Präventionsmodelle in der deutschen Strafzweck-Diskussion: Beziehungen zwischen Rechtsphilosophie, Dogmatik, Rechtspolitik und Erfahrungswissenschaften [1 ed.] 9783428462322, 9783428062324


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German Pages 218 Year 1987

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Präventionsmodelle in der deutschen Strafzweck-Diskussion: Beziehungen zwischen Rechtsphilosophie, Dogmatik, Rechtspolitik und Erfahrungswissenschaften [1 ed.]
 9783428462322, 9783428062324

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MONIKA FROMMEL

Präventionsmodelle in der deutschen Strafzweck-Diskussion

Schriften zum Strafrecht Band 71

Präventionsmodelle in der deutschen Strafzweck-Diskussion Beziehungen zwischen Rechtsphilosophie, Dogmatik, Rechtspolitik und Erfahrungswissenschaften

Von

Dr. Monika Frommel

DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN

CIP-Kurztitelaulnahme der Deutschen Bibliothek Frommei, Monika: I'riivcntionsmodelle in der deulschen SlralzweckDiskussion: Beziehungen zwischen Rechtsphilosophie, Dogmatik, Rechtspolitik u. Erlahrungswiss. / von Monika Frommel. - Berlin : Duncker u. Humblot. 1987 (Schriften zum Strafrecht; Bd. 71) ISBN 3-428-06232-9 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten

© 1987 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-08232-9

Vorwort Die Arbeit lag im Wintersemester 1985/86 der juristischen Fakultät der Universität München als Habilitationsschrift vor. Sie verdankt ihre Entstehung einer Kette glücklicher Umstände: der intensiven und engagierten Diskussionsbereitschaft meines verehrten Lehrers, Professor Dr. Sten Gagner, und der Teilnehmer seines Doktorandenseminars. Ihnen allen und insbesondere Professor Dr. Joachim Rückert, Hannover, sei herzlich gedankt. Ohne sie hätte ich nicht in so kurzer Zeit und mit so viel Freude Einblick in die komplexen rechtshistorischen Zusammenhänge gewonnen. Wesentlich gefördert wurde die rechtstheoretische Fragestellung, die Strafzweckdiskussion mit Blick auf wandelnde rechtsphilosophische, dogmatische und erfahrungswissenschaftliche Zusammenhänge zu beschreiben, durch die jahrelangen Gespräche mit Professor Dr. Dr. h.c. Arthur Kaufmann und seinen Mitarbeitern. Sie haben mich ermutigt, einen so weiten Bogen zu spannen, und der Verdacht, daß dies ohne Kenntnis der Geschichte nicht gelingen kann, hat mich offen gemacht für die Lerngelegenheiten in Professor Dr. Sten Gagners Seminar. Dank gebührt Professor Dr. Erhard Blankenburg, Amsterdam, für seine Anregungen beim Umgang mit Kriminalstatistiken. Klarheit in Fragen der strafrechtlichen Grundlagendiskussion verdanke ich den Seminaren von Professor Dr. Dr. h.c. Claus Roxin. München, den 25. Mai 1986

Monika Fromme/

Inhaltsverzeichnis Vorbemerkungen . ..................................................... 11

A. Verwendung kriminalstatistischer Daten in der Strafzweck-Diskussion

13

1. Moralstatistik und Kriminalstatistik - Diskussionen vor der lahrhundertwende .................................................. 14 2. Kriminalpolitische Aufgaben. LISZTs paradoxes Programm einer Liberalisierung und Effektivitätssteigerung der Strafverfolgung .......... .. 17 3. Liberales oder autoritäres Strafrecht? .................................. 25 4. Fortschrittsoptimismus und Resignation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 31 5. Über deklaratorische, scheinbare und wirkliche Entkriminalisierung ........ 36 6. Schlußfolgerungen ................... . .............................. 40

B. Beziehungen zwischen Rechtsphilosophie, Dogmatik, Rechtspolitik und Erfahrungswissenschaften

42

I. Schulenstreit ....................................................... 42 1. Rechtstheorie und Strafrechtsdogmatik Adolf MERKELs . . . . . . . . . . . . . . . .. 43 2. MERKELs Kritik am "Zweckgedanken im Strafrecht", LISZTs Replik ..... 52 3. Das Wissenschaftsideal MERKELs, BINDINGs und LISZTs. Gemeinsamkeiten und Gegensätze ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 57 3.1. "Bewährung der Rechtsordnung" oder "Kampf" gegen das Verbrechen. Konkurrierende Präventionsmodelle .................... 3.2. Aufgabe der Strafrechtswissenschaft bei LISZT ..................... 3.3. Vorrang der Kriminalpolitik oder Strafrechtsdogmatik als selbständige Wissenschaft - Kontroverse Leitbilder zu Beginn des Schulenstreits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Dogmatik als selbständige juristische Wissenschaft BINDINGs Antwort auf ein Dilemma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Vorrang der Kriminalpolitik - die Antwort LISZTs ...............

60 65 69 69 76

4. Gelegenheits- und Gewohnheitsverbrecher Genese eines konservativen Topos ..................................... 83

8

Inhaltsverzeichnis

5 . Weltanschauliche Polarisierung nach der Jahrhundertwende .................................................. 97 5.1. Vergeltungsidee und Verbrechensprophylaxe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 97 5.2. Klassische Präventionsmodelle ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 104 a) Verdeckt-relative Straftheorien im absoluten Gewand ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 104 b) Generalpräventive Modelle .................... '.' . . . . . . . . . . . . .. 107 Die Aufgaben der Strafrechtspflege von Richard SCHMIDT (1895) .................................... 107 c) Vergeltung zum Zwecke des Rechtsgüterschutzes ................. 111 d) Renaissance des naturrechtlichen Vergeltungsbegriffs bei BIRKMEYER ........................................... 112 6. Schlußfolgerungen ................................................. 113

II. Rechtsgüterschutz - Hermeneutische Leerformel oder kriminalpolitischer Leitgedanke? Der Begriff des Rechtsguts bei BINDING und LISZT . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 115 I. Verhältnis des Rechtsgutsbegriffs zum Gesetz .......................... 116

a) BINDINGs Leerformel .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 116 b) LISZTs Kombination von Interessenlehre und Normentheorie ................................................. 119

2. Finalisierung der Strafrechtsdogmatik?

122

3. Rhetorische Gefechte im Dickicht der Legendenbildungen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 129

III.Präventionsmodelle zu Beginn des 19. Jahrhunderts . ................... 135 1. Absolute Strafgerechtigkeit oder Erhaltung äußerer Rechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 135 2. Verbrechen als Rechtsverletzung ............................. . ....... 151 3. Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Rechtsverletzungslehre zu Beginn des 19. Jahrhunderts und der Rechtsgüterschutzlehre MERKELs, BINDINGs und LISTZs .................................. 158

IV. Philosophie und Strafrechtswissenschaft ................... . .......... 163 1. Antispekulative Tendenzen vor der Jahrhundertwende .......................................... 163 1.1. "Zusammenbruch" des HEGELschen Systems? "Einbruch" des "Positivismus"? ................................ 163

Inhaltsverzeichnis

9

1.2. Strafrechtliche Grundlagendiskussionen vor dem Schulenstreit . . . . . .. 169 a) Über geschichtliche und ungeschichtliche Behandlung des deutschen Strafrechts, JENAer Antrittsrede von Richard LOENING (1882) ............................... 170 b) earl Ludwig von BAR, Geschichte des deutschen Strafrechts und der Strafrechtstheorien (1882) .. . . . . . . . . . . . . . . .. 173 c) Adolf LASSON, System der Rechtsphilosophie (1882) ........... 175 d) GUENTHER, Die Idee der Wiedervergeltung in der Geschichte und Philosophie des Strafrechts. Ein Beitrag zur universalhistorischen Entwicklung desselben (1889) ............................................ 176 1.3. Schlußfolgerungen ............................................ 177 2. Die Legende vom "Einbruch" des "Positivismus" .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 178 2.1. Sozialdarwinistische Elemente in LISTZs "Zweckgedanken"? .................................... 179 2.2. Die Diskussion um das "richtige Recht" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 183 3. Rematerialisierung und methodologische Defensive. Rechtsphilosophische Tendenzen nach der Jahrhundertwende ............ 185

C. Ergebnis

191

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 194 Personenregister

214

Sachwortregister

217

Vorbemerkungen Die gängige Einteilung der Straftheorien in sogenannte absolute und relative hat etwas Lähmendes. Sie belastet die theoretische Diskussion und macht die historische Bestandsaufnahme zu einem ermüdenden Spiel um Klassifikationen. Die Hartnäckigkeit, mit der gleichwohl an diesem Schema festgehalten wird, ist verwunderlich, wenn man bedenkt, wie beliebig Zweck-MittelRelationen gesetzt und umgedeutet werden können. Faßt man den "Grund" der Strafe eng, dann ist der Rechtsgrund der Strafe das begangene Unrecht; Feuerbach wäre ebenso wie Binding Anhänger einer "absoluten" Straftheorie. Fragt man nach dem Realgrund der Strafe, würde sich die Mehrzahl der sogenannten klassischen (angeblich absoluten) Straftheorien nicht scheuen, den "Zweck" der Vergeltung in der Aufrechterhaltung der Rechtsordnung zu sehen. Für eine historische Darstellung der Strafzweck-Diskussion seit 1800 ist die Einteilung in Vergeltungs- und Präventionstheorien verhängnisvoll. Sie überschätzt die historische Bedeutung des Postulats einer absoluten Strafgerechtigkeit, wie es von Kant und Hegel formuliert, in dieser Form aber von juristischen Autoren nicht übernommen worden ist. Entweder haben diese die Sprengkraft so hoch angesetzter Legitimationsanforderungen ignoriert oder sie haben sie abgelehnt. Die Einwände gegen die Forderung nach absoluter Strafgerechtigkeit werden früh formuliert und wiederholen sich danach fortlaufend. Man lese nur die "Kritik des' natürlichen Rechts" des jungen Feuerbachs aus dem Jahre 1796, einem Jahr vor den 1797 erschienenen "Metaphysisischen Anfangsgründen der Rechtslehre" Kants, um die Lust auf eine Geschichtsschreibung sich ständig wiederholender Argumente zu verlieren. In historischen Überblicken wird - als Folge des Denkens im Schema von "absolut" und "relativ" - die Bedeutung absoluter Straftheorien für die juristische Diskussion überschätzt. Aus der Tatsache einer in Schüben stattfindenden Polemik gegen absolute Straftheorien wird auf deren Bedeutung und einen gemeinsamen Nenner der Vertreter eines Präventionsrechtes geschlossen. Es sieht ganz so aus, als sei dies ein Trugschluß. Vielleicht ist deren gemeinsamer Nenner lediglich das bis heute nicht aufgelöste Begründungsproblem; und die negative Abgrenzung gegenüber einem nicht präventiv ausgerichteten Strafrecht ein Versuch, wenigstens insofern einen Konsens über Sinn und Zweck staatlicher Strafe zu erzielen? In der vorliegenden Arbeit ist daher ein anderer Weg eingeschlagen worden. Zunächst wurden prägnante Beispiele ausgewählt: Der Streit der "klassischen" und der "modernen" Schule an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Er führt zum Problem einer Definition dessen, was man unter Rechtsgüterschutz

