsstudie zum SSPI-2 Daten zur Beurteilung von 950 Kindesmissbrauchern. Als Referenzkriterium dienten physiologische Messungen zur sexuellen Erregbarkeit durch kindliche Stimuli. Aufgrund dieser physiologischen Messungen sei eine Zuordnung zu den diagnostischen Untergruppen „pädophil“ bzw. „nichtpädophil“ möglich. Zudem seien 206 mutmaßlich nichtpädophile Vergleichsprobanden (112 Nichtstraftäter und 94 Vergewaltiger mit erwachsenen Opfern) untersucht worden. Legt man nun einen Trennwert zugrunde, bei dem 90 % der Vergleichsprobanden korrekt als nichtpädophil klassifiziert wurden (Spezifität = 90 %), so würde insgesamt gut ein Drittel (35,1 % bzw. n = 333 von 950) der Kindesmissbraucher aufgrund der physiologischen Messung als pädophil eingestuft. Unter diesen mutmaßlich Pädophilen hat wiederum gut ein Drittel einen SSPI-2-Wert von mindestens 4 Punkten (Sensitivität des SSPI-2 = 35,4 % bzw. 118 von 333). Die Spezifität des SSPI-2 liegt demnach bei 85,9 % (n = 530 Personen mit SSPI-2-Kennwerten von 3 oder weniger unter allen 617 mutmaßlich nichtpädophilen Probanden). Unter denjenigen mit SSPI-2-Kennwerten ≥ 4 ist der Anteil der mutmaßlich Pädophilen deutlich höher (57,6 % bzw. n = 118 von 205) als in der Gesamtgruppe (35,1 %, s. o.). Der LR+-Wert beträgt 2,5, was nach ➤ Tab. 3.1 immerhin einer geringen Effektstärke im Hinblick auf die Bestätigung der Diagnose entsprechen würde; der Wert für LR- zum Ausschluss der Diagnose wäre hingegen mit 0,75 gemäß ➤ Tab. 3.1 nicht der Rede wert. Demnach erhöht sich bei SSPI-2-Werten von 4 oder 5 Punkten die Plausibilität einer Pädophilie-
Diagnose. Andererseits sprechen erst SSPI-2-Werte von 1 Punkt oder gar 0 Punkten gegen eine Diagnose (schließen sie aber auch nicht definitiv aus). Allerdings ist die Wahl der physiologischen Methode der Penis-Plethysmografie als diagnostisches Referenzverfahren suboptimal, weil die Penis-Plethysmografie trotz Validitätsbelegen (McPhail et al. 2019) nicht immun ist gegenüber Verfälschungstendenzen (Marshall 2014) und die Reliabilität der Methode zweifelhaft ist (Mokros und Habermeyer 2016). 4
In Österreich hatte das Landgericht Innsbruck im Rahmen einer zivilrechtlichen Auseinandersetzung zunächst entschieden, dass die Aussage aufrechterhalten bleiben dürfe, wonach ein forensischpsychiatrisches Gutachten, das sich u. a. auf den Baum- und den Wartegg-Zeichen-Test stütze, schwere Mängel aufweise, auf veralteten Verfahren basiere, die nicht mehr dem Stand der Wissenschaft entsprächen, und insoweit einen Kunstfehler darstelle (59 Cg 211/09v). Nachdem das OLG Innsbruck den Fall wegen Verfahrensfehlern zur Neuverhandlung an das Landgericht zurückverwiesen hatte, wurde der Unterlassungsklage und dem Anspruch auf Widerruf stattgegeben (59 Cg 211/09v-113). Eine Berufung des Beklagten gegen dieses Urteil wiederum wurde vom OLG Innsbruck als unbegründet abgewiesen, u. a. mit folgender Erklärung: „[…] die Heranziehung der erwähnten Testmethoden durch den Kläger [stellte] zumindest dann keinen Kunstfehler dar, wenn er deren Ergebnissen keine unzulässige Bedeutung zuerkannte, was aber hier nicht der Fall war, weil feststeht, dass die Auswertung der bezeichneten Testverfahren für die vom Kläger gestellten Diagnosen, wie bereits mehrfach erwähnt, keine wesentliche Bedeutung hatte.“ (4 R 236/13 g)
KAPITEL 4
Neurobiologische Erkenntnisse: mögliche Relevanz für die strafrechtliche Begutachtung Harald Dreßing und Andrea Dreßing
4.1 Einleitung 4.2 Neurobiologische Befunde bei Pädophilie 4.3 Neurobiologische Befunde bei dissozialer Persönlichkeitsstörung und Psychopathie 4.4 Relevanz für die Begutachtung 4.5 Fazit
4.1. Einleitung Unterschiedliche Methoden moderner neurobiologischer Forschung haben in den letzten Jahren sehr schnell Eingang in die Forschungslandschaft der Psychiatrie gefunden. Neurobiologische Forschung dominiert die akademische Psychiatrie seit einigen Jahren, und es ist davon auszugehen, dass die mit diesen Forschungsmethoden gewonnenen Erkenntnisse unser Verständnis von psychischen Krankheiten bereichern werden. Es ist auch
möglich, dass diese Erkenntnisse zukünftig Einfluss auf das etablierte diagnostische Vorgehen haben werden. Das Spektrum neurobiologischer Forschungsansätze ist ausgesprochen vielfältig und reicht z. B. von der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT), der Positronenemissionstomografie (PET), hochauflösenden magnetresonanztomografischen Volumenbestimmungen, differenzierten genetischen Untersuchungen, neurochemischen und molekularbiologischen Techniken und Post-mortemUntersuchungen bis hin zu ausgeklügelten Tiermodellen, z. B. in der Aggressionsforschung. Diese Forschungsansätze sind zumindest in der akademischen Allgemeinpsychiatrie mittlerweile weitverbreitet und finden langsam auch Eingang in die forensische Psychiatrie. Mittlerweile gibt es eine Reihe von neurobiologischen Studien bei psychisch kranken Straftätern (Dreßing et al. 2007a, b, 2008; Schiltz et al. 2016), die sich besonders häufig auf Personen mit der Diagnose „dissoziale bzw. antisoziale Persönlichkeitsstörung“ sowie auf Personen beziehen, welche die diagnostischen Kriterien einer Psychopathie (engl. „psychopathy“) im Sinne von Hare erfüllen. Darüber hinaus gibt es z. B. neurobiologische Befunde bei Sexualstraftätern und bei schizophrenen Rechtsbrechern sowie grundsätzliche Untersuchungen zur Bedeutung neurobiologischer Befunde als Risikofaktoren für gewalttätiges Verhalten. Im Folgenden sollen einige dieser Forschungsansätze exemplarisch vorgestellt werden. Am Ende dieses Kapitels wird der Versuch einer Standortbestimmung unternommen und der Frage nachgegangen, welche Bedeutung diese Forschungsansätze für die forensische Psychiatrie derzeit haben und in Zukunft möglicherweise haben können.
4.2. Neurobiologische Befunde bei Pädophilie Probanden mit einer pädophilen Präferenzstörung stellen eine heterogene Gruppe dar. Neurobiologische Korrelate der Störung sind bisher nicht hinreichend etabliert, wobei mittlerweile aber eine
Vielzahl unterschiedlicher neurobiologischer Auffälligkeiten beschrieben wurde. Dabei wurden strukturelle und funktionelle zerebrale Veränderungen gefunden, aber auch genetische und biochemische Auffälligkeiten berichtet. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit werden im Folgenden die Ergebnisse einiger Studien kursorisch referiert. Die Relevanz struktureller Hirnveränderungen ergibt sich z. B. aus Fallstudien, die bei sexuell zunächst völlig unauffälligen Männern im Zusammenhang mit einer frontotemporalen Hirnerkrankung eine Veränderung in Richtung ausschließlich pädosexueller Aktivitäten beschreiben (Burns und Swerdloff 2003; Sartori et al. 2016). Zudem fanden sich bei pädophilen Patienten im Rahmen von MRT-Untersuchungen strukturelle Auffälligkeiten des Gehirns bevorzugt im Temporalund Frontallappen (Schiffer et al. 2007; Poeppl et al. 2013). Nicht alle Probanden, die eine pädophile Präferenzstörung haben, begehen auch pädosexuelle Delikte. In einer aktuellen multimodalen Neuroimaging-Studie unterschieden sich pädophile Straftäter im Vergleich zu pädophilen Probanden, die keine Delikte begangen hatten, signifikant durch folgende Merkmale: Sie hatten eine niedrigere Intelligenz und zeigten neuroanatomische Auffälligkeiten im Sinne einer geringeren kortikalen Dicke, einer geringeren Hirnoberfläche und einer geringeren strukturellen Konnektivität (Lett et al. 2018). In der ersten publizierten fMRT-Untersuchung mit 10 homosexuell-pädophilen Maßregelvollzugspatienten und 10 gesunden heterosexuellen Kontrollpersonen fand sich in der Gruppe der pädophilen Patienten eine signifikante Aktivierung, relativ zu Bildern von Erwachsenen, im Bereich der rechten Amygdala beim Anblick von Kindern (Sartorius et al. 2008). Mittlerweile konnten in einer Reihe weiterer Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren funktionelle Auffälligkeiten bei Personen mit einer pädophilen Präferenzstörung nachgewiesen werden. Dabei zeigten sich auch unterschiedliche Aktivierungsmuster bei homosexuell und heterosexuell pädophilen Probanden (Schiffer et al. 2008a, b). In einer Studie, welche die Probanden mit erotischen Reizen stimulierte, gelang mittels fMRT eine Klassifikation pädophiler
Probanden mit einer Trennschärfe von 95 %, wobei die Spezifität 100 % und die Sensitivität 88 % betrug (Ponseti et al. 2012). In einer weiteren fMRT-Studie zeigten pädophile Probanden im Vergleich zu Kontrollpersonen in einem moralischen Entscheidungsparadigma eine geringere Aktivierung im temporoparietalen Netzwerk und im posterioren insulären Kortex, wenn sie Bilder bewerten mussten, die Sexualdelikte gegen Kinder zum Inhalt hatten (Massau et al. 2018). Es ist anzunehmen, dass bei der pädophilen Präferenzstörung wie anderen psychiatrischen Störungen auch ein komplexes Zusammenspiel von genetischen Risikofaktoren und Umweltfaktoren eine wichtige Rolle spielt. Dabei gewinnen Erkenntnisse aus der Epigenetik zunehmende Bedeutung. Unter Epigenetik versteht man Mechanismen wie z. B. die DNAMethylierung, welche die Funktion des Genoms beeinflussen, ohne dass die DNA-Sequenz verändert wird (Binder 2019). In einer aktuellen Studie konnte gezeigt werden, dass pädosexuelle Straftäter unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung im Vergleich zu Pädophilen, die keine pädosexuellen Delikte begangen hatten, und im Vergleich zu unauffälligen Kontrollpersonen einen erhöhten Methylierungsstatus der Androgenrezeptor-Gene zeigten, was mit erniedrigten peripheren Testosteronspiegeln einherging (Kruger et al. 2019). Bei pädosexuellen Straftaten kann auch eine mangelnde Inhibition eine Rolle spielen. In diese Richtung deuten Befunde einer magnetresonanzspektroskopischen Untersuchung, die bei pädosexuellen Straftätern im Vergleich zu Kontrollpersonen eine Reduktion des inhibitorischen Transmitters GABA in für die kognitive Kontrolle bedeutsamen Hirnregionen zeigten (Ristow et al. 2018).
4.3. Neurobiologische Befunde bei dissozialer Persönlichkeitsstörung und Psychopathie
Die Anzahl der Studien, die sich mit neurobiologischen Aspekten von antisozialen Persönlichkeitsstörungen und Psychopathie beschäftigen, ist so umfangreich und die angewandte Methodik, die Fragestellungen und die untersuchten Stichproben sind so heterogen, dass eine auch nur ansatzweise umfassende Darstellung im Rahmen dieses Kapitels nicht möglich ist. Im Folgenden werden deshalb exemplarisch einige Studien zur Genetik, Biochemie, Hirnstruktur und Hirnfunktion vorgestellt (Dreßing und Dreßing 2014). Die Fähigkeit zur Impulskontrolle, zu sozial adäquatem Verhalten, Empathie und ethisch-moralischem Urteilsvermögen ist an die intakte Funktion des präfrontalen Kortex (PFC) gebunden (Aron et al. 2003; Koenigs et al. 2007). Dabei muss allerdings bedacht werden, dass dieser anatomische Begriff eine Vielzahl höchst heterogener Hirnregionen umfasst, unter denen im gegenwärtigen Kontext den orbitofrontalen und medialen präfrontalen Arealen die größte Bedeutung zukommt. Bei strukturellen Läsionen im PFC fanden sich Syndrome, die als hirnorganisch erworbene Psychopathie bezeichnet wurden (Meyers et al. 1992; Blair und Cipolitti 2000; Blair 2003). Die Betroffenen zeigten Symptome, wie sie auch für die Psychopathie im Sinne von Hare typisch sind, z. B. mangelnde Empathie, fehlende Schuldgefühle und impulsives Verhalten bei ungestörtem kognitivem Wissen um die sozialen und moralischen Regeln. Diese problematischen Persönlichkeitsmerkmale sind insbesondere bei der Begutachtung von Straftätern bedeutsam, aber auch in andern Begutachtungskontexten zu beachten (Dreßing und Foerster 2009). Eine Vielzahl unterschiedlicher Studienansätze liefert Hinweise für neurobiologische Auffälligkeiten bei Personen mit der Diagnose einer dissozialen Persönlichkeitsstörung bzw. Psychopathie. So weisen genetische Studien z. B. auf die Bedeutung erblicher Faktoren für antisoziales Verhalten hin. In einer Metaanalyse bei eineiigen Zwillingen wurde der genetische Anteil an der Entwicklung antisozialer Verhaltensweisen mit 41 % berechnet (Rhee und Waldman 2002). Andere Studien schätzen die Bedeutung genetischer Faktoren aber deutlich niedriger ein und
gehen davon aus, dass genetische Varianten letztlich nur einen geringeren Beitrag – etwa 2 bis maximal 10 % – zur Varianzaufklärung komplexer Phänotypen wie bei antisozialem Verhalten leisten können. Oft lassen sich signifikante genetische Effekte in einer Population nur nachweisen, wenn man das Zusammenwirken genetischer Varianten mit bestimmten Umweltfaktoren (z. B. frühkindliche Traumatisierung, Misshandlung etc.) beachtet. Dies unterstreicht die Bedeutung epigenetischer Forschungsansätze (Binder 2019). Mittels moderner molekulargenetischer Methoden können mittlerweile Genloci identifiziert werden, die mit einem antisozialen Verhaltensphänotyp assoziiert sind. Eine Reihe von Polymorphismen wie z. B. für den Dopamintransporter (DAT1), den Serotonintransporter (5-HTTLPR) oder die Monoaminoxidase Typ A (MAO-A) gelten als Kandidatengene für die Untersuchung der Assoziation zwischen genetischen Varianten und antisozialem Verhalten (Pavlov et al. 2012). So wird eine bestimmte Variante des DAT1-Gens signifikant häufiger bei Personen gefunden, die grundsätzlich zu riskantem Verhalten wie Delinquenz, Promiskuität, Alkohol- und Drogenkonsum neigen (Guo et al. 2010). Die Aktivität der MAO-A hat einen bedeutsamen Einfluss auf die serotonerge Neurotransmission. In Abhängigkeit von der genetisch determinierten Länge des MAO-A-Promoter-Gens ist die serotonerge Neurotransmission niedriger, sofern die MAO-A-LGenvariante vorliegt. In einigen Studien ergab sich ein Zusammenhang zwischen dem MAO-A-L-Genotyp und antisozialem und gewalttätigem Verhalten (Huang et al. 2004). In einer großen epidemiologischen Studie konnte allerdings gezeigt werden, dass diese Genvariante erst im Zusammenwirken mit erheblichen negativen Umwelteinflüssen in der Kindheit mit späteren Straftaten in Zusammenhang gebracht werden kann (Caspi et al. 2002). Wie bedeutsam diese Gen-Umwelt-Interaktionen sind, zeigen Ergebnisse einer Studie, die den Zusammenhang zwischen frühkindlichen Misshandlungen und gewalttätigem Verhalten im Erwachsenenalter untersuchte. Ohne Berücksichtigung genetischer
Dispositionen ist der Einfluss ungünstiger Kindheitserlebnisse auf spätere Gewalttätigkeit gering. In sogenannten Imaging-Genetics-Studien werden bildgebende Verfahren mit genetischen Untersuchungen kombiniert. Bei einer Untersuchung, die den Einfluss des genetischen Polymorphismus (MAO-A-L) auf die Hirnstruktur und die Hirnfunktion untersuchte, fanden sich bei klinisch bisher unauffälligen Probanden mit der Niedrigexpressionsvariante MAO-A-L bei affektiver Informationsverarbeitung im fMRT eine Hyperreaktivität im Bereich der Amygdala bei verminderter präfrontaler Gegenregulation sowie vom Genotyp abhängige Volumenminderungen in der Amygdala und im zingulären Kortex (Meyer-Lindenberg et al. 2006a, b). Nur bei Männern mit der Risikogenvariante zeigten sich zudem eine verstärkte Aktivierung von Hirnregionen für emotionales Gedächtnis sowie Defizite in Hirnregionen für die Inhibition motorischen Verhaltens. Zusammengefasst ergab sich so eine Befundkonstellation, die mit einem erhöhten Risiko für impulsive Gewaltanwendung in Verbindung gebracht werden kann, ohne dass eine unilineare oder direkte Kausalität anzunehmen ist. Eine weitere interessante Genvariation betrifft den Serotonintransporter, der für die präsynaptische Wiederaufnahme von Serotonin verantwortlich ist und damit auch Einfluss auf die serotonerge Neurotransmission hat. Hier existieren genetische Polymorphismen mit einer kurzen und einer langen Variante des Allels (S- und L-Allel-Träger). Einige Studien konnten eine Assoziation zwischen dem S-Allel und antisozialem und gewalttätigem Verhalten zeigen (Lesch und Merschdorf 2000). Auch strukturelle Hirnveränderungen spielen offensichtlich eine Rolle in der Ätiopathogenese der dissozialen Persönlichkeitsstörung und bei Psychopathie. MRT-Untersuchungen ergaben diesbezüglich die folgenden Ergebnisse: Raine et al. (2000) fanden bei 21 Personen mit der Diagnose einer antisozialen Persönlichkeitsstörung eine Reduktion der grauen Hirnsubstanz im PFC um 11 % verglichen mit 43 gesunden Probanden, 26 Probanden mit Substanzabhängigkeit und 21 psychiatrischen Patienten. Dieser Befund konnte in einer neueren Studie repliziert werden. Personen mit einer antisozialen
Persönlichkeitsstörung wiesen gegenüber gesunden Kontrollpersonen eine Minderung der grauen Hirnsubstanz von 8– 17 % in orbitofrontalen Hirnregionen auf. Diese strukturellen Hirnveränderungen werden zwar nicht als monokausale Ursache, aber als ein wichtiger Risikofaktor für die Ausbildung einer antisozialen Persönlichkeitsstörung interpretiert (Raine et al. 2011). Andere Studien fanden eine negative Korrelation zwischen den Scores in der Psychopathy Checklist (PCL) und dem Hippokampusvolumen (Laakso et al. 2001) sowie eine Volumenvermehrung des Corpus callosum (Raine et al. 2003). Weiterhin wurde bei Psychopathen eine Verminderung der Substanz der Amygdala um ein Fünftel gefunden (Yang et al. 2009). Interessant ist auch der Befund, dass Personen mit Psychopathie, die nicht in der Lage waren, ihre Verbrechen erfolgreich zu verbergen, im Vergleich zu Personen mit Psychopathie, denen dies gelang, eine deutliche Verminderung der präfrontalen grauen Substanz aufwiesen (Yang et al. 2005). Einen weiteren Hinweis auf die Relevanz struktureller Hirnveränderungen ergab eine qualitative CT- und MRT-Studie, die bei gewalttätigen Gefängnisinsassen im Vergleich zu einer Kontrollgruppe Anzeichen für strukturelle Veränderungen im frontalen und parietalen Kortex, in den medialen temporalen Arealen, im III. Ventrikel und im rechten Seitenventrikel fand (Schiltz et al. 2013). Strukturelle Veränderungen beschränken sich aber nicht nur auf die graue Hirnsubstanz. Mittels moderner Untersuchungstechniken (diffusionsgewichtete MRT) ließen sich bei Personen mit antisozialer Persönlichkeitsstörung auch mikrostrukturelle Veränderungen der weißen frontalen Hirnsubstanz nachweisen (Sundram et al. 2012). Da sich die Konstrukte der antisozialen Persönlichkeitsstörung, der dissozialen Persönlichkeitsstörung und der Psychopathie im Sinne von Hare zwar teilweise überlappen, jedoch keineswegs identisch sind, erscheinen Studien, die nach differenziellen Effekten auf der biologischen Ebene suchen, besonders bedeutsam. In einer Studie wurden die Befunde einer voxelbasierten MRT-Morphometrie in drei Probandengruppen verglichen: Probanden mit einer
antisozialen Persönlichkeitsstörung und einem PsychopathieScore > 25, Probanden mit einer antisozialen Persönlichkeitsstörung ohne Psychopathie und gesunde Kontrollpersonen. Die Probanden mit einem Psychopathie-Score > 25 wiesen im Vergleich zu den beiden anderen Gruppen ein verringertes Volumen an grauer Substanz im medialen PFC und den Temporalpolen beider Hemisphären auf (Gregory et al. 2012). In einer anderen Studie wurden mittels eines mobilen MRTGerätes Gefängnisinsassen mit einem Psychopathie-Score > 30 untersucht und mit einer Gruppe von Strafgefangenen ohne erhöhten Psychopathie-Score verglichen. Die psychopathischen Straftäter zeigten in mehreren Hirnregionen (linke Insula, anteriores Zingulum, Gyrus praecentralis, anteriorer temporaler Kortex) eine signifikante Verminderung des Kortex. In der funktionellen Bildgebung ergab sich eine verminderte funktionelle Konnektivität zwischen der linken Inselregion und dem anterioren Zingulum (Ly et al. 2012). Es fanden sich also Hinweise darauf, dass sich bei psychopathischen Straftätern strukturelle und funktionelle Auffälligkeiten des Gehirns nachweisen lassen, die sie von Straftätern unterscheiden, bei denen „nur“ eine antisoziale Persönlichkeitsstörung vorliegt. Die mangelnde Fähigkeit von Psychopathen, sich emotional in andere Menschen einzufühlen, um zu verstehen, was in ihnen vorgeht, könnte in diesen strukturellen und funktionellen Defiziten begründet sein und die besonders ungünstige Kriminalprognose erklären. Die Bedeutung einer gestörten Hirnfunktion zeigt sich in Studien mit funktioneller Bildgebung (PET, fMRT). In ersten Studien mit der PET fand sich bei 22 wegen Mordes angeklagten Probanden ein reduzierter Glukosemetabolismus im medialen und lateralen PFC (Raine et al. 1994). Bei 8 inhaftierten Probanden, bei denen entweder intermittierend aggressives Verhalten oder eine antisoziale Persönlichkeitsstörung diagnostiziert wurde, fand sich in der PETUntersuchung eine signifikante Verminderung des zerebralen Glukosemetabolismus im mediotemporalen und präfrontalen Kortex (Volkow und Tancredi 1987). Mittels Single Photon Emission Computed Tomography (SPECT) wurde in einer Untersuchungsgruppe von 40
alkoholabhängigen Probanden, von denen 15 zusätzlich die Diagnose einer antisozialen Persönlichkeitsstörung erfüllten, in der Gruppe mit der Doppeldiagnose eine signifikante frontale Hypoperfusion nachgewiesen (Kuruoglu et al. 1996). In einem Untersuchungsdesign, das die zerebrale Aktivierung bei der Verarbeitung neutraler und emotionaler Begriffe untersuchte, ließ sich mittels SPECT in einer Gruppe von 8 Personen mit Psychopathie (PCL-Score > 25) eine verstärkte Aktivierung in frontotemporalen Hirnregionen bei der Verarbeitung emotionaler Wörter feststellen (Intrator et al. 1997). Noch weitergehende Möglichkeiten eröffnet die fMRT, da im Gegensatz zur PET keine radioaktiven Tracer injiziert werden müssen und wiederholte Untersuchungen möglich sind. In einem Konditionierungsparadigma zeigten z. B. Personen mit der Diagnose einer Psychopathie im Vergleich zu unauffälligen Versuchsteilnehmern keine Amygdalaaktivierung, wenn sie Bilder betrachteten, die mit einem Schmerzreiz assoziiert waren, obwohl sie kognitiv über diesen Zusammenhang berichten konnten (Birbaumer et al. 2005). Die Autoren interpretieren dieses Ergebnis als eine biologische Basis für die bei Personen mit Psychopathie bekannte Dissoziation von kognitiver und emotionaler Stimulusverarbeitung. Darauf führen sie auch die Unfähigkeit dieser Personen zurück, aus Erfahrung zu lernen, was letztlich auch eine Erklärung für die fehlende Wirksamkeit von Bestrafung sein könnte. Schneider et al. (2000) fanden bei 12 verurteilten Probanden mit einer antisozialen Persönlichkeitsstörung bei einer fMRTUntersuchung in einem Konditionierungsparadigma eine verstärkte Aktivierung im Bereich der Amygdala und des dorsolateralen PFC bei der Verarbeitung negativer Stimuli und erklärten dies damit, dass die antisozialen Personen zusätzliche Hirnregionen aktivieren müssen, um zu einem vergleichbaren Lernerfolg zu gelangen. Auch in einer klinisch nicht auffälligen Stichprobe zeigten Personen mit höheren Psychopathiewerten bei affektiver Informationsverarbeitung eine signifikant geringere Aktivierung des PFC und der Amygdala (Gordon et al. 2004). Es lassen sich also signifikante Unterschiede in der neuronalen Aktivierung bei
Personen mit hohen Psychopathiewerten finden, wobei dem präfrontal-limbischen Netzwerk offensichtlich eine entscheidende Rolle zukommt (Blair 2001). Neuronale Netzwerke, die für Belohnung und Salienzattribution von Bedeutung sind, zeigen bei Personen mit erhöhten Psychopathiewerten auch eine veränderte Funktionalität (Buckholtz et al. 2010). Mittels fMRT konnte bei Psychopathie auch eine reduzierte Aktivität in Arealen gezeigt werden, die zum menschlichen Spiegelneuronensystem gezählt werden. Dieses Ergebnis weist auf eine reduzierte verkörperte Simulation emotionaler Zustände anderer hin und könnte somit die Grundlage für geringeres Mitgefühl bei intakter sozialer Kognition darstellen (Mier et al. 2014). Von Interesse sind auch Forschungsansätze der kognitiven Neurowissenschaften, mit deren Hilfe versucht wird, die neuronalen Korrelate bei Entscheidungsprozessen z. B. in moralischen Dilemmasituationen zu untersuchen. Hierbei zeigten sich signifikant veränderte neuronale Aktivierungsmuster bei kriminellen Psychopathen (Pujol et al. 2012). Da es derzeit keine evidenzbasierten medikamentösen oder psychotherapeutischen Behandlungsmaßnahmen zur Behebung des Empathiedefizits bei Psychopathie gibt, sind Pilotstudien mit der Echtzeit-fMRT als Biofeedbackmethode sehr interessant. Mit dieser Methode scheint es zumindest in Einzelfällen möglich zu sein, die Aktivierung neuronaler Netzwerke, die für die Emotionsverarbeitung relevant sind, gezielt zu trainieren (Veit 2010).
4.4. Relevanz für die Begutachtung Während im angelsächsischen Raum und auch schon in einigen europäischen Ländern Neuroimaging-Befunde und genetische Untersuchungsergebnisse zunehmend Einfluss auf die Beurteilung von Straftätern haben (McSwiggan et al. 2017; Scarpazza et al. 2018), ist dies in Deutschland bisher noch nicht der Fall. Der Einfluss neurowissenschaftlicher Erkenntnisse auf Begutachtungspraxis und Rechtsprechung soll anhand zweier Beispiele veranschaulicht werden:
• Ein italienisches Gericht minderte die Strafe für einen Mörder, nachdem dessen Verteidigerin den Nachweis führte, dass der Täter die oben beschriebene Genvariante für MAOA-L hatte und auch damit korrespondierende Auffälligkeiten in der fMRT aufwies. • Auch bei einem Gerichtsprozess in den USA wurde im Falle eines Serienmörders argumentiert, dass dieser einen fast maximalen Psychopathie-Score habe und in einer fMRTUntersuchung die für Psychopathie typischen Veränderungen zeige (Kiehl 2006). In den USA wurden inzwischen in mehr als 100 Gerichtsverfahren PET- und SPECT-Befunde und in Einzelfällen auch bereits fMRTBefunde als Beweismittel zugelassen. Dabei ging es z. B. um den Nachweis einer PTBS-Diagnose, um traumatische Hirnschädigungen oder um Fragen der Glaubhaftigkeit (Feigenson 2006). Ganz offensichtlich haben wissenschaftliche Studien, die einen Erklärungsversuch der Biomechanismen kriminellen Verhaltens bieten, also bereits einen Einfluss auf die Entscheidungen einiger Richter. Dieser Einfluss war in einer Studie auch experimentell nachweisbar (Aspinwall et al. 2012): 181 US-Richtern wurde eine Fallvignette mit einem psychopathischen Täter vorgelegt. Die Richter kamen zu einer milderen Strafe, wenn für die diagnostizierte Psychopathie eine biologische Verursachung als bewiesen unterstellt wurde. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangte auch eine eigene Untersuchung in Deutschland (Fuss et al. 2015).
Merke Es ist davor zu warnen, Ergebnisse aus der neurowissenschaftlichen Grundlagenforschung unreflektiert in der praktischen Begutachtung und Rechtsprechung anzuwenden. Einerseits müssen nämlich methodische Limitationen der neurowissenschaftlichen Grundlagenforschung beachtet werden. Andererseits können
neurowissenschaftliche Begriffe nicht unreflektiert auf normative Prozesse übertragen werden, zumal neurobiologische Befunde allein oft keine hinreichenden Erklärungsansätze für komplexes Verhalten bieten können. Befunde aus Neuroimaging-Studien stellen i. d. R. nur gruppenstatistische Befunde dar, die keinen Rückschluss auf eine einzelne Person gestatten. Ein Einsatz in der Schuldfähigkeitsbegutachtung oder der Strafzumessung in der Rechtsprechung kann deshalb beim aktuellen Stand der Forschung und einer hinreichenden Würdigung der methodischen Limitationen nicht in Betracht kommen. Es ist daher als bedenklich einzustufen, wenn diese Forschungsansätze und ihre Bedeutung für das Rechtssystem mit zunehmender Frequenz recht unkritisch rezipiert werden, ohne dass auf die methodischen Limitationen dieser sich noch im Bereich der Grundlagenforschung befindenden Studien ausreichend hingewiesen wird (Scarpazza et al. 2018). Auch bei den genetischen Untersuchungsbefunden sind methodische Limitationen zu beachten. Genetische Varianten wirken auf das Verhalten von Menschen nicht deterministisch, sondern probabilistisch. Bestimmte genetische Varianten können also allenfalls das Risiko für antisoziales Verhalten erhöhen. Sie können dies aber in keinem Fall hinreichend erklären. Die Assoziation bestimmter genetischer Varianten mit antisozialem Verhalten wurde in sehr großen Untersuchungsstichproben gefunden. Auch hier handelt es sich also um gruppenstatistische Effekte, die keinen Rückschluss darauf erlauben, welche Bedeutung es hat, ob ein Straftäter Träger eines bestimmten Risikogens ist oder nicht. Der derzeitige Forschungsstand erlaubt es also allein schon aufgrund methodischer Limitationen nicht, von „kriminellen Genkonstellationen“ oder „gefährlichen Gehirnen“ zu sprechen (Schleim 2012). Neben diesen methodischen Limitationen verbieten aber auch grundsätzlich wissenschaftstheoretische Argumente eine unreflektierte
Anwendung neurowissenschaftlicher Begriffe auf normative Prozesse der forensischen Psychiatrie, der Kriminologie und der Rechtswissenschaften. So impliziert der Nachweis einer Assoziation zwischen bestimmten neurobiologischen Normabweichungen und antisozialem Verhalten keineswegs, dass eine individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit für das antisoziale Verhalten in einem solchen Fall nicht mehr gegeben ist.
Merke Biologische Normabweichungen allein bedingen keine Schuldunfähigkeit. Nur wenn sich ein konkreter Zusammenhang zwischen biologischen Normabweichungen und bestimmten psychopathologischen Syndromen – die zu einer begründbaren Beeinträchtigung z. B. der Einsichtsoder Steuerungsfähigkeit führen – aufzeigen lässt, gewinnen biologische Normabweichungen auch im rechtlichen Kontext eine Bedeutung. Sollte es in Zukunft z. B. gelingen, einen replizierbaren Zusammenhang zwischen genetischen Varianten, strukturellen und funktionellen zerebralen Veränderungen und stabilen psychopathologischen Auffälligkeiten zu beschreiben, könnte dies signifikante Auswirkungen auf die Praxis der forensischen Psychiatrie und der Rechtsprechung haben (Dreßing und Dreßing 2014). Inwieweit neurobiologische Forschungsbefunde möglicherweise die Praxis der Begutachtung und die Zuweisung von Personen mit bestimmten Störungsbildern in den Strafvollzug oder in den Maßregelvollzug in Zukunft beeinflussen könnten, muss gegenwärtig offenbleiben und kann sicherlich kontrovers diskutiert werden. Dies soll kurz am Beispiel von Straftätern mit der Diagnose einer dissozialen Persönlichkeitsstörung bzw. einer Psychopathie beleuchtet werden. Ü
Während problemlos Übereinstimmung für ein Vorgehen gefunden werden kann, Straftäter mit klar umschriebenen Krankheitsbildern wie z. B. frontotemporalen Demenzprozessen oder funktionellen Psychosen, die als ursächlich für das delinquente Verhalten gefunden werden, in eine Klinik des Maßregelvollzugs einzuweisen, könnte der Umgang mit Straftätern, bei denen eine Psychopathie diagnostiziert wird, künftig zu wissenschaftlichen Kontroversen führen. Es ist derzeit sicherlich noch weitgehender Konsens, diese Personengruppe dem Strafvollzug zuzuweisen. Sollte mittels differenzierter neurobiologischer Forschungsansätze die Evidenz zunehmen, dass eine nicht unerhebliche Anzahl delinquenter Verhaltensweisen von Tätern mit der Diagnose einer Psychopathie durch hirnorganische Dysfunktionen mitbedingt ist, so könnte dies ein Umdenken erfordern und auch einen anderen Umgang mit dieser Tätergruppe nach sich ziehen (Dreßing et al. 2007b). Es soll an dieser Stelle betont werden, dass keinesfalls die These vertreten werden soll, dass alle Formen delinquenten Verhaltens biologisch bedingt oder Ausdruck psychischer Störungen sind. Kriminelles Verhalten ist vielmehr immer als ein multifaktorielles Geschehen zu verstehen, bei dem biologische, psychologische, soziale und situative Faktoren ein jeweils einzigartiges Bündel kausaler Determinanten bilden.
Merke Die oben auszugsweise dargestellten neurobiologischen Forschungsergebnisse liefern aber doch Hinweise dafür, dass es bestimmte neurobiologische Konstellationen gibt, die in ihrer Wechselwirkung mit Lernund Umweltkonstellationen das Risiko für delinquente Verhaltensweisen erhöhen können und insofern auch bei der Prognosebegutachtung in Zukunft möglicherweise Berücksichtigung finden könnten.
Eine vielleicht in Zukunft zu diskutierende Frage könnte sein, ob bestimmte neurobiologische Untersuchungstechniken – z. B. Bestimmung der genetischen Variante für MAO-A oder fMRTUntersuchungen – bereits in eine konkrete Begutachtung einbezogen werden können. Dies wird bei der gegenwärtigen Rechtslage in Deutschland sicher nicht gegen den Willen eines Probanden möglich sein, aber vielleicht auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin. Wenn man sich z. B. die Ergebnisse der Studie von Ponseti et al. (2012) ansieht, in der mittels fMRT eine Zuordnung pädophiler Probanden mit einer Trennschärfe von 95 % möglich war, könnte der Einsatz dieser Methode in Einzelfällen und mit Einverständnis des Probanden auch als zusätzliche Evidenz in der praktischen Begutachtung erwogen werden. Aus der mittlerweile überholten Denktradition der triadischen Psychiatrie, die Krankheit immer dort angenommen hat, wo biologische Abweichungen gefunden wurden, besteht die Gefahr einer Überbewertung funktioneller Normabweichungen, die mit immer differenzierter werdenden Methoden neurobiologischer Forschung nachweisbar werden. Andererseits darf sich die akademische forensische Psychiatrie von den modernen Forschungsansätzen der Allgemeinpsychiatrie nicht abkoppeln, sondern muss sich aktiv daran beteiligen. Eine Intensivierung neurowissenschaftlicher Aktivitäten in der forensischen Psychiatrie ist dringend zu fordern, wenn das Fachgebiet der akademischen Forensischen Psychiatrie an den medizinischen Hochschulen nicht weiter an Bedeutung verlieren will.
4.5. Fazit Eine zunehmende Zahl von Veröffentlichungen liefert Hinweise dafür, dass bei bestimmten Formen antisozialen, gewalttätigen und sexuell devianten Verhaltens eine funktionelle Störung neuronaler Netzwerke vorliegt. Trotz der zahlreichen Publikationen auf diesem Gebiet gibt es bisher aber keine eindeutigen biologischen Marker, die antisoziales oder gewalttätiges Verhalten sicher vorhersagen können. Es ist auch nicht zu erwarten, dass neurobiologische
Forschungsansätze eine eindimensionale Erklärung für kriminelles Verhalten liefern werden. Neurobiologische Forschungsergebnisse können unser Verständnis für die biologischen Grundlagen delinquenten Verhaltens aber erweitern. Um eine sinnvolle Einordnung dieser Forschungsergebnisse zu erzielen, bedarf es einer redlichen interdisziplinären Diskussion von konkreten Studienergebnissen (Dreßing und Dreßing 2014).
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KAPITEL 5
Die Erstattung des Gutachtens Harald Dreßing und Klaus Foerster
5.1 Das schriftliche Gutachten 5.1.1 Gliederung 5.1.2 Einleitung und formale Angaben 5.1.3 Aktenlage 5.1.4 Angaben des Probanden 5.1.5 Befunde 5.1.6 Beurteilung 5.1.7 Mindestanforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten 5.2 Das mündliche Gutachten 5.2.1 Das mündliche Gutachten im Strafprozess 5.2.2 Das mündliche Gutachten im Zivilprozess
5.1. Das schriftliche Gutachten Das schriftliche Gutachten hat in verschiedenen Rechtsgebieten unterschiedliche Bedeutung:
• Im Strafverfahren ist das schriftliche Gutachten stets ein vorläufiges Gutachten, da für die Urteilsbildung des Gerichts wegen des Grundsatzes der Mündlichkeit und der Unmittelbarkeit der Hauptverhandlung ausschließlich der mündliche Gutachtenvortrag im Rahmen der Hauptverhandlung verbindlich ist. Dennoch müssen die Beweisfragen im schriftlichen, vorläufigen Gutachten umfassend und detailliert beantwortet werden. Eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe beim Bundesgerichtshof (BGH) hat Mindestanforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten erarbeitet, die in ➤ Kap. 5.1.7 zusammenfassend dargestellt sind. • Im Prognoseverfahren hat das schriftliche Gutachten prinzipiell ebenfalls vorläufigen Charakter; auf die erforderliche Anhörung des Sachverständigen kann jedoch im Einverständnis aller Beteiligten verzichtet werden, sodass das schriftliche Gutachten die einzige Äußerung des Sachverständigen bleibt (➤ Kap. 5.1.8, ➤ Kap. 30). • In Verfahren, die gemäß der Zivilprozessordnung (ZPO) durchgeführt werden, also zivilrechtliche Auseinandersetzungen, sozialrechtliche Prozesse oder Verwaltungsgerichtsverfahren, hat das schriftliche Gutachten einen höheren Stellenwert. Es dient als Beweismittel. In diesen Fällen erfolgt nur gelegentlich die Anhörung des psychiatrischen Sachverständigen, wobei dies in strittigen Zivilverfahren, z. B. bei Auseinandersetzungen um Haftpflichtprobleme oder Fragen der Berufsfähigkeit, zunehmend häufiger der Fall ist (➤ Kap. 5.2.2). Das schriftliche Gutachten muss klar gegliedert und in einer gut lesbaren, verständlichen Sprache verfasst sein. Ebenso wie Müller und Nedopil (2017) sind wir der Meinung, dass der Konjunktiv die grammatikalisch korrekte Form ist, wenn es um die Darstellung der Angaben des Probanden geht, es sei denn, es werden wörtliche Formulierungen zitiert.
Das schriftliche Gutachten hat eine Reihe von Lesern: Auftraggeber, ggf. weitere Prozessbeteiligte, Rechtsvertreter des Probanden und auch der Proband selbst. Daher ist es selbstverständlich, dass keinerlei abwertende, diffamierende oder kränkende Formulierungen verwendet werden. Dies gebietet der Respekt vor dem Probanden ebenso wie die stets erforderliche Neutralität des Sachverständigen. Die Verwendung des Plurals in der Darstellung bezogen auf die Gutachter ist nur dann erforderlich, wenn zwei Ärzte, z. B. Assistenzarzt und Ober- oder Chefarzt, das Gutachten gemeinsam verantworten. Damit wird klargestellt, dass beide Unterzeichnenden den Probanden untersucht haben und gemeinsam zu dem schriftlich niedergelegten Ergebnis gekommen sind. Der verantwortlich zeichnende Gutachter muss den Probanden auch selbst exploriert haben.
5.1.1. Gliederung Eine klare Gliederung des schriftlichen Gutachtens ist ein erstes Qualitätsmerkmal für den Auftraggeber (Dreßing 2017). Darüber hinaus ist sie eine Hilfe sowohl für den Sachverständigen bei der Abfassung als auch für den Leser. Auch wenn die Fragestellungen in psychiatrischen Gutachten außerordentlich vielfältig sein können, empfiehlt sich für alle Gutachten die folgende Gliederung (➤ Tab. 5.1): • Einleitung und formale Angaben • Zusammenfassung der Fragestellung und des Sachverhalts • Aktenlage • Angaben des Probanden • Befunde • Beurteilung • Zusammenfassung
Tab. 5.1
Aufbau des schriftlichen Gutachtens
An:
Nennung des Auftraggebers
Betrifft:
Aktenzeichen (z. B. Ermittlungsverfahren, Strafsache, Prognosegutachten, Zivilrechtsstreit, Sozialrechtsstreit) Auf Ersuchen des … (Auftraggeber) vom … erstatte / n ich / wir (nur bei mehreren Sachverständigen) das folgende wissenschaftliche psychiatrische Gutachten über (Personalien des / r Probanden / in) zu … (Fragestellung bzw. Beweisbeschluss zitieren). Das Gutachten stützt sich auf … (an dieser Stelle werden sämtliche Informationen zitiert, also die Kenntnis der Aktenlage, ggf. Kenntnis zusätzlicher Informationen, ambulante bzw. stationäre Untersuchung, ggf. Zusatzuntersuchungen). Genaue Angabe von Ort, Datum und Zeitdauer der Untersuchung
Aktenlage • Aktuelles Verfahren, ggf. Vorakten und Beiakten, insbesondere frühere Begutachtungen oder stationäre / ambulante Behandlungen • Ggf. zusätzliche Informationen, z. B. vom Gutachter beigezogene Krankenblätter, Berichte aus Pflegeheimen oder Berichte über ambulante Behandlungen • Ggf. fremdanamnestische Angaben Angaben des Probanden Vorbemerkung: Hinweis auf die ausführliche Aufklärung des Probanden inkl. des Hinweises auf das Fehlen der Verschwiegenheitspflicht und auf die Rechte des Probanden, insbesondere auf sein Schweigerecht dem Gutachter gegenüber
• Biografische Anamnese inkl. Beziehungs- und Sexualanamnese (in ausführlicher Form, wenn für die Fragestellung des Gutachtens relevant) • Familienanamnese • Medizinische Anamnese • Medikamenteneinnahme und Konsumverhalten bzgl. psychotroper Substanzen • Psychische Entwicklungsauffälligkeiten und psychische Vorerkrankungen • Psychosoziales Funktionsniveau (berufliche und private Aktivitäten, Tagesablauf) • Bisherige Therapien • Derzeitige Befindlichkeit • Angaben zum Delikt bzw. zu den für die Beurteilung wesentlichen Bereichen Befunde • Psychischer Befund • Orientierender allgemein-körperlicher und neurologischer Befund • Ggf. Zusatzbefunde (testpsychologische Untersuchung, apparative Untersuchung, Laboruntersuchung) Beurteilung • Diagnose zum Untersuchungszeitpunkt unter Verwendung der aktuellen psychiatrischen Klassifikationssysteme (ICD-10 bzw. DSM-5) inkl. differenzialdiagnostischer Überlegungen, falls erforderlich • Forensisch-psychiatrische Beurteilung mit Beantwortung der Beweisfragen (retrospektive Einschätzung der Tatzeitpersönlichkeit bzw. der Persönlichkeit beim Abschluss eines Rechtsgeschäftes, prognostische Überlegungen, Einschätzung der Leistungsfähigkeit je nach Fragestellung) Zusammenfassung (Fragestellung, Diagnose, Beantwortung der Beweisfragen)
Der Umfang eines Gutachtens kann in Anbetracht der sehr unterschiedlichen Fragestellungen in den verschiedenen Rechtsgebieten erheblich variieren. Zum einen ist der Umfang von Akten und Beiakten zu bedenken. Hierbei ist danach zu differenzieren, inwieweit aus den Akten zusammenfassend oder ausführlich zitiert werden muss. Müssen z. B. früher gestellte Diagnosen oder Vorgutachten erörtert oder schwierige prognostische Fragen diskutiert werden, wird das Gutachten umfangreicher ausfallen als etwa bei einer einfachen Fragestellung bei der Begutachtung im Rahmen des Betreuungsgesetzes.
Merke Der Umfang des Gutachtens allein ist kein Qualitätsmerkmal. Bei umfangreichen Gutachten wird die Lesbarkeit des Textes durch eine fortlaufende Nummerierung der Abschnitte, herausgehobene Überschriften für Abschnitte und die Hervorhebung wichtiger Textstellungen durch kursive Schreibweise gefördert.
5.1.2. Einleitung und formale Angaben In der Einleitung werden Auftraggeber, Aktenzeichen, Auftragsdatum und die Personalien des Probanden genannt. Sodann folgt die Wiedergabe der Fragestellung an den Gutachter. Hier empfiehlt sich eine möglichst wörtliche Zitierung aus dem Beweisbeschluss. Aus der Fragestellung, am zweckmäßigsten aus dem Beweisbeschluss, einer bereits vorliegenden Anklageschrift oder dem Haftbefehl sollte sich auch der Sachverhalt klar entnehmen lassen, damit der Leser des Gutachtens einleitend davon unterrichtet wird, um welche Fragestellung es überhaupt geht. Bei der Fragestellung und der Darstellung des Sachverhalts ist darauf zu achten, dass neutrale Formulierungen verwendet werden, damit sich der Sachverständige nicht dem Vorwurf ausgesetzt sieht, er nehme
eine Vorverurteilung vor oder sei voreingenommen. Bei umfangreichen Gutachten ist es zweckmäßig, dem Text ein Inhaltsverzeichnis voranzustellen.
5.1.3. Aktenlage Aus den Akten ist nur insoweit zu zitieren, als sich hieraus Informationen für die Beantwortung der Beweisfragen ergeben. Selbstverständlich geht es nicht darum, für die Begutachtung irrelevante Aktenteile seitenweise abzuschreiben. Die Leistung des Gutachters liegt gerade darin, die für seine Beurteilung wichtigen Aspekte aus den Akten herauszuarbeiten und darzustellen. Die Zitate erfolgen mit Angabe der Seiten- bzw. Blattzahl. Bei der strafrechtlichen Begutachtung ist es durchaus möglich, dass die Akten Zeugenaussagen, Polizeiprotokolle oder sonstige Auskünfte enthalten, deren Bedeutung für die psychiatrische Begutachtung nur der Sachverständige einschätzen kann. Bei der sozialrechtlichen Begutachtung ist es z. B. bei der Beurteilung von Unfallfolgen unabdingbar, die ersten Befunde, etwa den D-ArztBericht, zu zitieren. Bei der Prognosebegutachtung wäre es ein kardinaler Fehler, auf eine Darstellung der Aktenlage zu verzichten. Gerade hier geht es um die ausführliche Darstellung früherer Taten, möglicher Haftzeiten oder Aufenthalte im Maßregelvollzug, aus denen sich wesentliche Informationen sowohl zur biografischen als auch zur kriminologischen Vorgeschichte entnehmen lassen. Aus der Darlegung der Aktenlage wird für den Auftraggeber klar, welche Informationen der Sachverständige benutzt hat und welche er für wesentlich und bedeutsam hält. Schließlich ergibt sich hieraus, dass der Sachverständige mit der erforderlichen Neutralität zitiert hat. Aus all diesen Überlegungen folgt, dass der Sachverständige in jedem Fall sämtliche Akten komplett durcharbeiten muss. Dies bedeutet natürlich nicht, dass die Akten komplett zitiert werden. Sind in den Akten Informationen über frühere psychische Auffälligkeiten oder psychische Krankheiten enthalten, so sind diese
ausführlich darzustellen. Liegen frühere psychiatrische Gutachten vor, so empfiehlt es sich, diese hinsichtlich der früher gestellten Diagnosen und Schlussfolgerungen gesondert darzustellen. Auf in den letzten Jahren zunehmend häufiger formulierte Anweisungen im Beweisbeschluss, dass auf eine Wiedergabe von Akteninhalten verzichtet werden soll, darf sich ein Gutachter nicht einlassen. Sofern solche Forderungen vom Auftraggeber gestellt werden, sollte der Gutachter im persönlichen Kontakt mit diesem klarstellen, dass auf eine Darstellung relevanter Akteninhalte nicht verzichtet werden kann.
5.1.4. Angaben des Probanden Dem Abschnitt „Angaben des Probanden“ ist eine Vorbemerkung voranzustellen, aus der sich die Aufklärung und Information des Probanden über die Begutachtung ergibt. Hieraus ist zu entnehmen, dass der Proband in einer für ihn verständlichen Form über die Fragestellung des Auftraggebers sowie die Position und die Aufgabe des Sachverständigen informiert wurde. Ferner soll dieser Vorbemerkung zu entnehmen sein, dass der Proband über das Fehlen der Verschwiegenheitspflicht gegenüber dem Auftraggeber des Gutachtens informiert wurde, dass diese aber selbstverständlich gegenüber jedermann sonst (anderen Institutionen, z. B. Versicherungen oder Ämtern, Medien, Angehörigen) bestehen bleibt. Bei der Begutachtung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit empfiehlt sich darüber hinaus der Hinweis, dass der Sachverständige an der Hauptverhandlung teilnimmt, dort sein Gutachten mündlich erstatten wird und ggf. auch über Inhalte der Exploration als Zeuge vernommen werden kann. Ausdrücklich wird der Proband über sein Schweigerecht gegenüber dem Gutachter informiert. Der Abschnitt „Angaben des Probanden“ soll in sich klar gegliedert sein. Darzustellen ist die biografische Anamnese mit den wichtigsten Lebensdaten, Informationen über die Herkunftsfamilie und die Eltern, über den schulischen und beruflichen Werdegang sowie die soziale Entwicklung. Ferner ist die jeweilige konkrete
psychosoziale Situation des Probanden unter den Aspekten Partnerschaft inkl. Beziehungsanamnese, Beruf und Soziales darzustellen. Hier sollten auch Hinweise auf Hobbys, Liebhabereien, außerberufliche Aktivitäten und seine religiöse bzw. ethische Orientierung erwähnt werden. Darzustellen sind die Familienanamnese und die Krankheitsanamnese des Probanden, sofern es eine solche gibt. Ausführlich zu schildern ist das Konsumverhalten bzgl. psychotroper Substanzen. Bei den Angaben des Probanden hängen Schwerpunkte und Gewichtung einzelner Abschnitte selbstverständlich von der Fragestellung und vom Einzelfall ab. Geht es z. B. um ein sexuell motiviertes Delikt, ist eine detaillierte und ausführliche Sexualanamnese erforderlich (Beier et al. 2005). Dagegen ist eine solche Sexualanamnese z. B. bei der Beurteilung der Fahrtauglichkeit i. d. R. nicht notwendig. Auch für diesen Abschnitt gilt, dass die Darstellung einen sachlich-referierenden Charakter haben muss. Werturteile oder Interpretationen dürfen nicht einfließen. Bei der strafrechtlichen Begutachtung nehmen die Angaben des Probanden zum Tathergang einen besonderen Abschnitt ein, sofern sich der Proband zum Tatvorwurf äußert. Der psychiatrische Sachverständige hat dabei ausschließlich das Ziel, die innere Tatseite zu explorieren und die psychische Verfassung und die psychosoziale Situation so weit wie möglich herauszuarbeiten. Dies gilt in besonderem Maße, wenn psychopathologische Symptome handlungsdeterminierend waren. Ein Problem kann dann entstehen, wenn ein Proband im Rahmen der Exploration ein Geständnis ablegt oder über eine Tat weitergehende Angaben macht, als dies vor der Begutachtung bekannt war. In einer solchen Situation sollte der Proband an den Verteidiger verwiesen werden mit der Empfehlung, sein Vorgehen mit diesem abzustimmen. Falls erforderlich, sollte die Exploration unterbrochen werden.
5.1.5. Befunde Der psychische Befund ist der Kernbereich des psychiatrischen Gutachtens. Fehlt ein solcher Befund, so ist das Gutachten unbrauchbar. Die Darstellung des psychischen Befunds inkl. der Verhaltensbeobachtung des Probanden sollte so ausführlich wie möglich sein. In dieser Darstellung sollte der Proband in seiner Wesensart, seinem Charakter, seiner Persönlichkeit und seinen ggf. vorliegenden psychopathologischen Auffälligkeiten möglichst lebendig werden. Der psychische Befund hat das Ziel, in möglichst anschaulicher Form den konkreten Menschen, um den es geht, zu schildern. Dabei werden die kognitiv-intellektuellen Fähigkeiten, die Persönlichkeitsstruktur und ggf. zu benennende psychopathologische Symptome ebenso geschildert wie das subjektive Empfinden und Erleben. Auch die Verhaltensbeobachtung fließt hier ein. Dazu gehört auch die Darstellung des Umgangs des Probanden mit dem Sachverständigen und möglicherweise anderen an der Untersuchung Beteiligten. Die Darstellung sollte in guter Umgangssprache abgefasst werden (ausführliche Hinweise zur Abfassung und Darstellung des psychischen Befunds inkl. Verhaltensbeobachtung ➤ Kap. 2.6). Da im Befund der konkrete Mensch möglichst lebendig werden soll, kann die Befundschilderung unterschiedlich sein: Handelt es sich um einen psychopathologisch unauffälligen, stillen, zurückhaltenden und wortkargen Menschen, wird auch die Darstellung entsprechend knapper ausfallen. Bei einem extrovertierten, narzisstisch-schillernden Menschen wird auch die Darstellung breiter ausfallen. Das Gleiche gilt für die Schilderung psychopathologischer Symptome, etwa halluzinatorisches Erleben oder Wahnsymptome.
Merke Wichtig ist die Trennung der subjektiven Angaben des Probanden von den Feststellungen im Befund.
Die Erhebung und Dokumentation eines körperlichen Allgemeinbefunds und des neurologischen Befunds sind Bestandteil jedes psychiatrischen Gutachtens. Aus diesem Grund sollten Psychologen auch nur ergänzende Untersuchungen durchführen und nicht als Hauptgutachter bei psychiatrischen Fragestellungen auftreten. Eine ausführliche körperliche Untersuchung ist u. U. entbehrlich, wenn sich der Proband in stationärer Behandlung befindet, sei es im Maßregelvollzug oder in einem Justizvollzugskrankenhaus. In diesen Fällen kann, sofern der Proband einverstanden ist, aus den vorliegenden Befunden zitiert werden. Wird ein allgemein-körperlicher und neurologischer Normalbefund erhoben, genügt eine entsprechend knappe Darstellung. Wurde eine neuropsychologische Untersuchung durchgeführt, so sind deren Ergebnisse zusammenfassend unter Hinweis auf die durchgeführte Zusatzbegutachtung zu referieren. Das Gleiche gilt für die Ergebnisse anderer Zusatzuntersuchungen (z. B. apparative Untersuchungen, bildgebende Verfahren, Laboruntersuchungen). Wurden pathologische Befunde erhoben, die für die Beantwortung der Beweisfragen relevant sind, so sind diese ausführlich darzustellen. Bei Erhebung von Normalbefunde genügt ein entsprechender Hinweis. Bei der Erstdiagnose einer relevanten psychiatrischen Störung im Begutachtungsprozess sollte immer auch eine neuroradiologische Untersuchung des Gehirns durchgeführt werden.
5.1.6. Beurteilung Der Abschnitt „Beurteilung“ ist das Kernstück des Gutachtens und der für den Auftraggeber entscheidende und wichtigste Abschnitt. Die bisher dargestellten Abschnitte – Aktendarstellung, Angaben des Probanden, Befunde – haben eher berichtend-referierenden Charakter, während in der Beurteilung eine Wertung und Würdigung dieser Informationen aus psychiatrischer Sicht mit dem Ziel vorgenommen wird, eine zusammenfassende Darstellung aller wesentlichen Anknüpfungstatsachen aus der Akte und den Befunden vorzunehmen, um zu einer abschließenden Aussage über
die diagnostische Einschätzung zum Untersuchungszeitpunkt – bei strafrechtlichen Fragen zum Tatzeitpunkt – und hierauf aufbauend zur Beantwortung der Beweisfragen zu kommen.
Merke Diese Darstellung muss kriterienorientiert, nachvollziehbar und transparent sein. Stets hat der Sachverständige die Grenze zwischen psychiatrischer und juristischer Kompetenz zu beachten. Bei der sprachlichen Darstellung ist zu bedenken, dass das psychiatrische Gutachten der Information und Beratung von Nichtpsychiatern dient und hierauf ausgerichtet sein muss, d. h., die Sprache muss hier ebenso anschaulich und klar sein wie in den vorangegangenen Abschnitten. Im Interesse einer klaren und präzisen wissenschaftlichen Aussage kann in diesem Abschnitt jedoch nicht völlig auf Fachtermini verzichtet werden. Nicht allgemein bekannte Fachtermini müssen erläutert werden. Auch der Abschnitt „Beurteilung“ sollte in sich klar gegliedert sein. Auf die nochmalige Darstellung des Akteninhalts, der Angaben des Probanden und der Befunde kann in diesem Abschnitt verzichtet werden, da diese in den vorangegangenen Teilen ausführlich dargelegt wurden. Es genügt, wenn im Rahmen. der Herleitung der Diagnose und der differenzialdiagnostischen Erörterungen auf diese Abschnitte verwiesen wird. Dabei erfolgt die Diagnosestellung im Hinblick auf die vorliegenden Informationen aufgrund der Anamnese und der subjektiven Angaben des Probanden sowie der Befunderhebung. In einem ersten Schritt ist stets die Diagnose zum Untersuchungszeitpunkt darzustellen. Diese Diagnosestellung ist an den internationalen Klassifikationssystemen in der Psychiatrie (ICD-10 und DSM-5) auszurichten. Gibt es diagnostische Unklarheiten oder differenzialdiagnostische Probleme, so sind diese ausführlich zu erörtern. Dies ist besonders dann der Fall, wenn der
Sachverständige zu anderen diagnostischen Ergebnissen kommt als früher behandelnde Ärzte oder Vorgutachter. Kann keine Diagnose gestellt werden, so ist dies ebenso begründet darzulegen wie der seltene Fall, dass andere diagnostische Raster als die erwähnten Klassifikationssysteme verwendet werden. Besteht eine psychische Störung oder Erkrankung, so liegt nach Art der Störung der Schwerpunkt der Erörterungen entweder mehr auf dem psychopathologischen Teil oder in einer ausführlicheren Darstellung der Persönlichkeitsproblematik. Dabei ist neben der phänomenologischen Diagnose stets auch eine Diskussion des Schweregrades der Symptome notwendig. Dies ist deshalb erforderlich, weil die normativen Setzungen häufig die Notwendigkeit einer individuellen Quantifizierung begründen, wie die Verwendung z. B. der Begriffe „schwer“ oder „erheblich“ aufzeigt. Die Quantifizierung muss im Einzelfall erfolgen. Pauschalisierende Schlussfolgerungen unter alleiniger Berücksichtigung der Diagnose sind abzulehnen (Winckler und Foerster 1994). Der Umfang der Ausführungen zur Diagnose und Differenzialdiagnose hängt von der Komplexität des jeweiligen Falls ab; so ist z. B. ein ausgeprägtes demenzielles Syndrom leichter zu diagnostizieren und zu beschreiben als die Entwicklung einer schwerwiegenden Persönlichkeitsstörung mit sexuellen Auffälligkeiten. Dieser erste Abschnitt der Diagnosestellung, nämlich die Schilderung der Diagnose zum Untersuchungszeitpunkt, genügt jedoch keineswegs. Bei allen Fragestellungen, die eine retrospektive Beurteilung erforderlich machen (Beurteilung von Schuldfähigkeit, Testierfähigkeit, Geschäftsfähigkeit), ist die Extrapolation der zum Untersuchungszeitpunkt gefundenen Diagnose auf die Diagnose zum Zeitpunkt des jeweiligen Ereignisses (der Tat bzw. des Rechtsgeschäfts) erforderlich. Auch bei diesem Schritt sind wiederum sämtliche Erkenntnisquellen und Informationen zu berücksichtigen. Die retrospektiv gestellte Diagnose muss ebenso klar und nachvollziehbar begründet dargelegt werden wie die
Diagnose zum Untersuchungszeitpunkt, bzw. es muss dargelegt werden, aus welchen Gründen dies ggf. nicht möglich ist. Geht es um prognostische Fragen, also z. B. bei der Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit, bei Fragen des Betreuungsgesetzes oder bei kriminalprognostischen Erörterungen, so sind die entsprechenden Folgerungen aus der Diagnose zum Untersuchungszeitpunkt inkl. der übrigen Informationen abzuleiten. Hier können sich natürlich – ebenso wie bei der retrospektiven Beurteilung – Unsicherheiten ergeben. Diese sind nicht zu übergehen, sondern zu erörtern und in ihrer Wertigkeit darzulegen. Im letzten Teil des Abschnitts „Beurteilung“ sind die Beweisfragen zu beantworten. Hierbei ist vom Sachverständigen zu verlangen, dass er die in den einzelnen Rechtsgebieten vorgegebenen unterschiedlichen normativen Begriffe und deren Bedeutung kennt. Bei der strafrechtlichen Beurteilung ist die vom psychiatrischen Sachverständigen gestellte Tatzeitdiagnose einer der vier Merkmalskategorien der §§ 20 / 21 StGB zuzuordnen (➤ Kap. 8). Nach dieser Zuordnung äußert sich der Sachverständige dann in einem zweiten Schritt zu der Frage, ob wegen einer Merkmalskategorie Einschränkungen der Einsichtsfähigkeit oder der Steuerungsfähigkeit vorliegen können. Dabei ist selbstverständlich der Primat der juristischen Beweiswürdigung zu bedenken, denn bei dieser Beurteilung handelt es sich um eine juristische Wertung und nicht um eine empirisch-wissenschaftlich mögliche Feststellung. Der psychiatrische Sachverständige ist lediglich dazu aufgerufen, dem Gericht die Voraussetzungen aus psychiatrischer Sicht dafür aufzuzeigen, ob eine entsprechende Einschränkung angenommen werden kann. Dabei hat sich der Sachverständige keinesfalls zur Beurteilung der Schuldfähigkeit oder zur Schuld zu äußern. Wie einleitend dargestellt, ist bei der strafrechtlichen Beurteilung ausschließlich die mündliche Gutachtenerstattung entscheidend. Daher ist das schriftliche Gutachten ein vorläufiges und die schriftlich niedergelegte Beurteilung insofern ebenfalls als vorläufig zu betrachten. Auf die Vorläufigkeit seiner Einschätzung sollte der
Sachverständige auch im schriftlichen Gutachten in einem abschließenden Satz hinweisen. Auch bei der zivilrechtlichen Beurteilung ist vom Sachverständigen zu verlangen, dass er die vorgegebenen normativen Begriffe kennt. Geht es z. B. um die Beurteilung der Geschäfts- oder der Testierfähigkeit, so muss der Sachverständige wissen, dass diese Wertung und Würdigung allein eine juristische Aufgabe ist. Auch hier hat der Sachverständige dem Auftraggeber darzulegen, ob die psychiatrischen Voraussetzungen bestehen und eine entsprechende Würdigung vorzunehmen. Keinesfalls hat der Sachverständige festzustellen, dass etwa „Geschäftsunfähigkeit“ vorliege. Hierin wären eine deutliche Kompetenzüberschreitung und eine Verfehlung des Gutachtenauftrags zu sehen. Auch bei sozialrechtlichen Fragestellungen fällt die Entscheidung darüber, ob z. B. teilweise oder vollständige Erwerbsunfähigkeit vorliegt, allein in die richterliche Kompetenz. Die Aufgabe des Sachverständigen ist die Feststellung, welche psychopathologischen Symptome mit der Folge einer konkreten Einschränkung der Leistungsfähigkeit bestehen. Geht es um prognostische Fragen, etwa im Rahmen einer Kriminalprognose oder bei der Beurteilung einer psychiatrischen Behandlung zur Erhaltung oder Verbesserung der Erwerbsfähigkeit, so sind die möglichen zukünftigen Unsicherheiten zu benennen. Zu bedenken ist stets der Zeitfaktor: Je weiter in die Zukunft sich prognostische Einschätzungen erstrecken, desto unschärfer müssen sie prinzipiell werden. Häufig ist eine „Wenn-dann“-Argumentation hilfreich, d. h., es ist darzulegen, was prognostisch zu erwarten ist, wenn bestimmte zukünftige Ereignisse eintreten oder nicht eintreten. Bei allen Fragestellungen können Widersprüche auch nach sorgfältiger Untersuchung bestehen bleiben. Diese sind ggf. in Form einer Alternativbeurteilung zu benennen, zumal die Bewertung widersprüchlicher Angaben ausschließlich Aufgabe des Gerichts ist. Die juristischen Beweisfragen lassen sich vom psychiatrischen Sachverständigen nicht in jedem Fall mit der vom Auftraggeber gewünschten Klarheit und Sicherheit beantworten. In diesem Fall
hat der Gutachter die Aufgabe, die Grenzen psychiatrischer Beurteilbarkeit deutlich zu machen. Dies ist kein Zeichen von Inkompetenz – ganz im Gegenteil:
Merke Ein qualitativ hochwertiges Gutachten zeichnet sich dadurch aus, dass es die möglichen „Grauzonen“ und ggf. auch Grenzen psychiatrischer Aussagefähigkeit differenziert darlegt (Winckler und Foerster 1994). Da der Auftraggeber das Gutachten häufig „von hinten“ liest, d. h., sich zunächst anhand der Schlusssätze oder der Zusammenfassung informiert, zu welchem Ergebnis das schriftliche Gutachten kommen wird, empfiehlt es sich, den ausführlichen Abschnitt „Beurteilung“ mit einer Zusammenfassung in Kurzform abzuschließen. In dieser Zusammenfassung sollten in komprimierter Form die Fragestellung, die Diagnose, ggf. vorliegende diagnostische Schwierigkeiten und die wesentliche Schlussfolgerung dargelegt werden.
5.1.7. Mindestanforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten Im Rahmen der juristischen und psychiatrischen Bemühungen um eine Qualitätsverbesserung bei der psychiatrischen Begutachtung, insbesondere bei der Begutachtung der Schuldfähigkeit, wurden von einer interdisziplinären Arbeitsgruppe beim BGH Mindestanforderungen für die Begutachtung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit erarbeitet. Da diese in erster Linie auf die Abfassung des schriftlichen Gutachtens ausgerichtet sind, werden sie in ➤ Box 5.1 dargestellt (Boetticher et al. 2005).
Box 5.1
Mindestanforderungen für die Begutachtung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit Formelle Mindestanforderungen • Nennung von Auftraggeber und Fragestellung • Darlegung von Ort, Zeit und Umfang der Untersuchung • Dokumentation der Aufklärung • Darlegung der Verwendung besonderer Untersuchungs- und Dokumentationsmethoden (z. B. Videoaufzeichnung, Tonbandaufzeichnung, Beobachtung durch anderes Personal, Einschaltung von Dolmetschern) • Exakte Angabe und getrennte Wiedergabe der Erkenntnisquellen: – Akten – Subjektive Darstellung des Untersuchten – Beobachtung und Untersuchung – Zusätzlich durchgeführte Untersuchungen (z. B. bildgebende Verfahren, psychologische Zusatzuntersuchung) • Eindeutige Kenntlichmachung der interpretierenden und kommentierenden Äußerungen und deren Trennung von der Wiedergabe der Informationen und Befunde • Trennung von gesichertem medizinischem (psychiatrischem, psychopathologischem, psychologischem) Wissen und subjektiver Meinung oder Vermutung des Gutachters • Offenlegung von Unklarheiten und Schwierigkeiten und den daraus abzuleitenden Konsequenzen, ggf. rechtzeitige Mitteilung an den Auftraggeber über weiteren Aufklärungsbedarf • Kenntlichmachung der Aufgaben- und Verantwortungsbereiche der beteiligten Gutachter und Mitarbeiter • Bei Verwendung wissenschaftlicher Literatur Beachtung der üblichen Zitierpraxis
• Klare und übersichtliche Gliederung • Hinweis auf die Vorläufigkeit des schriftlichen Gutachtens Inhaltliche Mindestanforderungen • Vollständigkeit der Exploration, insbesondere zu den deliktund diagnosespezifischen Bereichen (z. B. ausführliche Sexualanamnese bei sexueller Devianz und Sexualdelikten, detaillierte Darlegung der Tatbegehung) • Benennung der Untersuchungsmethoden, Darstellung der Erkenntnisse, die mit den jeweiligen Methoden gewonnen wurden. Bei nicht allgemein üblichen Methoden oder Instrumenten: Erläuterung der Erkenntnismöglichkeiten und deren Grenzen • Diagnosen unter Bezug auf das zugrunde liegende Diagnosesystem. Bei Abweichung von diesen Diagnosesystemen: Erläuterung, warum welches andere System verwendet wurde • Darlegung der differenzialdiagnostischen Überlegungen • Darstellung der Funktionsbeeinträchtigungen, die i. Allg. durch die diagnostizierte Störung bedingt werden, soweit diese für die Gutachtensfrage relevant werden könnten • Überprüfung, ob und in welchem Ausmaß diese Funktionsbeeinträchtigungen beim Untersuchten bei Begehung der Tat vorlagen • Korrekte Zuordnung der psychiatrischen Diagnose zu den gesetzlichen Eingangsmerkmalen • Transparente Darstellung der Bewertung des Schweregrads der Störung • Tatrelevante Funktionsbeeinträchtigung unter Differenzierung zwischen Einsichts- und Steuerungsfähigkeit • Darstellung alternativer Beurteilungsmöglichkeiten
Das Bemühen um Qualitätsverbesserungen anhand dieser Mindestanforderungen ist uneingeschränkt zu begrüßen. Kritisch ist jedoch darauf hinzuweisen, dass ein Gutachten sämtlichen Mindestanforderungen formal genügen kann und in seiner Aussage dennoch nicht korrekt ist – dies ist allerdings prinzipiell nicht vermeidbar. In Fortführung der Arbeit zur Qualitätsverbesserung hat die interdisziplinäre Arbeitsgruppe beim BGH auch Mindestanforderungen für Prognosegutachten erarbeitet (Boetticher et al. 2006), die zusammenfassend in ➤ Kap. 30 dargestellt werden.
5.2. Das mündliche Gutachten Hauptdomäne des mündlichen Gutachtenvortrags durch den psychiatrischen Sachverständigen ist die Erstattung des Gutachtens im Strafverfahren, da das schriftliche Gutachten – wie dargelegt – immer ein vorläufiges Gutachten ist. In seltenen Ausnahmefällen wird das schriftliche Gutachten mit Einverständnis aller Prozessbeteiligten auch im Strafverfahren verlesen, sodass dann kein Gutachtenvortrag erforderlich ist. In Zivilprozessen kommt es zunehmend häufiger zu mündlichen Erläuterungen. In den meisten anderen Rechtsgebieten ist die Tätigkeit des psychiatrischen Sachverständigen dagegen mit der Abgabe des schriftlichen Gutachtens abgeschlossen. Bei sozialgerichtlichen Verfahren ist eine Anhörung des Sachverständigen eine Rarität. Bei Verwaltungsgerichtsverfahren kann es im Rahmen schwierig zu beurteilender Asylverfahren auch zur mündlichen Anhörung kommen. Keine mündlichen Anhörungen gibt es bei Gutachten für Versicherungen und Berufsgenossenschaften sowie bei der Beurteilung der Fahrtauglichkeit.
5.2.1. Das mündliche Gutachten im Strafprozess Im Strafverfahren gilt das Unmittelbarkeitsprinzip. Daher kann das Gericht nur Informationen verwerten, die in der Hauptverhandlung mündlich vorgetragen werden. Deshalb muss der psychiatrische Sachverständige wissen, welche Tatsachen in der Hauptverhandlung besprochen wurden und welche ggf. zusätzlichen und neuen Informationen für sein Gutachten wichtig sind. Hieraus folgt, dass der Sachverständige üblicherweise während der gesamten Hauptverhandlung bis zu seinem Gutachtenvortrag anwesend ist. Teilnahme an der Hauptverhandlung Die Teilnahme an der Hauptverhandlung kann bei länger dauernden Verfahren eine sehr zeitaufwendige Belastung werden. Dennoch ist es i. d. R. für den psychiatrischen Sachverständigen unabdingbar, sämtliche Informationen aus der Hauptverhandlung zu verwerten. Dies gilt in besonderem Maße, wenn neue, zusätzliche Informationen oder wesentliche Zeugenaussagen zu erwarten sind. Dabei ist es selbstverständlich nicht Aufgabe des Sachverständigen, an der Tataufklärung mitzuwirken oder einen Angeklagten zu überführen. Die Leitung der Hauptverhandlung erfolgt ausschließlich durch den Vorsitzenden Richter, dem insoweit auch die Leitung und Anleitung des Sachverständigen obliegt. Dies gilt auch für die Anwesenheitspflicht, von der der Sachverständige zeitweise befreit werden kann. Dies ist der Fall, wenn Tatsachen erörtert werden, die für das psychiatrische Gutachten voraussichtlich ohne Belang sind. Die Entscheidung, ob auf die Anwesenheit des Sachverständigen verzichtet werden kann, trifft der Vorsitzende Richter. Der Sachverständige erlebt den Probanden und sein Verhalten in der Hauptverhandlung in einer völlig anderen Situation, was gelegentlich ergänzende Informationen für die Beurteilung der Persönlichkeit erbringt. Zudem lernt er Angehörige und andere Bezugspersonen kennen, durch deren Aussagen das Bild von der
Persönlichkeit des Angeklagten und seinem Verhalten möglicherweise klarere und schärfere Konturen erhält. Aus den Aussagen von Tatopfern oder Tatzeugen sind gelegentlich zusätzliche Informationen über die Entwicklung der Täter-Opfer-Beziehung – sofern eine solche bestanden hat – und über die psychische bzw. psychopathologische Symptomatik eines Täters zu erhalten. Von großer Wichtigkeit sind dabei immer Informationen von Zeugen über Grad und Ausmaß der Beeinflussung durch psychotrope Substanzen. Die Beziehungen zwischen Täter und etwaigen Mittätern, die mögliche Verklammerung mit Familien- und Berufskonflikten, die Wichtigkeit von Bezugspersonen und die etwaige Interaktionsentwicklung zwischen Täter und Opfer können in einer Hauptverhandlung eine große atmosphärische Dichte und plastische Eindringlichkeit erlangen, die weit über ein noch so sorgfältiges Aktenstudium hinausgehen. Es kann auch vorkommen, dass der Tathergang vom Angeklagten anders dargestellt wird als bei der psychiatrischen Untersuchung. Hierauf hat der Sachverständige zu verweisen; letztlich ist von den Angaben im Rahmen der Hauptverhandlung auszugehen. Fragerecht des Sachverständigen Im Strafverfahren hat auch der psychiatrische Sachverständige ein Fragerecht. Im Anschluss an die Fragen des Gerichts und der anderen Prozessbeteiligten kann er Fragen an den Probanden, an Zeugen und auch an andere Sachverständige richten. Fragen an den Angeklagten ergeben sich stets dann, wenn dieser zusätzliche Angaben macht oder einen Sachverhalt anders darstellt als bei der Untersuchung. Fragen an die Zeugen sind immer dann sinnvoll, wenn aus der Beantwortung Informationen zur Präzisierung der psychischen bzw. psychopathologischen Symptomatik bei Tatbegehung oder im Tatvorfeld zu erwarten sind. Wichtig können auch zusätzliche Informationen über die Persönlichkeit, das Konsumverhalten bzgl. psychotroper Substanzen und u. U. über das
sexuelle Verhalten sein. Dabei können die Angaben des Probanden bestätigt oder auch widerlegt werden. Unter formalen Aspekten sollte der Sachverständige darauf achten, keine Fragen zu stellen, die bereits von anderen Verfahrensbeteiligten gestellt wurden. Er sollte auch nur dann fragen, wenn die Antworten für die Gutachtenerstattung relevant sein können. Gutachtenvortrag Nach Abschluss der Beweisaufnahme und nach der etwaigen Verlesung von Strafregisterauszügen und ggf. früheren Urteilen werden die Sachverständigen gehört. Sind mehrere Sachverständige tätig geworden, so erstattet der psychiatrische Sachverständige sein Gutachten i. d. R. als Letzter, um alle Informationen verwerten zu können. Vor Erstattung des Gutachtens wird der Sachverständige belehrt, es sei denn, dies ist schon zu Beginn der Hauptverhandlung geschehen. Gemäß § 57 StPO wird der Sachverständige ebenso wie die Zeugen auf die Wahrheitspflicht hingewiesen, auf die strafrechtlichen Folgen einer unrichtigen oder unvollständigen Begutachtung sowie darauf, dass das Gutachten unparteiisch und nach bestem Wissen und Gewissen zu erstatten ist. Ferner wird auf die prinzipielle Möglichkeit der Vereidigung hingewiesen. Vor Erstattung des Gutachtens hat der Sachverständige die allgemeinen Fragen zu beantworten, d. h., er muss Name, Vorname, Beruf, Alter und Anschrift nennen. Außerdem hat er zu erklären, dass er mit dem Probanden nicht verwandt oder verschwägert und nicht wegen Eidesverletzung vorbestraft ist. Zudem wird der Sachverständige auch als Zeuge belehrt, da er regelmäßig Zeugenangaben macht, wenn er über den Inhalt der Gespräche mit dem Probanden berichtet. Der mündliche Gutachtenvortrag soll in freier, klarer und gut gegliederter Form erfolgen. Keinesfalls darf das Gutachten lediglich vorgelesen werden. Es ist zweckmäßig, wenn der Sachverständige seinen Ausführungen eine Gliederung des Vortrags voranstellt.
Sachverhalte, die bereits im Rahmen der Hauptverhandlung erörtert wurden (z. B. biografische Anamnese, Beziehungsaspekte, Informationen aus der medizinischen Anamnese), müssen nicht nochmals detailliert vorgetragen werden. Hier genügt seitens des Sachverständigen ein Hinweis darauf, dass diese Informationen dem Gericht bereits bekannt sind. Der Gutachtenvortrag muss sich auf die für die Urteilsbildung des Gerichts wesentlichen Tatsachen aus Akten, Vorgeschichte, Befund, Persönlichkeitsanalyse bzw. psychopathologischem Befund und ggf. zusätzlichen Informationen und Erkenntnissen, die im Rahmen der Hauptverhandlung gewonnen wurden, beschränken. Anhand dieser Grundlagen sind dann die forensisch-psychiatrischen Schlussfolgerungen zu erläutern, wobei der Sachverständige über eine ausreichende Flexibilität verfügen muss, um zusätzliche, ggf. neue Informationen aus der Beweisaufnahme in das mündliche Gutachten einzubeziehen. Dies gilt vor allem dann, wenn er von seiner ursprünglichen Beurteilung abweicht. Ein solches Vorgehen muss gesondert begründet werden, wobei auf die neuen Informationen abzuheben ist. Der mündliche Gutachtenvortrag sollte folgendermaßen gegliedert werden: Zunächst soll die Fragestellung genannt werden; sodann soll der Sachverständige die Grundlagen für seine Stellungnahme erläutern, wozu auch die Darstellung des Umfangs und der Dauer der gutachtlichen Untersuchung gehört. Er sollte dann darauf hinweisen, ob und ggf. welche zusätzlichen Anknüpfungstatsachen er aus der Beweisaufnahme entnommen hat. Die Darlegung der Diagnose und ggf. die Diskussion differenzialdiagnostischer Überlegungen nehmen naturgemäß breiten Raum ein. Diese Darstellung muss kriterienorientiert und transparent sein. Daran anschließend ist die Subsumierung unter eine der Merkmalskategorien der §§ 20 / 21 StGB darzulegen, sofern dies der Fall ist. Es ist in jedem Fall auch darzulegen, welche anderen Merkmalskategorien nicht in Betracht kommen oder ob eine Subsumierung vorgenommen werden kann. Ist eine Zuordnung zu einer der Merkmalskategorien möglich, ist abschließend die Frage der Voraussetzungen einer möglichen
Einschränkung der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit darzulegen. Auch beim mündlichen Gutachtenvortrag ist der Primat der richterlichen Beweiswürdigung stets zu beachten. Die Dauer des mündlichen Gutachtenvortrags schwankt je nach Schwierigkeit der zu beantwortenden Fragen und der nötigen Diskussion in breitem Umfang. Falls eine sehr ausführliche Darstellung erforderlich ist, ist es sinnvoll, wenn der Sachverständige bereits zu Beginn seines Vortrags darauf hinweist. Befragung des Sachverständigen Nach Erstattung des Gutachtens kann der Sachverständige durch das Gericht, die übrigen Prozessbeteiligten und den Angeklagten befragt werden. Bei der Beantwortung der Fragen sollte sich der Sachverständige darauf beschränken, konkrete Antworten auf konkrete Fragen zu geben. Hier ist er manchmal in besonderer Weise gefordert, die Kompetenzgrenze zwischen empirisch möglichem psychiatrischem Wissen und juristischer Würdigung zu beachten. Bei persönlichen Angriffen auf den Sachverständigen sollte dieser ggf. den Vorsitzenden Richter um Leitung der Befragung bitten. Auch bei der Befragung sollte der Sachverständige darauf achten, dass er sich einer eigenen Wertung der Einlassungen des Angeklagten oder von Zeugenaussagen enthält. Jedoch ist nicht zu beanstanden, wenn er ggf. darauf hinweist, dass Angaben von Angeklagten oder Zeugen durch medizinisches Wissen nicht gedeckt sind oder aber bestätigt werden können. Falls auch nach Abschluss der Beweisaufnahme widersprechende Informationen vorliegen, kann einer der Prozessbeteiligten auch um eine Alternativbeurteilung bitten. Dabei hat der Sachverständige die Frage zu erläutern, wie die Stellungnahme zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit ausfallen würde, wenn das Gericht z. B. der Version der Staatsanwaltschaft oder der Darstellung des Angeklagten folgen würde. In seltenen Fällen bleiben Unklarheiten und Zweifel bestehen. Ist eine Schlussfolgerung aufgrund fehlender Anknüpfungstatsachen sachlich und inhaltlich nicht möglich, muss eine „Non-liquet“-
Beurteilung erfolgen. Dies bedeutet, dass ein Sachverhalt nicht abschließend geklärt werden kann. Ist eine solche Situation gegeben, muss der Sachverständige die fehlenden Anknüpfungstatsachen aus seiner Sicht ausführlich darlegen. Er sollte nicht fürchten, hierdurch inkompetent zu erscheinen. Die Aufgabe des psychiatrischen Sachverständigen darf nicht dahingehend missverstanden werden, dass grundsätzlich und in jedem Fall eine verbindliche Diagnose oder ggf. Prognose gestellt werden muss, wenn dies aus sachlichen Gründen nicht möglich ist. Die Frage nach dem „Nicht-ausschließen-Können“ Bei der Befragung des Sachverständigen versuchen Prozessbeteiligte mitunter, den Sachverständigen zu einer Modifizierung oder Verwässerung seiner Darstellung zu bewegen. Dabei wird oft in bohrender Weise die Frage gestellt, ob der Sachverständige eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit mit „allerletzter Sicherheit“ wenigstens nicht ausschließen könne. Wird dem Sachverständigen eine solche Frage gestellt, sollte er auf den diesbezüglich gegebenen Primat der richterlichen Beweiswürdigung verweisen.
Merke Grundsätzlich ist es immer so, dass die Frage nach der Steuerungsfähigkeit der juristischen Terminologie angehört und nicht der psychiatrischen Wissenschaft. Der psychiatrische Sachverständige kann nur anhand des Vorliegens konkreter Kriterien belegen, ob eine psychopathologische Symptomatik mit psychosozialen Folgen vorgelegen hat oder nicht. Dies ist aber bekanntlich nur ein Teil der juristischen Beweiswürdigung. Der Sachverständige ist Beweismittel neben anderen Beweismitteln. Kommt das Gericht in seiner Wertung und Würdigung aller Beweise zu dem Ergebnis, dass es – aus juristischer
Sicht und in juristischer Kompetenz – das Vorliegen einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit nicht ausschließen könne, so ist dies eine juristische Wertung, aber keine empirisch begründbare Feststellung des psychiatrischen Sachverständigen. Manchmal ist es zweckmäßig, den Prozessbeteiligten im Rahmen einer solchen Diskussion die kategorialen Unterschiede einer Beweisführung vor Augen zu halten: Erkenntnistheoretisch wird im Gutachten eines Sachverständigen kein experimenteller oder rechnerischer, sondern ein historischer Beweis geführt. Rechnerische und experimentelle Beweise erlauben überprüfbare Aussagen. Jedem historischen Beweis wohnt dagegen prinzipiell und zwangsläufig eine abstrakte Fehlermöglichkeit inne. Der lediglich aus abstrakten Denkmöglichkeiten im Rahmen eines historischen Beweises verbleibende abstrakte Zweifel an der Richtigkeit einer Entscheidung ist jedoch forensisch-psychiatrisch nicht relevant (Foerster 1983).
5.2.2. Das mündliche Gutachten im Zivilprozess In Zivilprozessen wie auch in Prozessen der Sozial- oder der Verwaltungsgerichtsbarkeit wird der psychiatrische Sachverständige nur in Ausnahmefällen geladen, um sein schriftliches Gutachten mündlich zu erläutern und ergänzende Fragen zu beantworten. Bei zivilrechtlichen Auseinandersetzungen, etwa bei Haftungsfragen nach Unfällen, bei Auseinandersetzungen zur Geschäftsfähigkeit oder zur Testierfähigkeit verstorbener Probanden oder bei strittigen Beurteilungen zur beruflichen Leistungsfähigkeit wird von den Zivilkammern von dieser Möglichkeit jedoch häufiger Gebrauch gemacht. In diesen Fällen hat der Sachverständige eine Modifizierung des mündlichen Gutachtenvortrags zu beachten: Er hat sein Gutachten nicht – wie im Strafprozess – komplett mündlich vorzutragen, sondern er hat nur auf Fragen seitens des Gerichts und der Prozessbeteiligten zu antworten. Hierbei kann es durchaus zu
schwierigen Situationen kommen, wenn etwa die Partei, die mit dem Ergebnis des Gutachtens nicht einverstanden ist, versucht, das gutachtliche Ergebnis zu entkräften und dem psychiatrischen Sachverständigen fehlende persönliche und fachliche Kompetenz nachzuweisen. Dies kann in Einzelfällen bis zu persönlichen Angriffen gehen. Hier sollte sich der Sachverständige keinesfalls auf verbale Auseinandersetzungen mit den Parteivertretern einlassen.
Merke Auch hier empfiehlt es sich als grundsätzliche Haltung, die Fragen klar und kriterienorientiert zu beantworten, soweit es dem psychiatrischen Sachverständigen möglich ist, und sich jeglicher Spekulation und Hypothesenbildung zu enthalten. Nach Abschluss der Befragung besteht sowohl im Strafprozess als auch im Zivilprozess die prinzipielle Möglichkeit, den Sachverständigen – ebenso wie andere Zeugen – zu vereidigen, sofern dies von einem der Prozessbeteiligten beantragt wird oder dem Gericht geboten erscheint. In der Regel erfolgt dies jedoch nicht.
Literatur Beier KM, Bosinski H, Loewit K (2005). Sexualmedizin. 2. A. München: Elsevier Urban & Fischer. Boetticher A, Nedopil N, Bosinski H, Saß H (2005). Mindestanforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten. NStZ 25: 57–62. Boetticher A, Kröber HL, Müller-Isberner R, Böhm KM, Müller-Metz R, Wolf Th (2006). Mindestanforderungen für Prognosegutachten. NStZ 26: 537–544. Dreßing H (2017). Qualitätsmerkmale in der neurowissenschaftlichen Begutachtung. Versicherungsmedizin 1: 12–17. Foerster K (1983). Der psychiatrische Sachverständige zwischen Norm und Empirie. NJW 36: 2049–2053. Müller JL, Nedopil N (2017). Forensische Psychiatrie. 5. A. Stuttgart: Thieme. Winckler P, Foerster K (1994). Qualitätskriterien in der psychiatrischen Gutachtenpraxis. Versicherungsmedizin 46: 49–52.
KAPITEL 6
Fehlermöglichkeiten beim psychiatrischen Gutachten Harald Dreßing und Klaus Foerster
6.1 Einleitung 6.2 Fehlermöglichkeiten von der Auftragserteilung bis zum mündlichen Gutachten 6.2.1 Bei der Aktendarstellung 6.2.2 Bei der Interaktion zwischen Proband und Sachverständigem 6.2.3 Bei Exploration und Anamneseerhebung 6.2.4 Im Befund 6.2.5 Bei der Diagnose 6.2.6 Bei der forensisch-psychiatrischen Beurteilung 6.2.7 Im schriftlichen Gutachten 6.2.8 Im mündlichen Gutachten 6.3 Fehlermöglichkeiten in unterschiedlichen Rechtsgebieten 6.3.1 Bei der strafrechtlichen Begutachtung 6.3.2 Bei der Prognosebegutachtung 6.3.3 Bei der zivilrechtlichen Begutachtung 6.3.4 Bei der sozialrechtlichen Begutachtung
6.4 Verbesserungsmöglichkeiten
6.1. Einleitung Fehlermöglichkeiten und Fallstricke gibt es in allen Stadien der psychiatrischen Begutachtung. Der Sachverständige muss diese Fehlerquellen kennen, um sie zu vermeiden. Die wissenschaftliche Bearbeitung des Themas ist eher selten (Heinz 1982; Konrad 1996; Pfäfflin 1978; Venzlaff 1983; Mellsop et al. 2011). In einer neueren Metaanalyse wurde dargestellt, wie gering das „inter-rater agreement“ bei der gutachtlichen Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit ist. Auch erfahrene Gutachter kommen bei der Einschätzung der beruflichen Leistungsfähigkeit zu recht unterschiedlichen Ergebnissen (Barth et al. 2017). Fehler bei der Gutachtenerstattung können erhebliche Auswirkungen auf das Schicksal der Probanden haben. Sofern es sich um vermeidbare Fehler handelt, kann der Sachverständige in zivilrechtliche Haftung genommen werden (➤ Kap. 7), sodass es auch in seinem eigenen Interesse ist, potenzielle Fehlerquellen zu erkennen. Auch dies gehört zur Verantwortung des psychiatrischen Sachverständigen (Foerster 2004). Das Vermeiden von Fehlern dient zudem der Qualitätssicherung in der psychiatrischen Begutachtung, um auch dadurch Angriffe auf psychiatrische Sachverständige wegen tatsächlicher oder – sehr viel häufiger – vermeintlicher Fehler durch Medien und Öffentlichkeit zu vermeiden (Foerster 2002). Dabei kann es gerade bei zivilrechtlichen Gutachten durchaus vorkommen, dass der Sachverständige durch die Rechtsvertreter einer Seite (auch unsachlich) angegriffen wird. Der Sachverständige sollte sich hierdurch keinesfalls selbst zu unsachlichen Äußerungen verleiten lassen (Widder 2011). Prinzipiell können Fehler auf folgenden Ebenen auftreten (Maisch 1985):
• Untersuchungsmängel unterschiedlichster Art inkl. diagnostischer Unterlassungen • Verstöße gegen wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse, auch in Form unzulässiger wissenschaftlicher Generalisierungen und der Anwendung wissenschaftlicher Begriffe ohne ausreichende Beschreibung und Begründung des Sachverhalts • Empirische Begründungs- und Beweismängel bei den forensisch-psychiatrischen Schlussfolgerungen • Verstöße gegen logische Denkgesetze, logische und wissenschaftliche Widersprüche, Zirkelschlüsse, Tautologien
Merke Grundsätzlicher Maßstab der Begutachtung ist die „herrschende medizinische Lehrmeinung“. Weicht ein Gutachten hiervon ab, ist die Sondermeinung des Verfassers zu kennzeichnen und ausführlich zu begründen. In diesen Fällen sollte die Begründung durch geeignete Literaturangaben untermauert werden (Widder 2011).
6.2. Fehlermöglichkeiten von der Auftragserteilung bis zum mündlichen Gutachten Als ein erster Stolperstein kann sich aufseiten des Auftraggebers die Auswahl des Sachverständigen erweisen. Einen hier begangenen potenziellen Fehler hat der Sachverständige natürlich nur indirekt zu verantworten, wenn er den Auftraggeber hierauf nicht hinweist. Für den Auftraggeber geht es darum, den fachlich richtigen und forensisch-psychiatrisch kompetenten Sachverständigen zu beauftragen, wobei die Auswahl selbstverständlich in das Ermessen des Auftraggebers gestellt ist. Auftraggeber können in der
forensisch-psychiatrischen Begutachtung zusätzlich fortgebildete Gutachter daran erkennen, dass diese über das Zertifikat „Forensische Psychiatrie“ der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) und den Schwerpunkt „Forensische Psychiatrie“ der jeweiligen Landesärztekammern verfügen (Müller und Saimeh 2012). Die Auftraggeber sollten Grundkenntnisse über die Aufgaben und Kompetenzen der jeweiligen Fachgebiete besitzen, insbesondere über die Abgrenzung der Psychiatrie und Psychotherapie zu verwandten Fachgebieten und Fächern wie der Neurologie und Psychologie. In Zweifelsfällen sollte der beauftragte Sachverständige den Auftraggeber darauf hinweisen, dass er für die gestellte Frage möglicherweise nicht kompetent ist. Damit wird auch an die Verantwortung des Sachverständigen appelliert, sich nicht zu Fragen zu äußern, die er nicht beurteilen kann. Die nächste Klippe kann die Formulierung der Beweisfragen sein. Die Qualität einer gutachtlichen Aussage hängt auch von der Präzision der Beweisfragen ab. Der Auftraggeber sollte seine Fragen inhaltlich und sprachlich klar formulieren und eine „Überfragung“ (Mende und Bürke 1986) des Sachverständigen vermeiden. Bei unklaren Formulierungen sollte der Sachverständige hierauf hinweisen und auch mögliche unbeantwortbare Fragen vorab als solche benennen. Dabei sollte der Sachverständige i. d. R. die gestellten Fragen und auch nur die gestellten Beweisfragen beantworten. Bezüglich der eigenen Kompetenz sollte sich der Sachverständige stets selbstkritisch fragen, ob er die gestellte Aufgabe erfüllen kann. Die Wahrung der Kompetenzgrenzen und die Erkenntnis, als psychiatrischer Sachverständiger nicht für alle Fragen zuständig zu sein, zählen zur Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Sachverständigen im Sinne des Sachverständigeneides gem. § 79 StPO bzw. § 410 StPO. Bekanntlich ist der Sachverständige nach diesen Vorschriften verpflichtet, sein Gutachten unparteiisch und nach bestem Wissen und Gewissen zu erstatten. Hierzu gehört auch, dass er sich auf dem jeweiligen aktuellen wissenschaftlichen
Erkenntnisstand befindet und sich an die methodischen Standards der Begutachtung in seinem Fach hält (➤ Kap. 2, Foerster 2004).
6.2.1. Bei der Aktendarstellung Der Sachverständige muss die ihm überlassenen Akten komplett und umfassend lesen und auswerten. Dies bedeutet nicht, dass er sie ebenso komplett in seinem schriftlichen Gutachten zitieren muss. Im Gutachten darzustellen sind allerdings die wesentlichen beurteilungsrelevanten Ergebnisse der Aktenauswertung, sodass aus dem Text klar wird, welche Informationen aus den Akten der Sachverständige genutzt hat. Die Darstellung des Akteninhalts sollte die jeweilige Problematik in neutraler Form referieren, wobei mögliche unklare oder strittige Aspekte nicht ausgeklammert werden dürfen. Die fehlende Berücksichtigung früherer ambulanter und/oder stationärer Behandlungen des Probanden kann eine Fehlerquelle darstellen. Sofern der Proband seine Einwilligung gibt, sollte daher der Sachverständige die entsprechenden Unterlagen beiziehen. Im zivilrechtlichen Verfahren muss sich der Sachverständige mit diesem Anliegen an den Auftraggeber wenden, da hierüber Einverständnis mit den Parteien erzielt werden muss.
6.2.2. Bei der Interaktion zwischen Proband und Sachverständigem Bei jeder psychiatrischen Begutachtung entwickelt sich eine Interaktion zwischen Proband und Sachverständigem, wobei die Unterschiede zur Patient-Arzt-Beziehung auf der Hand liegen: Bei der Begutachtung steht die Frage des Auftraggebers im Mittelpunkt, und es besteht keine Schweigepflicht, womit eine völlig anders geartete Beziehungskonstellation entsteht. Dennoch bedeutet die gutachtliche Untersuchung auch immer eine Beziehung der Gesprächspartner. Hieraus folgt, dass eine vollständige emotionale Abstinenz des Untersuchenden nicht denkbar ist. Statt emotionaler Abstinenz ist ganz im Gegenteil zu fordern, dass sich der
Sachverständige seiner gefühlsmäßigen Reaktion, seiner emotionalen Stellungnahme bewusst wird und diese reflektiert (Foerster und Dreßing 2014). Erkennt der Gutachter eigene – positive oder negative – emotionale Reaktionen auf den Probanden nicht, so kann dies zu erheblichen Fehlbeurteilungen führen. Der Sachverständige muss sich stets seiner Position als neutraler Sachverständiger, der nicht „Partei“ ist, bewusst bleiben. Damit ist klar, dass er sich vor Identifizierungen mit dem Probanden oder mit dem Auftraggeber hüten muss. Mit anderen Worten: Der Sachverständige darf keinem falschen Rollenverständnis erliegen (Venzlaff 1983). Ein eventuell gegebenes problematisches Rollenverständnis des Sachverständigen ist für den Leser eines Gutachtens meist nicht direkt erkennbar. Die Einstellung des Sachverständigen oder eine problematische Interaktion lässt sich möglicherweise jedoch an sprachlichen Hinweisen wie etwa auffallend pejorativen oder unangemessen sentimentalen Formulierungen erkennen (Venzlaff 1983). Die in früheren Untersuchungen (Heinz 1982; Pfäfflin 1978) beschriebenen „Verdammungsurteile“ sind selten geworden, aber keineswegs verschwunden, etwa wenn in deplatzierter Form von einem Probanden behauptet wird, er gehöre der „untersten sozialen Schicht“ an, und wenn hieraus dem Sachverständigen nicht zustehende moralische Folgerungen abgeleitet werden. Bei Strafverfahren, vor allem bei längeren Hauptverhandlungen, kann es auch zu so häufigen Kontakten zwischen Verteidiger und Sachverständigen kommen, dass die Rede von einem VerteidigerSachverständigen-Verhältnis gerechtfertigt ist. Hierbei können die Intentionen der Verteidigung und das wissenschaftliche Vorgehen des Sachverständigen durchaus auch Reibungspunkte bieten, ohne dass dies jedoch in eine Konfrontation münden sollte. Andererseits darf es aber auch nicht zu einer Kumpanei zwischen Verteidiger und Gutachter kommen (Foerster 2008).
6.2.3. Bei Exploration und Anamneseerhebung Wichtigste Fehlerquelle bei der Exploration ist der Zeitmangel, wenn die Untersuchung unter Zeitdruck oder unter engen zeitlichen Vorgaben durchgeführt wird. Sollte dies vom Auftraggeber verlangt werden, etwa innerhalb der 3-Wochen-Frist (§ 229 StPO) während einer laufenden Hauptverhandlung, so sollte der psychiatrische Sachverständige darauf nur dann eingehen, wenn er auch tatsächlich genügend Zeit zur Verfügung hat. Die Erhellung einer schwierigen Persönlichkeitspathologie, die Exploration von sexuellen Auffälligkeiten oder schwierigen biografischen Situationen, ggf. Konfliktsituationen, lässt sich nicht in 2–3 Stunden schaffen. Auch der gelegentlich geäußerte Wunsch nach einem „Kurzgutachten“ oder die Bitte, der Sachverständige möge in der Hauptverhandlung „einmal einen kurzen Blick auf den Angeklagten werfen“, sollte nicht akzeptiert werden. Probanden, die schlecht Deutsch sprechen, dürfen nicht ohne Hilfe eines Dolmetschers untersucht werden. Dabei darf dieser keinesfalls ein Familienmitglied, Freund oder Bekannter des Probanden sein, sondern der Dolmetscher sollte sich ebenso wie der Sachverständige in einer neutralen Position befinden (➤ Kap. 2.3). Lücken in der Anamneseerhebung wurden in empirischen Untersuchungen immer wieder dokumentiert, zuletzt von Konrad (1996). In dieser Erhebung fehlten bei einem Drittel der Untersuchten Gutachtenaufzeichnungen zur Alkoholanamnese und bei etwa der Hälfte Angaben zum Medikamenten- bzw. Drogenkonsum. Ebenfalls bei der Hälfte der Gutachten fehlten Angaben zur Sexualanamnese. Selbst bei Gutachten über Täter, die ein Sexualdelikt begangen hatten, fehlte in jedem sechsten Fall die Sexualanamnese. Solche Fehler sind nicht nachvollziehbar, da jedem Psychiater die Bedeutung einer gründlichen Anamnese für Diagnose und Beurteilung völlig klar ist. Aufgabe des Sachverständigen ist es auch, die anamnestischen Angaben des Probanden mit den sonstigen Unterlagen
abzugleichen, insbesondere mit Berichten über Vorbehandlungen, oder auch mit früheren Gutachten. Unkommentierte Lücken in der Vorgeschichte sind ein Hinweis auf eine mangelhafte Anamneseerhebung.
6.2.4. Im Befund Der psychische Befund ist das Kernstück des psychiatrischen Gutachtens. Fehlt dieser Befund, so ist das Gutachten unbrauchbar. Zur Diagnosestellung ist ein psychischer Befund unabdingbar. Allein aufgrund der Anamnese und der Beschwerdeschilderung kann allenfalls eine Verdachtsdiagnose gestellt werden, eine korrekte Diagnosestellung ist jedoch nicht möglich (Dreßing und Foerster 2015; Dreßing 2017). Ein immer wieder zu beobachtender Fehler im Abschnitt „Psychischer Befund“ ist die Vermischung des Befunds mit Beschwerdeschilderungen des Probanden. Auch kann der Befund unvollständig oder in sich widersprüchlich sein. Fehlerhaft ist auch ein Befund, der oberflächlich, schematisch und allgemein, möglicherweise mit Textbausteinen formuliert wird, sodass der konkrete Mensch durch eine solche Beschreibung überhaupt nicht erkennbar werden kann. Mängel bei der Befunderhebung können auch bei der körperlichen Untersuchung und den Zusatzuntersuchungen auftreten. Wird ein Proband vom psychiatrischen Sachverständigen erstmals überhaupt ärztlich untersucht, ist eine körperliche Untersuchung obligatorisch. Ebenso sind Alkohol- und Drogenabhängige körperlich zu untersuchen. Das Gleiche gilt bei Verdacht auf Simulation, Aggravation und funktionelle Körperbeschwerden. In diesen Fällen kann die Art der körperlichen Beschwerdepräsentation bei der Untersuchung wichtige Informationen liefern, die durch das Gespräch allein nicht gewonnen werden können (➤ Kap. 2.7.1). Zusatzuntersuchungen werden nur durchgeführt, soweit diese indiziert sind (➤ Kap. 2.7.2). Deren Ergebnisse können – fälschlicherweise – sowohl über- als auch unterbewertet werden.
Ein gravierender Fehler ist es auch, allein aufgrund einer testpsychologischen Untersuchung eine Diagnose zu stellen oder eine Beurteilung vorzunehmen. Die Ergebnisse einer neuropsychologischen Untersuchung müssen angemessen interpretiert und in den jeweiligen Gesamtzusammenhang eingeordnet werden (Dreßing 2019).
6.2.5. Bei der Diagnose Fehlt in einem Gutachten die psychiatrische Diagnose, so ist dies ein eklatanter Fehler, es sei denn, es wird diskutiert, warum eine psychopathologisch begründbare Diagnose nicht formuliert werden kann. Die Diskussion der Überlegungen, die in die Diagnose münden, muss transparent und kriterienorientiert vorgenommen werden. Fehler können sich bei diesem Schritt durch das Übersehen von differenzialdiagnostischen Problemen ebenso ergeben wie dadurch, dass die diagnostischen Kriterien nicht offengelegt werden oder unklar bleiben. Pseudodiagnosen (z. B. „Verhaltensstörungen“ oder „krimineller Psychopath“) sind ebenso fehlerhaft wie eine „Privatnomenklatur“ des Gutachters, die sich nicht an den üblichen international anerkannten diagnostischen Gepflogenheiten der Psychiatrie orientiert. Die Diagnose wird gemäß den internationalen operationalisierten diagnostischen Klassifikationssystemen ICD-10 bzw. DSM-5 gestellt. Da sich bei einigen Diagnosen in der noch nicht verabschiedeten Version der ICD-11 teilweise erhebliche und für die Begutachtung u. U. relevante Änderungen ergeben werden, kann im Einzelfall auch bereits jetzt schon darauf verwiesen werden, sofern dies gutachtlich bedeutsam und sinnvoll erscheint. Bei der Diagnostik können sich Fehler ergeben, wenn die in den genannten Klassifikationssystemen gegebenen einleitenden Hinweise nicht beachtet werden.
Merke Aus der Zuordnung einer psychopathologischen Symptomatik zu Begriffen eines der
Klassifikationssysteme darf keinesfalls unmittelbar eine forensisch-psychiatrische Folgerung abgeleitet werden.
6.2.6. Bei der forensisch-psychiatrischen Beurteilung Ein grundsätzlicher Fehler ist eine unzureichende Begründung der gutachtlich gezogenen Schlüsse, z. B. wenn aus einer Diagnose unmittelbar eine rechtliche Folgerung gezogen wird. Ein solches Vorgehen ist ein Verstoß gegen das Prinzip der mehrstufigen, Transparenz und Objektivität gewährleistenden Beurteilung: • Diagnosestellung • Quantifizierung der psychopathologischen Symptomatik • Zuordnung zu den Rechtsbegriffen • Beantwortung der Gutachtenfrage Fehlerhaft ist es, nicht klärbare Widersprüche im Gutachten zu „glätten“. Das Gleiche gilt für die fehlende Erörterung differenzialdiagnostischer Probleme, falls solche vorhanden sind. In diesen Fällen ist ggf. eine Alternativbeurteilung erforderlich. Fehlende Kenntnisse rechtlicher Grundlagen oder die fehlerhafte Verwendung juristischer Termini können bei der Beurteilung besonders ins Gewicht fallen. Bei der Beurteilung genügt selbstverständlich nicht die Berufung auf die persönliche Erfahrung des Gutachters, sondern die Begründung ist entsprechend den etablierten Vorgaben der forensischen Psychiatrie vorzunehmen. Falsch sind Kompetenzüberschreitungen, z. B. die Formulierung: „Ich bescheinige erheblich verminderte Schuldfähigkeit.“ Bei der Beurteilung ist vom Sachverständigen auch klarzustellen, ob sich seine Einschätzung auf erhobene Befunde bezieht, ob seiner dargelegten Meinung die Erörterung prinzipieller Denkmöglichkeiten oder gar von Hypothesen zugrunde liegt. Kein
Fehler ist es, wenn der Sachverständige letztlich unbeantwortbare Fragen als solche benennt.
6.2.7. Im schriftlichen Gutachten Hauptfehler im schriftlichen Gutachten ist das Fehlen einer klaren Strukturierung und einer eindeutigen, auch in der Art der Darstellung klaren Trennung der verschiedenen Erhebungs- bzw. Erörterungsbereiche (➤ Kap. 5.1). Bereits in der formalen Ordnung des Gutachtens spiegeln sich Ordnung und logische Stringenz der gutachtlichen Argumentation wider. Folgende Fehler sind zu vermeiden (Foerster und Dreßing 2014): • Überflüssige Aktenauszüge • Fehlende Trennung zwischen Aktenlage, Angaben des Probanden, Befunden, Diagnosestellung, Beurteilung • Fehlende Trennung zwischen phänomenologischbeschreibendem Befund und psychodynamischinterpretativen Überlegungen • Ungenügende Transparenz der diagnostischen Überlegungen • Fehlen einer Diagnose • Fehlende Quantifizierung psychopathologischer Symptome • Direkter Rückschluss von Angaben des Probanden oder von der Diagnose auf die Beantwortung der Beweisfragen Fehlerhaft ist es, wenn bei der Mitwirkung mehrerer Personen an Untersuchung und Beurteilung die jeweiligen Verantwortlichkeiten nicht klar zu erkennen sind. Ein grober Fehler ist es, wenn das Gutachten von mehreren Personen unterschrieben wird, ohne dass klar ist, wer welche Aufgaben übernommen hat und wer die Verantwortung für die Schlussfolgerung trägt. Das Fehlen von Literaturzitaten ist nur dann zu bemängeln, wenn die Kenntnis der Literatur zur Begründung der gutachtlichen Schlussfolgerungen erforderlich ist. Es ist nicht erforderlich,
Literaturstellen anzuführen, deren Inhalt allgemein bekannt bzw. vorauszusetzen ist.
6.2.8. Im mündlichen Gutachten Im Strafprozess sollte der Sachverständige sein schriftliches Gutachten nicht vorlesen, sondern es in freier Rede, eventuell auf der Grundlage von Notizen, erstatten (➤ Kap. 5.2.1). Selbstverständlich darf der Sachverständige während der Hauptverhandlung nicht mit anderen Dingen beschäftigt sein, etwa dem Lesen anderer Texte. Keinesfalls darf er sich durch sein Verhalten in der Verhandlung wie auch in den Pausen dem Verdacht aussetzen, mit einer Prozesspartei zu sympathisieren oder sich gar mit dieser zu identifizieren. Im Zivilprozess beantwortet der Sachverständige ergänzende Fragen des Gerichts und der Prozessparteien zu seinem schriftlich vorliegenden Gutachten. Dabei hat er sich auf die Beantwortung der gestellten Fragen zu beschränken; Erörterungen zu nicht gestellten Fragen oder Themen sind zu vermeiden. Die Beantwortung der Fragen erfolgt gegenüber dem Gericht. Bei der Erörterung von Haftungsfragen kann es gelegentlich um hypothetische Möglichkeiten gehen. Der Sachverständige muss hierauf hinweisen und darf nicht den Fehler begehen, sich von einer Prozesspartei auf eine Möglichkeit festlegen zu lassen, wenn diese wissenschaftlich nicht belegbar ist.
6.3. Fehlermöglichkeiten in unterschiedlichen Rechtsgebieten 6.3.1. Bei der strafrechtlichen Begutachtung Ausführliche Hinweise finden sich in den speziellen Kapiteln. An dieser Stelle werden nur einige allgemeine Überlegungen skizziert: Fehlerhaft ist ein direkter Rückschluss von der
psychopathologischen Diagnose auf forensisch-psychiatrische Schlussfolgerungen, z. B. der pauschalierende Schluss von der Diagnose einer schizophrenen Psychose auf das Vorliegen von Schuldunfähigkeit. Ebenso falsch ist es, wenn die Persönlichkeit des Probanden ausschließlich aus der Tat abgeleitet wird. Falsch ist es weiterhin, die Unverständlichkeit oder Nichtnachvollziehbarkeit einer Straftat als Begründung für eine Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit anzuführen. Unverständlichkeit allein ist kein psychopathologisches Kriterium. Ein gravierender Mangel ist es, wenn die tatrelevante Entwicklung und die Tatdynamik nicht dargestellt wurden. Selbstverständlich darf der Sachverständige keine Beweiswürdigung vornehmen, da dies eine Grenzüberschreitung wäre. Mangelhaft sind Formulierungen, die erkennen lassen, dass dem Sachverständigen die rechtlichen Grundlagen nicht geläufig sind, etwa wenn dargelegt wird, dass möglicherweise die Voraussetzungen des § 21 StGB vorliegen könnten, und im gleichen Satz darauf hingewiesen wird, dass die Voraussetzungen des § 63 StGB gegeben seien. Problematisch ist es, eine Beurteilung über einen schweigenden Angeklagten abzugeben (➤ Kap. 2.11.2). Fehlerhaft ist es, auf therapeutische Erörterungen nicht einzugehen, wenn dies angezeigt ist. Die Mindestanforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten (Boetticher et al. 2005; Wolf 2012) müssen beachtet werden. Dies darf allerdings nicht in der Form geschehen, dass im Vorspann des Gutachtens darauf hingewiesen wird, dass das Gutachten unter Berücksichtigung dieser Mindestanforderungen erstellt wurde, und sich dies beim genauen Lesen des Textes als reiner „Etikettenschwindel“ herausstellt.
6.3.2. Bei der Prognosebegutachtung Ausführliche Darlegungen hierzu finden sich in ➤ Kap. 30. Die Mindestanforderungen für Prognosegutachten (Boetticher et al. 2006) wurden zwischenzeitlich überarbeitet und werden nun nur noch als Empfehlungen bezeichnet (Boetticher et al. 2019). Ein
Fehler ist es, die Prognosebegutachtung nicht kriteriengeleitet vorzunehmen, d. h., wenn Aspekte der Tat, des Täters und des Umfelds nicht ausreichend berücksichtigt würden (Wulf 2005). Aufgrund einer empirischen Untersuchung ergaben sich hier folgende grundsätzliche Fehlermöglichkeiten: • mangelnde Differenziertheit der prognostischen Beurteilung des Indexdelikts, • die Fehleinschätzung einer Störung als „entwicklungsbedingte Phase“ bei der Beurteilung von Jugendlichen bzw. Heranwachsenden, • soziale Anpassung als ausschlaggebendes prognostisches Kriterium (Pierschke 2001). Aufgrund eigener Erfahrung ist eine weitere Fehlermöglichkeit zu ergänzen: die mangelhafte Kenntnis und dementsprechend die mangelhafte Berücksichtigung von Informationen, die in den Vorakten enthalten sind.
6.3.3. Bei der zivilrechtlichen Begutachtung Bei der Begutachtung der Geschäfts- bzw. Testierfähigkeit (➤ Kap. 32.3) kommt es immer wieder dazu, dass der psychiatrische Sachverständige außer Acht lässt, dass die psychopathologischen Voraussetzungen bewiesen sein müssen. Wird dies nicht berücksichtigt, sind die Schlussfolgerungen falsch. Ebenso falsch ist es, von möglichen Hypothesen bzgl. eines Krankheitsbildes als Tatsachen auszugehen. Ein häufiger Fehler bei der Beurteilung von Probanden mit demenziellen Syndromen ist die kurzschlüssige Analogsetzung von Befunden bei bildgebenden Verfahren mit einer psychopathologischen Symptomatik, im Extremfall die Gleichsetzung des Befunds im cCT oder im MRT mit einer rechtlichen Folgerung. Bei Haftungsfragen ist es ein Fehler, wenn der Sachverständige die sozialrechtliche Kausalitätsnorm bei der zivilrechtlichen Einschätzung verwendet. Hier hat er die unterschiedlichen
Normierungen, auch die unterschiedlichen Begriffe zu berücksichtigen. Die fehlerhafte Verwendung der Nomenklatur ist ein Hinweis auf die mangelnde Kompetenz des Sachverständigen.
6.3.4. Bei der sozialrechtlichen Begutachtung Bei der sozialrechtlichen Begutachtung (➤ Kap. 35) gibt es vielfältige Fehlermöglichkeiten. Immer wieder auftretende Mängel sind die Verwechslung von Arbeitsfähigkeit und Erwerbsbzw. Berufsfähigkeit, die falsche Verwendung des Begriffs „Minderung der Erwerbsfähigkeit“ (MdE) in Gutachten zu Fragen der gesetzlichen Rentenversicherung, die Gleichsetzung des MdEBegriffs in der gesetzlichen Unfallversicherung mit dem Grad der Schädigungsfolge (GdS) im Opferentschädigungsgesetz. Immer wieder ist auch bei der Begutachtung im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung eine fehlende oder unklare Feststellung entschädigungspflichtiger Leiden zu registrieren. Bei der Rentenversicherung ist häufig die Plausibilität der Leistungseinschätzung unzureichend. Fehlerhaft ist die Überschreitung der gutachtlichen Kompetenz, wenn z. B. formuliert wird: „Aus psychiatrischer Sicht liegt Erwerbsunfähigkeit vor.“ Bekanntlich ist Erwerbsunfähigkeit ein rechtlicher Begriff, dessen Feststellung grundsätzlich nicht Aufgabe des psychiatrischen Sachverständigen ist. Im Rahmen der gesetzlichen Unfallversicherung und bei der Begutachtung nach dem sozialen Entschädigungsgesetz muss die Kausalitätsnorm der wesentlichen Bedingung angewandt werden. Werden diese und die übrigen Voraussetzungen (➤ Kap. 34.3.5) nicht berücksichtigt, so handelt es sich um einen prinzipiellen Fehler. Ebenso fehlerhaft ist es, bei Begutachtungen nach dem sozialen Entschädigungsrecht und im Rahmen der Beurteilung einer Behinderung bzw. Schwerbehinderung die seit dem 1.1.2009 gültige und zuletzt durch Art. 18 des Gesetzes vom 17. Juli 2017 (BGBl. I
S. 2541) geänderte Versorgungsmedizin-Verordnung nicht anzuwenden. Grundsätzlich sind bei der sozialmedizinischen Begutachtung auch die hierfür existierenden Leitlinien zu beachten, denen sich aber nicht alle Fachgesellschaften angeschlossen haben (z. B. Widder 2018; Schneider et al. 2012). Für die Beantwortung der Beweisfragen bei sozialmedizinischen Fragestellungen ist nicht die Diagnose wegweisend, sondern der psychopathologische Befund und die daraus ableitbaren psychosozialen Beeinträchtigungen. Hierzu findet sich im DSM-5 das World Health Organization Disability Assessment Schedule 2.0 (WHODAS 2.0), das auf der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO beruht (DIMDI 2010). Auch bei der sozialrechtlichen Begutachtung ist es ein Fehler, wenn keine Diagnose gestellt wird. Geht es z. B. um die Anerkennung einer psychischen Störung als Unfallfolge, so ist eine exakte Diagnose der Erkrankung nach einem der international anerkannten Diagnosesysteme erforderlich (BSGUrteil vom 9.5.2006, Az B 2 U 1/05 R).
6.4. Verbesserungsmöglichkeiten In den letzten Jahren sind im Bereich der Weiterbildung Verbesserungen eingetreten. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), vergibt das Zertifikat „Forensische Psychiatrie“. Auch die Deutsche Gesellschaft für Neurowissenschaftliche Begutachtung (DGNB) vergibt ein Zertifikat, das aber keine Fachkunde in der strafrechtlichen Begutachtung beinhaltet. In der ärztlichen Weiterbildung wurde der neue Schwerpunkt „Forensische Psychiatrie“ geschaffen und von den Landesärztekammern umgesetzt. Die Erarbeitung von Mindestanforderungen bzw. Empfehlungen im Bereich der Begutachtung und die Erarbeitung von Leitlinien sind weiter vorangeschritten und werden derzeit fortgeschrieben (Boetticher et al. 2005, 2006; Widder et al. 2007; Boetticher et al. 2019). Nun kommt es darauf an, dass die psychiatrischen Sachverständigen
diese Mindeststandards und Leitlinien in der praktischen Arbeit auch tatsächlich anwenden. Hierdurch und durch die notwendige ständige Fortbildung wird sich hoffentlich eine Verbesserung der Gutachtenqualität erreichen lassen.
Literatur Barth J, de Boer W, Busse J, et al. (2017). Inter-rate agreement in evaluation of disability: Systematic Review of reproducible studies. BMJ 356: j14. Boetticher A, Nedopil N, Bosinski H, Saß H (2005). Mindestanforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten. NStZ 25: 57–62. Boetticher A, Kröber HL, Müller-Isberner R, Böhm KM, Müller-Metz R, Wolf Th (2006). Mindestanforderungen für Prognose-Gutachten. NStZ 26: 537–544. Boetticher A, Koller M, Böhm KM, Brettel H, Dölling D, Höffler K, et al. (2019). Empfehlungen für Prognosegutachten: Rechtliche Rahmenbedingungen für Prognosen im Strafverfahren. NStZ 39: 553–573. DIMDI (2010). Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF). Köln: DIMDI. Dreßing H (2017). Qualitätsmerkmale in der neurowissenschaftlichen Begutachtung. Versicherungsmedizin 12: 12–17. Dreßing H (2019). Was ist bei der psychiatrischen Begutachtung zu beachten? Neuro aktuell 3: 40–44. Dreßing H, Foerster K (2015). Begutachtung bei posttraumatischen Belastungsstörungen. Fortschr Neurol Psychiatr 83: 579–591. Foerster K (2002). Psychiatrische Sachverständige zwischen Proband, Justiz und Öffentlichkeit. Forens Psychiatr Psychother 9: 29–43. Foerster K (2004). Zur Verantwortung des medizinischen Sachverständigen. MedSach 100: 181–184. Foerster K (2008). Der Verteidiger, sein Mandant und der psychiatrische Sachverständige – eine Dreiecksbeziehung? Strafverteidiger 28: 217–219. Foerster K, Dreßing H (2014). Forensische Psychiatrie und Psychotherapie. In: Widmaier G (Hrsg.). Münchener Anwaltshandbuch Strafverteidigung. München: Beck, S. 2338–2386. Heinz G (1982). Fehlerquellen forensisch-psychiatrischer Gutachten. Heidelberg: Kriminalistik. Konrad N (1996). Anamnese- und Befunderhebung in forensisch-psychiatrischen Gutachten. MedSach 92: 152–157. Maisch H (1985). Fehlerquellen psychologisch-psychiatrischer Begutachtungen im Strafprozess. Strafverteidiger 5: 517–522. Mellsop GW, Fraser D, Tapsell R, Menkes DB (2011). Courts’ misplaced confidence in psychiatric diagnoses. Int J Law Psychiatry 34: 331–335. Mende W, Bürker H (1986). Fehlerquellen bei der nervenärztlichen Begutachtung. Forensia 7: 143–153.
Müller JL, Saimeh N (2012). Das DGPPN-Zertifikat Forensische Psychiatrie. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 6: 266–272. Pfäfflin F (1978). Vorurteilsstruktur und Ideologie psychiatrischer Gutachten über Sexualstraftäter. Stuttgart: Enke. Pierschke R (2001). Tötungsdelikte nach – scheinbar – günstiger Legalprognose. MschrKrim 84: 249–259. Schneider W, Henningsen P, Dohrenbusch R, Freyberger H, Irle H, Köllner V, Widder B (2012). Begutachtung bei psychischen und psychosomatischen Erkrankungen. Autorisierte Leitlinien und Kommentare. Bern: Huber. Venzlaff U (1983). Fehler und Irrtümer in psychiatrischen Gutachten. NStZ 3: 199–204. Widder B (2011). Fallstricke der Begutachtung. In: Widder B, Gaidzik PW (Hrsg.). Begutachtung in der Neurologie. Stuttgart: Thieme, S. 49–63. Widder B (2018). Vierte Aktualisierung der Leitlinie zur Schmerzbegutachtung. MedSach 114: 62–68. Wolf T (2012). Zur Qualität forensischer Gutachten aus strafrechtlicher Sicht. Forens Psychr Psychol Kriminol 6: 235–242. Wulf R (2005). Gute kriminologische Prognose: Rückfall, Flucht, Suizid. MschrKrim 88: 290– 304.
KAPITEL 7
Haftungs- und strafrechtliche Verantwortung des Gutachters Peter W. Gaidzik
7.1 Zivilrechtliche Haftung des Gutachters 7.1.1 Begutachtung innerhalb gerichtlicher Verfahren 7.1.2 Begutachtung außerhalb gerichtlicher Verfahren 7.1.3 Sonderfall Amtshaftung (§ 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG) 7.2 Strafrechtliche Verantwortung des Gutachters 7.2.1 Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse (§ 278 StGB) 7.2.2 Aussagedelikte (§§ 153 ff. StGB) 7.2.3 Körperverletzung oder Tötungsdelikte infolge gutachtlicher Fehleinschätzung 7.3 Fazit
Ist der Gutachter zumeist als „Gehilfe“ bzw. „sachkundiger Berater“ unverzichtbarer Helfer Justitias, so kann er doch gelegentlich selbst mit ihr in Konflikt geraten, sei es, dass er vom Auftraggeber oder
vom Probanden für ein vermeintlich falsches Gutachten auf Schadensersatz in Anspruch genommen wird, sei es, dass man gegen ihn im Zusammenhang mit seiner gutachtlichen Tätigkeit strafrechtliche Vorwürfe erhebt.
7.1. Zivilrechtliche Haftung des Gutachters Das deutsche Zivilrecht kennt bekanntlich den Vertrag sowie das Delikt bzw. – in der Terminologie des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) – die „unerlaubte Handlung“ als mögliche Grundlagen einer Schadensersatzhaftung. Welcher Haftungstyp in Fällen fehlerhafter Gutachten zur Anwendung gelangt, entscheidet sich in erster Linie danach, ob der Sachverständige innerhalb oder außerhalb gerichtlicher Verfahren tätig wird. Einen Sonderfall bildet die in bestimmten Konstellationen auch für den medizinischen Gutachter relevante Amtshaftung.
7.1.1. Begutachtung innerhalb gerichtlicher Verfahren Der vom Gericht beauftragte Gutachter steht nach herrschender Meinung in keinem vertraglichen oder auch nur in einem vertragsähnlichen Verhältnis zum Gericht oder zu den Prozessbeteiligten, womit vertragliche Ansprüche a priori entfallen. Die angesprochene „Gehilfenfunktion“ für die dritte Staatsgewalt führt ebenso wenig zur Annahme hoheitlicher Tätigkeit i. S. der Amtshaftung, sodass lange Zeit nur das allgemeine Deliktsrecht der §§ 823 ff. BGB als Haftungsgrundlage in Betracht kam. Der „normale“, zu Entscheidungen über finanzielle Ansprüche von den Gerichten hinzugezogene Gutachter haftete danach im Regelfall nur für „sittenwidrig“ und bedingt vorsätzlich herbeigeführte Schäden gem. § 826 BGB, was die weitergehende Erfolglosigkeit entsprechender Klagen erklärt. Rechtlicher Hintergrund für diese „Privilegierung“ ist der Umstand, dass die allgemeine deliktische Haftung sich auf die in § 823 Abs. 1 BGB
explizit benannten Rechtsgüter beschränkt, d. h. Körper, Gesundheit, Eigentum erfasst, nicht jedoch das Vermögen als solches. Eine Fahrlässigkeitshaftung im Kontext vermögensrechtlicher Ansprüche konnte den „Fehlbegutachtenden“ daher nur treffen, wenn er auf das Gutachten hin vereidigt worden war, da der fahrlässige Falscheid (s. u.) als Schutzgesetz über § 823 Abs. 2 BGB eine Einstandspflicht für die daraus resultierenden Schäden eröffnete. Demgegenüber stand der psychiatrische Sachverständige seit jeher zusätzlich in der schärferen Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB, geht es bei seinen Gutachten doch häufig um die Anordnung freiheitsentziehender oder zumindest freiheitsbeschränkender gerichtlicher oder behördlicher Maßnahmen. „Freiheit“ i. S. der Fortbewegungsfreiheit ist ein ausdrücklich in § 823 BGB benanntes Schutzgut, dessen auch nur fahrlässige Verletzung eine Schadensersatzpflicht begründet. Die Rechtsprechung hatte hier jedoch zu helfen versucht und in der Entscheidung zum Fall „Weigand / Selbach“ die Haftung des psychiatrischen Sachverständigen auf Vorsatz und nach Intervention des Bundesverfassungsgerichts schließlich auf grobe Fahrlässigkeit beschränkt (BGH v. 18.12.1973 – VI ZR 113 / 17, NJW 1974, 312; BVerfG v. 11.10.1978–1 BvR 84 / 74, NJW 1979, 305). Seit rund 18 Jahren ist die zivilrechtliche Haftung des Gerichtsgutachters ausdrücklich gesetzlich geregelt. Mit Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften (Gesetz v. 19.7.2002, BGBl I, S. 2674) zum 1.8.2002 wurde § 839a in das BGB eingefügt, der für alle nach dem Stichtag schriftlich erstatteten oder mündlich erläuterten Gutachten gilt. § 839a Haftung des gerichtlichen Sachverständigen (1) Erstattet ein vom Gericht ernannter Sachverständiger vorsätzlich oder grob fahrlässig ein unrichtiges Gutachten, so ist er zum Ersatz des Schadens verpflichtet, der einem Verfahrensbeteiligten durch eine gerichtliche Entscheidung entsteht, die auf diesem Gutachten beruht.
(2) § 839 Abs. 3 ist entsprechend anzuwenden. Anwendungsbereich und Normzweck § 839a BGB stellt eine Ausnahmevorschrift dar, die nach der amtlichen Begründung (BT-Drucks. 14 / 1755) die Haftung des gerichtlichen Sachverständigen abschließend regeln will und daher in ihrem Anwendungsbereich den Rückgriff auf das allgemeine Deliktsrecht ausschließen soll. Die Haftung für ein grob fehlerhaft erstattetes Gutachten innerhalb eines gerichtlichen Verfahrens, das bei einem Beteiligten zu einem Vermögensschaden führt, richtet sich danach zukünftig ebenso nach § 839a BGB wie ein auf diese Weise unrechtmäßig bewirkter und damit zumindest schmerzensgeldauslösender Freiheitsentzug. Entgegen der früheren Rechtslage ist für die zivilrechtliche Haftung des Sachverständigen damit irrelevant geworden, ob der Sachverständige vereidigt wurde. Schäden „infolge“ einer vom Gutachten beeinflussten gerichtlichen Entscheidung unterfallen ausschließlich § 839a BGB. Lediglich „Begleitschäden“ im Zusammenhang mit einer Begutachtung – z. B. ein durch die Untersuchung herbeigeführter Körperschaden des Probanden – verbleiben im Regelungsbereich der §§ 823 ff. BGB, weil diese Schäden nicht „durch“ die auf ein Gutachten hin ergehende gerichtliche Entscheidung verursacht werden (z. B. einer gesundheitsschädigenden Persönlichkeitsrechtsverletzung durch ein aussagepsychologisches Gutachten: OLG Köln, Urt. v. 4.10.2012 – I-5 U 104, MedR 2013, 529). Ob die Anwendungsexklusivität auch ausnahmslos im Verhältnis zu § 826 BGB gelten kann (so wohl die mittlerweile herrschende Meinung, z. B. Blankenhorn 2004: 102 f.), der anders als § 839a BGB eine Sanktion für schädigendes Verhalten mit gesteigertem Unwertgehalt vorsieht, ohne jedoch die Haftung an weitere Voraussetzungen zu knüpfen, erscheint zweifelhaft. Im Sinne eines „Mindestschutzes“ wird man einen Rückgriff auf § 826 BGB dort zulassen müssen, wo das „falsche“ Gutachten zu prozessbeendendem Verhalten der Parteien Anlass war (so für einen Vergleich Huber 2012, § 839a Rn. 47). Ähnlich strittig sind die
Möglichkeiten der Ausweitung bzw. analogen Anwendung dieser Norm auf Gutachten außerhalb gerichtsförmlicher Verfahren. Zwar verbietet der schon erwähnte Ausnahmecharakter nicht jedwede erweiternde oder analoge Anwendung, jedoch lassen Regelungszweck und Entstehungsgeschichte hierfür nur wenig Raum. Wortlaut wie auch der erklärte Wille des Gesetzgebers (BT-Drucks. 14 / 1755), die sachlich nicht gerechtfertigten und von Zufälligkeiten im Prozessverlauf abhängigen Divergenzen zwischen der Haftung für Rechtsgutsverletzungen gem. § 823 Abs. 1 BGB, Schutzgesetzverletzungen i. S. von § 823 Abs. 2 BGB und der lediglich über § 826 BGB abgesicherten Haftung für reine Vermögensschäden schließen zu wollen (vgl. dazu auch BMJ 1977, 142 f., 358 f.), sprechen für eine Beschränkung auf gerichtliche oder doch wenigstens gerichtsähnliche Verfahren. Damit aber steht der von einem Privatversicherer im Vorfeld einer gerichtlichen Auseinandersetzung hinzugezogene Gutachter von vornherein außerhalb des Regelungsbereichs der Vorschrift (Lesting 2002, 226 f.; ebenso Blankenhorn 2004, 105). Diese, soweit ersichtlich, einhellig aus Wortlaut und Gesetzeszweck abgeleitete Auslegung ist auch rechtssystematisch begründbar. Anders als der gerichtliche Sachverständige, der sich der Beauftragung entsprechend § 407a Abs. 1 ZPO (diese Vorschrift gilt kraft ausdrücklicher Verweisung auch in sozial- bzw. verwaltungsgerichtlichen Verfahren) bzw. § 75 Abs. 1 StPO grundsätzlich nicht entziehen kann, steht es außerhalb gerichtlicher Verfahren dem Sachverständigen frei, den Gutachtenauftrag anzunehmen oder abzulehnen, sodass schon aus diesem Grund keine vergleichbare Interessenlage als methodische Voraussetzung eines Analogieschlusses besteht. Gleiches gilt auch für den im Auftrag einer Gutachterkommission oder Schiedsstelle der Ärztekammern zur Klärung eines Behandlungsfehlervorwurfs tätig gewordenen Arzt (zutreffend Thole 2006, 156). Umgekehrt wird man die analoge Anwendung dort zu diskutieren haben, wo der Sachverständige unmittelbar oder doch wenigstens mittelbar den genannten prozessrechtlichen Vorschriften unterworfen ist, wie im staatsanwaltschaftlich geführten
Ermittlungsverfahren, wo § 161a Abs. 1 S. 2 StPO eine weitgehende Gleichstellung mit dem gerichtlichen Sachverständigen vorsieht (i. E. ebenso BGH, Urt. 6.3.2014 – III ZR 320 / 12, NJW 2014, 1665 sowie Lesting 2002), oder – insoweit allerdings streitig – im schiedsrichterlichen Verfahren der §§ 1025 ff. ZPO. Ein Schiedsgericht kann zwar selbst nur Sachverständige vernehmen, die „freiwillig“ vor ihm erscheinen (§ 1035 ZPO), jedoch bietet § 1036 ZPO insoweit ausdrücklich die Möglichkeit der Amtshilfe durch das stattliche Gericht, womit zumindest mittelbar eine § 407a ZPO vergleichbare Übernahmepflicht besteht (a. A. Blankenhorn 2004, 107 mit Hinweis auf die vertragliche Rechtsbeziehung des Sachverständigen im Schiedsgerichtsverfahren). Darüber hinaus wird eine analoge Anwendung des § 839a BGB auf den im Auftrag einer Verwaltungsbehörde oder – für den Mediziner besonders bedeutsam – eines Sozialversicherungsträgers (SVT) tätigen Gutachters in Betracht gezogen (bejahend Thole 2006, 156, verneinend OLG Koblenz, Beschl. v. 6.6.2005–5 U 687 / 05, MedR 2006, 481, 482). Abgesehen von der bei Anwendbarkeit der Amtshaftungsgrundsätze fehlenden Regelungslücke (s. u.) treffen die vorstehenden Überlegungen hier jedoch gerade nicht zu: Die Verwaltungsverfahrensgesetze des Bundes und der Länder sehen eine Übernahmepflicht eines Gutachtenauftrags nur für die ausdrücklich gesetzlich angeordneten, sogenannten „förmlichen Verwaltungsverfahren“ vor, wie etwa das Musterungsverfahren. Ansonsten steht dem Gutachter die Annahme des Auftrags frei (vgl. §§ 26, 65 VwVfG). Nach den Regelungen zum Sozialverwaltungsverfahren besteht eine Aussagepflicht als Zeuge oder eine Begutachtungspflicht außerhalb spezieller Rechtsvorschriften (z. B. im Bereich des öffentlichen Dienstes) dann, „wenn die Aussage bzw. Erstattung von Gutachten im Rahmen von § 407 ZPO zur Entscheidung über die … Sozialleistung unabweisbar ist“ (§ 21 Abs. 3 SGB X). In einem solchen Fall kann der SVT – ähnlich dem Schiedsgericht – Aussage bzw. Gutachten über die Einschaltung des zuständigen Gerichts sogar erzwingen. Dies mag man für den behandelnden Arzt bejahen dürfen, der als sachverständiger Zeuge zu einer Befundmitteilung aufgefordert wird. Ansonsten aber ist der
medizinische Sachverständige prozessrechtlich ein grundsätzlich austauschbares „Beweismittel“, sofern er nicht ausnahmsweise exklusiv über eine spezielle Expertise oder Geräteausstattung verfügt, die ihn dann u. U. faktisch „unersetzlich“ machen könnte. Lediglich diejenigen, die wegen eines „extensiven Gebrauchs“ der Befreiungsmöglichkeiten nach § 408 ZPO jedenfalls faktisch einen Kontrahierungszwang auch für den gerichtlichen Sachverständigen verneinen und stattdessen maßgeblich auf die fehlende Möglichkeit einer frei vereinbarten Vergütung abheben, könnten hier die für eine Gesetzesanalogie notwendige Gleichartigkeit der Interessenlage sehen, ist doch der Sachverständige bei der Liquidation an spezifische Gebührenordnungen oder das Justizvergütungs- und entschädigungsgesetz (JVEG) gebunden (Wagner 2013). Freilich richtet sich die Vergütung des medizinischen Sachverständigen auch im rein privatrechtlich geprägten Bereich nach einer zwingenden Gebührenordnung, nämlich der GOÄ. Der behauptete, nicht aber belegte bzw. belegbare Missbrauch der ins Ermessen des Gerichts gestellten Möglichkeit, den Sachverständigen von der Gutachtenerstattung z. B. wegen Arbeitsüberlastung zu entbinden, lässt die grundsätzliche Verpflichtung zur Übernahme unberührt, wie manche Sachverständige bis hin zur Androhung von Ordnungsgeld leidvoll erfahren mussten. Ebenso wenig kommt schließlich für den lediglich als sachverständigen Zeugen vernommenen Arzt, der außerhalb des Gutachtenauftrags gewonnene Befundtatsachen mitteilt, eine analoge Anwendung des § 839a BGB infrage (zutreffend Ulrich 2007, 415; a. A. z. B. Thole 2006, 156). Der sachverständige Zeuge hat zwar eine Aussagepflicht gegenüber dem Gericht, diese trifft jedoch andere „nicht sachverständige“ Zeugen in gleicher Weise und rechtfertigt daher keine haftungsrechtliche Differenzierung. Tatbestandsvoraussetzungen Der Gutachter muss von einem „Gericht“ ernannt sein. Ungeachtet der bereits angesprochenen streitigen Anwendbarkeit auf Schiedsgerichte umfasst § 839a BGB jedenfalls alle staatlichen
Gerichte der ordentlichen wie außerordentlichen Gerichtsbarkeit inkl. der Berufsgerichte (z. B. Heilberufsgerichte, Anwaltsgerichtshöfe etc.). Er muss ferner „vorsätzlich oder grob fahrlässig ein unrichtiges Gutachten erstattet haben“. Das vordergründig eindeutige Tatbestandsmerkmal des „unrichtigen Gutachtens“ erweist sich bei näherem Hinsehen als durchaus komplex. Der amtlichen Begründung ist hierzu nichts zu entnehmen, und auch in der bisherigen Judikatur und Kommentarliteratur scheint eine befriedigende inhaltliche Konkretisierung noch nicht gelungen. Relativ unproblematisch werden sich solche Fälle ausscheiden lassen, in denen sich die „Unrichtigkeit“ des Gutachtens erst aus der Retrospektive ergibt: so etwa, wenn später erhobene oder zugänglich gewordene Befunde den Sachverhalt in einem anderen Licht erscheinen lassen, dem Sachverständigen diese Befunde aber, aus welchen Gründen auch immer, zum Zeitpunkt der Gutachtenerstattung nicht zugänglich waren. Hier war das Gutachten jedenfalls aus der haftungsrechtlich bekanntlich allein maßgeblichen Perspektive ex ante nicht „unrichtig“; zumindest fehlt es an der Vorwerfbarkeit des Fehlers. Hieraus folgt umgekehrt, dass ex ante erkennbar unrichtige Tatsachenfeststellungen des Gutachters, die fehlende Ausschöpfung von Erkenntnismöglichkeiten, die mangelnde Berücksichtigung der aktuellen Fachliteratur oder vorhandener Leitlinien der Fachgesellschaften, die Behauptung in Wahrheit nicht existierender Erfahrungstatsachen oder Lehrsätze, das Vorspiegeln von Sicherheit, wo allenfalls ein Wahrscheinlichkeitsurteil möglich ist, sowie die in sich fehlerhaften, weil von den Anknüpfungstatsachen nicht gedeckten Schlussfolgerungen einen haftungsbegründenden Mangel darstellen. Ist aber ein Gutachten bereits dann „unrichtig“, wenn der Sachverständige trotz solcher oder ähnlicher Defizite zu einem Ergebnis gelangt, das er auch auf methodisch korrektem Weg hätte erzielen können? Noch schwieriger gestaltet sich die Beurteilung, wenn man nicht auf die Methodik, sondern unmittelbar auf vermeintliche oder tatsächliche „Wertungsfehler“ abhebt. Wertungen sind bekanntlich nicht als „richtig“ oder „falsch“, sondern allenfalls
als „vertretbar“ oder „unvertretbar“ kategorisierbar. Der Rückgriff auf „allgemein vertretene Ansichten“ als korrigierenden Maßstab (so Jaeger und Luckey 2002) hilft in der medizinischen Begutachtung allenfalls dort weiter, wo z. B. evidenzbasierte Kriterien ungeachtet der individuellen Gegebenheiten nur eine gutachtliche Schlussfolgerung erlauben, was gerade in der Psychiatrie kaum jemals der Fall sein dürfte. Eine – wie auch immer festzustellende – „herrschende Meinung“ mag zu „berücksichtigen“ (OLG Köln, Beschl. v. 8.11.2017–5 U 100 / 17, juris), also im Gutachten zu diskutieren sein. Die Qualität eines Gutachtens als „unrichtig“ kann aber nicht davon abhängen, ob der Sachverständige im Ergebnis eine von der Mehrheit seiner Fachkollegen abweichende Auffassung vertritt, gehört doch die „kontroverse Diskussion zum Wesen wissenschaftlich ausgerichteter Betätigung“ (OLG Koblenz, Beschl. v. 6.8.2012–5 W 420 / 12, VersR 2013, 367). Jedenfalls lässt nicht jedes methodische oder formale Defizit, wie etwa ein Verstoß gegen die persönliche Leistungspflicht, ein Gutachten „unrichtig“ werden, da andernfalls dieses Tatbestandsmerkmal neben dem Verschulden jedwede eigenständige Bedeutung verlöre. Denn über die bloße objektive „Unrichtigkeit“ hinaus muss dem Sachverständigen der Vorwurf des Vorsatzes, zumindest aber der groben Fahrlässigkeit gemacht werden können. An dieser Erweiterung des erforderlichen Verschuldensgrades vom – wenigstens bedingten – Vorsatz (wie bisher im Rahmen des § 826 BGB) auf nunmehr ausreichende „grobe Fahrlässigkeit“ entzündete sich vor allem die Diskussion im Vorfeld und nach Einführung des § 839a BGB. Entsprechend den üblichen Umschreibungen in Literatur und Rechtsprechung handelt der Gutachter grob fahrlässig, wenn er die nach den Regeln seines Fachgebiets gebotene Sorgfalt in „außergewöhnlich schwerwiegender Weise“ verletzt, „auf der Hand liegende Sorgfaltsregeln missachtet“ bzw. „schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt und das nicht beachtet hat, was im gegebenen Fall jedem Vertreter seines Fachs einleuchten musste“ (so schon BGH, Urt. v. 11.5.2013 – IV ZR 170 / 52, BGHZ 10, 14, 16, OLG Hamm, Beschl. v. 22.10.2013–9 U 235 / 12, juris). Der Begriff der „groben Fahrlässigkeit“ ist sonach eindeutig definiert und
berücksichtigt i. S. einer gesteigerten Vorwerfbarkeit auch subjektive, in der Individualität des Handelnden zu berücksichtigende Umstände (so schon BGH, Urt. v. 11.5.1953 – IV ZR 170 / 52, BGHZ 10, 14, 17). Es müsse sich nicht nur ein objektiv schwerer Sorgfaltsverstoß, sondern auch eine „subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung vorliegen, die das gewöhnliche Maß der Fahrlässigkeit des § 276 Abs. 1 BGB erheblich übersteige“ (OLG Celle, Beschl. v. 5.5.2009–4 U 26 / 09, juris). Eine dem „groben Behandlungsfehler“ ähnelnde Beschränkung auf die rein objektive Pflichtwidrigkeit (so Thole 2006: 154, 157 m. w. N.) kommt daher nicht in Betracht, womit die „grobe Fahrlässigkeit“ des § 839a BGB vom „bedingten Vorsatz“ des § 826 BGB, wie ihn die Rechtsprechung etwa bei der „Begutachtung ins Blaue hinein“ bejahte (BGH, Urt. v. 24.9.1991 – VI ZR 293 / 90, NJW 1991, 3282), theoretisch, nicht aber in der praktischen Handhabung zu differenzieren sein dürfte (Gaidzik 2003). Das Gutachten muss weiterhin zur Grundlage einer gerichtlichen Entscheidung (= Urteil oder Sachentscheidung durch Beschluss) geworden sein. Haben sich die Parteien innerhalb des Prozesses oder außergerichtlich verglichen, entfällt ein Anspruch aus § 839a BGB, selbst wenn die fehlerhaften Schlussfolgerungen des Gutachters für den Vergleichsschluss maßgeblich gewesen sein sollten. Ein derartiger Irrtum mag u. U. die Wirksamkeit des Vergleichs berühren, nicht aber eine Haftung des Gutachters begründen (zutreffend Ulrich 2007, 418; eingehend dazu auch Blankenhorn 2004: 137 ff., die allerdings hierin eine „planwidrige“ Lücke sieht und so zur analogen Anwendung gelangt, ebenso bei „irreversiblen“ Schäden Wagner 2013). Die Bereitschaft der Parteien zur gütlichen Einigung wird dies freilich kaum fördern, zumal deren anwaltliche Vertreter ihre Mandanten pflichtgemäß über den Verlust eines potenziellen Schadensersatzanspruchs gegen den Sachverständigen zu informieren haben, wenn unter dem Eindruck des Gutachtens ein Vergleich vielleicht sogar auf ausdrückliche Empfehlung des Gerichts in der Diskussion steht und sie nicht letztendlich selbst nachträglich in die (Anwalts-)Haftung geraten wollen. Ähnliche Probleme treten dann auf, wenn das Gutachten dazu Anlass gibt, die
Klage zurückzunehmen oder aber die klägerische Forderung anzuerkennen. Im erstgenannten Fall kommt es nicht mehr zu einer gerichtlichen (Sach-)Entscheidung; im letztgenannten Fall kann zwar ein „Anerkenntnis“-Urteil ergehen, dieses „beruht“ aber dann nicht auf dem vorangegangenen – fehlerhaften – Gutachten, sondern ist zwingende Folge des Anerkenntnisses als Prozesshandlung. Die dazu im juristischen Schrifttum unterbreiteten Vorschläge, den Begriff der „Entscheidung“ erweiternd auszulegen oder aber auf die allgemeinen Regelungen zurückzugreifen, scheitern entweder an dem insoweit eindeutigen Gesetzeswortlaut oder liefen dem erklärten Normzweck des § 839a BGB, eine abschließende Regelung treffen zu wollen, erst recht zuwider. Ist aber eine Sachentscheidung ergangen, sind die Anforderungen an die Qualität der Verknüpfung zu prüfen. Nach herrschender Auffassung reicht für das „Beruhen“ eine anhand der Begründung zu objektivierende Kausalbeziehung zwischen Gutachten und Entscheidungstenor. Das Gutachten muss eine Conditio sine qua non für das Urteil bilden (BGH, Beschl. v. 30.8.2018 – III ZR 363 / 17), wobei schon die bloße Mitursächlichkeit für die gerichtliche Überzeugungsbildung ausreicht (Saarl. OLG, Urt. v. 23.11.2017–4 U 26 / 15, juris). Wertende Gesichtspunkte fließen allenfalls auf der Ebene der haftungsausfüllenden Kausalität bei der Frage ein, wie das Gericht bei Vorlage eines „richtigen“ Gutachtens mit Wahrscheinlichkeit entschieden hätte (BGH, Beschl. v. 30.8.2018 – III ZR 363 / 17), wobei es grundsätzlich auf die Perspektive des Regressgerichts ankommt. Danach trifft den Gutachter das Haftungsrisiko selbst dann in vollem Umfang, wenn das Gericht in seiner nicht mehr anfechtbaren Entscheidung das – falsche – „Ergebnis“ des Gutachtens kritiklos übernommen und sich mit den erkennbaren Mängeln in der Herleitung nicht weiter auseinandergesetzt hat (so ausdrücklich Thole [2006, 159]: Die Kausalität des Gutachtens für die Gerichtsentscheidung wird auch in aller Regel nicht von etwaigen Fehlern des Gerichts infrage gestellt). Dies führt freilich zu einer sehr einseitigen Haftungsverlagerung auf den Gutachter, denn im Unterschied zu seinem „Gehilfen“ steht dem Gericht als „Geschäftsherrn“ bekanntlich das „Richter“-Privileg
des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB zur Seite, das die Haftung auf die vorsätzliche „Rechtsbeugung“ beschränkt. Die Wertungswidersprüche werden noch augenfälliger, wenn das Gutachten nur partiell Mängel aufweist: Gelangt etwa der Gutachter bei an sich korrekter Argumentation zu einem „falschen“ Ergebnis, „beruht“ dann die Entscheidung auf einem unrichtigen Gutachten, wenn das Gericht, was gelegentlich vorkommen soll, lediglich die Zusammenfassung zur Kenntnis nimmt und die entgegenstehenden – zutreffenden – Erwägungen in seiner Herleitung außer Acht lässt? Nicht weniger paradox erscheint die umgekehrte Fallkonstellation, in welcher der Gutachter mit falscher Begründung zu einer inhaltlich korrekten Schlussfolgerung gelangt (z. B. korrekte Einschätzung einer unfallbedingten MdE trotz irriger Bewertung der einzelnen Ursachenbeiträge). Wenn nun das Gericht nach der von ihm zu fordernden eigenständigen Prüfung der gutachtlichen Gedankengänge auf der Grundlage der vermeintlich überzeugenden – jedoch in Wahrheit fachlich unzutreffenden – Argumentation des Gutachtens in den Einzelaspekten dessen Gesamtergebnis „korrigiert“, liegt dann noch eine auf einem unrichtigen Gutachten „beruhende“ gerichtliche Entscheidung i. S. von § 839a BGB vor? Der schlichte Hinweis auf die sonst drohende „Aushöhlung“ der Gutachterhaftung (so Thole 2006) reicht zur inhaltlichen Rechtfertigung wohl kaum aus. Im Falle der Anwaltshaftung hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) den Bundesgerichtshof (BGH) dahingehend korrigiert, dass die Rechtsprechung die Verantwortung für ein Fehlurteil nicht dem Anwalt anlasten könne, dessen Fehler durch eine gleichfalls fehlerhafte Rechtsanwendung des Gerichts perpetuiert werde (BVerfG, Beschl. v. 12.8.2002–1 BvR 399 / 02, NJW 2002, 2937). Dass der Sachverständige, anders als der Anwalt, dem Gericht bei der Entscheidungsfindung „zur Hand gehen soll“, kann dessen Haftung schwerlich verschärfen (so aber Wagner 2013), sondern müsste doch eher entlastend wirken, zumal die eigenständige Kontrolle eines eingeholten Gutachtens ebenfalls zu den prozessualen Pflichten des Gerichts gehört (lesenswert dazu BGH, Urt. v. 26.4.1955–5 StR 86 / 55, BGHSt 8, 113, 118).
Durch den Verweis auf § 839 Abs. 3 BGB ist schließlich noch erforderlich, dass der Betroffene versucht haben muss, den Schaden durch Gebrauch eines Rechtsmittels gegen die ergangene Entscheidung abzuwenden. Hat er dies vorsätzlich oder wenigstens fahrlässig unterlassen, entfällt ein an sich berechtigter Anspruch. Bei rechtsmittelfähigen Entscheidungen wird dies regelmäßig dann der Fall sein, wenn der Gutachter von falschen oder womöglich beim Probanden gar nicht erhobenen Befunden ausgegangen ist, was dem Betroffenen bei der gebotenen Überprüfung des erstatteten Gutachtens auch ohne Weiteres erkennbar war. Der Begriff des „Rechtsmittels“ ist weit zu verstehen und umfasst alle Rechtsbehelfe, die sich unmittelbar gegen das fehlerhafte Gutachten richten und dazu bestimmt bzw. geeignet sind, dessen Auswirkungen auf die gerichtliche Entscheidung zu beseitigen, also auch das Vorbringen von Einwänden oder der Antrag auf Ladung des Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens. Hingegen ist die Einholung eines Privatgutachtens kein solcher der Inanspruchnahme des Sachverständigen vorzuschaltender Rechtsbehelf (BGH, Urt. v. 27.7.2017 – III ZR 440 / 17, VersR 2017, 1285). Etwaige Kontroll- bzw. Beratungsversäumnisse seines Anwalts müsste sich der Geschädigte in diesem Zusammenhang wie eigenes Verschulden anrechnen lassen.
7.1.2. Begutachtung außerhalb gerichtlicher Verfahren Außerhalb eines gerichtlichen oder staatsanwaltschaftlichen Auftrags richtet sich die Haftung des Gutachters nach den allgemeinen vertrags- und deliktsrechtlichen Regelungen. Beim freien Gutachtenauftrag besteht eine vertragliche Beziehung des Auftraggebers mit dem nicht bei ihm angestellten oder in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis befindlichen Gutachter. In aller Regel handelt es sich hierbei um einen Werkvertrag (§ 631 BGB). Im Rahmen von dauerhaften Beratungsverhältnissen sind andere Vertragstypen denkbar, so etwa ein Dienst (nicht aber als
„Behandlungsvertrag“ i. S. von § 630a ff. BGB n. F!) oder entgeltlicher Geschäftsbesorgungsvertrag. Dieser zwischen den Parteien schriftlich oder konkludent durch Auftragsübernahme geschlossene Vertrag regelt neben Inhalt und Honorierung auch die Frage einer Haftung für etwaige gutachtliche Fehlleistungen inkl. des hierbei anzulegenden Verschuldensmaßstabs. Fehlt es an einer ausdrücklichen Regelung – z. B. Begrenzung auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit – , bleibt es bei den allgemeinen Grundsätzen, d. h., der Gutachter haftet für schuldhafte Verletzungen seiner Vertragspflichten – hier insbesondere die ordnungsgemäße Erstellung des „Werks“ – für den daraus entstehenden Schaden (§ 280 BGB), und zwar nach Maßgabe von § 276 BGB bereits bei nur leichter Fahrlässigkeit. Schuldhaftes Handeln seiner Mitarbeiter sind ihm wie eigenes Verschulden zuzurechnen (§ 278 BGB). Neben Vermögensschäden kann sich die Vertragshaftung seit dem 1.8.2002 zudem auf immaterielle Schäden (= Schmerzensgeld) erstrecken, sofern Körper, Gesundheit, (Fortbewegungs-)Freiheit, Eigentum oder das sexuelle Selbstbestimmungsrecht von der Pflichtverletzung tangiert sind (§ 253 Abs. 2 BGB n. F.). Anspruchsberechtigt bei Verletzung vertraglicher Pflichten ist zum einen der Auftraggeber des Gutachtens, wobei es vor dem Hintergrund der publizierten Urteile nur sehr selten zu solchen Auseinandersetzungen mit dem Gutachter zu kommen scheint, sei es, weil die Auftraggeber das Prozessrisiko scheuen, sei es, weil gesellschaftsinterne Kontrollmechanismen greifen (z. B. durch Beratungsärzte) und zweifelhafte gutachtliche Entscheidungen noch rechtzeitig korrigiert werden. Zum anderen kommt aber auch der von der Begutachtung betroffene Proband als Anspruchsinhaber in Betracht, und zwar über die Rechtsfigur des „Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter“. Der Bundesgerichtshof hat in einer älteren Entscheidung (Urt. v. 17.9.2002 – X ZR 237 / 01, VersR 2002, 1407) die Einbeziehung des Probanden in das Vertragsverhältnis Gutachter / Auftraggeber erwogen, wenn „das Versicherungsverhältnis – wie möglicherweise bei der Krankenversicherung – wesentliche Lebensgrundlagen des Versicherten berührt, dessen Leben und Gesundheit von der Eintrittsbereitschaft des
Versicherten für die Behandlung abhängen können“, zugleich aber für Versicherungen, die „lediglich eine Geldzahlung betreffen“, einen solchen Drittbezug abgelehnt. Hieraus wäre zu folgern, dass der Proband für erlittene Vermögensschäden den medizinischen Gutachter grundsätzlich nicht haftbar machen kann (so auch LG Bielefeld, Urt. v. 29.3.2001–8 O 570 / 00, VersR 2003, 123; a. A. noch OLG Celle, Urt. v. 26.11.1993–10 U 19 / 90, OLGR Celle 1994, 229). Die Differenzierung des Versicherungssenats ist indessen nicht völlig überzeugend, da auch auf „Geldleistungen“ gerichtete Versicherungen der Krankenversicherung in ihrer existenziellen Bedeutung für den Betroffenen sicherlich nicht nachstehen; man denke nur an die für die Absicherung der Lebensrisiken immer wichtiger werdende private Berufsunfähigkeitsversicherung. Andererseits dient der „drittschützende Vertrag“ der Vermeidung von drohenden Haftungslücken, während für die Probanden bei der Inanspruchnahme des Gutachters häufig die Umgehung der kürzeren versicherungsrechtlichen Verjährungsfristen im Vordergrund steht, die eine nachträgliche Korrektur der Entscheidung des Versicherers häufig nicht mehr erlauben, wenn er von dem vermeintlichen oder tatsächlichen Gutachtenmangel erst später, etwa im Rahmen weiterer Diagnostik, erfährt. Ein „unrichtiges“ Gutachten wird danach im außergerichtlichen Raum regelmäßig zur vertraglichen Haftung des Gutachters jedenfalls gegenüber dem Auftraggeber führen. Darüber hinaus lassen sich im Einzelfall aus der Verletzung vertraglicher Nebenpflichten weitere Schadensersatzpflichten konstruieren, so wenn der Gutachter zwar die gestellten Fragen umfassend beantwortet, aber sonstige ihm bekannt gewordene Umstände, die ersichtlich für den Auftraggeber wichtig sind, verschweigt oder den Auftrag mit einem übertriebenen, objektiv nicht gerechtfertigten zeitlichen oder technischen Aufwand betreibt und so zur Schadensentstehung beiträgt (Ulrich 2007). Angesichts dieser umfassenden vertraglichen Haftung, die nach der Schuldrechtsreform im Jahr 2002 sowohl im Haftungsumfang als auch in der Verjährung der deliktischen Haftung gleichgestellt ist, ist für den Auftraggeber die deliktische Haftung des Sachverständigen
ohne Interesse. Anders für den Probanden, wenn und soweit man eine Haftung aufgrund einer drittschützenden Wirkung des Gutachtenvertrags ablehnt. Von den oben angesprochenen – sehr begrenzten – Möglichkeiten einer analogen Anwendung des § 839a BGB einmal abgesehen, haftet der z. B. von einem Privatversicherer beauftragte Gutachter ihm gegenüber für wenigstens fahrlässig herbeigeführte Körper- und Gesundheitsverletzungen gem. § 823 Abs. 1 BGB. Außerhalb des dortigen – abschließenden – Rechtsgüterkatalogs und der besonderen Fälle der Begutachtung in „hoheitlicher“ Funktion mit der dann möglichen Amtshaftung nach Maßgabe von § 839 i. V. m. Art. 34 GG (s. u.) verbleibt es bei Gutachtenmängeln, die zu einer Vermögenseinbuße beim Probanden / Auftraggeber geführt haben, bei der Haftung nach § 826 BGB mit seinen schon dargestellten restriktiven Voraussetzungen. Auch im deliktischen Bereich muss der Gutachter für schuldhaftes Verhalten der von ihm eingeschalteten Mitarbeiter haftungsrechtlich einstehen (§ 831 BGB).
7.1.3. Sonderfall Amtshaftung (§ 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG) Einen Sonderfall der Haftung des Gutachters bildet § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG. Wie gezeigt, stellt die Begutachtung grundsätzlich keine hoheitliche Tätigkeit dar. Dies gilt auch für den verbeamteten Gutachter, der dann innerhalb gerichtlicher Verfahren ebenfalls § 839a BGB unterliegt und sich außerhalb justizförmiger Verfahren allenfalls auf das Verweisungsprivileg in § 839 Abs. 1 S. 2 BGB berufen kann, wenn und soweit der Geschädigte anderweitig Ersatz zu erlangen vermag. Es verbleiben allerdings einige Fallgruppen, in denen die Grundsätze der Amtshaftung für gutachtliche Fehlleistungen durchgreifen: • Gutachten im (Sozial-)Verwaltungsverfahren: Obschon der nicht selbst dort angestellte Gutachter mit einem öffentlichrechtlichen Verwaltungsträger (z. B. Rentenversicherung,
Berufsgenossenschaft) regelmäßig in einer (werk-)vertraglichen Beziehung steht, wird mit dessen Gutachten aus der Perspektive des Probanden mittelbar eine dem Verwaltungsträger obliegende hoheitliche Aufgabe erfüllt. • Zwangsmaßnahmen durch Gutachter: Muss der Gutachter im Rahmen des ihm vom Gericht oder von der Staatsanwaltschaft erteilten Auftrags Zwangsmaßnahmen vornehmen (z. B. Entnahmen von Blutproben zur Alkoholbestimmung), handelt er insoweit in Ausübung eines öffentlichen Amtes i. S. von Art. 34 GG. • Behördengutachten oder dienstliches Gutachten: Wird der Begutachtungsauftrag einer Behörde erteilt, haben die dortigen Amtsträger eine auch gegenüber den Verfahrensbeteiligten bestehende Amtspflicht, das erbetene Gutachten unparteiisch, richtig, sachkundig und vollständig zu erstatten. Gleiches gilt für den Fall, in dem zwar nicht die Behörde, aber deren Mitarbeiter persönlich zum Sachverständigen bestellt worden ist, die Gutachtenerstattung jedoch zu dessen Dienstaufgaben gehört, wie etwa i. d. R. bei Ärzten der Landeskrankenhäuser, des MDK sowie der Gesundheitsämter. In diesen Konstellationen regelt sich die Haftung nach § 839 BGB bzw. Art. 34 GG, d. h., der Anspruch des Geschädigten richtet sich gegen die Anstellungskörperschaft des Gutachters bzw. gegen diejenige Körperschaft, in deren Aufgabenkreis er tätig geworden ist. Dies gilt für den Amtsarzt mit oder ohne Beamtenstatus bei der Begutachtung der Fahrtauglichkeit im Auftrag der Straßenverkehrsbehörde ebenso wie für den niedergelassenen oder Klinikarzt, der für eine Berufsgenossenschaft bei der Bemessung einer arbeitsunfallbedingten MdE tätig geworden ist (BGH, Urt. v. 22.3.2001 – III ZR 394 / 99, BGHZ 147, 169). Eine persönliche Haftung des Gutachters scheidet in beiden Fällen aus, die betroffene Körperschaft kann im Anwendungsbereich von Art. 34 GG in Fällen
grober Fahrlässigkeit oder gegenüber Rückgriff nehmen.
bei
vorsätzlichem
Handeln
ihm
7.2. Strafrechtliche Verantwortung des Gutachters Neben schadensersatzrechtlichen Sanktionen kann ein fehlerhaftes Gutachten aber auch strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. So könnte etwa ein zur Unterbringung führendes „unrichtiges Gutachten“ als Freiheitsberaubung gem. § 239 StGB – in mittelbarer Täterschaft – zu ahnden sein. Offenbart ein Gutachter Einzelheiten aus der Exploration des Probanden gegenüber Dritten, die nicht an dem jeweiligen Verfahren beteiligt sind, oder verwertet er vom Probanden erhaltene, aber außerhalb des Gutachtenauftrags bzw. der erteilten Schweigepflichtentbindungserklärung liegende Informationen bzw. Erkenntnisse in seiner Stellungnahme, könnte er sich einer „Verletzung von Privatgeheimnissen“ gem. § 203 StGB schuldig machen. Ein kollusives Zusammenwirken des Gutachters mit dem Auftraggeber oder dem Probanden mit finanziellen Auswirkungen wird, je nach Fallgestaltung, Tatbestände der Vermögensdelikte erfüllen, so etwa Betrug, Untreue, Vorteilsnahme, Bestechlichkeit o. Ä. Es handelt sich hierbei allerdings insgesamt um Vorsatzdelikte mit vergleichsweise geringer Bedeutung in der forensischen Praxis. Nähere Betrachtung verdienen demgegenüber das Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse gem. § 278 StGB, die Aussagedelikte der §§ 153 ff. StGB und – speziell für den psychiatrischen Sachverständigen – der Vorwurf der fahrlässigen Tötung oder Körperverletzung im Zusammenhang mit Straftaten oder Suizidhandlungen des Probanden.
7.2.1. Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse (§ 278 StGB) Ä
Ärzte und andere approbierte Medizinalpersonen machen sich strafbar, wenn sie „ein unrichtiges Zeugnis über den Gesundheitszustand eines Menschen zum Gebrauch bei einer Behörde oder Versicherungsgesellschaft wider besseres Wissen ausstellen“. Gesundheitszeugnisse sind Erklärungen über die jetzige, frühere oder voraussichtlich künftige Gesundheit eines Menschen, mithin auch Zeugnisse über die Aussicht, an bestimmten Leiden zu erkranken oder von ihnen verschont zu werden (Heine / Schuster 2019, § 277 Rn. 2). Damit werden auch gutachtliche Äußerungen erfasst (BGH, Urt. v. 29.1.1957–1 StR 333 / 56, BGHSt 10, 159, Ulsenheimer 2015, Rn. 913). Schutzgut von § 278 StGB ist die „schriftliche Lüge“ über Tatsachen, womit zwar nicht die Wertung als solche, jedoch die zugrunde liegenden „falschen“ Einzelbefunde in den Anwendungsbereich fallen, sofern der Arzt / Gutachter sie wider besseres Wissen, d. h. mit unbedingtem Vorsatz bzgl. der Unrichtigkeit des Inhalts in das Gutachten aufgenommen hat. Hinsichtlich der Bestimmung des Zeugnisses zum „Gebrauch bei einer Behörde oder Versicherungsgesellschaft“ ist bedingter Vorsatz ausreichend (Heine / Schuster 2019, § 278 Rn. 6). Strittig ist, ob ein Gesundheitszeugnis schon dann „unrichtig“ wird, wenn darin ein Befund bescheinigt wird, ohne dass der Arzt überhaupt eine Untersuchung vorgenommen hat. Dies wird man vor dem Hintergrund der besonderen Beweiskraft ärztlicher Bescheinigungen im Behördenverkehr mit der herrschenden Meinung (BGH, Urt. v. 8.11.2006–2 StR 384 / 06, MedR 2007, 248) in der Regel, aber nicht ausnahmslos bejahen können. Wie das OLG Frankfurt a. M. in einer jüngeren Entscheidung zutreffend feststellt, gibt es allerdings Krankheitsfälle, in denen es entweder nach der Art der Erkrankung oder der seelischen Verfassung des Patienten für den gewissenhaften Arzt überflüssig erscheinen lässt oder sich sogar verbietet, eine körperliche Untersuchung oder persönliche Befragung des Patienten vorzunehmen. In solchen Fällen genügt der Arzt der ihm obliegenden Sorgfaltspflicht auch im Rahmen des § 278 StGB, wenn er vor der Ausstellung des Gesundheitszeugnisses sich auf andere Weise (z. B. durch frühere Eigen- oder Fremdbefunde)
zuverlässig über den Gesundheitszustand des Patienten informiert (Beschl. v. 11.1.2006–1 Ss 24 / 05, MedR 2007, 442, 444). Die Strafbarkeit beschränkt sich auf gutachtliche Äußerungen „zum Gebrauch bei einer Behörde oder Versicherungsgesellschaft“ und setzt zudem ein „Handeln wider besseres Wissen“, mithin einen Dolus directus in Bezug auf die Unrichtigkeit voraus. Gesundheitszeugnisse etwa gegenüber dem Arbeitgeber (selbst wenn dies eine Behörde oder eine Versicherungsgesellschaft sein sollte) fallen demzufolge ebenso wenig unter § 278 StGB wie eine – gutgläubig – „ins Blaue hinein“ abgegebene Beurteilung. Gerade diese Anforderungen im subjektiven Tatbestandsbereich werden als Grund einer im Vergleich zur fehlenden statistischen Relevanz deutlich höheren Dunkelziffer sogenannter „Gefälligkeitsatteste“ vermutet (Gercke 2008).
7.2.2. Aussagedelikte (§§ 153 ff. StGB) Gutachter können sich – wie auch Zeugen – vor Gericht der uneidlichen Falschaussage (§ 53 StGB) oder des Meineids (§ 154 StGB) schuldig machen. Letzterem sind eidesähnliche Erklärungen gleichgestellt, so die eidesgleiche Bekräftigung (§ 155 StGB) oder die falsche Versicherung an Eides statt (§ 156 StGB). Während § 153 StGB – bedingt – vorsätzliches Handeln des Aussagenden voraussetzt, stellt § 163 StGB hinsichtlich der vereidigten Aussage bzw. der ihr gleichstehenden Erklärungen auch bloße Fahrlässigkeit unter Strafe. Gemeinsames Schutzgut der Aussagedelikte ist nach herrschender Meinung das öffentliche Interesse an einer wahrheitsgemäßen Tatsachenfeststellung in gerichtlichen oder gerichtsähnlichen Verfahren. Dies schließt freilich nicht aus, dass die genannten Straftatbestände als „Schutzgesetz“ i. S. von § 823 Abs. 2 BGB, wie oben dargelegt, haftungsrechtlich relevante Schutzwirkungen zugunsten der konkret Beteiligten entfalten. Nach der bislang herrschenden „objektiven Theorie“ wird die Rechtspflege nur durch eine der Wirklichkeit widersprechende Aussage gefährdet, mithin ist eine Aussage „falsch“, wenn sie dem tatsächlichen – „objektiven“ – Geschehen oder Sachverhalt
widerspricht, d. h., wenn Aussage und Wirklichkeit objektiv nicht übereinstimmen. Bezogen auf gutachtliche Feststellungen ist dies unproblematisch dann der Fall, wenn der Gutachter tatsächlich nicht oder nicht so vorhandene Befundoder Zusatztatsachen verarbeitet. Befundtatsachen sind solche Tatsachen, die der Sachverständige kraft der ihm eigenen „besonderen Sachkunde“ wahrnimmt. Hingegen sind Zusatztatsachen von jedermann wahrnehmbar. Der Sachverständigeneid, der sich bekanntlich nur darauf erstreckt, das „Gutachten unparteiisch und nach bestem Wissen und Gewissen erstattet zu haben“, deckt fraglos Befundtatsachen ab, nicht jedoch Zusatztatsachen, wobei insoweit allerdings die Möglichkeit der Vereidigung des Gutachters als „Zeuge“ besteht, sofern er diese Tatsachen im Umfeld der Untersuchung wahrgenommen hat. Können aber Wertungen als solche i. S. der Aussagedelikte „falsch“ sein? Nach einer im Schrifttum vertretenen Ansicht ist ein nach vermeintlich „bestem Wissen erstattetes Gutachten“ schon dann falsch, wenn es diesen Anforderungen nicht entsprach, insbesondere wenn es nicht unter „Anwendung der entsprechenden Methoden dem neuesten Erkenntnisstand der fraglichen Disziplin entspricht“ (Bosch / Schittenhelm 2019, Vorbem. §§ 153 ff., Rn. 8). Selbst ein im Ergebnis „richtiges“ Gutachten wäre in dieser Wertung „falsch“, sofern nicht „methodengerecht“ erstellt. Umgekehrt ist ein in diesem Sinne „richtiges“ Gutachten, das jedoch nicht der subjektiven Überzeugung des Sachverständigen entspricht, strafrechtlich nur dann problematisch, wenn der Sachverständige diese Überzeugung nicht haben konnte, weil er z. B. das unter seinem Namen erstattete Gutachten tatsächlich von anderen (z. B. Mitarbeitern) hat erstellen lassen, da er mit Erstattung seines Gutachtens auch behauptet, dieses – als Eigenleistung – „verantworten“ zu können (Bosch / Schittenhelm 2019, Vorbem. §§ 153 ff., Rn. 8). Die Gegenauffassung hebt bei der Mitteilung von Erfahrungen, Wertungen oder Schlussfolgerungen ungeachtet der objektiven Sachlage ausschließlich auf die Diskrepanz zwischen subjektivem Wissen und Aussageninhalt ab, d. h., ob der Sachverständige die gutachtliche Stellungnahme entgegen seiner Ü
inneren Überzeugung abgegeben hat (Nachw. bei Bosch / Schittenhelm 2019, Vorbem. §§ 153 ff., Rn. 5). Mag diese sehr restriktive Sichtweise auch unter Schutzzweckaspekten auf Bedenken stoßen, so muss doch ein „falsches“ Gutachten i. S. der §§ 153 ff. StGB – ähnlich dem „unrichtigen“ Gutachten i. S. von § 839a BGB – mehr sein als ein lediglich unsorgfältig erstelltes. Eine „Aussage“ als gemeinsames Tatbestandsmerkmal der §§ 153– 163 StGB ist jedenfalls die mündliche Darlegung von Tatsachen oder Werturteilen durch den Sachverständigen, nicht jedoch die Erstattung eines schriftlichen Gutachtens. Dies ist dort unproblematisch, wo die jeweilige Prozessordnung ohnehin nur die mündliche Gutachtenerstattung kennt, wie im Strafprozess. Selbst eine nach § 256 Abs. 1 StPO verlesene Erklärung eines Arztes stellt lediglich einen Urkundsbeweis, nicht jedoch einen Zeugen- oder Sachverständigenbeweis dar. Strittig ist demgegenüber, ob Gleiches auch für Verfahrensordnungen gilt, die – sogar als Regelfall – die schriftliche Gutachtenerstattung vorsehen, wie etwa im Zivil- und Sozialgerichtsprozess. Hier ist im Gegensatz zum Strafprozess das schriftliche Gutachten vollwertiges Beweismittel, das nur ausnahmsweise der mündlichen Ergänzung bzw. Erläuterung bedarf. Teile der Strafrechtsliteratur folgern hieraus die Einbeziehung auch des schriftlichen Gutachtens in den Schutzbereich der §§ 153 ff. StGB (so Bosch / Schittenhelm 2019, Vorbem. §§ 153 ff., Rn. 22). Schon der Wortlaut der Vorschriften – „Aussage vor Gericht“ – steht aber wohl einer so weiten Auslegung entgegen, da die bloße prozessuale Zulässigkeit eines rein schriftlichen Gutachtens noch nicht die schriftlichen Ausführungen des Sachverständigen zu „Aussagen“ macht. Wenn allerdings im Zivilprozess einzelne Beweisfragen unter eidesstattlicher Versicherung ihrer Richtigkeit gem. § 377 Abs. 3, 402 ZPO schriftlich beantwortet werden oder der Sachverständige die Richtigkeit seines schriftlichen Gutachtens auf Verlangen des Gerichts eidesstattlich versichert, kommt eine Strafbarkeit wegen falscher Versicherung an Eides statt gem. § 156 oder, in der fahrlässigen Begehungsform, gem. § 163 StGB in Betracht.
7.2.3. Körperverletzung oder Tötungsdelikte infolge gutachtlicher Fehleinschätzung Ein psychiatriespezifisches und für den betroffenen Arzt zweifellos besonders belastendes Kapitel strafrechtlicher Aspekte gutachtlicher Tätigkeit stellen die Fremd- und / oder Eigenschädigungen des Probanden dar, die aus einer Fehleinschätzung der Gefährdungssituation resultieren. Man denke an die unterbliebene Unterbringung eines psychisch Kranken nach zivil- bzw. betreuungsrechtlichen Grundsätzen der §§ 1896–1908i BGB oder im Rahmen der landesgesetzlich geregelten öffentlich-rechtlichen Unterbringung. Eine andere in diesem Zusammenhang anzutreffende Fallkonstellation bildet der Lockerungsmissbrauch in psychiatrischen Krankenhäusern oder im Maßregelvollzug, wobei es zu einschlägigen Straftaten der Patienten kommt. Während, wie gezeigt, die zivilrechtliche Haftung im hoheitlichen Bereich auf die beauftragende Körperschaft übergeht oder im Rahmen gerichtlicher Verfahren außerhalb von Behördengutachten wenigstens die Privilegierung des § 839a StGB mit der „groben Fahrlässigkeit“ als Verschuldensmaßstab durchgreift, kann den einzelnen Sachverständigen hier grundsätzlich schon bei leichter Fahrlässigkeit der Vorwurf der fahrlässigen Körperverletzung (§ 229 StGB) oder gar Tötung (§ 222 StGB) treffen. In beiden Fällen ist erforderlich, dass der Gutachter eine Gefährdungslage für eigen- oder fremdschädigendes Verhalten beim Probanden verkannt hat, die er bei Beachtung der notwendigen diagnostischen Sorgfalt (objektive Fahrlässigkeit) und – als Besonderheit im strafrechtlichen Verschulden – auch nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten (subjektive Fahrlässigkeit) hätte voraussehen können und müssen. Während ältere – zivilrechtliche – Entscheidungen die „Sicherheit und den Schutz des Patienten vor einer krankheitsbedingten Selbstschädigung als oberstes Gebot betrachteten“ (BGH, Urt. v. 26.4.1954 – VI ZR 52 / 53, VersR 1954, 290; ebenso noch OLG Stuttgart, Urt. v. 23.3.1989–14 U 41 / 87, MedR 1989, 251) und so
häufig schon aus der Tatsache eines (Suizid-)Versuchs im Rahmen einer psychiatrischen Behandlung auf eine Verletzung der ärztlichen Behandlungspflichten oder der pflegerischen Betreuung und Fürsorge schlossen, hat sich in der jüngeren Rechtsprechung eine differenzierte Betrachtung durchgesetzt. Die moderne Psychiatrie, so das OLG Naumburg, sehe bei Geisteskranken ihre Hauptaufgabe nicht (mehr) darin, diese sicher zu verwahren, sondern sie zu behandeln und zu heilen, was die Inkaufnahme gewisser Risiken – auch des Risikos der Selbstschädigung – notwendig mache. Denn die „Stärkung der Eigenverantwortlichkeit“ gehöre ebenfalls zur Therapie suizidgefährdeter Patienten, was aber wiederum mit „übertrieben sichernden und die Patienten in ihrem Selbstbewusstsein einengenden Maßnahmen“ unvereinbar sei (OLG Naumburg, Urt. v. 12.1.2010–1 U 77 / 09, GesR 2010, 318, ebenso jüngst OLG Oldenburg, Beschl. v. 17.1.2011–5 U 187 / 10, MedR 2012, 332, 334). Das Sicherheitsgebot ist daher gegen Gesichtspunkte der Therapiegefährdung durch allzu strikte Verwahrung abzuwägen, wobei neben der Erforderlichkeit einer Maßnahme deren Zumutbarkeit für den Patienten, aber auch das Krankenhauspersonal einzustellen ist (BGH, Urt. v. 20.6.2000 – VI ZR 377 / 99, MedR 2001, 201). Wenn aber die Rechtsprechung auf diese Weise in der kurativen Situation einen therapeutisch motivierten Beurteilungs- und Ermessensspielraum zugesteht (so ausdrücklich OLG Naumburg a. a. O.), kann für die vorgelagerte gutachtliche Einschätzung nichts anderes gelten. Auch hier geht es letztlich um die Abgrenzung der akuten von einer vielleicht nur latenten Suizidalität und die hieraus abzuleitenden therapeutischen, die Freiheitsrechte des Probanden mehr oder minder beschneidenden Konsequenzen. Folglich kann auch dem Gutachter nur zum Vorwurf gereichen, eine ex ante erkennbare Gefährdungslage verkannt zu haben, z. B. weil er Erkenntnismöglichkeiten (Rückversicherung beim Hausarzt, Fremdanamnese bei anwesenden Begleitpersonen) nicht ausgeschöpft hat, weil seinem Gutachten im Hinblick auf die notwendigen Schutzmaßnahmen die erforderliche Abwägung von Gefährdung, Patientenautonomie und Therapieoptionen nicht
entnommen werden kann oder weil seine diagnostische Wertung aus sonstigen Gründen fachlich völlig unvertretbar erscheint. Gleiches muss für die Fälle der Fremdschädigung durch – öffentlich-rechtlich – untergebrachte Patienten sowie im Maßregelvollzug gelten. Auch hier ist im Rahmen einer Prognoseentscheidung die von den Patienten ausgehende Gefährdung, diesmal für fremde Rechtsgüter, dem therapeutischen Interesse – z. B. einer Belastungserprobung zur Entlassungsvorbereitung – gegenüberzustellen. Kommt es zum Lockerungsmissbrauch, folgt der Fahrlässigkeitsvorwurf nicht schon aus der nachträglichen Wertung, sondern aus der Perspektive ex ante. Hält sich hier die Entscheidung innerhalb des gesetzlichen Beurteilungs- und Ermessensspielraums der Urlaubs- und Lockerungsnormen, kann sie trotz genereller Vorhersehbarkeit bzw. fehlender Ausschließbarkeit einer Straftat nicht schon i. S. einer fahrlässigen Ermöglichung tatbestandsmäßig sein, zumindest ist sie unter dem Aspekt des „erlaubten Risikos“ gerechtfertigt (Schöch 2006, 319). Die strafrechtlich relevante Schwelle ist auch hier erst dann überschritten, wenn der Entscheidungsträger von einem unzutreffenden oder unvollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist, wenn er „nicht den richtigen Begriff des Versagungsgrundes zugrunde gelegt hat“ oder sonst die nicht zuletzt von den Regeln seines Fachs geprägten Grenzen des Beurteilungs- und Ermessensspielraums missachtet hat (BGH, Beschl. v. 22.12.1981–5 AR (Vs) 32 / 81, BGHSt 30, 320). Des Weiteren ist in allen Fällen der Eigen- wie Fremdschädigung der Nachweis des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs erforderlich, d. h., eine Strafbarkeit scheidet immer dann aus, wenn nicht zweifelsfrei feststeht, dass eine korrekte Sachverhaltsermittlung und / oder Bewertung des Gutachters zu einem anderen Ergebnis geführt und damit den Schadenseintritt verhindert hätte. Dies ist entgegen der Rechtsprechung keine Frage der Kausalität, sondern der objektiven Zurechnung. Hätte eine korrekte gutachtliche Einschätzung die Suizidgefahr lediglich vermindert, einen Suizid aber nicht ausschließen können, entfällt eine Strafbarkeit für die Fehleinschätzung (OLG Düsseldorf, Urt. v. 27.4.2000–2 Ss 130 / 98–
31 / 98 III, NStZ-RR 2001, 199). Andererseits: Verübt ein Patient auf seinem sorgfaltspflichtwidrig gewährten – unbeaufsichtigten – Ausgang mehrere Gewaltdelikte, kann die strafrechtliche Verantwortlichkeit für die Entscheidung nicht schon mit dem Hinweis verneint werden, dass der Patient die ungenügend gesicherte Station gewaltsam hätte verlassen können (so aber LG Potsdam als Vorinstanz zu BGH, Urt. v. 13.11.2003–5 StR 327 / 03, NJW 2004, 237). Bei der gedanklichen Prüfung darf nur ein pflichtgemäßes Verhalten des bzw. der Verantwortlichen „hinzugedacht“ werden, womit die Möglichkeiten eines hypothetischen Entweichens aus der Klinik keine Exkulpation begründen können (BGH a. a. O.).
7.3. Fazit § 839a BGB löste nach seinem Inkrafttreten unter der Ärzteschaft beträchtliche Unruhe aus, nachdem Literaturstimmen verschiedentlich das Menetekel der „gravierenden Haftungsverschärfung der Arzthaftungspflicht bei Gerichtsgutachten“ (so z. B. Wittig und Henssen 2003, 67 ff., ähnlich schon im Vorfeld des Gesetzgebungsverfahrens Jacobs 2001, 489 ff.) an die Wand geworfen hatten. Andere, so auch der Verfasser (MedSach 2004, 132), vermochten sich dieser Auffassung nicht anzuschließen und können sich durch die bislang zu § 839a BGB ergangenen wenigen – und zumeist klageabweisenden – Entscheidungen bestätigt fühlen. Die engen Tatbestandsvoraussetzungen sowie der Umstand, dass die Abgrenzung zwischen bereits „bedingt vorsätzlicher“ oder gerade noch „grob fahrlässiger“ Falschbegutachtung eher theoretischer Natur sein dürfte, werden eine Haftungsausweitung zulasten des medizinischen Gutachters verhindern. Für den psychiatrischen Sachverständigen hat sich die Rechtslage sogar tendenziell eher verbessert. Die bisher nur richterrechtlich entwickelte und im Schrifttum immer wieder einmal angegriffene Haftungsbegrenzung bei lediglich fahrlässig ermöglichter Freiheitsentziehung findet jetzt eine eindeutige gesetzliche Grundlage. Ferner bleibt es unabhängig
von der Frage der Vereidigung bei der groben Fahrlässigkeit als Haftungsmaßstab, was insbesondere für die strafprozessuale Tätigkeit der forensischen Psychiater bedeutsam sein dürfte. Im weiten Feld der außergerichtlichen Begutachtung hat sich durch § 839a BGB ohnehin nichts geändert, wenn und soweit hier mangels vertraglich vereinbarter Haftungsbeschränkungen dem Auftraggeber gegenüber bereits für leichteste Fahrlässigkeit einzustehen ist. Dem damit nach wie vor eher geringen Haftungsrisiko des Gutachters steht eine ungleich höhere gesellschaftliche und volkswirtschaftliche Relevanz der medizinischen Begutachtung gegenüber, von der Bedeutung des Gutachtens für den Betroffenen völlig abgesehen. Gleichwohl sollte der Gutachter seinen Haftpflichtversicherungsschutz daraufhin überprüfen, ob neben seiner kurativen Tätigkeit auch die Begutachtung einbezogen ist und insbesondere für primäre Vermögensschäden ausreichende Deckungssummen zur Verfügung stehen. Werden nicht nur „gelegentlich“ Gutachten erstattet, erscheint eine dementsprechende schriftliche Klarstellung des Versicherers oder der Abschluss einer zusätzlichen Vermögenshaftpflichtversicherung für den gutachtlichen Bereich mit Deckungssummen von 250.000 bis 500.000 Euro sinnvoll. Häufig bieten die Versicherer gegen eine vergleichsweise geringe Erhöhung der Prämie Deckungssummen von 1 Mio. Euro an, was bei häufigen Begutachtungen außerhalb gerichtlicher Verfahren sinnvoll sein kann, zum einen wegen der Haftung schon bei leichter Fahrlässigkeit, zum anderen aufgrund der regelmäßig fehlenden Kenntnis des beauftragten Sachverständigen zum wirtschaftlichen Umfang eines geltend gemachten Anspruchs. Von einem solchen Versicherungsschutz unberührt bleibt naturgemäß das strafrechtliche Risiko des Gutachters. Hier kann ein erweiterter Strafrechtsschutz nur die finanziellen Folgen der anwaltlichen Vertretung kompensieren – natürlich nur außerhalb nachgewiesener Vorsatzdelikte.
Literatur
Blankenhorn C (2004). Die Neuregelung der Haftung des gerichtlichen Sachverständigen durch § 839a BGB. Dissertation Universität Regensburg. Bosch N, Schittenhelm U (2019). Kommentierung zu §§ 153–173. In: Schönke A, Schröder H. StGB-Kommentar. 30. A. München: Beck. Bundesministerium der Justiz (Hrsg.) (1977). Bericht der Kommission für das Zivilprozessrecht. Bonn. Gaidzik PW (2004). Gravierende Haftungsverschärfung für den gerichtlichen Sachverständigen durch § 839a BGB? MedSach 100: 129–132. Gercke B (2008). Das Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse nach § 278 StGB. MedR 26: 592–595. Heine G, Schuster F (2019). Kommentierung zu §§ 276–283d. In: Schönke A, Schröder H. StGB-Kommentar. 30. A. München: Beck. Huber Ch (2012). Kommentierung zu §§ 839a–845. In: NomosKommentar BGB Schuldrecht. 2. A. Baden-Baden: Nomos. Jacobs W (2001). Haftung des gerichtlichen Sachverständigen. Zeitschrift für Rechtspolitik 34: 489–493. Jaeger L, Luckey J (2002). Das neue Schadensersatzrecht. Münster: ZAP Verlag. Lesting W (2002). Die Neuregelung der zivilrechtlichen Haftung des gerichtlichen Sachverständigen für ein unrichtiges Gutachten. Recht Psychiatr 20: 224–229. Schöch H (2006). Strafrechtliche Haftung von Ärzten beim Lockerungsmissbrauch in psychiatrischen Krankenhäusern. In: Duncker H, et al. (Hrsg.). Forensische Psychiatrie – Entwicklungen und Perspektiven – Ulrich Venzlaff zum 85. Geburtstag. Lengerich: Pabst, S. 317–345. Thole Ch (2006). Die zivilrechtliche Haftung des medizinischen Sachverständigen, insbesondere nach § 839a BGB. Gesundheitsrecht 5: 154–160. Ulrich J (2007). Der gerichtliche Sachverständige. 12. A. Berlin, München: Heymanns. Ulsenheimer K (2015). Arztstrafrecht in der Praxis. 5. A. Heidelberg, München: C. F. Müller. Wagner G (2017). Kommentierung zu § 839a. In: Münchener Kommentar – Bürgerliches Gesetzbuch. 7. A. München: Beck. Wittig C, Henssen R (2003). Gravierende Verschärfung der Arzthaftpflicht bei Gerichtsgutachten nach Neueinführung des § 839a BGB mit Wirkung vom 1.8.2002. Orthopäd Prax 39: 67–69.
II
Strafrecht: Die Begutachtung der Schuldfähigkeit Kapitel 8: Rechtliche Grundlagen der psychiatrischen Begutachtung Kapitel 9: Der Sachverständige im Verfahren und in der Verhandlung Kapitel 10: Organische psychische Störungen (einschließlich Anfallsleiden) Kapitel 11: Autismus-Spektrum-Störungen Kapitel 12: Hyperkinetisches Syndrom (HKS) oder Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Erwachsenenalter Kapitel 13: Schlaf und Delinquenz Kapitel 14: Störungen durch Alkohol Kapitel 15: Störungen durch illegale psychotrope Substanzen und Medikamente Kapitel 16: Rechtsmedizinische Ansätze zur Befundinterpretation und Bewertung bei Delikten unter Alkohol- und Drogeneinfluss Kapitel 17: Schizophrenie, schizoaffektive und wahnhafte Störungen Kapitel 18: Affektive Störungen (und Anpassungsstörungen)
Kapitel 19: Die „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“ und andere affektive Ausnahmezustände Kapitel 20: Begutachtung und Behandlung von Personen mit Intelligenzminderung Kapitel 21: Persönlichkeitsstörungen Kapitel 22: Paraphile Störungen und Sexualdelinquenz, Geschlechtsinkongruenz / -dysphorie und sexuelle Funktionsstörungen Kapitel 23: Traumaassoziierte Störungen Kapitel 24: Spielen, Stehlen, Feuerlegen: abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle nach ICD-10
KAPITEL 8
Rechtliche Grundlagen der psychiatrischen Begutachtung Henning Rosenau
8.1 Heranziehung und Stellung psychiatrischer Sachverständiger im Strafverfahren 8.2 Rechtliche Grundlagen der Schuldfähigkeitsbeurteilung 8.2.1 Der Streit um die Schuld 8.2.2 Der pragmatisch-soziale Schuldbegriff 8.3 System und Inhalt der Bestimmungen über die Schuldfähigkeit im Strafrecht 8.3.1 Der Aufbau der Bestimmungen über die Schuldfähigkeit 8.3.2 Die erste Stufe der Bestimmungen über die Schuldfähigkeit: der Krankheitsbegriff 8.3.3 Die zweite (normative) Stufe der Schuldfähigkeit 8.3.4 Die verminderte Schuldfähigkeit 8.3.5 Jugendstrafrechtliche Verantwortlichkeit (§ 3 JGG) im Verhältnis zur allgemeinen Schuldfähigkeit (§§ 20, 21 StGB) 8.4 Kompetenzverteilung zwischen Richter und Sachverständigem bei der Schuldfähigkeitsbeurteilung
8.5 Die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus, in der Entziehungsanstalt und in der Sicherungsverwahrung (§§ 63–66a StGB) 8.5.1 Allgemeine Voraussetzungen der Maßregeln der Besserung und Sicherung 8.5.2 Die Voraussetzungen der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB 8.5.3 Die Voraussetzungen der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB 8.5.4 Die Voraussetzungen der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB 8.5.5 Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung nach § 66a StGB 8.5.6 Die nachträgliche Sicherungsverwahrung nach § 66b StGB 8.5.7 Das Gesetz zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (ThUG) 8.5.8 Die Neuregelung des Vollzugs der Sicherungsverwahrung 2013 8.6 Die weiteren Entscheidungen über die Vollstreckung der Maßregeln nach §§ 63–66 StGB 8.6.1 Dauer, Aussetzung und Erledigung des Vollzugs der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus, in der Entziehungsanstalt und in der Sicherungsverwahrung 8.6.2 Die Aussetzung der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus und in der Entziehungsanstalt zugleich mit ihrer Anordnung 8.6.3 Die Entscheidungen bei einem späteren Beginn der Unterbringung 8.6.4 Der Widerruf der Aussetzung der Maßregel
8.1. Heranziehung und Stellung psychiatrischer Sachverständiger im Strafverfahren Die strafgerichtliche Praxis zieht den Psychiater als Sachverständigen für vielfältige Fragen in ihren Verfahren heran. Im Vordergrund steht dabei die strafrechtliche Verantwortlichkeit, d. h. die Schuldfähigkeit des Täters, die über die Zulässigkeit einer Bestrafung entscheidet. Des Weiteren geht es um prognostische Probleme der Täterbeurteilung, insbesondere die künftige Gefährlichkeit bei der Maßregelindikation nach §§ 63 ff. StGB sowie die Täterprognose, u. a. bei der Aussetzung von Strafen nach §§ 57, 57a StGB und Maßregeln nach § 67b und § 67d Abs. 2 StGB. Mit den Strafrechtsreformgesetzen der 1960er- und 1970er-Jahre ist eine Akzentverlagerung von einem mehr tatorientierten Vergeltungsstrafrecht zu einem Schuldstrafrecht mit stärker auch spezialpräventiven Zügen erfolgt. Das hat dazu geführt, dass der Psychiater in zunehmendem Maß auch sonst an der Vorbereitung von Sanktionsentscheidungen beteiligt wird, u. a. bei Bestimmungen einer erforderlichen und möglichen Behandlung, prognostischen Fragen, Strafaussetzung zur Bewährung und Aussetzung des Strafrestes (§§ 56, 57, 57a StGB) sowie Anordnung der Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB), der vorbehaltenen und – bei Fehleinweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus – der nachträglichen Sicherungsverwahrung (§§ 66a, 66b StGB). Die obligatorische Begutachtung bei der Aussetzung weiterer Vollstreckung wurde über die Aussetzung lebenslanger Freiheitsstrafe hinaus auf zeitige Freiheitsstrafen von mehr als 2 Jahren wegen einer Straftat der in § 66 Abs. 3 StGB bezeichneten Art sowie auf alle Fälle der Aussetzung der Vollstreckung einer Maßregel nach § 67d StGB (§ 454 Abs. 2, § 463 StPO) erstreckt. Das hat die Anzahl der Gutachten erheblich erhöht. Herangezogen wird
der Psychiater zudem bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Zeugen. Der Psychiater als gerichtlicher Sachverständiger hat dabei nicht selbst über die im Verfahren anstehenden Fragen zu entscheiden. Er ist nicht Partei oder Strafverfolgungsorgan, sondern – wie der Zeuge – ein Mittel für den Beweis (KK-Senge 2013, Vor § 72 Rn. 1). Für die Entscheidung ist nach der Konzeption des geltenden Strafverfahrensrechts allein das Gericht verantwortlich. Die Rechtsprechung bezeichnet den Sachverständigen als „Gehilfen des Richters“ (u. a. BGHSt 3, 28). Vielleicht spricht man besser von einem „selbständigen Helfer bei der Wahrheitsfindung“ (Schreiber 1985, 1008). Das Gesetz sieht ihn jedenfalls der Entscheidungskompetenz des Gerichts untergeordnet, das über seine Heranziehung verfügt und auch über schwierige psychiatrische Fachfragen bei seiner Entscheidung letztlich selbst zu befinden hat (BGHSt 7, 238; 8, 113 [118]; BGH NStZ 2002, 3484). Andererseits ist das Gericht dazu verpflichtet, einen Sachverständigen zu befragen, wenn Tatsachen festzustellen oder Fragen zu beurteilen sind, für deren Feststellung oder Beurteilung es nicht selbst die erforderliche Sachkenntnis besitzt (Ulrich 2007, 71). In der Praxis ist es oft der psychiatrische Sachverständige, der den Prozess mit seinem Gutachten in der Sache entscheidet. Die Schuldfähigkeit kann der Richter, wenn Anlass zu ihrer Prüfung besteht, i. d. R. nicht allein beurteilen; er muss sich der Hilfe eines Sachverständigen bedienen (LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 88). Die Rechtsprechung bezeichnet es als Rechtsfrage, ob Schuldfähigkeit gegeben ist; maßgeblich seien die Anforderungen der Rechtsordnung (BGHSt 49, 45 [53]; BGH NJW 2005, 281; NJW 2006, 89).
8.2. Rechtliche Grundlagen der Schuldfähigkeitsbeurteilung 8.2.1. Der Streit um die Schuld
Vorwiegend geht es bei der Beteiligung psychiatrischer Sachverständiger im Strafprozess um die Schuldfähigkeit bzw. ihren Ausschluss oder ihre Verminderung.
Merke Die Beurteilung der Schuldfähigkeit hängt – unabhängig davon, auf welche Fragen sich die Aussagen des Sachverständigen erstrecken sollen – vom Verständnis der strafrechtlichen Schuld ab. Denn die Fähigkeit zur Schuld kann nur im Hinblick auf diese Schuld bestimmt werden. Das Prinzip der Schuld bildet die Basis unseres Strafrechts, des Systems der Straftat ebenso wie das der Strafen. Schuld und Schuldfähigkeit sind grundlegende Voraussetzung jeder Bestrafung (Roxin 2006, 870). Das Bundesverfassungsgericht hat dem Schuldgrundsatz Verfassungsrang zugeschrieben und den Satz „Keine Strafe ohne Schuld“ im Rechtsstaatsprinzip verankert gesehen (BVerfGE 20, 323 [331]; 50, 125; 80, 367). Strafe darf nur verhängt werden, wenn dem Täter sein Tun vorzuwerfen ist. Wenn er für sein Tun „nichts kann“, wäre seine Bestrafung ein Unrecht (BGHSt 23, 176; LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 4). Was unter Schuld zu verstehen ist, sagt das Gesetz nicht ausdrücklich. Es verwendet den Begriff mehrfach, ohne ihn zu definieren (SSW-StGB-Kaspar 2019, § 20 Rn. 4). Nach § 46 Abs. 1 StGB ist die Schuld zudem Grundlage für die Zumessung einer Strafe. Das Gesetz kennt Schuldausschließungsgründe wie den Verbotsirrtum (§ 17 StGB) und den entschuldigenden Notstand (§ 35 StGB).
Merke Ohne Schuld handelt nach § 20 StGB, wer bei Begehung der Tat aufgrund bestimmter Defektzustände unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.
Hier wie bei den anderen genannten Schuldausschlussgründen geht das Strafgesetz negativ vor. Es nennt Situationen und Zustände, bei denen es an Schuld fehlen soll, sagt aber nicht positiv, was es unter Schuld und Schuldfähigkeit verstehen will. Die Strafrechtsreform hat ausdrücklich am Schuldprinzip festgehalten und darin in Reaktion auf die Entartung des Strafrechts im Dritten Reich ein Bekenntnis zur Würde des Menschen als verantwortlicher Person gesehen. Man verstand das Schuldprinzip als Grenze des staatlichen Strafrechts, insbesondere als Reaktion auf das uferlose Zweckdenken des nationalsozialistischen Staates, der das Strafrecht zum Instrument unmenschlicher Abschreckungs- und Ausmerzungsmaßnahmen gemacht hatte. Ist das Schuldprinzip in gewisser Weise eine „legislatorisch außer Streit gesetzte Figur“ (Schöneborn 1976, 349), so ist es doch außerordentlich umstritten. Dieser Streit reicht von den Grundlagen bis ins Detail und ist von wesentlichem Einfluss auf die Zusammenarbeit der Gerichte mit den psychiatrischen Sachverständigen bei den Fragen der Schuldfähigkeit. Eine über Jahrzehnte andauernde Diskussion hat bisher keine Einigkeit über Wesen und Inhalt der Schuld herzustellen vermocht. Zutreffend hat Roxin ausgeführt, über die Schuld gebe es im Recht nur einen Minimalkonsens dahingehend, dass sie eine vom Unrecht unterschiedene besondere Art der Wertung einer Handlung des Täters bedeute. Weiter gehe die Übereinstimmung aber weder in der Terminologie noch in der Sache (Roxin 1974, 171). Die Umschreibungen strafrechtlicher Schuld reichen von der Verfehlung der sittlichen Aufgabe des Menschen, der Entscheidung für das Unrecht trotz Anders-handeln-Könnens über die Vorwerfbarkeit einer Tat wegen der darin betätigten rechtlich missbilligten Gesinnung, den Mangel an Verbundenheit mit einem rechtlich geschützten Wert, die vorwerfbare innere Beziehung des Täters zu seiner Tat, die Vorwerfbarkeit der Willensbildung und -betätigung bis zu einem rein funktionalen Schuldbegriff, der die Schuldkategorie in präventiven Gesichtspunkten aufgehen lässt (Nachweise im Einzelnen bei Schreiber 1983, 74).
Vielfältige grundsätzliche Kritik richtet sich gegen das Schuldprinzip überhaupt. So hat z. B. Sack behauptet, alle Ansätze in der Kriminologie zielten auf eine Ebene der Erklärung des abweichenden Verhaltens, die es nicht mehr erlaube, dieses Verhalten dem Einzelnen zuzurechnen (Sack 1975, 363). In Aufnahme und Weiterführung bereits früher formulierter Einwände (Ellscheid und Hassemer 1975, 275), das Schuldprinzip diene gesellschaftlichen Beruhigungsinteressen und Stabilisierungstendenzen, es behindere die Einsicht in die sozialen Entstehungsgründe des Verbrechens, ist eine fundamentale Kritik vorgelegt worden (Kargl 1982, 198 ff.). Der Schuldgedanke funktioniere wie ein Thematisierungsverbot. Er kette den Straftäter an das Faktum verfehlter Freiheit und blende die Bedingungen aus, unter denen Freiheit wirklich gesellschaftlich konkret werden könne. Das Schuldprinzip isoliere die Straftat vom sozialen Zusammenhang ihrer Entstehung und vom Täter, das Gericht vom Angeklagten und die Öffentlichkeit vom Abweichler. Das Strafrecht steht unter dem Vorwurf, durch die Zurechnung von Verhalten zu individueller Schuld die Einsicht in die wirklichen sozialen Entstehungsgründe des Verbrechens zu verhindern. Zur Unsicherheit über den Schuldbegriff hat insbesondere auch die Entwicklung des Strafrechts beigetragen. Ein reines Vergeltungsstrafrecht, das sich den konsequenten Schuldausgleich zum Prinzip machen würde, wird heute praktisch von niemandem mehr vertreten. Präventive Gesichtspunkte sind in den Vordergrund gerückt. Die Schuldstrafe wird nicht nur wegen Schuld verhängt; Schuld ist eine wesentliche, aber durchaus nicht die einzige Voraussetzung für die Strafe (Stratenwerth 1972, 6 f.; Schreiber 1980, 285; Fischer 2019, § 46 Rn. 5 f. Schönke, Schröder / Kinzig 2019, § 46 Rn. 8 m. w. N.). Angesichts dieses Grundlagenstreits und der fehlenden Einigkeit über seinen Inhalt ist der Begriff der Schuld auch für die praktische Handhabung zweifelhaft geworden. Es erscheint daher trotz aller damit verbundenen Schwierigkeiten notwendig, zwischen Rechtswissenschaft, gerichtlicher Praxis und Psychiatrie zu klären, was unter Schuld und Schuldfähigkeit verstanden werden soll. Nur
so kann die Zusammenarbeit zwischen Juristen und psychologischpsychiatrischen Sachverständigen die von Rasch (1981, 36; vgl. auch LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 217 ff. m. w. N.) mit Recht bisher vermisste Basis gewinnen. In der strafgerichtlichen Praxis sowie in der juristischen und psychiatrischen Literatur findet sich teilweise ein vom ethischen Indeterminismus geprägtes Verständnis der Schuld, das die Willensfreiheit des Menschen zur Voraussetzung hat. Um sie als Grundlage des Schuldstrafrechts hat sich ein jahrzehntelanger Streit entwickelt, der seinen Niederschlag in einer fast unübersehbar gewordenen Fülle an Literatur gefunden hat (Zusammenstellung u. a. bei LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 14 ff. und Schrifttum zu §§ 20 ff. StGB.) Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in einer Grundsatzentscheidung in seiner Frühzeit wie folgt formuliert (BGHSt 2, 194 [200]): „Strafe setzt Schuld voraus. Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, daß er sich nicht rechtmäßig verhalten, daß er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können. Der innere Grund des Schuldvorwurfs liegt darin, daß der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden, sobald er die sittliche Reife erlangt hat und solange die Anlage zur freien, sittlichen Selbstbestimmung nicht durch die in § 51 StGB (heute: §§ 20, 21 StGB) genannten krankhaften Vorgänge gelähmt oder auf Dauer zerstört ist.“ Danach haben Schuld und Schuldfähigkeit ihre Grundlagen darin, dass der Täter aufgrund eigener Entscheidung auch anders hätte handeln können, als er es getan hat (Witter 1983, 443). Nur von einem jedenfalls relativ indeterministischen Standpunkt aus könne sinnvoll ein Schuldvorwurf begründet werden (Mangakis 1963, 499). Wenn man überhaupt die Kategorien Schuld bzw. Verantwortlichkeit im Strafrecht verwenden wolle, so führe kein Weg an der
Freiheitsfrage im metaphysischen Sinne vorbei (Lenckner 1972, 112 ff.). Wenn die Freiheit auch nicht wissenschaftlich beweisbar sei, so sei es doch dem Gesetzgeber nicht verwehrt, normativ von der persönlichen Verantwortlichkeit des Menschen auszugehen und Freiheit ethisch und rechtlich vorauszusetzen (Weißer 2013, 36 f.). Der Gesetzgeber sei frei, eine von mehreren wissenschaftlich begründbaren Alternativen zu wählen. Mit der Entscheidung für die Sanktion „Strafe“ habe er das getan, sodass die Freiheitsfrage für das geltende Recht nicht mehr offen sei, wenn auch eingeräumt werden müsse, dass ein Beweis für die Übereinstimmung der gesetzgeberischen Entscheidung mit letzten anthropologischen Gegebenheiten nicht zu führen sei. Der Gesetzgeber habe aber mit der Verankerung der Schuldstrafe im geltenden Recht seine Grenzen nicht überschritten (LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 30). Ein derartiger indeterministisch verstandener Schuldbegriff erscheint für das Recht theoretisch wie praktisch nicht möglich. Theoretisch ist eine Entscheidung im Streit zwischen Determinismus und Indeterminismus mit wissenschaftlichen Mitteln nicht zu treffen. Das Problem der Willensfreiheit des Menschen, das die Subjektivität des Subjekts zum Gegenstand hat, ist jedenfalls derzeit wissenschaftlich nicht zu lösen (Jescheck und Weigend 1996, 410; Nowakowski 1957, 55; Engisch 1965, 23; Hassemer 1990, 229; Kiesewetter 2010, 324; jeweils m. w. N.). Die mit der Entschlüsselung des Genoms fortgeschrittene Genetik gewinnt zwar zunehmende Einsichten in die Bestimmtheit des Menschen, sie kann aber seine durchgehende Determination nicht nachweisen, insbesondere eine konkrete Bestimmtheit im gegebenen Fall nicht feststellen. Ein exakter Beweis für oder gegen die Existenz von Willensfreiheit sei, so wird eingeräumt, nicht zu führen (Hillenkamp 2005, 313 [319]). Praktisch ist es mit den Mitteln des Strafverfahrens nicht möglich, die schon theoretisch unlösbare Freiheitsfrage für einen einzelnen Täter in seiner von vielen Faktoren beeinflussten konkreten Handlungssituation rückblickend zu beantworten. Würde strafrechtliche Schuld die Feststellung der Willensfreiheit eines Täters für einen bestimmten Tatzeitpunkt voraussetzen, so könnte es Verurteilungen zu einer von Schuld abhängigen Strafe nicht geben.
Auch diejenigen, die prinzipiell für einen indeterministischen Schuldbegriff eintreten, müssen zugeben, dass für einen konkreten Täter mit wissenschaftlichen Mitteln Willensfreiheit, ihr Fehlen oder Vorliegen bzw. ihre Einschränkungen, nicht festgestellt werden können (Witter 1983, 443). Die individuelle Schuld und ihr Maß sind einer zuverlässigen, rückblickenden wissenschaftlichen Ermittlung nicht zugänglich. Niemand vermag den Überstieg in eine fremde Individualität und eine fremde Situation derart zu vollziehen, dass er den für einen anderen etwa gegebenen Spielraum an Willensfreiheit verlässlich bestimmen kann (Stratenwerth und Kuhlen 2011, 5). Zutreffend hat es Bockelmann (1963, 372) als baren Unsinn bezeichnet, an den Psychiater die Zumutung zu richten, das Freiheitsproblem, das schon theoretisch unlösbar sei, mit Bezug auf einen konkreten Fall und einen bestimmten Menschen zu lösen. Dann aber ist die Auffassung der Strafrechtsschuld als indeterministisch verstandener Fehlgebrauch der Freiheit jedenfalls praktisch nicht haltbar (Schreiber 1977, 242). Es geht auch nicht an, mit einer verbreiteten Spielart der Rechtslehre zwar von der Freiheit des Menschen im indeterministischen Sinne auszugehen, hinsichtlich des einzelnen Täters aber wegen der Unentscheidbarkeit der Freiheitsfrage auf die Abweichung des Einzelnen von einem generell vorausgesetzten Anders-Handeln-Können als praktischen Maßstab hinzuweisen (Jescheck und Weigend 1996, 411; SKRudolphi 2003, § 20 Rn. 7). Ist eine Sanktion wie die Schuldstrafe an die Voraussetzung der Freiheit geknüpft, so kann sie im Anwendungsfall nur verhängt werden, wenn die Voraussetzung dafür auch festgestellt werden kann. Denn sonst verliert entweder die Sanktion ihren angestrebten Charakter, oder dem Täter wird etwas angelastet, dessen Voraussetzungen niemand feststellen kann (Schreiber 1977, 244).
8.2.2. Der pragmatisch-soziale Schuldbegriff Aus der Unbeweisbarkeit von Willensfreiheit im indeterministischen Sinne ist nicht der Schluss zu ziehen, dass das Schuldprinzip keine tragfähige Basis der strafrechtlichen Zurechnung sei und aufgegeben
werden müsse (so aber eine verbreitete Meinung u. a. Streng 1989, 273; weitere Nachweise bei LK-Jähnke 1993, § 20 Rn. 9). Auch gegenüber der Kritik aus einigen Richtungen der Kriminalsoziologie (Sack 1978, 384; Kargl 1982, 198) ist daran festzuhalten, dass individuelles Verhalten nicht allein einem sozialen System, sondern auch dem Einzelnen zugerechnet werden kann. Soll menschliches Verhalten wechselseitig voraussehbar sein und das Zusammenleben nicht zu einem Chaos werden oder lediglich der gewaltsamen Durchsetzung von Einzelnen oder Gruppen überlassen bleiben, so bedarf es der Steuerung des Verhaltens mittels sozialer Normen. Zur Durchsetzung der Normgeltung bzw. des der Norm entsprechenden Verhaltens ist eine Sanktionierung des von der Norm abweichenden Verhaltens erforderlich (Popitz 1980, 28; Stratenwerth und Kuhlen 2011, 2 f.). Diese Sanktionierung kann nur auf dem Wege subjektiver Zurechnung in Anknüpfung an das Verhalten des Einzelnen und seine Verantwortung dafür durchgeführt werden (Schreiber 1983, 76).
Merke Schuld bedeutet das Prinzip subjektiver Zurechnung normabweichenden Verhaltens. Eine normverletzende Tat kann nicht ignoriert oder allein dem Ganzen angelastet werden (Hassemer 1981, 202). Der durch sie verursachte Konflikt kann so nicht gelöst werden. Eine bloße Erfolgszuschreibung kann andererseits nicht der Weg der Zurechnung an den Einzelnen sein. Voraussetzung ist vielmehr – sollen Normen Verhalten beeinflussen – ein „Dafürkönnen“ (Hassemer 1981, 202). Nicht wenn der Schaden ohne sein Zutun zufällig eingetreten ist, sondern wenn er auch anders hätte handeln können, wird der Täter verantwortlich gemacht (Schreiber 1983, 77). Dieses „Anders-handeln-Können“ darf freilich nicht im Sinne des als unhaltbar erkannten indeterministischen Freiheitsbegriffs aufgefasst werden. Es meint nur, dass ein durchschnittlicher Anderer in einer solchen äußeren und inneren Situation generell anders, d. h.
normgemäß, hätte handeln können, dass ihm nach unserer Erfahrung Handlungsspielräume zur Verfügung standen. Im Strafrecht ist nur ein pragmatisches, sozial-vergleichendes Schuldurteil möglich. Abstrahiert man vom nicht zugänglichen Urteil über die Freiheit im indeterministischen Sinn, so drückt der strafrechtliche Vorwurf aus, dass die Erwartung des Rechts gegenüber dem durchschnittlich normalen Bürger, dass er sich nach den Rechtsnormen richte, enttäuscht worden ist (Bockelmann 1979, 112). Voraussetzung für einen solchen Vorwurf ist nicht die sittliche Wahlfreiheit, sondern nur die normale Motivierbarkeit durch soziale Normen. Das Recht geht von ihr generell aus und macht ein Zurückbleiben hinter seinen für den Durchschnittsfall aufgestellten Anforderungen zum Vorwurf. Das Schuldurteil des Rechts ist daher weitgehend – gerade auch im Strafrecht – generalisiert. Es umfasst nur das Zurückbleiben hinter dem Verhalten, das vom Bürger unter normalen Bedingungen erwartet werden kann (so schon von Liszt und Schmidt 1932, 225). Gegenstand eines so „unterhalb der unlösbaren Alternative Determinismus-Indeterminismus“ (Venzlaff 1975, 883; Roxin 2006, 869; Frister 2013, 552 f.) nur in generalisierenden Kategorien zu erfassenden Schuldvorwurfs ist danach lediglich, dass der Täter in seiner Situation in dem Sinne anders hätte handeln können, als man nach allgemeiner praktischer Erfahrung an seiner Stelle unter den konkreten Umständen anders hätte handeln können (Schreiber 1977, 244 m. w. N.). Dieser pragmatisch-soziale Schuldbegriff unterscheidet sich im Ergebnis nicht wesentlich von der Auffassung, die angesichts der Unbeweisbarkeit von Freiheit oder Determination davon ausgeht, der Gesetzgeber habe sich für die mögliche Alternative der Freiheit entschieden, diese sei daher ein praktisches Postulat, das durch die tägliche Erfahrung seine Bestätigung finde und sich im sozialen Leben als eine Realität darstelle (LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 30 m. w. N.). Zu einem nicht wesentlich anderen Ergebnis kommt die Ansicht, die davon ausgeht, dass der Mensch sich als grundsätzlich frei empfindet. Dieses soziale Phänomen als gelebtes allgemeines Selbstverständnis habe den Ausgangspunkt zu bilden (Hirsch 1994, 763 m. w. N.).
Nun wird von der Hirnforschung behauptet, auch das Bewusstsein eigener Steuerung sei bloße wirkungslose Einbildung. Neuronale Prozesse bestimmten unser Verhalten durchgängig. Wille, Intentionalität und Normativität seien nur Fiktionen (Roth 1997, 504). Dass die von der Gehirnphysiologie in Experimenten (insbesondere etwa durch Libet 1994, 119 ff. und Haggard 2002, 382 ff., erneut bestätigt durch Soon et al. 2008, 545) gezeigte Einbindung alles Mentalen in organische Vorgänge besteht, ist nicht neu, wird jetzt nur genauer beschrieben. Damit sind aber psychische, subjektive mentale Vorgänge nicht allein nach naturwissenschaftlicher Kausalität aus neuronalen Prozessen erklärbar. Sicher haben alle menschlichen Regungen, Gefühle und Entscheidungen physische Substrate, über die die Hirnforschung weitere Aufklärung verspricht. Es gibt physiologische und lebensgeschichtliche Bedingungen für menschliches Handeln. Dass eine konkrete Entscheidung „frei“ gewesen ist, lässt sich nicht beweisen. Aber für die allein neuronale und genetische Determination der Welt fehlt es an Nachweisbarkeit. Es finden sich Bedeutungen, es existiert eine Überdetermination durch Sinn. Verhalten wird durch Gründe beeinflusst. Gründe sind nicht nur Epiphänomene; mentale Gründe haben eine Kraft zur Intervention. Es gibt, ausgedrückt in den Programmierungen des Gehirns, Interaktionen von Geist und Gehirn (Habermas 2004, 874; Schreiber 2006, 1076). Die These der Hirnforschung, die Reduktion des Mentalen auf Physiologie, ist wissenschaftlich unhaltbar (Kröber 2003, 37). Der Mensch vermag sich im Denken zu orientieren, sich Handlungsziele zu setzen und seine Entschlüsse nach Einsicht zu bestimmen (Schockenhoff 2004, 31). Die Annahme eines Anders-HandelnKönnens, der Möglichkeit einer Determination durch Sinn und Intentionalität beim Fehlen von Krankheitszuständen ist kein bloßes soziales Konstrukt. Selbst Roth hat eingeräumt, dass der Aufweis neuronaler Bedingtheit subjektiver Erlebniszustände deren Existenz nicht auslöscht (Roth 2004, 31). Singer (2004, 33) spricht von Rechenschaft für bewusste und unbewusste Prozesse.
Ein kognitives System macht sich ein Bild von sich selbst und empfindet sich als entscheidendes Agens. Das Selbst hält sich in sozialer Interaktion für frei, das ist eine soziale Realität. Angesichts der Nichtfeststellbarkeit konkreter Determination ist eine Handlung dem Einzelnen zuzurechnen, die empirisch als nicht festgelegt, sondern frei bestimmt gilt (Hillenkamp 2005, 313 ff.; Schreiber 2006, 1076 f.). Kompetenzen wie Vernunft und Abwägen vertragen sich nicht mit einem einseitigen Determinismus. Die Handlungsdimension kann nicht allein von den determinierten Neurowissenschaften erklärt werden. Der Schuldvorwurf entfällt, wenn außergewöhnliche Umstände in der Person des Täters oder der Tatsituation vorliegen. Sie sind als Ausnahmen („ohne Schuld handelt“) in den gesetzlichen Bestimmungen über die Schuldunfähigkeit bzw. die Schuldausschließungsgründe genannt. Dabei wird die persönliche Situation des Täters nicht etwa ausgeklammert. Sie wird aber nur in generalisierenden Kategorien rechtlich erfasst, wie z. B. der „krankhaften seelischen Störung“, welche die Einsichts- bzw. Steuerungsfähigkeit ausschließen kann.
Merke Schuldfähigkeit wird nicht positiv festgestellt; gefragt wird lediglich, ob entwicklungsbedingte oder sonst abnorme Ausnahmetatbestände vorliegen, welche die allgemein vorausgesetzte Verantwortlichkeit ausschließen oder einschränken. Auf diesem Wege festgestellte strafrechtliche Schuld steht zu „wirklicher“ Schuld im indeterministischen Sinne lediglich im Verhältnis der Analogie (Stratenwerth und Kuhlen 2011, 161). Schuld bleibt dabei auf eine in der Vergangenheit liegende Tat bezogen; sie kann nicht, wie es das Konzept von Haddenbrock (1972a, 68; 1978, 174; 1981, 38) vorsieht, als Strafempfänglichkeit bzw. Sühnefähigkeit und Verantwortungsfähigkeit verstanden werden. Kriterien der
Schuldfähigkeit des Täters sind nicht, dass der Täter vor Gericht durch Darlegung seiner Handlungsmotive und seiner Lebenshaltung auf den Anklagevorwurf antworten kann, d. h. „verantwortungsfähig“ ist, oder dass er sühnefähig, d. h. durch die Sanktion Strafe beeinflussbar ist. Schuld und Schuldfähigkeit beziehen sich auf eine vergangene Tat, für die jemand zur Verantwortung gezogen werden soll (mit Recht kritisch auch Streng 1995, 161; Frister, 1994, 316). Richtig ist allerdings, dass das Maß der Verantwortungsfähigkeit vor Gericht und die Prognose einer künftigen Möglichkeit der Einwirkung durch Strafe eine gewisse Indizfunktion für die Schuldfähigkeit bei der Tat haben können (zutreffend Blau und Franke 1982, 396). Schuld geht dabei nicht in den Zwecken der Prävention auf, sondern bedeutet einen von diesen zu unterscheidenden selbstständigen Aspekt. Die Verschmelzung der Schuld mit der Prävention, wie sie vor allem Roxin (1974, 171; 1979, 279, anders jetzt Roxin 2006, 868 ff.) und Jakobs (1976, 6; 1982, 127; 1991, 18 / 3) verfochten haben, ist nicht möglich. Roxin unterscheidet zwar Schuld und Prävention prinzipiell, verknüpft beide dann aber eng miteinander (Roxin 2006, 85 ff.; kritisch zutreffend Hirsch 1994, 756). Die Deliktsstufe der Schuld meint nach Roxin über das Unrecht hinaus, ob unter kriminalpolitischen Gesichtspunkten gegen den jeweiligen Täter eine Sanktion erforderlich erscheint. Für die Schuld wird damit entscheidend, ob ein strafrechtliches Präventionsbedürfnis besteht. Es – und mit ihm die Schuld – fehlt in spezialpräventiver Perspektive bei mangelnder Motivierbarkeit durch die Norm, in generalpräventiver Sicht, wenn kein Bedürfnis zum Einschreiten zur Sicherung der Ordnung besteht. Noch strikter hat Jakobs in seinem funktionalistisch orientierten Strafrechtssystem die Schuld allein auf Generalprävention zurückgeführt: „Schuld wird durch Generalprävention … begründet und nach dieser Prävention bemessen“ (Jakobs 1976, 9). Die Feststellung von Schuld bei Anwendung des geltenden Strafrechts bestehe in der Begründung des Bedürfnisses zur Bestätigung der Verbindlichkeit dieses Rechts gegenüber dem rechtstreuen Bürger, den Abweichenden in bestimmtem Maße zu bestrafen. Schuld und
Schuldfähigkeit sind wie das rechtliche Subjekt kriminalpolitisch bestimmte Konstrukte zum Zweck der Zuschreibung. Diese erfolgt unter normativen Aspekten. Was Schuld sei, hänge von den jeweiligen Zwecken der Gesellschaft ab, und zwar davon, wie viel soziale Zwänge dem von der Zuschreibung betroffenen Täter angelastet werden und wie viel davon dem Staat bzw. dem Opfer zugemutet würden (Jakobs 1991, 482 ff.). Tragender Strafzweck sei die positive Generalprävention, d. h. die Erhaltung allgemeiner Normanerkennung. Bei der Schuld gehe es daher nicht darum, ob der Täter real eine Verhaltensalternative besessen habe, sondern allein darum, ob es eine staatliche Organisationsalternative innerhalb der für notwendig gehaltenen Generalprävention gebe (Jakobs 1991, 494 ff.). Fehle diese, so werde dem Täter eine Verhaltensalternative zugeschrieben und ihm deren Nichtgebrauch angelastet. Darin bestehe „Schuld“. Nun kann nicht in Abrede gestellt werden, dass präventive Gesichtspunkte bei der Konzeption des gegenwärtig geltenden Schuldstrafrechts eine bedeutsame Rolle spielen. Denn die Schuld wird i. R. eines nach präventiven Zwecken ausgerichteten Strafrechts festgestellt. Die Zuweisung von Schuld wird dabei auch inhaltlich durch präventive Gesichtspunkte mit bestimmt (Roxin 2006, 637 f.). Aber Schuld meint in der Sache gerade anderes als die Prävention; sie knüpft an eine in der Vergangenheit liegende Tat an und fragt nach den Fähigkeiten des Täters bei dieser Tat (Stratenwerth 1977, 45; Rasch 1967, 63; Schreiber 1980, 288; ders. 2006, 1074 ff.). Auch Jakobs will die normative Zuschreibung von einer Fähigkeit abhängig machen. Sie soll sich nach der Stärke des Befunds beim Täter richten. Die rein normativ-generalpräventive Basis, von der aus nur danach gefragt werden könnte, wie eine Zuschreibung auf die Erhaltung der Normtreue der Gesellschaft wirkt, ist damit freilich verlassen (Jakobs 1991, 535). Ähnliche Einwände müssen gegenüber einem generalpräventiv-funktionalen Schuldverständnis erhoben werden, wie es Streng (1995, 162 m. w. N.; 2012, Rn. 872) entwickelt hat. Sieht man von der generalpräventiven Einkleidung ab, so nähert sich Streng praktisch dem hier vertretenen pragmatisch-sozialen Schuldbegriff. Es geht in der Tat um den Grad der Abweichung vom
Normalen, wobei auf das Steuerungs- und Motivationsgefüge abzustellen ist (Streng 1995, 163). So sehr anerkannt werden muss, dass gerade bei einem generalisierend gefassten Schuldbegriff Schuld nicht allein von individualpsychologischen Zuständen, sondern auch von sozial-normativer Bewertung abhängt, so nachdrücklich muss doch auf den antinomischen Charakter von Schuld und Prävention hingewiesen werden. Zutreffend spricht Lackner von einem fundamentalen, nicht immer auflösbaren Spannungsverhältnis der Schuld zum Gedanken der Prävention (Lackner 1985, 245; vgl. LK-Jähnke 1993, § 20 Rn. 4). Bei einer rein funktionalistischen Bestimmung des Schuldbegriffs geht dessen eigentliche soziale Leistung verloren, die Beschränkung der Zuschreibung strafrechtlicher Verantwortlichkeit auf den Bereich dessen, was für den Täter aufgrund von Handlungsalternativen vermeidbar war. Die völlige Normativierung der Schuld und ihre weitgehende Lösung von psychophysischen Fähigkeiten eröffnen prinzipiell beliebige Zuschreibungen und Zugriffe auf den Einzelnen zu nicht begrenzten Zwecken staatlicher Normbekräftigung. Der Bereich der Generalprävention, für den Jakobs die Erwartungshaltung des Durchschnittsbürgers berücksichtigen will, nimmt damit dem bisherigen Schuldverständnis zuzuordnende Elemente durch die Hintertür wieder in sich auf (so mit Recht kritisch Hirsch 1994, 759 ff.). Fassen wir danach das Ergebnis dieses Abschnitts noch einmal zusammen:
Merke Strafrechtliche Schuld bedeutet subjektive Zurechnung rechtswidrigen Verhaltens trotz normativer Ansprechbarkeit (Roxin 2006, 868). Schuld ist eine gemischt empirisch-normative Gegebenheit (LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 26 ff.). Sie ist nicht Fehlgebrauch der Wahlfreiheit im indeterministischen Sinn. Sie ist pragmatisch zu verstehen als Zurückbleiben hinter dem Maß an
Verhalten, das vom Bürger unter normalen Bedingungen erwartet werden kann und erwartet wird. Schuld ist danach Fehlgebrauch eines Könnens, das wir uns wechselseitig für die Praxis unseres individuellen und sozialen Lebens zuschreiben. Ein solcher Schuldbegriff bleibt unterhalb der unlösbaren Alternative von Determinismus und Indeterminismus (Venzlaff 1975, 905), er setzt jedenfalls nicht die der individuellen Feststellung im Strafverfahren unzugängliche Willensfreiheit voraus, sondern lediglich eine normale Bestimmbarkeit des Verhaltens durch soziale Normen.
8.3. System und Inhalt der Bestimmungen über die Schuldfähigkeit im Strafrecht Auf der Grundlage dieses Schuldbegriffs lassen sich die gesetzlichen Bestimmungen über die Schuldfähigkeit bzw. die verminderte Schuldfähigkeit in einer Weise verstehen, die eine Verständigung und Zusammenarbeit zwischen Gericht und psychiatrischem Sachverständigen ermöglicht. Diese Bestimmungen lauten in ihrer seit 1.1.1975 geltenden Fassung:
§ 20 StGB (Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen) Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.
§ 21 StGB (Verminderte Schuldfähigkeit)
Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.
8.3.1. Der Aufbau der Bestimmungen über die Schuldfähigkeit In diesen Bestimmungen wird die Schuldfähigkeit nicht positiv durch bestimmte Merkmale definiert, vielmehr werden negative Umstände genannt, bei deren Vorliegen sie ausnahmsweise nicht gegeben ist („Ohne Schuld handelt … “). Das Recht geht dabei davon aus, dass der Erwachsene im Normalfall schuldfähig ist; Normalität und damit Verantwortlichkeit sind der Regelfall, der nicht näher begründet wird. Käme es auf die individuelle Willensfreiheit im indeterministischen Sinne an, wäre ein solches Verfahren nicht möglich. Es entspricht dem hier vertretenen pragmatischen Schuldbegriff, der auf die normale vorausgesetzte Bestimmbarkeit durch soziale Normen abstellt. Für das Verfahren bedeutet das, dass die Gerichte zunächst, sofern kein Anlass zu Zweifeln besteht, von der Verantwortlichkeit eines Täters als Normalfall ausgehen können. Geben die Umstände dagegen Anlass zu solchen Zweifeln, so muss die Schuldfähigkeit eingehend überprüft werden, i. d. R. mithilfe eines Sachverständigen (BGH, NStZ 1989, 190). Von der Hinzuziehung eines Sachverständigen darf das Tatgericht nur absehen, wenn Anzeichen dafür fehlen, dass der Angeklagte in seiner Schuldfähigkeit beeinträchtigt gewesen sein könnte. Während das bei der schweren Kriminalität, insbesondere den Tötungsdelikten, i. Allg. beachtet wird, geht die Praxis häufig noch bei der leichten und mittleren, insbesondere der Vermögenskriminalität an psychischen Auffälligkeiten vorbei, die Anlass zur näheren Prüfung der Schuldfähigkeitsfrage geben müssten. Pragmatisch wird nicht selten eine verminderte Schuldfähigkeit in Anwendung des In-dubio-proreo-Grundsatzes unterstellt.
Der Ausnahmecharakter der Vorschriften über die Schuldunfähigkeit führt indes nicht dazu, dass eine prozessuale Vermutung der Schuldfähigkeit oder eine Beweisregel bestünde, die dem Angeklagten etwa den Beweis seiner Schuldunfähigkeit auferlegen würde (so schon RGSt 21, 131). Kann die Frage der Schuldfähigkeit nicht geklärt werden und bleiben Zweifel, so ist wegen Schuldunfähigkeit freizusprechen (BGHSt 8, 124, 36, 286 [290]; BGH, StraFo 2016, 252, LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 235; von Oefele 1998, 64). Auch insoweit gilt der Satz „in dubio pro reo“. Andererseits muss für die Frage einer Unterbringung nach § 63 StGB positiv Schuldunfähigkeit oder eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit festgestellt werden (BGHSt 18, 167); eine Unterbringung ist nicht möglich, wenn zweifelhaft bleibt, ob nicht zumindest verminderte Schuldfähigkeit vorliegt. Die §§ 20, 21 StGB verwenden eine gemischte, zweistufige bzw. „zweistöckige“ Methode. Der BGH spricht von Mehrstufigkeit (BGH, NStZ-RR 2019, 134, 135 m. w. N.). Fischer (2019, § 20 Rn. 5) hält es kaum für berechtigt, von einem zweistufigen Modell zu sprechen; § 20 StGB enthalte in Wahrheit keine klare Abgrenzung zwischen zwei Ebenen. Das überzeugt nicht. In einer ersten Stufe werden bestimmte psychische Befunde genannt, in einer zweiten wird auf die Auswirkungen dieser Befunde auf die Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, abgestellt. Dieser „zweistöckige“ Aufbau der §§ 20, 21 StGB wird vielfach als „biologisch-psychologische“ Methode bezeichnet (statt vieler: Kühl 2018Lackner / , § 20 Rn. 1). Dabei handelt es sich weder im ersten Stockwerk um biologische noch im zweiten um psychologische Merkmale. Richtig spricht man von einer „psychischnormativen“ Methode (Jescheck und Weigend 1996, 437, Anm. 19; Rasch 1984, 265), weil es um die Auswirkungen der psychischen Befunde auf die normativ verstandene Fähigkeit des Täters zu Einsicht und Steuerung geht (Rasch 1984, 265; Schreiber 1981, 46; Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 20 Rn. 1). Auch die erste Stufe beschränkt sich freilich nicht auf die bloße Beschreibung psychischer Zustände, sie enthält bereits deutlich selbst normative, wertende Elemente, was sich z. B. an den Worten
„krankhaft“, „tiefgreifend“ und „schwer“ zeigt (Fischer 2019, § 20 Rn. 5). Auch bei den Merkmalen der ersten Stufe handelt es sich um Rechtsbegriffe, deren Feststellung und Anwendung letztlich in der Kompetenz des Gerichts liegt. Sie sind nicht einfach mit einem psychologischen bzw. psychiatrischen System zu erklären, etwa mit einem bestimmten psychiatrischen Krankheitsbegriff, oder in ein solches Denksystem zu übertragen (Rasch 1984, 264). Als Rechtsbegriffe wurden sie allerdings in enger Zusammenarbeit mit Psychiatern und Psychologen im Hinblick auf psychische Daten vom Gesetzgeber entwickelt. Sie nehmen Bezug auf psychiatrische / psychologische Diagnosen und können daher nicht beliebig rein normativ interpretiert werden (weit überzogen daher Jakobs 1991, 523). Die Aufzählung der psychischen Ausnahmezustände in § 20 StGB ist abschließend, eine analoge Erweiterung erscheint nicht möglich (Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 20 Rn. 5). Für eine Analogie besteht aber auch praktisch kein Bedarf, weil die Begriffe der Bewusstseinsstörung und der Abartigkeit weit genug sind, um infrage kommende Phänomene aufzufangen. Diese müssten für eine etwaige Analogie den in § 20 StGB genannten Zuständen jedenfalls gleichwertig sein. Das Gesetz führt auf der ersten Stufe vier Merkmale an: 1. Krankhafte seelische Störung 2. Tiefgreifende Bewusstseinsstörung 3. Schwachsinn 4. Schwere andere seelische Abartigkeit Diese Merkmale bezeichnen den Kreis derjenigen psychischen Zustände, bei denen ein Ausschluss der Schuldfähigkeit in Betracht kommt. Entschieden wird darüber dann auf der zweiten, normativen Ebene, auf der es um die Auswirkungen der genannten Zustände auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit geht. Nicht erforderlich ist, dass jeweils einer der psychischen Zustände für sich allein zur Schuldunfähigkeit führt. Möglich ist vielmehr auch ein kumulatives Zusammenwirken mehrerer psychischer Störungen, z.
B. eines Affekts (Bewusstseinsstörung) auf der Basis einer Neurose (Abartigkeit) und einer Alkoholisierung (krankhafte seelische Störung), die jede nicht für sich allein, sondern erst in ihrer Gesamtheit das Fehlen der Steuerungsfähigkeit bewirken (Rasch 1984, 266).
8.3.2. Die erste Stufe der Bestimmungen über die Schuldfähigkeit: der Krankheitsbegriff Die vier sogenannten psychischen Merkmale der ersten Stufe sind nur richtig zu verstehen, wenn man sie zunächst in ihrer Zuordnung und ihrer Entwicklung in der Reformgesetzgebung betrachtet. An erster Stelle nennt das Gesetz heute die krankhafte seelische Störung; sie hat die frühere Formel „krankhafte Störung der Geistestätigkeit“ abgelöst. Unter Störung ist dabei nicht nur die Beeinträchtigung eines zuvor beim Täter vorhanden gewesenen gesunden Zustands zu verstehen. Damit würden angeborene Krankheiten und Defekte nicht erfasst. Gemeint ist vielmehr nicht nur der nachträglich in die Gesundheit hereinbrechende Defekt, sondern jede Abweichung von einem Normalzustand, mag er auch im konkreten Fall gar nicht bestanden haben. „Störung“ bezeichnet daher den Gegensatz zur Normalität: Der Begriff umfasst erworbene und angeborene, vorübergehende und dauernde Beeinträchtigungen (LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 59). Statt wie das frühere Recht von einer Störung der Geistestätigkeit spricht das Gesetz jetzt von einer seelischen Störung. Damit kommt zutreffend zum Ausdruck, dass es nicht nur um Beeinträchtigungen des „Geistes“ im Sinne des intellektuellen Vermögens, sondern auch um solche des Willens-, Gefühls- und Trieblebens geht (Lenckner 1972, 103; Ehrhardt, Protokolle IV, 652); der gesamte Bereich des Intellektuellen und Emotionellen soll damit abgedeckt sein (Lackner und Kühl 2018, § 20 Rn. 3). In die eigentlich schwierigen normativen Probleme der Schuldfähigkeit und weitreichende, auch die anderen Merkmale der
ersten Stufe betreffende Auseinandersetzungen führt dann die Auslegung des Adjektivs „krankhaft“, mit dem das Gesetz die seelische Störung näher qualifiziert. Ginge man allein objektiv vom Wortlaut und möglichen Wortsinn aus, könnte man darunter alle pathologischen Veränderungen des psychischen Zustands gleich welcher Genese fassen. Der Gesetzgeber hat aber „krankhaft“ anders und enger verstanden, wie sich in der Systematik des § 20 StGB, insbesondere am zusätzlichen Merkmal der „anderen schweren seelischen Abartigkeit“ zeigt, dessen es bei einem weiten Verständnis von Krankhaftigkeit gar nicht bedurft hätte. Nach eindeutiger, aus den Gesetzesmaterialien zu entnehmender Absicht des Gesetzgebers sollten als „krankhafte seelische Störung“ nur diejenigen psychischen Zustände erfasst werden, bei denen der seelische Sinnzusammenhang durch einen sinnfremden körperlichen Krankheitsvorgang erscheint (Begründung Entwurf 1962, 138; LKSchöch 2007, § 20 Rn. 59). Diese Definition geht auf den von dem Psychiater Kurt Schneider entwickelten „psychiatrischen“ Krankheitsbegriff“ zurück, der forensische Psychiatrie, Rechtswissenschaft und Praxis in der Nachkriegszeit zeitweise wesentlich bestimmt hat und noch heute fortwirkt. Krankhaft sind danach nur diejenigen psychischen Störungen, die auf nachweisbaren oder zumindest postulierten organischen Prozessen beruhen (Schneider 1948, 3 ff.; ders. 1971, 11 f.). Sie sind als qualitativ abnorm zu unterscheiden von den anderen, bloß quantitativ abnormen, nicht körperlich begründbaren psychischen Zuständen, den „Spielarten seelischen Wesens“ (Schneider 1959, 9), die noch i. R. sinnvoller, verstehbarer Erlebniszusammenhänge bleiben. Kurt Schneider ging dabei als „Agnostiker“ davon aus, dass empirisch-wissenschaftlich begründbare Aussagen über das zweite Stockwerk, die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit, nicht möglich seien, weil sie das aporetische, nicht zu entscheidende Problem der Willensfreiheit beträfen (Schneider 1959, 23 f.). Die Frage der Schuldunfähigkeit sollte daher bereits auf der ersten Stufe dadurch praktisch entschieden werden, dass die Exkulpation auf bestimmte medizinisch begrenzbare Krankheitszustände beschränkt wurde. Das waren im Wesentlichen Geisteskrankheiten im engeren Sinn, die
exogenen und endogenen Psychosen. Nicht als Krankheiten in diesem Sinne angesehen werden sollten dagegen alle anderen psychischen Beeinträchtigungen, insbesondere Psychopathien, Neurosen und Triebstörungen, die lediglich abnorme Spielarten menschlichen Wesens und gegenüber dem Normalen bloß quantitative Abweichungen darstellten (LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 52 ff.). Auf tatsächliche bzw. vermutete organische Ursachen der Erkrankungen wurde dabei nicht unter rein medizinischen Aspekten abgestellt, sondern entscheidend unter juristisch-normativen. Der maßgebliche Wertgesichtspunkt war dabei die Vorstellung, dass ein körperlicher Prozess der steuernden Beeinflussung durch den Menschen regelmäßig nicht zugänglich ist, der verantwortlichen Verfügung durch das Subjekt nicht unterliegt und daher schicksalhaft ist (Lange 1963, 15). Mit der Feststellung einer Psychose sei i. d. R. eine derart weitgehende Erschütterung des Persönlichkeitsgefüges indiziert, dass die normale Einsichts- und Motivationsfähigkeit ohne weiteres ausgeschlossen erscheinen müsse (Krümpelmann 1976, 17 m. w. N.). Der sogenannte psychiatrische Krankheitsbegriff ist also in der Sache alles andere als ein rein medizinisch-psychiatrischer; vielmehr ist er unter Verwendung medizinischer Kategorien für spezifisch rechtliche Zwecke gebildet. Zutreffend weist Krümpelmann (1976, 17) darauf hin, dass der psychiatrische Krankheitsbegriff seine beherrschende Stellung im System des § 20 StGB der weitgehenden Entlastung der zweiten, psychologisch-normativen Stufe verdankt. Die Rechtsprechung war über diesen engen „psychiatrischen“ Krankheitsbegriff hinausgegangen und hatte einen eigenen, sogenannten „juristischen“ Krankheitsbegriff entwickelt. Er umfasste „nicht nur alle Geisteskrankheiten im klinischen, psychiatrischen Sinne, sondern alle Arten von Störungen der Verstandestätigkeit sowie des Willens-, Gefühls- oder Trieblebens, welche die bei einem normalen und geistig reifen Menschen vorhandenen, zur Willensbildung befähigenden Vorstellungen und Gefühle beeinträchtigen“ (BGHSt 14, 32, 23, 176 [Fall Bartsch]; in gleiche Richtung schon RGSt 73, 121).
Die Strafrechtsreform wollte demgegenüber wegen der angenommenen Gefahr eines „Dammbruchs“ bzw. „Erdrutsches“ von Freisprüchen wegen Schuldunfähigkeit den engeren psychiatrischen Krankheitsbegriff wiederherstellen und damit zur „an sich erwünschten Einschränkung des juristischen Krankheitsbegriffs“ führen (BT-Drs. V / 4095, 10; Horstkotte, Protokolle V, 244 ff.). Als „krankhafte seelische Störung“ sollte daher in Aufnahme von Kurt Schneiders Definition nur ein Zustand gelten, der von körperlichen Krankheitssymptomen begleitet ist. Die von der Rechtsprechung weiter genannten nicht körperlich begründbaren Störungen sollten von dem neu in der ersten Stufe hinzutretenden Merkmal der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ aufgenommen werden (Horstkotte, Protokolle V, 244; Schwalm, Protokolle IV, 636). Diese sollten aber grundsätzlich nicht zur Schuldunfähigkeit, sondern nur zu verminderter Schuldfähigkeit führen können. Das war das Ziel der vom Entwurf 1962 (§ 25) vorgesehenen „differenzierenden Lösung“, welche die „Abartigkeit“ als sogenanntes biologisches Merkmal nicht für die Schuldunfähigkeit in § 20 StGB, sondern allein in § 21 StGB für die als bloße Strafzumessungsregel verstandene verminderte Schuldfähigkeit erscheinen ließ. Dafür waren, wie die Gesetzesmaterialien zeigen, kriminalpolitische Überlegungen, insbesondere die Befürchtung einer Auflösung des Schuldstrafrechts durch die zu weit gehenden Exkulpierungstendenzen in der Rechtsprechung, maßgeblich (zur Entwicklung näher Schreiber 1981, 47). Gefahren sah man insbesondere in einer etwaigen Einbeziehung von Psychopathien und Neurosen als Voraussetzung von Schuldunfähigkeit (Ehrhardt, Protokolle IV, 649). Im Gesetzgebungsverfahren setzte sich dann gegenüber der differenzierenden die sogenannte „Einheitslösung“ durch, die für die §§ 20 und 21 StGB die gleichen psychischen Merkmale brachte, also auch die schwere andere seelische Abartigkeit als mögliche Voraussetzung der Schuldunfähigkeit in § 20 StGB nannte. Maßgeblich war dafür, dass nach Meinung der angehörten Sachverständigen in einer geringen Zahl von Fällen hochgradiger, nicht körperlich bedingter psychischer Anomalien – man sprach von
ca. 2 % – auch völlige Schuldunfähigkeit in Betracht käme (Nachweis bei Horstkotte, Protokolle V, 244). Die von psychiatrischer Seite speziell für diese Grenzfälle vorgeschlagene Überschreitung des Krankheitsbegriffs sah der Gesetzgeber als mit der gebotenen konsequenten Verwirklichung des Schuldstrafrechts, für dessen Glaubwürdigkeit die Regeln über die Schuldfähigkeit ein Gradmesser seien, nicht vereinbar an (BT-Drs. V / 4095, 10). Im Ergebnis ist danach wegen der Einheitslösung das mit der Einführung des sogenannten psychiatrischen Krankheitsbegriffs erstrebte kriminalpolitische Ziel nicht erreicht worden; die Gesetzesänderung hat im Grunde nur terminologische Bedeutung (Lenckner 1972, 115). Das Gesetz hat zwar die „krankhafte seelische Störung“ auf somatisch bedingte Prozesse reduziert, die angestrebte begrenzende Funktion des Krankheitsbegriffs ist aber durch die Aufnahme des Merkmals der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ unter die Indikatoren für eine Exkulpierung wieder hinfällig geworden (Schreiber 1981, 48). Praktisch ist es nur zu einer Aufspaltung der früher im Gesetz genannten „krankhaften Störung der Geistestätigkeit“ in die Merkmale der „krankhaften seelischen Störung“, der „Abartigkeit“ sowie der weiter genannten „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“ und des „Schwachsinns“ gekommen (Wolfslast 1981, 466). Versuche, mithilfe des Krankheitsbegriffs diese anderen Merkmale des psychischen Stockwerks zu begrenzen, sind verfehlt. Das gilt insbesondere für das Kriterium des Krankheitswertes. Es wird von der Rechtsprechung (bereits im Entwurf 1962) verwendet, um einen Beurteilungsmaßstab für die erforderliche Schwere nicht i. e. S. krankhafter, sogenannter normalpsychologischer Störungen zu haben (BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit, 6, 9; BGHSt 37, 397; LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 42 ff.). Seine Brauchbarkeit ist aber zweifelhaft, weil er zum Vergleich von bestimmten Krankheitssymptomen mit anderen Störungen unterschiedlicher Art führt. Auch wenn man den „Krankheitswert“ als reinen Maßbegriff versteht, der nur das Gewicht und nicht die Art der Störung umschreibt, sollte er nicht verwendet werden. Er geht von der Krankheit als dem definierten Maß aus, an dem andere Zustände
gemessen werden können, und liefert daher keine geeigneten Kriterien für die im Bereich der Schuldfähigkeit erforderliche Beurteilung der Schwere anderer Störungen (LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 64 m. w. N.; Nedopil 2000, 837 ff.). Das Gesetz hat mit der „krankhaften seelischen Störung“ zwar nicht nach dem Wortlaut, aber nach den Grundsätzen historischer Auslegung, die sich am Willen des Gesetzgebers orientieren, einen am Organprozess orientierten Krankheitsbegriff vorerst festgeschrieben. Dieser Krankheitsbegriff ist sachlich unhaltbar und überholt; er erscheint als Kriterium für die normativen Zwecke des Strafrechts unbrauchbar. Entgegen der Annahme auf juristischer Seite während des Gesetzgebungsverfahrens war er in der Psychiatrie durchaus nicht im Wesentlichen unbestritten (so aber Horstkotte, Protokolle V, 244). Vielmehr wurde er von der klinischen Psychiatrie überwiegend nicht akzeptiert, sondern war auf einen kleinen Kreis forensischer Psychiater beschränkt (Venzlaff 1976, 57). Mit der klinischen Realität ist er nicht in Einklang zu bringen (Mende 1979, 312). Es ist nicht möglich, als eigentlich krankhafte, die körperlich begründbaren bzw. postulierten Störungen von den nicht körperlich begründbaren „Spielarten seelischen Wesens“ anhand des Kriteriums der Zerstörung der „Sinngesetzlichkeit des Daseins“ zu unterscheiden. „Sinngesetzlichkeit des Daseins“ stellt, wie Venzlaff (1976, 58) zutreffend bemerkt, vielleicht eine ansprechende Formel dar, nicht aber eine wissenschaftlich handhabbare Größe, mit deren Hilfe die Zuordnung zur Gruppe der Krankheiten oder der bloßen „Spielarten“ bestimmt werden könne.
Merke Die Schwere seelischen Krankseins lässt sich nicht am Vorliegen sie verursachender bzw. begleitender körperlicher Befunde messen, sondern kann allein unter psychopathologischen Gesichtspunkten bestimmt werden (Janzarik 1972, 647).
Für wichtige psychische Erkrankungen ist bisher kein körperlicher Befund entdeckt worden, der sie erklären könnte. Die Diagnose wird bei diesen Erkrankungen nicht nach körperlichen Symptomen, sondern nach dem psychopathologischen Befund gestellt (Rasch 1984, 265). Auch außerhalb der körperlich begründeten und der endogenen Psychosen gibt es in der Psychiatrie eine große Zahl krankhafter Zustände, die teilweise weit stärkere Auswirkungen auf die Persönlichkeit und das Verhalten haben als die genannten Psychosen (Venzlaff 1976, 58). Andererseits besitzen viele im Körperlichen begründete Symptome häufig nur geringes Gewicht in der Pathogenese. Es gibt keinen wissenschaftlichen Beweis dafür, dass somatisch begründete Psychosen das Verhalten eines Menschen stärker beeinflussen als etwa eine Neurose oder ein Affekt. Der normative Gesichtspunkt, der im Hinblick auf die Schuldfähigkeit zur Bildung des psychiatrischen Krankheitsbegriffs geführt hatte, nämlich die Schicksalhaftigkeit und Unbeeinflussbarkeit eines Krankheitsablaufs durch den Menschen, trägt die Beschränkung auf körperliche Krankheitsprozesse nicht. Für die Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit kann es auf eine nachgewiesene oder hypothetisch angenommene körperliche Verursachung einer psychischen Verhaltensstörung nicht ankommen. Maßgeblich kann vielmehr auf der Basis des oben entwickelten pragmatischen Schuldbegriffs nur sein, wie weit die als normal vorausgesetzte Bestimmbarkeit des Täters durch soziale Normen durch eine psychische Störung beeinträchtigt ist. Der psychiatrisch-körperliche Krankheitsbegriff kann sich daher nur ausschnittsweise mit den für die Schuldfähigkeit relevanten krankhaften Störungen decken (Janzarik 1972, 646; LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 53 ff.). Für das Recht ist er danach unbrauchbar; er vermag die angestrebte Entlastung der zweiten, normativen Stufe des § 20 StGB nicht zu leisten (Krümpelmann 1976, 16 f.). Entscheidend muss es auf die Auswirkungen der jeweiligen psychischen Störung auf die Einsichtsund Steuerungsfähigkeit ankommen. Der Psychiater kann sich, wenn er dem Richter bei der Feststellung der Schuldfähigkeit helfen soll, den Rückzug auf den somatischen Krankheitsbegriff nicht leisten.
Danach ist festzuhalten, dass der tradierte „psychiatrische“ Krankheitsbegriff als Kriterium für die Schuldfähigkeit unbrauchbar und überholt erscheint. Das könnte dazu Anlass geben, die Auslegung der §§ 20, 21 StGB von ihm zu lösen. Der isolierte Wortlaut des Begriffs „krankhafte seelische Störung“ böte dafür durchaus Raum. Psychische Krankheitszustände aller Art könnten darunter verstanden werden. Andererseits hat der psychiatrische Krankheitsbegriff Eingang in das Gesetz gefunden. Das ergibt sich nicht nur eindeutig im Wege historischer Auslegung aus den Gesetzesmaterialien, die den Willen des Gesetzgebers erkennen lassen, sondern auch aus dem Wortlaut des ersten „Stockwerks“, in dem die anderen Anomalien gesondert aufgeführt und der krankhaften seelischen Störung gegenübergestellt werden (Lenckner 1972, 115). Der Wortlaut des Gesetzes blockiert danach weiter die Entwicklung eines einheitlichen Krankheitsbegriffs und gibt Veranlassung zur Verwendung des überholten Krankheitsbegriffs bei der Auslegung des Begriffs „krankhaft“. Er hindert eine stimmige Systematik. Die übrigen für die Schuldfähigkeit relevanten psychischen Störungen und Anomalien sind den anderen drei Merkmalen der ersten Stufe der §§ 20, 21 StGB, d. h. der „Bewusstseinsstörung“, dem „Schwachsinn“ und besonders der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ zuzuordnen und unter den für sie geltenden Gesichtspunkten zu beurteilen. Es fragt sich, welche Bedeutung die neueren in der Psychiatrie entwickelten diagnostischen Klassifikationssysteme für die Schuldfähigkeitsdiagnose haben. In Betracht kommen hier einmal das von der American Psychiatric Association (APA) entwickelte Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders in der aktuellen 5. Auflage (DSM-5), das von einem mehrachsigen System ausgeht (DSM-5, 2013) sowie der von der WHO erarbeitete Diagnosenschlüssel International Classification of Diseases in der 10. Fassung (ICD-10), der Störungsbilder anhand operationaler Kriterien zuordnet (zu beiden Systemen Nedopil 1996, 17). Die ICD10, die durch die ICD-11 abgelöst werden wird, liegt in einer deutschen Fassung vor (ICD-10-GM Version 2019).
