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German Pages 442 Year 2014
Christoph Ernst, Heike Paul (Hg.) Präsenz und implizites Wissen
Präsenz und implizites Wissen | Band 1
Christoph Ernst, Heike Paul (Hg.)
Präsenz und implizites Wissen Zur Interdependenz zweier Schlüsselbegriffe der Kultur- und Sozialwissenschaften (unter Mitarbeit von Katharina Gerund und David Kaldewey)
Gefördert mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft
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Inhalt
Präsenz und implizites Wissen Zur Interdependenz zweier Schlüsselbegriffe der Kultur- und Sozialwissenschaften Christoph Ernst und Heike Paul | 9
M EDIENWISSENSCHAFT Hollywoods Kriegsbilder Historisches Wissen anderer Art Elisabeth Bronfen | 35
Präsenz als Form einer Differenz Medientheoretische Implikationen des Zusammenhangs zwischen Präsenz und implizitem Wissen Christoph Ernst | 49
Sinn oder Sinnlichkeit? Eine filmhistorische Fallstudie vor dem Hintergrund von Foucaults Freud-Kritik Kay Kirchmann | 77
S OZIOLOGIE Gefühle zwischen Präsenz und implizitem Wissen Zur Sozialtheorie emotionaler Erfahrung Frank Adloff | 97
Phänomenologisch-pragmatistische Sichtweisen auf die Konstitution von Präsenz im Handeln Christoph Mautz | 125
A MERIKANISTIK Präsenz, implizites Wissen und Fremdheit aus kulturwissenschaftlicher Perspektive Klaus Lösch und Heike Paul | 151
»Alle Menschen werden Schwestern«? Präsenz, implizites Wissen und feministische Solidarität Katharina Gerund | 185
Literatur als Präsentifikation impliziten Wissens Kulturkontakt in Mary Rowlandsons captivity narrative (1682) und Toni Morrisons Kurzgeschichte »Recitatif« (1983) Antje Kley | 211
K OMPARATISTIK »Aber höher als ihr, Zaren, sind die Glocken.« Marina Cvetaevas lyrisches Präsentifikationsprojekt »Verse über Moskau« Dirk Kretzschmar und Stefan Schukowski | 241
P OLITISCHE W ISSENSCHAFT Präsenz, Zeitbewusstsein und implizites Wissen Drei Funktionsbedingungen demokratischer Politik Clemens Kauffmann | 277
Präsenz und Raum in der Arabischen Revolte Ägypten im Jahr 2011 Christoph Schumann und Dimitris Soudias | 297
P ÄDAGOGIK Präsenzerfahrungen in der Pädagogik Jörg Zirfas | 319
R ELIGIONSWISSENSCHAFT Präsenz und implizites Wissen Religionswissenschaftliche Perspektiven Andreas Nehring | 341
Populäre Achtsamkeit Kulturelle Aspekte einer Meditationspraxis zwischen Präsenzerfahrung und implizitem Wissen Andreas Nehring und Christoph Ernst | 373
S INOLOGIE Präsenz und implizites Wissen Heilungsverfahren in christlichen Gruppierungen Chinas und deren Nähe zu volksreligiösen Praktiken Monika Gänßbauer | 405
T HEOLOGIE Von Gottes Gegenwart und der Ontologie der Präsenz Wolfgang Schoberth | 423
Autorinnen und Autoren | 439
Präsenz und implizites Wissen Zur Interdependenz zweier Schlüsselbegriffe der Kultur- und Sozialwissenschaften 1 Christoph Ernst und Heike Paul
I. P R ÄSENZ Präsenz hat Konjunktur. Dies belegen zahlreiche neuere Veröffentlichungen, die sich aus philosophischer, kulturwissenschaftlicher, literaturwissenschaftlicher und medienwissenschaftlicher Perspektive mit Präsenz beschäftigen. Besonders breit diskutiert wurden die Schriften von Hans Ulrich Gumbrecht, der sich in Diesseits der Hermeneutik: Über die Produktion von Präsenz (2004) und in Präsenz (2012) für eine neue ›Präsenzkultur‹ ausspricht und sich damit insbesondere von poststrukturalistischen Ansätzen abgrenzt. Weitere jüngere Publikationen zur Präsenzdebatte sind etwa Dieter Merschs Ereignis und Aura (2002a) und Was sich zeigt: Materialität, Präsenz, Ereignis (2002b), Lambert Wiesings bildwissenschaftliche Untersuchung Artifizielle Präsenz (2005) sowie eine Reihe von Aufsatzsammlungen, etwa Christian Kienings Mediale Gegenwärtigkeit (2007), André Bucher und Marco Bascheras Präsenzerfahrung in Literatur und Kunst (2007) oder Sonja Fielitz’ Präsenz interdisziplinär (2012). »Präsenz« ist dabei häufig Gegenstandsbereich und theoretisches Programm zugleich, da mit der Aufmerksamkeit auf Präsenzphänomene in unterschiedlichen Medien meist auch der adäquate Umgang mit ihnen thematisiert und problematisiert wird. Bereits die Eingrenzung des Gegenstandsbereiches erscheint schwierig; »Präsenz« ist gleichermaßen ein Phänomen und ein Phantom. Einerseits wird sie als eine selbstverständliche, meist unhinterfragte 1 | Die konzeptionelle Grundidee des vorliegenden Bandes basiert auf dem Forschungsprogramm des DFG-Graduiertenkollegs 1718 Präsenz und implizites Wissen, das im Frühjahr 2012 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg seine Arbeit aufgenommen hat. Die Herausgeber danken Katharina Gerund und David Kaldewey für ihr sorgfältiges Lektorat des Manuskripts und Alexander Kreische für seine redaktionelle Mitarbeit.
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Dimension der Erfahrung im Alltag betrachtet – also als eine alltägliche Präsenz. Andererseits erscheint sie als ein von eben dieser Alltagserfahrung differenzierter, besonderer Zustand – also als eine herausgehobene Präsenz. Diese Spannung ist freilich begrifflich schwer zu konzeptionalisieren. Im schillernden Wortfeld, das durch den Präsenzbegriff eröffnet wird, finden sich eine ganze Reihe semantisch verwandter Begriffe wie ›Anwesenheit‹, ›Unmittelbarkeit‹ und ›Gegenwärtigkeit‹, doch keiner dieser Begriffe ist deckungsgleich mit ›Präsenz‹. Dieser bestimmtunbestimmte Charakter hat den Präsenzbegriff immer wieder in das Zentrum diskursiver Objektivierungsversuche gerückt. Für die Geisteswissenschaften von besonderem Interesse sind die Übersetzungsbemühungen bzw. Diskursivierungen, in denen Präsenz aus menschlichen Wahrnehmungen und Erfahrungen destilliert und über kulturelle Schemata, Normen und Praktiken zugänglich wird. Präsenzphänomene, in denen – unter konstruktivistischen Prämissen betrachtet – zugleich die soziokulturelle Produktion von Präsenz als Präsenz vollzogen wird, bringt diese als ein kulturspezifisches Konzept in den Blick, das nur im Verbund verschiedener kultur-, medien- und sozialwissenschaftlicher Betrachtungsweisen sinnvoll fassbar und analysierbar ist. Hinsichtlich ihres theoretischen ›Programms‹ teilen sich die Beschäftigungen mit Präsenz grob in diejenigen, die – etwa im Anschluss an Jacques Derridas Ausführungen zu der »Spur« einer flüchtigen und abwesenden Präsenz (1972: 440) – einer poststrukturalistischen Logik folgen und denen, die – mit Hans Ulrich Gumbrechts Überlegungen zu einer neuen Diskussion des Präsenzbegriffs – durchaus von einer (Selbst-)Präsenz im Sinne einer ursprünglichen, unverstellten Erfahrung ausgehen. Gumbrecht folgend spricht etwa Sonja Fielitz von einer »Präsenz-Intuition« (vgl. 2012: xi). In Ergänzung und Weiterführung, aber auch Abgrenzung und Kritik dieser Betrachtungen soll die Analyse kulturell divergierender Formen und Funktionen der Diskursivierung von Präsenz im vorliegenden Band auf Grundlage der Idee vorgenommen werden, dass Präsenz in einem Interdependenzverhältnis mit implizitem Wissen steht und nur im Hinblick auf dieses angemessen verstanden werden kann. Den Beiträgen liegt demgemäß die Hypothese zugrunde, dass Präsenz im ersten Zugang nicht nur als ein repräsentationstheoretischer Sachverhalt, in dem die Frage im Vordergrund steht, ob und inwiefern Präsenz darstellbar ist, sondern als ein wissenstheoretischer Sachverhalt beschrieben werden sollte, in dem es um die Frage geht, inwiefern Präsenz ein mit bestimmten Formen des Wissens verschränkter Zustand ist. Diese Annahme erlaubt es, Präsenzdiskursen (verstanden als Diskursivierungen von Präsenz) mit Blick auf das Motiv eines Wissensüberschusses gegenüber den Möglichkeiten der sprachlichen Explikation nachzugehen. Präsenzdiskurse in Religion, Politik, Kunst oder Populärkultur können auf diese Weise als Verarbeitungen eines impliziten, sprachlich nicht explizierbaren Wissens analysiert werden. Der vorliegende Sammelband nimmt mit der Formulierung und Untersuchung der Hypothese einer Interdependenz von Präsenz und implizitem Wissen eine weitreichende Erweiterung des klassischen Gegenstandsbereiches der Präsenzforschung vor und stellt sie in neue kultur- und sozialwissen-
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schaftliche Kontexte. Jenseits einer engen Fokussierung auf Präsenz als ästhetische Erfahrung werden neue Gegenstandsbereiche erschlossen, etwa Emotionen, politische Partizipation oder religiöse Deutungsmuster. Bevor wir diese näher betrachten, soll zunächst eine Begriffsbestimmung erfolgen. Präsenz wird in der etymologischen und ideengeschichtlichen Perspektive als eine Einheit von räumlichem und zeitlichem Zugegensein beschrieben. Präsenz ist durch eine jederzeit mögliche, aber nicht-reflexiv durchdrungene Verfügbarkeit und durch eine hervorgehobene, aber in der Sprache nicht direkt kommunikativ adressierbare Auffälligkeit gekennzeichnet. Diese Charakterisierung von Präsenz als Anwesenheit, Gegenwart und Unmittelbarkeit ist insofern präzisierungsbedürftig, als diese Termini nicht nur als zeitliche und räumliche Begriffe spezifiziert werden müssen, sondern vor allem im Hinblick auf die bereits identifizierte Spannung zwischen alltäglicher Verfügbarkeit und herausgehobener Auffälligkeit. Diese Spannung erlaubt es, in Anlehnung an die Klassifikation von Theorien der ästhetischen Erfahrung (vgl. Menke 1991), zwei Grundtypen der Diskursivierung von Präsenz zu unterscheiden: Erstens wird Präsenz in Diskursen identifiziert, welche die Autonomie von alltäglichen Erfahrungen und Phänomenen verhandeln. Diese Erfahrungen und Phänomene werden gegenüber der sprachlichen Explikation zwar als transparent betrachtet, können aber nicht vollständig in explizites Regelwissen übersetzt werden und unterliegen zudem vielfältigen Deutungsprozessen. Derartige als ›präsentisch‹/Präsenz gedeutete Erfahrungen werden häufig als der Vernunft zugrundeliegende oder beigeordnete Kompetenzen begriffen. Zweitens wird Präsenz aber auch in Diskursen identifiziert, in denen die Souveränität von speziellen Erfahrungen und Phänomenen behauptet wird, die gegenüber der begrifflichen Explikation als intransparent angesehen werden. Diesem Erfahrungsbereich attestiert man häufig, dass er die Möglichkeiten der sprachlich fundierten Reflexion übersteigt. Folglich wird er als der begrifflichen Explikation übergeordnet dargestellt. Trotz ihrer Gegensätzlichkeit überschneiden sich beide Grundformen der Diskursivierung von Präsenz in einem Kriterium: Geltend gemacht wird die unmögliche sprachliche Explikation eines präsenten Sachverhalts unter der Bedingung einer gleichzeitig möglichen nicht-sprachlichen Gewissheit über die Präsenz des Sachverhalts. Verwendet man diese – paradigmatisch in der Reflexion auf kulturelle Fremdheitserfahrungen diskutierbare (vgl. auch Renn 2005) – Beobachtung als Maßstab, ist Präsenz ist somit durch eine implizite Dimension gekennzeichnet. Hieraus ergibt sich die Möglichkeit, eine neue Perspektive auf Präsenzerfahrungen und ihre Diskursivierungen zu entwickeln: Wenn in Behauptungen der Autonomie von Präsenz mit dem Begriff ›Präsenz‹ ein Netz von stillschweigenden Voraussetzungen angenommen wird, dann ist Präsenz auch Teil eines Repertoires verkörperter Wissenspraktiken, die für die sprachliche Explikation in ihrer Gesamtheit als uneinholbar verstanden werden. Im Unterschied zu herausgehobenen Präsenzerfahrungen haben diese Prozesse kraft ihrer Eigenart als Verfahrenswissen keinen Vernunft und Rationalität übersteigenden Charakter, sondern begründen, so ließe sich be-
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haupten, Vernunft und Rationalität als unterschwellige Voraussetzung maßgeblich mit. Umgekehrt wird in Diskursen zur Souveränität von Präsenz eine für die Sprache inkommensurable Erfahrung veranschlagt. Damit ist zwar eine Art von Erkenntnissouveränität gegenüber der sprachlichen Explikation behauptet, aber gerade auch in solchen herausgehobenen Momenten wird eine Wechselwirkung (im Sinne einer Rückwirkung aber auch im Sinne einer Vorprägung) mit vorhandenem oder zu erlangendem Erfahrungswissen angenommen (etwa als besondere Erlebnisqualität). Diese implizite Dimension von Präsenzdiskursen scheint auf in der Bedeutung von Präsenz als Präsentation und Präsentifikation im Sinne eines In-Szene-Setzens und Zur-Schau-Stellens (vgl. Gumbrecht 2004: 111ff.). In kultursemiotischen Ansätzen werden gemeinhin diskursive und präsentative Formen der Repräsentation unterschieden – wobei ›diskursiv‹ im Sinne von sprachlich-begrifflichen und ›präsentativ‹ im Sinne von anschaulich-bildlichen Zeichenhandlungen zu verstehen ist (vgl. Langer 1992: 86ff.). Präsenz ist – dies ist in Abgrenzung vom derzeitigen Forschungsstand hervorzuheben (z.B. Mersch 2002b, 2010) – nicht hinreichend beschrieben, wenn man sie als Sammelbegriff für all jene Instanzen anführt, die z.B. als Materialität oder Körperlichkeit gegenüber einer semiotischen Sphäre des ›Diskurses‹ eine unbewältigte Widerständigkeit bilden. Diese Sicht läuft unweigerlich Gefahr, zu starren und unproduktiven Frontstellungen, etwa zwischen ›asemiotischer‹ Präsenz und ›semiotischem‹ Diskurs, zu führen. In dieser Herangehensweise wird außer Acht gelassen, dass Präsenz als zeiträumliches Zugegensein ein Begriff für verkörperte und anschauliche Erkenntnisprozesse ist. Den Diskursivierungen von Präsenz (und mit ihr dem Aspekt eines Wissensüberschusses) als einem in konkreten Erfahrungsvollzügen verkörperten In-Szene-gesetzt-Seins bzw. Zur-Schau-gestellt-Seins nachzugehen wird möglich, wenn man Präsenzphänomene auf Theorien des impliziten Wissens bezieht.
II. I MPLIZITES W ISSEN Theorien des impliziten Wissens ermöglichen es, die Beschreibung von Präsenz und ihren diskursiven Formen und Funktionen zu präzisieren. Im Anschluss an klassische Positionen wie die von Gilbert Ryle (1971) und Michael Polanyi (1985) kann implizites Wissen als eine vorreflexive, erfahrungsgebundene, in körperlichen Praxen routinisierte Wissensform verstanden werden; diese ist als solche aber weder bruchlos explizierbar noch einfach imitierbar, sondern stellt sich als ein ›stummes‹ Verfahrenswissen akkumulierendes Wissen dar, welches ›parallel‹ zum expliziten Wissen existiert (vgl. Neuweg 2004). Der Begriff ›implizites Wissen‹ benennt freilich weniger den streng abgegrenzten Bereich einer spezifischen Wissensform, sondern ist ein heuristischer Sammelbegriff für eine Seins- und Erscheinungsweise von Wissen, die verschiedene Formen des Wissens miteinander gemeinsam haben (vgl. Weber/Antos 2009). Zur Charakterisierung von implizitem Wissen
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hat sich in der Soziologie, Pädagogik und Philosophie folgende Unterscheidung durchgesetzt: Implizites Wissen ist ein nicht-formalisierbares »knowing how« (tacit knowledge). Es gilt als ein Wissen, das eine intuitive Handlungssteuerung ermöglicht, durch Erfahrung erworben wird, also auf einem Vorrang der Praxis beruht, dynamisch im Sinne eines nur partiell transparenten Erfassens von Ähnlichkeiten ist und sich in das ›prozedurale‹ Gedächtnis bzw. das Körpergedächtnis einschreibt. Als Regelwissen ist implizites Wissen begrifflich nicht repräsentierbar und damit auch nicht direkt verbalisierbar. Explizites Wissen ist dagegen ein »knowing that« (codified knowledge). Es gilt als ein Wissen, das eine reflexive Handlungssteuerung ermöglicht, durch bewusstes Lernen erworben wird, auf einem Vorrang der Theorie beruht, im Sinne seiner analytischen Abgrenzbarkeit und vollständigen Transparenz statisch ist und sich in das ›deklarative‹ bzw. ›explizite‹ Gedächtnis einschreibt. Entsprechend ist explizites Wissen begrifflich repräsentierbar und artikulierbar.2 Dagegen steht die Metapher vom impliziten Wissen als einem ›stummen‹ Wissen für die kultursemiotische (Medien-)Differenz, derzufolge implizites Wissen mit den Mitteln der Sprache nur partiell, in anderen Zeichenhandlungen dagegen leichter auszudrücken ist. Überdies wird implizites Wissen häufig als Kompetenz eines Individuums aufgefasst: Michael Polanyi hat dies auf die einfache, aber sehr griffige Formel gebracht, »dass wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen« (1985: 14), d.h. dass im alltagsweltlichen Verhalten ein subjektives Bewusstsein davon vorhanden ist, mehr zu wissen und zu können als in der explizit-begrifflichen (reflexiven) sprachlichen Kommunikation zum Ausdruck gebracht werden kann. Jenseits dieser Unterscheidung des impliziten vom expliziten Wissen lässt sich das implizite Wissen selbst näher bestimmen und differenzieren. Bei implizitem Wissen kann es sich um ein ›noch nicht‹ explizites, unthematisches Wissen handeln, das jederzeit expliziert werden könnte, aber z.B. aus pragmatischen Gründen implizit bleibt – diese Variante lässt sich als ein ›schwacher‹ Begriff von implizitem Wissen beschrieben. Davon abgrenzen lässt sich ein ›starkes‹ implizites Wissen, welches als eine autonome Wissensform bezeichnet wird, die auch bei vorhandener Absicht und Anstrengung nicht bruchlos in Sprache übersetzt werden kann (vgl. Renn 2004, S. 234). Letztere Variante wird als Beleg dafür betrachtet, dass jede Kompetenz (als Können, Vermögen und Verfügbarkeit) abhängig von einer Praxis gedacht werden muss. Auch andere Begriffspaare wurden für die Unterscheidung implizit/explizit herangezogen. Im Kontext der performance studies unterscheidet Diana Taylor zwischen »archive« und »repertoire« als unterschiedliche Wissensformen: das Archiv fungiere als Speicher eines
2 | Häufig wird diese Unterscheidung auch in der Auseinandersetzung mit flankierenden Theorien zur »Nicht-Propositionalität« des Wissens sowie zu den Wissensformen des »Kennens« (Hermann v. Helmholtz), des »knowledge by acquaintance« (u.a. William James, Bertrand Russell), der »Gewissheit« (Ludwig Wittgenstein) sowie des »knowing what it is like« (Thomas Nagel) konturiert.
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kodifizierten kulturellen Wissens, das Repertoire sei dagegen ein Körperwissen, das nicht narrativ zugänglich ist (Taylor 2003: 16ff.). In der neueren Forschung finden sich verschiedene Typologien zum impliziten Wissen, die sich zum Teil überschneiden und sich alle einerseits auf Polanyi zurückbeziehen, andererseits auch neue Referenztheorien in unterschiedlichen Fachkulturen einbeziehen. So verwendet der Sozialwissenschaftler Harry Collins eine »three-way classification of tacit knowledge – relational, somatic, and collective« (2010: 3) und verortet implizite Wissensbestände (1) in individuellen Beziehungen (beispielsweise innerhalb von Familienkonstellationen, Paarbeziehungen etc.) in einer ›schwachen‹ Form, (2) als ein ›stärkeres‹ verkörpertes Wissen bzw. Körperwissen, das im alltäglichen Lebensvollzug unabdingbar, aber nicht ad hoc explizierbar ist, sowie (3) als ein ›starkes‹ implizites Wissen im Bereich des Kollektiven, das nicht auf individuelle Akteure zurückgeführt werden kann. Die Kulturanthropologin Alexis Shotwell beschreibt vier unterschiedliche Formen des impliziten Wissens – »practical, skill-based knowledge; somatic or bodily knowing; potentially propositional but currently implicit knowlegde; and affective or emotional understanding« (2011: xi) – betrachtet diese jedoch als notwendigerweise miteinander verbunden. Derartige Typologien zeigen, dass je nach (inter)disziplinärer Perspektive, Betrachtungsgegenstand und Erkenntnisinteresse unterschiedliche Formen und Aspekte des impliziten Wissens aufscheinen (vgl. auch Bromand/Kreis 2010). Ein starker Begriff von implizitem Wissen kann auch dessen performativen Charakter betonen. Im Lichte der kulturwissenschaftlichen Erweiterung des Performanzbegriffs (vgl. Fischer-Lichte 2010; Krämer 2001; Wirth 2002) betrachtet, tritt dieser insbesondere im Moment seiner in-Szene-gesetzten Zur-Schau-Stellung hervor: Implizites Wissen ist in einer Weise ›nicht-explizit‹, in der die Art der ›Explikation‹ nicht diskursiv, sondern als präsentativ anschaulich wird. Michael Polanyi hat deshalb auch vom »deiktischen« Charakter der Explikation des impliziten Wissens gesprochen (1985: 15) und damit, lange vor der aktuellen Diskussion, einen Zentralbegriff der neueren Forschung zu Präsenz (vgl. Gumbrecht 2004: 111ff.; Mersch 2002b: 355ff.) verwendet. Im Sinne von Polanyis Definition von ›Deixis‹ als »Benennen durch Zeigen« bedeutet ›In-Szene-Setzung‹ und ›Zur-Schau-Stellung‹, dass implizites Wissen nicht in der sprachlichen Reflexion objektiviert wird, sondern in den (gelingenden und misslingenden) Praxen seiner performativen Präsentationen. Bei dieser präsentischen Zurschaustellung des impliziten Wissens handelt es sich jedoch – obwohl der sprachlichen Reflexion nicht direkt zugänglich – um keinen ›asemiotischen‹ Bereich der Kultur. Im Gegenteil, auch implizites Wissen kommt in Zeichenhandlungen zur Geltung, allerdings in solchen, die nicht auf der Grundlage von Sprache operieren oder bei denen die sprachliche Ebene nur einen Teilaspekt darstellt, der durch präsentativ-anschauliche Zeichenhandlungen ergänzt oder überschritten werden muss. Auch im Sinne dieser präsentischen Dimension liegt es nahe, davon auszugehen, dass zwischen Präsenz und implizitem Wissen ein wechselseitiger Begründungszusammenhang besteht. Die
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Zusammenschau auf Präsenz und implizites Wissen führt zur Annahme einer epistemologischen Interdependenz zwischen diesen beiden – bis dato isoliert voneinander betrachteten – Begriffen. Dieses wechselseitige Abhängigkeitsverhältnis gestaltet sich wie folgt: (a) Beobachtet man die implizite Verfasstheit von Präsenz, so ist festzustellen, dass Erfahrungen und Phänomene der Präsenz auf der Ebene einer impliziten Zugänglichkeit gegeben sind – also in Abhängigkeit von implizitem Wissen. Präsenz darf daher nicht länger primär als ein repräsentationstheoretisches Problem gesehen werden, sondern muss in Korrelation zu wissenstheoretischen Begriffen gefasst werden. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass implizites Wissen einerseits als Voraussetzung für Präsenzerfahrungen fungiert, andererseits aber die Realisierungsformen von implizitem Wissen als ›Präsentationen‹ die soziokulturelle Gestalt von Präsenzphänomenen mit konstituieren. (b) Beobachtet man die präsentische Verfasstheit von implizitem Wissen, so kann im Gegenzug auch angenommen werden, dass implizites Wissen durch Präsenz gekennzeichnet ist: Körperliche Praxen sind als selbstverständliche Fähigkeiten in einem ›stummen‹ Sinne ›präsent‹ – und umgekehrt. Diese Praxen können auch von alltäglichen Vollzügen abgesetzt werden, wenn sie als besondere Fähigkeiten und Erfahrungen zur Schau gestellt werden. Präsenz muss deshalb zugleich als eine Voraussetzung und als ein qualitativer Begriff zur Differenzierung dieser Realisierungsformen von implizitem Wissen angesehen werden. Das Verhältnis von Präsenz und implizitem Wissen deutet somit auf einen wechselseitigen Begründungszusammenhang hin. Sofern auf dieser Grundlage die Diskursivierung von Präsenz eine Verarbeitung von implizitem Wissen darstellt, wird es auch möglich, dem Motiv der sprachlichen Nicht-Explizierbarkeit von Präsenz mehr Kontur zu verleihen: Um das, was ›präsent‹ ist, ›weiß‹ man, ohne dass es der sprachlichen Begründung bedarf. Diese – für implizites Wissen typische – Evidenz des Gewussten verweist auf eine besondere Art der Absorption der Erfahrung. Präsenz scheint aus der Überblendung von visuellen, körperlichen und emotionalen Kognitionen in konkreten kulturellen Praxen und Handlungssituationen hervorzugehen. Was dabei als ›Überschuss‹ der ›Präsenz‹ wahrgenommen und diskursiviert wird, verbindet diese verschiedenen Wahrnehmungs- und Geltungsbereiche des impliziten Wissens miteinander.
III. P R ÄSENZKULTUREN JENSEITS DER Ä STHE TIK : K ULTURSPE ZIFIK UND K ULTURVERGLEICH In Diesseits der Hermeneutik schildert Hans Ulrich Gumbrecht das Konzept seiner Einführung in die Geisteswissenschaften an der Universität Stanford, die den Studierenden in der Begegnung mit Kunstwerken, Architektur, Film, Musik und Literatur
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im Unterricht Präsenz im Sinne von »Momenten der Intensität« erfahrbar machen soll, durch die sie den besonderen Wert ästhetischer Erfahrung begreifen können.3 Historisch hatte die Kunst eine privilegierte Rolle in der Diskussion um Präsenz inne, sie erschien stets als eine besonders geeignete Sphäre, in der Verfahren der Präsentifikation ausprobiert und Präsenzerfahrungen reflexiv thematisiert werden können. Ausgehend von seinem Seminarplan stellt Gumbrecht seine Überlegungen zu den charakteristischen, teilweise auch widersprüchlichen Eigenschaften von »Präsenzkulturen« in Abgrenzung von »Sinnkulturen« an (2004: 117ff.). Gleich in dreifacher Hinsicht können Gumbrechts Ausführungen, die hier nur sehr verkürzt wiedergegeben werden, als Ausgangspunkt aber auch Kontrastfolie für die in diesem Band aufgezeigte Perspektive auf Präsenz und implizites Wissen herangezogen werden. 1. Erstens lassen sich die Gumbrechtschen Ausführungen als Neuauflage einer bereits in den 1990er Jahren von Autoren wie George Steiner initiierten Debatte um einen Präsenzbegriff verstehen, der einem klassisch modernistischen Diskurs über die Autonomie von Kunst und die »Sakralisierung« ästhetischer Erfahrung im Bereich der Hochkultur (wie man ihn paradigmatisch im new criticism findet) verhaftet ist (vgl. Steiner 1990). Gumbrecht führt den Diskurs über ästhetische Erfahrung als Erkenntnisweg, wie er etwa bereits in Alexander Gottlieb Baumgartens Vorstellung einer »sinnlichen Erkenntnis« entfaltet ist (Baumgarten 2008).4 Modifiziert wird dieser diskursive Rahmen dadurch, dass der individuellen, intuitiven, exoterischen Rezeptionsfähigkeit bei Gumbrecht in proto-demokratischer Geste eine größere Bedeutung gegenüber esoterischen Zugängen zugebilligt wird. Auch wenn die kulturellen Register in Gumbrechts Studien weiter gefasst sind als der traditionelle philologische Gegenstandsbereich und auch Präsenzphänomene aus dem Bereich des Sports und der Populärkultur zur Debatte gestellt werden, bleibt die Konzeption der ›präsentischen‹ ästhetischen Erfahrung vergleichsweise eng. Sie bildet eine weitere Wegmarke in einer europäischen/eurozentrischen Traditionslinie, die Gayatri Spivak und andere aus einer fremdkulturellen bzw. postkolonialen Perspektive rekonstruiert und gerade im Hinblick auf ihren universalistischen Geltungsanspruch kritisiert haben.5 Die postkoloniale Perspek3 | Gumbrechts Seminar zur Ästhetik als präsentischem Erkenntnisweg versteht sich als nicht-normativ im Hinblick auf ästhetische bzw. geschmackliche Standards und soll auch in der Selektion seiner Betrachtungsgegenstände jenseits enger, kanonischer Grenzen angesiedelt sein. In der Auswahl der präsenzkulturellen Gegenstände, die Gumbrecht trifft, finden sich »Mozarts Don Giovanni, die Glas- und Stahlarchitektur des Londoner Kristallpalasts, García Lorcas Gedichtsammlung Poeta en Nueva York, athletische Schönheit (exemplifiziert durch Filmmaterial über die Olympischen Spiele 1936) sowie Gemälde von Jackson Pollock und Edward Hopper« (Gumbrecht 2004: 117). 4 | Vgl. hierzu auch Alexis Shotwells Auseinandersetzung mit Baumgarten (2011: 58f.). 5 | Zur Kritik an dieser Tradition vgl. Buck-Morss zu Hegel (2009).
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tive in Aesthetic Education in the Age of Globalization (Spivak 2012) lässt deutlich hervortreten, dass Gumbrecht von einer sozialen und politischen Dimension im Ästhetischen abstrahiert und Präsenz als individuellen Erfahrungsgehalt postuliert, der auch angesichts seiner eigenen ästhetischen Referenzen auf die abendländische Tradition, umso mehr aber aus einer fremdkulturellen Perspektive, eine immense Verkürzung der soziopolitischen Geltung des Ästhetischen darstellt. Für Spivak geht es bei ästhetischer Bildung, die sie ebenso wie Gumbrecht für ein zentrales Argument in der Legitimation der Geisteswissenschaften hält, nicht um Transzendenz, sondern um »contamination« und um, wie sie es nennt, »the ab-use of European enlightenment traditions« (ebd.: 10f.). In der Verlängerung dieser exemplarischen postkolonialen Kritik an einer europäischen Tradition der Aufklärung setzt die vorliegende Diskussion von Präsenz und implizitem Wissen ein. Die Beiträge dieses Bandes problematisieren in diesem Sinne die Genealogie und Genese ›westlicher‹ Konzeptionen von Präsenz und ästhetischer Erfahrung, verstehen sich allerdings zugleich als Grundlagenreflexion aus einer kulturellen Binnenperspektive. Unter Anwendung kulturhermeneutischer Verfahren wird der Verstehensprozess selbst, der im Hinblick auf ästhetische Erfahrungen häufig als selbstverständlich und relativ unproblematisch angenommen wird, zum Gegenstand kulturwissenschaftlicher Untersuchungen. 2. Die Engführung von Präsenz und ästhetischer Erfahrung begrenzt bei Gumbrecht den Gegenstandsbereich enorm, da Präsenz v.a. im Hinblick auf den ›Sonderdiskurs‹ des Ästhetischen und somit als vermeintlich von allen anderen gesellschaftlichen Funktionsbereichen abgegrenzt thematisiert wird.6 »The original field of aesthetics is not art but reality«, konstatiert dagegen die amerikanische Philosophin Susan Buck-Morss (2000: 101) und rückt so das Ästhetische in das Zentrum unserer Wahrnehmungen, die »taste, touch, hearing, seeing, smell – the whole corporeal sensorium« umfassen (ebd.). Mit der ›Demystifizierung‹ der ästhetischen Erfahrung und ihres vermeintlichen Präsenzmonopols geht auch der hier vorgelegte Ansatz einher, Präsenzphänomene in allen gesellschaftlichen Wahrnehmungs- und Erfahrungsbereichen zu betrachten und sie in ihren je spezifischen Ausprägungen (in Gesellschaft, Politik, Religion, Populärkultur), aber auch in ihrer jeweiligen interdiskursiven Vermitteltheit zu analysieren. 3. In Gumbrechts Präsenzkonzept spielen Kulturspezifik, kulturelle Differenzen oder auch interkulturelle Konstellationen ebenso wenig eine hervorgehobene Rolle wie die Positionierung des Subjekts innerhalb einer Kultur; vielmehr suggeriert 6 | Neben Gumbrechts Arbeiten wäre hier auch der Gegenstandsbereich der Untersuchungen von Kiening (2007) sowie von Baschera/Bucher (2007) zu nennen. Die neuere Publikation von Fielitz (2012) erweitert zwar das Spektrum der Untersuchungsbereiche, affirmiert dabei aber weitgehend die kulturtheoretischen Implikationen der Gumbrechtschen Vorarbeiten.
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der Autor, dass gerade die ästhetische Erfahrung kulturelle wie auch andere Differenzen problemlos zu transzendieren vermöge. In der vorliegenden Auseinandersetzung mit Präsenz und implizitem Wissen wird nicht davon ausgegangen, dass Präsenz in dieser Weise ausschließlich universalistisch zu verstehen ist, sondern dass – im Gegenteil – ihre Verfasstheit und ihre Funktion immer auch eine kulturspezifische ist. Formen und Funktionen der Diskursivierung von Präsenz stehen stets in einem kulturellen Sinnstiftungszusammenhang, den es zu explizieren und kulturhermeneutisch zu analysieren gilt. Besondere Bedeutung fällt in diesem Zusammenhang kultureller Fremdheit zu, die einerseits ein Präsenzphänomen sui generis darstellt, es andererseits aber erlaubt, die Diskussion um das Ästhetische unter einem größeren, für die interkulturelle Diskussion offenen Dach zu konzeptionalisieren. Zusammenfassend liegen dem Band drei Grundannahmen zugrunde: Erstens, dass jedes Konzept ästhetischer Erfahrung oder ästhetischen Erlebens hinsichtlich seiner historischen Genese und seines hegemonialen Geltungsanspruches zu befragen ist; zweitens, dass Präsenzkulturen jenseits einer engen Fokussierung auf ästhetische Fragen und eines engen Gegenstandsbereiches (z.B. Kunst) zu betrachten sind und drittens, dass die Kulturspezifik konstitutiv für Präsenzdiskurse ist. Daraus ergeben sich für eine kulturvergleichend orientierte Untersuchung von Präsenz und implizitem Wissen wiederum drei unterschiedliche Aspekte, die im Folgenden kurz skizziert werden: Kulturspezifik, lokales Wissen (local knowledge) und kulturelle Mobilität/Interkulturalität. 1. In einer kulturhermeneutisch angeleiteten Betrachtung von Präsenz werden Präsenzphänomene als kulturspezifisch identifiziert und als solche in einen kulturellen Kontext eingeordnet, der dieser Spezifik Rechnung trägt bzw. diese expliziert und intelligibel macht. Formen und Funktionen der Diskursivierung von Präsenz werden als Muster kultureller Sinnstiftung und gesellschaftlicher Selbstverständigung herausgearbeitet, die individuelle und kollektive (kulturelle, nationale, politische) Identitäten erzeugen bzw. stabilisieren. Die narrativen Muster, visuellen Formen und kulturellen Praktiken, in denen Präsenzerfahrungen semiotisiert und somit auch für die Analyse zugänglich sind, reflektieren auf Wissensformen, die in der feministischen Theorie als »situiertes Wissen« (»situated knowledges«, vgl. Haraway 1988) bezeichnet werden. Letzteres kann partiell auch als implizites Wissen untersucht werden. Gleichzeitig ist auch das Interdependenzverhältnis von Präsenz und implizitem Wissen als nicht vorgängig oder jenseits kultureller Prägungen und kulturspezifischer Sozialisationsprozesse zu untersuchen. Implizites Wissen, zumindest in seiner schwachen Form, unterliegt, ebenso wie Präsenzdiskurse, kultureller Prädisposition und Strukturierung sowohl in seiner Konzeption als Ermöglichungsund Handlungswissen als auch in seiner Konzeption als regulierend und normativ wirksam. Entsprechend lassen sich auch in den Kulturwissenschaften verschie-
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dene Bestimmungen des impliziten Wissens ausmachen. Es sind implizite Wissensbestände oder »habits of the heart«, wie sie der amerikanische Soziologe und Kulturwissenschaftler Robert Bellah in Anlehnung an Alexis de Tocqueville nennt, die einen kulturellen Konsens ermöglichen und innerhalb einer Gruppe bzw. einer Kultur eine (nach Bellah nur »halb bewusste«) affektive Bindung herstellen, die wiederum über (zivilreligiöse) Präsenzphänomene als gemeinsames »öffentliches Gefühl« (Stewart 2007: 2) expliziert werden kann (vgl. Bellah 1967: 21). Ähnlich formuliert es der britische Kulturwissenschaftler Raymond Williams, wenn er von »structures of feeling« spricht, die an der Schnittstelle von individueller Erfahrung und überindividueller Explikation (z.B. in literarischen Texten) untersucht werden können (Williams 1977). Auch die Ausführungen des Kulturwissenschaftlers Stuart Hall zu Repräsentation und Stereotypisierung sind anschlussfähig an die Diskussion um das implizite Wissen. Stereotypen werden nach Hall einerseits über Repräsentationen wirksam und perpetuiert, andererseits müssen die Stereotypen in einer Art von implizitem Wissen angelegt sein – in dem, ›was nicht gesagt, aber fantasiert wird bzw. in dem, was impliziert wird, aber nicht gezeigt werden kann‹ (»what is not being said, but is being fantasized, what is implied but cannot be shown«, Hall 1997: 263) –, um ihre Wirkmächtigkeit zu erhalten. Zu beachten ist ferner, dass Stereotypen kulturspezifische Muster sind, deren ›Lesbarkeit‹ nur in spezifischen kulturellen Referenzsystemen möglich ist bzw. deren Appropriierung und Perpetuierung in anderen Kontexten andere Bedeutungen generieren. Ähnliches mag für andere signifying practices und für Aspekte eines sprachlichen, kulturellen oder politischen Imaginären gelten. 2. Während die Analyse der Kulturspezifik sich zum einen topographisch, d.h. makrostrukturell, auf das geografische Verbreitungsgebiet der Kultur (im Sinne der ›Area Studies‹), d.h. eines Kulturraums erstrecken mag, kann sie gleichzeitig auch kulturelle Differenz im Sinne intrakulturell divergenter Präsenzkulturen beschreiben. Da Begriffe wie ›Kultur‹ und ›Kulturraum‹ keineswegs als essentialistisch oder als abgeschlossen (wie im sog. Container Modell) zu betrachten sind, gilt es, den Blick darüber hinaus für mikrostrukturelle Dimensionen kulturspezifischer Präsenzmuster zu schärfen. Präsenzkulturen sind demnach auch auf einer subnationalen und subkulturellen Ebene zu beobachten. In dieser Perspektive kann implizites Wissen auch als ›lokales Wissen‹ konzipiert werden, um einen Begriff aus der Ethnologie zu verwenden, der jüngst in den Kulturwissenschaften auch in der Erarbeitung eines ›critical regionalism‹ aufgenommen und erweitert wurde.7 7 | Unter ›lokalem Wissen‹ versteht man in der Ethnologie und der Soziologie die kognitive Dimension des praktischen Handelns im Umgang mit konkreten materiellen Gegenständen, wie sie unter den Bedingungen ›vor Ort‹ verfügbar sind. ›Lokales Wissen‹ kann sich aber auch auf semiotische (nichtsprachliche und sprachliche) Repräsentationen beziehen (vgl. Geertz 1973, 1983; Schareika/Bierschenk 2004). Zu den Ansätzen des critical regionalism, vgl. Herr (1996) und Powell (2007).
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Lokales Wissen kommt so als Sammelbegriff für die kultur(raum)spezifische Prägung und Verfassung von Präsenzdiskursen und implizitem Wissen unterhalb und quer zu nationalen und nationalkulturellen Identitäten und Identitätsformationen in den Blick. Andere Formen der Kulturspezifik, basierend auf politischen, sozialen oder religiösen Affiliationen und Identifikationen/Identitäten, werden ebenfalls berücksichtigt. Wenngleich es nur interdisziplinäre Dachkonzepte sind, so ist durch die Begriffe des ›Kulturraums‹ und des ›lokalen Wissens‹ dennoch angezeigt, dass die semantische Füllung der Interdependenz von Präsenz und implizitem Wissen in den jeweiligen Präsenzdiskursen sich nur relativ zu den besonderen Bedingungen in einer Kultur und ihren internen Differenzierungen nachvollziehen lässt. 3. Präsenzphänomene sind nicht nur kulturspezifisch, sondern auch kulturvergleichend zu betrachten. Das Erkenntnisinteresse richtet sich dabei auf interkulturelle Austausch-, Überlagerungs- und Übersetzungsprozesse, die mit den Begriffen ›Kulturtransfer‹ und ›kulturelle Mobilität‹ beschrieben werden. ›Kultur‹ wird hier wiederum nicht essentialistisch-räumlich gedacht, sondern zum einen als Kohärenzbegriff – als semiotisch und kollektiv verfügbarer und medial präsenter Wissensvorrat, als Referenzrahmen für Verständigungsprozesse, der durch die Geltungsansprüche einer per Konvention stabilisierten Semantik bestimmt ist –, zum anderen als Repertoire verbindlicher kultureller Praktiken gesehen. Wendet man den Blick von der räumlichen Verortung auf die Bewegung von Kulturen, dann werden Vorgänge des kulturellen Austausches sowie der kulturellen Überlagerung und Vermischung über kulturräumliche Grenzen hinweg sichtbar und damit auch die Interkulturalitätsproblematik im Sinne der Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten des Fremdverstehens. Untersuchungen zu Kulturtransfer und kultureller Mobilität beziehen sich (a) auf die Mobilität von Menschen und die Interaktion von Individuen in Situationen des Kulturkontakts, mithin in Situationen, in denen das lokale Wissen auf eine fremde Situation angewendet werden muss und (b) auf die Mobilität von Ideen, Semantiken, Gütern und kulturellen Praxen (vgl. Greenblatt et al. 2009). Mit der Bezugnahme auf kulturelle Mobilität wird somit sowohl auf die Funktionen von implizitem Wissen und Präsenz im unmittelbaren Kulturkontakt und in der Bearbeitung von Fremdheit fokussiert, als auch auf den medial vermittelten Kulturkontakt. Hierzu zählen die Transformationsprozesse, denen Begriffe und Praktiken im Zuge einer fremdkulturellen Rezeption unterworfen werden und die im kulturwissenschaftlichen Diskurs unter Schlagwörtern wie ›Aneignung‹, ›Indigenisierung‹, ›Kreolisierung‹, ›Synkretismus‹ und ›Hybridität‹ verhandelt werden. In der bisherigen Forschung zu Präsenzphänomenen wurde die Kulturspezifik meist ausgeblendet; einerseits, weil (mehr oder weniger implizit) von einer gewissen Homogenität der kulturellen Produktionen ausgegangen wird, andererseits, weil häufig angenommen wird, dass für die Produktion und Rezeption von Literatur und Kunst die kulturelle Prägung keine Rolle spielt – auch nicht in einem
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fremdkulturellen Rezeptionsprozess. Bei Gumbrecht lässt sich lediglich eine gewisse Ambivalenz erahnen, wenn im Untertitel seines zentralen Werkes in der englischsprachigen Originalausgabe auf die Production of Presence verwiesen wird. Die Uneindeutigkeit der Aktiv-Passiv-Konstruktion – was wird für wen produziert? – wird dort nicht weiter ausgelotet, erscheint aber gerade in einem interkulturellen Kontext von besonderer Relevanz und mag sich auf die Art der Präsenzphänomene auswirken: So kann beispielsweise das, was in einem spezifischen kulturellen Kontext als herausgehobene Präsenzerleben markiert ist, in einem anderen Kontext eine alltägliche Präsenz darstellen. Die Beiträge dieses Bandes werden den Herausforderungen durch die genannten Aspekte einer auf Kulturvergleich und Interkulturalität ausgerichteten Forschungsperspektive auf Präsenz und implizites Wissen methodisch dadurch gerecht, dass sie die bewährten Mittel einer kulturhermeneutischen Betrachtungsweise weiterentwickeln. Der Kulturhermeneutik liegt die Annahme zugrunde, dass es sich bei Kultur um ein Kontinuum der Erzeugung, Erhaltung, Veränderung und Überlieferung von wahrnehmungs- und handlungsorientierendem Sinn handelt (Ernst/Sparn/Wagner 2008). Kultur ist Speicher und Medium eines Differenzwissens, das in der Kommunikation entsteht (Baecker 2000). Die Besonderheit des Ansatzes ist es, kulturelle Differenzen sowohl als Effekte binnenkultureller Grenzziehungen zwischen sozialen/soziokulturellen Gruppen als auch von Grenzziehungen zwischen verschiedenen Kulturen zu beschreiben. Das Schlagwort ›Interkulturalität‹ ist vor diesem Hintergrund ein Problembegriff für die komplexen Übersetzungsverhältnisse (Renn 2006) (a) zwischen verschiedenen, kulturell differenzierten Gruppen und Funktionsbereichen innerhalb einer Gesellschaft und (b) zwischen den Kulturen verschiedener Gesellschaften. Der interkulturelle Forschungsansatz ist nicht nur für kulturvergleichende Arbeiten im traditionellen Sinne geeignet und angezeigt: Wenn von Interkulturalität die Rede ist, sind nicht nur Vergleiche zwischen verschiedenen, relativ weit voneinander entfernten und auch historisch ›kontaktarmen‹ Kulturräumen gemeint, die aufgrund sprachlicher, ethnischer oder religiöser Kriterien als divergent wahrgenommen werden (z.B. China und Europa) oder zwischen enger assoziierten Kulturräumen (z.B. Europa und Nordamerika) und nationalen Kulturen (z.B. Deutschland und Frankreich), sondern gerade auch Vergleiche von/zwischen verschiedenen kulturellen Gruppen und Funktionsbereichen innerhalb einer Gesellschaft (etwa bei der Betrachtung ethnischer Majorität-Minoritätskonstellationen, von Problemen der Migration oder der Differenzen zwischen unterschiedlichen Milieus). Somit besteht das Programm des vorliegenden Bandes darin, einerseits die behauptete Interdependenz von Präsenz und implizitem Wissen an konkreten Sachverhalten nachzuvollziehen und zu analysieren – wobei die Aufgabe auch darin zu sehen ist, verschiedene disziplinäre Ansätze und theoretische Perspektiven auf das Forschungsprogramm zu beziehen; andererseits die Kulturspezifik und die interkulturellen Dynamiken sowohl hinsichtlich der behandelten Präsenzphänomene
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und den mit ihnen korrelierenden impliziten Wissensbeständen als auch hinsichtlich der Wechselwirkung zwischen beiden zu betrachten.
IV. B EITR ÄGE UND B EITR ÄGER I NNEN In den folgenden Beiträgen werden aus unterschiedlichen Fachperspektiven jeweils spezifische Aspekte des hier skizzierten Theorierahmens von Präsenz und implizitem Wissen fokussiert. Während einige der BeiträgerInnen in ihren Ausführungen stärker auf den Begriff der Präsenz abheben, stellt für andere der Ausgangspunkt ihrer Überlegungen das implizite Wissen dar – alle thematisieren jedoch die Interdependenz von Präsenz und impliziten Wissensbeständen. Auch die Thematisierung der Kulturspezifik und des Kulturvergleichs variiert hinsichtlich ihrer Zentralität für die Ausführungen, sie wird jedoch stets als Problemhorizont mitgeführt, auf den hin die Beiträge konzipiert sind. Die Medienwissenschaft ist durch die Beiträge von Elisabeth Bronfen, Christoph Ernst und Kay Kirchmann vertreten. Elisabeth Bronfen liest den Hollywoodkriegsfilm als eine besondere Art des re-enactment, in dem »historisches Wissen anderer Art« generiert wird, welches über intertextuelle Bezüge und Pathosformen (nach Warburg) für die Zuschauer intelligibel ist, auch wenn das, was auf der Leinwand gezeigt werden soll – der Krieg – es nicht sein kann. An verschiedenen Beispielen aus der Filmgeschichte (u.a. Lewis Milestones All Quiet on the Western Front und Steven Spielbergs Saving Private Ryan) sowie der Berichterstattung über die DDay-Invasion zeigt Bronfen, wie der Kriegsfilm als Präsentifikation eines impliziten (Nicht-)Wissens um Krieg fungiert; seine »imaginäre Rekonzeptualisierung« des Krieges behauptet eine Authentizität zweiten Grades, deren Geltungsanspruch sich von ihrem Vermögen, über intertextuelle Verweise und Wiederholungen Affekte zu produzieren, ableitet. Christoph Ernst vertritt in seinem Beitrag die These, dass die in der Forschungsdiskussion prominente Opposition zwischen konstruktivistischen Theorien und einer das Deskriptionsvermögen dieser Theorien transzendierende Erfahrungsdimension von Präsenz nicht weiterführend ist. Unter Rückgriff auf das von Luhmann als systemtheoretische Ersetzung des Begriffs des impliziten Wissens veranschlagte Konzept der strukturellen Kopplung lässt sich aufzeigen, dass der Begriff der Präsenz in einem konstruktivistischen Forschungsdesign als ein Begriff für Wahrnehmungsüberschüsse an der Grenze medial verkörperter Darstellungssysteme aufgefasst werden kann. Präsenz ist kein im Jenseits der verschiedenen mediengebundenen Formen angesiedeltes Phänomen, sondern sie entsteht an den Grenzen – und damit in den intermedialen Transkriptions- und Übersetzungsbewegungen – medialer Darstellungssysteme. Kay Kirchmann schließt an diese Diskussion an, indem er jene wechselseitigen Wahrnehmungsüberschüsse unter Rückgriff auf die Intermedialitätstheorie
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als eine metaphorische Behauptung von Mediendifferenz auffasst. Wie verdeutlicht wird, lässt sich die von verschiedenen Präsenztheorien geltend gemachte Präsenzerfahrung als die Behauptung einer Differenz zwischen Präsentifikation (Sinnlichkeit) und Bedeutung (Sinn) rekonstruieren. Die Interpretation von Michel Foucaults Kritik an Sigmund Freuds Traumdeutung als einer Medienkritik, die ebenfalls durch diese Differenz geleitet wird, ist als eine argumentative Grundlage zu sehen, um anhand der (Theorie-)Geschichte der avantgardistischen Montagekonzepte im russischen Revolutionsfilm und im Surrealismus aufzuzeigen, dass der Gegensatz von Bild und Begriff – gelesen als Gegensatz von Sinn und Sinnlichkeit – gerade nicht auf einen Antagonismus hinausläuft, sondern auf die wechselseitige Durchdringung beider Sphären verweist. Die Beiträge von Frank Adloff und Christoph Mautz behandeln Themen und Fragestellungen aus dem Bereich der Soziologie. Frank Adloff wendet sich in seinem Aufsatz der Emotionssoziologie zu. Er entwirft, auch in Abgrenzung von gängigen emotionssoziologischen Ansätzen, wie etwa den Arbeiten von Eva Illouz, und in der Vermittlung kognitivistischer und phänomenologischer Ansätze, eine Sichtweise auf Emotionen, die Körper- und Erzähltechniken zur Herstellung von Subjektivität und Intersubjektivität berücksichtigt und damit gerade auch die Interdependenz von Präsenz und implizitem Wissen sowie die Bedingungen und Möglichkeiten der intersubjektiven Explikation aufzeigt. Abschließend stellt Adloff seine Überlegungen in einen pragmatistischen handlungstheoretischen Rahmen, für den John Deweys Erfahrungsbegriff wichtig ist: Hier erfolgt die Begründung der emotionalen Erfahrung hinsichtlich einer präsentischen Gefühlsqualität, die sich mit der kulturell verfügbaren Semantik verbindet und darüber (zumindest partiell) artikuliert bzw. expliziert werden kann. Der gängige Gegensatz von subjektivem Gefühl und intersubjektiver Evidenz wird somit abgebaut, da ersteres nicht im Kontrast zum Sinnhaften und zur Sinnkultur, sondern vielmehr als eine »erlebte Evidenz« begriffen wird, für die Erleben und Beschreiben ko-konstitutiv sind. Christoph Mautz zeigt im Rückgriff auf sozialtheoretische Perspektiven, wie die Interdependenz von Präsenz und implizitem Wissen auf soziale Praxis und somit insbesondere auf alltägliche Handlungen bezogen ist, in denen die Erfahrung von Präsenz sich als ein Prozess darstellt, der sich gemäß phänomenologischer und pragmatistischer Konzeptionen vor allem durch das Wechselspiel zwischen aktiver, d.h. bewusster, Wahrnehmung und einem impliziten Erkennen auszeichnet. Es wird argumentiert und aufgezeigt, dass verschiedene Konzepte – von Bourdieus Habitus bis zu Meads Vorstellung von Interaktion als Manipulation – anschlussfähig an die Interdependenzthese sind und gemeinsam dazu dienen können, das Wechselspiel zwischen habitueller Wahrnehmung von Präsenz und der Umgestaltung von Handlungsschemata aufgrund von Präsenzerfahrungen zu analysieren. Die Fachperspektive der Amerikanistik wird exemplarisch in den Beiträgen von Klaus Lösch/Heike Paul, Katharina Gerund und Antje Kley deutlich. Klaus Lösch und Heike Paul diskutieren den Zusammenhang von Präsenz und implizitem Wissen im Anschluss an die kulturwissenschaftliche Fremdheitsforschung.
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Mittels einer Typologie zu interkulturellen, intrakulturellen, interpersonalen und intrapersonalen Erfahrungen, Diskursivierungen und Inszenierungen von Fremdheit gehen sie anhand ausgewählter Beispiele aus dem nordamerikanischen Kulturraum der Funktion von Präsenzphänomenen für die Affirmation, Vermittlung und Tilgung von Fremdheit nach. Die kulturspezifischen Beispiele der behandelten Präsenzphänomene reichen von der Weltausstellung in Chicago im Jahr 1893 und der black-face minstrelsy hin zum romantischen Liebesdiskurs und der Konversionserfahrung. Allen diesen Beispielen ist gemeinsam, dass sie eine partielle Explikation impliziten Wissens leisten und sich die jeweiligen Präsenzerfahrungen wiederum im impliziten Wissen sedimentieren. Katharina Gerund beschäftigt sich mit den Interdependenzen von implizitem Wissen und Präsenz am Beispiel eines kulturspezifischen Falls der (diskursiven) Verhandlung von Solidarität: Im Mittelpunkt des Aufsatzes steht die US-amerikanische Frauenbewegung und deren Leitmetapher, die der sisterhood, in diachroner und synchroner Perspektive. Die Solidaritätskonstruktion über den Rekurs auf sisterhood kann als Präsentifikation impliziten Wissens, nämlich dessen, was es heißt jemandes Schwester zu sein, betrachtet werden. Am Beispiel verschiedener feministischer Anthologien, Sisterhood Is Powerful (1970), Sisterhood Is Global (1984) und Sisterhood Is Forever (2003), wird verdeutlicht, wie die feministische Rhetorik der Schwesternschaft und deren präsentisches Potenzial ein kulturspezifisches Wissen aufruft und diese wiederum aktualisiert und respezifiziert. Antje Kleys Beitrag bezieht die Interdependenz von Präsenz und implizitem Wissen auf literarische Texte des nordamerikanischen Kulturraums. Am Beispiel von Mary Rowlandsons captivity narrative aus dem 17. Jahrhundert und Toni Morrisons zeitgenössischer Kurzgeschichte »Recitatif« wird aufgezeigt, wie Literatur als Präsentifikation impliziten Wissens betrachtet werden kann. Kley untersucht die Präsenzeffekte literarischer Texte und deren Funktion als Präsentifikationen von Wissensbereichen, die nicht begrifflich explizierbar sind. Im Hinblick auf die konkreten Textbeispiele wird eine Lektüreerfahrung rekonstruiert, die als Reiteration und Präsentifikation des Kulturkontakts beschreibbar ist, der sich analog auch bereits auf der Textebene repräsentiert findet. Für die Komparatistik mit slawistischer Ausrichtung gehen Dirk Kretzschmar und Stefan Schukowski am Beispiel des poet(olog)ischen Präsenzprojekts der Moskauer Lyrikerin Marina Cvetaeva (1892-1941) und seiner kulturspezifischen Fundierungen ebenfalls der Frage nach, wie Literatur, insbesondere Lyrik, als Diskursivierung von Präsenzerfahrungen beschreibbar ist. Anhand von Cvetaevas 1916 entstandenen Gedichtzyklus »Verse über Moskau« wird gezeigt, wie sich eine neuzeitliche russische Kultur als ein fortdauernd präsentisch codiertes System im Kontext einer auf hermeneutische Interpretation und cartesianische Subjekt/Objekt-Differenz (um)orientierten westeuropäischen Moderne zu behaupten sucht. Darüber hinaus lässt die (im doppelten Sinn zu verstehende) ›Rückkehr‹ zu dieser Präsenzkultur in der Gegenwart (im Westen und Osten) nicht nur eine differenzierte Neubetrachtung der Gedichte Cvetaevas (auch hinsichtlich ihres kanoni-
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schen Status‹ als russische Nationalliteratur) als notwendig erscheinen, sondern führt auch zu der Erkenntnis, dass diese ›Rückkehr‹ im Rahmen einer nationalen russischen Kultur Gegenstand ideologiekritischer gesellschaftlicher Analysen werden muss. Die Politischen Wissenschaften sind im vorliegenden Band mit Clemens Kauffmann und Christoph Schumann/Dimitris Soudias vertreten. Clemens Kauffmann diskutiert Präsenz, Zeitbewusstsein und implizites Wissen als drei Funktionsbedingungen demokratischer Politik. Dabei wird erstens (politische) Re-Präsentation als die Vergegenwärtigung von Abwesenden als fundamentales, wenngleich scheinbar paradoxes Prinzip – die Repräsentierten sind gleichermaßen präsent wie abwesend – der Demokratie vorgestellt. Zweitens wird Präsenz als ein Phänomen mit einer temporalen Struktur beschrieben; demokratische Politik verfügt demnach über eine spezifische Temporalstruktur, die sich auf die Konzeption einer »neuen Zeit« als Zäsur wie auch auf Vorstellungen von Gegenwärtigkeit beziehen kann. Drittens wird die so verstandene Präsenz in ihrer Interdependenz zu einem impliziten Wissen betrachtet, das einer demokratischen politischen Kultur unterliegt, rational strukturiert ist, im Handlungsvollzug präsent ist und im Sinne eines »Gebrauchswissens« auch weitergegeben werden kann. In der Zusammenschau der drei Kategorien lässt sich eine neue Perspektive auf politische Philosophie entwickeln. Christoph Schumann und Dimitris Soudias betrachten in ihrem Aufsatz die räumliche Dimension von Präsenz im Sinne einer gemeinsamen Anwesenheit von Menschen in einem Raum, in dem diese zusammen leben und zusammen handeln, und fokussieren damit stärker auf den Raum als auf die Zeit als Dimension politischer Erfahrung. Am Beispiel des Zusammenlebens in einem Viertel Kairos und am Beispiel der politischen Proteste auf dem Tahrir-Platz wird untersucht, auf welche unterschiedliche Weise Kollektive gegründet werden und wie sie in routinisierten Alltagspraxen funktionieren können. Während die social governance in den sogenannten informellen Stadtteilen Kairos ein Beispiel für ein partiell kontingentes, partiell aber auch impliziten Regeln folgendes, gelungenes alltägliches Zusammenleben darstellt, kann die Präsenz der Protestierenden auf dem TahrirPlatz als herausgehobene Präsenzerfahrung der Anwesenden betrachtet werden, die ihren Alltag durchbricht. Letztere ist weniger über habituelle Prägungen im impliziten Wissen verankert, sondern – vielleicht abstrakter – in einem kulturellen Gedächtnis vergangener Proteste. Inwiefern sich das situative Zusammenhandeln während der ägyptischen Revolution in einem impliziten Handlungswissen sedimentieren und in welchen Diskursivierungen die Präsenzerfahrung des Protestes zirkulieren wird, bleibt abzuwarten. Aus der Fachperspektive der Pädagogik zeichnet Jörg Zirfas Konzeptionen der Präsenz in unterschiedlichen pädagogischen Ansätzen nach und widmet sich hierbei exemplarisch den Konzeptionen der Imagination des Glücks bei Jean Jacques Rousseau (in einer »Pädagogik des Verweilens«), der Rolle von Gegenwärtigkeit und kindlichem (präsentischem) Zeiterleben im Spiel bei Friedrich Schleier-
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macher, der ästhetischen Kontemplation (als Zusammenfallen von Subjektivität und Objektivität) bei Arthur Schopenhauer, der Polarisation der Aufmerksamkeit (hinsichtlich einer gelungenen, ›revolutionären Selbstumwandlung‹ des Kindes) in der Reformpädagogik Maria Montessoris und dem (letztlich unverfügbaren) fruchtbaren Moment bei Friedrich Copei. Anhand der Ausführungen zur Präsenz als Gabe bei Jacques Derrida plädiert Zirfas abschließend für das pädagogische Vergessen, das die Gabe der Erziehung nicht bilanziert bzw. im Sinne ihres Ergebnisses bewertet. Vielmehr sei, mit Derrida, die Gabe der Erziehung entpflichtend. Die Kontingenz der pädagogischen Angebote und Möglichkeiten, die gegen eine überprüfbare pädagogische Intentionalität gesetzt wird, mag, so lautet eine vorläufige These, durch einen impliziten Handlungskontext gebändigt sein, in dem Pädagogen und Kinder nicht-explizierte Formen von Präsenzerfahrungen (gemeinsam) machen bzw. teilen. Die Fachperspektive der Religionswissenschaft wird in dem Aufsatz von Andreas Nehring und in einem weiteren Beitrag von Christoph Ernst und Andreas Nehring vorgestellt. Andreas Nehring untersucht eine Entwicklung, die er als die disziplinäre Öffnung der Religionswissenschaft zur Kulturwissenschaft beschreibt, und die damit einhergehenden unterschiedlichen Perspektiven auf die Kategorie der religiösen Erfahrung, die von religiösen und philosophischen über ethnologische und anthropologische bis hin zu medizinischen und neurologischen Zugängen reichen. Die präsentische Dimension der religiösen Erfahrung ist grundlegend für die Begründung der Religionswissenschaft, dabei scheint gerade die religiöse Erfahrung stark in impliziten Wissensbeständen verankert, die nur in kulturspezifischen Explikationen zugänglich sind. Somit wäre der Gegenstandsbereich der Religionswissenschaft die Deutung von bereits (als religiös) Gedeutetem. Im Paradigma von Präsenz und implizitem Wissen wird diese religionswissenschaftliche Grundkonstellation im Rekurs auf unterschiedliche disziplinäre Perspektiven kritisch betrachtet. Der Beitrag von Christoph Ernst und Andreas Nehring untersucht als exemplarischen Gegenstandsbereich den zeitgenössischen ›westlichen‹ Diskurs über Achtsamkeit. In historisch-kulturvergleichender wie in systematisch-kulturanalytischer Perspektive skizziert der Beitrag die Konturen dieser gegenwärtig in verschiedenen gesellschaftlichen Funktionskontexten populären Form der Bewusstseinsschulung. Achtsamkeit kommt als ein Phänomen in den Blick, für dessen Analyse die Annahme eines Zusammenspiels von Präsenzerfahrung und implizitem Wissen insofern angezeigt ist, als über dieses Zusammenspiel die mit Achtsamkeit assoziierte Erfahrungsdimension diskursiviert wird, andererseits in einer Perspektive auf Prozesse des Kulturtransfers zutage tritt, welchen Verschiebungen und Umdeutungen insbesondere die mit Achtsamkeit assoziierten Präsenzerfahrungen unterliegen. Für die Sinologie untersucht Monika Gänßbauer Heilungserfahrungen chinesischer Christen als Präsenzerfahrungen, die nicht restlos explizierbar sind und auf einem impliziten Wissen aufruhen. Die Heilung wird als Manifestation bzw.
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Beweis göttlicher Gnade betrachtet. Im Kontext von Selbstverständigungsdiskursen chinesischer Christen dient die Heilungserfahrung als identitätsstiftend; hinsichtlich von Missionierungsbemühungen kann sie als Instrument der Bekehrung dienen. Hier ist der betende Christ die Instanz, die zwischen Gott und dem Kranken/dem Heilungsbedürftigen vermittelt und qua Gebet die göttliche Präsenz performiert; gleichzeitig manifestieren sich im Erzählkern der Heilungsgeschichten auch Hybridisierungsprozesse, in denen traditionelle Formen des chinesischen Volksglaubens und magischen Denkens (und deren kulturspezifische implizite Wissensbestände) mit einer christlichen Deutung/Hermeneutik verbunden werden. Aus der Fachperspektive der Theologie untersucht Wolfgang Schoberth die »Gegenwart Gottes« als Präsenzphänomen. Ausgehend von Gerhard Tersteegens Sammlung »Geistliches Blumengärtlein inniger Seelen« führt Schoberth aus, inwiefern der theologische Diskurs einen Sonderdiskurs der Präsenz darstellt, der zwar in einigen Aspekten mit Darstellungen anderer Präsenzerfahrungen, wie auch der ästhetischen, vergleichbar ist, aber nie in diesen aufgehen kann. Die Gewissheit der Gegenwart Gottes im Gottesdienst, die mit Demut und Gebet beantwortet wird, macht die Präsenz Gottes (im alltäglichen wie im herausgehobenen Sinn) nicht nur zum festen Bestandteil der Gottesdiensterfahrung, sondern markiert gleichzeitig eine Bedingung, die außerhalb des Handelns der Beteiligten liegt, diesem jedoch erst seinen Sinn verleiht. Schoberth behandelt im Anschluss daran auch den Problemfall religiöser Sprache, die das implizite Wissen der Gläubigen um die Gegenwart Gottes zu explizieren sucht. Die Themen der in diesem Band versammelten Beiträge reichen somit von politischen Protestbewegungen bis zur Achtsamkeitsmeditation, von Fremdheit bis Emotion, von feministischer Solidarität in den USA bis zu christlichen Heilungserfahrungen in China, von Hollywood-Kriegsfilmen bis zur modernistischen russischen Lyrik. Die Aufsätze bedienen sich dabei einer Vielzahl von theoretischen Ansätzen und Methoden verschiedener disziplinärer Provenienz. Sie sind nach Fachzugehörigkeit klassifiziert, was sie in gewisser Weise disziplinär vereindeutigt. In einem interdisziplinären Forschungszusammenhang ist dies bisweilen nicht angemessen. Daher soll abschließend darauf hingewiesen werden, dass über die in den Einzelbeiträgen bereits erkennbare Interdisziplinarität hinaus vielfältige interdisziplinäre Anschlussmöglichkeiten existieren, etwa zwischen Sinologie und Religionswissenschaft, zwischen Medienwissenschaft und Soziologie oder zwischen Amerikanistik und Politikwissenschaft. In diesem Sinne hoffen wir, dass unser Band zu vielfältigen (inter)disziplinären Rezeptionsprozessen und Dialogen beiträgt, die sich mit der Verbindung von Präsenz und implizitem Wissen beschäftigen. Die hier versammelten Beiträge stellen dazu einen ersten Schritt dar. Weitere thematische und disziplinäre Anknüpfungsmöglichkeiten sind auch aus der folgenden Bibliografie zu ersehen.
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Zur Interdependenz zweier Schlüsselbegriffe der Kultur- und Sozialwissenschaften
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Medienwissenschaft
Hollywoods Kriegsbilder Historisches Wissen anderer Art Elisabeth Bronfen
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einer traumatischen Geschichte in Besitz zu nehmen, um ihr affektives Nachleben zu fassen und zu begreifen und führt gleichzeitig dazu, dass wir – und diese Wende ins Passive ist entscheidend – von den Spuren, die das Vergangene hinterlassen hat, in Besitz genommen werden. Wenn uns die Übertragung von historischen Ereignissen auf die Kinoleinwand eine kulturelle Beheimatung in einem vererbten Wissen bietet, so werden wir über diese Vermittlung von der vergangenen Geschichte auch heimgesucht. Indem Krieg als historische Re-Imagination auf der Leinwand nachträglich lesbar wird, nimmt sowohl der Film wie auch die kritische Lektüre, der wir diesen unterziehen, von einer Vergangenheit Besitz, die ein geteiltes ›Erbgut‹ ausmacht. Beide machen den Anspruch geltend, dass das Nachleben und Überleben der Vergangenheit in der Gegenwart uns angeht, uns entspricht. Von der imaginären Rekonzeptualisierung eines Kriegsgeschehens auf der Kinoleinwand zu behaupten, diese stelle zugleich eine Heimsuchung durch den Geist der Vergangenheit dar, bedeutet aber auch die Aufmerksamkeit darauf zu richten, wie sehr wir weiterhin unter dem Einfluss eines aus der Vergangenheit an uns übertragenen Wissens sowie der Emotionen, die dieses auslöst, stehen. Lässt sich somit unser kulturelles Gedächtnisarchiv als Artikulationsstätte von Heimsuchungen verstehen, gilt es diese daraufhin zu untersuchen, wie traumatische Ereignisse der Geschichte nachwirken, wie sie affektiv auf die Gegenwart einwirken. Die ästhetische Refiguration, mit der der Anspruch der Geschichte und zugleich unser Anspruch an sie zum Ausdruck kommen, entpuppt sich auch als Geste der Annäherung an deren nie direkt vermittelbaren traumatischen Kern. Auf diese Aporie Bezug nehmend erklärt Fredric Jameson am Ende seiner Einleitung zu The Political Unconscious: »History is what hurts, it is what refuses desire and sets inexorable limits to individual as well as collective praxis […] but this History can be apprehended only through its effects, and never directly as some reified force« (1981: 102). Er fügt dieser Behauptung hinzu: »This is indeed the ultimate sense in which History as ground and untranscendable horizon needs no particular theoretical justification: we may be sure that its alienating necessities will not forget us, however much we might prefer to ignore them« (ebd.). Für eine Untersuchung der historischen Rekonzeptualisierung von Krieg durch Hollywood ist entscheidend, wie Filme diese traumatische Geschichte als Wirkung und in ihren Wirkungen (effects), verständlich machen; als Auswirkungen, die nachträglich rekonstruiert und auf ein vorgängiges Ereignis zurück gelesen werden können. Diese folgenreichen Wirkungen sprechen zu jener Veränderung, die als Resultat einer vorhergehenden Handlung begriffen wird, betreffen also die Konsequenzen, die von einem zukünftigen Blick aus betrachtet die Geschichte gehabt haben wird. Mit dem Begriff ›effects‹ kommt aber auch ein als ästhetisch erzeugter Effekt verstandener affektiver Eindruck ins Spiel: jene emotionale und intellektuelle Wirkung, die im Kino durch Licht, Ton, mise-en-scène und postproduction erzielt werden kann. Beim Nachwirken des Krieges in Form einer historischen Re-Imagination auf der Leinwand, die überhaupt erst eine Erfassung jenes Realen der Geschichte ermög-
Hollywoods Kriegsbilder: Historisches Wissen anderer Art
licht, das sich als Grund und unüberschreitbarer Horizont jeglichem Zugriff entzieht, haben wir es mit einer Präsentifikation impliziten Wissens zu tun. Folgen wir Jamesons Behauptung, derzufolge wir immer nur die wirksamen Spuren der Geschichten begreifen können, bedeutet dies, unsere kritische Aufmerksamkeit darauf zu richten, wie (und dass) nachträgliche Rekonzeptualisierungen über die Heimsuchung der Vergangenheit einen Dialog mit dieser herstellen – und zwar in und für die Gegenwart. Oft wird die Denkfigur eines unfinished business aufgerufen, um das unheimliche Nachleben neuralgischer Anliegen der Geschichte, die im Gegenwärtigen einer Aushandlung bedürfen, zu umschreiben. Für die imaginäre Annäherung an eine traumatische Geschichte des Krieges, die Hollywood seit seinen Anfängen betreibt, lässt sich dies pointierter formulieren. Aus der Position der Gegenwart erkennen wir, dass die Vergangenheit Auswirkungen gehabt hat, dass sie nachlebt. Zu fragen gilt es, welche Konsequenzen sich daraus ergeben und auf welche ästhetischen Effekte gesetzt wird. Kino lässt sich als Denkraum verstehen, in dem dieses Adjustieren visuell, konzeptionell und affektiv vorgeführt, durchgespielt und in Umlauf gesetzt wird. Immer wieder setzen Filmgeschichten neu an, stellen die Schärfe neu ein, finden neue Einrahmungen, um sich jener Geschichte, die sich einem direkten Erfassen entzieht, anzunähern. Auf den Punkt gebracht lautet die These dieses Essays: Darstellungen des Krieges holen uns stets ein, obgleich sie nie im Gegenwärtigen aufgehen. Ihr affektiver Gehalt gehört zu unserem kulturellen Besitz, spricht das Nachwirken von Geschichte an, ohne in der Vergangenheit oder der Gegenwart fixiert zu sein. Vielmehr ergibt sich ein Gespräch mit der Vergangenheit für die Gegenwart und aus ihr heraus. Was die filmischen Wiedergaben von Schlachten im Konkreten betrifft, lässt sich zudem festhalten, dass wir diese entweder antizipieren oder nachträglich kommentieren und beurteilen, während die eigentliche Erfahrung des schrecklichen Gemetzels jenem Bereich des Realen angehört, der uns affiziert, auch wenn er sich direkt nicht erfassen lässt.
P HANTOMSOLDATEN Zwei Szenen aus Lewis Milestones All Quiet on the Western Front (1930) bieten eine filmsprachliche Reflexion zur Frage nach den Auswirkungen und Effekten, über die ein implizites Wissen der erschütternden Verluste des Krieges vermittelt werden kann. In diesem ersten Tonfilm zum Great War (der entstand, als sich in Europa ein militaristischer Furor wieder zu bilden begonnen hatte), wird zweimal eine Bildform eingesetzt, die die Ambivalenz der Gefühle einfängt, mit der junge Männer in die Schlacht ziehen, und zugleich deren Einsatz als kinematische Heimsuchung inszeniert. In der Szene, in der Paul Baumer und seine Kameraden zum ersten Mal in das notorische Niemandsland eindringen, um nachts Stacheldrahtzäune zu errichten (an denen in einer späteren Szene einige ihren furchtbaren Tod finden werden), arbeitet Milestone mit einer klassischen Schuss/
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Gegenschuss-Schnittfolge. Die jungen Männer laufen einem ungewissen Gefecht entgegen, doch während sie sich langsam nach vorne bewegen blicken sie jeweils über ihre rechte Schulter zurück zum Lastwagen, der sie an dieser Stelle abgesetzt hat und sie dort auch wieder abholen und ins Lager zurückbringen wird – so sie ihren Einsatz überleben. Die Blicke, mit denen die Soldaten den wegfahrenden Lastwagen betrachten sind mehrdeutig. Sie bezeugen eine Ungewissheit darüber, was sie beim Eindringen in das dunkle Schlachtfeld erwartet, welche Folgen ihr nächtlicher Einsatz haben wird, vielleicht sogar ein verstohlenes Verlangen, mit dem Fahrer ins sichere Lager zurückzukehren, anstatt weiter in das gefährliche Niemandsland vorzupreschen. Auch das Gefühl, im Stich gelassen und einer im Dunklen liegenden Gefahr ausgesetzt worden zu sein, lässt sich in diese Blicke hineinlesen. Entscheidend aber ist der Umstand, dass ihre Blicke auf der diegetischen Ebene der Filmerzählung unzweideutig festgelegt sind. Unmissverständlich blicken sie auf den fahrenden Lastwagen, der sie mit dem befehlshabenden Unteroffizier alleine gelassen hat. In der Abschluss-Sequenz seines Films kehrt Milestone zu dieser Bildform zurück, nur ist der Blick seiner Soldaten nun von der diegetischen Ebene losgelöst auf einen Punkt außerhalb der Filmgeschichte, jenseits der Leinwand gerichtet. Zuerst fängt die Kamera eine Nahaufnahme von Pauls Hand ein, die leblos zu Boden sinkt. Bei dem Versuch, einen Schmetterling einzufangen, der vor dem Sandsack, hinter dem er sich verschanzt hat, flattert, hat ein französischer Scharfschütze ihn getroffen. Dann setzt der Ton aus und der Schnitt geht nahtlos über zu einer Wiederholung der Pathosformel der in den Krieg ziehenden Soldaten. Nochmals sehen wir Paul und seine Kameraden in derselben Einstellung wie am Anfang des Films, nochmals blicken sie beim Marschieren über ihre Schultern. Diesmal jedoch ergreift uns die Szene, weil auf der Leinwand der Tod rückgängig gemacht zu sein scheint. Die Toten der Schützengräben des Ersten Weltkrieges sind wieder auferstanden und laufen nochmals ins Niemandsland. Die Montage fügt mit der Wiederholung jedoch eine bezeichnende Differenz hinzu. Die Körper der jungen Männer erscheinen als Überblenden, verlaufen über die Kreuze eines gigantischen Kriegsfriedhofs in Nordfrankreich. Milestones Phantomsoldaten laufen über ihre eigenen Gräber, sind mit diesen visuell verschränkt. Die Zukunft, in die sie hineinlaufen, ist vom impliziten Wissen um ihren sicheren Tod überschattet. Die auf dem Roman von Erich Maria Remarque basierende Filmgeschichte und das Reale der Schützengräben des Ersten Weltkrieges treffen sich am Fluchtpunkt dieses abschließenden Bildes. Unser nachträgliches Wissen ob der schrecklichen Kosten dieses Krieges verleiht dem Film seine Autorität. Die jungen Männer auf der Leinwand sind Revenants – Schauspieler, die untote Soldaten spielen, die nicht in ihren Gräbern bleiben wollen. Der Charme ihrer Wiederbelebung ist im besten Fall trostlos, läuft doch die letzte Bildsequenz in die Farbe Schwarz aus während die Truppen weiterhin über ihre eigenen Gräber marschieren. Auf der Leinwand sind sie zu neuem Leben erweckt worden, um ewig in den Krieg zu ziehen. Zugleich haben sie für die Überlebenden eine Bot-
Hollywoods Kriegsbilder: Historisches Wissen anderer Art
schaft. Während Paul und seine Kameraden an der Kamera vorbei ziehen blicken sie jeweils über ihre rechte Schulter und fixieren uns mit ihrem Blick. Entscheidend ist die visuelle Doppelung, mit der die Montage der zweiten Bildkomposition spielt. Zusammen mit der Überblendung der Phantomsoldaten und ihrer Gräber ist dieser Wiederholung eine weitere Differenz eingeschrieben, welche die Bedeutung des Blickes der in den Kampf ziehenden Männer wendet. Es fehlt der Gegenschuss, der mit dem Anblick des wegfahrenden Lasters ihren Blick an die diegetische Ebene des Films heften würde. Wir sehen ausschließlich den Blick der Toten und es entsteht der Eindruck, dass sie uns mit ihrem Blick treffen. Wir werden von ihnen angesprochen, ihr über die Schulter geworfener Blick betrifft uns direkt. Am Anfang des Films präsentiert Milestone eine Titelkarte, die verkündet: »This story is neither an accusation nor a confession, and least of all an adventure, for death is not an adventure to those who stand face to face with it«. Am Ende des Films mag es zwar weiterhin der Fall sein, dass Paul und seine Kameraden gegen uns keine Anklage erheben, keine Beschuldigungen machen. Dennoch ist ihr Nachleben auf der Leinwand als von der Front zurück gekehrte Phantome ein Appell an uns. Wenn nichts anderes, so sollen wir ihnen doch unsere Aufmerksamkeit schenken, indem nun wir unseren Blick auf sie richten. Diese Wiederholung der Bildform der in den Krieg ziehenden Männer lässt eine Referentialität jenseits des Filmbildes mit der Oberfläche des projizierten Filmbildes zusammenfließen. Weil wir sehen, wie diese jungen Männer ewig in den Krieg ziehen, fallen die Erwartung an den leiblichen Tod und eine mediale Wiederauferstehung zusammen. Eingefangen in ein und demselben Bildrahmen haben wir das Davor und das Danach der Schlacht. Das Reale des eigentlichen Gemetzels wird zwar in mehreren Szenen zwischen diesen beiden Sequenzen auf kinematisch brillante Weise zur Schau gestellt. Das Abschlussbild hingegen arbeitet mit einem anderen Anspruch: Ein implizites Wissen vom Horror und Furor konkreter Schlachten fungiert als Fluchtpunkt einer kinematischen Re-Imagination der Geschichte, die ihre Wirkungsmacht den affektiven Spuren entnimmt, die sie aufzurufen sucht. Die Montage der Wiederholung suspendiert die Soldaten zwischen Leben und Tod, friert sie auf dieser Schwelle ein, setzt sie ewig diesem Widerstreit aus. Die jungen Männer sind weder gänzlich verschwunden noch gänzlich zurückgekehrt; sie sind nur als markierte Abwesenheit anwesend. Doch mit dem über die rechte Schulter geworfenen Blick zurück nehmen sie uns in Besitz und rufen uns im Sinne einer geteilten kulturellen Erbschaft dazu auf, eine Erfahrung des Krieges mit ihnen zu teilen: nachträglich und stellvertretend. Milestones Abschlussbild enthält keine Erlösung aus der Geschichte, sondern verweilt bei einem Appell an unsere Aufmerksamkeit und unsere Teilnahme.
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K INO ALS D ENKR AUM UND DIE P ATHOSFORMEN DES K RIEGES Die Begriffe »Besitz«, »affektive Wirkung« und »Heimsuchung« als kritische Metaphern einzusetzen, um die Re-Imagination des Krieges auf der Leinwand zu beleuchten, ergibt sich daher, dass jede filmische Wiedergabe historischer Ereignisse von einem double voicing lebt, welches die aufgerufenen Ereignisse zeitgenössischen Anliegen anpasst. Wie Robert Burgoyne (2010) festhält, operieren diese Filme mit genre memory, indem die historische Rekonzeptualisierung Erinnerungen an vergangene Ereignisse in die Gegenwart transportiert. Es entfaltet sich ein Prozess des Durcharbeitens, der sowohl ideologisch, psychologisch und ästhetisch funktioniert. Als kultureller Denkraum verstanden bringt die Kinoleinwand nicht nur ein historisches Ereignis in die Jetztzeit zurück, sondern bezeugt auch, dass die Gegenwart für die Vergangenheit spricht, weil diese sie weiterhin in Anspruch nimmt. Bei jeder neuen kinematischen Refiguration eines bestimmten Kriegsereignisses rufen die Schichten der Geschichte, die dieser eingeschrieben sind, sowohl eine Erinnerung an die Vergangenheit als auch an vorgängige ästhetische Formalisierungen auf. So lässt sich Aby Warburgs Arbeit mit auf Assoziationslinien und Korrespondenzen hinweisenden Pathosformeln auf den Bildtafeln seines Mnemosyne-Atlas (2000) für die Bildsprache des Films fruchtbar machen, wenngleich die Differenz zwischen bewegtem Bild und Gemälde (bzw. Fotografie) mitbedacht werden muss. Die Analogie besteht in Warburgs Hinweis auf die doppelte (und doppeldeutige) Bewegung, die mit einer ästhetischen Formalisierung von emotionalen Intensitäten einhergeht. Die Überschrift zu dem Blatt vom 9.5.1928 lautet: »Unter dem dunkel surrenden Flügelschlage des Vogel Greif erträumen wir – zwischen Ergreifung und Ergriffenheit – den Begriff vom Bewusstsein« (zit. in Bauerle 1988: 13; vgl. Warburg 2000). Bezeichnend an dem Projekt, welches Warburg eine »Geistergeschichte für ganz Erwachsene« nannte, ist der Umstand, dass er die Tafeln, auf denen er das kulturelle Nachleben von Pathosformeln der Antike in der frühen Neuzeit bis in die Moderne nachzeichnet, immer wieder neu arrangiert und somit die offene Kartographie einer kulturellen Heimsuchung darbietet. Hollywoods Refiguration von Krieg – so die These meines eigenen Projekts – folgt eben diesem Prinzip. Für meinen idiosynkratischen Einsatz von Warburgs Verfahren ist zugleich ausschlaggebend, dass sein Konzept der Pathosformel jede Kunsterfahrung als eine produktive Spannung zwischen Ergriffensein und Begreifen versteht, wobei sich dieses Oszillieren sowohl auf das refigurierte Ereignis wie die ästhetische Formalisierung bezieht. Auf der Ebene der Aneignung, des Zitierens, des Recyclings stellt jedes Kunstwerk, dessen Intensität den Zuschauer ergreift, die ästhetische Formalisierung einer vorgängigen Intensität dar, deren überwältigende Wirkung bereits als Bildformel eingefangen und eingedämmt worden ist. Die vorgängige Intensität wirkt in der Refigurierung der früheren Formalisierung nach, ergibt sich aufgrund ihrer Wiederbelebung. Für die Verarbeitung traumatischer Geschichte auf der Leinwand ist die Vorstellung eines kinematischen Recyclings vorgängiger Bildformeln des Krieges deshalb
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fruchtbar, weil sich mit diesem Begriff die intellektuellen wie emotionalen Auswirkungen und Effekte dieser Inszenierungen beschreiben lassen. Die Übertragung von Warburgs Verfahren auf Hollywoodfilme ermöglicht eine Beschreibung davon, wie eine nicht greifbare Intensität des Krieges begreifbar gemacht werden kann, indem kinematische Bildformeln eine Balance herstellen zwischen dem Verstehen von erschütternden Emotionen dank des Einsatzes der Einbildungskraft einerseits, und einer konzeptionellen Deutung andererseits. Gelingt es Filmen über den Furor und Terror des Krieges, diese überwältigende Intensität durch eine ästhetische Formalisierung zu erfassen, so bedienen sie sich jener doppeldeutigen Rhetorik, die im englischen Begriff ›to contain‹ enthalten ist. Die Formalisierung beinhaltet und umfasst eine Intensität, die zugleich strategisch eingeschränkt werden muss, weil sie nur durch diese Eindämmung ertragen (und begreifbar gemacht) werden kann. Bei einer kinematischen Rekonzeptualisierung von Krieg handelt es sich um ein Enthalten und Erhalten, welches in der Refigurierung ein bedrohliches Wissen abschwächt und es zugleich implizit mitschwingen lässt. Für den Versuch, Warburgs Mnemosyne-Projekt für eine Erörterung von Hollywoods historischer Re-Imagination fruchtbar zu machen, ist dessen Interpretation durch Georges Didi-Huberman ausschlaggebend. Eine Karte emotionaler Intensitäten zu entwerfen, die sich aus dem Recycling einzelner Bildformeln ergibt, impliziert nach Didi-Huberman »a knowledge in extensions, in associative relationships, in ever renewed montages, and no longer knowledge in straight lines, in a confined corpus, in stabilized typologies« (2007: 10; siehe auch 2011). Zu behaupten, dass mit jeder nachträglichen Wiederbelebung einer Bildformel jene emotionale Intensität erneut zum Ausdruck kommt, die bereits von vorherigen Formalisierungen eingefangen worden war, setzt das Fortleben eines kollektiven Erinnerungsspeichers voraus, auf den immer wieder zurückgegriffen werden kann. Die stetig auftauchenden Bildformeln bezeugen unsere Heimsuchung durch die Vergangenheit. Dabei wird ihr kulturelles Nachleben am Besten durch das Nachzeichnen unerwarteter Korrespondenzen deutlich, gilt es doch laut DidiHuberman, ein transversales Wissen der unerschöpflichen Komplexität von Geschichte zu erläutern, der wir uns zuwenden, weil sie uns dazu aufruft, weil sie an uns appelliert. Eine hermeneutische Geste der Montage erweist sich als besonders passend, um einen Bildatlas zu entwerfen, der von dem theoretischen Anliegen getragen wird, die Arbeit des kulturellen Gedächtnisses derart zu denken, dass keine Fixierung von Erinnerungsbildern der Vergangenheit entsteht, kein definitives Narrativ, sondern eine offene, stets neu konfigurierbare Zusammensetzung von Analogien, Verbindungslinien und Korrespondenzen. Demzufolge lassen sich die wirkungsmächtigen Spuren des Krieges in unserem kulturellen Bildrepertoire mit einer Kartographie jener Darstellungen erörtern, die deren Intensität im Rückgriff auf vorgängige Formalisierungen erinnern und somit erneuern. Für Filmbilder steht im Gegensatz zu den Gemälden und Fotografien, auf denen Warburgs Mnemosyne-Atlas beruht, jene Verflechtung auf dem Spiel, auf welche die bewegten Bilder Hollywoods bauen: Die Kamera-
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bewegung, die Bewegung der Figuren durch den abgebildeten Raum und die affektive Mobilisierung des Zuschauers, die der Schnitt und die mise-en-scène aufruft und transportiert. Dabei geht es weniger um das Nachleben einzelner leidenschaftlicher Posen, als um das Recycling von Handlungsfunktionen, Figurenkonstellationen und Themen, sowie von Starkörpern, die die Intensität des Krieges – als physische, psychische und ideologische Mobilisierung – verkörpern. Hollywood als einen Denkraum zu verstehen, in dem diese kulturellen Energien enthalten, transformiert und immer wieder neu in Umlauf gesetzt werden, heißt auch hervorzuheben, dass es sich um Strategien der Übertragung handelt. Das Aufgreifen vorgängiger Bildformeln verhandelt ein implizites Wissen: Hartnäckige Affekte werden in effektive Zeichen übersetzt, so dass ihre Intensität auf verhaltene Weise erhalten bleibt. Das re-enactment einer Schlacht auf der Leinwand – wie im Folgenden anhand einiger Details aus der Anfangssequenz von Steven Spielbergs Saving Private Ryan (1998) gezeigt werden soll – stellt eine Wiederholung zur Schau, welche historische Realität als fiktionalisierende Narration vergangener Ereignisse hervorbringt, indem sie auf eine imaginative Fähigkeit, die Vergangenheit als Phantombild(er) auf der Leinwand aufrufen zu können, setzt. Diese Re-Imagination findet vornehmlich auf der Ebene jener Affekte statt, die überhaupt erst durch eine selbstreflexive kinematische Formalisierung erzeugt werden. Ist unser Zugang zum Krieg somit durch unsere Fähigkeit zur historischen Rekonzeptualisierung vermittelt, so steht nicht der Umstand auf dem Spiel, dass wir das Reale der Geschichte nur flüchtig begreifen können. Ebenso entscheidend ist das implizite Wissen, welches diese bewegten und bewegenden Bilder affektiv übermitteln. Entscheidend ist somit weniger, was sich nicht fassen lässt, weil es sich unserem Blick und unserem Verständnis entzieht, sondern das, was sich, von dieser Unergründbarkeit ausgehend, über den Zustand einer intellektuellen Ergriffenheit durchaus begreifen lässt. Mit seinem »D-Day, Omaha Beach«-re-enactment operiert Spielberg mit einem Recycling vorgängiger Bildformeln, um die überwältigende Intensität der Kriegserfahrung auf der Leinwand einzufangen. Implizit antwortet er mit seinem aufwendigen Spektakel auf die Erfahrung jener Regisseure, die an der Schlacht teilgenommen haben und deshalb auf einer unüberwindbaren Diskrepanz zwischen historischem Ereignis und jeglicher nachträglicher Darstellbarkeit insistieren. John Ford, dessen Filmteam zusammen mit den Truppen auf Omaha Beach landete, betont in einem Interview mit Pete Martin: »Not that I or any other man who was there can give a panoramic wide-angle view of the first wave of Americans who hit the beach that morning […] my staff and I had the job of ›seeing‹ the whole invasion for the world, but all any one of us saw was his own little area« (Martin 2005). Zu einem gegebenen Zeitpunkt habe er nie mehr als ein Dutzend Männer gesehen, weil sein Auge nicht mehr aufnehmen konnte. Erst als die Schlacht vorbei war, konnte er zusammen mit den Überlebenden zurückblicken auf die Toten, die hinter ihnen lagen. Spielbergs imaginäre Rekonzeptualisierung bezieht sich
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auf die wenigen dokumentarischen Bilder der Wochenschauen, die es von dieser Schlacht gibt, sowie auf Dokumentarfilme von Schlachten, die zeitgleich am pazifischen Kriegsschauplatz entstanden sind. Indem er auf diese vorgängigen Formalisierungen zurückgreift, wird nicht nur eine direkt nicht erfassbare Erfahrung von Krieg aufgerufen, sondern auch die affektive Energie der vorgängigen Visualisierungen reaktiviert. Entscheidend ist somit weder zu behaupten, dass kinematische Darstellungen historische Ereignisse verstellen, noch dass sie deren reale politische Konsequenzen ausblenden. Stattdessen gilt es, einen Authentizitätseffekt für die kinematischen Rekonzeptualisierungen dessen festzumachen, was sich einer direkten Wiedergabe entzieht, was nur implizit zum Ausdruck gebracht werden kann. Die Omaha Beach-Sequenz in Saving Private Ryan versteht sich als imaginatives Durcharbeiten von Geschichte. Spielberg belebt vorgängige Bildformeln und setzt dieses militärische Ereignis somit selbstreflexiv in Bezug zu den sich bereits in Umlauf befindenden Wiedergaben des D-Day. Seine Kommemoration der Opfer dieser Schlacht ist zugleich konzipiert als Hommage an die Filmemacher, deren Bildformeln ihm zu seiner eigenen Refigurierung verholfen haben. Zugleich stellt seine Version eine den späten 1990er Jahren angepasste Revision dar: Das kulturelle Nachleben dieser prägnanten Bildformeln des Krieges antwortet sowohl auf die kulturellen Belange der Gegenwart, wie es auch die technischen Möglichkeiten und den Stil eines sich stets wandelnden Mediums reflektiert. Die Frage des Blickes rückt deshalb sowohl in der Rahmengeschichte als auch in der imaginativen Rekonzeptualisierung der D-Day-Schlacht in den Vordergrund. Der Film beginnt bezeichnenderweise nicht mit der Schlacht auf Omaha Beach, sondern in der Gegenwart, auf dem Militärfriedhof der alliierten Streitkräfte in der Normandie. Der Veteran James Ryan besucht das Grab jenes Offiziers, dem er sein Überleben verdankt. Sein ältester Sohn macht Filmaufnahmen, während er das Grab seines Vorgesetzten sucht. Nachdem er das Grab von Capt. Miller ausfindig gemacht hat und ergriffen vor diesem kniend in Gedanken in die Vergangenheit zurückversetzt wird, fährt die Kamera in eine extreme Nahaufnahme seiner Augen, zu der wir am Ende des Films nochmals zurückkehren. Die Schlacht auf Omaha Beach wird ihrerseits eingerahmt durch eine extreme Nahaufnahme der Augen des Mannes, der in diesem Grab liegt. Sein Blick strukturiert unsere Erfahrung jenes schrecklichen Gemetzels, an dessen Ende er von einem Hügel nach unten auf den Strand zurückblickt während er sich kurz ausruht und auf den Kommentar seines Kameraden antwortet, »yes, it’s quite a view«. Der doppelte eye-line match verläuft zwischen dem Blick des Überlebenden am Anfang und Ende des Films und dem von Capt. Miller am Anfang und Ende der Schlacht, an die sich der Veteran James Ryan erinnert. Die extreme Nahaufnahme der Augen des Stars Tom Hanks, die die Verluste auf Omaha Beach auf einen erschütternden Anblick (»quite a view«) engführen, werden von der Nahaufnahme der Augen des an seinem Grab knienden Mannes antizipiert und nehmen ihrerseits die Abschluss-Szene der Binnengeschichte auf einer Brücke in der Norman-
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die vorweg. Kurz bevor er dort stirbt, erklärt Capt. Miller jenem jungen Mann, den er im Auftrag des Pentagon ausfindig gemacht hat, damit er nach Hause geschickt werden kann: »James, earn this!« Mit dem Ende von Saving Private Ryan kehren wir zum Erzählrahmen zurück: Eine extreme Nahaufnahme der Augen des jungen Soldaten Ryan geht nahtlos über in eine Nahaufnahme der Augen des alten Veteranen, der noch immer vor dem Grabstein kniend ergriffen an den Toten appelliert, er hätte versucht, ein gutes Leben zu führen. Der Heldentod eines Offiziers auf einer Brücke in der Normandie soll als apotropäische Geste verstanden werden und verleiht dem schrecklichen anonymen Gemetzel auf Omaha Beach das individuelle Gesicht des Stars Tom Hanks, so dass man sich mit diesem identifizieren kann. Zugleich wird mit den Worten des sterbenden Capt. Miller deutlich markiert, dass der überlebende Veteran seither vom Wissen um den Tod dieses heroischen Mannes heimgesucht worden ist, und auch mit dieser Heimsuchung sollen wir uns identifizieren. Spielbergs moralischer Imperativ besteht darin, uns zu mahnen, dass Männer wie der fiktive Capt. Miller auch für uns ihr Leben gegeben haben. Zusammen mit dem Veteran, dessen Blick uns in die Filmhandlung einführt und somit stellvertretend für unseren fungiert, sollen auch wir unseren Blick auf jene Toten richten, deren Opfer wir unser Überleben verdanken. Das von Spielberg eingesetzte double voicing erweist sich als noch trickreicher, wenn man bedenkt, dass jene Omaha Beach-Sequenz, welche der überlebende Veteran James Ryan auf dem Militärfriedhof vor seinem inneren Auge aufruft, von Anfang an explizit als Erinnerung zweiter Hand gekennzeichnet ist. Die Schlacht, die auf der Leinwand entfaltet wird, ist nicht seine eigene Erinnerung, entspricht nicht seinen eigentlichen Erfahrungen. Es ist die Wiedergabe der Schlacht, wie er sich vorstellt, dass sie vorgefallen sein könnte: basierend auf den Erzählungen derer, die sie tatsächlich überlebt haben, vor allem aber auf den Bild- und Filmdokumenten, die dieses Ereignis für die Nachwelt festgehalten haben. Verläuft die Schnittfolge der Eingangssequenz von den Augen des am Grabstein knienden Veteranen zu denen des dort begrabenen Capt. Miller, wie er damals mit seinen Männern in die Schlacht zieht, so sind es die Augen des Verstorbenen, die den Kampf auf Omaha Beach festhalten und für uns begreifbar machen. Die Filmgeschichte kehrt erst zu den Augen jenes privilegierten Zeugen zurück, der uns anfangs auf dem Kriegsfriedhof in das Geschehen eingeführt hat, nachdem wir dem Tod des eigentlichen D-Day Zeugen auf einer Brücke in der Normandie beigewohnt haben. Dieser Tod verleiht jener kinematischen Re-Imagination der Omaha Beach-Landung Autorität, die der ihn überlebende James Ryan an seiner Stelle und in seinem Namen erinnert und an uns weitergibt. Der kühne Taschenspielertrick Spielbergs besteht darin, dass seine Dramaturgie die Erinnerung an diese Schlacht einem Überlebenden zuschreibt, der an ihr gar nicht teilgenommen hat. Damit signalisiert er – und dieser Punkt ist entscheidend – dass seine Inszenierung nicht als authentischer Zeugenbericht zu verstehen ist, sondern als Beispiel einer wirkmächtigen Fähigkeit zur historischen Re-Imagination. Zelebriert wird die Fähigkeit der Überlebenden, im Geis-
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te eine Erfahrung aufzurufen, die ihre ist, weil sie mit dem Blick eines Mannes, der tatsächlich dort gewesen ist, empathisieren können. Wir haben es mit der Inszenierung eines impliziten Wissens zu tun, welches über eine affektive Einbildungskraft verläuft. Der ausgedehnte eye-line match cut, der eine Verbindungslinie herstellt zwischen den extremen Nahaufnahmen der Augen seiner beiden Helden, und somit sowohl die Rahmen- wie die Binnenerzählung auf die Frage eines vererbbaren Blickes engführt, attestiert die spektakuläre Fähigkeit der kinematischen Re-Imagination. Spielberg gibt offen zu, dass die Filmbilder eine Annäherung an ein Ereignis darstellen, dessen Singularität direkt nicht vermittelbar ist. Er ergreift uns deshalb über den Umweg eines vielschichtigen Recyclings.
E IN E XPLIZITES Z ITAT Ein Beispiel dieses dichten Zitatenspiels mit den ihm vorangegangenen ästhetischen Formalisierungen von Schlachten auf der Hollywoodleinwand findet sich am Ende der D-Day-Sequenz. Als visuelle Untermalung zu Capt. Millers Bemerkung, die schrecklichen Verluste ihres Sieges ergäben »quite a view«, setzt zusammen mit der elegischen Filmmusik eine Kamerabewegung ein, die uns zurück zum Strand führt. Der Schnitt lässt uns glauben, wir hätten es weiterhin mit seinem Blick zu tun, doch die Kamera fängt ein Tableau ein, dass Capt. Miller von seiner Stelle oben auf dem Hügel aus gar nicht sehen kann. Die unzähligen Toten, die auf dem blutdurchtränkten Strand inmitten von zerstörtem Kriegsmaterial liegen, werden stattdessen von einer Kamera eingefangen, die zwischen der diegetischen und extradiegetischen Ebene der Filmgeschichte oszilliert. Diese Kamera löst einen einzelnen Soldaten aus der anonymen Masse heraus, der von Fischen umgeben auf seinem Bauch im Sand liegt. Sein Gesicht können wir nicht sehen, einzig der Name auf dem Rucksack gibt seine Identität preis: Ryan, S. Die Suchund Rettungsgeschichte, die auf die Omaha Beach-Sequenz folgt, nimmt jedoch nicht nur diesen gesichtslosen Gefallenen als Ausgangspunkt. Sie zitiert auch eine ähnlich Pathos-geladene Szene aus dem berühmtesten Kriegsfilm der 1940er Jahre, Allan Dwans Sands of Iwo Jima (1949), wobei Spielbergs Umschrift auf einer bezeichnenden Veränderung basiert. Wie Capt. Miller stirbt auch der von John Wayne gespielte Sgt. John M. Stryker am Ende der Filmhandlung, nachdem er erfolgreich seinen Auftrag erfüllt hat. Seiner kleinen Kampftruppe ist es gelungen, den Berg Suribachi auf Iwo Jima zu erobern. Während er sich mit seinen Männern ausruht, wird er von einem japanischen Soldaten aus dem Hinterhalt erschossen. Er fällt rückwärts auf seinen Rücken, umgeben von seinen Männern, die zuerst erschüttert auf seine Leiche blicken. Dann bemerken sie, dass die amerikanische Flagge ein zweites Mal auf dem Berg Suribachi gehisst wird und blicken zusammen mit der Kamera ergriffen auf diese Inszenierung ihres Sieges. Daraufhin kehrt die Kamera nochmals zum toten Helden zurück, über dessen Leiche die Männer erneut vom Kriegsfuror er-
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griffen werden, und wir sehen, dass sich zwischen den beiden Bildern der Tote umgedreht hat. Nun liegt er mit dem Gesicht im Gebüsch, so dass wir nur noch die Buchstaben seines Namens auf seiner Jacke, dicht über der Schusswunde, zu sehen bekommen: Stryker, M. Zitiert Spielberg eben diese Rückenansicht eines gefallenen Helden am Ende seiner D-Day-Sequenz, so spaltet er zugleich Dwans ursprünglichen Einsatz dieser Bildformel auf. Die Soldatenleiche am Anfang der Rettungsaktion von Saving Private Ryan, deren Gesicht wir nie sehen, und das Sterben des heroischen Kommandanten am Ende, bilden im Film seines Vorgängers den poetisch verdichteten emotionalen Höhepunkt der Geschichte. Die Auslöschung des Gesichts seines Stars John Wayne bedient eine doppelte Artikulation: Gestorben ist er als individueller Held, der Tod gliedert ihn in die anonyme Masse der Kriegsverluste ein. Indem Dwan den Namen des Gefallenen in der Nahaufnahme einfängt, greift er auf eine weitere klassische Pathosformel der Kriegsmalerei zurück, die Spielberg am Ende seiner Filmgeschichte ebenfalls einsetzt: das Versammeln einer treuen Kampftruppe um die Leiche ihres gefallenen Kommandanten. Zugleich fungiert das von Spielberg auf zwei Szenen verteilte Zitat auch als Hommage an eine für die Kriegsfilme der 1940er Jahre typische Montage: In Studioaufnahmen wurde stock footage eingefügt, um dem nachgestellten re-enactment einer bestimmten Schlacht einen authentischen Ton zu verleihen. Die Rückprojektion der Szene auf dem Suribachi Berg ist dem Dokumentarfilm To the Shores of Iwo Jima (1945) entnommen. Ein weiteres Zitat bildet der effektreiche Satz, mit dem der Marine, der nach dem Tod Strykers das Kommando dieser Kampfeinheit übernimmt, seine Mitkämpfer dazu aufruft, ins Kriegsgeschehen zurückzukehren. Den Tonfall John Waynes imitierend ruft er ihnen zu: »Saddle up, let’s get back in the war«. Spielberg greift eben dieses Kommando seinerseits am Höhepunkt seiner Omaha Beach-Sequenz auf, ändert es jedoch um ein Wort ab. Capt. Miller ist es gelungen, mit seiner kleinen Kampftruppe den Hügel zu erklimmen, von dem aus sie das Maschinengewehrnest angreifen können, das den Bunker flankiert. Einer seiner Männer erklärt seinen Kameraden, »let’s get in the war«, um sie zu jenem waghalsigen Einsatz anzufeuern, mit dem sie für die im Sand festgenagelten Infanteristen einen Ausgang vom Beach verschaffen werden. An diesem dramatischen Wendepunkt der Handlung rückt Spielberg jene Aporie in den Vordergrund, die jeder kinematischen Rekonzeptualisierung des Krieges eingeschrieben ist. Unser implizites Wissen vom Tod in der Schlacht verläuft über ein Filmbild, welches jeglicher Referentialität entbunden ist. Um den genauen Standort der beiden Maschinengewehre zu lokalisieren, nimmt Capt. Miller seinen Taschenspiegel zur Hand, klebt ihn mit einem Stück Kaugummi an ein Messer und fängt auf dessen Oberfläche ein Bild seines Gegners ein. Das widergespiegelte Bild auf dem Periskop, das der Schauspieler Tom Hanks statt einem realen Spiegel in der Hand hält, gibt vorwiegend die Theatralität der kinematisch re-imaginierten Schlacht preis. Auf der Oberfläche sehen wir zwei Szenen vereint, die als Bildkomposition (wie Milestones Phantomsoldaten) eine Möglichkeit des Unmöglichen
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visualisieren. Wir sehen Capt. Millers Truppen, die Waffen zum Einsatz bereit, auf seinen Befehl wartend. Eingesetzt in dieses Bild ist ein zweites Bild, auf dem wir zwei anonyme Nazisoldaten erkennen, die hinter ihren Sandsäcken versteckt ebenfalls auf einen Angriff warten. Die beiden feindlichen Seiten sind in einem Bild vereint, das zugleich als mise-en-abyme des kinematischen Bildes fungiert: eine durch dicke schwarze Ränder gerahmte Szene ›reiner‹ visueller Virtualität, in der beide gegnerischen Seiten gleichzeitig zu sehen sind. Die Augen Tom Hanks‹ – Held und zugleich Regisseur dieses kühnen Angriffs – dienen als diegetischer und extradiegetischer Verbindungspunkt und bringen die Gegner visuell zusammen. Statt einer Überblendung haben wir eine Juxtaposition: die Miniaturaufnahme des Feindes festgehalten in einem dunkel umgrenzten Filmbild. Die eine Bildebene liegt über der anderen, ohne dass sie diese verdecken oder ausblenden würde. Für wenige Sekunden spiegelt Spielberg seine eigene kinematographische Macht. Die Vergangenheit in Besitz zu nehmen heißt, sich jenes implizite Wissen anzueignen, das sie für uns bereithält. Was wir zu begreifen suchen, nimmt uns selber in Beschlag. Wie Milestones Abschlussbild festhält, ist im Bereich der ästhetischen Refiguration jeder Wunsch nach einer Erlösung der Geschichte verwehrt. Die wiederbelebten Soldaten, verkörpert von längst verstorbenen Schauspielern, blicken von der Oberfläche des Filmbildes auch heute noch auf uns zurück. An dem Ort, an dem unser Blick sich mit ihrem kreuzt, liegt jenes Reale, um dessen implizites Wissen die kinematische Rekonzeptualisierung des Krieges kreist. Wir können das Davor und das Danach dieser traumatischen Geschichte begreifen, nie aber ihren Furor und Horror direkt erfassen. Als Kulturwissenschaftler können wir jedoch die Blicke, die von der Vergangenheit auf uns gerichtet werden – von der Leinwand wie der Buchseite – aufnehmen und danach fragen, was es bedeutet, diese Blicke zu erwidern. Wir schauen ebenfalls zurück, aber zugleich emphatisch mit diesem anderen, unmöglichen Blick.