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Vorbemerkungen

versteht, und dies führt zurück zu den ungelösten Fragen der Verbrechenslehre um 1800. In einem zweiten Schritt wurden die jeweiligen Diskussionszusammenhänge rekonstruiert. Zu diesem Zweck war es notwendig, Verständnisbarrieren abzubauen, die die moderne Perspektive begrenzen. Schließlich haben sich seit Feuerbachs, Liszts und Bindings Zeiten zahlreiche Folge-Diskussionen wie Gesteinsschichten über die ursprünglichen Streitfragen gelegt. Zu trennen war also zwischen Ausgangs-Texten und Wirkungsgeschichte. Im Verlauf der Arbeit zeigte sich, daß es sinnvoll ist, zwischen verschiedenen Ebenen der Strafzweck-Diskussionen zu trennen; denn die Definitionen der Strafen erwiesen sich oft als unergiebig, hingegen der rechtsphilosophische und kriminalpolitische Kontext als aufschlußreich. Aus diesem Grund werden die Straftheorien in ihrem jeweiligen Verhältnis zur Rechtsphilosophie, Strafrechtsdogmatik, Kriminalpolitik und den Erfahrungswissenschaften dargestellt. Mit letzteren soll begonnen werden, um das Thema nicht über Gebühr ideengeschichtlich aufzuladen. Im folgenden geht es um die Kriminalitäts- und/oder Kriminalisierungsentwicklung seit dem Ende des 19. Jahrhundert. Auf welche Probleme reagierte man in der relativ abgehobenen akademischen StrafzweckDiskussion?

A. Verwendung kriminalstatistischer Daten in der Strafzweck-Diskussion In der 1799 erschienenen "Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts" wiederholte und vertiefte der junge P. J. A. Feuerbach seinen schon 1796 dargelegten theoretischen Ansatz, wonach es das Recht ausschließlich mit der äußeren Freiheitssphäre zu tun habe, und aus diesem Grund den Menschen - im Unterschied zur Philosophie - nicht ausschließlich als moralisches Wesen betrachte, sondern als sinnliches Wesen. Die Wissenschaft vom positiven peinlichen Recht müsse daher ihre Grundbegriffe psychologisch zutreffend fundieren: "Man wird daher die ausführlichen psychologischen Erörterungen, die ich mir erlaubt habe, nicht als unnötige Abschweifungen betrachten, welche entweder nur den Raum füllen, oder eine zweckwidrige Zerstreuung bewirken sollen. Sie sind sehr oft gar wesentlich und nothwendig, weil, wenigstens nach meiner Meinung, die wichtigsten Irrthümer der gewöhnlichen Theorien in irrigen psychologischen Begriffen ihren Grund haben und die Einsicht in die Wahrheit meiner Behauptungen zum Theil auf deutlicher und klarer Einsicht gewisser psychologischer Wahrheiten beruht. Eben darum war ich auch hin und wieder genöthigt, Metaphysiker zu sein" (Vorrede VIII).

Feuerbachs Straftheorie war alles andere als psychologisch abgesichert. Dies hat sein Schüler C. J. A. Mittermaier sehr genau erkannt. Die Tatsache, daß der Anspruch nach empirisch abgesicherten Aussagen von Anfang an erhoben, wenn auch nicht eingelöst wurde, zeigt, wie wichtig es ist, die verschiedenen Aspekte der jeweiligen Begründungsversuche zu beachten. Wir können schon an dieser Stelle sagen, daß es kein Kennzeichen der mit Liszt einsetzenden sogenannten modernen Schule ist, die Notwendigkeit staatlicher Strafe psychologisch zu begründen. Philosophie, Dogmatik und Erfahrungswissenschaften stehen von Anfang an in einem prekären Verhältnis zueinander. 1829 befaßte sich Mittermaier ausführlich und kritisch, was die Methode betrifft, mit dem Compte general de I'administration de la justice criminelle pendant l'annee 1827, erstellt für das französische Justizministerium. In den folgenden Jahren folgten weitere Kommentare zu Fragen der Kriminalstatistik.I Mittermaier beobachtete sehr genau die aufstrebenden Erfahrungswissenschaften und sah in deren Erkenntnissen eine unverzichtbare Hilfe für eine gerechte und effektive Strafgesetzgebung und Praxis. Rückblickend kann man sagen, daß er eine verpaßte historische Gelegenheit repräsentiert; und die Tatsache, daß wir so wenig über ihn wissen, zeigt, daß sich die Folgen der damals geI Mittermaier, Vermischtes, in: Annalen der deutschen und ausländischen CriminaIrechtspfiege, hg. von Hitzig, Berlin 1829, Heft 5, S. 154ff.; Heft 6, S. 355ff.; 1830, Heft 13, S. 157ff. und S. 190ff.

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A. Verwendung kriminalstatistischer Daten

stellten Weichen bis in die Gegenwart bemerkbar machen. Mittermaier begann seine Ausführung 1827 mit dem Bild vom Gesetzgeber als eines Arztes, der von falschen, weil doktrinellen Grundsätzen ausgehend - zum Kurpfuscher wird: "Wenn ein Arzt nur durch gewisse Universalrezepte kuriren, und in dem Glauben an die Allmacht eines Heilmittels immer die nämliche Arznei anwenden wollte, ohne zu fragen, wie bisher das gerühmte Mittel gewirkt habe, wenn er bei einem Kranken, der durch eine Arznei nicht geheilt wurde, nichts weiter als eine Verdoppelung und allmähliche Steigerung der Dosis des nämlichen Heilmittels anordnen wollte, so würde mit Recht eine schlechte Meinung von der Geschicklichkeit eines solchen Arztes begründet werden. - Der Gesetzgeber gleicht dem Arzte, seine Strafgesetze sollen die Heilmittel moralischer Gebrechen seyn. - Gleicht das Gesetzbuch aber dem Rezeptbuche, in welchem die Strafen nur wie Universalarzneien aufgeführt sind, und ein Verdoppelungssystem der Strafen, z. B. bei dem Rückfalle, vorgeschrieben ist, so mögen schwerlich die Bürger ein lebendiges Vertrauen zu der Weisheit des LegislatOfs fassen. Es wird immer mehr eingesehen, daß es zu den Voraussetzungen einer guten Strafgesetzgebung gehöre, daß der Gesetzgeber genau das Volk, für welches das Gesetzbuch bestimmt ist, die Culturstufe desselben und alle Eigenthümlichkeiten studire, durch welche das Volk den Einwirkungen des Gesetzes am meisten zugänglich wird . . . . Nur auf dem Wege der Erfahrungen wird die Legislation allmählich dem Ziele der Vollkommenheit sich nähern. Wer prüft, wie unter ähnlichen Umständen ein schon gegebenes Gesetz der Art auf die Menschen wirkte, in wie ferne es Verbrechen verminderte, und die Absichten des Gesetzgebers erreichen half, wird ein sicheres Mittel in Händen haben, vor ähnlichen Mißgriffen, da wo die Erfahrung warnend spricht, sich zu bewahren, oder die Lücken seiner Gesetzgebung und die Gründe seiner Täuschung einzusehen. Auf diese Art kann man als einen Theil der Criminalpolitik die Criminalstatistik betrachten, welche mit Angabe der Thatsachen sich beschäftigt, ... kurz alles betreffen, was auf die Beurtheilung der Anwendung und der Wirksamkeit sich bezieht:'2

Mittermaier blieb unter seinen juristischen Kollegen ein Einzelfall. Am Ende des 19. Jahrhundert finden sich dieselben generalisierenden Rezepte wie an seinem Anfang. Liszts Deduktion der zunehmenden Rationalisierung eines ursprünglich triebhaften Strafbedürfnisses erinnert - unter diesem Aspekt gesehen - fatal an Feuerbachs Ausführungen zur psychologischen Notwendigkeit staatlicher Strafe. Gespannt blicken wir daher auf die um einige Jahrzehnte verspätete Diskussion der von Quetelet in den 1830er Jahren entwickelten Moralstatistik.

1. Moralstatistik und Kriminalstatistik Diskussionen vor der Jahrhundertwende Von Öttingen griff 1868 den von Quetelet entwickelten Gedanken einer erfahrungswissenschaftlichen Sozialethik auf. Diese sollte nicht vom Individuum ihren Ausgang nehmen, sondern die Entstehung sittlicher Regeln in der Gesellschaft nachweisen, von der sich der Einzelne durch Erbschaft und Erziehung erhalte3 • 2

l

Hitzig's Annalen 1829, Heft 5, S. 154. Von OUingen, Die Moralstatistik in ihrer Bedeutung für eine Sozialethik. 1868/69.3. Auf]. 1882.

1. Moralstatistik und Kriminalstatistik

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Georg Jellinek4, im selben Jahr wie von Liszt geboren (1851) und zur sei ben Zeit Student in Wien, kommentierte dieses für die spätere Diskussionen so wichtige Werk. Er begrüßte den theoretischen Ansatz einer erfahrungswissenschaftlich begründeten Sozialethik und bemängelte nur, daß der "Theologe" verderbe, was der strenge philosophische Forscher begonnen habe: "Und so läuft die vorsichtig und umsichtig unternommene Untersuchung in lauter unglückliche theologische Schrullen aus, welche die bereits gewonnene Einsicht von Grund aus wieder zerstören. Anstelle des überwundenen Determinismus erhalten wir den leidigen Gottseibeiuns, und indem wir dem Fatum glücklich entronnen sind, fallen wir unerbittlich dem Satan in die Hände" (S. 70).