In der psychiatrischen Praxis und z. T. auch in der forensischen Psychiatrie wird heute bei Diagnosen und ihrer Einordnung vorwiegend die ICD-10 verwendet. Die zu beobachtenden Zustandsbilder werden deskriptiv anhand einer Symptomliste zugeordnet (Konrad und Rasch 2014, 213; Nedopil 1996, 71). Grundbegriff ist die „Störung“. Mit Ausnahme von Intoxikation und Störungen mit organischen Ursachen wird auf eine ursachenabhängige Zuordnung verzichtet; es bleibt bei einer Symptomauflistung. Die ICD-10 versteht sich dabei auch als klinisches Manual und diagnostisches Lehrbuch, das die Merkmale der verschiedenen psychischen Störungen darstellt. Mit den gesetzlichen Merkmalen der ersten Stufe der §§ 20, 21 StGB haben sie unmittelbar nichts zu tun. Wie das DSM-5 verzichtet die ICD-10, anders als das Gesetz, auf den Begriff „Krankheit“; die dortigen deskriptiv-klassifikatorischen Diagnosen dürfen nicht mit Kranksein gleichgestellt werden (Kiesewetter 2010, 319). Die Berufung auf eine Diagnose nach ICD-10 oder DSM-5 genügt nicht für die Entscheidung über die Zuordnung zu den Merkmalen der ersten und zweiten Stufe der §§ 20, 21 StGB. Für die rechtliche Beurteilung der Schuldfähigkeit hat die Klassifikation nach der ICD10 keine Verbindlichkeit (BGHSt 37, 397 [401]; 49, 45 [54]), auch wenn deren Bedeutung in der Gerichtspraxis zunimmt (SSW-StGBKaspar 2019, § 20 Rn. 15). Die ICD-10 zählt lediglich Störungen auf und ordnet sie. Sie beruht auf statistischen Auswertungen (Simmert 2017, 497). Es handelt sich um eine deskriptive Zuordnung von Symptomkonstellationen (Fischer 2019, § 20 Rn. 7a). Eine Aussage dahin, dass die Schuldfähigkeit eines Täters im Sinne der §§ 20, 21 StGB berührt sein kann, trifft die ICD-10 nicht (BGH, NStZ 1997, 383). Die Aufnahme eines bestimmten Krankheitsbildes in den Katalog entbindet den Sachverständigen und das Gericht daher nicht davon, konkrete Feststellungen zu Art und Ausmaß der vorhandenen Störung zu treffen und ihre Auswirkungen auf die Tat darzulegen (BGH a. a. O.). Mit Recht warnen Konrad und Rasch (2014, 213 f.) vor einem unkritischen Gebrauch des DSM-5 und der ICD-10. Darin werden
Diagnosen nach bloßer Abprüfung einer Checkliste erstellt. Konrad und Rasch befürchten, es könne in der forensischen Situation zur Posse geraten, wenn psychologiebeflissene Juristen begännen, den Sachverständigen wie in einem Quiz auf das Vorliegen dieser oder jener Symptome abzufragen, die der Proband nach dem im Diagnoseschlüssel enthaltenen Item-Katalog haben müsse. Die in beiden Manualen genannten Kriterien sind selbst unscharf und interpretationsbedürftig. Das sollte aber nicht daran hindern, die ICD-10 oder das DSM-5 als Ausgangspunkt für die als Grundlage der ersten psychischen Stufe der §§ 20, 21 StGB dienende Diagnose heranzuziehen. Dann aber ist es erforderlich, sich ein Bild von Entstehung, Verlauf und Prognose des infrage stehenden Zustands zu machen, um den Einfluss dieses Zustands auf das Verhalten prüfen zu können (Konrad und Rasch 2014, 214; Kröber 1998, 80). Inkonsequent erscheint der Versuch von Konrad und Rasch, ICD-10Diagnosen unter Zuordnung zu den Merkmalen der §§ 20, 21 StGB in ihrem Buch abzudrucken (Konrad und Rasch 2014, 218 ff.); das könnte wie ein Katalog für die Schuldfähigkeitsbegutachtung verwendet werden. Vielleicht kann der Diagnosenschlüssel, wenn man sich zunächst an ihm orientiert, zur Ordnung der für die Schuldfähigkeitsbeurteilung in ihrer ersten Stufe erforderlichen Feststellung psychischer Störungen beitragen und als Grundlage für die Verständigung mit dem Psychiater dienen, über welche Krankheiten und Störungsbilder man spricht. Die an die ICD-10 oder das DSM-5 angelehnten Diagnosen können nur ein erster Schritt auf dem Weg zu einer für die Schuldfähigkeitsbeurteilung relevanten Störungsdiagnose sein (für ein sogenanntes mehraxiales Modell mit beiden Diagnosemanualen als Ausgangspunkt auch Nedopil 1996, 72; für unverzichtbar hält diese Plate 2001 Plate 2001, 129). Das Merkmal „krankhafte seelische Störung“
Merke
Unter „krankhafter seelischer Störung“ sind alle somatisch bedingten psychischen Erkrankungen sowie diejenigen zu verstehen, bei denen eine körperliche Ursache postuliert wird (so die h. M.; vgl. statt vieler: Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 20 Rn. 6 f.; Lackner und Kühl 2018, § 20 Rn. 3; Jescheck und Weigend 1996, 437). Dazu werden zum einen die exogenen Psychosen gerechnet, d. h. Störungen mit einer hirnorganischen Ursache wie Psychosen nach Hirnverletzungen, Intoxikations- und Infektionspsychosen, Epilepsie (BGH, NJW 1995, 795), Stoffwechseldefekte, Hirntumoren, hirnorganisch bedingter Persönlichkeitsabbau, u. a. bei Arteriosklerose (vgl. Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 20 Rn. 10). Des Weiteren werden hier die endogenen Psychosen eingeordnet, bei denen körperliche Ursachen zwar angenommen werden, bisher aber nicht nachgewiesen sind. Dabei handelt es sich um Störungen aus dem Formenkreis der Schizophrenie (BGH, NStZRR 2019, 134, 135), der Zyklothymie und der manisch-depressiven Erkrankungen (Fischer 2019, § 20 Rn. 9; BGH, NStZ-RR 1998, 5). Ihre Gleichstellung mit den exogenen Psychosen wird damit gerechtfertigt, dass sie den Kern der Persönlichkeit und die Fähigkeit zu sinnvollem Handeln in gleicher Weise beeinträchtigen (BT-Drs. IV / 650, 138). Teilweise wird angenommen, dass auch psychoseähnliche Wahnentwicklungen, bei denen die Differenzialdiagnose zwischen Psychose und abnormer Persönlichkeitsreaktion zweifelhaft bleibt, als krankhafte seelische Störung anzusehen seien (Witter 1978, 667). Seit der Einführung des Merkmals der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ kommt es darauf nicht mehr entscheidend an, weil diese Störungen jedenfalls darunterfallen würden. Auch Rauschzustände, z. B. aufgrund erheblichen Alkoholgenusses oder bei Drogenmissbrauch, gehören zu den krankhaften seelischen Störungen, da sie medizinisch eine
körperliche Vergiftung darstellen (Lackner und Kühl 2018, § 20 Rn. 4; SSW-StGB-Kaspar 2019, § 20 Rn. 28). Umstritten ist, ob auch der sogenannte „normale“ Alkoholrausch dazu gehört, der früher überwiegend als Bewusstseinsstörung eingeordnet wurde. Für die Behandlung als krankhafte seelische Störung spricht, dass es sich um eine somatisch wirkende Intoxikation handelt (Ehrhardt, Protokolle IV, 654; Fischer 2019, § 20 Rn. 11). Es kommt bei alkoholischen Zuständen vielfach weniger zu Bewusstseinsveränderungen als vielmehr zu Einflüssen auf Stimmung und Kritikfähigkeit (Rasch 1984, 266). Wesentlich ist, dass Trunkenheit die Schuldfähigkeit dann beeinträchtigt, wenn sie einen solchen Erheblichkeitsgrad erreicht, dass die Fähigkeit zu normgemäßer Motivation betroffen ist (SK-Rogall 2017, § 20 Rn. 14). Die Blutalkoholkonzentration (BAK) ist dabei von wesentlicher Bedeutung. Ab einem Schwellenwert der BAK von 2 ‰ besteht regelmäßig Anlass zur Prüfung einer krankhaften seelischen Störung durch einen akuten Alkoholrausch im Sinne von § 21 StGB. Dass dies bei schwerwiegenden Gewalttaten gegen Leib oder Leben des Opfers mit Rücksicht auf die höhere Hemmschwelle erst ab 2,2 ‰ gegeben sein soll, wird von der Rechtsprechung (BGHSt 43, 66 ff.) angenommen. Mit Recht wird dies von Konrad und Rasch (2014, 366) als kurios bezeichnet: Situationen, in denen Gewalt angewendet wird, lassen sich nicht in Promilleeinheiten fassen. Mögliche Steuerungsunfähigkeit soll ab einer BAK von ≥ 3,0 ‰ Anlass zu einer Prüfung der Schuldunfähigkeit im Sinne von § 20 StGB geben. Diese Schwellenwerte schließen nicht aus, dass die Voraussetzungen der Schuldunfähigkeit bzw. der erheblich verminderten Schuldfähigkeit schon bei niedrigeren Blutalkoholwerten erreicht sein können, wenn weitere Umstände wie Affekte, Hirnschäden oder alkoholbedingte Ausfallerscheinungen hinzutreten (Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 20 Rn. 16c m. w. N.). Lebhaft umstritten zwischen Rechtsprechung und Schrifttum war die Bedeutung des Schwellenwertes von 2 ‰. Der BGH sprach ihm maßgebliche Bedeutung und eine praktisch unwiderlegbare Indizfunktion für verminderte Schuldfähigkeit zu und ließ
psychopathologische Kriterien anhand des Täterverhaltens nur ausnahmsweise zur Entkräftung dieser Indizwirkung zu (BGHSt 37, 231; zur Entwicklung dieser Rechtsprechung Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 20 Rn. 16a). Diese „schematisierende Promillediagnostik“ wurde von der Literatur überwiegend kritisiert (Blau 1988, 210). Die Rechtsprechung stützte ihre Ansicht vor allem auf das behauptete Fehlen verlässlicher psychopathologischer Beurteilungskriterien, das es erforderlich machte, auf die Indizfunktion der BAK zurückzugreifen (BGH a. a. O.; kritisch Lackner und Kühl 2018, § 21 Rn. 3). Später hat der BGH seine Rechtsprechung geändert und anerkannt, dass es keinen gesicherten medizinisch-statistischen Erfahrungssatz darüber gebe, dass ohne Rücksicht auf psychodiagnostische Beurteilungskriterien allein wegen einer bestimmten BAK zur Tatzeit i. d. R. vom Vorliegen einer alkoholbedingten erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit auszugehen sei (BGHSt 43, 66 ff., vorhergehender Anfragebeschluss des Senats an die anderen Senate des BGH mit eingehender Darstellung der verschiedenen Positionen, der Rechtsprechung sowie medizinischer und juristischer Literatur, NStZ 1996, 592). Dabei ist die Relevanz des Alkoholisierungsgrades umso geringer, je mehr sonstige aussagekräftige Merkmale als Beweiszeichen zur Verfügung stehen (BGHSt 57, 247 [252]). Der BGH folgt damit den Stellungnahmen in der forensischen Literatur (vgl. die Zusammenstellung bei Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 20 Rn. 16b ff.; Kröber NJW 1996, 569 ff.), wonach bei der erforderlichen Gesamtwürdigung u. a. der Tatablauf und die Tatumstände sowie aussagekräftige psychodiagnostische Kriterien zu berücksichtigen seien. Ob hierzu das Erinnerungsvermögen und die Alkoholgewöhnung gehören, ist umstritten. Von Bedeutung als Beweisanzeichen soll aber ein umsichtiges Reagieren auf unvorhergesehene Situationsveränderungen und eine außergewöhnliche Körperbeherrschung sein. Zu berücksichtigen sind weiter Orientierungsstörungen, Situationsverkennung und Bewusstseinsstörungen (Konrad und Rasch 2014, 368 ff.; ausführlich Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 20 Rn. 16b ff.;
Fischer 2019, § 20 Rn. 17b). Planmäßiges und folgerichtiges Verhalten soll dagegen einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit nicht entgegenstehen (BGH, NStZ 1992, 78). Das Merkmal „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“ Als zweites Merkmal nennt das Gesetz die „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“.
Merke Darunter wird eine Trübung bzw. teilweise Ausschaltung des Selbstbzw. Außenweltbewusstseins verstanden, also die Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Vergegenwärtigung des intellektuellen und emotionellen Erlebens (SSW-StGB-Kaspar, 2019, § 20 Rn. 52; LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 61). Fehlt das Bewusstsein völlig, so liegt bereits kein tatbestandsmäßiges, vorsätzliches oder fahrlässiges Verhalten vor. „Störung“ ist eine Desorientierung, die das Bewusstsein nicht überhaupt aufhebt, sondern es eingeengt belässt. Nach der Systematik des Gesetzes gehören krankhafte, körperlich bedingte Störungen des Bewusstseins nicht hierher, sondern in den Bereich der krankhaften seelischen Störung. Das Merkmal umfasst vielmehr nur nicht krankhafte, d. h. sogenannte „normalpsychologische“ Störungen (Wolfslast 1981, 467). Sie werden vor allem als Verlust der Klarheit (Helligkeitsdimension), als Einengung (räumliche Dimension) und als Veränderung der Verhaltenssteuerung und Selbstbestimmung (Verhaltensdimension) umschrieben (Wegener 1981, 79). Genannt werden in Literatur und Rechtsprechung u. a. Schlaftrunkenheit, Erschöpfung, Übermüdung, nicht krankhafte Dämmerzustände, hypnotische Zustände und hochgradige Affekte (Zusammenstellung u. a. bei Fischer 2019, § 20 Rn. 28 m. w. N.). Dabei kommt es auf den psychischen Befund an; es bedarf nicht der zusätzlichen Feststellung eines krankhaften oder
abnormen körperlichen Zustands. Vielmehr kann es auch ohne derartige „konstellative Faktoren“ zum Verlust der Selbstbestimmung, des Wissens um das eigene Sein und die Beziehungen zur Umwelt kommen, und es kann die Orientiertheit verlorengehen (BGHSt 11, 20; Wegener 1981, 81). Das schließt andererseits nicht aus, dass körperlich oder psychisch konstellative Faktoren für die gutachterliche Diagnose wichtige Indizien darstellen können (Rasch 1980, 1314; Wegener 1981, 86). In Betracht kommen dabei vor allem für sich allein noch nicht relevante Faktoren wie Alkoholisierung, Übermüdung, neurotische Fehlhaltungen sowie erlebnisreaktive Entwicklungen (Mende 1979, 320). Das Gesetz qualifiziert die Bewusstseinsstörung dahin, dass sie „tiefgreifend“ sein müsse. Dieses Wort ist erst während der Ausschussberatungen eingefügt worden, der Entwurf 1962 hatte hier das Adjektiv „gleichwertig“ vorgesehen, bezogen auf die zuvor genannte krankhafte seelische Störung. Bedenken ergaben sich deshalb, weil man aufseiten der Psychologie befürchtete, dass damit auf einen „Krankheitswert“ abgestellt werden und eine Parallelisierung hinsichtlich Genese und Erscheinungsformen zum engen Krankheitsbegriff der forensischen Psychiatrie erfolgen solle (Lenckner 1972, 112). Man einigte sich schließlich auf das einschränkende Adjektiv „tiefgreifend“. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass die Störung über den Spielraum des Normalen hinausgehen und einen solchen Grad erreicht haben müsse, dass das seelische Gefüge des Betroffenen zerstört bzw. erheblich erschüttert ist (BT-Drs. V / 4095, 11). Es kommen nur Störungen des Bewusstseins in Betracht, die in ihrer Auswirkung – nicht in ihrer Erscheinungsform – von solcher Stärke sind, dass sie wie eine Psychose die Fähigkeit des Täters zu sinnvollem, normgemäßem Handeln infrage stellen (Lenckner 1972, 117). Die Rechtsprechung verwendet dafür – ebenso wie auch bei der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ – weiter die Kategorie des Krankheitswertes. Damit sollen nicht Krankes und Gesundes verglichen werden (etwa Symptome einer hirnorganischen Erkrankung mit dem Zustand hoher affektiver Erregung); vielmehr
handele es sich, so der BGH, um einen Maßbegriff, der die Schwere und das Gewicht, nicht aber die Art der Störung vergleiche (BGHSt 34, 22 [25]; 35, 200 [207]; 37, 397 [401]). Man sollte das Kriterium des Krankheitswertes aber nicht verwenden. Es ist missverständlich, weil es naheliegt, die qualitativen Unterschiede zwischen krankhaften und nicht krankhaften Beeinträchtigungen zu verwischen. Das gilt auch für die Verwendung als Maßbegriff, weil Ausmaß und Wirkungen einer Krankheit keine derart feststehenden Größen sind, an denen das Gewicht einer Bewusstseinsstörung gemessen werden könnte. Man ersetzt mit dem „Krankheitswert“ nur eine Unbekannte durch eine andere (LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 64). Der Krankheitswert einer Störung bietet keinen sinnvollen Bestimmungspunkt (Fischer 2019, § 20 Rn. 29). Dieser Begriff ist zudem in den Psychowissenschaften umstritten und gilt als überholt (Streng 1995, 124). Den in foro bedeutsamsten, aber auch schwierigsten Anwendungsfall der Bewusstseinsstörung bildet die Affekttat. Strittig ist hier vieles: ob ein sogenannter normalpsychologischer Affekt ohne die Basis organischer oder psychotischer Prozesse überhaupt zur Exkulpierung des Täters führen kann (verneinend Gruhle 1948, 14 ff.; einschränkend auch Bresser 1978, 1190); wann ein solcher Affekt vorliegt; wie schwer er sein muss, um zur Schuldunfähigkeit bzw. zu ihrer Verminderung zu führen; anhand welcher Kriterien und mit welchen diagnostischen Mitteln er festzustellen ist. Weitgehende Einigkeit besteht heute im Anschluss an die forensische Psychiatrie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts (Hoche 1934, 313) und in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung (BGHSt 11, 20 ff.), dass es zur Relevanz eines Affekts nicht eines krankhaften oder abnormen organischen Zusatzbefundes bedarf. Übereinstimmung findet man auch dahingehend, dass andererseits alltägliche psychische Situationen affektiver Erregtheit nicht ausreichen, sondern dass es um seltene Zustände aufgehobener Einsichts- bzw. Steuerungsfähigkeit geht, die der „Besonnenheit“ als dem höchsten Grad des intakten Bewusstseins diametral gegenüberstehen (Wegener 1981, 81;
Rasch 1967, 85). Die Kommentarliteratur spricht in Anlehnung an die Begründung zum Entwurf 1962 (S. 139) von ganz besonderen Ausnahmefällen, in denen wegen eines Zustands höchster Erregung das seelische Gefüge des Täters zerstört sei (Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 20 Rn. 15). Venzlaff will Schuldunfähigkeit nur bei einem sehr kleinen Kreis von Tätern in Betracht ziehen, bei denen sich die Tat als Produkt einer u. U. jahrelangen krisenhaften Entwicklung bei einer besonders strukturierten Persönlichkeit ohne eigentliche kriminelle Tendenzen erweise. Er fordert für die Aufhebung oder Verminderung der Schuldfähigkeit eine die Handlungsdeterminanten weitestgehend oder völlig ausschaltende, kumulativ-krisenhafte abnorme Entwicklung in Richtung eines Durchbruchs archaisch-destruktiver Handlungsmuster (Venzlaff 1976, 62 f.). Neuere Bemühungen gelten den diagnostischen Kriterien und Methoden für den Schweregrad eines Affekts und seine Auswirkungen auf das seelische Gefüge in der Tatsituation. Kritisch werden die vielfach verwendeten Kriterien der Sinnlosigkeit und Persönlichkeitsfremdheit einer Tat sowie der Erinnerungslücke beurteilt (Rasch 1980, 1039). Erforderlich ist eine Gesamtbetrachtung, die sowohl die zur Tat hinführende Entwicklung als auch die Tat selbst in den Modalitäten ihres Ablaufs in die Beurteilung einbezieht (BGH, NStZ 1995, 539; LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 132). Die Bedeutung dieser beiden Elemente wird unterschiedlich bewertet (Krümpelmann 1987, 191). Von Bedeutung sind u. a. die persönliche Entwicklung des Probanden, seine körperlichen und psychischen Ausgangsbedingungen sowie exogene Einflüsse wie Alkohol und Rauschmittel. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf den Aufbau der Affektsituation sowie die auf sie zulaufende Entwicklung, die vorhandenen Möglichkeiten der Distanzierung und kritischen Reflexion der Situation, eine umfassende Persönlichkeitsdiagnostik, das Verhalten unmittelbar vor, während und nach der Tat (Rasch 1980, 1.309 ff.; Wegener 1981, 85). Venzlaff hat für die Untersuchung der verschiedenen Erhebungsbereiche Subskalen herausgearbeitet, die für eine forensisch relevante, schwere
Beeinträchtigung des Täters sprechen können (Venzlaff 1985, 391), und nennt dabei folgende Kriterien: • Die Verstellung bestimmter Strukturmerkmale in der Persönlichkeit des Täters, die für Hilflosigkeit gegenüber kritischen Lebenssituationen, Frustrierbarkeit, Unterlegenheitsgefühle sprechen, die starke Besetzung mit Trennungs- und Verlustängsten, geringe Flexibilität, ausgeprägtes Streben nach sozialer Angepasstheit • Eine sich oft über Jahre hinziehende seelische Zermürbung in einem Partnerkonflikt, in dessen Rahmen der potenzielle Täter durch die Überlegenheit des Partners immer wieder beschämende Niederlagen und Demütigungen erleidet • Eine zunehmende Isolierung des Täters in der engeren und weiteren Familien- oder Bezugsgruppe mit Verstärkung seiner Rat- und Hilflosigkeit • Eine psychopathologische Abwandlung im situativen Tatvorfeld in Richtung einer präsuizidalen bzw. depressiven Symptomatik, u. a. in Verbindung mit psychosomatischen Störungen oder allgemeinen Erschöpfungszuständen • Ein eruptiver Affektdurchbruch ohne Vorkonstituierung und Risikoabsicherung auf einen konfliktspezifischen Reiz hin • Eine kurz dauernde, die Anlasssituation nicht mit einschließende Erinnerungslücke oder gewisse Erinnerungsunschärfen • Das Vorhandensein körperlicher oder psychischer konstellativer Faktoren • Eine Phase planlosen oder impulsiven Verhaltens nach der Tat wie länger dauernder Affektstupor, panikartiges Fortlaufen, Suizidversuch oder hilflose Verzweiflung Im Einzelnen unterschiedliche, aber sachlich in wesentlichen Punkten übereinstimmende Merkmalskataloge sollen die Prüfung der Schuldfähigkeit bei Affekttätern mithilfe bestimmter Anzeichen ermöglichen (vgl. vor allem Saß 1983, 557; Salger 1989, 201 ff.; SSW-
StGB-Kaspar 2019, § 20 Rn. 60 f.; Merkmalskatalogen Rasch 1993, 757 ff.):
kritisch
zu
diesen
• Als Kriterien, die für eine Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit durch den Affekt sprechen, werden u. a. genannt: affektive Ausgangssituation mit Tatbereitschaft, psychopathologische Disposition der Persönlichkeit, konstellative Faktoren (wie Alkohol, Depression), abrupter, elementarer Tatablauf, Folgeverhalten mit schwerer Erschütterung, Einengung der Wahrnehmung und der seelischen Abläufe, Missverhältnis zwischen Tatanlass und Reaktion, Störung der Sinn- und Erlebniskontinuität. • Als Merkmale, die gegen eine Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit sprechen sollen, werden u. a. genannt: aggressives Vorgestalten in der Fantasie, Ankündigen der Tat, zielgeordnete Gestaltung des Tatablaufs, lang hingezogenes Tatgeschehen, erhaltene Introspektionsfähigkeit bei der Tat, exakte detailreiche Erinnerung an die Tat. Inwieweit sonst Erinnerungsstörungen von Bedeutung sind, ist umstritten (LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 136). Mithilfe derartiger Kriterien soll ein „annäherungsweises Abschätzen“ des Ausmaßes und der Intensität des psychopathologischen Syndroms möglich werden (Mende 1979, 321). Diese komplexe Breitbanddiagnostik (Wegener 1981, 89) schafft eine Grundlage für die richterliche Entscheidung über die Selbstbestimmungsfähigkeit bzw. darüber, ob der Täter noch handlungsfähig war oder ob er durch den Affekt (Rasch 1980, 1309) zur „Durchgangsstation für einen Wirkungszusammenhang“ (BürgerPrinz 1950, 10) bzw. zum „passiven Objekt von Funktionsabläufen“ (Wegener 1981, 80) wurde. Eine Gesamtwürdigung aller affektrelevanten Umstände ist unverzichtbar (HK-GS-Verrel und Linke, 2017, § 20 Rn. 8). Eingeräumt wird dabei, dass gerade die Beurteilung des Affekttäters große Probleme mit sich bringt und dass angesichts der Grenzen psychologischer
Erkenntnismöglichkeiten eine schwer erträgliche Unsicherheit bleibt (Wegener 1981, 81). Ein Ausschluss der Schuldfähigkeit wird in der Rechtsprechung nur selten angenommen, dagegen häufiger eine Verminderung nach § 21 StGB (LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 137). Dabei spielt sicher die kriminalpolitische Erwägung eine Rolle, dass bei Affekttaten häufig eine künftige Gefährlichkeit im Sinne von § 63 StGB fehlt, eine Maßregel also nicht in Betracht kommt. Ein Verzicht auf jede strafrechtliche Sanktion bei voller Exkulpation erscheint häufig angesichts der Schwere des Unrechts nicht angemessen (Krümpelmann 1987, 191 ff., 121 ff.). Eine Exkulpation aufgrund schweren Affekts kommt dann in Betracht, wenn das Opfer den Konflikt verursacht und die Gefahr einer explosiven Entladung zurechenbar heraufbeschworen hat (LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 139). Lebhaft umstritten ist, ob eine Exkulpation auch beim Vorliegen einer affektbedingten Bewusstseinsstörung dann ausgeschlossen ist, wenn der Affekt vom Täter verschuldet ist. In Rechtsprechung (u. a. BGHSt 3, 199; BGH, NJW 1959, 2.317; BGH, NStZ 1984, 259; BGHSt 35, 143) und Wissenschaft (SK-Rogall 2017, § 20 Rn. 23 f.; LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 140; Jakobs 1991, 528; a. A. SSW-StGB-Kaspar 2019, § 20 Rn. 65) wird das von einer überwiegenden Mehrheit angenommen. Ausgangspunkt der Zurechnung ist dabei, dass der Täter „den im Tatzeitpunkt schuldausschließenden Affekt während der Entstehung, also noch vor der Tat, durch ihm mögliche Vorkehrungen nicht vermieden hat“ (BGH bei Holtz, MDR 1977, 458; BGH, NStZ 1984, 311). Vorgeworfen wird dem Täter, dass er den zu einer Tat hindrängenden Affekt nicht vor dem schuldausschließenden Stadium abgewendet und sich dadurch selbst der Möglichkeit beraubt hat, die Tat durch eine normgemäße Motivation seiner Entschlüsse zu vermeiden (SK-Rogall 2017, § 20 Rn. 24). Dem wird mit Recht entgegengehalten, dass es sich dabei um eine unzulässige Schuldvermutung handelt (Maurach und Zipf 1992, 495; Stratenwerth und Kuhlen 2011, 161, 171, 185; Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 20 Rn. 15a; Krümpelmann 1976, 36 f.; vgl. auch BGHSt 7, 327 f.; für das österreichische Recht Moos 1977, 808 ff.). Das Gesetz stellt eindeutig auf den Zustand „bei Begehung der Tat“ ab; das steht einem mittelbaren Schuldvorwurf
entgegen. Eine strafrechtliche Haftung käme lediglich nach den Grundsätzen der sogenannten „actio libera in causa“ in Betracht (so auch Fischer 2019, § 20 Rn. 34). Diese Rechtsfigur, mit der der für die Schuldfähigkeit entscheidende Zeitpunkt vor den Tatablauf vorverlegt wird (vgl. eingehend LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 194 ff.), ist zunehmend zweifelhaft geworden (aus der Rspr. vgl. BGH, NZV 1996, 500; kritisch dazu BGH, NJW 1997, 228). In aller Regel wird sich aber nicht feststellen lassen, dass der Täter den schuldausschließenden Affekt vorsätzlich herbeigeführt oder nicht abgewendet hat (SK-Rudolphi 2003, § 20 Rn. 12). Praktisch kommt allenfalls eine Haftung wegen fahrlässiger „actio libera in causa“ in Betracht. Das Merkmal „Schwachsinn“ Weiter führt das Gesetz als psychisches Merkmal den Schwachsinn an. Es versteht ihn, wie die Formulierung zeigt („wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit“) als Unterart der Abartigkeit.
Merke Erfasst werden sollen alle nicht auf nachweisbaren organischen Ursachen beruhenden Defekte der Intelligenz (Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 20 Rn. 18 m. w. N.; Fischer 2019, § 20 Rn. 35). Nach dem Willen eines Referentenentwurfs vom 4.9.2019 des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) soll der sprachlich veraltete Begriff durch den der „Intelligenzminderung“ abgelöst werden. Mit kognitiven Störungen sind i. d. R. Störungen der sprachlichen, sozialen, emotionalen und motorischen Entwicklung verbunden (Wegener 1981, 90). Nach der vom körperlichen Krankheitsbegriff ausgehenden Systematik des Gesetzes fallen alle Defekte im Sinne einer organisch begründeten Demenz wie z. B.
Chromosomenanomalien, intrauterine, geburtstraumatische oder frühkindliche Hirnschädigungen und Infektionen während der ersten beiden Lebensjahre, sonstige hirnorganische Krankheitsprozesse sowie altersbedingte Hirnabbauvorgänge bereits unter die „krankhafte seelische Störung“. Für den „Schwachsinn“ bleiben alle organisch befundlosen, ohne somatische Grundlage auftretenden Oligophrenien. Traditionell unterscheidet man folgende Grade des Schwachsinns: die Idiotie, wenn die geistige Entwicklung die eines Kindes im 6. Lebensjahr nicht erreicht, die Imbezillität, wenn der Geisteszustand dem eines Kindes zu Beginn der Pubertät entspricht, sowie die Debilität, wenn die Entwicklung über die Stufe beim Abschluss der Pubertät nicht hinauskommt (LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 150). Besser werden nach der Terminologie der American Association on Mental Deficiency (AAMD 1959) die Schweregrade nach der Entwicklungsfähigkeit bezeichnet: Schwerstgeschädigte Pflegefälle sollen von den „Trainierbaren“ (d. h. lebenspraktisch Bildbaren) und den „Bildungsfähigen“ (d. h. denen, die zum Erwerb der Kulturtechniken auf einfacher Stufe in der Lage sind) sowie den „Grenzfällen“, die oft noch normal schuldfähig sind, unterschieden werden (Wegener 1981, 91). Die gesonderte Erwähnung des Schwachsinns in § 20 StGB erschien bei der geplanten differenzierenden Lösung erforderlich, weil er anders als die sonstigen Abartigkeiten bis zur Schuldunfähigkeit sollte führen können. Mit der Einheitslösung, die auch die anderen Abartigkeiten im § 20 StGB aufnahm, ist seine Nennung an sich überflüssig geworden (Protokolle IV, 641; Protokolle V, 244 ff.; V, 449 ff.). Sachlich rechtfertigen lässt sich die besondere Erwähnung im Gesetz jedoch mit der deutlichen Abgrenzbarkeit des Schwachsinns gegenüber anderen Anomalien sowie seinem häufigen Vorkommen und der dadurch bedingten Bedeutung in der forensischen Praxis (Wolfslast 1981, 467). Die Feststellung eines Schwachsinns und seiner Schweregrade erfolgt durch die Erhebung der lebensgeschichtlichen Daten, durch das mit Verhaltensbeobachtung verbundene psychodiagnostische Gespräch sowie durch dafür entwickelte Testverfahren (Wegener 1981, 92 ff.).
Wenn Schwachsinn in Betracht kommt, hat das Gericht i. d. R. einen Sachverständigen heranzuziehen. Das Merkmal „schwere andere seelische Abartigkeit“ Als letztes Merkmal der ersten Stufe nennt das Gesetz schließlich die „schwere andere seelische Abartigkeit“.
Merke Gemeint sind damit diejenigen Abweichungen des psychischen Zustands von einer zugrunde gelegten Normalität, die nicht auf nachweisbaren oder postulierten organischen Defekten oder Prozessen beruhen, also alle nach dem sogenannten psychiatrischen Krankheitsbegriff nicht krankhaften psychischen Störungen (Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 20 Rn. 19). Diese sind – wie bereits anhand der Gesetzgebungsgeschichte eingehend dargetan – von der „krankhaften seelischen Störung“ getrennt und im Merkmal der „Abartigkeit“ verselbstständigt worden. Es geht dabei um einen sehr verschiedenartigen Kreis von Störungen des Gefühlslebens, des Willens und des Antriebserlebens – weniger des Intellekts – , die den Täter nicht wie beim Schwachsinn als zurückgeblieben, sondern als andersartig erscheinen lassen (Jakobs 1991, 530). Genannt werden im Schrifttum vor allem Psychopathien, Neurosen sowie Triebstörungen (Fischer 2019, § 20 Rn. 36; Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 20 Rn. 21). Der Terminus „Abartigkeit“ erscheint verfehlt; er besitzt einen die Betroffenen abwertenden, diskriminierenden Charakter (Rasch 1982, 178; Höffler und Herzog 2018, 66). Im Diagnosekatalog der Psychiatrie kommt er nicht vor. Venzlaff spricht von „diluvialen Schichten“ der Psychiatrie, denen er entstamme (Venzlaff 1977, 257). Es ist herabsetzend und unnötig belastend, jemandem im
Strafverfahren attestieren zu müssen, er sei „abartig“ (Rasch 1982, 178). Sachverständige gehen daher zunehmend dazu über, den Ausdruck im Gerichtssaal möglichst zu vermeiden. Wesentlich besser geeignet erscheint neben der vom Alternativentwurf vorgeschlagenen Formel „vergleichbar schwere seelische Störung“ der Begriff „Persönlichkeitsstörung“. Darunter werden Ausprägungen von Persönlichkeitszügen verstanden, die erhebliche subjektive Beschwerden oder Mängel sozialer Anpassung hervorrufen (Saß 1987, 14; vgl. LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 153 ff.). Der Begriff der „anderen seelischen Störung“ wird nun auch in einem Referentenentwurf vom 4.9.2019 des BMJV vorgeschlagen. Konrad und Rasch sprechen von psychischen Auffälligkeiten, die nicht wie eine Krankheitsepisode eine Persönlichkeit vorübergehend befallen, sondern das Verhalten eines Individuums ständig oder über längere Zeiträume bestimmen, auch wenn dieses Verhalten nicht unabhängig von zusätzlichen Umständen ist (Konrad und Rasch 2014, 165; Fischer 2019, § 20 Rn. 36). Die Bezeichnungen Psychopathien, Neurosen und Triebstörungen sind nur teilweise anerkannt. Es handelt sich nicht um eine einheitliche psychopathologische oder ätiologische Systematik, sondern um deskriptive Typologien (Konrad und Rasch 2014, 167; Foerster 1989, 86). Als Psychopathien werden Persönlichkeitsabweichungen bezeichnet, die sich im Charakter, im Willens- und Gefühlsleben zeigen, an deren Abnormität der Betroffene selbst und die Gesellschaft leiden (Kurt Schneider 1950, 3 f.; LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 168 ff.). In Rechtspraxis und Schrifttum bedient man sich verbreitet noch der von Kurt Schneider entwickelten Typologie, die nach hyperthymischen, depressiven, selbstunsicheren, fanatischen, geltungsbedürftigen, stimmungslabilen, explosiven und gemütsarmen Psychopathen unterscheidet (Schneider 1971, 16 ff.; Witter 1972, 990 ff.; Langelüddeke und Bresser 1976, 204 ff.). Diese ursprünglich psychologisch-deskriptiv und nicht wertend verstandene Typologie enthält die Tendenz zu qualitativ abwertender Etikettierung (vgl. dazu Witter 1978, 988). „Im Gegensatz zum Psychotiker ist der Psychopath weniger durch Intelligenzausfälle als
durch Defekte auf dem Gebiet derjenigen seelisch-sittlichen Eigenschaften charakterisiert, die den Menschen als sittliche und soziale Persönlichkeit begreifen lassen“ (Maurach und Zipf 1992, 496). Neben der Tendenz zur Abwertung enthält die SchneiderTypologie auch die Gefahr einer Vereinfachung der Vielfalt möglicher Normabweichungen (Wegener 1981, 101). Überholt ist die Beschränkung des Psychopathiebegriffs auf angeborene und anlagebedingte Anomalien, sie wird heute nicht mehr vertreten (SK-Rogall 2017, § 20 Rn. 30). Denn die Ursachen von Psychopathien sind nicht allein statisch anlagemäßig, sie unterliegen vielmehr den ständigen Lern- und Veränderungsprozessen der menschlichen Persönlichkeit (Wegener 1981, 102; ➤ Kap. 21). Zutreffend spricht Wegener von der allenfalls „heuristischen Bedeutung“ der Diagnose „abnorme Persönlichkeit“ (Wegener 1981, 102). Die Rechtsprechung spricht von „nicht pathologisch bedingten Persönlichkeitsstörungen“ (BGH, NStZ-RR 1998, 176). In welchem Umfang Psychopathien zur Schuldunfähigkeit bzw. zur Verminderung der Schuldfähigkeit führen können, ist umstritten und bisher wenig geklärt (s. dazu ➤ Kap. 21.7). Nach einer verbreiteten, in der forensischen Psychiatrie und der Rechtswissenschaft vertretenen Ansicht, der auch die Rechtsprechung bisher weitgehend folgt, soll eine Exkulpation nur unter ganz besonderen Voraussetzungen in seltenen Ausnahmefällen erfolgen (Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 20 Rn. 23). Schon die Anwendung von § 21 StGB müsse die Ausnahme bleiben. Als Grund dafür wird angeführt, dass nach der ursprünglich vorgesehenen differenzierenden Lösung die „Abartigkeit“ nur in § 21 StGB als Merkmal für eine Schuldminderung vorgesehen gewesen sei. Da die Aufnahme in den § 20 StGB nur erfolgt sei, um dem Gesetz auch für die seltenen Ausnahmefälle hochgradiger Abnormitäten eine korrekte Fassung zu geben, dürfe aus dieser Ergänzung nicht gefolgert werden, dass Psychopathien künftig großzügiger zu exkulpieren seien. Auch eine Erweiterung des Anwendungsbereichs von § 21 StGB sei nicht beabsichtigt gewesen (Lenckner 1972, 119; Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 20 Rn. 23). Witter will eine volle
Exkulpation bei Abartigkeit nur in Betracht ziehen, wenn es sich um psychoseähnliche Störungen handelt, d. h. solche, die im Grenz- oder Übergangsbereich zu den Psychosen oder psychotischen und hirnorganischen Persönlichkeitsveränderungen liegen (Witter 1976, 333; ebenso eng Langelüddeke und Bresser 1976, 215). Andere sprechen von ausgesprochener Persönlichkeitsentartung (vgl. SSWStGB-Kaspar 2019, § 20 Rn. 71). Offensichtlich ist, dass diese strikte Begrenzung der Exkulpation nicht medizinisch, sondern kriminalpolitisch motiviert ist. Angesichts der Weite und diagnostischen Unschärfe des Psychopathiebegriffs besteht die Befürchtung, dass es weitgehende Ex- bzw. Dekulpationen geben und zu dem „Dammbruch“ kommen werde, der das Schuldstrafrecht zerstören könne (BT-Drs. V / 4095, 10; Schneider 1961, 29). Deutlich wird die normative Basis der Beurteilung von Psychopathien z. B. bei Kurt Schneider, wenn er schreibt: „Nur sehr zögernd gehe man an die Anwendung von § 51 Abs. 2 (heute § 21 StGB) auf abnorme (psychopathische) Persönlichkeiten heran. Würde das die Regel, entstünde eine jedenfalls kriminalpolitisch unheilvolle Lage“ (Schneider 1961, 29). Demgegenüber wird von psychiatrischer und psychologischer Seite die Annahme kritisiert, dass eine psychopathische Störung im Vergleich zur psychotischen grundsätzlich von geringerer Intensität sei. Es wird darauf hingewiesen, dass Psychopathen und Neurotiker mindestens so schwere Abweichungen aufweisen können wie Patienten mit organisch bedingten oder endogenen Psychosen (Meyer 1976, 49; Wegener 1981, 103; Venzlaff 1976, 58 f.). Psychopathien und Neurosen können schwere Leidenszustände bedeuten; in ihren individuellen und sozialen Auswirkungen sind sie prinzipiell nicht weniger schwer als körperlich begründbare Störungen (Meyer 1976, 49 f.). Die Beurteilung der Schuldfähigkeit verlagert sich für die Psychopathie weitgehend auf die zweite, normative Stufe, d. h. die Frage nach der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit (Krümpelmann 1976, 19 f.; Schreiber 1981a, 48). Der Primat des sogenannten normativ-psychologischen Stockwerks
(➤ Kap. 8.3.3) ist angesichts der Weite und der fehlenden Konturen des Psychopathiebegriffs unvermeidbar (Venzlaff 1977, 255). In der Psychiatrie finden sich Versuche, die weitgehende Verlagerung der Problematik auf die zweite, normative Stufe der §§ 20, 21 StGB zu überwinden und bereits für die erste Stufe Kriterien für die Abartigkeit zu finden (Übersicht bei Kröber 1995, 532 f.). Insbesondere für den Bereich der Sexualdelinquenz hat Schorsch in Anlehnung an Giese Leitsymptome progredienter psychopathologischer Entwicklungen herausgearbeitet, die u. a. folgende Aspekte enthalten: Symptomhäufung, Intensitätsschwankungen des Symptoms, Lockerung bzw. Verlust der personalen Einbindung, progredient zunehmende Okkupierung des Erlebens durch das Symptom, Einengung der Realitätswahrnehmung. Dabei wird die Progredienz als ein diagnostizierbares Leitsymptom angesehen (Schorsch 1988, 110 ff.). Saß hat ein „psychopathologisches Referenzsystem“ für die Beurteilung schwerer seelischer Abartigkeiten entwickelt. Bereits für die erste Stufe werden verschiedene Arten von Persönlichkeitsstörungen unterschieden, so die emotional instabilen, die schizoiden, die subaffektiven sowie die asthenischen und zwanghaften Störungen, die nach ihrem jeweiligen Schweregrad die Zuordnung zur „schweren seelischen Abartigkeit“ (Saß 1987, 110 ff.) erlauben. Für die zweite Stufe, die Steuerungsfähigkeit, benennt dann Saß als wesentliche Kriterien u. a. die Einengung der Lebensführung, Stereotypisierung des Verhaltens, bei sexuellen Deviationen Einengung, Fixierung und Progredienz, weiter Schwäche der Abwehr und Realitätsprüfung, emotionale Labilisierung und konstellative Faktoren wie Alkohol und depravierende Lebensumstände. Gegen eine erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit sollen Tatvorbereitungen, die Fähigkeit abzuwarten und Vorsorge vor Entdeckung sprechen (Saß 1987, 119 ff.). Kröber betont die auch bei anderen Autoren genannte progrediente psychopathologische Entwicklung und Verstrickung in problematische, eventuell delinquente Verhaltensweisen. Er unterscheidet sie von dauerhaften ich-syntonen Entwicklungen, von in den gesamten Lebensstil integrierter
Bereitschaft zur Verletzung sozialer Normen (Kröber 1995, 538 f.). Zutreffend wird darauf hingewiesen, dass es mit der Differenzialdiagnose nach ICD-10 nicht getan ist, sondern die Beurteilung der Schuldfähigkeit innerhalb jedes Subtyps von Persönlichkeitsstörung individuell zwischen leichten und schweren Formen unterscheiden muss (a. a. O., 539; Höffler und Herzog 2018, 56). Dabei sollte es keinen Unterschied machen, ob eine Persönlichkeitsstörung genetisch determiniert, hirnorganisch oder lebensgeschichtlich bedingt ist (problematisierend Kröber, a. a. O., 539). Der gleichen Richtung gilt das Bemühen von Rasch (1982, 182), die Psychopathie durch Merkmale, die sich auf bekannte Krankheiten und Syndrome beziehen lassen, auf der ersten, psychischen Stufe zu konkretisieren. Was Rasch dann aber unter dem anspruchsvollen Titel eines „strukturell-sozialen Krankheitsbegriffs“ entwickelt, ist freilich nicht mehr als die Zusammenstellung von generellen Zurechnungskriterien, die für die zweite, normative Stufe, die Beurteilung von Einsichts- und Steuerungsfähigkeit, von Bedeutung sind. Rasch (1982, 182) spricht von strukturellen Elementen der Krankheit und nennt in diesem Zusammenhang die Verminderung sozialer Handlungskompetenz, die Einengung der Lebensführung, die Stereotypisierung des Verhaltens und die Häufung sozialer Konflikte auch außerhalb strafrechtlicher Belange. Als Beispiel für Typen von „Abartigkeit“ nennt er u. a. die querulatorische Entwicklung, die sexuelle Perversion, die Medikamenten- bzw. Drogensucht, neurotische Depressionen sowie Persönlichkeitsabnormitäten. Damit sind sicher wesentliche in Betracht kommende Fallgruppen bezeichnet, aber noch keine für die Fragen der Schuldfähigkeit hinreichend präzisen Krankheitsdiagnosen gewonnen. Der Sache nach wird durch die von Rasch genannten Kriterien bestätigt, dass die Intensität der Störung, ihre Auswirkung auf die Handlungssituation und ihre Relevanz für die Tat entscheidendes Gewicht gewinnen, während die Bedeutung der Diagnose zurücktritt (Meyer 1976, 46; Krümpelmann 1976, 18). In der Rechtsprechung werden als Fälle u. a. genannt: Altersabbau (BGH, StV 1989, 102), Exhibitionismus (BGHSt 28, 357), Triebstörung mit Suchtcharakter (BGH, JR 1990, 119); bloße „Dissozialität“ oder
„Soziopathie“ (BGH, StV 1992, 316; BGHSt 49, 45 [52]) oder Persönlichkeitsstörung mit schizoiden Zügen in Form von Kannibalismus (BGHSt 50, 80 [84]). Die Rechtsprechung nähert sich damit der hier vertretenen Auffassung, dass es auf die Schwere und den Grad der Störung ankommt, wenn sie ausführt, mit der Diagnose „Psychopathie“ allein sei noch nichts darüber ausgesagt, dass die Persönlichkeitsstörung auch den Grad einer schweren seelischen Abartigkeit erreicht habe (BGH, NStZ-RR 1998, 1062; BGHSt 49, 45 [52]; Saß 1987, 113 ff.). Das sei erst dann anzunehmen, wenn etwa der Täter aus einem mehr oder weniger unwiderstehlichen Zwang heraus agiert habe (BGH, JR 2019, 98 [99]). Ebenso wenig soll die Feststellung einer „gemischten Persönlichkeitsstörung“ genügen; vielmehr müsse über die Art und den Schweregrad der Störung auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung der Persönlichkeit des Angeklagten und deren Entwicklung sowie der Vorgeschichte der Tat, den unmittelbaren Anlass und der Ausführung der Tat und schließlich des Verhaltens nach der Tat entschieden werden, ob eine Abartigkeit vorliege (BGH, NStZ-RR 1997, 335; wistra 2016, 357 [358]). Auch die Diagnose allein einer „BorderlinePersönlichkeitsstörung“ genügt nicht (BGH, NStZ-RR 2017, 269). Entscheidend ist, ob das Tatverhalten innerhalb einer psychotisch geprägten Episode liegt und wie groß das Ausmaß der in Intervallen bestehenden Persönlichkeitsstörung ist (BGHSt 43, 42 ff.; zum Borderline-Syndrom als schwerer Persönlichkeitsstörung Rasch 1991, 127; Kröber 1998, 80; Winkler und Foerster 1998, 298). Es gibt keine Beweise dafür, dass psychoseabhängige Motive verhaltensdeterminierender sind als hochgradige seelische Abartigkeiten (Roxin 2006, 898). Diese bezeichnen den „unbestimmten Rest“ seelischer Phänomene (Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 20 Rn. 19 unter Berufung auf Bochnik und Gärtner 1986, 58). Entsprechend ist auch die Spielsucht als solche keine krankhafte seelische Abartigkeit. Sie kann aber mit schwersten physischen Defekten und Persönlichkeitsstörungen verbunden sein, sodass auch dann eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit in Betracht kommt (BGHSt 58, 192 [194 f.]).
Es trifft zu, dass das Merkmal der „Abartigkeit“ außerordentlich weit gefasst ist und grundsätzlich keinen Sachverhalt für die Entschuldigung ausschließen kann, der den psychischen Zustand des Täters im Sinne einer Abweichung von der Norm nachteilig verändert, also auch für Störungen aus dem Unbewussten prinzipiell offen ist (Krümpelmann 1976, 20). Soll das Schuldprinzip gewahrt werden, darf es nicht aus vordergründigen kriminalpolitischen Rücksichten im Widerspruch zu seinen eigenen Voraussetzungen eingeschränkt werden. Wenn sich der Anwendungsbereich der Maßregel durch eine Ausdehnung der Exkulpation erweitert, so bedeutet das noch kein Unglück. Andererseits hat die Entwicklung gezeigt, dass der befürchtete Dammbruch nicht eingetreten ist (Streng 2012, Rn. 973; Höffler und Herzog 2018, 63). Für die Praxis ist festzuhalten, dass die schwere andere seelische Abartigkeit kein diagnostischer, sondern ein Rechtsbegriff ist (Fischer 2019, § 20 Rn. 39). Angesichts der mit der sogenannten Einheitslösung erfolgten Öffnung des § 20 StGB für die Abartigkeit sowie der Weite und der bisher fehlenden näheren Konturen des Psychopathiebegriffs bleibt als entscheidendes Kriterium für die Schuldfähigkeit die Schwere, der Grad der Störung und ihr Einfluss auf das Handlungsgefüge des Täters (Schreiber 1981a, 48). Missverständlich ist das Kriterium des „Krankheitswerts“, das in der juristischen Kommentarliteratur zur Unterscheidung der exkulpierungsrelevanten Fälle benutzt wird (Fischer 2019, § 20 Rn. 38; Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 20 Rn. 23). Als Instrument der quantitativen Bestimmung des Grades der Störung ist der Begriff nicht brauchbar; denn „Krankheit“ wird vom leichtesten bis zum schwersten Fall nach Gesichtspunkten graduiert, die mit dem Schweregrad von psychischen Anomalien nichts zu tun haben (LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 63 f.; Krümpelmann 1976, 29). Die Formel „Krankheitswert“ ist missverständlich und kann zu Rechtsfehlern verleiten (Fischer 2019, § 20 Rn. 38). Es kommt allein auf die Auswirkungen einer Störung im Sinne eines Schweregrades an (BGH, NStZ 1999, 395; Foerster, NStZ 2000, 192; BGHSt 37, 401). Außerdem kann der Irrtum entstehen, als habe sich über den
„Krankheitswert“ die Beurteilung der Exkulpation von Psychopathien hinsichtlich Entstehung und Symptomen am somatischen Begriff der Krankhaftigkeit in den §§ 20, 21 StGB zu orientieren (kritisch dazu auch Wegener 1981, 102). Eine Gleichwertigkeit kann nur hinsichtlich der Schwere der Einwirkung der Störung auf das Handlungsgefüge und die Beeinträchtigung normgemäßen Handelns des Täters gefordert werden. Das bringt zutreffend die vom Alternativentwurf vorgeschlagene Formel „vergleichbar schwere seelische Störung“ zum Ausdruck, die daher der Gesetzesanwendung statt des missdeutbaren Begriffs „Krankheitswert“ zugrunde gelegt werden sollte (Fischer 2019, § 20 Rn. 38 m. w. N.). Die neuere Rechtsprechung vermeidet inzwischen überwiegend den missverständlichen Begriff des „Krankheitswertes“. Sie spricht von Störungen, die in ihrem Gewicht den krankhaften seelischen Störungen entsprechen und Symptome aufweisen, die in ihrer Gesamtheit das Leben des Täters vergleichbar schwer und mit ähnlichen – auch sozialen – Folgen stören, belasten oder einengen (BGH, NStZ-RR 1998, 174). Die Rechtsprechung hat den Versuch gemacht, zwischen psychopathischen, für eine Exkulpation relevanten Charakterzügen und nicht entschuldigenden bloßen Charaktermängeln und Willensschwäche zu unterscheiden (BGHSt 14, 31 f., 23, 176 ff.; BGH, NJW 1966, 1871). Das wird weitgehend einhellig von den Vertretern unterschiedlicher Standpunkte abgelehnt. Eine solche Unterscheidung ist nicht möglich. Eine hochgradige Willensschwäche kann eine exkulpierungsrelevante „Abartigkeit“ darstellen, die die Schuldfähigkeit vermindert (LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 69; Haddenbrock 1963, 472). Mit Recht kritisiert Jakobs (1991, 532), dass bei der Unterscheidung der Rechtsprechung die Dynamik der Antriebsseite bei der Tat unberücksichtigt bleibe. Zu den seelischen Abartigkeiten im Sinne der §§ 20, 21 StGB zählen weiter die Neurosen. Sie werden vom StGB-Entwurf 1962 als „abnorme Erlebnisreaktionen oder Störungen der Erlebnisverarbeitung“ umschrieben (Entwurf 1962, Begründung 141). Definition und Ätiologie der Neurosen sind umstritten (Meyer 1976, 49 f.). Unter
anderem geben psychoanalytische und verhaltenstheoretische Neurosenlehren unterschiedliche Erklärungen. Während für die Psychopathie vorwiegend dauerhafte Wesenszüge kennzeichnend sind, spricht man von Neurosen, wenn es um lebensgeschichtlich erklärbare, nachteilige Verhaltensdispositionen oder Gewohnheiten geht. Witter (1972, 996) bezeichnet Neurosen als Störungen bei geistesgesunden, weitgehend normalen Personen, die unter besonderen äußeren Bedingungen ausnahmsweise und vorübergehend zu einem abnormen Verhalten kommen. Dabei sind die Übergänge zur Psychopathie fließend; die psychischen Anomaliezustände enthalten häufig Elemente beider Störungsformen (Meyer 1976, 52; LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 176). Neurosen sollen ebenso wie die Psychopathien nur in seltenen Ausnahmefällen zur Anwendung der §§ 20, 21 StGB führen (SKRogall 2017, § 20 Rn. 37, 42). Sie spielen strafrechtlich (SSW-StGBKaspar 2019, § 20 Rn. 85) keine besondere Rolle. Dem steht – wie schon bei den Psychopathien – die Auffassung gegenüber, dass auch Neurosen in ihren individuellen und sozialen Auswirkungen grundsätzlich nicht weniger schwer als körperlich begründbare psychische Störungen oder endogene Psychosen sein können (Meyer 1976, 49; Venzlaff 1976, 58 f.). Weder theoretisch noch praktisch ist die Aussage berechtigt, dass eine psychotische Störung mit sehr großer Wahrscheinlichkeit, neurotische Entwicklungen dagegen nur in seltenen Fällen die Bedingungen der §§ 20, 21 StGB erfüllen könnten (Wegener 1981, 103). Genannt wird eine Reihe neurotischer Störungen, die strafrechtlich von Belang sind, z. B. Reifungsstörungen (dazu Lempp 1975, 297), Zwangsneurosen, abnorme Persönlichkeitsentwicklungen der mittleren Lebensjahre, sensitive, paranoische und querulatorische Entwicklungen mit erheblicher kriminologischer Bedeutung (Meyer 1976, 49 f.; Konrad und Rasch 2014, 174), depressive Reaktionen mit erweiterten Suizidhandlungen, extreme seelische Verformungen durch frühkindliche Deprivationssituationen (Venzlaff 1976, 59) sowie neurotische Depressionen, die häufig von schweren
psychosomatischen Allgemeinstörungen begleitet sind (Rasch 1982, 183). Angesichts des Fehlens eindeutiger diagnostischer Kriterien kann es wie bei der Psychopathie nur auf die Schwere, den Grad der Störung und ihren Einfluss auf Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Täters (Schreiber 1981a, 48), auf die Einengung der Variationsmöglichkeiten des Handelns, die Einschränkung bzw. den Verlust sozialer Handlungskompetenz ankommen (Rasch 1984, 267). Zutreffend betont Jakobs, dass die medizinische Klassifikation strafrechtlich nichtssagend sei, entscheidend sei die Drastik des psychischen Befunds, also Ausprägung und Maß der Beeinträchtigung von Kontrollund Steuerungsfähigkeit (Jakobs 1991, 532). Für die schwierige Abschätzung des Schweregrads von Psychopathien und Neurosen wird empfohlen, das Ausmaß der Abweichung durch standardisierte psychologische Tests zu bestimmen, um nicht unbestimmten subjektiven Vorstellungen von der Beschaffenheit des Durchschnitts zu erliegen (Rasch 1982, 183). Schließlich gehören zu den anderen schweren seelischen Abartigkeiten die Triebstörungen (zu den Störungstypen Fischer 2019, § 20 Rn. 40 f.). Anhand derartiger Störungen hatte die Rechtsprechung den „juristischen“ Krankheitsbegriff entwickelt, der über den engen psychiatrischen hinaus nicht nur somatisch bedingte, sondern alle Arten von Störungen der Verstandestätigkeit sowie des Willens-, Gefühls- oder Trieblebens als mögliche „krankhafte Störung der Geistestätigkeit“ umfasste (BGHSt 14, 30 ff.; 19, 201 ff.; 23, 176 ff.). Als Krankheit wurde auch angesehen, dass ein „hochgradig abartiger Geschlechtstrieb schwere leib-seelische Folgen und Enthemmtheit zumindest im Sinne von § 21 StGB bewirkt, ohne daß sich als Ursache eine organische Erkrankung nachweisen ließe“ (BGHSt 19, 201 [204]). Nach der Beschränkung der „krankhaften seelischen Störung“ auf körperliche bzw. postulierte Prozesse und der Einführung des Merkmals der „Abartigkeit“ sind Triebstörungen zu Letzterem zu rechnen. Eine Exkulpation soll nur dann in Betracht kommen, wenn der Trieb derart gesteigert ist, dass der Täter ihm selbst bei Aufbietung
aller ihm eigenen Willenskräfte nicht zu widerstehen vermag (SKRogall 2017, § 20 Rn. 45). Der BGH unterscheidet dabei naturwidrige geschlechtliche Triebhaftigkeit und normale Sexualität. Während bei der naturwidrigen Triebhaftigkeit, z. B. bei Pädophilie, schon ein Trieb von durchschnittlicher Stärke exkulpieren könne, müsse dafür bei normaler Sexualität dieser Trieb unüberwindbar stark ausgeprägt sein (BGHSt 14, 31 [32]; 23, 176 [190]; BGH, JR 1990, 119). Diese Differenzierung nach naturwidriger und normaler Triebrichtung erscheint verfehlt (SK-Rogall 2017, § 20 Rn. 45; Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 20 Rn. 23). Auch hier kann es aus den bereits zur Neurose dargelegten Gründen nicht auf den „Krankheitswert“ der Störung ankommen (so aber Witter 1976, 733; LK-Lange 1978, § 21 Rn. 48), sondern auf die Stärke, die Ausprägung des Triebs und das Maß der dadurch bedingten Beeinträchtigungen des Verhaltensspielraums. Auch Pädophilie kann im Einzelfall eine schwere seelische Abartigkeit darstellen, wenn sie den Täter in seiner Persönlichkeit so nachhaltig verändert hat, dass sein Hemmungsvermögen in Bezug auf sein Sexualverhalten erheblich herabgesetzt ist (BGH, NJW 1998, 2753; BGH, NJW 1998, 2752, NStZ-RR 2018, 69). Das ist beispielsweise der Fall, wenn die Sexualpraktiken zu einer eingeschliffenen Verhaltensschablone geworden sind, bei abnehmender Befriedigung und zunehmender Frequenz des devianten Verhaltens und bei einer gedanklichen Einengung des Täters auf dessen Praktiken (BGH, StV 2017, 29 [30]; StV 2017, 31). Im Anschluss an Krümpelmann (1976, 21) will ein Teil der juristischen Literatur die Verminderung bzw. den Ausschluss der Schuldfähigkeit dort beginnen lassen, wo die Triebstörung Suchtcharakter erreicht (Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 20 Rn. 23; LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 155 ff.). Diese Ansicht kann sich auch auf Formulierungen des Bundesgerichtshofs (BGHSt 23, 176 [193]; vgl. auch BGH, JR 1990, 119) stützen, bei denen sich der BGH auf Gieses Suchtbegriff beruft. Diesem von Giese in Anlehnung an von Gebsattel entwickelten Suchtbegriff liegt kein statischer Psychopathiebegriff, sondern ein triebdynamisches Modell zugrunde (Giese 1973, 155 ff.). Sucht ist danach ein Prozess; seine
typischen Kriterien sind die Steigerung der Häufigkeit der Sexualbetätigung bei gleichzeitiger Abnahme der Satisfaktion, die Hinwendung zu Promiskuität und Anonymität, Stereotypie und Zwangsstrukturen in den Praktiken sowie periodisch dranghafte Unruhe und körperlich vegetative Begleiterscheinungen (Giese 1973, 155 ff.; Krümpelmann 1976, 21). So wenig konturiert der Suchtbegriff damit auch ist (kritisch Meyer 1976, 51; Wegener 1981, 195), so gibt er doch Anhaltspunkte für die Einschätzung der verbliebenen Handlungsmöglichkeiten bzw. der Einengung der Lebensführung (BGH, NStZ-RR 1998, 189).
8.3.3. Die zweite (normative) Stufe der Schuldfähigkeit Mit der gemischt-normativen Methode verlangt § 20 StGB in der zweiten Stufe für das Fehlen der Schuldfähigkeit, dass der Täter im Zeitpunkt der Tat wegen eines der in der ersten Stufe genannten Merkmale unfähig war, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. Dabei geht es um die Auswirkungen der festgestellten psychopathologischen Zustände auf Einsichts- und Steuerungsfähigkeit. Beide werden im Gesetz alternativ genannt; es genügt daher für die Schuldunfähigkeit, wenn eine von ihnen fehlt. Zu beachten ist freilich, dass Einsicht und Verhaltenssteuerung psychisch häufig derart miteinander verbunden sind, dass eine Trennung praktisch nicht möglich ist (Schwarz und Wille 1971, 1064; Rasch 1967, 62). Zunächst ist die Frage der Einsichtsfähigkeit zu prüfen. Im Hinblick auf die Regelung des Verbotsirrtums in § 17 StGB, die den Schuldausschluss bzw. die Schuldminderung ohne Bindung an bestimmte psychische Voraussetzungen von der Unvermeidbarkeit des Irrtums abhängig macht, wird § 20 StGB nach einer verbreiteten Ansicht lediglich als besonderer Anwendungsfall des umfassenderen Verbotsirrtums angesehen (BGH, MDR 1968, 854; Lenckner 1972, 108). Für die Exkulpation sei § 20 StGB daher insoweit gegenstandslos, weil beim Fehlen der Einsichtsfähigkeit aus
den in § 20 StGB genannten Gründen stets auch ein unvermeidbarer Verbotsirrtum vorliege. Mit Recht weist Jakobs (1991, 534) darauf hin, dass dieser Versuch einer Vereinheitlichung der gesetzlichen Regelungen wenig Gewinn bringt. Praktisch behält § 20 StGB weiterhin Bedeutung, einmal durch die Nennung besonders naheliegender Ausschlussgründe für die Einsichtsfähigkeit (Jescheck und Weigend 1996, 441), vor allem auch deswegen, weil nur unter den psychischen Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB, nicht aber bei bloßer Verbotsunkenntnis eine Maßregel nach §§ 63, 64 und 69 Abs. 1 StGB in Betracht kommt. Das Fehlen der Steuerungsfähigkeit ist erst dann zu prüfen, wenn die Einsichtsfähigkeit gegeben erscheint. Denn fehlt diese, ist jene zwangsläufig nicht gegeben. Daher kann die Anwendung des § 20 StGB nicht auf beide Merkmale nebeneinander gestützt werden Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 20 Rn. 25; LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 80 m. w. N.). Lebhaft umstritten ist, ob über die „Fähigkeit“ des Täters zur Einsicht und Steuerung seines Verhaltens überhaupt wissenschaftlich begründete Aussagen möglich sind, weiter, ob auch der psychiatrisch-psychologische Sachverständige oder allein der Richter dafür zuständig sind: • Die „agnostische“ Richtung verneint die Möglichkeit wissenschaftlicher Aussagen dazu. Sie geht auf Kurt Schneider zurück, der ausgeführt hatte, dass die beiden Fragen nach Einsichts- und Handlungsfähigkeit „tatsächlich unbeantwortbar“ seien (Schneider 1961, 23). Eine breite Strömung in der Literatur ist dem gefolgt und hat die Ansicht vertreten, dass die Frage, ob der Täter sich anders hätte verhalten können, von keinem Sachverständigen zu beantworten sei (u. a. Haddenbrock 1972, 63 ff., 886 ff.; Witter 1972, 998 ff.; Witter 1976, 729; Langelüddeke und Bresser 1976, 269 ff.). • Dem steht die „gnostische“ Position gegenüber, welche die Möglichkeit wissenschaftlicher Aussagen auf der Grundlage psychiatrisch-psychologischer Erfahrungen über die
Voraussetzungen der Unfähigkeit zur Einsicht und Steuerung bejaht (Ehrhardt und Villinger 1961, 118; Ehrhardt 1964, 254; von Baeyer 1957, 337 ff.; Undeutsch 1967, 391 ff.; Venzlaff 1975, 902 ff.; Wegener 1981, 107). Agnostizismus ist gegenüber einem auf die Willensfreiheit im indeterministischen Sinne begründeten Verständnis von Schuld und Schuldfähigkeit berechtigt. Mit wissenschaftlichen Mitteln kann zu der Frage, wie weit im einzelnen Fall dem Menschen eine derartige Freiheit des Handelns zustand, nichts gesagt werden. Die „Gnostiker“ behaupten aber auch nicht, zu Aussagen über den Grad der indeterministisch verstandenen Freiheit des Menschen in der Lage zu sein. Sie nehmen gar nicht in Anspruch, wie Witter unzutreffend behauptet, „Einschränkungen der Willensfreiheit bis hin zu ihrem Ausschluss wissenschaftlich bestimmen zu können“ (Witter 1983, 444). Nach dem hier in Übereinstimmung mit der heute wohl überwiegenden Ansicht in ➤ Kap. 8.2 eingehend entwickelten Schuldbegriff geht es bei der strafrechtlichen Schuldfähigkeit nicht um die sittliche Wahlfreiheit, sondern lediglich um die normale Motivierbarkeit durch soziale Normen, um die Frage, ob angesichts des psychischen Zustands des Täters die Rechtsnorm die Möglichkeit hatte, im Motivationsprozess wirksam zu werden (Krümpelmann 1976, 12). Strafrechtliche Schuld bedeutet auf der wissenschaftlich allein zugänglichen Basis der Erfahrung das Zurückbleiben hinter dem Maß an Verhalten, das vom Bürger unter normalen Bedingungen erwartet wird. Gegenüber einem derart gefassten Begriff von Schuld und Schuldfähigkeit ist ein Agnostizismus weder erforderlich noch gerechtfertigt. Es geht nicht um die tatsächliche, aktuelle und konkrete Einsicht des jeweiligen Täters, sondern um die empirisch fassbaren Voraussetzungen der Fähigkeit zur Einsicht und zum einsichtsgemäßem Verhalten, die Bedingungen der Möglichkeit des Ausschlusses oder der erheblichen Verminderung der für den Regelfall vorausgesetzten potenziell dispositionellen Einsicht und Steuerung im Hinblick auf eine bestimmte Tat (Ehrhardt und Villinger 1961, 181 ff.). Zu Aussagen über den Grad einer
Einschränkung der so verstandenen Selbstverfügung sind Psychiatrie und Psychologie unterhalb der unlösbaren Alternative Determinismus – Indeterminismus durch eine Analyse der Täterpersönlichkeit, der Motivation und der Handlungsdeterminanten, der situativen Gegebenheiten und der biografischen Entwicklung durchaus in der Lage (Venzlaff 1975, 906). Durch Vergleich der psychischen Verfassung des Täters mit aus klinischer Erfahrung bekannten Krankheitsbildern können Einengung bzw. Verlust der sozialen Handlungskompetenz annäherungsweise abgeschätzt werden (Rasch 1984, 267; Mende 1979, 321; Meyer 1981, 226; Venzlaff 1983, 289 f.). Dabei bleibt eine „Unsicherheitszone“, ein gewisser subjektiver Beurteilungsspielraum (Venzlaff 1976, 64; Mende 1979, 321), der auch sonst vielen ärztlichen und psychologischen Diagnosen eigen ist (Wegener 1981, 105). Einsichts- und Steuerungsfähigkeit sind weder bloße, mithilfe von Psychiatrie und Psychologie beschreibbare, tatsächliche psychische Gegebenheiten noch allein zur Disposition des Richters stehende, zu Zwecken der Zuschreibung gebildete normative Konstrukte. Der Maßstab, der angibt, von welchem Grad an eine erhebliche Verminderung oder ein Ausschluss der Fähigkeit zur Einsicht und Steuerung gegeben ist, ist freilich letztlich normativ; er wird durch die im Recht enthaltenen bzw. durch das Recht wirksam werdenden Anschauungen über die sozialen Anforderungen bzw. die Nachsicht gegenüber Tätern in abnormen psychischen Zuständen festgelegt. In letzter Linie ist es ein rechtlich-normatives Problem, wo die Grenzen zwischen dem „Normalen“ und dem „Abnormen“ liegen; denn diese Grenzen bestimmen sich danach, welche Anforderungen zu normgemäßem Verhalten an den Einzelnen legitimerweise gestellt werden dürfen (Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 20 Rn. 26).
Merke Die im Gesetz nur ganz allgemein in vieldeutigen Formeln festgelegten Grenzen für die Anforderungen an den „normalen Anderen“ als
die für das Schuldurteil wesentliche Vergleichsperson müssen in gemeinsamer Arbeit von Richter und Sachverständigem für die jeweilige psychische Störung und den Einzelfall konkretisiert werden (Schreiber 1977, 246). Das geschieht aber nicht in allein an kriminalpolitischen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten orientierter normativer Zuweisung, wie Jakobs offenbar meint, der ausführt, dem Täter werde die „Fähigkeit“ zugeschrieben, wenn der bloße Verweis auf den Befund – ggf. in Verbindung mit einer schuldunabhängigen Maßregel – nicht ausreiche, um den Konflikt zu erledigen. Es handele sich bei der „Fähigkeit“ um eine normative Konstruktion (Jakobs 1991, 522). Entscheidend kommt es auch auf den psychiatrisch-psychologisch festzustellenden psychischen Befund an, auf das psychische Bedingungsgefüge, unter dem eine Person gehandelt hat (Rasch 1965, 62). Zugerechnet bzw. entschuldigt wird nach dem Maß der dem Täter verfügbaren Handlungsalternativen bzw. nach ihrem Fehlen oder ihrer Verminderung. Die rechtliche Beurteilung geht von psychischen Sachverhalten aus, die unter dem leitenden Wertgesichtspunkt der Schuldfähigkeit, d. h. der Motivationsfähigkeit bzw. der Handlungskompetenz, weitgehend festliegen und keinen Raum für beliebige kriminalpolitische Zuschreibungen lassen. Die agnostische Gegenposition kann nicht konsequent durchgehalten werden, will sie nicht prinzipiell das Urteil über die zweite, entscheidende Stufe der Schuldfähigkeit dem reinen Belieben überlassen. Kurt Schneider hatte seine These von der Unbeantwortbarkeit der Frage nach Einsichtsund Steuerungsfähigkeit nicht auf den psychiatrischen Sachverständigen beschränkt, sondern war davon ausgegangen, dass diese Frage von niemandem, auch nicht vom Richter mit wissenschaftlichen Mitteln beantwortet werden könne. Dann aber führt von der ersten, psychischen Stufe des § 20 StGB kein Weg zur zweiten; es kann auch nicht begründet werden, weshalb nach dem offenbar zu diesem
Zweck gebildeten sogenannten psychiatrischen Krankheitsbegriff bei den „echten Geisteskrankheiten“, d. h. den körperlichen bzw. als körperlich postulierten Störungen die Schuldfähigkeit grundsätzlich ausgeschlossen sein soll, bei den anderen seelischen Abnormitäten dagegen nur in seltenen Ausnahmefällen. Das wäre nur möglich, wenn wissenschaftlich begründet dargetan werden könnte, dass es bei diesen Geisteskrankheiten stets an Einsichts- und Steuerungsfähigkeit fehlt. Das Gesetz schreibt ohne Ausnahme die besondere Prüfung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit vor, es verbietet, allein aus der Tatsache einer bestimmten Krankheit oder Störung den Ausschluss der Schuldfähigkeit herzuleiten (Venzlaff 1983, 285). Venzlaff hält der agnostischen Auffassung mit Recht vor, zu Ende gedacht würde sie im Grunde nicht einmal eine Sachverständigenaussage bei psychischen Krankheiten im Sinne von Schneiders Krankheitsschemas erlauben (Venzlaff 1975, 905). Mit welchem Grund der Agnostizismus für die „krankhafte seelische Störung“ nicht gilt, dagegen bei den anderen Anomaliezuständen wissenschaftliche Aussagen über den Grad der Beeinträchtigung von Einsichts- und Steuerungsfähigkeit verbieten soll, wird nirgends deutlich. Auch Bresser vermag sich dafür letztlich nur auf ein „verantwortungsbewußtes Menschenverständnis“ (1976, 685) und die „lange Rechtstradition“ zu berufen, nach der das Determinationsgefüge einer somatisch begründeten Krankheit nicht zugerechnet werde (1983, 435). Geht man ihr auf den Grund, so beruht die agnostische Position auf dem unter kriminalpolitischen Gesichtspunkten empfundenen Bedürfnis, die Exkulpation auf den Bereich der Geisteskrankheiten zu beschränken, weil sonst keine Grenze zu finden sei und ein „Dammbruch“ drohe. Es handelt sich in Wahrheit um eine medizinisch-psychiatrisch verbrämte kriminalpolitische Theorie; dabei ist sie gar nicht wirklich „agnostisch“, sondern „gnostisch“ hinsichtlich des weitgehenden Ausschlusses der Anomalien von der Exkulpation und ihrer Beschränkung auf die „krankhafte seelische Störung“ mit einem bloßen Ausschnitt aus dem Bereich psychischer Störungen. Für die gerichtliche Praxis sind das agnostische Konzept
und der mit ihm verbundene sogenannte psychiatrische Krankheitsbegriff nicht brauchbar. Sie würden eine Zusammenarbeit zwischen Gericht und Sachverständigen bei konsequenter Durchführung ausschließen. Zutreffend weist Janzarik (1972, 648) darauf hin, dass mit der Einfügung des Merkmals der „Abartigkeit“ aufgrund der Einheitslösung die Prüfung von Einsichts- und Steuerungsfähigkeit paradoxerweise im Hinblick auf die agnostische Zurückhaltung zur einzigen Sicherung gegen ein allzu großzügiges Exkulpieren geworden sei. Die Frage des Ausschlusses bzw. der Verminderung der Schuldfähigkeit kann nicht durch einen im Widerspruch zum eigenen Ausgangspunkt stehenden Verweis auf bestimmte Krankheitsformen entschieden werden. Dafür kommt es vielmehr auf den Grad der Beeinträchtigung der normalen Motivationsfähigkeit bei abnormen psychischen Zuständen an. Den Kreis der dabei in Betracht kommenden Zustände bezeichnet die erste, psychische Stufe des § 20 StGB. Normative Elemente finden sich bereits in dieser, nicht erst in der zweiten Stufe bei Einsichts- und Steuerungsfähigkeit. Das zeigt sich deutlich an der Verwendung von Begriffen wie „krankhaft“, „tiefgreifend“, „schwer“ sowie „Abartigkeit“, die sämtlich nicht rein deskriptiv sind, sondern auch normativen Charakter besitzen. Zutreffend hat Venzlaff im Hinblick darauf und auf die folgende Bewertung des Verhaltens auf der zweiten Stufe von einer „doppelten Quantifizierung“ gesprochen, die bei der Schuldfähigkeitsprüfung erfolgen müsse (Venzlaff 1983, 291). Diese Quantifizierung auf beiden Stufen wird sich nicht getrennt behandeln lassen. So lassen sich z. B. der „tiefgreifende“ Charakter einer Bewusstseinsstörung und die „Schwere“ einer Abartigkeit kaum vom Grad der Beeinträchtigung von Einsichts- und Steuerungsfähigkeit trennen, da für sie die gleichen Gesichtspunkte maßgeblich sind. Daher sollte z. B. über die Schwere der Abartigkeit und das Maß der dadurch bewirkten Einschränkung der Steuerungsfähigkeit in einem Schritt entschieden werden. Dabei fällt dann zugleich die Entscheidung darüber, ob der Grad der Störung so schwer ist, dass die Schuldfähigkeit als ausgeschlossen oder nur als vermindert anzusehen ist. Diese drei Wertungsschritte sollten
zwar unterschieden werden, aber im Zusammenhang miteinander erfolgen. Die Rechtsprechung nennt Anhaltspunkte für das Vorgehen bei der Prüfung von Einsichts- und Steuerungsfähigkeit. Beide sind mit der Fähigkeit zu zweckrationalem bzw. vorsätzlichem Handeln nicht gleichzusetzen (BGHSt 1, 364; BGH bei Dallinger, MDR 1968, 200). Denn sie sind nicht identisch mit der Fähigkeit, äußere Geschehensabläufe nach Erfahrungsregeln zu steuern (SK-Rogall 2017, § 20 Rn. 58). Das Einsichtsvermögen ergibt sich hinreichend sicher weder aus der Erinnerungsfähigkeit des Täters noch aus der Vorsätzlichkeit seines Handelns (BGH, GA 1955, 271; OLG Köln, DAR 1967, 139). Zielstrebigkeit und folgerichtiges Verhalten können dafür lediglich indizielle Bedeutung haben (RGSt 63, 48; BGH, GA 1971, 365). Ein Schluss von der Einsichts- auf die Steuerungsfähigkeit ist nicht möglich (Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 20 Rn. 30). Planmäßigkeit und geschicktes Verhalten bei oder vor der Tat sowie die spätere Erinnerungsfähigkeit sollen – jedenfalls bei Rauschdelikten – keine Rückschlüsse auf das Vorhandensein von Steuerungsfähigkeit zulassen (BGHSt 1, 384; BGH, NJW 1969, 151; BGH, NStZ 1981, 298; BGH, NJW 1982, 2009). Vielmehr können gerade bei alkoholgewöhnten Tätern das nach außen erscheinende Leistungsverhalten und die tatsächliche Steuerungsfähigkeit weit auseinanderfallen (BGH, NStZ-RR 2018, 136; NStZ-RR 2018, 367).
Merke Einsichts- und Steuerungsfähigkeit sind jeweils im Hinblick auf eine konkrete Tat zu prüfen; es gibt keine generelle Schuldunfähigkeit (Lenckner 1972, 107). Art und Stärke der Störung sind am verletzten Rechtsgut zu messen (LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 78; BGHSt 49, 45 [53]). Wie das Unrechtsbewusstsein beim Verbotsirrtum ist auch die Schuldfähigkeit „teilbar“. Auch bei tateinheitlichem Zusammentreffen mehrerer
Delikte kann der Täter lediglich im Hinblick auf eines schuldunfähig sein (BGHSt 14, 116; SKRogall 2017, § 20 Rn. 59; BGH, NStZ 1990, 231). Möglich ist daher sowohl eine partielle Schuldunfähigkeit für bestimmte Delikte als auch eine partielle Schuldfähigkeit z. B. eines Geisteskranken für von der Krankheit nicht beeinflusste Taten (Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 20 Rn. 31).
8.3.4. Die verminderte Schuldfähigkeit Die verminderte Schuldfähigkeit wurde durch das Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24.11.1933 eingeführt. Es ist nicht unbestritten, ob sie begrifflich überhaupt denkbar ist, weil der Rechtsbegriff der Schuldfähigkeit eine scharfe Grenze ziehe und es nur schuldfähige oder schuldunfähige Täter geben könne (Langelüddeke und Bresser 1976, 721 ff.). Anlass zu ihrer Einführung ins deutsche Recht gab insbesondere die Erfahrung, dass die in der ersten Stufe als Voraussetzung der Schuldunfähigkeit genannten psychischen Störungen auch in einer abgeschwächten Form auftreten können, sodass das Einsichtsund Steuerungsvermögen zwar nicht ausgeschlossen erscheint, aber doch in dem Sinne „vermindert“ ist, dass der Täter es schwerer hat, sich normgemäß zu verhalten (Lenckner 1972, 122).
Merke Verminderte Schuldfähigkeit ist keine selbstständige dritte Kategorie zwischen Schuldunfähigkeit und Schuldfähigkeit (sogenannte „Halbzurechnungsfähigkeit“), sondern eine Form der Schuldfähigkeit (Lenckner 1972, 121 f.), die aber, wie es der Begriff sagt, unter den gleichen Gesichtspunkten, die sie
nach § 20 StGB ausschließen, nicht uneingeschränkt, sondern vermindert gegeben ist. Der vermindert schuldfähige Täter ist „schuldfähig im vollen Sinne des Wortes“ (Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 21 Rn. 1). Es gibt „Stufen der Schuldfähigkeit“ (Bruns 1974, 511); Schuldfähigkeit ist quantifizierbar (Rasch 1991, 126; Schöch 1983, 333; LK-Schöch 2007, § 21 Rn. 1). § 21 StGB enthält zwar Schuldminderungsgründe, die sich bei der Strafzumessung auswirken. Es wäre aber verfehlt, ihn deshalb als qualitativ verschieden von § 20 StGB als bloße Strafzumessungsregel anzusehen (so aber Krauß 1976, 95 ff.). Beide Vorschriften sind nach dem gleichen System aufgebaut, sie verwenden die gleichen psychischen und normativen Merkmale. Diese Merkmale werden auf beiden Stufen vom Gesetz quantitativ verstanden, im § 20 StGB handelt es sich um die höchsten Steigerungsformen der schuldmindernden Merkmale (Schöch 1983, 339). Dass es sich um quantitative Abstufungen von „schuldfähig“ über „vermindert schuldfähig“ bis zu „schuldunfähig“ handelt, zeigt auch die Verwendung der Adjektive „schwer“, „tiefgreifend“ und „erheblich vermindert“. Nach dem hier entwickelten, mit der heute wohl überwiegenden Ansicht übereinstimmenden Schuldbegriff geht es bei Einsichts- und Steuerungsfähigkeit um ein vergleichendes Schuldurteil, d. h. um das Zurückbleiben hinter dem Maß an Rechtsgesinnung und Willenskraft, das von einem durchschnittlichen Menschen erwartet wird, um den Grad der Abweichung des Täters vom durchschnittlich Normalen (Schreiber 1977, 246).
Merke Die Schuldfähigkeitsbeurteilung darf sich nicht mit einem qualitativen Gesamturteil begnügen, sondern hat für die §§ 20, 21 StGB zu den Graden der Abweichung Stellung zu nehmen (Schöch 1983, 340).
Die Quantifizierung psychischer Störungen und ihrer Auswirkungen auf Einsichts- und Steuerungsfähigkeit gehört zu den Aufgaben des psychiatrischen Sachverständigen (Mende 1983, 321; Rasch 1980, 1309; Venzlaff 1976, 64 f.; Schöch 1983, 338: für die quantifizierende Abwägung bei der Beurteilung insbesondere der verminderten Schuldfähigkeit). Dafür wurden Merkmalskataloge insbesondere für den Affekt und für die „andere schwere seelische Abartigkeit“ entwickelt (Venzlaff 1985, 391; Saß 1983, 557; Saß 1987, 113 ff.; LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 133 ff. m. w. N.). Darüber hinausgehende Bemühungen, im Interesse von mehr Objektivität und Reliabilität psychiatrische Gutachten zu standardisieren und zu operationalisieren (Jordan und Gresser 2014, 71 ff.; Schöch 1983, 333; Schüler-Springorum 1986, 52 ff.; Mende 1983, 398; Foerster und Heck 1991, 49 ff.; insbesondere Nedopil 1988, 117 ff.), haben im Ergebnis bisher wenig weitergeführt. Es hat sich gezeigt, dass primär qualitative Unterscheidungen auch für quantitative Entscheidungen im Bereich der §§ 20, 21 StGB, insbesondere auch hinsichtlich der Einwirkungen auf Einsicht und Steuerung erforderlich sind. Das haben insbesondere Kröber et al. (1994, 339 ff.) in einer Überprüfung des von Nedopil entwickelten Forensisch-Psychiatrischen Dokumentationssystems (FPDS) festgestellt (Nedopil und Graßl 1988, 139 ff.). Das FPDS hat sich als objektives Dokumentationssystem bewährt, nicht aber als valides Instrument zur angestrebten standardisierten Schuldfähigkeitsbegutachtung (Kröber et al. a. a. O.; zum Krankheitsbegriff Nedopil 1999, 71 f.). Die verminderte Schuldfähigkeit liegt danach auf einer gleitenden Skala zwischen Schuldunfähigkeit und voller Schuldfähigkeit noch im Bereich der Schuldfähigkeit. Sie muss nach beiden Seiten hin abgegrenzt werden (Lenckner 1972, 123). Zutreffend spricht Lenckner davon, für sie müsse nicht nur ein Anfangs- und Endwert („normal“ und „schlechthin anormal“), sondern auf der dazwischen liegenden Skala verschiedener Störungsgrade außerdem noch eine dritte Größe ermittelt werden (Lenckner 1972, 125). Das Gesetz
verweist in § 21 StGB für die psychischen Merkmale auf § 20 StGB; es sind also die gleichen abnormen psychischen Zustände, die den Ausgangspunkt bilden. Der Unterschied liegt im Grad der psychischen Störungen und ihrer Auswirkungen auf das Handlungsgefüge des Täters. Es muss sich auch bei § 21 StGB um krankhafte seelische Störungen handeln; Bewusstseinsstörungen und Abartigkeiten kommen ebenfalls nur in Betracht, wenn sie „tiefgreifend“ bzw. „schwer“ sind, sie dürfen aber nicht den gleichen Schweregrad wie bei der Schuldunfähigkeit erreichen. Während für § 20 StGB als Folge dieser Störungen eine völlige Beseitigung des Einsichts- und Steuerungsvermögens verlangt wird, genügt für § 21 StGB dessen erhebliche Verringerung. Anders als es der insoweit missverständliche Gesetzeswortlaut nahelegen könnte, liegt verminderte Schuldfähigkeit nicht vor, wenn der Täter trotz an sich erheblich verminderter Urteilsfähigkeit im konkreten Fall die Unrechtseinsicht tatsächlich hatte (BGHSt 21, 27; BGH, NStZ 1990, 333; Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 21 Rn. 4) bzw. wenn sein Hemmungsvermögen trotz verminderter Steuerungsfähigkeit tatsächlich vorhanden war (Jescheck und Weigend 1996, 443; OLG Hamm, NJW 1977, 1498). Sicher können der Schweregrad der Störungen und die durch sie bewirkte Beeinträchtigung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit, von der an verminderte Schuldfähigkeit vorliegt, ebenso wenig genau angegeben werden wie die Grenze zur vollen Schuldunfähigkeit. Exakte Kriterien, die in jedem Einzelfall eine eindeutige Entscheidung ermöglichen würden, gibt es dafür nicht (Lenckner 1972, 125). Die Störung darf einerseits noch nicht den Erheblichkeitsgrad des § 20 StGB erreichen, andererseits aber auch nicht mehr in den Spielraum fallen, der noch durch volle Schuldfähigkeit abgedeckt ist (Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 21 Rn. 5).
Merke Als Kriterium für die hier erforderliche quantifizierende Schätzung ist letztlich wie bei § 20
StGB auf den Intensitätsgrad der psychischen Störung und ihre Auswirkungen auf die Handlungskompetenz des Täters abzustellen (Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 21 Rn. 5; LK-Schöch 2007, § 21 Rn. 20, jeweils m. w. N.). Dass hier wie überhaupt bei der Übertragung von Erfahrungssätzen auf den Einzelfall im Bereich der Humanwissenschaften weitgehend nur Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich sind und es der Festlegung von Grenzen durch Konventionen bedarf, hat Schöch (1983, 338) herausgearbeitet. Dadurch werden mehr als bisher die Grenzen der möglichen Erkenntnis sowie die Strukturen der notwendigen Entscheidungen deutlich. Vermieden würde, dort mit künstlich begründeten Überzeugungen qualitative Sprünge zu konstruieren, wo es nur um vergleichende Gewichtung gehen kann. Diese vergleichende Konkretisierung des Schweregrades kann mithilfe psychiatrischpsychologischer Sachverständiger erfolgen. Beim dafür anzuwendenden Maßstab handelt es sich letztlich wie beim § 20 StGB um eine normative Frage (Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 21 Rn. 4). Wenig hilfreich ist auch die häufig anzutreffende allgemeine Formel (vgl. z. B. SSW-StGB-Kaspar 2019, § 21 Rn. 12), dass im Einzelfall das Werturteil des Gerichts zu entscheiden habe (kritisch dazu Lenckner 1972, 125). Nicht mehr als einen Hinweis auf das Bestehen quantitativer Unterschiede enthalten auch die Formeln, bei der verminderten Schuldfähigkeit sei das „Persönlichkeitsgefüge erschüttert“ und nicht wie bei der Schuldunfähigkeit „weitgehend zerstört“ (Schwalm, Protokolle IV, 638; kritisch Lenckner 1972, 126; auch LK-Schöch 2007, § 21 Rn. 21). Es handelt sich um eine zwar griffige, aber so allgemeine Formel, dass in Zweifelsfällen wenig daraus herzuleiten ist. Das Gleiche gilt für die Formulierung von Jakobs, Erheblichkeit sei dann gegeben, wenn die Tätermotivation derjenigen eines voll schuldunfähigen Täters mindestens so ähnlich
sei wie der eines voll schuldfähigen (Jakobs 1991, 536 f.). Kein geeignetes Abgrenzungskriterium zwischen § 21 StGB und der Schuldunfähigkeit bildet, wie Witter (1976, 37 f.) und Krauß (1976, 97) meinen, die prognostisch festzustellende Strafempfänglichkeit. Diese kann allenfalls ein Indiz für die Stärke der Störung darstellen (Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 21 Rn. 5). Der Anwendungsbereich des § 21 StGB erstreckt sich auf alle in § 20 StGB genannten psychischen Störungen. Von Gesetzes wegen gibt es weder Befunde, die stets die Schuld voll ausschließen, noch solche, die sie stets nur vermindern (Jakobs 1991, 536). Entscheidend kann nur die Schwere der Störung sein. So können z. B. leichte paralytische oder schizophrene Defekte (BGH, StraFO 2014, 81), Spielsucht (BGHSt 58, 192 [194 f.]), beginnende arteriosklerotische Demenz (BGH, NStZ 1983, 34) sowie leichtere Formen von Hirnverletzungen oder Epilepsien sowie affektive Einengungen lediglich zur verminderten Schuldfähigkeit führen (Fischer 2019, § 21 Rn. 10). Praktische Bedeutung hat der § 21 StGB weiter für alkoholische und sonstige Rauschzustände geringeren Grades. Nach der Rechtsprechung besteht bei einer BAK ab ca. 2,0 ‰ Anlass, die Frage der verminderten Schuldfähigkeit zu prüfen. In Betracht kommt § 21 StGB weiter bei Drogenabhängigkeit, wenn diese zu schweren Persönlichkeitsveränderungen oder starken Entzugserscheinungen geführt hat (BGH, NStZ 1982, 64; Lackner und Kühl 2018, § 21 Rn. 2), während Drogenabhängigkeit allein noch keine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit begründen soll (BGH, NJW 1981, 1221). Genannt werden als Anwendungsbereich des § 21 StGB insbesondere die Psychopathien, Neurosen und Triebstörungen (dazu mit vielen Nachweisen aus der neueren Rspr.: Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 21 Rn. 10; vgl. u. a. BGHSt 35, 347 ff. [„Katzenkönigfall“]), die nach dem sogenannten „psychiatrischen“ Krankheitsbegriff nur in ganz seltenen Ausnahmefällen zur vollen Exkulpation führen sollen. Schwierigkeiten entstehen im Verhältnis von § 21 StGB zur Regelung des Verbotsirrtums nach § 17 StGB insofern, als die auf den im § 21 StGB genannten psychischen Merkmalen beruhende Verminderung dort nur dann zu berücksichtigen ist, wenn sie
„erheblich“ war, während es für den Verbotsirrtum nach § 17 StGB auf diesen Grad nicht ankommt. Es erscheint nicht angebracht, den auf einem seelischen Defekt im Sinne des § 21 StGB beruhenden Einsichtsirrtum strenger zu behandeln als den „normalpsychologischen“ Verbotsirrtum eines geistig Gesunden (Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 21 Rn. 6 / 7). Eine Harmonisierung kann dadurch erreicht werden, dass man entweder die im § 21 StGB enthaltene „Erheblichkeit“ in den § 17 S. 2 StGB hineininterpretiert (so Jakobs 1991, 537; a. A. nunmehr SK-Rogall 2017, § 21 Rn. 21) oder dem „täterfreundlicheren“ § 17 StGB den Vorrang mit der Folge einräumt, dass jeder Grad verminderter Einsichtsfähigkeit bereits zur Strafmilderung nach §§ 17, 49 StGB führen kann. Letzteres wird zutreffend von der überwiegenden Mehrheit angenommen (Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 21 Rn. 6 / 7; Roxin 2006, 906; Maurach und Zipf 1992, 538; für ein Scheinproblem hält LK-Schöch 2007, § 21 Rn. 9, den Unterschied). Im Verhältnis zu § 17 StGB behält § 21 StGB aber ebenso wie § 20 StGB insoweit eine eigenständige Bedeutung, als er anders als § 17 StGB die Möglichkeit zur Verhängung von Maßregeln eröffnet. Sind die Voraussetzungen des § 21 StGB gegeben, so kann nach dem Wortlaut des Gesetzes die Strafe gemildert werden, sie muss es nicht. Ob diese bloße „Kann-Milderung“ mit dem Schuldprinzip vereinbar ist, ist lebhaft umstritten. Da das Gesetz eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit verlangt, muss davon ausgegangen werden, dass dann auch eine erheblich verringerte Schuld vorliegt; das spricht dafür, dass der Schuldgrundsatz in diesen Fällen auch eine erheblich geminderte Strafe gebietet, also ein Fall obligatorischer Strafmilderung vorliegt (Lenckner 1972, 129). Die „Kann-Milderung“ des Gesetzes wird daher auch unter Berufung auf den Schuldgrundsatz von einer verbreiteten Ansicht als eine „Muss-Milderung“ interpretiert (Baumann et al. 2012, 499; Maurach und Zipf 1992, 538; Wolfslast 1981, 470; Stratenwerth und Kuhlen 2011, 169; Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 21 Rn. 14 f.). Im gleichen Sinn hatte auch § 22 des Alternativentwurfs eine „Muss-Milderung“ mit der Begründung vorgesehen,
verminderte Zurechnungsfähigkeit bedeute notwendigerweise verminderte Schuld, was in einem dem Schuldprinzip verpflichteten Strafrecht auch in einem milderen Strafrahmen zum Ausdruck kommen müsse (Alternativentwurf 1966, Begründung zu § 22). Demgegenüber versucht die in Rechtsprechung und Literatur wohl überwiegende Ansicht in restriktiver Interpretation die „KannMilderung“ mit dem Schuldprinzip in Einklang zu bringen (u. a. BVerfGE 50, 5 [12 f.]; BGHSt 7, 29 ff.; 62, 247 [261]; SSW-StGB-Kaspar 2019, § 21 Rn. 17; Fischer 2019, § 21 Rn. 20). Grundsätzlich wird eingeräumt, dass eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit den Schuldgehalt der Tat und damit die Strafwürdigkeit reduziert. Aber der Schuldgehalt bestimme sich nicht allein nach der Schuldfähigkeit, „sondern nach den gesamten Umständen, die die Tat der Schuldseite nach als mehr oder minder leicht oder schwer erscheinen lassen“ (BGHSt 7, 28 [31]). Die wegen einer verminderten Schuldfähigkeit sich ergebende Verringerung der Schuld könne durch andere, die Schuld erhöhende Umstände wieder ausgeglichen werden. Eine Strafmilderung nach § 21 StGB darf danach nicht aus schuldfremden, insbesondere spezialpräventiven Gründen versagt werden (MK-Streng 2017, § 21 Rn. 21). Solche Gründe waren offenbar für die bloße „Kann-Milderung“ bei Einführung des § 21 StGB maßgeblich. Man ging von einem neben dem schuldabhängigen Teil der Strafe stehenden, zusätzlich spezialpräventiv orientierten Anteil einer „Sicherungsstrafe“ aus (LK-Mezger 1954, § 51 Anm. 10 a). Es bestand die Befürchtung, dass insbesondere bei den sogenannten Psychopathen eine der geringeren Schuld entsprechende mildere Behandlung im Hinblick auf die Gefährlichkeit dieser Täter angesichts des Fehlens geeigneter flankierender Maßregeln spezialpräventiv nicht ausreichend wäre (Lenckner 1972, 130; Jakobs 1991, 538). Eine derartige spezialpräventiv begründete Überschreitung der schuldangemessenen Strafe erscheint heute nach ganz überwiegender Ansicht unzulässig (BGHSt 7, 30 ff.; 62, 247 [261]; Bruns 1974, 516 ff.). Die präventiven Strafzwecke dürfen nur innerhalb des von der Rechtsprechung mit der sogenannten
Spielraumtheorie bestimmten Rahmens der Schuldstrafe Berücksichtigung finden (BGHSt 7, 28 ff.). Für etwa darüber hinausgehende Präventionsbedürfnisse stehen Maßregeln der Besserung und Sicherung nach §§ 63 ff. StGB zur Verfügung. Auch eine angenommene geringere Strafempfindlichkeit (so noch der BGH bei Dallinger, MDR 1953, 147) darf nicht Anlass zur Versagung einer Strafmilderung nach § 21 StGB sein, weil auch dies mit dem Schuldprinzip unvereinbar wäre (Bruns 1974, 520; Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 21 Rn. 16; Jakobs 1991, 538 f.). Danach kommen i. R. der vom Schuldgrundsatz gebotenen engen Interpretation der „Kann-Milderung“ nach überwiegender Meinung nur zwei Fallgruppen für die Versagung dieser Milderung in Betracht: • Bei der ersten Gruppe handelt es sich um erschwerende, schulderhöhende Umstände, welche die an sich gebotene Milderung wieder kompensieren. Genannt werden hier die besondere Verwerflichkeit der Tat bei ihrer Begehung wegen der gesteigerten verbrecherischen Energie und der besonderen Rücksichtslosigkeit (so die Grundsatzentscheidung BGHSt 7, 28 ff.) sowie die in Art und Vielzahl der Taten hervortretende Intensität des verbrecherischen Willens und die Kaltblütigkeit der Tatausführung (BGH, MDR 1972, 196). Dabei dürfen aber diejenigen Umstände nicht als straferhöhend bewertet werden, die ihrerseits durch den die verminderte Schuldfähigkeit begründenden psychischen Zustand des Täters bedingt sind (BGHSt 16, 360 [363]; BGH, StV 1982, 417). Das wird z. B. bei einer besonderen Rohheit der Tatausführung o. Ä. nicht selten der Fall sein. Die herrschende Ansicht hält es im Hinblick auf erschwerende Umstände auch für möglich, gegenüber einem vermindert Schuldfähigen auf die absolut angedrohte lebenslange Freiheitsstrafe zu erkennen, weil diese vom Gesetz für Taten unterschiedlicher Schwere gedacht und der Rahmen verschiedener Schuldgrade dabei so weit gespannt sei, dass
er auch Fälle nach § 21 StGB geminderter Schuld umfasse, wenn erschwerende Umstände hinzuträten (BVerfGE 50, 5; BGHSt 7, 29; vgl. auch BGH, NJW 1981, 1221; Fischer 2019, § 21 Rn. 23). Dem tritt die Kritik mit der zutreffenden Begründung entgegen, die schulderhöhenden Faktoren seien Strafzumessungsgründe, dürften aber nicht den nach §§ 21 und 49 Abs. 1 StGB vorgeschriebenen Strafrahmen bestimmen. Sie seien daher als Zumessungsgründe nur innerhalb des gemilderten Strafrahmens zu berücksichtigen (Jakobs 1991, 538 f.; ebenso Lenckner 1972, 133). Die Schuld eines vermindert Schuldfähigen ist auch bei besonderer Verwerflichkeit im Vergleich zu der eines uneingeschränkt Schuldfähigen erheblich geringer, sodass nur der mildernde Strafrahmen des § 49 Abs. 1 StGB zugrunde gelegt und die Höchststrafe des Regelstrafrahmens nicht verhängt werden darf (Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 21 Rn. 19). • Bei der zweiten Gruppe geht es um Fälle, in denen der Täter den Zustand der verminderten Schuldfähigkeit selbst verschuldet hat. Hat er das getan, obwohl er wusste oder damit rechnen musste, dass er in diesem Zustand eine bestimmte strafbare Handlung begehen wird, so scheiden Schuldunfähigkeit bzw. Strafmilderung nach § 21 StGB schon deshalb aus, weil eine strafrechtliche Haftung nach den Grundsätzen der „actio libera in causa“ eintritt (Streng 2018, 122; kritisch SK-Rogall 2017, § 21 Rn. 22 ff.). Handelte der Täter aber im Zeitpunkt des schuldhaften Sichin-den-Zustand-verminderter-Schuldfähigkeit-Versetzens noch nicht vorsätzlich bzw. fahrlässig im Hinblick auf die begangene Tat, so soll auch dieses Verschulden die Strafmilderung nach § 21 StGB hindern. Praktisch relevant wird das in Fällen des Affekts, der Sucht sowie bei Rauschzuständen (Jakobs 1991, 538 f.; Fischer 2019, § 21 Rn. 24 f.). Die Rechtsprechung versagt die „KannMilderung“ vor allem dann, wenn der Täter von seiner allgemeinen Neigung zu Straftaten nach Alkoholgenuss
wusste (BGH, NStZ 1986, 14; NStZ 1994, 184; vgl. auch BVerfGE 50, 5 ff.; für Affekttaten BGHSt 35, 143). Eine klare Linie war in der Rechtsprechung nicht erkennbar. Dem Streit verschiedener Strafsenate hat nun ein Beschluss des Großen Senats für Strafsachen ein Ende bereitet. Er ist auf eine harte Linie eingeschwenkt. Bei jeder selbstverschuldeten Trunkenheit kann i. R. der Strafzumessungsentscheidung des Tatrichters die Milderung des § 21 StGB versagt werden, selbst wenn dem Täter seine Neigung nicht bewusst war (BGHSt 62, 247 [263]). Das wird einerseits damit begründet, dass das Tatgericht in seiner Gesamtwürdigung jeden schulderhöhenden Umstand mit zu berücksichtigen habe. Dazu zähle die selbst verursachte Trunkenheit. Die enthemmende Wirkung des Alkoholkonsums und das höhere Risiko der Enthemmung sei für jedermann erkennbar (BGHSt 62, 247 [263 ff.]). Diese Aussagen sind fraglich und tragen den weiten Ausschluss der Strafmilderung nicht (SSW-StGB-Kaspar 2019, § 21 Rn. 27). Der BGH weist selbst darauf hin, dass es nur in einem Bruchteil der Fälle stark alkoholisierter Menschen zu Straftaten kommt und situative, zufällige Umstände maßgeblich für deliktisches Verhalten sind (BGHSt 62, 247 [265]). Letztlich läuft diese Linie auf eine Art Prohibitionsrechtsprechung hinaus. Selbst der erste Rausch im Leben würde die volle strafrechtliche Haftung nach sich ziehen können. Ohne jegliche Vorerfahrung mit eigener Delinquenz im Rausch fehlt es indes an einer vorwerfbaren Zurechenbarkeit des Alkoholkonsums zur Straftat. Daher kann die gesetzlich vorgesehene Schuldminderung des § 21 StGB nur kompensiert werden, wenn die Folgen der Alkoholisierung objektiv und subjektiv vorhersehbar und vermeidbar waren (so noch zutreffend der 5. Strafsenat, BGHSt 49, 239 [242]). Jedenfalls nicht zu verantworten ist die Trunkenheit dann, wenn der Täter alkoholkrank oder alkoholüberempfindlich ist und er der Versuchung des Alkohols nicht widerstehen kann (BGH, NStZ 2008, 330).
Merke Bei selbstverschuldeter Trunkenheit soll nach nun gefestigter Ansicht der Rechtsprechung eine Strafmilderung selbst dann ausscheiden können, wenn der Täter das Risiko der Begehung von Straftaten für sich nicht vorausgesehen hat. Ob die Übertragung dieses Prinzips auf alle verschuldeten psychischen Defekte mit dem Schuldgrundsatz vereinbar ist, erscheint zweifelhaft (kritisch Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 21 Rn. 20; ausführlich Lenckner 1972, 134 ff.; SKRogall 2017, § 21 Rn. 22 ff.). Die verminderte Schuldfähigkeit eröffnet nach § 21 StGB den mildernden Sonderstrafrahmen gem. § 49 Abs. 1 StGB. Streitig ist, ob innerhalb dieses Rahmens die Tatsache der verminderten Schuldfähigkeit bei der Strafbemessung berücksichtigt werden darf. Teilweise wird das wegen des Verbots der Doppelverwertung abgelehnt, die verminderte Schuldfähigkeit dürfe nicht noch einmal in Ansatz gebracht werden; sie sei durch die Wahl des Sonderstrafrahmens „verbraucht“ (Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 21 Rn. 23). Da die Schuldfähigkeit nach dem hier entwickelten Konzept sich nicht in einem Entweder-oder erschöpft, sondern nach dem Grad der zugrunde liegenden Störung und deren Auswirkungen auf Einsichts- und Steuerungsfähigkeit quantifiziert werden muss, erscheint das nicht richtig. Die graduellen Steigerungen und Abschwächungen sind, um dem Maß der Einschränkung der Handlungskompetenz gerecht zu werden, bei der Strafzumessung innerhalb des milderen Strafrahmens erneut zu berücksichtigen (Schöch 1983, 337). Diese Ansicht kann sich auch auf eine Entscheidung des BGH stützen, die bei der verminderten Schuldfähigkeit verwerten will, ob die Minderung der Schuldfähigkeit mehr oder weniger verschuldet ist, und die das Ausmaß der Persönlichkeitsstörung für berücksichtigungsfähig hält (BGHSt 26, 311; vgl. auch BGHSt 16, 354 [für den Versuch]). Da die
erhebliche Verminderung der Einsichtsfähigkeit andere Auswirkungen auf die Beurteilung der Schuldfähigkeit des Täters hat als eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit, muss jeweils geprüft werden, welche der Alternativen des § 21 StGB in Betracht kommt. Denn eine verminderte Einsichtsfähigkeit ist strafrechtlich erst von Bedeutung, wenn sie das Fehlen der Einsicht wirklich zur Folge hat; dagegen führt erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit ohne Weiteres zur Anwendung des § 21 StGB. Der Richter kann daher seine Entscheidung nicht auf beide Alternativen zugleich stützen (BGH, NJW 1995, 1229; LK-Schöch 2007, § 21 Rn. 13).
8.3.5. Jugendstrafrechtliche Verantwortlichkeit (§ 3 JGG) im Verhältnis zur allgemeinen Schuldfähigkeit (§§ 20, 21 StGB) Merke Schuldunfähig ist, wer bei Begehung der Tat noch nicht 14 Jahre alt ist (§ 19 StGB). Diese Vorschrift enthält eine unwiderlegbare Vermutung der Schuldunfähigkeit von Kindern und stellt ein Prozesshindernis dar (Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 19 Rn. 5). Für Jugendliche findet sich eine besondere Regelung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit in § 3 des Jugendgerichtsgesetzes (JGG). Nach dieser Bestimmung ist ein Jugendlicher, d. h. ein Täter vom vollendeten 14. bis zum vollendeten 18. Lebensjahr (§ 1 Abs. 2 JGG), strafrechtlich verantwortlich, wenn er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln (§ 3 S. 1 JGG). Anders als die negativ gefassten Vorschriften über die Schuldunfähigkeit Erwachsener („Ohne Schuld handelt …“)
umschreibt das Jugendstrafrecht damit die Voraussetzungen der Verantwortlichkeit Jugendlicher positiv. Diese Verantwortlichkeit ist auch nicht nur bei Anhaltspunkten für ihr Fehlen jeweils näher zu prüfen, sondern stets positiv festzustellen und im Urteil zu begründen (RGSt 58, 128). Dagegen entspricht § 3 JGG den §§ 20, 21 StGB insofern, als er wie diese nach der gemischten, der biologisch-psychologischen bzw. richtiger psychisch-normativen (➤ Kap. 8.3), Methode aufgebaut ist: Das Gesetz verlangt als „biologisches Merkmal“ zunächst einen gewissen Stand der biologischen und geistigen Entwicklung als Grund sowie dann auf der zweiten Stufe als dessen Folge, dass der Täter fähig gewesen sein muss, das Unrecht der Tat einzusehen und entsprechend dieser Einsicht zu handeln (Schaffstein und Beulke 2002, 63; Lenckner 1972, 249; kritisch Albrecht 2000, 92). Die Einsichtsfähigkeit setzt zunächst eine entsprechende Verstandesreife voraus, d. h. das intellektuelle Vermögen, das Unrecht der Tat zu erkennen. Damit ist weder die Kenntnis der formalen Gesetzesnorm noch die Einsicht in das Unmoralische der Tat gemeint, sondern vielmehr die Fähigkeit des Jugendlichen zur Erkenntnis – so die allenthalben zitierte Formel des Reichsgerichts (RG, Deutsches Recht 1944, 659 [660]) – , dass sein Verhalten mit einem geordneten und friedlichen Zusammenleben der Menschen unvereinbar ist und deshalb von der Rechtsordnung nicht geduldet werden kann (Schaffstein und Beulke 2002, 64). Weiter gehört zur Einsichtsfähigkeit die „ethische Reife“, d. h. die Möglichkeit, das Handeln als sozial wertwidrig empfinden zu „können“ (Lenckner 1972, 250; Eisenberg 2018, § 3 Rn. 15, 19). Die weiter erforderliche Steuerungsfähigkeit verlangt, dass der Jugendliche nach dem Stand seiner charakterlichen Entwicklung in der Lage ist, sich in seinem Verhalten nach dieser möglichen Einsicht zu richten (Schaffstein 1965, 200 f.). Hierfür gilt das Gleiche wie bei der Steuerungsfähigkeit nach §§ 20, 21 StGB. Die praktischen Schwierigkeiten sind dabei freilich noch wesentlich größer, weil das Merkmal der „Reife“, von dem hier in der ersten Stufe auszugehen ist, noch weitaus komplexer und unsicherer ist als die „psychischen“ Merkmale der §§ 20, 21 StGB (Lenckner 1972, 252; Schaffstein 1965,
199 f. Heftige Kritik an den „Leerformeln“ des Gesetzes und der gerichtlichen Praxis, die auf eine tendenzielle Nichtbeachtung des § 3 JGG hinauslaufe, bei Albrecht 2000, 99). Nach heute ganz allgemeiner Ansicht ist die Strafmündigkeit „teilbar“, d. h., sie kann für eine von mehreren zusammentreffenden Taten gegeben sein, für andere dagegen nicht. Es kommt jeweils darauf an, ob Einsichts- und Handlungsfähigkeit für die in den einzelnen Tatbeständen umschriebenen Verhaltensweisen anzunehmen sind (BGHSt 15, 377 [383]; Brunner und Dölling 2018, § 3 Rn. 9 m. w. N.). In welchem Verhältnis die §§ 3 JGG und 20, 21 StGB zueinander stehen, ist umstritten. Sie führen zu unterschiedlichen Rechtsfolgen. Beim Fehlen der jugendstrafrechtlichen Reife stellt § 3 S. 2 JGG dem Richter dieselben Maßnahmen zur Verfügung, die der Vormundschaftsrichter zur Erziehung des Jugendlichen hat. Das sind neben den im Bürgerlichen Recht vorgesehenen Anordnungen nach §§ 1631 Abs. 3, 1666 Abs. 1 BGB die aufgrund des SGB VIII u. a. nach §§ 27, 34 SGB VIII vorgesehenen Hilfen. Bei Anwendung der §§ 20, 21 StGB kommt dagegen die Unterbringung nach §§ 7 JGG, 63, 64 StGB in Betracht. In der Praxis treffen häufig Entwicklungsstörungen mit Intelligenzmängeln bis hin zum Schwachsinn mit frühkindlichen Hirnschäden sowie mit Psychopathien und Neurosen zusammen (Kaufmann und Pirsch 1969, 364). Teils wurde die Ansicht vertreten, der § 3 JGG sei ein historisches Überbleibsel und durch die Schuldunfähigkeitsvorschrift des allgemeinen Strafrechts überflüssig geworden. Dem steht die neuere Auffassung gegenüber, der § 3 JGG besitze grundsätzlichen Vorrang, sodass bei mangelnder Verantwortungsreife kein Raum mehr sei für die Anwendung der §§ 20, 21 und damit auch der Unterbringung nach § 63 StGB (Eisenberg 2018, § 3 Rn. 36, 39 m. w. N.; ebenso Albrecht 2000, 111). Nach richtiger, heute wohl auch überwiegender Ansicht stehen beide Regelungen nebeneinander (Lenckner 1972, 253; Brunner und Dölling 2018, § 3 Rn. 13; Eisenberg 2018, § 3 Rn. 38).
Das JGG betrifft den Jugendlichen in seinem Entwicklungsgang; es geht vom Erziehungsgedanken aus (Peters 1967, 279 f.). Der § 3 JGG gilt daher für psychisches Zurückbleiben, das als Folge eines noch nicht abgeschlossenen Entwicklungsprozesses anzusehen ist und voraussichtlich mit fortschreitender Reife einen Ausgleich erwarten lässt (Schaffstein und Beulke 2002, 67). Insoweit sollen die Faktoren Berücksichtigung finden, die eine Schuldfähigkeit des Jugendlichen noch ausschließen (Peters 1967, 280). Dagegen sollen die Schuldfähigkeitsbestimmungen des allgemeinen Strafrechts solche pathologischen Abweichungen von der normalen Entwicklung erfassen, die nicht entwicklungsbedingt und nicht oder nur mangelhaft ausgleichsfähig sind (Schaffstein und Beulke 2002, 67; Freisleder 2017, 98 f.). Bestehen Anhaltspunkte für vom Entwicklungsprozess unabhängige pathologische Störungen, z. B. für Schwachsinn aufgrund einer frühkindlichen Hirnschädigung, so sind zunächst die §§ 20, 21 StGB zu prüfen; sie gehen mit der Möglichkeit einer Anstaltsunterbringung nach §§ 7 JGG, 63, 64 StGB dem § 3 JGG vor (Schaffstein 1965, 193; LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 214; Brunner und Dölling 2018, § 3 Rn. 13 m. w. N.). Bei lediglich auf mangelnde Altersreife zurückzuführendem Fehlen der Verantwortlichkeit kommen nur Maßnahmen nach § 3 S. 2 JGG in Betracht, nicht dagegen eine Unterbringung nach § 63 StGB. Handelt es sich um sowohl pathologisch bedingte als auch entwicklungsbedingte Zustände – was praktisch häufig der Fall sein wird – , so sind beide Regelungen nebeneinander anzuwenden mit der Folge, dass die Schuldfähigkeit sowohl nach § 3 JGG als auch nach § 20 StGB ausgeschlossen ist (BGHSt 26, 67; LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 214; Schaffstein und Beulke 2002, 67; Lenckner 1972, 254). Das kann insbesondere bei solchen Störungen der Fall sein, die – wie z. B. frühkindliche Hirnschädigungen – mit zunehmendem Alter einen Ausgleich erwarten lassen. Das Gericht kann dann je nach Einzelfall unter Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten die Wahl zwischen Maßnahmen nach § 3 S. 2 JGG und der Unterbringung nach §§ 7 JGG, 63 StGB treffen (Lenckner 1972, 254).
Lässt sich nicht aufklären, ob die Schuldunfähigkeit des Jugendlichen entwicklungsbedingt ist oder auf vom Reifeprozess unabhängigen pathologischen Störungen beruht, so ist nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ nur § 3 JGG anzuwenden, weil dessen Rechtsfolgen eine geringere Belastung darstellen (Schaffstein 1965, 194 ff.; Lenckner 1972, 254; Eisenberg 2018, § 3 Rn. 40; Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 20 Rn. 44; Brunner und Dölling 2018, § 3 Rn. 13).
Merke Das Jugendstrafrecht kennt keine verminderte jugendrechtliche Verantwortlichkeit. Die Reife nach § 3 JGG ist entweder gegeben oder fehlt ganz (Lenckner 1972, 255). Jedoch kann der Reifegrad bei Auswahl und Zumessung der Sanktionen eine Rolle spielen. Daneben kommt § 21 StGB als allgemeiner, fakultativer Strafmilderungsgrund in Betracht (BGHSt 5, 367; Peters 1967, 281; Brunner und Dölling 2018, § 3 Rn. 14), der freilich zugleich die Möglichkeit einer Unterbringung nach §§ 7 JGG, 63, 64 StGB eröffnet.
8.4. Kompetenzverteilung zwischen Richter und Sachverständigem bei der Schuldfähigkeitsbeurteilung Nach der Konzeption des geltenden Rechts ist die Entscheidung im Urteil allein Sache des Gerichts. Der Sachverständige wird nur bei ihrer Vorbereitung hinsichtlich einer Beweisfrage insoweit unterstützend tätig, als dem Gericht auf einem Wissensgebiet die erforderliche Sachkunde fehlt (Kruse 2014, 509; KK-Senge 2013, Vor § 72 Rn. 1). Der Bundesgerichtshof hat ihn als „Gehilfen“ des Richters bezeichnet (u. a. BGHSt 3, 27 f., 9, 292 f.). Zutreffend wird gesagt, das werde dem wahren Rollenverhältnis nicht gerecht
(Kaufmann 1985, 4 m. w. N.). Vielleicht sollte man besser vom „selbstständigen Helfer“ bei der Urteilsfindung sprechen (Schreiber 1985, 1008). Das ändert aber nichts daran, dass sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht der Richter nach der Idee seines Amtes allein für die Entscheidung verantwortlich ist (Lenckner 1972, 142). Der BGH hat das in einer überall zitierten Grundsatzentscheidung (BGHSt 7, 239 ff.) wie folgt formuliert: „Der Sachverständige ist ein Gehilfe des Richters. Er hat dem Gericht den Tatsachenstoff zu unterbreiten, der nur auf Grund besonders sachkundiger Beobachtungen gewonnen werden kann, und das wissenschaftliche Rüstzeug zu vermitteln, das die Auswertung ermöglicht. Der Sachverständige ist jedoch weder berufen noch in der Lage, dem Richter die Verantwortung für die Feststellungen abzunehmen, die dem Urteil zugrunde gelegt werden. Das gilt nicht nur von der Ermittlung des Sachverhalts, von dem der Sachverständige in seinem Gutachten auszugehen hat – den Anknüpfungstatsachen – , sondern auch von seinen ärztlichen Beobachtungen und Folgerungen. Selbst diese hat der Richter sogar in solchen Fällen, in denen es sich … um besondere wissenschaftliche Fragen handelt, auf ihre Überzeugungskraft zu prüfen (§ 261 StPO).“ Trotz aller zutreffenden Betonung der Letztentscheidungsbefugnis des Richters darf nicht verkannt werden, dass der Sachverständige wesentlichen Einfluss auf die Entscheidung hat und als Spezialist mit der Differenzierung und Komplizierung der menschlichen Lebensbereiche eine praktisch vielfach beherrschende Stellung erlangt hat, die sich mit der Konzeption des Gesetzes kaum in Einklang bringen lässt (Lenckner 1972, 147). Empirische Untersuchungen lassen befürchten, dass i. d. R. das Gericht die Auffassung des Gutachters übernimmt und damit der Sachverständige und nicht der Richter das Ergebnis bestimmt (Baltzer 2013, 18). Auch der BGH räumt das der Sache nach ein, wenn er ausführt, in welchem Maße sich der Richter ein eigenes
stichhaltiges Urteil bilden könne und müsse, hänge von der Art des Gegenstands ab. Zuweilen werde sich die richterliche Prüfung darauf beschränken dürfen, ob der Sachverständige ein erprobter und zuverlässiger Vertreter seines Fachs sei und daher auch seiner Sachkunde in diesem Bereich vertraut werden könne (BGHSt 7, 239 f.). An anderer Stelle spricht der BGH davon, der Sachverständige könne als Gehilfe mit besonderer Fachkunde wesentlichen Einfluss auf die Entscheidung gewinnen (BGH, JZ 1974, 548 [550]). Für die Beurteilung der Schuldfähigkeit gilt grundsätzlich nichts anderes. Der Richter ist es, der allein darüber zu entscheiden hat. Er, nicht der Sachverständige, ist dafür zuständig, den Angeklagten zu exkulpieren bzw. die Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB als gegeben anzunehmen. Ob eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit vorliegt, „hat der Tatrichter ohne Bindung an Äußerungen von Sachverständigen in eigener Verantwortung zu beantworten“ (BGHSt 49, 45 [53]). Verfehlt ist es daher, wenn der Sachverständige am Schluss seines Gutachtens feststellt, der Angeklagte sei „vom medizinischen Standpunkt aus“ bzw. „in nervenärztlicher Sicht“ schuldunfähig oder nur beschränkt verantwortlich, und wenn das Gericht diese Feststellung einfach übernimmt und es in Urteilen z. B. heißt, der Sachverständige habe dem Angeklagten den „Schutz des § 20 StGB zugebilligt“ (Sarstedt 1963, Vor §§ 72 ff. Rn. 8; Lenckner 1972, 142). Andererseits sind die Feststellungen des Sachverständigen für das richterliche Urteil von wesentlicher, häufig ausschlaggebender Bedeutung. Da gerade in psychiatrischen Gutachten dem Beurteilungsermessen des Sachverständigen, insbesondere bei Bewertung der Schwere der Beeinträchtigung von Einsichts- und Steuerungsfähigkeit erhebliche Bedeutung zukommt, kann z. B. angesichts der divergierenden Ansichten über die Relevanz neurotischer Störungen die Auswahl des Sachverständigen von wesentlichem Einfluss für die Entscheidung des Prozesses sein (Schreiber 1985, 1012; Baltzer 2013, 18). Der Richter bedarf unbeschadet seiner Befugnis und seiner Pflicht zur abschließenden eigenen Entscheidung auch bei der
Schuldfähigkeit der Mitwirkung des Sachverständigen. Auch wenn der Angeklagte sich nicht auf den Ausschluss oder die erhebliche Verminderung seiner Schuldfähigkeit beruft, hat der Richter dieser Frage nachzugehen, wenn deutliche Anzeichen dafür vorliegen, dass die Schuldfähigkeit ausgeschlossen oder erheblich vermindert sein kann. In der Regel (z. B. bei Hirnschäden, Kopfverletzungen, bei plötzlicher Straffälligkeit in vorgerücktem Alter, bei ungewöhnlicher Tatausführung, bei psychischen Auffälligkeiten) ist ein Sachverständiger hinzuzuziehen (vgl. die Fallgruppen bei Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 20 Rn. 45). Das Gericht darf von der Hinzuziehung eines Sachverständigen nicht mit der Begründung absehen, der Angeklagte habe eine Milderung nach §§ 21, 49 StGB „nicht verdient“. Das würde die erforderliche Beurteilung der konkreten Schuld verfehlen (OLG Düsseldorf, NStZRR 1996, 134). In die Kompetenz des Sachverständigen fallen Aussagen über beide „Stockwerke“ der §§ 20, 21 StGB. Für das erste entspricht das allgemeiner Ansicht, hinsichtlich des zweiten bestehen unterschiedliche Auffassungen. Auf der ersten „biologischen“ bzw. „psychischen“ Stufe geht es um abnorme psychische Zustände, die zunächst mithilfe empirischklinischer Methoden festzustellen sind. Das gehört unbestritten zu den Aufgaben des psychiatrisch-psychologischen Sachverständigen. Dabei handelt es sich freilich nicht nur um reine Tatsachenfeststellung; denn schon die erste Stufe der §§ 20, 21 StGB ist – wie oben eingehend dargelegt – durch wertausfüllungsbedürftige Begriffe wie „krankhaft“, „tiefgreifend“, „Abartigkeit“ sowie „schwer“ bestimmt. Der Sachverständige kann sich also bereits hier nicht auf die bloße wertfreie Beschreibung oder auf medizinisch klassifizierende Diagnosen beschränken, wenn seine Angaben für die richterlichen Entscheidungen verwertbar sein sollen. Andererseits geht es bei der zweiten, der psychisch-normativen, Stufe der Schuldfähigkeit nicht nur um rein normative Fragen, die allein den Richter etwas angingen. Einsichtsund Steuerungsfähigkeit sind weder rein tatsächliche, mit empirischen Methoden erfass- und beschreibbare Gegebenheiten noch bloß
normative Konstrukte. Gewiss ist es eine vom Richter zu beantwortende Rechtsfrage, welche Anforderungen an einen durchschnittlich „normalen“ Menschen zu stellen sind und wann die Schwelle erreicht ist, von der an Einsichts- und Steuerungsfähigkeit als erheblich vermindert anzusehen sind (Lenckner 1972, 145). Entscheidend dafür ist aber nach dem hier entwickelten Konzept strafrechtlicher Schuld und Schuldfähigkeit der Schweregrad der psychischen Beeinträchtigung des normalen Handlungsgefüges. Dieser Grad lässt sich zwar nicht in exakten Größen ausdrücken, aber im Vergleich mit psychischer Krankheit an seinen Auswirkungen auf die Person des Täters zeigen (Lenckner 1972, 145). Das gehört auf der Basis der klinischen Erfahrung (Meyer 1981, 224 f.) zu den wesentlichen Aufgaben des psychiatrischen Sachverständigen. Dieser kann zwar nichts über Grade der Willensfreiheit und deren Beeinträchtigung sagen, auch dem Richter ist das freilich nicht zugänglich. Zutreffend hat Kurt Schneider ausgeführt, dass dazu kein Mensch in der Lage sei (Schneider 1961, 48), also nicht nur ein Psychiater nicht. Dem Sachverständigen sind aber Aussagen über die nach klinischer Erfahrung vorliegende Einschränkung bzw. den Verlust sozialer Handlungskompetenz bei abnormen psychischen Zuständen möglich (Rasch 1984, 267). Dabei geht es um das Bedingungsgefüge, unter dem eine Person nach ihrer Entwicklung und in einer bestimmten Situation gehandelt hat, um das Maß des Ausgeliefertseins an ein psychopathologisches Geschehen (Venzlaff 1983, 291). Das aber sind die wesentlichen Gesichtspunkte der zweiten, normativen Stufe der §§ 20, 21 StGB. Mit der im Ergebnis durch die Neufassung der ersten, psychischen „Stufe“ und die Aufnahme der „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“ sowie der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ erfolgten Verabschiedung des unhaltbaren „psychiatrischen“ Krankheitsbegriffs ist für die Schuldunfähigkeit nicht mehr die klassifizierende Diagnose von entscheidender Bedeutung, sondern die Intensität einer Störung (Meyer 1981, 225), das Ausmaß und der Grad eines psychopathologischen Syndroms (Mende 1979, 321). Wesentlich ist das Ausmaß der krankheitsbedingten Andersartigkeit
im Vergleich zur Mehrheit der „Normalen“ (Bockelmann 1963, 372 ff.). Die Aufgabe des Sachverständigen beschränkt sich nicht darauf zu beschreiben, wie es „zur Tatzeit im Kopf des Täters ausgesehen hat“ (Sarstedt 1968, 184), sondern umfasst auch die Darlegung der Stärke und Auswirkung einer Störung im Vergleich mit dem „Normalen“ (LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 221 f. m. w. N.). Eine Beschränkung des psychiatrischen Sachverständigen auf das erste „Stockwerk“, die mit der „agnostischen“ Position verbunden ist, erscheint unhaltbar. Diese wäre, wenn man sie – was allerdings kaum geschieht – konsequent durchführt, forensisch nicht brauchbar. Denn der Richter kann für seine normative Entscheidung mit bloßen Beschreibungen psychiatrischer Zustände und daran angeknüpften Diagnosen nichts anfangen, wenn er nicht etwas über die Auswirkungen dieser Zustände auf Einsichts- und Steuerungsfähigkeit erfährt. Die agnostische Position tut das – wie oben näher gezeigt worden ist – entgegen ihren eigenen Prämissen dadurch, dass sie ohne zureichende Begründung die verhaltensdeterminierende Kraft psychischer Krankheiten mit somatischen Symptomen und ihnen angeblich gleichwertiger endogener Psychosen im Vorgriff hat. Zusammenfassend ist danach Folgendes festzuhalten:
Merke Zur Kompetenz des psychiatrisch-psychologischen Sachverständigen gehören unbeschadet der Letztentscheidungsbefugnis des Richters beide „Stockwerke“ der Schuldfähigkeit. Eine „normative Abstinenz“ des Psychiaters in Beschränkung auf angeblich rein tatsächliche Feststellungen zum ersten (psychischen) Stockwerk ist nicht möglich (Schreiber 1977, 246; Müller-Luckmann 1980, 130). Es trifft nicht zu, dass die ärztliche und die juristische Beurteilung an keiner Stelle ineinander übergehen und sich „säuberlich
voneinander trennen“ ließen (so aber Lenckner 1972, 145). Zwar bestimmt sich der Maßstab für Ausschluss und Verminderung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit nach rechtlichen Kriterien. Er orientiert sich aber an Ausmaß und Intensität der psychischen Störung. Empirie und Normativität sind dabei untrennbar miteinander verbunden. Es erscheint verfehlt, der Aussage des Sachverständigen zur Einsichts- und Steuerungsfähigkeit nur einen „nicht wesentlichen Grenzwert“ beizumessen (SK-Rudolphi 2003, § 20 Rn. 23). Aufgabe des Sachverständigen ist danach zunächst „Befund und Diagnose der Tatzeitpersönlichkeit“ (Lenckner 1972, 144). Weiter hat der Sachverständige auf der Basis seiner Erfahrung zu den Auswirkungen des festgestellten psychischen Zustands auf das Handlungsgefüge des Täters Stellung zu nehmen, d. h. sowohl zu den psychischen Merkmalen der ersten Stufe als auch zum Einfluss auf Einsichts- und Steuerungsfähigkeit. Entscheidendes Kriterium ist dabei der Erheblichkeitsgrad, die Schwere der pathologischen Abweichung. Das ist eine recht allgemein gehaltene und bisher erfahrungswissenschaftlich wenig fundierte Formel. Es bedarf für die verschiedenen psychischen Abnormitäten der Erarbeitung von schweregraddifferenzierenden Kriterien und Typen auf der Basis juristisch-psychiatrischer Konventionen, um die Exkulpationspraxis besser handhabbar, vergleichbar und damit gerechter zu machen. Allerdings wird sich dabei ein Ermessensspielraum wegen der notwendigen Berücksichtigung der jeweiligen Tatsituation nicht vermeiden lassen (Göppinger 1980, 239). Auch die höchstrichterliche Rechtsprechung gestattet Äußerungen des Sachverständigen zur zweiten Stufe der Schuldfähigkeit. Zwar hat es der BGH in einer frühen Entscheidung aus dem Jahr 1951 (BGHSt 2, 14 [16]) genügen lassen, dass sich die Strafkammer zur Feststellung der für die Schuldfrage erheblichen Tatsachen eines Sachverständigen bedient hatte. Welche Forderungen daraus für das geistige oder seelische Verhalten des Angeklagten zu ziehen waren, konnte und musste die Strafkammer nach Ansicht des BGH selbst beantworten. Eine Mitwirkung des Sachverständigen bei dieser Entscheidung wäre nicht einmal zulässig gewesen. In einem
späteren Urteil hat der BGH daran festgehalten, dass der Richter sich selbstständig seine Auffassung darüber zu bilden habe, welche Bedeutung eine mithilfe des Sachverständigen festgestellte körperliche und psychische Verfassung des Angeklagten für die tatsächliche und rechtliche Beurteilung der Tat habe. Das schließe freilich – und insoweit revidiert der BGH die frühere Position – nicht aus, dass der Sachverständige sich „auch darüber äußert, wie er die rechtliche Frage der Zurechnungsfähigkeit … beurteilt“ (BGHSt 7, 238 [240]). Dabei muss es sich aber um substantiierte Schlussfolgerungen handeln, die nachprüfbar aus dem empirischen Befund über den Täter abgeleitet werden. Der Richter darf die Ergebnisse des Sachverständigengutachtens nicht einfach übernehmen und sich ihnen anschließen. Er ist daran nicht nur in rechtlichen, sondern auch in tatsächlichen Fragen nicht gebunden. Vielmehr hat er – so der BGH – Anknüpfungstatsachen und Schlussfolgerungen des Gutachtens sowie die Entscheidung darüber selbst zu erarbeiten und ihre Begründung selbst zu durchdenken (BGHSt 8, 113 [118]). Andererseits muss er im Urteil näher begründen, wenn er von einem Sachverständigen abweichen will (Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 20 Rn. 45 m. w. N.; Fischer 2019, § 20 Rn. 65a). Dabei darf er die vom Sachverständigen festgestellten Tatsachen nicht beiseiteschieben und i. d. R. auch nicht ohne Hinzuziehung eines weiteren Sachverständigen von einem wissenschaftlich begründeten Gutachten abweichen. Das Gericht muss gem. § 244 Abs. 2 StPO von Amts wegen bei Anhaltspunkten für Zweifel an der Schuldfähigkeit und fehlender eigener Sachkunde einen Sachverständigen heranziehen (Kruse 2014, 509; Schönke, Schröder / Perron und Weißer 2019, § 20 Rn. 45, m. w. N.) und eventuell einen weiteren Sachverständigen beauftragen (BGHSt 23, 188). Die Rechtsprechung lässt allerdings auch zu, dass der Richter sich ohne Angabe eigener Erwägungen dem Ergebnis der Beurteilung eines Sachverständigen anschließt. Die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Darlegungen des Sachverständigen müssen dann aber insoweit im Urteil wiedergegeben werden, als dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner
gedanklichen Schlüssigkeit erforderlich ist (BGHSt 12, 311 [314 f.]; 7, 238 [240]). Die ungeprüfte Übernahme eines Gutachtens und seiner Ergebnisse soll aber in keinem Fall zulässig sein (Lenckner 1972, 146; Fischer 2019, § 20 Rn. 66). Freilich dürfte der Richter häufig mit der von ihm geforderten selbstständigen Überprüfung der wissenschaftlichen Überzeugungskraft eines Gutachtens überfordert sein; vielfach wird er nur eine laienhafte Plausibilitätskontrolle vornehmen können (Schreiber 1985, 1007 ff.; Baltzer 2013, 20 f.).
8.5. Die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus, in der Entziehungsanstalt und in der Sicherungsverwahrung (§§ 63–66a StGB) 8.5.1. Allgemeine Voraussetzungen der Maßregeln der Besserung und Sicherung Die Maßregeln der Besserung und Sicherung sind die „zweite Spur“ der strafrechtlichen Sanktionen. Während Strafe Schuld voraussetzt und nach heutiger Auffassung jedenfalls wesentlich auch dem Ausgleich des durch die schuldhafte Tat angemaßten Eingriffs in fremde Rechtsgüter sowie der Durchsetzung der Normgeltung dient (Lackner und Kühl 2018, § 46 Rn. 1), soll mit einer Maßregel die Allgemeinheit vor drohenden weiteren Straftaten geschützt werden.
Merke Zweck einer Maßregel ist allein die Gefahrenabwehr, also der Schutz der öffentlichen Sicherheit durch Vorbeugung gegenüber künftigen Straftaten (BGHSt 50, 93 [101]; BGH, NJW 2013, 3735 [3736]; Jescheck und Weigend 1996, 802 f.). Maßregeln der Besserung und Sicherung sind damit zunächst eine Reaktion auf das Verhalten von gefährlichen Tätern, die im Zustand der Schuldunfähigkeit, also schuldlos, gehandelt haben und deshalb für ihre Taten nicht bestraft werden können. Jakobs spricht daher für diese Fälle plastisch von „strafersetzenden Maßregeln“ (Jakobs 1991, 32). Diese Bezeichnung ist dann zutreffend, wenn damit der präventive Aspekt der Strafe gemeint ist. Zum anderen sind sie aber auch „strafergänzende“ Reaktionen (Jakobs a. a. O.), d. h., sie können auch gegenüber Schuldfähigen und vermindert
Schuldfähigen angeordnet werden. Als Beispiele seien die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, Führungsaufsicht, Entziehung der Fahrerlaubnis und Berufsverbot sowie gegenüber vermindert schuldfähigen Tätern die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus genannt. Solche ergänzenden Maßnahmen sind indiziert, wenn die schuldangemessene Strafe der Gefährlichkeit nicht ausreichend zu begegnen vermag. Die Unabhängigkeit der Maßregel von Schuld führt nicht nur dazu, dass auch ein schuldloser Täter überhaupt strafrechtlich belangt werden kann. Sie hat auch zur Folge, dass die limitierende Funktion der Schuld hinsichtlich der Eingriffstiefe und Dauer einer Maßregel nicht wirksam werden kann. Der strafrechtlich verantwortliche Täter kann nur nach dem Maß seiner Schuld bestraft werden. Der Gefährlichkeits- bzw. Rückfallaspekt darf nicht in der Weise berücksichtigt werden, dass er zu einer Erhöhung der Strafe führt. Obergrenze der angemessenen Strafe ist also immer das Maß der Schuld. Die Dauer der Unterbringung eines schuldunfähigen oder vermindert schuldfähigen Täters dagegen ist vom Maß seiner Schuld unabhängig; es kann schon begrifflich keine „schuldangemessene“ Unterbringung geben. Anordnung und Dauer der Unterbringung bestimmen sich vielmehr, abgesehen vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, allein nach der Gefährlichkeit. Der Zweck einer Unterbringung entfällt erst dann, wenn die Gefährlichkeit nicht mehr besteht (vgl. § 67d Abs. 2 S. 1 StGB). Gerechtfertigt sind die Maßregeln als von der Schuld unabhängige bzw. über ihr Maß hinausgehende Eingriffe durch ihren Zweck, die Allgemeinheit vor Straftaten zu schützen (Schönke, Schröder / Kinzig 2019, Vor §§ 61 ff. Rn. 2). Das bedeutet aber auch, dass ihrer Anordnung enge Grenzen gesetzt sind: Sie sind nur zulässig, wenn das Gemeininteresse an der Verbrechensverhütung im konkreten Fall schwerer wiegt als die Einschränkung der Freiheit des Betroffenen (Fischer 2019, § 62 Rn. 2; Stratenwerth und Kuhlen 2011, 17). Die Notwendigkeit einer solchen Güterabwägung bringt § 62 StGB zum Ausdruck, der als Voraussetzung jeder Maßregel den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nennt:
„Eine Maßregel der Besserung und Sicherung darf nicht angeordnet werden, wenn sie zur Bedeutung der vom Täter begangenen und zu erwartenden Taten sowie zu dem Grad der von ihm ausgehenden Gefahr außer Verhältnis steht.“ Damit soll grundsätzlich sichergestellt werden, dass „die letztlich an der Spezialprävention orientierte Zweckbestimmung der Maßregeln im Einzelfall auf das rechtsstaatlich erträgliche Maß“ begrenzt wird (LKSchöch 2008, § 62 Rn. 1). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hat für die Maßregel wie das Schuldprinzip für die Strafe die Funktion eines limitierenden Korrektivs. Auch für die Vollstreckung der Maßregel gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (BGHSt 50, 199 [204]). Bei nur geringfügigen Taten darf auch dann, wenn ein Rückfall mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, keine Maßregel verhängt oder fortgeführt werden, weil ein solcher Eingriff in die Rechte des Betroffenen unverhältnismäßig schwerwiegender wäre als die Gefahren, die der Allgemeinheit durch den Täter künftig drohen (BVerfGE 70, 297 [312]; Müller-Dietz 1987, 45).
Merke Maßregeln sind schuldindifferent. Sie dürfen daher nur unter strengster Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes verhängt werden. Erreicht werden soll der Zweck der Maßregel durch die Besserung und Sicherung des Täters. Auch die Besserung, d. h. Heilung, Behandlung oder Pflege des Täters, ist also nur Mittel zum Zweck, nicht aber alleinige Rechtfertigung der Maßregel (vgl. aber BGH, NStZ 1983, 429). Mit dem zweiten Strafrechtsreformgesetz hat der Gesetzgeber auch durch die Titelüberschrift deutlich sichtbar der Besserung den Vorrang vor der Sicherung gegeben. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass die Sicherung eines Täters, also seine bloße
Verwahrung, erst und nur dann zulässig ist, wenn eine Besserung nicht mehr möglich erscheint (➤ Kap. 8.5.4). Die erstrebte Besserung eines Täters darf nie nur Selbstzweck sein, d. h. im vermeintlichen Interesse des Täters angeordnet werden. Als freiheitsentziehende Maßnahme ist sie vielmehr ein Sonderopfer für den Betroffenen, das nur aufgrund einer Güterabwägung als Reaktion auf eine nicht hinnehmbare Gefährlichkeit gerechtfertigt erscheint. Die Anordnung der Verlängerung einer Maßregel allein aus therapeutischen Gründen ist ebenso unzulässig wie die ausschließlich zur Besserung eines alkoholabhängigen Täters vorgesehene Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, ohne dass dies öffentlichen Sicherheitsinteressen zugutekäme (BGH, NStZ 2003, 86). Dem Ziel „Besserung“ immanent ist die Forderung, im Vollzug der Unterbringung diese Besserung und damit die Entlassung des Täters aus der Unterbringung so schnell wie möglich zu fördern. Denn ist der Zustand, der zur Anlasstat und zur ungünstigen Prognose geführt hat, beseitigt oder so verbessert, dass eine Gefährlichkeit des Täters nicht mehr besteht, ist der Untergebrachte zu entlassen. Die freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung stehen unter dem Vorwurf des „Etikettenschwindels“ (Kohlrausch 1924, 33). Das beruht zum einen darauf, dass die Anordnung und Vollstreckung von Maßregeln Eingriffe ermöglicht, die schwerer belasten und deshalb auch mehr gefürchtet sind als selbst lange Freiheitsstrafen (Jescheck und Weigend 1996, 87), sodass „das bißchen Wohltat, das mit der Schuldminderung verbunden ist, auf der Rechtsfolgenseite zur Plage“ wird (Schüler-Springorum 1983, 128). Zum anderen haben sich Strafen und freiheitsentziehende Maßregeln im Vollzug häufig kaum voneinander unterschieden; auch eine Unterbringung, die Besserung durch Behandlung zum Ziel haben soll, hatte daher faktisch oft Strafcharakter, weil die für sie zur Verfügung stehenden Einrichtungen nach personeller und sachlicher Kapazität ihren Auftrag kaum erfüllen können. Nicht zuletzt dieser Umstand hat zu den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des Bundesverfassungsgerichts
geführt, nach dem das Konzept der Sicherungsverwahrung zur jüngsten Neuordnung kam und mit dem Abstandsgebot auch im Vollzug auf den „Etikettenschwindel“ reagiert wurde (BVerfGE 128, 326 f.). Für die Behandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt gelten die §§ 136–138 des Strafvollzugsgesetzes (StVollzG; zu den nach § 138 Abs. 1 StVollzG erforderlichen landesrechtlichen Vorschriften s. Volckart und Grünebaum 2015, 391 ff.). Das geltende Strafrecht sieht, nachdem die sozialtherapeutische Anstalt aus rein fiskalischen Gründen mit Wirkung vom 1.1.1985 wieder gestrichen worden war, sechs Maßregeln der Besserung und Sicherung vor: • Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB; ➤ Kap. 8.5.2) • Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB; ➤ Kap. 8.5.3) • Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (der „klassischen“: § 66 StGB [➤ Kap. 8.5.4], der vorbehaltenen: § 66a StGB [➤ Kap. 8.5.5] und der nachträglichen: § 66b StGB [➤ Kap. 8.5.6]) • Führungsaufsicht (§ 68 StGB) • Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69 StGB) • Berufsverbot (§ 70 StGB) Für den psychiatrischen Sachverständigen sind insbesondere drei Maßregeln von Bedeutung: die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gem. § 63 StGB, in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB und den Sicherungsverwahrungen nach §§ 66 bis 66b StGB. Kommen diese in Betracht, ist das Gericht gem. § 246a S. 1 StPO zur Hinzuziehung eines Sachverständigen in der Hauptverhandlung verpflichtet. Dessen Aufgabe besteht insoweit darin, dem Gericht auf der Grundlage seines Wissens über die Person des Täters bei der Prognose der zukünftigen Gefährlichkeit und der Beurteilung der
Behandlungsaussichten behilflich zu sein und damit die Basis für die Entscheidung über eine Maßregel nach §§ 63 ff. StGB zu schaffen. Da es sich hierbei um überaus komplexe Fragen handelt, ist die Einreichung eines schriftlichen Vorgutachtens geboten; die einschränkende Auslegung des BGH wird dem Gebot bestmöglicher Aufklärung nicht gerecht und überzeugt nicht (BGHSt 54, 177 [178 f.]; zutreffend dagegen Deckers et al. 2011, 70). Die Pflicht des Gerichts, sich bei einer Anordnung nach § 63 StGB der Hilfe eines Sachverständigen zu bedienen, erstreckt sich darauf, den Betroffenen vom Sachverständigen untersuchen zu lassen. Von der Untersuchung des Angeklagten darf i. d. R. nicht deswegen Abstand genommen werden, weil der Betroffene sich weigert, sie zuzulassen und daran mitzuwirken. Ausnahmsweise gilt dann etwas anderes, wenn die verweigerte Untersuchung der Art nach die freiwillige Mitwirkung des Angeklagten voraussetzt und ihre zwangsweise Vornahme kein vertretbares Ergebnis bringen kann (BGH, NStZ-RR 1997, 166 [167]).
8.5.2. Die Voraussetzungen der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB § 63 StGB (Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus) Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustands erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Handelt es sich bei der begangenen
rechtswidrigen Tat nicht um eine im Sinne von Satz 1 erhebliche Tat, so trifft das Gericht eine solche Anordnung nur, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustandes derartige erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird. Schuldunfähigkeit und verminderte Schuldfähigkeit Für eine Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus kommen diejenigen Personen in Betracht, die von Strafgerichten als schuldunfähig oder vermindert schuldfähig beurteilt wurden. Das sind also nicht nur solche, die im Sinne des engen „psychiatrischen“ Krankheitsbegriffs als krank zu bezeichnen sind, d. h. solche, bei denen eine „krankhafte seelische Störung“ im Sinne der §§ 20, 21 StGB vorliegt. Auch Täter mit einer neurotischen oder psychopathischen Persönlichkeitsstörung, bei denen eine „schwere seelische Abartigkeit“ im Sinne des Gesetzes vorliegt und die nicht zu den „klassischen“ Patienten eines psychiatrischen Krankenhauses zählen, können und müssen untergebracht werden, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen (Lackner / Kühl und Heger 2018, § 63 Rn. 1; anders OLG Karlsruhe, NJW 1975, 1571). In diesen Fällen sind allerdings die Möglichkeiten eines psychiatrischen Krankenhauses zur angemessenen Behandlung gering oder fehlen vielfach bisher ganz, sodass es oft problematisch sein kann, eine Unterbringung überhaupt anzuordnen, auch wenn die Voraussetzungen des § 63 StGB gegeben sind. Nur solche Täter können nach § 63 StGB untergebracht werden, deren Zustand von gewisser Dauer und nicht nur vorübergehend ist (ständige Rspr., z. B. BGHSt 34, 22 [27]; BGHSt 42, 385 BGH, NStZ 2006, 154 [155]; NStZ 2009, 86; NStZ-RR 2013, 141 [142]: Affektlabilität durch „Borderline“-Syndrom genügt nicht). Das ist besonders im Hinblick auf Personen von Bedeutung, die unter dem Einfluss von Alkohol Straftaten begangen haben. Erst dann, wenn der Täter an einer krankhaften Alkoholsucht leidet oder alkoholüberempfindlich ist, soll in diesen Fällen eine Unterbringung nach § 63 StGB in Betracht kommen (BGHSt 7, 35 f.; BGH, NStE Nr. 2
zu § 63; BGH bei Detter NStZ 1989, 471), nicht dagegen, wenn der Alkoholmissbrauch, der rechtswidrige Taten auslöst, auf Persönlichkeitsmerkmalen beruht, die ihrerseits keinen „Krankheitswert“ haben (BGH, NStZ 1983, 429; BGH, NStE Nr. 2 zu § 63). Zur Behandlung derartiger Zustände soll die Entziehungsanstalt nach § 64 StGB in Betracht kommen. Zweifelhaft ist dabei der Rückgriff auf einen unklaren Krankheitsbegriff, dem bloße Charaktermängel und „psychopathische Störungen“ gegenübergestellt werden. Hier zeigen sich Auswirkungen des verfehlten engen „psychiatrischen“ Krankheitsbegriffs. Richtig erscheint es, ohne Abstellen auf den sogenannten „Krankheitswert“ mit § 63 StGB alle länger dauernden Störungen zu erfassen, bei denen die Schuldfähigkeit nach den §§ 20, 21 StGB ausgeschlossen bzw. vermindert ist und die eine Gefährlichkeit des Täters für die Zukunft begründen (LK-Hanack 1992, § 63 Rn. 65 f.). Bei Verurteilung wegen einer Rauschtat ist in Anwendung des In-dubiopro-reo-Prinzips von der Voraussetzung des § 63 StGB auszugehen, wenn alternativ die härtere Alternative der Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB anzuwenden wäre (BGH, NJW 2004, 960 f.; SSWStGB-Kaspar 2019, § 63 Rn. 18). Die rechtswidrige Tat als Anlass Anlass für eine Unterbringung nach § 63 StGB kann nur eine rechtswidrige Tat sein. Das setzt jedenfalls die Verwirklichung des äußeren Tatbestands voraus, also z. B. die Tötung oder körperliche Misshandlung eines Menschen sowie die Rechtswidrigkeit der Tat (Schönke, Schröder / Kinzig 2019, § 63 Rn. 3 ff.). Auch der Versuch eines Delikts genügt als Anlasstat für eine Unterbringung (SSWStGB-Kaspar 2019, § 63 Rn. 16). Welche Anforderungen an den Vorsatz eines schuldunfähigen Täters, also an den sogenannten „inneren Tatbestand“, zu stellen sind, ist streitig. Nach herrschender Meinung in Literatur und Rechtsprechung (z. B. BGHSt 3, 287; NK-Pollähne 2017, § 63 Rn. 43) genügt ein „natürlicher“ Vorsatz, ein Wille zur Tat, auf den Vorsatz
im technischen Sinn kommt es danach nicht an (Schönke, Schröder / Kinzig 2019, § 63 Rn. 7). Hat der Täter Fehlvorstellungen, die auf seinem krankhaften Zustand beruhen, so dürfen diese ihm nicht dahin zugutegehalten werden, dass deswegen eine Unterbringung nicht möglich wäre. Glaubt z. B. ein Täter krankheitsbedingt, ihm gehöre alles, fehlt ihm also der Vorsatz im Sinne des § 242 StGB, fremde Sachen wegzunehmen, so kann er dennoch untergebracht werden; denn gerade der krankheitsbedingte Irrtum macht hier die Gefährlichkeit des Täters und die Wiederholungsgefahr aus. In derartigen Fällen den Vorsatz zu verneinen und deswegen eine Unterbringung auszuschließen, würde dem Schutzzweck des § 63 StGB zuwiderlaufen (BGHSt 3, 287; SSW-StGB-Kaspar 2019, § 63 Rn. 14). Strafausschließungs- oder -aufhebungsgründe, etwa der Rücktritt vom Versuch gem. § 24 StGB, stehen nach überwiegender Auffassung der Anordnung der Unterbringung entgegen (Kindhäuser 2017, § 63 Rn. 2; Lackner / Kühl und Heger 2018, § 63 Rn. 2; Jescheck und Weigend 1996, 808). Ebenso wie der Rücktritt eines schuldfähigen Täters Straffreiheit zur Folge hat, weil in ihm die mindere Gefährlichkeit zum Ausdruck kommt, die eine Prävention entbehrlich macht (BGHSt 9, 48 [52]; BGHSt 14, 75 [80]; Lackner und Kühl 2018, § 24 Rn. 2), fehlt es beim schuldunfähigen bzw. vermindert schuldfähigen Täter an einer Anlasstat, die Indiz für seine Gefährlichkeit sein könnte. Der Wille, die Tat nicht zur Vollendung gelangen zu lassen bzw. den Erfolg zu verhindern, nimmt dem Verhalten des Täters i. d. R. seine besondere Gefährlichkeit (BGHSt 31, 132 [135]). Hanack hat zutreffend darauf hingewiesen, dass eine Unterbringung trotz Rücktritts vom Versuch auch nicht damit begründet werden könne, dass der Schuldunfähige stets gefährlicher sei als der vermindert Schuldfähige, weil ein solcher Satz nicht generell aufzustellen sei (LK-Hanack 1992, § 63 Rn. 34). Auch ein fehlender Strafantrag steht einer Unterbringung entgegen (BGHSt 31, 132; Lackner / Kühl und Heger 2018, § 63 Rn. 2). Hat also ein vermindert Schuldfähiger oder Schuldunfähiger eine Tat begangen, die nur auf Antrag verfolgbar ist, und ist ein Strafantrag nicht gestellt, so kann der Täter aufgrund dieser Tat nicht
untergebracht werden. Möglich bleibt aber eine außerstrafrechtliche Unterbringung nach den Gesetzen zur Unterbringung psychisch Kranker der Länder (dazu LK-Schöch 2008, § 63 Rn. 158 ff.). Anders als bei den zu erwartenden Folgen wird eine Erheblichkeit der Anlasstat nicht verlangt. Das hat sich auch nicht durch das „Gesetz zur Novellierung des … § 63 …“ vom 8.7.2016 geändert. Immerhin ist durch den hinzugekommenen Satz 2 nun ein Regel-Ausnahme-Verhältnis normiert worden (SSW-StGB-Kaspar 2019, § 63 Rn. 12; weiter kritisch NK-Pollähne 2017, § 63 Rn. 45). Als Regel ist danach eine Anlasstat von erheblichem Gewicht verlangt, wie sie im Satz 1 für die erwarteten Taten umschrieben wird. Bei Bagatelltaten, die dahinter zurückbleiben, ist die Anwendung nur nach sorgfältiger Verhältnismäßigkeitsprüfung unter Bezeichnung besonderer Umstände des Einzelfalls zulässig (BT-Drs. 18 / 7244, 22). Zu Recht wird moniert, dass der Gesetzgeber versäumt hat, praktikable und klare Untergrenzen der Anlasstat zu benennen (Kaspar und Schmidt 2016, 757). Der Zustand des Täters bei der Anlasstat Weitere Voraussetzung für eine Unterbringung nach § 63 StGB ist, dass der Täter die Anlasstat im Zustand der Schuldunfähigkeit oder verminderten Schuldfähigkeit begangen hat. Nach der Formel der Rechtsprechung muss der „sichere Bereich des § 21 StGB“ überschritten sein. Das bedeutet, dass jedenfalls die verminderte Schuldfähigkeit nach § 21 StGB zweifelsfrei feststehen muss (BGH, NJW 1983, 350; BGH, NStE Nr. 7 zu § 63; ebenso Detter NStZ 2014, 22; Schönke, Schröder / Kinzig 2019, § 63 Rn. 12; Fischer 2019, § 63 Rn. 11). Hat das Gericht bei einem Täter verminderte Schuldfähigkeit nicht ausgeschlossen und deswegen z. B. auch die Strafe nach § 49 StGB gemildert, so ist eine Unterbringung dennoch nicht möglich, weil die verminderte Schuldfähigkeit nicht sicher, d. h. zweifelsfrei, festgestellt ist (BGH, NStZ 1986, 237; SK-Sinn 2016, § 63 Rn. 7). Dagegen kann ein Täter untergebracht werden, bei dem das Gericht die Voraussetzungen des § 21 StGB für gegeben und die des § 20 StGB für nicht auszuschließen hält und ihn deswegen
freigesprochen hat. Denn hier ist der „sichere Bereich des § 21 StGB“ überschritten (BGHSt 18, 167). Die Gefährlichkeitsprognose Nach § 63 StGB muss die „Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat (ergeben), daß von ihm infolge seines Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist“. Aufgrund des Justizskandals im Fall „Gustl Mollath“ hat der Gesetzgeber mit dem „Gesetz zur Novellierung des … § 63 …“ vom 8.7.2016 (BGBl. I, 1610) die zu erwartenden Taten konkretisiert. Es kommen nur solche in Betracht, „durch welche die Opfer seelisch oder körperlich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird“. Der Gesetzgeber wollte einerseits § 63 StGB stärker auf gravierende Fälle fokussieren, andererseits die Tatgerichte entsprechend sensibilisieren (BT-Drs. 18 / 7244, 1 u. 17). Da er sich dabei an der Spruchpraxis der Gerichte orientiert hat und mit der Ergänzung lediglich eine klarstellende Funktion verbindet (BT-Drs. 18 / 7244, 18), dürfte das kaum erreicht werden. Auch der BGH will die Gesetzesergänzung vorrangig als eine ihn bestätigende Kodifizierung lesen (BGH, StV 2017, 35). Diese Sicht wird – allerdings mit kritischer Konnotation – in der Wissenschaft vielfach geteilt (Schönke, Schröder / Kinzig 2019, § 63 Rn. 2a; SSW-StGBKaspar 2019, § 63 Rn. 12; Kaspar und Schmidt 2016, 757). Die bisherige Deutung erheblicher Straftaten, wie sie sich in der Rechtspraxis darstellt, hat mithin weiterhin Gültigkeit. Abstrakte Kriterien für das, was als „erhebliche Straftaten“ anzusehen ist, gibt es kaum. Einigkeit besteht darin, dass bloß „lästige“ Taten von geringem Gewicht, die der Kleinkriminalität zuzurechnen sind (dazu zählen auch leichte Körperverletzungen), jedenfalls nicht ausreichen (BGHSt 27, 246 [248]; BGH, wistra 2009, 231; BGH, NStZ 1986, 237). Die gegenteilige Ansicht (MK-van Gemmeren 2016, § 63 Rn. 54) ist mit der Sonderopferrolle des Täters und damit mit Verfassungsrecht nicht vereinbar. Der BGH vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, der § 63 StGB lasse die Unterbringung nicht nur dann zu, wenn
„schwere oder gar schwerste“ Taten zu erwarten seien. Erhebliche rechtswidrige Taten im Sinne des § 63 StGB können vielmehr auch schon z. B. Eigentumsdelikte aus dem Bereich der mittleren Kriminalität sein, jedenfalls dann, wenn es sich um Serientaten handele (BGHSt 27, 246 ff.; BGH, NJW 1976, 1949; BGH, NStE Nr. 8 zu § 63: versuchte räuberische Erpressung; s. auch BGH, NStE Nr. 21 zu § 63: keine Unterbringung nach § 63 StGB, wenn die bisherigen Taten allenfalls in Einzelfällen im Bereich der mittleren Kriminalität liegen). Der aber immerhin notwendige schwere wirtschaftliche Schaden ist als „grobe Richtschnur“ ab 5.000 Euro anzunehmen (BTDrs. 18 / 7244, 21). In Abgrenzung zu § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB ist der Maßstab für die Erheblichkeit bei § 63 StGB nicht so hoch anzusetzen wie bei der Sicherungsverwahrung, die gegenüber schuldfähigen sogenannten Hangtätern neben einer Strafe angeordnet werden kann (BT-Drs. 18 / 7244, 19), wo der Begriff „Erheblichkeit“ durch die zugesetzten Beispiele eine gewichtigere Färbung erhält (Fischer 2019, § 63 Rn. 30); denn neben der Unterbringung eines schuldunfähigen Täters in einem psychiatrischen Krankenhaus stünde kein anderes strafrechtliches Mittel der Sicherung und Einwirkung zur Verfügung, ferner sei auch der Heilungszweck zu berücksichtigen (Lackner / Kühl und Heger 2018, § 63 Rn. 5, 7). Handelt es sich um Taten mittlerer Kriminalität, bedarf es einer eingehenden Gesamtwürdigung der Bedeutung begangener und zu erwartender Taten sowie der vom Täter ausgehenden Gefahr zur Schwere des mit der Maßregel nach § 63 StGB verbundenen Eingriffs (BGHSt 20, 232; BGH, NStZ-RR 1998, 205; vgl. auch BGH, NStZ-RR 1997, 230; Detter NStZ 2014, 22 [23]). Bei geringfügiger Anlasstat bedarf die Gefährlichkeitsprognose besonderer Prüfung (BGH, NJW 2001, 3560). Von der Rechtsprechung ist die Erheblichkeit u. a. verneint worden bei beleidigenden oder antisemitischen Flugblättern, deren Herkunft von einem Geisteskranken offensichtlich ist (BGH, NJW 1968, 1683 [1684]; BGH, StV 1992, 571), bei ehrverletzenden schriftlichen Eingaben an Behörden, ohne dass die angegriffenen Personen ernsthaft in ihrem Rechtskreis bedroht werden (Schönke, Schröder / Kinzig 2019, § 63 Rn. 18), bei geringfügigen
Zechprellereien (BGHSt 20, 232), bei kleinen Diebstählen (BGH, NJW 1955, 837 [838]; BGH, NStE Nr. 21 zu § 63) und bei von vornherein durchschaubaren und damit aussichtslosen Betrugsversuchen (OLG Hamm, MDR 1971, 1026). Dagegen wurde z. B. die Erheblichkeit von sechs erneuten kleineren Betrügereien für die Sicherungsverwahrung eines 61-mal vorbestraften Täters bejaht. Auch ein „derart eingewurzelter Hang zu kleinen Betrügereien … und die sich daraus ergebende Gefahr weiterer solcher strafbarer Handlungen“ könnten die Anordnung der Sicherungsverwahrung erforderlich machen (RGSt 68, 98 [99]).
Merke Die „Erheblichkeit“ ist keine exakt messbare Größe, sondern bestimmt sich nach Schadenshöhe, Häufigkeit und zeitlicher Abfolge der Taten (BGH, NStZ 2012, 39; Fischer 2019, § 63 Rn. 30). Dass erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sein müssen, setzt eine „bestimmte Wahrscheinlichkeit“ der Begehung weiterer Taten voraus (RGSt 68, 149 [156]; BGH, NJW 1951, 724 f.; Schönke, Schröder / Kinzig 2019, § 63 Rn. 17 m. w. N.). In Entscheidungen ist z. T. von einer Wahrscheinlichkeit „höheren Grades“ (BGH, StV 2005, 21) oder „hohen Grades“ (BGH bei Holtz, MDR 1979, 280) die Rede, aber auch von einer „gewissen Wahrscheinlichkeit“ (BGH, NStZ 1986, 572) oder einer „bestimmten Wahrscheinlichkeit“ (BGHR § 63, Gefährlichkeit 4). Die bloße Möglichkeit, eine nur „latente Gefahr“, soll nicht genügen; andererseits braucht die Gefahr nicht akut zu sein (LK-Hanack 1992, § 63 Rn. 43a). Die Ursachen der Störung sind zweifelsfrei aufzuklären (BGHSt 42, 385). Die für die Entscheidung notwendige Prognose der künftigen Gefährlichkeit des Täters gehört zu den schwierigsten Fragen der Unterbringungspraxis. Gebräuchlich ist in der Strafrechtspflege, die auf eine Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat (BGH, NStZRR 2017, 76 [77]; Fischer 2019, § 63 Rn. 42; SK-Sinn 2016, § 63 Rn. 15; Kindhäuser 2017, § 63 Rn. 4; Kammeier 2013, 3, 12) abstellt, das
Verfahren einer intuitiven Prognose. Maßgeblich sind dabei mehr oder weniger subjektiv bestimmte Menschenkenntnis, Berufserfahrung und individuelle Werthaltung des Beurteilers (Schöch 2006, 87). Die für die Entscheidung verwendeten Faktoren beruhen auf „geronnener Erfahrung“, sie entsprechen weitgehend dem „Common Sense“ (Kaiser 1996, 961; Schöch 2010, 91). Näher objektivierbare Beurteilungskriterien kann diese Methode nicht liefern. Verbreitet ist sie mangels besserer wissenschaftlicher Möglichkeiten (Kaiser a. a. O.). Die Kommentare zum Strafgesetzbuch stehen ihr inzwischen eher skeptisch gegenüber (Schönke, Schröder / Kinzig 2019, § 56 Rn. 19; Lackner und Kühl 2018, § 56 Rn. 14; wohl auch Fischer 2019, Vor § 61 Rn. 3). Stärker wissenschaftlich orientiert arbeiten die klinischen und statistischen Prognoseverfahren. Die klinische oder empirische Individualprognose gründet auf einer allseitigen Erforschung der Persönlichkeit des Probanden durch Exploration und Beobachtung unter Anwendung auch psychodiagnostischer Testverfahren. Von Bedeutung sind dabei Lebenslauf, Familienverhältnisse sowie Arbeits- und Freizeitverhalten des Täters (Kaiser 1996, 962 f.). Körperliche sowie weitere klinische Untersuchungen treten hinzu. Für den psychiatrisch-psychologischen Gutachter bilden die Methoden der klinischen Individualprognose bisher überwiegend die Grundlage seiner gutachterlichen Tätigkeit. Die Gewichtung der erhobenen Befunde für die Prognose verlangt indes neben psychiatrisch-psychologischer Qualifikation kriminologisches Bezugswissen und Erfahrungen mit Straffälligen. Sie ist als Methode daher nur für solche Psychiater und Psychologen brauchbar, die über genügend kriminologische Erfahrung verfügen (Schöch 2010, 91). Kritiker haben diesbezüglich auf die Gefahr einer zu großen Freiheit und Unkontrollierbarkeit der Entscheidungen hingewiesen. Weiter wird eingewandt, dass die Verfahren dieser Methode bisher empirisch durchweg an kriminologischen Extremgruppen gesichert wurden und ihre Verlässlichkeit im Mittelfeld der Untersuchungsprobanden daher nachlasse (Kaiser 1996, 965; Schöch 2010, 91).
Die statistische Prognose gründet die Vorhersage künftiger Straftaten auf erfahrungsgemäß kriminogen wirkende Faktoren verschiedener Art beim Täter (Schöch 2001, 88). Die verwendeten prognostischen Faktoren sind im Wege empirischer Verallgemeinerung der Analyse von Lebensläufen einzelner Rechtsbrechergruppen entnommen (Kaiser 1996, 965 f.; Schöch 2010, 92 f.). Sie werden in Prognosetafeln zusammengestellt, die auf der Annahme beruhen, dass die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls umso größer ist, je mehr negative Indikatoren bei einem Probanden vorliegen (Göppinger 2008, 238 f.). Auch gegen die statistischen Prognoseverfahren richtet sich vielfältige Kritik. Haupteinwand ist, dass mit der Feststellung der Zugehörigkeit zu einer statistischen Gruppe mit bestimmter Rückfallwahrscheinlichkeit wenig für die konkrete Beurteilung des Einzelfalls gewonnen ist (Göppinger 2008, 240). Ein bestimmter Zustand eines Individuums ist eng mit der eigenen Seinsentwicklung verbunden, der daher mittels statistischer Diagnoseverfahren nicht zutreffend erfasst werden kann (Simmert 2017, 505). Die statistischen Prognoseinstrumente liefern zwar wichtige Hinweise, welche Risikofaktoren empirisch häufig sind und bedacht werden müssen, erlauben aber im individuellen Fall nur eine begrenzte prognostische Einschätzung (Boetticher u. a. 2009, 479). Zuverlässigkeit, Treffsicherheit und empirische Absicherung der bisher verwendeten statistischen Verfahren (zu den verschiedenen Modellen eingehend Göppinger 2008, 230 ff.) werden begründet in Zweifel gezogen (NK-Pollähne 2017, § 63 Rn. 66 zur Basisraten-Prognostik). Ein besonderer Mangel der statistischen Prognose liegt darin, dass sie zu statisch auf Vergangenes, z. B. die bisherigen Taten und Dispositionen des Probanden, fixiert ist und die Auswirkungen der Sanktionen bzw. der kriminalprognostischen Entscheidung selbst nicht hinreichend berücksichtigen kann (Kaiser 1996, 966; Schöch 2010, 94 f.; eingehend Göppinger 2008, 238 ff.). Im Strafverfahren kann ein Urteil nicht auf statistische Methoden gestützt werden (BGHSt 50, 121 [130 f.]). Umstritten ist, ob die statistischen Prognoseverfahren dem intuitiven Vorgehen überlegen sind (Kaiser 1996, 969; Schöch 2010, 102 m. w. N.). Immerhin ermöglichen sie begrenzte Aussagen über
Gefährdungen bzw. Rückfallrisiken bei bestimmten Tätergruppen und geben damit einige zusätzliche Anhaltspunkte für die Prognoseentscheidung. Ein prognostisches Verfahren, das Elemente der intuitiven, statistischen und klinischen Methoden enthält, wurde anhand der Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung entwickelt (Göppinger 1983, 119 ff.). Inwieweit die Methode, die Lebenslängsund Querschnittsbetrachtungen kombiniert und sich an den Praktiker ohne besondere Fachausbildung wendet, aussagekräftig ist und die Mängel des statistischen Prognoseverfahrens vermeidet, ist nicht ausgemacht (vgl. dazu Streng 2012, Rn. 789). Der psychiatrische Sachverständige wird, wenn eine Unterbringung in Betracht kommt, seine Untersuchungen und sein Gutachten auch auf die Prognose der künftigen Gefährlichkeit im Sinne von § 63 StGB erstrecken. Für diese ist die Erforschung der Täterpersönlichkeit in ihren verschiedenen Dimensionen und Bezügen ebenso wie für die Frage der Schuldfähigkeit von maßgeblicher Bedeutung. Mit der Einbeziehung der prognostischen Fragen verliert die Tätigkeit des Sachverständigen die nur rückwärtsgewandte Ausrichtung auf die Feststellung vergangener psychischer Zustände bei der Tat und gewinnt eine mehr zukunftsorientierte Dimension. Für die Entscheidung über die Unterbringung bedarf das Gericht, soll es nicht allein auf die intuitive Prognose angewiesen bleiben, der Hilfe des psychiatrischpsychologischen Sachverständigen, der mit den ihm zur Verfügung stehenden Untersuchungsmethoden wesentliche Daten für die gerichtliche Prognoseentscheidung beitragen kann. Voraussetzung der Unterbringung ist, dass der Täter für die Allgemeinheit gefährlich ist; bloße Selbstgefährdung reicht also nicht aus. Eine Gefährdung der Allgemeinheit ist aber nicht nur dann gegeben, wenn es sich um eine unbestimmte Vielzahl von Personen handelt (Schönke, Schröder / Kinzig 2019, § 63 Rn. 19). Sie liegt vielmehr auch dann vor, wenn lediglich eine einzelne Person bedroht ist, sei sie unbestimmt als „Repräsentant“ der Allgemeinheit (SK-Sinn 2016, § 63 Rn. 14) oder als bestimmte Einzelperson konkret (h. M.; BGHSt 26, 321; MK-van Gemmeren 2016, § 63 Rn. 60;
restriktiver bei singulären Konflikten NK-Pollähne 2017, § 63 Rn. 50 f.). Die Gefährlichkeit des Täters, d. h. die Erwartung erheblicher rechtswidriger Taten, muss infolge seines Zustands der Schuldunfähigkeit bzw. seiner verminderten Schuldfähigkeit bestehen. Sie muss auf diesem Zustand, auf den auch die Anlasstat zurückzuführen ist, beruhen (BGHSt 27, 246; Schönke, Schröder / Kinzig 2019, § 63 Rn. 20). Anlasstat wie zu erwartende Taten müssen also die gleiche „Defektquelle“ (BGH, NJW 1998, 2987; BGH, NStZ 2004, 331 f.) haben. Nicht erforderlich ist, dass die den Anlass des Verfahrens bildende Tat vergleichbare Taten erwarten lässt. Entscheidend ist, dass sie auf dieselbe psychische Störung zurückgeht.
Merke Der vom Gesetz verlangte Kausalzusammenhang zwischen dem Zustand der Schuldunfähigkeit bzw. der verminderten Schuldfähigkeit und den künftigen Straftaten bedeutet, dass praktisch nur länger andauernde Störungen im Sinne der §§ 20, 21 StGB zu einer Unterbringung führen können. Bei einem sonst gesunden Täter, der die Anlasstat z. B. im Affekt oder Rausch begangen hat und deshalb nach § 20 bzw. § 21 StGB exbzw. dekulpiert wurde, dürften i. d. R. keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass er aus demselben Grund erneut Straftaten begehen wird. Eine Unterbringung kommt deshalb in solchen Fällen nur selten in Betracht (SSW-StGB-Kaspar 2019, § 63 Rn. 36).
8.5.3. Die Voraussetzungen der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB
§ 64 StGB (Unterbringung in einer Entziehungsanstalt) Hat eine Person den Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, und wird sie wegen einer rechtswidrigen Tat, die sie im Rausch begangen hat oder die auf ihren Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil ihre Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so soll das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anordnen, wenn die Gefahr besteht, daß sie infolge ihres Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird. Die Anordnung ergeht nur, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, die Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt innerhalb der Frist nach § 67d Absatz 1 Satz 1 zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen. Der Zweck der Unterbringung Nach einer Ansicht besteht der Zweck der Unterbringung allein in der Besserung, nicht der Sicherung (Wendisch 1981, 319; Best und Rössner 2007, 265). Diese Auffassung kann sich auf die Gesetzesmaterialien stützen. So heißt es u. a. im zweiten schriftlichen Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform (BT-Drs. V / 4095, 26), mit der Unterbringung in der Entziehungsanstalt werde nur der Zweck der Resozialisierung, nicht auch der der Sicherung verfolgt. Der Besserungszweck allein kann jedoch nicht die Anordnung einer strafrechtlichen Maßregel rechtfertigen, weil diese stets auf den Zweck der Sicherung vor künftigen Straftaten bezogen sein muss (BGH, NStZ 2003, 86; LK-Schöch 2008, § 64 Rn. 3; MK-van Gemmeren 2016 § 64 Rn. 1). Eine Besserung kann nur insoweit Aufgabe des Strafrechts sein, als dadurch die Gefährlichkeit des Täters beseitigt wird. Die Maßregel des § 64 StGB hat danach nicht nur den Zweck, den Täter in seinem persönlichen Interesse einer Suchtbehandlung zuzuführen, weil die Alkoholtherapie als solche
nicht Aufgabe des Strafrechts sein kann. Die Verhängung der Maßregel des § 64 StGB hat sich vielmehr – wie auch der BGH bestätigt hat (BGHSt 28, 327 [332]) – primär an den Belangen der öffentlichen Sicherheit auszurichten und dient in erster Linie dem Schutz vor gefährlichen Tätern, auch wenn dieser Zweck sich durch Besserung erreichen lässt. Die Maßregel nach § 64 StGB ist daher weder ein Mittel der bloßen Suchtfürsorge, noch darf diese Fürsorge unsachgemäß in den Vordergrund treten (BGH a. a. O.; SSW-StGBKaspar 2019, § 64 Rn. 5). Damit steht nicht im Widerspruch, dass das Gesetz – wie sich aus der zeitlichen Begrenzung der Unterbringung auf grundsätzlich 2 Jahre gem. § 67d Abs. 1 StGB ergibt – die Maßregel nur zur Verfügung stellt, soweit der Sicherungszweck sich durch Besserung erreichen lässt (OLG Celle, NStZ 1981, 317). Zutreffend spricht Schöch von einer Beschränkung auf die Zweckerreichung durch Besserung (LK-Schöch 2008, § 64 Rn. 7). Das Bundesverfassungsgericht verlangt, dass die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nur für Fälle angeordnet werden darf, in denen sie geeignet ist, den Schutzzweck gerade durch Behandlung zu erreichen (BVerfGE 91, 1 [28]; Dessecker 2004, 205). Die Zukunft dieser Maßregel ist deshalb umstritten. Gegen die ersatzlose Abschaffung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ist einzuwenden, dass damit spezialisierte Einrichtungen auch für nicht kranke Straftäter aufgegeben würden (vgl. dazu Dessecker 1995, 319 ff.).
Merke Zweck der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ist danach, zur Sicherung der Allgemeinheit den gefährlichen Süchtigen durch Behandlungsmaßnahmen von seinem Hang zu heilen und die zugrunde liegende Fehlhaltung zu beheben (§ 137 StVollzG). Die rechtswidrige Tat als Voraussetzung der Maßregel
Zum Merkmal der rechtswidrigen Tat als Voraussetzung der Maßregel kann weitgehend auf die Ausführungen zu § 63 StGB verwiesen werden (➤ Kap. 8.5.2). Auch hier genügt ein mit Strafe bedrohter Versuch ebenso wie eine fahrlässig begangene Tat (Schönke, Schröder / Kinzig 2019, § 64 Rn. 8). Strafbefreiender Rücktritt und fehlender Strafantrag stehen der Unterbringungsanordnung entgegen. Auch eine Rauschtat nach § 323a StGB sowie Taten, die dem schuldunfähigen Täter nach den Grundsätzen der „actio libera in causa“ angelastet werden, sind taugliche Anlasstaten im Sinne des § 64 StGB (Schönke, Schröder / Kinzig 2019, § 64 Rn. 9). Anders als bei § 63 StGB stellen für eine Unterbringung in der Entziehungsanstalt nicht Schuldunfähigkeit oder zumindest erwiesene verminderte Schuldfähigkeit die Voraussetzung dar. Der Wortlaut des Gesetzes – „verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil ihre Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist“ – zeigt eindeutig, dass diese Maßregel sowohl gegenüber als voll verantwortlich verurteilten Tätern angeordnet werden kann als auch gegenüber solchen, die freigesprochen werden, weil ihre Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist (BGH, NStZ-RR 2013, 74; NStZ-RR 2003, 12 [41]). Die Begriffe Hang, Abhängigkeit und Missbrauch Die Voraussetzung der Unterbringung ist weiter ein „Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen“. Nach gebräuchlicher Formel bedeutet Hang eine eingewurzelte, aufgrund psychischer Disposition bestehende oder erworbene, den Täter treibende und beherrschende Neigung, immer wieder Alkohol oder andere Rauschmittel im Übermaß zu sich zu nehmen (Detter NStZ 2014, 22 [25]; Lackner / Kühl und Heger 2018, § 64 Rn. 2). Bloß gelegentlicher Alkoholmissbrauch reicht nicht aus; es muss sich um ein suchtartiges Verhalten handeln, bei dem ständig oder von Zeit zu Zeit Rauschmittel in Mengen genossen werden, die das Maß des gesundheitlich Verträglichen überschreiten (BGHSt 3, 339 f.). Eine
starke Neigung zum Alkohol, die im Zusammenwirken mit charakterlichen Mängeln die Ursache von Straftaten bildet, genügt dafür noch nicht (BGH a. a. O.). Der „Hang“ muss sich auf ein „Übermaß“ richten. Solches Übermaß bezieht sich auf die körperliche Verträglichkeit, nicht auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit (Schönke, Schröder / Kinzig 2019, § 64 Rn. 6). Übermaß heißt nicht, mehr zu trinken, als man bezahlen kann, sondern mehr zu trinken, als man vertragen kann (BGHSt 3, 339 f.). Es soll vorliegen, wenn der Täter alkoholische Getränke oder andere Rauschmittel aufgrund seines Hangs immer wieder in solchen Mengen zu sich nimmt, dass er in einen Rauschzustand gerät oder doch infolge des häufigen Genusses sozial gefährdet oder gefährlich erscheint, und sei es auch nur dadurch, dass er seine Gesundheit schädigt oder seine Arbeits- und Leistungsfähigkeit wesentlich herabsetzt (BGHSt 3, 339 f.; Fischer 2019, § 64 Rn. 7 m. w. N.). Ein „Hang zum Übermaß“ liegt demnach nicht vor, wenn jemand nur einmal oder gelegentlich Rauschmittel mit der Folge einer Straftat zu sich nimmt, weil es am Zusammenhang zwischen Übermaß und Hang fehlt (BGH, NStZ 1998, 407; BGH, NStZ-RR 2012, 72 [73]). Hang zum Übermaß setzt ein Überschreiten des gesundheitlich Verträglichen in dem Maße voraus, dass der Täter in einen Rausch gerät, seine Gesundheit schädigt oder seine Arbeits- und Leistungsfähigkeit herabsetzt (Lackner / Kühl und Heger 2018, § 64 Rn. 2). Die Verständigung zwischen Gerichten und Sachverständigen wird dadurch erschwert, dass sich die gebräuchliche medizinische Terminologie mit dem erläuterten, im Gesetz verwendeten Begriff des „Hanges zum Übermaß“ nicht deckt. Medizinisch wird in Anlehnung an die Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zwischen „Abhängigkeit“ und „Missbrauch“ unterschieden (Feuerlein 1984, 12). Unter Abhängigkeit wird ein „Zustand krankhafter Beziehung zwischen einem Individuum und einer psychotropen Substanz“ verstanden. Dieser „ist charakterisiert durch Verhaltensänderungen, durch ein unbezwingbares gieriges Verlangen nach Selbstverwandlung, durch Verlust der Konsumkontrolle bzw. durch das Vorrangigwerden der
psychotropen Substanz im Leben des Betroffenen“ (Bericht zur Lage der Psychiatrie, BT-Drs. 7 / 4200, 266). Die Abhängigkeit ist zunächst eine psychische; je nach Art der Drogen kann eine körperliche hinzukommen. Von ihr spricht man, wenn nach dem Absetzen der Substanz Entzugserscheinungen auftreten, die in manchen Fällen schwere Krankheitserscheinungen darstellen und zum Tode führen können. „Körperliche Abhängigkeit stellt die wesentliche Ursache für das Phänomen des Nichtmehraufhörenkönnens mit dem Konsum von bestimmten Suchtmitteln (z. B. Alkohol) dar im Sinne der Unfähigkeit zur Abstinenz“ (Bericht a. a. O., 266; vgl. auch Anhang zum Bericht über die Lage der Psychiatrie, BT-Drs. 7 / 4201, 44 ff.). Missbrauch ist dagegen nach medizinischer Terminologie der einmalige, gelegentliche oder auch kontinuierliche überhöhte und gefährliche Gebrauch einer Substanz ohne medizinische Indikation bzw. in nicht üblicher Form (LK-Schöch 2008, § 64 Rn. 59; Anhang zum Bericht, BT-Drs. 7 / 4201, 45). Missbrauch ist noch keine Abhängigkeit, kann aber bei kontinuierlicher Fortsetzung eine Vorstufe zu dieser darstellen (LK-Hanack, a. a. O.).
Merke Abhängigkeit im medizinischen Sinn stellt regelmäßig einen Hang zum Übermaß im Sinne von § 64 StGB dar, der Missbrauch kann es im Einzelnen sein, wenn er die soziale Gefährdung hinsichtlich Gesundheit und Leistungsfähigkeit zur Folge hat, die den Hang charakterisiert (BGHSt 3, 339 f.). Meist dürfte in solchen Fällen freilich bereits eine Abhängigkeit im medizinischen Sinne vorliegen (vorsichtiger LK-Schöch 2008, § 64 Rn. 60). Der Begriff der berauschenden Mittel Berauschende Mittel im Sinne von § 64 StGB sind neben dem im Gesetz ausdrücklich genannten Alkohol alle anderen Substanzen,
die in ähnlicher Weise berauschend oder betäubend wirken (Schönke, Schröder / Kinzig 2019, § 64 Rn. 7; SK-Sinn 2016 § 64 Rn. 5). Danach zählen zu den „anderen berauschenden Mitteln“ im Sinne des § 64 StGB z. B. die im BtMG und in den BtMGleichstellungsverordnungen genannten Stoffe und Produkte, z. B. Marihuana, Heroin, LSD, Opium, Ecstasy und Schnüffelstoffe (Stoffe, die inhaliert werden; vor allem in Lösungs-, Klebe- oder Reinigungsmitteln, aber auch in Treibstoff oder Spray-Treibgasen enthaltene Substanzen). Ferner zählen dazu Arznei- und Aufputschmittel, die bei Missbrauch berauschende oder betäubende Zustände mit Suchtzuständen und gesundheitlichen Schäden nach sich ziehen (SSW-StGB-Kaspar 2019, § 64 Rn. 17). Die Anlasstat Die Anlasstat muss im Rausch begangen worden sein oder auf den Hang zurückgehen, d. h., zwischen der Tat und dem Rausch bzw. Hang muss ein ursächlicher Zusammenhang bestehen (Schönke, Schröder / Kinzig 2019, § 64 Rn. 10). „Auf den Hang zurückgehen“ ist der Oberbegriff, „im Rausch begangen“ nur ein Unterfall, sodass eine scharfe begriffliche Trennung zwischen beiden Alternativen nicht unbedingt erforderlich ist, wenn nur feststeht, dass eine von beiden mit Sicherheit gegeben ist. Im Rausch begangen ist die Tat, wenn sie während des die geistigpsychischen Fähigkeiten beeinträchtigenden Rauschzustands stattfindet, wobei die Begehung der Tat symptomatisch sein, also auf den Rausch zurückgehen muss (BGH, NStZ-RR 2012, 72 [73]; Kindhäuser 2017, § 64 Rn. 6). Zur verminderten Schuldfähigkeit oder zur Schuldunfähigkeit muss der Rausch aber nicht geführt haben. Ein ursächlicher Zusammenhang mit dem Hang liegt vor, wenn die Tat „ihre Wurzel“ in der Alkoholoder Rauschmittelabhängigkeit hat (Fischer 2019, § 64 Rn. 13; SK-Sinn 2016, § 64 Rn. 8). Im akuten Rausch braucht die Tat also nicht begangen worden zu sein (Schönke, Schröder / Kinzig 2019, § 64 Rn. 10). Eine ursächliche Verknüpfung mit dem Hang liegt z. B. bei Beschaffungskriminalität
vor, wenn der Täter Delikte begeht, z. B. Apothekeneinbrüche, Rezeptfälschungen oder Diebstähle, um an Rauschmittel oder das für ihren Erwerb notwendige Geld zu kommen, aber auch bei Delikten, die auf einer suchtbedingten Depravierung der Persönlichkeit und der Zerstörung ihrer sozialen Beziehungen beruhen, wie z. B. der Verletzung der Unterhaltspflicht (Kindhäuser 2017, § 64 Rn. 6; Kreuzer 1971, 111; Marquardt 1972, 92 ff.). Die Tat muss Symptomwert für den Rausch bzw. den Hang des Täters haben; denn in ihr muss die auf den Hang zurückgehende Gefährlichkeit zum Ausdruck kommen (BGH, NJW 1990, 3282 [3283]; BGH, NStZ-RR 1997, 231; Lackner / Kühl und Heger 2018, § 64 Rn. 3). Daher kommen solche Taten nicht in Betracht, die auch ein nicht im Übermaß Rauschmittel nehmender Täter in der gleichen Situation verübt haben würde oder könnte (BGH, NStZ-RR 2012, 73 [74]; LK-Schöch 2008, § 64 Rn. 42). Die Gefährlichkeitsprognose Nach der Gesetzesfassung weist die Gefährlichkeitsprognose einige Unterschiede zu der in § 63 StGB geforderten auf: Weder wird eine Gesamtwürdigung von Täter und Tat verlangt noch ausdrücklich auf die Gefährlichkeit für die Allgemeinheit abgestellt. Anders als im § 63 StGB ist hier nicht von der „Erwartung“ der Begehung weiterer Straftaten die Rede, sondern von „Gefahr“. Darüber, welchen Grad von Wahrscheinlichkeit diese Gefahr verlangt, gehen die Auffassungen teilweise auseinander. So sieht Sinn (SK-Sinn 2016, § 64 Rn. 13) keinen sachlichen Unterschied zur „Erwartung“ des § 63 StGB, während andere davon ausgehen, dass „Gefahr“ weniger als „Erwartung“ fordere, der verlangte Grad an Wahrscheinlichkeit in § 64 StGB also geringer sei (Fischer 2019, § 64 Rn. 15; Lackner / Kühl und Heger 2018, § 64 Rn. 5). Mit der überwiegenden Meinung ist davon auszugehen, dass eine „Gefahr“ eher gegeben ist als die „Erwartung“ im Sinne des § 63 StGB. Das folgt nicht nur aus dem Wortlaut des Gesetzes, sondern ergibt sich auch aus dem Zweck des § 64 StGB, der die Schwelle für eine Unterbringung generell
niedriger ansetzt als § 63 StGB, im Gegenzug aber auch aufgrund der zeitlichen Befristung auf grundsätzlich 2 Jahre weniger intensiv in die Freiheit des Täters eingreift. Sicher ist auch, dass die bloße Wiederholungsmöglichkeit nicht ausreicht, um eine Gefahr anzunehmen (BGH, StV 2005, 21; Schönke, Schröder / Kinzig 2019, § 64 Rn. 12). Praktisch dürften im Einzelfall wenig Schwierigkeiten bestehen, die Wiederholungsgefahr zu bestimmen, da sie sich aus dem „Hang zum Übermaß“ entweder geradezu aufdrängt oder aber nicht sicher genug beurteilen lässt. Im letzteren Fall aber darf nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ eine Unterbringung nicht angeordnet werden (SSW-StGB-Kaspar 2019, § 64 Rn. 32). Die Gefahr muss sich auf die Begehung weiterer erheblicher rechtswidriger Taten beziehen (BGH, NStZ 1994, 280). Der Erwerb kleiner Rauschgiftmengen zum Eigenkonsum reicht für eine Unterbringung noch nicht aus. Auch für das Merkmal der Erheblichkeit stellt sich die Frage, ob derselbe Maßstab gilt wie bei § 63 StGB oder ein geringerer. Verbreitet findet sich die Ansicht, für § 64 StGB seien weniger strenge Anforderungen an die Erheblichkeit zu stellen, weil hier für die Unterbringung der Besserungszweck im Vordergrund stehe und sie auf 2 Jahre befristet sei, also die Freiheit des Täters weniger intensiv beschneide (Fischer 2019, § 64 Rn. 15; Kindhäuser 2017, § 64 Rn. 8; Meier 2001, 269; kritisch dazu SK-Sinn 2016, § 64 Rn. 13). Für diese Meinung spricht auch, dass nur ein geringerer Grad an Wahrscheinlichkeit künftiger Taten verlangt wird. Praktisch dürften sich freilich kaum Unterschiede ergeben. Maßgeblich muss wie beim § 63 StGB auch hier sein, ob die zu erwartenden Taten den Rechtsfrieden so erheblich stören, dass dem Täter wegen seiner Sucht das Sonderopfer einer grundsätzlich bis zu 2 Jahre dauernden Unterbringung auferlegt werden darf. Bei gleichzeitiger Verurteilung zu Freiheitsstrafe und Vorwegvollstreckung der Maßregel unter Anrechnung auf die Strafe (§ 67 StGB) wird dieses Sonderopfer freilich erheblich geringer erscheinen (LK-Schöch 2008, § 64 Rn. 90). Wie bei der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ist davon auszugehen, dass bloß „lästige“ Taten sowie Bagatelldelikte für eine Unterbringung nach § 64 StGB nicht
ausreichen, hingegen drohende Taten der mittleren Kriminalität zu einer Unterbringung in der Entziehungsanstalt führen können (SKHorn 1999, § 64 Rn. 13). Die Gefahr weiterer Straftaten muss sich aus dem Hang des Täters ergeben, dieser Hang muss also auch für künftige Delikte kausal erscheinen. Obwohl in § 64 StGB die in § 63 StGB enthaltene Klausel fehlt, dass aufgrund einer „Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat“ entschieden werden soll, kann hier im Hinblick auf den erheblich belastenden Charakter der Unterbringung sachlich nicht anders verfahren werden. Die Prognose ist mit aller möglichen Sorgfalt zu erstellen. Dabei ist auch für § 64 StGB eine Gesamtwürdigung vorzunehmen, die sich auf die Persönlichkeit des Täters, seine Lebensumstände und Entwicklung und dabei insbesondere auf die Entwicklung seines Hangs erstreckt (BGH, NJW 2014, 565; SSW-StGB-Kaspar 2019, § 64 Rn. 32). Die konkrete Aussicht auf einen Behandlungserfolg Mit der Neuformulierung des Gesetzes vom 16.7.2007 (BGBl. I, 1327) wurde gesetzlich klargestellt, dass eine Unterbringung und ihr Vollzug nur erfolgen dürfen, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, den Süchtigen zu heilen oder doch über eine gewisse Zeitspanne vor einem Rückfall in die akute Sucht zu bewahren (vgl. BVerfGE 91, 1 ff.). Bei therapieunfähigen Personen ist eine Anordnung mithin nach § 64 S. 2 StGB unzulässig. Damit unterbleibt die Anordnung, wenn eine Entziehungskur von vornherein aussichtslos erscheint. Das kann z. B. der Fall sein, wenn der Täter bereits mehrere erfolglose Entziehungsversuche hinter sich hat und auch eine weitere Kur keine bessere Aussicht verspricht, nicht aber schon dann, wenn der Erfolg der Kur nur bezweifelbar ist (Fischer 2019, § 64 Rn. 18a ff.). Es müssen aber konkrete Anhaltspunkte festzustellen sein, dass eine, sei es auch nur geringe, Chance einer Besserung besteht und ein Behandlungsversuch indiziert erscheint. Dann soll die Unterbringung angeordnet werden; denn auch dann kann von einer hinreichend konkreten Erfolgsaussicht gesprochen werden (Schönke, Schröder /
Kinzig 2019, § 64 Rn. 14; Kindhäuser 2017, § 64 Rn. 9; zu eng Fischer 2019, § 64 Rn. 19). Dabei ist „Besserung“ nicht mit „Heilung“, die eine Aufhebung der Abhängigkeit vom Rauschmittel bedeuten würde, zu verwechseln, die bei Suchtkranken selten möglich erscheint. Ziel einer Entziehungskur kann immer nur sein, dem Abhängigen zu helfen, der Versuchung des Alkoholtrinkens oder der Einnahme von Rauschmitteln zu widerstehen. Eine prognostizierte Behandlungsdauer von mehr als 2 Jahren – was nach § 67d Abs. 1 S. 1 StGB grundsätzlich der Höchstfrist dieser Maßregel entspricht – schließt eine konkrete Erfolgsaussicht nicht von vornherein aus. Dafür streitet – steht alternativ die Sicherungsverwahrung im Raum – der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Der Gesetzgeber hat diese auch in der Rechtsprechung umstrittene Frage (BGH, StV 2014, 598 [599] m. w. N. anderslautender Entscheidungen anderer Senate) mit dem Verweis auf § 67d Abs. 1 S. 1 und 3 StGB nunmehr wie hier vertreten klargestellt („Gesetz zur Novellierung des … § 63 …“ vom 8.7.2016 [BGBl. I, 1610]). Allerdings als Ausnahme gedacht kommt eine Unterbringung auch dann in Betracht, wenn eine mehr als 2-jährige Behandlungsdauer zu prognostizieren ist (BGH, NStZ-RR 2019, 136 [137]). Die Therapieunwilligkeit des Täters schließt die Verhängung der Maßregel nicht von vornherein aus, sofern die Möglichkeit besteht, dass die fehlende Bereitschaft des Angeklagten, sich therapieren zu lassen, noch geweckt werden kann (BGH, NStZ 2013, 239 f.). Die fehlende Motivation kann zwar ein Indiz sein, das gegen die Erfolgsaussicht spricht. Lässt sie sich als erstes Behandlungsziel aber erreichen, kommt § 64 StGB auch gegen den Willen des Täters in Betracht (BGH, NStZ-RR 1998, 70; BGH, NJW 2000, 3015 f.; BGH, NStZ-RR 2002, 7 m. w. N.; Fischer 2019, § 64 Rn. 20; Pfäfflin 1998, 156 f.). Die Unterbringung darf nicht weiter vollzogen werden, wenn entgegen einer anfänglich positiven Prognose keine hinreichende Aussicht mehr auf einen Behandlungserfolg besteht (BVerfGE 91, 1; OLG Frankfurt, NStZ-RR 2002, 299). Das ist bei einer zwischenzeitlichen Krise i. R. einer Therapie nicht ohne Weiteres
anzunehmen (Fischer 2019, § 67d Rn. 21). Ist die konkrete Erfolgsaussicht in zuverlässiger Weise entfallen, muss das Gericht die Maßregel für erledigt erklären (§ 67d Abs. 5 S. 1 StGB). Für die erforderlichen Feststellungen muss in der Hauptverhandlung ein für die Fragen des § 64 StGB sachkundiger Sachverständiger hinzugezogen werden (§ 246a StPO), es sei denn, eine Unterbringung kommt offensichtlich nicht in Betracht (BT-Drs. 16 / 5137, 11). Im Vorverfahren soll das bereits geschehen, wenn sich die Möglichkeit einer Unterbringung abzeichnet (§ 80a StPO). Die Anordnung der Maßregel ist entgegen der alten Fassung nicht zwingend. Vielmehr hat der Tatrichter ein aufgrund der Sollvorschrift des § 64 S. 1 StGB eng begrenztes Ermessen. In besonderen Ausnahmefällen kann damit von einer Anordnung abgesehen werden. Gedacht ist an Fälle baldiger Ausweisung oder fehlender und nicht behebbarer Sprachkundigkeit (BT-Drs. 16 / 5137, 10). Systematisch belegt die Sollregelung – sie wäre sonst überflüssig (vgl. Fischer 2019, § 64 Rn. 22) – , dass an die konkreten Erwartungen eines Behandlungserfolgs nicht zu strenge Anforderungen zu stellen sind. Da es Aufgabe der Vollzugsbehörden der Länder ist, für die behandlungs- und besserungsfähigen Täter hinreichend geeignete Therapieplätze bereitzustellen (BGHSt 36, 199 [201]; BT-Drs. 16 / 5137,10), darf die Anordnung der Unterbringung nicht von den zurzeit vorhandenen Behandlungsmöglichkeiten abhängig gemacht werden; sie hat sich vielmehr allein am Täter auszurichten. Eine Unterbringung ist daher auch dann anzuordnen, wenn im zuständigen Bereich eine Anstalt fehlt, die eine erfolgversprechende Suchtbehandlung durchführen könnte (BGHSt 28, 327). Die Unterbringung nach § 64 StGB darf nicht davon abhängig gemacht werden, ob sich auch andere, weniger einschneidende Behandlungsmaßnahmen (etwa eine freiwillige Entziehungskur) anbieten. Beim Vorliegen der Voraussetzungen und Fehlen eines Ausnahmetatbestands ist die Unterbringung – vom Revisionsgericht überprüfbar – anzuordnen (BGH, NStZ-RR 2003, 12), sodass auch in einem solchen Fall nach § 64 StGB verfahren werden muss; allerdings kommt dann u. U. eine Aussetzung der Maßregel zur
Bewährung gem. § 67b StGB in Betracht (Schönke, Schröder / Kinzig 2019, § 64 Rn. 18, 20; Fischer 2019, § 67b Rn. 3).
8.5.4. Die Voraussetzungen der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB Die einschneidendste und zugleich fragwürdigste Maßregel, die das deutsche Recht kennt, ist die Sicherungsverwahrung (SV). Bei ihrer Anordnung tritt der Aspekt der Besserung völlig in den Hintergrund: Es geht einzig und allein um die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit, die vor rückfallgefährdeten, hochgefährlichen Hangverbrechern geschützt werden sollen (Jescheck und Weigend 1996, 814; LK-Rissing-van Saan / Peglau 2008, § 66 Rn. 3). Die Schuld des Täters spielt, wie bei den anderen Maßregeln, keine Rolle. Die SV ist deshalb auch zulässig, wenn der Täter seine schuldangemessene Strafe bereits verbüßt hat. Sie erstreckt sich folglich über das Ende der Strafvollstreckung hinaus, wenn der Täter weiterhin ein erhebliches Sicherheitsrisiko für die Allgemeinheit darstellt. Zeitlich ist sie unbegrenzt; die geschlossene Unterbringung kann theoretisch lebenslang andauern. Dieser Charakter mit seiner ausschließlichen Orientierung am Sicherungszweck stellt an die Rechtsstaatlichkeit besonders strenge Anforderungen. Ist schon die strafrechtliche Sanktion Ultima Ratio staatlicher Zwangsmaßnahmen, hat das für die SV in besonderem Maße zu gelten: Zu Recht wird sie als „letzte Notmaßnahme der Kriminalpolitik“ bezeichnet (BT-Drs. V / 4094, 19; BGHSt 30, 220 [222]; Bamberger, 2012, 213; NK-Böllinger und Dessecker 2017, § 66 Rn. 23). Es verwundert nicht, dass die SV unter den Maßregeln am häufigsten infrage gestellt wird (SSW-StGB-Harrendorf 2019, § 66 Rn. 1). Sie ist die härteste Konsequenz des Systems der Zweispurigkeit im deutschen Strafrecht, das Maßregeln von Strafen und damit Prävention von Repression unterscheidet. Ziel der Maßregel ist der präventive Schutz vor weiteren Taten des
Verwahrten. Die tatbezogene Schuld des Täters spielt für die Anordnung und Durchführung keine Rolle (Fischer 2019, § 66 Rn. 19; Landau 2013, 194, 197). An deren Stelle tritt gem. § 62 StGB die Verhältnismäßigkeit. Sie dient als eher schwaches Korrektiv zur Limitierung der Maßregel und muss als begrenzendes Merkmal die Funktion des Schuldprinzips bei den Strafen übernehmen (BGHSt 50, 199 [204]). Unterschieden wird zwischen der eigentlichen Sicherungsverwahrung gem. § 66 StGB, der vorbehaltenen gem. § 66a StGB (➤ Kap. 8.5.5), der nachträglichen gem. § 66b StGB (➤ Kap. 8.5.6) und der Unterbringung nach dem Therapieunterbringungsgesetz (➤ Kap. 8.5.7). Die Neuordnung der Sicherungsverwahrung nach den Urteilen des EGMR und des BVerfG Das Recht der SV ist geprägt von einer wahren Flut an Urteilen und Gesetzen im Laufe der letzten Jahre, sodass die aktuelle Rechtslage selbst für den Strafjuristen nur schwer nachvollziehbar ist (NKBöllinger und Dessecker 2017, § 66 Rn. 6; SSW-StGB-Harrendorf 2019, § 66 Rn. 3). Einer seit dem Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten (SexualdelBekG) vom 26.1.1998 zunehmenden Verschärfung der SV wurde mit Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg vom 17.12.2009 ein Riegel vorgeschoben (NJW 2010, 2495; NK-Böllinger und Dessecker 2017, § 66 Rn. 6). Mit dem SexualdelBekG war die absolute zeitliche Höchstgrenze der SV von 10 Jahren rückwirkend aufgehoben worden. Das Urteil des EGMR sah darin eine unzulässige Rückwirkung und einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 EMRK und Art. 7 Abs. 1 EMRK. Der EGMR stufte die SV trotz ihrer Bezeichnung und dogmatischen Herkunft als zweite Spur ebenfalls als Strafe im Sinne von Art. 7 Abs. 1 EMRK ein, was vor allem mit den geringen Unterschieden zwischen Straf- und Maßregelvollzug begründet wurde (Knauer 2014, 46, 48). Im Ergebnis widerspreche daher die rückwirkende Aufhebung der zeitlichen Höchstverwahrung dem strafrechtlichen
Rückwirkungsgebot (EGMR, EuGRZ 2010, 25, Rn. 124 ff. [127, 129, 133, 135, 137]). Die Feststellungen des EGMR zwangen den Bundesgesetzgeber zu einer ersten Neuordnung der gesetzlichen Grundlagen, die mit dem Gesetz zur Neuordnung der SV vom 22.10.2010 erfolgte (BGBl. I, 2300). Dieses Gesetz trat zum 1.1.2011 in Kraft und brachte zahlreiche Änderungen der §§ 66 ff. StGB mit sich, die das Ziel hatten, die nachträgliche SV zu beschränken (SK-Sinn 2016, Vor § 66 Rn. 33). Parallel wurde das Therapieunterbringungsgesetz (ThUG) erlassen (BGBl. 2010 I, 2300 [2305]). Kurz nach Inkrafttreten der Neuregelung folgten weitere Judikate, die auch das neu gefasste Konzept infrage stellten. So erklärte der EGMR am 13.1.2011 auch die nachträgliche SV nach § 66b StGB für konventionswidrig (EuGRZ 2011, 255 ff.). Er verneinte die Vereinbarkeit von § 66b StGB mit Art. 5 EMRK (der abschließend die zulässigen Formen des staatlichen Freiheitsentzugs nennt), weil die nachträgliche SV zu einer Art Präventivhaft führe und unter keine der in der EMRK zugelassenen Freiheitsentziehungen passe (so zuvor etwa Baltzer 2005, 208; Bender 2007, 162; Rzepka 2003, 209; Renzikowski 2004, 271; a. A.: Hörnle 2006, 386). Verkannt wurde indes, dass die EMRK in wertender Rechtsvergleichung nach europäischem Verständnis auszulegen ist, das staatliche Maßnahmen mit vergleichbarer Funktion wie die nachträgliche SV durchaus als „Freiheitsentziehung nach Verurteilung“ versteht, etwa durch die englische Three-strikes-and-you-are-out-Doktrin, bei der nach wiederholter schwerer Straftrat automatisch eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt wird, was von der Funktion her einer nachträglichen SV gleichsteht (Rosenau und Peters 2007, 586; Frisch 2013, 973). Das BVerfG sah sich indes zu einer Kehrtwende der eigenen Rechtsprechung gezwungen, hatte es doch noch 2006 die Verfassungsmäßigkeit der nachträglichen SV bei einer restriktiven Auslegung uneingeschränkt bejaht (BVerfG, NStZ 2007, 87 f.; Rosenau 2006, 286; BGHSt 50, 180 [185]). Es folgte nun den Vorgaben des EGMR und stellte am 4.5.2011 die Unvereinbarkeit der §§ 66 ff. a. F. StGB mit Art. 2 Abs. 2 S. 2 i. V. m. Art. 104 Abs. 1 GG und des § 67d Abs. 3 S. 1 a. F. StGB mit Art. 2 Abs. 2 S. 2 i. V. m. Art. 20 Abs. 3
GG fest. Zum einen verletzten die bestehenden Normen die Rechte des Verwahrten durch fehlende Einhaltung des Abstandsgebotes. Ein merklicher Unterschied zwischen Straf- und Maßregelvollzug sei, trotz mahnenden Hinweises durch das Gericht im Jahr 2004 (BVerfGE 109, 133) zur Notwendigkeit einer Neuregelung, nicht hergestellt worden (BVerfGE 128, 326). Zum anderen verletzte die Rückwirkung der Aufhebung der zeitlichen Begrenzung der SV den Vertrauensschutz der Verwahrten. Das Gericht zeigte, orientiert an den Vorgaben des EGMR (EuGRZ 2010, 25 ff.), sieben Eckpunkte auf, mit denen die Forderungen des Abstandsgebotes zu erreichen wären (Knauer 2014, 46, 48; Peglau 2013, 249 [250]; Bartsch 2013, 195): 1. Die Sicherungsverwahrung muss Ultima Ratio sein. 2. Es muss eine individuelle und intensive Behandlung des Verwahrten erfolgen. 3. Der Betroffene muss realistische Entlassungsperspektiven haben. Er muss gefördert werden; es ist auf das Ziel der Entlassung durch Mitarbeit bei der Behandlung hinzuwirken (Motivierungsgebot). 4. Verwahrung und Strafvollzug müssen voneinander organisatorisch und räumlich getrennt stattfinden (Abstands- oder Trennungsgebot). 5. Es müssen konkrete Vollzugslockerungen und Entlassungsvorbereitungen getroffen werden (Minimierungsgebot). 6. Der Verwahrte muss einen Anspruch auf die Maßnahmen zu seiner Besserung und auf einen Rechtsbeistand zur Durchsetzung erhalten (Rechtsschutz- und Unterstützungsgebot). 7. Es müssen regelmäßige Untersuchungen stattfinden, um festzustellen, ob die Gefährlichkeit des Betroffenen noch gegeben ist (Kontrollgebot). Die SV darf keine Verlängerung der Freiheitsstrafe sein. Die grundsätzlich unterschiedlichen verfassungsrechtlichen
Voraussetzungen von Strafe und Verwahrung verlangen einen deutlichen Abstand des Strafvollzugs zur SV (Leipold 2011, 312). Zudem wurde auf die Notwendigkeit einer strikten Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Bereich der SV verwiesen. Das Gericht ordnete die Weitergeltung der verfassungswidrigen Normen bis zum 31.5.2013 unter speziellen Vorgaben an und rief den Gesetzgeber auf, bis zum Ablauf der Übergangsfrist eine Lösung zu finden. Der Gesetzgeber nutzte die Frist nicht zu einer umfassenden Neuregelung des Maßregelrechts, sondern schuf mit dem Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der SV vom 5.12.2012 lediglich ergänzende Vorschriften zur Vollziehung, um die Verfassungsmäßigkeit der SV wiederherzustellen (Renzikowski 2013, 1638; SSW-StGB-Harrendorf 2019, § 66 Rn. 52). Des Weiteren wurde die nachträgliche SV (§ 66b StGB) für Neufälle abgeschafft, faktisch aber durch die vorbehaltene Sicherungsverwahrung (§ 66a StGB) ersetzt (➤ Kap. 8.5.5). Das Gesetz trat zum 1.6.2013 in Kraft. Ergänzende Vorschriften zum Vollzug obliegen den Bundesländern und wurden bereits erlassen (z. B. Bayerisches Sicherungsverwahrungsvollzugsgesetz vom 22.5.2013, GVBl., S. 275). Die Neuregelung wurde vom EGMR akzeptiert (EGMR, U 4.12.2018, Ilnseher v. Germany, Nr. 10211 / 12 und 2750514). Anwendung der neuen Vorschriften auf Altfälle
Art. 316e EGStGB (Übergangsvorschrift zum Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen) (1) Die Vorschriften über die Sicherungsverwahrung in der Fassung des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 (BGBl. I S. 2300) sind nur anzuwenden, wenn die Tat oder mindestens eine der Taten, wegen deren Begehung
die Sicherungsverwahrung angeordnet oder vorbehalten werden soll, nach dem 31. Dezember 2010 begangen worden ist. In allen anderen Fällen ist das bisherige Recht anzuwenden, soweit in den Absätzen 2 und 3 sowie in Artikel 316 f. Absatz 2 und 3 nichts anderes bestimmt ist. (2) Sind die Taten, wegen deren Begehung die Sicherungsverwahrung nach § 66 des Strafgesetzbuches angeordnet werden soll, vor dem 1. Januar 2011 begangen worden und ist der Täter deswegen noch nicht rechtskräftig verurteilt worden, so ist § 66 des Strafgesetzbuches in der seit dem 1. Januar 2011 geltenden Fassung anzuwenden, wenn diese gegenüber dem bisherigen Recht das mildere Gesetz ist. (3) Eine nach § 66 des Strafgesetzbuches vor dem 1. Januar 2011 rechtskräftig angeordnete Sicherungsverwahrung erklärt das Gericht für erledigt, wenn die Anordnung ausschließlich auf Taten beruht, die nach § 66 des Strafgesetzbuches in der seit dem 1. Januar 2011 geltenden Fassung nicht mehr Grundlage für eine solche Anordnung sein können. Das Gericht kann, soweit dies zur Durchführung von Entlassungsvorbereitungen geboten ist, als Zeitpunkt der Erledigung spätestens den 1. Juli 2011 festlegen. Zuständig für die Entscheidungen nach den Sätzen 1 und 2 ist das nach den §§ 454, 462a Absatz 1 der Strafprozessordnung zuständige Gericht. Für das Verfahren ist § 454 Absatz 1, 3 und 4 der Strafprozessordnung entsprechend anzuwenden; die Vollstreckungsbehörde übersendet die Akten unverzüglich an die Staatsanwaltschaft des zuständigen Gerichtes, die diese umgehend dem Gericht zur Entscheidung übergibt. Mit der Entlassung aus dem Vollzug tritt Führungsaufsicht ein. (4) § 1 des Therapieunterbringungsgesetzes vom 22. Dezember 2010 (BGBl. I S. 2300, 2305) ist unter den dortigen sonstigen Voraussetzungen auch dann anzuwenden, wenn der Betroffene noch nicht in Sicherungsverwahrung untergebracht, gegen ihn aber bereits Sicherungsverwahrung im ersten Rechtszug angeordnet war und aufgrund einer vor dem 4. Mai 2011 ergangenen Revisionsentscheidung festgestellt wurde, dass die Sicherungsverwahrung ausschließlich deshalb nicht rechtskräftig
angeordnet werden konnte, weil ein zu berücksichtigendes Verbot rückwirkender Verschärfungen im Recht der Sicherungsverwahrung dem entgegenstand, ohne dass es dabei auf den Grad der Gefährlichkeit des Betroffenen für die Allgemeinheit angekommen wäre. Art. 316e Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch (EGStGB) ist eine Überleitungsvorschrift, die versucht, Vertrauensschutz zu gewährleisten und Wertungswidersprüche aufgrund der Neuregelungen zu vermeiden. Auf vor dem 1.1.2011 begangene Anlasstaten ist grundsätzlich die bis 31.12.2010 geltende Fassung weiter anzuwenden (Schöch 2012, 47, 50; SSW-StGB-Harrendorf 2019, § 66 Rn. 53). Ausnahmen bestehen gem. Art. 316e Abs. 2 EGStGB, wonach auch auf Altfälle bis zum 31.12.2010 die Regelungen ab 1.1.2011 Anwendung finden, wenn gemäß der neuen Gesetzeslage keine SV mehr möglich ist. Bei zwischen dem 4.5.2011 und 31.5.2013 erfolgten Anordnungen, die den strengen Vorgaben des BVerfG folgen mussten, gelten diese Vorgaben nach Abs. 4 aus Vertrauensschutzgründen auch künftig bei der Überprüfung der Maßregel (SSW-StGB-Harrendorf 2019 a. a. O.). Die SV ist von Rechts wegen, also ohne weitere Begutachtung, bis zum 1.7.2011 für erledigt zu erklären, wenn alle zur Verwahrung führenden Taten nach neuerem Recht nicht mehr Ursache für eine Anordnung sein können (Abs. 3 S. 1 EGStGB) (BGHSt 57, 218 [221 f.]; OLG Nürnberg NStZ 2011, 703; MK-Ullenbruch, Drenkhahn, Morgenstern 2016 § 66 Rn. 255).
Art. 316 f. EGStGB (Übergangsvorschrift zum Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung) (1) Die bisherigen Vorschriften über die Sicherungsverwahrung sind in der ab dem 1. Juni 2013 geltenden Fassung anzuwenden, wenn die Tat oder mindestens eine der Taten, wegen deren Begehung die Sicherungsverwahrung angeordnet oder
vorbehalten werden soll (Anlasstat), nach dem 31. Mai 2013 begangen worden ist. (2) In allen anderen Fällen sind, soweit Absatz 3 nichts anderes bestimmt, die bis zum 31. Mai 2013 geltenden Vorschriften über die Sicherungsverwahrung nach Maßgabe der Sätze 2 bis 4 anzuwenden. Die Anordnung oder Fortdauer der Sicherungsverwahrung auf Grund einer gesetzlichen Regelung, die zur Zeit der letzten Anlasstat noch nicht in Kraft getreten war, oder eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung, die nicht die Erledigung einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus voraussetzt, oder die Fortdauer einer solchen nachträglich angeordneten Sicherungsverwahrung ist nur zulässig, wenn beim Betroffenen eine psychische Störung vorliegt und aus konkreten Umständen in seiner Person oder seinem Verhalten eine hochgradige Gefahr abzuleiten ist, dass er infolge dieser Störung schwerste Gewalt- oder Sexualstraftaten begehen wird. Auf Grund einer gesetzlichen Regelung, die zur Zeit der letzten Anlasstat noch nicht in Kraft getreten war, kann die Anordnung der Sicherungsverwahrung nur vorbehalten werden, wenn beim Betroffenen eine psychische Störung vorliegt und die in Satz 2 genannte Gefahr wahrscheinlich ist oder, wenn es sich bei dem Betroffenen um einen Heranwachsenden handelt, feststeht. Liegen die Voraussetzungen für eine Fortdauer der Sicherungsverwahrung in den in Satz 2 genannten Fällen nicht mehr vor, erklärt das Gericht die Maßregel für erledigt; mit der Entlassung aus dem Vollzug der Unterbringung tritt Führungsaufsicht ein. (3) Die durch die Artikel 1, 2 Nummer 1 Buchstabe c Doppelbuchstabe cc und Nummer 4 sowie die Artikel 3 bis 6 des Gesetzes zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung vom 5. Dezember 2012 (BGBl. I S. 2425) geänderten Vorschriften sind auch auf die in Absatz 2 Satz 1 genannten Fälle anzuwenden, § 67c Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 des Strafgesetzbuches jedoch nur dann, wenn nach dem 31. Mai 2013 keine ausreichende Betreuung im Sinne des § 66c des Strafgesetzbuches angeboten worden ist. Die Frist
des § 119a Absatz 3 des Strafvollzugsgesetzes für die erste Entscheidung von Amts wegen beginnt am 1. Juni 2013 zu laufen, wenn die Freiheitsstrafe zu diesem Zeitpunkt bereits vollzogen wird. Entsprechend Art. 316e EGStGB regelt Art. 316 f. Abs. 1 EGStGB die Altfälle des Zeitraums von 1.1.2011 bis 31.5.2013. Neu ist in Art. 316 f. Abs. 2 der äußerst problematische Begriff der psychischen Störung als Voraussetzung für die Anordnung der fortdauernden SV bei Altfällen (Detter 2014, 22 [29]; vgl. ➤ Kap. 8.5.7 zum ThUG). Die Voraussetzungen der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB
§ 66 StGB (Unterbringung in der Sicherungsverwahrung) (1) Das Gericht ordnet neben der Strafe die Sicherungsverwahrung an, wenn 1. jemand zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren wegen einer vorsätzlichen Straftat verurteilt wird, die a) sich gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung richtet, b) unter den Ersten, Siebenten, Zwanzigsten oder Achtundzwanzigsten Abschnitt des Besonderen Teils oder unter das Völkerstrafgesetzbuch oder das Betäubungsmittelgesetz fällt und im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zehn Jahren bedroht ist oder c) den Tatbestand des § 145a erfüllt, soweit die Führungsaufsicht auf Grund einer Straftat der in den Buchstaben a oder b genannten Art eingetreten ist, oder den Tatbestand des § 323a, soweit die im Rausch
begangene rechtswidrige Tat eine solche der in den Buchstaben a oder b genannten Art ist, 2. der Täter wegen Straftaten der in Nummer 1 genannten Art, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon zweimal jeweils zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, 3. er wegen einer oder mehrerer dieser Taten vor der neuen Tat für die Zeit von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe verbüßt oder sich im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung befunden hat und 4. die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, dass er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, zum Zeitpunkt der Verurteilung für die Allgemeinheit gefährlich ist. Für die Einordnung als Straftat im Sinne von Satz 1 Nummer 1 Buchstabe b gilt § 2 Absatz 3 entsprechend, für die Beendigung der in Satz 1 Nummer 1 Buchstabe c genannten Führungsaufsicht § 68b Absatz 1 Satz 4. (2) Hat jemand drei Straftaten der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 genannten Art begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verwirkt hat, und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 bezeichneten Voraussetzung neben der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und 3) anordnen. (3) Wird jemand wegen eines die Voraussetzungen nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 Buchstabe a oder b erfüllenden Verbrechens oder wegen einer Straftat nach den §§ 174 bis 174c, 176, 179 Abs. 1 bis 4, §§ 180, 182, 224, 225 Abs. 1 oder 2 oder wegen einer vorsätzlichen Straftat nach § 323a, soweit die im Rausch begangene Tat eine der vorgenannten rechtswidrigen Taten ist, zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt, so kann das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung
anordnen, wenn der Täter wegen einer oder mehrerer solcher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon einmal zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist und die in Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 und 4 genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Hat jemand zwei Straftaten der in Satz 1 bezeichneten Art begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verwirkt hat und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter den in Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 bezeichneten Voraussetzungen neben der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und 3) anordnen. Die Absätze 1 und 2 bleiben unberührt. (4) Im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 2 gilt eine Verurteilung zu Gesamtstrafe als eine einzige Verurteilung. Ist Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung auf Freiheitsstrafe angerechnet, so gilt sie als verbüßte Strafe im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 3. Eine frühere Tat bleibt außer Betracht, wenn zwischen ihr und der folgenden Tat mehr als fünf Jahre verstrichen sind; bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung beträgt die Frist fünfzehn Jahre. In die Frist wird die Zeit nicht eingerechnet, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist. Eine Tat, die außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs dieses Gesetzes abgeurteilt worden ist, steht einer innerhalb dieses Bereichs abgeurteilten Tat gleich, wenn sie nach deutschem Strafrecht eine Straftat der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, in den Fällen des Absatzes 3 der in Absatz 3 Satz 1 bezeichneten Art wäre. Die Voraussetzungen der SV sind zweistufig aufgebaut. Zunächst sehen die Absätze 1 bis 3 des § 66 StGB vier unterschiedliche formelle Voraussetzungen vor:
• § 66 Abs. 1 StGB knüpft an Vorverurteilungen aufgrund schwerer Vorstrafen an und gilt gefährlichen, bereits abgeurteilten Wiederholungstätern. • § 66 Abs. 2 StGB eröffnet eine Anordnungsmöglichkeit bei gewichtigen Vortaten ohne Vorverurteilung und gilt Serientätern. • § 66 Abs. 3 StGB schließlich umschreibt in Anlehnung an die beiden ersten Fallgruppen herabgesetzte Voraussetzungen für die SV, beschränkt auf Sexual- und Gewalttäter, die bestimmte Katalogtaten begangen haben und bereits Vorverurteilungen aufweisen (Abs. 3 S. 1) oder auch nicht (Abs. 3 S. 2). § 66 Abs. 2 und 3 StGB sind gegenüber Abs. 1 subsidiär (Kindhäuser 2017 § 66 Rn. 1; Fischer 2019, § 66 Rn. 31; NK-Böllinger und Dessecker 2017, § 66 Rn. 39); die Anordnung ist bei ihnen auch nicht zwingend vorgeschrieben, sondern in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts gestellt. Materiell wird für alle Fälle gleichermaßen die Feststellung des Hanges zu erheblichen Straftaten verlangt (§ 66 Abs. 1 Nr. 4 StGB). Der Anordnungszwang gem. § 66 Abs. 1 StGB Die obligatorische SV nach § 66 Abs. 1 StGB erfordert gem. § 66 Abs. 1 Nr. 2 StGB die zweimalige Verurteilung wegen einer Tat gemäß den Buchstaben a bis c zu einer jeweils zumindest 1-jährigen Freiheitsstrafe. Aufgrund dieser Taten muss zudem ein Freiheitsentzug mit einer Mindestdauer von 2 Jahren verbüßt worden sein (§ 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB). Trotz einer 2-jährigen Freiheitsstrafe muss der Täter erneut straffällig geworden sein. Es bedarf also einer Anlasstat, wegen der er zumindest mit einer weiteren 2-jährigen Freiheitsstrafe verurteilt wird (Fischer 2019, § 66 Rn. 25; NK-Böllinger und Dessecker 2017, § 66 Rn. 44). Da der Täter erneut straffällig geworden ist, obgleich er durch Vorverurteilungen und Vorverbüßung hätte gewarnt sein müssen, soll in der Kaskade von strafrechtlichen Reaktionen ein Indiz für die kriminelle Intensität und Gefährlichkeit des Täters liegen. Das setzt allerdings
voraus, dass die Warnfunktion jeweils zum Tragen kam, die Warnfunktion jeder Vortat also jeweils für die nachfolgende Tat relevant geworden ist. Deshalb müssen die Vorverurteilungen in zwei getrennten Hauptverhandlungen erfolgt sein (BGHSt 30, 220 [222]; BGH, NJW 2008, 3008; BGH, NStZ-RR 2009, 137). Es gilt das Schema Tat – Verurteilung – Tat – Verurteilung – Anlasstat (SK-Sinn 2016, § 66 Rn. 16; Kindhäuser 2017, § 66 Rn. 5). Diese Tat ist Anlass für die SV, wenn sie im Zusammenspiel mit den bereits vorher begangenen Taten symptomatisch für die spezifische Gefährlichkeit des Täters ist (BGH, NStZ 2001, 595 f.; BGH, NJW 1989, 3723 [3725]; BGHSt 24, 253 [256]). Weitere Konkretisierungen finden sich in § 66 Abs. 4 StGB. Umstritten ist, ob die erste Verurteilung vor der Begehung der zweiten Tat bereits Rechtskraft erlangt haben muss. Dies wird z. T. verneint, weil bereits die erstinstanzliche Verurteilung dem Täter zur Warnung gereichen müsse. Solange keine Rechtskraft eingetreten ist, muss jedoch die Unschuldsvermutung für den Beklagten gelten. Ein potenziell fehlerhaftes Urteil muss er sich nicht als Warnung zurechnen lassen. Es ist daher der Rechtsprechung und der h. M. zu folgen, welche die Rechtskraft verlangen (BGH 7, 178 f.; BGHSt 35, 6 [12]; BGHSt 38, 258 f.; SSW-StGB-Harrendorf 2019, § 66 Rn. 13). Anordnungsermessen bei Erstverurteilung aus § 66 Abs. 2 StGB Die nach § 66 Abs. 2 StGB erfolgende Anordnung soll vor allem unentdeckt gebliebene oder flüchtige Serientäter erfassen (BGH, NJW 1976, 300; LK-Rissing-van Saan, Peglau 2008, § 66 Rn. 78). Es müssen drei selbstständige Straftaten im Sinne des § 66 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB begangen worden sein (LK-Rissing-van Saan, Peglau 2008, § 66 Rn. 81). Für jede davon muss eine Freiheitsstrafe von mindestens 1 Jahr verwirkt, d. h. tatsächlich verhängt worden sein oder werden (BGHSt 1, 313 [317]; BGH, NJW 1964, 115; BGH, NStZRR 2010, 142; Fischer 2019, § 66 Rn. 32). Die Anlasstat muss zu einer Verurteilung zu Freiheitsstrafe von mindestens 3 Jahren führen
(BGHSt 33, 398 [399]; BGH NStZ 2002, 536 [537]; SSW-StGBHarrendorf 2019, § 66 Rn. 38). Die Anordnung wegen spezieller Anlasstat gem. § 66 Abs. 3 StGB Eine besondere Erleichterung der Voraussetzungen wurde durch das SexualdelBekG vom 28.1.1998 (BGBl. I, 160) in das System der SV eingefügt. § 66 Abs. 3 StGB koppelt ihre Folgen an das Vorliegen von Taten aus bestimmten Bereichen der Schwerkriminalität; insbesondere sollen Sexual- und Gewaltstraftäter erfasst werden (Fischer 2019, § 66 Rn. 34). Nach § 66 Abs. 3 S. 1 StGB ist die Anordnung zulässig aufgrund einer Anlasstat aus dem Katalog des § 66 Abs. 1 Nr. 1 lit. a) oder b) StGB, einer der aufgezählten Sexual- oder Gewaltstraftaten oder einer Tat nach § 323a StGB, wenn die Vollrauschtat eine der genannten war, und einer darauf folgenden Verurteilung zu einer zumindest 2-jährigen Freiheitsstrafe (SSW-StGB-Harrendorf 2019, § 66 Rn. 41). Weitere Voraussetzung ist mindestens eine Vorverurteilung aufgrund einer Tat aus den genannten Deliktgruppen, die zu einer Freiheitsstrafe von mindestens 3 Jahren führte. Eine Anordnung gem. § 66 Abs. 3 S. 2 StGB kann bereits bei erstmaliger Verurteilung erfolgen, wenn der Täter zwei Taten aus den aufgezählten Bereichen begangen hat, für jede der beiden eine Strafe von mindestens 2 Jahren verwirkt ist und er deshalb zu einer Freiheitsstrafe von mindestens 3 Jahren verurteilt wird (Fischer 2019, § 66 Rn. 38). Materielle Voraussetzungen der Anordnung Kern und zugleich Hauptproblem aller Arten der Anordnung ist auch beim § 66 StGB die dem psychiatrischen Gutachter abverlangte Prognose, inwiefern der Täter infolge eines Hangs zu erheblichen Straftaten eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt (§ 66 Abs. 1 Nr. 4 StGB) (Fischer 2019, § 66 Rn. 19). Der Hang wird als psychologische Tatsache verstanden (BVerfG NJW 2006, 3483 [3484]).
In der gängigen Formel wird er als eingewurzelte, aufgrund charakterlicher Veranlagung bestehende oder durch Übung erworbene intensive Neigung zu Rechtsbrüchen umschrieben (BGH, NStZ 2002, 536 [537]; BGH, NStZ 2003, 201 [202]; BGH, NStZ 2005, 265; BGH, NStZ-RR 2008, 337 f.; BGH, NStZ-RR 2009, 11). Demnach muss ein persönliches Merkmal des Täters anhand eines eingeschliffenen Verhaltensmusters diagnostiziert werden (BGH, NStZ 1988, 496; BGH, NStZ 1995, 178; BGH, NStZ-RR 2012, 110; Dannhorn 2010, 366 ff.). Es handelt sich bei den Definitionen um Tautologien (NK-Böllinger und Dessecker 2017, § 66 Rn. 62, 63); eine Feststellung dieser Voraussetzungen durch psychiatrisches Erfahrungswissen ist nahezu unmöglich (Müller und Nedopil 2007, 32). Freilich hat sich eine klarere und eindeutigere Formel zur exakten Erfassung des gefährlichen Personenkreises bislang nicht entwickeln lassen. Man behilft sich damit zu fragen, ob das Handeln des Täters einen symptomatischen Charakter aufweist, d. h., ob Indizien für einen Hang vorliegen (Fischer 2019, § 66 Rn. 47). Es muss i. R. einer umfassenden Vergangenheitsbetrachtung (BGHSt 50, 188 [196]) eine Gesamtwürdigung der prägenden Umstände, der psychischen Verfassung und damit der Persönlichkeit des Täters erfolgen (BGH, NJW 2014, 565; BGH, NStZ 2005, 265; BGH, NStZ-RR 2009, 11 f.). Die Prognose bedarf eines besonders kritischen Augenmerks in den Fällen von § 66 Abs. 2, Abs. 3 StGB, in denen keine Vortaten oder Vorverbüßungen des Täters für die Anordnung der SV verlangt werden (BGH, NStZ-RR 2011, 204). Die Ursachen des einmal festgestellten Hangs sind irrelevant: Es kann eine bewusste Entscheidung vorliegen, eine dissoziale Haltung zugrunde liegen oder auch einfach nur Willensschwäche gegeben sein (NK-Böllinger und Dessecker 2017, § 66 Rn. 64, 65; BGHSt 24, 160 [161]; BGH, StV 1995, 300; BGH, NStZ-RR 2003, 107; BGH, NStZRR 2009, 11). Der Hang muss sich ferner, um der gebotenen strikten Verhältnismäßigkeit zu genügen, auf erhebliche Straftaten beziehen, d. h. auf solche, die schwere seelische oder körperliche Schäden beim Opfer verursachen und somit aufgrund ihrer Gefährlichkeit geeignet
sind, den Rechtsfrieden in besonders schwerwiegender Weise zu stören (BGHSt 24, 153 [154]; BGH, NStZ 2000, 587; Fischer 2019, § 66 Rn. 57 f.). Dabei ist weder die Bezeichnung des Tatbestands noch dessen Strafrahmen maßgebend. Entscheidend sind die Bedeutung des zu schützenden Rechtsgutes und die Eingriffsintensität (BGHSt 58, 62 [67 f.]). Danach lassen sich Tötungsdelikte oder Vorsatzdelikte mit qualifizierender Todesfolge zwar regelmäßig als schwere Taten einordnen, für Raubdelikte muss dies aber nicht ohne Weiteres gelten. So ist etwa beim Einsatz objektiv harmloser Scheinwaffen entscheidend, ob nach der tatgerichtlichen Bewertung im konkreten Einzelfall schwerwiegende und nachhaltige psychische Schäden von existenziellem Gewicht bei potenziellen Tatopfern zu erwarten sind (BGHSt 58, 62 [67 u. 70 f.]). Fraglich ist, ob sich die Erheblichkeit statt qualitativ auch quantitativ ergeben kann, etwa bei zahlreichen Taten, die für sich genommen dem Bereich mittlerer Kriminalität zuzuordnen wären, etwa eine Vielzahl von leichtem sexuellem Missbrauch ohne psychische Schäden oder Diebstähle in großem Stil aus geparkten Kraftfahrzeugen. Die Rechtsprechung neigt dazu, die geringere Qualität durch ihre Quantität kompensieren zu lassen (BGH, NStZRR 2003, 73 [74]; SSW-StGB-Harrendorf 2019, § 66 Rn. 26). Dabei wird als Argument herangezogen, dass die von § 66 StGB geforderten Vorverurteilungen lediglich eine Mindeststrafe von 1 Jahr erfordern. Diese Ansicht verkennt jedoch die weiteren Voraussetzungen des § 66 StGB. So wird zusätzlich zu den Vorverurteilungen auch entweder ein mindestens 2-jähriger Freiheitsentzug (§ 66 Abs. 1 Nr. 2 StGB) oder eine 3-jährige Haftstrafe (§ 66 Abs. 2 StGB) verlangt. Erst durch diese weiteren Voraussetzungen wird der Bereich der Schwerkriminalität erreicht. Zudem kann die Lockerung einer materiellen Bedingung wie der Erheblichkeit nicht durch eine formelle Voraussetzung bestimmt werden. Die SV ist eine Ultima Ratio des Strafrechts. Wer diese Gegebenheit ernst nimmt, muss einer restriktiven Auslegung das Wort reden (NK-Böllinger und Dessecker 20137, § 66 Rn. 57). Die Taten müssen für sich gesehen die geforderte Erheblichkeit
erreichen; ein schwerer Schaden durch eine Vielzahl von Verstößen kann nicht ausreichen. Immerhin gibt das Gesetz mit der beispielhaften Umschreibung einer erheblichen Straftat als solche, die schwere seelische und körperliche Schäden beim Opfer hervorruft, einen Hinweis auf das zutreffende Verständnis des § 66 StGB. Danach scheiden etwa reine Eigentumsund Vermögensdelikte ohne Gewalt – wie Wohnungseinbrüche oder Kfz-Diebstähle – aus; denn bei diesen ist auch nicht ausnahmsweise anzunehmen, dass es zu einem schwerwiegenden Eingriff in die körperliche oder seelische Integrität kommt. Die gegenteilige Ansicht gerät zudem mit dem gesetzgeberischen Willen in Konflikt, der ausdrücklich die schweren wirtschaftlichen Schäden als Anknüpfungspunkt gestrichen hat (MK-Ullenbruch, Drenkhahn und Morgenstern 2016, § 66 Rn. 105 f.).
Merke Das Merkmal des Hangs als materieller Voraussetzung der SV ist restriktiv auszulegen. Aus dem Hang zu erheblichen Straftaten muss sich eine für den Täter unvorteilhafte Prognose ergeben, wonach weitere erhebliche rechtswidrige Taten ernsthaft zu befürchten sind und somit eine Gefahr für die Allgemeinheit vorliegt (Fischer 2019, § 66 Rn. 59; BGHSt 25, 61; BGH, NStZ-RR 2003, 108 [109]). Dies muss i. R. einer Verhältnismäßigkeitsprüfung unter besonders kritischer Betrachtung erfolgen (NK-Böllinger und Dessecker 2017, § 66 Rn. 99; BVerfG, NJW 2011, 1981; BGH, StV 2000, 254). Die Prognose liegt in der Verantwortung des Gerichts; sie kann nicht von einem Sachverständigen erstellt werden (Fischer 2019, § 66 Rn. 59, 68; BGHSt 50, 188 [194]; SSW-StGB-Harrendorf 2019, § 66 Rn. 24, 30).
8.5.5. Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung nach § 66a StGB
§ 66a StGB (Vorbehalt der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung) (1) Das Gericht kann im Urteil die Sicherungsverwahrung vorbehalten, wenn
Anordnung
der
1. jemand wegen einer der in § 66 Absatz 3 Satz 1 genannten Straftaten verurteilt wird, 2. die übrigen Voraussetzungen des § 66 Absatz 3 erfüllt sind, soweit dieser nicht auf § 66 Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 verweist, und 3. nicht mit hinreichender Sicherheit feststellbar, aber wahrscheinlich ist, dass die Voraussetzungen des § 66 Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 vorliegen. (2) Einen Vorbehalt im Sinne von Absatz 1 kann das Gericht auch aussprechen, wenn 1. jemand zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren wegen eines oder mehrerer Verbrechen gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit, die sexuelle Selbstbestimmung, nach dem Achtundzwanzigsten Abschnitt oder nach den §§ 250, 251, auch in Verbindung mit § 255, verurteilt wird, 2. die Voraussetzungen des § 66 nicht erfüllt sind und 3. mit hinreichender Sicherheit feststellbar oder zumindest wahrscheinlich ist, dass die Voraussetzungen des § 66 Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 vorliegen. (3) Über die nach Absatz 1 oder 2 vorbehaltene Anordnung der Sicherungsverwahrung kann das Gericht im ersten Rechtszug nur bis zur vollständigen Vollstreckung der Freiheitsstrafe entscheiden; dies gilt auch, wenn die Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung ausgesetzt war und der Strafrest vollstreckt wird. Das Gericht ordnet die Sicherungsverwahrung an, wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Tat oder seiner Taten
und ergänzend seiner Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ergibt, dass von ihm erhebliche Straftaten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. Die Schaffung des Instituts der vorbehaltenen SV durch Gesetz vom 21.8.2002 (BGBl. I, 3344) ist Ausdruck der besonderen Schwierigkeiten, die dem psychiatrischen Sachverständigen und dem Tatgericht die Erstellung der Hangprognose bereitet (SSWStGB-Harrendorf 2019, § 66a Rn. 1, krit. dazu in Rn. 4 f.). Kann bei Verurteilung ein Hang nicht mit ausreichender Sicherheit festgestellt werden, scheidet eine Unterbringung nach § 66 StGB aus. Kann aus dem Verhalten des Täters im Strafvollzug später auf einen Hang zu erheblichen Straftaten geschlossen werden, müsste dieser freigelassen werden. Dem wirkt der Vorbehalt der SV gem. § 66a StGB entgegen. Infolge der Entscheidung des EGMR vom 17.12.2009 hat sich die Rolle der vorbehaltenen SV gewandelt. Der Gesetzgeber hat ihren Anwendungsbereich erweitert, um die vermeintliche Lücke, die durch den Wegfall der nachträglichen SV entsteht, zu schließen (BT-Drs. 17 / 3403, S. 15; Bamberger 2012, S. 214; Kreuzer 2011a, 7 f.; Schöch 2012, 49). An der vorbehaltenen SV hat der Gesetzgeber auch nach dem Urteil des BVerfG vom 4.5.2011 festgehalten (BT-Drs. 17 / 9874, 11). Der neu gefasste § 66a StGB unterscheidet zwischen der Unterbringung von Mehrfachtätern (§ 66a Abs. 1 StGB) und Ersttätern (§ 66a Abs. 2 StGB). Nach der neuen Fassung des § 66a Abs. 1 StGB müssen der Hang zu erheblichen Straftaten und die Gefährlichkeit des Täters nicht mehr mit gewisser Sicherheit festgestellt werden. Es soll genügen, wenn ihr Vorliegen wahrscheinlich ist (§ 66a Abs. 1 Nr. 3 i. V. m. § 66 Abs. 1 Nr. 4 StGB) (Kinzig 2011, 432). Ist bereits zum Urteilszeitpunkt ein Hang hinreichend sicher feststellbar, dann geht § 66 StGB dem § 66a StGB jedenfalls vor (SSW-StGB-Harrendorf 2019, § 66 Rn. 6). § 66a Abs. 2 StGB ist der früheren, nachträglichen SV für Ersttäter gem. § 66a Abs. 2 StGB a. F. nachempfunden und übernimmt
letztlich deren Voraussetzungen und Aufgabenbereich (BT-Drs. 17 / 3403, S. 3). Der Ausspruch des Vorbehalts der SV gem. § 66a Abs. 2 StGB ist somit möglich, wenn der Täter aufgrund der Begehung einer oder mehrerer der in § 66a Abs. 2 Nr. 1 StGB aufgezählten Taten zu einer Freiheitsstrafe von mindestens 5 Jahren verurteilt wurde. Eine Einschränkung durch das notwendige Vorliegen von Vorverurteilungen, wie sie die SV nach § 66 Abs. 1 StGB verlangt, ist nicht erforderlich (Kinzig 2011, 433; SSW-StGB-Harrendorf 2019, § 66a Rn. 10). Auch für eine Anordnung nach § 66a Abs. 2 StGB genügt für die Feststellung eines Hangs und der Gefährlichkeit wie für § 66a Abs. 1 StGB eine gewisse Wahrscheinlichkeit (§ 66a Abs. 2 Nr. 3 StGB). Anders als bei der nachträglichen SV nach § 66b Abs. 1, Abs. 2 StGB a. F. sowie des § 66a StGB a. F. (BT-Drs. 14 / 9264, 10) fordert der neue § 66a StGB für die endgültige Anordnung der SV keine neuen Erkenntnisse aus dem Strafvollzug. Diese sollen nur als Indizien herangezogen werden können, der Richter kann die Anordnung aber auch aufgrund von Kenntnissen zum Zeitpunkt der ursprünglichen Verurteilung aussprechen (§ 66a Abs. 3 S. 2 StGB) (BT-Drs. 17 / 3403, S. 30 f.). Der Gesetzgeber will erreichen, dass die Verwahrung auch gegenüber Tätern angeordnet werden kann, bei denen unklar ist, ob sie gefährlich sind und einen Hang zu erheblichen Straftaten aufweisen (BT-Drs. 17 / 3403). Ob daher die Anordnung der SV gem. § 66a StGB n. F. mit Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a) EMRK vereinbar ist, muss bezweifelt werden (Eschelbach 2010, 2499, 2500; Kinzig 2012, 24; Renzikowski 2011, 534; Kinzig 2011, 179; Pollähne 2010, 479). Dem kann entgegengehalten werden, dass der Verurteilte bei Anordnung gem. § 66a StGB bei Schuldausspruch weiß, dass ihm ohne Besserung im Strafvollzug eine Verwahrung drohen kann (Kreuzer 2010, 479; ders. 2011a, 128; Rissing-van Saan 2011, 1183). Dies entspricht in vergleichbarer Weise der Rechtsprechung des EGMR (EuGRZ 1988, 316; vgl. BVerfGE 131, 268). Der Gesetzgeber führt ferner als Argument an, dass auch der Ersttäter im Sinne des § 66a Abs. 2 StGB zumeist schon wegen anderer Delikte in der Vergangenheit auffällig geworden wäre und
seine Gefährlichkeit somit regelmäßig ausreichend feststehe (BT-Drs. 17 / 3403, 28). Die spätere Anordnungsentscheidung nach § 66a Abs. 3 StGB verlangt eine Gesamtwürdigung im Hinblick auf die weitere Gefahr erheblicher Straftaten, in die neben der Persönlichkeit des Verurteilten und den Umständen der Tat als weiterer, ausdrücklich genannter Prognosefaktor dessen Entwicklung einfließen soll. Kriterien können z. B. Behandlungsergebnisse oder subkulturelle Aktivitäten im Vollzug sein. Die Kritik, die darauf verweist, dass dem Vollzugsverhalten prognostisch eine untergeordnete Rolle zukommt (Kinzig 2002, 3208), übersieht, dass sich neben dem Verhalten im Vollzug auch Erkenntnisse während des Vollzugs, etwa i. R. einer therapeutischen Behandlung, ergeben können, die im ersten psychiatrischen Gutachten nicht explorierbar waren. Eine neue Prognose kann sich also auch auf ein verändertes Wissen über die Person stützen, weil dies vom Tatbestandsmerkmal „Persönlichkeit des Verurteilten“ mit umfasst ist. Auffällig ist, dass im § 66a Abs. 3 StGB auf das Hangmerkmal als zusätzliches Regulativ verzichtet wird. Es wird nach der Gesetzesbegründung für entbehrlich gehalten, weil sich neue Anhaltspunkte wie Sozialisation, kriminelle Karriere, Sozialverhalten im künstlichen Lebensraum des Vollzugs nicht ergäben (BT-Drs. 14 / 8586, 7). Dies ist bedenklich, weil auf eine Konstante verzichtet wird, die jedenfalls im Ansatz Gewähr dafür geboten hat, dass nur schwerwiegende Fälle in die Unterbringung gelangen. Obwohl es in den Materialien heißt, dass sich die aufgrund eines Vorbehalts angeordnete SV nicht von der bereits im Urteil angeordneten unterscheidet (BT-Drs. a. a. O.), entsteht nach dem Gesetzeswortlaut zweierlei Art von SV: diejenige für Hangtäter und diejenige für lediglich gefährliche Täter (vgl. Peglau 2002, 452). Der Verzicht stellt auch deshalb einen Systembruch dar, weil die Folgeentscheidungen, etwa über die Erledigung nach § 67d Abs. 2 StGB, wieder auf den Hang abstellen. Der Sache nach und rechtsstaatlich vertretbar dürfte die Feststellung der schwerwiegenden Gefahr für die Allgemeinheit und damit eine endgültige Anordnung der SV nur in Betracht kommen, wenn auch
die Hangtäterprognose bejaht werden kann; denn die Gefährlichkeit wird in der Praxis regelmäßig gerade aus dem Hang abzuleiten sein (Kinzig 2002, 3208; SK-Sinn 2016, § 66a Rn. 11). § 66a Abs. 2 StGB ist entsprechend verfassungskonform restriktiv anzuwenden. Die Möglichkeit der Anordnung der SV allein aufgrund einer Fehlentwicklung im Strafvollzug würde der Maßregel den Charakter einer Strafrechtsfolge nehmen (Fischer 2019, § 66a Rn. 13; SK-Sinn 2016, § 66a Rn. 24 ff.). Für das Verfahren bei der vorbehaltenen SV gilt Folgendes: Die Entscheidung über den Vorbehalt gehört noch zum Erkenntnisverfahren, auch wenn sie erst (spätestens) 6 Monate vor einem möglichen Aussetzungstermin fällt, also bei zeitiger Freiheitsstrafe zum Zwei-Drittel-Zeitpunkt, bei lebenslanger Freiheitsstrafe nach 15-jähriger Haftverbüßung. Diese Frist ist verbindlich und ihre Einhaltung durch das Gericht im ersten Rechtszug damit Voraussetzung für die endgültige Anordnung (BGHSt 51, 159 [160]). Der Vorbehalt selbst wird in das erstinstanzliche Urteil aufgenommen. Ob von ihm Gebrauch gemacht wird, wird in einem zweiten Teil des Erkenntnisverfahrens entschieden (KK-Engelhardt, § 275a Rn. 1; Rzepka 2003, 140). Aufgrund der Regelung im § 275a Abs. 1 StPO entscheidet das erkennende Gericht des ersten Rechtszuges und nicht die Strafvollstreckungskammer. Die Einführung der vorbehaltenen SV ist z. T. heftig angegriffen worden. Ihr wird vorgeworfen, sie sei im Kern polizeirechtlicher Natur und deshalb eine dogmatische Fehlkonstruktion im Rechtsfolgensystem des StGB. Das vermag allerdings wenig zu überzeugen, weil der Gefahrenabwehrcharakter allen Maßregeln immanent ist. Weiter wird ein Verstoß gegen den rechtsstaatlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ins Feld geführt, weil die Möglichkeit des Vorbehalts dazu führen werde, dass die Zahl fehlerhaft Untergebrachter ansteige (Kinzig 2002, 3207). Bislang ist die praktische Bedeutung allerdings gering geblieben (MKUllenbruch, Morgenstern 2016, § 66a Rn. 19), wobei die weitere Entwicklung abzuwarten bleibt. Mit dem Vorbehalt der SV steht ein Modell zur Verfügung, das aus rechtsstaatlicher Sicht unerträgliche
Fehleinweisungen von ungefährlichen Tätern zunächst jedenfalls verhindert und die spätere Entscheidung durch eine Beobachtung während des Strafvollzugs auf eine breitere Entscheidungsbasis stellt. Allerdings darf das neue Institut nicht als bequemer Ausweg vor der schwierigen Entscheidung der Hangtäterprognose des § 66 StGB missverstanden werden. Der Vorbehalt stellt für einen Strafgefangenen eine erhebliche psychische Belastung dar und ist nur zu rechtfertigen, wenn auch trotz bestmöglicher Aufklärung die Hangfrage offenbleiben muss. Alles andere wäre rechtsstaatswidrig. Der Betroffene darf nicht ohne zwingende Notwendigkeit über sein Schicksal im Unklaren gelassen werden (BVerfGE 86, 288 [327]).
Merke Durch die fast vollständige Abschaffung der nachträglichen SV und die Erweiterung der Anwendungsfälle erlangt die vorbehaltene SV eine besonders wichtige Stellung im System der §§ 66 ff. StGB. Dem muss durch eine strikt restriktive Anwendung Rechnung getragen werden. Wie sich dies in der Praxis entwickeln wird, ist bis auf Weiteres noch nicht abzusehen, ebenso wenig, welchen Gebrauch die Rechtsprechung von den neu geschaffenen Möglichkeiten machen wird. 8.5.6 Die nachträgliche Sicherungsverwahrung nach § 66b StGB
§ 66b StGB (Nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung) Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d Abs. 6 für erledigt erklärt worden, weil der die Schuldfähigkeit ausschließende oder vermindernde Zustand, auf dem die Unterbringung beruhte, im Zeitpunkt der Erledigungsentscheidung nicht bestanden hat, so kann das Gericht
die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nachträglich anordnen, wenn 1. die Unterbringung des Betroffenen nach § 63 wegen mehrerer der in § 66 Absatz 3 Satz 1 genannten Taten angeordnet wurde oder wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer solcher Taten, die er vor der zur Unterbringung nach § 63 führenden Tat begangen hat, schon einmal zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt oder in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht worden war und 2. die Gesamtwürdigung des Betroffenen, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. Dies gilt auch, wenn im Anschluss an die Unterbringung nach § 63 noch eine daneben angeordnete Freiheitsstrafe ganz oder teilweise zu vollstrecken ist. Die nachträgliche SV in ihrer alten Fassung wurde vom EGMR für konventionswidrig erklärt. Der Gesetzgeber reagierte mit Gesetz vom 22.10.2010 (BGBl. I, 2300) und hob die Absätze 1 und 2 auf. § 66b Abs. 3 StGB a. F. wurde zum alleinigen Regelungsinhalt (Pfister 2012, 5). Nachträgliche SV kommt also nur noch in den Fällen in Betracht, in denen die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB für erledigt erklärt wurde, weil der die Schuldfähigkeit ausschließende oder vermindernde Zustand, auf dem diese beruhte, im Zeitpunkt der Erledigungsentscheidung nicht bestanden hat (§ 66b i. V. m. § 67d Abs. 6 StGB). In diesen Fällen kann die SV nachträglich angeordnet werden, wenn die Unterbringung im Krankenhaus auf mehreren Taten gem. § 66 Abs. 3 StGB basierte oder wenn der Betroffene bereits vor der zur Unterbringung führenden Tat straffällig
geworden war und entweder zu mindestens 3-jähriger Freiheitsstrafe verurteilt oder in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht wurde (§ 66b S. 1 Nr. 1 StGB) (Pfister 2012, 5 f.). Entscheidend ist eine Gesamtwürdigung, die den Betroffenen selbst, seine Taten und seine Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung einbezieht und feststellen muss, ob eine hohe Wahrscheinlichkeit gegeben ist, dass weitere erhebliche Straftaten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwere Schäden erleiden, auf eine Freilassung des Betroffenen folgen würden. Ein Hang im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 4 StGB wird dabei nicht verlangt (SSW-StGB-Harrendorf 2019, § 66b Rn. 13), weshalb sich dieselben kritischen Fragen stellen wie beim § 66a StGB (➤ Kap. 8.5.5). Materiell ist eine Gesamtwürdigung der Gefährlichkeit des Täters für die Allgemeinheit vorzunehmen. Im Ergebnis erfordert die Anordnung der nachträglichen SV eine konkrete, auf den Einzelfall bezogene hohe Wahrscheinlichkeit künftiger erheblicher Straftaten (im Gegensatz zur bloß abstrakten, auf statistische Wahrscheinlichkeiten gestützten Prognoseentscheidung), durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden (wirtschaftliche Schäden reichen nicht) (BVerfGE 109, 190 [242]; BVerfG, NJW 2006, 3483 [3484 f.]; BGH, StV 2006, 659 [690]; BGH, NStZ-RR 2008, 40 [41]; OLG Brandenburg, NStZ 2005, 272 [275]). Eine „hohe“ Wahrscheinlichkeit liegt vor, wenn im Ergebnis der vorzunehmenden Gesamtwürdigung weitaus gewichtigere Umstände dafür sprechen, dass der Verurteilte auch künftig schwerste Straftaten begehen wird, als dafür, dass er dies nicht tun wird (SSW-StGB-Harrendorf 2019, § 66b Rn. 13). Im Unterschied zu einer bloß allgemeinen Rückfallwahrscheinlichkeit muss die vom Straftäter ausgehende Gefahr zudem „gegenwärtig“ sein (BVerfG, NJW 2006, 3483 [3485]). Grundlage dieser Gefährlichkeitsprognosemuss eine Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzugs sein. Im Hinblick auf den Täter selbst können seine biographische Entwicklung, sein Alter, etwaige Krankheiten, Arbeitsmöglichkeiten, persönliche Bindungen, seine bisherigen kriminellen Verhaltensweisen, zuvor erfolgte
Lockerungsversuche wie auch mögliche alternative Kontrollmöglichkeiten berücksichtigt werden (BT-Drs. 15 / 2887, 13). Bezüglich der Anlasstat können Art und Ausführung gewürdigt werden (Braum 2004, 107). § 66b Abs. 3 a. F. hat ausdrücklich auf das Verhalten und die Entwicklung des Betroffenen während des Vollzugs verwiesen. In der Neufassung ist ausweislich des Gesetzeswortlauts Beurteilungsgrundlage lediglich ergänzend die Entwicklung des Täters genannt. Da diese sich im Vollzug vollzogen hat, wird das Vollzugsverhalten nicht gänzlich unberücksichtigt bleiben können (SSW-StGB-Harrendorf 2019, § 66b Rn. 15; Fischer 2019, § 66b Rn. 11). Dabei ist aber stets zu berücksichtigen, dass das Leben im Vollzug künstlich ist und hieraus nur bedingt Rückschlüsse auf das Verhalten in Freiheit zu ziehen sind (BT-Drs. 15 / 2887, 13; BVerfG, NJW 2006, 3483 [3485]; so auch schon BVerfGE 109, 190 [241]; BGHSt 50, 121 [127]; 275). Ereignisse und Verhaltensweisen des Betroffenen während des Vollzugs sind vielmehr „in den Gesamtzusammenhang der Lebensgeschichte und der Kriminalitäts-, Vollzugs- und ggf. Suchthistorie einzubetten“ (BVerfG, NJW 2006, 3483 [3485]). Zur Erstellung der Prognose hat das Gericht gem. § 275a Abs. 4 S. 2 StPO zwei Gutachten von Sachverständigen einzuholen, die gem. § 275a Abs. 4 S. 3 StPO nicht i. R. des Strafvollzugs mit der Behandlung des Verurteilten befasst gewesen sein dürfen. Die Sachverständigen müssen nicht zwingend beide Psychiater sein; auch Psychologen können z. B. dazu beitragen, eine möglichst breite und zuverlässige Entscheidungsbasis für das Gericht zu schaffen (BGHSt 50, 121 [129]). Im Großen und Ganzen entspricht der § 66b StGB dem § 66b Abs. 3 StGB a. F. Die damit verbundene Problematik ist offenkundig. Die Gründe, die für den EGMR die Konventionswidrigkeit der alten Regelung erklärten, lassen sich ebenso auf die neue Regelung übertragen. Verschärft wird dies zusätzlich durch die Weitergeltungsnorm § 316e EGStGB, durch welche die sowohl vom EGMR (EuGRZ 2011, 255) als auch vom Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 128, 326) verworfene nachträgliche SV (§ 66b Abs. 1, Abs. 2 StGB a. F.) faktisch für Altfälle weiter existiert (Kinzig 2012, 25 f.).
8.5.7 Das Gesetz zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (ThUG) Das zum 1.1.2011 in Kraft getreten Therapieunterbringungsgesetz schafft eine neue Unterbringungsform, die zwischen Sicherungsverwahrung (SV) nach §§ 66 ff. StGB und der Unterbringung psychisch Kranker gem. § 63 StGB anzusiedeln ist (BVerfGE 128, 326, Rn. 173). Es stellt den zweifelhaften Versuch des Gesetzgebers dar, die weitere Verwahrung von Personen zu ermöglichen, die nach dem Urteil des EGMR vom 17.12.2009 wegen Verstoßes gegen das Rückwirkungsverbot der EMRK freigelassen werden mussten (Detter 2013, 31; Schröder, Starke 2011, 254 ff., 284 ff.; Nussstein 2011, 1194 ff.; Pollähne 2013, 250 f.; Ullenbruch 2014, 175). Das Gesetz gilt insofern nach Intention des Gesetzgebers nur für spezielle Altfälle; es soll sich grundlegend von der SV unterscheiden und diese Fälle unter Beachtung des Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. e) EMRK auch konventionskonform erfassen (BT-Drs. 17 / 3403, 19 ff.). Selbst das BVerfG sieht dagegen keinen fundamentalen Unterschied zur SV (BVerfG, NJW 2013, 3151 ff.); unausgesprochen konstatiert es einen Etikettenschwindel des Gesetzgebers (Höffler 2014, 170).
§ 1 ThUG (Therapieunterbringung) (1) Steht auf Grund einer rechtskräftigen Entscheidung fest, dass eine wegen einer Straftat der in § 66 Absatz 3 Satz 1 des Strafgesetzbuches genannten Art verurteilte Person deshalb nicht länger in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden kann, weil ein Verbot rückwirkender Verschärfungen im Recht der Sicherungsverwahrung zu berücksichtigen ist, kann das zuständige Gericht die Unterbringung dieser Person in einer geeigneten geschlossenen Einrichtung anordnen, wenn 1. sie an einer psychischen Störung leidet und eine Gesamtwürdigung ihrer Persönlichkeit, ihres Vorlebens und ihrer Lebensverhältnisse ergibt, dass sie infolge ihrer psychischen Störung mit hoher Wahrscheinlichkeit das
Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung einer anderen Person erheblich beeinträchtigen wird, und 2. die Unterbringung aus den in Nummer 1 genannten Gründen zum Schutz der Allgemeinheit erforderlich ist. (2) Absatz 1 ist unabhängig davon anzuwenden, ob die verurteilte Person sich noch im Vollzug der Sicherungsverwahrung befindet oder bereits entlassen wurde. Zentrale Voraussetzung der Unterbringung nach ThUG ist eine psychische Störung. Diese muss die Wahrscheinlichkeit der Begehung schwerer Straftaten enthalten (§ 1 Abs. 1 ThUG). Der Begriff orientiert sich dabei bewusst an Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. e EMRK, der eine Unterbringung bei psychisch Kranken erlaubt, und dem damit verbundenen Begriff „unsound mind“. Eine Definition ist schwierig, weil dieser neue Rechtsbegriff sich in keine psychiatrische Klassifizierung einordnen lässt (Bamberger 2012, 221; Detter 2014, 29) und immens weit reicht (Satzger 2013, 248). Häufig sind Personen betroffen, denen im Ausgangsverfahren gerade keine psychischen Störungen bescheinigt werden konnten (Fischer 2019, § 66 Rn. 11). Unter den Begriff des ThUG fallen damit auch dissoziale Persönlichkeitsstörungen, die kein schuldausschließendes oder schuldverminderndes Ausmaß gem. §§ 20, 21 StGB erreichen (BT-Drs. 17 / 3403, 53 f.; Bamberger 2012, 221; BVerfG, StV 2012, 25; BGHSt 56, 254). Der Begriff ist äußerst problematisch, weil er irgendwo zwischen Schuldfähigkeit und Schuldunfähigkeit anzusiedeln ist (Fischer 2019, § 66 Rn. 10; Morgenstern 2011, 56 u. 58). Er ist mehr politisch als psychisch ausgeformt; denn es sollen gerade nicht wirklich Kranke erfasst werden (Höffler 2014, 169). Dennoch wurde das ThUG inzwischen vom BVerfG (BVerfG, NJW 2013, 3151; BVerfG, HRRS 2014, Nr. 188) und vom EGMR (EGMR U 28.11.2013, Glien v. Germany, Nr. 7345 / 12) für verfassungs- bzw. konventionskonform erachtet.