L ITER ATUR Bauerle, Dorothee (1988): Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene, Münster: Lit. Burgoyne, Robert (2010). Film Nation. Hollywood Looks at U.S. History, Minneapolis: University of Minnesota Press. Didi-Huberman, Georges (2007): »Foreword«, in: Philippe-Alain Michaud, Aby Warburg and the Image in Motion, New York: Zone Books, S. 7-19. — (Hg.) (2010): Atlas. How to Carry the World on One’s Back?, Madrid: TF Editores. Holert, Tom/Terkessidis, Mark (2002): Entsichert. Krieg als Massenkultur im 21. Jahrhundert, Köln: Kiepenheuer & Witsch. Jameson, Fredric (1981): The Political Unconscious. Narrative as a Socially Symbolic Act, London: Methuen.
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Martin, Pete (2005): »We Shot D-Day on Omaha Beach (an Interview with John Ford)«, in: The Film Journal 12, www.thefilmjournal.com/issue12/ford.html Virilio, Paul (1986): Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung, München: Fischer. Warburg, Aby (2000): »Der Bilderatlas MNEMOSYNE«, in: Martin Warnke (Hg.), Gesammelte Schriften. Aby Warburg. Der Bilderatlas MNEMOSYNE, Berlin: Akademie Verlag, S. 3-135.
F ILMVERZEICHNIS All quiet on the western front (1930) (USA, R: Lewis Milestone) Sands of Iwo Jima (1949) (USA, R: Allan Dwan) Saving Private Ryan (1998) (USA, R: Steven Spielberg) To the Shores of Iwo Jima (1945) (USA, P: Milton Sperling)
Präsenz als Form einer Differenz Medientheoretische Implikationen des Zusammenhangs zwischen Präsenz und implizitem Wissen Christoph Ernst
I. P R ÄSENZ — Z WISCHEN K ONSTRUK TIVISMUS UND P OSTKONSTRUK TIVISMUS Präsenz ist in den Kulturwissenschaften en vogue. Ausgehend von verschiedenen theoretischen Standorten wird auf Materialität, Körperlichkeit, Störung oder Epiphanie und auf entsprechende Präsenzbegriffe verwiesen (vgl. Gumbrecht 2005; Mendes/Castro Rocha 2002; Kiening 2007; Mersch 2002; Rautzenberg 2009; Wiesing 2005). Einigkeit besteht darin, dass die Aufbietung dieser Theorien mit der bisher vorherrschenden Skepsis gegenüber dem Begriff der Präsenz bricht. Die Diskussion um Präsenz hat nicht zuletzt deshalb theorieprogrammatischen Charakter, weil der Name für die bisherige Skepsis (De-)Konstruktivismus lautet. Ob die programmatische Kritik am konstruktivistischen Grundkonsens in den Kulturwissenschaften haltbar ist, ist eine Frage für sich. Der vorliegende Band bringt Präsenz mit implizitem Wissen in Verbindung und führt damit eine neue Idee in diesen Argumentationszusammenhang ein. Sie lautet, dass mit dem Rückbezug von Präsenz auf implizites Wissen die Prämissen der theoretischen Beschreibung von Präsenz aus einer anderen Perspektive gelesen werden können. Diese Idee ist nicht selbsterklärend und die Bedeutungsbreite des Präsenzbegriffs macht die Sache nicht einfacher.1 Eingestandenermaßen unscharf formuliert, hat Präsenz eine zeitliche und eine räumliche Bedeutung. Die typischen Präsenzattribute sind Unmittelbarkeit, Gegenwärtigkeit oder Plötzlichkeit. Hinsichtlich der philosophischen, ästhetischen und religiösen Tradition hat man es mit einem qualitativen Erfahrungsbegriff zu tun. Dies ist auch der Hintergrund des vorherrschenden Verständnisses von Präsenz. Sei es in den Künsten und ihren Medien, dem Theater und dem Film, sei es in der Religion oder der Populärkultur – überall begeg1 | Vgl. den ideengeschichtlichen Überblick bei Kobusch (1989).
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net man der Idee, dass eine Präsenzerfahrung existiert, die ein Spannungsverhältnis zu ihrer sprachlichen Interpretation ausbildet. Präsenz, so sagt man, sei nur ›erfahrbar‹, aber nicht ›sagbar‹. Man müsse etwas ›erleben‹ und könne nicht einfach davon ›berichten‹. Folglich seien Theorien, die exklusiv auf ›Interpretation‹ und ›Diskurs‹ setzten, nicht hinreichend, um Präsenzerfahrungen adäquat zu behandeln. Auf der theorieprogrammatischen Ebene ist diese Qualität der Präsenzerfahrung die Quelle des Verdachtes gegenüber dem Konstruktivismus. Schränkt man den Begriff des Konstruktivismus auf jene Traditionen ein, die ihre Ideen entlang eines differenzlogischen Beschreibungsschemas entwickelt haben, dann geht es vor allem um Ansätze aus dem Umfeld des Poststrukturalismus (wie z.B. Dekonstruktion oder Diskursanalyse) und der Systemtheorie. Seit den 1980er und 1990er Jahren haben sich diese Theorien in den Kulturwissenschaften zu einem Paradigma verdichtet, welches derzeit unter dem Verdacht steht, einseitig einem erfahrungsfernen Primat der ›Interpretation‹ und der ›Konstruktion‹ gefolgt zu sein. Das Schlagwort der ›Präsenz‹ fungiert deshalb als ein forschungspolitischer Leitbegriff für verschiedene Programme einer ›postkonstruktivistischen‹ Revision in der zeitgenössischen Theoriedebatte. Man reagiert auf Erschöpfungstendenzen des konstruktivistischen Paradigmas, gegen das in wiederkehrenden Zyklen Aufrufe zur Rück- und Einkehr formuliert werden. So wurde schon in den 1990ern unter dem Banner der Präsenz gegen den Konstruktivismus interveniert. Erinnert sei an Botho Strauß’ Essayband Aufstand gegen die sekundäre Welt (1999) und an George Steiners den dekonstruktivistischen Mainstream der späten achtziger Jahre provozierenden Essay Of Real Presence (1990). Das theoriepolitische Stereotyp will es nun, dass gegenwärtig eine sekundäre, (de-)konstruktivistische, diskursiv-interpretatorische Praxis des Interpretierens in einer Frontstellung zu einer primären, nichtkonstruktivistischen, nichtdiskursiven, nichtartikulierbaren Erfahrung von Präsenz steht. Der Präsenzbegriff soll auf eine qualitative Erfahrung verweisen, die sich der Welt des Interpretierens ›entzieht‹. Doch wenn es ein theoretisches Paradigma gibt, welches in den letzten Jahrzehnten etwas zu Präsenzphänomenen zu sagen hatte, dann war es das konstruktivistische. Dass es heute wieder einen Informationswert hat, dem Präsenzbegriff in den Kulturwissenschaften größere Aufmerksamkeit zu schenken, verdankt sich nicht zuletzt Autoren wie Jacques Derrida. Dieser hatte in Die Stimme und das Phänomen eine subtile und wirkmächtige Präsenzkritik vorgelegt (vgl. Derrida 2003: 46ff.). Für die Idee, Präsenz aus einer Wechselwirkung mit implizitem Wissen heraus zu beschreiben, bedeutet das, dass es wenig hilfreich wäre, den Konstruktivismus mit forscher Geste beiseite zu schieben. Stattdessen gilt es, Argumente zu sichten und theoretische Beschreibungsmöglichkeiten zu sortieren: ›Postkonstruktivismus‹ bedeutet, ausgehend von den Inkonsistenzen des Konstruktivismus eine Weiterführung desselben zu erarbeiten (vgl. z.B. Mersch 2010; Renn/Ernst/Isenböck 2012).2 2 | In ähnlicher Weise wird bei Mersch (2002) auf der Grundlage von dekonstruktivistischen Prämissen gegen die Dekonstruktion argumentiert.
Präsenz als Form einer Differenz
Im folgenden Versuch soll ein Vorschlag zu einer dezidiert konstruktivistischen Beschreibung des Verhältnisses von Präsenz und implizitem Wissen diskutiert werden. Zum Einsatz kommt allerdings nicht die Dekonstruktion, sondern die Systemtheorie.3 Das Ziel ist es, zu illustrieren, dass und wie sich die angenommene Wechselwirkung von Präsenz und implizitem Wissen in die systemtheoretische Theoriesprache übertragen lässt. Dabei wird deutlich werden, dass mit Mitteln der Systemtheorie gezeigt werden kann, welche Rolle die Medien in der Wechselwirkung zwischen Präsenz und implizitem Wissens spielen.
II. P R ÄSENZERFAHRUNGEN UND DIE G RENZE DER S AGBARKEIT Als Ausgangspunkt für eine konstruktivistische Perspektive auf Präsenz dient die Vermutung, dass das Phänomen der Inkommunikabilität von Präsenz – im Sinne der sprachlichen Nicht-Artikulierbarkeit von Präsenzerfahrungen –, also die Differenz Sagbarkeit/Unsagbarkeit, eine geeignete Anfangsunterscheidung für Beobachtungen bildet. Diese Annahme einer sprachlichen Inkommunikabilität von Präsenz steht (a) an der Schnittstelle zwischen der inhaltlichen und der programmatischen Auseinandersetzung mit Präsenz, bildet (b) in den verschiedenen Ansätzen neuerer Präsenztheorien ein konstantes Motiv und spielt (c) auch im Verhältnis von Präsenz und implizitem Wissen eine entscheidende Rolle. Bezüglich des letzten Punktes besteht die auffälligste Koinzidenz der Begriffsund Problemkontexte von Präsenz und implizitem Wissen in jenem ominösen ›Mehr‹, das in beiden Kontexten gegenüber der Sprache geltend gemacht wird. Genauso wie der Zustand der Präsenz verweigert sich das implizite Wissen der Versprachlichung. Michael Polanyi, der bekannteste Vordenker moderner Theorien des impliziten Wissens, hat nicht umsonst von einem tacit knowledge, einem ›stummen‹ Wissen gesprochen. Seine berühmte Formulierung lautet, dass man mehr weiß, als man sagen kann. Dieses ›Mehr‹ an Wissen ist auf ein kommunikativ nicht explizierbares Können bezogen (vgl. Polanyi 1985: 14). Vorrangig, aber nicht exklusiv, handelt es sich bei implizitem Wissen um körperliches Wissen. Ein viel zitiertes Beispiel ist das Fahrradfahren. Prinzipiell kann man aber jede beliebige Art des körperlichen Bewegungswissens als Illustration heranziehen: Jeder, der schon einmal versucht hat, komplexe Bewegungsmuster sprachlich zu vermitteln, z.B. im Kampfsport, weiß, dass dieses Wissen existiert. Wenn die Forschungsdebatte in den Geistes- und Kulturwissenschaften – im Einklang mit parallelen Entwicklungen im (de-)konstruktivistischen Denken, z.B. der performativ-phänomenologischen Wende der Dekonstruktion seit den frühen
3 | Als Hinweis auf Derrida sei auf die fundierte und trotzdem im besten Sinne einführende Rekonstruktion der Derrida’schen Präsenzkritik bei Dreisholtkamp (1999: 64ff.) hingewiesen.
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1980er Jahren4 – sich auf das Moment der Präsenzerfahrung konzentriert hat, dann ist mit dem Erfahrungsbegriff die Tür geöffnet, um neue Theoriehorizonte zum impliziten Wissen in die kulturwissenschaftlichen Diskussionen einzubinden.5 Zugleich ist der Begriff der Erfahrung breit genug, um vor einer Verkürzung der Diskussion um Präsenz in den Kulturwissenschaften zu warnen. Zu unterscheiden ist der Bezug von Präsenz zu herausgehobenen Erfahrungen auf der einen, zu alltäglichen Erfahrungen auf der anderen Seite. Mit herausgehobenen Erfahrungen sind Steigerungserfahrungen gemeint, wie sie in Kunst, Religion und Populärkultur vermittelt werden, also auch der traditionelle Geltungsbereich von Begriffen wie Epiphanie oder gar Ekstase. In der kulturwissenschaftlichen Forschung gibt es eine Tendenz, Präsenz einseitig auf diese herausgehobenen Erfahrungen zu konzentrieren. Die andere Seite, also die alltägliche Dimension von Präsenz, ist aber nicht minder relevant. Gerade wenn das implizite Wissen das Gegengewicht auf Seiten der Erfahrung bildet, ist es notwendig, die vermeintlich profane Dimension von Präsenz mit einzurechnen. Für diese Dimension lässt sich ebenfalls ein inkommunikables ›Mehr‹ geltend machen. Geht man ferner davon aus, dass die Erfahrung zwischen den Polen eines Erfahrung-Machens und eines Erfahrung-Habens changiert und dass dieses Wechselspiel intentional-aktive und responsiv-passive Momente einschließt, dann ist mit dem ominösen ›Mehr‹ offensichtlich ein Erfahrungsüberschuss angesprochen, der sich insofern ›entzieht‹, als er nur in Relation zu seiner ›Sagbarkeit‹, also zum Medium der Sprache, oder genauer: zur Fähigkeit der sprachlichen Explikation, Sinn macht. Zugleich gibt der Rückbezug auf implizites Wissen auch Aufschluss über die Beschaffenheit dieses Erfahrungsüberschusses bzw. dieses ›Mehr‹. Betrachtet man das unterstellte Verhältnis von Präsenz und implizitem Wissen von Seiten der Präsenzerfahrung aus, ist dieses ›Mehr‹ des impliziten Wissens ein Mehr an ›Können‹ gegenüber dem ›Sagen‹. Bei Polanyi bezieht sich dieses ›Mehr‹ auf die alltäglichen Wissensüberschüsse. Das Problem ist, dass man Fahrradfahren kann, aber nicht sprachlich zu explizieren vermag wie. Das Kriterium trifft jedoch auch für die herausgehobenen Erfahrungen zu. Hierfür steht in der Ästhetik klassischerweise der Begriff der ›Reflexion‹ (vgl. Menke 2001). Die Erfahrungen aus dem Bereich der Kunst und der Religion bieten einen ›reflexiven‹ Zugriff auf Vermögen, die im Erfahrungsvollzug vorausgesetzt werden, nicht aber explizit im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Somit liegt die Vermutung nahe, dass sich beide Arten von Präsenzerfahrung auf der Grundlage von implizitem Wissen realisieren. 4 | Vgl. Gondek/Waldenfels (1997). Von hier aus führt ein direkter Weg in die differenzlogisch geläuterte neuere Phänomenologie und ihre zentralen Kategorien wie etwa das Konzept der Responsivität. 5 | Jede Theorie des impliziten Wissens setzt einen starken Erfahrungsbegriff voraus. Ich konzentriere mich hier auf eine phänomenologische Klärung im Sinne der Phänomenologie von Bernhard Waldenfels (vgl. etwa 2003).
Präsenz als Form einer Differenz
Die Frage ist freilich, ob auch die Gegenprobe plausibel gemacht werden kann – ob also auch das implizite Wissen mit Präsenzerfahrungen korreliert ist. Entscheidend ist hier ebenfalls ein ›Können‹. Von implizitem Wissen ›wissen‹ wir nur, weil wir es selbst ausgeübt haben, und nicht, weil wir davon erzählt bekommen haben. Wir können ein komplexes Bewegungsmuster sehen und nachahmen. Dass wir diese Bewegung dann erfahren haben, setzt aber voraus, dass implizites Wissen sich ›präsentiert‹ hat – dass es also ›gegenwärtig‹ in Szene gesetzt worden ist, etwa als Teil einer Demonstration oder Zurschaustellung, kurz: als ein »Benennen durch Zeigen« (vgl. Polanyi 1985: 15). Dieser Inszenierung kann, wenn sie gelungen ist, selbst wieder ›Präsenz‹ zugesprochen werden, z.B. wenn sie besonders faszinierend war und wir das Bewegungsmuster erfolgreich nachahmen konnten. Es ist daher plausibel, anzunehmen, dass jeder soziokulturellen (also öffentlichen) Aktualisierung von implizitem Wissen ein performativer Aufführungscharakter und damit eine ›präsentische‹ Form eigen ist (vgl. Fischer-Lichte 2004). Es scheint einen Zusammenhang zu geben, durch den sich beide Phänomene und ihre Kontexte wechselseitig bedingen. Diese These ist gut an die bisherige Diskussion um Präsenz anschließbar. Als Beispiel seien die Überlegungen eines der Vordenker einer neueren Präsenztheorie, Hans Ulrich Gumbrecht, genannt. Um Präsenzerfahrungen zu beschreiben, greift er auf Martin Heideggers ›Sein‹ zurück und stellt Präsenz konsequent dem sprachlichen Sinn entgegen. Präsenz entziehe sich dem interpretativen Weltzugang (vgl. Gumbrecht 2005: 94ff.). Ein privilegierter Ort von Präsenzerfahrungen ist für Gumbrecht die Kunst.6 Das Sein im philosophisch verzwickten Verhältnis zum Seienden (und zur Sprache) anzuführen, bedeutet allerdings auch, auf eines der am weitesten gefassten aller denkbaren Beobachtungsschemata zurückzugreifen. Andere Aspekte der Heidegger’schen Philosophie, etwa der Begriff der Zuhandenheit, könnten hier einen bodenständigeren Aufschluss über Präsenz geben, ist in der Zuhandenheit doch nichts anderes als die existenzialontologische Variante einer Theorie des impliziten Wissens enthalten (vgl. Renn 2006: 259ff.). Mit Gumbrechts Ideen lässt sich also auch die Gegenprobe aufmachen. Einen der zentralen Momente von Präsenz umreißt Gumbrecht mit dem Begriff der Deixis. So fordert er etwa einen Universitätsunterricht, der auf eine »Inszenierung von Komplexität« abzielt und »nicht interpretativ und lösungsorientiert, sondern deiktisch« verfährt (vgl. Gumbrecht 2005: 150). Der Begriff der Deixis bildet in seiner Theorie das Korrelat zu seiner Variante von »Präsentifikation« als einem Sammelbegriff für alle soziokulturellen Verfahren, welche die Illusion einer Gegenwart, etwa einer Gegenwart der Vergangenheit, erzeugen (ebd.: 115). Hier die Rückbezüge zum impliziten Wissen und dem Problem seiner didaktischen Vermittlung nicht zu sehen ist schwierig. Dabei ist es eine beiläufige, systematisch allerdings keineswegs zufällige Koinzidenz, dass Polanyi ebenfalls den Begriff der 6 | Gumbrechts Theorie beschränkt sich allerdings nicht auf die Kunst, sondern hat einen generellen Anspruch.
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Deixis bemüht, um den performativ-zeigenden Charakter der Aktualisierung von implizitem Wissen zu beschreiben (vgl. 1985: 15; vgl. Gumbrecht 2005: 111ff.). Das führt zurück zum programmatischen Überbau der Präsenzdebatte. Gumbrecht bewegt sich mit seinen Überlegungen im Fahrwasser der existenzialontologischphänomenologischen Tradition. Der Bezug auf Heidegger ist ein gemeinsamer Nenner zahlreicher neuerer Präsenztheorien. Auch die bereits erwähnten Steiner und Strauß sind bekennende Heideggerianer. Ebenso ist die Präsenztheorie von Dieter Mersch durch Heidegger inspiriert (vgl. 2002, 2010). Ob es allerdings, zumal unter interdisziplinären Bedingungen, sinnvoll ist, gleich die Differenz Sein/ Seiendes herbeizuzitieren, wenn von Präsenz die Rede ist, sei dahingestellt. Im Folgenden soll deshalb keine weitere vertiefende Heidegger-Lektüre angeboten werden.7 Stattdessen soll hier auf die Systemtheorie Niklas Luhmanns zurückgegriffen werden.8
III. S YSTEMTHEORIE : P R ÄSENZ ALS F ORM EINER D IFFERENZ Der Hauptgrund für den Bezug auf die Systemtheorie ist, dass das Verhältnis von Präsenz und implizitem Wissen entlang des Motivs der sprachlichen Inkommunikabilität von Präsenz, also die Differenz von Sagbarkeit und Unsagbarkeit, mit Luhmann gut beschreibbar ist. Mit Hilfe der Systemtheorie kann diskutiert werden, was eine differenztheoretische Beschreibung des Verhältnisses von Präsenz und implizitem Wissen für Einsichten hervorbringt.9 Als Kontrastfolie, um das Verhältnis von Präsenz und implizitem Wissen konstruktivistisch zu lesen, dient im Folgenden insbesondere das Konzept der strukturellen Kopplung. Zu fragen, was in diesem Design zwangsläufig außen vor bleibt und inwiefern man den Präsenzbegriff vielleicht sogar für ein ›postkonstruktivistisches‹ Theorieunterfangen reservieren kann, wäre dann eine weiterführende, hier nicht einzuholende Problematik.10 Geht man es konstruktivistisch an, ist der Präsenzbegriff für die Kulturwissenschaften eine Herausforderung, weil er eine Grenze der Sprache markiert. Die Sprache – oder breiter gefasst: die Kommunikation – ist die Grundlage kulturwissenschaftlichen Denkens. Mit der sprachlichen Inkommunikabilität von Präsenz kann auf ganz verschiedene Weise umgangen werden. Wenn die Grenze der Spra7 | Die Möglichkeiten dafür wären vorhanden. Die besten Ergebnisse könnte man mit einer pragmatischen Heidegger-Auslegung erzielen(vgl. Renn 2006: 272ff.). 8 | Das muss kein Gegensatz zu Heidegger sein, siehe z.B. den Versuch, Heideggers Philosophie als Vorläuferphilosophie der Systemtheorie zu denken von Jahraus (2004b). 9 | Für wertvolle Hinweise in Bezug auf die Rekonstruktion von Luhmanns Theorie bin ich Seline Hippe, Michael Gubo und David Kaldewey zu Dank verpflichtet. 10 | Für Derridas Präsenzkritik ist das bereits geleistet worden (vgl. Mersch 2002). Teilweise führe ich hier Ideen weiter, die in Ernst (2012) angedeutet werden.
Präsenz als Form einer Differenz
che beispielsweise als Erkenntnisgrenze definiert wird, kann bzw. muss behauptet werden, dass Präsenz nur negativ und indirekt umkreist werden kann. Ein alternativer Zugang wäre, zu fragen, was es für die Kommunikation bedeutet, die Grenzen des Sagbaren zu markieren (vgl. Bromand/Kreis 2010). Konstruktivistisch gesehen ist diese zweite Art der Fragestellung die angemessene. Die Systemtheorie spricht in diesem Fall von einer Umstellung auf eine Beobachtung zweiter Ordnung: Beobachtet wird nicht, was Präsenz ›ist‹, sondern beobachtet wird, wie Beobachter eine Präsenzerfahrung beobachten und beschreiben. Dem entspricht ein Umschalten von Was- auf Wie-Fragen: Es geht nicht darum, was über Präsenz nicht gesagt werden kann, sondern, wie in der Kommunikation gehandelt wird, wenn markiert wird, dass sich an Präsenz etwas Bestimmtes nicht sagen lässt. Diese Herangehensweise ist auch die kulturwissenschaftlich einfachere und methodisch sicherere. Sie fragt nicht, was an Präsenz alles einen Überschuss darstellt, sondern inwiefern die Unterstellung von Präsenz etwas in einem System bewirkt. Es geht darum, was es für die Kommunikation bedeutet, wenn die Grenze des Sagbaren in ihr selbst thematisch wird. Entgegen einem weit verbreiteten Missverständnis gegenüber diesem Ansatz ist die Was-Frage dadurch nicht eliminiert. Es ist immer noch möglich und sinnvoll, zu überlegen, was Präsenz ›ist‹. Die Theorie wird aber komplexer dadurch, dass sie mit der Wie-Frage die Problematik der Beobachtung von Präsenz mit einbezieht. Modelliert man den Zusammenhang in dieser Weise, dann zeigt sich: Die Markierung einer Grenze des Sagbaren durch das Schlagwort Präsenz hat als Markierung einer Grenze die Form einer Differenz, der Differenz von Sagbarkeit/Unsagbarkeit.11 Diese Perspektive bedeutet einen erheblichen Gewinn, weil sie es erlaubt, Präsenz in Relation zur Form der Differenz Sagbarkeit/Unsagbarkeit in der Kommunikation zu beobachten. Ein solcher Ansatz läuft nicht auf eine schlecht verstandene Dekonstruktion hinaus. Es geht ausdrücklich nicht darum, zu erklären, warum es Präsenz gar nicht gibt. Die Frage ist nur, was dieser Umstand für ein System bedeutet. Versucht wird zu klären, wie diese Differenz zustande kommt und was aus ihrer Verkettung (im Sinne einer Entfaltung der Differenz) folgt.12 Eine solche Formulierung der Ausgangsfrage deckt sich ferner mit der Idee, Präsenz und implizites Wissen miteinander in Verbindung zu bringen. Eine einfache Gedankenfigur ist dafür hilfreich: Mit Präsenz die Grenze des Sagbaren zu markieren, bedeutet, in der Kommunikation zu behaupten, dass die explizite Darstellungsweise der Sprache nicht ausreicht, um eine Erfahrung zu artikulieren. Diese Aussage unterstellt aber notwendig, dass eine implizite Zugangsweise zu dem in Rede stehenden Sachverhalt besteht, dass ein Präsenzphänomen realisiert worden ist (vgl. Renn 2004). Die Negation der Sagbarkeit von Präsenz auf der Ebene der 11 | Präsenz kann auch noch viel mehr sein, aber im Folgenden interessiert mich nur dieser Aspekt. 12 | Eine kritische Implikation ist dabei eingeschlossen, wird hier aber gegenüber der Frage nach der Funktion der Differenz zurückgestellt.
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expliziten Darstellung setzt voraus, dass ein Zugang zu Präsenz besteht, genau dieser Zugang jedoch die Grenze der Sagbarkeit, also die Grenze des Darstellungspotenzials der Sprache markiert. Zumindest dann, wenn man unter ›Sprache‹ das Medium und nicht die Sprachförmigkeit der Gesamtheit soziokultureller Sinnbezüge meint (vgl. Renn 2006: 202f.), ist die in der Kommunikation vollzogene Operation, die Grenze der Sprache als die Form einer medialen Darstellungsweise zu markieren, nicht mit den Grenzen des Systems der Kommunikation selbst gleichzusetzen. Die Grenzen der Sprache sind nur die Grenzen eines Mediums in der Kommunikation. Markiert wird mit dem Motiv der Grenze des Sagbaren also nicht die Grenze von Erkennbarkeit oder Sinnprozessen an sich, sondern die Grenze des Darstellungspotenzials eines bestimmten Mediums.13 In diesem Fall kann man sich zwar streiten, ob und inwiefern die Sprache das leistungsfähigste Medium der Kommunikation (speziell auch in Luhmanns Theorie) darstellt. Nur hat man dann bereits anerkannt, dass sie in der Kommunikation nur ein Medium von vielen ist und dass auch die anderen Medien ihre je spezifischen Darstellungspotenziale haben. Somit geht es bei Präsenz als Form der Differenz Sagbarkeit/Nicht-Sagbarkeit zwar um Unsagbarkeit, aber nicht um Inkommunikabilität per se. Dieser Umstand ist entscheidend, weil er klar macht, was die Leistung der Form der Präsenz in der Kommunikation ist. Hierfür ist es notwendig, tiefer in die Systemtheorie einzusteigen und den Begriff der strukturellen Kopplung näher zu diskutieren.
IV. S TRUK TURELLE K OPPLUNG UND IMPLIZITES W ISSEN Für Luhmann ist die Sprache ein zentraler Mechanismus der strukturellen Kopplung von Bewusstsein und Kommunikation. Das Besondere dieser Funktion der Sprache erklärt sich aus der kontroversen These, dass Bewusstsein und Kommunikation zwei operativ gegeneinander abgeschlossene Systeme sind. Bewusstsein und Kommunikation können sich zwar gegenseitig irritieren, nicht aber kausal beeinflussen (vgl. Luhmann 2004). Ihr Verhältnis beschreibt Luhmann zum einen als eines der »Interpenetration«, d.h. als ein wechselseitiges Zur-Verfügung-Stellen von Komplexität (1984: 286ff.), zum anderen verwendet er dafür den auf Humberto R. Maturana und Francisco Varela zurückgehenden Begriff der strukturellen Kopplung (z.B. Maturana/Varela 2009: 85ff.). Luhmanns Begriff der Autopoiesis von Systemen besagt, dass das System die Elemente, aus denen es besteht, selbst hervorbringt (vgl. Luhmann 1998: 65). Autopoietische Systeme sind per definitionem operativ geschlossen. Ihre Sinnmomente verweisen rekursiv auf andere Sinnmomente desselben Systems. Operative Schließung ist deshalb gleichzeitig eine Bedingung und ein Ergebnis des Umstands, dass das System auf eigene Elemen13 | Zur Frage nach der semantischen Organisation medialer Darstellungssysteme vgl. die Arbeiten von Ludwig Jäger (2002, 2012).
Präsenz als Form einer Differenz
te zurückgreifen und so in Selbstreferenzen systemeigene Prozesse bestimmen kann. Diese Selbstreferenzen bleiben aber nicht ohne Kontakt zur Umwelt. Mit dem Begriff der strukturellen Kopplung ist genau dieses Problem markiert, dass soziale Systeme trotz Ausdifferenzierungs- und Schließungsprozessen auf komplexe Strukturen in ihrer Umwelt angewiesen sind. Evolutionär betrachtet ist die Autopoiesis, also die Selbstreproduktion von Systemen im Rückgriff auf ihre eigenen Elemente, nur gewährleistet, wenn Systeme für ihre Operationen auf die Komplexität anderer Systeme in ihrer Umwelt zurückgreifen (vgl. Luhmann 1984: 242ff.). Der Vorteil einer solchen System-zuSystem-Beziehung besteht darin, das wechselseitige Verhältnis von Abhängigkeit und Unabhängigkeit zu stabilisieren: Irritationen zwischen Systemen befördern die jeweilige Autopoiesis (vgl. Luhmann 1990: 41). Typisch für Systeme ist es, nicht auf alle Veränderungen in ihrer Umwelt zu reagieren, sondern nur – und auch dies nur in einem sehr eingeschränkten Sinne – auf Veränderungen in strukturell mit ihnen gekoppelten Systemen. Strukturelle Kopplungen fungieren demnach als ›constraints‹ der Möglichkeiten, auf die ein System zurückgreifen kann, determinieren aber nicht den inneren Ablauf dieses Systems (vgl. auch Baraldi/ Corsi/Esposito 1999: 186ff.). Luhmanns bekanntestes (und der Sache nach weitreichendstes) Beispiel ist das Verhältnis von Bewusstsein und Kommunikation. Bewusstsein und Kommunikation sind autonom und prozessieren so, dass sie für ihre Entwicklung das andere System bzw. die anderen Systeme als Quelle von Irritationen voraussetzen. Die Irritationen, die vom anderen System ausgehen, stimulieren selbstreproduktive, autopoietische Operationen (vgl. Luhmann 1990: 38). So ist das Bewusstsein unter anderem deshalb eine strukturelle Voraussetzung der Kommunikation, weil es sinnlich wahrnehmen und dadurch die Kommunikation irritieren kann (vgl. Luhmann 1998: 103, Luhmann 2004). Die Kommunikation ist auf diese Irritationen angewiesen, reagiert darauf aber in einer vom Bewusstsein nicht direkt beeinflussbaren oder gar determinierbaren Weise.14 In Anlehnung an George Spencer-Brown konzipiert Luhmann strukturelle Kopplungen als Formen (vgl. Luhmann 1998: 103f.).15 Im Sinne einer differenzlogischen Epistemologie handelt es sich dabei um dreiwertige Zwei-Seiten-Formen: Eine Form teilt die Welt in zwei Seiten und etabliert damit eine Differenz, etwa zwischen einem Innen und einem Außen. Zugleich steht sie für die Einheit dieser Unterscheidung. Die Form umfasst also nicht nur Innen und Außen, sondern 14 | Luhmann nennt das mit Maturana eine »orthogonale« Beziehung: »Sie bestimmt nicht, was im System geschieht, sie muß aber vorausgesetzt werden, weil andernfalls die Autopoiesis zum Erliegen käme und das System aufhören würde zu existieren« (1998: 100). Der Freiheitsgrad in Relation zu einem spezifischen Möglichkeitsüberschuss, also das Wechselspiel von struktureller Abhängigkeit und Unabhängigkeit in der eigenen Reaktion, ist ein zentraler evolutionärer Gewinn von strukturellen Kopplungen (vgl. Luhmann 1990: 41). 15 | Vgl. auch Luhmann (1993), vgl. zum Formbegriff die Beiträge in Baecker (1993a, 1993b).
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auch die Differenz zwischen Innen und Außen. Deshalb ist eine Form nicht zwei-, sondern dreiwertig: Die dritte Stelle ist durch die dynamische Bewegung der Differenz bestimmt. Wenn ein Beobachter – genauer: ein Beobachter erster Ordnung – eine Form verwendet, dann vollzieht er die Einheit ihrer Unterscheidung operativ, kann aber die Unterscheidung selbst dabei nicht beobachten. Er erzeugt und prozessiert die Form. Reflexiv wird dieser Prozess, wenn es zu einem ›re-entry‹, d.h. zu einem Wiedereintritt der Form in die Form kommt. Damit liegt eine zweite Form vor, welche die erste Form – aus der Perspektive eines Beobachters zweiter Ordnung – als Form erkennbar werden lässt – und damit auch den Beobachter erster Ordnung. Mit der Bestimmung der strukturellen Kopplung als Form wird sie von der Beobachtungsleistung eines Systems abhängig gemacht. Das bedeutet, dass die strukturelle Kopplung nicht als ›alteuropäische‹ Bedingung der Möglichkeit oder als jenseits eines Systems vorliegende Ressource missverstanden werden sollte. Als Formen schließen strukturelle Kopplungen vielmehr etwas ein, indem sie etwas ausschließen: »Sie bündeln und steigern bestimmte Kausalitäten, die auf das gekoppelte System einwirken, es irritieren und dadurch zur Selbstdetermination anregen« (ebd.: 103). Die Bestimmung der strukturellen Kopplung als Form macht ein ›Außen‹, einen ›unmarked space‹ zum Bezugspunkt der systeminternen Operationen. Dies erlaubt es, den unmarked space, also die andere Seite der Form, als Fremdreferenz systeminterner Operationen mitlaufen zu lassen. Zugleich wird eine Verwechslung mit dem ausgeschlossen, was als ›constraint‹ der strukturellen Kopplung zwischen zwei Systemen notwendig vorausgesetzt wird: Auch strukturelle Kopplungen realisieren sich nur auf Grundlage einer, wie Luhmann ausdrücklich festhält, »Realitätsbasis« bzw. eines »Materialitäts- (oder Energie-)Kontinuums« (ebd. 102). Diese Basis ist unabhängig von den gekoppelten Systemen und entspricht einer »physikalisch funktionierende[n] Welt« (ebd.).16 Die Realitätsbasis, von der Luhmann spricht, korrespondiert als »unterscheidungslose[r] Weltzustand« mit dem im Rahmen der Formtheorie entwickelten Begriff des ›unmarked state‹ (vgl. Luhmann 1997: 51f., insb. Anm. 63; siehe auch Stäheli 2000: 64ff.). Der Unterschied dieses unmarked state zum unmarked space ist, dass vorrangig der unmarked space als Bezugspunkt von Irritationen dient, der unmarked state dagegen nicht. Der unmarked state ist als unterscheidungsloser Zustand gewissermaßen einfach nur ›da‹. Für die Effekte der strukturellen Kopplung ist er weitestgehend irrelevant (was eine umstrittene These Luhmanns ist),17 weil er keine autopoietischen Operationen stimuliert. Diese Stimulation autopoietischer 16 | Wie Anm. 133 in Luhmann (1998: 102) zeigt, ist sich Luhmann des Umstandes, dass sich hier die ontologische Voraussetzung einer Welt einschmuggeln könnte, wohl bewusst. Luhmann löst dies durch den Hinweis auf die Notwendigkeit der System/Umwelt-Differenz, die eingeführt werden muss, damit überhaupt eine Welt unterscheidbar wird. Der Begriff ›Realität‹ wird dann als »ein Resultat von Konsistenzprüfungen« verständlich (ebd.). 17 | Vgl. weiterführend auch Kaldewey (2008).
Präsenz als Form einer Differenz
Operationen ist eine der Funktionen des unmarked space in strukturellen Kopplungen: Systeme lassen sich nur von den Möglichkeiten irritieren, die ihnen von strukturell mit ihnen verkoppelten Systemen zur Verfügung gestellt werden, also in Relation zum unmarked space gegeben sind. In Abgrenzung zu einer ›naiven‹ Theorie der Präsenz, die sich in den Bahnen einer Abbildtheorie der Wirklichkeit, also eines naiven Realismus oder naiven Repräsentationalismus bewegt, handelt es sich hierbei um eine wichtige Idee: Die Systemtheorie verdeutlicht, dass mit Präsenz kein Durchgriff auf die ›eigentliche Realität‹ gemeint sein kann. Auf die Realitätsbasis kann ein System nur im Rahmen der strukturellen Kopplungsverhältnisse heraus zugreifen. Sofern man sie als ›Formen‹ versteht, »kanalisieren« strukturelle Kopplungen deshalb, wie Luhmann festhält, »was sie einschließen und was sie ausschließen, weil sie intern nur Irritationen produzieren, die nur an Hand systemeigener Strukturen bemerkbar sind« (1990: 166). Für das System, das nur interne Operationen zur Verfügung hat, sind die eigenen strukturellen Kopplungen daher aber auch »inkommunikabel« (ebd.).18 Das System nutzt sie operativ, kann sie aber in rekursiven Folgebeobachtungen rekonstruieren. Und an dieser Stelle wird es interessant: Denn hat man das Konzept der strukturellen Kopplung erst einmal so weit ausgearbeitet, kann man, wie Luhmann vermerkt, dieses Konzept verwenden, um die »begriffliche Unterscheidung von autopoietischer Operation und struktureller Kopplung […] an die Stelle setzen, an der Michael Polanyi zwischen explizitem und implizitem Wissen unterschieden hatte« (ebd.: 41f.). Es geht hier demnach um ein Äquivalent für die Theorie des impliziten Wissens. Tatsächlich unternimmt Luhmann den Versuch, »[d]as, was für Polanyi am Menschen formulierbar ist« (ebd.: 42)19, in die Systemtheorie zu übertragen. Dazu muss man allerdings annehmen, dass unter dem Label ›explizit‹ das läuft, was in einem System an reflexiven Bezugnahmen auf strukturelle Kopplungen durchgeführt wird, als ›implizit‹ dagegen die Voraussetzungen, die durch strukturelle Kopplungen definiert werden, also zeitlich vor diesen Reflexionen liegen.20 Aus 18 | Luhmann schreibt: »Weil strukturelle Kopplungen inkommunikabel bleiben, weil bereits sie kanalisieren, was sie einschließen und was sie ausschließen, weil sie intern nur Irritationen produzieren, die nur an Hand systemeigener Strukturen bemerkbar sind, und schließlich: weil das System selbst die angemessene Form des Umgangs mit solchen Irritationen finden muß, weicht der Aufbau von Eigenkomplexität zwangsläufig von dem ab, was in der Außenwelt vor sich geht. Wissen ist kein physikalischer Sachverhalt« (1990: 166). 19 | Für diese Substitution ist allerdings eine »Verdoppelung der Referenz« notwendig, also eine Anwendung der Unterscheidung auf beide Seiten der gekoppelten Systeme, also z.B. Bewusstsein und Kommunikation. Bei Polanyi ist die Referenz einseitig der Mensch (vgl. Luhmann 1990: 42). 20 | Ausführlich heißt es bei Luhmann: »Explizit ist diejenige Komponente des Wissens, die im Prozeß der Autopoiesis reproduziert wird. Sie allein ist für das wissende System Wissen. Ein Beobachter kann das System jedoch mit Hilfe der Unterscheidung explizit/
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der differenzlogischen Beobachtertheorie folgt mithin, dass das System sein eigenes ›implizites Wissen‹, das im Rahmen von strukturellen Kopplungen als unmarked space gegeben ist, in seinen operativen Vollzügen nicht in actu beobachten kann. Denkbar ist dagegen der Fall, dass das System unter speziellen Irritationsbedingungen mit den impliziten Voraussetzungen seiner strukturellen Kopplungen und damit einem Teil seiner strukturellen Voraussetzungen konfrontiert wird.21 Diesen Sachverhalt kann das System dann (intern) zum Thema machen, also eine Reflexion seiner strukturellen Voraussetzungen vornehmen.22 Zu beachten ist hierfür wiederum die Differenzierung zwischen ›unmarked space‹ und ›unmarked state‹: Das Implizite hat immer den Status eines systeminternen unmarked space. Die Realitätsbasis selbst, also der unmarked state, ist, weil unerreichbar, weder explizit noch implizit. Luhmann versteht Polanyis implizit/ explizit-Verhältnis also wiederum als die zwei Seiten einer Form. Offenkundig ist dieser Umstand für die Diskussion um Präsenz und implizites Wissen von zentraler Bedeutung. Weiterführend kann dies aber nur vor dem Hintergrund derjenigen Instanzen geklärt werden, welche die Irritationen in strukturellen Kopplungen verwalten: den Medien.
implizit beobachten und beschreiben. Er kann in das, was als Wissen geschieht, zusätzlich die strukturellen Kopplungen hineinsehen, die von dem beobachteten System nicht thematisiert werden. Er sieht die faktisch immer mitwirkenden Voraussetzungen von korrespondierenden (synchronen und deshalb nicht miterfaßbaren) Umweltereignissen mit in das Wissen hinein. Das, was er als Beobachter als Wissen bezeichnet, ist in dem System, das Wissen benutzt und damit reproduziert, immer nur partiell präsent, immer nur partiell benutzbar. Das beobachtete System weiß zwar immer nur das, was es weiß; aber der Beobachter, der es beobachtet, weiß, daß es mehr weiß, als es weiß. Und nur ein ontologisches Vorurteil könnte dazu führen, daß man darin eine Paradoxie des Wissens selbst sieht – eben jene Paradoxie, die durch die Unterscheidung von explizitem und implizitem Wissen dann aufgelöst wird. Wenn man diese Unterscheidung durch die begrifflich genauere Unterscheidung von autopoietischer Reproduktion und struktureller Kopplung ersetzt, muß man die Objektreferenz ›Mensch‹ ersetzen und verschiedene Systeme unterscheiden« (1990: 42). 21 | Soziologisch könnte man z.B. auf die unter Bedingung moderner Gesellschaften notwendige Reflexion auf die strukturelle Kopplung von Systemen wie der Politik mit der Wirtschaft oder der Wissenschaft mit der Politik, aber auch der Kopplung zwischen Politik und Kunst hinweisen. 22 | Vgl. zur Reflexion Luhmann (1990: 469ff). Begrifflich ist meine Verwendung von Reflexion noch etwas zu weit gefasst. Luhmann versteht unter Reflexion nur den Fall, dass das System den Code, anhand dessen es ausdifferenziert ist, wieder in sich einführt, also z.B. wahr/falsch in der Wissenschaft, was dann in eine Wissenschaftstheorie führt. In meiner Verwendung ist der Begriff der Reflexion eher als genereller Begriff für selbstreflexive Bezugnahmen zu verstehen.
Präsenz als Form einer Differenz
V. W AHRNEHMBARMACHUNG : M EDIALITÄT UND STRUK TURELLE K OPPLUNG Was in einem strukturell gekoppelten System Irritationswert gewinnt, hängt von den Erwartungen des Systems ab und schließt, wie Luhmann vermerkt, »gelegentliche bis häufige, überraschende bis reguläre Irritationen nicht aus, sondern ein« (ebd.: 40). Solche Irritationen wahrscheinlich zu machen, also die strukturelle Kopplung zwischen Bewusstsein und Kommunikation zu stabilisieren, ist die Aufgabe von Medien wie der Sprache. Luhmann entwickelt im Zusammenhang mit seinen Ausführungen zur strukturellen Kopplung eine zwar nicht übermäßig komplexe, allemal aber aufschlussreiche Medientheorie.23 Deren Grundthese lautet, dass die Sprache ein Medium ist, das Kommunikation wahrscheinlicher macht, und zwar unter anderem deshalb, weil Sprache sowohl für die Kommunikation wie für das Bewusstsein einen hohen Irritationswert besitzt.24 Die Grundlage für die entsprechenden Spezifikationen liefert folgende Überlegung: Wenn strukturelle Kopplungen sich in Irritationen momenthaft realisieren und Irritationen immer ereignishaften Charakter haben, dann sind solche Ereignisse nur wahrnehmbar, wenn sie durch die binäre Differenz Vorher/Nachher beobachtet werden. Eine Irritation verändert den Zustand, der zwischen den gekoppelten Systemen vor dem irritierenden Ereignis bestanden hat. Für Luhmann ist dieses Verhältnis ein »Verhältnis der Gleichzeitigkeit«25: »System und Umwelt existieren kontinuierlich-gleichzeitig, wie die Zeit ›fließt‹, und operieren insofern analog« (ebd.: 39, vgl. 1998: 101). Um ereignishafte Irritationen beobachten zu können, muss dieses analoge Verhältnis im System digital, als Vorher/Nachher-Differenz, also temporalisiert interpretiert werden. Die so beobachteten Veränderungen können dann selbst wieder beobachtet werden bzw. zum Gegenstand eines re-entrys (und potenziell einer Reflexion) gemacht werden. Für Luhmann haben strukturelle Kopplungen deshalb die Funktion, »analoge Verhältnisse«, also die kontinuierliche Gleichzeitigkeit, in »digitale« zu »übersetzen«, 23 | Auf die Bedeutung der strukturellen Kopplung zwischen Bewusstsein und Kommunikation für die verschiedenen Teile der Luhmann’schen Medientheorie hat Oliver Jahraus immer wieder hingewiesen (vgl. z.B. 2001). 24 | In der Frage, was diesen Irritationswert ausmacht, gelangt Luhmann bei einer Diskussion der medienspezifischen Eigenschaften der Sprache an. Das ist konsequent, setzt seine These doch voraus, dass andere Medien die Kommunikation anders irritieren. Luhmann klammert unter Verweis auf sein Ziel, eine Gesellschaftstheorie zu entwickeln, eine präzise Analyse dieses Punktes jedoch aus (vgl. 1998: 112). 25 | Vgl. auch dazu: »In diesem elementaren Sinne operiert jedes System gleichzeitig mit seiner Umwelt und muß deshalb voraussetzen, daß in der Umwelt etwas geschieht, auf das man erst im nächsten Schritt wird reagieren, das man erst in der Zukunft wird beeinflussen können. Die Zeit der strukturellen Kopplung ist mithin analog geordnet, während alles Wissen digital anfällt und entsprechend als kausale Sequenzierung« (Luhmann 1990: 39, 164)
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mithin in eine Vorher/Nachher-Form zu verwandeln, die im System als ›Wissen‹ behandelt werden kann (Luhmann 1990: 39, 165f., vgl. Luhmann 1998: 101). Dieser Gedanke setzt voraus, dass Medien die entscheidende Instanz dessen sind, was Luhmann ›Digitalisierung‹ nennt. Die Medien stellen Unterscheidungsschemata zur Beobachtung von Ereignissen zur Verfügung. So sieht es Luhmann als eine der elementaren Leistungen der Sprache an, ein »kontinuierliches Nebeneinander in ein diskontinuierliches Nacheinander« zu übersetzen (1998: 101).26 Diese Überlegung, speziell das Interesse am Schemabegriff, wird von vielen neueren Medientheorien im Grundsatz geteilt und häufig mit einem – ganz unterschiedlich ausgelegten – Formbegriff in Verbindung gebracht (vgl. z.B. Winkler 2012). Der Grund für dieses Interesse ist, dass Medien die Kommunikation dadurch wahrscheinlicher machen, dass sie der Kommunikation eine spezifische Leistung des Bewusstseins zur Verfügung stellen, die in der Diskussion um Präsenz von zentraler Bedeutung ist: die Wahrnehmung. Die Kommunikation selbst kann nicht wahrnehmen (vgl. Luhmann 1998: 113). Sie muss sich auf das Bewusstsein verlassen, das seinerseits in Sachen Wahrnehmung nicht autonom agiert, sondern mit dem Körper – wiederum in einem Verhältnis struktureller Kopplung – verbunden ist. Die Leistung unterschiedlicher Medien besteht in je anderen Arten des Wahrnehmbarmachens (vgl. auch den Ansatz bei Krämer 2008). Sie ist auf doppelte Weise durch strukturelle Kopplungen abgesichert: Notwendig ist zum einen die Kopplung von Bewusstsein und Kommunikation, zum anderen die Kopplung von Bewusstsein und Körper. Diese Wahrnehmbarmachung basiert aber auf (digitaler) Schematisierung. Die Sprache wiederum ist ein besonders leistungsfähiges Medium für solche Schematisierungen; sie ist (wie jedes Medium) faszinierend, weil sie Kombinationsmöglichkeiten für Formenbildungen bereitstellt und weil sie über eine ungewöhnliche wahrnehmbare Gestalt, die Laute, verfügt. Damit bindet sie Aufmerksamkeit, also eine knappe Ressource der Wahrnehmungsfähigkeit des Bewusstseins. Dafür ist jedoch, das ist nochmals zu betonen, nicht nur ihr ›Inhalt‹, sondern auch die ›materielle Verkörperung‹ der Sprache entscheidend – also der Umstand, dass Sprache selbst ein physikalisch-materiell wahrnehmbarer Sachverhalt ist, der eine sehr ungewöhnliche Lautgestalt hat. Diese ungewöhnliche Gestalt – im Kontext der Debatte um Performativität würde man sagen: ›verkörperte‹ Präsenz –, welche die Sprache als »extrem unwahrscheinliche Art von Geräusch, das eben wegen dieser Unwahrscheinlichkeit hohen Aufmerksamkeitswert und hochkomplexe Möglichkeiten der Spezifikation besitzt«, gilt nach Luhmann auch für die, wie er 26 | Vgl. dazu Luhmann (1998: 111). Diese ›digitalen‹ Unterscheidungsschemata variieren je nach Medium. Ein systemtheoretisches Kriterium, um Medien zu unterscheiden (also die Frage nach Intermedialität zu stellen), ist in der Frage versteckt, wie verschiedene Medien in der Kommunikation auf verschiedene Weise Unterscheidungen ermöglichen, um Irritationen zwischen Bewusstsein und Kommunikation wahrscheinlicher zu machen, also um das Verhältnis von struktureller Komplexität und operativer Komplexität zu koordinieren.
Präsenz als Form einer Differenz
vermerkt, »enormen, immer noch unterschätzten Auswirkungen [der] Optisierung von Sprache«, also für die Schrift (1998: 110). Für die modernen audiovisuellen Bildmedien wie Film oder Fernsehen oder gar ›interaktive‹ Medien gilt dieses Kriterium nicht nur ebenso, sondern erst recht – denn diese Medien stimulieren und faszinieren qua audiovisueller Medialität die Wahrnehmung noch einmal anders als die Schrift.27 Die Aufmerksamkeitsbindung durch mediale Wahrnehmbarmachung differenziert sich folglich mit dem Aufbau größerer Komplexitäten in der strukturellen Kopplung zwischen Bewusstsein und Kommunikation dahingehend aus, dass die Leistung von Medien, etwas wahrnehmbar zu machen und selbst wahrnehmbar zu sein, in einem klaren Verhältnis steht: Die Aufmerksamkeit fokussiert sich auf das, was wahrnehmbar gemacht wird (die sprachlichen ›Inhalte‹), nicht aber auf das, was wahrnehmbar macht (die ›verkörperte Form‹ der Sprache) – sie fokussiert sich also auf die Formen der Sprache, nicht auf ihre materiellen Eigenarten. Luhmann spricht in diesem Sinne von einer Differenz zwischen Form (als feste Kopplung von Elementen) und ›medialem Substrat‹ (als lose Kopplung von Elementen), in das sich Formen einprägen können. Erst die operative Verwendung der Differenz nennt er »Kommunikationsmedium« (vgl. z.B. ebd.: 195). Im Einklang mit der medientheoretischen Rezeption kann man den operativen Vollzug der Differenz aber auch »Medialität« nennen und den Begriff ›Medium‹ für die andere Seite der Form, also das mediale Substrat reservieren (vgl. Khurana 2004). Der Begriff ›Medialität‹ ist in dieser Betrachtung die Differenz zwischen Form und dem medialen Substrat, in das sich diese Form einprägt. Medialität ist also mediale Wahrnehmbarmachung. Was aber bedeuten diese Überlegungen zu einer Theorie medialer Wahrnehmbarmachung für die Markierung von Präsenz als Form einer Differenz?
VI. P R ÄSENZ , IMPLIZITES W ISSEN — UND M EDIALITÄT Die konstruktivistische Perspektive der Systemtheorie ist eine gute Grundlage, um die angenommene Wechselwirkung von Präsenz und implizitem Wissen zu diskutieren. Das Verhältnis von Präsenz und implizitem Wissen kann mit ihr als Reflexionsverhältnis wechselseitiger, durch Medien bereitgestellter Wahrnehmungsüberschüsse in der Kommunikation verstanden werden. Das Attribut ›Präsenz‹ kommt dann denjenigen Aspekten zu, die den Unterscheidungsschemata eines Mediums entgehen, also nicht in Irritationen übersetzt werden können. Dennoch enthält diese Negation keine Referenz auf die Realitätsbasis der strukturellen Kopplung: Es geht hier nicht um einen Durchgriff auf die Realität, sondern um ein Indiz dafür, dass in strukturellen Kopplungen Eigenleistungen des Bewusstseins als Möglichkeitshorizonte vorausgesetzt werden. 27 | Dazu hat Luhmann allerdings nur sehr wenig zu sagen, vgl. etwa zum Problem der Bildlichkeit bei Luhmann Jongmanns (2003).
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Hieran anschließend sind drei Punkte hervorzuheben, die sich auf verschiedene theoretische Aspekte der Diskussion um Präsenz verteilen lassen: 1. Kulturtheorie: Alltägliche und herausgehobene Präsenzerfahrungen korrespondieren mit dem durch strukturelle Kopplungen realisierten Möglichkeitsüberschuss. Der erste Punkt ist, dass alltägliche Präsenzerfahrungen mit implizitem Wissen verbunden sind, weil sie sich auf die Gleichzeitigkeit von Bewusstsein und Kommunikation in der strukturellen Kopplung gründen. Präsenz liegt hier unterhalb der Schwelle der Notwendigkeit, sie zu kommunizieren. Deshalb ist es nicht nur schwierig, sondern auch pragmatisch gar nicht notwendig, sie zu versprachlichen. Die strukturelle Kopplung ist ›da‹, oder genauer: möglich und wird als diese (bekannte) Möglichkeit vorausgesetzt. Die komplexen Voraussetzungen dieses Prozesses bleiben unthematisiert. Eine solche ›Gleichzeitigkeit‹ der strukturellen Kopplung bedeutet aber nicht, dass man im Fall von Präsenz die »Realitätsbasis« selbst im Blick hat. Sobald man wahrnimmt, kommuniziert oder haptisch erfühlt, aktualisiert man strukturelle Kopplungen. Anders gesagt: Was eingangs als alltägliche Präsenzerfahrung bezeichnet wurde, korrespondiert mit der Latenz der strukturellen Kopplung als Möglichkeit ihrer Aktualisierung. Der konstruktivistische Ansatz zeigt, dass Präsenz als Latenz immer einen Bezug zum Möglichen enthält, also nicht auf eine fixierte Wirklichkeit, sondern auf eine Möglichkeit in der Wirklichkeit verweist; eine Möglichkeit, diejenigen Möglichkeiten, die in der strukturellen Kopplung gegeben oder nicht gegeben sind, zu aktualisieren.28 Im Unterschied dazu sind herausgehobene Präsenzerfahrungen solche Irritationen, welche die strukturelle Kopplung selbst thematisch werden lassen. In diesem Fall bedeutet das, dass in der Kommunikation die ›implizit‹ vorausgesetzten Wahrnehmungen des Bewusstseins ›gegenwärtig‹ werden. Zu einem Problem werden solche Wahrnehmungen, wenn ein Medium, z.B. die Sprache, keine Unterscheidungsschemata für die Irritationen der Wahrnehmung zur Verfügung hat. Als herausgehobene Erfahrung zeichnet sich ein Präsenzereignis also auch dadurch aus, dass es von den erwartbaren Mustern abweicht. Als Form in der Kommunikation kann dieses Ereignis – die Existenzunterstellung ›Präsenz‹ ist innerhalb der Sprache der Einsatzpunkt – Anlass zu einer Reflexion der strukturellen Kopplung zwischen Bewusstsein und Kommunikation werden. Der Begriff Präsenz problematisiert die Wahrnehmungsüberschüsse gegenüber der Kommunikation in Bezug zu denjenigen Medien, die diese Wahrnehmungen der Kommunikation zur Verfügung stellen. 2. Ästhetik: Präsenzerfahrungen sind keine Erfahrungen eines ›Eigentlichen‹, sondern verdanken sich der Reflexivität impliziter Möglichkeiten. Der zweite Punkt betrifft die Art der Präsenzerfahrung. Eine wichtige Pointe an Luhmanns Ansatz ist, dass Reflexion als Modus der Beobachtung zweiter Ordnung 28 | Vgl. zum Begriff der Latenz zuletzt Diekmann/Khurana (2007).
Präsenz als Form einer Differenz
nicht zwingend einen Verlust an ›Erfahrungsqualität‹ von Präsenz bedeutet, also eine größere Distanz zum ›Eigentlichen‹. Auf diese These setzt ein oft gegen den Konstruktivismus geäußerter Vorwurf (z.B. aus dem phänomenologischen Lager). Dagegen lässt sich, salopp formuliert, einwenden: Die Beobachtung zweiter Ordnung ist kein Verlust an ›eigentlicher‹ Qualität, sondern kann dem System Spaß machen. Betrachtet man die Kunst oder auch die Populärkultur, wird durch die konstruktivistische Perspektive klar, dass ihre Modellierung des Begriffs für herausgehobene Präsenzerfahrungen sich mit einer Reflexionstheorie des Ästhetischen abgleichen lässt. In der philosophischen Tradition wird dem Ästhetischen die Funktion zugesprochen, den Mensch mit seinen impliziten ›Vermögen‹ in eine Beziehung zu setzen (vgl. Menke 2001). Ein an Präsenz gebundener Jargon der Eigentlichkeit ist allerdings weder notwendig noch zielführend, denn auch und gerade diese Reflexion kann als ästhetischer Genuss, als Steigerungserfahrung wirken. Perspektivisch wäre sogar die darauf aufbauende These denkbar, dass die historischen Reflexionstheorien der ästhetischen Erfahrung, wenn sie Präsenz im Kontext ästhetischer Erfahrung geltend machen, eine Art protokonstruktivistische Irritationstheorie voraussetzen. Diese Art der ästhetischen Irritation erklärt sich aus der Wechselwirkung mit implizitem Wissen, also (im abendländischen Vokabular gesagt) impliziten ›Vermögen‹. Wenn die verschiedenen Präsenzrhetoriken, die in der Kulturgeschichte (und zwischen den Kulturen) zirkulieren, ein Indiz für die Reflexion des medialen Zuschnitts der strukturellen Kopplung zwischen Bewusstsein und Kommunikation sind, dann muss das System das Scheitern von sprachlicher Sagbarkeit keineswegs als ein Problem empfinden. Im Gegenteil: Die Kommunikation erzeugt eben dann, wenn sie etwas nicht ausdrücken kann, den Glauben an eine direkte Konfrontation mit den Wahrnehmungen des Bewusstseins – und eben hierin mag eine Ursache der ganzen Aufregung um Präsenzerfahrungen liegen. 3. Medientheorie: Präsenzerfahrungen sind in der Kommunikation als Form vermittelter Unmittelbarkeit anzusehen. Der dritte Punkt betrifft die konstruktivistische Schranke, die durch die Beobachtung zweiter Ordnung eingezogen wird. Diese Schranke fällt, wo das Bewusstsein aus der Negation von Sagbarkeit davon ausgeht, ›unmittelbar‹ mit seiner Wahrnehmung konfrontiert zu sein. Jedes implizite Wissen – in diesem Punkt scheint die These von der Wechselwirkung zwischen Präsenz und implizitem Wissen sich zu bestätigen – ist auf ›Präsentifikation‹ angewiesen. Implizites Wissen ›zeigt‹ sich also – erinnert sei an Gumbrechts und Polanyis Hinweise auf die ›Deixis‹ – im Modus von Präsenz. Dieser Modus mag, wie immer betont wird, nicht sprachlich sein, er ist deshalb aber nicht nicht-kommunikativ. So ist etwa das Demonstrieren eines Bewegungsmusters im Kampfsport (anstelle des Erklärens über Worte) ein kommunikatives Ereignis, das auf intersubjektiven Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit und Wahrnehmung basiert (vgl. Tomasello 2002; dazu Bauer 2003; flankierend auch Loenhoff 2001).
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Ob diese kommunikative Erfahrung als medial oder als nicht-medial begriffen wird, hängt letztlich vom gewählten Medienbegriff und seiner Reichweite ab: Konzipiert man auf einer ersten Stufe (a) die Dimensionen sinnlicher Wahrnehmung (Licht, Schall, Körper etc.) als Medien, ist das Geschehen ein mediales. Allerdings bewegt man sich dann auf der Stufe der Medialität von Wahrnehmung selbst, also auf einem sehr hohen Abstraktionsgrad der Medium/Form-Unterscheidung. Dies kann zu einer unspezifischen Diskussion führen, weil Medien hier als konstitutive Bedingungen von Wahrnehmung aufzufassen sind. Die nächste Stufe wären (b) die symbolischen Kommunikationsmedien, also insbesondere die Sprache, die Schrift und die Bildlichkeit. Diese Medien können instrumentell jeweils anders verwendet werden, um das Bewegungsmuster zu vermitteln. Sie treten dann in Gebrauchspraktiken in Erscheinung, die ihrerseits auf variable Medien Bezug nehmen können: Es macht einen Unterschied, ob ich ein Bewegungsmuster erkläre oder eine schematische Zeichnung von ihm zeige. An die symbolischen Medien knüpft sich dann die Frage, welches spezifische Medium am besten geeignet ist, das Bewegungsmuster ›unmittelbar‹ rezipieren und nachvollziehen zu können: Bilder sind hier der Sprache überlegen. Auf dieser Ebene kann ferner über höher generalisierte symbolische Erfolgsmedien spekuliert werden,29 die eine Annahme der Kommunikation wahrscheinlich werden lassen (vgl. Luhmann 1998: 316ff.). Die dritte Ebene wären (c) technische Kommunikationsmedien, also die klassischen ›Massenmedien‹ wie Fotografie, Fernsehen, Radio, Film, Web etc. Diese Medien sind zu eng gefasst, wenn man sie nur auf ihre Fähigkeit reduzieren würde, zeiträumliche Distanzen zu überwinden und dadurch Kommunikation wahrscheinlicher zu machen. Ihre Leistung liegt nicht nur in der Verbreitung von zeichenhafter Kommunikation (also z.B. der Vermittlung von Sprache als Schrift im Buchdruck), sondern auch in ihrer pragmatischen Operationalität im Umgang mit diesen Zeichen: Die Schrift in einem Buch kann nicht nur gelesen, sondern auch, wie Luhmann selbst schreibt, gesehen werden – was dann selbst wieder durch das Buch definierte Eingriffs- und Transformationsmöglichkeiten der Schrift möglich macht. Technische Medien sind also mehr als Verbreitungsmedien; sie konstituieren Operationsräume für das Prozessieren von Zeichen im Sinne einer Dekontextualisierung und damit Steigerung der Reflexion (vgl. Krämer 2008). Auf der Ebene dieser Medien ist das Potenzial medialer Wahrnehmbarmachung insofern noch einmal gesteigert, als zeiträumliche Ausdehnung der Kommunikation mit operativer Manipulierbarkeit von (als Medien in diesen Medien enthaltenen) Zeichen einhergeht. Aus diesem Grund ist die Frage der Medialität von weiterführender Bedeutung für die Debatte um das Verhältnis von Präsenz und implizitem Wissen. Der Hinweis auf Medialität verdeutlicht, dass es – wenn die strukturelle Kopplung von Bewusstsein und Kommunikation gegeben ist – keine Präsentifikation gibt, 29 | Gibt es z.B. ein symbolisches Kommunikationsmedium im Sport?
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die nicht zugleich mediale Wahrnehmbarmachung wäre, sich also nicht ›medial‹ vollzieht. Mit anderen Worten: Präsentifikation setzt Medialität voraus und kann nach Mediendifferenzen spezifiziert werden. Dem folgend kann implizites Wissen nur über Präsentifikation Eingang in die Kommunikation finden. Die programmatische medientheoretische Konsequenz lautet, dass im Verhältnis von Präsenz und implizitem Wissen nicht einfach nur eine mediale Perspektive angelegt, sondern dass diese nicht im Widerspruch zum ›Unmittelbarkeitscharakter‹ von Präsenz steht und darüber hinaus sogar klar macht, dass noch die ›unmittelbarste‹ Demonstration eine Demonstration bleibt, die sich in der Kommunikation für das Bewusstsein ›vermittelt‹. ›Mediale‹ Unmittelbarkeit im Sinne von Medialität ist für Präsenz sogar konstitutiv: Präsenz ist als Form einer Differenz vermittelte Unmittelbarkeit (vgl. auch Kiening 2007).30 Betrachtet man diese drei Punkte, liegt das Originelle an der im vorliegenden Band unterstellten Forschungshypothese einer Wechselwirkung zwischen Präsenz und implizitem Wissen darin, dass in dieser Wechselwirkung notwendig Medialität impliziert ist. Während die erste Seite dieser Forschungshypothese, also die Idee, dass Präsenz durch implizites Wissen ihren nicht-sprachlichen (und in Kurzschlüssen dann: ›nicht-medialen‹) Charakter gewinnt, ist die zweite Perspektive, also die Überlegung, dass implizites Wissen ›präsentisch‹ verfasst ist, nur plausibel, wenn sie auf medialer Wahrnehmbarmachung beruht. Für eine medienwissenschaftliche Herangehensweise leitet sich aus Luhmanns Ideen deshalb die Schlussfolgerung ab, dass das Verhältnis von Präsenz und implizitem Wissen auf eine dritte Stelle, die Stelle der Medialität, hin erweitert werden muss. Doch wie mündet eine solche medientheoretische Überlegung in konkrete medienwissenschaftliche Forschungsfragen?
VII. ›P R ÄSENZ‹! K L ARSTELLUNGEN DER S YSTEMTHEORIE Die durch Präsenz aufgezeigte Grenze des Sagbaren, so kann man die bisherigen Überlegungen zusammenfassen, wird immer dann ›reflexiv‹, wenn sie die Kommunikation vor die Frage stellt, wie das Bewusstsein und seine Wahrnehmungen in der Kommunikation selbst wieder wahrnehmbar gemacht werden können. Diese Problematik ist zwingend eine ›mediale‹: Sie verweist auf die vielfältigen Medien, die sich mit genau dieser Einbindung des Bewusstseins befassen und sich dabei wechselseitig kommentieren. Vom Standpunkt der Medienwissenschaft aus müssen diejenigen Präsenzerfahrungen im Fokus stehen, die aus solchen inter-
30 | Die Formulierung weckt Erinnerungen an das Konzept ›vermittelter Unmittelbarkeit‹ bei Helmuth Plessner. Auf eine umfassende Diskussion der Bezüge zwischen Medientheorie und philosophischer Anthropologie kann ich an dieser Stelle aber nicht eingehen.
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medialen Bezugs- und Übersetzungsverhältnissen entstehen.31 Manches von dem, was im Bild ansichtig wird, ist der Sprache verschlossen und bleibt somit ›unsagbar‹. Eben dieser Umstand einer Grenze des Mediums kann aber in der Kommunikation als besondere visuelle Präsenz markiert werden, als eine Art der Präsentifikation von Wahrnehmungen, die die Sprache nicht zu leisten vermag. Natürlich gibt es auch den umgekehrten Fall, beispielsweise im Zusammenhang mit der Versprachlichung von Emotionen.32 Die verschiedenen Medien haben hierfür unterschiedliche Formensprachen entwickelt, die in eine ›intermediale‹ Diskrepanz treten können. Ist etwa die Darstellung von Bewusstseinsinhalten selbst das Thema, dann lässt sich für den Film – worüber man sich allerdings streiten kann – behaupten, dass er zur Phänomenalität des Bewusstseins in seinem Vollzug (z.B. als Traum) als temporalisiertes Bewegtbildmedium signifikant mehr metaphorische Analogien ausbilden kann, als beispielsweise die geschriebene Sprache der Literatur.33 Diese metaphorische Reizung erhöht die Irritation für die Kommunikation, aber eben auch die Faszination. Für die Medienwissenschaft ist die Systemreferenz auf Kommunikation – im Einklang mit der Perspektive von Luhmann also: auf soziale Systeme – diejenige Referenz, auf die es ankommt. Nur in Relation zur Kommunikation können die Unterschiede zwischen den Medien ausgearbeitet werden. Diese Unterschiede liegen darin, dass Medien der Kommunikation verschiedene Unterscheidungsschemata für die Beobachtung von Irritationen der Kommunikation durch Wahrnehmungen zur Verfügung stellen. Schon die Schrift – für Luhmann die visuelle Variante der Sprache – kann aufgrund ihrer Sichtbarkeit (und dann erst recht in Verbindung mit dem Buchdruck) ganz andere Unterscheidungsschemata in die Kommunikation einführen, als es die mündliche Sprache zu leisten vermag (und umgekehrt). Noch interessanter ist der Gegenstandsbereich der audiovisuellen (Bewegt-)Bildmedien. Diese stellen für die – von Luhmann nur am Fall der Sprache diskutierte – strukturelle Kopplung von Bewusstsein und Kommunikation eine immense Herausforderung dar, da sie permanent neue Wahrnehmungsüberschüsse in die Kommunikation einspeisen. Zu denken ist an die Temporalparadoxien der Fotografie (die berühmte Parallelität von ›es ist so/es ist so gewesen‹ des Fotos bei Roland Barthes) oder an das Versprechen des Films, in die Kommunikation etwas einzuführen, das für die Kommunikation regulär ›unsichtbar‹ ist. Blickt man auf ein Genre wie den Bewusstseinsfilm, dann zeigt sich, dass der Film visuell temporalisierte Formen bereitstellt, die mit dem Zeitcharakter der Sprache interagieren können. Dem Zuschauer werden Gedanken (etwa einer Figur) ge31 | Eine Theorie dieser intra- und intermedialen Übersetzungsverhältnisse liefert Jäger (2002, 2012). 32 | Vgl. dazu auch den Beitrag von Frank Adloff im vorliegenden Band. 33 | Vgl. hier weiterführend Jahraus (2004a), zum Traum auch Brütsch (2011) und McGinn (2007).
Präsenz als Form einer Differenz
zeigt, so dass dieser etwas sieht, das der Kommunikation prinzipiell entzogen ist. Für die Kopplung von Bewusstsein und Kommunikation ist das ein Versprechen von immenser Reichweite. Auch einschlägige Filmästhetiken des Schocks und der Evidenz können so auf die angenommene Wechselwirkung von Präsenz und implizitem Wissen bezogen werden. Historisch betrachtet, bilden dementsprechend solche Präsentifikationsstrategien, wie sie der russische Formalismus entwickelt hat, einen guten Einstieg in weiterführende filmtheoretische Ideen.34 Zu denken ist weiterhin an die – nicht selten auf Medien wie dem Film aufbauenden – Strategien der operativen Einbindung des Körpers in neueren Computerspielen. Auch in diesen Medienformaten wird eine nicht-sprachliche Schematisierungsfunktion explizit, und zwar die regelbasierte diagrammatischkartographische in ihrer Verbindung mit dem Körper, also dem Handeln in räumlichen Relationen, das ein starkes Moment der ›Deixis‹ einschließt. Präsentifikationen zielen hier im traditionellen Sinne auf implizites, motorisches Körperwissen. Gegenwärtig tendieren diese Medienformate dazu, von der Hand-Auge-Koordination auf die Bewegungsfähigkeit des ganzen Körpers umzuschalten. Implizites Wissen ist dann, mehr denn je, als Bedingung von Präsenz zu verstehen; auch die entsprechenden medialen Dispositive selbst sind auf die Wechselwirkung von Präsenz und implizitem Wissen abgestellt. In der Kommunikation wird die Form der strukturellen Kopplung dadurch auffällig (›präsent‹), dass das jeweilige Medium, das diese Form maßgeblich ermöglicht, die Notwendigkeit einer Reflexion seiner Grenze proklamiert. Damit wird die Kommunikation nicht verlassen, sondern es wird ausgedrückt, dass die impliziten Voraussetzungen von Kommunikation, also Wahrnehmungen, nicht in diesem Medium für die Kommunikation bereitgestellt werden können. Damit werden Wahrnehmungsüberschüsse reflektiert und es wird auf ein anderes Medium verwiesen. Weil diese Wahrnehmungsüberschüsse ihren Ursprung nicht in einer wie immer gearteten Realitätsbasis haben, sondern in einem ›Medium‹ (im weiten Sinne) vermittelt werden, ist Medialität im Verhältnis von Präsenz und implizitem Wissen eine irreduzible Größe. Nach diesen Ausführungen ist es nicht mehr plausibel, die Kategorien der Präsenz und des impliziten Wissens als Opposition zum differenzlogischen Konstruktivismus zu betrachten. Vielmehr ist deutlich geworden, dass das Wechselverhältnis von Präsenz und implizitem Wissen keineswegs auf eine einseitige Affirmation der ›Unmittelbarkeit‹ hinausläuft. Mit Mitteln der Systemtheorie konnte gezeigt werden, dass jede mit einem impliziten Wissen korrelierende Präsenz auf eine mediale Präsentifikation dieses Wissens hindeutet: Wenn Präsenz die Grenzen eines Mediums überschreitet, also z.B. die Grenzen der Sagbarkeit, ist dieser Übertritt durch eine Aktualisierung von implizitem Wissen gekennzeichnet, die den Charakter einer Reflexion hat und sich in einem medialen Verhältnis bewegt.
34 | Vgl. dazu auch den Beitrag von Kay Kirchmann im vorliegenden Band.
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VIII. ›I MPLIZITES W ISSEN ‹? — Ü BER DIE S YSTEMTHEORIE HINAUS Was bleibt aber von der ›postkonstruktivistischen‹ Spitze der Diskussion? Zum Abschluss im Sinne eines Ausblicks soll hier noch einmal der theorieprogrammatische Charakter der Debatte diskutiert werden. Festhalten lässt sich, dass ›postkonstruktivistische‹ Bestrebungen, die sich gegen eine konstruktivistische Modellierung von Präsenz richten, nicht beim Präsenzbegriff selbst ansetzen sollten, sondern beim impliziten Wissen. Zu problematisieren wäre insbesondere Luhmanns Substitution von Polanyis implizit/explizit-Unterscheidung. Die sozialwissenschaftliche Forschung hat hierzu auch für die Medienwissenschaft wichtige Arbeit geleistet. So hat Joachim Renn aus einer pragmatistischen Perspektive gezeigt, dass Luhmanns Konzept der strukturellen Kopplung speziell in Bezug auf das Problem der Zeitlichkeit erhebliche Probleme mit sich führt und die Systemtheorie darüber hinaus dazu tendiert, den Begriff des impliziten Wissens zu verschleißen (vgl. 2006, 2012). Das Problem ist, dass Luhmanns scharf gegeneinander abgegrenzte Systeme im Grunde nur explizites Wissen zulassen. Das Konzept der strukturellen Kopplung verlegt den Ort des impliziten Wissens in die Umwelt (bzw. den unmarked space) der Systeme. Für Luhmann ist jede Umformung des impliziten Wissens eine systeminterne Zuschreibung, die abhängig ist von dem, was bereits (a) durch die Medialität der Form als erschlossenes Wissen vorhanden ist und als dieses explizite Wissen (b) für das System aufgrund von Kondensierungen und Konfirmierungen in seinen regulären Operationen als nicht mehr zu thematisierende Voraussetzung ›unsichtbar‹ bleibt.35 Für sinnverarbeitende Systeme ist es ein bekanntes Phänomen, dass die Reflexion des Systems operativ strukturrelevant sein und auch in eine veränderte Praxis umschlagen kann. Luhmann erklärt diese Wechselwirkung, indem er darauf verweist, dass in strukturell gekoppelten Systemen die Veränderung der Selektionen eines Systems, also z.B. durch Reflexion auf die eigenen, vormals unthematischen Vollzüge, immer in eine veränderte Praxis des Systems mündet. Dennoch darf man sich fragen, ob implizites Wissen tatsächlich so stumm und unwahrnehmbar ist, wie in dieser Sicht der Dinge behauptet. Wenn implizites Wissen tatsächlich in der Umwelt des Systems liegt, wird der Begriff des impliziten Wissens so stark gefasst, dass es nicht nur wie bei Polanyi ›stumm‹ ist, sondern im System gar keine wahrnehmbare Artikulationsmöglichkeit mehr hat. Das ist das skeptizistische Erbe des Konstruktivismus: Das System muss dieses Wissen voraussetzen, findet aber keinen systeminternen Kontakt zu ihm. Deshalb bleibt dem System nur die Möglichkeit, dieses Wissen als nachträgliche Beobachtung zu (re)konstruieren.36 35 | Die Begriffe Kondensierung und Konfirmierung bezeichnen nach Luhmann die Bedingungen der Garantie von Anschlussfähigkeit in Wiederholungen, wobei Kondensierung die Reduktion auf Identisches meint, Konfirmierung dagegen die Garantie des Identischen in einer veränderten Situation (vgl. Luhmann 1990: 108). 36 | Vgl. zum Problem der Nachträglichkeit auch die Bemerkungen bei Staehli (2000: 263ff.).
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Wenn die Systemtheorie einen Begriff von System hat, in dem Systeme keinen Zugriff auf den außerhalb ihrer selbst gelegenen Ort des impliziten Wissens finden bzw. diesen nur durch Beobachtung zweiter Ordnung als medial vermitteltes Wissen kennen, dann verfügt sie auch über keinen Begriff von implizitem Wissen. Die Systemtheorie fokussiert sich auf das Wissen, das in medialen Operationen, etwa in den Objektivierungen der operativen Unsichtbarkeit in nachträglichen Reflexionen, latent ist. Der starke Begriff des impliziten Wissens wird so auf einen schwachen Begriff des unthematischen Wissens reduziert, das als medial vermitteltes, systemintern explizierbares Wissen aufgefasst wird, also relativ zu einem Medium bestimmt wird (vgl. Renn 2004: 234ff.). Medientheoretisch gesagt, wird ein in der Praxis eingelagertes Wissen zu einem »submedialen Raum« (vgl. Groys 2000: 18f.), also einem Latenzbereich der Medien. Die fällige Auflösung dieses unthematischen Wissens in Praktiken der Auslegung lässt sich systemtheoretisch als autopoietisches Moment im Sinne einer Beobachtung zweiter Ordnung beschreiben, in der es zu einer (systeminternen) Zuschreibung der Unterscheidung ›implizit/explizit‹ kommt. Das ist ein produktiver Gedanke, wie man etwa am Fall der parahermeneutischen Praktiken einer Verschwörungstheorie sehen kann, in denen behauptet wird, dass noch etwas im Bild ›implizit‹ enthalten sei, das man noch nicht expliziert, also der Kommunikation zur Verfügung gestellt habe. Aus der systemtheoretischen Perspektive kann man dann argumentieren, dass die nachträgliche Beobachtung sich an dieser Form des unthematischen Wissens entzündet und es endlos reflektiert (weil es keinen Kontakt zu diesem Wissen findet), ja mit steigender Komplexität der Medien durch intermediale Transkriptionen die Paradoxie des unthematischen Wissens selbst zur dominanten Paradoxie wird, die alles unter den Verdacht stellt, dass da ›noch etwas ist‹.37 Luhmanns Sicht der Dinge hat also einiges für sich. Nicht zuletzt, weil es schwer zu leugnen ist, dass implizites Wissen als unthematisches Wissen ein System und seine Medien fasziniert. Mit Luhmanns Reduktion des impliziten Wissens auf die Latenz eines unthematischen Wissens geht allerdings die produktive Kraft des Begriffs des impliziten Wissens – genauer: eines starken Begriffs von implizitem Wissen – verloren, der davon ausgeht, dass implizites Wissen als eine in der Praxis aktualisierte Differenz von knowing how und knowing that in Erscheinung tritt (vgl. grundlegend Renn 2004). Das System – auch die Kommunikation – kann etwas, ohne explizit sagen zu können wie. Es nimmt explizit (also systemintern) wahr, dass etwas möglich ist, auch wenn diese Selbstwahrnehmung von implizitem Wissen in keine explizite Darstellungsweise überführt und repräsentiert werden kann. Das implizite Wissen ist systemintern ›präsent‹, ohne dass es explizit repräsentiert werden müsste. Präziser gesagt: Das System geht davon aus, einen Kontakt zur Außenwelt zu haben, den es zwar in Momenten der Thematisierung von Ausdrucksgrenzen als mediale Paradoxie begreift, stets aber voraussetzt und auch in dieser Voraussetzung inso37 | Vgl. zu dieser Figur als Problem von Öffentlichkeit auch Ernst (2008).
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fern als differenzierbar erfährt, als zwischen der medialen Präformierung einer Bezugnahme und dem in eine Praxis integrierten Akt dieser Bezugnahme selbst differenziert werden kann (vgl. Renn 2008). Im Unterschied zu Luhmanns Depotenzierung des Begriffs des impliziten Wissens muss medientheoretisch zwischen (a) dem unthematischen Wissen, das einem Medium als derjenigen Instanz anhängig ist, die das Wissen in einem System zur Verfügung stellt, und (b) dem Wissen, das als implizites Wissen das Medium und dessen unthematische Latenz selbst umfasst, unterschieden werden. Wenn die Form der Differenz Sagbarkeit/Unsagbarkeit bemüht wird, dann ist die Möglichkeit, dass Unsagbares mit anderen Medien als der Sprache vielleicht doch ausgedrückt werden kann, immer schon unterstellt. Dieses Wissen deutet nicht darauf hin, dass die Medien ›unhintergehbar‹ sind, sondern, dass wir mit Medien, zumindest dann, wenn sie – frei nach Charles S. Peirce – semiotische Medien sind, schlussfolgernd handeln, dass wir also mediale Formen auf eine Realität beziehen, von der wir in der Praxis implizit unterstellen, dass sie ›zugänglich‹ ist. Die Diskussion um Präsenz und implizites Wissen in der Medienwissenschaft verweist deshalb auch auf die Versuche von Hartmut Winkler (2004) und Sybille Krämer (2008), die auf eine Gebrauchstheorie der Medien hinarbeiten und damit das skeptizistische Erbe der konstruktivistischen Theorien zurückdrängen.
IX. F A ZIT Die Diskussion um postkonstruktivistische Theorieperspektiven hat sich in den letzten Jahren wieder intensiviert. Für die Kulturwissenschaften (inklusive der Medienwissenschaft) steht eine vergleichbare ›postkonstruktivistische‹ Kritik des Konstruktivismus noch aus. Die häufig im Bereich des Ästhetischen entwickelte und relativ vage Evokationsrhetorik von Präsenz ist in diesen Fächern oft schon die als Alternative zum Konstruktivismus positionierte Botschaft der Theorie. Genau diese Herangehensweise ist falsch, denn gegenüber solchen Positionen hält Luhmanns Systemtheorie eine Vielzahl an Einsichten bereit, um die These von einer Wechselwirkung zwischen Präsenz und implizitem Wissen zu diskutieren. Aus Sicht der Medienwissenschaft ist vor allem die Frage nach der Intermedialität von Präsenz vordringlich. Die Reflexion auf das Verhältnis von Präsenz und implizitem Wissen fordert dazu auf, die wechselseitigen Wahrnehmungsüberschüsse zu beobachten, die von verschiedenen Medien qua unterschiedlicher Schematisierung in die Kommunikation eingespeist werden. Möchte man Präsenz in Relation zum impliziten Wissen erläutern, dann findet sich ein geeignetes theoretisches Fundament für die Medienwissenschaft allerdings nicht in solchen Theorien, die Präsenz entweder als einen irreduziblen Mangel, der beseitigt werden muss, oder als einen uneinholbaren Überschuss, der nur ›negativ‹ einzukreisen ist, konzipieren. Eine weiterführende Perspektive deutet sich vielmehr in einer konstruktivis-
Präsenz als Form einer Differenz
tisch informierten Gebrauchstheorie der Medien an, für die eine Theorie wie die Systemtheorie ein wesentlicher Prüfstein ist.
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Sinn oder Sinnlichkeit? Eine filmhistorische Fallstudie vor dem Hintergrund von Foucaults Freud-Kritik Kay Kirchmann
»An einem regnerischen Tag des Jahres 1919, in einer Stadt am Rhein, fiel mir auf, mit welcher Besessenheit mein irritiertes Auge an den Seiten eines Bilderkataloges haftete, in dem Gegenstände zur anthropologischen, mikroskopischen, psychologischen, mineralogischen und paläontologischen Veranschaulichung abgebildet waren. Dort standen Bildelemente nebeneinander, die einander so fremd waren, dass gerade die Sinnlosigkeit dieses Nebeneinanders eine plötzliche Verschärfung der visionären Kräfte in mir verursachte, und eine halluzinierende Folge widersprüchlicher […] Bilder wachgerufen wurde […].« M AX E RNST : J ENSEITS DER M ALEREI (1936)
Folgt man dem systemtheoretisch inspirierten Vorschlag, den Christoph Ernst in seinem Beitrag zu diesem Band unterbreitet hat, und versteht Präsenz als einen Wahrnehmungsüberschuss, der in einer je gegebenen medialen Form (verstanden als feste Kopplung von Elementen) entsteht und dadurch zugleich die Grenze der eigenen Medialität (lose Kopplung von Elementen) reflexiv ansichtig macht, so wäre das Ereignishafte der Präsenz immer schon als strukturelle Kopplung zwischen verschiedenen Medien, quasi als virtueller Verweis auf Intermedialität lesbar.1 Dennoch liegt es nahe, jene Grenze des in einem Medium Sagbaren zugleich als 1 | Auch wenn die Systemtheorie angesichts ihrer eher kumulativen Medienkonzepte strukturelle Kopplungen zwischen Medien zunächst nicht vorsieht, sondern diese für Systeme reserviert hat (vgl. Luhmann 1998).
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Kopplung mit einem anderen Medium zu konzipieren, in dem die fragliche Inkommensurabilität dann auflösbar erscheint. Das Nicht-Sagbare drängt nach Visualisierung, das Nur-Hörbare verweist auf die Notwendigkeit eines anderen Mediums als die Schrift etc. Indem also in einem Medium etwas aufscheint, das die jeweiligen Wahrnehmungsanordnungen (Präsentifikationen) dieses Mediums tendenziell unterläuft, wird entweder die Notwendigkeit eines Registerwechsels evident – das Medium erklärt sich für nicht zuständig und verweist das Inkommensurable in den Geltungsbereich eines anderen Mediums – oder aber das Medium geht eine strukturelle Kopplung mit einem anderen Medium ein, um Anschlusskommunikation wieder wahrscheinlich(er) zu machen. Die Geschichte der künstlerischen Formen und ihrer Medien kennt jedenfalls zahlreiche Strategien des re-entrys solcher Grenzformen, also Versuche, die problematisch gewordene Differenz ins Ausgangsmedium zu reintegrieren: Paradigmatisch aufgerufen seien etwa Konzepte wie Ekphrasis, Synästhesie, Visuelle Poesie und etliche andere Avantgardepraktiken, die in ihrer (scheinbaren) Überschreitung der je eigenen Medialität durchaus als Reaktion auf die angesprochenen inkommensurablen Wahrnehmungsüberschüsse verstanden werden können. Zugleich aber wird die Sachlage hierdurch komplizierter, als sie auf den ersten Blick erscheinen mag, denn folgt man Luhmanns Medium/Form-Unterscheidung (vgl. Luhmann 2000), lässt sich der hiermit induzierte Formenwandel mit Konzepten der Intermedialität nicht ohne Weiteres zur Deckung bringen, sondern müsste vielmehr als eine weitere der infiniten Formbildungen verstanden werden, die das Medium als lose Kopplung von Elementen zur Verfügung stellt. Und dies schon zwangsläufig deshalb, weil die neuen Formen innerhalb des nämlichen Referenzmediums (Film, Sprache, Schrift, Malerei) aktualisiert werden, auch wenn sie nunmehr auf Formatierungen von Wahrnehmung auszugreifen scheinen, die zuvor ›Umwelt‹ des jeweiligen Mediums waren. Bemerkenswert ist auch der Umstand, dass die fragliche Inkommensurabilität schon innerhalb der Formen des Bezugsmediums evident, sprich: wahrnehmbar geworden ist, also keinesfalls vollständig außerhalb dessen Formen liegen kann. Entsprechend begreift Luhmann – wie Ernst zu Recht betont – Formen als Einheit der Differenz Innen/Außen, im übertragenen Sinne also als Einheit der Differenz von Medien. Medienwechsel, Mediendifferenz, Intermedialität insgesamt wären somit nachgeordnete Kategorien, welche die operative Basisdifferenz Form/Medium nicht in Frage stellen würden. Dennoch ist der Grundgedanke, dass Präsenz letztlich »eine Grenze des Mediums« formuliert, die auf einer je »anderen Art der Präsentifikation von Wahrnehmungen basiert«, zu verführerisch, um ihn aufgrund der notorischen klassifikatorischen Unschärfe von Medialität gleich ad acta zu legen.2 Treiben wir die inhärenten Paradoxien also noch etwas weiter, um dem Zusammenhang von Präsenz und Medialität auf der Spur zu bleiben: Die Inkompatibilität von Medium/ 2 | Siehe hierzu den Beitrag von Christoph Ernst in diesem Band.
Eine filmhistorische Fallstudie vor dem Hintergrund von Foucaults Freud-Kritik
Form-Unterscheidung und Intermedialität ist zunächst in Luhmanns Axiomatik gegründet, dass Medien selbst, anders als die in ihnen gebildeten Formen, nicht beobachtbar sind. Dies meint (zumindest implizit) sowohl die ästhetischen Formungsprozesse, in denen Medialität uns erscheint, als auch die hochgradig wandlungsfähige Materialität des Mediums selbst.3 Zu beobachten wären mithin, folgt man dieser Figur, allenfalls Formendifferenzen, keine Mediendifferenzen. In der Tat stößt die Intermedialitätstheorie auf vergleichbare methodische Aporien, setzt sie doch heuristisch immer schon jene Differenz zwischen Medien voraus, die das fragliche Phänomen (die beobachtete Form) ja überhaupt erst zu einem der Intermedialität avancieren lässt. Entsprechend ist Intermedialität immer schon »grundsätzlich paradoxal verfasst, denn jeder intermedialen Synthese von Medien geht deren vormalige Trennung voraus. Ist eine Synthese gelungen, dann dürfen sich diese Einzelmedien eigentlich nicht mehr unterscheiden lassen« (Scheid 2005: 19). In Anlehnung an Jens Schröter unterscheidet Torsten Scheid daher zwischen einer ontologischen Intermedialität (die gleichsam wesenhafte Differenzen zwischen Medien voraussetzt, die in der Intermedialität beobachtbar bleiben müssen) und einer metaphorischen Intermedialität, der es »nicht um technische, faktisch beschreibbare Mediendifferenzen, sondern um die Behauptung von Mediendifferenz« geht (ebd.: 22), also um ihrerseits in einem Medium Form gewordene diskursive Annahmen von medialer Spezifik. Die Metapher von der metaphorischen Intermedialität rekurriert dabei auf die basale Filterfunktion metaphorischer Operationen, selektiv Eigenschaften (oder diskursiv vorgeprägte Annahmen derartiger Eigenschaften) zwischen zwei Entitäten zu fixieren, die erst einen Vergleich ermöglichen – sei es als Kontrast, sei es als Analogie (vgl. ebd.: 23) – und dergestalt »die kategorialen Gegensätze medialer Systeme [überbrücken]« (ebd.: 24). Das Ganze bzw. das Medium bleibt also auch hier unbeobachtbar und wird nur in Gestalt einer vergleichenden Auswahl von Formen (Eigenschaften) operationalisiert. Die Eleganz dieser Zugriffsweise liegt zum einen darin, dass sie sich auf historisch virulente Formen fokussiert, die in einem Referenzmedium beobachtbar sind, und damit die Aporien der Medium/Form-Differenz, an der sich eine ontologische Intermedialität abarbeitet, umgeht. »Metaphorische Intermedialität also impliziert den Verzicht auf Einzelmedienontologien und betont demgegenüber, dass sich in intermedialen Konstellationen Medien immer nur bildhaft, nie aber materiell konkretisieren«. (ebd.)4 Zum anderen verschiebt diese Figur den Fokus von der Medienspezifik/-differenz auf die Ebene der Diskurse. Metaphorische Intermedialität untersucht, wie oben erläutert, ›Behauptungen von Mediendifferenz‹, also gleichsam deklarative Sprechakte, nicht aber die fragliche ontische Differenz selbst. Damit fallen heikle Problemhorizonte 3 | Nicht von ungefähr wählt diese Denkfigur den Begriff des Substrats, nicht der Substanz, die in der Einheit der Differenz zur Form erst ›Medium‹ ergibt. 4 | Zur Problematik der Einzelmedienontologien vgl. Leschke (2003: 73ff.).
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wie die der kategorialen Rückbindung des Medialen an eine spezifische Materialität (›ist‹ ein Film auf DVD noch ein Film oder schon ein Video?) ebenso fort wie die schwierige Integration historischer Formwandlungen in eine jeweilige Ontologie des Mediums (›ist‹ der Tonfilm eine Weiterentwicklung der filmischen Formen oder schon ein neues Medium?). Stattdessen geht es allein um die Beobachtung exkludierender und inkludierender Operationen in einzelnen medialen Artefakten, seien diese theoretisch-textueller oder fiktional-repräsentationaler Natur. Gemeinsam ist ihnen der Sprechakt: ›Siehe, das hier ist es, was ich als zugehörig oder nicht zugehörig zu Medium X anerkenne‹, oder wiederum systemtheoretisch reformuliert: die Konstatierung von Selbst- und Fremdreferenz. Noch einmal: Beobachtet wird nicht ein essentialisiertes Irreduzibles oder Anderes in Medium X, sondern lediglich die diskursive Behauptung desselben, der dabei immer schon beobachterabhängige Selektionsmechanismen (Metaphorisierungen) zugrunde liegen.
P R ÄSENZ : EIN E FFEK T DER M ATERIALITÄT ODER DER M EDIALITÄT ? Nun mag man gegen diesen weitgespannten medientheoretischen Bogen mit gewissem Recht einwenden, dass es der aktuellen Konjunktur der Präsenzdiskurse um etwas anderes geht, ja, dass, nimmt man deren prominentesten Protagonisten Hans Ulrich Gumbrecht (2004, 2012) beim Wort, der unter Präsenz gefasste Sachverhalt ein ungleich trivialerer ist. Gumbrechts Ausrufung einer ›nicht-hermeneutischen‹, ›nicht-darstellenden‹ (sehr wohl aber medialisierten) Präsenz bzw. deren Produktion versucht letztlich nichts anderes, als eine Zone der Unmittelbarkeit im Text zu diagnostizieren, die sich einer auf Sinngenese angelegten Lektüre notwendigerweise entzieht: Etwas erscheint, das sich der Sinnstiftung entzieht und insofern als Eigentlichkeit emaniert (vgl. ferner Seel 2000). Aus medienwissenschaftlicher Sicht wäre hier zunächst grundsätzlich zu hinterfragen, ob sich Medialität im angesprochenen Sinne transzendieren lässt, damit das besagte Eigentliche überhaupt auf- bzw. erscheinen könnte. Abstrahieren wir weiterhin von den gleichwohl berechtigten Fragen, ob die von Gumbrecht inkriminierten Denkschulen und Methoden sich tatsächlich derart reibungslos zu einem ›hermeneutischen‹ Paradigma zusammenfassen lassen, wie er es suggeriert, und ob die fraglichen Theorien tatsächlich jemals einer derart überschusslosen Übersetzbarkeit des Perzeptiven ins Semantische das Wort geredet haben. Die Konfliktlinie jedenfalls, die von Gumbrecht behauptet wird, lässt sich auch weniger emphatisch als Inkommensurabilität von Sinn und Sinnlichkeit (oder von Semiotik und Phänomenologie) begreifen, die vor allem als Unmöglichkeit einer Gleichzeitigkeit imaginiert wird. Die Temporalisierung von Präsenz überführt diese Unmöglichkeit in ein »fortlaufendes Oszillieren« (Gumbrecht 2012: 275) zwischen den Polen der reinen Sichtbarkeit und der reinen Lesbarkeit und führt zwangsläufig zu jener Kippfigur, die Gumbrecht exemplarisch als die niemals gleichzeitig mögliche und daher nur als shift voll-
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ziehbare Aufmerksamkeitsverlagerung von der Materialität des Artefakts zur Signifikanz und retour beschreibt (vgl. ebd.: 273). Die wissenschaftskritische Attitüde Gumbrechts lässt ihn nun glauben, dass die dominanten Paradigmen der Geisteswissenschaften einseitig einem Primat der Lesbarkeit und damit einem Sinndiktat verschrieben sind, damit eben jenes Oszillieren radikal verneinen und schließlich Präsenzerfahrungen mit und vor dem Artefakt negieren. Die Plausibilität dieser These mag dahingestellt bleiben, festzuhalten ist hier nur, dass sie von Gumbrecht letztlich medienunspezifisch gedacht wird. Und, dass all das wahrlich nicht neu ist. Die Differenz von Sichtbarkeit und Sagbarkeit (besser: Lesbarkeit) ließe sich genauso gut, wenn nicht besser, mit anderen theoretischen Ansätzen problematisieren: etwa mit Jacques Rancières ästhetischem Regime der Künste (vgl. Rancière 2004), mit Roland Barthes’ Entgegensetzung von Materialität und erzählerischer Struktur im Filmbild (vgl. Barthes 1990), die Kristin Thompson zum Konzept des kinematographischen Exzesses ausgearbeitet hat (vgl. Thompson 1986), oder mit der narratologischen Basisdifferenz von ›showing‹ und ›telling‹, bzw. Monstration und Narration (vgl. Gaudreault 1999). In all diesen Modellen wird der entziffernden Lektüre gleichfalls eine sinnliche Aufdringlichkeit der Signifikanten in ihrer Materialität entgegengestellt, die sich einer überschusslosen Rückführung in die Signifikanz verweigert.
D IE V ERFEHLUNG DES B ILDES : F OUCAULTS M EDIENKRITIK AN DER TR AUMDEUTUNG Last, but not least, wäre an Michel Foucaults Kritik an Freud zu denken, dem er vorwirft, gerade die irreduzible Visualität des Traums durch den Akt der Traumdeutung auf eine sprachaffine Operation reduziert und damit verfehlt zu haben: »Die Distanz zwischen Bedeutung und Bild wird in der analytischen Deutung stets allein durch einen Sinnüberschuss ausgefüllt: das Bild in seiner Fülle wird durch Überdeterminiertheit bestimmt. Die eigentlich bildhafte Dimension des bedeutsamen Ausdrucks wird völlig vergessen« (2001: 113). Entsprechend, so Foucault, sei es der Psychoanalyse »niemals gelungen, die Bilder sprechen zu lassen« (ebd.: 118). Mit Foucault treffen wir also wieder auf die diskursive Behauptung einer basalen Mediendifferenz Bild/Text, die als Hiatus zwischen Präsentifikation und Bedeutung fungiert, die hier aber an die als spezifisch veranschlagten Bedingungen des präsentifizierenden Mediums (Traum/Bild) rückgebunden ist. Die Relevanz dieses Arguments wird unten noch einmal aufgegriffen werden. Zunächst gilt es zu konstatieren, dass in den unterschiedlichen Konzepten, die hier kursorisch aufgeführt worden sind, übereinstimmend ein irreduzibler Überschuss der Form gegenüber der Bedeutung konstatiert wird. Jedoch sind die Begründungsfiguren durchaus unterschiedlich: Bei den meisten Beiträgen (Gumbrecht, Barthes, Gaudreault) wird die Verweigerung gegenüber dem Sinn (semiotisch) als medienunspezifische Sinnlichkeit potentiell jedes Signifikanten, als opake Präsenz der puren
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Materialität, verstanden.5 Indem das konstitutive Zusammenspiel von Materialität und Bedeutung in der Semiose hier übereinstimmend zu einer Figur der unmöglichen Gleichzeitigkeit hypostasiert wird, stehen Text wie Interpret zwangsläufig vor der oben erläuterten Kippfigur: Der Text kann entweder zeigen oder erzählen, der Interpret hat in der Rezeption zwischen Sinn oder Sinnlichkeit zu wählen. Seltener und nicht zuletzt auch deswegen interessanter sind Beiträge wie jene Rancières oder Foucaults, die explizit Fragen nach den medialen Bedingtheiten der Unlesbarkeit bzw. Unaussprechbarkeit beinhalten, bzw. exkludierende Behauptungen von medialer Unübersetzbarkeit formulieren. Hier wird der fragliche Präsenzeffekt nicht als Aufstand des Materiellen, sondern dezidiert als Folge medialer Inkongruenz diskursiviert. Entsprechend kann diese Inkompatibilität auch nicht – nicht einmal temporär im Sinne oszillierender Rezeptionshaltungen – gelöst werden, sondern die verunmöglichte bzw. falsche Lektüre bleibt Resultat fundamentaler Verfehlung medialer Eigenlogiken. Damit wird der eingangs aufgerissene Problemhorizont gleich mit aufgerufen, denn in gewisser Weise ließe sich Foucaults Kritik an der Traumdeutung als Hinweis auf eine von Freud nicht berücksichtigte strukturelle Kopplung von Bild und Text im Traumnarrativ deuten, das sich eben nicht mehr entlang rein sprachlicher Operationslogiken entziffern lässt, auch wenn Freud versucht, die Eigenart des Bildes in einer »Theologie der Bedeutungen« aufzulösen (ebd.: 114). Indem Freud den »Ausdrucksakt« (=das Medium) ignoriere, so Foucault, erfasse die Freudsche Analyse »stets nur jeweils einen möglichen Sinn« (ebd.: 115): »Die bildliche Form erschöpft sich in der Mannigfaltigkeit des Sinns, und seine morphologische Struktur, der Raum, in dem es sich entfaltet, sein zeitlicher Entwicklungsrhythmus […] zählen nichts, wenn sie nicht eine Anspielung auf den Sinn sind« (ebd.: 113). Foucault führt aus: »Das Bild ist ein klein wenig mehr als die unmittelbare Erfüllung des Sinns; es hat seine Dichte, und die dafür geltenden Gesetze sind genausowenig nur signifikative Behauptungen wie die Gesetze der Welt nur die Dekrete eines Willens sind, und wäre es ein göttlicher« (ebd.: 114). Foucault fragt weiter: »Doch warum verkörpert sich die psychologische Bedeutung in einem Bild statt impliziter Sinn [!] zu bleiben oder sich in die Durchsichtigkeit einer verbalen Formulierung zu übersetzen? Wodurch fügt sich der Sinn in das formbare Schicksal des Bildes ein?« (ebd.: 115). Anders als Gumbrecht und etliche seiner Vorgänger schreibt Foucault also in den Konnex von Ausdruck/Form und Bedeutung, Sinnlichkeit und Sinn eine dezidiert medientheoretische Dimension ein: The medium is the message. Der von Freud insinuierte sprachlich-verbale Sinngehalt ist im Traum eben irreduzibel verkoppelt mit dem Medium, in dem die verschlüsselte Aussage ihrer hermeneutischen Entzifferung harrt, dem Bild. Bekanntlich hat Freud die von Foucault kritisierte 5 | Hier nur angedeutet werden kann die dadurch zugleich aufgeworfene Frage, wie die Grenze zwischen der Materialität eines Zeichens und der des Mediums, in dem dieses Zeichen operiert, epistemologisch, zeichen- und medientheoretisch zu fassen wäre.