Von Öttingen ziehe nämlich aus den steigenden Zahlen gerichtlicher Verurteilungen den Schluß, daß "das Reich der Sünde" immer mehr Raum gewinne und gebe "gleichsam einen statistischen Beweis für die Existenz des Teufels". Dem setzte Jellinek die These entgegen, daß in der Zivilisation "nicht nur segensreiche, sondern auch schädliche Keime verborgen" lägen5 • Das komplizierte soziale Phänomen des Verbrechens (S. 136) sei auf vielfältige Weise Produkt sozialer Verhältnisse. Man dürfe sich nicht wundern, daß bei steigenden sozialen Kontakten auch die Zahl der Verbrechen zunähme, jedenfalls könne man daraus keinen Schluß auf eine "wachsende Unsittlichkeit" ziehen. Das "Geschrei von der unaufhaltsam zunehmenden Verunartung" (S. 84) komme unter anderem auch daher, daß die Maßstäbe zur Bewertung normgerechten Verhaltens feiner würden. Jellineks Kritik fiel auf fruchtbaren Boden. Es kam zu dem ansonsten seltenen Ereignis, daß ein kritisierter Autor seinem Kritiker ausdrücklich Recht gab. Im ersten Band der von Liszt und Dochow neu gegründeten Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft findet sich ein programmatischer Aufsatz6 , in dem von Öttingen dem Faktor der gesteigerten Zivilisation ausdrücklich Rechnung trägt. Wir stehen am Beginn einer Diskussion über die "Nutzbarmachung der Kriminalistik"7. Einer der damals berühmtesten Vertreter dieser Richtung war Georg von Mayr. Er beeinflußte Aufbau und Gliederung der vom Reichsjustizamt gefertigten Statistiken (seit 1882) und berichtete 1895 in den Mitteilungen der 1889 gegründeten Internationalen Kriminalistischen Vereinigung (I.KY.) über die "Organisation der Rückfallstatistik". Dies zeigt, wie verflochten damals die Kriminologie mit den kriminal politischen Bestrebungen der modernen Schule war 8 • 4 Georg Jellinek, Moralstatistik und Todesstrafe, in: Ausgewählte Schriften (Hg. Walter Jellinek), Bd. 1., S. 69; ders. , Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, 1878, 2. Aun. 1908; ders., Allgemeine Staatslehre, 1900,3. Aun. 1914, S. 27ff. (Unterschied der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis von der naturwissenschaftlichen). S Die sozialethische Bedeutung, 2. Aun. S. 83. 6 ZStW I, 1881, S. 418. 7 Georg von Mayr, Monatsschrift I, 1904/5, S. 42. 8 Vgl. ferner Mayr, Gesetzmäßigkeit im Gesellschaftsleben, 1877; ders. Statistik und Gesellschaftslehre, 1895, 2. Aun. 1897, 3. Aun. 1909; ders. Garcon/KiJbner, Promemoria betr. die Organisation der RUckfallstatistik, Mitteilungen der IKV V, 1895, S. 181; ders. Forschungsgebiet und Forschungsziel der Kriminalstatistik, ZStW 32,1911, S. 33; zur Bedeutung Mayrs, vgl. Rangol, Monatsschrift 47,1964, S. 187 (Anlehnung der mo-

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A. Verwendung kriminalstatistischer Daten

Wir können hier die damalige Diskussion nicht wiedergeben, da dies nicht unser Thema ist, doch versteht man die knappen Bemerkungen in den verschiedenen Auflagen des Lisztschen Lehrbuchs nicht, wenn man nicht weiß, wo Liszt formelhaft bestimmte Ergebnisse aufgreift, und wo er seinem kriminalpolitischen Interesse gemäß Schwerpunkte setzt. Eher formelhaft sind die Definitionen, die Liszt für die Kriminalsoziologie, Kriminalpolitik und die jeweilige Bedeutung der Kriminalstatistik innerhalb dieser Teildisziplinen gibt 9 • In ihnen fehlt nie der Hinweis auf die sozialen Ursachen der Kriminalität. Folgte er dieser Auffassung konsequent, müßte die Erhebung und Interpretation sozialstatistischer Daten im Hinblick auf die postulierten sozialen Zusammenhänge erfolgen. Faktisch reduzierte sich aber die interpretierende Betrachtung sehr schnell auf einige wenige Daten, insbesondere die Anzahl von Rückfällen, der Rückfallgeschwindigkeit, Einflüsse des Geschlechts, der Nationalität, der Jahreszeit, von Daten also, die bereits in den polizeilichen Statistiken bzw. den Rechtspflege-Statistiken Verwendung finden lO • Der Gebrauch des statistischen Materials spitzt sich auf Effektividemen Rechtspf!egestatistik an Mayrs Gliederung); ferner Pi/gram, Kriminalität in Österreich, 1980, S. 93 (Anfänge einer eigenständigen Kriminalsoziologie bis zum Ersten Weltkrieg). Die Thematik war für die damals aufstrebenden sozialwissenschaftlichen Forscher von großer Bedeutung, vgl. M. B6hme, Die Moralstatistik. Ein Beitrag zur Geschichte der Quantifizierung in der Soziologie, dargestellt an den Werken A. Queteletsund A. von Ottingen, 1971. Karl Heinz Hering, Der Weg der Kriminologie zur selbständigen Wissenschaft, 1966; und Achim Mechler, Studien zur Geschichte der Kriminalsoziologie, 1970. 9 In den "kriminalpolitischen Aufgaben" (AuV 1., S. 312) beginnt Liszt seine Ausführungen über die "Aufgaben und Lehren der Kriminalstatistik" mit der Wendung, er verstehe unter der soziologischen Untersuchung des Verbrechens "die wi s se nsc haft I ic he U n t e r s u c h u n g des Ver b r ec hens al s ei n e (r) e igenartige(n) Erscheinung des gesellschaftlichen Lebens und die darauf gestützte K larl e gun g der s oz i al e n Bed i n gu nge n des Ver b r ec hen s". Daß dies jedoch formelhafte Wendungen bleiben, habe ich im einzelnen gezeigt in: Die Rolle der Erfahrungswissenschaften in Franz von Liszts "gesamter Strafrechtswissenschaft", Kriminalsoziologische Bibliographie (Wien) 1984, Jg.lI, Heft 42, S. 36, insb. S. 43f.; ebenso Kempe, ZStW 81, 1969, S. 804, insb. S. 823. Zeitgenossen Lisztsist dies nicht verborgen geblieben: Ferri, Soziologia Criminale, 1892, deutsche Übersetzung von Kurella, 1896, S. 477, FN. I, bemerkte, daß sowohl Liszts Unterscheidung zwischen Strafrecht und Kriminalsoziologie als auch sein Begriff von Kriminalpolitik wenig hilfreich sei. Kriminalsoziologie wird in den "Kriminalpolitischen Aufgaben" wie folgt definiert: "Die Methode soziologischer Erforschung des Verbrechens und der Strafe kann eine doppelte sein: systematische Ein z e I beobachtung und systematische M ass e n beobachtung. Letztere, in ihrer Anwendung auf Verbrechen und Strafe nennen wir Krimi n al s ta ti s t i k" (S. 313). Die Unklarheit der Formulierung: "in ihrer Anwendung auf Verbrechen und Strafe" bedeutet, wie sich aus dem Zusammenhang ergibt, daß Liszt in der Kriminalstatistik den für die Kriminalpolitik bedeutsamen Anwendungsbereich der Kriminalsoziologie sieht, d. h. schlechthin "die soziologische Darstellung des Verbrechens und der Strafe". So explizit im Anschluß an das obige Zitat, mit der KlarsteIlung, daß Aufgabe der Kriminalstatistik folglich auch nicht "die Schilderung der von den Strafgerichten geleisteten Tätigkeit" sei. 10 Auf den Zusammenhang zwischen Georg von Mayrs Gesellschaftslehre und die Gliederung der Rechtspf!egestatistiken bis heute wurde schon hingewiesen. Aschaffenburg, Das Verbrechen und seine Bekämpfung, I. Auf!. 1903, gliedert sein Buch in "allgemeine" und "individuelle" Ursachen des Verbrechens und behandelt unter ersterem Gesichtspunkt Variable wie "Jahreszeit", "Ort der Tat", "Rasse", "Religion", "Stadt und Land", "Beruf". Nach "Alkohol", "Prostitution", "Aberglaube" folgen in dieser Reihung die Faktoren: "wirtschaftliche Lage" und "Krisen und Krieg". Aschaffenburg lehrte in Halle, wo Liszt 1889 - 1899 das "Kriminalistische Seminar" zu einer Forschungsstätte für den wissenschaftlichen Nachwuchs ausbaute. Die kriminalistischen Studien, die innerhalb dieses Diskussionszusammenhangs entstanden, zeigen, daß man versuchte, solche Daten über "allgemeine" und "individuelle" Ursachen des Verbrechens mit Zahlen der registrierten (oder in lokalen Studien erhobenen) Kriminalität in Beziehung zu setzen, um lokale Verschiebungen zu beschreiben und zu erklären. Weder Juristen noch Kriminologen (aus unterschiedlichen Gründen) fühlten sich durch diese Art der Forschung angesprochen, die in Liszts Seminar 1893 - 1906 entstand. Über interne Diskussionen berichtet Franz

2. Kriminalpolitische Aufgaben

17

tätsfragen zu. Entgegen der geäußerten soziologischen Absicht, das Verbrechen als soziale Erscheinung zu erklären, setzt sich eine bestimmte Form der kriminal politischen Argumentation durch, nämlich eine auf Effektivitätssteigerung des strafrechtlichen Instrumentariums ausgerichtete Interpretation der staatlichen ReaktionenlI. Dies erlaubt uns, auf dieser Basis die kriminalpolitischen Probleme zu vergleichen, deren Lösung man um die Jahrhundertwende anstrebte und die man in den 60er Jahren dieses Jahrhunderts in der Tradition dieser Reformbestrebungen wieder aufgriff.

2. Kriminalpolitische Aufgaben.

Liszts paradoxes Programm einer Liberalisierung und Effektivitätssteigerung der Strafverfolgung

In dem berühmten Aufsatz aus dem Jahre 1889, zugleich Programm der I.K.V., untersuchte Liszt die "t a t s ä chI ich e An wen dun g der im Gesetze vorgesehenen Strafmittel". Zu diesem Zweck stellte er bei ausgewählten Delikten die kriminalistischen Daten dar, schon weil er, wie er sarkastisch bemerkte, seine "bescheidenen Zweifel" hege, daß man "die Kenntis der einfachen kriminalistischen Tatsachen" in Fachkreisen voraussetzen könne l2 • Zwar versäumte es von Liszt nicht, darauf hinzuweisen, daß die Kriminalstatistik sich von der Justizstatistik losgelöst habe, und sich infolgedessen nicht damit begnüge, die von den Strafgerichten geleistete Tätigkeit zu schildern, sondern die Aufgabe habe, das Verbrechen und die Strafe "soziologisch" darzustellen (S.313). Er folgt aber einem solchen Ansatz nicht, sondern beschreibt die Tätigkeit der Strafgerichte, insbesondere die Milde der verhängten Strafen, und schließt daraus, daß das gesamte System ineffektiv sei und daher reformbedürftig. Zugespitzt wird die Reformfrage auf die Abschaffung der kurzen Freiheitsstrafen, auf denen das gesamte Sanktionensystem beruhe. Begründet wird die Forderung mit Effektivitätserwägungen, die kurze Freiheitsstrafe sei nicht nur nutzlos, sondern schädlich. Als Beispiel für den Umgang mit kriminalstatistischen Daten seien die Ausführungen über einfachen Diebstahl und Körperverletzung ausgewählt. Die Daten der Jahre 1882 bis 1887 weisen eine Zunahme der Delikte: Beleidigung, Dochow, Die Kriminalität im Amtsbezirk Heidelberg, 1906 (Vorwort), vgl. ferner dessen Rezension der Arbeit von Bruno Blau, Kriminalistische Untersuchungen der Kreis Marienwerderund Thorn, 1903 (mit Faktorenschema) in: Monatsschrift I, 1904, S. 267. Franz Dochow gehörte zu der Gruppe der sozialdemokratisch orientierten Liszt-Schüler. 1905 verfaßte er in der Monatsschrift 2, S. 109, eine Abhandlung über .Die Arbeiterstatistik und ihr Wert für die Kriminalpolitik", 1907 in der ZStW 27, S. 115, .Die Sozialdemokratie und die Strafrechtsreform" , 1908 in der ZStW 28, S. 760, berichtete er über .Kriminalpolitik und Strafrechtsreform" . 11 Naucke, ZStW 94, 1982, S. 525, charakterisiert Liszts Programm insgesamt als Programm des zweckmäßigen Strafrechts. Dies dürfte den Fazetten der in sich heterogenen Elemente im Gesamtwerk und auch den Wirkungen auf die Zeitgenossen nicht ganz gerecht werden. Doch trifft Nauckes Charakterisierung Liszts Umgang mit den kriminologischen Nachbarwissenschaften, wie Kempe, ZStW 81, 1969, S. 804, nachgewiesen hat. 12 Liszt, AuV 1., S. 29Off., insb. S. 341ff. (kurzzeitige Freiheitsstrafe). 2 Frommel