§ 2 ThUG (Geeignete geschlossene Einrichtungen) (1) Für die Therapieunterbringung nach § 1 sind nur solche geschlossenen Einrichtungen geeignet, die 1. wegen ihrer medizinisch-therapeutischen Ausrichtung eine angemessene Behandlung der im Einzelfall vorliegenden psychischen Störung auf der Grundlage eines individuell zu erstellenden Behandlungsplans und mit dem Ziel einer möglichst kurzen Unterbringungsdauer gewährleisten können, 2. unter Berücksichtigung therapeutischer Gesichtspunkte und der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit eine die Untergebrachten so wenig wie möglich belastende Unterbringung zulassen und 3. räumlich und organisatorisch von Einrichtungen des Strafvollzuges getrennt sind. (2) Einrichtungen im Sinne des § 66c Absatz 1 des Strafgesetzbuches sind ebenfalls für die Therapieunterbringung geeignet, wenn sie die Voraussetzungen des Absatzes 1 Nummer 1 und 2 erfüllen. Gemäß § 2 ThUG erfolgt die Unterbringung in räumlich vom Strafvollzug getrennten, eine medizinisch-therapeutische und resozialisierende Behandlung ermöglichenden Einrichtungen. Sie ist auf 18 Monate begrenzt, kann aber nach Prüfung des andauernden Vorliegens der Voraussetzungen der Therapieunterbringung durch einen Sachverständigen beliebig oft um 18 Monate verlängert werden (§§ 9, 12 ThUG). Das ThUG wurde mit Beschluss des BVerfG vom 11.7.2013 – mit Einschränkungen – für verfassungsgemäß erklärt (BVerfG, NJW 2013, 3151). Die Entscheidung hat dem ThUG seinen Anwendungsbereich genommen (Ullenbruch 2014, 175 u. 180). Denn wie bei Altfällen der SV soll eine Anordnung nach ThUG nur
möglich sein, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewaltoder Sexualstraftaten seitens des Betroffenen bestehe (BVerfG, NJW 2013, 3151; BVerfG, HRRS 2014, Nr. 188; Höffler 2014, 170). Faktisch führt diese Betrachtung dazu, dass der Prüfungsmaßstab für Anträge nach ThUG dem der Strafvollstreckungsgerichte bei der Weitergeltungsanordnung der SV entspricht (Ullenbruch 2014, 180 f.). Folglich kann, wer nicht in der SV einbehalten werden kann, auch nicht nach ThUG untergebracht werden. Dementsprechend existieren seit dem 14.8.2013 keine gemäß ThUG Untergebrachten mehr (Ullenbruch 2014, 180; BayLT-Drs. 17 / 657, 4). Neuanordnungen wären auf einen engen Anwendungsbereich beschränkt (Satzger 2013, 248), sofern sie überhaupt noch möglich erscheinen (Ullenbruch a. a. O.; Nußstein 2011, 635).
8.5.8. Die Neuregelung des Vollzugs der Sicherungsverwahrung 2013 Das zum 1.6.2013 in Kraft getretene (BGBl. I, 2425) Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung (SichVAbstUmsG) hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4.5.2011 umgesetzt. In erster Linie ist der Vollzug der Sicherungsverwahrung neu aufgestellt worden, um die Anforderungen des Gerichts zu erfüllen. Eine größere Reform, wie sie das Gericht angeregt hatte (BVerfGE 128, 388; Köhne 2013, 338; Pfister 2012, 12), ist bedauerlicherweise ausgeblieben (Renzikowski 2013, 1638). Der Gesetzgeber geht von der grundsätzlichen Verfassungsmäßigkeit der Normen zur SV aus und hat mit der bloßen Vollzugsreform die denkbar kleinste Lösung zur Umsetzung der Forderungen des Abstandsgebotes gewählt (Kinzig 2012, 15; Knauer 2014, 49; Pfister 2012, 12).
§ 66c StGB (Ausgestaltung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung und des vorhergehenden Strafvollzugs)
(1) Die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung erfolgt in Einrichtungen, die 1. dem Untergebrachten auf der Grundlage einer umfassenden Behandlungsuntersuchung und eines regelmäßig fortzuschreibenden Vollzugsplans eine Betreuung anbieten, a) die individuell und intensiv sowie geeignet ist, seine Mitwirkungsbereitschaft zu wecken und zu fördern, insbesondere eine psychiatrische, psycho- oder sozialtherapeutische Behandlung, die auf den Untergebrachten zugeschnitten ist, soweit standardisierte Angebote nicht Erfolg versprechend sind, und b) die zum Ziel hat, seine Gefährlichkeit für die Allgemeinheit so zu mindern, dass die Vollstreckung der Maßregel möglichst bald zur Bewährung ausgesetzt oder sie für erledigt erklärt werden kann, 2. eine Unterbringung gewährleisten, a) die den Untergebrachten so wenig wie möglich belastet, den Erfordernissen der Betreuung im Sinne von Nummer 1 entspricht und, soweit Sicherheitsbelange nicht entgegenstehen, den allgemeinen Lebensverhältnissen angepasst ist, und b) die vom Strafvollzug getrennt in besonderen Gebäuden oder Abteilungen erfolgt, sofern nicht die Behandlung im Sinne von Nummer 1 ausnahmsweise etwas anderes erfordert, und 3. zur Erreichung des in Nummer 1 Buchstabe b genannten Ziels a) vollzugsöffnende Maßnahmen gewähren und Entlassungsvorbereitungen treffen, soweit nicht zwingende Gründe entgegenstehen, insbesondere konkrete Anhaltspunkte die Gefahr begründen, der Untergebrachte werde sich dem Vollzug der Sicherungsverwahrung entziehen oder die Maßnahmen
zur Begehung erheblicher Straftaten missbrauchen, sowie b) in enger Zusammenarbeit mit staatlichen oder freien Trägern eine nachsorgende Betreuung in Freiheit ermöglichen. (2) Hat das Gericht die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung im Urteil (§ 66), nach Vorbehalt (§ 66a Absatz 3) oder nachträglich (§ 66b) angeordnet oder sich eine solche Anordnung im Urteil vorbehalten (§ 66a Absatz 1 und 2), ist dem Täter schon im Strafvollzug eine Betreuung im Sinne von Absatz 1 Nummer 1, insbesondere eine sozialtherapeutische Behandlung, anzubieten mit dem Ziel, die Vollstreckung der Unterbringung (§ 67c Absatz 1 Satz 1 Nummer 1) oder deren Anordnung (§ 66a Absatz 3) möglichst entbehrlich zu machen. Die zentrale Norm des SichVAbstUmsG vom 5.12.2012 stellt der neu gefasste § 66c StGB dar (Kinzig 2012, 18; Peglau 2013, 250; Pollähne 2013, 252; Renzikowski 2013, 1639). Die Vorschrift stellt Leitlinien für den Vollzug der SV auf, setzt fünf der sieben durch das BVerfG aufgestellten Voraussetzungen des Abstandsgebotes (➤ Kap. 8.5.4) um und realisiert so den Unterschied im Vollzug der einerseits an die Schuld gebundenen Strafe und andererseits der von Schuld unabhängigen Maßregel (SSW-StGB-Harrendorf 2019, § 66c Rn. 5). Diese sind das Individualisierungsund Intensivierungsgebot, das Motivierungsgebot, das Trennungsgebot, das Minimierungsgebot und das Prinzip der Ultima Ratio (Kinzig 2012, 18; Peglau 2013, 250; BVerfGE 128, 326, Rn. 112–116). Problematisch ist § 66c Abs. 1 Nr. 2b StGB, der die getrennte Unterbringung von Strafgefangenen und Verwahrten ausnahmsweise für nicht erforderlich hält, wenn i. R. der Behandlung etwas anderes erforderlich ist. Im Einzelfall mag dies durchaus notwendig sein, die Norm darf aber keinesfalls ein Einfalltor für die Rechtfertigung einer nicht erfolgenden Umsetzung der Forderungen des BVerfG sein (SSW-StGB-Harrendorf 2019, § 66c
Rn. 15). Diesbezüglich sind hohe Anforderungen an die Praxis zu stellen. § 66c Abs. 2 StGB garantiert dem Sicherungsverwahrten eine individuelle und intensive Betreuung bereits im Strafvollzug, diese muss i. R. einer (insbesondere sozialtherapeutischen) Behandlung erfolgen. Zu rechtfertigen ist diese Bevorzugung des Verwahrten gegenüber dem normalen Strafgefangenen durch das besondere Sonderopfer gegenüber der Allgemeinheit, das ein Betroffener erbringen muss (Kinzig 2012, 19). § 66c ist dabei Mindestmaß; Genaueres regeln die Vollzugsgesetze der Länder (Schönke, Schröder / Kinzig 2019, § 66c Rn. 1).
8.6. Die weiteren Entscheidungen über die Vollstreckung der Maßregeln nach §§ 63–66 StGB Nicht nur für die Anordnung der Maßregeln nach §§ 63–66 StGB, sondern auch für die weiteren Entscheidungen über ihre Vollstreckung bzw. Beendigung ist die Mitwirkung von Psychiatern bzw. Psychologen erforderlich, sei es als Sachverständige, sei es als behandelnde Ärzte bzw. Psychologen. Die weiteren Entscheidungen über die Maßregeln finden sich im Strafgesetzbuch in den §§ 67a – g. Es handelt sich dabei um: • die Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel (§ 67a StGB), • die Aussetzung der Maßregel zugleich mit ihrer Anordnung (§ 67b StGB), • den späteren Beginn der Unterbringung (§ 67c StGB), • die Dauer und die Aussetzung der weiteren Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung (§§ 67d, 67c StGB) sowie • den Widerruf der Aussetzung (§ 67 g StGB). Die größte praktische Bedeutung haben die Vorschriften über die Dauer der Unterbringung, ihre Aussetzung zur Bewährung sowie Ü
die Fristen zur Überprüfung. Sie sollen daher an erster Stelle behandelt werden.
8.6.1. Dauer, Aussetzung und Erledigung des Vollzugs der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus, in der Entziehungsanstalt und in der Sicherungsverwahrung § 67d StGB (Dauer der Unterbringung) (1) Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt darf zwei Jahre nicht übersteigen. Die Frist läuft vom Beginn der Unterbringung an. Wird vor einer Freiheitsstrafe eine daneben angeordnete freiheitsentziehende Maßregel vollzogen, so verlängert sich die Höchstfrist um die Dauer der Freiheitsstrafe, soweit die Zeit des Vollzugs der Maßregel auf die Strafe angerechnet wird. (2) Ist keine Höchstfrist vorgesehen oder ist die Frist noch nicht abgelaufen, so setzt das Gericht die weitere Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung aus, wenn zu erwarten ist, daß der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzugs keine erheblichen rechtswidrigen Taten mehr begehen wird. Gleiches gilt, wenn das Gericht nach Beginn der Vollstreckung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung feststellt, dass die weitere Vollstreckung unverhältnismäßig wäre, weil dem Untergebrachten nicht spätestens bis zum Ablauf einer vom Gericht bestimmten Frist von höchstens sechs Monaten ausreichende Betreuung im Sinne des § 66c Absatz 1 Nummer 1 angeboten worden ist; eine solche Frist hat das Gericht, wenn keine ausreichende Betreuung angeboten wird, unter Angabe der anzubietenden Maßnahmen bei der Prüfung der Aussetzung der Vollstreckung festzusetzen. Mit der Aussetzung nach Satz 1 oder 2 tritt Führungsaufsicht ein.
(3) Sind zehn Jahre der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vollzogen worden, so erklärt das Gericht die Maßregel für erledigt, wenn nicht die Gefahr besteht, daß der Untergebrachte erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. Mit der Entlassung aus dem Vollzug der Unterbringung tritt Führungsaufsicht ein. (4) Ist die Höchstfrist abgelaufen, so wird der Untergebrachte entlassen. Die Maßregel ist damit erledigt. Mit der Entlassung aus dem Vollzug der Unterbringung tritt Führungsaufsicht ein. (5) Das Gericht erklärt die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt für erledigt, wenn die Voraussetzungen des § 64 Satz 2 nicht mehr vorliegen. Mit der Entlassung aus dem Vollzug der Unterbringung tritt Führungsaufsicht ein. (6) Stellt das Gericht nach Beginn der Vollstreckung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus fest, dass die Voraussetzungen der Maßregel nicht mehr vorliegen oder die weitere Vollstreckung der Maßregel unverhältnismäßig wäre, so erklärt es sie für erledigt. Mit der Entlassung aus dem Vollzug der Unterbringung tritt Führungsaufsicht ein. Das Gericht ordnet den Nichteintritt der Führungsaufsicht an, wenn zu erwarten ist, dass der Betroffene auch ohne sie keine Straftaten mehr begehen wird. Dauert die Unterbringung sechs Jahre, ist ihre Fortdauer in der Regel nicht mehr verhältnismäßig, wenn nicht die Gefahr besteht, dass der Untergebrachte infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden oder in die Gefahr einer schweren körperlichen oder seelischen Schädigung gebracht werden. Sind zehn Jahre der Unterbringung vollzogen, gilt Absatz 3 Satz 1 entsprechend.
§ 67e StGB (Überprüfung) (1) Das Gericht kann jederzeit prüfen, ob die weitere Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung auszusetzen
oder für erledigt zu erklären ist. Es muß dies vor Ablauf bestimmter Fristen prüfen. (2) Die Fristen betragen bei der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt sechs Monate, in einem psychiatrischen Krankenhaus ein Jahr, in der Sicherungsverwahrung ein Jahr, nach dem Vollzug von zehn Jahren der Unterbringung neun Monate. (3) Das Gericht kann die Fristen kürzen. Es kann im Rahmen der gesetzlichen Prüfungsfristen auch Fristen festsetzen, vor deren Ablauf ein Antrag auf Prüfung unzulässig ist. (4) Die Fristen laufen vom Beginn der Unterbringung an. Lehnt das Gericht die Aussetzung oder Erledigungserklärung ab, so beginnen die Fristen mit der Entscheidung von neuem. Die Aussetzung der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus Im Gesetz ist keine Höchstfrist für die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB vorgesehen. Das entspricht der ursprünglichen Konzeption des Maßregelrechts, sieht sich aber wegen der teilweise sehr langen Unterbringungszeiten in der Praxis vor allem auch bei drohenden weiteren Taten lediglich der mittleren Kriminalität der Kritik unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit ausgesetzt (LK-Rissing-van Saan und Peglau 2008, § 67d Rn. 2, 62 f.). Eine Entlassung aus dem psychiatrischen Krankenhaus erfolgt i. d. R. im Wege der Aussetzung der Unterbringung gem. § 67d Abs. 2 StGB. Die Vollstreckung der Unterbringung ist zur Bewährung auszusetzen, wenn zu erwarten ist, dass der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird. Die Formel „… wenn zu erwarten ist …“ hat die frühere Formel „… sobald verantwortet werden kann zu erproben“ abgelöst (SexualdelBekG vom 26.1.1998, BGBl. I, 160). Dem Wortsinn nach ist zweifelhaft, ob die neue Erwartensformel nicht strengere Voraussetzungen enthält als die frühere Erprobungsklausel: Wer erwartet, dass der Untergebrachte keine rechtswidrigen Taten mehr begeht, wird in seiner Prognose gewisser sein müssen als derjenige,
der verantworten kann zu erproben, dass keine Straftat mehr begangen wird. Nach den Gesetzesmaterialien soll das keine Verschärfung sein (Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drs. 13 / 9062, 5; Nedopil 1998, 44). Da bei der Prognose das Gewicht der bedrohten Rechtsgüter und der Grad ihrer Gefährdung zu berücksichtigen sind, wird bei schwerwiegenden Anlasstaten, etwa schweren Sexualstraftaten oder Tötungsdelikten, eine Aussetzung auch bei geringerer Wahrscheinlichkeit ihrer erneuten Begehung ausscheiden müssen (LK-Rissing-van Saan und Peglau 2008, § 67d Rn. 96; Fischer 2019, § 67d Rn. 10). Entsprechend lässt sich die neue Formel als eine in Gesetzesform gegossene Erprobungsklausel für Untergebrachte im Maßregelvollzug verstehen (Rosenau 1999, 395). Haben der Unterbringung weniger gewichtige Straftaten, etwa Vermögensdelikte, zugrunde gelegen, erscheint nur eine restriktive Auslegung verfassungskonform (Volckart 1998, 9; Dessecker 1998, 417; Eisenberg, Hackethal 1998, 200). Der Eingriff in das Freiheitsgrundrecht des Täters würde bei längerer Dauer der Unterbringung unverhältnismäßig, wollte man eine unbedingte Gewähr künftiger Straffreiheit verlangen. Entsprechend lässt der Bericht des Rechtsausschusses (a. a. O.) „eine durch Tatsachen begründete Wahrscheinlichkeit straffreier Führung“ genügen. Mit der Klarstellung des Gesetzgebers wird gegenüber der früheren Formel deutlich, dass risikoreiche Experimente mit der Legalbewährung nicht auf Kosten der Allgemeinheit durchgeführt werden können (Schöch 1998, 1258). Zwar muss ein Rückfall nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen sein, andererseits genügt nicht die bloße Vermutung der Legalbewährung (KG, NStZ-RR 2002, 138). Eine Verschärfung der Aussetzungspraxis sollte mit der neuen Formel „… wenn zu erwarten ist …“ nicht erfolgen (Rosenau 1999, 396; verfehlt OLG Koblenz, StV 1998, 667). Damit kann u. U. auch – wie bei der Prognoseformel für die Strafrestaussetzung nach § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB – ein vertretbares Restrisiko eingegangen werden (OLG Frankfurt, NStZ-RR 2001, 311 [312]; OLG Celle, NStZ 1999, 159 [160]; Fischer 2019, § 67d Rn. 11; vgl. zu § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB: BVerfG, 2. Kammer des 2. Senats, NJW 1998, 2202 [2203];
OLG Köln, NStZ-RR 2000, 317). Eine Untersuchung bestätigt dieses Ergebnis, nach der sich in der Praxis bei der Aussetzung keine Änderungen ergeben haben (Cornel 2002, 424 ff.; die Zahlen bezweifelnd Heinz 2006, 896 m. w. N.; Müller und Nedopil 2017, 55; Jehle 2006, 216, der verschärfte Entlassungskriterien vermutet). Zu beachten ist aber, dass nach § 463 Abs. 3 S. 3 StPO in entsprechender Anwendung des § 454 Abs. 2 StPO das Gutachten eines Sachverständigen über den Verurteilten einzuholen ist, wenn es um die Aussetzung der Vollstreckung einer Maßregel geht. Das Gutachten hat sich „namentlich zu der Frage zu äußern, ob bei dem Verurteilten keine Gefahr mehr besteht, dass dessen durch die Tat zu Tage getretene Gefährlichkeit fortbesteht“ (§ 454 Abs. 2 S. 2 StPO). Die dem Sachverständigen aufgegebene Gutachtenfrage weicht also von den materiellen Aussetzungskriterien des § 67d Abs. 2 StGB ab: Nach den materiellen Kriterien wäre die Sicherungsverwahrung bei Bejahung der Frage, ob zu erwarten ist, dass der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird, auszusetzen (§ 67d Abs. 2 StGB). Da die im § 454 Abs. 2 S. 2 StPO vorgeschriebene Gutachtenfrage, ob bei dem Verurteilten keine Gefahr des Rückfalls mehr besteht, von keinem seriösen Gutachter bejaht werden kann, wird diese Regelung heftig kritisiert. Die im § 454 StPO verlangte Prognosesicherheit könne z. B. bei Sexual- und Gewalttaten niemals erreicht werden (MüllerIsberner et al. 1998, 48; Eisenberg und Hackethal 1998, 201; SchülerSpringorum 1998, 669; Nedopil 1998, 57). Doch auch wenn das Vorhandensein solcher Gefährlichkeit wesentliche Gutachtenfrage ist, kann das nicht dahingehend verstanden werden, dass die Abwesenheit jeder Gefahr Voraussetzung für die Aussetzung der Unterbringung auf Bewährung ist. Das folgt schon aus der systematischen Überlegung, dass nicht die prozessualen Regeln die materiell-rechtlichen Bestimmungen aushebeln können. Die Aussetzungskriterien sind abschließend im materiellen Recht des § 67d Abs. 2 bzw. Abs. 3 StGB festgelegt: Es muss erwartet werden können, dass der Untergebrachte nach der Entlassung keine weiteren Straftaten mehr begehen wird. Die verfahrensrechtlichen Bestimmungen über den Gegenstand des Gutachtens können nicht
mehr verlangen, ohne sich in Widerspruch zu diesen maßgeblichen materiell-rechtlichen Vorschriften zu setzen (BGH, NStZ 2013, 225; Rosenau 1999, 396; OLG Köln, NStZ-RR 2000, 317; OLG Frankfurt, NStZ-RR 2001, 311 [312]; unzutreffend OLG Stuttgart, StV 1998, 668).
Merke Die Kriterien für die Aussetzung freiheitsentziehender Maßregeln bestimmen sich nicht nach der Gutachtenfrage des § 454 Abs. 2 S. 2 StPO, sondern allein nach den materiellrechtlichen Bestimmungen des § 67d StGB. Ist ein Restrisiko vertretbar, kommt weiterhin eine Aussetzung in Betracht. Für den psychiatrischen Maßregelvollzug ergibt sich dieses Ergebnis auch aus dem eingefügten § 463 Abs. 3 S. 4 StPO, der expressis verbis darauf hinweist, dass zur Vorbereitung der Entscheidungen nach § 67d Abs. 3 StGB und der nachfolgenden Entscheidung nach § 67d Abs. 2 StGB das Gericht ein Gutachten namentlich zu der Frage einzuholen hat, „ob von dem Verurteilten aufgrund seines Hanges weiterhin erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind“. Als Konsequenz aus dem Justizskandal im Fall „Gustl Mollath“ hat der Gesetzgeber mit dem „Gesetz zur Novellierung des … § 63 …“ vom 8.7.2016 (BGBl. I, 1610) die Anforderungen in zweierlei Hinsicht verschärft. Zum einen hat er zwei zeitliche Schwellen eingezogen, die bei der Fortdauerentscheidung zu höheren materiellen Anforderungen führen: • Nach 6 Jahren Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gilt nun die gesetzliche Vermutung, dass eine weitere Unterbringung unverhältnismäßig wäre. Diese Vermutung zugunsten des Untergebrachten kann nur bei schweren Schäden oder deren Gefahr seelischer oder körperlicher Art erschüttert werden. Zu denken ist an
schwere Gewalt- und Sexualdelikte. Rechtspolitisch soll damit auch der ständig angestiegenen längeren Verweildauer begegnet werden, der kein paralleler Anstieg der Gefährlichkeit der Täter entsprochen hatte (BT-Drs. 18 / 7244, 32). Zu beachten ist, dass das Gesetz wirtschaftliche Schäden nicht aufführt, sodass damit eine Fortdauer der Unterbringung nach § 63 StGB über 6 Jahre nicht mehr gerechtfertigt werden kann. Bedauerlicherweise hat das Gesetz diesen Grundsatz durch die drei unscheinbaren Wörtchen „in der Regel“ aufgeweicht. Hintergrund ist der skurrile Fall des Hans-Jürgen Bohlmann, der immer wieder, auch nach 15 Jahren Unterbringung, mit hochprozentiger Schwefelsäure Attentate auf unschätzbar wertvolle Gemälde, insbesondere von Albrecht Dürer, verübt hatte (Kaspar 2014, 109; OLG Hamburg, NStZ-RR 2005, 40). Straftäter wie der „Dürer-Attentäter“ sollen auch künftig untergebracht werden können (BT-Drs. 18 / 7224, 35). • Nach 10 Jahren Unterbringung gelten die gleichen strengen Voraussetzungen wie bei der Fortdauerentscheidung zur Sicherungsverwahrung (SSW-StGB-Jehle und Harrendorf 2019, § 67d Rn. 30). Die notwendige negative Prognose muss sich nun auf erhebliche Schäden beim Opfer beziehen, die Gefahr einer Gefährdung genügt nicht mehr. Beispiele wären Sexualstraftaten zum Nachteil von Kindern (Schönke, Schröder / Kinzig 2019, § 67d Rn. 25c).
Merke Die Gefahr rein wirtschaftlicher Schäden lässt nach 6 Jahren eine Fortdauer der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus grundsätzlich nicht mehr zu. Zum zweiten sind – was entscheidender sein dürfte – die prozessualen Anforderungen angehoben worden. § 463 Abs. 4 StPO sieht für die nach § 67e StGB vorgesehene Überprüfung der weiteren
Vollstreckung der Unterbringung in Satz 2 und 3 eine externe Begutachtung nach 3 (statt bislang 5) Jahren vor. Dauert die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus bereits 6 Jahre, verkürzt sich die Frist zur externen Begutachtung auf alle 2 Jahre. Zu Recht geht der Gesetzgeber davon aus, dass sich mit der Intervallverdichtung der psychiatrischen Gutachten die Unterbringung ungefährlicher Täter verringern lässt. Insbesondere durch klinikfremde Gutachter, die nicht auf Belange der eigenen Maßregelvollzugseinrichtung Rücksicht nehmen und durch das Therapeuten-Probanden-Verhältnis beeinflussbar sein könnten, lässt sich die Qualität der Fortdauerentscheidungen steigern (BT-Drs. 18 / 7244, 37). Die Aussetzung und Erledigung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung Ebenso wie die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus ist die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung zeitlich unbegrenzt. Die automatische Erledigung der ersten Unterbringung auf den Tag genau mit Ablauf von 10 Jahren (§ 67d Abs. 3 S. 2 i. V. m. § 67d Abs. 1 StGB a. F.), die zur Entlassung des Untergebrachten ohne jegliche Prüfung des Rückfallrisikos führte, hatte zu bedenklichen Sicherheitsdefiziten geführt und wurde durch das SexualdelBekG (a. a. O.) abgeschafft. Stattdessen ist gem. § 67d Abs. 3 StGB zum 10-Jahres-Zeitpunkt von Amts wegen die Prüfung vorgesehen, ob die Voraussetzungen für die Sicherungsverwahrung noch bestehen. Diese obligatorische Prüfungspflicht gilt für die erste wie für weitere andere Unterbringungen der Sicherungsverwahrung gleichermaßen. Sie gilt auch in Fällen der Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung (BGHSt 50, 373 [381]). Besteht nun nicht mehr die Gefahr, „dass der Untergebrachte infolge seines Hanges erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden“, hat das Gericht diese Maßregel zwingend für erledigt zu erklären. Bei der Gefahrenprognose ist der Begriff der Gefahr des § 66 Abs. 1 Nr. 4 StGB zugrunde zu legen, wobei sich freilich bei der Beurteilung die
Bedeutung der Anlasstaten aufgrund der im Vollzug gewonnenen Erkenntnisse über den Täter relativiert (Fischer 2019, § 67d Rn. 10 f.). Zum Begriff des Hangs wird auf ➤ Kap. 8.5.3 verwiesen. Zudem gilt für die Sicherungsverwahrung als eine unbefristete Unterbringung auch § 67d Abs. 2 StGB, sodass bereits vor der 10-Jahres-Frist eine Aussetzung zur Bewährung unter der Voraussetzung der Erwartensklausel des § 67d Abs. 2 StGB geprüft werden kann. Die Aussetzung erfolgt ferner, wenn die Vollzugsbehörde nicht alles unternimmt, um die Gefährlichkeit des Verwahrten zu reduzieren, d. h., wenn nicht spätestens bis zum Ablauf einer vom Gericht gesetzten Frist von höchstens 6 Monaten eine ausreichende Betreuung im Sinne des § 66c Abs. 1 Nr. 1 StGB angeboten worden ist (§ 67d Abs. 2 S. 2 StGB) (Peglau 2013, 254; BVerfGE 128, 326, Rn. 112). Die regelmäßigen Überprüfungsfristen für die Vollstreckung in § 67e Abs. 2 StGB betragen 6 (in Fällen des § 64 StGB), 12 (§§ 63, 66 StGB) bzw. nach Ablauf von 10 Jahren 9 Monate. Rechtzeitig vor Ablauf dieser Fristen, deren Lauf mit der Unterbringung beginnt, hat die zuständige Strafvollstreckungskammer nach mündlicher Anhörung über die Frage der Aussetzung zur Bewährung oder Erledigung zu entscheiden (Fischer 2019, § 67e Rn. 2a).
Merke Die Entlassung aus der Sicherungsverwahrung – Aussetzung oder Erledigungserklärung – setzt stets eine vorherige prognostische Begutachtung voraus. Der Kreis der in § 67d Abs. 3 StGB genannten erheblichen Straftaten, die einer Erledigungserklärung entgegenstehen, ist auf solche beschränkt, die das Opfer seelisch oder körperlich schwer schädigen. Es muss eine hochgradige Gefahr schwerster Gewaltoder Sexualstraftaten gegeben sein (BVerfG, HRRS 2014 Nr. 188). Die Prognose künftigen Verhaltens
Für die Entscheidung über die Entlassung sind maßgeblich: die Prognose des künftigen Verhaltens des Verurteilten, das Gewicht der durch mögliche Wiederholungstaten bedrohten Rechtsgüter und der Grad ihrer Gefährdung sowie die Verhältnismäßigkeit eines fortdauernden Freiheitsentzugs (LK-Rissing-van Saan, Peglau 2008, § 67d Rn. 96; zur Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes s. BVerfGE 70, 297 [313 f.]; BVerfG, NJW 2013, 3228 ff.). Entscheidend für die Frage der Aussetzung ist zunächst die Entlassungsprognose. Ihr Gegenstand ist nicht, ob der Untergebrachte in Freiheit ein normales, geordnetes Leben wird führen können, sondern nur, ob er keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird. Für die verschiedenen Methoden der Prognose kann zunächst auf die Ausführungen zur Anordnung der Unterbringung verwiesen werden (➤ Kap. 8.5.2). Angewandt werden auch hier statistische, klinische und intuitive Prognosen. Die gebräuchlichen Verfahren neigen zu einer für die Entlassungsprognose besonders problematischen Überbetonung der statistischen, in der Vergangenheit liegenden Merkmale (z. B. Vorstrafen und Rückfälle des Täters), ohne die Einflüsse des Maßregelvollzugs bzw. die künftigen Lebensumstände des Verurteilten hinreichend zu berücksichtigen. Die klinische Prognose erscheint insofern überlegen, als sie eher die individuelle Persönlichkeit des Untergebrachten erfassen und auch ihre Veränderungen während des Vollzugs beurteilen kann. Sie wird angesichts der Notwendigkeit, stets ein Gutachten vor der Entlassung einzuholen, in den Vordergrund rücken. Andererseits ergeben sich für sie Belastungen und Verzerrungen, wenn der beurteilende Psychiater bzw. Psychologe an der Unterbringung und Behandlung des Verurteilten beteiligt ist. Strafvollstreckungskammern und Gutachter arbeiten meist mit der intuitiven Prognose, die vielfältige, in ihrem Gewicht häufig problematische Kriterien verwendet. Beim gegenwärtigen Stand der Prognoseforschung wird man über die Empfehlung Schöchs kaum hinauskommen können, die Ergebnisse der verschiedenen zur Verfügung stehenden Prognosemethoden zwar heranzuziehen, zu vergleichen und die Gesamtergebnisse
kritisch zu werten, den Schwerpunkt aber auf die hermeneutische Individualprognose zu legen. (LK-Schöch 2008, Vor § 61 Rn. 173 f.). Unabhängig von den angewandten Methoden sind für die Entlassungsprognose daher u. a. zu berücksichtigen (dazu insbesondere LK-Rissing-van Saan, Peglau 2008, § 67d Rn. 97 ff.; § 67c Rn. 75; § 66 Rn. 127 ff.): • Die Anlass- bzw. Auslösetat, insbesondere im Hinblick auf die aktuelle Situation und die lebensmäßige Konstellation, in der sie begangen wurde. • Die Art der Erkrankung des Untergebrachten. Zu beachten ist dabei, dass die Neigung psychisch Kranker zu Straftaten, insbesondere zu Gewalttaten, weit überschätzt wird (Böker und Häfner 1973, 20 ff.). Allein mit einer bestimmten Krankheitsdiagnose kann noch kein Gefährlichkeitsurteil begründet werden. Es sind stets auch noch die konkreten Umstände in der Person des Täters und seine künftigen Lebensverhältnisse zu berücksichtigen. • Die Ergebnisse der Behandlung im Vollzug (skeptisch insoweit Teile der Rspr.; KG, NJW 1972, 2228; 1973, 1420. Kritisch zu dieser Rspr. u. a. Müller-Dietz 1973, 1065). • Das Verhalten des Untergebrachten im Vollzug, insbesondere in Situationen, die dem normalen Leben ähnlich sind, u. a. bei Arbeit, Freigang und Urlaub. Dabei dürfen Disziplinarverstöße in ihrer prognostischen Bedeutung nicht überschätzt werden (LK-Rissing-van Saan, Peglau 2008, § 67d Rn. 99 f.; Rosenau und Peters 2007, 587). Die Prüfung kann nicht auf die äußerlich feststellbare Anpassung an die Institution beschränkt werden, sondern hat zu untersuchen, welche indizielle Bedeutung ein Verhalten im Hinblick auf eine mögliche Delinquenz außerhalb der Anstalt besitzt. • Die Hilfs- und Aufsichtsmaßnahmen sowie die persönlichen Beziehungen und Anknüpfungspunkte, auf die sich der Untergebrachte nach seiner Entlassung wird stützen können.
Die genannten Umstände sind keineswegs vollständig; sie können jeweils nur Anhaltspunkte geben, erlauben aber keine sichere Vorhersage, wie sich der oft seit langen Jahren Untergebrachte in Freiheit verhalten wird. Die Gutachter müssen Kriterien zugrunde legen, die eine wirkliche Beziehung zu möglichem künftigem Verhalten des Untergebrachten und seiner Gefährlichkeit haben und sich nicht in oberflächlichen Verhaltensbeschreibungen oder der Aufzählung disziplinärer Verstöße erschöpfen. Bei der Beurteilung des Verhaltens im Vollzug ist stets zu beachten, dass die Lebensverhältnisse in der Anstalt meist von denen des gewöhnlichen Lebens erheblich abweichen, sodass sowohl negative Auffälligkeiten wie Disziplinwidrigkeiten als auch positive Verhaltensweisen wie Fleiß und reibungslose Einfügung in das Leben der Anstalt u. U. so sehr an die Bedingungen der Anstalt gebunden sind, dass sie für die Entlassungsprognose nicht von wesentlicher Bedeutung sein müssen (Venzlaff 1984, 106; LKRissing-van Saan, Peglau 2008, § 67d Rn. 99). Bei der Prognose ist zu beachten, dass gem. § 67d Abs. 2 S. 3 StGB mit der Aussetzung bzw. gem. § 67d Abs. 3 S. 2 StGB mit der Erledigung der Sicherungsverwahrung Führungsaufsicht eintritt. Die voraussehbaren Wirkungen dieser Führungsaufsicht, die in der Leitung durch einen Bewährungshelfer sowie die Aufsichtsstelle besteht, sowie die Auswirkungen etwaiger Weisungen, sind in die Prognose einzubeziehen (Fischer 2019, 67d Rn. 11; BVerfGE 70, 297 [313]). Das gilt auch für die Umstände, die durch die Entlassungsvorbereitungen beeinflusst werden können, z. B. Arbeitsplatz, Unterkunft, persönliche Anknüpfungspunkte. Schließlich darf nicht außer Betracht bleiben, dass nach § 67 g StGB ein Widerruf der Aussetzung möglich ist, wenn sich entgegen der prognostischen Einschätzung später die Gefahr erheblicher rechtswidriger Taten zeigt. Das mit jeder Maßregelaussetzung verbundene prognostische Risiko wird durch die Möglichkeit des die Prognosebeurteilung korrigierenden Widerrufs begrenzt (LKRissing-van Saan, Peglau 2008, § 67 g Rn. 5). Die zu erwartenden Straftaten
Neben der Prognose des künftigen Verhaltens ist für die Frage der Aussetzung zu berücksichtigen, welche Straftaten vom Untergebrachten drohen. Dabei ist die Strafvollstreckungskammer in ihrer Entscheidung an die Art der Taten gebunden, die für die Unterbringung bestimmend gewesen sind. Sie kann nur überprüfen, ob die vom erkennenden Gericht der Anordnung der Unterbringung zugrunde gelegte Gefährlichkeitsprognose noch weiter zu gelten hat. Sie darf die Fortdauer der Maßregel aber nicht mit einer Gefährlichkeitsprognose anderen Inhalts begründen (LK-Rissingvan Saan, Peglau 2008, § 67d Rn. 104; NK-Pollähne 2017, § 67d Rn. 30). War etwa der Unterbringung die Gefahr zugrunde gelegt worden, dass der Verurteilte Taten gegen Leib und Leben begehen werde, so ist die Maßregel auch dann auszusetzen, wenn jetzt z. B. die Gefahr von Vermögensdelikten drohen sollte (SK-Sinn 2016, § 67d Rn. 19). Hat Alkoholsucht zur Anlasstat geführt und ist diese inzwischen behoben, ist die Maßregel nach § 64 StGB auszusetzen, auch wenn aus anderen Gründen mit erheblichen Taten gerechnet werden muss. Solchen vom Anordnungsgrund abweichenden drohenden Delikten kann jedenfalls nicht mit dem Mittel der Unterbringung wegen früherer Taten begegnet werden. Die Schwere der zu erwartenden Straftaten spielt bei der Entscheidung über die E ntlassung eine wesentliche Rolle. Die entscheidende Frage geht dahin, ob die drohenden Taten hinsichtlich der Schwere des durch sie möglicherweise entstehenden Schadens so schwer wiegen, dass ihre Begehung die Voraussetzung der jeweiligen Maßregel, etwa die des § 63 StGB im Fall des psychiatrischen Krankenhauses, im Falle der Sicherungsverwahrung diejenige des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB bzw. die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts erfüllen (BVerfG, HRRS 2014 Nr. 188; Lackner / Kühl und Heger 2018, § 67d Rn. 3 f.). Dagegen müssen bei geringer bzw. mittlerer Kriminalität (OLG Düsseldorf, StV 1987, 497) unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes an den Wahrscheinlichkeitsgrad künftiger Taten höhere Anforderungen gestellt werden. Der Zeit der bisherigen Unterbringung kommt seit dem Beschluss des BVerfG vom 1.10.1985 (BVerfGE 70, 297 ff.) zur Dauer
der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus zunehmend erhebliche Bedeutung zu (BVerfG, HRRS 2014 Nr. 188; BVerfG, NJW 2013, 3228 [3229 f.]; OLG Frankfurt, StV 2013, 581). „Je länger die Unterbringung dauert, um so strenger werden die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzuges sein“ (BVerfG 70, 297: Leitsatz); denn die Belastung durch die Unterbringung wächst mit ihrer Dauer. Zu ihrer weiteren Rechtfertigung bedarf es daher zunehmend gewichtiger Gründe. Die Schwere der möglichen Gefährdung der Allgemeinheit ist deshalb bei der Risikoabwägung in Beziehung zur erlittenen Zeitdauer des Freiheitsentzugs zu setzen. Die Gefahr schwerster Taten rechtfertigt die weitere Unterbringung bei längerer Dauer und bei einem geringeren Wahrscheinlichkeitsgrad jedoch nur noch in Ausnahmefällen (Fischer 2019, § 67d Rn. 15).
Merke Schwere und Wahrscheinlichkeit der möglichen Taten stehen insofern in einer Wechselbeziehung, als an die Wahrscheinlichkeit umso höhere Anforderungen zu stellen sind, je mehr die möglichen Taten hinter dem höchsten Schweregrad zurückbleiben (BVerfG a. a. O.; Rosenau 1999, 395; LK-Rissing-van Saan, Peglau 2008, § 67d Rn. 88 m. w. N.). Entlassungspraxis Einige spektakuläre Rückfalltaten Untergebrachter sowie die strafrechtliche Verfolgung von Psychiatern, deren Gutachten zur Entlassung oder zu Vollzugslockerungen beigetragen haben, während deren es zu Straftaten kam (vgl. BGH, NJW 2004, 237 ff. [Brandenburger Klinikärzte]), sind teilweise Anlass für eine restriktive Entlassungspraxis gewesen. Es besteht die Gefahr, dass dabei mögliche Therapie zugunsten bloßen Sicherungsdenkens zurückgedrängt und die Unterbringung im psychiatrischen
Krankenhaus allein zur lang andauernden sichernden Verwahrung wird. Eine Entlassungspraxis, die sich lediglich an der Sicherung orientiert, wäre verfehlt und liefe den Intentionen des Gesetzes zuwider. Nach § 67d Abs. 2 StGB setzt die Aussetzung der Maßregel nicht die sichere Erwartung künftigen Wohlverhaltens voraus. Dass keine rechtswidrigen Taten mehr zu erwarten sind, verlangt freilich ein Überwiegen der positiven Prognose, nicht aber den Ausschluss jeden Risikos. Dieses Risiko wird nur sehr klein sein dürfen, wenn es um sehr schwerwiegende Taten geht. Immer muss es sich um ein kalkuliertes Risiko handeln, das zuvor sorgfältig geprüft und für verantwortbar gehalten worden ist. Daran hat es offenbar bei manchen Fällen, die immer wieder Aufsehen erregt haben, gefehlt. Allein therapeutischer Optimismus und guter Wille reichen nicht aus; es muss vielmehr nach den genannten Kriterien eine differenzierte Prognose erstellt werden und eine alle Gesichtspunkte berücksichtigende Abwägung erfolgen. Streitig ist, ob bei der Entscheidung über die Entlassung der Grundsatz „in dubio pro reo“ nicht gilt, Zweifel also zulasten des Untergebrachten gehen (Fischer 2019, § 67d Rn. 12). Von einer verbreiteten Auffassung wird das zu Unrecht angenommen (Kinzig 2002, 3206; LK-Schöch 2008, Vor §§ 61 ff. Rn. 60 ff. m. w. N.). Das Gericht hat vielmehr seine Entscheidung auch in Non-liquetFällen anhand der genannten Kriterien, nämlich insbesondere der Schwere der drohenden Taten, des Grades der Rückfallwahrscheinlichkeit und der Dauer der bisherigen Unterbringung, ohne Bindung an Beweisregeln zu treffen. Dabei hat es die bestehende Unsicherheit hinsichtlich weiterer Taten bei der Abwägung des Risikos in Betracht zu ziehen. Das hat auch angesichts der neuen Formel zu gelten (vgl. LK-Rissing-van Saan, Peglau 2008, § 67d Rn. 90 ff. m. w. N.); denn eine Maßregel, deren Erforderlichkeit nicht mehr mit einer negativen Prognose zu belegen ist, muss unverzüglich enden (BVerfGE 109, 133; SK-Sinn 2016, § 67d Rn. 18). Im Ergebnis wird das freilich häufig – jedenfalls bei der Gefahr schwerwiegender Taten – auf eine Entscheidung gegen die Entlassung hinauslaufen, wenn erhebliche Zweifel bleiben.
Erledigung bei Fehleinweisung Bislang streitig war das Verfahren, wenn sich nach Beginn der Unterbringung ergibt, dass der Verurteilte gar nicht an einem Zustand leidet, der die Anwendung der §§ 20, 21 StGB und die Unterbringung nach § 63 StGB rechtfertigt. Das kann der Fall sein, wenn sich die im Strafverfahren gestellte Diagnose als falsch erweist oder wenn der krankhafte Zustand durch Heilung bzw. eine volle Remission entfallen ist. Manche meinen, dass es sehr häufig zu Fehleinweisungen voll schuldfähiger Verurteilter, aber auch umgekehrt zu Verurteilungen als schuldfähig bei psychisch erheblich gestörten Gefangenen kommt (Konrad 1991, 315). Mit dem Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung vom 23.7.2004 (BGBl. I, 1838) wurde § 67d Abs. 6 S. 1 StGB eingefügt (dazu Koller 2006, 234 ff.). Danach ist in beiden Fällen (sowie beim Fortfall der Gefährlichkeit des nach § 63 StGB Untergebrachten) die Maßregel von der Vollstreckungskammer für erledigt zu erklären. Regelmäßig tritt Führungsaufsicht ein (§ 67d Abs. 6 S. 2 StGB, beachte aber S. 3). Die Zeit des Vollzugs der Maßregel ist, auch wenn ihre Voraussetzungen nicht vorlagen, gem. § 67 Abs. 4 StGB auf eine Strafe anzurechnen (BVerfG, NJW 1995, 2405). Das Verfahren der Aussetzung Für das Verfahren der Aussetzung gilt Folgendes: Die Entscheidung erfolgt durch die Strafvollstreckungskammer auf Antrag des Verurteilten bzw. der Staatsanwaltschaft oder von Amts wegen. Eine Überprüfung von Amts wegen kann jederzeit stattfinden (§ 67e Abs. 1 S. 1 StGB); bei der Sicherungsverwahrung schreibt sie der Gesetzgeber nach 10-jährigem Vollzug vor (§ 67d Abs. 3 S. 1 StGB). Das Gericht ist verpflichtet, beim Vorliegen von Anhaltspunkten stets in eine Prüfung der Möglichkeit einer Entlassung einzutreten. Da die Maßregel nicht länger als unbedingt erforderlich andauern darf, sind Vollstreckungsbehörde und Anstalt gehalten, das Gericht darüber zu informieren, wenn sich eine Aussetzungsmöglichkeit ergibt.
Das gilt unabhängig von den in den §§ 67d Abs. 3, 67e StGB festgelegten gesetzlichen Prüfungsfristen. Diese betragen bei der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus 1 Jahr (§ 67e Abs. 2 StGB). Sie beginnen jeweils mit einer die Aussetzung ablehnenden Entscheidung von Neuem, nicht erst mit deren Rechtskraft, die eventuell erst nach einem längeren Beschwerdeverfahren eintritt (Schönke, Schröder / Kinzig 2019, § 67e Rn. 7). Eine intensivere gerichtliche Kontrolle bei möglicher schneller Veränderung der Verhältnisse eröffnet die Abkürzung der Prüfungsfristen nach § 67e Abs. 3 S. 1 StGB für die Sicherungsverwahrung. Die Sperrfrist nach § 67e Abs. 3 S. 2 StGB ist angebracht, wenn sich innerhalb kurzer Fristen Anträge des Verurteilten ohne neue Gesichtspunkte häufen. Eine solche Sperrfrist hindert eine Sachentscheidung nicht, wenn sich doch neue relevante Aspekte ergeben. Im Verfahren sind der Verurteilte, die Staatsanwaltschaft und die Anstalt zu hören. Das Gericht hat gem. § 463 Abs. 3 S. 3 i. V. m. § 454 Abs. 2 StPO das Gutachten eines Sachverständigen über den Verurteilten einzuholen, das sich namentlich zu der Frage zu äußern hat, ob bei dem Verurteilten keine Gefahr mehr besteht, dass dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbesteht. Grundlage der Entscheidung darf aber nicht allein das Gutachten sein. Vielmehr entscheidet die Strafvollstreckungskammer über den Umgang mit der Überprüfung nach pflichtgemäßem Ermessen. Sie hat dabei die Persönlichkeit und die Lebensverhältnisse des Untergebrachten, soweit für die Entscheidung erforderlich, durch eigene Erhebungen zu untersuchen. Dafür kann es erforderlich sein, Berichte der Gerichtshilfe, der Sozialbehörde und anderer Stellen einzuholen, die über den Verurteilten und seine Lebensverhältnisse Auskunft geben können. Als Grundlage für die Aussetzungsentscheidung ist stets eine zeitnah aktualisierte Stellungnahme der Vollzugsanstalt heranzuziehen (OLG Nürnberg, NStZ-RR 2014, 122). Zweifelhaft ist, ob für das Gutachten ein anstaltsfremder Arzt oder Psychologe herangezogen werden soll. Einerseits dürfte zwar ein Gutachten des behandelnden Arztes oder Psychologen den Vorteil haben, dass dieser den Untergebrachten aus regelmäßigem
Umgang näher kennt, andererseits können aber aus der Behandlung resultierende Spannungen und Belastungen zwischen Proband und Gutachter die Beurteilung erschweren. Auch kann die therapeutische Arbeit durch die Gutachtertätigkeit erheblich beeinträchtigt werden. Das lässt es – jedenfalls nach einer längeren Unterbringungsdauer und auch sonst in problematischen Fällen – angezeigt erscheinen, dem externen Gutachter den Vorzug zu geben (Fischer 2019, § 67d Rn. 27a; Rössner 2007, 338; KK-Fischer 2003, § 454 Rn. 13). In der besonders heiklen Frage, ob vom Vorbehalt der Sicherungsverwahrung gem. § 66a StGB Gebrauch gemacht werden soll, schließt § 275a Abs. 4 S. 3 StPO den behandelnden Therapeuten als Gutachter ausdrücklich aus. Zunächst hatte der Gesetzgeber auch aufgrund des Mangels an kriminalprognostisch geschulten Sachverständigen auf eine Festlegung auf anstaltsexterne Gutachter verzichtet. In geeigneten Fällen solle eine Begutachtung durch Anstaltspsychologen genügen (BT-Drs. 13 / 9062, 14). Viele Obergerichte waren aber erkennbar weitergegangen und haben „in der Regel“ den anstaltsinternen Gutachter ausreichen lassen (OLG Karlsruhe, NStZ-RR 2000, 125 f.; KG, NJW 1999, 1797 f.; restriktiver in Fällen langer Unterbringungsdauer in derselben Einrichtung OLG Zweibrücken, ZfStrVo 2001, 313; OLG Koblenz, StV 1999, 496 [497]). Dieser Entwicklung ist der Gesetzgeber durch die Regelung des § 463 Abs. 4 S. 2 ff. StPO entgegengetreten, auch um der Gefahr repetitiver Routinebeurteilungen vorzubeugen (LR-GraalmannScheerer 2010, § 463 Rn. 35). Nunmehr soll jedenfalls nach jeweils 3 Jahren vollzogener Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus ein anstaltsfremdes Gutachten eingeholt werden, ab dem 6. Jahr nach jeweils 2 Jahren (BT-Drs. 18 / 7244, 37). Unter den Gerichten ist streitig, ob vor der fälligen Entscheidung auf ein Gutachten nach § 454 Abs. 2 S. 2 StPO verzichtet werden kann – sofern nicht in seltenen Einzelfällen eine weitere Gefährdung von vornherein auszuschließen sein sollte, etwa bei spontanen Konflikttaten oder Gebrechlichkeit des Täters (§ 454 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 StPO). Die Kontroverse betrifft darüber hinaus Fälle, in denen eine Aussetzung für das Gericht gar nicht in Betracht kommt. Unter
Hinweis auf den generellen Wortlaut wird z. T. angenommen, dass stets ein Sachverständigengutachten einzuholen ist (OLG Celle, NStZ 1999, 159; Neubacher 2001, 451 ff.). Es ist zwar richtig, dass der Gesetzgeber die Entscheidung über die Aussetzung auf eine fundierte Erkenntnisgrundlage stellen wollte und daher die Einholung eines auch mündlich zu erstattenden Prognosegutachtens vorgesehen hat. Er hatte dabei aber das Risiko falscher Entscheidungen für die Allgemeinheit, weniger die Interessen des Untergebrachten vor Augen. Daher ist mit dem BGH ein Gutachten verzichtbar, wenn eine Aussetzung offensichtlich scheitern muss und daher vom Gericht nicht ernsthaft in Betracht zu ziehen ist (BGH, NJW 2000, 1663 [1664]; Fischer 2019, § 67d Rn. 27a). Die weitergehende Auffassung des OLG Jena, ein Gutachten sei nur bei positiver Erwägung, die Aussetzung sei eine realistische Möglichkeit, in Auftrag zu geben (OLG Jena, NStZ 2000, 224), ist angesichts der Bedeutung dieser Entscheidung auch für den Untergebrachten allerdings kaum haltbar. Die Entlassung aus der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt Die Höchstdauer der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt beträgt nach § 67d Abs. 1 S. 1 StGB 2 Jahre. In der Praxis sind die tatsächlichen Unterbringungszeiten jedoch deutlich länger. Im Durchschnitt dauert die Unterbringung ca. 3 Jahre (Trenckmann 2011, 322 ff.). Nach Ablauf der Höchstfrist von 2 Jahren ist der Untergebrachte eigentlich zu entlassen, auch wenn er noch gefährlich erscheint bzw. wenn die Fortsetzung der Therapie Erfolg verspricht. In derartigen Fällen sollte ggf. versucht werden, die Unterbringung in einen freiwilligen Klinikaufenthalt umzuwandeln. Nach § 67d Abs. 1 S. 3 StGB kann sich die Höchstfrist allerdings verlängern, wenn vor einer verhängten Freiheitsstrafe die daneben angeordnete Maßregel vollzogen und die Unterbringung auf die Strafe angerechnet wird (§ 67 Abs. 4 StGB). Ist z. B. neben der Unterbringung in der Entziehungsanstalt noch eine 2-jährige
Freiheitsstrafe ausgeworfen und wird die Maßregel vor der Strafe vollzogen, so kann die Unterbringung in der Entziehungsanstalt das Doppelte der Höchststrafe, also 4 Jahre betragen. Eine Entlassung vor Ablauf der Höchstfrist ist gem. § 67d Abs. 2 StGB bei günstiger Prognose möglich. Auch hier muss geprüft werden, ob zu erwarten ist, dass der Untergebrachte außerhalb des Vollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird. Da gem. § 64 S. 2 StGB der Besserungszweck dem Sicherungszweck Grenzen setzt, stehen bei der Entlassung aus der Entziehungsanstalt therapeutische Gesichtspunkte im Vordergrund. Eine Entlassung ist aus therapeutischen Gründen nicht zu verantworten, wenn Rückfallgefahr besteht. Derjenige Entlassungszeitpunkt ist zu bestimmen, der die besten Bedingungen für die Fortsetzung der Therapie in Freiheit eröffnet. Der Streit, ob bei Aussichtslosigkeit der Entziehungskur die Unterbringung in der Entziehungsanstalt abzubrechen und die Maßregel für erledigt zu erklären ist (vgl. dazu m. w. N. LKHanack 1992, § 64 Rn. 92a Fn. 31; LK-Rissing-van Saan, Peglau 2008, § 67d, Rn. 3, 25), ist mit der Neufassung des § 67d Abs. 5 StGB durch Gesetz vom 16.7.2007 (BGBl. I, 1327) hinfällig geworden. Das Gericht hat die Erledigung anzuordnen. Das gilt umgekehrt auch, wenn das Therapieziel der Maßregel erreicht wurde (Fischer 2019, § 67d Rn. 21). Unberührt davon bleiben die vorzeitige Erledigung nach § 67c Abs. 1 StGB sowie die Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel nach § 67a StGB (LK-Hanack 1992, § 64 Rn. 92a). Erfolgt eine Entlassung vor Ablauf der Höchstfrist, so tritt Führungsaufsicht ein (§ 67d Abs. 5 S. 2 StGB). Der zur Bewährung Entlassene steht dann für eine vom Gericht festzusetzende Dauer von mindestens 2 und höchstens 5 Jahren (§ 68c Abs. 1 StGB) unter der Aufsicht einer besonderen Aufsichtsstelle und eines Bewährungshelfers. Wird der Untergebrachte erst mit Ablauf der Höchstfrist entlassen, so ist die Maßregel damit erledigt (§ 67d Abs. 4 S. 2 StGB). Der Entlassene untersteht dann aber weiter gem. § 67d Abs. 4 S. 3 StGB der Führungsaufsicht.
8.6.2. Die Aussetzung der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus und in der Entziehungsanstalt zugleich mit ihrer Anordnung § 67b StGB (Aussetzung zugleich mit der Anordnung) Ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt an, so setzt es zugleich deren Vollstreckung zur Bewährung aus, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, daß der Zweck der Maßregel auch dadurch erreicht werden kann. Die Aussetzung unterbleibt, wenn der Täter noch Freiheitsstrafe zu verbüßen hat, die gleichzeitig mit der Maßregel verhängt und nicht zur Bewährung ausgesetzt wird. Mit der Aussetzung tritt Führungsaufsicht ein. Der Zweck des § 67b StGB ist die Prävention künftigen erheblich strafrechtswidrigen Verhaltens. § 67b StGB stellt eine Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dar. Dieser gebietet es, eine Maßregel überhaupt nur dann anzuordnen, wenn es unvermeidbar ist, d. h., wenn keine anderen, weniger belastenden Vorkehrungen zur Abwehr der Gefahr ausreichen. Eine Aussetzung der angeordneten Maßregel kommt erst in Betracht, wenn das Gericht die künftige Gefährlichkeit des Täters annimmt und keine anderen Möglichkeiten sieht, ihr zu begegnen, als durch die Maßregel. § 67b StGB will für diesen Fall dem Gedanken der Subsidiarität des Vollzugs der Maßregel Geltung verschaffen. Er geht von dem Grundgedanken aus, dass dem Vollzug der strafrechtlichen Unterbringung jede Alternative vorzuziehen ist, die künftige rechtswidrige Handlungen in gleicher Weise wirksam verhindert (LK-Rissing-van Saan, Peglau 2008, § 67b Rn. 1).
Ein Widerspruch scheint darin zu liegen, dass für § 67b StGB zunächst – nämlich für die Anordnung der Unterbringung – die Gefährlichkeit bejaht, dann aber praktisch gleichzeitig im Hinblick auf die Vollstreckung verneint werden muss. Ein solcher Widerspruch besteht aber nur scheinbar. Sowohl die vom Gesetz geforderten „besonderen Umstände“ wie der für die Prognose ebenfalls wesentliche Umstand, dass mit der Aussetzung Führungsaufsicht eintritt, können den Vollzug entbehrlich machen. Andererseits kann aber die Anordnung der Maßregel erforderlich sein, um Einwirkungs- und Kontrollmöglichkeiten über den Verurteilten zu haben, die erforderlich erscheinen, um einen Rückfall zu verhindern. Die Anordnung der Unterbringung kann also notwendig sein, um Führungsaufsicht und andere Hilfsmaßnahmen eintreten zu lassen; diese können den Verzicht auf den Vollzug möglich machen. Die Aussetzung nach § 67b StGB ist ebenso wie die nach § 67d Abs. 2 StGB von einer günstigen Täterprognose abhängig (Schönke, Schröder / Kinzig 2019, § 67b Rn. 6 ff.). Das Gesetz stellt dabei anders als im § 67d Abs. 2 StGB auf „besondere Umstände“ ab. Diese Klausel ist hier nicht im gleichen Sinne zu verstehen wie etwa in den §§ 47 Abs. 1, 56 Abs. 2 und 57 Abs. 2 StGB. Sie meint im § 67b StGB nicht allein außergewöhnliche, vom Durchschnittsfall wesentlich unterschiedene Fälle. Die „besonderen Umstände“ müssen auch nicht notwendig mit der Tat oder der Person des Täters zusammenhängen; von Bedeutung sind hier vielmehr insbesondere solche, welche die künftigen Lebensverhältnisse des Täters betreffen, z. B. die Möglichkeit der Therapie in einer bestimmten Einrichtung (BGH, NStZ 1983, 167; Fischer 2019, § 67b Rn. 4). Die „Umständeklausel“ soll den Richter zu konkreten Feststellungen über Alternativen zum Maßregelvollzug anhalten (Fischer 2019, § 67b Rn. 3; dagegen LK-Rissing-van Saan, Peglau 2008, § 67b Rn. 46). Die Umstände, die trotz bestehender Gefährlichkeit erwarten lassen, dass auch bei einer Aussetzung weitere Taten verhindert werden können, müssen überprüft werden. Als ein solcher besonderer Umstand kommt zunächst eine freiwillige ambulante oder stationäre Behandlung in Betracht, z. B.
in einem Krankenhaus, einem Heim, einer therapeutischen Wohngemeinschaft, einer Rehabilitations- und Trainingseinrichtung, etwa in einer Therapiekette. Zu nennen sind weiter u. a. die Betreuung in der eigenen oder einer Pflegefamilie sowie Veränderungen in den beruflichen oder sozialen Beziehungen. Bei der Prognoseentscheidung ist auch hier der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. Die Aussetzung ist umso vorsichtiger zu handhaben, je schwerer das bei einem Rückfall drohende Delikt wäre. Zwar kann auch insoweit nicht davon ausgegangen werden, dass der Satz „in dubio contra reum“ gelte. Schwere und Art des bei einem etwaigen Rückfall drohenden Schadens sind aber bei der Risikoabwägung zu berücksichtigen. So ist bei der Gefahr sehr schwerer Delikte in Zweifelsfällen eine „Sicherheitsmarge“ zugunsten des Rechtsgüterschutzes erforderlich (LK-Rissing-van Saan, Peglau 2008, § 67b Rn. 45). Wenn der Täter trotz seiner Erkrankung jahrzehntelang weitgehend unauffällig und ohne Gefährdung anderer gelebt hat, muss im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz die Möglichkeit geprüft werden, ob in einer anderweitigen Einbindung, insbesondere i. R. eines Betreuungsverhältnisses nach § 1896 Abs. 2 BGB, eine Unterbringung vermieden werden kann (BVerfG, NJW 2013, 3228 [3230]; BGH, NStZ-RR 1997, 291; NStZ-RR 2010, 171; BGH, StV 2001, 679). § 67b Abs. 1 S. 2 StGB schränkt den Anwendungsbereich der anfänglichen Maßregelaussetzung erheblich ein:
Merke Eine Unterbringung kann nicht zugleich mit ihrer Anordnung ausgesetzt werden, wenn der Täter Freiheitsstrafe zu verbüßen hat, die gleichzeitig mit der Maßregel verhängt und nicht zur Bewährung ausgesetzt wird. In Betracht kommen kann das insbesondere in Fällen verminderter Schuldfähigkeit nach § 21 StGB. Der Zweck des § 67b StGB, eine
Freiheitsentziehung nach Möglichkeit zu vermeiden, kann nicht verwirklicht werden, wenn eine zu vollstreckende Freiheitsstrafe ansteht. Erfolgt in derartigen Fällen nicht eine Anordnung über den Vorwegvollzug der Strafe gem. § 67 Abs. 2 StGB, so ist zunächst die Maßregel zu vollstrecken. Die Entscheidungen über die Maßregel- und die Strafaussetzung sollen in den in Betracht kommenden Fällen angesichts des notwendigen Zusammenhangs aller Erwägungen über die Rechtsfolgen der Tat für den Verurteilten nach Möglichkeit koordiniert werden. Ist eine Maßregelaussetzung indiziert, so dürften regelmäßig auch die prognostischen Voraussetzungen für eine Strafaussetzung nach § 56 StGB gegeben sein. Das gilt trotz der unterschiedlichen Bedeutung der „besonderen Umstände“ im § 56 Abs. 2 und § 67b StGB. Die Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel
§ 67a StGB (Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel) (1) Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt angeordnet worden, so kann das Gericht die untergebrachte Person nachträglich in den Vollzug der anderen Maßregel überweisen, wenn ihre Resozialisierung dadurch besser gefördert werden kann. (2) Unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 kann das Gericht nachträglich auch eine Person, gegen die Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist, in den Vollzug einer der in Absatz 1 genannten Maßregeln überweisen. Die Möglichkeit einer nachträglichen Überweisung besteht, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen und die Überweisung zur Durchführung einer Heilbehandlung oder Entziehungskur angezeigt ist, auch bei einer Person, die sich noch im Strafvollzug befindet und deren Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet oder vorbehalten worden ist.
(3) Das Gericht kann eine Entscheidung nach den Absätzen 1 und 2 ändern oder aufheben, wenn sich nachträglich ergibt, dass die Resozialisierung der untergebrachten Person dadurch besser gefördert werden kann. Eine Entscheidung nach Absatz 2 kann das Gericht ferner aufheben, wenn sich nachträglich ergibt, dass mit dem Vollzug der in Absatz 1 genannten Maßregeln kein Erfolg erzielt werden kann. (4) Die Fristen für die Dauer der Unterbringung und die Überprüfung richten sich nach den Vorschriften, die für die im Urteil angeordnete Unterbringung gelten. Im Falle des Absatzes 2 Satz 2 hat das Gericht bis zum Beginn der Vollstreckung der Unterbringung jeweils spätestens vor Ablauf eines Jahres zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Entscheidung nach Absatz 3 Satz 2 vorliegen. § 67a StGB soll die Reaktionsbeweglichkeit des Maßregelsystems ermöglichen. Wird eine freiheitsentziehende Maßregel angeordnet, deren Legitimation in der Gefahr künftiger Straftaten des Verurteilten liegt, so soll damit zugleich mit den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten die Resozialisierung des Untergebrachten gefördert werden. § 67a StGB lässt daher unter Wahrung der zeitlichen Grenzen der im Urteil ursprünglich angeordneten Maßregel (§ 67a Abs. 4 S. 1 StGB) einen nachträglichen Austausch der verschiedenen Maßregeln insoweit zu, als es der Resozialisierung des Täters dient. „Resozialisierung“ ist hier im weiten, nicht im technischen Sinn zu verstehen. Gemeint ist damit jede Einwirkung auf den Verurteilten, die unmittelbar oder mittelbar darauf abzielt, dass er künftig ein Leben ohne Straftaten führen kann (LK-Rissing-van Saan, Peglau 2008, § 67a Rn. 18). Auch bei Sicherungsverwahrten kann gem. § 67a Abs. 2 StGB eine nachträgliche Überweisung in eine Anstalt nach § 63 oder § 64 StGB angeordnet werden. Damit das frühzeitig bereits während des Vollzugs der Strafhaft geschehen kann, ist Satz 2 in § 67a Abs. 2 StGB angefügt worden. Voraussetzung ist allein, dass die Überweisung
medizinisch angezeigt ist, ein Zustand der §§ 20, 21 StGB wird nicht mehr verlangt (Kinzig 2012, 19; Peglau 2013, 252 f.; MK-Veh 2016, § 67a Rn. 14), es sei denn, der Betroffene befindet sich noch im Vollzug der Freiheitsstrafe (Abs. 2 S. 2). Eine umgekehrte Überweisung in die Sicherungsverwahrung ist allerdings ausgeschlossen (Fischer 2019, § 67a Rn. 4). Die Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel darf nur im Interesse des Untergebrachten erfolgen. Sie ist z. B. nicht deshalb zulässig, weil er im Vollzug der im Urteil primär angeordneten Maßregel Sicherheitsprobleme in der Anstalt schafft. Die sichere Unterbringung, z. B. in einem besonderen, festen Gebäude einer psychiatrischen Krankenanstalt, geschieht als solche nicht im Interesse der Resozialisierung des Verurteilten. Auch darf die Überweisung nach § 67a StGB nicht dazu benutzt werden, lästige bzw. schwierige Untergebrachte in andere Anstalten abzuschieben (LK-Rissing-van Saan, Peglau 2008, § 67a Rn. 42). Außer im Fall der Rücküberweisung nach § 67a Abs. 3 S. 2 StGB wegen Erfolglosigkeit ist eine Überweisung nur zulässig, wenn die Strafvollstreckungskammer davon überzeugt ist, dass sie damit dem Interesse der Resozialisierung des Untergebrachten dient. Da es auf die tatsächlich bestehenden Möglichkeiten der besseren Behandlung ankommt, hat das Gericht diese eventuell unter Mithilfe eines Sachverständigen vor seiner Entscheidung zu klären. Der Grundsatz, dass sich das Gericht nicht selbst um die Auswahl der Maßregelvollzugsanstalt zu kümmern habe, gilt insoweit jedenfalls nicht (Horstkotte 1992, § 67a Rn. 18; dagegen: LK-Rissing-van Saan, Peglau 2008, § 67a Rn. 26 f.). Darauf, ob der Verurteilte auch die gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnungen der anderen Maßregel erfüllt, kommt es nicht an. So kann z. B. auch derjenige zur besseren Förderung in ein psychiatrisches Krankenhaus überwiesen werden, bei dem ein Zustand nach §§ 20, 21 StGB nicht besteht und der daher die Voraussetzungen des § 63 StGB nicht erfüllt (Nachweise s. o.). Alternativ zu einer Überweisung nach § 67a StGB kann auch eine Anordnung nach § 67 Abs. 2 und 3 StGB über den Vorwegvollzug der Strafe in Betracht kommen. Ü
Durch die Überweisung ändert sich an dem rechtlichen Charakter der im Urteil verfügten Unterbringung nichts. Sowohl die Höchstdauer der Unterbringung nach § 67d Abs. 1 StGB als auch die Überprüfungsfristen richten sich gem. § 67a Abs. 4 S. 1 StGB weiter nach den Vorschriften für die im Urteil ursprünglich angeordnete Maßregel. Theoretisch könnte danach ein vom psychiatrischen Krankenhaus in die Entziehungsanstalt überwiesener Patient unbefristet dort verbleiben. Praktisch wichtig ist die Höchstfrist der Unterbringung in der Entziehungsanstalt bei einer Überweisung in das psychiatrische Krankenhaus; sie bleibt auf höchstens 2 Jahre begrenzt.
8.6.3. Die Entscheidungen bei einem späteren Beginn der Unterbringung § 67c StGB (Späterer Beginn der Unterbringung) (1) Wird eine Freiheitsstrafe vor einer wegen derselben Tat oder Taten angeordneten Unterbringung vollzogen und ergibt die vor dem Ende des Vollzugs der Strafe erforderliche Prüfung, dass 1. der Zweck der Maßregel die Unterbringung nicht mehr erfordert oder 2. die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung unverhältnismäßig wäre, weil dem Täter bei einer Gesamtbetrachtung des Vollzugsverlaufs ausreichende Betreuung im Sinne des § 66c Absatz 2 in Verbindung mit § 66c Absatz 1 Nummer 1 nicht angeboten worden ist,
setzt das Gericht die Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung aus; mit der Aussetzung tritt Führungsaufsicht ein. Der Prüfung nach Satz 1 Nummer 1 bedarf es nicht, wenn die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung im ersten Rechtszug
weniger als ein Jahr vor dem Ende des Vollzugs der Strafe angeordnet worden ist. (2) Hat der Vollzug der Unterbringung drei Jahre nach Rechtskraft ihrer Anordnung noch nicht begonnen und liegt ein Fall des Absatzes 1 oder des § 67b nicht vor, so darf die Unterbringung nur noch vollzogen werden, wenn das Gericht es anordnet. In die Frist wird die Zeit nicht eingerechnet, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist. Das Gericht ordnet den Vollzug an, wenn der Zweck der Maßregel die Unterbringung noch erfordert. Ist der Zweck der Maßregel nicht erreicht, rechtfertigen aber besondere Umstände die Erwartung, daß er auch durch die Aussetzung erreicht werden kann, so setzt das Gericht die Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung aus; mit der Aussetzung tritt Führungsaufsicht ein. Ist der Zweck der Maßregel erreicht, so erklärt das Gericht sie für erledigt. Während § 67d Abs. 2 StGB die Aussetzung einer Maßregel nach begonnenem Vollzug und § 67b StGB die Aussetzung vor dessen Beginn zugleich mit dem Urteil betrifft, regelt § 67c StGB diejenigen Fälle, in denen nach einem rechtskräftigen Urteil mit der Vollstreckung der darin angeordneten Maßregel noch nicht begonnen wurde. Der § 67c StGB betrifft drei Fälle: 1. § 67c Abs. 1 Nr. 1 gilt für den Fall, dass ausnahmsweise eine zugleich mit der Unterbringung verhängte Freiheitsstrafe aufgrund von Anordnungen nach § 67 Abs. 2 oder 3 StGB vor der Maßregel vollzogen wird. 2. § 67c Abs. 1 Nr. 2 trägt dem Abstandsgebot Rechnung. Dem Betroffenen wird die Möglichkeit der Bewährung eingeräumt, wenn der Vollzug der Sicherungsverwahrung in Anbetracht aller dem Täter während des Strafvollzugs gemachten Betreuungsangebote unverhältnismäßig erscheint (Kinzig 2012, 19; Peglau 2013, 253; Pollähne 2013, 252). Diese Vorschrift zollt der Tatsache Tribut, dass die Praxis nicht immer den gesetzlichen Vorgaben gerecht werden konnte (Köhne 2013, 338). Sie führt zu einer Stärkung der Position des Inhaftierten (Knauer 2014, 51).
3. Im zweiten Absatz geht es darum, dass aus anderen Gründen der Vollzug der Unterbringung 3 Jahre nach Rechtskraft ihrer Anordnung noch nicht begonnen hat. In diesen Fällen darf die Unterbringung nur noch vollzogen werden, nachdem erneut überprüft worden ist, ob der Zweck der Maßregel die Unterbringung noch erfordert. Seinen Grund hat das darin, dass nach Verbüßung der Freiheitsstrafe und nach dem Verstreichen eines längeren Zeitraums die Prognose anders ausfallen kann und nicht mehr mit derjenigen zum Zeitpunkt des Urteils übereinstimmen muss. Maßgebliches Kriterium für die Entscheidung nach § 67c Abs. 1 und 2 StGB ist, ob der Zweck der Maßregel die Unterbringung noch erfordert. Hierfür müssen die gleichen Gesichtspunkte gelten wie für die Frage, ob eine bereits begonnene Vollstreckung der Maßregel fortgesetzt werden soll (SSW-StGB-Jehle und Harrendorf 2019, § 67c Rn. 4, Lackner / Kühl und Heger 2018, § 67c Rn. 2). Es kann also insoweit auf die Ausführungen zu § 67d Abs. 2 StGB verwiesen werden. Auch hier gilt die Frage, ob zu erwarten ist, dass der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird. Grundlage für die danach erforderliche Entscheidung ist die auf den Zeitpunkt der Entlassung abzustellende Prognose, ob der Verurteilte außerhalb des Maßregelvollzugs wieder straffällig werden wird. In Betracht kommen dabei nur solche Taten, wie sie Anlass für die Verhängung der Maßregel gewesen sind; eine ungünstige Prognose, die eine Vollstreckung der Maßregel fordert, muss also mit dem Unterbringungsgrund zusammenhängen (LKRissing-van Saan, Peglau 2008, § 67c Rn. 58 ff.). Zu den Methoden und Kriterien der Entlassungsprognose kann zunächst auf die Darlegungen zu § 67d StGB zurückgegriffen werden. Für die Fälle des § 67c Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB ist zusätzlich Folgendes zu bemerken: Die Rechtskraft des vorausgegangenen Urteils bindet die Strafvollstreckungskammer bei ihrer Prognoseentscheidung nur in sehr geringem Maße, nämlich insoweit, als sie nicht von Tatsachen ausgehen darf, die den
Urteilsfeststellungen zur Schuld und zur Vorgeschichte der Tat widersprechen. Im Fall von § 67c Abs. 1 Nr. 2 ist das Gericht hingegen gem. § 119a Abs. 7 StVollzG an rechtskräftige Feststellungen der Strafvollstreckungskammer gebunden. Im Übrigen ist sie an die Prognose des erkennenden Gerichts und im Fall des § 67c Abs. 1 Nr. 1 StGB auch an die präventiven bzw. therapeutischen Vorstellungen des Gerichts über den Vorwegvollzug der Strafe nach § 67 Abs. 2 oder 3 StGB nicht gebunden. Sie hat vielmehr in eigener Verantwortung und aufgrund eigener tatsächlicher Feststellungen zu entscheiden, ob die Unterbringung noch vollzogen werden soll. Auch die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die Schwere der zu erwartenden Taten und den Grund der Gefahr durch das erkennende Gericht hindert die Strafvollstreckungskammer nicht an anderen Ergebnissen. Bei der Frage einer Unterbringung nach dem Vorwegvollzug der Strafe (Abs. 1) wird der Einfluss der Haftzeit auf den Täter eine Rolle spielen. Hier ergibt sich ähnlich wie bei § 67d Abs. 2 StGB die besondere Schwierigkeit, bei jemandem, der sich eventuell seit längerer Zeit in Unfreiheit befindet, zu prognostizieren, wie er sich in Freiheit verhalten wird. Neben einer feststellbaren Einwirkung der Haftzeit und einer in der Anstalt erfolgten Behandlung ist insbesondere ein Verhalten des Verurteilten in solchen Situationen zu berücksichtigen, die in Freiheit zu Straftaten Anlass geben können, wie z. B. während des Freigangs und im Urlaub (LKRissing-van Saan, Peglau 2008, § 67c Rn. 75). In den Fällen des § 67c Abs. 2 StGB kommt es dagegen nicht auf Erfahrungen aus dem Vollzug an; die Zeiten einer Verwahrung des Täters auf behördliche Anordnungen werden in die 3-Jahres-Frist nach gesetzlicher Vorschrift nicht eingerechnet. Vielmehr hat das Gericht die Auswirkungen eines möglicherweise unbeaufsichtigten Aufenthalts in Freiheit bei seiner Prognoseentscheidung in erster Linie zu berücksichtigen. Entscheidend ist, ob der Verurteilte während dieser Zeit, gleichgültig ob er sich erlaubt oder unerlaubt in Freiheit befand, rechtswidrige Taten begangen hat, die eine Gefahr künftiger erheblicher Gesetzesverstöße begründen und eine erneute
Anordnung der Maßregel rechtfertigen. Auch eine prognostisch bedeutsame Verschlechterung des psychischen Zustands in der Zwischenzeit kann Anlass für die Anordnung der Vollstreckung geben. Nach § 463 Abs. 3 S. 3 StPO in Verbindung mit § 454 Abs. 2 StPO hat das Gericht in den Fällen des § 67c Abs. 1 Nr. 1 StGB das Gutachten eines Sachverständigen über den Verurteilten einzuholen. Das Gutachten hat sich namentlich zu der Frage zu äußern, ob bei dem Verurteilten keine Gefahr mehr besteht, dass dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbesteht, wobei auch hier allein die materiellen Voraussetzungen des § 67c StGB maßgebend sind. Der Sachverständige ist mündlich zu hören. Hält das Gericht nach dem Zweck der Maßregel die Unterbringung noch für erforderlich, so ordnet es deren Vollzug an. Im Fall von Absatz 1 setzt es die Vollstreckung zur Bewährung aus, wenn das nicht erforderlich erscheint. Zugleich tritt damit von Gesetzes wegen Führungsaufsicht ein. Nach Abs. 2 S. 3 und 4, die sich an § 67b StGB anlehnen, setzt das Gericht auch dann, wenn es den Maßregelzweck noch nicht für erreicht hält und den Vollzug der Maßregel anordnet, diesen Vollzug zugleich zur Bewährung aus, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Zweck auch bei einer Aussetzung erreicht werden kann. „Besondere Umstände“ meinen hier wie in § 67b StGB nicht nur Ausnahmefälle; die Klausel soll vielmehr das Gericht auf die zu prüfenden Alternativen hinweisen. Insoweit ist hier kein strengerer Maßstab anzulegen als in den Fällen, in denen bereits ein Straf- oder Maßregelvollzug vorangegangen ist (SK-Sinn 2016, § 67c Rn. 13; LK-Rissing-van Saan, Peglau 2008, § 67c Rn. 168; a. A. Lackner / Kühl und Heger 2018, § 67c Rn. 4). Weitergehend als in Absatz 1 hat das Gericht, wenn der Zweck der Maßregel erreicht zu sein scheint, die Vollstreckung nicht nur auszusetzen, sondern die Maßregel nach Abs. 2 S. 5 für erledigt zu erklären.
8.6.4. Der Widerruf der Aussetzung der Maßregel § 67g StGB (Widerruf der Aussetzung) (1) Das Gericht widerruft die Aussetzung einer Unterbringung, wenn die verurteilte Person 1. während der Dauer der Führungsaufsicht eine rechtswidrige Tat begeht, 2. gegen Weisungen nach § 68b gröblich oder beharrlich verstößt oder 3. sich der Aufsicht und Leitung der Bewährungshelferin oder des Bewährungshelfers oder der Aufsichtsstelle beharrlich entzieht und sich daraus ergibt, dass der Zweck der Maßregel ihre Unterbringung erfordert. Satz 1 Nummer 1 gilt entsprechend, wenn der Widerrufsgrund zwischen der Entscheidung über die Aussetzung und dem Beginn der Führungsaufsicht (§ 68c Absatz 4) entstanden ist. (2) Das Gericht widerruft die Aussetzung einer Unterbringung nach den §§ 63 und 64 auch dann, wenn sich während der Dauer der Führungsaufsicht ergibt, dass von der verurteilten Person infolge ihres Zustandes rechtswidrige Taten zu erwarten sind und deshalb der Zweck der Maßregel ihre Unterbringung erfordert. (3) Das Gericht widerruft die Aussetzung ferner, wenn Umstände, die ihm während der Dauer der Führungsaufsicht bekannt werden und zur Versagung der Aussetzung geführt hätten, zeigen, dass der Zweck der Maßregel die Unterbringung der verurteilten Person erfordert. (4) Die Dauer der Unterbringung vor und nach dem Widerruf darf insgesamt die gesetzliche Höchstfrist der Maßregel nicht übersteigen. (5) Widerruft das Gericht die Aussetzung der Unterbringung nicht, so ist die Maßregel mit dem Ende der Führungsaufsicht
erledigt. (6) Leistungen, die die verurteilte Person zur Erfüllung von Weisungen erbracht hat, werden nicht erstattet. Die Entlassung aus der Unterbringung aufgrund einer Aussetzung der Maßregel zur Bewährung erfolgt nicht endgültig, sondern nur unter dem Vorbehalt des Widerrufs. Dieser ist während der Dauer der Führungsaufsicht, die mit der rechtskräftigen Entlassung zur Bewährung von Gesetzes wegen eintritt, sowie nach Abs. 1 S. 2 nun auch bereits ab dem Zeitpunkt der Aussetzungsentscheidung für den Fall vorgesehen, dass der Zweck der Maßregel eine weitere Vollstreckung erfordert. § 67 g StGB nennt in seinen Absätzen 1 bis 3 als Widerrufsgründe bestimmte Ereignisse und Erkenntnisse während der Führungsaufsicht. Endgültig erledigt ist die Maßregel mit dem Ende der Führungsaufsicht, wenn vorher kein Widerruf erfolgt (§ 67 g Abs. 5 StGB). Die Führungsaufsicht endet mit dem Ablauf der gesetzlichen Höchstdauer von 5 Jahren (§ 68c Abs. 1 S. 1 StGB) bzw. mit dem Ablauf der gerichtlich abgekürzten Höchstfrist (§ 68c Abs. 1 S. 2 StGB). Gemäß dem durch das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten eingefügten § 68c Abs. 2 StGB kann das Gericht eine die Höchstdauer überschreitende unbefristete Führungsaufsicht anordnen, wenn der Verurteilte in eine Weisung nach § 56c Abs. 3 Nr. 1 StGB (Heilbehandlung mit körperlichem Eingriff oder Entziehungskur) nicht einwilligt oder einer Weisung zu Heilbehandlung oder Entziehungskur nicht nachkommt und eine Gefährdung der Allgemeinheit durch die Begehung weiterer erheblicher Straftaten zu befürchten ist (zur Problematik des mittelbaren Therapiezwangs s. Rosenau 1999, 397). Das Gericht kann die Führungsaufsicht durch Beschluss vorzeitig aufheben (§ 68c Abs. 1 S. 2 StGB; § 68e StGB). Wesentliche allgemeine materielle Voraussetzung des Widerrufs ist, dass der Zweck der Maßregel die weitere Unterbringung
erfordert, und zwar verlangt das Gesetz das jeweils in Anknüpfung an die in § 67 g Abs. 1–3 StGB genannten einzelnen Kriterien. Den Zweck der Maßregel bildet die Verhütung neuer erheblicher Taten des Verurteilten. Für den Widerruf als der Sache nach erneute Unterbringung gelten daher die gleichen Maßstäbe wie für die ursprüngliche Anordnung der Unterbringung. Der Widerruf einer Aussetzung der Maßregel nach §§ 63, 64 StGB setzt daher voraus, dass vom Verurteilten aufgrund seines Zustands Taten drohen, derentwegen im Hinblick auf ihre Schwere eine Unterbringung anzuordnen wäre (Lenckner 1972, 193; OLG Hamm, MDR 1982, 1038). Wie bei der Anordnung gilt auch für den Widerruf der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die erneute Vollstreckung erscheint umso eher gerechtfertigt, je schwerer die Schäden wiegen würden, die durch weitere Taten entstehen können (LK-Rissing-van Saan, Peglau 2008, § 67 g Rn. 18 ff.). Dabei sind in die Gesamtwürdigung sowohl die Persönlichkeit des Verurteilten als auch der den Widerrufsgrund bildende Anlass sowie die drohenden Taten einzubeziehen. Hinsichtlich der einzelnen in den Absätzen 1–3 genannten Widerrufsgründe gilt Folgendes: • Die rechtswidrige Tat während der Führungsaufsicht (§ 67 g Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB) muss für die bei der Anordnung der Maßregel zugrunde gelegte Gefahr symptomatisch sein, d. h., eine ungünstige Prognose im Hinblick auf künftige Taten entsprechender Art begründen. • Bei Verstößen gegen Weisungen (S. 1 Nr. 2) gilt Ähnliches. Sie müssen ein Indiz für die vom Gesetz vorausgesetzte Gefährlichkeit sein und dürfen ihren Grund nicht, wie häufig, in Mängeln der Nachbetreuung und Schwierigkeiten der Anpassung des Verurteilten haben (LK-Rissing-van Saan und Peglau 2008, § 67 g, Rn. 32, 49). • Einen Grund für den Widerruf bildet ferner, wenn sich der Verurteilte der Aufsicht und Leitung des Bewährungshelfers oder der Aufsichtsstelle während der Führungsaufsicht beharrlich entzieht (S. 1 Nr. 3). Das liegt noch nicht vor,
wenn sich der Verurteilte einzelnen Maßnahmen widersetzt, sondern erst, wenn er jede Kontrolle und jede Einflussnahme unmöglich macht (Fischer 2019, § 67 g, Rn. 7; Schönke, Schröder / Kinzig 2019, § 67 g Rn. 7). Sein Verhalten muss den Schluss auf die Gefährdung der Zwecke der Maßregel zulassen. Der Widerrufsgrund des § 67 g Abs. 2 StGB ist auf psychisch Kranke zugeschnitten, deren Zustand sich nach der Entlassung derart nachteilig verändert, dass erhebliche Taten zu befürchten sind. Als Beispiel wird ein erneuter schizophrener Schub genannt, der die Gefahr von Gewalttaten begründet (Protokolle V, 791 ff.). Die praktische Bedeutung der Vorschrift dürfte darin liegen, dass sie einen Widerruf der Aussetzung im Vorfeld erheblicher Aggressionshandlungen ermöglicht, bevor es zu rechtswidrigen Taten im Sinne von § 67 g S. 1 Nr. 1 StGB kommt (Häfner 1973, 171 ff.). Eine Veränderung des psychischen Zustands kann auch ein durch Therapieabbruch bedingter Rückfall in den suchtbedingten Hang darstellen. § 67 g Abs. 3 StGB macht mit Umständen, die „zur Versagung der Aussetzung geführt hatten“, in der Zeit vor der Aussetzung liegende Tatsachen für die Verwertung bei der Widerrufsentscheidung zugänglich. Dabei kann es sich nur um solche Tatsachen handeln, die dem Gericht erst während der Führungsaufsicht bekannt geworden sind; schon bei der Aussetzungsentscheidung bekannte, erst später anders bewertete Umstände müssen dabei ausscheiden (Schönke, Schröder / Kinzig 2019, § 67 g Rn. 9). In Betracht kommen dürften dabei praktisch vor allem frühere schwere Rechtsverletzungen psychisch Kranker sowie prognostisch bedeutsame Krankheitssymptome (Fischer 2019, § 67 g Rn. 9). Auch insoweit müssen die neu bekannt gewordenen Tatsachen zur Annahme des entscheidenden materiellen Widerrufsgrundes führen, dass der Zweck der Maßregel die erneute Vollstreckung erfordert. Vor einem Widerruf erscheint in den Fällen der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB regelmäßig die Anhörung eines psychiatrischen bzw. psychologischen
Sachverständigen geboten. Das Gleiche gilt für den Widerruf der Aussetzung einer Maßregel nach § 64 StGB, vor dem ein Sachverständiger zu den möglichen Auswirkungen des Widerrufs und einer weiteren Therapie gehört werden sollte.
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KAPITEL 9
Der Sachverständige im Verfahren und in der Verhandlung Henning Rosenau
9.1 Auswahl und Hinzuziehung eines Sachverständigen 9.1.1 Gesetzlich geregelte Fälle der Hinzuziehung 9.1.2 Pflicht zur Hinzuziehung nach Ermessen des Gerichts 9.1.3 Auswahlkompetenz von Richter und Staatsanwaltschaft 9.1.4 Hinzuziehung eines weiteren Sachverständigen 9.1.5 Kriterien für die Auswahl eines Sachverständigen 9.2 Aufgaben und Pflichten des Sachverständigen 9.2.1 Die Pflicht zur Erstattung des Gutachtens 9.2.2 Persönliche Gutachterpflicht und Hinzuziehung von Mitarbeitern 9.2.3 Ablehnung des Sachverständigen 9.3 Vorbereitung und Erstattung des Gutachtens
9.3.1 Unterrichtung des Sachverständigen über den Sachverhalt: Akteneinsicht 9.3.2 Vorgehen bei der Exploration des Probanden 9.3.3 Eigene Ermittlungen des Sachverständigen 9.3.4 Der Sachverständige in der Hauptverhandlung 9.3.5 Vereidigung des Sachverständigen
9.1. Auswahl und Hinzuziehung eines Sachverständigen 9.1.1. Gesetzlich geregelte Fälle der Hinzuziehung Die Frage, in welchen Fällen ein psychiatrisch-psychologischer Sachverständiger hinzuzuziehen ist, ist in der Strafprozessordnung (StPO) nur sehr bruchstückhaft geregelt. So ist für das Hauptverfahren in § 246a StPO vorgeschrieben, dass ein ärztlicher Sachverständiger gehört werden muss, wenn mit der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus, in einer Entziehungsanstalt oder in der Sicherungsverwahrung zu rechnen ist. Auch die gerichtliche Überprüfung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67e StGB ist von einem anstaltsfremden Sachverständigen zu begleiten. Dieses „Verfassungsgebot“ (BVerfG, StV 2013, 218 [219]) normiert § 463 Abs. 4 StPO. Die Hinzuziehung eines Sachverständigen gilt gem. § 275a Abs. 4 StPO für die endgültige Entscheidung über die vorbehaltene Sicherungsverwahrung. Vor der Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung sind sogar zwei Sachverständige zu hören (§ 275a Abs. 4 S. 2 StPO). Schließlich muss bei der Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung des
Restes einer lebenslangen Freiheitsstrafe zuvor das Gutachten eines Sachverständigen über den Verurteilten eingeholt werden (§ 454 Abs. 2 Nr. 1 StPO, dazu Rosenau 1999, 395 f.). Unter denselben Umständen soll auch im Ermittlungs- sowie Sicherungsverfahren ein Sachverständiger hinzugezogen werden (§§ 80a, 414, 415 Abs. 2 StPO). Parallel dazu regelt § 81 StPO als „Kann-Vorschrift“ die Möglichkeit der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach Anhörung eines Sachverständigen und des Verteidigers, wenn dies zur Vorbereitung eines Gutachtens über den psychischen Zustand des Beschuldigten erforderlich erscheint. Zum strukturellen Verhältnis von Sachverständigem und Richter s. ausführlich ➤ Kap. 8.4.
9.1.2. Pflicht zur Hinzuziehung nach Ermessen des Gerichts Von diesen wenigen gesetzlich besonders geregelten Fällen abgesehen, in denen das Fehlen der eigenen Sachkenntnis des Gerichts vermutet wird, muss das Gericht dann einen Sachverständigen heranziehen, wenn es zur Erforschung der Wahrheit erforderlich erscheint (§ 244 Abs. 2 StPO). Sein Ermessen wird durch die ihm obliegende Aufklärungspflicht bestimmt.
Merke Die Hinzuziehung eines Sachverständigen ist immer dann notwendig, wenn Tatsachen festzustellen oder Fragen zu beurteilen sind, für deren Feststellung oder Beurteilung das Gericht nicht selbst die erforderliche Sachkenntnis besitzt (Nedopil und Müller 2017, 31; Ulrich 2007, 71). Traut sich das Gericht in schwierigen Fragen zu Unrecht eine eigene Sachkenntnis zu, so kann das von der Rechtsmittelinstanz als
Anlass für eine Aufhebung des Urteils genommen werden (Schreiber 1985, 1008). Paradigmatisch dazu steht eine Äußerung des Kammergerichts Berlin (KG, VRS 8, 298 [302]; Nedopil und Müller 2017, 31): „Ob ein Sachverständiger zuzuziehen ist, steht im pflichtgemäßen Ermessen des Tatrichters. Das Gericht kann davon absehen, wenn es selbst die erforderliche Sachkenntnis besitzt. Dabei muss es sich aber der ihm gesetzten Grenzen bewusst bleiben. Es verletzt die Aufklärungspflicht, wenn es sich um Fragen handelt, bei denen nach der Lebenserfahrung praktisch anzunehmen ist, dass es sie aus eigener Sachkenntnis nicht zu beurteilen vermag“. Die Rechtsprechung verwendet für die „eigene Sachkenntnis“ strenge Maßstäbe (BGHSt 23, 8 [12]) und tendiert zu einer wachsenden Beschränkung des richterlichen Ermessens (Schreiber 1977, 374). Bei der Entscheidung medizinischer und psychiatrischpsychologischer Fragen sieht die Rechtsprechung die Einholung eines Gutachtens meist als erforderlich und damit als zwingend geboten an (z. B. BGH, VRS 12, 251; BGH, NJW 1964, 2213; Nedopil und Müller 2017, 31). Die Beurteilung der Schuldfähigkeit – wie auch der Verantwortungsfähigkeit Jugendlicher und Heranwachsender sowie der Glaubwürdigkeit von Zeugen – ist letztlich eine richterliche Aufgabe. Hängt sie aber – wie das vor allem bei der Schuldfähigkeitsbeurteilung meist der Fall sein wird (LKSchöch 2007, § 20 Rn. 219) – von der Feststellung psychiatrischer Erkrankungen oder bestimmter psychischer Zustände ab, so wird i. d. R., wenn die Schuldfähigkeit aufgrund der Tat oder persönlicher Umstände infrage steht, ein Sachverständiger heranzuziehen sein. Die Rechtsprechung neigt dazu, in Zweifelsfällen stets einen psychiatrischen Sachverständigen zu fordern (LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 219). Nach § 246a StPO ist, wenn eine Maßregel nach §§ 63, 64 oder 66, 66a StGB in Betracht kommt, ein Sachverständiger hinzuzuziehen. Will das Gericht von einer Maßregelanordnung nach
§ 64 StGB absehen und bedarf es für diese Ermessensentscheidung keiner sachverständigen Feststellungen, darf ausnahmsweise auf einen Sachverständigen verzichtet werden (BGH, NStZ 2012, 463 [464]). Dessen Untersuchung muss „maßnahmespezifisch“ sein, d. h. ihrem Gegenstand nach unter dem Gesichtspunkt der in Betracht kommenden Maßregel durchgeführt werden. Eine früher erfolgte Untersuchung ohne konkreten Bezug zum konkreten Verfahren reicht nicht aus (BVerfG, NJW 1995, 3047). Zwar hat der Richter zu beurteilen, ob eine Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit vorliegt (BGH, NStZ 2002, 427), weicht er aber vom Gutachten des Sachverständigen ab, muss er die Gründe dafür in einer Weise darlegen, die eine Nachprüfung erlaubt, ob das Gutachten zutreffend gewürdigt wurde und aus ihm zulässige Schlüsse gezogen worden sind (BGH, NStZ 2000, 550 [551]; NStZ-RR 2003, 206 [208]). Die Gerichte haben z. B. die Beteiligung eines Sachverständigen bei einem Täter verlangt, der nach den Feststellungen der Strafkammer über nur geringe Intelligenz, einen Hang zu Autodiebstählen und nur über geringes Hemmungsvermögen gegenüber der Versuchung verfügte, die Gelegenheit zu Eigentumsdelikten zu nutzen, ohne dass die Anwendung der Bestimmungen über die Schuldfähigkeit in Betracht gezogen worden war (BGH, NJW 1967, 299). Ebenso wurde ein Sachverständiger für erforderlich erachtet bei Schädel- und Hirnverletzungen (BGH, VRS 16, 186; BGH, NJW 1969, 1578) sowie Epileptikern (RG, JW 1932, 3356 [3358]; OLG Hamm, NJW 1970, 907), des Weiteren bei Sexualdelikten und anderen Straftaten im Rückbildungsalter (BGH, StV 1989, 102) sowie bei Triebanomalien und ungewöhnlicher Tatausführung (BGH, NStZ 1989, 190). Nicht immer erforderlich ist es dagegen, ein psychiatrisches oder psychologisches Schuldfähigkeitsgutachten in Kapitalstrafsachen in Auftrag zu geben. Die Notwendigkeit ergibt sich vielmehr aus den Umständen des Einzelfalls, die der Tatrichter aus eigener Sachkunde zu beurteilen vermag (BGH, JZ 2008, 640). Ä
Ärztlicher Sachkenntnis bedarf die Feststellung der Blutalkoholkonzentration (BAK); für die Rückrechnung der BAK auf die Tatzeit kann dagegen der Richter aufgrund seiner Erfahrung selbst sachkundig sein (BGH, VRS 21, 54; BGH, HRRS 2008, Nr. 422; Güntge 2013, 554; Theune 2003, 194). Regelmäßig wird ein Sachverständiger bei Taten unter Einfluss einer BAK um 3 ‰ heranzuziehen sein. Die sachgerechte Ermessensausübung setzt voraus, dass die Grenzen der eigenen Sachkunde und damit die Notwendigkeit eines Gutachtens überhaupt erkannt werden und nicht vorschnell eigene Kompetenz angenommen wird (Lederer 2017, 1195). Anhaltspunkte für Zweifel an der Schuldfähigkeit eines Beschuldigten oder Angeklagten können sich aus der Tat oder der Persönlichkeit des Täters ergeben, z. B. bei Taten, für die ein Rauschmittel- oder Medikamenteneinfluss in Betracht kommt, bei Hangtätern oder Sexualdelinquenten, bei schweren Delikten Jugendlicher und bei Kapitalverbrechen (Konrad und Rasch 2014, 305). Dabei kann es auch auf die Tatausführung und das Verhalten des Täters ankommen. Psychologische Sachverständige werden vor allem auch zur Begutachtung der Glaubwürdigkeit von Zeugen herangezogen, bei denen der Realitätsgehalt ihrer Aussagen, etwa aufgrund von Alter, Persönlichkeit oder Deliktsart für den Richter nur schwer zu beurteilen ist (Wegener 1986, 36). Grundsätzlich beansprucht allerdings die Justiz für sich die Fähigkeit, die Glaubwürdigkeit von Aussagen ohne Sachverständige zu beurteilen (Nack 2009, 208 m. w. N.). Ob Sachverständige über die gesetzlich vorgesehenen Fälle (§§ 275a Abs. 4, 454 Abs. 2 StPO) hinaus auch zu Sanktionsentscheidungen hinzugezogen werden sollen, ist streitig (für Zulässigkeit Volckart 1985, 28; Volckart und Grünebaum 2015, 365 f.; a. A. Meyer 1983, 430; Güntge 2013, 542 f.).
9.1.3. Auswahlkompetenz von Richter und Staatsanwaltschaft Die Auswahl der Sachverständigen und die Bestimmung ihrer Anzahl erfolgen gem. § 73 StPO durch den Richter. Er bestimmt sowohl die Fachrichtung als auch die Person des Gutachters und kann jederzeit eine weitere oder neue Begutachtung anordnen (BayObLG, NJW 1956, 1001; BGHSt 34, 357). Im Ermittlungsverfahren stehen dieselben Befugnisse aufgrund der Verweisung in § 161a StPO auch der Staatsanwaltschaft zu. Es wird nicht nur als Recht, sondern als Verpflichtung angesehen, von diesen Rechten Gebrauch zu machen (Meyer-Goßner und Schmitt 2018, § 161a Rn. 1). Diese Befugnis der Staatsanwaltschaft hat insbesondere dann, wenn es um Schuldfähigkeitsgutachten geht, weitreichende Bedeutung. Meist bleibt das Gericht ungeachtet seiner eigenen Kompetenzen aus § 73 StPO in den späteren Verfahrensabschnitten bei dem Sachverständigen, den die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren beauftragt hat. Aus Kosten- und Zeitgründen ist das auch verständlich. Der Staatsanwalt kann damit jedoch bereits im Ermittlungsverfahren das weitere Verfahren und dessen Ausgang vorprogrammieren, je nachdem, welcher Fachrichtung der von ihm ausgewählte psychiatrische Sachverständige angehört. Faktisch hat die Staatsanwaltschaft damit eine weitgehende Befugnis zur Bestimmung des Sachverständigen für das gesamte Verfahren; das Auswahl- und Leitungsrecht des Richters ist demgegenüber praktisch entwertet (Erb 2009, 894). Die Nr. 70 der Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren schreibt vor, der Staatsanwalt habe während des Ermittlungsverfahrens dem Verteidiger Gelegenheit zu geben, vor der Auswahl eines Sachverständigen Stellung zu nehmen. Das gilt nur nicht, falls ein häufig wiederkehrender, im Wesentlichen gleichartiger Sachverhalt (wie etwa bei Blutalkoholgutachten) Gegenstand der Untersuchung ist oder eine Gefährdung des Untersuchungszwecks bzw. eine Verzögerung des Verfahrens zu
besorgen ist. Da diese Regel einerseits häufig unbeachtet bleibt (Deckers 2014, 212), sie andererseits dem Ermessen der Staatsanwaltschaft kaum eine Grenze bei der eigenen Auswahl der Sachverständigen setzt, bedarf es einer Änderung des Gesetzes (Rosenau und Lorenz 2018, 407; a. A. Erb 2009, 892 f.).
9.1.4. Hinzuziehung eines weiteren Sachverständigen Die Möglichkeiten des Angeklagten, beim Gericht auf die Auswahl des Sachverständigen Einfluss zu nehmen oder die Hinzuziehung eines weiteren Sachverständigen zu erreichen, sind angesichts der gegenwärtigen Rechtslage leider tatsächlich nur gering (Lürken 1968, 1163; Schreiber 1985, 1009). Sie liegen im Beweisantragsrecht sowie in der Befugnis, Sachverständige (wie auch Zeugen) selbst zu laden (§§ 219, 220, 245 StPO). Das Beweisantragsrecht, oft als Argument für eine „Waffengleichheit“ zwischen Staatsanwaltschaft und Angeklagtem ins Feld geführt, enthält nur sehr beschränkte Möglichkeiten, die frühe Festlegung auf einen Sachverständigen durch die Staatsanwaltschaft später zu korrigieren. Die Rechtsprechung verfährt eher restriktiv (MeyerGoßner und Schmitt 2018, § 244 Rn. 75 f.). Zwar geht das Gesetz davon aus, dass einem Beweisantrag stets entsprochen werden muss, falls nicht einer der Ablehnungsgründe vorliegt, die in § 244 Abs. 3, 4 und § 245 Abs. 2 StPO genannt sind. Diese Ablehnungsgründe sind aber so weit gefasst, dass Anträge auf Anhörung eines anderen bzw. eines weiteren Sachverständigen so gut wie immer revisionssicher vom Gericht abgelehnt werden können. Nach § 244 Abs. 4 S. 1 StPO ist die Ablehnung zulässig, wenn das Gericht durch das bereits vorliegende Gutachten selbst die erforderliche Sachkunde erlangt hat. Das Verbot der Beweisantizipation gilt für den Sachverständigenbeweis nicht. Nach § 244 Abs. 4 S. 2 StPO kann das Gericht mithin einen Beweisantrag auf Anhörung eines weiteren Sachverständigen auch dann ablehnen, wenn durch das frühere
Gutachten das Gegenteil der behaupteten Tatsachen bereits erwiesen ist. Das gilt nur dann nicht, wenn die Sachkunde des früheren Gutachters zweifelhaft ist, wenn das frühere Gutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, wenn es Widersprüche enthält oder wenn der neue Sachverständige über Forschungsmittel verfügt, die denen eines früheren Gutachters überlegen erscheinen (§ 244 Abs. 4 S. 2, 2. Halbsatz StPO). Vor allem die letzte Alternative ist in der Praxis von Bedeutung. Als Forschungsmittel in diesem Sinne versteht die Rechtsprechung grundsätzlich nur diejenigen Hilfsmittel und Verfahren, derer sich der Sachverständige für seine wissenschaftlichen Untersuchungen bedient. Persönliche Kenntnisse und Fähigkeiten, längere berufliche Erfahrung und größeres wissenschaftliches Ansehen zählen nicht dazu (BGHSt 23, 176 [186]; BGHSt 34, 355 [358]). Einen Ausnahmefall stellte der Beweisantrag der Verteidigung auf Hinzuziehung des Sexualwissenschaftlers Hans Giese im BartschProzess dar. Zwar erkannte der BGH das Spezialwissen des Sachverständigen nicht als überlegenes Forschungsmittel an, sodass ein Ablehnungsgrund nach § 244 Abs. 4 S. 2 StPO an sich gegeben war. Die dem Gericht von Amts wegen obliegende allgemeine Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO („Das Gericht hat zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.“) habe aber „im Hinblick auf die nahezu einmaligen Besonderheiten des Falles“ die Hinzuziehung des Sachverständigen geboten (BGHSt 23, 176 [187 ff.]; s. auch BGHSt 10, 116, 119; BGH, StV 1986, 376 f.). Insgesamt hat der BGH den Begriff des Forschungsmittels jedoch dahingehend eingeschränkt, dass nur solche gemeint seien, „die infolge Ausbildung, Forschung, technischer Möglichkeiten, Institutsausstattung und Erkenntnismöglichkeit dem wissenschaftlichen Verfügungskreis eines Sachverständigen zuzurechnen sind“ (BGHSt 44, 26 [30]). Die praktisch bedeutsame Exploration durch einen psychiatrischen bzw. psychologischen Sachverständigen soll nicht darunter fallen; sie liege schließlich nicht in dessen Verfügungskreis. Verweigert ein Beschuldigter das
explorierende Gespräch mit dem gerichtlich bestellten Sachverständigen, verfüge ein anderer Sachverständiger, gegenüber dem Gesprächsbereitschaft besteht, nicht über ein überlegenes Forschungsmittel (BGHSt 44, 26 [30]). Zur Begründung wird angeführt, dass nicht jedes mögliche Mittel durch einen Sachverständigen ausgeschöpft werden müsse. Die Nichtanwendung ist damit kein Indiz für eine fehlende Verfügbarkeit (BGHSt 44, 26 [30] mit Verweis auf BGH, StV 1985, 489). Diese Ansicht überzeugt nicht. Warum bei technischen Möglichkeiten und Institutsausstattung die konkrete Verfügbarkeit, d. h. die faktische Zugriffsmöglichkeit entscheidend sein soll, die Bereitschaft zur Exploration aus dieser faktische Sichtweise jedoch ausgeklammert wird, ist dogmatisch nicht zu erklären (Rosenau und Lorenz 2018, 409). Sie ist nur mit der Furcht des BGH zu erklären, dass der Beschuldigte es letztlich in der Hand hätte, von welchem Gutachter er exploriert wird (BGHSt 44, 26 [31]). Bei wertungsfreier Betrachtung wird jedoch die Bestimmung des Sachverständigen nicht auf den Angeklagten verschoben, sondern nur die Beteiligung eines weiteren Sachverständigen gestattet. Auch dieser ist zur Unabhängigkeit verpflichtet. Auch er unterliegt der kritischen Prüfung durch das Tatgericht. Allein höhere Verfahrenskosten, größerer Zeitaufwand und mehr Komplexität durch zwei eventuell gegenläufige Gutachten können die Sichtweise des BGH nicht rechtfertigen. Da ein Gutachter entscheidend auf den Prozess Einfluss nimmt, stellt ein weiteres Gutachten die Wahrheitsfeststellung auf eine sicherere Grundlage (Rosenau und Lorenz 2018, 410). Unter dem Gesichtspunkt der Wahrheitspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) ist das Gericht gehalten, über die vorstehend genannten engen Grenzen hinaus dann einen weiteren Sachverständigen hinzuzuziehen, wenn das bisherige Gutachten Anlass zu Zweifeln gibt und von einer Seite mit gewichtigen Argumenten angegriffen wird. Wird die Heranziehung eines Sachverständigen vom Gericht abgelehnt, kann der Angeklagte bzw. sein Verteidiger ihn selbst laden lassen (§ 220 StPO). Eine Vernehmung in der
Hauptverhandlung kann dann nur unter den engen Voraussetzungen des § 245 Abs. 2 StPO abgelehnt werden. Das ist der Fall, wenn die Beweiserhebung unzulässig ist, wenn die zu beweisende Tatsache schon erwiesen oder offenkundig ist bzw. wenn kein Zusammenhang mit dem Gegenstand der Urteilsfindung besteht, das Beweismittel völlig ungeeignet ist oder der Antrag nur zum Zweck der Prozessverschleppung gestellt wird. Das dürfte beim Antrag auf Vernehmung eines psychiatrischen Sachverständigen nur ganz selten der Fall sein. Das Recht zur Selbstladung kann aber kein Gleichgewicht zwischen Staatsanwaltschaft und Angeklagtem schaffen. Schon die Kostenbelastung macht eine Ladung durch den Angeklagten meist illusorisch, weil bei ihr die gesetzliche Entschädigung für Reisekosten etc. bar dargeboten oder deren Hinterlegung bei der Geschäftsstelle des Gerichts nachgewiesen werden muss (§ 220 Abs. 2 StPO). Kaum ein Angeklagter ist dazu in der Lage (Tondorf und Tondorf 2011, 256; Erb 2009, 901). Hinzu kommt die verbreitete Scheu psychiatrischer und psychologischer Sachverständiger, auf Ladung allein des Verteidigers zu erscheinen (Tondorf und Tondorf 2011, 257). Viele Gutachter legen Wert darauf, den Gutachtenauftrag von „objektiver“ Seite, d. h. vom Gericht oder von der Staatsanwaltschaft, zu erhalten. Das erscheint insoweit nicht recht verständlich, als auch der Verteidiger ein Organ der Rechtspflege ist. Häufig wird er nicht weniger „objektiv“ sein als etwa die Staatsanwaltschaft. Freilich ist zuzugeben, dass Sachverständige, deren Hinzuziehung vom Gericht abgelehnt wurde, bei späterer Benennung durch den Verteidiger in eine schlechte Position geraten und dem Verdacht der Parteilichkeit ausgesetzt sind (Rössner 2007, 408; Nedopil und Müller 2012, 409; Alex et al. 2013, 260). Durch eine frühe, im Alleingang vorgenommene Auswahl durch den Staatsanwalt kommt der Sachverständige häufig in eine missliche Situation. Er wird, auch wenn es gar nicht zutrifft, leicht dem Verdacht ausgesetzt, „Parteigutachter“ der Staatsanwaltschaft zu sein. Dabei kann er Gefahr laufen, vom Verteidiger angegriffen zu werden und sich nun auf die Seite der Staatsanwaltschaft zu
schlagen, obwohl er es gar nicht wollte. Dem könnte durch eine Verständigung über die Auswahl zwischen Staatsanwaltschaft, Verteidiger und Gericht begegnet werden; der Sachverständige sollte von sich aus darauf hinwirken, wenn er im frühen Stadium des Verfahrens um ein Gutachten gebeten wird.
9.1.5. Kriterien für die Auswahl eines Sachverständigen Feste Regeln für die Kriterien, nach denen ein Sachverständiger ausgewählt wird, gibt es nicht. Der Satz, dass der Gutachter nach Fachrichtung und Person bestimmt werden soll (KMRNeubeck 2018, § 73 Rn. 6; LR-Krause 2008, § 73 Rn. 9), ist nicht mehr als ein grober Anhaltspunkt. Schon das Kriterium „Fachrichtung“ führt zu Schwierigkeiten, wenn eine Beweisfrage keinem Fachgebiet eindeutig zuzuordnen ist. Bei Gutachten über die Schuldfähigkeit eines Angeklagten ist das häufig der Fall. Eine sachgerechte Auswahl verlangt vom Richter Kenntnisse über die Kompetenzen von Psychiatrie und Psychologie sowie über psychiatrische und psychologische Positionen zur Frage der Schuldfähigkeit. Solche Kenntnisse sind möglich. Forensische Psychiatrie ist keine Geheimwissenschaft; der Richter kann Zugang zu ihr finden (LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 219). In Zweifelsfällen sollten Vertreter verschiedener Schulen herangezogen werden (Rudolph 1969, 27). Ein Kriterium für die Wahl der Person kann auch die Prozesserfahrung eines Sachverständigen sein. Problematisch ist dagegen die Auswahl nach Zuverlässigkeit und Kooperationswilligkeit des Gutachters, wenn dadurch bei streitigen Fachfragen das Vorverständnis des Staatanwalts oder des Gerichts lediglich bestätigt werden soll oder andere Gutachter ausgeschlossen werden sollen (Erb 2009, 892 f.). Oftmals erfolgt die Auswahl aus einem kleinen Kreis an Gutachtern, die dem Staatsanwalt oder Richter persönlich bekannt sind (Schnoor 2009, 288). Dagegen sollte die Person des Gutachters in Relation zur Beweisfrage stehen, d. h.,
besonders spezialisierte Sachverständige, etwa für Fragen der Affekttat, sollten dann nicht herangezogen werden, wenn die anstehenden Fragen auch von einem Sachverständigen allgemeiner Qualifikation beurteilt werden können (Ulrich 2007, 100). Eines Spezialisten für Drogenfragen bedarf es zur Begutachtung Drogenabhängiger angesichts des allgemeinen Wissensstandes in der Psychiatrie heute nicht (LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 223). Dagegen sollte bei Hirnschäden ein für solche Erkrankungen besonders qualifizierter Sachverständiger hinzugezogen werden, ebenso bei möglichen altersbedingten Abbauprozessen (Lackner-Kühl 2018, § 20 Rn. 19 ff. m. w. N.). Die festzustellende generelle Bevorzugung von Psychiatern gegenüber Psychologen (Schnoor 2009, 288) erscheint sachlich nicht gerechtfertigt (Rasch 1992, 264; Maisch 1973, 189; andererseits eher einschränkend LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 223). Zur Beurteilung von auch körperlich bedingten Krankheiten erscheint der Psychologe von seiner Ausbildung her aber weniger geeignet. Mit dem hier vertretenen Krankheitsbegriff, der sich nicht auf organische Prozesse beschränkt, kann eine Zuständigkeit der klinischen Psychologie auch für psychopathologische Abweichungen von der Normalität angenommen werden (Rasch 1992, 260 m. w. N.). Die Beurteilung der Frage, ob eine geistige Erkrankung vorliegt, verlangt grundsätzlich medizinische Kenntnisse, deren Vermittlung durch psychologische Gutachten i. d. R. nicht in Betracht kommt (BGH, NJW 1993, 2253). § 9 Abs. 1 ThUG verlangt für seinen Bereich ausdrücklich, dass die Gutachter zumindest Erfahrungen auf dem Gebiet der Psychiatrie vorweisen können. Um die Entscheidungsgrundlagen zu verbreitern, kann in Einzelfällen die Beiziehung von Sachverständigen diverser Fachrichtungen geboten sein (BGHSt 50, 121 [129]).
9.2. Aufgaben und Pflichten des Sachverständigen
Anhand der Einzelbestimmungen des Gesetzes wird allgemein zusammenfassend von drei Pflichten des Sachverständigen gesprochen: • der Pflicht zur Erstattung des Gutachtens (§§ 75, 161a StPO), • der Pflicht zum Erscheinen (§ 77 StPO) und • der Pflicht zum Schwören, falls dies nach § 79 StPO beschlossen wird. Relativ neu geregelt ist die Haftung des Sachverständigen. Erstattet ein vom Gericht ernannter Sachverständiger vorsätzlich oder grob fahrlässig ein unrichtiges Gutachten, so ist er zum Ersatz des Schadens verpflichtet, der einem Verfahrensbeteiligten durch eine gerichtliche Entscheidung entsteht, die auf diesem Gutachten beruht (§ 839a BGB; ➤ Kap. 7). Die Gutachtenerstattung hat dem anerkannten Stand des Fachs zu entsprechen. Dabei kann sich der Gutachter an Empfehlungen orientieren, die für Prognosegutachten durch interdisziplinär besetzte Arbeitsgruppen umrissen wurden (Boetticher et al. 2019; Kröber et al. 2019).
9.2.1. Die Pflicht zur Erstattung des Gutachtens Kann eine Pflicht zur Erstattung des Gutachtens bestehen? Können Gericht und Staatsanwalt einen Psychiater oder Psychologen von sich aus ohne dessen Zustimmung zum Sachverständigen ernennen? Anders als für Zeugen gibt es keine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht, als Sachverständiger vor Gericht tätig zu werden. Der § 75 Abs. 1 StPO nennt Fälle, in denen der zum Sachverständigen Ernannte der Ernennung Folge zu leisten hat: • Wer zur Erstattung von (hier: psychiatrisch-psychologischen) Gutachten der erforderlichen Art öffentlich bestellt ist. Hierzu gehören u. a. die Landgerichtsärzte bei den bayerischen Landgerichten (Gesetz über den gerichtsärztlichen Dienst
vom 27.7.1950 – BayGVBl. 1950, 110; Nedopil und Müller 2017, 407). Die öffentliche Bestellung erfolgt teils aufgrund bundesrechtlicher, teils aufgrund landesrechtlicher Regelungen; sie setzt einen besonderen, auf diesen Zweck gerichteten Verwaltungsakt voraus (Ulrich 2007, 28). • Wer die Wissenschaft, deren Kenntnis Voraussetzung der Begutachtung ist, öffentlich zum Erwerb ausübt. Hier ist jede Art von Erwerbstätigkeit gemeint, die eine ständige Einnahmequelle bedeutet und einem zahlenmäßig unbestimmten Personenkreis gegenüber erfolgt (LR-Krause 2018, § 75 Rn. 3). Jeder praktizierende Arzt und Psychologe gehört also zu dieser Gruppe. • Wer zur Ausübung der Wissenschaft, deren Kenntnis Voraussetzung der Begutachtung ist, öffentlich bestellt oder ermächtigt ist. Öffentlich bestellt in diesem Sinne ist jeder Beamte, sodass Universitätsprofessoren danach als Sachverständige verpflichtet werden können. Zur Ermächtigung gehören die Lehrbefugnis sowie die ärztliche Approbation (LR-Krause 2018, 75 Rn. 5). Auch Privatdozenten und noch nicht hauptberuflich tätige Ärzte kommen daher als Gutachter nach § 75 Abs. 1 StPO in Betracht. Die Pflicht zur Gutachtenerstattung ist allerdings durch die Zumutbarkeit begrenzt. Forschung und Lehre sowie die sonstige berufliche Tätigkeit des Sachverständigen gelten als ebenso wichtig wie die Tätigkeit als Sachverständiger (LR-Krause 2018, § 75 Rn. 7). Deshalb kann ein Sachverständiger unter Hinweis auf berufliche Beanspruchung und Belastung den Gutachtenauftrag ablehnen (Schreiber 1981, 34). In der Praxis wird daher kaum jemand zum Gutachter bestellt werden, ohne dass sich der Auftraggeber mit ihm zuvor abgesprochen hat. Ist dies aber nicht geschehen und sieht sich der Sachverständige zur Gutachtenerstattung mangels fachlicher Kompetenz oder aus einem der genannten Gründe nicht in der Lage, so sollte er dies dem Gericht bzw. der Staatsanwaltschaft mitteilen und um Rücknahme des Auftrags bitten (Schreiber 1981, 34; für eine
entsprechende Pflicht des Gutachters Tondorf und Tondorf 2011, 233). Entspricht das Gericht einer solchen Bitte nicht, hat der Gutachter dagegen das Recht der förmlichen Beschwerde. In aller Regel wird sich eine Verständigung mit dem Gericht erreichen lassen, vor allem dann, wenn der Gutachter die Sache nicht erst lange liegen lässt, sondern dem Gericht seine Verhinderung alsbald mitteilt. Ein formelles Recht zur Gutachtenverweigerung steht dem Sachverständigen gem. § 76 StPO aus denselben Gründen wie einem Zeugen zu, also z. B., wenn er mit dem Probanden verwandt ist oder ihn früher ärztlich behandelt hat (§§ 52, 53 StPO). War der Proband früher sein Patient, so kann der Arzt nur dann als Sachverständiger tätig werden, wenn der Patient ihn ausdrücklich von der ärztlichen Schweigepflicht entbindet (Schreiber 1981, 34). Ein psychologischer Sachverständiger, der den Probanden früher behandelt hat, hat ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53 StPO (BGHSt 38, 369; MeyerGoßner und Schmitt 2018, § 53 Rn. 20). Das Gericht hat den Sachverständigen darüber jedenfalls dann zu belehren, wenn es die gerichtliche Fürsorgepflicht im Fall eines offensichtlichen Irrtums des Zeugen gebietet (BGHSt 42, 73). Erstattet der Sachverständige sein Gutachten nicht rechtzeitig, stehen dem Gericht und im Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Zwangsmittel zu. Erscheint der Gutachter auf ordnungsgemäße Ladung nicht bei Gericht oder vor der Staatsanwaltschaft oder verweigert er ohne Grund die Erstattung des Gutachtens, so sind ihm die dadurch verursachten Kosten aufzuerlegen und ein Ordnungsgeld ist gegen ihn festzusetzen (§§ 77 Abs. 1, 161a Abs. 2 StPO). Auch bei Überschreitung einer abgesprochenen Frist für die Erstattung des Gutachtens kann nach vorheriger Androhung unter Bestimmung einer Nachfrist ein Ordnungsgeld verhängt werden (§ 77 Abs. 1 S. 2 StPO).
9.2.2. Persönliche Gutachterpflicht und Hinzuziehung von Mitarbeitern
Muss der bestellte Sachverständige das Gutachten persönlich ausarbeiten und erstatten? In der Praxis ist es vielfach üblich, bei an Klinikleiter gerichteten Gutachtenaufträgen Hilfspersonen hinzuzuziehen oder das Gutachten sogar ganz oder überwiegend von Oberärzten oder Assistenten erstellen zu lassen. Letzteres ist unzulässig. Der BGH spricht vom Delegationsverbot (BGH, StV 2011, 709). Der vom Gericht bestellte Sachverständige hat das Gutachten persönlich zu erstatten. Allgemein wird es für zulässig gehalten, bei der Vorbereitung des Gutachtens geschulte und zuverlässige Hilfskräfte zu beteiligen (LR-Krause 2018, § 73 Rn. 6; Ulrich 2007, 197; Hanack 1961, 2044 f.). Insbesondere gilt dies z. B. für Laboruntersuchungen, EKG-Ableitungen und Röntgenaufnahmen. Der Sachverständige ist also nicht verpflichtet, sämtliche für die Begutachtung notwendigen Tätigkeiten persönlich vorzunehmen (BVerwG, NJW 1984, 2645; BSG, NJW 1985, 1422; Bleutge 1985, 1185); er darf vielmehr bei der Vorbereitung und Abfassung des schriftlichen Gutachtens auch zuverlässige und geschulte Hilfskräfte sowie wissenschaftliche Mitarbeiter beauftragen, an seiner Stelle das Gutachten verantwortlich zu erstellen. Jedoch darf er deren Untersuchungsergebnisse nicht einfach übernehmen. Umstritten ist, ob etwa der psychiatrische Sachverständige, der ein Gutachten zur Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten erstatten soll, von sich aus z. B. einen Psychologen oder einen Neurologen mit Zusatzuntersuchungen beauftragen darf. Der BGH hat dies mit der Maßgabe bejaht, dass der Hauptsachverständige kraft seiner Sachkenntnis allein die Verantwortung für die Ergebnisse des Hilfsgutachtens übernehmen müsse (BGHSt 22, 268). In dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Fall hatte der mit einem Gutachten beauftragte Leiter eines Landeskrankenhauses von einer Diplom-Psychologin einen zusätzlichen psychologischen Befundbericht nach zwei von ihr durchgeführten Tests über den Angeklagten erstatten lassen. In der Hauptverhandlung war die Psychologin weder vernommen noch ihr Zusatzgutachten verlesen worden. Gleichwohl stützte sich die Strafkammer auf das Gutachten des Sachverständigen, der den Angeklagten untersucht und sein
Gutachten dabei auch auf die psychologische Untersuchung des Angeklagten gestützt hatte. Ein solches Vorgehen muss jedoch entgegen der Auffassung des BGH als unzulässig angesehen werden. Zwar macht es die zunehmende Spezialisierung in vielen Fällen erforderlich, an einem Gutachten mehrere sachkundige Personen zu beteiligen, die Verantwortung des ernannten Sachverständigen für das Gutachten darf darunter aber nicht leiden (Hanack 1961, 2044 f.; Friederichs 1975, 337). Ein Psychiater, der es z. B. für nötig hält, psychologische Tests und z. B. die Ableitung oder Auswertung eines EEG oder CT von Spezialisten durchführen zu lassen, ist für diese Zusatzuntersuchungen dann nicht mehr selbst hinreichend sachverständig, kann also nicht die Verantwortung dafür übernehmen, dass sie richtig durchgeführt wurden. Es handelt sich bei solchen Zusatz- oder Hilfsgutachten um selbstständige Sachverständigenleistungen der vom Psychiater hinzugezogenen Personen.
Merke Die Befugnis zur Erteilung von Gutachtenaufträgen steht nach der StPO aus guten Gründen aber nur Gericht und Staatsanwaltschaft zu. Ein Sachverständiger darf daher nicht selbstständig mehrere Sachverständige an seinem Gutachten beteiligen, er muss vielmehr über den Auftraggeber darauf hinwirken, dass z. B. der Psychologe bzw. Neurologe ebenfalls einen gesonderten Gutachtenauftrag erhält. Diese Sachverständigen sind dann zusätzlich zur Hauptverhandlung zu laden und mündlich zu vernehmen (OLG Celle, NJW 1964, 462). Unzulässig ist auch die vielgeübte Praxis von Klinikleitern, einen an sie gerichteten Gutachtenauftrag an Oberärzte oder Assistenten einfach weiterzugeben. Ihr entspricht eine Angewohnheit von
Gerichten und Staatsanwälten, ihr Ersuchen nicht an eine persönlich benannte Person zu richten, sondern an eine Klinik. Ein solches Vorgehen ist nach der StPO nicht möglich. Kommt eine Anfrage an einen leitenden Arzt und will dieser das Gutachten nicht selbst anfertigen, etwa weil er überlastet oder z. B. ein Mitarbeiter für die anstehende Frage besonders qualifiziert ist, so sollte er dies dem Gericht mitteilen, damit ein von ihm genannter oder ein anderer Kollege beauftragt werden kann (Schreiber 1981, 33). Nicht zulässig ist es, von einem Mitarbeiter allein und ganz selbstständig gefertigte Gutachten unter Verwendung von Formeln wie „einverstanden“ oder „aufgrund eigener Urteilsbildung einverstanden“ lediglich zu unterzeichnen (Hanack 1961, 2044; Schreiber 1981, 33). In diesem Fall kann das Gutachten nicht als das des Beauftragten angesehen werden (Toepel 2002, 365). Es darf vielmehr nur dann mitunterzeichnet werden, wenn wirklich nach eigener Prüfung – und zwar der Befunderhebung, -auswertung und -beurteilung – die uneingeschränkte Verantwortung übernommen werden kann. Der gerichtlich bestellte Sachverständige muss folglich die volle persönliche Verantwortung für das Gutachten aufgrund eigener Kenntnis und Überprüfung übernehmen können. Diese persönliche Verantwortung muss auch nach außen klar erkennbar werden, z. B. durch die von Hanack vorgeschlagene Formulierung „als persönliches Gutachten des Klinikdirektors erstattet unter Mitwirkung von XY“ (Hanack 1961, 2044; Schreiber 1981, 33; s. auch BGH, VersR 1963, 655). Praktisch dürfte auch folgendes Vorgehen möglich sein: Der leitende Arzt unterzeichnet das Gutachten mit und stellt der Unterschrift den Zusatz „aufgrund eigener Untersuchung und Urteilsbildung“ voran. Wird der Gutachtenauftrag – wie häufig – nicht an eine bestimmte Person erteilt, sondern allgemein an die Klinik, so sollte der Leiter der Klinik einen geeignet erscheinenden Mitarbeiter auswählen und dem Gericht oder der Staatsanwaltschaft gegenüber benennen. Der Auftrag müsste danach an diesen Mitarbeiter direkt gerichtet werden. Das Gericht weiß dann, wer sein Ansprechpartner ist, wenn es z. B. darum geht, dem Gutachter weitere Informationen zu geben oder Termine abzusprechen. Außerdem haben auf diese Weise die
übrigen Prozessbeteiligten die Möglichkeit, rechtzeitig etwaige Bedenken gegen die Person des Sachverständigen vorzubringen oder die Heranziehung eines anderen oder eines weiteren Sachverständigen zu beantragen.
9.2.3. Ablehnung des Sachverständigen Wie ein Richter kann der Sachverständige von der Staatsanwaltschaft und dem Beschuldigten abgelehnt werden, wenn seine Unparteilichkeit zweifelhaft ist (§§ 74, 24 StPO). Die Besorgnis der Befangenheit ist gegeben, wenn aus der individuellen Sicht eines der Prozessbeteiligten ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen in die Objektivität und Unparteilichkeit des Sachverständigen zu begründen. Ob wirklich eine Befangenheit besteht, ist dabei nicht entscheidend. Vielmehr ist maßgeblich, ob sie aus der Perspektive eines Beteiligten bei verständiger Würdigung als gegeben erscheinen kann. Das ist z. B. der Fall, wenn der Sachverständige mit einem der Beteiligten persönlich befreundet ist oder ein entgeltliches Privatgutachten für das Opfer erstattet hat (eine Auflistung bieten Tondorf und Tondorf 2011, 233 f.). Ähnliches muss gelten, wenn zwischen dem Sachverständigen und dem Probanden eine therapeutische Beziehung besteht (Wegener 1986, 35). Auch durch herabsetzende oder nur unvorsichtige Äußerungen, die eine Voreingenommenheit befürchten lassen, kann ein Ablehnungsgrund entstehen. Gleiches gilt, wenn ein Sachverständiger die Anwesenheit einer Begleitperson bei der Untersuchung nur dann gestattet, wenn zur Herstellung von „Waffengleichheit“ auch auf seiner Seite „eine zweite Person als Zeuge“ anwesend ist, ohne dass dazu besonderer Anlass besteht (OLG Karlsruhe, MedR 2019, 154; krit. Frahm 2019, 158). Der Sachverständige muss bemüht sein, sich nicht durch Sympathien oder Antipathien, sondern nur von seinem auf Sachlichkeit und Objektivität ausgerichteten Gutachtenauftrag leiten zu lassen. Er sollte vermeiden, dass sein Verhalten den äußeren Anschein einer Voreingenommenheit entstehen lässt, etwa dadurch, dass er mit dem Staatsanwalt oder dem Verteidiger gemeinsam zum
Termin fährt oder in gespannter Situation mit einem von ihnen zum Essen geht. Die Ablehnung wird mit einem förmlichen Antrag bei Gericht gegen einen Sachverständigen geltend gemacht (§§ 74, 26 StPO). Der letztmögliche Zeitpunkt für die Anbringung eines Ablehnungsgesuchs ist der Schluss der Beweisaufnahme. Das Unverzüglichkeitsgebot des § 25 Abs. 2 S. 1 StPO findet keine Anwendung (BGH, NJW 2018, 1030). Das liegt darin begründet, dass § 74 Abs. 1 S. 1 StPO nur auf die Gründe zur Ablehnung eines Richters (§ 24 Abs. 2 StPO), nicht hingegen auf das entsprechende Verfahren verweist. Wird dem Antrag stattgegeben, ist der Sachverständige von der weiteren Mitwirkung im Verfahren ausgeschlossen.
9.3. Vorbereitung und Erstattung des Gutachtens 9.3.1. Unterrichtung des Sachverständigen über den Sachverhalt: Akteneinsicht Der Sachverhalt, von dem das Gutachten auszugehen hat (sogenannte Anknüpfungstatsachen), wird dem Sachverständigen durch den Richter bzw. den Staatsanwalt mitgeteilt. Wie dies zu geschehen hat, legt die Strafprozessordnung nicht fest. § 80 StPO schreibt nur vor, dass dem Sachverständigen auf dessen Verlangen zur Vorbereitung des Gutachtens durch Vernehmung von Zeugen oder des Beschuldigten weitere Aufklärung verschafft werden kann. Ihm kann gestattet werden, die Akten einzusehen, Vernehmungen beizuwohnen und unmittelbar Fragen an den Beschuldigten oder Zeugen zu richten (§ 80 Abs. 2 StPO). Die Mitteilung des Sachverhalts erfolgt i. d. R. dadurch, dass dem Gutachter die gesamten Akten zugeleitet werden. Nur so kann er entscheiden, welche Umstände für seine Beurteilung wichtig sind und ob der Sachverhalt noch weiter aufgeklärt werden muss. Weder
Staatsanwalt noch Richter sind in der Lage, von sich aus verlässlich zu beurteilen, welche Fakten dem Psychiater oder Psychologen Aufschlüsse über einen Täter geben können (LR-Krause 2018, § 78 Rn. 9; Rauch 1968, 1175). Die von einigen Autoren gesehene Gefahr, dass der Sachverständige das rechtlich entscheidende Beweisthema verkennt (Lürken 1968, 1165), dass er, der Nichtjurist, durch das „ungeordnete Konglomerat von Vernehmungsniederschriften, … Verfügungen, Aktenvermerken … fehlgeleitet“ wird (Rudolph 1969, 29; auch Sarstedt 1968, 180), ist demgegenüber als geringer und weniger schwerwiegend anzusehen. Zudem lässt sie sich weitgehend dadurch vermeiden, dass der Sachverständige sein Gutachten zunächst schriftlich abfasst und dabei eine Zusammenfassung des Akteninhalts aus seiner Sicht voranstellt. Dadurch wird erkennbar, welche Tatsachen er seinem Gutachten zugrunde gelegt hat (anders Sarstedt 1968, 180; vgl. LK-Schöch 2007, § 20 Rn. 225, der einen Aktenauszug für unerheblich hält). Der Sachverständige sollte daher darauf bestehen, dass ihm die Akten zugänglich gemacht werden; nur in Ausnahmefällen kann davon abgesehen werden. Ein schriftliches Vorgutachten, das dem Gericht rechtzeitig vor der Hauptverhandlung zugeleitet wird, ist auch aus anderen Gründen erforderlich. Von einem solchen Vorgutachten kann das weitere Verfahren abhängen. Die Beteiligten können prüfen, ob sie etwa eine zusätzliche Begutachtung durchführen lassen bzw. beantragen wollen. Sie wären auch häufig überfordert, wenn sie erst in der Hauptverhandlung allein mit den mündlich vorgetragenen Ausführungen des Sachverständigen konfrontiert werden würden. Daher ist die Einreichung eines schriftlichen Vorgutachtens stets geboten; die einschränkende Auslegung des BGH wird dem Gebot bestmöglicher Aufklärung nicht gerecht (BGH, StV 2011, 197; zutreffend dagegen Deckers et al. 2011, 70). Erst in der Hauptverhandlung wird das Gutachten mündlich erstattet. Dabei müssen neue bzw. andere, nach dem schriftlichen Vorgutachten etwa aufgrund der Hauptverhandlung gewonnene Erkenntnisse berücksichtigt werden. An seine früher schriftlich zu den Akten gegebene Ansicht ist der Sachverständige nicht gebunden.
Voraussetzung dafür, dass der Gutachter durch den Akteninhalt nicht „fehlgeleitet“ wird, sind nicht zuletzt klar formulierte Beweisfragen (LR-Krause 2018, § 78 Rn. 9). Diese Fragen, die sich teilweise aus den Gesetzesfassungen selbst ergeben (§ 463 Abs. 3 StPO: Sind von dem Verurteilten aufgrund seines Hanges weiterhin erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten?), sollten möglichst präzise formuliert sein (Nedopil und Müller 2017, 409). Bei nicht abschließend geklärtem Sachverhalt, insbesondere bei bestrittener Täterschaft, kann es erforderlich sein, mehrere Sachverhaltsalternativen zu bezeichnen, von denen der Gutachter auszugehen hat. Bei unklarem Auftragsinhalt sollte Rückfrage beim Auftraggeber gehalten und auf Klärung bzw. Präzisierung gedrängt werden.
9.3.2. Vorgehen bei der Exploration des Probanden Bei der Exploration des Beschuldigten oder eines Zeugen für ein Glaubwürdigkeitsgutachten können sich rechtliche Probleme ergeben: • Darf und muss der Sachverständige den Probanden über ein Schweige- oder Zeugnisverweigerungsrecht belehren? • Darf er selbst weitere Ermittlungen durchführen, etwa Dritte befragen, oder muss dazu der Auftraggeber des Gutachtens eingeschaltet werden? • Dürfen Kenntnisse, die der Gutachter über seinen Gutachtenauftrag hinaus erlangt hat – etwa durch ein Geständnis – im schriftlichen Gutachten und im Prozess verwertet werden? Ob der Sachverständige über Schweigeund Zeugnisverweigerungsrechte belehren darf oder sogar muss, ist lebhaft umstritten (Meyer-Goßner und Schmitt 2018, § 81c Rn. 24; SSW-Bosch 2018, § 81c Rn. 4 a. E.; KK-Senge 2013, § 81c Rn. 12; LR-
Krause 2018, § 81c Rn. 35; Fincke 1974, 656 ff.; Peters 1969, 232). Ein Bedürfnis für eine Belehrung ergibt sich aus der besonderen Stellung, die der Sachverständige gegenüber dem Beschuldigten einnimmt: Formell ist er zwar ebenso wie ein Zeuge Beweismittel, faktisch tritt er dem Beschuldigten gegenüber aber als Vernehmender auf (Fincke 1974, 656). Rechtlich gesehen „vernimmt“ der Sachverständige den Beschuldigten zwar nicht, weil die Exploration keine Vernehmung ist, welche die Tatfrage in dem Sinne betrifft, dass sie der Aufklärung der Tat dient. Bei der Frage der Schuldfähigkeit sind jedoch auch die Umstände der Tat selbst und die Tatzusammenhänge von wesentlicher Bedeutung (BGH, JR 1990, 119). Dabei darf es aber nicht darum gehen, neue Tatsachen zum Tatvorwurf zu ermitteln; denn es ist nicht Sache des Sachverständigen, einen Beschuldigten zu überführen (Wegener 1986, 33 ff.; Dippel 1986, 132 f.). Der Gutachter muss dabei notwendigerweise vielfach auch die Tat betreffende Fragen stellen. Darauf zu beharren, dass es sich nicht um eine Vernehmung, sondern nur um eine Befragung handele, die keine Belehrung verlange, erscheint daher formalistisch. Beim Gespräch mit dem Probanden kann es zu einem Geständnis oder zu Angaben kommen, die zu einer anderen rechtlichen Bewertung der Tat führen.
Merke Die Wahrung der prozessualen Rechte des Beschuldigten erfordert eine u. U. mehrfach zu wiederholende Belehrung des Probanden über sein Recht zu schweigen und über die Stellung des Sachverständigen (so auch Peters 1969, 233; Arzt 1969, 439). Denn der Proband hat i. d. R. keine Vorstellung davon, was der Gutachter darf (Schmidt-Recla 1998, 801). Ihm – wie dem Gutachter – muss immer bewusst sein, dass der Sachverständige nicht als dessen Arzt tätig wird, sondern als „Gehilfe des Gerichts, der grundsätzlich dem Gericht gegenüber zur Aussage über seine
Wahrnehmungen verpflichtet ist und insoweit kein Schweigerecht hat“ (Göppinger 1972, 1543), auch wenn der Sachverständige sich an sein ärztliches Selbstverständnis gebunden fühlt und „Arzt ist und bleibt“ (Foerster 2008, 217). Wenn möglich, sollte eine erste Belehrung durch den Auftraggeber – also Richter oder Staatsanwalt – über die Rolle und die Aufgaben des Gutachters erfolgen (Heinitz 1969, 700). Kommt jedoch ein Beschuldigter in ein psychiatrisches Krankenhaus, bevor er mit dem Staatsanwalt oder Richter gesprochen hat, und zeichnet sich ab, dass eine Begutachtung erfolgen wird, so hat der Sachverständige dies dem Probanden unter Belehrung über sein Schweigerecht mitzuteilen. Andernfalls darf das, was der Beschuldigte bis zu einer späteren Belehrung aussagt, im Gutachten nicht verwertet werden. Der Sachverständige sollte den Probanden grundsätzlich über den Zweck der Begutachtung und den Auftraggeber unterrichten, über seine – des Sachverständigen – prozessuale Stellung und über den geplanten Verlauf der Untersuchungen (Nedopil und Müller 2017, 412). Auch über die Untersuchungsmethoden ist aufzuklären, insbesondere dann, wenn es sich um psychologische Testverfahren handelt (Ehlers 1989, 81 f.). Für die prozessuale Verwertung von Tatsachen, die der Sachverständige im Zusammenhang mit der Begutachtung erfährt, ist zwischen Befundtatsachen und Zusatztatsachen zu unterscheiden: • Als Befundtatsachen gelten solche Umstände, die nur aufgrund der Sachkenntnis des Gutachters festgestellt werden können, also z. B. durch ärztliche Untersuchungen. Sie werden unmittelbar durch das Gutachten in die Hauptverhandlung eingeführt (BGHSt 18, 108; 9, 292). • Zusatztatsachen dagegen, also Tatsachen, die der Sachverständige zwar im Rahmen seiner Untersuchung, aber mit Mitteln festgestellt hat, derer sich auch das insoweit nicht fachkundige Gericht hätte bedienen können (BGHSt 18, 108), dürfen vom Gutachter nicht ohne Weiteres im
Gutachten berichtet und dadurch zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht werden. Zu den Zusatztatsachen gehören insbesondere die das Tatgeschehen betreffenden Tatsachen, z. B. ein Geständnis. Der Sachverständige darf dieses Wissen also nicht einfach in seinem Gutachten mitteilen. Das Gericht darf solche Mitteilungen nicht aufgrund des Gutachtens für sein Urteil verwerten; vielmehr muss der Sachverständige hierzu als Zeuge vernommen werden (BGHSt 13, 1; BGH, StV 1993, 170; NStZ 1993, 245). Dabei ist auf etwaige Aussage- und Zeugnisverweigerungsrechte der Auskunftsperson zu achten, von denen erst in der Hauptverhandlung Gebrauch gemacht wird (BGHSt 18, 107). Verwertungsverbote sind auch in anderen Konstellationen zu beachten. Getilgte Vorstrafen dürfen einer Gefährlichkeitsprognose nicht mehr zugrunde gelegt werden. Die Ausnahmeregelung des § 51 Abs. 2 Bundeszentralregistergesetz gestattet die Berücksichtigung solcher Voreintragungen ausschließlich für Persönlichkeitsanamnesen, die den Geisteszustand von Personen betreffen (BGH, StV 2013, 212; mit ausführlicher Begründung BGH, NJW 2012, 3591 [3592]). Die Abgrenzung von Befund- und Zusatztatsachen kann im Einzelfall schwierig sein, z. B. wenn ein Sachverständiger eine psychiatrische Begutachtung auf der Grundlage einer längerfristigen Beobachtung vornimmt. Tatsachen, die von nicht sachverständigen Dritten (z. B. Pflegepersonal oder Mitpatienten) festgestellt werden, können nur durch Zeugenaussagen des Sachverständigen oder der unmittelbaren Beobachter selbst eingeführt werden (BGH, StV 1993, 170). Auch wenn eine Belehrung über die Rechte als Beschuldigter erfolgt ist, muss doch nicht alles, was der Gutachter bei der Exploration erfährt, dem Gericht weitergegeben werden. Mitteilungen des Probanden, die mit dem Gutachten in keinem Zusammenhang stehen, können ebenso unter die ärztliche Schweigepflicht fallen (Heinitz 1969, 701; Peters 1969, 233) wie
Angaben, deren Kenntnis für die Erstattung des Gutachtens nicht unbedingt notwendig ist. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass sich zwischen Proband und psychiatrischem Sachverständigen während der Begutachtung auch ein ärztliches Vertrauensverhältnis bilden kann, das zu Mitteilungen führt, die über den Gutachtenauftrag hinausgehen. Der Sachverständige sollte dem Probanden dabei aber stets deutlich machen, dass er hinsichtlich des Gutachtens nicht als sein Arzt tätig wird und alles, was er insoweit erfährt, dem Gericht mitzuteilen hat. Keinesfalls darf der Gutachter ein ihm als Arzt entgegengebrachtes besonderes Vertrauen dazu missbrauchen, Tatsachen zu erfahren, die der Proband dem Gericht nicht mitteilen würde.
9.3.3. Eigene Ermittlungen des Sachverständigen Hält der Sachverständige vor der Erstattung seines Gutachtens weitere Ermittlungen für erforderlich, so fragt sich, ob er diese Ermittlungen selbst durchführen und sich etwa durch Vernehmung von Angehörigen des Probanden oder durch die Beiziehung von Akten über frühere Erkrankungen die notwendigen Informationen verschaffen darf.
Merke Nach richtiger, von den Gerichten seit Langem vertretener Auffassung ist die selbstständige Vernehmung von Zeugen durch den Sachverständigen nicht zulässig (BGH, GA 1963, 18; LR-Krause 2018, § 80 Rn. 5; KK-Senge 2013, § 80 Rn. 2; Meyer-Goßner und Schmitt 2018, § 80 Rn. 2). Insbesondere bei Personen, für die ein Zeugnis- oder Auskunftsverweigerungsrecht in Betracht kommt, würde die
Vernehmung durch einen Gutachter nicht den verfahrensrechtlichen Garantien entsprechen, die eine richterliche Vernehmung bietet (BGH, JR 1963, 111). Der Sachverständige ist daher darauf verwiesen, zur Vorbereitung des Gutachtens gem. § 80 Abs. 1 StPO ggf. die Vernehmung von Zeugen bzw. des Beschuldigten durch das Gericht oder die Staatsanwaltschaft zu veranlassen. Nach § 80 Abs. 2 StPO kann er bei solchen Vernehmungen anwesend sein und selbst unmittelbar Fragen stellen (BGH, NJW 1969, 2297). Dieser Weg ist zweifellos umständlich und mühsam (Heinitz 1969, 702). Er belastet Gericht und Staatsanwaltschaft ebenso wie den Gutachter. Zusätzlich wird auch die Wahrheitsfindung behindert, weil es kaum möglich ist, bei einer förmlichen Vernehmung in amtlichen Räumen eine für die psychiatrische Exploration günstige Atmosphäre zu schaffen (Heinitz 1969, 697). Jedoch ist die Vernehmung von Zeugen und des Beschuldigten Sache des Gerichts. Bei einer eigenständigen Vernehmung von Zeugen durch den Sachverständigen wäre die erforderliche Belehrung über Zeugnisverweigerungsrechte nicht gesichert. Fehlt es daran, so wäre die Aussage in der Hauptverhandlung nicht verwertbar. Nicht ausgeschlossen sein soll damit freilich die für das Gutachten erforderliche Exploration des Beschuldigten durch den Sachverständigen nach Belehrung über das Schweigerecht. Dabei hat der Gutachter die Grenzen des § 136a StPO zu beachten, der u. a. Ermüdung, Täuschung oder Zwang verbietet (BGH, NJW 1968, 2297). Als zulässig wird aber eine sogenannte informatorische Befragung von Auskunftspersonen durch den Sachverständigen angesehen (BGHSt 9, 292 [296]). Der Gutachter soll danach Personen, z. B. Angehörige, von denen er sachdienliche Auskünfte erwarten kann, vorbereitend selbst befragen und ggf. ihre Vernehmung als Zeugen veranlassen können (Heinitz 1969, 699). Bedenken gegen ein solch informelles Verfahren äußert der BGH (BGHSt 45, 164 [174]; zweifelnd auch LR-Krause 2018, § 80 Rn. 5). Häufig kann das vor allem im Jugendstrafverfahren erforderlich werden, wenn zur Vorbereitung der Diagnose Eltern oder andere Angehörige über die Entwicklung des Probanden (z. B. über gehirntraumatische Schäden,
schwere Kinderkrankheiten oder Verhaltensauffälligkeiten) befragt werden. Die Grenzen zwischen (unzulässiger) Vernehmung und (zulässiger) informatorischer Befragung sind allerdings fließend. Vielfach wird kaum erkennbar sein, ob der Sachverständige nur die Beweiserheblichkeit des Wissens der Auskunftsperson festgestellt oder ob er nicht doch schon „vernommen“, also nach Dingen gefragt hat, die er erfahren wollte. Die Grenzen der informatorischen Befragung überschreitet z. B. wohl die Befragung des Ehegatten über die sexuellen Beziehungen zum beschuldigten Partner (Sarstedt 1968, 180 Fn. 11). Der Sachverständige sollte daher die Befugnis zur informatorischen Befragung nur zurückhaltend ausüben. Der Weg über das Veranlassen einer Vernehmung gem. § 80 Abs. 1 StPO durch das Gericht oder die Staatsanwaltschaft ist langwierig und unvollkommen, zu einer unerträglichen Einschränkung der Wahrheitsermittlung im Strafprozess führt er aber nicht (Heinitz 1969, 699). Hat ein Sachverständiger bei der Anhörung einer zeugnisverweigerungsberechtigten Auskunftsperson Zusatztatsachen erfahren, und verweigert der Zeuge in der Hauptverhandlung die Aussage, darf der Gutachter über diese Angaben auch nicht als Zeuge vernommen werden, weil das ein Verstoß gegen das Verwertungsverbot des § 252 StPO wäre (BGHSt 18, 109). Die Angaben eines nicht zur Verweigerung berechtigten Zeugen gegenüber dem Gutachter können dagegen durch Vernehmung des Sachverständigen als Zeuge in die Hauptverhandlung eingeführt werden. Krankengeschichten und Behördenakten darf der Sachverständige von sich aus heranziehen, soweit es für das Gutachten erforderlich ist. Dabei muss auf die Wahrung der Schweigepflicht z. B. früher behandelnder Ärzte geachtet werden; ggf. ist eine Entbindung von der Schweigepflicht durch den Probanden einzuholen. In erweiternder Anwendung des § 80 Abs. 1 StPO kann der Sachverständige das Gericht auch um die Beschaffung von Akten und sonstigen Unterlagen, ggf. im Wege der Beschlagnahme nach § 94 StPO, ersuchen (KK-Senge 2013, § 80 Rn. 2).
9.3.4. Der Sachverständige in der Hauptverhandlung Aufgrund der den Strafprozess bestimmenden Grundsätze der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit muss der Sachverständige sein Gutachten in der Hauptverhandlung selbst mündlich vortragen. Dieser Vortrag sollte i. d. R. eine gedrängte Zusammenfassung der Befunde und der für die Beweisfrage relevanten Schwerpunkte enthalten. Bezugnahmen auf das schriftliche Gutachten sind dabei möglich, wenn es den Beteiligten vorliegt. Weicht die Stellungnahme des Gutachters von seinem schriftlichen Gutachten ab, sollte darauf hingewiesen und die Veränderung begründet werden. Nach dem mündlichen Vortrag des Gutachtens haben die Beteiligten das Recht, Fragen und Vorhalte an den Sachverständigen zu richten. Oft wird darin Kritik an den Ergebnissen des Gutachtens enthalten sein. Der Sachverständige sollte sich ihr in größtmöglicher Sachlichkeit stellen und sich nicht scheuen, etwaige Lücken und auch zweifelhafte Punkte seines Gutachtens zuzugeben. Im Regelfall bleibt der zu begutachtende Angeklagte während der Vernehmung des Sachverständigen im Gerichtssaal. Nach § 247 S. 3 StPO kann das Gericht aber für die Dauer von Erörterungen über den Zustand und die Behandlungsaussichten des Angeklagten dessen Entfernung anordnen, wenn sonst ein erheblicher Nachteil für dessen Gesundheit zu befürchten ist. Der Gutachter sollte das Gericht ggf. auf etwaige Gefahren hinweisen. Nach der Rückkehr in den Gerichtssaal hat der Vorsitzende den Angeklagten über den wesentlichen Inhalt des in seiner Abwesenheit Verhandelten zu unterrichten (§ 247 S. 4 StPO). Sachverständige gehören nicht zu den Personen, deren ununterbrochene Gegenwart während der Hauptverhandlung gem. § 226 StPO erforderlich ist. In welchem Umfang sie an ihr teilzunehmen haben, steht im Ermessen des Gerichts, das von seiner Aufklärungspflicht bestimmt wird (BGHSt 19, 367; KK-Senge 2013, § 80 Rn. 4).
Bei psychiatrischen und psychologischen Sachverständigen halten die Gerichte meist eine ständige Anwesenheit auch während der Beweisaufnahme für erforderlich. Das ist bei umfangreichen Verfahren oft mit erheblichen zeitlichen Belastungen verbunden, die viele Psychiater davon abhalten, Gutachtenaufträge zu übernehmen, weil sie eine längere Teilnahme an Gerichtsverhandlungen mit ihren sonstigen Aufgaben, z. B. als Klinikdirektoren, nicht vereinbaren können. Die Anwesenheit des psychiatrisch-psychologischen Sachverständigen wird dann erforderlich sein, wenn für das Gutachten das Verhalten des Angeklagten in der Hauptverhandlung beobachtet werden muss bzw. wenn die Rekonstruktion der Tat in der Beweisaufnahme für die Beurteilung von Bedeutung sein kann oder wenn es um dafür relevante Aussagen über die Persönlichkeit des Angeklagten geht. In vielen Fällen, z. B. während der Beweisaufnahme hinsichtlich der Überführung des Angeklagten oder über Details der Taten, die für das Gutachten ohne Bedeutung sind, ist die Anwesenheit dagegen entbehrlich. Das Gericht sollte den Sachverständigen für solche Teile der Hauptverhandlung von der Anwesenheitspflicht befreien. Die Entscheidung darüber liegt zunächst beim Vorsitzenden, an den der Sachverständige ggf. einen entsprechenden Antrag zu richten hat. Wird die Anordnung des Vorsitzenden beanstandet, so entscheidet gem. § 238 Abs. 2 StPO das Gericht. Es empfiehlt sich, Absprachen bereits vor der Übernahme des Gutachtenauftrags bzw. vor Beginn der Hauptverhandlung zu treffen. Stellt sich heraus, dass während der Abwesenheit des Sachverständigen für das Gutachten wesentliche Feststellungen getroffen worden sind, genügt es i. Allg., dass der Vorsitzende ihn über den Verlauf des versäumten Teils der Hauptverhandlung unterrichtet (BGHSt 2, 25 [29]; KK-Gmel 2013, § 226 Rn. 9). Nur ganz ausnahmsweise kann die gerichtliche Aufklärungspflicht die Wiederholung dieses Teils der Verhandlung erfordern (LRBecker 2010, § 226 Rn. 21). Dem Antrag eines Beteiligten auf Ladung eines Sachverständigen im Zivilprozess auf Erläuterung seines schriftlichen Gutachtens ist grundsätzlich auch dann zu entsprechen,
wenn das Gericht das Gutachten für überzeugend hält und selbst keinen Erläuterungsbedarf hat (BGH, NJW-RR 2003, 208).
9.3.5. Vereidigung des Sachverständigen Nach dem Ermessen des Gerichts kann der Sachverständige auf sein Gutachten vereidigt werden (§ 79 Abs. 1 S. 1 StPO). In der Regel wird davon abgesehen. Die Nichtvereidigung ist üblich und bedarf keines besonderen Gerichtsbeschlusses (BGHSt 21, 227). Ist der Sachverständige allgemein für die Erstattung psychiatrischer oder psychologischer Gutachten vereidigt, so genügt die Berufung auf diesen Eid (§ 79 Abs. 3 StPO). Ist der Gutachter auch als Zeuge über „Zusatztatsachen“ vernommen worden, die er außerhalb seines Auftrags wahrgenommen hat, so gelten insoweit die Regeln über den Zeugeneid (§§ 59 ff. StPO).
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KAPITEL 10
Organische psychische Störungen (einschließlich Anfallsleiden) Michael Rösler und Wolfgang Retz
10.1 Einleitung 10.2 Demenz 10.2.1 Diagnostische Leitlinien nach ICD-10 10.2.2 Demenz bei Alzheimer-Krankheit 10.2.3 Demenz bei Morbus Parkinson und Lewy-Körper-Demenz 10.2.4 Frontotemporale lobäre Degenerationen (FTLD): Morbus-PickKomplex 10.2.5 Vaskuläre Demenzformen 10.2.6 Andere Demenzkrankheiten 10.2.7 Forensische Aspekte und Beurteilung 10.3 Organisches amnestisches Syndrom: KorsakowSyndrom (nicht durch Alkohol oder psychotrope Substanzen bedingt) 10.3.1 Klinik und diagnostische Leitlinien nach ICD-10 10.3.2 Forensische Aspekte und Beurteilung
10.4 Delir (nicht durch Alkohol oder psychotrope Substanzen bedingt) 10.4.1 Klinik und diagnostische Leitlinien nach ICD-10 10.4.2 Forensische Aspekte und Beurteilung 10.5 Andere psychische Störungen durch eine Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns oder eine körperliche Erkrankung 10.5.1 Vorbemerkungen zur Klinik und Diagnostik 10.5.2 Hirnorganische Störungen 10.5.3 Forensische Aspekte und Beurteilung 10.6 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen durch eine Erkrankung, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns 10.6.1 Organische Persönlichkeitsstörung 10.6.2 Postenzephalitisches Syndrom 10.6.3 Organisches Psychosyndrom nach Schädel-Hirn-Trauma 10.6.4 Andere organische Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen 10.6.5 Forensische Aspekte und Beurteilung 10.7 Epilepsie
10.1. Einleitung Die ICD-10 beschäftigt sich im Kapitel F0 mit den organischen und symptomatischen psychischen Störungen. Es handelt sich um die Störungsmuster Demenz, organisches amnestisches Syndrom und Delir (F00 – F05). Andere psychopathologische Störungen, die nicht zwingend mit hirnorganischen Störungen vergesellschaftet sein müssen und auch im Rahmen anderer Krankheiten beobachtet
werden, sind als andere psychische Störungen aufgrund einer Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns (F06) oder als Persönlichkeits- oder Verhaltensstörungen bei zerebraler Schädigung (F07) klassifiziert. Von praktischer Bedeutung ist dabei, dass der Begriff des Delirs (F05) nach der ICD-10 inhaltlich weit gefasst ist und alle denkbaren Bewusstseinsstörungen umfasst. Insofern stellt F05 eine vergleichsweise heterogene Störungsgruppe dar. In der Kategorie der psychischen Störungen aufgrund einer Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns oder einer körperlichen Erkrankung (F06) stößt man auf die in der Tradition der Psychiatrie als Durchgangssyndrome bezeichneten Störungen. Die ICD-10 hält die in ➤ Tab. 10.1 ausgeführten Rubriken für hirnorganische psychische Störungen bereit.
Tab. 10.1
Organische psychische Störungen nach ICD-10
F00
Demenz bei Alzheimer-Erkrankung
F01
Vaskuläre Demenz
F02
Demenz bei anderenorts klassifizierten Erkrankungen
F03
Nicht näher bezeichnete Demenz
F04
Organisches amnestisches Syndrom (außer Alkohol oder psychotropen Substanzen)
F05
Delir (außer Alkohol und psychotropen Substanzen)
F06
Andere psychische Störungen aufgrund einer Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns oder einer körperlichen Erkrankung
F07
Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen aufgrund einer Erkrankung, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns
Im gegebenen Kontext ist darauf hinzuweisen, dass im DSM-5, der psychiatrischen Klassifikation der American Psychiatric Association (APA), in ihrem entsprechenden Kapitel eine andere Einordnung vorgenommen wird. Die organisch bedingten psychischen Störungen werden als neurokognitive Störungen bezeichnet, zu denen die Diagnosen Delir und majore sowie minore neurokognitive Störung gerechnet werden. Der diagnostische Begriff Demenz wurde aufgegeben (APA 2013). Die psychopathologischen Kriterien, die für die Diagnostik erforderlich sind, unterscheiden sich teilweise erheblich von denen, welche die ICD-10 verlangt. Obwohl das DSM-5 in der internationalen Forschung die führende Position einnimmt, wird die ICD-10 im Alltag der allgemeinen und forensischen Psychiatrie in Deutschland als Basis der Diagnostik erhalten bleiben.
ICD-11 Die Nachfolgeklassifikation der ICD-10 wird gegenwärtig vorbereitet. Die ICD-11 wird sich an das DSM-5 annähern. Im Kapitel 06 (Seelische und Verhaltensstörungen sowie Störungen der neuronalen Entwicklung) werden die heutigen organischen Störungen (F0) zukünftig unter der DSM-5-Bezeichnung „Neurokognitive Störungen“ geführt. Die zentralen psychopathologischen Störungen beinhalten Delir, leichte neurokognitive Störung, amnestische Störung und Demenz (Reed et al. 2019). Dabei besteht die Möglichkeit, das jeweilige psychopathologische Syndrom bestimmten ätiopathogenetischen Bedingungen zuzuordnen (Jessen und Frölich 2018). Im Gegensatz zum DSM-5 wird in der ICD-11 der Demenzbegriff nicht zugunsten einer „major neurocognitive disorder“ aufgelöst werden. Bis zum Erscheinen der ICD-11 gelten weiterhin die Regeln der ICD-10.
10.2. Demenz Demenzen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Derzeit leiden etwa 1,5 Mio. Menschen in Deutschland an einer Demenz, und angesichts der soziodemografischen Entwicklung in den nächsten Jahrzehnten wird mit einer starken Zunahme der Demenzkrankheiten zu rechnen sein. Eine Demenz als psychopathologisches Syndrom kann durch unterschiedliche neurodegenerative, vaskuläre, nutritiv-toxische, metabolische, infektiös-entzündliche, neoplastische und andere Krankheiten verursacht werden. Die mit Abstand häufigste Form ist die Demenz vom Alzheimer-Typ (DAT). Es folgen die gemischten Demenzen, bei denen sich vaskuläre und neurodegenerative Veränderungen durchmischen, sowie vaskuläre Demenzen (VD), frontotemporale lobäre Degenerationen (Morbus Pick) und die Lewy-Körper-Demenz (LKD). Mit diesen Krankheiten sind mehr als 90 % aller Demenzen erfasst.
10.2.1. Diagnostische Leitlinien nach ICD-10 In der ICD-10 ist das demenzielle Syndrom als eine die höheren kortikalen Funktionen beeinträchtigende Störung definiert. Betroffen sind vor allem Gedächtnis, Denken, Orientierung, Auffassung, Rechnen, Lernen, Sprache und Urteilsvermögen. Neben den kognitiven Beeinträchtigungen bestehen Verschlechterungen der emotionalen Kontrolle, des Sozialverhaltens oder der Motivation. Das klinische Bild wird geprägt durch die Abnahme der intellektuellen Leistungsfähigkeit und die Beeinträchtigungen in den persönlichen Aktivitäten des täglichen Lebens wie Waschen, Ankleiden, Essen, persönliche Hygiene usw. Die Störung des Gedächtnisses betrifft typischerweise Aufnahme, Speichern und Wiedergabe neuer Informationen, während früher gelerntes und vertrautes Material erst in späten Stadien verloren geht. Das Denkvermögen ist ebenso beeinträchtigt wie die Fähigkeit zu vernünftigem Urteilen. Der Ideenfluss ist vermindert, die Informationsverarbeitung beeinträchtigt und die geteilte
Aufmerksamkeit schon zu Beginn der Erkrankung erschwert. Störungen des Bewusstseins gehören nicht zum üblichen Bild des Demenzsyndroms. Unter forensischen Gesichtspunkten ist von gewisser Bedeutung, dass nach ICD-10 Demenzen, sofern sie auf Gehirnerkrankungen beruhen, als chronische oder fortschreitende Störungsmuster definiert werden. Das beschriebene psychopathologische Demenzsyndrom ist für alle Demenzkrankheiten verbindlich, d. h., es ist bei allen Demenzkrankheiten unabhängig von Ätiologie und Pathogenese anzutreffen.
10.2.2. Demenz bei Alzheimer-Krankheit Klinik In epidemiologischen Untersuchungen wurde gezeigt, dass die DAT (F00) 50–70 % aller Demenzen ausmacht. Die DAT ist eine altersassoziierte, chronisch fortschreitende, neurodegenerative Erkrankung, die in ihrem präklinischen Verlauf i. d. R. mit subjektiven Einbußen an kognitiven Funktionen beginnt, bevor sich erste Störungen der Merkfähigkeit objektivieren lassen. In diesem Stadium, das keineswegs berechtigt, die Diagnose einer DAT zu stellen, werden bei Berufstätigen vielfach Schwierigkeiten bemerkt, komplexen Aufgaben gerecht zu werden, die in früheren Lebensabschnitten problemlos bewältigt werden konnten. Angehörige bemerken Veränderungen in der Persönlichkeit, wobei Verstimmungszustände und Antriebseinbußen im Vordergrund stehen (Rösler et al. 1997). Entsprechend dem Entwicklungsmodell der DAT nach Reisberg (1988) können die präklinischen Stadien bis zu 22 Jahre dauern. Die Abgrenzung gegenüber den isolierten benignen seneszenten Gedächtnisveränderungen oder der leichten kognitiven Störung (F06.7) ist außerordentlich schwierig, und eine Prognose, ob und ggf. wann ein Übergang in eine manifeste Demenz erfolgt, ist im Einzelfall vielfach unmöglich, auch wenn sich in epidemiologischen Studien gezeigt hat, dass in diesen Fällen mit
einer deutlich erhöhten Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung einer Demenz gerechnet werden muss. Schreitet der Prozess fort, beschränken sich die messbaren kognitiven Störungen bald nicht mehr auf den Bereich der Merkfähigkeit (Becker und Rösler 1996). Zug um Zug werden weitere höhere kortikale Funktionen einbezogen, wobei besonders komplexe Leistungen zuerst vermindert sind. Hier sind vor allem problemlösendes Denken, geteilte Aufmerksamkeit und Rechnen zu nennen. Neben den Störungen im episodischen Neuzeitgedächtnis imponieren Wortfindungsstörungen als Ausdruck des Abbaus des semantischen Gedächtnisses. Die Flüssigkeit der Sprache nimmt ab, ihre Inhalte verarmen, die Grammatik wird unstimmig. Im weiteren Verlauf treten Sprachverständnisprobleme auf. In den Endstadien ist eine sprachliche Verständigung oft unmöglich. Die Fähigkeit zum Lesen und Schreiben geht meist schon in mittleren Stadien der DAT verloren. Ist die Demenzschwelle überschritten, stellen sich bald Probleme in der Orientierung ein. Die Patienten können das Datum nicht mehr nennen, die zeitliche Durchgliederung des Erlebens gelingt nicht mehr. In ungewohnter Umgebung, z. B. während eines Urlaubs, fallen Schwierigkeiten auf, sich räumlich zu organisieren. In mittleren Demenzstadien wird die Beurteilung des situativen Kontextes unsicher, in den späten Stadien geht auch das Wissen um die Vergangenheit der eigenen Person verloren. Für die Bewältigung der Alltagsaufgaben ist u. a. die Fähigkeit bedeutsam, Gegenstände entsprechend ihrer Bedeutung zu verwenden. Geht diese Fähigkeit verloren, spricht man von Apraxie. Zunächst schleichen sich Fehler in bestimmte Handlungsabläufe ein, etwa beim Anziehen; später wissen die Patienten nicht mehr, wie man telefoniert, badet oder eine Toilette benutzt. Die Fähigkeit, den allgemeinen und instrumentellen Anforderungen des Alltags zu entsprechen, nimmt auch deswegen ab, weil die Patienten zunehmend Schwierigkeiten haben, ihren Sinneseindrücken eine angemessene Bedeutung zu geben. Vertraute Gegenstände werden nicht mehr erkannt.
Neben den kognitiven Störungen und den Behinderungen in den Alltagsfertigkeiten treten im Verlauf der DAT immer auch Symptome aus dem Bereich der allgemeinen Psychopathologie und der Verhaltensstörungen auf. Die nichtkognitiven Störungen sind im Vergleich zur kognitiven Symptomatik, bezogen auf den Verlauf und die syndromatische Ordnung, heterogen. Besonders häufig treten Verstimmungszustände mit Angst, Dysphorie und Depression auf. Sie können in allen Krankheitsstadien vorkommen. Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Die Zahlenangaben bzgl. psychotischer Symptome mit Wahn und Sinnestäuschungen variieren beträchtlich. Es ist anzunehmen, dass mindestens die Hälfte der Patienten mit DAT solche Symptome entwickelt. Immer wieder stößt man auf das Capgras-Syndrom, bei dem es dem Patienten nicht gelingt, eine Person zu identifizieren, obwohl ihre Erscheinung und das Benehmen erkannt werden. Der Patient kann dann äußern, einen Doppelgänger vor sich zu haben. In den weit fortgeschrittenen DAT-Stadien werden psychotische Symptome seltener. Verhaltensstörungen wie Antriebssteigerung, Umherwandern, Schreien, Aggressivität, Apathie, Störungen des Schlaf-WachRhythmus oder Essstörungen sind häufig zu beobachten. Im weiteren Verlauf der Krankheit besteht eine allgemeine Tendenz zur Zunahme solcher Phänomene. Dann finden sich immer auch neurologische Symptome. Es handelt sich dabei meistens um extrapyramidalmotorische Muster, Primitivreflexe, Anfälle und Myoklonien.
Merke Die mittlere Verlaufsdauer der AlzheimerKrankheit nach Erreichen der Demenzschwelle beträgt ca. 7–10 Jahre. Der Verlauf ist zwar chronisch progredient, indessen sind auch Plateauabschnitte nicht selten, in denen für 1–2 Jahre keine nennenswerte Progression erfolgt.
Diagnostische Leitlinien nach ICD-10 Über das allgemeine Demenzsyndrom hinaus werden für die Alzheimer-Demenz weitere Ein- und Ausschlusskriterien verlangt, um die Erkrankung diagnostisch zu sichern: • Vorliegen des allgemeinen Demenzsyndroms. • Schleichender Beginn mit langsamer Verschlechterung. Im weiteren Verlauf kann ein Plateau erreicht werden. Die DAT ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt irreversibel. • Fehlen klinischer Hinweise oder spezieller Untersuchungsbefunde, die auf eine System- oder Hirnerkrankung hinweisen, die eine Demenz verursachen kann (z. B. Hypothyreose, Hyperkalzämie, Vitamin-B12Mangel, Niacinmangel, Neurosyphilis, Normaldruckhydrozephalus, subdurales Hämatom). • Fehlen eines plötzlichen, apoplektischen Beginns oder neurologischer Herdzeichen wie Hemiparese, Sensibilitätsverlust, Gesichtsfeldausfälle und Koordinationsstörungen in der Frühphase der Krankheit (solche Phänomene können jedoch später hinzukommen). Die diagnostischen Leitlinien der ICD-10 haben den Vorteil, die Sicherheit und Vergleichbarkeit der Diagnostik durch die kriteriengeleitete Diagnostik sicherzustellen. Trotzdem darf nicht übersehen werden, dass die diagnostischen Beschreibungen der ICD der Vielfalt der Krankheitserscheinungen nur in Ansätzen gerecht werden können. So bleibt in der ICD unerwähnt, dass mehr als die Hälfte der DAT-Patienten, z. T. in frühen Krankheitsstadien, Halluzinationen und paranoide Phänomene entwickeln können. Für die Beurteilungsprobleme der forensischen Psychiatrie ist diese Symptomatik von erheblicher Bedeutung. Forensische Aspekte Aus forensischer Perspektive ist bemerkenswert, dass die kriminologische Relevanz der DAT ab den mittleren Krankheitsstadien
als gering eingeschätzt werden muss. Das Ausmaß der Einschränkungen und Defizite ist i. d. R. dann so ausgeprägt, dass den Betroffenen nicht mehr der erforderliche Spielraum zur Verfügung steht, um strafrechtlich relevant in Erscheinung zu treten. Dies bedeutet indessen nicht, dass jedes Risiko fehlen würde (Rösler 1989). Wenn strafrechtliche Probleme entstehen, handelt es sich typischerweise um Menschen, die in früheren Lebensabschnitten ihren Weg in Familie, Beruf und sozialem Beziehungsgeflecht kompetent und voll adaptiert zurückgelegt haben. In diesen Biografien lässt sich eindrucksvoll erkennen, wie abseits vorbestehender krimineller Prägung durch den kognitiven Abbau und die Veränderung der Persönlichkeit der Boden für delinquentes Verhalten bereitet wird. In den frühen Erkrankungsstadien findet man neben den kognitiven Behinderungen vielfach auch depressive Verstimmungen. Bei dieser Konstellation werden Diebstahlsdelikte registriert, wobei Frauen gegenüber Männern zu dominieren scheinen. Die intellektuellen Behinderungen der beginnenden DAT disponieren auch zu Fehlverhalten im Straßenverkehr. Infolge räumlicher Orientierungsstörungen, die bei DAT typisch sind, kann es passieren, dass Patienten Verkehrswege in rechtswidriger Weise nutzen (z. B. als „Falschfahrer“), ohne sich ihres Irrtums und der erheblichen Eigen- und Fremdgefährdung bewusst zu sein. Ein besonderes Kapitel sind Gewaltdelikte von Demenzpatienten mit paranoider Symptomatik. Solche Delikte sind zwar ausgesprochen selten, es wäre aber verfehlt anzunehmen, dass bei DAT grundsätzlich nicht mit Gewaltkriminalität gerechnet werden müsste, wie dies früher durch das Schlagwort „Kriminalität der Schwäche“ (Amelunxen 1960) nahegelegt wurde. Verfestigte Wahngedanken sind eine Risikogröße, die sogar zur Tötungsdelinquenz führen kann (Böker und Häfner 1973; s. Kasuistik). Gefährdet sind dabei ausschließlich Angehörige oder andere Personen aus dem unmittelbaren Lebensumfeld des DAT-Kranken.
Kasuistik Ein typisches Beispiel ist der Eifersuchtswahn einer 69-jährigen Patientin mit beginnender DAT. Sie glaubte dem Verhalten ihres Ehemannes entnehmen zu können, dass er in die Nachbarin verliebt sei, u. a., weil er ihr beim Rasenmähen geholfen hatte. Deshalb versuchte sie ihren Ehemann im Schlaf zu erstechen, was glücklicherweise misslang. In einem anderen Fall entwickelte ein 75-Jähriger mit leichter DAT die Vorstellung, eine Nachbarin habe seine Strom- und Wasserleitung angezapft. Aufgrund seiner kognitiven Einschränkungen war es ihm nicht möglich zu erkennen, dass die gestiegenen Strom- und Wasserkosten tatsächlich auf einer Gebührenerhöhung beruhten. Er stellte die Nachbarin zur Rede, worauf diese mit Unverständnis reagierte. Erbost schlug er ihr ein Beil auf den Kopf und verletzte sie schwer.
Abgesehen von den Wahnerlebnissen können Affektlabilität, Impulsivität und gesteigerte Erregbarkeit zu Beleidigungen, Widerstandsleistungen und Gewaltdelikten führen. Manche Patienten geraten aus nichtigem Anlass in Wut, schreien, toben und werden zu tätlicher Gewalt hingerissen. Manchmal ist dies in Untersuchungssituationen zu beobachten. Depressive Verstimmung, die häufig in frühen Krankheitsphasen beobachtet wird, kann mit Suizidalität einhergehen, die auch zu erweiterten Suizidhandlungen führen kann.
Kasuistik Während des Versuchs einer neuropsychologischen Testung geriet ein DAT-Patient wegen der angeblich provozierenden Fragen in Erregung und schlug einen Untersucher mit einem Locher nieder.
Lange schwelende Partnerkonflikte können unter dem Einfluss der destabilisierenden Wirkungen einer beginnenden Demenz eskalieren. Die dann eintretende egozentrische Erstarrung und Reizbarkeit können den Boden für Aggressionsdelikte bereiten (Weber 1987). Im Verlauf der DAT sind vor allem in mittleren und schweren Krankheitsstadien aggressive Verhaltensweisen zu beobachten. Bei systematischen Erhebungen werden verbale und tätliche Aggressionen in der häuslichen und institutionellen Versorgung in einer Prävalenz von bis zu 50 % gefunden (Eastley und Wilcock 1997; Lehmann et al. 1999). Nur ausnahmsweise – wenn schwerwiegende Folgen bei einem Opfer eingetreten sind – führen aggressive Verhaltensweisen dieser Art zu polizeilichen oder staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen. Der Umgang mit Aggressionen in der häuslichen wie institutionellen Pflege gehört gewissermaßen zum therapeutischen Programm. Der kognitive Abbau der beginnenden DAT, mehr noch aber deren präklinische Stadien oder die prognostisch eher günstigen Fälle leichter kognitiver Einschränkungen im Alter können bei der sexuellen Altersdelinquenz eine bedeutsame Rolle spielen. In den meisten Fällen geht es um sexuellen Missbrauch von Kindern (§ 176 StGB). Diese Form der Delinquenz wurde lange Zeit als typisch für ältere Männer („Lustgreise“) angesehen, was tatsächlich unzutreffend ist, denn nach der Kriminalstatistik nimmt die Zahl der Verurteilungen wegen Sexualdelikten im Alter kontinuierlich ab. Es ist aber nicht von der Hand zu weisen, dass Urteilsschwäche, Affektinstabilität und Neigung zu impulsiv-dranghaften Verhaltensweisen mancher beginnenden DAT-Erkrankung bei der Entstehung von Sexualdelikten, vor allem solcher zum Nachteil von Kindern aus dem unmittelbaren Lebensbereich der Patienten, eine Rolle spielen können. Dabei manifestieren sich bei erhaltener sexueller Appetenz einerseits die Einschränkungen von sozialkommunikativen Fähigkeiten und Antriebsleistungen, die ein Ausleben sexueller Antriebe in angemessener Form gestatten würden, andererseits ist das Erleben auf die eigenen Belange eingeengt, die Koordinierung eigener Bedürfnisse mit den Interessen
anderer Personen gelingt immer weniger, sodass unmittelbare Bedürfnisbefriedigung gesucht wird. Einschränkend ist auf eine vergleichende Untersuchung aufmerksam zu machen, in der ältere Sexualstraftäter mit älteren Delinquenten, die andere Straftaten begangen hatten, verglichen wurden. Fazel et al. (2002) kamen zu dem Schluss, dass Auffälligkeiten in der Persönlichkeitsstruktur auch bei älteren Sexualstraftätern eine größere Rolle spielen als Krankheitsfaktoren.
10.2.3. Demenz bei Morbus Parkinson und Lewy-Körper-Demenz Klinik Die Lewy-Körper-Demenz (LKD, F02.8) steht der DAT unmittelbar nahe. Neuropathologische Untersuchungen mit neuen Färbetechniken sprechen dafür, dass die LKD nach der DAT die häufigste (bis 20 %) neurodegenerative Demenz sein könnte. Dabei wird diskutiert, dass die LKD hinsichtlich ihrer klinischen und neuropathologischen Symptomatik in der Mitte eines hypostasierten Kontinuums zwischen Alzheimer- und Parkinson-Demenz gelegen sein könnte. Dem entspricht die klinische Symptomatik. Im Vordergrund stehen Aufmerksamkeitsstörungen, die visuomotorischen Leistungen sind schon bei Krankheitsbeginn verschlechtert. Als besonders typisch werden fluktuierende kognitive Störungen angesehen, die Gedächtnis, Sprache, Visuomotorik, Praxis und abstraktes Denken betreffen können. Aus forensischer Sicht kann von Bedeutung sein, dass die Fluktuationen so ausgeprägt sein können, dass man einerseits an einen Verwirrtheitszustand (Delir), andererseits auch an ein asymptomatisches „luzides“ Intervall denken könnte. Die Fluktuationen der Symptomatik imponieren besonders in der wechselnden Fähigkeit, den Alltagserfordernissen gerecht zu werden. Aber auch bei wiederholten neuropsychologischen Testungen stößt man auf variable Resultate. Etwa die Hälfte der Patienten entwickelt Halluzinationen meist optischer, aber auch
akustischer Art. Paranoide Erlebensweisen sind nicht weniger häufig. Auch depressive Verstimmungen gelten als typisch. In gewisser Abgrenzung zur DAT zeigen ca. 90 % der Patienten eine extrapyramidalmotorische Symptomatik, wobei Rigor und Gangstörungen im Vordergrund stehen. Des Weiteren finden sich Bradykinesien und Haltungsunsicherheit. Vielfach besteht eine deutlich übersteigerte Empfindlichkeit gegenüber Neuroleptika. Die Patienten stürzen häufig ohne ersichtlichen Grund. Myoklonien lassen sich bei ca. 15 % der Erkrankten sichern. Nach den NewcastleDiagnosekriterien (McKeith et al. 1992) gehören auch Verwirrtheitszustände und Bewusstseinsverluste zum Bild der LKD. Die klinische Diagnose ist schwierig, und auch die postmortale Bestätigung anhand neuropathologischer Kriterien gelingt nicht immer.
Merke Die Lewy-Körper-Demenz verläuft trotz der Fluktuationen progredient, wobei die Verschlechterung zu einem schweren Endstadium relativ rasch erfolgen kann. In den fortgeschrittenen Stadien treten kaum noch Fluktuationen der kognitiven Symptomatik auf. Forensische Aspekte Spezielle forensisch-strafrechtliche Aspekte der LKD konnten in der empirischen Literatur bisher nicht herausgearbeitet werden. Dieser Umstand ist vor allem darauf zurückzuführen, dass bis in die jüngste Vergangenheit nach den klinischen Kriterien eine ausreichend sichere Differenzialdiagnostik gegenüber der DAT kaum möglich war. Es ist anzunehmen, dass die forensischen Aspekte, die für die DAT entwickelt wurden, in wesentlichen Aspekten auch für die LKD gelten. Eine Besonderheit der Delinquenz bei Parkinson-Syndromen könnte sich in der Auslösung
hypersexueller Verhaltensweisen unter dopaminerger Medikation abzeichnen (Berger et al. 2003).
10.2.4. Frontotemporale lobäre Degenerationen (FTLD): Morbus-PickKomplex Klinik und Kriterien nach ICD-10 Die Häufigkeit dieser neuropathologisch ausgesprochen uneinheitlichen Demenzen (F02.0) ist umstritten. Maximal 10 % der neurodegenerativen Demenzen gehören zu dieser Gruppe. Die FTLD beginnen meist im mittleren Lebensalter. Anders als bei der DAT sind Erkrankungen nach dem 70. Lebensjahr selten, kommen aber vor. Nach ICD-10 ist der Beginn durch langsam fortschreitende Charakterveränderungen und den Verlust von Fähigkeiten mit ausgeprägter sozialer Enthemmung gekennzeichnet. In den meisten Fällen zeigen sich dann erst Gedächtnisstörungen und weitere kognitive Einbußen (z. B. der Sprachfunktionen). Antriebsverödung und Euphorie sind relativ typische Phänomene. Gelegentlich stößt man auf extrapyramidalmotorische Symptome. Nach den differenzierten und gut validierten diagnostischen Kriterien von Brun et al. (1994) ist die Erkrankung durch schleichenden Beginn und langsame Progredienz gekennzeichnet. Zu den Kernsymptomen gehören früher Verlust der Selbstkontrolle und Fehlen von Krankheitseinsicht. Die Urteilsfähigkeit ist frühzeitig eingeschränkt. Sozial unerwünschte Verhaltensweisen wie Aggressivität, Rastlosigkeit, Witzelsucht und ungesteuerte Sexualität sind typische Zeichen der Desinhibition. Die Patienten sind impulsiv und verfügen nur über eine kurze Aufmerksamkeitsspanne. Sie wirken unflexibel, neigen zu stereotypen Verhaltensweisen und Perseverationen. Ungebremstes Essverhalten (nahezu alles wird in den Mund gestopft), Nikotinismus und übermäßiger Alkoholkonsum sind ebenfalls Zeichen der Enthemmung. Auch Wahnvorstellungen gehören zum Bild der FTLD, während Halluzinationen bei FTLD zu fehlen scheinen (Mendez et al. 2008).
Im weiteren Verlauf verflacht die affektive Anteilnahme. Die Patienten sind desinteressiert und zeigen einen Mangel an Einfühlungsvermögen. Ängstliche und depressive Verstimmungen sind nun nicht selten. Affektlabilität kommt hinzu. An bizarren Ideen wird kritiklos festgehalten, viele Patienten sind hypochondrisch. Der mimische Ausdruck verarmt zusehends, die sprachlichen Äußerungen nehmen ab; zuletzt bestehen sprachliche Stereotypien, Echolalie, Palilalie (Satzenden werden wieder und wieder gesprochen), bis schließlich Mutismus eintritt. Räumliche Orientierung und praktische Fähigkeiten bleiben lange erhalten. Neurologisch findet man früh Primitivreflexe. Ausschlusskriterien sind plötzlicher Beginn, frühe Amnesie, frühe räumliche Desorientierung, frühe schwere Apraxie, Logoklonie, kortikale, bulbäre, spinale und zerebelläre Symptome, frühe EEG-Veränderungen, postzentrale Veränderungen und multifokale Hirnläsionen in der Bildgebung sowie Hinweise auf ein entzündliches Geschehen. Forensische Aspekte Unter forensischen Gesichtspunkten ist von Interesse, dass betroffene Patienten aufgrund ihrer Kritiklosigkeit, ihrer Enthemmung und des Verlustes des soziokulturellen Überbaus kommunikativen Verhaltens in vergleichsweise typische Deliktsituationen geraten. Auch spielt die vielfach vorhandene flache Euphorie eine gewisse deliktfördernde Rolle. In einer vergleichenden Untersuchung haben Mychack et al. (2001) gezeigt, dass bei > 90 % der FTLD-Patienten mit rechtsseitig betonter frontotemporaler Hirnatrophie mit Delinquenz, Aggressivität, finanzieller Unbekümmertheit etc. gerechnet werden muss. Unsinnige Geldausgaben, Ladendiebstähle, exhibitionistische Handlungen und andere sexuell störende Verhaltensweisen wie anzügliche Bemerkungen sind nicht selten. Die Patienten riskieren viel (etwa im Straßenverkehr), ohne auch nur im Geringsten Einsicht zu zeigen. Meist bleibt es bei geringgradiger Delinquenz; manchmal werden jedoch auch Gewalttätigkeiten berichtet.
10.2.5. Vaskuläre Demenzformen Klinik Die Häufigkeit der vaskulären Demenzen (VD) ist in Deutschland in den vergangenen Jahren zurückgestuft worden. Während ihnen früher ein hoher Stellenwert eingeräumt wurde, mehren sich heute Hinweise dafür, dass reine VD eher selten anzutreffen sind. Hingegen scheint es einen hohen Anteil gemischter Demenzen zu geben, bei denen vaskuläre Faktoren wie die zerebrale Mikroangiopathie mit neurodegenerativen Prozessen interagieren. Die neuropathologischen und pathophysiologischen Verhältnisse bei VD sind ausgesprochen variabel. Wichtigster Risikofaktor ist wie bei der DAT das Alter. Männer scheinen häufiger als Frauen betroffen zu sein. Als weiterer wichtiger Risikofaktor gilt die arterielle Hypertonie. Der Verlauf der VD scheint variabler zu sein als bei der DAT. Fluktuationen in der Symptomatik mit vorübergehenden Besserungen sind bei manchen VD nicht auszuschließen. Andererseits ist die Mortalität im Vergleich zur DAT deutlich erhöht. In einer skandinavischen Untersuchung (Skoog et al. 1993) verstarben innerhalb eines 3-Jahres-Zeitraums 66,7 % der Patienten mit VD, aber nur 42 % mit DAT. Bei den VD treten wie bei der DAT regelhaft neben den kognitiven Störungen, den Alltagsbeeinträchtigungen sowie den neurologischen und psychopathologischen Symptomen auch Verhaltensstörungen auf; sie umfassen das gesamte Spektrum psychopathologischer Möglichkeiten, vorrangig Störungen der Affektivität, des Antriebs, der Psychomotorik sowie psychotische Phänomene. Bezüglich der differenzialdiagnostischen Abgrenzung gegenüber den VD gelten neben den früh einsetzenden neurologischen Symptomen initial vielfach auch Kopfschmerzen, Schwindel, transitorische ischämische Attacken (TIAs), nächtliche Unruhe, Müdigkeit am Tag und Affektinkontinenz als relativ typisch für die VD. Diagnostische Leitlinien nach ICD-10
Nach ICD-10 finden sich bei den VD in der Anamnese TIAs mit kurzen Bewusstseinsstörungen, flüchtige Paresen und Visusverlust. Die Demenz, die nach einem einzelnen Schlaganfall oder nach einer Reihe von zerebrovaskulären Ereignissen abrupt oder allmählich einsetzen kann, wird i. d. R. als das Resultat einer Infarzierung des Gehirns bei einer vaskulären Erkrankung inkl. zerebrovaskulärer Hypertonie aufgefasst. Vielfach sind die Infarkte klein; bzgl. ihrer Wirkung wird eine Kumulationstendenz angenommen. Die ICD-10 differenziert folgende Formen der VD: • Vaskuläre Demenz mit akutem Beginn (F01.0) • Multiinfarktdemenz (vorwiegend kortikal) (F01.1) • Subkortikale vaskuläre Demenz (F01.2) • Gemischte kortikale und subkortikale vaskuläre Demenz (F01.3) • Andere vaskuläre Demenz (F01.8) • Vaskuläre Demenz, nicht näher bezeichnet (F01.9). Eine spezifische Diagnose setzt das oben beschriebene allgemeine Demenzsyndrom voraus. Die Verteilung der kognitiven Störungen wird als heterogen angegeben. Gedächtnisverlust, intellektuelle Beeinträchtigungen und neurologische Herdzeichen können schon am Beginn der Symptomatik vorhanden sein. Dabei scheinen Einsichts- und Urteilsfähigkeit häufig noch gut erhalten zu sein. Die Sicherheit der Diagnose wird durch plötzlichen Beginn, schrittweise Verschlechterung und neurologische Herdsymptome erhöht. Als wichtig wird die kranielle CT angesehen. Noch besser geeignet erscheint die MRT (Supprian et al. 1997). Akzessorische Symptome nach ICD-10 sind Hypertonie, Karotisgeräusch, Affektlabilität mit vorübergehender depressiver Stimmung, Weinen oder unbeherrschtes Lachen, Episoden von Bewusstseinstrübungen oder Delir (meist durch zusätzliche Infarkte hervorgerufen). Die Persönlichkeit kann gut erhalten sein, in einigen Fällen findet man jedoch Apathie, Enthemmung und Zuspitzung von Persönlichkeitszügen wie Ich-Bezogenheit, paranoide Haltungen oder Reizbarkeit.
Die ICD-10 weist ausdrücklich darauf hin, dass DAT und vaskuläre Demenz häufig gemeinsam auftreten. Forensische Aspekte Ein grundsätzlicher Unterschied in der kriminologischen Bedeutung vaskulärer Demenzen im Vergleich zur DAT ist nicht erkennbar. Zahlenmäßig ist diese Form der Delinquenzauslösung weniger bedeutend. Im Einzelfall können paranoide Erlebensweisen, Verstimmungs- und Unruhezustände und der Abbau der Persönlichkeit zu Deliktformen disponieren, die bereits in den Ausführungen zur DAT erörtert wurden.
10.2.6. Andere Demenzkrankheiten Im Rahmen neurodegenerativer Demenzursachen ist als seltene Krankheit die Chorea Huntington zu erwähnen, die neben der Demenzentwicklung sehr häufig mit Persönlichkeitsentdifferenzierungen einhergeht. Psychomotorische Erregbarkeit, Affektlabilität und Impulsivität sind häufig, ebenso paranoid-halluzinatorische Psychosen. Die Patienten treten bisweilen strafrechtlich durch Diebstähle, Sexual- und andere Gewaltdelikte in Erscheinung. Manchmal bleibt die Motivlage undurchsichtig. Nach Dewhurst et al. (1970) liegt der Schwerpunkt der Deliktbelastung vor der sicheren Krankheitsmanifestation in einem Stadium, in dem sich noch keine Demenz entwickelt hat. Andere Demenzursachen (F02; Übersicht: Zerfass et al. 2002) können nutritiv-toxische Erkrankungen, chronische Vergiftungen mit Alkohol, Drogen, Lösungsmitteln, Schwermetallen und Kohlenmonoxid sowie Hypovitaminosen sein. Bei den ausgesprochen seltenen endokrinen Demenzursachen dominieren Schilddrüsen- und Parathormonstörungen, Hypophyseninsuffizienz und Nebennierenfunktionsstörungen. Die wichtigsten infektiösen Demenzursachen sind: Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, HIVEnzephalopathie, multiple Sklerose, Neurosyphilis, GerstmannSträußler-Krankheit, Neuroborreliose und Herpes-simplex-
Infektionen. Als weitere seltene Demenzursache Normaldruckhydrozephalus zu nennen.
ist
der
10.2.7. Forensische Aspekte und Beurteilung Der weitaus überwiegende Teil der Demenzkrankheiten ist altersassoziiert, d. h., es handelt sich um Patienten ≥ 65 Jahre. In diesem Alter nehmen die strafrechtlichen Kriminalitätsbelastungszahlen dramatisch ab. Der Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung liegt bei annähernd 25 %. Nach der Kriminalstatistik für das Jahr 2018 (Statistisches Bundesamt 2018) stellt die Bevölkerungsgruppe der ≥ 60-Jährigen nur 5,9 % aller Verurteilten. Der Anteil älterer Menschen an der Gewaltkriminalität ist besonders niedrig. Die epidemiologischen Untersuchungen von Böker und Häfner (1973) haben zu dieser Frage ergeben, dass bei niedriger Belastung der Demenzkranken mit Gewaltkriminalität die Primärpersönlichkeit, habituelle Aggressivität und vorbestehende dissoziale Prägungen keine Rolle spielen, hingegen exogene Psychosen und Wahnbildungen aggressives Verhalten begünstigen können.
Merke Es gibt auch sonst keine Hinweise, dass Demenzkrankheiten als ein bedeutsamer, generell wirksamer Risikofaktor für Delinquenz angesehen werden müssten. Entsprechend niedrig liegt der Anteil von Patienten mit hirnorganischen Störungen im Maßregelvollzug nach § 63 StGB: Nach einer bundesweiten Erhebung (Schäfer 2019) beträgt ihr Anteil 10,4 %. In forensischen Begutachtungspopulationen entfallen auf den Bereich organischer Störungen ca. 6 % (Rösler und Stieglitz 1996). Kriminologen vermuten, dass ca. 10 % der Alterskriminalität durch senile, präsenile und affektiv-charakterliche Abbausyndrome infolge
atrophischer und / oder arteriosklerotischer Störungen verursacht werden. In einer Studie von Barak et al. (1995) wurden unter erstmals straffälligen älteren Menschen bei 21 % Demenzkrankheiten gefunden. Alterungsprozesse allgemeiner Art sollen zu 40 % der Alterskriminalität beitragen. Fast die Hälfte der Delikte älterer Menschen entfallen auf Straftaten im Straßenverkehr (48 %, Statistisches Bundesamt 2018). Hier wird vermutet, dass die nachlassende Leistungsfähigkeit zu fahrlässigen Straftaten Anlass gibt. Dass dieser Gesichtspunkt nicht überzubewerten ist, lässt sich am äußerst niedrigen Anteil (nur 4 %) der ≥ 60-Jährigen an der gesamten Verkehrsdelinquenz ablesen. Dieser Befund steht auch im Zusammenhang mit der im Vergleich zu jüngeren Menschen deutlich geringeren durchschnittlichen Kilometerfahrleistung älterer Personen. Als weiteres Delikt mit einer gewissen Häufigkeit sind Diebstähle zu nennen. Aber auch hier ist zu bedenken, dass die Tatverdächtigenbelastungszahlen (Tatverdächtige pro 100.000 Personen der jeweiligen Altersgruppe) um den Faktor 10 niedriger liegen als bei Jugendlichen und Heranwachsenden. Ferner finden sich Betrugsdelikte und Hehlerei; Sachbeschädigungen und Brandstiftungen sind bisweilen nach Versagenserlebnissen zu beobachten (Schneider 1987). Bei Frauen stehen Diebstähle und Beleidigungen zahlenmäßig im Vordergrund. Ein besonderes „Kapitel“ ist die in der forensischen Psychiatrie vielfach thematisierte Sexualkriminalität älterer Männer, die den auch heute noch nicht überwundenen Mythos des Kinderschänders par excellence (Weber 1987) hervorgebracht hat. „Die Schändung ist nach allen bisherigen Erfahrungen das typische Sittlichkeitsdelikt der Greise“, schrieb Zingerle (1911). In den meisten Fällen wurde als Ursache eine senile Demenz vermutet (Aschaffenburg 1908). Heute entnehmen wir der Kriminalstatistik (Statistisches Bundesamt 2018), dass nur 8,9 % der einer sexuellen Gewalttat verdächtigten Personen 60 Jahre oder älter sind. Die zahlenmäßig viel kleinere Gruppe der 21- bis 25-Jährigen stellt hingegen ca. 11 % der Tatverdächtigen. Diese Situation lässt keinen Raum für die Vorstellung, dass kognitiver Abbau im Alter oder eine manifeste Demenzentwicklung
spezifische Risikofaktoren für Sexualkriminalität sein könnten. Ganz im Gegenteil: Ältere Menschen und vor allem solche mit Demenzkrankheiten sind bei dieser Deliktform wie bei allen anderen Straftaten deutlich unterrepräsentiert. Gleichwohl ist in der Zukunft mit einem steigenden Anteil forensisch zu begutachtender älterer Personen zu rechnen. Gründe sind die steigende Lebenserwartung und die Verschiebung der Alterspyramide.
Merke Bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit bei Demenzkranken ist davon auszugehen, dass diese Krankheiten ausnahmslos der rechtlichen Kategorie der krankhaften seelischen Störungen zugeordnet werden müssen. In Fällen ausschließlich gutartiger altersassoziierter Gedächtnisprobleme kann dies zweifelhaft sein. Generell ist es nicht einfach, physiologische Alterungsvorgänge von leichtgradigen organischen psychischen Störungen abzugrenzen. Besonders zu betonen ist, dass die Frage, ob und in welcher Ausprägung eine krankhafte seelische Störung vorliegt, von medizinisch-technischen Befunden weitestgehend unabhängig ist. In foro wird immer wieder nach EEG-, CT- bzw. MRT-Befunden gefragt.
Merke Nicht selten stößt man auf Unverständnis, wenn trotz Fehlens einer Hirnatrophie eine Demenz diagnostiziert wird oder wenn umgekehrt trotz des Nachweises atrophischer Hirnveränderungen keine Demenzdiagnose gestellt wird. In solchen Situationen muss deutlich gemacht werden, dass es bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit in erster Linie auf den psychopathologischen Befund und die klinische Anamnese und erst danach auf
bestimmte Krankheitsursachen, pathophysiologische Mechanismen oder technische Untersuchungsergebnisse ankommt. Die Bewertung der Unrechtseinsichtsfähigkeit und des Steuerungsvermögens muss sich am Ausmaß der bestehenden kognitiven Einschränkungen, der Behinderungen in den Alltagskompetenzen, aber auch an der allgemeinen psychopathologischen Symptomatik und den Verhaltensstörungen orientieren. Im Interesse einer überprüfbaren und an identischen Maßstäben ausgerichteten Diagnostik empfiehlt sich neben einer gründlichen klinischen Untersuchung eine standardisierte Erfassung der Demenzsymptomatik mit neuropsychologischen Instrumenten und Ratingskalen. Dafür stehen zahlreiche geeignete Verfahren zur Verfügung (Übersichten: Rösler 1998; Rösler et al. 2002). Als Instrumente mit hoher zeitlicher Ökonomie und umfangreicher Erprobung gelten die Mini Mental State Examination (MMSE; Folstein et al. 1975), der Syndrom-Kurztest (SKT; Erzigkeit 1989) oder das CERAD-Verfahren (Morris et al. 1998). Mit diesen Verfahren lassen sich wichtige Symptombereiche unter Verwendung standardisierter Definitionen und Experimente erfassen, vor allem aber erlauben sie eine Quantifizierung der Demenzsymptomatik. 19–24 Punkte in der MMSE entsprechen einer leichten, 10–18 Punkte einer mittleren und 60 % der Patienten mit hochfunktionalem Autismus eine oder mehrere Diagnosen einer Persönlichkeitsstörung auf (Hofvander et al. 2009; Riedel et al. 2016). Bei etwa 50 % dieser Patienten werden affektive Störungen diagnostiziert, ebenfalls bei etwa 50 % werden Angsterkrankungen gesehen, bei 43 % eine ADHS-Diagnose, bei 24 % eine Zwangsstörung, bei 20 % Ticstörungen, bei 16 % psychotische Störungen und bei ebenfalls etwa 16 % Substanzmissbrauch bzw. Substanzabhängigkeiten. Die Zahlen verdeutlichen anschaulich, wie häufig alle möglichen psychiatrischen Störungsbilder als Komorbidität – gelegentlich auch als Fehldiagnose – das Bild einer ASS mit prägen oder auch verdecken können. Im Rahmen eigener Erhebungen konnte so z. B. nachgewiesen werden, dass bei etwa 5 % der Patientinnen, die zur spezifischen Therapie einer Borderline-PS stationär zugewiesen wurden, de facto eine bislang unerkannte ASS vorlag (Hermann et al. 2018). Auch werden häufig Fehldiagnosen im Sinne von schizophreniformen, atypischen affektiven, Zwangs- und anderen Persönlichkeitsstörungen (insbesondere narzisstische und kombinierte PS) gestellt. Zur genaueren Beschreibung der diesbezüglichen differenzialdiagnostischen Spezifika wird auf die Fachliteratur verwiesen (Tebartz van Elst 2016).
Merke Häufig besteht eine ASS aber auch im Sinne einer Basisstruktur bzw. Basisstörung, vor deren Hintergrund sich spezifische kommunikative und psychodynamische Konfliktkonstellationen ergeben, die dann im Weiteren in einem sekundären Sinne für die Entstehung sich daraus entwickelnder affektiver Störungen, autistischer Stressreaktionen (dissoziative Anspannungszustände mit fremd- oder autoaggressiven Verhaltensweisen) oder oft
recht heftiger interpersoneller Konflikte verantwortlich sind (Tebartz van Elst et al. 2013). In Hinblick auf die forensische Bewertung insbesondere der häufigen komorbiden affektiven Störungen ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass sich z. B. depressive Episoden vor dem Hintergrund einer ASS durchaus als atypisch dahingehend manifestieren können, dass z. B. eine niedergedrückte Stimmung, ein Interesseverlust oder eine Antriebsstörung sich nicht im Sinne eines typischen, häufig erwarteten melancholischen Syndroms präsentieren. Vielmehr kommt es oft im Kontext depressiver Phasen bei autistischen Menschen zu einer zunehmenden Einengung auf die autistischen Sonderinteressen, einem vermehrten und exazerbierenden Beharren auf der Abwicklung typischer autistischer Tagesrituale und Routinen, zu vermehrten autistischen Stressreaktionen in Form eines dissoziativen Aus-dem-KontaktGehens, verbunden mit fremd- oder autoaggressiven Verhaltensweisen oder etwa zu einem extremen kognitiven Einengen auf jeweils aktuelle Konfliktthemen. In diesen Konstellationen ist es eher die Längsschnittanalyse als der psychopathologische Querschnittsbefund, die den entscheidenden Hinweis auf eine phasisch depressive Symptomatik liefern kann. Besondere Bedeutung im forensischen Kontext hat auch die hohe Komorbidität zwischen ASS und Epilepsien. Je nach Erhebungsstichprobe leiden 5–46 % der ASS-Patienten auch an epileptischen Anfällen, und bei bis zu 60 % der ASS Patienten finden sich pathologische EEG Befunde (Spence und Schneider 2009). Dies kann aus forensischer Perspektive insofern von Bedeutung sein, als bei delinquenten Patienten mit ASS auch auf diese Komorbidität geachtet und geprüft werden sollte, ob eine adäquate antikonvulsive Einstellung möglicherweise vorhandene paraepileptische Pathomechanismen erfolgreich beeinflussen und somit die Prognose betroffener Patienten verbessern könnte (Tebartz van Elst 2013). Ein weiteres forensisch wichtiges Thema ist die Frage nach der Komorbidität und Differenzialdiagnose von ASS und Psychosen. Dazu ist festzustellen, dass nach ICD-10-Kriterien gelegentliche psychotische Episoden im Erwachsenenalter mit der Diagnose eines Asperger-Syndroms vereinbar sind. Die diesbezügliche Abgrenzung zum Schizophreniebegriff bleibt unklar (Tebartz van Elst und Winter 2016). Auch ergeben sich aus rein psychopathologischer Beschreibungsperspektive weitgehende Überlappungen zwischen einem Asperger-Syndrom (ICD-10: F84.5) und den gemäß ICD-10 definierten Entitäten einer schizoiden PS, einer schizotypen Störung oder einer Schizophrenia simplex. Hier ist es i. d. R. die genaue Analyse der Entwicklungsanamnese in der ersten Dekade, die diagnostische Klarheit schaffen kann. Aus klinischer Sicht können akut-polymorph anmutende psychotische Episoden meist im frühen Erwachsenenalter im Kontext von psychosozialen Stress- und Konfliktsituationen
als ein gemäß ICD-10-Definition mit einer ASS-Diagnose vereinbares Phänomen begriffen werden. Dagegen sollte bei einer klassischen chronischen paranoidhalluzinatorischen schizophreniformen Symptomatik zumindest nach erfolgter und unauffälliger organischer Basisdiagnostik auch die Diagnose einer zur ASS komorbiden schizophreniformen Störung erwogen werden.
11.2.5. Diagnose Die Diagnose einer ASS wird klinisch gestellt. Während im Bereich der Kinderund Jugendpsychiatrie spezifische psychometrische Instrumente, etwa das manualisierte halbstrukturierte Beobachtungsverfahren Autism Diagnostic Observation Schedule (ADOS; Lord et al. 2001) oder das revidierte Diagnostische INTERVIEW für Autismus (ADI-R) als obligat gelten, ist dies für den Erwachsenenbereich gemäß S3-Leitlinie nicht der Fall (AWMF 2016). Unabhängig davon gilt für alle Altersbereiche, dass eine detaillierte Entwicklungsanamnese das Herzstück einer entsprechenden Autismusdiagnostik darstellt. Entscheidend für eine positive Diagnose ist, dass die qualitativen Besonderheiten des autistischen Phänotyps, wie sie insbesondere im A- und im B-Kriterium in ➤ Box 11.1 vorgestellt wurden, als relevante, konstante und klinisch bedeutsame Phänomene bereits für die erste Lebensdekade der Patienten nachgewiesen werden können. Ist dies der Fall, so kann die Diagnose positiv begründet und damit gestellt werden, sofern auch die anderen in ➤ Box 11.1 genannten Kriterien zutreffen. Die psychometrischen Fragebögen und Untersuchungsverfahren stellen dabei klinisch oft sehr hilfreiche und wertvolle Zusatzinstrumente dar, ohne dass deren Ergebnisse an sich jedoch eine entsprechende Diagnose positiv begründen oder ausschließen könnten (AWMF 2016; Bölte 2009).
11.2.6. Operationalisierung des Schweregrads Aus forensischer Perspektive ist es von Bedeutung, dass mit Einführung des DSM5 der Schweregrad einer ASS operationalisiert wurde. Dies hat auch sozialmedizinische Relevanz. ➤ Tab. 11.1 veranschaulicht, wie nach DSM-5Kriterien leichte, mittelgradige und schwere Formen einer ASS beschrieben werden.
Tab. 11.1 Operationalisierung des Schweregrads einer AutismusSpektrum-Störung gemäß DSM-5-Kriterien Schweregrad
Soziale Kommunikation
Restriktive, repetitive Verhaltensweisen
1
Die Einschränkungen in der sozialen Kommunikation verursachen ohne Unterstützung bemerkbare Beeinträchtigungen. Schwierigkeiten bei der Initiierung sozialer Interaktionen sowie einzelne deutliche Beispiele von unüblichen oder erfolglosen Reaktionen auf soziale Kontaktangebote anderer; scheinbar vermindertes Interesse an sozialen Interaktionen. Die Person ist z. B. in der Lage, in ganzen Sätzen zu sprechen und sich jemandem mitzuteilen, aber ihre Versuche zur wechselseitigen Konversation misslingen, ihre Bemühungen, Freundschaften zu schließen, wirken merkwürdig und sind i. d. R. erfolglos.
Unflexibles Verhalten führt zu deutlichen Funktionsbeeinträchtigungen in einem oder mehreren Bereichen. Schwierigkeiten, zwischen Aktivitäten zu wechseln. Probleme in der Organisation und Planung beeinträchtigen die Selbstständigkeit.
„Unterstützung erforderlich“
Schweregrad
Soziale Kommunikation
Restriktive, repetitive Verhaltensweisen
2
Ausgeprägte Einschränkungen der verbalen und nonverbalen sozialen Kommunikationsfähigkeit. Die sozialen Beeinträchtigungen sind auch mit Unterstützung deutlich erkennbar, reduzierte Initiierung von sozialen Interaktionen oder abnormale Reaktionen auf soziale Angebote von anderen. Ein Betroffener spricht z. B. in einfachen Sätzen, verfügt über eine eigenartige nonverbale Kommunikation, und die Interaktion beschränkt sich auf begrenzte Spezialinteressen.
Unflexibles Verhalten, Schwierigkeiten im Umgang mit Veränderungen oder andere restriktive / repetitive Verhaltensweisen treten häufig genug auf, um auch für den ungeschulten Beobachter offensichtlich zu sein, und sie beeinträchtigen das Funktionsniveau in einer Vielzahl von Kontexten. Zeigt Unbehagen und / oder hat Schwierigkeiten, den Fokus oder die Handlung zu verändern.
„Umfangreiche Unterstützung erforderlich“
Schweregrad
Soziale Kommunikation
Restriktive, repetitive Verhaltensweisen
3
Starke Einschränkungen der verbalen und nonverbalen sozialen Kommunikationsfähigkeit verursachen schwerwiegende funktionelle Beeinträchtigungen, eine sehr begrenzte Initiierung sozialer Interaktionen und eine minimale Reaktion auf soziale Angebote von anderen. Eine Person mit ASS verfügt z. B. über wenige Worte verständlicher Sprache, initiiert nur selten Interaktionen, und wenn sie dies tut, dann in ungewöhnlicher Form mit der Absicht, die eigenen Bedürfnisse zu erfüllen. Diese Person reagiert nur auf sehr direkte Kontaktaufnahme.
Unflexibles Verhalten, extreme Schwierigkeiten im Umgang mit Veränderung oder andere restriktive / repetitive Verhaltensweisen mit ausgeprägten Funktionsbeeinträchtigungen in allen Bereichen. Zeigt großes Unbehagen, hat z. B. große Schwierigkeiten, den Fokus oder die Handlung zu verändern.
„Sehr umfangreiche Unterstützung erforderlich“
11.2.7. Therapie Die allgemeinen Therapieziele bei ASS ergeben sich aus den Symptomen des Autismus, den daraus resultierenden Folgen sowie den bestehenden psychiatrischen Komorbiditäten. Eine kausale Therapie der autistischen Kernsymptomatik ist bislang nicht möglich. Psychotherapeutisch kann aber durchaus erfolgreich versucht werden, im Hinblick auf die spezifischen autistischen Schwächen Kompensationsstrategien zu erlernen. Hier stehen inzwischen auch für den deutschen Sprachraum verschiedene manualisierte Therapieverfahren zur Verfügung (Ebert et al. 2013; Gawronski et al. 2012). Insbesondere für Patienten mit ASS und komorbiden affektiven, psychotischen oder Persönlichkeitsstörungen wurden inzwischen auch spezifische stationäre
Behandlungsprogramme entwickelt (Pick et al. 2016), die bislang aber nur an sehr wenigen spezialisierten Zentren angeboten werden. Medikamentös liegen bislang keine spezifischen zugelassenen psychotropen Substanzen zur Therapie der autistischen Kernsymptome vor. Allerdings bestehen für Risperidon und Zuclopenthixol eingeschränkte Zulassungen zur Behandlung von fremd- und autoaggressiven Verhaltensweisen u. a. bei Menschen mit autistischen Syndromen. Darüber hinaus können aber verschiedene Medikamente für zahlreiche symptomatische Teilaspekte und komorbide Symptome und Syndrome bei ASS dann meist im Rahmen einer Off-Label-Anwendung, klinisch aber durchaus mit sehr überzeugendem Erfolg eingesetzt werden. Was die konkreten diesbezüglichen Therapieoptionen anbelangt, wird auf die spezifische Fachliteratur verwiesen (Tebartz van Elst 2016). mn
Merke In diesem Zusammenhang erscheint es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die verschiedenen symptomatischen und syndromalen Teilaspekte und komorbiden Phänomene, die häufig im Kontext von ASS beobachtet werden können, gerade aus pharmakotherapeutischer Perspektive durchaus auch separat betrachtet werden müssen. So sind gerade im forensischen Kontext aus eigener Erfahrung einige Fälle bekannt, bei denen entweder die Besonderheiten einer ASS im Sinne einer Basisstörung vor dem Hintergrund einer Schizophreniediagnose nicht identifiziert oder aber auch umgekehrt psychotische Symptome der Diagnose eines Autismus zugeordnet wurden, was zur Folge hatte, dass entsprechende Therapieversuche mit Antipsychotika gar nicht durchgeführt wurden. Nicht zuletzt im Kontext von fremdaggressiven Verhaltensweisen autistischer Menschen mit komorbiden psychotischen Syndromen können solche nicht identifizierten Therapieoptionen dann natürlich negative Auswirkungen auf die Einschätzung der Prognose der betroffenen Menschen haben.
11.3. Kriminologie Eine Literaturrecherche zu den Suchbegriffen „forensic psychiatry“ und „autism“ illustriert, dass eine Auseinandersetzung der forensischen Psychiatrie mit dem Thema in einem nennenswerten Umfang erst in den letzten 10 Jahren begonnen hat (Ebert und Riedel 2013). Kriminologisch standen dabei zunächst kasuistische Einzelfall- und Serienfallanalysen im Vordergrund, in denen die Frage nach einem spezifischen Zusammenhang zwischen der Diagnose einer ASS und Delinquenz aufgeworfen wurde (Baron-Cohen 1998; Schwartz-Watts 2005; Rutten et al. 2017). Besondere Aufmerksamkeit fanden in diesem Zusammenhang Berichte darüber,
dass Menschen mit ASS möglicherweise überdurchschnittlich häufiger unter den Tätern vom sogenannten „school shootings“ bzw. Amokläufen zu identifizieren seien (Fitzgerald 2015, zit. in: Allely 2017). Diesbezüglich weisen verschiedene Autoren auf die hohe psychiatrische Komorbidität bei Straftätern mit ASS hin (Anckarsäter et al. 2008) und dass insbesondere das Vorhandensein von Psychosen und Depressionen als Risikofaktor für delinquentes Verhalten bei ASS erwogen werden müsse (de la Cuesta 2010). Um diese Frage zu beantworten, führten Rutten et al. (2017) eine systematische Literaturanalyse durch, in der die relevante Literatur zwischen 1990 und 2016 gesichtet und ausgewertet wurde. Dabei kamen sie zu dem Ergebnis, dass die Prävalenz von Delinquenz bei Menschen mit ASS zwischen 5 und 26 % schwankte und die Diagnose einer ASS bei 2–18 % der Insassen in forensischen Institutionen angegeben wurde, wobei die Autoren explizit auf eine hohe Varianz der Daten hinweisen. Auch in diesem Beitrag wurde der mögliche Zusammenhang zwischen Delinquenz und einer psychiatrischen Komorbidität angesprochen, was durch weitere Publikationen gestützt wird (Newman und Ghaziuddinn 2008). Die von Rutten et al. (2017) berichtete, im Vergleich zur Häufigkeit in der Allgemeinbevölkerung erhöhte Prävalenzrate von ASS in forensischen Populationen erklären die Autoren durch Zustromeffekte und Stichprobenfehler. Gleichzeitig weisen sie darauf hin, dass die bei autistischen Menschen berichtete Prävalenzrate von delinquentem Verhalten deutlich unter der Referenzquote in der Allgemeinbevölkerung liege, und kommen zusammenfassend zu dem Schluss, dass keine Evidenz dafür gefunden werden könne, dass Menschen mit ASS im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung im Hinblick auf delinquentes Verhalten überrepräsentiert sind (Rutten et al. 2017). Zu einem weitestgehend analogen Schluss gelangt Im (2016) in einem Übersichtsartikel, in dem er die relevanten Publikationen von 1943 bis 2014 analysierte: Der Autor wies darauf hin, dass auf kasuistischer Ebene suggestive Zusammenhänge zwischen der autistischen Psychopathologie und damit in Verbindung stehenden Aggressionshandlungen illustriert werden könnten, hob aber die Bedeutung der beeinträchtigten kognitiven Empathie und Theory-ofMind-Fähigkeiten, die kommunikativen Schwierigkeiten und die damit verbundenen häufigen Missverständnisse sowie die Rolle der komorbiden psychiatrischen Störungen hervor. In Übereinstimmung mit Rutten et al. (2017) führte er die bei der zusammenfassenden Analyse von Prävalenzstudien gefundenen höheren Prävalenzraten von ASS in forensischen Populationen auf einen Selektionsbias zurück, wies gleichzeitig aber auch darauf hin, dass sich in populationsbasierten kontrollierten Studien keine höheren Prävalenzraten delinquenter Verhaltensweisen bei Menschen mit ASS fanden (Im 2016). Ausdrücklich betont der Autor die Rolle, die eine psychiatrische Komorbidität in vielen Einzelfällen bzgl. des Risikos delinquenter Verhaltensweisen bei ASS spielen könnte.
Umgekehrt gibt es auch durchaus Evidenz dafür, dass Menschen mit ASS ein erhöhtes Risiko haben, Opfer von delinquenten Verhaltensweisen Dritter zu werden, was wiederum wahrscheinlich auf die beeinträchtigte Theory-of-MindFähigkeit und die damit einhergehende schlechter Menschenkenntnis zurückzuführen ist (Weiss und Fardella 2018).
11.4. Begutachtung 11.4.1. Allgemeine Besonderheiten bei der Begutachtung autistischer Menschen Atypische Präsentation psychopathologischer Bilder bei autistischen Menschen Bei der Begutachtung autistischer Patienten muss praktisch darauf hingewiesen werden, dass es sich bei dem beobachtbaren psychopathologischen Bild i. d. R. um ein Mischbild aus der autistischen Basissymptomatik und den häufigen psychiatrischen Komorbiditäten handelt. Dies kann dazu führen, dass etwa vorhandene depressive oder psychotische Zustandsbilder in ihrer klinischen Präsentation deutlich von den klassischen, von vielen Gutachtern erwarteten Syndromen etwa im Sinne eines typischen melancholischen Syndroms im Kontext einer klassischen rezidivierenden depressiven Störung oder eines typischen paranoid-halluzinatorischen Syndroms bei einer primär idiopathischen Schizophrenie abweichen können (vgl. Tebartz van Elst 2016, 2018). Symptomvalidierung bei ASS Probleme können sich nach klinisch forensischer Erfahrung auch bei der Beurteilung der Frage von Simulation oder Aggravation ergeben. So werden etwa die Fragen des forensisch viel genutzten strukturierten Fragebogens simulierter Symptome (Cima et al. 2003) von Menschen mit Autismus häufig in einem konkretistischen Sinne falsch verstanden, die Absicht der so missverstandenen Frage wird nicht erfasst, und es werden damit anders als erwartete Antworten produziert, die aber nicht unbedingt für Simulation oder Aggravation sprechen müssen. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass dieses Instrument nicht nur für Menschen mit ASS, sondern auch für andere psychiatrische Störungsbilder, insbesondere bei alleiniger Anwendung, nicht hinreichend validiert ist (Kirchhoff und Steinert 2019). Auch kommt es etwa bei der Beurteilung affektiver oder auch psychotischer Symptome autistischer Menschen oft zu einer Konstellation, in der eine solche de facto vorhandene Symptomatik aufgrund des kaum bis gar nicht vorhandenen emotionalen Ausdruckverhaltens autistischer Menschen für Untersucher nicht als authentisch erlebt und nachvollzogen werden kann. Insbesondere bei Unkenntnis der hochfunktionalen Varianten von ASS führt dies nicht selten in der
Gegenübertragung zu einem Gefühl des Unechten, Gemachten oder intentional Produzierten, was dann ganz im Sinne der klassischen klinischen Bewertungskriterien zur Simulation und Aggravation als Evidenz für das Vorliegen entsprechender Tendenzen gedeutet wird. Klärung kann in solchen Konstellationen meist nur eine detaillierte und i. d. R. dann sehr zeitaufwendige Detailanalyse dessen herbeiführen, was die Probanden mit ihrem Symptomvortrag meinen und wie sich dieser in den ganz konkreten Lebenssituationen des Alltags ausdrückt.
11.4.2. Strafrecht Wie in ➤ Kap. 11.3 beschrieben, kann allgemein nicht davon ausgegangen werden, dass mit der Diagnose einer ASS per se ein höheres Risiko für delinquente Verhaltensweisen assoziiert ist. Dennoch zeigen die Zahlen von Rutten et al. (2017) auch, dass Menschen mit ASS eine zwar kleine, aber dennoch relevante Untergruppe forensischer Patienten darstellen, was die Bedeutung der Vertrautheit forensischer Gutachter mit dieser Symptomatik unterstreicht. Schuldfähigkeit gem. § 20, 21 StGB Im Hinblick auf die Frage nach einer Aufhebung oder Verminderung der Schuldfähigkeit gem. § 20, 21 StGB ist in diesem Zusammenhang regelhaft zunächst zu klären, ob die Diagnose einer ASS unter eines der Eingangskriterien der §§ 20, 21 StGB zu subsumieren ist. Diese Frage lässt sich allein auf der Grundlage eines ggf. vorhandenen autistischen Phänotyps nicht ohne Weiteres beantworten. Denn Autismus kann auch im Sinne eines subsyndromalen Schweregrads vorhanden sein (Tebartz van Elst et al. 2019), der in der Fachliteratur unter dem Begriff eines „broader autism phenotype“ abgehandelt wird, der am ehesten dem nosologischen Konzept einer Persönlichkeitsstruktur entspricht und damit unter keine der genannten vier Kategorien fallen würde (Lai et al. 2014; Tebartz van Elst 2018). In den meisten Fällen einer klar syndromalen ASS im primär idiopathischen Sinne wird diese aufgrund des dem Autismus zugrunde liegenden neuropsychiatrisch-neurobiologischen Erklärungsansatzes dem Eingangsmerkmal der krankhaften seelischen Störung zu subsumieren sein (Ebert und Riedel 2016). Andererseits könnten schwere sekundäre autistische Syndrome etwa im Kontext genetischer struktureller Variationen wie dem 22q-11-Syndrom oder einer tuberösen Sklerose und damit verbundenen relevanten Intelligenzminderungen am ehesten dem Eingangskriterium des „Schwachsinns“ zugeordnet werden, was in diesem Fall aber der neuropsychiatrischen Gesamtsymptomatik und nicht dem autistischen Syndrom an sich geschuldet ist. Zudem ist die Komorbidität von Autismus und Epilepsie sehr häufig, sodass sorgfältig geprüft werden muss, ob eine Straftat im Kontext eines epileptischen
Anfalls oder etwa einer postiktalen Psychose zustande kam. Von entscheidender Bedeutung ist auch, dass ein sorgfältiges Augenmerk auf die psychiatrischen Komorbiditäten gerichtet wird. Nicht selten leiden autistische Menschen an komorbiden psychotischen Störungen, wobei für die hochfunktionale Population eine Prävalenzrate von ca. 16 % angegeben wird (Hofvander et al. 2009). Die forensische Beurteilung und Bewertung solcher psychotischen Symptome gestaltet sich dann in weitestgehender Analogie zum entsprechenden Vorgehen bei den primär idiopathischen psychotischen Störungen. Inwieweit bei Feststellung eines Eingangsmerkmals der §§ 20, 21 StGB im Einzelfall auch die Unfähigkeit oder verminderte Fähigkeit, das Unrecht der delinquenten Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, abgeleitet werden kann, muss in einem zweiten Schritt dezidiert überprüft und begründet werden. Hier sind die für den Autismus typischen Defizite der sozialen Kognition, insbesondere in Form der verminderten Theory-of-Mind-Fähigkeit sicher von zentraler Bedeutung. Aber auch die häufig mit autistischen Syndromen vergesellschafteten Probleme mit der Impulskontrolle, die mit den typischen autistischen Wutattacken assoziiert sind, könnten hier aus forensischer Perspektive bedeutungsvoll werden (Tebartz van Elst 2016). Unterbringungsbedürftigkeit gem. § 63 StGB Eine weitere zentrale Frage bei der forensischen Begutachtung autistischer Patienten ist die nach einer etwaigen Unterbringungsbedürftigkeit gem. § 63 StGB. Damit wird aus Sachverständigenperspektive u. a. die Frage nach der Beurteilung der Prognose bei entsprechenden Tätern angesprochen. Im Hinblick auf die diesbezüglichen gutachtlichen Erwägungen wird auf ➤ Kap. 30 verwiesen. Bei den prognostischen Überlegungen ist auch eine angemessene und differenzierte Erfassung sämtlicher komorbider Aspekte wie etwa zum Tatzeitpunkt bestehende psychotische Zustände, Suchtprobleme oder affektive Störungen wichtig. Was die Behandelbarkeit der autistischen Kernsymptomatik anbelangt, so sind diesbezüglich lediglich zwei Antipsychotika zur Therapie von aggressiven und autoaggressiven Verhaltensstörungen zugelassen (➤ Kap. 11.2.7). Auch stehen partiell validierte Psychotherapieverfahren zur Verfügung, die aktuell teilweise im Rahmen einer DFG-geförderten Multicenter-Phase-3-Studie empirisch überprüft werden (Tebartz van Elst et al. 2019; DFG TE 280 / 18–1). Entsprechende Verfahren fokussieren meist auf ein Training sozialer Kompetenz und das Erlernen von Methoden der Affektkontrolle und stellen somit Maßnahmen dar, die Kompensationsstrategien im Hinblick auf die persönlichkeitsstrukturellen autistischen Besonderheiten verfügbar machen sollen.
11.4.3. Sozial- und Zivilrecht
In Hinblick auf sozialrechtliche Fragestellungen ist die Tatsache, dass in den letzten Jahren auch zunehmend hochfunktionale autistische Störungsdiagnosen bekannt und diagnostiziert werden, von großer Bedeutung. Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit In den letzten Jahren häufen sich hier Rechtsstreitigkeiten, die sich um die Frage nach einer aus dem Autismus resultierenden Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit ranken.
Merke In diesem Zusammenhang ist es wichtig, nosologisch zwischen einem autistischen Phänotyp im Sinne einer psychobiologischen Normvariante („border autism phenotype“), einer Persönlichkeitsstrukturierung bzw. einer klaren neuropsychiatrischen Erkrankung zu differenzieren (Tebartz van Elst 2018). Kann etwa ein überdurchschnittlich intelligenter Mensch mit qualitativ erkennbarem autistischem Phänotyp dennoch eine normale Schullaufbahn ablegen, ohne dass es in den ersten beiden Dekaden zu objektivierbaren relevanten psychosozialen oder Entwicklungskomplikationen kam, konnte er trotz seiner „autistisch eigenartigen“ Persönlichkeit über Jahre nach erfolgreicher Berufsausbildung in einem Berufsfeld zur vollen Zufriedenheit aller Beteiligten arbeiten und darüber hinaus auch noch etwa partnerschaftliche oder familiäre Beziehungen aufbauen, so sind in einer solchen Konstellation die allgemeinen Störungskriterien (insbesondere D-Kriterium, vgl. ➤ Box 11.1) nicht erfüllt, und eine Diagnose im Sinne einer ASS kann demnach nicht gestellt werden. Dennoch kommt es in solchen Konstellationen nach Erfahrung des Autors immer wieder zu teilweise heftigen interpersonellen Konflikten, insbesondere am Arbeitsplatz – nicht selten nach Chefwechsel, bei denen autistisch strukturierte Menschen in typischer und sozial apragmatischer Weise einengen und die sie auf überwertig apragmatische Art und Weise verarbeiten. Entwickelt sich in einer solchen Konstellation eine dann häufig sich atypisch präsentierende depressive Symptomatik, so kann Letztere natürlich die neurokognitive, psychomotorische und exekutive Leistungsfähigkeit des Betroffenen beeinträchtigen. Aus dem erkennbaren autistischen Phänotyp im Sinne einer Persönlichkeitsstruktur an sich ergibt sich in solchen Konstellationen natürlich keine unmittelbare Leistungsminderung, weil sie als lebenslang strukturelle Besonderheit entsprechender Menschen begriffen werden muss, und die Betroffenen mit dieser Besonderheit de facto ja zuvor ein leistungsfähiges Leben führen konnten.
Die erkennbare Persönlichkeitsstruktur kann im gutachterlichen Kontext aber dennoch von Bedeutung sein, weil sie die Dynamik der sich entfaltenden Konfliktkonstellationen und zumindest in vielen Einzelfällen auch die Besonderheiten und Atypizitäten der sich entwickelnden depressiven Syndromatik teilweise mit erklären können.
Merke Eine Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit kann aber in solchen Konstellationen letztendlich nur aus der komorbiden Störung und nicht aus der autistischen Basisstruktur abgeleitet werden. Bei mindestens mittelschwerer depressiver Symptomatik kann in solchen Konstellationen zunächst einmal eine Arbeitsunfähigkeit resultieren, die aber nicht mit den sozialrechtlichen Begriffen der Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit verwechselt werden darf. Diese können allenfalls bei Chronifizierung der depressiven Symptomatik erwogen werden. Um eine solche Chronifizierung festzustellen, sollten aber aus gutachterlicher Perspektive auch sämtliche therapeutischen Möglichkeiten der Behandlung komorbider affektiver Störung ausgeschöpft worden sein, bevor dann tatsächlich hier von einer dann aus der komorbiden affektiven Störung resultierenden längerfristigen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit ausgegangen werden könnte. GdB-Einschätzung Ein weiteres sozialmedizinisches Rechtsfeld ist das der Einschätzung des aus einer ASS resultierenden Grades der Behinderung (GdB). Dafür ist die in ➤ Kap. 11.2.6 beschriebene Einschätzung des Schweregrads autistischer Störungen von entscheidender Bedeutung. Damit ist in diesen Konstellationen aus gutachterlicher Perspektive insbesondere herauszuarbeiten, wie sich der Schweregrad der autistischen Symptomatik im Längsschnitt entwickelt hat und sich in der Lebenswirklichkeit betroffener Menschen zeigt. Dazu wurden in der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales in der GdS / GdB-Tabelle für die tiefgreifenden Entwicklungsstörungen und hier insbesondere für die ASS operationalisierte Kriterien entwickelt, an denen sich der Gutachter orientieren kann. Danach sind die in ➤ Tab. 11.2 aufgeführten Unterscheidungen zu treffen.
Tab. 11.2
Schweregrade einer Autismus-Spektrum-Störung
Autismus-Spektrum-Störung
GdB
Ohne soziale Anpassungsschwierigkeiten
10–20
Mit leichten sozialen Anpassungsschwierigkeiten
30–40
Mit mittleren sozialen Anpassungsschwierigkeiten
50–70
Mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten
80–100
In Hinblick auf die Operationalisierung des Schweregrades der sozialen Anpassungsschwierigkeiten wird dabei in der VersMedV 2019 Folgendes festgehalten: „Soziale Anpassungsschwierigkeiten liegen insbesondere vor, wenn die Integrationsfähigkeit in Lebensbereiche (wie z. B. Regelkindergarten, Regelschule, allgemeiner Arbeitsmarkt, öffentliches Leben, häusliches Leben) nicht ohne besondere Förderung oder Unterstützung (z. B. durch Eingliederungshilfe) gegeben ist oder wenn die Betroffenen einer über das dem jeweiligen Alter entsprechenden Maß hinausgehenden Beaufsichtigung bedürfen. Mittlere soziale Anpassungsschwierigkeiten liegen insbesondere vor, wenn die Integration in Lebensbereiche nicht ohne umfassende Unterstützung (z. B. einen Integrationshelfer als Eingliederungshilfe) möglich ist. Schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten liegen insbesondere vor, wenn die Integration in Lebensbereiche auch mit umfassender Unterstützung nicht möglich ist.“
Literatur Asperger H (1994). Die autistischen Psychopathien im Kindesalter. Habilitationsschrift, eingereicht bei der Medizinischen Fakultät der Wiener Universität 1943; zit. nach: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 117: 76–136. APA – American Psychiatric Association (2015). Diagnostisches und Statisches Manual Psychischer Störungen DSM-5®. Deutsche Ausgabe hrsg. v. Peter Falkai und Hans Ulrich Wittchen. Göttingen: Hogrefe. AWMF (2016). Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter, Teil 1: Diagnostik; Stand: 23.2.2016; www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/028-018l_S3_Autismus-SpektrumStoerungen_ASS-Diagnostik_2016-05.pdf (letzter Zugriff: 14.11.2019). Allely CS, Wilson P, Minnis H, Thompson L, Yaksic E, Gillberg C (2017). Violence is rare in autism: when it does occur, is it sometimes extreme? J Psychol 151: 49–68. Anckarsäter H, Nilsson T, Saury J-M, Råstam M, Gillberg C (2008). Autism spectrum disorder in institutionalized subjects. Nord J Psychiatry 62: 160–167. Baron-Cohen S (1998). An assessment of violence in young men with Asperger syndrome. J Child Psychol Psychiatry 29: 351–360. Bölte S (Hrsg.) (2009). Autismus Spektrum, Ursache, Diagnostik, Intervention, Perspektiven. Bern: Huber. Brugha TS, McManus S, Bankart J, Scott F, Purdon S, Smith J, Bebbington P, Jenkins R, Meltzer H (2011). Epidemiology of autism spectrum disorder in adults in the community in England. Arch Gen Psychiatry
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KAPITEL 12
Hyperkinetisches Syndrom (HKS) oder Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Erwachsenenalter Wolfgang Retz und Michael Rösler
12.1 Einleitung 12.2 Epidemiologie und Klinik 12.3 Diagnostische Leitlinien nach ICD-10 und DSM-5 12.4 Forensische Aspekte und Beurteilung 12.4.1 ADHS als forensischer Risikofaktor 12.4.2 Schuldfähigkeit 12.4.3 Maßregeln gem. §§ 63 / 64 StGB 12.4.4 Behandlung von Straftätern mit ADHS
12.1. Einleitung Dem HKS (F90 der ICD-10; Dilling et al. 1991), das nach der DSM-5Klassifikation auch ADHS genannt wird (APA 2013), wird in der
jüngeren Vergangenheit nicht nur in der Allgemeinpsychiatrie vermehrt Beachtung geschenkt, sondern es hat auch für die forensisch-psychiatrische Praxis an Bedeutung gewonnen. Grund hierfür sind die vor allem in Langzeituntersuchungen von Kindern mit ADHS gewonnenen Erkenntnisse über die aus der Störung erwachsenden Beeinträchtigungen der sozialen Entwicklung. Des Weiteren hat sich gezeigt, dass ADHS einen Risikofaktor für weitere psychische Störungen darstellt, die ihrerseits in dem hier interessierenden Kontext von Relevanz sind.
12.2. Epidemiologie und Klinik Beim HKS (F90 der ICD-10) handelt es sich um ein chronisches Leiden mit Beginn im Vorschulalter. Die weltweite Prävalenz für bis zu 18-jährige Personen wurde mit 5,29 % bestimmt (Polanczyk et al. 2007). Entgegen früheren Erwartungen bildet sich das Störungsmuster bei einem beachtlichen Teil der Betroffenen nicht zurück, sondern persistiert im Erwachsenenalter. Die transnationale Prävalenz im Erwachsenenalter wird mit 3,4 % angegeben (Fayyad et al. 2007); für Deutschland wurde eine Prävalenz für ADHS bis zum 64. Lebensjahr mit 4,7 % ermittelt (de Zwaan et al. 2011). Es handelt sich um eine Entwicklungsstörung mit starker genetischer Verankerung (Faraone et al. 2005). Die Konkordanzraten in formalgenetischen Untersuchungen mit eineiigen Zwillingen liegen zwischen 0,7 und 0,9. In molekulargenetischen Assoziationsstudien und Genomuntersuchungen wurden verschiedene Gene des dopaminergen und serotonergen Neurotransmittersystems als genetische Risikofaktoren für die Entwicklung einer ADHS und auch Interaktionen zwischen Genen und Umweltfaktoren im Sinne epigenetischer Effekte identifiziert (Palladino et al. 2019). Bei Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren haben sich strukturelle und funktionelle zerebrale Veränderungen finden lassen (Cortese und Castellanos 2012). Diese Befunde werden durch neuropsychologische Untersuchungen ergänzt, die bei Erwachsenen mit ADHS Störungen der exekutiven Funktionen vor allem im
Bereich des Arbeitsgedächtnisses ergeben haben (Gallagher und Blader 2001). Die klinischen Hauptsymptome sind in allen Lebensaltern Störungen der Aufmerksamkeit, motorische Überaktivität und Impulsivität. Die Symptomatik hat indessen in verschiedenen Lebensaltern unterschiedliche Gestalt. Die bei Kindern oft ausgeprägte motorische Überaktivität nimmt ab, die Betroffenen schildern aber eine fortbestehende innere Unruhe und Getriebenheit. Erwachsene mit ADHS versuchen Situationen zu entgehen, in denen es zur Symptomprovokation kommen kann. Abgesehen von den drei zentralen Phänomenen Unaufmerksamkeit, Überaktivität und Impulsivität kommen bei Erwachsenen mit ADHS noch Desorganisation, Störungen der Affektkontrolle, emotionale Hyperreagibilität und spezielle Temperamentseigenschaften als typische Psychopathologie hinzu (Wender et al. 2001; Retz et al. 2012). Bei ADHS im Erwachsenenalter ergibt sich das Problem, dass noch häufiger als bei Kindern und Jugendlichen weitere Störungen auftreten können (Biederman 2004). Eine Übersicht über die wichtigsten komorbiden psychischen Störungen gibt ➤ Tab. 12.1. Im gegebenen Kontext muss auch auf Krankheiten verwiesen werden, die als ausschließende Erkrankungen oder Differenzialdiagnosen betrachtet werden müssen, weil sie u. U. die ADHS-verdächtige Symptomatik besser erklären können (z. B. Manie, Hypo- oder Hyperthyreose).
Tab. 12.1 Die häufigsten komorbiden Leiden bei Personen mit ADHS in verschiedenen Lebensaltern Persönlichkeitsstörungen (PS): • Antisoziale PS • Emotional instabile PS • Selbstunsichere PS
bis ca. 35 % (Einzeldiagnose) Mehrfachdiagnosen sind häufig
• Zwanghafte PS Alkohol- und Drogenabhängigkeit
bis 60 %
Depressive/bipolare Störungen
bis 40 % Unsicherheit bei bipolaren Störungen wg. methodischer Probleme und Überlappung der Diagnosekriterien
Angststörungen
ca. 20 %
Restless-LegsSyndrom
Schätzung ca. 5 %
Essstörungen (Frauen)
ca. 4 %
Verschiedene somatische (internistische) Erkrankungen
bis 50 % (Bewegungsapparat) bis 40 % (gastrointestinale Störungen) ca. 30 % (metabolische Störungen, Respiration)
12.3. Diagnostische Leitlinien nach ICD-10 und DSM-5 Zwischen den beiden wichtigsten Klassifikationsinstrumenten ICD10 und DSM-5 sind erhebliche Unterschiede in der Einordnung der ADHS erkennbar, die sich praktisch (z. B. bei der Einschätzung von epidemiologischen Prävalenzdaten) auswirken können. Auch die Terminologie ist unterschiedlich. Die ICD-10 orientiert sich am traditionellen Begriff des HKS. Das DSM bevorzugt seit 1980 die Bezeichnung Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung. Die ICD-10 unterscheidet drei Formen: • Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (HKS) (F90.0) • Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (HKS + ) (F90.1): • Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität (F98.8) Bei der hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens liegt eine Kombination der Merkmale einer einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung mit den Symptomen einer Störung des Sozialverhaltens (F91) vor. Bei F98.8 handelt es sich um eine nicht spezifisch definierte Sammeldiagnose, in die neben der Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität verschiedene andere Verhaltensstörungen im Kindes- und Jugendalter wie Nägelkauen oder Daumenlutschen eingruppiert werden. Diese Diagnose wird im Erwachsenenalter praktisch nicht gestellt. Die Diagnostik nach DSM-5 kennt folgende Störungsformen: • ADHS kombiniertes Bild (314.01) • ADHS mit vorwiegender Unaufmerksamkeit (314.00) • ADHS mit vorwiegender Hyperaktivität und Impulsivität (314.01) • ADHS in partieller Remission
Die kombinierte Form der ADHS nach DSM-5 ist nahezu identisch mit der einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung nach ICD-10. Unterschiedlich sind die Differenzierungen der Erscheinungsbilder mit Unaufmerksamkeit bzw. mit Hyperaktivität / Impulsivität nach DSM-5, die es in der ICD-10 nicht gibt. Umgekehrt ist die Kombination der ADHS mit den Störungen des Sozialverhaltens (F91) gemäß der F90.1-Diagnose nach ICD-10 im DSM-5-System nicht verfügbar. Die DSM-5-Klassifikation erlaubt im Gegensatz zur ICD-10 eine Einordnung derjenigen Personen, die früher einmal die diagnostische Schwelle einer ADHS erreicht hatten und im weiteren Verlauf einen Rückgang der Psychopathologie erlebten. Bei diesen Betroffenen ist das klinische Vollbild nicht mehr erkennbar; deswegen spricht man von „ADHS in partieller Remission“. Die diagnostischen Vorgaben der ICD-10 sind durch glossarielle Beschreibungen niedergelegt, operationale Kriterien sind weder für F90.0 noch für F90.1 angegeben. Im Interesse der Sicherheit der Diagnostik empfiehlt es sich daher, auf den Kriteriensatz der ICD10-Forschungskriterien zurückzugreifen. Es handelt sich dabei um 18 Merkmale, die für die Diagnose „einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0)“ benötigt werden. Dieses Vorgehen hat den zusätzlichen Vorzug einer kompletten Übereinstimmung der Diagnosemerkmale mit denjenigen des DSM-5 (➤ Tab. 12.2).
Tab. 12.2 Psychopathologische Merkmale für die Diagnose der einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0) bzw. der kombinierten ADHS (314.01) Unaufmerksamkeit
1. Sorgfaltsfehler treten auf 2. Zeigt Konzentrationsschwäche 3. Kann nicht richtig zuhören 4. Führt Arbeiten nicht nach Vorgabe aus 5. Hat Organisationsschwächen 6. Vermeidet geistige Anstrengungen 7. Verliert Gegenstände 8. Ist leicht ablenkbar 9. Ist bei Alltagstätigkeiten vergesslich
Hyperaktivität
1. Ist zappelig 2. Kann nicht sitzen bleiben 3. Hat innere Unruhe 4. Kann nicht leise sein 5. Ist immer in Bewegung
Impulsivität
1. Platzt mit Antworten heraus 2. Ist ungeduldig 3. Kann nicht in der Reihe warten 4. Unterbricht andere 5. Redet übermäßig viel
Zusätzlich ist ein Zeitkriterium zu berücksichtigen: Die Störung muss gemäß DSM-5 spätestens im 12. Lebensjahr erkennbar sein; die ICD-10 fordert eine Manifestation vor dem 7. Lebensjahr. Zur Diagnose gehören ferner störungsbedingte Behinderungen und Einschränkungen der Lebensqualität sowie eine psychopathologische Symptomatik, die sich in mindestens zwei Lebensbereichen offenbart. Zur Diagnose einer einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung nach ICD-10 werden 6 von 9 Merkmalen der Aufmerksamkeitsstörungen, 3 von 5 Merkmalen der Hyperaktivität und 1 von 4 Merkmalen der Impulsivität benötigt. Beim DSM-5
konstituiert sich die korrespondierende Diagnose kombinierte ADHS (314.01) aus 5 von 9 Merkmalen der Aufmerksamkeitsstörungen und 5 von 9 Merkmalen der Hyperaktivität / Impulsivität. Für die Diagnose der hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens (F90.1) werden zusätzlich die operationalen Kriterien der ICD-10Forschungskriterien für die Kategorie F91 benötigt. Insgesamt kann für die leitliniengemäße Diagnostik bei Erwachsenen ein mehrstufiges Vorgehen im Erwachsenenalter empfohlen werden (AWMF 2018): • Retrospektive Erfassung kindlicher ADHS-Symptome • Überprüfung der Diagnosekriterien nach ICD-10Forschungskriterien oder DSM-5 • Beurteilung psychopathologischer Merkmale für Erwachsene • Erfassung der Komorbidität Die Diagnostik kann durch standardisierte Untersuchungsinstrumente erleichtert und systematisiert werden. Zur retrospektiven Erfassung kindlicher Symptome eignet sich die in deutscher Validierung vorliegende Wender Utah Rating Scale (WURSk; Retz-Junginger et al. 2002, 2003). Die ICD-10-Forschungs- und die DSM-5 Kriterien können mit verschiedenen Selbst- und Fremdbeurteilungsskalen erfasst und mit standardisierten Interviews überprüft werden (Rösler et al. 2004a, 2006; Retz et al. 2013a).
ICD-11 Mit Einführung der ICD-11 wird es in Bezug auf die ADHS zu einer weitgehenden Angleichung zwischen ICD und DSM kommen. • Die Erkrankung wird nicht mehr unter den Verhaltens- und emotionalen Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend, sondern unter den Entwicklungsstörungen geführt.
• Die ICD-11 wird auch den Begriff des HKS zugunsten der Bezeichnung ADHS aufgeben und die gleichen Unterformen wie das DSM aufnehmen. • Für die Diagnose wird zukünftig die Manifestation der Symptomatik wie im DSM-5 erst bis zum mittleren Kindesalter gefordert.
12.4. Forensische Aspekte und Beurteilung 12.4.1. ADHS als forensischer Risikofaktor Verlaufsuntersuchungen von Kindern mit ADHS ins Jugendlichenund Erwachsenenalter sowie verschiedene epidemiologische Projekte haben gezeigt, dass mit der ADHS eine Reihe von Einschränkungen einhergehen kann, die für den Prozess der sozialen Adaptation von erheblicher Bedeutung sein können. Die Milwaukee Young Adult Outcome Study hat gezeigt, dass Personen mit ADHS gemessen am Begabungsniveau weniger qualitativ hochwertige Schulund Berufsabschlüsse erreichen als Kontrollpersonen. Sie werden häufiger vom Unterricht suspendiert oder vom Schulbesuch ausgeschlossen; sie werden häufiger am Arbeitsplatz gekündigt und haben, bezogen auf ein definiertes Zeitintervall, deutlich mehr Beschäftigungsverhältnisse (Barkley et al. 2006). Die familiären und ehelichen Beziehungen sind vielfach fragil. Die Betroffenen haben ein höheres Risiko für alle Arten von Unfällen in Schule, Beruf, Freizeit und Straßenverkehr, vor allem für solche, bei denen erhebliche Verletzungen entstehen (KittelSchneider et al. 2019). Besonders eklatant sind die erhöhte Gefährdung durch Verkehrsunfälle mit ernsten Verletzungsfolgen und die generelle Neigung, gegen Straßenverkehrsregeln zu
verstoßen (Chang et al. 2014). Bei Personen mit ADHS trifft man auch auf eine insgesamt erhöhte Mortalität (Dalsgaard et al. 2015). Die Metaanalyse von Verlaufsdaten mehrerer Langzeitstudien hat überdies gezeigt, dass Kinder mit ADHS im Vergleich mit Kindern ohne ADHS ein signifikant erhöhtes Risiko aufweisen, im Verlauf ihres Lebens wegen einer Straftat verurteilt und inhaftiert zu werden (Mohr-Jensen und Steinhausen 2016). Prävalenz in forensischen Populationen Die Prävalenz für ADHS ist in Straftäterpopulationen erhöht. Nach einer Metaanalyse von 42 weltweit durchgeführten Untersuchungen durch Young et al. (2015) liegt die ADHS-Prävalenz in forensischen und strafrechtlichen Populationen bei 25,5 % und damit deutlich über der Prävalenz von 2–4 % in der Allgemeinbevölkerung. Die ADHS-Prävalenz bei inhaftierten erwachsenen Frauen lag zwar niedriger als bei den inhaftierten Männern, unterschied sich aber von dieser nicht signifikant. Auch in einer in einer deutschen Haftanstalt für Frauen durchgeführten Untersuchung war die ADHS-Prävalenz mit ca. 10 % erheblich höher, als nach den epidemiologischen Referenzwerten zu erwarten war, andererseits aber sichtlich geringer als bei männlichen jugendlichen und heranwachsenden Straftätern (Rösler et al. 2009). Eine Studie in einer deutschen Jugendstrafanstalt ergab bei jungen Männern eine Prävalenz für ADHS von 45 % auf der Basis der DSMIV-Kriterien (Rösler et al. 2004b). Zu bedenken ist dabei, dass bei diesem Personenkreis fast ausnahmslos eine Kombination von ADHS und Conduct Disorder (CD) vorlag. Diese spezielle diagnostische Konstellation wird in der ICD-10 als hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (F90.1) bezeichnet. Die diagnostischen Kriterien der CD stellen fast ausschließlich auf illegale Verhaltensstile ab (➤ Box 12.1).
Box 12.1 Diagnostische Kriterien der Conduct Disorder nach DSM-5 (312.8)
• Aggressionen gegen Menschen und Tiere: 1. Drangsaliert andere 2. Beginnt Prügeleien 3. Benutzt Waffen (Messer, Schusswaffe etc.) 4. Hat andere physisch gequält 5. Hat Tiere gequält 6. Handtaschenraub, bewaffneter Raubüberfall etc. 7. Hat andere zu sexuellen Handlungen gezwungen • Destruktiv gegen Eigentum: 1. Hat vorsätzliche Brandstiftung begangen 2. Hat vorsätzlich das Eigentum anderer beschädigt • Stehlen und Täuschen: 1. Einbruchsdiebstähle (Haus, Auto etc.) 2. Lügen 3. Kaufhausdiebstahl etc. • Schwere Regelverletzungen: 1. Bleibt über Nacht außer Haus (vor 13. Lebensjahr) 2. Läuft von zu Hause weg 3. Schwänzt die Schule • Funktionelle Einschränkungen durch die Symptomatik • Keine antisoziale Persönlichkeitsstörung (APS) bei Personen ab dem 18. Lebensjahr
Es mehren sich die Hinweise, dass die Prävalenz für ADHS bei Straftätern mit dem Alter merklich abnimmt. Bei 595 fortlaufend untersuchten männlichen Straftätern ließ sich in der Altersgruppe bis 25 Jahre eine ADHS-Prävalenz von 23 %, in der Gruppe der 26bis 50-Jährigen jedoch nur noch eine Prävalenz von 9 % ermitteln, und in den Gruppen der 51- bis 75-Jährigen und der über 75Jährigen lag die ADHS-Prävalenz bei 5 %.
Merke
Diese Befundlage berechtigt zur Formulierung der Hypothese, dass ADHS ein forensischer Risikofaktor sein könnte, der sich in erster Linie in der 2. und 3. Lebensdekade auswirkt. Vergleicht man Straftäter mit und ohne ADHS hinsichtlich ihres Lebensalters bei der ersten Verurteilung, stößt man sowohl bei den weiblichen als auch bei den männlichen Tätern mit ADHS auf einen signifikant früheren Eintritt in die Delinquenz (Rösler et al. 2004b, 2009). Ähnliche Ergebnisse wurden bereits von Moffitt (1990, 2003) und Ziegler et al. (2003) beschrieben und konnten auch metaanalytisch gesichert werden (Mohr-Jensen und Steinhausen 2016). Außerdem hat sich gezeigt, dass Straftäter mit ADHS viel häufiger Rezidivtäter sind als solche ohne ADHS (Ziegler et al. 2003; Rösler et al. 2004b). In einer Studie mit Sexualstraftätern fanden Blocher et al. (2001) für Personen mit ADHS eine Odds-Ratio (OR) von 4,8 (95 %-CI: 1,5–15,3) als Ausdruck des deutlich erhöhten Risikos, Rezidivtäter zu sein. Darüber hinaus findet sich bei jungen Straftätern mit ADHS auch ein verkürztes Zeitintervall bis zur neuerlichen Begehung einer Straftat bzw. bis zu einer erneuten Inhaftierung (Philipp-Wiegmann et al. 2018). Die Prävalenz für ADHS ist in verschiedenen Deliktgruppen ungleich verteilt: • Keine signifikanten Unterschiede im Vergleich zu Kontrollen findet man bei Betrugsdelikten. • Leicht erhöht ist die Prävalenz für ADHS bei Diebstahlsdelikten. • Vergleichsweise hohe ADHS-Prävalenzen werden bei Sexualstraftätern (ca. 30 %) gefunden. Allerdings gibt es bisher keine Anhaltspunkte dafür, dass innerhalb der drei großen Täterpopulationen Pädophile, Gewalttäter und Exhibitionisten wesentliche Häufigkeitsunterschiede
vorhanden sein könnten (Ziegler et al. 2003; Blocher et al. 2001; Kafka 2012). Bei Personen, die Gewaltstraftaten entsprechend den verschiedenen Kodifizierungen des Strafrechts verübt haben, ist die Prävalenz für ADHS generell leicht erhöht. Allerdings findet man keine signifikanten Unterschiede zwischen Tötungsdelikten, Körperverletzungen, Raub etc. Löst man sich von der klassischen, durch das Kriminalrecht vorgegebenen Einteilung und vergleicht entsprechend einer entwicklungspsychologischen Konzeption (Bennet et al. 2004) stattdessen proaktive Gewalttaten, die geplant, mit definiertem Ziel aus einer klaren Motivlage heraus verübt wurden, mit reaktiven Gewalttaten, die als Folge einer Provokation, eines Konflikts oder aus affektiver Erregung hervorgegangen sind, dann findet sich ADHS signifikant häufiger bei reaktiver Gewalttätigkeit (OR: 2,7; 95 %-CI: 1,5–107,9; Retz und Rösler 2010). Dies ist ein plausibler Befund, denn einerseits agieren ADHSBetroffene selten systematisch und planvoll, andererseits erliegen sie in spannungsvollen Situationen häufig dem Aufforderungscharakter der jeweiligen Ereignisse und handeln impulsiv aggressiv. Dem entspricht, dass die Prävalenz für ADHS bei proaktiven Gewalttaten nicht erhöht, sondern eher niedrig erscheint. Bei Kindern mit CD hat sich ADHS ebenfalls als ein Moderator für reaktives, jedoch nicht für proaktives aggressives Verhalten erwiesen (Waschbusch und Wiloughby 2007). Conduct Disorder und antisoziale Persönlichkeitsstörung Es ist bereits darauf aufmerksam gemacht worden (➤ Tab. 12.1), dass es sich bei der ADHS um eine Störung handelt, die durch ihre Komorbidität gekennzeichnet ist, wobei mehrere komorbide Störungen keine Ausnahme darstellen. Aus dem Blickwinkel der forensischen Psychiatrie ist auf die hohe Komorbidität mit Suchterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen hinzuweisen. In dem hier gegebenen Kontext ist vor allem das gemeinsame Auftreten der ADHS mit der antisozialen Persönlichkeitsstörung zu beleuchten. Eingeschlossen ist dabei auch die Conduct Disorder, weil die Diagnose
einer ASP im Erwachsenenalter nach DSM-5 nur gestellt werden kann, wenn als Vorläufersymptomatik in der Jugend eine CD vorhanden war. Dies gilt unabhängig von der Frage, ob die ASP mit oder ohne ADHS vorliegt. Derartige diagnostische Festlegungen implizieren, dass bei einer Konstellation ADHS mit ASP zuvor während der Entwicklungsjahre immer eine Kombination ADHS mit CD vorgelegen haben muss. Tatsächlich entspricht dies auch den Erfahrungen, die wir in unserer Studie mit inhaftierten männlichen Jugendlichen gemacht haben (Rösler et al. 2004b). ADHS tritt hier nicht „pur“, sondern fast immer in der Kombination mit CD auf. Damit befindet man sich in einer Kontroverse, die sich auf die Frage bezieht, ob die Kriminovalenz von ADHS mit CD auf ADHS, CD oder beide Störungen zurückgeht. Eine deutliche Studienmehrheit fand, dass kriminelles oder antisoziales Verhalten im Erwachsenenalter durch die komorbide CD des Kindes- und Jugendalters vorhergesagt werden kann, aber nicht durch ADHS (Lahey et al. 2005; Satterfield und Shell 1982; Satterfield et al. 1997, 2007). Davon abweichend wurde in Studien von Babinski et al. (1999) und Lay et al. (2001) beschrieben, dass auch der psychopathologische Komplex Hyperaktivität und Impulsivität neben der CD zu kriminellen Verhaltensstilen und ASP beitragen kann. Im direkten Vergleich zwischen Personen mit ADHS plus CD und Personen mit CD ohne ADHS wurden in Übereinstimmung mit unseren eigenen Ergebnissen bei den Patienten mit ADHS plus CD ein früherer Kriminalitätsbeginn und ein hartnäckigerer Verlauf der antisozialen, kriminellen Verhaltensweisen gefunden (Moffitt 1990, 2003; Loeber et al. 1995).