Eine filmhistorische Fallstudie vor dem Hintergrund von Foucaults Freud-Kritik
theorieimmanent vorausgesetzte Notwendigkeit des Medienwechsels (von der Sprache ins Traumbild) mit den Mechanismen der psychischen Architektur (Verdrängung, Verleugnung) begründet, ohne damit jedoch stichhaltig die spezifische Wahl des Ausdrucksmediums legitimieren zu können. Freuds eigene Studien zum Witz (vgl. 1986) haben gezeigt, dass das Verdrängte sich sehr wohl auch ganz anderer Medien bedienen kann, um zur Artikulation zu gelangen. Die Sprache jedenfalls – und dies macht Foucaults Freudlektüre so fruchtbar für den Zusammenhang dieses Bandes – bleibt im Traum implizit und wird als Symbol im Bild zwar virulent, jedoch zum Preis einer gleichzeitigen An- und Abwesenheit, was »den Moment der impliziten Sprache und den des sinnlichen Bildes trennt und doch im gleichen Zug zusammenschließt« (Foucault 2001: 116). Diese Koexistenz von Absenz und Präsenz der Sprache im Bild ist indes Bedingung der Möglichkeit ihres Erscheinens im Traum und somit ein intermedialer Effekt.6 Foucault konzediert, dass Freud später selbst die Paradoxie seiner Methodik erkannt und diese gerade in seiner Fallanalyse des Gerichtspräsidenten Schreber auf ein neues Fundament zu heben versucht habe: »Er [Freud] kommt auf die Idee einer notwendigen und ursprünglichen Verbindung zwischen Bild und Sinn zurück und gesteht zu, dass die Struktur des Bildes eine Syntax und eine Morphologie hat, die nicht auf den Sinn reduzierbar sind, weil gerade der Sinn sich in den Ausdrucksformen des Bildes verbirgt« (ebd.: 115f.). Dennoch, so Foucaults Resümee, bleibe der methodische Problemhorizont letztlich ungelöst, so dass man in Freuds Werk »vergeblich nach einer Grammatik der imaginären Modalität und einer Analyse des Ausdrucksakts in seiner Notwendigkeit suchen« werde (ebd.: 116). Foucaults Begrifflichkeit führt zudem eine weitere Ebene in die Debatte um Präsenzeffekte ein, die meines Erachtens bislang zu wenig beachtet wurde: Indem er von ›Syntax‹, von ›Grammatik‹, vom ›Raum, in dem sich der Sinn entfaltet‹ und vom ›zeitlichen Entwicklungsrhythmus‹ spricht, weist er auf die Kontextgebundenheit einer jedweden Sinneinheit in sequentiell operierenden Medien hin, die eine Lektüre, welche die Sinndimension in gleichsam stillgestellten Einzelmomenten sucht, verfehlen muss. Das Paradigma der einzelnen Seme/Lexeme (Bild X bedeutet Spracheinheit Y) muss also um die syntagmatische Dimension, um die Verknüpfungen, die eben diese Sinngehalte letztlich erst konstituieren, erweitert werden. Damit schließt Foucaults Denkbewegung neben der Frage nach der (Inter-)Medialität auch die nach den Verknüpfungsakten, also nach der Montage, ausdrücklich mit ein. Mehr noch: Indem der ›zeitliche Entwicklungsrhythmus‹ hier dezidiert als (traum)spezifisch deklariert wird, bleiben beide Horizonte – Medialität und Montage – unauflösbar aufeinander rückverwiesen.
6 | Inwieweit der Traum selbst als Medium gefasst werden kann, hängt wiederum vom zugrunde gelegten Medienbegriff ab. Hier soll er zunächst nur als mentale Figuration begriffen werden, die sich intermedial (Bild/Sprache) manifestiert.
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B ILDSINN UND M ONTAGE IN DER F ILMGESCHICHTE — DAS B EISPIEL E ISENSTEIN Die bislang aufgeführten Konstellationen lassen sich – samt ihrer Aporien – in geradezu idealtypisch verdichteter Weise anhand der Debatte um die Funktion der Montage als narratives Instrument in der Filmgeschichte der 1920er und 1930er Jahre nachzeichnen. Indem der Film nach seiner paradigmatischen Wendung vom frühen cinema of attractions (vgl. Gunning 1990a) zu einem Erzählmedium die Frage der sequentiellen Anordnung von Erzähl- und Sinneinheiten neu zu justieren hatte, waren die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts von einer Kontroverse von Theoretikern wie Praktikern über den Zusammenhang von Montage und Einzelbild (Einstellung) gekennzeichnet, die wiederum die »Spannung zwischen Präsenz und Bedeuten« (Bitomsky 1972: 66) als Konstituens des Films schlechthin auszuloten versuchten. Werner Köster kategorisiert die unterschiedlichen Positionen der Filmtheorie dieser Jahrzehnte folgendermaßen: Man erhält […] auf der einen Seite die Gruppe von Positionen, die den Film ausgehend vom Wesen des fotografischen (bewegten) Bildes bestimmen – hier findet sich eher die Sinnlichkeit des Films – auf der anderen Seite diejenigen Positionen, die auf die filmischen Mechanismen der Sinnkonstruktion abstellen. Es sind zunächst die Montagetheorien, die die Sinnbezüge zwischen benachbarten Einstellungen in relativ kleinen Syntagmen untersuchen […]. (1994: 67)
Anhand zweier extrem unterschiedlicher Filmströmungen und ihrer jeweiligen Montagekonzepte soll dieser Komplex im Folgenden skizziert werden: dem sowjetischen Revolutionsfilm, vor allem in seiner Ausprägung bei Sergei M. Eisenstein einerseits, dem surrealistischen Film andererseits. Bestand in den Anfangsjahren des Mediums eine weitverbreitete Skepsis insbesondere seitens der Kulturkritiker, ob der stumme Film jemals in der Lage sein werde, vergleichbar komplexe Erzählbögen zu organisieren wie die klassische Literatur, so war spätestens mit den epischen Filmerzählungen des italienischen Monumentalfilms – etwa Cabiria (1914) – und den abendfüllenden Spielfilmen von David W. Griffith – The Birth of a Nation (1915) und Intolerance (1916) – der Gegenbeweis erbracht. Gerade im Rückgriff auf die avancierten Erzähltechniken des 19. Jahrhunderts (vgl. Paech 1997) konnte der Film sehr wohl Figurationen der Gleichzeitigkeit und der Abfolge in eine vielschichtige Textur verweben (vgl. Gunning 1990b), sowie sukzessive, alternierende und nur symbolisch korrelierte (parallele) Erzählstränge aufeinander beziehen. Die so konstitutive wie konstruktive Basisoperation der filmischen Montage, dass nämlich »zunächst getrennt werden muss, was dann durch die Erzählung des Films in einer neuen, imaginären Einheit wiedervereinigt werden muss« (Paech 1997: 47) hatte sich schulenübergreifend als fruchtbarer Modus der Zerlegung eines Handlungsganzen in filmische Partikel und anschließender Resynthese bewährt. Die Funktionalisierung der Montage als privilegiertes Erzählinstrument des Films –
Eine filmhistorische Fallstudie vor dem Hintergrund von Foucaults Freud-Kritik
und nicht wie zuvor als Technik zur reinen Addition von Handlungsräumen – konnte um die Mitte der 1910er Jahre als abgeschlossen betrachtet werden. In den 1920er Jahren standen diese Entwicklungen und Arbeiten an einer Syntax des Films jedoch noch einmal im Kontext aufkommender Avantgardeströmungen, die durchaus wesentliche Erweiterungen und Extrapolationen des Zusammenhangs von paradigmatischem Bildsinn und syntagmatischer Verknüpfung vornehmen sollten. Ausgehend von Lenins Favorisierung des Mediums Film als Mittel zur anhaltenden ideologischen Erziehung der nachrevolutionären (weitestgehend leseunkundigen) Massen, kam vor allem dem sowjetischen Revolutionsfilm eine besondere Rolle dabei zu, die Montage nunmehr in einen neuen, dezidiert propagandistischen Funktionszusammenhang einzugliedern. Diese Funktionalisierung der Montage zur Steuerung der Gedanken des Zuschauers ist die geteilte Axiomatik der ansonsten kontrovers bis erbittert geführten Debatten um die ›richtige‹ Nutzung des Films für die revolutionäre Idee. Der gemeinsame Nenner der unterschiedlichen Konzepte der wichtigsten Protagonisten Wsewelod Pudowkin, Dziga Vertov und Sergei M. Eisenstein war der positivistische Glaube an eine quasi-empirische Berechenbarkeit und Prognostizierbarkeit der Zuschauerreaktionen, wie sie durch Lew Kuleschows Experimente an der staatlichen Filmschule scheinbar nachgewiesen worden waren. Ganz in der Tradition des Behaviourismus und den folgenreichen Experimenten Pawlows wurden Filmrezeption und Filmverstehen von Kuleschow als Stimulus-Response-Abfolge konzipiert und experimentell beglaubigt. Das als Kuleschow-Effekt berühmt gewordene Experiment kombinierte drei identische Großaufnahmen des seinerzeit hochgerühmten Schauspielers Iwan Mosschuchin mit willkürlich gegengeschnittenen Einstellungen eines Tellers Suppe, einer Leiche im Sarg und einer leichtbekleideten Frau. Das Testpublikum rühmte daraufhin die Fähigkeiten Mosschuchins, mit sehr subtilen Veränderungen seiner Mimik so gegensätzliche Gefühle wie Hunger, Trauer und Wollust ausdrücken zu können, nicht ahnend, dass es sich um drei identische und überdies mit den Gegenschüssen in keinerlei raum-zeitlichen oder ideellen Zusammenhängen stehende Einstellungen handelte (vgl. Beller 2007). Wie kein zweites bewies gerade dieses Experiment zum einen die Fähigkeit des Mediums zur Konditionierung seines Publikums, zum anderen die konstitutive Kraft der Montage, externen Sinn in disparate Fragmente einzuschreiben. Eisensteins berühmtes Diktum, Film sei die »Synthese von Kunst und Wissenschaft« (1979: 304) entspringt eben jenem Glauben an die empirische Überprüfbarkeit, vor allem aber an die Steuerbarkeit von Montageeffekten in den Köpfen der Zuschauer. Immerhin hatte der Kuleschow-Effekt unzweideutig aufgezeigt, dass die pure Sequentialität von Einstellungen die Zuschauer bereits dazu verführte, die Sequenz mit raum-zeitlicher Kontinuität und Kausalität zu versehen. Daraus konnte geschlossen werden, dass jede beliebige Kombination von Bildfolgen bereits Sinn ergibt – eine Sinngebung, die durch den Filmregisseur angestoßen und durch die Zuschauer vollendet wird, indem diese gleichsam automatisiert Zusammenhänge zwischen zwei Bildern bzw. Ein-
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stellungen generieren, die diesen faktisch nicht eingeschrieben sind. Der Reflex schien also programmierbar. Diese basale Erkenntnis sollte Eisenstein nun für seine eigene Filmarbeit sowie deren theoretische und publizistische Rahmung radikalisieren. Er flankierte seine Filme durch ein breites Konvolut theoretischer und programmatischer Schriften, in denen er die Leitgedanken seiner Ästhetik entlang unterschiedlich (und nicht immer widerspruchsfrei) benannter Montagetechniken entwickelte (Attraktionsmontage, Kollisionsmontage, intellektuelle Montage, Obertonmontage etc.) und immer wieder mit Beispielen aus seinen eigenen Filmen erläuterte (vgl. Eisenstein 1988). Zentrales und beibehaltenes Axiom blieb dabei die Funktionalisierung der Montage nach einem ›dramatischen Prinzip‹. Seinem Kontrahenten Pudowkin dagegen warf Eisenstein vor, dem ›epischen Prinzip‹ Griffith’s treu geblieben zu sein und dieses lediglich mit revolutionären Sujets aufgefüllt zu haben, also keine eigenständige revolutionäre Formsprache entwickelt zu haben. Eisensteins Figuration des Films übersetzt nunmehr das geschichtsphilosophische Fundament des dialektischen Materialismus in eine Form, die den Konflikt zwischen einzelnen Einstellungen als Basis wählt und die Filmsprache als Kollision heterogener Elemente operationalisiert: Die Aufeinanderfolge von Einstellung 1 (These) und Einstellung 2 (Anti-These) ergibt einen neuen, höherwertigen Sinn (Synthese). Die einzelne Einstellung erhält ihren funktionalen Sinn somit erst in der konfliktuösen Verbindung zu einer anderen Einstellung und erst diese Kollision zweier Einstellungen bringt die intendierte Bildaussage hervor: Die Nebeneinanderstellung zweier isolierter Geschehnisse führt für Eisenstein sowohl zur Entstehung eines Begriffs wie einer Empfindung. Damit ist zugleich eine prozessuale Dynamik in den Prozess des Filmverstehens eingelassen: Der (Bild-)Sinn entwickelt sich nur aus einer Superposition, dem visuellen Kontrapunkt zweier Einstellungen, »ein Gedanke, der im Zusammenprall zweier voneinander unabhängiger Stücke ENTSTEHT« (Eisenstein 1979: 283, Hervorhebung i. O.). Die einzelne Einstellung selbst wird darüber zu einer relativ unselbstständigen, in sich bedeutungslosen Einheit – es ist die Montage, die in der sequentiellen Organisation der Einstellungen ein Drittes, eine virtuelle Synthese der konfligierenden Einstellungen erst generiert. Die Montage ist also konzipiert als Instrument einer rationalen filmischen Kunstsprache, als Motor einer Annäherung des filmischen Bildes an die Begrifflichkeit und Symbolik der Sprache, mithin als eine filmische Rhetorik mit entsprechender Persuasionsabsicht. Der revolutionäre Film lenkt den Erkenntnisprozess beim Publikum, fungiert als didaktisch-intellektuelles Instrument bei der Hervorbringung von Affekten, vor allem aber von Begriffen beim Zuschauer. Für Eisenstein liegt die Funktion des Filmbildes somit nicht im Zeigen, sondern im Bedeuten und Bezeichnen. Ohne hier näher auf die interne Entwicklungslogik der einzelnen Konzepte Eisensteins eingehen zu können, muss doch festgehalten werden, dass in der Figur der ›intellektuellen Montage‹ die angestrebte Gleichsetzung von Bildaussage und Begriff ihren logischen Kulminationspunkt findet. Zwei Beispiele hierfür: In Panzerkreuzer Potemkin (Bronenossez Potjomkin 1925) schneidet Eisenstein im größeren
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Erzählkontext des Aufstandes in Odessa kurze Aufnahmen dreier steinerner Löwenfiguren aneinander: eines schlafenden, eines den Kopf hebenden und schließlich eines vollständig aufgerichteten Steinlöwen. Die in den Köpfen der Zuschauer (nach) zu vollziehende Begriffsformel lautet entsprechend: Der schlafende Löwe (= das Volk) erwacht. In Oktober (Oktobar 1928) entwickelt Eisenstein seine vermutlich komplexeste Montageform in der sogenannten ›Göttersequenz‹: Diese zeigt in einer Reihe absteigender Pracht und Detailliertheit Götter- und Götzenfiguren aus unterschiedlichen Epochen und Kulturen, die letztlich im Bild zweier grober Holzklötze enden. Norbert M. Schmitz fasst die Logik dieser filmischen Operation wie folgt zusammen: Die Reihenfolge der Motive ist nicht beliebig und meint auch nicht einfach die Summe aller Religionen des alten Zarenreiches, sondern sie ist formal wie religionsgeschichtlich in einer strengen Hierarchie vom Komplexen zum Einfachen, von der mit dem Nimbus theologischer Bedeutsamkeit versehenen Hochreligion hin zum primitiven Animismus angeordnet. Die Montage operiert hier also wertend, d.h. entlarvend. (2004: 302)
Es ist letztlich eine deduktiv verfahrende Argumentationskette, nach der Eisensteins Montage die einzelnen Einstellungen anordnet und dadurch wieder ein abstraktes Bilderrätsel organisiert, an dessen Lesbarkeit (und zwar einer eindeutigen Lesbarkeit) Eisenstein selbst keinen Zweifel hegte: »Die These also lautet: Gott ist ein Holzklotz. So baut die Logik ihre Leitsätze und Schlussfolgerungen« (Eisenstein, zit.n. Schmitz 2004: 303). Wie die Beispiele zeigen, läuft dieses ästhetisch-politische Programm in seinen exponiertesten Realisierungen darauf hinaus, eine abstrakte Begriffsbildung durch den Konflikt zweier isoliert nicht sinnbildender Einstellungen voranzutreiben, die jedoch erst in einer kognitiven Lese- und Übersetzungsleistung des Publikums eingelöst wird: Es entstehen regelrechte Bildmetaphern. Die Aporien dieser Programmatik zeigen sich auf mehreren Ebenen: Aller Programmatik zum Trotz bleiben die konkreten Umsetzungen von Eisensteins Theorien in seinen eigenen Filmen punktuelle Ausnahmen, experimentelle ›Inseln‹ in einer ansonsten doch viel stärker, als er einzugestehen bereit war, an Griffith’s Vorbild des continuity editing orientierten Filmsprache. Auch die erwünschte, quasi automatisierte Rezeption der Bildkombinationen erwies sich als problematisch, da sie historisch und kulturell stark differierte. Nicht zuletzt der hohe Explikationsaufwand der Bildfolgen, den Eisenstein selbst ja in seinen Schriften betrieb, gerät in einen performativen Selbstwiderspruch zum Dogma einer vorgegebenen Lektürehinsicht, die als Response auf den Stimulus der Montage doch nur eine eindeutige Lösung des Bilderrätsels zulassen darf. Das doch als impliziter Sinn theorieimmanent vorausgesetzte dritte Bild, das in den Köpfen der Zuschauer entstehen soll, erweist sich als hochgradig explikationsbedürftig, es kommt offenbar nicht ohne schriftliche Lektüreanweisung aus. Für unseren Zusammenhang entscheidender ist jedoch, dass Eisensteins Programmatik den Konflikt zwischen Sinn und Sinnlichkeit im Bild auf ein Extrem zuspitzt. Bezeichnenderweise versteht Eisenstein
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Montage denn auch – anders als viele seiner Zeitgenossen – keineswegs als einen filmspezifischen modus operandi. In den kunst- und kulturhistorisch inspirierten Passagen seiner Schriften spürt er immer wieder Vorläufern des Prinzips in anderen Medien nach, etwa in Delaunays Eiffelturm-Gemälden, im asiatischen Theater, in der japanischen Kalligraphie usw. Auch oder vielleicht gerade wegen dieser medienübergreifenden Konzeptualisierung von Montage bleibt Eisensteins intellektuelle Montage in gewisser Hinsicht ebenso blind gegenüber der Eigenlogik des filmischen Bildes, wie es Freud gegenüber dem Traumbild gewesen war. Nicht von ungefähr war denn auch die Verfilmung von Marx’ Kapital ein (nicht realisiertes) Lieblingsprojekt Eisensteins. Hiermit wäre – so das Projekt realisierbar gewesen wäre – die Logik der Umsetzung bzw. Ersetzung des Bildes in eine bzw. durch eine dialektische Gedankenoperation zwangsläufig an ihr logisches Ende gekommen oder aber die Aporien des Konzepts wären endgültig offengelegt worden. Denn die programmatisch angestrebte Entsinnlichung des Filmbildes zugunsten abstrakter Begriffsbildung gerät bei Eisenstein in der Praxis wie in der Theorie in einen unentwegten Widerspruch zur filmimmanenten Bindung von filmischem Abbild und vorfilmischem Referenten. Die notwendige realfotografische konkrete Sinnlichkeit der Bilder agiert insofern als irreduzibler Störfaktor, der immer ein Anderes, ein Drittes, eine – wiederum mit Foucault gesprochen – ›Mannigfaltigkeit‹ mittransportiert, die eben nicht auf die Funktion einer ›unmittelbaren Erfüllung des (begrifflichen) Sinns‹ reduziert werden kann (vgl. auch Bazin 1975: 86ff.). Entsprechend lässt sich Foucaults Vorwurf an Freud nolens volens auch an Eisenstein richten: ›Die eigentlich bildhafte Dimension des bedeutsamen Ausdrucks wird völlig vergessen‹ und zugunsten einer sprachäquivalenten Persuasionspraxis entkernt.
»S CHÖN WIE DIE ZUFÄLLIGE B EGEGNUNG EINES R EGENSCHIRMES MIT EINER N ÄHMASCHINE AUF DEM S E ZIERTISCH « — DAS SURRE ALISTISCHE P AR ADIGMA Nicht von ungefähr ruft Gumbrecht in seinen Ausführungen zur Präsenz noch einmal das Paradigma der Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts auf: »In diesem Kontext mögen der Surrealismus, der Dadaismus und andere verwandte Bewegungen als die Ankündigung des Abschieds vom Darstellungsparadigma erscheinen, während unsere Frage, die Frage nach der Emergenz von etwas, das Interpretation abweist, der dazu komplementäre Beginn von etwas epistemologisch Neuem sein könnte« (2012: 267f.). Diese Zuordnung des Surrealismus zu dem, was man salopp als ›Sinnlichkeits‹Fraktion bezeichnen könnte, unterschlägt jedoch die weitaus vielschichtigeren Konnotationen, denen der Surrealismus – auch und gerade in seinen frühen filmischen Exponaten – in der Rezeption, aber auch in der eigenen Programmatik, ausgesetzt war. Erneut rückt dabei die ambivalente Struktur des Traums in den Fokus, auf den sich André Breton nach seiner Begegnung mit Freud als via regia bei der Suche
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nach anti- bzw. vorrationalen Schaffens- und Wirkungsformen berufen hatte, und der als Matrix und Muster für das angestrebte Ideal automatischer, von der Kontrollinstanz der Vernunft unzensierter Schaffensabläufe (Écriture automatique) sowie als Bezugspunkt der namensgebenden Betonung einer ›Über-Wirklichkeit‹ dienen sollte (vgl. Scheugl/Schmidt jr. 1974). Die Grenzen der Écriture automatique wurden gleichwohl beim Film, einem so dispositionsreichen wie eben arbeitsteiligen Herstellungsprozess, schneller evident als bei anderen Medien. Mit der programmatischen Nähe zu Traum und Freud schien zugleich das Deutungsmuster abgesteckt, demzufolge auch die zeitgenössischen surrealistischen Filme Luis Buñuels und Salvador Dalís – Un chien andalou (1928) und L’âge d’or (1930) – letztlich als »traumartige Manifestationen des Unbewussten« (Köster 1994: 79) aufzufassen und entsprechend mit psychoanalytischem Vokabular zu dechiffrieren wären. Tatsächlich aber bleibt das Verhältnis von Surrealismus und Psychoanalyse heterogen und kontrovers, weil sich an ihm fundamental die Frage nach Sinnhaftigkeit oder -losigkeit surrealistischer Kunst bricht. In der Rezeptionsgeschichte surrealistischer Filmkunst haben sich daher zwei Lager gebildet, die entweder die jeweiligen Filme als (Traum-)Texte lesen, ihre Symbolik zu entziffern suchen und dadurch wieder jene sinnkonstruierende Ebene im surrealistischen Artefakt reetablieren, die ursprünglich Gegenstand der surrealistischen Provokation gewesen war. Dagegen betont das andere Lager gerade das sinndekonstruierende Moment dieser Filme, also die gezielte Zerstörung kausaler und raum-zeitlicher Zusammenhänge; verwiesen wird entsprechend darauf, dass der surrealistische Film primär auf die pure Präsenz, eben die Sinnlichkeit des Bildes abhebt und nicht auf sein Bedeuten, auf das Sinnhafte (vgl. Köster 1994). Diese (jüngere) Lektürehinsicht bedient sich einer phänomenologischen Perspektivierung und macht darauf aufmerksam, dass in der konkreten Morphologie des surrealistischen Films »Bild und Szene wichtiger [sind] als Fabel und Handlung« (Lommel/Maurer Quiepo/ Roloff 2008: 11) und dergestalt immer auch Wahrnehmung (und nicht allein Signifikanz) den reflexiven Bezugspunkt ausmacht. Während die Exegesen der ersten, psychoanalytisch inspirierten Deutungstradition die Regale der Universitätsbibliotheken füllen, hat die zweite, bildzentrierte Betrachtungshinsicht den Vorteil, sich auf die Protagonisten des filmischen Surrealismus selbst und deren dezidierte Ablehnung des Sinnparadigmas berufen zu können. So verweist Buñuel darauf, dass es erklärte Programmatik von Un chien andalou gewesen sei, Sinnzerstörung zu betreiben: »Dali und ich nahmen jeden Gag auf, der uns einfiel, wir warfen unerbittlich alles, was irgendwas bedeuten könnte, hinaus« (zit.n. Schneede 1982: 316). Und auch Antonin Artaud, der der Bewegung nicht nur nahestand, sondern auch das Drehbuch zu Germaine Dulacs La coquille et le clergyman (1927) verfasste, verwehrte sich gegen jede Art von Traumdeutung: Das Drehbuch ist nicht die Geschichte eines Traumes. Ich werde nicht versuchen, seine Zusammenhanglosigkeit damit zu entschuldigen, es als Traum auszugeben. […] [Die Bilder]
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Kay Kirchmann schaffen eine eigene, autonome Welt. Und aus diesem Zusammenspiel der Bilder […] entsteht eine unorganische Sprache, die auf unser Bewusstsein in einer Osmose einwirkt und keine Übersetzung in Worte verlangt.« (Zit. nach Schneede 1982: 314)
Lange vor Foucaults Freud-Kritik also formulierte das surrealistische Lager selbst sein Unbehagen an der Kultur eines »Wegsprechens der Bilder« (Bolz 1991: 31) durch den psychoanalytischen Ikonoklasmus. Auch wenn die surrealistischen Filmemacher keine eigene Programmatik, geschweige denn eine ausformulierte Montagetheorie à la Eisenstein publizierten, so steht dennoch gerade die sogenannte Schockmontage im Zentrum der intendierten Sinndestruktion. In Anlehnung an Walter Benjamins Schockbegriff ist immer wieder, so auch von Werner Köster (1994), darauf aufmerksam gemacht worden, dass als schockhaft generell die Destruktion gewohnter Wahrnehmungszusammenhänge empfunden wird, dass Schockerfahrung daher immer auf vorgängigen Sinnstiftungssystemen fußt, wobei sich ihr destruktives Moment durchaus verschiedenartig manifestieren kann: a) als Plötzlichkeit im Sinne eines unerwarteten, überraschenden Eintritts eines ungewohnten Ereignisses, b) im Zeigen kulturell tabuisierter Seinsbereiche wie Gewalt, Tod oder Sexualität, c) in der fortwährenden Destruktion von Sinn und Nachvollzugsmöglichkeiten des Gezeigten, als »kurze Unterbrechung der ›Lesbarkeit‹, die sonst alles Kulturelle auszeichnet« (Köster 1994: 72). Damit operieren die Schocktechniken a) stärker auf wahrnehmungsphysiologischer, b) und c) stärker auf semantischer Ebene (vgl. ebd.: 75). Tatsächlich erschöpft sich das Register der Schockbilder in Un chien andalou auch keineswegs im prominenten Einstiegsbild, in dem in Großaufnahme das Auge einer Frau zerschnitten wird, also der Kombination von Gewalt und Plötzlichkeit in einer Einstellung, noch in den erotischen Anspielungen, die den gesamten Film durchziehen. Weitaus entscheidender für die surrealistische Filmästhetik ist es, dass »mit den Mitteln der Montage […] – ganz im Sinne Lautréamonts – Unvereinbares auf provozierende Weise miteinander verknüpft« (Schneede 1982: 317) wird. Diese Verknüpfung kann zum einen als ›innere‹ Montage figurieren, indem heterogene Bildelemente innerhalb einer Einstellung zusammengefügt werden (Kleriker und Eselkadaver auf einem Klavierflügel, die von einem Mann mittels eines Jochs durch einen Salon gezogen werden) und somit eine Gleichzeitigkeit des Disparaten betonen, die sich der Lesbarkeit entzieht. Zum anderen ist sie in Form eines ›falschen Anschlusses‹ operationalisierbar, als Raum-Zeit-Sprung innerhalb der filmischen Diegese, als arbiträre und a-kausale Verknüpfung, die gegen die Gebote der filmischen Kontinuität verstößt. Im engeren Sinne kann nur die letztgenannte Schocktechnik als surrealistische Schockmontage bezeichnet werden, da nur hier die Verknüpfung einander widersprechender Einstellungen das stilistische Prinzip ausmacht, eine Widersprüchlichkeit, die sich – im strikten Gegensatz zu Eisensteins Konzept –nicht mehr auf einer höheren Ebene zur Synthese bringen lässt. In Un chien andalou wimmelt es geradezu von solchen Funktionalisierungen der Montage zur Dekompensation von Kausalitätsgesetzen: Es beginnt bei den per-
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manent a-chronologisch eingesetzten Zwischentiteln (»am Nachmittag«, »sieben Jahre später« etc.), die sich jeglicher Rekonstruktion der diegetischen Handlungszeit entziehen. Es zeigt sich ebenso an der Unlogik der Raumanschlüsse, wenn sich zum Beispiel hinter der nämlichen Wohnungstür einmal ein Treppenhaus, in einer anderen Sequenz aber plötzlich ein Meeresstrand befindet, und setzt sich auch auf mikrostruktureller Ebene fort, wenn zum Beispiel eine Figur des Nachts etwas aus dem Fenster wirft, was im Gegenschuss im Tageslicht zu Boden fällt. Immer wieder zerstört dieser gezielte Umgang mit Montage nicht nur die Konventionen der zeitgenössischen Filmsprache, sondern jedwede Kontinuität in den kausalen und semantischen Bezügen zwischen den derart zusammengebundenen Einstellungen. Bezeichnenderweise ist diese für den surrealistischen Filmschock essentielle Ebene in der psychoanalytischen Lektüre nicht einzuholen (außer durch den vagen Verweis auf die raum-zeitliche A-Logik von Traumwelten): »Was ein surrealistisches Traumbild ist, bedarf vor dem Hintergrund der hier betonten Differenz von Bild und Text einer Erörterung, die sich auch von den psychoanalytischen Interpretationsvorgaben freizumachen hätte. Denn die Psychoanalyse verfolgt kein primäres Interesse am Sichtbaren« (Köster 1994: 79). Indem also auch hier die Eigenlogik einer visuell organisierten ars combinatoria in plane Sprachäquivalente übersetzt wird, entgeht der psychoanalytischen Lektüre des surrealistischen Films erneut die ›morphologische Struktur des Ausdruckakts‹ selbst. Anders als bei Eisenstein lassen sich die surrealistischen Montageeffekte als unmittelbar rückgebunden an das Medium Film verstehen, als Konsequenz des besonderen surrealistischen Interesses am »Status der Bilder« (ebd.: 78) und ihrer Verknüpfung. Nur als filmischer Effekt kann die surrealistische Montage ihr Versprechen der Sinnzerstörung überhaupt einlösen. Dennoch spricht die Rezeptionsgeschichte gerade von Un chien andalou weitgehend eine andere Sprache, wie Köster lakonisch resümiert: »Der Film provoziert nur noch unablässige Sinndeutungen. Insofern ist die Intention von Dalí und Buñuel, einen sinnlosen Film zu machen, ›alles auszuschalten, was etwas hätte bedeuten können‹, grandios gescheitert« (ebd.: 75). Dies, wie Köster oder Gumbrecht, als prototypisches Scheitern in einer auf unablässige Sinnproduktion angelegten (Exegeten-)Kultur zu desavouieren, ist die eine Sache. Eine andere wäre es, anhand der Beispiele von Eisenstein wie der Surrealisten einzugestehen, dass jedwede exkludierende Behauptung im eingangs skizzierten Sinne in intermedialen Bild-Text-Konstellationen von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Letztlich nähern sich der sowjetische Revolutionsfilmer ebenso wie Buñuel und Dalí mit ihren jeweiligen Montageverfahren von den entgegengesetzten Seiten des Spektrums einem sich als unauflösbar erweisenden Konnex von Sinn und Sinnlichkeit im filmischen Medium. Problematisch bleibt dabei, inwieweit es überhaupt gelingen kann, diese generelle Zwiespältigkeit des Filmbildes mit noch so ausgefeilten Konstruktionstechniken zugunsten ›reiner‹ (= bedeutungsloser) Bildhaftigkeit (Surrealismus) oder zugunsten ›reiner‹ Begrifflichkeit, in der das Visuelle
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bestenfalls als Vehikel des Sprachlichen erscheint (Eisenstein, Freud), aufzulösen. Es ist die oben mit Foucault angeführte gleichzeitige Präsenz und Absenz des Begriffs im Bild und vice versa, die derartigen Exklusionsfiguren zwangsläufig den Boden entzieht. »Diese Verkennungen entstehen dadurch, dass die Texttheorien des Films nicht ergänzend an die Seite von Bildtheorien treten, sondern diese ersetzen [und vice versa, KK], obwohl sie sich auf ganz verschiedenartige und in vielen Dimensionen unvergleichbare Gegenstände richten« (ebd.: 67f.). Auch die (Theorie-)Geschichte der Filmmontage unterliegt, wie die Beispiele gezeigt haben, dem nämlichen Trugschluss, Sinn und Sinnlichkeit gegeneinander ausspielen zu können. In diesem Sinne konstatiert Rudolf Kersting: Die angenommenen Kohärenzniveaus sind Produkte einer Aufsprengung des Doppelcharakters der Bilder selbst. […] Die Bilder sind Abbilder […] und sie sind ›Metabilder‹, Bilder nicht von ›den Dingen an sich‹ […]. Jede Entscheidung hinsichtlich der ästhetischen Kohärenz der Bilder hat es stets mit beiden der supponierten Bildniveaus zu tun, von denen eines nie einfach wahlweise auszuschalten ist zugunsten des anderen. In der Tat gibt es kein Schnitt-/Montageverfahren, das jenen Doppelcharakter der Filmbilder vollständig eliminieren könnte. (1989: 268f.)
Aus medienwissenschaftlicher Perspektive ist also einem exkludierenden Verständnis von (Inter-)Medialität, Sinn und Präsenz gerade anhand des hier umrissenen Kontextes entgegenzuhalten: Erst das Zusammendenken von Sinn und Präsenz könnte einem umfassenden Verständnis des filmischen Bildes den Weg ebnen; anderenfalls bleibt uns auch vor dem Filmbild frei nach Gumbrecht und Tocotronic (2010) nur noch eines übrig: Bitte oszillieren Sie Hin und her und wild wie nie Bitte oszillieren Sie Bitte oszillieren Sie. Bitte oszillieren Sie Zu dieser Zwittermelodie Bitte oszillieren Sie Bitte oszillieren Sie. Bitte oszillieren Sie Im Sinne der Ideologie Bitte oszillieren Sie Bitte oszillieren Sie. […] Bitte oszillieren Sie Ping-Pong ohne Hierarchie Bitte oszillieren Sie Ich bitte Sie, genießen Sie.
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Soziologie
Gefühle zwischen Präsenz und implizitem Wissen Zur Sozialtheorie emotionaler Erfahrung 1 Frank Adloff
E INLEITUNG Emotionen werden in der Soziologie seit einigen Jahren breit diskutiert. Dies ist nicht weiter verwunderlich, wenn einmal erkannt ist, dass sie mit der Moderne und über Prozesse der Subjektivierung und Individualisierung eine besondere Signifikanz erlangt haben: Wenn Menschen sich immer weniger auf feste Rollenvorgaben und soziale Ordnungsmuster verlassen können, werden sie auf ihr Inneres zurückgeworfen. Die Fragen, was mich jenseits von Stand und Klasse auszeichnet und wie ich mich verhalten soll, werden nicht selten unter Rückgriff auf die Evidenz individueller oder gruppenspezifischer Erlebnisse und Gefühle beantwortet. Sie helfen dem Individuum, »sich seiner Existenz zu versichern, über sich zu reflektieren und sich mit seiner Umwelt auseinanderzusetzen« (Frevert 2011: 13). Für die Vergesellschaftung spielen Gefühle eine sehr zentrale Rolle. Deshalb sind sie seit dem 18. Jahrhundert auch zum Gegenstand zahlreicher Bildungs- und Disziplinierungsambitionen geworden, um sie in kontrollierbare Bahnen zu lenken und Individualität und Sozialität aufeinander abzustimmen. Die zeitgenössische soziologische und historische Forschung setzt an diesen Prozessen an und interessiert sich deshalb besonders für Diskurse über Gefühle. Da Emotionen körperlich gefühlt und erlebt werden, werden sie in der Soziologie durchaus auch mit dem Körper in Verbindung gebracht. Die soziologische Thematisierung des Körpers wiederum geschieht in der Regel auf zwei Weisen. Entweder wird analysiert, wie der Körper sozial und kulturell repräsentiert wird – in den Medien oder im Alltagsgespräch, sprich: im ›Diskurs‹ –, oder der Körper wird aus einer häufig an Erving Goffman anschließenden Perspektive darauf befragt, wie er strategisch vom Individuum benutzt wird, um Zeichen seines Innenlebens preiszugeben. Offen bleibt hierbei die eigenständige und konstitutive Rolle des Körpers 1 | Ich danke Alexander Antony, Sebastian Büttner und David Kaldewey für hilfreiche Kommentare und kritische Nachfragen.
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für emotionale Erfahrungen: »For sociology, the body tends to be surface, something read off by others from outside. […] Equally missing from the major traditions of social and psychological analyses is an examination of the travels that emotions make through the various regional depths of the body« (Katz 1999: 334). Ignoriert man die konstitutive Rolle des Körpers für die Hervorbringung von Emotionen, begibt man sich auf eine kognitivistische Schiefbahn und wird ihrem besonderen Charakter, ihrer Präsenz für die Erlebenden nicht gerecht. Dies bedeutet erstens, dass Emotionen uns widerfahren und wir ihnen in ihrer Anwesenheit und Dringlichkeit gewissermaßen ausgeliefert scheinen; zweitens ist mit Präsenz die unmittelbare Erlebnisqualität der Emotionen angesprochen. Im Folgenden soll zunächst (I.) die Debatte um den Präsenzbegriff für die hier behandelte Problematik beleuchtet werden. Sodann (II.) werde ich Eva Illouz’ Entwürfe zu einer Emotionssoziologie moderner Gesellschaften vorstellen, die als Hintergrund für meine soziologische Konzeptionalisierung von Emotionen dienen. Hierfür ist ein Blick auf die Philosophie der Emotionen notwendig (III.), wobei eine Integration von kognitivistischen und phänomenologischen Ansätzen angestrebt wird. Ferner ist eine Analyse von Mikropraktiken des Körpers notwendig, die Emotionen konstituieren (IV.) und die selbst wiederum intersubjektiv konstituiert sind (V.). Eine besondere Rolle für das Verstehen von Emotionen spielt deren Einbettung in Erzählungen (VI.); ebenso ist auf die Frage einzugehen, wie der körperliche Ausdruck von Gefühlen sozialtheoretisch zu verorten ist (VII.). In der Folge muss das zuvor schon implizit mitgedachte Konzept des impliziten Wissens expliziert werden (VIII.). Schließlich werden die Emotionen in einen pragmatistischen handlungstheoretischen Rahmen integriert, wobei John Deweys Erfahrungsbegriff eine besondere Rolle spielt (IX.).
I. ›P R ÄSENZ‹ JENSEITS VON ›S INN‹? Insbesondere Hans Ulrich Gumbrecht hat eine kulturwissenschaftliche Debatte darüber angestoßen, inwieweit man in der Theoriebildung über ein rein auf ›Sinn‹ basierendes Verhältnis zur Welt hinausgehen sollte. ›Diesseits der Hermeneutik‹ solle man die Phänomene und ihre Materialität ernst nehmen. Gumbrecht erhebt damit Einspruch gegen die Vorherrschaft der Zeichen und plädiert dafür, der Präsenz, der räumlich-materiellen Anwesenheit und Unmittelbarkeit, gerecht zu werden. Mit Martin Heidegger möchte er das cartesianische und metaphysische Weltverständnis hinter sich lassen, welches sich zu stark auf Theorie und Begrifflichkeit und einen entkörperlichten Sinn beziehe. Gumbrechts Kritik richtet sich vor allem gegen die radikale Infragestellung ›authentischer Präsenz‹ – verstanden als Präsenzeffekte, die praktisch nicht bezweifelt werden können – durch postmoderne und poststrukturalistische Ansätze (Gumbrecht 2007). Dem Wunsch nach Präsenz, so Gumbrecht, sei nicht zu entkommen: In einer modernen Sinnkultur wie der unsrigen, die ihm zufolge gleichsam auf dem linguistic turn beruht, finde
Gefühle zwischen Präsenz und implizitem Wissen — Zur Sozialtheorie emotionaler Erfahrung
sich immer wieder (und aktuell angeblich verstärkt) der Wunsch nach Unmittelbarkeit, Greifbarkeit, Nähe und damit Präsenz. Für Heidegger beruht das Dasein als In-der-Welt-sein immer schon auf einem vertrauten Umgang mit den Dingen und nicht auf einer Trennung des Erkenntnissubjekts von den materiellen Objekten (vgl. Martinez 2006). Im Dasein gibt es für Heidegger eine Tendenz zur präreflexiven Nähe gegenüber den Gegenständen, ihre Präsenz ist uns gegeben (Gumbrecht 2004: 86). Hier wird der alltägliche Charakter von Präsenz betont. Es lässt sich aber auch für eine Herausgehobenheit von Präsenz argumentieren. Präsenz meint dann etwas Momenthaftes, eine Art auffälliger Widerfahrnis. Heidegger folgend drängt sich die Präsenz der Dinge besonders auf, wenn eine Praxis ihre Geschmeidigkeit einbüßt und sie in einen Krisenmoment gerät (vgl. Renn 2004). Im Zuge der dann einsetzenden Reflexion geht das Zuhandene seiner Zuhandenheit verlustig und das ›Zeug‹ erscheint im dreifachen Sinne als unverfügbar: in seiner Auffälligkeit, Aufdringlichkeit und Aufsässigkeit (Heidegger 2001: 74). Auch ästhetische Erfahrung kennt das Oszillieren zwischen Sinn und Präsenz, zwischen Bedeutungszusammenhängen, Semantik und Begrifflichkeit sowie herausgehobenen Momenten der Plötzlichkeit, Unmittelbarkeit und Flüchtigkeit. Die Form des präsentischen Erlebens kann nicht auf Dauer gestellt werden, hat jedoch für Gumbrecht eine primordiale Seite aufgrund der Nachträglichkeit von Reflexivität und Sinnzuschreibungen. Das vorbegriffliche Erleben wird von Gumbrecht also ins Zentrum seiner Überlegungen gerückt und mit religiösen Erfahrungen des Einswerdens mit der Welt sowie mit der Auflösung von Ich-Grenzen in Verbindung gebracht. Die Rede ist von einem Bedürfnis nach Mystik und einer Suche nach einer »rationalen Wiederverzauberung der Welt« (vgl. Gumbrecht 2004, 2007). Es bestehe nämlich ein Bedarf an Präsenzeffekten in Form von einem Wissen, das nicht ausschließlich begrifflicher Art und entsprechend nicht-interpretativ sei.2 Obwohl Gumbrechts Thesen alles andere als begrifflich präzise sind, sollte klar sein, dass es keine einfache theoretische ›Rückkehr‹ zur Präsenz geben kann. Denn die Leugnung von ›Spuren und Zeichen‹ würde nur einen Rückfall in eine Metaphysik der Präsenz bedeuten (Dolar 2009: 18) – eine Position, die sich nach den Theoriedebatten von Strukturalismus, Poststrukturalismus und Dekonstruktion nicht halten ließe. Schon Charles Sanders Peirce (1991a & b) hat gezeigt, dass es keine (intellektuelle oder körperlich fundierte) Erkenntnis von etwas geben kann, die nicht zugleich selbst durch eine vorhergehende Erkenntnis bestimmt wird. Jeder Gedanke und jede Kognition wird durch andere interpretiert und alles Denken und Wahrnehmen geschieht in Zeichen. Der Einbruch einer Erfahrung 2 | Die Differenz zwischen einer Sinnkultur und einer Präsenzkultur manifestiert sich für Gumbrecht (2004: 105) idealtypisch im Unterschied zweier Rituale: in der abstrakten Intellektualität von Parlamentsdebatten und der Magie des Abendmahls, das den Leib Gottes physisch präsent macht.
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im Sinne eines unmittelbaren und augenblicklichen Ereignisses ist nur in Relation zu anderen Zeichen möglich. Präsenzeffekte sind meines Erachtens nicht in Opposition zu Zeichen zu sehen. Am Beispiel der Stimme lässt sich die Verschränkung von Präsenz und Sinn bzw. von unmittelbarer Erfahrungsqualität und symbolisch-reflexiver Deutung demonstrieren. Die Stimme ist einerseits Träger von sprachlichem Sinn und Signifikation. Andererseits transportiert sie Präsenz, mitunter einschneidend, scharf und bestechend. Die »Stimme ist das erste Lebenszeichen, das erste dem anderen zum anderen Aussetzen, und Stimmen zu hören ist die erste Erfahrung der Präsenz des anderen« (Dolar 2009: 20). Bedeutung wird hier unmittelbar und umfassend mitgeteilt – jenseits semantischen Sinns. Man kann die Stimme im Sinne ihrer Präsenz nur entziffern, wenn man sie in ihrer Eindringlichkeit hört, wenn man sie als Ausdruck, als Einzigartigkeit und in ihrer Unmittelbarkeit als nicht analysierbares Ganzes wahrnimmt. Zugleich transportiert sie interpretierbaren Sinn. Es kommt also nach meinem Dafürhalten darauf an, Präsenz nicht in eine binäre Opposition zu Sinn zu setzen; die Differenz besteht vielmehr zwischen reflexiv-semantischem Sinn und einem vorreflexiven und vorbegrifflichen Sinn, der spezifische Erlebnisqualitäten aufweist. Auch in der Soziologie entwickelt sich allmählich eine Debatte um den Begriff der Präsenz, vornehmlich aus Sicht der phänomenologischen Wissenssoziologie. So bezieht Jürgen Raab (2008) den Begriff auf face-to-face-Situationen, in denen die Interaktionspartner füreinander eine besondere Evidenz haben. Der unmittelbar gegebene Körper des Anderen liefert uns die Zeichen, von denen wir auf die Intentionen, Motive und Emotionen des Gegenübers schließen. Das Seelenleben wird also mitvergegenwärtigt, phänomenologisch gesprochen: appräsentiert. Was hier stattfindet ist nicht ein unmittelbares Erfassen des Anderen (wie man es für sich selbst kann), sondern ein hypothetisches Schließen auf das Innere von alter ego. Das Erfahren von Präsenz, so die wissenssoziologische Pointe, beruht auf vermittelnden Prozessen von Appräsentation, also gerade nicht auf einem unmittelbaren Zugang (vgl. auch Raab 2010). Zugleich wird hier wiederum eine Differenz zwischen äußerem Ausdruck und innerem Seelenleben aufgebaut.3 Offen bleibt die Frage, wie man stattdessen die alltagsweltlich gegebene Präsenz der Emotionen 3 | In seiner Soziologie des Symbols und des Rituals zielt auch Hans-Georg Soeffner (2010) einerseits auf die Erfahrung der Präsenz, andererseits betont er ihre Unmöglichkeit, da sie immer schon auf einer vermittelten Unmittelbarkeit (Plessner) beruhe: »In symbolischer Handlung und im Symbol soll dem nicht wirklichen Präsenten die eigentliche Präsenz in der Erfahrung zukommen« (ebd.: 27). Symbolische Repräsentation zielt auf »die direkte Erfahrung des Indirekten, auf die Unmittelbarkeit des Vermittelten« (ebd.: 28). Während das logische Schließen auf Vernunft und Begrifflichkeit beruht, bleibt bei Soeffner relativ unklar, was symbolisches Erkennen, Erfahren oder Erleben denn eigentlich ausmacht, abgesehen davon, dass Symbole auf lebensweltliche Transzendenzen verweisen und diese erfahrbar machen (ebd.: 33).
Gefühle zwischen Präsenz und implizitem Wissen — Zur Sozialtheorie emotionaler Erfahrung
sozialtheoretisch fassen kann. Finden wir Hinweise auf die Präsenz von Gefühlen in der Soziologie der Emotionen?
II. E VA I LLOUZ ’ KULTUR ALISTISCHE S OZIOLOGIE DER E MOTIONEN Im Folgenden sollen einige Schriften von Eva Illouz betrachtet werden. Illouz ist nicht nur eine der prominentesten Vertreterinnen einer Soziologie der Emotionen, ihr Ansatz kann auch als repräsentativ für den Mainstream der sozialwissenschaftlichen Emotionsforschung gelten. Sie beschreibt Emotionen als »zutiefst internalisierte, nicht-reflexive Aspekte des Handelns, aber nicht, weil sie nicht genug Kultur oder Gesellschaft in sich enthalten, sondern weil sie zuviel davon in sich tragen« (2007: 11). Illouz folgt in ihrer theoretischen Betrachtung von Emotionen der mittlerweile schon klassischen (aber überholten) Perspektive der Sozialpsychologen Stanley Schachter und Jerome E. Singer, die aufgrund von Experimenten mit Adrenalin zu dem Schluss kamen, dass Emotionen nur von sehr unspezifischen körperlichen Erregungszuständen begleitet werden. Das Gefühl der Erregung muss etikettiert werden, um spezifisch als Angst, Freude, Neid oder Wut wahrgenommen zu werden: »It is the cognition which determines whether the state of physiological arousal will be labeled as ›anger‹, ›joy‹, ›fear‹, or whatever« (Schachter/Singer 1962: 380). Erst die kulturellen Rahmenbedingungen, so folgert Illouz, »bezeichnen und bestimmen das Gefühl« (2003: 4); die Intensität von Emotionen werde kulturell begrenzt; weiter sei die Etikettierung der Emotionen in Normen, Verbote und Vorschriften eingebettet; und schließlich stelle eine Kultur Symbole, Kunstwerke, Bilder und Geschichten bereit, mit deren Hilfe sich über Emotionen kommunizieren lasse. Entscheidend sind für Illouz (2009: 19) die unsichtbaren semiotischen Kodes, die alltägliches Verhalten organisieren und Interaktionsrituale strukturieren. Dabei legt vor allem die verfügbare Sprache fest, »wie Gefühle ausgedrückt, verstanden und gehandhabt werden können« (ebd.: 24). Ganz auf der Linie kognitiver Emotionstheorien (s.u.) betont sie, dass Gefühle ihren Ursprung in den Überzeugungen und Wünschen der Subjekte haben. So lassen sich in verschiedenen Gesellschaften, Zeiten und Kulturen unterschiedliche emotionale Stile ausmachen, die definieren, wie sich eine Kultur mit bestimmten Gefühlen befasst.4 Für Illouz zeichnen sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts Konturen eines emotionalen Kapitalismus ab, in dem die Affekte zum Bestandteil des wirtschaftlichen 4 | Auch die Geschichtswissenschaft befasst sich vornehmlich mit den diskursiven Seiten der Emotionen. So haben Peter und Carol Stearns (1985) in einem programmatischen und sehr einflussreichen Aufsatz von »Emotionology« als Thema der historischen Forschung gesprochen. Dies bedeutet, dass nicht die emotionale Erfahrung untersucht wird, sondern in der Gesellschaft vorhandene emotionale Standards. Diese manifestieren sich bspw. in pädagogischen Empfehlungen, Benimmbüchern und Ratgeberliteratur.
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Lebens geworden sind und zugleich das emotionale Leben der Logik ökonomischer Austauschprozesse unterworfen wird. Männer und Frauen haben sich im 20. Jahrhundert sowohl im Privat- wie im Arbeitsleben auf das intensivste mit ihren Emotionen befasst. Angetrieben worden sei dieser Prozess durch den Feminismus und den therapeutischen Diskurs; beide hätten dazu beigetragen, private Erfahrungen in öffentliche Rede zu überführen (ebd.: 45). Früher als typisch weiblich geltende Haltungen und Aufmerksamkeiten gegenüber Gefühlen werden nun auch Männern abverlangt. Damit sei ein reflexives, sich selbst kontrollierendes Selbst entstanden, das sich aus der Perspektive anderer betrachtet, um die eigenen Erfolgschancen zu erhöhen.5 Im emotionalen Kapitalismus werden Emotionen ausgedrückt und objektiviert, etwa durch Praktiken des Aufschreibens. Dadurch, so Illouz, werde eine Distanz zwischen der Erfahrung von Emotionen und ihrer Wahrnehmung geschaffen (ebd.: 54f.). Das Nachdenken, Aufschreiben und Reden über Emotionen verschaffe ihnen geradezu einen eigenen ontologischen Status, eine Fixierung in der Realität: »Durch emotionale Schriftlichkeit entzieht man sich dem Fließen und dem unreflexiven Charakter der Erfahrung und verwandelt emotionale Erfahrungen in Emotionswörter und in beobachtbare und manipulierbare Wesenheiten« (ebd.: 55). Dies führe zu einer Spaltung zwischen einem intensiven subjektiven Leben und einer zunehmenden Objektivierung des Ausdrucks und Austauschs von Emotionen. Emotionen können so bearbeitet und unter Kontrolle gebracht werden. Zugleich gehe die Indexikalität der Emotionen verloren, und damit unsere Fähigkeit, uns schnell und unreflektiert in unseren alltäglichen Beziehungen zu orientieren (ebd.: 62). Einerseits hebe man sich aus sozialen Beziehungen heraus, um die Position eines abstrakten Sprechers einzunehmen, was auf eine Neutralisierung von Emotionen wie Scham, Schuld oder Wut hinauslaufe. Andererseits intensiviere diese Kommunikation den Subjektivismus, »da sie uns dazu bringt, unsere Emotionen allein aufgrund der Tatsache ihres Ausdrucks mit einer eigenen Geltung auszustatten« (ebd.: 63). Mit anderen Worten: Man betrachtet den Träger einer Emotion nun als letzte richterliche Instanz seiner Emotionen. Gegen die Aussage »das verletzt mich« lässt sich nichts einwenden, sie muss unmittelbar anerkannt werden. Man ist nicht einfach emotional, sondern reflexiv emotional. Folgt man Illouz, dann führt dies im Bereich der Liebe dazu, dass diese ihren unmittelbaren Charakter verliert und nur noch verallgemeinert und standardisiert erlebt wird – »sowohl das Gefühl als auch das Liebesobjekt werden schließlich in Begriffen interpretiert, die der inneren Erfahrung des Selbst fremd sind« (Illouz 2009: 253).
5 | Für diese Dimensionen interessiert sich Arlie Hochschild (1979), die in ihren Arbeiten emotion work und deep acting untersucht. Akteure versuchen bewusst, den Grad oder die Qualität von Emotionen zu ändern, entweder mit Blick auf eine Verstärkung oder Abschwächung der fraglichen Emotion.
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Diese Redeweise ist insofern erstaunlich, als sie den Anschein erweckt, dass Illouz dem fluiden Charakter direkter, nicht-reflexiver emotionaler Erfahrung einen besonderen Wert zuspricht. Zugleich impliziert sie eine starke Differenz zwischen subjektiv erlebten authentischen Gefühlen und einer standardisierten Sprache, die der subjektiven Empfindung ihre Einzigartigkeit raubt. Wie aber der Prozess der sprachlichen Artikulation unmittelbarer Erfahrungsqualitäten vonstatten geht und ob die unmittelbare Erfahrung auf Artikulation angewiesen ist (vgl. Taylor 1988; Jung 2007), darüber erfährt man bei Illouz nichts. Sie interessiert sich in ihren Werken auch gar nicht für diese unmittelbare Erfahrungsqualität, sondern geht nur auf das Sprechen über Emotionen, also auf Emotionsdiskurse ein. Damit befindet sie sich im Mainstream der historischen, anthropologischen und soziologischen Forschung, deren Studien »almost always have ended up analyzing how people talk about their emotions« (Katz 1999: 4). Doch sind Emotionen nicht mit dem sprachlichen Ausdruck von Gefühlen identisch; und wer sich nur für die Repräsentation von Emotionen interessiert, dem entgeht die besondere phänomenale Qualität emotionaler Erfahrung. Im Folgenden soll über mehrere Schritte die These entfaltet werden, dass wir einen soziologischen Begriff von emotionaler Erfahrung benötigen, der die körperlich verankerte Präsenz und Erlebnisqualität von Emotionen ernst nimmt. Als Folie dient ein pragmatistisches Handlungsmodell, in dem Emotionen eine besondere Rolle spielen: Denn wenn Handlungsroutinen in Problemsituationen irritiert werden, wird dies dem Subjekt unmittelbar und schnell durch eine Emotion angezeigt.6 Dabei handelt es sich um ein vorreflexives Urteil des Körpers, das nicht auf abstraktem und theoretischem, sondern auf implizitem Wissen beruht. Doch kann unter modernen Bedingungen die soziale Signal- und Koordinationsfunktion von Emotionen für ego und alter ego nur funktionieren, wenn emotionale Erfahrungen auch sprachlich artikuliert werden.
III. Z UR P HILOSOPHIE DER E MOTIONEN Die meisten der zeitgenössischen philosophischen Emotionstheorien argumentieren in der einen oder anderen Weise kognitiv und weisen auf ihren evaluativen Charakter hin. Furcht oder Wut sind keine bloßen Gefühle (feelings), die sich darin erschöpfen, dass sie sich phänomenologisch auf eine bestimmte Weise anfühlen. Sie sind intentional auf etwas gerichtet, repräsentieren einen Gegenstand (etwa einen gefährlichen Hund) und vermitteln dem Subjekt ein Wissen über die Welt und eine Bewertung (vgl. Döring 2009). Emotionen werden nicht selten in ihre 6 | Die individuelle emotionale Erfahrung steht im Vordergrund dieses Beitrags. Natürlich ist es soziologisch ebenfalls interessant zu fragen, wie Emotionen intersubjektiv geteilt werden können. Zur Unterscheidung von individuellen und sozialen emotionalen Erfahrungen vgl. Denzin (1984).
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Komponenten zerlegt: etwa in die kognitive Überzeugung, dass die Schlange gefährlich sei, den Wunsch, ihr zu entrinnen, und das Körpergefühl. Unklar bleibt in diesem Zusammenhang zumeist, wie die Komponenten die Emotion konstituieren. Gegen eine bloße Addition von Überzeugungen, Wünschen, Urteilen und Körpergefühlen lässt sich die These formulieren, dass Emotionen mentale Zustände sui generis darstellen, in denen ein Objekt als mit einer bestimmten Werteigenschaft besetzt erlebt wird. Eine Schlange wird ja auch nicht als furchterregend gedacht, sondern erlebt (ebd.: 32). Dieses gerichtete Gefühl bzw. die gefühlte Bewertung werden zumeist nicht reflexiv wahrgenommen; vielmehr fesselt eine Emotion im Modus des nicht-reflexiven Bewusstseins die Aufmerksamkeit des Subjekts und lenkt sie auf das von ihr Repräsentierte. Der nicht-reflexive Bewusstseinszustand ist selbst nicht Gegenstand der Aufmerksamkeit, denn sobald man seine Aufmerksamkeit auf einen nicht-reflexiven Bewusstseinszustand richtet, wird er reflexiv bewusst (ebd.: 33). Häufig wird man sich einer Emotion erst im Nachhinein bewusst, etwa der Angst nach einem riskanten Ausweichmanöver mit dem Motorrad. Einen wegweisenden Integrationsversuch hat Robert C. Solomon (2009) vorgelegt. Zum einen vertritt er die kognitivistische These, dass Emotionen eine Art von Urteil darstellen, zum anderen stellt er heraus, dass dieses Urteil nicht explizit, bewusst oder durchdacht vorliegen muss – es handelt sich häufig um ein ›Urteil des Körpers‹.7 Wird eine Emotion ausgelöst, erfordert dies eine minimale kognitive Komponente, nämlich eine Situation als bedrohlich, stimulierend oder Ähnliches zu erkennen. Kognitionen liegen jedoch nicht immer explizit und bewusst vor: »Es gibt primitive vorbegriffliche Formen der Kognition« (ebd. 153).8 Emotionen sind daher nicht notwendigerweise reflexive und bewusste Urteile, sondern können Wahrnehmung und Urteil in einer Weise miteinander verschränken, die Solomon »unmittelbar« nennt (ebd.: 157). Ebenso wenig sind Emotionen bloße Wahrnehmungen von Vorgängen im eigenen Körper, denn sie beziehen sich auf etwas in der Welt: Sie drücken ein Sich-an-der-Welt-Beteiligen aus.9 Die in Emotionen aus7 | Solomons Perspektive schlägt eine Brücke zwischen den beiden die Philosophie der Emotionen dominierenden Traditionslinien, nämlich der auf Brentano zurückgehenden Fokussierung auf die Intentionalität der Emotionen und der auf James’ und Wundts Arbeiten beruhenden Tradition, der Phänomenologie der Emotionen nachzugehen. Denn sowohl die rein kognitivistische Lesart wie auch die rein auf Qualia abhebende Phänomenologie verkürzen den Emotionsbegriff. 8 | Diese These Solomons richtet sich auch gegen die neurowissenschaftliche Behauptung, Affektprogramme werden präkognitiv und damit quasi automatisch stimuliert. 9 | Martha Nussbaum argumentiert in eine ähnliche Richtung: Emotionen »involve judgments about important things, judgments in which, appraising an external object as salient for our own well-being, we acknowledge our own neediness and incompleteness before parts of the world we do not fully control« (2001: 19). Es geht bei Emotionen um die Bindung an etwas Wertvolles außerhalb der Kontrolle des Akteurs. Dieses Wertvolle kann
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gedrückten Urteile sind nicht nur nicht-explizit, sie sind auch nicht-propositional strukturiert. In ihnen drückt sich also weniger ein ›Wissen-dass‹ als ein implizites ›Wissen-wie‹ aus. »Es versteht sich von selbst, daß viele unserer ›wissenden‹ Reaktionen auf die Welt und darauf, wie wir unserer Welt Bedeutung verleihen, mehr mit unseren Gewohnheiten und Praktiken zu tun haben mögen als mit dem, wie wir über die Welt denken und wie wir sie beschreiben« (ebd.: 166f.). Wir fühlen körperlich unsere Beteiligung an der Welt; es geht um Dinge, mit denen wir zu tun haben, in denen wir aufgehen oder in denen wir angesprochen sind. Nun ist es allerdings ebenfalls möglich, eine Emotion mit den dazugehörigen körperlichen Veränderungen zu haben, ohne sich der körperlichen Veränderungen bewusst zu sein. William James (1884) vertrat in seiner klassischen Emotionstheorie hingegen die Auffassung, dass die körperlichen Veränderungen gefühlt werden müssen, um von einer Emotion zu sprechen. Körperliche Veränderungen folgen auf eine Wahrnehmung (z.B. eines gefährlichen Objekts), und das Fühlen dieser Veränderung sei die Emotion. Wir zittern nach James also nicht, weil wir uns fürchten, sondern »we feel sorry because we cry, angry because we strike, afraid because we tremble« (ebd.: 190). Peter Goldie (2009) formuliert zwei Einwände gegen James’ Emotionstheorie: Erstens ist es – wie bereits angedeutet – möglich, die zur Emotion gehörenden körperlichen Veränderungen nicht bewusst wahrzunehmen: »[I]ch kann mich zum Beispiel fürchten, ohne mir meiner Gedanken und Gefühle reflexiv bewusst zu sein« (ebd.: 389). Im Moment eines riskanten Ausweichmanövers wird die Motorradfahrerin wahrscheinlich die Angst gar nicht bewusst wahrnehmen, erst nachher bemerkt sie die muskuläre Anspannung, den hohen Puls etc. Im Grunde haben wir kein Bewusstsein davon, wie es sich anfühlt, spontan und unmittelbar emotional mit der Welt beschäftigt zu sein, denn in dem Moment, in dem wir unser Bewusstsein auf dieses Fühlen richten, wird das Bewusstsein reflexiv. Zum anderen sind die körperlichen Gefühle nicht komplett objektlos – sie zeigen vielmehr eine »entlehnte Intentionalität« (ebd.: 375). Nicht nur die kognitive Komponente einer Emotion hat einen intentionalen Bezug (z.B. auf eine betrauerte verlorene Person), sondern auch das körperliche Fühlen (der Schmerz in der Brust verweist auf denjenigen, um den man trauert). Auch körperliche Zustände wie Appetitlosigkeit werden als Ausdruck einer Emotion gedeutet, etwa einer schmerzhaften Zurückweisung, »und aufgrund ihrer Präsenz sogar als Beweise wirklich existierender Verhältnisse gewertet« (Voss 2004: 218). Geist und Körper sind an der emotionalen Erfahrung beteiligt und vereint. Anders als Schachter und Singer behaupten, sind die körperlichen Gefühle in der Regel auch nicht komplett emotional unspezifisch. Bestimmte Emotionen wie Furcht, Wut oder Trauer gehen mit spezifischen Körperempfindungen Hand in Hand. Auf die Frage, was genau man bedroht sein, verloren gehen, gepflegt werden, von jemand anderem besessen werden, angegriffen werden etc. Im Vergleich zu Solomon spielt Nussbaum die Rolle des Körpers und des Impliziten allerdings herunter.
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beim Erleben einer Emotion an welcher Stelle im Körper empfindet, kann man in der Regel eine Antwort formulieren, so der Körperpsychotherapeut George Downing (2000). Möglich ist es auch, spezifische Körperempfindungen der Trauer zu haben, ohne das Objekt des Verlusts benennen zu können – diesen Fall beobachtet man häufig im Kontext von psychotherapeutischen Gesprächen. Diese fehlenden Objekte sind jedoch kein prinzipieller Einwand gegen die These der Intentionalität von Emotionen, da zum einen die Lücke als Lücke empfunden wird und man zum anderen das fehlende Objekt im Laufe der Therapie zu identifizieren vermag (ebd.: 251f.).
IV. E MOTIONEN , DER K ÖRPER UND DAS S OZIALE Um welche körperlichen Empfindungen und Gefühle geht es hier? Zum Teil können die Aktivitäten des autonomen Nervensystems gespürt werden: die steigende Wärme der Haut, die Zunahme der Pulsfrequenz, die Veränderung des Atems. Sodann wandelt sich der Muskeltonus, auch dies kann man wahrnehmen. Hinzu kommen phänomenale Körperzustände, die wir in der Regel in Metaphern ausdrücken: »sich abgeschnitten fühlen«10, »das Gefühl haben, im Erdboden versinken zu wollen«, »Schwindel und Taumel«, »kurz vor der Explosion zu stehen« usw. Jack Katz (1999) hat in seinen Untersuchungen zur Sozialität der Emotionen detailliert herausgearbeitet, dass und wie diese Metaphern eine Erfahrung beschreiben, die phänomenal tatsächlich erlebt wird. Auch die Leibphänomenologie von Hermann Schmitz (1993) geht von spezifischen leiblichen Regungen zwischen Weite und Schwellung sowie von Enge und Spannung aus, die wir im Zustand emotionaler Erregung wahrnehmen können. Solche leiblichen Veränderungen sind im Zustand der emotionalen Erfahrung präsent, bleiben jedoch häufig im Hintergrund, gelangen also nicht ins Bewusstsein. Was ist die Funktion von Emotionen für soziales Handeln? Eine einsetzende Emotion kommt über uns, sie bricht herein. Zugleich und paradoxerweise sind wir es selbst, die eine Emotion produzieren. Entweder lenkt die über uns kommende und zugleich von uns kreierte Emotion vom bisherigen Handlungsfluss ab, oder sie rückt einige Aspekte der Handlungssituation in den Fokus und lässt andere in den Hintergrund treten. »Our immediate relation to the world has been problematized. The stronger the emotion, the more disruptive this unsettling« (Downing 10 | In dem Kapitel »Pissed Off in L.A.« beschreibt Jack Katz (1999: 18ff.) die heftige Wut von Autofahrern, wenn sie von anderen Fahrern »geschnitten« werden. Dies ist nur erklärbar, wenn man ernst nimmt, dass Fahrer und Fahrzeug beim Fahren phänomenal zu einer Einheit verschmelzen. Dieser transzendente Fahrzeug-Körper wird im Moment des Schneidens quasi schmerzhaft amputiert. So versinken wir beim Schreiben auch in die Füllfeder oder die PC-Tastatur. Der Körper endet zwar an den Fingerspitzen, nicht aber der Leib, der durch die Instrumente verlängert wird.
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2000: 256). Die Emotion setzt uns über etwas Negatives oder auch Positives in Kenntnis; sie macht machtvoll darauf aufmerksam, dass sich in der Handlungssituation – die zuvor eine taken for granted-Basis hatte – etwas Signifikantes verändert hat. Emotionen haben somit einen reflexiven Charakter, doch ist die emotionale Selbstreflexion nicht primär kognitiv-symbolisch, sondern körperlich verankert. Eine Emotion hebt die Dimensionen der selbstverständlichen Verschränkung unseres Selbst mit der Welt hervor, die sonst nur implizit-verkörpert vorliegen: »Emotions give dramatically new and emphatically visible forms to the narrative themes that had been less visibly present in social life« (Katz 1999: 332). Der Fall der emotionalen Erregung und Erfahrung verdeutlicht auch, dass der Körper bei nicht-emotionaler Kommunikation normalerweise unbeachtet bleibt. Im Moment der Emotion – etwa bei einem Gespräch unter Tränen – gerät der Körper in die eigene Aufmerksamkeit sowie in die von alter ego. Im nicht-emotionalen Gespräch verleiht der Körper dem Sprecher also seine Kompetenz und bleibt selbst im Hintergrund (ebd.: 219). Im emotionalen Zustand wird man hingegen wie von einer fremden Kraft vom eigenen Körper aus der Routine gebracht und hinfort gerissen. Die körperlich verankerte Hintergrundfundierung des Selbst gerät so temporär aus den Fugen.11 Schließlich erwächst aus der Emotion eine spezifische Handlungsbereitschaft: Rückzug von der Welt bei Trauer, aggressives Verhalten im Fall der Wut. »So, an emotion ›interrupts‹, it announces ›news‹, and it shifts my mode of ›action readiness‹« (Downing 2000: 257). Danach setzt eine Phase der Selbstbefragung ein: Was hat sich auf welche Weise in der Situation verändert, welche Implikationen hat die Veränderung für mich? Diese Selbstbefragung ist zunächst eine körperliche Selbstbefragung. Das relevante Emotionsobjekt in der spezifischen Handlungssituation arrangiert sich in der Wahrnehmung neu: »I utilize my body in its affective state to bring out what the new situation fully means to me« (ebd.: 257). Häufig sucht man nach Worten, um sich selbst und/oder anderen die Situation klar zu machen. Doch primär durchläuft man einen körperlichen Prozess, der auf impliziten Körperpraktiken und -fähigkeiten basiert. Der in die Wahrnehmung geratene Körper verschafft uns dadurch einen bestimmten Zugang zur Welt. Ein emotionaler Zustand drängt auf eine körperliche Metamorphose, denn die Emotion kann in der Regel nicht lange aufrechterhalten werden. Sie verändert sich in ihrer Qualität, flaut langsam wieder ab oder transformiert sich. Dementsprechend wird Scham bspw. häufig in Ärger und Wut überführt (vgl. Scheff 2000). George Downing (2000: 259f.) spricht von Mikropraktiken des Körpers, die uns zur Verfügung stehen und die uns (mehr oder weniger gut) mit der Fähigkeit ausstatten, die emotionale Qualität von Situationen zu erfassen. Es geht a) um die 11 | In der Analyse eines Polizeiverhörs eines des Mordes Verdächtigten zeigt Katz (1999: 274ff.), wie dessen Lügengeschichte in dem Moment zusammenbricht, in dem es den beiden Polizisten gelingt, die auf Gestik, Haltung und Blicken beruhende körperliche Verankerung seiner Verteidigungsgeschichte zu durchbrechen.
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Fähigkeit, Veränderungen im Körper zu spüren, b) diese bewusst zuzulassen und sie nicht zu unterdrücken, c) die Fähigkeit, diesen Zustand zur Untersuchung der relevanten Situation zu nutzen und d) den Modulationen und Nuancen des Körperzustands zu folgen. Wenn sich körperliche Mikropraktiken mit sprachlichen Praktiken überlappen, entwickelt sich unter Umständen e) die Fähigkeit, das Spüren von Gefühlen mit einer sprachlichen Beschreibung der neuen Situation zu verknüpfen und f) die Fähigkeit und Bereitschaft, die eigene Werthierarchie durch die emotionale Erfahrung in Frage zu stellen. Eine intensive emotionale Erfahrung ist häufig durch Ambiguität gekennzeichnet und lässt keine klare Deutung zu; daher kann sie vermeintlich fest bestehende, bewusst verfolgte Intentionen und Werte in Frage stellen. Emotionen sind nicht nur intersubjektiv konstituiert und entstehen in sozialen Situationen (s.u.), sondern verweisen nicht selten auf eine stark evaluative Perspektiven- bzw. Rollenübernahme. So ist Scham z.B. eine der wichtigsten sozialen Emotionen der Rollenübernahme: Sie ist mit der konkreten Erfahrung des Ansehens-, Achtungs- und Statusverlustes verknüpft und beruht auf der Wahrnehmung und Bewertung des eigenen Selbst aus der vorgestellten Perspektive eines anderen (vgl. Scheff 2000). Sie stellt also gleichermaßen ein Wertgefühl und eine moralische Emotion dar (vgl. Wollheim 2001). Fällt die Bewertung des eigenen Selbst aus der übernommenen Perspektive anderer positiv aus und ist bspw. mit Respekt verbunden, entstehen Gefühle wie subjektive Sicherheit, Stolz und Selbstwertgefühl. Fällt sie negativ aus, führt dies in der Regel zum Empfinden von Scham; dem Selbst wird Sicherheit entzogen, es möchte im Erdboden versinken, fühlt sich fremd, verachtet, ängstlich und das Selbstempfinden ist gestört. Hintergrund des Schamgefühls ist offenbar ein gemeinschaftlicher Wert, dem die Person ihrem eigenen Selbstbild zufolge eigentlich folgen sollte: »Bei Scham bezieht sich die Kritik auf ein Ideal, das zu erfüllen uns nicht gelungen ist« (ebd.: 189). Dabei wird uns, betrachten wir genauer die Phänomenologie der Scham, der Bruch mit dem Ideal besonders über den Blick des Anderen vermittelt, während Schuld verbal zugeschrieben wird. Die Scham zeigt, wie wir auf die Integration in eine Wertgemeinschaft angewiesen sind. Im Anschluss an Emile Durkheim lässt sich sagen, dass die Sakralität des Selbst und die Sakralität einer Wertgemeinschaft hier aufeinander verweisen. Auch Wut kann eine moralische Dimension in sich tragen, die sich u.a. darin zeigt, dass eine bestimmte Handlungssituation wieder herzustellen versucht wird, die dem Moralempfinden des Wütenden entspricht. Im Straßenverkehr wird die Wut geradezu rituell ausagiert, indem angebliche Verkehrssünder durch den ausgestreckten Mittelfinger beleidigt werden oder indem aufgeblendet und gehupt wird – jeweils mit dem Ziel die moralische Ordnung wieder herzustellen: »In these patterns we can glimpse the hidden dependence of the naturally enacted self on its silent embrace by a sacred community« (Katz 1999: 61). Woher rühren nun aber ontogenetisch die Emotionen als (Wert)Urteile des Körpers? Wie subjektiv oder intersubjektiv ist unsere körperlich verankerte Emotionalität verfasst?
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V. V ERKÖRPERTE I NTERSUBJEK TIVITÄT Neuere phänomenologische und neurowissenschaftliche Untersuchungen belegen John Deweys pragmatistische Annahme, derzufolge die Unterscheidung von passiver Wahrnehmung und aktivem Handeln problematisch ist. Wegweisend sind diesbezüglich die Beiträge von Shaun Gallagher (2005), der von embodied cognition spricht, welche er wiederum von Intersubjektivität durchtränkt sieht. Gallagher unterscheidet erstens zwischen dem Körper als objektiv naturwissenschaftlich analysierbarer Entität, zweitens dem vom Subjekt wahrgenommenen Körperbild und drittens dem außerhalb des Bewusstseins liegenden Körperschema des Menschen. In der philosophischen Anthropologie werden hingegen nur zwei Dimensionen unterschieden: Körper und Leib, d.h. die drittpersonale und die erstpersonale Zugangsweise zum Körper. Dem Leib entspricht bei Gallagher das Körperbild (body image), verstanden als »system of perceptions, attitudes, and beliefs pertaining to one’s own body« (ebd.: 24). Der Körper wird hier also wahrgenommen; Teile seiner Aktivität werden im Bewusstsein hervorgehoben. Das Körperschema (body schema) beruht hingegen auf sensomotorischen Fähigkeiten – »motor capacities, abilities, and habits« (ebd.: 24) –, die funktionieren, ohne wahrgenommen oder bewusst zu werden. Es ermöglicht intentionales Verhalten, doch bleiben seine Leistungen im Hintergrund und sind nicht phänomenal zugänglich. Wir können also von körperschematisch vorstrukturierten, von Gedanken unabhängigen Verhaltensimpulsen ausgehen, »und bewusstes Handeln als den Prozess einer reflexiven Sinnbestimmung, Klärung und Aneignung dieses primären Umweltbezugs« verstehen (Jung 2011: 37). Hans Joas (1992: 232) spricht in seiner pragmatistischen Handlungstheorie von »vor-reflexiven Strebungen und Gerichtetheiten« des Körpers, die entweder gar nicht oder immer nur partiell im Rahmen des Körperbilds in den Fokus der Selbstwahrnehmung gelangen. Bewusstes und reflexives Handeln ist auf diese Weise im körperlich-praktischen Weltbezug fundiert. Das Körperbild im Sinne des phänomenal zugänglichen Leibes tritt aus pragmatistischer Perspektive immer dann auf den Plan, wenn automatisierte körperschematische Verhaltensweisen nicht mehr funktionieren, wenn ein Problem in einer Handlungssituation auftritt und somit bewusste Reflexion und bewusstes Handeln erforderlich werden. Die phänomenale Präsenz des Leibes wird also erst in problematischen Handlungssituationen virulent, und zugleich beruht sie auf den »phänomenal opaken Leistungen des Körperschemas« (Jung 2011: 46). Der körperschematisch fundierte Umweltbezug geht der Selbsterfahrung des Leibes immer schon voraus. In der Entwicklung des Kindes kann man von einer Phase der primären Intersubjektivität ausgehen, die die ersten Lebensmonate des Neugeborenen umfasst und die auf der sensomotorischen Verschränkung miteinander interagierender Körper beruht. Die sensomotorische Verkopplung von Blickrichtungen, das präreflexive Verstehen des Interaktionspartners durch sensomotorische Expression und ihre gestische und mimische Imitation sind hier entscheidend. Da schon Neu-
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geborene zwischen unbelebten Objekten und Menschen, sprich: Akteuren, unterscheiden und deren Gesichtsausdrücke imitieren (Gallagher 2005: 70), kann man davon ausgehen, dass sie über ein entwickeltes Körperschema verfügen. Wahrscheinlich spielen Spiegelneuronen bei dieser Art der Imitation eine wichtige Rolle: Ein gesehener Gesichtsausdruck muss nicht erst ›intern simuliert‹ werden, die Simulation findet schon im eigenen Gesicht statt, da sich der Körper wahrnehmend im intersubjektiven Austausch mit dem des Erwachsenen befindet (ebd.: 223). In den meisten Situationen haben wir nach Gallagher und Hutto (2008) somit ein direktes, auf Wahrnehmung beruhendes Verständnis des Anderen, das nicht darauf angewiesen ist, auf verborgene mentale Zustände zu schließen (theory of mind). In dieser Zeit gibt es auch schon eine Art von Selbstempfinden des Kindes, das körperschematisch fundiert und nicht von einem reflexiven Ich-Bewusstsein abhängig ist (Dornes 1993: 88).12 Der auf primärer Intersubjektivität beruhende Modus des Verstehens geht mit zunehmendem Alter nicht verloren und wird nicht durch höhere kognitive Leistungen verdrängt. Die ab etwa neun Monaten einsetzende Phase der sekundären Intersubjektivität führt zum Verständnis von Intentionen anderer und ermöglicht dem Kind, in die Welt gemeinsamer Aufmerksamkeit und Situationen einzutauchen. Ontogenetisch erwächst diese Befähigung aus dem geteilten Erleben von Situationen zwischen einem Säugling und einem Erwachsenen (vgl. Tomasello 2010). Dieses gemeinsame Erleben beruht bspw. darauf, dass das Kind lernt, auf einen gemeinten Gegenstand und nicht länger auf den Finger zu schauen, wenn der Erwachsene auf etwas zeigt. Ein gemeinsamer Aufmerksamkeitsfokus (shared attention) zwischen Erwachsenem und Kind entsteht, zugleich werden spezifische Affekte miteinander geteilt. Insbesondere die Arbeiten von Daniel Stern (1985) haben gezeigt, wie im Modus der Affektabstimmung (affect attunement) zwischen Mutter und Kind über Rhythmus und Intensität des Affektausdrucks Intersubjektivität hergestellt wird. So entsteht eine Gemeinsamkeit im Erleben von Gefühlen. Zugleich ist das Kind von diesen intersubjektiven Bezügen abhängig, um sich selbst zu erkennen und wahrzunehmen. Die Präsenz des Anderen und ihre bzw. seine affektiven Reaktionen auf die eigene Affektlage ermöglicht erst die affektive Selbstwahrnehmung. Dieser soziale Raum gemeinsamer Affekte, Bedeutungen und Intentionen ist handlungsbasiert und stellt, obwohl selbst noch vorsprachlich und präsymbolisch, die Voraussetzung des Spracherwerbs dar. Intentionalität hat also eine präsymbolische und vor allem intersubjektive Grundlage. Während sich im Modus der primären Intersubjektivität sensomotorisch interagierende Körper miteinander verschränken, sind es bei der sekundären Intersubjektivität Intentionen und Gefühle teilende und miteinander handelnde Körper. Auch als Erwachsene kommunizieren wir Intentionen 12 | Im Anschluss an George Herbert Mead kann man von einem I-self ausgehen, das von Geburt an existiert, und einem Me-self, das sich im Alter von etwa 18 Monaten ausbildet (vgl. Dornes 1993: 101).
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und Gefühle nicht allein symbolisch, sondern gleichermaßen über unsere Körper – via Stimme, Haltung, Gesichtsausdruck, Gesten und Bewegungen (vgl. Gallagher 2007).
VI. E MOTIONEN UND N ARR ATIONEN In der weiteren Entwicklung des Kindes tritt das Erzählen als Methode des Verstehens immer weiter in den Vordergrund. Das Erzählen von Geschichten ermöglicht Kindern, die Verhaltensweisen anderer und die dem Verhalten zugrunde liegenden Gründe zu verstehen (Gallagher/Hutto 2008). Unser alltagpsychologisches Verständnis von Handlungsgründen beruht auf narrativen Praxen, bei denen es um die Verknüpfung von Ereignissen in der Zeit geht. Kinder lernen dabei zwischen wichtigen und unwichtigen Ereignissen, zwischen akzeptablen und unakzeptablen Handlungen zu unterscheiden, sie üben Rollenverständnisse und Identifikationen mit Figuren ein und imaginieren verschiedene Handlungsweisen und emotionale Reaktionen in unterschiedlichen Situationen. Nicht einzelne mentale Zustände werden so verstanden, sondern Personen in spezifischen Handlungssituationen, die einen Anfang, einen Verlauf und ein Ende haben. Es geht weniger um diskrete, klar definierte innere Zustände und damit einhergehende emotionale Expressionen als um Kontextverstehen, beruhend auf dem Interaktionsverhältnis eines Akteurs zu seiner Umwelt (vgl. v. Scheve 2010: 351ff.). Die ursprüngliche körpergebundene Erfahrung von Intersubjektivität wird auf diese Weise in späteren Phasen der Kindheit durch das Einüben narrativer Praxen transformiert. In der Regel deuten wir Emotionen vor einem lebensgeschichtlichen Hintergrund, und zwar vor einem persönlich-familiären ebenso wie vor einem politischen, gesellschaftlichen und kulturellen. Ronald de Sousa (2009) hat den Begriff der Schlüsselszenarien geprägt, der deutlich machen soll, wie unser emotionales Wahrnehmungs- und Verhaltensrepertoire aufgebaut ist. Zunächst beziehen wir die Szenarien aus dem alltäglichen Leben, etwa aus der Mutter-Kind-Interaktion (Blickkontakt, attunement usw.), der Familie und dem Kindergarten; später treten Geschichten aus Politik, Kunst und Kultur hinzu. In Schlüsselszenarien werden spezifische Emotionsobjekte mit Reaktionen verknüpft. Dies geschieht in Interaktion zwischen der ursprünglich genetisch programmierten Disposition und den Umweltkontexten – zunächst in Auseinandersetzung mit den signifikanten Anderen, später auch in Auseinandersetzung mit generalisierten Anderen. Diese Erfahrungen und Lernprozesse schreiben sich auch in den Körper ein. Antonio Damasio (2005) spricht diesbezüglich von somatischen Markern. Bestimmte Situationsdefinitionen verbinden sich mit phänomenal erlebten körperlichen Gefühlen positiver oder negativer Art. Die empfundenen Gefühle markieren bestimmte Aspekte einer Situation und konstituieren so eine situative Intuition. Diese beruht wiederum auf einem raschen kognitiven Prozess, in dessen Vollzug das hierfür erforderliche Erfahrungswissen häufig unterschwellig bleibt.
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Man sollte allerdings nicht davon ausgehen, dass alle emotionalen Schematisierungen und Reaktionsmuster als immergleiche Grunderfahrungen aus der Kindheit festgelegt sind. Die emotionale Sozialisation hört auch im Erwachsenenalter nie auf. Schlüsselszenarien machen (durch ihre narrative Form) Emotionen verstehbar: Wenn man rekonstruieren kann, in welchen Szenarien welche emotionalen Reaktionen auf welche Objekte ›eingeübt‹ wurden, ergibt sich eine Einsicht in die ›Angemessenheit‹ einer Emotion mit Bezug auf einen sozialen Kontext.
VII. G EFÜHLSAUSDRUCK Emotionales Ausdrucksverhalten trägt selbstverständlich dazu bei, Interaktionsmuster zu stabilisieren, doch stellt sich dabei die Frage, in welchem Ausmaß der Ausdruck bewusst oder strategisch steuerbar ist. Ist der Gefühlsausdruck nicht bewusst manipulierbar und unterliegt er nicht Konventionen des Gefühlsausdrucks? Lässt sich überhaupt vom Ausdruck auf die Emotion schließen? Zunächst ist – etwa in Differenz zur Sozialphänomenologie (s.o.) – festzuhalten, dass der Gefühlsausdruck nicht bloß ein Ausdruck von etwas ist, das selbst kein Substrat hat und nur etwas rein Mentales wäre. So betont Martin Dornes (1993: 114), dass der Ausdruck nicht nur ein Indikator des Gefühls, sondern konstitutiv mit ihm verknüpft ist. Dies gilt natürlich insbesondere für die präsymbolische Entwicklungsphase. Der Affektausdruck ist nicht nur ein nach außen gerichtetes Signal mit regulierendem Einfluss auf die Interaktion, sondern genauso ein intrapsychisches Signal, da die Innervation bestimmter Gesichtsmuskeln über Feedbackmechanismen subjektiv als Gefühl empfunden wird. Die Säuglingsforschung zeigt, dass Kinder bis zum Alter von 1 ½ Jahren so gut wie keine Kontrolle des Gesichtsausdrucks zeigen.13 Ein bewusstes Manipulieren des Ausdrucks ist erst ab drei Jahren beobachtbar, ein implizites Regelwissen um Ausdrucksregeln entwickelt sich mit drei bis vier Jahren (ebd.: 115). Man kann davon ausgehen, dass es eine primäre Konkordanz von Gefühl und Ausdruck gibt, die nicht erlernt ist, aber in Sozialisationsprozessen modifiziert wird. Lernprozesse führen dann dazu, Ausdruck und Gefühl voneinander trennen zu können. Schon für die präsymbolische Phase ist davon auszugehen, dass die Affekte auch vom kleinsten Säugling differentiell wahrgenommen werden können – die Wahrnehmung erfolgt direkt, ohne dass elaborierte kognitive Einschätzungs- oder Bewertungsprozesse vonnöten wären (ebd.: 129). Auch wenn im Laufe der Ontogenese eine »kognitive Anreicherung und eine zunehmende Interaktion von Kognition und Affekt« stattfindet (ebd.: 130), besteht eine fundamen13 | Die Forschung zum Affektausdruck des Säuglings resümierend kommt Dornes (1993: 120) auf folgende ontogenetische Sequenz: Ekel, Überraschung und Neugier existieren ab Geburt bzw. im ersten Lebensmonat. Spätestens mit vier bis sechs Wochen kommt Freude hinzu, mit drei bis vier Monaten Traurigkeit und Ärger und mit sechs bis acht Monaten Furcht.
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tale Kontinuität zwischen den präsymbolischen und den symbolisch vermittelten Gefühlen: in Form von Ausdrucksmustern des Gesichts14, der Stimme und der Gestik, in Gestalt von emotionsspezifischen Aktivitäten des Nervensystems und in Form von Empfindungskomponenten, die über die Lebensspanne hinweg relativ stabil bleiben (ebd.). Vor dem Hintergrund der Studien von Dornes kann man festhalten, dass wir zwar lernen unseren Gefühlsausdruck zu regulieren und zu kontrollieren, dass dies aber nur in gewissen Grenzen möglich ist: Denn der Leib als Ausdrucksfläche bleibt unmittelbar auf das Innere bezogen. In Ausdrucksgebärden drückt sich dieses Innere aus, das ohne das Äußere nicht existieren könnte. Der mimische Ausdruck ist weitgehend unmittelbar, unwillkürlich und unvertretbar, und der Gehalt einer Emotion lässt sich nicht von ihrem Ausdruck ablösen – in diesem Sinne schrieb schon Helmuth Plessner: »Im mimischen Ausdruck verhalten sich psychischer Gehalt und physische Form wie Pole einer Einheit zueinander, die man voneinander nicht ablösen und in das Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem, von Hülle und Kern bringen kann« (2003a: 261). Verstehbar ist der Ausdruck für einen Interaktionspartner zumeist auch unmittelbar, allerdings immer nur relativ zu einer gemeinsamen Situationsdefinition. Denn die konkrete Situation engt den möglichen Bedeutungshorizont eines Gefühlsausdrucks ein (Plessner 2003b).
VIII. E MOTIONEN UND IMPLIZITES W ISSEN Natürlich sind diese körperlichen Praktiken, die auf einem Wissen und Können beruhen, kulturell geformt. Die gerade genannten affektiven Fähigkeiten variieren von Person zu Person, zwischen Gruppen und ganzen Kulturen. Viele dieser Fähigkeiten werden schon sehr früh erworben, zumeist in präverbalen Entwicklungsphasen, in denen das affective attunement (Stern) eingeübt wird. Die daraus resultierenden emotionalen Kompetenzen beziehen sich auf das ›Senden‹ und das ›Empfangen‹ von Emotionen sowie auf den sozialen Austausch bzw. das ›Teilen‹ von Emotionen, wobei es sich hierbei nicht um bewusste oder reflexive Prozesse handelt. Vielmehr muss man von einem vorreflexiven ›Spüren‹ des Anderen in Kopräsenz ausgehen (vgl. Gugutzer 2006). Nicht nur bei Kleinkindern, auch später im Erwachsenenleben beruhen geteilte Emotionen auf einem gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus, von dem beide Interaktionspartner wissen, dass sie ihn 14 | Einschlägig sind hierzu die Forschungen Paul Ekmans (1992). Er geht von einer emotionsspezifischen Physiologie (zumindest für Wut, Furcht, Ekel, wahrscheinlich auch für Trauer) aus, die sich auf distinkte Weise im Gesichtsausdruck manifestiert. Dabei vertritt er die These einer Kohärenz zwischen universellen Gesichtsausdrücken und den empfundenen Gefühlen. Vgl. hierzu v. Scheve (2010), der von umweltgeprägten »Dialekten« des emotionalen Ausdruckverhaltens und -verstehens spricht, also von einer eingeschränkten Universalität im interkulturellen Vergleich.
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teilen. In diese Interaktionsrituale werden die Interaktionspartner durch die Feinabstimmung von Worten, Gesten, Blicken und Stimmen quasi hineingezogen und die gemeinsame Stimmung oder Emotion verstärkt sich (vgl. Collins 2004). Welches ›Wissen‹ liegt diesen emotionalen Abstimmungspraktiken zugrunde? Offenkundig geht es um ein körperlich fundiertes Erfahrungswissen, das nicht in explizit-sprachlicher Form, sondern implizit vorliegt. Implizites Wissen liegt seit einigen Jahren im Fokus der Sozialwissenschaften, wobei man sich dabei auf bedeutende philosophische Vorläufer bezieht, etwa auf William James, John Dewey, Martin Heidegger, Gilbert Ryle und Michael Polanyi (vgl. Neuweg 1999; Schützeichel 2010). Dabei geht es immer um Handlungsvollzüge, von denen man annimmt, dass die Person, die sie kompetent ausführt, nicht genau sagen kann, wie sie das macht oder an welchen Regeln sie sich orientiert. Beispiele dafür sind das Fahrradfahren oder das grammatikalisch korrekte Sprechen; in beiden Fällen ist einsichtig, dass die entsprechenden praktischen Fähigkeiten von Anfang an implizit erworben werden können und nicht bewusst vorliegen müssen. Bei implizitem Wissen kann es sich um prinzipiell nicht-verbalisierbares oder nicht-formulierbares Wissen handeln; dies ist jedoch nicht zwingend so. Während das Radfahren normalerweise gelernt wird, indem man es auf nicht-sprachliche Weise gezeigt bekommt, ist das Erlernen einer Sprache auch über Explizierung der Grammatik möglich – obwohl dies nicht der Normalfall ist. Dass dem Impliziten dabei nichts Geheimnisvolles anhaftet, ist ersichtlich, wenn man sich vor Augen führt, dass diese Form des Wissens die Basis für das Verhalten aller Tiere bildet. Zu etwas Besonderem wird es erst vor dem Hintergrund, dass Menschen zusätzlich über explizites Wissen verfügen (Collins 2010). Implizites ist von anderer Art als explizites Wissen. Es ist nicht einfach nur ›noch nicht‹ oder ›nicht mehr‹ explizites Wissen (Renn 2006: 126f.). So tragen bspw. die Unterscheidungen zwischen Fokus und Hintergrund oder zwischen Thema und potenziellen Verweisungen hier nicht hinreichend weit, da das implizite Wissen zumeist nur unvollständig explizierbar ist.15 Und diese Nicht-Explizierbarkeit ist für viele Handlungsformen konstitutiv. Es geht dabei nicht nur um praktische Fertigkeiten wie Fahrradfahren oder handwerkliche Tätigkeiten, 15 | Jedoch hat Michael Polanyi (2009; vgl. Schützeichel 2012) dem Konzept des Impliziten eine Wendung gegeben, die mit dem Unterschied von Fokus und Hintergrund arbeitet. Er spricht mit Bezügen zur Gestaltpsychologie von der Differenz zwischen fokalen und subsidiären Einheiten. Erkenne ich ein Gesicht, so erkenne ich es holistisch als Ganzes, subsidiär im Hintergrund bleiben hingegen die einzelnen Gesichtsteile. Wir haben ein ›Wissen‹ um den Fokus, den wir allerdings in seiner Konstitution nicht explizieren können (Polanyi 2009: 10). Polanyi spricht auch von verschiedenen Emergenzebenen des Wahrnehmens und Handelns: Die ›höheren‹ Wahrnehmungsebenen beruhen zwar auf den ›unteren‹, doch ist die höhere Ebene nicht durch die Gesetzmäßigkeiten der unteren Ebenen bestimmt (ebd.: 34). Auf jeder Ebene gelten eigene Konstitutionsregeln, die nicht auf die Regeln der darunter liegenden Ebene reduziert werden können.
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sondern auch und besonders um soziale Interaktionen. Implizites Wissen zeigt sich in einer Praxis, im praktischen Wissen darum, wie etwas getan wird, nicht im expliziten Wissen über die Dinge. »We know a person’s face, and can recognize it among a thousand, indeed among a million. Yet we usually cannot tell how we recognize a face we know. So most of this knowledge cannot be put into words« (Polanyi 2009: 4). Selbst einfache Tätigkeiten wie das Öffnen, das Durchschreiten und das anschließende Schließen einer Tür sind kaum explizierbar: Erstens ist man sich nicht bewusst, was genau man wie tut; zweitens ist nicht klar, ab welchem Punkt eine Explikation vollständig gelungen ist, denn sie kann immer weiter ausgedehnt werden (vgl. Kogge 2012). Implizites Erfahrungswissen ist kein theoretisches Wissen, ein Umstand, auf den insbesondere Pierre Bourdieu (2001) immer wieder hingewiesen hat. Es existieren kognitive Strukturen, die auf einem praktischen und körperlichen Erfassen, Beurteilen und Handeln mit der Welt beruhen und nicht begrifflich-explizit vorkommen. Insbesondere im Interaktionsprozess kommen diese Elemente zum Tragen: Die Koordination von Handlungen qua Sprechen, Zuhören, Gestik, Mimik, Intonation usw. ist auf solche impliziten Wissensbestände angewiesen, ohne dass die Interaktionspartner dieses praktische Können explizieren könnten (vgl. Loenhoff 2012). Ein expliziter Fokus hierauf würde ja gerade die praktische Könnerschaft zum Zwecke der Handlungskoordination unterminieren. Natürlich sind einige Dimensionen des praktischen Könnens explizierbar, wie es die an Schütz anschließende sozialphänomenologische Perspektive unterstellt, welche implizites Wissen als potenziell reflexives Wissen konzeptionalisiert (ebd.). Doch gilt dies in keiner Weise für alle Dimensionen, wie der Blick auf nicht-explizierbare soziale Kontextvariationen, auf redebegleitende Gesten und Ausdrucksbewegungen des Gesichts oder auf die spontane Entfaltung einer Rede zeigt. Das in einem impliziten Wissen verankerte praktische Können hat sowohl somatische wie genuin soziale Dimensionen. So ist die Praxis des Fahrradfahrens zunächst ein körperliches Können und Wissen; Harry Collins spricht hier von somatic tacit knowledge (2010: 99ff.). Dagegen ist das Wissen um die Regeln im Straßenverkehr ein genuin soziales Wissen, oder mit Collins: collective tacit knowledge (2010: 119ff.), und dies wiederum mit expliziten und impliziten Wissensdimensionen: Man muss wissen, welche Konventionen wann und wo gelten, muss über Blickkontakt in Aushandlungsprozesse mit anderen Verkehrteilnehmern eintreten, und man ist dennoch in der Lage, sich in einer fremden Stadt im Straßenverkehr zu orientieren.16 Dies erfordert ein implizites Regelwissen und -erkennen, das kon16 | Die Frage nach der Überführbarkeit in explizites Wissen ist für die KI-Forschung zentral. Collins (2010) sieht im somatischen impliziten Wissen noch keine starke Form von implizitem Wissen vorliegen. Zwar können Menschen bspw. nichts mit expliziten mathematischen Anweisungen zum Thema Fahrradfahren und Gleichgewichthalten anfangen, aber nur, weil unser Gehirn diese Informationen nicht verarbeiten bzw. schnell genug umsetzen kann. Ein Roboter kann hingegen auf Grundlage expliziter Anweisungen Fahrrad fahren.
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textsensitiv, nicht explizierbar, nicht formalisierbar und dementsprechend nicht in Computerprogramme überführbar ist: »the ability to absorb ways of going on from the surrounding society without being able to articulate the rules in detail« (ebd.: 125). Collins betont dem entsprechend die konstitutive Verbindung von implizitem Wissen mit sozial-kulturellen Kontexten: »Dogs can ride bicycles and could probably be trained to drive cars – but not in traffic« (2010: 167). Implizites Wissen ist in soziale Konstellationen eingelagert und wird intersubjektiv angeeignet. So ist das Wissen um die Angemessenheit von Gefühlen und ihres Ausdrucks – feeling rules und display rules im Sinne von Hochschild (1979) – in bestimmten sozialen Situationen ein typisches Beispiel für ein kollektives implizites Wissen. Zugleich ist festzuhalten, dass die Unterscheidung zwischen körperlichem und kollektivem impliziten Wissen eine rein analytische Unterscheidung ist; faktisch greifen beide Dimensionen, etwa im Körperwissen um einen angemessenen Gefühlsausdruck, ineinander.
IX. P R AGMATISTISCHE H ANDLUNGSTHEORIE , E RFAHRUNG UND E MOTIONEN Auf implizitem Wissen aufruhende Handlungsroutinen verbinden uns als Handelnde ganz selbstverständlich mit der Welt, so dass es schwer fällt, eine ontologische Differenz von Subjekt und Umwelt aufrechtzuerhalten. Innen und Außen, das Selbst und die Welt interpenetrieren gleichsam – »there is […] no place where one’s identity neatly ends and the social environment obdurately begins« (Katz 1999: 16). Auf präreflexive Art und Weise sind wir in unserem Körper und durch diesen mit der Welt verschränkt. Dies ist eine Sicht, wie wir sie zum einen in der Philosophie Martin Heideggers oder der Phänomenologie Maurice Merleau-Pontys vorfinden, die zum andern aber auch in der pragmatistischen Handlungstheorie John Deweys und George Herbert Meads ausgearbeitet wird. Aus diesen Theorieperspektiven betrachtet sind wir vor allem leiblich Handelnde. Unsere Wahrnehmung ist die eines Handelnden, der sich aktiv mit der Welt auseinandersetzt und nicht nur passiv von ihr affiziert wird. In diesem Sinne gibt es im Bereich des Handelns auch keine einfachen Reiz-Reaktions-Kopplungen: Was als Reiz für einen Organismus gilt, ist abhängig von der Handlungssituation, in der er sich befindet. Die jeweilige Aktivität legt also fest, was als ein Handlungsreiz in welcher Hinsicht gelten kann (Dewey 2003 [1896]). Aus pragmatistischer Perspektive ist entsprechend die Rede von zielgerichteter Intentionalität und von Zweckrationalität zu hinterfragen, reproduziert sie doch die bewusstseinsphilosophische Dichotomie von Subjekt und Objekt, von einem Zwecke setzenden Bewusstsein und der zu manipulierenden Welt. Hans Joas (1992), an Dewey und Mead anschließend, und Anthony Giddens (1988), der Heidegger folgt, vermeiden diese Dichotomie, indem sie zweckgerichtetes Handeln nicht aus einer Serie separater Intentionen zusammengesetzt sehen, sondern Intentionali-
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tät als Fähigkeit zur selbstreflexiven Kontrolle im laufenden Verhalten begreifen. Handeln ist zu weiten Teilen routinisiert und eindeutige Zwecke entstehen häufig erst, wenn die Routine von situationsbezogenen Problemen gestört wird. Handeln ist immer Handeln in konkreten Situationen, die häufig vorreflexiv, schematisiert und habitualisiert ›gedeutet‹ werden und in denen das Verhalten auf Gewohnheiten beruht: »Unsere festesten Gewohnheiten sind genau die, von denen wir am wenigsten Bewußtsein haben« (Dewey 2007: 295). Erst in problematischen Situationen, die nicht mehr routinisiert bewältigt werden können, setzt ein reflexives Bewusstsein für die Situation und die erforderliche Neuanpassung ein. Dies ist auch der Ort, an dem Emotionen aus meiner Sicht theoretisch verortet werden können. Pragmatistisch formuliert machen sich Emotionen in problematischen Situationen bemerkbar, in denen Handlungsmuster und Gewohnheiten entweder nicht fortgesetzt werden können oder mit einer besonderen Intensität wahrgenommen werden – zunächst in Form einer unmittelbaren Gefühlsqualität.17 Diese mit der Körperwahrnehmung verbundenen phänomenalen Qualitäten sind zwar zeichen- und sinnhaft (im Sinne Peirces), doch nicht bewusst, reflexiv oder symbolisch. Im Falle des Zorns etwa wird das Objekt des Zorns komplett im Lichte des Zorns gesehen bzw. gefühlt. Dabei gilt: »Wenn wir zornig sind, sind wir uns nicht des Zorns, sondern dieser Objekte in ihren unmittelbaren und einzigartigen Qualitäten bewusst« (Dewey 2003b: 100). Man erfährt ein Handlungsproblem, bevor es formuliert oder reflexiv eingeholt wird – wir erleben die »unmittelbare Qualität der ganzen Situation« (ebd.). Mit anderen Worten: Ein Gefühl drängt sich in einer Präsenz auf, die die ganze Situation durchdringt. Diese Präsenzwahrnehmung beruht wiederum auf früheren Erfahrungen, die sich in Gewohnheiten sedimentiert haben.
17 | Zu diskutieren wäre hier, ob bspw. positive Gefühle von Glück und Euphorie, die in Momenten besonders gelingender Interaktionen auftauchen, von diesem Modell adäquat beschrieben werden können. Zumindest nötigen sie dazu, den Problembegriff thematisch zu öffnen und von einer intensivierten Erlebnisqualität im Vollzug der positiv bewerteten Handlung zu sprechen. Dieses Problem bedarf gewiss weiterer Untersuchungen. Man kann mit Dewey (2003b) allerdings auch argumentieren, dass jede Handlungssituation über eine bestimmte affektive Hintergrundfärbung verfügt, die alles in ein spezifisches Licht taucht. Eine durchgängige affektive Qualität (Hochgefühl, Niedergedrücktheit, Melancholie etc.) färbt alle Wahrnehmungen und Denkprozesse situativ ein, sie bestimmt die Angemessenheit und Relevanz von Themen und Wahrnehmungsfokusse. In der Regel bemerken wir diese nicht – wir sind affiziert, ohne zu wissen, dass wir affiziert sind. Die affektive Tönung bleibt in der Regel implizit, und normalerweise wird sie von uns nicht wahrgenommen (Gallagher 2005: 201). Dies kann jedoch nicht Thema dieses Beitrags sein, der sich auf konturierte und kurzlebigere Formen der Affektivität bezieht, nämlich auf die Emotionen.
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Doch erst im Zuge der reflexiven Aufmerksamkeit vervollständigt sich eine emotionale Erfahrung; durch die Versprachlichung schließlich wird sie intersubjektiv zugänglich, objektiviert und generalisiert (vgl. Mead 1987). Zugleich ist die Beschreibung des Gefühls nicht mehr das Gefühl selbst. Man führt Unterscheidungen ein, die sich abheben vom qualitativen Ganzen, das »direkt und nicht-reflexiv« erlebt wird (Dewey 2003b: 105). Damit wird eine Erfahrung erst vollständig; das erlebte Gefühl wird in einen narrativen Zusammenhang mit der eigenen Person und mit anderen Personen oder Objekten gebracht. Wenn das Selbst dagegen im qualitativen Erleben ›versackt‹, wenn es ihm nicht gelingt, sein Gefühl mittels intersubjektiver Symbole zu fixieren, dann ist die Erfahrung gewissermaßen unvollständig und nicht kommunizierbar. Eine Erfahrung zu artikulieren bedeutet allerdings nicht automatisch, sich vorgefertigter kultureller Versatzstücke zu bedienen (wie Illouz insinuiert); es geht immer auch um die Artikulation einer eigenen unvertretbaren Erfahrung (vgl. Jung 2007). Man ringt gleichsam um den biographisch wie situativ angemessenen Ausdruck des Gefühls. Eine vollständige emotionale Erfahrung liegt also erst dann vor, wenn die drei Ebenen des Erfahrungsbegriffs zusammengehen: Eine unmittelbare Gefühlsqualität (a) wird mit der vorhandenen Semantik einer Kultur (b) in Zusammenhang gebracht, und zwar über einen Prozess der Artikulation (c), der zumeist die Form der sprachlichen Explikation annimmt. Matthias Jung spricht im Anschluss an Dewey davon, dass auf diese Weise »Austauschbeziehungen zwischen dem gelebten und dem interpretierten Leben gestiftet« werden (2008: 165). Dabei determiniert weder die Seite des Erlebens die kulturelle Deutung noch umgekehrt. Das Erleben interpretiert sich nicht selbst, sei es auch noch so präsent, evident oder intensiv; es muss artikuliert und damit in eine Semantik übersetzt werden. Wie dies geschieht, ist nicht festgelegt. So betont John Dewey (2003b: 98): »Wenn man sie [die erfahrene Situation, FA] ›implizit‹ nennt, bedeutet das nicht, dass sie impliziert ist.« Qualitativ intensiv Erfahrenes legt nicht von sich aus seine Deutung fest und behält gegenüber Versuchen der Interpretation einen »Rest an Autonomie« (Hartmann 2009: 251). Vielmehr wird ein Möglichkeitshorizont eröffnet, aus dem heraus nur eine einzige Möglichkeit durch Artikulation verwirklicht wird. Explizieren heißt also nicht, dass etwas klar konturiert wird, was vorher schon – nur eben implizit – vorhanden war (Jung 2009: 223). Umgekehrt kann eine semantische Beschreibung dem qualitativen Erleben nicht einfach beliebig übergestülpt werden, da das Erleben Grenzen in Form von Interpretationsspielräumen setzt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass emotionale Erfahrung auf Artikulation hin angelegt ist: Das Erleben ist nur eine Komponente der Erfahrung, die sich vollständig erst im Austausch zwischen qualitativem Lebensvollzug und kultureller Sinndeutung vollzieht. Dabei greift das Selbst, wie oben schon angedeutet, zumeist auf ein bestimmtes sprachliches Format zurück: die Erzählung im Rahmen biographischer Sequenzen des Erlebens und Handelns. Die erzählerischen Artikulationen der Gefühle lassen ihren Gegenstand nicht unverändert, sondern formen ihn in einer spezifischen
Gefühle zwischen Präsenz und implizitem Wissen — Zur Sozialtheorie emotionaler Erfahrung
Weise.18 Durch Narrationen werden Emotionen benannt und damit individualisiert. Sie werden in einen biographischen Kontext gestellt. Dadurch werden sie kontextbezogen beurteilbar, sie können den Status intersubjektiver Anerkennung erhalten und so auch eine normative Geltung für sich beanspruchen (vgl. Hartmann 2009). Die Neubeschreibung einer Motivation oder eines Gefühls kann wiederum zu einer Veränderung von erlebten Motivationen und Gefühlen beitragen. In diesem Sinne stehen Erleben und Beschreibung in einem konstitutiven Verhältnis zueinander; sie ko-konstituieren Erfahrung (vgl. Taylor 1988).