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A. Verwendung kriminalstatistischer Daten

Körperverletzung und Nötigung auf; hingegen nehmen Diebstahl und Hehlerei ab. Von Liszt zieht daraus den Schluß: "Unser geltendes Strafrecht ist machtlos gegenüber dem Verbrechertu m. Die Abnahme des Diebstahls und der an ihn gebundenen Hehlerei darf uns nicht irremachen. Sie hat, ganz ebenso wie die Abnahme der Forst- und Feldrügesachen ihren Grund in der Besseru ng der wirtschaftlic hen Lage und würde in dem Augenblick in ihr Gegenteil umschlagen, in welchem diese zum ungünstigen sich veränderte" (S. 322).

Die Zunahme der Delikte gegen die Person wird auf die Ineffektivität des Strafrechts zurückgeführt, hingegen die Abnahme der Vermögens delikte in diesem Zeitraum "wegerklärt" mit ökonomischen Gründen, gerade so als gelte die ökonomische Erklärung nichts und der kriminal politische "Kampf gegen das Verbrechen" alles. Aus der Zunahme einzelner Delikte gegen die Person schließt er: "Unrichtig wäre es, die Tragweite dieser Erscheinung durch den Hinweis auf die Tatsache abschwächen zu wollen, daß die Beleidigung, die einfache, vorsätzliche und die fahrlässige Körperverletzung auf dem Wege der Privatklage zu verfolgen, daß für die Erhebung oder Nichterhebung der Privatklage aber die verschiedenartigsten, nicht juristischen Beweggründe maßgebend seien und daß demnach aus einer größeren Zahl von Verurteilungen nicht auf eine vermehrte Begehung dieser Delikte geschlossen werden dürfe" (S. 320).

Zunächst einmal lehnt er die auf dem 19. DJT erörterte Ausdehnung der Privatklage ab. Die Forderung sei ein Zeichen für eine Ignoranz gegenüber statistischen Daten, die ein "reißendes Ansteigen" der aus "Roheit und Gewaltätigkeit" entspringenden Handlungen demonstrierten (S. 324). Sowohl aus der Zunahme wie der Abnahme bestimmter Delikte schloß Liszt auf fehlende Effektivität des strafrechtlichen Systems; eine Argumentationsfigur, die mittlerweile zum klassischen Topos von der bedrohlichen Zunahme der Kriminalität geworden ist. Er erklärte die Abnahme einzelner Delikte aus "sekundären" Veränderungen - etwa aufgrund einer kurzfristigen Verbesserung der wirtschaftlichen Lage -, schloß aber aus insgesamt steigenden Zahlen oder der Zunahme bestimmter Delikte auf die Notwendigkeit der effektiveren Bekämpfung des Verbrechens. Die spezifische Situation, in der Liszt diesen Topos benutzte, erklärt, wieso er in Deutschland zur Symbolfigur für liberale Reformen und Effektivitätssteigerung zugleich werden konnte. Denn wegen des hohen Anteils der kurzen Freiheitsstrafen (unter drei Monaten) führte Liszts Effektivitätsargument zu einer Liberalisierung, nämlich zu stärkerer Differenzierung der Strafarten, vor allem dem Ausbau der weniger einschneidenden Geldstrafe. Begründet wurden die Forderungen nach Reformen aber mit Argumenten, die nur bedingt ins Bild des liberalen Reform-Politikers passen. Ein Grund für die Ineffektivität des Strafrechtssystems liege nämlich in einer zu großen Milde der Gerichte. Als Beleg berechnete er die Quote der einzelnen Strafarten und kam zu dem Ergebnis, daß 96 % aller Strafen kürzer als ein Jahr und 79,9 % aller Strafen sogar kürzer als drei Monate seien 13. Als Beispiel demonstrierte er die unangemessen milde Strafpraxis beim einfachen Diebstahl:

2. Kriminalpolitische Aufgaben

19

"Sehen wir noch etwas näher zu. Der einfache Diebstahl wird nach StGB 242 mit Gefängnis von einem Tage bis zu fünf Jahren bestraft. Von je 100 im Jahre 1886 (die Zahlen der Vorjahre weichen wenig ab) wegen einfachen Diebstahls Verurteilten kamen fast vier mit dem Verweis, mehr als ein Drittel (35,62) mit Gefängnis von einem, zwei oder drei Thgen davon; fast 90 erhielten Gefängnis von weniger als drei Monaten, nicht ganz sechs Gefängnis von drei Monaten bis zu einem Jahr. Nicht einmal ein ganzes Prozent der sämtlichen Verurteilten wurden mit Ge fängni s von einem J ah rund darü b er be s traft. Der Strafrahmen für einfachen Diebstahl ist mithin von unserer Rechtssprechung von fünf Jahren auf ein Jahr im Höchstmaß, der Durchschnitt von 30 Monaten auf etwa drei Wochen herabgesetzt worden!" (S. 345).

Anhand einer Tabelle (Tabelle 2) soll die Strafpraxis der Jahre 1886,1918 und 1928 verglichen werden. Es sind dies Jahre, die innerhalb der Kriminalitätsbzw. Kriminalisierungsentwicklung Wendepunkte darstellen (Tabelle 1). Bis zum Ersten Weltkrieg steigt die Geldstrafe, die kurze Freiheitsstrafe nimmt deutlich ab; nach der kriegsbedingten kurzfristigen Umkehrung dieses Trends, steigt der Anteil der Geldstrafe wieder bis etwa 1928 14 • Schlüsselt man die Strafpraxis deliktspezifisch auf, ergibt sich, daß die stärkste Verschiebung zugunsten der Geldstrafe bei den Körperverletzungsdelikten stattfand. Bei einfachen Diebstahl hingegen blieb die kurze Freiheitsstrafe (bis zu 3 Monaten) noch bis 1918 die Regel (über 90 070); erst in der Zeit von 1922 bis 1928 findet auch hier eine Differenzierung in der Strafpraxis statt; der Anteil der Geldstrafe betrug 1928 bei einfachen Diebstahl 53,8 %, und die kurze Freiheitsstrafe nur noch 39,5 % aller Strafen bis zu einem Jahr. Bei schwerem Diebstahl dominierten durchgängig längere Freiheitsstrafen. Eine Liberalisierung der Strafpraxis kann bedeuten, daß mehr Verurteilte zu milderen Strafen verurteilt werden; sie kann aber auch von einem Rückgang der Verurteiltenziffern insgesamt begleitet werden, dann kann man von einem zurückhaltenden, liberalen Umgang mit dem Strafrecht insgesamt sprechen. Letzteres trifft allenfalls für die kurze Phase von 1925 -1928 zu. In dieser Zeit gingen sowohl die Verurteiltenziffern als auch der Anteil der Freiheitsstrafe zurück l5 • Die übrigen Phasen der Strafverfolgung weisen gegenläufige Tendenzen auf. Diese lassen sich am besten beschreiben, wenn man das Augenmerk auf die deliktspezifischen Sanktionsstile lenkt.

13 Er zitierte Justizminister ieonhardt, wonach sich das StGB nicht als ein Gesetz erwiesen haben, "welches gegenüber den in den betreffenden Ri"chtungen hervorgetretenen strafbaren oder doch strafwürdigen Handlungen die erforderliche Repression gewährt "(So 342, Fußnote I). AufS. 384 finden sich die berühmten Worte, daß "die beklagenswerte Milde unserer Strafgesetzgebung" nur noch durch die "noch beklagenswertere Milde unserer Strafgerichte" übertroffen werde. "Wir wollen die kurze Freiheitsstrafe nicht abschaffen, weil sie zu hart, sondern weil sie nutzlos und schädlich ist". 14 Ein Schaubild über die Strafpraxis von 1882-1979 findet sich bei Heinz, Monatsschrift 64, 1981, S. 148ff. (S. 157); vgl. ferner Günter Kaiser, Kriminologie, Eine Einführung in die Grundlagen, 1980, S.288 (UTBTaschenbuch, 6. Aufl. 1983, S. 138); Jescheck, 3. Aufl. 1978, S. 23. 15 Eine deliktspezifische Aufschlüsselung der Verurteiltenziffern (VZ) von 1882-1958 findet sich bei Rangoi, Monatsschrift 44,1961, S. 129ff.; danach war die Intensität der Strafverfolgung bis 1913 etwa konstant, 1920 stiegen die VZ enorm an, und zwar insbesondere bei den Eigentums- und Vermögensdelikten. Nach 1924 fand ein Rückgang statt. Zur Entwicklung der Geldstrafe vgl. FN. 12.

2*

20

A. Verwendung kriminalstatistischer Daten

Thbelle 1 DlEVERHÄLl'NISMÄsSIOE EKTWICKlUNG DER EINZELNEN WEGEN VERBRECHE" UND VERGEHEN GEGEN REICHSGESETZE ERKANNTEN STRAFEN IM DEUTSCHEN REICH 1882-1925 (.JEWEILIGES REICHSOEBIET)

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Quelle: Die Entwicklung der Kriminalität im Deutschen Reich seit 1882. Bearbeitet im Statistischen Reichsamt, Anlage 11 zum Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs 1927, Schaubild Nr. 16, S.40.

21

2. Kriminalpolitische Aufgaben

Tabelle 2 1886 Geldstrafe N 070 Diebstahl

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100 100

8450 31040

44 60,1

563 9216

2,9 17,8

100 100

1918 Geldstrafe % N Diebstahl

einfach schwer

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Freiheitsstrafe unter 3 M %

2,3

91295 11336

91,5 40,8

Körperver- einfach 5700 94,8 letzung gefährlich 20160 89,5

290 1919

4,8 8,5

3 M-l Jahr % N

%

6192 6,2 16487 59,2

100 100

25 454

0,4 2

100 100

1928 Geldstrafe % N

Freiheitsstrafe unter 3 M %

3 M-l Jahr % N

%

31716 53,8

23290 2135

39,5 22,4

3994 6,7 7417 77,6

100 100

Körperver- einfach 11654 83 letzung gefährlich 21712 67,3

1250 7506

8,9 23,3

126 3056

100 100

Diebstahl

einfach schwer

0,9 9,4

Quelle: Errechnet aus den Daten der Zusammenstellung des Statistischen Reichsamtes über .Die Entwicklung der Strafen im Deutschen Reich seit 1882", Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 384 (Kriminalstatistik für das Jahr 1928), S. 65ff.