Merke Hieraus lässt sich folgern, dass ADHS bei Jugendlichen mit CD einen modulierenden Effekt auf den Kriminalitätsverlauf hat. Nach den vorliegenden epidemiologischen Studien wird heute davon ausgegangen, dass maximal 50 % der Kinder mit ADHS
später eine CD entwickeln (Barkley et al. 2004). Von den Personen, die an einer Kombination von ADHS und CD leiden, entwickeln im Erwachsenenalter wiederum ca. 50 % das Bild einer ADHS mit ASP (Weiss et al. 1985; Manuzza et al. 1993, 1998; Klein et al. 2012). In einer Studie des deutschen Kompetenznetzwerks für ADHS bei Erwachsenen (KOMPAS) wurde eine Prävalenz für die Kombination ADHS mit ASP von 37 % gefunden. Bei einer ADHS-Prävalenz in der Bevölkerung von 3,4 % (Fayyad et al. 2007) und einer geschätzten ASP-Prävalenz in der Bevölkerung von 0,5 % (Moran 1999) beträgt die erwartete statistische Prävalenz für die Kombination ADHS mit ASP gerade 1,7 ‰ . Demnach taucht das Störungsmuster aus ADHS und Antisozialität in forensischen wie allgemeinpsychiatrischen Populationen um ein Vielfaches häufiger auf, als es den Erwartungswerten entspricht. Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass das komorbide Auftreten einer ASP und von Delinquenz im Erwachsenenalter bei Kindern mit ADHS am besten durch eine komorbide CD vorhergesagt werden kann. Wenn man danach fragt, welche Schlussfolgerungen aus diesem Befund zu ziehen sind, empfiehlt sich eine nähere Betrachtung des Störungsbildes CD (➤ Box 12.1). Bei der CD werden fast ausschließlich sozial unerwünschte Verhaltensweisen als diagnostische Merkmale benannt, die im Strafgesetzbuch als Vergehen und Verbrechen aufgelistet sind. 11 von 15 diagnostischen Kriterien folgen dieser Regel, bei den verbleibenden 4 Symptomen handelt es sich um schwere Regelverstöße anderer Art. Der psychopathologische Gehalt der CD kann insofern vernachlässigt werden. Die Definition der ASP (DSM5: 301.7) folgt einem ähnlichen Konzept: 4 der 7 Diagnosekriterien stellen ganz oder teilweise auf strafrechtlich relevante Normverletzungen ab. Da lediglich 3 von 7 Kriterien zur ASPDiagnose vorhanden sein müssen, ist bei Personen, die regelmäßig und polytrop gegen kriminalrechtliche Bestimmungen verstoßen, die Diagnose ASP nahezu zwangsläufig. Hinsichtlich der oben aufgeworfenen Frage der Beziehung von ADHS zu einer späteren ASP oder Kriminalität ist man durch die gängige Formel, dass eine komorbide CD der ausschlaggebende Faktor ist, verleitet
anzunehmen, dass es zwischen ADHS und ASP noch ein weiteres unabhängiges Störungsmuster (nämlich die CD) gibt, das letztlich die Beziehung steuert. Diese Annahme ist aber nicht berechtigt, denn CD beinhaltet nichts anderes als regelverletzendes Verhalten in der Kindheit und Jugend. Auch der Gehalt der Diagnose ASP besteht im Kern aus kriminellen Verhaltensstilen. Damit stößt man zu der Regel vor, dass antisoziales und kriminelles Verhalten bei Erwachsenen mit ADHS durch ein ebensolches Verhalten bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS vorhergesagt werden kann. Die gefundene Beziehung sagt aber nichts darüber aus, warum CD und ASP bei Personen mit ADHS sehr viel häufiger vorkommen, als dies statistischen Erwartungswerten zufolge der Fall sein dürfte. ADHS und Psychopathie In diesem Kontext ist es sinnvoll, die Frage zu diskutieren, ob es Interaktionen der ADHS-Psychopathologie mit speziellen Formen antisozialen Verhaltens gibt. Eine aus forensischer Sicht besonders gut charakterisierte APS-Kerngruppe sind Personen mit Psychopathie sensu Hare (1996). Es handelt sich dabei um eine Konzeption, die bis zur „moral insanity“ von Prichard im 19. Jahrhundert zurückverfolgt werden kann. In der deutschsprachigen Psychiatrie wurde von Luthe (1971) mit der infantil-egozentrischen Psychopathie ein ähnliches Konstrukt entwickelt. Die Psychopathologie dieser Störung lässt zwei grundsätzliche Aspekte erkennen. Dabei handelt es sich einerseits um eine Störung des Gemüts mit Gemütsarmut, Oberflächlichkeit und Zurückweisung von Verantwortung, andererseits um einen sozial devianten Lebensstil mit schlechter Verhaltenssteuerung. Bei männlichen Straftätern wurde wiederholt eine positive Korrelation zwischen ADHS-Symptomscores und Psychopathiemerkmalen gemäß PCL berichtet (Eisenbarth et al. 2008; Retz et al. 2013b). Diese bezieht sich jedoch vor allem auf den Merkmalsbereich des Psychopathie-Konzepts, der einen dissozialen Lebensstil beschreibt, und nicht auf den Merkmalsbereich, der die egozentrisch-aggressiven
Persönlichkeitseigenschaften betrifft. Zudem ließen sich in der faktorenanalytischen Untersuchung psychopathischer Wesensmerkmale und ADHS-Symptomen bei Straftätern keine ins Gewicht fallende psychopathologische Überschneidung finden (Retz et al. 2013b). Es darf angenommen werden, dass die im Rahmen der ADHS auftretende ASP eine eigene Subpopulation innerhalb der Gesamtheit von APS darstellt. Dabei deutet sich an, dass ein wichtiger Unterschied zwischen Psychopathie und ADHS mit ASP in unterschiedlichen Verläufen bestehen könnte. Mit dem Begriff der Psychopathie ist i. d. R. eine hartnäckige, therapieresistente Konstellation gekennzeichnet. Für ADHS mit ASP ergibt sich aus den Prävalenzwerten unterschiedlicher Altersgruppen eine deutliche Reduktion der Häufigkeiten nach der 3. Lebensdekade. Insofern scheinen die prognostischen Aussichten dieser Gruppe günstiger als bei alleiniger Psychopathie zu sein.
12.4.2. Schuldfähigkeit Die ADHS ist eine psychische Erkrankung, die, wie oben erwähnt, im Vergleich zu anderen psychischen Störungen eine besonders ausgeprägte genetische Komponente aufweist. Sowohl strukturelle als auch funktionelle zerebrale Auffälligkeiten gelten als sicher (Schneider et al. 2006). Biochemische und neurophysiologische Auffälligkeiten kommen neben anderen somatischen Befunden hinzu (Fallgatter et al. 2005; Schneider et al. 2007; Schubert et al. 2014). Diese Situation legt es nahe, die ADHS als krankhafte seelische Störung einzuordnen. Dies ist allerdings nur in den Fällen legitim, die eine erhebliche Ausprägung erkennen lassen und mit deutlichen alltagsrelevanten Einschränkungen und ausgeprägtem subjektivem Leiden einhergehen. Unter Berücksichtigung der psychopathologischen Syndromlehre (Witter 1987) muss gerade bei der ADHS im Gegensatz zu anderen Erkrankungen (z. B. Demenz) mit einer breiten Variation bzgl. der Qualität und Quantität der Krankheitsmuster gerechnet werden. Es gibt einen beträchtlichen Anteil an Betroffenen im Erwachsenenalter, die mit ihren Störungen zurechtkommen, was man daran erkennen
kann, dass ca. 50 % derjenigen, die typische psychopathologische Symptome haben, dennoch grosso modo mit ihrem Leben zufrieden sind. Bei Personen mit leichten Formen der ADHS kommt eine Zuordnung zum rechtlichen Begriff der krankhaften seelischen Störung nicht in Betracht. Die Schnittlinie, welche die leichten Fälle von den erheblichen Leiden trennen kann, stimmt in etwa mit der Feststellung einer Behandlungsnotwendigkeit überein: In klinischen ADHS-Populationen besteht bei ca. 30–40 % der diagnostizierten ADHS-Fälle die Indikation für eine Behandlung. Fragt man nach den Folgen des Leidens auf der Ebene der Unrechtseinsichtsfähigkeit oder des Steuerungsvermögens, dann stößt man trotz des Umstands, dass ADHS mit kognitiven Einschränkungen verbunden ist, eigentlich nie auf eine Konstellation, in der die Unrechtseinsichtsfähigkeit ernsthaft bezweifelt werden könnte. Vielmehr ist ADHS eine Störung, die in geradezu exemplarischer Weise auf das Steuerungsvermögen hinweist. Im allgemeinen Sinn ist damit eine Störung der Fähigkeit gemeint, verschiedene, u. U. einander entgegenstehende Vorstellungen abzuwägen, über Konsequenzen eines bestimmten Handelns nachzudenken, dessen Folgen in die Überlegungen einzubeziehen, bestimmte Handlungsanreize zu kontrollieren und eine Problemlage mit Distanz zu betrachten, um danach ein Handeln zu generieren, das als vernünftig gelten kann. Dabei wird vernünftiges Handeln als Ergebnis eines sinnvollen Gebrauchs vorhandener Steuerungsmöglichkeiten angesehen. Personen mit ADHS tendieren aus Gründen ihrer Psychopathologie zu Mängeln, das Leben systematisch zu organisieren. Sie verlieren besonders in Belastungssituationen schnell den Überblick und geraten im Konfliktfall leicht in Erregung, mit der Gefahr, sich von affektiven Anmutungen mitreißen zu lassen. Dadurch geschehen bisweilen Dinge, die unvernünftig sind. Ein Beispiel für derartige Unvernunft ist das impulsive Kaufen bestimmter Artikel. Ein weiteres Beispiel ist die auffällig hohe Anzahl ADHS-Betroffener unter pathologischen Spielern (Retz et al. 2007). Zu bedenken ist dabei, dass eine derartige
Psychopathologie, die vernünftiges Verhalten erschwert, zunächst überhaupt nichts mit kriminellem Handeln zu tun haben muss. Die meisten Menschen mit ADHS haben nicht das Geringste mit Kriminalität zu tun. Zu delinquentem Handeln sind vor allem Personen mit ADHS plus CD / ASP disponiert. Dadurch wird klargestellt, dass eine generelle erhebliche Einschränkung des Steuerungsvermögens oder sogar Steuerungsunfähigkeit für alle denkbaren Delikte für Personen mit ADHS nicht oder nur in seltenen Sonderfällen in Betracht kommen kann. Es ist aber angezeigt, in Fällen, in denen die Deliktstruktur in symptomatischer Weise mit der Psychopathologie der ADHS konvergiert, eine erhebliche Verminderung des Steuerungsvermögens zu erörtern. Es ist bekannt, dass Menschen mit ADHS weniger stressfest sind und, wie oben erwähnt, in Konfliktlagen schneller zu emotionalen Auslenkungen tendieren. Unter Spannung geraten sie schnell unter Handlungsdruck, der dem Ziel dient, die vorhandene Erregung abzuführen. Unter derartigen Bedingungen ließe sich die Empfehlung einer erheblichen Verminderung des Steuerungsvermögens begründen, wenn ein Betroffener von einem provozierenden Gegenüber gereizt und in eine Auseinandersetzung hineingezogen wird, um dann selbst in reaktiver Weise verbal und / oder tätlich aggressiv zu handeln. Bei einem derartigen Geschehen ist der Symptomcharakter indessen zu verneinen, wenn vom Täter bekannt ist, dass er seine Auseinandersetzungen primär mit aggressiven Verhaltensweisen regelt. Dann ist sein Tun Ausdruck einer überdauernden Persönlichkeitsdisposition und weniger einer spezifischen Risikosituation, die spezielle psychopathologische Auffälligkeiten triggert. Die Beurteilung der Schuldfähigkeit bei ADHS ist durch den Umstand kompliziert, dass ADHS „pur“ unter den genannten Umständen eher ein seltenes Phänomen ist. Unter forensischen Kautelen ist es typisch, dass zusätzlich Conduct Disorder, antisoziale und andere Persönlichkeitsstörungen sowie alle möglichen Varianten von Suchterkrankungen vorliegen. Wenn man weiter bedenkt, dass zusätzlich Depressionen und Angststörungen als komorbide Störungen häufig vorkommen, dann wird klar, dass im
Regelfall ziemlich komplexe psychopathologische Phänomene zu beurteilen sind.
Merke Als Regel gilt, dass immer dann, wenn der Aspekt der Antisozialität im Sinne einer überdauernden Verhaltensdisposition das Störungsbild dominiert, eine erhebliche Verminderung des Steuerungsvermögens oder Steuerungsunfähigkeit nicht in Betracht kommt. Ansonsten gelten die üblichen Maßstäbe, die für die Beurteilung von Persönlichkeitsstörungen und Abhängigkeitskrankheiten entwickelt wurden und vom Grundgedanken einer vergleichenden Abschätzung der Symptomatik und Einschränkungen auf dem Boden der psychopathologischen Syndromlehre ausgehen (Witter 1987). Dies führt dazu, dass in der forensischen Gutachtenpraxis die meisten Fälle von ADHS mit komorbiden Störungen als uneingeschränkt schuldfähig bewertet werden. In den Fällen, bei denen die Anwendung des § 21 StGB in Betracht kommt, fallen oft neben den habituellen diagnostischen Aspekten zusätzlich konstellative Momente wie Alkohol, Drogen, Medikamente und erhebliche Affekte zusätzlich ins Gewicht. Nur in seltenen Einzelfällen liegen die Voraussetzungen nach § 20 StGB vor, wenn etwa massive Intoxikationen und weitere komorbide Leiden neben der ADHS in Rechnung zu stellen sind.
12.4.3. Maßregeln gem. §§ 63 / 64 StGB Unter prognostischen Gesichtspunkten ergibt sich aus den Überlegungen zur Schuldfähigkeit, dass die Anordnung einer Maßregel nach § 63 StGB wegen einer isolierten ADHS höchstens in einer extremen Fallkonstellation denkbar erscheint. Dies ändert sich allerdings bei erheblichen komorbiden Störungen. Vor allem i. V. m. Persönlichkeits- oder affektiven Störungen wird man eine
Maßregelanordnung nach § 63 StGB diskutieren können. Dabei kann in die Betrachtung einbezogen werden, dass die Feststellung einer ADHS aufgrund der vorhandenen forensischen Studienlage i. d. R. mit ungünstigen kriminalprognostischen Erwartungen verbunden sein dürfte. Von einer Unterbringung nach § 63 StGB auszunehmen sind i. d. R. Straftäter mit einer dissozialen Persönlichkeitsstörung, bei denen der Aspekt der Dissozialität ganz im Vordergrund steht. Andererseits sind die vorhandenen Behandlungsmöglichkeiten zu bedenken. Es existieren ausgesprochen effiziente pharmakologische und verhaltenstherapeutische Behandlungsprogramme, die sich nicht nur günstig auf die isolierte ADHS-Symptomatik auswirken, sondern teilweise auch die Symptome komorbider Störungen positiv beeinflussen (Philipsen 2012; Rösler und Retz 2020). Bemerkenswert ist, dass auch ein signifikanter Rückgang delinquenten Verhaltens durch eine spezifische Behandlung der ADHS gezeigt werden konnte (Lichtenstein et al. 2012). Diese Erfahrungen können als Argument für eher günstige prognostische Erwartungen im Rahmen einer Diskussion um die Anwendbarkeit von § 67b StGB erörtert werden, allerdings nur, wenn auch tatsächlich konsequent über längere Strecken leitliniengerecht (AWMF 2018) behandelt wird. Aufgrund der Verteilung komorbider Erkrankungen bei ADHS muss erwartet werden, dass bei zahlreichen nach § 64 StGB Untergebrachten mit Suchterkrankungen auch eine ADHS-Diagnose gestellt werden kann. Bei ADHS und Suchterkrankungen handelt es sich um eine typische diagnostische Kombination, die zur Anordnung einer Maßregel nach § 64 StGB führen kann.
12.4.4. Behandlung von Straftätern mit ADHS Liegt bei einem Straftäter eine ADHS vor, sollte nicht zuletzt unter kriminalprotektiven Aspekten eine Behandlung der Störung im Justiz- oder Maßregelvollzug in Betracht gezogen werden. Generell sollte sich diese an den evidenzbasierten Leitlinien orientieren, die bei Erwachsenen mit ADHS eine Pharmakotherapie auf der Grundlage einer psychoedukativen Behandlung vorsehen. Pharmakologische und psychosoziale Interventionen müssen dabei
den individuellen Bedürfnissen des Patienten angepasst werden (AWMF 2018). Es steht inzwischen eine Reihe von psychotherapeutischen Behandlungsprogrammen zur Verfügung, die auch für die Anwendung im Maßregelvollzug geeignet sind und neben Psychoedukation auf das Erlernen von Skills zur Emotionsregulation, Impulskontrolle und der Alltagsorganisation fokussieren. Das R&R2-Programm wurde dabei z. B. auf der Grundlage bereits in forensischen Populationen erprobter Behandlungsprogramme (Reasoning and Rehabilitation; R&R; Young und Ross 2007) entwickelt. Andere Programme basieren auf dialektisch-behavioralen Behandlungsansätzen, die in ähnlicher Form im forensischen Kontext wie das DBT-F ebenfalls bereits etabliert sind (Hesslinger et al. 2004). Die medikamentöse Behandlung der ADHS mit Stimulanzien bei Straftätern wird z. T. kritisch kommentiert (Appelbaum et al. 2009; Pilkinton und Pilkinton 2014), da man befürchtet, hierdurch Substanzabhängigkeiten zu fördern und Betäubungsmittel in Umlauf zu bringen. Indessen kann als gesichert gelten, dass eine Behandlung mit Stimulanzien bei Personen mit ADHS nicht zu süchtigem Verhalten führt (Humphreys et al. 2013). Darüber hinaus wird durch die verzögerte Wirkstofffreisetzung von Methylphenidat oder die Anwendung der Prodrug Lisdexamphetamin das Missbrauchspotenzial minimiert. Für die psychopharmakologische Behandlung der ADHS bei Erwachsenen sind in Deutschland mittlerweile mehrere Methylphenidat-Präparate mit verzögerter Wirkstofffreisetzung und Lisdexamphetamin zugelassen und werden nach den Behandlungsleitlinien als Mittel erster Wahl angesehen (Rösler und Retz 2020). Außerdem steht mit Atomoxetin ein Präparat zur Pharmakotherapie der ADHS zur Verfügung, das nicht dem Betäubungsmittelrecht unterliegt. Obwohl nach den Leitlinien komorbide Suchterkrankungen eine Behandlung mit Psychostimulanzien nicht ausschließen, ist bei Straftätern mit Suchterkrankungen u. U. dem Einsatz von Atomoxetin der Vorzug zu geben.
Merke Die Wirksamkeit der für ADHS zugelassenen Medikamente ist gut. Bei erwachsenen Patienten liegen die in Metanalysen ermittelten Effektstärken für Methylphenidat zwischen 0,4 und 0,9, für Lisdexamphetamin sogar darüber und für Atomoxetin etwas darunter. Es existieren auch erste kontrollierte Behandlungsstudien in Straftäterpopulationen mit ADHS, die sehr gute Behandlungsergebnisse mit hohen Effektstärken ergeben haben (Ginsberg und Lindefors 2012; Konstenius et al. 2014). Allerdings deuten die Ergebnisse aus anderen Studien daraufhin, dass der damit verbundene Effekt auf die Erniedrigung des Delinquenzrisikos nur so lange anhält, wie die Behandlung durchgeführt wird (Lichtenstein et al. 2012). Dies stellt besondere Anforderungen an die forensisch-psychiatrische Nachsorge nach Beendigung des Straf- oder Maßregelvollzugs.
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KAPITEL 13
Schlaf und Delinquenz Harald Dreßing und Andrea Dreßing
13.1 Einleitung 13.2 Einteilung der Parasomnien 13.2.1 NREM-Parasomnien 13.2.2 REM-Parasomnien 13.3 Diagnostik der Parasomnien 13.4 Plausibilitätsbeurteilung 13.5 Gutachtliche Beurteilung
13.1. Einleitung Die Prävalenz von Schlafstörungen ist hoch; etwa 10–20 % der Bevölkerung leiden an einer Insomnie (Buysse 2013), und etwa 4 % erfüllen die diagnostischen Kriterien einer Parasomnie (Wills und Garcia 2002). Der Begriff Parasomnie beschreibt eine Gruppe von schlafassoziierten Phänomenen (Bewegungen, komplexe Verhaltensweisen, Emotionen und Empfindungen, Träume, vegetative Symptome), die im Übergang zwischen Wachzustand und Schlaf, während des Schlafs oder i. R. eines Weckreizes auftreten und
deren pathophysiologische Ursachen insbesondere durch polysomnografische Untersuchungen in den letzten Jahren besser dargestellt werden konnten (American Academy of Sleep Medicine 2014; Bollu et al. 2018; Lopez et al. 2018; Wills und Garcia 2002). Während Insomnien in erster Linie im Kontext psychischer Störungen, Selbstverletzungen und Suizidalität bedeutsam sind (Hombali et al. 2019), sind Parasomnien auch bei fremdagressivem Verhalten und Delinquenz zu berücksichtigen (Russell et al. 2019). Zunehmend setzt sich deshalb die Erkenntnis durch, dass auch forensische Aspekte von Schlafstörungen zu beachten sind. Bei den Parasomnien unterscheidet man grundsätzlich zwischen N(on)REM-, REM- und den nicht an ein Schlafstadium gebundenen Parasomnien. Strafrechtlich relevante Handlungen sind zumeist mit den NREM-Parasomnien assoziiert. Die Prävalenzen fremdaggressiver Handlungen während einer NREM-Parasomnie werden in Abhängigkeit des Studiendesigns und der untersuchten Kollektive mit 2–70 % beziffert (Danish et al. 2018; Guilleminault et al. 1998; Moldofsky et al. 1995; Ohayon et al. 1997). Es ist allerdings davon auszugehen, dass es bei diesen Prävalenzangaben aufgrund eines Selektionsbias zu einer systematischen Überschätzung kommt. Bei den REM-Parasomnien steht eigenverletzendes Verhalten im Vordergrund, jedoch wird auch hier gewalttätiges Verhalten gegenüber dem Bettpartner mit bis zu 60 % angegeben (Olson et al. 2000). Mit Parasomnien assoziierte Verhaltensstörungen können fremdaggressives Verhalten, schwere Verletzungen, Tötungsdelikte, atypische sexuelle Handlungen während des Schlafs und daneben auch die Angst vor einem Suizid oder einen tatsächlich vollzogenen Suizid umfassen (Bornemann et al. 2006; Bumb et al. 2015; Danish et al. 2018).
Kasuistik
Der erste dokumentierte Fall, bei dem ein Beschuldigter darauf plädierte, die ihm vorgeworfene Straftat während einer Schlafwandelepisode begangen zu haben, stammt aus dem Jahr 1846 (Cramer Bornemann und Mahowald 2010). Besonderes Aufsehen erregte auch ein Fall aus dem Jahr 1968 (Broughton 1968). Der Autor, selbst Gutachter in dem zur Rede stehenden Fall, schildert, dass der Beschuldigte von allen Anklagen freigesprochen wurde, da es das Gericht als erwiesen ansah, dass die Tat während des Schlafwandelns begangen wurde.
In einer Übersichtsarbeit beschreiben Ingravallo et al. (2014), dass strafrechtlich relevante Fälle im Rahmen von Parasomnien i. d. R. während des Schlafwandelns auftreten. Es zeigte sich außerdem, dass meist Partner oder Angehörige der Beschuldigten, in etwa 66 % der Fälle weiblichen Geschlechts, Opfer der gezeigten Verhaltensstörung wurden. Bei Fällen mit atypischem sexuellem Verhalten während des Schlafs waren die Opfer nahezu immer weiblich, in vielen Fällen minderjährig und standen interessanterweise nicht in direkter verwandtschaftlicher Beziehung zum Täter (Ingravallo et al. 2014).
13.2. Einteilung der Parasomnien In Abhängigkeit von den Schlafstadien unterscheidet man: 1. NREM-Parasomnien: Schlafwandeln, Schlaftrunkenheit, Pavor nocturnus, schlafbezogene Essstörungen, Sexsomnia 2. REM-Parasomnien: Albträume, REM-SchlafVerhaltensstörung 3. Parasomnien, die nicht direkt mit einem Schlafstadium assoziiert sind: Enuresis, „exploding head syndrome“, schlafassoziierte Halluzinationen
13.2.1. NREM-Parasomnien In der Phase einer NREM-Parasomnie ist die betroffene Person nicht zu höheren kognitiven Leistungen, planendem Verhalten und zielgerichteter sozialer Interaktion in der Lage; sie hat keine bewusste Willenskontrolle über die durchgeführten Handlungen und kann sich i. d. R. am nächsten Morgen nicht an die Episode erinnern. In Bildgebungsstudien konnte gezeigt werden, dass es während des NREM-Schlafs zu einer Hypoaktivierung der präfrontalen Assoziationskortizes kommt (Andersson et al. 1998; Kaufmann et al. 2006; Maquet et al. 1997), denen exekutive Funktionen, Handlungsplanung und -kontrolle, aber auch Aufmerksamkeit und Urteilsvermögen zugeordnet werden (Cummings 1993; Tekin und Cummings 2002). Während einer Schlafwandelepisode sind der frontale und der parietale Kortex ebenfalls hypoperfundiert, gleichzeitig konnte jedoch eine Hyperperfusion des zingulären Kortex, des Hirnstamms und des Kleinhirns festgestellt werden (Bassetti et al. 2000). Ein ähnliches Ergebnis zeigte eine EEG-Studie: Hier waren in der NREM-Parasomnie der motorische und der zinguläre Kortex aktiviert und zeigten die gleiche Aktivität wie während der Wachheit, während die frontoparietalen Assoziationskortizes die schlaftypische Deltaaktivität aufwiesen (Terzaghi et al. 2009). Insgesamt legen die Studien nahe, dass der Pathophysiologie der NREM-Parasomnien eine dissoziierte Aktivierung von thalamozingulären Netzwerken, die an der Kontrolle eines komplexen motorischen und emotionalen Verhaltens beteiligt sind, und der thalamokortikalen Projektionen zum Frontallappen zugrunde liegen könnte. Eine besondere Variante der NREM-Parasomnien ist die Sexsomnia, die den NREM-Parasomnien zugeordnet wird. Die Prävalenz dieser Störung soll etwa 2–6 % betragen (Organ und Fedoroff 2015). Bei der Sexsomnia kommt es zum Ausagieren sexuellen Verhaltens, wobei der Betroffene sich in einem nicht vollständig wachen, meist verwirrten und desorientierten Zustand befindet. Männer sind von dieser Störung häufiger betroffen als
Frauen (Trajanovic et al. 2007). Bei der Sexsomnia sind folgende Verhaltensweisen beschrieben: Masturbation, Streicheln, „über sexuelle Inhalte sprechen“, pädosexuelle Handlungen. Daneben treten auch Erektionen, Samenergüsse sowie Lubrikationen bei Frauen sowie im Extremfall auch Geschlechtsverkehr auf (Morrison et al. 2014). Forensische Implikationen können sich daraus ergeben, dass die sexuellen Handlungen nicht einvernehmlich sind, da eine geordnete Kommunikation im Zustand des NREM-Schlafs nicht möglich ist und Einvernehmen deshalb grundsätzlich gar nicht hergestellt werden kann (Bumb et al. 2015). In einer Übersichtsarbeit von Schenck et al. (2007) zeigten 45 % der Patienten mit Sexsomnia fremdaggressives Verhalten und 29 % pädophile Handlungen, wobei 36 % des untersuchten Kollektivs mit rechtlichen Konsequenzen aufgrund der gezeigten Verhaltensweisen konfrontiert waren. 13.2.2. REM-Parasomnien Unter den REM-Parasomnien ist die REM-Schlaf-Verhaltensstörung die am häufigsten mit gewalttätigem Verhalten assoziierte Parasomnie. Während des REM-Schlafs, der zum größeren Teil in der zweiten Nachthälfte auftritt, kommt es zu lebhaften Träumen bei gleichzeitiger vollständiger Muskelatonie. Bei der REM-SchlafVerhaltensstörung fehlt diese Muskelatonie, und es kommt zu einem Ausagieren der Träume. Eine Vielzahl an Studien in unterschiedlichen Tiermodellen und am Menschen konnte zeigen, dass die fehlende Muskelatonie während des REM-Schlafs aus eine Dysbalance der aktivierenden und hemmenden Neurone in den an der Muskelkontrolle beteiligen Kerngebieten im Hirnstamm resultiert (Lai und Siegel 1990; Lu et al. 2006; Luppi et al. 2012; Mahowald et al. 2007).
13.3. Diagnostik der Parasomnien Zunächst sollte eine gründliche Anamnese erhoben und die störungsspezifische Entwicklung der Symptomatik exploriert werden. Wichtige Fragenkomplexe sind dabei:
• Wann trat die Störung zum ersten Mal auf? Was waren / sind die Auslöser? • Existieren somatische Erkrankungen, die mit der Parasomnie assoziiert sein könnten? • Welche symptomverschlechternden / -verbessernden Umstände liegen vor? • Besteht ein Substanzmissbrauch in der Vorgeschichte? • Wie sind die Schlafgewohnheiten? • Welche abendlichen Aktivitäten und Essgewohnheiten werden gepflegt? • Welche Dinge geschehen als „Vorbereitung auf das Zubettgehen“? • Wie ist die Bettgehzeit? • Kommt es zu Aufwachphasen? Wie häufig sind sie, wie lange dauern sie an? • Gelingt das Wiedereinschlafen nach einer Aufwachphase? • Welche weiteren Besonderheiten während des Schlafs treten auf (Unruhe, Schnarchen, Bettnässen etc.)? • Wann steht der Proband für gewöhnlich auf? • Erwacht er spontan? Muss er sich den Wecker stellen? • Wie fühlt er sich nach dem Erwachen? Es ist empfehlenswert, standardisierte Schlaffragebögen für diese störungsspezifische Anamnese zu nutzen. Für die Diagnostik ist insbesondere auch die Fremdanamnese des Bettpartners wegweisend. Während dies im klinischen Alltag i. d. R. problemlos möglich ist, kann eine Fremdanamnese in der strafrechtlichen Begutachtung nicht ohne Weiteres erhoben werden. Der Bettpartner ist nämlich im Strafverfahren ein Zeuge, der belehrt werden muss. Wirksame Belehrungen können im Strafverfahren nur von der Polizei oder vom Gericht vorgenommen werden. Deshalb sollte im Falle einer als notwendig erachteten Fremdanamnese das Gericht darüber informiert werden. Der Bettpartner kann dann als Zeuge im Beisein des Richters nach entsprechender Belehrung durch das Gericht vom Gutachter befragt werden. Ü
Daneben sollte sich der Gutachter einen Überblick bzgl. eventuell vorliegender komorbider psychiatrischer und / oder somatischer Erkrankungen verschaffen und eine ausführliche internistischneurologische Untersuchung durchführen. An die klinische Untersuchung schließt sich i. d. R. eine apparative Diagnostik, bestehend aus Labor- und Testdiagnostik, EEG-Ableitung und Polysomnografie inkl. Schlafdeprivation an (Bornemann et al. 2006, Ingravallo et al. 2014). Dabei ist auch die differenzialdiagnostische Abgrenzung zu epileptischen Anfällen notwendig (Peter-Derex et al. 2018; Stefani und Högl 2019). Es ist zu beachten, dass bislang kein sicherer polysomnografischer Marker für das Vorliegen einer NREM-Parasomnie existiert.
13.4. Plausibilitätsbeurteilung Die gutachtliche Beurteilung von mit Parasomnien assoziierten Verhaltensstörungen ist in den meisten Fällen sehr komplex und erfordert neben der forensisch-psychiatrischen Expertise auch besondere Kenntnisse der Schlafmedizin. Es ist für diese Störungen typisch, dass sie nicht in jeder Nacht auftreten. Dies führt zu folgendem Dilemma: Wird von einem Beschuldigten eine Parasomnie als Exkulpationsgrund nach einer Straftat angeführt, können sich diagnostisch folgende Konstellationen ergeben (Bumb et al. 2015): 1. In der zur Diagnose nach dem Tatvorwurf durchgeführten Polysomnografie findet sich kein Nachweis einer Parasomnie. Dies schließt aber keinesfalls aus, dass die Tat nicht trotzdem im Zustand einer parasomnen Störung ausgeübt wurde, insbesondere wenn Anamnese und Fremdanamnese für eine Parasomnie typisch sind. 2. In der zur Diagnose nach dem Tatvorwurf durchgeführten Polysomnografie findet sich ein Nachweis einer Parasomnie. Der Nachweis einer solchen Störung im Schlaflabor nach der Tat ist aber kein Beweis dafür, dass die Tat auch während einer Parasomnie begangen wurde.
Für den Sachverständigen bedeutet dies, dass er seine Beurteilung immer auf Basis einer empirisch fundierten, kriterienorientierten Einzelfallanalyse treffen muss. Dabei sind die folgenden Kriterien zu prüfen. In einer Gesamtschau kann der Gutachter die Plausibilität eines Zusammenhangs zwischen einer postulierten Parasomnie und dem Tatvorwurf als „sehr wahrscheinlich“, „wahrscheinlich“, „neutral“, „unwahrscheinlich“ oder „sehr unwahrscheinlich“ einschätzen (Bumb et al. 2015; Morrison et al. 2014): • Ein Zusammenhang ist sehr wahrscheinlich, wenn zuverlässige Schilderungen eines Augenzeugen existieren, die zu einer Parasomnie passen. Biografische Berichte über ähnliche Episoden in der Vergangenheit, die mit und / oder ohne fremdaggressives Verhalten einhergegangen sein können, Berichte / Arztbriefe von Schlafkliniken, polysomnografische Dokumentationen etc. machen einen hypothetisierten Zusammenhang ebenfalls sehr wahrscheinlich. Ein weiteres wichtiges Kriterium dieser Plausibilitätsstufe ist die Frage, ob eine erhebliche Desorientierung im Rahmen des gezeigten Verhaltens (Unfähigkeit enge Bekannte / Verwandte zu erkennen) auftrat. Zumeist versucht der Täter nicht, zu fliehen, die Tat zu vertuschen oder Beweismittel zu vernichten. Wenngleich der Betroffene i. d. R. amnestisch für die Ereignisse ist, ist eine unvollständige oder fehlende Amnesie kein absolutes Ausschlusskriterium für eine NREM-Parasomnie. Eine NREM-Parasomnie-Episode dauert in den meisten Fällen nur sehr kurz (d. h. Sekunden), wobei aber auch Fälle mit einer Episodendauer von einigen Minuten beschrieben sind. Das während einer Episode gezeigte Verhalten ist meist abrupt, erscheint für den Außenstehenden impulsiv und sinnlos, und ein dem Verhalten zugrunde liegendes Motiv ist nicht zu identifizieren. Bei den Opfern handelt es sich meist um Menschen, die sich (zufällig) in unmittelbarer Nähe zum Betroffenen befanden und / oder versuchten, ihn zu wecken und damit gewissermaßen Ursprung des unvollständigen
Weckreizes waren. Nur sehr selten legt der Betroffene weitere Strecken zurück, um das „Opfer“ aufzusuchen. Auch der Zeitpunkt der Tat im Schlafzyklus ist gutachtlich bedeutsam: Taten im Rahmen von Schlafwandeln, Pavor nocturnus oder Schlaftrunkenheit (NREM-Parasomnien) treten häufig innerhalb der ersten Stunden nach dem Einschlafen oder während des Aufwachens (sehr selten direkt während des Einschlafens) auf. Alternativ kann der Tat eine „Provokation“ (Weckversuch) vorausgehen. Auch Faktoren wie Schlafdeprivation und / oder die Einnahme bestimmter Medikamente können der Tat vorausgehen. Die REM-Schlaf-Verhaltensstörung (REM-Parasomnie) tritt häufiger in der zweiten Nachthälfte auf. Ein Verlassen des Bettes ist untypisch. Die Betroffenen erinnern häufiger die Trauminhalte und sind schnell reorientiert. • Für einen wahrscheinlichen Zusammenhang zwischen Parasomnie und zur Rede stehender Tat kann eine positive Familienanamnese sprechen oder der Nachweis der Diagnose einer Parasomnie vor der Tat. Auch wenn ein klares Tatmotiv fehlt, das gezeigte Verhalten untypisch für den Täter ist oder dieser nur schwer aufgeweckt werden kann und / oder nach der Tat verwirrt ist, liegen Argumente vor, die eher für einen wahrscheinlichen Zusammenhang zwischen Tat und Parasomnie sprechen. Auch wenn der Täter das Verhalten schnell als Parasomnie identifiziert, über das gezeigte Verhalten schockiert ist und während der Episode Schwierigkeiten hatte, räumlichen Hindernissen auszuweichen, ist eine Parasomnie zum Tatzeitpunkt eher wahrscheinlich. Auch sexuelle Handlungen können im Zusammenhang mit Parasomnien auftreten, wobei sich sexuelle Muster / Vorlieben von solchen während der Wachphasen mit einem Intimpartner unterscheiden können. • Ein Zusammenhang zwischen Parasomnie und zur Rede stehender Tat ist als neutral zu bewerten, wenn eine Parasomnie oder Schlafstörung erst nach der Tat diagnostiziert wurde, der Verdächtige während der Tat nicht
zu schlafen schien und die Video-Polysomnografie ohne relevante Auffälligkeiten bleibt. Auch wenn der Täter komplexe Verhaltensweisen (Autofahren etc.) zeigte, sich in gewohnter Umgebung leicht zurechtfand und eine Amnesie oder fragmentierte Erinnerung für die Ereignisse angegeben wird, ist von einer neutralen Bewertung auszugehen. Gleiches gilt für den Fall, dass der Täter die Tat vehement bestreitet. • Ein Zusammenhang zwischen Parasomnie und zur Rede stehender Tat ist unwahrscheinlich, wenn der Täter nicht aufgeweckt werden muss oder direkt reorientiert ist, ein nachvollziehbares Motiv bestand, der Täter sich beispielsweise durch das Opfer sexuell angezogen fühlt und er sich während der Tat auch in ungewohnter Umgebung zurecht fand. Der Umstand, dass das gezeigte Verhalten typisch für die vom Täter in wachem Zustand gezeigten Verhaltensweisen ist, sollte ebenfalls eine kritische Evaluation zur Folge haben. • Ein Zusammenhang zwischen Parasomnie und zur Rede stehender Tat ist sehr unwahrscheinlich, wenn bisher keine Parasomnie diagnostiziert wurde, wenn zuverlässige und glaubwürdige Schilderungen eines Augenzeugen vorliegen, die nicht zu einer Parasomnie passen, und wenn der Tathergang als geplante Handlung zu klassifizieren ist, die ein intaktes Arbeitsgedächtnis oder andere höhere kortikale Funktionen voraussetzt. Ebenso sollte nicht von einem relevanten Zusammenhang ausgegangen werden, wenn der Täter alle Ereignisse detailliert erinnert, ein bestimmtes Opfer gezielt aufsuchte, auch gezielt und eventuell ausschließlich den Sexualkontakt suchte und im Nachhinein versucht, die Tat zu verschleiern.
13.5. Gutachtliche Beurteilung Bei den Parasomnien handelt es sich um Erkrankungen, die anhand gängiger Diagnosesysteme (ICD-10, ICSD-3) klar definiert sind. Ä
Auch existieren neurobiologische Modelle zur Ätiopathogenese dieser Störungen. Vor diesem Hintergrund ist die in der älteren deutschsprachigen forensischen Literatur vertretene Lehrmeinung, dass die Parasomnien wie z. B. das Schlafwandeln, aber auch die Schlaftrunkenheit „nicht krankhaft verursachte Bewusstseinsveränderungen“ darstellen und damit dem Eingangskriterium der „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“ zuzuordnen seien (Langelüddeke 1976), nicht mehr haltbar.
Merke Aus heutiger Sicht ist davon auszugehen, dass es sich bei den Parasomnien, anders als z. B. bei den Affektdelikten, um Störungen handelt, die dem Eingangsmerkmal der krankhaften seelischen Störung der §§ 20,21 StGB zu subsumieren sind, auch wenn in einem BGH-Urteil die Zuordnung von Schlaf und extremer Übermüdung noch unter die Rubrik „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“ (BGHZ 23, S. 90, 97) erfolgte. Zunächst muss geprüft werden, ob überhaupt die Diagnose einer Parasomnie vorliegt. Hierbei sollte sich der Gutachter an den gängigen Klassifikationssystemen orientieren. In einem nächsten Schritt muss geprüft werden, ob die Schlafstörung eines der Eingangskriterien der §§ 20,21 StGB erfüllt und schließlich, ob sich die zur Rede stehende Tat tatsächlich während einer parasomnen Episode ereignet haben kann. Diese Frage ließe sich praktisch nur in dem absolut unwahrscheinlichen Fall beantworten, dass der Beschuldigte die Tat in einem Schlaflabor und während einer polysomnografischen Messung durchgeführt hat. Da dies aus offensichtlichen Gründen i. d. R. nicht der Fall sein wird, bleibt die Beurteilung des individuellen Falls immer eine auf empirischen Plausibilitätskriterien beruhende Einzelfallentscheidung. Kommt der Gutachter zu der Auffassung, dass die zur Rede stehende Tat mit hoher Wahrscheinlichkeit in Assoziation zu einer Parasomnie
begangen wurde, so kann man vom Vorliegen einer krankhaften seelischen Störung zum Tatzeitpunkt ausgehen. Für diese Fälle ist dann i. d. R. auch von einer aufgehobenen Einsichtsfähigkeit auszugehen, da in einer parasomnen Phase keine intakte Realitätskontrolle vorhanden ist.
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KAPITEL 14
Störungen durch Alkohol Harald Dreßing und Klaus Foerster
14.1 Einleitung 14.2 Akute Alkoholisierung 14.2.1 Symptomatik 14.2.2 Terminologie 14.2.3 Begutachtung 14.2.4 Bedeutung der Blutalkoholkonzentration 14.2.5 „Actio libera in causa“ 14.2.6 Die Rauschtat im Sinne des § 323a StGB 14.3 Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit 14.3.1 Symptomatik 14.3.2 Begutachtung 14.3.3 Therapeutische Möglichkeiten 14.4 Alkoholische Psychosen 14.4.1 Delirium tremens 14.4.2 Alkoholhalluzinose 14.4.3 Alkoholischer Eifersuchtswahn
14.1. Einleitung Der psychiatrische Sachverständige hat sehr häufig Probanden zu beurteilen, bei denen es um den Einfluss einer akuten Alkoholisierung, eines Alkoholmissbrauchs oder einer Alkoholabhängigkeit geht. Sowohl eine akute Alkoholisierung als auch eine Abhängigkeit kann als Exkulpationsgrund diskutiert werden. Größte forensische Bedeutung haben Verkehrsdelikte unter Alkoholeinfluss (➤ Kap. 40). Zwar gibt es weder spezifische Straftaten unter Alkoholeinfluss, noch hat der Alkohol per se eine spezifische kriminogene Wirkung, dennoch zeigen Alkoholisierung und kriminelles Verhalten einen hohen korrelativen Zusammenhang. Dabei ist in vielen Fällen eine begleitende, begünstigende, ggf. tatauslösende oder tatverstärkende Wirkung des Alkohols zu erörtern. Vor allem bei Aggressionsdelikten spielt die Alkoholisierung des Täters, gar nicht selten aber auch die des Opfers eine Rolle. Dabei ergeben sich folgende Zahlen (Egg 2002): Bei Gewaltdelikten lag in 25,3 % der Fälle Alkoholeinfluss vor, bei Vergewaltigung und schwerer sexueller Nötigung in 30,4 %, bei Totschlag in 39,1 % und bei Körperverletzung mit Todesfolge in 40,2 % der Fälle. Alkohol- und Drogenmissbrauch sind sowohl dann, wenn sie als ausschließliche Diagnose zu stellen sind, als auch als Co-Diagnose wesentliche Risikofaktoren für gewalttätiges Verhalten. Bei Männern erhöht sich das Gewaltrisiko um den Faktor 9–15, bei Frauen um den Faktor 15–55 (➤ Kap. 27.3.1). Eine Analyse der Gutachten über 254 Straftäter ergab, dass 64,6 % der Täter zum Tatzeitpunkt alkoholisiert und 25,6 % alkoholabhängig waren. Dabei korreliert die Alkoholisierung zum Tatzeitpunkt mit der Begehung eines Gewaltdelikts, mit rücksichtsloser Ausführung der Tat sowie mit früheren Verurteilungen (Pillmann et al. 2002). Ein Zusammenhang zwischen Alkoholisierung des Täters, aggressivem Vorgehen und körperlicher Verletzung des Opfers bei sexuell motivierten Delikten konnte ebenfalls gezeigt werden (Ullmann und Brecklin 2000). Ein Drittel der Patienten in einem forensisch-psychiatrischen Liaisondienst hatte die primäre Diagnose einer Alkohol- und / oder
Drogenabhängigkeit (White et al. 2002). Eine familiäre Alkoholanamnese in Kombination mit Drogenkonsum des Täters ist ein gewichtiger Risikofaktor für künftige Delinquenz (Stadtland und Nedopil 2003). Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Alkoholisierung und Delinquenz ist jedoch nicht zu belegen, da die jeweiligen Verknüpfungen im Einzelfall komplex und uneinheitlich sein können (Schalast und Leygraf 2002). Zu berücksichtigen ist neben der akuten Alkoholisierung die Frage nach dem Vorliegen eines Missbrauchs oder einer Abhängigkeit, die Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen und die jeweilige konkrete Situation. Hieraus folgt, dass sich die Einschätzung eines alkoholisierten Täters nie allein auf die akute Alkoholisierung beschränken darf, was auch bedeutet, dass die Beurteilung in die Kompetenz des Psychiaters und nicht des Rechtsmediziners gehört. Neben der Berücksichtigung der konkreten Symptomatik einer Alkoholisierung ist eine umfassende Analyse der Persönlichkeit erforderlich, ferner die detaillierte Exploration der Konsumgewohnheiten zu der Frage, ob beim Betroffenen ein einmaliger oder gelegentlicher Alkoholkonsum vorliegt, ein schädlicher Gebrauch im Sinne des Missbrauchs oder sogar eine Abhängigkeit. Aufgrund der Komplexität der einwirkenden Variablen kann es hier keine allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten geben; stets ist eine individuelle Beurteilung erforderlich (Foerster und Leonhardt 2002).
14.2. Akute Alkoholisierung Psychopathologisch handelt es sich bei der akuten Alkoholisierung um eine vorübergehende Intoxikation mit der Substanz Alkohol. Daher gehört ein solcher Zustand unter systematischen Aspekten zu den organischen psychischen Störungen, unter strafrechtlichen Aspekten in die juristische Merkmalskategorie „krankhafte seelische Störung“. Diese Zuordnung sagt natürlich zunächst nichts über eine mögliche Beeinträchtigung der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit aus, da diese Beurteilung nicht auf der diagnostischen Ebene erfolgt,
sondern auf der Ebene der konkreten psychischen und körperlichen Symptomatik.
14.2.1. Symptomatik Bei der akuten Alkoholisierung ist die psychopathologische und körperliche Symptomatik außerordentlich vielgestaltig. In unterschiedlichem Maß können beeinflusst werden: • Orientierung • Konzentrationsfähigkeit • Merkfähigkeit • Denkvermögen • Affektivität • Antrieb und Impulssteuerung • Verhaltensänderungen • Allgemein-körperliche und neurologische Symptome Der Ausprägungsgrad alkoholbedingter Symptome kann stark schwanken. Außerdem kann es zu wechselnden psychopathologischen Symptomen kommen, etwa rasche Stimmungsschwankungen zwischen depressiver Verstimmtheit und aggressiver Gereiztheit, wodurch widersprüchliche Zeugenaussagen erklärt werden können. Zur Schweregradbestimmung der Alkoholisierung ist eine umfassende und detaillierte Beschreibung des psychischen, körperlichen und sozial-kommunikativen Funktionsniveaus des Probanden erforderlich. Die Erfassung der psychischen Befindlichkeit erfolgt dabei anhand der etablierten Vorgehensweise in der psychopathologischen Diagnostik. Beurteilt werden Bewusstseinslage, Orientierung, formales und inhaltliches Denken, Stimmung, Stabilität und Reagibilität des affektiven Erlebens, das Antriebsniveau und die Fähigkeit zur realitätsangepassten Verhaltenssteuerung. Weiter berücksichtigt werden müssen körperliche und psychische Erkrankungen, die Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen und situative Determinanten
inkl. des konkreten Umfelds mit möglicherweise gegebenen Provokationen durch die Umwelt. Neben der Menge des Alkoholkonsums sind Trinkdauer und Trinkgeschwindigkeit sowie das Trinkmilieu zu berücksichtigen. Die Symptome können vier Symptomebenen – körperlichneurologische Symptome, kognitive Symptome, affektive Veränderungen, Verhaltensauffälligkeiten (Foerster und Winckler 1997) – zugeordnet werden, und insofern lassen sich vier Achsensyndrome (Kröber 2001) beschreiben.
Merke • Körperlich-neurologische Symptome: Beeinträchtigungen der Koordination und Motorik wie Reaktionsverlangsamung, Beeinträchtigungen bei der Feinmotorik, Vergröberung und Ungenauigkeit der Bewegungsabläufe, verwaschene, undeutliche Sprache, unsicherer Gang, eventuell Übelkeit und Erbrechen sowie Kreislaufdysregulation und Schwindel • Kognitive Symptome: Einschränkungen der Bewusstseinslage, des Gedächtnisses, der Konzentrationsfähigkeit, des Denkablaufs wie Verlangsamung, Ungenauigkeit, vermindertes Auffassungsvermögen und thematische Einengung sowie der Denkinhalte mit Selbstüberschätzung, Größenideen, Abnahme der Kritikfähigkeit und Entdifferenzierung • Affektive Symptome: euphorische Auflockerung oder im Gegensatz dazu depressiv-dysphorische Verstimmung mit möglicherweise raschem Wechsel zwischen beiden Zuständen, aggressive Reizbarkeit, Affektlabilität
• Verhaltensauffälligkeiten: Antriebsminderung oder Antriebssteigerung, Distanzlosigkeit, erhöhte Impulsivität, ungerichteter Handlungsdrang mit erhöhter Diskussions-, Streit- oder Kampfbereitschaft
Die Schweregradbestimmung erfolgt anhand der geschilderten Symptomatik, wobei üblicherweise bei ansteigenden Blutalkoholspiegeln auch zunehmende Symptome zu berücksichtigen sind. Hierbei ist jedoch zu bedenken, dass dies je nach Trinkgewöhnung und Toleranzentwicklung in sehr weiten Grenzen schwanken kann, wodurch sich allgemeingültige Formulierungen von vornherein verbieten. Die Beurteilung kann auch dadurch erschwert werden, dass Symptome auf den genannten vier Ebenen keineswegs parallel auftreten müssen. Weitere Schwierigkeiten können durch die häufigen Mischintoxikationen aufgrund der zusätzlichen Einnahme weiterer psychotroper Substanzen (➤ Kap. 15) entstehen.
14.2.2. Terminologie Gleichzusetzen sind die Begriffe akute Alkoholisierung, akute Alkoholintoxikation und akuter Alkoholrausch, so auch in der ICD10 (Diagnostische Kriterien für Forschung und Praxis 2006). Alle anderen in diesem Zusammenhang gelegentlich noch verwendeten Begriffe sind unscharf und sollten nicht mehr benutzt werden (z. B. Alkoholintoleranz, komplizierter / abnormer / atypischer Rausch, idiosynkratische Alkoholintoxikation). Eine besonders unglückliche Formulierung ist die des „pathologischen Rausches“ – bereits der Begriff ist ein Pleonasmus, da jeder Rausch ein pathologischer Zustand ist – , die sich nur unter Berücksichtigung der historischen Entwicklung verstehen lässt. Im früheren § 51 RStGB von 1871 wurde eine Alkoholisierung nicht zu den forensisch relevanten psychischen Störungen gerechnet. Die Einführung der Kategorie
„pathologischer Rausch“ erfolgte zur Abgrenzung exkulpierungsrelevanter Alkoholisierungsformen bei der Begutachtung alkoholisierter Straftäter und keineswegs aufgrund empirischer Ergebnisse (Athen 1986). Die Verwendung dieses Begriffs birgt also die Gefahr, dass eine Diagnose unter normativen Gesichtspunkten und nicht im Rahmen des psychopathologischen Referenzsystems gestellt wird. Bei einer von Winckler (1999) durchgeführten Umfrage an allen psychiatrischen Einrichtungen der Bundesrepublik ergab sich, dass bei der Frage nach den diagnostischen Kriterien bemerkenswerterweise vor allem unspezifische, differenzialdiagnostisch nichtssagende Merkmale wie „aggressive Erregung“ oder „Persönlichkeitsfremdheit des Verhaltens“ angegeben wurden. Insofern besteht aus psychiatrischer Sicht Einigkeit, dass auf die Verwendung dieses Begriffs grundsätzlich verzichtet werden sollte (Batra et al. 2019; Schneider et al. 2006; Venzlaff 2003). Der ICD-10 ist allerdings zu entnehmen, dass die Bedeutung dieser Kategorie untersucht werde, dass die angegebenen Forschungskriterien als provisorisch anzusehen seien und dass es sich um eine seltene Störung handele. An Kriterien genannt werden verbale Aggressivität oder körperliche Gewalttätigkeit, die für die betreffende Person in nüchternem Zustand untypisch sei – eine gänzlich unspezifische Beschreibung – , das Auftreten sehr bald (meist innerhalb weniger Minuten) nach Alkoholkonsum, ein fehlender Hinweis auf eine organische zerebrale oder eine andere psychische Störung und eine geringe Trinkmenge mit einem Blutalkoholspiegel meist 3 ‰ sind letale Folgen zu befürchten, wobei seltener die alkoholbedingte Lähmung des Atemzentrums ursächlich ist. Meist sind es Komplikationen wie Erfrieren, Ertrinken oder Aspiration von Erbrochenem, die letztlich den Todeseintritt bedingen. Alkoholnachweis Für forensische Zwecke erfolgt der Alkoholnachweis im venösen Blut (BAK in ‰ ) oder in der Ausatemluft (Atemalkoholkonzentration [AAK] in mg / l). Blutalkohol Die für die Analysen notwendige Blutprobe wird üblicherweise durch Punktion der Ellenbeugenvene gewonnen (Desinfektion mit ethanolfreiem Desinfektionsmittel wie Sublimat / Oxycyanid). Eine Entnahme aus der liegenden Infusionskanüle ist wegen der Gefahr einer Kontamination (Verdünnungseffekte) zu vermeiden. Bei Leichen erfolgt die Blutentnahme (BE) aus der Oberschenkelvene (Leistenpunktion). Gesetzesgrundlage ist § 81 StPO; danach haben der Beschuldigte und ggf. auch Zeugen die Blutentnahme durch einen „Arzt nach den Regeln der ärztlichen Kunst“ zu dulden. Die BE kann von der Polizei auch mittels körperlichen Zwangs durchgesetzt werden. Die Polizei stellt „Vacutainer“ zur Verfügung, die nach der Entnahme eindeutig zu beschriften sind. Ergänzend sind eine ärztliche Befragung und Untersuchung des Probanden mit neurologischer Prüfung (Kooperation kann vom Probanden verweigert werden) und zusammenfassender Beurteilung anhand eines Formblatts durchzuführen. Diese Informationen bilden ebenso wie der konkrete Zeitpunkt der BE (minutengenaue Dokumentation!) eine wichtige Grundlage für die spätere Begutachtung. Die BAK muss für forensische Belange nach zwei verschiedenen Methoden wiederholt gemessen werden. Üblich sind enzymatische
(ADH-Methode) und gaschromatografische Doppelmessungen; aus den vier Einzelwerten wird das arithmetische Mittel ohne Aufrundung berechnet. In der Klinik hingegen wird regelmäßig nur eine Einfachmessung (vor allem ADH-Methode) vorgenommen; mitgeteilt wird meist der Serumwert (SAK; Division durch 1,2 ergibt die BAK). Da bei hohen Konzentrationen die Eichkurven nicht linear verlaufen, sind Fehlbestimmungen denkbar. Die Blutproben werden für mindestens 2 Jahre asserviert. An die BAK-Messung können sich weitere Untersuchungen wie eine Begleitstoffanalyse (zur Überprüfung der Trinkeinlassung hinsichtlich der Getränkeart; Methanol zur Missbrauchsdiagnostik) oder Identitätsüberprüfungen (mittels molekularbiologischer Methoden) anschließen. Im Straßenverkehrsgesetz (§ 24a) gilt eine BAK von 0,5 ‰ als Grenzwert einer Ordnungswidrigkeit. Strafrechtlich hat der BGH auf Basis der §§ 315c, 316 StGB für Fahrzeugführer im Straßenverkehr die Bereiche der relativen Fahrunsicherheit (ab 0,3 ‰ , mit zusätzlichen Beweisanzeichen wie typische Fahrfehler oder relevante Ausfallserscheinungen) und der absoluten Fahrunsicherheit (umgangssprachlich auch Fahruntüchtigkeit, ab 1,1 ‰; für Fahrradfahrer 1,6 ‰ [mehrere OLG] bzw. 1,7 ‰ [BHG]) definiert. Hinsichtlich der §§ 20, 21 StGB existieren keine verbindlichen Grenzwerte (jedoch werden, vom BGH gefordert, in foro regelmäßig ab 2,0 bzw. 2,2 ‰ [Tötungsdelikte] die Voraussetzungen des § 21, ab 3,0 ‰ die des § 20 diskutiert).
Merke Neben Vorliegen einer relevanten BAK ist anhand der Gesamtumstände, der Persönlichkeit und des Leistungsbildes des Berauschten eine Einschränkung / Aufhebung vor allem der Steuerungsfähigkeit zu überprüfen (➤ Kap. 14). Atemalkohol
Während früher die AAK nur als Vortest bestimmt wurde, ist mit der Änderung des § 24a StGB ein Wert von 0,25 mg / l als alternativer Grenzwert zu 0,5 ‰ BAK festgeschrieben worden (im Strafrecht wird die Atemalkoholmessung bisher nur orientierend verwendet). Voraussetzung ist allerdings eine Messung mittels eines beweissicheren Testgeräts (derzeit nur Dräger Alcotest® 7110 Evidential und Dräger Alcotest® 9510). Die Verwendung von zwei Atemproben im Abstand von 2–5 min nach 20-minütiger Wartezeit (nach dem Trinkende) und 10-minütiger Kontrollzeit (unter Aufsicht der Polizeibeamten, zwischenzeitlich keine Einnahme von Medikamenten, Nahrungsmitteln o. Ä.), Wiederholmessungen mittels zweier Methoden (elektrochemisch und infrarotoptisch, wobei jedoch jeweils nur ein Messwert in das Endergebnis eingeht) sowie die Messung von Atemlufttemperatur, Ausatemvolumen und -zeit sollen Verfälschungen z. B. durch artifizielle Einflüsse oder mangelhafte Atemtechnik vermeiden helfen. Nach einem standardisierten Protokoll werden geräteintern die Parameter beider Einzelproben abgeglichen; nur innerhalb definierter Toleranzen (Grenzen der zulässigen Differenzen: AAK 1 ng / mg belegen einen regelmäßigen Opioidkonsum in erheblichen Mengen und weisen auf
eine mögliche Opioidabhängigkeit hin. Liegen Morphinkonzentrationen unterhalb von 0,1 ng / mg, so ist dies durch eine gelegentliche oder durch eine längere Zeit zurückliegende Aufnahme von Opioiden erklärlich. Fälle, in denen häufiger und intensiver Umgang mit Heroin besteht, ohne dass die Substanz selbst missbraucht wird, sind dadurch charakterisiert, dass zwar Heroin und Monoacetylmorphin, nicht aber deren Stoffwechselprodukt Morphin im Haar nachgewiesen werden. Codein (bzw. Acetylcodein) tritt als Begleitsubstanz natürlicher Opiate auf und wird nach Heroinkonsum zusätzlich im Haar nachgewiesen. Wie auch bei der Blut- oder Urinanalytik lässt die Balance von Morphin- und Codeinkonzentrationen einen Rückschluss auf die ursprünglich inkorporierte Substanz zu (Morphin, Heroin oder Codein). Mit zunehmender Häufigkeit wird Buprenorphin in Haarproben nachgewiesen, das wegen der steigenden Relevanz als Ersatzstoff in der Substitutionstherapie (Subutex®), aber auch als potente Missbrauchsdroge zunehmende Beachtung verdient. Cannabinoide Wegen des fast ausschließlich inhalativen Konsums der Cannabinoide ist auch hier die Möglichkeit einer exogenen Kontamination durch THC bei intensivem Kontakt in Konsumentenkreisen gegeben. Daher kann zusätzlich zum biologisch aktiven THC auch das Stoffwechselprodukt THCCarbonsäure zum Konsumnachweis dienen (Uhl und Sachs 2004). Problematisch ist dessen vergleichsweise geringe Inkorporation in Haare. Schon Konzentrationen von 100 fg / mg (0,0001 ng / mg) dieser Substanz gelten als Nachweis für einen vorangegangenen Konsum. Da Cannabinoide chemisch vergleichsweise instabil sind, besteht kein gesicherter Zusammenhang zwischen Konsummenge und Haarkonzentration. Insbesondere ein oft erheblicher Zeitabstand zwischen Vorfall (fraglichem Konsum) und Probennahme erschwert derartige quantitative Aussagen.
Andere Psychopharmaka Neben den klassischen Missbrauchsdrogen liefert oft auch der Beikonsum von Benzodiazepinen, Opiaten oder Opioiden (Methadon, Dihydrocodein, Tramadol, Tilidin, Fentanyl) Aufschluss über Konsumgewohnheiten und Leidensdruck eines Beschuldigten. Entsprechende Substanzen werden routinemäßig mit analysiert und erlauben eine komplexe Beurteilung des Substanzmissbrauchs über längere Zeiträume. Wegen der zentralnervösen Wirksamkeit und guten Haarinkorporation können auch substanzspezifische Analysen von Wirkstoffen der Medikamentenklassen (Pragst 2004; Thieme und Sachs 2003) der Stimulanzien (z. B. Methylphenidat), Hypnotika (z. B. Zolpidem, Antihistaminika; Musshoff et al. 2008), Opioidanalgetika (z. B. Piritramid, Fentanyl), Antidepressiva (z. B. Amitriptylin; Thieme et al. 2007; Citalopram) oder Antipsychotika (z. B. Melperon, Clozapin) forensische Bedeutung bei der Beurteilung von Substanzmissbrauch oder -beibringung erlangen.
16.4.3. Begutachtungsbeispiel Kasuistik Eine 28-jährige Angeklagte gab an, seit insgesamt 8 Jahren harte Drogen, vor allem Heroin, zu konsumieren. Nach einem ca. 6– 8 Monate zurückliegenden erfolglosen Substitutionstherapieversuch mit Methadon / Diazepam habe sie zunehmend Drogen konsumiert und zum Zeitpunkt der Tat täglich Heroin i. v. appliziert. Alkohol habe sie wenig getrunken. • Die Untersuchung der Urinprobe weist auf die Anwesenheit von Opioiden, Kokain und Benzodiazepinen hin. • Die Blutprobe enthält Morphin in einer Konzentration von 300 ng / ml bei einem Codeingehalt von 37 ng / ml. Auch die Plasmakonzentrationen an Kokain (37 ng / ml) und dem
korrespondierenden Abbauprodukt Benzoylecgonin (2.140 ng / ml) liegen in einem sehr hohen Bereich. Ein Beikonsum von Diazepam (410 ng / ml) liegt im therapeutischen Bereich. Das Verhältnis von Morphin zu Codein ist für einen vorangegangenen Heroinkonsum typisch; die sehr hohen Opioidkonzentrationen lassen auf ein erhebliches Maß an Opioidtoleranz schließen. Die sehr hohen Konzentrationen an Opioiden und Kokain belegen einen zeitnahen Konsum und eine tatzeitaktuelle Wirkung dieser Substanzen. In Fällen von Diazepam-Beikonsum durch Opioidkonsumenten werden üblicherweise erheblich höhere Benzodiazepinspiegel beobachtet. Im vorliegenden Fall ist eine länger zurückliegende Einnahme zu vermuten. • Die Übersichtsanalyse der Haarprobe ergibt im tatzeitnahen Segment den Nachweis von 4,8 ng / mg Kokain und zugehörigen Stoffwechselprodukten (1,4 ng / mg Benzoylecgonin, 0,09 ng / mg Norkokain u. a.), von Opioiden (Heroin, 3,0 ng / mg Monoacetylmorphin, 1,6 ng / mg Morphin, Codein), Methadon, Tramadol und Benzodiazepinen (Diazepam, Nordazepam, Oxazepam).
Die Analysenergebnisse im tatzeitnahen Segment belegen einen Kokainkonsum, der trotz der beachtlichen Konzentration an Kokain nicht übermäßig hoch war, denn die Konzentration des Stoffwechselprodukts Norkokain lässt lediglich auf eine gelegentliche Aufnahme schließen. Die Abwesenheit von Cocaethylen bestätigt, dass in zeitlicher Nähe zur Kokainaufnahme kein Alkohol getrunken wurde. Der Heroinkonsum wird qualitativ belegt durch die Substanzen Heroin und Monoacetylmorphin; eine Haarkonzentration von 1,6 ng / mg Morphin, das durch Abbau von Heroin im Körper
gebildet wird, beweist sicher einen regelmäßigen Heroinmissbrauch über eine längere Zeitspanne. Durch Segmentierung eines einzelnen Haars in ca. 5 mm lange Segmente konnte ein genaueres Zeitprofil des Heroinkonsums rekonstruiert werden (➤ Abb. 16.4). Dieses zeigt einen zum Tatzeitraum (wurzelnahe Segmente bei 0–2 cm) ansteigenden Heroinkonsum und einen Zeitraum von 3–6 Monaten vor Probenahme, in dem vor allem Methadon eingenommen wurde.
Abb. 16.4 Die Analysen in der Haarprobe bestätigen, dass vor dem Zeitpunkt der Probenahme (Haarwurzel bei 0 cm) die Konzentration an Morphin und demnach der Heroinkonsum anstieg. Vor ca. 4–6 Monaten erfolgte – in Übereinstimmung mit den Konsumangaben – eine zeitlich befristete Einnahme von Methadon. [L269]
Die Untersuchung der Blutprobe zeigt, dass aus toxikologischer Sicht deutliche Hinweise für einen erheblichen tatzeitaktuellen Substanzmissbrauch und die Voraussetzungen für die Diagnose einer Opioidabhängigkeit vorliegen. Zusätzlich stützen die Resultate der Haaranalyse auch das von der Beschuldigten geltend gemachte Langzeitkonsumverhalten, insbesondere hinsichtlich der Angaben zum Zeitverlauf und zu vorangehenden Substitutionsbemühungen.
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KAPITEL 17
Schizophrenie, schizoaffektive und wahnhafte Störungen Beate Eusterschulte
17.1 Schizophrenie 17.1.1 Krankheitsbild 17.1.2 Schizophrenie und Kriminalität 17.1.3 Schuldfähigkeit 17.1.4 Kriminalprognose 17.1.5 Therapie schizophrener Straftäter 17.2 Schizotype Störung 17.3 Wahnhafte Störungen 17.3.1 Klinik 17.3.2 Begutachtung 17.4 Akute vorübergehende psychotische Störungen 17.4.1 Klinik 17.4.2 Begutachtung 17.5 Schizoaffektive Störungen 17.5.1 Klinik 17.5.2 Begutachtung 17.6 Sonstige psychotische Störungen 17.7 Forschungsbedarf und Ausblick
Diese Gruppe von Störungen ist gemäß DSM-5 (APA 2015) durch eines oder mehrere der folgenden Hauptmerkmale gekennzeichnet: Halluzinationen, Wahn, desorganisiertes Denken (desorganisierte Sprache), grob desorganisiertes Verhalten oder gestörte Motorik (inkl. Katatonie) sowie Negativsymptome. Im DSM-5 und in der von der WHO (2019) verabschiedeten ICD-11 werden die psychotischen Störungen in ihren jeweiligen Kapiteln neu gegliedert und teilweise anhand anderer Ü
Diagnosekriterien neu definiert. Eine vergleichende Übersicht über Kapitelaufbau und Kapitelbezeichnungen findet sich in ➤ Tab. 17.1.
Tab. 17.1 Aufbau der Kapitel bzgl. psychotischer Störungen in der ICD-10 / ICD-11 sowie im DSM-IV / DSM-5 ICD-10
ICD-11
DSM-IV
DSM-5
Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen
SchizophrenieSpektrum- und andere primär psychotische Störungen
Schizophrenie und Schizophrenie-Spektrum andere und andere psychotische psychotische Störungen Störungen
Schizophrenie (F20)
Schizophrenie (6A20)
Schizophrenie
Schizotype Persönlichkeitsstörung
Schizotype Störung (F21)
Schizoaffektive Störung (6A21)
Schizophreniforme Störung
Wahnhafte Störung
Anhaltende wahnhafte Störungen (F22)
Schizotype Störung (6A22)
Schizoaffektive Störung
Kurze psychotische Störung
Akute vorübergehende psychotische Störungen (F23)
Akute vorübergehende psychotische Störung (6A23)
Wahnhafte Störung
Schizophreniforme Störung
Induzierte wahnhafte Störung (F24)
Wahnhafte Störung (6A24)
Kurze psychotische Störung
Schizophrenie
Schizoaffektive Störung (F25)
Sonstige spezifische Schizophrenie oder sonstige primär psychotische Störung (6A2Y)
Gemeinsame psychotische Störung
Schizoaffektive Störung
Sonstige nichtorganische psychotische Störungen (F28)
Nicht näher bezeichnete Schizophrenie oder nicht näher bezeichnete primär psychotische Störung (6A2Z)
Psychotische Störung aufgrund eines medizinischen Krankheitsfaktors
Substanz- / medikamenteninduzierte psychotische Störung
ICD-10
ICD-11
DSM-IV
Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen
SchizophrenieSpektrum- und andere primär psychotische Störungen
Schizophrenie und Schizophrenie-Spektrum andere und andere psychotische psychotische Störungen Störungen
Nicht näher bezeichnete nichtorganische Psychose (F29)
Substanzinduzierte psychotische Störung
DSM-5
Psychotische Störung aufgrund eines medizinischen Krankheitsfaktors
Nicht näher bezeichnete psychotische Störung Teil III: Attenuiertes Psychose-Syndrom Im Rahmen der Überarbeitung wurden diagnostische Kriterien angepasst, der Störungsverlauf und Symptomspezifizierungen einbezogen und dimensionale Aspekte der Störungsbilder mit berücksichtigt (Zielasek und Gaebel 2018). Die klinisch und auch forensisch bedeutsamste Störung ist die Schizophrenie, über die im Vergleich zu den anderen psychotischen Störungen dieser Gruppe das weitaus meiste Wissen vorliegt. Dies spiegelt sich im jeweiligen Umfang der nachfolgenden Ausführungen wider. Psychotische Störungen sind keineswegs selten. Nach einer finnischen Studie (Perälä et al. 2007) liegt die Lebenszeitprävalenz für Schizophrenie, schizoaffektive, schizophreniforme und wahnhafte Störungen bei 1,4 %. Die Datenlage über sämtliche Studien hinweg erweist sich allerdings je nach methodischem Vorgehen als heterogen (Moreno-Küstner et al. 2018).
17.1. Schizophrenie 17.1.1. Krankheitsbild Unter den psychischen Erkrankungen ist die Schizophrenie jene, die zu den gravierendsten Funktionseinschränkungen führt. Diese schwere psychische Störung ist durch kognitive Beeinträchtigungen, Negativsymptomatik und psychotische Zustände gekennzeichnet, die zu Einschränkungen in Ausbildung, Arbeit, zwischenmenschlichen Beziehungen, der Kompetenz als Lebenspartner oder Elternteil sowie in Freizeitgestaltung und Selbstfürsorge führen. Die Schizophrenie erfordert eine dauerhafte und umfassende Behandlung und Betreuung (DGPPN 2019) und verursacht mit 0,02–1,65 % des Bruttoinlandsprodukts enorme wirtschaftliche und soziale Kosten (Chong et al. 2016). Sie gehört zu den zehn häufigsten Ursachen für
krankheitsbedingte Erwerbsunfähigkeit (Murray und Lopez 1996) und bindet einen überproportional hohen Anteil der psychiatrischen Versorgungsressourcen. Epidemiologie Frühere Studien haben ergeben, dass die Jahresinzidenz der Schizophrenie bei 0,2–0,4 pro 1.000 liegt und die Lebenszeitprävalenz bei knapp 1 % (Jablensky 1997). Neuere systematische Übersichtsarbeiten kommen jedoch zu anderen Ergebnissen (McGrath et al. 2008). Hier finden sich eine mediane Inzidenz der Schizophrenie von 15,2 / 100.000 mit einem Verhältnis Männer zu Frauen von 1,4 : 1 und ein medianes Lebenszeitrisiko von 7,2 / 1.000 Personen. Menschen mit Schizophrenie haben ein zwei- bis dreifach erhöhtes Mortalitätsrisiko. Bei Migranten zeigen sich eine erhöhte Inzidenz und Prävalenz für schizophrene Störungen (Tarricone et al. 2015); bei Flüchtlingen zeichnet sich ein nochmals erhöhtes Schizophrenierisiko ab (Hollander et al. 2016). Das Alter bei Erstmanifestation liegt bei Frauen (25–35 Jahre) höher als bei Männern (15–25 Jahre; Murray und van Os 1998). Das spätere Ersterkrankungsalter von Frauen bewirkt, dass sie vor Beginn der Krankheit ein höheres soziales Funktionsniveau erreichen, was auf die neuroprotektive Wirkung von Östrogen und dessen Wirkung auf die D2-Rezeptoren zurückgeführt wird (Häfner et al. 1999). Dies führt zu einem besseren Verlauf und zu einer geringeren Anzahl von Hospitalisierungen (Häfner 2000). Diagnostik, Symptomatik und Verlauf Die Schizophrenie verursacht Störungen in verschiedenen Bereichen psychischer Funktionen. Betroffen sind Wahrnehmung und Denken, Ich-Funktionen, Affektivität sowie Antrieb und Psychomotorik. Auf der Symptomebene lassen sich drei charakteristische Symptomgruppen bilden: • Psychotische Symptome • Negativsymptome • Kognitive Beeinträchtigung
Merke Klinisch zeigen sich bei der Schizophrenie psychotische Symptome, Negativsymptome und kognitive Beeinträchtigungen. Die Prognose der Erkrankung ist schlecht. Schizophrenie führt zu teils massiven Einschränkungen der psychosozialen Leistungsfähigkeit, substanziellen Verhaltensänderungen sowie erhöhter Mortalität und geht mit einem erhöhten Delinquenzrisiko – vor allem für Gewalttaten – einher. Psychotische Symptome (Positivsymptome, Produktivsymptome) beinhalten Realitätsverlust, falsche Überzeugungen (Wahnvorstellungen),
Wahrnehmungserfahrungen, die nicht durch andere geteilt werden (Halluzinationen), oder seltsam-bizarres Verhalten. Bei Schizophrenie treten unterschiedliche Arten von Halluzinationen auf (akustisch, visuell, olfaktorisch, gustatorisch oder taktil), wobei die akustischen Halluzinationen am häufigsten sind. Häufig anzutreffende Wahnvorstellungen sind Verfolgungs-, Kontroll- und Größenwahn sowie körperliche Wahnvorstellungen. Auftreten und Ausmaß psychotischer Symptome sind meist episodischer Natur. Negativsymptome sind Defizitzustände, in denen grundlegende emotionale und Verhaltensprozesse vermindert sind oder sogar fehlen. Verbreitete negative Symptome sind abgestumpfter Affekt, Anhedonie, fehlende Willenskraft oder Apathie und Alogie. Die Negativsymptomatik ist tiefgreifender, schwankt weniger über die Zeit als die psychotischen Symptome (Fenton und McGlashan 1991) und ist maßgeblich für ein niedriges psychosoziales Funktionsniveau verantwortlich (Sayers et al. 1996). Da andere Menschen die negativen Symptome weniger offensichtlich als Zeichen einer psychischen Störung erkennen können, werden Patienten von der Umwelt häufig als faul und desinteressiert wahrgenommen. Kognitive Beeinträchtigungen beinhalten Störungen in den Bereichen Aufmerksamkeit und Konzentration, psychomotorische Geschwindigkeit, Lernen und Gedächtnis sowie exekutive Funktionen (z. B. abstraktes Denken, Problemlösung, Prioritätensetzung, vorausschauende Planung). Bei den meisten an Schizophrenie Erkrankten findet sich eine Abnahme der kognitiven Fähigkeiten. Nach Erstmanifestation der Erkrankung bleiben diese Fähigkeiten dann verhältnismäßig stabil (Heaton et al. 1994). Trotz dieser Abnahme liegen die kognitiven Fähigkeiten vieler Patienten im Normbereich. Ebenso wie die Negativsymptomatik führen auch die kognitiven Beeinträchtigungen zu Funktionsbeeinträchtigungen in allen Lebensbereichen. Weitere Diagnosekriterien sind Einschränkungen der psychosozialen Leistungsfähigkeit und tiefgreifende Verhaltensänderungen. Diese Einschränkungen, die sehr gravierend sein können, treten meist bereits einige Jahre vor den psychotischen Symptomen auf (Häfner et al. 1999) und erfassen alle Lebensbereiche (Ausbildung, Arbeit, Partnerschaft, Erziehungsfähigkeit, Selbstfürsorge, Genussfähigkeit etc.). Zusätzlich zu den Symptomen und Funktionsbeeinträchtigungen haben an Schizophrenie Erkrankte ein erhöhtes Risiko für Alkohol- und Drogenprobleme, ansteckende Krankheiten, Viktimisierung (Übersicht bei Mueser und McGurk 2004) und Delinquenz (Übersicht bei Erb et al. 2001). Sie leben häufig in problematischen Wohnsituationen oder sind obdachlos; viele leiden unter mit Nikotinkonsum in Verbindung stehenden Krankheiten. Außerdem finden sich gesteigerte negative Emotionen (z. B. Angst, Depressionen und Hostilität). Menschen mit einer Schizophrenie haben eine erhöhte Mortalität durch Suizide, Unfälle und Krankheiten, vor allem Atemwegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Übersicht bei Mueser und McGurk 2004). Schizophrenie beginnt gewöhnlich im Alter von 16–30 Jahren, selten nach 45 Jahren (Almeida et al. 1995). Bei Frauen ist zwischen 45 und 49 Jahren ein zweiter kleinerer Gipfel zu beobachten (Häfner et al. 1991). Die Störung hat normalerweise einen
allmählichen, schleichenden Beginn, der sich über durchschnittlich 5 Jahre entwickelt, und fängt mit dem Auftreten von negativen und depressiven Symptomen an, schnell gefolgt von kognitiven und sozialen Beeinträchtigungen. Erst einige Jahre später treten psychotische Symptome hinzu, die dann zum ersten Kontakt mit dem psychiatrischen Versorgungssystem führen (Häfner et al. 1999, 2003). Der Verlauf der Krankheit wird am stärksten durch das Niveau der Sozialentwicklung bestimmt, das vor Beginn der Psychose erreicht wurde, und steht in engem Zusammenhang mit dem Alter, in dem sich die erste Psychose entwickelt (Maurer et al. 1996). Unabhängig davon trägt aber insbesondere bei jungen schizophrenen Männern sozial negatives Krankheitsverhalten entscheidend zu einem ungünstigen Verlauf bei (Häfner et al. 2013). Sobald sich eine Schizophrenie manifestiert hat, sind einige wenige Beeinträchtigungen normalerweise das ganze Leben über vorhanden; gleichwohl erfahren viele Patienten in späteren Lebensjahren eine Symptomremission (Häfner und an der Heiden 2003). Während die Schizophrenie im DSM-IV ähnlich wie in der ICD-10 (WHO 1992) definiert wurde, ergaben sich mit der Einführung des DSM-5 (APA 2015) deutliche Änderungen. Als für die Diagnose relevante psychopathologische Symptome werden Wahn, Halluzinationen, desorganisierte Sprechweise, grob desorganisiertes oder katatones Verhalten und Negativsymptome definiert, deren jeweilige Ausprägung anhand einer Fünf-Punkte-Skala differenziert erfasst werden kann. Die Störung wird darüber hinaus hinsichtlich des Verlaufs spezifiziert (z. B. erste Episode, gegenwärtig akut; mehrfache Episoden, gegenwärtig in Teilremission). Die Einteilung in Subtypen wurde gestrichen. In der ICD-11 sind die Diagnosekriterien dem DSM-5 angeglichen worden. Die Unterschiede hinsichtlich des Zeitkriteriums und hinsichtlich der sozialen Funktionsfähigkeit werden allerdings bestehen bleiben. Während das DSM-5 eine Mindestdauer der Krankheitssymptome von 6 Monaten fordert, beträgt diese in der ICD-10 / ICD-11 lediglich 1 Monat. Die Beeinträchtigung sozialer Funktionen ist im Gegensatz zum DSM-5 in der ICD-10 / ICD-11 keine Diagnosevoraussetzung. In Teil III des DSM-5 wurde unter „Klinische Erscheinungsbilder mit weiterem Forschungsbedarf“ das attenuierte Psychosesyndrom aufgenommen.
ICD-11 Die Symptomkriterien werden leicht verändert, die Erstrangsymptome nach Schneider verlieren etwas an Bedeutung. Die Subkategorien werden gestrichen und durch die folgenden sechs Symptomspezifizierer ersetzt: positive, negative, depressive, manische, psychomotorische und kognitive Symptome. Der Störungsverlauf wird durch Verlaufsspezifizierer konkreter beschrieben (z. B. Erstepisode, teilremittiert). Zusätzlich kann die Schwere der Symptome erfasst werden.
Ätiologie und Pathogenese Ä
In der Ätiologie der Schizophrenie spielen sowohl genetische als auch Umweltfaktoren eine Rolle. Entstehung und Verlauf der Störung können mit dem VulnerabilitätsStress-Modell verstanden werden (Nuechterlein und Dawson 1984). Entsprechend diesem Modell wird Schizophrenie durch eine zugrunde liegende psychobiologische Vulnerabilität verursacht, die schon früh im Leben durch genetische und Umweltfaktoren (z. B. perinatal) festgelegt wird. Sobald die Vulnerabilität hergestellt ist, werden der Beginn der Krankheit und ihr Verlauf (inkl. Rückfällen) durch die dynamische Wechselwirkung von biologischen und psychosozialen Faktoren determiniert. Genetisch bedingt ist die Schizophrenierate bei Verwandten von Patienten erhöht. Wenn ein Verwandter 1. Grades erkrankt ist, ist das Erkrankungsrisiko 10-fach erhöht. Dieses genetische Risiko erhöht sich mit jedem betroffenen Verwandten auf bis zu fast 50 %, wenn beide Eltern erkrankt sind (McGuffin et al. 1995). Die Konkordanzraten bei eineiigen Zwillingen liegen bei 50 % (Wong et al. 2005). Nach heutiger Kenntnis hat die Schizophrenie einen polygenen Erbgang und wird durch mehrere risikomodulierende Dispositionsgene verursacht. Umweltfaktoren wie Schädigungen während der Schwangerschaft (mütterliche Grippe, Röteln, Unterernährung, Diabetes mellitus und Rauchen der Mutter), Geburtskomplikationen, Aufwachsen in Großstädten, hohes Alter des Vaters, zerebrale Infektionen während der Kindheit und Missbrauch von Drogen (insbesondere Cannabis) sind Risikofaktoren für eine Schizophrenie-Erkrankung. Relevant werden diese Faktoren aber erst in der Interaktion mit einer genetischen Vulnerabilität (Caspi und Moffitt 2006). Unklar ist bislang, ob die erhöhte Rate von Geburtskomplikationen bei Menschen mit Schizophrenie das Resultat einer mit der genetischen Vulnerabilität verbundenen fehlerhaften Gehirnentwicklung ist oder ein additiver Umweltfaktor, der die Entwicklung einer Schizophrenie begünstigt.
Merke Schizophrenie ist eine Hirnentwicklungsstörung, die auf einer Interaktion von risikomodulierenden Dispositionsgenen und Umwelteinflüssen beruht. Neuroanatomisch bestehen hirnstrukturell inhomogene Hirnsubstanzdefizite, biochemisch arealspezifisch veränderte Rezeptordichten und -funktionen, vor allem im glutamatergen, dopaminergen, serotonergen und GABAergen System. Untersuchungen mit modernen bildgebenden Verfahren haben eine Vielzahl von Befunden erbracht, die unser Verständnis der Schizophrenie sehr vertieft haben (Übersichten bei Falkai und Maier 2006; Mueser und McGurk 2004). Der derzeitige Wissensstand stellt sich zusammenfassend wie folgt dar: Der am häufigsten bestätigte neurobiologische Befund ist die bei Schizophrenen zu findende Vergrößerung des ventrikulären Systems, vor allem der Seitenventrikel und des III. Ventrikels, die von einer allgemeinen Reduktion von Gehirnvolumen und kortikaler grauer Substanz in den Frontallappen, Amygdala, Hippokampus, parahippokampalem Areal, Thalamus,
medialem Temporallappen, Gyrus cinguli und superiorem temporalem Gyrus begleitet ist. Bei der Durchführung von Aufgaben, die exekutive Funktionen, Gedächtnis und anhaltende Aufmerksamkeit erfordern, finden sich Blutflussveränderungen in den frontalen Regionen, im Thalamus und im Kleinhirn, insbesondere eine verringerte Durchblutung im präfrontalen Kortex (Hypofrontalität), was mit einer verminderten Dopaminaktivität in Verbindung gebracht wird. Während kognitiver Aufgaben finden sich Abnormitäten in der neuronalen Tätigkeit in frontalen und temporalen Arealen, die aber weniger auf lokalisierte Funktionsstörungen in einzelnen Gehirnregionen als auf Störungen in Funktionskreisen hinweisen. Defizite bei sozialen Kognitionen (z. B. die Fähigkeit, soziale Informationen wie Gefühle genau zu verarbeiten), die bei einer Schizophrenie besonders hervorstechen, hängen mit Veränderungen der Aktivität im linken präfrontalen Kortex zusammen. In der weißen Substanz wurden in einer Vielzahl von Gehirnregionen (inkl. präfrontaler, frontotemporaler und frontoparietaler Areale) pathologische Störungen der Myelinisierung gefunden, die als Ursache der Konnektivitätsprobleme zwischen Gehirnregionen angesehen werden. Dies passt gut zu einigen Symptomen und kognitiven Defiziten der Krankheit. Vermutlich ist die Demyelinisierung während der Adoleszenz und im frühen Erwachsenenalter für die Entwicklung von Psychosen ausschlaggebend. Veränderungen von Struktur und Funktion bei frisch diagnostizierten, unbehandelten Erstepisoden-Patienten und deren noch nicht erkrankten Verwandten mit erhöhtem Krankheitsrisiko zeigen, dass diese Abnormitäten nicht erst durch die Behandlung und den Verlauf der Krankheit verursacht werden. Sie sind somit nicht Krankheits- oder Behandlungsfolge, sondern Manifestation familiärer Risikofaktoren (McDonald et al. 2002). Neuere Metaanalysen konnten bestätigen, dass die bei Menschen mit Schizophrenie beobachteten hirnstrukturellen Veränderungen auf eine frühe Entwicklungsstörung zurückzuführen sind, ergaben aber auch Hinweise dafür, dass sowohl die antipsychotische Behandlung als auch der Krankheitsverlauf selbst Einfluss auf die Hirnstrukturen nehmen (Shepherd et al. 2012). Eine Metaanalyse von van Kesteren (2017) stützt die Infektions- und Immunhypothese, die von pränatalen Entzündungsprozessen in der Pathogenese der Schizophrenie ausgeht. In Postmortem-Untersuchungen an menschlichen Gehirnen konnte bei an Schizophrenie Erkrankten im Vergleich zu gesunden Kontrollen insbesondere im temporalen Kortex eine erhöhte Mikrogliadichte nachgewiesen werden. Therapie Die Behandlung der Schizophrenie kann gemäß der neuen S3-Leitlinie Schizophrenie in Pharmakotherapie und andere somatische Behandlungsverfahren, Nebenwirkungsmanagement, Psychotherapie und psychosoziale Interventionen sowie Behandlung unter besonderen Bedingungen und Rehabilitation unterteilt werden (ausführliche Übersicht bei: DGPPN 2019). Psychopharmakotherapie und andere somatische Behandlungsverfahren
Die antipsychotische Pharmakotherapie ist das Rückgrat der Behandlung, ohne das die meisten psychosozialen Behandlungen nicht möglich wären. Die Behandlungsleitlinie der DGPPN beinhaltet eine umfassende und detaillierte Darstellung sämtlicher Psychopharmaka inkl. Dosierungsempfehlungen, Indikation für therapeutisches Drug-Monitoring (TDM), Applikationsformen, Umstellstrategien, Dauer der Behandlung etc. In den letzten Jahren wird bei therapieresistenter Schizophrenie zunehmend der Einsatz der Elektrokonvulsionstherapie (EKT) i. V. m. der antipsychotischen Medikation diskutiert (Lehnhardt et al. 2012; Petrides et al. 2015; Pompili et al. 2012). Positive Effekte der EKT konnten nachgewiesen werden, allerdings bleibt unklar, ob der Effekt über einen längeren Zeitraum anhält. Psychotherapie und psychosoziale Interventionen Psychotherapeutische und psychosoziale Interventionen versuchen den Umgang des Einzelnen mit der Erkrankung zu verbessern (z. B. Umgang mit Symptomen, Rückfallverhinderung) und das Funktionsniveau in Bereichen wie eigenständige Alltagsbewältigung, Beziehungen und Arbeit zu erhöhen. Spezifische Interventionen, die den Ausgang einer Schizophrenie verbessern können, sind assertive Behandlung im Lebensumfeld, Psychoedukation (auch der Familien), beschützte Arbeit, Training sozialer Kompetenzen, das Unterrichten von Krankheitsbewältigungsfähigkeiten, kognitive Umstrukturierung von Wahn und Halluzinationen, kognitive Remediation, Training der Affektdekodierung und eine integrierte Behandlung bei komorbidem Substanzmissbrauch (weitere Ausführungen zu diesen Behandlungsformen ➤ Kap. 27). In der S3-Leitlinie (DGPPN 2019) werden diese Verfahren ausführlich beschrieben und bewertet. Behandlung unter besonderen Bedingungen Nicht nur Co-Diagnosen wie z. B. Substanzabhängigkeit, Angst-, Zwangs- oder Persönlichkeitsstörungen können den Krankheitsverlauf entscheidend komplizieren, sondern insbesondere auch Symptome wie z. B. Unruhe- und Erregungszustände, Katatonie und Suizidalität. Da in letzteren Fällen akuter und frühzeitiger Interventionsbedarf besteht, ist die engmaschige Beobachtung jedes Patienten unverzichtbar. Auch die Behandlung von Patienten in höherem Lebensalter, während der Schwangerschaft oder aus anderen Kulturkreisen erfordert spezielle Vorgehensweisen. In diesen Fällen gibt die S3-Leitlinie entsprechende Empfehlungen. Zunehmende Bedeutung gewinnen die Diagnostik und Therapie bei Menschen mit Ersterkrankungen und bei Menschen mit erhöhtem Psychoserisiko. Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass die Dauer der unbehandelten Psychose (DUP) sich ungünstig auf den Langzeitverlauf der Psychose, insbesondere in Bezug auf die Entwicklung negativer Symptome und das globale Funktionsniveau, auswirkt. Die durch eine lange DUP begünstigte Stagnation im Erwerb sozialer und beruflicher Kompetenzen stellt besonders bei Krankheitsausbruch in jungem Lebensalter Weichen für eine ungünstige klinische und soziale Prognose. Es gibt Hinweise darauf, dass es möglich ist, das Auftreten von Psychosen bei vulnerablen Personen mit frühen Interventionen zu verhindern (Übersicht bei Mueser
und McGurk 2004). Untersuchungen zeigen aber auch, dass die Kriterien für die Identifizierung von Risikopersonen geringe Vorhersagekraft haben und somit im Hinblick auf die Behandlungsindikation in jedem Einzelfall eine Risiko-NutzenAbwägung erfolgen muss (Mokhtari und Rajarethinam 2013). Weder im DSM-5 noch in der ICD-11 ist das attenuierte Psychosesyndrom als Störungskategorie vorgesehen. In der neuen S3-Leitlinie wird der Stand der Erkenntnis zur Diagnostik und Therapie bei Menschen mit erhöhtem Psychoserisiko ausführlich dargelegt. Kognitive Verhaltenstherapie wird empfohlen, eine psychopharmakologische Behandlung nicht. Lediglich in Fällen zunehmender Schwere der attenuierten psychotischen Symptome oder bei Zunahme der Frequenz kurzer psychotischer Episoden sollten Antipsychotika der zweiten Generation vorübergehend angeboten werden. Frühe Interventionen müssen auch evtl. vorhandene antisoziale Züge und Verhaltensweisen berücksichtigen, weil antisoziales Verhalten die Wirksamkeit der Schizophreniebehandlung beeinträchtigt und möglicherweise auch zur Entstehung von Schizophrenie beiträgt. Jugendliche mit vorhergehender Störung des Sozialverhaltens haben z. B. ein erhöhtes Risiko, Cannabis zu konsumieren, und erhöhen damit ihr Risiko, an einer Schizophrenie zu erkranken (Arseneault et al. 2002; Zammit et al. 2002). Frühe Interventionen müssen darauf abzielen, antisoziales Verhalten, insbesondere Substanzmissbrauch, vor dem Ausbruch der Schizophrenie zu bekämpfen. Antisoziale Haltungen und antisoziales Denken haben jedoch einen negativen Effekt auf die Zusammenarbeit mit psychiatrischen Einrichtungen, was jegliche Präventionsmaßnahmen erheblich erschwert. Rehabilitation Medizinische, soziale und berufliche Rehabilitationsangebote sollen Menschen mit Schizophrenie auf Wunsch und bei Notwendigkeit zur Verfügung gestellt werden. Insbesondere soziale und berufliche Rehabilitationsmaßnahmen mit selbstbestimmtem Leben in der Gemeinde, Ausbildungsangebote und unterstützte Beschäftigung unter Einbezug von Fachdiensten und Hilfen gewinnen zunehmend an Aufmerksamkeit und Bedeutung.
17.1.2. Schizophrenie und Kriminalität Schizophrenie ist ein auf breiter und robuster empirischer Basis etablierter Risikofaktor für Kriminalität (Hodgins 2000; Fazel et al. 2009). Diese Evidenz stützt sich auf Studien an Geburtskohorten, Populationen von Straftätern und Bevölkerungsstichproben. Die Diagnose einer Schizophrenie erhöht bei Männern das Risiko für die Begehung von nicht gewalttätigen Delikten um den Faktor 2, von Gewaltdelikten um den Faktor 4 und von Tötungsdelikten um den Faktor 10 (Übersicht bei Hodgins 2006). Für Frauen liegen nur wenige Studien vor, die jedoch sämtlich ebenfalls eine deutliche, tendenziell sogar noch stärkere Steigerung des Gewaltrisikos belegen (Hodgins 2006). In einer Vielzahl von epidemiologischen Studien, die in verschiedenen Ländern an großen Geburts- und Bevölkerungskohorten durchgeführt wurden, wurde die Kriminalität von Menschen mit Schizophrenie mit der der Allgemeinbevölkerung
verglichen. Sie alle haben gezeigt, dass mit der Schizophrenie ein erhöhtes Delinquenzrisiko einhergeht. Mehr noch als für gewaltfreie Delinquenz ist die Schizophrenie ein Risikofaktor für Gewalttaten (Arseneault et al. 2000; Brennan at al. 2000; Mullen et al. 2000; Swanson et al. 1990; Tiihonen et al. 1997). Wahrscheinlich unterschätzen diese Studien jedoch noch die Kriminalitätsrate von Schizophreniekranken. Mit Ausnahme der Studie von Arseneault et al. (2000) untersuchten nämlich alle Studien lediglich behandelte Patienten, was eine Unterschätzung der Schizophrenieprävalenz zur Folge hat. Weiterhin wurden nur verurteilte Straftäter untersucht, was eine Unterschätzung der Häufigkeit antisozialen und aggressiven Verhaltens mit sich bringt. Am deutlichsten erhöht ist das Risiko, ein Tötungsdelikt zu begehen. Studien aus verschiedenen Ländern belegen, dass Schizophrene für 6–28 % der Tötungsdelikte (in der jeweils untersuchten Region) verantwortlich sind (Übersichten bei Erb et al. 2001; Hodgins 2006). In Deutschland fanden bereits Böker und Häfner (1973) einen erhöhten Anteil von Schizophreniekranken unter den Gewalttätern. Das Risiko, eine Sexualstraftat zu begehen, ist bei Menschen mit einer Schizophrenie (ohne zusätzliche Persönlichkeitsstörung [PS] oder Substanzmissbrauch) um den Faktor 3,5 erhöht (Alden et al. 2007). Schizophrene Straftäter stellen allerdings eine sehr heterogene Gruppe dar, und je nach Tätertyp kommen zur Schizophrenie als Prädiktor für kriminelles Verhalten weitere das Delinquenzrisiko – insbesondere für Gewalttaten – erhöhende Merkmale hinzu. Hinsichtlich relevanter Risikofaktoren liegt eine Vielzahl von Untersuchungen vor, die je nach methodischem Vorgehen, diagnostischer Einordnung, Vergleichsgruppen oder Gewaltbegriff teilweise zu sehr uneinheitlichen Ergebnissen kommen. In einer systematischen Übersichtsarbeit identifizierten Witt et al. (2013) zahlreiche statische und dynamische Risikofaktoren, die in Zusammenhang mit einem erhöhten Gewaltrisiko stehen, z. B. feindseliges Verhalten, schlechte Impulskontrolle, fehlende Einsicht, Alkohol- / Drogenkonsum, fehlende Therapieadhärenz etc. Unter den statischen Faktoren hatten Faktoren zur kriminellen Vorgeschichte die stärkste Vorhersagekraft. In einer systematischen Übersichtsarbeit von Rund (2018) wurden zahlreiche klinische, Behandlungs- und externe Faktoren identifiziert, die mit schweren Gewaltdelikten in Zusammenhang stehen. Substanzmissbrauch erwies sich wie auch in einer Metaanalyse von Fazel et al. (2009) als sehr robuster Risikofaktor, unter den klinischen Faktoren waren Einsicht, Impulsivität, Psychopathie, motorische Geschwindigkeit und die allgemeinen kognitiven Fähigkeiten die Faktoren mit der stärksten empirischen Evidenz für einen Zusammenhang mit schwerer Gewalt. Aber auch DUP, Behandlungscompliance oder Erkrankungsstadium (Ersterkrankungsphase) haben Einfluss auf das Gewaltrisiko. Nur wenige Untersuchungen befassen sich mit dem Zusammenhang zwischen wahnhaftem Erleben und Gewalttätigkeit, obwohl z. B. das deutsche Rechtssystem insbesondere die psychotische Symptomatik in der Schuldfähigkeitsbeurteilung besonders berücksichtigt. Bedeutung wurde schon seit Langem Threat-Control-Override-(TCO)Symptomen zugeordnet. Stompe (2018) erstellte ein differenzierteres Bild über den Zusammenhang zwischen der Art des Wahns und der Schwere des Delikts:
• Bei leichteren Delinquenzformen spielte der Wahn eine eher geringe Rolle. Hier waren Affektverflachung, Abbau von Hemmmechanismen, komorbider Substanzmissbrauch sowie ungünstige soziale Herkunftsverhältnisse von entscheidender Bedeutung. • In der Tätergruppe mit schweren Gewalttaten hatte der Wahn einen wesentlich stärkeren Einfluss, bei weiterer Differenzierung korrelierten insbesondere die Faktoren Systematisierungsgrad, Wahndynamik, Bedrohungserleben („threat“), Zahl der Verfolgergruppen und Verfolgungs- und Vergiftungswahn mit schwerer Gewalt. Als besonders gefährlich stellte sich ein systematisierter Verfolgungswahn mit einer hohen Wahndynamik heraus, in dem sich der Betroffene als vital bedroht erlebt.
Merke Das schizophreniespezifisch erhöhte Gewalttäterrisiko wird durch komorbiden Substanzmissbrauch, antisoziale PS und Intelligenzmängel weiter erhöht. Tätertypologie Übereinstimmend zeigen viele Studien, dass schizophrene Straftäter hinsichtlich ihrer kriminellen Aktivitäten und der Faktoren, die mit diesem Verhalten in Verbindung stehen, eine heterogene Gruppe bilden. Hier zeigen sich, abhängig vom Alter bei Delinquenzbeginn, ähnliche Subgruppen wie bei psychisch gesunden Straftätern (Übersicht bei Hodgins 2004). Die Identifikation dieser Subgruppen ist wichtig, um die Ursachen für Gewalt und Schizophrenie aufzuklären und wirksame Behandlungsmodelle zu entwickeln. Wie bei den nicht kranken Straftätern lassen sich auch bei schizophren erkrankten Straftätern Typen nach Alter bei Erstdelinquenz beschreiben. Diese Subgruppen zeigen auffallende Unterschiede in ihren Entwicklungsgeschichten und deutliche Unterschiede in ihren Verhaltensmustern, Gefühlszuständen und emotionalen Reaktionen und Einstellungen, jedoch keine Unterschiede in der Symptomatik und im Verlauf der Schizophrenie. Der Zusammenhang zwischen den Symptomen der Schizophrenie und Delinquenz ist also unklar. Es gibt eine Subgruppe von schizophrenen Männern, die schon vor dem Erstauftreten der Prodromalsymptomatik straffällig werden. Bei anderen scheint das Auftreten der Prodromalsymptome mit den ersten kriminellen Aktivitäten einherzugehen, und bei einer dritten Gruppe tritt das antisoziale Verhalten erstmals lange nach der Erstmanifestation der Krankheit auf. Dementsprechend gibt es keine einfache Antwort in der lange geführten Debatte über Symptome und gewalttätiges bzw. kriminelles Verhalten. Es scheint eher, dass sich der Zusammenhang von Gruppe zu Gruppe verändert. Von Hodgins et al. (2007) erhobene Daten deuten darauf hin, dass sich der Zusammenhang auch in verschiedenen Behandlungssettings verändert. TCO-Symptome, sonstige Positivsymptome sowie eine jeweilige Symptomzunahme korrelieren mit Aggressionshandlungen (Bjørkley 2000b; Hodgins et al. 2003).
Andererseits zeigen viele Untersuchungen, dass der robusteste Einzelprädiktor dafür, ob Personen mit Schizophrenie straffällig werden, der Gesamtwert auf der Psychopathy Checklist (PCL-R, Hare 1991) ist (Bonta et al. 1998). Schizophreniekranke Straftäter mit frühem Delinquenzbeginn („early starters“) Bei schizophrenen Männern wurde in mehreren Studien eine Gruppe von persistierenden Intensivtätern mit frühem Delinquenzbeginn identifiziert („early starters“). Zwei Formen von Evidenz legen nahe, dass die Prävalenz von „early starters“ in der Population von Männern, die eine Schizophrenie entwickeln, höher ist als die Prävalenz von chronisch persistierenden Intensivtätern in der gesamten Bevölkerung: 1. Epidemiologische Studien an Geburts- und Bevölkerungskohorten fanden einen größeren Anteil an „early starters“ bei denen, die psychotische Störungen entwickeln, als bei persistierenden Intensivtätern ohne schwerwiegende psychische Störungen (Hodgins und Janson 2002). 2. Die Prävalenz der antisozialen Persönlichkeitsstörung (DSM-IV-TR, APA 2000), die definitionsgemäß eine Vorgeschichte mit Verhaltensauffälligkeiten vor dem 15. Lebensjahr voraussetzt, ist bei schizophren erkrankten Männern und Frauen höher als bei Gesunden. Je nach Herkunft der Stichprobe betrug der Anteil schizophrener Männer, welche die Kriterien einer antisozialen PS erfüllten, 23–61 % (Hodgins et al. 1996; Robins 1993; Robins und Price 1991). Es scheint also ein Zusammenhang zwischen Schizophrenie und antisozialem Verhalten zu bestehen, der sich bereits in der Kindheit herauskristallisiert und dann lebenslang bestehen bleibt. Schizophrene Täter mit frühem Delinquenzbeginn haben ähnliche kriminelle Karrieren wie Männer mit antisozialer PS ohne weitere psychische Störungen und zeigen schon in sehr jungem Alter ein stabiles Muster antisozialen Verhaltens. Sie erfüllen mehrheitlich bereits im Kindes- und Jugendalter die Kriterien einer „Störung des Sozialverhaltens“ (Hodgins 2004; Hodgins und Côté 1993a, b). Die durchschnittliche Häufigkeit gewaltfreier und gewalttätiger Delinquenz (außer Tötungsdelikten) verringert sich mit zunehmendem Alter bei Erstdelinquenz (Hodgins 2004; Hodgins und Côté 1993a, b; Tengström et al. 2001, 2004). Diese Subgruppe konnte auch in verschiedenen prospektiven Studien (Arseneault et al. 2000; Hodgins et al. 1998) und klinischen Stichproben identifiziert werden (Schanda et al. 1992; Tengström et al. 2004). Wie auch bei nicht psychisch kranken persistierenden Intensivtätern (Farrington et al. 2001; Moffitt und Caspi 2001; Moffitt et al. 2002) finden sich bei Eltern und Geschwistern von „early starters“ mit Schizophrenie vermehrt Kriminalität und Substanzmissbrauch (Tengström et al. 2001). Komorbider Drogenmissbrauch bzw. Drogenabhängigkeit sowie eine Kombination von Drogen und Alkohol stehen in engem Zusammenhang mit antisozialen Verhaltensweisen, die sich schon im Kindesalter zeigen und sich dann durch das gesamte Leben ziehen. Substanzmissbrauch im Kindes- oder frühen Jugendalter
steigert das Delinquenzrisiko bei psychisch Kranken in einem weitaus größeren Ausmaß als Substanzmissbrauch im Erwachsenenalter (Hodgins und Janson 2002). Der oben dargelegte Zusammenhang zwischen Schizophrenie und Antisozialität konnte von Schiffer et al. (2013) auch auf hirnstruktureller Ebene bestätigt werden. Schizophrene mit einer Störung des Sozialverhaltens in der Vorgeschichte zeigen Veränderungen der grauen Substanz, die sich von anderen schizophrenen Personen unterscheiden, aber in derselben Form bei nicht schizophrenen mit Störung des Sozialverhaltens nachgewiesen werden konnten, und es gibt erste Hinweise, dass möglicherweise eine spezifische Kombination von Genen die Vulnerabilität sowohl für Schizophrenie als auch für eine Störung des Sozialverhaltens erzeugt (Hodgins et al. 2014). Die zwei Subtypen unterscheiden sich auch hinsichtlich ihrer Theory-ofMind-Leistungsfähigkeit und den entsprechenden neuronalen Aktivierungsmustern (Schiffer et al. 2017). Schizophrene Menschen mit einer langen antisozialen Vorgeschichte gleichen in ihren Theory-of-Mind-Leistungen nicht psychisch kranken Straftätern, während gewalttätige Schizophrene ohne antisoziale Vorgeschichte vor Krankheitsbeginn nicht gewalttätigen Schizophrenen mit Defiziten in der Theory-ofMind-Leistungsfähigkeit gleichen.
Kasuistik B. wurde bereits im strafunmündigen Alter delinquent. Er beging allein und in Gruppen eine Vielzahl unterschiedlicher Delikte (Gewaltund Eigentumsdelinquenz). Im Alter von 10 Jahren erfolgte eine Einweisung in die Kinder- und Jugendpsychiatrie, wo die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens gestellt wurde. Bereits mit 14 Jahren stand er erstmals vor dem Jugendrichter. Seit dem 16. Lebensjahr besteht eine Polytoxikomanie. Mit 18 Jahren erfüllte B. alle Kriterien einer antisozialen PS; mit 19 Jahren entwickelt sich eine eindeutig schizophrene Symptomatik. Es folgten viele Einweisungen nach dem Landesunterbringungsgesetz. Nicht wenige davon endeten mit disziplinarischer Entlassung. Im Alter von 28 Jahren erstach B. in hochakut-psychotischem Zustand in einem Streit um Drogen seinen Dealer und bestahl anschließend das tote Opfer, um sich mit dem Geld Drogen zu beschaffen.
Ebenso wie psychisch gesunde chronische Intensivtäter sind „Early-starter“-Täter, die eine Schizophrenie entwickeln, durch Merkmale von Psychopathie (Hare 1991; ➤ Kap. 21.5) charakterisiert (Hodgins et al. 1998; Loeber et al. 2001; Tengström et al. 2004). Genetische Studien deuten darauf hin, dass dissoziale Persönlichkeitsmerkmale antisozialem Verhalten (inkl. Substanzmissbrauch) vorausgehen und diesem zugrunde liegen (Krueger et al. 2002). Die Verhaltensprobleme, denen vermutlich komplexe Interaktionen mit Störungen der Hirnentwicklung in der Adoleszenz zugrunde liegen, beginnen normalerweise vor dem Substanzmissbrauch (Armstrong und
Costello 2002), sie bahnen aber den frühen Kontakt zu Alkohol und Drogen (Costello et al. 1999; Robins und McEvoy 1990). Bei schizophrenen Männern mit hohen PCL-RWerten erhöht eine zusätzliche Substanzproblematik das Deliktrisiko nicht. Im Gegensatz dazu steht eine zusätzliche Substanzproblematik bei Schizophrenen mit niedrigen Psychopathie-Werten in einem hohen Zusammenhang mit kriminellen Handlungen (Tengström et al. 2004). Schizophrene Straftäter mit Delinquenzbeginn bei Krankheitsausbruch Vor Krankheitsausbruch war bei dieser Gruppe weder antisoziales noch gewalttätiges Verhalten zu beobachten. Im Vergleich zu den „early starters“ begehen sie weniger gewalttätige und noch weniger gewaltfreie Straftaten. Eine der wenigen Untersuchungen, die diese Tätergruppe konkreter beschreibt, ist eine Studie von Munkner et al. (2005), die unter Hinzuziehung nationaler Gesundheits- und Strafregister in Dänemark durchgeführt wurde. Es ist davon auszugehen, dass die mit einer Psychose in Verbindung stehenden Hirnveränderungen (Ziermans et al. 2012) entweder durch Herabsetzung der Hemmschwelle oder durch Gefühlskälte gewalttätiges Verhalten begünstigen (Hodgins und Müller-Isberner 2014). Die Gruppe ist gegenüber der ersten Gruppe schwerer zu identifizieren, da Angehörige gewalttätiges Verhalten im Krankheitsverlauf oft leugnen. Es gibt nur wenige Untersuchungen zu dieser Patientengruppe. Möglicherweise steht das gewalttätige Verhalten mit Substanzmissbrauch in Zusammenhang. Veränderungen der Hirnstrukturen und Hirnfunktion i. V. m. Substanzkonsum und die individuellen Reaktionen auf diese Veränderungen erhöhen das Gewaltrisiko (Hodgins et al. 2014). Schizophrene Straftäter mit Delinquenzbeginn nach Krankheitsbeginn (Spättäter) Schizophrene, die Tötungsdelikte begehen, finden sich am häufigsten in der Gruppe, die erst nach dem 30. Lebensjahr erstmalig straffällig geworden ist. Diese Personen hatten vor Erkrankungsbeginn meist keine Vorgeschichte antisozialen Verhaltens, und viele sind bereits lange vor dem Delikt erkrankt. Andere hingegen entwickeln die Krankheit relativ spät, werden erst nach dem Tötungsdelikt diagnostiziert und behandelt und sprechen dann sehr gut auf die antipsychotische Medikation an (Beaudoin et al. 1993; Erb et al. 2001). In dieser Gruppe sind Alkoholprobleme häufig, wobei diese Patienten dann psychisch gesunden Alkoholikern gleichen, die im gleichen Alter beginnen, gewalttätig zu werden (Hodgins et al. 1996).
Kasuistik Ein Oberstudienrat, der schon zweimal wegen einer paranoiden Schizophrenie stationär behandelt wurde, tötete an seinem 50. Geburtstag unter dem Eindruck profuser imperativer Stimmen seine Mutter durch Erwürgen, um sie – wie er später sagte – auf himmlischen Befehl hin „Gott zuzuführen“.
Zur Ätiologie und Pathogenese antisozialen Verhaltens schizophreniekranker Straftäter Die neurobiologischen Grundlagen gewalttätigen Verhaltens bei Schizophrenen sind noch weitgehend ungeklärt. In einer systematischen Übersichtsarbeit von Fjellvang et al. (2018) konnten in MRT-Studien geringfügige Auffälligkeiten im Zusammenhang mit aggressivem und gewalttätigem Verhalten gefunden werden, insbesondere in Hirnregionen, die an der Entwicklung psychotischer Symptome und an der Affektregulation beteiligt sind. Unterschiede in der weißen Substanz zeigten sich hingegen nicht zwischen gewalttätigen und nicht gewalttätigen Schizophrenen (Tesli et al. 2019). Auf der Suche nach neurobiologischen Markern fanden Feng et al. (2019) in der Hochrisikogruppe für Psychosen mit gleichzeitigen Gewaltfantasien asymmetrische Amygdalavolumina. Auf Genebene wurde z. B. in mehreren Studien ein Zusammenhang zwischen einer durch Polymorphismen bedingten verminderten Aktivität der Catecholamin-O-Methyltransferase (COMT) sowie Aggression und Gewalt gefunden (Soyka 2011). Welche Bedeutung diesen Befunden im Einzelnen zukommt, bedarf allerdings noch weiterer Forschung. Im Folgenden werden die Faktoren, die in der individuellen Entwicklung zur Entstehung antisozialen Verhaltens bei schizophren Erkrankten beitragen, ausführlich dargelegt. Genetische Faktoren Im Vergleich zu Verwandten von psychisch Gesunden tritt antisoziales Verhalten unter Verwandten von Menschen mit Schizophrenie gehäuft auf (Bleuler 1978; Kety et al. 1971; Landau et al. 1972; Lewis und Balla 1970; Lindelius 1970; Robins 1966). Die erhöhten Kriminalitätsraten und das stabile antisoziale Verhalten bei Verwandten von Personen mit Schizophrenie und vor allem die Ergebnisse von Adoptionsstudien stützen die Hypothese, dass die mit Schizophrenie zusammenhängenden genetischen Faktoren auch eine erhöhte Anfälligkeit für antisoziales Verhalten und Substanzmissbrauch übertragen (Hodgins et al. 2014; Sariaslan et al. 2016). Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen Komplikationen in der neonatalen Periode (Hodgins et al. 2001, 2002), Exposition der Mütter mit dem Influenzavirus am Ende des 6. Schwangerschaftsmonats (Tehrani und Mednick 2000) sowie mütterliches Rauchen während der Schwangerschaft stehen mit antisozialem und delinquentem Verhalten in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter in Zusammenhang. Rauchen während der Schwangerschaft hängt insbesondere mit früh beginnenden, persistierenden Verhaltensproblemen zusammen, die sich bis hin zu gewalttätiger Delinquenz steigern (Brennan et al. 1999; Fergusson et al. 1998; Räsänen et al. 1999). Frühe Kindheit Aggressives Verhalten verringert sich normalerweise von früher Kindheit an (Tremblay 2000). Dies korreliert mit der Entwicklung verbaler Fähigkeiten, die das Verhandeln mit anderen ermöglichen. Kinder, die später eine Schizophrenie
entwickeln, und diejenigen, die stabiles antisoziales Verhalten zeigen, weisen verbale und kognitive Defizite auf, die sie daran hindern, diese Fähigkeiten zu entwickeln. Zusätzlich behindert wird die Entwicklung prosozialer Verhaltensweisen durch schon in jungem Alter vorhandene Persönlichkeitsstile, die früh auffällige Straftäter kennzeichnen (z. B. Impulsivität, „sensation seeking“, Gefühllosigkeit anderen gegenüber) (Caspi 2000). Bis zu 40 % der Kinder, die später eine Schizophrenie entwickeln, zeigen in Kindheit und Jugend Symptome einer Störung des Sozialverhaltens (Hodgins et al. 2014). Das Risiko steigt mit der Anzahl der Symptome einer Störung des Sozialverhaltens, die schon vor dem 15. Lebensjahr aufgetreten sind (Robins und Price 1991). Aufgrund auffälliger Verminderungen des Hippokampusvolumen sowohl bei Erwachsenen mit Schizophrenie und deren Geschwistern als auch bei Kindern, die Misshandlungen ausgesetzt waren, kann angenommen werden, dass der Faktor Misshandlung Kinder, die eine Schizophrenie entwickeln, besonders schwer trifft (Hodgins et al. 2014). Wiederholte aggressive Verhaltensweisen und Ungehorsam bei Kindern gehen meist mit strengen und inkonsistenten Disziplinierungsmethoden der Eltern einher, gefolgt von Ablehnung in späteren Jahren (Loeber et al. 1998). Die elterliche Ablehnung verschlimmert die Ablehnung durch Peers und hindert das verletzliche Kind daran, wertvolle Erfahrungen zu sammeln. Jugendliche mit einer Vulnerabilität für die Entwicklung einer Schizophrenie, verminderten kognitiven und verbalen Fähigkeiten und Charaktereigenschaften wie „sensation seeking“, Impulsivität, Gefühllosigkeit sowie mangelnden prosozialen Fähigkeiten fangen zudem – in der per se kritischen und vulnerablen Phase des „Pruning“-Prozesses – früh an, mit Alkohol und Drogen zu experimentieren. Merkmale und Verhaltensweisen der Eltern (z. B. Kriminalität, Substanzmissbrauch und / oder psychische Störungen) konnten als wichtige Risikofaktoren für dauerhaftes antisoziales Verhalten aufgezeigt werden (Moffitt et al. 2002). Die gleichen elterlichen Merkmale konnten mit früh beginnender Delinquenz bei später schizophren erkrankten Männern in Zusammenhang gebracht werden (Tengström et al. 2001). Diese Merkmale könnten zum einen mit einem erhöhten Risiko für antisoziales Verhalten „via Gene“ und zum anderen mit einem erhöhten Risiko, das durch unzureichende prosoziale Vorbilder hervorgerufen wird, assoziiert sein. Des Weiteren zeigen Kinder mit Verhaltensproblemen Auffälligkeiten in der Erkennung von Emotionen in Gesichtern, was zu erheblichen Interaktionsproblemen sowie zu Erziehungsproblemen zwischen Mutter und Kind führen kann. Ähnliche Defizite können bei erwachsenen Schizophrenen mit Gewalttätigkeit in der Vorgeschichte beobachtet werden (Frommann et al. 2009; Fullam und Dolan 2006). Jugend- und Erwachsenenalter Ausgeprägter Cannabiskonsum erhöht das Risiko, psychotische Störungen zu entwickeln, und hat in mehrfacher Hinsicht einen ungünstigen Einfluss auf den Krankheitsverlauf (Di Forti et al. 2019; McGrath et al. 2010). Das Risiko, an einer Schizophrenie zu erkranken, scheint durch die Interaktion von Cannabiskonsum und
weiteren Risikofaktoren bestimmt zu sein (Roser 2019). Dadurch steigt das Gewaltrisiko unabhängig vom direkten Cannabiseinfluss. Viktimisierung in Kindheit und Erwachsenenalter ist ein Risikofaktor für aggressives Verhalten. Schizophrene haben ein erhöhtes Risiko, Opfer gewalttätiger und nicht gewalttätiger Straftaten zu werden, das mit dem eigenen aggressiven Verhalten in Zusammenhang steht. Das Leben in Obdachlosigkeit und sozial schwachen Wohngegenden fördert diese Problematik (Hodgins und Klein 2017).
17.1.3. Schuldfähigkeit Ist die Diagnose Schizophrenie gesichert, bereitet die Schuldfähigkeitsbegutachtung i. d. R. keine Probleme. Schizophrene Psychosen sind stets dem 1. Eingangsmerkmal (krankhafte seelische Störung) zuzuordnen.
Merke Entscheidend für die Schuldfähigkeitsbeurteilung ist das objektive Ausmaß der durch die Symptomatik hervorgerufenen Funktionseinschränkungen. Diese Funktionseinschränkungen können durch alle der für die Schizophrenie charakteristischen Symptomgruppen verursacht werden: • Positivsymptome (Produktivsymptome) beinhalten Realitätsverlust, Wahnvorstellungen und realitätsferne Wahrnehmungserfahrungen. Gerade die am häufigsten auftretenden akustischen Halluzinationen können gepaart mit einem Verfolgungswahn unmittelbar handlungsbestimmend werden. • Auch die den Negativsymptomen zuzurechnenden Defizitzustände, in denen grundlegende emotionale und Verhaltensprozesse vermindert sind oder gar fehlen, können zumindest auf der Ebene der Steuerungsfähigkeit zu gravierenden Einschränkungen führen. Hier sind insbesondere der abgestumpfte Affekt und die fehlende Willenskraft zu berücksichtigen. • Auch die kognitiven Beeinträchtigungen, die ebenso wie die Negativsymptomatik zu Funktionsbeeinträchtigungen in allen Lebensbereichen führen, können über eine Beeinträchtigung des kritischen Urteilens sowohl auf der Einsichts- als auch auf der Steuerungsebene zu gravierenden Einschränkungen führen. Hier sind besonders die Beeinträchtigungen in den Bereichen Aufmerksamkeit, Konzentration, Lernen, Gedächtnis und exekutive Funktionen zu beurteilen. Im akut psychotischen Zustand, aber auch bei besonnen wirkenden, jedoch klar wahnhaft motivierten Taten wird man die Aufhebung der Einsichtsfähigkeit regelhaft leicht herleiten können und die Steuerungsfähigkeit oft gar nicht erst zu diskutieren haben. Die Schizophrenie ist eine schwere psychische Krankheit, die sowohl durch die Persönlichkeitsveränderungen als auch durch die Wahnsymptomatik und / oder den
Einfluss von halluzinatorischen Erlebnissen das seelische Gefüge tiefgreifend verändert, die Sinngesetzlichkeit seelischer Vorgänge und Handlungsabläufe zerreißt und die Wirksamkeit normaler rationaler Kontrollmechanismen aufhebt. Selbst wenn in Einzelfällen auch bei akut psychotischen Zuständen von noch vorhandenen Resteinsichten auszugehen ist, wird man doch stets eine von einer durch Wahndynamik und Denkstörungen getriebenen Aufhebung von Hemmungsvermögen und Steuerungsfähigkeit auszugehen haben. Dennoch ist auch bei akuten Störungsbildern der Zusammenhang zwischen Psychopathologie und aufgehobener Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit detailliert für den Tatzeitpunkt zu belegen. Die Feststellung einer akuten Psychose als Grundlage für eine aufgehobene Einsichts- / Steuerungsfähigkeit reicht nicht aus und hat in den vergangenen Jahren zur Aufhebung zahlreicher Urteile durch den Bundesgerichtshof (BGH) geführt.
Merke In akuten Phasen der Erkrankung ist regelhaft eine Aufhebung der Schuldfähigkeit positiv zu belegen, in subakuten Phasen wird man sie selten ausschließen können. In Phasen der Remission ist sorgfältig zu überprüfen, ob kognitive Einbußen zu einer erheblichen Minderung der Schuldfähigkeit führen. In subakuten Zuständen wird man nicht selten nur eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit eindeutig belegen können. Hier wird es bei der Frage der Abgrenzung von aufgehobener und erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit darauf ankommen, inwieweit sich nahe am Tatzeitpunkt außerhalb des delinquenten Handelns Elemente sinnvoll-rationaler Handlungssteuerung finden lassen. Schwierig können jene Fälle zu beurteilen sein, in denen zur Tatzeit eindeutig keine produktive Symptomatik vorlag. Hier wird man ein besonderes Augenmerk auf die eventuell vorliegende Negativsymptomatik, depressive Symptome sowie kognitive Einschränkungen zu richten haben. Diese treten i. R. des Prodroms bereits vor Krankheitsausbruch auf und bestehen unabhängig von einer zusätzlichen Produktivsymptomatik fort. Finden sich eindeutige und erhebliche Störungen der exekutiven Funktionen, ist auch bei fehlender sonstiger Symptomatik die Annahme einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit gerechtfertigt. Wesentlich problematischer liegen die Dinge bei Straftaten von Patienten, die sich zumindest schon längere Zeit im Zustand der Vollremission befinden. Hierzu zählen auch Patienten, bei denen nach einem mehr oder minder langen Krankheitsverlauf nur noch eine dezente, ohne Kenntnis der Vorgeschichte diagnostisch gar nicht mehr zu klassifizierende schizophrene Residualsymptomatik besteht. Bei der Begutachtung solcher Patienten bedarf es zunächst einmal der sorgfältigen Prüfung, ob die Straftat möglicherweise das erste „Wetterleuchten“ einer psychotischen Exazerbation war und sie durch eine im Vorfeld nicht erkennbare akute schizophrene Symptomverdichtung oder aber eine schleichende Unterminierung der Persönlichkeit zustande kam. Lässt sich dies ausschließen, ist auch dann, wenn Schizophrenie als Lebenszeitdiagnose feststeht, von einer vollen Schuldfähigkeit auszugehen. Voll remittierte oder deutlich
gebesserte Schizophrene, bei denen sich weder Positiv- noch Negativsymptome finden lassen und auch keine wesentlichen kognitiven Einschränkungen bestehen, können aus den gleichen Motiven Straftaten begehen wie psychisch Gesunde. Dies gilt insbesondere dann, wenn auch Tatbegehung und -kommentierung keinen Hinweis auf etwaige krankhafte Einflüsse geben. Diese Menschen im „Dauerstatus der Nichtverantwortlichkeit“ zu belassen, stellt letztendlich eine Diskriminierung dar. Schwierige diagnostische Probleme kann die Beurteilung von Fällen aufwerfen, in denen ein sogenanntes Prodromal- (Wilmanns 1940) oder Initialdelikt (Stransky 1950) vorliegt und eine solche Tat als normalpsychologisch motivierte Konflikttat imponiert. Prodromal- oder Initialdelikte zeichnen sich i. d. R. jedoch dadurch aus, dass sie letztlich motivisch nicht oder nur sehr schwierig zu erhellen sind und durch ein eindeutig bestehendes Missverhältnis zwischen Anlass und Tatschwere auffallen. In solchen Fällen muss besonders sorgfältig nach dezenten Veränderungen der Persönlichkeit, des Verhaltensstils oder der Lebensgewohnheiten im Tatvorfeld gefahndet werden. Oft scheint es nur so, als sei das Delikt die erste Manifestation der schizophrenen Erkrankung, die mit ihrer vollen Symptomatik erst nach einem längeren Intervall ausbricht. Meist wird dies aber nur dadurch vorgetäuscht, dass keine hinreichenden Informationen über die Vorgeschichte vorliegen und der Täter psychotische Erlebnisweisen dissimuliert. Es sollte daher grundsätzlich – zumindest bei schweren und motivisch unklaren Straftaten, die entweder eindeutig aus der bisherigen Lebensführung des Täters herausfallen oder in denen ein krasses Missverhältnis zwischen Anlass und aggressiver Eskalation besteht – sofort eine psychiatrische Untersuchung erfolgen, um die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten nicht einzuschränken. Bei typischem Alter und familiärer Belastung muss, wenn sich klinisch negative und depressive Symptome sowie kognitive und soziale Beeinträchtigungen finden lassen, immer an ein schizophrenes Prodrom gedacht werden. Kommen dann anamnestisch weitere Risikofaktoren hinzu, muss in besonderer Weise darauf geachtet werden, ob die zu beurteilende Tat nicht doch bereits als störungsbedingt einzustufen ist. Problematisch ist, dass vieles, was sich in einer Ex-post-Betrachtung als klares Symptom des Prodroms der später ausgebrochenen Schizophrenie darstellt, zunächst vieldeutig und keineswegs zwingend als Vorstufe der Schizophrenie einzuordnen war. Ist trotz aller Verdachtsmomente zum Zeitpunkt von Begutachtung und Hauptverhandlung kein Krankheitsbeginn zu verzeichnen, gilt es, die Verdachtsdiagnose und die Unmöglichkeit der eindeutigen Festlegung offenzulegen. In solchen Fällen sollte gutachterlich immer die Anordnung einer stationären Beobachtung gem. § 81 StPO angeregt werden. Rund-um-die-Uhr-Beobachtung durch erfahrenes Pflegepersonal kann in vielen Fällen das Bestehen spezifischer Symptome belegen und so die Diagnose sichern. Auch wenn ein Prodrom bereits eindeutig in eine Psychose übergegangen ist, können nicht wenige der bereits Erkrankten die Symptomatik verschweigen. Auch hier kann eine stationäre Beobachtung oft Klarheit verschaffen, da schizophrenietypische Auffälligkeiten im Sozialverhalten bei der Beobachtung des Zusammenlebens in der Stationsgruppe eben doch deutlich werden. Legt man sich diagnostisch auf das Vorliegen eines schizophrenen Prodroms fest, ist das Ausmaß der kognitiven und sozialen Beeinträchtigungen zu bestimmen.
Eindeutige Einschränkungen rechtfertigen auch quantitativ die Zuordnung zum 1. Merkmal. Eine erhebliche Beeinträchtigung oder gar Aufhebung der Einsichtsfähigkeit wird man bei derartigen Zuständen kaum begründen können. Eindeutige Störungen der exekutiven Funktionen rechtfertigen i. d. R. wegen der resultierenden eingeschränkten Urteilsbildung aber die Annahme einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit. Das diagnostische Dilemma besteht dann nicht (mehr), wenn sich für den Zeitpunkt der Deliktbegehung zwar nur Prodromalzeichen nachweisen lassen, spätestens zum Zeitpunkt der Gutachtenerstattung aber ein eindeutiges Krankheitsbild vorliegt.
17.1.4. Kriminalprognose Nach erfolgreichem Abschluss der Maßregelvollzugsbehandlung weisen schizophrene Patienten mit Abstand die geringste Zahl erneuter Straftaten auf. Von 143 schizophrenen Straftätern wurden in einem Katamnesezeitraum von 16,5 Jahren 23 % rückfällig, nur 7 % hatten einen Rückfall mit einem schweren Delikt (Seifert et al. 2018). Diese vergleichsweise niedrigen Rückfallzahlen sind darauf zurückzuführen, dass bei dieser Patientengruppe die grundlegenden Prinzipien der Kriminaltherapie mit Risikoüberwachung, Behandlung, Einschränkung des Handlungsspielraums und Verbesserung der Sicherheit von potenziellen Opfern (Eucker et al. 2014) gut umgesetzt werden können, sofern das erforderliche Behandlungsangebot zur Verfügung gestellt wird und angemessene ambulante Versorgungsstrukturen mit forensisch-psychiatrischer Nachsorgeambulanz, ausreichend strukturierten komplementären Angeboten und Möglichkeiten der engen Kooperation der an der Versorgung Beteiligten gegeben sind (Freese und SchmidtQuernheim 2014; Schmidt-Quernheim und Seifert 2013). Weitere Ausführungen zur Kriminalprognose finden sich in ➤ Kap. 30.
17.1.5. Therapie schizophrener Straftäter Psychopharmakotherapie und andere somatische Verfahren Da die nationalen und internationalen Behandlungsleitlinien sich im Wesentlichen auf Metaanalysen hochwertiger randomisierter placebokontrollierter Kontrollgruppenstudien und systematische Reviews stützen, die an hochselektierten Patientengruppen durchgeführt werden, ist fraglich, inwieweit sich diese Empfehlungen 1 : 1 auf die Behandlung von Maßregelvollzugspatienten mit mehrfachen komorbiden Störungen und gewalttätigem Verhalten übertragen lassen. Dennoch stellen sie trotz aller Kritik eine strukturierte Grundlage für eine systematische Psychopharmakotherapie insbesondere auch unter Einbeziehung der Zeitachse dar. Darüber hinaus liegen inzwischen zahlreiche Untersuchungen im Hinblick auf die medikamentöse Behandlung aggressiven Verhaltens vor, welche die Überlegenheit einzelner Antipsychotika, insbesondere von Clozapin, zeigen. Eine Übersicht findet sich bei Citrome und Volavka (2011) sowie bei Meyer et al. (2016). Zudem liegen auch Ergebnisse über den Einfluss von Stimmungsstabilisatoren, SSRIs und
Depotformulierungen auf das Risiko für gewalttätiges Verhalten vor (Fazel et al. 2014). Von zentraler Bedeutung für den Verlauf ist die Compliance, die durch ein gutes Nebenwirkungsmanagement und regelmäßige Fokussierung in den Therapiesitzungen gesteigert werden kann. Während der Führungsaufsicht ist noncompliantes Verhalten durch engmaschige Kontrollen noch einigermaßen kompensierbar, bei der Auswahl der antipsychotischen Therapie sollte jedoch frühzeitig als Risikomanagementstrategie der Einsatz von Depotformulierungen erwogen werden.
Merke Es liegt empirisch gesicherte Evidenz vor, dass DepotAntipsychotika bei Patienten mit Gewaltrisiko positive klinische und antiaggressive Effekte haben (Mohr et al. 2017). Im Falle einer Entweichung oder eines Entzugs aus der Betreuung besteht zudem ein längerer antipsychotischer Schutz. Medikamentöse Einstellung sowie Kontrolle der Compliance durch regelmäßiges therapeutisches Drug-Monitoring (TDM) sind in der forensischen Psychiatrie unverzichtbar (Müller et al. 2009). Des Weiteren konnte eine dänische Studie bei forensisch-psychiatrischen Patienten mit medikamentös therapieresistenter Schizophrenie eine gute Symptomremission und Verhaltensverbesserung durch Elektrokonvulsionstherapie (EKT) nachweisen (Kristensen et al. 2012). Die effektive Behandlung der psychotischen Symptomatik ist von besonderer Bedeutung, da das Risiko aggressiven Verhaltens mit der Zahl der Positivsymptome ansteigt und mit TCO- sowie depressiven Symptomen assoziiert ist (Hodgins et al. 2011). Psychotherapie und psychosoziale Interventionen Die Remission der schizophrenen Symptomatik allein trägt nur begrenzt zu einer Verbesserung der Legalprognose bei. Je nachdem, welcher Subgruppe von schizophrenen Straftätern der Betreffende zuzuordnen ist und welche spezifischen schizophreniebedingten Einschränkungen sowie Co-Diagnosen bestehen, müssen gezielte Behandlungsprogramme zur Anwendung kommen. Nur wenn die Behandlung gleichzeitig psychotische Symptome und antisoziales Verhalten adressiert, kommt es zu einer Verbesserung der Legalprognose (Hodgins et al. 2011). Bewährt haben sich im forensisch-psychiatrischen Kontext insbesondere Gruppenprogramme mit Psychoedukation, metakognitivem Training, Training zur Affektdekodierung, Reasoning and Rehabilitation (R&R) sowie Suchtbehandlung (AhoMustonen et al. 2011; Demirbuga et al. 2013; Naughton et al. 2012).
Merke Entscheidend ist, dass für jeden Patienten ein auf die individuellen Delinquenzfaktoren abgestimmtes Behandlungsprogramm zusammengestellt wird, in dem auch
die zeitlichen Abläufe definiert sind, um die Behandlungszeiten im Maßregelvollzug nicht unnötig zu verlängern. Die Diskrepanz zwischen evidenzbasiertem Wissen und Umsetzung in die Praxis ist allerdings nicht unerheblich. Eine Untersuchung von Hodgins et al. (2009) konnte im ambulanten Setting zeigen, dass evidenzbasierte Behandlungsmethoden nicht ausreichend zur Anwendung kamen und Patienten mit antisozialem Verhalten keine spezifischere Behandlung erhielten als andere Patienten.
17.2. Schizotype Störung Die schizotype Störung weist zahlreiche für schizophrene Störungen charakteristische Symptome auf. Im familiären Umfeld treten gehäuft manifeste Schizophrenien auf. Halluzinationen, Wahn und schwere Verhaltensstörungen wie bei der Schizophrenie selbst fehlen. Die Zuordnung dieser Störung ist umstritten. Die ICD-10 rückt diese Störung in die Nähe der Schizophrenie. Gleichzeitig mahnt die ICD zu großer Zurückhaltung bei der Diagnosestellung: Die Störung sei sehr selten. Im DSM-5 wird die Störung als „schizotype Persönlichkeitsstörung“ den Persönlichkeitsstörungen zugeordnet und eine Prävalenzrate in gemeindebasierten Studien zwischen 0,6 in norwegischen und 4,6 in US-amerikanischen Untersuchungen angegeben. In klinischen Populationen scheint die Störung seltener vorzukommen.
ICD-11 Schizotype Störung Die Diagnose verbleibt wie in der ICD-10 im Block der psychotischen Störungen. Die Diagnosekriterien sind unverändert.
In diesem Buch wird die schizotype Störung, die als schizotypische Persönlichkeitsstörung unter dem Gesetzesbegriff der schweren anderen seelischen Abartigkeit subsumiert wird, i. R. der Persönlichkeitsstörungen (➤ Kap. 21) behandelt.
17.3. Wahnhafte Störungen 17.3.1. Klinik Eine wahnhafte Störung liegt gemäß ICD-10 dann vor, wenn über mehr als 3 Monate ein Wahn besteht, der eindeutig auf die Person bezogen ist. Weitere psychotische Symptome sind nicht vorhanden, affektive Symptome können zwischenzeitlich auftreten. Im DSM-5 wurde das Kriterium des nichtbizarren Wahns aufgehoben und „mit bizarrem Inhalt“ als Spezifizierungsmerkmal aufgenommen. Die Symptomatik
muss mindestens 1 Monat anhalten. Die Beziehung der wahnhaften Störung zur Schizophrenie ist unklar. Ein nichtbizarrer Wahn beinhaltet Situationen, die sich im realen Leben durchaus ereignen können. Abgesehen von etwaigen direkten Auswirkungen der Wahnphänomene ist die psychosoziale Leistungsfähigkeit nicht wesentlich beeinträchtigt. Verhalten und Erscheinungsbild sind weder bizarr noch offenkundig auffällig. Das Leben der Betroffenen wird von dem Wahn, der zumeist systematisiert und auf ein bestimmtes Thema beschränkt ist, oft dauerhaft und tiefgreifend beeinflusst. Wahnhafte Störungen sind selten. Das DSM-5 gibt eine geschätzte Prävalenz von 0,02 % an; die häufigste Form ist der Typ mit Verfolgungswahn. Als klinisch bedeutsame Subtypen wurden Liebeswahn, Größenwahn, Eifersuchtswahn, Verfolgungswahn und körperbezogener Wahn beschrieben: • Beim Liebeswahn ist das zentrale Wahnthema die Überzeugung, von einer anderen Person, die zumeist einen höheren Status hat, geliebt zu werden. In forensischen Stichproben sind die meisten Personen mit diesem Subtyp männlich, in klinischen Stichproben weiblich (APA 2000). • Beim Größenwahn herrscht die Gewissheit vor, dass man – unerkannt – über großes Talent, Fähigkeiten, Einsichten oder Beziehungen verfügt. Auch religiöse Inhalte sind möglich. • Der Eifersuchtswahn ist – trotz fehlender Beweise und basierend auf falschen Schlussfolgerungen – von der unverrückbar feststehenden Überzeugung geprägt, der Liebespartner sei untreu. Versuche, den Partner von der wahnhaft unterstellten Untreue abzuhalten, können zu forensisch relevanten Handlungen führen. • Der Verfolgungswahn hat die Überzeugung zum Wahnthema, andere hätten sich gegen den Wahnkranken verschworen, um ihm in irgendeiner Weise Nachteiliges zuzufügen. Forensisch relevant wird diese Störung dann, wenn die Betroffenen beginnen, sich gegen die gewähnten Schädiger gewaltsam zur Wehr zu setzen. • Beim körperbezogenen Wahn geht es um körperliche Fehlfunktionen und Missempfindungen. Auch bei den wahnhaften Störungen lassen sich hirnstrukturelle und funktionelle Veränderungen feststellen. In einer Untersuchung von Vincens et al. (2016) konnten Verminderungen der grauen Substanz im Bereich des frontalen / anterioren zingulären Kortex sowie der Insel festgestellt werden. Des Weiteren zeigten sich funktionelle Auffälligkeiten im Inselbereich. Im Gegensatz zur Schizophrenie sind die Veränderungen allerdings auf wenige Hirnareale begrenzt. Die Behandlung der Störung erweist sich unverändert als schwierig. In einer Metaanalyse von Skelton et al. (2015) wurde festgestellt, dass aufgrund fehlender hochwertiger Studien keine evidenzbasierten Empfehlungen für Behandlungen jedweder Art abgegeben werden können. Empfohlen werden Behandlungsansätze, die auch bei der Behandlung anderer psychotischer Störungen wirksam sind.
ICD-11 Wahnhafte Störung Es werden Verlaufsspezifikatoren eingeführt, d. h., es wird ergänzt, ob die Störung symptomatisch, in Teil- oder Vollremission ist. Die Symptomindikatoren sind wie bei den anderen primär psychotischen Störungen anwendbar. Das Zeitkriterium bleibt mit 3 Monaten unverändert. Die induzierte wahnhafte Störung wird nicht mehr als eigenständige Störung geführt.
17.3.2. Begutachtung Die Diagnose bereitet immer dann keine Probleme, wenn eine chronische Ausweitung des Wahnthemas mit ausgeprägter Wahndynamik, wahnhaften Erinnerungsverfälschungen und / oder überschießenden Reaktionen aus wahnhafter Realitätsverkennung zu beobachten ist. Die Diagnose einer wahnhaften Störung ist aber schwierig, wenn dem Untersucher mangels objektiver Fremdangaben eine Realitätstestung nicht möglich ist und Begleitsymptome, die auf eine psychische Störung hinweisen, nicht vorhanden sind. Noch schwieriger wird es, wenn Probanden, die spüren, dass man ihnen nicht glaubt, in der Untersuchungssituation beginnen, das Ausmaß ihrer wahnhaften Überzeugungen zu relativieren. Die anhaltenden wahnhaften Störungen werden gemäß der forensisch-psychiatrischen Konventionen dem 4. Merkmal („schwere andere seelische Abartigkeit“) zugeordnet. Dies mag für leichtere Formen, bei denen der Wahnkranke seine Vorstellungen noch infrage stellen kann und die Vorstellungen auch noch nicht handlungsdeterminierend sind, richtig sein. In schweren und weit fortgeschrittenen Stadien, in denen die Kranken „wahngewiss“ von der Richtigkeit ihrer Denkinhalte überzeugt sind, sind klinisch die Parallelen zum Wahn Schizophrener doch so deutlich, dass auch die Zuordnung zur „krankhaften seelischen Störung“ angemessen erscheint. In diesen Fällen zumindest wird nunmehr für eine Zuordnung zum 1. Merkmal plädiert. Dies begründet sich darin, dass – wie bei den anderen dem 1. Merkmal zugeordneten psychischen Erkrankungen – klinisch ein Krankheitsprozess vorliegt. Die anhaltende wahnhafte Störung zeigt nämlich eine dynamische Entwicklung. Sie ist im Verlauf gekennzeichnet durch fließende Übergänge zwischen noch verständlichen Denkinhalten, überwertigen Ideen und schließlich dem Verlust des Realitätsbezugs und der Kommunizierbarkeit der Wahninhalte. Da außerhalb der Wahnthematik die soziale Funktionsfähigkeit der meisten Betroffenen noch weitgehend erhalten geblieben ist und sich die Tatmotive des Wahnkranken oft nicht von jenen gesunder Täter unterscheiden (z. B. Eifersucht), kann die Beurteilung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit im Einzelfall schwierig sein. Dort, wo Tatmotiv und Tathandlung in klarer Beziehung zum Wahnthema stehen und sich zeigen lässt, dass sich auch außerhalb delinquenten Handelns eine Vielzahl von Verhaltensweisen mit der Überzeugung der Richtigkeit wahnhafter Denkinhalte begründen lassen, wird man eine Aufhebung der Einsichtsfähigkeit meist begründen
und wohl nur sehr selten ausschließen können. Aber selbst dann, wenn man von deutlichen Resteinsichten ausgehen muss, ist bei der Prüfung der Steuerungsfähigkeit zu berücksichtigen, dass diesen Menschen in Situationen, die durch den Wahn bestimmt sind, Handlungsalternativen praktisch nicht zur Verfügung stehen. Für Delikte, die in keinerlei Beziehung zum Wahnthema stehen, wird sich aus der Diagnose einer wahnhaften Störung regelhaft keine Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit herleiten lassen.
17.4. Akute vorübergehende psychotische Störungen 17.4.1. Klinik In der ICD-10 wird unter dieser Rubrik eine heterogene Gruppe verschiedener Störungen zusammengefasst. Systematisches Wissen über diese Störungsgruppe lag zum Zeitpunkt der Erstellung der ICD-10 nicht vor. Die Diagnose wird dann vergeben, wenn für mindestens 1 Tag, aber für weniger als 1 Monat eine psychotische Symptomatik vorliegt (DSM-5). Die ICD-10 stellt das rasche Einsetzen der Symptomatik in den Vordergrund. Meist, aber nicht immer, findet sich im Vorfeld ein akut aufgetretenes massives Belastungsereignis. Das klinische Bild entspricht am ehesten einer akuten schizophrenen Episode. Wenn die Symptomatik nicht innerhalb von 4 Wochen abgeklungen ist, muss an die Erstmanifestation einer Schizophrenie gedacht werden. Eine paranoide, histrionische, narzisstische, schizotypische oder Borderline-PS prädisponieren für die Entwicklung dieser Störungen als Reaktion auf Belastung. Akute psychotische Störungen scheinen bei Menschen aus weniger entwickelten Ländern häufiger aufzutreten als bei Menschen der nördlichen Hemisphäre (Mojtabai 2004). Auch die sogenannten Haftpsychosen sind den akuten vorübergehenden psychotischen Störungen zuzurechnen. Neben der Belastung durch die Inhaftierungssituation spielen auch Verdrängungs- und Verleugnungsmechanismen sowie finale Tendenzen eine Rolle.
ICD-11 Akute vorübergehende psychotische Störung Die Diagnosekriterien akuter Beginn, kurze Dauer sowie wechselndes klinisches Bild bleiben erhalten, die Höchstdauer der Erkrankung beträgt 3 Monate. Es erfolgt eine Spezifizierung nach der Symptomatik (z. B. positive, negative, depressive, manische, psychomotorische, kognitive Symptome), der Störungsverlauf wird kodiert (erste Episode / mehrfache Episoden) und der aktuelle Zustand des Störungsbildes erfasst (z. B. symptomatisch, in Remission). Die wahnhafte Unterform wurde herausgenommen und wird bei Erfüllung des Zeitkriteriums den wahnhaften Störungen zugeordnet. Die anderen Unterformen, die in der ICD-10 dann diagnostiziert werden, wenn das Zeitkriterium der Schizophrenie nicht erfüllt ist oder die erforderlichen Informationen fehlen, werden in der ICD-11 in die
Kategorien „sonstige und nicht näher bezeichnete Schizophrenie“ oder „primär psychotische Störung“ eingeordnet.
17.4.2. Begutachtung Lässt sich eine floride psychotische Symptomatik zum Tatzeitpunkt sichern, ist die Beurteilung einfach und folgt den Regeln, die bei floriden schizophrenen Psychosen gelten. Beurteilungsprobleme kann es dann geben, wenn der psychotische Zustand zum Untersuchungszeitpunkt nicht mehr besteht und die Angaben von Proband und Zeugen unklare und widersprüchliche Informationen liefern.
17.5. Schizoaffektive Störungen 17.5.1. Klinik Unser Wissen um diese Störung ist spärlich. Umstritten ist bereits, ob es sich um eine eigene Krankheitseinheit, eine Sonderform der Schizophrenie, das gleichzeitige Vorliegen einer Schizophrenie und einer bipolaren Störung oder um die „psychotischen Endausprägungen“ einer affektiven Grunderkrankung handelt. Nicht wenige Patienten, die in einer bestimmten Erkrankungsphase die Diagnose schizoaffektive Störung bekommen haben, hatten bei einer früheren Phase die Diagnose einer affektiven oder schizophrenen Störung erhalten oder bekommen eine solche Diagnose in einer späteren Episode. Die der Diagnose zugrunde liegenden Kriterien haben über die letzten Versionen der ICD und des DSM bedeutsame Änderungen erfahren. Grundsätzlich ist eine eindeutige Trennung zwischen Schizophrenien, schizoaffektiven Störungen und affektiven Störungen auf psychopathologischer Ebene nicht einfach. Die schizoaffektive Störung wird in den Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-5 sehr unterschiedlich konzeptioniert. In der ICD-10 ist das entscheidende diagnostische Kriterium das gleichzeitige Auftreten von affektiven und schizophrenen Symptomen. Die einzelnen Episoden bzw. der Verlauf können als schizomanisch, schizodepressiv und als gemischte schizoaffektive Störung klassifiziert werden. Im DSM-5 liegt eine schizoaffektive Störung dann vor, wenn während einer Krankheitsphase gleichzeitig die diagnostischen Kriterien der Diagnosen Schizophrenie (A-Kriterium) und Manie oder Depression auftreten. Weiterhin muss es im Langzeitverlauf der Erkrankung eine mindestens 2-wöchige Periode ohne affektive Symptomatik gegeben haben (DSM-5). Die affektiven Symptome müssen über die meiste Zeit der Gesamtdauer der floriden und residualen Perioden der Erkrankung bestehen. Der Verlauf ist phasenhaft mit vollständigen Remissionen. Zur Verbesserung der Reliabilität wurde im DSM-5 die schizoaffektive Störung unter Berücksichtigung des Langzeitverlaufs der Störung klarer von der Schizophrenie mit affektiven Symptomen getrennt, was zu einer Reduzierung der Diagnosehäufigkeit führen wird.
Klinisch lassen sich je nach Dominanz der jeweils vorliegenden affektiven Symptomatik ein bipolarer und ein depressiver Subtyp unterscheiden. Über die Lebensspanne hinweg scheint es eine Verschiebung vom bipolaren hin zum depressiven Subtyp zu geben. Männer mit schizoaffektiver Störung zeigen gehäuft antisoziale Persönlichkeitszüge. Frauen erkranken häufiger, aber später als Männer und leiden eher am depressiven Subtyp. Mangels entsprechender Forschung kennen wir weder die genaue Ätiologie noch Näheres zur Epidemiologie. Wie auch bei der Schizophrenie werden genetische sowie prä- und postnatale Faktoren als Krankheitsursache diskutiert. Die Prognose der Erkrankung ist meist günstiger als bei der Schizophrenie. Prädiktoren für einen ungünstigen Verlauf sind früher und schleichender Erkrankungsbeginn ohne besondere Belastungssituationen, eine ausgeprägte Negativsymptomatik und Verwandte, die an einer Schizophrenie leiden. Etwa 10 % der Patienten begehen Suizid. Die Behandlung erfolgt medikamentös und psychotherapeutisch. Wir verfügen über kein breites und gesichertes Wissen zur Art und Häufigkeit kriminellen Verhaltens bei Menschen mit einer schizoaffektiven Störung. Wenn Studien Patienten mit Schizophrenie und schizoaffektiven Störungen umfassten, zeigten sich diesbezüglich keine Unterschiede zwischen beiden Störungsbildern, sodass man die bei Schizophrenen erhobenen Befunde wohl auf schizoaffektiv Erkrankte übertragen kann.
ICD-11 Schizoaffektive Störung Die Psychopathologie wird lediglich im Querschnitt und nicht wie im DSM-5 im Längsschnitt bei der Diagnosestellung betrachtet. Es müssen alle diagnostischen Kriterien für das Vorliegen einer Schizophrenie sowie einer mittelschweren oder schweren affektiven Störung gleichzeitig vorliegen und mindestens 1 Monat andauern. Es können Symptomausprägung (positive, negative, depressive, manische, psychomotorische, kognitive Symptome), Symptomschwere und Verlauf erfasst werden.
17.5.2. Begutachtung Die Begutachtung dieser Störung gleicht, was akute und subakute Krankheitsphasen betrifft, der der Schizophrenie. In Phasen der Vollremission wird man, insbesondere für eindeutig dissozial motivierte Delikte, kaum eine nennenswerte Einschränkung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit herleiten können. Wirklich problematische Beurteilungsfragen können sich in beginnenden und abklingenden Krankheitsphasen ergeben. Hier gilt es, die zum Tatzeitpunkt konkret gegebene Symptomatik und die sich daraus ergebenden tatsächlichen Funktionseinschränkungen zu bestimmen.
17.6. Sonstige psychotische Störungen In diesen Kategorien finden sich die – meist von wahnkranken Bezugspersonen induzierten – wahnhaften Überzeugungen bei ansonsten psychisch Gesunden (Folie à deux). Im Rahmen strafrechtlicher Begutachtungen sind diese Störungsbilder unbedeutend. Eine gewisse forensische Bedeutung haben Wochenbettpsychosen, wenn es i. R. der Erkrankung zu Kindesmisshandlungen oder gar Tötungen kommt. Diagnostisch ergeben sich regelhaft keine Schwierigkeiten.
ICD-11 Sonstige spezifische Schizophrenien oder sonstige primär psychotische Störung und nicht näher bezeichnete Schizophrenie oder nicht näher bezeichnete psychotische Störung In diesen Restkategorien werden psychotische Störungen zusammengefasst, welche die in den anderen Diagnosekategorien vorgegebenen Zeitkriterien oder inhaltlichen Kriterien nicht erfüllen.
17.7. Forschungsbedarf und Ausblick Trotz umfangreichen Wissens über Prädiktoren für gewalttätiges Verhalten bei Menschen mit einer Schizophrenie gelingt es bisher nicht, Risikopatienten frühzeitig zu identifizieren und damit Gewalttaten zu verhindern. Die Ursachen dafür sind vielfältig, liegen aber vor allem darin, dass gesichertes empirisches Wissen keinen ausreichenden Eingang in die Praxis findet. Während der Kindheit werden verhaltensauffällige Kinder nicht den Behandlungsprogrammen zugeführt, welche die Integration in Familie und Peergroup verbessern und damit das Risiko des Übergangs in eine Schizophrenie reduzieren. Entsprechende Behandlungsprogramme sind bekannt. In der Jugend und im frühen Erwachsenenalter werden Risikokinder nicht ausreichend engmaschig überwacht und betreut, um frühzeitig die Entwicklung einer Schizophrenie zu diagnostizieren und zu behandeln. Verschiedene Untersuchungen aus den letzten Jahren ergaben Hinweise für ein erhöhtes Gewaltrisiko in der Ersterkrankungsepisode (Latalova 2014). Eine Metaanalyse von Nielssen und Large (2010) zeigt, dass knapp 40 % aller von Menschen mit einer psychotischen Störung begangenen Homizide i. R. einer ersten Krankheitsepisode vor Behandlung stattfanden. Darüber hinaus haben Psychotiker mit frühem Krankheitsbeginn mit höherer Wahrscheinlichkeit antisoziale Persönlichkeitszüge, eine forensisch-psychiatrische Vorgeschichte und eine Substanzstörung (Huber et al. 2016). Im Erwachsenenalter kommt es aufgrund der nicht ausreichenden Vernetzung und Zusammenarbeit zwischen Allgemeinpsychiatrie und forensischer Psychiatrie sowie
aufgrund notwendiger, aber fehlender rechtlicher Rahmenbedingungen zu wiederkehrenden zivilrechtlichen Unterbringungen in der Allgemeinpsychiatrie, bis eine Deliktschwere erreicht wird, die zur Unterbringung im Maßregelvollzug führt. Transparenz ist eine unverzichtbare Voraussetzung, um Bedarfe in der Versorgung zu erfassen und Veränderungen herbeizuführen. Eine zielführende Versorgungsforschung wird jedoch durch die länderspezifischen Maßregelvollzugsgesetze und divergierende Interessenlagen verhindert. Aber erst durch diese Daten ließen sich zum einen weitere Erkenntnisse über Risikofaktoren und Trigger für Gewalt gewinnen, zum anderen aber auch politische Veränderungen auf den Weg bringen, um die erforderlichen Präventionsprojekte zu etablieren. Derzeit geht die Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung: Problematische und verhaltensgestörte Kinder werden zunehmend sich selbst überlassen; Präventionsprojekten, die allgemeine und forensische Psychiatrie gemeinsam organisieren müssten, fehlt die rechtliche Basis, um die Adhärenz der schwierigen Klientel im Zweifelsfall zu unterstützen und sicherzustellen, und Maßregelvollzug und Allgemeinpsychiatrie driften eher weiter auseinander.
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KAPITEL 18
Affektive Störungen (und Anpassungsstörungen) Elmar Habermeyer
18.1 Verlaufsformen, Vorkommen und Ätiologie 18.2 Depression 18.2.1 Prävalenz / Verlauf 18.2.2 Diagnose 18.2.3 Sondergruppen 18.2.4 Differenzialdiagnostik 18.2.5 Therapie 18.3 Manie 18.3.1 Prävalenz / Verlauf 18.3.2 Diagnose 18.3.3 Sondergruppen 18.3.4 Differenzialdiagnostik 18.3.5 Therapie 18.4 Anpassungsstörung 18.4.1 Prävalenz / Verlauf / Diagnose 18.4.2 Differenzialdiagnostik 18.4.3 Sondergruppen 18.4.4 Therapie 18.5 Kriminologie
18.5.1 Depression 18.5.2 Bipolare affektive Störung 18.5.3 Anpassungsstörung 18.6 Begutachtung 18.6.1 Affektive Störungen 18.6.2 Anpassungsstörungen
18.1. Verlaufsformen, Vorkommen und Ätiologie Merke Die affektiven Störungen (ältere, nicht mehr gebräuchliche Bezeichnungen: „manischdepressives Irresein“, „zyklothyme Psychosen“, „phasische Psychosen“) sind durch Veränderungen der Stimmungslage (Depression, Manie) gekennzeichnet. Nach Symptomatik und Verlaufsform wird diese Krankheitsgruppe in der ICD-10 (WHO 2004) in fünf Untergruppen unterteilt: 1. Manische Episode (F30) 2. Bipolare affektive Störung (F31) 3. Depressive Episode (F32) 4. Rezidivierende depressive Störung (F33) 5. Anhaltende affektive Störung (F34)
Die Aufzählung macht deutlich, dass zwischen Episoden als solitärem Ereignis und Störungen, die durch das wiederholte Auftreten bzw. Alternieren von Episoden gekennzeichnet sind,
unterschieden wird. Daher kann die Diagnose einer depressiven oder manischen Episode letztendlich nur bei Erstmanifestation gestellt werden. Der weitere Verlauf als entweder monopolares oder bipolares Störungsbild entscheidet dann darüber, ob eine rezidivierende depressive Störung oder eine bipolare Störung vorliegt. Episoden dieser Störungsbilder können dann, genau wie die erstmalig aufgetretene Episode, hinsichtlich ihres Schweregrads (Hypomanie oder Manie, leichte bis schwere depressive Episode), aber auch unter Berücksichtigung psychotischer Symptome differenziert kodiert werden (z. B. als bipolare Störung, gegenwärtig schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen). Die Diagnose einer Zyklothymie bzw. Dysthymie erfasst anhaltende affektive Auslenkungen, die nicht den Schweregrad der depressiven bzw. hypomanischen Episode erreichen, aber länger als 2 Jahre Bestand haben. Schließlich werden in der ICD-10 „andere affektive Störungen“ (z. B. affektive Mischzustände) und „nicht näher bezeichnete affektive Störungen“ aufgeführt (➤ Tab. 18.1). Es ist zu erwarten, dass sich an diesen Vorgaben auch in der ICD-11 (WHO 2019) nichts Grundsätzliches ändern wird.
Tab. 18.1 F3
ICD-10-Klassifikation der affektiven Störungen
Klassifikation
Art der Störung
F30
Manische Episode
F31
Bipolare affektive Störung
F32
Depressive Episode
F33
Rezidivierende depressive Störung
F34
Anhaltende affektive Störung
F34.0
Zyklothymia (➤ Box 18.3)
F34.1
Dysthymia (➤ Box 18.2)
F38
Sonstige affektive Störungen
F39
Nicht näher bezeichnete affektive Störung
Bei F30 – F33 wird zwischen manischen bzw. depressiven Episoden ohne oder mit psychotischen Symptomen unterschieden, die wiederum in synthyme (z. B. hypochondrischer, Verarmungs-, Versündigungswahn) und parathyme (z. B. Verfolgungswahn) Wahninhalte differenziert werden. Die affektiven Störungen haben viele Gemeinsamkeiten. Als sogenannte Double Depression zwischen Dysthymia und depressiven Episoden können sie alternierend bzw. als Komorbidität bestehen. Die in ➤ Kap. 18.4 dargestellten Anpassungsstörungen stellen an psychosoziale Belastungsfaktoren gebundene subdepressive Symptombilder dar; hier kann es jedoch zum Übergang in manifeste depressive Episoden kommen, die dann (unabhängig vom Auslösemechanismus) als solche zu kodieren wären. Trotz der z. T. fließenden Übergänge zwischen den affektiven
Störungen bestehen auch Unterschiede, weshalb zunächst in ➤ Kap. 18.2, ➤ Kap. 18.3 und ➤ Kap. 18.4 Ausführungen zu den einzelnen Störungsbildern (Depression, Manie, Anpassungsstörung) folgen.
18.2. Depression 18.2.1. Prävalenz / Verlauf Depressive Störungsbilder sind häufig und haben über Jahre hinweg Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit bzw. verursachen einen hohen Leidensdruck. Etwa 80 % aller depressiven Erkrankungen verlaufen monopolar depressiv, d. h., es kommt zu rezidivierenden depressiven Krankheitsphasen (Berger et al. 2019). Affektive Störungen treten in Deutschland mit einer 12-Monats-Prävalenz von 9,3 % auf, wobei depressive Episoden mit 7,7 % am häufigsten sind. Bei der Dysthymie liegen die Raten bei 2 %, bipolare Störungen weisen eine Prävalenz von 1,5 % auf (Jacobi et al. 2014). Die Lebenszeitprävalenz einer depressiven Episode liegt bei 16–26 %. Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer. Rezidivierende depressive Störungen sind nach aktuellen Verlaufsstudien mit einer nicht unerheblichen Tendenz zur Chronifizierung bzw. zur Ausbildung von überdauernden Leistungseinbußen verbunden, in 55–65 % der Fälle kommt es zu Rezidiven; etwa 10–15 % chronifizieren (Berger et al. 2019).
18.2.2. Diagnose Die diagnostische Kategorie der nach Intensität in leichte, mittelgradig und schwer unterschiedenen „depressiven Episode“ umfasst heterogene Zustandsbilder, deren Erscheinungsspektrum von der reaktiven über die neurotische bis hin zur „endogenen“ Depression der tradierten Nosologie reichen kann. Es müssen daher unbedingt der Intensitätsgrad eines depressiven Syndroms und seine psychopathologische Qualität, also seine spezifische Erlebnisfärbung, unterschieden werden. Dabei stellt die früher
„endogen“ genannte und nunmehr in der ICD-10 als somatisches Syndrom bzw. im DSM-5 (APA 2015) als melancholisches Syndrom beschriebene depressive Symptomatik mit z. B. Früherwachen, Morgentief, Freudverlust, Affektstarre, Gewichtsverlust, Verzweiflung, Schuldgefühlen einen klinisch besonders bedeutsamen Subtyp dar. So wichtig die Feststellung einer endogenen Depression oft für den Behandlungsplan und die Prognose ist, so sehr ist sie in Bezug auf die forensischpsychiatrische Entscheidung i. Allg. ein Scheinproblem. Zum einen ist darauf zu verweisen, dass biografische Krisen und schwelende Konflikte sehr wohl – auch endogene – Krankheitsphasen zur Manifestation bringen können und sich dann in der Symptomatik „Endogenes“ mit „Reaktivem“ vermischt. Zum anderen muss ausdrücklich betont werden, dass auch reaktive Depressionen psychiatrische Störungen sind, die je nach Schweregrad in Bezug auf die Behandlungsnotwendigkeit, die Suizidgefahr oder die Einschränkung der Entfaltung und Handlungsmöglichkeiten der Persönlichkeit keineswegs leichter genommen werden dürfen als endogene Depressionen. Neben der Intensität des aktuellen Syndroms ist auch die subjektive Wahrnehmung der mit der Störung verbundenen Leistungseinbußen zu berücksichtigen. Das Leitsymptom der Depression ist die depressiv gedrückte Stimmungslage mit Leere und Hoffnungs- bzw. Freudlosigkeit. Eine zunehmende Gehemmtheit lähmt alle seelischen Abläufe. Antrieb und Aktivität werden vermisst („Ich kann nicht mehr arbeiten“, „Alles steht wie ein Berg vor mir“), die Patienten können nicht mehr planen, kommen mit ihrer Arbeit nicht zurecht, das Denken ist erschwert. Andererseits kann es aber auch zu agitierten Bildern kommen. Hierbei fehlt es zwar nicht an Antrieb, jedoch bleiben die mit großer Unruhe durchgeführten Aktivitäten i. d. R. ineffektiv. Die Sprache ist leise, langsam und unmoduliert, bei agitierten Verläufen gehetzt. Die Denkabläufe sind karg, die Erlebnisbreite ist eingeengt. Das Denken wird von quälenden Sorgen und Ängsten überschattet: Sorgen um den Arbeitsplatz, die Familie, die Gesundheit, die Existenz. Eine zentrale Rolle spielen Selbstentwertungstendenzen. Ein allgemeines Gefühl, unwert zu sein, kann sich ausweiten und
auch die zurückliegende Biografie mit allen bisherigen Leistungen schal erscheinen lassen. In schweren Fällen können wahnhafte Ausgestaltungen der Ängste und der Selbstentwertungstendenzen hinzutreten: Die Patienten glauben, unheilbar krank zu sein, sehen unausweichlich schwerstes Unglück durch Verarmung oder Verachtung durch die Umwelt auf sich zukommen. Bei stärkerer wahnhafter Ausgestaltung glauben die Patienten, nicht mehr krank, sondern schlecht und ausgestoßen zu sein. Während Patienten anderer Krankheitsgruppen, z. B. Schizophrenie und anhaltende wahnhafte Störung oder Suchtkrankheiten, die Schuld nach außen projizieren, ist beim Depressiven i. d. R. der „Zeiger der Schuld auf den Patienten gerichtet“ (Scheid 1934). Dieser Sachverhalt ist von forensischem Interesse, weil Betroffene mit Versündigungswahn sich z. T. schwerwiegender Delikte bezichtigen. Eine forensisch relevante Ausnahme von dieser Regel kann sich jedoch im Kontext des homizidal-suizidalen Syndroms ergeben, auf das in ➤ Kap. 18.5.1 eingegangen wird.
Kasuistik Ein 42-jähriger Bankbeamter schrieb vor einem Suizidversuch einen Brief an seinen Direktor, in dem er sich umfangreicher Unterschlagungen bezichtigte. Auch im psychiatrischen Krankenhaus gab der hochgradig depressive Patient als Motiv für den Suizidversuch die nicht mehr zu vertuschenden Unterschlagungen an. Eine sofortige Revision bei der Bank ergab, dass überhaupt keine Unterschlagungen stattgefunden hatten; vielmehr litt der Patient an einer endogenen Depression mit wahnhaft ausgestalteten Selbstbezichtigungen.
Die biologische Fundierung der Verläufe mit somatischem Syndrom ist an der Veränderung der Tagesrhythmik (stärkste
Symptomatik morgens und vormittags, gegen Abend i. Allg. Aufhellung der Stimmungslage) ebenso erkennbar wie an der Umkehr des Schlaf-Wach-Rhythmus (quälende Schlaflosigkeit durch Früherwachen, oft schon bald nach Mitternacht). Hierbei handelt es sich um ein besonders charakteristisches, oft schon im Vorstadium auftretendes und praktisch nie fehlendes Symptom. Zusammen mit Interessen-, Libido- und Appetitverlust, Gewichtabnahme sowie der mangelnden Fähigkeit zur affektiven Reaktanz werden Morgentief und Früherwachen in der ICD-10 als sog. „somatisches Syndrom“ klassifiziert, das bei schweren depressiven Episoden vorausgesetzt wird (WHO 2004). Dieses somatische Syndrom darf nicht mit den diffusen Organbeschwerden depressiver Menschen (Kopfdruck, Brustenge, Herzsensation, Magen-Darm-Störungen) verwechselt werden. Die Suizidmortalität bei depressiven Patienten beträgt 2,2–8,6 %. 40–70 % aller Suizide erfolgen i. R. einer Depression (Berger et al. 2019). Eine besondere Suizidgefahr besteht bei wahnhafter Symptomatik, quälenden Selbstentwertungstendenzen, bei ausgeprägten und quälenden somatischen Begleiterscheinungen, beim Fehlen mitmenschlicher oder religiöser Bindungen. Es ist wichtig zu wissen, dass der quälend unter Selbstmordimpulsen leidende Patient meist gern bereit ist, sich auf verständnisvolle Fragen hin einem Arzt anzuvertrauen. Diese Problematik wird ausführlich in ➤ Kap. 44 (Begutachtung von Suiziden bzw. Suizidversuchen) bearbeitet.
18.2.3. Sondergruppen Bei der sog. agitierten Depression wird das Krankheitsbild von einer dranghaften Unruhe mit hemmungslosem und nicht einzudämmendem Jammern und Klagen bestimmt. Der Gedanke, dass es besser wäre, nicht mehr zu leben, beherrscht eine große Zahl dieser Patienten. Außerdem zeigt diese Patientengruppe aufgrund des erhöhten Antriebsniveaus auch deutlichere Verhaltensauffälligkeiten.
Aus Erkenntnissen der Suizidforschung (Rutz et al. 1995) heraus wird in den letzten Jahren versucht, den Besonderheiten der depressiven Verstimmungen bei Männern mit dem Konzept der „male depression“ gerecht zu werden (Möller-Leimkühler 2009). Charakteristisch sind hier neben Unruhe / Agitiertheit ein Rückzug und das Verantwortlichmachen von anderen für die eigene schwierige Lage. Depressive Symptome verbergen sich bei Männern nicht selten hinter Gereiztheit bis gar Feindseligkeit, einer Ablehnung von Hilfsangeboten und einem verstärkten Alkoholkonsum. Durch diese Besonderheiten (➤ Box 18.1) wird das Konzept der „male depression“ für die forensische Psychiatrie relevant, denn sie können einen Verstehenshintergrund für z. B. Intimizide und Gewaltdelikte im familiären oder beruflichen Kontext geben, weshalb in ➤ Kap. 18.5.1 genauer auf diese Thematik und das zugehörige homizidal-suizidale Syndrom eingegangen wird.
Box 18.1 Besonderheiten der Male Depression (nach Möller-Leimkühler 2009) • Abstreiten von Kummer / Traurigkeit, Klagen über Stress • Unruhe, Schlafstörungen • Vermehrter Alkohol- und Nikotinkonsum • Sozialer Rückzug, der oft verneint wird • Forderung nach Autonomie („lasst mich in Ruhe“) • Ablehnung von Hilfe („ich kann das allein“) • Externalisierung (andere sind verantwortlich) • Verdeckte oder offene Feindseligkeit • Ab- oder zunehmendes sexuelles Interesse
Als larvierte Depressionen bezeichnet man diejenigen Fälle, in denen körperliche Störungen im Vordergrund stehen, sodass nicht nur Patienten, sondern über lange Zeit auch Ärzte an ein rein körperliches Leiden glauben. Der depressive Affekt ist meist geringer ausgeprägt und mutet als psychologische Reaktion auf die körperlichen Störungen an. Diagnostisch richtungweisend sind der phasenhafte Verlauf und die stets durchschimmernde Grundsymptomatik, d. h., die Verbindung von Antriebsverlust, Veränderung des Schlaf-Wach-Rhythmus mit Durchschlafstörungen sowie den oben beschriebenen Tagesschwankungen. Bei den Dysthymien handelt es sich nicht um phasenhaft abgegrenzte, sondern um chronisch-subdepressive Verstimmungen (➤ Box 18.2).
Box 18.2 Dysthymia Die Patienten fühlen sich über mindestens 2 Jahre hinweg müde und depressiv, grübeln, schlafen schlecht, zeigen Selbstentwertungstendenzen. Wenn Symptomakzentuierungen vorliegen, die als leichte depressive Episode gewertet werden können, so sollten diese Episoden den Verlauf weniger prägen als die dysthymen Verfassungen (sonst würde man von einer Double Depression sprechen). Auslösend können biografische Einbrüche oder Kränkungserlebnisse sein. Der Dysthymia sind viele Fälle zuzuordnen, die in früheren diagnostischen Konzepten als neurotische Depression klassifiziert wurden.
18.2.4. Differenzialdiagnostik Bei schizophrenen Psychosen können vor allem bei chronischen Verläufen überwiegend depressiv gefärbte Krankheitsstadien ohne spezifisch schizophrene Symptomatik auftreten. Die Abgrenzung gegenüber einer affektiven Psychose ist im Regelfall durch eine Längsschnittanalyse des Krankheitsverlaufs möglich.
Als Vorbote hirnorganischer Erkrankungen, vor allem des höheren Lebensalters (Arteriosklerose, hirnatrophische Prozesse, Morbus Parkinson), aber auch bei Hirntumoren, entzündlichen Hirnerkrankungen und nach schweren Hirnverletzungen können ausgeprägte und schwere depressive Störungen auftreten. Hier hilft die organische Abklärung inkl. bildgebender Verfahren weiter. Pharmakogene Depressionen findet man mitunter nach hoch dosierter und lang dauernder Medikation mit unterschiedlichen Medikamenten (z. B. Kortikosteroide).
18.2.5. Therapie Der weitaus überwiegende Teil depressiver Störungen wird ambulant behandelt. Bei schweren Depressionen mit Suizidalität, insbesondere bei wahnhafter Symptomatik, ist die Krankenhausaufnahme, ggf. die Unterbringung auf einer geschützten Abteilung erforderlich. In diesen Fällen bedarf es darüber hinaus auch einer effektiven medikamentösen Therapie, um die im weiteren Verlauf erforderlichen psychotherapeutischen Behandlungsschritte überhaupt erst angehen zu können. Bei der psychopharmakologischen Therapie depressiver Störungen werden mittlerweile die SerotoninWiederaufnahmehemmer bevorzugt, da sie im Vergleich zu den trizyklischen Antidepressiva bei gleicher Wirksamkeit ein überlegenes Nebenwirkungsprofil besitzen, was auch zur Verhütung von Suiziden beitragen kann: Bei begleitender psychotischer Symptomatik ist die Gabe von Antipsychotika sinnvoll. Vieles spricht dafür, die medikamentöse Behandlung durch psychotherapeutische Interventionen zu ergänzen (Übersicht bei Herpertz und Mundt 2007). 60–70 % der Patienten mit rezidivierenden depressiven Störungen sprechen auf antidepressive Pharmakotherapie und / oder störungsspezifische Psychotherapie an (Berger et al. 2019). Eine Metaanalyse (Kamenov et al. 2017) verweist auf eine signifikante, aber ebenfalls mäßig ausgeprägte Überlegenheit einer Kombinationsbehandlung gegenüber reiner Pharmakotherapie. Die Vorteile der Kombinationsbehandlung
scheinen vor allem in einer Abkürzung der Behandlungszeit zu liegen. Außerdem kann zusätzliche Psychotherapie die Compliance steigern (Feijo de Mello et al. 2005). Es scheint aber auch Patientengruppen zu geben, bei denen eine Kombinationsbehandlung eher wenig bewirken kann: So schnitten depressive Patienten mit psychotischen Symptomen im Vergleich zu Patienten ohne psychotische Symptome bei einer Kombinationsbehandlung schlechter ab (Gaudiano et al. 2006). Dies verdeutlicht, dass bei wahnhaften Verläufen die Basis für weitere Interventionen zunächst über eine effektive (auch neuroleptische) Behandlung geschaffen werden muss. Eine alleinige psychotherapeutische Intervention bei schweren depressiven Episoden stellt bei solchen Fällen i. d. R. nämlich eine massive Überforderung der Betroffenen dar und birgt das Risiko weiterer Symptomverschlechterungen, insbesondere mit Suizidalität. Bei schweren, vor allem wahnhaften und sogenannten therapieresistenten Depressionen ist eine Elektrokonvulsionstherapie (EKT) angezeigt (Berger et al. 2019).
18.3. Manie 18.3.1. Prävalenz / Verlauf Das Lebenszeitrisiko des Auftretens einer bipolaren Störung ist mit 1–2 % deutlich geringer als das depressiver Störungsbilder: Nur ca. ein Fünftel der Patienten mit rezidivierenden depressiven Episoden zeigt auch manische (Bipolar I) bzw. hypomanische (Bipolar II) Bilder. Frauen und Männer sind gleich häufig betroffen. Affektive Residualsymptome bestehen in 20–30 % der Fälle der bipolaren Störungen, psychotische Phänomene spielen in Akutphasen bei 50 % der Betroffenen eine Rolle. Das Suizidrisiko entspricht dem bei depressiven Störungen, komorbide Substanzgebrauchsstörungen sind häufiger als bei unipolarer Depression (Berger et al. 2019). Bipolare Störungen sind genetisch verankert: Die Erkrankungswahrscheinlichkeit bei eineiigen Zwillingen beträgt 70 %, bei zweieiigen Zwillingen 18 %, bei Geschwistern 15 %, bei
Kindern von bipolaren Elternpaaren etwa 65 %, bei Kindern eines bipolaren Elternteils 30 % (Maier et al. 2000). Das klinischpsychopathologische Bild stellt einen phänotypischen Endzustand dar, zu dessen Manifestation auch nichtgenetische (psychosoziale) Bedingungsfaktoren beitragen.
18.3.2. Diagnose Die manische Symptomatik stellt den Gegenpol zur depressiven dar: Die Stimmungslage ist gehoben, der Antrieb gesteigert, der Gedankenstrom vermehrt. Die Patienten reden pausenlos in oftmals nur noch locker-assoziativer Verknüpfung (Ideenflucht). Durch Hemmungsverluste bzw. den Fortfall von Hemmungen sind sie distanzlos, aufdringlich, u. U. auch verletzend und beleidigend. Die Spannweite der Ausdrucksmöglichkeiten reicht von witzig-heiterer Umtriebigkeit mit manchmal geradezu ansteckender Fröhlichkeit bis hin zu gereizt-streitsüchtiger und querulatorisch anmutender Verstimmung. Bei Untermischung mit wahnhaften Beeinträchtigungsideen können manische Psychosen eine stark paranoide Färbung erlangen. Die Symptomatik führt i. V. m. einer Kritikminderung bzw. kritiklosen Selbstüberschätzung fast regelhaft zu erheblich störenden, den Patienten meist auch nachhaltig schädigenden Verhaltensweisen. Sinnlose und die finanziellen Verhältnisse bei Weitem übersteigende Käufe oder Vertragsabschlüsse werden getätigt, die dranghafte Umtriebigkeit führt zu Herumreisen, riskantem und rüpelhaftem Verhalten im Straßenverkehr, Beleidigungen und Betrugshandlungen. In etwa zwei Drittel der Fälle ist eine manische Hypersexualität zu beobachten (Winokur et al. 1975). Dies kann sehr peinliche, aber auch gesundheitliche und juristische Folgen haben: unerwünschte Elternschaft, venerische bzw. HIV-Infektion (Brown et al. 2010), Verfahren wegen Beleidigung oder Verstoßes gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Die Auswirkungen manischer Episoden sind daher nicht nur sozial weitaus störender als die depressiver. Oft fügen sich Betroffene in kurzer Zeit schwerwiegenden materiellen und
moralischen Schaden zu. Ein Maniker kann in 3 Tagen mehr Schaden anrichten, als in 3 Jahren wieder gutzumachen ist! Problematisch ist vor allem, dass manische Patienten i. d. R. kein Krankheitsgefühl haben und daher auch krankheitsuneinsichtig sind. Es besteht ein gehobenes körperliches Wohlbefinden. Sie wirken auch auf die Umwelt frisch und tatkräftig, sodass Laien ihr Verhalten über lange Strecken eher als anstößig, verletzend oder leichtfertig, nicht aber als Ausdruck einer psychischen Störung einordnen.
18.3.3. Sondergruppen Von besonderer diagnostischer, therapeutischer, aber auch forensischer Relevanz sind Rapid-Cycling-Verläufe bipolarer Störungen. Das DSM-5 (APA 2015) definiert dieses Störungsbild, das sich bei 15–20 % der bipolaren Störungen entwickeln kann (Berger et al. 2019), als Auftreten von mindestens vier Episoden einer Manie, Hypomanie oder Depression innerhalb von 12 Monaten. Solche gehäuften Episoden gehen mit einer schlechteren Prognose einher und erfordern oftmals die kombinierte Gabe mehrerer Phasenprophylaktika (Grunze et al. 2002). Die Zyklothymia ist definiert als eine über 2 Jahre hinweg bestehende Stimmungsinstabilität, bei der die Kriterien einer depressiven bzw. hypomanischen Episode nicht erfüllt sind. Die Lebenszeitprävalenz liegt bei 0,4–1 %. Spätere Übergänge in eine manifeste bipolare Störung sind in bis zur Hälfte der Fälle möglich (Berger et al. 2019).
18.3.4. Differenzialdiagnostik Schizophrene Psychosen können mitunter eine „expansive Symptomatik“ mit Größenideen, Betriebsamkeit und starkem Rededrang haben, sodass eine Abgrenzung gegenüber der Manie schwierig sein kann – dies auch deshalb, weil bei manischen Episoden paranoide Symptome wie Beeinträchtigungswahn, religiöse Größen- oder Sendungsideen bestehen können. Vor allem die ersten manischen Phasen sind hierdurch oft atypisch, bis der
weitere episodische Verlauf bzw. der Wechsel in die Depression die Einordnung als bipolare Störung ermöglicht. Expansive Symptome mit gesteigerter Betriebsamkeit oder „Größenwahn“ mit kritikloser Euphorie können auch bei hirnorganischen Erkrankungen auftreten. Eine differenzialdiagnostische Abgrenzung ist i. d. R. durch differenzierte psychopathologische Befunderhebung, vor allem aber durch neurologische und laborchemische Abklärung, Liquorpunktion und Bildgebung möglich. Bei Männern kann die Gabe des Aldosteronantagonisten Spironolacton über Veränderungen des Testosteronstoffwechsels Manien auslösen. Außerdem wird in den letzten Jahren vermehrt über die Frage anabolikainduzierter hypo- bzw. maniformer Entgleisungen im Umfeld der Bodybuilder-Szene diskutiert (Talih et al. 2007; Piacentino et al. 2015). Die Möglichkeit einer medikamentösen Verursachung (z. B. durch Kortisonpräparate) der manischen Symptomatik sollte genauso wie die Frage von Substanzeinflüssen (z. B. durch Phencylidine) regelhaft überprüft werden. Bezüglich drogeninduzierter affektiver Störungen ist insbesondere auf kokain- bzw. amphetamininduzierte maniforme Symptombilder zu verweisen, auf die nach Beendigung der Substanzeinnahme depressive Symptome folgen können. Genauere Angaben hierzu finden sich in ➤ Kap. 15.
18.3.5. Therapie Die Auswirkungen manischer Psychosen sind fast immer so schwerwiegend, dass eine stationäre Behandlung unumgänglich ist. Wegen der fehlenden Krankheitseinsicht kann ggf. auch eine Zwangseinweisung erforderlich werden. Hierbei kommt es jedoch insbesondere bei unkritischen Geldausgaben nicht selten zu Problemen, da manche Juristen bei solchen Konstellationen die Sicherheit und Gesundheit der Betroffenen nicht akut gefährdet sehen. In diesem Fall ist die Unterbringung über die Regelungen des Betreuungsrechts anzustreben.
In der Akutbehandlung kommen stimmungsstabilisierende Substanzen zum Einsatz, wobei Lithium aktuell eine Renaissance als Mittel der 1. Wahl erlebt. Lithium ist aus forensischer Sicht auch wegen seiner möglichen antiaggressiven und antisuizidalen Wirkungen interessant. Bei der Gabe von Neuroleptika ist die hohe Rate von extrapyramidalen Nebenwirkungen bei manischen Patienten zu beachten. Da mittlerweile auch Atypika zur Behandlung der Manie zugelassen sind, sollte diesen Präparaten der Vorzug gegeben werden. Im forensischen Kontext sind die antiaggressiven Effekte dieser Substanzen bedeutsam. Jedoch gilt es angesichts der insgesamt moderaten antiaggressiven Effekte die Vorteile dieser Behandlungsoption sorgfältig gegenüber den zu erwartenden Nebenwirkungen abzuwägen (van Schalkwyk et al. 2018). Zu Beginn der Behandlung ist oftmals auch die Gabe von Benzodiazepinen erforderlich, die in der Langzeitbehandlung jedoch keine Rolle spielen. Ähnlich wie bei den schizophrenen Störungen ist eine stabile pharmakologische Behandlung für die Langzeitprognose von Patienten mit bipolaren Störungen essenziell (Übersicht zur medikamentösen Behandlung bei Grunze et al. 2002). Als Dauermedikation zur Verhütung des Auftretens weiterer Krankheitsphasen stehen verschiedene Stimmungsstabilisierer (Mood Stabilizer; als Mittel der 1. Wahl Lithium, aber auch Valproat und Carbamazepin) zur Verfügung. Die Präparate werden spiegeladaptiert verabreicht, was eine externe Kontrolle der Compliance ermöglicht. Diese ist insbesondere bei der ambulanten Behandlung i. R. von Bewährungsauflagen angezeigt. Die Zahl der Studien zu einem zusätzlichen Therapieeffekt durch Psychotherapie für die Akutphase der bipolaren Störungen ist begrenzt (Übersicht bei Herpertz und Mundt 2007). Eine bessere Datenbasis liegt für die Wirksamkeit der Kombinationsbehandlung in der Erhaltungsphase vor. So konnten Colom et al. (2003) an einer Gruppe von 100 Patienten eine Verlängerung der Remissionsphase und eine Senkung der Rehospitalisierungsfrequenz nachweisen. Als Wirkfaktoren der Psychotherapie werden eine verbesserte Compliance, aber auch die frühere Identifikation von
Prodromalsymptomen diskutiert.
und
eine
geregeltere
Lebensführung
18.4. Anpassungsstörung 18.4.1. Prävalenz / Verlauf / Diagnose Eine gewisse Nähe zu den affektiven Störungen zeigen die Anpassungsstörungen, die nicht selten mit depressiven Symptomen einhergehen. Anpassungsstörungen sind ähnlich wie die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) durch einen definierten Auslöser ätiologisch definiert. Im Fall der Anpassungsstörung ist eine identifizierbare psychosoziale Belastung eines nicht außergewöhnlichen oder katastrophalen Ausmaßes gefordert (WHO 2004). Die zugrunde liegenden psychosozialen Belastungen sind nicht nur sehr heterogen, sondern es treten auch häufig Anpassungsstörungen auf. Man muss davon ausgehen, dass 5–20 % der Patienten in ambulanter psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung als Hauptdiagnose eine Anpassungsstörung haben (Bengel et al. 2019). Nach dem vorherrschenden Bild der Symptomatik kann dann weiter differenziert werden: • Kurze oder längere depressive Reaktion • Angst und depressive Reaktion gemischt • Mit vorwiegender Beeinträchtigung von anderen Gefühlen • Mit vorwiegender Störung des Sozialverhaltens • Mit gemischter Störung von Gefühlen und Sozialverhalten • Mit sonstigen vorwiegend genannten Symptomen Definitionsgemäß handelt es sich um eine benigne psychische Störung: Die Symptomatik soll nicht länger als 6 Monate (bei den längeren depressiven Reaktionen 2 Jahre) nach Ende der Belastung und ihrer Folgen andauern. Mit zunehmendem zeitlichem Abstand zum Stressor wird eine Besserung der Symptomatik vorausgesetzt. Allerdings muss man hierbei berücksichtigen, dass einige psychosoziale Stressoren, z. B. Arbeitslosigkeit, auch über längere
Zeiträume hinweg bestehen und dadurch zu längeren Anpassungsstörungen beitragen können. Entsprechend kann die Symptomatik bei einer längeren Belastung auch persistieren (Bengel et al. 2019). Außerdem können Betroffene mit Anpassungsstörungen im weiteren Verlauf depressive Störungsbilder entwickeln.
18.4.2. Differenzialdiagnostik Da die Anpassungsstörung weniger durch eine spezifische Symptomatik als vielmehr durch die Symptomgenese infolge belastender Lebensereignisse (Maercker und Gurris 2018; Bengel et al. 2019) charakterisiert ist, entsteht ein sehr heterogenes Störungsbild, das in der Mehrzahl der Fälle jedoch durch depressive Reaktionen, teilweise i. V. m. Angstsymptomen, gekennzeichnet ist. Hierzu bleibt festzuhalten, dass in der ICD-10-Klassifikation gefordert ist, dass die depressive Symptomatik allenfalls leicht ausgeprägt sein soll. Entwickelt sich in Reaktion auf ein belastendes Lebensereignis eine Symptomatik, welche die Kriterien einer depressiven Episode erfüllt, so ist die Diagnose einer depressiven Episode zu stellen.
18.4.3. Sondergruppen Von besonderer forensisch-psychiatrischer Bedeutung sind diejenigen Anpassungsstörungen, die sich durch Störungen des Sozialverhaltens manifestieren (ICD-10: F43.24), und solche, bei denen sich affektive Symptome mit sozialen Auffälligkeiten durchmischen (ICD-10: F43.25). Insbesondere bei Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen können in Reaktion auf psychosoziale Belastungen auch Aggressivität und dissoziale Verhaltensstile auftreten. In solchen Fällen kommt es nicht selten zum Konsum psychotroper Substanzen, um Stress abzubauen. Der Substanzkonsum kann wiederum zu einem Hemmungsverlust bzgl. aggressiver Impulse beitragen und dadurch Verhaltensauffälligkeiten begünstigen. Somit bestehen sehr komplexe Interaktionen zwischen psychosozialen Belastungen, den
Stressbewältigungsmechanismen bzw. Copingstrategien Betroffener und deren Persönlichkeit.
18.4.4. Therapie Um eine effektive Therapie durchführen zu können, müssen die individuellen Wirkbedingungen, die zur Entstehung bzw. Aufrechterhaltung der Symptomatik, eventuell aber auch zu pathologischen Copingstrategien beigetragen haben, differenziert erfasst und hinsichtlich ihrer Veränderbarkeit überprüft werden. Nachfolgend ist abzuklären, ob die Stressbewältigungsmechanismen des Betroffenen so stabil sind, dass eine stationäre Behandlung vermieden werden kann. Ansonsten kommt eine stationäre Krisenintervention infrage. Therapiestrategien umfassen psychotherapeutische Interventionen, insbesondere supportive psychotherapeutische Strategien, die Gabe von Antidepressiva und auch die kurzfristige medikamentöse Entlastung, z. B. durch niedrigpotente Neuroleptika oder Benzodiazepine. Bei der psychopharmakologischen Behandlung ist jedoch darauf zu achten, dass Benzodiazepine auch zur Enthemmung und Freisetzung aggressiver Impulse beitragen können.
Kasuistik Frau D. (36) ist seit 15 Jahren mit einem Mann verheiratet, der mindestens einen missbräuchlichen Alkoholkonsum betreibt, wenn nicht sogar alkoholabhängig ist. Deswegen war es zwischen den Eheleuten immer öfter zu Streitigkeiten gekommen, in deren Verlauf der Ehemann zunehmend aggressiv auf die Vorhaltungen seiner Ehefrau reagierte. Wie in den Tagen zuvor konsumierte der Ehemann am Tattag in einer Werkstatt auf dem Gelände des Wohnhauses mit Freunden Alkohol, was Frau D. in Sorge und Aufregung versetzte. Sie bat ihn mehrfach, den Alkoholkonsum zu unterbrechen, fand dabei jedoch keine Resonanz bzw. wurde vom
Ehemann und seinen Freunden ausgelacht. In dieser Situation erlitt Frau D. eine Hyperventilation mit Hyperventilationstetanie. Sie wurde in ein regionales Krankenhaus verbracht und erhielt dort eine Benzodiazepin-Injektion, woraufhin sich die Symptomatik zurückbildete. Nachdem die Patientin in die häusliche Umgebung zurückgekehrt war, wurde sie entgegen ihres sonst eher defensiven Verhaltens gegenüber dem Ehemann aggressiv übergriffig. Nachdem der Ehemann und seine Freunde die Werkstatt verlassen hatten, steckte Frau D. diese in Brand. Ihren Angaben zufolge habe sie gehofft, dadurch den Ehemann in Zukunft vom Trinken abzuhalten. Es sei ihr darum gegangen, den Ort des Alkoholkonsums zu zerstören. Angst habe sie dabei nicht empfunden. Die Folgen ihres Handelns habe sie nicht bedacht.
18.5. Kriminologie 18.5.1. Depression In früheren Auflagen wurde davon ausgegangen, dass Patienten mit depressiven Erkrankungen i. R. der landläufigen Kriminalität praktisch nicht in Erscheinung treten. Diese Einschätzung bezog sich insbesondere auf den melancholischen Typ bzw. endogene Depressionen und hängt mit den Besonderheiten der dabei zu beobachtenden Symptomatik zusammen, die durch Gehemmtheit, Skrupelhaftigkeit und Selbstentwertungstendenzen vor dem Straffälligwerden schützt. Auch außerhalb depressiver Phasen sind diese Menschen wegen ihrer besonderen Wesensart nur selten straffällig, da Genauigkeit, Korrektheit, soziale Erwünschtheit, stabile mitmenschliche Beziehungen, Leistung und Rechtschaffenheit ihr Wertsystem bestimmen („Typus melancholicus“ i. S. von Tellenbach 1983). Die wahnhaften Selbstbeschuldigungen depressiver Personen, die vielfach den Tatbestand der Vortäuschung einer Straftat erfüllen, sind im Regelfall leicht durchschaubar und führen kaum jemals zu
gerichtlichen Verfahren und Begutachtungen. Erhebliche Schwierigkeiten können aber aus Unterlassungen erwachsen, die mit schweren Antriebsstörungen und Hemmungen zusammenhängen. Strafrechtliche Konsequenzen aus unterlassener Hilfeleistung oder Vernachlässigung der Aufsichtspflicht sind zwar extrem selten, spielen aber im Disziplinarrecht und bei Regressforderungen mitunter eine Rolle: wenn Amtsträger Fristen versäumen, ein Personalleiter Anmeldungen zur Sozialversicherung von Arbeitnehmern nicht vornimmt oder überhaupt Dienstaufgaben über längere Zeit mit erheblichen nachteiligen Konsequenzen nicht erledigt werden. Dabei kann sich z. B. eine über Monate hinziehende Nichterledigung von Arbeitsaufgaben als überwiegend durch massive Antriebsstörungen gekennzeichnete Depression herausstellen. Trotzdem ergeben sich auch bei Depressionen Gefährdungsmomente, unter denen strafbare Handlungen i. R. von Suizidalität herausragen (Lammel 1987). Bedeutsam ist der erweiterte Suizid, bei dem die depressive Person engste Angehörige, meist Kinder, mit in die Selbstmordhandlung einbezieht, weil sie der wahnhaften Überzeugung ist, dass auch ihnen Unheil, Krankheit und Elend bevorstehen und der Tod der einzige Ausweg ist. An dieser Stelle soll nur erwähnt werden, dass in einer Studie aus den USA nahezu die Hälfte der Mütter, die ihre Kinder töteten, an schweren depressiven Episoden litt (Friedmann et al. 2005). Die Kriminologie der Depression ist jedoch nicht auf das Thema Suizid beschränkt, vielmehr kann es, etwa i. R. eines depressiven Verarmungswahns, auch zu strafbaren Handlungen kommen.
Kasuistik Ein 63-jähriger Rechtsanwalt, der in der mütterlichen und väterlichen Linie sowohl mit depressiven als auch mit schizophrenen Psychosen belastet war, hatte i. R. eines depressiven Verarmungswahns innerhalb von 6 Monaten Mandantengelder in Höhe von rund 125.000 Euro unterschlagen. Von diesem Geld ließ
er sich vom Angestellten einer Lottozentrale für 5.000 Euro Lottoscheine ausfüllen, in der Hoffnung, „einmal mit sechs Richtigen“ seine vermeintlich hoffnungslose Situation zu wenden. Im Vorfeld der Unterschlagungshandlung stand eine klassische depressive Symptomatik, die nicht nur durch zunehmende und objektiv unbegründete Verarmungsvorstellungen gekennzeichnet war, sondern auch z. B. durch typische Tagesschwankungen, die dazu führten, dass er nur noch in den Nachmittags- und Abendstunden in der Lage war, Schriftsätze zu verfassen oder mit Mandanten zu sprechen, während er vormittags durch eine schwere Antriebsstörung praktisch tatenlos in der Kanzlei herumsaß. Er litt ferner an Durchschlafstörungen mit Früherwachen und quälenden Grübelzwängen.
Außerdem verweisen Daten von Fazel et al. (2015) auf ein erhöhtes Gewaltrisiko bei depressiven Menschen. In diesem Kontext wird das Konzept der „male depression“ relevant, das einen zunehmenden Alkoholkonsum, aber auch Reizbarkeit mit ggf. auch aggressiven Verhaltensauffälligkeiten als Ausdruck einer zugrunde liegenden depressiven Verfassung einordnet. Von Bedeutung ist dabei, dass sich Männer beim Vorliegen depressiver Verfassungen eher zurückziehen, verstärkt Alkohol konsumieren und sich schwertun, einen Hilfebedarf anzuerkennen. Darüber hinaus zeigen sie im Kontext depressiver Verstimmungen häufiger Agitation und Feindseligkeit. Dementsprechend sollten ein neu auftretender intensiver Alkoholkonsum, eine bislang nicht bekannte Reizbarkeit und Aggressivität, ein brütender Rückzug oder eine agitierte Besorgtheit Anlass sein, eine depressive Symptomatik abzuklären. Zu beachten ist dabei die sogenannte homizidal-suizidale Verfassung, d. h. die Kombination von Selbsttötungsgedanken mit z. B. Rachefantasien bzgl. Personen, die für die eigene Notlage verantwortlich gemacht werden. Diese Konstellation ist keinesfalls typisch für depressive Verstimmungen, kann aber dennoch nicht nur
bei narzisstischen Krisen, sondern auch bei depressiven Episoden von Relevanz sein. Dies gilt insbesondere im Kontext von Tötungsdelikten an (Ex-)Intimpartnern, wo sich Rachegedanken, Liebe und Verzweiflung im Vorfeld des Tötungsdelikts abwechseln können. Cheng und Jaffe (2019) analysierten retrospektiv 135 kanadische Tötungsdelikte im Intimpartnerkontext. Bei insgesamt 64 % der Täter war entweder a) im Vorfeld der Tat eine depressive Störung durch eine medizinische Fachperson dokumentiert worden, oder es wurden b) im Nachgang von Freunden und Familienmitgliedern depressive Symptome beim Täter beschrieben. Die als depressiv klassifizierten Täter waren im Vergleich zu den nichtdepressiven Tätern signifikant älter, sprachen im Vorfeld häufiger Suiziddrohungen aus und begingen häufiger im Anschluss an die Tat Suizid. Dies bestätigt den Befund von Belfrage und Rying (2004), dass bei Tötungsdelikten im Kontext von Partnerbeziehungen die Suizidrate viermal höher ist als bei einer weniger engen Täter-Opfer-Beziehung. James und Farnham (2003) fanden einen signifikanten Zusammenhang zwischen der Diagnose Depression bei Stalkern und schweren Gewaltdelikten. Entsprechend gelten Depression und Suizidalität als wichtige Risikofaktoren für Gewalt im Kontext von Stalking (MacKenzie et al. 2009). Bei der Bewertung von bedrohlichem oder besorgniserregendem Verhalten sollten daher Verhaltensweisen bzw. Äußerungen, die auf eine zunehmende Verzweiflung oder Bedrängnis der bedrohlichen Person hinweisen, als Warnverhalten aufgefasst werden, das mit einer depressiven Symptomatik zusammenhängen kann. Betroffene sehen sich demnach i. S. eines letzten Auswegs („last resort“) in eine Position gedrängt, in der nur Gewalt als der nächste logische, notwendige und einzige Schritt bleibt, um die Notlage zu beheben. In ihrer subjektiven Wahrnehmung betrachtet die bedrohliche Person alle anderen Alternativen zur Gewalt als ausgeschöpft und die Gewalttat daher gerechtfertigt (Guldimann et al. 2013; Habermeyer und Guldimann 2019).
Kasuistik Ein 35-jähriger Unternehmer hatte den Konkursverwalter seines Betriebes getötet. Er wies keine juristische und psychiatrische Vorgeschichte auf. Allerdings ließen sich rigide Persönlichkeitszüge und eine fehlende emotionale Ansprechbarkeit, wie sie für schizoide Menschen typisch ist, beschreiben. In der gravierenden psychosozialen Belastungssituation durch die drohende Insolvenz des eigenen Unternehmens kam es im Verlauf von 3 Monaten vor dem Delikt zu 1) einer depressiven Stimmungslage, 2) starker Anspannung, 3) Interessen- und Freudverlust, 4) Verlust des Selbstvertrauens, 5) wiederkehrenden Suizidgedanken, 6) Denkund Konzentrationsstörungen sowie 7) Schlafstörungen. Damit waren die Kriterien für das Bestehen einer mittelgradigen depressiven Episode erfüllt. Die Symptomatik ging nicht nur mit suizidalen Ideen, sondern mit einer homizidal-suizidalen Tatbereitschaft einher, was im Wesentlichen auf die angespannte Unruhe und affektive Labilisierung des Probanden zurückzuführen war. Vom Suizidvorhaben trat er nach Tötung des Konkursverwalters zurück. Er stellte sich der Polizei, da er nicht mehr die Kraft dazu gehabt habe, sich zu töten.
Im Vorfeld suizidaler Handlungen und mitunter gekoppelt mit krankhaften Selbstbestrafungstendenzen kann es zu parasuizidalen Handlungen kommen, in deren Rahmen Eigentumsdelikte (z. B. Kaufhausdiebstähle) begangen werden. Die Dynamik solcher triebhafter Wegnahmehandlungen wird ebenso von der Abwehr quälend-unerträglicher Suizidimpulse bestimmt wie etwa von dem Zwang, den in der Depression empfundenen Unwert quasi auszuleben. Schulte (1954) hat darauf hingewiesen, dass bei der Depression die tiefgreifende Lockerung des Persönlichkeitsgefüges, Verlustängste und ein darniederliegendes Selbstwertgefühl bei älteren männlichen Patienten auch der Hintergrund von Triebtaten
(Exhibitionismus, unzüchtige Handlungen an Kindern) sein können. Damit wird im Zusammenhang mit einer bei depressiven Personen gelegentlich auch einmal anzutreffenden Libidosteigerung (regelhaft ist sonst die Libido vermindert) eine Selbstwertbestätigung bzw. kurzzeitige Verbesserung der Stimmungslage angestrebt (Kafka 2010). Mende (1967) hat auf Delikte von depressiven Personen im Straßenverkehr aufmerksam gemacht. Gemeint sind vor allem Alkoholdelikte und ihre Folgen (z. B. Unfallflucht), wenn zur psychischen Entlastung vermehrt oder aber i. R. einer ambulanten Behandlung mit hoch dosierten Antidepressiva zusätzlich Alkohol getrunken wird, da die meisten psychotropen Pharmaka die Alkoholwirkung z. T. erheblich potenzieren. Auf einen vermehrten Alkoholkonsum ist eventuell auch die hohe Rate depressiver Störungen bei häuslichen Gewaltstraftätern zurückzuführen (Graham 2012). Ein weiterer Problembereich betrifft Eigentumsdelikte (Mundt 1981), der komplexe Überlegungen erforderlich macht, die unten anhand eines Fallbeispiels diskutiert werden sollen. Auch eine Schweizer Untersuchung über die Kriminalitätsbelastung männlicher Patienten mit affektiven Störungen von Modestin et al. (1997) hat die auffallend niedrige Kriminalitätsbelastung von Patienten mit unipolaren depressiven Psychosen mit Ausnahme erweiterter Suizidhandlungen bestätigt. Die gegenüber einer Vergleichsgruppe doppelt so hohe Kriminalitätsbelastung von Patienten mit bipolaren affektiven Psychosen wird den im Folgenden zu besprechenden manischen Phasen zur Last gelegt. Die im Vergleich zu bipolaren Störungen geringe Kriminalitätsbelastung hat sich auch in einer Studie von Graz et al. (2009) bestätigt, die in einem Zeitfenster von 7–12 Jahren nach stationärer Behandlung wegen einer Depression nur bei 4,7 % der 702 Patienten Verurteilungen fand. Ein noch geringerer Anteil der depressiven Patienten (1,4 %) war dabei mit Gewalthandlungen aufgefallen. In einer weiteren Studie konnten Modestin et al. (2002) nachweisen, dass die ohnehin geringe Kriminalitätsneigung unipolar-depressiver Patienten nur unwesentlich von der psychopathologischen Typik des
depressiven Syndroms (endogene bzw. ängstlich-agitierte Depression) abhängt. Vielmehr erwiesen sich soziodemografische Faktoren in Abhängigkeit von Alter und sozialer Schichtzugehörigkeit als die wichtigsten Prädiktoren von Straffälligkeit bei depressiv erkrankten Menschen. Dieser Sachverhalt macht deutlich, dass sich kriminelles Handeln nur selten auf lediglich einen Faktor zurückführen lässt. Vielmehr ist es in den überwiegenden Fällen die Kombination mehrerer Risikovariablen, die zu kriminellem Handeln führt. Bei der forensisch-psychiatrischen Begutachtung muss auf diese Interaktion mehrerer Variablen (z. B. soziale Desintegration, Suchtmittelkonsum) unter besonderer Berücksichtigung der diagnostizierten Störung geachtet werden. Dabei gilt es dann zu klären, ob die Straftat im Wesentlichen auf die depressive (oder manische) Symptomatik oder auf z. B. die Substanzeinnahme zurückzuführen ist. Der direkte Rückschluss von der Diagnose zur Straftat wird der i. d. R. komplexen Ausgangslage nicht gerecht, was sich insbesondere für den Bereich der Stehlhandlungen von dysthymen (zumeist) Patientinnen gut darstellen lässt: Die Dysthymia zeigt eine hohe Assoziation mit kleptomanischen Verhaltensweisen, auch hier spielen jedoch komplexe Motive eine Rolle, was das folgende Fallbeispiel veranschaulichen soll.
Kasuistik Einer 48-jährigen Frau wurde die betrügerische Unterschlagung von 15.000 Euro vorgeworfen. Ihr Anwalt hatte auf Schuldunfähigkeit wegen Kleptomanie plädiert. Die Probandin berichtete über eine Vielzahl von Konflikten mit Partner und Tochter, aber auch am Arbeitsplatz. Seit ihrer Kindheit und Jugend stehle sie in Kaufhäusern, vor allem in konfliktträchtigen Zeiten. Zuvor verspüre sie ein Gefühl der Anspannung und den Drang, solche Handlungen zu begehen, im Anschluss ein Gefühl der Befriedigung. An ihrem Arbeitsplatz habe sie einen fälschlich eingegangenen Betrag auf ein eigenes Sparbuch umgebucht. Auch
dieser Vorgang sei mit Gefühlen der Spannung einhergegangen. Als sie festgestellt habe, dass ihr Verhalten nicht bemerkt worden war, habe sie in der Folge weitere Umbuchungen durchgeführt. Dabei habe sie stets das Gefühl gehabt, ihre Handlungen nicht kontrollieren zu können. Bei der Untersuchung war die Stimmung der Probandin nachdenklich, gedrückt, die Affektlage weinerlich, die Denkprozesse waren ungestört, flüssig und kohärent. Wahnphänomene, Wahrnehmungsstörungen oder Ich-Störungen konnten ausgeschlossen werden. Die Persönlichkeit der Probandin wies selbstunsichere, gehemmte, aber auch passiv-aggressive Züge auf. Es bestand eine zeitlich überdauernde, subdepressive und aus lebensgeschichtlichen Zusammenhängen ableitbare Verstimmung. Folglich wurde eine Dysthymia diagnostiziert. Außerdem konnte die Probandin typische kleptomanische Verhaltensweisen schildern. Die zur Verhandlung stehenden Taten konnten jedoch nicht auf die kleptomanische Verhaltensabweichung der Probandin zurückgeführt werden: Obwohl die Probandin darauf bestand, dass sie keine Kontrolle über ihr Verhalten gehabt habe, sprach die sichernd und teilweise auch geplant durchgeführte Überweisung der Geldbeträge gegen eine impulshafte Handlung (Habermeyer und Heekeren 2004).
Der Fall bestätigt Kröbers (1988) Warnung davor, bei der Begutachtung einseitig auf Angaben der Probanden abzustellen. Die Analyse der Tatumstände fördert nämlich nicht selten bewusstseinsnahe, aber uneingestandene handlungsleitende Gefühle von Wut, Ärger und Rache zutage. Solche Motive sprechen laut DSM-5 (APA 2015) gegen eine Kleptomanie (deren forensischpsychiatrische Relevanz, wie in ➤ Kap. 24 ausführlicher erörtert, ohnehin kritisch gesehen werden muss) und standen darüber hinaus
in dem geschilderten Fall in einem allenfalls Zusammenhang mit der dysthymen Verstimmung.
lockeren
18.5.2. Bipolare affektive Störung Wesentlich bunter ist das kriminologische Bild manischer Patienten. Das verbindende Glied der unterschiedlichen Erscheinungsformen manischer Psychosen, d. h. die Verknüpfung von Antriebs- und Aktivitätssteigerung mit vermehrtem Gedankenzustrom und erheblichen Einschränkungen der Kritikfähigkeit bzw. Kritikverlust, stellt ein Gefährdungspotenzial für verschiedene Straftaten dar. Brinded et al. (2001) berichten z. B. über eine Prävalenz bipolarer Störungen von ca. 1 % in neuseeländischen Gefängnissen, wobei alle Betroffenen bei Begehung der Delikte an manischen bzw. hypomanischen Verstimmungen litten. Ähnliche Zahlen wurden in einer deutschen Studie (von Schönfeld et al. 2006) gefunden. Hier litten jeweils 1,3 % der männlichen Gefangenen an einer Bipolar-Ibzw. Bipolar-II-Störung. Für eine nochmals größere Bedeutung bipolarer Störungen für delinquentes Handeln spricht die Studie von Graz et al. (2009), denn bei der 7- bis 12-jährigen Nachbeobachtung von Patienten, die wegen einer Manie hospitalisiert waren, wurden im weiteren Verlauf in 15,7 % der Fälle Verurteilungen und in 5,6 % Gewalthandlungen festgestellt. Insgesamt ist der Großteil der Straftaten von Manikern jedoch im Bereich der Bagatelldelikte angesiedelt: Relativ häufig sind Eigentumsdelikte, in diesem Bereich speziell Betrugshandlungen wie Zech- und Kreditbetrug, Bezahlung mit ungedeckten Schecks i. R. unsinniger, die Verhältnisse erheblich übersteigender Käufe und Bestellungen, Leihwagenmiete oder das Eingehen anderweitiger Verpflichtungen. Geschäftspartner können durch wirtschaftliche Transaktionen erheblichen Schaden erleiden. Anvertraute Gelder können zur Deckung der Kosten eines aufwendigen Lebensstils unterschlagen werden. Ebenso kann es zu primitiven Entgleisungen wie Kaufhaus- oder Autodiebstahl kommen. Oft werden manische Patienten auch schon sehr früh im Straßenverkehr auffällig: durch überhöhte Geschwindigkeit, Missachtung von Vorfahrtszeichen und Ü
Verkehrsampeln, gefährliches Überholen, Unfallflucht, also mit all jenen Verhaltensweisen im Straßenverkehr, die durch Rücksichtslosigkeit gekennzeichnet sind und gemeinhin als „rüpelhaft“ gelten.
Kasuistik Ein 25-jähriger Altenpfleger wurde wegen eines Verkehrsvergehens begutachtet. Er hatte nach Antritt einer neuen Stelle kaum noch geschlafen und seinen Arbeitsplatz nach wenigen Wochen wegen Unzuverlässigkeit und Disziplinschwierigkeiten verloren, was ihn nicht weiter gestört habe. Wenige Tage später konsumierte er in einer Gaststätte Bier und geriet wegen der Rechnung in Streit mit dem Wirt, der ihm Lokalverbot erteilte. Der Proband verließ die Gaststätte, um wenige Minuten später mit dem Auto zurückzukehren. Er hatte sich weiteres Bier gekauft, versperrte mit dem Auto den Fußweg und führte auf dem Auto stehend und durch das Fenster der Gaststätte rufend obszöne Reden, die er durch Gesten und Entblößung des Unterleibs unterstrich. Die herbeigerufene Polizei stellte Führerschein und Autoschlüssel sicher und erteilte, nachdem eine Alkoholisierung aufgefallen war, ein Fahrverbot, das der Proband jedoch missachtete: Nach Verlassen der Polizeiwache ging er nach Hause, nahm den Ersatzschlüssel an sich und fuhr mit dem von der Polizei in der Nähe der Gaststätte geparkten Auto davon. Bei der Begutachtung berichtete der Proband, dass er die polizeilichen Anordnungen nicht ernst genommen habe.
Das Fallbeispiel verdeutlicht, dass die Einsicht in rechtliche Normen bei einem Großteil der manischen Patienten vorausgesetzt werden kann. Probleme ergeben sich vielmehr dadurch, dass sich der Maniker nicht mehr an gesetzliche Vorgaben gebunden fühlt.
Die sexuelle Enthemmung i. V. m. einem allgemeinen Niveauverlust bringt weitere kriminelle Risiken mit sich, die sich allerdings mehr auf als Beleidigung qualifizierte Sexualstraftaten beschränken, während Maniker in der eigentlichen Sexualdelinquenz, vor allem i. V. m. Gewaltanwendung, kaum angetroffen werden. Gefährlich wird für manische Patienten mitunter auch ihr expansiver Selbstdarstellungsdrang, ihr Hang, aufzufallen und im Mittelpunkt zu stehen, die Tendenz, auf sich aufmerksam zu machen, besonders dann, wenn bei gereiztdysphorischen Verstimmungen auch Bosheit und Verärgerung auftreten. Dies kann von Handlungen, die als grober Unfug zu klassifizieren wären, über Belästigung bis zu Sachbeschädigung führen. Die Bipolarität der manisch-depressiven Symptomatik macht es, wie das folgende Fallbeispiel zeigt, möglich, dass Betroffene i. R. manischer Entgleisungen durch Distanzlosigkeit und Enthemmung gekennzeichnete Delikte begehen, während rechtliche Schwierigkeiten im Verlauf depressiver Symptombilder durch z. B. depressive Wahnsymptome begünstigt werden.
Kasuistik Ein 48-jähriger manisch-depressiver Unternehmer hatte während einer manischen Phase in einem Hotel nackt eine Zimmertür aufgebrochen und zwei dort übernachtende Damen mit obszönen sexuellen Anträgen belästigt. Ein Jahr später fürchtete er in einer depressiven Phase wahnhaft den Zusammenbruch seines Unternehmens. Er schloss daraufhin eine Feuerversicherung in enormer Höhe ab und zündete mehrere Werkhallen an, um sich mit der Versicherungssumme zu sanieren.
Straftaten gegen Personen reichen von Beleidigung und übler Nachrede bis zu Nötigung, Bedrohung und Körperverletzung, vor allem bei jenen Manieformen, die durch Gereiztheit, Aggressivität
und Querulanz gekennzeichnet sind. In einer groß angelegten Studie von Fazel et al. (2010) wurde für bipolare Patienten über einen Beobachtungszeitraum von 21 Jahren ein um das 2,3-Fache erhöhtes Risiko zur Begehung von Gewaltdelikten festgestellt (8,4 % im Vergleich zu 3,5 % in der Kontrollgruppe), wobei jedoch das Risiko für Patienten ohne begleitenden Substanzmissbrauch nur minimal erhöht war (Odds Ratio 1,3). Auch Fovet et al. (2015) beschreiben eine deutliche Erhöhung des Risikos von Gewalthandlungen bei komorbidem Substanzgebrauch. Diese Befunde unterstreichen die Bedeutung eines Missbrauchs bzw. einer Abhängigkeit von psychotropen Substanzen für die Begehung von Gewaltdelikten und machen deutlich, dass selbst bei schwerwiegenden psychischen Störungen keine monokausalen Wirkzusammenhänge zwischen Störung und Delikt bestehen. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang der Befund von Fazel et al. (2010), dass auch die nicht erkrankten Geschwister von Patienten mit bipolarer Störung eine erhöhte Gewaltrate zeigten, was die Frage nach genetischen oder Umwelteinflüssen aufwirft, die mit der bipolaren Störung nicht zwangsläufig zu tun haben müssen. Ernste Gewalttätigkeiten mit erheblicher Körperverletzung oder gar Todesfolge kommen bei Manikern allerdings selten vor. Nach einer amerikanischen Studie von London und Taylor (1982) konnte zwar bei 34 % einer Gruppe schuldunfähiger Täter die Diagnose einer bipolaren Störung gestellt werden. Diese hatten im Vergleich zu den anderen Störungsgruppen (Alkoholabhängigkeit, Schizophrenie etc.) jedoch weniger Gewaltverbrechen begangen; insbesondere Morde und Sexualverbrechen waren bei den bipolaren Patienten dieser Studie unterrepräsentiert. Manien gehen nicht mit einem erhöhten Risiko für Tötungsdelikte einher (Schanda et al. 2004). Auch Untersuchungen von White (2005) und Nielssen et al. (2012) haben gezeigt, dass schwere Gewaltdelikte bzw. Tötungshandlungen während manischer Entgleisungen selten sind.
18.5.3. Anpassungsstörung
Zur Kriminologie der Anpassungsstörungen gibt es keine gesicherten empirischen Erkenntnisse. Viele der bei den depressiven Störungsbildern dargelegten Ausführungen dürften auch auf dieses heterogene Störungsbild zutreffen. Dies gilt auch für den Bereich der Partnerschaftskrisen, wo es, wie schon Rasch (1964) in seiner Monografie zur Tötung des Intimpartners eindrucksvoll beschrieben hat, zu heftigen Aggressionsdelikten kommen kann. Im Vorfeld kommt es hier zumeist zu Bedrohungen und wiederholten Versuchen der Kontaktaufnahme, die in den letzten Jahren unter dem Begriff Stalking Beachtung gefunden haben (➤ Kap. 42).
18.6. Begutachtung 18.6.1. Affektive Störungen Die affektiven Störungen können während der akuten Krankheitsphase erhebliche Auswirkungen auf Emotionalität, Antrieb, Kognitionen und das persönliche Wertgefüge (Janzarik 1995) haben: • Die manische Expansion (Janzarik 1988) lässt sexuelle, aber auch aggressive Handlungsbereitschaft zutage treten. Patienten fühlen sich oftmals in besonderer Weise gesund und leistungsfähig, sind risikobereiter, sozial umtriebig und lassen sich durch andere nur schwer in ihren Aktivitäten einschränken. • Die depressive Restriktion (Janzarik 1988) des psychischen Feldes führt zu spiegelbildlichen Veränderungen: In der Regel kommt es zu einem ausgeprägten Antriebsmangel, Konzentrationsstörungen, sozialem Rückzug und zur Aktualisierung etwa von hypochondrischen oder finanziellen Ängsten. Wegen des episodischen Verlaufs der affektiven bzw. bipolaren Störung ist der gutachtliche Rückschluss vom aktuellen Beurteilungszeitpunkt auf den häufig lange zurückliegenden
rechtlich entscheidenden Zeitpunkt mit Schwierigkeiten behaftet. Die manische bzw. depressive Episode ist zum Zeitpunkt der Untersuchung zumeist abgeklungen oder tritt infolge erfolgreicher Behandlungsmaßnahmen nur noch abgeschwächt in Erscheinung. Der zeitliche Abstand zwischen Delikt und Begutachtung bedingt diagnostische Irrtumsmöglichkeiten, insbesondere wenn Patienten mit affektiven Störungen ihre Krankheit verleugnen und für ihre Taten pseudopsychologische Erklärungen anbieten. Ohnehin muss man sich davor hüten, allein der Diagnose einer depressiven Episode, einer rezidivierenden depressiven oder bipolaren Störung forensische Relevanz beizumessen. Schließlich verlaufen nicht zuletzt die bipolaren Störungen episodisch. Zeitlich überdauernde erhebliche Beeinträchtigungen der Erlebens- und Handlungsfähigkeit können daher keinesfalls als Regelfall vorausgesetzt werden. Vielmehr ist zunächst einmal zu klären, ob zur Tatzeit überhaupt eine Krankheitsepisode vorlag. In den meisten Fällen reicht es auch nicht aus, lediglich von den Angaben des Betroffenen auf Einbußen rückzuschließen. Vielmehr bedarf es einer sorgfältigen Abklärung, in deren Verlauf z. B. auf Behandlungsberichte bzw. Beobachtungen von Zeugen zurückgegriffen werden muss. Die erhaltenen Informationen sind im Hinblick auf die üblichen klinischen Bilder und Verlaufsgestalten affektiver Störungen zu gewichten. Dabei sind auch zusätzliche Einflüsse (z. B. Konsum psychotroper Substanzen) zu berücksichtigen. Die psychopathologische Erfassung von Qualität und Ausmaß der subjektiven Entmächtigung des Kranken in seiner Depression ist von zentraler Bedeutung für die forensische Beurteilung delinquenten Handelns bei depressiven Menschen. Hierbei ist insbesondere auf die Minderung der affektiven Schwingungsfähigkeit und den Ausprägungsgrad der gedanklichen Einengung (bis hin zur wahnhaften Verfestigung) des Betroffenen zu achten. Liegen relevante Leistungseinbußen vor, müssen ihre Auswirkungen auf einen umschriebenen Sachverhalt (z. B. ein Delikt oder Rechtsgeschäft) gegenüber dem Gericht und den Prozessparteien möglichst exakt beschrieben werden. Dabei sind auch gegebene bzw.
fehlende Zusammenhänge mit den Persönlichkeitszügen, komorbiden psychischen Störungen und / oder einem Substanzkonsum des Betroffenen hinsichtlich ihrer jeweiligen Relevanz für die Straftat differenziert zu erörtern. Schließlich können Gewalthandlungen bei Partnerschaftskonflikten trotz depressiver Symptome nicht selten auf narzisstisch kränkbare Persönlichkeitsmerkmale zurückgeführt werden, oder trotz depressiver Verfassung kann für die unmittelbare Gewalthandlung vorwiegend ein Alkoholkonsum relevant sein. Vor diesem Hintergrund besteht auch bei augenfälligen depressiven Verstimmungen die Notwendigkeit, übliche Reaktionsmuster auf Belastungen und / oder Konflikte abzuklären und im Hinblick auf ihre Relevanz für die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung (➤Kap. 18) zu diskutieren. Hinsichtlich des Substanzkonsums ist auf die zeitliche Entwicklung der Symptome zu achten, denn depressive Verstimmungen können einerseits Folge der durch einen Substanzkonsum ausgelösten psychosozialen Schwierigkeiten oder z. B. im Kontext von Kokainmissbrauch sogar direkte Folge des Konsums sein. Andererseits können depressive und manische Auslenkungen eine Intensivierung des Substanzkonsums begünstigen.
Merke Ist die depressive bzw. manische Symptomatik deliktrelevant, so ist die Zuordnung zum Exkulpierungsmerkmal „krankhafte seelische Störung“ aus klinischer Sicht logischer als die Einordnung als „schwere andere seelische Abartigkeit“. Schließlich sind die Übergänge von reaktiven Episoden zur schweren vitalisierten reaktiven Depression fließend. Bei Delikten i. R. leichterer Verläufe (hypomanische Vor- oder Nachschwankungen, leichte bis mittelschwere Depressionen, „subklinische“ depressive Schwankungen) können strafbare Handlungen jedoch als Parameter
des Grades der Gestörtheit angesehen werden und dadurch die Feststellung einer krankhaften seelischen Störung und nachfolgend auch erhebliche Einbußen der Steuerungsfähigkeit begründen. Allerdings sollte man sich vor direkten Rückschlüssen von der Diagnose auf die Hemmungs- bzw. Steuerungskräfte hüten. Die Frage, ob Freiheitsgrade nicht, unerheblich oder tiefgreifend durch eine depressive Störung eingeschränkt waren, bedarf stets der sorgfältigen Prüfung des Einzelfalls. Außerdem unterliegt sie auch der juristisch-normativen Wertung (Boetticher et al. 2005). Meistens geht es im strafrechtlichen Kontext um manische Episoden. Diese haben vorwiegend Auswirkungen auf die Steuerungsfähigkeit, also die Befähigung, das Verhalten nach rechtlichen Normen auszurichten. Wie in ➤ Kap. 18.5.2 dargestellt, kommt es zu Eigentums- und Verkehrsdelikten. Beleidigungen oder Bedrohungen sind ebenfalls nicht selten. Die sexuelle Enthemmung und Distanzlosigkeit des Manikers kann sexuelle Übergriffe begünstigen. Durch besonders ausgeprägte Einbußen des Steuerungsvermögens infolge formaler Denkstörungen ist die zerfahrene Manie gekennzeichnet. Darüber hinaus müssen Aussagen zum Ausprägungsgrad möglicher Einschränkungen der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit auch Persönlichkeitszüge, motivationale Faktoren, handlungsleitende situative Gegebenheiten und andere komplizierende Faktoren (z. B. Substanzintoxikationen) berücksichtigen. Dabei ist zu bedenken, dass in den Fällen, in denen bei manischen oder depressiven Patienten strafbare Handlungen aus einer Alkoholisierung oder der Verbindung zwischen Alkoholkonsum und Tabletteneinnahme resultieren, eine Bestrafung wegen Rauschtat dann nicht infrage kommt, wenn die Substanzeinnahme zur Kupierung der Symptomatik eingesetzt wurde oder Ausdruck der manischen Kritikminderung und Selbstüberschätzung war. In solchen Fällen entfällt die Vorwerfbarkeit des Sich-in-den-Rauschzustand-Versetzens aus Gründen der affektiv veränderten Verfassung. Festzuhalten bleibt, dass es sich bei den affektiven Störungen mit starker Symptomausprägung um schwere psychische Störungen
handelt, die zu einer tiefgreifenden Veränderung der Persönlichkeit führen und die Sinnesgesetzlichkeit seelischer Vorgänge und Handlungsabläufe zerreißen können. Durch diese Desintegration der Persönlichkeit können rationale Hemmungsbzw. Steuerungsmechanismen gegenüber den störungsspezifischen Erlebnisqualitäten und Impulsen allenfalls bedingt bzw. nicht mehr eingesetzt werden. Im Fall einer wahnhaft motivierten Straftat (z. B. der Tötung von Familienangehörigen bei einem Verarmungswahn oder einem Neonatizid bei Wochenbettdepression) kann auch eine Aufhebung der Einsichtsfähigkeit diskutiert werden. Entscheidend hierbei ist die Frage, ob und inwiefern die Tathandlung wahnhaft determiniert war (Habermeyer und Hoff 2004).
Merke Im Regelfall sind bei Straftaten, die i. R. einer affektiven Psychose begangen werden, die Voraussetzungen des § 21 StGB wegen krankhafter seelischer Störung erfüllt. Wenn wahnhafte Symptombilder, schwere depressive Episoden oder manische Entgleisungen unmittelbar zu Straftaten geführt haben, kann § 20 StGB zur Anwendung kommen. Da es sich bei den Delikten von Personen mit affektiven Störungen überwiegend um geringfügige Verstöße handelt, können arztethische Bedenken dahingehend aufkommen, Betroffene nach Vollremission einer öffentlichen Gerichtsverhandlung auszusetzen, in der sich der Psychiater in foro ausführlich über den Geisteszustand zur Tatzeit, zur Diagnose und Prognose äußert. Die psychische Belastung für diese Klientel wäre in manchen Fällen geringfügiger Verstöße (z. B. verkehrswidriges Verhalten, Kaufhausdiebstahl) sicherlich geringer, wenn die Verstöße ohne Anschneiden der Frage der Schuldfähigkeit mit einem Strafbefehl belegt würden. Als vernünftiger Ausweg bietet sich bei der Gruppe mit geringfügigen Delikten nach Vorliegen eines Gutachtens, das Krankheitseinsicht
und eine günstige Behandlungs- und Kriminalprognose skizziert, die Einstellung des Verfahrens an. Bei gravierenderen Delikten und relevanter Minderung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit stellt sich die Frage der Notwendigkeit einer Unterbringung im Maßregelvollzug. Hier erweist sich die anfangs als nachteilig beschriebene zeitliche Lücke zwischen Delikt und Verhandlung als Vorteil: Da im überwiegenden Teil der Fälle bereits Behandlungsmaßnahmen eingeleitet wurden, ist deren Erfolg beurteilbar und kann zur Grundlage prognostischer Überlegungen werden. Bei den seltenen Straftaten in Zusammenhang mit depressiven Episoden wird man das Gericht zumeist darauf hinweisen können, dass – eine gute psychiatrische Nachsorge vorausgesetzt – das Rückfallrisiko für Straftaten eher gering ist. Bei manischen Episoden liegt das Risiko strafrechtlicher Verwicklungen aufgrund des expansiven Symptomenbildes höher. Jedoch gilt auch hier, dass eine suffiziente Phasenprophylaxe und eine regelmäßige ambulante Nachsorge die Legalprognose wesentlich verbessern können. Anders ist die Lage bei Patienten mit komorbiden Substanzabhängigkeiten, Persönlichkeitsstörungen und / oder einer Vorgeschichte mit erheblichen ComplianceProblemen. Hier versprechen lediglich langfristig angelegte stationäre Therapiemaßnahmen Erfolg. Dennoch werden Unterbringungsmaßnahmen gem. § 63 StGB bei affektiven Erkrankungen nur selten erforderlich. Dies dürfte entscheidend dadurch begründet sein, dass es vorwiegend zu Bagatelldelikten kommt. Deswegen lassen sich die Zahlen von Cassano et al. (2000) zur Prävalenz von 38 % in kanadischen „prison treatment centers“ aufgrund unterschiedlicher rechtlicher Bestimmungen zu Debzw. Exkulpation und Unterbringungsvoraussetzungen nur schwer auf hiesige Verhältnisse übertragen. Hierzulande ist der Anteil bipolarer Patienten in Maßregelvollzugseinrichtungen nach Erhebungen von Leygraf (1988) mit 1,3 % bzw. Seifert und Leygraf (1997) mit 0,4 % der Untergebrachten in Nordrhein-Westfalen allenfalls marginal. Ähnlich niedrige Zahlen berichtet Kröber (2010) aus Hessen, wo von 395 Untergebrachten nur drei die Diagnose einer bipolaren Störung
aufgewiesen hätten. Die niedrigen Fallzahlen sprechen dafür, dass der heutige Standard der Pharmakotherapie mit den effektiven Möglichkeiten der Rezidivprophylaxe i. V. m. einer regelmäßigen psychiatrischen Nachsorge in der Mehrheit der Fälle eine Dauerunterbringung entbehrlich machen kann. Die notwendige Therapie kann oftmals durch Aussetzung der Vollstreckung der Maßnahme zur Bewährung nach § 67b StGB mit gleichzeitigen Behandlungsauflagen und Eintritt von Führungsaufsicht gewährleistet werden. Hierbei kann durch Erfassung der Blutspiegel der verabreichten Phasenprophylaktika auch die Compliance überprüft bzw. sichergestellt werden. Dies ist im forensischen Kontext auch sinnvoll, denn obwohl Gonzales-Pinto et al. (2010) über eine Behandlungstreue von 76,6 % der Patienten im Zeitraum von 2 Jahren berichten, stellt eine begleitende Substanzgebrauchsstörung den maßgebenden Risikofaktor für ein Absetzen der Medikation dar. Auch hier verdeutlicht sich somit das komplexe Bedingungsgefüge von Straftaten bipolarer Patienten, weswegen sich eine Unterbringung gem. § 63 StGB bei vorausgegangenen schweren Rechtsbrüchen, mangelnder Compliance und / oder Fällen chronifizierter bzw. weitestgehend therapieresistenter manischer Psychosen nicht immer umgehen lässt.
18.6.2. Anpassungsstörungen Die strafrechtliche Begutachtung von Anpassungsstörungen ist nicht unproblematisch. Dies beginnt bei der Frage, welchem Eingangskriterium sie zugeordnet werden sollen. Hier bietet sich die tiefgreifende Bewusstseinsstörung nur für diejenigen Fälle an, in deren Verlauf die Belastung zu stärksten affektiven Auslenkungen i. S. eines Affektdelikts geführt hat (➤ Kap. 19). Wenn die Persönlichkeit der Betroffenen eine herausragende Rolle bei der Entstehung der Symptomatik spielt (z. B. bei narzisstischer Kränkung infolge einer Trennungssituation), kann das Vorliegen einer „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ diskutiert werden. Bei einer kurzzeitigen depressiven Reaktion auf ein umschriebenes Ereignis und fehlender psychiatrischer Vorgeschichte kommt die
Einordnung als krankhafte seelische Störung infrage. Hier stellt sich jedoch das Problem, dass die Symptomatik einer Anpassungsstörung definitionsgemäß blande ausgeprägt sein soll und lediglich einen Ausprägungsgrad erreicht, der an der Grenze klinischer Relevanz liegt. Die letztlich für Straftaten entscheidende Komponente tritt dann nicht selten durch eine Alkoholisierung oder Substanzeinnahme hinzu. Dann muss anhand des Ausprägungsgrades des Rauschzustands eine Entscheidung darüber erfolgen, ob die Einstufung als krankhafte seelische Störung gerechtfertigt ist. Das folgende Beispiel soll die Komplexität der Begutachtung von Anpassungsstörungen illustrieren.
Kasuistik Der 45-jährige Proband wurde nach 9 Jahren Ehe von seiner Frau verlassen. Er selbst hegte den Verdacht, dass sie einen neuen Freund habe, weshalb er die Partnerin über mehrere Wochen ausspionierte. Dabei befand er sich in einer unruhigen, subdepressiven Verfassung, die auch mit Schlafstörungen einherging. Am Nachmittag des Tattages kam es zu einer Aussprache zwischen den Eheleuten, während der die Ehefrau ihren Entschluss mitteilte, ihn endgültig zu verlassen. Der Proband kündigte daraufhin an, sich das Leben nehmen zu wollen. Er verabschiedete sich von seinen Kindern und begann erstmals seit mehreren Jahren, Alkohol zu konsumieren, um sich vor dem geplanten Suizidversuch Mut anzutrinken. Mit zunehmender alkoholischer Berauschung geriet er in große Wut und fasste nun den Plan, die Ehefrau und ihren neuen Partner zu bestrafen. Der Proband suchte deren Wohnung auf, trat dort die Tür ein und stach mit dem Messer auf die beiden ein. Die Ehefrau erlag ihren schweren Verletzungen.
Bei der Begutachtung dieses Falls wurde zwar eine Anpassungsstörung diagnostiziert, der Tatentschluss selbst wurde jedoch entscheidend durch die Alkoholintoxikation des Probanden begünstigt. Daher kam es zur Feststellung einer krankhaften seelischen Störung, und die Voraussetzungen des § 21 StGB wurden infolge der Alkoholisierung bejaht. Ohne Alkoholisierung wäre es, z. B. bei einem aggressiven Übergriff während des Gesprächs am Nachmittag, denkbar gewesen, einen aggressiven Durchbruch hinsichtlich des Bestehens einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung zu diskutieren. Die im Vorfeld bestehende Anpassungsstörung hatte zwar zu einer depressiven Reaktion mit Auffälligkeiten des Sozialverhaltens (der Proband hatte den vermeintlichen Nebenbuhler bedroht) geführt, diese Auffälligkeiten waren jedoch für sich genommen nicht als krankheitswertig zu klassifizieren.
Merke Bei der Begutachtung von Anpassungsstörungen sind nicht nur die hier dargelegten Ausführungen zu den Anpassungsstörungen selbst, sondern immer auch diejenigen zu tiefgreifenden Bewusstseinsstörungen (➤ Kap. 19), Störungen durch Alkohol (➤ Kap. 14) bzw. Drogen (➤ Kap. 15) bzw. zur Persönlichkeitsstörung (➤ Kap. 21) relevant. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Intelligenz eine große Bedeutung für die Konfliktlösefertigkeiten der Betroffenen hat, sodass auch dieser Faktor, der in ➤ Kap. 20 ausführlich behandelt wird, zu berücksichtigen ist. Auch hier ergeben sich jedoch komplexe Interaktionen dadurch, dass Menschen mit Intelligenzminderung z. B. auf Alkohol sensibel reagieren. Bei der Begutachtung von Menschen in Konfliktsituationen gilt es, die Auswirkung nicht nur manifester geistiger Behinderungen, sondern auch von Grenzbegabungen auf
die soziale Konfliktfähigkeit sachverständig zu erörtern, ohne dass diesen jedoch zwangsläufig eine Bedeutung hinsichtlich der Schuldfähigkeit zukommt. Da die Anordnung einer Unterbringung im Maßregelvollzug die zeitlich überdauernde störungsbedingte Gefährlichkeit der Betroffenen voraussetzt, kann die definitionsgemäß benigne verlaufende Anpassungsstörung für sich genommen nicht als Unterbringungsgrund infrage kommen. Auch hier kommt es entscheidend auf die zugrunde liegende Persönlichkeit und / oder Suchtprobleme an. Insgesamt ist die forensisch relevante Aussagekraft der Diagnose einer Anpassungsstörung gering, obwohl sie bei der strafrechtlichen Begutachtung häufig gestellt wird.
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KAPITEL 19
Die „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“ und andere affektive Ausnahmezustände Klaus Foerster, Stephan Bork und Ulrich Venzlaff†
19.1 Begriffsbestimmung und Abgrenzung 19.2 Beurteilung 19.2.1 Persönlichkeit 19.2.2 Affektentwicklung 19.2.3 Tatablauf 19.2.4 Weitere Aspekte 19.2.5 Nachtatverhalten 19.2.6 Beurteilungsschemata 19.3 Forensisch-psychiatrische Beurteilung
19.1. Begriffsbestimmung und Abgrenzung Historisch gesehen wurden hochgradige affektive Erregungszustände in der Rechtsprechung lange als vorübergehende Geistesstörungen und damit als Exkulpierungsgrund betrachtet, so
auch schon in römischer Zeit (ausführlich zur historischen Entwicklung s. Ritzel 1980; Saß 1983; Venzlaff 1985). Aufgrund der Entwicklung der Psychopathologie und der zunehmenden klinischen Erfahrung in der psychiatrischen Wissenschaft konnte ein großer Teil dieser zunächst als unspezifisch gesehenen Erregungszustände als psychopathologisch differenziert beschreibbare Symptome psychischen Erkrankungen zugeordnet werden, etwa schizophrenen oder manischen Psychosen, hirnorganischen Erkrankungen oder zerebralorganischen Anfallsleiden (Venzlaff 1985). Treten i. R. von psychotischen oder hirnorganischen Störungen solche affektiven Durchbrüche auf, so sind diese als Symptome der zugrunde liegenden Erkrankungen zu betrachten und dementsprechend der Merkmalskategorie „krankhafte seelische Störung“ zuzuordnen. Das Gleiche gilt für die Beurteilung affektiver Erregungszustände bei persönlichkeitsgestörten Tätern, etwa bei Probanden mit einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung. Auch hier ist ein affektiver Erregungszustand als Symptom der Persönlichkeitsstörung zu sehen und gemäß den Kriterien für die Beurteilung von Persönlichkeitsstörungen (➤ Kap. 21) zu beurteilen. Somit verbleibt die Frage, wie affektive Ausnahmezustände bei im Wesentlichen psychisch gesunden Tätern einzuschätzen sind. Dabei kann ein Zustand hochgradigen Affekts nach allgemeiner Ansicht die Annahme von Schuldunfähigkeit oder verminderter Schuldfähigkeit begründen (Fischer 2018). Die Beschreibung derartiger Zustände wird in §§ 20, 21 StGB durch die gesonderte Merkmalskategorie „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“ charakterisiert. Der Begriff Bewusstseinsstörung kann zu Missverständnissen zwischen Juristen und Medizinern Anlass geben, da hierunter nicht der medizinische Begriff einer Bewusstseinsstörung verstanden wird (zur Entstehungsgeschichte Lenckner 1972). Handelt es sich um körperlich bedingte Störungen des Bewusstseins im medizinischen Sinn, z. b. bei einer Alkohol- oder Medikamentenintoxikation, bei einem deliranten Zustand oder bei einem zerebralorganischen Krampfleiden, so sind diese Bewusstseinsstörungen als Symptome
der jeweiligen Grunderkrankung zu verstehen und dementsprechend der Merkmalskategorie „krankhafte seelische Störung“ zuzuordnen. Der juristische Begriff Bewusstseinsstörung i. S. der §§ 20, 21 StGB meint dagegen eine Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Vergegenwärtigung des intellektuellen und emotionalen Erlebens, also Zustände, die auch als Bewusstseinsveränderung oder Bewusstseinseinengung bezeichnet werden können. Der Bundesgerichtshof (BGH) beschreibt den Begriff als Trübung oder teilweise Ausschaltung des Bewusstseins seiner selbst oder von der Außenwelt oder der Beziehungen beider, die nicht pathologisch bedingt ist (Theune 1999). Das Adjektiv tiefgreifend soll dabei zum Ausdruck bringen, dass eine solche Störung über den Spielraum des Normalen, etwa eine „übliche“ Zornaufwallung, hinausgeht und einen solchen Grad erreicht hat, dass das seelische Gefüge des Betroffenen zerstört (§ 20 StGB) bzw. erheblich erschüttert (§ 21 StGB) ist (BT-Drs. V / 4095, 11). Dabei sollte die Bewusstseinsstörung der ersten Alternative des § 20 StGB, der „krankhaften seelischen Störung“, gleichgestellt werden (Lenckner 1972). Eine in diesem Zusammenhang häufig zitierte grundsätzliche Entscheidung des BGH stammt aus dem Jahr 1957 (BGH St 11, 20). Der Leitsatz lautet: „Eine Bewusstseinsstörung i. S. des § 51 StGB kann bei einem in äußerster Erregung handelnden Täter auch dann gegeben sein, wenn er an keiner Krankheit leidet und sein Affektzustand auch nicht von sonstigen Ausfallserscheinungen (wie z. b. Schlaftrunkenheit, Hypnose, Fieber oder ähnlichen Mängeln) begleitet ist.“ Diese Formulierung verweist – scheinbar – auf einen sozusagen „reinen Fall“ eines Affekts auf nicht krankhafter Grundlage. Bei der Lektüre aller in diesem Fall erstatteten Gutachten und des Urteils zeigt sich jedoch, dass es sich keineswegs um einen solchen „reinen Fall“ gehandelt hat, denn beim Angeklagten lag zum Tatzeitpunkt eine Alkoholisierung mit einem Blutalkoholwert von 1,18 ‰ vor (de Boor 1966). Problematisch ist, dass dieser Fall immer wieder als Bezugsrahmen und als Basis für grundsätzliche Erwägungen berücksichtigt wird, ohne dass die Alkoholisierung diskutiert wird.
Für den psychiatrischen Sachverständigen ergeben sich zwei grundsätzliche Probleme: • Wann wird ein affektiver Erregungszustand zur „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“? • Wie ist die Abgrenzung von anderen Formen affektiver Erregungszustände möglich? Die allgemeinen Formulierungen i. R. des Gesetzgebungsverfahrens (s. o.) lösen das Problem nicht (Endreß 1998). Nach Geilen (1972) wird ein Affekt dann zur Bewusstseinsstörung, wenn die Gefühlsregung zur Störung des Bewusstseins in der Art einer Verdunkelung des intellektuellen Blickfelds und / oder einer Störung der voluntativ-emotionalen Willenskontrolle führt. In einer anderen Formulierung wird auch von einem Verlust der Besonnenheit gesprochen. Aus diesen Beschreibungen wird deutlich, dass sich die Einschätzung nicht auf klar definierte Kriterien und empirisch abgesicherte Kenntnisse stützen kann. Da eine affektive Erregung bei vielen Straftaten, vor allem im Bereich der Körperverletzungen bis hin zu den Tötungsdelikten, eine große Rolle spielt, ergibt sich die zweite Frage, wie solche affektiven Erregungszustände von denjenigen Erregungszuständen abgegrenzt werden können, die der „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“ zugeordnet werden. Die hierfür im interdisziplinären juristischpsychiatrischen Diskurs erarbeiteten Beurteilungskriterien werden in den nachfolgenden Abschnitten ausführlich geschildert. Vorab ist jedoch auf zwei grundsätzliche Überlegungen hinzuweisen: • Bei der Merkmalskategorie „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“ handelt es sich analog den anderen Merkmalskategorien der §§ 20, 21 StGB nicht um eine psychiatrische Diagnose, die vom psychiatrischen Sachverständigen gestellt oder ausgeschlossen werden könnte. Beim Vorliegen eines affektiven Ausnahmezustands ist es Aufgabe des psychiatrischen Sachverständigen,
Kriterien und Belege dafür zu finden, ob dieser Zustand als „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“ verstanden werden kann oder nicht. • Betrachtet man die Probleme von der Deliktseite her, so handelt es sich bei den Taten, die i. R. von affektiven Ausnahmezuständen geschehen können, keinesfalls um einheitliche Zustände. Affektive Ausnahmezustände i. R. von Beziehungskonflikten stellen sicher die wichtigsten Fälle dar, sind aber keineswegs die einzigen. Zu nennen sind weitere Delikte wie Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Beleidigungen, Tätlichkeiten, Brandstiftungen oder Hausfriedensbruch (Rasch 1993). Die unterschiedliche Gewichtung derartiger Taten zeigt sich auch an der juristisch häufig vorgenommenen Differenzierung in sthenische Affekte (Zustände der Wut, des Hasses oder Zorns) und asthenische Affekte (Zustände von Verwirrung, Furcht oder Schrecken). Wie sich aus diesen Überlegungen ergibt, sind die häufig verwendeten Formulierungen Affekttat oder Affektdelikt ohne nähere Differenzierung inhaltsleer und nicht aussagekräftig, weshalb vorgeschlagen wurde, auf diese Begriffe gänzlich zu verzichten (Diesinger 1977; Krümpelmann 1993), während sie andererseits auch befürwortet werden (Marneros 2007a, c). Nach Kröber (1993) geht es bei der Beurteilung eines Affektdelikts faktisch um eine Privilegierung der betreffenden Tat, nämlich um „ein gewisses Verständnis, ein gewisses Mitgefühl für ein nicht rationales, i. d. R. aggressives Delikt, was eine Schuldminderung nahelege“, woraus Maatz (2005) die Folgerung zog, dass es wichtig sei, sich diesen eher intuitiv alltagstheoretischen, aber weder juristisch-normativ noch psychowissenschaftlich legitimierten Ansatz klarzumachen. Wie einleitend dargestellt, können affektive Erregungs- oder Ausnahmezustände ein psychopathologisches Symptom definierter Erkrankungen sein. Es ist zu fragen, ob es weitere psychopathologische Entitäten gibt, deren Kennzeichen affektive Erregungszustände sind. Dies ist der Fall. So können affektive
Ausnahmezustände als Reaktion auf massive und außergewöhnliche Ereignisse oder Belastungen, z. b. eine bedrohliche Veränderung der sozialen Stellung und / oder des Beziehungsnetzes i. R. einer „akuten Belastungsreaktion“ (ICD-10: F43.0), auftreten. Hierbei handelt es sich nach der Beschreibung in den klinisch-diagnostischen Leitlinien gemäß ICD-10 um eine vorübergehende Störung von beträchtlichem Schweregrad, die sich bei einem psychisch nicht überdauernd gestörten Menschen als Reaktion auf eine außergewöhnliche körperliche oder seelische Belastung entwickelt (Dilling et al. 2015). Dabei tritt ein gemischtes und gewöhnlich wechselndes Bild auf. Nach einem anfänglichen Zustand von „Betäubung“ können Depression, Angst, Ärger, Verzweiflung, Überaktivität und Rückzug beobachtet werden. Weiterhin zählt zu den Symptomen eine Bewusstseinseinengung mit eingeschränkter Aufmerksamkeit eine Unfähigkeit, Reize zu verarbeiten, bis hin zu Desorientiertheit. Diesem Zustand können ein Zurückziehen aus der aktuellen Situation bis hin zu einem dissoziativen Stupor oder ein Unruhezustand und Überaktivität folgen. Meist treten vegetative Zeichen wie Tachykardie, Schwitzen und Erröten auf. Es liegt daher nahe, bei der Beurteilung affektiver Ausnahmezustände zu klären, ob die Symptome einer akuten Belastungsreaktion vorliegen (ausführlich hierzu ➤ Kap. 19.2.3). Ein anderer theoretischer Zugang ist über die Interpretation affektiver Erregungszustände als besondere „Wachbewusstseinszustände“ möglich. Besondere Wachbewusstseinszustände können, wie experimentell nachgewiesen wurde (Dietrich 1985), durch pharmakologische, physiologische und psychologische Auslöser, also ätiologieunabängig, hervorgerufen werden. Von besonderer Bedeutung ist im Fall der affektiven Erregungszustände die psychologische Auslösung durch eine Intensivierung der Afferenz mit einer Reizüberflutung und einer Erhöhung der Intensität des Wahrnehmungsfeldes. Affektive Ausnahmezustände sind in der klinischen Psychiatrie häufig, sowohl bei Patienten mit psychischen Störungen als
Symptom dieser Störungen wie auch bei seelisch im Wesentlichen gesunden Menschen, die sich in krisenhaft zugespitzten Lebenssituationen befinden. Forensisch-psychiatrische Bedeutung gewinnen solche Zustände erst dann, wenn während eines affektiven Erregungszustands ein Delikt begangen wird. Dabei ergeben sich im Vergleich zu den anderen Merkmalskategorien der §§ 20, 21 StGB besondere Beurteilungsprobleme: Bei den affektiven Durchbrüchen handelt es sich um kurz dauernde, meist aus einer Konflikt- oder Belastungssituation entstehende seelische Ausnahmezustände bei Menschen, die zwar nicht im engeren Sinne psychisch erkrankt sind, die aber dennoch psychische Auffälligkeiten zeigen können. Dabei wird die Tatzeitverfassung des Täters bei affektiv akzentuierten Taten weitgehend aus dem subjektiven Erleben des Täters zugänglich, wobei eine besondere Schwierigkeit darin liegt, dass die Untersuchung möglicherweise erst viele Monate nach der Tat durchgeführt wird. Bei psychotischen Erkrankungen, bei intellektueller Minderbegabung und bei anamnestisch und befundmäßig zu verifizierenden Persönlichkeitsstörungen kann sich der psychiatrische Sachverständige auf besser präzisierbare Befunde stützen. Die aufgrund dieser Tatsachen gegebenen methodischen Probleme sind allgemein bekannt. Bei der Diskussion in foro entsteht allerdings immer wieder der Eindruck, dass mit den Begrifflichkeiten affektiv akzentuierter Taten von den Prozessbeteiligten so umgegangen wird, als habe man es mit „harten“ Daten zu tun, obwohl es sich zweifellos um „weiche“ Kriterien handelt. Das methodische Grundproblem liegt darin, dass ein per definitionem sehr kurz dauernder außergewöhnlicher emotionaler Zustand retrospektiv beschrieben und darüber hinaus quantifiziert werden muss, wie es das Adjektiv „tiefgreifend“ verlangt. Aufgrund der wesentlichen Bedeutung der subjektiven Erlebensweise des Täters ist dem psychiatrischen Sachverständigen eine fundierte Feststellung zum Tatablauf umso besser möglich, je mehr der Täter bereit ist, sich dem Untersucher gegenüber zu öffnen, und je mehr er in der Lage ist, im Untersuchungsgespräch eigenes
inneres Erleben differenziert zu schildern. Schwierigkeiten können daraus entstehen, dass die Erinnerung des Täters häufig unscharf ist, eventuell durch eine Erinnerungslücke zusätzlich eingeschränkt. Anhand eines exemplarischen Falls wurde durch Marneros (2007b) auf eine weitere methodische Schwierigkeit hingewiesen, nämlich die Tatsache, dass der Täter zu seinem emotionalen Zustand bei Tatbegehung unrichtige Angaben machen kann, wobei dies ein generelles Problem der retrospektiven Schuldfähigkeitsbegutachtung ist, gerade wenn keine Tatzeugen vorhanden sind, was in den Fällen einer spezifischen Täter-OpferBeziehung häufig der Fall ist. Hat das Opfer überlebt, sind dessen Darstellungen oft wenig ergiebig, weil es nahezu regelmäßig zu einer Verfälschung der eigenen Rolle durch Rechtfertigungsversuche und / oder Vergeltungswünsche kommen kann. Die Bedeutung, die das Opferverhalten für die juristische Bewertung bekommen kann, wurde von Ziegert (1993) herausgehoben. Aufgrund dieser methodischen Schwierigkeiten ergibt sich, dass der psychiatrische Sachverständige die eindeutigen Antworten, die häufig von ihm erwartet werden, keineswegs immer geben kann. Für die Beurteilung gibt es keine einfachen, „harten“ Kriterien, auch keine einfachen Ja-Nein-Antworten, sodass sich Sachverständiger wie auch Tatrichter häufig mit einem gewissen Grad von Wahrscheinlichkeit werden begnügen müssen. Dies hat Janzarik (1995) pointiert ausgeführt: „Die Aussagen des Sachverständigen haben einen wissenschaftlichen Hintergrund mit erfahrungswissenschaftlichen und realwissenschaftlichen Anteilen. Mehr als Plausibilität ist von dieser Aussage nicht zu erwarten.“
Merke Grundsätzlich ist immer zu bedenken, dass die Quantifizierung der „Affektspannung“ eine reine Rechtsfrage ist, die sich der forensischpsychiatrischen Beurteilung entzieht, wodurch sich bei der juristischen Bewertung Beurteilungs- und Bewertungsspielräume eröffnen (Maatz 2005).
19.2. Beurteilung Zur Beurteilung affektiver Ausnahmezustände wurden in der forensischen Psychiatrie von zahlreichen Autoren Beurteilungskriterien vorgeschlagen (Marneros 2007a, c; Rasch 1980, 1993; Saß 1983, 1985, 1993; Schiffer 2007; Venzlaff 1985). Immer wieder wurde versucht, Kriterienkataloge zu entwickeln (➤ Kap. 19.2.6). Ein schematisches Vorgehen mithilfe derartiger Kriterienkataloge ist schon deshalb nicht möglich, weil bestimmten Aspekten im jeweiligen Einzelfall ganz unterschiedliches Gewicht zukommen kann. Die Beurteilung ist eine klinische Urteilsbildung aufgrund einer Gesamtschau von Täter und Tatgeschehen, d. h., die Datenintegration beruht auf dem Erfahrungswissen und der Kennerschaft des Gutachters (Dannenberg 1988). Auch aus juristischer Perspektive ist die Schuldfähigkeitsbeurteilung das Ergebnis einer Gesamtbetrachtung, in die objektive Umstände, Erfahrungssätze, aber auch normative Vorgaben einfließen (Maatz 2005). Bei den vorgeschlagenen Kriterienkatalogen handelt es sich um vom psychopathologischen Gesamtzusammenhang abhängige und die Befunderhebung leitende indizielle Merkmale und nicht um einen „abzuhakenden“ Diagnosekatalog (Saß 1993). Neuere Erfassungsversuche unter Verwendung eines Vulnerabilitäts-StressModells führten zum Vorschlag diagnostischer Leitlinien (Schiffer 2007; ➤ Kap. 19.2.6). Kernaufgabe des psychiatrischen Sachverständigen ist es – wie bei allen Gutachten zur Schuldfähigkeit – , Situation und emotionale Befindlichkeit des Täters zur Tatzeit zu analysieren. Zu ergänzen ist diese Aufgabe durch die Beschreibung der Persönlichkeit des Täters und die Entwicklung der Täter-Opfer-Beziehung, falls es eine solche Beziehung gegeben hat, durch die Schilderung der prädeliktischen Situation mit der Entwicklung hin zur Tat, die Einbeziehung möglicher weiterer Aspekte und das Nachtatverhalten. Die nachfolgende Zusammenstellung ist eine idealtypische Darstellung, ohne dass es der derzeitige Kenntnisstand erlauben
würde, die Kriterien generell zu gewichten, und ohne dass in jedem Fall jedes Kriterium vorliegen müsste (Foerster 1997, 2003; Rasch 1980, 1993; Saß 1983, 1985; Venzlaff 1985).
19.2.1. Persönlichkeit Ein affektiver Erregungszustand, der in einem Delikt kulminiert, ist vor dem Hintergrund der Persönlichkeit des Täters zu würdigen, wobei es den „typischen Affekttäter“ i. S. eines bestimmten Persönlichkeitstyps nicht gibt (Diesinger 1977; Steller 1993). Mithilfe einer detaillierten biografischen Anamnese ist die Persönlichkeit des Täters differenziert zu beschreiben. Bei diesen Tätern sind häufig Persönlichkeitsmerkmale zu finden, die für Hilflosigkeit gegenüber kritischen Lebenssituationen, für Unterlegenheitsgefühle dem Partner gegenüber, für Kränkungsbereitschaft und Aggressionshemmung sprechen können. Es ist zu bedenken, ob eine möglicherweise früh geprägte Trennungs- oder Verlustangst besteht, ob eine Neigung zur Affektretention oder eine Tendenz zur generellen Risikovermeidung im Leben vorliegt. Menschen, die in affektive Ausnahmezustände geraten, sind durchaus nicht immer expansiv oder genuin aggressiv, sondern es handelt sich häufig um zwanghaft-depressiv strukturierte Menschen. Meist sind sie intellektuell wenig differenziert, unoriginell, sozial durchweg gut bis sehr gut angepasst, bis zur Pedanterie an Ordnungssysteme und Konventionen gebunden, häufig fleißige Arbeiter oder überkorrekte Angestellte ohne beruflichen Ehrgeiz. Im zwischenmenschlichen Bereich sind sie in besonderem Maße auf sie tragende und verlässliche mitmenschliche Beziehungen angewiesen, weswegen sie meist bereit sind, für die Stabilität solcher Bindungen erhebliche persönliche Opfer und Verzichtleistungen zu erbringen. Im Rahmen der Persönlichkeitsdiagnostik ist stets zu klären, ob im Bereich der Persönlichkeitsorganisation so massive Auffälligkeiten oder strukturelle Schwächen vorliegen, dass eine Zuordnung zur Merkmalskategorie „schwere andere seelische Abartigkeit“ erfolgen muss (Foerster 1997; Kröber 1993). Gerade bei explosiblen
Persönlichkeiten mit impulsiver Handlungsbereitschaft ist zu prüfen, ob möglicherweise eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung vorliegt, welche die Kriterien für die genannte Merkmalskategorie erfüllt (➤ Kap. 21). Auch wenn dies nicht so ist und eine psychiatrische Diagnose nicht gestellt werden kann, handelt es sich bei diesen Tätern doch häufig um Menschen, welche die beschriebenen auffälligen Persönlichkeitszüge i. S. einer Persönlichkeitsakzentuierung aufweisen, ohne dass eine psychische Störung, Erkrankung oder Persönlichkeitsstörung im engeren Sinne vorliegt. Es ist sowohl eine klinische als auch forensischpsychiatrische Erfahrung, dass gerade bei solchen Menschen unter sich zuspitzenden Konflikten und Belastungen eine akute psychopathologische Symptomatik entstehen kann. Im Rahmen der biografischen Anamnese ist ferner zu klären, ob – unabhängig von der Tat – schon früher im Leben i. R. krisenhafter biografischer Entwicklungen eine Neigung zu affektiven Dekompensationen vorhanden war, etwa depressive Reaktionen, Suizidgedanken oder -versuche. Lassen sich derartige frühere, möglicherweise sich wiederholende Auffälligkeiten belegen, so ist daran zu denken, ob der affektive Ausnahmezustand interpretativ i. R. einer narzisstischen Krise (Henseler 1974) verstanden werden kann, da ein geringes Selbstwertgefühl, wie es häufig bei diesen Tätern besteht, als zentrales Symptom eines gestörten narzisstischen Systems aufgefasst werden kann – Symptome, die auch als verdeckter Narzissmus (Akhtar 2006) beschrieben wurden. Die Diskussion um die „Persönlichkeitsfremdheit“ Persönlichkeitsfremdes Verhalten im eigentlichen Wortsinn kann es nicht geben. Dieser Begriff soll die Tatsache umschreiben, dass das in einer Tat zutage getretene Verhalten zu dem Bild, das sich die Umgebung bisher von diesem Menschen gemacht hat, nicht passt bzw. dass das Tatverhalten eines Menschen nicht dem Eindruck entspricht, den er bislang im sozialen Umfeld hervorgerufen hat (Rasch 1986). Hinter dieser Formulierung steht meist der prozesstaktische Versuch, die Auffassung zu begründen, dass der
Täter mit dem Delikt nur peripher etwas zu tun habe, da sein Handeln seiner Persönlichkeit eigentlich gar nicht zuzurechnen sei (de Boor 1966). Es ist aber zu bedenken, dass ein einmalig aggressives deliktisches Handeln, das dem bislang gelebten Leben eines Menschen nicht entspricht, ein indizieller Hinweis ist, die psychische, möglicherweise psychopathologische Verfassung dieses Menschen zum Tatzeitpunkt genau zu überprüfen.