S CHLUSS Will man Präsenzphänomene wie emotionale Erfahrungen soziologisch fruchtbar machen, ist zunächst festzuhalten, dass es nicht um Phänomene außerhalb von ›Sinn‹ geht, sondern um erlebte Evidenzen, die Subjekte auf vorbegriffliche und vorreflexive Weise erfahren. Träger und Produzent dieser Erfahrungen ist ein mit der Welt verschränkter, kompetent handelnder Körper. Emotionstheorien wie die von Eva Illouz zielen zu sehr auf gesellschaftliche Diskurse und kulturelle Prozesse des Labelings von Emotionen ab und blenden damit die faktische Präsenz der Emotionen sozialtheoretisch aus. Ihr Verständnis einer Versprachlichung emotionaler Erfahrung steht dem hier vertretenen Konzept der Artikulation diametral entgegen. Illouz sieht mit der Objektivierung der Emotionen via Versprachlichung zum einen Prozesse der Subjektivierung, zum anderen kulturelle Standardisierungen am Werke. Mit anderen Worten: Über Gefühle lässt sich erstens nicht streiten, und zweitens werden sie im Zuge ihrer Versprachlichung auf vorgefertigte kulturelle Versatzstücke reduziert, die »der inneren Erfahrung fremd sind« (s.o). Zu zeigen, dass dies eine unzutreffende Sicht ist, war ein Ziel dieses Beitrags. Im Kontrast dazu habe ich vorgeführt, dass man Emotionen als vorreflexive Urteile des Körpers ansehen kann. Auf diese ansonsten latent und implizit bleibenden Urteile machen Emotionen aufmerksam. Die körperliche Hintergrundfundierung jeglichen Handelns gerät in Präsenzmomenten der Emotionalität aus den Fugen, so dass die normalerweise selbstverständliche Verschränkung mit der Welt auf indirekte Weise sichtbar wird. In weniger herausgehobenen Momenten verleiht uns der Körper seine in Interaktionen erworbene Kompetenz und bleibt im Hintergrund. Dabei werden Emotionen in der Ontogenese sozial in Prozessen primärer und sekundärer Intersubjektivität konstituiert. Emotionen sind gewissermaßen direkt für ego wie für alter ego (eingeschränkt universell) verstehbar, da
18 | Auch der Historiker William M. Reddy (1997) stellt diesen Punkt heraus. Die Aussage »ich bin wütend« ist nicht identisch mit der Emotion der Wut, sondern verändert diese durch die sprachliche Bezeichnung. Sprache ist in diesem Sinne nicht neutral gegenüber dem, was sie bezeichnet. Emotionen können also nie bloß sprachlich ›repräsentiert‹ werden.
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man nicht prinzipiell zwischen körperlichem Ausdruck und ausgedrücktem Inhalt unterscheiden kann. In einem anspruchsvolleren Sinne werden Emotionen für ego wie für alter ego jedoch situativ und biographisch erst verstehbar, wenn man sie artikuliert und in Narrationen einbettet. Gefühlsqualitäten als vorreflexive Präsenzerlebnisse beruhen auf sedimentierten Erfahrungen und Gewohnheiten; im Zuge der Artikulation dieser Qualitäten verändert sich unter Umständen auch die Art und Weise des Erlebens. Emotionen machen implizites, körperlich verankertes, soziales Wissen und damit verknüpfte Werturteile über ihre Präsenz (also ihre unmittelbare Erlebnisqualität) nicht-sprachlich explizit. Erst die Artikulation von präsentisch Erlebtem eröffnet dem Subjekt die Möglichkeit, den emotionalen Erfahrungsraum voll auszuschöpfen. Und nur über eine sprachlich-narrative Verobjektivierung lässt sich ein der Situation angemessenes, komplexes wechselseitiges Verstehen herstellen. Dies ist auch der Grund, weshalb ich nicht wie Illouz davon ausgehe, dass unter modernen Bedingungen ein vorreflexives Gefühlserleben ausreicht, um uns durch soziale Situationen zu navigieren. Im Prozess der kulturellen Deutung und Artikulation von qualitativem Erleben entstehen wechselseitige Spielräume und Begrenzungen: Das Erlebte lässt sich nicht beliebig kulturell (um)deuten, und das Erlebte impliziert nicht von sich aus eine bestimmte kulturelle Interpretation. Die für das Selbst wie für soziale Interaktionen benötigte Signal- und Koordinationsfunktion können Emotionen nur haben, wenn sie nicht in der bloßen Präsenz des Erlebens verharren, sondern artikuliert und damit wechselnden situativen wie biographischen Kontexten angepasst werden können. Gerade weil in modernen Gesellschaften keine festen, intersubjektiv geteilten Rollenverständnisse vorliegen, bedarf es Prozesse der Artikulation von körperlich verankerten Werten und Urteilen. Im Zuge ihrer Artikulation können diese zum einen erst einen normativen Geltungsanspruch gewinnen, und zum zweiten ermöglicht die Artikulation, Werturteile des Körpers immer wieder aufs Neue zu befragen und unter Umständen zu transformieren. Nur so wird auch eine Reflexion und Kritik von Gefühlen möglich. Reichhaltige, intersubjektiv kommunizierbare Erfahrungen resultieren aus diesem Wechselspiel von unmittelbarem Erleben und kritischer Reflexion (vgl. Dewey 2007: 369ff.) – doch hier verlassen wir das Terrain der Soziologie und betreten das einer Ethik der Gefühle.
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Phänomenologisch-pragmatistische Sichtweisen auf die Konstitution von Präsenz im Handeln Christoph Mautz
Ist die Erfahrung von Präsenz eine vom alltäglichen Handeln und vom Handlungswissen losgelöste Form subjektiver Erfahrung? Michel de Certeau beschreibt, wie ein Diskurs über Mystik und damit das Reden über mystische Erfahrung nur dadurch ermöglicht wurde, indem das Aussagesubjekt als »Zentrum des Aussageaktes« (2010: 265) und die Zeitform des Präsens eingeführt worden sind, welche er mit Émile Benveniste als »Präsenz in der Welt, die allein der Aussageakt möglich macht«, auffasst (ebd.: 266). Die von den Mystikern angestrebte spirituelle Kommunikation konnte nur dadurch zu einem diskursiven Bestreben werden, dass sich eine Verwendungsweise des Sprechens über die Erfahrung von Heiligkeit etablierte, welche dem Aussagesubjekt und der Zeitform des Präsens einen hohen Stellenwert gibt. Der die mystische Erfahrung glaubwürdig machende und eine Konvention instituierende Akt wird in de Certeaus Analyse als Einführung eines performativen Verbs (volo) beschrieben, das auf den gegenwärtigen Augenblick, das »präsentische Moment« des Sprechers bezogen ist (ebd.: 271). De Certeau beschreibt damit, dass erst der Vollzug eines Sprechakts es möglich macht, ein Subjekt in Bezug zu einer mystischen Erfahrung und zu seiner Innerlichkeit zu setzen. Man hat es also mit einer scheinbar paradoxen Figur zu tun: Die Erfahrung von Präsenz ist zugleich Vorbedingung und Gegenstand des Diskurses. Diese Überlegungen geben uns wichtige allgemeine Hinweise zum Problem des Redens über Präsenz: Sie zeigen, dass es bei der Rekonstruktion keinen Sinn macht, eine mögliche mystische innerliche Erfahrung als innere Erfahrung an den Anfang zu stellen, sondern vielmehr, dass ein Diskurs erst dann generiert wird, sobald auch eine für eine bestimmte soziale Gruppe verbindliche Konvention besteht, die, wie in jedem Fall vermeintlicher innerer bzw. privater Überzeugung, das Reden über vermeintliche Innerlichkeit erst möglich macht. Eine solche Erfahrung gehört also erst dann zu einer Praxis, wenn eine Sprache entwickelt wird, mit der diese pragmatisch hinreichend verstanden wird. Hiermit ist ein Sonderfall des allgemeinen Umstands angesprochen, mit dem wir es zu tun haben, wenn wir betonen, dass Präsenzerfahrung ein konstitutiver Bestandteil sozialer Inter-
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aktionen ist und einen Bereich kennzeichnet, der in seiner Differenz zu allgemein verständlichen types die pragmatische Unschärfe und die Individuierung des Sinns von Handlungen erst möglich macht. Die Analyse von Präsenzdiskursen allein reicht jedoch nicht aus, um Präsenz als Thema wirklich soziologisch fruchtbar zu machen. Darüber hinaus kann beispielsweise gezeigt werden, wie auf Präsenzattribute von Personen, ihr Charisma usw. abgestellt wird, in welchen Situationen Selbstpräsentationen überhaupt notwendig und erwünscht sind und wie diese Selbstpräsentationen mit der Zuschreibung sozial legitimierter Eigenschaften korrespondieren.1 Zu verweisen ist hier etwa auf die klassischen soziologischen Analysen Erving Goffmans (1971, 1983, 2003), in welchen die Präsenz von Personen als etwas herausgestellt wird, das immer Gefährdungen ausgesetzt ist, woran sich schon zeigt, dass es Unterschiede gibt zwischen sozial erwünschter Präsenz und dem subjektiven Selbstbild, das eine Person immer wieder auf Standards der Selbstpräsentation beziehen muss (zum Beispiel durch Moden). Die folgenden sozialtheoretischen Überlegungen stellen sich der grundsätzlichen Frage, welche Rolle die Erfahrung von Präsenz in Interaktionen spielt und wie die Interdependenz zwischen Präsenz und dem spezifischen Handlungswissen, mit dem Präsenz erfahren wird, beschrieben werden kann. Es soll gezeigt werden, dass die Erfahrung von Präsenz nicht primär sogenannte außeralltägliche Bereiche betrifft, sondern konstitutiv ist für soziales Handeln, und zwar insofern konstitutiv, als jede Sinnkonstitution im Handeln begleitet wird durch die Erfahrung von Präsenz, die Bezugnahme auf diese Erfahrung und dann den jegliches Handeln kennzeichnenden Versuch, aus der Differenz zwischen dieser Erfahrung und allgemeinen Erfahrungsschemata den Sinn von Handlungen zu individuieren. Mit Erfahrung von Präsenz ist nicht das rezeptive Erfassen von etwas oder jemand Anwesendem gemeint, sondern die Erfahrung von etwas, das sich im Handeln der Verwendung von eingeübten Schemata und der Verwendung von allgemein verständlichen Typen widerstrebt. Insofern bezieht sich Präsenz auf etwas material Anwesendes, das aber erst dann die Gegenwart des Handelns berührt, wenn es als nicht klassifizierbar, als sich widerstrebend im Handeln wahrgenommen wird. Die Erfahrung von Präsenz ist ein Prozess, der, folgen wir phänomenologischen und pragmatistischen Konzeptionen, ein Bestandteil von Handlungen ist und sich vor allem durch das Wechselspiel zwischen aktiver Wahrnehmung und implizitem Erkennen auszeichnet. Wahrnehmung soll hier den Organisationsprozess bezeichnen, der zwischen Wahrnehmen, dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommen abläuft. Damit ist das Wahrnehmen ein aktiver Prozess und ein Aspekt des Handelns, mit dem Personen dazu befähigt sind, frühere Erfahrungen implizit zu vergegenwärtigen, indem diese Erfahrungen im Handeln bezogen werden auf die aktuelle Erfahrung von Präsenz. Das Ausmaß der Präsenzerfahrung erschöpft sich damit nicht in der Materialität 1 | Vor allem die Untersuchungen von Jürgen Raab (2008) und Michael R. Müller (2009) sind in dieser Hinsicht wegweisend.
Phänomenologisch-pragmatistische Sichtweisen auf die Konstitution im Handeln
des Handelns, sondern muss bezogen werden auf den perzeptiv-aktiven Umgang mit Materialität, in welchem frühere Erfahrungen an die aktuelle Situation und die Gegenstände der aktuellen Situation an eingeübte Handlungs- und Wahrnehmungsschemata angepasst werden. Zunächst wird dargestellt, dass die aktuelle Präsenzdebatte den Präsenzbegriff vor allem für außeralltägliche Phänomene reserviert. Danach wird im Anschluss an Joachim Renn ein pragmatistischer Begriff impliziten Wissens vorgestellt, auf dessen Grundlage in einer phänomenologischen und pragmatistischen Lesart des Habituskonzepts Pierre Bourdieus gezeigt wird, dass gerade die leibliche Präsenz einer Person für die Sinnkonstitution im Handeln zentral ist. Mit Bezug auf die Ansätze von Maurice Merleau-Ponty und George Herbert Mead werden allgemeine Umrisse der Konstitution von Präsenz im Handeln respektive der Wahrnehmung von Präsenz, ohne die die leibliche Präsenz nicht konstituiert werden würde, exploriert. An einem kurzen Beispiel, der Erfahrung von Architektur von Umsiedlungslagern im Kontext gesellschaftlicher Transformationsprozesse in Algerien, soll das Wechselspiel zwischen habitueller Wahrnehmung von Präsenz und der Umgestaltung von Handlungsschemata aufgrund der Präsenz skizziert werden.
I. Z UR P R ÄSENZDISKUSSION In den letzten Jahren scheint das Thema Präsenz in der kulturwissenschaftlichen und philosophischen Diskussion über konstruktivistische und repräsentationalistische Zugänge zu Formen des menschlichen Weltzugangs und die alltägliche und wissenschaftliche Auslegung von Sinn Konjunktur zu haben. Die Kritik, die an konstruktivistischen Ansätzen geübt wird, bezieht sich auf die Begriffe der Materialität, das Verhältnis von Materialität zu Sinn und die Unübersetzbarkeit leiblicher Erfahrung von Evidenz in diskursive Termini. Im Folgenden soll mit Hans Ulrich Gumbrechts Präsenzanalysen ein Ansatz beleuchtet werden, der sich an einer solchen Kritik abarbeitet. Hans Ulrich Gumbrecht verweist in »Diesseits der Hermeneutik« (2004) auf die grundlegende Unterscheidung, die dieses Buch anleitet und dem Titel Sinn gibt: Die Unterscheidung zwischen dem Ort der »Produktion von Präsenz«2 und der hermeneutischen Interpretation: »Die Produktion von Präsenz wird als ein Hier, als ein Diesseits gedacht, gegenüber dem sich Interpretation und Sinnzuweisung schon immer auf der anderen Seite befinden.« (ebd.: 10) Auch wenn nicht klar wird, wie auf der Grundlage dieser Unterscheidung die Alterität der anderen Seite überhaupt gefasst und identifiziert werden soll, wird deutlich, dass Gumbrecht die hermeneutisch-interpretative Bezugnahme auf Kommunikation von der Produktion von Präsenz trennt und diese räumlich bestimmt. Präsenz, so Gumbrecht, beziehe 2 | Produktion fasst Gumbrecht im wörtlichen Sinn als Akt des Vorführens von Gegenständen im Raum (vgl. 2004: 33).
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sich nicht auf ein zeitliches, sondern auf ein räumliches Verhältnis zur Welt und zur »Materialität der Kommunikation«.3 Heideggers Spuren sind hier unübersehbar. Für Gumbrecht kommen typischerweise Ereignisse in Betracht, »bei denen die Wirkung präsenter Gegenstände auf menschliche Körper ausgelöst oder intensiviert wird« (ebd.: 11). Er geht davon aus, dass es Bereiche gebe, in denen Momente von Intensität erlebt werden können, die in den meisten Alltagswelten nicht auffindbar seien. Zugleich wendet er sich vom Begriff ästhetischer Erfahrung ab, weil dieser zu sehr mit Interpretation und Sinnzuschreibung in Verbindung gebracht werden würde. Ihm kommt es mit dem Terminus »ästhetisches Erleben« (ebd.: 120) darauf an, die Intensitätsmomente und Intensitätsgrade, die von Gegenständen ausgehen können, in den Blick zu nehmen. Ihn interessieren vor allem die Intensitätsmomente, in denen materiale Gegenstände auf den menschlichen Körper wirken, und solche, in denen zwar körperlich empfunden wird, aber ohne die Anwesenheit eines materialen Gegenstands, wie zum Beispiel im Bereich der Mystik. Menschliche Kommunikation zeichnet sich für Gumbrecht dadurch aus, dass in ihr Formen der Weltaneignung enthalten sind, die eben auf der materialen und körperlich erlebbaren Präsenz beruhen, der Präsentifikation, und nicht ausschließlich auf den geistigen Prozessen der Interpretation von Zeichensystemen, der Repräsentation von Sinn. Er begründet diese Doppelrolle der Kommunikation mit Martin Heideggers Begriff der Wahrheit: Die Wahrheit »entbirgt und verbirgt« sich zugleich im Sein. Sobald die materiale Präsenz des Seins erscheint, wird zugleich etwas anderes verborgen. Aus dieser Unterscheidung leitet er typologisch eine Unterscheidung zwischen Sinn- und Präsenzkulturen sowie vier Techniken der Weltaneignung ab. Als Referent menschlichen Selbstverhältnisses gelte in Präsenzkulturen vor allem der Körper, der als Teil der Objektwelt angesehen werde und nicht vom Geist getrennt sei, während in Sinnkulturen, auf Grund der cartesianischen Trennung von res cogitans und res extensa, der von der Objektwelt getrennte Geist im Mittelpunkt des Selbstverhältnisses stehe. Sinnkulturen zeichnen sich, aufbauend auf der cartesianischen Trennung und der aus ihr folgenden Unterscheidung zwischen Mensch und Welt, durch fortlaufende Umgestaltungsversuche aus, die sich aus der Interpretation von Dingen ergeben und in »Handlungen« münden, durch welche dem historischen Wandel Rechnung getragen werde. Präsenzkulturen ginge es demgegenüber um »Nicht-Handeln«, das vor allem um Stabilität und Bewahren der Harmonie von Mikro- und Makrokosmos bemüht sei. Im Hintergrund steht hier die aus der Einheit von Körper und Welt resultierende Entsprechung von rituellem Verhalten und mythischer Kosmologie. 3 | Vgl. auch den gleichnamigen Titel des Sammelbands von Gumbrecht/Pfeiffer (1988), in welchem Gumbrecht schon am Beispiel der unmittelbar spürbaren Rhythmik von Gedichten zeigt, dass diese als ein Präsenzeffekt zu begreifen sei, welcher sich der hermeneutischen Sinninterpretation entzieht und gleichzeitig aber, wie er in Diesseits der Hermeneutik betont, in einem »Spannungsverhältnis« (2004: 126) zu dem von der hermeneutischen Interpretation verfolgten Sinn steht.
Phänomenologisch-pragmatistische Sichtweisen auf die Konstitution im Handeln
Es erscheint unklar, von welcher Perspektive aus Gumbrecht die Unterscheidung zwischen Sinn- und Präsenzkulturen durchführt, denn alleine die Unterstellung, Präsenzkulturen zeichneten sich durch die Intentionalität aus, ihr Verhalten an den Makrokosmos anzupassen, hieße, dass sie ebenso mit Sinn ausgestattet sind – zumindest wenn wir davon ausgehen, dass Intentionalität immer auf die Konstitution von Sinn ausgerichtet ist. Handeln außerdem auf eine in die Umwelt gerichtete intentionale Veränderung zu reduzieren, hieße, die leiblichen Dimensionen des Handelns auszuklammern, die sogar fundierend und zentral für jegliche Sinnauslegung sind, von Gumbrecht aber alleine für den Präsenzbegriff reserviert werden. Die Unterstellung, es gebe eine unmittelbare Wirkung auf den Körper, erscheint so unidirektional, als ob es für den Körper keinen anderen Ausweg gebe, als direkt auf einen Impuls zu reagieren. Gumbrecht unterminiert damit seinen eigenen Anspruch, die Doppelrolle der Kommunikation, also ihre Präsenz- und Sinndimension auszumachen.4 Vielmehr, so sollen die nachfolgenden Ausführungen zeigen, erweist sich die Reaktion auf Präsenzwirkungen als interpretativer Akt, der nicht reflexiv-intentional ausgeführt wird, also nicht alleine der Sinnproduktion zuzuweisen ist, sondern durch seinen leiblichen Bezug zur Präsenzproduktion beiträgt. Wie ist es nun um soziologische Ansätze bestellt, in denen der Begriff der Präsenz bzw. bestimmte Implikationen des Präsenzdenkens exploriert werden? Selbst Niklas Luhmann, mit dessen konstruktivistischem Ansatz die Rede über die leiblichen Fundierungen menschlichen Handelns ausgeschlossen und in spezielle Semantiken (wie die des Tanzes und des Sports) ausgelagert zu sein scheint, kommt nicht ohne einen Präsenzbegriff aus, freilich ohne pragmatistische Überlegungen zum Sprachhandeln. Von Präsenz spricht er ausdrücklich im Fall von religiösen Ritualen, aber auch im Fall von Interaktionssystemen. Mit dem vor-autopoietischen Begriff der »symbiotischen Mechanismen« versucht Luhmann aufzuzeigen, wie Funktionssysteme mit der körperlichen Koexistenz von Menschen umgehen, wie sie ihr Verhältnis zum Körper regulieren (1984: 337ff.). Nach der autopoietischen Wende nennt Luhmann diese Mittel, mit denen der Unhintergehbarkeit des Körpers Rechnung getragen werden soll, »symbiotische Symbole«, welche die mögliche Irritation der Systeme durch die Körperlichkeit bearbeiten (1997: 378ff.). Allerdings steht die Art und Weise des Bearbeitens dieser Irritationen auf der Seite der Semantik, mit deren Hilfe Körperlichkeit kontrolliert und reguliert wird, und die faktische körperliche Beteiligung von Personen gerät außer Acht. Der Begriff 4 | In Unsere breite Gegenwart nimmt Gumbrecht die Typologie zwischen Sinn- und Präsenzkulturen auf, indem er die Rolle der Sprache für Präsenzkulturen anhand von sechs Typen der Amalgamierung von Präsenz und Sprache beschreibt (vgl. 2010: 23). An dieser Typologie ist interessant, dass er Sprache, die »in Sinnkulturen all jene Funktionen abdeckt, welche die moderne Philosophie europäischer Prägung unterstellt und diskutiert« (ebd.) verstärkt mit Präsenz zusammenbringt und, so ist zu vermuten, der Doppelrolle der Kommunikation näher kommt, als mit der Unterscheidung zwischen Sinn- und Präsenzkultur.
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»Symbol« verweist hingegen darauf, dass damit nicht Dinge repräsentiert, sondern präsentiert, und damit mögliche Widersprüche, Ungewissheiten und Unbestimmtheiten überbrückt werden können, die im Rahmen der Sprache ansonsten auf begriffliche Widersprüche hinauslaufen würden. Hans-Georg Soeffner (2008) versucht ebendiesen Präsenzcharakter von Symbolen aufzuschlüsseln. Ihm geht es um die Möglichkeit, die Wirkung von Symbolen, ihre Präsenz, unmittelbar, d.h. nicht durch Zeichen vermittelt, erleben zu können – im Sinne des Theorems der vermittelten Unmittelbarkeit nach Helmuth Plessner. Symbole haben hier nicht einfach die Funktion einer Überbrückung von möglichen Widersprüchen, Ungewissheiten und Unbestimmtheiten, »sondern sie müssen auch die Spannung, Konkurrenz und Widersprüche aushalten«, die sich daraus ergeben, dass die in sich geschlossenen Sinnbereiche unterschiedlichen Eigengesetzlichkeiten unterliegen (ebd.: 60). Soeffner orientiert sich dabei an der von Alfred Schütz beschriebenen Überwindung der Transzendenz von verschiedenen Sinnwelten durch Symbole (vgl. Schütz 2003: 183; Srubar 1988: 242), welche als »Chiffren« der Erfahrung von Transzendenz eine gemeinschaftsstiftende Funktion haben, die unmittelbar mit dem Symbol vermittelt wird. Weiter bezieht sich Soeffner dabei auf die durch Ernst Cassirer und Nelson Goodman inspirierte Philosophie Susanne K. Langers und damit auf eine für die Präsenzforschung wichtige Theorietradition. Langers Unterscheidung zwischen präsentativem und diskursivem Symbolismus erlaubt es, diejenigen Möglichkeiten und Ausdrucksformen menschlicher Welterschließung in den Blick zu nehmen, die sich einer rein textbezogenen Deutung sperren (vgl. 1984). Der Bezug auf Langer und Schütz hinsichtlich der präsentativen Wirkung von Symbolen verweist auf den spezifischen, außeralltäglichen Status des Untersuchungsgegenstandes, der auch bei Gumbrecht auffällt. Im Folgenden soll es darum gehen, dass Präsenzerfahrung ein alltägliches Phänomen ist. Diesem Punkt kann man sich nähern, indem mit dem impliziten Wissen ein Wissensbegriff verwendet wird, der sich von einer repräsentationalistischen, auf die diskursiven Anteile einer Handlungen fokussierten Sichtweise entfernt.
II. I MPLIZITES W ISSEN UND H ANDELN Die Konstatierung impliziten Wissens weist auf eine Ebene der Produktion von Wissen hin, die sich gegen die Vorstellung einer bedeutungsidentischen Repräsentation einer Sache durch ein Wort sträubt und allgemein gegen die Vorstellung, dass eine sprachliche Äußerung etwas (etwa einen Gedanken, eine Emotion, einen Handlungszweck oder ein Ereignis) repräsentieren würde.5 Ein pragmatischer Begriff der Bedeutung geht davon aus, dass Sprache sowohl sprachliche als auch 5 | Ich beziehe mich hier vor allem auf eine Verwendung des Begriffs des impliziten Wissens, wie sie von Joachim Renn entfaltet wird (2004a, 2004b, 2005, 2006). Die Perspek-
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nicht-sprachliche Handlungen umfasst (vgl. Renn 2006: 201f.). Dies impliziert eine Ablehnung der Auffassung, dass es auf der einen Seite ein intelligibles Sein gebe, das durch eine reine Sprache repräsentiert wird, und auf der anderen Seite ein naturhaftes, passives Vermögen, ein Tun, welches sich als reines Verhalten beschreiben ließe. Demgegenüber wird Sprache grundlegend als Sprachhandeln aufgefasst, dessen Produktivität und Sinnhaftigkeit auf einem impliziten Wissen der Handelnden beruht und auf der Basis impliziten Wissens durch das wechselseitige Abstimmen von Wahrnehmung, Bewegung und sprachlicher Deixis vollzogen wird: »Die explizite Identifikation des Handlungssinnes ist nur eine mögliche Form der sprachlichen Integration. Die implizite Identifikation des Sinnes einer Handlung erweist sich bei eingehender Untersuchung – im Gegensatz zu kognitivistischen Handlungsmodellen – sogar als der fundamentalere Modus sprachlich vermittelter Interaktion« (ebd.: 203). Dieses Sprachhandeln – und darauf verweist schon der implizite Charakter der pragmatischen Verwendung von Äußerungen – findet grundlegend in hermeneutischen Situationen statt (vgl. Soeffner 1989: 53; Srubar 2008: 252). Sie können deswegen als hermeneutisch gelten, weil die Handelnden dazu angehalten sind, sich gegenseitig Bedeutungen anzuzeigen, die angezeigten Bedeutungen zu deuten und den Sinn einer Handlung zu identifizieren. Dieses Be-Deuten hat einen vorwiegend impliziten Charakter, und zwar schon deshalb, weil es nicht während seines Vollzuges die Regeln dafür angeben kann, wie Bedeutung angezeigt und verstanden wird. Ein pragmatischer Begriff von Bedeutung geht deshalb davon aus, dass Bedeutung eine Art der Verwendung ist. Die Bedeutung von Sprache kann nicht von ihrem pragmatischen Kontext getrennt werden, in welchem von ihr Gebrauch gemacht wird: »Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache« (Wittgenstein 1984a: § 43); oder noch genauer: »Eine Bedeutung eines Wortes ist eine Art seiner Verwendung. Denn sie ist das, was wir erlernen, wenn das Wort zuerst unserer Sprache einverleibt wird« (Wittgenstein 1984b: § 61). Was also erlernt wird, ist nicht das kognitive Wissen über eine Regel, sondern die Art der Verwendung, die vom jeweiligen Sprachspiel abhängt, »[…] mittels welcher Kinder ihre Muttersprache erlernen« (Wittgenstein 1984a: § 7). Würde man die Vorgehensweise, für jede Bedeutung eines Wortes eine Regel zu setzen, mit der man diese erklärt, logisch weiterführen, so müsste man für jede Entscheidung über die Angemessenheit einer Regel eine weitere explizite Regel aufstellen – wenn jeder praktische Vollzug das Vollziehen einer Regel sein soll. Die Voraussetzung für die Verwendung eines Wortes kann deshalb nicht im expliziten Wissen über die Bedeutung einer bestimmten Praxis bzw. in der kausalistischen Explikation einer expliziten Regel liegen, die durch eine außerhalb der Praxis existierende Wirklichkeit konstituiert würde und innerhalb dieser Wirklichkeit (und nicht innerhalb der Praxis!) die Bedingung der Möglichkeit einer Praxis darstellte. tive, die ich hier einnehme, ist damit eine notwendig postkonstruktivistische (vgl. Renn/ Ernst/Isenböck 2012).
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Die Voraussetzung für die Verwendung von Worten liegt in einer stillschweigenden Gewissheit darüber, wie man ein Wort oder ein Wortgebilde in einem praktischen Kontext anwendet. Mit anderen Worten: Die Bedingung für die Angemessenheit eines Wortgebildes liegt in der Gewissheit darüber, was dieses Wortgebilde in einem bestimmten praktischen Kontext, der auch nicht-sprachliche Tätigkeiten mit einschließt, bedeutet (vgl. Renn 2004: 438). Mit dieser Gewissheit entzieht sich die Bedeutung einer Tätigkeit einer expliziten Begründung. Bräuchte man für jede Handlung eine explizite Regel, dann bräuchte man auch für diese Regel wieder eine Regel, was in einen unendlichen Regelregress führen würde. Die Beschreibung der Begrenzung einer Sprache ist damit notwendigerweise unzulänglich. Das, was die Sprache begrenzt, sind die sozialen Grenzen der Geltung von als gewiss erachteten Konventionen einer Lebensform, die niemals trennscharf sein und keinen klaren, ausdefinierten Kriterien folgen können. Die grammatikalische Richtigkeit eines Wortes besteht immer in der Situationsadäquanz der Verwendung des Wortes innerhalb einer Lebensform. Würde ein Dozent den Seminarraum betreten und sich mit dem Rücken dem Plenum zugewandt auf einen Stuhl setzen und in dieser Haltung seine Zusammenfassung der letzten Sitzung geben, so würde dies wahrscheinlich Verwirrung und vielleicht auch Belustigung, Ärgernisse oder Bedürfnisse erregen, weil diese Haltung nicht dem Gebrauch entspricht, den alle stillschweigend voraussetzen. Stellen wir uns vor, dass der Auslöser für die Verwirrung nur in dieser Haltung liegt, nicht aber in einem unüblichen Sprachgebrauch: Der Dozent hält seinen Einführungsvortrag so wie immer, trotzdem aber in unüblicher Weise. Umgekehrt können wir uns einen Dozenten vorstellen, der – so wie immer – mit dem Rücken dem Plenum zugewandt etwas an die Tafel schreibt und auch sonst keine unüblichen Tätigkeiten vollzieht. Diese Beispiele zeigen, dass die Bedeutung einer Praxis in der Gesamtheit der Fälle liegt, in denen diese Praxis ausgeführt wird und dass sie nicht primär an das Sprechen einer Sprache gebunden ist. Sie zeigen auch, dass die Regelmäßigkeit einer Praxis nicht in explizit aufgestellten Regeln bzw. in einem Modell der Realität formuliert, sondern in einer intersubjektiv geteilten Konvention begründet ist, deren Eigenschaft darin liegt, nicht formuliert werden zu müssen. Das Verstehen dieser Praxis, d.h. in unserem Beispiel das Verstehen der Konvention und des Konventionsbruchs, hängt davon ab, ob man die praktische Bedeutung dieser nichtsprachlichen, dennoch normativen Konvention kennt. Damit ist angezeigt, dass die Analyse impliziten Wissens keine Handlungsrekonstruktion more geometrico sein kann. Verstehen wir mit George Herbert Mead die materialen Aspekte einer Handlung als »manipulatory area« (1938: 103), d.h. als den Realitätsbereich, der die Dinge umfasst, welche visuell und taktil im Kontakt erfahren werden, dann ließe sich sagen, dass die Bedeutungen von Dingen und von Ausdrücken, Gesten und Bewegungen, die sich auf diese Dinge beziehen, oder, wie im Fall von Gesten und Bewegungen, selber Dinge im Manipulationsbereich sind, sofern auf sie pragma-
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tisch reagiert wird, nur rekonstruktiv erfasst werden können, wenn sie auf ihren spezifischen Ort im Manipulationsbereich bezogen werden. Dies impliziert, dass die Dinge nicht gesondert von ihrer spezifischen Art und Weise der Verwendung, und damit ihrer räumlich-zeitlichen Einbettung in eine spezifische Praxis, analysiert werden können. Würde eine Handlung beispielsweise aufgelöst in die kausale Verknüpfung von Teilhandlungen, die als reine Reaktionen auf Reize ausgewiesen werden würden, wäre gar nicht mehr klar, was denn überhaupt die Einheit einer Handlung sein soll. Der Sinn einer Handlung lässt sich nicht als Summe ihrer Teilakte beschreiben; dies würde den Bereich verfehlen, welcher den Sinn überhaupt erst möglich macht: die Intentionalität der Handelnden und das habituelle Wissen, wie gehandelt wird. Die Bedeutung einer Praxis kann also durch wissenschaftliche Explikation nicht adäquat repräsentiert werden, sondern nur annäherungsweise über das Wissen, wie eine Praxis ausgeführt wird. Dieses implizite Wissen ermöglicht zugleich auch spezifische Kompetenzen; es hilft den Vorgang der Wahrnehmung zu strukturieren, das Handeln gemäß den Anforderungen einer Situation zu koordinieren und Handlungsweisen und Situationen zu interpretieren, die innerhalb einer Gemeinschaft zulässig sind und implizit verstanden werden. Das heißt auch, dass die Handelnden in der Vorwegnahme der Erwartungen, die von anderen Teilnehmern an einer Handlungssituation an sie gestellt werden, davon ausgehen, dass ihr jeweiliges Gegenüber sie hinreichend verstehen kann und über ein ähnliches Wissen verfügt, wie Bedeutungen anzuzeigen und zu verstehen sind.
III. P R AK TISCHE G E WISSHEIT UND P R ÄSENZERFAHRUNGEN In alltäglichen hermeneutischen Situationen ist damit ein Moment vorhanden, das sich als praktische Gewissheit formulieren lässt und welches primär auf die Herstellung von pragmatisch hinreichender Eindeutigkeit und Reduktion von Ungewissheit und Unbestimmtheit zielt: Weil die Handelnden auf der Grundlage einer pragmatisch hinreichenden Sicherheit in der normativ richtigen Anwendung von Äußerungen, Gesten und Bewegungen handeln und sich damit vergewissern müssen, dass ihr Gegenüber diese Äußerungen auch hinreichend versteht, handeln sie praktisch gewiss. Praktische Gewissheit kann umschlagen in die existentielle Erfahrung von Unsicherheit, wenn »die formale Zuschreibung anonymer Eigenschaften des anderen nicht genügend erscheint, zugleich aber die interaktiv gewonnene praktische Kenntnis des anderen nicht erreichbar ist, schon weil die dafür erforderliche Dauerinteraktion mit allen potentiellen Gegenübern unmöglich ist« (Renn 2007: 83). Nicht zuletzt in modernen Verhältnissen werden die Unbestimmtheiten der Handlungsidentifikation dadurch kompensiert, dass das Gegenüber auf die stereotypen Kennzeichen einer sozialen Rolle reduziert wird – vor allem dann, wenn die Zurechenbarkeit eines gemeinsamen impliziten Wissens fehlt. Genauer betrachtet erscheinen Stereotypisierungen als spezifische Um-
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gangsweisen mit Fremdheitserfahrungen, die unter Umständen durch Präsenzerfahrungen angestoßen werden, welche im Handeln nicht oder nur unbefriedigend integriert werden. Meines Erachtens ist die Exploration der Erfahrung von Präsenz im sozialen Handeln ein geeigneter Ausgangspunkt, um Phänomene der Erfahrung von Unbestimmtheit und Ungewissheit des Handelns genauer verstehen zu können. Präsent können alle möglichen Handlungen sein, sobald ihr zeitlicher Horizont von mindestens einer Teilnehmerin oder einem Teilnehmer über die Handlung hinaus eine einzigartige historische Geltung des Handlungssinnes beansprucht, die nicht zunächst in propositionaler Form besteht, sondern die erfahren wird. Gerade Riten tragen durch ihre Affektbindung wesentlich zur Stabilisierung der praktischen Schemata des Wahrnehmens und Handelns bei (vgl. Descola 2011b: 170f.). Oft wird die Präsenz einer Interaktion (beispielsweise in der Sexualität) mit der Präsenz von Personen (beispielsweise ihrem Charisma) in Verbindung gebracht. In Handlungen und auf Handlungen bezogen ist die Präsenz der Person allerdings eine eigenständige Kategorie, die nicht notwendigerweise mit der Präsenz von Interaktionen zusammenfallen muss. Doch erlaubt nur die Retrospektive auf den Sinn einer Handlung eine Assoziation mit der Person, wenn auf Präsenzattribute einer Person sprachlich Bezug genommen wird. Demgegenüber hat die Präsenz der Person erheblichen Anteil an der Individuierung des Handlungssinns, und die Wahrnehmung der Präsenz der Person erheblichen Anteil am Verstehen der Bedeutungen von Bewegungen, Mimik, Gestik und sprachlichen Äußerungen. Die Präsenz der Person in Handlungen zeigt sich als das Nicht-Identische der Person, das, was nicht unter allgemein verständliche Fälle subsumierbar ist und als solches nicht ausgedrückt werden kann. Sie weicht ab vom kollektiven Habitus, von dem erwartbaren, allgemein Verständlichen, auf das eine Person bezogen werden kann und entzieht sich der Repräsentierbarkeit. Sie führt zu dem grundlegenden Problem, dass ein Habitusbegriff, der die skizzierte Dimension impliziten Wissens ernst nehmen will, sich auch von einer repräsentationalistischen Perspektive entfernen muss. Die Präsenz einer Person schließt dann die Rede vom Habitus nicht aus, sondern der Habitusbegriff muss, gerade wenn er auch Wahrnehmungsschemata und mit dem Stichwort der Inkorporation die Leiblichkeit des Handelns einschließt, grundlegend die Möglichkeit der Erfahrung von Präsenz mit einbeziehen.
IV. P R ÄSENZ UND H ABITUS In Pierre Bourdieus Beschreibungen und auch in Rezeptionen seines HabitusKonzepts entsteht gelegentlich der Eindruck, dass die Art und Weise, wie man geht und isst sowie die jeweiligen Präferenzen, von den objektiven empirischen Bedingungen abhängen, welche die individuelle Art und Weise von Akteuren naturalisieren und diese unter eine kollektive Homogenität von Habitusformen subsu-
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mieren. Der Maßstab für das Erfassen von Ähnlichkeiten wird dabei vorschnell als von den Akteuren vollzogene Klassifikation aufgefasst. Mit einer solchen Vorstellung sind zwei Probleme verbunden. Erstens wird die Art und Weise, wie Personen in ihrer Ähnlichkeit wahrgenommen werden, mit expliziter Klassifikation gleichgesetzt. Hingegen ist das Wahrnehmen von Ähnlichkeiten im Wesentlichen nichtdiskursiv und keinesfalls gleichzusetzen mit einem auf Propositionen beruhenden Identifizieren von etwas als etwas. Zweitens wird das Erkennen von Personen auf der Grundlage von Repräsentationen gedacht. Drittens führt die Behauptung, dass die Ausübung des Habitus von den objektiven empirischen Bedingungen abhängt, zu der Annahme, der Habitus – wie auch die soziale Praxis – repräsentiere soziale Strukturen. In Bourdieus Konzeption hängt aber die Stabilität einer Praxis an der pragmatisch hinreichenden Übereinstimmung der praktischen Interpretationen der Akteure auf der Grundlage des habituellen Hintergrundwissens, d.h. des impliziten Wissens. Der These, der Habitus repräsentiere die Normen einer Gruppe, steht entgegen, was ich als die Präsenz des Habitus bezeichne. Die Präsenz des Habitus zeigt sich in der für einen Akteur individuellen Art, zu handeln, d.h. auch zu sprechen und sich zu bewegen. Bevor diese Art, der akteursbezogene modus operandi, von anderen als eine typische Art einer Person wahrgenommen wird, setzt ihre individuelle Präsenz ein, welche sich nicht als solche typisieren lässt. Zudem ist die Wahrnehmung, die im Laufe der Sozialisation habituiert wurde, selbst ein, wie gezeigt werden soll, Aspekt des Handelns, der sich auf vergangene Erfahrungen bezieht, um die Gegenstände gegenwärtiger Situationen, wie eben die Präsenz einer Person, zu verstehen. Ein solcher Bezug auf vergangene Erfahrungen ist jedoch kein reflexiver Akt des Bewusstseins, sondern ein leiblicher Akt, der in hohem Maße von der gegebenen Situation und ihren materiellen Bedingungen abhängt. Bourdieu fasst diesen Punkt so auf, dass der Habitus frühere Erfahrungen präsentifiziert: Als Produkt der Geschichte produziert der Habitus individuelle und kollektive Praktiken, also Geschichte, nach den von der Geschichte erzeugten Schemata; er gewährleistet die aktive Präsenz früherer Erfahrungen, die sich in jedem Organismus in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen und die Übereinstimmung und Konstantheit der Praktiken im Zeitverlauf viel sicherer als alle formalen Regeln und expliziten Normen zu gewährleisten suchen. (1987: 101)
Bourdieu verdeutlicht relativ allgemein, dass der in der leiblichen Hexis veräußerlichte Habitus Personen dazu befähigt, performativ und pragmatisch productions zu erzeugen. Außerdem tendiert nach Bourdieu der Habitus dazu, innerhalb der Sinngrenzen seiner eigenen Erzeugung zu bleiben und dabei frühere Erfahrungen präsent werden zu lassen, ohne sie repräsentieren zu müssen, während die Bedingungen der Erzeugung dieser Erfahrungen nicht reflektiert werden. Wegen des jeweiligen Standpunktes, den ein Akteur in Bezug auf eine praktische Situation hat, kann die praktische Logik »alle Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen«
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(Bourdieu 1979: 253) organisieren und in die spezifische Situation integrieren. Symbolische Objekte und Praktiken erhalten daher ihre Bedeutung exklusiv aus dem situativen Kontext des praktischen Funktionierens der Schemata, »d.h. jenseits des Explizitmachens und folglich außerhalb logischer Kontrolle und in Bezug auf praktische Zwecke, die ihnen einen zwangsläufigen Charakter aufprägen und zuschreiben, der keiner der Logik ist« (ebd.) und der »Übertragung von Schemata, die diesseits des Diskurses erfolgt« (Bourdieu 1987: 453). In der Konzeption des Habitusbegriffs wird der praktische Sinn hervorgehoben (vgl. ebd.: 122), welcher die Akteure dazu befähigt, ihre praktischen Interpretationen von Handlungen auf der Grundlage des für die Koordination des Handelns notwendigen habituellen Hintergrundwissens zu vollziehen.6 Praktischer Sinn meint vor allem den impliziten Sinn für die normative Angemessenheit der Verwendung von Ausdrücken und der Art und Weise, wie leiblich gehandelt wird. Gerade der leibliche Bezug des Handelns ist meines Erachtens eine zentrale Dimension des praktischen Sinns und muss aus folgenden Gründen stärker mit in die Theorie des Habitus einbezogen werden. Wenn der Habitus als ein pragmatisch inkorporiertes System von Wahrnehmungs- und Handlungsschemata fungiert und, vermittelt über den praktischen Sinn im Handeln, auch leiblich Verwendung findet, dann müssen die Grundlagen der Konstitution des Habitus geklärt werden und die Art und Weise, wie der Habitus sein Wissen wahrnehmend und handelnd in aktuellen Handlungssituationen einsetzt, ohne Gefahr zu laufen diese Prozesse zu naturalisieren oder sozialdeterministisch auszuweisen. Es sollen nun zwei Ansätze vorgestellt werden, mit denen der leibliche Bezug des Handelns näher betrachtet werden kann. Das sind zum einen der phänomenologische Ansatz nach Maurice Merleau-Ponty und der pragmatistische Ansatz nach George Herbert Mead.
V. D IE LEIBLICHEN A SPEK TE DER P R ÄSENZERFAHRUNG IN DER H ANDLUNGSKOORDINATION Maurice Merleau-Ponty begreift den vorprädikativen, vortheoretischen Bezug zur Welt als »fungierende Intentionalität«7 (1965: 475). Dieser Begriff zielt auf den Erfahrungsmodus ab, in welchem die Wahrnehmung des Anderen weder ein die Handlung ermöglichender physiologischer Prozess, noch eine reine von einer so6 | Wie Bourdieu selber hervorhebt, »reagiert« der kabylische Bauer nicht auf die »objektiven Bedingungen, sondern auf die von ihm erzeugte praktische Interpretation dieser Bedingungen, der die gesellschaftlich konstituierten Schemata seines Handelns zugrunde liegen« (1979: 257). 7 | Den Begriff der fungierenden Intentionalität verwendet Merleau-Ponty in Anlehnung an Edmund Husserls Verwendung dieses Begriffs in »Formale und transzendentale Logik« (vgl. Husserl 1929: 208).
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zialen Handlung abgelöste Bewusstseinsleistung ist, sondern eine Art und Weise der vortheoretischen leiblichen Bezugnahme auf die Welt. Das Subjekt erweist sich aus dieser Perspektive nicht als ego, das Objekte und Andere erst konstituieren muss, sondern als handelnder Leib, der unaufhörlich verstrickt ist in seinen Bezügen zur Welt. Intentionalität ist damit immer schon im Handeln wirksam als vorreflexives Gerichtetsein auf Welt. Den leiblichen Kontakt mit Welt fasst Merleau-Ponty wesentlich als einen Prozess der Koinzidenz zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenem und als einen Prozess der gegenseitigen Durchdringung von Bewegungen und Intentionen: Die Intention, die in einer Geste präsentiert wird, nehme ich nicht als getrennt von der Geste wahr, sondern in der Evidenz, in welcher die Intention in der Geste eine Entsprechung findet. Die beiden Leiber, die sich verständigen, müssen nicht wechselseitig ihr Bewusstsein appräsentieren, sondern sie stehen von vornherein in leiblichem Kontakt, in welchem ein grundlegender Aspekt von Sozialität angesprochen ist: »Zwischenleiblichkeit« (MerleauPonty 2003: 256). Der Begriff der Zwischenleiblichkeit zielt darauf ab, das, was eine Person mit anderen Personen und mit anderen Dingen in einer Situation verbindet, als eine »gemeinsam empfindende Körperlichkeit« (Gebauer 2009: 167) zu fassen und die Sozialität des Handelns auf der Ebene der wechselseitigen Koordination sinnlicher Wahrnehmung und Bewegung anzusiedeln.8 Der Begriff wird damit dem Umstand gerecht, dass der eigene Leib sowohl wahrnimmt als auch wahrgenommen wird. Der besondere Stellenwert der Zwischenleiblichkeit wird für Merleau-Ponty daran deutlich, dass zwar schon das elementare Erkennen der Bedeutung von Wahrgenommenem in einer gewissen Weise eine erlernte, habitualisierte Grundlage hat, dass aber dennoch die Bedeutung nur ausgehend vom interaktiven Kontakt zwischen einem Leib und seiner Umgebung verstanden werden kann, in welchem eine klare, explizite Trennung zwischen diesen beiden sowie zwischen den wahrgenommenen Elementen nie möglich ist. Viel eher werden die verschiedenen wahrgenommenen Elemente erst durch die Selektion des Wahrnehmenden zu einem kohärenten Ganzen, zu einer Bedeutung geformt. Diese »kohärente Deformierung« (Merleau-Ponty 1984: 80) beruht darauf, dass die Bedeutungsintention primär ein Phänomen leiblicher Intentionalität ist. Entscheidend dabei ist, dass weder auf vorgefertigte Bedeutungen zurückgegriffen wird noch die Relationen 8 | Eben dieser grundlegende Aspekt des Handelns wird bei Hans Joas mit dem Begriff der primären Sozialität als eine besondere Art der Handlungskoordination hervorgehoben: »Wenn der eigene Körper dem Handelnden nicht unmittelbar gegeben ist, sondern nur über ein Körperschema, und wenn dieses Körperschema selbst Resultat eines intersubjektiven Konstitutionsprozesses ist, dann enthält alle Handlungsfähigkeit eine weitere stillschweigende Voraussetzung: nämlich die einer nicht erst durch bewusste Intentionalität zustandekommenden, sondern dieser gegenüber vorgängigen, primären Sozialität, einer Struktur gemeinsamen Handelns also, welche zunächst in nichts anderem besteht als in der Interaktion unserer Körper« (1992: 269).
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zwischen den Elementen der Wahrnehmung die Bedeutung ausmachen, sondern dass vom Beginn eines Wahrnehmens an die Elemente der Wahrnehmung zu einer Gestalt synthetisiert werden, deren Bedeutung in ihrer für die/den Wahrnehmende(n) typischen Art und Weise liegt.9 Ein zentrales Merkmal der Gestaltbildung ist es, dass zwischen verschiedenen Gegebenheiten im Wahrnehmungsfeld Ähnlichkeitsbeziehungen – und damit Präsenz – hergestellt werden. Diese Herstellung ist gebunden an die Gleichzeitigkeit aller Elemente, die visuell wahrnehmbar sind. Das Sehen einer Gegebenheit als etwas entspricht damit einem Sehen, das von der Wahrnehmung einer aktuellen Gegebenheit aus Ähnlichkeiten zu etwas anderem herstellt – indem ich das, was ich sehe, als etwas deute und es damit sehe, wie ich es deute. Der sinnhafte Gehalt der Wahrnehmung resultiert aus dem Prozess einer relationalen, im Verhältnis von Wahrnehmendem und Wahrgenommenem gewonnenen Sinngenese. Wahrnehmung soll hier den Organisationsprozess bezeichnen, der zwischen Wahrnehmen, dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommen abläuft. Damit ist das Wahrnehmen ein aktiver Prozess und ein Aspekt des Handelns. Der Modus des Herstellens von Ähnlichkeitsbeziehungen wird bei MerleauPonty, wie auch bei Wittgenstein, nicht als subjektive Bewusstseinsleistung beschrieben, sondern als unpersönlicher und expressiver Akt, der sich im koordinativen leiblichen Austausch zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenem vollzieht. Und in diesem Austausch wird Präsenz produziert. Der Befund, dass sich das Körperschema erst aus der interaktiven Beziehung zwischen Leib und Welt entwickelt, findet im pragmatistischen Ansatz nach George Herbert Mead vor allem mit der Unterscheidung zwischen Kontakt- und Distanzerfahrung eine ähnliche Konzeption. Merleau-Ponty und Mead teilen nicht nur die Annahme über die notwendige Koinzidenz von Wahrnehmendem und Wahrgenommenem, sondern auch die Annahme, dass der Prozess des Wahrnehmens als ein Teil des Handelns aufzufassen sei. Während bei Merleau-Ponty die pragmatische Dimension der Sozialität bei der Konstitution der Wahrnehmung mit dem Begriff der Zwischenleiblichkeit nur angedeutet ist, finden wir bei Mead Mittel, mit der wir diese pragmatische Dimension genauer berücksichtigen können. Mead versteht unter Wahrnehmung zunächst die Relation zwischen einem physiologischen Organismus und seiner Umwelt. Er führt hier das Konzept der attitudes ein, um herauszustellen, dass jede Wahrnehmung neben dem unmittelbaren physiologisch bestimmbaren Stimulus eine »attitude« (Mead 1938: 3), eine 9 | »Eine vorübergehende Frau ist für mich zunächst nicht ein körperlicher Umriß, eine bemalte Gliederpuppe, ein inszeniertes Schauspiel, sondern ›ein individueller, gefühlsmäßiger und sexueller Ausdruck‹, sie ist eine bestimmte Art, Leib (chair) zu sein, die ganz und gar in dem Gang oder auch nur in dem Klang des Absatzes auf dem Boden gegeben ist, wie die Spannung des Bogens in jeder Holzfaser gegenwärtig ist – eine sehr auffällige Abwandlung der Norm des Gehens, des Betrachtens, des Berührens, des Sprechens, die ich besitze, weil ich selbst Leib (corps) bin« (Merleau-Ponty 1984: 80, Hervorhebung i.O.).
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Einstellung der Reaktion auf diesen Stimulus beinhaltet, sowie eine »imagery« (ebd.), welche das Resultat der Reaktion antizipiert, indem sie die Reaktionen früherer Erfahrungen auf den Stimulus bezieht.10 Der Prozess des Wahrnehmens lässt sich demnach nicht auf die physiologischen Vorgänge des Körpers und auf die reine materiale Präsenz reduzieren. Distanz- und Kontakterfahrung sind in Meads Konzeption das Resultat einer intentionalen (mit Merleau-Ponty ließe sich sagen: fungierend intentionalen) Bezugnahme des Organismus auf ein entferntes Ding. Die Distanzwahrnehmung, welche vornehmlich in den Sinnesmodalitäten des Sehens, Hörens oder Riechens eines Dinges vollzogen wird, impliziert einen Standort des Organismus. Ändert sich die Position, von der aus ich ein Ding wahrnehme, so ändert sich die Perspektive, von der aus ein Ding und bestimmte Eigenschaften des Dinges wahrgenommen werden. Im taktilen Kontakt mit einem Ding hingegen werden ebendie aus Distanz wahrgenommenen Eigenschaften je nach den situativ gegebenen Verweisungszusammenhängen ausgewählt und der Kontakt mit der Materialität von Dingen, die Erfahrung ihrer materialen Präsenz, ermöglicht erst spezifische Handlungen. So kann zum Beispiel der Widerstand, der von den Dingen ausgeht, sobald sie berührt werden, als Haltung des Objekts gegenüber der eigenen Handlung antizipiert werden (ebd.: 109).11 Diese Übernahme kann weiterhin davon begleitet sein, dass der Organismus zum Teil sich selber zum Objekt wird, indem er durch die Handlungen mit einem Objekt sukzessive dazu übergeht, die potentiellen Handlungsanschlüsse an den Kontakt mit einem Objekt zu antizipieren (vgl. ebd.: 151f.). Dieser Prozess des Übergangs von der Identifikation eines Objekts zur Identifikation des eigenen Körpers kommt für Mead nur dadurch zustande, dass die Einheit des Körpers bewusst wird oder »zumindest in elementarer Weise erfahrbar« ist (Joas 1992: 266). Wichtig wird hier die Unterscheidung zwischen der Wahrnehmung des eigenen Leibs und der Identifikation einer Wahrnehmung, die vom Leib vollzogen wird. Der Körper kann nicht als Ganzes appräsentiert werden; um einen Bleistift in die Hand zu nehmen, muss ich nicht mein gesamtes Körperschema bewusst machen. Der Zugriff auf den Bleistift wird von einer unthematischen propriozeptiven Erfahrung der eigenen Hand begleitet, welcher die Interaktion zwischen meinem Organismus und den wahrgenommenen Objekte als »co-operation or conversation of attitudes« (Mead 1938: 110) vorausgeht.12 10 | Der Prozess der »imagery« kann bezogen werden auf den weiter oben diskutierten Prozess der Gestaltbildung, sofern damit, wie Mead in Mind, Self, and Society betont, das Ausfüllen einer unmittelbaren visuellen Erfahrung gemeint ist: »[…] the contours of a familiar face may be filled in by imagery, and lead to approach to the individual and the grasp of the hand, which ultimately assures us of his real existence in the present experience« (1934: 343f.). 11 | Vgl. auch Mühl (1997: 223) und Joas (1980: 153). 12 | Eine empirische Bestätigung dieses Sachverhalts lässt sich in zeitgenössischen physiologischen Forschungen finden (vgl. Berthoz/Petit 2008; Gebauer 2009).
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Die Figur der Ambiguität der leiblichen Erfahrung beinhaltet bei Mead wie auch bei Merleau-Ponty, dass mit der leiblichen Bewegung ein Raum erschlossen und hergestellt wird, dessen Form situativ und ereignishaft ist. Die Bewegungserfahrung findet mit der Raumerfahrung eine Entsprechung. Folgt man dem Grundsatz, die Erfahrung der Interaktion zwischen Akteuren eben nicht als intersubjektiv, sondern als zwischenleiblich zu beschreiben, dann ließe sich sagen – sofern die eben am reinen Handeln erläuterte Entsprechung zwischen Bewegungs- und Raumerfahrung auf soziales Handeln bezogen wird –, dass die Bewegungen zwischen Leibern einen Raum erschließen und herstellen, in welchem die (sprachlichen und/oder gestischen) Deixis, die unterschiedlichen Wahrnehmungsmodi und Bewegungen aufeinander abgestimmt und koordiniert werden, und die Bedeutung von bestimmten impliziten Konventionen erschließen. Die sensomotorische Aktivität des Leibes ist nicht nur funktional für einen Handlungsvollzug, sondern durch diese werden erst Konventionen im Handeln aktualisiert (vgl. Loenhoff 2010: 67). Beispielsweise kann das Phänomen des Zu-Nahe-Kommens, welches im Alltag oft auch übersetzt wird als Eindringen in die Privatsphäre einer Person, zeigen, dass durch den Gebrauch von Gesten ein Handlungsraum hergestellt wird, der nicht den erwartbaren impliziten Konventionen (des Einhaltens einer bestimmten Distanz etc.) entspricht und damit die implizite Dimension dieser Konventionen aktualisiert, indem die aktuelle Präsenzerfahrung auf eine allgemeine, aber eben nicht ausgesprochene Regelhaftigkeit bezogen wird. Die von Regelhaftigkeit gekennzeichneten Konventionen können nur aus der Perspektive der Handelnden als explizite Norm und als solche auch nur retrospektiv formuliert werden. Der implizit normative Gehalt von Konventionen bezieht sich im Handeln selber auf die wechselseitigen Erwartungen an die Koordinationsmodi von Deixis, Wahrnehmung und Bewegung. Das Erkennen des Konventionsbruchs ist damit höchst voraussetzungsvoll und kann eben nicht mit einem Reiz-Reaktionsmechanismus oder reinen Bewusstseinsleistungen erklärt werden13: Es benötigt zumindest eine Interaktionsbeziehung, in welcher das Ausführen einer Geste und die Reaktion darauf koordiniert werden, und ein implizites Wissen, mit welchem die Präsenz einer Geste unmittelbar erfahren und leiblich verstanden wird.14 Das leibliche Verstehen leitet sich nicht kognitiv aus der unmittelbaren Erfahrung ab, sondern im leiblichen Kontakt
13 | Dieser Punkt lässt sich mit Clifford Geertz’ bekanntem Rückgriff auf die »thick description« nach Gilbert Ryle verdeutlichen: »Man kann nicht zwinkern ohne zu wissen, was man unter Zwinkern versteht oder wie man das Augenlid bewegt« (Geertz 1987: 18). 14 | Jack Katz’ Studie Pissed off in L.A. (1999), die sich um eine Untersuchung der sinnlichen Dimension des Handelns am Beispiel des Zustandekommens von Gefühlen starken Ärgers im Straßenverkehr bemüht, kann als eine dichte Beschreibung eben dieses Zusammenhanges gelten.
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stellt sich eine »attitude of immediate experience« (Mead, Blatt 12) ein, aus der heraus leiblich verstanden wird.15 Im kooperativen Umgehen und Hantieren, in den aufeinander bezogenen Aktivitäten des Wahrnehmens und Sprechens, werden die »Verweisungszusammenhänge« einer Situation, die Bedeutungen von symbolischen Objekten und Praktiken »entdeckt« (vgl. Gurwitsch 1977: 121), was einen der Struktur einer Situation adäquaten modus operandi ermöglicht. In diesem erhalten die habitualisierten Umgangsweisen (das Wahrnehmen, das Bewegen und die sprachlichen Artikulationen) erst ihre Bedeutung und bilden als zentrale Modi der Sinngenese einen Kontext fort. Sie erhalten im pragmatischen Prozess des wechselseitigen handlungskoordinierenden Abstimmens von sprachlicher Deixis, Wahrnehmungsmodi und leiblichen Bewegungen eine bestimmte erkennbare Form und unterliegen den wechselseitigen Erwartungen an die für eine Situation typische Konvention, die aber erst in der Interaktion gemeinsam hergestellt wird und aufgrund wechselseitiger Erfahrungen von Präsenz nie voll und ganz der erwarteten Konvention entsprechen kann.16 Mit der Wahrnehmung ist jedoch auch das Vermögen verbunden, die pragmatische Bedeutung von Situationen, in denen Präsenz erfahren wurde, auf andere Situationen zu übertragen; indem nämlich implizit erkannt wird, welche Handlungsanschlüsse möglich sind, welche Konventionen und welche impliziten Regeln der Handlungskoordination nun herrschen.
15 | George Herbert Mead erläutert diesen Zusammenhang als »attitude of immediate experience« (Mead, Blatt 12), in welcher die Eigenschaften von Dingen von der Beziehung zwischen den Individuen und ihrer Umwelt abhängt, und nicht von der reinen subjektiven Perspektive: »When both [the individuals and their environment; Anm. CM] are present these characters are present, and they are present in the thing in their relationship to the individuals. They are not states of consciousness in the individuals« (ebd.). Müsste das Verstehen einer Geste rein kognitiv vollzogen werden, dann könnte sie auch nicht verletzend in der unmittelbaren Erfahrung ihrer Präsenz wirken. Es bedarf der Interaktion zweier Akteure und einem impliziten Wissen, auf dessen Grundlage die Präsenzerfahrung auf allgemeine Konventionen bezogen wird. 16 | Deswegen ist wahrscheinlich oft die implizit normative Verpflichtung, sich zu präsentieren, einer dauernden Gefährdung ausgesetzt – und dies gilt auch für Personen, die sich scheinbar nicht präsentieren. Für Erving Goffman besteht »die Möglichkeit, sowenig wie möglich an Information über sich selbst zu geben – obwohl diese dann auch noch beträchtlich sind – darin, dazuzupassen und zu agieren, wie man es vom Gegenüber erwarten kann und erwarten wird« (1971: 43).
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VI. D AS V ERHÄLTNIS VON AK TUELLER P R ÄSENZ UND W AHRNEHMUNGS - UND H ANDLUNGSSCHEMATA Mit dem Wahrnehmen der leiblichen Präsenz von alter wird die durch Prosodie, Gestik und Mimik individuierte Bedeutung der Ausdrücke, Gesten und Bewegungen nicht einfach registriert; sie wird selber individuiert, und zwar durch das praktische Erfassen des Unterschieds zwischen der individuellen Präsenz und dem allgemein Verständlichen.17 Das Erfassen dieses Unterschieds entscheidet über die nachfolgende Selektion möglicher Handlungsanschlüsse und über das Wissen, wie ich mich praktisch auf das Verhalten alters beziehen kann. Diese Bezugnahme erfolgt nicht, indem kognitiv-passiv eine Identitätsbeziehung, sondern indem perzeptiv-aktiv eine Ähnlichkeitsbeziehung zum Wahrgenommenen hergestellt wird (der Gegenstand wird eben nicht klassifiziert, sondern interpretiert). Deshalb macht es auch keinen Sinn, davon zu sprechen, dass innerlich Repräsentationen des Wahrgenommenen konstituiert werden, wie es beispielsweise Jean Piaget hervorhebt. Von Piaget können wir dennoch die instruktive Einsicht in die Fähigkeit, Handlungsschemata an die Umwelt und gleichzeitig bestimmte Gegenstände der Umwelt an Handlungsschemata anzupassen, gewinnen. Nach Piaget ist ein Objekt immer gleichzeitig an ein Handlungsschema und an Gegenstände assimiliert, auf die das Schema schon angewendet wurde. Jede äußere Bewegung und Position wirkt aber auch auf die eigenen Bewegungen und den eigenen Gesichtspunkt zurück. Die Veränderung eigener Bewegungen und des eigenen Gesichtspunktes je nach Bewegungen und Position eines Gegenstands, mit dem ein Kontakt besteht, führen laut Piaget zur Akkommodation, also zur Veränderung, Stabilisierung oder Schaffung eines Schemas. Für unseren Zusammenhang ist hier weniger die Entwicklung kognitiver Strukturen interessant als die Art und Weise, wie Personen aktuelle Gegebenheiten an frühere Gegebenheiten und an ihre Handlungsschemata anpassen. Piaget nennt an einer Stelle die Transduktion als eine Form des Schlussfolgerns, die er eigentlich für eine in der präoperationalen Phase des 2-4-jährigen Kindes typische Form des Schlussfolgerns reserviert, die sich dadurch auszeichnet, dass sie noch keine ausgereiften kognitiven Strukturen zur Grundlage hat, welche es erlauben, formale Denkoperationen durchzuführen (1969: 350). Auch wenn diese Art des Schlussfolgerns, solange wir streng vom Modell der Intelligenzentwicklung bei Piaget ausgehen, kennzeichnend ist für eine noch nicht ausgereifte Intelligenz, denke ich, dass sie instruktiv für die Art und Weise ist, wie Personen über unmittelbare Analogien Handlungsanschlüsse herstellen. Hinweise dafür finden wir beispielsweise in der Verwendung von Metaphern, Metonymien, Redewendungen und Ausdrücken, mit denen handlungsleitende Modelle veranschaulicht oder konkrete Handlungen in 17 | Die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung für dieses hermeneutische Problem ist ein zentraler Ausgangspunkt für Georg Simmels immer noch wenig beachteten »Exkurs über die Soziologie der Sinne« (1993; vgl. dazu Fischer 2002; Loenhoff 2002; Mautz 2011).
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abstraktere Handlungszusammenhänge übersetzt werden sollen.18 Die Analysen des kabylischen Hauses von Pierre Bourdieu (1987: 468ff.) oder des Achuar-Hauses von Phillipe Descola (2011a: 56ff.) zeigen, dass die Akteure zwar dazu befähigt sind, Explikationen über das Verhältnis von mythischer Struktur und Praxis zu äußern, jedoch in einer Form, die nur scheinbar der expliziten Formulierung vorherrschender Modelle folgt. Charakteristisch ist hierfür eher, dass die Akteure die symbolischen Elemente von bestimmten Semantiken als paradigmatischen Fall auf die Gebrauchsbedeutung von Gegenständen beziehen. Dieser Bezug geschieht nicht auf der Grundlage von strukturellen Homologien, die im Handeln erkannt werden, sondern auf der Grundlage praktischer Äquivalenz, d.h. auf der Grundlage der pragmatisch hinreichenden Ähnlichkeit und Kohärenz zwischen Gegebenheiten in situ und früheren Gegebenheiten. Mit der Betonung früherer Erfahrungen verweise ich darauf, dass die Bedeutung der materialen Präsenz nicht aus sich selber heraus verstanden werden sollte. Ein Seitenblick auf die Architektur zeigt, dass sie zwar durch bestimmte Anordnung von Raumelementen bestimmte Handlungen erst ermöglicht, indem durch die Manipulation der materialen Räumlichkeit von Handlungsfeldern der Horizont von Handlungsmöglichkeiten ko-konstituiert wird. Die Art und Weise jedoch, wie in und mit der Architektur umgegangen wird, basiert darauf, wie die jeweiligen Akteure ihre früheren Erfahrungen von Räumlichkeit auf die aktuell vorliegende räumliche Gegebenheit beziehen, und zwar durch einen individuellen Stil und einen kollektiven Gebrauch, der mit dem Stil ausgeführt wird (vgl. z.B. De Certeau 1988: 192f.). So zeigen Pierre Bourdieu und Abdelmalek Sayad in ihren Studien zu den Umsiedlungslagern in Algerien, dass und wie Akteure dazu befähigt sind, ihr implizites Wissen via Habitus an gegenwärtige räumliche Gegebenheiten zu assimilieren und die Bedeutung dieser räumlichen Gegebenheiten zu akkommodieren (vgl. 1964; vgl. dazu Mautz 2012). Die Spezifik der Adaptation zwischen den Akteuren und der Architektur ist jedoch auch davon abhängig, mit welchem Habitus in den jeweiligen Handlungen die materiale Präsenz der Architektur wahrgenommen wird; oder um mit Mead zu sprechen: mit welcher Einstellung und aufgrund welchen Standpunktes die Akteure ihre Wahrnehmungen und Bewegungen koordinieren, praktisch organisieren und in den Kontext der spezifischen Situa18 | Wie Bourdieu schreibt, ist die Metapher »nur ein Resultat unter anderen jener Übertragungen von Schemata […], die durch Anwendung praktischer Wahrnehmungs- und Handlungsschemata auf neuartige Bereiche neue Bedeutungen hervorbringen« (1979: 169). Die Rolle des Analogieschlusses im Habituskonzept wird von Bernard Lahire und Joachim Renn hervorgehoben (vgl. Lahire 2011: 66f.; Renn 2004: 439; Renn 2006: 308f.). Philippe Descola vertieft diesen Gedanken über die Bedeutung des analogen Schlussfolgerns für die Adaptation zwischen praktischen Schemata an gegebene Situationen im Anschluss an kultur- und sozialanthropologische Forschungen auf eine theoretisch höchst interessante Weise (vgl. 2011b: 169ff.), und weist dabei auf Piagets Untersuchungen zur Anpassung hin (vgl. ebd.: 172, Fn. 33).
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tion integrieren. Wie die Akteure mit der Architektur aufgrund ihrer materialen Präsenz umgehen – ob sie beispielsweise die von der Architektur vorgesehenen begradigten Wege gehen, oder nicht – hängt davon ab, wie die gegebenen Möglichkeiten für Wahrnehmungen und Bewegungen mit den habituell instruierten sensomotorischen Leistungen der Akteure korrespondieren und wie bzw. ob die Gegebenheiten Abweichungen erlauben oder nicht.19 Indem die Präsenz der aktuellen Situation möglicherweise an die Handlungsschemata akkommodiert wird, werden die früheren Erfahrungen erweitert, die dann, je nach Situation und den dazu praktisch kohärenten Wahrnehmungs- und Handlungsschemata, wiederum Gegebenheiten in situ anpassen. Typisierungen und Generalisierungen der Praxisformen werden dabei sukzessive transformiert, weil sie erstens keine vollständige Bedeutungseinheit bilden, sondern selber von der Situation und dem pragmatischen Kontext dieser Situation abhängen, und weil sie zweitens von Situation zu Situation mit neuen Bedeutungshorizonten konfrontiert werden, mit denen sie in praktischen Einklang gebracht werden müssen. Diese Transformation wird aber von den Akteuren nicht explizit wahrgenommen, weil sonst wahrscheinlich die Handlungssicherheit zu sehr in Frage gestellt würde. Trotzdem muss sich das implizite Wissen mit dem Erschließen neuer Bedeutungshorizonte graduell ändern und an neue Bedingungen anpassen.
VII. S CHLUSSBEMERKUNGEN Sich Präsenzphänomenen methodisch zu nähern, heißt auch, sich des Problems zu vergewissern, dass wir, sobald wir Handlungen interpretieren, es stets mit schon abgeschlossenen, in der Vergangenheit liegenden Handlungen zu tun haben (vgl. Soeffner 1989: 73). Sowohl Texte als auch Bilder sind Produkte von abgeschlossenen Handlungen. Dies schließt, wenn wir den Unterschied zwischen implizitem und explizitem Wissen ins Spiel bringen, den Unterschied zwischen der impliziten Erfahrung von Präsenz und der diskursiven Bezugnahme auf diese 19 | Sind die Asymmetrien zwischen Individuen und ihrer Umwelt so hoch, dass die Individuen keine Möglichkeit haben, als Akteure der Handlungskoordination das Handlungsfeld mitzugestalten, können, wie es Untersuchungen zur Folter zeigen, die sensomotorischen Prozesse nur auf den eigenen Leib gerichtet sein (vgl. Scarry 1985). Die Koordination von sprachlicher Deixis, Wahrnehmen und Bewegen findet nicht mehr wechselseitig statt, sondern fällt in den äußerst verfremdenden Bereich der Ohnmacht, weil die Folterer den Gefolterten jegliche Möglichkeit eines auf Verständigung basierenden Handlungsanschlusses, und somit seine agency und Verantwortlichkeit entziehen. Das Phänomen der Folter ist hier auch deshalb interessant, weil es impliziert, dass die Differenz zwischen Präsenzerfahrung und allgemeinen Schemata aufgehoben ist. Ob das Phänomen der Folter als eine reine Präsenzerfahrung zu bezeichnen ist, können nur weitergehende Untersuchungen zeigen.
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Erfahrung mit ein. Wenn wir aber mit den genannten Gründen behaupten, dass diese Prozesse ein aktiver Teil des Handelns selbst und Teil der Konstitution des Sinns von Handlungen sind, dann müssen wir sie in die Analyse mit einbeziehen – auch wenn es schwer oder gar unmöglich erscheint, über die Prozesse des Wahrnehmens und des impliziten Wissens zu sprechen, wenn diese doch so schwer greifbar oder kaum sichtbar sind.20 Bennetta Jules-Rosette (1976) zeigt am Beispiel der Ethnographie des Rituals Sabbath Kerek die multiplen Darstellungen sozialer Situationen und damit die Multimodalität des Präsenzfeldes einer sozialen Situation, welches die Ethnographin im Fall teilnehmender Beobachtung mit den indigenen RitualteilnehmerInnen teilt. An diesem Beispiel kann deutlich werden, dass visuelle und audiovisuelle Aufzeichnungsverfahren eine Möglichkeit bieten, die Multimodalität des Präsenzfeldes so zu untersuchen, dass die Perspektive des Darstellenden als wesentlicher Part des Handelns in die Analyse einbezogen, und nicht nur methodologisch vorausgesetzt wird. Zum anderen kann auch deutlich werden, dass die Erfahrung von Präsenz keine von Sozialität und von den eingespielten Handlungsroutinen einer performativen Kultur unabhängige Angelegenheit ist, sondern von der interaktiven, durch das implizite Wissen instruierten Abstimmung des leiblichen Handelns abhängt. Präsenz von Dingen und Anderen besteht nicht für sich, sondern nur über die in einer alltäglichen Praxis eingespielte Art leiblicher Wahrnehmung. Sofern es die Bedingungen einer Situation zulassen, kann eine starke Differenz zwischen aktueller Präsenz und früheren Erfahrungen durch eine zwar erzwungene, dennoch aber kreative Adaptation kompensiert werden, welche zu einer Modifikation impliziten Wissens führt. Die skizzierten Grundlagen erlauben es, die Interdependenz von Präsenzerfahrung und implizitem Wissen in einer Weise zu betrachten, die sich erfahrungsoffen gegenüber den Implikationen der kulturwissenschaftlichen Präsenzdebatte zeigt. Erfahrungsoffenheit heißt auch, dass bestimmte Vorverständnisse über soziales Handeln unter Umständen korrigiert und erweitert werden, zum Beispiel um die leibliche Dimension sozialen Handelns. Sie erlauben es zudem, Untersuchungen über Phänomene sogenannter interkultureller Fremderfahrung und Probleme des Kulturvergleichs (vgl. Renn 2007; Srubar/Renn/Wenzel 2005) insofern zu schärfen, als gesehen werden kann, wie kommunikative Probleme von gesellschaftlichen Transformationsprozessen auf der Ebene der Interaktion und der Vergemeinschaftung durch den impliziten Umgang mit Präsenz entstehen.
20 | Beispiele finden sich bei Goodwin (2006), Norris (2004), Streeck/Merhus (2005). Auf der Grundlage der Präsenzerfahrung im Wahrnehmen und des durch implizites Wissen instruierten pragmatischen Umgangs mit materialer Präsenz im Handeln können beispielsweise auch die spezifischen Präsentifikationsmodi von Bildern erklärt werden (vgl. dazu Bosch/Mautz 2012).
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Amerikanistik
Präsenz, implizites Wissen und Fremdheit 1 aus kulturwissenschaftlicher Perspektive Klaus Lösch und Heike Paul
I. E INLEITUNG Die folgenden Ausführungen beleuchten die Interdependenz von Präsenz und implizitem Wissen unter dem Aspekt der Fremdheit. Präsenz wird dabei erstens als Erfahrung, zweitens als Diskursivierung und drittens als Inszenierung in den Blick genommen und hinsichtlich ihrer kulturspezifischen Merkmale und Bedingtheiten untersucht. Die Explikation der dazu formulierten Thesen erfolgt anhand von Beispielen aus den USA; viele der von uns beschriebenen Phänomene lassen sich jedoch, in je spezifischen Ausformungen, auch in anderen kulturellen Kontexten beobachten.2 Die forschungsleitende These lautet, dass Präsenz stets als an Fremdheit gekoppelt zu denken ist. Da eine Interdependenz von Präsenz und implizitem Wissen angenommen wird, strukturiert das implizite Wissen auch den Umgang mit dem Fremden vor; zudem wird es in Erfahrungen, Diskursivierungen und Inszenierungen von Präsenz partiell expliziert. Eine Untersuchung solcher (Vor)Strukturierung anhand von kulturellen Praktiken und medialen Thematisierungen vermag Aufschluss zu geben über den kulturspezifischen Umgang mit dem Fremden und seine Funktionen und Effekte für die Stabilisierung der symbolischen (und sozialen) Ordnung. Derartige Strukturierungen sind relevant für die Aushandlung und Aktualisierung von individuellen und kollektiven Identitätsentwürfen, für Prozesse der Selbstverständigung, Sinnstiftung und Kontingenzbewältigung sowie für die Affirmation von oder Kritik an bestehenden Machtverhältnissen.
1 | Dank an Stephen Kötzing für hilfreiche Anmerkungen und sorgfältiges Bibliographieren. 2 | Ein Desiderat sind daher kulturvergleichende Untersuchungen; dabei wären vielfältige Prozesse kultureller Mobilität und kulturellen Transfers sowie ggf. die kulturelle Hybridisierung zu berücksichtigen. Vgl. hierzu die Arbeiten von Appadurai (1996), Hannerz (1996), Lash/Lury (2007) und Nederveen Pieterse (2009).
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Die Begriffe Präsenz und Fremdheit sind Schlüsselbegriffe derzeitiger geisteswissenschaftlicher Forschung und daher Gegenstand unzähliger Forschungsarbeiten, die hier nicht im Einzelnen dargestellt werden können. Implizites Wissen entwickelt sich derzeit ebenfalls zu einem wichtigen Konzept, zu dem zahlreiche, auch neuere Publikationen aus unterschiedlichen Disziplinen vorliegen.3 Wir werden daher die Begriffe zunächst kurz im Sinne einer Arbeitsdefinition bestimmen und zueinander in Beziehung setzen, um sie dann in ihrer wechselseitigen Verknüpfung für die kulturraumspezifische Forschung zu operationalisieren. Dieser Vorschlag zur Operationalisierung führt zu einer vierstufigen Typologie der Korrelation von Präsenz und Fremdheit (interkulturell, intrakulturell, interpersonal, intrapersonal), die am Ende des ersten Teils erarbeitet wird. Für jeden Typus wird im Anschluss ein Gegenstandsbereich aus der US-amerikanischen (Populär-)Kultur umrissen; einzelne relevante Phänomene werden exemplarisch analysiert. Auf Typologie und case studies folgt ein abschließendes Fazit. Die Ausführungen stehen im Kontext eines größeren wissenschaftlichen Projekts, das hier lediglich als Programm bzw. Desiderat skizziert werden kann.
II. P R ÄSENZ , IMPLIZITES W ISSEN UND F REMDHEIT : B EGRIFFSBESTIMMUNG UND T YPOLOGIE Die Arbeitsdefinition des Leitbegriffs Präsenz nimmt ihren Ausgang von der in der Einleitung formulierten Bestimmung: In der etymologischen und ideengeschichtlichen Perspektive wird Präsenz als eine Einheit von räumlichem und zeitlichem Zugegensein beschrieben. Präsenz ist durch eine jederzeit mögliche, aber nicht-reflexiv durchdrungene Verfügbarkeit und durch eine hervorgehobene, aber in der Sprache nicht direkt kommunikativ adressierbare Auffälligkeit gekennzeichnet. (s. Einleitung 11)
Präsenz wird hier verstanden als (akzidentelle) zeitliche und räumliche Gegenwart und Unmittelbarkeit, aber auch als ›inszenierte Präsenz‹ im Sinne einer Präsentifikation, d.h. als ein geplantes präsentatives In-Szene-Setzen und Zur-Schau-Stellen. Die theoretischen Ansätze zu Präsenz lassen sich holzschnittartig in zwei Gruppen einteilen: Auf der einen Seite stehen diejenigen Ansätze, in denen eine Transzendenz der Präsenzerfahrung postuliert und affirmiert wird – unter diesen sind prominent die Schriften Hans Ulrich Gumbrechts zu nennen, der mit seinen Büchern 3 | Hier eine Auswahl einschlägiger und im folgenden relevanter Arbeiten zu Präsenz, Fremdheit und implizitem Wissen: Zu Präsenz Benjamin (1976), Baschera/Bucher (2008), Gumbrecht (2004), Kiening (2007), Mersch (2002); zu Fremdheit Dreher/Stegmaier (2007), Waldenfels (1990, 1997, 2006), Wierlacher (1993), Wierlacher/Albrecht (2003); zu implizitem Wissen Collins (2010), Polanyi (1958, 1966, 1969), Shotwell (2011).
Präsenz, implizites Wissen und Fremdheit aus kulturwissenschaftlicher Perspektive
Diesseits der Hermeneutik (2004) und Präsenz (2012) die Diskussion um die Präsenz in einem post-konstruktivistischen (oder auch prä-konstruktivistischen) Paradigma maßgeblich wiederbelebt hat. Gumbrechts Interesse an Präsenz speist sich aus der Sorge um die geisteswissenschaftliche, insbesondere die literaturwissenschaftliche Forschung und Lehre, und so schlägt er eine Neukonzeption vor, die auf ästhetische Erfahrungen als »Momente[n] der Intensität« fokussiert (2004: 118). In der starken Variante wird dabei ein quasi prä-semiotischer Zugang zur Wirklichkeit behauptet, dem eine gleichsam epiphanische Qualität zukommt und der durch Zeichensysteme auch ex post nicht restlos repräsentierbar ist. Gumbrecht prononciert die Unvermitteltheit der Präsenzerfahrung so stark, dass er eine Unterscheidung von Präsenzkulturen und Sinnkulturen postuliert (ebd.: 113). Auf der anderen Seite, in Abgrenzung und teilweise in zeitlicher Vorgängigkeit zu Gumbrecht, finden sich Ansätze, in denen die Möglichkeit solcher Präsenzerfahrungen entweder grundsätzlich negiert oder zumindest ihre diskursive Produktion und mediale Vermitteltheit betont wird. In poststrukturalistischer Perspektive ist die Präsenz stets als eine retrospektiv konstruierte zu verstehen, da die Präsenz nur als Spur, d.h. letztlich in ihrer Absenz rekonstruierbar ist: »[D]ie Präsenz eines Elementes ist stets eine bezeichnende und stellvertretende Referenz, die in einem System von Differenzen und in der Bewegung einer Kette eingeschrieben ist« (Derrida 1972: 440). Der Forschungsansatz dieses Bandes rückt im Rückgriff auf die dekonstruktivistische Perspektive die kulturell divergenten Formen und Funktionen der Diskursivierung von Präsenz in den Mittelpunkt des Interesses. Präsenz wird dabei als ein Phänomen verstanden, dessen »Imagination, Narration und Reflexion immer erst ›danach‹ möglich ist und das sich in diesen ›Übersetzungen‹ als mehr oder weniger deutliche, jedoch nur gewaltsam völlig verwischbare Alteritätsspur präsent hält« (Sparn 2010: 323f.). Präsenz wird hier nicht in einem exklusiv repräsentationslogischen Zusammenhang betrachtet, sondern als heuristischer Referenzbegriff für eine Vielzahl von Diskursen zu Präsenzphänomenen und Präsenzerfahrungen verwendet, d.h. der Referenzbereich des Begriffs umfasst individuelle und kollektive Erfahrungen sowie Diskursivierungen und auch Inszenierungen, wobei diese Kategorien (Erfahrung, Diskursivierung, Inszenierung) jeweils voneinander abgegrenzt werden. Im Sinne des Sozialkonstruktivismus ist auch die individuelle Präsenzerfahrung nur als eine gedeutete und zumindest partiell semiotisch codierte zugänglich (vgl. Berger/Luckmann 1969). Präsenz ist somit nicht »das Andere jedes Zeichenprozesses« (Sparn 2010: 324). Die sozialkonstruktivistische Perspektive führt vielmehr zu einer Neuakzentuierung des Präsenzdiskurses, wie er in den letzten Jahren von Hans Ulrich Gumbrecht geprägt wurde (vgl. Gumbrecht 2005). Die Betrachtung der semiotischen (Vor)Strukturierung von Präsenzdiskursen ergänzt die aktuelle Diskussion durch die Einbeziehung der kulturellen Codierung bzw. der kulturellen Aspektierung jeglicher Präsenzerfahrung in die wissenschaftliche Analyse. Im Hinblick auf die mediale Vermittlung der individuellen Erfahrung von Präsenz wird die Präsenzerfahrung über narrative Muster und andere Formen der
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Diskursivierung sozial verfügbar gemacht. Diese kulturell etablierten scripts (wobei hier nicht nur Narrative gemeint sind, sondern ebenfalls kulturelle Praktiken und visuelle Formen) machen den herausgehobenen Moment der Präsenz intelligibel und verfestigen dadurch die individuelle Erfahrung zu einer sozial anerkannten Präsenzerfahrung; sie wird gleichsam von einer Erfahrung der Singularität zu einer Erfahrung der Sozialität. Die Inszenierung von Präsenzerfahrungen wiederum rekurriert auf das Archiv der Diskursivierungen und versucht, die Erfahrung der Präsenz gezielt zu reproduzieren. Allgemein wird der Aufweis des Inszenierungscharakters hier nicht als ›Entwertung‹ oder ›Entlarvung‹ begriffen, und die Inszenierung nicht einer vermeintlich ›authentische(re)n‹ Präsenzerfahrung gegenüber gestellt, sondern als Fokussierung eines Aspektes von Präsenz (auch im Hinblick auf die Performativität der Inszenierung), der mehr oder weniger augenfällig auch allen Diskursivierungen von Präsenz im Sinne eines scripts eingeschrieben ist. Fremdheit steht in den gängigen Thematisierungen von Präsenz nicht im Zentrum, obwohl Präsenz nicht von Fremdheit ablösbar ist. Zugespitzt ließe sich behaupten, Fremdheit sei auf der Erfahrungsebene gleichsam konstitutiv für Präsenz, da selbst bei (herausgehobenen) Präsenzerfahrungen, in denen die Subjekt-ObjektGrenze ins Schwimmen gerät, wie etwa bei dem von Freud im Anschluss an Romain Rolland diskutierten »ozeanischen Gefühl« (2000: 204), die Differenz zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenem nicht restlos suspendiert wird und damit die Referenz auf Fremdes bestehen bleibt. Unter der Maßgabe, dass eine reine Selbstpräsenz nicht möglich ist, ruht jede Art von Präsenzerfahrung auf einer Bezugnahme auf Fremdes (vgl. Waldenfels 2006: 117f.). Die Referenz auf das Fremde ist auch bei Diskursivierungen von Präsenz – und dies schließt den Fall der diskursiven Produktion von Präsenz ein – unumgänglich, schließlich ist die Differenz zwischen Eigenem und Fremdem die fundamentale Differenzsetzung in allen Sinnstiftungs- und Selbstverständigungsdiskursen. Die entscheidende Frage ist, wie in Präsenzerfahrungen und ihren Diskursivierungen Fremdheit nicht nur thematisiert bzw. evoziert, sondern auch bearbeitet wird. In diesem Sinne gilt es zu rekonstruieren, ob und unter welchen Bedingungen das Fremdheitsverhältnis eine Reduzierung oder einer Steigerung erfährt und welche Rolle implizite Wissensbestände in dieser Bearbeitung spielen. Im Rückgriff auf Ansätze der Fremdheitsforschung, insbesondere auf die Arbeiten von Bernhard Waldenfels, lässt sich Fremdheit als konstitutiv für das Selbst und damit auch unabdingbar für die Konstruktion eines Selbstbildes und Selbstverständnisses, mit einem Wort, der Identität, bestimmen. Eigenes und Fremdes konstituieren sich im Vorgang einer Ein- und Ausgrenzung, das Eigene geht dem Fremden also zeitlich nicht voraus, da es erst mit ihm konstituiert wird (ebd.: 115f.). Die geläufige Vorstellung eines ›reinen‹ Eigenen (inklusive einer ›reinen‹ Selbstpräsenz) erweist sich so als Fiktion, eine gleichsam notwendige Fiktion allerdings, ohne die keine lebensweltliche Orientierungssicherheit gewährleistet
Präsenz, implizites Wissen und Fremdheit aus kulturwissenschaftlicher Perspektive
wäre. Die fundamentale Rolle des Fremden für die Konstruktion und die Stabilisierung des kollektiven Selbstverständnisses macht ›Fremdheit‹ in der Tat zu einem, wenn nicht zu dem zentralen Thema jeder Kultur (vgl. Wierlacher 1993; Wierlacher/Albrecht 2003). Entsprechend treten Phänomene der Fremdheit keineswegs nur auf der interkulturellen Ebene auf, sondern auch auf der intrakulturellen, etwa zwischen den durch Differenzmarkierungen wie Ethnizität, Geschlecht, Klasse, Alter usw. konstruierten soziokulturellen Gruppen und Milieus einer Gesellschaft, darüber hinaus auch auf der interpersonalen Ebene in individuellen Beziehungen sowie auf der intrapersonalen Ebene, etwa entlang der zeitlichen Achse der Lebensgeschichte oder in (psychischen) Krisensituationen. Das Fremde bzw. die Erfahrung des Fremden ruft je nach Kontext ambivalente Reaktionen hervor, es erscheint mal verlockend, mal bedrohlich – und häufig beides zugleich. Dieses Fremde, das in Präsenzerfahrungen als Unvertrautes, Unheimliches oder auch als Widerständiges erscheint, als etwas, das gleichsam jenseits der eigenen Sinnkonstruktionen und des eigenen Verstehenshorizontes zu existieren scheint, verlangt nach einer Bearbeitung, um sein destabilisierendes Potenzial für die Identitätsund Sinnkonstruktion zu ›bändigen‹. Für die Betrachtung des Zusammenhangs von Präsenz und Fremdheit bietet sich das implizite Wissen gleichsam als Gelenkstelle an, und zwar auf zwei Ebenen: Zum einen ist im Sinne von Waldenfels die Fremderfahrung als Präsenzerfahrung zu verstehen, wenngleich diese als Präsenz der Absenz und somit als Leerstelle in Erscheinung tritt, weil das Fremde in der Fremderfahrung uneinholbar abwesend bzw. nicht erreichbar und damit dem Bewusstsein nur in einem impliziten Modus gegeben ist. Zum anderen kann das Fremde auch nur implizit ›verstanden‹ werden, und in diesem Sinne stellt das implizite Wissen ein Wissensregister zur Verfügung, das die Bewältigung der von der Fremdheitserfahrung hervorgerufenen affektiven und kognitiven Dissonanzen im Sinne von Kohärenzbildung ermöglicht. Mit Bezug auf Michael Polanyi nennt Harry Collins das implizite Wissen »knowledge that is not explicated« (2010: 1). Implizites Wissen wird als »heuristischer Sammelbegriff für eine Seins- und Erscheinungsweise von Wissen« (vgl. Einleitung 12) begriffen, welches nicht formalisierbar und nicht vollständig explizierbar ist, überwiegend dem Bereich des Intuitiven zuzuordnen und auch als Handlungswissen zu verstehen ist. Collins unterscheidet eine »three-way classification of tacit knowledge – relational, somatic, and collective« (ebd.: 3). Entsprechend kommen implizite Wissensbestände in Beziehungen aller Art (innerhalb von Familienkonstellationen, Paarbeziehungen etc.) in einer ›schwachen‹ Form zum Tragen – schwach daher, weil sie lediglich aus pragmatischen Gründen implizit gehalten werden, aber, bei Bedarf, für Außenstehende weitgehend explizierbar sind. »Somatic tacit knowledge« bezeichnet das sogenannte Körperwissen, das im alltäglichen Lebensvollzug unabdingbar ist, in der Regel aber einer rationalen Explikation unverfügbar bleibt. Die stärkste Form des impliziten Wissens verortet Collins im Bereich des Kollektiven, denn hier ist die Gesellschaft Träger des impli-
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ziten Wissens: »[S]trong tacit knowledge is a property of society rather than the individual. The individual, being a parasite on society, can learn it, however« (ebd.: 11). Für unseren Zusammenhang ist an Collins’ Definition die Hypostasierung eines kollektiven Subjekts jenseits der die Gesellschaft formierenden Individuen problematisch. Zudem vernachlässigt die generalisierende Rede von der Gesellschaft die Kulturspezifik der jeweiligen sozialen Formationen und damit den in unserem Zusammenhang prononcierten Aspekt. Trotz dieser Einschränkungen werden Collins’ Unterscheidungen des impliziten Wissens (relational, somatic, collective) im Folgenden auch für unsere Korrelation von Präsenz und Fremdheit relevant sein.4 Das implizite Wissen kann, in der starken Variante, als Bedingung der Möglichkeit für Präsenzerfahrungen betrachtet werden, in abgeschwächter Form ist es zumindest als eine Vorstrukturierung solcher Erfahrungen zu begreifen. Dabei sind die Übergänge zwischen implizitem und explizitem Wissen nicht klar zu identifizieren und weitgehend durchlässig (Polanyi 1969): Präsenzphänomene rekurrieren auf das implizite Wissen und explizieren es zugleich partiell. Nun lässt sich die eingangs formulierte These zum Konnex von Präsenz, Fremdheit und implizitem Wissen noch einmal im Hinblick auf die Funktion der kulturspezifischen Semiotisierung, Diskursivierung und Inszenierung von Präsenz konkretisieren: Diese liegt in der Bearbeitung von Fremdheit, genauer: im Versuch, im Rückgriff auf implizites Wissen Fremdheitserfahrungen zu bewältigen. Die Intention dahinter mag sein, die Fremdheit zu tilgen oder sie zu affirmieren. Gleichwohl wird in beiden Fällen (und vielen Mischformen die auf einer Skala von Tilgung bis Affirmation zu betrachten sind) die Widerspruchsfreiheit der eigenen symbolischen Ordnung im Sinne einer closure hergestellt. Um die Funktion und Wirkungsweise der Präsenz in den verschiedenen Aspekten zu analysieren, kann die Beziehung von Fremdheit und Präsenz heuristisch gesehen auf verschiedenen Ebenen angesiedelt werden: Präsenz erscheint dann (1.) als eine interkulturelle, d.h. als Präsenzerfahrung im Kulturkontakt und in kulturellen Kontaktzonen, (2.) als eine intrakulturelle, d.h. als Präsenzerfahrung im Kontakt unterschiedlicher sozialer Gruppen, bestimmt durch race-, gender-, classoder age-Differenzen – um nur einige zu nennen –, (3.) als eine interpersonale, d.h. als Präsenzerfahrung in der Interaktion von Individuen, beispielsweise in dyadischen Beziehungen, und (4.) als eine intrapersonale, d.h. als Präsenzerfahrung im Sinne einer verinnerlichten Konversionserfahrung, einer zeitlich erlebten Fremdheit des ›vorher‹ und ›nachher‹ (zur Typologie vgl. Lösch 2012 nach Waldenfels 2006: 120). Jedes dieser Momente einer spezifischen Kopplung von Präsenz- und Fremdheitsdiskursen bedarf gesonderter Betrachtung. Die Typologie ist als ideal4 | Eine ähnliche, wenngleich vierstufige Typologie des impliziten Wissens findet sich bei Shotwell, die zwischen »practical, skill-based knowledge; somatic or bodily knowing; potentially propositional but currently implicit knowledge; and affective or emotional understanding« unterscheidet (2011: xi).
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typisch zu verstehen, bei konkreten Fallanalysen ist also mit Überlagerungen von zwei oder mehreren dieser Ebenen (beispielsweise der interkulturellen und der interpersonalen Fremdheitsproblematik) zu rechnen. Für jeden Typus wird im Folgenden ein Gegenstandsbereich vorgestellt, in dem Fremdheit auf den Ebenen der Erfahrung, Diskursivierung und Inszenierung von Präsenz in rituellen Praktiken, in (z.T. formelhaften) Narrationen oder in visuellen Darstellungen thematisiert und bearbeitet wird.
III. P R ÄSENZ UND I NTERKULTURELLE F REMDHEIT : »THE S PECTACLE OF THE O THER « »The Spectacle of the Other«, wie dieser Abschnitt in Anlehnung an Stuart Hall überschrieben ist (1997: 223), thematisiert inszenierte Präsenzerfahrungen mit dem kulturell Fremden, von denen sich sowohl in der Historie als auch in der Gegenwart unzählige finden lassen. Darunter fallen einerseits kommerzielle und nicht-kommerzielle Zurschaustellungen fremder Menschen und fremder kultureller Praktiken auf Weltausstellungen, in ethnologischen Museen, bei Revuen, in theme parks, bei spirituellen Workshops oder im Zuge des sogenannten Ethnotourismus. Andererseits sind auch rituell inszenierte Selbstpräsentationen ethnischer Gruppen wie beispielsweise am St. Patrick’s Day, bei der Steuben-Parade, dem día de la raza, den pow wow dances und allgemein Auftritte im Rahmen von Kulturfestivals dazuzurechnen, auch wenn die Motivation für diese Inszenierungen anders gelagert sein dürfte als bei den erstgenannten Formen. In postmodernen Zeiten ist freilich zu berücksichtigen, dass solche Inszenierungen in manchen Fällen ironisch überhöht und parodistisch intendiert sein mögen und auf eine Dekonstruktion etablierter Differenzmarkierungen abzielen. Beispiele dafür wären etwa die dekonstruktiven Performances von Guillermo Gómez-Peña und Coco Fusco (vgl. Thompson 1998). Trotz divergenter Intention ist allen diesen Formen gemeinsam, dass sie dem Zuschauer eine Präsenzerfahrung mit dem authentischen Fremden in Aussicht stellen bzw. eine entsprechende Rezeptionshaltung evozieren, und die Nachfrage belegt eindrücklich die verbreitete Sehnsucht nach solchen Erfahrungen. Im Folgenden werden kurz ein historisches und ein zeitgenössisches Beispiel für diesen Typus interkultureller Fremdheit skizziert. Die World’s Columbian Exposition 1893 in Chicago, deren kulturgeschichtliche und auch politische Bedeutung für die USA enorm war, bietet reiches Anschauungsmaterial für unsere Fragestellung, auch und gerade im Hinblick auf die Kommodifizierung des Fremden in solchen Inszenierungen.5 Das Ausstellungsgelände der Weltausstellung in Chicago zum Anlass der 400-Jahr Feier der ›Ent5 | Die Ausstellung stellte viele neue Rekorde auf, sie wurde im Zeitraum Mai bis September 1893 von rund 20 Millionen Menschen aus den USA und Europa besucht. Zum Vergleich: die damalige Bevölkerung der USA belief sich auf 67 Millionen Einwohner.
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deckung Amerikas‹ war in zwei Bereiche aufgeteilt: den great court of honor mit seinen zahlreichen klassizistischen Prestige(nach)bauten – aufgrund der exzessiven Verwendung von weißem Stuck und der besonders intensiven Beleuchtung auch white city genannt – und den angrenzenden Bereich der midway plaisance. Die ursprünglich mit didaktischer Intention auch unter Beteiligung des Kulturanthropologen Franz Boas als »living exhibition« geplante midway plaisance, auf der unter anderem ›Eingeborenendörfer‹ detailgetreu rekonstruiert worden waren, entwickelte sich rasch zu einem profitorientierten amusement park. Die intendierte Förderung des Fremdverstehens durch die Erfahrung der Präsenz des Fremden wurde so, wie Curtis M. Hinsley schreibt, durch »window-shopping in the department store of exotic cultures« ersetzt (1991: 355), bei dem die etablierte und im impliziten Wissen verankerte kulturelle bzw. rassische Hierarchie nicht in Frage gestellt, sondern bekräftigt wurde. Während der amerikanische Historiker Fredrick Jackson Turner in den Hallen der Ausstellung seine These des Endes der frontier (auf US-amerikanischem Boden) in seiner Rede »The Significance of the Frontier in American History« vortrug, konnten gleich neben dem Ausstellungsgelände, am Ende des midway plaisance, in Buffalo Bill’s folkloristischer Show, die nicht für die Ausstellung zugelassen worden war, die Zuschauer den von Turner zur historischen Epoche erklärten Wilden Westen präsentisch erleben und ›echte‹ Native Americans bewundern, wie sie mit der Schlacht am Little Big Horn ihren letzten militärischen Sieg, aber retrospektiv gleichsam ihre historische Niederlage aufführten. Das Gefühl der evolutionären Überlegenheit auf Seiten des Publikums wurde so nicht fundamental verunsichert (vgl. Hinsley 1991; Bank 2002, 2004, 2006). Die Columbian Exposition verräumlichte rassisch begründete Hierarchien in »a quasi-didactic fashion«, wie Ella Shohat und Robert Stam in Unthinking Eurocentrism schreiben, »by having the Teutonic exhibits placed closest to the ›White City‹, with the ›Mohammedan world‹ and the ›savage races‹ at the opposite end« (2001: 107). Die inszenierte Präsenz des Fremden diente damit primär der Selbstvergewisserung und der Affirmation der Suprematie der angloamerikanischen US-amerikanischen Majorität sowie der Bekräftigung westlicher, insbesondere US-amerikanischer Hegemonialansprüche.6 Die Fremdheitserfahrung im Zuge eines Besuchs einer Ausstellung wie der Columbian Exposition wirkt somit auch nicht bedrohlich: »Das ferne oder unbekannte Außen erfährt als Miniaturmodell oder im maßstabsgetreuen Nachbau bereits eine kulturelle Bearbeitung, noch ehe es in seiner ›Fremdheit‹ oder Andersartigkeit erfahren wird« (Hollweg 2001: 66). 6 | John Joseph Flinn beschreibt die Ausstellung in seinem Official Guide to the World’s Columbian Exposition (1893) als Ort der Völkerverständigung unter der Ägide des American exceptionalism: »While the Columbian Exposition of 1893 is intended to celebrate the four-hundredth anniversary of the discovery of America, and primarily to illustrate American progress, the United States appropriately extends the hand of fellowship and hospitality to all other nations already represented on her soil. It will be a universal congress« (1893: 7).
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Beobachtet wird es dann vorzugsweise von erhöhten Aussichtspunkten, die einen panoramischen und panoptischen Blick auf das Fremde konstruieren und zugleich die eigene Überlegenheit räumlich erfahrbar machen. Während über die räumliche Anordnung gemäß dem gängigen evolutionären Denken eine Distanz und Hierarchie zwischen weißen, euro-amerikanischen Kulturen samt ihrer als fortschrittlich reklamierten Zivilisation und den nicht-weißen, unterlegenen und weitgehend kolonisierten Kulturen präsent wird, die Fremdheit hervorhebt, wird innerhalb der white city räumliche und historische Distanz weitgehend überbrückt, wenn nicht gar getilgt. Miles Orvell beschreibt die white city folgendermaßen: »[W]ith its huge palatial structures festooned with statues and decorative embellishments, the whole looked like a fantasy of Imperial Rome, if not a three-dimensional stage set out of Thomas Cole’s The Course of Empire« (1989: 59). Die Anlage der white city mit ihren Prachtbauten evoziert in eklektischer Manier die Präsenz von etwas sowohl geografisch als auch historisch fernem Fremdem – »Imperial Rome« und die italienische Renaissance, also vergangene Machtfülle und kulturelle Größe – und versucht die räumliche Ferne und kulturelle Fremdheit dieser europäischen Vergangenheit zu den USA zu tilgen, um über diese präsentifizierende Appropriation die eigene Kultur bzw. civilization in das Modell der translatio imperii einzugliedern und zu überhöhen. Die ökonomische und politische Elite der USA hatte sich bereits in der Frühphase der Republik und auch im 19. Jahrhundert häufig, wie vielfach konstatiert wurde, klassizistischer und antikisierender Elemente bedient – von der Planung und Erbauung der National Mall in Washington als »capitol for a republican empire« (Bowling 1991: 1) mit dem Kapitol-Gebäude als säkulares, patriotisches amerikanisches Pantheon »for monumental homage […] in the didactic ethos of collective veneration« (Wrigley/ Craske 2004: 2) bis hin zu der Anlage privater Residenzen vorzugsweise in den Südstaaten im 18. und 19. Jahrhundert in klassizistischer plantation architecture.7 Die World’s Columbian Exposition am Ende des 19. Jahrhunderts schließlich stellt einen Höhepunkt dieser Entwicklung dar.8 Die Architektur der white city präsentifiziert nicht nur die Vergangenheit einer anderen Kultur, sondern stets auch die heraufbrechende Zukunft der USA als hegemoniale Weltmacht bzw. zumindest ihren Anspruch darauf. Anders als Orvell diskutieren wir diese Formen daher nicht als Beispiele für epigonale Nachahmungen einer der eigenen Kultur fernen Vergangenheit im Kontext von Fragen der Imitation und der Authentizität, son-
7 | Die Südstaaten-Architektur symbolisiert die Konstruktion und Appropriation antiker Traditionen im Hinblick auf Lebensweise und Weltanschauung; sie steht somit auch im Dienste einer Apologie der Sklaverei, da sie diese als Teil des antiken Erbes ausweist. 8 | Orvell diskutiert dies im Kontext von »practice[s] of imitation«, »theatrical representation« und »replication (1989: 34).