Aus Tabelle 2 ist zu ersehen, daß bis zum Ersten Weltkrieg insbesondere die Körperverletzung zunehmend milder bestraft wurde. Dieser Trend wird nach 1900 noch verstärkt durch einen geradezu dramatischen Rückgang der Verurteilungen, insbesondere der gefährlichen Körperverletzung. Bei Eigentumsund Vermögensdelikten hingegen kam es insbesondere vor und nach dem Er-

22

A. Verwendung kriminal statistischer Daten

Tabelle 3 SONS116E WICHTIGE VERBRECHEN u.DVERGEHEN GEGEN DIE PERSON 1882 -1925 (Je.WEILIGES REICHSGEBIET )

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Quelle: Anlage 1I zum Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches 1927, Schaubild Nr. 13, S. 23.

2. Kriminalpolitische Aufgaben

23

sten Weltkrieg zu einem Anstieg der Verurteilungen (Tabellen 3 und 4). Dies bedeutet, daß es nach dem Ersten Weltkrieg nicht zu einer Liberalisierung gekommen ist, sondern zu einer Effektivitätssteigerung: es wurden mehr Täter zu Freiheitsstrafen verurteilt; 1918 betrug die Rate der kurzen Freiheitsstrafe bei einfachem Diebstahl etwa 90 070, bei schwerem Diebstahl überwogen lange Freiheitsstrafen. Erst nach dieser Phase begannen die Strafen milder zu werden und die Zahl der Verurteilungen ging zurück l6 • "Es ist kaum anzunehmen, daß während des Krieges bei der immer mehr um sich greifenden Nervosität der Bevölkerung die Neigung zu Beleidigungen, Beschimpfungen, Verleumdungen usw. nachgelassen hat. Einer der Gründe für diesen bedeutenden Rückgang mag u. a. der gewesen sein, daß zahlreiche der an sich überlasteten Richter im Hinblick auf die gewaltigen Weltereignisse bei den Be\eidigungsprozessen, in denen meistens nur Bagatellsachen zur Verhandlung standen, stärker bestrebt waren, die Parteien zu einem Vergleich zu bewegen. In vielen Fällen dürfte es auch an Zeit gemangelt haben, die Sache weiter zu verfolgen. Nach dem Kriege ist wie bei den Körperverletzungen auch bei der Beleidigung eine Zunahme erkennbar, die Straffälligkeit ist aber immer noch erheblich geringer als vor dem Kriege. Die Kriminalitätsziffer bewegt sich mit Ausnahme des Jahres 1923 um 100."

Stärker als bei Beleidigungen gingen Verurteilungen wegen gefährlicher Körperverletzung zurück. Die Gesetzgebung legalisierte die deliktspezifische Schwerpunktsetzung mehr als daß sie sie initiierte 17 • Mit einer "Überlastung der Gerichte" kann man die Entwicklung während und nach dem Ersten Weltkrieg nicht erklären; denn diese hätte z. B. auch die kleineren Diebstähle betroffen. Die Eigentums- und Vermögens kriminalität aber stieg. Dies bedeutet, daß sich in dieser Zeit deliktspezifische Sanktionsstile entwickelt haben, die eben bei der gefährlichen Körperverletzung besonders sichtbar werden. Es sind dies bereits Strategien der Entkriminalisierung. Angesichts des geringen Wissens über die Verfolgungs- und Strafpraxis dieser Zeit l8 kann man allerdings nur vermuten, daß alle Instanzen bestrebt waren, gefährliche Körperverletzungen eher herunter zu definieren, um sie als einfache auf dem Privatklageweg zu verweisen, eine Strategie, die sich dann 1921 Anlage 11. zum E 27, S. 24. 1921 erweitere das "Gesetz zur Entlastung der Gerichte" (RGB!. I, 1921, S. 229) den Katalog der Privatklagedelikte. 1924 bestätigte die sog. "Emminger Reform" diese Tendenz (RGBI.I, 1924, S. 15). Vg!. hierzu Hanno Marquardt, Die Entwicklung des Legalitätsprinzips, Ein historisch-empirischer Beitrag zur Gesetzgebung, Diss. jur. Mannheim 1982, S. 88ff., zusammenfassend S. ISS. 18 Naucke, Analogieverbot, 1981, S. 99, FN. 114, bemerkt, daß die Darstellungen und Abrisse der neueren Strafrechtsgeschichte die Zeit des 1. Weltkriegs übergehen. Registriert werde im wesentlichen, daß die Strafrechtsreform nicht habe fortgeführt werden können. Die bereits erwähnte Studie Marquardts zeigt für die Gesetzgebung eine gewisse Planlosigkeit. Man reagierte auf Engpässe. Gesichtspunkte der Praktikabilität seien mehr "zufällig mit Wandlungen der Basisbedingungen (Ersetzung des Vergeltungs- durch ein Präventionsstrafrecht) konform" gelaufen. "Die scheinbare Kongruenz" beruhe nicht auf einer "rational bestimmten Gesetzgebung", S. 155. Die Daten des Anhangs II zum E 1927 über die Kriminalitätsentwicklung bestätigen diese Charakterisierung. Die "Praxis" setzte - ohne Begründung, ja ohne, daß man dies erwähnte - faktische Verfolgungs- und Bestrafungsschwerpunkte. Die ex post Erklärungen der "Theorie" mag die faktisch stattgefundene Entwicklung als Erweiterung des Legalitätsprinzips durch das Opportunitätsprinzip wiederum aus Gesichtspunkten der General- und Spezialprävention. Gesteuert haben diesen Prozeß uns relativ unbekannte Faktoren. 16 17

24

A. Verwendung kriminalstatistischer Daten

Tabelle 4 EINFACHER UND SCHWERER DIEBSTAHL 1882-1925 (JEWEILIGES REICHSGeBIET)

Wegen del'einzelnen Delikte Verurteilte auf 100000 derjeweiligen strafmündigen Bevölkerung

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Quelle: Anlage II zum Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches 1927, Schaubild 14, S. 27. Nicht ganz überzeugend ist die Erklärung dieses Sanktionswandels im Entwurf 1927 16 :

3. Liberales oder autoritäres Strafrecht?

25

erübrigte, da nun auch 223a StGB zu den Privatklagedelikten gehörte. Diebstähle hingegen wurden offenbar trotz Überlastung verfolgt. Hier schien man eher geneigt zu sein, mit dem Argument der Überlastung der Gerichte sogenannte Vereinfachungen des Verfahrens zu fordern l9 •

3. Liberales oder autoritäres Strafrecht? Nach der Liberalisierung in den 20er Jahren kündete die Strafpraxis der Gerichte in den Jahren 1928 - 1931 bereits eine kriminalpolitische Tendenzwende an. Theoretisch vorbereitet wurde sie durch Exners20 Strafzumessungsstudie aus dem Jahre 1927, die 1931 veröffentlicht wurde und zu diesem Zeitpunkt eine schon vollzogene Wandlung rechtfertigte. Die spezifische kriminalpolitische Situation dieser Zeit veränderte Sinn und Wirkung der von Liszt geprägten Formel von der Ineffektivität des Strafrechts und der unangemessenen "Milde der Gerichte". Konzipiert als Folgeuntersuchung zu den "Kriminalpolitischen Aufgaben" wurde Exners Arbeit zu einem Dokument dafür, daß dieselbe Argumentation ganz gegenläufige Entwicklungen rechtfertigen kann. In der 1932 verfaßten und 1933 veröffentlichten Kampfschrift: "Liberales oder autoritäres Strafrecht" von Dahm und Schaffstein diente sie als statistischer Beleg für die Notwendigkeit einer "Rechtserneuerung" unter autoritären bis nationalsozialistischen Vorzeichen. Dem setzte Radbruch 21 entgegen, "das erschreckende Bild eines immer fortschreitenden Strafenschwundes" sei nicht "unter der Herrschaft der Besserungstheorie" entstanden, sondern durch das schlechte Gewissen und wachsende soziale Empfinden, das eine auf Vergeltung und Abschreckung abzielende Strafe hervorgerufen habe. "Im übrigen sind uns die Kritiker der strafrechtlichen Milderungstendenz bisher den statistischen Nachweis schuldig geblieben, daß die fortschreitende Milderung der Strafen zu einer entsprechenden Steigerung der Kriminalitätskurve geführt habe. Ich sehe statt dessen nur zeitweilige erhebliche Steigerungen, die sich deutlich aus den immer wiederkehrenden wirtschaftlichen und politischen Krisen erklären, und vermag aus den Zahlen der Kriminalstatistik nichts anderes abzulesen, als daß der Einfluß des Strafrechts, eines guten wie eines schlechten, auf die Kriminalität minimal, entscheidend aber der Einfluß der gesellschaftlichen Lage ist, und daß die beste Verbrechensbekämpfung nicht eine Reform des Strafrechts ist, sondern eine Reform unserer gesellschaftlichen Verhältnisse" (S. 71).

Exner blieb als Liszt-Schüler ganz im Rahmen, den dieser vorgezeichnet hatte. Er untersuchte die Zu- und Abnahme bestimmter Delikte und verglich die 19 Jedenfalls legen die Daten eine solche Deutung nahe. Es wäre sicher nützlich, ähnlich wie Pi/gram für Österreich, die Kriminalitäts- und Kriminalisierungsentwicklung in Deutschland aufzuschlüsseln und ggf. mit anderen Ländern zu vergleichen, um Modernisierungsprozesse zu erkennen und Indikatoren für unterschiedliche kriminalpolitische Bedingungen. 20 Studien über die Strafzumessungspraxis der deutschen Gerichte, 1931. Franz Exner ist Liszt-Schüler. 1914 schrieb er in den "Abhandlungen des kriminalistischen Instituts an der Universität Berlin" über "Die Theorie der Sicherungsmittel" . 21 Autoritäres oder soziales Strafrecht? Bd. X, Heft 3 (März 1933) der danach verbotenen "Gesellschaft", wieder abgedruckt in: Der Mensch im Recht, 1949,2. Auf!. 1957, S. 63.