19.2.2. Affektentwicklung Affektive Ausnahmezustände i. R. von Beziehungskonflikten sind sicher die wichtigsten, nahezu prototypischen Fälle der Merkmalskategorie „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“, allerdings sind sie keineswegs die einzigen Möglichkeiten. Dies zeigt sich an den Delikten, die auch, etwa i. R. von Schreck- oder Panikreaktionen, i. S. eines asthenischen Affekts der „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“ zugeordnet werden können. Hierzu zählen auch die Fälle, bei denen gar keine Beziehung zwischen Opfer und Täter bestand und bei denen die aggressive Entladung ein „Zufallsopfer“ treffen kann (Rasch 1986; Steller 1993). Damit wird das Kriterium „typische Vorgeschichte“ relativiert, da in diesen Fällen gar keine Täter-Opfer-Beziehung bestand. Die typische Täter-Opfer-Beziehung, die Taten i. R. von affektiven Ausnahmezuständen vorausgeht, ist die sich konflikthaft zuspitzende Partnerbeziehung. Stilbildend hat hier die Monografie Tötung des Intimpartners von Rasch (1964) gewirkt, in der er den Idealtypus einer solchen Entwicklung entworfen hat, jedoch ohne in dieser Arbeit Schlussfolgerungen für die Schuldfähigkeitsbeurteilung zu ziehen. Charakteristisch ist in solchen Fällen die ambivalente Entwicklung der Beziehung, gekennzeichnet durch intensive Anklammerungsversuche an den Partner auf der einen Seite und situationsverschärfende Zurückweisungen, Demütigungen und Kränkungen auf der anderen Seite, also durch das, was pointiert als „Wechselbad der Gefühle“ beschrieben wurde. Vom späteren Täter wird das Verhalten des späteren Opfers als ständiger Verstoß gegen die konstituierenden
Momente einer partnerschaftlichen Beziehung erlebt, etwa in Form von Lieblosigkeit, Vernachlässigung, Untreue, Alkoholmissbrauch, aber auch einer permanent ausgespielten psychischen Überlegenheit, welcher der spätere Täter hilflos gegenübersteht. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig zu explorieren, ob es durch das Verhalten des späteren Opfers möglicherweise zu einer Reaktivierung früher im Leben erlittener Beziehungsbelastungen beim späteren Täter gekommen ist. Andererseits gibt es jedoch auch bei der konflikthaften Partnerbeziehung Entwicklungen, in deren Rahmen schon länger Tatfantasien und Vorbereitungshandlungen bestehen, sodass in diesen Fällen der affektive Ausnahmezustand nicht als Ergebnis zusätzlicher äußerer Belastungen verstanden werden kann, sondern der „Affekt“ wird vom späteren Täter aufgebaut, freigesetzt oder nicht mehr aktiv unterdrückt (Kröber 1993; Saß 2012). Für solche sich konflikthaft entwickelnden Beziehungen beschrieb Glatzel (1993) zwei Persönlichkeitstypen: • Typ 1 nannte er den depressiv strukturierten Menschen, der die Partnerschaft i. S. einer nahezu symbiotischen, kompromisslosen Bindung konstituiert, um der bei ihm latent vorhandenen Angst zu begegnen, die mit einer stets befürchteten Trennung aktualisiert würde. • Als Typ 2 beschrieb er den narzisstischen Charakter, der vor allem durch das labile Selbstwertgefühl, den Führungsanspruch in einer Beziehung und das Empathiedefizit gekennzeichnet ist. Die Tatbereitschaft könne dann aus einer schrittweisen Deformation der Beziehung entstehen, wobei Glatzel (1993) die in diesen Beziehungen häufig zu registrierende Inkompatibilität der Charaktere hervorhebt. Auf die Bedeutung narzisstischer Persönlichkeitsstrukturen in gestörten Partnerbeziehungen weist auch Duncker (1999) aus psychoanalytischer Sicht hin, wenn er betont, dass in solchen gestörten Beziehungen der schwächere, anaklitische Partner zum
Täter werden könne. Zu beachten ist der Hinweis auf den „Verlust der Sprachfähigkeit“ in der narzisstischen Krise insofern, als die Sprache nicht mehr der Kommunikation dient, sondern zum Instrument des Machtkampfes wird. Im Vorfeld der Tat kann eine Erschütterung der Selbstdefinition bis hin zur Zerstörung des Selbstkonzepts des späteren Täters eine besondere Rolle spielen. Daher müsse der psychiatrische Gutachter auch versuchen, das Selbstkonzept des Täters darzustellen und die Erschütterung bzw. Zerstörung dieses Selbstkonzepts zu belegen. Das Auftreten aggressiver Fantasien im Vorfeld der Tat kann nicht generell beurteilt werden. Entscheidend ist die Einschätzung, ob diese „Vorgestalten“ in ein psychopathologisch weitgehend ungestörtes seelisches Erleben eingebettet sind oder ob sie eine Indikatorfunktion für eine eingeengte, gestörte psychische Verfassung besitzen. Vorgestalten als solche sind ubiquitär und forensisch unspezifisch, insoweit sie bei jeder Art von Delikten, mit oder ohne seelische Störung, vorkommen können. Die forensische Relevanz definiert sich nur aus dem Kontext, der sich aus der psychopathologischen Analyse erschließt. Beispiele für gestörtes Erleben können sein: depressive Einengung, Schlafstörungen, Grübelneigung, psychomotorische Auffälligkeiten und vor allem der Umgang des Betroffenen mit einer solchen Symptomatik (Hoff 1993, 1998). Entwicklung der prädeliktischen Situation Die Wochen und Monate vor der späteren Tat sind nachzuzeichnen mit der Frage, ob sich möglicherweise eine psychopathologische Symptomatik, eventuell i. R. einer Anpassungsstörung (ICD-10: F43.2), entwickelt hat. Dabei kann es zu ausgeprägten depressiven Symptomen kommen, gekennzeichnet durch Schlafstörungen, Mutund Hoffnungslosigkeit, Antriebsverlust, Appetitverlust, Gewichtsabnahme, funktionelle Symptome wie Magenbeschwerden oder Kopfschmerzen. Beim späteren Täter können Todesgedanken bis zu Suizidvorstellungen oder sogar Suizidversuche auftreten, sodass zu klären ist, ob möglicherweise eine depressive
Symptomatik vorlag, die über den Schweregrad einer Anpassungsstörung hinausging, etwa eine mittelgradige bis schwere depressive Episode (ICD-10: F32, ➤ Kap. 18). Dabei kann es sich eine fortschreitende soziale Isolierung einstellen, in deren Rahmen auch Handlungen mit Appellcharakter oder aggressivem „Wetterleuchten“ mit zunehmender Realitätseinengung auftreten können (Venzlaff 1985). Sich wiederholende Kränkungen durch das spätere Opfer oder dessen Angehörige und Freunde können zu einer zunehmenden Labilisierung des Selbstwertgefühls i. S. einer narzisstischen Krise (s. o.) führen. Bei retrospektiver Analyse lässt sich in den Wochen und Monaten vor der Tat häufig eine zunehmende Verunsicherung und Labilisierung des späteren Täters nachweisen, wobei es lange unklar bleiben kann, welche Richtung – auto- oder heteroaggressiv – das später im Delikt kulminierende aggressive Handeln nimmt.
19.2.3. Tatablauf Die Beurteilung des psychischen und physischen Zustands des Täters „zum Tatzeitpunkt“ ist der Kernpunkt der Einschätzung. Unter psychopathologischen Aspekten lassen sich affektive Erregungs- und Ausnahmezustände i. R. einer „akuten Belastungsreaktion“ (ICD-10: F43) verstehen – ein Vorschlag, der bereits in der 2. Auflage dieses Handbuchs gemacht wurde (Foerster und Venzlaff 1994). Diese Anregung wurde erneut aufgegriffen mit der Forderung, dass zunächst die Kriterien einer akuten Belastungsreaktion vorliegen müssten, um erst dann weitere Erörterungen in Bezug auf das Vorliegen einer „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“ anstellen zu können (Marneros 2007a, c; kritisch hierzu: Saß 2008). In den diagnostischen Kriterien für Forschung und Praxis gemäß ICD-10 (Dilling et al. 2011) wird die „akute Belastungsreaktion“ beschrieben als das Erleben einer außergewöhnlichen psychischen oder physischen Belastung, auf die der Beginn der Symptome unmittelbar folgt. Detailliert werden zwei Symptomgruppen beschrieben, aufgrund deren unterschiedlichen Vorkommens die
akute Belastungsreaktion in leicht, mittelgradig oder schwer unterteilt werden kann. Die erste Gruppe umfasst eine Reihe von Symptomen, wie sie sich auch bei der generalisierten Angststörung (ICD-10: F41.1) finden: • Vegetative Symptome: Herzklopfen, Schweißausbruch, Zittern, Mundtrockenheit • Psychische Symptome: Gefühl von Schwindel und Benommenheit, Derealisation, Depersonalisationsgefühle, Todesangst, Angst vor Kontrollverlust • Körperliche Symptome: Atembeschwerden, Beklemmungsgefühl, Übelkeit, körperliche Missempfindungen • Allgemeine Symptome und Symptome der Anspannung: Gefühllosigkeit, Hitzewellen, Ruhelosigkeit, Muskelverspannung, Konzentrationsschwierigkeiten Die zweite Gruppe umfasst folgende Kriterien: • Einengung der Aufmerksamkeit • Desorientierung • Ärger oder verbale Aggression • Verzweiflung oder Hoffnungslosigkeit • Unangemessene oder sinnlose Überaktivität • Unkontrollierbare und außergewöhnliche Trauer • Rückzug von sozialen Interaktionen Als leicht wird die akute Belastungsreaktion definiert, wenn ausschließlich Symptome der ersten Gruppe vorliegen, als mittelgradig, wenn Symptome der ersten Gruppe und zwei Symptome der zweiten Gruppe vorhanden sind. Bei einer schweren Ausprägung treten Symptome aus der ersten Gruppe und vier Symptome aus der zweiten Gruppe oder ein dissoziativer Stupor auf. Beim dissoziativen Stupor handelt es sich um eine Verringerung oder das Fehlen willkürlicher Bewegungen und der Sprache.
Hieraus ergibt sich bereits, dass ein solcher Zustand im Fall aggressiven Handelns nicht in Betracht kommt.
ICD-11 Die akute Belastungsreaktion wird nicht mehr bei den psychischen Störungen (➤ Kapitel 06) aufgeführt, sondern dem ➤ Kapitel 24 (Faktoren, die den Gesundheitsstatus beeinflussen) zugeordnet (ICD-11: QE84).
Bei der Einschätzung, ob das „seelische Gefüge“ des Betroffenen zerstört bzw. erheblich vermindert war (BT-Drs. V / 4095, 11), kann es hilfreich sein zu prüfen, ob die geschilderten Kriterien einer schweren akuten Belastungsreaktion vorlagen. Ähnlich wurde früher schon vorgeschlagen zu klären, ob Beeinträchtigungen von Vigilanz und Orientierung, Aufmerksamkeit, Auffassung, Konzentration und Merkfähigkeit sowie vegetative Symptome (Kröber 1993) belegbar sind, wobei es im Prinzip um die gleichen Symptome geht. Auch die im experimentellen Design (Dietrich 1985) beschriebenen Symptome bei veränderten Wachbewusstseinszuständen entsprechen sehr gut den beiden Symptomgruppen der akuten Belastungsreaktion, was daran denken lässt, dass es sich bei diesen Zuständen um überindividuelle Störungsmuster handelt. Dabei entspricht die beschriebene Symptomatik dem inneren Erleben des Täters. Bei der psychiatrischen Begutachtung ergibt sich jedoch das methodische Problem, dass es dem Täter freisteht, sich zu diesem inneren Erleben, d. h. zu seiner inneren gefühlsmäßigen Situation bei Tatbegehung, zu äußern oder dies nicht bzw. nur eingeschränkt zu tun. Auch die Möglichkeit einer Falschaussage ist zu bedenken (Marneros 2007b). Bei der Beurteilung des Tatablaufs ist neben dem inneren Erleben des Täters der äußere Ablauf zu berücksichtigen. Der äußere Tatablauf wird beschrieben als plötzlicher, „explosionsartiger“
Durchbruch destruktiven Handelns ohne Hinweise auf eine Vorkonstituierung der Handlung (bei der Bewertung der Vorkonstituierung ist unbedingt der Primat der juristischen Beweiswürdigung zu beachten!), Auslösung durch einen konflikteigentümlichen Reiz, eine erkennbare Planlosigkeit im Verhalten ohne Risikoabsicherung (Beweiswürdigung!) und die sehr kurze Dauer der aggressiven Handlung. Ein solcher Tatablauf entspricht dem Modell der Explosivreaktion, während es bei Kurzschlussreaktionen aus der Tatsituation heraus, mitunter verknüpft mit aufsteigenden Angst- und Panikgefühlen, aber auch solchen der Wut oder Rache, zu einem zeitlich etwas längeren Anstieg des Aggressionspotenzials kommt, in dessen Rahmen dem Täter sukzessiv die Kontrolle entgleitet. Sehr lang hingezogene Tatabläufe können nicht mit der Annahme einer „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“ in Einklang gebracht werden, es sei denn, es handelt sich um zweiphasige Affekttaten (s. u., Venzlaff 1993). Bei lang hingezogenen Tatabläufen ist zu prüfen, ob möglicherweise andere psychopathologische Phänomene vorliegen, etwa eine Anpassungsstörung oder strukturelle Auffälligkeiten in der Persönlichkeit bis hin zur Persönlichkeitsstörung. Als konflikteigentümlicher Reiz gilt eine Äußerung des späteren Opfers, die aus der speziellen Beziehungsgestaltung zu verstehen ist, sofern es eine Täter-Opfer-Beziehung gab. Hierbei handelt es sich meist um eine Beschimpfung, Beleidigung oder eine als massiv erlebte Kränkung, womit wiederum das Modell der narzisstischen Kränkung zu bedenken ist. Das beim Täter vorhandene aggressive Potenzial kann durch eine solche Äußerung des Opfers in Richtung Heteroaggression ausgelenkt werden. Gegen das Vorliegen eines affektiven Ausnahmezustands sprechen der Nachweis eines normalpsychologisch organisierten Handlungsentwurfs wie auch die Tatsache, dass der Täter zu konkreten kognitiven oder motorischen Leistungen i. R. eines längerfristigen Handelns in der Lage war (Steller 1993). Das Problem der Amnesie
Von den Tätern werden häufig Erinnerungsstörungen berichtet, etwa eine totale Erinnerungslücke von sehr kurzer Dauer oder inselhaft gebliebene Erinnerungsreste. Eine kurz dauernde Erinnerungslücke kann ein Mosaikstein neben anderen Aspekten sein, wenn auch die Untersuchungen von Horn (1993) gezeigt haben, dass Erinnerungslücken prinzipiell als zweitrangiges Kriterium anzusehen sind. Bezüglich postdeliktischer Erinnerungsstörungen lassen sich meist komplexe Motivbündel diskutieren, wobei der in diesem Zusammenhang gelegentlich verwandte Begriff „Verdrängung“ nicht den Fachterminus Verdrängung i. S. der psychoanalytischen Theorie meint, sondern eher umgangssprachlich verwandt wird. Bezüglich hochgradiger Bedrohungserlebnisse ist bekannt, dass diese bei Opfern i. R. einer Hypermnesie bewusstseinsdominant bleiben können. Inwieweit gewalttätiges oder destruktives Handeln, das vom Täter konstelliert wird, auch bei diesem zu einer Hypermnesie führen kann, ist unbekannt (Venzlaff 1997). Das Hauptproblem bei der Beurteilung der Amnesie liegt darin, dass es hierfür keine verlässlichen Außenkriterien geben kann (zur grundsätzlichen Problematik der Einschätzung von Erinnerungslücken ➤ Kap. 2.11.3). Zweiphasige Affekttaten Schwierige Beurteilungsprobleme können die von Venzlaff (1993) beschriebenen zweiphasigen Affekttaten aufwerfen. Hierbei kann es i. R. einer aggressiven Auseinandersetzung, die vom Täter vorkonstituiert wurde, beim Täter zu einem sukzessiven Entgleiten der Handlungskontrolle kommen, woraus unter einer zunehmenden Einengung des Bewusstseins- und Wahrnehmungsfeldes eine Tötungshandlung resultieren kann. Auf der anderen Seite ist es möglich, dass ein Täter i. R. eines abrupten affektiven Ausnahmezustands dem Opfer zwar schwere, aber keine tödlichen Verletzungen zufügt und die Tötung erst nach einem Intervall mit einer oder mehreren Folgehandlungen begeht.
Dabei kann die Beurteilung der Tatzeitverfassung und damit der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für die nichttödliche Auslösehandlung anders ausfallen als für die erst nach einem Intervall begangene Tötungshandlung. Wenn Indizien für eine zumindest partielle Normalisierung der Wahrnehmungsfunktionen und für das Wirksamwerden kognitiver Leistungen vorliegen, d. h., wenn sich belegen lässt, dass der Täter fähig war, sein Handeln entsprechend dem Opferverhalten zu modifizieren, so erlaubt dies Rückschlüsse darauf, dass er in dieser Phase des Tatablaufs sein Verhalten an kognitiven Leistungen orientieren konnte. Dies kann zu unterschiedlichen forensisch-psychiatrischen Folgerungen für die einzelnen Tatphasen führen. Abgrenzungsprobleme Das schwierigste Problem bei der Beurteilung ist die Abgrenzung derjenigen affektiv akzentuierten Zustände, die der „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“ zugeordnet werden können, von ebenfalls affektiv geprägten Taten, bei denen dies nicht der Fall ist. Zu dieser Frage legten Rösler et al. (1993) eine Untersuchung vor, bei der anhand einer Gutachtenauswertung die für die Differenzierung der genannten Tätergruppen entscheidenden Faktoren analysiert wurden. Dabei trennten die Faktoren „Einengung des Erlebens“ und „affektive Kernsymptomatik“ im Gruppenvergleich zwischen Affekttätern mit und ohne Bewusstseinsstörung. Dieses Ergebnis ist auch ein Beleg dafür, dass zunächst die psychopathologische Diagnose einer akuten Belastungsreaktion gestellt werden sollte, denn die beschriebenen Faktoren (Einengung des Erlebens und affektive Kernsymptomatik) sind in dieser Diagnose integral enthalten. In diesem Zusammenhang gibt Marneros (2007a, c) zu bedenken, dass von den Taten i. R. einer „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“ aufgrund einer schweren akuten Belastungsreaktion diejenigen Taten als Impulstaten abgegrenzt werden sollten, welche die Kriterien einer schweren akuten Belastungsreaktion nicht erfüllen.
19.2.4. Weitere Aspekte Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, ob weitere Faktoren im körperlichen oder psychosozialen Bereich vorlagen, die isoliert betrachtet ohne rechtliche Relevanz bleiben, aber bei einer Summierung im Vorfeld zu einer weiteren Belastung des späteren Täters führen können. In Betracht kommen: • Alkoholisierung • Medikamenten- oder Drogeneinfluss • Übermüdung • Körperliche Schwäche oder interkurrente Erkrankungen Bei der Erörterung einer Alkoholisierung i. R. einer hohen affektiven Anspannung kann allerdings nicht dergestalt argumentiert werden, dass die affektive Komponente zweimal erfasst wird, einmal aufgrund der Alkoholisierung und zum anderen aufgrund der Erregungssituation, da die affektive Anspannung nach Grad und Ausmaß unabhängig von der Ursache zu bewerten ist. In diesen Fällen kann der Schweregrad des affektiven Ausnahmezustands sowohl auf dem „Affekt“ als auch auf der Alkoholisierung beruhen. Dabei erscheint es nach Maatz (2005) weder „quantifizier- noch sonst messbar“, mithin auch nicht psychiatrisch-wissenschaftlich belegbar und auch ebenso wenig rechtlich geboten, danach zu unterscheiden, ob der Affekt durch den Alkohol verstärkt wurde oder umgekehrt der Alkohol lediglich zum Affekt hinzugetreten ist. Im psychosozialen Bereich können in Betracht kommen: • Zusätzliche Konflikte oder Belastungen am Arbeitsplatz • Gerichtsentscheidungen (z. B. ein für den späteren Täter negativer Entscheid in einem Sorgerechtsverfahren) • Behördenverfügungen oder ein Anwaltsbrief, wodurch die Situation des Täters aus subjektiver Sicht ausweglos werden kann
19.2.5. Nachtatverhalten Das Nachttatverhalten ist kein verlässliches Kriterium für die Beurteilung der Tatzeitverfassung, da es sich – auch – wesentlich aus der durch die Tat geschaffenen Situation konstituiert, vor allem wenn es sich um gravierende Delikte gehandelt hat. Ergeben sich aus dem Verhalten des Täters nach der Tat Hinweise auf das Fortbestehen der Symptome einer schweren akuten Belastungsreaktion, die bereits bei Tatbegehung belegbar ist (z. B. dauernde Einengung des Erlebens, weiterbestehendes hohes vegetatives Erregungsniveau), so können solche Angaben ein zusätzlicher Mosaikstein für die Annahme einer hohen affektiven Anspannung sein. Weiter werden planloses oder impulsives Verhalten nach der Tat, panikartiges Fortlaufen, hilflose Verzweiflung oder ein Suizidversuch genannt (kritisch hierzu Rasch 1993). Gegen die Annahme einer massiven affektiven Beeinträchtigung zum Tatzeitpunkt kann ein Nachtatverhalten sprechen, bei dem der Täter ein umsichtiges, überlegtes, kontrolliertes und an wechselnde äußere Gegebenheiten angepasstes Handeln zeigt. Insgesamt ist das Nachttatverhalten als schwaches Kriterium zu betrachten.
19.2.6. Beurteilungsschemata Wegen der Schwierigkeiten und Probleme bei der Beurteilung hat Saß (1983, 1985) auf der Grundlage einer Analyse der Arbeiten von zwölf Autoren Kriterien zusammengestellt, die in der Literatur für die Beurteilung von affektiv akzentuierten Taten genannt wurden, wobei er positive und negative Kriterien unterschied, d. h. Kriterien, die für bzw. gegen eine schwere affektive Erschütterung des Täters sprechen können (➤ Tab. 19.1).
Tab. 19.1 Kriterien, die für bzw. gegen eine schwere affektive Erschütterung des Täters sprechen (nach Saß 1985) Positive Kriterien
Negative Kriterien
• Spezifische Vorgeschichte und Tatanlaufzeit • Affektive Ausgangssituation mit Tatbereitschaft • Psychopathologische Disposition der Persönlichkeit • Konstellative Faktoren • Enger Zusammenhang Provokation – Erregung – Tat • Abrupter elementarer Tatablauf ohne Sicherungstendenzen • Einengung des Wahrnehmungsfeldes und der seelischen Abläufe • Vegetative psychomotorische und psychische Begleiterscheinungen heftiger Affekterregung • Charakteristischer Affektaufund -abbau • Folgeverhalten mit schwerer Erschütterung
• Vorbereitungshandlungen für die Tat • Konstellation der Tatsituation durch den Täter • Zielgerichtete Gestaltung des Tatablaufs vorwiegend durch den Täter • Komplexer Handlungsablauf in unterschiedlichen Etappen • Länger hingezogenes Tatgeschehen • Exakte, detailreiche Erinnerungen • Vorgestaltung in der Fantasie, Tatankündigung und aggressive Handlungen in der Tatanlaufzeit
Ganz offenbar handelt es sich bei diesen Kriterien um Merkmale auf sehr unterschiedlichen Ebenen, nämlich anamnestische Merkmale, Tatzeitmerkmale sowie Merkmale der Beweiswürdigung, wobei Letztgenannte möglicherweise die Beliebtheit dieser Listen bei Strafrechtlern erklärt. Die Merkmale sind nicht als quantifizierbare Kriterien zu verstehen, sondern als
vom psychopathologischen Gesamtzusammenhang abhängige und die Befunderhebung leitende indizielle Merkmale (Saß 1993). Vor dem theoretischen Hintergrund eines Vulnerabilitäts-StressModells führte Schiffer (2007) eine analytische Untersuchung schriftlicher Gutachtentexte durch und formulierte aufgrund dieser Untersuchung nach Positiv- (P) und Negativkriterien (N) gegliederte diagnostische Leitlinien (➤ Tab. 19.2). Den Merkmalen „spezifische Tatvorgeschichte“, „affektive Ausgangssituation“ und „fehlender Zusammenhang zwischen Provokation, Erregung und Tat“ wurde in den untersuchten Gutachten kein großer diagnostischer Stellenwert beigemessen. Selbstkritisch führt der Autor an, dass einer retrospektiven Analyse vorhandener schriftlicher Gutachtentexte nur ein begrenzter Aussagewert zukommen kann. Dies ist richtig, sodass die Zusammenstellung letztlich nur belegt, dass die in der Literatur genannten Merkmale auch von den Sachverständigen bei der Begutachtung berücksichtigt werden.
Tab. 19.2 Diagnostische Leitlinien zur Beurteilung sogenannter Affektdelikte (Schiffer 2007)[F755–002] Kriterium
Operationale Kurzbeschreibung
Problemlösen und Coping (P)
Rigides, wenig anpassungsfähiges Problemlöse- und Copingverhalten i. V. m. einem niedrigen Abwehrniveau und ausgeprägter emotionaler Labilität.
Unterwürfiges, misserfolgsorientiertes Verhalten (P)
Durchgängiges Muster unterwürfigen und misserfolgsorientierten Verhaltens, das mit einem Mangel an Sinn- und Zielorientierung im Leben einhergeht und auch dazu führt, dass keine Hilfe von außen geboten oder angenommen wird.
Überzeugung und Erwartung (P)
Muster selbstwertschwächender kognitiver Schemata in Form entsprechender Attributionstendenzen, schicksalsgläubigen Denkens und mangelnder Selbstwirksamkeitserwartung.
Herausforderung (P)
Veränderungsprozessen im Leben wird kaum positive Valenz zugerechnet. Sie werden nicht als Möglichkeit zum Wachstum interpretiert.
Interaktionales Konfliktmanagement (P)
Durchgängige, die Widerstandsfähigkeit schwächende Interaktionsmuster mit dem Partner, die sich in einem speziellen Eifersuchts- und Stresserleben manifestieren.
Kriterium
Operationale Kurzbeschreibung
Reflexivität und Wahrnehmungsstile (P)
Durchgehendes Muster „verdrängender“ Informationsverarbeitung, gepaart mit geringer Fähigkeit zu Selbstreflexion und mangelhafter Kommunikationskompetenz in Beziehungen, die sich bei der Tat in einer Bewusstseinseinengung i. S. eines Aufmerksamkeitsfokus (Affekttunnels) manifestieren.
Bahnung der Tat vor dem Selbst (P)
Eine durch mangelnde interpersonale Kompetenzen mitbestimmte Inkonstanz bzw. Inkohärenz des Selbstbildes, die sich durch erhöhte Kränkbarkeit auszeichnet und häufig in nicht lösbaren Beziehungskonflikten mündet. Meist lassen sich noch keine aggressiven Vorgestalten dem späteren Opfer gegenüber erkennen. Die Hemmungsmechanismen des späteren Täters werden dadurch jedoch immer weiter herabgesetzt.
Verbalisierte Aggression (N)
Die Tat wurde vor Dritten oder vor dem Opfer mehrfach angekündigt und das Tatgeschehen „zustimmend kommentiert“, was durch Zeugen oder Täteraussagen belegt ist.
Kriterium
Operationale Kurzbeschreibung
Aggressive Schemata (P)
Mangelnde Fähigkeit zur differenzierten Wahrnehmung der eigenen Gefühle und deren Ursachenzuschreibung, gepaart mit einer schwachen Tolerierbarkeit von ambivalenten Gefühlen und der Unfähigkeit, die Gefühle des Gegenübers zu verstehen.
Konfligierender Beziehungsverlauf (P)
Verlauf konfliktreicher Beziehungsgestaltung mit Kränkungen und Missverständnissen und einem „anklammernden“ Bindungsstil, der in der Tatvorlaufzeit zur Labilisierung der psychischen Kräfte und der Widerstandsfähigkeit des Täters führt.
Aggressives Verhalten und entsprechende Disposition (N)
Erhöhte Wahrscheinlichkeit, in Stresssituationen oder bei Kränkungen mit Wut und Ärger zu reagieren. In der Tatanlaufzeit ist es auch schon zu aggressiven Handlungen dem Opfer gegenüber gekommen.
Konstellierung der Tatbereitschaft (N)
Der Täter hat den Tatablauf maßgeblich gestaltet, die Tatsituation selbst geschaffen, und es lagen keine konstellativen Faktoren vor.
Folge- und Begleiterscheinungen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung (P)
Das Nachtatverhalten ist durch ein Muster von tiefer Erschütterung über die eigene Tat und nicht durch „ernst zu nehmende“ Flucht- oder Tatverdeckungshandlungen gekennzeichnet.
*P = positives Kriterium; N = negatives Kriterium Die Positiv- bzw. Negativkriterien sind nach der Höhe ihrer diskriminanten Validität bzgl. der abschließenden richterlichen Schuldfähigkeitsfeststellung als Außenkriterium absteigend aufgelistet.
Der Wert dieser Merkmalslisten liegt in erster Linie darin, dass der Sachverständigen damit ein Hilfsmittel an der Hand hat, um bei seiner Einschätzung alle wesentlichen Aspekte zu berücksichtigen. Es handelt sich nicht um operationalisier- bzw. objektivierbare Manuale, sondern um „weiche“ Kriterien. Gleichwohl sind es durchaus brauchbare Orientierungshilfen.
19.3. Forensisch-psychiatrische Beurteilung Aufgrund der umfassenden Analyse eines affektiven Ausnahmezustands hat der psychiatrische Sachverständige die Frage zu beantworten, ob der Zustand des Täters zum Tatzeitpunkt so geartet war, dass er der Merkmalskategorie „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“ zugeordnet werden kann. Dabei handelt es sich bereits um eine psychiatrisch-juristische Gemengelage, da die Quantifizierung der „Affektspannung“ eine reine Rechtsfrage ist, die sich letztlich der forensisch-psychiatrischen Beurteilung entzieht. Dies kann auch gar nicht anders sein, denn es handelt sich hierbei weitgehend um Bewertungsfragen, bei denen ein normativer Maßstab anzulegen (Theune 1999), wobei sich auf der Seite der Rechtsanwender auch Beurteilungs- und Bewertungsspielräume ergeben (Maatz 2005). Vom psychiatrischen Sachverständigen ist zu erwarten, dass er i. R. einer integrativen Zusammenschau die Wechselwirkungen zwischen der biografischen Anamnese, der Persönlichkeit des Täters, der Täter-Opfer-Beziehung, den situativen Umständen der Tat sowie ggf. der psychopathologischen Symptomatik des Täters darlegt (Müller und Nedopil 2017). Eine solche Analyse kann sich allerdings nicht auf empirisch abgesicherte Strategien zur Verknüpfung der einzelnen Bereiche untereinander sowie zur Erfassung ihrer Interaktionen mit möglicherweise mitbedingenden Persönlichkeitsfaktoren stützen, d. h., die
Datenintegration bleibt eine auf den Einzelfall bezogene klinische Urteilsbildung (Steller 1993). Ein gravierender Fehler wäre es, wenn der psychiatrische Sachverständige bei einem schweigenden bzw. die Tat leugnenden Täter allein aus dem Verletzungsmuster des Opfers folgern würde, dass die Tat „im Affekt“ begangen wurde, und mit dieser Folgerung auch noch die Feststellung einer erheblich eingeschränkten Steuerungsfähigkeit verknüpfen würde. Ebenso fehlerhaft wäre eine Beurteilung, bei der als Kriterien ausschließlich die „Persönlichkeitsfremdheit“ oder „Sinnlosigkeit“ der Tat i. V. m. der Angabe einer Erinnerungslücke berücksichtigt würden. Kommt der psychiatrische Sachverständige zu dem Ergebnis, dass zum Tatzeitpunkt eine „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“ vorlag, und folgt ihm das erkennende Gericht in dieser Einschätzung, so ist mit dem Vorhandensein dieses Merkmals die Konsequenz einer zumindest erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit i. S. des § 21 StGB gegeben. Hierdurch gerät diese Merkmalskategorie in eine Sonderstellung gegenüber den anderen Merkmalskategorien, bei denen eine solche „automatische“ Folge bekanntlich nicht eintritt. Eine schuldeinschränkende Wirkung wird in weitem Umfang juristisch anerkannt, dennoch aber auch einer normativen Prüfung unterzogen, wohingegen die Annahme eines schuldausschließenden Affekts einen absoluten Ausnahmecharakter hat (Fischer 2018). Die Frage nach einer möglicherweise aufgehobenen Steuerungsfähigkeit ist außerordentlich schwierig zu beantworten. Eine solche Folgerung kann gezogen werden, wenn weitere wesentliche Faktoren anzunehmen sind, etwa eine deutliche Alkoholisierung. Ist dies der Fall oder finden sich weitere Hinweise auf ausgeprägte strukturelle Auffälligkeiten oder ausgeprägte Dekompensationen in einem oder mehreren der geschilderten Beurteilungsbereiche, so ist die Möglichkeit einer aufgehobenen Steuerungsfähigkeit zu diskutieren. Zu bedenken sind in solchen Fällen dann die bereits genannten Fragen einer Konkurrenz zur Merkmalskategorie „schwere andere seelische Abartigkeit“ bzw.
„krankhafte seelische Störung“. Damit dürfte das Vorkommen eines schuldausschließenden „reinen Affekts“ ohne zusätzliche Faktoren eine sehr, sehr seltene Ausnahme sein, aber dennoch vorkommen (Foerster 1997; Kröber 1993; Venzlaff 1993). Von juristischer Seite wurde darauf hingewiesen, dass die Textur der Urteile häufig auf Steuerungsverlust und Schuldunfähigkeit hinauszulaufen scheine, sodass der dann zuerkannte § 21 StGB eigentlich widersprüchlich anmute, wobei die forensische Bedeutungslosigkeit des § 20 StGB für die Affekthandlung auf einer generalpräventiv motivierten Fiktion beruhe (Krümpelmann 1990; Salger 1989). Dem ist zuzustimmen, denn auch bei einem Freispruch wegen einer „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“ wird deswegen die Zahl gewalttätiger Konfliktlösungen nicht ansteigen (Venzlaff 1993). Bei den zweiphasigen Affekttaten (➤ Kap. 19.2.3) ist eine Untergliederung der Schuldfähigkeitsfrage durchaus denkbar, wenn z. B. für die Auslösehandlung Steuerungsunfähigkeit oder erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit, für die zur Tötung führende Folgehandlung erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit oder sogar volle Verantwortlichkeit angenommen wird (Venzlaff 1993). Zu bedenken ist schließlich, dass die Diskussion des affektiven Zustands eines Täters durch den psychiatrischen Sachverständigen auch unterhalb der Annahme der Schwelle der Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB für das erkennende Gericht von erheblicher Bedeutung sein kann. Ein affektiver Ausnahmezustand kann zum Ausschluss des Vorsatzes führen, wenn ein bedingter Tötungsvorsatz verneint und lediglich ein Körperverletzungsvorsatz angenommen wird (Theune 1999). Auch bei der Prüfung der subjektiven Mordmerkmale können die Auswirkungen eines affektiven Ausnahmezustands weitreichend sein. Ein Zustand hochgradiger Erregung kann verhindern, dass dem Täter die Heimtücke oder die niederen Beweggründe seines Verhaltens bewusst sind. Dies kann zur Folge haben, dass diese vom Vorsatz nicht erfasst werden und eine Verurteilung wegen Mordes ausscheidet (BGH St 6, 329, 332). Allerdings handelt es sich hierbei
um reine Rechtsfragen, die vom psychiatrischen Sachverständigen nicht zu beantworten sind. Gerade bei der Beurteilung von affektiv akzentuierten Taten ist die Mahnung von Maatz (2005) zu bedenken, dass die Schuldfähigkeitsbeurteilung immer wieder Anlass sein sollte, sich über deren „schwankende“ Grundlagen klar zu werden und kritisch mit nur scheinbaren Gewissheiten umzugehen.
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KAPITEL 20
Begutachtung und Behandlung von Personen mit Intelligenzminderung Dieter Seifert
20.1 Einleitung 20.2 Diagnostik der Intelligenzminderung 20.2.1 Erscheinungsbild / klinische Symptomatik 20.2.2 Klassifikatorische Perspektive 20.2.3 Ursachen einer Intelligenzminderung 20.2.4 Zusätzliche Störungsbilder 20.2.5 Weitergehende Untersuchungen 20.3 Intelligenzminderung und Delinquenz 20.4 Begutachtung / Schuldfähigkeitseinschätzung und Kriminalprognose 20.5 Die Patienten im Maßregelvollzug (§ 63 StGB) 20.6 Behandlungsmaßnahmen im Maßregelvollzug 20.6.1 Therapeutische Grundannahmen 20.6.2 Strukturierte, standardisierte Behandlungskonzepte 20.6.3 Medikamentöse Behandlung
20.6.4 Weitere Behandlungsmaßnahmen 20.7 Der Verlauf der Unterbringung 20.8 Gutachterliche Einschätzung des Behandlungserfolgs und einer weiterbestehenden Gefährlichkeit 20.9 Ausblick
20.1. Einleitung Menschen mit einer Intelligenzminderung haben in der Geschichte der Medizin und speziell der Psychiatrie seit jeher eine wechselhafte, zumeist sehr untergeordnete Rolle gespielt. Obgleich seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009 eine inklusive Gesellschaft angestrebt wird, klaffen Anspruch und Wirklichkeit derzeit noch auseinander: „Es fehlt an bedarfsgerechten medizinischen Angeboten und an spezifischem Wissen für Menschen mit geistiger Behinderung, damit sie nicht weiter die ‚vergessenen Patienten’ sind“ (Bahners 2013). Gilt diese Einschätzung bereits für die Versorgung von Personen mit Intelligenzminderung i. Allg., trifft sie für die gem. § 63 StGB strafrechtlich untergebrachten Patienten erst recht zu. Es existieren nur wenige umfassende Behandlungsprogramme für diese Patientengruppe im Maßregelvollzug. Die erste und bislang einzige diagnosenspezifische Klinik in Deutschland wurde erst 2011 implementiert (Seifert 2014). Bis dahin fehlte es nahezu gänzlich an evaluierten Erfahrungen. Anhand weniger Studien konnte lediglich die Erkenntnis gewonnen werden, dass die Unterbringungsdauer dieser Patientengruppe im Vergleich signifikant länger war und spezialisierte Nachsorgeeinrichtungen kaum zu rekrutieren waren bzw. sich für bestimmte Untergruppen (vor allem für Sexualstraftäter) nicht zuständig fühlten.
Für den psychiatrischen / psychologischen Sachverständigen scheint auf den ersten Blick die Beurteilung der strafrechtlichen Beeinträchtigung von intelligenzgeminderten Rechtsbrechern aufgrund des eigenen Eingangsmerkmals der Schuldfähigkeitsparagrafen (3. Merkmal des § 20 StGB: „Schwachsinn“) relativ unkompliziert möglich zu sein. Bei detaillierter Betrachtung ergeben sich allerdings einige diskussionswürdige Aspekte, die bereits bei der exakten diagnostischen Einschätzung beginnen und im Weiteren die Frage der Einsichtsund Steuerungsfähigkeit tangieren (Neuschmelting 2019). Auch die legalprognostische Einschätzung, die der Gutachter obligat zur Klärung der Voraussetzungen einer strafrechtlichen Unterbringung gem. § 63 StGB zu treffen hat, ist weitaus komplexer als mitunter noch in (älteren) Lehrbüchern nachzulesen ist. Sie ist nämlich nicht deswegen automatisch negativ, weil diese Patienten „nicht behandelbar“ sind bzw. weil man ihre kognitiven Fähigkeiten – also den Intelligenzquotienten – durch therapeutische Maßnahmen nicht erhöhen kann. Abgesehen von diesen fachlichen Gesichtspunkten ist aus forensisch-psychiatrischer wie auch aus klinisch-therapeutischer Sicht der im Gesetz genannte juristische Terminus „Schwachsinn“ kritisch zu hinterfragen. Die unverkennbare negative Konnotation bedeutet aus der Perspektive der Betroffenen nachvollziehbar eine Stigmatisierung. In der medizinischen Terminologie ist er seit Jahrzehnten obsolet; geeignete Alternativen wie z. B. „geistige Behinderung“, „Intelligenzminderung“ werden nicht nur im klinischen Alltag verwandt, sondern finden sich auch in den internationalen Klassifikationssystemen, wobei nunmehr dem Entwicklungsaspekt eine höhere Bedeutung beigemessen wird (ICD11 „Disorders of intellectual development“). Gemäß DSM-5 werden diese Störungsbilder unter der Überschrift „Intellektuelle Beeinträchtigung (Intellektuelle Entwicklungsstörung)“ aufgeführt, das dem Kapitel „Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung“ zugeordnet ist.
20.2. Diagnostik der Intelligenzminderung Der Begriff Intelligenz leitet sich von lat. „intellegere“ („einsehen, verstehen“) ab. Eine allgemein gültige Definition liegt bislang nicht vor; stattdessen existieren verschiedene Intelligenzmodelle. Ein verbreitetes Modell stammt von Spearman (1927), der von dem Vorliegen einer allgemeinen Intelligenz ausgeht. Der auch Generalfaktor (g-Faktor) genannte Bereich wirkt sich auf die gesamte Denk- und Lernfähigkeit eines Menschen aus und spiegelt sich folglich in den erzielten Schul- und Berufsleistungen wider. Darüber hinaus beschreibt er spezifische Begabungsfaktoren (s-Faktoren) wie z. B. besondere künstlerische oder mathematische Fähigkeiten (Talente). Ein weiteres, recht bekanntes Modell basiert auf den Überlegungen von Cattell (1987), der Intelligenz in zwei Komponenten aufteilt: • Der fluide Intelligenzteil ist weitgehend angeboren und wird kaum von äußeren Einflüssen bestimmt. • Die kristalline Intelligenz umfasst Faktenwissen und ist bildungs- und kulturabhängig. Der Begriff der emotionalen Intelligenz (Goleman 1996; Mayer et al. 2004), der umfänglich (vor allem populärwissenschaftlich) diskutiert wurde, ist weniger als Antonym zum traditionellen Intelligenzverständnis zu verstehen, sondern vielmehr als Erweiterung.
Merke In der Zusammenschau kann nach derzeitigem Verständnis Intelligenz als Konstrukt vielfältiger Fertigkeiten verstanden werden. Hierzu zählen vor allem Wahrnehmung, abstrahierendes und theoretisches Denken, Introspektionsfähigkeit, Verständnis, Sprache, Problemlösung, Ü
Gedächtnisleistung, Übersichtsfähigkeit sowie motorische, soziale und emotionale Fertigkeiten. Diese Fertigkeiten, auch wenn sie z. T. angeboren sein dürften, müssen in der Kindheits- und Jugendphase und ebenso darüber hinaus entwickelt bzw. gefördert werden. Diesem Verständnis folgend ist Intelligenzminderung keine Krankheit, sondern eine Entwicklungsstörung (Došen 2010), wenngleich die Entwicklungsfähigkeit insgesamt nach oben hin begrenzt ist, in einzelnen Teilleistungsbereichen jedoch erstaunliche Fertigkeiten erzielt werden können. So wird nachvollziehbar, dass zur Sicherung dieser Diagnose eine einmalige psychometrische Testung mit Feststellung eines Intelligenzquotienten (IQ) keinesfalls ausreicht. Die Diagnostik unterscheidet sich folglich nicht von der anderer psychischer Störungen, bei denen neben der Lebensgeschichte des Patienten weitergehende Untersuchungen (körperliche sowie ggf. apparative und laborchemische), fremdanamnestische Informationen und erste Therapieerfahrungen einbezogen werden sollten (Tölle und Windgassen 2014). Neben dem Erfragen der Familienanamnese sowie möglichen Auffälligkeiten in der Schwangerschaft und während der Geburt ist auf eine sorgfältige Erhebung der frühkindlichen Entwicklung zu achten. Die betroffenen Kinder zeigen häufig eine verzögerte motorische, psychische und sprachliche Entwicklung sowie Auffälligkeiten im Spielverhalten und in der Kontaktaufnahme. Man geht davon aus, dass sich die Intelligenz in der Bevölkerung gemäß der Gauß-Kurve verteilt. Demnach weisen etwa zwei Drittel einen durchschnittlichen IQ auf (IQ = 100 ± 1 SD: 85–115). Bei zwei SD nach oben (IQ > 130, ca. 2,5 %) spricht man von hoher Intelligenz; bei zwei SD nach unten (< 70, ca. 2,5 %) von einer Intelligenzminderung. Es bleibt zu bedenken, dass die gebräuchlichen IQ-Tests sowohl im oberen als auch im unteren Bereich im Vergleich zum Normalbereich (IQ: 85–115) weniger gut differenzieren, da sie überwiegend an Normalpopulationen normiert wurden. Allgemein gültige Prävalenzen zu Intelligenzminderungen
sind schon deswegen schwierig anzugeben, weil sie je nach Stichprobenauswahl (Alter, ländliche oder städtische Regionen etc.) recht große Differenzen aufweisen. Nach einer aktuellen internationalen Übersichtsarbeit (Maulik et al. 2011) beträgt die Gesamtprävalenz (unabhängig vom Alter) etwa 1 % (Deutschland: 0,92 %, also deutlich unterhalb der gemäß einer Normalverteilung zu erwartenden Prävalenz). In Ländern mit niedrigem Einkommen (ca. 1,6 %) sowie in ländlichen Regionen (ca. 2 %) liegen die Prävalenzraten offenkundig höher. Gleiches trifft auf Stichproben von Kindern und Jugendlichen zu (1,8 %), allerdings ist im Vergleich zu früheren Untersuchungen hier eine relative Abnahme zu beobachten, wahrscheinlich basierend auf einer verbesserten medizinischen peri- und postnatalen Versorgung (Neuhäuser und Steinhausen 2013). Bessere medizinische und allgemein versorgende Strukturen haben zudem den Anteil älterer geistig behinderter Menschen ansteigen lassen. So hat sich z. B. die Lebenserwartung von Menschen mit einer Trisomie 21 (Down-Syndrom) in den letzten 20 Jahren nahezu verdoppelt (von 25 auf 49 Jahre). Ausgeprägte Formen der Intelligenzminderung, die weitaus weniger von der sozialen Schichtzugehörigkeit beeinflusst sind, treten in einer Prävalenz von 0,3–0,5 % auf. Zumeist sind pränatale Ursachen für dieses Störungsbild verantwortlich, die mittlerweile ganz überwiegend (96 %; Stromme und Hagberg 2000) zu identifizieren sind. Das männliche Geschlecht mit seiner erhöhten Vulnerabilität überwiegt. Das DSM-5 (APA 2018) fasst Intelligenzminderungen („Intellektuelle Beeinträchtigung“ bzw. „Entwicklungsstörung“) gemeinsam mit ADHS, Autismus-Spektrum-Störungen (ASS), Kommunikationsstörungen, spezifischen Lernstörungen sowie Störungen der Motorik inkl. Ticstörungen und Tourette-Syndrom im Kapitel „Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung“ zusammen. In der Literatur werden vereinzelt auch die Bezeichnungen geistige Behinderung, intellektuelle Minderbegabung und z. T. ältere Termini wie Oligophrenie, Debilität oder bei stärkerer Ausprägung Idiotie weitgehend synonym verwandt.
Neben aller Komplexität der Definition von Intelligenz zeichnet sich darüber hinaus die graduelle Einteilung durch geringe Einheitlichkeit aus, wobei nach der Aktualisierung und Weiterentwicklung der beiden großen Diagnoseund Klassifikationsglossars psychischer Störungen (ICD-11 und DSM-5) eine erkennbare Annäherung erzielt werden konnte. Eine dimensionale Einteilung in „leicht“, „mittel“, „schwer“ sowie „schwerst“ bzw. „extrem“ hat sich auch aus klinischer Sicht als sinnvoll herausgestellt, wobei die Schweregrade nicht allein anhand der kognitiven Fähigkeiten, sondern ebenso der sozialen und Alltagsfähigkeiten bestimmt werden sollten (s. u.). Für die Diagnose einer Intelligenzminderung werden entsprechend den gebräuchlichen Klassifikationsschemata ICD-10 / -11 und DSM-5 sowie nach der American Association of Mental Retardation (Luckasson et al. 2002) folgende drei Kriterien gefordert (Došen 2010): 1. Einschränkungen der intellektuellen Fähigkeiten (IQ 24) • Reizhunger, sozial unverbundene, augenblicksgebundene Lebensführung • Antisoziale Denkstile, die eine situative Verführbarkeit bedingen oder kriminelle Verhaltensstile legitim erscheinen lassen Danach bleibt festzuhalten, dass für die Differenzierung zwischen forensisch-psychiatrischer Maßregel und SV nicht entscheidend ist, ob eine Persönlichkeitsstörung vorliegt. Dies ist bei vielen Straftätern der Fall (Fazel und Danesh 2002), jedoch werden nur selten schuldfähigkeitsrelevante Störungsgrade erreicht.
Merke Die Unterbringung gem. § 63 StGB erfordert die Feststellung einer schwer gestörten Persönlichkeit mit erheblichen emotionalen Defiziten und / oder Störungen der Handlungskontrolle (Boetticher et al. 2005). Zur Klärung der Voraussetzungen einer SV kann neben der Psychopathy Checklist-Revised (PCL-R) von Hare (2003, dt. Version Mokros et al. 2017) die sorgfältige Analyse der Biografie unter Berücksichtigung von Entwicklungshindernissen, aber auch möglichkeiten beitragen. Resultierende kriminalprognostische Überlegungen sollten einseitig deterministische Festlegungen vermeiden und die Haltung des Probanden zur Delinquenz kritisch würdigen. Geschieht dies, können auch forensische Psychiater
verlässliche und nachvollziehbare Stellungnahmen zu persönlichkeitsgebundenen Grundlagen der Hangtäterschaft abgeben. Eine weitere gutachterlich relevante Konstellation ergibt sich durch die Möglichkeit einer vorbehaltenen Sicherungsverwahrung, die bei (noch) unsicherer prognostischer Beurteilung und der Möglichkeit von weiteren Erkenntnissen aus dem Verlauf der sich ans ursprüngliche Verfahren anschließenden Haft angeordnet werden kann. Die vorbehaltene SV wird gegen Ende der Haftstrafe in einem weiteren Verfahren überprüft und je nach Prognose hinsichtlich weiterer schwerer Delikte zurückgenommen oder in Kraft gesetzt. Die als Voraussetzung definierte unsichere Prognose dürfte zur vermehrten Anordnung einer solchen Maßnahme führen. Ob dann auch die Rücknahme einer vorbehaltlich ausgesprochenen Maßnahme ähnlich häufig vorgenommen wird, ist für den Autor dieses Kapitels ausgesprochen fraglich. Daher dürfte die vermehrte Anordnung der vorbehaltenen SV im Verlauf zu steigenden Unterbringungszahlen führen. Der Gesetzgeber hat eine Unterbringung in der SV auch bei Schuldminderung nicht ausgeschlossen, jedoch sei in diesem Fall kritisch zu prüfen, ob nicht der Unterbringung nach § 63 der Vorzug zu geben ist. Dies ist üblicherweise auch der Fall, denn die SV gilt als letztes Mittel der Kriminalpolitik, als Ultima Ratio (Bamberger 2012). Abgesehen von Rauschtaten wird es daher nur in Ausnahmefällen zur Anordnung der Sicherungsverwahrung bei vermindert schuldfähigen Straftätern kommen. Für die krankhaften seelischen Störungen und den Schwachsinn sollte die SV ohnehin keine Bedeutung haben: In der Regel werden Betroffene bei fortbestehender Gefährlichkeit im psychiatrischen Maßregelvollzug untergebracht. Diese Praxis ist auch angesichts der aktuellen Entwicklung in Richtung einer therapeutischen Ausgestaltung der SV gerechtfertigt. Schließlich können die psychiatrischen Maßregelvollzugskliniken intensivere Behandlungs- und damit auch Resozialisierungsmöglichkeiten vorhalten. Wenn ein Häftling in SV eine psychotische Erkrankung entwickelt, sollte im Interesse einer effektiven Behandlung gem. § 67a StGB ein Wechsel in die
psychiatrische et al. 2002).
Maßregel
vorgenommen
werden
(Habermeyer
29.4. Therapie Wie einleitend dargestellt, ist die SV in den letzten Jahren zu einer therapeutischen Maßregel geworden. Allerdings handelt es sich bei der in diesem Kontext vorherrschenden dissozialen bzw. antisozialen Persönlichkeitsstörung um ein schwer behandelbares Störungsbild, was nicht zuletzt darin begründet liegt, dass Betroffene subjektiv nicht an ihren Auffälligkeiten leiden und daher wenig Behandlungsbereitschaft zeigen. Dieser Aspekt akzentuiert sich für die Insassen mit hohen Werten auf der Psychopathy Checklist (Hare 2003, dt. Version Mokros et al. 2017), was für eine noch stärker eingeschränkte therapeutische Erreichbarkeit spricht (Mokros und Habermeyer 2012). Außerdem sind angesichts der langen Haftzeiten der Sicherungsverwahrten auch Einflüsse der Institutionalisierung zu beachten, die sich negativ auf die Behandlungsmotivation und Behandelbarkeit auswirken können. Vor diesem Hintergrund ist das im Urteil des Bundesverfassungsgerichts (2011) angedachte „freiheitsorientierte Gesamtkonzept der Sicherungsverwahrung“ mit klarer therapeutischer Ausrichtung auf das Ziel, die von dem Untergebrachten ausgehende Gefahr zu minimieren und so die Dauer der Freiheitsentziehung auf das unbedingt erforderliche Maß zu reduzieren, nicht überzeugend. Da für die Gruppe der in der SV untergebrachten hartnäckigen Wiederholungstäter mit dissozialen Merkmalen bzw. dissozialer Persönlichkeitsstörung bislang keine hinsichtlich ihrer Wirksamkeit empirisch belegten therapeutischen Konzepte (Gibbon et al. 2010; Khalifa et al. 2010) existieren, besteht vielmehr die Gefahr, dass die therapeutischen Bemühungen ins Leere laufen. Diese Befürchtung akzentuiert sich angesichts der hohen Psychopathie-Werte, die nicht nur hinsichtlich der Erfolgsaussichten der Behandlung skeptisch stimmen, sondern auch ein therapiestörendes Verhalten der Betroffenen erwarten lassen (Habermeyer und Mokros 2012).
Angesichts des fortgeschrittenen Lebensalters und der jahrzehntelangen Delinquenz der Sicherungsverwahrten reduzieren sich die Erfolgsaussichten weiter, denn dissoziale bzw. psychopathische Merkmale sind in früheren Lebensabschnitten erheblich besser behandelbar als bei Erwachsenen. Erste therapeutische Interventionen sollten sich daher bereits an Kinder unter 10 Jahren richten (Farrington et al. 2006), und prinzipiell wäre auch für Deutschland eine flächendeckende Implementierung von therapeutischen Maßnahmen für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene erstrebenswert, um eine wirkliche Prävention betreiben zu können. Ein weiterer Aspekt, der eine rechtzeitige Etablierung intensiver therapeutischer Maßnahmen erschwert, ist die Tatsache, dass die Unterbringung in psychiatrischen Kliniken gem. § 63 StGB – anders als z. B. in der Schweiz – von einer Schuldminderung abhängig ist. Da die häufigste bei Sicherungsverwahrten zu stellende Diagnose einer dissozialen Persönlichkeitsstörung per se nicht schuldmindernd oder gar schuldaufhebend ist, wird die frühzeitige Zuführung dieser Klientel zu einer intensiven Behandlung verhindert (Böhm 2018). Nach aktuellem Sachstand kann man die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts lediglich als Aufforderung ansehen, Behandlungsprogramme für dissoziale Straftäter zu entwickeln und diese parallel zu ihrer Entwicklung in der Praxis zu evaluieren. Stattdessen wurde jedoch von den medizinischen Laien des Bundesverfassungsgerichts bei nach gegenwärtigem Wissensstand kaum zu therapierenden Personen eine Hoffnung auf Besserung bzw. Entlassung geschürt, die vor dem Hintergrund des aktuellen medizinisch-psychotherapeutischen Sachstands schwer zu begründen ist. Es überrascht daher nicht, dass die Umsetzung dieser Vorgaben für den Vollzug nicht unproblematisch ist (Schäfer 2013). Es gibt allerdings auch juristische (Böhm 2018) und psychiatrische (Dudeck 2014) Stimmen, die optimistischer sind, sowie ermutigende Erfahrungen bei der Rehabilitation von Sicherungsverwahrten (Voß et al. 2015).
Merke Im Rahmen eines engmaschigen Betreuungsansatzes haben sich die Abmilderung der Folgen dissozialen Verhaltens im sozialen Umfeld und kognitive Therapie bezogen auf konkrete Einzelsituationen zur Förderung des Selbstwertes und des Zugewinns von Ressourcen und Resilienz als hilfreich erwiesen. Für ein abschließendes Fazit hinsichtlich der zweifelsohne anspruchsvollen therapeutischen Arbeit in diesem Kontext oder hinsichtlich der von Sauter et al. (2019) aufgeworfenen Frage, ob und inwiefern extramural flankierende Maßnahmen die Therapie ergänzen oder gar ersetzen können, ist es aber sicher noch zu früh.
29.5. Therapieunterbringungsgesetz Nur noch am Rande erwähnt werden muss das vor 10 Jahren in großer Eile auf den Weg gebrachte Therapieunterbringungsgesetz (ThUG). Dieses Gesetz erfasst als gefährlich eingestufte Straftäter, die nach dem Urteil des EGMR zur Entlassung aus der SV anstehen oder bereits entlassen werden mussten. Bei Vorliegen einer nicht näher definierten „psychischen Störung“ und einer daraus resultierenden Gefährlichkeit sollen diese in geeigneten „therapeutischen“ Einrichtungen untergebracht werden. Diese Einrichtungen und insbesondere die dort anzuwendenden Therapien sind nicht genauer definiert. Es sollen aber Behandlungspläne erstellt und eine „möglichst kurze“ Unterbringungsdauer gewährleistet werden. Für eine Unterbringung nach ThUG kamen nur diejenigen Sicherungsverwahrten in Betracht, deren Maßnahme schon vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualstraftaten 1998 angeordnet worden war, wobei deren Anzahl altersbedingt mittlerweile begrenzt sein dürfte.
Betroffene sollten am Ende eines langen Weges aus Delinquenz, Inhaftierung und Verwahrung, d. h. nach Jahrzehnten der Institutionalisierung in Haft bzw. Sicherungsverwahrung, „geeigneten geschlossenen Einrichtungen“ des ThUG zugeführt werden. Betreffs ThUG akzentuieren sich die vorab skizzierten Bedenken hinsichtlich der therapeutischen Erreichbarkeit, denn für die dort definierte Gruppe älterer und hartnäckiger Wiederholungstäter existieren keine therapeutischen Konzepte (Gairing et al. 2011; Habermeyer 2012). Trotzdem wurde durch die Bezeichnung der geschlossenen Einrichtungen als „medizinischtherapeutisch“ und insbesondere mit der Erwähnung „möglichst kurzer“ Unterbringungszeiten bei den nach dem gegenwärtigem Wissensstand kaum zu therapierenden Personen die Hoffnung auf Besserung oder gar Entlassung geschürt (DGPPN 2011). Wenn es aber wirklich um Entlassung ginge, wären weniger psychiatrischpsychotherapeutische Interventionen und Therapien wie Tataufarbeitung oder Empathietraining erforderlich als vielmehr ein intensives Übergangsmanagement (Kröber 2011) bzw. ein therapeutisch begleiteter und gut vorbereiteter bzw. engmaschig überwachter sozialer Empfangsraum (Voß und Sauter et al. 2011). Zusätzliche Bedenken löste das ThUG dadurch aus, dass der Freiheitsentziehungsgrund nach Art. 5 I 2 lit. e EMRK herangezogen wird, der für psychisch Kranke („persons with unsound mind“) gilt. Von unterschiedlichen Autoren (Kinzig 2012; Kreuzer 2010; de Tribolet-Hardy et al. 2015) wurden Bedenken aufgrund des unklaren Anwendungsbereichs und der Umdefinition von Sicherungsverwahrten in psychisch Kranke geäußert. Entsprechend formulierte die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde in einer Stellungnahme deutliche Kritik: Die im Gesetz implizit vorgenommene Gleichsetzung von psychischer Störung und andauernder Gefährlichkeit sei sachlich unangebracht und führe zu einem „Missbrauch der Psychiatrie“ (DGPPN 2011).
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KAPITEL 30
Die Begutachtung der Kriminalprognose (Risikobeurteilung und -handhabung) Andreas Mokros, Harald Dreßing und Elmar Habermeyer
30.1 Einleitung 30.2 Prognosebereiche 30.2.1 Prognosen im erkennenden Verfahren 30.2.2 Prognosen im Vollzug 30.2.3 Entlassungsprognosen 30.3 Anforderungen an ein psychiatrisches Prognosegutachten 30.4 Prognoseforschung: Entwicklungsphasen und grundlegende Konzepte 30.5 Statistisch-nomothetische Prognose 30.5.1 Basisraten 30.5.2 Kriminalprognostische Beurteilungsskalen 30.6 Klinische Individualprognose 30.6.1 Kriterienkataloge 30.6.2 Beurteilungsbereiche 30.7 Integrative Kriminalprognose 30.8 Risikokommunikation 30.9 Fehlerquellen
30.1. Einleitung Gutachten zur Kriminalprognose haben in den letzten 30 Jahren in der Forensischen Psychiatrie enorm an Bedeutung gewonnen. Gerade in diesem Teilbereich der forensisch-psychiatrischen Arbeit wird die Entwicklung weg von kasuistischen Betrachtungen hin zu einem empirisch fundierten Fachgebiet besonders deutlich. Die Diskussion über das sachgerechte Vorgehen in diesem Kontext, die Forschung zur Rückfälligkeit von Maßregelpatienten und die Entwicklung einer Vielzahl von Prognoseinstrumenten haben die Forensische Psychiatrie zu einer wissenschaftlich ausgesprochen spannenden und perspektivträchtigen Disziplin gemacht. Dabei hat sich das Feld nach einer initialen Optimierung der Risikoerfassung im Hinblick auf Aussagen zur Behandlungsprognose und zu Möglichkeiten des Fallmanagements bzw. der Bewältigung von Risiken erweitert. Deshalb ist der Begriff Kriminalprognose, sofern man ihn als Vorhersage eines Ereignisses auffasst, nicht mehr berechtigt. Korrekter wäre es, von Gutachten
zur Erfassung eines Risikos und zur Entwicklung effektiver Strategien zur Minimierung dieses Risikos („risk assessment and risk management“) zu sprechen. Die Begriffskombination Risikobeurteilung und -handhabung trägt außerdem der Tatsache Rechnung, dass prognostische Begutachtungen nicht zu zeitstabilen und quasistatischen Ergebnissen führen können, weil die begutachtete Person, zumindest wenn ein Zugewinn an Freiheitsgraden resultiert, auch mit dynamischen Entwicklungen konfrontiert ist.
Merke Mit zunehmender Zeit nach der Begutachtung steigt die Zahl unvorhersehbarer Ereignisse bzw. Situationen. Daher ist die Güte von kriminalprognostischen Aussagen auch abhängig vom Prognosezeitraum. Deswegen wird zu Recht gefordert, Kriminalprognosen auf überschaubare Zeiträume zu begrenzen (Nedopil 1998) oder dadurch zu präzisieren, dass zwischen einer kurz-, mittel- und langfristigen Kriminalprognose bzw. den entsprechenden Risiken unterschieden wird. Dabei beziehen sich kurzfristige Einschätzungen auf Tage und Wochen, mittelfristige auf Monate und langfristige auf Jahre. Es ist zu betonen, dass i. d. R. und insbesondere bei Personen, die nicht durch schwerwiegende psychische Störungen massiv in ihren Handlungsspielräumen beeinträchtigt sind, höchstens für einen Zeitraum von 3–5 Jahren hinreichend belastbare Aussagen getroffen werden können. Schematisch (und grob vereinfachend) lässt sich die Systematik von faktischen Probandeneigenschaften (rückfallgefährdet oder nicht) und Prognoseergebnis (positiv oder negativ) wie in ➤ Abb. 30.1 veranschaulichen (vgl. Monahan 1978). Dabei ist zunächst von der Begrifflichkeit her zu beachten, dass positiv (wie in der medizinischen Diagnostik allgemein) keineswegs gleichbedeutend ist mit günstig, sondern vielmehr auf ein Bejahen der Fragestellung („Ist der Proband rückfallgefährdet?“) hinausläuft.1 Für beide möglichen Einschätzungen, also für die positive Prognose (Bejahen der Rückfallgefahr) und für die negative Prognose (Verneinen der Rückfallgefahr), sind jeweils zwei Konsequenzen möglich: Der Proband wird rückfällig oder nicht. Einen Rückfall in Verbindung mit einer positiven Prognose bezeichnet man als richtig positiv (sprich: die Einschätzung der vorhandenen Rückfallgefährdung hat sich bestätigt); das Ausbleiben eines Rückfalls trotz positiver Prognose wird demgegenüber als falsch positive Einschätzung deklariert – die Annahme der Rückfallgefährdung hat sich nicht bestätigt. Dass eine positive Prognose (also ein Bejahen der Rückfallgefahr) einer Entlassung oder Lockerung üblicherweise entgegensteht, so dass die richtig bzw. falsch positiven Ergebnisse i. d. R. nicht beobachtet werden können, ist im Diagramm durch eine vertikale gestrichelte Linie dargestellt.
Abb. 30.1 Ergebniskategorien dichotomer Prognoseentscheidungen (mod. Nachdruck aus Dahle 2010: 24) [L231, E169–003] Umgekehrt wird ein Rückfall trotz negativer (günstiger) Prognose als falsch negativ bezeichnet; den Fall der Legalbewährung infolge gleichlautender Erwartung (negative Prognose) nennt man richtig negativ. Das Schema von Prognose und Ergebnis ist verschiedentlich kritisiert worden (so z. B. von Urbaniok 2004). Schließlich soll die aufgrund bestehender Risiken eingeleitete Therapie dazu führen, dass Betroffene aufgrund von Behandlungseffekten oder infolge eines effektiven Risikomanagements nicht rückfällig werden. Damit besteht ein wesentliches Behandlungsziel darin, initial positive Fälle (mit anfänglich als vorhanden gewertetem Rückfallrisiko) in die Legalbewährung zu überführen (also gleichsam falsch Positive zu produzieren bzw. die Patienten nach Anpassung der Einschätzung zu richtig negativen Fällen umzudeklarieren). Zudem basieren Schätzungen über das Verhältnis von richtig positiven zu richtig negativen Einschätzungen i. d. R. Regel nur auf Daten aus dem kriminologischen Hellfeld. Allein deshalb greift es sicherlich zu kurz, die relative Häufigkeit falsch positiver Fälle in selektiven Stichproben als grundlegende Kritik an der forensisch-psychiatrischen bzw. psychologischen Prognostik heranzuziehen. Allenfalls ergeben sich entsprechende Kennwerte durch naturalistische Experimente: So werden bis heute immer wieder die Zahlen aus zwei Patientengruppen angeführt, die in den 1960 / 70er-Jahren unabhängig von der psychiatrischen Risikoeinschätzung aus verfahrensrechtlichen Gründen aus zwei besonders gesicherten psychiatrischen Kliniken in den USA entlassen wurden („Baxtrom“-Fall 1966 und „Dixon“-Fall 1971). In mehreren ausführlichen Studien erwiesen sich die tatsächlichen Rückfallraten dieser Patienten als ausgesprochen niedrig (Steadman und Cocozza 1974; Thornberry und Jacoby 1979).
Allerdings ist fraglich, ob diese Resultate einen Rückschluss auf die tatsächlichen Grenzen kriminalprognostischer Beurteilungen erlauben. Auf die Situation im bundesdeutschen Strafund Maßregelvollzug dürften sie kaum übertragbar sein. Untersuchungen im deutschen (Seifert 2007) wie im niederländischen Maßregelvollzug (Leuw 1995; de Vogel et al. 2004) haben nämlich gezeigt, dass Patienten, die von den Gerichten trotz ungünstiger Prognosebeurteilung der Maßregelkliniken entlassen worden waren, eine deutlich höhere Rückfallrate hatten als diejenigen, bei denen die Maßregel aufgrund einer günstigen Legalprognose beendet worden war. Die „wahre“ Auftretensrate etwaiger Rückfälle ist außerdem schon deshalb nicht feststellbar, weil nur die Rückfalldelikte derjenigen Patienten erfasst werden können, die mit einer günstigen Prognose oder unter Verhältnismäßigkeitsaspekten entlassen wurden. Der Anteil der richtig positiven Fälle, also der weiterhin untergebrachten Patienten, die nach einer Entlassung ihre fortbestehende Gefährlichkeit durch ein erneutes Delikt unter Beweis gestellt hätten, ist dagegen nicht erfassbar. Zudem ist die Entlassung aus dem Maßregelvollzug Ergebnis einer gutachterlichen Prognosebeurteilung und der richterlichen Bewertung des drohenden Risikos. Bei gleich hoher Einschätzung der Rückfallgefahr wird daher nach Diebstahlsdelikten eher eine Entlassung erfolgen als nach Körperverletzungs- bzw. gar Tötungsdelikten.
Merke Es kann nicht klar genug zwischen Prognose und Prognosebewertung getrennt werden: Psychiatrische und psychologische Kriminalprognosen beschreiben Dispositionen und stellen stets Wahrscheinlichkeitsaussagen dar. Aufgabe des Prognosegutachtens kann daher nur sein, das Ausmaß vorhandener Rückfallgefahr in Bezug auf konkrete Deliktsbereiche zu sowie etwaige Möglichkeiten beschreiben, wie mit dieser Rückfallgefahr im Rahmen eines bestimmten Settings umzugehen ist. Inwieweit sich daraus die Notwendigkeit einer (weiteren) Unterbringung im Strafoder Maßregelvollzug ergibt, ist eine Frage der juristisch-normativen Bewertung dieser Rückfallgefahr. Dies ist Aufgabe des zuständigen Gerichts und nicht des Gutachters. Letztlich ist der Begriff falsch positiv keine Beschreibung einer konkreten Person, sondern eine Rechengröße, deren Schätzwert sich in wissenschaftlichen Studien durch die Festlegung von Trennwerten ergibt. Er skizziert ein Dilemma, das sich erfahrungswissenschaftlich nicht auflösen lässt. Schließlich unterliegt es der juristischen Würdigung, wie mit dem Risiko, dass ein nicht unerheblicher Anteil der in Maßregeln untergebrachten Personen falsch positiv ist, umzugehen ist. In der Realität (und bezogen auf den zu beurteilenden Einzelfall) wird der Trennwert nicht durch den Gutachter, sondern durch das Gericht festgelegt. Wie viele falsch positive und falsch negative Fälle womöglich hinzunehmen sind, lässt sich nämlich nur juristisch oder kriminalpolitisch, nicht aber psychiatrisch / psychologisch entscheiden. Insofern geht auch der früher verwandte Begriff der Gefährlichkeitsprognose fehl, denn Aussagen dazu, ob die im Gutachten skizzierte Wiederholungswahrscheinlichkeit mit einer Gefahr gleichzusetzen ist, die eine Unterbringung einer Person bzw. deren Fortdauer rechtfertigen kann, ist ebenfalls rein normativ. Ohnehin ist der Begriff „Gefährlichkeit“ vieldeutig und psychiatrisch-psychologisch nicht exakt definierbar. Er ist auch insofern unbefriedigend, als sich die Prognose auf ein mögliches zukünftiges Ereignis bezieht, Gefährlichkeit hingegen auf einen mutmaßlichen aktuellen Zustand. Wie Bonss (2011) in der
Gegenüberstellung der Begriffe Gefahr und Risiko darlegt, ist der Begriff des Risikos mit der Vorstellung der Kalkulierbarkeit verbunden, im Sinne von Messbarkeit bzw. Quantifizierbarkeit. Daher sollte der Begriff der Gefährlichkeitsprognose nach Möglichkeit vermieden und stattdessen von Kriminalprognose (oder besser: Risikobeurteilung) gesprochen werden. Allein diese Quantifizierbarkeit, d. h. empirisch fundierte (Prozent-)Angaben zum Rückfallrisiko zu machen, bietet jedoch keine überzeugende Lösung, denn ein bestimmter Prozentwert gewinnt in Bezug auf unterschiedliche Risiken eine jeweils unterschiedliche Relevanz. Diese Bedeutung kann sich in unterschiedlichen Kontexten auch wieder verändern bzw. anders interpretiert werden. Dies soll mittels eines Gedankenexperiments illustriert werden: Stellen Sie sich vor, die Wetter-App auf Ihrem Mobiltelefon zeigt eine Niederschlagswahrscheinlichkeit von 10 % an: • Nehmen Sie einen Regenschirm mit? • Nehmen Sie ihn mit, wenn Sie sich am Abend noch mit Freunden treffen wollen? • Nehmen Sie einen Regenschirm mit, wenn sie am Abend des Tages einen wichtigen beruflichen Termin haben? Stellen Sie sich andererseits vor, Sie sind am Flughafen und man teilt Ihnen mit, dass Ihr Flug mit 10-prozentiger Wahrscheinlichkeit abstürzen wird: • Steigen Sie in das Flugzeug ein? • Unter welchen Voraussetzungen würden Sie einsteigen? Diese Fragen verdeutlichen, dass neben der Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls auch die mutmaßliche Tatschwere (bzw. die Empfindlichkeit des bedrohten Rechtsguts) eine Rolle spielt. Die Frage nach der Erheblichkeit möglicher weiterer Taten ist aber wiederum eine juristische, keine psychiatrische. Dabei hat sich durch die Novellierung des § 67d StGB eine wichtige Differenzierung ergeben, und zwar durch die Einführung von Fristen: Nach 6 Jahren Unterbringung muss demnach die Gefahr einer schweren körperlichen oder seelischen Schädigung möglicherweise gegeben sein; nach 10 Jahren hingegen muss eine schwere seelische oder körperliche Schädigung drohen (vgl. Boetticher et al. 2019). Daher ist es nicht mehr hinreichend, wenn psychiatrische / psychologische Sachverständige die Erwartbarkeit möglicher Rückfälle pauschal beantworten.
Merke Nach Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf die Fortdauer einer Unterbringung gem. § 63 StGB sind die Art drohender rechtswidriger Taten und deren jeweilige Wahrscheinlichkeit zu spezifizieren (BVerfG-Beschl. v. 3.7.2019, 2 BvR 2256 / 17). Wie in dem zuvor zitierten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ferner verdeutlicht wird, müsse im Rahmen der Beurteilung, ob die Gefahr erheblicher rechtswidriger Taten weiterhin gegeben sei, auf die Besonderheiten des Einzelfalls eingegangen werden, etwa was das frühere Verhalten des Probanden und frühere Taten betreffe (BVerfG-Beschl. v. 3.7.2019, 2 BvR 2256 / 17). In psychiatrisch-psychologischer Hinsicht bedeutet dies, dass eine Delinquenzhypothese zu erarbeiten ist, um die Ursachen der Straffälligkeit in der Vergangenheit zu verstehen (warum die Person z. B. in einer bestimmten Situation gewalttätig
gehandelt hat). Darauf aufbauend kann eine Einschätzung erfolgen, ob und unter welchen Bedingungen diese oder andere Gründe die Person in der Zukunft zu weiteren Straftaten veranlassen können. Dabei ist nicht zuletzt das Veränderungspotenzial zu skizzieren, das es einem Betroffenen ermöglicht, nun andere, gesetzeskonforme Wege einzuschlagen. Wie sich dies gutachterlich umsetzen lässt und wie die Resultate sachgerecht kommuniziert werden können, wird in ➤ Kap. 30.4 ff. erörtert. Zunächst soll es noch um die Rahmenbedingungen bzw. üblichen Fragestellungen von kriminalprognostischen Gutachten gehen.
30.2. Prognosebereiche So umstritten Kriminalprognosen sind, so selbstverständlich werden Psychiater und Psychologen in der forensischen Alltagspraxis damit beauftragt. Im erkennenden Verfahren erfolgen kriminalprognostische Beurteilungen am häufigsten bei der Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung (§ 56 StGB). Hier geht es entscheidend um die Behandlungsprognose unter freiheitlichen Bedingungen. Zwingend ist die Hinzuziehung eines Sachverständigen gem. § 246a StPO für die Anordnung oder den Vorbehalt einer Maßregelunterbringung (§§ 63, 64, 66, 66a StGB, §§ 7 II, 106 III und IV JGG). Während des Vollzugs einer Freiheitsstrafe oder Maßregel betreffen prognostische Beurteilungen insbesondere die Missbrauchsgefahr bei Vollzugslockerungen. Im Vollstreckungsverfahren ist eine sachverständige Beurteilung der Entlassungsprognose erforderlich bei der Entlassung aus einer freiheitsentziehenden Maßregel nach §§ 63, 64 und 66 StGB (§ 67d II StGB / § 454 II StPO), der bedingten Entlassung aus einer lebenslangen Freiheitsstrafe (§ 57a StGB / § 454 II 1 StPO) und in bestimmten Fällen einer bedingten Entlassung aus einer zeitigen Freiheitsstrafe (§ 57 StGB / § 454 II 2 StPO), nämlich wenn Katalogtaten im Sinne von § 66 III 1 StGB vorliegen. Bei der nachträglichen Anordnung einer Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (§ 66b StGB, Art. 316 f. EGStGB) ist gem. § 275a IV StPO sogar die regelhafte Hinzuziehung zweier Sachverständiger vorgesehen. Gleiches gilt laut § 9 II ThUG. Dabei haben die bisherigen Erfahrungen eine überwiegende Übereinstimmung in den diagnostischen und prognostischen Einschätzungen zwischen erfahrenen und kompetenten Gutachtern gezeigt (Kröber et al. 2007). Außerdem werden Kriminalprognosen bereits in einem primär präventiven Bereich gefordert, dabei geht es im Rahmen der Einweisungen entsprechend den jeweiligen Unterbringungsgesetzen (PsychKG) i. d. R. um die Prognose kurz- bzw. allenfalls mittelfristiger Gewalthandlungen. In diesem Kontext ist zu berücksichtigen, dass prognostische Entscheidungen hinsichtlich des Fremdgefährdungspotenzials eines Patienten gefordert sind, der bis dahin u. U. noch nie ein gefährliches Verhalten gezeigt hat. Aussagen dazu können daher bei akuten Störungsbildern bzw. Substanzintoxikationen i. d. R. nur unter Berücksichtigung der jeweiligen Symptomatik (z. B. Wahn, Anspannung, Antriebssteigerung, Impulsivität, Distanzminderung), akuter situativer Faktoren (z. B. einer Bewaffnung, konkret ausgestalteter Drohung) und kaum anhand kriminologischer Faktoren getroffen werden.
30.2.1. Prognosen im erkennenden Verfahren Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus erfordert eine Beurteilung, ob vom Täter „infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist“ (§ 63 Satz 1 StGB). Entspricht die begangene Tat nicht einer erheblichen Tat im Sinne dieser Definition, kann die Anordnung der Maßregel nur erfolgen „wenn besondere Umstände die
Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustandes derartige erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird“ (§ 63 Satz 2 StGB). Hier erscheint die Entscheidung vielfach unproblematisch, da der Betroffene zumeist kurz zuvor seine erkrankungs- / störungsbedingte Gefährlichkeit durch eine entsprechende Straftat unter Beweis gestellt hat. Dabei sollte jedoch nicht aus dem Auge verloren werden, dass auch Delikte im Rahmen schizophrener oder affektiver Psychosen oft nicht allein durch die Erkrankung selbst bedingt sind, sondern an mitunter kaum wiederholbar erscheinende situative Bedingungen geknüpft sein können. Daneben ist zu beachten, dass manche Gewaltdelikte nach Raschs Diktum eher „soziale Unfälle“ (Rasch 1985: 310) darstellen, die durch ein ungünstiges Zusammentreffen situativer und personenbedingter Umstände zustande kommen. Die bei der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) zu klärende Kriminalprognose bezieht sich auf die Gefahr, dass die betreffende Person „infolge ihres Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird“. Hierbei ist zu beachten, dass der juristische Begriff des Hanges i. S. des § 64 StGB weiter gefasst ist als die psychiatrische Diagnose einer Abhängigkeitserkrankung (Boetticher et al. 2019); z. B. reicht eine psychische Abhängigkeit für den juristischen Hangbegriff aus (z. B. BGH 1 StR 348 / 17, Beschl. v. 20.9.2017). Bei klarem Zusammenhang von Substanzmissbrauch bzw. -abhängigkeit und Delinquenz ist hier fast regelmäßig von einer entsprechenden delinquenten Wiederholungsgefahr auszugehen. Von Gutachtern wie von Gerichten vernachlässigt wird allerdings häufig die für eine Unterbringung nach Art. 64 StGB erforderliche günstige Behandlungsprognose, deren Einschätzung eine besonders schwierige Aufgabe darstellt, zumal wenn zuvor noch keine Therapieversuche erfolgt sind. Forschungsergebnisse zeigen, dass die Unterbringung nur selten auf ein positives Ergebnis in Form einer Entlassung mit günstiger Prognose zur Bewährung hinausläuft (Schalast et al. 2013). Dies gilt v. a. bei Vorliegen bestimmter Risikofaktoren wie z. B. eine sehr instabile berufliche Anamnese, frühere Haftzeiten, frühere Verurteilungen wegen Gewalttaten, erhöhte Reizbarkeit und Aggressivität im aktuellen Verhalten. Ein tendenziell positiver Behandlungsverlauf ist dagegen zu erwarten, wenn die Patienten zu Beginn der Maßnahme Hoffnung in die Behandlung setzen und einen deutlichen Vorsatz bekunden, in der Therapie mitzuarbeiten und mithilfe der Behandlung abstinent zu werden (Schalast 2000). Hoffnungslosigkeit als Lebensgefühl ist wiederum mit einem eher problematischen Verlauf assoziiert. Bei Begutachtungen zur Sicherungsverwahrung (§§ 66, 66a StGB) ergibt sich die Problematik, dass dem „Hang zu erheblichen Straftaten“ des § 66 StGB, anders als dem „Hang zum Übermaß“ in § 64 StGB oder dem in § 63 StGB genannten „Zustand“ ein klares erfahrungswissenschaftliches Korrelat fehlt (Schüler-Springorum 1989). Es existieren jedoch Überlegungen dazu, wie der Hang aus psychiatrisch-psychologischer Sicht umschrieben werden kann (Habermeyer und Saß 2004). Genaueres findet sich in ➤ Kap. 29. Die rechtlichen Möglichkeiten zur Anordnung der Sicherungsverwahrung wurden in mehreren Gesetzgebungsverfahren deutlich erweitert. Insbesondere ist durch den im „Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten“ im Jahr 1998 neu eingeführten § 66 III StGB bei bestimmten Straftatbeständen schon nach der zweiten Tat eine Sicherungsverwahrung vorgesehen. Im Jugendstrafrecht (§ 7 II JGG) ist ein entsprechender Vorbehalt sogar schon nach der ersten Straftat möglich. Dies lässt die prognostische Beurteilung deutlich unsicherer werden. In der Sicherungsverwahrung sind durchaus Straftäter mit psychischen Störungen, insbesondere antisozialer Persönlichkeitsstörung und / oder Paraphilien, untergebracht, die jedoch im Erkenntnisverfahren als schuldfähig erachtet wurden (Habermeyer et al. 2008; Gairing et al. 2013). Entsprechend ergibt sich die Rückfallgefahr nicht aus einer
schwerwiegenden psychischen Störung, die unter die Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB fällt und wegen Schuldminderung oder gar -aufhebung eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gem. § 63 StGB nahelegen kann. Daher kann sich der Sachverständige, wenn die Sicherungsverwahrung im Raum steht, zunächst darauf beschränken, eine Schuldminderung bzw. anderweitige Hintergründe der Delinquenz, die eine Unterbringung nach §§ 63, 64 StGB begründen könnten, auszuschließen. Dann geht es um die Kriminalprognose und insbesondere das Risiko von schweren Gewalt- oder Sexualstraftaten (Habermeyer und Saß 2004). Dabei ist eine auf die Vergangenheit und die gegenwärtige Verfassung gerichtete Beurteilung zu leisten, ob und inwiefern die Delinquenz ein dauerhaftes Verhaltensmuster für den Probanden dargestellt hat bzw. weiterhin darstellt. Sofern sich dies bejahen und auf dieser Basis ein relevantes Rückfallrisiko für Gewalt- und Sexualdelikte feststellen lässt, dürfte dies das erkennende Gericht in aller Regel zur Feststellung eines „Hanges“ i. S. des § 66 StGB veranlassen. Eine Aussage dazu, ob die unter den Begriff des Hanges zu subsumierenden Risiken nach längerer Haft und damit vor Antritt der Sicherungsverwahrung bestehen, ist nicht gefordert. Diese wäre auch nur in Ausnahmefällen möglich, da es sich i. d. R. um Zeiträume handelt, die mehr als 3–5 Jahre in der Zukunft liegen. Daher ist es sinnvoll, dass vor Antritt der Sicherungsverwahrung ein aktuelles Gutachten zu dieser Fragestellung eingeholt wird. Mittlerweile hat der Gesetzgeber in der Möglichkeit, bei Verurteilungen nach dem Jugendstrafrecht die Anordnung von Sicherungsverwahrung vorzubehalten (§ 7 II JGG), allein auf die Beurteilung der weiteren Gefährlichkeit abgehoben und auf das Vorliegen eines entsprechenden „Hanges“ verzichtet. Durch das „Gesetz zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung“ vom 21.8.2002 haben sich für die Begutachtung keine Änderungen ergeben. Gutachtenauftrag und Inhalt der Beurteilung sind bei beiden Fragestellungen identisch. Ob der vom Sachverständigen ermittelte Grad an Wahrscheinlichkeit der Begehung weiterer erheblicher Straftaten für die Anordnung einer Sicherungsverwahrung oder zumindest deren Vorbehalt ausreicht, ist eine Rechtsfrage, die allein vom Gericht zu entscheiden ist.
Merke Es bleibt erneut zu betonen, dass sich die juristische Beurteilung des Vorliegens der psychiatrischen Voraussetzungen eines Hanges i. S. des § 66 StGB nicht in einer – in die Zukunft gerichteten – Kriminalprognose erschöpfen kann, sondern vielmehr in einer auf Vergangenheit und Gegenwart gerichteten Einschätzung liegt, ob und inwiefern Delinquenz ein dauerhaftes Verhaltensmuster für den Probanden dargestellt hat (Boetticher et al. 2019).
30.2.2. Prognosen im Vollzug Innerhalb des psychiatrischen Maßregelvollzugs nimmt die Diskussion um Lockerungen – z. B. Ausgänge oder Urlaube – zumeist einen breiten Raum ein, zumal diese mehreren Zielen dienen: Die Aussicht auf eine schrittweise Verminderung der Fremdbestimmung und -kontrolle soll den Patienten zur Mitarbeit motivieren; sie gilt ferner als eigenständiger Bestandteil der Therapie und dient schließlich der Verhaltenserprobung sowie der Möglichkeit einer schrittweisen Wiedereingliederung. Viele Maßregeleinrichtungen verwenden ein strukturiertes Stufensystem, wobei sich die jeweiligen Vorgaben oftmals unterscheiden, was die Gefahr einer Verwechslung von
Lockerungsstufe und Behandlungsstand mit sich bringt. Die meisten Bundesländer fordern in ihren Maßregelvollzugsgesetzen oder deren Ausführungsbestimmungen bei bestimmten Lockerungsschritten neben der Verantwortung des Klinikleiters eine Beteiligung der Vollstreckungsbehörde und zuweilen auch die Einholung eines externen Gutachtens (zu den entsprechenden Landesbestimmungen im Einzelnen s. Volckart und Grünebaum 2015). Auch aus dem Strafvollzug werden vor Lockerungen vermehrt Prognosegutachten eingeholt. Sofern es sich um sicherungsverwahrte Täter oder solche mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe handelt, ist es sicherlich sinnvoll, vor dem Einsetzen weitergehender Lockerungen deren Missbrauchsrisiko zu klären und zugleich die Frage, ob bei einem günstigen Lockerungsverlauf in einem überschaubaren Zeitraum eine Entlassung verantwortbar ist. Bei zeitigen Freiheitsstrafen sind durch solche zusätzlichen Begutachtungen dagegen Behinderungen von Entlassungsvorbereitungen (z. B. Wohnungssuche, Einbindung in ambulante Suchthilfegruppen etc.) zu befürchten. Solche Verzögerungen haben nachteilige Folgen für die Vorbereitung des sozialen Empfangsraums, was letztlich sogar zu einer Erhöhung der Rückfallgefahr nach der Entlassung führen kann. Daher sollten Begutachtungen in diesem Kontext möglichst früh angeordnet werden. Im Vergleich zu Entlassungsentscheidungen ist die Beurteilung bei Lockerungsprognosen zumeist einfacher, weil es sich hier um kurz- bis allenfalls mittelfristige Prognosen handelt und auf Veränderungen der Entscheidungsgrundlagen (z. B. im aktuellen Befinden und Lebensumfeld des Betroffenen) schnell reagiert werden kann. Zahlen aus dem LWL-Zentrum für Forensische Psychiatrie Lippstadt-Eickelborn sprechen dafür, dass die Lockerungsprognosen i. d. R. zuverlässig sind (Mahler et al. 2000). Je kürzer und hinsichtlich der verschiedenen störungsbedingten, situativen und sozialen Einflussvariablen überschaubarer der Prognosezeitraum ist, desto eher sind entsprechende Verhaltensvorhersagen möglich. Dennoch werden sich Zwischenfälle, also erneute Straftaten, nie gänzlich vermeiden lassen. Vielfach handelt es sich dabei weniger um tatsächliche Fehlprognosen zum Zeitpunkt der Prognosestellung, auch wenn diese natürlich vorkommen (Pierschke 2001). Stattdessen werden oft spätere Veränderungen im Befinden des Patienten oder seiner Situation nicht erkannt, oder es wird nicht hinreichend darauf reagiert. Somit ist bei Gewährung von Vollzugslockerungen ein besonderes Gewicht auf die weitere Verlaufskontrolle zu legen (Leygraf 2006). Auf Befundveränderungen und / oder andere Umgebungsbedingungen muss engmaschig reagiert werden können. Zu warnen ist insbesondere vor einem Lockerungsautomatismus, bei dem der unauffällige Verlauf von Lockerungsschritten als das entscheidende Argument für die Gewährung weiterer Lockerungen dient. Schließlich bedeutet ein unter bestimmten Bedingungen und innerhalb eines bestimmten Zeitfensters unauffälliges Verhalten keinesfalls zwangsläufig, dass dieses auch unter Ausweitung der Verhaltensspielräume stabil bleibt.
Merke Es geht immer um die Einbettung von Lockerungsschritten in ein Gesamtbehandlungs- oder Reintegrationskonzept. Dabei sind Lockerungsprognosen nicht unabhängig von den langfristigen Risiken bzw. der Entlassungsprognose: Lockerungsschritte dienen im Sinne eines Übergangsmanagements dem Ziel der Entlassung durch Vorbereitung eines tragfähigen sozialen Empfangsraums. Stehen der Resozialisierung jedoch langfristige Risiken entgegen, verlieren Lockerungen nicht nur das Ziel, sondern auch ihren Zweck. Ohne Lockerungen wiederum werden Aussagen zur Langzeitprognose mit Unsicherheiten behaftet bleiben, da über die Kooperation unter
freiheitlicheren Bedingungen anhand des unauffälligen Verhaltens im Vollzug keine verlässlichen Angaben gemacht werden können.
30.2.3. Entlassungsprognosen Betreffs Entlassungsentscheidungen soll das Gutachten dazu Stellung nehmen, ob bei dem Untergebrachten „keine Gefahr mehr besteht, dass dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbesteht“ (§ 454 II StPO). Seit der ab dem 1.2.1998 gültigen Fassung des § 67d II StGB (Dauer der Unterbringung) hat die Aussetzung einer Maßregel nach §§ 63, 64 und 66 StGB zu erfolgen, „wenn zu erwarten ist, dass der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird“.
Merke Aufgrund des Gesetzes zur Novellierung des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gem. § 63 StGB und zur Änderung anderer Vorschriften vom 8.7.2016 wurde § 67d II 1 dahingehend geändert, dass nunmehr von „erheblichen“ rechtswidrigen Taten die Rede ist, deren Begehung nicht mehr zu erwarten sei (statt nur „rechtswidriger“ Taten). Zudem wurde § 67d VI 2–3 insofern modifiziert, als nun auch für die Unterbringung nach § 63 StGB Fristen angegeben sind, ab denen nach 6 Jahren für eine weitere Unterbringung die Gefahr bzw. nach 10 Jahren die konkrete Erwartung „einer schweren körperlichen oder seelischen Schädigung“ potenzieller Opfer gegeben sein muss. Besteht diese Erwartung nach 10 Jahren Unterbringung nicht, ist die Maßregel zu beenden. Mit zunehmender Unterbringungsdauer steigen somit die Anforderungen bzgl. Deliktschwere und Eintretenswahrscheinlichkeit des kriminellen Rückfalls. Die frühere „Erprobungsklausel“ wurde durch die „Erwartungsklausel“ ersetzt. Ein gutachterlich garantierter Gefahrenausschluss wird damit allerdings nicht verlangt. Ein solcher wird auch bei Aussetzung einer lebenslangen Freiheitsstrafe, bei der diese Frage ebenfalls zu beantworten ist, von den Gerichten nicht erwartet. Vielmehr geht es darum, ob eine „relevant erhöhte individuelle Disposition zur Begehung erheblicher Straftaten“ (Kröber 2006: 82) besteht. Ist dies der Fall, besteht das Risiko weiterer einschlägiger Delikte und keine Erwartung einer rechtstreuen Lebensführung. Im Maßregelvollzug nach Art. 63 StGB überprüft das Gericht mindestens einmal jährlich (§ 67e StGB) die Frage, ob die weitere Unterbringung zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Hierzu werden die Klinik, die Staatsanwaltschaft und der Betroffene gehört (§ 454 Abs. 1 StPO).
Merke Seit 2018 soll nach jeweils 3 Jahren vollzogener Unterbringung bzw. ab einer Dauer der Unterbringung von 6 Jahren sogar nach jeweils 2 Jahren ein externes Gutachten angefordert werden (§ 463 Abs. 4 StPO). Der externe Sachverständige darf weder im Rahmen des Vollzugs der Unterbringung mit der Behandlung der untergebrachten Person befasst gewesen sein noch in dem psychiatrischen
Krankenhaus arbeiten, in dem sich die untergebrachte Person befindet (Näheres dazu in ➤ Kap. 23.5.4). Seit Januar 1998 sind Gutachten vor der bedingten Aussetzung einer zeitigen Freiheitsstrafe bei Gewalt- und Sexualstraftätern vorgeschrieben (§ 454 II StPO). Hier geht es nicht um die Frage, ob ein Strafgefangener / Untergebrachter überhaupt in Freiheit kommt, sondern allein um die Frage, wann er entlassen wird. Unter dem Aspekt des langfristigen Opferschutzes dürfte es in aller Regel sinnvoller sein, den Verurteilten mit einem noch offenen Strafrest und der Möglichkeit des Widerrufs in die beaufsichtigte Freiheit zu entlassen (Kröber 2006). Die Begutachtung sollte in diesen Fällen detaillierte Angaben zur Gestaltung der erforderlichen Aufsicht machen und auch skizzieren, wann die Bewährung gefährdet ist. Die am 29.7.2004 vom Gesetzgeber eingeführte „nachträgliche Sicherungsverwahrung“ ist seit einer weiteren „Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung“ am 22.12.2010 auf diejenigen Täter beschränkt worden, bei denen eine im Erkenntnisverfahren angeordnete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus im Vollstreckungsverlauf für erledigt erklärt worden ist (§ 67d II StGB). Die Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung ist aber auch nach Verbüßung einer zeitigen Freiheitsstrafe weiterhin möglich, wenn die Tat vor dem 22.12.2010 erfolgt ist und bei dem Betroffenen „eine psychische Störung vorliegt und aus konkreten Umständen in seiner Person oder seinem Verhalten eine hochgradige Gefahr abzuleiten ist, dass er infolge dieser Störung schwerste Gewalt- oder Sexualstraftaten begehen wird“ (Art. 316 f. EGStGB). Eine derart eindeutige hochgradige Gefährlichkeit dürfte sich nur in sehr seltenen Ausnahmefällen einmal feststellen lassen. In der Vergangenheit diente der Antrag auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zumeist dem Versuch, eine im Erkenntnisverfahren fehlerhaft versäumte Anordnung dieser Maßregel nachzuholen. Dies war jedoch aufgrund der restriktiven Tendenz des BGH hinsichtlich der Anwendungsmöglichkeiten des § 66b StGB zumeist erfolglos (Leygraf 2007), weshalb sich diese gutachterliche Fragestellung kaum mehr stellt.
Merke Der Gedanke, dass sich die wahre Gefährlichkeit eines Straftäters erst während des Strafvollzugs herausstellen könnte, geht an der prognostischen Realität vorbei. Die Beurteilung des Rückfallrisikos wird an den von ihm in der Vergangenheit begangenen Straftaten geeicht. Eine Reduktion dieser Beurteilung auf Kriterien des Vollzugsverhaltens hat sich in der Vergangenheit als eine wesentliche prognostische Fehlerquelle erwiesen (Pierschke 2001). Ein unkooperatives Vollzugsverhalten und insbesondere die Nichtteilnahme an einer Therapie weisen i. d. R. darauf hin, dass die vorbestehenden Risiken nicht vermindert werden konnten. Das Risiko selbst wird dadurch aber nicht zwangsläufig größer. Auch die Wertigkeit der Tatleugnung oder der Empathie mit dem Opfer sind für die Langzeitprognose, zumindest für Sexualdelinquenten, fraglich bzw. nicht anzunehmen (Endres und Breuer 2014; Hanson und Morton-Bourgon 2005; Mann und Barnett 2012). Im Umkehrschluss ist allerdings auch ein unauffälliges Vollzugsverhalten kein verlässlicher Indikator für ein nachlassendes Risikopotenzial. Auch hier ist auf den Stellenwert der Delinquenzhypothese zu verweisen. Steht die Delinquenz nämlich, wie es z. B. bei pädophilen Sexualdelinquenten offensichtlich ist, nicht in Zusammenhang mit situativen Bedingungen, die sich im Strafvollzug manifestieren können, ermöglicht das Vollzugsverhalten keinen Rückschluss auf eine Verbesserung der Prognose, sondern allenfalls Rückschlüsse auf die
Kooperationsbereitschaft bzw. -fähigkeit. Umgekehrt gibt es dissoziale Gewaltstraftäter, die über lange Zeiträume der Haft entsprechende Auffälligkeiten zeigen, während ihr Konfliktpotenzial mit zunehmendem Alter abnimmt. In diesem Fall kann die sich hier manifestierende nachlassende Aggressivität sehr wohl prognostisch bedeutsam sein. Bei Gutachten zur Sozialprognose von Straftätern, die zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurden, ist zu beachten, dass katamnestische Untersuchungen an entlassenen „Lebenslänglichen“ eine insgesamt gute Legalbewährung gezeigt haben (Jehle et al. 2016). Ohnehin beschreiben die in § 211 StGB genannten Merkmale (Mordlust, Heimtücke, Grausamkeit, Verdeckungsabsicht), die ein Tötungsdelikt als Mord und somit mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe verknüpft qualifizieren, kein Risikoprofil, sondern vorwiegend den Unrechtsgehalt der Tat. Oft erfolgten diese Taten im Rahmen partnerschaftlicher oder familiärer Krisen und damit in krisenhaft zugespitzten Lebenssituationen. Bei der Begutachtung geht es daher darum, ob für die Eskalation dieser Krise relevante Persönlichkeitsmerkmale fortbestehen, was die Wiederauftretenswahrscheinlichkeit ähnlicher Konflikte ungünstig beeinflussen (sprich: erhöhen) kann.
30.3. Anforderungen an ein psychiatrisches Prognosegutachten Aufgrund der hohen sozialen Relevanz kriminalprognostischer Gutachten und der methodischen Unsicherheiten auf diesem Feld hat eine aus Richtern am Bundesgerichtshof, Bundesanwälten, forensischen Psychiatern und Psychologen sowie weiteren Juristen bestehende interdisziplinäre Arbeitsgruppe Mindestanforderungen erarbeitet, die bei der Erstellung von Prognosegutachten beachtet werden sollen. Diese Empfehlungen wurden vor Kurzem überarbeitet und in zwei Teilen (Boetticher et al. 2019; Kröber et al. 2019) publiziert. Sie sollen der Qualitätssicherung dienen, indem sie dem forensischen Sachverständigen die Erstellung von Prognosegutachten und den im Verfahren beteiligten Juristen die Bewertung der Aussagekraft solcher Gutachten erleichtern. Neben formalen Aspekten betreffen die Empfehlungen die Bereiche der Informationsgewinnung, der psychiatrischen Diagnostik und der Bewertung der hierdurch gesammelten Daten im Hinblick auf die Prognosebeurteilung: • Im juristischen Beitrag (Boetticher et al. 2019) wird zunächst auf die unterschiedlichen Aufgaben und Verantwortlichkeiten eingegangen. Für die Feststellung des prognoserelevanten Sachverhalts ist demnach der Auftraggeber zuständig. Das Gutachten soll die erforderliche Sachkunde für die ausschließlich normative Bewertung liefern, also eine Einschätzung darüber, ob die Prognose günstig oder ungünstig ist. • Weiterhin wird der Wert eines sorgfältigen Aktenstudiums zur Erfassung der Biografie, der psychiatrischen Vorgeschichte und der bisherigen Delinquenz betont (Kröber 2006). Insbesondere nach langen Unterbringungs- / Haftzeiten besteht vielfach eine Tendenz zur Reinterpretation und Umdeutung der eigenen Lebensgeschichte und Delinquenz, sodass auch ohne bewusste Verfälschungsversuche die Angaben des Betroffenen hinsichtlich wesentlicher Punkte der Vorgeschichte von den objektivierbaren Daten abweichen können. Diese Divergenzen lassen sich nur erkennen und i. S. einer „Diskrepanzdiagnostik“ (Steller 1994) bewerten, wenn die verfügbaren Aktenquellen, ggf. auch die früheren Ermittlungsakten, tatsächlich beigezogen, gelesen und verwertet werden. • Das Aktenstudium beinhaltet auch den Einbezug der Personal- und Behandlungsakten. Es müssen die Erfahrungen berücksichtigt werden, die während der Behandlung bzw.
im Vollzug mit dem Betroffenen gemacht wurden. Erschwert wird die Beurteilung hier jedoch dadurch, dass man sich bei Strafgefangenen selten auf entsprechend dokumentierte Verlaufsbeobachtungen stützen kann. Zumeist finden sich in den Gefangenen-Personalakten lediglich äußere – und prognostisch wenig aussagekräftige – Verhaltensbeschreibungen, etwa in Bezug auf die soziale Anpassung und die Arbeitsfreudigkeit. • Betreffs der gutachterlichen Untersuchung wird ausgeführt, dass man sich methodischer Mittel bedienen muss, die dem aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand gerecht werden. Eine Gutachtenerstellung ohne Exploration wird als möglich erachtet, wenn die Erkenntnisquellen (z. B. aus der Aktenlage) vom Gutachter als ausreichend erachtet werden. • Betreffs statistischer Befunde wird dargelegt, dass sich die alleinige auf statistische Wahrscheinlichkeiten gestützte Prognose verbietet. Die individuelle Fallbetrachtung wird als unverzichtbar bezeichnet. • Im Gutachten sind in Anlehnung an Rasch (1985) vier Hauptbereiche zu adressieren: – das Anlassdelikt, – die prädeliktische Persönlichkeit und Kriminalität, – die postdeliktische Entwicklung und – der soziale Empfangsraum. • Abschließend soll die Beschreibung des Risikos erfolgen, wobei diese hinsichtlich des Gefahrenpotenzials zu konkretisieren ist. Die zu erwartenden Tatbilder sind konkret darzustellen. Das Gutachten soll Wahrscheinlichkeit und Frequenz der drohenden Delikte, aber auch Mittel und Möglichkeiten des Risikomanagements darlegen. • Es muss für den Juristen, der letztlich die Entscheidung über eine Entlassung oder weitere Unterbringung des Betroffenen zu fällen hat, nachvollziehbar und transparent sein, aufgrund welcher Eingangshypothesen, Erkenntnisse und auch Wertungen die gutachterliche Aussage über die Wahrscheinlichkeit weiterer Delikte getroffen wurde.
30.4. Prognoseforschung: Entwicklungsphasen und grundlegende Konzepte Bereits vor der Entwicklung psychologischer, psychiatrischer oder kriminologischer Prognoseverfahren standen die Gerichte vor der Aufgabe, prognostische Entscheidungen zu treffen, etwa bei der Frage einer bedingten Entlassung aus dem Strafvollzug. Auch heute erfolgen die meisten prognostischen Entscheidungen ohne Hinzuziehung eines Sachverständigen, z. B. im Zusammenhang mit einer Strafaussetzung zur Bewährung. Das in der richterlichen aber auch psychiatrisch-psychologischen Praxis gebräuchlichste Vorgehen entsprach zunächst einer intuitiven Prognose. Sie basiert auf einer rein gefühlsmäßigen Erfassung des Täters, also ohne die explizite Einbeziehung von Fachwissen und auf den subjektiven, teils wenig reflektierten Vorerfahrungen des Beurteilers. Es handelt sich also gerade nicht um eine methodische Vorgehensweise, sondern um eine auf Erfahrung basierende Entscheidung. Diese sind nicht nur fehlerbehaftet (Monahan 2013) und empirisch begründeten Vorgehensweisen tendenziell unterlegen (z. B. Grove et al. 2000), sondern in ihrem Rationale nicht überprüfbar, was auch bei korrekten Einschätzungen problematisch bleibt, da die Entscheidungsgrundlage intransparent ist. Bonta (1996) hat die historische Entwicklung der forensisch-psychiatrischen / psychologischen Risikobeurteilung in drei Phasen beschrieben:
• Phase 1 war, wie oben dargelegt, geprägt von unstrukturierter Beurteilung auf Grundlage klinischer Erfahrung und intuitiver Einschätzung. • Phase 2 bezieht sich auf die Entwicklung von empirisch begründeten Risiko-Checklisten, allerdings in einer zumeist theoriefreien Weise, mit einem Fokus auf biografischen (bzw. statischen), also unveränderbaren Merkmalen. • Phase 3 bezeichnet die ebenfalls empirisch fundierte Entwicklung von Verfahren, die aber stärker dynamische, d. h. entwicklungsbezogene Aspekte beinhalten und theoretisch begründet sind. Nach Andrews et al. (2006) besteht eine vierte Entwicklungsphase in der Maßgabe, risikoprognostische Erwägungen von der Aufnahme bis zur Entlassung und Nachsorge zu beachten, und zwar idealerweise im Sinne des Risk-Need-Responsivity-Prinzips (RNR-Prinzip; Andrews et al. 1990):
Merke Interventionen sollten sich primär an Hochrisikoprobanden richten (Risk), unter Berücksichtigung der Motive und Problemlagen, die zur Delinquenz beigetragen haben (Need), und zwar so, dass Merkmale adressiert werden, die tatsächlich veränderbar sind (Responsivity). Doch welche Eigenschaften oder Merkmale sind bedeutsam für kriminelles Verhalten? Was macht (intraindividuell) hohes Risiko (Risk) und kriminogene Bedürfnisse (Need) aus? Andrews und Bonta (2010) beschreiben z. B. die folgenden Merkmale (sog. Big Four) als zentral für die Entstehung von Delinquenz: kriminelle Vorgeschichte, antisoziale Persönlichkeitsstruktur, antisozialer Denkstil (inkl. entsprechender Werthaltungen und Einstellungen) sowie ein dissoziales Umfeld (Freunde, Bekannte etc.). Darüber hinaus nennen sie vier weitere Merkmale (sog. Moderate Four), nämlich Probleme in Ehe / Partnerschaft / Familie, ungünstige Bedingungen in Schule oder Arbeitsleben, ungünstige Freizeitgestaltung sowie Substanzmissbrauch. Gemeinsam bilden die Big Four und die Moderate Four die sog. Central Eight (➤ Tab. 30.1).
Tab. 30.1 [E1033]
Die „Central Eight Risk / Need Factors“ (Andrews und Bonta 2010)
The Big Four
1. Kriminelle Vorgeschichte („history of antisocial behavior“) 2. Antisoziale Persönlichkeitsstruktur („antisocial personality pattern“) 3. Antisozialer Denkstil („antisocial cognition“) 4. Antisoziales Umfeld („antisocial associates“)
The Moderate Four
5. Familiäre Situation / Ehe („family / marital circumstances”) 6. Schule / Arbeit („school / work“) 7. Freizeit („leisure / recreation“) 8. Substanzmissbrauch („substance abuse“)
Zahlreiche der o. g. Aspekte aus den Central Eight (bzw. Bestandteile daraus), aber auch andere relevante Merkmale sind in einer geradezu unüberschaubaren Vielzahl an kriminalprognostischen Verfahren kombiniert worden. Bereits vor 10 Jahren verwiesen die Autoren einer Metaanalyse auf mehr als 120 verschiedene solcher Verfahren (Singh und Fazel 2010). Insbesondere das revidierte Level of Service Inventory (LSI-R) von Andrews und Bonta (1995; dt. von Dahle et al. 2012) ist eine Operationalisierung der Central Eight; allerdings liegt der Anwendungsbereich des LSI-R eher im Bereich des Straf- als des Maßregelvollzugs. Nachfolgend wird im Sinne einer integrativen Vorgehensweise die Methodik bei Prognosegutachten dargestellt. Es empfiehlt sich dabei, mit der Darstellung des statistischen Rückfallrisikos zu beginnen und / oder empirisch gesicherte Risikofaktoren mit einem strukturierten Beurteilungsverfahren („structured professional judgment“; kurz: SPJ) zu erfassen. Letztere Methodik stellt sozusagen die Schnittstelle zwischen der statistischen und der klinischen Individualprognose dar, da die hierzu angebotenen Instrumente wie z. B. der HCR20-V3 (vgl. ➤ Kap. 30.5.2, ➤ Tab. 30.3) nicht nur biografische Variablen, sondern auch Behandlungsaspekte, die aktuelle Verfassung und den sozialen Empfangsraum berücksichtigen. Diese Aspekte bilden den Kern der klinischen Individualprognose. Betreffs der Zukunftsperspektiven ist immer auch die Möglichkeit bzw. Umsetzbarkeit von therapeutischen oder anders gelagerten Einflussmöglichkeiten (z. B. der Bewährungshilfe oder Führungsaufsicht) zu erörtern. Differenzen zwischen statistischer und individueller Prognose sind zu benennen und, wenn möglich, aufzulösen. Falls dies nicht gelingt, muss die Differenz transparent gemacht und hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Prognose erörtert werden. Dies ist nicht selten bei Straftätern der Fall, die ein hohes statistisches Rückfallrisiko aufweisen, nun aber schon seit Jahren oder gar Jahrzehnten in Behandlung sind. Dabei kann eine Situation resultieren, in der weitere Fortschritte im Kliniksetting nicht mehr erreicht werden können, das statistische Risiko jedoch weiterhin Bedenken verursacht. In solchen Fällen gilt es, dem juristischen Entscheidungsträger durch die Darstellung der jeweiligen Argumente eine Basis für die letztlich normative Entscheidung zu liefern, ob und unter welchen Bedingungen das bestehende Risiko eine Lockerung oder gar Entlassung ermöglicht.
30.5. Statistisch-nomothetische Prognose 30.5.1. Basisraten Merke Basisraten erfassen die relative Auftretenshäufigkeit eines Schadensereignisses (hier: eines Deliktrückfalls) in einer bestimmten Stichprobe über einen definierten Zeitraum. Sie geben Aufschluss über die allgemeine Wahrscheinlichkeit, mit der in einem definierten Zeitraum in einer bestimmten Straftäterpopulation erneute Straftaten zu erwarten sind. Damit bilden Basisraten einen Referenzbereich, anhand dessen die Rückfallgefahr im Einzelfall beurteilt werden kann. Dabei ist, wie Volckart (2002) darlegt, zu beachten, dass sich Basisraten immer auf das Risiko eines Rückfalls beziehen, nicht auf das Risiko einer Ersttat, weil es letztlich um die Beurteilung bereits straffälliger Personen geht, nicht um die Wahrscheinlichkeit, mit der zufällig ausgewählte Personen aus der Allgemeinbevölkerung entsprechende Delikte begehen. Das
heißt, die Bezugsgruppe sind andere Straftäter, nicht die Bevölkerung als solche. Außerdem hat Volckart (2002) dargelegt, dass Basisraten nur dann aussagekräftig sind, wenn eine hinreichend große Stichprobe zugrunde gelegt und die Daten in einem „bestimmten gesellschaftlich-kulturellen und zeitlichen Zusammenhang“ (Volckart 2002: 106) zum in Rede stehenden Deliktsbereich stehen. Im Hinblick auf Basisraten liegen mittlerweile aus der groß angelegten Rückfallstudie von Jehle et al. (2016) Daten zur Rückfälligkeit deutscher Häftlinge bzw. Maßregelvollzugspatienten in 3, 6 und 9 Jahre umfassenden Intervallen nach Haft- oder Klinikentlassung vor. Nach dem Konzept dieser Rückfalluntersuchung wurden alle in einem Basisjahr strafrechtlich Sanktionierten oder aus der Haft Entlassenen während eines festgelegten Risikozeitraums daraufhin überprüft, ob sie wieder straffällig wurden. Datenbasis hierfür waren die personenbezogenen Eintragungen im Zentral- und Erziehungsregister, die i. d. R. mindestens 5 Jahre erhalten bleiben. Es handelt sich dabei um eine Vollerhebung, deren Aussagekraft für die hiesigen, d. h. deutschen, Verhältnisse hoch ist. Dies schließt jedoch nicht aus, dass für deutsche Teilstichproben, insbesondere bei besonders definierten Risikogruppen, bzw. in internationalen Studien andere und ggf. auch höhere Raten berichtet werden. Eine Auswahl der Ergebnisse zeigt ➤ Tab. 30.2.
Tab. 30.2 Ausgewählte Basisraten für die anhand Folgeverurteilungen erkennbare Rückfälligkeit in Deutschland (Jehle et al. 2016) Verurteilung
Rückfälligkeit nach 3 Jahren
nach 6 Jahren
nach 9 Jahren
Tötungsdelikt
Einschlägig: 0,2 % Allgemein: 21 %
Einschlägig: 0,2 % Allgemein: 29 %
Einschlägig: 0,4 % Allgemein: 34 %
Körperverletzung
Einschlägig: 16 % Tötungsdelikte: 0,1 % Allgemein: 43 %
Einschlägig: 21 % Tötungsdelikte: 0,2 % Allgemein: 53 %
Einschlägig: 23 % Tötungsdelikte: 0,2 % Allgemein: 57 %
Sexuelle Nötigung / Vergewaltigung
Einschlägig (sexuelle Gewaltdelikte): 2 % Allgemein: 33 %
Einschlägig (sexuelle Gewaltdelikte): 3 % Allgemein: 44 %
Einschlägig (sexuelle Gewaltdelikte): 3 % Allgemein: 47 %
Sexueller Missbrauch
Einschlägig: 2 % Allgemein: 27 %
Einschlägig: 4 % Allgemein: 37 %
Einschlägig: 5 % Allgemein: 41 %
Raub und Erpressung
Einschlägig: 8 % Allgemein: 58 %
Einschlägig: 11 % Allgemein: 68 %
Einschlägig: 12 % Allgemein: 72 %
Schwerer Diebstahl
Einschlägig (Diebstahl alle StGB): 25 % Raub und Erpressung: 4 % Allgemein: 55 %
Einschlägig (Diebstahl alle StGB): 30 % Raub und Erpressung: 5 % Allgemein: 64 %
Einschlägig (Diebstahl alle StGB): 32 % Raub und Erpressung: 6 % Allgemein: 68 %
Einfacher Diebstahl
Einschlägig (Diebstahl alle StGB): 21 % Raub und Erpressung: 2 % Allgemein: 40 %
Einschlägig (Diebstahl alle StGB): 26 % Raub und Erpressung: 2 % Allgemein: 48 %
Einschlägig (Diebstahl alle StGB): 27 % Raub und Erpressung: 3 % Allgemein: 51 %
Die deutschen Daten kontrastieren z. T. erheblich zu den Ergebnissen von Groß (2004), was nicht zuletzt auf die Herkunft letztgenannter Daten aus älteren und vorwiegend nordamerikanischen Studien zurückzuführen ist. Dies verdeutlicht ein Problem, das auch für alle nachfolgend erwähnten Arbeitsschritte relevant ist: Die Verwendung statistischer Zahlen setzt die stetige Auseinandersetzung mit bzw. die Suche nach aktuellem Zahlenmaterial voraus. Bei Nutzung älterer Zahlen oder mit dem Verweis auf z. B. Rückfalldaten aus dem nordamerikanischen Vollzug wird nämlich eine in vielen Fällen fragliche Übertragung von Resultaten aus einer Population auf eine nicht zwingend vergleichbare Gruppe vorgenommen.
Merke Auch die vermeintlich objektiven Basisraten (bzw. deren Interpretation) sind nicht zwingend frei von Irrtümern, wie sie sich hier aus der Auswahl untauglicher Daten ergeben. Ein weiteres Problem folgt aus dem Umstand, dass kriminalprognostische Stellungnahmen vorwiegend im Kontext schwerwiegender Delikte eingeholt werden. Diese Delikte weisen i. d. R. geringe Basisraten auf. Damit ist aber der Anteil der richtig positiven an allen positiven Fällen kleiner als in Situationen mit einer hohen Basisrate (Altman und Bland 1994).2 Es ist aber wiederum zu beachten, dass die vermeintlich kleine Basisrate für Rückfälle mit schwerwiegenden Gewaltdelikten unter Gewaltstraftätern i. d. R. größer ist als das durchschnittliche Risiko in der Allgemeinbevölkerung, eine solche Tat zu begehen. Beispielsweise wird für Tötungsdelikte in der Literatur eine einschlägige Rückfallrate von 0–3 % angegeben (Müller und Nedopil 2017), was sich mit empirischen Erkenntnissen deckt (z. B. Harrendorf 2007; ➤ Tab. 30.2). Allerdings ist diese einschlägige Rückfallrate deutlich höher als die Inzidenzrate für die Begehung von Tötungsdelikten in der Allgemeinbevölkerung. ➤ Abb. 30.2 veranschaulicht diesen Sachverhalt. Basierend auf den Daten von Jehle et al. (2016: 266) wurden 2 von 823 Personen, die wegen eines Tötungsdelikts verurteilt und im Jahr 2004 entlassen worden waren, binnen 3 Jahren mit einem weiteren Tötungsdelikt rückfällig (einschlägige Rückfallrate: 2,4 ‰). Aus den Daten des Statistischen Bundesamtes (2019a) zum Bevölkerungsstand (Stichtag: 31.12.2018) lässt sich entnehmen, wie groß die strafmündige Bevölkerung in Deutschland ungefähr ist (> 72 Mio. Personen), und aus der Strafverfolgungsstatistik (Statistisches Bundesamt 2019b) lässt sich eine Schätzung ableiten, wie viele Personen innerhalb von 1 Jahr wegen einer Straftat gegen das Leben (ohne Straftaten im Straßenverkehr) verurteilt werden (738 Personen im Jahr 2018). Rechnet man dies auf 3 Jahre hoch (738 × 3 = 2.214), ergibt sich eine Schätzung für die Inzidenzrate von Verurteilungen wegen Straftaten gegen das Leben in der Allgemeinbevölkerung. Mit 0,03 ‰ liegt diese im 3-JahresZeitraum deutlich unter der Rate von 2,4 ‰ für die einschlägig Vorbestraften aus der Untersuchung von Jehle et al. (2016). Ausgedrückt als Likelihood-Quotient (LR + , vgl. ➤ Kap. 3) ist die Chance für ein Tötungsdelikt unter den einschlägig Vorbestraften demnach um den Faktor 80 höher als in der Gesamtbevölkerung (95 %-Konfidenzintervall: 20–319).
Abb. 30.2 Veranschaulichung des Rückfallrisikos für Tötungsdelikte bei einschlägig vorbestraften Tätern (links) und in der übrigen Bevölkerung (rechts) [L231] Bestimmte Subgruppen von Delinquenten mit Tötungsdelikten, z. B. diejenigen mit wiederholten sadistisch motivierten Tötungshandlungen, tragen ein höheres Rückfallrisiko. Statistisch fundierte Aussagen zu diesem Rückfallrisiko lassen sich für solche speziellen Tätergruppen allerdings mangels aussagekräftiger Daten letztlich gar nicht treffen. Interessanterweise hat die Diagnose eines sexuellen Sadismus unter Sexualstraftätern allgemein offenbar keinen nennenswerten Effekt im Sinne gesteigerter Rückfälligkeit, wenn andere gängige Risikomerkmale berücksichtigt werden (Eher et al. 2016; Gonçalves et al. 2020).
Merke Die Basisrate sagt zunächst nichts über die Person aus, die begutachtet wird, sondern lediglich etwas zum Rückfallrisiko in einem bestimmten Deliktbereich. Sie darf daher nicht mit der Individualprognose gleichgesetzt werden (Habermeyer et al. 2010a), denn es ist Aufgabe der kriminalprognostischen Begutachtung, fachlich fundierte Aussagen zu einer konkreten Person zu treffen und nicht zu einem Deliktbereich, in dem diese Person straffällig geworden ist. Schließlich ist zu beachten, dass sich Basisraten i. d. R. nur auf das kriminologische Hellfeld beziehen, also eine Unterschätzung der wahren zahlenmäßigen Verhältnisse darstellen, weil Delikte, die nicht angezeigt, aufgeklärt oder abgeurteilt wurden, keinen Nachhall in den Statistiken finden (Hanson et al. 2003). Vor diesem Hintergrund ermöglichen Basisraten vorwiegend die Verortung des Einzelfalls im kriminologischen Erfahrungsraum bzw. eine Aussage dazu, in welchem und insbesondere mit welchem Rückfallrisiko behafteten Deliktbereich sich der Betroffene bewegt. Sie bilden somit einen Erfahrungshintergrund, vor dem die Individualprognose erstellt wird.
30.5.2. Kriminalprognostische Beurteilungsskalen Nachfolgend werden orientierende Überlegungen zum Einsatz bestimmter Prognoseinstrumente angestellt, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Eine Ü
ausführliche Übersicht über die gebräuchlichen Verfahren findet sich bei Rettenberger und von Franqué (2013). Außerdem ist auf die Manuale der einzelnen Verfahren zu verweisen. Deren Kenntnis bzw. der Besuch entsprechender Schulungen sind Voraussetzung für eine sachgerechte Anwendung dieser Instrumente. Gewaltrisiko Der Violence Risk Appraisal Guide (VRAG) (Quinsey et al. 2006; dt. Übersetzung Rossegger et al. 2009 bzw. Eher und Rettenberger 2011) ist ein statistisch-aktuarisches Verfahren zur Einschätzung des künftigen Risikos für Gewaltdelinquenz. Der VRAG wurde von Harris et al. (1993) anhand empirischer Daten entwickelt, die aus der Nachbeobachtung einer Stichprobe von 618 männlichen Rechtsbrechern generiert wurden, welche aus einer forensischpsychiatrischen Einrichtung in Kanada entlassen worden waren. Nach 7 Jahren waren 31 % von ihnen mit Gewalttaten rückfällig geworden, wobei als Kriterium für Deliktrückfälle sowohl erneute Verurteilungen als auch erneute Anklagen wegen Gewaltstraftaten gezählt wurden. Der Begriff aktuarisch bedeutet in diesem Zusammenhang, dass aus bestimmten Risikomerkmalen eine gewichtete Summe erstellt wird, um die Wahrscheinlichkeit erneuter Gewaltdelikte abzuschätzen. Einem Einzelfaktor kommt dabei ein umso größeres Gewicht zu, je stärker er in der Entwicklungsstudie zum VRAG mit Rückfälligkeit assoziiert war. Je nach Ausprägung der Probandeneigenschaften im Hinblick auf zwölf Beurteilungskriterien (u. a. Alkoholprobleme in der Vorgeschichte, Familienstand zum Zeitpunkt des Indexdelikts, Vorliegen von Persönlichkeitsstörung, Schizophrenie oder Psychopathie) errechnet sich ein gewichteter Summenwert. Die Punkteskala zur Bewertung des VRAG unterscheidet sich von den Skalen anderer Prognoseinstrumente, weil sie auch negative Werte umfasst, nämlich im Fall von Merkmalen, die als kriminalprotektive Faktoren zu werten sind. Es können Summenwerte zwischen 26 und 38 erzielt werden. Die Gewichtung einzelner Items erscheint auf den ersten Blick nicht logisch, so führt z. B. das Vorliegen einer Schizophreniediagnose zu einem geringeren Summenwert (also einer nominell geringeren Risikoschätzung). Dies liegt darin begründet, dass die schizophrenen Personen in der Entwicklungsstichprobe des VRAG im Mittel eine geringere Rückfallrate aufwiesen als die übrigen Personen. Dieses Beispiel illustriert jedoch auch ein Problem bei der Anwendung dieses Instruments oder ähnlicher Verfahren, denn die Gewichtung der Faktoren basiert auf Studien an entlassenen Straftätern. In Bezug auf das Vorliegen einer Schizophrenie haben diese in der Tat ein deutlich niedrigeres Rückfallrisiko, während dies für Fälle, die ohne Krankheitseinsicht und adäquate Behandlung im Anlassverfahren zu begutachten sind, nicht vorausgesetzt werden kann (Habermeyer et al. 2010a). Je nach der Höhe des Summenwerts im VRAG wird der Proband in eine von neun Risikokategorien eingeordnet. Auf empirischer Grundlage wurden für entlassene Straftäter in Kanada innerhalb dieser Kategorien bezogen auf einen Zeitraum von 7 Jahren Rückfallquoten zwischen 0 % (niedrigste Kategorie 1) und 100 % (höchste Kategorie 9) gefunden (Quinsey et al. 2006). Dabei sind die einzelnen Kategorien unterschiedlich stark belegt: Die meisten Straftäter sind den mittleren Risikokategorien zuzuordnen. Ursprünglich in Kanada entwickelt, liegen mittlerweile empirische Überprüfungen des VRAG auch an deutschsprachigen Straftäterstichproben vor, die dem VRAG eine zufriedenstellende bis gute Validität bescheinigen, u. a. die Studien von Kröner et al. (2007; N = 113 deutsche Gewaltstraftäter) und Urbaniok et al. (2006; N = 79 schweizerische Gewalt- und Sexualstraftäter). Maßgeblich für die Abschätzung des Risikos erneuter Gewaltdelikte ist jedoch die Studie über 206 entlassene Straftäter aus dem Kanton Zürich, deren Legalbewährung nach 7 Jahren nachuntersucht wurde (Rossegger et al. 2014). Der Standardmessfehler für den VRAG wird mit ± 1 Risikokategorie angegeben (Harris et al. 2008). Die Beurteilerübereinstimmung Ü
liegt, ausweislich der Übersicht von Rossegger et al. (2013), im guten bis hervorragenden Bereich (sämtliche berichteten k-Werte > .60). Eine Aktualisierung mit vereinfachter Kodierung einzelner Items ist der revidierte VRAG (VRAG-R; Harris et al. 2015; ➤ Tab. 30.3). Im deutschsprachigen Manual sind allerdings keine Normdaten enthalten.
Tab. 30.3
Auswahl von Risikoprognose-Instrumenten
Indikationen
Instrument Autoren Original
Gewaltstraftaten
VRAG-R
Violence Risk Appraisal Guide – Revised
Harris et al. (2015)
Rettenberger et al. (2017b)
PCL-R
Hare Psychopathy Checklist – Revised
Hare (2003)
Mokros et al. (2017)
HCR-20 Version 3
Historical Clinical Risk Management-20 Version 3
Douglas et al. (2013)
Bolzmacher et al. (2014)
SORAG
Sex Offender Risk Appraisal Guide
Quinsey et al. (2006)
Rettenberger und Eher (2007); Rossegger et al. (2010)
Static-99
Harris et al. (2003)
Rettenberger und Eher (2006)
Stable-2007
Hanson und Harris (2007b)
Matthes und Rettenberger (2008a)
Acute-2007
Hanson und Harris (2007a)
Matthes und Rettenberger (2008b)
Sexualstraftaten
Autoren dt. Übersetzung
Über die deutsche Version der Hare Psychopathy Checklist-Revised (PCL-R) informiert ➤ Kap. 20. Ursprünglich als rein diagnostisches Instrument konzipiert, erlaubt die numerische Auswertung des Verfahrens in Verbindung mit entsprechenden Normtabellen die Verwendung als aktuarisches Risikobeurteilungsverfahren (Mokros et al. 2017). Risiko erneuter Sexualdelikte Beim Static-99 (Harris et al. 2003; ➤ Tab. 30.3) handelt es sich um ein aktuarisches Verfahren zur Beurteilung des Risikos zur Begehung erneuter Sexualdelikte bei Sexualstraftätern (s. auch ➤ Kap. 22). Der Static-99 besteht aus 10 Merkmalen, die teilweise binär (0 / 1), teilweise mehrkategorial beurteilt werden, wobei die Kennwerte der 10 Items zu einem Gesamtwert addiert werden, der von 0 bis 12 reicht. Nach Höhe des Gesamtwerts wird ein Proband in eine von vier Risikokategorien eingeordnet („niedriges“, „niedriges bis durchschnittliches“, „durchschnittliches bis hohes“ oder „hohes“ Rückfallrisiko). Nach Maßgabe vorliegender Studien aus dem deutschsprachigen Raum ist die prädiktive Validität des Verfahrens im Hinblick auf die Begehung erneuter Sexualdelikte als gut zu bezeichnen, insofern als jeweils hohe Effekte (AUC ≥ .71) festgestellt wurden (Übersicht bei Eher
und Rettenberger 2013; vgl. ➤ Tab. 3.1). Bei einem Vergleich der Kodierungen von Experten mit denen von Praktikern ergaben sich in einer nordamerikanischen Studie (Quesada et al. 2014) für alle Items substanzielle k-Koeffizienten (> .60), davon für zwei Items sogar sehr hohe k-Werte (> .80); für den Summenwert ergab sich, gemessen am Korrelationskoeffizienten in Klassen in Höhe von .92, ein hervorragender Grad an Übereinstimmung. Der Standardmessfehler des Static-99 wird mit 1,08 Punkten angegeben, basierend auf nordamerikanischen Normdaten (Hanson et al. 2014). Entsprechende Schätzungen des Standardmessfehlers sind im deutschsprachigen Raum nach Kenntnis der Autoren bislang noch nicht publiziert worden. Als Normwerte können im deutschsprachigen Bereich die Stichprobendaten österreichischer Sexualstraftäter von Eher und Haubner-MacLean (2013) herangezogen werden. Als Alternative zum Static-99 kann der Sex Offender Risk Appraisal Guide (SORAG) (Quinsey et al. 2006; ➤ Tab. 30.3) verwendet werden, der im Unterschied zum Static-99 nicht nur auf Rückfälle mit Sexualdelikten, sondern allgemeiner auf Rückfälle in Form von Sexualund / oder Gewaltstraftaten geeicht ist. Vom Aufbau her entspricht der SORAG weitgehend dem VRAG. Als Normwerte kommen die von Rettenberger et al. (2009) vorgelegten Stichprobendaten österreichischer Sexualstraftäter infrage. Um ergänzend Aufschluss über langfristig oder kurzfristig veränderbare Risikomerkmale und damit auch den Behandlungsbedarf geben zu können, empfiehlt es sich, bei der Begutachtung von Sexualstraftätern zusätzlich die Verfahren Stable-2007 (Hanson und Harris 2007b; vgl. Matthes und Eher 2013b) bzw. Acute-2007 (Hanson und Harris 2007a; vgl. Matthes und Eher 2013a) einzusetzen. Im Hinblick auf die Einhaltung testpsychologischer Gütekriterien sowie das Vorliegen geeigneter Norm- oder Vergleichsdaten aus dem deutschsprachigen Raum erscheint die folgende Auswahl an Verfahren für die forensisch-psychiatrisch / -psychologische Beurteilung zielführend (➤ Tab. 30.3). Einer Befragung unter 97 Anwendern aus Deutschland zufolge gehörten die Verfahren PCL-R / SV, HCR-20 und VRAG zu den in der Praxis am häufigsten verwendeten Instrumenten (Rettenberger et al. 2017b). Ergebnisinterpretation Wichtig ist im Hinblick auf die Interpretation der Ergebnisse von klinisch-strukturierten oder aktuarischen Verfahren v. a. die Frage, ab wann ein ermitteltes Gewaltrisiko als niedrig, mittelgradig oder hoch zu erachten ist, zumal wenn der Test, wie z. B. der VRAG, selbst keine entsprechende Vorgabe macht (vgl. Monahan und Silver 2003). Vereinzelt wird in der juristischen Literatur darauf rekurriert, ein hohes Risiko sei dann gegeben, wenn die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten des Schadensereignisses höher sei als die komplementäre Wahrscheinlichkeit seines Nichteintretens, also mehr als 50 % betrage (vgl. Janus und Meehl 1997). Ein Vergleich veranschaulicht die Irrationalität dieser Setzung: Die jährliche Neuerkrankungsrate an Leukämie betrage 4 von 100.000 (oder 0,04 ‰ ). Selbstverständlich käme man nicht erst bei einem Anstieg der Neuerkrankungsrate auf mehr als 50 % auf die Idee, dass sich das Erkrankungsrisiko erhöht habe, sondern bereits dann, wenn es sich als deutlich höher erweist als die übliche Jahresrate. Entsprechend müsste man das Gewaltrisiko in einem gegebenen Fall dann als bedeutsam erhöht (oder als eindeutig verringert) auffassen, wenn es erkennbar höher (niedriger) wäre als die durchschnittliche Rückfallwahrscheinlichkeit. Diese A-priori-Wahrscheinlichkeit wiederum wird am ehesten über die relative Häufigkeit von Schadensereignissen in einer geeigneten Vergleichsgruppe geschätzt – also über die Basisrate von Deliktrückfällen in einem geeigneten Vergleichskollektiv (➤ Kap. 30.6.1). Wie das obige Krankheitsbeispiel veranschaulicht, ist dabei aber auch der Zeitraum festzulegen, auf den sich die Aussage beziehen soll.
Doch wie lässt sich berechnen, ob ein Unterschied gegenüber der Basisrate erheblich ist? Eine mögliche Orientierung bieten die Effektstärkemaße in ➤ Tab. 3.1. Demnach würde ein geringfügiger Effekt, gemessen an LR+ bzw. LR-, zumindest eine Verdoppelung oder Halbierung der Chance für einen Rückfall erfordern, also etwa von 10 % Basisrate auf 18 % individuelles Risiko (Anstieg) bzw. auf 5 % individuelles Risiko (Reduktion).3 Analog wäre bei einer Basisrate von 20 % bei einem Anstieg auf mindestens 33 % von einem hohen, bei einer Reduktion auf 11 % oder weniger von einem geringen Risiko auszugehen. Die zwischen den Grenzwerten für hohes und niedriges Risiko liegenden Bereiche wären demnach als Ausdruck eines mittelgradigen Risikos aufzufassen. Zur Schätzung der Basisrate kann die durchschnittliche Rückfallquote der Eichstichprobe des jeweiligen aktuarischen Verfahrens herangezogen werden. ➤ Abb. 30.3 veranschaulicht die Vorgehensweise. In ähnlicher Weise werden auch im Manual zur deutschen Version der PCL-R Kennwerte für LR+ im Hinblick auf Rückfälligkeit genannt (Mokros et al. 2017).
Abb. 30.3 Nomogramm zur Bewertung des individuellen Rückfallrisikos, relativ zur Basisrate [L269] Diese skizzierte Vorgehensweise, die bedingte Rückfallrate anhand der Basisrate mithilfe des Nomogramms zu relativieren, ist als Vorschlag aufzufassen, der den Vorteil bietet, aus der aktuarischen Wertetabelle des jeweiligen Verfahrens ableitbar zu sein; es handelt sich keineswegs um eine verbindliche Vorgabe. Ferner ist zu beachten, dass die Setzung einer Verdoppelung bzw. Halbierung der Rückfallchance als Kriterium für ein über- bzw. unterdurchschnittliches Risiko letztlich willkürlich ist und eine normative Bewertung darstellt, die eigentlich nur dem erkennenden Gericht zukommt. In Abhängigkeit vom bedrohten Rechtsgut kann eine niedrigere oder striktere Schwelle opportun sein. Jedenfalls sollte der Sachverständige, sofern er dem genannten Vorschlag folgt, gegenüber dem Gericht transparent machen, dass die Schwelle von Verdoppelung und Halbierung keine verfahrensimmanente Notwendigkeit ist, sondern eine Setzung, über deren Angemessenheit letztlich das Gericht zu befinden hat.
Ein Beispiel zur Veranschaulichung des Vorschlags: Ein Proband aus dem Kanton Zürich wird mit dem VRAG (Quinsey et al. 2006) beurteilt und der Risikokategorie 2 zugeordnet. Für Personen in der Risikokategorie 2 hat sich in einer Validierungsstudie eine Rückfallquote von 10 % ergeben, bezogen auf einen Zeitraum von 7 Jahren; für die Gesamtgruppe betrug die Rückfallquote 18 % (Rossegger et al. 2014). Indem wir die 18 % aus dieser Stichprobe als Basisrate heranziehen und mit der zu erwartenden 10-prozentigen Rückfallwahrscheinlichkeit für eine dem Probanden analoge Untergruppe vergleichen, ergibt sich eine Reduktion der Chance um die Hälfte.4 Demnach wäre das Gewaltrisiko im konkreten Fall, nach Maßgabe des VRAG, als niedrig zu bezeichnen. Ein weiteres Beispiel für den Auswertungsvorschlag: Ein Proband, der wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt wurde, hat im SORAG einen Kennwert erhalten, der zu einer Zuordnung in die Risikokategorie 7 von 9 führt. Nach Maßgabe der Stichprobe von Rettenberger et al. (2009) aus 268 Männern, die wegen Kindesmissbrauchs verurteilt worden waren, fielen weniger als 5 % der Betreffenden in eine höhere Kategorie (Kategorie 8 oder 9). Die bedingte Rückfallrate für Personen aus Kategorie 7 lautete 41 %. Demgegenüber lag die allgemeine Rückfallrate in der Gesamtstichprobe von Rettenberger und Kollegen bei 15 %. Der Schnittpunkt im Nomogramm, wenn beide Werte auf der x- (15 %) bzw. auf der y-Achse (41 %) in ➤ Abb. 30.3 eingetragen werden, liegt eindeutig in dem Bereich, der als „hohes Risiko“ gekennzeichnet ist. Eine ähnliche Vorgehensweise, basierend auf dem relativen Risiko, haben Hanson et al. (2017) am Beispiel des Static-99 vorgeschlagen. Beide Vorgehensweisen zur Risikokategorisierung – Relativierung an der Basisrate und entsprechend dem Vorschlag von Hanson et al. (2017) – führen nach Eher et al. (2019a) zu ähnlichen Einschätzungen. Es sei aber nochmals darauf hingewiesen, dass beide Vorgehensweisen – die Relativierung an der Basisrate, wie im Nomogramm (➤ Abb. 30.3) veranschaulicht, und die Einteilung nach Hanson et al. (2017) – letztlich Vorschläge sind, keine verbindlichen Vorgaben. Die Beschreibung des relativen Risikos, verglichen mit der Basisrate, bietet auch den Vorteil, die sprachliche Verwirrung aufzulösen, die zwischen den Kategorisierungen gängiger Prognoseinstrumente bislang herrschte. Wie Singh et al. (2014) zeigen konnten, musste ein Proband, dem in Verfahren A ein „hohes Risiko“ attestiert wird, in Verfahren B keineswegs in eine analoge Kategorie fallen. Neben dem relativen Risiko ist es aber gleichwohl ratsam, auch das absolute (prozentuale) Risiko zu erwähnen, damit nicht abstrakte, fernliegende Risiken als relevant erachtet werden. (So wie ein mögliches Nahrungsergänzungsmittel unsere Chance, an Morbus Addison zu erkranken, z. B. um ein Viertel reduzieren mag, was aber wenig relevant erscheint, wenn die Prävalenz dieser Erkrankung bei 1 unter 100.000 liegt.) Für das aktuarische Prognoseverfahren Static-99 werden im englischsprachigen Schrifttum mittlerweile unterschiedliche Normtabellen für Routinefälle und für Hochrisikoprobanden vorgehalten (Helmus 2009). Hierdurch geht aber ein allgemeiner Bezugsrahmen verloren, d. h., der Beurteiler muss deutlich machen, an welcher Bezugsgruppe sich die relative Einschätzung des Rückfallrisikos orientiert: So wie der (im Vergleich mit anderen Abiturienten) durchschnittlich intelligente Abiturient intelligenter ist als der Bevölkerungsdurchschnitt, so ist der im Vergleich mit anderen Hochrisikoprobanden durchschnittlich wirkende Hochrisikoproband, allgemein betrachtet, stärker rückfallgefährdet als ein durchschnittlicher Proband aus einer unausgelesenen Normstichprobe. Anwendung und Anwendungshindernisse Bei Anwendung von aktuarischen Risikoprognoseverfahren, aber auch bei Verwendung der PCL-R oder strukturierter professioneller Beurteilungsinstrumente wie dem HCR-20 oder der sog. Dittmann-Liste (Dittmann 2000) ist im schriftlichen Gutachten jeweils kurz zu
dokumentieren, warum man welche Items wie bewertet hat. Tatsächlich kommt es vor, dass Gerichte die ermittelten Summenwerte in Zweifel ziehen, so z. B. in der Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) 3 StR 69 / 10. Hier erschien den Mitgliedern des 3. Strafsenats des BGH nicht nachvollziehbar, wie es im Static-99 zur Vergabe von 7 Punkten und der Einstufung in die Kategorie „hohes Risiko“ habe kommen können, wenn aus den Feststellungen des Landgerichts nur 1 Punkt ersichtlich würde. In ähnlicher Weise hat das Schweizerische Bundesgericht (6B_424 / 2015) ausdrücklich eingefordert darzulegen, warum bestimmte Items der PCL-R durch die Sachverständige in einer bestimmten Weise bewertet wurde. Auch um dem Vergleich mit den (möglicherweise kontrastierenden) Einschätzungen anderer Sachverständiger fundiert begegnen und eine Transparenz der Ergebnisse für künftige Beurteiler gewährleisten zu können, ist eine Dokumentation der Begründung für die konkrete Bewertung einzelner Items geboten. Im Sinne der Nachprüfbarkeit der Stringenz und Objektivität prognoserelevanter Einschätzungen ist eine Darlegung der Befundtatsachen unerlässlich. Gleichzeitig sollte diese Transparenz nicht dazu führen, dass vor Gericht darum gefeilscht wird, bestimmte Summenwerte nach oben oder unten zu verändern. Für die Punktvergabe ist nämlich die besondere Sachkunde des Sachverständigen ausschlaggebend, die durch das Studium erworben, im Beruf vertieft und durch Weiterbildung oder Schulung für bestimmte Verfahren erweitert worden ist. Strukturierte professionelle Beurteilungs- oder aktuarische Verfahren zur Kriminalprognose setzen i. d. R. die Berücksichtigung früherer Straftaten voraus. Eine maßgebliche Quelle hierfür ist der Auszug aus dem Bundeszentralregister (BZR). Gemäß § 51 Abs. 1 (Verwertungsverbot) des BZR-Gesetzes dürfen einer Person Eintragungen über Verurteilungen, die zwischenzeitlich im Register getilgt worden sind, im Rechtsverkehr nicht vorgehalten werden. Auf dieser Grundlage entschied z. B. das OLG Celle (1 Ws 282 / 11) u. a., dass im Falle des Klägers – eines wegen Vergewaltigung und sexuellen Missbrauchs an Kindern verurteilten Strafgefangenen – der für ihn erstellte Vollzugsplan aufzuheben sei, weil jener Vollzugsplan auf elf Vorstrafen Bezug nehme, die im BZR bereits getilgt seien; der Kläger sei vielmehr wie ein Ersttäter zu behandeln. Wie die Kammer weiter ausführte, seien „[die] damit einhergehenden Beeinträchtigungen der Strafrechtspflege […] bei der Wahrheitsermittlung zur Verwirklichung des mit dem Verwertungsverbot verfolgten Ziels der Resozialisierung Straffälliger hinzunehmen“ (Niedersächsisches Landesjustizportal 2011), und zwar unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1973 (BVerfGE 36, 174; Mitglieder des BVerfG 1974). Nach der neuen Fassung des § 52 Abs. 1 Nr. 2 des BZR-Gesetzes dürfen frühere Taten, obwohl die diesbezüglichen Eintragungen zwischenzeitlich getilgt worden sind, allerdings doch berücksichtigt werden, wenn ein Gutachten über die §§ 20, 21, 63, 64, 66, 66a oder 66b StGB zu erstatten ist, sofern die Umstände der betreffenden Taten im Hinblick auf die Beurteilung der Schuldfähigkeit oder der Gefährlichkeit des Probanden relevant sind. Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben (handelt es sich also z. B. um eine interne Prognose i. R. eines Vollzugsplans), kann das Verwertungsverbot zu einem Konflikt mit den Vorgaben strukturierter oder aktuarischer Risikoprognoseverfahren führen. Im Static-99 z. B. werden jegliche frühere Straftaten zugrunde gelegt (Harris et al. 2003: 21; vgl. Rettenberger und Eher 2006): „A prior offence is any sexual or non-sexual crime, institutional rule violation, probation, parole or conditional release violation(s) and / or arrest charge(s) or, conviction(s), that was legally dealt with PRIOR to the Index offence“[Hervorhebung im Original]. Je nachdem, ob es sich bei den früheren, zwischenzeitlich gelöschten BZR-Einträgen in dem der Entscheidung 1 Ws 282 / 11 zugrunde liegenden Fall wie bei den Indexdelikten ebenfalls um Sexualdelikte gehandelt hat, könnten im Static-99 allein bis zu 6 Punkte mehr zu Buche schlagen – eine Diskrepanz, die im Extremfall den Unterschied zwischen der Static-99-
Risikokategorie „niedrig“ (höchstens 1 Punkt) und der Risikokategorie „hoch“ (6 oder mehr Punkte) ausmachen kann. Die Nichtberücksichtigung von gelöschten BZR-Einträgen kann also u. U. zu einer massiven Unterschätzung des Risikos für erneute Gewalt- und Sexualdelikte führen.
Merke Die juristische Vorgabe der Nichtberücksichtigung gelöschter BZREinträge steht u. U. im Widerspruch zu den Vorgaben für eine korrekte Bearbeitung entsprechender Risikobeurteilungsverfahren. Dieser Widerspruch kann nicht erfahrungswissenschaftlich aufgelöst werden. Die Sachverständigen sollten nicht von ihren manualgeleitet ermittelten Werten abrücken, sich aber darüber im Klaren sein, dass im Verfahren in Bezug auf Itemwerte, die Vorstrafen oder Jugenddelinquenz betreffen, Diskussionen entstehen können. Diese können letztlich nur über die in ➤ Kap. 30.6 dargestellte integrative Methodik aufgelöst werden. Was den Einsatz von Risikobeurteilungsverfahren bei Frauen betrifft, legt eine Studie von Coid et al. (2009) u. a. bezüglich HCR-20, PCL-R und VRAG den Schluss nahe, dass diese Verfahren für die Verwendung bei Frauen ähnlich valide sind wie für den Einsatz bei Männern. Die Effektstärken für den Zusammenhang mit erneuten Gewaltdelikten erwiesen sich auch bei Straftäterinnen als mittelgradig (HCR-20, VRAG) bis hoch (PCL-R) und bei zwei Verfahren (PCL-R, HCR-20) für Straftäterinnen tendenziell höher als für Straftäter. Ein umgekehrtes Ergebnis – eine tendenziell höhere Effektstärke für Straftäter als für Straftäterinnen – zeigte sich beim VRAG. Allerdings fehlt es, insbesondere im deutschen Sprachraum, an Normdaten für den Einsatz entsprechender Verfahren bei straffälligen Frauen (Krammer et al. 2016). Eine Studie von Eisenbarth et al. (2012) zu 80 Straftäterinnen erbrachte Hinweise für eine moderate Effektstärke der PCL-R (AUC = .66) bzw. für eine hohe Effektstärke des VRAG (AUC = .72), jedoch nur für eine geringe Effektstärke des HCR-20 (AUC = .59). Einschränkend ist aber zu beachten, dass aufgrund der geringen Basisrate gewalttätiger Rückfälle in der Stichprobe (5 %) die prädiktive Validität im Hinblick auf jegliche Delinquenz, also auch unter Einbezug nicht gewalttätiger Delikte, berechnet wurde. Ohne einschlägige Normwerte können entsprechende Verfahren jedoch im deutschsprachigen Raum nicht bzw. nur eingeschränkt für die Prognosebegutachtung von Straftäterinnen verwendet werden (allenfalls orientierend, etwa im Sinne eines SPJ, indem auf das Vorliegen / Nichtvorliegen relevanter Risikofaktoren hingewiesen wird). Für die Begutachtung von Jugendlichen sind spezifisch für diese Gruppe entwickelte Risikoprognose-Instrumente zu verwenden (s. hierzu Aebi und Bessler 2016). Juristische Kritik an den Kriminalprognoseinstrumenten Boetticher et al. (2009) vertraten den Standpunkt, standardisierte Instrumente zur Kriminalprognose seien nicht wie psychometrische Tests konstruiert. So sei es z. B. nicht möglich, den Kennwert eines solchen Prognoseverfahrens „[…] unter Angabe der Messgenauigkeit des benutzten Verfahrens zu einer statistischen Norm in Beziehung [zu] setzen […], die aus einer Eichstichprobe gewonnen wurde“ (2009: 480). Zwar messen Instrumente zur Kriminalprognose im Unterschied zu psychologischen Selbstberichtsfragebogen oder Leistungstests u. U. kein einheitliches (oder besser: eindimensionales) Konstrukt. Ihre Ursachen liegen nicht nur in den schriftlichen Aussagen (wie beim Fragebogen) oder aktuellen Reaktionen des Probanden (wie bei Leistungstests), sondern teilweise in der Kombination biografischer Angaben und psychopathologischer Bewertungen.
Nichtsdestotrotz müssen sich standardisierte Untersuchungsinstrumente an den einschlägigen Haupt- und Nebengütekriterien messen lassen, insbesondere also daran, ob Objektivität, Reliabilität und Validität als gegeben angenommen werden können und ob geeignete Vergleichsdaten zur Verfügung stehen (vgl. ➤ Kap. 3.2). Dies ist für aktuarische Prognoseverfahren der Fall, da, wie weiter oben dargelegt, sehr wohl Angaben zur Reliabilität, Validität und Normierung vorliegen. Von daher sind aktuarische Instrumente zur Kriminalprognose sehr wohl psychometrische Testverfahren und in dem Maße als wissenschaftlich fundiert zu bezeichnen, indem sie die Anforderungen der vorgenannten Gütekriterien erfüllen.
Merke In den aktuellen Empfehlungen zur Erstellung von Prognosegutachten (Kröber et al. 2019; vgl. ➤ Kap. 30.5.2) wird ausdrücklich gefordert, die Testgütekriterien (v. a. Reliabilität, Validität, Normierung) der zu verwendenden kriminalprognostischen Verfahren zu beachten. Solche Angaben fehlen zwar für Verfahren, die als strukturierte professionelle Beurteilungsverfahren zur Kriminalprognose (SPJ-Instrumente, Genaueres in ➤ Kap. 30.6) bezeichnet werden, also etwa für das Historical Clinical Risk-20 (HCR-20; Douglas et al. 2013). Allerdings waren eine Punktvergabe und die Normierung von den Autoren der entsprechenden Verfahren auch nicht intendiert, denn diese Instrumente sollen die Begutachtung im Sinne der Identifikation fallrelevanter Risikomerkmale strukturieren und verhindern, dass wichtige Aspekte übersehen werden. Boetticher et al. (2009: 479) führten weiterhin aus, es sei „[…] in keinem Fall gerechtfertigt, Prognoseentscheidungen auf Grund irgendeines Punktwertes zu treffen oder Prognoseentscheidungen mit einem Punktewert zu begründen“. Zumindest der zweite Teil dieses Einwands lässt sich aus der empirischen Literatur nicht herleiten. Vielmehr zeigt der Vergleich der Trefferquote von aktuarischen Instrumenten zur Kriminalprognose mit oder ohne die Möglichkeit einer Anpassung nach klinischen Plausibilitätserwägungen, dass entsprechende Anpassungen die Treffgenauigkeit der Verfahren verwässern (Hanson und Morton-Bourgon 2009; Storey et al. 2012; Wormith et al. 2012). Demnach sollte es bei der Verwendung aktuarischer Verfahren vornehmlich darum gehen, die Ergebnisse korrekt zu interpretieren und in den Kontext anderer Informationsquellen zu setzen, nicht aber um eine Veränderung ihrer grundsätzlichen Aussage aufgrund anderweitiger Eindrücke.
Merke Nichtsdestotrotz bleibt es dabei, dass die Resultate der aktuarischen Instrumente eine Wahrscheinlichkeitsaussage ermöglichen, die von der Justiz nicht als alleinige Entscheidungsgrundlage akzeptiert wird. Die Abklärung mittels solcher Verfahren oder anderer strukturierter Instrumente kann daher stets nur ein erster Schritt sein, der durch individuell-klinische Überlegungen ergänzt werden muss. Was dabei zu beachten ist, wird nachfolgend dargestellt.
30.6. Klinische Individualprognose
Der individuelle Einzelbezug der klinischen Individualprognose darf keinesfalls mit einem ungeregelten, intuitiven Vorgehen gleichgesetzt werden.
Merke Vielmehr geht es um eine „kriterienorientierte strukturierte Risikokalkulation“ (Dittmann 2000), d. h. um die Übertragung empirischer Erkenntnisse über den Zusammenhang bestimmter kriminologischer, persönlichkeitseigener bzw. krankheitsbedingter und situativer Faktoren einer kriminellen Rückfallgefahr auf den zu begutachtenden Einzelfall.
30.6.1. Kriterienkataloge Anders als bei statistischen Prognosen geschieht dies an dieser Stelle nicht in Form vorgegebener Berechnungsformeln. Daher sind Kriterienkataloge wie das HCR-20 (Douglas et al. 2013) oder die sogenannte Dittmann-Liste (Dittmann 2000; neue Fassung von Hachtel et al. 2019), in denen prognoserelevante anamnestische, klinische und Interventionsvariablen in übersichtlicher Form zusammengefasst sind, zwar standardisiert und geeignet, die Untersuchung zu strukturieren. Sie führen jedoch nicht zu fixen, rechnerisch miteinander verknüpfbaren Prädiktoren, sondern berücksichtigen auch klinische und Entwicklungsaspekte, die hinsichtlich ihrer Bedeutung für den Einzelfall zu gewichten sind. Die tatsächliche prognostische Relevanz einzelner Items für den jeweiligen Fall lässt sich stets allein im jeweiligen Gesamtkontext beurteilen. Solche Kriterienkataloge ermöglichen ein „structured professional judgment“ (SPJ). Sie können verhindern, dass evtl. entscheidungsrelevante Faktoren übersehen werden. Das gebräuchlichste SPJ-Instrument ist das HCR-20 (Version 3; Douglas et al. 2013). Wie die vorherige Version (Webster et al. 1997) umfasst das HCR-20 Version 3 weiterhin 20 Items zu Risikofaktoren, die eine Vorhersage von Gewaltstraftaten ermöglichen sollen. Es kann aber im Unterschied zur Vorgängerversion nicht nur bei psychisch Kranken, sondern allgemeiner zur Beurteilung von Probanden im strafrechtlichen Kontext eingesetzt werden (Douglas et al. 2013). Dabei werden Aspekte aus der Vergangenheit (Bereich H für History, 10 Items), der Gegenwart (Bereich C für Clinical, 5 Items) und zu erwartende künftige Risikoszenarien (Bereich R für Risk, 5 Items) berücksichtigt. Das HCR-20 (Version 3) sieht weder die Vergabe von Punktwerten vor, noch enthält es definierte Grenzwerte, ab denen von einer Gefahr auszugehen ist. Daher handelt es sich nicht um ein statistisch-aktuarisches Instrument. Vielmehr dient es dazu, in strukturierter und manualgeleiteter Form prognostisch relevante Problembereiche abzuklären und auf der Basis der dabei gewonnenen Erkenntnisse Risiken und Interventionsmöglichkeiten zu verdeutlichen. Insofern ist der HCR-20 (Version 3) mit der Kriterienliste nach Dittmann (2000) vergleichbar. Das Vorliegen der in den 20 Items beschriebenen Sachverhalte wird jeweils über drei mögliche Bewertungen abgebildet, mit den Kodierungsmöglichkeiten nein, vielleicht und ja. Zudem wird die Deliktrelevanz einzelner Kriterien als niedrig, mittelgradig oder hoch eingeschätzt. Nach Maßgabe einer internationalen Metaanalyse (Yang et al. 2010) erwies sich die Vorgängerversion des HCR-20 (Version 2) im Vergleich mit acht anderen Risikoprognoseverfahren (darunter auch der VRAG und die PCL-R) als tauglichstes Maß zur Abschätzung des Risikos künftiger Gewaltdelikte. Basierend auf 16 Einzelstudien mit einem Gesamtstichprobenumfang von 4.161 Personen lag die mittlere Effektstärke für das HCR-20 bei d = 0,79, was einem substanziellen Effekt entspricht; die Effektstärken für die PCL-R (0,55) und
den VRAG (0,68) waren niedriger, jedoch im Fall des VRAG nicht in einem statistisch bedeutsamen Maß. Die Beurteilerübereinstimmung für den HCR-20 (Version 3) wurde – gemessen am Korrelationskoeffizienten in Klassen (.94) in einer schwedischen Stichprobe – als hervorragend bezeichnet (Douglas und Belfrage 2014); ebenso wurde die Übereinstimmung mit der Vorversion aufgrund derselben Stichprobe als sehr hoch bewertet (r = .85). Allerdings muss beachtet werden, dass für derlei Überprüfungen von Objektivität und Validität das HCR-20 streng genommen entgegen den Vorgaben im Manual verwendet wird, indem zur Quantifizierung Summenwerte gebildet werden (also das SPJ-Verfahren HCR-20 letztlich wie ein aktuarisches Verfahren ausgewertet wird). Entlassene Patienten des Maßregelvollzugs nach § 63 StGB stellen im Vergleich zu Häftlingen eine homogenere Gruppe dar, was das Risiko für erneute Delinquenz anbelangt. Ohne eine günstige Beurteilung des Rückfallrisikos wären die Patienten i. Allg. zuvor nicht entlassen worden. So verwundert es nicht, wenn ein Verfahren wie das HCR-20 unter entlassenen MRVPatienten gem. § 63 (N = 135) nicht geeignet ist, zwischen Rückfälligen und Nichtrückfälligen zu trennen, wie die Studie von Butz (2016) gezeigt hat. Gleichwohl taugte das HCR-20 in der besagten Studie sehr wohl zu einer Differenzierung von Rückfälligen und Nichtrückfälligen unter Patienten, die zuvor gem. § 64 StGB untergebracht worden waren (N = 238). Hier gilt für die Unterbringung nämlich eine Höchstfrist; zudem wird die Maßregelunterbringung bei vielen §64-Patienten abgebrochen. Das heißt, die Gruppe ehemaliger §64-Patienten dürfte in Bezug auf das Rückfallrisiko weniger homogen sein. Die Effektstärkemaße für die Unterscheidung von Rückfälligen und Nichtrückfälligen betrugen in der Studie von Butz d = 0,27 (für die ehemaligen §63-Patienten) und 0,57 (für die ehemaligen §64-Patienten). Auch unabhängig von Hilfsmitteln wie dem HCR-20 werden im Rahmen der klinischidiografischen Kriminalprognose (➤ Kap. 30.7) alle im Einzelfall wesentlichen Faktoren erfasst und gemäß ihrer prognostischen Bedeutung gewichtet. Sie bietet somit den Vorteil eines individuellen Bezugs, hebt stärker auf die spezielle Problematik psychisch kranker bzw. gestörter Rechtsbrecher ab und ermöglicht es, die im Vollzug gewonnenen Erfahrungen und etwaigen therapeutischen Veränderungen zu berücksichtigen.
30.6.2. Beurteilungsbereiche Merke Die vielfältigen in der Literatur aufgeführten und / oder in der Prognosepraxis genutzten Schritte lassen sich basierend auf grundlegenden Überlegungen von Rasch (1985) und in Übereinstimmung mit Boetticher et al. (2019) in vier Beurteilungsbereiche gliedern: • Anamnestische Befunde, v. a. hinsichtlich der früheren Delinquenz • Anlassdelikt und Delikthypothese • Verlauf seit Tatbegehung, aktuelles Querschnittsbild der Persönlichkeit bzw. Erkrankung • Zukunftsperspektiven, sozialer Empfangsraum
Diese vier Bereiche sind nicht nur für Begutachtungen zur Entlassung aus dem psychiatrischen Maßregelvollzug relevant. In der Regel lassen sie sich auch auf die prognostische Beurteilung von Straftätern übertragen, die in Haft bzw. in der Sicherungsverwahrung untergebracht sind. Ihre nachfolgende Beschreibung soll nicht missverstanden werden: Es handelt sich nicht um distinkte Kategorien, denn die Delikthypothese gründet entscheidend auf der sorgfältigen Analyse der Vorgeschichte, und Aussagen zum sozialen Empfangsraum können nicht vom Querschnittsbild bzw. den im Behandlungsverlauf erreichten Fortschritten bzw. deren Grenzen getrennt werden. Anamnestische Befunde Im Vergleich zu Einmaltätern weisen rückfallgefährdete Straftäter signifikant häufiger bestimmte anamnestische Auffälligkeiten auf (vgl. ➤ Tab. 30.1). Diese werden insbesondere in den vorab beschriebenen Instrumenten zur statistischen Erfassung des Rückfallrisikos berücksichtigt. Schon dieser Punkt verweist auf die engen Bezüge zwischen statistischnomothetischer und idiografischer Individualprognose und auf die Notwendigkeit eines integrativen Ansatzes. Prognostisch bedeutsam sind u. U. die Herkunftsfamilie (z. B. mangelnde innere oder äußere Stabilität; sprunghafter und inkonsequenter Erziehungsstil; Alkohol- bzw. Drogenmissbrauch sowie dissoziales Verhalten bei weiteren Mitgliedern der Primärfamilie) als auch die eigene biografische Entwicklung (z. B. Schulschwänzen, früher Beginn dissozialer Verhaltensweisen, frühzeitiger Alkohol- oder Drogenmissbrauch, mangelnde Arbeitskontinuität, inkonstantes Partnerschaftsverhalten, häufige und längere Vorstrafen und insbesondere häufiges Bewährungsversagen). Diese Befunde sind statistisch vielfach gesichert (Jolliffe et al. 2017), müssen jedoch stets auf ihre Relevanz im konkreten Einzelfall überprüft werden. Dabei stellt sich v. a. die Frage, ob die kriminelle Vorgeschichte des Betroffenen eher auf seiner (abnormen) Persönlichkeit bzw. seiner psychischen Erkrankung basierte oder ob hier situative Einflussfaktoren (inkl. der oft komplexen Situation einer Mittäterschaft) von entscheidender Bedeutung waren. Generell ist die Gefahr einer Tatwiederholung umso geringer einzuschätzen, je stärker Tatmotivation und Tatbegehung an spezifische Konstellationen geknüpft waren. Wenn das Verhalten in der Vorgeschichte häufig aufgetreten ist bzw. auch in unterschiedlichen Kontexten (z. B. bei Gewalthandlungen im beruflichen und familiären Kontext) zu beobachten war, spricht dies für eine stärker persönlichkeitsgebundene Problematik. Zu beachten ist dabei, dass Straftäter mit schweren psychischen Störungen dazu neigen, kriminogene Situationen zu schaffen bzw. sich wiederholt in ähnliche Konflikte zu verstricken (Rasch 1985). Für Sexualstraftäter ist in diesem Kontext relevant, ob und wie häufig Sexualität als Copingstrategie bei Belastungen eingesetzt wurde (Cortoni und Marshall 2001). Die für die kriminelle Vorgeschichte, frühere Behandlungen bzw. Behandlungsversuche relevanten Aspekte sind auch für die nachfolgenden Überlegungen hinsichtlich der Delikthypothese bedeutsam. Anlassdelikt und Delikthypothese In einem zweiten und sehr bedeutsamen Schritt ist zu überprüfen, welche Persönlichkeitsmerkmale bzw. welche erkrankungsbedingten Faktoren im Zusammenspiel mit situativen Faktoren den Hintergrund der früheren Delinquenz gebildet haben. Es gilt also eine für den Einzelfall gültige „individuelle Handlungstheorie der Delinquenz des Betroffenen“, die sog. Delikthypothese, zu erarbeiten (Dahle 2000). Hinsichtlich des Anlassdelikts sind bei rechtskräftig verurteilten Personen die Urteilsfeststellungen zu berücksichtigen (Kröber et al. 2019). Die Orientierung an einem rechtskräftigen Urteil kann nicht als Befangenheit gelten. Ü
Sachverständige dürfen aber auch neue Erkenntnisse in die gutachterlichen Überlegungen einbeziehen. Mit der Delikt- (oder Delinquenz-)Hypothese nimmt der Sachverständige somit Stellung zu der Frage, welche Faktoren zur Delinquenz beigetragen oder zum Deliktzeitpunkt rechtstreues Handeln verhindert haben. Dabei muss man sich verdeutlichen, dass die letztliche Ursache einer Handlung die Entscheidung ist, sie durchzuführen oder eine alternative Handlung zu unterlassen. Diese Entscheidung wird in unterschiedlichem Ausmaß von verschiedensten (biologischen, psychologischen und sozialen) Faktoren bestimmt, nämlich von Persönlichkeitseigenschaften, Zuständen, psychopathologischer Symptomatik, Lernerfahrungen (z. B. am Modell im Kontext der Familie oder in dissozialen oder gewaltbereiten Gruppierungen), Verhaltensgewohnheiten und situativen Umgebungsbedingungen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass zeitlich stabile Handlungsmuster am ehesten einen Rückschluss auf Einstellungen und die Persönlichkeit erlauben. Wenn Handlungen ungewöhnlich für die Person sind, können situative Einflüsse, z. B. im Rahmen eines massiven Beziehungskonflikts, relevant gewesen sein, oder es kann sich der Verdacht auf diagnostisch fassbare Veränderungen ergeben. Demnach ist es hilfreich, zwischen Störungs-, Persönlichkeits- und situativ bedingten Faktoren zu unterscheiden. Diese lassen sich jedoch i. d. R. nicht – wie von Urbaniok (2012) vorgeschlagen – im Sinne von Persönlichkeits- und Situationstaten scharf voneinander trennen, denn menschliches Handeln ist stets sowohl situativ bzw. durch die Umgebung als auch durch die Persönlichkeit beeinflusst. Das kann hinsichtlich situativer Bedingungen am Beispiel des eigenen Verhaltens als Zuhörer im Konzertsaal bzw. beim Besuch eines Fußballspiels oder betreffs persönlichkeitsgebundener Einflüsse anhand eines primär aggressionsgehemmten Affekttäters illustriert werden. Die vermeintlich persönlichkeitsfremde Aggressionshandlung ist zumeist Folge eines lang hingestreckten Konflikts, bei dem es dem späteren Täter gerade wegen seiner Aggressionshemmung nicht gelungen ist, eigene Interessen zu formulieren bzw. gar durchzusetzen. Ein zugehöriges Fallkonzept wird daher die Aggressionshemmung als deliktrelevant beurteilen und bei der Therapie auf den Erwerb von Strategien zur aktiven Konfliktlösung achten. Dabei gilt es beim Affekttäter die Konfliktfähigkeit auch in Richtung einer verbesserten Durchsetzungsfähigkeit zu fördern, was beim durchsetzungsbereiten Gewaltdelinquenten kontraindiziert wäre. Dieses Beispiel verdeutlicht die individuelle Note einer Delikthypothese, die alle für das Delikt relevanten Aspekte, inkl. situativer Rahmenbedingungen und begünstigender Persönlichkeitsmerkmale, berücksichtigen und hinsichtlich ihrer Beeinflussbarkeit ausloten sollte. Die Delinquenzhypothese nimmt somit Stellung zu der Frage, welche Faktoren zur Delinquenz beigetragen oder zum Deliktzeitpunkt rechtstreues Handeln verhindert haben. Dabei geht es bewusst um Delikthypothesen bzw. Fallkonzepte, denn diese sind im Rahmen einer sachgerechten Therapie, aber auch wiederholter Prognosebegutachtungen im Verlauf hinsichtlich ihrer fortdauernden Berechtigung kritisch zu überprüfen und ggf. auch zu modifizieren. Deshalb führt der Begriff des „Deliktmechanismus“ (Urbaniok 2016) ins Leere, denn er täuscht einen Determinismus vor, den es betreffs der nachträglichen Bewertung bzw. der Einschätzung zukünftigen Verhaltens nicht geben kann. Ohnehin ist vor monokausalen „Erklärungen“ für Delikte zu warnen, denn Letztere sind i. d. R. Ausdruck bzw. Folge komplexer Auslösebedingungen.
Merke Um das individuelle Bedingungsgefüge der Delinquenz in Form einer fundierten Delikthypothese entwickeln zu können, sind die individuellen Hintergründe der Delinquenz auszuloten. Diese sind i.
d. R. sowohl persönlichkeits- als auch situationsbezogen. Es geht hier also nicht um ein Entweder-oder, sondern um die Frage, in welchem Ausmaß im Vorfeld der Tat bzw. in der Tatsituation situative und persönliche Faktoren entscheidungs- bzw. handlungsleitend waren. Bei Gutachten im Kontext psychiatrischer Maßregeln sind in besonderer Weise auch krankheits- bzw. störungsspezifische Faktoren zu berücksichtigen. Von Bedeutung für die Delikthypothese ist zudem die Frage, ob der Tat eine spezifische Täter-Opfer-Beziehung zugrunde lag, was auf eine geringere Wiederholungsgefahr hinweisen kann, jedoch keinesfalls zwingend muss: Eine deliktrelevante Täter-Opfer-Beziehung besteht i. d. R. bei klassischen Affektdelikten, wobei auch hier zu berücksichtigen ist, dass Persönlichkeitsmerkmale Betroffener ein hohes Risiko für das Wiederauftreten ähnlicher Konflikte bedingen können. Daher ist bei der Begutachtung zu prüfen, ob sich ein Muster von bedrohlichen oder gar gewalttätigen Handlungen im Rahmen von Beziehungskonflikten gezeigt hat. Die Täter-Opfer-Beziehung wäre in diesem Fall kein Hinweis auf ein niedriges Risiko von Gewalthandlungen, sondern lediglich ein Hinweis auf einen eingeschränkten Kreis zukünftiger Opfer (konkret zukünftige Partnerinnen). Umgekehrt ist zu beachten, dass sich Gewalttaten von Patienten mit einer Schizophrenie auch aus einer lang dauernden konfliktträchtigen Beziehung zum späteren Opfer entwickeln können. Entsprechend spezifische situative Bedingungen lassen, wenn ein konfliktfreies Umfeld sichergestellt werden kann, eine Wiederholungsgefahr auch bei fortbestehender Erkrankung gering erscheinen. Alkohol- oder Drogeneinfluss zum Tatzeitpunkt ist zumindest dann von prognostischer Relevanz, wenn ein Substanzmissbrauch bzw. gar eine Substanzabhängigkeit vorliegt. Dies spricht so lange für ein hohes Risiko erneuter Taten, wie therapeutisch kein besser kontrolliertes Konsummuster bzw. eine Abstinenz erreicht werden konnte. Ob eine akute Alkoholisierung ohne Vorliegen einer Sucht tatsächlich eher auf eine günstige Prognose hinweist (so Rasch 1996), ist fraglich. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Alkoholkonsum unabhängig von seiner diagnostischen Bedeutung ein Risikofaktor für Gewaltdelikte ist (Stadtland und Nedopil 2003), weshalb dieser Faktor auch z. B. im VRAG (Harris et al. 1993) Berücksichtigung findet. Zudem erfolgen schwerwiegende Delikte häufig in belastenden Lebenssituationen, in denen insbesondere Männer zu einem vermehrten Alkoholkonsum tendieren (➤ Kap. 18). Verlauf seit Tatbegehung, aktuelles Querschnittsbild der Persönlichkeit bzw. Erkrankung In der Regel basieren Prognosekriterien, die auf den Verlauf seit der Tatbegehung ausgerichtet sind, auf dem beobachtbaren Verhalten des Betroffenen während des Vollzugs. Die Fähigkeit, sich den Bedingungen einer Einrichtung anzupassen, ist jedoch nur dann als ein Indiz für eine prognostisch günstige Veränderung zu bewerten, wenn zuvor auch tatsächlich Defizite im Bereich der sozialen Anpassungsfähigkeit vorgelegen haben. Auch dieser Aspekt verdeutlicht die Bedeutung einer sorgfältig hergeleiteten Delikthypothese. Im Vollzugs- bzw. Maßnahmenverlauf kann bei gewaltbereit-dissozialen Insassen im Übergang von der 4. zur 5. Lebensdekade oftmals eine nachlassende Anzahl von Konflikten beobachtet und anhand der sinkenden Zahl von intramuralen Regelverstößen auch objektiviert werden. In solchen Fällen ermöglichen Alterseinflüsse (Habermeyer und Herpertz 2006) mit nachlassender Impulsivität und Aggressivität eine zunehmende Anpassung an prosoziale Normen. Entsprechende Veränderungen sollten nicht als reine Anpassung fehlinterpretiert und geringgeschätzt werden. Vielmehr können sie die Basis für nachfolgend konstruktive Entwicklungen mit z. B. einer erstmals stabilen Integration in Arbeitsabläufe darstellen, was für die zukünftigen beruflichen Perspektiven von hoher Bedeutung sein kann. In anderen Fällen
kann eine übermäßige Ausprägung konformer Verhaltensweisen, zumal unter den konfliktträchtigen und belastenden Bedingungen einer Unterbringung bzw. Inhaftierung, einen Indikator für das Fortbestehen der eigentlichen Problematik des Betroffenen darstellen. So zeichnet sich die Gruppe der „überkontrollierten Gewalttäter“ und insbesondere ein Großteil aggressiver Sexualstraftäter gerade durch die Diskrepanz zwischen sozialer Überanpassung und plötzlichen Aggressionsdurchbrüchen aus. Auch für pädosexuelle Straftäter ist ein unproblematischer Haftverlauf eher die Regel als die Ausnahme. Auch bei der Begutachtung zur Entlassung von Straftätern, die zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden waren, wurde dem konformen Verhalten der Betroffenen mit den offiziellen Normen der Strafanstalt eine besondere prognostische Bedeutung zugemessen (Goeman 1976). Den katamnestischen Untersuchungen von Albrecht (1977) zufolge stellt ein derartiges Anpassungsverhalten jedoch keinen Indikator für eine positive Legalbewährung dar. Als entscheidender haben sich dagegen eine Verbesserung der sozialen Situation nach der Haftentlassung, die Aufrechterhaltung bzw. Förderung familiärer Beziehungen und sonstiger Außenkontakte sowie die Fähigkeit des Betroffenen, mit dem Stigma des „Lebenslänglichen“ adäquat umzugehen, erwiesen. Seifert (2007) fand in einer prospektiven Untersuchungsstichprobe von 225 aus dem psychiatrischen Maßregelvollzug entlassenen Patienten mit einem Katamnesezeitraum von im Mittel 4 Jahren als wesentlichen Prädiktor von Rückfalldelinquenz eine überdauernde dissoziale Verhaltensbereitschaft. Diese zeigte sich in einer geringen Ängstlichkeit, einem geringen Reflexionsvermögen, einem hohen aggressiven Potenzial im Stationsalltag und einer dadurch führenden Rolle in der Patientenhierarchie. Die später rückfällig gewordenen Patienten pflegten ferner einen nur geringen Kontakt zum Pflegeteam, zeigten eine geringe Kritiktoleranz und eine rasche Reizbarkeit. Ebenfalls mit einer erhöhten Rückfallgefahr korrelierte ein chronischer oder auch nur punktueller Alkoholmissbrauch in stressbelasteten Situationen. Die in der Praxis vielfach herangezogenen Kriterien einer Krankheitseinsicht und Therapiemotivation zeigten dagegen für die tatsächliche Legalbewährung keine prognostische Relevanz. In einer Nachuntersuchung anhand von nunmehr 321 entlassenen Patienten und einer mittleren Katamnesedauer von 7,5 Jahren hat sich die prognostische Bedeutung dieser klinischen Merkmale bestätigt, wogegen anamnestische Kriterien mit zunehmendem Katamnesezeitraum an Relevanz verloren (Seifert und Knarren 2013). Betreffs der dritten Datenerhebung (N = 321) wurde von Seifert et al. (2018) auf die hohe Bedeutung kriminologischer Risikovariablen verwiesen (z. B. Verhaltensauffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter, geringes Alter bei Erstdelinquenz und erster Sanktion). Auch im Rahmen dieser Untersuchung lag die Rückfälligkeit bei einem Beobachtungszeitraum von im Mittel 16,5 Jahren bei 35,2 %, wobei schwerwiegende Delikte in 12,8 % der Fälle zu verzeichnen waren. Betreffs Störungsgruppen zeigten Patienten mit einer Schizophrenie die günstigeren Verläufe, während der Anteil erneuter Delikte bei den Tätern mit Persönlichkeitsstörungen höher war. Zusätzlich ist der Umgang mit Lockerungen zu berücksichtigen. Das Verhalten unter den Belastungen eines zunehmend größeren Freiheitsraums kann Aufschluss darüber geben, inwieweit vorhandene Änderungen im Verhaltensmuster auch außerhalb stärker strukturierter Lebensbedingungen konstant bleiben (Leygraf 2007). Dies darf jedoch nicht dazu führen, prognostische Beurteilungen schrittweise auf eine Versuch-Irrtum-Methode zu reduzieren. Stattdessen setzt jede Lockerung bereits eine entsprechende prognostische Bewertung voraus. Entweichungen aus der Unterbringung stellen für die Maßregeleinrichtungen stets ein besonders problematisches Verhalten dar; häufige Entweichungen setzen die Einrichtung der Kritik seitens des Trägers sowie der Justiz und der Öffentlichkeit aus. Als Hinweis auf eine ungünstige Legalprognose wird Entweichungen jedoch zumeist eine zu hohe Bedeutung beigemessen, zumal in den Fällen, in denen der Betroffene während der Entweichungszeit
keinerlei Straftaten begangen hat. Unmittelbar relevant sind Entweichungen jedoch für die Frage der Kooperationsfähigkeit bzw. -bereitschaft im Kontext des auf eine Entlassung folgenden Risikomanagements. Fehlt es an dieser Voraussetzung, was sich nicht nur durch Entweichungen, sondern z. B. auch durch Drogenkonsum während den Ausgängen zeigen kann, wird die Prognose ungünstig beeinflusst. Auch die Tatbearbeitung ist ein komplexer Ablauf, der sich individuell sehr unterschiedlich gestalten kann und prognostisch differenziert bewertet werden muss (Kröber 2010). Die reine Verbalisation von „Reue“ sagt wenig über die innere Auseinandersetzung mit dem Geschehenen aus. Ebenso ist die durchgehende Leugnung der Täterschaft für sich genommen nicht prognostisch ungünstig. Bei aus dem psychiatrischen Maßregelvollzug entlassenen Patienten haben sich die Einschätzungen ihrer „Deliktbearbeitung“ und der von ihnen gezeigten „Reue“ in der prospektiven Studie von Seifert (2007) als prognostisch nicht relevant erwiesen. Auf die fehlende Bedeutung einer Tatleugnung für das Wiederholungsrisiko von Sexualstraftätern wurde unter Verweis auf Hanson und Morton-Bourgon (2005) sowie Endres und Breuer (2014) bereits hingewiesen. Die Tatleugnung erschwert allerdings die Analyse der Hintergründe der Delinquenz und damit die Ausarbeitung einer tragfähigen Delikthypothese, was die Behandlungsplanung und Prognose verkompliziert. In der wissenschaftlichen Literatur zur Kriminalprognose wird immer wieder eine Reihe von Persönlichkeitsfaktoren beschrieben, die als Indikatoren für die Höhe der kriminellen Rückfallgefährdung angesehen werden. Besondere Bedeutung wird dabei u. a. folgenden Faktoren zugemessen (zusammenfassende Darstellung bei Menzies et al. 1985): Emotionalität, Empathievermögen, Fähigkeit zu Schuldgefühlen, Toleranz, Wandlungsmöglichkeit durch Erfahrung, Handlungskontrolle, (kriminelles) Selbstkonzept. Auf eine ungünstige Prognose weisen laut Rasch (1996) eine „hohe Störbarkeit, geringe Frustrationstoleranz, Depressivität, geringes Selbstwertgefühl, Impulsivität, Augenblicksverhaftung“ hin, ebenso ein hohes Suchtpotenzial, sofern die frühere Kriminalität auf die Sucht zurückzuführen war.
Merke Keine Persönlichkeitsauffälligkeit weist für sich genommen bereits auf eine günstige oder ungünstige Legalprognose hin. Jeder Einzelbefund ist kritisch daraufhin zu prüfen, welche tatsächliche Relevanz ihm für ein bestimmtes Verhalten zukommt. Dies gilt insbesondere auch für die im Maßregelvollzug untergebrachten schizophren erkrankten Straftäter. So lässt sich allein aus vorhandenen Residualsymptomen der Erkrankung i. d. R. allenfalls eine ungünstige Sozialprognose, nicht aber eine hohe kriminelle Rückfallgefährdung ableiten. Eine weiterbestehende paranoid-halluzinatorische Krankheitssymptomatik weist dagegen auf eine höhere Wiederholungsgefahr hin, wenn sich die früheren Delikte wesentlich aus einer entsprechenden Wahnthematik heraus entwickelt hatten. Im Hinblick auf Gewaltdelikte besonders gefährdet sind v. a. jüngere Patienten mit einem chronisch fixierten Wahnerleben, zumal wenn sie früher bereits eine Tendenz gezeigt haben, aus ihrem wahnhaften Erleben heraus „aktiv“ zu werden (Shore et al. 1988). Therapeutisch schwierig und prognostisch besonders bedenklich ist die bei schizophrenen Gewalttätern nicht selten anzutreffende Komorbidität mit einer dissozialen Persönlichkeitsentwicklung oder Suchterkrankung. Ein zusätzlicher Suchtmittelmissbrauch hat sich bei zwei Drittel der im Maßregelvollzug nach § 63 StGB untergebrachten schizophrenen Patienten finden lassen (Habermeyer et al. 2010b), wobei ein komorbider Substanz- bzw.
Alkoholmissbrauch ein bedeutsamer Prädiktor für Aggressivität und Gewaltdelinquenz bei Personen mit einer Schizophrenie ist (Fazel et al. 2009; Hachtel et al. 2018). Besonders problematisch erweist sich oft die prognostische Beurteilung von Sexualstraftätern. Hier hat sich empirisch eine Reihe von Faktoren ermitteln lassen, die zwar sämtlich einen statistisch signifikanten Zusammenhang mit der einschlägigen Rückfallgefahr haben, die aber jeweils für sich genommen über keine allzu hohe Aussagekraft verfügen (z. B. Alter, bisherige Delinquenz, Geschlecht des Opfers, Art und Ausprägungsgrad einer sexuellen Deviation, Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung; Übersicht bei Hanson und Bussière 1998). Da es sich dabei überwiegend um anamnestische oder zumindest relativ stabile Eigenschaften handelt, lässt sich eine Veränderung der Rückfallgefahr hiermit kaum feststellen. Hierzu sind vermehrt dynamische, veränderbare Faktoren zu untersuchen, z. B. Intimitätsdefizite, tolerante Einstellung gegenüber sexuellen Übergriffen, Mangel an emotionaler / sexueller Selbstregulation oder die Tendenz, Sexualität als Copingmechanismus einzusetzen (Hanson 2001). Wie eine Metaanalyse von van den Berg et al. (2018) nahelegt, ist der zusätzliche Beitrag, den veränderbare Merkmale über die statisch-biografischen Risikofaktoren hinaus zu einer Kriminalprognose für Sexualstraftäter beitragen, auf Stichproben (nicht Einzelfälle) bezogen, jedoch relativ gering. Versuche, mithilfe anderer testpsychologischer Untersuchungsverfahren als der o. g. Risikobeurteilungsverfahren Kriterien für eine kriminelle Rückfallgefährdung zu gewinnen, haben sich bislang als wenig erfolgversprechend erwiesen. Eine Hinzuziehung zusätzlicher testpsychologischer Verfahren empfiehlt sich insbesondere dann, wenn auf entsprechende Vorbefunde, z. B. aus dem Ermittlungsverfahren, der Eingangsdiagnostik in der Maßregeleinrichtung oder der psychologischen Diagnostik in der Zuweisungsanstalt, zurückgegriffen werden kann. Dies gibt die Möglichkeit, zu unterschiedlichen Zeitpunkten erhobene Querschnittsbefunde der Persönlichkeit vergleichbarer zu machen, sodass Änderungen in spezifischen, hinsichtlich der kriminellen Rückfallgefährdung bedeutsamen Persönlichkeitsbereichen besser erfasst werden können. Solche Unterschiede müssen nachfolgend jedoch in einen Gesamtzusammenhang gestellt und individuell bewertet werden.
Merke Es gibt kein testpsychologisches Verfahren, bei dem eine Verbesserung der Ergebnisse per se mit einer Verbesserung der Legalprognose gleichgesetzt werden kann. Entlassungsperspektive, sozialer Empfangsraum Da kriminelles Verhalten nicht allein durch persönlichkeitsgebundene Aspekte, sondern wesentlich auch von situativen Umgebungsfaktoren beeinflusst wird, ist die zukünftige Lebenssituation des Betroffenen in die Legalprognose einzubeziehen. Dabei geht es darum zu prüfen, ob und inwiefern sich zwischen den aktuellen Bedingungen und dem Empfangsraum kriminalprognostisch relevante Unterschiede ergeben (z. B. hinsichtlich der Betreuungsintensität oder der Möglichkeit, einen Substanzkonsum zu entdecken). Insbesondere ist zu fragen, ob sich die künftigen Lebenszusammenhänge von den früheren, in denen der Betroffene straffällig wurde, unterscheiden. Ein sehr bedeutsamer Aspekt ist dabei die Bereitschaft bzw. Fähigkeit des Klienten zur Mitwirkung an risikosenkenden bzw. kontrollierenden Maßnahmen. Betreffs der Entlassungsperspektive ist zu beachten, dass die gutachterlichen Ausführungen umso weniger Gültigkeit beanspruchen können, je weiter der zeitliche Abstand zum Gutachtenzeitpunkt ist. Die Möglichkeit, dass die Lebenssituation, die der Prognosebeurteilung
zugrunde gelegt wurde, von der tatsächlichen divergiert, wird mit zunehmendem Zeitabstand zur Begutachtung größer. Dies ist ein entscheidender Grund für die Abhängigkeit der Prognosesicherheit vom Prognosezeitraum. Allerdings macht dieser Aspekt eine sinnvolle Beurteilung der Prognose nicht unmöglich, denn man kann in vielen Fällen entsprechende Risikoszenarien skizzieren oder im Fallmanagement besonders zu beachtende Aspekte (z. B. Substanzkonsum, Trennung, Arbeitslosigkeit, Absetzen der Medikamente) benennen. Verfahren wie das HCR-20 sehen die Formulierung von Risikoszenarien explizit vor (Douglas et al. 2013). Dieses Vorgehen dürfte von juristischer Seite begrüßt werden, da Szenarien, wie das nachfolgende Fallbeispiel illustriert, nicht nur die Wahrscheinlichkeit, sondern auch die Art der zu erwartenden Rückfalldelinquenz (Boetticher et al. 2019) skizzieren.
Kasuistik Herr X. (58) ist wegen wiederholter pädosexueller Delikte im Maßregelvollzug untergebracht und wird zur Prognose begutachtet. In der standardisierten Erfassung mit dem aktuarischen Prognoseinstrument Static-99 erzielt er insgesamt 7 Punkte. Als Vergleichsstichprobe werden die Daten von 403 Sexualstraftätern aus Österreich herangezogen, für die Rückfälle wegen sexuell motivierter Delikte an Kindern in einem 5-Jahres-Zeitraum registriert worden waren (Eher und Haubner-MacLean 2013: 9). Weniger als 5 % (konkret: 3,2 %) der Vergleichsstichprobe wiesen höhere Punktwerte (≥ 8) als der Proband auf (7). Die bedingte Rückfallrate lag in der Vergleichsstichprobe für Personen mit 7 Punkten bei 33,3 %. Die Basisrate, ermittelt als allgemeine Rückfallrate in der betreffenden Stichprobe insgesamt, lag demgegenüber nur bei 6,9 %. Alternativ kann die nominale Einordnung von Static-99Kennwerten zugrunde gelegt werden, die Hanson et al. (2017) eingeführt haben (vgl. Eher et al. 2019b). Danach entspricht ein Static-99-Punktwert von 7 einem überdurchschnittlichen (Kategorie IVa) bis deutlich überdurchschnittlichen Rückfallrisiko (Kategorie IVb). Wenngleich aufgrund des bisherigen Therapieergebnisses mit einer Gesamtsumme von 8 Punkten im Stable-2007 ein moderates Bedürfnislevel nach weiterer Behandlung angezeigt wird, ergibt sich in Kombination mit dem Ergebnis des Static-99, der ein hohes biografisch begründbares Rückfallrisiko anzeigt, eine weiterhin hohe Dringlichkeit für eine Betreuung und Kontrolle (vgl. Eher et al. 2013). Allerdings zeigt sich in der Kombination aus Static-99 und Stable-2007 kein Hinweis auf einen sehr hohen Behandlungsbedarf. Im Unterschied zum Zeitpunkt der Einweisung 2010 kann als wesentlicher legalprognostisch relevanter Faktor die erfolgreiche Etablierung einer antiandrogenen Behandlung festgestellt werden. Diese konnte erfolgreich umgesetzt werden, d. h., die Testosteronspiegel liegen auf Kastrationsniveau. Im Verlauf der Unterbringung wurden auch die narzisstische Problematik bearbeitet und deliktpräventive Aspekte ausgebaut. Für die zukünftige Entwicklung des Probanden lassen sich drei Szenarien skizzieren: 1. Herr X. lebt zunächst in einer offen geführten Station bzw. später in einer betreuten Wohneinrichtung. Er geht einer geregelten Arbeit nach und setzt die antiandrogene Therapie fort. An der ärztlich-psychotherapeutischen Behandlung beteiligt er sich regelmäßig und verlässlich, nimmt Hilfestellungen an und akzeptiert die Kontrollvereinbarungen (Gespräche mit Kontaktpersonen, Laborkontrollen). Unter Gewährleistung dieser Voraussetzungen, die der Proband mittragen möchte, wäre das kurz- und mittelfristige Risiko, dass er weitere schwerwiegende Sexualdelikte begeht, gering. Der langfristige Verlauf wäre zu monitorieren. 2. In dieser Konstellation zeigt Herr X. eine anfängliche Phase der Euphorie. Mehrere Monate nach Beginn der Lockerungen, d. h. mittel- bis langfristig, entstehen jedoch vor
dem Hintergrund seiner narzisstischen Problematik durch unerfüllte Bedürfnisse nach Beziehung und Anerkennung bzw. eine für ihn unbefriedigende Gestaltung des Alltags oder eine fehlenden Tagesstruktur schwer zu bewältigende Belastungen. Vermehrte Frustrationen und Kränkungen führen zu dysfunktionalen Bewältigungsmechanismen, z. B. manipulativen Verhaltensweisen, und zu einer verminderten Bereitschaft und Motivation von Herrn X., sich an Auflagen und Weisungen zu halten. Entsprechende Hinweise erlebt Herr X. als Gängelung. Mit Zunahme der Selbstwertproblematik kommen zudem vermehrt seine asymmetrischen Beziehungsbedürfnisse zum Tragen, die nachfolgend zu Kontaktversuchen mit Kindern führen. Hinsichtlich sexueller Belästigungen ist daher von einem mittelgradigen bzw. bei fehlender Kontrolle auch langfristig hohen Risiko auszugehen. Unter Fortführung der antiandrogenen Behandlung ist jedoch auch in diesem Szenario mit einem geringen Risiko für schwere Sexualstraftaten mit Penetration der Opfer bzw. Vornahme sexueller Kontakthandlungen zu rechnen. 3. Herr X. setzt die Medikation ab, er entzieht sich im Verlauf der Behandlung, und er entzieht sich den Kontrollen der Bewährungshilfe. Unter diesen Bedingungen wäre mit sexuellen Übergriffen, insbesondere auch schwerwiegenden Kontaktstraftaten zu rechnen. Aus hiesiger Sicht ist kurz- und mittelfristig (d. h. innerhalb von 1 Jahr) Szenario 1, in der Langzeitperspektive jedoch Szenario 2 die wahrscheinlichste Variante, da die deliktrelevante narzisstische Problematik fortbesteht. Langfristig bedarf es daher weiterer Interventionen, um eine Rückfallfreiheit zu gewährleisten. Szenario 3 ist aufgrund der weitergeführten antiandrogenen Behandlung und des bisherigen deliktischen Verhaltens aktuell am wenigsten wahrscheinlich: Impulsive oder gewalttätige Verhaltensweisen aus dem Moment heraus sind nicht bekannt. Es besteht kein Substanzmissbrauch und die Medikamententreue bzw. Effektivität der Behandlung lässt sich über Laboruntersuchungen überprüfen. Für den zukünftigen Behandlungserfolg wird die Beachtung der narzisstischen Problematik und die Sicherstellung der antiandrogenen Medikation bedeutsam sein.
Wesentlich für die Stabilität des sozialen Empfangsraums sind die künftigen sozialen Kontakte des Betroffenen sowie seine Wohnbedingungen und Arbeitsmöglichkeiten. Die Relevanz dieser Kriterien kann jedoch im Einzelfall sehr unterschiedlich sein: So ist eine stabile familiäre Verankerung prognostisch günstig zu bewerten, sofern sich die Familie sozialen Normen verpflichtet fühlt. Demgegenüber eine dissoziale Familie den gegenteiligen Effekt haben (vgl. ➤ Tab. 30.1). Für schizophrene Patienten wiederum kann eine zu starke emotionale Zuwendung der Familie einen rückfallprovozierenden Charakter haben. Eine während der Haft oder Unterbringung aufgebaute Partnerschaft kann im Einzelfall einen stabilisierenden Einfluss haben. Ihre Bedeutung sollte aber nicht überschätzt werden, denn unter den Bedingungen des Freiheitsentzugs geschlossene Partnerschaften stehen oftmals erst nach der Entlassung vor einer Belastungsprobe, da der Freiheitsentzug eine tatsächliche Nähe und ein Miteinander unter Alltagsbedingungen verhindert. Von einigen Untergebrachten bzw. Strafgefangenen wird eine solche Partnerschaft auch aus rein rationalen Erwägungen gesucht, um ein „günstiges“ Prognosekriterium aufweisen zu können. Auch das Vorliegen einer Arbeitsstelle nach der Entlassung ist als Kriterium der Legalprognose nur mit Einschränkungen verwendbar. Eine Analyse der Rückfallbedingungen bei erneut in den Maßregelvollzug aufgenommenen Straftätern zeigte im Anschluss an die
frühere Entlassung eine Arbeitslosenquote von zunächst nur 14 %, die im weiteren Verlauf jedoch erheblich zunahm (Schlößer 1990). Bedeutsamer als das Vorliegen eines konkreten Arbeitsplatzes zum Entlassungszeitpunkt scheint die Fähigkeit des Betroffenen zu sein, eine berufliche Tätigkeit über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten bzw. die durch Arbeitslosigkeit bedingten Probleme der Tagesstrukturierung zu kompensieren. Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die Möglichkeiten, durch gezielte therapeutische Maßnahmen die Prognose zu stabilisieren bzw. gar aktiv günstig beeinflussen zu können. Deshalb ist über die Risikobestimmung hinaus Aufmerksamkeit auf das Risikomanagement zu legen. Hierzu gehört neben der Vermittlung individuell adäquater Wohn- und beruflicher bzw. tagesstrukturierender Möglichkeiten die Nachsorge durch entsprechende Fachambulanzen (Seifert et al. 2003; Butz 2016). Die Gültigkeit der von Seifert (2007) und Butz (2016) untersuchten Prognosekriterien war letztlich auch durch die Qualität der ambulanten Nachbetreuung begrenzt.
30.7. Integrative Kriminalprognose Die entscheidende Basis der sachgerechten Prognose und Risikokommunikation ist das Verständnis für die Ursachen der Gewalttätigkeit in der Vergangenheit (warum hat sich die Person dazu entschlossen, gewalttätig zu handeln) und eine Festlegung dazu, ob diese oder andere Gründe die Person in der Zukunft zu weiteren Gewalthandlungen (genauer: ähnlichen Entscheidungen) motivieren können. Die Rechtsprechung des BGH verlangt die begleitende Erörterung von Ergebnissen strukturierter oder aktuarischer Risikobeurteilungsverfahren hinsichtlich Besonderheiten des Einzelfalls. Aus Sicht der Verfasser sollte der Sachverständige dabei allerdings bedenken, dass – wie in ➤ Kap. 30.5.2 dargestellt – verschiedene Studien nahelegen, dass eine Ersetzung der statistischen Resultate durch die klinische Einschätzung die Treffsicherheit der Prognose tendenziell schmälert (Hanson und Morton-Bourgon 2009; Storey et al. 2012; Wormith et al. 2012). Eine praktikable Vorgehensweise zur Gegenüberstellung und vergleichenden Bewertung statistisch fundierter und individueller Aspekte stellt die von Dahle (2010) vorgeschlagene integrative Methodik der Kriminalprognose dar (➤ Abb. 30.4 und ➤ Abb. 30.5). Dabei dient die statistisch-nomothetische Prognose, die auf den Ergebnissen solcher Prognoseinstrumente basiert, als wichtiger Input, der mit der idiografischen, d. h. der klinisch-postdeliktischen und im Gespräch erörterten Entwicklung abzugleichen ist. Ergeben sich Diskrepanzen, so sind diese klärungsbedürftig, wobei Dahle nicht vorschreibt, welchem der beiden Aspekte dann Vorrang gebührt. Schließlich können im Fall einer schweren körperlichen Erkrankung zweifelsohne klinisch-idiografische Aspekte gegenüber einem fortdauernden statistischen Risikoprofil dominieren, während ein unauffälliger Befund und eine positive Entwicklung während der Maßregel keinesfalls zwingend alle statistischen Risiken ausräumen können. Es sind Hypothesen zur Genese solcher Widersprüche zu entwickeln und mögliche Konsequenzen für das individuelle Rückfallrisiko bzw. die Aussagekraft des Gutachtens zu benennen.
Abb. 30.4 Beurteilungsschritte einer integrativen Kriminalprognose I (Dahle 2010: 215) [L231, E169–003]
Abb. 30.5 Beurteilungsschritte einer integrativen Kriminalprognose II (mod. Abdruck nach Dahle 2010: 217) [L231, E169–003] Auch wenn in ➤ Abb. 30.5 keine Rückkopplungsschleife von den möglichen Diskrepanzen zum Ergebnis der nomothetischen Prognose zurückführt (vgl. ➤ Kap. 30.5.2 zur Problematik einer Anpassung aktuarischer Kennwerte), ist dennoch immer mit zu bedenken, ob die verwendeten aktuarischen Verfahren hinsichtlich ihrer Indikation und Normierung für den Einzelfall angemessen sind. Eine empirische Studie von Dahle und Lehmann (2018) verweist auf die Überlegenheit einer integrativen nomothetisch-idiografischen Vorgehensweise, und zwar anhand des Vergleichs mit der Aussagekraft einzelner Kriminalprognoseinstrumente in einer Stichprobe von 221 ehemaligen Strafgefangenen mit Gewalt- und Sexualstraftaten in der Vorgeschichte.
30.8. Risikokommunikation Bei der Kriminalprognose geht es nicht (nur) um eine Aussage zur Eintrittswahrscheinlichkeit eines Ereignisses, sondern auch um die Möglichkeiten, diese zu vermindern bzw. betreffs nachteiliger Folgen abzuschwächen. Dabei kann die Weitergabe von Risikobeurteilungen an den juristischen Adressaten nominell (anhand begrifflicher Kategorien wie „niedrig“, „mittelgradig“, „hoch“) oder numerisch erfolgen (z. B. prozentual, über Wettquotienten [Syn.: Chancen, engl. „Odds“] oder als Wahrscheinlichkeiten im Intervall von 0 bis 1). Ein Problem bei der nominellen Risikokommunikation ist, dass Sender und Empfänger die Begriffe unterschiedlich interpretieren (Rettenberger et al. 2017a); darüber hinaus divergieren aber auch verschiedene Prognoseinstrumente darin, was als geringes, mittleres oder hohes Risiko zu verstehen sei (Singh et al. 2014; vgl. ➤ Kap. 30.5.2). Ein möglicher Lösungsvorschlag besteht darin, eine nominelle Einteilung im Sinne des relativen Risikos („gering“, „durchschnittlich bzw. mittelgradig“ oder „hoch“) vorzunehmen, die sich grundsätzlich in Relation zur Basisrate ergibt (zu Details s. ➤ Kap. 30.5.2). Ferner sollten die zugrunde gelegten Vergleichsstichproben (für
Basisraten bzw. Instrumente) und der Zeitraum genannt werden, auf den sich die Vergleichsdaten beziehen (konkret: das Katamneseintervall). Weiterhin ist die sorgfältig ausgearbeitete Delikthypothese und somit das Verständnis für die Ursachen der Gewalttätigkeit in der Vergangenheit für die Risikokommunikation relevant. Erforderlich sind Festlegungen dazu, ob bislang deliktrelevante Faktoren fortbestehen oder andere Gründe die Person in der Zukunft zu weiteren Gewalthandlungen motivieren können. Die Analyse des Behandlungsverlaufs bzw. der Entwicklung während der Haft ermöglicht Aussagen zu Veränderungsprozessen und dazu, ob und wie diese zukünftig unter welchen Rahmenbedingen ausgebaut werden können oder gefährdet sind. Wann bzw. unter welchen Bedingungen ein Risiko so hoch ist, dass es nicht mehr tolerabel ist, kann jedoch nur normativ bestimmt werden.
Merke Aufgrund der hohen Wertigkeit des Risikomanagements bzw. der Nachsorgeangebote (Butz 2016) können Entlassungsprognosen im Maßregelvollzug nicht in „absoluter“ Form erfolgen, sondern entsprechen eher einer „Wenn-dann“-Aussage. Die Rahmenbedingungen, die für eine günstige Legalprognose gegeben sein müssen, sind in der gutachterlichen Beurteilung deutlich zu machen. Dabei geht es auch um die bestehenden oder fehlenden Möglichkeiten, die Beibehaltung dieser Bedingungen, etwa im Rahmen der Führungsaufsicht, zu sichern. In diesem Zusammenhang sind folgende Fragen relevant: • Ist das individuelle Rückfallrisiko modifizierbar? • Wenn ja, wie? Behandlung und / oder stützende, kontrollierende Rahmenbedingungen? • Kann man entdecken, wenn eine risikorelevante Krise auftritt? Wenn ja, wie? • Gibt es Möglichkeiten der Krisenintervention? Wenn ja, wie und wo? Es empfiehlt sich dabei, in Szenarien zu denken und das Risiko unter bestimmten Bedingungen zu skizzieren: Verschiedene Empfangsräume bedingen nämlich nicht nur verschiedene Risiken, sondern auch unterschiedliche Reaktionsmöglichkeiten. So ist z. B. das langfristig zu erwartende Gewaltrisiko eines effektiv behandelten Patienten mit Schizophrenie 1. bei eigenständigem Wohnen, fehlender Medikamentencompliance und Substanzkonsum anders zu beurteilen als 2. bei eigenständigem Wohnen, stabiler Medikation, Substanzkonsum oder 3. bei eigenständigem Wohnen, Depotmedikation und Substanzabstinenz. Für die Entwicklung entsprechender Szenarien bieten sich die strukturierten Risikoprognoseinstrumente (etwa des HCR-20, Version 3) an. Anhand der Items können die Spezifika des Einzelfalls im Hinblick auf die verschiedenen empirisch als bedeutsam belegten Risikofaktoren für Gewaltdelinquenz diskutiert werden.
30.9. Fehlerquellen Eine Untersuchung von 43 Fällen, in denen nach einer zuvor als günstig eingeschätzten Kriminalprognose ein Tötungsdelikt begangen wurde, ließ rückblickend die folgenden wesentlichen Fehlerquellen erkennen (Pierschke 2001):
• Eine mangelnde Beachtung des Ursprungsdelikts, dem zuweilen in der prognostischen Beurteilung keine oder eine falsche Bedeutung beigemessen wurde. • Die unreflektierte Rückführung des Ursprungsdelikts auf eine spezifische lebensphasische Problematik; dies betraf zum einen Jugendliche und Heranwachsende, deren sexuell gewalttätiges und destruktives Verhalten fälschlich als passager und „entwicklungsbedingt“ gedeutet worden war, zum anderen war das gewalttätige Verhalten Erwachsener als Ausdruck einer einmaligen und unwiederholbaren Lebenskrise verkannt worden. • Die ausschließliche Ausrichtung der Prognose an der Bearbeitung eines tatsächlichen oder vermeintlichen psychodynamischen Hintergrunds der früheren Delinquenz (z. B. „Mutterproblematik“, „selbst erlebter Missbrauch“). • Die Überbewertung eines anstaltskonformen Vollzugsverhaltens. Die in den letzten Jahren vermehrte wissenschaftliche Beschäftigung mit Prognosebeurteilungen (z. B. Wertz und Kury 2018) sowie die intensivierte Fortbildung der Gutachter lassen annehmen, dass zumindest die Reduktion der Prognoseeinschätzung auf ein möglichst angepasstes, unauffälliges Verhalten im Straf- oder Maßregelvollzug als potenzielle Fehlerquelle an Bedeutung verloren hat. Mögliche Fallstricke ergeben sich jedoch im Bereich der Informationsgewinnung und bewertung. Eine recht häufige, obschon einfach zu vermeidende Fehlerquelle stellt die mangelnde Sorgfalt bei der Aktenanalyse und Anamneseerhebung dar. Für die Prognose ist der Abgleich der vom Probanden berichteten Vorgeschichte mit den in schriftlichen Unterlagen (Urteil, Vorgutachten, Ermittlungsakte, Vorstrafenakten) nachzulesenden Informationen von hoher Bedeutung. Dieser ist nur möglich, wenn die entsprechenden Unterlagen sorgfältig studiert und die zentralen Punkte in der Anamnese auch thematisiert wurden. Dabei gilt es auch auffallende Ungereimtheiten oder gar Widersprüche anzusprechen, um die Kritikfähigkeit, aber auch die Reflexionsbereitschaft des Probanden prüfen zu können. Fehlende Kenntnisse über die – auch kriminologischen – Risikofaktoren der Rückfälligkeit führen nicht nur zu einer Unter- bzw. Überschätzung des Risikos. Sie haben auch Auswirkungen auf die Untersuchung, denn sie verhindern, dass für die Gefährlichkeitsprognose wesentliche Aspekte vollständig erfragt bzw. abgeklärt werden. Fehlerhafte Beurteilungsgrundlagen können auch dadurch entstehen, dass zwar standardisierte Prognoseinstrumente mit einem Manual zur Erläuterung von Vorgehen, Items und Auswertung benutzt werden, der Gutachter jedoch mangels entsprechender Fortbildung oder Sorgfalt eine eher eigenwillige Bewertung der Items vornimmt. Aber auch bei korrekter Ermittlung und Zuordnung der Items kann ein unsachgemäßer Umgang mit statistischen Prognoseinstrumenten zu einer fehlerhaften Einschätzung der tatsächlichen Rückfallgefahr führen, wenn Prognoseinstrumente genutzt werden, die für die vorliegende Fallkonstellation gänzlich ungeeignet sind. Die von Boetticher et al. (2009) monierte unkritische Orientierung an Prognoseinstrumenten stellt jedoch nicht das vordringliche Problem der Begutachtung dar. Vielmehr zeigt die Auswertung kriminalprognostischer Gutachten, dass die empirischen Befunde, auf denen die Entwicklung von Prognoseinstrumenten basiert, zu wenig zur Kenntnis genommen werden. In Gutachten finden sich immer wieder überraschend wenige Pro- oder Kontraargumente für weiterbestehende Risiken, die sich an anerkannten Risikovariablen für Rückfalldelinquenz orientieren (Habermeyer et al. 2008). Viele Gutachter scheinen nach wie vor eher intuitiv vorzugehen und vernachlässigen dabei nicht nur empirische Risikofaktoren, sondern auch die Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit des Exploranden und insbesondere mit seiner Motivation zu delinquieren. Außerdem fehlt oftmals eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit
der postdeliktischen Entwicklung oder vorhandenen Ressourcen. Vor diesem Hintergrund erschöpfen sich kriminalprognostische Aussagen vielfach in der Aufzählung wiederholter Vergehen. Gutachter offenbaren dadurch nicht nur eine Unkenntnis der Entwicklungen der letzten Jahre und Jahrzehnte, sondern auch eine mangelnde Bereitschaft, auf die psychopathologischen Ausgangsbedingungen des Einzelfalls einzugehen.
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Gerade im juristischen Schrifttum wird konträr oftmals die Erwartung der Legalbewährung als „negative Prognose“ bezeichnet, so etwa auch in den „Empfehlungen zu Prognosegutachten“ (Boetticher et al. 2019: 567). Um Missverständnisse zu vermeiden empfiehlt es sich daher für psychiatrische Sachverständige, im Gutachten kurz darzulegen, was mit positiver und negativer Prognose im medizinischen Sinne gemeint ist. 2
Angenommen, ein Test erkennt 50 % der später Rückfälligen korrekt als rückfallgefährdet (Sensitivität: 50 %) und 90 % der später Gesetzestreuen korrekt als nicht rückfallgefährdet (Spezifität: 90 %). Beträgt die Basisrate für Rückfalldelinquenz 10 %, sind etwa 36 % aller positiven Fälle (die als rückfallgefährdet eingeschätzt wurden) solche, die später auch rückfällig werden (richtig positiv). Liegt die Basisrate für Rückfalldelinquenz hingegen nur bei 1 %, beträgt der Anteil der richtig positiven an allen positiven Fällen nur ca. 5 %; die überwiegende Mehrheit (95 %) der als positiv (rückfallgefährdet) eingeschätzten Fälle würden sich als gesetzestreu erweisen (falsch positiv). 3
Man beachte, dass die Einheit für LR+ und LR- nicht Wahrscheinlichkeiten, sondern Chancen (engl.: „odds“) sind. So entspricht die Chance für eine 10-prozentige Wahrscheinlichkeit dem Wert 1/9 (oder 1 zu 9), denn .10/(1-10) = 1/9 (oder .11). Die Verdoppelung dieser Chance beträgt dann 2/9 (oder 2 zu 9 bzw. .22), was wiederum einer Wahrscheinlichkeit von (2/9)/(1 + 2/9) = .18 (bzw. 18 %) entspricht. 4
18 % entspricht einer Chance von 18 zu 82 (bzw. .22). Eine Halbierung auf 9 zu 82 (bzw. .11) wiederum entspricht einer Wahrscheinlichkeit von 10 %: (9/82)/(1 + 9/82).
IV
Zivilrecht Kapitel 31: Juristische Grundlagen Kapitel 32: Begutachtung bei zivilrechtlichen Fragen Kapitel 33: Begutachtung im Rahmen privater Versicherungen
KAPITEL 31
Juristische Grundlagen Jochen Taupitz1
31.1 Das psychiatrische Gutachten 31.1.1 Die Bedeutung des psychiatrischen Gutachtens in der zivilrechtlichen Praxis 31.1.2 Das Beweisthema 31.1.3 Formen der psychiatrischen Begutachtung 31.2 Der Psychiater als gerichtlicher Sachverständiger 31.2.1 Sachverständiger und Zeuge als unterschiedliche Beweismittel 31.2.2 Stellung des gerichtlichen Sachverständigen 31.2.3 Auswahl und Qualifikation des gerichtlichen Sachverständigen und des Ausstellers eines ärztlichen Zeugnisses 31.2.4 Ablehnung des Sachverständigen 31.3 Pflichten des Sachverständigen 31.3.1 Pflicht zur Übernahme von Begutachtungen 31.3.2 Vereidigung und Neutralitätspflicht 31.3.3 Pflichten im Vorfeld der Gutachtenerstellung 31.3.4 Abfassen des Gutachtens
31.3.5 Eigenverantwortliche Erstellung des Gutachtens 31.3.6 Weitere Pflichten 31.3.7 Pflichten bei Ausstellung eines ärztlichen Zeugnisses 31.4 Betreuung 31.4.1 Begriff und Bedeutung der Betreuung 31.4.2 Voraussetzungen der Betreuung 31.4.3 Aufgabenkreise eines Betreuers 31.4.4 Person des Betreuers 31.4.5 Wirkungen und Ausübung der Betreuung 31.4.6 Einwilligungsvorbehalt 31.4.7 Dauer der Betreuung 31.5 Betreuungsverfahrensrecht 31.5.1 Verfahrenseinleitung 31.5.2 Verfahrensfähigkeit des Betroffenen und Bestellung eines Verfahrenspflegers 31.5.3 Beschaffung der Entscheidungsgrundlagen durch das Gericht 31.5.4 Inhalt der Entscheidung des Gerichts 31.5.5 Einstweilige Anordnungen 31.6 Besondere Fälle des Betreuungsrechts 31.6.1 Einwilligung in die Verletzung persönlichkeitsbezogener Güter, insbesondere bei medizinischen Maßnahmen 31.6.2 Sterilisation 31.6.3 Unterbringung 31.6.4 Ärztliche Zwangsbehandlung 31.6.5 Wohnungsauflösung 31.7 Geschäftsfähigkeit 31.7.1 Grundlagen 31.7.2 Geschäftsunfähigkeit wegen psychischer Störungen
31.7.3 Vorübergehende Störung der Geistestätigkeit 31.8 Prozessfähigkeit 31.8.1 Grundlagen 31.8.2 Prozess(un)fähigkeit bei Betreuung 31.9 Testierfähigkeit 31.9.1 Grundlagen 31.9.2 Testierunfähigkeit 31.9.3 Beweisrecht 31.9.4 Aufgaben eines Notars in Bezug auf die Testierfähigkeit 31.10 Eherecht 31.10.1 Ehefähigkeit 31.10.2 Nacheheliche Unterhaltsansprüche bei psychischer Krankheit 31.11 Schadensersatzrecht 31.11.1 Ansatzpunkte für die psychiatrische Begutachtung 31.11.2 Zurechnungsfähigkeit 31.11.3 Schadensersatz für „psychische Schäden“
31.1. Das psychiatrische Gutachten 31.1.1. Die Bedeutung des psychiatrischen Gutachtens in der zivilrechtlichen Praxis Ist eine Person aufgrund psychischer Störungen in ihrer Fähigkeit zu eigenverantwortlichem Handeln beschränkt, kann das
weitreichende zivilrechtliche Konsequenzen für sie und ihre Umwelt haben: • Stellt das Gericht die Geschäftsunfähigkeit zur Zeit der Vornahme eines Rechtsgeschäftes fest, also z. B. bei der Übereignung eines Hauses oder der Aufnahme eines Darlehens, ist dieses Rechtsgeschäft nichtig mit der Folge, dass seine Wirkungen rückgängig gemacht werden können. • Kommt das Gericht zu der Überzeugung, dass der Erblasser im Zeitpunkt der Abfassung des Testaments testierunfähig war, entfaltet das Testament keine Wirkung mit der Folge, dass u. U. jemand anderes Erbe wird. • Hat ein Arzt einen körperlichen Eingriff bei einem Patienten durchgeführt und war der Patient zum Zeitpunkt des Eingriffs einwilligungsunfähig, konnte der Patient nicht wirksam in den Eingriff einwilligen, sodass der Arzt, sofern nicht ein anderer Rechtfertigungsgrund vorliegt, eine rechtswidrige Körperverletzung begangen hat. • Wird jemand als deliktsunfähig angesehen, ist er für einen Schaden, den er bei einem anderen angerichtet hat, nicht verantwortlich; der Geschädigte bleibt dann i. d. R. auf seinen Kosten sitzen. • Im Betreuungsverfahren schließlich führt die Feststellung, dass eine Person ihre Angelegenheiten nicht mehr selbst besorgen kann, zur Bestellung eines rechtlichen Betreuers, der für den Betreuten wirksam Erklärungen abgeben kann. In all diesen und weiteren Fällen ist die Feststellung psychischer Störungen und ihrer Auswirkungen auf das eigenverantwortliche Handeln einer Person entscheidungserheblich. Da einem Gericht i. d. R. die fachliche Kompetenz fehlt, Vorhandensein und Ausmaß einer psychischen Störung zu beurteilen, hat es nach pflichtgemäßem Ermessen ein psychiatrisches Gutachten einzuholen (§§ 144 I, 404 I ZPO). In betreuungsrechtlichen Angelegenheiten ist das Gericht dazu gem. § 280 I FamFG i. d. R. sogar gesetzlich verpflichtet.
Gegenstand eines psychiatrischen (Ulrich 2007, Rn. 5 ff.):
Gutachtens
sind
i. d. R.
• Feststellungen von Tatsachen, z. B. ob beim Betroffenen eine psychische Krankheit vorliegt, mit welchen Medikamenten oder operativen Eingriffen Heilung oder Linderung verschafft werden könnte etc. • Mitteilungen von Erfahrungssätzen, z. B. über die Prognose des Krankheitsverlaufs • Schlussfolgerungen, die aus den Tatsachen und Erfahrungssätzen zu ziehen sind, z. B. darüber, welche seiner Angelegenheiten der Betroffene noch selbst wahrnehmen kann Beweiskraft des gerichtlich eingeholten Gutachtens Die Einholung des psychiatrischen Gutachtens erfolgt i. d. R. im Rahmen der Beweisaufnahme des Gerichts. Das Gutachten ist also, wie der Zeugenbeweis oder die Augenscheinnahme, ein Beweismittel. Es dient dem Gericht dazu, sich vom Vorliegen oder Nichtvorliegen bestimmter Tatsachen zu überzeugen, indem es ihm das erforderliche Fachwissen zur Beurteilung der Tatsachenlage vermittelt (BGH NJW 1993, 1796, so auch BGH, Urt. v. 9.6.2016 – IX ZR 153 / 15). Aus den mithilfe des Gutachtens festgestellten Tatsachen zieht das Gericht sodann die juristischen Schlussfolgerungen. So hat der Sachverständige z. B. in seinem Gutachten zu beurteilen, ob eine Person psychische Störungen aufweist und inwiefern sie deshalb nicht mehr in der Lage ist, ihre Angelegenheiten selbstständig zu regeln. Unterstützt durch die Einschätzung des Sachverständigen entscheidet das Gericht sodann über die Notwendigkeit einer rechtlichen Betreuung und den Aufgabenkreis des Betreuers. Genauso ist es das Gericht, das letztlich beurteilt, ob eine Person geschäfts-, prozess- oder testierunfähig war oder ist. Das Gutachten trägt lediglich zur Feststellung der tatsächlichen Voraussetzungen dieser gesetzlichen Merkmale bei.
Als Beweismittel unterliegt das Gutachten der freien Beweiswürdigung des Gerichts. Das Gericht ist also nicht an die Ergebnisse des Gutachtens gebunden. Kommt der Sachverständige z. B. zu dem Ergebnis, dass die freie Willensbestimmung eines Erblassers bei Testamentserrichtung wegen psychischer Störungen ausgeschlossen war, kann das Gericht, wenn es davon nicht überzeugt ist, gleichwohl Testierfähigkeit annehmen. Möglich ist dies allerdings nur, wenn das Gericht ein Abweichen von den Ergebnissen des Gutachtens im Einzelnen begründen kann und dabei deutlich macht, dass seine abweichende Einschätzung nicht von mangelnder Sachkunde beeinflusst ist (BGH NJW 1989, 2948; zu den Anforderungen OLG Nürnberg, Beschl. v. 1.12.2010–1 St OLG Ss 234 / 10). Dies wird dem Gericht wegen fehlender fachspezifischer Kenntnisse bei der Einschätzung des Vorliegens einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung wohl kaum möglich sein, ist dagegen denkbar z. B. im Hinblick auf die Notwendigkeit einer rechtlichen Betreuung. Hat das Gericht Zweifel hinsichtlich der Richtigkeit der Feststellungen eines Gutachtens, aber auch nicht genügend eigene Sachkunde, um zu einer abschließenden anderen Überzeugung zu gelangen, muss es ein weiteres Gutachten einholen (BayObLG FamRZ 1998, 921; Jurgeleit / Bučić 2018, § 280 FamFG Rn. 23). Das Gericht muss zudem den Parteien Gelegenheit geben, zu dem Gutachten Stellung zu nehmen. Kritik der Parteien am Gutachten muss es zum Anlass nehmen, sich mit dem Gutachten auseinanderzusetzen. Wenn das Gericht nicht über entsprechende eigene Sachkunde verfügt, ist der Sachverständige aufzufordern, zu der Kritik Stellung zu nehmen. Privatgutachten Andere Bedeutung kommt dagegen dem von einer Partei vorgelegten Privatgutachten zu. Es stellt keinen Sachverständigenbeweis, sondern lediglich einen urkundlich belegten Parteivortrag dar (BGH NJW 1993, 2382; nach Ansicht des BGH wird das Parteigutachten allerdings durch Zustimmung der
anderen Partei zum Sachverständigenbeweis). Das Privatgutachten erbringt lediglich den Beweis, dass sich der beauftragte Sachverständige in dieser Weise geäußert hat. Über die Richtigkeit des Inhalts sagt es nichts aus. Gleichwohl muss sich das Gericht sorgfältig mit dem Gutachten auseinandersetzen (BGH VersR 1993, 899). Dies gilt erst recht, wenn der Privatgutachter zu anderen Erkenntnissen kommt als der gerichtlich bestellte Sachverständige. Zweit- / Obergutachten Reicht das Gutachten zur Überzeugung des Gerichts nicht aus, kann das Gericht das Erscheinen des Gutachters zur Erläuterung anordnen. Bleibt die mündliche Erläuterung erfolglos bzw. erscheint sie nicht erfolgversprechend, kann das Gericht ein weiteres Gutachten (Zweitgutachten) in Auftrag geben. Ein derartiges Zweitgutachten kommt vor allem dann in Betracht, wenn das Gericht das erste Gutachten für ungenügend erachtet (§ 412 I ZPO). § 244 IV S. 2 StPO gibt zu erkennen, wann ein Gutachten für ungenügend zu erachten ist. Danach kann ein Beweisantrag auf Anhörung eines weiteren Sachverständigen nicht abgelehnt werden, wenn • die Sachkunde des früheren Gutachters zweifelhaft ist, • sein Gutachten von unzutreffenden falschen Voraussetzungen ausgeht, • das Gutachten Widersprüche enthält, • der neue Sachverständige über Forschungsmittel verfügt, die denen eines früheren Gutachters überlegen erscheinen. Im Zivilprozess gelten die gleichen Grundsätze (Zöller / Greger 2018, § 412 ZPO Rn. 1, 2), wobei hier als Grund für ein Zweitgutachten auch in Betracht kommt, dass sich die Anschlusstatsachen (Tatsachen, auf denen das Gutachten aufbaut) durch neuen Sachvortrag der Parteien geändert haben können. Den Begriff des Obergutachtens kennt das Gesetz dagegen nicht. Ein Obergutachten (dazu Ulrich 2007, Rn. 663) kommt begrifflich nur dann in Betracht, wenn mindestens zwei Gutachten voneinander
abweichen und ein drittes Gutachten in Auftrag gegeben werden soll. Die Beauftragung eines dritten Gutachtens ist aber keineswegs zwingend. Der Richter kann sich auch in freier Beweiswürdigung einem der vorliegenden Gutachten (auch einem Privatgutachten) anschließen, wenn er dieses Gutachten für vollständig und überzeugend hält (BGH VersR 1980, 533; Ulrich 2007, Rn. 664). Schließt sich der Richter einem der Gutachten an, hat er dies zu begründen. Bei Einholung eines Obergutachtens wird das Gericht nicht von der Verpflichtung frei, sich mit den verschiedenen anderen Gutachten auseinanderzusetzen (BGH VersR 1980, 533). Eine ausschließliche Berücksichtigung des Obergutachtens verletzt den Grundsatz der freien Beweiswürdigung. Das Obergutachten nimmt damit keine den Streit zwischen den vorliegenden Gutachten entscheidende Position ein. Es kann lediglich versuchen, den Streit genauer darzulegen, und eine Bewertung der unterschiedlichen Ansichten vornehmen. Lässt sich eine Klärung nicht herbeiführen, entscheidet die Beweislast (➤ Kap. 31.3.4).
31.1.2. Das Beweisthema Merke Der Beweisbeschluss enthält die Bezeichnung der streitigen Tatsachen, über die Beweis zu erheben ist (§ 359 Nr. 1 ZPO). Im Beweisbeschluss, aus dem sich zugleich der Gutachtenauftrag an den Sachverständigen ergibt, legt das erkennende Gericht das Beweisthema, also die zu begutachtende Fragestellung, fest (§ 359 Nr. 1 ZPO). Diese kann je nach Thema eine ganze Reihe von Einzelfragen umfassen. Da das Gericht zur Leitung und Weisung des Sachverständigen verpflichtet ist (§ 404a I ZPO), sollte es die gesetzlich vorgeschriebenen bzw. notwendigen einzelnen Beweispunkte ausdrücklich im Beweisbeschluss aufführen und
sich z. B. nicht darauf beschränken, schlicht die Begutachtung der „Geschäftsfähigkeit“ oder der „Notwendigkeit der Betreuung“ anzuordnen. So sollte das Gericht z. B. im Betreuungsverfahren im Beweisbeschluss bspw. angeben, welche Gesichtspunkte unter „Notwendigkeit der Betreuung“ bei Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu verstehen sind. Der Sachverständige darf nicht eigenmächtig von der Aufgabenstellung des Beweisbeschlusses abweichen. Er muss vielmehr eine Klärung durch das Gericht herbeiführen, wenn er Unklarheiten oder Widersprüche im Beweisbeschluss feststellt oder den Umfang der Beauftragung für unzureichend hält (§ 407a IV 1 ZPO). Die Aufklärungspflicht gilt insbesondere auch, wenn der Sachverständige beim Aktenstudium feststellt, dass dem Gutachten zwischen den Parteien umstrittene Tatsachen zugrunde liegen oder der Sachverhalt aus den Akten nicht hinreichend erkennbar ist. Ist also z. B. nicht eindeutig, wann eine Person, deren Testierfähigkeit zu begutachten ist, das umstrittene Testament erstellt hat, ist es allein Aufgabe des Gerichts, diesen Zeitpunkt zu bestimmen; ggf. muss es einen alternativen Gutachtenauftrag erteilen (Zöller / Greger 2018, § 404a ZPO Rn. 4). Etwas anderes bzgl. der Bestimmung der zugrunde zu legenden Tatsachen gilt jedoch, wenn schon deren Feststellung die Fachkunde des Sachverständigen erfordert (BGH NJW 1962, 1770; Zöller / Greger 2018, § 404a ZPO Rn. 5). In diesen Fällen wird oder ist der Sachverständige ermächtigt, den Sachverhalt insofern selbst zu explorieren (§ 404a IV ZPO, § 280 II FamFG). So hat der psychiatrische Sachverständige die betroffene Person regelmäßig persönlich zu untersuchen und zu befragen und Kontakt zu ihr nahestehenden Personen aufzunehmen (Keidel et al. / Budde 2017, § 280 FamFG Rn. 16). Wie die bisherigen Ausführungen erkennen lassen, wird der psychiatrische Sachverständige in zivilrechtlichen Verfahren insbesondere zu Rate gezogen, wenn bestimmte rechtliche Fähigkeiten einer Person infrage stehen. Die wichtigsten Themengebiete sind Gegenstand der folgenden Darstellung.
Sorgerechtliche Angelegenheiten finden dagegen in ➤ Kap. 37 (Familienrecht) Berücksichtigung.
31.1.3. Formen der psychiatrischen Begutachtung Die psychiatrische Begutachtung erfolgt grundsätzlich (d. h. vorbehaltlich besonderer Ausnahmefälle) in der Form eines ausführlichen Sachverständigengutachtens. In betreuungs- und unterbringungsrechtlichen Verfahren ist allerdings in einigen Ausnahmefällen die Einholung eines ärztlichen Zeugnisses ausreichend (zu den unterschiedlichen Anforderungen im Einzelnen ➤ Kap. 31.2.3 und ➤ Kap. 31.3.7). Ein ärztliches Zeugnis genügt z. B. in Fällen des vorläufigen Rechtsschutzes (Eilverfahren, s. § 300 I S. 1 Nr. 2 und § 331 S. 1 Nr. 2 FamFG) oder – unter gewissen Voraussetzungen – wenn der Betroffene eine Betreuung selbst beantragt hat (§ 281 I Nr. 1 FamFG). Als dritte Form der psychiatrischen Begutachtung sieht das Gesetz die bloße Anhörung des Sachverständigen vor; sie genügt, wenn die vorläufige Anordnung der Betreuung oder eines Einwilligungsvorbehalts über den Zeitraum von 6 Monaten hinaus verlängert werden soll (§ 302 FamFG).
31.2. Der Psychiater als gerichtlicher Sachverständiger Auftraggeber eines Sachverständigen kann jeder sein; insbesondere können Privatpersonen Privatgutachten in Auftrag geben, deren Ergebnis sie inhaltlich im Verfahren als Bestandteil ihres Parteivortrags einbringen können (➤ Kap. 31.1.1). Die Bestellung eines gerichtlichen Sachverständigen (dazu die folgenden Ausführungen) erfolgt nach § 404 I ZPO durch das zur Entscheidung berufene Gericht.
31.2.1. Sachverständiger und Zeuge als unterschiedliche Beweismittel Der Psychiater hat innerhalb des gerichtlichen Beweisverfahrens nicht immer die Funktion eines Sachverständigen, sondern kann auch als Zeuge bzw. sachverständiger Zeuge hinzugezogen werden. Die Unterschiede zwischen (sachverständigem) Zeugen und Sachverständigem sollten dem Psychiater bewusst sein, schon weil ihm als Sachverständigem eine andere Vergütung zusteht denn als Zeuge (§ 8 I JVEG), aber auch, weil er nur als Sachverständiger von den Parteien wegen Parteilichkeit abgelehnt werden kann. Ein Zeuge sagt vor Gericht über eigene Wahrnehmungen zu einer bestimmten Tatsache oder zu einem tatsächlichen Vorgang aus. Da es auf seine Wahrnehmungen ankommt, ist der Zeuge nicht durch eine andere Person ersetzbar. Der Psychiater ist z. B. Zeuge, wenn er einen Verkehrsunfall gesehen hat und vor Gericht lediglich über seine tatsächlichen Wahrnehmungen bzgl. dieses Ereignisses, also z. B. den beobachteten Unfallhergang, berichten soll. Er bleibt Zeuge, wenn er über Tatsachen befragt wird, die er nur aufgrund seiner besonderen Fachkunde wahrnehmen konnte. In diesem Fall wird er zwar formal als sachverständiger Zeuge bezeichnet, die Vorschriften über den Zeugenbeweis (§§ 373 ff. ZPO) bleiben jedoch unterschiedslos anwendbar (§ 414 ZPO). War also – um beim obigen Beispiel zu bleiben – der Verursacher des Autounfalls zufällig auch Patient des Psychiaters und steht nun seine Deliktsfähigkeit zum Zeitpunkt der Unfallverursachung infrage, bleiben auf den Psychiater die Zeugenvorschriften anwendbar, wenn er lediglich über früher festgestellte Krankheitssymptome, Untersuchungsergebnisse, durchgeführte Behandlungen und damals gestellte Krankheitsprognosen bei seinem Patienten Auskunft geben soll. Denn auch hier macht er – wie der „einfache Zeuge“ – nur Angaben über in der Vergangenheit liegende Wahrnehmungen, ohne dabei neue sachkundige Wertungen vorzunehmen. Als Zeuge erhält er dann auch trotz seiner Sachkunde lediglich eine Entschädigung für seine Auslagen und den Zeitverlust, also kein
Sachverständigenhonorar (OLG Hamm NJW 1972, 2003; Zöller / Greger 2018, § 414 ZPO Rn. 3). Anders ist es dagegen, wenn der Psychiater gebeten wird, dem Gericht allgemeine Erfahrungssätze seines Fachgebiets oder Spezialwissen zur Beurteilung des konkreten Falls zu vermitteln oder aufgrund seines Fachwissens Schlussfolgerungen aus einem feststehenden Sachverhalt zu ziehen und sachkundige Wertungen vorzunehmen. Dies sind typische Sachverständigenaufgaben, weshalb der Psychiater dann nicht nur sachverständiger Zeuge, sondern Sachverständiger ist (BGH NJW 1993, 1796; Zöller / Greger 2018, § 414 ZPO Rn. 2, 3). Wird im genannten Beispielfall der Psychiater also z. B. gebeten, aus den Erfahrungen mit dem Patienten in seiner Praxis Rückschlüsse auf die Deliktsfähigkeit zum Unfallzeitpunkt zu ziehen, wird er nunmehr als Sachverständiger tätig. Zur nicht immer ganz leichten Abgrenzung zwischen Sachverständigem und sachverständigem Zeugen bietet sich folgende Faustformel an:
Merke Der sachverständige Zeuge ist nicht durch beliebige andere Personen ersetzbar, da er über eigene Wahrnehmungen berichtet. Der Sachverständige dagegen vermittelt Fachwissen und nimmt sachkundige Wertungen zu einem feststehenden Sachverhalt vor und kann daher durch jede andere Person mit entsprechendem Wissen ersetzt werden (OLG Hamm NJW 1972, 2003; Zöller / Greger 2018, § 414 ZPO Rn. 2). Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Eigenschaft der Vernehmungsperson in einer Verhandlung wechseln kann. Der Zeuge kann zum Sachverständigen werden und umgekehrt. Entscheidend für die Eigenschaft der Vernehmungsperson ist nicht die Ladung, sondern die Art der tatsächlichen Heranziehung durch das Gericht (OLG Hamm NJW 1972, 2003; OLG Düsseldorf VersR
1983, 544). In Zweifelsfällen sollte der Psychiater das Gericht zur Klärung auffordern, um sicherzugehen, dass er, wenn er (auch) zu sachkundigen Wertungen aufgefordert wird, die höhere Sachverständigenvergütung erhält (Zöller / Greger 2018, § 414 ZPO Rn. 2, 3). Entscheidend ist die Eigenschaft der Auskunftsperson auch deshalb, weil nur ein Sachverständiger, nicht jedoch ein Zeuge den Befangenheitsvorschriften unterliegt (§ 406 ZPO). Wird jemand als Sachverständiger abgelehnt, kann er gleichwohl noch als sachverständiger Zeuge vernommen werden (BGH NJW 1965, 1492).
31.2.2. Stellung des gerichtlichen Sachverständigen Die Stellung des gerichtlichen Sachverständigen wird i. d. R. als Gehilfe des Gerichts gekennzeichnet (BGHSt 3, 27). Diese Umschreibung ist zwar richtig, aber nichtssagend: Da der Sachverständige dem Gericht bei der Entscheidungsfindung helfen soll, ist er zweifelsohne Gehilfe. Das ist der Zeuge aber auch. Dennoch ist der Sachverständige mehr. Zwar ist die rechtsprechende Gewalt nach Art. 92, 97 GG den Richtern anvertraut, sodass der Sachverständige das Gericht nie von der Verantwortung für die Entscheidung der aufgeworfenen Fragen entbinden kann und darf (BGHSt 8, 113). Er wird aber immer dann benötigt, wenn das Gericht Aussagen treffen soll, die besonderer Sachkunde bedürfen, die das Gericht nicht besitzt. Der Sachverständige übernimmt für den Richter die Bewertung eines Sachverhalts in tatsächlicher Hinsicht, sodass das Gericht dann auf zutreffender Tatsachengrundlage seine eigene (ihm vorbehaltene) rechtliche Beurteilung vornehmen kann. Eine eigenständige rechtliche Bewertung hat der Sachverständige nicht durchzuführen. Diese obliegt allein dem Richter. Zudem hat das Gericht das Gutachten kritisch und eigenverantwortlich zu prüfen (➤ Kap. 31.1.1).
31.2.3. Auswahl und Qualifikation des gerichtlichen Sachverständigen und des Ausstellers eines ärztlichen Zeugnisses Die Auswahl des Sachverständigen erfolgt nach pflichtgemäßem Ermessen des Gerichts, wenn nicht – in einem streitigen Verfahren – sich die Parteien bereits selbst auf eine Person geeinigt haben (§ 30 I FamFG, § 404 I und IV ZPO; KG FamRZ 1995, 1379). Maßgebliches Auswahlkriterium für das Gericht ist neben der persönlichen Eignung vor allem die fachliche Kompetenz für die Beantwortung der zu klärenden Fragen. Für den Fall der Unterbringungsanordnung findet sich insofern eine ausdrückliche Regelung, der zufolge der Sachverständige ein Arzt für Psychiatrie sein soll; stets muss er aber Arzt mit Erfahrung auf dem Gebiet der Psychiatrie sein (§ 321 I S. 4 FamFG). Im Übrigen enthält das Gesetz keine Vorgaben zur Notwendigkeit einer bestimmten Qualifikation des Sachverständigen. Für das Betreuungsrecht heißt es in der amtlichen Begründung lediglich, dass die Wahl des Sachverständigen von der Art der Behinderung des Betroffenen abhängt (BT-Drs. 11 / 4528, 174).
Merke Nach allgemeiner Ansicht ist jedoch generell für die Beurteilung psychischer Krankheiten und geistiger oder seelischer Behinderung grundsätzlich ein Facharzt für Psychiatrie oder Neurologie hinzuzuziehen, zumindest aber ein in der Psychiatrie erfahrener Arzt (BayObLG FamRZ 1993, 351, 352; Bassenge und Roth 2009, § 280 FamFG Rn. 8; Jurgeleit / Bučić 2018, § 280 FamFG Rn. 9). Dabei hat das Gericht die Sachkunde des Sachverständigen im Einzelnen in seiner Entscheidung darzulegen, wenn sie sich nicht ohne Weiteres aus seiner Berufsbezeichnung oder aus
der Art seiner Berufstätigkeit ergibt (BayObLG FamRZ 2002, 494). Bei Ärzten der Gesundheitsämter, bei Allgemeinmedizinern oder „praktischen Ärzten“, aber auch bei Assistenzärzten psychiatrischer Kliniken oder Ärzten in Weiterbildung z. B. muss das Gericht daher in der Entscheidung im Einzelnen ausführen, welchen Umständen die erforderliche Sachkunde des Gutachters zu entnehmen ist (BayObLG FamRZ 1997, 1565; Damrau und Zimmermann 2011, § 280 FamFG Rn. 18). Ausnahmsweise kann das Gericht die Sachkunde eines Assistenzarztes unterstellen, wenn das von ihm angefertigte Gutachten vom Abteilungsarzt gegengezeichnet wurde (BayObLG FamRZ 1993, 351). Keine besondere Begründung ist nach dem Gesagten notwendig, wenn ein Psychiater oder Neurologe, ein öffentlich bestellter Amtsarzt mit psychiatrischer Vorbildung, ein auf dem Gebiet der Psychiatrie fachkundiger Klinikarzt oder ein in Bayern bestellter Landgerichtsarzt hinzugezogen wird (BayObLG FamRZ 2002, 494). Musste das Gericht die ausreichende Sachkunde des Sachverständigen in der letztlich getroffenen Entscheidung (also i. d. R. im Urteil) besonders darlegen und ist dies unterblieben, drohen die Aufhebung der Entscheidung und Rückverweisung durch das Beschwerde- bzw. Revisionsgericht (vgl. §§ 69 II, 70 FamFG, §§ 313, 546 ZPO). Der Sachverständige, bei dem das Gericht zu einer besonderen Darlegung der Qualifikation verpflichtet ist, sollte daher von sich aus entsprechende Hinweise zu seinen beruflichen Erfahrungen in sein Gutachten integrieren. Handelt es sich um ein Betreuungsverfahren, bei dem der Betroffene eine irreversible, bereits gerichtsbekannte psychische Krankheit hat und es nur noch um die Feststellung der Fähigkeit zur selbstständigen Aufgabenerledigung geht, kann es sinnvoll sein, eher einen Psychologen, Pflegesachverständigen oder Sozialpädagogen aus einem spezifischen Bereich der Behindertenarbeit mit der Gutachtenerstellung zu beauftragen als einen Arzt, der die Krankheit lediglich bestätigt (Jurgeleit / Bučić
2018, § 280 FamFG Rn. 10). Jederzeit kann das Gericht nichtärztliche Gutachter außerdem als Zweitgutachter beauftragen, wenn aufgrund eines vielschichtigen Beweisthemas – wie etwa bei der Frage der Betreuerbestellung – die Veranlassung dazu besteht (Bienwald et al. 2016, §§ 280–284 FamFG Rn. 11, 15, 54). Ausnahmsweise kann das Gericht bei besonders schwierigen Fragen auch die Beauftragung eines weiteren Sachverständigen des gleichen Fachgebiets, z. B. eines zweiten Psychiaters, veranlassen, um sich zu vergewissern, dass übereinstimmende Ergebnisse erzielt werden (BGH FamRZ 1962, 115; Schneider et al. 2015, 9; Damrau und Zimmermann 2011, § 280 FamFG Rn. 7). Da § 407a ZPO eine Pflicht zur persönlichen Erstellung des Gutachtens normiert, hat das Gericht eine bestimmte natürliche Person zum Gutachter zu bestimmen und nicht z. B. eine Klinik, ein Krankenhaus oder ein Institut (OLG München NJW 1968, 202). Um die richtige Person benennen zu können, muss das Gericht daher ggf. Rücksprache mit dem Leiter eines Instituts oder einer Klinik halten. Wird der Auftrag dennoch z. B. an ein Universitätsinstitut oder -klinikum gerichtet, ist davon auszugehen, dass derjenige Sachverständiger ist, den der Leiter dazu bestimmt (Ulrich 2007, Rn. 338). Ein ärztliches Zeugnis kann entweder von dem von einem betreuungs- bzw. unterbringungsrechtlichen Verfahren Betroffenen selbst oder von einem Dritten vorgelegt oder aber vom Gericht eingeholt werden (BT-Drs. 11 / 4528, 174; HK-BUR / Braun 2019, § 300 FamFG Rn. 25; Jurgeleit / Bučić 2018, § 281 FamFG Rn. 2, 4, 5; die Einholung durch das Gericht allerdings verneinend Bienwald et al. 2016, §§ 280–284 FamFG, Rn. 13). Die Vorlage durch den Betroffenen kommt insbesondere dann in Betracht, wenn der Betroffene die Betreuung selbst beantragt (§ 281 I Nr. 1 FamFG). Für diesen Fall wird es mehrheitlich für ausreichend erachtet, wenn das Attest vom Hausarzt des Betroffenen bzw. einem Allgemeinmediziner ausgestellt wurde (Jurgeleit / Bučić 2018, § 281 FamFG, Rn. 11; Bassenge und Roth 2009, § 281 FamFG Rn. 5). Allerdings hat das Gericht die Qualität des ärztlichen Zeugnisses innerhalb der freien Beweiswürdigung zu überprüfen und muss
aufgrund des im Betreuungsrecht geltenden Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 26 FamFG) die Einholung eines neuen Attests oder eines Gutachtens beschließen, wenn es das vorgelegte Attest nicht für ausreichend hält und dessen Ergänzung nicht in Betracht kommt (Jurgeleit / Bučić 2018, § 281 FamFG Rn. 14). In den Fällen der §§ 300 I, 331 FamFG (vorläufiger Betreuer / Einwilligungsvorbehalt und vorläufige Unterbringungsmaßnahmen) sowie des § 321 I FamFG (unterbringungsähnliche Maßnahmen) entspricht es der herrschenden Meinung, dass der Aussteller des ärztlichen Zeugnisses die gleiche Qualifikation wie ein Sachverständiger haben muss (Bay-ObLG FamRZ 1999, 1611; Keidel et al. / Budde 2017, § 300 FamFG Rn. 6; § 321 FamFG Rn. 4; a. A. Bassenge und Roth 2009, § 300 FamFG Rn. 5; § 321 Rn. 6, 14; § 331 FamFG Rn. 5).
31.2.4. Ablehnung des Sachverständigen Als Gehilfe des Gerichts kann der Sachverständige aus denselben Gründen abgelehnt werden wie ein Richter (§ 29 FamFG, § 406 I ZPO; Baumbach et al. / Hartmann 2019, § 406 ZPO Rn. 5). Ablehnungsgründe sind daher zum einen persönliche Beziehungen des Sachverständigen zu einer Partei (§ 41 ZPO), z. B. Verwandtschaft, zum anderen die Besorgnis der Befangenheit (§ 42 ZPO). Befangenheit wird angenommen, wenn Umstände vorliegen, die bei verständiger Würdigung den Zweifel einer Partei an der Unparteilichkeit des Sachverständigen von ihrem Standpunkt aus rechtfertigt (§ 42 II ZPO; VGH München NJW 2004, 90; Baumbach et al. / Hartmann 2019, § 406 ZPO Rn. 5 f.; ausführlich Ulrich 2007, Rn. 196–240). Hierzu gehören z. B. Freundschaft oder besondere berufliche Verbundenheit mit einer der Parteien einerseits oder tiefgreifende wissenschaftliche Differenzen über das zur Entscheidung anstehende Thema andererseits. Gleiches gilt für die Erstattung eines Gutachtens, das auch eine vernünftig und nüchtern denkende Person zu der Befürchtung veranlasst, dass der Sachverständige sich bzgl. einer umstrittenen Tatsache im Voraus einseitig festgelegt hat und den Angaben der einen Partei mehr Glauben schenkt als denen
der anderen (OLG München NJW 1992, 1569). Genauso verhält es sich, wenn der Sachverständige den Betroffenen während der ärztlichen Untersuchung beleidigt (BGH NJW 1981, 2009) oder unsachliche Äußerungen zum Vortrag einer Partei macht (OLG Frankfurt / M. BauR 2004, 1052). Der Sachverständige, der von dem „Leidensweg der Patientin“ spricht, der mit der Behandlung durch den Beklagten begonnen habe, oder der die Dokumentationsweise des Beklagten als „verwunderlich“ bezeichnet und ihm schließlich Verstoß gegen die „ärztliche Ethik“ vorwirft, erscheint befangen (Ulrich 2007, Rn. 220 unter Hinweis auf OLG München 4.7.2005–1 W 1010 / 05). Gleiches gilt, wenn der Sachverständige mit überzogener Ausdrucksweise Kritik an einem von der Partei vorgelegten Privatgutachten übt oder ein angekündigtes Privatgutachten unbesehen als „Gefälligkeitsgutachten“ bezeichnet (Ulrich 2007, Rn. 220). Auch eine nicht offengelegte Kontaktaufnahme des Sachverständigen zu einer der Parteien (OLG Saarbrücken OLGR 2004, 612 f.) oder die Überschreitung des Gutachterauftrags unter einseitiger Unterstellung eines bestimmten Sachvortrags können für eine Besorgnis der Befangenheit genügen (OLG München OLGR 1992, 186). Inhaltliche Mängel des Gutachtens als solche begründen die Besorgnis der Befangenheit dagegen nicht; sie betreffen vielmehr den sachlichen Gehalt der Begutachtung (und mögen insofern das Gutachten entwerten), nicht jedoch die Unparteilichkeit des Sachverständigen. Ein Ablehnungsgrund kann sich vielmehr erst daraus ergeben, dass der Sachverständige in grober Weise das Beweisthema verfehlt und dies auf seine Voreingenommenheit schließen lässt (Ulrich 2007, Rn. 224, 235). Zögerliches Arbeiten des Sachverständigen ist ebenfalls kein Befangenheitsgrund, es sei denn, die Verzögerung kommt einer Rechtsverweigerung gleich (OLG Braunschweig NJW-RR 2001, 1433). Die Besorgnis der Befangenheit ergibt sich auch nicht schon daraus, dass sich der Sachverständige in einer Fachpublikation zu einer bestimmten, in diesem Rechtsstreit bedeutsamen Frage geäußert hat (Ulrich 2007, Rn. 230, 235). Über den Ablehnungsantrag entscheidet das Gericht, das den Sachverständigen beauftragt hat (§ 30 I FamFG i. V. m. § 406 II und
IV ZPO).
31.3. Pflichten des Sachverständigen 31.3.1. Pflicht zur Übernahme von Begutachtungen Eine allgemeine Pflicht zur Erstattung von Gutachten besteht nicht. Grundsätzlich kann daher jeder zum Sachverständigen Ernannte den Gutachtenauftrag ohne Angabe von Gründen ablehnen. Allerdings sieht das Gesetz in § 407 ZPO Ausnahmen von diesem Grundsatz für einen nicht unbedeutenden Kreis von Personen vor. So besteht eine Begutachtungspflicht zunächst für diejenigen, die zur Erstattung von Gutachten der erforderten Art von einer Behörde öffentlich bestellt wurden. Zur Annahme des Gutachtenauftrags verpflichtet ist ferner jeder, der eine Tätigkeit, deren Kenntnis zur Gutachtenerstattung notwendig ist, öffentlich zum Erwerb ausübt, sich also der Allgemeinheit gegenüber zur entgeltlichen Berufsausübung anbietet, oder aber zur Ausübung der Tätigkeit öffentlich bestellt oder ermächtigt ist. Ein Arzt hat daher einem Gutachtenauftrag auf seinem Fachgebiet stets Folge zu leisten, sobald er seinen Beruf – sei es selbstständig oder als Angestellter – tatsächlich ausübt. Schließlich trifft die Pflicht zur Erstattung des Gutachtens die Personen, die sich gegenüber dem Gericht dazu bereit erklärt haben. Dies kann auch stillschweigend durch äußeren Schein erfolgen, wenn der Ernannte den Auftrag entgegennimmt und nicht unverzüglich ablehnt (Baumbach et al. / Hartmann 2019, § 407 ZPO Rn. 6). Die zur Gutachtertätigkeit grundsätzlich Verpflichteten haben jedoch das Recht, aus denselben Gründen, die einen Zeugen zur Zeugnisverweigerung berechtigen, das Gutachten zu verweigern (§ 408 I S. 1 ZPO). Eine Verweigerung ist daher bei Verwandtschaft, Schwägerschaft oder Verlöbnis mit dem Probanden möglich (§ 383 Nr. 1–3 ZPO). Ein Arzt kann sich ferner aufgrund von Kenntnissen aus einer früheren Patientenbehandlung auf seine Pflicht zur
Verschwiegenheit berufen, wenn der Patient ihn nicht ausdrücklich von seiner Geheimhaltungspflicht entbindet (§§ 383 I Nr. 6, 385 II ZPO; Laufs und Kern / Schlund 2010, § 70, Rn. 34; s. auch ➤ Kap. 31.3.6). Das Gericht kann den Sachverständigen ferner nach eigenem Ermessen aus Zweckmäßigkeitsgründen von seiner Verpflichtung entbinden (§ 408 I S. 2 ZPO), z. B. wegen fehlender Sachkunde oder Arbeitsüberlastung des Sachverständigen oder wegen Verschleppung (Baumbach et al. / Hartmann 2019, § 408 ZPO Rn. 5). Bei einem Verstoß gegen die Gutachtenerstattungspflicht werden dem Sachverständigen die durch die Weigerung entstehenden Kosten auferlegt, und es wird ein Ordnungsgeld festgesetzt (§ 409 I ZPO). Das Gericht wird den Sachverständigen sodann i. d. R. gebührenlos entlassen und einen anderen Sachverständigen beauftragen (OLG Brandenburg VersR 2006, 1238; Zöller / Greger 2018, § 409 Rn. 3, § 413 Rn. 7). Auch eine allzu lange Verzögerung kann als Verweigerung der Gutachtenerstattung gewertet werden und zieht ebenfalls Entlassung und Verlust der Entschädigung nach sich (Baumbach et al. / Hartmann 2019, § 411 ZPO Rn. 8).
31.3.2. Vereidigung und Neutralitätspflicht Der Sachverständige im Zivilprozess kann vor oder nach Erstattung des Gutachtens vereidigt werden (§ 410 I S. 1 ZPO). Zwingend ist die Vereidigung nicht. Vielmehr ist eine Vereidigung nur dort geboten, wo eine falsche Begutachtung bzw. Begünstigung einer Partei zu besorgen ist. Die Nichtvereidigung bedarf keiner ausdrücklichen Entscheidung, da sie die Regel ist. Bei häufig zuzuziehenden Sachverständigen erfolgt in vielen Bundesländern eine allgemeine Beeidigung für die Erstattung von Gutachten der betreffenden Art. Dann genügt für die konkrete Beeidigung die Berufung auf den geleisteten Eid. Aus dem Eid muss sich ergeben, dass der Sachverständige „das von ihm geforderte Gutachten unparteiisch und nach bestem Wissen und Gewissen erstatten werde oder erstattet habe“ (§ 410 I S. 2 ZPO).
Daraus ergibt sich die allgemeine Neutralitätspflicht (Pflicht zur Unparteilichkeit) des Sachverständigen. Das Gutachten muss unparteiisch und nach bestem Wissen und Gewissen erstattet werden (zur Problematik von Gefälligkeitsgutachten Sandvoß 2004, 392). Die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigt die Ablehnung des Sachverständigen (➤ Kap. 31.2.4). Die Pflicht zur Neutralität des Sachverständigen zwingt ihn, rechtzeitig zu erkennen zu geben, ob ein Anlass für seine Ablehnung (z. B. wegen Besorgnis der Befangenheit) besteht. Selbstverständlich darf sich der medizinische Sachverständige auch nicht vom Gedanken der (Standes-)Solidarität (Kollegialität) leiten lassen. Es gibt eine ganze Reihe von Urteilen, die dies ausdrücklich betonen mussten (näher Taupitz 1991, 305 f.), was dem ärztlichen Berufsstand kein gutes Zeugnis ausstellt.