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dern als Präsentifikation und zugleich Produktion von impliziten Wissensbeständen, in denen das sogenannte »American Century« (Luce 1941) antizipiert wird.9 Dies ist ein geeigneter Gegenstand, um die Interdependenz von Präsenz und implizitem Wissen unter dem Aspekt der Bearbeitung von Fremdheit zu illustrieren. Der Effekt der Inszenierung auf das US-amerikanische Publikum aktiviert und expliziert US-amerikanische Wissensbestände der eigenen Überlegenheit (vorwiegend rassistisch motiviert) und affirmiert diese Überlegenheit in dem ZurSchau-Stellen der synchronen fernen Fremden mittels Affekten und der Erfahrung räumlicher Nähe und Distanz. Die Inszenierung bedient also die ambivalenten affektiven Reaktionen auf das Fremde: Attraktion und Repulsion. Die appropriative Präsentifikation des historisch Fremden zu Zwecken der US-amerikanischen Selbstinszenierung als Erbe der Traditionslinie westlicher Zivilisation, die wiederum mit räumlicher Erfahrung (Zentrum vs. Peripherie) und Affekten des Staunens operiert, gibt dem impliziten Wissen der US-Amerikaner um die eigene Überlegenheit eine Wende hin zu imperialen Größenfantasien, wobei als Alteritätspol nun nicht mehr nur die ›Primitiven‹ sondern auch die europäischen Nationen fungieren. In diesem hoch komplexen Prozess der Bearbeitung von Fremdheit werden die Präsenzerfahrungen der US-amerikanischen Besucher gleichsam instrumentalisiert, um den affektiven Überschuss dieser Erfahrungen in Richtung zivilreligiöser Überhöhung der eigenen Nation zu kanalisieren. Man kann im Hinblick auf den Effekt dieser Inszenierung mit einiger Plausibilität mutmaßen, dass dieser in einer Verankerung der Ansprüche des American exceptionalism und des Hegemonialstrebens im kollektiven impliziten Wissen bestand. Die Columbian Exposition, die in diesem Sinne »der Repräsentation und Propagierung nationaler, wirtschaftlicher, kultureller und politischer Interessen« (Hollweg 2001: 21) diente, kann in der Tat ex post als Versuch gesehen werden, das emergierende amerikanische Empire avant la lettre präsentisch zu inszenieren und erfahrbar zu machen. So existiert eine Fülle von fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten von amerikanischen Besuchern der Weltausstellung, die als »patriotic travelers« (ebd.: 62) die überwältigende Grandiosität der Ausstellung und insbesondere die Selbstpräsentation der USA als herausgehobene ästhetische (Präsenz)Erfahrung beschreiben. Horace Herbert Mackley (»Amateur Photography at the World’s 9 | In Anlehnung an Ansätze von David Loewenthals The Past is a Foreign Country (1985) und Hans Ulrich Gumbrechts Ausführungen zur »Präsentifikation vergangener Welten – also Verfahren, die den Eindruck (oder vielmehr die Illusion) hervorrufen, vergangene Welten könnten erneut greifbar werden« (2004: 115), kann der Kulturkontakt und die interkulturelle Fremdheitserfahrung auch entlang einer zeitlichen Achse betrachtet werden. Damit schließen wir an Arbeiten in der Kulturanthropologie an, in denen auch die mehr oder weniger ›eigene‹ Vergangenheit als »fremde Kultur« diskutiert wird (vgl. Greverus 1988; Künsting/Welz 1988), da sich auch hier, kulturhermeneutisch gesprochen, das Problem der Horizontverschiebung (und nicht -verschmelzung) im Prozess des Kontakts stellt, da uns schlichtweg eine Zeitreise nicht möglich ist.
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Fair«) etwa bemüht sogar den Unsagbarkeitstopos und erlebt in der Betrachtung der Prachtbauten keine fremden kulturellen Traditionen, sondern die Vision eigener Größe: »He had read and heard by word of mouth, potent descriptions of the marvelous beauties that would greet his eye, […] but when he came to look upon it [the World’s Fair], he was moved and affected, and felt that descriptions failed because the vision was one that, in its magnificence, was beyond the scope of words« (zitiert in ebd.: 65). Amerikanische Besucher, zumindest in der Mehrheit, teilen beim Besuch der Weltausstellung und der Bewunderung ihrer Architektur eine Erfahrung der Erhabenheit hinsichtlich der eigenen Nation und explizieren in ihren Berichten die zivilreligiöse Dimension des prozessualen kollektiven impliziten Wissens.10 Die Architektur der white city kann daher als Präsentifikation des kulturspezifischen impliziten Wissens gelesen werden, wie es ex negativo an den divergierenden Beobachtungen vieler europäischer Besucher deutlich wird. Diese zeigen sich häufig enttäuscht: »Europeans who came to Chicago looking for something distinctly American were disappointed to find a facsimile of Europe and turned instead to downtown Chicago, with its modern office buildings, as a more authentic expression of the American spirit« (Orvell 1989: 60). In der Enttäuschung darüber, dass sie in Chicago nur das scheinbar ›alte‹, vertraute ›Eigene‹ sehen und in der Selbstrepräsentation die USA als geradezu protzigen Parvenü unter den alten imperialen ›Hochkulturen‹ verstehen, sind die Europäer mitunter belustigt, während das self-fashioning der ›grandiosen‹ Nation auf einige fremde nicht-westliche Besucher (sowie auf die zur Schau gestellten menschlichen ›Objekte‹) sicherlich auch bedrohlich gewirkt haben muss. Auf der World’s Columbian Exposition finden sich somit unterschiedliche Formen interkultureller Fremdheit gegeneinander ausgespielt. Während die Distanz zu dem in doppelter Hinsicht ›radikal‹ Fremden (das antike Rom und die italienische Renaissance)11 im Zuge einer Appropriation und einer »invention of tradition« (Hobsbawm/Ranger 1983) in der Präsenzerfahrung getilgt wird, werden die Fremdheitserfahrungen mit den zeitgleich existierenden und somit weniger fremden Anderen (v.a. den indigenen Kulturen) überhöht und wirkungsvoll insze10 | Dokumentiert und affirmiert wird diese Erfahrung auch in dem patriotischen Lied »America the Beautiful«, welches Katherine Lee Bates nach einem Besuch der Weltausstellung schreibt (1895 wird der Text zunächst als Gedicht veröffentlicht) und in dem sie mit »thine alabaster cities« auf die white city der Columbian Exposition Bezug nimmt. Das Gedicht ist seit seinem vertonten Erscheinen 1910 sehr populär und gilt als die inoffizielle Nationalhymne der USA. Zum Begriff der Zivilreligion in der amerikanistischen Kulturwissenschaft vgl. Bellah (1967). 11 | Ironischerweise waren die damals zahlreichen italienischen Einwanderer in den USA nicht besonders geachtet und wurden keinesfalls als Nachkommen des römischen Reiches oder der italienischen Renaissance betrachtet. Vielmehr wurde den katholischen Italienern in den USA im xenophobischen Zeitgeist mit Ablehnung und Diskriminierung begegnet (vgl. Higham 1975; Jacobson 2002).
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niert. White city und midway plaisance stehen für diese unterschiedlichen Formen des Umgangs mit Fremdheit in der Präsenz. Die Kommodifizierung des Fremden wurde bekanntlich nicht nur im Rahmen der World’s Columbian Exposition auf viele Arten und Weisen betrieben, und zwar nicht zuletzt im Hinblick auf die Gruppen und Kulturen, die auf der Weltausstellung weitgehend marginalisiert wurden: die indigenen Kulturen Nordamerikas. Aber auch die Idealisierung des Fremden und dessen partielle Aneignung im Sinne eines Playing Indian findet sich in der amerikanischen Kulturgeschichte immer wieder wirkungsvoll inszeniert.12 Ein neueres Beispiel der Inszenierung von Präsenzerfahrungen mit dem kulturellen Fremden, bei dem die Attraktion durch das Fremde – und einhergehend damit die Zivilisationskritik am Eigenen – die dominante Motivation bildet, wäre etwa das Angebot eines Zuganges zur Spiritualität der Native Americans auf dem seit der new-age-Bewegung fest etablierten esoterischen Markt. Ausgehend von den verschiedenen Strömungen der counter culture sehen sich die Native Americans seit Jahrzehnten mit dem massenhaften Begehren von non-natives nach durch sie und ihre Kultur vermittelten Präsenzerfahrungen konfrontiert, häufig gerade nach hautnahen Erfahrungen, wie etwa die ungebrochene Nachfrage nach authentischen sweat lodge ceremonies belegt. Diese Sehnsucht nach fremder Spiritualität, die sich aus dem Überdruss am Materialismus, der Ablehnung etablierter abendländischer Religion und der Hoffnung auf Heilung und Erlösung gleichermaßen speist, hat Native American spirituality zu einem begehrten Konsumgut werden lassen.13 Der lukrative Markt hat dabei eine Unzahl von white shamans oder plastic medicine men hervorgebracht (Rose 1992), die indianische kulturelle Praktiken appropriieren und gewinnbringend kommodifizieren. Diese fake native shamans mit stereotyp klingenden Namen wie Sun Bear, Harley Swift Deer, O’Shinna »Fast Wolf« oder Shequish Ohoho (Hagan 1992) konstruieren ihre spirituelle Autorität wiederum häufig über Konversions-Narrative, von denen an späterer Stelle noch die Rede sein wird. Sie kombinieren in ihrer neokolonialen Ausbeutung der Native Americans etablierte narrative Muster der Selbst-Autorisierung mit zeitgenössischen kapitalistischen Marketingstrategien (vgl. Kehoe 1990; Rose 1992). Man sollte zunächst fragen, ob mit der Aneignung der fremden Spiritualität 12 | Zum Konzept des Playing Indian vgl. Philip Delorias gleichnamige Untersuchung zur US-amerikanischen Kulturgeschichte (1998). Dass diese Art der Idealisierung und Appropriation des Fremden bzw. des native und seiner speziellen, insbesondere spirituellen Eigenschaften zwar kulturspezifischen Mustern folgt, aber in sehr unterschiedlichen kulturellen Kontexten zu finden ist, hat Wallis dargestellt (2003). 13 | In ihrem Dokumentarfilm White Shamans and Plastic Medicine Men (1996) gehen die Regisseure Terry Macy und Daniel Hart dem Trend der Popularisierung indigener Spiritualität anhand von Interviews nach und bieten gleichzeitig eine ironische Perspektive auf das Phänomen, wenn sie den Native American comedian Charlie Hill die Stimme der weißen ›Suchenden‹ imitieren lassen: „They say, ›I was an Indian in a former life.‹ – Well … you’re white now!“
Präsenz, implizites Wissen und Fremdheit aus kulturwissenschaftlicher Perspektive
eine Dimension des Fremden appropriiert werden soll, die der Idee des impliziten Wissens nahekommt und hier nun als ein ›anderes‹, reineres, authentischeres implizites Wissen imaginiert wird. Ein ›fremdes‹ implizites Wissen um Spiritualität und innere Balance, so scheint es, wird als erlösend vorgestellt und soll über entsprechende Rituale präsentifiziert, d.h. für den kulturellen Außenseiter verfügbar (gemacht) werden. Tatsächlich aber zeigen diese Praktiken häufig mehr Unkenntnis als Wissen über die fremde Kultur und fügen sich so eher in das Paradigma der agnotology – als strategische Ignoranz bezüglich des Fremden (vgl. Proctor/ Schiebinger 2008).
IV. P R ÄSENZ UND INTR AKULTURELLE F REMDHEIT AM B EISPIEL DER B LACKFACE M INSTRELSY Nach der interkulturellen Dimension von inszenierter Präsenz wird für den zweiten hier zu exemplifizierenden Typus ein Beispiel gewählt, das die kulturspezifische Relation von Präsenz und Fremdheit bzw. Fremdheitserfahrung in einem intrakulturellen Spannungsverhältnis deutlich macht: das Beispiel der blackface minstrelsy in den USA. Diese kann, produktions- und rezeptionsseitig, je nach Perspektivierung als Bearbeitung von intrakultureller oder auch interkultureller Fremdheit gesehen werden. Die blackface minstrelsy, in der weiße Männer schwarze karikieren und die Zustände auf der Plantage zu Zeiten der Sklaverei als witzig und amüsant darstellen, ist eine unter weißen Zuschauern spektakulär erfolgreiche frühe Form amerikanischer Populärkultur. In den erfolgreichen Performances wird die minstrel show zum seriellen, formelhaften Unterhaltungsevent und kann als eine kulturspezifische Form diskursiv vermittelter Präsenzerfahrung gesehen werden, die implizite Wissensbestände um race aufgreift, sie teilweise evoziert, teilweise auch expliziert, und damit für ein weißes amerikanisches Publikum intelligibel ist, nicht ohne Weiteres jedoch für Kulturfremde. Die Präsentifikation dieses kulturspezifischen impliziten Wissens in der minstrel performance setzt dabei primär auf eine affektive (Dis-)Identifikation der weißen Zuschauer mit den Repräsentierten, die über Visualisierung, Musik, Tanz und andere körperliche Praktiken induziert wird. Die Hochphase der minstrelsy wird in der Regel zwischen 1850 und 1870 angesetzt, wobei die Erfindung des blackface minstrels auf das Jahr 1828 zurückgeht, als Thomas Dartmouth Rice zum ersten Mal und mit sensationellem Erfolg einen alten, buckligen schwarzen Sklaven namens Jim Crow verkörpert, der auf der Bühne singt und tanzt. Mit der Zeit entwickelt die minstrel show eine Art Standardprogramm mit ›Einmarsch‹ des Ensembles, einer Performance von Sketchen und Witzen im Dialog zweier ›schwarzer Sklaven‹ und einem abschließender Einakter über das sorgenfreie Leben der Sklaven im Südstaatenidyll. Blackface minstrelsy liefert mit der hyperbolischen Stereotypisierung des generalisierten Afroamerikaners eine domestizierte Präsenz des Anderen, dessen Herabwürdigung kulturell sanktioniert ist, und die über Komik ekstatischen Beifall im Publikum er-
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zeugt. Die minstrel show kann als Kokettieren mit tabuisierten und lustvoll besetzten imaginären Grenzüberschreitungen im Sinne eines orchestrierten und ritualisierten ›impersonating the (denigrated) other‹ betrachtet werden: »[T]he minstrel show worked for over a hundred years to facilitate safely an exchange of energies between two otherwise rigidly bounded and policed cultures« (Lott 1993: 6). Die blackface minstrelsy des 19. Jahrhunderts hat in der amerikanischen Kultur ein großes Echo gefunden, Generationen schwarzer und weißer Künstler und Kritiker beschäftigt14 und in der Alltagskultur zu einem Standardmodell stereotyper Inszenierungen geführt (vgl. Bogle 2001). Die Entstehung der amerikanischen Filmindustrie wäre ohne das Repertoire und die Konventionen dieser Aufführungspraxis kaum denkbar; insbesondere frühe amerikanische Filme bedienen sich ihrer, etwa Birth of a Nation (1915), The Jazz Singer (1927), Swing Time (1936), Babes in Arms (1939) oder auch Dixie (1943): The tradition of blackface ›minstrel‹ recital […] provides an iconic paradigm of the simultaneous presence and absence of marginalized communities. Premised on the myth of the benevolent plantation, minstrelsy clearly constitutes an ambivalent mockery of Blackness. The presence of ›Blackness‹ as a mask (a pathological reversal of the Fanonian formula of Black Skin White Masks), and the veiled presence of African-American music and dance in numerous films paradoxically marks Afro-American absence from the screen. (Shohat/ Stam 2001: 224)
Auch zeitgenössische Thematisierungen der blackface minstrel shows sind zahlreich; Spike Lees Film Bamboozled (2000), der die New Millennial Minstrel Show als eine blackface minstrel show, aufgeführt von Afroamerikanern, die sich als schwarze Sklaven verkleiden, am Anfang des 21. Jahrhundert neu erfindet, thematisiert afroamerikanische Sichtweisen auf diese kulturelle Praxis.15 Denn die blackface minstrelsy, die für das weiße Publikum als Inszenierung eine herausgehobene Präsenzerfahrung darstellt, erklärt sich aus der Perspektive der hier Repräsentierten völlig anders. Die launigen Plantagenszenen blenden nicht nur die physische Gewalt, sondern jede Form von Gewalt, die der Institution der Sklaverei inhärent war, weitgehend aus. Das Wissen um diese nicht explizit dargestellte Gewalt ist auf Seiten der Afroamerikaner, so lässt sich behaupten, in einem impliziten (Über)Lebens14 | Die Bedeutung des Phänomens wurde vielfach konstatiert und bearbeitet, vgl. Lott (1993), Lhamon (1998), Gubar (1997) und Mahar (1999), um nur einige wichtige Werke zu nennen. 15 | Brian Norman diskutiert Bamboozled im Kontext der von ihm konstatierten neo-segregation narratives als Versuch »to illuminate the complex, institutionalized, covert, and pervasive racism of contemporary mainstream media« (2010: 102); der Verweis auf die blackface minstrelsy sei im 21. Jahrhundert ein absurder Anachronismus. Gleichzeitig kritisiert er Lees Mediensatire, da sie suggeriere, dass »[b]lackface minstrelsy is not necessarily wrong per se, but wrong because it should no longer be acceptable now« (ebd.: 103).
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wissen, gleichsam einem ›knowledge in the bones‹,16 präsent und begründet damit eine alltägliche (und nicht herausgehobene) Dimension der Präsenzerfahrung, die hier nicht zuletzt eine Erfahrung von alltäglichem Rassismus ist.17 Die blackface performances als überaus erfolgreiche Produktionen der amerikanischen Populärkultur gehen einher mit der gleichzeitigen realgeschichtlichen (ebenfalls seriellen) rassistischen Gewalt: Der nach dem Bürgerkrieg ›neuen‹ Form der alltäglichen Präsenz der Fremdheit (in Form von freien Afro-Amerikanern) wird seitens der Weißen nicht primär mit Komik, sondern mit Gewalt begegnet. Die letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts sind diejenigen in der Geschichte der USA, die vom höchsten Maß an weißer Lynchjustiz und rassistischer Gewalt gegenüber der afroamerikanischen Bevölkerung geprägt sind (vgl. Brundage 1993; Markovitz 2004; Pfeifer 2004). Die minstrel show erscheint somit als Verschiebung der Verantwortung für die Erfahrungen der Gewalt und des körperlichen Schmerzes bis hin zum Tod, die die afroamerikanische Bevölkerung in diesen Dekaden macht und die keine Aufmerksamkeit erfahren, hin zu einem idealisierten, idyllischen zeitlichen ›Davor‹. In der Präsentifikation der Sklaverei als ›gute alte Zeit‹ wird die rassistische Gewalt der Jim Crow-Ära nicht nur ignoriert, sondern aus weißer Sicht legitimiert, haben die Gewalttaten doch das erklärte Ziel, gerade die Asymmetrie zwischen weiß und schwarz, die zu Zeiten der Sklaverei herrschte und die in der blackface minstrelsy auf für ein weißes Publikum unterhaltsame Weise hyperbolisch dargestellt wird, wiederherzustellen. Der amerikanische racial discourse verdankt seine Wirkmächtigkeit unter anderem solchen Referenzen auf den impliziten Wissensbestand, wie sie die blackface minstrel show voraussetzt und bestätigt. In den African American studies und race studies spielen Konzepte des impliziten Wissens bzw. des »tacit knowledge« bisher keine zentrale Rolle. Am Beispiel der minstrel show wird jedoch deutlich, dass implizite Gewissheiten als Grundlage für Handlungen und Praxen gelten können, die gesellschaftlich wirksam werden und die inszeniert und iteriert werden, ohne dass ihre ideologische Verfasstheit thematisch werden muss. Ein implizites Wissen unterliegt somit der Präsentifikation von racial stereotypes, wie die minstrel show sie bietet, und ist gleichzeitig nicht zur Gänze in Repräsentationen verfügbar bzw. explizierbar: »what is not being said, but is being fantasized, what is implied but cannot be shown« (Hall 1997: 263). Das Paradox von Präsenz und Serialität ist dabei nur ein scheinbares. Die rituellen Inszenierungen der minstrel shows leisten eine kulturelle Arbeit, die die rassistischen Zuschreibungen immer wieder aktua16 | Alexis Shotwell spricht von »a knowing that resided in my bones« in ihrer Analyse von transgender und transsexual memoirs (2011: 125ff.). Sabine Broeck bemüht den Ausdruck im Kontext der critical race studies (vgl. Broeck). 17 | So betont der afroamerikanische Autor Ralph Ellison, dass die Figur des blackface minstrel für die Afroamerikaner der Inbegriff von (Selbst)Hass ist: »It is not at all odd that this black-faced figure of white fun is for Negroes a symbol of everything they rejected in the white man’s thinking about race, in themselves and in their own group« (1964: 50).
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lisiert und erfahrbar macht, die Rassenhierarchie affirmiert und stabilisiert sowie die Exklusion der Afro-Amerikaner legitimiert. In unserem Kontext lassen sich die minstrel shows als exemplarische Präsenzevokationen beschreiben, die auf implizite Gewissheiten rekurrieren und zu deren Verständnis auch rezeptionsseitig das entsprechende implizite Wissen unabdingbar ist.18 Eine kulturelle Außenperspektive auf das Spektakel bedingt wegen eines differenten, wiederum kulturspezifisch codierten impliziten Wissens eine ganz andere Rezeption, wie sich an den Ausführungen von Moritz Busch, einem deutschen Reiseschriftsteller, zeigen lässt. Busch berichtet anlässlich eines Besuches in New York im Jahr 1851 von einer musikalischen Darbietung der besonderen Art. Eine Gruppe Musiker singe die »Lieder und Gassenhauer« der Schwarzen mit Begleitung von »Banjo und Tambourine« und mit den »Grimassen der Neger«; es handle sich um ein großes Spektakel. Allerdings, so Busch weiter, entpuppen sich die Darsteller allesamt als »Pseudoneger«, die mit »geschwärztem Gesicht« auftreten, tatsächlich aber Weiße seien. Für den deutschen Beobachter ist dieser Auftritt ein befremdliches »Nachahmen«, in der das Liedgut der Schwarzen noch dazu »falsch« und »wenig authentisch« wiedergegeben wird (Busch 1854: 254f.). Das Ganze erscheint ihm als eine enigmatische kulturelle Praxis, da mit Emphase genau diejenigen so hingebungsvoll nachgeahmt werden, die ansonsten gesellschaftlich wenig Achtung und Beachtung erfahren – die oben genannte kulturelle Arbeit der minstrel show erschließt sich ihm also ganz und gar nicht. Die Perspektive des kulturellen Außenseiters verdeutlicht die Kulturspezifik von inszenierter Präsenz und des impliziten Wissens, auf das sie Bezug nimmt, vor allem wenn sie an ein intrakulturelles Publikum adressiert ist. Diesen Befund stützt auch John Blairs Untersuchung über den erfolglosen Versuch, die blackface minstrelsy als Unterhaltungsform nach Deutschland zu exportieren: »In Germany the initial audiences expressed outrage when they learned that the ›blacks‹ they were watching were only blackfaced whites. The very racial premise that originally allowed the genre to flourish in the United States condemned it in Germany« (2000: 22). Dass die impliziten Wissensbestände um die blackface minstrelsy kaum im deutschen kulturellen Gedächtnis verankert sind, zeigen auch jüngste Varieté-Programme wie das Stück »Ich bin nicht Rappaport« von Dieter Hallervorden in Berlin, in dem der weiße deutsche Schauspieler Joachim Bliese einen alten schwarzen Mann verkörpert. Dem Vorwurf des »rassistische[n] Blackface-Theater[s]« als Reaktion auf die Aufführung wurde von den Theatermachern mit Unverständnis begegnet (vgl. Zurawski). In Abwesenheit des kulturspezifischen impliziten Wissens wird die blackface minstrelsy wiederum auf ein repräsentationskritisches Problem 18 | Die Verschiebung des Fokus von repräsentationslogischen zu wissenstheoretischen Zusammenhängen klingt in einem ähnlichen Zusammenhang auch in der neueren Publikation von Mark Smith, How Race Is Made: Slavery, Segregation, and the Senses, an (2006). Smith spricht von »sensory stereotypes« und einem »sensory protocol« (ebd.: 59).
Präsenz, implizites Wissen und Fremdheit aus kulturwissenschaftlicher Perspektive
reduziert. Mit dem Wissen um die historische Bedeutung der black-face minstrelsy in der Jim Crow-Ära und um ihre logische Verbindung mit massenhaften gewaltsamen Ausschreitungen gegen Afroamerikaner, erscheint die Aufführungspraxis auch hierzulande und auch heute noch völlig unangemessen.
V. P R ÄSENZ UND INTERPERSONALE F REMDHEIT : L IEBESSEMANTIK UND ›THE P URSUIT OF M ARITAL H APPINESS ‹ Untersucht man die Verknüpfung von Präsenz und Fremdheit unterhalb von Intergruppenbeziehungen, d.h. auf der interpersonalen Ebene (dritter Typus), so lässt sich im Hinblick auf die (ebenfalls kulturspezifisch codierte) Relation von Individuen zueinander die Erfahrung, Diskursivierung und Inszenierung von Präsenz besonders eindrücklich anhand der Konstruktion von Paarbeziehungen und deren sozialer Affirmation in der Eheschließung diskutieren. Die Präsenzerfahrung des vorgeblich »happiest day of your life« ist in der amerikanischen Kultur eine sehr wirkmächtige; dies nicht zuletzt weil sie eng mit Vorstellungen von romantischer Liebe verschränkt ist. Die inszenierte Präsenzerfahrung der Eheschließung verdankt ihre außerordentliche Wertschätzung entsprechend den Diskursen um die romantische Liebe als (letzte) Utopie und wird von der spätkapitalistischen USamerikanischen Konsumkultur befördert, in schier endlosen Varianten vermarktet, praktiziert und konsumiert. Mit der Hochzeitsfeier als kulturspezifische objektivierte Diskursivierung individueller Erfahrung im gemeinschaftlichen Ritual, das wiederum inszenatorischen Praktiken unterliegt, erfolgt eine Konkretisierung der vermeintlichen Unsagbarkeit der Erfahrung der Liebe als das, was – in der typischen Evozierung des Unsagbarkeitstopos im Kontext der Präsenz – »nicht erklärt und nicht beschrieben werden« kann (Neumann 2010: 14). Das Konzept der Liebe bzw. des Sich-Verliebens muss wiederum vorgängig zumindest implizit produktionsund rezeptionsseitig vorhanden sein, damit entsprechende Erfahrung überhaupt als Liebe gedeutet werden können. François de La Rochefoucaulds Bonmot – »es gibt Menschen, die sich nie verlieben würden, wenn sie nicht Gespräche über die Liebe gehört hätten« – lässt sich womöglich sogar noch zuspitzen, denn ohne ein kulturspezifisches (Vor)Wissen wäre die Erfahrung der Liebe bzw. des SichVerliebens nicht deutbar. Inszenierungen der Hochzeitsformel als Präsentifikation intensiver und singulärer Liebesgefühle zwischen zwei Menschen finden sich in populärkultureller Bildlichkeit, in Narrationen und in einer Vielzahl kultureller Praktiken. Das Ritual der Eheschließung scheint gegenwärtig die Präsentifikation des impliziten Wissens um die Liebe und die Sehnsucht nach lebenslanger Bindung zu leisten. Birgit Schönberger beschreibt dies wie folgt: Treueversprechen werden heute so aufwändig inszeniert wie Werbespots. Moderne Paare heiraten auf hohen Brücken, in Heißluftballons, auf Segelschiffen, in Schlosskapellen oder
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Klaus Lösch und Heike Paul am Strand von Hawaii. Wenn sie es sich leisten können, lassen sie es bei der Party danach richtig krachen. Mit Feuerwerk, kubanischer Kapelle und magischen Liebeszauber-Ritualen. Doch es nützt alles nichts. Das Paar wird aller Wahrscheinlichkeit nach nicht vom Tod, sondern vom Richter geschieden. (2005: 73)
Solche Bemühungen, die Hochzeit als eine in jeder Hinsicht herausgehobene, außergewöhnliche und singuläre Präsenzerfahrung zu gestalten, verweisen vor dem Hintergrund unserer Überlegungen zum Verhältnis von Präsenz und Fremdheit auf das Verlangen, die interpersonale Fremdheit zwischen den Ehepartnern zu minimieren, eine von wechselseitiger Fremdheit möglichst freie dyadische Beziehung auf Dauer zu etablieren und gegen die Verunsicherung durch interne Fremdheitserfahrungen abzuschotten. Zudem wird mit dieser intensiven Präsenzerfahrung mit dem Partner eine Sinnstiftung im Privaten angestrebt. Repräsentationen dieser Form inszenierter Präsenz finden sich zahlreich in Literatur und Populärkultur. Sie führen traditionsreiche westliche bzw. europäische Redeweisen über die Liebe fort, wie sie etwa Roland Barthes in enzyklopädischer Zitathaftigkeit in Fragmente einer Sprache der Liebe anführt. Jüngste Beispiele sind Jeffrey Eugenides’ The Marriage Plot (2011) oder, in einem etwas anderen kulturellen Register, James Pattersons The Christmas Wedding (2011). Stewart O’Nan referiert in The Odds (2012), einem Roman über ein Ehepaar auf einer letzten gemeinsamen Reise, ironisch auf die Niagara Fälle als Flitterwochen-Ziel, denen ein Abschmelzen (vielleicht eher: Abspülen) interpersonaler Differenzen zugeschrieben wird: »[T]hat fabled and overwrought cauldron of new beginnings, away from any domestic, everyday claims« (ebd.: 1). Besondere Prominenz haben im Bereich der Printmedien auch die zahlreichen Ratgeberforen und -zeitschriften, sowie im Medium Film die fast unzähligen zeitgenössischen HollywoodHochzeitsfilme, die sich der Antizipation, Vorbereitung, und Durchführung der Hochzeitszeremonie widmen: Four Weddings and a Funeral (1994), My Best Friend’s Wedding (1997), The Wedding Singer (1998), The Runaway Bride (1999), The Wedding Planer (2001) – um nur einige zu nennen. Paradoxerweise versucht die Hochzeitskonsumkultur immer wieder, die Kommodifizierung der Hochzeit zum Konsumevent inszenierter Präsenz in Frage zu stellen bzw. mit den Mitteln der Komödie zu reflektieren, etwa indem sie die Braut nicht den Bräutigam, sondern den wedding singer und den Bräutigam nicht die Braut, sondern den wedding planer heiraten lässt. Die Aussage dieser Filme scheint zu lauten, dass der große Tag als Bekräftigung der großen Liebe nicht kalkulierbar oder planbar, nicht verlässlich inszenierbar ist. So weicht die eindrückliche optische Opulenz der geplanten Hochzeitsfeier am Ende häufig einer bescheidenen, vermeintlich auf die ›inneren Werte‹ reduzierten Kulisse, was wiederum der Bekräftigung der romantischen Liebe dient. Am deutlichsten wird dies im Film Runaway Bride (1999), in dem die Braut nicht weniger als vier Mal vor dem Traualter eine individuelle, für ihre Umwelt nicht intelligible Präsenzerfahrung bzw. Epiphanie hat, die sie an der Eheschließung hindert, das Ja-Wort versagen und die Flucht
Präsenz, implizites Wissen und Fremdheit aus kulturwissenschaftlicher Perspektive
ergreifen lässt. Am Ende kann sie dann unter freiem Himmel auf einem Acker den ›Richtigen‹ heiraten – womit die Formel der weitgehend von interpersonaler Fremdheit freien Dyade sowie die bürgerliche Institution Ehe wiederum im Sinne des Genres romantic comedy affirmiert werden.19 Hier werden zwar widerständige »Gefühle in Zeiten des Kapitalismus« (Illouz 2007) heraufbeschworen und als plot device eingesetzt, damit wird aber der Schluss nur umso effektvoller inszeniert: Die Gefühle werden letztlich doch in die sozial sanktionierten Muster der Konsumkultur integriert und ihr destabilisierendes Potenzial wird neutralisiert bzw. zur Affirmation gewendet. My Big Fat Greek Wedding (2002, kein Hollywoodfilm) mutet dagegen fast ethnologisch an in seiner Betonung der kulturellen Differenz und der interkulturellen Fremdheit, die hier mit der interpersonalen Fremdheit verschränkt ist. Die langatmig abgefilmte Hochzeitsfeier erscheint wie eine filmisch umgesetzte kleine Völkerschau, bei der kulturelle Differenzen in stereotyper Manier präsentiert werden. Die Liebesbeziehung zwischen anglo-amerikanischem Mann und griechisch-stämmiger Frau vermag gleichwohl diese Differenzen zu nivellieren und beide Formen der Fremdheit durch Präsenzerfahrungen zu überwinden. Die Liebessemantik operiert in diesem Fall zudem mit einer Konversionsstruktur, denn die Protagonistin wird zunächst als eher unattraktiv und altjüngferlich eingeführt, um sich dann vom ursprünglich ›hässlichen Entlein‹ zum schönen und zudem leidenschaftlichen Schwan zu entwickeln. Die in solchen Inszenierungen aktivierte Semantik der Liebe und der Hochzeit ebnet Differenzen ein und führt damit gleichsam zu einer Exorzierung von Fremdheit in der Präsenzerfahrung einer dyadischen Intimität. Unter den Vorstellungen von Vervollständigung, Komplementarität und organischer Ganzheit können die Liebenden sich als ›whole‹ und ›complete‹ erfahren und eine »personenbezogene Stabilität« entwickeln, »die auf der romantischen Liebe gründet« (Beck/BeckGernsheim 1990: 71). Die Hochzeit ist somit auch als eine »Codierung von Intimität« (nach Luhmann 1999) zu sehen, denn sie markiert die Sehnsucht und den Versuch, die Präsenzerfahrung der Liebe auf Dauer zu stellen, sozusagen bis zur finalen Präsenzerfahrung des Todes, wie dies ja im performativen Sprechakt – »bis dass der Tod euch scheidet« – formuliert wird. Im Ritual geht es nicht nur um die Verständigung der beiden Hauptpersonen. Mit Collins könnte man davon sprechen, dass hier ein relationales und kollektives implizites Wissen konvergieren und dass die Anwesenheit vieler Menschen zur Bezeugung des Rituals notwendig ist, um die Präsenz als formelhafte Explikation des impliziten Wissens der Liebessemantik sowie als ihre gesellschaftlich sanktio19 | Es soll an dieser Stelle nicht unterschlagen werden, dass die Braut im Laufe des Films einem hohen Anpassungsdruck ausgesetzt ist, der nur scheinbar emanzipatorisch wirkt und das Plot durchaus partiell als »widerspenstige Zähmung« interpretiert werden kann, in deren Prozess die Diskurshoheit der romantischen Liebe, die in eine Hochzeit mündet, wiederhergestellt wird.
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nierte Ausdrucksform gleichzeitig zu bezeugen und wirksam werden zu lassen. In der Überführung in die Sozialität und in sozial verträgliche Formen im Sinne eines »public feeling« (Stewart 2007: 2) bändigt das Hochzeitsritual auch die in sozialer Hinsicht möglicherweise störende und subversive Kraft der Liebessemantik, insbesondere ihrer Referenzen auf die Triebenergien – Barthes spricht von der »Liebe als Störung« (1984: 54, 250) –, und kann so auch in sozialer Hinsicht als Bearbeitung von Fremdheit gelesen werden: der Fremdheit, die man gegenüber den Liebenden und ihren privaten Weltentwürfen empfindet. Dass das Auf-Dauer-Stellen der Präsenzerfahrung der Liebe in der Ehe – in der Logik der Liebesheirat – bekanntlich nur selten gelingt, tut der Sehnsucht danach keinen Abbruch, ganz im Gegenteil, denn »Entzug schafft Präsenzbedürfnisse und Präsenzsehnsüchte« (Gumbrecht 2011: 16). So mag man beispielsweise die gestiegene Produktion und massenhafte Rezeption von Hollywood-Hochzeitsfilmen mit einem Anstieg der Scheidungsrate korrelieren. Und das Treuegelöbnis, so Marie-Luise Schwarz-Schilling, wird in dem Maße wichtiger, in dem der gesellschaftliche Druck zur Aufrechterhaltung von Ehen nachlässt (2004: 158ff.). Die Vorstellung der personalen Liebe bezieht ihre Wirkmächtigkeit nicht zuletzt aus der inszenierten Präsenz: Die Hochzeiten, im Film wie auch in der Referenzgesellschaft, gehen damit gleichsam in Serie. Die Vorstellungen, dass die Fremdheit der Geschlechter im Paar überwunden werden kann und die Utopie der romantischen Liebe unwidersprochene Gültigkeit besitzt (vgl. auch Illouz 2003), bleiben davon unberührt und werden letztlich nicht in Frage gestellt.20 Die Utopie der Liebe wird bisweilen gar komplett losgelöst vom konkreten ›Gegenüber‹, dessen Fremdheit in actu sie womöglich in Frage stellt. Damit wird die Inszenierung der Präsenz in der sozialen Praxis ebenso seriell wie ihre populärkulturellen Repräsentationen: Es wird zum ersten Mal, zum zweiten Mal und zum dritten Mal geheiratet, lang verheiratete Paare können eine »renewal of vows« beantragen und der Pfarrer ihrer Gemeinde wird diese paradoxe Serialisierung des einzigartigen Moments, des auf Ewigkeit zielenden singulären performativen Sprechakts, als eine weitere Variante ritualisierter Präsenzerfahrung bzw. Inszenierung von Präsenz durchführen. Das Ritual gilt vermutlich deswegen als »marriage trend that’s sweeping Hollywood« (Winikka), weil gerade hier jedes einzelne Jahr zählt, und Internetseiten bewerben das wedding vow renewal als »the perfect way to reaffirm your love« (ebd.). Aus 20 | Die interpersonale Fremdheit und das Bemühen um die Überwindung der Fremdheit werden in Konstellationen gleichgeschlechtlicher Paare in ähnlicher Weise verhandelt. Das heteronormative Paradigma, das hier auch im Hinblick auf seine kulturhistorische Wirkmächtigkeit zugrunde gelegt wird, findet sich in jüngsten Studien auch um gleichgeschlechtliche Paarkonstellationen erweitert. So diskutiert beispielsweise Rebecca Davis das same-sex marriage movement als Indiz für die »increasingly complex expectations about marriage as a source of both individual happiness and social stability« (2010: 254).
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kulturkritischer Perspektive lässt sich ein von den Individuen erfahrener bzw. so gedeuteter Verlust von Präsenz (und Konstanz) mit der hypertrophen und seriellen Inszenierungspraxis von Präsenz korrelieren, die damit als Surrogat für die Sehnsucht nach einer unerreichbar erscheinenden, vermeintlich authentischen Erfahrung gesehen werden kann. Häufig wird von dem renewal nach Ehekrisen und Seitensprüngen des Partners Gebrauch gemacht und so versucht, durch inszenierte Präsenzerfahrung die entstandene Entfremdung zu überwinden und das ›andere‹, ›fremde‹ Element aus der Dyade zu exorzieren. Frühere, strukturell vergleichbare Muster im amerikanischen Film zeigt Stanley Cavell mit seiner Studie Pursuits of Happiness: The Hollywood Comedy of Remarriage, die vor allem Hochzeitsfilme der 1930er Jahre analysiert, in denen ein geschiedenes Paar wieder zueinander findet und nochmals heiratet. Cavell verweist auf eine diesen Filmen gemeinsame »inner agenda of culture«: Sie explizieren eine »shared fantasy« (1981: 17) – damit lasse sich ihr großer Erfolg und ihr ikonischer Stellenwert erklären. Unter Berücksichtigung der genrebedingten Spezifik und Einschränkungen schreibt Cavell diesen »comedies of remarriage« einen utopischen Gehalt zu, der auf eine utopische Prädisposition in nationalen Selbstverständigungsprozessen der US-amerikanischen Nation verweise: »They harbor a vision which they know cannot fully be domesticated, inhabited, in the world we know. They are romances. Showing us our fantasies, they express the inner agenda of a nation that conceives Utopian longings and commitments for itself« (ebd.: 18). In der Inszenierung der (zweiten) Hochzeit thematisieren diese Filme zwar auch das Scheitern der ersten Ehe der Protagonisten (und somit das Tabuthema Scheidung) im Sinne einer individuellen und sozialen Krise, aber die Formel der Wiederheirat affirmiert die »legitimacy of marriage« (ebd.: 20) sowie den Fortbestand der Utopie der romantischen Liebe, die die Protagonisten dieser Filme im Sinne einer gelungenen Wiederholung erneut den Hafen der Ehe ansteuern lässt. All dies scheint, auch wenn Cavell dieses Konzept nicht verwendet, im Bereich eines impliziten Wissens zu liegen: Cavells »inner agenda of culture« lässt sich im Rahmen des vorliegenden Ansatzes als Teil kulturspezifischen impliziten Wissens bezeichnen, in der Typologie Collins’ genauer als collective tacit knowledge. Ein anderes Beispiel für die Präsentifikation des impliziten Wissens um die Liebe und ihre Möglichkeiten wäre das des rendezvous bzw. des dating. Mit Illouz könnte man bereits die Praxis des (ersten) date als Präsenzerfahrung-in-Serie betrachten, an deren Ende immer auch das Hochzeitsritual stehen kann (2007: 316). Auch hier, so betont Illouz, »bietet die Konsumsphäre den Rahmen, innerhalb dessen die Bindung durch den zyklischen Konsum formeller oder liminaler Freizeitrituale gestärkt wird« (ebd.) – die, so könnte man ergänzen, mehr oder weniger herausragend präsentischen Charakter haben. Für die Präsenzerfahrung der Liebe in Erstkontaktsituationen kennen wir Formulierungen wie ›Liebe auf den ersten Blick‹, d.h. Redensarten, die in der Regel eine plötzliche und unerwartbare Präsenzerfah-
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rung mit einer anderen, bis dato fremden Person beschreiben, bei der die sofortige Tilgung jeglicher Fremdheit eingeschlossen ist.21 Im Vorgriff auf das nächste (und letzte) Unterkapitel dieses Aufsatzes lässt sich die Liebe nicht nur als eine interpersonale, sondern zugleich auch als eine intrapersonale Präsenzerfahrung mit Fremdheit betrachten. Die Fremdheitserfahrung in der gedeuteten Erfahrung der Liebe zeigt sich etwa in Kristevas Ausführungen über die Liebessemantik und die Vorstellung, […] daß ›ich‹ in der Liebe ein anderer war. Diese Formulierung, die uns zur Poesie oder zur Wahnvorstellung führt, suggeriert einen Zustand der Labilität, in dem das Individuum seine Unteilbarkeit aufgibt und bereit ist, sich im anderen, für den anderen zu verlieren. In der Liebe wird dieses ansonsten tragische Wagnis zugelassen, normalisiert und soweit wie möglich seines beunruhigenden Charakters entkleidet. (1989: 12)
Auch für Freud ist die Liebesbeziehung diejenige, die das »ozeanische Gefühl« tendenziell (wieder)herzustellen vermag, indem die Grenzen zwischen zwei Individuen bzw. Subjekten punktuell suspendiert werden: »Auf der Höhe der Verliebtheit droht die Grenze zwischen Ich und Objekt zu verschwimmen. Allen Zeugnissen der Sinne entgegen behauptet der Verliebte, dass Ich und Du eines seien, und ist bereit, sich, als ob es so wäre, zu benehmen« (2000: 199). Was aus der Innensicht der Liebenden, auf die Kristeva und Freud abheben, nachträglich als Ausnahmezustand beschrieben wird, der, anders als andere psychische Ausnahmezustände und Fixierungen, nicht als pathologisch stigmatisiert wird, könnte aus einer ideologiekritischen Perspektive auch zu anderen Bewertungen führen. So wird beispielsweise seitens eines white middle class feminism die Liebe (jenseits der mit ihr verbundenen kulturspezifischen Rituale) vor allem als Legitimationslegende des Patriarchats analysiert, deren anhaltende Wirkmächtigkeit auch der Komplizenschaft der Frau geschuldet sei, die in der Aufrechterhaltung eines illusionären Glücksversprechens basierend auf Vorstellungen von Liebe und Erwartungen an die gesellschaftliche Institution der Ehe sich selbst fremd werde.22 21 | Eine gewisse Analogie besteht an dieser Stelle zwischen der interpersonalen und der interkulturellen Variante; so wäre hinsichtlich der Fremdheit der Beteiligten das erste date in bestimmten Konstellationen womöglich auch unter den Vorzeichen eines kulturellen Erstkontakts interpretierbar. 22 | Eine ironische Dekonstruktion des ›Mythos der großen Liebe‹ findet sich beispielsweise im Schlüsselroman des second wave feminism, Marilyn Frenchs The Women’s Rooms (1977: 242-46). Eine der Hauptfiguren, Val, beschreibt diesen Mythos wie folgt: »›Love. Being in Love […] I mean, it’s one of those things they’ve erected, like the madonna, you know, or the infallibility of the Pope or the divine right of kings. A bunch of nonsense erected – and that’s the crucial word – into Truth by a bunch of intelligent men – another crucial word‹« (ebd.: 242). Ähnliche Darstellungen, die meist recht universalistisch argumentieren, finden sich auch in nicht-fiktionalen feministischen Texten (French 1985, 1993; Faludi
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VI. P R ÄSENZ UND INTR APERSONALE F REMDHEIT : THE A LL-A MERICAN C ONVERSION N ARRATIVE Die Konversionserzählung gilt als eine früh entwickelte amerikanische kulturelle und literarische Form der narrativen Sinnstiftung der weißen Siedler in der ›Neuen Welt‹. Es ist die Erzählung einer Präsenzerfahrung, »the testimony of spiritual experience«, die häufig abgelegt wird, wie Patricia Caldwell aufgezeigt hat, »to gain membership in a church« (1983: 1) und von daher durchaus als Diskursivierung und, in einem weiteren Schritt, als Inszenierung einer Präsenzerfahrung zu betrachten ist. Was im Zuge einer Konversion erlebt wird, ist eine durch den Glauben vermittelte Präsenz Gottes, mithin des transzendenten ganz Anderen oder, wenn man so will, des für den Menschen radikal Fremden. Da die Konversion üblicherweise eine Art Identitätswechsel impliziert, generiert sie freilich auch Fremdheitserfahrungen auf der intrapersonalen Ebene. Die frühen Erzählungen der Konversion bewegen sich »from ignorance and self-deception« über »notional knowledge« und »bitter grief« über die eigene Sündhaftigkeit hin zu »deliverance«, »assurance« und »faith« (Morgan 1963: 66ff.). Dass die Konversion, zumindest in der frühen amerikanischen Literatur, häufig in Situationen des Kulturkontakts angesiedelt ist, mag kaum verwundern. Illustrativ hierfür sind etwa die Texte Mary Rowlandsons und Olaudah Equianos, in deren Rezeption als captivity bzw. slave narrative allerdings häufig über die Bedeutung der Konversion hinweggegangen worden ist.23 Von den Kritikern wird die Präsenz des Fremden in der Regel ausschließlich im Kulturkontakt und -konflikt gesehen, nicht jedoch in der religiösen Erfahrung des Transzendenten. Es ist aber gerade die letztere, in der die Konversion als gedeutete Präsenzerfahrung konturiert und, im Falle Equianos, auch visuell beglaubigt wird: Das Porträt des Autors zeigt die Bibel in seinen Händen und verweist auf die erfolgreiche Konversion durch die im Bild gezeigte aufgeschlagene Stelle in der Apostelgeschichte. Dies verweist insbesondere auf die diskursive und gar inszenatorische Qualität der Konversion. Die spezifisch amerikanische »morphology of conversion« mag formelhaft anmuten und wird üblicherweise in sechs Stufen unterteilt, die sich von »contrition« und »humiliation« über »vocation« und »implantation« bis hin zu »exaltation« und »possession« erstrecken; letzteres bezeichnet »the awareness of the presence of faith« (ebd.: 66, unsere Hervorhebung). Edmund Morgan hat diesbezüglich für die frühe amerikanische conversion narrative angemerkt: »[M]any spiritual narratives of the time were not so much composed as recited« (ebd.: 73), was wiederum auf deren (narrative) Formelhaftigkeit verweist: »[T]he pattern is so plain as to give 1991). Die romantische Liebe und mit ihr auch die gesellschaftliche Institution der Ehe bzw. Eheschließung werden hier als patriarchale Herrschaftsinstrumente und als ›falsches Bewusstsein‹ im Sinne der Ideologie der Androkratie begriffen. 23 | Zur Analyse des Kulturkontakts bei Rowlandson und dessen kulturhermeneutischen Implikationen, vgl. Lösch/Paul 2008.
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the experiences the appearance of a stereotype« (ebd.: 91). Caldwells Beobachtungen in ihrer späteren Studie zur Puritan Conversion Narrative decken sich nicht mit Morgans Einschätzung, denn sie sieht darüber hinaus auch »significant and varied uses of the ›formula‹« (1983: 38), denen sie ihre Studie von frühen puritanischen Konversionserzählungen in Nordamerika widmet und über die sie insbesondere die Kulturspezifik des nordamerikanischen Puritanismus herausarbeitet, indem sie dessen Konversionserzählungen dezidiert nicht in der englischen Tradition verortet, sondern diese als »beginnings of American expression« apostrophiert. Vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart ist die US-amerikanische conversion narrative ein prominentes kulturspezifisches Genre der Diskursivierung von Präsenz und stellt einen breiten literatur- und kulturwissenschaftlichen Korpus dar. James Craig Holtes Textsammlung Conversion Experience in America: A Sourcebook on Religious Conversion Autobiography (1992) reicht von Jonathan Edwards religiösen Traktaten bis hin zu Pat Robertsons sermons. Im 20. und 21. Jahrhundert koexistieren verschiedene religiöse und (semi)säkularisierte Varianten. Um dies zu veranschaulichen, sollen hier kurz zwei Beispiele herausgegriffen werden, die auf die weite Verbreitung dieser Erfahrung und narrativen Formel in der autobiographischen Literatur verweisen. Malcolm X beschreibt in seiner Autobiografie (1965, in Ko-Autorschaft mit Alex Haley) gleich zwei Präsenzerfahrungen, die als Konversionen seine Lebensgeschichte prägen und segmentieren. Die erste, im Kapitel »Saved« erzählte Konversion findet im Gefängnis statt, einem Ort des sogenannten prison-industrial-complex,24 also quasi im Epizentrum des Disziplinierungsapparats einer rassistischen Gesellschaft, die ihm Präsenz bis dato nur in Form von Gewalterfahrungen hat zuteil werden lassen. Dort erlangt er, nachdem er zu einer Gefängnisstrafe wegen Hehlerei verurteilt worden ist, seine moralische und spirituelle ›Reinheit‹ sowie seine Berufung durch die Konversion: Nach einer Erscheinung konvertiert er zur Nation of Islam. Sein neues Lebensgefühl markiert einen vollständigen Identitätswechsel: »I would be startled to catch myself thinking in a remote way of my earlier self as another person« (X 1965: 173). Hier wird die intrapersonale Fremdheit deutlich, die in der Erfahrung der Konversion zwischen dem zeitlichen ›vorher‹ und ›nachher‹ generiert wird. Das narrative Muster der Konversion entlastet das Subjekt jedoch weitgehend von der Aufgabe, diesen Bruch in der eigenen Identität zu bearbeiten, indem es das Agens des Identitätswechsels in die Transzendenz verschiebt und den Vorgang so als eine Errettung, als einen Gnadenakt darstellbar macht, der zur neuen, ›wahren‹ Identität führt. Malcolm X’ zweite Konversionserfahrung (zum Islam) findet auf seiner Pilgerreise nach Mekka statt: »The feeling hit me that there really wasn’t any color pro24 | Angela Davis hat den Begriff des prison-industrial-complex geprägt, um die Allianz zwischen einer ›Politik des Wegsperrens‹ sozial schwacher und nicht-weißer Bevölkerungsgruppen in den USA und privatwirtschaftlichen Interessen im Zuge einer zunehmenden Privatisierung der US-amerikanischen Gefängnisse anzuprangern (1998, 1999).
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blem here. The effect was as though I had just stepped out of a prison« (ebd.: 328). In der Beschreibung dieser zweiten Konversion erscheint das Gefängnis nicht als der konkrete Ort einer incarceration, sondern fungiert als Metapher für die rassistische amerikanische Gesellschaft schlechthin, aus der Malcolm X durch die Präsenzerfahrung mit und in einer nur scheinbar fremden und letztlich erlösenden anderen Kultur heraustritt. Interessanterweise sind die beiden Präsenz- bzw. Konversionserfahrungen mit gegensätzlichen Wertungen des Fremden verknüpft: Während die erste mit der Übernahme des Weltbildes der Nation of Islam eine (umgekehrte) rassistische Dämonisierung der Weißen, des nahen Fremden also, bedingt, führt die zweite zu einer Infragestellung eines generalisierten rigiden Binarismus und impliziert eine Idealisierung des fernen Fremden. Während die Perspektive des afroamerikanischen Intellektuellen Malcolm X einem minority discourse zuzurechnen ist, der mit der Beschreibung der Konversion als Präsenzerfahrung eine Selbstermächtigung und Selbstautorisierung betreibt, finden wir im Geiste fundamentaler christlicher Erneuerung (individueller und kollektiver Art) die Inszenierung eines anderen prominenten Amerikaners, der seine Präsenzerfahrung als läuternde Umkehr und Berufung darstellt und sie zum Teil seines politischen Erbes erklärt: »I once was lost, but now am found/was blind, but now I see. […] I was moved by God’s love« (Bush 2010: 34). Mit diesen Worten seiner »favorite hymn« beschreibt George W. Bush in seinen Memoiren Decision Points seine Konversionserfahrung und Verwandlung vom »infidel« zum Evangelikalen, vom Trinker zum Mitglied der Anonymen Alkoholiker, vom verantwortungslosen jungen Mann zu einem politisch engagierten Bürger und letztlich zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika. Auch hier werden eine intrapersonale und eine spirituelle Fremdheitserfahrung in der born again-Rhetorik ausgedrückt, in der Vorstellung einer vermeintlichen Wiedergeburt durch die Konversion, und auch hier wird die Ursache für den Identitätswechsel sowie die damit einhergehende Berufung einer transzendenten Macht zugeschrieben. Die beiden Beispiele zeigen, dass die narrativen Muster der Konversionserzählung eine wirkmächtige Diskursivierung der Präsenzerfahrung ermöglichen, die man in Memoiren und anderen autobiografischen Texten von Puritanerinnen und Politikern, Aktivisten und ehemaligen Sklaven findet. Dabei haben die Texte stets eine identitätsstiftende Funktion und vermögen Wandel und Veränderung zu plausibilisieren, ohne dass der Bruch in der Lebensgeschichte und die damit verschränkte intrapersonale Fremdheitserfahrung explizit vom Individuum selbst be- bzw. verarbeitet werden müssen. Die weite Verbreitung und die über lange historische Zeiträume ungebrochene Popularität der Konversion und ihrer Diskursivierungen in der US-amerikanischen Kultur legt die Vermutung nahe, dass die Kenntnis der Grundstruktur einer Konversion zum kollektiven impliziten Wissen weiter Teile der Bevölkerung zu zählen ist. Dieses implizite Wissen strukturiert die Präsenzerfahrung im Zuge der Konversion vor bzw. ermöglicht zuallererst die Deutung einer außergewöhnlichen Wahrnehmung als Konversionserfahrung. Die Diskursivierung des Erlebten mit Hilfe der im kulturellen Archiv verfügbaren nar-
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rativen Muster zielt produktionsseitig auf eine soziale Affirmation des in der Narration zu einer herausgehobenen, zeitlich verdichteten epiphanischen Präsenzerfahrung stilisierten Identitätswechsels; rezeptionsseitig aktiviert und expliziert sie auch die entsprechenden kollektiven Inhalte des impliziten Wissens und bekräftigt damit in der Rezeption zugleich die Gültigkeit und das sinnstiftende Potenzial der Formel ›Konversion‹. Die Interdependenz von Präsenz und implizitem Wissen zeigt sich nicht nur in diesen ›Rückkopplungseffekten‹, sie lässt sich auch in historischer Perspektive an der Diffusion des ursprünglich religiösen Strukturmusters in säkulare soziokulturelle Bereiche beobachten. Die Verfügbarmachung dieses Musters für die narrative Sinnkonstruktion sowie für die Inszenierung biografischer Wendepunkte ohne Bezugnahme auf eine transzendente Macht verweist zum einen auf das bereits erwähnte allgemeine Bedürfnis nach herausgehobenen Präsenzerfahrungen, zum anderen aber auch darauf, dass das (kollektive) implizite Wissen nicht statisch, sondern prozessual zu verstehen ist. Durch die Rückkopplung zu den individuellen Präsenzerfahrungen trägt das implizite Wissen den zeitgeistigen Besonderheiten und Gestaltungen von Präsenzerfahrungen Rechnung. Eine Säkularisierung der Präsenzerfahrung einer Konversion zeigt sich beispielsweise in der (ebenfalls kulturspezifischen) Ratgeberliteratur und -kultur, etwa in der sogenannten make-over formula, die gleichfalls auf die Differenz zwischen einem ›vorher‹ und einem ›nachher‹ rekurriert und die in der zeitgenössischen Populärkultur häufig an die Stelle der ›klassischen‹ Konversion tritt. Als ein herausragendes Beispiel hierfür mag die Fernsehserie The Swan (2004-2005) des TV-Senders FOX gelten, die Frauen nicht zum Glauben finden lässt, sondern zur Schönheit. Die Verwandlung liegt hier im Erreichen eines normativen Schönheitsideals: schlank, trainiert, ebenmäßige Gesichtszüge. Die Kandidatinnen in dieser Show werden fernab von der Außenwelt und von jeglicher Art von Spiegeln (unter Ausschluss der Reflexion – in der zweifachen Wortbedeutung) angeleitet, trainiert, verschiedenen plastischen Operationen unterzogen, auf Diät gesetzt und psychologisch ›gecoacht‹. Nach drei Monaten dürfen sie dann vor laufender Kamera vor einen Spiegel treten und ihre Verwandlung vom ›hässlichen Entlein‹ zum ›schönen Schwan‹ begutachten. Das Moment der Fremdheitserfahrung spitzt sich dabei in der spontanen misrecognition der eigenen Person im Spiegel zu, der eine andere, neue und vermeintlich schönere Person zurückspiegelt. Die epiphanische Qualität des Augenblicks besteht nicht in einem plötzlichen Einblick in bisher verborgene, tiefere Zusammenhänge, sondern im Enthüllen eines unbekannten und unvertrauten Anblicks. Dieser Moment der Entfremdung vom (alten) Selbst(bild) wird in der Erfolgsformel der TV-Show zügig überspielt und zu einem Erlebnis des ›wirklichen‹ Erkennens, der recognition (z.B. der bis dato unentdeckten ›Schönheit‹ und der Fähigkeit zum Erfolg) umgemünzt. Dass die in der Konversion erzielte Verwandlung vor allem eine Standardisierung und Anpassung an konventionalisierte Formen und Formeln ist, wird nicht thematisiert. Nur im ersten Moment des Erschreckens ist so etwas wie eine geradezu unheimliche Diskrepanz zwischen Bewusstsein und
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Wahrnehmung in der inszenierten Präsenzerfahrung zu erahnen. Der Jubel und der tosende Applaus lässt jedoch dieses aus der Perspektive der Produzenten der Show ›falsche Bewusstsein‹ und diese unheimliche Präsenz eines fremden Selbst schnell vergessen. Die später vermutlich einsetzende Krise im Selbstbezug der Kandidatinnen kommt, das bedarf wohl keiner Erwähnung, in der TV-Serie nicht zur Sprache. Das Beispiel zeigt die Kommodifizierung der Konversionsformel und die Verflechtung zeitgenössischer Inszenierung von Präsenz mit der Konsumkultur.
VII. F A ZIT UND A USBLICK Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass die Korrelierung von Präsenz, implizitem Wissen und Fremdheit neue Beschreibungsperspektiven auf eine Vielzahl kultureller Phänomene und Praktiken zu eröffnen vermag. Die eingangs dargelegten Thesen zur Interdependenz von Präsenz und implizitem Wissen, zur Koppelung von Präsenz und Fremdheit und zur Kulturspezifik von Präsenzerfahrungen sowie ihren Diskursivierungen und Inszenierungen wurden im Hinblick auf ihren heuristischen Ertrag an historischen und zeitgenössischen Beispielen aus der US-amerikanischen Kultur erfolgreich erprobt. Eine detaillierte Herausarbeitung der kulturspezifischen Dimension (a) der Bearbeitung von Fremdheit in und durch Präsenzerfahrungen (seien sie nun akzidentell oder inszeniert), (b) des impliziten Wissens, auf das rekurriert wird, (c) der verschiedenen Diskursivierungen, (d) der Inszenierungspraktiken von Präsenz und schließlich (e) der intendierten Funktionen und ›realen‹ Effekte auf die symbolische und soziale Ordnung bedürfte freilich – zusätzlich zu den hier präsentierten kulturell bedingten divergenten Rezeptionen bestimmter Inszenierungen von Präsenz – eines direkt kulturvergleichenden Forschungsansatzes, der Material aus anderen Kulturen in die Analyse einbezieht. Die skizzierten Fallbeispiele haben deutlich gemacht, dass die Thematisierung von Präsenz und implizitem Wissen unter dem Aspekt der Fremdheit in mancherlei Hinsicht auch an ideologiekritische Analysen gesellschaftlicher Diskurse und Praktiken anschließen kann. Besonders augenfällig wird dies bei den Inszenierungen von kultureller Präsenz (World’s Columbian Exposition, blackface minstrel show), die insofern eine wichtige Rolle für die sogenannte boundary maintenance spielen, als sie interkulturelle und/oder intrakulturelle Grenzziehungen explizieren und Inklusions- und Exklusionspraktiken legitimieren. Weiterführend lässt sich somit fragen, inwiefern die Erfahrungen, Diskursivierungen und Inszenierungen der Präsenz des Fremden auf im impliziten Wissen gleichsam sedimentierte ideologische Bestände rekurrieren und deren Gültigkeit affirmieren. Die regelmäßige, iterative, ja zunehmend serielle Aktivierung und partielle Explikation dieser Wissensbestände in kulturspezifisch inszenierten Präsenzerfahrungen wäre dann auch als Arbeit am »political unconscious« zu sehen, dessen »unresolved conflicts« und »internal contradictions« (Jameson 1996: 20) dort ein
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Ventil finden und somit meist in einer die imaginierte Gemeinschaft stabilisierenden Weise kanalisiert werden. Auch die Bearbeitungen von interpersonaler und intrapersonaler Fremdheit in und durch Präsenzphänomene, das wurde in den übrigen Beispielen sichtbar, bieten vielfältige Anschlüsse an ideologiekritische Ansätze: Zum einen, weil alle Präsenzerfahrungen, auch die vermeintlich privaten, durch kollektives implizites Wissen zumindest partiell vorstrukturiert sind, zum anderen, weil ihre Diskursivierung kulturell verfügbaren Mustern folgt und in der Regel sozial adressiert ist. Die vorgeschlagene vierstellige Typologie – intrapersonal, interpersonal, intrakulturell, interkulturell – dient insofern nur der Klassifizierung verschiedener Präsenzphänomene in Abhängigkeit der Dominanz einer der vier Typen von Fremdheit, darf also nicht dahingehend missverstanden werden, dass diese Typen im konkreten Einzelfall isolierbar sind. Die Gelenkstelle für die Korrelation von Präsenz und Fremdheit bildet, wie gezeigt wurde, der Begriff des impliziten Wissens: Der Rekurs auf Inhalte des impliziten Wissens in Präsenzerfahrungen, Diskursivierungen und Inszenierungen ist gleichsam der gemeinsame Nenner aller genannten Fallbeispiele. Die zentrale These einer Interdependenz von Präsenz und implizitem Wissen ermöglicht es somit, auf den ersten Blick höchst disparat erscheinende Präsenzphänomene mit einem einheitlichen Analyseinstrumentarium zu untersuchen. Das hier nur skizzierte Forschungsprogramm bedarf sowohl im Hinblick auf Begriffsbestimmung und Operationalisierung als auch auf den kulturvergleichenden Ansatz weiterer Fundierung und Präzisierung, die noch zu leisten sein wird.
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»Alle Menschen werden Schwestern«? Präsenz, implizites Wissen und feministische Solidarität Katharina Gerund
I. E INLEITUNG Im vorliegenden Beitrag möchte ich aus amerikanistisch-kulturwissenschaftlicher Perspektive die Interdependenzen von implizitem Wissen und Präsenz am Beispiel eines kulturspezifischen Falls der (diskursiven) Verhandlung von Solidarität – nämlich US-amerikanischer (weißer) Feminismen1 – analysieren. Dabei geht es in erster Linie darum, feministische politische Rhetorik hinsichtlich ihrer diskursiven Konstruktion von Solidarität zu untersuchen und dabei vor allem die Figur der Schwester sowie die Konzepte von Schwesterlichkeit und Schwesternschaft in den Blick zu nehmen. Sisterhood ist ein wirkmächtiges Schlagwort in US-amerikanischen feministischen Diskursen des 19. und 20. Jahrhunderts und selbst in kritischen Auseinandersetzungen finden sich kaum Alternativen zur Konzeption von Solidarität in Form dieser Familienmetaphorik. Trotz einiger bekannter Problematiken, etwa der biologischen Einfärbung des Begriffs oder seiner Exklusivität, wird das Konzept bis heute erfolgreich eingesetzt. Dieser (zumindest relative) Erfolg sowie die Langlebigkeit des Konzepts, so die im Folgenden zu erläuternde These, erklären sich nicht zuletzt aus dem impliziten und emotionalen Wissen2 um Schwesterlichkeit, das in dieser Rhetorik aufgerufen wird. Dabei entzieht sich 1 | Obwohl viele meiner Beobachtungen einen dominanten weißen Feminismus in den USA fokussieren, spreche ich hier von Feminismen oder feministischen Diskursen, um die Pluralität und Perspektivenvielfalt innerhalb dieser Bewegung, aber auch darüber hinaus zu markieren. Robin Morgan spricht diesbezüglich von einem »multidimensional feminism« oder einer »multiplicity of feminisms« (2003a: xx). 2 | Emotionales Wissen hat nach Oliver Stenschke zwei Bedeutungen: Es ist zum einen »Wissen über Emotionen«, zum anderen aber auch »emotional beeinflusstes Wissen« (2009: 109). Ich verwende den Begriff hier vor allem, um das Vorwissen um Emotionen der Geschwisterliebe und der Solidarität, welches in Diskurse um Schwesterlichkeit einfließt und durch diese evoziert wird, zu fassen.
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sisterhood – und die darüber proklamierte und evozierte Solidarität – zumindest teilweise der direkten Explikation. Besonders die emotionalen Komponenten der Geschwisterbeziehung rekurrieren auf implizite Wissensbestände, etwa darüber, was es genau bedeutet, jemandes Schwester zu sein. Obwohl die Auseinandersetzung mit sisterhood auf den ersten Blick in affirmativen wie kritischen Perspektivierungen als Konstante in (weißen) feministischen Diskursen erscheinen mag, schließt dies nicht aus, dass die aufgerufenen Wissensbestände historischen Veränderungen unterliegen und in signifikantem Maße kulturspezifisch sind, also auch eine Form ›lokalen‹ Wissens darstellen. Darüber hinaus wird im vorliegenden Beitrag sisterhood als ›agnotologisches‹3 Konzept verstanden. Die Familienmetaphorik ruft zwar einerseits Wissensbestände auf und/oder generiert Wissen um Solidarität und Schwesterlichkeit, befördert andererseits jedoch die Entstehung und Aufrechterhaltung von Ignoranz und Unwissen – zum Beispiel hinsichtlich der ideologischen Implikationen dieser Metaphorik oder möglicher alternativer Solidaritätsmodelle. Hier möchte ich in Bezugnahme auf Präsenz und implizites Wissen erste Überlegungen zur feministischen Rhetorik der Schwesterlichkeit anschließen und mich aus dieser Forschungsperspektive dem Phänomen der Solidarität (besonders der geschlechtsspezifischen Solidarität unter Frauen) annähern. Dafür bedarf es zunächst einer Arbeitsdefinition von implizitem Wissen und Präsenz einerseits (II.) und von Solidarität andererseits (III.). Solidarität muss in diesem Zusammenhang wenigstens kursorisch und tentativ im Zusammenspiel mit Schwesterlichkeit und Brüderlichkeit verortet werden. In einem weiteren Schritt analysiere ich am Beispiel des dominanten amerikanischen (weißen) Feminismus und seines partiell hegemonialen Diskurses die Konzeption von Solidarität als Schwesterlichkeit (IV.). Hierfür greife ich als exemplarischen Textkorpus auf drei von Robin Morgan herausgegebene Anthologien zurück, die nicht nur für die feministischen Bewegungen von zentraler Relevanz waren und sind, sondern auch verschiedene feministische Beiträge unter dem Schlagwort der sisterhood bündeln: Sisterhood Is Powerful: An Anthology of Writings from the Women’s Liberation Movement (1970), Sisterhood Is Global: The International Women’s Movement Anthology (1984) und Sisterhood Is Forever: The Women’s Anthology for a New Millenium (2003). Es geht dabei darum, die Bedeutung(en) und Implikationen von sisterhood im feministischen Diskurs sichtbar zu machen – nicht jedoch darum, diese aus zeitgenössischer postfeministischer Perspektive abschließend zu verorten oder zu evaluieren. Die Sammlungen sollen hinsichtlich ihrer Inszenierung von sisterhood auch als performative Akte einer feministisch-revolutionären Agenda beleuchtet werden. Die Analyse der Einleitungstexte unter Einbeziehung der 3 | Agnotologie im Sinne Robert Proctors und Londa Schiebingers befasst sich mit der kulturellen Erschaffung und Aufrechterhaltung von Unwissen und Ignoranz. Nach Proctor bedeutet dies auch, »to think about the conscious, unconscious, and structural production of ignorance« und »to question the naturalness of ignorance, its causes and its distribution« (2008: 3).
Präsenz, implizites Wissen und feministische Solidarität
jeweiligen Programmatik der Anthologien ermöglicht so erste Einsichten in die Konzeption von (feministischer) Solidarität als sisterhood und bildet eine Basis, um letztlich etwas allgemeiner auf mögliche Implikationen für die Beschäftigung mit Solidarität an der Schnittstelle von Präsenz und implizitem Wissen einzugehen (V.-VII.). Abschließend möchte ich mögliche Fragestellungen und weiterführende Problemkomplexe aufzeigen und zur Diskussion stellen, ohne jedoch bereits konkrete Lösungsvorschläge präsentieren zu können (VIII.).
II. I MPLIZITES W ISSEN UND DIE P R ÄSENTIFIK ATION VON SISTERHOOD
In einem ersten Schritt gilt es hier im Sinne einer Arbeitsdefinition zu explizieren, wie die zentralen Begriffe, also Präsenz als Präsentifikation und implizites Wissen, operationalisiert werden. Für das implizite Wissen hat Harry Collins eine hilfreiche Differenzierung vorgelegt, indem er zwischen »relational tacit knowledge«, »somatic tacit knowledge« und »collective tacit knowledge« unterscheidet (2010: 2f.). Im Diskurs um Schwesterlichkeit überlappen diese analytisch getrennten Dimensionen impliziten Wissens, welche ich in leicht modifizierter Version von Collins übernehme: Es geht ebenso um ein Körper- und Handlungswissen (somatic tacit knowledge), das ich als geschlechtsspezifisch verstehe, wie um implizites Wissen, welches zwar nicht expliziert wird, aber durchaus explizierbar wäre (relational tacit knowledge). Davon zu unterscheiden ist drittens ein implizites Wissen, das eine kollektive Basis hat (collective tacit knowledge) und das Collins auch als »knowledge ›embodied‹ in society« beschreibt (ebd.: 2). Dieser Begriff des kollektiven impliziten Wissens wird im Folgenden verwendet, um ein Wissen zu fassen, das von einer bestimmten Gemeinschaft oder Gruppe geteilt wird; abweichend von Collins soll der Begriff aber nicht mit der Annahme verknüpft werden, dass dieses Wissen in der Gesellschaft ›verkörpert‹ wird oder dieser ›gehört‹. Collins’ Modell ordnet die verschiedenen Formen impliziten Wissens einer graduellen Unterscheidung zwischen schwachem (relationalem), mittlerem (somatischem) und starkem (kollektivem) implizitem Wissen zu, welche die Widerständigkeit des Wissens gegenüber einer Explikation abbildet (vgl. ebd.: 85). Ich gehe im Folgenden davon aus, dass das Konzept der Schwesterlichkeit unter anderem auf implizite Wissensbestände zugreift, welche nicht vollständig explizierbar sind. Für die Analyse feministischer Solidarität ist neben Collins’ Modell vor allem die Arbeit von Alexis Shotwell hilfreich, die sich dem impliziten Wissen aus philosophischer wie auch aktivistischer Perspektive nähert und besonders die Aspekte race und gender in den Blick nimmt. Shotwell argumentiert, dass verschiedene Formen nicht-propositionalen Wissens in höchstem Maße relevant sind für »personal and political transformation« (2011: ix). Sie spricht von »implicit understanding«, das sie wie folgt definiert: »The implicit is what provides the conditions for things to make sense to us« (ebd.: x). Dabei unterscheidet sie zwischen vier Formen:
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»practical, skill-based knowledge; somatic or bodily knowing; potentially propositional but currently implicit knowledge; and affective or emotional understanding« (ebd.). Das praktische »know-how« ist dabei schon als kulturspezifisch angelegt, denn es entsteht – so argumentiert Shotwell im Rückgriff auf Hubert Dreyfus – vor dem Hintergrund gemeinsamer kultureller Praktiken (vgl. ebd.: 7). Körperwissen hat immer auch eine soziale Komponente und wird hier nicht nur als geschlechtsspezifisch, sondern ebenfalls als politisch definiert (vgl. ebd.: xii). Implizites Wissen, das »potentially propositional« ist, versteht Shotwell in erster Linie als eine Art Common Sense (ebd.). Das emotionale oder affektive Wissen schließlich ist nicht vollständig explizierbar aber durchaus relevant für individuelle und soziale Veränderung. Shotwells »implicit understanding« zielt also dezidiert auf die im vorliegenden Beitrag interessierende Geschlechts- und Kulturspezifik impliziten Wissens, sowie auf die besondere Bedeutung von Gefühlen, Emotionen und Affekten für Prozesse der politischen, sozialen und individuellen Transformation und für die Konzeption und Umsetzung von Solidarität.4 Solidarität erfordert in diesem Sinne immer auch eine Auseinandersetzung mit impliziten Wissensbeständen und deren Veränderung (vgl. ebd.: 98). In Anschluss an Audre Lorde und Sandra Lee Bartky spricht sich Shotwell für eine Solidarität aus, die sich weder durch einen gemeinsamen Feind, noch durch Empathie oder die Betonung von Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten auszeichnet, sondern Differenz anerkennt und Sympathie oder »feeling-with« propagiert (vgl. Kapitel 5). Shotwells Verständnis von »implicit understanding« als zentraler Dimension sozialer Bewegungen (besonders in Form von »sensuous knowledge«) und von impliziten Wissensbeständen als notwendiger Vorbedingung für positive Veränderung und kritische Auseinandersetzung mit Unterdrückung werden im Folgenden von besonderer Bedeutung sein. Der wechselseitige Begründungszusammenhang von implizitem Wissen und Präsenz ergibt sich im vorliegenden Beitrag über das aufgerufene implizite Wissen um Schwesterlichkeit als Solidaritätsmodell und die Präsentifikationen von sisterhood, die hier in Anlehnung an Hans Ulrich Gumbrecht definiert werden können als Verfahren, welche Schwesterlichkeit (zumindest scheinbar) »greifbar« machen (2004: 15). Dabei stehen nicht nur Diskursivierungen von (Präsenz)Erfahrungen der Schwesterlichkeit im Fokus, sondern zusätzlich die präsentische Dimension impliziten Wissens um die geschwisterliche Beziehung, welche auf praktischen Handlungen und Erfahrungen beruht. Beide Aspekte zeichnen sich durch ihre Kulturspezifik aus und werden im Folgenden am Beispiel eines dominanten US-amerikanischen Feminismus nicht zuletzt hinsichtlich ihrer spezifisch ›amerikanischen‹ Dimension untersucht. Die Grundannahme der Kulturspezifik von Präsenz und implizitem Wissen korrespondiert mit meiner These, dass das Verständnis von und das Wissen um sisterhood nicht nur kulturell, sondern auch 4 | Darüber hinaus setzt Shotwell (implizites) Wissen auch in Verbindung zu Unwissen. Sie spricht hier nicht von Agnotologie sondern bedient sich Charles Mills’ Begriffs der »epistemology of ignorance« (vgl. 2011: 36f.).
Präsenz, implizites Wissen und feministische Solidarität
historisch unterschiedlich verfasst sind. Es geht in meiner Analyse ausgewählter feministischer Texte nicht primär um die Frage, wie diese Schwesternschaft und Schwesterlichkeit repräsentieren, sondern vielmehr darum, wie sie implizites Wissen um Schwesterlichkeit aufrufen, inszenieren und performativ umsetzen. Präsenz wird also als performativ erzeugt und somit als Präsentifikation verstanden. Vorab ist es an dieser Stelle notwendig, auch den Nexus von Solidarität und Brüderlichkeit bzw. Schwesterlichkeit zumindest kurz zu skizzieren und im feministischen Diskurs zu verorten.
III. S OLIDARITÄT, B RÜDERLICHKEIT , S CHWESTERLICHKEIT Solidarität figuriert sowohl im alltäglichen wie im wissenschaftlichen Sprachgebrauch verschiedener Disziplinen als prominentes und positiv besetztes Schlagwort. Wie Alberto Godenzi herausstellt, »bekennen sich zur Solidarität ohne Schwierigkeiten und Hemmungen die unterschiedlichsten politischen Akteure«, obwohl Solidarität auch »Ausgrenzung und Diskriminierung meinen kann« (1999a: 11, 14). Der Begriff ist in seinen vielfältigen Verwendungen »unscharf« (Steinvorth 1998: 54), markiert eine wissenschaftliche »Randzone« (Kreisky 1999: 31) und wird jenseits der Soziologie nur selten zum »Gegenstand der Theoriebildung« (Bayertz 1998b: 12). Bayertz betont, dass der Solidaritätsbegriff dieses Schicksal »relative[r] Randständigkeit« (ebd.: 13) mit seinem »Vorläuferbegriff der ›Brüderlichkeit‹« teile (ebd.: 12, Fußnote 2): Im Laufe des 19. Jahrhunderts sei ›Brüderlichkeit‹ im (westlichen) politischen Diskurs zunehmend durch ›Solidarität‹ ersetzt worden (ebd.: 11). Die Ablehnung des ›älteren‹ Begriffs, so vermutet Véronique Munoz-Dardé, ergab sich zum Teil auch dadurch, dass er in gewissem Sinne ein »Gefühl, aber kein politisches Prinzip« bezeichnete, und zwar ein Gefühl, »das unter den Prinzipien des Bürgerrechts fehl am Platze ist, das die individuellen Freiheiten abwertet und das zu den […] Prinzipien der Freiheit und Gleichheit nicht recht paßt« (1998: 152f.). In anderen Worten könnte man sagen, dass sich die ›Brüderlichkeit‹ einer explizierbaren Regelhaftigkeit entzog und in den zeitgenössischen Diskursen vielmehr als emotionales und implizites Wissen aktiviert wurde. In der bekannten Begriffskonstellation der französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – stellt besonders die Brüderlichkeit »die Überwindung aller Standesgrenzen« in Aussicht und verdeutlicht den Umbruch von einer »vertikalen« in eine »horizontale Form der Vergesellschaftung« (Münkler 1994: 37f.). Dennoch, so betont MunozDardé, stand der Begriff in der politischen Philosophie »immer etwas im Schatten der anderen beiden Werte« (1998: 146). Entsprechend plädiert sie für eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Terminus und seinen Verwendungen. Vonnöten sei dies gerade deshalb, weil es sich bei Brüderlichkeit um einen »wesentlich unbestrittenen Begriff« handle, der oft als »letztes rhetorisches Mittel« diene, um »die Reflexion zum Schweigen zu bringen, statt ihr auf die Sprünge zu helfen« (ebd.: 147). Das Wort ›Brüderlichkeit‹ funktioniere somit »als sprachliche Fahne,
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die Adhäsion und Kohäsion hervorruft, ohne irgendeinen anderen begrifflichen Inhalt, ohne irgendeinen anderen Sinn zu haben, als den, den jeder einzelne Autor damit behauptet« (ebd.: 150). Aus einer ›agnotologischen‹ Perspektive im Sinne Robert Proctors könnte man argumentieren, dass der Begriff die Reflexion über die ideologischen Implikationen und Problematiken von Solidarität (als Brüderlichkeit) ausblendet und eine mögliche Bildung alternativer Solidaritätsmodelle verhindert. Somit trägt er zur Aufrechterhaltung kulturellen und politischen Unwissens über die Implikationen der Familienmetaphorik ebenso bei wie zur Perpetuierung ihrer ideologischen Basis. Dennoch beinhaltet Brüderlichkeit als »sprachliche Fahne« eine performative Dimension, eine Art »Präsenzeffekt« (Gumbrecht 2004: 12, 18, passim), der zu »Adhäsion und Kohäsion« führt, also Solidarität und Zusammenhalt hervorruft, ohne diese aber adäquat verbal beschreiben und verhandeln zu können. Die alte Semantik der Brüderlichkeit liegt also in gewisser Weise – etwa als emotionale Komponente – auch noch der moderneren Semantik der Solidarität zugrunde. Obgleich Solidarität »auf Vernunft beruhend scheint«, hat sie einen »gefühlsmäßigen Hintersinn« (Kreisky 1999: 34). Godenzi konstatiert mit Blick auf die Begriffsgeschichte, dass die Brüderlichkeit »im neuen Kleid der ›Solidarität‹ gesellschaftsfähig geworden ist« (1999a: 12). Eva Kreisky behauptet sogar, dass Solidarität und Brüderlichkeit trotz »ihrer historischen Auseinanderentwicklung« als »hybride Wendungen« gelten müssen (1999: 34). Ähnlich verweist Bayertz auf vier wichtige Verwendungen von Solidarität: erstens als allgemeine Brüderlichkeit, zweitens im Zusammenhang mit gesellschaftlicher Einheit, drittens zur Legitimation des Sozialstaates sowie viertens als Kampfbegriff. Es sind die Aspekte der Brüderlichkeit und des Kampfbegriffs, welche für eine Beschäftigung mit Schwesterlichkeit als feministischer Solidarität besonders relevant sind. Für Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit gilt gleichermaßen, dass sie trotz Universalitätsanspruch nicht einfach als ›allgemein‹ gelten können; vielmehr ist von einer »allgemeinen Relativität aller Gefühle der Brüderlichkeit« auszugehen und der Tatsache Rechnung zu tragen, dass »besondere Zuneigung oder Zuwendung zu einem Menschen oder einer Gruppe von Menschen in der Regel exklusiv ist« (Bayertz 1998b: 20).5 In diesem Zusammenhang stellt sich nicht zuletzt die Frage, ob die Brüderlichkeit – wie auch eine als Brüderlichkeit imaginierte oder konstruierte Solidarität – Frauen inkludiert.6 Im universalistischen Gestus des Begriffs mag man auch die ›Schwestern‹ als Teil der Gemeinschaft positioniert sehen, dennoch zeugt bereits 5 | Bayertz bemerkt, dass diese Einsicht nicht zwingend zu einer »Regression in den bornierten Partikularismus« führen muss; man kann eher von einer Koexistenz partikularistischer und universalistischer Ausrichtungen im »moralischen Bewußtsein« ausgehen (1998b: 21). 6 | Für Juliet Flower MacCannell ist der Fokus auf die Frauen ein Instrumentarium, um die Moderne der Aufklärung und ihre Schlagworte (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) zu kritisieren und ihr Versagen (›failure‹) zu exponieren (vgl. 1991: 1).
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die Etablierung des Begriffs der ›Schwesterlichkeit‹ von einer gegenteiligen Auffassung.7 In ihrer psychoanalytischen Kritik der Brüderlichkeit argumentiert Juliet Flower MacCannell etwa, dass das Patriarchat abgelöst wurde von einem »Regime of the Brother« oder einem »fraternal empire« (1991: 2f.), in dem sexuelle Differenzen negiert und damit Frauen unterdrückt und entmachtet wurden (vgl. ebd.: 5). In diesem Kontext stellt der Fokus auf die Frau als ›Schwester‹ eine kritische Intervention dar. Das Ideal der Schwesterlichkeit entsteht allerdings nicht nur als »feminine[r] Komplementärbegriff zur Brüderlichkeit«, sondern – so behauptet Herfried Münkler – soll das nicht eingelöste Versprechen der Brüderlichkeit umsetzen und »einen wahrhaft geschwisterlichen Umgang der Menschen miteinander, […] der frei ist von Macht und Herrschaft, Rivalität und Konkurrenz«, ermöglichen (1994: 47). Dabei bleibt bei beiden Begriffen »die stillschweigende Anrufung der Eltern« konstituierend für das gemeinsame Geschwisterverhältnis (ebd.: 48). Weder Brüderlichkeit noch Schwesterlichkeit können somit das hierarchische Verhältnis zwischen Eltern und Kindern vollständig zugunsten einer egalitären und gleichberechtigten Beziehung zwischen Geschwistern transzendieren. Es ist allerdings möglich, auch und gerade das kritische Hinterfragen der von ›elterlicher‹ Instanz etablierten und auferlegten Regeln und Prinzipien als Teil der Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit zu verstehen. Dies könnte zu Konzeptionen der (politischen) Brüderlichkeit führen, wie sie zum Beispiel Munoz-Dardé vorschlägt: Als Haupttendenz nennt sie in diesem Zusammenhang die »kritische Brüderlichkeit«, welche sich in Opposition zur Herrschaftsmacht positioniert, die »Tugendbrüderlichkeit« als eine exklusiv »kooperative Brüderlichkeit« und die »vertragstheoretische Brüderlichkeit«, welche sowohl konflikt- als auch konsensbezogen ist (vgl. 1998: 162ff.). In solchen Konzeptionen kommen auch die eher ›negativen‹ Konnotationen des Geschwisterverhältnisses wie etwa Rivalität, Machtkämpfe und Konflikte zum Vorschein, welche selbst in Solidaritätsdiskursen nicht vollständig zugunsten einer Betonung ›positiver‹ und bestärkender Aspekte wie Zusammenhalt, Gemeinschaftlichkeit und Sorge verdrängt werden können.8 In der Familienmetaphorik wird nicht nur das Potenzial von Analogien zwischen Solidarität und geschwisterlicher Beziehung deutlich, denn »sie weist sowohl auf eine Ähnlichkeit als auch auf eine Ungleichheit hin« (Munoz-Dardé 1998: 161). Brüderlichkeit oder Schwesterlichkeit zielen ja gerade darauf ab, Solidarität zwischen Menschen zu 7 | Dass diese Inklusivität und Universalität nicht in den Begrifflichkeiten angelegt ist und nur schwer durch diese transportiert werden kann, hat nicht zuletzt die feministische Linguistik aufgezeigt. Luise F. Pusch etwa, auf deren Arbeit auch der Titel dieses Aufsatzes verweist, hat sich nicht nur mit der Geschichte des Protests gegen die »männliche Vorherrschaft in der Sprache« befasst (1990: 87), sondern argumentiert sogar für eine »Totale Feminisierung« – also den Gebrauch des umfassenden Femininums (vgl. ebd.: v.a. 94ff.). 8 | Auch für Munoz-Dardé ist es erstaunlich, dass in der Familienmetaphorik der Brüderlichkeit »Sorge, Altruismus und Gemeinschaftssinn die ersten Assoziationen sein sollen« (1998: 160).
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fundieren, die eben nicht im buchstäblichen Sinne verwandt sind (vgl. ebd.), sondern die Teil einer »imagined community« sind (Anderson 2006). Als Kampfbegriff wird ›Solidarität‹ von Gruppen – wie etwa der Frauenbewegung – verwendet, um gemeinsame Interessen zu verfolgen. Dieser »Solidaritätstypus«9 zeichnet sich nach Bayertz durch eine »Zweipoligkeit« aus: Ein »positiver Bezug« entsteht durch die gemeinsamen Ziele, Interessen und Handlungen der Gruppe, ein »negativer Bezugspunkt« durch das »charakteristische Engagement gegen einen Gegner« (1998b: 41). Diese Form der Solidarität ist demnach nicht nur durch Exklusivität gekennzeichnet, sondern ebenso durch Konflikthaftigkeit. Diese richtet sich allerdings nach außen und keinesfalls nach innen, denn für die politische Wirkmächtigkeit des Kampfbegriffes muss ein gewisses Maß an Gemeinschaftlichkeit innerhalb der Gruppe sichergestellt sein. Solidarität basiert dann aber nicht nur auf gemeinsamen Interessen, sie hat auch normativen Charakter und generiert für die Gruppe eine moralische Verpflichtung (vgl. ebd.: 41ff.). Interessen sind aus dieser Perspektive definiert als legitime Interessen bei denen es um die »Realisierung gerechter Ziele« geht (ebd.: 45). In den US-amerikanischen Frauenbewegungen wird Solidarität häufig gleichermaßen als sisterhood wie als Kampfbegriff imaginiert und propagiert; die beiden von Bayertz analytisch getrennten Aspekte werden hier also zusammengeführt. Solidarität erfährt in der Figur der Schwester und dem Aufruf zur Schwesterlichkeit eine Repartikularisierung, macht aber gleichzeitig die Geschlechtsspezifik von Solidaritätsdiskursen deutlich. Während, wie Kreisky aufzeigt, Brüderlichkeit wie auch das auf ihr basierende Konzept der Solidarität aus »einem vorwiegend männlichen Bedeutungsuniversum schöpfen« (1999: 30), verspricht die Schwesterlichkeit auf den ersten Blick eine spezifisch weibliche Version der Solidarität.10 Brüderlichkeit und Solidarität versteht Kreisky im Rückgriff auf Mary Ann Clawson nicht nur als Metaphern oder politische Ideen. Vielmehr stellen beide als »spezielle Organisationsweisen in allen möglichen Sphären […] des Politischen […] soziale und kulturelle Formen wie Praxen dar, die auf hegemoniale Männlichkeit zurückgreifen und ihren Sinn aus maskulinen Wertsetzungen beziehen« (ebd.: 31f.). Entsprechend, so Kreisky, muss in der kritischen Auseinandersetzung mit Solidarität die ihr eingeschriebene Brüdermetapher freigelegt werden (ebd.: 38). Eben dies geschieht im feministischen Diskurs auch über den Begriff der 9 | Bayertz unterscheidet »Kampf-Solidarität« und »Gemeinschafts-Solidarität« (1998b: 49). Erstere bezeichnet die Hilfe für einen Kämpfenden zur Durchsetzung seiner Rechte (bei der eine Gemeinschaftsbeziehung nicht zwingend bestehen muss), während letztere sich auf eine partikulare Gemeinschaft bezieht und eine »von Gefühlen der Verbundenheit getragene Parteilichkeit« impliziert (ebd.: 49f.). 10 | Kreisky führt hierzu aus: »Dem revolutionären Sturz ›monokratischer‹ Väter folgt idealiter ein neues, modernisiertes, ›kollegiales‹ Regime der Brüder. […] Aber, ob traditionelle Vätermetapher oder neues revolutionäres Bild egalitärer Brüder, beide reflektieren uneingeschränkt Modelle männlicher Herrschaft und Dominanz maskuliner Ethik« (1999: 37).
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Schwesterlichkeit, der dennoch viele Problematiken mit seinem maskulinen Pendant teilt. Trotzdem oder gerade deshalb wird die Figur der Schwester in diesem Diskurs zur zentralen Solidaritätsallegorie erhoben und versinnbildlicht den Zusammenhalt unter Frauen in nicht-hierarchischen und gleichberechtigten Konstellationen. Diese Allegorie evoziert einerseits implizites Wissen um Konzepte wie Geschwisterliebe, familiäre Bindungen und Zusammenhalt, andererseits aktiviert sie geschlechtsspezifische implizite Wissensbestände. Die Tatsache, dass sisterhood als politischer Kampfbegriff kaum definitorische Explikation erfährt, deutet nicht nur auf eine allgemeine Bedeutungsoffenheit hin, sondern auch darauf, dass ein bestimmtes Wissen darum, wie die Rolle der Schwester zu gestalten und auszufüllen ist, als bekannt vorausgesetzt wird. Im Sinne Michael Polanyis und mit einer ›starken‹ These impliziten Wissens kann man hier konstatieren, dass sich etwa die emotionalen Dimensionen der Schwesterlichkeit und des Schwesterseins generell einer verbalen Explikation entziehen. Mit Polanyi kann man hier davon ausgehen, »daß wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen« (1985: 14). Es gilt analog für die Schwesterlichkeit, was Kreisky für die Brüderlichkeit herausstellt: »Unter Brüderlichkeit und einem Bruder kann und soll sich jeder Vertrautes vorstellen. Ohne viel sagen zu müssen, wird stereotyp vermittelt, wer damit gemeint sein soll und wer begrifflich von vornherein ausgeschlossen bleiben muss« (1999: 41). Ich würde hier ergänzen, dass nicht nur vieles ungesagt bleibt, weil es bekannt ist, sondern dass gerade das emotionale und implizite Wissen um Brüderlichkeit verbal nicht hinreichend artikuliert werden kann.11 Ähnlich wie Munoz-Dardé dies für den Bruder konstatiert (vgl. 1998: 148f.), ist auch die Figur der Schwester in diesem Zusammenhang eine hochgradig ambivalente: Sie changiert zwischen revolutionärem Versprechen der Frauenbewegung und Affirmation traditioneller Familienkonstellationen. Sie konzipiert zwischenmenschliche Bindungen auf der Basis von Blutsverwandtschaft und wird zugleich verwendet, um »Solidarität unter Fremden« (Brunkhorst 1997) nicht nur zu repräsentieren, sondern auch herzustellen und zu fundieren.
IV. S OLIDARITÄT ALS S CHWESTERLICHKEIT IM FEMINISTISCHEN D ISKURS Innerhalb feministischer Diskurse wird das Konzept der sisterhood nicht nur als Kampfbegriff verwendet, sondern auch kritisch betrachtet und in seinen vielschichtigen problematischen Implikationen beleuchtet. Hervorzuheben sind hier die Beiträge von afroamerikanischen Aktivistinnen wie Alice Walker, bell hooks oder Audre Lorde, die Perspektive der kritischen Weißseinsforschung in den Arbeiten von Ruth Frankenberg sowie der »critical race feminism«, wie ihn 11 | In Polanyis Auffassung ist sogar jedes Wissen implizit oder zumindest auf implizitem Wissen basiert (vgl. 1985: 195).
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zum Beispiel Elizabeth Spelman in Inessential Woman (1988) verfolgt. Lorde etwa hat wiederholt die Exklusionsmechanismen und Homogenisierungstendenzen des dominanten Feminismus aufgezeigt. In einem Interview von 1976 verweist sie auf die »trappings of sisterhood« und erklärt: »I think that some of the people who shout sisterhood most strongly have no concept of what real connectedness between women is all about« (zit. in Hall 2004: 13). Obwohl Lorde immer wieder die universalistischen Aspekte von sisterhood kritisiert, beruht auch ihre Vorstellung von Solidarität unter Frauen letztlich auf einer Metaphorik familiär-verwandtschaftlicher Beziehungen. Besonders deutlich wird dies in ihrer Selbstbezeichnung als »sister outsider« oder daran, dass sie trotz ihrer Kritik am Konzept sisterhood vor allem schwarze Frauen mit der Erklärung »I am your sister« adressiert. Die impliziten und expliziten Bedeutungsebenen der allegorischen Figur der Schwester werden kaum aufgezeigt und untersucht; Validität und Wirkmächtigkeit von sisterhood werden somit eher verstärkt denn subvertiert. Barbara Johnson geht daher sogar so weit zu behaupten, dass die Familienmetaphorik gänzlich ungeeignet zur Konzeption von Beziehungen unter Frauen sei: »We will never build a true Women’s Movement until we can organize as equals, woman to woman, without the masks of family roles« (2003: 156). Dennoch zeigt auch Johnson keine tragfähige Alternative auf – ungeachtet aller Problematisierungen ist sisterhood de facto ein zentrales Schlagwort feministischer Solidaritätsaufrufe und -bekundungen geblieben. Es stellt sich also die Frage, warum gerade die ›Maskierung‹ in Familienrollen und in Beziehungen von (imaginierter) Verwandtschaftlichkeit in feministischen Diskursen weitgehend ungebrochen prominent figuriert. Meiner These folgend könnte dies darin begründet sein, dass durch die nicht nur im US-amerikanischen Kontext verbreitete normative Setzung der (Kern-)Familie als vorherrschende soziale Gemeinschaftsform sowie durch deren Verhandlung in kulturellen Texten, Narrativen und Visualisierungen ein kollektives implizites Wissen vorhanden ist, welches als Fundament für diese Konzeption und Diskursivierung von Solidarität und Gemeinschaftlichkeit fungiert und entsprechend leicht aktiviert werden kann. Abhängig vom sozialen Milieu, kulturellen Kontext, religiösen Hintergrund und individuellen Prädispositionen mögen Erfahrungen mit und Wissen um ›Familie‹ divergieren; zieht man jedoch in Betracht, dass sisterhood als feministisches Fahnenwort kaum explizit definiert wird, liegt die Vermutung nahe, dass diese Unterschiede gerade dank der Unschärfe und Offenheit des Konzepts in diesem aufgehen können. Eine ›kritische Schwesterlichkeit‹ müsste sich demnach mit der Referenzinstitution der Familie und der durch sie generierten impliziten und vor allem habituellen Wissensbestände befassen. In dieser Logik wäre auch ein Stück weit erklärbar, warum – paradoxerweise – die Kritik an der Familie oft mit einer vergleichsweise unproblematischen Verwendung der Familienmetaphorik einhergeht und warum es auf der Ebene der (imaginierten und proklamierten) Solidarität und deren ritualistischer Bekundung innerhalb des (weißen) US-amerikanisch dominierten feministischen Diskurses scheinbar
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kaum eine Alternative zu dieser Metaphorik gibt.12 Ohne hier einen Ausweg aus dieser Problematik aufzeigen zu können, möchte ich im Folgenden anhand der Programmatik der Sisterhood-Anthologien die Rhetorik um und performative Inszenierung von ›Schwesterlichkeit‹ vor dem Hintergrund der Diskursivierung und Präsentifikation impliziten Wissens analysieren und damit eine neue Dimension des ›alten‹ Problems skizzieren. Die Texte – und nicht zuletzt Robin Morgan als editorische Instanz – können zu einem großen Teil der sogenannten ›zweiten Welle‹ der feministischen Bewegung zugeordnet werden. Dabei gilt es zu beachten, dass die Wellenmetaphorik zur Erfassung von feministischen Bemühungen problematisch ist (vgl. Hewitt 2010).13 Gerade die Auseinandersetzung mit sisterhood – die auch im postfeministischen Diskurs noch vielerorts aufscheint – demonstriert, dass die historische Aufgliederung in verschiedene ›Wellen‹ der Komplexität und Kontinuität feministischer Bestrebungen kaum gerecht wird. Morgans Anthologien erscheinen auch deshalb als geeignete Fallstudie, weil sie einen relativ breiten Zeitrahmen umfassen – von 1970 bis in die 2000er Jahre –, der die typischerweise angenommene Grenze zwischen einer ›zweiten‹ und ›dritten Welle‹ überschreibt und damit die Gleichzeitigkeit verschiedener feministischer Perspektiven (u.a. auf sisterhood und Solidarität) sichtbar macht.
V. S ISTERHOOD I S P OWERFUL : B E WUSST WERDUNG UND S CHWESTERLICHKEIT Sisterhood Is Powerful war nicht nur ein Bestseller, sondern gilt bis heute als Klassiker feministischer Publikationen. Die Sammlung zählt, wie Morgan selbst herausstellt, zu den einflussreichsten Büchern des 20. Jahrhunderts (vgl. 2003a: xviii) und wurde von der New York Public Library in die Ausstellung und Publikation Books of the Century (vgl. Diefendorf 1996: 133) aufgenommen. Beinhaltet sind im 12 | Diese Alternativlosigkeit zeigt sich auch an jüngeren kritischen Publikationen, die mit dem Schlagwort und/oder dem Konzept der sisterhood arbeiten. Titel wie Unequal Sisters (DuBois/Ruiz 1990) oder Sisterhood, Interrupted (Siegel 2001) belegen, dass der problematische Begriff sisterhood keineswegs durchgängig ersetzt, sondern eher modifiziert wird. Eine häufig gewählte Variante in jüngeren Publikationen ist die (feministische) Solidarität – damit ist jedoch keine Alternative zu der Bildlichkeit und Anschaulichkeit der Schwesternschaft gefunden; vielmehr wird sich auf ein höheres Abstraktionsniveau zurückgezogen. 13 | Nancy A. Hewitt stellt fest, dass man den Begriff der ›Welle‹ nicht wird abschaffen können und schlägt daher vor, sich zunehmend über Umdeutungen Gedanken zu machen (etwa von der Welle als Radiowelle) (2010: 8). Robin Morgan deklariert die Bezeichnungen einer ›ersten‹, ›zweiten‹ und ›dritten Welle‹ der feministischen Bewegung sogar als »misnomers«, als Fehlbezeichnungen (2003a: xxix).
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engeren Sinne literarische Texte, (wissenschaftliche) Aufsätze, programmatische Beiträge feministischer Aktivistinnen und historische Zeitdokumente. Bereits in ihrer Einleitung betont Robin Morgan den performativen Aspekt des Bandes (»This book is an action«, 2003a: xiii) und beschreibt, wie schon die gegen alle Widerstände und Probleme durchgesetzte Erstellung und Veröffentlichung als Teil feministischen Aktivismus gesehen werden könne und müsse (vgl. ebd. xiiiff.). Sie verweist darauf, dass die Einnahmen aus dem Buchverkauf der Unterstützung der Frauenbewegung dienen: »for day-care and abortion projects, bail and defense funds etc.« (ebd.: xvii). Auch die Zusammenstellung unterschiedlichster Texte in Sisterhood Is Powerful begreift Morgan als eine Intervention in männliche Diskurshoheit und deren lineare Konsistenz (vgl. ebd.). Weiter inszeniert sie den feministischen Slogan »the personal is political«, indem sie ihre eigene Entwicklung zu einer radikalen Feministin skizziert. Diese Beschreibung ist fragmentarisch, assoziativ und liefert kaum kausale Erklärungen: »I still don’t fully know how it came about« (ebd.: xv). Dennoch schreibt Morgan der Arbeit an ihrer Anthologie große Bedeutung zu: »[T]his book seems to have been most responsible« (ebd.). Die Diskursivierung der Entstehung ihres feministischen »consciousness« bedient sich ein Stück weit des narrativen Repertoires der Konversion und nutzt dieses für eine (säkularisierte) »conversion narrative«.14 Die Bewusstwerdung und Bewusstmachung der eigenen Unterdrückung und Identität als Frau in einer patriarchalen Gesellschaft, das »consciousness-raising«,15 wird als konstituierendes Ritual für die feministischen Bewegungen und als elementar für die Mobilisierung und Organisation von Frauen betrachtet. Dabei wird deutlich, dass sich der Prozess der Bewusstwerdung einer verbalen Explikation versperrt; vielmehr ist diese Erfahrung wie auch das feministische »consciousness«16 nur ansatzweise sprachlich fassbar und somit Teil eines praktischen und erfahrungsbasierten Wissens. Auch wenn etwa Kathie Sarachild die verschiedenen Schritte und Prozesse einer Methode des »consciousness-raising« für und in Frauengruppen auflistet und teilweise in einer expliziten Regelhaftigkeit ausformuliert (vgl. die verkürzte Darstellung in Morgan 1970a: xxiiiff.), so bleiben individuelle und kollektive Erfahrungen der Bewusstwerdung sprachlich nur unbefriedigend beschreibbar. Es geht also um eine Erfahrung, die sich nicht durch die verbale Ausformulierung einzelner Schritte und Vorgänge repräsentieren oder gar ersetzen lässt, sondern nur im eigenen
14 | Zur »conversion« siehe auch Lösch/Paul in diesem Band. 15 | Die Bedeutung des »consciousness-raising« gilt selbstverständlich nicht nur für die feministischen Bewegungen, sondern betrifft auch andere revolutionäre Prozesse und Protestbewegungen; man denke hier etwa an die Signifikanz dieses Phänomens in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung oder in der Black Power-Bewegung. 16 | Eine zusätzliche Komplexitätsdimension entsteht dadurch, dass man nicht von einem feministischen ›Bewusstsein‹ sprechen kann, sondern eine Pluralität annehmen muss; bei Morgan heißt es hierzu: »There are different forms of consciousness present« (1970a: xviii).
Präsenz, implizites Wissen und feministische Solidarität
Erleben nachvollzogen werden kann. Dennoch gibt es Diskursivierungsversuche ebenso wie (bewusste) Inszenierungen bzw. Präsentifikationen dieser Erfahrung. Solidarität als Schwesterlichkeit kann daher unter Feministinnen durch gemeinsame Erfahrung etabliert werden, ohne vollständig expliziert zu werden. Laut Morgan hätten die Frauen in der Frauenbewegung gelernt, dass ihre persönlichen Erfahrungen keine privaten Probleme, sondern politische Probleme sind, weil sie sie mit allen anderen Frauen teilen (vgl. ebd.: xvii). Man könnte dies mit Collins als einen Vorgang beschreiben, in welchem »unrecognized knowledge« – in diesem Fall Wissen, das auf Alltagserfahrungen und persönlich Erlebtem beruht – überhaupt erst als Wissen erkannt wird. Dieses (An)Erkennen ist ebenfalls Teil des »consciousness-raising«. Morgan führt weiter aus: »The theory then comes out of human feeling, not out of textbook rhetoric« (ebd.: xviii). So verstanden entsteht feministische Theorie durch Erfahrungswissen und Gefühle; Zusammengehörigkeit und Gemeinschaftlichkeit generieren sich durch die teilweise Explikation und Diskursivierung dieses gemeinsamen Fundaments und die ritualisierte (verbale oder nonverbale) Bekundung der gegenseitigen Solidarität. Es ist eine Prämisse für diese Vorstellung von feministischer Theorie und Praxis, dass Frauen gemeinsame implizite Wissensbestände – basierend etwa auf ihrer Erfahrung von Unterdrückung und Exklusion im patriarchalen System und der durch das Patriarchat vorgeschriebenen Rollenmodelle – teilen und diese als einheits- und solidaritätsstiftende Elemente aufgerufen werden können. Die Figur der Schwester fungiert als rhetorisches Mittel, um diese Wissensbestände zu evozieren und die Gemeinschaftlichkeit in die Semantik der Familie zu überführen. Ein zentrales Paradoxon dieser Figur besteht darin, dass sie zum einen implizites Wissen voraussetzt und aufruft, zum anderen aber nur dann zu einer ›erfolgreichen‹ Kampfrhetorik beiträgt, wenn gleichzeitig das Wissen um die Problematik von Familiensemantiken ausgesetzt wird und etwa Differenzen oder Machtgefälle zwischen Frauen und/oder Feministinnen (teilweise) negiert werden. Zwar stellt Morgan in ihrer Einleitung zu Sisterhood Is Powerful auch die Perspektivenvielfalt der Frauenbewegung dar und sieht ihre Arbeit ein Stück weit als Korrektiv zum vorherrschenden Medienbild (vgl. ebd.: xviiiff.). Dennoch heißt es in dem programmatischen Text: »The women’s movement is a non-hierarchical one. It does things collectively and experimentally. It is also the movement that has the potential to cut across all class, race, age, economic, and geographical barriers« (ebd.: xviii).17 Betont wird also nicht nur die nicht-hierarchische, egalitäre Struktur, welche auch sisterhood impliziert, sondern ebenso der experimentelle und kollektive Charakter der Bewegung. Dies kann als Verweis darauf gelesen werden, dass hier 17 | Morgan behauptet auch, dass sich die Frauenbewegung aktiv mit den sozialen Unterschieden und Ungleichheiten auseinandersetzen und somit ein Bewusstsein für die Heterogenität innerhalb der Bewegung schaffen würde (vgl. 1970a: xxviff.). Damit bestärkt sie den Anspruch auf Inklusivität und Universalität, den sie immer wieder ins Zentrum ihrer Ausführungen stellt.