26

A. Verwendung kriminalstatistischer Daten

Strafzumessung der Gerichte mit den gesetzlichen Strafrahmen. Letztlich gelangte er, nur unter Betonung des Aspekts nach "mehr Härte" , zum Ergebnis, Liszts Forderung, die kurzen Freiheitsstrafen so weit wie möglich durch Geldstrafen zu ersetzen, sei weitgehend erfüllt. Er stellte ferner fest, daß die etwa bis 1923 höheren Verurteiltenziffern sich wieder auf den Vorkriegsstand eingependelt hätten. Es hätte nun nahegelegen, nach Erklärungen zu suchen für die jeweiligen auch deliktspezifisch verschiedenen - Schwankungen der statistischen Daten, und es hätte durchaus dem Stand der damaligen Diskussion entsprochen, bei der Interpretation zwei Modelle zu kombinieren, nämlich modern gesprochen einen etiologischen und einen Reaktionsansatz. Zwar finden sich andeutungsweise beide Gesichtspunkte sowohl bei Liszt als auch bei Exner, doch werden sie nicht weiter verfolgt. Beide nehmen den hohen prozentualen Anteil geringer Strafen, etwa bei einfachen Diebstahl, nicht zum Anlaß, zu fragen, wie viele Bagatellen zur Anklage kommen, sondern spitzen ihre Thesen ganz in Richtung "Ineffektivität" des gesamten Strafrechtssystems zu. Aus heutiger Sicht ist man geneigt, dies dem Diskussionsklima im Kaiserreich und der Spätphase der Weimarer Republik zuzuschreiben. Um "erfolgreich" zu sein als Kriminalpolitiker, mußte man rhetorisch überzeugende Topoi verwenden, und "Ineffektivität" der Verbrechensbekämpfung oder zu große "Milde der Gerichte" waren überzeugend. Aber der Forschungs- und Diskussionsstand hätte es durchaus erlaubt, den Aussagewert der amtlichen Statistiken kritischer zu bewerten. Dies zeigt die eingangs erwähnte Diskussion zwischen von Öttingen und Jellinek und die intensive Diskussion in der "Monatsschrift" vor dem Ersten Weltkrieg. In einem sehr scharfsinnigen Aufsatz setzte sich z. B. Tönnies 1895, also kurz nach den "kriminalpolitischen Aufgaben" mit dem "Verbrechen als sozialer Erscheinung" auseinander 22 • Er differenzierte zwischen "wirklichen" und nicht zu "öffentlicher Kenntnis" gelangten Verbrechen und schlug vor, dem Anzeigeverhalten, der Aufklärungswahrscheinlichkeit bzw. Wahrscheinlichkeit, daß Anzeigen erfolglos bleiben würden, nachzugehen. Er räumte ein, lediglich die "Stetigkeit" der Proportionen von Anzeigen, Anklagen und Verurteilungen in den Statistiken wie sie Quetelet nachgewiesen habe, machten die Voraussetzung "leidlich" wahrscheinlich, daß man aus diesen Proportionen gewisse Rückschlüsse ziehen könne (S. 334). Für völlig verfehlt erachtete es Tönnies, aus registrierter Rückfälligkeit zu weitgehende Schlüsse zu ziehen. Insbesondere bei der Eigentumskriminalität müsse man bedenken, daß die professionelle Begehung "als eine Art von Ku n s t , die ihre bestimmten Regeln habe" zu betrachten sei. "Wie viele dieser Anfänger später ehrliche Arbeiter werden", lasse sich nicht ermitteln (S. 336), gewiß sei nur, daß "ein gewisses Lebensalter und abnehmende 22 T6nnies, Das Verbrechen als soziale Erscheinung, Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, hg. von Braun, Bd. 8,1895, S. 329ff. Zum vergleichsweise aufgeklärten Umgang mit statistischem Material vor dem Ersten Weltkrieg, vgl. Pi/gram, Kriminalität in Österreich, 1980, S. 93.

3. Liberales oder autoritäres Strafrecht?

27

Kräfte zum Verzicht auf diese Berufstätigkeit" nötigten (S. 337). Das Faktum "Rückfall" habe ganz verschiedene Bedeutungen: "Der großen Menge gelegentlicher und habitueller Diebe und Betrüger steht die engere Gruppe der eigentlichen Gauner gegenüber. Diese ist nicht fest begrenzt gegen jene; aber sie ist noch viel weniger begrenzt gegen scheinbar ehrliche, d. h. nicht direkt verbrecherische Gewerbe, von denen oben die Rede gewesen ist; deren Träger dem Strafrichter vielleicht gar nicht, vielleicht als einmal bestrafte, mithin als "gebesserte" Verbrecher bekannt sind und die als friedliche "Geschäftsleute" zu der "Gesellschaft" gehören, die gegen jene "unverbesserlichen" Gewohnheits-Verbrecher geschützt werden soll" (S. 340).

Sehr prägnant finden sich bei Tönnies Einsichten, die uns modern anmuten. Dies sind sie aber nur, weil es lange gedauert hat, bis sie zu Standards wurden, an denen man nicht mehr vorbeigehen kann. Exner jedenfalls schloß aus der "Milde der Praxis" auf irrationale Beweggründe. Einerseits habe eine "veränderte Auffassung der Strafe oder des Ver b r e ehe n s " einen allmählichen Wandel in der Verwendung der Strafarten mit sich gebracht (S. 28), andererseits folge die Rechtsprechung oft eigenartig moralisierenden Betrachtungen. Beide Tendenzen seien im Sinne einer möglichst wirkungsvollen Prävention unsinnig. Die Kritik an der kurzen Freiheitsstrafe sei an den Gerichten nicht vorübergegangen. "Sie hat gewiß dazu beigetragen, die Gefängnisstrafe auf Kosten des Zuchthauses in den Vordergrund zu rücken, und wohl auch dazu beigetragen, noch vor dem Eingreifen des Gesetzgebers der Geldstrafe einen Teil der Aufgaben zu übertragen, für die nach früherer Ansicht selbstredend und allein nur Freiheitsstrafen in Betracht gekommen wären. So ist die Verwendung der Geldstrafe schon vor dem Kriege deutlich angewachsen, um später, als die Gesetzgebung in den Kampf gegen die kurze Freiheitsstrafe eingetreten war, diese Bewegung noch rascher fortzusetzen. Wenn Krieg und Inflationszeit diese Entwicklung unterbrochen und für eine Reihe von Jahren wieder ein Überwiegen der Freiheitsstrafen gebracht haben, so erklärt sich dies vielleicht durch den schärferen Wind, der in der Kriegszeit in dem Gerichtssaal geweht hat, vor allem aber durch die völlige Verschiebung der Kriminalität in jenen Zeiten, besonders durch das jähe Anschwellen des Diebstahls, der damals noch nicht mit Geldstrafe bestraft werden konnte, und den ebenso jähen Rückgang der Körperverletzungen, die meist mit Geldstrafe geahndet werden. Indessen hat die statistische Übersicht gezeigt, daß die kurze Freiheitsstrafe gar nicht in dem gleichen Verhältnis zurückgegangen ist, wie die Geldstrafe zugenommen hat, es kann also mit obigen Erwägungen noch nicht alles gesagt sein. In der Tat geht aus einer noch vor dem Kriege in der Reichskriminalstatistik veröffentlichten Zusammenstellung ziemlich klar hervor, daß nicht die Bedenken gegen die kurze Freiheitsstrafe das ausschlaggebende Motiv für das Zurückdrängen der Freiheitsstrafe gewesen sein könne. Gerade die kürzesten Freiheitsstrafen (I bis 7 Tage), gegen die der Kampf am schärfsten gerichtet war, sind nämlich während der drei Jahrzehnte 1881 bis 1911 relativ konstant geblieben, und wenn die Strafstufe "ein Tag bis drei Monate" während dieser Zeit in abnehmendem Maße verwendet worden ist, so ist dies nicht auf eine Abnahme jener kürzesten Strafen, sondern auf eine Abnahme der Strafen von über acht Tagen zurückzuführen. Der Sachverhalt dürfte also in Wahrheit folgendermaßen liegen: Zwar sind in großem Umfang Geldstrafen anstelle von kurzen Freiheitsstrafen getreten, aber gleichzeitig sind infolge des allgemeinen Zugs zur Milde vielfach mit t I e r e Fr e i h e i t s S t r a fe n dur c h kur z e er set z t worden. Und so blieb es bei zahlreichen Delikten trotz aller kriminalpolitischen Bedenken doch wieder bei einer sehr häufigen Verwendung der kurzen Freiheitsstrafen. Stärker als alle Bedenken dieser Art erwies sich eben jener "Zug der Milde", der seinerseits in erster Linie mit der veränderten Anschauung über das Verbrechen zusammenhängen dürfte" (S. 26/27).

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A. Verwendung kriminal statistischer Daten

Die statistischen Belege dienen dazu, die These der zunehmenden Milde zu beweisen. Am stärksten gewichtet Exner die Tatsache, daß Rückfalldiebe in nur geringfügigem Maße mit geschärften Strafen zu rechnen haben. Trotz des Fehlens genauerer statistischer Berechnungen vermutet Exner, daß die Strafpraxis bei Mehrfachrückfälligen ebenso milde sei wie zur Zeit der Lisztschen Kritik: "Allein da im ganzen die Strafen wegen Rückfallbetrugs und Rückfalldiebstahls seit 1913 um ein Wesentliches milder geworden sind, ist wohl anzunehmen, daß auch die vielfach Rückfälligen heute noch milder bestraft werden, als die Vorkriegszahlen es dartun."

Wie Liszt läßt auch Exner bei seiner hypothetischen Beweisführung die Schwere der jeweiligen Delikte, die im Rückfall begangen worden sind, außer acht. Entgegen seiner Annahme zeigen diese Daten nämlich eine bemerkenswerte "Härte" der Gerichte bei typischen Armutsdelikten. Exnerverglich zwar unterschiedliche, und zwar deliktspezifisch verschiedene, Strafhöhen bei gesetzlich gleich bedrohten Tatbeständen, kümmerte sich aber nicht um die charakteristischen Unterschiede: "Auffallend ist vor allem die große Zahl der Freiheitsstrafen bei Notbetrug (64 "70); aber auch Notdiebstahl (39 "70) und Hausfriedensbruch (34 "70) werden verhältnismäßig viel mit Gefängnis bestraft, während bei anderen Delikten, wie Verletzung des Briefgeheimnisses (4,5 "70), das Gefängnis nur selten, bei manchen anderen, trotz Gleichheit der Strafdrohung, soviel wie überhaupt nicht ausgesprochen wird" (S. 63).