31.3.3. Pflichten im Vorfeld der Gutachtenerstellung Um unnötige Verzögerungen des Verfahrens zu vermeiden, hat der Sachverständige zunächst zu prüfen, ob Gründe vorliegen, die zu seiner Entbindung vom Gutachtenauftrag führen können. Fällt der Auftrag nicht in sein Fachgebiet oder ist er sonst fachlich unzuständig, hat der Sachverständige dies dem Gericht unverzüglich (= ohne schuldhaftes Zögern) mitzuteilen, damit es zeitnah einen anderen Gutachter beauftragen kann (§ 407a I ZPO). Diese „Kompetenz-Vorprüfung“ (Ulrich 2007, Rn. 336) beschränkt sich nicht auf die Lektüre des Beweisbeschlusses, dessen Tragweite sich häufig nicht hinreichend aus dem Wortlaut erschließt, sondern setzt ein zumindest kursorisches Aktenstudium voraus (BayVGH BayVBl 2004, 80). Um dem Gericht zeitnah die Beauftragung eines anderen Sachverständigen zu ermöglichen, sollte der Sachverständige auch so früh wie möglich ein etwaiges Gutachtenverweigerungsrecht geltend machen (vgl. § 386 III ZPO; ➤ Kap. 31.3.1), Gründe mitteilen, welche die Besorgnis seiner Befangenheit tragen (➤ Kap. 27.2.4, ➤
Kap. 27.3.2), oder Befreiung vom Auftrag erbitten, wenn absehbar ist, dass er das Gutachten wegen Arbeitsüberlastung nicht innerhalb einer angemessenen Frist wird erstellen können. Erwachsen durch die Gutachtenerstellung voraussichtlich Kosten, die erkennbar außer Verhältnis zum Wert des Streitgegenstands stehen oder einen angeforderten (i. d. R. aus dem Beweisbeschluss ersichtlichen) Kostenvorschuss erheblich (nämlich um mehr als ca. 25 %) übersteigen, hat der Sachverständige hierauf ebenfalls rechtzeitig hinzuweisen (§ 407a IV S. 2 ZPO), sodass die Parteien Prozess- und Kostenrisiko gegeneinander abwägen können (Schneider et al. 2015, 11; Ulrich 2007, Rn. 347). Der Sachverständige hat außerdem eingangs unverzüglich zu prüfen, ob die Beweisfrage der Hinzuziehung weiterer Sachverständiger bedarf. Ist dies der Fall, darf er nicht eigenmächtig Teilfragen an andere Sachverständige übertragen, sondern muss das Gericht auf die Notwendigkeit der Hinzuziehung weiterer Sachverständiger hinweisen (§ 407a I ZPO). Eine Hinweispflicht an das Gericht besteht, wie erwähnt (➤ Kap. 31.1.2), auch bei unklarem Beweisbeschluss oder Sachverhalt. Der Sachverständige hat in einem solchen Fall Klärung durch das Gericht herbeizuführen (§ 407a IV S. 1 ZPO), um nicht Gefahr zu laufen, ein letztlich unzureichendes Gutachten zu erstellen. Die Mitteilung des Sachverständigen an das Gericht bedarf keiner besonderen Form. Zu empfehlen ist allerdings ein schriftlicher Hinweis, ggf. per Telefax. Eine telefonische Rückfrage des Sachverständigen beim zuständigen Richter sollte vom Sachverständigen mit Datum, Uhrzeit und Inhalt des Gesprächs schriftlich bestätigt werden; so schafft man eine nachweisbare Grundlage für die Weiterarbeit des Sachverständigen, vermeidet Missverständnisse und beugt Befangenheitsgesuchen vor (Ulrich 2007, Rn. 345). Regelmäßig hat der psychiatrische Sachverständige den Betroffenen zunächst persönlich zu untersuchen. Dabei muss die Untersuchung zeitlich in geringem Abstand vor der Erstattung des Gutachtens liegen (BayObLG FamRZ 1999, 1595), allenfalls 2– 3 Wochen zuvor (Damrau und Zimmermann 2011, § 280 FamFG
Rn. 23). Körperliche Eingriffe gegen den Willen des Betroffenen sind im Rahmen der Untersuchung nicht zulässig, und eine Mitwirkung des Betroffenen, z. B. Beantwortung von Fragen, kann nicht erzwungen werden (Keidel et al. / Budde 2017, § 283 FamFG Rn. 4). Das Gericht kann jedoch anordnen, dass der Betroffene durch die zuständige Behörde zu einer Untersuchung vorgeführt wird, wenn er nicht bereit ist, beim Sachverständigen zur Untersuchung zu erscheinen (§ 283 I S. 1 FamFG). Das Gericht kann außerdem nach Anhörung eines Sachverständigen anordnen, dass der Betroffene auf bestimmte Dauer untergebracht und beobachtet wird, soweit dies zur Vorbereitung des Gutachtens erforderlich ist (§ 284 I S. 1 FamFG; ➤ Kap. 31.6.3). Zur Vorbereitung der Gutachtenerstellung gehört schließlich ein ausführliches Aktenstudium und die Aneignung von aktuellem Spezialwissen (z. B. durch Studium der Literatur), soweit dies zur Begutachtung des konkreten Falls erforderlich ist (Ulrich 2007, Rn. 355, 373).
31.3.4. Abfassen des Gutachtens Ausführliche Hinweise zum Aufbau des Gutachtens (Einleitung, Sachverhalt, Aktenlage, Angaben des Probanden, Befunde, Beurteilung) finden sich in ➤ Kap. 5. An dieser Stelle sei noch einmal auf allgemeine Pflichten hingewiesen, die der Sachverständige insbesondere beim Abfassen der Beurteilung, dem eigentlichen Begutachtungsteil, zu beachten hat. Der Gutachter hat die an ihn gestellten Beweisfragen genau zu beantworten und darf dabei nicht vom Gutachtenauftrag abweichen. Da dem Gericht im Rahmen der Beweiswürdigung eine verantwortliche Prüfung auf wissenschaftliche Fundierung, Logik und Schlüssigkeit möglich sein muss (KG FamRZ 1995, 1379), genügt es nicht, wenn der Sachverständige die Beweisfragen nur im Ergebnis beantwortet. Vielmehr hat er auch die aufgrund seiner Fachkunde ermittelten Tatsachen und Erfahrungssätze mitzuteilen und darzustellen, aus welchen Tatsachen und Erfahrungssätzen er seine Schlussfolgerungen ableitet. So hat ein Gutachten zur
Notwendigkeit der Betreuung z. B. im Einzelnen darzulegen, aufgrund welchen Untersuchungsbefunds welche Krankheit diagnostiziert wurde, wie der erfahrungsgemäße Krankheitsverlauf aussieht und welche Schlussfolgerungen für die Betreuungsbedürftigkeit und die Dauer der Betreuung aus der Diagnose und Krankheitsprognose zu ziehen sind (KG FamRZ 1995, 1379; s. auch ➤ Kap. 31.5.3). Bei seiner Beurteilung muss der Sachverständige die wissenschaftlichen Erkenntnisquellen ausschöpfen, das verwendete Schrifttum nachweisen und sich mit beachtlichen wissenschaftlichen Meinungen und gerichtlichen oder privaten Gutachten, die sich bereits in den Gerichtsakten befinden, auseinandersetzen (KG FamRZ 1988, 981). Dabei sollte er sich immer wieder verdeutlichen, dass er als Gehilfe des Gerichts agiert. Bei seinen Ausführungen hat er daher absolute Neutralität zu wahren (➤ Kap. 31.3.2); er sollte bei der Vermittlung seines Fachwissens stets bemüht sein, eine für den Laien verständliche Sprache zu benutzen und schwierige psychiatrische Sachverhalte zu erläutern (Schneider et al. 2015, 4). Der Sachverständige muss die unterschiedliche Denkweise von Naturwissenschaftlern und Juristen berücksichtigen, um seinen Auftrag erfolgreich ausführen zu können. Für den Richter beginnt der Denkansatz mit der Frage nach dem Rechtssatz. Er sucht die gesetzliche Grundlage, bestimmt den Inhalt der Rechtsbegriffe durch Auslegung, subsumiert den Sachverhalt unter die Norm und gewinnt daraus ein konkretes juristisches Urteil. Diese Vorgehensweise verläuft nach dem Entweder-oder-Prinzip: Entweder die betreffende Tatbestandsvoraussetzung liegt vor, oder sie liegt nicht vor. Zweifel finden nur über die Beweislastregelungen Eingang ins Urteil: Wer – im Zivilprozess – die tatsächlichen Voraussetzungen einer ihm günstigen Norm nicht beweisen kann, zu dessen Gunsten kann auch nicht vom Vorliegen dieser Tatsache ausgegangen werden. Anders dagegen ist die Sichtweise des Mediziners, der vornehmlich um eine konkrete Diagnose bemüht ist, gleichwohl weiß, dass Grenzen medizinischer Erkenntnis bestehen, die auch die Grenzen seiner Aussage bestimmen.
Doch nicht nur die unterschiedliche Denk- und Herangehensweise an einen Sachverhalt kann zu Problemen führen. Auch Begriffe werden von Naturwissenschaftlern und Juristen unterschiedlich verwendet. So interessiert sich der Arzt für die Frage: „Was hat der Kranke eigentlich?“ Für den Juristen ist die Krankheit als solche dagegen nur im Hinblick auf ihre Relevanz für die jeweilige Rechtsfrage von Bedeutung. Den Juristen interessiert nur, ob der unter den Krankheitsbegriff fallende Zustand einen Grad erreicht hat, durch den z. B. Behandlungsbedürftigkeit, Arbeitsunfähigkeit, Invalidität, Erwerbsminderung oder ein Versicherungsfall bedingt oder auch die Strafbarkeit ausgeschlossen ist. Aus juristischer Sicht kann ein bestimmter Zustand eine „Krankheit“ im Sinne der einen Rechtsnorm sein, im Sinne einer anderen Rechtsnorm aber auch nicht. Im Rahmen seines Gutachtens muss der Sachverständige die Aufgabe des Richters berücksichtigen, selbst eine Entscheidung über eine Rechtsfrage zu treffen. Der Sachverständige seinerseits hat sich auf die Wiedergabe / Feststellung / Bewertung von Tatsachen zu beschränken, die dann ihrerseits Grundlage der richterlichen Entscheidung wird. Für den Richter kommt es darauf an, ob er vom Vorliegen einer Tatsache überzeugt ist (§ 286 I ZPO). Überzeugung, die insbesondere durch Beweismittel wie (eine Zeugenaussage oder) ein Gutachten herbeigeführt werden kann, liegt dann vor, wenn für den Richter eine persönliche Gewissheit erreicht ist, die Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (BGH NJW 1970, 946; 1993, 935). Ein bloßes Glauben, Wähnen oder Fürwahrscheinlich-Halten ist nicht ausreichend, mehr als die subjektive Überzeugung aber auch nicht erforderlich. Von seiner Überzeugung darf der Richter jedoch nicht ausgehen, soweit ihr zwingende Gesetze der Logik, feststehende Erkenntnisse der Wissenschaft oder dem Zweifel enthobene Tatsachen der Lebenserfahrung widerstreiten (BGH NJW 1979, 2318).
Merke
Vorsicht ist besonders dann geboten, wenn der Sachverständige zu Fragen Stellung nehmen soll, die gleichsam die rechtliche Bewertung berühren. Denn die Grenze zwischen tatsächlichen Fragen, deren Beantwortung mithilfe des Sachverständigen erfolgen soll, und Rechtsfragen, deren Beantwortung allein dem Gericht zusteht, ist z. T. fließend.
31.3.5. Eigenverantwortliche Erstellung des Gutachtens Merke Nach § 407a III ZPO ist der Sachverständige nicht befugt, den Auftrag auf einen anderen zu übertragen. Soweit er sich der Mitarbeit einer anderen Person bedient, hat er diese namhaft zu machen und den Umfang ihrer Tätigkeit anzugeben, falls es sich nicht um Hilfsdienste von untergeordneter Bedeutung handelt. Der vom Gericht ausgewählte und beauftragte Sachverständige ist zur persönlichen Erstattung des Gutachtens verpflichtet. Er darf bei der Vorbereitung und Abfassung seines Gutachtens zwar qualifizierte Hilfspersonen, in einer Klinik z. B. einen Ober- oder Assistenzarzt, heranziehen (die er im Übrigen auch zur Verschwiegenheit verpflichten muss); er muss jedoch stets selbst aufgrund eigener Prüfung und Urteilsbildung die volle Verantwortung für den gesamten Inhalt des Gutachtens übernehmen (BVerwG NVwZ 1993, 771; BSG VersR 1990, 992). Insbesondere im Bereich der psychiatrischen Begutachtung bedeutet dies u. a., dass der Sachverständige den Probanden stets auch persönlich untersuchen oder befragen muss (BSG NZS 2004, 559).
Seine Verantwortung für den Inhalt des Gutachtens muss der Sachverständige im Gutachten deutlich machen. Als ausreichend wird angesehen, wenn er das von einer Hilfsperson gefertigte und unterschriebene Gutachten mit den Worten „Einverstanden aufgrund eigener Untersuchung und Urteilsbildung“ mit unterzeichnet (BVerwG NVwZ 1993, 771; OLG Koblenz VersR 2000, 339). Der einfache Zusatz „Einverstanden“ genügt dagegen nicht (BSG VersR 1990, 992). Bei Verstoß gegen die persönliche Gutachterpflicht ist das Gutachten nicht verwertbar (KG VersR 2005, 1412); weder der Sachverständige noch die Hilfsperson erhalten eine Vergütung (Ulrich 2007, Rn. 337, 341). Allerdings ist es dem Gericht möglich, den beauftragten Sachverständigen zu entlassen und den „Gehilfen“ als Sachverständigen zu beauftragen und so dessen Gutachten im Nachhinein zu legitimieren – vorausgesetzt, es benachrichtigt die Parteien unverzüglich von der Änderung (§§ 404 I S. 3, 360 S. 2, 4 ZPO; BGH NJW 1985, 1399). Aus der Pflicht zur eigenverantwortlichen Gutachtenerstattung ergibt sich auch, dass die Hilfspersonen zur Erläuterung des Gutachtens in der mündlichen Verhandlung im Zweifel nicht befugt sind (BVerwG NJW 1984, 2645, 2646; Baumbach et al. / Hartmann 2019, § 407a ZPO Rn. 7). Die von § 407a III ZPO geforderte Benennung der nicht nur untergeordnet in die Gutachtenerstellung einbezogenen Mitarbeiter soll die Parteien in die Lage versetzen, etwaige Einwände gegen ihre Person oder Sachkunde geltend zu machen; sie können aber mangels Sachverständigeneigenschaft nicht als befangen abgelehnt werden (Ulrich 2007, Rn. 343). Die notwendigen Aufwendungen für die Hilfskräfte sind im Rahmen des Aufwendungsersatzes zu erstatten (Ulrich 2007, Rn. 343).
31.3.6. Weitere Pflichten Das Gericht soll aus Gründen der Prozessbeschleunigung dem Sachverständigen eine – angemessene – Frist zur Erstattung des schriftlichen Gutachtens setzen (§ 411 I ZPO). Der Sachverständige
muss diese Frist einhalten, kann jedoch eine Verlängerung erwirken, wenn er erhebliche Gründe glaubhaft macht, welche die Verlängerung rechtfertigen (§ 224 II ZPO). Bei Fristversäumung ist die Verhängung eines Ordnungsgeldes möglich, wenn dies zuvor unter Setzung einer Nachfrist angedroht wurde (§ 411 II ZPO). Der psychiatrische Gutachter hat, wie stets bei seiner ärztlichen Tätigkeit, auch bei Untersuchungen und Maßnahmen i. V. m. einer Begutachtung seine Dokumentationspflicht zu erfüllen. Denn auch hier hat der Untersuchte grundsätzlich ein Recht auf Einsicht in seine Krankenunterlagen. Ferner kann es im Interesse anderer Verfahrensbeteiligter, z. B. eines Betreuers, sein, Krankenunterlagen im Rahmen des Akteneinsichtsrechts (§ 299 ZPO) einzusehen. Inwieweit allerdings die Verfahrensbeteiligten ein Recht auf Vorlage aller zur Vorbereitung des Gutachtens dienenden Arbeitsunterlagen des Sachverständigen (z. B. Mitschriften von Explorationen, Testund Fragebögen oder Video- und Tonbandaufzeichnungen) haben, ist umstritten (Ulrich 2007, Rn. 350). Nicht zu den herauszugebenden Unterlagen gehören jedenfalls schriftliche Notizen, die der Sachverständige anlässlich seiner Untersuchung als persönliche Gedächtnisstütze angefertigt hat. Grundsätzlich unterliegt auch der medizinische Sachverständige der ärztlichen Schweigepflicht. Aus seiner Pflicht zur Erstattung des Gutachtens ergibt sich jedoch, dass er gegenüber dem Gericht aussageberechtigt bzw. -verpflichtet ist, soweit sein Auftrag reicht. Er kann also dem Gericht in seinem Gutachten alles mitteilen, was ihm im Rahmen der Auftragsbearbeitung zur Kenntnis gelangt ist (Schneider et al. 2015, 12). Unzulässig ist allerdings die Mitteilung von Kenntnissen aus früherer eigener Behandlung des Betroffenen, ohne von diesem oder – bei Einwilligungsunfähigkeit – dessen Betreuer von der Verschwiegenheit entbunden worden zu sein (zur Schweigepflicht des [Haus-]Arztes bzgl. der Testierfähigkeit ➤ Kap. 31.9.3). Der Sachverständige hat die Pflicht, persönlich vor Gericht zu erscheinen, soweit eine ordnungsgemäße Ladung durch das Gericht vorliegt (§§ 409, 411 III ZPO). Eine Ladung erfolgt z. B., wenn die Prozessparteien dies beantragen, denn sie haben einen Anspruch auf
mündliche Erläuterung des Gutachtens (BGH NJW 1997, 802). Bei unberechtigtem Nichterscheinen kann ein Ordnungsgeld festgesetzt werden (§ 409 I ZPO). Außerdem können dem Sachverständigen die durch sein Nichterscheinen verursachten Kosten auferlegt werden (§ 409 ZPO). Schließlich trifft den Sachverständigen die Pflicht zur Herausgabe von Akten und Unterlagen (§ 407a V ZPO). Denn das Gericht hat das Gutachten kritisch und eigenverantwortlich zu prüfen, sodass es auch die zugrunde liegenden Beurteilungsgrundlagen (z. B. Krankengeschichten, Röntgenaufnahmen, Aufzeichnungen) einsehen können muss. Ein Zurückbehaltungsrecht steht dem Sachverständigen nicht zu, und zwar auch nicht etwa bis zur Zahlung seiner Entschädigung. Bei unberechtigter Verweigerung der Herausgabe können dem Sachverständigen ein Ordnungsgeld und die durch die Verweigerung verursachten Kosten auferlegt werden (§ 409 ZPO).
31.3.7. Pflichten bei Ausstellung eines ärztlichen Zeugnisses Anders als das Gutachten wird das ärztliche Zeugnis (➤ Kap. 31.1.3) nicht innerhalb eines förmlichen Beweisverfahrens eingeholt. Es unterliegt daher nicht den strengen Regeln des Beweisrechts der §§ 402 ff. ZPO. Dies bedeutet z. B., dass den Arzt gegenüber dem Gericht keine Verpflichtung im Sinne des § 407 ZPO zur Ausstellung eines ärztlichen Zeugnisses trifft (Bassenge und Roth 2009, § 321 FamFG Rn. 13) und dass das Gericht keine Frist nach § 411 I ZPO zur Fertigstellung setzen kann. Auch kann der Aussteller eines ärztlichen Zeugnisses nicht wie ein Sachverständiger vereidigt werden. Da das ärztliche Zeugnis ein Gutachten bei den Betroffenen minder belastenden Maßnahmen oder in Eilverfahren ersetzen soll, muss es inhaltlich keine Gutachtenqualität haben. Allerdings hat es nur ausreichenden Beweiswert, wenn es die für die Entscheidung erheblichen Gesichtspunkte – wenn auch in verkürzter Form –
nachvollziehbar darlegt (BT-Drs. 11 / 4528, 174). Notwendig sind daher auch hier zumindest knappe Angaben zu Sachverhalt, Vorgeschichte, Untersuchungsergebnissen und Beurteilung (Keidel et al. / Budde 2017, § 281 FamFG Rn. 1). Verzichtbar sind z. B. die Angabe von Untersuchungsmethoden und wissenschaftlichen Erfahrungssätzen. Wie das Gutachten muss das ärztliche Zeugnis darauf beruhen, dass der Aussteller den Betroffenen zeitnah persönlich untersucht und / oder befragt hat (OLG Frankfurt / M. FamRZ 2005, 126; OLG Hamm BtPrax 1999, 238). Die Erstellung eines ärztlichen Zeugnisses nach Aktenlage ist also unzureichend (HK-BUR / Braun 2019, § 300 FamFG Rn. 26).
31.4. Betreuung 31.4.1. Begriff und Bedeutung der Betreuung Die Rechtsfigur der Betreuung ist 1992 an die Stelle der früheren Entmündigung, der Vormundschaft für Erwachsene und der Gebrechlichkeitspflegschaft getreten. Schon die neue Begrifflichkeit soll darauf hindeuten, dass das neue Recht die Rechtsposition der Betroffenen stärkt, dass es darum geht, ihnen Hilfe statt Bevormundung zu gewähren (BT-Drs. 11 / 4528, 1, 52 ff.). Gleichwohl ist die Wortwahl nicht ganz unproblematisch, da der Begriff Betreuung im allgemeinen Sprachgebrauch eine breite Bedeutung hat. Allgemein umschreibt er eine unterstützende, fürsorgerische Tätigkeit und wird häufig insbesondere mit tatsächlicher Hilfe in Form von Sorge für die körperlichen und sozialen Belange eines Menschen in Verbindung gebracht (Seichter 2019, 2 f.). In diesem tatsächlichen Sinn wird der Begriff Betreuung auch an anderer Stelle des Familienrechts gebraucht, wenn von der Betreuung eines Kindes gesprochen und diese mit Pflege und Erziehung des Kindes gleichgesetzt wird (§§ 1570, 1606 III S. 2 BGB). Anders ist das Wort Betreuung jedoch im eigentlichen Betreuungsrecht zu verstehen. Die Aufgabe des gerichtlich bestellten
Betreuers besteht allein darin, eine erwachsene Person, die aufgrund von Behinderung oder psychischer Krankheit nicht in der Lage ist, ihre Angelegenheiten zu besorgen, innerhalb eines bestimmten Aufgabenkreises gerichtlich und außergerichtlich zu vertreten (§§ 1901 I, 1902 BGB), also rechtsverbindliche Erklärungen für sie abzugeben (§ 164 I BGB). Um dies klarzustellen, spricht das Gesetz in §§ 1896 ff. BGB von rechtlicher Betreuung. Eine „persönliche Betreuung“ wird vom Betreuer nur insoweit verlangt, als diese notwendig ist, um herauszufinden, wie die rechtlichen Belange zum Wohl des Betreuten zu regeln sind (§§ 1897 I, 1901 II BGB). Tatsächliche Hilfe wie Lebensmittelbeschaffung, Körperpflege, Waschen, Wohnungsauflösung etc. hat der Betreuer – etwa durch die Einschaltung sozialer Dienste – lediglich zu organisieren (Palandt / Götz 2019, Einf. v. § 1896 Rn. 1).
Merke Im Vergleich zum früheren Vormundschafts- und Pflegschaftsrecht für Erwachsene billigt das Betreuungsrecht behinderten und psychisch kranken Menschen, die ihre Angelegenheiten nicht allein erledigen können, eine stärkere Rechtsposition zu, indem es z. B. die Geschäftsfähigkeit der Betroffenen grundsätzlich unberührt lässt und ihrem Willen bei Bestellung, Auswahl und Amtsführung des Betreuers größere Beachtung schenkt.
31.4.2. Voraussetzungen der Betreuung Voraussetzungen der Betreuung (§ 1896 I, Ia und II BGB) • Der Betroffene ist volljährig und leidet an einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung.
• Aufgrund dieses Leidens kann er seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen. • Die Bestellung eines Betreuers zur rechtlichen Besorgung von Angelegenheiten des Betroffenen ist tatsächlich erforderlich, d. h.: – Es gibt überhaupt Bedarf für rechtliche Betreuung. – Dieser kann nicht durch einen Bevollmächtigten oder andere Hilfen gedeckt werden (Subsidiarität). – Der Betreuer wird nur für die Aufgabenkreise bestellt, die dem Bedarf entsprechen. • Die Bestellung des Betreuers widerspricht nicht dem freien Willen des Betroffenen. • Sie wurde vom Betroffenen selbst beantragt oder erfolgt von Amts wegen.
Betreuung nur für Volljährige Eine rechtliche Betreuung ist nur für Erwachsene möglich. Bei Minderjährigen sind – unabhängig davon, ob eine Behinderung oder psychische Krankheit vorliegt – die Eltern (§§ 1626, 1629 BGB), ein Vormund (§§ 1773, 1793 I BGB) oder ein Ergänzungspfleger (§ 1909 BGB) für die Vertretung zuständig, denn Minderjährige bedürfen stets eines gesetzlichen Vertreters. Ist allerdings absehbar, dass ein Minderjähriger, der an einer Behinderung oder psychischen Krankheit leidet und das 17. Lebensjahr vollendet hat, auch bei Eintritt der Volljährigkeit nicht imstande sein wird, seine Angelegenheiten selbst zu besorgen, kommt die vorsorgliche Bestellung eines Betreuers in Betracht. Diese wird aber erst mit Vollendung des 18. Lebensjahrs wirksam (§ 1908a BGB). Medizinischer Befund Grundvoraussetzung für die Bestellung eines Betreuers ist, dass der Betroffene an einer „psychischen Krankheit“ oder einer „körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung“ leidet (§ 1896 I S. 1 BGB). Es handelt sich um Rechtsbegriffe, die nicht
unbedingt mit der Fachsprache der psychiatrischen Medizin übereinstimmen, die psychiatrische Störungen heute zumeist nach der International Classification of Diseases (ICD) einteilt (Damrau und Zimmermann 2011, § 280 FamFG, Rn. 29). Das Gesetz selbst definiert nicht, was unter den genannten Rechtsbegriffen zu verstehen ist; allerdings finden sich Erläuterungen in der Begründung des Regierungsentwurfs (BT-Drs. 11 / 4528, 116; s. auch Dodegge und Roth 2018, A Rn. 5 ff.). Danach gelten als psychische Krankheiten: • Körperlich nicht begründbare (endogene) Psychosen, also z. B. Schizophrenie und manische Depression • Seelische Störungen als Folge von Krankheiten oder Verletzungen des Gehirns, Anfallsleiden oder anderen Krankheiten oder körperlichen Beeinträchtigungen (körperlich begründbare – exogene – Psychosen), z. B. die Folgen einer Hirnhautentzündung, von Schädel-HirnVerletzungen, Tumorerkrankungen, Parkinson-Krankheit, Alzheimer-Krankheit, Altersabbau wie Hirnleistungsstörungen, hirnorganisches Psychosyndrom und Demenz • Abhängigkeitskrankheiten (Alkohol-, Medikamenten- und Drogenabhängigkeit) • Neurosen und Persönlichkeitsstörungen (Psychopathien) Hinsichtlich Abhängigkeitskrankheiten ist allerdings zu beachten, dass diese für sich genommen noch keine geistigen Erkrankungen darstellen (BayObLG FamRZ 1998, 1327; Damrau und Zimmermann 2011, § 1896 Rn. 10). Erforderlich ist, dass die Abhängigkeit „entweder in ursächlichem Zusammenhang mit einem geistigen Gebrechen steht oder ein darauf zurückzuführender Zustand im psychischen Bereich eingetreten ist, der bereits die Annahme eines geistigen Gebrechens rechtfertigt“ (BayObLG FamRZ 1993, 1489). Eine psychische Krankheit liegt also z. B. vor, wenn eine Drogenabhängigkeit durch Schädigung des Nervensystems zu einer Persönlichkeitsstörung geführt hat (AG Bad Iburg BtPrax 2004, 206).
Als geistige Behinderungen werden angeborene oder später entstandene unheilbare Intelligenzdefekte verschiedener Schweregrade bezeichnet (BayObLG BtPrax 1994, 29). Ursachen sind z. B. eine Oligophrenie, ein Down-Syndrom oder Schädigungen vor oder bei der Geburt oder bei einem Unfall. Die Ergebnisse von Intelligenztests (nach internationaler Klassifizierung geistige Behinderung bei IQ 20–69, vgl. Jürgens / Jürgens 2014, § 1896 Rn. 7) haben lediglich Indizcharakter, da eine Gesamtschau vorzunehmen ist. Der Übergang zur bloßen Lernbehinderung ist fließend (Damrau und Zimmermann 2011, § 1896 Rn. 13). Seelische Behinderungen sind bleibende psychische Beeinträchtigungen, die Folge von psychischen Krankheiten sind (Dodegge und Roth 2018, A Rn. 8). Der Begriff wurde zur Vermeidung von Lücken eingeführt, um Beeinträchtigungen infolge Altersabbaus zu erfassen, die bisweilen von der Fachsprache nicht als Krankheiten, sondern als seelische Behinderungen qualifiziert werden (Bienwald et al. 2016, § 1896 Rn. 30). Im Einzelnen muss das Vorliegen einer psychischen Krankheit bzw. geistigen oder seelischen Behinderung fachpsychiatrisch konkretisiert werden. Die Feststellung z. B. von „Altersstarrsinn“ oder „formalen und inhaltlichen Denkstörungen“ reicht daher nicht aus (BayObLG FamRZ 2001, 1558). Solange eine Krankheit oder Behinderung medizinisch plausibel gemacht wird, spielt allerdings die „korrekte“ Einordnung in die ohnehin nicht eindeutige medizinische Fachsprache eine untergeordnete Rolle (Damrau und Zimmermann 2011, § 1896 Rn. 16). Das Betreuungsrecht sieht die Möglichkeit einer Betreuerbestellung auch für lediglich an einer Körperbehinderung (z. B. Blindheit, Taubheit, Einschränkung der Fortbewegungsfreiheit) leidende Personen vor. In der Praxis ist die rechtliche Betreuung von ausschließlich körperbehinderten Menschen jedoch eher selten (Seichter 2018, 8). Es fehlt häufig an der Erforderlichkeit (§ 1896 II S. 2 BGB), da der Betroffene trotz körperlicher Gebrechen oft noch in der Lage ist, zur Regelung seiner rechtlichen Angelegenheiten selbst einen Vertreter zu bevollmächtigen und zu überwachen. Eine Betreuerbestellung kommt aber in Betracht, wenn der Betroffene
aufgrund seiner körperlichen Behinderung unfähig ist, seinen Willen kundzutun, z. B. bei schwerer Spastizität oder zervikaler Lähmung (Schneider et al. 2015, 200) oder aber, wenn er zwar noch in der Lage wäre, einen Bevollmächtigten für seine Angelegenheiten einzusetzen, sich jedoch keine (vertrauenswürdige) Person findet (HK-BUR / Bauer 2019, § 1896 Rn. 121, 124). Unvermögen, die eigenen Angelegenheiten zu besorgen
Merke Die Diagnose der erläuterten Krankheiten und Behinderungen ist notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für die Bestellung eines Betreuers. Hinzukommen muss, dass der Betroffene gerade aufgrund dieser Beeinträchtigungen seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen kann (§ 1896 I S. 1 BGB). Zur Bestimmung dessen, was betreuungsrechtlich unter „seinen Angelegenheiten“ zu verstehen ist, ist auf die konkrete und gegenwärtige Lebenssituation des Betroffenen abzustellen. Es ist danach zu fragen, welche Angelegenheiten nach der sozialen Stellung und bisherigen Lebensgestaltung des Betroffenen im Zeitpunkt der Betreuerbestellung oder in absehbarer Zukunft in seinem Interesse wahrzunehmen sind (BayObLG FamRZ 1997, 388; OLG Hamm FamRZ 1995, 433). Dazu gehören nur Angelegenheiten, die der Betreute üblicherweise selbst, d. h. ohne fremde Hilfe durch z. B. einen Arzt oder Rechtsanwalt, wahrnehmen würde (Jürgens / Jürgens 2014, § 1896 Rn. 9). Mit Angelegenheiten im Sinne des Betreuungsrechts sind – da ja nur eine rechtliche Betreuung stattfinden soll – außerdem immer nur Rechtsangelegenheiten gemeint, d. h. solche mit rechtlichem Bezug (Damrau und Zimmermann 2011, § 1896 Rn. 18, 21). Dazu gehören vor allem Rechtsgeschäfte, aber auch sonstige Rechtshandlungen wie
insbesondere die Einwilligung in medizinische Maßnahmen sowie generell die Ausübung und Wahrung von Rechten (Dodegge und Roth 2018, A Rn. 13). Willenserklärungen in höchstpersönlichen Angelegenheiten, z. B. Eheschließung (§ 1311 BGB), Testamentserrichtung (§ 2064 BGB) oder auch Ausübung der elterlichen Sorge (BayObLG BtPrax 2004, 239), sind grundsätzlich nicht „betreuungsfähig“, da der Betreuer den Betroffenen insoweit nicht vertreten kann (Palandt / Götz 2019, § 1896 Rn. 25). Anderes gilt für die in §§ 1904–1906 BGB geregelten persönlichen Angelegenheiten, also die Einwilligung in ärztliche Heileingriffe, eine Sterilisation oder eine Unterbringung, ferner die Einwilligung in eine Bluttransfusion (BVerfG NJW 2002, 206) oder die Sterbehilfe (BGH NJW 2003, 1588). Ob eine Unfähigkeit des Betroffenen zur Erledigung seiner Angelegenheiten vorliegt, hängt sowohl vom Grad der Erkrankung bzw. Behinderung als auch von der Schwierigkeit der jeweils wahrzunehmenden Aufgaben ab (Dodegge und Roth 2018, A Rn. 12).
Merke Bei einer Betreuerbestellung gegen den Willen eines psychisch kranken oder geistig oder seelisch behinderten Menschen nehmen Rechtsprechung und Literatur eine Unfähigkeit, eigene Angelegenheiten zu besorgen, dann an, wenn die Erkrankung oder Behinderung einen solchen Grad erreicht hat, dass die Fähigkeit des Betroffenen zur Wahrnehmung seines Selbstbestimmungsrechts ausgeschlossen oder so erheblich beeinträchtigt ist, dass er bzgl. des jeweiligen Lebensbereichs, in dem Angelegenheiten zu besorgen sind, zu eigenverantwortlichen Entscheidungen nicht mehr in der Lage ist (OLG Hamm FamRZ 1995, 433; Damrau und Zimmermann 2011, § 1896 Rn. 20).
Demnach kann also Unfähigkeit zum Abschluss eines umfangreichen Grundstückskaufvertrags u. U. bereits bei leichter psychischer Krankheit vorliegen, während umgekehrt ein Betroffener mit schweren psychischen Beeinträchtigungen evtl. noch selbstbestimmt in einen kleineren medizinischen Eingriff einwilligen kann. Geht es um den Abschluss von Rechtsgeschäften, wird die Unfähigkeit des Betroffenen häufig auch als rechtliches Unvermögen bezeichnet, da i. d. R. zugleich die Voraussetzungen der (partiellen) Geschäftsunfähigkeit (➤ Kap. 31.7) erfüllt sind und ein Geschäftsunfähiger keine wirksamen Rechtsgeschäfte vornehmen kann (§ 104 Nr. 2 BGB; vgl. HK-BUR / Bauer 2019, § 1896 Rn. 127 ff.). Gehört zu den konkret zu besorgenden Angelegenheiten des Betroffenen die Vornahme einer personenrechtlichen Gestattung (z. B. Einwilligung in einen ärztlichen Heileingriff), sind speziell die Voraussetzungen der Einwilligungsunfähigkeit zu prüfen. Personenrechtliche Gestattungen sind immer dann notwendig, wenn in nicht veräußerbare Rechte wie die körperliche Unversehrtheit oder die Ehre eingegriffen werden soll. Sie sind keine rechtsgeschäftlichen Willenserklärungen, sondern Ermächtigungen zur Vornahme tatsächlicher Handlungen, die in den Rechtskreis des Gestattenden eingreifen (BGHZ 29, 33). Ihre Wirksamkeit hängt daher nicht von der Geschäftsfähigkeit des Erklärenden ab, sondern davon, ob der Einwilligende in der Lage ist, Art, Bedeutung und Tragweite, insbesondere auch die Risiken der konkreten tatsächlichen Maßnahme, zu erfassen und seinen Willen hiernach zu bestimmen (Näheres ➤ Kap. 31.6.1). Wird eine Betreuung aufgrund körperlicher Behinderung angestrebt, ist zu untersuchen, ob ein sogenanntes tatsächliches Unvermögen des Betroffenen gegeben ist. Dieses liegt vor, wenn der Betroffene aufgrund seines körperlichen Leidens seine Angelegenheiten, z. B. Behördengänge oder Bankgeschäfte, nicht mehr selbst erledigen kann (HK-BUR / Bauer 2019, § 1896 Rn. 119). Schließlich muss die Unfähigkeit, die eigenen Angelegenheiten zu besorgen, auf der Krankheit oder Behinderung beruhen. Die
Kausalität ist z. B. zu verneinen, wenn der Betroffene allein aufgrund von Altersstarrsinn, Sprachproblemen, allgemeinen sozialen Problemen, mangelnder Bildung oder Geschäftsungewandtheit seine Angelegenheiten nicht zu regeln vermag oder wenn er seine Angelegenheiten schlicht nicht selbst besorgen will, obwohl er dazu in der Lage ist. Erforderlichkeit der Betreuung
Merke Ein Betreuer darf nur bestellt werden, soweit eine Betreuung tatsächlich erforderlich ist. Dieser Grundsatz der Erforderlichkeit durchzieht das gesamte Betreuungsrecht und genießt Verfassungsrang, da er sich aus einem wichtigen Element des Rechtsstaatsprinzips, dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, ableitet (BayObLG FamRZ 1994, 1551; Bienwald et al. 2016, § 1896 Rn. 44). Erforderlichkeit der Betreuung bedeutet zunächst, dass überhaupt Bedarf für eine Betreuung bestehen muss. Wie bereits hinsichtlich der Unfähigkeit zur Besorgung eigener Angelegenheiten angesprochen, kommt die Bestellung eines Betreuers also nur in Betracht, wenn im konkreten Fall des Betroffenen gegenwärtig oder in absehbarer Zukunft überhaupt Handlungsbedarf besteht. Sind keine Angelegenheiten zu besorgen, z. B. weil der Betroffene im Heim lebt, über keine Vermögenswerte mehr verfügt und auch keine einwilligungsbedürftigen medizinischen Eingriffe absehbar sind, bedarf selbst ein schwerst behinderter Mensch nicht der Betreuung (Damrau und Zimmermann 2011, § 1896 Rn. 17). Andererseits hat eine Betreuerbestellung nicht zur Voraussetzung, dass ständiger Betreuungsbedarf besteht. Lebt der Betroffene z. B. in geordneten Vermögensverhältnissen, kann ein Betreuer schon allein für die Aufgabe erforderlich sein, im Bedarfsfall einzuschreiten und diese
geregelten Verhältnisse aufrechtzuerhalten (BayObLG FamRZ 1995, 117). Der Betreuungsbedarf kann entfallen, wenn der Betroffene bestimmte Angelegenheiten, deren Besorgung an sich vernünftig erscheint, gar nicht erledigt haben will, soweit sein Wille nicht durch die Krankheit dominiert wird (Dodegge und Roth 2018, A Rn. 18, 19). Denn ein weiteres wichtiges Prinzip des Betreuungsrechts besteht darin, die Selbstbestimmung des Betroffenen so weit wie möglich zu erhalten, insbesondere grundsätzlich den Wünschen des Betroffenen zu entsprechen, soweit dies seinem Wohl nicht zuwiderläuft (§ 1901 III S. 1 BGB).
Merke Eine Betreuung ist nicht erforderlich, wenn ein an sich bestehendes Betreuungsbedürfnis anderweitig, namentlich durch Bevollmächtigte oder andere Hilfen, ebenso gut befriedigt werden kann (§ 1896 II S. 2 BGB). Dieser Grundsatz der Subsidiarität der Betreuung ergibt sich zum einen aus dem Erforderlichkeitsprinzip, zum anderen aus der Anerkennung der Autonomie des Betroffenen (Bienwald et al. 2016, § 1896 Rn. 78). Bevor ein Betreuer bestellt wird, ist also zu klären, ob der Betroffene nicht selbst einen rechtlichen Vertreter bestellen will bzw. bestellt hat. Da ein Bevollmächtigter im Unterschied zu einem Betreuer grundsätzlich nicht der staatlichen Kontrolle unterliegt, kann der Vollmachtgeber so seine Privatsphäre vor staatlichen Einblicken schützen (Dodegge und Roth 2018, C Rn. 3). Möglich ist also eine sogenannte Vorsorgevollmacht, also eine Vollmacht, die eine Person in gesunden Tagen für den Fall erteilt, dass sie in der Zukunft eines rechtsgeschäftlichen Vertreters bedarf (vgl. §§ 1901a I S. 1, 1901c BGB; Jürgens / Jürgens 2014, § 1896 Rn. 19). Voraussetzung einer wirksamen Bevollmächtigung durch den Betroffenen ist allerdings, dass dieser zur Zeit der Erteilung der Vollmacht noch geschäftsfähig ist. Bevollmächtigter kann
grundsätzlich jede beliebige Person sein. Steht die bevollmächtigte Person jedoch in einem Abhängigkeitsverhältnis oder in einer anderen engen Beziehung zu einer Einrichtung, in der der Betroffene untergebracht ist oder wohnt, schließt – wegen der Gefahr von Interessenkollisionen – ausnahmsweise die Bevollmächtigung nicht die Bestellung eines Betreuers aus (§§ 1896 II S. 2, 1897 III BGB; Bienwald et al. 2016, § 1896 Rn. 82 ff.). Das Gericht kann also in diesem Fall, wenn die Interessenlage des Betroffenen es gebietet, zusätzlich zum Bevollmächtigten einen Betreuer bestellen, der dann die Bevollmächtigung bei Bedarf wirksam widerrufen kann. Stets ist außerdem die Bestellung eines sogenannten Kontrollbetreuers möglich, wenn der Vollmachtgeber nicht zur Überwachung des Bevollmächtigten in der Lage ist und konkreter Kontrollbedarf besteht (§ 1896 III BGB; Dodegge und Roth 2018, A Rn. 27 f.). Für den Fall, dass die Bevollmächtigung nicht alle betreuungsbedürftigen Angelegenheiten abdeckt, ist nur die Bestellung eines Betreuers für die verbleibenden Aufgaben erforderlich, sodass es zu einem Nebeneinander von Vollmacht und Betreuung für unterschiedliche Angelegenheiten kommen kann. Zu betonen bleibt, dass Ehegatten und nahe Angehörige eines geschäftsoder einwilligungsunfähigen Volljährigen nicht „automatisch“ kraft Gesetz Vertretungsmacht besitzen. Vor der Bestellung eines Betreuers hat das Gericht ferner zu prüfen, ob die Angelegenheiten des Betroffenen nicht durch „andere Hilfen, bei denen kein gesetzlicher Vertreter bestellt wird“, erledigt werden können (§ 1896 II S. 2 BGB). Gemeint sind hier Hilfeleistungen tatsächlicher Art (wie Waschen, Kochen, Putzen) z. B. durch Familienangehörige, Nachbarn, Freunde oder soziale Dienste, also keine Vertretung bei rechtsgeschäftlichem Handeln (Jürgens / Jürgens 2014, § 1896 Rn. 21). Das Prinzip der Erforderlichkeit bestimmt nicht nur das „Ob“, sondern auch den Umfang der Betreuung. Nach § 1896 II S. 1 BGB darf ein Betreuer daher nur für Aufgabenkreise bestellt werden, in denen eine Betreuung notwendig ist. Eine Betreuung ist also nur für die Angelegenheiten möglich, die der Betroffene aufgrund seiner
Krankheit oder Behinderung selbst nicht mehr besorgen kann (Genaueres zu den Aufgabenkreisen ➤ Kap. 31.4.3). Kein entgegenstehender freier Wille des Betroffenen Nach § 1896 Ia BGB darf gegen den freien Willen des Volljährigen ein Betreuer nicht bestellt werden. Das gebieten die verfassungsrechtlich geschützte Würde und allgemeine Handlungsfreiheit des Betroffenen (Art. 1 I, II GG; vgl. BT-Drs. 15 / 2494, 28). Ob der Wille des Betroffenen frei ist, richtet sich nach der Einsichtsfähigkeit und der Fähigkeit des Betroffenen, nach dieser Einsicht zu handeln. Entscheidend ist die Fähigkeit zur Einsicht in die Notwendigkeit einer Betreuerbestellung; der Betroffene muss in der Lage sein, im Grundsatz die für und wider eine Betreuerbestellung sprechenden Gesichtspunkte zu erkennen und gegeneinander abzuwägen. Er muss also verstehen können, dass und warum für ihn ein gesetzlicher Vertreter bestellt werden soll und welche Vor- und Nachteile für ihn damit verbunden wären, insbesondere dass der Betreuer im Rahmen seines Aufgabenkreises eigenverantwortliche Entscheidungsbefugnisse hätte (Dodegge 2005, 1896). Wird der Wille des Betroffenen übermäßig von Einflüssen Dritter oder der Krankheit, z. B. Wahnvorstellungen, beherrscht, fehlt die freie Willensbestimmung und ist der einer Betreuerbestellung entgegenstehende Wille unbeachtlich (BT-Drs. 15 / 2494, 28; BGH NJW 1996, 918 zu § 104 Nr. 2 BGB). Um den Ausschluss der freien Willensbestimmung festzustellen, muss das Gericht ein Sachverständigengutachten einholen (BayObLG BtPrax 2004, 68).
31.4.3. Aufgabenkreise eines Betreuers Allgemeines Eine Betreuung darf, wie erläutert (➤ Kap. 31.4.2), nur für die Aufgabenkreise angeordnet werden, in denen sie erforderlich ist (§ 1896 II S. 1 BGB). Das Gericht muss deshalb den Aufgabenkreis des Betreuers in dem die Betreuung anordnenden Beschluss
ausdrücklich festlegen (§ 286 I Nr. 1 FamFG). Diese Festlegung ist von großer Bedeutung, da sie den Rahmen der Vertretungsmacht des Betreuers absteckt (§ 1902 BGB). Der Begriff „Aufgabenkreis“ schließt die Anordnung der Betreuung für einzelne Angelegenheiten, z. B. die Auflösung eines Mietverhältnisses oder die Beantragung von Pflegeleistungen, nicht aus (BT-Drs. 11 / 4528, 121; BayObLG BtPrax 2001, 79). Besteht Handlungsbedarf für mehrere Angelegenheiten, die der Betroffene nicht mehr selbst besorgen kann, wird die Betreuung für einen umfassenderen Bereich angeordnet, der verschiedene Tätigkeiten umfasst, z. B. Wohnungsangelegenheiten, Zustimmung zur Heilbehandlung oder Verwaltung größerer Vermögenswerte. Möglich und häufig ist die Übertragung so weitreichender Bereiche wie der gesamten Vermögenssorge, Gesundheitssorge oder Aufenthaltsbestimmung (s. u.). Typisierende Bezeichnungen für Aufgabenkreise sind also zulässig, vorausgesetzt dass für die jeweiligen Bereiche insgesamt wirklich eine Betreuung erforderlich ist. Selbst die Übertragung aller Angelegenheiten („Totalbetreuung“) ist möglich (§ 276 I S. 2 Nr. 2 FamFG). Dem Erforderlichkeitsgrundsatz folgend setzt sie voraus, dass in allen Bereichen, die die konkrete Lebenssituation des Betroffenen ausmachen, Handlungsbedarf besteht und dass der Betroffene aufgrund seiner Krankheit oder Behinderung keine dieser seiner Angelegenheiten mehr selbst besorgen kann (BayObLG FamRZ 2002, 1225). Wegen der Schwere des Eingriffs in die Rechte des Betroffenen muss die Anordnung einer Totalbetreuung allerdings die Ausnahme bleiben (BayObLG FamRZ 1998, 452). Selbst beim Aufgabenkreis „alle Angelegenheiten“ sind zudem, wie auch sonst, die Postkontrolle (§ 1896 IV BGB) und die Einwilligung in die Sterilisation (§ 1899 II BGB) stets gesondert anzuordnen.
Merke Wegen der Schwierigkeiten, die für das Gericht mit der Bestimmung des adäquaten Aufgabenkreises eines Betreuers verbunden sind, schreibt § 280 III
Nr. 4, 5 FamFG vor, dass das zur Anordnung einer Betreuung obligatorische Sachverständigengutachten auch die Frage des Umfangs des Aufgabenkreises behandeln muss, wenn es zu dem Ergebnis kommt, dass überhaupt eine Betreuung erforderlich ist. Nach Darlegung der konkret zu besorgenden Angelegenheiten hat der Sachverständige daher insbesondere aufzuzeigen, welche Angelegenheiten der Betroffene mit seinen Fähigkeiten noch selbst zu besorgen vermag und für welche er der Hilfe eines Betreuers bedarf (Bienwald et al. 2016, §§ 280–284 FamFG, Rn. 4, 33). Zeigt sich im Nachhinein, dass der Aufgabenkreis des Betreuers nicht ausreichend ist, ist eine Erweiterung notwendig (§ 1908d III BGB). Dazu muss das gleiche Verfahren wie bei der Bestellung eines Betreuers durchgeführt, d. h. insbesondere auch ein neues Gutachten eingeholt werden, es sei denn, es handelt sich um eine unwesentliche Erweiterung, oder das Verfahren liegt nicht länger als 6 Monate zurück (§ 293 II S. 1 FamFG). Umgekehrt ist eine Einschränkung des Aufgabenkreises durch das Gericht angezeigt, wenn die Voraussetzungen der Betreuung teilweise weggefallen sind (§ 1908d I BGB). Typische Aufgabenkreise und ihre Reichweite In der Praxis haben sich typische Aufgabenkreise herausgebildet (ausführliche Übersicht bei Bienwald et al. 2016, § 1896 Rn. 157). Da der Sachverständige in seinem Gutachten zum Umfang des Aufgabenkreises Stellung nehmen muss, sollte ihm die Reichweite dieser typischen Aufgabenkreise bewusst sein. Vermögenssorge Die Betreuung für die Vermögenssorge wird angeordnet, um die finanziellen Interessen des Betreuten zu schützen. Sie umfasst die
Vertretung in allen vermögensrechtlichen Angelegenheiten. Dazu gehören z. B. die Verfolgung von Ansprüchen gegen Privatpersonen z. B. aus Mietverträgen oder auf Unterhalt, die Geltendmachung von sozialrechtlichen Forderungen wie z. B. Arbeitslosengeld oder Rente, die Abwehr von unberechtigten Ansprüchen, Vertretung in steuerlichen Fragen, aber auch die Schuldenregulierung (Dodegge und Roth 2018, A Rn. 25). Der Aufgabenkreis sollte insbesondere dann weiter eingegrenzt werden, wenn nur in einzelnen dieser Bereiche Handlungsbedarf besteht, z. B. Verwaltung des unbeweglichen Vermögens oder die Erledigung von Bankangelegenheiten (Jurgeleit / Jurgeleit 2018, § 1896 Rn. 154). Mangels Handlungsbedarfs darf bei Vermögenslosen der Aufgabenkreis Vermögenssorge grundsätzlich nicht angeordnet werden, es sei denn, der Vermögenslose ist verschuldet und es droht weitere Verschuldung (BayObLG FamRZ 1997, 902). Personensorge Die Reichweite des Aufgabenkreises Personensorge wird nicht ganz einheitlich definiert. Nach wohl allgemeiner Ansicht hat der Betreuer jedenfalls die Befugnisse nach §§ 1908i, 1632 I – III BGB, d. h. das Recht, die Herausgabe des Betreuten zu verlangen (z. B. nach einer Entführung durch die Angehörigen) und seinen Umgang zu bestimmen. So kann der Betreuer z. B. den Besuch eines Angehörigen verbieten, wenn dem Betreuten daraus erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigungen erwachsen würden (BayObLG FamRZ 2000, 1524). Mehrheitlich wird – analog der Regelung für Minderjährige in § 1631 I BGB – zudem auch das Aufenthaltsbestimmungsrecht und die Gesundheitssorge, soweit der Betreute nicht einwilligungsfähig ist, zur Personensorge gezählt (Dodegge und Roth 2010, A Rn. 24). Schwierig ist die Zuordnung von Aufgaben wie Wohnungsauflösung oder Verkauf des selbstbewohnten Hauses, weil sich hier der Aufgabenkreis der Personensorge mit dem der Vermögenssorge vermischt (Damrau und Zimmermann 2011, § 1896 Rn. 72). Aufgrund der Unbestimmtheit und Reichweite des Begriffs Personensorge und
angesichts des Erforderlichkeitsgrundsatzes sollte nur zurückhaltend von diesem Aufgabenkreis Gebrauch gemacht werden, und die konkret erforderlichen Aufgabenkreise der Personensorge sollten in der Entscheidung im Einzelnen aufgezählt werden (HK-BUR / Bauer / Deinert 2019, § 1896 Rn. 226). Gesundheitssorge Mit dem Aufgabenkreis Gesundheitssorge werden im Wesentlichen zwei Aspekte verbunden: zum einen die Sorge dafür, dass der Betroffene sich bei Bedarf in ärztliche Behandlung begibt, Verordnungen einhält und gesundheitsschädigendes Verhalten vermeidet, zum anderen die Einwilligung des Betreuers in ärztliche Heilbehandlungen des Betreuten. Der erste Aspekt umfasst für den Betreuer z. B. die Aufgaben, bei Bedarf den Gang zum Arzt zu organisieren, einen Behandlungs-, Krankenhaus- und / oder Krankentransportvertrag abzuschließen oder die Finanzierung einer bestimmten Behandlung durch Anträge bei der Krankenversicherung oder Beihilfestelle zu sichern (Damrau und Zimmermann 2011, § 1896 Rn. 78, 79). Der zweite Aspekt, die Einwilligung in medizinische Maßnahmen, setzt voraus, dass der Betreute in der konkreten Situation einwilligungsunfähig, also nicht mehr in der Lage ist, nach seiner geistigen Reife die Bedeutung und Tragweite des ärztlichen Eingriffs und seiner Gestattung zu ermessen (Bienwald et al. 2018, § 1896 Rn. 157, S. 86; zur Einwilligung in medizinische Maßnahmen ➤ Kap. 31.6.1). Es besteht Uneinigkeit in Rechtsprechung und Literatur, ob die Einwilligung in medizinische Maßnahmen ohne besondere Nennung in der Entscheidung des Gerichts vom Aufgabenkreis Gesundheitssorge mit umfasst ist (bejahend Palandt / Götz 2019, § 1896 Rn. 20; a. A. HK-BUR / Bauer / Deinert 2019, § 1896 Rn. 219, 228). Zur Rechtssicherheit sollte daher die Einwilligung in die ärztliche Heilbehandlung stets gesondert genannt werden (HKBUR / Bauer / Deinert 2019, § 1896 Rn. 228). Gleiches gilt für die Frage, ob die Verweigerung der Einwilligung in lebensverlängernde
bzw. -erhaltende Maßnahmen von der Gesundheitssorge umfasst ist (Bienwald et al. 2016, § 1904 Rn. 60). Der Aufgabenkreis Gesundheitssorge umfasst grundsätzlich die Sorge für das gesundheitliche Wohl in allen Bereichen der Medizin (Bienwald et al. 2016, § 1896 Rn. 157, S. 118). Ist nur eine Gesundheitssorge im nervenärztlichen Bereich erforderlich, da der Betroffene im Übrigen hinreichend gesund ist, muss daher der Aufgabenkreis insoweit präzisiert werden (BayObLG FamRZ 1994, 1059; 1996, 250). Nach dem Grundsatz der Erforderlichkeit ist eine Einschränkung z. B. auch notwendig, wenn lediglich die Sicherstellung und Überwachung einer medikamentösen Behandlung notwendig ist (LG Regensburg FamRZ 1993, 477). Nicht von der Gesundheitssorge umfasst sind die freiheitsentziehende Unterbringung zu Heilzwecken (OLG Hamm FamRZ 2001, 861), die Aufenthaltsbestimmung und die Sterilisation (§ 1905 BGB). Aufenthaltsbestimmung Der Aufgabenkreis der Aufenthaltsbestimmung muss nur dann angeordnet werden, wenn tatsächlich Bedarf für einen Aufenthaltswechsel besteht oder zumindest jederzeit auftreten kann (Coeppicus 2000, 82; a. A. Bienwald et al. 2016, § 1896 Rn. 157, S. 94). Der häufigste Fall ist der, dass die Verbringung des Betreuten in ein Heim angezeigt ist (Coeppicus 2000, 82), z. B. weil eine häusliche Pflege unsicher ist (BayObLG FamRZ 1992, 108). Da die Aufenthaltswahl ein tatsächlicher und nicht ein rechtlicher Vorgang ist, setzt eine Betreuung in diesem Bereich – ähnlich der Betreuung für die Einwilligung in medizinische Maßnahmen – nicht fehlende Geschäftsfähigkeit, sondern fehlende Einsichtsfähigkeit voraus, die Notwendigkeit eines Aufenthaltswechsels zu beurteilen (BayObLG FamRZ 1999, 1299; Jurgeleit / Jurgeleit 2018, § 1896 Rn. 158). Mit einem Aufenthaltswechsel sind zumeist allerdings auch rechtsgeschäftliche Handlungen wie die Aufhebung und Begründung des Wohnsitzes (Ummeldung) und die Kündigung bzw. der Abschluss eines Miet- oder Heimvertrags verbunden. Die Erstreckung des Aufgabenkreises auf diese Rechtsgeschäfte ist
umstritten, sollte jedoch bejaht werden (so bzgl. Wohnsitzwechsel BayObLG FamRZ 1992, 1222; bzgl. Heimvertrag BayObLG FamRZ 1999, 1300; Staudinger / Bienwald 2017, § 1896 BGB Rn. 178). Unstreitig umfasst der Aufgabenkreis Aufenthaltsbestimmung das Recht, über einen stationären Aufenthalt des Betreuten zu bestimmen (BayObLG FamRZ 1999, 1299). Nach heute ganz herrschender Ansicht ist auch das Recht inbegriffen, über eine freiheitsentziehende Unterbringung nach § 1906 BGB zu entscheiden (OLG Stuttgart, FÜR 2004, 711; Damrau und Zimmermann 2011, § 1906 Rn. 13). Weitere Aufgabenkreise Ein weiterer häufig anzutreffender Aufgabenkreis ist der der Heimangelegenheiten, wozu der Abschluss eines Heimvertrags, die Regelung der Kosten sowie die Vertretung gegenüber der Heimleitung zählen (Jurgeleit / Jurgeleit 2018, § 1896 Rn. 162). Der Aufgabenkreis Wohnungsangelegenheiten kann Bereiche wie Kündigung des Wohnraums des Betroffenen, Regelung der Miethöhe, aber auch Entrümpelung der Wohnung umfassen (Jurgeleit / Jurgeleit 2018, § 1896 Rn. 160). Wegen dieser Unbestimmtheit ist er nach dem Erforderlichkeitsgrundsatz weiter zu konkretisieren (Bienwald et al. 2011, § 1896 Rn. 157, S. 161, 162,165, 169), z. B. in Wohnungsauflösung, Mietangelegenheiten, Entrümpelung der Wohnung etc. Weiterhin findet man in der Praxis häufig die Aufgabenkreise Vertretung gegenüber Behörden oder Vertretung in gerichtlichen Verfahren, Postkontrolle (verbunden stets gesondert anzuordnen, § 1896 IV BGB) und Kontrolle eines Bevollmächtigten („Kontrollbetreuung“, § 1896 III BGB).
31.4.4. Person des Betreuers Nach § 1897 I BGB bestellt das Betreuungsgericht eine natürliche Person zum Betreuer, die geeignet ist, die Angelegenheiten des Betreuten in dem gerichtlich bestimmten Aufgabenkreis rechtlich zu besorgen und ihn in dem hierfür erforderlichen Umfang zu betreuen.
Eine solche natürliche Person kann sowohl eine Privatperson sein – entweder ein ehrenamtlicher Betreuer oder ein Berufsbetreuer – als auch ein Mitarbeiter einer juristischen Person, namentlich eines Betreuungsvereins (Vereinsbetreuer) oder einer Behörde (Behördenbetreuer). Priorität bei der Auswahl des Betreuers haben stets die ehrenamtlichen Betreuer. Dies sind häufig Familienangehörige oder nahestehende Personen, aber auch sozial engagierte sonstige Personen (Dodegge und Roth 2018, B Rn. 4). Die Geeignetheit einer Person zur Betreuung hängt nach § 1897 I BGB sowohl davon ab, ob sie hinsichtlich der gerichtlich festgelegten Aufgabenkreise eine ausreichende Qualifikation besitzt, als auch davon, ob sie fähig ist, den Betreuten im erforderlichen Umfang persönlich zu betreuen. Die letztgenannte Anforderung ist im Hinblick auf § 1901 II BGB zu verstehen, wonach der Betreuer die Besorgung der Angelegenheiten des Betreuten an dessen Wohl zu orientieren hat. Dies ist nur möglich, wenn ein ausreichender persönlicher Kontakt zwischen Betreuer und Betreutem bestehen kann (Dodegge und Roth 2018, B Rn. 38), was z. B. bei zu großer räumlicher Distanz (OLG Hamburg, BtPrax 1994, 138) oder bei erheblicher Abneigung des Betreuten gegenüber dem Betreuer problematisch ist (Dodegge und Roth 2018, B Rn. 38). Weitere Voraussetzung der Geeignetheit ist das Fehlen von bestimmten Ausschlusskriterien (näher Dodegge und Roth 2018, B Rn. 40 ff.). So sind z. B. Personen, die zu einer Anstalt, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung, in der sich der Betroffene aufhält, in einem Abhängigkeitsverhältnis oder einer anderen engen Beziehung stehen, von einer Betreuung ausgenommen (§ 1897 III BGB). Ein entscheidendes Auswahlkriterium ist der Vorschlag des Betroffenen (§ 1897 IV BGB). Solange dieser nicht seinem eigenen Wohl zuwiderläuft, ist die benannte Person als Betreuer zu bestellen. Dies gilt z. B. selbst dann, wenn der Betroffene einen bestimmten Berufsbetreuer vorschlägt, obwohl eine geeignete ehrenamtliche Person zur Verfügung stünde (ThürOLG FamRZ 2001, 714). Der Sachverständige sollte in seinem Gutachten Betreuerwünsche des Betroffenen wiedergeben, aber auch dazu Stellung nehmen, falls
er den gewünschten Betreuer für nicht geeignet hält.
31.4.5. Wirkungen und Ausübung der Betreuung Merke Mit der Anordnung der Betreuung erhält der Betreuer das Recht und die Aufgabe, den Betreuten in dem ihm zugewiesenen Aufgabenkreis gerichtlich und außergerichtlich zu vertreten (§ 1902 BGB). Der Betreuer kann also innerhalb seines Aufgabenkreises mit Wirkung für und gegen den Betreuten Willenserklärungen abgeben und empfangen (§ 164 I, III BGB), und zwar in dem Umfang, in dem sein Tätigwerden erforderlich ist, um die Angelegenheiten des Betreuten rechtlich zu besorgen (§ 1901 I BGB). Eine wichtige Besonderheit gilt bei der Einwilligung zu Eingriffen in höchstpersönliche Rechte und Güter. Hier besteht die Vertretungsmacht des Betreuers nur dann, wenn der Betreute in der konkreten Situation tatsächlich einwilligungsunfähig ist. Ist der Betreute dagegen einwilligungsfähig, kann nur er selbst wirksam z. B. in einen körperlichen Eingriff einwilligen, selbst wenn dem Betreuer der Aufgabenkreis „Einwilligung in die Heilbehandlung“ ausdrücklich zugewiesen wurde. Insofern besteht dann also ausnahmsweise kein Vertretungsrecht des Betreuers (OLG Hamm BtPrax 1997; BayObLG FamRZ 1999, 1304; Taupitz 2000, 62 ff.). Der Betreuer ist verpflichtet, stets dem Wohl des Betreuten entsprechend zu handeln (§ 1901 II S. 1 BGB) und den Wünschen
des Betreuten Folge zu leisten, soweit diese nicht dessen Wohl zuwiderlaufen oder dem Betreuer nicht zuzumuten sind (§ 1901 III S. 1 BGB). In diesem Rahmen entscheidet der Betreuer grundsätzlich selbstständig und eigenverantwortlich und unterliegt nur bei pflichtwidrigem Verhalten den Weisungen des Gerichts (§§ 1837 II, 1908i I S. 1 BGB; Bienwald et al. 2016, § 1896 Rn. 161), das ihn bei fehlender Eignung auch entlassen kann (§ 1908b I S. 1 BGB). Nur ausnahmsweise, nämlich bei besonders schwerwiegenden Angelegenheiten (die allerdings in der Praxis erhebliche Bedeutung haben), schränkt das Gesetz die Vertretungsmacht des Betreuers dadurch ein, dass seine Entscheidung noch der Genehmigung des Betreuungsgerichts bedarf. Dies gilt z. B. für die Unterbringung (§ 1906 BGB), die Kündigung einer vom Betreuten gemieteten Wohnung (§ 1907 BGB) oder die Einwilligung in besonders gravierende ärztliche Maßnahmen (§ 1904 BGB) oder eine Sterilisation (§ 1905 BGB; Genaueres ➤ Kap. 31.6).
Merke Die Anordnung der Betreuung hat keine Auswirkung auf die Geschäftsfähigkeit des Betreuten. Auch die eigenständig vorgenommenen Rechtsgeschäfte eines Betreuten sind also wirksam, selbst wenn sie in den Aufgabenkreis des Betreuers fallen, solange nicht die Geschäftsunfähigkeit des Betreuten positiv festgestellt (§ 105 I BGB) oder aber zusätzlich ein Einwilligungsvorbehalt des Betreuers angeordnet wurde (§ 1903 BGB; ➤ Kap. 31.4.6). Schließen geschäftsfähiger Betreuter und Betreuer einander widersprechende Rechtsgeschäfte ab, ist bei Verfügungsgeschäften (z. B. einer Übereignung) das Geschäft wirksam, das zuerst abgeschlossen wurde, während bei Verpflichtungsgeschäften (z. B. einem Kaufvertrag) wegen des nicht erfüllbaren Geschäfts Schadensersatzverpflichtungen entstehen können.
31.4.6. Einwilligungsvorbehalt Grundgedanke Wie erwähnt, lässt die Anordnung der Betreuung die Geschäftsfähigkeit des Betreuten unberührt. Grund dafür ist, dass das Betreuungsrecht die verbliebenen Fähigkeiten des Betreuten berücksichtigen und ihm die Möglichkeit bewahren möchte, ungehindert am Rechtsverkehr teilzunehmen (BT-Drs. 11 / 4528, 63). Allerdings gibt es Fälle, in denen die Teilnahme des Betreuten am Rechtsverkehr nachteilhaft für ihn ist, weil er krankheitsbedingt Rechtsgeschäfte abschließt, die ihn schädigen. Ist er noch geschäftsfähig, entfalten solche Rechtsgeschäfte ihm gegenüber grundsätzlich volle Wirksamkeit. Ist er geschäftsunfähig, sind von ihm abgegebene Willenserklärungen zwar nach § 105 I BGB nichtig (beachte jedoch die Ausnahmen in § 105a BGB, ➤ Kap. 31.7.1). Jedoch ist die Geschäftsunfähigkeit ein Umstand, den der Betreute bzw. sein Betreuer in Zweifelsfällen beweisen muss, was nicht immer einfach ist (Dodegge und Roth 2018, A Rn. 47). Das Betreuungsrecht bietet daher die Möglichkeit, zum Schutz des Betreuten einen Einwilligungsvorbehalt durch das Betreuungsgericht anordnen zu lassen, der die Wirksamkeit einer Willenserklärung des Betreuten von der Zustimmung des Betreuers abhängig macht (§ 1903 I S. 1 BGB). Ist ein Einwilligungsvorbehalt angeordnet, liegt völlig unabhängig von der Geschäftsfähigkeit des Betreuten die Beweislast für die Wirksamkeit eines Rechtsgeschäfts nunmehr beim Geschäftsgegner. Er muss die Zustimmung des Betreuers zur Willenserklärung des Betreuten nachweisen (Dodegge und Roth 2018, A Rn. 47). Der Einwilligungsvorbehalt betrifft nur rechtsgeschäftliches Handeln des Betreuten, also Willenserklärungen im rechtstechnischen Sinne. Er hat dagegen keine Auswirkungen auf die Einwilligung zu Eingriffen in höchstpersönliche Rechte und Güter (➤ Kap. 31.4.5). Diese Einwilligung kann, wie dargestellt, (nur) der Betreute selbst erteilen, wenn er einwilligungsfähig ist; ist dies nicht der Fall, handelt der Betreuer als sein gesetzlicher Vertreter. Da eine Betreuung grundsätzlich nicht für
höchstpersönliche Rechtsgeschäfte angeordnet werden kann (➤ Kap. 31.4.2), kann auch insofern kein Einwilligungsvorbehalt angeordnet werden. § 1903 II BGB stellt daher klar, dass sich der Einwilligungsvorbehalt nicht auf Verfügungen von Todes wegen (z. B. Testament, Erbvertrag) und auf Willenserklärungen erstreckt, die auf die Eingehung einer Ehe oder Lebenspartnerschaft gerichtet sind. Ferner kann auch für höchstpersönliche Rechtsgeschäfte wie die Einwilligung in eine Adoption oder die Erklärungen, die der Betreute als gesetzlicher Vertreter seiner Kinder abgibt, kein Einwilligungsvorbehalt angeordnet werden (Dodegge und Roth 2018, A Rn. 65, 66). Voraussetzungen
Merke Die Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts setzt voraus: • Bestehen einer Betreuung für die fragliche Angelegenheit (Akzessorietät) • Erhebliche Gefahr für die Person oder das Vermögen des Betreuten • Erforderlichkeit des Einwilligungsvorbehalts zur Abwendung der Gefahr
Akzessorietät zur Betreuung Die Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts ist nicht ohne das Bestehen einer Betreuung möglich (vgl. Wortlaut § 1903 I S. 1 BGB). Ausreichend ist allerdings, dass die Bestellung eines Betreuers zeitgleich mit dem Einwilligungsvorbehalt erfolgt (BT-Drs. 11 / 4528, 138). Aufgrund dieser Akzessorietät des Einwilligungsvorbehalts zur Betreuung endet der Einwilligungsvorbehalt auch automatisch, sobald die Betreuung aufgehoben wird. Ferner kann der Umfang des
Einwilligungsvorbehalts maximal so weit reichen wie der Aufgabenkreis des Betreuers (Jurgeleit / Kieß 2018, § 1903 Rn. 10). Erhebliche Gefahr für die Person oder das Vermögen des Betreuten Nach § 1903 I S. 1 BGB setzt die Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts voraus, dass eine erhebliche Gefahr für die Person oder das Vermögen des Betreuten besteht. Gemeint ist die Gefahr einer krankheitsbedingten Selbstschädigung an wirtschaftlichen oder persönlichen Gütern durch Abgabe oder Empfang von Willenserklärungen bzw. durch passives Verhalten, wo ein Tätigwerden notwendig wäre (Dodegge und Roth 2018, A Rn. 51). Eine Gefahr für die Person könnte z. B. durch die Kündigung der Wohnung oder der Arbeitsstelle entstehen. Eine Gefahr für das Vermögen liegt z. B. bei der Verschleuderung von Vermögen oder bei drohender weiterer Verschuldung vor. Da die Gefahr erheblich sein muss, können lediglich geringfügige Vermögensnachteile die Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts nicht rechtfertigen (Jürgens / Jürgens 2014, § 1903 Rn. 3). Eine Selbstschädigung muss ferner mit hinreichender Sicherheit zu erwarten sein (Dodegge und Roth 2018, A Rn. 51). Nicht ausreichend ist daher die bloße Möglichkeit einer Selbstschädigung (LG Köln FamRZ 1992, 856), während andererseits die Gefahr nicht unmittelbar bevorstehen oder gar bereits eine Schädigung eingetreten sein muss (Dodegge und Roth 2018, A Rn. 51). Entscheidend für die Einschätzung einer Gefahr ist weniger die Schwere der psychischen Krankheit oder Behinderung als vielmehr die Selbstschädigungsgefahr, die insbesondere von der Antriebsstärke des Betreuten zur Teilnahme am Rechtsverkehr abhängt (Dodegge und Roth 2018, A Rn. 52). Wer aufgrund seiner Krankheit oder Behinderung völlig an der Teilnahme am rechtsgeschäftlichen Verkehr gehindert ist, muss daher grundsätzlich auch nicht durch einen Einwilligungsvorbehalt geschützt werden (OLG Zweibrücken FamRZ 1999, 1171). Erforderlichkeit
Schließlich muss die Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts zur Abwendung der Gefahr erforderlich sein (§ 1903 I S. 1 BGB). Dies bedeutet zunächst, dass keine weniger eingreifende Maßnahme, die wenigstens den gleichen Schutz verspricht, zur Verfügung stehen darf. Ausreichend kann z. B. sein, dem Betreuten einen Begleiter bei seinen Einkäufen zur Seite zu stellen oder bestimmte Geschäftsleute zu kontaktieren, wenn sich die schädigenden Handlungen des Betreuten auf Geschäfte mit diesen Personen konzentrieren (Dodegge und Roth 2018, A Rn. 59). Ein Einwilligungsvorbehalt darf ferner nur für denjenigen angeordnet werden, der aufgrund einer psychischen Erkrankung oder Behinderung seinen Willen nicht frei bestimmen kann. Der Staat darf seine erwachsenen und zur freien Willensbildung fähigen Bürger nicht zu erziehen versuchen und muss die Gefahr einer Selbstschädigung hinnehmen (BayObLG FamRZ 1993, 851). Daher darf z. B. für lediglich körperlich behinderte Personen kein Einwilligungsvorbehalt angeordnet werden (BT-Drs. 11 / 4528, 117, 137). Erforderlichkeit des Einwilligungsvorbehalts bedeutet schließlich auch, dass der Einwilligungsvorbehalt nicht automatisch für den gesamten Aufgabenkreis des Betreuers angeordnet werden darf. Es ist stets zu prüfen, ob er nicht zeitlich oder gegenständlich begrenzt werden kann. So kann der Einwilligungsvorbehalt etwa auf Verpflichtungsgeschäfte beschränkt werden, die einen bestimmten monatlichen „Freibetrag“ übersteigen (BayObLG BtPrax 1994, 30: 500 DM bzw. jetzt 250 Euro monatlich) oder auf Rechtsgeschäfte, die ein bestimmtes Objekt betreffen (BayObLG BtPrax 1995, 143: Verwaltung und Sanierung eines bestimmten Hauses). Wirkungen
Merke Wird ein Einwilligungsvorbehalt angeordnet, ist eine Willenserklärung, die der Betreute im vom Einwilligungsvorbehalt erfassten Bereich abgibt,
grundsätzlich nur dann wirksam, wenn der Betreuer ihr zustimmt (§ 1903 I S. 1 BGB). Eine Zustimmung vor Vornahme eines Rechtsgeschäfts wird als Einwilligung (§ 183 S. 1 BGB), eine Zustimmung nach Vornahme eines Rechtsgeschäfts als Genehmigung bezeichnet (§ 184 I BGB). Bei Verträgen kann sowohl eine Einwilligung als auch eine Genehmigung durch den Betreuer zur Wirksamkeit des Rechtsgeschäfts führen. Fehlt die Einwilligung, ist der Vertrag zunächst „schwebend unwirksam“. Durch eine Genehmigung des Betreuers erlangt er im Nachhinein Wirksamkeit (§ 108 I i. V. m. § 1903 I S. 2 BGB). Anders ist es bei einseitigen Rechtsgeschäften, z. B. einer Kündigung, Anfechtung oder Bevollmächtigung. Werden sie vom Betreuten vorgenommen, sind sie grundsätzlich nur dann wirksam, wenn der Betreuer vorher eingewilligt hat (§ 111 i. V. m. § 1903 I S. 2 BGB). Erklärt z. B. der Betreute ohne die Einwilligung des Betreuers die Kündigung seiner Wohnung, ist diese Erklärung nichtig und nicht genehmigungsfähig. Der Einwilligungsvorbehalt hat auch Auswirkungen auf die Entgegennahme von Willenserklärungen durch den Betreuten. Grundsätzlich erlangen dem Betreuten gegenüber abgegebene Willenserklärungen im Bereich des Einwilligungsvorbehalts erst dann Wirksamkeit, wenn sie auch dem Betreuer zugegangen sind (§ 131 I S. 1 i. V. m. § 1903 I S. 2 BGB). Beispielsweise muss die Kündigung des Heimvertrags gegenüber einem Betreuten also auch dem Betreuer zugehen.
Merke Weder die Abgabe noch die Entgegennahme von Willenserklärungen bedürfen allerdings der Mithilfe des Betreuers, wenn die abgegebenen bzw. entgegengenommenen Willenserklärungen dem Betreuten lediglich einen rechtlichen Vorteil bringen oder wenn sie eine geringfügige Angelegenheit des täglichen Lebens betreffen
(§ 1903 III BGB). Solche Willenserklärungen sind ohne Zustimmung des Betreuers bzw. ohne Zugang bei ihm wirksam. Lediglich rechtlich vorteilhaft ist ein Rechtsgeschäft, wenn es dem Betroffenen ausschließlich zusätzliche Rechte verschafft, ihm also keine Pflichten auferlegt und nicht zum Verlust von Rechten führt (Palandt / Ellenberger 2019, § 107 Rn. 2). So sind z. B. die Entgegennahme eines Schenkungsversprechens oder die Kündigung eines vom Betreuten gewährten zinslosen Darlehens lediglich rechtlich vorteilhafte Geschäfte. Stets zustimmungsbedürftig sind dagegen lediglich wirtschaftlich vorteilhafte Rechtsgeschäfte wie etwa der Kauf einer Sache zu einem besonders günstigen Preis. Was unter Rechtsgeschäften über geringfügige Angelegenheiten des täglichen Lebens zu verstehen ist, richtet sich nach der Verkehrsauffassung (BT-Drs. 11 / 4528, 139). Regelmäßig erfasst sind alltägliche Bargeschäfte über geringwertige Gegenstände. Das Gericht kann bei diesen Geschäften allerdings anordnen, dass sie ausnahmsweise doch zustimmungsbedürftig sind (§ 1903 III S. 2 BGB), was z. B. sinnvoll sein kann, wenn es sich bei dem Betreuten um einen Alkoholkranken handelt (Schneider et al. 2015, 242).
Merke Ein Einwilligungsvorbehalt geht ins Leere, wenn der Betreute bei der Abgabe seiner Willenserklärung nachweisbar geschäftsunfähig und seine Erklärung daher nach §§ 104 Nr. 2, 105 I BGB nichtig ist. Weder Einwilligung noch Genehmigung des Betreuers können der nichtigen Willenserklärung dann zur Wirksamkeit verhelfen (Jürgens / Jürgens 2014, § 1903 Rn. 15). Umstritten ist, ob die Zustimmung des Betreuers in solchen Fällen in eine Eigenvornahme des Geschäfts im Rahmen seiner
Vertretungsbefugnis für den Betreuten umgedeutet werden kann (§ 140 BGB; so BT-Drs. 11 / 4528, 137; a. A. Palandt / Götz 2019, § 1903 Rn. 10). Jedenfalls kann der Betreuer das Rechtsgeschäft als gesetzlicher Vertreter des Betreuten erneut vornehmen (Jürgens / Jürgens 2014, § 1903 Rn. 17).
31.4.7. Dauer der Betreuung Nach § 40 I FamFG beginnt die Betreuung mit der Bekanntmachung der gerichtlichen Anordnung der Betreuung an den Betreuer. Sie endet entweder automatisch mit dem Tod des Betreuten oder mit ihrer ausdrücklichen Aufhebung durch das Gericht (Jürgens / Jürgens 2014, § 1908d BGB Rn. 1). Die Aufhebung der Betreuung hat das Gericht dann zu erklären, wenn deren Voraussetzungen weggefallen sind (§ 1908d I S. 1 BGB). Dies ist z. B. gegeben, wenn der Betreute nicht mehr an der Krankheit oder Behinderung leidet oder wenn er wegen einer Besserung seiner Verfassung wieder (aber nicht nur vorübergehend, BayObLG FamRZ 1994, 319) imstande ist, seine Angelegenheiten selbst zu besorgen. Das Tätigwerden des Gerichts wird in diesen Fällen zum einen dadurch gewährleistet, dass sowohl der Betreuer als auch die Betreuungsbehörde dem Gericht Umstände mitzuteilen haben, die eine Aufhebung der Betreuung ermöglichen (§ 1901 V S. 1 BGB; § 7 BtBG). Zum anderen ist das Gericht verpflichtet, die Voraussetzungen der Betreuung nach einer Frist, die es bereits mit der Bestellung des Betreuers festzulegen hat und die maximal 7 Jahre betragen darf, zu überprüfen (§§ 286 III, 294 III FamFG). Der Festlegung dieser Frist dient die Aufgabe des Psychiaters, in seinem Gutachten auch auf die voraussichtliche Dauer der Betreuungsbedürftigkeit des Betroffenen einzugehen (§ 280 III Nr. 5 FamFG; ➤ Kap. 31.5.3).
31.5. Betreuungsverfahrensrecht Die Entscheidung des Gerichts über die Anordnung einer Betreuung und eines Einwilligungsvorbehalts ergeht in einem Verfahren, das in
§§ 271–311 FamFG (Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit) und ergänzend in §§ 1896–1908i BGB geregelt ist. Die Verhandlung ist nicht öffentlich.
31.5.1. Verfahrenseinleitung Das Betreuungsverfahren wird entweder auf Antrag des Betroffenen oder von Amts wegen eingeleitet (§ 1896 I S. 1 BGB). Ausschließlich der Betroffene selbst kann einen Antrag an das Betreuungsgericht stellen. Dritte, z. B. Angehörige, Freunde, aber auch Behörden (mit wenigen Ausnahmen nach §§ 16 VwVfG, 15 SGB X, 81 AO, 85 II WDO und 3 i. V. m. 16 VwVfG, 62 IV VwGO i. V. m. 53 ff. ZPO) oder Ärzte haben kein eigenes Antragsrecht. Ihre Anträge können aber als Anregung auf Einleitung eines Amtsverfahrens betrachtet werden. Kann ein Volljähriger lediglich aufgrund einer körperlichen Behinderung seine Angelegenheiten nicht besorgen, darf der Betreuer grundsätzlich nur auf seinen Antrag bestellt werden. Nur wenn der Volljährige seinen Willen nicht kundtun kann, darf die Bestellung von Amts wegen erfolgen (§ 1896 I S. 3 BGB). Eine Betreuerbestellung kann auch von Amts wegen erfolgen. Erhält das Gericht von einer Behörde (etwa von einer Betreuungsbehörde aufgrund von § 7 BTBG), einem Arzt oder einer sonstigen (ggf. ganz unbeteiligten) Person einen Hinweis darauf, dass ein Betreuungsfall gegeben sein könnte, hat das Gericht von Amts wegen zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Anordnung einer Betreuung vorliegen. Das Gericht muss entsprechende Ermittlungen aufnehmen und ggf. einen Gutachter bestellen.
31.5.2. Verfahrensfähigkeit des Betroffenen und Bestellung eines Verfahrenspflegers Merke
Der Betroffene ist in allen die Betreuung betreffenden Verfahren ohne Rücksicht auf seine Geschäftsfähigkeit verfahrensfähig (§ 275 FamFG) und hat somit alle Befugnisse eines Geschäftsfähigen im Verfahren. Dem Betroffenen kann ein Verfahrenspfleger bestellt werden, wenn er nach dem Grad seiner Behinderung und der Bedeutung / Schwierigkeit des Verfahrensgegenstands die ihm zugesprochene Verfahrensfähigkeit nicht umsetzen kann (§ 276 FamFG), z. B. bei Geschäftsunfähigkeit oder schwerer Ansprechbarkeit (BayObLG Rpfleger 1993, 283). Die Bestellung eines Verfahrenspflegers ändert jedoch nichts an der Verfahrensfähigkeit des Betroffenen. Der Verfahrenspfleger hat unabhängig von den Weisungen des Betroffenen dessen objektive Interessen wahrzunehmen. Dies hat zwar die Möglichkeit widersprechender Verfahrenshandlungen zur Folge, im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes können diese jedoch in die zur Entscheidung führenden Erwägungen einbezogen werden (Bumiller und Haders 2019, § 275 FamFG Rn. 5).
31.5.3. Beschaffung der Entscheidungsgrundlagen durch das Gericht Das Gericht hat in einem anhängigen Betreuungsverfahren alle entscheidungserheblichen Tatsachen von Amts wegen zu ermitteln (§ 26 FamFG; Amtsermittlungsgrundsatz). Persönliche Anhörung des Betroffenen
Merke Vor Bestellung eines Betreuers oder vor Anordnung des Einwilligungsvorbehalts hat das Gericht den Betroffenen persönlich anzuhören und
sich einen unmittelbaren Eindruck von ihm zu verschaffen (§ 278 I FamFG). Den unmittelbaren Eindruck soll sich das Gericht in der üblichen Umgebung des Betroffenen verschaffen, wenn der Betroffene es verlangt oder wenn es der Sachaufklärung dient und der Betroffene nicht widerspricht (§ 278 I S. 3 FamFG). Als übliche Umgebung kann nicht nur eine Wohnung oder ein Altenheim angesehen werden, sondern auch ein Krankenhaus, nicht jedoch ein Treffpunkt im Freien. Einem Verlangen ist nicht zwingend Folge zu leisten; das Gericht entscheidet vielmehr nach pflichtgemäßem Ermessen, wo die Anhörung stattfindet. Unter „persönlicher Anhörung“ ist zwingend eine mündliche Anhörung vor Ort zu verstehen (BVerfG NJW 1982, 691). Nicht ausreichend ist also die Möglichkeit zur schriftlichen oder telefonischen Stellungnahme. Die Anhörung soll dem Gericht dabei helfen zu ermitteln, ob die Bestellung des Betreuers bzw. die Anordnung des Einwilligungsvorbehalts erforderlich ist, welche Personen geeignet sind, das Amt zu übernehmen, und welche Angelegenheiten des Betroffenen überhaupt geregelt werden müssen. Der Betroffene kann in diesem Zusammenhang eine Person als Betreuer vorschlagen oder seine Wünsche oder Vorstellungen hinsichtlich des Betreuers äußern (BayObLG BtPrax 1995, 105). Gemäß § 170 I S. 2 und 3 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) kann der Betroffene verlangen, dass zu der nichtöffentlich geführten Anhörung einer Person seines Vertrauens die Anwesenheit gestattet wird. Dritten kann das Gericht etwa zu Ausbildungszwecken die Anwesenheit gestatten, jedoch nicht gegen den Willen des Betroffenen. Dritter im Sinne der Vorschrift ist nicht ein Sachverständiger, den das Gericht im Rahmen der Gutachtenerstattung (§ 280 FamFG) zum Anhörungstermin hinzuzieht. Von der Anhörung kann abgesehen werden, wenn nach ärztlichem Gutachten hiervon erhebliche Nachteile für die Gesundheit des Betroffenen zu besorgen sind oder wenn der Betroffene nach dem unmittelbaren Eindruck des Gerichts
offensichtlich nicht in der Lage ist, seinen Willen kundzutun (§ 34 II FamFG). In solchen Fällen ist i. d. R. die Bestellung eines Verfahrenspflegers erforderlich (§ 276 I S. 2 Nr. 1 FamFG). Es müssen irreversible oder lebensgefährliche gesundheitliche Schäden drohen; vorübergehende Beeinträchtigungen wie Erregungszustände oder solche, denen mit Medikamenten oder durch Hinzuziehung eines Arztes entgegengewirkt werden kann, reichen nicht aus (OLG Karlsruhe FamRZ 1999, 670). Das erforderliche Gutachten (§ 280 FamFG) muss daher i. d. R. schon vor der Anhörung des Betroffenen eingeholt werden, weil im Gutachten dann die Aussage getroffen wird, ob die Anhörung erhebliche gesundheitliche Nachteile mit sich bringen kann. Das Gutachten soll von einem Arzt für Psychiatrie oder einem Arzt mit Erfahrung auf dem Gebiet der Psychiatrie erstellt werden. Es kann als Zusatz zum Gutachten nach § 280 FamFG über die Notwendigkeit der Betreuung erstattet werden (Bienwald et al. 2016, §§ 280–284 FamFG Rn. 36). Ein sogenanntes Schlussgespräch, in dem die Ergebnisse der Anhörung, das Gutachten oder das ärztliche Zeugnis, der Umfang des Aufgabenkreises und die Frage der Person des Betreuers erörtert werden, wie es nach § 68 V FGG erforderlich war, ist in der gesetzlichen Neuregelung des § 278 II S. 3 FamFG nicht mehr vorgesehen. Die Gewährung rechtlichen Gehörs und die Sicherstellung, dass das Ergebnis der Ermittlungen vor Erlass einer Entscheidung dem Betroffenen bekannt gegeben wird, ist bereits durch die Vorschriften § 37 II und § 34 I FamFG gewährleistet. Die gesetzliche Regelung eines Schlussgesprächs ist daher überflüssig. Dennoch kann im Einzelfall die Sachverhaltsaufklärungspflicht (§ 26 FamFG) einen gesonderten Termin erforderlich machen, der mit einem Schlussgespräch im Sinne des außer Kraft getretenen § 68 V FGG vergleichbar ist (Jürgens / Kretz 2014, § 278 FamFG Rn. 8). Einschaltung des Sachverständigen Zwang zur Hinzuziehung
Merke Grundsatz: Das Gericht ist verpflichtet, vor der Bestellung eines Betreuers oder der Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts ein Sachverständigengutachten über die Notwendigkeit der Betreuung oder des Einwilligungsvorbehalts einzuholen (§ 280 I S. 1 FamFG). Dies ist auch dann unverzichtbar, wenn der Richter schon aufgrund der persönlichen Anhörung des Betroffenen davon überzeugt ist, dass eine Betreuung erforderlich ist (OLG Brandenburg FamRZ 2001, 40; OLG Stuttgart FamRZ 1993, 1365). Die Pflicht zur Einholung eines Gutachtens besteht auch bei der nicht unwesentlichen Erweiterung eines Aufgabenkreises, bei der Bestellung eines weiteren Betreuers unter Erweiterung des Aufgabenkreises, bei Erweiterung des Einwilligungsvorbehalts und grundsätzlich auch bei der Verlängerung der Betreuung oder des Einwilligungsvorbehalts (§§ 293 I, III, 295 I FamFG i. V. m. § 280 I S. 1 FamFG). Will das Gericht dagegen von der Anordnung einer Betreuung absehen, die Betreuung aufheben oder den Aufgabenkreis des Betreuers einschränken, hat es selbst zu entscheiden, ob es das Einholen eines Gutachtens für erforderlich hält (§ 26 FamFG; BayObLG FamRZ 1994, 720; Jurgeleit / Bučić 2018, § 280 FamFG Rn. 4).
Merke Ausnahmsweise genügt statt des ausführlichen Gutachtens ein ärztliches Zeugnis. Dies ist der Fall, wenn der Betroffene die Betreuung selbst beantragt, auf die Begutachtung verzichtet hat und die Einholung des Gutachtens insbesondere im Hinblick auf den Umfang des Aufgabenkreises des
Betreuers unverhältnismäßig wäre (§ 281 I Nr. 1 FamFG). Ein ärztliches Zeugnis genügt auch, wenn ein Betreuer nur zur Geltendmachung von Rechten des Betroffenen gegenüber seinem Bevollmächtigen bestellt wird (§ 281 I Nr. 2 FamFG, sog. Kontrollbetreuer). Das Gericht kann von der Einholung eines Gutachtens weiterhin absehen, soweit durch die Verwendung eines bestehenden ärztlichen Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung nach § 18 SGB XI festgestellt werden kann, inwieweit beim Betroffenen infolge einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung die Voraussetzungen für die Bestellung eines Betreuers vorliegen (§ 282 I FamFG). Für die Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts ist stets ein Sachverständigengutachten einzuholen; ein ärztliches Zeugnis genügt nicht (§ 280 I S. 1 FamFG). Wesentliche Fragen des Gutachtens Das Gutachten muss die aktuelle Ausprägung der Erkrankung bzw. Behinderung erfassen und zur Notwendigkeit einer Betreuung bzw. eines Einwilligungsvorbehalts Stellung nehmen. Der Sachverständige darf sich nur zu den vom Gericht in Auftrag gegebenen Fragen äußern (KG BtPrax 2005, 153). Das Gutachten wird im Wesentlichen folgende Fragen zu beantworten haben (§ 1896 BGB, § 280 FamFG): • Liegen beim Betroffenen psychische Krankheiten, körperliche, geistige oder seelische Behinderungen vor? Wie stark sind sie ausgeprägt?
• Welche konkreten Angelegenheiten kann der Betroffene deshalb nicht selbst besorgen und in welchem Umfang? • Können die Angelegenheiten des Betroffenen durch andere Hilfsangebote als die Bestellung eines Betreuers besorgt werden, oder ist die Betreuung notwendig? • Wie lange werden die Krankheiten oder Behinderungen und das daraus folgende Unvermögen zur Besorgung der bezeichneten Angelegenheiten voraussichtlich fortbestehen (voraussichtliche Dauer der Betreuungsbedürftigkeit)? • Welche Behandlungs- und Rehabilitationsmöglichkeiten bestehen? • Sind im Falle der persönlichen Anhörung des Betroffenen erhebliche Nachteile für seine Gesundheit zu besorgen (§ 34 II Var. 2 FamFG)? Kann diese Besorgnis ggf. durch die Anwesenheit des Sachverständigen oder anderer Personen ausgeräumt werden? • Muss von der Bekanntmachung der Entscheidungsgründe an den Betroffenen zur Vermeidung erheblicher Nachteile für seine Gesundheit abgesehen werden (§ 288 I FamFG)? Müssen besondere Umstände bei der Bekanntmachung beachtet werden? Umstritten ist, ob das Gutachten Angaben zur Geschäftsfähigkeit machen sollte. Da die Erforderlichkeit der Betreuungsanordnung davon nicht abhängt, wird man i. d. R. darauf verzichten können (Jürgens / Kretz 2014, § 280 FamFG Rn. 7). Es kann aber nützlich sein, die Frage durch den Sachverständigen klären zu lassen, z. B. für die Frage der Testierfähigkeit, der Wirksamkeit von Rechtsgeschäften und Vollmachten oder der Berücksichtigung des Willens des Betroffenen.
31.5.4. Inhalt der Entscheidung des Gerichts Die Entscheidung des Gerichts ergeht durch Beschluss und muss enthalten (§ 38 FamFG):
• Die Bezeichnung des Betroffenen • Bei Bestellung eines Betreuers die Bezeichnung des Betreuers und seines Aufgabenkreises • Bei Bestellung eines Vereins- oder Behördenbetreuers zusätzlich die Bezeichnung als Vereins- oder Behördenbetreuer sowie die Bezeichnung des beteiligten Vereins oder der Behörde • Bei Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts die Bezeichnung des Kreises der einwilligungsbedürftigen Willenserklärungen • Den Zeitpunkt, zu dem das Gericht spätestens über die Aufhebung oder Verlängerung der getroffenen Maßnahmen zu entscheiden hat (dieser Zeitpunkt darf höchstens 7 Jahre nach Erlass der Entscheidung liegen) • Eine Rechtsmittelbelehrung • Ggf. dass von der Bekanntgabe der Entscheidungsgründe zur Verhinderung erheblicher Nachteile für die Gesundheit des Betroffenen abgesehen wird (§ 288 I FamFG) Insbesondere der Aufgabenkreis des Betreuers ist im Interesse des Rechtsverkehrs so konkret und detailliert anzugeben, dass sein Umfang unmittelbar aus der Entscheidungsformel und damit ohne Heranziehung der Entscheidungsgründe festzustellen ist. Das ergibt sich daraus, dass auch der Ausweis des Betreuers nur die konkrete Formulierung des Aufgabenkreises, nicht aber seine Begründung im Einzelnen enthält (BayObLG FamRZ 1994, 1059). Ähnlich ist beim Einwilligungsvorbehalt der Kreis der einwilligungsbedürftigen Rechtsgeschäfte möglichst konkret zu fassen. Soll der Einwilligungsvorbehalt ausnahmsweise auch geringfügige Angelegenheiten des täglichen Lebens betreffen, gehört dies ebenfalls in die Entscheidungsformel.
31.5.5. Einstweilige Anordnungen In eiligen Fällen kann das Gericht vorläufige Regelungen treffen. Durch einstweilige Anordnungen kann das Gericht einen
vorläufigen Betreuer bestellen oder einen vorläufigen Eigentumsvorbehalt anordnen (§ 300 I FamFG), den Aufgabenkreis vorläufig erweitern (§ 293 I FamFG), die Bestellung eines weiteren Betreuers anordnen (§ 293 I, III FamFG) oder einen Betreuer vorläufig entlassen (§ 300 II FamFG). Eine einstweilige Anordnung darf die Dauer von 6 Monaten nicht überschreiten und kann nach Anhörung eines Sachverständigen durch weitere einstweilige Anordnungen bis zu einer Gesamtdauer von 1 Jahr verlängert werden (§ 302 FamFG). Erforderlich ist ein ärztliches Zeugnis über den Zustand des Betroffenen, das sich u. a. auch zur Notwendigkeit der Betreuung äußert (BayObLG FamRZ 1999, 1611). Ein Gutachten wird nicht gefordert. Aus dem Zeugnis müssen sich auch die dringenden Gründe ergeben, die wiederum auf einer zeitnahen persönlichen Untersuchung beruhen (OLG Frankfurt / M., FGPrax 2005, 23; a. A. Bassenge und Roth 2009, § 300 FamFG Rn. 5); das Zeugnis muss auch Aussagen über die Gefahr bei Entscheidungsaufschub enthalten.
Merke Das Gericht kann auch unmittelbar einstweilige Maßnahmen selbst treffen, also anstelle eines Betreuers Angelegenheiten des Betroffenen unmittelbar wahrnehmen (§§ 1908i, 1846 BGB), z. B. in eine eilige Operation einwilligen. Maßnahmen dieser Art werden nur dann in Betracht kommen, wenn selbst für eine eilige Betreuerbestellung nicht mehr genügend Zeit bleibt (Sonnenfeld 2001, Rn. 167).
31.6. Besondere Fälle des Betreuungsrechts 31.6.1. Einwilligung in die Verletzung persönlichkeitsbezogener Güter,
insbesondere bei medizinischen Maßnahmen Zur Notwendigkeit der Einwilligung Jeder Eingriff in die körperliche Unversehrtheit eines Menschen bedarf zu seiner Rechtmäßigkeit einer Legitimation. Auch ein ärztlicher Eingriff, sei er diagnostischer, vorbeugender oder heilender Art, erfüllt den Tatbestand der Körperverletzung (§ 223 StGB) bzw. der unerlaubten Handlung (§ 823 BGB), wenn er ohne Rechtfertigung ist. Die gute (Heil-)Absicht oder der auf ärztlichem Berufsethos und Berufsrecht beruhende Heilauftrag genügen zur Rechtfertigung nicht. Die Rechtfertigung hat vielmehr im Regelfall durch die Einwilligung des Patienten zu erfolgen (BGHSt 11, 111; BGHZ 29, 49; Schönke und Schröder / Sternberg-Lieben 2019, § 223 Rn. 29 ff.). Dies ergibt sich aus dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten über seine leiblich-seelische Integrität (BVerfGE 52, 131). Um das Selbstbestimmungsrecht effektiv wahrnehmen zu können, ist der Patient vor der Einwilligung hinreichend aufzuklären, und zwar über die Krankheit, Art, Schweregrad und Verlauf des Eingriffs, Risiken und mögliche Nebenwirkungen (s. im Einzelnen Laufs und Kern / Laufs 2010, §§ 57 ff.). In Notsituationen, in denen eine Einwilligung weder des Patienten noch eines Vertreters eingeholt werden kann, ohne den Betroffenen zu gefährden, kann eine mutmaßliche Einwilligung ausreichend sein (s. u. „Notmaßnahmen“). Auch andere Eingriffe in persönlichkeitsbezogene Güter (vor allem Gesundheit, Freiheit, allgemeines Persönlichkeitsrecht) können aufgrund einer wirksamen Einwilligung des Betroffenen rechtmäßig sein. Einwilligungsfähigkeit
Merke Einwilligungsfähigkeit ist rechtlich wirksamen
die Fähigkeit zu personenrechtlichen
Gestattungen, etwa zu einem körperlichen Eingriff durch einen Arzt. Zweck des Erfordernisses der Einwilligungsfähigkeit ist es zu vermeiden, dass die Beeinträchtigung eines personenbezogenen Rechtsguts auf die Entscheidung einer Person gestützt wird, die den Schaden oder Nutzen für ihr eigenes Rechtsgut nicht erfassen kann. Bei Volljährigen wird die Einwilligungsfähigkeit vermutet. Dagegen ist sie bei Minderjährigen positiv zu bestimmen. Die Begründungsund Beweislast ist also jeweils eine andere.
Merke Soweit es bei der Einwilligung um die Disposition über ein höchstpersönliches Rechtsgut geht, kommt es nicht auf die (Altersgrenzen der) Geschäftsfähigkeit, sondern auf die natürliche Einsichts-, Urteils- und Steuerungsfähigkeit an (BGHZ 29, 33; OLG Hamm NJW 2003, 2392; Laufs und Kern / Laufs 2010, § 62 Rn. 9). Rechtsprechung und Literatur beschreiben die Einwilligungsfähigkeit als die Fähigkeit, „Wesen, Bedeutung und Tragweite der Maßnahme jedenfalls in groben Zügen zu erfassen und das Für und Wider der Maßnahme abzuwägen“ (seit BGHZ 29, 33 st. Rspr; s. auch BT-Drs. 11 / 4528, 71; Taupitz 2000, 58). Mit geringen sprachlichen Abweichungen folgen dem einige Spezialgesetze wie AMG (§ 40 I S. 3 Nr. 3a), MPG (§ 20 II, § 21 Nr. 2), StrahlenSchV (§ 136 I), KastrG (§ 3 III, IV) und die Unterbringungsgesetze der Länder. In diesen Spezialgesetzen wird allerdings zusätzlich zu den kognitiven Fähigkeiten richtigerweise das voluntative Vermögen verlangt, sich nach der gewonnenen Einsicht „bestimmen“ zu können. Noch stärker ausdifferenziert hat
die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer im Jahr 1997 (DÄBl. 1997, A-1011 f.) überzeugend darauf abgestellt, ob die Person fähig ist, einen bestimmten Sachverhalt zu verstehen (und zwar insbesondere im Hinblick auf das Ziel des Vorhabens, das Verfahren, Beeinträchtigungen, Risiken und Alternativen), diese Informationen in angemessener Weise zu verarbeiten, sie nachvollziehbar (nicht etwa „vernünftig“) und nicht durch Krankheit oder geistige Unreife verzerrt zu bewerten und auf dieser Grundlage von Verständnis, Verarbeitung und Bewertung den eigenen Willen zu bilden und zu äußern. Da die Einwilligungsfähigkeit bezogen auf die konkret anstehende ärztliche Maßnahme zu beurteilen ist, kann es sein, dass der Patient nur für bestimmte Entscheidungen als einwilligungsunfähig zu qualifizieren ist, z. B. bezogen auf eine komplizierte Operation oder das Erfordernis eines Abwägens zwischen verschiedenen möglichen Maßnahmen mit unterschiedlichem Risikoprofil, während er einfache Eingriffe wie z. B. eine Blutentnahme intellektuell noch erfassen kann (Dodegge und Roth 2018, E Rn. 5; Laufs und Kern / Ulsenheimer 2010, § 139 Rn. 43 ff.). Dies ist ein wesentlicher Unterschied zur Geschäftsfähigkeit, die sich auf Rechtsgeschäfte (= Willenserklärungen, z. B. Verträge) bezieht. Die herrschende Meinung lehnt hier eine „relative“, auf das einzelne Rechtsgeschäft bezogene und nach dessen Schwierigkeitsgrad differenzierende Bestimmung der Fähigkeit bzw. Unfähigkeit zu eigenverantwortlichem Handeln ab (➤ Kap. 31.7.2), weil hier der Schutz des Rechtsverkehrs unter dem Aspekt der Rechtssicherheit im Vordergrund steht. Demgegenüber ist aus dem Blickwinkel der Einwilligungsfähigkeit auf die konkret anstehende Entscheidung des jeweils betroffenen Individuums mit Wirkung für sein eigenes Persönlichkeitsgut zu achten. Unbefriedigend an der Formel der herrschenden Meinung ist allerdings die Tatsache, dass die Menschen in sehr unterschiedlichem Ausmaß („in groben Zügen“) „verstehen“, „bewerten“ und „den eigenen Willen bilden können“, sodass genauer zu bestimmen wäre, welchen Grad der Beeinträchtigung eines Volljährigen die Rechtsordnung noch hinnimmt, um dem
Betroffenen gleichwohl noch das Recht der Selbstbestimmung zuzuerkennen, bzw. welche geistigen Fähigkeiten eines Minderjährigen die Rechtsordnung verlangt, um ihm schon das Recht zur Selbstbestimmung zuzusprechen. Immerhin kann die Frage nach der Einwilligungsfähigkeit nur mit „ja“ oder „nein“ beantwortet werden, da es um die Frage geht, ob eine Willensäußerung rechtlich anerkannt und dem Betroffenen zugerechnet werden kann; diese Zurechnung aber kann nicht – je nach Verständnismöglichkeiten – graduell abgestuft erfolgen, sodass der Schwelle zwischen gerade noch bestehender und gerade schon zu verneinender „Einwilligungsfähigkeit“ entscheidende Bedeutung zukommt (Taupitz 2000, 58 f.). Für die Praxis wenig befriedigend ist vor diesem Hintergrund auch der gängige Hinweis, dass es maßgeblich auf die Umstände des Einzelfalls ankommt. Ganz im Zentrum steht letztlich die Beurteilung des im konkreten Fall entscheidenden Arztes. Einigkeit herrscht allerdings insofern, als es nicht darauf ankommt, ob die Entscheidung des Betroffenen „vernünftig“ ist, sich also in das Wertesystem eines objektiven, rational denkenden Dritten einfügt. In einer freiheitlichen Grundordnung darf der Einzelne als autonome, selbstbestimmt und nach eigenen Maßstäben entscheidende Rechtsperson auch Entscheidungen treffen, die den Maßstäben anderer nicht entsprechen. Allerdings mag die Tatsache, dass eine Entscheidung des Betroffenen für andere (etwa den Arzt) nicht nachvollziehbar ist, Anlass sein, der Frage der Einwilligungsfähigkeit besondere Aufmerksamkeit zu widmen.
Merke Die Einwilligungsfähigkeit des Patienten ist i. d. R. vom behandelnden Arzt zu beurteilen (Laufs und Kern / Ulsenheimer 2010, § 137 Rn. 7). Sie kann aber auch Gegenstand eines psychiatrischen Gutachtens sein, z. B. vor einer Betreuerbestellung (§ 280 I FamFG), in einem Arzthaftungsprozess oder in einem Strafverfahren gegen einen Arzt
wegen fahrlässiger Körperverletzung, wenn der ärztliche Eingriff bereits erfolgt ist und im Nachhinein Zweifel an der Einwilligungsfähigkeit des Patienten aufkommen (Laufs und Kern / Ulsenheimer2010, § 139 Rn. 44). Wer erteilt die Einwilligung bei Einwilligungsunfähigkeit? Im Fall der Einwilligungsunfähigkeit einer volljährigen Person muss an ihrer Stelle grundsätzlich ein Betreuer über Erteilung oder Verweigerung der Einwilligung in die ärztliche Maßnahme entscheiden. Ist noch kein Betreuer mit entsprechendem Aufgabenkreis (➤ Kap. 31.4.3) bestellt, ist nunmehr grundsätzlich eine entsprechende Betreuung anzuordnen bzw. der Aufgabenkreis eines bereits bestellten Betreuers entsprechend zu erweitern (Schneider et al. 2015, 217). Etwas anderes gilt zum einen für Notsituationen, in denen aus Zeitgründen kein Betreuer mehr bestellt oder konsultiert werden kann. Hier muss das Gericht oder gar der Arzt allein entscheiden (s. u., Notmaßnahmen). Die Entscheidung eines Betreuers ist zum anderen auch dann nicht erforderlich, wenn der Einwilligungsunfähige zuvor wirksam eine Vollmacht erteilt hat (§ 1901c S. 2 BGB und ➤ Kap. 31.4.2 allgemein zur Vorsorgevollmacht). In diesem Fall entscheidet nicht ein Betreuer, sondern die vom Einwilligungsunfähigen zuvor bevollmächtigte Person über den ärztlichen Eingriff. Eine Patientenvollmacht ist allerdings nur wirksam, wenn der Vollmachtgeber zur Zeit ihrer Erteilung noch geschäftsfähig war, sie sich ausdrücklich auf die bevorstehende ärztliche Maßnahme erstreckt (§ 1904 V S. 2 BGB), schriftlich abgefasst wurde (ebd.) und nicht mittlerweile erloschen ist (Palandt / Götz 2019, § 1901a Rn. 3). Ausübung der Betreuung bei Einwilligungsunfähigkeit Der Betreuer kann nur dann stellvertretend für den Betroffenen einwilligen, wenn dieser zum Zeitpunkt der Einwilligungserklärung bzgl. der konkreten ärztlichen Maßnahme tatsächlich
einwilligungsunfähig ist (OLG Hamm BtPrax 1997, 162; Taupitz 2000, 62 f.). Bei bestehender Einwilligungsfähigkeit kann also nur der Betroffene selbst wirksam einwilligen. Der Betreuer hat seine Entscheidungen – wie auch sonst (➤ Kap. 31.4.5) – gem. § 1901 II S. 1, III S. 1 BGB am Wohl des Betreuten zu orientieren und den Wünschen des Betreuten zu entsprechen, soweit dies dessen Wohl nicht zuwiderläuft und dem Betreuer zumutbar ist. Auch das Wohl des Betreuten ist jedoch subjektiv aus dessen Sicht zu beurteilen (Jürgens / Jürgens 2014, § 1901 Rn. 8); zum Wohl des Betreuten gehört auch, dass er sein Leben nach seinen eigenen Wünschen und Vorstellungen gestalten kann (§ 1901 II S. 2 BGB). Das Wohl des Betreuten ist daher nicht immer gleichzusetzen mit der bestmöglichen medizinischen Versorgung. Äußert der Betreute den Wunsch, nicht behandelt zu werden, obwohl eine Behandlung medizinisch indiziert wäre, ist seinem Wunsch zu entsprechen, es sei denn, der Wunsch erscheint als Ausdruck seiner Krankheit (BT-Drs. 11 / 4528, 142; MünchKomm / Schwab 2017, § 1901 Rn. 16). Der Betreuer ist gem. § 1901 III S. 2 BGB auch an vor der Betreuerbestellung geäußerte Wünsche des Betreuten gebunden, sofern nicht erkennbar ist, dass der Betreute an diesen Wünschen nicht mehr festhalten will. Besonders bedeutsam ist in diesem Zusammenhang die Patientenverfügung. Hiermit kann der Betroffene vorweg über die Versagung oder Erteilung einer Einwilligung zu bestimmten medizinischen Eingriffen, insbesondere zu lebensverlängernden Maßnahmen, entscheiden. Der BGH hat betont, dass die eigenverantwortlich getroffenen Entscheidungen innerhalb einer Patientenverfügung grundsätzlich bindende Wirkung haben und nicht durch Rückgriff auf den mutmaßlichen Willen korrigiert werden dürfen, es sei denn, dass der Betroffene sich davon im Nachhinein mit erkennbarem Widerrufswillen distanziert oder sich die Sachlage so erheblich geändert hat, dass die aktuelle Sachlage von der früheren Entscheidung nicht mehr umfasst wird (BGH NJW 2003, 1588). Der Betreuer hat sich am mutmaßlichen Willen des Betreuten zu orientieren, wenn der aktuelle Wille des Betreuten nicht ermittelbar Ä
ist, weil aktuelle oder frühere Äußerungen fehlen oder, wie erläutert, frühere Äußerungen keine Gültigkeit mehr haben (Bienwald et al. 2016, § 1904 Rn. 34). Für das Handeln eines Bevollmächtigten ergeben sich Vorgaben primär aus dem der Vollmacht zugrunde liegenden Rechtsverhältnis (Bienwald et al. 2011, § 1904 Rn. 12, 14). Hat der Vollmachtgeber bei noch bestehender Geschäftsfähigkeit Weisungen erteilt, sind diese grundsätzlich zu beachten (Dodegge und Roth 2018, C Rn. 54). Im Übrigen ist davon auszugehen, dass das Handeln des Bevollmächtigten an die gleichen inhaltlichen Voraussetzungen geknüpft ist wie das Handeln eines Betreuers (Dodegge und Roth 2018, C Rn. 63; Taupitz 2000, 103 f.). Die Entscheidung über die Einwilligung wird grundsätzlich allein vom Betreuer bzw. Bevollmächtigten getroffen. Nur in den im Folgenden erläuterten Fällen bedarf die Einwilligung der Genehmigung des Gerichts. Genehmigung durch das Betreuungsgericht Gravierende ärztliche Maßnahmen Sofern eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff die begründete Gefahr des Todes oder eines schweren und länger dauernden gesundheitlichen Schadens des Betreuten beinhaltet, bedarf die Einwilligung des Betreuers oder Bevollmächtigten der Genehmigung des Betreuungsgerichts (§ 1904 I S. 1, II S. 1 BGB; Ausnahme: wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist, s. u. Notmaßnahmen). Wann eine begründete Gefahr vorliegt, wird durch das Gesetz nicht näher bestimmt. Notwendig ist eine ernste und konkrete Möglichkeit des Schadenseintritts; wenig wahrscheinliche, lediglich nicht ausschließbare Risiken lösen die Genehmigungspflicht nicht aus (OLG Hamm NJW 2003, 2392; Damrau und Zimmermann 2011, § 1904 Rn. 32). Maßstab ist die ärztliche Einschätzung der möglichen Komplikationen einer lege artis ausgeführten Behandlung (Bienwald et al. 2016, § 1904 Rn. 42). Es ist auf den konkreten Einzelfall abzustellen, weshalb z. B. eine
bestimmte Operation bei einem jungen Menschen als genehmigungsfrei einzustufen sein kann, während für einen älteren eine Genehmigung eingeholt werden muss (Jürgens / Marschner 2014, § 1904 Rn. 5). Wegen des notwendigen Bezugs zum jeweils Betroffenen scheidet eine Orientierung an Gefahrenprozenten (so LG Berlin FamRZ 1993, 597), die ohnehin nicht zuverlässig bestimmt werden könnten, aus (Jürgens / Marschner 2014, § 1904 Rn. 5). Im Bereich der psychiatrischen Behandlungsmaßnahmen ist die Genehmigungspflicht der Elektrokonvulsionstherapie (EKT) umstritten. Jedenfalls wird bei der EKT mit bilateraler Stimulation wegen der Gefahr länger anhaltender Gedächtnisstörungen eine Genehmigungspflicht mehrheitlich bejaht (LG Hamburg, NJWE-FER 1998, 203; Jürgens / Marschner 2014, § 1904 Rn. 7). Auch die Behandlung mit Psychopharmaka kann wegen der Gefahr gravierender Nebenwirkungen – insbesondere bei Langzeitbehandlung – genehmigungspflichtig sein (näher Jürgens / Marschner 2014, § 1904 Rn. 8, 9). Der Betreuer bzw. Bevollmächtigte hat die Genehmigungsbedürftigkeit im Voraus zu klären (Schneider et al. 2015, 221) und sollte bei vorliegender Bedürftigkeit sodann die Genehmigung beim Gericht anregen. Das Gericht hat den Betroffenen vor seiner Entscheidung grundsätzlich persönlich anzuhören und auch nahen Verwandten und anderen nahestehenden Personen Gelegenheit zur Äußerung zu geben (§ 298 I FamFG). Zudem hat es vor der Genehmigung der Einwilligung des Betreuers oder Bevollmächtigten ein Sachverständigengutachten einzuholen (§ 298 III FamFG), das u. a. Auskunft über die Notwendigkeit der beabsichtigten Maßnahme, das Bestehen einer begründeten Gefahr, die Einwilligungsfähigkeit und die Eilbedürftigkeit der Maßnahme geben sollte (Bienwald et al. 2016, § 298 FamFG Rn. 21). Unterlassung und Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen Der BGH hat die Notwendigkeit einer gerichtlichen Genehmigung auch für den Fall bejaht, dass der Betreuer die Einwilligung in eine
ärztlicherseits angebotene lebenserhaltende oder -verlängernde Maßnahme verweigert (BGH NJW 2003, 1588). Zulässig ist ein solcher Abbruch lebenserhaltender oder -verlängernder Maßnahmen auf Betreiben des Betreuers gemäß BGH dann, wenn der Betroffene einwilligungsunfähig ist, sein Grundleiden einen irreversiblen tödlichen Verlauf genommen hat (was der BGH für einen Wachkomapatienten bejaht hat, sodass dieses Erfordernis jedenfalls weit auszulegen, wenn nicht richtigerweise unbeachtlich ist) und der Betroffene zuvor einen entsprechenden Willen, z. B. in einer Patientenverfügung (s. dazu § 1901a BGB) geäußert hat. Mit dem Genehmigungserfordernis wird dem Schutz des Betroffenen in seinen Grundrechten auf Leben, Selbstbestimmung und Menschenwürde in ausgewogener Weise Rechnung getragen und zugleich der Betreuer in seiner Entscheidung entlastet (BGH NJW 2003, 1588; Taupitz 2000, 84). Sterilisation Auch wenn der ärztliche Eingriff in einer Sterilisation besteht, bedarf die Einwilligung des Betreuers der Genehmigung durch das Gericht (§ 1905 II BGB); s. dazu genauer ➤ Kap. 31.6.2. Notmaßnahmen Unaufschiebbare Maßnahmen in Notsituationen, z. B. eine lebensnotwendige sofortige Operation, können auch ohne Einwilligung des Patienten bzw. seines Betreuers vorgenommen werden, vorausgesetzt, es ist eine mutmaßliche Einwilligung des Patienten bzw. seines Betreuers anzunehmen, oder es liegt ein anderer Rechtfertigungsgrund wie z. B. ein Notstand (§ 34 StGB) vor (BGHZ 29, 46; BGH NJW 1966, 1855; Laufs und Kern / Ulsenheimer 2010, § 139 Rn. 65, 77). Die Entscheidung darüber trifft allein der behandelnde Arzt (Bienwald et al. 2016, § 1904 Rn. 52). Besonderheiten gelten, wenn es sich bei der Eilmaßnahme um eine Maßnahme handelt, die an sich der gerichtlichen Genehmigung gem. § 1904 I S. 1 BGB bedarf. § 1904 I S. 2 BGB regelt ausdrücklich, dass solche Eingriffe auch ohne gerichtliche Genehmigung
durchgeführt werden dürfen, wenn mit dem Aufschub der medizinischen Maßnahme Gefahr verbunden ist. Besteht lediglich keine Zeit mehr, einen Betreuer zu bestellen oder zu konsultieren, erteilt das Gericht die erforderliche Einwilligung zu dem nicht aufschiebbaren Eingriff nach §§ 1846, 1908i BGB auch selbst. Ärztliche Zwangsmaßnahme Gemäß der am 22.7.2017 in Kraft getretenen Neuregelung des § 1906a II BGB bedürfen ärztliche Zwangsmaßnahmen im Sinne des § 1906a I BGB, die den natürlichen Willen eines Einwilligungsunfähigen beeinträchtigen, der Genehmigung des Betreuungsgerichts.
31.6.2. Sterilisation Grundlagen Die Sterilisation ist ein spezieller Fall des ärztlichen Eingriffs im Sinne von § 1904 BGB. Sie wird im Betreuungsrecht durch § 1905 BGB gesondert geregelt, weil sie einen so schwerwiegenden Eingriff in die körperliche Integrität und die gesamte Lebensführung des einwilligungsunfähigen Betreuten darstellt, dass sie nur unter hohen formellen und materiellen Anforderungen vorgenommen werden darf (OLG Hamm BtPrax 2000, 168). Primäres Ziel des § 1905 BGB ist, die Sterilisation Einwilligungsunfähiger nur in Ausnahmefällen zuzulassen und sicherzustellen, dass sie nur im Interesse des Betroffenen selbst erfolgt (HK-BUR / Hoffmann 2019, § 1905 Rn. 1 und zum tatsächlichen Erfolg der Regelung Rn. 104 ff.). Unter Sterilisation im Sinne des § 1905 BGB wird nur die gezielte Unfruchtbarmachung von Frauen und Männern – etwa durch operative Unterbrechung der Samen- oder Eileiter – verstanden. Nicht umfasst ist daher der Fall, dass Unfruchtbarkeit als ungewollte Nebenfolge eines anderen ärztlichen Eingriffs eintritt (Dodegge und Roth 2018, E Rn. 37). Anwendbar ist § 1905 BGB nur auf volljährige Einwilligungsunfähige. Bei Minderjährigen ist eine Sterilisation schlichtweg unzulässig (§ 1631c BGB), während volljährige Ü
Einwilligungsfähige, selbst wenn sie im Übrigen unter Betreuung stehen, sich eigenverantwortlich und ohne besondere Mitwirkung eines Betreuers oder Betreuungsgerichts sterilisieren lassen können (Bienwald et al. 2016, § 1905 Rn. 11, 12). Nach der amtlichen Begründung soll § 1905 BGB nicht nur auf Frauen, sondern auch auf Männer anwendbar sein (BT-Drs. 11 / 4528, 79). Die Sterilisation eines Mannes darf allerdings nicht lediglich im Drittinteresse (der potenziell schwangeren Partnerin, vgl. § 1905 I S. 1 Nr. 4 BGB) erfolgen, sondern muss auch im medizinischen Interesse des Mannes (z. B. seelisches Leid wegen Wegnahme des Kindes) sein (HK-BUR / Hoffmann 2019, § 1905 Rn. 70). Voraussetzungen Die Sterilisation eines Einwilligungsunfähigen ist nur rechtmäßig, wenn ein eigens dafür bestellter Betreuer in zulässiger Weise in sie einwilligt und die Einwilligung vom Betreuungsgericht genehmigt wurde (§ 1905 BGB). § 1905 I S. 1 BGB regelt fünf sachliche Voraussetzungen, die kumulativ erfüllt sein müssen. 1. Erste Voraussetzung ist, dass die Sterilisation dem Willen des Betreuten nicht widerspricht (§ 1905 I S. 1 Nr. 1 BGB). Es gilt also ein Verbot der Zwangssterilisation. Dabei muss ein Widerspruch nicht verbal erfolgen, sondern kann durch jede Art von Ablehnung gezeigt werden. Er muss auch nicht bereits bei Erteilung der Einwilligung durch den Betreuer vorliegen, sondern kann bis unmittelbar vor dem Eingriff geäußert werden (Bienwald et al. 2016, § 1905 Rn. 45). Es versteht sich von selbst, dass der Widerspruch eines Einwilligungsunfähigen lediglich mit „natürlichem“ Willen geleistet werden muss, d. h. unabhängig von Einsichts- und Steuerungsfähigkeit (BT-Drs. 11 / 4528, 143). Umstritten ist, ob er sich gerade gegen die Sterilisation richten muss (so OLG Hamm NJW 2001, 1800) oder die Ablehnung jeglicher gynäkologischer Untersuchung oder Angst vor dem Arzt ausreichend ist (so Palandt / Götz 2019, § 1905 Rn. 5). Richtigerweise ist davon auszugehen, dass jeder Widerstand,
der sich konkret gegen den zum Zweck der Sterilisation vorzunehmenden ärztlichen Eingriff wendet, beachtlich ist. Unbeachtlich ist andererseits die Abwehr gegen bestimmte Personen oder sonstige störende Umstände, die allerdings möglichst beseitigt werden sollten (Bienwald et al. 2016, § 1905 Rn. 46). 2. Weitere Voraussetzung ist, dass der Betreute einwilligungsunfähig ist und auf Dauer einwilligungsunfähig bleiben wird (§ 1905 I Nr. 2 BGB; zum Begriff der Einwilligungsunfähigkeit ➤ Kap. 31.6.1). Wann dauerhafte Einwilligungsunfähigkeit anzunehmen ist, ist umstritten. Vielfach wird in der Literatur vertreten, eine hohe Wahrscheinlichkeit bleibender Einwilligungsunfähigkeit sei ausreichend, da eine medizinische Prognose für viele Jahre oder Jahrzehnte angesichts der ständigen Fortschritte der Medizin nie mit absoluter Sicherheit getroffen werden könne (Damrau und Zimmermann 2011, § 1905 Rn. 20; Jurgeleit / Meier 2018, § 1905 Rn. 12; a. A. Jürgens / Jürgens 2014, § 1905 Rn. 6; HK-BUR / Hoffmann 2019, § 1905 Rn. 63). Dem ist zuzustimmen. Allerdings ist zu fordern, dass bei der Prognose nicht nur darauf abgestellt wird, ob der für die Einwilligungsunfähigkeit ursächliche geistige Defekt einer medizinischen Behandlung zugänglich ist (so aber OLG Hamm NJW 2001, 1800), sondern auch berücksichtigt wird, ob Rehabilitations- oder sexualpädagogische Maßnahmen oder sonstige Änderungen in den Lebensumständen zur Einwilligungsfähigkeit führen könnten. Bei Zweifeln muss die Sterilisation unterbleiben und die weitere Entwicklung abgewartet werden (Jürgens / Jürgens 2014, § 1905 Rn. 6). 3. Die Sterilisation darf ferner nur erfolgen, wenn anzunehmen ist, dass es ohne sie zu einer Schwangerschaft kommen würde (§ 1905 I Nr. 3 BGB). Erforderlich ist eine konkrete und ernstliche Schwangerschaftserwartung, die dann bejaht wird, wenn aufgrund der sexuellen Aktivität des fortpflanzungsfähigen Betroffenen mit einer Schwangerschaft zu rechnen ist (BT-Drs. 11 / 4528, 143; BayObLG FamRZ 1997,
702). Eine vorsorgliche Sterilisation für den Fall, dass es zu einem sexuellen Missbrauch kommt oder der Betroffene irgendwann einmal freiwillig Geschlechtsverkehr haben wird, ist unzulässig (Damrau und Zimmermann 2011, § 1905 Rn. 23). 4. Die Sterilisation muss außerdem der Abwendung der Gefahr einer erheblichen Notlage dienen. Es muss zu erwarten sein, dass eine Schwangerschaft zu einer Lebensgefahr oder schwerwiegenden Beeinträchtigung des Körpers oder des seelischen Gesundheitszustands bei der Schwangeren führen würde, die nicht auf zumutbare Weise abgewendet werden könnte (§ 1905 I Nr. 4 BGB). Schwerwiegende körperliche Gesundheitsgefahren können z. B. bei zu erwartenden gehäuften epileptischen Anfällen (OLG Hamm NJW 2001, 1800) oder bei einem Aneurysma, einer Blutererkrankung, chronischer Thromboseanfälligkeit oder insgesamt geschwächter Konstitution bestehen (HK-BUR / Hoffmann 2019, § 1905 Rn. 72 f.). Seelische Belastungen sind insbesondere schwere Depressionen im Zusammenhang mit der Schwangerschaft, aber auch seelisches Leid im Anschluss an die Geburt, etwa weil Mutter und Kind aus sorgerechtlichen Gründen voneinander getrennt werden müssten (§ 1905 I S. 2 BGB). Eine zumutbare Abwendung der Gefahren kann u. U. durch medizinische Behandlung oder dauernde Bettruhe etc. geschehen. Nicht zumutbar ist der Abbruch der eventuellen künftigen Schwangerschaften (BTDrs. 11 / 4528, 144). 5. Schließlich ist eine Sterilisation nur möglich, wenn eine Schwangerschaft nicht mit anderen zumutbaren Mitteln verhindert werden kann (§ 1905 I S. 1 Nr. 5 BGB). In Betracht zu ziehen sind alle mechanischen und chemischen Empfängnisverhütungsmittel und -verfahren. Ob ihre Verwendung zumutbar ist, hängt davon ab, welche Nebenoder Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten sie haben, ob der Betroffene sie – u. U. nach sexualpädagogischer Anleitung – sicher anwenden könnte oder ob es ausreichen
würde, den Sexualpartner anzuhalten, empfängnisverhütende Maßnahmen zu ergreifen (OLG Hamm NJW 2001, 1800). Keine zulässige Alternative ist die dauerhafte Unterbringung des Betroffenen, da sie unverhältnismäßig wäre, wenn der Betroffene gegen die Sterilisation keinen Widerspruch erhebt (BT-Drs. 11 / 4528, 144; Damrau und Zimmermann 2011, § 1905 Rn. 32). Ferner ist die Abtreibung auch hier kein anderes zumutbares Mittel (HK-BUR / Hoffmann 2019, § 1905 Rn. 81). Verfahren vor Durchführung einer Sterilisation
Merke Das Verfahren vor Durchführung einer Sterilisation gliedert sich in zwei selbstständige Verfahrensabschnitte. Im ersten Abschnitt entscheidet das Gericht über die Bestellung eines Sterilisationsbetreuers. Erfolgt die Bestellung und beschließt der Betreuer, in die Sterilisation einzuwilligen, hat das Gericht in einem zweiten Verfahrensabschnitt darüber zu entscheiden, ob es die Einwilligung genehmigt. In beiden Verfahrensabschnitten sind Sachverständigengutachten einzuholen. Die Einwilligung in eine Sterilisation kann stellvertretend für den Einwilligungsunfähigen nur ein eigens zur Entscheidung über diese Einwilligung bestellter Betreuer erklären (§ 1899 II BGB). Das Verfahren zur Bestellung des Sterilisationsbetreuers verläuft wie jedes Verfahren zur Anordnung einer Betreuung (➤ Kap. 31.5). Erforderlich ist also auch die Einholung eines Sachverständigengutachtens (§ 280 FamFG). Gegenstand der Entscheidung (und des vorbereitenden Gutachtens) ist lediglich, ob ein Sterilisationsbetreuer bestellt werden soll, aber noch nicht, ob eine Sterilisation stattfinden soll (Damrau und Zimmermann 2011,
§ 1905 Rn. 46). Allerdings muss bei der Entscheidung über die Bestellung des Betreuers auch darüber befunden werden, ob die Betreuung tatsächlich erforderlich ist (§ 1896 II BGB). Der bestellte Sterilisationsbetreuer hat zu überprüfen, ob die Voraussetzungen einer Sterilisation nach § 1905 BGB vorliegen, und muss – wenn er sie für gegeben hält – eigenverantwortlich darüber entscheiden, ob er seine Einwilligung erklären will (Bienwald et al. 2016, § 1905 Rn. 31). Will er einwilligen, regt er hierzu die Genehmigung des Betreuungsgerichts an. Im Genehmigungsverfahren hat nunmehr auch das Gericht zu überprüfen, ob die materiellen Voraussetzungen der Sterilisation nach § 1905 BGB gegeben sind. Dazu hat es insbesondere den Betroffenen erneut anzuhören (§ 297 I FamFG; a. A. bei zeitlich enger Verfahrensfolge OLG Hamm NJW 2001, 1800) und Gutachten von Sachverständigen einzuholen, die sich auf die medizinischen, psychologischen, sozialen, sonder- und sexualpädagogischen Gesichtspunkte der Entscheidung erstrecken (§ 297 VI FamFG). Sind zu einzelnen Gesichtspunkten bereits im Verfahren zur Bestellung des Sterilisationsbetreuers Gutachten eingeholt worden, kann das Gericht auf diese zurückgreifen, vorausgesetzt, die Verfahren liegen zeitlich nah beieinander (HK-BUR / Hoffmann 2019, § 1905 Rn. 44 f.). Die Sachverständigen haben den Betroffenen vor Erstattung ihrer Gutachten persönlich zu untersuchen und zu befragen (§ 297 VI S. 2 FamFG). Sie dürfen nicht mit dem die Sterilisation ausführenden Arzt personengleich sein (§ 297 VI S. 3 FamFG). Dem Betroffenen ist in diesem Verfahrensabschnitt zwingend vorgeschrieben, einen Verfahrenspfleger zu bestellen (§ 297 V FamFG). Liegen die Voraussetzungen für eine Sterilisation nach Ansicht des Gerichts vor, muss es die Einwilligung genehmigen. In seinem Genehmigungsbeschluss muss es außerdem darüber befinden, welche Sterilisationsmethode der Arzt zu wählen hat (HK-BUR / Hoffmann 2019, § 1905 Rn. 50, 51), wobei stets der Methode Vorzug zu geben ist, die eine Refertilisierung zulässt (§ 1905 II S. 3 BGB). Die Durchführung der Sterilisation darf erst 2 Wochen nach Wirksamkeit der Genehmigung des Gerichts erfolgen (§ 1905 II S. 2 BGB). Der Betreuer muss die Einwilligung verweigern bzw.
widerrufen, wenn sich die Sachlage nunmehr geändert hat und die Voraussetzungen seiner Ansicht nach nicht mehr vorliegen.
31.6.3. Unterbringung Begriff und Abgrenzung der betreuungsrechtlichen Unterbringung § 1906 BGB enthält eine Sondervorschrift für die freiheitsentziehende Unterbringung betreuter Personen durch den Betreuer. Sie gilt auch für die Unterbringung eines Vollmachtgebers durch seinen Bevollmächtigten (§ 1906 V BGB). Die Unterbringung Minderjähriger durch ihre Eltern bzw. einen Vormund ist dagegen in § 1631b BGB geregelt. Über alle Arten privatrechtlicher Unterbringung entscheiden grundsätzlich Privatpersonen (Betreuer, Bevollmächtigte oder Eltern / Vormund), wobei ihre Entscheidung stets noch der Genehmigung des Betreuungs- bzw. Familiengerichts bedarf. Die betreuungsrechtliche Unterbringung nach § 1906 BGB kann nur zur Abwendung von Gefahren für das Wohl des Betroffenen, namentlich bei Selbstgefährdungsgefahr oder Behandlungsnotwendigkeit, erfolgen; Interessen Dritter oder der Allgemeinheit können sie nicht rechtfertigen (HK-BUR / Bauer 2019, § 1906 Rn. 76). Eine öffentlich-rechtliche Unterbringung nach den Landesgesetzen über die Unterbringung Kranker (PsychKG / UnterbrG) kann das Gericht dagegen auch aus Gründen der erheblichen gegenwärtigen Fremdgefährdung anordnen (z. B. § 1 IV BW-UnterbG). Verfahrensrechtlich werden die privatrechtliche und die öffentlich-rechtliche Unterbringung in §§ 312–339 FamFG weitgehend einheitlich geregelt. Weiterhin gibt es noch spezielle Formen der öffentlich-rechtlichen Unterbringung nach dem Infektionsschutzgesetz, dem Ausländer- und Asylrecht und den Polizeigesetzen der Länder sowie die strafrechtliche Unterbringung nach §§ 63 ff. StGB für schuldunfähige oder vermindert schuldfähige Täter.
Unter die betreuungsrechtliche Unterbringungsregelung des § 1906 BGB fällt nur die freiheitsentziehende Unterbringung. Diese liegt vor, wenn der Betroffene gegen seinen natürlichen Willen oder im Zustand von Willenlosigkeit nicht nur kurzfristig am Verlassen eines bestimmten räumlichen Bereichs gehindert wird (BGH FamRZ 2001, 149). Es mangelt am Element der Freiheitsentziehung, wenn der Betroffene mit seiner Unterbringung einverstanden ist, wobei ein wirksames Einverständnis allerdings voraussetzt, dass der Betroffene die Tragweite der Unterbringungsmaßnahme einzusehen vermag (BayObLG FamRZ 1994, 1418). Eine Freiheitsentziehung liegt auch dann nicht vor, wenn der Betroffene die Fähigkeit zur Fortbewegung vollständig verloren hat, z. B. ein Patient im Wachkoma (OLG Hamm FamRZ 1994, 1270). Sie ist mangels hinreichender Dauer schließlich auch dann zu verneinen, wenn lediglich eine zwangsweise Zuführung zu einer ambulanten Behandlung vorgenommen wird (BGH FamRZ 2001, 149; ➤ Kap. 31.6.1). Freiheitsentziehende Unterbringungen kommen sowohl in geschlossenen Heimen oder Anstalten als auch in halboffenen oder gar offenen Anstalten in Betracht, wenn der Betreute z. B. durch einen Pförtner oder Pflegepersonal am Verlassen des Gebäudes gehindert wird (Damrau und Zimmermann 2011, § 1906 Rn. 16). Voraussetzungen
Merke Eine freiheitsentziehende Unterbringung des Betreuten durch den Betreuer setzt nach § 1906 I, II BGB voraus, dass für den Betroffenen ein Betreuer mit entsprechendem Aufgabenkreis bestellt ist, die Unterbringung zum Wohl des Betreuten – wegen Selbstgefährdungsgefahr oder Behandlungsbedürftigkeit – erforderlich ist und das Gericht die Unterbringung genehmigt hat.
Betreuung Für den Betroffenen muss bereits ein Betreuer wirksam bestellt sein oder zeitgleich bestellt werden. Der Betreuer kann den Betreuten nur dann freiheitsentziehend unterbringen, wenn er einen Aufgabenkreis hat, der dieses Recht umfasst. Unproblematisch ist dies, wenn im Beschluss des Gerichts ausdrücklich die „Unterbringung“ genannt ist. Nach ganz herrschender Ansicht genügt auch der Aufgabenkreis „Aufenthaltsbestimmung“ (OLG Stuttgart FÜR 2004, 711; Damrau und Zimmermann 2011, § 1906 Rn. 13; Dodegge und Roth 2018, A Rn. 24). Umstritten ist, ob der allgemeine Aufgabenkreis „Personensorge“ zur Unterbringung des Betroffenen ermächtigt. Da dieser das Aufenthaltsbestimmungsrecht umfasst (➤ Kap. 31.4.3) und die Unterbringung ohnehin noch der Genehmigung durch das Betreuungsgericht bedarf, sollte die Frage bejaht werden (Damrau und Zimmermann 2011, § 1906 Rn. 13; a. A. Bienwald et al. 2016, § 1906 Rn. 88). Nicht ausreichend ist dagegen der Aufgabenkreis „Gesundheitsfürsorge“ (OLG Hamm FamRZ 2001, 861). Bei einer Unterbringung wegen Behandlungsbedürftigkeit (§ 1906 I Nr. 2 BGB) muss der Betreuer diesen Aufgabenbereich allerdings zusätzlich haben (Damrau und Zimmermann 2011, § 1906 Rn. 14). Statt einem Betreuer kann auch ein Bevollmächtigter über die Unterbringung des Betroffenen entscheiden. Voraussetzung ist, dass die Vollmacht vom Betroffenen im Zustand der Geschäftsfähigkeit sowie schriftlich erteilt wurde. Sie muss ausdrücklich zu Unterbringung oder unterbringungsähnlichen Maßnahmen nach § 1906 IV BGB ermächtigen (§ 1906 V BGB). Erforderlichkeit der Unterbringung zum Wohl des Betreuten An der Erforderlichkeit fehlt es, wenn weniger einschneidende Maßnahmen – z. B. eine unterbringungsähnliche Maßnahme (§ 1906 IV BGB, s. u.) – ausreichen oder wenn die mit der Unterbringung verbundenen Nachteile außer Verhältnis zu den ohne sie drohenden Gefahren stehen (MünchKomm / Schwab 2017,
§ 1906 Rn. 16, 17). Nach dem Gesetz kann eine Unterbringung zum Wohl des Betreuten nur in zwei Fällen erforderlich sein: 1. Gesundheitliche Selbstgefährdung des Betreuten: § 1906 I Nr. 1 BGB verlangt, dass aufgrund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung des Betreuten die Gefahr bestehen muss, dass er sich selbst tötet oder sich erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt. Dabei setzen die genannten Gesundheitsgefahren kein zielgerichtetes Handeln des Betreuten voraus. Erfasst werden vielmehr auch willen- und planlose Handlungen wie z. B. zielloses Umherirren, das die Gefahr von Erfrieren, Verhungern oder Verunglücken birgt (Damrau und Zimmermann 2011, § 1906 Rn. 38). Ebenfalls nicht erforderlich ist eine „akute“, also unmittelbar bevorstehende Gefahr; es genügt eine ernstliche und konkrete Gefahr (BayObLG FamRZ 1994, 1617). Hinsichtlich der psychischen Krankheit oder des geistigen oder seelischen Schadens wird auf das zur Anordnung der Betreuung Gesagte verwiesen. Zu betonen ist, dass auf Alkoholismus und Drogensucht allein keine Unterbringung gestützt werden kann (➤ Kap. 31.4.2). Die Selbstgefährdung muss aus der psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung resultieren. Diese Kausalität ist insbesondere dann zu verneinen, wenn der Betroffene zur freien Willensbestimmung in der Lage ist und die Gefahr einer eigenverantwortlichen Selbstschädigung (z. B. eines Bilanzsuizids) droht. Denn der Staat ist nicht dazu berufen, seine Bürger zu „bessern“ (BayObLG FamRZ 1993, 600). 2. Notwendige ärztliche Maßnahmen: § 1906 I Nr. 2 BGB verlangt, – dass eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff notwendig ist, – dass die Maßnahme ohne die Unterbringung des Betreuten nicht durchgeführt werden kann und
– dass der Betreute aufgrund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der Unterbringung nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann. Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit der Unterbringung gelten nur solche ärztliche Maßnahmen als notwendig, ohne die dem Betreuten gewichtige gesundheitliche Schäden drohen (Bienwald et al. 2016, § 1906 Rn. 117). So können z. B. eine erforderliche Diabeteseinstellung (HK-BUR / Bauer 2019, § 1906 Rn. 100) oder die Zuführung von Medikamenten zur Behandlung akuter schizophrener Schübe (BayObLG BtPrax 1996, 28) eine Unterbringung rechtfertigen, nicht dagegen psychiatrische Behandlungen von Krankheiten, die weder lebensbedrohlich noch schwer gesundheitsschädlich, sondern lediglich störend und lästig für die Umwelt sind (HK-BUR / Bauer 2019, § 1906 Rn. 101). Nicht notwendig sind medizinische Maßnahmen, die keinen hinreichenden Erfolg versprechen (OLG Schleswig FamRZ 2000, 1122), z. B. eine Alkoholentzugskur gegen den Willen des Betroffenen (BayObLG FamRZ 1994, 1617). Die freiheitsentziehende Unterbringung muss für die Durchführung der ärztlichen Maßnahme erforderlich sein. Kann eine Behandlung ambulant oder in einer Tagesklinik etc. durchgeführt werden, ist die Unterbringung unzulässig. Sie ist laut BGH selbst dann unzulässig, wenn die ambulante Behandlung nur deshalb nicht durchgeführt werden kann, weil sie wegen Gegenwehr des Betroffenen unzulässig ist (BGH FamRZ 2001, 149; ➤ Kap. 31.6.1). Die krankheits- oder behinderungsbedingte Einsichts- oder Steuerungsunfähigkeit muss sich nach herrschender Ansicht entgegen dem Gesetzeswortlaut nicht primär auf die Notwendigkeit der Unterbringung, sondern auf die Notwendigkeit einer durch die Unterbringung möglichen medizinischen Maßnahme beziehen (BayObLG BtPrax 1996, 28; Damrau und Zimmermann 2011, § 1906 Rn. 50). Ist der Betreute noch einsichts- und steuerungsfähig, kann er zu keiner medizinischen Behandlung gezwungen werden, selbst
wenn sie dringend erforderlich wäre („Freiheit zur Krankheit“; LG Frankfurt / M. FamRZ 1993, 478). Bei fehlender Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ist im Rahmen der freiheitsentziehenden Unterbringung eine Zwangsbehandlung, d. h. eine Behandlung gegen den natürlichen Willen des Betreuten, gestützt auf § 1906a BGB zulässig (➤ Kap. 31.6.4). Genehmigung des Betreuungsgerichts Die Unterbringung des Betreuten durch den Betreuer ist grundsätzlich nur zulässig, wenn sie vom Betreuungsgericht genehmigt wurde (§ 1906 II S. 1 BGB; zu Eilfällen s. u.). Hält der Betreuer eine Unterbringung des Betreuten für erforderlich, regt er eine Genehmigung beim Gericht an. Das Gericht leitet daraufhin ein Verfahren nach §§ 312 ff. FamFG ein.
Merke Vor Erteilung einer Genehmigung zur Unterbringung muss das Gericht ein Sachverständigengutachten einholen. Der Sachverständige soll i. d. R. Arzt für Psychiatrie sein, zumindest muss er Erfahrungen auf dem Gebiet der Psychiatrie haben. Vor Erstellung des Gutachtens hat er den Betroffenen persönlich zu untersuchen oder zu befragen (§ 321 FamFG). Inhaltlich soll das Gutachten eine nachvollziehbare und überprüfbare Grundlage für die gerichtliche Entscheidung schaffen (OLG Düsseldorf FamRZ 1995, 118). Im Wesentlichen wird daher im Gutachten zu folgenden Aspekten Stellung zu nehmen sein (BayObLG FamRZ 1995, 695): • Art und Ausmaß der psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung • Daraus resultierende Unfähigkeit des Betroffenen, seinen Willen bzgl. der Unterbringung frei zu bestimmen
• Vorliegen einer Selbstschädigungsgefahr aufgrund der Krankheit oder Behinderung (§ 1906 I Nr. 1 BGB) oder Notwendigkeit einer medizinischen Maßnahme, für die dem Betroffenen aufgrund der Krankheit / Behinderung die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit fehlt und die ohne eine Unterbringung nicht durchgeführt werden kann • Voraussichtlich notwendige Dauer der Unterbringung • Vorhandensein von Alternativen zur Unterbringung • Zumutbarkeit einer persönlichen Anhörung durch das Gericht (§ 319 I, III FamFG) und der Bekanntmachung der Entscheidungsgründe gegenüber dem Betroffenen (§ 325 I FamFG) Hält das Gericht die Voraussetzungen einer Unterbringung nicht für gegeben, lehnt es die Genehmigung ab. Der Betreuer darf die Unterbringung dann nicht durchführen. Wird die Genehmigung dagegen erteilt, entscheidet der Betreuer eigenverantwortlich darüber, ob er davon Gebrauch machen will oder ob er von der Unterbringung doch absehen will (LG Köln, FamRZ 1993, 110). Eilfälle In Eilfällen kann das Betreuungsgericht eine vorläufige Genehmigung für eine Unterbringung durch den Betreuer erteilen (§ 331 FamFG). Dies setzt voraus, dass dringende Gründe dafür bestehen, dass die Voraussetzungen einer Genehmigung gegeben sind, ein dringendes Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden besteht, ein ärztliches Zeugnis über den Zustand des Betroffenen vorliegt und der Betroffene persönlich angehört worden ist (§ 331 S. 1 Nr. 1–4 FamFG). Im Hinblick auf den Eingriff in das Freiheitsgrundrecht des Betroffenen durch eine Unterbringung ist hier in besonderer Weise zu fordern, dass das ärztliche Zeugnis alle für die Entscheidung erheblichen Gesichtspunkte – wenn auch in verkürzter Form – nachvollziehbar darlegt und auf einer persönlichen Untersuchung des Betroffenen beruht (➤ Kap. 31.3.7; Keidel et al. / Budde 2017, § 331 FamFG Rn. 5; Damrau und Zimmermann 2011, § 331 FamFG Rn. 7). Insbesondere soll es auch
Stellung dazu nehmen, ob dringende Gründe eine vorläufige Unterbringung erfordern (Keidel et al. / Budde 2017, § 331 FamFG Rn. 5–7). Hat der Betroffene noch keinen Betreuer oder hat der Betreuer keinen ausreichenden Aufgabenkreis, muss das Gericht neben der vorläufigen Genehmigung noch eine vorläufige Betreuung (§ 300 FamFG) oder vorläufige Aufgabenerweiterung (§ 293 I FamFG) anordnen. Nur wenn dafür keine Zeit mehr ist oder der Betreuer verhindert ist, kann das Betreuungsgericht selbst eine vorläufige Unterbringung des Betroffenen veranlassen (§§ 1908i I, 1846 BGB, § 331 FamFG; Damrau und Zimmermann 2011, § 1906 Rn. 72). Sowohl die vorläufige Unterbringung durch das Gericht als auch die Unterbringung durch den Betreuer mit vorläufiger Genehmigung dürfen grundsätzlich die Dauer von 6 Wochen nicht überschreiten (§ 333 I FamFG). Der Betreuer kann eine Unterbringung ohne Genehmigung durch das Betreuungsgericht vornehmen, wenn mit dem Aufschub der Unterbringung bis zu einer vorläufigen Genehmigung durch das Gericht Gefahr für das Wohl des Betreuten verbunden wäre (§ 1906 II S. 2 BGB, Damrau und Zimmermann 2011, § 1906 Rn. 66). Die (vorläufige) Genehmigung muss dann aber unverzüglich nachgeholt werden (§ 1906 II S. 2 2. HS BGB). Beendigung der Unterbringung Die Unterbringung darf grundsätzlich nur für höchstens 1 Jahr angeordnet werden, bei offensichtlich langer Unterbringungsbedürftigkeit für höchstens 2 Jahre (§ 329 I FamFG). Die Unterbringung endet mit Ablauf des in der Entscheidung angegebenen Zeitraums, sofern sie nicht verlängert wurde (Bienwald et al. 2016, § 1906 Rn. 140). Unabhängig vom Genehmigungszeitraum ist die Unterbringung vom Betreuer zu beenden, sobald ihre Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind (§ 1906 III S. 1 BGB). Der Betreuer muss hierzu keine ärztliche Stellungnahme einholen und kann sogar gegen ärztlichen Rat handeln. Er läuft dann jedoch Gefahr, sich schadensersatzpflichtig zu
machen (Damrau und Zimmermann 2011, § 1906 Rn. 75). Beendet der Betreuer die Unterbringung nicht, obwohl ihre Voraussetzungen weggefallen sind, hat das Gericht die Unterbringung zu beenden (§ 330 FamFG). Unterbringungsähnliche Maßnahmen Das zur Unterbringung Gesagte gilt grundsätzlich entsprechend auch für unterbringungsähnliche Maßnahmen (§ 1906 IV BGB; § 312 Nr. 1 FamFG).
Merke Unterbringungsähnliche Maßnahmen liegen vor, wenn dem Betreuten nicht durch Unterbringung, sondern durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente oder auf andere Weise über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig die Freiheit entzogen wird (§ 1906 IV BGB). Die Abgrenzung zur Unterbringung ist bisweilen schwierig, z. B. in Fällen, in denen ein einzelner Betroffener in einer an sich offenen Einrichtung durch bestimmte Vorkehrungen generell auf einen bestimmten Lebensbereich begrenzt wird (Unterbringung laut MünchKomm / Schwab 2017 § 1906 Rn. 35; unterbringungsähnliche Maßnahme laut AG Stuttgart-Bad Cannstatt FamRZ 1997, 704; Dodegge und Roth 2018, G Rn. 11). Die Unterscheidung spielt aber nur insofern eine Rolle, als bei unterbringungsähnlichen Maßnahmen verfahrensrechtlich ein ärztliches Zeugnis genügt (§ 321 II FamFG), während bei der Unterbringung ein Gutachten notwendig ist. Auch bei unterbringungsähnlichen Maßnahmen gilt, dass sie mangels Freiheitsentziehung nicht genehmigungspflichtig sind, wenn der Betreute wirksam in sie einwilligt. Unter mechanischen Vorrichtungen sind z. B. Bettgitter (AG Neuruppin BtPrax 2004, 80), Beckengurte oder andere Fixierungsvorrichtungen an Bett oder Stuhl (BayObLG FamRZ 1994, 721; OLG Hamm FamRZ 1993, 1490) zu verstehen, sofern sie nicht
jederzeit vom Betreuten gelöst oder überwunden werden können (Bienwald et al. 2016, § 1906 Rn. 120), ferner Schließmechanismen an Türen, die dazu führen, dass der Betroffene die Tür (zeitweilig) nicht öffnen kann (BGH FGPrax 2015, 77). Auch die Ausstattung von Betroffenen mit Signalsendern stellt eine unterbringungsähnliche Maßnahme dar, soweit die Signalauslösung umgehend zu freiheitsentziehenden Maßnahmen seitens des Anstaltspersonals führt (AG Stuttgart-Bad Cannstatt FamRZ 1997, 704; MünchKomm / Schwab 2017, § 1906 Rn. 35; s. aber auch AG Hannover, BtPrax 1992, 113: nicht genehmigungsfähig wegen Verstoßes gegen die Menschenwürde). Medikamente, z. B. Schlafmittel, Beruhigungsmittel, Neuroleptika etc., fallen nur dann unter § 1906 IV BGB, wenn sie gezielt eingesetzt werden, um den Betroffenen am Verlassen der Einrichtung zu hindern (OLG Hamm BtPrax 1997, 162). Ob eine Maßnahme als auf einen „längeren Zeitraum“ angelegt anzusehen ist, bestimmt sich nach der Schwere des Eingriffs (Damrau und Zimmermann 2011, § 1906 Rn. 88). Spätestens am Tag nach Beginn der Maßnahme tritt Genehmigungsbedürftigkeit ein (Bienwald et al. 2016, § 1906 Rn. 119). Eine regelmäßige Freiheitsentziehung liegt vor, wenn sie entweder immer zur selben Zeit oder aus wiederkehrendem Anlass erfolgt, z. B. immer wenn der Betreute nachts das Bett verlassen will (Damrau und Zimmermann 2011, § 1906 Rn. 89). § 1906 IV BGB findet nur auf Betreute Anwendung, die sich in einer Anstalt, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung aufhalten, ohne untergebracht zu sein. Nicht genehmigungspflichtig sind daher unterbringungsähnliche Maßnahmen, die am Betreuten innerhalb der eigenen Familie vorgenommen werden (Bienwald et al. 2016, § 1906 Rn. 111). Entgegen dem Wortlaut bedarf nach herrschender Meinung die unterbringungsähnliche Maßnahme an einem Betreuten, der bereits untergebracht ist, einer zusätzlichen Genehmigung (BayObLG FamRZ 1994, 721; OLG Düsseldorf FamRZ 1995, 118; a. A. AG Bad Cannstatt BtPrax 1996, 35). Wie erwähnt, muss das Gericht vor der Genehmigung einer unterbringungsähnlichen Maßnahme lediglich ein ärztliches Zeugnis einholen (§ 321 II FamFG). Für den Aussteller des
Zeugnisses ist keine weitere Facharztqualifikation vorgeschrieben; auch ist nicht bestimmt, dass der Arzt den Betreuten zuvor persönlich untersuchen oder befragen muss. Bei einschneidenden Maßnahmen, insbesondere solchen, die kaum von einer Unterbringung zu unterscheiden sind, ist jedoch sowohl die Hinzuziehung eines Facharztes für Psychiatrie als auch eine persönliche Untersuchung oder Befragung zu fordern (Damrau und Zimmermann 2011, § 321 FamFG Rn. 44).
31.6.4. Ärztliche Zwangsbehandlung Grundlagen Eine ausdrückliche gesetzliche Regelung zur Zwangsbehandlung war im Betreuungsrecht bislang nicht vorhanden. Medizinische Maßnahmen, die gegen den Willen eines Untergebrachten erfolgen sollten und von keiner wirksamen Einwilligung des Patienten gedeckt waren, konnten nach der herrschenden Meinung nach Maßgabe der Vorschrift des § 1906 I Nr. 2 BGB unter strikter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf der Grundlage einer durch den Betreuer (oder den Bevollmächtigten) wirksam erteilten Einwilligung durchgeführt werden (Dodegge 2012, 3695). § 1906 I Nr. 2 BGB beinhaltete aber lediglich ausdrückliche Regelungen zur Zwangsunterbringung. Gleichwohl hatte der BGH den Anwendungsbereich der Vorschrift auf die Durchführung von Zwangsbehandlungen erweitert – mit der Erwägung, dass eine Regelung zur Zwangsunterbringung zum Zweck der Behandlung eines psychisch Kranken nur dann zweckmäßig sein könne, wenn während der Unterbringung auch behandelt werden dürfe (BGH NJW 2006, 1278). Veranlasst durch zwei Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2011 (BVerfG 128, 282; BVerfG 129, 269) hat der BGH diese Rechtsprechung aufgegeben. Im Rahmen zweier Verfassungsbeschwerden, welche die Verfassungsmäßigkeit von § 6 I 2 des rheinland-pfälzischen Landesgesetzes über den Vollzug freiheitsentziehender Maßnahmen sowie von § 8 II 2 des baden-
württembergischen Gesetzes über die Unterbringung psychisch Kranker zum Inhalt hatten, erklärte der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts, dass diese Vorschriften nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Der Senat entschied, dass die betroffenen Landesgesetze gegen Art. 2 II i. V. m. Art. 19 IV verstoßen, da es sich um keine hinreichend klar geregelten und bestimmten gesetzlichen Grundlagen handelte, auf die sich eine medikamentöse Zwangsbehandlung stützen lasse. Ein Gesetz, das die Durchführung einer Zwangsbehandlung vorsieht, sei aufgrund ihrer schwerwiegenden Eingriffsqualität an sehr strenge verfassungsrechtliche Vorgaben gebunden. Daher müssten in formeller wie in materieller Hinsicht so präzise wie möglich definierte, strikt am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierte Kriterien hinsichtlich der Zulässigkeit der Zwangsbehandlung in der gesetzlichen Regelung niedergelegt sein. Vor dem Hintergrund der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sah der BGH die Voraussetzungen einer Zwangsbehandlung gestützt auf § 1906 I Nr. 2 BGB als nicht mehr gegeben an (BGHZ 193, 337). Um die entstandene Gesetzeslücke zu schließen, fasste der Gesetzgeber die Vorschrift § 1906 BGB neu und schuf in § 1906a BGB eine gesetzliche Regelung zur Durchführung von Zwangsbehandlungen, die zum 22.7.2017 in Kraft trat. Die betreuungsrechtliche Einwilligung in ärztliche Zwangsmaßnahmen ist nun von der freiheitsentziehenden Unterbringung regelungssystematisch „entkoppelt“ worden, sodass eine Zwangsbehandlung nunmehr auch außerhalb einer freiheitsentziehenden Unterbringung des Betroffenen möglich ist. § 1906a I S. 1 BGB definiert den Begriff der Zwangsbehandlung als eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder einen ärztlichen Eingriff, die bzw. der dem natürlichen Willen des Betreuten widerspricht. Wie der entgegenstehende Wille zutage treten muss, lässt sich der Regelung nicht entnehmen. Im Grunde hat das Bundesverfassungsgericht die Voraussetzungen hierfür aber bereits festgelegt, indem es hierunter die Anwendung jeglicher physischer Gewalt, aber auch etwa die Ausübung von Druck oder täuschende Handlungen, fasste (Dodegge 2013, 1266). Je nach den
konkreten Umständen des Einzelfalls kann es sich aber auch im Falle des Unterbleibens physischen Widerstands um eine Zwangsbehandlung handeln. Wenn Gegenwehr durch den Betroffenen etwa nur deswegen ausbleibt, weil Widerstand aus seiner Perspektive ohnehin zwecklos zu sein scheint, so ist ebenfalls von einer Erscheinungsform des Zwangs auszugehen. Voraussetzungen Eine Zwangsbehandlung gestützt auf § 1906a BGB hat zunächst zur Voraussetzung, dass der Betroffene sich in rechtmäßiger Unterbringung befindet (➤ Kap. 31.5.3). Die Durchführung einer ambulanten Zwangsbehandlung ist bis heute mangels einer entsprechenden Rechtsgrundlage ausgeschlossen. (MünchKomm / Schwab 2017, § 1906 Rn. 28–31, 67–67b). § 1906a I S. 1 Nr. 7 BGB stellt klar, dass der Betreuer u. a. nur in die ärztliche Zwangsmaßnahme einwilligen kann, wenn diese im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus erfolgen soll und die gebotene medizinische Versorgung des Betreuten inkl. einer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist. Des Weiteren ist erforderlich, dass ein Betreuer bestellt wurde (➤ Kap. 31.4), der in die Zwangsbehandlungsmaßnahme einwilligt. Anstelle eines Betreuers kann auch ein Bevollmächtigter über die Zwangsbehandlung des Betroffenen entscheiden. Voraussetzung ist, dass die Vollmacht vom Betroffenen im Zustand der Geschäftsfähigkeit sowie gem. § 1906a V S. 1 BGB schriftlich erteilt wurde. Sie muss ausdrücklich zu Maßnahmen nach § 1906a I bzw. IV BGB ermächtigen (§ 1906a V S. 1 BGB). Die durchzuführende Behandlung muss zum Wohl des Betreuten zur Abwehr eines drohenden erheblichen Gesundheitsschadens erforderlich sein (➤ Kap. 31.6.3). Unerheblich ist, ob die Gefahr von der psychischen Krankheit selbst, die Anlass für die Unterbringung war, oder von einer somatischen Erkrankung ausgeht. Ferner ist eine Zwangsbehandlung gem. § 1906a I S. 1 Nr. 2 BGB nur dann zulässig, wenn der Betreute aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung
einwilligungsunfähig ist. Die Ablehnung der Behandlung muss gleichzeitig Ausdruck der psychischen Erkrankung sein (Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer, DÄBl. 2013 A-1336). Unter keinen Umständen ist es zulässig, aus der Ablehnung einer ärztlich indizierten Maßnahme auf die Einwilligungsunfähigkeit des Patienten zu schließen. Der Patient soll weder unter die „Vernunfthoheit“ des Staates gestellt werden, noch darf sein Selbstbestimmungsrecht übergangen werden, bloß weil er sich unvernünftig oder uneinsichtig verhält. Ein solches unvernünftiges und uneinsichtiges Handeln kann allenfalls ein Indiz für das Vorliegen der Einwilligungsunfähigkeit darstellen. Ist der Patient einwilligungsfähig, entscheidet er in jedem Fall selbst über die Durchführung medizinischer Maßnahmen. Nicht zuletzt deshalb ist der Versuch, den Betroffenen in einen Zustand der Einwilligungsfähigkeit zu versetzen, gegenüber der Vornahme einer Zwangsbehandlung stets vorrangig. Für den Fall, dass wirksame vorsorgliche Willensbekundungen getroffen wurden (Patientenverfügung oder Behandlungsvereinbarung), sind die dort festgelegten Entscheidungen verbindlich, soweit sie auf die konkrete Behandlungssituation zutreffen. Sofern keine vorsorglichen Willensbekundungen vorhanden sind bzw. diese nicht auf die aktuelle Situation zutreffen, muss auf den mutmaßlichen Willen des Betroffenen abgestellt werden. Zudem setzt § 1906a I S. 1 Nr. 3 BGB voraus, dass die ärztliche Zwangsmaßnahme dem nach § 1901a BGB zu beachtenden Willen des Betreuten entspricht. Durch die Neuregelung sollte klargestellt werden, dass ein nach § 1901a BGB zu beachtender Wille des Betreuten der ärztlichen Zwangsmaßnahme nicht entgegenstehen darf und die Rechtslage zur Patientenverfügung (§ 1901a BGB) unberührt bleibt (BT-Drs. 18 / 11240, 2). Gemäß § 1906a I Nr. 4 BGB ist die Vornahme einer ärztlichen Zwangsmaßnahme erst zulässig, wenn zuvor rechtzeitig versucht wurde, den Betreuten über die Durchführung der medizinischen Maßnahme aufzuklären und ihn von deren Notwendigkeit zu überzeugen. Unabhängig von seiner Fähigkeit, in eine ärztliche Maßnahme einzuwilligen, darf ein Patient niemals
zum Objekt einer medizinischen Behandlung gemacht werden. Es muss immer ein ernster und ausgiebiger Versuch ohne Zeitbedrängnis oder Druckausübung vorausgehen, um die Zustimmung des Patienten zur Behandlung zu gewinnen. Die Aufklärung soll einerseits vermeiden, dass für den Betroffenen aus dem fehlenden Verständnis über Umstände, Umfang und Art der Behandlung eine für ihn beängstigende und bedrohlich erscheinende Situation entsteht, die in gravierenden Fällen sogar als folterähnlich empfunden werden kann. Ziel der Aufklärung ist es daher, dem Patienten durch die im Gespräch erfolgende Aufklärung zumindest einen Teil seiner Angst zu nehmen und die mit dem Eingriff verbundenen psychischen Belastungen zu verringern. Die Aufklärung soll aber zugleich auch sicherstellen, dass sich der Betroffene durch die Ankündigung der vorgesehenen Maßnahmen noch rechtzeitig gegen die Durchführung der Zwangsbehandlung zur Wehr setzen kann, falls er diese für rechtswidrig hält. Aus § 1906a I Nr. 1 BGB geht hervor, dass die medizinische Heilmaßnahme im Hinblick auf das Wohl des psychisch Kranken ärztlich indiziert sein muss. Aus ärztlicher Sicht liegt eine Indikation vor, wenn der Patient von einer Krankheit oder deren Folgen betroffen ist und sich der Krankheitszustand durch die Behandlung kurz- oder langfristig verbessern lässt (Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer, DÄBl. 2013 A-1336). Wenn die Indikation entfällt, weil etwa das Behandlungsziel verfehlt wird und der erwartete Nutzen ausbleibt, muss die Behandlung abgebrochen werden. Was als Nutzen gilt, ist allerdings durch das Recht nicht näher festgelegt, sondern ist mit wertungsmäßigen Unsicherheiten behaftet, sodass die Einschätzung von Person zu Person unterschiedlich ausfallen kann. Berücksichtigungsfähig sind allein die Patientenperspektive und damit die Vorstellungen, die der Betroffene früher in einwilligungsfähigem Zustand hatte bzw. jetzt haben würde (mutmaßlicher Wille), wenn sie nicht aufgrund der psychischen Erkrankung beeinträchtigt wären (Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer, DÄBl. 2013 A-1336).
Merke Die Durchführung der ärztlichen Zwangsmaßnahme kommt gem. § 1906a I Nr. 5 BGB nur in Betracht, wenn der gesundheitliche Schaden durch keine andere dem Betreuten zumutbare Maßnahme abgewendet werden kann (Ultima Ratio). Bezüglich der Frage, ob eine Alternativmaßnahme zumutbar ist, ist auf den mutmaßlichen oder früher geäußerten Willen des Betreuten abzustellen. Dabei gelangen jedoch nur solche Maßnahmen in den Kreis der zur Auswahl stehenden Behandlungsmöglichkeiten, die auch ärztlich indiziert sind. Nur wenn mehrere erfolgversprechende Alternativen zur Heilung des Betreuten vorhanden sind, ist diejenige auszuwählen, die dem mutmaßlichen Willen des Patienten entspricht. § 1906a I Nr. 6 BGB zufolge muss der Nutzen der Behandlung die Risiken unter Berücksichtigung alternativer Behandlungsmöglichkeiten deutlich überwiegen. Zwangseingriffe, bei denen erhebliche irreversible Gesundheitsschäden drohen, werden daher nur in Ausnahmefällen zulässig sein. In die Abwägung im Einzelfall fließen insbesondere die gesundheitlichen Risiken durch die Anwendung des Zwangsmittels, mögliche Beeinträchtigungen des Behandlungserfolgs durch den Zwang, das subjektive Erleben des Patienten sowie die mögliche Erschütterung des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient mit ein (Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer, DÄBl. 2013 A-1336). Die Einwilligung des Betreuers (bzw. Bevollmächtigten) unterliegt gem. § 1906a II BGB dem Genehmigungsvorbehalt des Betreuungsgerichts, da die Anordnung einer Zwangsbehandlung erhebliche Grundrechtsgefährdungen mit sich bringt. Auch eine Patientenverfügung, die eine ärztliche Zwangsmaßnahme ausdrücklich gestattet, lässt den gerichtlichen Genehmigungsvorbehalt nicht entfallen. § 1904 IV BGB findet keine
entsprechende Anwendung, da § 1906a BGB spezieller ist (BT-Drs. 18 / 11240, 20; Spickhoff / Spickhoff § 1906a BGB Rn. 12).
31.6.5. Wohnungsauflösung Der Betreuer muss auch dann eine Genehmigung des Betreuungsgerichts einholen, wenn er die Wohnung des Betreuten auflösen will, z. B. durch Kündigung des Mietverhältnisses (§ 1907 I S. 1, 2 BGB). Zweck der Genehmigungspflicht ist es, die Wohnung des Betreuten als seinen räumlichen Lebensmittelpunkt in besonderer Weise zu schützen (Dodegge und Roth 2018, E Rn. 49). Eine Genehmigungspflicht besteht daher nur, wenn es sich um ein Mietverhältnis handelt, das tatsächlich zur Schaffung des eigenen Lebensmittelpunkts eingegangen wurde, was z. B. bei einer Zweitwohnung zweifelhaft sein kann (Bienwald et al. 2016, § 1907 Rn. 22). Eine Wohnung verliert grundsätzlich nicht die Bedeutung als Lebensmittelpunkt, wenn der Betreute sie vorübergehend nicht bewohnt, z. B. weil er sich im Krankenhaus befindet (BT-Drs. 11 / 4528, 149). Maßstab für die Genehmigungsentscheidung ist das Wohl des Betreuten. Neben wirtschaftlichen Aspekten sind insbesondere die persönlichen Auswirkungen des Verlustes der Wohnung für den Betreuten maßgeblich. Verliert der Betreute mit der Wohnungsauflösung seine vertraute Umgebung und seinen Bekanntenkreis oder nimmt man ihm – wenn er momentan untergebracht ist oder sich im Krankenhaus befindet – die ihn stärkende Hoffnung, wieder in die eigene Wohnung entlassen zu werden, sind diese persönlichen Nachteile mit besonderem Gewicht gegen die (häufig finanziellen) Vorteile einer Wohnungsauflösung abzuwägen (Damrau und Zimmermann 2011, § 1907 Rn. 12). Maßgeblich ist auch, ob und wann ein Betreuter nach einer Unterbringung bzw. einem Krankenhausaufenthalt wieder in der Lage sein wird, in seine Wohnung zurückzukehren. Verfahrensrechtlich ist nur die persönliche Anhörung des Betreuten gesetzlich vorgeschrieben (§ 299 S. 2 FamFG), nicht dagegen die Einholung eines ärztlichen Zeugnisses oder
Sachverständigengutachtens. Häufig wird das Gericht, das zur Sachverhaltsaufklärung verpflichtet ist (§ 26 FamFG), jedoch Veranlassung haben, ein psychiatrisches Gutachten einzuholen, um die oben aufgeworfenen Aspekte beurteilen zu können (HK-BUR / Harm 2019, § 1907 Rn. 4).
31.7. Geschäftsfähigkeit 31.7.1. Grundlagen Merke Geschäftsfähigkeit ist die Fähigkeit des Einzelnen, allgemein zulässige Rechtsgeschäfte selbstständig wirksam vorzunehmen. Wer geschäftsfähig ist, ist daher imstande, innerhalb der Rechtsordnung durch Willenserklärung die Rechtslage zu beeinflussen, z. B. sich und den Geschäftspartner durch Abschluss eines Vertrags verbindlich zu einer Leistung zu verpflichten, ein Recht zu erwerben, eine wirksame Kündigung auszusprechen, jemanden als Stellvertreter zu ermächtigen. Zentraler Gedanke der Unterscheidung zwischen Geschäftsfähigkeit und Geschäftsunfähigkeit ist der Schutz derjenigen, die nicht eigenverantwortlich handeln können und deshalb davor bewahrt werden sollen, sich im Rechtsverkehr selbst zu schädigen. Denn die Möglichkeit des Einzelnen, im Sinne der Privatautonomie Rechtsgeschäfte nach seinem Willen vorzunehmen, macht nur Sinn, wenn der Handelnde imstande ist, die Konsequenzen seiner rechtsgeschäftlichen Erklärungen zu begreifen.
Merke Rechtsfähigkeit bezeichnet dagegen die Eigenschaft, Träger von Rechten und Pflichten sein zu können. Rechtsfähigkeit besitzt jeder Mensch von Geburt an (§ 1 BGB) bis zu seinem Tod (MünchKomm / Spickhoff 2018, § 1 Rn. 12, 18), und
zwar unabhängig von Alter oder geistiger Gesundheit. Daher kann sowohl ein Kind als auch ein psychisch Kranker z. B. Eigentümer eines Hauses oder Erbe eines Nachlasses sein. Soweit ihnen aber die Geschäftsfähigkeit fehlt, können sie das eigene Haus nicht selbstständig verkaufen und über ihre Erbschaft nicht selbstständig verfügen. Sie benötigen einen geschäftsfähigen Vertreter (Eltern, Vormund oder Betreuer), der dies für sie erledigt. Voraussetzungen der Geschäftsfähigkeit Voll geschäftsfähig ist nur, wer die zur Vornahme von Rechtsgeschäften erforderliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit besitzt (Musielak 2017, Rn. 317, 318). Die Rechtsordnung geht davon aus, dass jeder Mensch grundsätzlich über diese Fähigkeiten verfügt und somit grundsätzlich geschäftsfähig ist. Das BGB regelt in §§ 104 ff. daher lediglich die Ausnahmefälle, in denen wegen zu geringen Alters oder fehlender geistiger Gesundheit keine volle Geschäftsfähigkeit anzunehmen ist.
Merke Geschäftsunfähig sind alle Kinder unter 7 Jahren (§ 104 Nr. 1 BGB) sowie diejenigen, die sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befinden, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist (§ 104 Nr. 2 BGB; Genaueres ➤ Kap. 31.7.2). Ebenfalls nicht voll geschäftsfähig sind die sogenannten beschränkt Geschäftsfähigen. Dies sind Kinder und Jugendliche zwischen dem vollendeten 7. und 18. Lebensjahr (§ 106 i. V. m. § 2 BGB). Im Umkehrschluss lässt sich sagen, dass voll geschäftsfähig all diejenigen sind, die mindestens 18 Jahre alt sind und nicht unter einer psychischen Störung leiden, die ihre freie Willensbestimmung dauerhaft ausschließt.
Folgen fehlender Geschäftsfähigkeit Geschäftsunfähigkeit Die Willenserklärung eines Geschäftsunfähigen ist nichtig (§ 105 I BGB). Dem Geschäftsunfähigen gegenüber können auch keine Willenserklärungen wirksam abgegeben werden (§ 131 I BGB). Der Geschäftsunfähige kann damit grundsätzlich nicht eigenverantwortlich am Rechtsverkehr teilnehmen. Ob er selbst einen Vertrag abschließt oder ihm gegenüber z. B. eine Kündigung ausgesprochen wird – grundsätzlich bleiben seine eigenen wie auch die ihm gegenüber vorgenommenen rechtlichen Handlungen rechtlich wirkungslos, und zwar unabhängig davon, ob sein Gegenüber von der Geschäftsunfähigkeit wusste (Palandt / Ellenberger 2019, Einf. v. § 104 Rn. 3). Da die Erklärungen des Geschäftsunfähigen von vornherein nichtig sind, können sie nicht einmal von einem Vertreter genehmigt werden. Wirksamkeit erlangen Rechtsgeschäfte mit einem Geschäftsunfähigen i. d. R. einzig und allein dann, wenn sie unmittelbar von oder gegenüber seinem Vertreter vorgenommen werden. Dabei sind Vertreter bei Kindern grundsätzlich die Eltern (§ 1629 I BGB), ersatzweise ein Vormund (§§ 1773, 1793 BGB). Bei erwachsenen Geschäftsunfähigen ist Vertreter entweder ein Betreuer oder ein vom Geschäftsunfähigen vor Eintritt der Geschäftsunfähigkeit ernannter Bevollmächtigter (➤ Kap. 31.4). Zum Grundsatz der Nichtigkeit von oder gegenüber Geschäftsunfähigen abgegebenen Willenserklärungen sieht das Gesetz nur in § 105a BGB eine Ausnahme vor. Danach gelten von einem volljährigen Geschäftsunfähigen getätigte Geschäfte des täglichen Lebens, die mit geringwertigen Mitteln bewirkt werden können – z. B. Kauf von Nahrungsmitteln für den täglichen Verbrauch, Inanspruchnahme des Friseurs oder Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel – unter bestimmten Voraussetzungen (Palandt / Ellenberger 2019, § 105a Rn. 3 ff.) als wirksam. Beschränkte Geschäftsfähigkeit
Minderjährige, die das 7. Lebensjahr vollendet haben, können solche Rechtsgeschäfte allein wirksam tätigen, durch die sie lediglich einen rechtlichen Vorteil erlangen. Rechtlich nachteilige Geschäfte können sie nur mit Zustimmung ihres gesetzlichen Vertreters wirksam abschließen (§§ 107, 108 BGB). Lediglich rechtlich vorteilhaft ist z. B. eine Schenkung an den Minderjährigen. Dagegen ist der Abschluss eines Kaufvertrags, selbst wenn er zu einem für den Minderjährigen äußerst günstigen Preis stattfindet, nie lediglich rechtlich vorteilhaft für ihn, da er entweder die Verpflichtung zur Kaufpreiszahlung oder zur Übereignung einer Sache mit sich bringt (§ 433 BGB). Ein Kaufvertrag kann daher immer nur mit Zustimmung der Eltern abgeschlossen werden. Dabei kann die Zustimmung entweder vor der Vornahme des Rechtsgeschäfts (dann „Einwilligung“, § 183 S. 1 BGB) oder – bei Verträgen (§ 111 BGB) – nach der Vornahme des Rechtsgeschäfts (dann „Genehmigung“, § 184 I BGB) erteilt werden. Der ohne eine Einwilligung abgeschlossene Vertrag des Minderjährigen ist bis zur Entscheidung der Eltern über eine Genehmigung „schwebend unwirksam“ (zum Parallelfall des unter Einwilligungsvorbehalt stehenden Betreuten ➤ Kap. 31.4.6). Beweisfragen Da § 104 BGB einen Ausnahmetatbestand normiert, muss derjenige die Geschäftsunfähigkeit beweisen, der sich auf sie beruft. Im Interesse der Rechtssicherheit werden insbesondere an einen Beweis der Geschäftsunfähigkeit nach § 104 Nr. 2 BGB hohe Anforderungen gestellt (OLG Hamburg MDR 1950, 731). Insbesondere muss auch der Ausschluss der freien Willensbestimmung in vollem Umfang bewiesen werden; das Vorliegen einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit begründet insoweit keine tatsächliche Vermutung (BGH WM 1965, 895). Bei verbleibenden Zweifeln ist von Geschäftsfähigkeit auszugehen. Da im Strafrecht begründete Zweifel an der Schuldfähigkeit genügen, um zu einem Freispruch zu gelangen, kann es zu scheinbar widersprüchlichen Entscheidungen im Straf- und Zivilprozessrecht kommen.
31.7.2. Geschäftsunfähigkeit wegen psychischer Störungen Die Geschäftsunfähigkeit infolge psychischer Störungen wird auch „natürliche Geschäftsunfähigkeit“ genannt, da sie nicht von einem rechtlichen Status (Lebensalter nach § 104 Nr. 1 BGB) abhängt, sondern von der tatsächlichen Unfähigkeit zur Selbstbestimmung (Staudinger / Klumpp 2017, § 104 BGB Rn. 6). Sie ist daher auch nicht automatisch anzunehmen, wenn der Betroffene wegen psychischer Störungen unter Betreuung steht oder für ihn ein Einwilligungsvorbehalt angeordnet wurde (➤ Kap. 31.4.5, ➤ Kap. 31.4.6). Vielmehr muss sie stets im Einzelfall festgestellt werden.
Merke Eine Geschäftsunfähigkeit wegen psychischer Störungen liegt nach § 104 Nr. 2 BGB vor, wenn eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit besteht, die nicht nur vorübergehender Natur ist und einen Ausschluss der freien Willensbestimmung zur Folge hat. Krankhafte Störung der Geistestätigkeit
Merke Unter einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit sind sowohl die Störungen zu verstehen, die eine nachgewiesene oder vermutete organische Grundlage haben, als auch diejenigen psychischen Anomalien, die einen solchen Schweregrad erreicht haben, dass sie mit den allgemein anerkannten geistigen Krankheiten hinsichtlich ihrer Wirkungen gleichgestellt werden können (Staudinger / Klumpp 2017, § 104 Rn. 10).
Die genaue medizinische Einordnung der geistigen Anomalie ist weniger bedeutsam; entscheidend ist vielmehr ihr Ausmaß im Hinblick auf die Möglichkeit eines Ausschlusses der Willensfreiheit. Unerheblich ist auch, ob die Störung auf internen Krankheitsverläufen (z. B. Alzheimer-Demenz) beruht oder durch äußere körperliche Verletzungen (z. B. Schädel-Hirn-Trauma infolge eines Verkehrsunfalls) hervorgerufen wurde (OLG München MDR 1989, 361). Unproblematisch erfasst sind also zunächst Psychosen, manischdepressive Psychosen allerdings nur dann, wenn mit einer normalen Urteilsfindung und Motivation nicht mehr gerechnet werden kann (BGH WM 1965, 1186). Zu den Störungen, die den allgemein anerkannten geistigen Krankheiten gleichgestellt sein können, zählt insbesondere die Abnormalität der Verstandesanlagen (Oligophrenie / Schwachsinn), der Persönlichkeit (Psychopathien), der Erlebnisreaktionen (Neurosen) sowie der Triebanlagen (Staudinger / Klumpp 2017, § 104 Rn. 11). Sie müssen einen solchen Schweregrad aufweisen, dass sie geeignet sind, die freie Willensbestimmung auszuschließen. Dies ist bei Schwachsinn erst ab einem IQ 3 ‰; BGH WM 1972, 972; NJW 1991, 852), starker Drogenintoxikation, Fieberdelir, Hypnose, epileptischen Anfällen, Schlafwandeln oder höchsten Graden physischer und psychischer Ermüdung (OLG Braunschweig, OLGZ 1995, 441). Die Bewusstseinstrübung braucht also nicht notwendig krankhafter Natur zu sein (Staudinger / Klumpp 2017, § 105 Rn. 13) Die vorübergehende Störung der Geistestätigkeit muss dagegen wie bei § 104 Nr. 2 BGB Krankheitswert haben. Notwendig ist also auch hier eine irgendwie geartete geistige Anomalie (MünchKomm / Spickhoff 2018, § 105 Rn. 38). Auch sonst gelten – mit Ausnahme des Dauerzustands – die zu § 104 Nr. 2 BGB dargelegten
Voraussetzungen. Die krankhafte Störung der Geistestätigkeit muss insbesondere zum Ausschluss der freien Willensbestimmung des Betroffenen führen (BGH VersR 1967, 341). Ferner kann auch die vorübergehende Störung der Geistestätigkeit gegenständlich beschränkt sein (BGH NJW 1961, 261). Als vorübergehende Störungen im Sinne dieser Vorschrift kommen vor allem durch Alkohol, Medikamente oder Rauschgift ausgelöste Störungen in Betracht (Staudinger / Klumpp 2017, § 105 Rn. 19). Wer sich auf die Nichtigkeit einer Erklärung nach § 105 II BGB beruft, hat zu beweisen, dass sich der Erklärende bei Abgabe der Erklärung im Zustand der Bewusstlosigkeit oder der vorübergehenden Störung der Geistestätigkeit befunden hat (BGH WM 1972, 972; 1980, 521).
31.8. Prozessfähigkeit 31.8.1. Grundlagen Merke Die Prozessfähigkeit ist die „prozessuale Geschäftsfähigkeit“ und bedeutet die Fähigkeit einer Person, vor Gericht wirksam aufzutreten und einen Prozess selbst oder mithilfe eines selbst bestellten Prozessbevollmächtigten zu führen (vgl. § 51 ZPO). Zweck des Erfordernisses der Prozessfähigkeit ist der Schutz des Betroffenen vor den nachteiligen Folgen unsachgemäßer eigener Prozessführung sowie der Schutz der Interessen des Prozessgegners und des Gerichts an einem geordneten, zielgerichteten Verfahren unter Vermeidung zweckwidrigen Prozesshandelns. Die Prozessfähigkeit ist nicht mit der Parteifähigkeit zu verwechseln, die – als prozessuales Gegenstück der
Rechtsfähigkeit – lediglich die Fähigkeit bedeutet, Partei in einem Prozess zu sein. Ein Kleinkind kann z. B. als Eigentümer eines Grundstücks, das es geerbt hat, verklagt werden; es kann aber (naturgemäß) den Prozess nicht selbst führen, sondern wird dabei durch seine(n) gesetzliche(n) Vertreter (i. d. R. die Eltern) vertreten (zur Unterscheidung von Geschäfts- und Rechtsfähigkeit ➤ Kap. 31.7.1). Grundsätzlich ist prozessfähig, wer voll geschäftsfähig ist (vgl. § 52 ZPO; Zöller / Althammer2019, § 52 ZPO Rn. 3). Prozessfähig sind daher alle natürlichen Personen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben und sich nicht in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befinden (§ 52 ZPO, §§ 104, 107 BGB). Zur Feststellung der Prozessunfähigkeit wegen Geisteskrankheit hat das Gericht i. d. R. ein Sachverständigengutachten einzuholen (Zöller / Althammer 2019, § 52 ZPO Rn. 7a). Es gelten die gleichen Grundsätze wie bei der Feststellung der Geschäftsunfähigkeit wegen psychischer Störungen (➤ Kap. 31.2). Das Verfahrensrecht kennt im Gegensatz zum materiellen Recht die beschränkte Prozessfähigkeit nicht. Neben den Geschäftsunfähigen sind daher auch alle beschränkt Geschäftsfähigen (Minderjährige > 7 Jahren) prozessunfähig (Ausnahmen gelten im Bereich der §§ 112, 113 BGB). Ein Geschäftsunfähiger wird jedoch dann als prozessfähig behandelt, wenn über seine (zweifelhafte oder bestrittene) Prozessfähigkeit im Rahmen eines Zwischenstreits entschieden wird (sog. Zulassungsstreit, s. BGHZ 35, 1). Nur dadurch wird sichergestellt, dass die Partei für diesen Verfahrensabschnitt hinsichtlich ihrer Prozessfähigkeit zu Wort kommen kann und nicht zum reinen Objekt des Verfahrens wird. Die Prozessfähigkeit ist zugleich Prozessund Prozesshandlungsvoraussetzung. Als Prozessvoraussetzung muss sie spätestens im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung gegeben sein. Anderenfalls wird die Klage als unzulässig abgewiesen. Verliert eine Partei ihre Prozessfähigkeit während des Rechtsstreits, führt dies zur Unterbrechung oder Aussetzung und
macht eine Vertretung erforderlich. Als Prozesshandlungsvoraussetzung ist die Prozessfähigkeit für die Wirksamkeit von prozessualen Handlungen erforderlich, z. B. Vollmachtserteilung, Klageerhebung, Stellung von Beweisanträgen. Sie muss bereits bei der Vornahme der fraglichen Handlung vorliegen (BGH NJW 2000, 290); fehlt sie, sind die von oder gegenüber einer prozessunfähigen Partei vorgenommenen Prozesshandlungen unwirksam.
31.8.2. Prozess(un)fähigkeit bei Betreuung Wird für eine geschäftsfähige Person ein Betreuer bestellt, ändert dies an ihrer Geschäftsfähigkeit (➤ Kap. 31.4.5) und somit auch an ihrer Prozessfähigkeit grundsätzlich nichts. Der Betreute kann daher selbstständig klagen und verklagt werden. Er verliert allerdings die Fähigkeit, einen Prozess in eigener Person zu führen, sobald der Betreuer stellvertretend für ihn im Prozess auftritt. Für diesen Rechtsstreit steht der Betreute einer nicht prozessfähigen Person gleich (§ 53 ZPO). Ist die Betreuung mit einem Einwilligungsvorbehalt (➤ Kap. 31.4.6) verbunden (§ 1903 BGB), ist der Betreute einem beschränkt Geschäftsfähigen gleichgestellt, soweit der Einwilligungsvorbehalt reicht. Die Beschränkung bezieht sich also nur auf den vom Einwilligungsvorbehalt umfassten Bereich, im Übrigen bleibt der Betreute voll geschäftsfähig und insoweit auch prozessfähig (Zöller / Althammer 2019, § 52 ZPO Rn. 2a). Der Betroffene kann also im Bereich des Einwilligungsvorbehalts weder als Partei noch als Prozessbevollmächtigter handeln (§§ 1903 I S. 2, 108 ff. BGB, 52 ZPO). Möglich ist es jedoch, dass der Betreuer die Prozesshandlungen des Betreuten heilend genehmigt (Zöller / Althammer 2019, § 52 ZPO Rn. 14). Im Betreuungsverfahren ist der zu Betreuende oder Betreute verfahrensfähig(§ 275 FamFG). In diesem Verfahren wird er als prozessfähig angesehen, auch wenn die Geschäftsfähigkeit nicht gegeben ist (➤ Kap. 31.5.2).
31.9. Testierfähigkeit 31.9.1. Grundlagen Merke Die Testierfähigkeit, geregelt in § 2229 BGB, ist eine spezielle Ausprägung der Geschäftsfähigkeit auf dem Gebiet des Erbrechts (BGH ZEV 2017, 278 Rn. 12; BayObLG FamRZ 2002, 63). Sie ist die Fähigkeit, ein Testament zu errichten, abzuändern oder aufzuheben. Zum Abschluss eines Erbvertrags ist dagegen Geschäftsfähigkeit erforderlich (§ 2275 BGB). Die Testierfähigkeit erfordert das Bewusstsein des Testierenden, dass er ein Testament errichtet, sowie konkrete Vorstellungen bzgl. des Inhalts der darin enthaltenen letztwilligen Verfügungen. Der Testierende muss in der Lage sein, sich ein klares Urteil darüber zu bilden, welche Tragweite seine Anordnungen haben, insbesondere welche Wirkungen sie auf die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse ausüben. Er muss auch frei von Einflüssen interessierter Dritter handeln können (OLG Köln FamRZ 1991, 1357; MünchKomm / Litzenburger 2018, § 2229 Rn. 3). Die Testierfähigkeit deckt sich insofern mit der Geschäftsfähigkeit, als jeder voll Geschäftsfähige auch testierfähig ist. Testierfähig ist weiterhin ein Minderjähriger, der das 16. Lebensjahr vollendet hat. Er bedarf für die Errichtung eines Testaments nicht der Zustimmung seines gesetzlichen Vertreters (§ 2229 I, II BGB), ist jedoch in der Wahl der Testamentsform eingeschränkt: Er kann kein eigenhändiges Testament errichten, sondern seine letztwillige Verfügung nur durch öffentliches Testament (also vor dem Notar) treffen (§§ 2247 IV, 2233 I BGB). Eine bestehende Betreuung sagt grundsätzlich nichts über die Testierfähigkeit des Betreuten aus, kann aber einen Anlass zur
Prüfung der Testierfähigkeit geben (MünchKomm / Sticherling 2020, § 2220 Rn. 17). Der Betreute ist nur dann testierunfähig, wenn er wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit oder wegen Bewusstseinsstörung nicht in der Lage ist, die Bedeutung einer von ihm abgegebenen Willenserklärung einzusehen (§ 2229 IV BGB). Ein Einwilligungsvorbehalt kann sich nicht auf Verfügungen von Todes wegen erstrecken (§ 1903 II Nr. 2 BGB). Außerdem kann das Gericht nicht anordnen, dass der Betreute sein Testament nur in bestimmten Formen, z. B. notariell, errichten darf. Der Betreute kann sich also zur Errichtung eines Testaments aller vom Gesetz zugelassenen Testamentsformen bedienen (BT-Drs. 11 / 4528, 66; zu kritischen Stimmen s. MünchKomm / Sticherling 2020, § 2220 Rn. 19). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Testierfähigkeit ist der Zeitpunkt der Testamentserrichtung, beim eigenhändigen Testament i. d. R. der Zeitpunkt des Abschlusses mit der Unterschrift (Staudinger / Baumann 2018, § 2229 Rn. 52). Bei der Errichtung eines notariellen Testaments muss die Testierfähigkeit bei der Erklärung des Erblassers gegenüber dem Notar oder der Übergabe der Schrift sowie bei der Genehmigung der Niederschrift und der Unterzeichnung durch den Erblasser gegeben sein (§ 2232 BGB, § 13 BeurkG; MünchKomm / Litzenburger 2018, § 2229 Rn. 1, 3). Erleidet der Erblasser, nachdem er im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte dem Notar gegenüber die Einzelheiten eines von ihm beabsichtigten Testaments angegeben hatte, sodann einen Schlaganfall mit Bewusstseinstrübung, ist die in diesem Zustand vorgenommene Errichtung des Testaments, das nach seinen Angaben vom Notar erstellt wurde, voll wirksam, wenn der Erblasser die Bedeutung des verlesenen Testaments noch erkennen und sich frei entschließen konnte, ob er zustimmen oder ablehnen wollte (BGHZ 30, 294).
31.9.2. Testierunfähigkeit Merke Testierunfähig sind:
• Minderjährige unter 16 Jahren (§ 2229 I BGB) • Personen, die wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit, Geistesschwäche oder Bewusstseinsstörung nicht in der Lage sind, die Bedeutung einer von ihnen abgegebenen Willenserklärung einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln (§ 2229 IV BGB).
Entscheidend für die Beurteilung der Testierfähigkeit bei psychischen Störungen ist die Frage, ob und in welchem Maß sich die Geistesstörung auf die Einsichts- und Willensbildungsfähigkeit des Erblassers auswirkt. Maßgebend ist die Fähigkeit oder Unfähigkeit des Erblassers, die Bedeutung einer letztwilligen Verfügung zu erkennen und sich bei seiner Entschließung von normalen Erwägungen leiten zu lassen (MünchKomm / Sticherling 2020, § 2229 Rn. 21). Testierunfähigkeit des Erblassers infolge krankhafter Störung der Geistestätigkeit oder Geistesschwäche liegt dann vor, wenn dessen Erwägungen und Willensentschlüsse nicht mehr auf einer der allgemeinen Verkehrsauffassung entsprechenden Würdigung der Außendinge und Lebensverhältnisse beruhen, sondern durch krankhaftes Empfinden, krankhafte Vorstellungen und Gedanken oder durch Einflüsse Dritter derart beeinflusst werden, dass sie tatsächlich nicht mehr frei sind, vielmehr von jenen (krankhaften) Einwirkungen beherrscht werden (BayObLG FamRZ 2000, 701; Staudinger / Baumann 2018, § 2229 Rn. 35). An einer eigenen Willensentscheidung fehlt es dagegen z. B. nicht, wenn der Testierende in vollem Vertrauen den Vorschlägen eines Dritten ohne weitere Nachprüfung folgt, aber dabei bewusst und kraft eigenen Entschlusses handelt (Staudinger / Baumann 2012, § 2229 Rn. 48). Auch bloße fehlende Erkenntnis rechtlicher und wirtschaftlicher Zusammenhänge des Erklärten genügt für Testierunfähigkeit nicht (Staudinger / Baumann 2018, § 2229 Rn. 31). Unfreiheit der Erwägungen des Testierenden kann aber darin zutage treten, dass
der Erblasser sich keine Vorstellung von den Auswirkungen auf die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Betroffenen zu machen vermag (MünchKomm / Sticherling 2020, § 2220 Rn. 21, 35) Eine Testierunfähigkeit wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit oder Geistesschwäche kann z. B. auf arteriosklerotischer Demenz (BayObLG FamRZ 1996, 969), globaler Hirnatrophie, Hirninfarkten (BayObLG NotBZ 2001, 423), hochgradigem Schwachsinn, schwerer langjähriger Alkoholerkrankung mit Tablettenmissbrauch (BayObLGR 2002, 476), Demenz, Alzheimer-Krankheit, paranoiden Syndromen oder Wahnvorstellungen (BayObLG FamRZ 2000, 701) beruhen. Die „Geistesschwäche“ wird nicht in den allgemeinen Normen zur Geschäftsunfähigkeit (§§ 104 Nr. 2, 105 II BGB), sondern nur in § 2229 IV BGB als Grund für die Testierunfähigkeit genannt. Sie ist im Vergleich zur krankhaften Störung der Geistestätigkeit eine mindere Form der Geistesstörung, freilich ohne substanziellen Unterschied (sodass denn auch die genannten allgemeinen Normen die Geistesschwäche mit erfassen, s. Palandt / Ellenberger 2019, § 104 Rn. 3). Vom Wortsinn ausgehend meint Geistesschwäche eine andauernde geistige Insuffizienz, unabhängig davon, ob sie auf einen krankhaften Zustand zurückzuführen ist, während eine Störung der Geistestätigkeit voraussetzt, dass die Geistestätigkeit grundsätzlich funktioniert, aber durch Krankheit eingeschränkt ist.
Merke Eine geistige Erkrankung des Erblassers führt nicht zu Testierunfähigkeit, wenn die letztwillige Verfügung mit der Erkrankung nicht in Verbindung steht, von ihr also nicht beeinflusst ist (BayObLG FamRZ 2002, 1068). Daraus folgt u. a., dass Geschäftsunfähigkeit nicht zwangsläufig zu Testierunfähigkeit führt, sondern dass stets gesondert zu prüfen ist, ob eine psychische Störung sich gerade auf die Einsichts- und
Entschlussfähigkeit bei Testamenten auswirkt.
der
Errichtung
von
Psychopathie und Rauschgiftsucht z. B. schließen die Testierfähigkeit nicht unbedingt aus (BayObLG FamRZ 1996, 1109), ebenso wenig eine Veranlagung zur Querulation oder ein abnormes Persönlichkeitsbild (BayObLG FamRZ 1992, 724). Denn diese geistigen Störungen vermindern nicht zwangsläufig die Einsichtsund Willensbildungsfähigkeit gerade für die in letztwilligen Verfügungen berührten Bereiche. Umgekehrt kann ein Verfolgungswahn bzgl. einer bestimmten Person den Erblasser insgesamt testierunfähig machen, da er ihn daran hindert, sich ein vom Wahn unbeeinflusstes Urteil über seine Rechtsnachfolge von Todes wegen zu bilden (BayObLG FamRZ 2000, 701). Sobald Einsichts- und Entschlussunfähigkeit infolge psychischer Störungen für auch nur einen durch das Testament berührten Lebensbereich anzunehmen sind, liegt vollumfängliche Testierunfähigkeit vor. Denn die Wirksamkeit einer Testamentserrichtung kann nur einheitlich beurteilt werden. Eine partielle Testierunfähigkeit für einen bestimmten abgrenzbaren Bereich von Angelegenheiten ist deshalb – anders als bei der Geschäftsunfähigkeit – abzulehnen (BayObLG NJW 1992, 248; Jauernig / Stürner 2018, § 2229 Rn. 6; differenzierend MünchKomm / Sticherling 2020, § 2220 Rn. 25). Von der wohl noch h. M. wird ferner – diesmal in Übereinstimmung mit der Geschäftsfähigkeit – auch eine relative Testierunfähigkeit, die nach der Schwierigkeit eines Testaments unterscheiden würde, abgelehnt (BGHZ 30, 117). Zunehmend wird dies jedoch anders gesehen. Denn wenn nach der h. M. Testierfähigkeit (nur) gegeben ist, wenn der Erblasser die Folgen seiner konkreten Erklärung im Hinblick auf die Konsequenzen für die Betroffenen zu überblicken in der Lage ist, dann leuchte es nicht ein, weshalb in diese Bewertung nach den Fähigkeiten des Erblassers im Einzelfall nicht auch der Umfang und die Kompliziertheit der letztwilligen Verfügung einzubeziehen seien (MünchKomm / Sticherling 2020, § 2220 Rn. 22 f.; Staudinger / Baumann 2018, § 2229 Rn. 19 ff.).
In zeitlicher Hinsicht gilt wie bei der Geschäftsfähigkeit, dass Testamente von Geisteskranken bei wechselnden Zuständen wirksam sein können, wenn sie in lichten Augenblicken errichtet werden (BayObLG FamRZ 1985, 739; ➤ Kap. 31.7.2). Eine Bewusstseinsstörung liegt bei erheblicher Bewusstseinstrübung vor und entspricht der „Bewusstlosigkeit“ (➤ Kap. 31.7.3) des § 105 II BGB (Staudinger / Baumann 2018, § 2229 Rn. 40). Anders als bei der krankhaften Störung der Geistestätigkeit oder der Geistesschwäche handelt es sich hier also um eine vorübergehende psychische Störung. Beispiele für Bewusstseinsstörungen, die zur Testierunfähigkeit führen können, sind Volltrunkenheit, Hypnose, manische seelische Depression, Drogeneinfluss, epileptischer Anfall, Delir und Erschöpfungszustand (Bamberger und Roth / Litzenburger 2018, § 2229 Rn. 10). Ein von einem Testierunfähigen errichtetes Testament ist nichtig. Erlangt der Erblasser nach Errichtung des Testaments die Testierfähigkeit (wieder), wird z. B. der Minderjährige volljährig, führt dies nicht zur Wirksamkeit des errichteten Testaments. Auch genügt die Genehmigung des Testierenden im testierfähigen Zustand zur Wirksamkeit ebenso wenig wie die Zustimmung eines Vertreters. Es ist vielmehr eine Neuerrichtung erforderlich.
31.9.3. Beweisrecht Merke Der Erblasser ist als testierfähig anzusehen, es sei denn, das Gegenteil wurde bewiesen (KG NJW 2001, 903). Die Testierunfähigkeit des Erblassers muss also zur vollen Überzeugung des Gerichts feststehen, wenn ein Testament für nichtig erklärt werden soll, wobei die Überzeugung des Gerichts auch dann vorliegen kann, wenn der Sachverständige die Testierunfähigkeit nur mit
einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit festgestellt hat (BayObLG FamRZ 2000, 701). Die Testierfähigkeit des Erblassers wird also vermutet. Wird jedoch festgestellt, dass der Erblasser vor und nach der Testamentserrichtung testierunfähig war, gilt der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass die Testierunfähigkeit auch im Zeitpunkt der Testamentserrichtung bestand (OLG Frankfurt NJW-RR 1998, 870). Dann muss derjenige, der sich auf einen lichten Augenblick beruft, den Anschein erschüttern und den Gegenbeweis antreten. Zur Erschütterung des ersten Anscheins genügt die Feststellung der ernsthaften Möglichkeit einer vorübergehenden Besserung des Geisteszustands (OLG Köln, FamRZ 1992, 729). Die Frage, ob der Erblasser im Zeitpunkt der Testamentserrichtung testierfähig war, lässt sich i. d. R. nur mithilfe eines psychiatrischen Sachverständigen beantworten. Dieser ist aufgrund seiner besonderen Fachkunde befähigt, aus dem Gesamtverhalten und dem Gesamtbild der Persönlichkeit in der fraglichen Zeit unter Einbeziehung der Vorgeschichte und aller äußeren Umstände zu klären, ob der Erblasser die Bedeutung der von ihm abgegebenen Willenserklärung einsehen und nach dieser Einsicht handeln konnte (BayObLGZ 2000, 48). Aufgabe des psychiatrischen Sachverständigen ist es nicht nur, den medizinischen Befund einer Geisteskrankheit oder -schwäche festzustellen, sondern vor allem deren Auswirkungen auf die Einsichts- und Willensbildungsfähigkeit des Erblassers abzuklären (BayObLG FamRZ 2002, 1066). Der Sachverständige hat weiterhin festzustellen, ob der Erblasser seine Verfügung auch frei von Einflüssen und Manipulationen interessierter Dritter getroffen hat. Zur Beurteilung der Testierfähigkeit kann auf in einem Betreuungsverfahren eingeholte Stellungnahmen und Gutachten zurückgegriffen werden, die allerdings für das Gericht nicht bindend sind (MünchKomm / Litzenburger 2018, § 2229 Rn. 13). Die Ermittlung des Sachverhalts, die Vernehmung von Zeugen – z. B. von Ärzten, in deren Behandlung der Erblasser war – und die Beurteilung ihrer
Glaubwürdigkeit ist Aufgabe des Gerichts und nicht Sache des Sachverständigen (BayObLG NJW-RR 1991, 1287). Der vom Gericht ermittelte Sachverhalt wird dann dem Sachverständigen als Grundlage seiner gutachterlichen Äußerungen vorgelegt (➤ Kap. 31.1.2). Bei der Beurteilung der Frage der Testierfähigkeit des Erblassers im Zeitpunkt der Testamentserrichtung spielt die Aussage des Hausarztes des Erblassers eine große Rolle (KG NJW 2001, 903). Damit stellt sich die Frage der Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht. Die Schweigepflicht besteht auch nach dem Tod des Erblassers fort (§ 203 V StGB). Ob und in welchem Umfang der (z. B. Haus-)Arzt nach dem Tod des Patienten zum Schweigen verpflichtet ist, hängt in erster Linie vom Willen des Patienten ab. Hat dieser sich hierüber bei Lebzeiten geäußert, ist dieser Wille grundsätzlich maßgebend. Lässt sich dagegen eine positive Willensäußerung des Verstorbenen nicht feststellen, muss der mutmaßliche Wille des Patienten erforscht und damit also geprüft werden, ob er die konkrete Offenlegung durch den Arzt mutmaßlich gebilligt oder missbilligt haben würde (BGHZ 91, 392). Es wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass der Verstorbene selbst ein Interesse an der Aufklärung von Zweifeln an der Wirksamkeit einer von ihm getroffenen letztwilligen Verfügung hätte, weshalb der Arzt i. d. R. als von der Schweigepflicht entbunden anzusehen ist (OLG Frankfurt FamRZ 1997, 1306, 1308; OLG Köln ZEV 2018, 530).
31.9.4. Aufgaben eines Notars in Bezug auf die Testierfähigkeit Bei der Aufnahme eines öffentlichen Testaments soll der Notar seine Wahrnehmungen über die Geschäftsfähigkeit des Erblassers in der Niederschrift vermerken (§ 28 BeurkG). Hat der Notar lediglich Zweifel an der Testierfähigkeit des Erblassers, darf er die Beurkundung nicht ablehnen (Staudinger / Baumann 2018, § 2229 Rn. 65), muss jedoch seine Zweifel in der Niederschrift vermerken. Fehlt einem Beteiligten nach Überzeugung des Notars die
Geschäftsfähigkeit, soll er die Beurkundung ablehnen (§ 11 I S. 1 BeurkG). Ist ein Beteiligter schwer krank, soll auch dies in der Niederschrift vermerkt und angegeben werden, welche Feststellungen der Notar über die Geschäftsfähigkeit getroffen hat (§ 11 II BeurkG). Die Beurteilung des Notars über die Testierfähigkeit unterliegt allerdings der freien Beweiswürdigung des Gerichts, d. h., sie ist allenfalls Indiz und nimmt nicht teil an der Beweiskraft öffentlicher Urkunden nach § 418 ZPO (Baumbach et al. / Hartmann 2014, § 418 ZPO Rn. 4 f.).
31.10. Eherecht 31.10.1. Ehefähigkeit Voraussetzungen § 1304 BGB wiederholt für das Eheschließungsrecht, was sich schon aus §§ 104, 105 I BGB ergibt: Wer geschäftsunfähig ist, kann eine Ehe nicht eingehen. Ihm fehlt die Ehefähigkeit. Zu den Merkmalen der Geschäftsunfähigkeit wegen psychischer Störungen wird grundsätzlich auf die Ausführungen in ➤ Kap. 31.7.2 verwiesen. Allerdings gelten einige Besonderheiten. Anders als sonst ist nicht zu prüfen, ob der Betroffene generell unfähig ist, seine Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen, sondern es ist konkret hinsichtlich der Eheschließung zu beurteilen, ob in ausreichender Weise Einsichts- und Entschlussfähigkeit vorliegen (BayObLG FamRZ 1997, 294). Denn aus der verfassungsrechtlich geschützten Eheschließungsfreiheit (Art. 6 I GG) folgt, dass an die Ehefähigkeit keine sehr hohen Anforderungen gestellt werden dürfen (Staudinger / Löhnig 2012, § 1304 Rn. 10). Außerdem ist anzuerkennen, dass die Eheschließung ein besonderes Rechtsgeschäft ist, „weil hier nicht so sehr die Fähigkeiten des Verstandes ausschlaggebend sind, sondern die Einsicht in das Wesen der Ehe und die Freiheit des Willensentschlusses zur Eingehung
einer Ehe“ (BayObLG FamRZ 1997, 294). Deshalb kann trotz erheblicher Zweifel an der Geschäftsfähigkeit im Übrigen eine partielle Geschäftsfähigkeit für die Eheschließung gegeben sein (BVerfG FamRZ 2003, 359; ➤ Kap. 31.7.2).
Merke Es genügt für die Ehefähigkeit, wenn der Heiratswillige über einfaches Wissen über die Ehe verfügt und sich frei für oder gegen eine Heirat zu entscheiden vermag (MünchKomm / Wellenhofer 2017, § 1304 Rn. 3). Ein wichtiges Indiz dafür ist die Fähigkeit, „im Rahmen einer natürlichen Willensbildung dezidierte Wünsche zu äußern und auf die Erfüllung von Bedürfnissen hinzuwirken“ (BVerfG, FamRZ 2003, 359). Für ehefähig wurde z. B. eine debile Person mit erheblich herabgesetzter Intelligenz gehalten, da sie einen ernst zu nehmenden Ehewillen hatte (AG Rottweil FamRZ 1990, 626), ebenso ein leichtbis mittelschwer Schwachsinniger (BGH NJW 1970, 1680). Insbesondere ändert auch die Tatsache einer Betreuung nichts an der grundsätzlich anzunehmenden Ehefähigkeit einer Person. Allerdings ist die Anordnung einer Betreuung und insbesondere eines Einwilligungsvorbehalts ein gewichtiger Anlass für den Standesbeamten, die Geschäftsfähigkeit des Ehewilligen zu überprüfen (AG Bremen StAZ 1992, 272; Staudinger / Löhnig 2018, § 1304 Rn. 12). Auch bei der Ehefähigkeit gilt, dass eine Störung der Geistestätigkeit nicht ständig zu sein braucht. In lichten Momenten ist der Betroffene ehefähig (MünchKomm / Wellenhofer 2017, § 1304 Rn. 3). Prüfung der Ehefähigkeit Schon der Standesbeamte ist verpflichtet, die Geschäftsfähigkeit der Ehewilligen zu überprüfen (§ 13 I PStG). Liegt Eheunfähigkeit vor,
hat der Standesbeamte die Eheschließung zu unterlassen (Staudinger / Löhnig 2018, § 1304 Rn. 13). Bei Zweifeln hat er nach § 49 II PStG die Entscheidung des Amtsgerichts herbeizuführen. Das Gericht klärt dann die Ehefähigkeit im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 26 FamFG) durch Sachverständigengutachten (BayObLG FamRZ 1997, 294). Rechtsfolgen fehlender Ehefähigkeit Wird eine Ehe geschlossen, obwohl einer der Ehepartner geschäftsunfähig war, tritt nicht nach § 105 I BGB automatisch die Nichtigkeit der Ehe ein. Vielmehr ist nach § 1314 I BGB eine solche Ehe wirksam, aber aufhebbar. Um eine Aufhebung der Ehe zu erreichen, muss auf Antrag eines der Ehegatten, des gesetzlichen Vertreters eines geschäftsunfähigen Ehegatten oder der zuständigen Behörde (§ 1316 I, II BGB) ein rechtskräftiges Urteil ergehen (§ 1313 BGB). Auch hier wird das Gericht i. d. R. das Gutachten eines sachverständigen Psychiaters einholen. Eine Ehe ist auch aufhebbar, wenn einer der Ehegatten sich bei der Eheschließung im Zustand der Bewusstlosigkeit oder vorübergehenden Störung der Geistestätigkeit befand (§ 1314 II Nr. 1 BGB; Näheres ➤ Kap. 31.7.3). Wie bei der Eheunfähigkeit gilt auch hier, dass die freie Willensbestimmung gerade hinsichtlich der Erklärung, die Ehe eingehen zu wollen, ausgeschlossen gewesen sein muss (Staudinger / Voppel 2012, § 1314 Rn. 12).
31.10.2. Nacheheliche Unterhaltsansprüche bei psychischer Krankheit Nach § 1572 BGB kann ein geschiedener Ehegatte vom anderen Unterhalt verlangen, solange und soweit von ihm zum Zeitpunkt der Scheidung wegen Krankheit eine Erwerbstätigkeit nicht erwartet werden kann. Hintergrund ist der Gedanke der nachehelichen Solidarität, nach der schicksalhafte Entwicklungen grundsätzlich von den bisherigen Lebenspartnern gemeinsam zu tragen sind, selbst wenn sie schon vorehelich angelegt waren. Die Krankheit braucht
deshalb auch nicht ehebedingt zu sein (BGH NJW 1996, 2793), und es ist unerheblich, ob der Unterhaltsberechtigte oder -verpflichtete um die Krankheit gewusst hat (BGH NJW 1994, 1286). Die Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen wird i. d. R. notwendig, wenn es um die Beurteilung einer Erwerbsunfähigkeit infolge psychischer Krankheit geht. Unter „Krankheit“ ist wie im Sozialversicherungsrecht (z. B. § 10 I Nr. 1 SGB VI) ein objektiv fassbarer regelwidriger Körper- und Geisteszustand zu verstehen, der ärztlicher Behandlung bedarf und / oder Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat (MünchKomm / Maurer 2017, § 1572 Rn. 13; BSGE 53, 22, 27). Im Unterhaltsrecht wurden z. B. erhebliche Depressionen als eine die Erwerbsfähigkeit potenziell ausschließende psychische Krankheit anerkannt, selbst wenn sie wesentlich durch den Trennungskonflikt mit verursacht sind (OLG Koblenz FamRZ 1998, 745; OLG Hamburg FamRZ 1998, 294). „Depressive Verstimmungen“ sind dagegen nicht ausreichend (OLG Köln FamRZ 1981, 366). Alkohol- und Drogenabhängigkeit sind grundsätzlich als Krankheiten im Sinne des § 1572 BGB anerkannt; allerdings kann die Weigerung des Unterhaltsberechtigten, sich einer Entziehungskur zu unterziehen, zu einer Unterhaltsreduzierung führen (BGH NJW 1988, 375). Problematisch ist i. d. R. die Einordnung sogenannter Unterhaltsneurosen. Darunter wird eine seelische Fehlhaltung verstanden, die dadurch geprägt ist, dass der Betroffene sich – auch unbewusst – im Begehren nach materieller Lebenssicherung und um den Schwierigkeiten des Arbeitslebens auszuweichen in die Krankheit flüchtet (BGH NJW 1984, 1816). Eine solche Fehlhaltung wird – in Anlehnung an die Rechtsprechung im Rentenversicherungsrecht – als Krankheit im Sinne des § 1572 BGB nur dann anerkannt, wenn die seelische Störung so übermächtig ist, dass der Betroffene sie auch nach Ablehnung des Unterhaltsanspruchs nicht aus eigener Kraft überwinden kann und arbeitsunfähig bleibt (BGH NJW 1984, 1816). Umgekehrt ist der Unterhaltsanspruch zu versagen, wenn voraussehbar ist, dass dies die neurotischen Erscheinungen verschwinden lassen wird. Denn es ist mit Sinn und Zweck laufender Renten- und Unterhaltszahlungen
nicht vereinbar, dass sie gerade den Zustand aufrechterhalten, dessen nachteilige Folgen sie ausgleichen sollen (BGH NJW 1984, 1816). Könnte der Betroffene seine Neurose mit ärztlicher Hilfe überwinden und kommt er dieser Obliegenheit zur Wiederherstellung seiner Erwerbsfähigkeit nicht nach, kann dies zur Reduzierung oder zum Wegfall des Unterhaltsanspruchs führen (OLG Düsseldorf, NJW-RR 1989, 1157). Wie bei vielen Neurosen ist auch bei Unterhaltsneurosen wegen der schwierigen Abgrenzung zwischen Simulation und echter neurotischer Erkrankung aufseiten des Richters und des Sachverständigen besondere Wachsamkeit geboten (BGH NJW 1984, 1816). Wegen der Krankheit darf vom geschiedenen Ehegatten eine Erwerbstätigkeit nicht mehr zu erwarten sein. Erwerbsunfähigkeit liegt vor, wenn der Betroffene seiner bisherigen Erwerbstätigkeit nicht oder nur auf die Gefahr einer Verschlimmerung seines Zustands nachgehen kann (MünchKomm / Maurer 2017, § 1572 Rn. 6, 32). Dabei muss der Unterhaltsberechtigte nicht schlechthin arbeitsunfähig sein, sondern nur hinsichtlich einer „eheangemessenen“ Erwerbstätigkeit (OLG Dresden FamRZ 1999, 232), die sich neben der bisherigen beruflichen Tätigkeit nach den ehelichen Lebensverhältnissen zum Zeitpunkt der Ehescheidung beurteilt (BGH FamRZ 1993, 144). An der ferner notwendigen Ursächlichkeit zwischen Krankheit und Erwerbsunfähigkeit fehlt es z. B.,wenn der Unterhaltsberechtigte aufgrund seiner Krankheit lediglich keine Beschäftigungschance hat. Insoweit kann dann aber ein Anspruch nach § 1573 I BGB (Unterhalt wegen Erwerbslosigkeit) bestehen (OLG Frankfurt / M. FamRZ 1994, 1265). Grundsätzlich muss die krankheitsbedingte Erwerbsunfähigkeit zur Zeit der Rechtskraft des Scheidungsurteils oder zu einem anderen gleichgestellten Zeitpunkt, z. B. Beendigung der Erziehung eines gemeinsamen Kindes, gegeben sein (§ 1572 BGB). Ausreichend ist jedoch auch, dass eine im Einsatzzeitpunkt latent vorhandene Krankheit in nahem zeitlichem Zusammenhang ausbricht und zur Erwerbsunfähigkeit führt (OLG Stuttgart FamRZ 1983, 501); dies ist bei einem zeitlichen Abstand von knapp 2 Jahren nicht mehr gegeben (BGH FamRZ 2001, 1291). Ein Unterhaltsanspruch wegen
Erwerbsunfähigkeit besteht auch, wenn sich ein die Erwerbsfähigkeit lediglich minderndes Leiden verschlimmert (BGH FamRZ 1987, 684) und die spätere volle Erwerbslosigkeit absehbar war (OLG Düsseldorf FamRZ 1993, 331). Der Unterhaltsberechtigte trägt die Beweislast für alle anspruchsbegründenden Umstände, also Krankheit, Art und Umfang der konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigung und Wahrung des maßgebenden Einsatzzeitpunkts (BGH NJW 2001, 3260). Der Anspruch auf Unterhalt entfällt bzw. ist zu mindern, wenn der Unterhaltsberechtigte wieder gesund ist oder sein Gesundheitszustand sich gebessert hat und infolgedessen wieder eine (teilweise) Erwerbstätigkeit von ihm zu erwarten ist. Diese mit einer Abänderungsklage geltend zu machenden Gesichtspunkte hat nunmehr der Unterhaltsverpflichtete zu beweisen (BGH NJW-RR 2005, 1450).
31.11. Schadensersatzrecht 31.11.1. Ansatzpunkte für die psychiatrische Begutachtung Will eine Person von einer anderen einen Schaden ersetzt bekommen, müssen – grob gesagt – zwei Dinge erfüllt sein. Zunächst muss ein Haftungsgrund, also ein grundsätzlicher Anspruch auf Ersatz von Schäden gegen die andere Person vorliegen. Dieser kann sich aus einem Vertrag oder (u. U. gleichzeitig) aus dem Gesetz ergeben. Die bedeutendsten gesetzlichen Schadensersatzansprüche sind diejenigen aus unerlaubter Handlung („Delikt“) gem. §§ 823 ff. BGB. Abgesehen von der sogenannten Gefährdungshaftung, die schon deshalb greift, weil sich das typische Risiko eines zulässigen gefährlichen Tuns realisiert hat (Beispiel: Kfz-Halterhaftung nach § 7 StVG), setzt die zivilrechtliche Schadensersatzhaftung stets ein Verschulden, also Vorsatz oder Fahrlässigkeit des Schädigers bzw. der verantwortlichen Person voraus (§§ 276, 823 BGB). Ein Verschulden kann aber nur angenommen werden, wenn die Person
zum Zeitpunkt der schädigenden Handlung verschuldensfähig – mit anderen Worten „zurechnungsfähig“, „deliktsfähig“ – war. Bei Zweifeln an der Zurechnungsfähigkeit wegen psychischer Störungen oder – bei Minderjährigen – fehlender Unrechtseinsicht (§§ 827, 828 BGB) hat das Gericht u. U. das Gutachten eines (psychiatrischen) Sachverständigen einzuholen. Dabei geht es um die Frage, ob der Betroffene für sein Verhalten, das eine andere Person geschädigt hat, verantwortlich ist; demgegenüber betreffen die verschiedenen Formen der Geschäftsfähigkeit (➤ Kap. 31.7, ➤ Kap. 31.8, ➤ Kap. 31.9, ➤ Kap. 31.10) sowie die Einwilligungsfähigkeit (➤ Kap. 31.6.1) Erklärungen, mit denen der Betroffene (u. U. selbstschädigend) auf seinen eigenen Rechtsbereich einwirkt. Ist dem Grund nach eine Verpflichtung zum Schadensersatz gegeben, stellt sich die Frage nach dem Umfang des zu ersetzenden Schadens. Dieser Bereich ist – diesmal für die meisten Haftungsformen einheitlich – in §§ 249 ff. BGB geregelt. Hier wird der psychiatrische Sachverständige insbesondere dann zu Rate gezogen, wenn es um die Frage von Schadensersatz für „psychische Schäden“ geht.
31.11.2. Zurechnungsfähigkeit Allgemeines
Merke Nach § 827 S. 1 BGB ist für einen Schaden nicht verantwortlich, wer einem anderen im Zustand der Bewusstlosigkeit oder in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit einen Schaden zufügt. Minderjährige sind vor Vollendung des 7. Lebensjahrs überhaupt nicht und zwischen dem 7. und 10. Lebensjahr vor allem
für im Straßenverkehr angerichtete Schäden nur bei vorsätzlichem Handeln haftbar. Bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs ist ein Minderjähriger außerdem von der Verantwortlichkeit für den einem anderen zugefügten Schaden frei, wenn er bei der Begehung der schädigenden Handlung nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht hatte (§ 828 BGB). Trotz der systematischen Stellung der §§ 827, 828 BGB im Deliktsrecht geht der Anwendungsbereich der Vorschriften weit über das Gebiet der unerlaubten Handlung hinaus. Innerhalb des Schadensersatzrechts gelten sie für alle Fälle der Verschuldenshaftung (BGH NJW 1968, 1132, 1133; s. auch § 276 I S. 2 BGB zur vertraglichen Haftung). Bei einem Mitverschulden des Geschädigten bei der Schadensentstehung oder -weiterentwicklung, das gem. § 254 BGB zu einer Reduzierung oder einem Wegfall des Schadensersatzanspruchs führen kann, gelten die §§ 827, 828 BGB analog (BGH VersR 1975, 133). Folge der Unzurechnungsfähigkeit ist im Schadensersatzrecht, dass die Haftung des Unzurechnungsfähigen vollständig entfällt („Alles-oder-Nichts-Prinzip“, MünchKomm / Wagner 2017, § 827 Rn. 2). Dies ist nur ausnahmsweise anders, soweit die Billigkeit es gebietet, insbesondere weil der Schädiger über sehr viel Vermögen verfügt, während der Schaden den Geschädigten besonders hart trifft (vgl. § 829 BGB). Im Übrigen verbleibt dem Geschädigten u. U. ein Ersatzanspruch gegen die Eltern oder andere Aufsichtspflichtige, sofern sie ihrer Aufsichtspflicht nicht genügt haben (§ 832 BGB). Im Rahmen der Mitverschuldensprüfung nach § 254 BGB bedeutet die Unzurechnungsfähigkeit des Geschädigten, dass sein Anspruch nicht wegen Mitverschuldens gemindert werden kann. Allerdings gilt hier auch die Billigkeitshaftung nach § 829 BGB analog, sodass es doch zu einer Anspruchsreduzierung kommen kann, wenn es der Billigkeit entspricht (BGHZ 37, 102).
Zurechnungsunfähigkeit Volljähriger (§ 827 BGB) Bewusstlosigkeit Die zivilrechtliche Verantwortlichkeit kann nach § 827 S. 1 BGB zunächst dadurch entfallen, dass sich der Schädiger zur Zeit der Schadenshandlung im Zustand der Bewusstlosigkeit befand. Bewusstlosigkeit wird hier – anders als etwa im Rahmen des § 105 II BGB (➤ Kap. 31.7.3) – als ein Zustand definiert, in dem die Wahrnehmungs- und Steuerungsmöglichkeiten des Individuums ausgeschlossen oder schwer beeinträchtigt sind (MünchKomm / Wagner 2017, § 827 Rn. 6). Problematisch an dieser Definition ist, dass es bei der Schädigung durch z. B. einen Schlafenden oder Ohnmächtigen eigentlich schon an einer deliktsrechtlich relevanten Handlung im Sinne eines der Bewusstseinskontrolle und Willenslenkung unterliegenden beherrschbaren Verhaltens (Palandt / Sprau 2019, § 823 Rn. 2) fehlt, also an einer Voraussetzung der Haftung, die dem Verschulden vorgelagert ist. Aus Gründen der Beweislastverteilung subsumiert der BGH diese Zustände völligen Ausschlusses des Bewusstseins aber ausnahmsweise tatsächlich erst unter den Begriff der Zurechnungsfähigkeit, indem er „die Bewusstseinslage aus der Handlung ausklammert“. So ist es Sache des Schädigers nachzuweisen, dass er zur Zeit der schädigenden Handlung tatsächlich bewusstlos war (BGH NJW 1987, 121; MünchKomm / Wagner 2017, § 827 Rn. 6). Die Wahrnehmungs- und Steuerungsmöglichkeiten gelten als schwer beeinträchtigt, wenn die Bewusstseinsstörungen die freie Willensbildung nicht bloß einschränken, sondern aufheben oder massiv beeinträchtigen (MünchKomm / Wagner 2017, § 827 Rn. 6). Dies wurde von der Rechtsprechung z. B. angenommen bei schwerer posttraumatischer Belastungsstörung (OLG München ZfS 2002, 170), äußerster Erregung (BGH VersR 1977, 430), panischem Schrecken vor bestimmten Tieren (OLG Nürnberg NJW 1965, 694) und in engen Grenzen Unfallschock (BGH VersR 1977, 430). Auch extreme Übermüdung kann eine derartige tiefgreifende Bewusstseinsstörung darstellen (MünchKomm / Wagner 2017, § 827 Rn. 7). Schließlich
fallen auch hochgradige Trunkenheit oder sonstige Berauschungszustände unter den Begriff der Bewusstlosigkeit bzw. Bewusstseinsstörung. Beim Alkoholrausch ist die Blutalkoholkonzentration allerdings nur ein wichtiges Indiz für die Deliktsunfähigkeit. Entscheidend ist, ob im Einzelfall die Fähigkeit zur freien Willensbildung ausgeschlossen war, was u. a. von der individuellen Alkoholverträglichkeit, der körperlichen und seelischen Verfassung sowie von der Zeit, Menge und Art der vorangegangenen Nahrungsaufnahme abhängt (BGH VersR 1965, 656; MünchKomm / Wagner 2017, § 827 Rn. 8). Krankhafte Störung der Geistestätigkeit Zurechnungsunfähig ist nach § 827 S. 1 BGB auch, wer sich in einem die freie Willensbildung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet. Zur Erläuterung kann auf die Ausführungen zur Geschäftsfähigkeit (➤ Kap. 31.7.2) verwiesen werden (s. auch MünchKomm / Wagner 2017, § 827 Rn. 9). Entscheidend kommt es auch hier darauf an, ob der Betroffene infolge einer geistigen Anomalie unfähig ist, seine Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen. Nicht ausreichend für einen Ausschluss der Zurechnungsfähigkeit sind bloße Minderung der Geistes- und Willenskraft, krankhafte Gleichgültigkeit gegenüber den Folgen des eigenen Handelns (Palandt / Sprau 2014, § 827 Rn. 2) oder Unfähigkeit zu ruhigen und vernünftigen Überlegungen (BGH VersR 1977, 430). Selbstverständlich führt auch die Tatsache, dass eine Betreuung angeordnet ist, nicht geradewegs zur Feststellung der Zurechnungsunfähigkeit, sondern ist lediglich als Indiz zu würdigen (MünchKomm / Wagner 2017, § 827 Rn. 9). Der ansonsten krankhaft Gestörte kann während lichter Momente verantwortlich sein (RGZ 108, 86). Vorverlagerung des Verschuldens: Initiationsverschulden Auch wenn eine Person zur Zeit einer schädigenden Handlung zurechnungsunfähig ist, kann sie u. U. für ihr Handeln dennoch
verantwortlich gemacht werden, wenn ihr eine schuldhafte Herbeiführung des Zustands der Zurechnungsunfähigkeit vorzuwerfen ist. Zum einen kommt eine Verantwortlichkeit nach den aus dem Strafrecht bekannten Grundsätzen der „actio libera in causa“ in Betracht, die auch im Zivilrecht Anwendung finden (MünchKomm / Wagner 2017, § 827 Rn. 13). Danach ist für eine im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit vorgenommene vorsätzliche Handlung verantwortlich, wer im Zeitpunkt noch vorhandener Zurechnungsfähigkeit die Absicht oder das Bewusstsein hatte, sich in den Zustand der Zurechnungsunfähigkeit zu versetzen und dann die spätere Tathandlung vorzunehmen („Doppelvorsatz“). Für ein fahrlässiges Verhalten ist verantwortlich, wer sich vorsätzlich oder fahrlässig in den Defektzustand versetzt und damit rechnen muss, dass er in diesem Zustand eine bestimmte Tat verübt (Schönke und Schröder / Perron / Weißer 2019, § 20 StGB Rn. 36–38). Wegen fahrlässiger Körperverletzung kann daher z. B. haftbar gemacht werden, wer sich im Zustand völliger Übermüdung ans Steuer setzt, kurz darauf einschläft und einen Unfall mit Personenschaden verursacht (MünchKomm / Wagner 2017, § 827 Rn. 13). Speziell für den Fall, dass sich jemand schuldhaft durch „geistige Getränke oder ähnliche Mittel“, also insbesondere Alkohol, Drogen, Medikamente (Palandt / Sprau 2019, § 827 Rn. 2a) in einen vorübergehenden Zustand des Ausschlusses der freien Willensbestimmung versetzt hat, gilt die Sonderregel des § 827 S. 2 BGB. Danach ist die Person für einen Schaden, den sie in diesem Zustand widerrechtlich verursacht, in gleicher Weise verantwortlich, wie wenn ihr Fahrlässigkeit zur Last fiele. Im Unterschied zur Zurechnung nach Maßgabe der „actio libera in causa“ ist hier nur eine Pflichtverletzung hinsichtlich des Herbeiführens des Zustands der Unzurechnungsfähigkeit erforderlich; auf die Vorhersehbarkeit späteren deliktischen Verhaltens im Zeitpunkt des Sich-Berauschens kommt es dagegen nicht an (MünchKomm / Wagner2017, § 827 Rn. 12). Die Pflichtverletzung hinsichtlich der Herbeiführung der Unzurechnungsfähigkeit wird ferner nach dem Gesetz vermutet (§ 827 S. 2 letzter Hs. BGB).
Der Täter kann sich entlasten, indem er nachweist, dass er über die Wirkungsweise eines berauschenden Mittels nichts wusste und auch nichts wissen konnte (BGH NJW 1968, 1132), z. B. weil Dritte es ihm ohne sein Wissen verabreicht haben oder weil der Rausch erst im Zusammenwirken mit einer anderen, nicht voraussehbaren Einwirkung eine Bewusstseinsstörung bewirkt hat (BGH VersR 1967, 944). Die mögliche Intensivierung der Wirkung von Rauschmitteln durch Medikamenteneinnahme wird hingegen als bekannt vorausgesetzt, ebenso das Risiko, auf dem Schwarzmarkt vermischte oder verunreinigte Ware zu erhalten (MünchKomm / Wagner 2017, § 827 Rn. 12). Auch kann der Täter sich nicht auf mangelnde Widerstandskraft seines Körpers gegen berauschende Mittel (z. B. infolge Krankheit) berufen, wenn er hiervon Kenntnis hatte (Palandt / Sprau 2019, § 827 Rn. 2a). Setzt eine Norm vorsätzliche Begehungsweise voraus, kann § 827 S. 2 BGB keine Verantwortlichkeit begründen (BGH NJW 1968, 1132). In diesen Fällen kann jedoch auf die „actio libera in causa“ zurückgegriffen werden (MünchKomm / Wagner 2017, § 827 Rn. 13). Zurechnungsfähigkeit Minderjähriger (§ 828 BGB) Kinder bis zur Vollendung des 7. Lebensjahrs sind schuldunfähig (§ 828 I BGB). Ihre Ansprüche können daher auch nicht durch ein eigenes Mitverschulden nach § 254 BGB gemindert werden. Der Ausschluss der Verantwortlichkeit entspricht ihrer Geschäftsunfähigkeit (➤ Kap. 31.7.1). Kinder zwischen dem 7. und dem vollendeten 10. Lebensjahr sind nicht für Schäden verantwortlich, die sie bei Unfällen mit einem Kraftfahrzeug bzw. mit einer Schienen- oder Schwebebahn verursachen (§ 828 II S. 1 BGB). Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber die Konsequenz aus der entwicklungspsychologischen Erkenntnis gezogen, dass Kinder dieses Alters regelmäßig noch nicht dazu imstande sind, die besonderen Gefahren des motorisierten Straßenverkehrs zu erkennen und sich entsprechend zu verhalten (BT-Drs. 14 / 7752, 16, 26). Hauptanliegen des Gesetzgebers war es, einer Kürzung von Schadensersatzansprüchen
von Kindern unter 10 Jahren aufgrund Mitverschuldens entgegenzutreten (MünchKomm / Wagner 2017, § 828 Rn. 8). Das Haftungsprivileg greift nicht, wenn sich bei der Schädigung keine typische Überforderungssituation des Kindes aufgrund kraftfahrzeug- oder bahnspezifischer Gefahren realisiert hat, insbesondere im ruhenden Verkehr, z. B. wenn ein Kind mit seinem Kickboard einen ordnungsgemäß parkenden Pkw beschädigt (BGH NJW 2005, 354, 355; NJW-RR 2005, 327; bestr.). Die Verantwortlichkeit des Minderjährigen entfällt auch dann nicht nach § 828 II S. 1 BGB, wenn er die Verletzung vorsätzlich herbeigeführt hat, also z. B. vorbeifahrende Autos mit Steinen beworfen hat (§ 828 II S. 2 BGB). In Betracht kommt dann nur ein Ausschluss der Verantwortlichkeit nach § 828 III BGB. Kinder und Jugendliche bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs, deren Verantwortlichkeit noch nicht bereits nach § 828 I oder II BGB ausgeschlossen ist, sind für einen Schaden nicht verantwortlich, wenn sie bei der Begehung der schädigenden Handlung nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht besessen haben (§ 828 III BGB), d. h. nach ihrer individuellen Verstandesentwicklung nicht imstande waren, die Gefährlichkeit ihres Tuns zu erkennen und sich der Verantwortung für die Folgen ihres Handelns bewusst zu sein (BGH NJW 2005, 354). Auf die individuelle Steuerungsfähigkeit, sich dieser Einsicht gemäß zu verhalten, kommt es – anders als im Rahmen von § 20 StGB und § 3 JGG – bei der zivilrechtlichen Verantwortlichkeit hingegen nicht an (BGH NJW 2005, 354; 1984, 1958); allerdings ist die generelle Minderung der Steuerungsfähigkeit Jugendlicher innerhalb des Verschuldens bei der Bemessung des Sorgfaltsmaßes der Fahrlässigkeit zu berücksichtigen (BGH NJW 1970, 1038; MünchKomm / Wagner 2017, § 828 Rn. 9). Der Minderjährige braucht keine bestimmten Vorstellungen von der Art seiner Verantwortlichkeit zu haben; ausreichend ist das allgemeine Verständnis dafür, dass das Verhalten geeignet ist, Gefahren herbeizuführen (OLG Brandenburg, VersR 2004, 382). Versteht er, dass seine Handlung generell gefährlich ist, gestattet dies i. d. R.
auch den Schluss auf seine Einsicht, für ihre Konsequenzen zur Verantwortung gezogen werden zu können (BGH VersR 1970, 374). Auch wenn die Erkenntnis der Gefährlichkeit der schädigenden Handlung fehlt, kann der Täter dennoch verantwortlich sein, wenn er sich über vorausgegangene Verbote und Warnungen hinweggesetzt hat, obwohl er für die Verbotsverletzung die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit nötige Verstandesreife besaß (Palandt / Sprau 2019, § 828 Rn. 6). Generell ist bei § 828 III BGB ein subjektiver Maßstab anzuwenden und daher stets die Prüfung der besonderen Umstände des Einzelfalls wie Lebensalter und geistige Entwicklung des Täters erforderlich. Daher darf die nötige Einsicht auch nicht allein aufgrund der Annäherung an die obere oder untere Altersgrenze des § 828 III BGB bejaht oder verneint werden (Palandt / Sprau 2019, § 828 Rn. 6). Als zulässig wird es allerdings angesehen, die Einsichtsfähigkeit des Schädigers deshalb anzunehmen, weil sie in seiner Altersgruppe erfahrungsgemäß gegeben ist und bei ihm kein geringerer Entwicklungsgrad gegenüber durchschnittlichen Gleichaltrigen vorliegt (Schneider et al. 2015, 172).
Kasuistik Ein 7-Jähriger wurde haftbar gemacht, weil er trotz entsprechender Warnung einem Spielkameraden mit einer Schleuder ein Auge ausgeschossen (BGH VersR 1954, 118), ein anderer, weil er durch unvermittelten Fahrspurwechsel einen Fahrradunfall verursacht hatte (OLG Zweibrücken NJW-RR 2000, 1191). Ein 10-Jähriger wurde verantwortlich befunden für die Verursachung eines Scheunenbrandes (BGH NJW 1984, 1958; OLG Hamm VersR 1995, 56), ein 11-Jähriger für das Schießen mit Pfeilen (BGH FamRZ 1964, 505), ein 12-Jähriger für das Werfen mit Steinen auf einem Spielplatz (OLG Hamburg VersR 1980, 1029), ein 13-Jähriger, der entgegen einem ihm erteilten Verbot einen Schäferhund ausführte, dessen Verhalten dann einen Verkehrsunfall verursachte (OLG Schleswig VersR 1998, 640), ein 16-Jähriger für eine von ihm durch
den Wurf einer Wunderkerze verursachte Verletzung (BGH VersR 1963, 755).
Die Unzurechnungsfähigkeit eines minderjährigen Schädigers wird nicht von Amts wegen berücksichtigt, sondern ist vom Minderjährigen bzw. seinem gesetzlichen Vertreter zu behaupten und zu beweisen (BGH NJW 2005, 354). Die Einholung eines Gutachtens zur Beurteilung der Einsichtsfähigkeit ist nur erforderlich, wenn besondere Anhaltspunkte gegen die Zurechnungsfähigkeit sprechen (BGH VersR 1961, 812; 1967, 158).
31.11.3. Schadensersatz für „psychische Schäden“ Grundlagen In welchem Umfang Schadensersatz zu leisten ist, wenn die Schadensersatzpflicht dem Grund nach besteht, ist, wie erwähnt, in §§ 249 ff. BGB geregelt. Nach der Grundnorm des § 249 I BGB hat der Schädiger den Zustand wiederherzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre. Daraus geht hervor, dass eine Ersatzpflicht nur für Schäden in Betracht kommt, die mit dem zum Schadensersatz verpflichtenden Ereignis in einem ursächlichen Zusammenhang stehen. Mit anderen Worten: Der Haftungsgrund (z. B. eine fahrlässige Körperverletzung) muss für den geltend gemachten Schaden (z. B. Krankenhauskosten, Verdienstausfall, aber auch immaterielle Schäden wie Schmerzen etc.) kausal sein. Im streng naturwissenschaftlichen und logischen Sinn ist jedes Ereignis kausal, das nicht weggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele. Diese Kausalität im Sinne der sogenannten Conditio-sine-qua-nonFormel ist Mindestvoraussetzung jeder Zurechnung eines Schadens (BGH NJW 2005, 1420). Jedoch verlangt eine Betrachtung, die von
der Gleichwertigkeit aller Ursachen ausgeht – daher auch „Äquivalenztheorie“ genannt – nach einer weiteren Eingrenzung, da die Zurechnung der Folgen eines Haftungstatbestands sonst allzu weitreichend wäre. Ein weiteres Zurechnungskriterium liefert die sogenannte Adäquanztheorie, wonach Kausalität nur dann zu bejahen ist, wenn ein Ereignis i. Allg. und nicht nur unter besonders eigenartigen, unwahrscheinlichen und nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen geeignet ist, einen Erfolg der eingetretenen Art herbeizuführen (BGH NJW 1995, 126; 1998, 138; 2005, 1420). Im Ergebnis wird durch die Adäquanztheorie lediglich die Haftung für ganz unwahrscheinliche Kausalverläufe ausgeschlossen, weshalb sie nach allgemeiner Ansicht einer weiteren Ergänzung durch eine wertende Beurteilung bedarf (Palandt / Grüneberg 2019, Vorbem. v. § 249 Rn. 26, 28). Dazu wird der Schutzzweck der haftungsbegründenden Norm herangezogen. Bei dem geltend gemachten Schaden muss es sich also um Nachteile handeln, die aus dem Bereich der Gefahren stammen, zu deren Abwendung die verletzte Norm dient (BGH NJW 1972, 195; 2005, 1420). Im Folgenden wird erläutert, in welchen Fällen die Rechtsprechung unter Zugrundelegung der dargelegten Grundsätze eine Schadensersatzpflicht für „psychische Schäden“ – zu deren Feststellung die Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen notwendig werden kann – bejaht hat. Psychische Folgeschäden Grundsätzlich gilt, dass eine zum Schaden neigende Konstitution des Geschädigten, die den Schaden ermöglicht oder wesentlich erhöht hat, den Zurechnungszusammenhang nicht ausschließt. Wer einen Kranken oder Geschwächten verletzt, kann nicht verlangen, so gestellt zu werden, als habe er einen Gesunden verletzt (BGH NJW 1996, 2425). Der Schädiger muss z. B. vollen Schadensersatz leisten, wenn der Verletzte Bluter ist und sich die Heilungskosten dadurch immens erhöhen (OLG Koblenz RuS 1987, 100). In extremen Fällen einer Schadensanfälligkeit sind aufgrund von
Normzwecküberlegungen jedoch Einschränkungen der Ersatzpflicht des Schädigers geboten (MünchKomm / Oetker 2019, § 249 Rn. 140). Diese Grundsätze gelten auch für psychische Schäden:
Merke Der Schädiger haftet grundsätzlich auch für psychisch bedingte Folgewirkungen oder seelische Reaktionen des Verletzten, selbst wenn diese durch eine psychische Labilität oder Prädisposition wesentlich mitbestimmt sind oder auf einer neurotischen Fehlverarbeitung beruhen und hirnorganische Ursachen für diese Ausfälle nicht festgestellt werden können (BGH NJW 1996, 2425; 1991, 2348). Nur bei offensichtlich unangemessener Erlebnisverarbeitung ist die Ersatzpflicht ausgeschlossen (BGH NJW 1998, 810; 2004, 1945). Eine Haftpflicht wurde z. B. bejaht für unfallbedingte Depressionen (OLG München VersR 1991, 354), für Wesensveränderungen des Verletzten (BGH VersR 1960, 225; OLG Hamm NJW-RR 2001, 1676) und für psychisch bedingte Arbeitsunfähigkeit (BGHZ 39, 313; BGH VersR 1968, 396). Auch unfallbedingte, erlebnisadäquate und zweckfreie Aktualneurosen werden erfasst, weil die neurotische Fehlhaltung hier primär und unmittelbar Folge des Unfallgeschehens ist (BGH VersR 1963, 261; Staudinger / Schiemann 2017, § 249 Rn. 40). Ein Beispiel ist die zweckfreie Aktualneurose eines früheren Generalvertreters, der im Anschluss an einen Verkehrsunfall eine neurotische Autoangst entwickelt hatte (BGH VersR 1968, 396). Auch die gesundheitlichen Beeinträchtigungen aus einer Konversionsneurose – bei der es dem Geschädigten nicht gelingt, ein Ereignis und seine Folgen seelisch zu verarbeiten, indem er mit seinen inneren Konflikten nicht mehr fertig wird und sein Selbstwertgefühl verliert – können einem Unfallverursacher zugerechnet werden, sofern der Grund für deren Entstehung nicht als bloße Aktualisierung des allgemeinen
Lebensrisikos erscheint (BGH NJW 1986, 777). Schließlich kann selbst die Selbsttötung des Verletzten zurechenbar sein, wenn er nicht ganz und gar unverhältnismäßig zum Verhalten des Schädigers oder zum erlittenen Schaden erscheint (OLG Köln VersR 1988, 1049). Ein Ausschluss der Haftung des Schädigers wegen offensichtlich unangemessener Verarbeitung des Schadensfalls tritt dagegen ein, wenn das schädigende Ereignis ganz geringfügig ist („Bagatelle“) und die psychische Reaktion des Verletzten im konkreten Fall wegen ihres groben Missverhältnisses zum Anlass schlechterdings nicht mehr verständlich ist (BGH NJW 2004, 1945). Für eine Selbsttötung nach einem Auffahrunfall ohne körperliche Verletzung hat der Schädiger daher z. B. nicht einzustehen (OLG Nürnberg, VersR 1999, 1117). Eine schwankende Beurteilung kennzeichnet die haftungsrechtliche Behandlung von Rentenbzw. Begehrensneurosen. Darunter wird eine neurotisch-querulatorische Fehlhaltung verstanden, mit der der Verletzte vor der seelischen Verarbeitung und Überwindung seiner Verletzung ausweicht und sich in die Vorstellung hineinsteigert, nicht mehr selbst für sein Leben aufkommen zu können, sondern die Lebenssicherung auf den Schädiger überwälzen zu können und zu müssen (Staudinger / Schiemann 2017, § 249 Rn. 40). Während das Reichsgericht den Ersatzanspruch wegen solcher Rentenneurosen noch grundsätzlich bejahte (etwa RGZ 159, 257), ist der BGH zunächst davon abgerückt. Dem Sinn von Schadensersatzansprüchen widerspreche es, „wenn gerade durch die Tatsache, dass ein anderer Schadensersatz zu leisten hat, die Wiedereinführung in den sozialen Lebens- und Pflichtenkreis erschwert oder gar unmöglich gemacht würde“ (BGHZ 20, 137). Die Ersatzpflicht wurde also mit dem Argument verneint, dass der Geschädigte nur durch die Versagung der Ersatzleistung zur Überwindung seiner neurotischen Fehlhaltung angespornt werden könne (➤ Kap. 31.10.2). Dabei hat der BGH den Schadensersatz selbst dann versagt, wenn nicht festgestellt werden konnte, dass der Geschädigte tatsächlich fähig sein würde, seinen Zustand nach dem Ende der Schadensersatzleistung zu überwinden (BGH NJW 1965, 2293).
In der neueren Rechtsprechung wurde zur Beurteilung von Rentenneurosen jedoch auf die oben genannten Maßstäbe der offensichtlich unangemessenen Verarbeitung des Schadensfalls zurückgegriffen, die Ersatzpflicht also nur dann verneint, wenn das schädigende Ereignis als Bagatelle erschien und die psychische Reaktion wegen groben Missverhältnisses zum Anlass schlechterdings nicht mehr verständlich war (Staudinger / Schiemann 2017, § 249 Rn. 42). So wurde z. B. ein Ersatzanspruch mit der Argumentation abgelehnt, die Nichtwiederaufnahme der Erwerbstätigkeit infolge von Schlafstörungen, Angstzuständen und Weinkrämpfen nach dem Aufschlagen des Kabels einer Baustellenampel auf das Dach eines Pkw sei eine völlig ungewöhnliche psychische Reaktion auf ein nicht schwerwiegendes Ereignis, dessen Folgen in das allgemeine Lebensrisiko der Klägerin, die als Beifahrerin im Wagen ihres Mannes saß, einzuordnen seien (OLG Köln NJW-RR 2000, 760; OLG Hamm NZV 2003, 331). Nach der Rechtsprechung des BGH kann aber selbst bei einem Bagatellanlass die Neurose doch zuzurechnen sein, wenn die Bagatelle auf eine entsprechende Schadensanlage des Geschädigten gestoßen ist (BGHZ 132, 341; 137, 142). Beruft sich der Schädiger auf eine offensichtlich unangemessene Erlebnisverarbeitung durch den Geschädigten, trifft ihn hierfür die Beweislast (BGH NJW 1998, 810; KG NZV 2003, 328). Hat das Gericht für diese Bewertung nicht selbst die erforderliche Sachkunde, muss es sich eines Sachverständigen bedienen (MünchKomm / Oetker 2019, § 249 Rn. 192). Gerade im Bereich psychischer Folgeschäden ist eine etwaige Berücksichtigung des Mitverschuldens des Geschädigten nach § 254 BGB von besonderer Bedeutung. Der Schadensersatzanspruch kann in Neurosefällen gemindert werden oder ganz wegfallen, wenn die neurotische Fehlhaltung durch einen zumutbaren Willensakt des Betroffenen oder durch geeignete Rehabilitationsmaßnahmen zu überwinden ist oder zu überwinden gewesen wäre (BGH VersR 1962, 280; 1970, 272). Schockschäden
Merke Schockschäden sind seelische Erschütterungen, die ein bei einem Unfall selbst nicht körperlich Verletzter durch das Miterleben des Unfalls, den Anblick der Unfallfolgen oder durch die Nachricht hiervon erleidet (Staudinger / Schiemann 2017, § 249 Rn. 43). Durch die seelische und nervliche Belastung infolge des Schocks kann bei dem Dritten ein eigener Gesundheitsschaden entstehen, der u. a. Schmerzensgeldansprüche nach § 253 II BGB begründen kann. Trotz ihrer Vergleichbarkeit mit anderen psychischen Folgeschäden werden Schockschäden i. d. R. dem allgemeinen (d. h. nicht restituierbaren) Lebensrisiko zugerechnet (Staudinger / Schiemann 2017, § 249 Rn. 46 mit Kritik). Die Rechtsprechung verfolgt eine äußerst restriktive Linie und gewährt dem Schockopfer Schadensersatzansprüche nur unter drei Voraussetzungen: 1. Durch den Schock muss eine Gesundheitsschädigung eingetreten sein, die nach Art und Schwere deutlich über das hinausgeht, was Nahestehende als mittelbar Betroffene in derartigen Fällen erfahrungsgemäß an Beeinträchtigungen durch einen solchen Unfall erleiden (BGHZ 56, 163, 164 f.; BGH NJW 1989, 2317). Als ausreichend wurden z. B. gewichtige psychopathologische Ausfälle eingestuft (KG NZV 1999, 329), nicht dagegen, dass sich als Folge des Todes des Ehegatten eine bereits vorhandene Alkoholabhängigkeit lediglich verschlimmerte (BGH NJW 1984, 1405). 2. Der Anlass muss den Schock als verständlich erscheinen lassen, also geeignet sein, bei einem durchschnittlich Empfindenden zu einer entsprechenden Erschütterung zu führen (Staudinger / Schiemann 2017, § 249 Rn. 45). Das trifft bei Tod und schweren Verletzungen auch dann zu, wenn der Geschockte das Ereignis nicht selbst miterlebt hat, sondern entsprechend benachrichtigt worden ist (BGH NJW 1985,
1390). Ein Ersatzanspruch besteht dagegen nicht, wenn der Schock auf die Nachricht eines unbedeutenden Sachschadens am Pkw (LG Hildesheim VersR, 1970, 720) oder den Tod eines Hundes folgte (KreisGer Cottbus NJW-RR 1994, 804) oder von polizeilichen Ermittlungen wegen falscher Verdächtigung ausgelöst wurde (LG Hamburg NJW 1969, 615). 3. Schließlich billigt die Rechtsprechung einen Anspruch wegen Schockschäden in erster Linie nahen Angehörigen zu (BGH NJW 1971, 1883; 1984, 1405; OLG Stuttgart NJW-RR 1989, 477; a. A. Staudinger / Schiemann 2017, § 249 Rn. 46; MünchKomm / Oetker 2019, § 249 Rn. 153); geschützt sind ggf. aber auch Verlobte (Palandt / Grüneberg 2019, Vorbem. v. § 249 Rn. 40) und der begleitende Freund / die begleitende Freundin des Opfers (LG Frankfurt / M. NJW 1969, 2286). Führt der von einer Schwangeren erlittene Schock zu einem Schaden des Kindes, steht auch diesem – nach der Geburt – ein Ersatzanspruch zu (BGH NJW 1985, 1391).
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Meinen Mitarbeiterinnen Luisa Mühlböck und Antonia Bordt sowie meinem Mitarbeiter Daniel Röll danke ich herzlich für ihre Mitwirkung bei der Aktualisierung des Textes.
KAPITEL 32
Begutachtung bei zivilrechtlichen Fragen Klaus Foerster, Daniel Passow und Elmar Habermeyer
32.1 Einleitung 32.2 Begutachtung im Rahmen des Betreuungsgesetzes (BtG) 32.2.1 Anordnung einer Betreuung 32.2.2 Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts 32.2.3 Genehmigung von ärztlichen Maßnahmen 32.2.4 Genehmigung einer Sterilisation 32.2.5 Genehmigung im Rahmen von Unterbringungsverfahren 32.2.6 Zwangsbehandlung 32.2.7 Genehmigung einer Wohnungsauflösung 32.3 Begutachtung der Geschäfts-, Prozess- und Testierunfähigkeit 32.3.1 Prinzipien der Begutachtung 32.3.2 Psychische Störungen 32.4 Begutachtung der Deliktsfähigkeit
32.5 Begutachtung im Eherecht 32.6 Begutachtung im Rahmen des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG)
32.1. Einleitung Bei zivilrechtlichen Begutachtungen ergeben sich sehr unterschiedliche Fragen an den psychiatrischen Sachverständigen. Sie reichen von Aufgaben im Rahmen des Betreuungsgesetzes (BtG) über die Beurteilung der Geschäfts-, Prozess- und Testierfähigkeit bis hin zu Gutachten im Rahmen von Deliktsfähigkeit, Ehegesetz sowie versicherungs- und haftungsrechtlichen Fragen (ausführlich ➤ Kap. 31). Aufgrund dieser vielfältigen Rechtsgebiete ist der psychiatrische Sachverständige mit unterschiedlichen Voraussetzungen und rechtlichen Normierungen konfrontiert, die sich sowohl auf unterschiedliche Begrifflichkeiten als auch auf unterschiedliche Beweisanforderungen beziehen – beides für den psychiatrischen Sachverständigen höchst bedeutsame Aspekte. Prinzipiell geht es stets um die Beurteilung psychischer Störungen und ihrer psychosozialen Folgen bei einem Verfahrensbeteiligten. Wie immer bei der psychiatrischen Begutachtung geht es aber auch hier nicht allein um die Diagnose, sondern um Grad und Ausmaß der Symptomatik, d. h., die ggf. vorliegenden psychopathologischen Symptome müssen quantifiziert werden. Allerdings darf der psychiatrische Sachverständige hierbei nicht stehenbleiben, sondern muss die aus der psychopathologischen Symptomatik resultierenden konkreten psychosozialen Folgen in ihren Auswirkungen auf die jeweilige rechtliche Fragestellung darlegen. Wie in allen anderen Rechtsgebieten ist die eigentliche Rechtsfindung nicht Aufgabe des psychiatrischpsychotherapeutischen Sachverständigen. Seine Aufgabe ist es, die für die juristische Entscheidungsfindung wesentlichen
psychopathologischen Tatsachen darzulegen, ggf. kausale Zusammenhänge zu erläutern und auf hieraus abzuleitende, auf klinischer Erfahrung beruhende Feststellungen hinzuweisen. Die hierauf aufbauende juristische Bewertung und Entscheidung ist prinzipiell den Auftraggebern vorbehalten. Die Tätigkeit des psychiatrischen Sachverständigen im Rahmen des BtG ist nicht auf Begutachtungen bei der Anordnung einer Betreuung beschränkt. Es ergeben sich zahlreiche weitere Fragen bei bestehender Betreuung, vor allem im Rahmen von Unterbringungsverfahren (➤ Kap. 31.4, ➤ Kap. 31.5, ➤ Kap. 31.6, ➤ Kap. 32.2.5) und bei der Genehmigung einer Heilbehandlung, häufig i. V. m. der Einschätzung der Einwilligungsfähigkeit (➤ Kap. 31.6.1, ➤ Kap. 32.2.3). Die Begutachtungen bzgl. der Genehmigung von Sterilisationen und Wohnungsauflösungen sind für den psychiatrischen Sachverständigen randständig, haben jedoch erhebliche Bedeutung für die Betroffenen (➤ Kap. 31.6, ➤ Kap. 32.2.4, ➤ Kap. 32.2.6). Neben den Aufgaben im Rahmen des BtG ist die Beurteilung der Geschäftsfähigkeit und verwandter rechtlicher Fragen wie Prozessund Testierfähigkeit eine häufige Aufgabe für den psychiatrischen Sachverständigen (➤ Kap. 31.7, ➤ Kap. 31.8, ➤ Kap. 31.9, ➤ Kap. 32.3). Selten ergeben sich Fragestellungen an den Sachverständigen im Rahmen des Ehegesetzes, bei der Begutachtung der Deliktsfähigkeit und im Rahmen des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) (➤ Kap. 31.10, ➤ Kap. 31.11, ➤ Kap. 32.4, ➤ Kap. 32.5, ➤ Kap. 32.6). Häufig sind Fragen im Rahmen privater Versicherungen, d. h. von der privaten Krankenversicherung über die private Berufsunfähigkeitszusatzversicherung bis zur privaten Unfall- und Haftpflichtversicherung. Entsprechend ihrer großen Bedeutung für die Begutachtung sind diese Fragen in ➤ Kap. 33 gesondert dargestellt. Die Besonderheiten des mündlichen Gutachtens im Zivilprozess sind ➤ Kap. 5.2.2, die Fehlermöglichkeiten ➤ Kap. 6 zu entnehmen.
32.2. Begutachtung im Rahmen des Betreuungsgesetzes (BtG) Das BtG dient dem Schutz psychisch kranker, psychisch gestörter oder psychisch behinderter Menschen. Oberstes Prinzip ist dabei die Respektierung der Autonomie der Betroffenen. Dabei ist es für die Betroffenen wichtig, dass immer wieder darauf hingewiesen wird, dass die Anordnung einer Betreuung nichts mit dem früheren Begriff der „Entmündigung“ zu tun hat, wie dies gelegentlich noch fälschlich angenommen wird, und auch nichts mit der Einschätzung der Geschäftsfähigkeit.
Merke Die Anordnung einer Betreuung erfolgt i. d. R. freiwillig und mit Zustimmung des Betreuten. Eine Ausnahme ist dann gegeben, wenn der Betroffene aufgrund seiner Krankheit oder Behinderung nicht in der Lage ist, seinen Willen frei zu bestimmen. Im Gesetzestext des BtG ist an verschiedenen Stellen und in unterschiedlicher Weise von ärztlichen Stellungnahmen und Zeugnissen die Rede: Das Gesetz spricht von Gutachten, von ärztlichen Zeugnissen und von der Anhörung eines Sachverständigen: • Ein Gutachten muss darlegen, aufgrund welcher Tatsachen, Äußerungen oder Verhaltensweisen des Betroffenen (sogenannte Anknüpfungstatsachen) der Sachverständige zu seinem Ergebnis kommt. Diese Schlussfolgerungen müssen nachvollziehbar sein. Das Gutachten muss allen üblichen Standards der psychiatrischen Begutachtung entsprechen (➤ Kap. 31.3). Liegt bereits ein ärztliches Gutachten des MDK vor, das die notwendigen Informationen enthält, ist vor Einrichtung einer Betreuung kein weiteres Gutachten erforderlich, wenn das MDK-Gutachten geeignet ist. Der
Betroffene oder der Verfahrenspfleger muss in die Verwendung dieses Gutachtens einwilligen. • Das ärztliche Zeugnis unterscheidet sich vom Gutachten dadurch, dass der Betroffene das Zeugnis selbst vorlegen und damit den Aussteller des Zeugnisses selbst bestimmen kann. Das ärztliche Zeugnis muss weder von einem Facharzt noch von einem Amtsarzt ausgestellt sein, sondern die Ausstellung kann durch jeden Arzt erfolgen. Es muss kurze Aussagen zum Sachverhalt, zur Vorgeschichte und zum Untersuchungsergebnis inkl. der Beurteilung enthalten; es darf nicht nur aus der Diagnose bestehen. • Eine Anhörung des Sachverständigen durch das Betreuungsgericht kann ein ärztliches Zeugnis oder ein Sachverständigengutachten ersetzen. Andere Maßnahmen, welche die Anordnung einer Betreuung entbehrlich machen können, sind eine Betreuungsverfügung, eine Vorsorgevollmacht oder eine Patientenverfügung. Dabei können sich schwierige, auch ethisch umstrittene Fragen ergeben, die sich bzgl. der rechtlichen Regelungen noch in der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Diskussion befinden. Der Standpunkt der Bundesärztekammer ist in „Hinweise und Empfehlungen zum Umgang mit Vorsorgevollmachten und Patientenverfügungen im ärztlichen Alltag“ zusammengefasst (BÄK 2018); die Situation in Österreich ist in ➤ Kap. 48.3.3 dargestellt. In Deutschland werden alle mit Patientenverfügungen zusammenhängenden Fragen derzeit sehr kontrovers diskutiert. Eine ausgewogene Übersicht auf Basis einer empirischen Untersuchung gibt Sahm (2006).