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(implizite) Wissensproduktion in gewissem Umfang durch gemeinschaftliche Erfahrungen und (intuitives) Experimentieren geschieht. Auch bezüglich der Ziele der Frauenbewegung verweist Morgan auf die experimentelle Herangehensweise, in der Emotionen zum Kriterium der Gültigkeit von Analysen werden – »We’re beginning to grope toward some analyses that feel right« (ebd.: xxxi). Bereits hier zeichnet sich eine Idealvorstellung der Inklusivität und Universalität der US-amerikanischen Frauenbewegung ab, welche im späteren Band Sisterhood Is Forever unmissverständlich als feministisch inflektierter American exceptionalism in Erscheinung tritt. Solidarität als sisterhood ist in Morgans Darstellung aber nicht nur ein wichtiger Aspekt des »empowerment«, also eines weiblichen Ermächtigungsnarrativs, sondern – wie sie mit Blick auf die Genese der Frauenbewegung in den 1960er Jahren feststellt – eine Notwendigkeit zum Überleben der Frau in einer patriarchalen Gesellschaft: »[W]omen, who had been struggling on a one-to-onebasis with their men, began to see that some sort of solidarity was necessary, or insanity would result« (ebd.: xx). Die Überwindung von Klassen- und Rassengrenzen ist in dieser Konzeption möglich, da »a common root as women« vorausgesetzt wird (ebd.: xxvi). Die Binarität der Geschlechterdifferenz wird somit zur prioritären Identitätskategorie erhoben, das geschlechtsspezifische implizite Wissen (sowohl in Form von Körper- als auch Erfahrungswissen) und die Bewusstwerdung/-machung der Unterdrückung zur Basis weiblicher Solidarität und Gemeinschaftlichkeit. Die Kernfamilie wird als repressive gesellschaftliche Institution für Frauen (ebenso wie für Männer und Kinder) entlarvt (vgl. ebd.: xxxii). Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass Solidarität unter Frauen dennoch als sisterhood – also als familiär-verwandtschaftliches Verhältnis – propagiert und imaginiert wird. Die (radikale) feministische Rhetorik bleibt somit einer Semantik verhaftet, die auf die ›traditionelle‹ gesellschaftliche Rolle der Frau in der Familie innerhalb der »domestic sphere« (als Schwester, aber auch etwa als Tochter oder Mutter) und ihre Abhängigkeit von autoritär-patriarchalen Strukturen verweist. Morgan plädiert zwar mit Nachdruck für ein Nachdenken über Alternativen des Zusammenlebens jenseits der Kernfamilie; doch appelliert sie an andere Frauen als ›Schwestern‹ – die Alternativen fehlen scheinbar auch auf der Ebene der Solidaritätskonzeptionen. Der Begriff sisterhood und die Anrede sister rufen bekannte familiäre Strukturen auf, um deren Bedeutung und Form die Rezipientin (implizit) weiß.18 Morgans Anthologie soll Frauen ansprechen, mobilisieren und für die einzelne Leserin ebenso 18 | Nicht nur die Leserin wird als ›Schwester‹ angesprochen; auch die Beiträgerinnen werden als »sister contributors« im Appendix der Sammlung aufgelistet (Morgan 1970: 569); dies hat u.a. den Effekt, dass eine Nähe zwischen Produzentin und Rezipientin suggeriert wird und die Botschaft der Sammlung performativ umgesetzt wird. Ein weiteres Beispiel, das die Behauptung Morgans »This book is an action« deutlich zum Vorschein bringt, ist die gegen Ende des Bandes der Leserin an die Hand gegebene »statistical and aphoristic ammunition« (vgl. ebd.: 557ff.).
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von Bedeutung sein wie für die Frauenbewegung. So spricht sie die Leserin in ihrer Einleitung direkt an – »You, sister, reading this« (ebd.: xxxv) – und bestärkt den transformatorischen Anspruch ihrer Sammlung: »I hope this book […] makes some real change in your heart and head« (ebd.: xxxvi).19
VI. S ISTERHOOD I S G LOBAL : TR ANSNATIONALE S OLIDARITÄT Schon in Sisterhood Is Powerful erklärt Morgan: »I begin to think of a worldwide Women’s Revolution as the only hope for life on the planet« (1970a: xxxv). Sisterhood Is Global erscheint somit als logische Fortsetzung des ersten Anthologieprojekts. Wie alle Sisterhood-Anthologien hat dieses Buch eine aktivistische Agenda und stellt eine Präsentifikation im Sinne einer bewussten Inszenierung von globaler sisterhood und »womanpower« (Morgan 1996a: 3) dar. Als Dokument feministischer Solidarität über nationale Grenzen hinaus will es zu weiterer Netzwerkbildung und feministisch-aktivistischer Arbeit Anstoß geben (»this entire book is an appeal«, Morgan 1996: xxiii). Die einzelnen Beiträge zu und aus verschiedenen Nationen, denen jeweils ein Part mit Fakten und Informationen zum jeweiligen Land und der dortigen Situation der Frauen vorangestellt ist,20 sind gerahmt durch eine Einleitung und ein Vorwort, das unter anderem Methodologie, Terminologie und Entstehungsprozess des Bandes expliziert (ebd.: xiiiff.). Robin Morgans Stimme und ihre Bedeutung als Herausgeberin erhalten durch diese Rahmung besonderes Gewicht – zwar spricht sie fast durchweg von dem Band als kollektivem Projekt, doch bleibt ihre Perspektive dominant (und damit auch eine weiße, US-amerikanische Hegemonie im globalen feministischen Diskurs). Die Kampfrhetorik der sisterhood ist weiterhin gekoppelt mit einem Appell an inter- und transnationale Solidarität unter Frauen, die auf einem teilweise essentialistisch anmutenden Frauenbild beruht. Zwar betont Morgan, dass die gemeinsame Weltsicht der Frauen nicht biologisch oder mystisch sei, sondern sich aus der geteilten Erfahrung der Unterdrückung generiere, aus einer »common condition«, die alle »human beings who are born female« – wenngleich in unterschiedlichem Maße – erleben und tei19 | Morgan beendet ihren Einleitungstext mit einer Nachricht, einem Gedicht, an eine Frau, die kurz zuvor in den Untergrund gegangen ist (»Letter to a Sister Underground«, 1970a: xxxviff.). Damit stellt sie zum einen noch einmal die persönliche, individuelle Dimension in den Vordergrund und präsentiert zum anderen performativ sisterhood als gelebtes Solidaritätskonzept. 20 | Es ist ein bezeichnender performativer Widerspruch, dass ein Band, der einen grenzüberschreitenden Feminismus einfordert und inszeniert, letztlich an der Nation als primärer strukturierender Differenzkategorie festhält. Die einzelnen Autorinnen aus den jeweiligen Ländern sprechen allerdings dezidiert nicht als »official representatives of their country«, sondern als »truth teller«, die jenseits von gängiger Rhetorik die »Realität« schildern können (Morgan 1996: xvi).
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len (1996a: 4). Dennoch verallgemeinert sie an späterer Stelle: »Rape […] is an omnipresent terror to all women of any class, race, or caste. […] Labor and childbirth feel the same to any woman« (ebd.: 20). Die fehlende Differenzierung zeugt vom Versuch, die Gemeinschaftlichkeit unter Frauen als Basis solidarischen Handelns zu zementieren, und entsprechend dieser Programmatik wollen auch die einzelnen Beiträge in der Sammlung Unterschiede eher minimieren als hervorheben (vgl. ebd.: 19).21 Die individuellen Erfahrungen von Frauen sind zwar nicht pauschal verallgemeinerbar, aber Morgan konstatiert hier – wenn auch nicht in dieser Terminologie –, dass Frauen über ein geschlechtsspezifisches implizites Körper- und Handlungswissen verfügen, sowie implizite Wissensbestände über patriarchale Strukturen und ihre Auswirkungen teilen. Mit Blick auf die Kulturspezifik impliziter Wissensbestände und vor dem Hintergrund der Intersektionalitätsforschung (vgl. zum Beispiel die Arbeiten von Kimberlé Crenshaw und Patricia Hill Collins) kann diese Aussage modifiziert werden. Kim Vaz und Gary Lemons etwa sprechen vom »value of intersectional theorizing challenging ideology of global ›sisterhood‹ rooted in the myth of gender oppression as the sole obstacle to all women’s liberation« (2011: 3). Schon mit den Anführungszeichen um den Begriff sisterhood distanzieren sie sich von diesem Solidaritätskonzept und seinen Problemen und propagieren stattdessen – wie viele andere jüngere Publikationen – »feminist solidarity«.22 Man müsste also eher davon sprechen, dass es eine Schnittmenge bzw. Berührungspunkte gibt, die sich aus einem geschlechtsspezifischen Körper- und Handlungswissen generieren. Dabei soll nicht ausgeschlossen werden, dass ›Frau sein‹ in verschiedenen kulturellen, sozialen, nationalen oder religiösen Kontexten unterschiedliche Bedeutung haben kann und somit nicht durch identische implizite Wissensbestände fundiert ist bzw. diese hervorbringt. Auch das implizite und emotionale Wissen um sisterhood – so meine These – unterliegt entsprechend kulturspezifischen Ausprägungen und historischen Veränderungen. Die Nicht-Explikation und partielle Nicht-Explizierbarkeit des Konzepts von sisterhood (auf metaphorischer wie buchstäblicher Ebene) ist in diesem Fall – aller Kritik zum Trotz – als Teil seiner Wirkmächtigkeit und Langlebigkeit zu sehen.
21 | Morgan führt an späterer Stelle aus: »[T]he most basic similarity of all is the sister in search of the self« und konstatiert eine fundierende Geschichte des »deep suffering« aber auch der Liebe als verbindendes Element der Beiträge in ihrer Sammlung wie auch des feministischen Diskurses (1996a: 36). 22 | Diese Hinwendung zum Begriff der Solidarität mag eine Entwicklung darstellen, welche die Brüderlichkeit bereits durchlaufen hat (vom emotionalen zum eher vernunftbasierten Prinzip); allerdings wäre auch dann genauer zu fragen, inwiefern sich diese feministische Solidarität von einer auf maskulinen Parametern beruhenden (und aus der Brüderlichkeit hervorgegangenen) Solidarität unterscheidet und inwieweit der Begriff der Solidarität seines semantischen Gepäcks und seiner (maskulin geprägten) Genese enthoben werden kann.
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In Morgans Einleitung zu Sisterhood Is Global wird nicht nur Gemeinschaftlichkeit unter Frauen emphatisch propagiert, sondern auch ein ›Gegner‹ benannt und ein ›Feindbild‹ etabliert. Die Herausgeberin bedient sich hierzu einerseits der Familienmetaphorik und stellt zusätzlich – im Jahr 1984 nicht ganz überraschend – einen Bezug zu George Orwells Roman 1984 her, denn der ›Gegner‹ heißt hier »Big Brother«. Morgan führt in ihrer Bestandsaufnahme aus: »Big Brother smiles patriarchally from television sets in the United States and Western and Eastern Europe, from posters in Moscow and Beijing, from podiums in Africa and the Middle East, from military-review grandstands in Latin America« (1996a: 1). Diese Auflistung hat nicht nur den Effekt, den globalen Charakter patriarchaler Strukturen oder der »patriarchal mentality« (ebd.) aufzuzeigen, die sich in unterschiedlichen Ländern in verschiedenen Formen und Formaten manifestieren, sondern die Auswahl der jeweiligen Medien suggeriert auch die zivilisatorische und technologische Überlegenheit der USA und Europas. Der wichtigste Faktor mit Blick auf die Macht der Frauen als »world political force« ist nach Morgan die Kombination aus ihrer großen Anzahl und ihrem Leiden (»suffering«). Das Ziel ist nicht nur die Ermächtigung der Frauen, sondern eine umfassende Reform und Neudefinition bestehender sozialer Strukturen und Seinsweisen (ebd.: 3). Als Prämisse für diese Veränderung gilt: »To fight back in solidarity […] requires that women transcend the patriarchal barriers of class and race, and […] even the solutions the Big Brothers propose to problems they themselves created« (ebd.: 18). Es ist zentral für dieses feministische Projekt, dass die ›agnogenetischen‹ (Robert Proctor) Strategien patriarchaler Strukturen und nicht zuletzt der Geschichtsschreibung aufgezeigt, kritisiert und überwunden werden: »We must […] demystify the channels of power, in order to travel them« (Morgan 1996a: 34). Schon im Band selbst, vor allem in den »Herstory sections« geht es darum, Ignoranz und Unwissen über die Situation von Frauen, ihre Traditionen und ihre Geschichten zu bekämpfen. Hierfür wurden, so formuliert es Morgan, »buried or ignored facts« zusammengestellt mit dem Ziel, dass »we all can recognize ourselves and our sisters by seeing our foremothers – and their contexts – more clearly« (ebd.: 5). Für die Beziehung unter den ›Schwestern‹ und das gegenseitige (An)Erkennen soll also nicht (mehr) der (Ur)Vater die sinnstiftende Figur sein, vielmehr werden im archäologischen Projekt der Rekonstruktion ›weiblicher‹ Geschichte(n) die Mutterfiguren ins Zentrum gerückt: Es geht um den Versuch, eine matrilineare Genealogie zu etablieren. Während also einerseits auf der metaphorischen Ebene die Familie als strukturgebendes Konzept für die Anthologie und das darin dokumentierte feministische Bestreben relevant bleibt, wird andererseits in aller Deutlichkeit eine Kritik an der ›tatsächlichen‹ Familie als gesellschaftlicher Institution artikuliert. Die Reform oder Transformation der Familie wird so zu einem zentralen feministischen Thema (vgl. ebd.: 12f.). Obgleich die beiden Felder der Metapher zu unterscheiden sind, werden doch Elemente der Familienstruktur in Analogie zu dem Verhältnis zwischen Frauen bzw. zu ›größeren‹ gesellschaftlichen Strukturen gesetzt. Der abs-
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trakte Begriff der Solidarität wird in der Figur der Schwester konkretisiert und veranschaulicht. Bedenkt man die Bedeutung von sisterhood für Morgans Anthologie – die zumindest für die weiß-dominierten US-amerikanischen feministischen Bewegungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als repräsentativ gelten kann – und berücksichtigt man gleichzeitig die These, dass die Wirkmächtigkeit des Konzepts an das Aufrufen von impliziten Wissensbeständen um familiäre Beziehungen und Schwesterlichkeit geknüpft ist, wird evident, dass mit der Kritik an der Familie fast zwangsläufig eine Destabilisierung des zentralen Kampfbegriffs einhergeht. Dies allein ist vor dem Hintergrund feministischer Theoriebildung inklusive der Denaturalisierung, Ausdifferenzierung und Kritik von sisterhood der vergangenen Jahrzehnte noch keine neue Erkenntnis. Dennoch ist über den Konnex von Präsentifikation und implizitem Wissen eine neue Perspektive auf diesen Komplex eröffnet, welche zur Erklärung der Langlebigkeit des Konzepts beitragen kann. Wenn sich die Wirkmächtigkeit der Metaphorik aus dem aufgerufenen impliziten Wissen um familiäre Bindungen und (Bluts) Verwandtschaft speist, dieses sich aber weitgehend einer Explikation entzieht und lediglich partiell und temporär in Diskursivierungen und Präsentifikationen greifbar oder sichtbar wird, steht jede Kritik des Konzepts oder gar die Forderung nach seiner Abschaffung vor einer großen Hürde, da sie vordergründig immer nur an einzelnen Manifestationen des Konzepts nicht aber an seinen (zum Teil unterschiedlichen) impliziten Wissensbeständen ansetzen kann. Für eine kritische und radikale Auseinandersetzung mit Konzeptionen von Solidarität als Schwesterlichkeit wäre somit die Verständigung über (unterschiedliche) implizite Wissensbestände eine Voraussetzung; möglicherweise wäre sogar ein Prozess des ›Verlernens‹ und Vergessens notwendig. Nicht zuletzt sollen – laut Morgan – »feeling« und »thought«, »theory« und »action« entgegen der patriarchalen Trennung vereint werden (ebd.: 37). Mit der im vorliegenden Band vorgeschlagenen Terminologie könnte man auch sagen, dass es darum geht, (zumindest scheinbar) explizites bzw. explizierbares Wissen mit emotionalem und intuitivem Wissen zu verbinden; handlungsorientiertes Erfahrungswissen ebenso ernst zu nehmen wie ›theoretische‹ Erkenntnis. Für diese Forderung wiederum erweist sich das Konzept der ›Schwesterlichkeit‹ als hilfreich: Dem tendenziell eher mit Vernunft und Rationalität assoziierten Begriff der Solidarität wird hier primär über Schwesterlichkeit Ausdruck verliehen – also gerade über die emotional-affektive Komponente, welche auch der ›Brüderlichkeit‹ als einer früheren Solidaritätssemantik anhaftet.
VII. S ISTERHOOD I S F OREVER : S CHWESTERLICHKEIT IM 21 . J AHRHUNDERT ›Schwesterlichkeit‹ ist auch in der Ära des Postfeminismus noch ein relevantes Konzept. Mit Sisterhood Is Forever will Morgan mehr als nur ein Update des
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Klassikers Sisterhood Is Powerful, sie möchte eine Handreichung und ein Einführungswerk zum Feminismus im 21. Jahrhundert vorlegen.23 Der Band zielt unter anderem darauf, Frauen und Feministinnen verschiedener Generationen anzusprechen und ihre Gemeinsamkeiten aufzuzeigen. Bereits im Titel Sisterhood Is Forever wird der universalistische und zeitlose Anspruch und die anhaltende Notwendigkeit feministischer Solidarität formuliert. Morgans programmatische Einleitung beinhaltet daher eine kurze Geschichte des amerikanischen Feminismus, eine Bestandsaufnahme feministischer Erfolge, sowie einen Aufruf zur Fortsetzung US-amerikanischer feministischer Bestrebungen. Es geht dabei nicht zuletzt darum, feministische Geschichte und historische Momente des Protests greifbar zu machen und zu vergegenwärtigen, also zu präsentifizieren. In Sisterhood Is Forever wird der bereits in den vorhergehenden Sammlungen angelegte, feministisch inflektierte American exceptionalism in vollem Umfang deutlich. Morgan bezeichnet den Band als »truly American book« (2003a: xv) und erläutert die globale Bedeutung der US-amerikanischen Frauenbewegung: »[T]he United States […] is still the most multiracial, multiethnic, multicultural nation in the world, a microcosm of the world, a still fragile experiment with enormous potential – and […] the U.S. Women’s Movement, with all its imperfections, is still the most inclusive social justice movement in the world« (ebd.). Die USA werden stilisiert zur multikulturellen Nation par excellence, zum Mikrokosmos der gesamten Welt, und schon fast stereotyp zum ›Land der unbegrenzten Möglichkeiten‹. In dieser Logik hat die amerikanische Frauenbewegung, welche keineswegs der Vergangenheit angehört und als noch unvollendetes Projekt präsentiert wird, eine Vorreiterrolle, da sie aufgrund ihrer Situierung innerhalb der Weltmacht USA auch im globalen Kontext hegemoniale Ansprüche anzumelden vermag und eine entsprechende Verantwortung hat: »American women are nowhere near finished with our revolution […] what happens here is also critical to the entire world. […] this is now the sole superpower, and every U.S. policy has global effects. […] the world comes to us« (ebd.: xxviii). Anhand der hier postulierten Hegemonie des (dominanten) US-amerikanischen Feminismus in der Welt wird deutlich, dass die Inklusivität der sisterhood und die transnationalen Verbindungen nicht nur klare Grenzen haben, sondern auch nur zu bestimmten Konditionen funktionieren. Angesichts des einführenden Charakters des Textes ist es erstaunlich, dass der zentrale Begriff sisterhood weder definiert noch in seinen möglichen Bedeutungen hinreichend erklärt wird. Die einzige längere Passage zu sisterhood lautet wie folgt: Then there’s that word: ›sisterhood.‹ Some think sisterhood doesn’t exist. Some think it doesn’t exist yet. Some think it’s sappy anyway, reminiscent of nuns or union-organizing.
23 | Morgan erklärt in diesem Zusammenhang den Titel der Anthologie: »A new, American Sisterhood, for today and the future, was needed. And it is needed, because contemporary feminism is here to stay« (2003a: xix).
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Katharina Gerund In a way, I agree with all three. Still, I know it exists. I’ve felt its power – in a dusty Oklahoma town, a West Bank refugee camp, a jail cell, a boardroom, these pages. I also know that sisterhood isn’t yet as vivid, reliable, and representative as I want it to be, but if it isn’t called into reality by the naming of it – the power of language – it never will exist. (Ebd.: l)
Morgan geht hier gar nicht auf die familiär-verwandtschaftlichen Assoziationen ein, sondern vielmehr auf andere Solidaritätsdiskurse, in denen die Figur der Schwester ebenfalls als verbindendes Element bzw. als zentrale Metapher fungiert: im Bereich der Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung und in religiösen Ordensgemeinschaften. Die Existenz von sisterhood als Solidarität unter Frauen und als Gemeinschaftsgefühl wird als kontroverses Thema dargestellt; Morgan bekräftigt jedoch, dass sie um diese Existenz ›weiß‹ – und zwar eher implizit und intuitiv als explizit und belegbar. Dieses Wissen beruft sich besonders auf die (Präsenz)Erfahrung der Wirkmächtigkeit von sisterhood in verschiedenen Kontexten, von der staubigen Kleinstadt in Oklahoma bis zu den Seiten des vorliegenden Buches. Sisterhood kann nach dieser Aussage also in herausgehobenen Momenten erlebt und erfahren werden, die dennoch durch ihre Alltäglichkeit gekennzeichnet sind. Auch kann und soll sisterhood benannt werden, um die Macht der Sprache zur Konstituierung von ›Schwesternschaft‹ zu nutzen. An späterer Stelle heißt es noch: »Sisterhood is powerful, global, ›forever‹ – and also complex, hilarious, stubborn, elastic, tender, furious, sophisticated, dynamic, a work in progress« (ebd.: lv). Diese Auflistung belegt die Polyvalenz von sisterhood ebenso deutlich wie die Aspekte des Konzepts, welche eben nicht in diesen Begrifflichkeiten fassbar werden und selbst mit umfangreichen Adjektivketten nicht gänzlich beschrieben sind. Über Schwesterlichkeit und Schwesternschaft entsteht hier eine (explizite) Priorisierung der Bestrebungen US-amerikanischer Feministinnen ebenso wie der Differenzkategorie ›gender‹. Morgan thematisiert diese Problematik, indem sie den allumfassenden Charakter der Frauenbewegung hervorhebt: »[F]eminists seem to have understood from the beginning that all issues are ›women’s issues’« (ebd.: xxix). Somit erklärt sich für sie auch, warum viele andere Bewegungen und soziale Reformen maßgeblich von Frauen und Feministinnen mitgetragen wurden – wie etwa die Abschaffung der Sklaverei, der Kampf gegen Armut, die Reform der Gefängnisse oder Friedensbewegungen und Umweltschutz (vgl. ebd.). Morgan erläutert: »One creative strategy […] to deal with disagreement over priorities […] has been to spawn other movements, which become autonomous yet simultaneously remain part of the extended family« (ebd.: xxxix). Die Familienmetaphorik wird also auch zur Konzeption des Verhältnisses von Frauenbewegung und anderen sozialen und politischen Reform- und Protestbewegungen herangezogen. Die Zentralität der feministischen Bestrebungen wird zudem dadurch untermauert, dass andere Bewegungen als »extended family« bezeichnet werden – sie sind einerseits angebunden und, trotz ihrer Autonomie, ein Stück weit inkludiert, liegen anderer-
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seits dennoch außerhalb der ›Kernfamilie‹ des Feminismus.24 Das feministische Kerngeschäft bleibt auch im 21. Jahrhundert eine wichtige politische Bewegung (vgl. ebd.: lv); die feministische politische Theorie transportiert nicht nur ein demokratisches Versprechen (wie es etwa in der Schwesterlichkeit angelegt ist), sondern hat gleichermaßen eine besondere Machtposition. Eine solche Theorie ist laut Morgan inhärent demokratisch, da sie auf ›realer‹ Erfahrung basiert: »The experiential basis of feminist political theory – the idea that every woman is the expert on her own life – has always blessed feminism with its ethical, grassroots power« (ebd.: xlii). Mit dieser Grundlage feministischer Theorie geht – wie in den Vorgängeranthologien – eine besondere Bedeutung impliziten Wissens einher: Das handlungs- und erfahrungsbasierte Wissen jeder einzelnen Frau macht diese zu einer Expertin (wenngleich zunächst nur für ihr eigenes Leben). Nicht nur Prinzipien, allgemeine Regeln und explizites Wissen, sondern auch implizite Wissensbestände fließen in die Theorie ein. Dass sich sisterhood performativ auch durch die Seiten der dritten Anthologie und ihrer Konzeption zieht, ist vor diesem Hintergrund nicht überraschend. Die Sammlung wird nicht nur von einer ausführlichen Einleitung gerahmt, sondern schließt mit zwei persönlichen Postskripten von Morgan, von denen sich eines an die ältere Generation von Feministinnen richtet (»To Vintage Feminists«) und eines an jüngere Frauen, die sich vielleicht gar nicht als Feministinnen verstehen (»To Younger Women«). Die beiden persönlichen Appelle versuchen den Brückenschlag zwischen den Generationen und zeichnen sich durch zahlreiche wörtliche Überschneidungen aus. Es werden zwar unterschiedliche Gruppen angesprochen, zugleich aber deren Gemeinsamkeiten aufgezeigt, und es wird in beiden Kontexten sisterhood thematisiert. Besonders für die jüngere Generation untermauert Morgan die Bedeutung von Solidarität als Schwesterlichkeit – unter anderem indem sie den Text mit »In (yesssss!) sisterhood« unterzeichnet (2003: 580). In beiden Texten heißt es zum Verhältnis zwischen den Generationen und zur Familienmetaphorik: »The problem comes from the mother-daughter model. Even when meant affectionately, that model is based on a patriarchal, hierarchical family. If we must go to the family for a model, let’s do it as sisters – approaching one another in all our flawed, frail, glorious humanity (ebd.: 573, 576). Morgan erwähnt zwar die Möglichkeit, das Familienmodell zu verlassen (vgl. ebd.: 574), dennoch belegen gerade ihre SisterhoodAnthologien, dass sich kaum tragfähige alternative Konzepte und Bildlichkeiten aufdrängen. Schließlich propagiert Morgan dann auch das Schwesternverhältnis als ›beste‹, wenngleich nicht unproblematische, Option, die auf der Familienmeta24 | Für Morgan ist die Fokussierung auf verschiedene Themen und Anliegen von besonderer Bedeutung. So ist in ihrer Darstellung etwa der Preis für die zeitweise Einschränkung des primären Anliegens der Frauenbewegung auf die Erringung des Wahlrechts »tragically high«, da dadurch die Solidarität unter Frauen über Klassen- und Rassengrenzen hinweg zu kurz kam und die Macht des Patriarchats nur an der Wahlurne in Frage gestellt wurde (2003a: xxxiv).
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phorik basiert. Es scheint also, als ob sisterhood in feministischen Solidaritätsdiskursen und Theorien ungeachtet aller Kritik vorläufig weiterhin als wichtiges Konzept figurieren wird. Selbst der Begriff der (feministischen) Solidarität wird sich nicht vollständig von den Assoziationen der Schwesterlichkeit lösen können; darüber hinaus bleibt Solidarität unter dem Gesichtspunkt seiner maskulinen Parameter und seiner Fundierung in der Brüderlichkeit zu hinterfragen und auf die Implikationen seiner feministischen Aneignungen hin kritisch zu beleuchten.
VIII. A USBLICK : S OLIDARITÄT AN DER S CHNIT TSTELLE VON P R ÄSENZ UND IMPLIZITEM W ISSEN In der Analyse der drei feministischen Anthologien von Robin Morgan lässt sich Solidarität bzw. sisterhood produktiv als Schnittstelle von Präsenz und implizitem Wissen analysieren. Diese Forschungsperspektive eröffnet exemplarisch einen neuen Zugang zum und Erklärungshorizont für das Phänomen der Solidarität in Form von ›Schwesterlichkeit‹, welches auf implizitem Wissen beruht und in konkreten Diskursivierungen und Präsentifikationen fassbar wird. Eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Metaphorik kann somit kein Projekt der Repräsentationskritik (allein) sein, sondern muss die Dimension des impliziten Wissens berücksichtigen. Obwohl viele Kontinuitäten und Ähnlichkeiten in den drei Sammlungen und ihrer jeweiligen performativen Umsetzung und Inszenierung von sisterhood evident geworden sind, lassen sich hinsichtlich der Funktion dieser Metapher leicht divergierende Akzentuierungen erkennen: Während mit Sisterhood Is Powerful in erster Linie der Versuch unternommen wurde, verschiedene, gleichzeitig und nebeneinander existierende amerikanische feministische Perspektiven zu bündeln, sollte Sisterhood Is Global transnationale, globale Gemeinsamkeiten herausstellen und Sisterhood Is Forever schließlich primär als Brücke zwischen verschiedenen Generationen von Frauen und Feministinnen fungieren. In allen Fällen wird Differenz und Heterogenität zwar nicht vollständig negiert oder eliminiert, aber über das Konzept sisterhood werden in erster Linie Gemeinsamkeiten herausgestellt. Anschließend an die in diesem Beitrag vorgenommenen Analysen und vor dem Hintergrund der Interdependenz von Präsenz und implizitem Wissen scheint es fruchtbar, sowohl weiteren Fragen zur Solidarität im feministischen Diskurs nachzugehen wie auch weiterführende Untersuchungen zu Solidarität und Protestbewegungen vorzunehmen. Obwohl bereits die hier exemplarisch untersuchten feministischen Texte (im engeren Sinne) Präsenzerfahrungen diskursivieren, eine präsentische (d.h. performative) Dimension aufweisen und auf implizite Wissensbestände rekurrieren, wäre es in diesem Zusammenhang spannend, darüber hinaus auch die Frage nach den Präsenzerfahrungen bei Demonstrationen und
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Solidaritätsbekundungen zu verfolgen25 – ebenso wie deren Diskursivierungen und Inszenierungen in literarischen und/oder kulturellen Texten. Man müsste systematisch überlegen, ob und wie Proteste oder Solidaritätsbekundungen als »Momente der Intensität« (Gumbrecht 2004: 118, passim) erlebt, diskursiviert und präsentifiziert werden. Eine vergleichende Perspektive könnte in mehrfacher Hinsicht erhellend sein: Die Untersuchung von Konzeptionen der Schwesterlichkeit in unterschiedlichen kulturellen Kontexten würde zur weiteren Erforschung der Kulturspezifik impliziten Wissens beitragen; und die Beschäftigung mit historischen Entwicklungen verspräche Erkenntnisse zur Wandelbarkeit und Entwicklung impliziter Wissensbestände wie auch der jeweiligen Diskursivierungen von Präsenzerfahrungen und Präsentifikationen. Des Weiteren ist die geschlechtsspezifische Dimension, welche in den Konzepten von Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit anklingt, in meinen Analysen lediglich angedeutet worden und bedarf einer weiteren kritischen Betrachtung. Das Fallbeispiel der feministischen Solidarität als Schwesterlichkeit und die Analysen von Robin Morgans Anthologieprojekten unter dem Gesichtspunkt des Zusammenhangs von Präsenz und implizitem Wissen haben erwartungsgemäß mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Es bleibt somit zukünftigen wissenschaftlichen Arbeiten überlassen, das aufgezeigte Potenzial dieser Forschungsperspektive auszuschöpfen.
L ITER ATUR Anderson, Benedict (2006): Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London: Verso. Bayertz, Kurt (Hg.) (1998a): Solidarität. Begriff und Problem, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. — (1998b): »Begriff und Problem der Solidarität«, in: Bayertz, Solidarität, S. 11-53. Brunkhorst, Hauke (1997): Solidarität unter Fremden, Frankfurt a.M.: Fischer. Collins, Harry M. (2010): Tacit and Explicit Knowledge, Chicago: University of Chicago Press. Diefendorf, Elizabeth (Hg.) (1996): The New York Public Library’s Books of the Century, Oxford: Oxford University Press. DuBois, Ellen Carol/Ruiz, Vicki L. (Hg.) (1990): Unequal Sisters. A Multicultural Reader in U.S. Women’s History, New York: Routledge. Frankenberg, Ruth (1993): White Women, Race Matters. The Social Construction of Whiteness, Minneapolis: University of Minnesota Press. Godenzi, Alberto (Hg.) (1999a): Solidarität. Auflösung partikularer Identitäten und Interessen (= Res Socialis, Band 9), Freiburg, Schweiz: Universitätsverlag Freiburg.
25 | Siehe hierzu auch Schumann/Soudias in diesem Band.
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Literatur als Präsentifikation impliziten Wissens Kulturkontakt in Mary Rowlandsons captivity narrative (1682) und Toni Morrisons Kurzgeschichte »Recitatif« (1983) Antje Kley
I. E INLEITUNG In seiner 1789 vervollständigten Autobiographie erinnert sich der US-amerikanische Gründungsvater Benjamin Franklin an seine frühe Leidenschaft für die Lektüre und schreibt dem englischen Autor der 1678-84 erschienenen christlichen Allegorie The Pilgrim’s Progress, John Bunyan, das Verdienst zu, als erster mit fiktionalen Verbindungen von Narration und Dialog seinem Protagonisten und dessen Welt eine im Lesen körperlich erfahrbare Präsenz verliehen zu haben (vgl. Downes 2004: 20): Honest John was the first that I know of who mix’d narration and dialogue, a Method of Writing very engaging to the Reader, who in the most interesting Parts finds himself as it were brought into the Company, and present at the Discourse. Defoe in his Cruso, his Moll Flanders, Religious Courtship, Family Instructor, and other Pieces, has imitated it with Success. And Richardson has done the same in his Pamela etc. (Franklin 2012: 26)
Franklin beschreibt fiktionale Texte als besonders ansprechende Produkte der zeitgenössischen Druckkultur, deren ›Spezialeffekte‹ die Überwindung von räumlicher, zeitlicher und emotionaler Distanz, mithin die technisch reproduzierbare und daher weitreichende affektive Präsentifikation einer gesamten Welt bewirken können. Seit der Publikation von Franklins Autobiographie haben eine Reihe anderer Medien die Funktion der modernen, expositorischen und fiktionalen Prosa übernommen,1 das Alltägliche in unumwundener Weise zu ihrem Gegenstand zu machen und beständig überzeugendere Unmittelbarkeitseffekte zu erzeugen. Mit zu1 | In ihrer Studie über die Emergenz moderner Prosa als »ground of reference, a sort of zero-degree of language«, konstatieren Godzich und Kittay: »Prose, able to carry its deixis
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nehmend aufwändigeren technisch-medialen Apparaturen sowie Infrastrukturen der Produktion, der Distribution und der öffentlichen Beobachtung haben seit dem 19. Jahrhundert Medientechniken wie die Fotografie, der Film, das Fernsehen und die digitale Integration der Medien die Funktion der transparenten und entsprechend vorbildtreuen Präsentifikation des räumlich und zeitlich Unverfügbaren eingenommen (vgl. Bolter/Grusin 2000). Gleichzeitig hat sich erwiesen, dass die literarische Fiktion mediale Gefährdungen produktiv zu überleben vermag und nicht abgelöst, sondern in ihrer Funktion verschoben wird. Im Zuge der Koevolution konkurrierender Medien (vgl. Schanze 2001: 8ff.; Winkler 1997: 49, 187) und in intermedialer sowie selbstreflexiver Auseinandersetzung mit der kulturellen Arbeit der Mediatisierung konnte sie ihre Relevanz immer wieder neu behaupten (vgl. Kley 2009; Schäfer 2009). Dabei kann, so auch Natalie Binczek und Nicolas Pethes, »[d]ie Reflexion von Medienmaterialitäten […] gleichberechtigt neben der Unmittelbarkeitsrhetorik der Literatur bestehen« (2001: 282ff., hier 303). Im Folgenden soll die These vertreten werden, dass literarische Texte nicht nur generell das – in Interdependenz mit den anderen Medien historisch weiter entwickelte – Potenzial besitzen, Unmittelbarkeits- oder Präsenzeffekte zu erzeugen und ihre LeserInnen so zu involvieren, dass sie sich, wie Franklin formulierte »brought into the Company, and present at the Discourse« (2012: 26) fühlen. Literarische Texte vermögen über ihre spezifischen Repräsentationsstrategien – wie die narrative Orchestrierung von Zeitstrukturen und Erzählperspektiven, Figurenkonstellationen, Genrekonventionen, Bildern, sprachlichen Rhythmen, intertextuellen, intermedialen und metafiktionalen Dimensionen – gerade Wissensbereiche zu präsentifizieren, die sich der bewussten Reflexion und der begrifflichen Explikation entziehen: das Unbewusste, das Verdrängte oder Vergessene und – diese Dimension soll im Folgenden im Zentrum stehen – implizite Wissensbestände.2 Mit dieser These will der vorliegende Beitrag Fragen nach dem Verhältnis von Literatur und implizitem Wissen, Literatur und Präsenz sowie danach adressieren, welche Art von Wissen Literatur produziert und welche Wirkungen sie dabei entfaltet. Er nimmt eine literaturwissenschaftliche Wendung des zentralen Forschungsinteresses des Graduiertenkollegs Präsenz und implizites Wissen vor, um es für die Beschreibung der Erkenntnis- und Vergegenwärtigungsleistungen literarischer Texte fruchtbar zu machen.3 from within itself, can give us the world. […] New media extend the scope of that deictic discovery« (1987: 197, 209). 2 | Während das Unbewusste/Verdrängte/Vergessene und das implizite Wissen gleichsam latente Gehalte in Texten und kulturellen Zusammenhängen bezeichnen, basiert das implizite Wissen nicht auf der psychoanalytischen Logik der Verschiebung, der Verdichtung und der Entstellung, die eine explizite Darstellung nicht erlaubt. Es bezeichnet vielmehr einen Wissensbereich, der einfach nur jenseits der bewussten Reflexion liegt (vgl. Gumbrecht 2009: 9f.). 3 | Ich danke Carmen Dexl, Karin Höpker und Susann Köhler für ihre Hinweise, Nachfragen und produktiven Anregungen zu einer frühen Version dieses Artikels.
Literatur als Präsentifikation impliziten Wissens
II. V OR ANNAHMEN UND B EGRIFFSKL ÄRUNGEN Der Begriff des impliziten oder ›stummen‹ Wissens fußt auf der Einsicht des Wissens- und Erkenntnistheoretikers Michael Polanyi, »daß wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen« (1985: 14). Er bezieht sich auf nicht-propositionale, vorreflexive Wissensformen – wie Bewegungswissen, sozial gebundene Verhaltenskodierungen, visuelles und emotionales Wissen, das intuitive Erkennen von Gesichtern, diagnostische Fähigkeiten und Geschicklichkeiten aller Art –, die sich nicht in Worte fassen lassen, kompetenzorientiert sind und performativ realisiert werden. Solche Wissensbestände entsprechen ihrer funktionalen Struktur nach einem einfühlenden, körperlich verinnerlichten Können oder einem unausgesprochenen Bezugsrahmen (beispielsweise für intuitiv hergestellte oder kulturell etablierte Formen des Umgangs mit dem Anderen, mehr oder weniger Fremden) und haben nach Polanyi zeigenden, nicht sagenden Charakter. Sie sind an konkreten Praxen ablesbar bzw. in ihrem Rahmen iterierbar, und sie gehören zu den »unbestimmten Bedingungen« einer jeden Erkenntnis (vgl. ebd.: 13ff., hier 30). Wenn ich literarischen Texten das Potenzial zur Präsentifikation impliziten Wissens zuschreibe, so gehe ich von der Annahme aus, dass auch literarischen Strategien (vgl. Perloff 2004: 8f.) eine eher zeigende als sagende Qualität zu eigen ist, dass sie also sprachliche Repräsentationen auch von nicht begrifflich explizierbaren Wissens- und Erfahrungsdimensionen vornehmen und dabei für den Leser und die Leserin Vollzugswahrheiten produzieren. Ich denke literarische Textualität also nicht als bruchlose Explikation oder Übersetzung des impliziten Wissens in propositionale Gehalte4 und nicht als ›Säule‹ einer Erklärung, sondern eher als ›Anlass‹ einer Einfühlung oder Interpretation, die als Vermittlung impliziten Wissens fungiert (vgl. Macherey 2006: 91f.).5 Der spezifische Mehrwert literarischer Repräsentation liegt in ihrer formalen Inszenierung diskrepanter Komponenten; diese Inszenierung besitzt – wie das implizite Wissen selbst – eher zeigende als sagende Qualität und kann auf Wissensbestände verweisen, die unterhalb der Ebene der Explikation liegen.6
4 | Das mag allerdings ein Vorgang sein, der für politisch klar gebundene Poetiken durchaus zu reklamieren ist. Siehe dazu auch Gumbrechts Ausführungen zum Verhältnis von Ästhetik und Moral. Da er allerdings nicht die m.E. notwendige Unterscheidung zwischen Ethik und Moral trifft, spricht er von der »Projektion ethischer [statt moralischer] Normen« und führt aus: »Wenn die Mitteilung oder Exemplifizierung einer ethischen Botschaft die Hauptfunktion eines Kunstwerks sein soll, müssen wir die – wirklich nicht eliminierbare – Frage stellen, ob es nicht wirksamer wäre, die gleiche ethische Botschaft mit Hilfe unverblümter und expliziter Begriffe und Formen zu artikulieren« (2004: 123). 5 | Ich danke Sabine Sielke für den Hinweis auf Pierre Machereys Arbeiten. 6 | Im Unterschied zu dem medienwissenschaftlichen Argument, dass das Zeigen primär eine Form der bildlichen Ausdrucksweise sei (vgl. dazu Frank 2009), reklamiert die hier
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Dieses zeigende Verweisgeschehen lässt sich im Anschluss an die marxistischformalistische Theorie literarischer Produktion des französischen Philosophen Pierre Macherey als emotional wirksame, formale Manifestation nicht propositionaler Wissensbestände beschreiben, welche gerade die Problematik der diskursiven Repräsentation dieses Wissens aufgreift: The silence of the book is not a lack to be remedied, an inadequacy to be made up for. It is not a temporary silence that could be finally abolished. We must distinguish the necessity of this silence. For example, it can be shown that it is the juxtaposition and conflict of several meanings which produces the radical otherness which shapes the work: this conflict is not resolved or absorbed, but simply displayed. Thus the work cannot speak of the more or less complex opposition which structures it; though it is its expression and embodiment. In its every particle, the work manifests, uncovers, what it cannot say. This silence gives it life. (Ebd.: 93f.)
Machereys Einsichten folgend mag literarische Textualität im Sinne expliziter Aussagen schweigen, doch im Sinne einer ästhetischen Vermittlung oder Präsentifikation ideologischer und repräsentationaler Widersprüche sowie von beglückenden, beklemmenden, erhebenden oder frustrierenden Momenten ist sie durchaus beredt. Denn das bestimmende Merkmal literarischer Vertextungsstrategien im Spannungsfeld von Faktualität und Fiktionalität ist nicht auf ein verweisendes und funktional ambiguitätsresistentes propositionales Sagen reduzierbar, das sich primär an die Ratio richtet, sondern erstreckt sich darüber hinaus auf ein aufweisendes und ambiguitätstolerantes vergegenwärtigendes Zeigen, das auf der Rezeptionsseite um perzeptive Verschiebung und um emotionale Investition wirbt (vgl. Felski 2011: 581ff.).7 So erklärt Gottfried Gabriels in einem Tübinger Workshopbeitrag zum Thema: »Die Erkenntnisleistung der narrativen Vergegenwärtigung ist propositional nicht einholbar« (Küchler 2010: 4; vgl. Gabriels 1991). Dieses zeigend vergegenwärtigende Geschehen besitzt das Potenzial, so meine These, Gegenstände und Zusammenhänge zu verhandeln, die sich, wie das in sozialer Interaktion gebildete implizite Wissen, der Proposition in analytischen Sätzen entziehen. Insofern wäre der literarischen Textualität das Vermögen zuzuschreiben, die in impliziten Wissensbeständen verankerte Grundlage von sozial bedingten Erkenntnisprozessen zu präsentifizieren, indem sie diese performativ in Szene setzt und so emotional zugänglich macht.
vorgebrachte Betrachtungsweise die zeigende Qualität – nicht nur neuerer – literarischer Inszenierungen. 7 | Mit Gérard Genette gehe ich davon aus, dass Zeigen »eine Weise des Erzählens« ist, die darin besteht, »möglichst wenig zu sprechen und doch zugleich möglichst viel zu sagen« – ein Informationsüberschuss gegenüber dem Mitgeteilten, der sich als Illusionsbildung aus der Qualität der Vermittlung oder Inszenierung des Mitgeteilten ergibt (1994: 118).
Literatur als Präsentifikation impliziten Wissens
Ausgehend von der Annahme, dass literarische Vertextungen – seien sie ausdrücklich oder nur bedingt fiktionaler Natur – qualitativ von propositionalen Explikationen zu unterscheiden sind, ist es also wichtig, was ein Text bzw. seine erzählenden und erzählten Akteure nicht sagen, denn das Sagen – beispielsweise einzelner Figuren – birgt mitunter stark limitierte oder einseitige Einsichten und es impliziert darüber hinaus auch immer ein performatives Tun. Das Schweigen oder die Diskrepanz unterschiedlicher und womöglich widersprüchlicher textueller Komponenten, so folgert Macherey, »endows meaning with meaning: it is the silence which tells us – not just anything, since it exists to say nothing – which informs us of the precise condition for the appearance of an utterance, and thus its limits, giving it real significance, without, for all that, speaking in its place« (2006: 97). Die einbettende Relation, die Macherey hier zwischen dem fundierenden Schweigen des Textes und den expliziten Aussagen seiner Figuren und Erzählinstanzen, zwischen diegetischem Sagen und diskursivem Meinen, herstellt, charakterisiert die zeigende Qualität der Vermittlungs- oder Vergegenwärtigungsleistung literarischer Textualität: Unter Verwendung zeitlicher und räumlicher Anordnungen sowie metaphorischer und rhetorischer Figurationen besitzt sie das Potenzial, implizite Wissensbestände performativ in Szene zu setzen und für eine Aktualisierung im Rahmen einer ebenfalls performativ zu konzipierenden Rezeption bereit zu stellen. Mit den hier vorgelegten exemplarischen Lektüren soll gezeigt werden, dass sich diese Annahmen als Leitlinie für eine methodische Herangehensweise an die jeweils unterschiedlich gefasste literarische Erschließung ideologisch mehr oder weniger stark überschriebener impliziter Wissensbestände eignen. Wenn ich nicht von ›Präsenz‹, dem raumzeitlichen Zugegensein, sondern von ›Präsentifikation‹, also der Herstellung von Präsenz, dem In-die-Nähe-rücken, Greif- und Berührbarmachen von Wissensbeständen spreche, nehme ich eine Fokussierung vor, die die Strategien ästhetischer Präsentation programmatisch mitdenkt und nicht zugunsten ihres Effekts, des phänomenalen Erlebens der Präsenz, aus dem Blickfeld gleiten lässt. Die in diesem Sinne ästhetisch produzierten Präsenzeffekte sollen darüber hinaus als Begegnungen mit impliziten Wissensdimensionen im Text sowie in den kulturellen Kontexten, aus denen diese stammen, erfasst werden. Hans Ulrich Gumbrecht unterscheidet idealtypisch zwischen geistigen und körperlichen Formen der Weltaneignung, zwischen interpretatorisch zu erschließenden Sinn- und intensiv zu erfahrenden Präsenzkulturen (vgl. 2004: 98ff.). Er plädiert für die kompensatorische Hingabe an die körperlich-ästhetische Erfahrung von Kunst und Welt in »Momente[n] der Intensität« (ebd.: 118, passim) sowie für die Zurückweisung des kulturell überstrapazierten, allein geistig-interpretatorischen Zugangs zu den Dingen. Sein Anliegen ist es, die v.a. in dekonstruktivistisch geprägten Bereichen der Komparatistik weitgehend vernachlässigte Seite der Begegnung mit kulturellen Produktionen in Momenten der Intensität zu stärken. Dabei geht es ihm auf lange Sicht nicht um eine Preisgabe von Sinn, Bezeichnung und Interpretation, sondern um deren Relativierung: »[D]as ›Jenseits‹ der Meta-
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physik [kann] nichts anderes bedeuten […], als daß man zusätzlich zum Interpretieren noch etwas anderes tut, ohne freilich die Interpretation als ein elementares und wahrscheinlich unvermeidbares theoretisches Verfahren aufzugeben« (ebd.: 71). Insgesamt ist Gumbrecht an einem »Verhältnis zu den Dingen dieser Welt« gelegen, »das zwischen Präsenz- und Sinneffekten oszillieren könnte« (ebd.: 12, 127ff.).8 Gemessen an dieser Forderung ist die provokante Rede vom »Diesseits der Hermeneutik« irreführend einseitig. Doch sie trifft das von Gumbrecht plausibel verfolgte Projekt, vorerst einen »Abschiedsgruß an die Interpretation« zu schicken, sich von der abstrakten Theoretisierung ab- und der faszinierenden körperlichsinnlichen Anziehungskraft von Gedichten, Musikstücken, Sportveranstaltungen und anderen kulturellen Produktionen zuzuwenden (2012: 171ff.). Gumbrechts Zurückweisung der Reflexion gilt dem konstruktivistischen Paradigma, das alles Tun im Rahmen der – vermeintlich voluntaristisch setzbaren – zeichenhaften Konstruktion sozialer Bedeutung verortet und keinen basalen, vorreflexiven und vor jedem Sinnverstehen erfolgenden direkten Zugang zu den Dingen denkbar macht. Insbesondere der Poststrukturalismus konzipiert Sprache als notwendigerweise defizitäre Überschreibung der Welt, die deren Präsenz in unerreichbare Ferne rückt: »Language is based on difference and absence, and implies a negation or symbolic murder of the thing signified; yet the act of language eternalizes this desire for presence, memorializing death itself« (Klinkowitz 1988: 120). Mit diesem – aus seiner Perspektive – moribunden Denken will Gumbrecht brechen und setzt sich dazu sehenden Auges dem Vorwurf aus, dem substantialistischen Denken zuzurechnende Begriffe wie ›Realität‹ und ›Sein‹ – die im Umfeld poststrukturalistischer Theorie »seit langem als Symptom eines erbärmlich schlechten intellektuellen Geschmacks« gelten (2004: 72) – wieder einzuführen. Daran ist aus meiner Perspektive zunächst nichts auszusetzen. Doch der Bereich des Erlebens, den Gumbrecht das »Diesseits der Hermeneutik« nennt, ist insofern nicht von sinnhaften Kontexten zu isolieren, als das Erleben nicht im luftleeren Raum erfolgt und an vielschichtige individuelle und kollektive Kontexte der Ermöglichung und Begrenzung, an vorreflexive kulturelle Kodierungen oder Praktiken gebunden bleibt. Genau hier greift auf der Seite der Rezeption der Begriff eines der Reflexion vorgelagerten, in sozialer Interaktion gebildeten impliziten Wissens. Denn das implizite Wissen, das sich der begrifflichen Explikation entzieht, ist auch dann in soziale und kulturelle Praxen eingebunden, wenn es unterhalb starrer ideologischer Überschreibungen liegt.9 Die Überlegung, dass sich implizite und explizite Wissensbestände und individuelle wie kollektive Erfahrungsdimensionen durchdringen und gegenseitig bestimmen, lässt es ratsam er8 | Auch Felski (2008, 2011), Attridge (2004), de la Fuente (2010), Gell (1998), Vischer Bruns (2011) und Ricoeur (1991) machen die Interdependenz von reflektierenden und immersiven Lektüren stark. 9 | Auf die graduelle Unterscheidung zwischen kultureller Einbettung und ideologischer Überschreibung wird in den folgenden Lektüren noch zurückzukommen sein.
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scheinen, hermeneutische und phänomenologische Rezeptionssituationen nicht zu trennen. Schon eine Trennung aus heuristischen Gründen bringt eine Dichotomisierung von Körper und Geist mit sich, an deren Aufweichung Gumbrecht und vielen anderen (vgl. Fn. 8) gerade gelegen ist. Die Fokussierung auf die Herstellung von Präsenz – genauer: auf die literarische Präsentifikation von implizitem Wissen – bedeutet also, dass die Ebene des literarisch Dargestellten in Abhängigkeit erstens von der im weitesten Sinne performativen Ebene der Darstellung und zweitens von der ebenfalls performativ konzipierten Ebene der Rezeption ins Blickfeld rückt. Eine solche »transtemporale« Betrachtung der Entstehungs- und Wirkungsweise von Texten (Felski 2011: 575; vgl. auch Attridge 2004: 63ff., 103ff.) versucht sowohl deren historischer Situierung als auch deren formaler Gestaltung, die in neuen Kontexten womöglich anders wirksam wird, gerecht zu werden. Sie wendet sich daher gleichermaßen gegen die Annahme, literarische Texte seien allein in den Bedingungen ihrer Zeit gefangen und eigneten sich daher vor allem als Instrumente der historischen Explikation, und gegen das Postulat, künstlerische Produktionen seien der Zeit und der kulturellen Verortung enthoben. Um meine Überlegungen zu konkretisieren, nehme ich im Folgenden neben der Fokussierung auf die Performanz des literarischen Textes und des ästhetischen Erlebens im Rezeptionsprozess kulturräumliche und thematische Engführungen vor. Im Zentrum des Interesses steht die literarische Präsentifikation impliziter Wissensbestände über Möglichkeiten und Formen, Grenzen und Konsequenzen des Kulturkontakts bzw. des Dialogs mit dem ethnisch Anderen im nordamerikanischen Kontext.10 Dieser kulturräumlichen Fokussierung liegen zwei Annahmen zugrunde. Erstens ist die Differenz zwischen explizit-propositionalem Sagen und implizitem Meinen bzw. performativem Zeigen ein Grundproblem der alltäglichen Sprache, das in Situationen des Übersetzens und kulturellen Fremderfahrens eine erhöhte Relevanz erhält. Zweitens gehe ich davon aus, dass die Inhalte und Kontextualisierungen impliziter Wissensbestände kulturspezifisch geprägt sind, während ihre formale Relation zum jeweils expliziten Wissen transkulturell strukturelle Analogien aufweist. Rezeptionsprozesse und die mit ihnen verbundene Präsentifikation impliziten Wissens in neuen Kontexten können darüber hinaus als ein Motor von Transkulturalisierungsprozessen gesehen werden.11
10 | Andere lohnenswerte thematische Fokussierungen sind beispielsweise das implizite Wissen über die Hintergründe von Konflikten zwischen einzelnen Akteuren, Gruppen oder Generationen oder über die Funktion von Erinnerung. Zu letzterem Thema siehe den Beitrag von Elisabeth Bronfen in diesem Band. 11 | Zum Begriff der Transkulturalität siehe Welsch (1999).
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III. K ULTURKONTAK TE LESEN — L ESEN ALS K ULTURKONTAK T Die folgenden Lektüren adressieren das Thema Kulturkontakt im Sinne des von Rita Felski vorgeschlagenen transtemporalen Zugangs sowohl auf der Ebene der literarischen Repräsentation als auch auf der Ebene der Rezeption: Wie werden Kulturkontaktszenarien in literarischen Texten zur Darstellung gebracht, wie werden sie als Präsenzerfahrungen und als Selbst- und Fremddeutungsprozesse inszeniert und reflektiert? Inwiefern ist die Lektüre literarischer Texte darüber hinaus selbst als Kulturkontaktszenario beschreibbar, das ein sinnliches Erleben und deutendes Tun involviert und in eine ästhetische Präsentifikation impliziten Wissens über die Möglichkeiten und Grenzen der Begegnung mit dem Anderen mündet? Das Vorhaben, den Lektüreprozess selbst als eine Form des Kulturkontakts zu konzipieren – als eine virtuelle Kontaktzone, die zeitliche, kulturelle und diskursive Differenzen zwischen den Dispositionen der LeserInnen und dem Textmaterial in einer ästhetisch angeregten Lektüre aktualisiert –, basiert auf zwei rezeptionsästhetischen Grundannahmen: Erstens brauchen literarische Texte LeserInnen, um Bedeutung zu erlangen (vgl. Fluck 2009: 365), und zweitens ist sowohl dem Text als auch den LeserInnen im Rezeptionsprozess agency zuzuschreiben (vgl. dazu Schwab 1996a: 20). Beide Annahmen implizieren, dass Bedeutung weder wohlverpackt zur gelegentlichen Konsumption im Text enthalten ist, noch allein von bestimmten interpretive communities zugewiesen wird, sondern vielmehr in der Interaktion von beiden entsteht – in der Praxis des Kulturkontakts zwischen dem textuellen Material und seinen LeserInnen, deren Dispositionen durch die soziokulturellen Komplexitäten der eigenen Erfahrung, ihr Vorwissen und mehr oder weniger formale Lektüreprotokolle geprägt sind. Die situativ-performative Adaption literarischer Textualität in der Lektüre mag von einer eher sinnlich erlebenden oder einer dominant kognitiven Qualität oder aber von einer mehr oder weniger starken Durchdringung der beiden gekennzeichnet sein. Gabriele Schwab schreibt dem Akt der Lektüre daher die Qualität einer Übertragung zu, einer kontrollierten Projektion von textbezogenen Gefühlen, Wunschvorstellungen und Erwartungen, die kognitive und viszerale Dimensionen des Rezeptionsprozesses in einer Präsentifikation der Anliegen des Textes konvergieren lässt (1996a: 20). Diese Überlegungen zu Formen des Kulturkontakts auf Repräsentations- und Rezeptionsebene sollen im Folgenden an zwei sehr unterschiedlichen US-amerikanischen Texten konkretisiert werden, die jeweils ein mediales Bewusstsein besitzen, d.h. Texte, die Deutungsprozesse thematisieren und vorführen: die 1682 von der Puritanerin Mary Rowlandson in Form einer captivity narrative vorgelegte, programmatisch nicht-fiktionale Erzählung ihrer Kriegsgefangenschaft bei den Narragansett, A True History of the Captivity and Restoration of Mrs. Mary Rowlandson und die 1983 von Toni Morrison veröffentlichte Kurzgeschichte »Recitatif«. Die captivity narrative berichtet vom Kulturkontakt zwischen angloamerikanischen Siedlern und Native Americans im 17. Jahrhundert; die Kurzgeschichte leis-
Literatur als Präsentifikation impliziten Wissens
tet eine zeitgenössische fiktionale Auseinandersetzung mit den langanhaltenden und komplexen Effekten der Geschichte des Kulturkontakts – in diesem Fall zwischen weißen und schwarzen Bevölkerungsgruppen in den USA – auf gegenwärtige kulturelle Formationen. Beide Texte lassen sich am Rande dessen situieren, was in ihrem spezifischen kulturellen Entstehungskontext gesagt werden kann, sie legen Pfade in den Bereich des impliziten Wissens vom Umgang mit dem Anderen. Vor dem Hintergrund der hier skizzierten Prämissen konzipiere ich Rowlandsons und Morrisons Texte als historisch und poetologisch unterschiedlich gelagerte literarische Angebote oder Einladungen an ihre gegenwärtigen RezipientInnen, sich auf eine erlebende und deutende Interaktion mit offenem Ausgang einzulassen. In den beiden Lektüren soll deutlich werden, dass diese Interaktionseinladungen mit der Präsentifikation impliziter Wissensbestände über den Umgang mit kulturellen Differenzen einhergehen und sich mit einem Wahrnehmungsauftrag verbinden. Durch den Widerspruch zwischen den explizit-programmatischen Deutungen des erzählenden Ich und den mit diesen Deutungen nur schwer oder teilweise in Einklang zu bringenden Handlungsweisen des erlebenden Ich präsentifiziert Rowlandsons Text quasi unwillkürlich das implizite Wissen der Protagonistin um die ungewöhnliche Kompatibilität von – expliziten Ideologemen folgend – einander fremden Kulturen. Morrisons Text dagegen verfolgt bewusst eine poetologische Strategie, welche die weitreichende soziale Behinderung präsentifiziert, die aus der Geschichte rassistischer Differenzierung erwächst. Das implizite Handlungswissen der Protagonistinnen richtet sich hier nicht gegen explizite ideologische Dichotomisierungen wie bei Rowlandson, sondern ist von nicht mehr explizierbaren Ideologemen durchdrungen. Mit ihren eigenen Mitteln – in einem Fall gegen, im anderen in Einklang mit der dem Text eingeschriebenen Kommunikationsintention – inszenieren beide Texte in impliziten Wissensbeständen der jeweiligen Entstehungskontexte verankerte Erfahrungen und Deutungspraktiken. Sie laden ihre LeserInnen ein, die ideologischen Widersprüche – Gumbrecht würde sagen: die »Stimmungen« (vgl. 2011: 7ff.) – spezifischer historischer Realitäten im Rahmen ihrer eigenen Rezeptionskontexte imaginierend zu erfahren und sich von ihnen berühren zu lassen.
IV. D REISTELLIGE L EK TÜREOPER ATIONEN : D IE P R ÄSENTIFIK ATION INKOMPATIBLER M ODELLE DES K ULTURKONTAK TS IN M ARY R OWL ANDSONS CAPTIVIT Y NARRATIVE Mary Rowlandsons 1682 veröffentlichter Bericht über ihre dreimonatige Gefangenschaft bei den Narragansett während des King Philip’s War 1675/76 inszeniert einen Widerspruch zwischen der ihm explizit eingeschriebenen religiös-didaktischen Wirkungsabsicht, die unter anderem auf klaren ideologischen Oppositionen zwischen gottesfürchtigen Puritanern und ›unzivilisierten Indianern‹ ruht,
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und der von der Protagonistin während ihrer Gefangenschaft erlebten impliziten Kompatibilität der Kulturen, die sich nicht in die vom Text explizit in Anschlag gebrachte Deutung einfügen lässt.12 Explizit vertretene Vorstellungen radikaler Differenz werden durch die Repräsentation des impliziten Handlungswissens der Protagonistin, das sie in intersubjektiv und symbolisch vermittelten Sozialisationsprozessen – oder »Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit« (Ernst 2008: 48ff.)13 – entwickelt, relativiert. Jüngere, dekonstruktivistisch inspirierte Lektüren arbeiten die widersprüchlichen Bedeutungspotenziale des Textes heraus und zeichnen die Störung nach, die die explizite ideologische Überschreibung der Erfahrung der Protagonistin im Sinne normativer kolonialer Wertungen erfährt (z.B. Faery 1999: 19ff., insb. 62ff.; Haselstein 2000: 47ff.; Lösch/Paul 2008: 131ff.). An diese Analysen anknüpfend, soll im Folgenden der Wissensüberschuss, den der Text über die ihm eingeschriebene Wirkungsabsicht hinaus produziert, als Präsentifikation und Aufwertung des unterhalb ideologischer Zuschreibungen anzusiedelnden impliziten Handlungswissens der Protagonistin im Umgang mit dem Anderen bzw. Fremden gelesen werden. Die dem Text eingeschriebene Wirkungsabsicht geht bereits aus dem an die LeserInnen gerichteten Vorwort hervor, welches aus der Feder eines Freundes stammt (und in der Forschung dem neuenglischen Kongregationalisten Increase Mather, einer zentralen Figur der frühen Massachusetts Bay Colony, zugeschrieben wird): Der Paratext deutet die Gefangenschaft und die Errettung der Mary Rowlandson im Sinne der puritanischen Typologie als Prüfung Gottes und Manifestation seiner gütigen Vorsehung. Die Aufzeichnung der Geschehnisse soll Individual- und Kollektivschicksal zur Deckung bringen und ein heilsgeschichtliches Zeugnis von Gottes unermesslicher Güte ablegen. Die LeserInnen werden als »Friend[s] of di12 | Als King Philip’s War wird der für die amerikanische Kolonialgeschichte zentrale kriegerische Aufstand der Wampanoag und ihrer Verbündeten im südlichen Neuengland gegen die Expansion der englischen Kolonisten bezeichnet, der sich für die Natives als höchst verlustreich erwies. Im Sinne der providenziellen puritanischen Geschichtsschreibung (vgl. Spahr 2007) wurde der King Philip’s War als Prüfung Gottes und zentrales Ereignis der amerikanischen Kolonialgeschichte in das kulturelle Gedächtnis eingeschrieben. Dafür ist Rowlandsons Text ein prominentes Beispiel: Er war »mit mehr als 30 Auflagen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts« der erste Bestseller der amerikanischen Literatur; er gilt als »psychologisch tiefgründige, narrative Bewältigung einer individuellen und narrativen Krisensituation« und als wichtiges allegorisches Dokument des King Philip’s War (Hebel 2000: 585, 587). Zur Geschichte der Forschung, die seit den späten 1990er Jahren aus unterschiedlichen Perspektiven die widersprüchlichen Dimensionen oder ›Stimmen‹ des Textes herausgearbeitet hat, siehe Lösch/Paul (2008: 135ff.). 13 | Christoph Ernsts Überlegungen zu »Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit« rekurrieren auf eine medienwissenschaftliche Weiterführung des zunächst von dem Anthropologen Michael Tomasello formulierten Konzepts (siehe dazu Bauer 2003). Dabei geht es darum, die intersubjektiv und symbolisch vermittelte Struktur von Sozialisationsprozessen zu erfassen.
Literatur als Präsentifikation impliziten Wissens
vine providence« (Rowlandson 1992: 24) adressiert und so quasi ›eingemeindet‹. Ihnen soll der Text, der puritanischen Zwecklogik folgend, ein nützliches Beispiel sein und sie zu gottgefälligem Handeln anhalten. Im Sinne der durch das Vorwort angelegten normativen Deutung übersetzt und überschreibt Rowlandsons narrative explizit die individuelle Erfahrung, welche die Protagonistin im erzwungenen Kulturkontakt mit den Narragansett macht, in eine Allegorie göttlicher Vorsehung. Der Text präsentifiziert und affirmiert dabei zunächst eine Lektürepraxis, die als analogiebildende Methode der Adressierung des Neuen und Unvertrauten zum impliziten Wissensbestand der Puritaner gehörte. Zunächst führt diese Lektürepraxis lediglich Unterschiedliches zusammen, doch sie erfährt darüber hinaus explizite ideologische Überschreibungen. Die implizite Beherrschung der religiös tradierten Techniken der typologischen Exegese erlaubt der Protagonistin einen sozial erfolgreichen Umgang mit dem Unvertrauten. Die Erzählerin schreibt die Auslegung und Übersetzung des Fremden in vertraute Erfahrungskategorien darüber hinaus ideologisch fest. Die Erzählerin gibt beispielsweise ihrer Verwunderung darüber Ausdruck, dass Gott offenbar seine schützende Hand über die Heiden hielt, die sie gefangen hielten (vgl. ebd.: 37). Während die Narragansett relativ leicht vorwärts zogen und sogar einen Fluss überqueren konnten, stellte derselbe Fluss für die Engländer ein unüberwindbares Hindernis dar. Unter Rückgriff auf Psalm 81, Vers 13-15, deutet die Erzählerin diese Begebenheit als eine gerechte Strafe Gottes für die Engländer: God did not give them courage or activity to go after us; we were not ready for so great a mercy as victory and deliverance; if we had been, God would have found a way for the English to have passed this River, as well as for the Indians, with their Squaws and Children, and all their Luggage. – Oh that my people had hearkened to me, and Israel has walked in my wayes, I should soon have subdued their Enemies, and turned my hand against their Adversaries, Psal. lxxxi. 13, 14. (Ebd.)
Immer wieder stellt die Erzählerin sich selbst und die Engländer wie hier als zu Recht bestraft dar und stellt in ihrem Gottvertrauen fest: »[A]s he wounded me with one hand, so he healed me with the other« (ebd.: 31). Die Erzählerin fungiert als kulturelle Informantin und präsentiert das Aufeinandertreffen von christlicher ›Zivilisation‹ und ›indianischer Barbarei‹ als ein Kulturkontaktszenario, das sich explizit auf eine ontologische Differenz stützt zwischen der Protagonistin, die zurückhaltend ihre Erlösung erwartet, und den »hellhounds,« »beasts« und »merciless enemies,« die die Erzählerin als »alien to God« beschreibt. Die explizite Rhetorik des Textes verschreibt sich mit dieser Dichotomie dem kolonialen Diskurs und wirbt um die Identifikation der LeserInnen mit dem Leid und dem abschließenden Triumph der Protagonistin. Zwar erweist sich der Triumph der Protagonistin nach zwölf Wochen Gefangenschaft am Ende des Textes als höchst ambivalent, weil diese nicht mehr dieselbe – mithin sich selbst
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fremd bzw. eine Andere geworden – ist.14 Doch ungeachtet dessen tragen die expliziten Bewertungen, die der Text vornimmt, zur Konsolidierung der kulturellen Einheit der puritanischen Gemeinschaft bei und legitimieren die Expropriation der Natives. Wie die jüngere Forschung bereits gezeigt hat, bleibt die normative koloniale Rhetorik im Text nicht ungebrochen. Die aus der Gefangenschaft heimgekehrte Erzählerin verschreibt sich (als selbst legitimierende Vermittlerin puritanischer Glaubens- und Gemeinschaftswerte) kolonialen Bewertungsmustern. Diese normativen Muster stehen aber in spannungsreichem Kontrast zu den Schilderungen der alltäglichen Interaktion der Protagonistin mit den Narragansett. Nach wenigen Wochen bewertet Rowlandson beispielsweise das Fleisch, das sie zu Essen bekommt und das ihr zunächst den Magen umdrehte, als »very pleasant and savory to my taste« (ebd.: 37, siehe auch 38). Indem die Erzählerin die kulturellen Adaptionskünste der Protagonistin der Güte Gottes zuschreibt und so trianguliert, kann sie auch von Vorgängen und kulturellen Relativierungen berichten, die den puritanischen Bewertungen des Eigenen und des Fremden, denen sie sich explizit verschreibt, zuwiderlaufen. Ihren neuerworbenen Geschmack an Gerichten, die sie zuvor ungenießbar fand, erläutert Rowlandson beispielsweise folgendermaßen: »The Lord made that pleasant and refreshing which another time would have been an abomination« (ebd.: 53). Ihr gläubiger Rekurs auf Gott und die indirekte oder triangulierte Adressierung des Neuen und Unvertrauten über die typologische Analogiebildung erlaubt der Protagonistin eine Akzeptanz des Fremden sowie Umgangsformen mit dem Unvertrauten, ja sogar Gefallen daran, zu entwickeln.15 14 | Ulla Haselstein hat in ihrer dekonstruktivistischen Lektüre des Textendes gezeigt, dass sich in der Ruhelosigkeit der Protagonistin und in der narrativen Digression der Erzählerin das Sich-selbst-fremd-werden manifestiert, das mit der Erfahrung sowohl von Gewalt als auch der eigenen Fähigkeit zur Entwicklung von erfolgreichen Bewältigungsstrategien im Angesicht sich auflösender kultureller Abgrenzungen – und dabei handelt es sich um eine Form impliziten Wissens – einhergeht. Der Text inszeniert die Aufweichung oder Verschiebung der Grenzen zwischen Rowlandsons puritanischem Selbst und den indianischen Anderen durch die kriegerisch erzwungene und über fast zwölf Wochen gelebte Begegnung, die sich nicht mehr mit den Vorgaben des kolonialen Diskurses, die puritanische Deutungen des Kulturkontakts bestimmen, in Einklang bringen lässt. Offenbar gibt es in dem Moment, in dem das Fremde als Gegenüber wegfällt, für Rowlandson kein friedliches Zuhause oder Ganz-bei-sich-sein mehr. Auch das will zur heilsgeschichtlichen Deutung der Erzählerin nicht recht passen (Haselstein 2000: 75ff.; vgl. Lösch/Paul 2008: 139). 15 | Als King Philip sie empfängt, lehnt sie die Pfeife, die er ihr zu Rauchen anbietet, ab – die Erzählerin schimpft Tabak als Teufelszeug und erklärt mit Blick auf die von ihr bis zu ihrer Gefangennahme gepflegte Praxis des Rauchens: »I thank God that he has now given me power over it« (1992: 40). Auch hier überschreibt die Erzählerin explizit eine Kontakterfahrung, die die Protagonistin selbst nach Ablehnung der verführerischen Tabakpfeife offenbar zu meistern wusste.
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Die implizite Kenntnis dieser typologischen Lektürepraxis, die Unterschiedliches zusammenführt, erweist sich für die Adaptionsleistungen der Protagonistin ungeachtet – oder besser: unter Missachtung – der damit explizit verknüpften ideologischen Zuschreibungen als brauchbar. Die Adaptionskünste der Protagonistin zeigen sich in intersubjektiv und symbolisch vermittelten Interaktionsszenarien mit den Narragansett. Rowlandson strickt, näht und tauscht Kleidungsstücke gegen Fleisch, Erbsen, Pfannkuchen, Suppe, ein Messer, das sie als Geschenk weitergeben kann, und Essenseinladungen (ebd.: 37, 40, 41, 45, 55; vgl. Lösch/Paul 2008: 136). »Sometimes I met with Favour, and sometimes with nothing but Frowns« (ebd.: 43) erläutert die Erzählerin und berichtet von vielen friedlichen Begegnungen (vgl. ebd.: 44, 59, 63f.), die sie, wiederum unter Berufung auf eine dreistellige Lektüreoperation, als Gottesgeschenke deutet. Ihr implizites Wissen im Umgang mit typologischen Lektürepraktiken ermöglicht ihr, Erfahrungskontexte, die sie als neu oder unbekannt erlebt, durch den Rekurs auf biblische Gleichnisse und Einsichten zu plausibilisieren. Die typologische Lektürepraxis erweist sich in diesen Deutungsakten – obwohl sie mit puritanischen Ideologemen nur schwer in Deckung zu bringen sind – als ungemein flexibel und adaptiv. Die Alltagspraxis der Protagonistin, die sie ganz der Autorität Gottes unterstellt, etabliert also offenbar einen transkulturellen Handlungskontext, der »Verständigung als Vorform des Verstehens« ermöglicht (Ernst 2008: 50) und Vorstellungen radikaler Fremdheit relativiert. Sie steht in einem angespannten Verhältnis zu den expliziten dichotomischen Bewertungen der Erzählerin – zu der »vast difference«, die sie auch am Ende des narrative noch angesichts eines als Engländer verkleideten Indianerverbands »between the lovely Faces of Christians, and the foul looks of those Heathens« zu sehen glaubt (Rowlandson 1992: 52). Die puritanische Semantik und die gebräuchlichen Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster, die sie für kulturelle Begegnungen generiert, verfügen offenbar über kein Vokabular für die transkulturellen Erfahrungen, die die Protagonistin mit einigem Geschick und durch ihren Gottesglauben legitimiert durchläuft. Anders formuliert: Das Gottvertrauen und das Handlungswissen der Protagonistin, insbesondere ihre verinnerlichte Beherrschung der typologischen Praxis der Verwendung von biblischen Texten als Deutungsvorlagen, erlauben ihr, im Sinne expliziter Ideologien Unverständliches produktiv zu deuten. Die streng entlang puritanischer Ideologeme organisierte Erzählung und die explizite Abwertung vor allem bereits akkulturierter Indianer sucht diese individuellen Erfahrungen freilich normativ zu überschreiben, um den Anschluss der Heimgekehrten an die Gemeinschaft zu garantieren.16 Die normative Insistenz, die der Text rhetorisch in Anschlag bringt, lässt sich als defensive Reaktion auf eine erfolgreich praktizierte kulturelle Interaktion einordnen, die sich auf implizite Wissensbestände stützt, sich gleichzeitig den starren 16 | Zu den widersprüchlichen ideologischen Bedingungen der Selbststilisierung Rowlandsons siehe Fitzpatrick (1991) und Lösch/Paul (2008: 140ff.).
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und expliziten puritanischen Verständniskategorien entzieht und schon deshalb als bedrohlich empfunden werden musste. Trotzdem erweisen sich typologische Deutungsverfahren und damit das implizite Wissen der Protagonistin im Text als sehr anpassungsfähig. Unversehens und gegen seine eigenen Wirkungsabsichten registriert Rowlandsons Text durch unmittelbaren Kontakt und situativ erfolgreich zur Anwendung gebrachtes implizites Wissen entstehende Transkulturationsprozesse, die das explizite und kategorisch starre puritanische Kulturkonzept unterlaufen. Das Auseinanderfallen der Erfahrung des erlebenden Ich und der korrigierenden oder verschleiernden Deutung dieser Erfahrung durch das erzählende Ich – Ulla Haselstein spricht von der »Nicht-Konvergenz von Erfahrung und Deutung« (2000: 77) –, erhält in der Lektüre des Textes als latenter Widerspruch Präsenz. Diesen Widerspruch haben Klaus Lösch und Heike Paul als »Transdifferenzphänomen auf der textuellen Ebene« beschrieben, welches auf die kulturelle Transdifferenzerfahrung der Protagonistin verweist, in deren Rahmen diese »die binären Oppositionen ihrer mitgebrachten Weltanschauung temporär suspendieren muss« (2008: 135f.). Die Transdifferenzphänomene, die sich durch widersprüchlich oszillierende Überlagerungen vermeintlich klar binär strukturierter Differenzierungen sowohl auf der diegetischen als auch auf der diskursiven Textebene zeigen,17 lassen sich darüber hinaus als Widerspruch zwischen impliziten und expliziten Wissensbeständen fassen: Die Protagonistin weiß, wie sie transkulturell handeln und deuten kann; die Erzählerin weiß, dass sie klare Unterscheidungen zu treffen und ein Individualschicksal heilsgeschichtlich mit dem Kollektivschicksal in Deckung zu bringen hat. Die Opposition zwischen der Erfahrung der Protagonistin und der Deutung der Erzählerin präsentifiziert den Widerspruch zwischen der in implizite Wissenskontexte eingebetteten sozialen Interaktion und der expliziten Herstellung von ideologischer Kohärenz in der autobiographischen Erzählung. Dieser Widerspruch erweist sich in der ästhetischen Begegnung mit dem Text als vordringlicher Gegenstand der Erfahrung und der Auslegung durch die LeserInnen. Die ästhetische Rezeption dieser Repräsentation einer biographischen Kulturkontakterfahrung darüber hinaus selbst als ein Kulturkontaktszenario zu konzipieren, bedeutet, Lesen als eine Interaktion zu verstehen; als einen aktiven Austausch zwischen textuellem Material und einem lesenden Bewusstsein. In der Aktualisierung des Textes kann das lesende Bewusstsein – ebenfalls im Rekurs auf implizite Wissensbestände – eine imaginäre Selbsterweiterung und eine temporäre Verschiebung seiner eigenen Grenzen erfahren. Winfried Fluck hat diese imaginäre Selbsterweiterung (in Abgrenzung von einem vermeintlichen self-aggrandizement) als Erweiterung der Innerlichkeit der Leserin und des Lesers auf eine ganze fiktionale Welt definiert (vgl. 2009: 375, 381). In Rowlandsons Text inszeniert das Unterlaufen der Deutungshoheit des erzählenden Ich durch die Erfahrung des erlebenden Ich eine Spannung zwischen expliziten, kulturell verankerten Festschreibungen von Bedeutung und impliziten kulturellen Improvisationsleistungen. 17 | Zum Begriff der Transdifferenz siehe Breinig/Lösch (2002; 2006).
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Diese Spannung lädt die LeserInnen ein, die Mobilisierung kultureller Grenzziehungen, die sich im Text zeigt, ohne differenznivellierende Identifikation imaginär zu erleben und als neue Beschreibung einer Fremderfahrung zu verstehen, die auch in Relation zu der eigenen historisch und kulturell anders situierten Positionierung Einsichten bzw. Einfühlungen produziert. »[T]he process of reading, therefore, is the process of subjecting the assumptions of the cultural fields that make up my own distinctive idioculture to those which the work embodies (not, of course, as the simple reflex of its time but as it is read in my own time)«, schreibt Derek Attridge (2004: 82). Er erfasst die Einlassung von LeserInnen auf Äußerungen und Texte aller Art als eine kreative Modifizierung oder Unterbrechung basaler Dekodierungsstrategien: Not all works will have something to offer a reader’s openness to alterity, […] but when one does, mechanical and instrumental interpretation is complicated by what we may term readerly hospitality, a readiness to have one’s purposes reshaped by the work to which one is responding. […] a reading is a performance of the singularity and otherness of the writing that constitutes the work as it comes into being for a particular reader in a particular context. (Ebd.: 80, 84)
Eine so geartete Lektüre dehnt eine verantwortungsvolle Rekonstruktion von historischen und literarischen Entstehungskontexten aus auf die inhaltlich nicht festgelegten viszeralen Effekte der Textlektüre auf seine LeserInnen. Sie eröffnet dabei einen Raum der ästhetischen Erfahrung, in dem wechselnde Identifikationen und Bewertungen möglich sind und in dem LeserInnen ihre Vorstellungen, Affekte und ihr Selbst- und Fremdverständnis – im vorliegenden Fall insbesondere hinsichtlich der Möglichkeiten und Grenzen der Überschreitung ideologischer Grenzziehungen – bearbeiten können. Diesen Spielraum klein zu halten bzw. seine Füllung genau zu bestimmen, war Zweck der puritanischen Semantik. Doch unversehens ermöglicht (selbst die programmatisch nicht-fiktionale) Vermittlung wechselnder Rollen-, Identifizierungs- und Distanzierungsangebote die ästhetische Erfahrung, sowohl ich selbst als auch jemand anders zu sein und »aus imaginierter Möglichkeit neue Wirklichkeit entstehen zu lassen« (Fluck 1997: 21). In der Berührung der Leserin und des Lesers durch den Text, die hier aus der literarischen Präsentifikation des expliziten Ideologemen zuwiderlaufenden impliziten Handlungswissens der Protagonistin und der Aktualisierung idiokultureller Befindlichkeiten der RezipientInnen resultiert, eröffnet sich die Möglichkeit, vertraute Bewertungsmuster in Bezug auf ihre/seine eigene, dem Text historisch und/oder kulturell fremde Situation zu bearbeiten, zu erweitern oder zu verschieben. Die Aufforderung zur Bearbeitung oder Re-Deskription eines bestehenden Wirklichkeitsverständnisses, die ein Text potenziell an seine LeserInnen richtet, soll im Folgenden auch am Beispiel von Toni Morrisons Kurzgeschichte »Recitatif« deutlich werden. Während Rowlandsons captivity narrative unversehens Widersprüche zwischen ideologisch konformem und gemeinschaftsaffirmierendem
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Sagen und dem Aufzeigen eines widerständigen impliziten Handlungswissens zutage fördert, verfolgt Morrisons Text eine bewusste Strategie der Ausstellung eines rassistisch geprägten impliziten Handlungswissens, das weder im Text noch durch den Text explizit benannt, aber in seinen Auswirkungen vorgeführt wird.
V. »YOU KNOW HOW E VERY THING WAS . B UT I DIDN ’ T KNOW «: DIE A LLGEGENWART IMPLIZITER R ASSISTISCHER D IFFEREN ZIERUNG IN TONI M ORRISONS K URZGESCHICHTE »R ECITATIF « Die afroamerikanische Gegenwartsautorin und Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison hat seit 1970 zehn Romane vorgelegt, die sich der ermächtigenden fiktionalen Rekonstruktion afroamerikanischer Geschichte widmen. »Recitatif« ist ihre einzige, inzwischen häufig anthologisierte Kurzgeschichte,18 die viele der Themen adressiert, mit denen sich Morrison auch in ihren Romanen befasst: die Spannung zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft, die wirkmächtige Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die Persistenz von Rassendiskursen und deren Effekten sowie die Prozesse, die diese verschleiern oder unleserlich machen.19 Ausgehend vom leitenden Interesse an Kulturkontaktszenarien als Erfahrungs- und Deutungsprozesse, welche implizite und explizite Wissensbestände mobilisieren, konzentriert sich meine Lektüre auf die Wahrnehmungs- und Erinnerungsarbeit der Erzählerin Twyla. Diese schildert fünf Begegnungen mit ihrer Kindheitsfreundin Roberta, die insgesamt einen Zeitraum von rund 30 Jahren umspannen. Sie enthält sich dabei jeder eindeutigen Zuschreibung ethnischer Identität und fördert in ihrer Erzählung doch unwillkürlich die tief verankerte und anhaltend normative Wirkmacht rassistischer Unterscheidungen zutage, die ihr Verhältnis zu Roberta über mehrere Jahrzehnte prägen sollte. Die durch die Erzählung nicht explizit benannte, doch in aller Deutlichkeit zur Schau gestellte Differenzierungslogik macht für die LeserInnen der Kurzgeschichte einen laten18 | Morrison verfasste sie für den 1983 von Amiri und Amina Baraka veröffentlichten Band Confirmation: An Anthology of African American Women. 19 | In ihrer Analyse der für eine weiße Leserschaft kathartischen und ermächtigenden Funktionen von Figurationen des Dunklen und Schwarzen in der klassischen amerikanischen Literatur, Playing in the Dark, erläutert Morrison das Anliegen ihrer eigenen literarischen Texte als beständigen Versuch, automatisierte und stereotype Kurzschlüsse der Bedeutungszuweisung imaginativ zu unterlaufen oder zu verschieben: »The kind of work I have always wanted to do requires me to learn how to maneuver ways to free up the language from its sometimes sinister, frequently lazy, almost always predictable employment of racially informed and determined chains. (The only short story I have ever written, ›Recitatif‹ was an experiment in the removal of all racial codes from a narrative about two characters of different races for whom racial identity is crucial)« (1992: xi).
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ten Rassismus erfahrbar, der in impliziten Wissensbeständen und gelebten, kaum formulierbaren Überzeugungen verankert ist.20 Durch die Auslassung eindeutiger ethnischer Zuweisungen provoziert die Erzählung die LeserInnen darüber hinaus zu dem (vergeblichen) Bemühen, diesen Mangel an expliziter Information durch die Erschließung von Hinweisen auszugleichen, und involviert sie dadurch in die Praxis der rassistisch gefärbten Differenzierung. Twyla und Roberta hatten sich im Alter von acht Jahren in einem Kinderheim im Bundesstaat New York kennengelernt. Beide waren im Gegensatz zu den anderen Heimkindern keine Waisen. »[W]e weren’t real orphans with beautiful dead parents in the sky. We were dumped« (Morrison 2003: 2254). Sie wurden ins Heim geschickt, weil ihre Mütter gesellschaftlichen Erwartungen an ihre moralische Integrität bzw. ihre psychische Stabilität nicht gerecht wurden und sich deshalb nicht um sie kümmern konnten. Mit den Gründen konfrontieren sich Twyla und Roberta allerdings weder als Achtjährige noch als erwachsene Frauen. Gleich im ersten Satz konstatiert die Erzählerin ohne einleitende Umschweife:21 »My mother danced all night and Roberta’s was sick. That’s why we were taken to St. Bonny’s« (ebd.: 2253). Beide werden in dem Heim von den zumeist älteren »real orphans« ausgegrenzt; das schweißt sie ebenso zusammen wie ein geteiltes Feingefühl für die Grenzen des Sagbaren: »Two little girls who knew what nobody else in the world knew – how not to ask questions. How to believe what had to be believed. There was politeness in that reluctance and generosity as well. Is your mother sick, too? No, she dances all night. Oh – and an understanding nod« (ebd.: 2260). Die ebenso ängstliche wie großzügige Zurückhaltung der beiden Mädchen erweist sich über die Jahre jedoch als Hypothek, die vor und nach der temporären Unterbrechung durch den Heimaufenthalt, der ihnen einen gemeinsamen Außenseiterstatus zuweist, aus ihrer Sozialisation auf unterschiedlichen Seiten der racial divide in den USA erwächst. Diese Hypothek erlaubt es ihnen nur in wenigen Momenten, über das sozial integrative Alltagsgespräch hinauszuwachsen und gemeinsam die symbolisch aufgeladene Frage nach dem Schicksal der Außenseiterin Maggie, der an einer Behinderung leidenden Küchenhilfe im Heim, zu adressieren. In einer 20 | Jean Paul Sartre beschreibt Rassismus in seiner 1960 im französischen Original vorgelegten philosophischen Erkundung des Sozialismus, Critique of Dialectical Reason, als eine in kollektiv iterierten Praxen hergestellte, nicht eigens explizierte Idee: »The essence of racism, in effect, is that it is not a system of thoughts which might be false or pernicious […]. It is not a thought at all. It cannot even be formulated. […] In reality, racism is the colonial interest lived as a link of all the colonialists of the colony through the serial flight of alterity. […] The idea as a product of the common object has the materiality of a fact because no one thinks it. […] the Idea as a living praxis emerges in action and as a moment of action as an ever contestable key to the world. But there is no need to contest it since the common object is based on the practical avoidance of all testing« (2004: 300ff., Fn. 88). 21 | Diese Einleitung in medias res ist charakteristisch für Morrisons Eröffnungen ihrer fiktionalen Welten (vgl. Morrison 1989).
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mise-en-abyme Struktur, die das Interesse der Kurzgeschichte auf der diegetischen Ebene als Problemstellung inszeniert, mit der sich die Charaktere konfrontiert sehen, wiederholt die innerfiktionale Konfrontation der Protagonistinnen mit der Frage nach dem Schicksal Maggies die Fragen, mit denen sich die LeserInnen der Geschichte auf der Rezeptionsebene konfrontiert sehen. So trägt die von Roberta am offenen Schluss der Geschichte zum ersten Mal explizit formulierte Frage »What the hell happened to Maggie?« (ebd.: 2266) im Text das Gewicht der Auseinandersetzung mit den impliziten Funktionsweisen rassistischer Verhaltensweisen. Die Begegnungen von Roberta und Twyla konturieren die allgegenwärtige kulturelle Relevanz der Rassenunterscheidung im Amerika der 1950er bis 1980er Jahre und weisen sie als wechselseitigen Abgrenzungsmechanismus aus, der in den USA zum noch immer virulenten und jederzeit abrufbaren impliziten Wissensbestand gehört. Die Erzählung lässt aber keinen Aufschluss darüber zu, welches der beiden Mädchen, die im Heim als »salt and pepper« verschrien sind (ebd.: 2254), schwarz und welches weiß ist. Von Beginn an involviert die Erzählung die LeserInnen, indem sie beständig den Versuch provoziert, die Darstellung äußerer Erscheinungsbilder, nachbarschaftlicher Zugehörigkeiten, von Essen und Verhaltensweisen als spezifische Verweise auf schwarze oder weiße kulturelle Kontexte zu lesen, und jedes Mal gehen diese Deutungsversuche ins Leere. Anstatt Klarheit über die offenbar wirkmächtige Zuweisung ethnischer Identität zu gewinnen, rücken für die LeserInnen die selbst angelegten Bewertungskriterien in den Blick, die vermutlich ebenso viel mit der eigenen sozialen Positionierung wie mit der der Protagonistinnen zu tun haben. Die eigene Kategorisierungswut macht sich an der lähmenden Differenzierungslogik innerhalb von Twylas Erzählung mitschuldig und hinterlässt ein geradezu körperlich peinliches Gefühl.22 Diese Reaktion ist ein prominentes Beispiel für die durch den Text bewirkte Präsentifikation impliziter kultureller Differenzierungspraktiken zwischen unterschiedlichen Teilkulturen in den USA. Als Twyla Roberta das erste Mal begegnet, verleiht sie ihrem Rassismus ganz unverstellt Ausdruck. Als kindliches Sprachrohr unaussprechlicher Überzeugungen, expliziert sie eine rassistische Unterscheidung, die seit der Bürgerrechtsbewegung tabuisiert ist, doch das implizite Handlungswissen im Umgang zwischen schwarzen und weißen Bevölkerungsteilen in weiten Bereichen des kulturellen Lebens der USA anhaltend prägt: It was one thing to be taken out of your own bed early in the morning – it was something else to be stuck in a strange place with a girl from a whole other race. And Mary, that’s my mother, she was right. Every now and then she would stop dancing long enough to tell me something important and one of the things she said was that they never washed their hair and smelled funny. Roberta sure did. Smell funny, I mean. So when the Big Bozo [die Heim22 | »Morrison relegates us to racial stereotyping hell, and we keep trying to wiggle our way out of it without rejecting what we have come to know« (Harris 2006: 112, 110ff.).
Literatur als Präsentifikation impliziten Wissens leiterin] […] said, ›Twyla, this is Roberta. Roberta, this is Twyla. Make each other welcome.‹ I said, ›My mother won’t like you putting me in here.‹ ›Good,‹ said Bozo. ›Maybe then she’ll come and take you home.‹ (Ebd.: 2253, meine Hervorhebung)
Die geringe Erzähldistanz und die offene Empörung der Achtjährigen, die diese einleitende Passage kennzeichnen, gewähren gleich zu Beginn der Kurzgeschichte einen lebhaften Eindruck von der in impliziten Wissensbeständen verankerten Allgegenwart dichotomischer Zuschreibungen: »a girl from a whole other race«! Obwohl sich die beiden Mädchen in dem Heim schnell sehr gut verstehen, bleibt die Rassenunterscheidung für die nur sporadisch stattfindende Interaktion der beiden über viele Jahrzehnte prägend und spitzt sich in der Frage der Schul-Desegregation noch dramatisch zu. Ungeachtet der situativ gestifteten Freundschaft der beiden Mädchen erwächst aus ihrer Sozialisation die beständige Bestätigung des Vorurteils, und beide nutzen den Konflikt, um sich in Reiterationen eingespielter Differenzierungsmuster ihrer Identität zu versichern (vgl. Harris 2006: 116). Nach ihrem Heimaufenthalt treffen die jungen Frauen das zweite Mal in den frühen 1960er Jahren kurz und linkisch als Fan von Jimi Hendrix und Bedienung in einem einfachen Kettenrestaurant zusammen. Wie Roberta später beiläufig und fast selbstverständlich feststellt, waren die angespannten Rassenbeziehungen kurz nach der Desegregation für ihre Verlegenheit verantwortlich: »Oh, Twyla, you know how it was in those days: black – white. You know how everything was« (Morrison 2003: 2262). Die abwiegelnde, doppelt artikulierte Annahme, dass Twyla schon um die Umstände rassistischer Unterscheidung wisse, verweist darauf, dass es sich dabei um ein implizites, in der alltäglichen Praxis verankertes Wissen handelt. Die Erzählerin bestätigt dies, indem sie Roberta widerspricht. Sie hat keinen expliziten Zugang dazu, warum Roberta sich damals so verhielt, als ob sie sie nicht kennen wollte: »But I didn’t know. I thought it was just the opposite. Busloads of blacks and whites came into Howard Johnson’s together. They roamed together then: students, musicians, lovers, protesters« (ebd.). Seit dem Civil Rights Act von 1964 ist Segregation in öffentlichen Einrichtungen wie Restaurants, Sportstadien, Bussen, und sanitären Einrichtungen de jure verboten. Jenseits dessen, was rechtlich explizierbar und Twylas bewusster Reflexion zugänglich ist, bleiben die Rituale der Rassentrennung de facto allerdings ein eingespieltes Geschehen (»you know how it was«) und lassen Twyla, die diese Rituale glaubt hinter sich lassen zu können, befremdet zurück. Die einige Jahre darauf, in den frühen 1970er Jahren stattfindende dritte Begegnung zwischen Twyla und Roberta in einem Supermarkt situiert die beiden auf gegenüberliegenden Seiten ökonomischer, politischer und ethnischer Grenzziehungen in der kürzlich gentrifizierten Stadt Newburgh im Norden des Bundesstaats New York. Bei einer Tasse Kaffee bringen sich die beiden kurz auf den neuesten Stand – Ehemänner, Kinder, Autos – und für wenige Momente schmelzen die Erinnerungen an ihre 20 Jahre zurückliegende Freundschaft in St. Bonny’s die
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Zeit ein: »We both giggled. Really giggled. Suddenly, in just a pulse beat, twenty years disappeared and all of it came rushing back« (ebd.: 2269). Für einen bezeichnenderweise non-verbalen Moment stellt sich das alte Gefühl der Verbundenheit wieder ein. In diesem Moment erwähnt Twyla zum ersten Mal die Außenseiterfigur Maggie, die Küchenhilfe des Kinderheims, wobei Roberta und Twyla unterschiedliche Erinnerungen daran haben, ob sie schwarz oder weiß war und ob sie selbst gestürzt oder attackiert worden war, als die großen Mädchen sie auslachten. Die unterschiedlichen Lektüren, die Twyla und Roberta in der Erinnerung an Maggie vornehmen, präfigurieren die Deutungsversuche, die die Geschichte insgesamt der Leserin und dem Leser zumutet (vgl. Abel 1997: 828). Und auf beiden Ebenen sagen die Deutungen mehr über die Deutenden selbst als über den Gegenstand ihrer Deutungen. Im selben Jahr im Herbst gibt es Unruhen in der Stadt, die sich an der neu eingeführten Praxis des bussing entzünden. Schüler und Schülerinnen, darunter auch Twylas Sohn, werden mit dem Bus an weiter entfernt gelegene Schulen gefahren, um die Rassentrennung im Bildungssystem zu überwinden. Mit einer Gruppe wütender Mütter bestreikt Roberta die Schule.23 Twyla und Roberta werden zu fanatischen Gegnerinnen, die sich in dieser vierten Begegnung unter dem Vorzeichen der mütterlichen Sorge für ihre Kinder gegenseitig bekämpfen. Die Schilder, die die beiden Frauen vor sich her tragen, ergeben nur in Bezug aufeinander überhaupt Sinn: »MOTHERS HAVE RIGHTS TOO!« – »AND SO DO CHILDREN!« (ebd.). Die Erzählerin ist sich dieses dialogischen Bezugs bewusst und erläutert: »Actually my sign didn’t make sense without Roberta’s. ›And so do children what?‹ one of the women on my side asked me. Have rights, I said, as though it was obvious« (ebd.). Doch steigert sich Twyla weiter in die Antagonisierung hinein und beantwortet Robertas Schild, das die Rechte der Mütter einfordert, mit »HOW WOULD YOU KNOW?« und »IS YOUR MOTHER WELL?« (ebd.). Als Roberta daraufhin nicht mehr auftaucht, verliert die Demonstration auch für Twyla ihren Reiz, zumal sie auf ihrer eigenen Seite des Konflikts ohnehin niemand verstand. Die über lange Jahre latent anhaltende Aneinander-Gebundenheit der Identitäten der beiden Frauen macht unmissverständlich klar, dass rassistische Zuschreibungen von eigener und fremder Identität nach impliziten dialogischen Regeln funktionieren und auf US-amerikanischem Boden (auch oder gerade dann) allgegenwärtig sind, wenn sie erkannt sind, geleugnet oder durch andere, beispielsweise ökonomische Unterscheidungen überschrieben werden (vgl. Harris 2006: 116). In diesem Zusammenhang fungiert die Frage nach Maggies Schicksal, die Roberta zuerst aufgebracht hatte, als Anlass für die innerdiegetische Inszenierung eben der Auseinandersetzung mit rassistischen Vorannahmen und Spannungen, 23 | Twyla befürwortet bussing und soziale Veränderung – tut sie dies, weil sie schwarz oder weil sie ökonomisch weniger privilegiert ist? Es lässt sich nicht sagen, dass das eine das andere ausschließt. Genauso wenig lässt sich allein aus Robertas ökonomisch privilegierter Position schließen, dass sie weiß ist (vgl. Abel 1997: 830f.).
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die auf einer zweiten Ebene auch im Rahmen der Rezeption des Textes durch die LeserInnen geleistet werden muss (vgl. ebd.: 112). Selbst für die Schwächsten, auch für Twyla und Roberta, wurde die kleingewachsene und stumme Maggie mit den O-Beinen und dem Watschelgang (vgl. Morrison 2003: 2261) zur negativen Projektionsfläche, der gegenüber jeder groß war. Doch zunächst erinnert sich die Protagonistin Twyla nicht daran, selbst an den Erniedrigungsritualen (wenn auch nur am Rande miteifernd) teilgenommen zu haben. Die Vorstellung bleibt irritierend für Twyla und gewinnt noch zusätzlich an Gewicht als Roberta ihr während der Demonstrationen Bigotterie vorwirft: Twyla habe die »poor old black lady« Maggie getreten (ebd.: 2264), als diese schon am Boden lag. Twyla erinnert sich nicht daran, dass Maggie schwarz gewesen wäre, und schon gar nicht daran, dass sie ihr gegenüber gewalttätig geworden sein könnte. Doch sie hatten ihr beide Beschimpfungen nachgerufen, und Twyla muss sich eingestehen, dass sie sie treten wollte. Unabhängig davon, ob Maggie schwarz oder weiß war, zeigt der weitere Verlauf der Geschichte, dass sie nicht nur für die älteren Heimkinder, sondern auch für Roberta und Twyla als klassischer Sündenbock diente. Analog zu den tastenden Versuchen von Twyla und Roberta, sich ihrer eigenen Verwicklung in die Erniedrigungen Maggies bewusst zu werden, stellt sich für die LeserInnen die Frage, welches kulturelle Kapital sich mit den eigenen Differenzierungspraktiken verbindet. Als sich Twyla und Roberta am Ende der Geschichte (vermutlich in den frühen 1980er Jahren) an Heiligabend ein letztes Mal in einem Diner begegnen, gibt auch Roberta die Genugtuung zu, die sie angesichts der Erniedrigung der wehrlosen Maggie durch die großen Mädchen empfunden hatte. Und sie nutzt die Gelegenheit, um den Vorwurf zurückzunehmen, Twyla habe Maggie getreten. Gleichwohl stellt sie fest: »[W]anting to is doing it« (ebd.: 2266). Als Küchenhilfe, die sich um die Verpflegung der Heimkinder kümmerte, stellte Maggie eine Art Ersatz-Mutterfigur dar, auf die die Mädchen ihre Wut und Enttäuschung darüber projizieren konnten, von ihren eigenen Müttern verlassen worden zu sein. Durch die zumindest psychisch gewalttätige Ablehnung der Pariafigur verliehen die Mädchen ihrer Wut Ausdruck und verschafften sich selbst ein besseres Selbstwertgefühl (vgl. Harris 2006: 114). Es dauert rund 30 Jahre bis sie, einander weitgehend entfremdet, dieser Tatsache gemeinsam ins Auge schauen: Es ist der Abend, an dem die Christen Jesu Geburt feiern, Roberta ist schon festlich gekleidet und nach einem Drink auf dem Sprung nach draußen zu ihren Freunden. Twyla will mit dem gepackten Christbaum auf dem Kofferraum abwarten, bis das Streufahrzeug die Heimfahrt durch den Schnee sicherer macht. Roberta weint, Twyla dankt ihr und erklärt, dass ihre Mutter niemals aufhörte zu tanzen. Roberta erwidert, dass ihre Mutter niemals gesund wurde. Die knappe Verständigung über das Schicksal ihrer Mütter bildet einen Punkt der Berührung, um den herum sich in der stillen, heiligen Nacht eine andere Stille ausbreitet – »I […] couldn’t think of any way to fill the silence that went from the diner past the paper bells on out into the snow« – eine Stille, die Robertas Zusammenbruch und ihre abschließende Frage bei jeder
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Lektüre widerhallen lässt: »Oh shit, Twyla. Shit, shit, shit. What the hell happened to Maggie?« (Morrison 2003: 2266). Robertas Frage bildet den offenen Abschluss der Geschichte und fordert die LeserInnen auf, die Konfrontation mit den vielschichtigen und subtilen Auswirkungen impliziter sozialer und ethnischer Differenzierung aufzunehmen, deren überindividuelle und subkutane Reichweite Twylas und Robertas Geschichte deutlich macht. Als kritische Analyse der literarischen Inszenierung sozialer Differenzierungsmechanismen zwischen unterschiedlichen ethnischen und ökonomischen Teilkulturen in den USA in den 1950er bis 1980er Jahren weist meine Lektüre dem Text die Funktion zu, die unbemerkten oder systematisch ausgeblendeten Beschränkungen und die im Alltag implizit verankerte und gleichwohl nur allzu leicht unterschätzte Wirkmacht sozialer Differenzierungen nach unterschiedlichen ›Rassen‹ zu präsentifizieren. Als eine fiktive Inszenierung einer Wirklichkeitsdeutung artikuliert der Text eine Einladung an seine LeserInnen, die Revision von Wirklichkeitsdeutungen im Angesicht sowohl ihrer prinzipiellen Vorläufigkeit als auch ihrer Änderungsresistenz einzuüben (vgl. Fluck 2009: 375ff.). Der Text funktioniert als ein Medium des Kulturkontakts, das die Möglichkeit eröffnet, die Wirkmacht bestehender emotionaler Investitionen in implizite Modelle des Kulturkontakts zu erfahren, zu reflektieren und womöglich sogar zu transformieren (vgl. Schwab 1996b: 131f.).