Die Strafpraxis bei Notbetrug, Notdiebstahl und Hausfriedensbruch wäre Anlaß gewesen, die Lisztsche These von den sozialen Ursachen der Verbrechen und der sozialen Funktion von Strafen zu präzisieren. Daß dies innerhalb der Liszt-Schule praktisch nicht geschah, ist ein Indiz dafür, daß dieser Topos für die Interpretation statistischer Daten belanglos, hingegen der klassische "Zunahme"-Topos bedeutsam war: "Man braucht nur zu wissen, daß die Kriminalität im Deutschen Reich vor dem Kriege bereits eine stagnierende war und daß sie nach der Welle der Kriegs- und Inflationszeit wieder in ihren alten Stand zurückgesunken ist. Es ließe sich daraus die Erklärung und Rechtfertigung dafür ableiten, daß die Gerichte von einer überflüssig gewordenen Strenge abgekommen sind, und daß sie auch keinerlei Anlaß haben, zur alten Praxis zurückzukehren, solange die Entwicklung der Kriminalität nicht ungünstiger wird. Dieser Gedankengang mag richtig sein, ist aber gewiß auf die Masse der Strafrichter und daher auch auf das große Durchschnittsergebnis ohne Einfluß geblieben. Ein sicherer Beweis dieser Behauptung ist freilich nicht möglich, doch spricht der Umstand für sie, daß jen erZ u g zur M i I d e au c h bei den Dei i k t e n in Er s c h ein u n g tri t t, die während der Geltungsdauer des Strafgesetzbuches sich wesentlich verme h r t haben. Der vielleicht wichtigste Fall ist das Vergehen des Betrugs: Die Kriminalitätszahl hat sich bei diesem Delikt sehr erheblich erhöht: von hunderttausend der strafmündigen Bevölkerung sind im Jahre 1882 nur 35 Personen, im Jahre 1927 jedoch 10 I Personen wegen Betrugs verurteilt worden. Trotzdem ist die Verwendung der Geldstrafe bei diesem Vergehen von 10 "70 auf 45 "70 gestiegen. Die Gerichte haben also keineswegs etwa versucht, die immer mehr um sich greifende Betrugskriminalität durch schärferen Zugriff zu bekämpfen, sondern haben sich auch hier von der allgemeinen Welle tragen lassen. Noch ein anderes Delikt unserer Tabelle I (S. 22) zeigt für die letzten Jahrzehnte wachsende Kriminalitätszahlen: der schwere Diebstahl. Trotzdem sind auch hier die langen Freiheitsstrafen auf die Hälfte ihres ursprünglichen Anteils herabgesunken" (S. 29).

3. Liberales oder autoritäres Strafrecht?

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Es kann kein Zufall mehr sein, auch Exner suchte nach einem statistischen Beweis "für die Existenz des Teufels" (Je//inek über von Öttingen). Aus einer Zunahme der Verurteiltenzahlen wird nicht auf Steigerung der Effektivität der Strafverfolgung geschlossen, sondern auf Zunahme dieser Delinquenz. Eine Abnahme bestimmter Delikte hingegen wird auf eine Besserung der wirtschaftlichen Lage zurückgeführt, d. h. wegerklärt. Die Wahl einer, verglichen mit dem Bagatellcharakter eines Delikts, sehr eingreifenden Strafart, wie die kurze Freiheitsstrafe bei Notdiebstahl, wird kommentarlos hingenommen. Der Anstieg der Verurteiltenzahlen beim Betrug wird nicht als Verbesserung der Effektivität der Strafrechtspflege gewertet, sondern, da Geldstrafe überwiegt, als schlagender Beweis für zu große Milde genommen. Bei einer Rückfalldelinquenz wird nicht Art und Schwere der im Rückfall begangenen Delikten untersucht, sondern aus der Rückfallhäufigkeit allein auf erforderliche höhere Strafen geschlossen. Mag man bei Liszt noch Zweifel haben, Exner bestätigt, daß die Orientierungen an der Effektivität der Strafrechtspflege für die Entwicklung einer deskriptiven Theorie nicht gerade förderlich war. Als weiterer Beleg dafür, daß dieser Umgang mit dem kriminalstatistischen Material nicht nur zeitbedingt war, soll als Vergleich Robert von Hippels23 Arbeit über Bettel, Landstreicherei und Arbeitsscheu (1895) herangezogen werden. Es handelt sich um eine sehr frühe Arbeit aus dem "kriminalistischen Seminar" , das Liszt 1888 in Marburg gegründet hatte und als dessen erster Assistent Robert von Hippel mit nach Halle ging. 1925 24 erläuterte Hippel, welchen Nutzen eine auf wissenschaftlicher Grundlage beruhende Strafrechtsreform von der systematischen Beobachtung und Auswertung statistischer Daten erwarten kann. Er trennte deutlicher, als wir es bei von Liszt und später noch bei Exner gesehen haben, zwischen der "kausalen Erklärung" von Verbrechen (S. 540) und den "Methoden zur Ermittlung des Um fan g s der Kriminalität und ihrer Arten" (S. 545). Schließlich unterschied er von diesen deskriptiven Kenntniszielen die kriminalpolitische Frage nach der Effektivität eines bestehenden Strafensystems 25 :

23 Die Anregung ging von Liszt aus, nicht die Art und Weise der Durchführung. Eine von Liszt gestellte Marburger Preisaufgabe führte zur Schrift .Die korrektionelle Nachhaft", 1889, die die historischen Grundlagen behandelt. Die 1895 erschienene empirische, statistische und rechtspolitische Schrift entstand auf Wunsch der IKV. Vgl. über Hippe/sTätigkeit auf diesem Gebiet, Deutsches Strafrecht, Bd. I, 1925, S. 564, FN. I. 24 Deutsches Strafrecht, Bd. I, S. 544, FN. I unter ausdrücklicher Nennung seiner Bettelei-Studie als Beispiel für methodisch sinnvolles Vorgehen. 25 a.a.O., S. 534: • K r i m i n alp 0 I i t i k ist die Betrachtung der Wirksamkeit des Strafrechts unter dem Gesichtspunkt der Z w ec k m äß ig k ei t". FN. I: .Zu beachten bleibt dabei, daß zw ec k m äßi g nur eine zugleich ger e c h t e Rechtsordnung ist. Dem Ungerechtigkeit erzeugt Nichtachtung des Rechts und Ungehorsam gegen seine Gebote". S. 575: .Ein Irrtum aber wäre es, wenn man in der kausalen Erforschung von Verbrechen und Strafe die Kr i m i nal pol i t i k sc h lec h t hin erblicken wollte"; vgl. hierzu ferner S. 541 (Distanzierung von Liszt). AufS. 555 rechtfertigt Hippe/ die Bedeutung statistischer Darstellungen für die Reform. Sie habe eine weitgehende Ei n sch r ä n k u n g der kur zzei t i gen Frei h ei t s s t r a fe zug uns t en der Gel ds t r a fe gebracht "ohne Änderung der Gesetzgebung" , ein Fall, .der zugleich in lehrreicher Weise den segensreichen Einfluß richtiger Theorie auf eine tüchtige Praxis" zeige.

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A. Verwendung kriminalstatistischer Daten

.. Weiter aber zeigen sie uns die Anwendung und evtl. die Wirksamkeit des bestehenden S t r afe n s y s t e m s und bilden so auch hier ein wichtiges Hilfsmittel der Reform. Auch die kausale Bedeutung w iss e n s c haft I ich e r Reformarbeit für die Praxis der Gerichte trotz gleichbleibender Gesetzgebung spiegelt sich evtl. in den Ziffern der Statistik" (S. 545).

Bemerkenswert sind seine methodischen Erörterungen: .. Vorsicht ist erforderlich, wenn man bei kausaler Erklärung von Verbrechen von den Deliktsbegriffen und Deliktsgruppen des positiven Strafrechts ausgeht. Denn diese sind auf bestimmte Tat e n, nicht auf bestimmte Arten von M e n s c h e n abgestellt und k ö n n e n auch nur so abgestellt werden. Daraus folgt, daß die Kriminalität bei ver s chi e den e n Delikten bzw. Deliktsgruppen auf gl e ich art i g e Ursachen und umgekehrt bei dem sei ben Delikt oder derselben Deliktsgruppe auf ver s chi e den e Ursachen zurückführen kann" (S. 542).

Aufgrund der nur begrenzten Reichweite verschiedener Methoden gelangt Hippel zu einer Kombination verschiedener Perspektiven. Dies zeigt sich in vielen seiner Arbeiten und Vorträgen. Beim Problem der Bettelei und Landstreicherei wechselt er von historischer Betrachtungsweise zu dogmatischer Begriffsklärung. Er wertet umfangreiche Materialien über die in den einzelnen Regionen unterschiedlichen Reaktionsweisen aus und vergleicht das statistische Material unter verschiedenen Hypothesen, um es interpretieren und bewerten zu können. Die Frage nach einer in ihren Wirkungen günstig zu beurteilenden Reaktionsform steht deutlich weniger unter Effektivitätsgesichtspunkten wie bei anderen Liszt-Schülern. Lassen wir Hippel selbst zu Wort kommen. Strafrecht verbinde verschiedene Gesichtspunkte. "Konstante" Strafzwecke (Vergeltung und Generalprävention) und "variable" Gesichtspunkte der Spezialprävention (S. 521). Verfehlt seien sowohl reine Abschreckungswie reine Besserungstheorien, ferner jede Steigerung der Strafe über das Maß des "Erforderlichen" hinaus. Dennoch sei die Spezialprävention lediglich ein " mit b e s tim m end e s Maß p r i n z i p" innerhalb der Schranken der konstanten Strafzwecke (S. 523). Hippels Vereinigungstheorie ist nicht in der Formulierung, sondern in den methodischen Konsequenzen auch innerhalb der Liszt-Schüler origine1l26 • Man beachte, was er über die "h e u ri s t i s c h e Be d eu tun g" (S. 518) der Spezialprävention schrieb: "Die vorausgehende Darstellung hat aufgrund induktiver Arbeit Auskunft über die Bedeutung und Tragweite der einzelnen konstanten und variablen Strafzwecke gegeben. Das s ach I ich e Bedürfnis nach umfassender Berücksichtigung aller Strafzwecke als Grundlage für das Verständnis des Strafrechts wie für seine Reform ist dabei bereits dauernd hervorgetreten. Diese Ausführungen bedürfen jetzt noch der Ergänzung und Zusammenfassung: Met h 0 dis c h ist hervorzuheben: Die Z w eck e der Strafe lassen sich nur bestimmen, wenn wir fragen, welche günstigen Wir k u n gen die Strafe durch Androhung und Vollzug er fa hrun g s g e m ä ß aus z u übe n vermag. Denn nur solche erfahrungemäß feststellbaren günstigen Wirkungen können als Strafzwecke gedacht werden (wenigstens für verständiges Urteil. Abstrakt möglich ist auch das Erdenken und Verfolgen unerreichbarer oder schädlicher Ziele). Das wurde auch von den Hauptgegnern im Schulenstreite, v. Liszt und Birkmeyer anerkannt. Ist das aber 26 Sein Pragmatismus stieß übrigens auch innerhalb der Liszl-Schule auf Kritik; etwa bei Exner, 1914, S. 29; aber auch in Frühschriften Kantorowiczs, vgl. Hippel, Deutsches Strafrecht 1., S. 521 FN. 2. Zu Liszl, vgl. Hippel, S. 531 und ZStW 30,1907, S. 871. Zu Birkmeyer, vgl. Hippel, S. 519.