32.2.1. Anordnung einer Betreuung Die Voraussetzung für die Anordnung einer Betreuung ist in § 1896 Abs. 1 S. 1 BGB geregelt: § 1896 Abs . 1 S. 1 BGB
Kann ein Volljähriger aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen, so bestellt das Betreuungsgericht auf seinen Antrag oder von Amts wegen für ihn einen Betreuer. Aus dieser Formulierung ergibt sich, dass der Betreuungstatbestand zweigliedrig ist: Es ist ein bestimmter medizinischer Befund erforderlich, und wegen der auf diesem medizinischen Befund kausal beruhenden Symptomatik kann der volljährige Betroffene seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen. Unter den im Gesetzestext genannten Störungen sind folgende zu verstehen (➤ Kap. 31.4.2): • Psychische Krankheiten: körperlich nicht begründbare (endogene) Psychosen; seelische Störungen als Folge von Krankheiten oder Verletzungen des Gehirns, von Anfallsleiden oder anderen Krankheiten oder körperlichen Beeinträchtigungen (körperlich begründbare, exogene Psychosen); Abhängigkeitskrankheiten (Alkohol- und Drogenabhängigkeit); Neurosen und Persönlichkeitsstörungen (Psychopathien) • Geistige Behinderungen: angeborene oder frühzeitig erworbene Intelligenzdefekte verschiedener Schweregrade • Seelische Behinderungen: bleibende psychische Beeinträchtigungen als Folge von psychischen Krankheiten • Körperliche Behinderungen: z. B. eine dauernde Bewegungsunfähigkeit, weswegen der Betroffene seine Angelegenheiten nicht selbst besorgen kann Ein Betreuer darf erst bestellt werden, wenn das Gutachten eines Sachverständigen über die Notwendigkeit einer Betreuung eingeholt wurde, wobei stets zu bedenken ist, dass es bei dem hier gemeinten Rechtsinstitut „Betreuung“ allein um Beistand in Form von
Rechtsfürsorge und nicht um die tatsächliche Hilfe, d. h. nicht die konkrete alltägliche Betreuung geht, wobei dies gelegentlich verwechselt wird und zu Missverständnissen führen kann. Gemäß § 280 FamFG soll die Qualifikation des Gutachters „Arzt für Psychiatrie“ oder „Arzt mit Erfahrung auf dem Gebiet der Psychiatrie“ sein. Daher kann es möglicherweise strittig sein, welcher Fachrichtung der Sachverständige angehören sollte. Psychische Krankheiten müssen durch einen Facharzt für Psychiatrie mit gutachtlicher Erfahrung beurteilt werden (Foerster 1991). Diese spezielle psychiatrische Sachkunde fehlt dann, wenn der Sachverständige weder eine entsprechende Spezialausbildung besitzt noch eine Gutachtentätigkeit in größerem Umfang regelmäßig ausübt (Zimmermann 1991). Geht es um die Beurteilung gerontologischer Fragestellungen, in die auch häufig gerontopsychiatrische Probleme einfließen, etwa um die Beurteilung eines Altenheimbewohners, kann der erfahrene Heimarzt hinzugezogen werden, wenn er aufgrund seiner konkreten ärztlichen Erfahrung über genügend Kenntnisse bzgl. der Beurteilung dieses Patienten verfügt. Der Gesetzestext sagt nichts darüber aus, ob das Gutachten schriftlich oder mündlich zu erstatten ist. Eine schriftliche Erstattung dürfte jedoch zweckmäßig sein, schon um eine ggf. erforderlich werdende Nachprüfbarkeit zu gewährleisten. Der Sachverständige ist verpflichtet, den Betroffenen vor der Erstattung des Gutachtens persönlich zu untersuchen und zu befragen. Damit wird sichergestellt, dass das Gutachten aufgrund eigener Kenntnisse des Sachverständigen zeitnah und keinesfalls allein aufgrund von Akten oder Berichten anderer Ärzte oder Krankenhäuser erstellt wird. Dabei darf sich der Sachverständige im Gutachten nicht auf eine zusammenfassende Ergebnisdarstellung seiner ärztlichen Beurteilung beschränken. Es müssen die Tatsachen aufgeführt werden, die den Schluss auf die getroffene Diagnose tragen. Der psychische Befund und die Persönlichkeit des Betroffenen sind zu erörtern. Schließlich muss konkret dargelegt werden, inwieweit aufgrund der vorliegenden psychopathologischen Symptome die Fähigkeit des Betroffenen
beeinträchtigt ist, einzelne – welche? – Lebensbereiche eigenverantwortlich zu regeln. Kommt nach Auffassung des Sachverständigen die Bestellung eines Betreuers in Betracht, so soll er den Umfang des etwaigen Aufgabenkreises benennen. Unter prognostischen Aspekten soll er zur Dauer der Betreuungsbedürftigkeit Stellung nehmen, wobei auch – falls möglich – Rehabilitationsmaßnahmen in Betracht zu ziehen sind. Hieraus ergibt sich ein vierstufiges Schema für die Beantwortung der gutachtlichen Fragen (Crefeld 1990): 1. Besteht eine Krankheit oder Behinderung im Sinne des BtG? – Beschreibung der gesundheitlichen, ggf. psychopathologischen, Symptomatik mit vorhandenen Beeinträchtigungen – Einschränkungen im sozialen Feld: Wohn-, Arbeits-, Freizeitbereich 2. Bewältigungsmöglichkeiten bei Vorliegen einer Erkrankung oder Behinderung? – Eigene Möglichkeiten des Betroffenen – Soziales Netzwerk 3. Professioneller Interventionsbedarf ohne Betreuung? – Soziale Unterstützung – Professionelle Hilfe bei Problemlösungen 4. Betreuung erforderlich Zusätzlich ist bei Ablehnung der Betreuung zu beurteilen, ob diese Ausdruck einer freien Willensentscheidung ist, denn eine Betreuerbestellung kann gegen den freien Willen eines Betroffenen nicht erfolgen. Diese Formulierung macht deutlich, dass der Gesetzgeber Betreuerbestellungen gegen den Willen von Betroffenen möglichst vermeiden möchte. Dies ist angesichts der Tatsache, dass eine adäquate Zusammenarbeit zwischen Betreuer und Betreutem zur Durchsetzung der Interessen der Betreuten erforderlich ist, auch sinnvoll. Problematisch wird diese Bestimmung allerdings für Betroffene, die störungsbedingt nicht in der Lage sind, die Vor- und Nachteile einer Betreuung gegeneinander abzuwägen und solche Ü
differenzierenden Überlegungen als Grundlage einer freien Entscheidungsbildung zu nutzen. Letztlich ist hier entscheidend, ob der für eine Betreuung anstehende Betroffene in der Lage ist, diese Unterstützungsmaßnahme für seine Person als solche zu erkennen bzw. die Gefahren, die sich aus einer Ablehnung ergeben, einzuschätzen. Vor diesem Hintergrund müssen vor der Anordnung einer Betreuung gegen den Willen des Betroffenen ähnliche Überlegungen angestellt werden wie bei der Prüfung der Einwilligungsfähigkeit (Wetterling 2018; Habermeyer 2009; Kröber 1998). Dabei geht es zunächst einmal darum, Aussagen darüber zu treffen, ob der Betroffene imstande ist, die vermittelten Informationen über die Betreuung inhaltlich zu verstehen. Diese basale Fähigkeit kann vor allem durch Bewusstseins- bzw. Orientierungsoder erhebliche Merkfähigkeitsund Gedächtnisstörungen beeinträchtigt sein, dürfte bei Persönlichkeitsstörungen i. d. R. aber vorhanden sein. Direkt nach der Aufklärung über die Modalitäten der Betreuung kann dieser Aspekt dadurch geprüft werden, dass man den Betroffenen bittet, die vermittelten Informationen in eigenen Worten wiederzugeben. Ferner geht es um die Fähigkeit, die Vor- und Nachteile einer Betreuung gegeneinander abzuwägen. Hier können auch situative Faktoren (z. B. eine erhebliche affektive Erregung im Gespräch über die Betreuung und / oder Ängste bzgl. einer drohenden „Entmündigung“) nachteilig zum Tragen kommen. Deshalb sollte auf eine besonders ruhige Gesprächsatmosphäre geachtet werden, die dem Betroffenen die Möglichkeit gibt, in Ruhe Fragen zu formulieren und eigene Überlegungen zu entwickeln. Das Thema kann ggf. auch an verschiedenen Terminen erörtert werden, was dem Betroffenen einen flexibleren zeitlichen Rahmen zur Reflexion der Vor- und Nachteile offeriert. Bleibt es bei der Ablehnung, ist im dritten Schritt zu überlegen, ob der Ablehnung eigene biografisch gewachsene Werte zugrunde liegen oder ob situative Einflüsse überwiegen. Es geht hier entscheidend darum, ob der Betroffene Zugang zu Werten und Emotionen hat und diese in seinen lebensgeschichtlichen Kontext
einordnen kann. Hier können z. B. kurz zurückliegende enttäuschende Beziehungserfahrungen oder akut zerbrochene Vertrauensbeziehungen eine Rolle spielen, die es dem Probanden erschweren, sich auf eine Betreuung einzulassen, da er ähnliche Enttäuschungen erwartet. Auf diese Bedenken sollte durch ausreichende Informationen eingegangen werden. Dabei kann z. B. deutlich gemacht werden, dass die Betreuerbestellung immer auch zeitlich begrenzt ist. Allein diese Information kann es dem Betroffenen leichter machen, sich auf die Betreuung einzulassen, da er sich nicht unbegrenzt in die Hände anderer begeben muss. Abschließend geht es um die Konstanz der Willensbestimmung, die bei sehr ambivalenten, impulsiv-sprunghaften Betroffenen beeinträchtigt sein kann. Wenn sowohl auf der Ebene des Informationsverständnisses als auch bei der Bewertung der erhaltenen Information und hinsichtlich der Willensbestimmung keine gravierenden Auffälligkeiten zu beobachten sind, bleibt eine Ablehnung der Betreuung rechtlich bindend. Man muss in diesem Fall von einer freien Willensbestimmung ausgehen, die sich nicht notwendigerweise mit ärztlichen oder therapeutischen Überlegungen in Bezug auf den Betroffenen decken muss. Aus psychiatrischer Sicht ist der in Abschnitt 2 des § 1896 BGB formulierte Vorrang einer Bevollmächtigung von z. B. Familienangehörigen oder engen Freunden bzw. Partnern vor einer Betreuung zwar prinzipiell einleuchtend, jedoch nicht generell unproblematisch. Gerade bei psychisch schwer erkrankten Personen fehlen nicht selten stabile Betreuungspersonen. Dadurch besteht oftmals keine Alternative zu einer gesetzlichen Betreuung. Außerdem können psychische Erkrankungen zu hoch problematischen und ambivalenten Interaktionen in der Kernfamilie führen. Gerade hier kann die Bestellung eines gesetzlichen Betreuers, der seine Aufgabe mit einer ausreichenden professionellen Distanz erfüllt, dazu beitragen, dass potenzielle Konfliktfelder im familiären oder persönlichen Nahbereich entschärft bzw. an den Betreuer im Sinne einer Entlastung der Betroffenen delegiert werden.
Außerdem kann sich im Fall einer Bevollmächtigung die Frage ergeben, ob diese Bevollmächtigung die Betreuerbestellung verzichtbar macht. Hier bleibt zu prüfen, ob die Bevollmächtigung für eine Vertrauensperson ausgestellt wurde, zu der über längere Zeit eine stabile und nicht durch Störungssymptome vorbelastete Beziehung besteht. Insgesamt gibt es keinen zwingenden Grund, dass Menschen mit psychischen Störungen nicht auch einen Bevollmächtigten benennen können. Es sollte sich dabei jedoch um eine Person mit einer über einen ausreichend langen Zeitraum hinweg gefestigten Vertrauensstellung gegenüber dem Betroffenen handeln. Ansonsten drohen durch die Bevollmächtigung erhebliche, nicht zuletzt auch wirtschaftliche Nachteile. Bei der Beurteilung muss der psychiatrische Sachverständige grundsätzlich berücksichtigen, dass die Folgerung einer Betreuung nicht allein aus der Diagnose, d. h. aus der Feststellung einer psychischen Krankheit bzw. einer geistigen oder seelischen Behinderung, abgeleitet werden kann. Es bedarf der gesonderten, detailliert auszuführenden Feststellung, welche eigenen Angelegenheiten wegen der Erkrankungssymptomatik nicht besorgt werden können. Dabei ist vom Betreuungsrichter zu verlangen, dass er das Sachverständigengutachten kritisch beurteilt und prüft, ob sich die sachverständige Einschätzung auf sichere und zusätzliche Tatsachen stützt. Es hat sich bewährt, im Gutachten folgende Punkte gesondert darzulegen (von Oefele 1992; vgl. Cording und Nedopil 2017; Wetterling 2018): • Schilderung des Sachverhalts. • Schilderung des Zeitpunkts und Umfangs der Untersuchung durch den Sachverständigen inkl. Angaben über sonstige Informationsquellen. • Ausführliche Darstellung der Erkrankung oder Behinderung. Neben den psychopathologischen Befunden müssen auch die gesunden Anteile des Betroffenen und die verbliebenen Möglichkeiten zur eigenverantwortlichen Regelung der Angelegenheiten dargestellt werden. Hier ist eine
Orientierung an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) sinnvoll (Linden et al. 2015). • Schilderung von Behandlungs- und Rehabilitationsmöglichkeiten. • Erörterung möglicher Alternativen zur Betreuung, z. B. Bevollmächtigung eines Vertrauten. • Erörterung der konkret zu regelnden Aufgabenkreise, falls nach Ansicht des Sachverständigen eine Betreuung in Betracht kommt. Dabei sollte i. d. R. an den Aufgabenkreisen Vermögenssorge, Gesundheitsfürsorge und Aufenthaltsbestimmung festgehalten werden. Eine „Totalbetreuung“ sollte so weit wie möglich vermieden werden. • Voraussichtliche Dauer der Betreuung. Dabei wird von Amts wegen spätestens nach 7 Jahren überprüft, ob die Betreuung verlängert werden muss oder aufgehoben werden kann. Wird der Sachverständige nach der Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts (➤ Kap. 31.4.6) gefragt, so muss er diese häufig schwierige Frage gesondert erörtern (➤ Kap. 32.2.2). Organische psychische Störungen Organische psychische Störungen stehen ganz im Vordergrund der Anordnung von Betreuungen. Meist handelt es sich um Patienten mit einem demenziellen Syndrom unterschiedlicher Ätiologie. Entscheidend für die Anordnung einer Betreuung sind Grad und Ausmaß der konkreten psychopathologischen Symptomatik, die detailliert und differenziert beschrieben werden muss. Die hieraus resultierenden Defizite bei der Besorgung eigener Angelegenheiten sind zu schildern. Als Aufgabenkreise für den Betreuer ergeben sich i. d. R. die Bereiche Vermögenssorge, Gesundheitsfürsorge und Aufenthaltsbestimmung. Bei Patienten mit demenziellen Syndromen kann jedoch auch eine Regelung sämtlicher Angelegenheiten erforderlich werden. Meist geht es um eine dauerhafte Betreuung, da
bei chronischen Demenzerkrankungen kaum Rehabilitationsmöglichkeiten bestehen. Bei einem dementen Patienten wird eine Verständigung über die notwendigen rechtlichen Schritte mit ihm häufig nicht mehr möglich sein, sodass die Betreuung ohne seine Zustimmung eingerichtet werden muss. Bei Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts (➤ Kap. 31.4.6, ➤ Kap. 32.2.2) liegt es nahe, gleichzeitig auch zur Geschäftsfähigkeit Stellung zu nehmen. Dadurch lassen sich die gar nicht so seltenen retrospektiven Auseinandersetzungen über die Rechtswirksamkeit von Entscheidungen, die der Betreute getroffen hat, vermeiden (Nedopil und Müller 2012). Störungen durch psychotrope Substanzen Ob und ggf. wann die Einrichtung einer Betreuung bei Alkohol- und Drogenabhängigen sinnvoll sein kann, ist umstritten. In Betracht kommen kann der Aufgabenkreis der Gesundheitsfürsorge und eventuell der Vermögenssorge. Die Einrichtung einer Betreuung kann sinnvoll sein, wenn diese Maßnahme in ein therapeutisches Gesamtkonzept eingebettet ist, um z. B. eine schwankende Therapiemotivation für eine längerfristige Entwöhnungsbehandlung zu fördern (Mundle et al. 1996). In solchen Fällen wird immer zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten und dem therapeutisch Zweckmäßigen abgewogen werden müssen. Das Ziel einer Behandlungssicherung gegen den Willen eines abhängigen Patienten ist allerdings mit Mitteln des Betreuungsrechts nicht möglich (Wetterling et al. 1995b). Eine Betreuungsanordnung ohne Einverständnis des abhängigen Patienten kommt nur in Betracht, wenn bereits gravierende psychopathologische Folgeschäden im Sinne einer ausgeprägten organischen Persönlichkeitsstörung (➤ Kap. 14) vorliegen. Schizophrenie und wahnhafte Störungen Neben den chronischen organischen psychischen Störungen werden die meisten Betreuungen bei chronisch verlaufenden schizophrenen Psychosen eingerichtet (von Oefele 2005). Dabei geht es in erster
Linie um die Gesundheitsfürsorge, wenn mithilfe des Betreuers die notwendige psychiatrische Behandlung gewährleistet werden kann. Die Einrichtung einer Betreuung kann bei der häufig notwendigen Rezidivprophylaxe mit Depot-Neuroleptika eine wesentliche Unterstützung darstellen, sofern die Krankheitseinsicht des Patienten schwankend ist oder fehlt. Fragen der Aufenthaltsbestimmung können sich ergeben, wenn es um den Aufenthalt in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer therapeutischen Wohngemeinschaft geht. Wie bei allen Patienten sollte auch bei Menschen mit einer Schizophrenie immer versucht werden, sie von der Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit therapeutischer Maßnahmen zu überzeugen; Maßnahmen gegen ihren Willen sollten die Ultima Ratio bleiben. Auch bei wahnhaften Störungen kann sich die Notwendigkeit einer Betreuung mit unterschiedlichen Aufgabenkreisen ergeben, wobei der Patient gerade aufgrund der wahnhaften Symptomatik die Notwendigkeit von Betreuungsmaßnahmen womöglich nicht einsehen kann. Affektive Störungen Bei affektiven Störungen kann sich sowohl bei depressiver als auch bei manischer Symptomatik die Frage nach einer Betreuung ergeben, wobei hier in erster Linie zeitlich befristete Betreuungsanordnungen zu erwägen sind. Da depressive Patienten i. d. R. kooperativ sind, stellt sich hier die Frage seltener; das Problem kann sich bei chronischer Suizidalität ergeben. Manische Patienten sind im akuten Zustand häufiger betreuungsbedürftig, gerade wenn unbedachte Geschäftsabschlüsse zu befürchten sind. Hier bietet sich der Aufgabenkreis der Vermögenssorge und eventuell der Gesundheitsfürsorge an. Da manische Patienten i. d. R. nicht krankheitseinsichtig sind, kann es erforderlich werden, die Betreuung ohne Einwilligung des Patienten anzuordnen. Auch bei diesen Patienten sollte die Betreuungsanordnung in einen therapeutischen Gesamtplan eingebettet sein.
Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen Bei diesen Störungen wird sich die Frage nach einer Betreuung nur in Ausnahmefällen stellen. Selbst wenn die Voraussetzungen für eine Betreuung vorliegen sollten, wird eine Betreuungsanordnung gegen den Willen des Patienten kaum möglich sein, da nur extrem selten angenommen werden kann, dass ein neurotisch erkrankter Patient seinen Willen nicht äußern kann. Anpassungsstörungen stellen keine Voraussetzung für die Anordnung einer Betreuung dar. Essstörungen Die Frage der Betreuung kann sich bei Patienten mit einer Anorexia nervosa stellen, wenn das Untergewicht ein lebensbedrohliches Ausmaß erreicht. Auch wenn die Behandlungsmethode der Wahl bei Anorexia nervosa Psychotherapie ist, so schließt dies dennoch ein Vorgehen mithilfe des BtG nicht aus. Die Indikation zu rechtlichen Maßnahmen sollte ab einem Body-Mass-Index (BMI) von 13 geprüft werden, da die Mortalität ab diesem BMI-Wert dramatisch ansteigt (Thiel und Paul 2007). Laakmann et al. (2006), die ein Behandlungskonzept für betreuungsrechtlich untergebrachte Patientinnen entwickelt haben, weisen darauf hin, dass eine Behandlung gegen den Willen ausschließlich für die Subgruppe der vital gefährdeten anorektischen Patientinnen mit z. T. chronischen Krankheitsverläufen und massiven somatischen Folgen sinnvoll und gerechtfertigt und die Betreuung bzw. Unterbringung als UltimaRatio-Maßnahme anzusehen sei, um überdauernde Organschäden oder letale Verläufe zu verhindern. Alle rechtlichen Maßnahmen sollten mit den Patienten und ihren Angehörigen ausführlich und in Ruhe besprochen werden. Die Betreuung sollte auf jeden Fall die Aufgabenbereiche Gesundheitsfürsorge, Aufenthaltsbestimmung und unterbringungsähnliche Maßnahmen umfassen. In Anbetracht der häufig sehr schwierigen und komplexen Familiendynamik sollten Familienangehörige nicht als Betreuer bestellt werden. Als notwendige Zeitdauer werden mindestens 6 Monate angesehen,
wobei die Betreuung in vielen Fällen auch über einen längeren Zeitraum sinnvoll sein kann (Thiel und Paul 2007). Aus medizinethischer Sicht wurde jedoch auch schon die Auffassung geäußert, dass eine Zwangsbehandlung bei chronischer Anorexie nicht vertretbar sei (Wild und Krones 2010). Dies wird im Einzelfall entscheidend mit dem chronischen Verlauf der Störung, der zunehmend schlechten Lebensqualität und der insgesamt schlechten Langzeitprognose begründet. Somit stehen aktuell divergierende Sichtweisen im Raum, die ihr Vorgehen jeweils mit guten Argumenten begründen können. Angesichts der Präzisierungen zur Zwangsbehandlung, auf die in ➤ Kap. 32.2.6 detaillierter eingegangen wird und durch welche die Position von Wild und Krones gestärkt wird, ist damit zu rechnen, dass Interventionen gegen den Willen der Betroffenen schwerer umsetzbar werden. Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen Betreuungsanordnungen bei Persönlichkeitsstörungen sind selten, können jedoch z. B. bei paranoiden, ängstlichen oder asthenischen Persönlichkeitsstörungen vorkommen, wenn die Patienten erhebliche Einschränkungen im Bereich der eigenständigen Lebensgestaltung aufweisen. In Anbetracht der vielfältigen Möglichkeiten lassen sich hier keine generellen Richtlinien angeben. Es kann die Maxime formuliert werden, dass die Möglichkeiten des Betreuungsrechts bei Persönlichkeitsstörungen nur mit großer Zurückhaltung und lediglich bei schweren Konstellationen und / oder Krisensituationen angewandt werden sollen (Habermeyer 2011). Insbesondere erscheint es zur Förderung der alltagspraktischen Fähigkeiten erforderlich, die Unterstützung auf möglichst wenige Teilbereiche und dann auch nur für die unbedingt relevanten Angelegenheiten einzugrenzen. Außerdem sollte die Betreuung nur für einen möglichst kurzen Zeitraum eingerichtet werden. Sinnvoll ist dann eine schrittweise Steigerung der Eigenverantwortung der Betroffenen unter konsekutivem Abbau der Unterstützungsmaßnahmen.
Intelligenzminderung Bei Patienten mit einer Intelligenzminderung können sich die Voraussetzungen für eine Betreuung je nach Grad und Ausmaß der Einschränkungen ihrer kognitiven und emotionalen Fähigkeiten stellen. Häufig ergibt sich diese Frage, wenn intelligenzgeminderte Patienten das Erwachsenenalter erreichen, wobei die zuvor bestehende Vormundschaft durch eine Betreuung ersetzt wird. Sowohl bei mittelgradiger als auch bei schwerer Intelligenzminderung kann eine Anordnung der Betreuung ohne Einwilligung des Betroffenen infrage kommen. Bei intelligenzgeminderten Patienten ist in besonderer Weise darauf zu achten, dass der psychiatrische Sachverständige nicht durch eigennützig interessierte Familienangehörige instrumentalisiert wird, wobei dieser kritische Hinweis auch für alle anderen psychischen Störungen gilt.
32.2.2. Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts Beim Gutachtenauftrag zur Anordnung einer Betreuung kann der psychiatrische Sachverständige nach den Voraussetzungen zur Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts gefragt werden. Die gleiche Frage kann auch bei Verlängerung einer Betreuung gestellt werden. Grundlage hierfür ist § 1903 BGB Abs. 1 S. 1. § 1903 BGB Abs. 1 S. 1 Soweit es zur Abwendung einer erheblichen Gefahr für die Person oder das Vermögen des Betreuten erforderlich ist, ordnet das Betreuungsgericht an, dass der Betreute zu einer Willenserklärung, die den Aufgabenkreis des Betreuers betrifft, dessen Einwilligung bedarf (Einwilligungsvorbehalt). Ein Einwilligungsvorbehalt kann nur im Rahmen der Aufgabenkreise des Betreuers bei Angelegenheiten der Vermögenssorge und der Personensorge in Betracht kommen. Nicht
möglich ist ein Einwilligungsvorbehalt u. a. bei Eheschließung, Testamentserrichtung oder Errichtung eines Erbvertrags (➤ Kap. 31.4.6). Zweck eines Einwilligungsvorbehalts ist ausschließlich der Schutz des Betreuten, der für die Wirksamkeit eines von ihm abgeschlossenen Geschäfts die Zustimmung des Betreuers benötigt (➤ Kap. 31.4.6). Ein Einwilligungsvorbehalt kann angeordnet werden, wenn der Betreute aufgrund einer psychischen Erkrankung oder Behinderung seinen Willen mindestens in einem bestimmten Geschäftsbereich (partielle Geschäftsunfähigkeit ➤ Kap. 32.3) nicht frei bestimmen kann. Bei Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts kann es zweckmäßig sein, gleichzeitig die Geschäftsfähigkeit des Probanden zu beurteilen (➤ Kap. 32.2.1). Bei körperlicher Behinderung kann kein Einwilligungsvorbehalt angeordnet werden. Wird ein Einwilligungsvorbehalt angeordnet, so bedarf der Betreute für Willenserklärungen, die er in diesem Bereich abgibt, der Zustimmung des Betreuers, die auf verschiedene Weise abgegeben werden kann: • Einwilligung des Betreuers, d. h. vorherige Zustimmung zum Rechtsgeschäft. • Genehmigung durch den Betreuer, d. h. nachträgliche Zustimmung zum Rechtsgeschäft. • Fehlende Einwilligung, d. h., das Rechtsgeschäft ist schwebend unwirksam, bis der Betreuer nachträglich seine Genehmigung erteilt hat, oder es ist nichtig, wenn der Betreuer keine Genehmigung gibt. Die Problematik des Einwilligungsvorbehalts ergibt sich deshalb, weil die Anordnung einer Betreuung grundsätzlich keinen Einfluss auf die Geschäftsfähigkeit hat, d. h., der Betreute wird wie eine voll geschäftsfähige Person behandelt, es sei denn, es wird ein Einwilligungsvorbehalt angeordnet. Ist dies nicht der Fall, ist ggf.
die Frage nach der Geschäfts(un)fähigkeit gesondert von einer bereits bestehenden oder anzuordnenden Betreuung zu prüfen. Diese Frage ergibt sich natürlich nur dann, wenn es um die Rechtswirksamkeit eines konkreten Rechtsgeschäfts, z. B. eines Vertrags oder Testaments, geht (➤ Kap. 32.3).
32.2.3. Genehmigung von ärztlichen Maßnahmen Sind bei einem Betreuten ärztliche Maßnahmen geplant, die gravierende Folgen oder erhebliche Nebenwirkungen haben können, so bedarf die Einwilligung des Betreuers der Genehmigung des Betreuungsgerichts. Die entsprechende Regelung findet sich in § 1904 Abs. 1 BGB (➤ Kap. 31.6.1). § 1904 Abs. 1 BGB Die Einwilligung des Betreuers in eine Untersuchung des Gesundheitszustandes, eine Heilbehandlung oder einen ärztlichen Eingriff bedarf der Genehmigung des Betreuungsgerichtes, wenn die begründete Gefahr besteht, dass der Betreute aufgrund der Maßnahme stirbt oder einen schweren und längerdauernden gesundheitlichen Schaden erleidet. Ohne die Genehmigung darf die Maßnahme nur durchgeführt werden, wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist. Die Genehmigung des Betreuungsgerichts ist unter folgenden Voraussetzungen erforderlich: • Es besteht eine Betreuung. • Der Aufgabenkreis des Betreuers umfasst die Gesundheitsfürsorge. • Der Betreute ist nicht einwilligungsfähig. Dabei geht es für den psychiatrischen Sachverständigen um die Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit, wobei sich dies auch auf
die Durchführung von ärztlichen Maßnahmen in anderen Fächern bezieht (ausführlich s. u.). Besitzt der Betroffene dagegen die zur Abwägung der medizinischen Risiken erforderliche Beurteilungsfähigkeit, so hat allein er die Entscheidungskompetenz, gleichgültig ob eine Betreuung besteht oder nicht, d. h., wenn das Vorliegen von Einwilligungsfähigkeit bejaht wird, dann ist der Betroffene in seiner Entscheidungskompetenz autonom, unabhängig von der Frage, ob seine Entscheidung medizinisch sinnvoll ist oder nicht. Bei Patienten, bei denen eine Betreuung für Gesundheitsfürsorge besteht, ergeben sich bzgl. der Einwilligungsfähigkeit somit folgende Möglichkeiten: • Der Betroffene ist trotz seiner psychischen Erkrankung oder Behinderung und trotz Vorliegens der Betreuung mit dem Aufgabenkreis Gesundheitsfürsorge in der Lage, über den medizinischen Eingriff selbst zu entscheiden, d. h., er ist einwilligungsfähig. • Der Betroffene ist nicht einwilligungsfähig. Dann muss der Betreuer die Einwilligung zu dem medizinischen Eingriff erteilen. Sofern noch kein Betreuer bestellt wurde, ist die Bestellung (vom Arzt oder von einer sonstigen Person) beim Betreuungsgericht anzuregen. • Handelt es sich um einen besonders gravierenden, risikoreichen medizinischen Eingriff, bedarf es zusätzlich zur Einwilligung des Betreuers der betreuungsgerichtlichen Genehmigung gem. § 1904 BGB (➤ Kap. 31.6.1, ➤ Kap. 32.2.3). In einem ersten Schritt ist zu klären, ob der Patient einwilligungsfähig ist. Ist dies der Fall, so ergeben sich keine Probleme gem. § 1904 BGB. Ist der Patient nicht einwilligungsfähig und handelt es sich um ärztliche Maßnahmen („Untersuchung des Gesundheitszustands, Heilbehandlung, ärztlicher Eingriff“) auf dem Gebiet der Psychiatrie, so hat der psychiatrische Sachverständige zu beurteilen, ob es sich hierbei um eine Maßnahme handelt, für welche
die Voraussetzungen des § 1904 Abs. 1 S. 1 BGB vorliegen, wonach die „begründete Gefahr besteht, dass der Betreute aufgrund der Maßnahme stirbt oder einen schweren und längerdauernden gesundheitlichen Schaden erleidet“. Eine ärztliche Maßnahme, aufgrund derer die Gefahr besteht, dass der Betreute hieran stirbt, ist im psychiatrischen Fachgebiet nicht gegeben. Das ggf. zu diskutierende allgemeine Narkoserisiko bei der Durchführung einer Elektrokonvulsionstherapie (s. u.) hat der Anästhesist zu beurteilen. Für psychiatrische Maßnahmen muss der Sachverständige somit beurteilen, inwieweit eine „begründete Gefahr“ für einen „schweren und länger dauernden gesundheitlichen Schaden“ besteht. Den Begriff „begründete Gefahr“ hat der Gesetzgeber bislang nicht näher definiert. Vielmehr ist differenziert zu erörtern, worin diese Gefahr im konkreten Fall besteht, weshalb eine Orientierung an z. B. einer Eintretenswahrscheinlichkeit von ca. 20 % bzgl. vitaler Risiken, wie es von Wiebach et al. (1997) vorgeschlagen wurde, nicht uneingeschränkt möglich ist (➤ Kap. 31.6.1). Erst wenn eine „begründete Gefahr“ gesehen wird, ist für psychiatrische Maßnahmen die Möglichkeit des Eintritts eines „schweren und länger dauernden gesundheitlichen Schadens“ zu diskutieren, wobei beide Kriterien zusammen vorliegen müssen. Unter „länger dauernd“ wird ein Zeitraum von mindestens 1 Jahr verstanden. Zur Einschätzung des Merkmals „schwer“ wird empfohlen, sich am § 224 StGB zu orientieren, der folgende vier Gruppen von schweren Folgen einer Körperverletzung nennt: Verlust einer wichtigen Gliedmaße, Verlust des Sehvermögens, des Gehörs, der Sprache oder der Zeugungsfähigkeit, andauernde Entstellung in erheblicher Weise, Verfallen in Siechtum, Lähmung oder Geisteskrankheit. Wie dargelegt, ergeben sich auf psychiatrischem Gebiet konkrete Fragen nur dann, wenn eine deutlich geringere Wahrscheinlichkeit als 20 % bzgl. des Risikoeintritts diskutiert wird; sie wurden z. B. bei der Verordnung von Psychopharmaka und der Durchführung einer Elektrokonvulsionstherapie aufgeworfen:
• Bei der Verordnung von Psychopharmaka kann sich die Frage bei der Langzeittherapie ergeben, wobei die Anwendung von Psychopharmaka keineswegs generell die begründete Gefahr in sich birgt, dass ein schwerer und länger dauernder Gesundheitsschaden ausgelöst werden könnte. Allerdings kann es im Einzelfall begründet sein, eine vermehrte Risikokonstellation anzunehmen, etwa dann, wenn besondere Risikofaktoren, z. B. Multimorbidität oder erhöhte Sensibilität für bestimmte Nebenwirkungen und ihr Zusammentreffen im hohen Lebensalter, zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit des Risikoeintritts führen könnten (Wiebach et al. 1997). Auch bzgl. der Verordnung des atypischen Neuroleptikums Clozapin (Leponex®) wurde die Frage der Genehmigungspflicht aufgeworfen, aber sowohl aus medizinischer (Scholz et al. 1999) als auch juristischer Sicht (Zimmermann 1997) verneint. Das Landgericht Berlin sah die Behandlung eines psychotischen Patienten mit hochpotenten Neuroleptika über mehrere Wochen wegen der Gefahr der Spätfolgen eines Parkinsonoids und Spätdyskinesien als genehmigungspflichtig an (LG Berlin, Az 83 D 423 und 426 / 92), wobei es sich hier jedoch um einen Patienten handelte, bei dem die Gabe von Neuroleptika schon früher wirkungslos geblieben war. Das AG Heilbronn erachtete die Verordnung eines hoch- und eines niedrigpotenten Neuroleptikums ebenso wenig als genehmigungspflichtig wie die Verordnung eines Benzodiazepin-Präparats (AG Heilbronn, Az XVII 722 / 96 und XVII 256 / 97). • Die Elektrokonvulsionstherapie (EKT) ist – im Gegensatz zu manchen Meinungen in der Öffentlichkeit und auch bei Juristen – nach wie vor eine sehr wichtige Option in der Behandlung pharmakotherapieresistenter depressiver und schizophrener Störungen (Folkerts 2011; Zilles et al. 2018). Retrograde Amnesien treten bei Anwendung der unilateralen Kurzpulsstimulation nur sehr selten und in
einer so geringen Ausprägung auf, dass sie angesichts der Gefährdung durch die Grunderkrankung zu vernachlässigen sind, zumal die EKT i. d. R. nur bei Versagen der Pharmakotherapie angewandt wird. Trotz höherer Stimulationsenergien bei der unilateralen EKT wurde in einer retrospektiven Untersuchung von 4.803 Behandlungssitzungen bei 445 Patienten eine rückläufige Rate an unerwünschten kognitiven Wirkungen beobachtet, womit sich die Behandlungsqualität erheblich verbessert hat (Baghai et al. 2005). Eine betreuungsgerichtliche Genehmigung wird – auch unter Berücksichtigung des allgemeinen Narkoserisikos – weder aus psychiatrischer (Batra et al. 1999) noch aus juristischer (Dodegge 1996) Sicht für erforderlich gehalten. Das ist plausibel, denn das Risiko für Todesfälle liegt bei 1 : 50.000 Elektrokonvulsionstherapien (Folkerts 2011). Zuletzt haben Zilles et al. (2018) darauf verwiesen, dass die Wirksamkeit der EKT ihre Anwendung als Zwangsmaßnahme rechtfertigen kann. Die Voraussetzungen hierfür sollten multiprofessionell geprüft und der gesetzliche Vertreter sollte frühzeitig einbezogen werden. Allerdings hat der Bundesgerichtshof in einem Urteil vom 15.1.2020 (BGH 2020) eine EKT-Zwangsbehandlung von Schizophrenie im Regelfall als nicht genehmigungsfähig erachtet. Ein Betreuer könne nur dann in diese Maßnahme einwilligen, wenn sie zum Wohl des Betreuten notwendig ist. „Notwendig“ i. S. des Gesetzes seien nur Behandlungen, deren Durchführung einem breiten wissenschaftlichen Konsens entspricht. Das Urteil betont den Wert eines leitliniengerechten Vorgehens und engt die Anwendung der EKT auf diejenigen Störungsbilder ein, für deren Behandlung sie in den wissenschaftlichen Stellungnahmen des Beirats der Bundesärztekammer und in entsprechenden Leitlinien empfohlen wird. Explizit erwähnt werden neben Katatonie und akut exazerbierten Schizophrenien therapieresistente Depressionen und Manien sowie schwere
depressive Verstimmungen mit Suizidalität bei einer Schizophrenie. Zusammenfassend ist zur Frage der betreuungsgerichtlichen Genehmigungsbedürftigkeit psychiatrischer Maßnahmen festzuhalten:
Merke • Die Anwendung von Psychopharmaka ist nicht generell betreuungsgerichtlich genehmigungspflichtig. • Liegt im Einzelfall eine vermehrte Risikokonstellation vor, bei der eine über das normale Maß hinausgehende Abwägung von Nutzen und Risiko erforderlich ist, kann der Betreuer eine betreuungsgerichtliche Genehmigung herbeiführen. • Für die Durchführung einer EKT ist grundsätzlich keine betreuungsgerichtliche Genehmigung erforderlich.
Die Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit Ärztliche Maßnahmen – Untersuchungen, Eingriffe, Verordnung von Arzneimitteln und Anwendungen – bedürfen zur Durchführung der Einwilligung des Patienten. Diese Einwilligung ist erforderlich – gleichgültig, ob die ärztlichen Maßnahmen bei psychisch kranken oder psychisch gesunden Patienten durchgeführt werden. Bei psychisch kranken Menschen, vor allem solchen unter Betreuung, gewinnt die Frage nach dem Vorliegen von Einwilligungsfähigkeit besonderes Gewicht. Einwilligungsfähigkeit ist nicht mit Geschäftsfähigkeit (➤ Kap. 31.7, ➤ Kap. 32.3.1) gleichzusetzen. Sie entspricht auch nicht
dem sogenannten „natürlichen Willen“ des Patienten. Einwilligungsfähigkeit ist ein juristischer Begriff, der – wie andere juristische Begriffe auch – aus medizinisch-empirischer Sicht im Rahmen konkreter Beurteilung „ausgefüllt“ werden muss (vgl. Snellgrove und Steinert 2017).
Merke Einwilligungsfähigkeit bezieht sich stets auf einen konkret zu beurteilenden Sachverhalt einer ärztlichen Maßnahme und ist insoweit keine globale Eigenschaft. Die Einwilligungsfähigkeit ist in Bezug auf einen bestimmten konkreten Sachverhalt kategorial, d. h. als vorhanden oder als nicht vorhanden, zu beurteilen (Helmchen 1995; Kirsch und Steinert 2006). Bezüglich der Beurteilung bei psychisch kranken Patienten kann sich eine besondere Schwierigkeit daraus ergeben, dass die Einschätzung der Einwilligungsfähigkeit je nach psychopathologischer Symptomatik fluktuierend sein kann. Wie empirische Untersuchungen gezeigt haben, fanden sich bei Patienten mit einer Schizophrenie eindeutige Zusammenhänge zwischen der Einschätzung der Einwilligungsfähigkeit und der Schwere der psychopathologischen Symptomatik, vor allem beim Vorliegen von Denkstörungen, während bei depressiven Patienten keine derartigen Befunde erhoben wurden (Bauer und Vollmann 2002). Für die Einwilligungsfähigkeit kommt es auf die „natürliche Einsichts- und Steuerungsfähigkeit“ des Patienten an (Kirsch und Steinert 2006). Hiernach ist einwilligungsfähig, wer Art, Bedeutung und Tragweite – auch die Risiken – der Maßnahme erfassen (= natürliche Einsichtsfähigkeit, kognitives Element) und seinen Willen hiernach bestimmen (= Steuerungsfähigkeit, voluntatives Element) kann. Entsprechend diesen Vorgaben kann Einwilligungsunfähigkeit aus juristischer (Amelung 1992, 1995) und psychiatrischer
(Helmchen 1995; Helmchen und Lauter 1995) Sicht folgendermaßen definiert werden:
Merke Einwilligungsunfähig ist, wer wegen Minderjährigkeit, geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung nicht erfassen kann: • um welche Tatsachen es sich bei der Entscheidung handelt, • welche Folgen oder Risiken sich aus der Einwilligungsentscheidung ergeben und welche Mittel es zur Erreichung der mit der Einwilligung verbundenen Ziele gibt, die ihn weniger belasten, • welchen Wert oder welchen Rang die von der Einwilligungsentscheidung berührten Güter und Interessen für ihn besitzen.
Das Gleiche gilt, wenn eine minderjährige, geistig behinderte oder psychisch erkrankte Person zwar die erforderliche Einsicht hat, aber nicht in der Lage ist, sich nach ihr zu bestimmen. Legt man diesen Vorschlag zugrunde, ist zunächst festzustellen, ob eine geistige Behinderung oder psychische Erkrankung vorliegt. Ist dies der Fall, so ist die Intaktheit von vier psychischen Funktionsbereichen zu überprüfen (Helmchen und Lauter 1995; adaptiert in Snellgrove und Steinert 2017; Wetterling 2018): • Verständnis • Verarbeitung • Bewertung • Bestimmbarkeit des Willens
Sofern eine dieser Funktionen nicht vorhanden oder erheblich gestört ist, muss die Einwilligungsfähigkeit verneint werden. Wie sich aus diesen Überlegungen ergibt, kann die Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit keineswegs allein an die Feststellung einer psychischen Erkrankung geknüpft werden, da es keine psychische Erkrankung oder Störung gibt, bei der Einwilligungsfähigkeit prinzipiell ausgeschlossen wäre (Kröber 1998).
Merke Liegt keine psychische Erkrankung, geistige Behinderung oder Minderjährigkeit vor, so ist der Patient einwilligungsfähig, auch wenn seine Entscheidung bzgl. der zu treffenden ärztlichen Maßnahmen für den behandelnden Arzt möglicherweise nicht billigenswert, aus medizinischer Sicht vielleicht sogar falsch ist (Neubauer 1993). Zweifel an der Einwilligungsfähigkeit können sich ergeben, wenn beim Patienten folgende Merkmale vorliegen (Helmchen und Lauter 1995): • Der Patient hat keine wirkliche Einsicht in die Natur seiner Situation und seiner Krankheit. • Der Patient versteht eine gegebene Information nicht. • Der Patient verhält sich so, als könne er eine Wahlmöglichkeit nicht nutzen. • Der Patient kann die verstandene Information nicht für eine realitätsbezogene, vernünftige und angemessene Entscheidung nutzen. • Der Patient kann sich nicht authentisch selbst entscheiden, d. h. nicht mehr in Übereinstimmung mit seinen eigenen, „charaktergebundenen“ Werten, Zielen und Haltungen handeln.
• Der Patient kann seine Entscheidungen nicht zum Ausdruck bringen. Ergeben sich aufgrund eines derartigen Verhaltens Zweifel an der Einwilligungsfähigkeit eines Patienten, sollten folgende Aspekte gezielt und genau geklärt werden (Kröber 1998): • Wie versteht der Patient seine konkrete Situation? • Was hat er von der Aufklärung bzgl. eines Eingriffs tatsächlich verstanden? • Wie ordnet der Patient die medizinischen Vorschläge in seine konkrete Lebenssituation ein? • Welche Schlüsse zieht er daraus? • Welche Konsequenzen seiner Entscheidung kann er benennen? • Welche Alternativen sieht er zu seiner Entscheidung, und wie bewertet er diese Alternativen? Nicht verwertbar als Beleg für vorhandene Einwilligungsfähigkeit sind erhaltene Routineleistungen von Kommunikation und Handlung, die nicht auf die konkrete, spezifische Situation des Patienten abgestimmt werden müssen. Im medizinischen Alltag wird vermutlich häufig von vorhandener Einwilligungsfähigkeit des Patienten ausgegangen, um Probleme durch Begutachtung und juristische Maßnahmen wie die Anordnung einer Betreuung zu vermeiden. Dies konnte für stationäre psychiatrische Behandlungen durch eine empirische Untersuchung belegt werden (Konrad 1996), während über die Situation in anderen medizinischen Fächern keine Erhebungen vorliegen. Von der Einwilligungsfähigkeit abzugrenzen ist der natürliche Wille eines Menschen. Einen Willen geäußert hat ein Patient bereits dann, wenn ein solcher Wille erkennbar hervorgetreten ist, wobei eine verbale Äußerung nicht erforderlich ist. Auch ein Kopfschütteln, das Wegdrehen des Körpers oder ein sonstiges Zurückweichen sowie sämtliche aktiven Widerstandshandlungen Ä
des Patienten sind als Äußerung eines der Behandlung entgegenstehenden Willens zu sehen (Kirsch und Steinert 2006). Noch komplexer ist die Situation in der Notfallversorgung; hier sollten laut Hansen et al. (2008) Zweifel am mutmaßlichen Willen bewusstseinsgestörter Patienten die aus der Garantenstellung resultierende Fürsorgepflicht des Arztes aktivieren, alle medizinisch sinnvollen Maßnahmen zur Rettung von Leib und Leben zu ergreifen. Wenn die zugrunde liegenden Überlegungen und Abwägungsprozesse (ggf. auch erst nach der Akutbehandlung) sorgfältig dokumentiert werden, dürfte ein solches Vorgehen wenig problematisch sein.
32.2.4. Genehmigung einer Sterilisation Die Sterilisation einwilligungsunfähiger Betreuter ist in § 1905 Abs. 1 S. 1 BGB geregelt (➤ Kap. 31.6.2). § 1905 Abs. 1 S. 1 BGB Besteht der ärztliche Eingriff in einer Sterilisation des Betreuten, in die dieser nicht einwilligen kann, so kann der Betreuer nur einwilligen, wenn • die Sterilisation dem Willen des Betreuten nicht widerspricht, • der Betreute auf Dauer einwilligungsunfähig bleiben wird, • anzunehmen ist, dass es ohne die Sterilisation zu einer Schwangerschaft kommen würde, • infolge dieser Schwangerschaft eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren zu erwarten wäre, die nicht auf zumutbare Weise abgewendet werden könnte, und • die Schwangerschaft nicht durch andere zumutbare Mittel verhindert werden kann.
Lehnt der Betreute die Vornahme des Eingriffs durch Widerstand im Sinne eines „natürlichen Willens“ (➤ Kap. 32.2.3) ab, so ist eine Sterilisation nicht möglich. In Anbetracht der genannten Voraussetzungen und unter Berücksichtigung der Möglichkeiten der medikamentösen Kontrazeption handelt es sich bei Gutachten im Rahmen des § 1905 BGB um seltene Fragestellungen an den psychiatrischen Sachverständigen. Neben dem psychiatrischen ist stets auch ein gynäkologisches Gutachten erforderlich. Werden solche Beurteilungen erbeten, so handelt es sich meist um die Beurteilung volljähriger Frauen mit deutlicher Intelligenzminderung.
32.2.5. Genehmigung im Rahmen von Unterbringungsverfahren Die Regelungen zur Unterbringung von Betreuten finden sich in § 1906 Abs. 1 S. 1 BGB (➤ Kap. 31.6.3). § 1906 Abs. 1 S. 1 BGB Eine Unterbringung des Betreuten durch den Betreuer, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, ist nur zulässig, solange sie zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, weil 1. aufgrund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung des Betreuten die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt, oder 2. eine Untersuchung des Gesundheitszustandes, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff notwendig ist, die ohne die Unterbringung des Betreuten nicht durchgeführt werden können, und der Betreute aufgrund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der Unterbringung nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann.
Eine Unterbringung ist nur mit Genehmigung des Betreuungsgerichts zulässig. Das Betreuungsgericht genehmigt die Unterbringung, d. h. es ordnet die Unterbringung nicht selbst an, sondern genehmigt die vom Betreuer beabsichtigte Unterbringung. Ohne Genehmigung ist die Unterbringung nur zulässig, wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist; in solchen Fällen ist die Genehmigung unverzüglich nachzuholen. Die Entscheidung über die Unterbringung kann nur nach Einholung eines Sachverständigengutachtens erfolgen. Eine Unterbringung gem. § 1906 Abs. 1 S. 1 BGB ist ausschließlich zum Wohl des Betreuten möglich, und zwar in Fällen einer Selbstgefährdung bzw. zur Durchführung medizinischer Maßnahmen, die nur im stationären Rahmen möglich sind. Die Unterbringung ist nicht möglich zum Schutz Dritter oder zum Schutz öffentlichen Interesses. Ist durch den Zustand des Betreuten eine „Fremdgefährdung“ gegeben, so kommt auch beim Vorliegen einer Betreuung nur die öffentlich-rechtliche Unterbringung im Rahmen der Unterbringungsgesetze der Bundesländer in Betracht. Unterbringungs- oder unterbringungsähnliche Maßnahmen (s. u.) sind nur ohne oder gegen den Willen des Betreuten genehmigungspflichtig. Ist der Betroffene mit der Unterbringung oder den unterbringungsähnlichen Maßnahmen einverstanden und einwilligungsfähig, so genügt seine Zustimmung. Eine betreuungsgerichtliche Genehmigung ist in diesen Fällen nicht erforderlich. Damit ein Betreuer berechtigt ist, über eine Unterbringung zu entscheiden, muss er für den Aufgabenkreis Aufenthaltsbestimmung, Personensorge oder Unterbringung zuständig sein; der Aufgabenkreis Gesundheitsfürsorge allein genügt nicht. Das psychiatrische Gutachten im Rahmen der Anordnung bzw. Genehmigung einer Unterbringung gem. § 1906 Abs. 1 S. 1 BGB setzt die persönliche Untersuchung und Befragung des Betroffenen durch den Sachverständigen voraus. Im Gutachten müssen das konkrete, aktuelle Beschwerdebild des Patienten, die Krankheitsvorgeschichte und ein detaillierter Befund mit psychiatrischer Diagnose enthalten
sein. Unbedingt erforderlich sind die hieraus folgende Zuordnung zu den Rechtsbegriffen des § 1906 BGB sowie eine Einschätzung der krankheitsbedingten erheblichen Gefährdung für den Betroffenen bzw. die Begründung für die Notwendigkeit der geplanten medizinischen Maßnahmen, wobei diese benannt werden müssen. Ferner sind eine Empfehlung über Art und Umfang von therapeutischen Maßnahmen, eine Aussage über die Prognose und eine Stellungnahme dazu erforderlich, ob dem Betroffenen durch die Bekanntmachung der Entscheidung des Gerichts erhebliche Nachteile für seine Gesundheit entstehen könnten. Entsprechend dem Gesetzestext ist die Unterbringung bei unmittelbarer Suizidgefahr oder der Gefahr eines erheblichen gesundheitlichen Schadens möglich. Diese Situation ergibt sich in der Praxis bei Patienten mit organischen psychischen Störungen oder Störungen durch psychotrope Substanzen, bei Patienten mit einer Schizophrenie, seltener bei Patienten mit affektiven Störungen oder Essstörungen. Ziel muss auch hier immer sein, dass die rechtlichen Maßnahmen in einen allgemeinen Behandlungsplan eingebettet bleiben. Dabei kann es u. U. hilfreich sein, auf die Regelung des § 70k FGG zurückzugreifen. Hiernach kann das Betreuungsgericht die Vollziehung einer Unterbringung aussetzen, wobei die Aussetzung mit Auflagen verbunden werden kann. Eine solche angeordnete, aber nicht vollzogene Unterbringung kann möglicherweise die schwankende Behandlungsmotivation eines Patienten stabilisieren. Die Regelungen des § 1906 BGB gelten auch für unterbringungsähnliche Maßnahmen gem. § 1906 Abs. 4 BGB. § 1906 Abs. 4 BGB Die Absätze 1 bis 3 gelten entsprechend, wenn dem Betreuten, der sich in einer Anstalt, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung aufhält, ohne untergebracht zu sein, durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente oder auf andere Weise über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig die Freiheit entzogen werden soll.
Konkrete Maßnahmen können sein: Bettgitter, Festbinden im Bett oder auf einem Stuhl, vom Betroffenen nicht zu öffnende Schließmechanismen oder beruhigende und dämpfende Medikamente. Unterbringungsähnliche Maßnahmen bedürfen nur dann der betreuungsgerichtlichen Genehmigung, wenn sie über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig angewendet werden. Dies schließt die Genehmigungspflicht für sämtliche akuten Situationen aus. Ebenfalls fehlt die Voraussetzung einer Genehmigungspflicht in den Fällen, in denen Patienten so schwer krank sind, dass sie sich z. B. gar nicht selbstständig bewegen können. Da in diesem Fall den Betroffenen die Freiheit gar nicht entzogen wird, handelt es sich auch nicht um eine unterbringungsähnliche Maßnahme. Ist eine betreuungsgerichtliche Genehmigung erforderlich, so genügt zur Begründung ein ärztliches Zeugnis; ein ausführliches Gutachten ist nicht erforderlich. Damit entfällt die Festlegung auf einen Arzt einer bestimmten Fachrichtung. Die entscheidungserheblichen Gesichtspunkte müssen allerdings auch im ärztlichen Zeugnis dargelegt werden, damit der Betreuungsrichter zu einer Nachprüfung in der Lage ist. Der kurze Satz auf einem Rezeptblatt „Herr X. ist verwirrt und muss gefesselt werden“ gestattet eine solche Nachprüfung nicht (Zimmermann 1991). Im ärztlichen Zeugnis muss der konkrete Umstand der Selbstgefährdung hervorgehoben und begründet werden. Hiervon muss sich der Arzt durch eigene Untersuchung überzeugt haben. In der täglichen Praxis wird es sich i. d. R. um den betreuenden Arzt eines Altenheims handeln, wobei die sorgfältige Indikationsstellung gemeinsam von Ärzten und Pflegepersonal vorgenommen wird (List et al. 2007). Unterbringungsähnliche Maßnahmen werden überwiegend bei Patienten mit demenziellen Syndromen in Betracht kommen. Die Auswirkungen der jüngsten Rechtsprechung des BGH zu Richtervorbehalt und 1:1-Betreuung bei Fixierungen (2BvR 309 / 15, 2 BvR 502 / 16) auf unterbringungsähnliche Maßnahmen und Fixierungen bei BGBUnterbringungen bleiben abzuwarten (Goerdeler 2018).
32.2.6. Zwangsbehandlung Eine ausdrückliche gesetzliche Regelung zur Zwangsbehandlung war im Betreuungsrecht lange nicht vorhanden. Der Gesetzgeber hat die Vorschrift § 1906 BGB neu gefasst und in § 1906a BGB eine gesetzliche Regelung zur Durchführung von Zwangsbehandlungen geschaffen (➤ Kap. 31.6.4). Demnach sind Zwangsbehandlungen nur noch als Ultima Ratio (Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer 2013) zulässig: • Bei krankheitsbedingter Einsichtsunfähigkeit • Nach vorab gescheitertem Versuch, den Betreuten von der Notwendigkeit der Behandlung zu überzeugen • Während stationärer Behandlung • Bei drohender Gefahr erheblicher gesundheitlicher Schäden • Wenn keine andere Maßnahme anwendbar ist • Wenn der Nutzen den Schaden überwiegt • Wenn eine Genehmigung des Gerichts vorliegt • Wenn ein Verfahrenspfleger bestellt ist (Vollmann 2014) Anstelle eines Betreuers bzw. des Verfahrenspflegers kann auch ein Bevollmächtigter über die Zwangsbehandlung des Betroffenen entscheiden, wenn die Vollmacht vom Betroffenen im Zustand der Geschäftsfähigkeit sowie schriftlich erteilt wurde und ausdrücklich auch zu Maßnahmen nach § 1906a BGB ermächtigt. Für den Fall, dass wirksame vorsorgliche Willensbekundungen getroffen wurden (Patientenverfügung oder Behandlungsvereinbarung), sind die dort festgelegten Entscheidungen verbindlich, soweit sie auf die konkrete Behandlungssituation zutreffen. Sofern keine vorsorglichen Willensbekundungen vorhanden sind bzw. die vorhandenen nicht auf die aktuelle Situation zutreffen, muss auf den mutmaßlichen Willen des Betroffenen abgestellt werden. Da die entsprechenden Regelungen noch nicht lange in der Anwendung erprobt sind, kann über die Vor- und Nachteile noch nicht fundiert geurteilt werden. Die in den letzten Jahren geführte
Diskussion hat sicherlich zu einem verstärkten Problembewusstsein aufseiten der Psychiater (Steinert und Schmid 2014) und auch zu einer Stärkung der Patientenautonomie beigetragen. Klärungsbedürftige Fragen ergeben sich z. B. hinsichtlich der Unterbringung ohne medikamentöse Behandlung bzw. der bei ausbleibender Medikation verlängerten Unterbringungsdauer sowie hinsichtlich der Abwägung akuter Gefährdungsaspekte bei vorgenommener Medikation gegenüber langfristig nachteiligen Konsequenzen einer ausbleibenden Therapie (Vollmann 2014).
32.2.7. Genehmigung einer Wohnungsauflösung Die Kündigung eines Mietverhältnisses oder die Wohnungsauflösung durch den Betreuer bedarf der betreuungsgerichtlichen Genehmigung (§ 1907 BGB, ➤ Kap. 31.6.5). Gutachten im Rahmen dieser Genehmigungen sind für den psychiatrischen Sachverständigen randständig. Dabei sind folgende Punkte zu klären: • Ist es realistisch, dass der Betreute in die Wohnung zurückkehren kann? Hierbei sind der Verlauf der Erkrankung und Therapiemöglichkeiten zu berücksichtigen. • Für die Wirksamkeit von Rehabilitationsmaßnahmen kann von Bedeutung sein, dass der Betreute die Hoffnung behält, nach Beendigung der Rehabilitationsmaßnahme (Krankenhausaufenthalt) in seine Wohnung zurückzukehren. • Sind psychopathologische Folgen durch Kündigung oder Aufhebung eines Mietverhältnisses zu erwarten? Auch in diesen Fällen ist die Frage zu beantworten, ob von einer persönlichen Anhörung des Betroffenen erhebliche Nachteile für dessen Gesundheit zu erwarten sind.
32.3. Begutachtung der Geschäfts-, Prozessund Testierunfähigkeit Begutachtungen mit der Frage nach dem etwaigen Vorliegen von Geschäfts-, Prozess- oder Testierunfähigkeit zählen zu den schwierigsten gutachtlichen Aufgaben. Diese Beurteilung muss nahezu immer retrospektiv und nicht selten – bei der Testierfähigkeit – posthum erfolgen. Dabei sind die genannten Fähigkeiten gesetzlich nicht positiv normiert, sondern der Gesetzgeber unterstellt dem Erwachsenen zunächst grundsätzlich den Besitz der entsprechenden Fähigkeiten, unabhängig von der Frage, ob er von diesen Fähigkeiten im Einzelfall einen zweckentsprechenden Gebrauch macht. Somit sind Geschäfts-, Prozess- und Testierfähigkeit nicht positiv zu beurteilen; zu beurteilen ist vielmehr das Vorliegen von Geschäfts-, Prozess- und Testierunfähigkeit. Die Einschätzung sowohl der Prozess- als auch der Testierunfähigkeit bezieht sich auf dieselben Prinzipien wie die Beurteilung der Geschäftsunfähigkeit, weshalb auch das prinzipielle Vorgehen des psychiatrischen Sachverständigen – von einigen Besonderheiten abgesehen – bei der Beurteilung gleich ist. Daher werden diese Fragen in einem gemeinsamen Kapitel erörtert. Zunächst folgt eine knappe Übersicht über die Prinzipien der Begutachtung, wobei bzgl. der rechtlichen Grundlagen auf ➤ Kap. 31.7, ➤ Kap. 31.8 und ➤ Kap. 31.10 verwiesen wird. Sodann werden die psychischen Störungen gemäß ICD-10 im Einzelnen dargestellt, wobei die jeweiligen Besonderheiten der drei unterschiedlichen Rechtsfragen erörtert werden.
32.3.1. Prinzipien der Begutachtung Zu berücksichtigen ist ein für den psychiatrischen Sachverständigen außerordentlich wichtiges Prinzip:
Merke
Wird Geschäfts-, Prozess- oder Testierunfähigkeit seitens einer Partei behauptet, so muss deren Vorliegen bewiesen werden. Ist der für einen juristischen Beweis erforderliche hohe Grad von Wahrscheinlichkeit nicht zu erreichen, so muss vom Vorliegen von Geschäfts-, Prozess- oder Testierfähigkeit ausgegangen werden, auch wenn aus psychiatrischer Sicht Zweifel bestehen mögen. Dabei ist das für den psychiatrischen Sachverständigen entscheidende Kriterium bei der Beurteilung stets die Ausprägung einer ggf. vorliegenden psychopathologischen Symptomatik zum Zeitpunkt der jeweiligen rechtlichen Handlungen. Dabei geht es nicht etwa um psychodynamische Interpretationen bzgl. der Rechtshandlungen und auch nicht um die Erörterung etwaiger fehlender „Widerstandsfähigkeit“ gegenüber der anderen Partei, es sei denn, eine solche Annahme beruht auf dem Vorliegen einer schwer ausgeprägten, konkret benennbaren psychopathologischen Symptomatik. Ein weiterer Aspekt ist grundsätzlich zu bedenken: Für die Beurteilung genügt es nicht, eine psychopathologische Diagnose zu stellen, sondern es ist immer erforderlich, die konkrete psychopathologische Symptomatik detailliert zu beschreiben und ihre Folgen für die „freie Willensbestimmung“ – zu den gesetzlichen Regelungen bzgl. dieser Begrifflichkeit s. u. – zu benennen. Dementsprechend hat der psychiatrische Sachverständigen darzulegen, welche tatsächlichen Auswirkungen konkrete psychopathologische Symptome auf die kognitiven und affektiven Funktionen und ggf. auf die Persönlichkeit des Betroffenen gehabt haben. Selbstverständlich kann sich der Sachverständige nicht dazu äußern, ob die „freie Willensbestimmung“ im rechtlichen Sinn tatsächlich aufgehoben war, denn diese Einschätzung obliegt ausschließlich juristischer Würdigung. Es geht weder um die philosophische Diskussion des freien Willens noch um mögliche neurobiologische Implikationen, wobei sich diejenigen, welche die Existenz eines freien Willens ablehnen (➤ Kap. 1.3.1), bislang zu
diesen sehr komplizierten zivilrechtlichen Fragen nicht geäußert haben. Begutachtung der Geschäftsunfähigkeit Gemäß § 2 BGB ist jeder gesunde Volljährige über 18 Jahre geschäftsfähig, d. h. in der Lage, Rechtsgeschäfte eigenverantwortlich vorzunehmen. Die Geschäftsfähigkeit wird jedem Volljährigen unter der Annahme zugebilligt, dass er über ein Mindestmaß an Urteilsvermögen und intellektuellen Fähigkeiten verfügt (➤ Kap. 31.7). Prinzipiell ist daher stets vom Vorhandensein der Geschäftsfähigkeit eines Menschen auszugehen. Beurteilungsbedürftig ist also nicht die Geschäftsfähigkeit, sondern stets die von einer Partei behauptete Geschäftsunfähigkeit eines Menschen. Daher regeln die §§ 104 ff. BGB die Ausnahmefälle der Geschäftsunfähigkeit: • Gemäß § 104 Nr. 2 BGB ist geschäftsunfähig, „wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist“. • Ergänzend ist § 105 BGB zu berücksichtigen. § 105 BGB (1) Die Willenserklärung eines Geschäftsunfähigen ist nichtig. (2) Nichtig ist auch eine Willenserklärung, die im Zustande der Bewusstlosigkeit oder vorübergehenden Störung der Geistestätigkeit abgegeben wird. Im Rahmen von § 104 Nr. 2 BGB geht es also um die Beurteilung überdauernder Zustände einer „krankhaften Störung der Geistestätigkeit“. Hiermit gemeint sind alle Fälle, bei denen infolge einer psychischen Erkrankung, einer abnormen seelischen Veranlagung oder einer Schädigung der Gehirnzellen das Urteilsvermögen und die Willensbildung so erheblich gestört sind, dass mit einer normalen Urteilsfindung oder Motivation nicht
gerechnet werden kann. Dabei muss die „krankhafte Störung“ einen solchen Grad erreichen, dass sie den Ausschluss der freien Willensbestimmung zur Folge hat. Das ist dann der Fall, wenn der Erklärende nicht mehr die Fähigkeit besitzt, „die Bedeutung einer abgegebenen Willenserklärung zu erkennen und nach dieser Erkenntnis zu handeln“ oder „wenn der Betroffene nicht mehr in der Lage ist, seine Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen“ (➤ Kap. 31.7.2). Eine graduell abgestufte oder relative Geschäftsunfähigkeit, die sich an der Schwierigkeit einzelner Rechtsgeschäfte orientiert, gibt es nicht (vgl. erneut OLG Saarbrücken vom 14.3.2019 6 UF 130 / 18). Ein Betroffener ist also für einzelne Geschäfte nicht deshalb geschäftsunfähig, weil z. B. seine intellektuellen Fähigkeiten nicht ausreichen, um besondere, mit dem konkreten Rechtsgeschäft verbundene Schwierigkeiten zu bewältigen. Dagegen gibt es den Begriff der partiellen Geschäftsunfähigkeit (➤ Kap. 31.7.2). Hiermit ist gemeint, dass sich die Vorschrift des § 104 Nr. 2 BGB lediglich auf einen bestimmten gegenständlich abgrenzbaren Kreis von Angelegenheiten beschränken kann. In diesen Fällen äußert sich die Störung nur bei bestimmten Vorgängen oder in einem bestimmten Lebensbereich, bezüglich dessen der Betroffene zu normalem Handeln unfähig ist, während er in allen anderen Lebensgebieten normal reagieren kann. Eine partielle Geschäftsunfähigkeit hat die Rechtsprechung z. B. bzgl. der Inanspruchnahme von „Telefonsexdienstleistungen“ für den Fall bejaht, dass der Nutzer von einer „Telefonsexpartnerin“ sexuell und emotional derart abhängig ist, dass er zu einer freien Willensbildung nicht mehr imstande ist und daher jede freie Minute anruft (BGH vom 13.6.2002, Az III ZR 156 / 01). Außerdem wird nun in § 105a BGB auch festgehalten, dass ein volljähriger Geschäftsunfähiger ein Geschäft des täglichen Lebens, das mit geringwertigen Mitteln bewirkt werden kann, wirksam tätigen kann, solange keine erhebliche Gefahr für die Person oder das Vermögen des Geschäftsunfähigen besteht. Bemerkenswerterweise wurde in der von neurobiologischer Seite ausschließlich bei strafrechtlichen Problemen geführten Diskussion
zur Willensfreiheit auf die sich im Zivilrecht durch den expliziten Rückgriff auf die Fähigkeit zur „freien Willensbestimmung“ ergebenden Probleme bislang nicht eingegangen. Ohnehin kann aus dem in diesem Kontext wiederholt erwähnten Libet-Versuch, der letztlich nur nachgewiesen hat, dass eine vorab intendierte Handlung ohne bewusste Willensentscheidung initiiert wird (Kawohl und Habermeyer 2007), nicht auf eine gänzlich fehlende Willensfreiheit geschlossen werden. Außerdem – und das ist für die gutachtliche Arbeit entscheidend – geht es dem Gericht nicht um Aussagen zur Willensfreiheit an sich, sondern um eine Stellungnahme dazu, ob bei einer bestimmten Person zum Zeitpunkt des Abschlusses eines Rechtsgeschäfts eine störungsbedingte Abweichung von einer üblicherweise bzw. beim Durchschnitt der Menschen vorhandenen Fähigkeit vorlag. Selbst wenn der Wille des Menschen nicht frei wäre, gäbe es immer noch Menschen, deren Fähigkeit, Sachverhalte adäquat zu erfassen und sich danach zu entscheiden, im Vergleich zur Durchschnittsnorm deutlich vermindert ist. Konsequenterweise nimmt der Sachverständige daher ausschließlich Stellung dazu, ob aus seiner Sicht die psychopathologischen Voraussetzungen einer „freien Willensbestimmung“ nicht bzw. nicht mehr vorliegen. Aus psychiatrischer Sicht liegen die Voraussetzungen zur Annahme einer „freien Willensbestimmung“ nicht vor, wenn eine psychische Erkrankung oder Störung die Umsetzung persönlicher Wertvorstellungen verhindert, indem sie (Habermeyer und Saß 2002a; Wetterling 2018) • kognitive Voraussetzungen der Intentionsbildung und Prozesse der Intentionsinitiierung und -realisierung beeinträchtigt, • motivationale Voraussetzungen der Willensbildung verändert, indem sie den Zugang zu Wertvorstellungen verstellt bzw. Wertgefüge oder affektive dynamische Grundlagen von Entscheidungsprozessen verformt.
Ergänzend sind die Regelungen des § 105 Abs. 2 BGB zu berücksichtigen, wonach eine Willenserklärung, die im Zustand der Bewusstlosigkeit oder einer vorübergehenden Störung der Geistestätigkeit abgegeben wird, nichtig ist. Bewusstlosigkeit in diesem Kontext meint weder die medizinische noch die alltägliche Bedeutung dieses Begriffs. Gemeint sind vielmehr Zustände, die im Rahmen einer hochgradigen Bewusstseinstrübung auftreten können. Die wichtigsten Fälle, die hier subsumiert werden, sind akute Alkoholisierungen, nach juristischer Meinung aber erst ab einer BAK > 3 ‰ (➤ Kap. 31.7.3). Selbstverständlich ist hier auf die prinzipiellen Überlegungen zur „Promillediagnostik“ hinzuweisen, sodass – ebenso wie bei der strafrechtlichen Begutachtung – die schematische Anwendung einer Promillegrenze aus psychiatrischer Sicht nicht zu begründen ist (➤ Kap. 14.2, ➤ Kap. 14.2.4). Ferner werden den „Zuständen der Bewusstlosigkeit“ sonstige Intoxikationen, delirante Zustände oder epileptische Dämmerzustände zugerechnet. Durch das Kriterium „vorübergehende Störungen der Geistestätigkeit“ wird im Gesetzestext sowohl auf die Merkmale des Dauerzustands als auch des Krankheitszustands im Sinne des § 104 Nr. 2 BGB verzichtet. Entscheidend ist somit in diesen Fällen nicht eine psychiatrische Diagnose, sondern das Ausmaß konkret beschreibbarer psychopathologischer Symptome und ihrer Folgen für die Handlungskompetenz. Beide Aspekte – sowohl die konkrete psychopathologische Symptomatik als auch die psychosozialen Folgen – müssen bewiesen werden. Da es bei der Beurteilung i. d. R. um die nachträgliche Einschätzung eines Rechtsgeschäfts oder einer sonstigen rechtlichen Handlung geht, steht der psychiatrische Sachverständige vor dem methodischen Problem der retrospektiven Beurteilung. Dabei sind zwei Konstellationen zu unterscheiden: • Der Proband kann untersucht werden. Dann ist vom psychischen bzw. psychopathologischen Befund zum Untersuchungszeitpunkt auf den psychischen bzw.
psychopathologischen Zustand zum Zeitpunkt des Rechtsgeschäfts zu extrapolieren. • Es erfolgt eine posthume Beurteilung, wenn der Proband bereits verstorben ist. Stets sind neben den Angaben des Probanden – dies natürlich nur, wenn der Proband untersucht werden kann – sämtliche erreichbaren Zeugenaussagen, ärztlichen Befunde und Krankenhausberichte zu berücksichtigen. Bei der posthumen Beurteilung der Testierunfähigkeit (s. u.) kann sich die Beurteilung ausschließlich auf Zeugenaussagen und die Auswertung von Unterlagen stützen. Begutachtung der Prozessunfähigkeit Prozessfähigkeit bezeichnet die Fähigkeit, einen Prozess selbst oder durch einen selbst bestimmten Vertreter zu führen, d. h. Prozesshandlungen selbst wirksam vorzunehmen oder vornehmen zu lassen. Gemäß § 52 ZPO ist eine Person insoweit prozessfähig, als sie sich durch Verträge verpflichten kann. Mit dieser Formulierung wird deutlich auf die Definition der Geschäftsfähigkeit abgehoben, sodass die Prozessfähigkeit als Sonderfall der Geschäftsfähigkeit angesehen werden kann. Dementsprechend ist eine Person prozessunfähig, bei der die Voraussetzungen der Geschäftsunfähigkeit gem. § 104 Nr. 2 BGB vorliegen. Insoweit kann auf die Begutachtung der Geschäftsunfähigkeit verwiesen werden (s. o., ➤ Kap. 31.7). Ergänzend ist die Kenntnis des § 53 ZPO für den Sachverständigen wichtig: § 53 ZPO Wird in einem Rechtsstreit eine prozessfähige Person durch einen Betreuer oder Pfleger vertreten, so steht sie für den Rechtsstreit einer nicht prozessfähigen Person gleich. Mit dieser Regelung sollen widersprüchliche Prozesshandlungen durch Äußerungen des Betreuten bzw. des Betreuers / Pflegers
vermieden werden. Der Prozessfähigkeit im Zivilrechtsstreit entspricht im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit die Verfahrensfähigkeit. Wie bei der Prozessfähigkeit gelten Volljährige bis zur Feststellung des Gegenteils als verfahrensfähig. In Betreuungssachen ist der Betroffene ohne Rücksicht auf seine Geschäftsfähigkeit stets verfahrensfähig (§§ 9, 275 FamFG). Analog der Ablehnung einer relativen Geschäftsunfähigkeit für besonders schwierige Rechtsgeschäfte gibt es auch keine relative Prozessunfähigkeit für besonders komplizierte Prozesse. Dagegen wird entsprechend der partiellen Geschäftsunfähigkeit eine partielle Prozessunfähigkeit angenommen, wobei sich eine solche ausschließlich auf Prozesse bezieht, die das beim Betroffenen vorliegende Krankheitsbild betreffen. Eine partielle Prozessunfähigkeit hat die Rechtsprechung z. B. in folgenden Fällen bejaht: für die Prozessführung eines ehemaligen GmbHGesellschafters in Angelegenheiten, die seine frühere Gesellschaftertätigkeit betrafen, weil er im Hinblick auf diesen Sachverhaltsbereich realitätswidrige, paranoide Vorstellungen über gegen ihn gerichtete Machenschaften und Manipulationen entwickelt hatte (BayObLG vom 16.5.2003, Az 3 ZBR 62 / 03), und für das Führen von Prozessen für den Fall, dass ein unter Querulantenwahn leidender Mensch eine wahre Flut von Prozessen anstrengt, weil ihm das Prozessieren zum Selbstzweck und abartigen Lebensinhalt geworden ist, sodass er wegen seiner krankhaften Veranlagung nicht mehr in der Lage ist, das zur Förderung eines Prozesses Nützliche und Zweckmäßige vom Unnützen zu unterscheiden (VGH Kassel vom 1.6.1967, Az VUE 13 / 67; vgl. auch BSG B 8 SO 7 / 16 B). Mit der Formulierung im letztgenannten Beispiel wird auf das Phänomen der Querulanz verwiesen. Querulanz ist kein medizinischer, sondern ein juristischer Terminus der Allgemeinen Preußischen Gerichtsordnung von 1795. Querulanz bedeutet die unerschütterliche Überzeugung, Unrecht erlitten zu haben. Dies ist allerdings zunächst ein psychologisches, nicht unbedingt ein psychopathologisches Phänomen. Wie auch sonst, hat der
psychiatrische Sachverständige zu beurteilen, ob das querulatorische Verhalten das Symptom einer psychischen Störung ist. Ist dies der Fall, so richtet sich die Beurteilung nach den Kriterien, die für die psychische Störung oder Erkrankung gelten (➤ Kap. 32.3.2). Dabei ist der Bezugspunkt für den psychiatrischen Sachverständigen ausschließlich die Orientierung am psychopathologischen Referenzsystem. Andere Überlegungen, etwa lästiges oder selbstschädigendes Verhalten außerhalb psychischer Störungen, sind keine Gründe für die Annahme von Prozessunfähigkeit (Nedopil 1985). In solchen Fällen muss der psychiatrische Sachverständige in besonderer Weise darauf achten, dass er nicht instrumentalisiert wird, um einen lästigen, vielleicht unangenehmen Menschen durch die Zuerkennung der Voraussetzungen von Prozessunfähigkeit mundtot zu machen. Mit der Prozessfähigkeit nicht zu verwechseln ist die Verhandlungsfähigkeit. Sie umfasst die Fähigkeit, einer Hauptverhandlung geistig zu folgen und eigene Rechtsinteressen aktiv wahrzunehmen. Im strafprozessualen Sinn bedeutet Verhandlungsfähigkeit nicht nur das Vermögen des Beschuldigten, die Hauptverhandlung physisch und psychisch zu überstehen, sondern sie verlangt zusätzlich die Fähigkeit, die Verteidigung in verständiger und verständlicher Weise zu führen. Die Verhandlungsfähigkeit kann vorübergehend und auf Dauer aufgehoben sein: • Vorübergehende Verhandlungsunfähigkeit kommt in Betracht bei akuten psychotischen Zuständen, akuten Intoxikationen oder Entzugssyndromen. • Chronische Verhandlungsunfähigkeit kann sich bei ausgeprägten demenziellen Syndromen ergeben Eine detaillierte Schilderung der Voraussetzungen und Folgen von Verhandlungsunfähigkeit findet sich in ➤ Kap. 25.3. Begutachtung der Testierunfähigkeit
Die Testierfähigkeit ist als spezielle Ausprägung der Geschäftsfähigkeit (Sticherling 2020) auf dem Gebiet des Erbrechts geregelt. Testierunfähigkeit ist somit ein Sonderfall der Geschäftsunfähigkeit und in § 2229 Abs. 4 BGB gesondert normiert: § 2229 Abs. 4 BGB Wer wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit, wegen Geistesschwäche oder wegen Bewusstseinsstörungen nicht in der Lage ist, die Bedeutung einer von ihm abgegebenen Willenserklärung einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln, kann ein Testament nicht errichten. Damit fasst diese gesetzliche Regelung die allgemeinen Grundsätze der §§ 104 Nr. 2, 105 Abs. 1 und 2 BGB zusammen. Testierfähigkeit ist die Fähigkeit, ein Testament zu errichten, abzuändern oder aufzuheben. Zur Testierfähigkeit reicht eine nur allgemeine Vorstellung von der Tatsache der Errichtung des Testaments und vom Inhalt nicht aus. Der Erblasser muss eine konkrete Vorstellung seines letzten Willens haben und in der Lage sein, sich über die Tragweite seiner Anordnung und ihre Auswirkungen auf die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Betroffenen ein klares Urteil zu bilden. Im Bereich der Testierfähigkeit gibt es weder eine relative, nach Schwierigkeit des Testaments abgestufte, noch eine partielle Testierunfähigkeit. Allerdings gibt es auch Stimmen, die nicht nur die Fähigkeiten des Erblassers, sondern auch den Umfang und die Komplexität der letztwilligen Verfügung einbeziehen möchten (Sticherling 2020). Dennoch ist bei der Begutachtung davon auszugehen, dass die Fähigkeit zur Testamentserrichtung entweder gegeben ist oder fehlen soll (➤ Kap. 31.10.2; von Staudinger und Baumann 2003). Die Anordnung einer Betreuung hat keinen Einfluss auf die Testierfähigkeit, d. h., auch ein Betreuter kann ein Testament errichten, sofern nicht die Voraussetzungen des § 2229 Abs. 4 BGB vorliegen (Sticherling 2020).
Analog der Begutachtung von Geschäfts- und Prozessunfähigkeit muss die Testierunfähigkeit bewiesen werden. Die Aufgabe des psychiatrischen Sachverständigen ist dabei festzustellen, ob aufgrund psychischer Störungen und Erkrankungen die Voraussetzungen dafür vorlagen, dass beim Erblasser Testierunfähigkeit anzunehmen ist, wobei hier der Zeitpunkt der Testamentserrichtung entscheidend ist. Diese Regelung kann bei Krankheitsverläufen mit wechselnder Symptomatik außerordentlich wichtig werden. Ist der juristisch sichere Beweis für Testierunfähigkeit nicht möglich, so bleibt das angefochtene Testament bestehen, auch wenn erhebliche Zweifel vorhanden sind (➤ Kap. 31.9.3). Dabei ist die letztliche Entscheidung über das Vorliegen von Testierfähigkeit oder -unfähigkeit eine Rechtsfrage, die der Sachverständige keineswegs entscheiden kann. Die in § 2229 Abs. 4 BGB genannten Begriffe sind juristische Formulierungen und keine psychiatrischen Diagnosen. Zur Gruppe der krankhaften Störungen der Geistestätigkeit zählen die organischen psychischen Störungen, die schizophrenen und die affektiven Psychosen. Unter dem Begriff Geistesschwäche werden die Intelligenzminderungen subsumiert. Zu den Bewusstseinsstörungen zählen vorübergehende psychische Störungen, z. B. bei Intoxikationen durch psychotrope Substanzen. Für die Beurteilung genügt es nicht, lediglich eine Diagnose zu stellen, sondern entscheidend sind Ausmaß und Intensität der konkreten psychopathologischen Symptomatik.
Merke Entsprechend dem Wortlaut des § 2229 Abs. 4 BGB führen die dort genannten Störungen nicht grundsätzlich zur Testierunfähigkeit, sondern nur dann, wenn der Erblasser „nicht in der Lage ist, die Bedeutung einer von ihm abgegebenen Willenserklärung einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln“, womit die Beurteilung der gegebenen oder eingeschränkten „freien Willensbestimmung“
entscheidendes Gewicht erhält. Diese Beurteilung ist nur aus dem Gesamtverhalten und dem Gesamtbild der Persönlichkeit zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung abzuleiten (von Staudinger und Baumann 2003). Die Begutachtung der Testierunfähigkeit gilt als eine der schwierigsten forensisch-psychiatrischen Aufgaben; sie ist durch eine Reihe von Besonderheiten gekennzeichnet (Foerster 1993; Cording 2018; Cording und Nedopil 2017). Nur in Ausnahmefällen wird es darum gehen, die Frage der Testierfähigkeit bei einem lebenden Probanden zu beurteilen, sodass i. d. R. keine persönliche Untersuchung des Testators möglich ist (Cording 2009). Diese Tatsache zwingt den psychiatrischen Sachverständigen dazu, ein Gutachten zu erstatten, obwohl er den Probanden persönlich nicht untersucht hat, d. h., er muss notgedrungen von einer prinzipiellen Grundregel der forensisch-psychiatrischen Tätigkeit abweichen. Eine erhebliche Schwierigkeit liegt in nicht selten gegensätzlichen, ggf. von unterschiedlichen Interessen geleiteten Zeugenaussagen. Krankenblätter und Arztunterlagen sind meist wenig ergiebig, sofern es sich nicht um die Unterlagen psychiatrischer Fachkliniken handelt. In Anbetracht der hohen Beweisanforderungen ist es für das konkrete Vorgehen erforderlich, dass sich der Sachverständige mit allen erreichbaren Mitteln ein möglichst sicheres Bild und Urteil über beim Testator vorliegende Erkrankungen sowie den Krankheitsverlauf und -zustand zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung macht. Hierzu sind meist umfangreiche Recherchen erforderlich. In diesem Zusammenhang hat es sich sehr bewährt, im Rahmen einer mündlichen Beweisaufnahme durch das Notariat oder die Zivilkammer Zeugen im Beisein des psychiatrischen Sachverständigen zu vernehmen. Hierdurch hat der Sachverständige die Möglichkeit, direkt an die Zeugen fachliche Fragen zu stellen und dadurch so weit wie möglich zu klären, welche konkreten psychopathologischen Auffälligkeiten vorgelegen
haben. Auch hier nimmt die forensisch-psychiatrische Beurteilung der Testierfähigkeit insofern eine Sonderstellung ein, als die Beweiswürdigung entgegen allen sonstigen prozessualen Gegebenheiten nicht ausschließlich dem Gericht vorbehalten bleiben kann. Gelegentlich ist es erforderlich, dass der psychiatrische Sachverständige auch den inhaltlichen Gehalt von Zeugenaussagen bewertet und deren Relevanz für die Fragestellung beurteilt. Dabei hat der Sachverständige zwar nicht über die Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen zu befinden, dennoch muss er ggf. das Nachlassgericht darauf aufmerksam machen, wenn aus psychiatrischer Sicht eine Zeugenaussage bemerkenswert oder sogar fragwürdig ist. Besonderes Gewicht ist dabei den Zeugenaussagen von Personen beizumessen, die am Rechtsstreit nicht unmittelbar beteiligt sind. Bei Zeugenaussagen ist auch immer zu berücksichtigen, ob diese auf kurzfristigen, möglicherweise zufälligen Kontakten zum Erblasser oder auf längerer persönlicher Bekanntschaft mit regelmäßigem Kontakt beruhen. Es sollte auch stets geklärt werden, wie die Testamentserrichtung konkret zustande gekommen ist, d. h., im Fall eines notariell beurkundeten Testaments sollte der Notar gebeten werden, den konkreten Ablauf der Testamentserrichtung (Vorgespräch, Beratung, Anwesenheit dritter Personen) detailliert zu schildern. Eine solche Schilderung entfällt natürlich bei allen Testamenten, die nicht notariell beurkundet wurden. Entscheidendes Kriterium für den psychiatrischen Sachverständigen ist dabei die gegebene oder nicht gegebene Kritikund Urteilsfähigkeit des Probanden, wobei hierbei die grundsätzliche Fähigkeit zu beurteilen ist, keineswegs die konkrete Entscheidung und deren gegebene oder fehlende Sinnhaftigkeit. Auch im Rahmen eines Testaments darf eine – von außen möglicherweise so gesehene – „unvernünftige“ Entscheidung getroffen werden. In Anbetracht der hohen Beweisanforderungen kann es vorkommen, dass der juristischerseits geforderte Beweis der Voraussetzungen für die Annahme von Testierunfähigkeit trotz erheblicher psychiatrischer Zweifel nicht mit der gebotenen
Sicherheit geführt werden kann, sodass ein strittiges Testament dann in Kraft bleibt. Dabei liegt die Beweislast immer bei derjenigen Partei, welche die Testierunfähigkeit behauptet. Bei der Anforderung von ärztlichen Unterlagen über verstorbene Probanden durch den Sachverständigen, sei es bei niedergelassenen Ärzten oder bei Krankenhäusern, wird der Sachverständige nahezu regelhaft mit dem Hinweis konfrontiert, dass die ärztliche Verschwiegenheitspflicht auch über den Tod des Patienten hinaus gelte. Diesbezüglich hat sich jedoch die Auffassung durchgesetzt, dass die Offenbarung der zur Klärung der Testier(un)fähigkeit relevanten Informationen durch früher behandelnde Ärzte dem mutmaßlichen Willen des Erblassers entspricht und insofern keinen Bruch der Verschwiegenheitspflicht darstellt (Bartsch 2001; von Staudinger und Baumann 2003). Entscheidet sich der früher behandelnde Arzt aufgrund persönlicher Abwägungen jedoch, die erbetenen Unterlagen nicht zur Verfügung zu stellen, so sollte er begründen, weshalb er sich weiterhin an die Schweigepflicht gebunden fühlt (Bartsch 2001). Beim seltenen Sonderfall der Begutachtung zur Testierfähigkeit bei einem lebenden Probanden muss der Sachverständige ebenfalls eine gründliche und detaillierte Untersuchung unter Berücksichtigung aller Unterlagen durchführen. Die Untersuchung muss genau dokumentiert sein und hat nur Aussagekraft, wenn sie zeitnah zur tatsächlichen Errichtung des Testaments durchgeführt wird. Bei notariellen Testamenten ist es prinzipiell und grundsätzlich nicht möglich, dass der Notar selbst „psychopathologische Kurztests“ durchführt (Cording und Foerster 2006), da er das erforderliche Fachwissen für ein solches Vorgehen nicht haben kann. In Zweifelsfällen ist ein forensisch erfahrener Psychiater hinzuzuziehen.
32.3.2. Psychische Störungen Die in §§ 104 Abs. 2, 105 und 2229 Abs. 4 BGB genannten juristischen Begriffe sind keine psychiatrischen Diagnosen, weswegen der psychiatrische Sachverständige die psychopathologische Diagnose
stets einem dieser Begriffe zuordnen muss. Prinzipiell kommen sämtliche psychischen Störungen in Betracht, wobei die psychopathologische Diagnose eine notwendige, aber noch nicht die hinreichende Bedingung für die Annahme von Geschäfts-, Prozessoder Testierunfähigkeit ist, sondern entscheidend ist die konkrete psychopathologische Symptomatik, aufgrund derer ggf. die Voraussetzungen für einen „Ausschluss der freien Willensbestimmung“ zu benennen sind. Nachfolgend werden die psychischen Störungen entsprechend der ICD-10-Klassifikation dargestellt, wobei jeweils auf die Begutachtung von Geschäfts-, Prozess- und Testierunfähigkeit eingegangen wird. Dabei kann sich für alle Störungen das methodische Problem einer ausschließlich posthumen Beurteilung ergeben, die dann ausschließlich auf Zeugenaussagen und vorhandene Unterlagen gestützt werden muss (Cording 2009). Ist eine persönliche Untersuchung des Probanden möglich, so liegt zwar der psychopathologische Befund zum Untersuchungszeitpunkt vor, gleichwohl ist hiervon nicht immer eine bessere Aussagemöglichkeit zu erwarten, vor allem dann nicht, wenn das strittige Rechtsgeschäft längere Zeit zurückliegt bzw. wenn über den konkreten Zustand des Handelnden zum Zeitpunkt des Rechtsgeschäfts keinerlei Informationen vorliegen. Organische psychische Störungen Fragestellungen zur Geschäfts- oder Testierunfähigkeit bei Patienten mit organischen psychischen Störungen beschäftigen den psychiatrischen Sachverständigen häufig, während die Begutachtung der Prozessunfähigkeit eher selten ist. Innerhalb der Gruppe der Patienten mit organischen psychischen Störungen machen wiederum die Patienten mit demenziellen Syndromen unterschiedlichster Ätiologie die größte Gruppe bei den Begutachtungen aus. Beurteilungen zur Testier(un)fähigkeit erfolgen nahezu ausschließlich posthum, während die Beurteilung der Geschäftsfähigkeit teilweise auch aufgrund einer persönlichen
Untersuchung unter Berücksichtigung der vorhandenen Unterlagen möglich ist. Liegt ein demenzielles Syndrom vor, ist zu klären, ob möglicherweise weitere organische psychische Störungen vorliegen, wobei besonderes Augenmerk auf das Vorliegen einer organischen Persönlichkeitsstörung zu richten ist (➤ Kap. 10). Basis ist stets die klinische, psychopathologische Diagnose, wobei die Ätiologie eines demenziellen Syndroms für die Beurteilung i. Allg. unerheblich ist. Allerdings genügt die Diagnose eines demenziellen Syndroms allein nicht; vielmehr müssen die psychopathologischen Symptome quantifiziert werden. Dabei bietet es sich an, gemäß ICD-10 zwischen leichtem, mittelschwerem und schwerem demenziellem Syndrom zu unterscheiden. Diese Quantifizierung gemäß ICD-10 (Dilling et al. 2016) ist in ➤ Box 32.1 wiedergegeben.
Box 32.1 Schweregrade eines demenziellen Syndroms gemäß ICD-10 Abnahme des Gedächtnisses • Leichte Beeinträchtigung: ein Grad des Gedächtnisverlusts, der die täglichen Aktivitäten zwar beeinträchtigt, aber nicht so schwerwiegend ist, dass ein unabhängiges Leben unmöglich wird. In der Hauptsache ist das Lernen neuen Materials betroffen. Zum Beispiel haben die Betroffenen Schwierigkeiten bei der Aufnahme, dem Speichern und Wiedergeben von alltäglichen Dingen, z. B. wo etwas hingelegt wurde, sozialen Verabredungen oder kürzlich von Familienmitgliedern mitgeteilten Informationen. Die leichte Beeinträchtigung gilt als „Schwellenwert“ für die Diagnose „Demenz“. • Mittelgradige Beeinträchtigung: ein Ausmaß an Gedächtnisstörungen, das eine ernste Behinderung für ein unabhängiges Leben dargestellt. Nur gut gelerntes oder sehr vertrautes Material wird behalten. Neue Informationen
werden nur gelegentlich und sehr kurz behalten. Die Betroffenen sind nicht in der Lage, sich an grundlegende Informationen darüber, wo sie leben oder was sie vor Kurzem getan haben, oder an Namen vertrauter Personen zu erinnern. • Schwere Beeinträchtigung: schwerer Gedächtnisverlust mit vollständiger Unfähigkeit, neue Informationen zu behalten. Nur Fragmente von früher Gelerntem bleiben übrig. Die Betroffenen erkennen nicht einmal mehr enge Verwandte. Abnahme anderer kognitiver Fähigkeiten • Leichte Beeinträchtigung: Die Abnahme kognitiver Fähigkeiten, z. B. eine Verminderung der Urteilsfähigkeit und des Denkvermögens wie z. B. der Fähigkeit, zu planen und zu organisieren, und der Informationsverarbeitung beeinträchtigt die Leistungsfähigkeit im täglichen Leben, macht die Betroffenen aber nicht von anderen abhängig. Komplizierte tägliche Aufgaben oder Freizeitbeschäftigungen können nicht ausgeführt werden. Die leichte Beeinträchtigung gilt als „Schwellenwert“ für die Diagnose „Demenz“. • Mittelgradige Beeinträchtigung: Die Abnahme der kognitiven Fähigkeiten führt dazu, dass die Betroffenen nicht ohne Hilfe eines anderen im täglichen Leben (z. B. mit dem Einkaufen sowie im Umgang mit Geld) zurechtkommen. Zu Hause werden nur einfache Tätigkeiten beibehalten. Tätigkeiten werden zunehmend eingeschränkt und kaum durchgehalten. • Schwere Beeinträchtigung: Der kognitive Abbau ist durch das Fehlen oder das so gut wie vollständige Fehlen nachvollziehbarer Gedankengänge charakterisiert.
Entsprechend ICD-10 soll der Gesamtschweregrad der Demenz am besten durch das Ausmaß der Gedächtnis- oder der anderen
kognitiven Leistungseinbußen bestimmt werden, je nachdem, welche Beeinträchtigung schwerwiegender ist. Beim Vorliegen eines leichten demenziellen Syndroms sind die Voraussetzungen für die Annahme von Geschäfts- oder Testierunfähigkeit nicht gegeben, es sei denn, es liegen zusätzliche psychopathologische Auffälligkeiten vor, etwa eine Störung der Affektkontrolle und des Antriebs (Habermeyer und Saß 2002b), oder es besteht z. B. eine paranoide Symptomatik. Die Voraussetzungen für Geschäfts- bzw. Testierunfähigkeit sind sowohl bei einem mittelschweren als auch bei einem schweren demenziellen Syndrom aus folgenden Gründen gegeben (Wetterling et al. 1995a): • Die Beeinträchtigung der intellektuellen Fähigkeiten bzw. der Grad des Gedächtnisverlusts ist derart, dass davon auszugehen ist, dass der Betroffene nicht mehr zu einer Willensbildung in der Lage ist. • Aufgrund der intellektuellen Beeinträchtigungen ist der Betroffene nur noch eingeschränkt bzw. gar nicht mehr in der Lage, die Tragweite einer letztwilligen Verfügung zu erfassen und deren Auswirkungen auf die Betroffenen zu berücksichtigen. • Der Betreffende ist auf fremde Hilfe angewiesen und ist somit in seinem Urteil nicht mehr frei von Einflüssen interessierter Dritter. Der Nachweis von schweren psychopathologischen Dauerveränderungen ist zu führen, wenn folgende psychopathologischen Symptome beweisbar sind (Foerster 1993): • Schwere Orientierungsstörungen im Hinblick auf grundlegende persönliche Daten und die Lebenssituation • Personenverkennungen • Schwere überdauernde kognitive Störungen bzgl. des Altgedächtnisses und der Merkfähigkeit
• Erhebliche Beeinträchtigungen bei lebenspraktischen Aufgaben Falls möglich, kann es hilfreich sein zu beurteilen, ob folgende konkrete Fähigkeiten beim Probanden noch vorlagen (Wetterling et al. 1995a, b, 1996, 2016): • Selbstständig den Haushalt führen • Sich einige Sachen merken (z. B. selbstständig einkaufen können) • Sich einen Namen oder eine Telefonnummer über 5 min merken • Den Weg (z. B. zur Toilette) in der Wohnung oder im Heim finden • Die soziale Umgebung und nahestehende Personen richtig erkennen • Richtiger Umgang mit einfachen alltäglichen Geräten wie Uhr und Kugelschreiber • Bestimmte Worte finden • Unterschiede bestimmter Begriffe erklären • Größenordnung des Erbes korrekt angeben oder korrekte Stellungnahme zum vorgesehenen Rechtsgeschäft • Sich selbst anziehen, selbstständig essen, bewusste Kontrolle über die Blasen- und Darmfunktion Entscheidendes Kriterium ist die erhaltene oder nicht erhaltene Kritik- und Urteilsfähigkeit. Diese ist abzuleiten aus dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines normalen Realitätsbezugs, der Fähigkeit, Alternativen erkennen und kritisch abwägen zu können, und der Fähigkeit, die entscheidungserheblichen Gesichtspunkte erkennen, gewichten und in Beziehung setzen zu können, wobei dies auch in Bezug auf die eigene Lebenserfahrung im Sinne einer biografischen Sinnkontinuität gilt (Cording 2018). Kann der Proband untersucht werden, so ist nicht entscheidend, ob er möglicherweise versichert, dass er mit dem strittigen
Rechtsgeschäft einverstanden ist bzw. war, sondern es ist vor dem Hintergrund ggf. bestehender Gedächtnisbeeinträchtigungen und der Beeinträchtigungen sonstiger kognitiver Fähigkeiten detailliert zu klären, inwieweit das Rechtsgeschäft tatsächlich verstanden wird bzw. wurde und auch dem eigenen Willen des Betroffenen entspricht bzw. entsprach. Der Inhalt eines Testaments ist ausschließlich dann zu berücksichtigen, wenn er eindeutig psychopathologisch (z. B. wahnhaft) determiniert ist (Foerster 1993; Cording und Nedopil 2014). Nur in diesem Fall ist dann die Motivation zu beurteilen, da es sich um eine krankhafte Motivation handelt, weil dann ein klares, von pathologischen Ideen ungestörtes Urteil nicht mehr möglich ist (BayObLG vom 17.8.2004, FamRZ 2005, 658). Im Übrigen geht es nie darum, den Inhalt der letztwilligen Verfügung auf seine „Angemessenheit“ zu beurteilen (Zimmermann 2000). Ist das Testament handschriftlich abgefasst, so lassen sich aus dem Text und der Handschrift nur unzureichende Rückschlüsse auf den Geisteszustand des Verfassers ziehen. Hinweise können z. B. sein: • Der Text ist logisch nicht nachvollziehbar. • Es finden sich grobe Fehler in Wortwahl und Grammatik. • Es finden sich Wortauslassungen oder Wortwiederholungen, Buchstabenauslassungen oder -wiederholungen. • Die Schrift ist unleserlich. Bei der Beurteilung der Schrift ist jedoch Vorsicht geboten, denn das Vorliegen eines Parkinson-Syndroms mit einer verzitterten, kleinen und schlecht leserlichen Handschrift kann u. U. Anlass für eine Fehlbeurteilung sein (Foerster 1993). Allein aufgrund der Handschrift kann jedoch keine Beurteilung erfolgen. Das Problem des „luziden Intervalls“: Wird ein Rechtsgeschäft in einem lichten Augenblick („luzides Intervall“) abgeschlossen, so ist dieses Rechtsgeschäft gültig. Speziell bei der Beurteilung der Testierfähigkeit wird immer wieder geltend gemacht, dass sich der Erblasser bei der Abfassung eines Testaments kurzfristig in einem Zustand befunden habe, indem er urteils- und kritikfähig gewesen
sei. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich die Bedeutung des Begriff „luzides Intervall“ gewandelt hat: Während er sich ursprünglich auf die meist Monate bis Jahre dauernden symptomfreien Intervalle bei phasenhaft verlaufenden Psychosen bezog, wird er nun für kurz dauernde Zustandsbesserungen während eines an sich chronischen Krankheitsprozesses verwendet. Dabei werden die beiden Arten von „luziden Intervallen“ in der juristischen Literatur nicht immer klar unterschieden, was zu Missverständnissen führen kann (Cording und Nedopil 2016). Unter psychopathologischen Aspekten ergeben sich folgende prinzipielle Möglichkeiten (Cording 2004): • Bei kurz dauernden (Stunden oder Tage) oder fluktuierenden Störungen wie Verwirrtheitszuständen, Deliren oder Intoxikationen können die Voraussetzungen für das Vorliegen von Testierunfähigkeit gegeben sein, wenn das Testament nachweisbar in der Zeit des Vorliegens der akuten psychopathologischen Symptomatik abgefasst wurde. • Liegen länger – Wochen oder Monate – anhaltende, aber prinzipiell reversible Störungen vor wie etwa bei phasenhaft verlaufenden endogenen Psychosen, so gilt die gleiche Überlegung: Die Voraussetzungen für das Vorliegen von Testierunfähigkeit bestehen nur dann, wenn das Testament während einer akuten Krankheitsphase abgefasst wurde. • Bei demenziellen Syndromen richtet sich die Beurteilung nach den vorhandenen Dauerveränderungen. Liegt ein mittelschwer bis schwer ausgeprägtes demenzielles Syndrom nachweislich vor, so sind kurzfristige „luzide Intervalle“ mit Wiedererlangen der Kritik- und Urteilsfähigkeit nicht in Betracht zu ziehen. Werden sie dennoch behauptet, so müsste der positive Nachweis hierfür erbracht werden, nachdem zuvor das Vorliegen der Voraussetzungen für Testierunfähigkeit belegt wurde. Der Begriff des luziden Intervalls ist in der psychiatrischen Literatur von jeher umstritten (Cording und Nedopil 2016;
Rasch 1992; Rasch und Bayerl 1985), wobei das Problem bei gefäßbedingten organischen psychischen Störungen aufgeworfen werden kann (Foerster 1993; Wetterling et al. 1996). Aufgrund der klinischen Erfahrung sollte der Begriff des „luziden Intervalls“ jedoch gänzlich aufgegeben werden. Liegen psychopathologische Dauerveränderungen bei einer vaskulär bedingten organischen psychischen Störung (z. B. Multiinfarkt- oder subkortikale vaskuläre Demenz) vor, so ist es keineswegs möglich, eine einmalige, scheinbar sinnvolle Äußerung des Erblassers als Zeichen eines „luziden Intervalls“ zu bewerten, wenn der Erblasser ansonsten hinsichtlich seiner Urteilsfähigkeit und seines Verhaltens massiv gestört ist (Barolin und Scheffknecht 1987; Cording 2004). Selbstverständlich gibt es fluktuierende Verläufe bei vaskulär bedingten organischen psychischen Störungen mit einer völligen Remission der psychopathologischen Symptomatik. Beispiele für solche Situationen sind (Cording 2004; Wetterling 2016): • Exsikkotische Zustände, wenn die Patienten zu wenig trinken • Blutzuckerdysregulationen • Herzrhythmusstörungen • Unregelmäßige Einnahme von Medikamenten mit psychooder kardiotroper Wirkung mit der Möglichkeit einer Überoder Unterdosierung Lassen sich psychopathologische Dauerveränderungen nicht nachweisen, so sind auch die Voraussetzungen für Testierunfähigkeit nicht gegeben (Foerster 1993). Schwierigkeiten können sich dann ergeben, wenn der demente Patient nach außen hin noch – scheinbar – erhaltene Fähigkeiten im Sinne einer „guten Fassade“ demonstrieren kann. Entscheidend sind konkrete, detaillierte Beschreibungen dessen, was der Proband noch konnte bzw. nicht mehr konnte, insbesondere bei Situationen außerhalb der üblichen Routine. Beziehen sich die Zeugenaussagen lediglich auf oberflächliche Gespräche, ohne dass detaillierte Fragen nach einer etwaigen psychopathologischen Symptomatik gestellt
wurden, so werden selbst grobe Defizite oft übersehen, sogar von Notaren oder Hausärzten. Widersprüche zwischen Zeugenaussagen können nur scheinbar sein, weil sich diese möglicherweise auf unterschiedliche Zeitpunkte beziehen oder weil unterschiedliche Beurteilungsgrundlagen gegeben sind. Im Gegensatz zu einer gelegentlich von Juristen vertretenen Meinung ist ein bildgebender (CT-, MRT-)Befund weder für das Vorliegen von Testierfähigkeit noch von Testierunfähigkeit beweisend; entscheidendes Kriterium ist immer die psychopathologische Symptomatik. Im Zusammenhang mit der Beurteilung der Testier(un)fähigkeit können an den psychiatrischen Sachverständigen weitere Fragen gestellt werden, nämlich, ob der Erblasser unter dem Einfluss dritter Personen stand, weil eine „Willensschwäche“ vorlag, oder ob eine krankheitsbedingte Fremdbeeinflussbarkeit bestand. Hinweise für das Vorliegen einer „Willensschwäche“ mit der Möglichkeit einer Einflussnahme Dritter können sein (Cording und Nedopil 2016; Wetterling et al. 1996): • Die Urteilsfähigkeit ist aufgrund erheblicher kognitiver Beeinträchtigungen eingeschränkt. • Die Personen, die möglicherweise einen Einfluss ausüben können, stehen dem Erblasser sehr nahe. • Der Erblasser ist von diesen Personen abhängig. • Aufgrund von Zeugenaussagen oder schriftlichen Unterlagen ergeben sich konkrete Hinweise auf tatsächliche Beeinflussbarkeit, insbesondere auf rasch wechselnde, wertende Urteile innerhalb kurzer Zeit. Hinweise auf eine erhöhte Fremdbeeinflussbarkeit ergeben sich, wenn z. B. eine erhöhte emotionale Ansprechbarkeit bei eingeschränktem Kontrollvermögen vorliegt. Typisch wären z. B. überschießende Dankbarkeit für unbedeutende Gefälligkeiten, ausgeprägte Vertrauensseligkeit und die Neigung, sehr rasch pseudofamiliäre Beziehungskonstellationen herzustellen und die
konventionelle soziale Distanz, z. B. gegenüber Pflegepersonen oder Fremden, nicht mehr so einzuhalten, wie es der prämorbiden Persönlichkeit entsprochen hätte. Aufgabe des psychiatrischen Sachverständigen ist es, die prinzipielle Fähigkeit des Probanden, zu urteilen und etwaigen Beeinflussungen durch selbstkritische Überlegungen und vernünftiges Abwägen zu begegnen, zu beurteilen und nicht, ob tatsächlich eine Fremdbeeinflussung erfolgt ist (Cording und Nedopil 2016; Peisah et al. 2009). Wie dargelegt, geht es bei der Beurteilung ausschließlich um den konkreten Zustand des Probanden zum Zeitpunkt des Rechtsgeschäfts bzw. der Testamentserrichtung. Häufig liegen für diesen konkreten Zeitpunkt keine brauchbaren Unterlagen vor; es ist auch selten, dass in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit den Rechtsgeschäften eine ärztliche Untersuchung erfolgt. Insofern sind auch die Vorgeschichte und der Verlauf der zugrunde liegenden Erkrankung unter besonderer Berücksichtigung des Nachweises bzw. Ausschlusses zeitstabiler psychopathologischer Symptome zu klären.
Merke Für den Erhalt der Testierfähigkeit sprechen das Fehlen psychopathologischer Dauerveränderungen, Hinweise auf eine erhaltene selbstständige Lebensführung inkl. der Vermögensverwaltung und ein an ungewohnte Situationen angepasstes adäquates Verhalten mit erhaltener Kritik- und Urteilsfähigkeit. Störungen durch psychotrope Substanzen Voraussetzungen für Geschäfts-, Prozess- oder Testierunfähigkeit liegen weder bei schädlichem Gebrauch von psychotropen Substanzen noch bei einer Abhängigkeit vor, es sei denn, es ist zu gravierenden Folgesymptomen (etwa einer organischen Persönlichkeitsstörung) gekommen; in diesen Fällen sind deren
Symptome das entscheidende Kriterium. Das Gleiche gilt für das etwaige Vorliegen einer alkoholischen Psychose (Alkoholhalluzinose, alkoholischer Eifersuchtswahn, ➤ Kap. 14.4). In diesen Fällen sind die konkrete psychopathologische Symptomatik sowie deren Grad und Ausmaß entscheidend. Liegt eine akute Intoxikation mit psychotropen Substanzen vor, können die Voraussetzungen des § 105 BGB Abs. 2 gegeben sein, wonach eine Willenserklärung, die im Zustand der Bewusstlosigkeit oder vorübergehenden Störung der Geistestätigkeit abgegeben wird, nichtig ist. Eine akute Intoxikation mit psychotropen Substanzen ist dem Begriff der „vorübergehenden Störung der Geistestätigkeit“ zuzuordnen. Dies gilt allerdings nur für schwer ausgeprägte Intoxikationen (➤ Kap. 15.3, ➤ Kap. 14). Die gleichen Überlegungen gelten für die Beurteilung der Testierfähigkeit: Wird ein Testament im Zustand einer Intoxikation mit psychotropen Substanzen errichtet, so sind Grad und Ausmaß der konkreten Symptomatik (➤ Kap. 14, ➤ Kap. 15.3) entscheidend. Dabei ist ein so erheblicher Grad zu fordern, dass der Erblasser nicht mehr einsichts- und handlungsfähig war. In einem deliranten Zustand dürften weder Rechtsgeschäfte abgeschlossen noch Testamente errichtet werden, da es sich hier um eine schwere, auch körperlich schwere Erkrankung handelt (➤ Kap. 15.4.1). Schizophrenie und wahnhafte Störungen Schizophrene Psychosen und wahnhafte Störungen können Einfluss auf die Geschäfts-, Prozess- und Testierfähigkeit haben, müssen es aber keineswegs. Entscheidendes Kriterium ist hier – wie stets – nicht allein die Diagnose. Die gelegentlich von juristischer Seite vertretene Meinung, ein Patient mit Schizophrenie sei grundsätzlich geschäftsund testierunfähig, ist prinzipiell nicht richtig. Entscheidendes Kriterium ist die Ausprägung der psychopathologischen Symptome zum Zeitpunkt des Rechtsgeschäfts bzw. der Testamentserrichtung. Bei einem akuten psychotischen Zustand (gekennzeichnet durch formale Denkstörungen, Realitätsverkennung, wahndeterminiertes Verhalten oder halluzinatorisches Erleben) liegen die
Voraussetzungen für die Annahme von Geschäftsunfähigkeit zweifelsfrei vor. Dies gilt auch bei Vorliegen eines handlungsdeterminierenden überdauernden Wahns bei chronifizierten Verläufen. Das Gleiche gilt für die Beurteilung der Prozess- und Testierfähigkeit. Testierunfähigkeit kann sich nicht auf einen bestimmten gegenständlich begrenzten Lebensbereich beschränken, sondern bezieht sich immer allgemein auf die Errichtung letztwilliger Verfügungen, nicht auf solche mit einem bestimmten Inhalt oder in einem bestimmten Sachbereich (von Staudinger und Baumann 2003). Beim Vorliegen eines akuten oder chronifizierten Wahns ist die Voraussetzung für Testierunfähigkeit gegeben, wenn sich die Symptomatik auf einen für die Testamentserrichtung wesentlichen Sachverhalt erstreckt, weil z. B. sowohl Personen betroffen sind, die als gesetzliche Erben in Betracht kommen, als auch Personen, die der Erblasser in einem strittigen oder früheren Testament erwähnt hat, sowie auf alle für die Testamentserrichtung relevanten Umstände (Cording und Nedopil 2014). Diese Überlegungen gelten jedoch nicht, wenn die psychopathologische Symptomatik remittiert ist oder wenn es sich um ein gering ausgeprägtes Residuum handelt. Bei einem schwer ausgeprägten Residualzustand können dagegen die Voraussetzungen für die Annahme einer Geschäfts-, Prozessund Testierunfähigkeit gegeben sein. Bei den schizophrenen Psychosen und speziell bei den wahnhaften Störungen kann sich die Frage nach dem Vorliegen der Voraussetzungen partieller Geschäftsunfähigkeit bzw. partieller Prozessunfähigkeit stellen, sofern sich der Wahn auf das strittige Rechtsgeschäft bzw. auf den Prozess bezieht. Hierbei entspricht die Annahme partieller Geschäfts- oder Prozessunfähigkeit der psychiatrischen klinischen Erfahrung: Isolierte Wahnzustände können sich allein auf den Bereich des Wahns beziehen, während die Entscheidungsmöglichkeiten des Betroffenen in anderen Bereichen ungestört sind. Beurteilungsschwierigkeiten in diesem Zusammenhang können die Frage aufwerfen, ob „querulatorisches“ Verhalten einer Prozesspartei im Rahmen einer wahnhaften Entwicklung zu verstehen ist. Querulatorisches Verhalten allein
kann nicht zu dieser Diagnose führen. Ein Wahn kann nur dann angenommen werden, wenn die psychopathologischen Kriterien für einen Wahn vorliegen (subjektive Gewissheit, Unkorrigierbarkeit, Unmöglichkeit des Inhalts). Der Bezugspunkt für den psychiatrischen Sachverständigen kann dabei ausschließlich die Orientierung an der psychopathologischen Symptomatik sein. Liegt eine Wahnsymptomatik vor, so ist darzulegen, dass die Fähigkeit zu vernünftigen Erwägungen und zu rationalem Denken wegen des Wahns verloren gegangen ist (Nedopil 1985). Liegt eine eindeutige Wahnsymptomatik vor, so erübrigt sich die Benutzung der Formulierung „Querulant“, da aufgrund des Wahns z. B. die Realität eines Gerichtsverfahrens nicht mehr adäquat wahrgenommen wird und die eigene rechtliche Einschätzung unkorrigierbar und subjektiv gewiss ist (BGH vom 4.11.1999, Az III ZR 306 / 98). Affektive Störungen Manische Zustände können Einfluss auf geschäftliche Handlungen, Prozessführung und Testamentserrichtungen haben. Entscheidendes Kriterium ist die Ausprägung der psychopathologischen Symptomatik: Ist eine eindeutige Manie psychopathologisch nachweisbar, so sind forensisch-psychiatrische Folgerungen zu ziehen. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es sich bei einer akuten manischen Symptomatik um eine vorübergehende psychopathologische Störung handelt, kann diskutiert werden, ob in diesen Fällen nicht besser die Vorschriften des § 105 Abs. 2 BGB angenommen werden, wonach eine Willenserklärung im manischen Zustand aufgrund einer „vorübergehenden Störung der Geistestätigkeit“ nichtig ist (Habermeyer und Saß 2002b). Für die konkreten Auswirkungen bzgl. der Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts ist es letztlich unerheblich, ob aus psychiatrischer Sicht die Vorschrift des § 104 Abs. 2 BGB oder die des § 105 Abs. 2 BGB angenommen wird. Die gleichen Überlegungen gelten für die Einschätzung der Prozessfähigkeit.
Wird ein Testament im Zustand der Manie errichtet, so liegen die Voraussetzungen für Testierunfähigkeit vor. Ein hypomanischer Zustand kann keine Folgen bzgl. der Geschäfts-, Prozess- oder Testierfähigkeit begründen. Depressive Zustände können ebenfalls Auswirkungen auf rechtliche Handlungen haben. Die Voraussetzungen für das Vorliegen von Geschäftsunfähigkeit bzw. die Nichtigkeit einer Willenserklärung sind nur dann anzunehmen, wenn die depressive Symptomatik so ausgeprägt ist, dass sie den Schweregrad einer schweren depressiven Episode im Sinne der ICD-10 ohne oder mit psychotischen Symptomen erreicht (F32.2, F32.3). Das Gleiche gilt für die Annahme von Prozess- oder Testierunfähigkeit. Bei einem depressiven Zustand mit psychotischen Symptomen kann eine Wahnsymptomatik im Alter den Testamentsinhalt motivisch determinieren; auch in diesen Fällen liegen die Voraussetzungen für Testierunfähigkeit vor. Handelt es sich um einen leichten oder mittelschwer ausgeprägten depressiven Zustand, sind keine entsprechenden Folgerungen zu ziehen. Probleme kann die Beurteilung von Testamenten aufwerfen, die unmittelbar vor einem Suizid verfasst wurden. Um die Voraussetzungen von Testierunfähigkeit zu bejahen, muss auch in diesen Fällen eine entsprechende psychopathologische Symptomatik, z. B. einen schwer ausgeprägten depressiven Zustand, nachgewiesen werden. Aus der Tatsache eines erfolgten Suizids in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit der Testamentserrichtung allein kann nicht auf das Vorliegen der Voraussetzungen von Testierunfähigkeit geschlossen werden, da der entscheidende Parameter nicht der Suizid, sondern eine schwer ausgeprägte psychopathologische Symptomatik ist, die bewiesen werden muss. Näheres zu dieser vorwiegend im versicherungsrechtlichen Kontext relevanten Problematik findet sich bei Cording und Saß (2009). Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen
Bei den Störungen dieser Gruppe lassen sich die Voraussetzungen für das Vorliegen von Geschäfts-, Prozess- oder Testierunfähigkeit i. d. R. nicht belegen, weder bei einer akuten Belastungsreaktion noch bei einer posttraumatischen Belastungsstörung oder einer Anpassungsstörung. Das Gleiche gilt für das Vorliegen von somatoformen Störungen. Es kann allenfalls erörtert werden, ob ein schwerer akuter Panikzustand Auswirkungen haben kann; dies ist jedoch deshalb unwahrscheinlich, weil in solchen Zuständen weder Rechtsgeschäfte abgeschlossen noch Testamente errichtet werden. Die gleiche Überlegung gilt für Zwangsstörungen, wobei hier – zumindest prinzipiell – daran gedacht werden kann, dass ausgeprägte Zwangshandlungen, eine massive Grübelneigung oder hochgradige Ambivalenz die Voraussetzungen für das Vorliegen von Prozessunfähigkeit erfüllen könnten, dies vor allem dann, wenn sich der Inhalt der Zwänge auf das Prozessthema bezieht. Essstörungen Bei Patienten mit schwer ausgeprägter Anorexia nervosa, die möglicherweise die Voraussetzungen für die Einrichtung einer Betreuung oder einer Unterbringung erfüllen (➤ Kap. 32.2.1), kann die Frage nach der „freien Willensbestimmung“ aufgeworfen werden. Falls ein strittiges Rechtsgeschäft durch die Symptomatik der Essstörung determiniert worden sein sollte, wäre zu prüfen, inwieweit durch die schwere Störung tatsächlich die Voraussetzungen vorlagen, einen Ausschluss der „freien Willensbestimmung“ anzunehmen. Dies könnte sowohl die Folgerung einer partiellen Geschäftsunfähigkeit im Sinne des § 104 Abs. 2 BGB als auch die einer „vorübergehenden Störung der Geistestätigkeit“ im Sinne des § 105 Abs. 2 BGB rechtfertigen. Entsprechende Folgerungen bzgl. einer Testamentserrichtung sind nicht vorstellbar. Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen
Bei Patienten mit diesen Störungen lassen sich i. d. R. keine zivilrechtlichen Folgerungen ableiten. Folgerungen können allenfalls möglich werden bei paranoiden Persönlichkeitsstörungen (PS) oder bei akuten Dekompensationen im Rahmen einer Borderline-PS. Hier ist dann der Wahn (➤ Kap. 32.3.2) das entscheidende psychopathologische Kriterium, wobei dargelegt werden muss, dass dieser das Rechtsgeschäft bzw. die Testamentserrichtung determiniert hat. In diesen Fällen kann sich auch die Frage nach den Voraussetzungen einer partiellen Geschäfts- oder Prozessunfähigkeit stellen. Gelegentlich wird von juristischer Seite vorgetragen, dass ein Betroffener einem anderen Menschen „hörig“ sei und hierdurch zum Abschluss eines Rechtsgeschäfts oder gar zu einer Testamentserrichtung unter Ausschluss der „freien Willensbestimmung“ gebracht worden sei. „Hörigkeit“ ist weder ein psychiatrischer Begriff noch eine psychiatrische Diagnose; umgangssprachlich wird diese Formulierung der Sexualität zugerechnet, sei es im Sinne einer perversen oder einer „allgemeinen“ sexuellen Hörigkeit. Darüber hinaus wird auch eine psychische „Hörigkeit“ beschrieben (Achner und Bischof 1992). Wird eine solche Problematik diskutiert, so muss unter psychopathologischen Aspekten geklärt werden, ob bei dem Betroffenen möglicherweise eine Persönlichkeitsstörung vorliegt, und zwar eine ängstliche (vermeidende) PS (ICD-10: F60.6) oder eine abhängige (asthenische) PS (ICD-10: F60.7). In diesen Fällen müsste aber konkret dargelegt werden können, dass die „freie Willensbestimmung“ durch das Vorliegen der Persönlichkeitsstörung nicht nur eingeschränkt, sondern aufgehoben war, was nur in Ausnahmefällen der Fall sein kann (Habermeyer und Saß 2002b). Die gleiche Überlegung gilt für impulsgesteuerte Geschäftsabschlüsse beim Vorliegen einer emotional instabilen PS (ICD-10: F60.3). Es kann die Frage an den psychiatrischen Sachverständigen gerichtet werden, inwieweit bei „pathologischem Spielen“ (➤ Kap. 24.2) die Voraussetzungen für die Annahme von Geschäftsunfähigkeit bzw. partieller Geschäftsunfähigkeit erfüllt sein
können. In einem Fall hat das OLG Hamm, psychiatrisch sachverständig beraten, angenommen, dass wegen eines Zustands „vorübergehender Störung der Geistestätigkeit“ im Sinne des § 105 Abs. 2 BGB die Voraussetzungen vorlagen, dass die in diesem Zustand vorgenommenen Spielverträge nichtig gewesen seien. Hierzu führt das Urteil aus, dass bei dem Probanden ein „zwanghafter Drang zum Spiel“ vorliege, wobei sich klare, nicht von der Spielsucht beeinträchtigte Phasen im normalen Tagesablauf mit solchen abgelöst hätten, die eine freie Willensbestimmung ausgeschlossen und ihn zwanghaft veranlasst hätten, den Automatensaal aufzusuchen, wobei er keine Möglichkeit gehabt hätte, diesem Drang entgegenzuwirken (OLG Hamm vom 7.10.2002, Az 13 U 119 / 02). In einem anderen Fall kam das Landgericht BadenBaden, ebenfalls sachverständig beraten, zu dem Ergebnis, dass trotz problematischen Spielens keine Einschränkung der „freien Willensbestimmung“ vorgelegen habe (LG Baden-Baden vom 21.7.2005, Az 3 O 376 / 04). Generelle, allgemeingültige Regeln lassen sich für diese Beurteilungen nicht aufstellen. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass eine Benennung als „pathologisches Spielen“ oder als „Spielsucht“ allein nichtssagend ist. Es ist zu berücksichtigen, welche konkrete Symptomatik vorgelegen hat. Dabei kann es sich anbieten, entsprechend dem Paradigma „Verhaltenssucht“ (Grüsser et al. 2007) zu klären, ob es sich um ein relevantes Störungsbild handelt, ob also ein allein exzessives Verhalten von einem Verhalten mit psychopathologischer Relevanz unterschieden werden kann (➤ Kap. 24.2). Besonders relevant für diese Unterscheidung hierbei die Kriterien Kontrollverlust, Toleranzentwicklung, Vernachlässigung anderer Interessen und Fortsetzung des Verhaltens trotz Kenntnis der schädlichen Folgen. Zu klären ist, ob es sich bei dem Spielen um einen chronischen Verlauf gehandelt hat, charakterisiert durch progrediente selbstzerstörerische Spielaktionen, die sowohl die ökonomische als auch die soziale Existenz zerstört oder an den Rand der Vernichtung gebracht haben (Hand 1995). Ferner ist zu klären, ob zusätzliche Belastungen vorlagen, die zu einer erheblichen Erschütterung der Ich-Funktion geführt haben, etwa in den
Bereichen berufliche und soziale Kompetenz sowie zwischenmenschliche Beziehungen (➤ Kap. 24.2). Zu prüfen ist, inwieweit dem Betroffenen Alternativen zur Verfügung standen und er in der Lage war, diese zu erkennen und auch – zumindest teilweise – durchzuführen. Sind die genannten Voraussetzungen gegeben, so ist es prinzipiell möglich, zur Einschätzung des Spielens als einer „vorübergehenden Störung der Geistestätigkeit“ im Sinne des § 105 Abs. 2 BGB zu kommen. Inwieweit durch solche Feststellungen der juristisch erforderliche hohe Grad an Beweissicherheit zu erreichen ist, kann nicht generell beantwortet werden. Unter dem Begriff „Verhaltenssucht“ (Grüsser et al. 2007; Mann et al. 2013) werden neben dem Spielen weitere exzessive Verhaltensweisen diskutiert: Kaufsucht, Sportsucht, Arbeitssucht, Computersucht, Internetsucht, Telefonsucht, Beziehungssucht und Sexsucht. Jedes primär als angenehm wahrgenommene Verhalten ist entsprechend diesem Paradigma grundsätzlich geeignet, dysfunktional exzessiv betrieben zu werden. Dies gilt auch für ein Verhalten, das als „Telefonsexsucht“ beschrieben und als Voraussetzung für Geschäftsunfähigkeit angenommen wurde (➤ Kap. 32.3.1). In diesen Fällen kann es auch um das Vorliegen der Voraussetzungen des § 105 Abs. 2 BGB mit der Frage gehen, ob das Verhalten als „vorübergehende Störung der Geistestätigkeit“ interpretiert werden kann. Dann ist zu prüfen, inwieweit diagnostische Merkmale vorliegen, die den Diagnosekriterien der Abhängigkeit von psychotropen Substanzen gleichkommen, also Kontrollverlust, Toleranzentwicklung, Vernachlässigung anderer Interessen und Fortsetzen des Verhaltens trotz Kenntnis der schädlichen Folgen. Zusätzlich können weitere diagnostische Merkmale berücksichtigt werden (ausführlich ➤ Kap. 24.1 sowie Grüsser und Thalemann 2006; Saunders 2017). Mit den dort genannten diagnostischen Kriterien wäre jedoch allenfalls das Verhalten als möglicherweise psychopathologisch determiniert zu beschreiben; inwieweit deswegen die „freie Willensbestimmung“ als aufgehoben gelten kann, wäre in einem gesonderten Schritt zu
prüfen. Sollte dies überhaupt nachweisbar sein, dürfte es sich um seltene Einzelfälle handeln. Die vorgenannten Überlegungen gelten für die Einschätzung der Geschäftsfähigkeit. Voraussetzungen für die Annahme von Prozessunfähigkeit oder Testierunfähigkeit werden sich aufgrund der beschriebenen Verhaltensweisen nicht beweisen lassen. Intelligenzminderung Bei Patienten mit einer Intelligenzminderung können zivilrechtliche Folgerungen in Betracht kommen, wobei das Vorliegen von erheblich eingeschränkten Fähigkeiten zu fordern ist, mindestens im Sinne einer leichten Intelligenzminderung mäßiger Ausprägung (ICD-10: F70; ältere Bezeichnung „Debilität“). Die ICD-10 gibt hier einen IQ-Bereich von 50–69 an. Dies entspricht auch der juristischen Einschätzung, wonach Debilität nicht generell, sondern erst bei einem IQ 180 Stunden/Monat); die monatlichen Beträge bewegen sich derzeit zwischen 145,40 Euro (Stufe 1) und 1.531,50 Euro (Stufe 7). Die vom Gutachter zu beantwortenden Fragen beziehen sich auf das Ausmaß des durch die Erkrankung bzw. Behinderung eines Menschen entstehenden Pflege-, Betreuungs-, aber auch Beaufsichtigungsbedarfs. Ein 180 Stunden/Monat überschreitender Bedarf ist entsprechend ausführlich zu begründen. Das Gutachten hat auch zur voraussichtlichen weiteren Entwicklung der Behinderung und des damit verbundenen Pflegeaufwands Stellung zu nehmen und auch die konkrete Situation, in der diese Pflege stattfinden muss, zu beschreiben. Pflegegeldbegutachtungen erfolgen meist durch einen Arzt für Allgemeinmedizin oder einen Facharzt für Innere Medizin im Rahmen eines Hausbesuchs. Dementsprechend wird primär auf körperliche Beeinträchtigungen (Bettlägerigkeit, Inkontinenz, Nahrungsaufnahme etc.) eingegangen bzw. überprüft, ob die zu begutachtende Person etwa imstande ist, sich selbst anzuziehen oder sich selbstständig fortzubewegen. Die sich im Fall einer schweren chronischen psychiatrischen Erkrankung ergebenden Probleme sind jedoch größtenteils anderer Natur und setzen einschlägige psychiatrische Kenntnisse voraus, ohne die es zu Fehlbegutachtungen kommt, welche die ohnehin sehr schwierige Situation betreuender Angehöriger vernachlässigen.
48.5. Spezielle Begutachtungsfragen 48.5.1. Fremdenrecht Die rechtlichen Voraussetzungen für den Umgang mit Flüchtlingen sind die Genfer Flüchtlingskonvention und die jeweilige nationale Gesetzgebung. Die Genfer Flüchtlingskonvention wurde am 28.7.1951 auf einer UN-Sonderkonferenz verabschiedet und trat am 22.4.1954 in Kraft. Ergänzt wurde sie am 31.1.1967 durch das Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, das am 4.10.1967 in Kraft trat. Der Konvention sind 147 Staaten beigetreten. Sie ist die
Rechtsgrundlage für das Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR). Anerkannte Flüchtlinge im Sinne der Konvention sind solche, die wegen Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe und politischer Überzeugung verfolgt werden. Seit dem Protokoll von 1967 gilt die Flüchtlingskonvention uneingeschränkt gegenüber allen Flüchtlingen, auch aus Staaten, die die Flüchtlingskonvention nicht ratifiziert haben. Die Genfer Flüchtlingskonvention fand Eingang in die Richtlinien der nationalen Gesetze. Das zentrale Gesetz des österreichischen Asylwesens ist das Asylgesetz 2005 (Peyrl et al. 2018). Es regelt die Voraussetzungen für die Gewährung von internationalem Schutz: Anerkennung als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention oder Gewährung von subsidiärem Schutz. Ist nach der DublinVerordnung Österreich für die Abwicklung des Asylverfahrens zuständig, wird inhaltlich geprüft, ob die oben genannten Fluchtgründe der Genfer Flüchtlingskonvention vorliegen: • Ist die Furcht vor Verfolgung aufgrund von Rasse, Religion, Nationalität, politischer Gesinnung oder Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe glaubhaft und liegen keine Asylausschlussgründe (z. B. besonders schwere Verbrechen wie Verbrechen gegen die Menschheit) oder einer innerstaatlichen Fluchtalternative vor, so wird dem Antrag stattgegeben und der Status des Asylberechtigten zuerkannt. • Liegen die Voraussetzungen zu Asylgewährung hingegen nicht vor, so wird geprüft, ob ein Refoulement-Verbot, d. h. die Unzulässigkeit einer Ausweisung, Abschiebung, Zurückweisung, Zurückschiebung oder Überstellung vorliegt. Die Außerlandesschaffung ist nicht zulässig, wenn dadurch eine reale Gefahr der Verletzung von Art. 2 (Recht auf Leben) oder Art. 3 (Verbot der Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung) der Genfer Flüchtlingskonvention besteht oder es sich um ein Land handelt, in dem die Todesstrafe erlaubt ist und der
Asylwerber davon bedroht wäre. In diesen Fällen wird subsidiärer Schutz zuerkannt. Dieser gilt für 1 Jahr und wird verlängert, solange die Schutzgründe vorliegen. • Liegen die Voraussetzungen zur Schutzgewährung nicht vor oder ist Österreich wegen Drittstaatsicherheit bzw. aufgrund der Dublin-Verordnung für die Prüfung des Asylantrags nicht zuständig, so prüft die Behörde, ob eine Ausweisung das Recht auf Privat- und Familienleben verletzen würde und stellt damit fest, ob die Ausweisung zulässig oder unzulässig ist. Seit 2005 gab es vier Novellen. Die wichtigste, das Fremdenrechtsänderungsgesetz 2015 (FrÄG, BGBl 2015), sieht folgende Neuerungen vor: • Änderungen im Zulassungsverfahren und im Verfahren zur Vorführung von Asylsuchenden vor das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) • Neufassung der Regelungen zur Schubhaft • Gesetzliche Verankerung eines beschleunigten Asylverfahrens für Drittstaatsangehörige aus sicheren Herkunftsstaaten • Änderungen bei den Tatbeständen für eine Aberkennung der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde • Rechtliche Verpflichtung zur Inanspruchnahme von Rückkehrberatung in bestimmten Fällen • Erweiterung der Rechtsberatung vor dem Bundesverwaltungsgericht • Verkürzung der Entscheidungsfrist des Bundesverwaltungsgerichts bei Aberkennungsverfahren Psychiatrische Gutachten können von unterschiedlichen Instanzen in Auftrag gegeben werden: a) durch das Bundesverwaltungsgericht (BVwG), b) durch Verwaltungsbehörden im Auftrag durch das BFA c) als Privatgutachten im Auftrag des Asylwerbers. Als Entscheidungshilfen können im Asylverfahren zusätzlich Arztbriefe,
Befundberichte, Entlassungsberichte, medizinische Stellungnahmen und Zeugenaussagen durch behandelnde Ärzte etc. herangezogen werden. Sachverständigengutachten unterliegen wie jedes andere Beweismittel der freien Beweiswürdigung des Gerichts. Die Fragestellungen an den psychiatrischen Sachverständigen im Asylverfahren beziehen sich primär auf das Vorliegen krankheitswertiger psychischer Störungen wie etwa von verfolgungsbedingten posttraumatischen Belastungsstörungen (PTSB), Anpassungsstörungen, Depressionen, Schlafstörungen oder Angstzuständen. Daneben gibt es allgemeine vom Sachverständigen zu beantwortende Fragestellungen wie die Prozess- bzw. Einvernahmefähigkeit der Partei (Wiedergabe-, Wahrnehmungsund Erinnerungsfähigkeit; Fähigkeit, schlüssige und widerspruchsfreie Angaben zu tätigen). Die Einvernahmefähigkeit kann vor allem durch dissoziative Symptome im Rahmen einer PTSB beeinträchtigt sein. Eine besonders anspruchsvolle Aufgabe ist die Beantwortung der Frage, ob im Herkunftsland eine adäquate psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung im Falle von festgestellten psychiatrischen Erkrankungen möglich ist. Zur Beurteilung, ob Therapie oder Medikation für den Asylwerber auch im Herkunftsland prinzipiell erhältlich ist, kann das BVwG Anfragen an die Staatendokumentation etc. richten. Häufig wird der Sachverständige auch beauftragt, die Wahrscheinlichkeit eines etwaigen Suizids als Folge der drohenden oder tatsächlichen Rückführung in das Herkunftsland zu beurteilen. Kommentar Asylrechtsgutachten stellen für den forensisch-psychiatrischen Sachverständigen eine große Herausforderung dar. Neben dem Überblick über die komplizierten Rechtsverhältnisse und das für die forensischen Psychiatrie geforderte psychopathologische Wissen sollte der Gutachter über Kenntnisse in der transkulturellen Psychiatrie und der Psychotraumatologie verfügen sowie das Training zur Begutachtung von Folteropfern nach den Vorgaben des Istanbul-Protokolls absolviert haben. Er sollte Erfahrungen in der Ü
Arbeit mit Übersetzern haben und in der Lage sein, die eigenen positiven oder ablehnenden Wertehaltungen über Fremde im Allgemeinen und Flüchtlinge im Speziellen zu hinterfragen. Kritisch muss betont werden, dass derzeit nur wenige österreichische Sachverständige diese Voraussetzungen voll inhaltlich erfüllen.
48.5.2. Fahrtauglichkeit Gemäß § 1 Führerscheingesetz-Gesundheitsverordnung (FSG-GV; BGBl 1997) sind Gutachten zur Fahrtauglichkeit grundsätzlich vom Amtsarzt zu erstellen. In begründeten Fällen ist auch ein fachärztliches bzw. verkehrspsychologisches Gutachten erforderlich: • Ein fachärztliches Gutachten ist z. B. dann nötig, wenn sich aus der Vorgeschichte oder bei der Untersuchung der Verdacht auf das Vorliegen einer psychischen Erkrankung (§ 13 FSGGV) oder einer Substanzabhängigkeit (§ 14 FSG-GV) ergibt, welche die Eignung zum Lenken eines Kraftfahrzeugs einschränken oder ausschließen könnten. • Ein verkehrspsychologisches Gutachten ist gem. § 14 FSG-GV erforderlich, wenn die betreffende Person in der Vergangenheit mehrere Verkehrsunfälle verursacht oder Verkehrsverstöße begangen hat, die den Verdacht auf eine verminderte kraftfahrspezifische Leistungsfähigkeit oder auf mangelnde Bereitschaft zur Verkehrsanpassung nahelegen. Letztere ist jedenfalls dann anzunehmen, wenn einem Lenker innerhalb eines Zeitraums von 5 Jahren dreimal die Lenkerberechtigung entzogen wurde. • Eine ergänzende verkehrspsychologische Stellungnahme ist anzufordern, wenn aufgrund der ärztlichen Untersuchung geistige Reifungsmängel oder aber ein deutlich über die Altersnorm hinausgehender Leistungsabbau zu vermuten ist. Der Gutachter hat festzustellen, welche psychiatrischen Erkrankungen oder Störungen vorliegen, welche Gefahren sich
daraus beim Lenken eines Kraftfahrzeugs ergeben und wie sich diese Störungen minimieren oder beheben lassen. Ergänzend sollten Behandlungsauflagen angeführt werden, die eine gefahrlose Teilnahme am Straßenverkehr ermöglichen. Die langfristige Einnahme von Psychopharmaka stellt kein prinzipielles Hindernis für die Fahrtauglichkeit dar; es ist jedoch ratsam, im Fall einer diesbezüglichen Stellungnahme das erforderliche therapeutische Setting und etwaige Kontrollmaßnahmen genauer zu beschreiben (Haller 2008).
48.5.3. Waffengesetz Besitz und Führen einer Waffe sind im Waffengesetz (WaffG) von 1996 geregelt (Fuchs und Malecky 2018). Nach § 1 WaffG sind Waffen „Gegenstände, die ihrem Wesen nach dazu bestimmt sind, die Angriffs- oder Abwehrfähigkeit von Menschen durch unmittelbare Einwirkung zu beseitigen oder herabzusetzen oder bei der Jagd oder beim Schießsport zur Abgabe von Schüssen verwendet zu werden.“ Aus Sicht des forensisch-psychiatrischen Sachverständigen wichtig ist § 8 WaffG über die geforderte Verlässlichkeit des Waffenführers. Demnach ist ein Mensch verlässlich, wenn er voraussichtlich mit Waffen sachgemäß umgehen wird und keine Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass er Waffen missbräuchlich oder leichtfertig verwenden würde, mit Waffen unvorsichtig umgehen oder diese nicht sorgfältig verwahren oder Menschen überlassen würde, die zum Besitz solcher Waffen nicht berechtigt sind. Als keinesfalls verlässlich gilt ein Mensch, wenn er alkohol- oder suchtkrank, psychisch krank oder geistig schwach ist oder durch ein körperliches Gebrechen nicht in der Lage ist, mit Waffen sachgemäß umzugehen. Bei erstmaliger Prüfung der Verlässlichkeit hat sich die Waffenbehörde davon zu überzeugen, ob Tatsachen die Annahme mangelnder waffenrechtlicher Verlässlichkeit des Betroffenen aus einem dieser Gründe rechtfertigen. Antragsteller, die nicht Inhaber einer Jagdkarte sind, haben ein Gutachten darüber beizubringen, ob
sie dazu neigen, insbesondere unter psychischer Belastung mit Waffen unvorsichtig umzugehen oder sie leichtfertig zu verwenden. Das Bundesministerium für Inneres hat durch Verordnung geeignete Personen oder Einrichtungen zu bezeichnen, die in der Lage sind, dem jeweiligen Stand der Wissenschaft entsprechende Gutachten zu erstellen sowie die anzuwendenden Testverfahren und die dabei einzuhaltende Vorgangsweise festzulegen. Auch im Falle der Aufhebung eines vorläufigen Waffenverbots gem. § 13 WaffG kann ein psychologischer oder psychiatrischer Sachverständiger beigezogen werden. Darüber hinaus hat die Waffenbehörde die Verlässlichkeit des Inhabers eines Waffenpasses oder einer Waffenbesitzkarte zu überprüfen, wenn seit der Ausstellung der Urkunde oder der letzten Überprüfung 5 Jahre vergangen sind (§ 25 WaffG). Die Behörde hat außerdem die Verlässlichkeit des Inhabers einer waffenrechtlichen Urkunde zu überprüfen, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Berechtigte nicht mehr verlässlich ist. Ergeben sich Anhaltspunkte, dass der Betroffene dazu neigen könnte, insbesondere unter psychischer Belastung mit Waffen unvorsichtig umzugehen oder sie leichtfertig zu verwenden, ist die Behörde zu einem entsprechenden Vorgehen gem. § 8 WaffG ermächtigt.
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KAPITEL 49
Psychiatrische Begutachtung in der Schweiz Marc Graf und Ralph Mager
49.1 Einleitung 49.2 Standesorganisation und Ausbildung 49.3 Strafrecht 49.3.1 Notwendigkeit der Begutachtung 49.3.2 Schuldfähigkeit 49.3.3 Strafrechtliche Maßnahmen 49.4 Zivilrecht 49.4.1 Handlungs- und Urteilsfähigkeit 49.4.2 Der Erwachsenenschutz 49.4.3 Eherecht 49.4.4 Sozialversicherungsrecht
49.1. Einleitung Da die gesetzlichen Grundlagen in der Schweiz jenen in Deutschland ähneln, sind die in diesem Handbuch ausgeführten Prinzipien grundsätzlich übertragbar, im Detail gibt es jedoch eine Reihe von Unterschieden und Besonderheiten, die nachfolgend dargestellt
werden sollen. Hinzu kommt die Schwierigkeit, dass die Schweiz mit einer Wohnbevölkerung von nur ca. 8 Mio. zu den kleineren Ländern in Europa zählt, aber dennoch eine große kulturelle Vielfalt herrscht. Der Anteil von Nichtschweizern unterschiedlicher kultureller Herkunft an der Wohnbevölkerung beträgt ca. 25 %1. Es gibt vier offizielle Landessprachen; zudem ist die föderalistische Struktur stark ausgeprägt. 26 Kantone sind auch im juristischen Bereich auf große Eigenständigkeit bedacht. Das materielle Straf- und Zivilrecht (ausführlich bei Sachs und Habermeyer 2012; Sachs et al. 2014) ist zwar bundeseinheitlich, ebenso seit 2008 die Zivil- und seit 2011 die Strafprozessordnung, jedoch gibt es weiterhin 26 z. T. stark unterschiedliche kantonale Strafvollzugs- und Gesundheitsgesetze, da sowohl Strafvollzug als auch medizinische Versorgung kantonale Aufgaben sind. 2013 trat zudem das neue Kindes- und Erwachsenenschutzrecht in Kraft, welches das vorgängige Vormundschaftsrecht ablöst. Die föderalistische Struktur zeigt sich auch in der forensischpsychiatrischen Versorgung der Schweiz. Die fachspezifischen Institutionen konzentrieren sich zum einen auf die psychiatrischen Universitätskliniken, andererseits sind die forensischpsychiatrischen Dienste in Kantonen ohne Universitäten in den letzten Jahren erheblich ausgebaut worden. Mit ca. 230 Betten für Maßnahmepatienten in forensisch-psychiatrischen Kliniken ist nur der kleiner Anteil von einem mittleren Insassenbestand für Maßnahmepatienten von ca. 900 in Kliniken untergebracht, der Großteil wird in Institutionen des Justizvollzugs behandelt.2 Die Kapazität der etwa 50 an den forensisch-psychiatrischen Institutionen hauptamtlich tätigen forensischen Psychiatern reicht bei Weitem nicht aus, um den Bedarf an qualifizierten Gutachten (jährlich ca. 3.000–5.000 allein im Strafrecht) und (auch ambulanten) forensisch-psychiatrischen Therapien zu decken. In vielen Kantonen werden diese Aufgaben daher von den Mitarbeitern der psychiatrischen Kliniken, in größerem Umfang auch von privat praktizierenden Psychiatern wahrgenommen.
49.2. Standesorganisation und Ausbildung Die 2006 gegründete Schweizerische Gesellschaft für Forensische Psychiatrie (SGFP, www.swissforensic.ch) erteilt seit 2007 nach Absolvieren eines umfassenden Weiterbildungscurriculums ein Zertifikat „Forensische Psychiatrie“. 2014 wurde dieses Zertifikat in einen „Schwerpunkt forensische Psychiatrie und Psychotherapie FMH“ bzw. den „Schwerpunkt Forensische Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie“ übergeführt, der von der Schweizerischen Ärztegesellschaft in enger Kooperation mit der SGFP vergeben wird. In der Erwachsenenforensik tragen gegenwärtig gegen 70 und in der Jugendforensik 14 Ärztinnen und Ärzte den Titel. Von den formalen Erfordernissen unterscheidet sich dieser Schwerpunkt nur wenig vom DGPPN-Zertifikat „Forensische Psychiatrie“, wobei in der Schweiz zur Erlangung des Titels lediglich 20 statt wie in Deutschland 70 strafrechtliche Gutachten ausgewiesen werden müssen und in der Schweiz keine Rezertifizierungspflicht besteht. Auch wenn im Weiterbildungscurriculum verschiedene Rechtsgebiete wie Straf-, Zivil- und Sozialversicherungsrecht ausgebildet und dann geprüft werden, konzentrieren sich die meisten Titelträger auf das Strafrecht. Die neue eidgenössische Strafprozessordnung regelt die Beauftragung von Gutachtern durch Behörden und Gerichte, in einzelnen Kantonen wurden diesbezüglich spezifische Verordnungen erlassen. Im Februar 2014 hat das Bundesgericht entschieden (öffentliche Beratung vom 13.2.2014 im Verfahren 6B459/2013), dass bei den Rechtspsychologen die Aus- und Weiterbildung ungenügend transparent, standardisiert und dokumentiert und es deshalb nur bei Personen mit psychiatrischer Ausbildung sichergestellt sei, dass sie über die für eine Begutachtung notwendige Ausbildung verfügen. Somit seien Psychologen nicht als Gutachter anzuerkennen. Hingegen wurde, auch mit Folgeurteilen, an der gängigen Praxis festgehalten, wonach der Gutachter einzelne Aufgaben auch an Hilfspersonen vergeben könne, wie klassischerweise eine testpsychologische Untersuchung. Die Aufgabenteilung zwischen verantwortlichem Gutachter und
Hilfsperson sei dabei im Gutachten transparent darzustellen. 2017 wurde diese strikte Aufgabenteilung durch das Bundesgericht dann etwas korrigiert (6B_989/2017): „Von der mit der Begutachtung betrauten Person wird daher verlangt, dass sie sich selber ausreichend mit dem Fall befasst und ihre eigene Meinung selber bildet sowie in das Gutachten einfliessen lässt. Dies kann etwa dadurch geschehen, dass sie der Hilfsperson inhaltliche Vorgaben macht und einen allfälligen von dieser erstellten Gutachtensentwurf intensiv korrigiert bzw. bearbeitet, sodass das Gutachten in allen Details ihre persönliche Überzeugung und Wertung wiedergibt.“ Das Bundesgericht hielt aber im diesbezüglich letzten Urteil (6B_989/2017) unzweideutig fest: „Letztlich hat auch bei einem Beizug von Hilfspersonen der Gutachter die Diagnose zu stellen, die Prognose zu formulieren und die an ihn gestellten Fragen zu beantworten.“ Die Kritik des Bundesgerichts wurde dort, wo sie als Einmischung in die psychiatrisch-psychologische Methodenfreiheit gesehen wurde, von der forensischen Psychiatrie zurückgewiesen (Habermeyer et al. 2016), in den anderen Punkten aber als konstruktive Kritik für die Verbesserung der Qualität strafrechtlicher Gutachten aufgenommen: Die SGFP hat ihre Statuten 2018 geändert und 2019 die ersten Psychologinnen und Psychologen i. R. von Übergangsbestimmungen als ordentliche Mitglieder aufgenommen, um mit einer Sektion Forensische Psychologie sowie dem entsprechenden Curriculum der vom Bundesgericht geforderten, zu den Psychiatern analogen und transparent nachvollziehbaren Ausund Weiterbildung zu entsprechen. Dazu wird auch an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern seit 2017 in forensisch-psychiatrischer/-psychologischer sowie juristischer Kooperation ein gemeinsamer Lehrgang (CAS) für
psychiatrische/psychologische Sachverständige im Strafrecht angeboten.3 Die ungenügende therapeutische Versorgung psychisch kranker Straftäter sowohl im Straf- als auch im Maßnahmenvollzug war wiederholt Gegenstand von Kritik durch das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT), weshalb der Bund eine Analyse und die Erarbeitung von Lösungsvorschlägen eingeleitet hat. Die Verselbstständigung der psychiatrischen Kliniken in den meisten Kantonen führt zudem zu Unklarheiten in den Zuständigkeiten, falls diese nicht in Leistungsvereinbarungen geklärt sind.
49.3. Strafrecht 49.3.1. Notwendigkeit der Begutachtung Gemäß Art. 20 StGB müssen Untersuchungsbehörden oder Gerichte eine psychiatrische Begutachtung anordnen, wenn sie Zweifel an der Schuldfähigkeit des Beschuldigten haben. Art. 20 (Zweifelhafte Schuldfähigkeit) Besteht ernsthafter Anlass, an der Schuldfähigkeit des Täters zu zweifeln, so ordnet die Untersuchungsbehörde oder das Gericht die sachverständige Begutachtung durch einen Sachverständigen an. Gemäß schweizerischem Bundesgericht ist die Untersuchung anzuordnen, wenn der Richter Zweifel an der Schuldfähigkeit haben sollte. Hierzu genügt ein ernsthafter Anlass, jedoch nicht die bloße Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit, dass eine Straftat auch psychische Ursachen haben könnte. So soll die Begehung der Tat in angetrunkenem Zustand allein noch keinen Grund darstellen, um an der Schuldfähigkeit des Täters zu zweifeln, wohl aber muss sich der Richter bei Drogensüchtigen im Urteil ausdrücklich über die Erforderlichkeit eines Gutachtens äußern, sofern er keines eingeholt
hat. Es ist dem Richter zwar nicht verboten, einen bestimmten biologisch-psychologischen Sachverhalt, den er als verminderte Schuldfähigkeit würdigt, anders als durch ein psychiatrisches Gutachten festzustellen. Die Gerichte dürfen sich aber nicht quasiautodidaktisch, z. B. mithilfe von Diagnosenkatalogen wie der ICD10 oder mit Lehrbüchern, ein Urteil über den psychischen Zustand des Täters bilden. Auch in der Schweiz obliegt die Handhabung des Rechtsbegriffs der Schuldfähigkeit allein dem Gericht. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts unterliegt das psychiatrische Gutachten dabei der freien Beweiswürdigung. Will das Gericht jedoch vom Gutachten abweichen, so ist dies nur erlaubt, wenn zuverlässig bewiesene Tatsachen die Überzeugungskraft des Gutachtens ernstlich infrage stellen. Dabei überschreitet ein Gericht sein Ermessen nicht, wenn es einen gutachtlich festgestellten psychischen Zustand nicht anzweifelt, für die Annahme verminderter Schuldfähigkeit den Schweregrad aber als nicht ausreichend erachtet. Bei mehreren voneinander abweichenden Gutachten kann der Richter in freier Beweiswürdigung entscheiden, welchem Gutachten er folgt. Da die Qualität der Gutachten trotz Ausbaus des forensischpsychiatrischen Versorgungssystems immer noch stark schwankt, erhalten insbesondere die universitären Zentren häufig Aufträge für Zweit- oder Obergutachten. In der Schweiz werden über etwa 2–3 % aller Beschuldigten psychiatrische Gutachten erstattet, wobei in den einzelnen Deliktsbereichen erhebliche Unterschiede bestehen: Bei Tötungsdelikten und schweren Sexualdelikten werden nahezu alle Beschuldigten begutachtet. Wegen des großen Ausmaßes der Delinquenz im Zusammenhang mit Betäubungsmittelabhängigkeit ist die ausführliche psychiatrische Begutachtung aller Täter allein aus Kapazitätsgründen nicht möglich. In vielen Kantonen wird daher, wenn alle Verfahrensbeteiligten einverstanden sind, auch ohne Begutachtung von einer zumeist leichtgradigen Verminderung der Schuldfähigkeit bei Drogenabhängigen ausgegangen und bei
entsprechender Motivation auch eine strafrechtliche Maßnahme ausgesprochen. Nach Art. 307 StGB wird die Erstattung eines falschen Gutachtens mit Freiheitsentzug bis zu 5 Jahren geahndet. Im Gegensatz zu Deutschland gibt es an den meisten Gerichten im Strafverfahren kein vollständiges Unmittelbarkeitsprinzip, d. h., der psychiatrische Sachverständige muss nicht während der gesamten Beweisaufnahme anwesend sein. Sofern die Prozessbeteiligten mit dem Ergebnis des schriftlichen Gutachtens einverstanden sind, wird häufig auch auf eine mündliche Gutachtenerstattung ganz verzichtet; besonders bei Kapitaldelikten ist aber die Befragung des Gutachters am Ende der Beweisaufnahme in vielen Kantonen die Regel.
49.3.2. Schuldfähigkeit Art. 19 (Schuldunfähigkeit und verminderte Schuldfähigkeit) 1. War der Täter zur Zeit der Tat nicht fähig, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln, so ist er nicht strafbar. 2. War der Täter zur Zeit der Tat nur teilweise fähig, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln, so mildert das Gericht die Strafe. 3. Es können indessen Massnahmen nach den Artikeln 59–61, 63, 64, 67 und 67b getroffen werden. 4. Konnte der Täter die Schuldunfähigkeit oder die Verminderung der Schuldfähigkeit vermeiden und dabei die in diesem Zustand begangene Tat voraussehen, so sind die Absätze 1–3 nicht anwendbar.
Nach dem bis zum 1.1.2007 geltenden alten Recht war für die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit, wie in den deutschsprachigen Nachbarländern, ein zweistufiges psychiatrischnormatives Verfahren vorgeschrieben. Zunächst waren eine oder
mehrere psychiatrische Diagnosen den juristischen Eingangsmerkmalen zuzuordnen. Auch im Vorentwurf zum neuen allgemeinen Teil des StGB war zunächst noch als einheitliches Eingangsmerkmal eine „erhebliche psychische Störung“ vorgesehen. Gemäß der Botschaft des Bundesrates sollte an der biologischpsychologischen Methode festgehalten werden, wobei auf von der Psychiatrie als überholt angesehene Begriffe wie Geisteskrankheit, Schwachsinn oder mangelnde geistige Entwicklung verzichtet werden sollte. Ausdrücklich wurde dabei auch auf die Klassifikation der WHO hingewiesen und der Begriff der psychischen Störung als dadurch eindeutig genug definiert erachtet. Zur Überraschung der Mehrheit der forensischen Psychiater, aber auch zahlreicher Strafjuristen ist dann jedoch in der Endphase der parlamentarischen Beratung des neuen Gesetzes die psychische Störung als Eingangsmerkmal vollständig weggefallen. Dies bedeutet aber nicht die Abkehr vom bisherigen zweistufigen Verfahren; es handelt sich ganz offensichtlich um ein gesetzestechnisches Versehen: Weil nämlich Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ohne Zweifel psychische Funktionen sind, können sie auch nur aufgrund einer psychischen Störung beeinträchtigt sein. Ohne Benennung einer definierten Ursache dürfte die Begründung einer Aufhebung oder Einschränkung dieser Funktionen nicht möglich sein (ausführlich zur Entstehungsgeschichte der neuen Regelungen z. B. Bommer und Dittmann 2019). Entsprechend hat das schweizerische Bundesgericht an seiner langjährigen Rechtsprechung festgehalten, wonach Störungen, die zu einer Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit führen können, eine qualifizierte Erheblichkeit aufweisen müssen (Bommer und Dittmann 2019). Es ist also nach wie vor Aufgabe des psychiatrischen Gutachters, den abnormen Geisteszustand des Täters exakt zu beschreiben. Dies solle weiterhin nach den etablierten diagnostischen Kriterien der Psychiatrie erfolgen. Auch eine Einschätzung des Schweregrads der Beeinträchtigung ist weiterhin erforderlich, da in Art. 19 Abs. 2 StGB die verminderte Schuldfähigkeit dadurch definiert ist, dass der
Täter nur teilweise fähig war, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäß dieser Einsicht zu handeln. Nach der bisherigen Rechtsprechung ist der Begriff des „normalen Menschen“ nicht zu eng zu fassen. Vielmehr muss die Geistesverfassung des Täters „nach Art und Grad stark vom Durchschnitt nicht bloss der Rechts-, sondern auch der Verbrechensgenossen abweichen“ (z. B. BGE 102 IV 226, 100 IV 130). Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass „einfachere“ neurotische Störungen und Verhaltensabweichungen sowie leichtere Rauschzustände noch nicht die erforderliche Erheblichkeit erreichen. In der forensisch-psychiatrischen Diagnostik hat sich auch in der Schweiz die ICD-10 weitgehend durchgesetzt. Nach unseren umfangreichen Erfahrungen der letzten Jahre kann als Faustregel davon ausgegangen werden, dass keine forensisch relevante Störung vorliegt, wenn die Zuordnung eines Zustandsbildes zu einer ICD-10Diagnose nicht gelingt. Dies gilt insbesondere für die Persönlichkeitsstörungen. Bei verminderter Zurechnungs- bzw. Schuldfähigkeit wird eine weitergehende Quantifizierung dahingehend verlangt, ob die Herabsetzung leicht, mittelgradig oder schwer war (BGE 106 IV 242). In der Praxis erfolgte diese Zuordnung durch den Vergleich der forensisch relevanten Auswirkungen einer Störung mit anderen vorkommenden Schweregraden; d. h., wenn die Eingangsschwelle zur Annahme einer verminderten Schuldfähigkeit zwar überschritten war, Verhalten und Erleben des Beschuldigten jedoch erkennen ließen, dass die forensisch relevanten Funktionsbeeinträchtigungen seinen Handlungsspielraum nicht erheblich einengten, so war eher von einer leichten Störung auszugehen. Reichte die Beeinträchtigung dagegen an ein Ausmaß heran, wie wir es sonst z. B. bei akuten Psychosen oder schweren Bewusstseinsstörungen sehen, so war von einer schwergradigen Herabsetzung der Zurechnungsfähigkeit auszugehen. Nach den bisherigen Erfahrungen mit den neuen Vorschriften hat das schweizerische Bundesgericht an diesen Grundsätzen festgehalten.
49.3.3. Strafrechtliche Maßnahmen 1971 erfolgte eine umfangreiche Revision des schweizerischen Strafgesetzbuchs, das seitdem einen umfangreichen Katalog von sichernden und therapeutischen Maßnahmen vorsah (ausführlich bei Heer 2019). Dabei ist insbesondere die Möglichkeit von vollzugsbegleitenden ambulanten Maßnahmen nach Art. 63 StGB zu erwähnen. Sie kommt vorwiegend für Gewalt- und Sexualstraftäter infrage, die nicht an einer klinisch behandlungsbedürftigen Störung leiden. Auf diese Weise konzentriert sich die Klientel der stationären Maßnahmen (Art. 59 StGB) auf Patienten mit schizophrenen Störungsbildern. Eine Besonderheit des schweizerischen Maßnahmenrechts ist außerdem die Möglichkeit von Maßnahmen für junge Erwachsene (Art. 61 StGB), die bei Delinquenten in einem Altersbereich bis 25 Jahre angeordnet werden kann, wenn eine Störung der Persönlichkeitsentwicklung vorliegt. In den zugehörigen Maßnahmezentren wird sozialpädagogisch, aber auch psychotherapeutisch mit den Betroffenen gearbeitet, die i. d. R. auch die Möglichkeit einer schulischen und/oder beruflichen Förderung erhalten. 1993 tötete ein bereits wegen zweifachen Sexualmordes und mehrfacher Vergewaltigung zu lebenslangem Zuchthaus verurteilter Täter im Wochenend-Hafturlaub aus sexueller Motivation eine 20jährige Frau. Dieser Fall veränderte die Vollzugslandschaft in der Schweiz von Grund auf: Es kam zu einer umfassenden öffentlichen, politischen und fachlichen Diskussion über den Umgang mit sogenannten „gemeingefährlichen“ Straftätern (Dittmann 1994, 1998). Von mehreren interdisziplinären Kommissionen wurden die Zustände im Straf- und Maßnahmenvollzug kritisch analysiert, wobei an vielen Orten zahlreiche Mängel festgestellt wurden, z. B. ungenügende forensische Kenntnisse der Gutachter, Unkenntnis der Vollzugsrealitäten, Vermischung von Therapeutenund Gutachterrolle, generelle Überbewertung der Resozialisierung zulasten der öffentlichen Sicherheit, mangelhafte Therapie- und Verlaufsdokumentation und vor allem keine systematische
Erfassung gefährlicher Täter und unsystematische, nicht transparente Prognosemethoden. Der Gesetzgeber wurde hierdurch bei der anschließenden Neuregelung des Straf- und Maßnahmenvollzugs sicher beeinflusst. Hinzu kam eine Volksinitiative, die sich für eine lebenslange unwiderrufliche Verwahrung gefährlicher Gewaltund Sexualstraftäter einsetzte und der es gelang, eine Mehrheit der Bevölkerung zur Annahme eines neuen Verfassungsartikels zu bewegen: Schweizerische Bundesverfassung: lebenslange Verwahrung (Art. 123a) 1. Wird ein Sexual- oder Gewaltstraftäter in den Gutachten, die für das Gerichtsurteil nötig sind, als extrem gefährlich erachtet und nicht therapierbar eingestuft, ist er wegen des hohen Rückfallrisikos bis an sein Lebensende zu verwahren. Frühzeitige Entlassung und Hafturlaub sind ausgeschlossen. 2. Nur wenn durch neue, wissenschaftliche Erkenntnisse erwiesen wird, dass der Täter geheilt werden kann und somit keine Gefahr mehr für die Öffentlichkeit darstellt, können neue Gutachten erstellt werden. Sollte auf Grund dieser neuen Gutachten die Verwahrung aufgehoben werden, so muss die Haftung für einen Rückfall des Täters von der Behörde übernommen werden, die die Verwahrung aufgehoben hat. 3. Alle Gutachten zur Beurteilung der Sexual- und Gewaltstraftäter sind von mindestens zwei voneinander unabhängigen, erfahrenen Fachleuten unter Berücksichtigung aller für die Beurteilung wichtigen Grundlagen zu erstellen.
Am Inhalt des neuen Verfassungsartikels haben forensische Psychiater, zahlreiche Politiker und Juristen erhebliche Kritik geäußert: So wird die fehlende Möglichkeit zur regelmäßigen Überprüfung der Verwahrung mehrheitlich als EMRK-widrig angesehen. Von psychiatrischer Seite wurde darauf hingewiesen, dass mit den heute zur Verfügung stehenden Methoden Prognosen zur „lebenslangen Unbehandelbarkeit“ nicht möglich sind. Schließlich widerspricht auch die zur Wahrung der Vereinbarkeit mit der Bundesverfassung wie auch der EMRK vorgesehene Möglichkeit einer neuen Beurteilung nach Prüfung durch eine neu zu schaffende eidgenössische Fachkommission zur Beurteilung der Behandelbarkeit lebenslänglich Verwahrter nur beim Vorliegen „neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse“ über die Behandelbarkeit eines spezifischen Täters den Erkenntnismöglichkeiten unseres Fachs, weil es niemals mit der notwendigen Sicherheit möglich ist, Forschungsergebnisse, die an Gruppen gewonnen wurden, auf den konkreten Einzelfall zu übertragen. 2014 wurde diese eidgenössische Fachkommission konstituiert, da zwei verurteilte Fälle vorliegen. Im Falle eines Sexualmordes verurteilte das Obergericht des Kantons Aargau 2013 den Täter zu einer lebenslänglichen Verwahrung, obwohl die beiden Gutachter eine lebenslängliche Unbehandelbarkeit nicht feststellen konnten. Das Gericht befand, dass die von den Gutachtern für 15 Jahre bezeichnete Unbehandelbarkeit hinreichend für eine lebenslängliche Verwahrung sei, was vom Bundesgericht so nicht akzeptiert und das Urteil zur Neubeurteilung an das Obergericht zurückgewiesen wurde. Das schweizerische Maßnahmenrecht in seiner seit 2007 gültigen Fassung bringt zwar eine deutliche Tendenz zur stärkeren Differenzierung und Diversifizierung mit sich, andererseits aber auch die konsequente Umsetzung eines vermehrten Sicherheitsdenkens (z. B. Heer 2019). Grundsätzlich muss ein Gericht eine Maßnahme anordnen, wenn • eine Strafe allein nicht geeignet ist, der Gefahr weiterer Straftaten des Täters zu begegnen,
• ein Behandlungsbedürfnis des Täters besteht oder • die öffentliche Sicherheit dies erfordert. Betont wird aber auch ein klares Verhältnismäßigkeitsprinzip unter Abwägung der Persönlichkeitsrechte des Täters einerseits und der Wahrscheinlichkeit und Schwere weiterer Straftaten andererseits. Art. 56 (Therapeutische Massnahmen und Verwahrung, Grundsätze) 1. Eine Massnahme ist anzuordnen, wenn: a) eine Strafe allein nicht geeignet ist, der Gefahr weiterer Straftaten des Täters zu begegnen; b) ein Behandlungsbedürfnis des Täters besteht oder die öffentliche Sicherheit dies erfordert; und c) die Voraussetzungen der Artikel 59–61, 63 oder 64 erfüllt sind. 2. Die Anordnung einer Massnahme setzt voraus, dass der mit ihr verbundene Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des Täters im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit und Schwere weiterer Straftaten nicht unverhältnismässig ist. 3. Das Gericht stützt sich beim Entscheid über die Anordnung einer Massnahme nach den Artikeln 59–61, 63 und 64 sowie bei der Änderung der Sanktion nach Artikel 65 auf eine sachverständige Begutachtung. 4. Diese äussert sich über: a) die Notwendigkeit und die Erfolgsaussichten einer Behandlung des Täters; b) die Art und die Wahrscheinlichkeit weiterer möglicher Straftaten; und c) die Möglichkeiten des Vollzugs der Massnahme. 5. Hat der Täter eine Tat im Sinne von Artikel 64 Absatz 1 begangen, so ist die Begutachtung durch einen Sachverständigen vorzunehmen, der den Täter weder behandelt noch in anderer Weise betreut hat.
6. Das Gericht ordnet eine Massnahme in der Regel nur an, wenn eine geeignete Einrichtung zur Verfügung steht. 7. Eine Massnahme, für welche die Voraussetzungen nicht mehr erfüllt sind, ist aufzuheben.
Wenn sowohl die Voraussetzungen für eine Maßnahme als auch für eine Strafe gegeben sind, sind beide Sanktionen anzuordnen, wobei der Maßnahmenvollzug der Freiheitsstrafe vorangehen soll. Ganz wesentliche Neuerungen hat die Behandlung psychisch gestörter Straftäter erfahren:
Merke Eine stationäre Behandlung kann nur noch angeordnet werden, wenn der Täter psychisch schwer gestört ist, wenn er ein Verbrechen oder Vergehen begangen hat, das mit seiner psychischen Störung im Zusammenhang steht und zu erwarten ist, dass dadurch der Gefahr weiterer mit der Störung im Zusammenhang stehender Taten begegnet werden könne. Ein aktueller Entscheid des Schweizerischen Bundesgerichts (2014) hat deutlich gemacht, dass analog den Voraussetzungen einer Schuldminderung bzw. -aufhebung nur eine in den aktuellen Klassifikationssystemen definierte Störung mit deutlicher Symptomausprägung als schwere psychische Störung gelten kann. Dennoch hat sich eine Debatte entfacht, in deren Verlauf gefordert wurde, nicht die psychisch kranken, sondern die gefährlichen Straftäter zu behandeln (Urbaniok 2018). Dieser Position wird entgegengehalten, dass ein Verlassen bewährter diagnostischer Systeme wie ICD oder DSM ein Rückschritt in die fachliche Beliebigkeit wäre, dass im Gegenteil die Behandlungserfolge bei Tätern, die an einer schweren psychischen Störung leiden,
hinsichtlich einer Reduktion der Rückfallwahrscheinlichkeit besser behandelt werden können und die Validität von forensischpsychiatrischen Rückfallprognosen tendenziell überschätzt wird (Habermeyer et al. 2019a). Nicht zuletzt erscheint es an der Schnittstelle zwischen Psychiatrie und Recht fundamental wichtig, dass beide Professionen in ihren jeweiligen Referenzsystemen bleiben und sich die fachlich-methodischen Grenzen sowie die Zuständigkeiten nicht vermengen (Habermeyer et al. 2019b). Kurz vor Drucklegung dieses Beitrags wich das Schweizer Bundesgericht mit zwei Urteilen (Bundesgerichtsentscheide 6B_933/2018 v. 3.10.2019 und 6B_828/2019 v. 5.11.2019) von der bisherigen Praxis ab, indem es bestimmte Neigungen und Persönlichkeitsmerkmale eines Täters unterhalb der Schwelle einer Diagnose nach ICD-10 oder DSM-5 wegen ihrer „Funktionalität“ in Bezug auf die Straftat als ausreichend für die Anordnung einer Maßnahme nach den Artikeln 59 oder 63 StGB ansieht: „Der Rechtsbegriff der schweren psychischen Störung (vgl. Art. 59 und 63 StGB) ist nach der neusten Rechtsprechung funktionaler Natur, da er sich nach dem Zweck der therapeutischen Massnahme richtet. … Die Schwere der psychischen Störung entspricht im Prinzip dem Ausmass, in welchem sich die Störung in der Tat spiegelt (Deliktrelevanz). Die rechtlich geforderte Schwere ergibt sich mit anderen Worten aus der Intensität des Zusammenhangs zwischen der (nach medizinischen Kriterien erheblich ausgeprägten, vorab zweifelsfrei festgestellten) Störung und der Straftat. Dabei kann eine Kombination von minder schweren Befunden eine Störungsqualität in der gesetzlich vorausgesetzten Schwere begründen (Urteil 6B_933/2018 vom 3. Oktober 2019 E. 3.5.6, zur Publikation vorgesehen). Obschon der Rechtsbegriff der schweren psychischen Störung funktionaler Natur ist, ist die Störung zunächst soweit möglich anhand einer anerkannten Klassifikation zu erfassen. Die Diagnose muss allerdings nicht unter allen Umständen in einem Klassifikationssystem wie ICD oder DSM aufgeführt sein. Für diejenigen Fälle, in denen die gutachterliche Diagnose nicht nach
ICD oder DSM kodiert werden kann, ist eine gesicherte Feststellung einer ausgeprägten psychischen Störung gleichwohl möglich, wenn sichergestellt ist, dass sie massgeblich auf delikt- und risikorelevanten persönlichkeitsnahen Risikofaktoren beruht, die einer risikovermindernden Therapie zugänglich sind. Trifft dies zu, ist eine gesetzeskonforme Abgrenzung zur (durch äussere, situative Faktoren aktivierten) nichtpathologischen Neigung zur Delinquenz gewährleistet (zum Ganzen: Urteil 6B__933/2018 vom 3. Oktober 2019 E 3.5.5, zur Publikation vorgesehen).“ Es bedarf keiner vertieften nosologischen Fachkenntnis, um die mehrfache Widersprüchlichkeit in dieser Argumentation zu erkennen. Entsprechend wird dieser rein am Zweck orientierte Zirkelschluss, wonach jegliche Disposition, die sich aus der Tathandlung ergibt und zur Rückfallreduktion grundsätzlich einer deliktpräventiven Behandlung zugänglich ist, einer schweren psychischen Störung im juristischen Verständnis entspricht und somit die Anordnung einer Maßnahme nach den Artikeln 59 und 63 StGB legitimiert, sowohl in der juristischen als auch psychiatrischen Fachwelt heftig gerügt (Habermeyer et al. 2020; Bommer 2020). Weiterhin soll die Behandlung in einer geeigneten psychiatrischen Einrichtung oder einer Maßnahmenvollzugseinrichtung stattfinden. Der mit der stationären Behandlung verbundene Freiheitsentzug soll i. d. R. höchstens 5 Jahre betragen, bei fehlendem Erfolg kann die Maßnahme um jeweils 5 Jahre verlängert werden. Analoge Regelungen bestehen für Täter mit Abhängigkeitserkrankungen, wobei neu nicht nur suchtmittelabhängige, sondern auch „in anderer Weise abhängige“ Täter behandelt werden können. Zu berücksichtigen ist die Behandlungsbereitschaft des Täters; die Behandlung soll in einer spezialisierten Einrichtung erfolgen. Die Maßnahme soll zunächst höchstens 3 Jahre dauern, sie kann einmal um ein weiteres Jahr verlängert werden. Wie im bisherigen Recht (Art. 100bis aStGB) sind spezielle Maßnahmen für junge Erwachsene vorgesehen (Art. 61), die zur Zeit der Tat noch nicht 25 Jahre alt und in ihrer
Persönlichkeitsentwicklung erheblich gestört sind. Diese Maßnahmenform wurde wie die Maßnahme bei Suchterkrankung (Art. 61) und die ambulante Maßnahme (Art. 63) im Gegensatz zur Maßnahme nach Art. 59 in den letzten Jahren deutlich seltener angeordnet. Art. 61 (Massnahmen für junge Erwachsene) 1. War der Täter zur Zeit der Tat noch nicht 25 Jahre alt und ist er in seiner Persönlichkeitsentwicklung erheblich gestört, so kann ihn das Gericht in eine Einrichtung für junge Erwachsene einweisen, wenn: a) der Täter ein Verbrechen oder Vergehen begangen hat, das mit der Störung seiner Persönlichkeitsentwicklung in Zusammenhang steht; und b) zu erwarten ist, dadurch lasse sich der Gefahr weiterer mit der Störung seiner Persönlichkeitsentwicklung in Zusammenhang stehender Taten begegnen. 2. Die Einrichtungen für junge Erwachsene sind von den übrigen Anstalten und Einrichtungen dieses Gesetzes getrennt zu führen. 3. Dem Täter sollen die Fähigkeiten vermittelt werden, selbstverantwortlich und straffrei zu leben. Insbesondere ist seine berufliche Aus- und Weiterbildung zu fördern. 4. Der mit der Massnahme verbundene Freiheitsentzug beträgt höchstens vier Jahre. Er darf im Falle der Rückversetzung nach bedingter Entlassung die Höchstdauer von insgesamt sechs Jahren nicht überschreiten. Die Massnahme ist spätestens dann aufzuheben, wenn der Täter das 30. Altersjahr vollendet hat. 5. Wurde der Täter auch wegen einer vor dem 18. Altersjahr begangenen Tat verurteilt, so kann die Massnahme in einer Einrichtung für Jugendliche vollzogen werden.
Sehr detailliert sind im neuen Recht auch die bedingte und die endgültige Entlassung sowie die Aufhebung der Maßnahmen geregelt (Art. 62 ff.). Weiterhin vorgesehen ist die primär ambulante Behandlung (Art. 63). Das Gericht kann den Vollzug einer zugleich ausgesprochenen Freiheitsstrafe aufschieben, um der Art der Behandlung Rechnung zu tragen. Neu ist, dass der Täter auch vorübergehend stationär behandelt werden kann, wenn dies zur Einleitung der ambulanten Behandlung geboten ist. Die stationäre Behandlung darf aber nicht länger als 2 Monate dauern. Die ambulante Behandlung soll insgesamt nicht länger als 5 Jahre dauern; ist eine Weiterführung notwendig, kann das Gericht auf Antrag der Vollzugsbehörde um jeweils 1–5 Jahre verlängern. Im Zentrum der öffentlichen Diskussion und der parlamentarischen Beratung im Zusammenhang mit dem neuen Maßnahmenrecht standen die Bestimmungen über die Verwahrung (Art. 64) auch unter dem Eindruck der oben dargestellten „Verwahrungsinitiative“. Das neue Recht kennt nur noch eine einheitliche Verwahrung, während vorher für psychisch gestörte und andere Täter zwei unterschiedliche Artikel galten. Eingangsvoraussetzung ist zunächst die Begehung einer schweren Straftat (Mord, vorsätzliche Tötung, schwere Körperverletzung, Vergewaltigung, Raub, Geiselnahme, Brandstiftung, Lebensgefährdung oder eine andere mit einer Höchststrafe von 5 Jahren oder mehr bedrohte Tat). Weiterhin ist erforderlich, dass der Täter die psychische, physische oder sexuelle Integrität einer anderen Person schwer beeinträchtigt hat oder beeinträchtigen wollte. Außerdem muss zu erwarten sein, dass der Täter aufgrund seiner Persönlichkeitsmerkmale, der Tatumstände und seiner gesamten Lebensumstände weitere Taten dieser Art begehen wird oder dass weitere Taten aufgrund einer anhaltenden oder lang dauernden psychischen Störung von erheblicher Schwere zu erwarten sind. Die Verwahrung soll in einer Maßnahmenvollzugseinrichtung oder einer Strafanstalt vollzogen werden, wobei die öffentliche
Sicherheit zu gewährleisten ist und der Täter, wenn notwendig, psychiatrisch betreut wird. Die Entlassung aus der Maßnahme wird auf Gesuch oder von Amts wegen mindestens einmal jährlich überprüft. Die erste Überprüfung erfolgt nach Ablauf von 2 Jahren. Mindestens alle 2 Jahre soll überprüft werden, ob die Voraussetzungen für eine stationäre psychiatrische Behandlung nunmehr gegeben sind. Die zuständige Behörde muss ihre Entscheidung stützen auf: • einen Bericht der Anstaltsleitung, • eine unabhängige sachverständige Begutachtung, • die Anhörung des Täters sowie • die Anhörung einer Fachkommission. Damit ist Gesetz geworden, was in der Schweiz seit vielen Jahren erfolgreich auf der Basis kantonaler Verordnungen praktiziert wird: Als Reaktion auf die seinerzeitigen Zwischenfälle im Straf- und Maßnahmenvollzugwurden landesweit seit mehr als 10 Jahren bereits interdisziplinäre Prognosekommissionen zur Beurteilung besonders gefährlicher Straftäter eingesetzt. Diese unabhängigen Kommissionen erstellen ein Prognosegutachten, wobei Vertreter verschiedener Fachrichtungen (Strafjustiz, Strafund Maßnahmenvollzug, forensische Psychiatrie) zusammenarbeiten. Die Beurteilungen sind keine direkten Vollzugsentscheidungen; die Kompetenz hierfür liegt nach wie vor bei den Behörden. Bisher waren diese Gutachten jedoch insofern „maßgeblich“, als ein Vollzugsbeamter oder Anstaltsleiter, der gegen eine derartige Empfehlung handelt, damit auch das volle Risiko für allfällige Zwischenfälle übernimmt. Die praktischen Erfahrungen mit den Prognosekommissionen sind insgesamt gut; in den letzten Jahren wurden einige hundert als besonders gefährlich eingestufte Straftäter evaluiert. Das Risikobewusstsein in den Anstalten und bei den Vollzugsverantwortlichen hat zugenommen, und gravierende Zwischenfälle sind in den letzten Jahren ausgeblieben. Insbesondere gegenüber den politisch Verantwortlichen wird jedoch von
forensisch-psychiatrischen Fachleuten immer wieder betont, dass vollständige Sicherheit auch bei interdisziplinärer und streng kriteriengeleiteter Beurteilung eines Falls nie erreicht werden kann. Die Kommissionen benutzen einen in der forensischpsychiatrischen Abteilung der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel entwickelten einheitlichen Kriterienkatalog (Hachtel et al. 2019), der die nachstehend aufgeführten Bereiche berücksichtigt und nach dem jeder Einzelfall systematisch und einheitlich aufgearbeitet wird: • Bisherige Kriminalität • Analyse der Anlasstat • Persönlichkeit • Psychische Störung • Krankheitseinsicht • Soziale Kompetenz • Spezifisches Konfliktverhalten • Auseinandersetzung mit der Tat • Allgemeine und reale Therapiemöglichkeiten • Therapiebereitschaft • Sozialer Empfangsraum • Bisheriger Verlauf des Vollzugs Die Kohärenz der Beurteilung innerhalb der interdisziplinären Gruppe ist i. Allg. sehr hoch. In den Fachkommissionen müssen nach den neuen Gesetzesbestimmungen Vertreter der Strafverfolgungsbehörden, der Vollzugsbehörde sowie der forensischen Psychiatrie vertreten sein. Sachverständige und Vertreter der Psychiatrie dürfen den Täter vorher nicht behandelt oder in anderer Weise betreut haben. „Gemeingefährlichkeit“ ist nach Art. 75a Abs. 3 anzunehmen, wenn die Gefahr besteht, dass der Gefangene flieht und eine weitere Straftat begeht, durch die er die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer anderen Person schwer beeinträchtigt. Voraussetzung für das Tätigwerden der Kommission ist zudem, dass der Täter ein Verbrechen gem. Art. 64 Abs. 1 begangen hat und die
Vollzugsbehörde die Gemeingefährlichkeit des Gefangenen nicht eindeutig beurteilen kann. Die Kommission ist immer dann zu hören, wenn eine Einweisung in eine offene Anstalt oder Vollzugsöffnungen erfolgen sollen. Das Maßnahmenrecht sieht auch eine nachträgliche Änderung der Sanktion nach Art. 65 Abs. 1 vor. Die Möglichkeit, während des Vollzugs einer Freiheitsstrafe oder einer Verwahrung die Umwandlung in eine stationäre therapeutische Maßnahme vorzunehmen, ist zu begrüßen. Die Bestimmungen über die nachträgliche Verwahrung nach Art. 65 Abs. 2 wurden von forensischen Psychiatern, aber auch von Strafrechtlern teils erheblich kritisiert. Die nachträgliche Verwahrung soll möglich sein, wenn sich während des Vollzugs der Freiheitsstrafe aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel ergibt, dass die Voraussetzungen der Verwahrung gegeben sind und zum Zeitpunkt der Beurteilung bereits bestanden haben, ohne dass das Gericht davon Kenntnis haben konnte (ausführlich z. B. Heer 2019). Insbesondere die Erfahrungen in Deutschland mit einer ähnlichen neuen Vorschrift zeigen, dass in der praktischen Umsetzung erhebliche Probleme bestehen (➤ Kap. 29.1). So ist wesentlich schwieriger festzulegen, was eine „neue Tatsache“ ist, als es auf den ersten Blick erscheinen mag.
49.4. Zivilrecht Das Schweizer Zivilrecht wurde in den letzten Jahren in wichtigen Bereichen grundsätzlich überarbeitet und ist seit dem 1.7.2013 in Kraft: Neben der Anpassung der Terminologie an moderne medizinische und juristische Begriffe wurde das bisherige „Vormundschaftsrecht“ durch das neue „Kindesund Erwachsenenschutzrecht“ ersetzt. Dieses bezweckt einerseits flexiblere und auf die individuellen Bedürfnisse angepasste Maßnahmen zum Schutz der betroffenen Personen und andererseits eine Professionalisierung der zuständigen Behörden mit eindeutiger Regelung der Zuständigkeiten (u. a. Geiser et al. 2011).
49.4.1. Handlungs- und Urteilsfähigkeit Dreh- und Angelpunkt ist weiterhin die Handlungsfähigkeit:
Merke Nach schweizerischem Zivilgesetzbuch (ZGB) ist Handlungsfähigkeit die Fähigkeit einer Person, durch ihre eigenen Handlungen Rechte und Pflichten zu begründen und damit die zivilrechtliche Verantwortlichkeit für ihr Tun und Lassen zu übernehmen. Die Handlungsfähigkeit hat zum einen zur Folge, dass eine vom Handelnden beabsichtigte Rechtswirkung wie eine Berechtigung oder Verpflichtung (z. B. Verkauf, Aufnahme eines Darlehens u. Ä.) eintritt, zum anderen bewirkt sie, dass eine Person zum Schadenersatz bei widerrechtlicher Handlung verpflichtet werden kann. Damit ein Mensch voll handlungsfähig ist, müssen zwei Elemente gegeben sein: Er muss urteilsfähig und mündig sein. Art. 12 (Handlungsfähigkeit) Wer handlungsfähig ist, hat die Fähigkeit, Handlungen Rechte und Pflichten zu begründen.
durch
seine
Art. 13 (Voraussetzungen) Die Handlungsfähigkeit besitzt, wer volljährig und urteilsfähig ist. Art. 16 (Urteilsfähigkeit) Urteilsfähig im Sinne dieses Gesetzes ist jede Person, der nicht wegen ihres Kindesalters, infolge geistiger Behinderung, psychischer Störung, Rausch oder ähnlicher Zustände die Fähigkeit mangelt, vernunftgemäss zu handeln. Art. 17 (Handlungsunfähigkeit) Handlungsunfähig sind urteilsunfähige Personen, Minderjährige sowie Personen unter umfassender Beistandschaft.
Art. 18 (Fehlen der Urteilsfähigkeit) Wer nicht urteilsfähig ist, vermag unter Vorbehalt der gesetzlichen Ausnahmen durch seine Handlungen keine rechtliche Wirkung herbeizuführen. Art. 19 (Urteilsfähige handlungsunfähige Personen) 1
Urteilsfähige handlungsunfähige Personen können nur mit Zustimmung ihres gesetzlichen Vertreters Verpflichtungen eingehen oder Rechte aufgeben. 2 Ohne diese Zustimmung vermögen sie Vorteile zu erlangen, die unentgeltlich sind, sowie geringfügige Angelegenheiten des täglichen Lebens zu besorgen. 3 Sie werden aus unerlaubten Handlungen schadenersatzpflichtig. Die Urteilsfähigkeit ist einer wichtigsten Begriffe des Zivilrechts.
der
forensisch-psychiatrisch
Merke Urteilsfähigkeit ist nach Art. 16 ZGB die Fähigkeit, vernunftgemäß zu handeln. Diese Fähigkeit kann durch verschiedene Schwächezustände aufgehoben oder nicht vorhanden sein, nämlich durch das Kindesalter, geistige Behinderung, psychische Störung, Rausch o. ä. Zustände. Mit der Revision von 2013 wurden die vormalig stigmatisierenden Begriffe der Geisteskrankheit, Geistesschwäche und Trunkenheit ersetzt. Der Zustand der Urteilsunfähigkeit braucht nicht längere Zeit anzudauern, entscheidend ist, dass er im Zeitpunkt der zur Diskussion stehenden Handlung vorliegt. Dabei ist es nicht zulässig, allein aus der Unvernünftigkeit einer bestimmten Handlung den Schluss auf fehlende Urteilsfähigkeit zu ziehen; hieraus können allenfalls Hinweise abgeleitet werden. In Analogie zur Prüfung der Schuldfähigkeit im Strafrecht ist es auch im Zivilrecht die Aufgabe
des forensisch-psychiatrischen Sachverständigen, zunächst eine Diagnose zu stellen und diese dann einem der Eingangsmerkmale zuzuordnen.
Merke Geistige Behinderung bedeutet in erster Linie eine ausgeprägte Leistungsbeeinträchtigung intellektuell-kognitiver Fähigkeiten wie Wahrnehmung, Konzentration, Erkennen, Gedächtnis, Einordnen, Vorstellungsvermögen, Bewerten, Schlussfolgern und Entscheiden; der Begriff ist jedoch nicht deckungsgleich mit Schwachsinn. Der frühere juristische Krankheitsbegriff der „Geisteskrankheit“ wurde durch „psychische Störung“ abgelöst, womit auch grundsätzlich Störungen ohne vollständigen Realitätsverlust als Eingangsgrund für die Annahme einer fehlenden Urteilsfähigkeit gelten können. Kann eine psychiatrische Diagnose gestellt und einem der Eingangskriterien zugeordnet werden, wie z. B. eine Demenz (Graf und Krebs-Roubicek 2008), so ist in einem zweiten Schritt die Auswirkung der Störung auf die infrage stehende Handlung zu diskutieren. Nach herrschender Lehre und Rechtsprechung müssen dabei je zwei kognitive und zwei voluntative Elemente berücksichtigt werden. Fehlt nur eines von ihnen, so liegt Urteilsunfähigkeit vor: • Erkenntnisfähigkeit: Die handelnde Person muss in der Lage sein, die Außenwelt zumindest in ihren Grundzügen richtig zu erkennen und sich ein adäquates Bild von der Realität zu verschaffen. • Wertungsfähigkeit: die Fähigkeit zu rationaler Beurteilung und das Vermögen, sich über die Tragweite und die
Opportunität der infrage stehenden Handlung ein vernünftiges Urteil zu bilden. Die Wertungsfähigkeit beruht dabei auf der Erkenntnisfähigkeit. Fehlt bereits Erstere, so sind weitere Überlegungen nicht mehr notwendig; es liegt Urteilsunfähigkeit vor. • Fähigkeit zur Willensbildung: die Fähigkeit, aufgrund gewonnener Einsicht und eigener Motive einen nach außen wirksamen Willen zu bilden, bei verschiedenen denkbaren Möglichkeiten eine Entscheidung zu treffen. • Willenskraft: die Kraft, gemäß gewonnener Einsicht und eigenem Willen zu handeln, d. h. auch über die Fähigkeit zu verfügen, dem Versuch einer fremden Willensbeeinflussung in normaler Weise Widerstand zu leisten. Selbst wenn für ein bestimmtes Rechtsgeschäft Urteilsunfähigkeit feststeht, bedeutet dies nicht, dass alle im fraglichen Zeitraum durchgeführten Handlungen betroffen sind. Dieselbe Person kann z. B. für leicht verständliche naheliegende alltägliche Handlungen urteilsfähig, für gleichzeitig durchgeführte kompliziertere Rechtsgeschäfte jedoch urteilsunfähig sein, d. h., die Urteilsfähigkeit ist relativ. Auch Menschen mit psychischen Störungen können in einem mehr oder minder großen Umfang urteilsfähig sein. Grundsätzlich gilt, dass im Zweifelsfall die Urteilsfähigkeit vermutet wird, d. h., wer aus der Urteilsunfähigkeit Rechte ableiten will, muss diese beweisen, dabei genügt allerdings eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, die jeden erheblichen Zweifel ausschließt. Die gleichen Prinzipien werden auch bei der Beurteilung der Testierfähigkeit gem. Art. 67 ZGB als der Fähigkeit, über sein Vermögen letztwillig zu verfügen, angewandt (Aebi-Müller 2012). Menschen mit psychischen Störungen können grundsätzlich ein Testament verfassen. Im Zweifelsfall hat derjenige, der die letztwillige Verfügung anfechten möchte, die Beweislast. Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften hat 2018 zumindest teilweise im Zusammenhang mit der Erarbeitung von Richtlinien im Umgang mit Entscheiden am
Lebensende, und dort explizit dem assistierten Suizid, Richtlinien zur Beurteilung der Urteilsfähigkeit in der Praxis publiziert.4
49.4.2. Der Erwachsenenschutz Wie oben kurz einleitend dargestellt, soll das neue Erwachsenenschutzrecht in Anlehnung an das deutsche Betreuungsrecht dem individuellen Schutzbedürfnis des Betroffenen durch maßgeschneiderte abgestufte Maßnahmen (z. B. KOKESPraxisanleitung der Konferenz der Kantone für Kindes- und Erwachsenenschutz 2012) besser entsprechen bei gleichzeitig möglichst geringer Beschneidung der Persönlichkeitsrechte und einer Professionalisierung der zuständigen Behörden. Durch klare Regelungen mit den Instrumenten des „Vorsorgeauftrags“, der „Vertretung bei medizinischen Maßnahmen“ sowie der „Patientenverfügung“, wurden zudem die Rechte einer urteilsfähigen Person im Hinblick auf eine allfällige Urteilsunfähigkeit gestärkt (Übersicht in Rosch et al. 2011). Art. 360 Abs. 1 besagt: „Eine handlungsfähige Person kann eine natürliche oder juristische Person beauftragen, im Fall ihrer Urteilsunfähigkeit die Personensorge oder die Vermögenssorge zu übernehmen oder sie im Rechtsverkehr zu vertreten.“ Während Art. 360 somit auch umfassende Vertretungen in mehreren Rechtsbereichen beinhalten kann, ist die Patientenverfügung nach Art. 370 auf die Zustimmung zu medizinischen Maßnahmen im Fall der Urteilsunfähigkeit eingegrenzt. Art. 370 A. Grundsatz 1
Eine urteilsfähige Person kann in einer Patientenverfügung festlegen, welchen medizinischen Massnahmen sie im Fall ihrer Urteilsunfähigkeit zustimmt oder nicht zustimmt.
2
Sie kann auch eine natürliche Person bezeichnen, die im Fall ihrer Urteilsunfähigkeit mit der behandelnden Ärztin oder dem behandelnden Arzt die medizinischen Massnahmen besprechen und in ihrem Namen entscheiden soll. Sie kann dieser Person Weisungen erteilen. 3 Sie kann für den Fall, dass die bezeichnete Person für die Aufgaben nicht geeignet ist, den Auftrag nicht annimmt oder ihn kündigt, Ersatzverfügungen treffen. Ursprünglich sah der Rechtsgeber im Instrument der Patientenverfügung eine verbindliche Durchsetzung des Willens einer urteilsfähigen Person im Fall der Urteilsunfähigkeit. Im Hinblick auf die Umsetzung in der Praxis haben sich dann aber Zweifel an der Durchführbarkeit gezeigt, was sich in Abs. 2 von Art. 372 (Eintritt der Urteilsunfähigkeit) abbildet. Art. 372 C. Eintritt der Urteilsunfähigkeit 1
Ist die Patientin oder der Patient urteilsunfähig und ist nicht bekannt, ob eine Patientenverfügung vorliegt, so klärt die behandelnde Ärztin oder der behandelnde Arzt dies anhand der Versichertenkarte ab. Vorbehalten bleiben dringliche Fälle. 2 Die Ärztin oder der Arzt entspricht der Patientenverfügung, ausser wenn diese gegen gesetzliche Vorschriften verstösst oder wenn begründete Zweifel bestehen, dass sie auf freiem Willen beruht oder noch dem mutmasslichen Willen der Patientin oder des Patienten entspricht. 3 Die Ärztin oder der Arzt hält im Patientendossier fest, aus welchen Gründen der Patientenverfügung nicht entsprochen wird. In der gegenwärtigen Rechtspraxis bedeutet dies, dass die Patientenverfügung zwar ein wichtiges Indiz für den mutmaßlichen Willen der urteilsunfähigen Person ist, aber auch nicht mehr. In Anbetracht rasch wechselnder Situationen bei Gesundheitszuständen, die eine Urteilsunfähigkeit begründen, wird
deshalb zur Durchsetzung des eigenen Willens eher geraten, eine vertretungsberechtigte Person zu bestimmen. Neu sind auch bei Fehlen einer vorgängig definierten vertretungsberechtigten Person oder einer Patientenverfügung nun verbindlich die dann vertretungsberechtigten Personen in Art. 378 gesetzlich bestimmt: Art. 378 B. Vertretungsberechtigte Person 1
Die folgenden Personen sind der Reihe nach berechtigt, die urteilsunfähige Person zu vertreten und den vorgesehenen ambulanten oder stationären Massnahmen die Zustimmung zu erteilen oder zu verweigern: 1. die in einer Patientenverfügung oder in einem Vorsorgeauftrag bezeichnete Person; 2. der Beistand oder die Beiständin mit einem Vertretungsrecht bei medizinischen Massnahmen; 3. wer als Ehegatte, eingetragene Partnerin oder eingetragener Partner einen gemeinsamen Haushalt mit der urteilsunfähigen Person führt oder ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet; 4. die Person, die mit der urteilsunfähigen Person einen gemeinsamen Haushalt führt und ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet; 5. die Nachkommen, wenn sie der urteilsunfähigen Person regelmässig und persönlich Beistand leisten; 6. die Eltern, wenn sie der urteilsunfähigen Person regelmässig und persönlich Beistand leisten; 7. die Geschwister, wenn sie der urteilsunfähigen Person regelmässig und persönlich Beistand leisten. 2
Sind mehrere Personen vertretungsberechtigt, so dürfen die gutgläubige Ärztin oder der gutgläubige Arzt voraussetzen, dass jede im Einverständnis mit den anderen handelt.
3
Fehlen in einer Patientenverfügung Weisungen, so entscheidet die vertretungsberechtigte Person nach dem mutmasslichen Willen und den Interessen der urteilsunfähigen Person. Bei Gefahr im Verzug (auch für einen Gesundheitsschaden) gilt weiterhin die Regelung, dass die Ärztin oder der Arzt nach dem mutmaßlichen Willen der betroffenen Person handeln darf bzw. handeln muss. Dabei müssen alle mit einem vernünftigen Aufwand und zeitnah zu beschaffenden Informationen einbezogen werden. Art. 379 C. Dringliche Fälle In dringlichen Fällen ergreift die Ärztin oder der Arzt medizinische Massnahmen nach dem mutmasslichen Willen und den Interessen der urteilsunfähigen Person. Als Voraussetzung für die Behandlung einer psychisch kranken urteilsunfähigen Person gilt nach wie vor die fürsorgerische Unterbringung (FU, früher fürsorgerischer Freiheitsentzug, FFE) (Bernhart 2011). Art. 380 D. Behandlung einer psychischen Störung Die Behandlung einer psychischen Störung einer urteilsunfähigen Person in einer psychiatrischen Klinik richtet sich nach den Bestimmungen über die fürsorgerische Unterbringung. Wie im alten Vormundschaftsgesetz müssen für eine neugesetzliche fürsorgerische Unterbringung zwei Stufen erfüllt sein: • zuerst die neu als „Schwächezustände“ bezeichneten Eingangskriterien der „psychischen Störung“, „geistigen Behinderung“ oder der schweren Verwahrlosung und • dann die Eingangsgründe der notwendigen Behandlung oder Betreuung, die, so die Verhältnismäßigkeitsklausel,
nicht anders erfolgen kann. Neu ist neben der dabei zu berücksichtigenden Belastung Angehöriger oder Dritter auch explizit der Schutz dieser Personen erwähnt, womit Art. 426 vom Grundgedanken der persönlichen Fürsorge abweicht. Art. 426 A. Die Massnahmen I. Unterbringung zur Behandlung oder Betreuung 1 Eine Person, die an einer psychischen Störung oder an geistiger Behinderung leidet oder schwer verwahrlost ist, darf in einer geeigneten Einrichtung untergebracht werden, wenn die nötige Behandlung oder Betreuung nicht anders erfolgen kann. 2 Die Belastung und der Schutz von Angehörigen und Dritten sind zu berücksichtigen. 3 Die betroffene Person wird entlassen, sobald die Voraussetzungen für die Unterbringung nicht mehr erfüllt sind. 4 Die betroffene oder eine ihr nahestehende Person kann jederzeit um Entlassung ersuchen. Über dieses Gesuch ist ohne Verzug zu entscheiden. In den Folgeartikeln ist neben den Rekursmöglichkeiten auch die medikamentöse Behandlung bei fehlender Einwilligungsfähigkeit geregelt. Die früheren Kategorien der Beistandschaft, Beiratschaft und Vormundschaft wurden im neuen Erwachsenenschutzrecht durch die verschiedenen individuell anpassbaren Beistandschaften abgelöst. Art. 390 A. Voraussetzungen 1
Die Erwachsenenschutzbehörde errichtet eine Beistandschaft, wenn eine volljährige Person: 1. wegen einer geistigen Behinderung, einer psychischen Störung oder eines ähnlichen in der Person liegenden
Schwächezustands ihre Angelegenheiten nur teilweise oder gar nicht besorgen kann; 2. wegen vorübergehender Urteilsunfähigkeit oder Abwesenheit in Angelegenheiten, die erledigt werden müssen, weder selber handeln kann noch eine zur Stellvertretung berechtigte Person bezeichnet hat. 2
Die Belastung und der Schutz von Angehörigen und Dritten sind zu berücksichtigen. 3 Die Beistandschaft wird auf Antrag der betroffenen oder einer nahestehenden Person oder von Amtes wegen errichtet. Die Begleitbeistandschaft nach Art. 393 wird mit Zustimmung der hilfsbedürftigen Person errichtet und schränkt deren Handlungsfähigkeit nicht ein. Zur Vertretung in bestimmten Bereichen kann die Erwachsenenschutzbehörde die Handlungsfähigkeit einer hilfsbedürftigen Person in Teilbereichen durch eine Vertretungsbeistandschaft nach Art. 394 einschränken. Dies ist meist bei Vertretungsbeistandschaften zur Vermögensverwaltung nach Art. 395 der Fall. Die Mitwirkungsbeistandschaft nach Art. 396 setzt das Einverständnis der Beiständin oder des Beistandes als Instrument zum Schutz bei bestimmten Rechtsgeschäften ein. Alle diese Beistandschaften können nach Art. 397 untereinander kombiniert werden. Schließlich entspricht die neue umfassende Beistandschaft nach Art. 398 der früheren „Entmündigung“ oder „Vormundschaft“ bei dauernder Urteilsunfähigkeit und besonderer Hilfsbedürftigkeit. Sie beinhaltet demgemäß alle Angelegenheiten der Personensorge, der Vermögenssorge und des Rechtsverkehrs und hat Handlungsunfähigkeit zur Folge.
49.4.3. Eherecht
Nach Art. 94 ff. ZGB handelt es sich bei der Eheschließung um ein Rechtsgeschäft besonderer Art. Voraussetzung ist, dass die Verlobten urteilsfähig sind, d. h., sie müssen in der Lage sein, das Wesen und die Bedeutung der Ehe zu erfassen und Verständnis für die mit der Ehe verbundenen Aufgaben und Pflichten haben. Grundsätzlich werden damit an diese spezielle Form der Urteilsfähigkeit relativ hohe Anforderungen gestellt; zu prüfen ist sie nicht nur in Bezug auf die Eheschließung selbst, sondern auf die Fähigkeit zur Führung der Ehe. Gelegentlich hat man als Gutachter retrospektiv zu beurteilen, ob ein Ehepartner bei der Eheschließung geisteskrank oder aus anderem Grund nicht urteilsfähig war und damit gem. Art. 105, 107 ZGB die Ehe als ungültig zu erklären ist. Nach Art. 115 ZGB kann ein Ehegatte die Scheidung verlangen, wenn ihm die Fortsetzung der Ehe aus schwerwiegenden Gründen, die ihm nicht zuzurechnen sind, nicht zugemutet werden kann (z. B. auch eine Geisteskrankheit). Es handelt es sich hierbei um eine Rechtsgüterabwägung, die der Gutachter nicht vorzunehmen hat. Seine Aufgabe besteht lediglich darin aufzuzeigen, welche Auswirkungen eine psychische Störung auf das Verhalten in der Ehe hat.
49.4.4. Sozialversicherungsrecht Versicherungsmedizinische Begutachtung Das versicherungsmedizinische Gutachten gilt als ein wesentliches Beweismittel bei strittigen Fragen im Bereich des komplexen schweizerischen Sozialversicherungssystems. Dabei werden, im Vergleich zu anderen medizinischen Disziplinen, besonders häufig psychiatrische Gutachten in Auftrag gegeben (häufig auch bei polydisziplinären Begutachtungen), vor allem, da sich viele der Fälle im komplexen Grenzbereich zwischen Psyche und Soma befinden und sich zumeist schwierige Kausalitätsfragen ergeben (u. a. Murer et al. 1993, 1994). Die Bedeutung des Gutachtens anerkennt auch das schweizerische Bundesgericht (Bger), so z. B. in BGE 111 V 375:
„Für die Feststellung natürlicher Kausalzusammenhänge im Bereich der Medizin sind Verwaltung und Richter auf die Angaben ärztlicher Experten angewiesen.“ Dabei sollen die Richter nicht ohne zwingende Gründe von den Folgerungen des medizinischen Gutachters abweichen. Hinsichtlich des Beweiswertes eines Arztberichts oder Gutachtens ist dabei entscheidend, ob die Ausführungen für die strittigen Belange umfassend sind, auf allseitigen Untersuchungen beruhen, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigen, in Kenntnis der Vorakten und der Anamnese abgegeben wurden, in der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge und der medizinischen Situation einleuchtend und die Schlussfolgerungen begründet und nachvollziehbar sind. Ausschlaggebend für den Beweiswert ist dabei grundsätzlich weder die Herkunft des Beweismittels noch die Bezeichnung der eingereichten oder in Auftrag gegebenen Stellungnahmen als Bericht oder Gutachten (BGE 125 V 352 Erw. 3a).
Merke Grundsätzlich ist bei sozialrechtlichen Fragestellungen zwischen der Ermittlung des Tatbestands und den Rechtsfolgen zu unterscheiden. Die Mitwirkung des medizinischen Sachverständigen erstreckt sich dabei ausschließlich auf den ersten Teil (Fredenhagen 2003). In der Schweiz gibt es zehn verschiedene Sozialversicherungszweige (z. B. Invalidenversicherung, Krankenversicherung oder Unfallversicherung). Für alle gilt als koordinierendes Rahmengesetz das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000. Das ATSG enthält zahlreiche für die medizinische Begutachtung relevante Vorschriften. So ist die versicherte Person verpflichtet, sich i. R. von Leistungsabklärungen einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen (Art. 43 Abs. 2 ATSG). In Art. 44 wird
das Verfahren zur Einholung eines Gutachtens geregelt. Der Versicherungsträger muss einen unabhängigen Sachverständigen bestellen und dessen Namen der versicherten Person im Voraus bekannt geben. Die versicherte Person kann den Gutachter jedoch nur aus triftigen Gründen ablehnen, die lediglich persönliche Interessen oder Befangenheit in der Sache (Art. 36 Abs. 1 ATSG und Art. 10 VwVG) sein können. Inhaltliche Vorbehalte werden verfahrensrechtlich erst i. R. der Beweiswürdigung des Gutachtens angehört. Besonders wichtige Sozialversicherungszweige hinsichtlich der psychiatrischen Begutachtung sind vor allem die Invalidenversicherung (IV) und die Unfallversicherung (UV). Über diese Sozialwerke erhalten Anspruchsberechtigte Sachleistungen (z. B. medizinische Maßnahmen, Hilfsmittel, berufliche Eingliederungsmaßnahmen) und Geldleistungen (z. B. Taggelder, Renten). IV und UV decken Risiken wie Tod, Invalidität, Geburtsgebrechen, Unfall5, Berufskrankheit sowie Hilflosigkeit ab. Alle diese versicherungsrechtlichen sozialen Risiken enthalten auch medizinische Komponenten.
Merke Der psychiatrische Gutachter muss sich bei einem konkreten Auftrag darüber klar sein, ob das jeweilige Sozialversicherungsgesetz final oder kausal angelegt ist. Die Invalidenversicherung ist eine finale Versicherung, bei der die Ursache einer gesundheitlichen Schädigung nicht im Vordergrund steht, sondern nach ihrem Ausmaß und ihren Auswirkungen gefragt wird. Im Gegensatz dazu bietet die Unfallversicherung nur Schutz für Gesundheitsschäden und ihre Folgen, die durch einen versicherten Unfall verursacht wurden. Hauptaufgabe des Gutachters ist hier die medizinische Klärung von Kausalzusammenhängen (Kind 1993). Ebenso wie bei der IV steht
die Frage der funktionellen Leistungseinschränkung, der Auswirkung des Gesundheitsschadens auf die Arbeitsfähigkeit und die entsprechende medizinische Prognose im Vordergrund. Fragen zur medizinischen Zumutbarkeit von medizinischen Interventionen sind in beiden Versicherungszweigen von zentraler Bedeutung. Generell erfordert die Begutachtung im Sozialversicherungsrecht ein systematisches und logisches Vorgehen. Im Bereich der Rentenprüfung bei der IV hat das Bundesgericht für Depressionen und andere psychische Leiden ein „ergebnisoffenes, strukturiertes Beweisverfahren“ (sogenannte Indikatorenrechtsprechung, BGE 141 V 241, vgl. BGE 143 V 409, 143 V 418) für anwendbar erklärt: • Zunächst ist in diesem Verfahren, wie in den anderen Begutachtungsbereichen, eine psychiatrische Diagnose zu stellen. Eine detaillierte Darstellung der Symptome und Befunde, auf denen die Diagnose beruht, ist wesentlich. • In einem zweiten Schritt ist dann darzulegen, welche Funktionsbeeinträchtigung die Erkrankung, Störung oder Schädigung mit sich bringt, wie sie voraussichtlich verlaufen wird und welche therapeutischen Möglichkeiten es gibt. • Zudem hat sich der Gutachter im IV-Verfahren zum konsistenten Verhalten des Versicherten, zum Schweregrad der Störung, zu den vorliegenden Ressourcen, zu Aspekten der Persönlichkeit und zum sozialen Kontext zu äußern. • Schließlich ist bei entsprechender Fragestellung die Kausalität zwischen einem schädigenden Ereignis und einer auf einer Gesundheitsstörung beruhenden dauernden oder vorübergehenden Funktionseinbuße zu erörtern. Als ein Hilfsmittel stehen dem psychiatrischen Gutachter dabei die Qualitätsleitlinien für versicherungspsychiatrische Gutachten der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) zur Verfügung.6 Versicherungsrechtliche Begriffe
Grundsätzlich ist für den Gutachter die Kenntnis von versicherungsrechtlichen Begriffen unabdingbare Voraussetzung (Colomb et al. 2012). Gesundheitsschade Oberbegriff für Krankheit und Unfall. Es handelt sich dabei um eine Störung des körperlichen, geistigen oder psychischen Wohlbefindens. Krankheit Im sozialversicherungsrechtlichen Zusammenhang ist Krankheit ein funktionaler und bedarfsorientierter Begriff bezogen auf mögliche Versicherungsleistungen, der in Art. 3 ATSG wie folgt definiert wird: „Krankheit ist jede Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit, die nicht Folge eines Unfalles ist und die eine medizinische Untersuchung oder Behandlung erfordert oder eine Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat.“ Dabei muss die Beeinträchtigung der Gesundheit objektiv festgestellt werden; ein lediglich subjektives Krankheitsgefühl reicht nicht aus. Der juristische Krankheitsbegriff ist nicht deckungsgleich mit dem medizinischen Krankheitsverständnis. Berufskrankheit Gemäß Unfallversicherungsgesetz (UVG 9/1) ist eine Berufskrankheit eine Krankheit, die bei der beruflichen Tätigkeit ausschließlich oder vorwiegend durch schädigende Stoffe oder durch bestimmte Arbeiten verursacht worden ist oder von der nachgewiesen wird, dass sie ausschließlich oder stark überwiegend durch berufliche Tätigkeiten verursacht wurde. Der berufsbedingte Verursachungsanteil muss dabei mindestens 75 % ausmachen. Psychische Störungen können in seltenen Fällen (z. B. als Folge von beruflichen Polizeieinsätzen oder Einsätzen in Kriegsgebieten) als Berufskrankheit anerkannt werden. Unfall
Als Unfall gilt die plötzliche, nicht beabsichtigte schädigende Einwirkung eines ungewöhnlichen äußeren Faktors auf den menschlichen Körper (Art. 4 ATSG). Dabei müssen sämtliche Faktoren kumulativ erfüllt sein (Murer et al. 1993). Arbeitsunfähigkeit Gemäß Art. 6 ATSG gilt: „Arbeitsunfähigkeit ist die durch eine Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit bedingte, volle oder teilweise Unfähigkeit, im bisherigen Beruf oder Aufgabenbereich zumutbare Arbeit zu leisten. Bei langer Dauer wird auch die zumutbare Tätigkeit in einem anderen Beruf oder Aufgabenbereich berücksichtigt.“ Bei Arbeitsunfähigkeit handelt es sich also im Grundsatz um eine Einbuße an funktionellem Leistungsvermögen. Bei ihrer Beurteilung kommt es zunächst nicht auf die Kausalität (wobei immer ein Gesundheitsschaden als Grundursache gegeben sein muss), sondern lediglich auf die Auswirkung eines Gesundheitsschadens an. Die Arbeitsunfähigkeit wird i. Allg. in Prozentsätzen angegeben, wobei das Ausmaß im konkreten Einzelfall unter Berücksichtigung der besonderen Bedingungen im betreffenden Beruf oder Tätigkeitsbereich festzulegen ist, d. h., der gleiche Gesundheitsschaden kann in verschiedenen Berufen zu unterschiedlichen Graden von Arbeitsunfähigkeit führen. Bei längerer Arbeitsunfähigkeit verlangt die Rechtsprechung von der versicherten Person auch, dass sie ihre restliche Arbeitsfähigkeit in einem zumutbaren anderen Berufszweig verwertet. Erst wenn alle medizinischen und beruflichen Eingliederungsmaßnahmen gescheitert sind und sich die Arbeitsunfähigkeit nicht nur auf die angestammte Tätigkeit, sondern auf den gesamten Arbeitsmarkt bezieht, ist eine Erwerbsunfähigkeit zu prüfen. Ist die Erwerbsunfähigkeit von langer Dauer wird gar die Invalidität geprüft. Der medizinische Gutachter hat sich im Prinzip nur zur Arbeitsunfähigkeit zu äußern. Ob letztlich eine Erwerbsunfähigkeit oder gar eine Invalidität vorliegt, ist eine Rechtsfrage und wird in der Schweiz von der Verwaltung geprüft. Invalidität
Die Invalidität ist der durch einen Gesundheitsschaden verursachte und nach zumutbarer Behandlung oder Eingliederung verbleibende länger dauernde völlige oder teilweise Verlust der Erwerbsmöglichkeiten auf dem in Betracht kommenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt (vgl. Art. 7 und Art. 8 ATSG). Der Begriff ist dabei relativ anzuwenden in Abhängigkeit davon, welche Leistungen beansprucht werden. Für den Anspruch auf Arbeitsvermittlung ist bereits ausreichend, dass die versicherte Person bei der Suche nach einer geeigneten Arbeitsstelle gesundheitlich bedingte Schwierigkeiten hat. Für die Rentenberechtigung muss i. d. R. während mindestens eines Jahres eine erhebliche Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit vorgelegen haben. Grundsätzlich gilt das Prinzip „Rehabilitation oder Integration vor Rente“. Bei psychischen Erkrankungen ist die Beurteilung des relevanten Gesundheitsschadens oft besonders schwierig. Es handelt sich jedoch um einen wichtigen Bereich, da in der Schweiz psychische Störungen statistisch an der Spitze der Invaliditätsursachen stehen. Gerade bei der Beurteilung der Invalidität kommt es nicht allein auf die Diagnose an. So kann eine aus psychiatrischer Perspektive schwere Erkrankung wie eine Schizophrenie, die medikamentös eventuell gut behandelbar ist, in den symptomfreien oder symptomarmen Intervallen die Arbeitsfähigkeit gar nicht oder nur geringfügig beeinträchtigen, während eine chronifizierte, primär nicht als schwer imponierende psychogene Störung trotz Therapie bei längerem Verlauf zu Arbeitsunfähigkeit führen kann. Dabei ist insbesondere auch auf die Prognose abzustellen. Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherungen haben letztlich nur die Versicherten, die ihre Erwerbsfähigkeit oder die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen, nicht durch zumutbare Eingliederungsmaßnahmen wiederherstellen, erhalten oder verbessern können und während eines Jahres ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich mindestens 40 % arbeitsunfähig gewesen sind; und nach Ablauf dieses Jahres zu mindestens 40 % invalid sind (Art. 28 Abs. 1 IVG). Bei der Rentenprüfung ermittelt die IV zuerst den Invaliditätsgrad
(Verhältnis vom Validen- zum Invalideneinkommen → wirtschaftliche Größe). Je nach Invaliditätsgrad wird die Rente abgestuft: bei einem Invaliditätsgrad von mindestens 40 % wird eine Viertelsrente gesprochen, bei einem Invaliditätsgrad von mindestens 50 % eine halbe Rente, bei mindestens 60 % eine Dreiviertelsrente und erst ab einem Invaliditätsgrad von 70 % eine ganze Invaliditätsrente. Die Rente wird gleich berechnet wie die Altersrente der AHV. Beitragshöhe und Beitragsdauer (keine Lücken) sind für die Rentenhöhe entscheidend. Wenn die Invalidität aufgrund eines Unfalls eingetreten ist und der Versicherte Anspruch auf eine Rente der UV hat, bekommt der Versicherte eine Invalidenrente der UV. Dort folgt die Berechnung der Rentenhöhe einem anderen Muster: Bereits ab einer Invalidität von 10 % hat der versicherte Anspruch auf eine Rente. Die Abstufung erfolgt dann stufenlos. Bei einer Vollrente entspricht die Rentenhöhe 80 % des versicherten Verdienstes (mit Höchstgrenze). Bei Teilinvalidität wird sie entsprechend gekürzt. Hat der Versicherte zudem Anspruch auf eine Rente der IV oder auf eine Rente der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV), so wird ihm eine Komplementärrente gewährt; diese entspricht maximal 90 % des versicherten Verdienstes (Art. 18 ff. UVG). Zu einer Rente der IV und/oder UV kann je nach Konstellation noch eine Invalidenrente der beruflichen Vorsorge hinzukommen (vgl. Bundesgesetz über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge [BVG]). Hilflosigkeit Hilflos ist eine Person, die wegen Beeinträchtigung ihrer Gesundheit für alltägliche Lebensverrichtungen dauernd der Hilfe Dritter oder der persönlichen Überwachung bedarf (Art. 9 ATSG). Dabei ist die Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit irrelevant. IV und UV gewähren Leistungen im Falle einer Hilflosigkeit. Kausalität
Im Unfallversicherungsrecht ergibt sich regelmäßig die Frage, welche psychischen Störungen nach Unfällen für die UV zu einer Leistungspflicht führen. Um diese Leistungspflicht zu bejahen, müssen zwei Kriterien erfüllt sein: • Zunächst muss eine natürliche Kausalität gegeben sein. • In einem zweiten Schritt wird die adäquate Kausalität geprüft (Adäquanz). Ursachen i. S. eines natürlichen Kausalzusammenhangs sind alle Umstände, ohne deren Vorhandensein der eingetretene Erfolg als nicht eingetreten oder nicht als in der gleichen Weise bzw. nicht zur gleichen Zeit eingetreten gedacht werden kann (BGE 112 V 32 Erw. 1a). Es geht bei der natürlichen Kausalität um eine Tatsachenfrage, über welche die Verwaltung und im Beschwerdefall das Versicherungsgericht nach dem im Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit zu entscheiden haben. Dabei ist die Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen z. B. mit einem medizinischen Gutachten zu beweisen. Adäquate Kausalität Da allein die Abstützung auf die Bejahung der natürlichen Kausalität zu ausufernden Leistungsansprüchen führen würde, wird zusätzlich die adäquate Kausalität als Leistungsvoraussetzung verlangt, die nicht ärztlich festgelegt wird. Ein Ereignis gilt dann als adäquate Ursache eines Erfolgs, wenn es nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und nach der allgemeinen Lebenserfahrung an sich geeignet ist, einen Erfolg von der Art des eingetretenen herbeizuführen, wenn der Eintritt dieses Erfolgs also durch das Ereignis allgemein als begünstigt erscheint (BGE 115 V 135 Erw. 4a). In weiteren Entscheidungen hat das Bundesgericht präzisiert: Einem Unfall kommt dann maßgebende Bedeutung für die Entstehung einer Arbeits- bzw. Erwerbsunfähigkeit zu, wenn er objektiv eine gewisse Schwere aufweist. Es ist dabei an das Unfallereignis anzuknüpfen, dabei ist ausgehend vom augenfälligen Geschehensablauf eine Einteilung nach leichten und schweren und
dazwischenliegenden mittelschweren Unfällen vorzunehmen. Die Entscheidung ist bei leichten und schweren Unfallereignissen meist unproblematisch, bei mittelschweren Fällen lässt sich die Frage des adäquaten Zusammenhangs nicht aufgrund des Unfalls allein schlüssig beantworten. Weitere objektiv erfassbare Umstände, die unmittelbar mit dem Unfall in Zusammenhang stehen oder als direkte oder indirekte Folge davon erscheinen, sind in eine Gesamtwürdigung einzubeziehen. Wichtigste Kriterien sind dabei besonders dramatische Begleitumstände oder die besondere Eindrücklichkeit des Unfalls; die Schwere oder besondere Art der Verletzungen; ungewöhnlich lange Dauer der ärztlichen Behandlung; Dauerbeschwerden; ärztliche Behandlung, welche die Unfallfolgen erheblich verschlimmert hat; schwieriger Heilungsverlauf und erhebliche Komplikationen; Grad und Dauer der Arbeitsunfähigkeit (BGE 115 V 138 Erw. 6). Ausführliche, in der gegenwärtigen sozialgerichtlichen Praxis aber nicht unumstrittene Kriterien zur Beurteilung des adäquaten Zusammenhangs bei erlebnisreaktiven Störungen nach Unfällen haben Murer et al. (1993) erarbeitet. Grundsätzlich stellt die Beurteilung der Adäquanz eine Rechtsfrage dar, durch das eine vernünftige Begrenzung der Haftung i. R. der obligatorischen UV erreicht werden soll und somit die abschließende Beurteilung der Verwaltung und im Streitfall den Gerichten obliegt. Suizid Besondere Probleme ergeben sich bei der Beurteilung, ob ein Suizid oder ein Suizidversuch in den Geltungsbereich der UV fällt oder nicht. Grundsätzlich ist eine absichtlich „selbst herbeigeführte Gesundheitsschädigung kein Unfall i. S. des schweizerischen Sozialversicherungsrechts. Ein Suizid, Suizidversuch oder eine Selbstverstümmelung stellt nur dann einen Unfall dar, wenn der Versicherte zur Zeit der Tat ohne Verschulden gänzlich unfähig war, vernunftgemäss zu handeln“ (Art. 48 UVV), d. h., dass auf die Urteilsfähigkeit i. S. von Art. 16 ZGB abzustellen ist, die in diesem Zusammenhang i. d. R. das Vorhandensein einer Geisteskrankheit
wie einer Psychose oder auch einer schweren Bewusstseinsstörung oder einer in ihren Auswirkungen vergleichbaren psychischen Störung voraussetzt (Kind 1993). Zumutbarkeit Ein Versicherter hat im Zusammenhang mit dem versicherten Gesundheitsschaden alles ihm Zumutbare zu unternehmen, um die wirtschaftlichen Folgen seiner gesundheitlichen Probleme gering zu halten (sogenannte Schadensminderungspflicht, vgl. Art. 21 Abs. 4 ATSG). Zumutbarkeit bedeutet dabei, dass ein gewisses Verhalten erwartet werden darf, auch wenn dies mit Unannehmlichkeiten oder Opfern verbunden ist; es handelt sich dabei also wiederum um eine Güterabwägung, d. h. um eine Rechtsfrage. Allerdings kann kaum ohne medizinische Angaben entschieden werden, was körperlich oder psychisch zumutbar ist. Integritätsschaden Einen Integritätsschaden kennt nur die UV. „Erleidet der Versicherte durch den Unfall eine dauernde erhebliche Schädigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Integrität, so hat er Anspruch auf eine angemessene Integritätsentschädigung“ (Art. 24 UVG). Es geht dabei ausschließlich um die immaterielle Beeinträchtigung der Lebensqualität eines Menschen, die mit der Integritätsentschädigung finanziell ausgeglichen werden soll, und ist in diesem Sinne eine Art Genugtuung. Ein Integritätsschaden gilt dann als dauernd, wenn er voraussichtlich während des ganzen Lebens im gleichen Umfang besteht. Die Schädigung wird als erheblich erachtet, wenn die Integrität augenfällig oder stark beeinträchtigt ist. Diese Voraussetzungen sind erfüllt, wenn die unterste Grenze von 5 % nach der Skala der Integritätsschäden im Anhang 3 zur UVV erreicht wird. Besondere Schwierigkeiten bestehen bei der Beurteilung posttraumatisch aufgetretener psychischer Störungen. Sie werden nur dann als Integritätsschaden anzuerkennen sein, wenn dargelegt werden kann, dass eine auf einem Unfall beruhende psychogene Störung voraussichtlich
lebenslang vorhanden sein wird (s. a. Murer et al. 1994). Nach der Skala der Integritätsschäden wird z. B. eine Beeinträchtigung von psychischen Teilfunktionen wie Gedächtnis und Konzentrationsfähigkeit mit 20 % bewertet, ein sehr schweres psychoorganisches Syndrom mit 80 %.