VI. F A ZIT Mit den beiden hier vorgestellten Lektüren ist das Vorhaben verbunden, die kulturellen Funktionen literarischer Ästhetik – auch im Rahmen eines Mediensystems, für das die Literatur im Laufe des 20. Jahrhunderts eher randständig geworden ist –, als Präsentifikation impliziten Wissens zu beschreiben. Dazu wurden Rowlandsons captivity narrative und Morrisons »Recitatif« als Texte vorgestellt, welche die ermöglichenden oder restriktiven Wirkungen impliziter Wissensbestände, die darin verankerten kulturellen Austauschprozesse und Improvisationsleistungen sowie die damit einhergehende Bestätigung oder Mobilisierung von Grenzziehungen erfahrbar machen. Die Konzeption der Lektüren als Kulturkontaktszenarien folgt darüber hinaus der Annahme, dass das Lesen von fiktionalen Texten als Fremdheitserfahrung, als ein Sich-selbst-fremd-werden, als eine in Frage stellende Präsenzerfahrung und Begegnung mit einem Anderen beschreibbar ist. Lesen eröffnet demnach transkulturelle Räume, in deren Rahmen Begegnungen stattfinden können, die das erlebende und kategorisierende Verhältnis der Lesenden zu den in impliziten Wissensbeständen verankerten Umgangsformen ihrer eigenen Kultur entwickeln oder fortschreiben. Als »Ensemble virtueller Rekurssituationen« sind Rowlandsons und Morrisons Inszenierungen von Kulturkontaktszenarien zeitlich und kulturell unterschiedlich weit von der Lebenswelt einer gegenwärtigen Leserschaft entfernt, doch, um mit Matthias Bauer zu sprechen, ihre »Bedeutung wird
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letztlich […] in dieser Lebenswelt ratifiziert oder gar nicht« (2003: 118). Schwab bestätigt diese Übertragungslogik in Bezug auf die Bewertung kultureller Differenzen wie folgt: »[L]iterature may intervene in other forms of cultural contact or sharpen and change our own patterns of relating to otherness« (1996a: xi). Durch literarische Formen angeregte Veränderungsprozesse sind in einer Lektüre freilich nicht tatsächlich feststell- oder gar messbar. Es ist allerdings möglich, der Poetik eines Textes zu folgen und in Form von Funktionshypothesen textuelle Angebote oder Einladungen für Übertragungsprozesse zu benennen, die im Hinblick auf eine Redefinition der Grenzen dessen, was als vertraut oder fremd wahrgenommen wird, im Hinblick auf individuelle oder kollektive Formen des kreativen Verstehens und des self-fashioning, folgenreich sein mögen. Rowlandsons captivity narrative nimmt vorsichtige Relativierungen eines radikalen Differenzdenkens vor, indem der Text kulturelle Improvisationsleistungen präsentifiziert, die in impliziten Verhaltensformen und Deutungsoperationen der Protagonistin verankert sind und die – von der Erzählerin explizit vertretene – koloniale Wertzuschreibungen unterlaufen, ohne sie außer Kraft zu setzen. Die LeserInnen begegnen in der Protagonistin einem Vermögen zur situativ angemessenen Entwicklung produktiver Umgangsformen mit dem Unvertrauten in ideologisch anderslautend überschriebenen Szenen geteilter Aufmerksamkeit. Morrisons Kurzgeschichte dagegen präsentifiziert die stillschweigende Wirkmacht impliziter sozialer Differenzierungen, die die Szenen geteilter Aufmerksamkeit zwischen den Protagonistinnen und die damit verbundene »Imagination der Intentionen eines signifikanten Anderen« (Bauer 2003: 98) durch nicht explizierte – weil kulturell tabuisierte – ideologische Überschreibungen systematisch reguliert. LeserInnen begegnen in der Lektüre des Textes der kognitiv nur unzureichend zugänglichen psychischen und sozialen Reichweite ebenso tabuisierter wie eingespielter dichotomischer Unterscheidungen zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Diesen in gegenwärtigen Lektüren erfolgenden Begegnungen ist die Aufforderung eingeschrieben, die wechselseitig kontingente Erschließung der Sicht des jeweils Anderen in Räumen geteilter Aufmerksamkeit als Enkulturationsprozess wahrzunehmen und sich im Angesicht der Änderungsresistenz von Wirklichkeitsdeutungen ihrer Revision zu verpflichten. Die beiden Lektüren konnten deutlich machen, dass historisch unterschiedlich verortete und poetologisch unterschiedlich gefasste Texte als institutioneller Rahmen für die ästhetische Präsentifikation und Verhandlung von impliziten Mustern des Kulturkontakts dienen können (vgl. Schwab 1996a: xi). Das Erleben von Fremdheit ist dabei Gegenstand sowohl der Darstellung als auch der Rezeption. Als imaginäre oder spekulative Ethnographien und kreative Weltschöpfungen fungieren literarische Texte als Medien des Kulturkontakts, indem sie geographisch, historisch oder imaginativ (womöglich gar nicht so) ›fremde‹ soziale Szenarien gestalten, in denen sich einander mehr oder weniger vertraute Menschen in einem Geflecht aus wechselseitigen Zuschreibungen zueinander verhalten und sich ebenso wie die LeserInnen zu Schlussfolgerungen und Urteilen veranlasst
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sehen. Über ihre formalen Dimensionen ermöglichen literarische Inszenierungen die emotionale und mentale Kontaktaufnahme zu einer anderen, fiktionalen Welt und trainieren gleichzeitig die Lektüre- und Deutungsoperationen, die auch in Bezug auf die eigene soziale Umwelt zum Tragen kommen. Über die Vermittlung von ästhetischen Erfahrungen (vgl. Schwab 1996b: 120) eröffnen sie einen Raum für Übertragungen oder imaginäre Selbsterweiterungen (vgl. Fluck 2009), der die LeserInnen mit einem kognitiv kaum zugänglichen, in Handlungen ritualisierten, nicht begrifflich artikulierten Wissen konfrontiert und sie zu einer projektiven Bedeutungsermittlung auffordert. Die ästhetische Erfahrung – insbesondere das darin präsentifizierte implizite Wissen über den Umgang mit dem Fremden – regt Perspektivenwechsel und die »Projektion des fremden Verhaltens auf das eigene Verhalten im Modus der Simulation« an (Bauer 2003: 100). Somit weist die mehr oder weniger stark fiktionalisierte Veranschaulichung von Prozessen der Selbst-, Fremd- und Weltdeutung der Rezeption kultureller Produktionen sozialisierende, kulturvermittelnde und realitätsbildende Funktion zu – die Funktion der Erkundung und Bearbeitung von implizit verankerten und individuell iterierten Emotionen, Glaubenssätzen und Wirklichkeitskonstruktionen.
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Komparatistik
»Aber höher als ihr, Zaren, sind die Glocken.« Marina Cvetaevas lyrisches Präsentifikationsprojekt »Verse über Moskau« Dirk Kretzschmar und Stefan Schukowski
Die von Hans Ulrich Gumbrecht in Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz (2004) entwickelten literatur- und kulturwissenschaftlichen Theorien von Präsenz, Präsentifikation und ästhetischer Erfahrung basieren auf der Diagnose eines Verlustes. Die übermächtige Tradition metaphysisch-hermeneutischer Suche nach dem »Sinn der Phänomene« habe der Episteme der europäisch-transatlantischen Moderne alles Präsentische, verstanden als räumliches, körperbezogenes, sinnliches »Verhältnis zur Welt und zu deren Gegenständen« gründlich ausgetrieben (ebd.: 11). Die »neuzeitliche westliche Kultur (einschließlich unserer Gegenwart)« lässt sich, so Gumbrecht, »als ein Prozeß beschreiben […], bei dem die Präsenz fortschreitend preisgegeben wird und aus dem Gedächtnis verschwindet« (ebd.: 12). Um die Therapien, die Gumbrecht zum Zweck der Restitution eines »gewisse[n] Verlangens nach Präsenz« in der heutigen (Literatur-)wissenschaft und Lebenswelt vorschlägt (ebd.), soll es im Folgenden nicht weiter gehen. Auch wird es nicht unsere Aufgabe sein, Gumbrechts recht oberflächlich bleibende Auseinandersetzung mit den poststrukturalistischen Absetzbewegungen von Hermeneutik, Metaphysik und Präsenz kritisch zu beleuchten. Wir nutzen seine Überlegungen vielmehr als produktives Raster für die Analyse eines im frühen 20. Jahrhundert in Russland entworfenen poet(olog)ischen Präsentifikationsprojekts und seiner kulturspezifischen Fundierungen. Anhand des 1916 entstandenen Gedichtzyklus »Verse über Moskau« von Marina Cvetaeva (1892-1941), einer der bedeutendsten russischen Lyrikerinnen, wird zu zeigen sein, dass sich die neuzeitliche russische Kultur als ein fortdauernd präsentisch codiertes System in der Umwelt einer längst auf hermeneutische Interpretation und cartesianische Subjekt/Objekt-Differenz umorientierten westeuropäischen Moderne zu behaupten sucht. Gumbrechts These, der Verlust präsentischen Denkens und Handelns sei ein gesamteuropäisches, ja sogar globales Phänomen, erweist sich damit aus kulturkomparatistischer Sicht als unhaltbar. Die komplexen Relationen zwischen präsentischer Weltsicht,
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ihrer Fundierung im impliziten Wissensreservoir der russischen Kultur und ihrer expliziten Aktualisierung in und qua Literatur, also in Motivik und Struktur der Texte, sollen nun auf dem Weg einer dreischrittigen Analyse offengelegt werden. Zunächst geht es um die von Cvetaeva im Vorfeld der Produktion der »Verse über Moskau« entwickelte Poetik der Präsenz (I). Im Anschluss daran erfolgt die Einordnung dieser Poetik in die semantischen und gesellschaftsstrukturellen Konfigurationen der russischen Kultur (II). Schließlich sind die poetischen Verfahren zur Vertextung der präsentischen Ideologeme zu behandeln (III).
I. P OE TIK DER P R ÄSENZ An Neujahr 1916 war die junge, noch kaum bekannte Moskauer Lyrikerin Marina Cvetaeva von ihren bereits berühmten Petersburger Kollegen, unter ihnen Osip Mandel’štam und Michail Kuzmin, zu einer gemeinsamen Lesung eingeladen worden. Über diesen Abend heißt es in ihren Erinnerungen: »Ich trage mein ganzes Gedichtjahr 1915 vor […]. Klar fühle ich, daß ich im Namen Moskaus spreche und daß ich mit diesem Namen bestehe, ja ihn auf die Höhe des Namens Achmatowa hebe. Achmatowa!« (Zwetajewa 1989b: 206). Dieser kurze Tagebucheintrag entfaltet basale Konstituenten der russischen Präsenzkultur. Indem sich Cvetaeva vor den Petersburger Dichtern als literarische Abgesandte ihrer Heimatstadt Moskau geriert und gerade diesen Ort an gerade jenem Ort beim Namen nennt, ruft sie die für das neuzeitliche Russland kulturkonstitutive und als solche im impliziten Wissensfundus fest verankerte Fundamentalopposition beider Städte auf. Aufgrund des kulturell sedimentierten Wissens um diese Entgegensetzung genügt es, nur eine Seite dieser Differenz explizit zu erwähnen, um den Widerpart auf der anderen Seite gleichursprünglich aufzurufen. Im Gedichtzyklus »Verse über Moskau«, der unmittelbar nach dem Aufritt in St. Petersburg entsteht, wird Cvetaeva diese Dichotomie fortschreiben, indem sie den poetischen Konstruktionen beider Städte die Differenz sinnliche Präsenz versus unsinnlicher Sinn zugrunde legt. Moskau als ›Präsenzstadt‹ steht für das prämoderne, orthodoxe, sakrale und antiwestliche Vor-Petrinische Russland, St. Petersburg als ›Sinnstadt‹ hingegen für das moderne, säkulare und prowestliche Petrinische bzw. Nach-Petrinische Russland. Die Städte stehen metonymisch für den ›Osten‹ bzw. den ›Westen‹, so dass der in den »Versen über Moskau« ausgetragene poet(olog)ische ›Kulturkampf‹ zwischen ihnen zugleich als ein in die russische Kultur hineinverlegter Stellvertreterkrieg zwischen Westeuropa als ›Sinnkultur‹ und Russland als ›Präsenzkultur‹ gelesen werden kann. Die zitierte Passage verweist darüber hinaus auf eine weitere Dimension präsenzbasierten Handelns und Erlebens: Das Herstellen von Präsenz durch interaktiv-ereignishafte (Literatur-)Kommunikation. Sie vollzieht sich im ko-präsentischen Sprechakt der Dichterlesung, der im vorliegenden Fall zudem an ein konkretes Gegenüber adressiert ist – an die von Marina Cvetaeva als literarisches
Marina Cvetaevas lyrisches Präsentifikationsprojekt »Verse über Moskau«
Vorbild verehrte Anna Achmatova (1889-1966), deren Name, ähnlich dem Namen Moskaus, in emphatischer Apostrophe aus- und angerufen wird. In diesen performativen Akten werden zugleich jene medialen Möglichkeitsbedingungen von Präsenzerfahrung sichtbar, die auch Gumbrecht beschreibt. Wenn das Präsentische identisch ist mit dem Nicht-Hermeneutischen, mit einer die sinnliche Wahrnehmung affizierenden »Nähe zu den Dingen«, mit einem »AufReichweite-Sein […] vor jeglicher Interpretation« (Gumbrecht 2004: 10), dann impliziert die Binäropposition Präsenz versus Sinn zugleich die Mediendifferenz zwischen Stimme und Schrift. In gut platonischer Tradition wird aus der Stimme erneut das Medium der Unmittelbarkeit, der materiellen Präsenz – sowohl des Sprechenden als auch des von ihm Besprochenen –, dem die Schrift als Medium der Mittelbarkeit des zunächst absenten und erst über den Umweg metaphysisch-hermeneutischer Interpretation zugänglichen Sinns nachgeordnet wird. Eben diese asymmetrische, auf die Höherbewertung der Stimme hinauslaufende Unterscheidung rufen die Erinnerungen Cvetaevas an den Vortrag ihrer Gedichte in St. Petersburg auf. Mit dem expliziten Herausstellen von Mündlichkeit, Körperlichkeit, Performativität und ko-präsentischer Interaktion wird die andere Seite der binären Medienopposition implizit mitgeführt: die Schrift mit ihren unsinnlichen Sinneffekten, die es durch das Sprechen und die räumliche Präsenz des Sprechenden zu suspendieren gilt. Cvetaevas lyrische Performance ist damit präsentische Produktion im Gumbrecht’schen Sinn: ein Akt, »bei dem ein Gegenstand im Raum ›vor-geführt‹ wird« (ebd.: 11).1 Nun wollte es die Geschichte, dass gerade die erste Adressatin ihrer Verse, Anna Achmatova, im Moment von Cvetaevas Präsentation nicht präsent war. Wie sich Cvetaevas Tagebuchaufzeichnungen entnehmen lässt, behält sie dennoch den präsentischen Kommunikationsmodus und seine Semantik bei, indem sie das absente Gegenüber imaginativ präsent macht: »Ich lese – der Achmatowa entgegen, zu ihr hin. Lese – als ob im Zimmer die Achmatowa wäre, nur die Achmatowa. Lese für die abwesende Achmatowa« (Zwetajewa 1989b: 206f.). Was an jenem Abend scheiterte, sollte sich später doch noch erfüllen; mit größerer Distanz zwar, doch vermittelt durch dasjenige Medium, das der Stimme im Hinblick auf das 1 | Gumbrecht beschäftigt sich ebenfalls mit den präsentifikatorischen Potenzialen lyrischer Texte. In der Lyrik des spanischen Modernisten Federico García Lorca sieht er den Versuch, präsentische Körperwahrnehmung qua extrem komplexer Sinnes-Evokationen im Text aufzufangen und durch erhöhte sinnwiderstrebige poetische Verfahren (idealiter in performancehafter Aufführung) dem Rezipienten möglichst unter Ausschaltung eines reflexiven Zugangs nachfühlbar zu machen (Gumbrecht 2012). Lorcas Gedichte sind damit durchaus als poetisches Gegenprojekt zu einer modern-reflexiven Umwelt zu lesen und in dieser Hinsicht mit Cvetaevas Lyrik vergleichbar. Jedoch stellt Lorca letztlich resignativ die Sehnsucht nach Präsenz in ihrer Unerfüllbarkeit aus – und übereignet sie bestenfalls dem Tode. Hierin liegt der fundamentale Unterschied zur Lyrik Cvetaevas, die auf einer ungebrochen stabilen präsenzkulturellen Basis aufruhen konnte.
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Mitführen realpräsentischer Spuren des Senders am nächsten kommt: die Handschrift. So können wir in Cvetaevas Tagebuch lesen, dass sie Achmatova Autographe ihrer Gedichte zukommen ließ, mit denen diese dann auf eine besondere Art und Weise umging: »Ich weiß, daß sich die Achmatowa, dann 1916-17, von meinen handschriftlichen Gedichten an sie nicht trennen konnte und sie in ihrem Täschchen trug, bis nur noch Falten und Risse übrig waren« (ebd.: 207). Die Adressatin dieser sowohl raumzeitlich gedehnten als auch präsentischen Kommunikationsofferte reagiert mithin vollkommen adäquat: Sie trägt die handschriftlich materialisierten Gedichte so (präsentisch) nah am eigenen Körper, bis sich das Trägermedium gänzlich aufgelöst hat. ›Auflösung‹ bedeutet hier aber gerade nicht spurloses ›Verschwinden‹, sondern präsentifizierende Inkorporation. So wie in der präsentisch-stimmlichen Performanz das Gedicht über Auge und Ohr in den Körper des Angesprochenen eindringt, so erreicht es qua körperinvolvierender Handschrift den zwar absenten Adressaten, der die Realpräsenz des Senders jedoch durch den eigenen körperzentrierten Umgang mit dem Trägermedium qua Simulation kompensiert. Es kommt nun nicht darauf an, ob man Cvetaevas Aussagen für ›wahr‹, für Mystifikationen oder schlicht für ›Literatur‹ hält, denn sie sind in jedem Fall als symptomatische Zeugnisse einer hochgradig von präsenzorientierten Denkschemata, Semantiken und Praktiken geprägten Kultur lesbar. Die mit solchen Präsenzdiskursen verbundenen Idealvorstellungen leibhaftigpräsentischer Kommunikation gehen häufig mit einer Metaphorik einher, die eine Funktionsanalogie zwischen Literatur und Religion herstellt (vgl. Kretzschmar 2003). So heißt es auch bei Cvetaeva: »Wiederholende Erneuerung! Darin liegt ihre [der Lyrik] Gewalt über uns, eine Macht, auf der jeglicher Gottesdienst beruht, jeder Bann, jeder Zauber, jede Verfluchung, jedes menschliche und nichtmenschliche Bündnis. Sogar die Toten werden dreimal angerufen« (1989a: 443). Cvetaeva spricht hier nicht, wie die deutsche Romantik, von einer Kunst-Religion, einer Kunst also, die nach und infolge ihrer Autonomisierung wissentlich vergeblich (nämlich im Modus der unerfüllbaren Sehnsucht) versucht, sich unter Verwendung religiöser Semantik wieder die Position eines gesellschaftlichen Führungssystems zu erschreiben. Bei ihr geht es nach wie vor um eine Religions-Kunst, die die transzendenten Gehalte der Welt entbirgt und von der religiöse oder magische Wirkungen im Sinne einer Herstellung von Realpräsenz des Numinosen ausgehen können. Der hier von Cvetaeva hergestellte funktionale wie semantische Konnex zwischen Präsenz, Lyrik und Religion gründet exakt in jener Episteme, die Gumbrechts nivellierender Blick auf die europäische Kultur im 20. Jahrhundert längst verloren glaubt. Für ihn war das europäische Mittelalter die (letzte) paradigmatische Formation einer Präsenzkultur. In ihr sind »Geist und Materie«, »Subjekt und Objekt« noch beieinander und der Mensch begreift sich noch »als Bestandteil einer ihn umgebenden Welt […], die als Resultat der göttlichen Schöpfung gilt« (Gumbrecht 2004: 41f.). All diese mittelalterlichen Präsenz- und Weltdeutungsmodelle haben sich sowohl in den poetologischen Texten Cvetaevas als auch in ihren Moskau-Gedichten nahezu unverändert erhalten. Ihr poetisches Konstrukt
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der Stadt Moskau als Ort permanenter Präsenz des Transzendenten, der St. Petersburg als gänzlich transzendenzlosem Ort kontrastiert wird, gründet im mittelalterlich-religiösen Weltbild. Dies gilt, wie die Analysen ihrer Verfahren zur textuellen Stadtkonstitution noch genauer erweisen werden, insbesondere für ihren Blick auf die städtische Szenerie aus der Perspektive eines Beobachters, der wie der Mensch des Mittelalters kein eigenmächtig-aktiver Wissensproduzent ist, sondern der sein Wissen und seine Wissensakkumulation ausschließlich als Redeskription des feststehenden Sinns der göttlichen Offenbarung und Schöpfung versteht. Cvetaevas Poetologie und Poesie gehen auch im frühen 20. Jahrhundert noch ganz selbstverständlich von jenem Konnex zwischen Ästhetik und Präsenz aus, den Gumbrecht nach vermeintlich jahrhundertelanger Verschüttung meint, unserer Gegenwart wieder in Erinnerung rufen zu müssen. Präsenz kann demnach immer wieder momentan-punktuell aufscheinen, im Modus ästhetischer Erfahrung nämlich, die Gumbrecht als »Oszillieren (und mitunter auch als Interferenz) zwischen ›Präsenzeffekten‹ und ›Sinneffekten‹« bestimmt (ebd.: 18). Innerhalb der Kunst ist es wiederum die Lyrik, die in besonderem Maße dazu geeignet ist, dieses Changieren zwischen Sinn und Präsenz, zwischen sinnhafter Fremdreferenz und sinnlicher, die Materialität des Mediums ausstellender Selbstreferenz in Gang zu setzen.2 So schreibt Gumbrecht, Gadamer zitierend: »Ist es denn wirklich bei solchen Texten nur ein sinnorientiertes Lesen? Ist es nicht ein Singen? Der Prozeß, in dem ein Gedicht spricht – nur von einer Sinnintention getragen? Spricht nicht aus ihm gleichzeitig eine Vollzugswahrheit? Das ist die Aufgabe, die das Gedicht stellt!« (ebd.: 84). Cvetaevas poetologisch artikulierter Wille zur Präsenz bringt ähnliche Denkfiguren in Anschlag. So unterscheidet sie in einem programmatischen Essay gleichen Titels »Dichter mit Geschichte und Dichter ohne Geschichte« (Zwetajewa 1989a). Dichter mit Geschichte sind demnach zielstrebig, kontrolliert, themenorientiert und »selten […] reine Lyriker« (ebd.: 439) – stellen also, im Sinne Gumbrechts, eher die Sinnseite lyrischer Texte aus. Dichter ohne Geschichte, auf deren Seite sie sich selbst stellt, stärken demgegenüber eher die Präsenzseite. Ihre Texte sind, so Cvetaeva, »ohne Plan«, »reine Lyrik«, »reine[r] Zustand des Erlebens-Erlei2 | Vgl. dazu das analoge Vorgehen – jedoch auf strukturalistischer Basis – von Andreas Mahler: Bezogen auf Lyrik unterscheidet er eine mimetische, auf Sinn hin transparente Kommunikationsfunktion von einer performativen, die auf ihre eigene Materialität ausgerichtet ist. Ähnlich wie Gumbrecht spricht Mahler von einem epiphanischen Moment des Übergangs der Wahrnehmung von der einen zur anderen Seite: »[E]ach transgression of the asymptotal threshold between material and thought potentially evokes such an ephiphanous moment, the aesthetic experience (the suspension of hierarchies for a utopian glimpse of the medium itself, the illusion of simultaneous ›presence‹)« (2006: 231). Auch für ihn ist Lyrik die paradigmatisch geeignete Gattung für solche Präsenzeffekte. Im Gegensatz zu Gumbrecht jedoch betont Mahler die utopische und illusionistische Qualität einer solchen Erfahrung sowie ihre ›technischen‹ Produktionsbedingungen.
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dens« (ebd.: 440); Dichter/Dichtungen ohne Geschichte kommunizieren mithin nicht nur hermeneutisch dechiffrierbaren Sinn, sondern zugleich das Unmittelbare, Unkontrollierbare, ›nur‹ Erfahrbare der Lyrik. Aufgrund des oszillierenden Zusammenspiels zwischen Sinn und Sinnlichkeit, zwischen Informativität und sinnlich-körperlich erlebbarer Materialität ästhetisch eigenwertiger Zeichen gelten Gumbrecht lyrische Texte als besonders präsentisch. Diese (sprach-)materielle Dimension der Präsenz zeichnet Cvetaevas Lyrik im Höchstmaß aus. Die »Verse über Moskau« sind artifiziell ausnehmend durchgeformt. Aufgebrochene Syntax, komplexe intertextuelle Relationen und exuberante Klanglichkeit, die archaischvolkstümliche Sprachmagie ebenso aufruft wie liturgische Gebetshandlungen, gehen zusammen mit einer hermetisch-assoziativen Bildlichkeit sowie extremer Entautomatisierung des zeitgenössischen Russisch durch eine Mixtur aus Alltagssprache, volkstümlicher Idiomatik und Altkirchenslavismen.3 Diese starke Literarizität steht aber nicht im Zeichen einer selbstgenügsamen, l’art pour l’artKunstproduktion, sondern das Ausstellen der poetischen Funktion dient der antihermeneutischen Präsentifikation als ästhetischer Erfahrung qua sinnlich erlebbarer Materialität der Sprache. Zugleich jedoch darf sich die selbstreferentielle Dimension der Präsenz nicht autonomisieren und verselbständigen. Cvetaevas Gedichte setzen daher ebenso vehement auf die Unterfütterung der sinnlich-materiellen Manifestation von Präsenz mit präsentistischem Sinn. Eine Lektüre ihrer Verse als Changement zwischen Sinnlichkeit und Sinn – sensu Gumbrecht – soll mithin auf beiden Seiten dieser Differenz Präsenzeffekte zeitigen: Auf der Ebene der Materialität der Sprache durch die Eigenmacht der Signifikanten, auf der Ebene der Informativität der Sprache durch die Mitteilung präsentistischer Ideologeme. Diese speisen sich aus der Fundamentalopposition zwischen Moskau und St. Petersburg, die wiederum Teil eines größeren Komplexes dichotomischer Gegensätze der russischen Episteme ist, deren basale Manifestationen es im Hinblick auf die Moskau-Verse Marina Cvetaevas zunächst näher zu erläutern gilt.
II. E IN D ENKEN IN P OL ARITÄTEN . Z UR DICHOTOMISCHEN S ELBSTMODELLIERUNG DER RUSSISCHEN K ULTUR Die dualistische Struktur der russischen Selbstbeschreibungsepisteme wurzelt in der Religion. Sie nimmt ihren Ausgang in der strikt manichäistisch geordneten slawisch-heidnischen Kosmologie und prägt seit dem Schisma des Jahres 1054 als unversöhnlicher Gegensatz zwischen russischer Orthodoxie und westlichem Katholizismus auch die Geschichte des christlichen Russland. Die sich bereits in dieser konfessionellen Frontstellung manifestierende Opposition Russland versus Westen stabilisiert sich im 16. Jahrhundert durch das bereits nicht mehr nur re3 | Zu formalen Aspekten der Lyrik Cvetaevas vgl. Rogačeva (2006).
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ligiös, sondern auch politisch und kulturell fundierte Ideologem von Moskau als Drittem Rom; nachdem das erste, lateinische Rom vom wahren Glauben abgefallen und Konstantinopel, das zweite Rom, nunmehr vom Islam beherrscht werde, seien Moskau und der Moskauer Staat als das Neue Jerusalem zum letzten Hort und Hüter des wahren Christentums aufgestiegen. Eine weitere, nun allerdings innerorthodoxe Glaubensspaltung fügt im späten 17. Jahrhundert dem System der kulturkonstitutiven Polaritäten neue, historisch überaus wirkmächtige Komponenten hinzu. Die Liturgie- und Textreformen des Patriarchen Nikon führen zur Abspaltung der sogenannten ›Altgläubigen‹, die sich, trotz härtester Repressionen, dem neuen Ritus verweigern und im Reformer Nikon den Antichristen und nun dessen Herrschaft in Russland anbrechen sehen. Auf dem Alleinvertretungsanspruch der russischen Orthodoxie gegenüber allen anderen Konfessionen, vor allem aber gegenüber dem Katholizismus, basiert weiterhin die Ideologie des »Heiligen Russland« (Svjataja Rus’), die, gleichfalls aus der frühen Neuzeit stammend, sich insbesondere in der russischen (religiösen) Philosophie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts – auch unter Beteiligung von Literaten wie Fjodor Dostoevskij – zur Idee einer messianischen Rolle Russlands zur Errettung der gesamten Menschheit auswächst. Eine zentrale Bedeutung für die Tradierung und weitere Stabilisierung antinomischer Welterklärungsmodelle der russischen Kultur kommt den umfassenden politischen und soziokulturellen Reformen Peters des Großen im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts zu. Die ebenso kompromisslose wie gewaltsame kulturelle Öffnung des Landes nach Westen sowie die radikalen Interventionen in die sakrale und weltliche Ordnung Altrusslands gelten den Widersachern Peters als satanisches Werk der Zerstörung alles genuin Russischen. Die Reformer wiederum bedienten sich ebenfalls der Differenzen eigen versus fremd, sakral versus säkular und russisch versus westlich, legten aber im Gegensatz zu den Traditionsbewahrern den positiven Akzent auf den zweiten Wert der jeweiligen Binäroppositionen. Zum steingewordenen Symbol dieses neuen, also modernen und säkularen, Russland wird die vom Zaren in einem demiurgischen (Gewalt-)Akt förmlich aus dem Boden gestampfte neue Hauptstadt St. Petersburg, deren ideologisches und städtebauliches Fundament sich einem vollständigen Import westeuropäischer Staats-, Verwaltungs- und Gesellschaftsmodelle verdankt und aus ebendiesem Grund von Peters Widersachern als ebenso ›unrussisch‹ und fremd abgelehnt wird wie das gesamte Petrinische System. Damit ist auch die Dichotomie Moskau versus Petersburg in die Welt gesetzt, deren beide Seiten im weiteren Verlauf der russischen Kulturgeschichte mit einem komplexen System von Attributen ausgekleidet werden; auf der Moskauer Seite finden sich dann Begriffe und Konzepte wieder wie ›russisch‹, ›altehrwürdig‹, ›traditionell‹ und ›religiös‹, auf der Petersburger Seite hingegen Termini wie ›unrussisch‹, ›neu‹, ›säkular‹, ›unecht‹ sowie ›unwirklich-phantasmagorisch‹. Diese Oppositionen lassen sich ebenso in die Kategorien der (Gumbrecht’schen) Präsenztheorie fassen. Moskau wäre dann eine Präsenz-Stadt, deren religiös-transzen-
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dente Fundierung dem Text der Stadt zwar eingeschrieben ist, aus ihm aber nicht über den Umweg hermeneutischer Sinndeutung herausgelesen werden muss, sondern epiphanisch, sinnlich und leibhaftig erfahren werden kann; St. Petersburg wäre demgegenüber eine säkulare Repräsentations-Stadt, die ihre Existenz dem demiurgischen Akt eines selbstmächtigen, modernen Individuums verdankt und deren Stadttext ein Signifikant wäre, dessen hermeneutisch zu entzifferndes Signifikat in ebendieser unpräsentischen Transzendenzlosigkeit bestünde. Auch die russische Sprachtheorie und -philosophie bleibt vielfach religiös und vormodern übercodiert. So wird immer wieder an der Einheit zwischen ›res‹ und ›verba‹ sowie an der Nicht-Arbitrarität des sprachlichen Zeichens festgehalten. Von dieser Warte aus gesehen, müssen Manipulationen an der Sprache unmittelbare Folgen in der Welt zeitigen. Bereits der Widerstand der Altgläubigen gegen die Nikonianischen Eingriffe in Texte und Liturgieformen der orthodoxen Kirche basiert ja auf der Vorstellung, dass es nicht nur häretische Ideen gibt, sondern dass bereits bestimmte Formen des sprachlichen Zeichens – sei es die Aussprache, sei es die Schreibung – häretisch sein können. Insofern macht es einen entscheidenden Unterschied, ob der Name Christi weiterhin IcycȮ (alt) oder IȜcycȮ (neu) geschrieben/gesprochen wird oder ob es in der Liturgie zum zweimaligen (alt) oder dreimaligen (neu) Ausrufen des »Halleluja« kommt. Gerade der gesprochenen Sprache wird im Umkreis der russischen Orthodoxie und religiösen Philosophie weiterhin magisch-präsentifikatorische Macht attestiert. So vertrat beispielsweise die um 1910 im russischen Kloster auf dem Berg Athos entstandene namensmystische Strömung der imjaslavie die Auffassung, dass durch die häufige Wiederholung des Namens Jesu dieser selbst im Gebet präsent sei. Daraus wiederum entwickeln religiöse Philosophen wie Sergej Bulgakov, Pavel Florenskij oder Lev Losev die Vorstellung, im Namen Gottes sei dieser selbst gegenwärtig (vgl. Hagemeister 2009). Auf einem derartigen Präsenzdenken basiert ebenso die russische Ikonentheologie. Eine Ikone ist demnach kein Heiligenbild im Sinne einer künstlerischzeichenhaften Repräsentation des auf ihr Dargestellten, sondern ein heiliges, wundertätiges Bild. Werden Christus, die Mutter Gottes oder die Heiligen der orthodoxen Kirche auf Ikonen abgebildet, werden sie zu wesensgleichen Abbildern ihrer Urbilder und als solche sind sie im Bild unmittelbar gegenwärtig. In welcher Form diese (Medien-)Philosopheme auf die russische Literatur und Literaturtheorie ausgestrahlt haben, ist bereits anhand der präsentischen Sprachauffassungen Cvetaevas erörtert worden. In welcher Beziehung ihre »Verse über Moskau« zudem mit der Ikonentheorie und -theologie sowie mit den genannten Dichotomien kultureller Selbstbeschreibungssemantik in Russland stehen, und wie all dies in eine Poesie der Präsenz transformiert wird, sollen nun die konkreten Textanalysen erweisen.
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III. P OESIE DER P R ÄSENZ Unsere lektüreleitende Hypothese ist, dass in den Gedichten Cvetaevas drei miteinander verwobene Strategien zur Erzeugung von Präsenz zum Einsatz kommen, die den drei basalen Einheiten (literarischer) Kommunikation, dem Sender, der Mitteilung und dem Empfänger, funktional zugeordnet sind. Diese lyrischen Präsentifikationsstrategeme wollen wir auf der Senderseite ›lebensweltliche Überblendung‹, auf der Empfängerseite ›intertextuelle Dedikation‹ und auf der Mitteilungsseite ›präsentische Ideologisierung‹ nennen. Unter lebensweltlicher Überblendung verstehen wir literarische Verfahren, die zwischen realer Autorperson und textinterner Sprechinstanz größtmögliche Nähe herstellen. Das Problem, das es mithilfe lebensweltlicher Überblendung zu lösen gilt, liegt in der unhintergehbaren Schriftförmigkeit moderner literarischer Kommunikation, die jede raumzeitliche Kopräsenz von Alter und Ego, von Produzent und Rezipient der literarischen Mitteilung aufhebt. Diese von der Schrift in das Kommunikationskontinuum geschlagene Bresche lässt sich durch performativpräsentische, interaktive und körperbezogene Formen literarischer Kommunikation wie das Vorlesen der Texte und/oder die eigenhändige Übergabe der Handschrift an ein personal anwesendes Gegenüber zumindest teilweise schließen. Wie bereits erläutert, machte auch Cvetaeva von diesen Möglichkeiten ausgiebig Gebrauch. In unvermeidlich (druck-)schriftlich kommunizierenden Gesellschaften bieten sie jedoch keine Lösung auf Dauer. Es gilt daher, die von der Schrift verursachten Verluste an Präsenz zu kompensieren, ohne das Medium zu verlassen. Gelingen kann dies unter anderem durch biographisch-lebensweltliche Engführung zwischen der Sprechinstanz des Textes und dem realen Autor, die auch im druck-schriftlich fixierten Text die raumzeitliche Präsenz interaktiv-mündlicher Kommunikation zwischen Sender und Empfänger simulativ evoziert. Im Hinblick auf die Empfängerseite der poetischen Kommunikationsofferte »Verse über Moskau« kommt eine weitere Unterscheidung ins Spiel. Als Adressaten ihrer Dichtung hatte Cvetaeva ja insbesondere die arrivierten Poeten St. Petersburgs, allen voran Achmatova, im Blick. Um diese (stellvertretend für alle Leser) noch einmal exklusiv im unpräsentischen Medium der Schrift präsentisch ansprechen zu können, fügt Cvetaeva ihren Gedichten ein weiteres präsentifikatorisches Strategem hinzu: die Dedikation. Indem sie die Texte explizit anderen Dichtern zueignet, und/oder andere Dichter in den Texten direkt anspricht, hofft sie auf das In-Gang-Kommen eines Dialogs der Texte, der neue Texte generiert. Das A-präsentische schriftfixierter literarischer Kommunikation lässt sich auf diese Weise kompensatorisch abmildern. Eine dezidiert an Literaten gerichtete Kommunikationsofferte in Form eines literarischen Textes wird zum funktionalen Analogon einer mündlichen Äußerung im Rahmen interaktiver Kommunikation unter Anwesenden. Reagiert der angesprochene Dichter darauf mit einem neuen Text, tritt dieser, ebenso funktional analog, an die Stelle der Antwort im Gespräch. Durch Dedikation ausgelöste Intertextualität simuliert interaktive Kommunikation. Zu-
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dem, und darauf kommt es Cvetaeva primär an, bleibt sie in diesem potenziell unabschließbaren intertextuellen Dialog als dessen Urheberin immer präsent. Die dritte poetische Präsentifikationsstrategie bezieht sich auf die Mitteilungsseite des literarischen Textes, seinen Aussagegehalt. Dieser muss so umfassend wie möglich mit Ideologemen der Präsenz angereichert werden. Im Fall der »Verse über Moskau« speist sich, wie zu zeigen sein wird, die entsprechende Semantik aus den verschiedenen Facetten der kulturell sedimentierten, implizit gewussten Präsenzvorstellungen der russischen Episteme, die mit dem Grundthema des Zyklus, der Dichotomie zwischen Moskau und St. Petersburg, korreliert wird. Das erste der neun Gedichte des Zyklus kann als programmatischer Auftakt gelten, da es bereits die meisten der eben beschriebenen formalen und inhaltlichen Grundkoordinaten präsentifikatorischen Schreibens vorgibt und synthetisiert. In den Folgegedichten werden diese Basisstrategeme variiert, rekombiniert und durch weitere Komponenten ergänzt. Präsenzeffekte werden zunächst durch eine Sprechsituation erzeugt, die zwischen lyrischer Sprechinstanz und realer Autorperson engste Ähnlichkeit, ja Identität herstellt. Biographische Details, die Cvetaeva in vielen weiteren Gedichten sowie in anderen, auch nicht-literarischen Texten wie Lebensaufzeichnungen und Briefen immer wieder verhandelt, stimmen mit denen des lyrischen Ich überein. Die – dezidiert weibliche – Sprechinstanz spricht (im ersten Gedicht) ihre Tochter an; sie durchleidet in Moskau die Wirren des Bürgerkriegs (aufgerufen im dritten Gedicht); sie beschreibt ihr Geburtshaus (im siebten Gedicht); sie wird am Sterbetag des Heiligen Apostels und Evangelisten Johannes, dem 26. September, geboren (ebenfalls beschrieben im siebten Gedicht) – allesamt biographisch belegbare Daten.4 Im vierten Gedicht schließlich gibt sich die Sprechinstanz explizit den Namen »Marina«4|28.5 Versteht man mit Gumbrecht Präsenz als Herstellung räumlicher (Extrem-) Annäherung, dient die Identifikation von Autorin und lyrischem Ich im Gedicht exakt diesem Zweck. Zwar kann in einem schriftförmig kommunizierenden Text keine real-örtliche Nähe zwischen Produzent und Rezipient entstehen, doch bleibt vermittels lebensweltlicher Überblendung auch im aufgeschriebenen Text etwas von der Realpräsenz der Autorin und einer real-präsentischen Kommunikationssituation erhalten. Jane Taubman spricht im Hinblick auf Cvetaevas Verse zu Recht von einer »apotheosis of the lyrical persona« (1989: 73). Ebenso explizit weist das Eingangsgedicht die Sprechinstanz als Dichterin aus – eine weitere Überblendung von lyrischem Ich und realer Autorperson. Diese Ineinssetzung wird zudem ver4 | Cvetaevas erste Tochter Ariadna war zur Zeit der Abfassung der Moskau-Verse vier Jahre alt, ihr Ehemann Sergej Efron diente 1916 als freiwilliger Sanitäter an der Front. Der Vergleich ihres Geburtshauses mit einem »Lebkuchen«7|7 verweist darauf, dass es sich um eines der typischen, mit volkstümlichen Schnitzereien geschmückten, alten Moskauer Holzhäuser handelte. 5 | Tiefgestellte Ziffern bezeichnen: Nummer des Gedichts|Versnummer(n). Sie beziehen sich auf unsere Übersetzung am Schluss des Beitrags.
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knüpft mit dem intergenerativen Schema der Filiation zwischen Mutter, Tochter und Enkeltochter, die wiederum in ein metaphorisches Korrelationsverhältnis mit dem Vorgang der Genese und Tradierung literarischer Texte überführt wird. So wird die Tochter als ȣșȤȖșȡșȪ, »Erstling« angesprochen, sowohl die Bezeichnung für die Erstgeborene, wie auch für das erste literarische Werk; ebenso verweist der Kranz, den es für die Tochter (und nach ihr für die Enkelin) zu erringen gilt – »Den Kranz wirst du empfangen,/Oh mein Erstling!«1|13f. – auf den topischen poeta laureatus, den bekränzten Dichterfürsten. Die Verse »Ich erhebe dich, meine bessere Bürde,/Mein schwereloses/Bäumchen!«1|5ff. setzen die Filiation von Mutter/Poetin zu Tochter/Text zudem in das antinomische Bild ebenso freudvoller wie kräftezehrender Mutterschaft. Die Produktion von poetischen Texten wird damit – und hier manifestiert sich die präsentistische Ideologie dieser Textpassagen – in ein existentielles, emotionales und direkt an den Körper der Dichterin gebundenes Verhältnis gestellt. Die Engführung zwischen körperlicher und literarischer Prokreation führt das Einleitungsgedicht in immer weiteren Variationen aus. Mit der Geburt der Tochter zu Beginn korreliert der bereits in der zweiten Strophe prophezeite Tod der Mutter am Ende. Das angesprochene ›Tochter-Du‹ wird das ›Mutter-Ich‹ jedoch beerben – genealogisch und literarisch. In der letzten Strophe muss dann auch die Tochtergeneration sterben – doch das Leben geht weiter. Denn auch die Tochter wird Kinder/ Texte ›gebären‹, die die biologisch-literarische Generationenfolge fortführen: »Du wirst an der Reihe sein:/Auch – der Tochter/Wirst du Moskau übergeben/In zarter Bitterkeit.«1|21ff.6 Die Intertext-Struktur als integraler Bestandteil der Präsenzpoetik Cvetaevas wird hier zusätzlich durch die Verbindung mit dem Motiv der MutterTochter-Filiation in einen mytho-vitalistischen, also ebenfalls präsentischen, Zusammenhang des Kreislaufs von Geburt, Leben und Tod gebracht. Dass aus Gedichten weitere Gedichte hergestellt werden müssen, ist zugleich die Grundannahme der ›Dedikationslyrik‹ Cvetaevas, d.h. ihrer intensiv betriebenen Kommunikation mit anderen DichterInnen über ihre Lyrik.7 Das Anbinden der Lyrik an die eigene Person, die Dedikation der Texte an andere Dichter, verbunden mit dem impliziten Appell, den Dialog der Texte aufzunehmen und fortzuführen sowie die zu intensiver Interpretationsarbeit auffordernde Hermetik der 6 | So ist es keineswegs ein Zufall, dass sich das lyrische Ich auf dem Moskauer Wagankowo-Friedhof begraben sieht. Dort wurden seit Mitte des 19. Jahrhunderts bedeutende Persönlichkeiten – unter ihnen auch zahlreiche KünstlerInnen und SchriftstellerInnen – bestattet. 7 | Ein Tagungsband hat diese Struktur zu Recht zum ergiebigen Ausgangspunkt der literaturwissenschaftlichen Analyse der Lyrik Cvetaevas gewählt und – freilich ohne diesen Terminus zu verwenden – die daraus resultierenden präsentischen Effekte benannt. »Als schöpfende und kreative Teilhabe fordert die Lektüre ihrer Poesie eine Gemeinschaft stiftende Kommunikationsbewegung ein« (Savvidou 2000: 22). Orig.: »Participation créatrice et créative, la lecture de sa poésie exige un mouvement de communication-communion«.
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Texte – all diese Teilstrategeme präsentifikatorischen Schreibens werden im Eingangsgedicht des Zyklus miteinander verknüpft. Hinzu kommen weitere motivische Ingredienzien präsentistischer Weltdeutung. So korrespondiert die zyklische Zeitstruktur des Einleitungsgedichts mit einer ebensolchen Raumstruktur: Die der Welt enthobene, auf Wolken- und Kuppelniveau verortete lokale Sprechsituation am Anfang (»Wolken – ringsherum/Kuppeln – ringsherum«1|1f.) und das Bemühen der Sprecherin, ihre Tochter hoch und höher zu halten, stehen in reziprokem Verhältnis zur Erdung/Beerdigung am Schluss. Diese zyklische Verschränkung von Geburt und Tod, die Filiation von Körpern und Texten des Einleitungsgedichts findet ihre Entsprechung in der zyklischen Gesamtanlage der »Verse über Moskau«. Beginnen sie mit dem »Erstling« (verschränkt mit dem Tod der Mutter), enden sie mit einem Gedicht über die Geburt der Sprecherin am Todestag des Evangelisten Johannes.8 Zyklizität kombiniert mit präsentisch aufgeladener Semantik formen bereits unmittelbar zu Beginn der Gedichtfolge Cvetaevas jenes geschlossene, Immanentes und Transzendentes verbindende, mytho-vitalistische Weltbild, das Gumbrecht dem Mittelalter als Hochphase präsentischen Denkens und Handelns zuordnet – und für die Moderne unrettbar verloren glaubt. Dass dem keinesfalls so ist, zeigen auch die zahlreichen Referenzen der Gedichte Cvetaevas auf das Christentum und die Orthodoxie, die es im Folgenden genauer zu analysieren gilt.
I KONOGR APHISCHE P R ÄSENTIFIK ATION Religion und Liturgie bilden die zentralen Isotopien des Zyklus. Dies zeigt sich bereits in der Lexik und Grammatik der Gedichte: Altkirchenslawische Begriffe und Satzstrukturen durchziehen sie. Auch die Bildlichkeit rekurriert auf Christliches: Gott, Heilige, Märtyrer, Nonnen, Pilger, Priester und orthodoxe Sektierer bevölkern die Szenerie. Das gesamte Setting, die Stadt Moskau, wird ausschließlich über seine Sakralbauten aufgerufen. Die meisten Gedichte sind zudem mit den Daten hoher orthodoxer Feier- und Gedenktage versehen und erhalten auf diese Weise eine Heiligkeit aus der konkreten, kontextuellen Schreibsituation.9Hinzu kommt die wiederholte Anrufung der Mutter Gottes: als Schutzmantelmaria2|16 und mehrfach in Form von Gottesmutter-Ikonen.10 Der Iverskaja, einer der wichtigsten Ikonen
8 | Das Bild des ›brennenden‹ Vogelbeerbaumes im letzten Gedicht, der im Herbst sowohl seine Blätter abwirft (Tod) und gleichzeitig seine Früchte ausbildet (Leben), bietet zudem Anlass, in diesen beiden Rahmengedichten eine Überblendung archaischer Vorstellungen von Mutterschaft und Erdverbundenheit (Bild der Muttergöttin als vielhändriger Baum) mit christlicher Symbolik (Gottesmutter Maria und brennender Dornbusch) zu sehen. 9 | Die ersten drei Gedichte sind am Gedenktag des Slavenapostels Kyrill verfasst. 10 | Es handelt sich um die Ikone der Unverhofften Freude 2|11, die Iverskaja 3|12, 4|6 , 8|11 und um die Kazanskaja in der Datumsunterschrift des siebten und des achten Gedichts.
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der Orthodoxie, begegnen wir erstmalig im dritten Gedicht.11 Die Sprechsituation ist durch eine klare räumliche Teilung charakterisiert: In den ersten beiden Strophen wird ein im Zeichen von Krieg (»Soldaten«3|4, »schaurig«3|3, »bestialische«3|7) und hedonistischer Liebe (»Heiß küsse, Liebe«3|6) stehendes Außen etabliert. Diesem wird in den folgenden zwei Strophen ein sakraler Innenraum entgegengesetzt, dem die Ikone zugeordnet ist. Während draußen nächtliche Dunkelheit herrscht, werden hier Kerzen zur Bannung der Bedrohung angezündet.12 Der Brand der Kerzen wird dabei mit dem goldenen Brand/Glanz der Ikone korreliert.13 Einleitend hatten wir bereits darauf verwiesen, dass der Ikone/Ikonographie in der russischen Episteme der Präsenz eine zentrale Rolle zukommt. Um Cvetaevas poetische Rekurse auf diesen Fundus impliziten Wissens verstehen zu können, sind einige Bemerkungen zur Semiotik der Ikone erforderlich. Die »entscheidende Differenz zwischen einer ostkirchlichen Ikone und einem Sakralbild der lateinischen Kirche [liegt im] orthodoxen Dogma der Wesensgleichheit zwischen Urbild und Abbild. Die Ikone gilt mithin nicht als Heiligenbild, sondern als heiliges Bild, als materialisiertes ›Teilchen göttlichen Seins‹« (Kretzschmar 2002: 67; vgl. Tatarkiewicz 1980: 53). Diese Semiotik der Identität von Bezeichnendem und Bezeichnetem ist ein bis heute lebendig gebliebenes mittelalterliches Residuum in der orthodoxen (Bilder-)Theologie und Liturgie. Cvetaevas Gedichte schreiben sich in diese orthodoxe Gleichheitssemiotik ein. Mit »Mein Mund ist entflammt«3|9 sind erneut bestialische Gefahr und hedonistische Liebe aufgerufen, doch wird nun die Gläubige durch das Küssen der Ikone mit dem Numinosen affiziert.14 Der Akt
des Ikonenkusses stellt in der orthodoxen Liturgie eine realpräsentische Verbindung mit dem/der abgebildeten Heiligen her, der Kuss berührt nicht das Material des Bildes, sondern den/die Abgebildete selber.15 Dass es gerade der Mund des lyrischen Ich ist, der das heilige Feuer/den heiligen Glanz der Ikone berührt, ist zugleich ein starker Hinweis auf die Teilhabe des lyrischen Ich an der Realpräsenz der Heiligkeit. Aufgrund der Überblendung von Sprecherinstanz und Dichterin wird so auch sie zur Heiligen, und zwar wiederum nicht im romantischmetaphorischen Sinn, sondern im vormodernen Sinn des poeta theologus, des poeta
11 | Eine der wichtigsten Kopien von ihr wurde im Auferstehungstor des Kreml verwahrt, ging aber in der Oktoberrevolution verloren. 12 | Das Anzünden von Kerzen steht in der christlich-orthodoxen Tradition für die Auferstehung und mithin für den Sieg über den Tod. 13 | Das (heilige) Brennen der Iverskaja ist wichtiger Teil ihres Mythos (vgl. Steppan 1994). 14 | In diesem Sinne verstehen wir auch die abschließende Strophe: Hier fordert die Sprecherinstanz dazu auf, mit dem Anzünden der Kerze sowohl dem Bestialischen des Krieges als auch der hedonistisch-profanen Liebe zu Gunsten des Heiligen zu entsagen. 15 | Der Krieg außerhalb des sakralen Innenraums wird als Bedrohung dieser orthodoxen Innerlichkeit geradezu zur wiederholten Bedrohung durch einen ikonoklastischen Sturm.
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vates,16 der insbesondere dann, wenn er im präsentischen Medium der Stimme auftritt, als Verkünder göttlicher Wahrheiten gilt. Aus Cvetaevas Erinnerungen wissen wir ja bereits, dass für sie das Gedicht nur im Vortrag, nur am Mund, wo der Odem des Geistes ausströmt, ganz bei sich selbst und ganz bei den anwesenden Hörern ist. Das folgende vierte Gedicht nimmt diese ikonographische Affizierung wieder auf. Dabei geht es in diesem Gedicht auf den ersten Blick um die Abwesenheit des gestorbenen ›Dichter-Ich‹: »Eure Küsse, oh, ihr Lebenden,/werde ich nicht erwidern – zum ersten Mal.«4|15f. Die orthodoxe Tradition des Küssens der Toten im offenen Sarg nimmt jedoch hier Bezug auf das Küssen der Ikone im dritten Gedicht: Auch das Küssen des Leichnams ist Teil der orthodoxen ›Präsenzkultur‹.17 Der präsentifizierende Kuss überbrückt die Absenz der Toten, so dass sie mit den Zurückgebliebenen in Verbindung bleiben. »Über die Straßen des verlassenen Moskau,/Werde fahren – ich, und langsam schreiten – ihr./Und nicht einer wird auf dem Weg zurückbleiben«4|21ff. Der Kontakt mit der Toten ist also nicht abgerissen. Ihr Tod schafft vielmehr die Gemeinschaft der/ihrer Gläubigen. In der Frage »Und aus der Ferne – Werde ich Euch denn sehen?«4|9 klingt vielleicht die Angst Jesu im Garten Getsemani an, vielleicht auch das De profundis des Psalm 130 – es ist die Furcht davor, im Jenseits doch nicht in die Gemeinschaft der Heiligen18 aufgenommen zu werden. Doch die Bibel gibt die Erfüllung vor – und das Gedicht ebenfalls: Der hier breiter als im ersten Gedicht ausimaginierte eigene Tod der Sprecherin wird zur euphorischen Totenfeier. Als »heiliges Osterfest«4|20 wird hier nichts weniger als die eigene Auferstehung gefeiert.19 Im letzten Vers wird der vermeintlichen Tragik und passivischen Ruhe des Todes eine leichte, ästhetische und künstlerische Lebendigkeit entgegengesetzt: Als Tote nennt sich die Sprechinstanz »Die neu präsentierte Ballerina Marina«4|28. Der Ausdruck »neu präsentiert« ist hier gleichzusetzen mit Auferstehung – zwar ›nur‹ in Gestalt des poetischen Textes, der jedoch gerade nicht nur als abstraktes, hermeneutisch zu deutendes
16 | Im sechsten Gedicht reiht sich die Sprecherin in eine Prozession von Pilgern ein, die »Gott besingen« 6|6. Im siebten und neunten Gedicht wird die eigene Geburt an Johannes’ Sterbetag erläutert: »Am Glockentag wurde ich, am goldenen Tag/Des Apostels Johannes geboren.«7|5f. So wird das lyrische Ich selber zur johannesähnlichen (er wird auch Der Theologe – ›Sprecher mit Gott‹ genannt) Sängerin Gottes. 17 | Die Münzen, auf die Augen der/s Verstorbenen gelegt, (vgl. 4|3) sind ebenso Teil des orthodoxen Bestattungsritus. 18 | Das Personalpronomen ›Bac‹/›Euch‹ ist hier mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben und verweist daher auf die Gemeinschaft der Heiligen im Jenseits. 19 | Das vierte Gedicht des Zyklus nimmt damit das Bild des prokreativen Todes (im ersten Gedicht noch euphemistisch als »freie[r] Schlaf«1|26 bezeichnet) wieder auf. Die Moskauer Erde und die Bestattung in ihr werden wiederholt als Bild mystischer Vereinigung mit der Stadt aufgerufen.
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Zeichensystem, sondern auch als sinnlich affizierende, präsentische Materie verstanden wird.
M OSK AU — IRDISCH - HIMMLISCHES ›U RBIARIUM ‹ Die eben beschriebene religiöse Sprechhaltung der Gedichte findet in Moskau ihren adäquaten heiligen Sprechort: »Wolken – ringsumher/Kuppeln – ringsumher«1|1f. Schon die Einleitungsverse des ersten Gedichts deuten ›nach oben‹. Die Stadt scheint, ganz wie das Neue Jerusalem in der Offenbarung des Johannes, zwischen Himmel und Erde zu schweben. Zur Sakralisierung der städtischen Szenerie bedient sich Cvetaeva gängiger literarischer Verfahren prototypischer Stadtkonstitution.20 Wiederholt werden konkrete und bekannte Gebäude- und Straßennamen referentialisiert und mit spezifizierenden Merkmalen versehen, die dem Redegegenstand ›Stadt‹ die gewünschte sakrale Aura verleihen. Nachdem mit den Epitheta »wunderbar[en]«1|8 und »friedlich[en]«1|9 Moskau schon im ersten Gedicht hymnisch gefeiert wurde, handelt es sich bei den in den Folgetexten explizit angesprochenen Referenzobjekten zumeist um religiös konnotierte Gebäude und Plätze. Diese werden synekdochisch noch weiter zerlegt, um eine Verstärkung ihrer religiösen Spezifik zu erreichen. Von den »vierzig mal vierzig Kirchen« – eine immer wieder gebrauchte, feststehende Wendung für die unüberschaubare Zahl der Kirchen Moskaus – werden allein die Kuppeln erwähnt. Sie stehen metonymisch für die Sakralität des gesamten Gebäudes und verweisen zugleich mit dem ebenfalls etliche Male erwähnten Klang ihrer Glocken und ihrer typischen (heilig-ikonomateriellen) Farbe Gold auf die in ihnen konzentrierte, synästhetischpräsentische Wahrnehmbarkeit und Materialisierung des Transzendenten. Wiederum führt das Eingangsgedicht diese Textverfahren sakralisierender Stadtkonstitution mustergültig vor: Die auf Himmelhöhe befindlichen Kuppeln im zweiten Vers werden gleich im folgenden Vers auf das explizit genannte »Moskau« metonymisch überführt; Moskau ist seine Kuppeln, die Kuppeln sind Moskau. In der nächsten Strophe wird in zwei parallel aufgebauten Versen der Oberbegriff, ȗȤȔȘ – ›Stadt‹, gebraucht. Damit schlägt die sakrale Isotopie auch auf die lexikalische Ebene durch: ȗȤȔȘ (grad) ist das altkirchenslawische, im zeitgenössischen Russischen längst durch das moderne ȗȢȤȢȘ (gorod) ersetzte Wort für ›Stadt‹. Wie oben bereits erläutert, verbindet die religiös fundierte russische Sprachphilosophie mit der Form der sprachlichen Zeichen, ihrer Schreibweise und Aussprache bestimmte ideologische Konzepte, so dass eine Änderung der Form des Signifikanten eine Änderung des ideologischen Signifikats nach sich zieht. Insofern schreibt der bewusste Rekurs auf die unzeitgemäße, geradezu archaische Lexik gleichfalls 20 | Eine prototypische Stadtdarstellung organisiert sich »über die Zuweisung spezifischer Bedeutungskomponenten, die sich habitualisieren, zum Stereotyp verfestigen und so den Mythos der Stadt ausmachen« – zum ›Image‹ einer Stadt werden (Weich 1999: 37).
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an der sakralisierenden Semantisierung der Stadt mit. Form und Inhalt konvergieren. Was in der Lexik schon angelegt ist, formulieren die Gedichte immer wieder aus: Hier wird nicht das eigentlich moderne, elektrifizierte und industrialisierte Moskau zur Zeit Cvetaevas beschrieben, sondern eine mittelalterlich-sakralisierte Version der Stadt, die im ersten und im siebten Gedicht mit dem Epitheton »Siebenhügelreich«1|20 u. 7|1,4 zum Dritten Rom erhoben wird.21 Von erheblicher Bedeutung ist ferner die »Modalisierung« der Stadtdarstellung (vgl. Mahler 1999: 21ff.). Im Stadttext entscheidet sie darüber, ob die Textstadt eher in ihrer (unendlichen) Komplexität profiliert wird, wie häufig in modern(istisch)en Gedichten, und damit auf die oft bedrohliche Überwältigung durch die Komplexität der Stadt, die urbane Reizüberflutung und die damit einhergehende Vereinsamung der Stadtbewohner abgehoben wird, oder, wie in vormodernen Texten, ein relativ problemlos lesbares, verständliches Bild einer Stadt entworfen wird. Im Moskau-Zyklus ist Letzteres der Fall. Zum einen deutet die vehemente Wiederholung der referentiellen und semantischen Merkmale auf eine in diesem Sinne einheitliche Stadt hin.22 Zum zweiten haben wir es im Gesamtzyklus mit einem den städtischen Raum kohärenzstiftend bändigenden, panoramatischen Außenblick zu tun.23 Dabei liegt der point of view jedoch nicht zentralperspektivisch als Fluchtpunkt im Inneren des betrachtenden Subjekts. Die benannten Teile der Stadt bleiben vielmehr unverbunden, gewinnen keine relative Situierung zueinander. Auch bildet die Beschreibung der Stadt keinerlei Individualität aus, sondern reproduziert das Immergleiche: »Sieben Hügel – wie sieben Glocken!/Auf den sieben Glocken – Glockentürme./Alle zusammen – vierzig mal vierzig./Glockentürmiger Siebenhügel«7|1ff. Diese serielle Referentialisierung darf nun keinesfalls als Monotonie und damit als Mangel an poetischer Potenz missdeutet werden. Es handelt sich hier vielmehr um komplexe Literarisierungen kultureller Kontexte und Praktiken der 21 | Dieses Image ist mit seinen Darstellungstopoi bis heute wirksam und in politischer Propaganda, Werbung und Kunst überaus produktiv. 22 | »Moskau« wird neunmal konkret genannt, viermal als »Stadt«; elfmal »Glocken«; sechsmal »Kirchen«/»Kirchlein«; etc. Mit einer solchen Vereinheitlichung geht in der Geschichte der Stadtliteratur meist eine starke Ideologisierung des Sprechgegenstands ›Stadt‹ einher. 23 | Der panoramatische Blick ist typisch z.B. für die hymnische Stadtdarstellung, wie er schon in den antiken laus urbis-Gedichten Roms genutzt wurde (darauf rekurrieren wiederum frühneuzeitliche London-Gedichte). Auch moderne Großstadtgedichte, wie beispielsweise die euphorisch-panegyrischen Hymnen auf Fortschritt und Demokratie von Walt Whitman, funktionieren über einen solchen, geradezu enthoben-transzendenten Blick. Eine solche Modalisierung steht im Gegensatz zu einer in moderner literarischer Stadtwahrnehmung deutlich häufiger genutzten Modalisierung, die zugunsten des Panoramas auf partiale, subjektive und damit deutlich eingeschränkte Wahrnehmung setzt; bekannt ist hier besonders das Wahrnehmungsdispositiv des – zudem noch beweglichen – ›Flaneurs‹.
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Sakralisierung. Das Wiederholungsprinzip teilt die Stadtbeschreibung Cvetaevas sowohl mit der hoch repetitiven orthodoxen Fürbittenliturgie, als auch mit den ästhetisch-religiösen Grundprinzipien der Ikonen-Malerei. Ikonen fehlt ebenfalls jede Formenvarianz, auch sie verzichten auf Neuheit, die eine künstlerische Verfahrensevolution in Gang setzen würde, und auch sie vermeiden die Zentralperspektive. Die Ikone ist Medium unmittelbar-präsentischer Selbstmitteilung des Göttlichen, nicht menschlich-individueller Weltbeobachtung und -deutung (vgl. Kretzschmar 2002: 72ff.). Indem Cvetaeva dieses ikonographische Prinzip serieller Formeninvarianz literarisiert, verleiht sie ihrer Poesie den gleichen Status eines präsentisch verkündigenden Wahrheitsmediums. Des Weiteren reaktiviert die Listenhaftigkeit24 der Stadtbeschreibung in den Moskau-Versen eine Schreibweise, die Gumbrecht der mittelalterlichen Weltsicht zuordnet und als »symbolischen Realismus« bezeichnet: In ihm hat jeder einzelne der Gegenstände, aus denen die Welt besteht, seine inhärente Bedeutung, die ihm von Gott beim Schöpfungsakt verliehen wurde. (Genau dies war die maßgebliche Voraussetzung einiger Textgattungen, die im Mittelalter zwanghaft kultiviert wurden, wie z.B. die sogenannten ›Lapidarien‹ und ›Bestiarien‹, in denen die Bedeutungen und manchmal sogar die magischen Eigenschaften verschiedener Gesteins- und Tierarten peinlich genau erklärt wurden.) (Gumbrecht 2004: 42)
In Anlehnung an die genannten mittelalterlichen Textsorten mag für die »Verse über Moskau« der Neologismus Urbiarium daher ihre strukturell analog funktionierende Listenhaftigkeit benennen. Die Gegenstände Moskaus werden nämlich nicht nur aufgelistet, sondern jeweils auch rückgebunden an die letztbegründende religiös-metaphysische Instanz, ganz so, wie man mit den Objekten in den Lapiund Bestiarien verfuhr. Über die Hälfte des zweiten Gedichts ruft die prototypischen Merkmale der Stadt in Form der Liste auf: »Kirchlein für Kirchlein – alle vierzig mal vierzig,/Und ringsum über ihnen fliegende Täubchen.//Und das Spasskij-Tor – mit Blumen,/An dem die Mütze des Orthodoxen abgenommen wird.//Die Sternkapelle – Zuflucht vor den Übeln –/In der von Küssen abgenutzt ist – der Boden.// Den fünfdomigen unvergleichlichen Ring«2|3ff.25 So wie das einzelne unbedeutende 24 | Zur Liste als Beschreibungstechnik vgl. Hartmann (1989). 25 | Die unzählige Schar der Kirchen wird ›nach oben‹ über die Tauben, dem vielfach christlich aufgeladenen Symbol für den heiligen Geist, Hoffnung und Frieden angebunden. Das Zentrum Moskaus, der Kreml, wird als nächstes über seinen höchsten Turm, den Erlöser-Turm, religiös semantisiert. Mit »Blumen geschmückt« dürfen wir uns den ErlöserTurm zu religiösen Festen vorstellen, und besonders (als Paradeeingang zum Kreml) zu den Krönungszeremonien der Zaren, die ihre weltliche Macht hier religiös fundierten. Auch die nächstgenannten Bauten (Sternkapelle und Dome) sind sakral. Mit dem »fünfdomigen unvergleichlichen Ring« ist die Topographie Moskaus zur Zeit Cvetaevas aufgerufen: In konzentrischen Kreisen wurde die Stadtanlage um den ersten Ring, die Mauer um den Kreml,
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Kirchlein verweisen die unzähligen Kirchen, wie die wichtigsten Kathedralbauten und wie auch andere markante Stadtwahrzeichen, auf eine ihnen inhärente höhere, religiöse Bedeutung. Waren die mittelalterlichen Zusammenstellungen darauf gerichtet, den Istzustand der Welt als göttlich geordnet, richtig und ewig zu beschreiben, so dienten die aufklärerischen Katalogisierungen dazu, dem aktiv in die Welt eingreifenden Menschen das notwendige Wissen zur Veränderung an die Hand zu geben. Wenn nun Cvetaeva Moskau auf die vormoderne Art und Weise inventarisiert, ist damit erneut – zunächst implizit – das Gegenmodell St. Petersburg als Resultat der umgestaltenden Intervention eines schöpferischen Individuums in die Schöpfung mit angesprochen.
M OSK AU — I KONENHAF TE G ABE FÜR S T. P E TERSBURG Cvetaevas Poesie macht Moskau nicht nur zum sakralen Handlungsort, sondern ›transsubstantiiert‹ es auch in einen liturgischen Gegenstand in Gedichtform, der, wie ein sakrales Objekt, zur Feier der Präsenz des Numinosen dient. Schon im ersten Gedicht war Moskau die Gabe, die als Erbe zwischen den Generationen die Verbindung herstellte: »Auch – der Tochter/wirst Du Moskau übergeben«1|22f. Zu Anfang des zweiten Gedichts heißt es: »Aus meinen Händen – die nicht von Menschenhand gemachte Stadt/Nimm, mein seltsamer, mein herrlicher Bruder.«2|1f. Ob sich hinter dem hier als »mein seltsamer, mein herrlicher Bruder« und »uralter, inspirierter Freund«2|10 Angesprochenen Osip Mandel’štam verbirgt, kann lediglich vermutet werden (vgl. Taubman 1989: 71ff.); in jedem Fall aber handelt es sich um einen der Petersburger Dichter, in denen Cvetaeva, wie wir wissen, die Hauptadressaten ihres Gedichtzyklus sah. Gerade in diesem expliziten Dedikationsgedicht ist nun die Ikone der »Unverhofften Freude«2|11 aufgerufen. Sie trägt deshalb ihren Namen, weil sie, so der Mythos, mit einem Sünder gesprochen hat. Dieses für Ikonen einzigartige Geschehen wird ikonographisch durch die Darstellung der Worte der Ikone als Spruchband verbildlicht. Die Sprecherinstanz macht sich zur religiösen und literarischen Führerin in einen paradiesischen Garten voller unverhoffter Freuden der Kommunikation: »Und Du wirst auferstehen, voller Wunderkräfte/Du wirst es nicht bereuen, dass Du mich liebtest.«2|17f. Hieran schließt das dritte präsentifikatorische Verfahren an, die Aufladung der Mitteilung mit präsentischer Ideologie. Sie liegt in der Metaphorisierung Moskaus, das den Petersburger Poeten in Gedichtform zur Gabe gemacht werden soll, als »nicht von Menschenhand gemachte Stadt«. In der orthodoxen Theologie gelten auch Ikonen als njerukotvornyj – als ›nicht von Menschenhand gemacht‹. Sie seit dem 16. Jahrhundert immer wieder erweitert, womit (Zentral-)Moskau seine markante Ring-Struktur erhielt. In vielen Darstellungen bis heute ist Moskau tatsächlich genau das: Mauerringe und Kirchtürme mit goldenen Kuppeln.
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sind Offenbarungen Gottes, die, vermittelt über den Ikonenmaler als ausführendes Werkzeug des göttlichen Willens, den Menschen übergeben werden. Wenn Cvetaeva nun auch Moskau als »nicht von Menschenhand« bezeichnet, erhebt sie die Stadt in den Rang einer den Menschen geschenkten Schöpfung Gottes – und macht sie zugleich zur Ikone. Wie in der Ikone, ist Gott dann auch in der Stadt unmittelbar präsent. Die Stadt zu schauen heißt Gott zu schauen. Der poetische Text wiederum, der mit Moskau eine gottgeschaffene Stadt/Ikone beschreibt, bildet ein göttliches Urbild ab, wird also ebenso zur Ikone und erhält gleichfalls Anteil an der Gottespräsenz. Nun erst erschließt sich die religiöse Dichterauffassung Cvetaevas in ihrem gesamten Umfang – und zugleich in ihrer Differenz zu gleichlautend sakralisierten Dichterkonzepten in Westeuropa. Das Selbstbild, poetischer Mittler des Göttlichen zu sein, verliert in dem Augenblick seinen Status als rein poetologische Metapher, wenn es unmittelbar an theologische Diskurse wie die Ikonentheorie angeschlossen wird. Eine Ikone ist kein ästhetisch beobachtbares Artefakt und eine aus der Ikonentheorie in die Poetik überführte Semantik keine nur literarturinterne Poetologie. Aus den eigenen Texten Ikonen zu machen bedeutet, sie mit der Weihe direkter Offenbarung göttlicher Wahrheit zu versehen. Cvetaeva will ihre Verse als schriftgewordene Ikonen verstanden wissen. Betrachten wir abschließend das fünfte Gedicht, das die Mittelachse des Zyklus bildet: Es hat in ungewöhnlicher Klarheit des Ausdrucks diesen fundamentalen Antagonismus zum Thema und verfestigt die Dichotomie, indem sie – sozusagen auf dem Reißbrett – ausgebreitet und mit klaren, binär-semantischen Füllungen versehen wird. Für Moskau stehen: das Ewige, das Alte/Russische, das Sakrale, der Glockenklang, das Weibliche und das Mütterliche; für Petersburg hingegen: das Vergängliche, das Neue/Westliche, das Profane, die Stille, das Männliche und Väterliche. Insbesondere die Moskau zugeordnete Weiblichkeit wird extensiv ausgestellt. Mit Moskau, dessen grammatisches Geschlecht im Russischen weiblich ist, korreliert das ›Runde‹ – Glocken, Kuppeln, Wolken sowie die kreisförmige Stadtanlage. Mit St. Petersburg hingegen ist das ›Eckige‹ – der quadrierten Stadtanlage entsprechend – verbunden.26 Da es vor dem Hintergrund der implizit im russischen kulturellen Wissen verankerten Opposition zwischen Moskau und St. Petersburg genügt, lediglich eine 26 | Diese ›Petersburghaftigkeit‹ ist performativ in der Form angelegt: In diesem wie im zweiten Gedicht des Zyklus schreibt sich Cvetaeva qua Versmaß in die Petersburger Verstradition ein. Der jambische Vers mit fünf Hebungen fand vor allem in Versdramen, wie in Puškins berühmtem Boris Godunov, Verwendung. Man geht wohl nicht zu weit, wenn man die auch auf dem Blatt sichtbare, streng alternierende Reißbrettstruktur in performativen Gegenlauf zu ihrem anti-Petersburger Inhalt setzt. Man kann hier von einer resignifikativen dissidenten Aneignung des Anderen (der anderen Form) für eigene Zwecke sprechen. Im Übrigen steht auch die geradezu manieristische Präsentation des Inhalts im genus sublime der vom Versmaß vorgegebenen Klarheit entgegen.
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Seite, in diesem Fall die Moskauer, aufzurufen, um damit zugleich die andere Seite mit zu konstituieren, ist das Bild des glockenklangerfüllten Moskaus auch als Aktualisierung dieses stets zweiwertigen Kulturschemas lesbar: Moskau klingt, St. Petersburg bleibt still. Das Motiv der Glocke entwickelt jedoch in diesem Gedicht noch eine weitere, nämlich apokalyptische Bedeutungsdimension. Wiederholt erfüllt »Glockendonner«5|2 (auch: »Donnernd«5|3 und »donnern«5|7) den Sprechort. Der panegyrische Vers »Dem Zaren Peter und euch, oh Zar, sei Ehre!«5|5 wird in diesem Umfeld in sein genaues Gegenteil verkehrt, das hymnische genus sublime des Gedichts (schon syntaktisch durch Inversionen, Hyperbata, Ellipsen markiert) zielt nicht auf das Lob des Zaren, sondern auf dessen Schmähung und damit auf die Feier der eigentlichen Kapitale Moskau, des wirklichen caput slavi: »Aber höher als ihr, Zaren, sind die Glocken.«5|6 Das uns aus dem ersten Gedicht bekannte weibliche Filiationsschema der ununterbrochenen Weitergabe steht hier einem männlichen, abgebrochenen Filiationsschema entgegen. Auch wenn der aktuelle Zar der direkte Nachfolger Peters ist, hat er doch seine Legitimation durch die Verlegung der Hauptstadt verloren. Moskau ist die Stadt, die von Peter – das von Cvetaeva so ultimativ gesetzte ›Filiationsgesetz‹ missachtend – verlassen wurde.27 Statt panegyrischer Ehrbezeugung wird dem Zaren Spott zuteil: »Lachen sie [die Kirchen Moskaus] über den Stolz der Zaren!«5|10. Bereits das erste Distichon gibt den Grund und die Legitimation für diese Inversion: Wie das hier implizit bleibende Sprecher-Ich zürnt auch der Himmel über die Vermessenheit des Zaren Peter und seine menschliche Hybris gegenüber der göttlichen Schöpfung und dem Heiligen Russland/Moskau. Das lyrische Ich tritt in diesem Gedicht gänzlich hinter die mit »Frau«5|4 bezeichnete Sprechinstanz zurück. Bei dieser Frau handelt es sich um die von Peter verschmähte Stadt Moskau, die sich des lyrischen Ichs lediglich als Verkünderin ihrer apokalyptischen Botschaft bedient. Erneut wird hier der gesamte Komplex der ikonentheologisch fundierten lyrischen Präsentifikationsstrategien aufgerufen. Indem sich das lyrische Ich – das ja zugleich als identisch mit der Autorin wahrgenommen werden will – zurückzieht und im Namen der von Gott geschaffenen und von seiner Präsenz durchwalteten Stadt Moskau spricht, nimmt es, respektive die Autorin selbst, erneut die Position des poeta vates/theologus, respektive des Ikonenmalers ein. Beide sind ja nichts weiter als Mittler göttlicher Botschaften und Weisungen. Die Schmähung St. Petersburgs mit apokalyptischer Konsequenz ist mithin göttlichen Ursprungs, die von der Dichterin als hier namenlos bleibendem Medium verkündet wird. Über Moskau braut sich zwar der Zorn Gottes über die Verlagerung der Hauptstadt nach St. Petersburg zusammen, doch der heilige Zorn wird der heiligen Stadt nicht gefährlich – bangen muss das weltliche St. Petersburg.
27 | In dem Gedicht »An Moskau«, das ein Jahr nach dem Zyklus entstanden ist, heißt es: »Als, seine Sohnespflicht verachtend, Kaiser Peter/an deinem Haupte frech vergriff sich gar« (Zwetajewa 1979: 45).
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Mit dieser apokalyptischen Vision schreibt das fünfte Gedicht des Zyklus jenen zentralen Subtopos der Petersburg-Literatur fort, der den Ursprung der Stadt zugleich mit ihrer Vernichtung in Verbindung bringt und entsprechende Untergangszenarien entwirft: Zum Beweis seiner unumschränkten demiurgischen Macht hatte Peter seine Stadt in das sumpfige Delta der Neva bauen lassen. Damit handelte er ihr so manche große Sturmflut mit zum Teil verheerenden Folgen ein. Dieses real-lebensweltliche Problem ließ sich jedoch zugleich zum Zeichen umdeuten und kulturreflexiv funktionalisieren. Diesen (kultur-)semiotischen Deutungsprozess beschreibt Jurij Lotman folgendermaßen: »Der Petersburger Stein ist ein Stein auf dem Wasser, auf dem Sumpf, ein Stein ohne Fundament, nicht ›so alt wie der Weltenbau‹ [so ein Vers aus einem Gedicht von Tjutschew], sondern vom Menschen hier hingestellt« (1991: 32). Auch der Kulturtheoretiker Lotman greift hier den dichotomischen Topos menschengemacht versus nicht menschengemacht auf und verortet St. Petersburg auf der Seite ›menschengemacht‹ – und konnotiert es damit, wie Cvetaeva, mit der Sphäre des Weltlichen, Profanen, Immanenten im Gegensatz zum Geistigen, Sakralen und Transzendenten. Nun hatte schon Peter der Große selbst, gleichsam in antizipierender Voraussicht, versucht, sein Projekt propagandistisch mit transzendenter Rechtfertigung auszustatten; beispielsweise zeigen zeitgenössische Darstellungen die Stadt als ein Werk des Himmels, welches von dort auf die Erde herabkommt (vgl. Nicolosi 2002). Doch dieser Versuch misslingt. Die russische Literatur bildet eine mächtige dissidente Tradition aus, die gerade die fehlende Geschichte (und das fehlende immanente wie transzendente Fundament) der Stadt mit »geisterhaften, fantasmagorischen« Mythen und – in ihrer Folge – apokalyptischen Visionen zu füllen wusste (Lotman 1991: 34). Und welche Naturkatastrophe eignet sich besser zur Umdeutung in ein apokalyptisches Strafgericht Gottes als die Sturmflut?28 Cvetaeva knüpft also an diese Untergangstopik an und überbietet sie noch, indem sie keine Sturmflut gen Petersburg schickt, sondern den als »Brandung« metaphorisierten heiligen Glockendonner. In den »Versen über Moskau« spricht eine sich göttlich-prophetische Gaben zuschreibende Dichterin im Medium einer mit liturgischer Autorität auftretenden Lyrik, die ästhetische Präsenzeffekte mit präsentistischen Ideologemen zu einer komplexen Totalität formt, ihr Urteil: Moskau wird siegen, St. Petersburg untergehen. Religiöse Präsenz triumphiert über weltlich-politische Repräsentation. Präsenzkultur, wie sie Gumbrecht in der verwestlicht-globalisierten Welt seit der frühen Neuzeit für ausgestorben hält, aktiviert hier nach wie vor lebendige Kulturmuster und bricht sich an der Grenze Europas Bahn – und zwar nicht als sich immer schon des notwendigen Scheiterns bewusste Sehnsucht nach Präsenz, sondern als höchst potentes Kulturprojekt. Cvetaevas lyrischer Beitrag aus dem frühen 20. Jahrhundert zur damals schon Jahrhunderte andauernden Auseinanderset28 | Zu einer genauen Untersuchung des Topos des Untergangs durch Überschwemmung in der Literatur mit Fokus auf Puškin vgl. Grob/Nicolosi (2003).
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zung zwischen den Konzepten ›Moskau‹ und ›St. Petersburg‹ gewinnt im heutigen Russland gerade wieder an Aktualität: Wiedererstarkte imperiale Rhetorik, die Nichtunterscheidung zwischen ›Gesellschaft‹ und ›Gemeinschaft‹, die Sakralisierung des politischen Führers, revitalisierter Führerkult mit den Mitteln ikonischer Präsentifikation sowie die Koalition zwischen Religion und Politik – all dies deutet auf die Renaissance eines präsentischen Weltbildes hin, dessen Wirkmächtigkeit mit seiner Verankerung im Bestand des impliziten Wissens der russischen Kultur erklärt werden kann.
L ITER ATUR Textausgaben Cvetaeva, Marina (1994): Sobranie sočinenij v semi tomach. Tom 1. Stichotvorenija, Moskva: Ellis Lak. Zwetajewa, Marina (1979): Gedichte 1909-1939, Wien: Europäischer Verlag. — (1989a): »Dichter mit Geschichte und Dichter ohne Geschichte«, in: Dies., Ein gefangener Geist. Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 115-166. — (1989b): »Ein Abend nicht von dieser Welt«, in: Dies., Prosa (= Ausgewählte Werke, Band 2), München/Wien: Hanser, S. 199-214.
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Marina Cvetaevas lyrisches Präsentifikationsprojekt »Verse über Moskau«
Kretzschmar, Dirk (2002): Identität statt Differenz. Zum Verhältnis von Kunsttheorie und Gesellschaftsstruktur in Russland im 18. und 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. u.a.: Lang. — (2003): »Der verhungernde Dichterkörper. Nikolaj Gogol’ und sein tödliches Leiden an der Schrift«, in: Wiener Slawistischer Almanach 51, S. 103-120. Lotman, Juri (1991): »St. Petersburg. Die Symbolik der Stadt und ihre Dechiffrierung«, in: Lettre international 15, S. 32-35. Mahler, Andreas (1999): »Stadttexte – Textstädte«, in: Ders. (Hg.), Stadt-Bilder. Allegorie Mimesis Imagination, Heidelberg: Winter, S. 11-36. — (2006): »Towards a pragmasemiotics of poetry«, in: Poetica 38, S. 217-257. Nicolosi, Riccardo (2002): Die Petersburg-Panegyrik. Russische Stadtliteratur im 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M. u.a.: Lang. Rogačeva, N.A. (2006): »M. Cvetaeva: Stichi o Moskve«, in: Reinhard Ibler (Hg.), Der russische Gedichtzyklus. Ein Handbuch, Heidelberg: Winter, S. 422-426. Savvidou, Ioanna (2000): »Marina Tsvetaeva, un poète«, in: Nadia Setti (Hg.), Marina Tsveaeva 1892-1992. De poète à poètes. Actes du colloque du Centre d’Etudes Féminines de Paris 8, avec la collaboration du Collège International de Philosophie, 31. Octobre 1992, Saint-Denis: Université Paris 8 Vincennes Saint-Denis, S. 21-24. Steppan, Thomas (1994): »Überlegungen zur Ikone der Panhagia Portaitissa im Kloster Iwiron am Berg Athos«, in: Paul Naredi-Rainer/Sybille-Karin Moser (Hg.), Sinnbild und Abbild. Zur Funktion des Bildes (= Kunstgeschichtliche Studien – Innsbruck, Neue Folge 1 und Veröffentlichungen der Universität Innsbruck, 198), S. 23-49. Tatarkiewicz, Władisław (1980): Die Ästhetik des Mittelalters (= Geschichte der Ästhetik, Band 2), Basel/Stuttgart: Schwabe. Taubman, Jane A. (1989): A life through poetryMarina Tsvetaeva’s lyric diary, Columbus: Slavica. Weich, Horst (1999): »Prototypische und mythische Stadtdarstellung. Zum ›Image‹ von Paris«, in: Andreas Mahler (Hg.), Stadt-Bilder. Allegorie Mimesis Imagination, Heidelberg: Winter, S. 37-54.
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Стихи о Москве — Verse über Moskau Die folgenden Übersetzungen sind als Arbeitsgrundlage für diesen Artikel entstanden. Sie konzentrieren sich daher vor allem auf die Sinnebene der Gedichte; die prosodischen Qualitäten des Originals konnten meist nicht berücksichtigt werden. Es sind, unseres Wissens, die ersten Übersetzungen, die den Zyklus komplett ins Deutsche übertragen. Sie sind eine Gemeinschaftsarbeit von Vadim Zhdanov, Alexander Engel, Gerhard Schukowski und den Verfassern. Das russische Original folgt der Ausgabe: Cvetaeva 1994.
Marina Cvetaevas lyrisches Präsentifikationsprojekt »Verse über Moskau«
1 ǣȕȟȔȞȔ³ȖȢȞȤȧȗ ǟȧȣȢȟȔ³ȖȢȞȤȧȗ ǢȔȘȢȖȥșȝǡȢȥȞȖȢȝ ǦȞȢȟȰȞȢȩȖȔȦȜȦȤȧȞ³ ǗȢțȡȢȬȧȦșȕȓȕȤșȠȓȟȧȫȬșș ǙșȤșȖȪȢȠȢș ǢșȖșȥȢȠȢș
Wolken – ringsumher Kuppeln – ringsumher Über ganz Moskau So weit die Hände reichen! – Ich erhebe dich, meine bessere Bürde, Mein schwereloses Bäumchen!
ǗȘȜȖȡȢȠȗȤȔȘșȥșȠ ǗȠȜȤȡȢȠȗȤȔȘșȥșȠ ǘȘșȜȠșȤȦȖȢȝ³Ƞȡș ǖȧȘșȦȤȔȘȢȥȦȡȢ³ ǫȔȤșȖȔȦȰȦșȕșȗȢȤșȖȔȦȰȦșȕș ǤȤȜȡȜȠȔȦȰȖșȡșȪ ǣȠȢȝȣșȤȖșȡșȪ
In dieser wunderbaren Stadt, In dieser friedlichen Stadt, In der auch als Tote – ich Sehr freudig sein werde, – Wirst du walten, wirst du trauern, Den Kranz wirst du empfangen, Oh mein Erstling!
ǧȯȣȢȥȦȢȠȗȢȖșȝ ǢșȥȧȤȰȠȜȕȤȢȖșȝ ǝȖȥșȥȢȤȢȞ³ȫȦȜ³ ǦȢȤȢȞȢȖȪșȤȞȖșȝ ǝȥȩȢȘȜȣșȬȞȢȠ³ȠȢȟȢȘȯȠȬȔȚȞȢȠ³ ǗȥșȣȤȜȖȢȟȰȡȢș ǦșȠȜȩȢȟȠȜș
Unterziehe dich dem Fasten, Verdunkle nicht die Mine Und alle vierzig – ehre – Mal vierzig Kirchen. Durchschreite zu Fuß – jungen Schrittes! – Die ganze freie Weite Des Siebenhügelreiches.
ǖȧȘșȦȦȖyȝȫșȤșȘ ǧȢȚș³ȘȢȫșȤȜ ǤșȤșȘȔȬȰǡȢȥȞȖȧ ǦȡșȚȡȢȝȗȢȤșȫȰȲ ǡȡșȚșȖȢȟȰȡȯȝȥȢȡȞȢȟȢȞȢȟȰȡȯȝțȖȢȡ ǜȢȤȜȤȔȡȡȜș³ ǢȔǗȔȗȔȡȰȞȢȖș
Du wirst an der Reihe sein: Auch – der Tochter Wirst du Moskau übergeben Mit zarter Bitterkeit. Ich habe einen freien Schaf, Glockenlaut, Frühe Morgenröte – Auf dem Vaganάkovo. 31. März 1916
ȠȔȤȦȔ
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Dirk Kretzschmar und Stefan Schukowski
2 ǝțȤȧȞȠȢȜȩ³ȡșȤȧȞȢȦȖȢȤȡȯȝȗȤȔȘ ǤȤȜȠȜ ȠȢȝ ȥȦȤȔȡȡȯȝ ȠȢȝ ȣȤșȞȤȔȥȡȯȝ ȕȤȔȦ
Aus meinen Händen – die nicht von Menschenhand gemachte Stadt Nimm, mein seltsamer, mein herrlicher Bruder.
ǤȢȪșȤȞȢȖȞș³ȖȥHȥȢȤȢȞȥȢȤȢȞȢȖ ǝȤșȲȭȜȩȡȔȘȡȜȠȜȗȢȟȧȕȞȢȖ
Kirchlein für Kirchlein – alle vierzig mal vierzig, Und die ringsum über ihnen fliegenden Täubchen.
ǝǦȣȔȥȥȞȜș³ȥȪȖșȦȔȠȜ³ȖȢȤȢȦi ǘȘșȬȔȣȞȔȣȤȔȖȢȥȟȔȖȡȢȗȢȥȡȓȦȔ
Und das Spasskij-Tor – mit Blumen, An dem die Mütze des Orthodoxen abgenommen wird.
ǬȔȥȢȖȡȲțȖșțȘȡȧȲ³ȣȤȜȲȦȢȦțȢȟ³ ǘȘșȖȯȦșȤȦȯȝȢȦȣȢȪșȟȧșȖ³ȣȢȟ
Die Sternkapelle – Zuflucht vor den Übeln – In der von Küssen abgenutzt ist – der Boden.
ǤȓȦȜȥȢȕȢȤȡȯȝȡșȥȤȔȖȡșȡȡȯȝȞȤȧȗ ǤȤȜȠȜȠȢȝȘȤșȖȡȜȝȖȘȢȩȡȢȖșȡȡȯȝȘȤȧȗ
Den fünfdomigen unvergleichlichen Ring Nimm, mein uralter, inspirierter Freund.
ǟǢșȫȔȓȡȡȯȓǥȔȘȢȥȦȜȖȥȔȘȧ ǴȗȢȥȦȓȫȧȚșțșȠȡȢȗȢȥȖșȘȧ
Zur Ikone der Unverhofften Freude im Garten Werde ich den fremden Gast geleiten.
ǬșȤȖȢȡȡȯșȖȢțȕȟșȭȧȦȞȧȣȢȟȔ ǖșȥȥȢȡȡȯșȖțȗȤșȠȓȦȞȢȟȢȞȢȟȔ
Goldene Kuppeln werden glänzen, Schlaflose Glocken werden läuten.
ǝȡȔȦșȕȓȥȕȔȗȤȓȡȯȩȢȕȟȔȞȢȖ ǨȤȢȡȜȦǖȢȗȢȤȢȘȜȪȔȣȢȞȤȢȖ
Und auf dich wird aus purpurnen Wolken Die Mutter Gottes den Schutzmantel herabsenken
ǝȖȥȦȔȡșȬȰȦȯȜȥȣȢȟȡșȡȘȜȖȡȯȩȥȜȟ« ǧȯȡșȤȔȥȞȔșȬȰȥȓȫȦȢȦȯȠșȡȓȟȲȕȜȟ
Und du wirst Dich erheben, voller Wunderkräfte… Du wirst nicht bereuen, dass du mich geliebt hast.
ȠȔȤȦȔ
31. März 1916
Marina Cvetaevas lyrisches Präsentifikationsprojekt »Verse über Moskau« 3 ǡȜȠȢȡȢȫȡȯȩȕȔȬșȡ ǤȟȢȭȔȘȜȡȔȥȠȫȔȦ ǣȩȞȔȞȖȡȢȫȜȥȦȤȔȬșȡ ǥHȖȠȢȟȢȘȯȩȥȢȟȘȔȦ
Vorbei an den nächtlichen Türmen Treiben uns die Plätze. Ach, wie schaurig ist in der Nacht Das Heulen junger Soldaten!
ǘȤșȠȜȗȤȢȠȞȢșȥșȤȘȪș ǛȔȤȞȢȪșȟȧȝȟȲȕȢȖȰ ǣȩȱȦȢȦȤHȖțȖșȤȥȞȜȝ ǙșȤțȞȔȓ³Ȣȩ³ȞȤȢȖȰ
Donnere, lautes Herz! Heiß küsse, Liebe! Oh, dieses bestialische Heulen! Verwegen – ach – ist das Blut!
ǡȢȝȤȢȦȤȔțȗȔȤȫȜȖ ǙȔȤȢȠȫȦȢȥȖȓȦ³ȖȜȘ ǟȔȞțȢȟȢȦȢȝȟȔȤȫȜȞ ǝȖșȤȥȞȔȓȗȢȤȜȦ
Mein Mund ist entflammt, Ungeachtet dessen, dass heilig ist – der Anblick. Wie ein goldenes Kästchen Brennt die Iverskaja.
ǧȯȢțȢȤȥȦȖȢȣȤȜȞȢȡȫȜ ǙȔțȔȥȖșȦȜȥȖșȫȧ ǬȦȢȕȯȥȦȢȕȢȝȡȢȡȫș ǢșȕȯȟȢ³ȞȔȞȩȢȫȧ
Du lass die Wildheit, Entzünde eine Kerze, Damit mit dir nun Nicht das geschehe – so will ich es.
ȠȔȤȦȔ
31. März 1916
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Dirk Kretzschmar und Stefan Schukowski 4 ǢȔȥȦȔȡșȦȘșȡȰ³ȣșȫȔȟȰȡȯȝȗȢȖȢȤȓȦ ǣȦȪȔȤȥȦȖȧȲȦȢȦȣȟȔȫȧȦȢȦȗȢȤȓȦ ³ǣȥȦȧȚșȡȯȫȧȚȜȠȜȣȓȦȔȞȔȠȜ³ ǡȢȜȗȟȔțȔȣȢȘȖȜȚȡȯșȞȔȞȣȟȔȠȓ ǝ³ȘȖȢȝȡȜȞȔȡȔȭȧȣȔȖȬȜȝȘȖȢȝȡȜȞ³ ǦȞȖȢțȰȟHȗȞȢșȟȜȪȢȣȤȢȥȦȧȣȜȦȟȜȞ ǣȡȔȞȢȡșȪȦșȕȓȓȧȘȢȥȦȢȲȥȰ ǖȟȔȗȢȢȕȤȔțȜȓȣȤșȞȤȔȥȡȯȝȣȢȓȥ ǕȜțȘȔȟȜ³țȔȖȜȚȧȟȜȜǗȔȥ"³ ǤȢȦȓȡșȦȥȓȤȔȥȦșȤȓȡȡȢȞȤșȥȦȓȥȰ ǤȔȟȢȠȡȜȫșȥȦȖȢȣȢȘȢȤȢȚȞșȫHȤȡȢȝ ǟȠȢșȝȤȧȞșȞȢȦȢȤȢȝȡșȢȦȘHȤȡȧ ǟȠȢșȝȤȧȞșȥȞȢȦȢȤȢȝȥȡȓȦțȔȣȤșȦ ǟȠȢșȝȤȧȞșȞȢȦȢȤȢȝȕȢȟȰȬșȡșȦ ǢȔȖȔȬȜȣȢȪșȟȧȜȢȚȜȖȯș ǴȡȜȫșȗȢȡșȖȢțȤȔȚȧ³ȖȣșȤȖȯș ǡșȡȓȢȞȧȦȔȟȥȗȢȟȢȖȯȘȢȣȓȦ ǖȟȔȗȢȢȕȤȔțȜȓȣȤșȞȤȔȥȡȯȝȣȟȔȦ ǢȜȫȦȢȠșȡȓȧȚșȡșȖȗȢȡȜȦȖȞȤȔȥȞȧ ǦȖȓȦȔȓȧȠșȡȓȥșȗȢȘȡȓǤȔȥȩȔ ǤȢȧȟȜȪȔȠȢȥȦȔȖȟșȡȡȢȝǡȢȥȞȖȯ ǤȢșȘȧ³ȓȜȣȢȕȤșȘHȦș³Ȗȯ ǝȡșȢȘȜȡȘȢȤȢȗȢȲȢȦȥȦȔȡșȦ ǝȣșȤȖȯȝȞȢȠȢȞȤȯȬȞȧȗȤȢȕȔȗȤȓȡșȦ³ ǝȡȔȞȢȡșȪȦȢȕȧȘșȦȤȔțȤșȬHȡ ǦșȕȓȟȲȕȜȖȯȝȢȘȜȡȢȞȜȝȥȢȡ ǝȡȜȫșȗȢȡșȡȔȘȢȕȡȢȢȦȡȯȡș ǢȢȖȢȣȤșȥȦȔȖȟșȡȡȢȝȕȢȟȓȤȯȡșǡȔȤȜȡș ȔȣȤșȟȓ ȝȘșȡȰǤȔȥȩȜ
Marina Cvetaevas lyrisches Präsentifikationsprojekt »Verse über Moskau«
Es kommt ein Tag – ein trauriger, sagen sie! Sie werden nicht mehr herrschen, nicht mehr weinen, nicht mehr brennen, – Abgekühlt von fremden Münzen – Meine Augen, beweglich wie Flammen. Und – der Doppelgänger den Doppelgänger ertastend – Bricht durch das leichte Gesicht ein Ikonenantlitz. Oh, endlich werde ich deiner würdig sein, Der Wohlgestaltigkeit schöner Gürtel! Und aus der Ferne – werde ich Euch denn sehen? – Es zieht langsam dahin, sich verwirrt bekreuzigend, Eine Wallfahrt auf einem schwarzen Pfad Zu meiner Hand, die ich nicht zurückziehe, Zu meiner Hand, von der das Verbot aufgehoben wurde, Zu meiner Hand, die es nicht mehr gibt. Eure Küsse, oh, ihr Lebenden, Werde ich nicht erwidern – zum ersten Mal. Mich hat umhüllt von Kopf bis Fuß Der Wohlgestaltigkeit Nonnentuch. Nichts wird mich mehr zum Erröten bringen, Heute ist mein heiliges Osterfest. Über die Straßen des verlassenen Moskau, Werde fahren – ich, und langsam schreiten – ihr. Und nicht einer wird auf dem Weg zurückbleiben, Und der erste Klumpen prallt auf den Deckel des Sargs, – Und endlich wird er zugelassen Der selbstsüchtige, einsame Schlaf. Und von heute an wird sie nichts mehr benötigen Die neu präsentierte Ballerina Marina. 11. April 1916 1. Tag des Osterfestes
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Dirk Kretzschmar und Stefan Schukowski 5 ǢȔȘȗȢȤȢȘȢȠȢȦȖșȤȗȡȧȦȯȠǤșȦȤȢȠ ǤșȤșȞȔȦȜȟȥȓȞȢȟȢȞȢȟȰȡȯȝȗȤȢȠ
Über der Stadt, verschmäht von Peter, Rollte der Glockendonner.
ǘȤșȠȧȫȜȝȢȣȤȢȞȜȡȧȟȥȓȣȤȜȕȢȝ ǢȔȘȚșȡȭȜȡȢȝȢȦȖșȤȗȡȧȦȢȝȦȢȕȢȝ
Donnernd bricht die Brandung Über der Frau, die von dir verschmäht wurde.
ǫȔȤȲǤșȦȤȧȜȖȔȠȢȪȔȤȰȩȖȔȟȔ ǢȢȖȯȬșȖȔȥȪȔȤȜȞȢȟȢȞȢȟȔ
Dem Zaren Peter und euch, oh Zar, sei Ehre! Aber höher als ihr, Zaren, sind die Glocken.
ǤȢȞȔȢȡȜȗȤșȠȓȦȜțȥȜȡșȖȯ² ǢșȢȥȣȢȤȜȠȢȣșȤȖșȡȥȦȖȢǡȢȥȞȖȯ
Solange sie aus dem Azur donnern – Ist der Vorrang Moskaus unbestreitbar.
ǝȪșȟȯȩȥȢȤȢȞȥȢȤȢȞȢȖȪșȤȞȖșȝ ǦȠșȲȦȥȓȡȔȘȗȢȤȘȯȡșȲȪȔȤșȝ
Und alle vierzig mal vierzig Kirchen Lachen über den Stolz der Zaren!
ȠȔȓ
28. Mai 1916
Marina Cvetaevas lyrisches Präsentifikationsprojekt »Verse über Moskau« 6 ǢȔȘȥȜȡșȖȢȲȣȢȘȠȢȥȞȢȖȡȯȩȤȢȭ ǢȔȞȤȔȣȯȖȔșȦȞȢȟȢȞȢȟȰȡȯȝȘȢȚȘȰ ǖȤșȘȧȦȥȟșȣȪȯȞȔȟȧȚȥȞȢȲȘȢȤȢȗȢȝ³
Über dem Himmelsblau der Wäldchen rund um Moskau Tröpfelt der Glockenregen. Es gehen die Blinden den Kalugaer Weg entlang, –
ǟȔȟȧȚȥȞȢȝ ³ ȣșȥșȡȡȢȝ ³ ȣȤșȞȤȔȥȡȢȝ ȜȢȡȔ ǦȠȯȖȔșȦȜȥȠȯȖȔșȦȜȠșȡȔ ǦȠȜȤșȡȡȯȩȥȦȤȔȡȡȜȞȢȖȖȢȦȰȠșȣȢȲȭȜȩ ǖȢȗȔ
Den Kalugaer – den liedhaften – den schönen, und er Wäscht und wäscht die Namen aus Der demütigen Pilger, die in der Dunkelheit Gott besingen.
ǝȘȧȠȔȲȞȢȗȘȔȡȜȕȧȘȰȜȓ ǨȥȦȔȖȢȦȖȔȥȖȤȔȗȜȢȦȖȔȥȘȤȧțȰȓ ǝȢȦȧȥȦȧȣȫȜȖȢȥȦȜȤșȫȜȤȧȥȥȞȢȝ³
Und ich denke: Irgendwann auch ich, Müde von euch, Feinde, von euch, Freunde, Und von der Nachgiebigkeit der russischen Sprache –
ǣȘșȡȧȞȤșȥȦȥșȤșȕȤȓȡȯȝȡȔȗȤȧȘȰ ǤșȤșȞȤșȭȧȥȰȜȦȜȩȢȦȤȢȡȧȥȰȖȣȧȦȰ ǤȢȥȦȔȤȢȝȣȢȘȢȤȢȗșȣȢȞȔȟȧȚȥȞȢȝ
Ich hänge mir ein silbernes Kreuz um die Brust, Bekreuzige mich, und still mache ich mich auf die Reise Auf den alten, den Weg, den Kalugaer.
ǧȤȢȜȪȯȡȘșȡȰ
Pfingsten 1916
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Dirk Kretzschmar und Stefan Schukowski 7 ǦșȠȰȩȢȟȠȢȖ³ȞȔȞȥșȠȰȞȢȟȢȞȢȟȢȖ ǢȔȥșȠȜȞȢȟȢȞȢȟȔȩ³ȞȢȟȢȞȢȟȰȡȜ ǗȥșȩȥȫHȦȢȠ³ȥȢȤȢȞȥȢȤȢȞȢȖ ǟȢȟȢȞȢȟȰȡȢșȥșȠȜȩȢȟȠȜș
Sieben Hügel – wie sieben Glocken! Auf den sieben Glocken – Glockentürme. Alle zusammen – vierzig mal vierzig. Glockentürmiger Siebenhügel!
ǗȞȢȟȢȞȢȟȰȡȯȝȓȖȢȫșȤȖȢȡȡȯȝȘșȡȰ ǝȢȔȡȡȔȤȢȘȜȟȔȥȰǖȢȗȢȥȟȢȖȔ ǙȢȠ³ȣȤȓȡȜȞȔȖȢȞȤȧȗȣȟșȦșȡȰ ǝȪșȤȞȢȖȞȜțȟȔȦȢȗȢȟȢȖȯș
Am Glockentag wurde ich, am goldenen Tag Des Apostels Johannes, geboren. Das Haus – ein Lebkuchen, und rings herum ein Flechtzaun Und goldköpfige Kirchlein.
ǝȟȲȕȜȟȔȚșȟȲȕȜȟȔȚșȓȣșȤȖȯȝțȖȢȡ ǟȔȞȠȢȡȔȬȞȜȣȢȦșȞȧȦȞȢȕșȘȡș ǗȢȝȖȣșȫȞșȜȚȔȤȞȜȝȥȢȡ ǝțȡȔȩȔȤȞȧȥȘȖȢȤȔȥȢȥșȘȡșȗȢ
Und wie sehr liebte ich doch, liebte doch den ersten Ton, Wie die Nonnen zur Messe strömen, Das Heulen im Ofen, und den heißen Traum Und die Heilerin vom Nachbarhof.
ǤȤȢȖȢȚȔȝ Țș Ƞșȡȓ ȖșȥȰ ȠȢȥȞȢȖȥȞȜȝ ȥȕȤȢȘ dzȤȢȘȜȖȯȝȖȢȤȢȖȥȞȢȝȩȟȯȥȦȢȖȥȞȜȝ ǤȢȣȞȤșȣȫșȣȢțȔȦȞȡȜȠȡșȤȢȦ ǟȢȟȢȞȢȟȰȡȢȝțșȠȟHȝȠȢȥȞȢȖȥȞȢȲ
Begleite mich doch das ganze Moskauer Pack, Der Gottesnarren, der Diebe, der Geißler! Pope, fester verschließe mir den Mund Mit der Moskauer Glockenerde.
ȜȲȟȓǟȔțȔȡȥȞȔȓ
8. Juli 1916. Gedenktag der Kazanskaja
Marina Cvetaevas lyrisches Präsentifikationsprojekt »Verse über Moskau« 8 ³ǡȢȥȞȖȔ³ǟȔȞȢȝȢȗȤȢȠȡȯȝ ǦȦȤȔȡȡȢȣȤȜȜȠȡȯȝȘȢȠ ǗȥȓȞȡȔǥȧȥȜ³ȕșțȘȢȠȡȯȝ ǡȯȖȥșȞȦșȕșȣȤȜȘHȠ
– Moskau! – Welch gewaltige Herberge! Jeder in Russland – ist obdachlos. Wir alle kommen zu dir.
ǟȟșȝȠȢȣȢțȢȤȜȦȣȟșȫȜ ǜȔȗȢȟșȡȜȭșȠȡȢȚ ǝțȘȔȟșȞȔȘȔȟșȫș ǧȯȖȥHȚșȣȢțȢȖHȬȰ
Ein Brandmahl entehrt die Schultern, Im Stiefelschaft das Messer. Von weit-weit her Wirst du dennoch rufen.
ǢȔȞȔȦȢȤȚȡȯșȞȟșȝȠȔ ǢȔȖȥȓȞȧȲȕȢȟșȥȦȰ³ ǡȟȔȘșȡșȪǤȔȡȦșȟșȝȠȢȡ ǨȡȔȥȪșȟȜȦșȟȰșȥȦȰ
Für die Kerker-Brandmale, Für jedes Leiden – Im Knaben Pantaleimon Wir, einen Heiler, haben.
ǕȖȢȡțȔȦȢȲȘȖșȤȪșȝ ǟȧȘȔȡȔȤȢȘȖȔȟȜȦ³ ǧȔȠǝȖșȤȥȞȢșȥșȤȘȪș ǬșȤȖȢȡȡȢșȗȢȤȜȦ
Und da hinter dieser kleinen Tür, Wohin das Volk strömt, – Dort das Herz der Iverskaja Das goldene brennt.
ǝȟȰHȦȥȓȔȟȟȜȟȧȝȓ ǢȔȥȠȧȗȟȯșȣȢȟȓ ǴȖȗȤȧȘȰȦșȕȓȪșȟȧȲ ǡȢȥȞȢȖȥȞȔȓțșȠȟȓ
Und es ergießt sich das Halleluja Auf die dunkelhäutigen Felder. Ich küsse dich auf die Brust, Moskauer Erde.
ȜȲȟȓǟȔțȔȡȥȞȔȓ
8. Juli 1916. Gedenktag der Kazanskaja
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Dirk Kretzschmar und Stefan Schukowski 9 ǟȤȔȥȡȢȲȞȜȥȦȰȲ ǥȓȕȜȡȔțȔȚȗȟȔȥȰ ǤȔȘȔȟȜȟȜȥȦȰȓ ǴȤȢȘȜȟȔȥȰ
Mit roter Dolde Ist die Eberesche entflammt. Die Blätter fielen, Ich wurde geboren.
ǦȣȢȤȜȟȜȥȢȦȡȜ ǟȢȟȢȞȢȟȢȖ ǙșȡȰȕȯȟȥȧȕȕȢȦȡȜȝ ǝȢȔȡȡǖȢȗȢȥȟȢȖ
Es stritten sich hunderte Glocken. Es war Samstag: Der Tag des Apostels Johannes.
ǡȡșȜȘȢȡȯȡș ǪȢȫșȦȥȓȗȤȯțȦȰ ǛȔȤȞȢȝȤȓȕȜȡȯ ǘȢȤȰȞȧȲȞȜȥȦȰ
Mich verlangt bis heute zu kauen Der heißen Eberesche Bittere Dolde.