4. Fortschrittsoptimismus und Resignation

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richtig, so ergibt sich daraus zwingend der weitere Schluß: All e günstigen Wirkungen, die die Strafe erfahrungsgemäß auszuüben vermag, sind als Strafzwecke anzustreben. Nicht weil etwas anderes logisch undenkbar, sondern weil es praktisch verfehlt wäre". (S. 519) ... "Gegen meinen Standpunkt ist sachlich eingewandt, er biete nur ein äußerliches Ne ben - und Ge gen ein a nd er der Strafzwecke, aber keine Verei nig u ng s t heo ri e. Eine solche müsse insbes. angeben, weIchem Strafzweck bei K 0 11 i s ion e n der Vor r a n g einzuräumen sei" (S. 521).

v. Hippel führte hierzu aus, daß es genügend Spiel räume innerhalb der konstanten und variablen Strafzwecke gebe, daß aber selbstverständlich eine gewisse Stetigkeit und Gleichmäßigkeit der Strafpraxis den Vorrang habe.

Auf der Basis dieser Straftheorie gelangte er zu einer erheblich differenzierteren Interpretation kriminalstatistischer Daten. In der Darstellung über die "Wirksamkeit des Strafrechts" fehlen die klassischen Topoi des ständigen Wachstums der Kriminalität und der zunehmenden Milde der Gerichte. Bezogen auf die Verhältnisziffern zeigt von Hippel ein stetiges Ansteigen der Verurteiltenzahlen, stellt dann aber sogleich die Frage, "in welchem Umfang dabei geringfügige Delikte in Betracht kommen" (S.547). Bei der Bewertung der "relativen Steigerung" der Kriminalität kommt er zum Ergebnis, daß die "relative Kriminalität der er s t mal s Verurteilen rückläufig sei, die der Rückfallsverbrecher aber zunehme. Daraus schließt Hippel, daß die Bewältigung dieses Problems eine kriminalpolitisch zentrale Aufgabe sei, schlägt aber keine lebenslange Unschädlichmachung vor, sondern eine zu der Strafe hinzutretende sichernde Maßnahme. Gegen das unbestimmte Strafurteil wendet er ein, es sei "unter ungenügender Würdigung der konstanten Strafzwecke" eine einseitige Betonung des Gedankens der Spezialprävention und überdies eine "unbegründete Härte" (S. 569). Bei der Frage der Geldstrafe und kurzen Freiheitsstrafen finden sich weitgehende Übereinstimmungen, doch ist der Schwerpunkt anders gewählt. Er sieht in der Geldstrafe eine "geeigente Regelstrafe für geringere Delikte" (S. 554). Sein Ziel ist also die Ersetzung der kurzzeitigen Freiheitsstrafe durch die Geldstrafe bei geringfügigen Delikten. Es fehlt also bei seinen kriminalpolitischen Empfehlungen das Argument der Ineffektivität, statt dessen verfolgt er eine Tendenz, unnötige Härten abzubauen.

4. Fortschrittsoptimismus und Resignation Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Strafrechtsreform Ende der 60er Jahre erscheint uns zunächst als unentschlossene Übergangszeit. Der Anteil der Geldstrafe pendelte zwischen 30070 und 40 %, also etwa vergleichbar mit der liberalen Phase vor der kriminalpolitischen Wende der 30er Jahre; mit dem Unterschied, daß der Trend zur Geldstrafe in den 50er und frühen 60er Jahren rückläufig war. Während der Reform-Diskussion kehrte sich das Verhältnis von Geld- und Freiheitsstrafe um und erreichte 1969/1970 einen bislang nicht wieder erreichten Höhepunkt. Aber interpretieren lassen sich diese

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A. Verwendung kriminalstatistischer Daten

Daten nur, wenn man sich die deliktspezifischen Besonderheiten vergegenwärtigt. Auskunft hierüber gibt uns eine Studie von RangoP-7 aus dem Jahre 1961. Die Daten ergeben einen Anstieg der Eigentums- und Vermägenskriminalität, insbesondere des Diebstahls, und einen weiteren Rückgang der Delikte gegen die Person. Insgesamt bleiben die Verurteiltenziffern bei der klassischen Kriminalität etwa konstant, doch deutet sich schon der exklusive Anstieg der Straßenverkehrsdelikte und damit die in den 60er Jahren erfolgte grundlegende Veränderung des gesamten Strafrechtssystems an. Die deliktspezifische Aufschlüsselung erklärt, wieso es wieder zu einem Anstieg der kurzen Freiheitsstrafen kam. Bis zur Strafrechtsreform waren etwa zwei Drittel aller Freiheitsstrafen unter 3 Monaten, etwa 90070 unter 9 Monaten 28 • Dies erklärt sich aus dem Anstieg der Straßenverkehrsdelikte und der Dominanz kurzer Freiheitsstrafen insb. bei Trunkenheitsdelikten. Etwa ein Drittel aller wegen Straßenverkehrsdelikte ausgesprochen~r Strafen lautete auf Freiheitsstrafe, davon fast alle kurzfristig, also bis einschließlich 6 Monate (99 0J0 aller Freiheitsstrafen). Da etwa die Hälfte aller Verurteilungen Straßenverkehrsdelikte betrafen, prägte die Strafpraxis bei diesen die Gesamtstatistik. Bei den übrigen Delikten wirkte sich der Anstieg der traditionell härter bestraften Eigentumsdelikte, insbesondere Diebstahl im Rückfall, in Richtung Rückgang der Geldstrafe aus. Angesichts der eher stagnierenden oder rückläufigen Verurteiltenziffern bei der klassischen Kriminalität, verzichtete Rangol (1961) auf dramatisierende Interpretationen und zeichnete eher das Bild einer effektiven Strafverfolgung. Interessant ist die Methode der kriminalstatistischen Erfassung und Interpretation von Daten. Verglichen mit dem Diskussionsstand vor dem Ersten Weltkrieg begnügte man sich damit, rein technisch die Veränderung der Daten zu registrieren, um dann im wesentlichen auf eine Veränderung "der Kriminalität" schließen. Veränderungen der Verfolgungsintensität und des Anzeigeverhaltens blieben außer Betracht: "Bleiben die Vergehen im Straßenverkehr, die zumindest in vorigen Jahrhundert praktisch nicht begangen werden konnten, und auch die Straftaten, die nicht im StGB oder StVG, sondern in anderen Bundes- oder Landesgesetzen geregelt sind, unberücksichtigt, lassen sich heute in Deutschland nach den Verurteiltenzahlen viel weniger Menschen Verbrechen und Vergehen zu schulden kommen, als jemals zuvor. Wird die Verurteiltenziffer für die 80er Jahre gleich 100 gesetzt, ist die Straffälligkeit bis heute um etwa ein Drittel geringer geworden" (S. 143).

Es folgt der Hinweis auf die Abnahme einzelner Delikte und eine noch zu erfolgende differenziertere Erfassung "des heutigen und früheren kriminellen 27 Damals Referent im Bundesstatistischen Amt, vgl. FN. 13. Interessant ist die Kontinuität dieses "retardierten Sprosses der Kriminologie" (Pi/gram, FN. 6) seit Georg von Mayrs (FN. 6) Bemühungen. Für uns hat dies den Vorteil, daß die statistischen Daten in etwa vergleichbar sind. 28 Franz Terdenge, Strafsanktionen in Gesetzgebund und Gerichtspraxis, 1983, S. 73ff., vgl. ferner FN. 12.

4. Fortschrittsoptimismus und Resignation

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Verhaltens der Jugend". Unberücksichtigt blieb, daß das Volumen der strafrechtlich kontrollierten Personen zunahm, und daß sich eine grundlegende Veränderung des gesamten Systems abzeichnete, nämlich die Kontrolle von Verhaltensweisen mit strafrechtlichen Mitteln, die man nur mit Mühe als "kriminell" definieren würde. Das Strafrecht wurde überwiegend, bevor man dies theoretisch reflektierte, zu einem Instrument zur Regulierung sozialer Konflikte im Straßenverkehr und des unangepaßten Verhaltens Jugendlicher bzw. junger Erwachsener. Bei der "klassischen Kriminalität" dominierten geringfügige Eigentumsverletzungen, die in einer sich als "Wohlstandsgesellschaft" verstehenden Gesellschaft ebenfalls einen veränderten Stellenwert bekamen. Damit war die Notwendigkeit einer Reform programmiert. Deren wichtigstes Ziel in den Jahren 1969-1975 war es, die Forderung Liszts zu verwirklichen und die kurzen Freiheitsstrafen zugunsten der Geldstrafe zurückzudrängen. Die verbleibenden Freiheitsstrafen sollten vermehrt zur Bewährung ausgesetzt werden, um den Strafvollzug sinnvoller ausgestalten zu können29 • Nimmt man die Daten aller wegen Verbrechen und Vergehen erkannter Strafen, also einschließlich der Straßenverkehrsdelikte, ergibt sich ein imposanter Rückgang von 132161 kurzen Freiheitsstrafen (bis zu 6 Monaten) 1969 auf 55844 im Jahr 1970, also um mehr als die Hälfte. Schlüsselt man die Daten der Rechtspflegestatistik deliktspezifisch auf und vergleicht nun die Effekte der Strafrechtsreform, ergibt sich ein etwas anderes Bild. Es kam zu einem Differenzierungsprozeß: Bestimmte Kriminalitätsbereiche werden nun vornehmlich mit Geldstrafe bestraft, bei anderen, z. B. schwerem Diebstahl, dominiert nach wie vor die Freiheitsstrafe; Effekte, die durch die Existenz und Anzahl von Vorstrafen nur modifiziert, aber nicht dadurch erklärt werden können. Dies ist bemerkenswert und findet eine Parallele in den deliktspezifischen Veränderungen der Sanktionsstile vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Bei Straßenverkehrsdelikten verschob sich der Anteil der Geldstrafe von 65070 (1968) auf 91 070 (1971) und pendelte sich danach bei etwa 90070 ein. Bei den übrigen Delikten ist der Austausch von der Freiheitsstrafe zugunsten der Geldstrafe wesentlich weniger ausgeprägt, nämlich von 61 070 (1968) auf 75 070 (1971). Der Anteil der Freiheitsstrafen nimmt also bei diesen Delikten weit weniger ab als bei den Straßenverkehrsdelikten, wie aus Tabelle 5 zu ersehen ist. Dasselbe gilt für die kurzen Freiheitsstrafen. Dafür steigen die mittleren und langen Freiheitsstrafen. 1968 wurden 5,1070 aller Verurteilten zu einer Freiheitsstrafe von mehr als 6 Monaten verurteilt, 1971 bereits 6,9070, 1976 schon 8,9 070 und 1980 schließlich 9,3 070. Dieser Trend hält an bzw. verstärkt sich 3o .

29 Vgl. die zusammenfassende Darstellung bei Roxin, JA 1980, S. 545, insb. S. 549; Jescheck, 3. Auf!. 1978, S. 2Iff.; ferner Jescheck/Grebing, die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht 1978; Jescheck, Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate, 1985. JO Terdenge, S. 85 (Tabelle 9).

3 Frommel

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A. Verwendung kriminalstatistischer Daten

Tabelle 5

Verurteilungen insgesamt

D

600000

so 0000 400000 300000

Straßenverkehrsdelikte

~

sonstige moelikte

200000 100000

o

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