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3
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In der Schweiz wird zwischen Betriebsunfall (BU), einem Unfall während der Arbeitszeit, und Nicht-Betriebsunfall (NBU), dem sogenannten Freizeitunfall unterschieden 6
www.psychiatrie.ch/sgpp/fachleute-und-kommissionen/leitlinien/
Register A Abänderungsklage, nacheheliche Unterhaltsansprüche, 527 Abartigkeit, siehe Seelische Abartigkeit Abhängige (asthenische) Persönlichkeitsstörung, 321, 328 freie Willensbestimmung, Aufhebung/Einschränkung, 552 Spielen, pathologisches, 377 Stalking, 755 nichtstoffgebundene, 376 Toleranznachweis, 215 Abhängigkeit(serkrankungen) Arbeitsunfähigkeit, 611 bei Ärzten und Therapeuten, 716 Betreuung, 499 Betreuungsanordnung, 535, 537 Einschränkung der Erziehungsfähigkeit, 682 Entgiftung (stationäre), 605 Entwöhnungsbehandlung, Reha-Maßnahme, 605 Geschäfts(un)fähigkeit, 520 Geschäftsfähigkeit, 551
Haftfähigkeit, 387 im Justizvollzug, 401 Jugendliche, 699 Kindeswohlgefährdung, 682 Leistungspflicht, RentV-Träger, 605 nichtstoffgebundene, 376 persönliche Eignung gem. WaffG, 747 Rehabilitation, medizinische, 605 Reifungsverzögerung, 659 Sachleistungen, RentV-Träger, 605 Schweizer Maßnahmenrecht, 868 Suizid(alität), 795 Testierfähigkeit, 551 Toleranznachweis, 215 und Delinquenz, 435 Unterbringung, 434 Therapieplanung, 443 Zwangsabstinenz, 402 Abschiebehindernisse Gesundheitszustand, 825 inlandsbezogene, 825 Retraumatisierung, 827 Traumatisierung, vorangegangene, 827 zielstaatsbezogene, 825 Abstandsgebot (Sicherungsverwahrung), 453
Forderungen, 122 SichVAbstUmsG, 130 Übergangsvorschrift, 123 Abstinenzkriterium, Unterbringung gem. § 64 StGB, 442 Acamprosat, Suchtbehandlung, 445 Acetaldehyd, 236 Act-and-React-Systeme (ART 90, 2020), Begutachtung der Fahreignung, 727 Actio libera in causa, 213, 229 fahrlässige, 98 Schuldfähigkeit, 108, 843 Acute-2007, 346, 350, 352, 470 Adäquanztheorie, Schadensersatzrecht, 530, 564 ADHS Alkoholtoleranz, verminderte, 664 als krankhafte seelische Störung, 198 als Risikofaktor für Dissozialität/Suchterkrankungen, 664 Delinquenz in der Adoleszenz, 648 DSM-5-Klassifikation, 194 Epidemiologie, 194 forensische Relevanz, 195 ICD-10-Forschungskriterien, 195 ICD-10-Klassifikation, 194 im Erwachsenenalter Behandlungsnotwendigkeit, 198 Diagnostik, 195
Psychopathologie, 194 Risikofaktoren, 194 Schuldfähigkeit, 198 Impulskontrollstörungen, 198 Kindes- und Jugendalter, 646 klinische Befunde, 194 kombinierte, 195 Komorbidität, 194, 199 Kriminovalenz, 196, 197 Legalentwicklung, 196 Maßregeln, 199 mit antisozialer PS, 197–199 mit Conduct Disorder, 196, 197, 199 Prävalenz in forensischen Populationen, 196 psychopathische Wesensmerkmale, 197 psychopathologische Merkmale, 195 Psychostimulanzien, 199 Risikofaktoren, 194 Schuldfähigkeit, 199 Steuerungsfähigkeit, verminderte, 664 Steuerungsvermögen, 198 und Intelligenzminderung, 304 Adolescence-limited antisocial behavior, 667 Adoleszente/Adoleszenz, siehe Jugendliche Adoleszenzkrisen
Legalprognose, 662 Schuldfähigkeit, eingeschränkte, 661 Affektdelikte/-delinquenz Begriff, 287 Beurteilungsleitlinien, 293 Haftpsychose, 399 im Rahmen einer PTBS, 370 Affektive Ausnahmezustände, 21 Aggressionspotenzial, 291 Alkoholisierung, 292 als Symptom, 287 Begriffsbestimmung, 286 Belastungsreaktion, akute, 287 Beurteilung(skriterien) Abgrenzungsprobleme, 286, 291 Affektentwicklung, 289 äußerer Ablauf der Tat, 290 Erinnerungsstörungen, 291 inneres Erleben des Täters, 290 Nachtatverhalten, 292 Persönlichkeitsfremdheit, 289 positive/negative, 292, 293 prädeliktische Situation, 290 Täter-Opfer-Beziehung, 288 Täterpersönlichkeit, 288
zweiphasige Affekttaten, 291, 294 Bewusstseinsstörung, tiefgreifende, 286 Beziehungskonflikte, 287, 289 Drogen-/Medikamenteneinfluss, 292 emotional instabile Persönlichkeitsstörung, 288 Explosivreaktion, 291 forensisch-psychiatrische Beurteilung, 293 forensisch-psychiatrische Relevanz, 287 hochgradige, 286 i. R. einer akuten Belastungsreaktion, 290 Jugendliche, 661 konflikteigentümlicher Reiz, 291 konflikthaft sich zuspitzende Partnerbeziehungen, 289 Konfliktsituation, akute, 287 Kurzschlussreaktion, 291 Nachtatverhalten, 288 narzisstische Krise, 289 Schuldfähigkeitsbeurteilung, 286, 288 Selbstkonzept des Täters, 289 sthenische/asthenische Affekte, 287 Stupor, dissoziativer, 290 Tötungsdelikte, 286 Übermüdung, 292 Urteilsbildung, klinische, 294 Vorgestalten, 289, 293
Vulnerabilitäts-Stress-Modell, 288, 292 Wachbewusstseinszustände, 287 Affektive Störungen, 602, 626, 632 als Schädigungsfolge GUV, 626 Kann-Versorgung, 602 SozEntschR, 632 Arbeitsunfähigkeit, 611 asyl- und ausländerrechtliche Begutachtung, 828 Begutachtung Irrtumsmöglichkeiten, 279 Berufsunfähigkeit, Begutachtung, 561 Betreuungsanordnung, 537 Depression, 270 depressive Restriktion, 279 Differenzialdiagnose, 272 Einsichts-/Steuerungsfähigkeit, eingeschränkte, 280 Fahreignung, 738 GdB-Einschätzung (SchwbR), 634 GdS/GdB-Tabelle, 635 Geschäfts-/Prozess-/Testierunfähigkeit, 551 ICD-10-Klassifikation, 270, 272 Kokainmissbrauch, 279 Maßregelvollzug, 280 organische, 173
Rentengewährung/-leistung, 614 Schuldfähigkeit, 106 Selbstberichtsfragebogen, 38 Suizid(alität), 796 und Autismus-Spektrum-Störungen, 186 Unfallfolgen, Privathaftpflicht, 564 Unterbringungsmaßnahmen, 280 Verlaufsformen, 270 Affektivität, 21 kognitiver Stil, 415 Affektspannung, Quantifizierung, 288 Affektstupor, 97 Affekttat/-täter Beurteilung, Probleme, 97 Bewusstseinsstörung, 96 Intelligenzminderung, 308 mit/ohne tiefgreifende Bewusstseinsstörung, 291 Schuld(un)fähigkeit, 96, 97 Schweregradkriterien, 97 zweiphasige, 291, 294 Affirmationsbias, 773 Aggravation, 22, 24 Beschwerdenvalidierung, 41 Konsistenz- und Plausibilitätsanalyse, 610 PTBS-Symptomatik, 629, 827
somatoforme Störungen, 615 Unfall-/Schädigungsfolge, 625 Aggression/Aggressivität, 21 Affektdelikte, 293 affektive Ausnahmezustände, 291 Alkoholisierung (akute), 211 Alzheimer-Demenz, 166 Anabolika, Testosteronpräparate, 227, 244 Anpassungsstörungen, 275 antipsychotische Therapie, 261 Autismus-Spektrum-Störungen, 187, 190 Brandstiftung, pathologische, 379 Delir, 172 Drogenabhängigkeit/-missbrauch, 220 Kindes- und Jugendalter, 707 Monitoring, Maßregelvollzug, 444 orbitofrontale Auffälligkeiten, 175 Partnerschaftskrisen, 279 periiktale, 179 proaktive vs. reaktive, 196 Schizophrenie, 259 Selbstberichtsfragebogen, 39 Testverfahren, 42 Viktimisierungserfahrungen, 259 Vulnerabilitätsfaktoren, 435
Agoraphobie, Rentengewährung/-leistung, 616 Akquieszenz (Ja-sage-Tendenz), 40 Aktenherausgabe, Sachverständiger, 497 Aktenstudium Prognosegutachten, 466 psychiatrische Untersuchung, 17 Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung, einfache, 195 Aktualneurosen, Schadensersatz, 530 Aktuarische Prognoseinstrumente, 23 Akute amnestische Episode, 27 Alkohol Bestimmung im Urin, Alkoholkarenz, 730 Gehalt in Getränken, 238 Konsummarker, 240 kriminogene Bedeutung, 435 Metabolisierung, 236 Nachweis, 237 Wirkung, 236 Alkoholabhängigkeit/-missbrauch Abhängigkeitssyndrom, 214 Achsensyndrome, 211 actio libera in causa, 213 ADHS im Erwachsenenalter, 199 affektive Störungen, 210, 212 affektive Symptome, 211
Aggression/Aggressivität, 210 als Schädigungsfolge (SozEntschR), 632 Ausschluss körperlicher Eignung gem. WaffG, 747 Begutachtung, 216 bei Ärzten und Therapeuten, 716 Betreuungsanordnung, 535, 537 chronische®, 215 Cocaethylen, 246 Delinquenzrisiko, 413 Delirium tremens, 216 Depravation, 215 diagnostische Leitlinien, 215 Einschränkung der elterlichen Erziehungsfähigkeit, 681 Entwöhnungsbehandlung, 216 Erinnerungsstörungen, 212 Fahreignungsbegutachtung, 729 GdB-Einschätzung (SchwbR), 634 Gewalttätigkeit, 210, 211 Hemmungsfähigkeit, isolierte Aufhebung, 212 Jugendalter, eingeschränkte Schuldfähigkeit, 662 kognitive Symptome, 211 Komorbidität, psychische, 215 Konsummarker, 240 Kontrollverlust, 729 körperlich-neurologische Symptome, 211
krankhafte seelische Störung, 95 Laborparameter, 730 medikamentöse Therapie, 445 medizinische Rehabilitation, 605 Mischintoxikation, 212 organische psychische Störungen, 177 psychische Störungen, organische, 177, 178 psychopathologische Symptome, 213, 216 Rauschtat, 214 Schuldfähigkeit, 214 Trinkmengenangabe, 213 Schweregrade, 438 seelische Störung, krankhafte, 211 SPECT-Befunde, 52 Steuerungsfähigkeit, 213, 216 strafrechtliche Bedeutung, 214 Symptomatik, 214 Symptomebenen, 211 Tatanalyse, 212 Terminologie, 211 Therapiemöglichkeiten, 216 Unterbringung gem. § 64 StGB, 216, 434, 436 Unterhaltsansprüche, nacheheliche, 526 Verhaltensauffälligkeiten, 211 Verkehrsunfälle, 214
Vulnerabilitätsfaktoren, 435 Wiedereingliederung in das Erwerbsleben, Reha-Maßnahmen, 605 ZNS-Schäden, 435 Alkoholanamnese, 212 Alkoholdehydrogenase, 236 Alkoholentzugsdelir, siehe Delirium tremens Alkoholhalluzinose, 217 Alkoholintoxikation akute, 211, 214 Begutachtung, 211 Bewusstseinsstörung, 286 Alkoholische Psychose, 216 Alkoholischer Eifersuchtswahn, 217 Alkoholisierter Täter, Beurteilung, 212 Alkoholisierung, akute Begutachtung, 210 Blutalkoholkonzentration, 213 Brandstiftung, wiederholte, 379 Entgiftung, 216 Schweregradbestimmung, 210 Symptomatik, 210, 211 Alkoholkarenz, Beurteilung, 730 Alkoholkonsum, kontrollierter, 730, 731 Alkoholkonsumstörung (DSM-5), 214 diagnostische Kriterien, 215, 437
Alkoholrausch akuter, 211 normaler, 95 Alkylamine (NpS), 245 Allgemeinbefund, körperlicher, 60 Allgemeine Sozialversicherungsgesetz (ASVG), Österreich, 857 Allgemeine Waffengesetz-Verordnung (AWaffV), 746 Allgemeingefährlichkeit (Unterbringung), 117 Allgemeinpsychiatrie, psychiatrische Hauptdiagnosen, 395 Alltagsentscheid, Sorgerecht, 674 Alter Hirnabbauvorgänge, Schuldfähigkeit, 98, 100 Straffälligwerden, plötzliches, 110 Alternativbeurteilung, 62, 64, 70 Altersdemenz, verkehrsmedizinische Relevanz, 737 Alterskriminalität, Ursachen, 169 Alterspädophile, 347 Altersrente, 576, 577 nach SGB VI, 587 Alzheimer-Demenz forensische Relevanz, 166 ICD-10-Diagnoseleitlinien, 165 klinisches Bild, 165 Verhaltensstörungen, 165 Amnesie/amnestisches Syndrom
affektive Ausnahmezustände, 291 antero-/retro-kongrade, 27 Delinquenz, 171 dissoziative, 28, 369 Erinnerungslücken, 28 organisches, 171 postdeliktische, 28 Sedativa, 224 Amotivationales Syndrom, Cannabis, 227 Amphetamine/amphetaminähnliche Substanzen, 224 Begutachtung, toxikologische, 243 Haaranalyse, Befundbewertung, 246 Intoxikation, 225 maniforme Symptome, 274 Amtshaftung, 78 Amylnitrit, 228 Anabolikamissbrauch, 227 Begutachtung, toxikologische, 243 psychische Abhängigkeit, 244 Analgetika, opioidhaltige (Beikonsum), 247 Anamnese(erhebung), 288 biografische, 18, 59, 60 Täterpersönlichkeit, 288 Fehlerquellen, 69 Kriminalprognose, 475
Lücken, 69 Anders-handeln-Können, 8, 87, 88, 89 Anfallsleiden, siehe Epilepsie Angehörige nicht erwerbsfähige, Sozialgeld, 571 Zeugnisverweigerungsrecht, 19, 307 Angst(störungen) ADHS im Erwachsenenalter, 199 Begutachtung, asyl- und ausländerrechtliche, 827 Checklisten/Fragebögen, 38 Differenzialdiagnose, 621 Gewalttäterrisiko, 413 organische, 173 Rentengewährung/-leistung, 615, 616 unspezifische, Kindes- und Jugendalter, 707 vor dem Entzug (Substanzabhängigkeit), 231 Ängstliche vermeidende Persönlichkeitsstörung, 321, 328 Betreuungsanordnung, 538 freie Willensbestimmung, Aufhebung/Einschränkung, 552 Anhaltspunkte für ärztliche Gutachtertätigkeit, SozEntschR, 589 Unfall-/Schädigungsfolgen, 601 Anhörung mündliche, 63 persönliche, 507
Sachverständiger, 492 Anhydroecgoninmethylester, Haaranalyse, 246 Anknüpfungstatsachen Gutachten, 112 Unterrichtung des Sachverständigen, 157 Anlassdelikt, 475 Anlassgeschehen, 598 Anlasskrankheit, Zwangsbehandlung, 413 Anlasstat Entziehungsanstalt (Unterbringung), 119 Erheblichkeit, 115 Rausch, 119 Sicherungsverwahrung, 124, 125, 129 Unterbringung, 114, 118 Zustand des Täters, 115 Anorexia nervosa Arbeits(un)fähigkeit, 612 Betreuungsanordnung, 538 GdB-Einschätzung (SchwbR), 635 Geschäftsunfähigkeit, partielle, 552 Rentengewährung/-leistung, 620 Anpassungsstörungen als Schädigungsfolge (GUV), 629 Arbeits(un)fähigkeit, 612 Asylsuchende, 828
Begutachtung, strafrechtliche, 281 chronifizierte, 274 Copingstrategien, 398 Definition, 274 Depression, 270 Diagnosekriterien, 274 forensisch-psychiatrische Relevanz, 275 Gewichtszunahme, 398 Haftfähigkeit, 386, 387 Haftreaktionen, 398 im Justizvollzug, 398 Klassifikation, 274 Kriminalität, 279 Krisenintervention, stationäre, 275 mit Störung des Sozialverhaltens, 281 mit vorwiegender Störung des Sozialverhaltens, 398 narzisstische Kränkung, 281 Rentengewährung/-leistung, 617 Schockschäden, 564 Symptome, 629 Therapie, 275 Unterhaltsneurose, 555 Verwahrlosung, 398 Anschlussheilbehandlung (AHB), 576 Ansprechbarkeitsprinzip
Kriminalprävention, 418 Rehabilitation von Sexualstraftätern, 351, 352 Anstaltsarzt Aufgaben, 394, 403 Anticraving-Medikamente, 445 Antidepressiva, Beikonsum, 247 Antikonvulsiva, Suchtbehandlung, 446 Antipsychotika, 540 atypische, 274 Genehmigungspflicht (Betreuung), 540 Beikonsum, 247 Depotpräparate, antiaggressive Effekte, 261 Schizophrenie, 255, 261 verkehrsmedizinische Relevanz, 739 Antisoziale Persönlichkeitsstörung, 50 ADHS, 197 Behandelbarkeit, 456 Delinquenzrisiko, 257 Delinquenzverhalten, 328 Drogenabhängigkeit, 230 Einsichtsfähigkeit, 326 fMRT-Befunde, 51 forensische Relevanz, 327 Gewaltstraftäter, 453 klinisches Profil, 329
Konkordanz mit Psychopathie, 331 nach Frontalhirnverletzungen, 175 Psychopathie, 455 Schizophrenie, 257 Schuldfähigkeitsbegutachtung, 332 Sexualdelinquenz, 342, 348 Sicherheitsverwahrte, 454 Stalkingverhalten, 755 Verhaltensmuster, delinquente, 332 verminderter zerebraler Glukosemetabolismus, 52 Antisoziales Verhalten dauerhaftes, Risikofaktoren, 259 Delinquenzrisiko, 413 Entwicklungsmodell, 649 frühkindliche Entwicklung, 259 genetische Polymorphismen, 51 Lebenszeitdelinquenz, chronische, 414 neurobiologische Befunde, 51 schizophrene Straftäter, 258 Schizophrenie, 258, 261 Antriebserlebensstörung, 98 Antriebssteigerung bei Manie, 273 Antriebsstörungen, 21 Depression, 275, 276 frontotemporale Demenz, 167
Rentengewährung/-leistung, 613 Unterlassungen, 275 Anwaltshaftung, 77 Anxiolytikamissbrauch, 224 Aphasien, Geschäft-/ Testier(un)fähigkeit, 554 Apparative Untersuchungen, 22 Approbationsordnung für Ärzte (ÄApprO), 714 Approbationsrechtliche Begutachtung, 716, 717 Approbationsfähigkeit, 714 Begutachtungsanlässe, 715 Fehlverhalten, strafrechtlich sanktioniertes, 717 psychische Störungen, 716 sexuelle Grenzverletzungen, 717 Rücknahme der Approbation, 715 Ruhen der Approbation, 714 Widerruf der Approbation, 714 fehlende gesundheitliche Eignung, 715 Unzuverlässigkeit/Unwürdigkeit, 715 Apraxie, Alzheimer-Demenz, 165 Äquivalenztheorie, Schadensersatz für psychische Schäden, 530 Arbeitsagentur (AA), 572 Arbeitsassistenz/-hilfen, behinderte Menschen, 585 Arbeitsfähigkeit, 72 Begutachtung, 591 Arbeitsförderungsrecht
Alg I, 572 Bereiche, 570 Berufsausbildungs-/Weiterbildungsförderung, 573 weitere BA-Leistungen, 574 Arbeitskreis-Trennung-Scheidung (AKTS), Familienrecht, 676 Arbeitslosengeld (Alg), 572, 573, 591 I Anspruchsvoraussetzungen, 572 Dauer und Höhe, 573 medizinische Fragestellungen, 572 Nahtlosigkeitsregelung, 572 Sperrzeit, 573 Verfügbarkeit des Versicherten, 572, 591 Zumutbarkeit von Beschäftigungen, 572 II, 571 Arbeitslosenversicherung siehe Arbeitsförderung(srecht) Arbeitslosigkeit, 572 Arbeitssuchende, Grundsicherung, 570 Arbeitssucht, 374 Geschäfts(un)fähigkeit, 553 Arbeitsunfähigkeit, 576 Abgrenzung Krankenhausbehandlung/Pflegefall, 611 affektive Störungen, 611 ärztliche Feststellung, 610 Autismus-Spektrum-Störungen, 191
Begutachtung, GKV, 591 Belastungs-/neurotische/somatoforme Störungen, 612 Definition GKV, 576, 610 PKV, 560 Essstörungen, 612 Gefangene, 394 Grundleiden, medizinisch nicht ausgeheiltes, 592 gutachtliche Fragen, 611 gutachtliche Überprüfung, 560 Intelligenzminderung, 612 Mobbing, 612 nach SGB V, 574 organische psychische Störungen, 611 Persönlichkeits-/Verhaltensstörungen, 612 PKV-Leistungen, 560 psychisch bedingte, Schadensersatzpflicht, 530 schizophrene/wahnhafte Störungen, 611 Sozialversicherungsrecht, Schweiz, 874 Störungen durch psychotrope Substanzen, 611 stufenweise Wiedereingliederung ins Erwerbsleben, 592 Arbeitsunfall, 579, 623 Anerkenntnis als Versicherungsfall, 581 Anlassgeschehen/Gelegenheitsursache, 598 geistig-seelische Schäden, 600
GUV, 599 psychische Einwirkungen, 599 Schadensanlagen, unfallunabhängig mitwirkende, 598 Area under the Curve (AUC), 34 Artifizielle Störungen, 24, 26 Arzt Berufsrolle im Justizvollzug, 394 Offenbarungsrecht, Justizvollzug, 394 Ärztliche Behandlung, GKV-Leistungen, 575 Ärztliche Maßnahmen Eilmaßnahmen, Genehmigungsbedürftigkeit, 511 Einwilligungs(un)fähigkeit, 509 Genehmigung, 539 gravierende, Genehmigung durch Betreuungsgericht, 511 notwendige (Unterbringung), 514 Rechtfertigung, 509 Unterbringung, Verhältnismäßigkeit, 514 Ärztliches Zeugnis, 493 unterbringungsähnliche Maßnahme, 516 Arzt-Patient-Beziehung, 19 Asperger-Syndrom, siehe Autismus-Spektrum-Störungen Asthenische Affekte, 287 Asthenische Persönlichkeitsstörung siehe Abhängige (asthenische) PS Asthenische Störung, organische, 173 Asyl-/ausländerrechtliche Begutachtung/Verfahren
Abschiebehindernisse, 825 Besonderheiten der Untersuchungssituation, 823 Beziehungsgestaltung zum Probanden, 823 ethische und professionelle Dilemmata, 822 Flugreisetauglichkeit, 822 Gesundheitszustand, Beurteilung, 825 Glaubhaftigkeit, 828 Gutachtenstandards, 822 kulturelle Hintergründe, 824 Österreich, 859, 860 psychische Störungen, 827 PTBS, 827 Qualitätssicherung, 822 rechtliche Grundlagen, 824 Rückführung, Prüfung der Reisefähigkeit, 822, 825 Schutzformen, 824 Sprachbarrieren, 823 suizidales Syndrom, 828 Traumatisierung, 827 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG), 589 Asylgesetz (Österreich), 859 Atemalkoholkonzentration (AAK) Alkoholkarenz, 730 Eliminationsraten, 239 Nachweis, 237
Rückrechnung, 240 Vergleich mit BAK, 238 Verlaufskurve bei biphasischem Trinkverhalten, 238 Atomoxetin, 200 Attenuiertes Psychosesyndrom, 254, 255 Aufenthaltsbestimmung Betreuung, 503, 537 Unterbringung, 514 Aufenthaltsrechtliche Verfahren ärztliches Attest, Mindestanforderungen, 826 Gesundheitszustand, Beurteilung, 825 Auffälligkeiten, psychische, 21 Aufklärung des Probanden, forensisch-psychiatrische Untersuchung, 16 Zwangsbehandlung, 518 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, siehe ADHS Aufmerksamkeitsstörungen, 21 Lewy-Körper-Demenz, 167 ohne Hyperaktivität, 194 Verhandlungsfähigkeit, 390 Aufsicht, Unterbringung, 817 Augenscheinvalidität, Testverfahren, 34 Ausbildungsförderung, 573 Ausgleichsrente, SozEntschR, 589 Aussagedelikte, Haftung, 80
Aussageimmanente Qualitätsanalyse, siehe Merkmalsorientierte Qualitätsanalyse Aussagen, 766 absichtliche Falschbezichtigung, 758, 759, 763, 771, 772 kognitive (Leistungs-)Fähigkeit, 769 motivationaler Hintergrund, 782 als geistige Leistung, 763 auf der Basis kognitiver Schemata, 762 auto-/fremdsuggestive Einflüsse, 782 autosuggerierte, 772, 776 erlebnisbasierte vs. erfundene, 758, 759 dispositionelle Besonderheiten, 771 kognitive Voraussetzungen, 770 motivationale Voraussetzungen, 771 personale Bedingungen, 770 qualitative Unterschiede, 762 Qualitätsunterschiede, siehe Merkmalsorientierte Qualitätsanalyse Selbstrepräsentation, strategische, 763 situative Bedingungen, 772 erlebnisbasierte vs. pseudoerinnerte, 772, 780 Aussageentstehung/-entwicklung, 779 Aussagequalität, 778 Beurteilungsebenen, 779 fremdsuggerierte, 772 Alterseffekte, 776
Entstehungshintergrund, 773 interindividuelle Unterschiede, 775 Jugendliche/Erwachsene, 776, 780 Kinder, 773, 780 Prüfung, 780 Suggestionseffekte, 774 suggestiver Verlauf, 774 intraindividueller Vergleich, 763 Täuschung primäre/sekundäre, 763 Verheimlichung, 764, 767 wahre siehe Aussagen, erlebnisbasierte Aussagepsychologische Begutachtung, siehe Glaubhaftigkeitsbegutachtung Aussagetüchtigkeit Beurteilung, 759 entwicklungsbedingte Beeinträchtigungen, 761 psychopathologische Beeinträchtigungen, 761 dauerhaft aufgehobene, 761 Definition, 759 Entwicklung, 762 erhaltene, 761 Erinnerungsvermögen, 761 Kinder, 761 kognitive vs. volitionale, 760 Voraussetzungen, 761
vorübergehend aufgehobene, 761 Aussageübergreifende Qualitätsanalyse, siehe Konstanzanalyse Aussageuntüchtigkeit, 760 Aussageverweigerungsrecht, 645 Auswertungsobjektivität, 32 Autismus-Spektrum-Störungen aggressives/autoaggressives Verhalten, 187, 190 Anpassungsprobleme, soziale, 191 Ätiopathogenese, 185 Begutachtung Besonderheiten, 189 Symptomvalidierung, 189 Berufs-/Erwerbsunfähigkeit, 190 DD, 186 Definition, 184 Delinquenz, 188 Diagnosekriterien, 184 Diagnosestellung, 187 dissoziale Entwicklungen, 663 Fehldiagnosen, 186 historische Aspekte, 184 hochfunktionale, 190 interpersonelle Konflikte, 190 Komorbidität, 186 nosologische Aspekte, 186
Prävalenz, 186 Schuldfähigkeit, 189 Schweregrad und GdB-Einschätzung, 191 Schweregradoperationalisierung, 187, 188 sekundäre Varianten, 185, 190 Steuerungsfähigkeit, 663 Therapie, 187 Unterbringung(sbedürftigkeit), 190 Autistischer Phänotyp, 184, 185 Varianten, 190 B Badesalz-Drogen (NpS), 244 Balanced Inventory of Desirable Responding (BIDR), 40 Balloon Analogue Risk Task, 39 Barbituratabhängigkeit, 224 Barratt-Impulsivitätsskala (BIS-11), 39 Baumtest, 42 Beamtenrechtliche Begutachtung Dienstfähigkeit, begrenzte, 721 Dienstunfähigkeit, 720 Informationsweitergabe, 721 Dienstunfälle, 722 Frühpensionierung, krankheitsbedingte, 721 gesundheitliche Eignung, 720
Bedürfnisprinzip Kriminalprävention, 418 Rehabilitation von Sexualstraftätern, 351 Bedürftigkeit, Sozialhilfe, 589 Befangenheit, 802 Befangenheit(svorschriften), Sachverständiger, 157, 492, 494 Befindlichkeitsstörungen Beschwerden, subjektive, 620 Chronic-Fatigue-Syndrom (CFS), 622 HWS-Beschleunigungsverletzung, 630 multiple Chemikaliensensibilität (idiopathic environmental intolerances), 621 Sick-Building-Syndrom (SBS), 622 Befragung des Sachverständigen, 64 Befund, psychischer/psychopathologischer, siehe Psychischer/psychopathologischer Befund Befundtatsachen, 80, 159 Begehrensneurosen, 615 Ausschluss des Haftungsanschlusses, 565 Schadensersatzrecht, 530 Begleitbeistandschaft, Erwachsenenschutzrecht (Schweiz), 873 Begutachtung, siehe Gutachten/Begutachtung, psychiatrische(s) Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung, 727 Begutachtungspflicht, Sachverständiger, 494 Behandlung Entziehungsanstalt (Unterbringung), 120
primär ambulante/vorübergehend stationäre (Schweizer Strafrecht), 869 Behandlungsbedürftigkeit, 574 Behandlungsfehler, grober, 76 Behandlungskosten, Unterbringung, 819 Behandlungspläne, Maßregelvollzug, 420 Behandlungsprognose, 463 Beharrungsvermögen (persistence), 322 Behavioral Assessment of the Dysexecutive Syndrome (BADS), 37, 38 Behinderte Menschen/Behinderung Begriff, 603 Betreuungsrecht, 498 Beurteilungsebenen, 705 Definition, SGB IX, 586 Eingliederung, 584 Früherkennung/-förderung, 585 GRV, 579 Herstellungsanspruch, sozialrechtlicher, 586 Legaldefinition, 705 Leistungen medizinische, 585 unterhaltssichernde/ergänzende, 585 zur sozialen Teilhabe, 586 zur Teilhabe am Arbeitsleben, 585 Merkzeichen, 603
Rehabilitation, medizinische, 585 Rente, 578 Teilhabeleistungen, 584 Behördenbetreuer, 503 Behördengutachten, Amtshaftung, 79 Beihilfe zur Selbsttötung, 807 Beistandschaft (Schweizer Erwachsenenschutzrecht), 872 umfassende (Entmündigung), 873 Belastungsreaktion/-störung, 290, 632 akute, 367, 562, 626 affektiver Ausnahme/-Erregungszustand, 290 inneres Erleben des Täters, 290 Schweregrade, 290 Symptome, 290 als Schädigungsfolge GUV, 626 SozEntschR, 632 Arbeits(un)fähigkeit, 612 GdB-Einschätzung (SchwbR), 634, 635 Geschäfts-/Prozess-/Testierfähigkeit, 552 gutachtliche Probleme, 626 massive, außergewöhnliche Ereignisse, 287 posttraumatische, siehe PTBS schwere, Rentengewährung/-leistung, 617 somatische (DSM-5), 617
Therapie/Reha vor Rente, 616 Unfallfolgen, Privathaftpflicht, 564 Belohnungsabhängigkeit (reward dependence), 322 Benzodiazepin-Derivate, Abhängigkeit, 224 Benzodiazepine aggressive Impulse/Enthemmung, 275 Beikonsum, 247 Mischintoxikation, 212 Niedrigdosisabhängigkeit, 224 Benzodiazepin-Tranquilizer, Amnesie, 28 Benzoylecgonin, Haaranalyse, 246 Berauschende Mittel, siehe Psychotrope Substanzen Berauschung, volle (Österreich), 843, 844 Berufliches Rehabilitierungsgesetz (BerRehaG), 588 Berufsausbildungsförderung nach SGB III, 573 Berufsfähigkeit, 72 Berufskrankheiten, 623 Anerkenntnis als Versicherungsfall, 581 GUV, 580 Mobbing, 580 Sozialversicherungsrecht, Schweiz, 874 Berufskrankheitenverordnung (BKV), 579, 580 Berufsschadensausgleich, SozEntschR, 589 Berufsunfähigkeit, 560 Autismus-Spektrum-Störungen, 190
Definition private Krankenversicherung, 561 psychopathologische Symptomatik, Schweregrad, 561 gem. § 240 SGB VI, 594, 595 Gesamtgrad, Berufsunfähigkeits(zusatz)versicherung, 561 GRV, 578 Österreich, 857 Rente, 577 Verweistätigkeiten, 561 Wegefähigkeit, 596 Berufsunfähigkeits(zusatz)versicherung, 560 Absicherung von Lebensrisiken, 78 Berufsunfähigkeitsrente, siehe Erwerbsminderungsrente Berufsverbot Maßregel der Besserung und Sicherung, 113 reglementierte Berufe, 714 Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen, Förderung, 573 Berufszulassung/-ausübung, Begutachtungsfragen Ärzte und Therapeuten, 714 Beamte, 714, 720 Beschädigtenrente Anspruch, Schädigungsfolge, 601 SozEntschR, 588 Beschaffungskriminalität direkte/indirekte, 220, 230
Drogenabhängigkeit, 230, 231 Hang, 119 Beschäftigungen, Zumutbarkeit, 572 Beschäftigungslosigkeit, 572 Beschleunigungsgebot, einstweilige Unterbringung, 409 Beschwerden, vorgetäuschte, siehe Simulation Beschwerdenvalidierung(stests), 25 Leistungstests, 42 Symptomchecklisten, 41 Besonderes berufliches Betroffensein, SozEntschR, 589 Besuchsrechtssyndrom, 695 Betäubungsmittel Abhängigkeit, Fahreignung, 732 Einnahme, bestimmungsgemäße, 732 Betäubungsmittelgesetz (BtMG), 220 vollstreckungsrechtliche Sonderregelung § 35, 439 Betreuer, 502, 504 Aufgabenkreise, 501, 535, 537 Aufenthaltsbestimmung, 503 Erweiterung/Einschränkung, 502 Gesundheitssorge, 502 Heim-/Miet-/Wohnungsangelegenheiten, 503 Personensorge, 502 Umfang, 502 Vermögenssorge, 502
Vertretung ggü. Behörden/Gerichten, 503 Auswahlkriterien, 503 bei Geschäftsunfähigkeit, 519 Bestellung gegen den Willen, 501 ehrenamtliche, 503 Einwilligung in ärztliche Maßnahmen, 510 Geeignetheit der Person, 503 natürliche Person, 503 Vertretungsmacht Eingriffe in höchstpersönliche Rechte, 504 Einschränkung, 504 vs. Bevollmächtigter, 500 Wünsche des Betroffenen, 503 Zwangsbehandlung, Einwilligung, 517 Betreuter Ehefähigkeit, 525, 554 Einsichts-/Steuerungs-/Urteilsfähigkeit, 509 Einwilligung in Verletzung persönlichkeitsbezogener Güter, 509 Einwilligungsfähigkeit, 509, 539 einwilligungsunfähiger, Sterilisation, 512 Patientenverfügung, 510 Selbstbestimmungsrecht, 509 Wille, mutmaßlicher, 510 Betreuung Abhängigkeit(serkrankungen), 499
Ablehnung, 535 affektive Störungen, 537 Akzessorietät, Einwilligungsvorbehalt, 505 Alkohol-/Drogenabhängigkeit, 537 andere Hilfen, 501 Anordnung, 506 einstweilige, 508 Anorexia nervosa, 538 Antragsrecht, 506 ärztliche Maßnahmen, Genehmigung, 539 EKT, 540 Aufenthaltsbestimmung, 514 Aufgabenkreise, Umfang, 501, 502 Aufhebung, 506 Ausübung, 504 bei Einwilligungsunfähigkeit, 510 Betreuerbestellung, Bedingungen, 498 Bevollmächtigter, 501 Dauer, 506 Demenz, 537 Einwilligungs(un)fähigkeit, 539, 541 Einwilligungsvorbehalt, 504, 538 Erforderlichkeit(sgrundsatz), 498, 500 Erwachsene, 498 gegen den freien Willen des Volljährigen, 500
geistige Behinderung, 499 Gerichtsentscheid, Inhalt, 508 gesetzliche, 536 Gesundheitssorge, 514 Intelligenzminderung, 538 Körperbehinderung, 499, 500 organische psychische Störungen, 537 Personensorge, 514 persönliche, 498 Persönlichkeitsstörungen, 538 Postkontrolle, 503 Prozess(un)fähigkeit, 522 psychische Störungen, 499 Pyschopharmakaverordnung, Genehmigungspflicht, 540 rechtliche, 498 Rechtsgeschäfte, höchstpersönliche, 504 Sachverständigengutachten, 501, 502 Schizophrenie, 537 seelische Behinderung, 499 Selbstbestimmung des Betroffenen, 498 Subsidiaritätsprinzip, 498 Suizidalität, 537 Testierfähigkeit, 523, 547 totale, 501 Unterbringung wg. Behandlungsbedürfigkeit, 514
unterbringungsähnliche Maßnahmen, 542, 543 Unterbringungsverfahren, Genehmigung, 542 Unvermögen tatsächliches, 500 zur Besorgung der eigenen Angelegenheiten, 499 Verhaltensstörungen, 538 Volljährige, 498 Voraussetzungen, 498 Vorsorgevollmacht, 501 wahnhafte Störungen, 537 Wirkungen, 504 zum Wohl des Betreuten, 510 Zurechnungsfähigkeit, 528 Zwangsbehandlung, 543 Betreuungsgericht, Genehmigungspflicht, 515 ärztliche Maßnahmen, gravierende, 511 gravierende ärztliche Maßnahmen, 539 Notmaßnahmen, 511 Sterilisation, 511 Unterbringung Eilfälle, 515 vorläufige, 515 Unterlassung / Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen, 511 Wohnungsauflösung, 518, 543 Zwangsbehandlung, 511
Betreuungsgesetz (BtG), 536, 812 Begutachtung, 534 Betreuungsanordnung, 535 Gutachten, 534 Bestandteile, 536 Vier-Stufen-Schema, 535 Rechtsfürsorge, 535 Sachverständiger Anhörung, 534 Qualifikation, 535 Unterbringung, Verfahrensrecht, 814 Zeugnis, ärztliches, 534 Betreuungsrecht, 498 besondere Fälle, 509 Betreuerbestellung, Bedingungen, 499 Erforderlichkeitsgrundsatz, 499, 500 Österreich/Schweiz siehe Erwachsenenschutzrecht/-gesetz s. a. Erwachsenenschutzgesetz/-recht (Österreich/Schweiz), 871 Selbstbestimmungsprinzip, 500 Sterilisation, § 1905 BGB, 511 Subsidiaritätsprinzip, 500 Betreuungsverein, 503 Betreuungsverfahren(srecht) Amtsermittlungsgrundsatz, 507 Einleitung, 506
Entscheidungsgrundlagen, Beschaffung, 507 Maßnahmen, einstweilige, 509 persönliche Anhörung, 507 Sachverständigengutachten, Fragen, 508 Sachverständiger, Hinzuziehungszwang, 507 Schlussgespräch, 507 Unterbringung, 814 Verfahrensfähigkeit des Betroffenen, 506 Verfahrenspfleger, 506, 507 Zeugnis, ärztliches, 508 Betreuungsverfügung, 534 Betriebsunübliche Belastung, Unfall, 579 Beurteilung forensisch-psychiatrische, Fehlerquellen, 70 retrospektive, 61 s.a. Gutachten/Begutachtung, 70 Schuldfähigkeit, 62 strafrechtliche, 61 Testierfähigkeit, 62 Bevollmächtigter, 510, 517 bei Geschäftsunfähigkeit, 519 Betreuung, 501 Einwilligung in ärztliche Maßnahmen, Vorgaben, 510 in Zwangsbehandlung, 517
Unterbringung des Betreuten, 514 Zwangsbehandlung, 543 Bewegungsfähigkeit, eingeschränkte verkehrsmedizinische Relevanz, 729, 740 Beweis, historischer, 65 Beweisaufnahme, Gutachteneinholung, 490 Beweisbeschluss, 491 Beweisfragen eidesstattliche Versicherung, 80 Fehlerquellen, 68 Gutachten, schriftliches, 58 Beweislast, 491 Unterhaltsansprüche, nacheheliche, 527 Beweismittel Sachverständiger, 65 schriftliches Gutachten, 58 Beweiswürdigung, juristische, 65 Bewusstlosigkeit freie Willensbestimmung, Ausschluss, 545 Geschäftsunfähigkeit, 522, 545 Zurechnungs(un)fähigkeit, 528, 554 Bewusstsein, 21 Bewusstseinseinengung, 286, 287 Bewusstseinsstörung affektbedingte, 97 Affekttat, 96
Alkohol-/Medikamentenintoxikation, 286 anfallsartig auftretende, Fahreignung, 741 Definition juristische (§§ 20, 21 StGB), 286 medizinische, 286 Delir, 172 konstellative Faktoren, 96 Krankheitswert, 96 Testier(un)fähigkeit, 523, 524, 547 tiefgreifende, siehe Tiefgreifende Bewusstseinsstörung Bewusstseinstrübung, Geschäftsfähigkeit, 522 Bewusstseinsveränderung, 286 Beziehungsanamnese, 60 Beziehungsprinzip, kognitive soziale Lernstrategien, 418 Beziehungssucht, 374 Geschäfts(un)fähigkeit, 553 Beziehungstaten Kriminalprognose, 666 weibliche Jugendliche/Heranwachsende, 664 Big Four, Straftäterbehandlung, 418 Big-Five-Modell, Persönlichkeitsstörungen, 322 Bindung, juristischer vs. entwicklungspsychologischer Begriff), 678 Bindungstoleranz, 680 Biografische Anamnese, 60 Bipolare affektive Störung
Begutachtung, 279 Eigentumsdelikte, 278 Gewalttäterrisiko, 413 Kriminalitätsbelastung, 277 manische Expansion, 279 Maßregelvollzug, 280 Prävalenz, 270, 273 Rapid Cycling, 273 rezidivierende, forensische Relevanz, 279 Schuldunfähigkeit, 278 sexuelle Enthemmung, 278 Suizid(alität), 795 Therapie, 274 Verkehrsdelikte, 278 BK-Liste, 580 Blutalkoholkonzentration (BAK) Berechnung aus Trinkmengenangaben, 213, 238 Eliminationsraten, 239 Erinnerungslücken, 212 Fahrunsicherheit, relative und absolute, 237 Gewichtung bei intelligenzgeminderten Personen, 309 Grenzwert, 213 Indizfunktion, Schuldfähigkeit, 95 Nachtrunk, Einberechnung, 240 Rückrechnung, 213
vom AAK-Messwert, 240 vom BAK-Messwert, 239 Verdünnungseffekte, 237 Vergleich mit AAK, 238 Verlaufskurve bei biphasischem Trinkverhalten, 238, 240 Widmark-Faktor, 236 zur Tatzeit, 213 Bluttransfusion, Einwilligung in, 500 Blutuntersuchung, Drogenabhängigkeit, 733 Borderline-Persönlichkeitsstörung, 321 altersgebundene Symptomatik, 707 DBT-F, 444 Dissozialität, Abgrenzungsmerkmale, 416 forensische Relevanz, 327 Geschäfts-/Prozess-/Testierfähigkeit, 552 Jugendalter, 662 Schuldfähigkeit, 100, 665 Selbstwertgefühl, gestörtes, 325 Sexualdelinquenz, 342, 348 Brain fag (Gehirnerschöpfung), 824 Brandstiftung, pathologische, 374 diagnostisches Spektrum, 379 Diffrenzialdiagnosen, 379 forensisch-psychiatrische Beurteilung, 380 instrumentell/nichtinstrumentell motiviert, 379
Motive, 379 Bronchialerkrankungen, verkehrsmedizinische Relevanz, 741 Budget, persönliches (GKV), 575 Bulbärhirnsyndrom, 176 Bulimia nervosa Arbeits(un)fähigkeit, 612 Rentengewährung/-leistung, 620 Bundesagentur für Arbeit (BA) Aufgaben, 573 Ermessensleistungen, 573 Leistungskatalog, 573, 574 Bundesärzteordnung (BÄO), 714 Bundesbeamtengesetz (BBG), 720 Bundesentschädigungsgesetz (BEG), Begutachtung, 555 Bundespflegegeldgesetz, österreichisches, 859 Bundessozialhilfegesetz (BSHG), 589 Bundesversorgungsgesetz (BVG), 588, 630 Buprenorphin, 223 Fahreignung, 735 Haaranalyse, 246 Burnout-Syndrom, Arbeits(un)fähigkeit, 612 BZR-Einträge, Verwertungsverbot, 472 C Cannabinoide/Cannabis
amotivationales Syndrom, 227 Begutachtung, toxikologische, 241 chemisch-toxikologische Analyse, 733 chronischer Missbrauch, 242 Einbringung in den Justizvollzug, 402 Fahreignungsbegutachtung, 732 gelegentlicher/regelmäßiger Konsum, 733 Haaranalyse, 245, 247, 733, 734 Missbrauch, 226 -psychosen, 227 Schizophrenierisiko, 255, 259 synthetische, 244 THC-COOH-Gehalt, 733 Überdosierung/Intoxikation, 227 Unterbringung gem. § 64 StGB, 436 Urinuntersuchung, 733 Capgras-Syndrom, 165 CAPS (Clinician-Administered PTSD Scale), 370 Carbamazepin, Fahreignung, 739 Case Management, Maßregelvollzug, 420 Case Manager, Aufgaben, 420 Cathinone, synthetische (NpS), 244 CDT (Carbohydrate Deficient Transferrin) Alkoholabhängigkeit, 730 Alkoholkonsummarker, 240
Trinkmenge, tägliche, 730 Central Eight, Straftäterbehandlung, 418 CERAD, Demenzdiagnostik, 170 CFT 20-R, 38 Charakterdimensionen, 323 Charaktereigenschaften, Prüfung gem. WaffG, 748 Chemikaliensensibilität, multiple, siehe Multiple Chemikaliensensibilität Chorea Huntington, 169 Chronic-Fatigue-Syndrom (CFS), 620 Begutachtung, 622 Diagnosekriterien, 622 Klassifikation, 622 Chronifizierungen, Haft(un)fähigkeit, 388 Clarke Sex History Questionnaire, 37 Clomethiazol-Abhängigkeit, 224 Cocaethylen, Haaranalyse, 246, 248 Cochemer Modell, Familienrecht, 676 Codein, 223 Haaranalyse, 246 Missbrauch, 242 Urinkontrollen, 245 Commotio cerebri, 175 Compressio cerebri, 176 Computerspielstörung, 374 Computersucht, 374
Geschäfts(un)fähigkeit, 553 Computertomografie (CT), 22 Conditio-sine-qua-non-Formel, Schadensersatz für psychische Schäden, 530 Conduct Disorder antisoziale PS, 197 diagnostische Kriterien, 196, 197 Contusio cerebri, 175 Copingstrategien, Anpassungsstörungen, 398 Corporal-System, Begutachtung der Fahreignung, 727 Corsi-Blockspannentest, 38 Courtship Disorders, 344 Crack, 225 Craving, Opioide, 224 Crystal Meth, 224 Crystal Speed, toxikologische Begutachtung, 243 Cultural Formulation Interview, 824 Cyberstalking, 752 Cyproteronacetat Nebenwirkungen, 354 paraphile Störungen, 354, 355 D Datenschutz(grundverordnung), Unterbringung, 817 Debilität, 299 freie Willensbestimmung, Ausschluss, 553
Schuldfähigkeit, 98 Waffengesetz, 748 Dehydrocodein, siehe Codein Delikthypothese, 475, 476 Delikts(un)fähigkeit, 490 Begutachtung, 554 Bewusstseinsstörungen, 528 Schadensersatzrecht, 527 Delikttypizität, 764, 782 Delinquenz, 220, 648, 649, 656, 667 ADHS mit Conduct Disorder/antisozialer PS, 197 Alkohol-/Drogenmissbrauch, 413 alkoholinduzierte Störungen, 177 amnestisches Syndrom, 171 Autismus-Spektrum-Störungen, 187, 188 Brandstiftung, 379 Demenzkranke, 169 Entstehungsmerkmale (Big/Modest Four), 467 Handlungstheorie, individuelle, 475 Intelligenzminderung, 306 Jugendliche defizitäre Sozialisation, Beurteilung, 656 Einflussfaktoren, 649 Risiko- und Resilienzfaktoren, 648, 667 Justiz-/Maßregelvollzug, 395
Maßregelvollzugustizvollzug, 395 Persönlichkeitsdiagnostik, 39 psychische Störungen, 413 Risikofaktoren Drogenkonsum, 220 Schizophrenie, 177, 253, 256, 413 Schlafstörungen, 204 Spielen, exzessives/pathologisches, 376 Stehlen, pathologisches, 378 Substanzgebrauch, 414 Unterbringung, strafrechtliche, 434 Delir(ium) Diagnoseleitlinien, 172 epileptisches, 172 forensische Relevanz, 172 nicht durch Alkohol/psychotrope Substanzen bedingt, 172 Testierunfähigkeit, 550 tremens, 216, 224 Ursachen, 172 Demenz Alterskriminalität, 169 Begutachtung, 170 bei Parkinson-Krankheit, 167 Betreuung, 499 Betreuungsanordnung, 537
forensische Relevanz, 166–169 frontotemporale, 167 gemischte, 168 ICD-10-Diagnoseleitlinien, 164 luzide Intervalle, 550 mäßige kognitive (leichte), 170 Maßregelanordnung, 171 mit Lewy-Körpern, 167 mittelgradige, 170 psychopathologische Dauerveränderungen, 549 Ratingskalen und Testinstrumente, 170 Schuldfähigkeit, 170 Schweregradbeurteilung, 170 Schweregrade, 548 seltene Ursachen, 169 senile, 169 Sexualkriminalität, 169 Testierunfähigkeit, 548 Unrechtseinsichtsfähigkeit, 171 vaskuläre, siehe Vaskuläre Demenzen Verhandlungsfähigkeit, 390 Verkehrsdelinquenz, 166, 169 verkehrsmedizinische Relevanz, 737 vom Alzheimer-Typ, siehe Alzheimer-Demenz Demenz-Test (DT), 37, 38
Denken erschwertes, Depression, 271 formales/inhaltliches, 21 Dependente Persönlichkeitsstörung, siehe Abhängige (asthenische) Persönlichkeitsstörung Depravation, 215, 230 Depression, 615 ADHS im Erwachsenenalter, 199 agitierte, 271 als Schädigungsfolge (GUV), 626 Arbeits(un)fähigkeit, 611 Begutachtung, asyl- und ausländerrechtliche, 827 bei Männern (male depression), 271, 276 Diagnose, 270 Eigentumsdelikte, 277 Einwilligungsfähigkeit, 541 endogene, 271 erweiterter Suizid, 275 Erziehungsfähigkeit, Einschränkung der, 683 Fibromyalgiesyndrom, 618 forensische Beurteilung delinquenten Handelns, 279 Geschäfts-/Prozess-/Testierfähigkeit, 552 Haft(un)fähigkeit, 387 im Justizvollzug, 399 Kindes- und Jugendalter, Entwicklungspsychopathologie, 707 Kriminalität(sbelastung), 275, 277
Langzeitinhaftierung, 402 larvierte, 272 medikamentöse Therapie, 272 neurotische, 271, 272 parasuizidale Handlungen, 276 pharmakogene, 272 pharmakotherapieresistente, EKT, 540 Prädiktoren, 277, 614 Prävalenz/Verlauf, 270 Psychotherapie, 272 reaktive, 271, 387 rezidivierende, 270 Erwerbsfähigkeit, dauerhaft eingeschränkte, 615 forensische Relevanz, 279 schizoaffektive Störungen, 264 Selbstbeschuldigungen, wahnhafte, 275 Selbstbestrafungstendenzen, 276 Selbstentwertungstendenzen, 271 somatisches Syndrom, 271 sozialmedizinische Beurteilung, 614 Suizid(alität), 271, 795 Symptome, 271 Tagesrhythmik, veränderte, 271 Tötungsdelinquenz, 413 unfallbedingte, Schadensersatzpflicht, 530
Unterhaltsansprüche, nacheheliche, 526 Unterlassungen, 275 Verkehrsdelikte, 277 verkehrsmedizinische Relevanz, 738 Versündigungswahn, 271 vitalisierte reaktive, 279 wahnhafte Störung, 271 oben einordnen Depressive Restriktion, 279 Deprivation, frühkindliche, 101 Derealisations-/Depersonalisationserleben/-störung, 369 Designerdrogen, 228, 244 DESNOS (disorders of extreme stress not otherwise specified), 367 Determinismus, 7 Diabetes mellitus, verkehrsmedizinische Relevanz, 740 Diacetylmorphin (Heroin), siehe Opioidabhängigkeit/-missbrauch Diagnose(stellung) Fehlerquellen, 70 Merkmalskategorien, 7 psychiatrische, Schweregrade, 23 retrospektive, 61 Umfang der Ausführungen im Gutachten, 61 zum Untersuchungszeitpunkt, 61 Diagnostik klinische vs. aktuarische Einschätzungen, 32
operationalisierte, 23 Dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) forensische Patienten (DBT-F), 444 für Suchtpatienten (DBT-S), 444 intelligenzgeminderte Straftäter (DBT-F-IM), 312 PTBS, 368 Suchtpatienten (DBT-S), 444 Dialysepatienten, Fahreignung, 741 Diazepam, Beikonsum, 247 Diebstahl(sdelikte) Demenzkranke, 166, 169 Kinder und Jugendliche, 649 Dienstfähigkeit, 19 begrenzte, 721 Beurteilung Behandlungsunterlagen, frühere, 19 Wiederherstellung, 722 Dienstliches Gutachten, Amtshaftung, 79 Dienstunfähigkeit beamtenrechtliche Fragen, 720 dauernde, 720 Polizeibeamte, 721 psychiatrische Begutachtung, 721 Soldaten, 722 vorübergehende, 720
Dienstunfälle, beamtenrechtliche Fragen, 722 Differenzialdiagnose, Umfang der Ausführungen im Gutachten, 61 Dihydrocodein, 242 Beikonsum, 247 Diskretionsfähigkeit (Österreich), 843 Dispositionsfähigkeit (Österreich), 843 Dissimulation, 26, 27 Dissoziale Persönlichkeitsstörung, 50, 321 Alkoholabhängigkeit, 215 Delinquenzrisiko, 413 Diagnose, 325 Einsichtsfähigkeit, 332 Erziehungsfähigkeit, Einschränkung der, 683 forensische Relevanz, 327, 328 ICD-10-Kriterien, 331 Jugendalter, 664 Jugendkriminalität, 328 klinisches Profil, 329 Konfliktlösung, 333 Konkordanz mit Psychopathie, 331 neurobiologische Befunde, 51, 54, 324 psychopathologische Symptome, 328 Schuldfähigkeitsbegutachtung, 332 schwere andere seelische Abartigkeit, Kriterien, 332 Spielen, exzessives, 376
Steuerungsfähigkeit, 333 unsound mind (ThUG), 129 Verhaltensmuster, delinquente, 332 Zeugenverhalten, 771 Dissozialität/dissoziales Verhalten Anpassungsstörungen, 275 Begutachtung, 415 Einstellungen, 415 Erscheinungsbild, 415 Fehlbeurteilungen, 416 Kindes- und Jugendalter, durch Gewalttraumatisierung, 707 kognitiver Stil, 415 Maßregelvollzug, Dialektisch-behaviorale Therapie, 444 Neuroimaging, 51 PET-Untersuchungen, 52 Phänomenologie, 415 Schuldfähigkeit, 100 Selbstbild, 415 Unterbringung gem. § 1631b BGB, 698 vs. psychopathologische Störung, 332 Dissoziative Amnesie, 28 Dissoziative Identitätsstörung, Kindes- und Jugendalter, 707 Dissoziative Störungen als Schädigungsfolge (GUV), 629 Diagnose(stellung), 369
Differenzialdiagnosen, 369 ICD-10-Einteilung, 368 organische, 173 Prävalenz, 369 Rentengewährung/-leistung, 617 sozialrechtliche Relevanz, 370 Therapie, 369 Dissoziativer Stupor, affektive Erregungszustände, 287 Disulfiram, Suchtbehandlung, 445 Dittmann-Liste, Prognoseinstrument, 23 Dokumentationspflicht des Gutachters, 497 Dolmetscher, forensisch-psychiatrische Untersuchung, 20 Double Depression, 270, 272 Down-Syndrom, 299, 302 Betreuung, 499 Drogen, kriminogene Bedeutung, 435 Drogenabhängigkeit/-missbrauch, 106, 221, 222, 439, 440 Abstinenzkontrolle, 245 ADHS im Erwachsenenalter, 199 aggressive Handlungen, Einschätzung, 220 aktueller Kosnsum, 245 allgemeine Kriminalität, 230 als Schädigungsfolge (GUV), 625 Anabolika, 227 Angst vor Entzug, 231
Begutachtung, toxikologische, 241, 247 Beikonsum, 247 Beschaffungskriminalität, 220 Betreuungsanordnung, 535, 537 Blutuntersuchung, 241, 733 Cannabinoide, 226 chemisch-toxikologische Untersuchung, 733 delinquentes Verhalten, 220 Delinquenzrisiko, 413 Ecstasy (MDMA), 225 Einschätzung, 230 Einschränkung der elterlichen Erziehungsfähigkeit, 681 Entwöhnungsbehandlung, 605 Entzug(ssymptomatik), 231 Fahreignungsbegutachtung, 732 GdB-Einschätzung (SchwbR), 634 Haaranalyse, 241, 245, 733, 734 Halluzinogene, 226 Hemmungsverluste, 220 Hepatitis-/HIV-Infektion, 224 im Justizvollzug, 401 Intoxikation, akute, 228 Jugendalter, eingeschränkte Schuldfähigkeit, 662 Kindes- und Jugendalter, 707 Kokain, 225
Komorbidität, psychische, 230 krankhafte seelische Störung, 95 Maßregel, 231 medikamentöse Therapie, 445 neue psychoaktive Stoffe, 227 Opioide, 223 Persönlichkeitsdepravation, 231 Prognosebeurteilung, 220 Rehabilitation, 232 retrospektive Untersuchung, 245 Schuld(un)fähigkeit, 865 Schuldfähigkeit Begutachtung, 220 Tatanalyse, 228 Verhaltenseinengung, 229, 230 verminderte, 106 Schweregradbeurteilung, 229 schwerste Persönlichkeitsveränderung, 230 Sedativa/Hypnotika, 224 Stimulanzien, 224 Strafaussetzung, 232 Straftaten, 220 Strafvollzug, befristete Vermeidung, 231 Substanzen/Substanzgruppen Abhängigkeitpotenzial, 222
Nachweis, 241 Wirkungen, 221 Testierfähigkeit, 524 Therapiemöglichkeiten, 231 Unterbringung, 605 gem. § 64 StGB, 232, 440 vollstreckungsrechtliche Sonderregelung gem. § 35 BtMG, 439 Unterhaltsansprüche, nacheheliche, 526 Urinkontrollen/-proben, 241, 245, 734 Wiedereingliederung in das Erwerbsleben, Reha-Maßnahmen, 605 Zurückstellungsregelungen, 231 Drogenkriminalität, 220 Drogenscreening, 22 DSM-5 Bedeutung für die Schuldfähigkeitsbegutachtung, 94 Diagnosestellung, 61 Klassifikationssystem, psychiatrisches, 23 Durchführungsobjektivität, 32 Durchgangssyndrom, 164, 173 Dyskalkulie, 704 Dysthymia, 270, 272 Erwerbsfähigkeit, Einschränkungen, 615 kleptomanes Verhalten, 277 E
Ecstasy, 225 Begutachtung, toxikologische, 243 Effektstärkemaße, 34 Ego Resiliency, 648 Ehe(schließungs)recht Aufhebbarkeit der Ehe, 526 Begutachtung, 554 Betreuung, 525, 554 Ehefähigkeit, 525, 554 Geschäftsfähigkeit, partielle, 525 Österreich, 856 Schweiz, 873 Unterhaltsansprüche, nacheheliche bei psychischer Krankheit, 526, 555 Ehefähigkeit fehlende, Rechtsfolgen, 526 Prüfung, 526 Voraussetzungen, 525 Ehegattenzuschlag, SozEntschR, 589 Eheschließungsfreiheit, 521 Eifersuchtswahn, 166, 262 alkoholischer, 217 Eigenschädigung, siehe Selbstschädigung Eigentumsdelikte, 126 als parasuizidale Handlung, 276 bipolare affektive Störungen, 278
i. R. von Depressionen, 277 Jugendstrafrecht, 666 Unterbringung gem. § 64 StGB, 440 Eigenverantwortlichkeit Hilfebedürftige, erwerbsfähige, 570 Stärkung suizidgefährdeter Patienten, 81 Eilfälle, vorläufige Unterbringung, 515 Eilmaßnahmen ärztliche (Betreuung), 511 Unterbringung, 814 Eindruckskontrolle, 39 Eingangsmerkmale (Ausschluss von Schuldfähigkeit), 91 Eingangsuntersuchung, Justizvollzug, 394 Eingliederung in Arbeit, Leistungen, 572 Eingliederungshilfe, Kinder und Jugendliche, 704 Anspruchsberechtigung, 705 Stellungnahmen, fachärztliche, 706 Eingliederungsvereinbarung, erwerbsfähige Hilfebedürftige, 572 Einkoten/Einnässen, Kindes- und Jugendalter, 707 Einsatz-Weiterverwendungsgesetz, 577 Einsichtsfähigkeit, 91, 104, 217, 280, 523 Alkoholisierung, 211 aufgehobene/verminderte, 207 affektive Störungen, 280 Alkoholentzugsdelir, 217
Alkoholhalluzinose, 217 des Betroffenen, Betreuungsrecht, 509 Einwilligungsfähigkeit, 541 ethische Reife, 109 fehlende, Aufenthaltsbestimmung, 503 Intelligenzminderung, 308 Jugendstrafrecht, 109 natürliche, 541 österreichisches Strafrecht, 843 Persönlichkeitsdepravation, 230 Persönlichkeitsstörungen, 326 Prüfung, 102, 103 Anhaltspunkte, 104 Schuldfähigkeitsbeurteilung, Auswirkungen, 108 Schweizer Strafrecht, 866 Sexualdelinquenz, 347 Einsichtsrechte, Unterbringung, 817 Einvernahmefähigkeit (Österreich), 848, 860 Einweisung (bedingte), österreichisches Strafrecht, 844 Einwilligung in die Verletzung persönlichkeitsbezogener Güter, 509 in Fragen persönlicher Angelegenheiten gem. §§ 1904-1906 BGB, 500 in medizinische Maßnahmen, 499, 502 mutmaßliche, 509 Rechtsgeschäft, Zustimmung vor Vornahme, 505
Einwilligungsfähigkeit Beurteilung, 539, 540 Definition, 509 fluktuierende, 541 gerade noch bestehend/gerade schon zu verneinend, 510 in ärztliche Maßnahmen, 509 Minderjährige, 509 psychiatrisches Gutachten, 510 psychische Funktionsbereiche, Prüfung der Intaktheit, 541 Schadensersatzrecht, 527 zweifelhafte, 541 Einwilligungsunfähigkeit, 490, 500, 541 Ausübung der Betreuung, 510 Genehmigung einer Sterilisation, 542 Notmaßnahmen/-situationen, 510 Sterilisation, 512 Volljährige, Betreuung, 510 Einwilligungsvorbehalt Betreuung, 504 Betreuungsanordnung, 538 Erforderlichkeit, 505 Gefahr, erhebliche für Person/Vermögen des Betreuten, 505 Körperbehinderung, 539 Prozess(un)fähigkeit, 523 rechtsgeschäftliches Handeln, 504
Sachverständigengutachten, 508 Voraussetzungen, 504 Willenserklärungen, einwilligungsbedürftige, 505 Wirkungen, 505 Zwangsbehandlung, 518 Einzel-GdB, 603 Einzelhaft, Auswirkungen, 402 Einzel-MdEs, 582 Elektroenzephalografie (EEG), 22 Elektrokonvulsionsherapie Genehmigungspflicht i. R. der Betreuung, 511 Elektrokonvulsionstherapie als Zwangsmaßnahme, 540 Genehmigungspflicht i. R. der Betreuung, 540 pharmakoresistente Depression/Schizophrenie, 540 Schizophrenie, therapieresistente, 261 Elterliche Sorge, 672 Betreuung Minderjähriger, 498 Wiederzuerkennung/-aufleben, 675 Elterngeldrecht, 570 EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing), Traumafolgestörungen, 368 Emotional instabile Persönlichkeitsstörung, 321 affektive Ausnahmezustände, 288 Aussagetüchtigkeit, fehlende/beeinträchtigte, 771 Drogenabhängigkeit, 230
Erziehungsfähigkeit, Einschränkung der, 683 forensische Relevanz, 328 freie Willensbestimmung, Aufhebung/Einschränkung, 553 neurobiologische Befunde, 324 Emotionale Störungen, Kindes- und Jugendalter, 646 Encephalitis lethargica, 177 Entgeltpunkte, Rente, 577 Entgiftungsbehandlung, GKV, 611 Enthemmung, frontotemporale Demenz, 167 Entlassung, 135, 844, 845, 869 Kriminalprognose, 478 Legalprognose, 478 Maßregel-/Maßnahmenvollzug Deutschland, 135, 396 Österreich, 844, 845 Schweiz, 869 psychiatrische Abteilung im Justizvollzug, 396 Risikomanagement, 480 Unterbringung, 817 vorzeitige, Entziehungsanstalt, 137 Entlassungsprognose familiäre Verankerung, 479 individuelle, 475 Maßregelaussetzung, 464 Sicherungsverwahrung, 134, 465
Vollzugsverhalten, 465 Entmündigung siehe Erwachsenenschutzgesetz/-recht (Schweiz), Beistandschaft Entmündigung, siehe Betreuung Entschädigungsneurosen, 615 Entschädigungsrecht, soziales, siehe Soziales Entschädigungsrecht Entscheidungsfähigkeit österreichisches Zivil-/Verwaltungsrecht, 849–851 Entwicklungskrisen/-psychopathologie, Kindes- und Jugendalter depressive Störungen, 707 Untersuchungstechnik, 687 Entwicklungspsychopathologie, 645 Entwicklungsstörungen, 664, 704 Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel, 668 Intelligenzminderung, 298, 301 Jugendstrafrecht, 109 Kindes- und Jugendalter, 646 umschriebene, 646 Kostenträgerschaft, 704 Steuerungsfähigkeit, 664 Entwöhnungsbehandlung Alkohol-/Drogenabhängigkeit, 605 psychotrope Substanzen, 611, 614 Entwurzelungssymptomatik, Migranten, 596 Entziehungsanstalt siehe Unterbringung gem. § 64 StGB Entzug(ssymptomatik)
Amphetamine, 225 Beurteilung, 231 Cannabinoide, 227 Kokain, 225 Nachtatverhalten, 231 Opioide, 224 Sedativa/Hypnotika, 224 Verhaltenssüchte, 375 Epilepsie Fahreignungsprognose, 741 forensische Relevanz, 178 limbische (organisches Psychosyndrom), 174 psychische Veränderungen, 178 Schuld(un)fähigkeit, 179 und Autismus-Spektrum-Störungen, 187, 190 Unrechtseinsichtsfähigkeit, 179 verkehrsmedizinische Relevanz, 741 Epilepsiepsychose, 179 Erblasser, 850 Einsichts- und Willensbildungsfähigkeit, 523 Kritik- und Urteilsfähigkeit, 547 Testier(un)fähigkeit, 523, 546, 547 österreichisches Zivil-/Verwaltungsrecht, 850 Erektionsstörungen, psychiatrische Begutachtung, 361 Erforderlichkeitsgrundsatz, Betreuungsrecht, 500
Ergotherapie intelligenzgeminderte Menschen, 313 Maßregelvollzug, 444 Erinnerungen echte, an traumatische Erlebnisse, 777 falsche, 28 falsche wiederentdeckte, 776, 778 suggestives Potenzial therapeutischer Techniken, 777 Quellenverwechslungsfehler, 776, 780 scheinbare, siehe Pseudoerinnerungen Erinnerungslücken/-störungen Affekttat/-delikte, 97, 287 alkoholbedingte, 212 Beurteilung, 28 Gründe, 27 postdeliktische, 291 s. a. Amnesie, 27 Verdrängung, 28 Erkenntnisfähigkeit, 871 Erlebnisreaktion, 602 Ermessensleistungen, Weiterbildung, 573 Erstausbildung, berufliche (Förderung), 573 Ersttäterregelung (nachträgliche Sicherungsverwahrung), 127 Erwachsenenkriminalität, reine, 414 Erwachsenenschutzgesetz/-recht, 851, 852, 871, 872 Ö
Österreich, 849, 850 Übergangsvorschriften, 852 Vertretungsformen, 851 Schweiz, 870 Beistandschaft, 872 Patientenverfügung, 871 psychische Störungen, Behandlung, 872 Unterbringung (zur Behandlung/Betreuung), 872 Urteilsunfähigkeit, 871 Vertretungsberechtigte, 872 Erwachsenenvertretung (Österreich) gerichtliche, 852 gesetzliche, 852 gewählte, 851 Vorsorgevollmacht, 851 Erwerbsfähigkeit, 593, 612, 613 behinderte Menschen, 585 Beurteilung, 578, 591 abstrakte/ärztliche, 612 GRV, 593 Einschränkungen, Beweispflicht des Versicherten Leistungsbild, 613 Mini-ICF, 613 Minderung, siehe MdE organische psychische Störungen, 611
psychische Störungen, 595 Rehabilitation, GRV, 604 SGB II, 571, 589 Erwerbsminderung atypische Leistungseinschränkungen, 578 Begutachtung in der GRV, 613 dauerhafte, 591 Funktionsdiagnosen, 613 Grundsicherung, Sozialhilfe, 590 konkrete Betrachtungsweise, 578 Leistungen, Sozialhilfe, 590 Rente(nleistungen), 577 teilweise, 577, 595, 612 Definition, 578 Ursachen, 578, 613 volle, 612 GRV, 578, 595 Erwerbsminderungsrente, 577, 612 Begutachtung, 593 Erwerbsunfähigkeit, 72, 560 Autismus-Spektrum-Störungen, 190 infolge psychischer Krankheit, 526 Schizophrenie, 252 Sozialversicherungsrecht, Schweiz, 875 Erwerbsunfähigkeitsrente, siehe Erwerbsminderungsrente
Erziehungsfähigkeit, 682, 683 Begutachtung(sfragen), 681 eingeschränkte/mangelnde psychische Störungen, 683 Suchtkrankheiten, 682 Ursachen, 681 noch akzeptable, 684 Erziehungshilfe, 654, 704 § 12 JGG, 668 Erziehungsmaßregeln (JGG), 668 Essstörungen, 630, 633 als Schädigungsfolge GUV, 630 SozEntschR, 633 Arbeits(un)fähigkeit, 612 Betreuungsanordnung, 538 GdB-Einschätzung (SchwbR), 635 Geschäfts-/Prozess-/Testierfähigkeit, 552 Kindes- und Jugendalter, 707 Rentengewährung/-leistung, 620 Ethanol Alkoholkonsummarker, 240 Pathophysiologie, 236 s. a. Alkohol, 236 Ethylglucuronid (EtG), als Alkoholkonsummarker, 240, 730
Ethylsulfat (EtS), als Alkoholkonsummarker, 241 Euphorie frontotemporale Demenz, 167 organische Persönlichkeitsstörung, 174 Exhibitionismus Ätiologie, 344 i. R. von Depressionen, 276 Klassifikation, 341 Nosologie/Phänomenologie, 339 Schuldfähigkeit, 100 Expartner-Stalking, 755 Explosivreaktion, 291 Extrapyramidale Störungen, verkehrsmedizinische Relevanz, 739, 741 Extraversion, 322 Extremismus Definition, 833 Gewaltrisikobeurteilung, 833 Prävalenz Deutschland, 833 Österreich und Schweiz, 834 psychopathologische Aspekte, 832 Risikobeurteilung, 834 Risikomanagementstrategien, 835 Risk-Assessment-Instrumente, 835 Tätertypen, 832
Eysenck Personality Questionnaire (EPQ-R, 38 F Fähigkeitsstörungen, Arbeitsunfähigkeit, 610 Fahreignung, 860 (Alters-)Demenz, 166, 737 Abstinenzkontrollen, 734 affektive/schizophrene Psychosen, 738 Alkohol(karenz)bestimmung, 730 Alkoholabhängigkeit Abstinenz(nachweis), 730, 732 Diagnosekriterien, 730 Entwöhnungsbehandlung, 732 Labor-/morphologische Befunde, 730 Rückfallprognose, 732 Alkoholmissbrauch Definition, 729 Konsumgewohnheiten, 731 Kriterien nach § 13 FeV, 729 Problembewusstsein, 731 Prognose, 730 Rehabilitationskurse, 731 Umfeldproblematik, 731 Verdachtsdiagnose, 729 vs. -abhängigkeit, 729
Alkoholspiegelmessung, 731 bedingte, 726 Begutachtung Anforderungen, 727 ärztliche/medizinisch-psychologische, 726 Auftraggeber, 726 Österreich, 860 Prozentrang (PE; altersunabhängige Normwerte), 727 rechtliche Grundlagen, 726 Testsysteme, 727 Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung, 727 Begutachtungsstellen, 726 bei Langzeitmedikation, 735 Bewegungsbehinderungen, 728, 729, 740 Bewusstseinsstörungen, 741 Bronchial-/Lungenerkrankungen, 741 Buprenorphin, 735 Cannabiskonsum, 732 charakterliche Mängel, 732, 735 Definition, 726 DGVP/DGVM-Beurteilungskriterien, 727 Diabetes mellitus, 740 Drogenabhängigkeit, 732 chemisch-toxikologische Untersuchung, 733, 734 Haaranalysen, 734
Nachschulungskurse, 735 Problembewusstsein, 734 Prognosebeurteilung, 734 Urinuntersuchung, 733 Verhaltensprognose, 734 Eignungszweifel, 726 Epilepsie, 741 Fahrverhaltensbeobachtung, 728 Gleichgewichtsstörungen, 740 Gutachten, 726 Herz-Kreislauf-Erkrankungen, 740 hirnorganische Störungen, 737, 741 Hörvermögen, beeinträchtigtes, 739 Leistungsdiagnostik, 727 Leistungseinschränkungen, 729 ältere Menschen, 727, 738 intellektuelle, 739 Kompensation, 728 Kumulation, 728, 739 Leistungsvermögen, psychophysisches, 727, 738 Medikamentenmissbrauch/-abhängigkeit, 732 Methadonsubstitution, 735 motorische Funktionsstörungen, periphere, 741 neurologische Erkrankungen, 741 Nierenerkrankungen, 741
Persönlichkeit des Probanden, 728 Privatgutachten, 11 psychische Störungen, 737 Psychosyndrom, organisches, 737 psychotrope Substanzen, 733 Punktetäter, 735 Schlaf-Apnoe-Syndrom, 741 Sehvermögen, 738, 739 somatische Erkrankungen, 739 Straftaten im Straßenverkehr Prognosebeurteilung, 737 Fahrerlaubnis Auflagen/Beschränkungen, 726, 732, 735, 738 Ausstellung, 726 Sehtestbescheinigung, 726 Fahrerlaubnisentzug (Maßregel), 113 Fahrerlaubnisverordnung (FeV), 726 Fahrlässigkeit grobe, 74, 76 Haftung, 74 leichte, 78 Lockerungsmissbrauch, 81 subjektive/objektive, 81 Verschuldensgrad, 76 Fahrunsicherheit, Blutalkoholkonzentration, 237
Fahrverhaltensbeobachtung, 728, 738 Fallmanager, erwerbsfähige Hilfebedürftige, 572 Falschaussage, uneidliche (Haftung), 80 Falschbegutachtung, Haftung strafrechtliche, 79 zivilrechtliche, 74 Falschfahrer, Alzheimer-Demenz, 166 Falsch-Negativ-/-Positiv-Rate, 35 False-Memory-Syndrom, 28 FamGerMKindwG (Gesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls), 698 Familienanamnese, 60 Familienmediation, 675 Familienrecht(sverfahren), 681, 687, 689, 691, 694, 696 Anhörungsrecht des Kindes, 673 Anwalt des Kindes Verfahrenspfleger, 673 Begutachtung, 672 Exploration des Kindes, 688 geschlossene Unterbringung, 698 Hausbesuche, 681, 691 Interaktionsbeobachtung, 691 Sorgerecht, 692 Sorgerechtsentzug, 696 testpsychologische Untersuchung, 689 Umgangsrecht, 694 Untersuchungstechnik/Vorgehen, 687
Beschleunigungsgebot, 678, 698 eheliche/nichteheliche Kindern, Gleichstellung, 674 Elterngespräch, 688 Interventionsgutachten, 675, 676, 692 Interventionsverfahren, 675–677 Kindeswohl als Leitbegriff, 677 Kindschaftsrechtsreform, 673 Österreich, 856 Rechtsansprüche des Kindes, 673 Reformen, 672, 673 Sorgerecht, 673 Umgangsrecht, 674 des Kindes, 673 Widerspruchsmöglichkeit des Kindes, 673 Fanatismus, religiöser, 832 Farbe-Wort-Interferenztest, 37, 38 Fehldosierungen, Arzneimitteldauerbehandlung, 735 Fehleinschätzung, gutachtliche Eigen-/Fremdschädigung des Probanden, 81 Körperverletzung/Tötungsdelikte, 80 Fehleinweisungen in Maßregelvollzug gem. § 64 StGB, 447 Fehlerquellen der Begutachtung, 6 Aktendarstellung, 68 Anamnese/Exploration, 69 Auftragserteilung/-annahme, 68
Befunderhebung/-beschreibung, 69 Beweisfragen, Formulierung, 68 Diagnosestellung, 70 forensisch-psychiatrische Beurteilung, 70 im mündlichen Gutachten, 71 im schriftlichen Gutachten, 70 Interaktion Proband/Sachverständiger, 69 Prognosebegutachtung, 71 Sachverständigenauswahl, 68 sozialrechtliche Gutachten, 71 strafrechtliche Gutachten, 71 Zeitmangel, 69 zivilrechtliche Gutachten, 71 Fentanyl, Beikonsum, 247 Fetales Alkoholsyndrom (FAS), Intelligenzminderung, 301 Fetischismus, Nosologie/Phänomenologie, 339 Fettleberhepatitis, Alkoholmissbrauch, 730 Fettsäureethylester, als Alkoholkonsummarker, 240 Fibromyalgiesyndrom ACR-Diagnosekriterien, 618 Kernsymptome, 618 Fixierungen, 423, 430 Fixierungsvorrichtungen, unterbringungsähnliche Maßnahmen, 516 Flugreisetauglichkeit, asyl-/ausländerrechtliche Begutachtung, 822 Flynn-Effekt, 36
Folie à deux, 264 Förderkompetenz, elterliche, 678 beeinträchtigte (Sorgerecht), 681 Forensische Psychiatrie, 10 Begutachtung von Traumatisierungen, 822 neurobiologische Forschungsansätze/-erkenntnisse, 50, 53, 54 Österreich, 842 Persönlichkeitsstörungen, 320 Schweiz, 864 Schweiz, Weiterbildung, 864 Zertifikat, 68 Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, 4 Forensisch-psychiatrische Aufgaben, Justizvollzug, 403 Forensisch-psychiatrische Untersuchung Aktenstudium, 17 Amnesieproblem, 27 Anwesenheit Dritter, 17, 20 apparative Untersuchungen, 22 Aufklärung des Probanden, 16 ausländischer Proband, 19 Behandlungsunterlagen, frühere, 19 Besonderheiten, 16 Diagnose, psychiatrische, 23 Dolmetscher, 20 Erhebung des psychischen Befunds, 20
fremdanamnestische Informationen, 19 gegen den Willen des Probanden, 26 Gespräch, gutachtliches, 17 Klassifikatonssysteme, psychiatrische, 23 körperliche Untersuchung, 22 Prognoseinstrumente, aktuarische, 23 Rahmenbedingungen, 16 Raum und Zeit, 16 Simulation, 24 testpsychologische Untersuchung, 22 Umgang mit Geständnis/Leugnung, 29 Verhaltensbeobachtung, 21 Verweigerung, 27 Zusatzinformationen, 19 Forensisch-Psychiatrisches Dokumentationssystem (FPDS), 105 Formales Denken, 21 Fragebogen, 32 Fragen, prognostische (schriftliches Gutachten), 61 Fragerecht des Sachverständigen, 63 Fragiles-X-Syndrom, 302 Freiburger Persönlichkeitsinventar (FPI) revidiertes (FPI-R), soziale Erwünschtheit, 39 verkehrsrechtliche Verstöße, 736 Freier Wille, 7 Freiheitsbeschränkende Maßnahmen, Unterbringungs- und Heimaufenthaltsgesetz (Österreich), 856
Freiheitsentziehung fürsorgerische (Schweiz), siehe Unterbringung regelmäßige (unterbringungsähnliche Maßnahmen), 516 Unterbringung, 513 Freiheitsstrafe Aussetzung, Kriminalprognose, 464 lebenslange, psychische Folgeschäden, 402 Lockerungsprognose, 464 nachträgliche Änderung einer Sanktion (Schweiz), 869 Unterbringung, Maßregelaussetzung, 138 Vollstreckungsunterbrechnung, 387 zeitige, 464 Freiverantwortlichkeit, Suizid, 797 Fremdbeurteilung(sverfahren), 22, 40 Fremdenrecht (Österreich), 859 Fremdgefährdung, Waffengesetz, 748 Fremdkörperschlucken, Justizvollzug, 400, 401 Fremdschädigung Fehleinschätzung, gutachterliche, 80, 81 Pflichtwidrigkeitszusammenhang, Nachweis, 81 Fremdunterbringung (Sorgerechtsentzug) Akzeptanz, 697 Kindeswohlgefährdung, 696 Komplikationen, 697 Rückführung des Kindes, 697
Frontalhirnsyndrom, 174, 177 Frontotemporale lobäre Degenerationen (FTLD) forensische Relevanz, 168 klinisches Bild, 167 Frotteurismus Ätiologie, 344 Nosologie/Phänomenologie, 339 Früherkennung/-förderung, behinderte Menschen, 585 Fugue, dissoziative, 369 Führerscheinentzug, Beweislast, 726 Führerscheingesetz-Gesundheitsverordnung (FSG-GV), österreichische, 860 Führungsaufsicht Aussetzung der Unterbringung, 137, 138 Erledigung der Sicherungsverwahrung, 135 Erteilung von Weisungen, 428 Informationspflichten, 428 Krisenintervention, 429 Maßregel(vollzug), 113, 136 unbefristete, 141 Weisungsverstöße, 428 Wiederinvollzugsetzung, befristete, 429, 443 Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeitsstörungen (Costa & McCrae), 322 Funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT), neurobiologische Ansätze der forensischen Psychiatrie, 50
Funktionen, psychische, 21 Funktionsstörungen, GRV, 593 Fürsorgerische Unterbringung (FU), Schweizer Erwachsenenschutzrecht, 872
G Gambling disorder (Störung durch Glücksspiel), 375 Gaming disorder (Computerspielstörung), 374, 375 Gamma-Glutamyl-Transferase (GGT), Alkoholabhängigkeit, 730 Ganser-Syndrom, Haftpsychose, 399 Garantenstellung, ärztliche, 794, 805 GdB (Grad der Behinderung), 623 Autismus-Spektrum-Störungen, 191 Begutachtung, 603 Feststellung, 586 GdS/GdB-Tabelle VersMedV, 635, 636 Nachteilsausgleiche, 587 Sexualfunktionsstörungen, 361 Stufen (Zehnergrade), 586 VersMedV, 586 GdS (Grad der Schädigungsfolgen), 72 Bemessung, 582 Beurteilung, 589 Bewertung, SozEntschR, 601 GdS/GdB-Tabelle VersMedV, 635, 636 MdE, 581 Prinzip der Gesamtentschädigung, 588 Sexualfunktionsstörungen, 361 SozEntschR, 631, 706
GdS/GdB-Tabelle, 635, 636 Gebrechlichkeitspflegschaft, siehe Betreuung Gedächtnisstörungen/-verlust, 21 frontotemporale Demenz, 167 Schweregrade, 548 Gedankenstrom, vermehrter (Manie), 273 Gefahr begründete, Betreuung, 539 Gefährder, 834 Gefährdungshaftung, 527 Gefährlichkeit, 461 nachträgliche Sicherungsverwahrung, 132 Gefährlichkeitsprognose, siehe Kriminalprognose Gefängnissuizid, 399 Risikofaktoren, 400 Vorhersage, 400 Gefühlslebensstörung, 98 Gegenübertragung, negative, 10 Geheimnisoffenbarung, Ablehnung (Therapeut), 397 Gehemmtheit, 271 Geisteskrankheit (österreichisches Strafrecht), 843 Geistesschwäche, siehe Intelligenzminderung Geistesstörung, Verdacht auf (§ 134 StPO, Österreich), 842 Geistestätigkeit, 92, 522, 545, 551, 552 krankhafte Störung
s. a. Krankhafte seelische Störung, 92 krankhafte Störung siehe Krankhafte seelische Störung 547 vorübergehende Störung Geschäftsfähigkeit, 522, 545 Manie, 552 substanzbedingt, 551 Geistige Behinderung Betreuung, 499 Betreuungsanordnung, 535 Eingliederungshilfe, 704 Einwilligungsunfähigkeit, 541 Erwachsenenschutz (Schweiz), 870, 872 Gewalttäterrisiko, 413 österreichisches Strafrecht, 843 Testierunfähigkeit, 524, 546 Geistige Reife, Beurteilung, 654 Geldleistungen, Grundsicherung (Alg II), 571 Gelegenheitsdelinquenz, Haftpsychose, 399 Gelegenheitsursache, Sozialrecht, 597, 598 Gemeingefährlichkeit, Schweizer Strafrecht, 869 Genehmigung(sverfahren) Rechtsgeschäft, Zustimmung nach Vornahme, 505 Sterilisation, 513 Generalprävention, positive, 90 Genfer Flüchtlingskonvention, asyl- und ausländerrechtliche Begutachtung, 824
Gesamt-GdB, Begutachtung, 603 Gesamt-MdE, 582 Geschäftsfähigkeit, 8, 71, 544 Ausnahmefälle, 519 Begutachtung Fehlerquellen, 71 Prinzipien, 544 beschränkte, 519 Betreuungsanordnung, 504 Definition, 519 fehlende, Folgen, 519 freie Willensbestimmung, Ausschluss, 520, 545 luzide Intervalle, 521 österreichisches Zivil-/Verwaltungsrecht, 849 partielle, 519, 521, 525 prozessuale, 522 relative, 521 s. a. Prozess(un)fähigkeit, 546 s. a. Testier(un)fähigkeit, 523, 546 Schadensersatzrecht, 527 Störung der Geistestätigkeit, vorübergehende, 522, 545 Voraussetzungen, 519 vs. Einwilligungsfähigkeit, 509 Geschäftsunfähigkeit, 519, 549 Aphasien, 554
Art des Rechtsgeschäfts, 521 aufgrund psychischer Störungen, 490 Begutachtung, Prinzipien, 544 Beweis, 520 Beweisfragen, 520 Beweislast, 504 Bewusstlosigkeit, 521 dauerhafter Ausschluss der freien Willensbestimmung, 521 Demenz diagnostische Kriterien, 548 Voraussetzungen, 549 Depression, 552 Ehefähigkeit, 554 Eherecht, 525 Gutachten, mündliches, 65 infolge psychischer Störungen, 520, 548 natürliche, 520 partielle, 500, 521, 539, 545, 850 pathologisches Spielen, 553 Persönlichkeitsstörungen, 552 retrospektive Beurteilung, 545 Sachverständigengutachten, 521 und freie Willensbestimmung, 803 Verhaltenssucht, 553 Waffengesetz, 747
Geschichtenergänzungsverfahren, videogestützte, 690 Geschlechtsinkongruenz/-dysphorie, 360 Ätiologie, 359 Begutachtung nach TSG Geschlechtszugehörigkeit, Feststellung, 360 Gliederung/Inhalt des Gutachtens, 361 Vornamen-/Personenstandsänderung, 360 Diagnostik, 359 epidemiologische Aspekte, 359 Therapie, 361 Geschlossene Station, Unterbringung, 819 Geschwister(beziehungen) Kindeswohl, 679 Umgangsrecht, 674 Gesetz über die freiwillige Gerichtsbarkeit (FGG), 814 Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung (SichVAbstUmsG), 130 Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG), 347 Gespräch, gutachtliches, 17, 18 Geständnis, 29, 774, 784, 785, 786 falsches aussagepsychologische Begutachtung, 784, 786 begünstigende Faktoren, 785 Einflussfaktoren, 785 Formen, 784
Verursachungsgefüge, 786 Vorannahmen des Befragenden, 774 Gesundheitserstschaden, 580 Gesundheitsfürsorge, Betreuung, 537 Einwilligungs(un)fähigkeit, 539 Gesundheitsschaden/-störung, 575 Anlassgeschehen/Gelegenheitsursache, 598 Arbeitsunfall, 599 Beweiserleichterung der Wahrscheinlichkeit, 597 psychische Einwirkungen als wesentliche Bedingung, 597 Qualität der mitwirkenden Bedingungen, 597 Schadensanlagen, unfallunabhängig mitwirkende, 598 Schock, 531 Sozialversicherungsrecht, Schweiz, 874 Teilursache, wesentliche, 597, 598 unfallabhängige Ursachen, 597 Unterbringung, 816 Vollbeweis, 598 Gesundheitssorge, Betreuung Umfang/Ausschluss, 502 Unterbringung, 514 Gesundheitszeugnisse, unrichtige (Gutachterhaftung), 79 Gewahrsamsfähigkeit Intoxikationen, 386 Überprüfung, 386
Gewaltdelinquenz/-straftat/-straftäter, 256, 276, 453, 833 Alkoholisierung, akute, 210 Basisrisiko, 426 Entlassungsprognose, 465 epilepsiekranke, 179 extremistisch motivierte psychopathologische Auffälligkeiten, 832 Risikobeurteilung, 833 gefährliche, Jugendstrafrecht, 655 gegen Kinder/Jugendlich, 706 Hirnfunktionsabweichungen, 177 instrumentelle vs. reaktive Gewalt, 228 Jugendliche, Rückfallquote, 666 Methamphetamin, 225 psychisch gestörte, Unterbringung nach ThUG, 129 Risikoeinschätzung, 469 Risikofaktoren, 413, 832 Depression und Suizidalität, 276 Schizophrenie, 256 Risikoprognose-Instrumente, 470 schizophren erkrankte, 256 Sicherungsverwahrung, 125 Rückfälligkeit, 453 soziodemografische Daten, 453 Unterbringung gem. § 64 StGB, 440
Gewalttat, psychische, 632 Gewissen, bestes (Sachverständigeneid), 10 Gewissenhaftigkeit (conscientiousness), 322 Gewohnheit(sbildung)en, abnorme, 374, 379 GKV (gesetzliche Krankenversicherung) Abgrenzung Krankenhausbehandlung/Pflegefall, 593 Arbeitsunfähigkeit, 576, 591, 610 ärztliche Behandlung, 575 Entgiftungsbehandlung, 611 Erwerbstätigkeit, bisherige, 591 Konkurrenzfähigkeit, 574 Krankenbehandlung, 575, 576 Krankengeldanspruch, 576 Krankenhausbehandlung, vollstationäre, 592 Krankheitsbegriff, 574, 610 Leistungen, 575 psychiatrische Dauererkrankungen, 592 Psychotherapie, 575 Rehabilitation(sleistungen), medizinische, 576, 604 Sach- und Dienstleistungsprinzip, 575 SGB V, 574 stationäre psychiatrische Behandlung, 592 unaufschiebbare Leistungen, 575 Versichertenansprüche, 575 Wirtschaftlichkeitsgebot, 575
Glaubhaftigkeit asyl- und ausländerrechtliche Begutachtung, 828 von Zeugen, 153 Glaubhaftigkeitsbegutachtung, 17, 28 Analyseschritte, 778 Aussageentstehung/-entwicklung, Rekonstruktion, 781, 784 Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen, 759 Aussagetüchtigkeit, 759 empirische Überprüfung, 770 Erhebungsbereiche/-methoden, 781 erlebnisbasierte vs. erfundene Aussagen, siehe Aussagen Exploration zur Sache, 783 Falschbezichtigungs-/Lügenhypothese, Prüfung, 758, 781 Falschgeständnis, siehe Geständnis, falsches Fragestellungen, 758 Gesamtbewertung, 780 Grenzen, 783 Hintergrund, 758 inhaltsanalytischer Ansatz, 762 Kinder, sexuelle Missbrauchserfahrungen, 686 Konstanzanalyse, siehe Merkmalsorientierte Qualitätsanalyse Leitfrage, 781 Mindestanforderungen, 758 Prämissen, 768, 769 Problemkonstellationen, 758
Qualitäts-Kompetenz-Vergleich, 772 Sexualdelikte, 758, 782 Simulationsstudien, 766, 770 Suggestionshypothese, Prüfung, 758, 772, 776, 778, 779, 781 typische Fehler, 783 Glaubhaftigkeitsmerkmale, 764 Gleichgewichtsstörungen, verkehrsmedizinische Relevanz, 740 Glücksspielen, pathologisches, 376 Glukosemetabolismus, zerebraler (antisoziales Verhalten), 52 Gnadenverfahren, Privatgutachten, 11 GnRH-Agonisten paraphile Störungen, 354 sexuell-distanzloses Verhalten, 313 Good-Lives-Modell (GLM), 419 Rehabilitation von Sexualstraftätern, 351 GOT/GPT, Alkoholabhängigkeit, 730 GPV (gesetzliche Pflegeversicherung) Aufgaben, 582 Heimpflege, 584 Leistungen, 582 Pflegebedürftigkeit, 583 Sachleistungen, 582 SGB XI, 582 Surrogatleistungen, 582 Versicherungspflicht, 582
Wirtschaftlichkeitsgrundsatz, 584 Grad der Behinderung, siehe GdB der Schädigungsfolgen, siehe GdS Größenwahn, 262 Grundrechtseinschränkungen, Unterbringung, 411 Grundrente, SozEntschR, 588 Grundsicherung Anspruchsvoraussetzungen, 571 Arbeitssuchende, 570, 589 Eingliederungsleistungen, 572 Eingliederungsvereinbarung, 572 Erwerbsfähigkeit, 571 Fördern/Fordern, 572 Geldleistungen, 571 Hilfebedürftigkeit, 571 im Alter, Sozialhilfeleistungen, 590 Gruppentherapie deliktorientierte, 312 für Lernbehinderte, 312 GRV (gesetzliche Rentenversicherung) allgemeine Aspekte, 593 Anschlussheilbehandlung, 576 Aufgabenbereiche, 576 Berufsunfähigkeit, 595
Beurteilung Entwurzelungssymptomatik, 596 Erwerbsfähigkeit, 593 Funktionsstörungen, 593 reale Verhältnisse/Anforderungen der Arbeitswelt, 594 Zustand des Krankseins, 593, 594 Zustandsgutachten, 594 Entgeltpunkte, 577 Entwöhnungsbehandlung, 611 Erwerbsminderung, teilweise/volle, 577, 595 Gutachten, 594 Gutachtenreliabilität, 613 Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, 576 Rehabilitation, medizinische, 604 Rentenarten, 577 Rentenartfaktor, 577 Rentenhöhe, 577 Rentenleistungen, 612 SGB VI, 576 Umstellungsfähigkeit, 596 GSiG (Bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung), 590 Gutachten, aussagepsychologisches, 828 Gutachten/Begutachtung, psychiatrische(s) Abfassen der Beurteilung, allgemeine Pflichten, 496 Affekttaten, 293
Alkoholabhängigkeit/-missbrauch, 210, 211, 215 Amtshaftung, 78 Anknüpfungstatsachen, 112, 534 assistierter Suizid, 807 Asyl- und Ausländerrecht, 822 Auftraggeber, 11 Auftragsbefugnis, 156 Autismus-Spektrum-Störungen, 189 Beeinträchtigungen kognitiver/voluntativer Fähigkeiten, 4 Befundtatsachen, 159 Begriffe, juristische vs. medizinische, 496 Behörden-/dienstliches, 79 Berufsunfähigkeit/Invalidität (Österreich), 857 Berufszulassung/-ausübung Ärzte und Therapeuten, siehe Approbationsrechtliche Begutachtung Beamte, siehe Beamtenrechtliche Begutachtung Betreuungsrecht, 498, 534 Einwilligungsfähigkeit, 509, 510 Unterbringung, 542 wesentliche Fragen, 508 Wohnungsauflösung, 518 Beweisfragen, Präzision, 68 Beweisführung, historische, 65 Beweisthema, 491 Beweiswürdigung des Gerichts, freie, 490
Beziehung Sachverständiger/Proband, 19 Brandstiftung, pathologische, 380 Bundesentschädigungsgesetz (BEG), 555 Delegationsverbot, 156 Deliktsfähigkeit, 554 Demenzkranke, 169 Denk-/Herangehensweisen von Ärzten und Juristen, 496 Diagnosestellung, 5 Dolmetscherbedarf, 595 Eherecht, 554 Erstattung, 58, 157 eigenverantwortliche, 497 falsches Gutachten, 865 Erstattungspflicht, 155 erweiterter Suizid, 808 ethische und professionelle Dilemmata, 822 extremistische Gewalt, 832 Fahreignung, 726 Österreich, 860 Fahrlässigkeit, grobe, 76 falsches vs. unrichtiges, 80 Familienrecht, 672 Erziehungsfähigkeit, elterliche, 681 Kindeswohlgefährdung, 359 sexuelle Missbrauchs-/ Misshandlungsvorwürfe, 687
Sorge-/Umgangsrechtsverfahren, 677 Unterbringung gem. § 1631b BGB, 698, 699 Fehlermöglichkeiten, siehe Fehlerquellen der Begutachtung Formen, 491 Fremdenrecht (Österreich), 860 Fristeinhaltung, 497 Geschäft s(un)fähigkeit, 519, 544 Geschlechtsinkongruenz (Transsexualität), 359, 360 Glaubhaftigkeit, 758, 828 grob fehlerhaft e(s), 74 Gutachtenstandards, 822 Haft(un)fähigkeit, 386 Haftung des Gutachters, siehe Haftung Hangtäter(schaft), 452 Hauptverhandlung, 158 herrschende medizinische Lehrmeinung, 68 Hinterbliebenenansprüche nach Suizid, 561 historische Aspekte, 5 Kausalitätslehre, sozialrechtliche, 596 Kriminalprognose, 460 Jugendliche/Heranwachsende, 666 Kriterienorientiertheit, 12 Leistungsvermögen, psychophysisches, 727 Maßregelvollzug, 423 medizinische Rehabilitation, 604
Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE), 623 Mindestanforderungen (Leitlinien), 72 mündliche(s), 158 Fehlermöglichkeiten, abstrakte, 65 Fehlerquellen, 71 juristische Wertung, 61 Nicht-ausschließen-Können, 65 Strafprozess, 63 Zivilprozess, 65 Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, 160 Nachvollziehbarkeit, 12 neurobiologische Erkenntnisse Dissozialität, 51 Pädophilie, 50 Psychopathie, 51 organische psychische Störungen, 170–172, 174, 176 paraphile Störungen, 348 Patientensuizid, 805 persönliche Verantwortung des Sachverständigen, 157 Persönlichkeitsstörungen, 320 anti-/dissoziale, 332 Pflegebedürftigkeit, 859 Prinzipien, 5 Prozess(un)fähigkeit, 522, 544, 546 Psychopathie, 332
PTBS, 628 Qualitätsanforderungen, 43 Qualitätssicherung, 68, 591, 822 Qualitätsverbesserung, 62 rechtliche Fähigkeiten einer Person, 491 Relevanz von Neuroimaging-Befunden, 53, 54 Rentenneurosen, 564 Sachentscheidung durch Beschluss, 76 Sachverständigenpflichten, 495 Schlussfolgerungen, juristische, 490 Schmerzen, 618, 619 seelische, 858 Schockschäden, 564 schriftliche(s) Aktenlage, 58 Anforderungen, 58 Aufbau/Gliederung, 58, 59 Befunde, 60 Beurteilung, 61 Einleitung, 58 Fehlerquellen, 70 Probandenangaben, 59 Prognoseverfahren, 58, 59 prognostische Fragen, 61 retrospektive Beurteilung, 61
Sachverhalt, 58 Strafverfahren, 58, 59, 60 Umfang, 58 Vorläufigkeit, 62 Widersprüche, 62 Zivilrecht, 58 Schritte, 5 Schuldfähigkeit, 247 affektive Störungen, 279 Anpassungsstörungen, 281 Delikte unter Alkoholeinfluss, 236 Drogenabhängige, 220, 228 intelligenzgeminderte Straftäter, 307 psychotische Störungen, akute vorübergehende, 263 schizoaffektive Störungen, 264 Schizophrenie, 259 wahnhafte Störungen, 262 Schweiz, 864 Schwerbehindertenrecht, 603 Sexualstraftaten, 342, 347, 355 sexuelle Funktionsstörungen, 361 Sicherungsverwahrung, 452 Sorge-/Umgangsrechtsentscheidungen, 674 soziales Entschädigungsrecht, 600 Sozialmedizin, 19
Sozialrecht, 9, 590, 608, 704 Eingliederungshilfe, 706 Entschädigungsrecht (SozEntschR), 630 Krankenversicherung, 610 Opferentschädigung, 631, 706 Rentenversicherung, 612 Schweiz, 873 Schwerbehindertenrecht, 633 Unfallversicherung, 622 Spielen, pathologisches, 376 Stalker, Schuldfähigkeit/Prognose, 754, 755 stationäre, 27 Stehlen, pathologisches, 378 Stellungnahme der Parteien, 490 Strafrecht, 6, 26, 105 Jugendliche und Heranwachsende, 644, 645 Schuldfähigkeit, 86 Strafreife, 655 Suizid(alität) allgemeine Aspekte, 801 Prognose, 808 Tatbestandvoraussetzungen, 75 Testier(un)fähigkeit, 523, 544, 546, 547 Testverfahren, psychometrische/standardisierte, 44 Transparenz, 12, 24
Traumafolgestörungen, 370 Übernahme, ungeprüfte durch den Richter, 112 Übernahmepflicht, 494 unrichtiges, 76 Unterbringung gem. § 64 StGB, 434 landesrechtliche, 812 Untersuchungsverfahren, psychometrische/standardisierte, 32 Urteilsfähigkeit (Schweizer Zivilrecht), 870 Verbesserungsmöglichkeiten, 72 Verhaltensstörungen i. V. m. Parasomnien, 205 Verhandlungsfähigkeit, 390 Vernehmungsfähigkeit, 390 versicherungsmedizinische (Schweiz), 873 Vertragshaftung, 78 Verwaltungsrecht, 714 Verweigerungsrecht, 156 Verwertungsverbot, 159, 160 Voraussetzungen, 6 Vorbereitung, 157 Vorgutachten, schriftliches, 158 Vortrag, 64 Waffenrecht § 6 Abs. 2 Waff G, 746 Ablaufschema, 747 Ö
Österreich, 860 persönliche Eignung, 746 Wertungsfehler, 76 Willensfreiheit bei Suizidhandlungen, 803 wissenschaftlich begründetes, 112 Zeitgebundenheit, 4 Zivilrecht, 8, 490, 534 Berufsunfähigkeitsversicherung, 560 Haftpflichtversicherung, private, 563 Krankenversicherung, private, 560 Lebensversicherung, private, 561 Unfallversicherung, private, 562 Zusatztatsachen, 159, 160 Gutachten/Begutachtung, psychologische (GRV), 594 Gutachtenerstattungspflicht, 494 Gutachtenverweigerungsrecht, Sachverständiger, 495 Gutachter(tätigkeit), 75, 423, 426, 427, 429, 591 Amtshaftung, 74, 78 ärztliche, Schwerbehindertenrecht, 589 Asyl-/Ausländerrecht, ethische Probleme, 822 Beziehungsgestaltung zum Probanden i. R. von Asylverfahren, 823 Dokumentationspflicht, 497 Haftung, 79, 80 Anwendungsbereich, 74 Normzweck, 74
strafrechtliche Aussagedelikte, 80 unrichtige Gesundheitszeugnisse, 79 Tatbestandvoraussetzungen, 75 Haftungsverlagerung, 77 Hinzuziehung von Mitarbeitern, 156 i. R. der Führungsaufsicht, 428 Kenntnisse der sozialrechtlichen Kausalitätslehre, 597 Österreich, 842 Sachkunde, 493 sozialrechtliche®, 570, 608 Grundanforderungen, 591 Stellungnahmen, 465 Absehen von Vollstreckung (Auslieferung/Ausweisung), 429 Anordnung der Unterbringung, 423, 424 Aussetzung der Unterbringung zugleich mit Anordnung, 424 Aussetzung der Unterbringung zur Bewährung, 425, 426, 427 Entlassung rückfallgefährdeter Sexualstraftäter, 429 Erledigung der Maßregel, 427 Überweisung in andere Maßregel, 427 Unterbringungsdurchführung, 423 Vollstreckungsreihenfolge, 425 während der Führungsaufsicht, 424 Widerruf der Aussetzung einer Unterbringung, 429 zu Sonderfragen, 429
strafrechtliche Verantwortung, 79 verkehrsmedizinische, 726 waffenrechtliche, Qualifikationsanforderungen, 746 Gutachterpflicht, persönliche, 156 Verstoß, 497 GUV (gesetzliche Unfallversicherung), 580 Arbeits-/Wegeunfall, 579, 599 Arbeitsunfall, 623 Berufskrankheiten, 623 BK-Liste, 580 Kausalitätsbegutachtung, 624 Kausalitätslehre, sozialrechtliche, 623 Leistungen, 581 MdE, 623 MdE-Tabellen, 600 Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE, 581 Rente, 581 s. a. Unfall-/Schädigungsfolge, 624 SGB VII, 579 Träger, 622 wesentliche Bedingung, 623 H Haaranalytik, 246, 247 Drogenabhängigkeit, 733, 734
Begutachtungsgrundsätze, 246 Haarmatrix, Besonderheiten, 245 Kasuistik, 247 Einschränkungen, 245 Haarmatrix, Besonderheiten, 245 Haft(un)fähigkeit Begutachtung, 386, 388, 403 chronische Krankheiten, 388 Geisteskrankheiten, 387 High-/Low-EE-Vollzugsbedingungen, 388 krankhafte seelische Störung, 387 österreichisches Strafrecht, 848 Panikattacken, neurotische, 387 Psychosen, 387 Untersuchungshaft, 386 Vollstreckungsunterbrechung, 387 Voraussetzungen, 388 Haftkoller, 398, 401 Haftpflichtversicherung, private, 566 Adäquanztheorie, 564 gutachterliche Aufgaben, 563 Lebensrisiko, allgemeines, 565 psychische Unfallfolgen iatrogen determinierte, 566 Krankheitswertigkeit, 565
Rentenneurose, 564 Schadensersatzansprüche, Eingrenzung, 565 Schadensminderungspflicht des Geschädigten, 565 Schockschäden, 564 Haftpflichtversicherungsschutz, Gutachter, 82 Haftpsychosen, 263, 387 DD, 399 Ganser-Syndrom, 399 Haftreaktionen, 394 Anpassungsstörungen, 398 Auslöser, 398 Einteilung, 398 Haftfähigkeit, 387 vs. Haftpsychosen, 399 Haftsituationen Freiheitsstrafe, lebenslange, 402 Untersuchungshaft, 402 Haftung, 71, 76, 77 Aussagedelikte, 80 Begutachtung außerhalb gerichtlicher Verfahren, 77 Fehlerquellen, 71 Begutachtung i. R. gerichtlicher Verfahren, 74 Gesundheitszeugnisse, unrichtige, 79 Gutachten
grob fahrlässiges, 74, 76 unrichtiges, 76, 78, 79 Rechtsgutsverletzungen, 75 Sachverständiger, gerichtlicher, 74 schuldhafte Verletzung von Vertragspflichten, 78 Vermögensschäden, 74, 75 zivilrechtliche (Sachverständiger), 74 Haftungsgrund, Schadensersatzrecht, 527 Haftverschonung, 387 Haftzeiten, frühere, 59 Halbzurechnungsfähigkeit, 105 Halluzinationen, alkoholbedingte, 217 Halluzinogene Intoxikation, 226 pharmakologische EIgenschaften, 226 Wirkungen, 226 Halluzinose, organische, 173 Hamilton Depression Scale (HAMD), 40 Handeln/Handlung ohne vernünftige Motivation (Suchterkrankungen), 374 rechtsgeschäftliches, Einwilligungsvorbehalt, 504 Handlungsfähigkeit, 103 österreichisches Zivil-/Verwaltungsrecht, 849 Schweizer Zivilrecht, 870 Handlungstheorie der Delinqenz, individuelle, 475
Handlungsunfähigkeit, Schweizer Zivilrecht, 870, 873 Hang alkoholische Getränke (§ 64 StGB), 452 Beschaffungskriminalität, 119 Definition, 436, 438 Gefährlichkeitsprognose, 120 Missbrauch und Abhängigkeit, 119 Prognoseschwierigkeiten, 127 Rauschmittelkonsum (§ 64 StGB), 118 Sicherungsverwahrung, 452, 845 Unterbringung gem. § 64 StGB, 117, 436 zu erheblichen Straftaten (Sicherungsverwahrung), 125, 126 Hangtäter(schaft) aus Schwäche, 454 Merkmale, 455 persönlichkeitsgebundene Grundlagen, 454, 455 Persönlichkeitszüge, 452 Psychopathie, 455 Unterbringung, 116 Hare Psychopathy Checklist-Revised (PCL-R), 470 Hartz IV, 591 Haschisch, 226 Hauptverhandlung, Teilnahme des Sachverständigen, 63 Häusliche Pflege, GPV-Leistungen, 584 HDL-Cholesterin, Alkoholabhängigkeit, 730
Heilbehandlung, 855 ärztliche, Einwilligung in, 500 besondere (UbG, Österreich), 853 Depotbehandlung, antipsychotische, 855 Genehmigungspflicht, 855 Genehmigung, Betreuung, 539 Schwerbeschädigte, 588 Überweisung in andere Maßregel, 139 Heilerzieherische Behandlung (JGG), 668 Heimaufenthaltsrecht, österreichisches, 856 Heimpflege, GPV-Leistungen, 584 Heimunterbringung (JGG), 668 Hemmungsverluste, Drogenkonsum, 220 Heranwachsende Anwendung des Jugendstrafrechts, 657 Entwicklungshintergrund, Begutachtung, 645 JGG-Definition, 644 Jugendgerichtshilfe, 646 Kriminalitätsbelastung, 649 Peergroup-Integration, 645 psychiatrische Untersuchung, 645 Reifebeurteilung, 660 Reifungsentwicklung, 659 Schuldfähigkeit, 644 strafrechtliche Beurteilung, 644
strafrechtliche Verantwortlichkeit (§ 3 JGG), 650 Strafreife (§ 105 JGG), 644 Strafverfahren, 645 Verurteilungen nach Jugendstrafrecht, 658 weibliche, Straftaten, 664 Herkunftsfamilie, Kriminalprognose, 475 Heroin (Diacetylmorphin) Abhängigkeit, siehe Opioidabhängigkeit/-missbrauch Begutachtung, toxikologische, 242 Einbringung in den Justizvollzug, 402 Herz-Kreislauf-Erkrankungen, verkehrsmedizinische Relevanz, 740 Hilfebedürftige/Hilfebedürftigkeit, 572 Definition (SGB), 571 erwerbsfähige, 570 Alg II, 571 Eingliederungsleistungen, 572 nicht erwerbsfähige, Sozialgeld, 571 Hilfen Betreuung, 501 für Kinder und Jugendliche, 704 medizinische, psychologische und pädagogische für behinderte Menschen, 585 zur Persönlichkeitsentwicklung, 705 Hilflosigkeit gem. § 35 BVG, 589 Sozialversicherungsrecht, Schweiz, 875
Hilfsgutachten, 156 Hinterbliebenenrente, 576 Hinterbliebenenversorgung, SozEntschR, 589 Hirnorganische Störungen/Erkrankungen Differenzialdiagnose, 273 forensische Relevanz, 174 höhergradige, Ausschlussgrund gem. WaffG, 748 ICD-10-Klassifikation, 173 verkehrsmedizinische Relevanz, 737, 741 Hirnschaden/-schädigung als Schädigungsfolge (SozEntschR), 632 diffuse axonale, 176 forensische Relevanz, 177 frühkindlicher (JGG), 109 GdB-Einschätzung (SchwbR), 634 GdS/GdB-Tabelle, 635 organisches Psychosyndrom, 175 Schuldfähigkeit, 106, 110 Historical Clinical Risk-20 Scale (HCR-20), 23, 473, 474 Histrionische Persönlichkeitsstörung, 321 Dissozialität, Abgrenzungsmerkmale, 416 Erziehungsfähigkeit, Einschränkung der, 683 forensische Relevanz, 328 Zeugenverhalten, 771 HIV-Infektion, Drogenabhängigkeit, 224
Homizidal-suizidales Syndrom, 276 Homosexuelles Syndrom, 348 Hörigkeit, 552 Horrortrip, Halluzinogene, 226 Hörvermögen, Fahreignung, 739 Hungerstreik im Justizvollzug, 403 HWS-Beschleunigungsverletzung, 630 Begutachtung, 625 Hyperaktivität, ADHS, 195 Hyperarousal, 366, 370 Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens, siehe Conduct Disorder Hyperkinetisches Syndrom, siehe ADHS Hypermnesie, 291 Hypersexual Behavior Inventory (HBI), 346 Hypersexualität, 339 durch Testosteronanabolika, 227 manische, 273 Hypertonie, verkehrsmedizinische Relevanz, 740 Hypnotika Abhängigkeit/Intoxikation, 224 Beikonsum, 247 Hypoglykämien, verkehrsmedizinische Relevanz, 740 Hypomanie, 270, 273 Anabolikamissbrauch, 244 Hypotonie, Fahreignung, 740
Hysterische Störungen, siehe Dissoziative Störungen I ICD-10 Bedeutung für die Schuldfähigkeitsbegutachtung, 94 Diagnosestellung, 61 Klassifikationssystem, psychiatrisches, 23 ICD-11 ADHS, 195 Autismus-Spektrum-Störungen, 184 Belastungsstörungen, 290 Burnout-Syndrom, 612 dissoziative intrusive Störung, komplexe, 369 Intelligenzminderung, 298, 299 Klassifikationssystem, psychiatrisches, 23 komplexe PTBS, 367, 628, 633 organische psychische Störungen, 164 paraphile Störungen, 340 Persönlichkeitsstörungen, 39, 323 schizophrene u.a. psychotische Störungen, 252, 254, 255, 262–264 somatoforme Störungen, 615, 617, 618 Suizid(handlungen), 795, 797 traumaassoziierte Störungen, 366 Verhaltenssüchte, 375 Ich-Funktionen, labile (Amnesie), 28
Ich-Störungen, 21 Ideenflucht, 273 Ideologie, extremistische, 832, 833, 835 Idiopathic Environmental Intolerances (IEI), siehe Multiple Chemikaliensensibilität Idiotie, 299 Schuldfähigkeit, 98 Imbezillität, Schuldfähigkeit, 98 Impression Management, 39 Impulshandlungen, 374 sexuelle, 349 Impulsivität ADHS, 195 Beurteilung, 39 Impulskontrolle, 51 Impulskontrollstörungen als Schädigungsfolge (GUV), 630 autistische Syndrome, 190 Beurteilung, 375 Brandstiftung, pathologische, 379 diagnostische Merkmale, 375 forensisch-psychiatrisches Konzept, 374 ICD-11, 375 nosologische Zuordnung, 374 Spielen, pathologisches, 376 Stehlen, pathologisches, 378
Unterbringung gem. § 64 StGB, 444 Zurechnungsfähigkeit (Strafrecht Österreich), 843 Indeterminismus, 7 Indikatorenrechtsprechung (Schweiz), 874 Individualisierungs- und Intensivierungsgebot (Sicherungsverwahrung), 122, 130 Individualisierungsgrundsatz, Sozialhilfe, 590 Individualprognose empirische (klinische), 116 hermeneutische, 134 Individualprognose, klinische anamnestische Befunde, 475 Anlassdelikt, 475 Beurteilungsbereiche, 475 Delikthypothese, 475, 476 Entlassungsperspektiven, 478 Entweichungen, 477 HCR-20, 474 Persönlichkeitsbild, 477 Persönlichkeitsfaktoren, 477 Tatbearbeitung, 477 Umgang mit Lockerungen, 477 Verlaufsbefunde, 476 Infektionsschutzgesetz (IfSG), 588, 630 Informationspflichten, Maßregelvollzug, 428 Inhaftierungsschock, 398, 400
Inhalanzienmissbrauch, 228 Inhaltliches Denken, 21 Inhaltsvalidität, 34 Initialdelikt, schizophrene Straftäter, 260 Initiationsverschulden, Zurechnungsunfähigkeit, 528 Insomnien, 204 Instrumentelle Gewalt, 228 Insulinpflichtiger Diabetes mellitus, Fahreignung, 740 Integritätsschaden, Schweizer Sozialversicherungsrecht, 876 Intelligenzminderung, 7, 306 angeborene, 301 Arbeits(un)fähigkeit, 612 Ausschlussgrund, WaffG, 748 Begutachtung Persönlichkeitsprofil, 304 Schuldfähigkeit, 307 Behandlungsmaßnahmen aktivitätsfördernde, 313 somatische Komorbidität, 313 Betreuungsanordnung, 535, 538 Delinquenz Risikofaktoren, 307 Ursachen, 306 Diagnosekriterien, 299 Diagnostik, 298, 305
dissoziierte, 301 Ehefähigkeit, 554 Eingangsmerkmale, Zuordnung, 298, 307 Einsichts-/Steuerungsfähigkeit, 308, 309 Fallbeispiel, 310 Fremdbeeinflussbarkeit, 554 GdB-Einschätzung (SchwbR), 636 Gefährlichkeitseinschätzung, 314 Geschäft-/Prozess(un)fähigkeit, 553 gonosomale Aberrationen, 302 Jugendstrafrecht, 109 Klassifikation, 300 klinisches Bild, 299 komorbide psychische Störungen, Prävalenz, 304 krankheitsbedingte, 301 Maßregelpatienten, 440 Maßregelvollzug gem. § 63 StGB, 307 Persönlichkeitsstörungen, 327 Prävalenz, 299, 309 Problemverhalten/Verhaltensstörungen, 301, 304 medikamentöse Therapie, 313 psychische Komorbidität, 303 Rentengewährung/-leistung, 620 s. a. Schwachsinn, 298 Schuld(un)fähigkeit, 98
Schweregrade, 299, 300 Sexualdelinquenz, 342 somatische Komorbidität, 305 Teilleistungsschwächen, 303 Testier(un)fähigkeit, 523, 524, 547 testpsychologische Verfahren, 304, 305 und ADHS, 304 Unterbringung gem. § 63 StGB, Verlauf, 313 Unterbringungsdelikte, 305 Ursachen, 301, 302 verkehrsmedizinische Relevanz, 726, 739 Intelligenztests, 38 Flynn-Effekt, 36 Interaktionsbeobachtung, familienrechtliche Begutachtung, 691 International Personality Disorder Examination (IPDE), 40 Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF), 609 Internetsucht (Internet Gaming Disorder), 374 Geschäfts(un)fähigkeit, 553 Interpretationsobjektivität, 32 Interventionsgutachten, Familienrecht, 676 Interview, psychiatrisches, 4 Interviewleitfäden, 32 Intoxikation, 28 akute, Drogenabhängigkeit, 228 Alkoholisierung, akute, 210, 211
Amnesie, 27 diagnostische Verwertbarkeit, 28 Amphetamine/amphetaminähnliche Substanzen, 224 Anabolika, 227 Cannabinoide, 226 Deliktsfähigkeit, 554 Ecstasy, 225 Haftfähigkeit, 386 Halluzinogene, 226 Kokain, 225 Sedativa/Hynotika, 224 Testierunfähigkeit, 550 Testosteronpräparate, 227 Verhandlungsunfähigkeit, 390 Intoxikationspsychose, Substanznachweis, 241 Invalidenversicherung (Schweiz), 874 Invalidität, 875 Invalidität(srente), Begutachtung Österreich, 857 Schweiz, 875 Iowa Gambling Task, 39 Ischämischer Insult, Haftfähigkeit, 386 Islamismus/Salafismus, 832, 834 J
Jugendgerichtsgesetz (JGG), 108, 644, 847 Erziehungsgedanke, 109 Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel, 668 heilerzieherische Behandlung, 668 Österreich Beurteilung der geistigen Reife, 847 junge Erwachsene, 847 Straflosigkeit, 847 Unmündige, 847 Zurechnungsunfähigkeit, 847 schädliche Neigungen, 667 Jugendgerichtsverfahren, Besonderheiten, 646 Jugendhilfe, im Strafverfahren, 646 Jugendkriminalität, 648 dissoziale Persönlichkeitsstörung, 328 reine, 414 Jugendliche, 656 Affekt-/Impulskontrollstörungen, 662 affektive Affizierbarkeit, erhöhte, 660, 662 affektive Ausnahmezustände, 661 ausländische, 659 Begutachtung, Opferentschädigung, 706 biologische vs. psychosoziale Reifung, 647 Delinquenzverhalten, Risiko- und Resilienzfaktoren, 648 dissoziale, 649
Dissozialität, 707 dissoziative Identitätsstörung, 707 Drogenmissbrauch, 707 Einsichts-/Steuerungsfähigkeit, 660 Entwicklungsaufgaben/-phasen, 647 Entwicklungshintergrund, Begutachtung, 645 Entwicklungskrisen und Reifungsschritte, 647 Entwicklungsverzögerungen, Risikofaktor für Delinquenz, 647 Erziehungsfähigkeit, 651 JGG-Definition, 644 Jugendgerichtshilfe, 646 Kriminalitätsbelastung, 649 Minderung der Erwerbsfähigkeit, 709 normative Krise, 647 Pädophilie, 663 Peergroup-Integration, 645 psychiatrische Untersuchung, 645 psychische Störungen, 646, 647 Reifungsverzögerung, 655 Schuldfähigkeit, 644 seelische Behinderung, Eingliederungshilfe, 704 Sexualdelikte, 662 Strafmündigkeit, bedingte, 654 strafrechtliche Begutachtung, 644 strafrechtliche Verantwortlichkeit (§ JGG), 650, 653
Strafreife, 644, 650, 655 fehlende, 656 gem. § 3 JGG, 661 Strafverfahren, 645 Unreifezeichen, 659 Unterbringung in Maßregelvollzugsanstalten für Erwachsene, 665 weibliche, Straftaten, 664 Jugendpsychiatrie, multiaxiales Klassifikationsschema (MAS), 646 Jugendpsychiatrische Untersuchung (Jugendstrafrecht), 650, 651 Jugendstrafrecht, 665 Anwendung auf 21- bis 24-Jährige, 658 Anwendung auf Heranwachsende (§ 105 JGG), 657 Eigentumsübergriffe, 655 Einsichtsfähigkeit, 109, 654 Entwicklungsstand, Beurteilung, 653 Erziehungsgedanke, 644, 650, 652, 653, 659 geistige und sittliche Reife, Beurteilung, 654 Gewaltanwendung, gefährliche, 655 heilerzieherische Behandlung, 650 Kriminalprognose, 463 mangelnde Altersreife, 109 Öffentlichkeitsausschluss, 653 Prognosebegutachtung, 666 prosoziale Eingliederung, 657 psychiatrische Untersuchung, 651
Reifebeurteilung, 660 Sachverständigenaufgaben, 650 schädliche Neigungen, Beurteilung, 650, 667 Schuldfähigkeit, 657, 660 Schwachsinn, 654 seelische Störung, dauerhafte krankhafte, 654 Sexualdelikte, 662 Sicherungsverwahrung, 463 Steuerungsfähigkeit, 109 Unrechteinsichtsfähigkeit, 108 Unterbringung Maßregelvollzug, 665 Sicherungsverwahrung, 666 zur Beobachtung, 651 Verantwortungsreife, mangelnde, 657 Verfahrensbeteiligte, 653 Verfahrensfragen, 650 Verfahrensverzögerung durch Sachverständigenbeauftragung, 651 Jugendverfehlung, 660 Justizpersonal, Selbstverständnis, 394 Justizvollzug, 399 Abhängigkeitserkrankungen, 401 Anpassungsstörungen, 398 ärztliche Versorgung, 394 betreuungsrechtlicher Rahmen, 396
Delinquenzverhalten, 395 disziplinarsche Maßnahmen, psychiatrische Stellungsnahme, 403 forensisch-psychiatrische Aufgaben, 403 Freiheitstrafe, lebenslange, 402 Fremdkörperschlucken, 401 Haftkoller, 401 Haftpsychosen, 398 Hauptdiagnosen, psychiatrische, 395 Hungerstreik, 403 ICD-10-Diagnosen, 397 Österreich, 845 psychiatrische Erkrankungen Häufigkeit, 397 Rahmenbedingungen, 394 psychiatrische Versorgung ambulante, 396 ärztliche Berufsrolle, 394 Aufnahmekriterien, 396 Behandlungsdauer, 396 Entlassungsmodus, 396 Offenbarungsrecht des Arztes, 394 stationäre, 395 psychotherapeutische Angebote, 396 querulatorische Entwicklungen, 401 Selbstbeschädigigung, 400
Suizidalität Häufigkeit, 399 Risikofaktoren, 400 und Maßnahmenvollzug (Schweiz), 867 Untersuchungshaft, 402 Vermeidung, befristete (Drogenabhängigkeit), 231 Zurückstellung, 232 Zwangsbehandlung, 396 K Kanner-Syndrom, siehe Autismus-Spektrum-Störungen Kann-Milderung (Schuldgrundsatz) schulderhöhende Umstände, 107 Selbstverschuldung der verminderten Schuldfähigkeit, 107 Kann-Versorgung affektive Störungen, 602 schizophrene Psychosen, 602 SozEntschR, 588 Kappa-Koeffizient, 32 Kardiovaskuläre Erkrankungen, verkehrsmedizinische Relevanz, 740 Katalogbestellungen, betrügerische, 378 Katatone Störung, organische, 173 Kaufen, pathologisches (Kaufsucht), 374, 375 Kaufhausdiebstähle, als parasuizidale Handlungen, 276 Kaufsucht, Geschäfts(un)fähigkeit, 553
Kausalität adäquate, Schweizer Sozialversicherungsrecht, 875 natürliche, Schweizer Sozialversicherungsrecht, 875 Kausalitätslehre, sozialrechtliche, 596 Kernspintomografie, siehe Magnetresonanztomografie Ketamin-Intoxikation, 226 Khat, 224 Kinder Begutachtung, Opferentschädigung, 706 Bindungen/Beziehungen zu Eltern, 678 Diebstahlsdelikte, 649 Dissozialität, 707 Drogenkonsum, 707 Entwicklungspsychopathologie, 687 Exploration, familienrechtliche Begutachtung, 688 Fremdunterbringung/Herausnahme, 696, 697 Grundbedürfnisse, 678 JGG-Definition, 644 Kriminalitätsbelastung, 649 Loyalitätskonflikte, Sorgerechts(entzugs)verfahren, 677, 697 Minderung der Erwerbsfähigkeit, 709 nichteheliche, Gleichstellung, 674 psychische Störungen, 646 Rechte/Rechtsposition, Stärkung, 673 Schuldunfähigkeit, 644
seelische Behinderung, Eingliederungshilfe, 704 strafrechtliche Verantwortlichkeit (§ 3 JGG), 644 Strafunmündigkeit, 654 testpsychologische Untersuchung, 689 Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG), 644 Inklusionsdebatte, 704 Novellierung, 704 Sachverständigentätigkeit, 704 Wunsch- und Wahlrecht, 654 Kindergeldrecht, 570 Kinderpsychiatrie, multiaxiales Klassifikationsschema, 646 Kinderzeichnungen, Ausdeutung (Glaubhaftigkeitsbegutachtung), 782 Kindesmissbrauch Beurteilung, SozEntschR, 633 sexueller, siehe Sexueller Missbrauch, von Kindern Kindesmisshandlung/-tötung Sorgerechtsverfahren, 687 Wochenbettpsychose, 264 Kindesschutzrecht (Schweiz), 870 Kindeswille (Sorge-/Umgangsrecht) altersangemessene Berücksichtigung, 685 Befragung des Kindes, 685 Loyalitätskonflikte, 685, 694 Relevanz, 684 und Kindeswohl, 678
Kindeswohl Belastungen, unzuträgliche, 688 Beurteilungsfaktoren, zentrale, 678 Bindungstoleranz/Kooperationsbereitschaft, elterliche, 680 Erziehungsfähigkeit, eingeschränkte/mangelnde, 681 familienrechtliche Begutachtung, 672, 677 Förderkompetenz, elterliche, 681 Geschwisterbeziehungen, 679 Kontinuitätsprinzip, 679 Missbrauchsvorwürfe, 685 Parentifizierung, 678 Schwellenwerte, 675 und Kindeswille, 684 Versorgungsrealität, 680 vs. Elternwohl, 683 Kindeswohlgefährdung, Begutachtung, 359 Kindschaftsrechtsreform, rechtliche Grundlagen, 673 Kindstötung, Strafreife von Jugendlichen, 656 Klassifikationssysteme, psychiatrische, 23 Klaustrophobie, Haftfähigkeit, 387 Kleinhirnschädigung, Alkoholschäden, 435 Kleptomanie, siehe Stehlen, pathologisches Klinefelter-Syndrom, 302 Kliniksuizid, siehe Patientensuizid Kognitive Beeinträchtigung/Störung, 613
Alkoholisierung, akute, 211 Beschwerdenvalidierungstests, 25 fluktuierende, Lewy-Körper-Demenz, 167 leichte, 174 Rentengewährung/-leistung, 613 Psychosyndrom, organisches, 176 Schizophrenie, 252, 253 Schweregrade, 548 Kognitive Verhaltenstherapie kriminaltherapeutische Wirksamkeit, 411 Sexualstraftäter, 353 Straftäter, 418 traumafokussierte, 368 Kohlberg-Operationalisierung, moralische Urteile, 655 Kohlenmonoxidintoxikation, 173 Kokainabhängigkeit/-missbrauch, 225 Begutachtung, toxikologische, 243 depressive Verstimmungen, 279 Haaranalyse, Befundbewertung, 245, 246 maniforme Symptome, 274 Kokainintoxikation, 225 Kompensation psychophysischer Leistungsdefizite, Fahreignung, 728 Kompetenz-Vorprüfung, Gutachter, 495 Konfidenzintervall, 33 Konfliktsituation, kurz dauernde, affektive Erregungszustände, 287
Konstanzanalyse differenzierte Inkonstanz, 769 einschränkende Bedingungen, 769 erwartet konstante/inkonstante Inhalte, 768, 770 Konstruktvalidität, 34 Kontingenzprinzip, kognitive soziale Lernstrategien, 418 Kontrollbetreuer, 501, 503, 508 Kontrollgebot (Sicherungsverwahrung), 122 Konversionsneurose, 530 Konversionsstörungen als Schädigungsfolge (GUV), 629 Rentengewährung/-leistung, 617 Konzentrationsstörungen, Verhandlungsfähigkeit, 390 Kooperativität, 322 Körperbehinderung Betreuung, 499 Betreuungsanordnung, 535 Eingliederungshilfe, 704 Einwilligungsvorbehalt, 539 Fahreignung, 728 verkehrsmedizinische Relevanz, 726 Körperbezogener Wahn, 262 Körperliche Untersuchung, 22 Körperschäden, MdE-Tabellen, 600 Körperverletzung
fahrlässige, gutachtliche Fehleinschätzung, 81 medizinische Eingriffe, 509 Strafreife von Jugendlichen, 656 Korrelationskoeffizient, 34 Korsakow-Syndrom, nicht durch Alkohol/psychotrope Substanzen bedingt, 171 Kortikosteroide, pharmakogene Depression, 272 Kraftfahrzeughilfe, behinderte Menschen, 585 Krampfanfälle Amnesie, 27 epileptische, 178 partielle, 178 Krankenbehandlung GKV-Leistungen, 575 Schwerbeschädigte, 588 Krankengeld Ansprüche aus der GKV, 576 Anspruchsdauer, 592, 611 Zahlung, 575 Krankenhaus, außervollzugliches, 389 Krankenhausbehandlung Abgrenzung Pflegefall, 593, 611 BGH-Kriterien, 560 GKV-Leistungen, 576, 592 Notwendigkeit, 592 Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit, GKV, 592
Krankentagegeldversicherung, PKV, 560 Krankenversicherung gesetzliche, siehe GKV private, Leistungen bei Arbeitsunfähigkeit, 560 Krankhafte seelische Störung, 37, 547 ADHS im Erwachsenenalter, 198 affektive Ausnahmezustände, 294 affektive Durchbrüche, 286 Alkoholabhängigkeit, 216 Alkoholintoxikation, 210 alkoholischer Eifersuchtswahn, 217 Autismus-Spektrum-Störungen, 190 Definition, 92, 95 Deliktsfähigkeit, 554 Demenz, 170 Drogenabhängigkeit, 220, 231 Drogenintoxikation, akute, 229 Eingangsmerkmal, 7, 91 Haftfähigkeit, 387 organisches amnestisches Syndrom, 171 Parasomnien, 206 schizophrene Psychosen, 259 Schuldfähigkeit, 89, 92 Testverfahren, 37 Stalker, psychotische, 755
Straftaten i. R. affektiver Psychosen, 280 Suizidalität, 804 tiefgreifende Bewusstseinsstörung, 286 wahnhafte Störungen, 263 Krankhafte Störung der Geistestätigkeit, 562 Definition, 520 Zurechnungsfähigkeit, 527, 528 Krankheit, 574 Anamnese, 60 Definition medizinische, 574 sozialrechtliche, 574 des Täters, Unterbringung, 114 dieselbe, GKV-Leistungen, 592, 611 GRV, 579 sozialrechtliche Definition, 610 Sozialversicherungsrecht, 526 Schweiz, 874 strukturell-sozialer Begriff, 325 Symptome, Kriminalprognose, 477 Verdacht auf das Bestehen, 575 Krankheitsbegriff GKV, 574, 610 juristischer, 92, 815 psychiatrischer, 92, 94, 114
psychiatrisch-körperlicher, 94 Schuldfähigkeit, 91 strukturell-sozialer, 100 Krankheitswert Maßbegriff für die Schwere psychischer Störungen, 93 Schuldfähigkeit, 96 Kriegsopferentschädigung, 570 Kriegsopferversorgung (KOV), 588 Kriminalität Anpassungsstörungen, 279 Autismus-Spektrum-Störungen, 188 bipolare affektive Störungen, 277 Depression, 275 Drogenabhängigkeit, 220, 230 Gruppen von Rechtsbrechern, 414 Jugendliche und Heranwachsende, 648 Lebenszeitdelinquenz, chronische, 414 politisch motivierte (PMK), 833 psychische Störungen, 413 Schizophreniekranke, 256 Kriminalprognose, 119, 120, 426 aktuarische Verfahren, Stellenwert, 473 Alkohol-/Drogeneinfluss, 476 anamnestische Befunde, 475 Arbeits-/Lebenssituation, zukünftige, 479
Aussetzung der Maßregel, 135 Aussetzung einer Freiheitsstrafe, 464 Basisraten, 467, 468 Behandlungsprognose, 463 bei Jugendlichen, 666 Berücksichtigung früherer Straftaten, 472 Beurteilungskriterien, 478 Beurteilungsskalen, 469 BZR-Verwertungsverbot, 472 Entlassung(sperspektive), 464, 478 Ergebnisinterpretation, 471 Erheblichkeit der Straftat, 115 Fehlerquellen, 482 Gesamtwürdigung, 125 Gewaltrisikobeurteilung, 469 im erkennenden Verfahren, 462 individuelle (klinische/empirische), 116, 134 integrative Methodik, 473, 480, 481 intelligenzgeminderte Menschen, 307 intuitive, 116, 134, 466 klinisch-idiografische, 475 Kriterienkataloge, 474 Maßregelaussetzung, 464 Maßregelvollzug, psychiatrischer, 463 Persönlichkeitsfaktoren, 477
Phasen der Risikobeurteilung, 466 Prävention, 462 Prognosebereiche, 462 Prognoseinstrumente, 475 Risikokommunikation, 481 Risikomanagement, 480 Risk-/Need-Faktoren (Central Eight), 467 Sexualstraftäter, 470, 478 Sicherungsverwahrung, 125, 129, 463, 465 statistische Verfahren, 116 statistisch-nomothetische, 467 Stellenwert, 460 Tatbearbeitung, 477 Unterbringung, 462, 463, 477 Aussetzung, 426 Erheblichkeitsanforderungen, 120 gem. § 63 StGB, 115 gem. § 64 StGB, 119 Verlaufsbefunde, 476 Vollzugsverhalten, 129 Vorgehen, methodisches, 466 Kriminaltherapie ambulante, 410 Behandlungsevaluation, 423 Behandlungsphasen, 420
evidenzbasierte, 411 Grundrechtseinschränkungen, 411 Heilungs- und Besserungsauftrag, 411 Lerntheorie, soziale, 411 Schweigepflicht, 410 Unterbringung, 410 Verlaufskontrolle, 422 Kriminogene Bedürfnisse, 418 Krisenintervention Suizidalität, 799 Unterbringung (§ 67h StGB), 409 Wiederinvollzugsetzung, befristete, 429 Kriteriumsvalidität, 34 Kritikfähigkeit (Geschäfts-/Testierfähigkeit), 549 Kulturgebundene Syndrome, 824 Kumulation von Leistungsmängeln, Fahreignung, 728, 739 Kur, freie, 576, 604 KURS (Konzeption zum Umgang mit rückfallgefährdeten Sexualstraftätern), 423 Kurzfragebogen für Problemfälle (KFP 30), verkehrsrechtliche Verstöße, 736 Kurzfragebogen zur Erfassung von Aggressivitätsfaktoren, 39 Kurzschlussreaktion, 291 L Landesgesetze/Landesrecht, Unterbringung
Grenzen, 817 materielle Rechtgrundlagen, 815 Landes-PsychKG, Unterbringung, 409 Langzeitinhaftierung, (psychopathologisches) Syndrom, 402 Lebensereignisse, kritische, 366 Lebensrisiko, allgemeines (private Haftpflichtversicherung), 565 Lebensunterhalt Leistungen für Mehrbedarfe, Hilfebedürftige, erwerbsfähige, 571 notwendiger, Sozialhilferecht, 590 Lebensverlängernde Maßnahmen, Abbruch (Genehmigung durch Betreuungsgericht, 511 Lebensversicherung, Leistungsausschluss bei Suizid, 561, 803 Lebenszeitdelinquenz, chronische charakteristisches Verhaltensmuster, 414 Legal Highs, 244 Legasthenie, Kostenträgerschaft, 704 Lehrmeinung, herrschende medizinische, 68 Leistungsbild (positives/negatives), Erwerbsfähigkeit, 561, 593, 613 Leistungsdiagnostik Fahreignung, 727 Glaubhaftigkeitsbegutachtung, 782 Leistungseinschränkungen Kindes- und Jugendalter, 646 Kumulation, Fahreignung, 728 Leistungsfähigkeit/-vermögen, psychophysische(s) Begutachtung, 727
hirnorganische Erkrankungen, 741 Kompensation, 728 Lernbehinderung, 499 Adoleszenz, 649 im Maßregelvollzug, 310 terminologische Aspekte, 301, 308 Lerntheorie soziale (Kriminaltherapie), 411 Suizidhandlungen, 798 Leugnung, 29 Leukotomie-/Lobotomiesyndrom, 174 Lewy-Körper-Demenz, 167 Libidoverlust, psychiatrische Begutachtung, 361 Lichte Augenblicke, siehe Luzide Intervalle Liebeswahn, 262 Stalking, 755 Life-course persistent antisocial behavior (Jugendliche), 649, 667 Life-course persistent offenders, 414 Likelihood-Quotient, 35 Linienverfolgungs-/Linienlabyrinthtest, Fahreignung, 728 Linksextremismus, 832–834 Lisdexamphetamin, 199 Listenerkrankungen, 580 Lithium antiaggressive und antisuizidale Effekte, 274
Fahreignung, 739 Manietherapie, 274 Lockerung(sentscheidung) Kriminalprognose, 463 Maßregelvollzug gem. § 64 StGB, 441 Unterbringung, 410, 817 Verlaufskontrolle, 464 Lockerungsgewährung, siehe Vollzugslockerung Lockerungsmissbrauch Fahrlässigkeitsvorwurf, 81 Fehleinschätzung, gutachterliche (Haftung), 80 Maßregelvollzug gem. § 64 StGB, 441 strafrechtliche Verantwortung, 412 LSD (Lysergsäurediethylamid), 226 LSI-R (Level of Service Inventory - Revised), 467 Lügenskalen, 39, 40 Lungenerkrankungen, verkehrsmedizinische Relevanz, 741 Luzide Intervalle, 850 Bedeutung(swandel), 549 Ehefähigkeit, 526 fluktuierende kognitive Störungen, 167 Geschäftsfähigkeit, 521 Testierfähigkeit, 524, 549 österreichisches Zivil-/Verwaltungsrecht, 850 Zurechnungsfähigkeit, 528
M Male Depression, 271, 276 Manie Akuttherapie, 274 Arbeits(un)fähigkeit, 611 Auswirkungen, 273 Betreuungsanordnung, 537 Diagnose, 273 Differenzialdiagnose, 273 Geschäfts-/Prozess-/Testierfähigkeit, 551 Hypersexualität, 273 Krankheitsuneinsichtigkeit, 273 Kriminalitätsbelastung, 277 Legalprognose, 280 Maßregelvollzug, 280 medikamenten-/drogeninduzierte, 273 paranoide Färbung, 273 Personendelikte, 278 Phasenprophylaxee, 274 Prävalenz/Verlauf, 273 Psychotherapie, 274 Rapid-Cycling-Verläufe, forensische Relevanz, 273 Sexualdelinquenz, 278 sexuelle Enthemmung, 278 Straftaten, 280
Symptomatik, 273 Unterbringung, Betreuungsrecht, 274 verkehrsmedizinische Relevanz, 738 zerfahrene, 280 Manische Expansion, 279 MAO-A-Polymorphismus, gewalttätiges Verhalten, 51 Marburger Richtlinien, Reifebeurteilung von Jugendlichen, 659 Marihuana, 226 Martin-Bell-Syndrom, 302 MAS (multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters), 646 Masochismus, 340 Nosologie/Phänomenologie, 339 Maßnahmenrecht (Schweiz), 867 Maßnahmenvollzug (Österreich), 845 Maßregeln/Maßregelvollzug, 137, 298, 301, 304, 305, 307, 310, 416, 418, 420, 813 Abgrenzung zur Sicherungsverwahrung, 454 ADHS, 199 affektive Störungen, 280 Anlasstaten, 114, 118 Aussetzung der Unterbringung, 132, 133 Einschränkungen, 138 Widerruf, 141 zugleich mit der Anordnung, 137 Aussetzungsverfahren, 136
Begutachtungserfordernisse, 423 Delinquenzverhalten, 395 der Besserung und Sicherung, 113 allgemeine Voraussetzungen, 112 Entlassung, 113 Entlassungsmodus, 395 Entlassungspraxis, 135, 396 Entlassungsprognose, 464 Entweichungen, 477 Ergebnisqualität, Messung, 423 Erledigung, 131, 141, 427 bei Fehleinweisung, 136 forensische/soziodemografische Aspekte, 395 freiheitsentziehende Aussetzungskriterien, 133 Kritik, 113 Führungsaufsicht, 408, 409, 417 gem. § 63 StGB siehe Unterbringung gem. § 63 StGB gem. § 64 StGB siehe Unterbringung gem. § 64 StGB gem. § 66 StGB, 454 Hauptdiagnosen, psychiatrische, 395 intelligenzgeminderte Patienten DBT-F-IM, 312 Entlassperspektiven, 314 Gruppentherapien, deliktorientierte, 312
heilpädagogische Maßnahmen, 311 medikamentöse Behandlung, 313 medizinische Versorgung, 298 Psychotherapie, 311 Resozialisierung, 311 Sexualdelinquenz, 304 soziomoralisches Entwicklungsmodell, 312 Studienergebnisse, 310 therapeutische Grundannahmen, 311 Therapiekonzepte, 311 Unterbringungsdelikte, 305 Verhaltensstörungen, 301 Verweildauer, 307 Jugendliche, 665 Lockerungen, 463 Lockerungsgewährung, 411, 412 Lockerungsmissbrauch, 80 Prüfungsfristen, 136 psychiatrische Fragestellungen, 423 psychiatrische Versorgung, 395 psychiatrischer Ansprechbarkeitsprinzip (Responsitivity-Prinzip), 418 Bedürfnisprinzip (Need-Prinzip), 418 Behandlungs-/Wiedereingliederungspläne, 420 Behandlungsphasen, 420
Behandlungsziele, Hierarchisierung, 421 Case Management, 420 Diagnostik, 421 Einschränkung des Handlungs- und Bewegungsspielraums, 417 Lockerungsgewährung, 422 Nachbetreuung, 422 Opferschutzmaßnahmen, 417 Praxis der Behandlung, 420 Risikomonitoring, 416 Risikoprinzip, 417 therapeutische Grundhaltung, 420 Therapieplanung, 421 Veränderungsmotivation, Aufbau, 422 Wiedereingliederung und Entlassung, 422 Reaktionsbeweglichkeit, 139 Schuldindifferenz, 112, 113 Schweizer Maßnahmenrecht, 867 Sicherungsverwahrung, 121, 452 Sicherungszweck, 121 Stalker, 756 strafersetzende/-ergänzende, 112 Subsidiarität des Vollzugs, 138 Überprüfung, 132 Überweisung in andere Maßregel (§ 67a StGB), 138, 427 Umkehr der Vollstreckungsreihenfolge, 425
Umständeklausel, 138 Unterbringung, 113 Durchführung, 423 Sollvorschrift § 64 S. 1 StGB, 121 Unterbringungsdauer, 131 Verhältnismäßigkeitsentlassung, 412 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, 113, 121 Verlängerung, 113 Vikariierung, 446 Vollstreckungsreihenfolge, 425 Zwangsbehandlung, 413 länderrechtliche Vorschriften, 813 Maßregelvollzugsgesetze, Unterbringung, 409 MCV, Alkoholabhängigkeit, 730 MdE (Minderung der Erwerbsfähigkeit), 72, 613 bei Kindern/Jugendlichen, 709 Bemessung, 582 Bewertung der Beeinträchtigungen, 623 Bewertung, individuelle, 581 Einzel-/Gesamt-MdE, 582 Entschädigung, vorläufige, 582 Erwerbsfähigkeit, individuelle, 582 Grad der Versehrtheit, 581 GUV, 581, 623 Höhe, 581
Natur, abstrakte, 581 Rente(nleistungen), 581, 603 auf unbestimmte Zeit, 582 Stütz-MdE, 582 Unfallfolgen, Bewertung, 600 Ursachen, 578 Vorschädigungen, 581 vs. Grad der Behinderung (GdB)/der Schädigungsfolge (GdS), 633 MdE-Tabellen, Körperschäden (GUV), 600, 623 MDMA, siehe Ecstasy Medien, psychiatrische Sachverständige, 11 Medikamente als unterbringungsähnliche Maßnahme, 516 Medikamentenabhängigkeit/-missbrauch, 625, 632 als Schädigungsfolge GUV, 625 SozEntschR, 632 Benzodiazepine, 222 Fahreignungsbegutachtung, 732, 735 Haaranalyse, 245 Opioidanalgetika, 222 Sedativa/Hypnotika, 224 Substanzwirkungen, 221 Medikamentenintoxikation, Bewusstseinsstörung, 286 Medikamentenmonitoring, 22, 26 Medikamentöse Behandlung, siehe Pharmakotherapie
Mehrfachtäter, vorbehaltene Sicherungsverwahrung, 127 Mehrfachwahl-Wortschatz-Intelligenztest (MWT-B), 36 Melancholisches Syndrom, 271 MEOS (microsomal ethanol oxidizing system), Alkoholabbaumechanismus, 236 Merkfähigkeitsstörungen, Alzheimer-Demenz, 165 Merkmalsorientierte Qualitätsanalyse, 764, 768 Gewichtung, 766 Multiple-Cues-Modell, 767 Realkennzeichen, 765 allgemeine Merkmale, 764 deliktspezifische Aussageelemente, 764 spezielle Merkmale, 764 Validität, 766 Mescalin, 226 Methadon, 223 Beikonsum, 247 Substitution, Fahreignung, 735 Suchtbehandlung, 446 Methamphetamin, 224 Begutachtung, toxikologische, 243 Methylendioxymethamphetamin (MDMA), siehe Ecstasy Methylphenidat, 199 Migranten/Migration, 440, 443 Maßregelvollzug Besonderheiten, 443
gem. § 64 StGB, 440 psychische Erkrankungen, 596 sozialmedizinische Begutachtung, 609 Migrationsstress, 823 Milieutherapie, Maßregelvollzug, 443 Minderbegabung, intellektuelle, siehe Intelligenzminderung Minderjährige Betreuung, Eltern/Vormund, 498 Einwilligungs(un)fähigkeit, 509, 541 Geschäftsfähigkeit, beschränkte, 519 Sterilisation, Unzulässigkeit, 512 Testierfähigkeit, 523 Zurechnungsfähigkeit (§ 828 BGB), 527, 529 Minderung der Erwerbsfähigkeit, siehe MdE Mindest-GdS, Schädigungsfolgen, 601 Mini Mental State Examination (MMSE), Demenz, 170 Mini-ICF, 613 Mini-Mental-Status-Test (MMST), 36 Minimierungsgebot (Sicherungsverwahrung), 122, 130 Mischintoxikation, 211 Alkohol und Medikamente, 212 Amnesie, 28 Missbrauch emotionaler, Kindheit, 633 kindlicher, 633
sexueller, 633 von Substanzen, 119 Misshandlungsvorwürfe familiäre Beziehungsdynamik, 685 Glaubhaftigkeitsbegutachtung, 686 Sorge-/Umgangsrechtsverfahren, 685, 686 Vormundschaftsrecht, 686 Mitnahmesuizid, 808 Mittelhirnsyndrom, 176 Mittleres korpuskuläres Volumen (MCV), als Alkoholkonsummarker, 240 Mitwirkungsbeistandschaft, Erwachsenenschutzrecht (Schweiz), 873 Mobbing, 602 Arbeitsunfähigkeit, 612 Berufskrankheit, 580 Entschädigungsanspruch (OEG), 631 Moderate Four, Straftäterbehandlung, 418 Monomanielehre nach Esquirol, 374, 378 Mood Stabilizer, Suchtbehandlung, 445 Morbus-Pick-Komplex, 167 Morphin, 223 Haaranalyse, 246 Motivational Interviewing, 353 Motivationsaufbau, Maßregelvollzug, 443 Motivierungsgebot (Sicherungsverwahrung), 122, 130
Motorische Funktionsstörungen, periphere verkehrsmedizinische Relevanz, 741 Mullen-Klassifikation, Stalker-Typologie, 753 Multiphasic Sex Inventory (MSI), 39, 346 für Jugendliche (MSI-J), 663 Multiple Chemikaliensensibilität (MCS), 603, 620 Begutachtung, 622 Klassifikation, 621 Konsenskriterien, 621 Münchhausen-by-proxy-Syndrom, Sorgerechtsverfahren, 687 Muskelschwund, myopathischer verkehrsmedizinische Relevanz, 741 Muss-Milderung (Schuldgrundsatz), 107 Myasthenisches Syndrom, verkehrsmedizinische Relevanz, 741 Myotonisches Syndrom, verkehrsmedizinische Relevanz, 741 N Nachsorge, ambulante forensische, 422, 443 Nachstellung, 752 Nachtatverhalten, affektive Ausnahme-/Erregungszustände, 292 Nachteilsausgleiche, Schwerbehindertenrecht, 586, 587, 603 Nachtrunk, 240 Nahtlosigkeitsregelung, Arbeitslosengeld (Alg) I, 572 Nalmelfen, Suchtbehandlung, 446 Naltrexon paraphile Störungen, 354
Suchtbehandlung, 445 Narzissmus maligner, 328 verdeckter, 289 Narzisstische Kränkung, 290, 291 Anpassungsstörungen, 281 Narzisstische Krise affektive Erregungszustände, 289 homizidal-suizidale Tatbereitschaft, 276 Suizidhandlungen, 798 Verlust der Sprachfähigkeit, 289 Narzisstische Persönlichkeitsstörung, 321 Affektentwicklung, 289 Dissozialität, Abgrenzungsmerkmale, 416 Erziehungsfähigkeit, Einschränkung der, 683 forensische Relevanz, 328 Sexualdelinquenz, 342, 348 Nebengütekriterien, 36 Need-Prinzip, Kriminalprävention, 418 Negativsymptomatik, Schizophrenie, 252, 253 Nein-Sage-Tendenz, 40 NeMUP (Neurobiological Mechanisms Underlying Pedophilia and child sexual offending), 344 NEO-FFI-Fragebogen, Persönlichkeitsstörungen, 322 NEO-Persönlichkeitsinventars (NEO-PI-R), 38 Nervöse Erschöpfungszustände, Langzeitinhaftierung, 402
Neue psychoaktive Stoffe (NpS), 227 Begutachtung, toxikologische, 244 Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetz (NpSG), 220 Neues Begutachtungsinstrument (NBA), 583 Neugierverhalten (novelty seeking), 322 Neurasthenie, 622 als Schädigungsfolge (GUV), 630 Rentengewährung/-leistung, 620 s. a. Chronic-Fatigue-Syndrom (CFS), 620 Neuroimaging dissoziales Verhalten, 51 Relevanz für die Begutachtung von Straftaten, 53, 54 Neurokognitive Störungen (DSM-5), 164 Neuroleptika, Zwangsbehandlung (Rechtsgrundlage), 813 Neurologische Erkrankungen, verkehrsmedizinische Relevanz, 741 Neurologische Untersuchung, 22 Neurologischer Befund, 60 Neuropathische Schädigungen, verkehrsmedizinische Relevanz, 741 Neuropsychologische Tests/Untersuchung, 22, 38 Neurosen/neurotische Störungen, 626, 632 als Schädigungsfolge GUV, 626 SozEntschR, 632 Arbeits(un)fähigkeit, 612 Betreuung, 499
Betreuungsanordnung, 535 GdB-Einschätzung (SchwbR), 634, 635 GdS/GdB-Tabelle, 635 Geschäfts-/Prozess-/Testierfähigkeit, 552 Geschäftsunfähigkeit, 520 Jugendstrafrecht, 109 Rentengewährung/-leistung, 615 Schuldfähigkeit, verminderte, 106 Schweregrad, Abschätzung, 102 seelische Abartigkeit, schwere andere, 101 strafrechtlich relevante, 101 süchtiges Verhalten, 374 Therapie/Reha vor Rente, 616 Zurechnungsfähigkeit (Österreich), 843 Neurotizismus, 322 Neutralität(spflicht) des Sachverständigen, 6, 495 Nicht erwerbsfähig, Definition (SGB), 571 Nicht-ausschließen-Können, mündliches Gutachten, 65 Niedrigdosisabhängigkeit, Benzodiazepine, 224 Nierenerkrankungen dialysepflichtige, Strafaufschub, 388 verkehrsmedizinische Relevanz, 741 Non-liquet-Beurteilung/-Situation, 65 Norkokain, Haaranalyse, 245, 246, 248 Normalpsychologische Störungen, 96
Normierung, 36 Notstand, entschuldigender, 86 NREM-Parasomnie fremdaggressive Handlungen, 204 Number Needed to Harm (NNH), 34 Number Needed to Treat (NNT), 34 O Obergutachten, 491 Objektivität Sachverständiger, 6 Untersuchungsinstrumente, 32 Obsorge (Familienrecht Österreich), 857 Offenbarungsrecht, ärztliches, 394 Offenheit für neue Erfahrungen (openness to experience), 322 Offenheitsskalen, 39, 40 Öffentlichkeit, psychiatrische Sachverständige, 11 Oligophrenie, 299 Betreuung, 499 Geschäftsunfähigkeit, 520 Schuldunfähigkeit, 98 Operationalisierte psychiatrische Diagnostik, Merkmale, 23 Opferentschädigung, 570 Opferentschädigungsgesetz (OEG), 588, 630, 707 Begutachtung von Kindern und Jugendlichen, 706
Entwicklungspsychopathologie, 707 familiäre Dynamik, 707, 708 Verarbeitungsproblematik, sekundäre, 707 Vorschädigung und verfahrensgegenständliche Schädigung, 708 Begutachtungsfragen, 631 Besonderheiten, 631 Gesundheitsschäden durch Gewalteinwirkung, 601 Gewalttaten an Kindern und Jugendlichen, 706 Primär- und Sekundäropfer, 633 psychische Gewalt, 632 psychische Störungen, 632 Schockschäden, 633 Schutzbereich, 631 sexueller Kindesmissbrauch, 708, 709 Stalking, 754 Opferschutzmaßnahmen, 417 Opiate/Opioide, bei chronischen Schmerzen, 619 Opioidabhängigkeit/-missbrauch Begutachtung, toxikologische, 242 Craving, 224 Entzugssysmptome, 224 Haaranalyse, Befundbewertung, 246 Heroin, 223, 246 iatrogen induziert, 619 medikamentöse Therapie, 445
schwerste Persönlichkeitsveränderung, 230 Substanzwirkung, 223, 224 Toleranzentwicklung, 243 Opioidagonisten, Suchtbehandlung, 446 Opioidanalgetika, 223 Opioidantagonisten, Suchtbehandlung, 445 Opioidintoxikation, 224 Organische Persönlichkeitsstörung, 174 Geschäfts-/Prozess-/Testierfähigkeit, 548 Organische psychische Störungen, 625, 632 Alkoholintoxikation, 210 als Schädigungsfolge GUV, 625 SozEntschR, 632 Arbeitsunfähigkeit, 611 Autismusstörungen, sekundäre Varianten, 186 Betreuungsanordnung, 537 Delir, 172 Demenz, 164 DSM-5-Klassifikation, 164 Ehefähigkeit, 554 Epilepsie, 178 Erwerbsfähigkeit, 611 forensische Relevanz, 178 GdB-Einschätzung (SchwbR), 634
Geschäfts- oder Testierunfähigkeit, 548 Hirnfunktionsstörungen, 172 ICD-10-Klassifikation, 164 Korsakow-Syndrom, 171 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen, 174 Rentengewährung/-leistung, 613 Schuldfähigkeit, 178 Sexualdelinquenz, 348 Unfallfolgen, Privathaftpflicht, 564 Organisches amnestisches Syndrom diagnostische Leitlinien, 171 forensische Relevanz, 171 Organisches Psychosyndrom Fahreignung, 737 nach SHT, 175 Suizidalität, 562 Organisches Psychosyndrom nach SHT ICD-10-Diagnosekriterien, 176 Klassifikation, 175 Symptome, 176 Orientierung, 21 Orientierungsstörungen, Alzheimer-Demenz, 165 Österreich, 843, 844, 846, 850, 854, 855 Begutachtung, psychiatrische, 842 Berufsunfähigkeit/Invalidität, 857
Fahrtauglichkeit, 860 Familienrecht Eherecht, 856 Obsorge, 857 Fremdenrecht, 859 Heimaufenthaltsrecht, 856 Jugendgerichtsgesetz, 847 Maßnahmenvollzug Entlassung, 845 Probezeitverlängerung, 846 Patientenverfügungsgesetz, 853 Pflegegeld, 859 Schmerzengeld, 858 Strafrecht Berauschung, volle, 843 Einvernahmefähigkeit, 848 Einweisung, bedingte, 844 geistig abnorme Rechtsbrecher zurechnungsfähige, 844 Haftfähigkeit, 848 Maßnahmenvollzug, 845 Sicherungsverwahrung, 847 Verhandlungs(un)fähigkeit, 848 Vollzugslockerung, 845 vorbeugende Maßnahmen, 842, 844
Zurechnungs(un)fähigkeit, 842, 843 Milderungsgrund, 848 Strafvollzug, 845 Suchtmittelgesetz, 848 Unterbringung(srecht) ärztliche Behandlung, 855 auf Verlangen, 854 Dauer, 855 mündliche Verhandlung, 854 ohne Verlangen, 854 Zivil-/Verwaltungsrecht Testierfähigkeit, 850 Östrogene, neuroprotektive Wirkung, Schizophrenie, 253 Oxcarbazepin, Suchtbehandlung, 446
P Pädophile Störungen ätiologische Aspekte, 343 fixierter/regressiver Typ, 347 Fremdbeurteilungsverfahren, 41 ICD-10-Diagnosekriterien, 340 im Jugendalter, 663 Klassifikation, 341 neurobiologische Befunde, 50 Nosologie/Phänomenologie, 339 schwere seelische Abartigkeit, 102 Panikattacken, neurotische (Haftfähigkeit), 387 Panikstörungen, Rentengewährung/-leistung, 616 Paralleltestreliabilität, 33 Paranoide Persönlichkeitsstörung, 321, 326 Betreuungsanordnung, 538 Dissozialität, Abgrenzungsmerkmale, 416 forensische Relevanz, 328 Geschäfts-/Prozess-/Testierfähigkeit, 552 Paranoide Reaktionen Haft, 398 Manie, 273 Paraphile Interessen, Prävalenz(schätzungen), 340, 342 Paraphile Störungen, 355
Alkohol-/Drogenintoxikation, 348 Antiandrogene, 354 Ätiologie, 343 bei Frauen, 340 diagnostische Verfahren/Prognoseinstrumente, 345 Einsichts-/Steuerungsfähigkeit, 347 Fallbeispiele, 349, 350 Fallmodell, individuelles, 344 Intelligenzminderung, 304 Kindeswohlgefährdung, 359 Klassifikation, 341 DSM-5, 339 ICD-10/-11, 340 komorbide psychische Störungen, 342, 348 körperliche Untersuchung, 345 Messverfahren, sog. objektive, 345 Nosologie/Phänomenologie, 339 Persönlichkeitsstörungen, 348 Pharmakotherapie, 354 Behandlungsstufen, 355 Prävalenz(schätzungen), 340, 342 psychoanalytische/tiefenpsychologische Therapie, 353 Psychotherapie, 353 sadistische, 350 Schuldfähigkeitsbegutachtung, 349
Schweregradbeurteilung, 349 Sexualanamnese, 345 Steuerungsfähigkeit, 348–350 Stigmatisierung, 339 Süchtigkeits- und Perversionskonzept nach Giese, 348 Parasomnien, 206 Definition, 204 delinquentes/fremdaggressives Verhalten, 204 gutachtliche Beurteilung, 206 Plausibilitätsbeurteilung, 205 Diagnostik, 205 Einteilung, 204 Parasuizid(ale Handlungen), 794 Depression, 276 Parental-Alienation-Syndrom (PAS), 695 Parentifizierungsprozesse, 678 Parkinson-Krankheit/-Syndrom, Demenz bei, 167 Parteifähigkeit, 522 Partnerschaftskrisen, 279 Partypillen, 244 Pathologisches Spielen, 100 (partielle) Geschäftsunfähigkeit, 553 ADHS, 198 Patientensuizid, 796, 801, 802 Begutachtung, 805
Befangenheitsfrage, 802 deliktische Haftung, 805 Garantenpflicht, 805 straf- und zivilrechtliche Folgen, 794 zivilrechtliche Haftung, 805 Patientenverfügung, 510, 535 beachtliche/verbindliche, 853 Heilbehandlung vs. Pflegemaßnahmen, 853 österreichische Gesetzgebung, 853 Schweizer Zivilrecht, 871 PCL-R (Hare Psychopathy Checklist-Revised), 470 PCP (Phencyclidin), 226 Personality Inventory for DSM-5 (PID-5), 39 Personality Inventory for ICD-11 (PiCD), 39 Personendelikte, Manie, 278 Personensorge Betreuung, 502 Entzug, 696 Unterbringung, 514 Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung, 827 andauernde, 367, 555, 630, 633 Persönlichkeitsdepravation, 230, 231 Persönlichkeitsdiagnostik, 21 dimensionale, 322 fremdanamnestische Befragungen, 784
Glaubhaftigkeitsbegutachtung, 782, 784 Schuldfähigkeitsbegutachtung, 38 Persönlichkeitsfaktoren Eignung i. S. des WaffG, 748 Kriminalprognose, 477 Persönlichkeitsfragebogen, 32 Persönlichkeitsfremdheit, affektive Ausnahmezustände, 97, 289 Persönlichkeitsstörungen, 175, 176, 215, 379, 630, 633 Abartigkeit, 99 abhängige (asthenische), 321, 328 Affektentwicklung, 289 affektive Erregungszustände, 286 allgemeine Kriterien (ICD-10-Forschungskriterien), 321 als Schädigungsfolge GUV, 630 SozEntschR, 633 als schwere andere seelische Abartigkeit, 332 altersgebundene Symptomatik, 707 ängstliche vermeidende, 321, 328 ängstlich-furchtsame, 321 antisoziale, 50, 197, 326 Arbeits(un)fähigkeit, 612 Auswirkungen auf das Verhalten, 325 autistischer Phänotyp, 184 Begutachtung
allgemeine Grundsätze, 320 als schwere andere seelische Abartigkeit, 324, 326 Anhaltspunkte/Kriterien, empirisch überprüfbare, 324, 325 Darstellung der Persönlichkeit, 325 diagnostische Mindeststandards, 327 Einsichts- und Steuerungsfähigkeit, 332 klinische vs. rechtliche Einordnung, 326 Krankheit vs. Kriminalität, 332 Symptomcharakter der Tat, 326 Vorgehen, 320 bei limbischer Epilepsie, 174 Betreuung, 499 Betreuungsanordnung, 535, 538 Borderline-, 321 Charakterdimensionen, 323 Cluster B, 331 Delinquenzrisiko, 413 Delinquenzverhalten, 328 Diagnostik, 21 dimensionale, 322 Gesprächsführung, 320 Informationsquellen, 320 neurobiologische, 324 strukturierte, 321 dimensionale Modelle, 39, 321
dissoziale, 50, 54, 321 dramatische, emotionale, launische, 321 Drogenabhängigkeit, 230 DSM-5-Alternativmodell, 322 DSM-5-Klassifikation, 321 Einsichtsfähigkeit, 326 emotional instabile, 321, 328 forensische Relevanz, 320, 327, 866 Fremdbeurteilungsverfahren, 40 Fünf-Faktoren-Modell (Costa & McCrae), 322 GdS/GdB-Tabelle, 635 genetisch-biologische Basis, 323 Geschäfts-/Prozess-/Testierfähigkeit, 552 Glaubhaftigkeitsbegutachtung, 771 histrionische, 321, 328 ICD-10-Forschungskriterien, 321 ICD-11-Klassifikation, 323 Intelligenzminderung, 304, 327 Jugendalter, 662 kategoriale Modelle, 321 Kindeswohlgefährdung, 684 Krankheitsbegriff, strukturell-sozialer, 325 Kriminalprognose, 478 Langzeitinhaftierung, 402 MAO-A-Aktivität, verminderte, 323
Maßregelpatienten, 440 narzisstische, 289, 321, 328 NEO-FFI-Fragebogen, 322 neurobiologische Mechanismen, 323 neuronale Funktionsstörungen, rechtliche Bewertung, 324 nicht pathologisch bedingte, 99 organische Alkoholabhängigkeit/-missbrauch, 215 forensische Relevanz, 175, 176 ICD-10-Diagnosekriterien, 174 Klassifikation, 174 Symptomatik, 174 paranoide, 321, 326, 328 Psychopathie, 54 Konzept nach Hare, 320, 329 psychopathologische Symptomatik, 325, 332 psychopathologisches Referenzsystem, 325 querulatorische Entwicklung, 329 Regulierung des Selbstwertgefühls, 325 Reifungsverzögerung, 659 Rentengewährung/-leistung, 620 schizoide, 321 schizotype, 262, 321 Schuldfähigkeit, 100, 325, 328 Schuldfähigkeitsgutachten, Mindestanforderungen, 325
Schwerbehindertenrecht, 636 schwere seelische Abartigkeit, 114 Selbstberichtsverfahren, 41 Sexualdelinquenz, 342, 348 Sicherheitsverwahrte, 454 Sieben-Faktoren-Modell (Cloninger), 322, 323 sonderbar-exzentrische, 321 soziale Kompetenz, beeinträchtigte, 325 Spielen, pathologisches, 377 Stalker, 753 Stehlen, pathologisches, 378 Steuerungsfähigkeit, 326 Kriterien für/gegen forensisch relevante Beeinträchtigung, 327 Suizid(alität), 795 Temperamentsfaktoren, 323 Unterbringung, Therapieplanung, 443 Zurechnungsfähigkeit (Österreich), 843 zwanghafte, 321, 328 Persönlichkeitsstruktur, Diagnostik, 21 Persönlichkeitstests, objektive, 34 Persönlichkeitstypen, affektive Ausnahmezustände, 289 Persönlichkeitsveränderung, 613 drogeninduzierte, 228 organische, 231, 737 Rentengewährung, 613
schwerste, 230 Perversion Entwicklung im Jugendalter, 663 sexuelle, 348 Pethidin, 223 Pflege sozialhilferechtliche Hilfe, 590 teilstationäre, 584 vollstationäre, 584 Pflegebedürftige/Pflegebedürftigkeit Feststellung/Prüfung, 583 GPV-Definition, 583 GUV-Leistungen, 581 Hilfen, 583 Neues Begutachtungsinstrument (NBA), 583 Pflegegrade, 583 Ursachen, 583 Pflegebedürftigkeits-Richtlinien, 582 Pflegeeltern, Umgangsrecht, 674 Pflegefall, Abgrenzung Krankenhausbehandlung, 593, 611 Pflegegeld, 584 Österreich, 859 Pflegegrade, 583, 584 Pflegegutachter, 584 Pflegekassen (PK)
Richtlinien, 582 Pflegesachleistungen, 584 Pflegeversicherung gesetzliche (soziale), siehe GPV private, 582, 583 Pflegezulage, SozEntschR, 589 Pflegschaftsrecht für Erwachsene, siehe Betreuungsrecht Phencyclidin (PCP), 226 Phenethylamine (NpS), 244 Phobische Störungen, Rentengewährung/-leistung, 616 Phosphatidylethanol (PEth), als Alkoholkonsummarker, 241 Piperazin-Derivate (NpS), 244 Polamidon, Suchtbehandlung, 446 Polizeidienstunfähigkeit, 721 Polyneuropathie, Alkoholschäden, 435 Polytoxikomanie, Drogenabhängigkeit, 221 Positive and Negative Symptom Scale (PANSS), Schizophreniediagnostik, 40 Positronenemissionstomografie (PET), 22 neurobiologische Ansätze der forensischen Psychiatrie, 52 Postdeliktische Amnesie/Erinnerungsstörungen, 28, 291 Postenzephalitisches Syndrom, 175 forensische Relevanz, 177 Postkommotionelles/-kontusionelles Psychosyndrom, 175 Posttraumatic Stress Disorder (PTSD), siehe PTBS Posttraumatische Verbitterungsstörung, 629
Prader-Willi-Syndrom, 301 Präfrontaler Kortex, Bedeutung für psychopathisches Verhalten, 51 Prävention Behinderung, SGB IX, 585 GPV, 584 Primäropfer, 633 Primat der richterlichen Beweiswürdigung, 64, 65 Privatgutachten Bedeutung, 490 Fahreignung, 11 Proband, 4 Anamnese, 59 Angaben, schriftliches Gutachten, 60 Anwesenheit Dritter bei Untersuchung, 17 Aufklärung, 16, 18 ausländischer, 19, 69 Begutachtung, 6 Sozialmedizin, 19 Strafrecht, 18 biografische Anamnese, 18 dissimulierender, 26 Eigen-/Fremdschädigung, 80 Erinnerungsstörungen, 27 Exploration durch den Sachverständigen, 158 geständiger, 29
gutachtliches Gespräch, 18 Kompetenzen/Ressourcen, 22 leugnender/schweigender, 29 Motivation, 22 Persönlichkeitsstruktur, 21 schweigender, 27 Schweigerecht, 16, 27, 159 Selbst-/Fremdbeurteilung, 22 simulierender, 24 Vernehmungsfähigkeit, 16 Verweigerung der Untersuchung, 27 Wesensart, 60 Prodromaldelikt, schizophrene Straftäter, 260 Produkt-Moment-Korrelationskoeffizienten, 35 Prognose vs. Prognosebewertung, 461 Prognosegutachten/-begutachtung Aktenkenntnis, 17 Aktenstudium, 466 Aussetzung der Unterbringung auf Bewährung, 427 Basisrisiko, Einschätzung, 426 Fachkommissionen (Schweiz), 869 falsch negative/positive, 461 Fehlerquellen, 465, 482 im erkennenden Verfahren, 462 im Vollzug, 463
Individualprognose, klinische, 474 Jugendstrafrecht, 666 Kriminalprognose, integrative, 480 Mindestanforderungen, 63, 466 neurobiologische Erkenntnisse, 54 Qualitätssicherung, 465 Risikokommunikation, 481 Rückfallrisiko, 464 SAVRY, 667 Sexualstraftaten, 355, 356 Stalker, 754 statisch-nomothetische Methodik, 467 zukünftige Suizidgefährdung, 808 Prognoseinstrumente, aktuarische, 23 Prognosetafeln, 117 Prognoseverfahren aktuarische, 469, 473 empirische (klinische), 116 schriftliches Gutachten, 58 statistische, 116 Projektive Tests für Kinder und Jugendliche, 689 Konzeption, 42 Untersuchung elterlicher Funktionalität, 690 Validität, 42
Verfälschungstendenzen, 690 Verwertbarkeit, gerichtliche, 43 Prozess(un)fähigkeit, 551 Begutachtung, Prinzipien, 544, 546 bei Betreuung, 522 Einwilligungsvorbehalt, 523 infolge psychischer Störungen, 548 österreichisches Zivil-/Verwaltungsrecht, 849 partielle, 546 schizophrene/wahnhafte Störungen, 551 Querulanz, 546 Sachverständigengutachten, 522 Verfahrensfähigkeit, 546 Pseudodiagnose, 70 Pseudoerinnerungen, 28, 758, 759 Entstehung, 775, 777 Induktion, 775 Jugendliche und Erwachsene, 776 Kinder, 774 Übernahmeprozess, 779 Pseudohalluzinationen, 173 Pseudoneurasthenie, 173 Pseudopsychopathie, organische, 174 Psilocybin, 226 PSM (professional sexual misconduct), 718
Psychedelika, 226 Psychiater als Sachverständiger, 492 als sachverständiger Zeuge, 492 im Justizvollzug, 394 Psychiatrie, 842 forensische, 4 Österreich, 842 Störungsbilder im Justizvollzug, 397 Psychiatrische Versorgung, 394, 395, 396, 402, 403 im Justizvollzug Äquivalenzprinzip, 394 Aufgaben, 403 Haftsituationen, spezielle, 402 Leistungsspektrum, 395, 396 Rahmenbedingungen, 394 stationäre, 395 teilstationäre, 396 stationäre, GKV, 592 Psychiatrisches Interview, 4 Psychiatrisches Krankenhaus, Unterbringung siehe Unterbringung gem. § 63 StGB Psychisch Kranke Betreuungsrecht, 498 nicht einwilligungsfähige, 812 Recht der Hilfen und Schutzmaßnahmen, 814
Stigmatisierung, 814 Psychische Ausnahmezustände, Schuldunfähigkeit, 91 Psychische Einwirkungen Arbeitsunfall, 597, 599 Bedingung, wesentliche (sozialrechtliche Kausalitätslehre), 597 Unfall, 580 Psychische Funktionen, 21 Psychische Schäden, Schadensersatz, 527, 529 Psychische Störungen Adoleszenz, 647 alkoholinduzierte, 211 Anerkennung als Unfallfolge, 599 asyl- und ausländerrechtliche Begutachtung, 827 Asylsuchende, 823, 827 Aussagetüchtigkeit, 761 Ausschlussgrund (WaffG), 748 bei Ärzten und Therapeuten, 716 bei Lehrpersonal, 721 Betreuung, 499 Betreuungsanordnung, 535 Case Management, 420 dauerhafte, Unfall, 580 Dauerkrankungen, 592 Delinquenzrisiko, 413 Einsichts- und Steuerungsfähigkeit, 105, 106
Einwilligungsunfähigkeit, 541 Einwilligungsvorbehalt, 539 Entschädigungsanspruch (OEG), 632 Entscheidungsfähigkeit, 849 Entwurzelungssymptomatik, 596 episodisch verlaufende, Strafunterbrechung, 388 Erwachsenenschutz (Schweiz), 872 Erwerbsminderungsrente, 579 Erwerbsunfähigkeit, 526 Erziehungsfähigkeit, eingeschränkte, 683, 684 extremistische Gewalt, 832 Geschäfts-/Prozess-/Testierunfähigkeit, 548 Geschäftsunfähigkeit, 490, 520, 544 gesundheitliche Eignung, Beamtenrecht, 720 haftreaktive, 387 hirnorganische Prozesse, 324 im Justizvollzug, 394 in Haft, 396 Inhaftierung, Wechselwirkungen, 388 Invaliditätsursachen, 875 Jugendalter, Einschränkung der Schuldfähigkeit, 660 Kinder und Jugendliche, Eingliederungshilfe, 704 Kindeswohlgefährdung, 683 Komorbidität, psychische, 413 Kooperationsfähigkeit, elterliche (Familienrecht), 680
Kriminalität, 413 luzide Intervalle, 550 Maßregel, Krisenintervention, 410 Migrationsproblematik/-stress, 596, 823 neurobiologische Forschung, 50 organische, siehe Organische psychische Störungen posttraumatische, Schweizer Sozialversicherungsrecht, 876 qualifizierte Erheblichkeit (Schweiz), 866 Risikofaktor für Gewalttaten, 832 Schizophrenie, 253, 263 Schuldfähigkeitsprinzipien, 387 Schweizer Zivilrecht, 870 Schweregrad, 105 Sexualdelinquenz, 342 Simulation, 24 Stehlen, pathologisches, 378 Strafunterbrechung, 388 Suizid(alität, 795 Testier(un)fähigkeit, 523, 550 Therapieunterbringungsgesetz, 129 unsound mind, 129 Unterbringung, 112 Aussetzungswiderruf, 142 Unterhaltsansprüche, nacheheliche, 526 verhaltensdeterminierende Kraft, 111
Verhandlungsfähigkeit, 390 verkehrsmedizinische Relevanz, 737 verminderte Schuldfähigkeit, 106 Wiedereingliederungstherapie, 560 Zurechnungsfähigkeit, 554 Psychischer/psychopathologischer Befund, 60 Beurteilerübereinstimmung, 32 Fehler(quellen), 20, 69 Kompetenzen/Ressourcen des Probanden, 22 Persönlichkeitsdiagnostik, 21 psychische Funktionen, 21 Querschnittsbild, 20 Untersuchungszeitpunkt, 21 Verhaltensbeobachtung, 21 Psychisch-Kranken-Hilfegesetze, 816 Psychoklausel, private Unfallversicherung, 563 Psychologen als Sachverständige, 155 Psychomotorische Störungen, 21 Psychopathie, 7, 54 ADHS, 198 anti-/dissoziale Persönlichkeitsstörung, 331 autistische, 184 Begutachtung, 332 Checklisten, 330, 331 De- bzw. Exkulpation, 99
defizitäre Empathie/allgemeine Gefühlsarmut, 415 Delinquenzverhalten, 328 Diagnostik, 41 Drei-, Vier-Faktoren-Modell, 332 Einsichts- und Steuerungsfähigkeit, 100 fMRT-Befunde, 52 Geschäftsunfähigkeit, 520 Hangtäterschaft, 455 hirnorganisch erworbene, 51 ich-syntone Entwicklungen, 100 infantil-egozentrische, 198 jugendliche, 330 Jugendstrafrecht, 109 klinisches Profil nach Cleckley, 329 Konzept nach Hare, 329 Lebenszeitdelinquenz, chronische, 414 neurobiologische Befunde, 51 Einfluss auf Prognosebegutachtung, 54 Prävalenz, interkulturelle Unterschiede, 330 primäre/sekundäre, 332 Prognosegutachten, 331 schizoide, 184 schizophrene Gewalttäter, 258 Schuld(un)fähigkeit, 99, 106 Schuldfähigkeitsbegutachtung, 332
schwere andere seelische Abartigkeit, 99 Schweregradabschätzung, 102 Sexualdelinquenz, 100, 345 strafrechtliche Verantwortlichkeit, 332 Testierfähigkeit, 524 Typologie nach Schneider, 99 Verhaltensmuster, delinquente, 332 XYY-Anomalie, 303 Psychopathy Checklist (PCL) Drei-, Vier-Faktoren-Modell, 331 Frauen, 330 für Jugendliche und Heranwachsende (PCL-YV), 330, 667 Kriterien, 330 revidierte Fassung (PCL-R), 23, 41, 330, 331 Screening-Version (PCL-SV), 330 Vorhersagevalidität, 330 Psychopharmaka Beikonsum, 247 Genehmigungspflicht, Betreuungsgericht, 511, 540 Psychophysisches Leistungsvermögen, Fahreignung, 727, 738 Psychoreaktive Folgen/Störungen Einflussvariablen, 626 tätlicher Angriff, 602 Psychosen/psychotische Störungen, 274, 535, 634, 748 affektive
Ausschlussgrund, WaffG, 748 GdB-Einschätzung (SchwbR), 634 akute vorübergehende, 398 ICD-11, 263 alkoholische, 216 amphetamininduzierte, 225 Betreuung, 499 drogeninduzierte, 229 endogene, 92, 95, 100, 399 Betreuungsanordnung, 535 epilepsiebedingte, 179 Ersatzfreiheitsstrafen, 389 exogene, 92, 95 Betreuungsanordnung, 535 Folie à deux, 264 Forschungsbedarf, 264 Geschäftsunfähigkeit, 520 Haft(un)fähigkeit, 387 Klassifikation, 252 manisch-depressive, Geschäftsfähigkeit, 520 manische Zwangseinweisung, 274 Maßregelpatienten, 440 postpartale, 264 Prävalenz, 252
Schuldfähigkeit, 100 Schuldfähigkeit(sbegutachtung), 263 Stalking, 755 Suizid(alität), 796 und Autismus-Spektrum-Störungen, 187 und Straftat, 843 Verhandlungsunfähigkeit, 390 verkehrsmedizinische Relevanz, 738 Versorgungsforschung, 265 Wiederaufnahmeverfahren, 389 Psychosesyndrom, attenuiertes, 254, 255 Psychosomatische Erkrankungen, Langzeitinhaftierung, 402 Psychosyndrom nach Schädel-Hirn-Trauma, siehe Organisches Psychosyndrom Psychotherapie Depression, 272 forensische, 4 GKV-Leistungen, 575 im Justizvollzug, 395, 396 Manie, 274 missbräuchliches Verhalten, 719 nichtsexuelle Berührungen, 718 Psychotrope Substanzen, 119, 221, 222, 228, 229, 537, 551, 564, 611, 614, 625, 632, 635, 747 Abhängigkeit/Missbrauch Abhängigkeitspotenzial, 222
als Schädigungsfolge (GUV), 625 als Schädigungsfolge (SozEntschR), 632 Arbeitsunfähigkeit, 611 Betreuungsanordnung, 537 Entgiftungsbehandlung, 611 Entwöhnung(sbehandlung), 611 Feststellung nach ICD-10-Kriterien, 229 GdS/GdB-Tabelle, 635 Geschäfts-/Prozess-/Testierunfähigkeit, 551 Nachweismethoden, 221 persönliche Eignung gem. WaffG, 747 Rehabilitationsmaßnahmen, ambulante/stationäre, 614 Schuldfähigkeitsbegutachtung, 228 Schweregradbeurteilung, 229 Substanzgruppen und Wirkungen, 221, 222, 228 Unfallfolgen, Privathaftpflicht, 564 Anpassungsstörungen, 275 Fahreignung, 733 PTBS (posttraumatische Belastungsstörung), 623 als Schädigungsfolge (GUV), 626, 627 altersgebundene Symptomatik, 707 Asylsuchende, 823, 827 Begutachtung, 627 Eigen- und Fremdbeurteilung, 628 GUV, 628
praktisches Vorgehen, 628 Diagnose(kriterien), 827 DSM-5, 627 ICD-10, 366, 367 Differenzialdiagnosen, 367 dissoziativer Subtyp, 369 Erinnerung(sverarbeitung), 778 ICD-11, 628 Kasuistik, 368 Komorbidität, 827 komplexe, 367, 628, 630, 827 MdE, 629 medikamentöse Strategien, 368 Missbrauch im Kindesalter, 633 Prävalenz, 366, 627, 628 psychotherapeutische Interventionen, 367 Retraumatisierung, 827 Schockschäden, 564 Simulation, 827 Simulationsdiagnostik, 629 sozial-/zivilrechtliche Relevanz, 370 Steuerungsfähigkeit, 370 strafrechtliche Relevanz, 369 verzögert auftretende, 628 Pubertät, 647
Pubertätskrisen, 661 Punktetäter, 729 Fahreignungsbeurteilung, 735 Fragebogenverfahren, 736 Persönlichkeitsmerkmale, 736 Verkehrs-/Verhaltensprognose, 736 Pyromanie, siehe Brandstiftung, pathologische Q Qualitätssicherung asyl-/ausländerrechtliche Begutachtung, 822 Fehlerquellen in psychiatrischen Gutachten, 68 kinder- und jugendpsychiatrische Gutachten, 651 kriminalprognostische Gutachten, 465 sozialrechtliche Gutachten, 591 Querulantenwahn, 329 partielle Geschäftsunfähigkeit, 521 Querulanz im Justizvollzug, 401 Prozessfähigkeit, 546 R R&R2-Programm, 199 Radikalisierung, 833 Rausch
Anlasstat, 119 pathologischer, 211 Rauschmittel Definition, 119 Einbringung in den Justizvollzug, 402 Hang, 118 Rauschmittelsucht, Testierfähigkeit, 524 Rauschtat, akute Alkoholisierung, 214 Rauschverläufe/-zustände, psychotische, 220, 225, 226 Ravens's, 2, 38 Reaktive Gewalt, 228 Realkennzeichen, siehe Merkmalsorientierte Qualitätsanalyse Rechtliche Grundlagen (Sozialrecht), 570 Rechtliches Unvermögen, 500 Rechtsbrecher diskontinuierliche, 414 entwöhnungsbedürftige (Österreich), 844, 846 Erwachsenenkriminalität, reine, 414 gefährliche Rückfalltäter (Österreich), 845, 847 Jugendkriminalität, reine, 414 Lebenszeitdelinquenz, chronische, 414 zurechnungsfähige geistig abnorme (Österreich), 844, 846 zurechnungsunfähige geistig abnorme (Österreich), 844, 846 Rechtsextremismus, 832–834 Rechtsfähigkeit, 522
Definition, 519 Rechtsfürsorge, Betreuungsgesetz, 535 Rechtsgeschäfte Bedeutung für Geschäftsunfähigkeit, 521 einander widersprechende, Betreuer-Betreuter, 504 geringfügige Angelegenheiten des täglichen Lebens, 506 höchstpersönliche, Betreuungsrecht, 504 rechtlich/wirtschaftlich vorteilhafte (Betreuung), 505 rechtliches Unvermögen, 500 Zustimmung zur Vornahme (Einwilligung/Genehmigung), 505 Rechtsgutsverletzungen, Haftung, 75 Rechtsmittel, 77 Rechtsneurosen, 615 Rechtsschutzgebot (Sicherungsverwahrung), 122 Rehabilitation, 577, 604 behinderte Menschen, 584, 585 Eignung und Zweckmäßigkeit, 858 Erfolgsaussichten, Beurteilung, 605 GPV, 584 medizinische Abhängigkeitserkrankungen, 605 GKV, 576 GRV, 577, 604 Indikation, 604 Leistungskatalog nach SGB IX, 585
psychosomatische, 616 stationäre, 576 Störungen durch psychotrope Substanzen, 614 Rehabilitationsgeld, 857 Rehabilitationskurs, Alkoholabhängigkeit, 731 Rehabilitationsleistungen, siehe Teilhabe(leistungen) Rehabilitationsmodelle, forensische Good-Lives-Modell, 419 Risk-Need-Responsitivity-Prinzip, 417 Rückfallvermeidungsmodell, 419 Reha-Träger, 584, 585 Reife(beurteilung) biologische und psychosoziale, 647 geistige und sittliche, 654 gem. § 105 JGG, 658 gem. § 3 JGG, 653 Heranwachsende, 660 Jugendliche, 653 Jugendstrafrecht, 660 Marburger Richtlinien, 659 Reifungsstörung/-verzögerung Beurteilung, Jugendstrafrecht, 659 biologische/psychologische Ebene, 655 Schuldfähigkeit, 101 Ursachen, 659
Reisberg-Skalen, Demenz, 170 Reizoffenheit, Intoxikationen, 229 Relapse Marker, Alkoholkonsum, 240 Reliabilität von Untersuchungsinstrumenten, 33 Reliabilitätskoeffizient, 33 REM-Parasomnien, 205 gewalttätiges Verhalten, 204 REM-Schlaf-Verhaltensstörung, 205, 206 Renten auf unbestimmte Zeit, GUV, 582 Berufs- und Erwerbsunfähigkeit, 578, 595 GRV, 576 GUV, 581 Hinterbliebene, 576 Unfallschaden, 600 Vorversicherungszeit, 577 wg. (voller oder teilweiser) Erwerbsminderung, 577 wg. Alter, 576 wg. Erwerbsminderung, 577 teilweise bei Berufsunfähigkeit, 578 wg. Todes, 577 wg. verminderter Erwerbsfähigkeit, 576, 577, 593 Rentenartfaktor, 577 Rentengewährung/-leistung affektive Störungen, 614
Angststörungen, 616 Anpassungs-/Belastungsstörungen, schwere, 617 depressive Störungen, 614 dissoziative (Konversions-)Störungen, 617 Erwerbsminderung, teilweise/volle, 612 Essstörungen, 620 GRV, 612 Intelligenzminderung, 620 Neurasthenie, 620 organische psychische Störungen, 613 Persönlichkeits-/Verhaltensstörungen, 620 Schizophrenie/wahnhafte Störungen, 614 Schmerzstörung, anhaltende somatoforme, 618 somatoforme Störungen, 617 Störungen durch psychotrope Substanzen, 614 Zwangsstörungen, 616 Rentenneurosen, 9, 615 juristischer Standpunkt, 565 psychiatrisch-psychotherapeutische Sichtweise, 565 Schadensersatz, 530 Rentenversicherung gesetzliche, siehe GRV private, 560 Resozialisierung, Maßregelaustausch, 139 Responsivity-Prinzip, Kriminalprävention, 418
Retraumatisierung, 825 Abschiebehindernis, 827 Rey-Test, Beschwerdenvalidierung, 25 Richter, Schuldfähigkeitsbeurteilung, 110, 112 Richtig-Negativ-/-Positiv-Rate, 35 Risikobeurteilung, siehe Kriminalprognose Risikokommunikation, Kriminalprognose, 481 Risikomanagement, Maßregelvollzug Einschränkung des Handlungs- und Bewegungsspielraums, 417 Entlassung, 480 Methoden, 416, 420 Need-Prinzip, 418 Opferschutzmaßnahmen, 417 Prognosechecklisten, 417 Responsivity-Prinzip, 418 Risikomonotoring, 416 Risiko-Prinzip, 417 Risiko-Prinzip Kriminalprävention, 417 Rehabilitation von Sexualstraftätern, 351 Risikoprognoseverfahren aktuarische, 472 Beispiele, 470 Ergebnisinterpretation, 471 Frauen, 473
Gewaltrisiko, 469 Jugendliche, 473 Sexualdelikte, 470 Stellenwert, 473 strukturierte, 482 Risk-Need-Responsivity-Prinzip Rehabilitation von Sexualstraftätern, 351 Rückfallreduktion, 417 Rollenkonflikte, psychiatrischer Sachverständiger, 10 Rorschach-Test, 42 Rosenzweig Picture Frustration Study, 42 Rosenzweig-PF-Test, 43 Rückfalldelinquenz, Hangtäter, 452 Rückfallprävention Bedürfnisprinzip (Need-Prinzip), 418 Sexualstraftäter, 429 Rückfallrisiko individuelles, Bewertung, 471 richtig/falsch positive Einschätzung, 460 Rückfalltäter, 845, 847 gefährliche, 452 Einweisung (Österreich), 845 Sicherungsverwahrung (Österreich), 847 Prädiktoren, 477 Rückfallvermeidungsmodell, 419, 421
Rückwirkungsverbot, Sicherungsverwahrung, 129 Rückzug geordneter, Alkoholisierung, 213 sozialer, 21 Ruff Figural Fluency Test, 38 S Sachentscheidung durch Beschluss, Gutachten, 76 Sachverständigenbeweis, 80 Sachverständigeneid, 68 Befund- vs. Zusatztatsachen, 80 Vorschriften, 9, 18 Sachverständigengutachten Aussetzung der Sicherungsverwahrung, 136 Aussetzung der Unterbringung, 132, 137 Berufsunfähigkeit, 561 Betreuung, 501, 502, 508 Beurteilung der Suchtproblematik (Unterbringung gem. § 64 StGB), 437 Ehefähigkeit, 526 Einwilligungsvorbehalt, Anordnung, 508 Entwicklungsstand, Beurteilung gem. §§ 3, 105 JGG, 653 Erwerbsunfähigkeit infolge psychischer Krankheit, Beurteilung, 526 Gefährlichkeitsprognose, 117 Geschäftsunfähigkeit, 521
gravierende ärztliche Maßnahmen, Genehmigungspflicht durch Betreuungsgericht, 511 Intelligenzminderung, Einsichts-/Steuerungsfähigkeit, 298 Interventionsorientierung (Familienrecht), 676 Kausalitätsbeurteilung, Unfallversicherung, 624 nachträgliche Sicherungsverwahrung, 129 Prozessunfähigkeit, Feststellung, 522 s. a. Gutachten/Begutachtung, 58 Sterilisation, 513 Übernahme, ungeprüfte durch den Richter, 112 Unterbringung gem. § 1631b BGB, 698, 699 Unterbringung, Genehmigung, 515 Wohnungsauflösung, Genehmigung, 518 Sachverständiger, 9, 12, 64, 79, 105, 111, 112, 127, 220, 228, 493, 534, 608, 644, 650, 666, 675, 677, 802, 843, 860 Ablehnung(sgründe), 157, 494 Akteneinsicht, 157 Aktenherausgabepflicht, 497 Aktenkenntnis, 17 als Beweismittel, 65, 158 als Gehilfe des Gerichts, 158, 492 als selbstständiger Helfer des Gerichts, 110 Anwesenheitspflicht, 63, 160 Anzahl, Bestimmung, 153 Arbeitsunfähigkeit, Begutachtung, 560 Aufgaben und Pflichten, 155
Aufklärungspflicht, 491 Auftraggeber, 492 aussagepsychologischer, 758, 783 Auswahl(kriterien), 152, 155 Befangenheit(svorschriften), 157, 492, 494 Patientensuizid, 802 Begriffe, juristische vs. medizinische, 496 Begutachtungspflicht, 494 Bestellung, Sozialrechtsbereiche, 590 Denkweisen von Ärzten und Juristen, 496 eigene Ermittlungen, 159 Einschaltung, Betreuungsverfahren, 507 emotionale Reaktionen, 69 Ersetzbarkeit, 492 Exploration des Probanden, 158 Fahrlässigkeit, subjektive/objektive, 81 familienrechtlicher, 672, 673 Anforderungen, 677 Rollendiffusion, 676 Sorge-/Umgfangsrechtkonflikte, 675 Forschungsmittel, 154 Fristeinhaltung, 497 gerichtlich zertifizierter (Österreich), 842 gerichtlicher, 74 Auswahl(kriterien), 493
Qualifikation, 493 Stellung, 492 Gutachtenverweigerungsrecht, 495 Haftpflichtversicherungsschutz, 82 Haftung, 68, 155 strafrechtliche, 79 zivilrechtliche, 74 Heranziehung/Stellung im Strafverfahren, 86 Hilfskräfte, 497 Hinweispflicht an das Gericht, 495 Hinzuziehung Ablehnung, 154 eines weiteren, 153 gesetzliche geregelte Fälle, 152 nach Ermessen des Gerichts, 152 Hinzuziehungszwang, Betreuungsverfahren, 507 in der Hauptverhandlung, 160 informatorische Befragung von Auskunftspersonen, 160 Interaktion mit Probanden, 69 jugendpsychiatrischer Aufgaben, 650 Besonderheiten der Begutachtung, 644 Entwicklungsstandbeurteilung, 650 Kriminalprognose, 666 Offenbarungspflichten, 652
Rolle ggü. dem Jugendlichen, Beziehungsgestaltung, 652 Untersuchung des Beschuldigten, 651 Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG), 704 Kompetenzgrenzen, 68 Neutralität, 676 Neutralität(spflicht), 6, 58, 495 Objektivität, 6 öffentliche Bestellung, 155 persönliche Gutachterpflicht, 156 persönliche Verantwortung, 157 Pflicht zur Gutachtenerstattung, 155 Pflichten, 494 im Vorfeld der Gutachtenerstellung, 495 Privatgutachten, 490 psychiatrischer, 525, 555 Anforderungen, 9, 10 Anhörung (BtG), 534 Asylrechtsgutachten, 860 Aufgaben (BtG), 534 bei Drogenabhängigkeit, 220, 228 Beweismittel, präsentes, 11 Erwartungshaltungen, 9, 12 forensisch-psychiatrische Kompetenz, 10 Fragerecht, 63 Gutachtenvortrag, 64
Hangprognose, 127 Integrität/Vertrauenswürdigkeit, 10 Kompetenzgrenzen, 64 Medien und Öffentlichkeit, 11 Österreich, 843 Privatgutachten, 11 Rollenkonflikte, 10 Stellung, 9 Teilnahme an der Hauptverhandlung, 63 Unparteilichkeit, 9 Untersuchung der Probanden, 495 Verantwortungsverhältnis, 9 Voraussetzungen, 9 Vorschriften §§244/245 StPO, 10 vs. psychologischer, 155 Wahrheitspflicht, 64 Zivilrecht, 492, 534 psychologischer, Begutachtung der Glaubwürdigkeit von Zeugen, 153 Rollenverständnis, falsches, 69 Schuldfähigkeitsbeurteilung Aufgaben, 105 erste Stufe, 111 Kompetenzen, 111 Kompetenzverteilung, 110 zweite Stufe, 111, 112
Schweigepflicht, ärztliche, 497 sozialrechtlicher Aufgaben, 608 Qualifikation, 608 Überfragung, 68 Unabhängigkeit, 68 Unparteilichkeit(spflicht), 68, 494, 495 Vereidigung, 161, 495 Verhältnis zur Verteidigung, 69 vs. sachverständiger Zeuge, 492 Weiterbildung, 72 Zeugenvernehmung, unzulässige, 159 Sachverständiger Zeuge, 492 Sachwaltergesetz/-recht (Österreich), siehe Erwachsenenschutzgesetz/-recht Sadismus, 340, 341 Fremdbeurteilungsverfahren, 41 Nosologie/Phänomenologie, 339 Sadomasochismus, 340 Salafismus, 832, 834 SAPROF (Structured Assessment of PROtective Factors for violence risk), 345, 352 SAVRY (Structured Assessment of Violence Risk in Youth), 667 Schädel-Hirn-Trauma Amnesie, 27 Delinquenzrisiko, 177
Geschäftsunfähigkeit, 520 Glasgow Coma/Outcome Scale, 176 Haftfähigkeit, 386 organisches Psychosyndrom, 175 psychische Störungen als Unfallfolge, 625 Unfallfolgen, Privathaftpflicht, 564 Schadensanlage, prämorbide Sozialrecht, 598 überwiegende Ursache, 598, 602 wesentliche Teilursache, 598 Schadensdisposition, extreme (private Haftpflichtversicherung), 565 Schadensersatz(recht) Aktualneurosen, 530 Ansprüche, gesetzliche, 527 Arbeitsunfähigkeit, psychisch bedingte, 530 Arten, österreichisches ABGB, 858 Begehrens-/Rentenneurosen, 530 Begutachtung, psychiatrische, 527 Erlebnisverarbeitung, unangemessene, 530 Haftungsgrund, 527 Konversionsneurosen, 530 Mitverschulden des Geschädigten, 531 psychische (Folge-)Schäden, 527, 529, 530 Schockschäden, 531 Schutzzweck der haftungsbegründenden Norm, 530
Umfang, 527 Zurechnungsfähigkeit, 527, 529 Zurechnungskriterien, 530 Zurechnungsunfähigkeit, Folge, 527 Schadensersatzhaftung, Grundlagen, 74 Schadensminderungspflicht, 876 Schadensvermeidung (harm avoidance), 322 Schädliche Neigungen (§ 17 JGG), 650, 667 Schädlicher Gebrauch, 214 Begutachtung, 216 Drogen, 220 Scheidung, Auswirkungen auf Kinder, 672 Scheidungsfolgesachen, Beurteilung psychischer Störungen, 555 Scheinerinnerungen, siehe Pseudoerinnerungen Schemawissen, 763 Schizoaffektive Störungen bipolarer/depressiver Subtyp, 264 ICD-11, 264 Klassifikation, 252, 263 Schuldfähigkeit(sbegutachtung), 264 Schizoide Persönlichkeitsstörung, 321 forensische Relevanz, 329 Schizophrenes Prodrom, Begutachtung, 260 Schizophrenie, 415, 602, 632 aggressive Verhaltensweisen, 259
akut psychotische Zustände, 259 als Schädigungsfolge Kann-Versorgung, 602 SozEntschR, 632 Anpassungsschwierigkeiten, soziale, 634 Antipsychotika, 255 Depotpräparate, 261 antisoziales Verhalten, 255, 256 Ätiopathogenese, 258 frühe Kindheit, 259 neurobiologische Befunde, 257 Arbeitsunfähigkeit, 611 asyl- und ausländerrechtliche Begutachtung, 828 Ätiopathogenese, 254 attenuierte psychotische Symptome, 255 Ausmaß symptombedingter Funktionseinschränkungen, 259 Ausschlussgrund, WaffG, 748 Betreuungsanordnung, 537 Brandstiftung, wiederholte, 379 Cannabiskonsum, 255, 259 Dauer der unbehandelten Psychose (DUP), 255 Delinquenz(risiko), 253, 256, 257, 261, 413 Verlaufstypen, 415 Diagnosekriterien, 253 Differenzialdiagnose, 272, 273
Dissimulation, 26 dissoziale Persönlichkeitsmerkmale, 258 DSM-5, 252, 254 Ehefähigkeit, 554 Einwilligungsfähigkeit, 541 Elektrokonvulsionstherapie, 540 Epidemiologie, 252 Erziehungsfähigkeit, Einschränkung der, 683 Forschungsbedarf, 264 Fremdbeurteilungsverfahren, 40 Frühinterventionen, 255 GdB-Einschätzung (SchwbR), 634 GdS/GdB-Tabelle, 635 Geschäfts-/Prozess-/Testier(un)fähigkeit, 551 Geschäftsunfähigkeit, partielle, 551 Gewalttaten Risikofaktoren, 256 Threat-Control-Override-Symptome, 256, 257 Haftunfähigkeit, 387 Halluzinationen, 253 Hemmungsvermögen/Steuerungsfähigkeit, 260 hirnstrukturelle Veränderungen, 254 Hypofrontalität, 254 ICD-10, 252 ICD-11, 252, 254
Klassifikation, 252 kognitive Beeinträchtigungen, 253, 259 Komorbidität, 253 Komplikationen, 255 Kriminalprognose, 256, 261 Legalprognoseverbesserung, 261 Menschen mit Migrationshintergrund, 823 Myelinisierungsstörungen, 254 Negativsymptome, 253, 259 neurobiologische Befunde, 254 Östrogene, neuroprotektive Wirkung, 253 paranoide, 258, 413 pharmakotherapieresistente, EKT, 540 Positivsymptome, 253 Prozessunfähigkeit, partielle, 551 Psychopathie-Merkmale, 257 psychosoziale Leistungsfähigkeit, 253 Psychotherapie und psychosoziale Interventionen, 255, 261 Rehabilitation, 255 Rentengewährung/-leistung, 614 Residualstörungen, GdB-Bewertung, 634 Residualsymptomatik, Verhandlungsfähigkeit, 390 Risikofaktor(en), 254 Schuldfähigkeit(sbegutachtung), 106, 259 Initial-/Prodromaldelikte, 260
Krankheitsphasen, 260 stationäre Beobachtung (§ 81 StPO), 260 Vollremission, 260 Schuldunfähigkeit, 389 Sozialverhaltensstörungen, 257, 259 Straftäter, 478 Strafunterbrechung, 388 subakute Zustände, 260 Substanzmissbrauch, 255, 257, 258 Suizid(alität), 795, 796 Symptome, 253 Therapie, 255 aggressives/gewalttätiges Verhalten, 261 Compliance, 261 und Kriminalität Delinquenzbeginn bei Krankheitsausbruch, 258 früher Delinquenzbeginn (early starters), 257 Prävalenz, 256 Spättäter, 258 Tätertypologie, 256 Verhaltensänderungen, tiefgreifende, 253 verkehrsmedizinische Relevanz, 738 Verlauf, 253 Versorgungsforschung, 265 Vulnerabilitäts-Stress-Modell, 254
Wahnvorstellungen, 253 Wiederaufnahmeverfahren, 389 Schizophreniforme Störung, 173 Schizotyp(isch)e (Persönlichkeits-)Störung, 262, 321 forensische Relevanz, 329 Klassifikation, 252 Schlaf-Apnoe-Syndrom, verkehrsmedizinische Relevanz, 741 Schlafmittelabhängigkeit, 224 Schlafstörungen Befindlichkeitsstörung, 621 forensische Relevanz, 204 Kindes- und Jugendalter, 707 Prävalenz, 204 Schlaf-Wach-Rhythmus-Umkehr, Depression, 271 Schlaganfallgefährdung, Haftfähigkeit, 388 Schmerzen Anamnese, spezielle, 619 anhaltende somatoforme, 618 Begutachtung, 618 seelische, 858 unfallbedingte, Kausalitätsbeurteilung, 630 Schmerzengeldrente (Österreich), 858 Schmerzensgeld Österreich, 858 Schockschäden, 531
Vertragshaftung, Gutachter, 78 wg. Widerruf von Lockerungen, 412 Schmerzstörung, anhaltende somatoforme, 618 Schnüffelstoffe, 228 Schockschäden Begutachtung, 633 Entschädigungsanspruch (OEG), 631, 633 Gewalteinwirkungen i. S. des OEG, 602 Haftpflichtversicherung, private, 564 nahe Angehörige, 531 Schadensersatzrecht, 531 Schmerzensgeld, 858 Verschiebung der Wesensgrundlage, 633 Schockschadensopfer, 633 Schuld Ausschlussgründe, 86 erhebliche Tatsachen, 112 Feststellung, 90 präventive Aspekte, 89 Strafempfänglichkeit, 106 strafrechtliche, 86, 87, 89, 103 Sühne-/Verantwortungsfähigkeit, 89 Schuldbegriff/-verständnis funktionalistischer, 90 pragmatisch-sozialer, 88, 89
Strafrecht, 86 Schuldfähigkeit actio libera in causa, 98, 108 ADHS, 198, 199 Affekt, vom Täter verschuldeter, 97 affektive Störungen, 280 Affekttäter, 97 agnostische vs. gnostische Position, 103, 104 Alkoholabhängigkeit/-missbrauch, 662 aufgehobene, 8 Ausschlussgründe, 89, 102 Autismus-Spektrum-Störungen, 189 Beeinträchtigung durch den Affekt, 97 Begutachtung/Beurteilung, siehe Schuldfähigkeitsbegutachtung diagnostische Klassifikationssysteme, Bedeutung, 94 Drogenabhängigkeit, 220, 228, 662 eingeschränkte Adoleszenzkrisen, 661 Persönlichkeitsstörungen, 662 psychische Störungen, Jugendalter, 660 erheblich verminderte Alkoholisierung, 213 Suizid(alität), 794 Gutachten, Mindestanforderungen, 58 im Justizvollzug, 403
Jugendstrafrecht, 644, 657, 660 Neurosen, 102 partielle, 105 Persönlichkeitsentwicklungen, abnorme, 101 Persönlichkeitsstörungen, 100 Prinzipien, 387 Prognosebeurteilung bei Drogenabhängigkeit, 220 Psychopathien, 99 psychotische Störungen, akute vorübergehende, 263 Quantifizierbarkeit, 105 Quantifizierung, weitergehende (Schweizer Strafrecht), 866 rechtliche Beurteilung, 94 Rechtsbegriff in der Schweiz, 865 schizoaffektive Störungen, 264 Schizophrenie, 259 Schwachsinn, 98 schwere andere seelische Abartigkeit, 98 Sexualdelikte, Jugendalter, 662 Soziopathie, 100 Stalker, Begutachtung, 754, 755 strafrechtliche, 103 Teilbarkeit, 105 tiefgreifende Bewusstseinsstörung, 96 Triebstörungen mit Suchtcharakter, 102 Umkehr der Vollstreckungsreihenfolge, 425
Verhaltensstörungen i. V. m. Parasomnien, 205 Verhaltensstörungen i. V. m. Parasomnien, 205 verminderte, 8, 90, 92, 95, 105, 403, 865, 866 Intensitätsgrad der psychischen Störung, 106 Selbstverschuldung des Täters, 107 Sonderstrafrahmen gem. § 49 Abs. 1 StGB, 108 tiefgreifende Bewusstseinsstörung, 286 Unterbringung, 114 Verschuldensprinzip, 108 wahnhafte Störungen, 262 Zwangsneurosen, 101 zweifelhafte (Schweiz), 865 Schuldfähigkeitsbegutachtung, 102 affektive Ausnahmezustände, 288 Alkoholabhängigkeit/-missbrauch, 213 Demenzen, 170 doppelte Quantifizierung, 104 Einfluss des Sachverständigen, 110 Eingangsmerkmale/-kriterien, 37, 91 Epilepsie, 179 Erheblichkeitsgrad der pathologischen Abweichung, 111 erste (psychische) Stufe, 91 Aufgaben des Sachverständigen, 111 Fehler, 7 formelle Mindestanforderungen, 62
In-dubio-pro-reo-Grundsatz, 91 inhaltliche Mindestanforderungen, 62 intelligenzgeminderte Straftäter, 307 Kompetenzverteilung Richter/Sachverständiger, 110 krankhafte seelische Störung, 95 Krankheitsbegriff, 91, 92, 94 Krankheitswert, 93, 96 Merkmalskataloge, 105 organisches amnestisches Syndrom, 171 paraphile Störungen, 349 Persönlichkeitsdiagnostik, 38 Persönlichkeits-/Verhaltensstörungen, hirnorganische, 178 psychisch-normative Methode, 91, 92 rechtliche Grundlagen, 86 Schuldbegriff, 86 Schwachsinn, 98 schwere andere seelische Abartigkeit, 98 Schweregrad der Störung, 101 Täterpersönlichkeit, 288 Tatzeitpersönlichkeit, 111 tiefgreifende Bewusstseinsstörung, 96 zweite (normative) Stufe Einsichts-/Steuerungsfähigkeit, 102, 111 Schuldgrundsatz, 86 Kann-/Muss-Milderung, 107
Schuldprinzip Kritik, 87 normabweichendes Verhalten, 88 Strafrechtsreform, 86 Schuldunfähigkeit, 86 Alkoholisierung, 211, 213 Ausnahmecharakter der Vorschriften, 91 Ausnahmezustände, psychische, 91 biologische Normabweichungen, 53 bipolare affektive Störungen, 278 Delir, 172 Demenz, 170 Eingangsmerkmale, 91 Einheitslösung, 93 Jugendstrafrecht, 108, 654 Kinder, 108 krankheitsbedingte Andersartigkeit, 111 Maßregeln der Besserung und Sicherung, 391 organische psychische Störungen, 174 partielle, 105 schizophrene Psychosen, 71 Schizophrenie, 389 Schweizer Strafrecht, 865 Störungsintensität, 111 Unterbringung gem. § 63 StGB, 114
völlige, 93 wegen seelischer Störungen, 90 Schuldverständnis generalpräventiv funktionales, 90 indeterministisch geprägtes, 87 Schuldvorwurf, 87 Schutzmaßnahmen, Unterbringung, 816 Schwachsinn, 37 § 20 StGB, 98, 298 Beurteilung, 38 Eingangsmerkmal, 7, 91 Geschäftsunfähigkeit, 520 Jugendstrafrecht, 109, 654 s. a. Intelligenzminderung, 98 Schuld(un)fähigkeit, 98 Testverfahren, 37 Schwangerschaft Verhinderung durch Sterilisation, 512 Schwangerschaftsverhinderung durch Sterilisation, 512 Schweigepflicht, 548 ärztliche, 16, 497, 525 Entbindung (Testierfähigkeit), 548 intrainstitutionelle, 410 Kriminaltherapie, 410 Unterbringung, 410, 817
Schweigerecht des Probanden, 16, 27 Schweiz, 865, 868, 869, 870, 871, 873 Begutachtung, psychiatrische, 864 Maßnahmenrecht/-vollzug, 867 Abhängigkeitserkrankungen, 868 Entlassung, 869 junge Erwachsene, 868 Prognosekommissionen, 869 Verwahrung, 869 Strafrecht Begutachtungsnotwendigkeit, 865 lebenslange Verwahrung, 867 psychisch gestörte Straftäter, Behandlung, 867 Schuldfähigkeit, verminderte, 866 sichernde und therapeutische Maßnahmen, 866 therapeutische Maßnahmen, 867 Zurechnungsfähigkeit, verminderte, 866 strafrechtliche Maßnahmen, 866 Zivilrecht Eherecht, 873 Erwachsenenschutz, 871 geistige Behinderung, 870 Handlungsfähigkeit, 870 psychische Störung, 870 Sozialversicherungsrecht, 873
Testierfähigkeit, 871 Urteilsfähigkeit, 870 Schwerbehindertengesetz/-recht affektive Störungen, 634 Altersrente, 587 Arbeitsrecht, 587 Begutachtung, ärztliche, 603 Belastungs-/neurotische/somatoforme Störungen, 634 Essstörungen, 635 Grad der Behinderung (GdB), 586, 633 Intelligenzminderung, 636 Merkzeichen, 587 Nachteilsausgleiche, 587, 603 organische psychische Störungen, 634 Persönlichkeits-/Verhaltensstörungen, 636 schizophrene/wahnhafte Störungen, 634 SGB IX, 584, 586 Steuer-/Sozialrecht, 587 Störungen durch psychotrope Substanzen, 634 Schwerbeschädigte Heil-/Krankenbehandlung, 588 Hinterbliebenenversorgung, 589 Rentenleistungen, 588 Zulagen/Zuschläge, 589 Schwere andere seelische Abartigkeit, 37, 92, 288, 325, 326
affektive Ausnahmezustände, 294 Alkoholabhängigkeit, 216 Eingangsmerkmal, 7, 91 Fremdbeurteilungsverfahren, 40 Hangtäter(schaft), 452 Jugendalter, 662 Kriterien, 100 neurobiologische Befunde, 324 Neurosen, 101 paraphile Störungen, 348 pathologisches Spielen, 377 Persönlichkeitsdepravation, substanzinduzierte, 220 Persönlichkeitsstörungen, 41, 320, 324 dissoziale, 325 emotional instabile, 288 Kriterien, 326 Psychopathie, 99, 332 psychopathologisches Referenzsystem, 100 schizotype PS, 262 Schuld(un)fähigkeit, 98, 99 Testverfahren, 37 Sicherungsverwahrung, 454 Stalking, 755 Suizidalität, 804 Triebstörungen, 102
wahnhafte Störungen, 263 Schwere andere seelische Störung, 7 Schwere seelische Störung (Jugendstrafrecht), 654 Schweregradbeurteilung, 23 Schwerhörigkeit, verkehrsmedizinische Relevanz, 740 Screening Scale for Pedophilic Interests (SSPI-2), 41, 346 Screening-Skala Pädophilen Tatverhaltens, 41 Sedativa-Intoxikation/-Abhängigkeit, 224 Seelische Abartigkeit Beispiele, 100 Einsichts- und Steuerungsfähigkeit, 104 Einweisung von Rechtsbrechern (Österreich), 844 Krankheitswert, 101 schwere andere, siehe Schwere andere seelische Abartigkeit Seelische Behinderung Betreuung, 499 Eingliederungshilfe, 704 Seelische Störung Betreuungsanordnung, 535 dauerhafte (Jugendstrafrecht), 654 juristischer Begriff, 92 krankhafte, siehe Krankhafte seelische Störung Rente, 579 Schuldunfähigkeit, 90 schwere andere, siehe Schwere andere seelische Störung
vergleichbar schwere, 99, 101 vorübergehende, Geschäftsfähigkeit, 521 Sehtestung, Fahreignung älterer Probanden, 738 Sehvermögen eingeschränktes, Fahreignung älterer Probanden, 738 Fahreignung, 739 Sekundäropfer, 633 Selbstberichtsfragebogen Ja-/Nein-Sage-Tendenz, 40 Kontrollskalen, 39 Persönlichkeitsdiagnostik, 38 Selbstbeschädigung/-verletzung Fremdkörperschlucken, 401 im Justizvollzug, 400 Vorgeschichte, 401 Selbstbeschuldigungen, wahnhafte (Depression), 275 Selbstbestimmung Bewusstseinsstörung, 96 Selbstbestimmungsrecht des Patienten, 509 Suizidalität, 803, 806 über den eigenen Tod, 807 Zwangsbehandlung/-maßnahmen, 517 Selbstbestrafungstendenzen im Justizvollzug, 401
Stehlen, pathologisches, 379 Selbstbeurteilungsinstrumente, 22 Selbstentwertungstendenzen, Depression, 271 Selbstgefährdung gesundheitliche (Unterbringung), 514 Unterbringung, 816 Waffengesetz, 748 Selbstkonzept des Täters, affektive Ausnahmezustände, 289 Selbstladungsrecht, 154 Selbstlenkungsfähigkeit (self-directedness), 322 Selbstpräsentation, strategische, 763, 765 Selbstschädigung Fehleinschätzung, gutachterliche, 80 krankheitsbedingte (Einwilligungsvorbehalt), 505 Pflichtwidrigkeitszusammenhang, Nachweis, 81 Selbsttäuschung, 39 Selbsttötung, siehe Suizid(alität) Selbsttranszendenz, 322 Selbstüberschätzung, kritiklose (Manie), 273 Selbstverfügung, Einschränkung, 8 Sensitivität eines Tests, 35 Serienbrandstiftung, nicht instrumentell motivierte, 379 Severe Sexual Sadism Scale (SSSS), 346 Sex Offender Risk Appraisal Guide (SORAG), 470 Sexsomnia, 204
Sexsucht, 374 Geschäfts(un)fähigkeit, 553 Sexualanamnese, 60, 361 forensische, 345 Sexualdelinquenz/-straftat/-täter, 338, 758 Alkohol-/Drogenintoxikation, 348 Anamnese, 345 Antiandrogene, 354 Ätiologie, 343 Basisprognose, 358 Basisrisiko, 426 Behandlungsplanung, 351 Behandlungsprogramme, 417 bei Kindern Aufdeckungsarbeit, 758 fremdsuggerierte Aussagen, 758, 773 Bindungsstile, 344, 354 biologische Vulnerabilität, 343 Delinquenzrisiko, Abschätzung, 41, 470 Demenz, 167 Diagnostik(instrumente), 342, 345, 346 Einsichts-/Steuerungsfähigkeit, 347 Entlassungsprognose, 465 Fallbeispiele, 357 Fallmodell, individuelles, 344
Falschbezichtigungen, 759 Glaubhaftigkeitsbegutachtung, 782 Gruppentherapie, deliktorientierte, 312 Gutachtenpraxis, forensische, 759 Heranwachsende, 659 Hirnentwicklungsstörungen, 343 hirnorganische Störungen, 343, 344 im Alter, 166 Individualprognose, 358 Intelligenzminderung, 298, 308 Internetstraftäter, 347 Jugendliche/Heranwachsende, 662 Legalprognose, 663 körperliche Untersuchung, 345 Kriminalprognose, 478 Kriminalstatistik, 342 kriminogene Bedürfnisse, spezifische, 418 Leitsymptome, 348 Lerngeschichte, 344 Manie, 278 Messverfahren, sog. objektive, 345 organische psychische Störungen, 348 Persönlichkeitsstörungen, 348 Perversionsentwicklung, Jugendalter, 663 Pharmakotherapie, 354
Behandlungsstufen, 355 Prognosebegutachtung, 355 Empfehlungen, 356 Static-99, 357 Prognoseinstrumente, 345, 346 progrediente psychopathologische Entwicklungen, Leitsymptome, 100 Psychotherapie, 353 Rehabilitationsmodelle, 351 Risikobewertungssystem, 358 Risikofaktoren, 352 Risikoprognose-Instrumente, 470 Rückfallgefährdung, 429 Rückfälligkeit, 355 Schutzfaktoren, 352 Sexualanamnese, 62 SexualdelBekG, 121 Sicherungsverwahrung, 125, 453 SORAG, 470 Static-99, 470 Steuerungsfähigkeit, 349 Strafgesetzbuch, 342 Tatmerkmale, prognostisch bedeutsame, 356 Therapie kognitiv-behaviorale, 353 Möglichkeiten, 350
Motivationsphase, 353 psychoanalytische/tiefenpsychologische, 353 Zukunftsplanung, 354 therapiebeeinflussende Faktoren, 352 Therapiebeziehung, 353, 354 Therapieintensität, 352 Therapieresponse, Einflussfaktoren, 353 Therapiewirksamkeit, 351 Tübinger Adoleszenz Rückfallstudie Delinquenz (TARD), 666 Typologien, 347 Unterbringung gem. § 64 StGB, 440 Untersuchungsverfahren, testpsychologische, 478 Verdachtshypothese, Selbstbestätigungsmechanismen, 773 Vorstellungs-/Therapieweisung, 350 XYY-Anomalie, 303 Sexualität normale/problematische/gestörte, 338 Problembereiche, 338 Sexualpräferenzstörungen, siehe Paraphile Störungen Sexual-Violence-Risk-20-Schema (SVR-20), 23 Sexuelle Devianz/Deviationen, 7 Dissimulation, 26 Selbstwertgefühl, gestörtes, 325 Sexualanamnese, 62 Steuerungsfähigkeit, 100
Therapie, 354 Sexuelle Enthemmung, Manie, 278 Sexuelle Funktionsstörungen psychiatrische Begutachtung, 361 Sexualdelinquenz, 342 Sexuelle Handlungen, strafbare, 342 Sexuelle Störung Begutachtung, 342 Definition, 338 Problembereiche, 338 Sexueller Missbrauch, 343, 344, 355, 631, 707, 718, 719 Beurteilung, SozEntschR, 633 Diagnostik-/Prognoseinstrumente, 346 Entschädigungsanspruch (OEG) Kinder, 631 Glaubhaftigkeitsbegutachtung, 686 Sorge-/Umgangsrechtsverfahren, 685 StORMG, 347 unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses (§ 174c StG), 717 gutachterliche Prüfung, 718, 719 Inzidenz, 718 Persönlichkeitsprofil, 718 prognostische Faktoren, 719 Tätertypologie, 718 Ursachen, 719
von Kindern, 338, 342, 349, 357, 602, 706 altersgebundene Symptomatik, 707 ätiologische Aspekte, 343 intra-/extrafamiliär, 344 Rückfallraten, 355 Tätertypologien, 347 von Schutzbefohlenen, 342 Vormundschaftsrecht, 686 Sexueller-Sadismus-Skala (SeSaS), 41 Sicherungshaftbefehl, Unterbringung, 409 Sicherungsmaßnahmen Maßregelvollzug, 417 Unterbringung, 816 Sicherungsmaßnahmen, Maßregelvollzug, 417 Sicherungsstrafe, 107 Sicherungsunterbringung, 409 Sicherungsverwahrung, 137, 452 Abgrenzung zur Maßregel gem. § 63 StGB, 454 Abstandsgebot, 122, 453 Anlasstat, 125 Anordnung, 86 wg. spezieller Anlasstat, 125 Anordnungsermessen bei Erstverurteilung, 125 Anordnungszwang gem. § 66 Abs. 1 StGB, 124 Aussetzung/Erledigung, 133
Fehleinweisungen, 136 Führungsaufsicht, 135 Widerruf, 135 zu erwartende Straftaten, 135 Aussetzungsverfahren, 136 Befunde, 453 Dauer, 131 Deliktgruppenverteilung, 453 Entlassungspraxis, 135 Entlassungsprognose, 134 Erheblichkeitsschwelle, 116 gefährliche Täter, 127 Gesetz zur Neuordnung, 122 Hang, 125 Hangtäter, 127 Jugendliche (§ 7 Abs. 2 JGG), 666 Jugendstrafrecht, 463 Kriminalprognose, 463 nachträgliche, 86, 122, 136, 453, 465 Neuregelung, 128 nachträgliche Anordnung einer anderen Maßregel, 139 Neuordnung nach EGMR-/BVerfG-Urteilen, 121 Österreich, 845, 847 Persönlichkeitsstörungen, 454 Prüfungspflicht, 133
psychiatrische Diagnosen, 454 Risikomerkmale für Delinquenz, 453 Rückfälligkeit, 453 Rückfalltaten, 135 Rückwirkungsverbot, 129 Schweizerische Bundesverfassung, 867 Sexual- und Gewaltstraftäter, 121, 123 therapeutische Ausrichtung, 456 Therapieunterbringungsgesetz, 456 Übergangsvorschrift, 122, 123 Ultima-Ratio-Prinzip, 126, 131 Umgang mit Altfällen, 122, 123, 129 Unterbringung, 121, 131 Ausgestaltung gem. § 66c StGB, 130 nach ThUG, 456 Verfassungsmäßigkeit, 122, 130 Verhältnismäßigkeit, 122, 128 vermindert schuldfähige Täter, 455 Vollzugsleitlinien, 131 Vollzugsreform (SichVAbstUmsG), 130 Voraussetzungen, 121 formelle, 124 materielle, 125 vorbehaltene, 86, 122, 127, 455 Begutachtung, anstaltsfremde, 137
Voraussetzungen, 126 Vortaten/-verurteilungen, 124–126 Sick-Building-Syndrom (SBS), 622 Sieben-Faktoren-Modell der Persönlichkeitsstörungen (Cloninger), 322, 323 SIMS (Structured Inventory of Malingered Symptomatology), 25 Simulation Beschwerdenvalidierung(stests), 25, 41 Definitionen, 24 Exploration/Verhaltensbeobachtung, 25 Feststellung, 25 Konsistenz- und Plausibilitätsanalyse, 610 PTBS-Symptomatik, 629, 827 somatoforme Störungen, 615 Umgang mit Probanden, 26 Unfall-/Schädigungsfolge, 625 Single Photon Emission Computed Tomography (SPECT), Alkoholabhängigkeit, 52 Sinnestäuschungen, 21 Alzheimer-Demenz, 165 Sittliche Reife, Beurteilung, 654 Skala zur Erfassung des Funktionsniveaus der Persönlichkeit (SEFP), 41 Skala zur Erfassung kognitiver Verzerrungen bei Missbrauchern (KV-M), 346 Soldaten, Dienstunfähigkeit, 722
Soldatenversorgungsgesetz (SVG), 588, 630 Somatische Belastungsstörung Begutachtungspraxis, 617 Diagnosekriterien, 617 Somatisches Syndrom, 271 Somatoforme Schmerzstörung als Schädigungsfolge (GUV), 630 Anamnese, spezielle, 619 anhaltende, 618 Begutachtung, 618, 619 Fallbeispiel, 619 Fibromyalgiesyndrom, 618 Schadensanlage, bestehende, 630 Somatoforme Störungen, 626, 629, 632 Aggravation/Simulation, 615 als Schädigungsfolge GUV, 626, 629 SozEntschR, 632 Arbeits(un)fähigkeit, 612 Begutachtungsproblematik, 615 Berufsunfähigkeit, Begutachtung, 561 Beschwerdebild, 618 GdB-Einschätzung (SchwbR), 634, 635 Geschäfts-/Prozess-/Testierfähigkeit, 552 ICD-10-Definition, 617
Neurasthenie, 620 Prädiktoren für Berentung, 616 psychosomatische Rehabilitation, 616 Rentengewährung/-leistung, 615, 617 Steuerungsfähigkeit, 664 Therapie/Reha vor Rente, 616 Therapieerfolg, Prädiktoren, 616 Therapiemöglichkeiten, 616 Unfallfolgen, Privathaftpflicht, 564 verkehrsmedizinische Relevanz, 739 Zeitrenten, 616 SORAG (Sex Offender Risk Appraisal Guide), 470 Sorgerecht alleiniges, 674 gemeinsames, 673 Aufhebungsgründe, 674 Kindeswohl-Schwellenwerte, 675 nichteheliche Kinder, 674 Übertragung, 686 Sorgerechtsentzug(sverfahren) Beurteilungsfaktoren, 697 Bindungen des Kindes, 679 Deprivation/Misshandlung des Kindes, 681 Elterngespräch, 688 Erziehungsfähigkeit, eingeschränkte, 681, 682
FamGerMKindwG, 698 familienrichterliche Anordnung, 654 Fremdplatzierung, siehe Fremdunterbringung gesetzliche Grundlagen, 696 Hausbesuche, 692 Kindeswohlgefährdung, Feststellung, 696 Kontinuitätsprinzip, 679 Kooperationsbereitschaft/-fähigkeit der Eltern, 680 Loyalitätskonflikte, kindliche, 677, 697 Pflegeeltern, 697 psychische Störungen, schwere, 681 Rolle des Jugendamtes, 697 sexuelle Missbrauchs-/Misshandlungsvorwürfe, 687 Stufenmodelle, 697 Versorgungsrealität, 680 wahnhafte Störungen, 683 Sorgerechtsgutachten/-verfahren Abschluss, 692 Bikulturalität der Eltern, 693 Bindungen des Kindes zu den Eltern, 678 Bindungstoleranz, elterliche, 680 Elterngespräch, 688 Erziehungsfähigkeit, eingeschränkte/mangelnde, 681 Exploration des Kindes, 688 Geschwisterbeziehungen, 679
Hausbesuche, 691 Interaktionsbeobachtung, 691 Joint-Custody-Modell, 693 Kindeswille, 684 Konfliktausweitung, 693 Kontinuitätsprinzip/-überlegungen, 676, 679 Kooperationsbereitschaft/-fähigkeit, elterliche, 680 Münchhausen-by-proxy-Syndrom, 687 projektive Testverfahren, 689, 690 sexuelle Missbrauchs-/Misshandlungsvorwürfe, 685, 686 testpsychologische Untersuchung, 689 Trennungsentwicklung, 692 Untersuchungstechnik/Vorgehen, 687 Versorgungsrealität, 680 Wechselmodell, 693 Soziale Erwünschtheit, Selbstberichtsfragebogen, 39 Soziale Fähigkeiten/Fertigkeiten Verlust bei frontotemporaler Demenz, 167 Soziale Phobie, Rentengewährung/-leistung, 616 Soziale Teilhabe(leistungen), 586 Sozialer Rückzug, Kinder und Jugendliche, 707 Soziales Entschädigungsrecht (SozEntschR) affektive Störungen, 632 Alkohol-/Medikamentenabhängigkeit, 632 Anhaltspunkte für ärztliche Gutachtertätigkeit, 589 Begutachtungen, 630
Belastungs-/neurotische/somatoforme Störungen, 632 Essstörungen, 633 Gesetze, 587 Gewaltdelinquenz/-straftat/-straftäter i. S. des OEG, 601 Gewalteinwirkung i. S. des OEG, 601 Glaubhaftigkeitskriterium, 633 Kann-Versorgung, 588 Leistungskatalog, 588 organische psychische Störungen, 632 Persönlichkeits-/Verhaltensstörungen, 633 Schädigungsfolge, 588, 600, 631 anerkannte, 588 Schwerbehindertengesetz, 633 sozialrechtliche Kausalitätslehre, 588 Sozialgeld, 571 Sozialgesetzbuch, 584, 586 II (Grundsicherung für Arbeitssuchende), 570 III (Arbeitsförderung), 572 IX Teil 1 und 2 (Rehabilitation/Teilhabe behinderter Menschen), 584 Teil 3 (Schwerbehindertenrecht), 586 V (gesetzliche Krankenversicherung), 574 VI (gesetzliche Rentenversicherung), 576 VII (gesetzliche Unfallversicherung), 579
XI (gesetzliche Pflegeversicherung), 582 XII (Sozialhilfe), 589 XIV (soziale Entschädigung), 588, 597, 631 Sozialhilfe Abgrenzung Grundsicherung, 589 Erwerbsminderung, dauerhafte, 591 Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, 590 Individualisierungsgrundsatz, 590 Leistungskatalog, 589 SGB XII, 589 sonstige Leistungen, 590 Subsidiaritätsprinzip, 590 Träger, 589 Sozialprognose, Straftäter, 465 Sozialrecht, 71, 72, 573, 577, 595, 596, 599, 609, 610, 622 allgemeines, 570, 608 Begutachtung, psychiatrische, 590, 593, 612 Ablauf, 609 Aggravation, 610 Arbeitsfähigkeit/Verfügbarkeit des Versicherten, 591 Arbeitsunfähigkeit, 591 Arbeitsunfall und Gesundheitsschäden, 599 Bereiche, 608 Beschwerdenvalidierung, 610 Dolmetscherbedarf, 595
Entwurzelungssymptomatik, 596 Erwerbsfähigkeit, 591 verminderte, 593 Erwerbsminderung(srente), 577 Fehlerquellen, 71 Kausalitätsnorm, 72 Probanden anderer Kulturkreise, 609 Schädigungsfolge, 579 Simulation, 610 Sperrzeiten, 591 Unfallversicherung, 622 Weiterbildungseignung, 573 Willensanspannung, zumutbare, 609 Zumutbarkeit von Tätigkeiten, 573 Begutachtung, versicherungsmedizinische (Schweiz), 873 Bereiche, 570 Gelegenheitsursache, 598 Gutachtenpflicht, 591 Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG), 704 Opferentschädigungsgesetz (OEG), 706 Österreich, 857 rechtliche Grundlagen, 570 Regelungsbereiche, 608 Sachverständiger, Bestellung, 590 Schadensanlagen, unfallunabhängig mitwirkende, 598
Unfallbegriff, 579 Sozialrechtliche Kausalitätslehre, 623 Begutachtung, 596 GUV, 582 Lehre von der wesentlichen Bedingung, 597 Schädigungsfolge, 601 Sozialrechtsänderungsgesetz (SRÄG), Österreich, 857 Sozialverhaltensstörungen, 646 bei Anpassungsstörungen, 275, 281 Brandstiftung, 379 hyperkinetische Störung, 194 Lebenszeitdelinquenz, chronische, 414 Schizophrenie(risiko), 257, 259 Sozialversicherungsleistungen, 572 Sozialversicherungsrecht, 570, 608 Krankheitsbegriff, 526 Schweiz, 873 Soziopathie erworbene, 175 Schuldfähigkeit, 100 Soziotherapie, GKV-Leistungen, 575 Speed (Methamphetamin), 224 toxikologische Begutachtung, 243 Speedball, 225 Sperrzeit, 591
Arbeitslosengeld I, 573 Spezifität eines Tests, 35 Spice-Produkte (NpS), 244 Spielen, 375, 377 exzessives/problematisches, 553, 620 Delinquenzverhalten, 376 Komorbidität, psychische, 376 psychopathologische Symptomatik, 377 gewohnheitsmäßiges, 376 pathologisches, 374 Fallbeispiel, 377 forensisch-psychiatrische Beurteilung, 376 Geschäfts(un)fähigkeit, 553 ICD-11-Diagnosekriterien, 375 Prävalenz, 376 schwere andere seelische Abartigkeit, 377 Steuerungsfähigkeit, erheblich eingeschränkte, 377 Unterbringung(svoraussetzungen), 377 Spironolacton (Manie), 273 SPJ (structured professional judgment), 474, 836 SPM (Standard Progressive Matrices), Fahreignungsbeurteilung, 736 Sportsucht, 374 Geschäfts(un)fähigkeit, 553 Sprache/Sprechverhalten, 21 Sprachpragmatik, eingeschränkte, 185
Sprachstörungen, Geschäft-/Testier(un)fähigkeit, 554 Sprachverständnisprobleme, Alzheimer-Demenz, 165 SSRIs (selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer), paraphile Störungen, 354, 355 Stable-2007, 346, 350, 352, 470 Stalker/Stalking Depression und Gewaltanwendung, 276 Entschädigungsanspruch (OEG), 631 gewalttätiges Verhalten, 756 intermediäre Fälle, 755 Klassifikation, multiaxiale, 755 Maßregelvollzug, 756 Methoden, 752 Motivation(sebene), 753, 755, 756 Opfer, 754 Partnerschaftskrisen, 279 Persönlichkeitsstörungen, 753 Prävalenz, 752 Prognosebegutachtung, 756 psychisch gesunde, 753, 755 psychische Komorbidität, 752 psychopathologische Ebene, 755 psychotische, 755 Risikofaktoren, 756 Schuldfähigkeitsbegutachtung, 754, 755 Täter-Opfer-Beziehung, 753, 755, 756
Typen, 752 multiaxiale Klassifikation, 754 nach Mullen, 753 Standard Progressive Matrizen (SPM), 37 Standardabweichung (SD), 33 Standardmessfehler (SEM), 33 State Marker, Alkoholkonsum, 240 Static-99, 346, 352, 356, 470 Berücksichtigung früherer Straftaten, 473 jugendliche Sexualstraftäter, 663 Normtabellen, 472 Stehlen, pathologisches, 374 Diagnosekriterien, 378 forensisch-psychiatrische Beurteilung, 378 forensisch-psychiatrische Relevanz, 277 Komorbidität, 378 Motivation, fehlende vernünftige, 378 Schuldfähigkeit, 277 Sterbegeld, 575 Sterbehilfe, 807 Einwilligung in, 500 Sterilisation, 542 Definition, 512 Einwilligung in, 500, 502 Einwilligungsunfähigkeit
dauerhafte, 512 Genehmigung, 542 Gefahr erheblicher Notlage, Abwendung, 512 Genehmigung durch Betreuungsgericht, 511 Minderjährige, 512 Schwangerschaftserwartung/-verhinderung, 513 volljährige Einwilligungs(un)fähige Durchführung, 513 Genehmigungsverfahren, 513 Sachverständigengutachten, 513 Sterilisationsbetreuer, Bestellung, 513 Voraussetzungen, 512 Sterilisationsbetreuer, 513 Steroide, anabole androgene, 227 Abhängigkeit, psychische, 244 Begutachtung, toxikologische, 243 Nebenwirkungen, 244 Steuerungsfähigkeit, 7, 91, 170, 212, 229, 280, 377 ADHS, 664 Alkoholisierung, akute, 211 aufgehobene, 294 Alkoholabhängigkeit, 216 psychopathologische Voraussetzungen, 212 rechtliche Folgerungen, 229 Autismus-Spektrum-Störungen, 663
Betreuungsrecht, 509 Drogenabhängigkeit, 220 eingeschränkte, bei Alkoholabhängigkeit, 216 Einwilligungsfähigkeit, 541 erheblich beeinträchtigte, 100 erheblich verminderte, 65 Demenz, 170 Hinweise, 212 rechtliche Folgerungen, 229 Spielen, pathologisches, 377 Fehlen, Prüfung, 103 Intelligenzminderung, 309 Jugendliche, 660 Jugendstrafrecht, 109 österreichisches Strafrecht, 843 paraphile Störungen, 348 Persönlichkeitsdepravation, 230 Persönlichkeitsstörungen, 326 Prüfung, Anhaltspunkte, 104 Schuldfähigkeitsbeurteilung, Auswirkungen, 108 Schweizer Strafrecht, 866 schwere andere seelische Abartigkeit, 100 Sexualdelinquenz, 347 somatoforme Störungen, 664 Stalking, 756
tiefgreifende Bewusstseinsstörung, 294 verminderte, 95 affektive Störungen, 280 Steuerungsmöglichkeiten, schwer beeinträchtigte/ausgeschlossene (Schadensersatzrecht), 528 Steuerungsunfähigkeit Alkoholhalluzinose, 217 Delirium tremens, 217 Sthenische Affekte, 287 Stichprobe, 33 Stimmungsstabilisierer, Suchtbehandlung, 445 Stimulanzien, Beikonsum, 247 Stimulanzienabhängigkeit/-missbrauch, 224 Stoffwechselentgleisungen, verkehrsmedizinische Relevanz, 740 Strafaufschub, 387 Voraussetzungen, 388 Strafausschließungs-/-aufhebungsgründe, 115 Strafausstand, 387, 389 Vollzugsuntauglichkeit, 386 Strafe Angemessenheit (Maß der Schuld), 112 Aussetzung zur Bewährung, 86 Kann-Milderung, 107 spezialpräventiv begründete Überschreitung, 107 Strafempfänglichkeit, 89 prognostisch festzustellende, 106
Strafgesetzbuch (StGB) Maßregeln, Vollstreckung, 131 österreichisches, 842 Straflosigkeit, Unmündige und Jugendliche (JGG Österreich), 847 Strafmilderung gem. § 21 StGB Versagensgründe, 107 Strafmündigkeit, 653 bedingte, 654 Teilbarkeit (JGG), 109 Strafprozessordnung (stopp) eidgenössische, 864 Strafprozessordnung (StPO) österreichische, 842 Strafprozessreformgesetz, österreichisches, 842 Strafrecht, 7, 18, 50, 71, 386, 390, 394, 423, 452 Begutachtung, psychiatrische Eingangsmerkmale, 7 Fehlerquellen, 71 Haft(un)fähigkeit, 386 Maßregelvollzug, 423 neurobiologische Erkenntnisse, 50 Proband, 18 Probleme im Justizvollzug, 394 Sicherungsverwahrung, 452 Tatzeitpersönlichkeit, 7
Verhandlungsfähigkeit, 390 Vernehmungsfähigkeit, 390 Willensfreiheit, 7 Österreich, 842 Schuldbegriff, 86 Schuldfähigkeitsbestimmungen, 91 Schuldurteil, generalisiertes, 88 Schweiz, 865 Sexualdelinquenz, 338 Strafrechtliche Begutachtung, 644 mündliche, 63 von Jugendlichen und Heranwachsenden, 646 Grundsätze, 644 Strafrechtliche Maßnahmen in der Schweiz, 866 Vorrang vor Unterbringung, 819 Strafrechtliche Verantwortlichkeit bei Lockerungsmissbrauch, 80, 412 Jugendstrafrecht, 653 Strafrechtsschuld, 88 Strafreife Begutachtung, jugendpsychiatrische, 655 Enkulturationsprobleme, 656 Jugendliche/Heranwachsende, 644, 655 mangelnde/nicht vorhandene, 656
Reifungsverzögerung, 655 Verbotsirrtum nach § 17 StGB, 657 Strafrest, Aussetzung, 86 Straftaten, 658 18- bis 21-Jährige, 659 erhebliche, 115, 125 gegen die sexuelle Selbstbestimmung, 342 Heranwachsende Verurteilung nach Jugendstrafrecht, 658 weibliche, Besonderheiten, 664 im Rausch, 119 im Straßenverkehr, 737 Jugendliche, 664 konkrete, Einsichts- und Steuerungsfähigkeit, 105 mittlerer Kriminalität, 116 Symptomcharakter, 326, 436 Unterbringung gem. § 64 StGB, 436 weitere, Wahrscheinlichkeit der Begehung, 116 zu erwartende, 116, 135 Straftäter, 132, 196, 197, 199, 257, 258, 415, 416, 417, 865, 867 antisoziales Verhalten, 333 biografische Entwicklung, Kriminalprognose, 475 diskontinuierliche, 414 dissoziale Persönlichkeitsstörung, 333 drogenabhängige, 220, 221
Erwachsenenkriminalität, reine, 414 Gefährlichkeit, 117 gemeingefährliche, 866 Gruppen, 414 Individualprognose, empirische (klinische), 116 Jugendkriminalität, reine, 414 Lebenszeitdelinquenz, chronische, 414 mit ADHS komorbide Störungen, 197 Prävalenz, 196 Therapie, 199 neurokognitive Beeinträchtigung, 414 persönlichkeitsgestörte, 327 psychisch kranke, 413 Dissozialität, 415 Maßregelvollzug, 416 Risikomanagement, 416 Schweiz, 865, 867 Sicherungsmaßnahmen, 417 Verlaufstypologie, 415 rückfallgefährdete, 475 schizophren erkrankte, 478 Ätiopathogenese antisozialen Verhaltens, 258 Delinquenzbeginn, 257, 258 schuldunfähige, 115
Sicherungsverwahrung, 125 Freiheitsgrundrecht, 132 Sozialprognose, 465 suchtkranke (Maßregel gem. § 64 StGB), 434 Zustand bei Anlasstat, 115 Straftäterbehandlung Ansprechbarkeitsprinzip, 418 Bedürfnisprinzip, 418 Central Eight (Big Four/Moderate Four), 418 kognitive soziale Lernstrategien, 418 Need-Prinzip, 418 Risikoprinzip, 417 Rückfallprävention, 418 Wirksamkeit, 417 Strafunterbrechung § 455 Abs. 4 StPO, 388 Anforderungen, 387 Strafverfahren Anwesenheitspflicht des Sachverständigen, 63 Fragerecht des Sachverständigen, 63 Gutachtenerstattung, mündliche, 63 Heranziehung eines Sachverständigen, 86 Jugendliche und Heranwachsende, Besonderheiten, 645 mündliches Gutachten, 63 schriftliches Gutachten, 58
Unmittelbarkeitsprinzip, 63 Strafvollstreckung Aufschub, 387, 388 Unterbrechung, 388 Strafvollzug, siehe Justizvollzug Strafvollzugsgesetz (StVG), österreichisches, 842, 845 Straßenverkehrsdelikte, affektive Störungen, 273, 277, 278 Stressimpfungstraining, 368 Stroop-Test, 38 Structured Inventory of Malingered Symptomatology (SIMS), 42 Strukturierter Fragebogen simulierter Symptome (SFSS), 25, 41, 189 Strukturiertes klinisches Interview (SKID-II), Persönlichkeitsstörungen, 321 Strukturierungsprinzip, kognitive soziale Lernstrategien, 418 Stupor, dissoziativer, affektive Ausnahmezustände, 290 Stütz-MdE, 582, 601 Subarachnoidalblutung, Haftfähigkeit, 386 Subsidiaritätsprinzip Betreuungsrecht, 498, 500 Sozialhilfe, 590 Substanzabhängigkeit/-missbrauch Schizophrenie, 255, 257 Schweregrade, 438 Unterbringung gem. § 64 StGB, 436 Substanzgebrauchs-/-konsumstörung, 220 diagnostische Kriterien (DSM-5), 437
Fahreignung, 729 komorbide, 273, 281 Schweregrade, 223 Substanznachweis, 241 Suchtbegriff, triebdynamisches Modell, 102 Süchtiges Verhalten, 374 Suchtkrankheiten, siehe Abhängigkeit(serkrankungen) Suchtmittelgesetz, österreichisches, 848 Suggestion Alterseffekte, 776 Empfänglichkeit, 774, 775, 779 Suggestionseffekte, 775 Suggestive Einflüsse, 776 Sühnefähigkeit, 89 Suizid(alität), 21, 81, 800, 801, 828 Abschiebehindernis, 825 Akuität und Schwere, 799 als Symptom von Krankheit, 797 assistierter, 807 Asylsuchende, 823 Auslösesituationen, 808 Begutachtung asyl-/ausländerrechtliche, 828 grundsätzliche Aspekte, 801 mutmaßlicher Wille, 802
Willensfreiheit, 803 Belastungsreaktion, akute, 562 Betreuungsanordnung, 537 biopsychosoziales Modell, 798 chronische, 796 Definition, 794 Depression, 271 Dokumentation, 802 Epidemiologie, 795 Erklärungsansätze biologische, 798 Freiverantwortlichkeit, 797 psychologische, 798 sozialwissenschaftliche, 798 erweiterter, 101, 275, 794, 808 Exploration, 799 Fehleinschätzung, gutachtliche Haftungsfragen, 81 gender gap, 795 Haftung, 794 Hilfeleistungspflicht, 806 ICD-10, 797 ICD-11, 795, 797 im Justizvollzug, 399 Risikofaktoren, 400
in den heilenden Berufen, 716 Kausalität bei Konflikten am Arbeitsplatz, 804 Kokainmissbrauch, 225 krankhafte seelische Störung, 804 krankhafte Störung der Geistestätigkeit, 803, 804 Lohnfortzahlungrecht, 804 medizinische Notfallsituation, 807 Motive, 794 Prävention, siehe Suizidprävention Prognosefaktoren, 796 Rezidivrisiko, 796 Risikoabschätzung, 796, 809 Risikofaktoren, 795, 806 Risikogruppen, 795 Schadensersatzansprüche der Hinterbliebenen, 561 Selbstbestimmungsrecht, 797 Sozialversicherungsrecht, Schweiz, 876 Strafgefangene, 399 Strafvollzug, Sicherungsmaßnahmen, 388 Testier(un)fähigkeit, 552 tiefgreifende Bewusstseinsstörung, 804 unter Ausschluss der freien Willensbestimmung, 561, 794 Unterbringung Kriterien, 800 Untersuchungshaft, 400
Verantwortlichkeit, strafrechtliche, 794 versicherungsrechtliche Leistungspflicht, 804 zukünftige, Vorhersage, 808 Suizidprävention bauliche, 801, 806 Grenzen, 800 im Justizvollzug, 400 Krisenintervention, 799 medikamentöse, 799 praktisch-sichernde Maßnahmen, 800 psychotherapeutische, 799 Zwangsmaßnahmen, 800 Suizidprophylaxe, 400 Suizidversuch, siehe Suizid(alität) Super-Male-Syndrom, 303 Surrogatleistungen, Pflegeversicherung, soziale, 582 Symptomcharakter der Tat, 424, 436 Symptome, psychopathologische, 23 Syndrom, 23 Syndrom-Kurztest (SKT), Demenz, 170
T Tachistoskopische Tests, Fahreignung, 728 Tatanalyse akute Alkoholisierung, 212 Drogenabhängigkeit, 228 Tatbearbeitung, 477 Tatbegehung, Verlaufsbefunde (Kriminalprognose), 476 Tatbild-Risiko-Score, 41 Täter-Opfer-Ausgleich, § 10 Abs. 1 JGG, 668 Täter-Opfer-Beziehung Entwicklung, 63, 288, 289 Kriminalprognose, 476 Tätertypologie, Schizophrenie, 256 Tatleugnung Erkenntnisverfahren, 29 Prognosebegutachtung, 29 und Kriminalprognose, 477 Tätlicher Angriff Kindesmissbrauch, sexueller, 602 vorsätzlicher, 601 Tätowierung, 400 Tatverhalten, Fremdbeurteilungsverfahren, 41 Tatzeitdiagnose, 61 Tatzeitpersönlichkeit
Befund und Diagnose, 111 Begutachtung, strafrechtliche, 7 Tauglichkeit, 721 Teilhabe(leistungen) am Arbeitsleben, 585 behinderte Menschen, 584 GPV, 584 Rehabilitation, medizinische, 585 Träger, 584 Zuständigkeiten, 585 Teilleistungsstörungen, Bestimmung der geistigen Reife, 654 Teilweise erwerbsgemindert Definition, 578 Rente, 577 Telefonsexsucht, Geschäfts(un)fähigkeit, 553 Telefonsucht, 374 Geschäfts(un)fähigkeit, 553 Temperamentsfaktoren Einfluss auf delinquentes Verhalten, 648 Persönlichkeitsstörungen, 323 Tendenzneurosen, 615 Test of Memory Malingering, Beschwerdenvalidierung, 25 Testament eigenhändiges vs. öffentliches (notarielles), 523 nichtiges, 524
Testierfähigkeit, 523 Testbatterie, 38 zur Aufmerksamkeitsprüfung (TAP), 37 Subtest Go/Nogo, 38 zur Forensischen Neuropsychologie, 42 zur waffenrechtlichen Begutachtung, 748 Testhalbierungsreliabilität, 33 Testier(un)fähigkeit, 8, 71, 490, 544 affektive Störungen, 552 ärztliche Schweigepflicht, Entbindung, 525 aufgrund psychischer Störungen, 547 Ausprägung der Geschäftsfähigkeit, 523 Begutachtung, 62, 525 Beweisanforderungen, 547 Fehlerquellen, 71 Prinzipien, 544, 546 Zeugenaussagen, 547 Betreuung, 523, 547 Beweisanforderungen, 547 Beweisrecht, 524 Bewusstseinsstörungen, 524 Definition, 523 Delir/delirante Zustände, 551 Demenz, 548 Voraussetzungen, 549
Erblasser, 523, 546 Fremdbeeinflussbarkeit, 550 infolge krankhafter Störung der Geistestätigkeit/Geistesschwäche, 523 infolge psychischer Störungen, 523, 548 Intoxikation mit psychotropen Substanzen, 551 Kritik- und Urteilsfähigkeit des Probanden, 547 luzide Intervalle, 524, 549, 850 Minderjährige, 523 notarielle Beurteilung, 525 österreichisches Zivil-/Verwaltungsrecht, 850 partielle, 524 posthume Beurteilung, 545 Rauschgiftsucht, 524 relative, 524 schizophrene/wahnhafte Störungen, 551 Schweizer Zivilrecht, 871 Sprachstörungen, 554 Störungen durch psychotrope Substanzen, 551 Suizidenten, 808 Testament, 523 Verwirrtheitszustände, 550 vollumfängliche, 524 Voraussetzungen, 547 Willensschwäche, 550 Zeitpunkt, maßgeblicher, 523
Testosteronanabolika, 227 Testpsychologische Untersuchung, 22 Testwiederholungsreliabilität, 33 Tetrahydrocannabinol (THC), 226, 241 THC-Carbonsäure Cannabisabhängigkeit, 733 Haaranalyse, 245, 247 Urinkontrollen, 245 Thematischer Apperzeptionstest, 42 Therapeuten Authentizität, 443 Geheimnisoffenbarung, 397 Informationspflichten, 428 Therapeut-Patient-Beziehung, 311 Intelligenzminderung Nähe-Distanz-Regulierung, 311 Maßregelvollzug gem. § 64 StGB, 443 sexuelle Grenzverletzungen, 717 Therapieunterbringungsgesetz (ThUG), 122, 129, 456 Therapists Rating Scale (TRS-10), 346 Three-strikes-and-you-are-out-Doktrin, 122 Tiefgreifende Bewusstseinsstörung, 661 Abgrenzungsproblematik, 291 affektiver Ausnahmezustand, 286, 289 Jugendliche, 661
affektiver Erregungszustand, 286 Anpassungsstörungen, 281 asthenische Affekte, 289 Beurteilung, forensisch-psychiatrische, 286, 288, 292, 293 Beziehungskonflikte, 289 Definition, 96 Eingangsmerkmal, 7, 91 inneres Erleben des Täters, 290 Intelligenzminderung, 308 medizinischer/juristischer Begriff, 286 österreichisches Strafrecht, 843 Quantifizierung, 104 Schuld(un)fähigkeit, 37, 286 Steuerungsfähigkeit, erheblich verminderte, 294 Suizidalität, 804 Zurechnungs(un)fähigkeit, 528, 554 Tilidin, 223 Beikonsum, 247 Tod als Schädigungsfolge, SozEntschR, 589 eines Angehörigen, Schmerzensgeld, 858 infolge eines Versicherungsfalls, 582 Topiramat, Suchtbehandlung, 446 Toronto-Alexithymie-Skala, 38 Totalbetreuung, 501
Tötung(sdelikte), 865 affektive Erregungszustände, 286 auf Verlangen, 807 Begutachtung, psychiatrische Schweiz, 865 Fehleinschätzung, gutachtliche, 80 Jugendliche, 656, 666 psychische Störungen, 413 Rückfallrisiko, 469 Suizidalität des Täters, 808 Trait Marker, Alkoholkonsum, 240 Tramadol, 223 Beikonsum, 247 Tranquilizerabhängigkeit, 224 Transference-Focused Psychotherapy (TFP), Unterbringung gem. § 64 StGB, 444 Transgender/-identität, 359 Transitorische ischämische Attacken (TIA), vaskuläre Demenz, 168 Transsexualität siehe Geschlechtsinkongruenz, -dysphorie Transsexuellengesetz (TSG), Begutachtung, siehe Geschlechtsinkongruenz/-dysphorie Transvestitismus, Nosologie/Phänomenologie, 339 Trauerschaden, 858 Trauma(tisierung) Begutachtung, 370 Definition, 366
Traumaambulanzen, 588 Traumafolgestörungen dissoziative Störungen, 368 GdS/GdB-Tabelle, 635 posttraumatische Belastungsstörung, siehe PTBS psychiatrische Begutachtung, 370 sozial-/zivilrechtliche Relevanz, 370 strafrechtliche Relevanz, 369 Traumatisierung asyl- und ausländerrechtliche Begutachtung, 827 Erinnerung(sverarbeitung), 778 Flüchtlinge, 823 vorangegangene, Abschiebehindernis, 827 Trennungsgebot (Sicherungsverwahrung), 122 Trennungsmediation, 675 Trichotillomanie, 374 Trichtertechnik, Zeugenbefragung, 783 Triebrichtung, normale vs. naturwidrige, 102 Triebstörungen seelische Abartigkeit, schwere andere, 102 Schuld(un)fähigkeit, 102 Triebtaten i. R. von Depressionen, 276 Trinkalkohol, 236 Trinkverhalten, biphasisches (BAK-/EtG-Verlaufskurven), 240 Trisomie 21, siehe Down-Syndrom
Trunkenheit, selbstverschuldete, 108 Tryptamine (NpS), 244 Tübinger Adoleszenz Rückfallstudie Delinquenz (TARD), 662, 666 Turm von London (TL), 38 U Überfragung des Sachverständigen, 68 Überhaft, 439 Umgang(srecht) Ausschluss, 680, 686 Ausschlussgründe, 694 betreute Kontakte, 695 Bezugspersonen, nichtelterliche, 674 erzwungener, 695 gemeinsames Sorgerecht, 674 Kontakthäufigkeit/-dauer, 695 Kontinuitätsprinzip, 676 Rechtsanspruch des Kindes, 674 Umgangspfleger, 696 Umgangsrechtsgutachten/-verfahren Abschluss, 692 Besuchsrechtssyndrom, 695 Bindungen des Kindes, 678 Elterngespräch, 688 Exploration des Kindes, 688
Großeltern, 679, 694 Hausbesuche, 691 Interaktionsbeobachtung, 691 Kindeswille, 684, 685 kindliche Bindungen, 679 Kontinuitätsprinzip, 679 Loyalitätskonflikte, kindliche, 695 Parental-Alienation-Syndrom, 695 projektive Testverfahren, 689, 690 sexuelle Missbrauchs-/Misshandlungsvorwürfe, 685, 686 testpsychologische Untersuchung, 689 Untersuchungstechnik/Vorgehen, 687 Vernachlässigung der Umgangspflicht, 694 Verweigerung des Umgangsbegehrens, 694 Umschulung, siehe Weiterbildung Umschulungsgeld (Österreich), 857 Umstellungsfähigkeit, GRV, 596 Umtriebigkeit, soziale, 21 Undeutsch-Hypothese, Glaubhaftigkeitsbeurteilung, 762 Unfall(ereignis) Definition, sozialrechtliche, 579, 623 Einwirkungen plötzliche, 580 psychische, 580 unfreiwillige, 580
von außen, 579 von innen, 579 Fahrlässigkeit, 580 vs. Traumabegriff, 579 Unfall-/Schädigungsfolge Aggravation, 625 Anhaltspunkte, 601 Anpassungsstörungen, 629 Arbeits-/Wegeunfall, 579 Belastbarkeit/Kompensationsfähigkeit, individuelle, 601 Belastung, betriebsunübliche, 579 Belastungsreaktion/-störung, 626 posttraumatische, 564 Beschädigtenrente, Mindest-GdS, 601 depressive Episoden, 626 dissoziative Störungen, 629 Einwirkungen, Kausalitätsbeurteilung, 625 plötzliche/unfreiwillige, 579 Teilursache, 624 Vollbeweis, 624 GdS-Bewertung, 601 Gesundheitsschaden, bleibender, 580 Kann-Versorgung, 602 konkurrierende Kausalität, 624, 625 MdE, Bewertung, 600
Neurasthenie, 630 neurotische Störungen, 626 organische psychische Störungen, 625 prätraumatische Persönlichkeitsstruktur, 626 psychische, 601 psychoreaktive Störungen, 580 PTBS, 627 Rente, 600 Schmerzen, Bewertung, 600 Schockschäden, 564 Simulation, 625 SozEntschR, 600 somatoforme Störungen, 629 sozialrechtliche Kausalitätslehre, 601 Sozialversicherungsrecht, Schweiz, 875 Störungen durch psychotrope Substanzen, 625 Teilursache für die Entstehung des Gesundheitsschadens, 625 Teilursache, wesentliche, 601 überindividueller Schweregrad, subjektives Erleben, 625 ursächlicher Zusammenhang, Wahrscheinlichkeit, 601 vorläufige Entschädigung, 600 wahnhafte Störungen, 626 Unfallunabhängige Ursachen, Gesundheitsschaden, 597 Unfallversicherung, 563 gesetzliche, siehe GUV
private, 562 Ausschlussereignisse, 563 Psychoklausel, 563 Schweiz, 873–875 Unfruchtbarmachung, gezielte, 512 Unmittelbarkeitsprinzip, Strafverfahren, 63 Unparteilichkeit(spflicht), Sachverständiger, 9, 495 Unrechtseinsichtsfähigkeit ADHS, 198 Demenz, 170, 171 Unterbringung ADHS im Erwachsenenalter, 199 affektive Störungen, 280 Alkoholabhängigkeit/-missbrauch, 216 Anordnungsaussetzung und Freiheitsstrafe, 138 Anstalt für entwöhnungsbedürftige Rechtsbrecher (Österreich), 844 Anstalt für gefährliche Rückfalltäter (Österreich), 845 Ausschließungs-/Aufhebungsgründe, 115 außerstrafrechtliche, 115 außervollzugliches Krankenhaus, 389 Aussetzung psychiatrisches Krankenhaus, 132 Widerruf, 141 zur Bewährung, 132 Behandlungskosten, Übernahme(pflicht), 819
betreuungsrechtliche, 500, 513, 542, 816 Dauer, 515 Erforderlichkeit zum Wohl des Betreuten, 514 notwendige ärztliche Maßnahmen, 514 rechtmäßige, 517 Selbstgefährdung, 514 Verhältnismäßigkeit ärztlicher Maßnahmen, 514 vorläufige, 515 Dauer, 131 bisherige, 135 Depression mit Suizidalität, 272 Diagnosestellung, 818 Entziehungsanstalt siehe Unterbringung gem. § 64 StGB Erledigung bei Fehleinweisung, 136 Fortdauerentscheidung Anforderungen, 133 Begutachtungsfristen, 133 fürsorgerische (Schweiz), 872 freiheitsentziehende, 513 Voraussetzungen, 514 Zwangsbehandlung, 515 Gefährdung der Allgemeinheit, 117 gem. § 1631b BGB, 698 Dauer, 699 dissoziale Entwicklungen, 698
Eigen-/Fremdgefährdung, 699 freiheitsentziehende Maßnahmen, 698 gem. § 63 StGB, 91, 408, 411, 464, 465 Absehen von Vollstreckung (Auslieferung/Ausweisung), 429 Anordnung, 424 Aussetzung zugleich mit Anordnung (§ 67 StGB), 171, 424 Aussetzung zur Bewährung, 425, 426 Autismus-Spektrum-Störungen, 190 Begutachtungserfordernisse, 423 Behandlungsphasen, 420 Behandlungsverfahren, 416 Beschleunigungsgebot, 409 Eingangskriterien, 37 einstweilige, 408 Entlassungspraxis, 135 Erledigung der Maßregel, 425, 427 Führungsaufsicht, 428 Gefährlichkeitsprognose, 115, 117 Grundrechtseinschränkungen, 411 Informationsoffenlegung, 411 Informationspflichten, 428 Kriminalprognose, 116, 462 Kriminaltherapie, 410, 411 Krisenintervention, 409 Landes-PsychKG, 409
Lockerungsentscheidungen, 410, 411 Lockerungsmissbrauch, strafrechtliche Verantwortung, 412 Maßregelvollzugsgesetze, 408, 409, 411 Prognosegutachten, externes, 427 psychische Störungen und Delinquenz, 413 psychologische Tests, 37 rechtliche Fragen aus psychiatrischer Sicht, 408 Rechtsgrundlagen, 408 Rehabilitationsmodelle, 417 Risikomanagement, 416 Schweigepflicht, 410 Sicherungshaftbefehl, 409 sofortige Aussetzung, 409 Überweisung in andere Maßregel, 427 Vollzugsgestaltung, 408 Vollstreckungsreihenfolge, 425 Voraussetzungen, 114 Vorgutachten, 114 Widerruf der Aussetzung, 429 zur Beobachtung, 410 Zwangsbehandlung, 413 gem. § 64 StGB, 216, 238, 447 Abhängigkeit als Hang zum Übermaß, 119 Abstinenzkriterium, 442 Alkoholabhängige, 436
Alternativen, 447 ambulante Nachsorge, 443, 445 Anlassdelikt, hangbedingtes, 436 Aussetzung zugleich mit Anordnung, 137 Behandlungsaussichten/-erfolg, 120, 442 Behandlungsdauer, 437, 441 Dauer, 131, 438 Deliktrückfälligkeit, 442 Deliktverteilung, 440, 441 Dialektische-behaviorale Therapie, 444 Drogenabhängige, 436 Einsichts-/Schuld-/Steuerungsfähigkeit, 438 Empathiefähigkeitstraining, 444 Entlassung, 137 Entwicklung, 434 Erfolgsaussicht/-bilanz, 436, 437, 447 Erfolgsprädiktoren, 442 Ergotherapie, 444 Fehleinweisungen, 136, 435, 447 forensische Nachsorge, 438, 442 Führungsaufsicht, 137 Gefährlichkeitsprognose, 119, 439 Hang zu Rauschmitteln im Übermaß, 118, 436 Heilung, 438 Kapazitätsprobleme, 434, 435
Kriminalprognose, 463 Kritik, 435, 447 Letalprognose, negative, 436 Lockerung(smissbrauch), 441 medikamentöse Therapie, 445 Milieutherapie, 443 modulare Therapieprogramme, 444 Neuregelung, 438 nichtmedikamentöse Maßnahmen, 443 Novellierung, 437 Parallelstrafe, Vollstreckungsreihenfolge, 438 Patienten Charakteristika, 440 mit Migrationshintergrund, 440 Zweitdiagnosen, 440 psychotherapeutische Maßnahmen, 444 rechtswidrige Tat als Voraussetzung, 118 Rückfallprophylaxe, 445 Sicherung durch Besserung, 118 Schul-/Berufsausbildungsförderung, 444 Sicherungsverwahrung, 439 Sollvorschrift, 438 Stationsklima, 444 therapeutische Beziehung, 443 therapeutische Grundannahmen, 442
Therapiemaßnahmen, 442 Therapieunwilligkeit, 120 Verlauf, 440 Voraussetzungen, 117, 436 Überhaft, 439 Unsicherheiten, diagnostische, 439, 446 Verlauf, 440 Wiederinvollzugsetzung, befristete, 443 Zweck, 118 gem. § 66 StGB, siehe Sicherungsverwahrung gem. § 81 StPO, 403 gem. § 126 StPO, 403 gem. § 126a StPO, 386 gem. Therapieunterbringungsgesetz (ThUG), 456 Einrichtungen, geeignete, 130 Voraussetzungen, 129 Gemeingefährdung, 816 geschlossene, 121, 819 Gutachten, unrichtiges, 79, 80 intelligenzgeminderte Straftäter, 309 Entlassperspektiven, 314 Gefährlichkeitsprognose, 314 Verhältnismäßigkeit, 314 Verweildauer, 313 Jugendliche siehe Jugendstrafrecht (JGG)
Krankheit des Täters, 114 landesrechtliche, 812 Akteneinsichtsrechte, 817 Aufsicht, 817 Datenschutz, 817 Durchführung, 816 Eilmaßnahmen, 814 Entlassung, 817 Freiheitsbeschränkungen, 816 Gefahr, qualifizierte, 816 Hilfen und Schutzmaßnahmen, 816 Lockerung/Urlaub, 817 materielle Rechtsgrundlagen, 815 nach PsychKG, 389, 814 Phasen, 814 psychiatrische Aspekte, 817 Schweigepflicht, ärztliche, 817 Verfahren, 814 Vollzugseinrichtungen, 814 Zuständigkeiten, 814 Lockerungsmissbrauch, 80 Minderjährige, 513 nach Vorwegvollzug einer Strafe, 139–141 öffentlich-rechtliche, 513, 542, 812 ohne Genehmigung durch Betreuungsgericht, 515
österreichisches Strafrecht, 844 pathologisches Spielen, 377 psychiatrische Behandlung, Grundsätze, 818 psychiatrisches Krankenhaus siehe Unterbringung gem. § 63 StGB psychische Störungen Klassifikationsschema, operationalisiertes, 818 Krankheitswert, 815 rechtswidrige Tat als Anlass, 114 Sachverständigengutachten, 117 Schuldunfähigkeit/verminderte Schuldfähigkeit, 114 Selbstgefährdung, 816 Sicherungsmaßnahmen, 816 Sicherungsverwahrung, 124 späterer Beginn, 139 strafrechtliche, 434, 513 strafrechtliche Maßnahmen, Vorrang, 819 Suizidalität, 800 Überprüfung, 132 Überweisung in Vollzug anderer Maßregel, 138 vorläufige, 814 zivilrechtliche, 812 Zustand des Täters bei Anlasstat, 115 Unterbringungsähnliche Maßnahmen Betreuung, 542, 543 mechanische Vorrichtungen, 516
Medikamente, 516 Zeugnis, ärztliches, 516 Unterbringungsgesetze/-recht Anwendungsvoraussetzungen, 815 der Bundesländer, 812, 815 Erfahrungen, 818 Fachliteratur, 814 historische Aspekte, 812 Länderhoheit, 812 Österreich, 854, 855 verfahrensrechtliche Grundlagen, 814 Unterbringungsverfahren, Genehmigung i. R. der Betreuung, 542 Untergebrachter Resozialisierung, 139 Überweisung in Vollzug anderer Maßregel, 139 Unterhaltsansprüche, nacheheliche Beweislast, 527 Erwerbsunfähigkeit wg. psychischer Krankheit, 526, 555 Unterhaltsneurosen, 526, 555 Unterlassung i. R. von Antriebsstörungen, 275 Unterstützungsgebot (Sicherungsverwahrung), 122 Untersuchung apparative, 22 forensisch-psychiatrische, siehe Forensisch-psychiatrische Untersuchung jugendpsychiatrische, 645, 650, 651
kinderpsychologisch-kinderpsychiatrische, 675 körperliche, 22 neurologische, 22 neuropsychologische, 22 psychodiagnostische, 22 Untersuchungshaft § 57 UVollZO, 386 Haft(un)fähigkeit, 386 Inhaftierungsschock, 400 Suizidalität, 400 Suizidrate, 399 Untersuchungsinstrumente, psychologische Beschwerdenüberprüfung, 41 Fremdbeurteilungsverfahren, 40 Intelligenztests, 38 Nebengütekriterien, 36 Normierung, 36 Objektivität, 32 projektive Verfahren, 42 Qualitätsanforderungen, 43 rechtliche Rahmenbedingungen, 43 Reliabilität, 33, 34 Selbstberichtsfragebogen, 38 Untersuchungssituation, Gestaltung, 18 Unvermögen
rechtliches, 500 tatsächliches, 500 zur Besorgung der eigenen Angelegenheiten, Betreuung, 499 UPPS-Fragebogen, 39 Urinproben, Drogenabhängigkeit Abstinenzkontrolle, 245 Fahreignungsprüfung, 733 Urkundsbeweis, 80 Urlaub, Unterbringung, 817 Urteilsfähige handlungsunfähige Personen, Schweizer Zivilrecht, 870 Urteilsfähigkeit bei Suizidalität, 803 Betreuungsrecht, 509 Geschäfts-/Testierfähigkeit, 549 Schweizer Zivilrecht, 870, 871 Urteilsunfähigkeit (Schweizer Zivilrecht), 871 V Validität, Testverfahren, 34 Validitätskoeffizient, 34 Vaskuläre Demenzen DD, 168 diagnostische Leitlinien, ICD-10, 168 forensische Relevanz, 169 klinisches Bild, 168
Vegetative Dystonie, 615 Verantwortlichkeit, 86 jugendstrafrechtliche, 108, 650 strafrechtliche, 62 s. a. Schuldfähigkeit, Schuldfähigkeitsbegutachtung, 86 vorverlegte (actio libera in causa), 214, 528 zivilrechtliche, Ausschluss oder Minderung, 803 Verantwortungsfähigkeit, 89 Verantwortungsreife, mangelnde (Jugendstrafrecht), 657 Verarmungswahn, depressiver, 275 Verbitterungsstörung, posttraumatische, 629 Verbot der Beweisantizipation, 153 Verbotsirrtum (§ 17 StGB), 86, 102 und Einsichtsirrtum, 106 Verdeutlichungstendenzen, 24 sozialmedizinische Begutachtung, 610 Verdrängung, Amnesie, 28 Vereidigung des Sachverständigen, 161 Vereinsbetreuer, 503 Verfahrensfähigkeit, 546 Betreuung, 506 Betreuungsverfahren, 523 Verfahrensgegenständliche Schädigung, Opferentschädigungsgesetz, 708 Verfahrenspfleger Anwalt des Kindes, 673
Betreuungsverfahren, 506, 507 Verfolgungswahn, 256, 262 Vergiftungswahn, 256 Vergleichbar schwere seelische Störung, 101 Verhalten, selbst- und fremdschädigendes ohne Motivation, 374 Verhaltensbeobachtung, 21, 60 Verhaltenseinengung, Drogenabhängigkeit, 229, 230 Verhaltensprognose Alkoholabhängigkeit/-missbrauch, 730 Drogenabhängigkeit/-missbrauch, 734 Punktetäter, 736 Verhaltensstörungen, 176, 205, 206 Alkoholisierung, akute, 211 als Schädigungsfolge (SozEntschR), 633 Alzheimer-Demenz, 165 Arbeitsunfähigkeit, 612 bei Schizophrenie, 253 Betreuungsanordnung, 538 Depression, agitierte, 271 drogeninduzierte, GdS/GdB-Tabelle, 635 GdB-Einschätzung (SchwbR), 636 Geschäfts-/Prozess-/Testierfähigkeit, 552 Intelligenzminderung, 301, 304 Kindes- und Jugendalter, 646 mit Parasomnien assoziierte, 204
gutachtliche Beurteilung, 206 Plausibilitätsbeurteilung, 205 organische forensische Bedeutung, 176 Klassifikation, 174 Rentengewährung/-leistung, 620 sexuelle, 174 vaskuläre Demenzen, 168, 170 zwanghafte sexuelle (ICD-11), 340 Verhaltenssüchte, 374 diagnostische Merkmale, 375 Entzugserscheinungen, 375 Geschäfts(un)fähigkeit, 553 ICD-11, 375 Toleranzentwicklung, 375 Verhältnismäßigkeitsentlassung, 412 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz § 67b StGB, 138 Maßregel, 113 vorbehaltene Sicherungsverwahrung, 128 Widerruf der Aussetzung einer Maßregel, 142 Verhandlungs(un)fähigkeit, 546 Begutachtung, 386, 390 im strafprozessualen Sinn, 390 Maßregeln der Besserung und Sicherung, 391
Mindestanforderungen, 390 österreichisches Strafrecht, 848 Verkehrsprognose, 736, 737 Verkehrspsychologische Leistungstestung, 727 Verkehrsrecht Punktetäter, 735 Straftaten, Prognosebeurteilung, 737 Verletztengeld, GUV, 581 Verletztenrente (GUV), 581, 623 Vermögensdelikte, 126 Vermögensschäden, Haftung, 75, 78 Vermögenssorge, Betreuung, 502, 537 Vernehmungsfähigkeit, 16 Beeinträchtigungsfaktoren, 390 Begutachtung, 390 österreichisches Strafrecht, 848 Verschuldenshaftung, 527 Verschuldensvorverlagerung, Zurechnungsunfähigkeit, 528 Versorgungskrankengeld (SozEntschR), 588 Versorgungsmedizin-Verordnung VersMedV, 589 Bewertung der Schädigungsfolge, 631 GdB, 586 MdE-Höhe 581, siehe Punktetäter Versündigungswahn, Depression, 271 Verteidiger-Sachverständigen-Verhältnis, 69
Verteidigungsfähigkeit, 390 Verträglichkeit (agreeableness), 322 Vertragshaftung, 78 Vertragspflichten, schuldhafte Verletzung, 78 Vertreter, geschäftsfähiger, 519 Vertretungsbeistandschaft, Erwachsenenschutzrecht (Schweiz), 873 Verwahrlosung Anpassungsstörungen, 398 Unterbringung nach Erwachsenenschutzrecht (Schweiz), 872 Verwahrung einheitliche (Schweiz), 869 lebenslange (Schweizerische Bundesverfassung), 867 nachträgliche (Schweiz), 870 s. a. Unterbringung, 869 Schweizer Strafrecht 867, siehe Gewahrsamsfähigkeit Verwaltungsrecht, österreichisches, 849 Verwirrtheitszustände Haft(un)fähigkeit, 387 Testierunfähigkeit, 550 Vikariierung, Maßregelvollzug, 446 Violence Risk Appraisal Guide (VRAG), 469, 471 Violence Risk Scale, Sex Offender Version (VRSSO), 346 Voll erwerbsgemindert Definition, 578 Rente, 577
Volljährige Betreuung, 498 Einwilligungsfähigkeit, 509 Zurechnungsunfähigkeit, 528 Vollrausch, fahrlässiger/vorsätzlicher, 229 Vollrente, 581 Vollstationäre Behandlung (GKV), 592 Vollstreckungshindernis, inlandsbezogenes (Abschiebung), 825, 828 Vollstreckungsreihenfolge, Maßregelvollzug Umkehr, 425 Vollstreckungsunterbrechung, Haftfähigkeitsprüfung, 387 Vollzugslockerung Missbrauch, strafrechtliche Verantwortung, 412 österreichisches Strafrecht, 845 Unterbringung, 411 Verhältnismäßigkeitsgründe, 412 Voraussetzungen, 412 Vollzugstauglichkeit, 386 Prüfung, 388 Vollzugsuntauglichkeit, 387 Vollzugsverhalten Entlassungsprognose, 134, 135 Sicherungsverwahrung, nachträgliche, 129 Vorbeugende Maßnahmen (österreichisches Strafrecht), 846 bedingte Einweisung, 844
Beurlaubung, 845 Entlassung bedingte, 845 unbedingte, 846 entwöhnungsbedürftige Rechtsbrecher, 844 geistig abnorme Rechtsbrecher, 844 Vorgeschichte, kriminologische, 59 Vorgutachten, schriftliches (Unterbringung), 114, 158 Vormundschaft(srecht) für Erwachsene, siehe Betreuung Minderjährige, Betreuung, 498 Schweiz siehe Erwachsenenschutzrecht, Beistandschaft sexuelle Missbrauchs-/Misshandlungsvorwürfe, 686 Vorschädigung (OEG), 708 Vorsorgevollmacht, 510, 534 Betreuung, 501 Österreich, 851 Vortäuschen von Beschwerden/Störungen, siehe Simulation Vorverfahren (Strafrecht Österreich), 842 Vorverurteilungen, Sicherungsverwahrung, 125, 126 Voyeurismus Ätiologie, 344 Klassifikation, 341 Nosologie/Phänomenologie, 339 VRAG (Violence Risk Appraisal Guide), 469
Vulnerabilitäts-Stress-Modell affektive Ausnahmezustände, 288 Schizophrenie, 254 W Wachbewusstseinszustände, besondere, 287 Wachkomapatienten, Unterlassung/Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen, 511 Waffengesetz (WaffG) Eignungserfordernis, 746 geistige Reife, Zeugnis/Begutachtung, 748 Geschäftsunfähigkeit, 747 Gutachter, Qualifikation, 746 novelliertes, 746 Österreich, 860 persönliche Eignung, Begutachtung, 746 Abhängigkeitserkrankungen, 747 Ablaufschema, 747 Antragsteller unter 25 Jahren, 748 Charaktereigenschaften, 748 Debilität, 748 Fremd-/Selbstgefährdung, 748 gem. § 6 Abs. 2 WaffG, 747 gem. § 6 Abs. 3 WaffG, 748 psychische Störungen, 748 Testbatterie, 748
Werkvertrag, 747 Zuverlässigkeitsanforderungen, 746 Waffengesetz-Verordnung, allgemeine (AWaffV), 746 Waffenverbote, 746 Wahn hypochondrischer, 806 religiöser, 832 Wahnerleben, Stalking, 755 Wahnhafte Störungen als Schädigungsfolge (GUV), 626 Alzheimer-Demenz, 165 anhaltende, 263 Arbeitsunfähigkeit, 611 Betreuungsanordnung, 537 Depression, 271 Einsichts-/Steuerungsfähigkeit, 263 Erziehungsfähigkeit, Einschränkung der, 683 Formen, 262 GdB-Einschätzung (SchwbR), 634 Geschäfts-/Prozessunfähigkeit, partielle, 551 Haftreaktionen, 398 ICD-11, 262 induzierte, 264 Klassifikation, 252 organische, 173
Rentengewährung/-leistung, 614 Schuldfähigkeit(sbegutachtung), 262 Symptome, 262 Testierunfähigkeit, 551 Wahrheitspflicht des Sachverständigen, 64 Wahrnehmungsmöglichkeiten, schwer beeinträchtigte/ausgeschlossene (Schadensersatzrecht), 528 Wartegg-Zeichentest, 42 Wechsler Memory Scale-Revised (WMS-R), 37, 38 Wegefähigkeit, Berufsunfähigkeit, 596 Wegeunfall, 579, 623 Wehrdienstunfall, 577 Weiterbildungsförderung Ermessensleistungen, 573 nach SGB II, 573 Wender Utah Rating Scale, ADHS-Diagnostik, 195 Werdenfelser Testbatterie (WBT), 304, 305 Wertung, juristische (mündliches Gutachten), 61 Wertungsfähigkeit, Schweizer Zivilrecht, 871 Wertungsfehler, 76 Widmark-Faktor, Blutalkoholgehalt, 236 Widmark-Formel, BAK-Berechnung, 238 Wiederaufnahmeverfahren Privatgutachten, 11 Psychosen, 389 Wiedereingliederung, erwerbsfähige Hilfebedürftige, 571
Wiedereingliederungspläne, Maßregelvollzug, 420 Wiedereingliederungstherapie, private Krankenversicherung, 560 Wiederinvollzugsetzung, befristete (§ 67h StGB), 429, 443 Wiener Testsystem, Begutachtung der Fahreignung, 727 Wille, 501, 540, 541 des Kindes (Sorge-/Umgangsrecht), siehe Kindeswille freier, 7 Betreuung, 501 mutmaßlicher, 510 natürlicher, 413 vs. Einwilligungsfähigkeit, 540, 541 nicht frei bestimmbarer, 505 Willensanspannung, zumutbare, 565, 609 Willensbestimmung, freie, 544, 548, 552, 553 Ausschluss, 520, 561 Essstörungen, 552 Intelligenzminderung, 553 Persönlichkeits-/Verhaltensstörungen, 552 psychische Störungen, 548 Betreuung, 535, 536 Geschäfts(un)fähigkeit, 545 psychopathologische Voraussetzungen, 545 Testierfähigkeit, 547 Willensbildungsfähigkeit, 523, 871 Willenserklärungen
Angelegenheiten, höchstpersönliche, 499 einwilligungsbedürftige (Einwilligungsvorbehalt), 505 nichtige, 506, 519 Wirksamkeit, Betreuung (Einwilligungsvorbehalt), 504 Willensfreiheit, 8 Beeinträchtigung durch Vernehmungen, 390 bei Suizidhandlung, Begutachtung, 803 Hirnforschung, 89 strafrechtliche Begutachtung, 7 Unbeweisbarkeit, 88 Wahnstörungen, 806 Willenskraft, Schweizer Zivilrecht, 871 Willensstörung/-schwäche, 98, 101 Suchterkrankungen, 374 Testier(un)fähigkeit, 550 Wirtschaftlichkeitsgebot, GKV, 575, 576 Wisconsin Card Sorting Test (WCST), 38 Wissen, bestes (Sachverständigeneid), 9 Wochenbettpsychosen, 264 Wohnungsauflösung Aufgaben, Betreuer, 503 Genehmigungspflicht, Betreuungsgericht, 518, 543 Word Memory Test, Beschwerdenvalidierung, 25 Wortfindungsstörungen, Alzheimer-Demenz, 165
X XYY-Anomalie, 303 Z Zeitrenten, 578 somatoforme Störungen, 616 Zentralstelle zur Überwachung rückfallgefährdeter Sexualstraftäter (ZÜRS), 423 Zeuge Erfindungs-/Lügenkompetenz, 782 Erlebens-/Verhaltensdispositionen, 782 Leistungs-/Persönlichkeitsdiagnostik, 782 lügender, 763, 769 sachverständiger, 492 traumatisierter, 758 Zeugenaussagen, siehe Aussagen Zeugenbeweis, 80 Zeugnis, ärztliches, 492, 493 Betreuungsgesetz, 534 Betreuungsverfahren, 508 Pflichten bei Ausstellung, 498 unterbringungsähnliche Maßnahmen, 543 Zeugnisverweigerungsrecht Angehörige, 19, 307 Arzt als Sachverständiger, 652 Eltern, 645
psychologischer Sachverständiger, 156 Therapeut, 397 Zivildienstgesetz (ZDG), 588, 630 Zivilprozess/-verfahren, Gutachten mündliches, 65 schriftliches, 58 Zivilrecht, 71, 490, 498, 519, 522, 523, 525, 527, 534, 546, 554, 560, 849 Begutachtung, psychiatrische Bedeutung, 490 Betreuung, 498, 534 Beweis, 490 Beweiskraft, 490 Deliktsfähigkeit, 554 Ehefähigkeit, 525, 554 Fehlerquellen, 71 Geschäfts(un)fähigkeit, 519 Prozess(un)fähigkeit, 522, 546 Testier(un)fähigkeit, 523 versicherungsmedizinische, 560 Zurechnungs(un)fähigkeit, 527 Österreich Entscheidungsfähigkeit, 849 Geschäftsfähigkeit, 849 Handlungsfähigkeit, 849 Prozessfähigkeit, 849
Schweiz, 870 Z-Substanzen, 224 Zugangsfaktor, Rente, 577 Zumutbarkeit Gutachtenerstattung, 156 Schweizer Sozialversicherungsrecht, 876 Zurechnungsfähigkeit Beurteilung (Schweiz), 866 Milderungsgrund (Österreich), 843 Minderjährige, 527 österreichisches Strafrecht, 843 rechtliche Frage, 112 Schadensersatzrecht, 527 zweifelhafte, wg. psychischer Störungen, 554 Zurechnungsunfähigkeit, 843, 844 Bewusstlosigkeit, 528 Initiationsverschulden (Vorverlagerung des Verschuldens), 528 Jugendliche, 847 österreichisches Strafrecht Beurteilung, 844 Beurteilungsstufen, 843 geistig abnorme Rechtsbrecher, 844 Schadensersatzrecht, 527 Sonderregel § 827 S. 2 BGB, 528 Störung der Geistestätigkeit, krankhafte, 528
Volljährige, 528 Zurückstellungsregelungen, Drogenabhängigkeit, 231 Zusammenhang, ursächlicher (Begutachtung), 597 Zusatzgutachten, 156 Zusatztatsachen, 80, 159, 160 Zustandsgutachten, GRV, 594 Zwanghafte Persönlichkeitsstörung, 321, 328 Zwangsabstinenz, 401, 402 Zwangsbehandlung/-maßnahmen, 515 Anlasskrankheit, 413 Anorexia nervosa, 538 Antipsychotika (Neuroleptika), 813 Aufhebung, 817 Aufklärung des Betroffenen, 518 Betreuungsrecht, 516, 543, 813 BVerfG-/BGH-Urteile, 812, 813 Definition, 517 durch Gutachter (Amtshaftung), 78 Elektrokonvulsionstherapie, 540 Fixierungen, 813, 814 Genehmigung durch Betreuungsgericht, 511 Genehmigungspflicht, 814 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 517 im Justizvollzug, 396 im Maßregelvollzug, 813
Indikation, 518 Nutzen, 518 Rechtgrundlage, 408 Rechtsunsicherheiten, 813 Strafbarkeitsrisiko, Ärzte, 813 Suizidalität, 800 Ultima Ratio, 518, 543 Unterbringung, 413 freiheitsentziehende, 515 rechtmäßige, 517 Voraussetzungen, 517, 813 Zwangseinweisung, Häufigkeit, 818 Zwangsernährung, Hungerstreik im Justizvollzug, 403 Zwangsmedikation, 813 Zwangsneurosen, Schuldfähigkeit, 101 Zwangssterilisation, Verbot, 512 Zwangsstörungen Checklisten/Fragebögen, 38 Prozessunfähigkeit, 552 Rentengewährung/-leistung, 616 süchtiges Verhalten, 374, 376 Zwangsunterbringung, 812 Zweitgutachten, 490, 491 Zyklothymia, 270, 273 Erwerbsfähigkeit, Einschränkungen, 615