ȔȖȗȧȥȦȔ
16. August 1916
Politische Wissenschaft
Präsenz, Zeitbewusstsein und implizites Wissen Drei Funktionsbedingungen demokratischer Politik 1 Clemens Kauffmann
I. P R ÄSENZ ALS F UNK TIONSBEDINGUNG DEMOKR ATISCHER P OLITIK In der Nacht des 14. Juli 1789 berichtete der Duc de la Rochefoucault-Liancourt seinem König Louis XVI. von den Ereignissen in Paris, von der Befreiung einiger Gefangener aus der Bastille und von der Gehorsamsverweigerung der königlichen Soldaten angesichts des Aufstands des Volkes. Der König soll darauf hin ausgerufen haben: »C’est une révolte!«. Liancourt berichtigte ihn: »Non, Sire, c’est une révolution«. Er hatte erkannt, dass es nicht mehr um eine Machtprobe ging, in der die königliche Gewalt einen Aufruhr niederschlagen könnte. Er hatte den Eindruck gewonnen, dort vollziehe sich so unwiderruflich wie der Lauf der Sterne ein historischer Wandel. Hannah Arendt berichtet diese Episode in ihrem Buch Über die Revolution (1994) und illustriert auf diese Weise die politische Bedeutung von Präsenz. Sie schreibt: Durch diese Worte hindurch meinen wir noch heute zu sehen und zu hören, wie eine große Volksmenge sich in Bewegung setzt, wie sie einbricht in die Straßen und Paris überflutet, und Paris war damals nicht nur die Hauptstadt Frankreichs, sondern die Kapitale der gesamten zivilisierten Welt. Wir meinen zu sehen, wie der Aufstand des Volkes für Freiheit sich sogleich mit dem Aufruhr des Großstadtmobs verbindet, wie sie beide zugleich auftreten, unwiderstehlich in ihrer Massenhaftigkeit. Und es ist, als erscheine diese Masse des Volkes zum erstenmal im hellen Licht der Öffentlichkeit und mit ihr das Elend, die Erniedrigung und Beleidigung der Armen und Unterdrückten, die durch Jahrhunderte hindurch in der Finsternis ihrer ›Schande‹ gehalten worden waren. Das Unwiderrufliche, das damals geschah in der Hauptstadt der zivilisierten Welt und was Führern und Zuschauern der Ereignisse gleichermaßen schlagartig evident wurde, war, daß der öffentliche Raum […] nun 1 | Für hilfreiche Anmerkungen zu einer früheren Version danke ich Heike Paul und Eva Odzuck.
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Clemens Kauffmann plötzlich sich dieser ungeheuren Mehrheit der Menschen öffnen sollte, die nicht frei sind, weil sie getrieben werden von der Sorge um den täglichen Lebensunterhalt. Aber Liancourt sah mehr. Er sah mit leibhaftigen Augen, wie unter diesem Ansturm die alte Ordnung zusammenbrach. (Arendt 1994: 58f.)
Die Revolution kommt in der schier physischen Präsenz des Volkes zu sinnfälligem Ausdruck, in der »Bewegung« der »Volksmenge«, welche in die Stadt »einbricht« und sie »überflutet«, in der »unwiderstehlichen« Erscheinung der »Masse« im »hellen Licht der Öffentlichkeit«, in dem »unwiderruflich« und »schlagartig evident« wird, dass »der öffentliche Raum« dem »Ansturm« der »Mehrheit der Menschen« nichts entgegen zu setzen hatte und »die alte Ordnung zusammenbrach«. Die körperliche Präsenz von Menschen in Massen schließt im Falle einer Revolution etwas ein, das über die rein körperliche Gegenwärtigkeit hinausgeht. Sie hat einen Gehalt und eine Wirkung, die sprachlich allenfalls in Metaphern vermittelt werden können. Eine angemessene Beschreibung dürfte mehr erfassen als das schlicht Gegebene und sollte das Drängende und Wogende der Anwesenden, ihr ungesteuertes Quellen, ihre bedrohlichen Rufe ebenso erkennen lassen wie ihr stummes Dabeisein als die unwiderstehliche, höhere Gewalt »des reißenden Stromes, des Sturmwinds, des anschwellenden Flusses« (ebd.: 60). Es ist dieses Mehr, das körperlicher Gegenwärtigkeit von Massen anhaften kann, was ein revolutionäres Ereignis ausmacht. In der Revolution als einem fundamentalen politischen Akt steht das Politische überhaupt zur Disposition. Körperliche Präsenz wird damit zu einem grundlegenden politischen Faktum. Sie ist als physische Präsenz des Volkes, des Abgeordneten, des Militärs, der Polizei, des Demonstranten oder des Attentäters je nach dem eine stützende oder eine stürzende Gewalt. Physische Anwesenheit hat, wenn sie geordnet auftritt, eine konstitutive und konstruktive Funktion. Die »bürgerliche Gegenwärtigkeit«2 des Volkes in der Volksversammlung, im ›Gang‹ zur Urne und der Wahl oder in der ›Verkörperung‹ eines Amtes ist eine notwendige Voraussetzung für jede Demokratie. Im politischen Bereich und insbesondere in demokratischer Politik sind Zustände der Präsenz unverzichtbar. Christian Meier hat in seiner Untersuchung über »Die Entstehung des Politischen bei den Griechen« (1983) auf die besondere Bedeutung der Herstellung bürgerlicher Präsenz als Voraussetzung für die Gründung der attischen Demokratie hingewiesen: Das grundlegende Problem, vor dem sich die attische Bürgerschaft gegen Ende des 6. Jahrhunderts fand, bestand darin, ihren Willen im Zentrum der Polis anwesend zu machen; um es kurz in einem Begriff zu sagen: bürgerliche Gegenwärtigkeit (présence civique) zu be2 | Meier verwendet den Ausdruck »bürgerliche Gegenwärtigkeit« als ein wesentliches Merkmal im Prozess der Herausbildung der Demokratie in der griechischen Antike (1983: 91ff., 129ff.). Bürgerliche Gegenwärtigkeit ist eng verknüpft mit Phänomenen der politischen Aktion und mit der politischen Identität von Gesellschaften.
Präsenz, Zeitbewusstsein und implizites Wissen werkstelligen. […] Eine ganze Reihe von Bedingungen brachte es mit sich, daß die ersten Demokratien der Weltgeschichte nur als direkte Demokratien entstehen konnten. (ebd.: 91)
Die antike Demokratie erforderte demnach dreierlei: Verfügung über die politische Ordnung, ein spezifisches Institutionenwerk und eine neue politische Identität, die sich in bürgerlicher Gegenwärtigkeit verwirklichen musste. Nur von der Problematik der bürgerlichen Präsenz her ließen sich – so Meiers These – die Kleisthenischen Reformen verstehen, die geradezu einer »Neugründung« Athens gleichgekommen wären (ebd.: 129). Doch mit einer Veränderung von Regularien war es nicht getan. Die Herstellung bürgerlicher Präsenz konnte von Meier überhaupt als »Politisierung« verstanden werden, d.h. als eine Tendenz »zum Begreifen der zwischen den Bürgern als Bürgern sich konstituierenden Welt«, als Einlagerung einer bürgerlichen Identität in die habituelle Lebenspraxis, in das Selbstverständnis gesellschaftlicher Zusammenhänge und in die Sprache (ebd.: 291). Bürgerliche Präsenz bedeutete physische Anwesenheit und gewann Gestalt in Momenten impliziten Wissens. Präsenz und implizites Wissen erweisen sich in dieser Verwiesenheit aufeinander als Funktionsbedingungen demokratischer Politik. Was die antike Situation anzeigt, wird auf einer anderen Ebene von der Moderne bestätigt. Wo die unmittelbare Präsenz aufgrund der Größe einer Bevölkerung oder der Weitläufigkeit des Landes nicht dauerhaft hergestellt werden kann, ist die Re-Präsentation als die Vergegenwärtigung von Abwesenden zum Prinzip der Demokratie geworden. Das Prinzip der Repräsentation ist politisch von so fundamentaler Bedeutung, dass es in der Amerikanischen Revolution zum motivierenden und rechtfertigenden Moment heranwuchs: »no taxation without representation« hieß die Parole. Mehr noch galt den amerikanischen Verfassungsvätern Repräsentation als die Ermöglichungsbedingung großräumiger Republiken. Der Wille des souveränen Volkes sei – so die »Federalist Papers« – in der Repräsentation durch Delegierte vergegenwärtigt. Die Republik sei ganz allgemein als ein Regierungssystem zu verstehen, in dem das Konzept der Repräsentation verwirklicht ist. Die Volksvertreter würden die öffentliche Meinung besser repräsentieren als es das Volk in seiner Gesamtheit könnte, sie repräsentierten eher das öffentliche Wohl als das Volk und würden diesem gegenüber als »Wächter« fungieren (vgl. Hamilton/ Madison/Jay 1994: 55f., 75). Der Repräsentationsgedanke führt schnell zu weiteren Ebenen von Präsenz als Funktionsbedingung demokratischer Politik. Repräsentanten bedürfen ihrerseits der Repräsentation gegenüber dem Volk, dem sie verantwortlich sind. Wo sie sich nicht selbst noch einmal repräsentieren lassen können, müssen sie in anderer Form für den abwesenden Bürger physisch, d.h. sinnlich wahrnehmbar präsent sein. Die modernen Demokratien haben dafür ein eigenes Instrument ausgebildet, die Massenmedien. Der Zusammenhang von Präsenzphänomenen, Temporalstrukturen einschließlich des Zeitbewusstseins und implizitem Wissen als Funktionsbedingungen demokratischer Politik ist für die Politischen Wissenschaften ein weitgehend
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neuer Forschungsbereich. Im vorliegenden Zusammenhang beschränkt sich meine Absicht darauf, das relevante Begriffsfeld im Hinblick auf Forschungsansätze und Konzeptualisierung zu strukturieren. Wie sich bereits bei erster Näherung zeigt, kann von ›Präsenz‹ in unterschiedlichen Bedeutungen die Rede sein. Erstens kann Präsenz ein Zustand auffälliger körperlicher Anwesenheit sein. ›Auffällig‹ ist räumlich-körperliche Anwesenheit dann, wenn sie einen Hinweis auf eine Intentionalität enthält, beispielsweise auf den revolutionären Willen einer versammelten Menge oder auf die charismatische Wirkung einer Person. Zweitens kann der Ausdruck zur Bezeichnung bestimmter Zustände der wahrnehmungshaften, erlebnismäßigen, psychischen oder geistigen, scheinbar unvermittelten Gegenwärtigkeit und Anwesenheit (von etwas) dienen. In diesen beiden Varianten ist ›Präsenz‹ aus dem Gegensatz zu räumlich aufgefasster ›Absenz‹ zu verstehen. Die Repräsentation vermittelt die Korrelation von Präsenz und Absenz. Drittens kann ›Präsenz‹ auf prozessuale Strukturen bezogen werden und auf die kontinuierliche Gegenwärtigkeit richtungsweisender Identitäten innerhalb von (historischen, diskursiven u.a.) Entwicklungen verweisen. Das Bewusstsein, dass ›Ich‹ es bin, der oder die sich in einer akuten Veränderung befindet, ist als Problem in diesem Bedeutungskreis zu verorten. Die Absicht, in der jemand etwas tut, ist in einer Tätigkeit kontinuierlich präsent und macht sie erst zu der Handlung, die sie ist. Die wechselseitige Anerkennung der Mitbürger als frei und der Wille, Freiheit zu gründen, sind in der Vielzahl revolutionärer Akte präsent und verbinden sie zu einem historischen Kontinuum. Viertens können Präsenzen selbst prozessual verfasst sein. Das ist der Fall bei instantanen Handlungen, bei denen eine Aktivität und ihr Produkt zusammenfallen. Der Vorgang des Hörens ist in dem Moment vollendet, in dem er sich vollzieht. Solche Präsenzen kommen deshalb an kein natürliches Ende. Präsenzen als Zustände, also in der ersten und zweiten Bedeutungsebene, haben eine zeitliche Dimension im Sinne eines Jetzt in einer konstanten, wenn auch begrenzten Extension. Die dritte und die vierte Form von ›Präsenz‹ stehen ontisch in einer intensiveren Relation zur Zeit, insofern die zeitliche Extension zum Sachgehalt des Phänomens gehört. Prozessualität und Zeitlichkeit sind zusammengehörige ›Phänomene‹. Sie verweisen auf nachgeordnete Momente wie ›Geschwindigkeit‹ oder ›Beschleunigung‹. In dem spezifisch temporalen Bedeutungshorizont erscheint ›Präsenz‹ als ›Gegenwärtigkeit‹ (von etwas) in Relation zu Vergangenem oder Zukünftigem. Dabei steht auch die Konstanzextension der Präsenz in Frage (wie ›lange‹ dauert das Jetzt?).
II. TEMPOR ALITÄT DER P R ÄSENZ UND P HILOSOPHIE DES B E WUSSTSEINS Der Begriff der Präsenz verweist von sich aus auf seine temporale Verfassung. Präsenz ist niemals nur Anwesenheit ›hier‹, sondern immer auch ›jetzt‹. Präsenz ist wesentlich ein Phänomen mit einer temporalen Struktur. Damit ist zugleich gesagt: Wenn Präsenz eine notwendige Funktionsbedingung demokratischer Politik
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ist, dann weist demokratische Politik ebenso notwendig eine spezifische Temporalstruktur auf. Komplementär zur ›politischen Logik des Ortes‘‘3 kann von einer ›politischen Logik der Zeit‹ gesprochen werden. Identität und Temporalität verhalten sich zueinander wie Identität und Lokalität. Die Temporalität von Präsenz eröffnet der Forschung das weite Feld von Zeitlichkeit und der ihr zugehörigen Phänomene, Begriffe und Ideen. Das Jetzt vermittelt zwischen Gestern und Morgen, es verbindet die Vergangenheit mit der Zukunft. Das Jetzt ist der Erscheinungsbereich des Bewusstseins. Es verweist auf Anfangen und Enden, auf Geborenwerden und Sterben, es führt zur Geschichtlichkeit, zu Ewigkeit, Unsterblichkeit und zu Gott. Das Jetzt ist prozessual, es ist Aktivität, Handlung, Tätigkeit, Bewegung, es lenkt die Aufmerksamkeit auf Geschwindigkeit und Beschleunigung4 . Das alles ist von eminenter politischer Bedeutung. Die Temporalität von Präsenz tritt uns primär als Existenzial entgegen. Von existenzieller Bedeutung und politischem Gewicht ist der Moment des ›Anfangs‹. Mit dem ›Anfang‹ und dem ›Anfangenkönnen‹ werden das Seinsmoment der Geburt, die Fähigkeit zum Neubeginn, zur Gründung und damit zur Freiheit verbunden. Die diesbezüglichen ideengeschichtlichen Rückgriffe reichen weit hinab in die Vergangenheit, die modernen Anknüpfungen sind zahlreich und finden sich nicht nur bei Denkern gänzlich unterschiedlichen Charakters, sondern auch auf einem so öffentlichen Gut wie den amerikanischen Dollarnoten. Das Motto »Novus Ordo Seclorum« im »Great Seal« der Vereinigten Staaten von Amerika ist wohl zurückzubeziehen auf den fünften Vers aus Vergils vierter Ekloge: »Magnus ab integro saeclorum nascitur ordo« (1830-35: Ekloge IV, v.5).5 Hier wird die politische Bedeutung des Phänomens der Geburt als eines wiederholenden Neuanfangs herausgestellt und zugleich eine Beziehung zwischen der Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika und dem antiken Rom gestiftet. Vergils Ekloge war geeignet, ein Motiv zu etablieren, das vom Christentum aufgegriffen wurde. In diesem Zusammenhang hat eine Aussage in Augustins Zeittheologie Aufmerksamkeit auf 3 | Die ›politische Logik des Ortes‹ stellt eine Antithese zu den Tendenzen dar, Politik in der Epoche der Globalisierung ›ortlos‹ konzipieren zu wollen. Die Geschichte des Judentums führt das dramatische Schicksal eines Volkes vor Augen, das zur Ortlosigkeit verdammt scheint (vgl. Kauffmann 2001). 4 | Landauer konzipierte »Die Welt als Zeit«, indem er davon ausging, dass es keinen Raum und nichts Körperliches gäbe, das uns anders als durch Wahrnehmungen und Empfindungen in einer zeitlichen Abfolge psychischer Vorgänge zugänglich wäre (1978: 22ff.): »Der Raum muß in Zeit verwandelt werden« (ebd.: 49). 5 | In der Übersetzung von Christian Osiander: »Und großartig beginnen den Lauf ganz neue Geschlechter« (Vergilius 1830-35: IV, v. 5). Über die korrekte Übersetzung und den genauen Sinn der Ekloge wird gestritten (vgl. Arendt 1994: 232, 270ff.). Schmitt setzt eine Variante von Vergils Spruch an das Ende seiner Schrift »Der Begriff des Politischen« (1991: 95). Der sachliche Zusammenhang von Natalität und politischer Ordnung ist insgesamt deutlich.
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sich gezogen: »Initium ergo ut esset, creatus est homo […]« (1997: XII, 21).6 Die Temporalität von Präsenz, die das Anfangenkönnen der Menschen als Quelle ihrer Freiheit einschließt, verweist auf eine weitere Ebene von Präsenz als einer notwendigen politischen ›Tatsache‹. In Revolutionen steht das Politische nicht nur dank der unwiderstehlichen körperlichen Präsenz der Volksmassen so sehr zur Disposition, dass alte Ordnungen einstürzen können, vielmehr, so Arendt mit Verweis auf John Jay, soll der Befreiungskampf den »charms of liberty« weichen (1994: 39f.). Aus dem dumpfen Dröhnen der einstürzenden Ordnung müsse »der Wille zur Freiheit als einem positiven Lebensmodus« erwachsen (ebd.: 39). Arendt hielt dieses Moment des Anfangs und der Gründung für politisch ebenso zentral wie selten. Das Phänomen des Neuanfangs verleiht ihrem Revolutionsbegriff einen deutlich normativen Akzent. Für die griechische und römische Antike sei die menschliche Erfahrung des In-Freiheit-Handelns bereits eine »Grunderfahrung« gewesen (ebd.: 40f.). In den Amerikanischen und Französischen Revolutionen sei diese Erfahrung für die Moderne erneuert worden. In Freiheit handeln zu können demonstriere die menschliche Fähigkeit, etwas Neues zu beginnen. Dies ist für Arendt das maßgebliche Motiv für den normativen Gehalt des Revolutionsbegriffs: Nur wo dieses Pathos des Neubeginns vorherrscht und mit Freiheitsvorstellungen verknüpft ist, haben wir das Recht, von Revolution zu sprechen. Woraus folgt, daß Revolutionen prinzipiell etwas anderes sind als erfolgreiche Aufstände, daß man nicht jeden Staatsstreich zu einer Revolution auffrisieren darf und daß nicht einmal jeder Bürgerkrieg bereits eine Revolution genannt zu werden verdient. (Ebd.: 41f.)
Erst der Wille zur Begründung von Freiheit in neuen Institutionen verleihe einem Befreiungskampf den Adel der Revolution. In unserem Theoriekontext reformuliert bedeutet das, Freiheit setzt die Präsenz spezifischer Intentionen in der politischen Aktion voraus. Die Aktion gewinnt durch diese Präsenz ihren temporalen Charakter als Zäsur, als Anfang einer ›neuen Zeit‹. Wo die Zeitlichkeit der menschlichen Existenz in den Blick kommt, rücken der Tod und seine Überwindung in der Unsterblichkeit neben die Geburt. Geburt und Tod sind Grenzmarken im Zeitprozess, an die Menschen als Individuen und im Kollektiv eine erhebliche politische Bedeutung geknüpft haben. Der Tod ist eine Grenze, die das Ende von Präsenz bedeutet. Mit dem Tod endet die Gegenwart und Gegenwärtigkeit einer – eventuell charismatischen – Person oder einer – möglicherweise revolutionären – Bewegung. Trotzkis Konzept der ›permanenten Revolution‹ kann als Ausdruck des Willens zur Überwindung des antizipierten, natürlichen, in der Zeit markierten Endes einer revolutionären Bewegung verstanden werden. Robert Jay Lifton hat an der chinesischen Kulturrevolution ab 6 | In der Übersetzung von Wilhelm Thimme: »Diesen Anfang zu machen, ward der Mensch erschaffen, vor dem es keinen anderen gab.« (Augustinus 1997: II, 98); (vgl. Arendt 1994: 271f.).
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1966 Beobachtungen gemacht, die in diesem Zusammenhang von Interesse sind. Durch die Teilhabe an einem revolutionären Geschehen könne für das sterbliche Individuum eine das Leben überhöhende, symbolische Unsterblichkeit gewonnen werden. Teil eines revolutionären Prozesses zu sein und die dadurch ermöglichte Suggestion, in eine überdauernde Kontinuität einzurücken, spiegelt nach Lifton »die innere Wahrnehmung des Individuums von seiner Teilhabe am historischen Prozeß« (1970: 27). Beobachtungen wie diese verdeutlichen, dass die Temporalität von Präsenz mit den ihr inhärenten existenziellen Grenzmarken von Geburt und Tod dem Bewusstsein eine Transzendenzerfahrung ermöglicht. Im Verweisungszusammenhang von temporaler Finitheit und Transzendenz, der für jede Philosophie des Bewusstseins zum Problem wird, hat Eric Voegelin »das Kernstück einer Philosophie der Politik« verortet (1966: 7). Die existenzielle Eingebundenheit in die Temporalität der Präsenz ist nach Voegelin nur aus ihrem Verweisungszusammenhang auf Transzendenz verständlich und bietet in diesem Zusammenhang eine Grundlage für die menschliche Zeiterfahrung und das sich daraus entwickelnde Zeitbewusstsein. Voegelin entwickelt in der Schrift Anamnesis (1966) Grundzüge einer Theorie des Bewusstseins, in welcher Präsenz eine zentrale Rolle spielt. Er wendet sich mit seiner Auffassung, das Problem des Bewusstseins und seiner Konstitution sei von der zeitgenössischen Philosophie falsch gestellt worden, vor allem gegen Edmund Husserl. Anhand seiner Theorieskizze kann Verschiedenes demonstriert werden. Erstens behandelt Voegelin Präsenz im Rahmen einer Bewusstseinstheorie. Dies kann als Hinweis darauf aufgefasst werden, dass Präsenzphänomene generell nicht als schlicht gegebene Gegenwärtigkeiten, sondern nur im Kontext einer expliziten Bewusstseinslehre verstanden werden können. Zweitens findet sich bei Voegelin eine Explikation des Zusammenhangs von Präsenz und Zeitlichkeit. Drittens modelliert Voegelin eine Präsenzauffassung, die plausibilisiert, inwiefern auch Präsenz als ein Reflektionsprodukt und folglich wiederum nicht als etwas unmittelbar Gegebenes aufgefasst werden darf. Bewusstsein ist für Voegelin in der »Leibsphäre« verwurzelt bzw. »in der Vitalsphäre fundiert«, es ist »fundiert im animalischen, vegetativen und anorganischen Sein und ist erst durch diese Fundierung Bewußtsein eines Menschen« (1966: 40, 51f.). Voegelin möchte damit keineswegs behaupten, Bewusstsein entstehe kausal aus materialen Ursachen. Vielmehr verfüge es über ein »Kraftzentrum«, das ein begrenztes Energiequantum in ein bestimmtes »Aufmerksamkeitsfeld« lenken könne (ebd.: 43). Die Fähigkeit zu Aufmerksamkeit ist für Voegelin ein bedeutendes Phänomen, weil sich über sie etwas über das Bewusstsein erschließen lässt. Die Zuwendung von Aufmerksamkeit setzt voraus, dass das Bewusstsein dynamisch ist: Es lässt sich gezielt auf bestimmte Wahrnehmungen oder Felder richten, was ein spezifisches Erleben erst ermöglicht. Es lässt sich fokussieren, konzentrieren und bewerkstelligt auf diese Weise spezifische Erlebnisse, bevor es wieder abschweift. Diese steuerbare dynamische Prozessualität führt Voegelin dazu, von einer »Kraft« zu sprechen, die dem Bewusstsein zugrunde liege.
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Voegelin formuliert seinen positiven Ansatz in folgender These, die zentrale Begriffe zusammenführt: Dieses Kraftzentrum […] befindet sich in einem Prozeß […], der […] den Charakter des inneren ›Erhelltseins‹ hat; d.h. er läuft nicht blind, sondern ist in seinen inneren Dimensionen von Vergangenheit und Zukunft erlebbar. […] Vergangenheit und Zukunft sind die präsenten Erhellungsdimensionen des Prozesses eines Kraftzentrums. […] In den Erhellungsdimensionen von Vergangenheit und Zukunft werden nicht leere Räume sichtbar, sondern die Strukturen eines finiten Prozesses zwischen Geburt und Tod. Die Erfahrung des Bewußtseins ist die Erfahrung eines Prozesses – des einzigen Prozesses, den wir ›von innen‹ kennen. Durch diese ihm eigentümliche Qualität wird der Bewußtseinsprozeß zum Modell des Prozesses überhaupt, zum einzigen Modell, an dessen Erfahrung wir den Begriffsapparat orientieren, mit dem wir auch die bewußtseinstranszendenten Prozesse zu erfassen haben. (Ebd.: 44).
Um besser zu verstehen, was Voegelin meint, können die einzelnen Elemente der Behauptung näher analysiert werden. Wo von Bewusstsein die Rede ist, ist von Prozessualität die Rede. In der Prozessualität wird die Verbindung zwischen Leiblichkeit und Vitalität als Kraft auf der einen Seite und dem selbst nicht materiellen, mentalen Geschehen des Bewusstseinserlebnisses auf der anderen Seite deutlich. Diese Prozessualität sei für ein Verständnis der menschlichen Existenz zentral, weil der Bewusstseinsprozess der einzige Prozess sei, »den wir ›von innen‹ kennen« und der damit zum Modell allen Prozessverstehens werde (ebd.: 54). Voegelin bezeichnet die adäquate wissenschaftliche Einstellung hinsichtlich allen Prozessverstehens als »Prozeßtheologie«. Den relevanten Prozess beschreibt er als »[…] eine Serie von Phasen in der Entfaltung der identischen Substanz, die im menschlichen Bewußtsein ihre Erhellungsstufe erreicht. Aus dem meditativen Erfahrungskomplex, in dem sich die Realität des Seinsgrundes erschließt, folgt dann die Nötigung, den weltimmanenten Seinsprozeß durch einen Prozeß im Seinsgrund bedingt sein zu lassen« (ebd.: 53). Voegelin bestimmt die Prozeßtheologie näher wie folgt: »In der Prozeßtheologie handelt es sich um die Entwicklung eines Symbolsystems, welches die Beziehungen zwischen dem Bewußtsein, den bewußtseinstranszendenten innerweltlichen Seinsklassen und dem welttranszendenten Seinsgrund in der Sprache eines immanent verstandenen Prozesses ausdrücken soll« (ebd.: 50). Voegelin arbeitet in diesem Kontext durchaus axiomatisch. Er erklärt, worin die Fundierung des Bewusstseins im animalischen Leib eigentlich bestehe, das »wissen wir nicht […]. Darüber daß sie besteht, gibt es jedoch keinen Zweifel.« (ebd.: 52). An einer anderen Stelle versichert er, »weder das zeitliche Sein des Menschen noch seine Erfahrung vom ewigen Sein« könnten »bezweifelt werden« (ebd.: 264, vgl. 271). Der Kraft als materieller Komponente korrespondiert eine mentale Komponente, die Voegelin in diesem Text als »inneres Erhelltsein« bezeichnet. Er spricht im
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selben Zusammenhang von Sehen, Erleben, Erfahren und Erfassen. Dies seien innere Aktivitäten des Trägers eines Bewusstseins, die nicht in äußere Handlungen umgesetzt werden müssten. Sie bezeichnen die mentale Gegenwärtigkeit dessen, was sich im Geschehen der Zuwendung von Aufmerksamkeit vollziehe. Der Ausdruck ›implizites Wissen‹ eignet sich meines Erachtens gut, um zu kennzeichnen, was Voegelin hier intendiert. Wenn Voegelin den Ausdruck »erfassen« im Text verwendet, zielt er damit auf eine noetische Struktur, die stillschweigend im Vollzug der Zuwendung von Aufmerksamkeit gegenwärtig ist. Für die Gegenwärtigkeit verwendet Voegelin den Ausdruck ›Präsenz‹. Er bezeichnet das innere Erhelltsein als ›präsent‹; genauer gesagt bezeichnet er die Dimensionen des Prozesses, der vom Bewusstsein erfasst wird, als »präsente Erhellungsdimensionen« und führt dazu aus: »Insofern als diese Dimensionen in einer Aufmerksamkeitszuwendung präsent gemacht werden können, ist das Bewußtsein ›erhellt‹, d.h. von innen erfahrbar. In der Konzeption der ›Präsenz‹ steckt nun das Problem« (ebd.: 54). Die Formel der »Präsenz« ist für Voegelins Bewusstseinstheorie zentral. Bis zu einem gewissen Grad kann man sagen, dass seine Bewusstseinstheorie eine Präsenztheorie voraussetzt oder beinhaltet. In äußerster Knappheit wird eine solche Präsenztheorie umrissen. Zunächst verlangt die Analyse von Präsenzen die Explikation ihrer Zeitstruktur. Voegelin hält Vorstellungen, denen zufolge Präsenzen instantane Erfahrungen wären, die in einem Augenblick vollständig gegeben sind, für nicht überzeugend. Das besagt zugleich, Präsenzen beinhalten keine unmittelbare Erfahrung von einem Prozess in seinen zeitlichen Dimensionen. Voegelin baut stattdessen auf die Einsicht, daß das Bewußtsein nicht eine Monade ist, welche die Existenzform des Augenblicks hat, sondern daß es menschliches Bewußtsein ist, d.h. Bewußtsein im Fundament des Leibes und in der Außenwelt. Das einzige radikal immanente Phänomen ist der Augenblick und seine Erhellung; die Ordnung des Augenblicksbildes in der Dimension, die durch die Erhellung geschaffen wird, zur Sukzession eines Prozesses erfordert Erfahrungen von bewußtseinstranszendenten Prozessen. Die ›Präsenz‹ scheint mir also in der Tat nicht unmittelbar erfahren zu sein; sie ist vielmehr das Resultat der Interpretation des Augenblicksbildes unter Zuhilfenahme des Wissens um die Geschichte unserer leiblichen Existenz und der Datierung dieser Geschichte durch ihre Beziehung auf Ereignisse in der äußeren Raum-Zeit-Welt. (Ebd.: 55)
Mit anderen Worten: Präsenz wird gestiftet. Erst in der reziproken Dualität der Leibsphäre in Natur und Außenwelt, die dem Bewusstsein »das Korpus seines Prozesses« liefert, und der Bewusstseinssphäre, die dem Korpus seine Dimensionalität verleiht, entstehe Präsenz: »der Schnittpunkt dieser Beziehungen ist die ›Präsenz‹ des Bewußtseins« (ebd.: 56). Voegelin macht darauf aufmerksam, dass »absolute« oder »reine« Augenblickserfahrungen leer sein müssen. Sie erhalten erst in den lebens- und weltgeschichtlichen Zusammenhängen der Erfahrung Plastizität. Noch einmal anders gesagt: Präsenz ist die Realisierung eines impliziten Wissens. Voe-
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gelin drückt diesen Zusammenhang in der Formel der »fließenden Präsenz« aus (ebd.: 272): Der Bewusstseinsprozess werde als zeithaftes Fließen erfahren, in dem jedoch die transzendente Perspektive der Ewigkeit präsent wäre. Die Formel von »fließender Präsenz« interpretiert den Schnittpunkt der reziproken Beziehungen zwischen Leibsphäre und Bewusstseinsprozess als eine dynamische Wirklichkeit. Voegelins Behauptung schließt ein, dass Bewusstsein Zeitlichkeit impliziert. Prozessualität setze eine nicht-räumliche Ausdehnung voraus, die dem Träger eines Bewusstseins in den zeitlichen Prozessdimensionen von Vergangenheit und Zukunft gegenwärtig sei. »Vergangenheit« und »Zukunft« können als »Symbole der äußeren Zeit« verstanden werden, mit der »die Sukzession des von innen erhellten Bewußtseins« »datiert« werde (ebd.: 52). An Stelle von »Symbolen« spricht Voegelin auch von »Indices«. Zeitlichkeit sei ein »Index«, den wir dem Menschen und der Welt zuerkennen würden. »Die Immanenz der Welt der Dinge und die Zeit der immanenten Welt werden nicht primär erfahren, sondern sind Indizes für einen Realitätskomplex, der in seiner Eigenstruktur sichtbar wird, wenn durch das Ereignis der Philosophie seine Position am Zeitpol der erfahrenen Spannung zwischen Zeit und Ewigkeit erkannt wird« (ebd.: 271). Zur Zeitlichkeit gehört auch ihre Begrenztheit. So wie die Kraft der Aufmerksamkeit konzentriert – und d.h. eingeschränkt – werden kann, so wird die Prozessualität in den Dimensionen von Vergangenheit und Zukunft als begrenzt erlebt. Prozesse in der Zeit haben einen Anfang und ein Ende. Menschliches Bewusstsein erstreckt sich in dem endlichen Zeitraum zwischen Geburt und Tod. Geburt und Tod sind für die Politische Philosophie zentrale Existenziale. Die mit der Konzentration der Kraft und mit der Zeitlichkeit gegebene Präsenz von Begrenztheit eröffnet der Aufmerksamkeit zugleich eine Möglichkeit, über die Grenzen der Immanenz von Zeiterfahrung hinaus zum Erfassen von Transzendenz zu schreiten. Dieser Einbezug der Transzendenz ist der eigentlich intentionale Punkt von Voegelins Bewusstseinstheorie: »Transzendenzfähigkeit ist ein Fundamentalcharakter des Bewußtseins, ebenso wie die Erhellung; sie ist das Vorgegebene« (ebd.: 47). Transzendenz hat bei Voegelin auch eine leibliche Komponente. Die Erfahrung eines Du, eines »Nebenmenschen« jenseits der Immanenz des eigenen Leibes, ist eine Transzendenzerfahrung. Sozialität und Politik beruhen nach Voegelin in diesem Sinn auf Transzendenzerfahrungen. Transzendenzerfahrungen eröffnen dem Menschen einen »Zwischen«-Raum, in dem die Pole von Spannungen – zwischen Zeit und Ewigkeit, zwischen Natur und Bewusstsein, zwischen den Individuen, zwischen verschiedenen Ordnungszuständen – wirken. Es ist interessant, dass Voegelin genau wie Arendt mit dem »Zwischen« als einer entscheidenden politischen Kategorie arbeitet, wenn auch in einem ganz anderen Sinnhorizont. Voegelins Theorie ist Bestandteil seiner Arbeit am Problem der Ordnung. Hier wird der politische Sinn der Präsenzthematik und der Logik der Zeit deutlich. Ordnung taucht zunächst auf als die Zeitordnung, in welche die Fakten der Leibsphäre und der Außenwelt einrücken, wenn sie durch den Bewusstseinsprozess als ver-
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gangene, gegenwärtige oder zukünftige datiert werden (vgl. ebd.: 56). Eine Augenblickserfahrung gewinnt Sinn erst durch Einordnung in die Dimensionalität des Bewusstseinsprozesses. Der Bewusstseinsprozess vermittelt dem Menschen nach Voegelin sodann einen Einblick in die innerweltliche Seinsordnung und ihre anorganischen, vegetativen und animalischen, ihre bewussten und transzendenten Sphären (vgl. ebd.: 51f.). Dieser Einblick kann selbst eine ordnende Wirkung auf die Seele der Menschen und ihre Gesellschaften entfalten: »Die Einsichten, um die es hier geht, […] betreffen das richtige Verhältnis des Menschen zum Seinsgrund; die philosophische Spannung zwischen Zeit und Ewigkeit wird als die richtige Ordnung der Seele erkannt, die mit dem Anspruch auf Erfüllung für jedermann auftritt« (ebd.: 169, vgl. 265). Die Philosophie, die Voegelin hier selbst entfaltet, erbringe ihre »spezifische Leistung […] als differenziertes Wissen um die Seinsordnung« (ebd.: 274). Der Mensch, dem die geschilderten Zusammenhänge klar würden, mache eine Ordnungserfahrung (vgl. ebd.: 275f.).
III. Z UM P ROBLEM EINER K ONZEP TUALISIERUNG DES Z EITBE WUSSTSEINS DER M ODERNE Mit der Formel der Präsenz können Funktionselemente des Politischen indiziert werden. Damit ist zugleich auf die Temporalstruktur des Politischen verwiesen, die den Horizont für den weiteren Rahmen der Bewusstseinsphilosophie öffnet. Christian Meier hat, wie oben dargestellt, die »bürgerliche Gegenwärtigkeit« – physisch, noetisch und temporal – als notwendige Funktionsbedingung der antiken Demokratie herausgearbeitet, und Hannah Arendt hat die spezifische Temporalstruktur freiheitlicher Politik für das Verständnis der modernen Revolutionen fruchtbar gemacht. Eric Voegelin schließlich hat Temporalität und Präsenz im Rahmen einer Theorie des Bewusstseins zusammengeführt und deren enorme Bedeutung für die moderne Politische Wissenschaft erkannt. Dennoch haben Präsenz und Zeitlichkeit bis heute keine dominante Position als relevante Kategorien für die Erforschung des Politischen insgesamt und spezifischer politischer Prozesse im Besonderen erreichen können. Gisela Riescher sieht hier vor allem ein Defizit der Politischen Theorie gegenüber »den Nachbardisziplinen Soziologie, Geschichtswissenschaft, Philosophie oder auch der Kulturanthropologie, die auf eine längere Tradition der Zeiterforschung zurückgreifen können« (1995: 447f.). Dieser Befund steht in einem auffallenden Gegensatz zu der Erkenntnis, dass einerseits Veränderungen bezüglich der Temporalstrukturen für die Moderne insgesamt konstitutiv sind und dass andererseits politische Transformationsprozesse von spezifischen Zeitstrukturen abhängen (vgl. ebd.: 448ff.). Das lässt sich an einigen Beispielen illustrieren. Die Interessen der Politikwissenschaft entwickeln sich paradoxerweise gegenläufig zu den politischen Entwicklungen. Viele haben sich im Rahmen der Globalisierungsdiskurse der letzten 20 Jahre auf räumliche Kategorien fixiert: ›Ausdeh-
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nung‹, ›Raum‹, ›Gebiet‹ sind geläufige politische Begriffe. Das Territorialprinzip wurde mit moderner Staatlichkeit geradezu gleichgesetzt. Die gesellschaftswissenschaftlichen Protagonisten der Globalisierung haben ihren Ehrgeiz jedoch daran gesetzt, die zur Selbstverständlichkeit und inzwischen scheinbar nutzlos gewordene räumliche Dimension des Politischen nun zu überwinden und die territoriale, nationalstaatliche ›Orthodoxie‹ des Politischen und Gesellschaftlichen zugunsten von Translokalität oder gar Ortlosigkeit des Politischen aufzubrechen (vgl. z.B. Beck 1999: 31, 116). Während damit die ›politische Logik des Ortes‹ im Sinne einer fundamentalen und bleibenden Bedeutung des Räumlichen für das Politische auch angesichts des Wunsches nach einem globalen Bewusstsein völlig unterschätzt wird, bleibt zugleich die temporale Gebundenheit politischen Ordnungshandelns meist ganz unbeachtet. Mit Ausdrücken wie ›Anfang‹, ›Dauer‹, ›Geschwindigkeit‹ und ›Ewigkeit‹ kann die Politikwissenschaft wenig anfangen. Temporale Phänomene und Strukturen (›Beschleunigung‹, ›Zeitnot‹, ›Zeitknappheit‹ sowie die komplementären Größen ›Verzögerung‹, ›Entschleunigung‹) sind als konstitutive Komponenten der Moderne anerkannt. Eine systematische Phänomenologie und theoretische Analyse bleibt jedoch bislang weitgehend ein Desiderat. Hans Ulrich Gumbrecht hat die Schwierigkeiten einer Konzeptualisierung der »Moderne« unter anderem an Fragen des Zeitbewusstseins verdeutlicht. Ein kollektives Bewusstsein davon, was die jeweilige Gegenwart ausmacht, könne in verschiedenen Erfahrungsbereichen an unterschiedlichen Zeitpunkten der Vergangenheit ansetzen (vgl. Gumbrecht 1978: 100ff.). In der Geschichte der Politik und der politischen Philosophie treffe man im 18. Jahrhundert eher selten auf den Ausdruck »modern«. Das gelte auch noch für die Französische Revolution. Die Revolutionspolitiker, so resümiert Gumbrecht, gewannen »aus der sich überstürzenden Abfolge der politischen Umwälzungen die neue geschichtliche Erfahrung, daß die eigene Zeit nur vorbereitender Durchgang zur Zukunft sei, daß sie deshalb die Fortschrittlichkeit ihres politischen Handelns allein vor der Menschheit der Zukunft zu verantworten hätten« (ebd.: 103). Erst im frühen 19. Jahrhundert scheint sich das gesellschaftlich normale Zeiterleben den intellektuellen Diskursen angeglichen zu haben (vgl. ebd.: 107). Um 1830 wäre dann auch das allgemeine Zeitbewusstsein umgeschlagen. Prägend wäre die »Erfahrung der Beschleunigung« geworden und »mit ihr die Einsicht, daß ›jede neue Modernität dazu bestimmt ist, sich selbst zu überholen‹« (ebd.: 109f., mit Bezug auf Reinhart Koselleck, vgl. 129). Die Moderne wurde seither nicht mehr nur als »Epoche« verstanden – auch wenn dies bei Karl Marx und Alexis de Tocqueville noch der Fall gewesen sein mag. Sie wurde nach Gumbrecht zur Bezeichnung einer als Durchgangspunkt empfundenen Gegenwart. Modernität beschreibe das »Verhältnis des Betrachters zu den Phänomenen seiner Gegenwart und der Vergangenheit als historischen: so wäre denn das Moderne recht eigentlich das Objektive im schwebenden Moment, die Tatsache der Zeit, an und für sich ohne Streit und Gegensatz, ohne Beziehung betrachtet« (ebd.: 113, vgl. 119). Mit dem Bewusstsein von Modernität verband sich zugleich die Einsicht in die Pluralität und Relativität geschichtlicher Abläufe und kulturel-
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ler Zustände. Die Gültigkeit selbst des Denkens begann vor der Zukunft zu verblassen. Die Philosophie, schrieb Hegel, ist »ihre Zeit in Gedanken erfaßt« (1970: 26). Damit war für die Moderne, als deren erster Philosoph Hegel sich empfand, eine universale Historisierung vollzogen, eine Historisierung der Zeit selbst, der menschlichen Existenz in ihr, des menschlichen Selbstverständnisses, aber auch des menschlichen Denkens. »Modernität« bedeutet demnach geradezu Existenz in Transition. Das bestätigt Gumbrecht, wenn er von einem »Imperativ dauernden institutionellen Wandels« spricht (1978: 113, 115, vgl. 126)7. Hans Kohn rekonstruierte 1924 »Die politische Idee des Judentums« aus der Identität des jüdischen Volkes als einer durch die Zeiten dauernden Gemeinschaft (vgl. 1924: 69). Der Bezug auf die Zeit, so Kohn, ersetzte den Bezug auf den Raum, der dem jüdischen Volk im gottgewollten Exil als identitäts- und ordnungsstiftendes Moment nicht zur Verfügung stand. Zwar kommen bei Kohn Kategorien wie »Zeitsinn«, »Zeitdenken« oder »Zeitanschauung« zur Sprache, die den Bezug zur Bewusstseinstheorie herstellen könnten, aber das bleibt Fragment (vgl. ebd.: 59, 60, 62). Immerhin, das Zeitbewusstsein hatte im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts Konjunktur. Edmund Husserl, Karl Jaspers und Martin Heidegger sind deren wichtigste Repräsentanten, von denen Hannah Arendt manche Inspiration bezogen hat. Herman Lübbe hat für spätmoderne Gesellschaften eine Tendenz beschrieben, die sozialpsychologisch zu einer Historisierung der Lebenswelt neigt und damit dem von Gumbrecht konstatierten auf die Zukunft gerichteten transitorischen Zeitbewusstsein widerstrebt. Unter den Formeln »Gegenwartsschrumpfung« und »Zukunftsexpansion« möchte Lübbe Veränderungen in den »Temporalstrukturen der modernen Zivilisation sowie Formen ihrer kulturellen Verarbeitung« erfassen und aufschließen (1996: 7). Er bezeichnet mit »Gegenwartsschrumpfung« eine Verkürzung der Gegenwartsphasen, in denen Gesellschaften »mit einigermaßen konstanten Lebensbedingungen rechnen können« (ebd.: 12; vgl. Riescher 1995: 449). »Zukunftsexpansion« besage unter anderem, dass sich die Veränderung der Lebensverhältnisse aufgrund verkürzter Innovationszyklen immer weniger vorhersagen und die Zukunft gerade wegen des technologischen Fortschritts schlechter beherrschen lasse. Der Verlust von Gegenwart führe zu einer Inkongruenz von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont. Gegenwartsschrumpfung und Zukunftsexpansion stellen Gesellschaften vor organisatorische und administrative Herausforderungen, sie verändern aber auch ihr Gesicht. Der Konstanzverlust der Gegenwart führe zu Kompensationsversuchen durch die Musealisierung von überholten Lebenswelten und einem Bedeutungszuwachs des historischen Bewusstseins (vgl. Lübbe 1996: 21, 27). Was Lübbe geschichtsphilosophisch beschreibt, beobachtet Hartmut Rosa soziologisch als Beschleunigung. Beschleunigung gilt 7 | Ein solches Verständnis reflektiert die Auffassung der Frankfurter Schule von der »Demokratie als einem zukunftsoffenen und riskanten Projekt« (Rödel/Frankenberg/Dubiel 1989: 20).
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ihm neben Rationalisierung, Ökonomisierung und Individualisierung als eine der »großen Entwicklungstendenzen der Modernisierung«, als »›Megatrend‹ der Moderne« (Rosa 2001: 337): »Die Beschleunigung (von sozialen Entstehungs-, Herstellungs- und Veränderungsprozessen bzw. von Innovationsraten) scheint somit unabweisbar ein zentrales Merkmal der Moderne zu sein und in Modernisierungsprozessen als grundlegende strukturbildende und kulturprägende Kraft aufzutreten« (ebd.: 336f.). Insofern Beschleunigung Wandel im Verhältnis zu Zeit ist, hätten Rosas Beobachtungen die Gelegenheit geben können, zu den Voraussetzungen der von ihm beschriebenen Veränderungen in Zeiterfahrungen und im Zeitbewusstsein vorzudringen (vgl. Rosa 2005, passim). Eine auch versuchsweise Konzeptualisierung hätte dafür einen Ausgangspunkt geboten. Gisela Riescher gehört zu den wenigen Politischen Wissenschaftlerinnen, die sich mit der ›Zeitdimension‹ von Herrschaft auseinandergesetzt haben, d.h. mit dem für bestimmte Herrschaftsformen spezifischen Zeitbewusstsein sowie umgekehrt mit Zeit als einem Herrschaftsinstrument, einem Ordnungsfaktor und einer politischen Strategie (1995: 445, vgl. 451). Ihre Untersuchungen machen sehr deutlich, dass für das Funktionieren politischer, vor allem freiheitlicher Ordnungen die »Normierung des Zeitmaßes politischer Herrschaft in Verfassungen und Gesetzestexten« essentiell ist (ebd.: 447, 450). Hinsichtlich der akuten Prozesse der Systemtransformation hat Claus Offe darauf hingewiesen, dass die Synchronizität von Transformationsprozessen auf den unterschiedlichen Politikebenen von nationaler Identitätsbildung, Verfassungsgebung und dem politischen Prozess von Wahlen, Gesetzgebung, Justiz und Verwaltung ein Problem darstellt (1994). Da alle drei Prozessdimensionen einer eigenen zeitlichen Logik folgten, würden sie sich gegenseitig hemmen. Staatenbildung, Demokratisierung und Umbau der Wirtschaftsverfassung können nach Offes Modell kaum gleichzeitig gelingen (vgl. ebd.: 63). Von anderen Autoren wurden Zeitfragen auch bezüglich des Zusammenhangs von politischer Steuerung und Zukunftswissen aufgegriffen (z.B. Zöpel 1988). Die Bedeutung dieser Zusammenhänge für die Politischen Wissenschaften wurde insgesamt vielfach erkannt und bestätigt, aber ihre systematische Entwicklung erreicht bestenfalls die vage Skizze einzelner Ansätze. Problematisch bleibt unter anderem die nötige Konzeptualisierung eines modernen Zeitbewusstseins. Während ›Präsenz als Zustand der Anwesenheit‹ auf einer vergleichsweise greifbaren Ebene angesiedelt ist, kann die prozesshafte Temporalstruktur von Präsenz in ihrem Bezug zu Zeiterfahrung und Zeitbewusstsein als Konstitutionselementen des Politischen ungleich schwerer konzeptualisiert werden.8 In einer ersten Nähe8 | Der Ausdruck »Zeitbewusstsein« spielt unter anderem eine Rolle bei: Husserl (1980), Jaspers (1979: 16f.), Voegelin (1966), Sandbote (1998, 93ff.). Komplementär zum Zeitbewusstsein verhält sich die existenzielle Funktion von Zeit. Spengler verband das Zeitproblem mit der Idee des Schicksals. Das Wort »Zeit« rufe stets etwas höchst Persönliches, das Eigene, an. Insofern habe Zeit einen »organischen Wesenszug« (Spengler 1979: 158f.). Im Begriff des Schicksals tritt die existenzielle Funktion von Zeit deutlich zutage. Zeit macht
Präsenz, Zeitbewusstsein und implizites Wissen
rung können im Begriff des Zeitbewusstseins wiederum mehrere Bedeutungsebenen unterschieden werden. Zeitbewusstsein ist eine Folge der Erfahrung, dass es Zeit als etwas gibt, das die Wirklichkeit prägt. Der Umstand, dass viele Menschen Geräte zur Zeitmessung am Körper tragen, unterstützt die Annahme, dass es Zeit gibt und dass Zeit wichtig ist. Zum Zeitbewusstsein gehört erstens eine Vorstellung davon, was Zeit als solche ist und in welcher Weise sie als wirklicher Faktor der eigenen Existenz besteht (vgl. Riescher 1995: 448)9 . Zweitens gehört dazu die Datierungsfähigkeit, d.h. man sollte bestimmen können, an welchem relativen ›Ort‹ in der Zeit man sich befindet und was die jeweils ›eigene‹ Zeit ausmacht. Drittens schließt das Zeitbewusstsein bestimmte Überzeugungen bezüglich der Wechselwirkungen zwischen Zeit und realer Existenz ein. Welchen physischen, psychischen und ontischen Einfluss haben Zeitfaktoren auf die menschliche Konstitution und Existenz in ihren sozialen und politischen Organisationsformen, und wie kann die eigene Zeit durch Handeln beeinflusst werden? Viertens gehört zum Zeitbewusstsein ein Urteil über den Charakter von Zeitverläufen. Die Einschätzung, ob es sich bei einem Prozess um eine ungerichtete Entwicklung handelt, um einen Fortschritt zum Besseren, einen Niedergang zum Schlechteren oder einen Kreislauf, ist von praktischer und politischer Relevanz. Wenn das Zeitbewusstsein in Urteilen, Datierungsfähigkeit und wirksamen Überzeugungen erfasst werden kann, dann handelt es sich jedenfalls um eine noetische Struktur und nicht nur um ein Erleben. Von daher liegt ein enger Zusammenhang zwischen der Temporalität von Präsenz und impliziten Wissensformen nahe, der im Zeitbewusstsein vermittelt sein kann. Unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten ist der Ausdruck ›Zeitbewusstsein‹ voraussetzungsreich. Zeit ist in der kritischen Philosophie Kants eine reine Form sinnlicher Anschauung als Prinzip der Erkenntnis a priori. Die Zeit wäre demnach nicht etwas für sich selbst Bestehendes oder eine objektive Eigenschaft von Dingen und Ereignissen. Sie wäre laut § 6 der »Kritik der reinen Vernunft« vielmehr »die subjektive Bedingung […], unter der alle Anschauungen in uns stattfinden können« (Kant 1968: 80). Die Zeit wäre kein Gegenstand eines Bewusstseins, sondern eine ursprüngliche, in der Gesetzlichkeit des wahrnehmenden Bewusstseins selbst entspringende Ordnungsweise des sinnlich das Dasein zu dem, was es ist. Die Zeit ist nach diesem Verständnis nicht nur die quasi nebenher laufende »Zahl der Bewegung«, wie Aristoteles meinte. Zeit hat eine konstitutive Funktion. Somit wäre auch der Staat eine Funktion von Zeit überhaupt, nicht nur das Ergebnis einer bestimmten, z.B. europäischen Geschichte und nicht nur in all seiner Partikularität Gegenstand einer historisch-begrifflichen Legitimationskonstruktion. 9 | »Die Begrifflichkeit von Zeit stellt sich je nach theoretischem Konzept verschieden dar« (Riescher 1995: 448), als meßbare physikalische Zeit, als historische Entwicklungslinie, als soziale Zeit, als Dauer und Wandel, als subjektive Zeiterfahrung oder Eigenzeit. Riescher weist auf die philosophische Begriffsbildung bei Augustinus, Kant, Heidegger und Husserl hin, favorisiert für die politikwissenschaftliche Theoriebildung jedoch soziologische und sozialhistorische Zeitdefinitionen.
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Gegebenen. Es ist nicht zwingend, Kants Erkenntnistheorie einer Untersuchung von Präsenzphänomenen im Politischen zugrunde zu legen. Beriefe man sich auf Oswald Spenglers Kritik an Kant, wäre dies sogar irreleitend (vgl. 1979: 158ff.). Kants Philosophie der Zeit hat aber die zeit- und geschichtsbezogenen Vorstellungen nach der Französischen Revolution nachhaltig beeinflusst. Das gilt über den unmittelbaren Kreis der Erkenntnistheorie und der politischen Philosophie hinaus auch für den breiteren Bereich der Kulturphilosophie und der philosophisch-politischen Publizistik.
IV. I MPLIZITES W ISSEN ALS R ATIONALE G ESTALT VON P R ÄSENZ Christian Meier hatte bereits am Beispiel der Antike darauf hingewiesen, dass die Entstehung der Demokratie beides verlangte: Bürgerliche Gegenwärtigkeit im Sinne körperlicher Anwesenheit und die noetische Repräsentation von Präsenz in Momenten impliziten Wissens. In der Tradition der westlichen Politischen Philosophie findet dieser Befund vielfache Bestätigung. Für Hegel war die Philosophie ein entscheidendes Moment der Kultur der Freiheit. Philosophie, die »ihre Zeit in Gedanken erfaßt«, ermöglicht, die Weltgeschichte als einen »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit« zu deuten (Hegel 1970: 26). Hannah Arendt verweist durch ihre Betonung des Anfangens im revolutionären Geschehen zugleich auf andersgeartete Präsenzphänomene, die als notwendige Tatsachen das Politische mitbedingen. Gemeint ist die geistige Präsenz der »Idee von Freiheit« in der »Erfahrung eines Neubeginns«, im »Willen«, in der »Intention« und der »Vorstellung« (Arendt 1994: 34, 39, 42). Sie spricht in diesem Zusammenhang auch von einem »revolutionary spirit« (Arendt 1966: 223). Die Revolution als Gründung der Freiheit und das politische Handeln in der freiheitlichen Ordnung setzen die Präsenz der Freiheitsidee voraus. Nennen wir es im Moment ›Freiheitsbewusstsein‹. Freiheitsbewusstsein stiftet politische Identität und ist politische Kultur. Bei John Rawls ist von gewachsenen politischen Ideen die Rede, die nicht mehr auf die politische Tagesordnung kommen. Dass im modernen demokratischen Verfassungsstaat die Sklaverei abgeschafft ist, gehört zu seinen stillschweigenden Voraussetzungen. Die (auch unthematische, aber verhaltenswirksame) Präsenz von Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Recht, Respekt vor den Grundlagen der Selbstachtung und anderem mehr als Kernideen eines politisch-sozial übergreifenden Konsenses ermöglicht die Funktionsfähigkeit und Stabilität demokratischer Verfassungsstaaten. Die Präsenz spezifisch anderer Inhalte würde andere Ordnungs- und Systemtypen stützen. Des Weiteren müssen sich die demokratischen und rechtsstaatlichen Akteure im Bewusstsein der Bürger präsent halten. Die hier erforderliche Form von Präsenz leitet über zur ›Präsentation‹, zur medialen Inszenierung von Politik und der eindringlichen Vergegenwärtigung von Gesichtern und Inhalten im Wettbewerb um Macht. ›Präsenz‹ ist somit auch auf der noetischen Ebene eine zentrale Funktionsbedingung von demokratischer Politik.
Präsenz, Zeitbewusstsein und implizites Wissen
Der implizite Charakter des ›Bewusstseins der Freiheit‹ als einer noetischen Repräsentation von Präsenz ist ebenfalls im Zeitbewusstsein gegeben. Zeitbewusstsein kann den Charakter eines impliziten Wissens annehmen und hat ebenfalls eine noetische Struktur. Augustinus hat dem bereits Ausdruck verliehen: Denn was ist Zeit? Wer könnte das leicht und kurz erklären? Wer es denkend erfassen, um es dann in Worten auszudrücken? Und doch – können wir ein Wort nennen, das uns vertrauter und bekannter wäre als die Zeit? Wir wissen genau, was wir meinen, wenn wir davon sprechen, verstehen’s auch, wenn wir einen anderen davon reden hören. Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich’s, will ich’s aber einem Fragenden erklären, weiß ich’s nicht. (1983: XI, 14)
Freiheitsbewusstsein und Zeitbewusstsein sind vermittelt als Formen impliziten Wissens. Wie ›Präsenz‹ und ›Zeitbewusstsein‹ ist auch der Begriff impliziten Wissens nicht eindeutig. Er besagt erstens, dass es sich dabei um ein ›Wissen‹ handelt, das grundsätzlich eine rationale Struktur darstellt. Als Wissen wird es aus der Entgegensetzung zu anderen mentalen Zuständen wie der ›Erfahrung‹, dem ›Erleben‹ und ›Fühlen‹, der ›Meinung‹, dem ›Bewusstsein‹ oder der ›Gewissheit‹, der ›Intuition‹ und ›Achtsamkeit‹, dem ›Common sense‹ oder dem ›Schauen‹ heraus verstanden. Die rationale Struktur des Wissens zeichnet sich zweitens durch den Modus oder die Form der Implizitheit aus. Es ist in etwas enthalten, ohne ausgesprochen werden zu müssen. Gewohnheitsmäßig gehen wir in dem Wissen miteinander um, dass die Sklaverei abgeschafft ist, und behandeln das Gegenüber als gleichgestellten Bürger, ohne dies eigens zu thematisieren oder auch nur daran zu denken. Drittens kann Implizitheit auch bedeuten, dass eine rationale Struktur unausgesprochen in einem Vollzug wirksam ist, weil sie grundsätzlich nicht ausgesprochen werden kann. In diesem Fall ist implizites Wissen ein nicht-propositionales Wissen. Bei der nicht-propositionalen Form des Wissens handelt es sich nicht um ein gegenständliches Wissen, das auf identifizierbare Objekte gerichtet wäre. Es realisiert sich als Können im richtigen Gebrauch von Gegenständen und ist in diesem Sinne ein ›Gebrauchswissen‹. An dieser Stelle findet sich die größte Nähe zwischen Präsenz und implizitem Wissen, insofern implizites Wissen im Handlungsvollzug präsent ist und als Präsenz Gestalt gewinnt. Als nicht-propositionales Wissen werden dabei Formen von »quick comprehension« und »Gebrauchswissen« bezeichnet, die sich nicht in Aussagen materialisieren und mitteilen lassen, die sich vielmehr in Handlungen bewähren (Buchheim 2004: 12ff.; Wieland 1982: 224ff.). Das relevante Wissen hat deshalb auch keinen Gegenstand, es ist kein Wissen von etwas über etwas und insofern nicht ›objektivierbar‹. Es ist im Umkreis von ›Kommunikationsvermögen‹, ›Klugheit‹, ›Urteilskraft‹, ›Verstehen‹ etc. zu suchen. Nicht-propositionales Wissen ist ein der Politischen Wissenschaft vertrautes Phänomen. Es handelt sich im Hintergrund um die Frage, ob bestimmte mentale Dispositionen und Fähigkeiten für politische Leitungsaufgaben legitimieren und, wenn ja, welcher Art diese sind. Viertens gehört zum Begriff des impli-
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ziten Wissens das Problem der Wissensvermittlung. Es ist nicht sofort ersichtlich, wie ein ›Wissen‹ erworben und weitergegeben werden kann, wenn eine verbale Vermittlung ausgeschlossen ist. Aufgrund seiner handlungssteuernden Funktion lässt sich nicht-propositionales Wissen nicht rein epistemologisch untersuchen, sondern öffnet notwendigerweise die Perspektive auf Moral und Ethik, Politik und Gesellschaftstheorie. Das Thema bedarf deshalb immer eines pragmatischen Bezugs. Der Blick auf politische Kompetenzen unter dem Gesichtspunkt relevanter Formen des Wissens in westlichen Demokratien wäre angesichts von deren Selbstverständnis als ›Wissensgesellschaften‹ durchaus von Belang. Auch würden sich Perspektiven auf unterschiedliche Systeme, auf Transformationsprozesse und auf den interkulturellen Vergleich eröffnen. Am Ende zeigt sich: Präsenz ist als Formel und Phänomen voraussetzungsreich. Es gibt gute Gründe, anzunehmen, dass das Unmittelbare, das der Ausdruck suggeriert, sich als verführerischer Schein entpuppt. Die physische Präsenz der Massen bleibt inhaltsleer und richtungslos, wenn nicht etwas Weiteres als in ihr präsent zum Ausdruck kommt. Hannah Arendt nannte es den Willen zur Gründung der Freiheit. Eric Voegelin erspähte den transzendenten Seinsgrund jenseits der Präsenz. Hinter beidem wirkt ein Bewusstsein von der Zeit in Form eines impliziten Wissens, in dem demokratische Politik wurzelt. Aus physischer Präsenz entsteht keine demokratische Politik ohne die mentalen Komponenten dessen, was ›Freiheitsbewusstsein‹ genannt werden kann. Freiheitsbewusstsein schließt mit dem Anfangenkönnen ein Zeitbewusstsein ein und es eröffnet mit dem Blick auf den anderen einen transzendenten Raum zwischen den Menschen, in dem sie als Menschen politisch handeln. Freiheitsbewusstsein mag implizit und diffus bleiben, aber seine Quelle ist die Vernunft, die im Akt der wechselseitigen Anerkennung von Freiheitsansprüchen unter Bürgern wirksam wird. Freiheit ohne ein Wissen davon, was Freiheit ist, gibt es nicht. Ein Hoffen, Glauben, Fühlen reicht hier nicht aus.
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Präsenz und Raum in der Arabischen Revolte Ägypten im Jahr 2011 Christoph Schumann und Dimitris Soudias
E INLEITUNG Kaum eine politische Revolte der letzten Jahre hat so viele unterschiedliche Benennungsversuche erfahren wie der Aufstand in der Arabischen Welt im Jahr 2011. Die meisten dieser Benennungen, etwa das Label der »Facebook-Revolution« (vgl. Rohr 2011), hatten allerdings nur eine kurze Halbwertszeit. Vielleicht handelte es sich von Anfang an nur um ein Missverständnis, denn selbst diejenigen, denen die Urheberschaft für diesen Begriff zugeschrieben wurde, wollten sich nicht recht mit dieser schmücken.1 Die Tatsache, dass der Begriff »Facebook-Revolution« bei Google unzählige Treffer generiert, ist allerdings nicht allein dem Narzissmus des Internets und seiner User zuzuschreiben. So verweist das Label »Facebook« auf drei zentrale Aspekte der Revolte, nämlich erstens auf den demographischen Wandel einer immer jünger werdenden Gesellschaft im Nahen Osten, die nicht in der Lage ist, die nachwachsende Jugend in den Arbeitsmarkt zu integrieren, zweitens auf die große Bedeutung der sozialen Medien in einem Kontext, in dem ein repressiver Staat jede Art von Öffentlichkeit einer strikten Kontrolle zu unterwerfen versucht, und, im speziellen Fall von Ägypten, auf ein reformunfähiges, autoritäres Regime, das bereits angesichts der ersten Protestwelle das Internet komplett abschalten ließ und damit dem Mythos »Facebook« selbst Leben einhauchte. Die Einwände gegen den Mythos der Facebook-Revolution liegen auf der Hand. In einem Land wie Ägypten ist der sogenannte digital divide zwischen denjenigen, die die materiellen und kulturellen Voraussetzungen für die Nutzung des Internets haben, und denjenigen, die die sozialen Medien nur vom Hörensagen kennen, beträchtlich (vgl. Warschauer 2003). Auch stellt sich die Frage nach den tatsächlichen Wirkungen der online-Kommunikation. Die wichtigste Funktion der sozialen Medien auf dem Weg zur Arabischen Revolte bestand vor allem in der Weitergabe 1 | So zum Beispiel die Berliner Politologin Cilja Harders auf Nachfrage von Christoph Kappes (2011).
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von Informationen über staatliche Willkür und Gewalt sowie über gemeinsam geplante Aktionen. Ob sich auf nationaler Ebene eine über diese Informationsverbreitung hinausgehende »Öffentlichkeit im emphatischen Sinne« (Peters 1994: 45) herausgebildet hat, erscheint jedoch fraglich. Dazu sind die Kommunikationszusammenhänge in der arabischen Blogosphäre zu stark fragmentiert (vgl. Etling et al. 2006). Zwar gab es nach dem Fall Mubaraks in unzähligen Foren Diskussionen über die strategische Neuausrichtung der Revolution, aber die entscheidenden Debatten über die anstehenden Verfassungsänderungen sind am Ende nicht in den sozialen Medien, sondern in der ägyptischen Verfassungsversammlung (alJam’iyya al-Ta’sisiyya al-Misriyya)2 oder dem Parlament (Majlis al-Sha’b) zu führen. Ob den Anliegen der jugendlichen Revolutionäre von den überwiegend islamisch orientierten Abgeordneten letztlich Rechnung getragen wird, bleibt abzuwarten. Zum Höhepunkt der ägyptischen Revolte im Januar und Februar 2011 war sicherlich die Präsenz von Tausenden ägyptischen Bürgerinnen und Bürgern ausschlaggebend, die den Sicherheitsorganen trotzten und so die Situation auf die Spitze trieben. Die sozialen Medien und das Satellitenfernsehen haben zwar einen wichtigen Beitrag zu dieser Mobilisierung geleistet, aber sie konnten das körperliche Eintreten der Demonstrierenden für den Sturz Mubaraks zu keinem Zeitpunkt ersetzen. Der folgende Beitrag nimmt diesen physischen Aspekt sozialer Bewegungen zum Ausgangspunkt, um über die Bedeutung und Wirkung von Kopräsenz im Sinne der gleichzeitigen Anwesenheit einer Vielzahl von Menschen in einem gemeinsam geteilten Raum aus politikwissenschaftlicher Perspektive nachzudenken. Massenversammlungen und Großdemonstrationen gehören zum klassischen Kampfrepertoire von sozialen Bewegungen. Die gleichzeitige und willentliche Anwesenheit einer großen Anzahl von Menschen hat zweifellos einen hohen symbolischen Wert in politischen Auseinandersetzungen, der durch die mediale Berichterstattung zusätzlich verstärkt wird. Von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern werden solche Ereignisse als ›herausgehobene‹ Momente wahrgenommen. So war in den Januartagen des Jahres 2011 zu beobachten, wie mit den wachsenden Demonstrationen auch die verbreitete Angst vor möglichen Repressionen schwand und sich bei den Besetzerinnen und Besetzern des Tahrir-Platzes eine intuitive Siegesgewissheit durchsetzte. Das Nachdenken über den Zusammenhang von Präsenz und implizitem Wissen in der Arabischen Revolte macht es notwendig, den Raumbegriff für die Politikwissenschaft neu zu diskutieren. Dabei muss es darum gehen, einen Mittelweg zwischen einem materiellen und einem konstruktivistischen Verständnis zu finden. Die materielle oder auch ›euklidische‹ Vorstellung von Raum sieht diesen als einen starren Container, der den sozialen Abläufen rein äußerlich ist. Dieser Raumbegriff wurde in den Sozial- und Kulturwissenschaften seit den 1980er Jahren grundsätzlich in Frage gestellt (vgl. Löw 2001: 24ff.). Ebenso problematisch 2 | Die Transkription folgt den Regeln des International Journal of Middle East Studies. Auf diakritische Zeichen wird verzichtet.
Präsenz und Raum in der Arabischen Revolte — Ägypten im Jahr 2011
ist jedoch ein Verständnis von Raum, das diesen allein als Produkt sozialer Kommunikation versteht. Durch Internet, Telekommunikation und Satellitentechnologie, so die Annahme, entstünden Kommunikationsräume, die staatliche Grenzen überschreiten und geographische Entfernungen scheinbar aufheben (vgl. Faist 2000). Ein solches Verständnis läuft Gefahr, den Raum gänzlich im Medium der Sprache aufgehen zu lassen und so den leiblichen Aspekt der Raumerfahrung aus der sozial- bzw. kulturwissenschaftlichen Analyse zu verdrängen. Aus der Perspektive der Diskussion über Präsenz ist Raum hingegen als ein geteilter Erfahrungsraum zu re-konzeptualisieren. Dabei geht es nicht darum, dass die Akteure den ›euklidischen‹ Raum in seiner Materialität erfahren, sondern vielmehr um das Zusammen-Leben3 und Zusammen-Handeln von mehreren Menschen in einer unmittelbaren physischen Nähe, welche die sensuelle Wahrnehmung der Mitmenschen in der direkten Umgebung ermöglicht, ja sie sogar erzwingt! Ein beliebiger Bewohner eines Mietshauses zum Beispiel, der seine Wohnung verlässt und in eine belebte Gasse tritt, kommt nicht umhin, die dortigen Passantinnen und Passanten zur Kenntnis zu nehmen, egal ob es sich dabei um Fremde oder Bekannte handelt. Darüber hinaus muss er davon ausgehen, auch selbst von diesen Menschen wahrgenommen zu werden. Diese wechselseitige Beobachtung von Menschen in einem gemeinsam geteilten Raum ist eine alltägliche Realität, der sich der oder die Einzelne kaum entziehen kann – allenfalls um den Preis eines dauerhaften Rückzugs in die eigenen vier Wände oder durch den Wegzug aus dem Viertel. Diese sensuelle und körperliche Erfahrung der unmittelbaren räumlichen Kopräsenz von Mitmenschen geht über die sprachliche Kommunikation hinaus und sie lässt sich nicht ohne Abstriche in das Medium der Sprache übersetzen. Dabei ist Präsenz nicht als Gegenkonzept zu Repräsentation im Sinne von sprachlicher oder medialer Kommunikation zu verstehen. Vielmehr sind Präsenzerfahrungen und deren Diskursivierungen komplementär und entsprechend eng miteinander verschränkt. Präsenz ist dementsprechend auch nicht als ›ursprünglicher‹ oder ›authentischer‹ zu verstehen. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, welche gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen die gleichzeitige Anwesenheit von Menschen in einem geteilten Raum hat – und zwar einerseits in alltäglichen und andererseits in politisch herausgehobenen Momenten. Medienbasierte Kommunikationsräume unterscheiden sich grundsätzlich von räumlicher Kopräsenz, da sie allein auf Grundlage der Bereitschaft von mindestens zwei Akteuren existieren, die Kommunikation durch den Austausch von immer neuen Mitteilungen fortzuführen. Dabei lassen sich kommunikative Interak3 | Das Zusammen-Leben in einem gemeinsam geteilten Raum ist nicht zu verwechseln mit der bewussten Entscheidung für das Zusammenleben, zum Beispiel in einer gemeinsam angemieteten Wohnung. Letzteres setzt eine Verständigung und einen gemeinsam gefassten Entschluss über das einzugehende Mietverhältnis voraus. Das gemeinsame Bewohnen eines Stadtviertels hingegen bedarf keiner gemeinsam getroffenen Entscheidung.
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tionen in der Regel ebenso leicht beginnen wie beenden. Ein Gespräch kann man beenden, einen Fernsehkanal ›wegzappen‹ und von einer Facebook-Gruppe kann man sich abmelden. Wenn die Kommunikation auf diese Weise verstummt oder die technischen Kommunikationsmittel abgeschaltet werden, dann verschwinden auch die Kommunikationsräume. Die Mitbewohner eines Stadtviertels lassen sich jedoch weder beseitigen noch einfach ausblenden. Diese gleichzeitige und letztlich zufällige Anwesenheit einer Vielzahl von Menschen in einem gemeinsam geteilten Raum generiert Eindrücke und Erinnerungen bei allen Beteiligten; und zwar unabhängig davon, ob sich diese untereinander in eine kommunikative Interaktion begeben oder nicht. Bei einem kurzen Aufeinandertreffen mögen diese nur flüchtig sein, wie zum Beispiel beim Moment des Zögerns bevor man an einer Bettlerin vorbeigeht ohne ihr ein Almosen zu geben. Die ständige Wiederkehr einer wechselseitigen Beobachtungssituation hinterlässt jedoch eine örtlich gebundene Erfahrung, die im Sinne des Habitus-Konzepts von Pierre Bourdieu prägenden Charakter hat und damit zu einer Form von implizitem Wissen gerinnt, das sich nicht restlos explizieren lässt (vgl. Bourdieu 1982: 171ff.; Bourdieu 1993). Eine unverschleierte Ägypterin kann nur bedingt sprachlich vermitteln, was es für sie bedeutet, sich ohne Kopftuch in einem traditionellen, ›populären Viertel‹ (mintaqa sha’biyya) Kairos zu bewegen. Das gleiche gilt, mutatis mutandis, für eine Frau mit Gesichtsschleier in einem ›kosmopolitischen Viertel‹ (mintaqa raqiyya) der Stadt. Durch die häufige Wiederholung dieser Situation wird die damit verbundene Erfahrung auf die eine oder andere Weise verinnerlicht. Die Soziologin Martina Löw spricht mit Bezug auf Bourdieus Habitus-Konzept von »objektivierten Mustern der Wahrnehmung und des Ausdrucks, die die Unterwerfung unter die gemeinsame Wirklichkeit gewährleisten« (2001: 215). Diese habitualisierten Muster der Wahrnehmung und des Handelns der Individuen korrespondieren mit den normativen Erwartungsstrukturen, welche den gemeinsam geteilten Raum dominieren. Dabei beziehen sich die Erwartungsstrukturen der Anwohner eines bestimmten Stadtviertels in erster Linie auf das als ›angemessen‹ erachtete öffentliche Verhalten, die Regeln des Anstands, des Respekts und der Scham. Was diese Erwartungsstrukturen genau beinhalten, lässt sich in sprachlicher Form nicht vollständig wiedergeben. Darüber hinaus ist es von Ort zu Ort bzw. von Stadtviertel zu Stadtviertel verschieden. Auch gehen die Regeln dieser normativen Ordnung von strukturierenden und strukturierten Erwartungen nicht auf einen staatlichen Akt der Setzung zurück, genauso wenig wie auf eine explizite Übereinkunft unter den Bewohnerinnen und Bewohnern eines Viertels. Es handelt sich vielmehr um das historisch kontingente Ergebnis des ZusammenLebens. In anderen Worten: Der normative Gehalt dieser räumlichen Ordnung besteht aus den individuellen Erfahrungen der Anwohnerinnen und Anwohner darüber, was sie von ihren ›Nächsten‹ (engl. neighbors) erwarten können, und was diese wiederum von ihnen erwarten (vgl. Žižek 2005). Freilich sind diese ungeschriebenen Regeln weder eindeutig noch unumstößlich. Einerseits hat der demographische und ökonomische Wandel von Stadtvier-
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teln Auswirkung auf die in ihnen vorherrschenden normativen Ordnungen. Andererseits können sie von politischen Großereignissen wie der ägyptischen Revolte von 2011 in Frage gestellt oder zumindest temporär suspendiert werden. In diesem Sinne lässt sich der Tahrir-Platz als ein Raum betrachten, der für kurze Zeit von Menschen aus allen möglichen Vierteln der 18-Millionen-Metropole Kairo geteilt wurde. Es sollen in der folgenden Darstellung zwei Arten von gemeinsam geteilten Räumen unterschieden werden, nämlich das Stadtviertel als Ort des dauerhaften Zusammen-Lebens und die zentrale Straße bzw. der zentrale Platz als Ort des situativen Zusammen-Handelns. Die gemeinsame Besetzung dieses zentralen Platzes von Tausenden Ägypterinnen und Ägyptern aus völlig verschiedenen sozio-kulturellen und räumlichen Zusammenhängen war ein Ereignis, das neue Handlungsoptionen eröffnete, die es erlaubten, mit den geltenden Normen bzw. gewachsenen Erwartungsstrukturen kreativ umzugehen.
D AS ›Z USAMMEN -L EBEN ‹: S TÄDTISCHER R AUM UND NORMATIVE O RDNUNG IN K AIRO In den letzten Jahren ist die nahöstliche Stadt zum Gegenstand einer großen Zahl von historischen und kulturwissenschaftlichen Untersuchungen geworden.4 Diese Studien können sich auf die kritische Aufarbeitung der (post-)kolonialistischen Stereotype stützen, die in den letzten Jahrzehnten von Kulturgeographen, Anthropologen und Orientwissenschaftlerinnen geleistet wurde (vgl. Abu-Lughod 1987; Raymond 1994; Wirth 1991). Ein Teil dieser Klischees geht auf die ›orientalistische‹ (im Sinne Edward Saids), in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Kolonialismus entstandene Literatur zurück. Viele Autorinnen und Autoren stellten darin der rational geplanten europäischen Stadt den Typus einer chaotisch wuchernden, orientalischen Stadt gegenüber. In besonders zugespitzter Form hat der französische Orientalist und Stadthistoriker Jean Sauvaget diese Sichtweise in zwei Artikeln über Damaskus und Aleppo zum Ausdruck gebracht: »The city [Damascus] is no more than a non-city. Muslim town-planning is no planning at all. The Muslim era, is unaccompanied by any positive contribution […] the only thing we can credit it with is the dislocation of the urban centre… The work of Islam is essentially negative« (Sauvaget 1934; Sauvaget 1951; zitiert in Raymond 1994: 7). Diese Zeilen demonstrieren das völlige Unverständnis für die Überlagerung der rektangulären römischen Stadtstruktur durch das scheinbar strukturlose Gewirr von Gassen und Sackgassen in Damaskus. Wenn sich der koloniale Blick von Orientalisten wie Sauvaget auf die Produktion von Texten beschränkt hätte, wäre diese Sichtweise in den Geisteswissenschaften allenfalls als historisch überholt abgelegt worden. Aber seine Sichtweise bot den damaligen französischen Kolonialbehörden die Folie für 4 | Zu Kairo sei hier genannt Raymond (1993), Singerman (1995), Singerman/Amar (2006), Ismail (2006), Schumann (2011).
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eine aktive stadtplanerische Politik, welche die nahöstlichen »Altstädte« allenfalls als museale Orte zu konservieren trachtete, um ihnen strahlend weiße »Neustädte« im mediterranen Kolonialstil gegenüberzustellen (vgl. Hanssen 2010). Bei aller Vorsicht vor west-östlicher Dichotomisierung und klischeehaften Zuschreibungen lassen sich zwei Unterschiede der nahöstlichen Stadt im Vergleich zu Europa festhalten, die für die Frage nach dem urbanen Zusammen-Leben von Bedeutung sind: einerseits die Aufteilung des innerstädtischen Raums in Stadtviertel mit einem gewissen Maß an Autonomie, andererseits die vielschichtigen Abstufungen zwischen privater und öffentlicher Sphäre. Die innere Strukturierung der nahöstlichen Stadt hängt mit der Tatsache zusammen, dass sich die Stadt im Nahen Osten der Neuzeit nicht als eine rechtliche Körperschaft konstituieren konnte, wie dies in Europa durch Bürgerschaftlichkeit und Stadtrecht der Fall war. Seit dem 16. Jahrhundert waren die nahöstlichen Städte Teil des Osmanischen Reiches.5 In diesem politisch-administrativen Rahmen blieb ihnen wenig Raum für militärische oder rechtliche Eigenständigkeit. Paläste und Militärgarnisonen repräsentierten die Macht des imperialen Zentrums vor Ort, während die alten Befestigungsanlagen, die vor allem aus der Zeit der Kreuzzüge stammten, ihren militärischen Zweck verloren. Stattdessen wurden Fragen der Sicherheit, aber auch der Stadtplanung, zu einem gewissen Teil auf der lokalen, innerstädtischen Ebene durch die direkt betroffenen Anwohner der jeweiligen Viertel (hocharabisch/ägyptisch: hara; marokkanisch: darb; türkisch: mahalle) geregelt (vgl. Grunebaum 1955: 146). Nicht mehr die Stadt als Ganze galt es vor äußeren Angriffen zu schützen, sondern vielmehr das eigene Viertel vor Eindringlingen aus anderen Teilen der Stadt. Gegen diese setzte man sich effektiv zur Wehr, indem man einzelne Straßenzüge nachts abriegelte und gemeinsam verteidigte. Die scheinbar irrationale Struktur der Sackgassen war in diesem Zusammenhang höchst funktional. Auch räumliche Planung fand meist vor Ort als Aushandlungsprozess unter den Betroffenen statt. Letztlich entschieden die Anwohner, ob eine Gasse breit genug für einen Pferdekarren oder nur für einen bepackten Esel sein sollte (vgl. Wirth 2000: 431ff.). Das Zusammen-Leben in einem geteilten Raum und die pragmatische Regelung gemeinsamer Angelegenheiten schaffen offensichtlich eine wechselseitige Verbundenheit der Anwohner und eine damit einhergehende Identifikation mit dem Ort, den sie bewohnen. Der Sozialanthropologe Dale F. Eickelman hat die soziale Kohäsion in marokkanischen Stadtvierteln, insbesondere der Stadt Boujad (marokkanisch: Bja’d; hocharabisch: Abi l-Ja’d), untersucht und kam dabei zu dem Schluss, dass das kulturelle Konzept der qaraba Grundlage für die kollektive Identifikation der Anwohner mit einer lokalen Einheit sei (vgl. Eickelman 1974). Im Deutschen lässt sich qaraba mit ›Verwandtschaft‹, aber auch mit räumlicher ›Nähe‹ wiedergeben. Auf den ersten Blick schien es Eickelman so, als würden die 5 | In der vorangegangenen Epoche war der nahöstliche Raum in kleinteiligeren Herrschaftsbereichen organisiert. In dieser Zeit unterschied sich Bedeutung und Funktion der Stadt nicht grundsätzlich im Vergleich zu Europa (vgl. Cahen 1958).
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untersuchten Stadtviertel vornehmlich von Mitgliedern eines Clans oder einer Familie bewohnt. Bei genauerem Hinsehen zeigte sich jedoch, dass die behaupteten Verwandtschaftsverhältnisse einer Überprüfung kaum standhielten. Ob es sich dabei um bewusste oder unbewusste Konstruktionen handelt, ist dabei sekundär. Entscheidend ist die Tatsache, dass sich das besagte Gefühl der wechselseitigen Verbundenheit symbolisch und sprachlich als Behauptung von Verwandtschaft ausdrückt. Sackgassenstruktur und Verwandtschaftsverhältnisse – ob real oder imaginiert – korrespondieren miteinander und bilden eine symbolische und normative Einheit. Zwar ist die Sackgasse keine islamische Erfindung, sondern lässt sich auch in altorientalischen Städten nachweisen,6 aber das islamische Recht räumt der Sackgasse einen besonderen rechtlichen Status zwischen öffentlichem und privatem Raum ein (vgl. Wirth 2000: 346ff.; Abu-Lughod 1987). Während, historisch gesehen, öffentliche Räume wie zum Beispiel Märkte, Brunnen und Moscheen allen (männlichen) Stadtbewohnern zugänglich sein mussten und der Kontrolle des Ordnungshüters (muhtasib) unterlagen, war der private Bereich dieser Kontrolle grundsätzlich entzogen. Die Sackgasse fungierte dabei als eine Art Übergang zwischen diesen beiden Bereichen; islamrechtlich war sie als gemeinschaftlich genutzter Privatbereich definiert. Die Ordnungsgewalt hatte hier nur eine schlichtende Funktion, falls es zwischen den Anwohnerinnen und Anwohnern zu Konflikten kam. Auch sonst hatten Fremde nur bedingt Zugang zum geteilten Raum der Sackgasse. Um das Ansehen jeder einzelnen Familie zu wahren, achteten die Anwohnerinnen und Anwohner auf ein entsprechendes Verhalten aller. Insgesamt entstand so auf der einen Seite eine besondere Vertrautheit auf Grund der räumlichen Nähe, die aber gleichzeitig auch mit einer gegenseitigen sozialen Kontrolle verbunden war – insbesondere was die Frauen angeht (vgl. Ammann 2004: 96). In den letzten zweihundert Jahren hat das exponentielle Wachstum der Megametropole Kairo die Sackgassenstruktur zu einer baulichen Reminiszenz gemacht, die sich allenfalls noch in den sogenannten ›alten populären Vierteln‹ (manatiq sha’biyya qadima) findet. Hinzu kam der grundlegende Wandel in der Zusammensetzung der Wohnbevölkerung von Stadtvierteln (vgl. Raymond 2010). Vor dem 19. Jahrhundert waren Stadtviertel im Nahen Osten meist ethnisch und konfessionell relativ homogen. Es gab jüdische, tscherkessische oder syrische Viertel. Dafür lebten Familien aus allen sozialen Schichten in unmittelbarer Nachbarschaft. Das rapide Wachstum der Städte durch geplante und ungeplante Neubaugebiete hat dagegen zu einer sozioökonomischen Homogenisierung geführt. Heute entscheiden vor allem Wohnqualität, Immobilienpreise und Mietspiegel über die soziale Zusammensetzung eines einzelnen Viertels. Das Dienstpersonal wohnt heute nicht mehr wie früher in der unmittelbaren Nachbarschaft der Arbeitgeber, sondern
6 | Eugen Wirth fasst die entsprechende archäologische Forschung zusammen (2000: 346ff.).
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muss meist weite Wege von den ›populären‹ zu den ›kosmopolitischen Vierteln‹ zurücklegen (vgl. Ismail 2006: 23ff.). Die normative und habituelle Ordnung innerhalb der heutigen Stadtviertel im Nahen Osten lässt sich nur im Kontext des neoliberalen Autoritarismus verstehen, der die Gesellschaften der Region seit den 1970er Jahren dominierte (vgl. Guazzone/Pioppi 2009). Zunächst war dieser Phase eine Zeit der nationalistischen, staatszentrierten Entwicklung vorangegangen. In Ägypten hatten die Freien Offiziere nach 1952 eine neue politische Ordnung aufgebaut, die den Zielen der nationalen Unabhängigkeit (hurriyya), der arabischen Einheit (wahda) und der distributiven Gerechtigkeit (ishtirakiyya) verpflichtet war (vgl. Podeh/Winckler 2004). Die Arbeiterstädte und Infrastrukturmaßnahmen, die in jener Zeit entstanden, waren Ausdruck des politischen Willens, das Projekt der Nationsbildung voran zu treiben (vgl. ElShakry 2006). Mit Präsident Anwar as-Sadat und seiner Politik der wirtschaftlichen ›Öffnung‹ (infitah) obsiegte allerdings das Primat der Ökonomie über die soziopolitischen Zielsetzungen. In der Folge schränkte der Staat seine Wohnungsbauprogramme erheblich ein und überließ die neu entstehenden Stadtviertel weitgehend sich selbst (vgl. Sims 2010).7 In dieser Zeit traten die sozialen Unterschiede zwischen den einzelnen Vierteln wesentlich deutlicher hervor. Dabei wurden insbesondere die sogenannten ›informellen Stadtviertel‹ (›ashwa’iyyat) im öffentlichen Diskurs abgewertet und als Brutstätte von Kriminalität und Extremismus dargestellt. Der Abbau der distributiven und planerischen Kapazität des Staates schuf vor Ort in den Stadtvierteln den Rahmen für eine Form der social governance, bei dem lokale Selbstregulierung und staatlicher Regelungsanspruch ineinander greifen, aber auch konfligieren können. Je nach Stadtviertel kann dies sehr unterschiedliche Formen annehmen. Die Politikwissenschaftlerin Salwa Ismail hat die social governance in einem der ›informellen Viertel‹ Kairos, Bulaq al-Dakrur, untersucht (vgl. Ismail 2006). Sie zeigt, dass vor allem die Vermittlung von Konflikten eine zentrale Rolle für die Regulierung des Alltagslebens spielt. Dabei besteht unter den Anwohnerinnen und Anwohnern grundsätzlich ein informeller Konsens darüber, dass die Involvierung der Polizei oder anderer Staatsorgane unbedingt zu vermeiden ist und nur als letztes Mittel dienen kann, um sein Recht zu beanspruchen. Stattdessen wird versucht, eine Person zu finden, der alle Konfliktparteien Respekt zollen und diese als Autorität anerkennen (ägyptisch-arabisch: biytkabarluh) (ebd.: 37). Soziales Ansehen, Besitz und gute Kontakte zu staatlichen Behörden sind wichtige Voraussetzungen, um zu einer solchen Respektsperson zu werden. Auch der Staat erkennt die soziale Position dieser lokalen Notabeln an, indem er diese zu kooptieren versucht. Gleichzeitig sichert eine diffuse Form der sozialen Kontrolle die Einhaltung von moralischen Normen im öffentlichen Raum (ebd.: 41ff.). Diese kann sich, je nach Stadtviertel, sehr unterschiedlich manifestieren. In jedem Fall sind die ent7 | Zur politischen Ökonomie der ›informellen Viertel‹ siehe Singerman (1995), Harders (2002) und Ismail (2006).
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sprechenden Moralvorstellungen stark mit der Erscheinung und dem Auftreten von Frauen verbunden. So können Kleidung oder Ausgehgewohnheiten von Anwohnerinnen zum Gesprächsgegenstand der Nachbarinnen und Nachbarn werden. Da es hierbei nicht nur um das Ansehen der betroffenen Personen geht, sondern auch um den Ruf der engeren und weiteren Familie, sind schlechte Nachrede, soziale Ausgrenzung und direkte Intervention wirkungsvolle Mittel, um Anpassung zu erzwingen. Sowohl die Kontrolle als auch die Anpassung an implizite oder explizite Erwartungen gehen, wie bereits zuvor argumentiert, weit über kommunikative Aushandlungsprozesse hinaus. Das Beobachtet-Werden ist ein körperliches Gefühl, das eine Person zudem auf unterschiedliche Weise erfährt, je nachdem ob er oder sie sich in einer vertrauten oder fremden Umgebung bewegt. Vertrautheit, moralischer Ethos und Verhaltensdispositionen fließen bei der sozialen Konstitution eines gemeinsam geteilten Raums als ›Stadtviertel‹ zusammen. In den Wochen der ägyptischen Revolte von 2011 wurde die Bedeutung der Identifikation mit dem gemeinsam bewohnten Stadtteil schlaglichtartig deutlich. In dem Moment, als die Polizei zur Quelle von Gewalt und Unsicherheit wurde, bzw. sich dann völlig aus den Straßen zurückzog, errichteten spontan gegründete ›Volkskomitees‹ (lajna sha’biyya) Straßensperren, um die Sicherheit ihrer Stadtviertel selbst zu organisieren. Die ägyptische Schriftstellerin Ahdaf Soueif beschreibt mit einem Schuss Ironie, welche unterschiedlichen Formen diese Straßenkontrollen im Januar 2011 annahmen: In every district people came down from their homes and set up neighborhood watches, ›Popular Committees‹. They invented barricades out of tyres and chairs and lengths of wood and blocks of stone and traffic barriers. The characters of the checkpoints varied with the neighborhoods: in the villages they were farmers with axes and hoes; in the poorer neighborhoods they wore galabeyyas 8 and carried sticks; in the posh districts they had walking canes and golf clubs […]. (2012: 37)
Nüchtern betrachtet handelt es sich bei diesen Straßensperren um eine Art der lokalen Mobilitätskontrolle, die zwar die Gemeinsamkeit des Stadtviertels demonstrativ nach außen kehrte, sich aber relativ willkürlich gegen Fremde, sozial Deklassierte und auch Journalistinnen und Journalisten von der vermeintlich ›falschen‹ Seite richten konnte (vgl. Khalil 2011, Liberation Square: 203ff.; 235ff.).
8 | Deutsch: Galabija. Traditionelles ägyptisches Männergewand mit langen Ärmeln, weitem Rockteil, ohne Kragen, aber mit Brustschlitz.
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D AS ›Z USAMMEN -H ANDELN ‹: R AUM UND SPONTANE O RDNUNG IN DER ÄGYP TISCHEN R E VOLTE Während der ägyptischen Revolte gab es zwei unterschiedliche Formen, in denen sich die Bürgerinnen und Bürger den Raum ihrer Hauptstadt aneigneten. Bei den Straßensperren ging es vor allem um die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung in den eigenen Wohnvierteln. Straßensperren waren zwar ubiquitär verbreitet, aber von geringem symbolischem Wert. Im Gegensatz dazu hatte die gemeinsame Besetzung von zentralen Plätzen der Stadt eine große symbolische Bedeutung (vgl. Soudias 2011). Insbesondere der ›Platz der Befreiung‹ (arabisch: Midan al-Tahrir) wurde zum Raum des spontanen gemeinsamen Protests gegen das Mubarak-Regime, der gleichzeitig weltweit über Satellitenfernsehen und soziale Medien übertragen wurde. Der Tahrir-Platz ist eigentlich kein öffentlicher Raum, der für die zufällige Begegnung von Bürgern untereinander konzipiert wäre, sondern ein Verkehrsknotenpunkt mit großem Kreisverkehr mitten in Kairo. Da der Platz dadurch nicht in einem bestimmten Stadtviertel liegt, wird er auch keinem soziokulturellen Milieu zugerechnet. Dafür ist er in politischer Hinsicht umso stärker mit symbolischer Bedeutung aufgeladen. In den angrenzenden Straßen befinden sich eine Reihe von signifikanten Gebäuden wie das Ägyptische Museum, die Zentrale der früheren Regierungspartei NDP, das zentrale Verwaltungsgebäude Mugamma‹ und das Hauptquartier der Arabischen Liga. Die populäre Bezeichnung des Zirkels als ›Platz der Befreiung‹ geht ursprünglich auf die antibritische Revolution von 1919 zurück, wurde aber erst nach der Revolution der Freien Offiziere von 1952 zum offiziellen Namen des Platzes. Wegen seiner zentralen Lage und seiner symbolischen Bedeutung war der Platz in den letzten Jahrzehnten schon öfter zur Bühne öffentlicher Proteste geworden; zuletzt im Jahr 2003 im Zusammenhang mit den Protesten gegen den amerikanisch geführten Krieg gegen den Irak. Deswegen versuchten die Demonstrantinnen und Demonstranten auch Ende Januar 2011 gezielt, den Tahrir-Platz zu erreichen und schließlich zu besetzen. Ahdaf Soueif skizziert die Stellung dieses Platzes im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung von Kairo folgendermaßen: »The Midan has been our Holy Grail for forty years. Since 1972 when (then President Anwar) Sadat’s forces dragged the student protestors at dawn from around the empty plinth at its centre into jail, demonstrations and marches have tried and failed to get into Tahrir« (2012: 10).
Während der gemeinsam geteilte Raum der Stadtviertel, wie oben beschrieben, das Ergebnis einer jahre-, wenn nicht sogar jahrzehntelangen Entwicklungen ist, wurde der Tahrir-Platz im Verlauf der Ereignisse zu einem Versammlungsplatz umfunktioniert, auf dem sich Menschen aus den unterschiedlichsten Stadtvierteln zusammenfanden. Im Unterschied zur Kopräsenz im Sinne des alltäglichen Zusammen-Lebens der Bewohnerinnen und Bewohner in einem bestimmten
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Stadtviertel kam es so zur Kopräsenz im Sinne eines situativen, ereignishaften Zusammen-Handelns von Bürgerinnen und Bürgern. Die für ägyptische Verhältnisse ungewöhnliche Massendemonstration und die politische Aufladung der Atmosphäre ließ den Teilnehmerinnen und Teilnehmern diese Januartage als ein außeralltägliches Ereignis erscheinen. Die Menschen waren dabei durch ihre Opposition zum Mubarak-Regime geeint, aber sie kamen im Einzelnen aus völlig unterschiedlichen Milieus der Stadt und deren Umgebung. Die unsichtbaren, impliziten Grenzen der oben beschriebenen normativen und moralischen Ordnungen waren auf dem Tahrir-Platz suspendiert. Gerade dies machte die soziale, kulturelle und ideologische Vielfalt der Bevölkerung in den achtzehn Protesttagen für die Anwesenden sichtbar, hörbar und fühlbar. Gleichzeitig konnte die ganze Welt dieses Ereignis medial beobachten – insbesondere über das Satellitenfernsehen und die sozialen Medien. Insgesamt dominierten junge Menschen beiderlei Geschlechts den Platz, was nicht allein den sozialen Medien zuzuschreiben war, sondern auch den demographischen Verhältnissen einer schnell wachsenden und immer jünger werdenden Gesellschaft. Daneben waren aber auch ältere Menschen und Kinder zu sehen; Muslime und Kopten, säkulare und religiöse Menschen und sogar die militanten Ultras der Fußballszene füllten den Platz, die Ultras White Knights des SC AlZamalek und die Ultras Ahlawi des SC Al-Ahly. Arbeiter und höhere Angestellte waren genauso präsent wie die Studierenden der elitären American University in Cairo, mitsamt ihrer zumeist wohlhabenden Eltern. Dabei waren berufliche, soziale und politische Zugehörigkeiten oftmals leicht zu erkennen: Ärzte und Apotheker trugen ihre weißen Kittel, Müllmänner ihre grün-blauen Uniformen, Islamisten erkannte man an ihrem Vollbart und an der religiösen Wortwahl, Kopten an den Kruzifix-Tätowierungen am Unterarm, die Ultras der Fußballclubs an ihren Sprechchören usw.9 Die heterogene Zusammensetzung der Protestierenden konnte den Sinnen nur schwer entgehen. Diese Heterogenität wurde jedoch durch eine politische Artikulation zusammengehalten, die nicht das Ergebnis von Verständigungsprozessen unter den Anwesenden war, sondern sich der Anwesenden in der Dynamik der Situation ermächtigte. Ins Zentrum der Artikulation – die Theorie der sozialen Bewegungen spricht von framing – rückte das gemeinsame Ziel, Hosni Mubarak zu stürzen. Dies wurde in einer Vielzahl von Pamphleten, Slogans, Parolen und sogar Witzen zum Ausdruck gebracht. Daneben verdeutlichten viele Demonstrierende auf dem Platz, dass sie sich trotz ihrer jeweils unterschiedlichen Herkunft in erster Linie als Ägypter fühlen. Die Tatsache, dass das Nationalbewusstsein selbst zu einem zentralen Thema der Revolution wurde, zeigte sich in den Landesfarben, die in Gesichtsbemalungen, Plaketten, Schals und T-Shirts allgegenwärtig waren. Dazu kam ein rot-weiß-schwarzes Meer von Flaggen, das den gesamten Platz überzog. Neben dem Ruf nach dem Sturz des Regimes wurde der Tahrir-Platz damit auch 9 | Beobachtungen von Dimitris Soudias zwischen dem 25.1. und dem 11.2.2011.
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zum Ort, an dem die Anwesenden die Nation als Einheit in der Vielfalt repräsentierten. Halb im Ernst und halb im Scherz war von der ›Volksrepublik Tahrir‹ die Rede, was die greifbare Möglichkeit des Regimesturzes ebenso ausdrückt wie die Intention der Demonstrierenden, bestimmten Symbolen, Orten und Räumen neue Bedeutungen zuzuweisen. Das spontane Beisammensein einer Vielzahl von unterschiedlichen Menschen machte Interaktionen über soziale und politische Grenzen hinweg möglich, die es im Alltag der Metropole nur selten und punktuell gibt. Ein Teilnehmer fand sich überrascht in einem Gespräch über die Erfolgsaussichten der Besetzung des Platzes mit einer Frau mit Gesichtsschleier (niqab) verwickelt – ein gesellschaftlicher Tabubruch, den er nie für möglich gehalten hätte.10 Aber auch sonst waren Frauen lautstark und selbstbewusst an Protesten beteiligt. So forderten einige von ihnen die vorbeilaufenden Männer durch den Ausruf »Die Frauen sind hier, wo bleiben die Männer?« zur Teilnahme auf – meist erfolgreich.11 In der Zeltstadt nächtigten auch unverheiratete Männer und Frauen in gemeinsamen Zelten, und definierten damit Grundsätze gesellschaftlicher Normen zumindest zeitweise neu. Kopten bildeten eine Menschenkette um betende Muslime zum Schutz vor eventuellen Angriffen und drückten ihre interkonfessionelle Verbundenheit außerdem durch die mit Kreuz und Halbmond versehene ägyptische Revolutionsflagge von 1917 sowie den Slogan »Muslime und Kopten Hand in Hand!« aus (vgl. Khalil 2011, Messages from Tahrir: 78f.; Alexander 2011). Die kommunalistischen Ausschreitungen nach dem Bombenanschlag vor der Kirche der Zwei Heiligen in Alexandria am 1. Januar 2011 schienen vergessen.12 Ebenso verlor sich die Erzrivalität der Fußball-Ultras zeitweise gänzlich im gemeinsamen Skandieren der Aufforderung an Mubarak: »Irhal! Irhal!« (Hau ab! Hau ab!). In der spontanen Situation des sozialen Miteinanders und Nebeneinanders von völlig unterschiedlichen Menschen verblassten – wenn auch nur temporär – soziale Differenzen und Konflikte entlang von Geschlecht, Religion und Religiosität, Klasse und Alter. Soueif beschreibt die Atmosphäre auf dem Platz und den Umgang der Anwesenden miteinander geradezu als ein spirituelles Erlebnis: […] Once you’re inside, the Midan is amazing. Even the light in here is different, the feel of the air. It’s a cleaner world. […] Everyone is suddenly, miraculously, completely themselves. Everyone understands. We’re all very gentle with each other. As though we’re convalescing, dragged back from death’s very door. Our selves are in our hands, precious, newly recovered, perhaps fragile; we know we must be careful of our own and of each other’s. (2012: 159)
10 | Interview von Dimitris Soudias mit einem Aktivisten am 15.3.2011. 11 | Beobachtungen von Dimitris Soudias zwischen dem 25.1. und dem 11.2.2011. Die Parole geht zurück auf die Streiks und Proteste der Arbeiterinnen im ägyptischen Mahalla al-Kubra im Dezember 2006. 12 | Bei dem Anschlag wurden 23 Menschen getötet und 97 verletzt.
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Je länger die Besetzung des Tahrir-Platzes dauerte, desto stärker wandelte sich das gleichzeitige Handeln in Sprechchören und Märschen zu einem kollektiven Handeln. Ärzte und Krankenpersonal gewährleisteten medizinische Versorgung in mehreren Feldkliniken, während Pharmazeuten in einer eigens eingerichteten Apotheke gewissenhaft Medikamente an Verwundete vergaben. Erzieher und Mütter errichteten einen Kindergarten und übernahmen die Betreuung der jüngsten Besetzer. Blogger und Journalisten richteten im Herzen des Platzes einen Stand ein und stellten durch ständige Berichterstattung sicher, dass die Besetzung öffentlichkeitswirksam nach außen kommuniziert wurde und dadurch nicht an Dynamik verlor.13 Besonders unter dem Eindruck der Gewalt der regulären und irregulären Kräfte des Regimes formte sich eine praktische Zusammenarbeit, die keiner langen Aushandlung bedurfte. Insbesondere junge Islamisten und Fußball-Ultras – beide erfahren in der physischen Auseinandersetzung mit der Polizei – kämpften Seite an Seite, um den Angriffen standhalten zu können. Frauen und ältere Männer schlugen den Bordstein auf, um die Kämpfer an der Front mit Steinen zu versorgen, während Ärzte Verletzte behandelten. Scharen von Mopeds und Autos fuhren Schwerverletzte in nahegelegene Krankenhäuser und Journalisten dokumentierten die Gewalt.14 In den ruhigeren Phasen der Platzbesetzung nutzten die Besetzerinnen und Besetzer die Zeit, um Informationen und Ansichten auszutauschen, wobei politische Themen allgegenwärtig waren: das Regierungssystem, das Erziehungswesen, die Frage des öffentlichen und privaten Eigentums und vieles mehr (vgl. ebd.: 154). Auf einer zentralen Bühne konnte – ähnlich wie an der Speakers’ Corner im Londoner Hyde Park – jeder zu Wort kommen und Meinungen und Forderungen kundtun, aber auch aktuelle Informationen und Strategien bekannt geben. Das Spektrum der artikulierten Ansichten hätte dabei breiter nicht sein können. Es reichte von linken Arbeitergruppen über säkulare Vertreter der Mittelschicht bis zu den Muslimbrüdern und jungen Salafisten. In den sozialen Medien waren diese Gruppen selbstverständlich schon vor 2011 präsent, aber sie konzentrierten sich meist in ihren eigenen ›Freundesgruppen‹ und Diskussionsforen. Während der Besetzung des Tahrirs prallten diese unterschiedlichen Ansichten direkt aufeinander – unvermittelt, aber ›gerahmt‹ (im Sinne von framing) von der gemeinsamen Ablehnung des Regimes und dem Willen nach mehr Würde (karama) im Umgang zwischen Staat und Bürgern. Die Parole »Legitimität kommt vom Tahrir!« (Al-shar’iyya min al-Tahrir!) ist intuitiver Ausdruck dieses Gefühls von kommunikativer Gegenmacht (vgl. ebd.: 148). Allerdings haben die Ägypterinnen und Ägypter in den Jahren 2011 und 2012 sowohl die positiven als auch die negativen Seiten der Massenmobilisierung im öffentlichen Raum kennengelernt. In den Wochen, die zum Fall Mubaraks führten, erzeugte die gemeinsame Opposition zum herrschenden Regime ein ungewöhnli13 | Beobachtungen von Dimitris Soudias zwischen dem 25.1. und dem 11.2.2011. 14 | Ebd.
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ches Maß an Einigkeit unter den Demonstrierenden. Über Jahrzehnte hinweg hatten die Menschen ihre jeweils eigenen Erfahrungen mit Korruption, Willkür und Ineffizienz gemacht, so dass der Ruf nach dem Sturz des Regimes für viele von ihnen unmittelbar plausibel war. Nachdem der stellvertretende Präsident Omar Suleiman am 11. Februar 2011 den Rücktritt Mubaraks verkündet hatte, erodierte die politische Rahmung durch das Erreichen dieses zentralen, personifizierten Ziels. Der Tahrir-Platz war kaum geräumt und gesäubert, als die alten ideologischen Konfliktlinien, welche während der Besetzung an Intensität verloren hatten, wieder aufkamen. So zogen am 8. März 2011 Demonstrierende zum internationalen Frauentag auf den Tahrir-Platz und forderten unter anderem die Gleichstellung der Geschlechter. Wenig später trafen Dutzende von Gegendemonstrantinnen und Gegendemonstranten ein, um diese Forderungen als haram, also religiös verboten, zu denunzieren.15 Nicht zuletzt auf Grund der Abwesenheit von Sicherheitskräften kam es schnell zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Gruppen. Zu erschreckenden Opferzahlen kam es im Februar 2012, als es in der Küstenstadt Port Said bei einem Fußballspiel der ägyptischen Premier League zu massiven Ausschreitungen zwischen den rivalisierenden Fans der Vereine Al-Ahly und Al-Masry kam. Mindestens 74 Menschen starben und Hunderte wurden verletzt. Zwar ist die Verantwortung für diese Tragödie noch ungeklärt, aber Augenzeugen berichteten, dass die Sicherheitskontrollen von Anfang an lax gewesen seien und Polizeikräfte auch später nicht deeskalierend eingriffen (vgl. Maher/Mosselhi 2012). Als Reaktion auf dieses Ereignis sind zumindest die beiden Kairoer Ultra-Gruppierungen, die bereits bei der Besetzung des Tahrir-Platzes ihre Zusammenarbeit geprobt hatten, in Opposition zum regierenden Obersten Rat der Streitkräfte enger zusammengerückt (vgl. Dorsey 2012). Die neue Formierung ideologischer und kommunalistischer Identitäten fand ein Jahr nach der Revolution auch auf dem Tahrir-Platz ihren räumlichen Ausdruck. Im Januar und Februar 2011 waren räumliche Abgrenzungen zwischen den sozialen und politischen Gruppen nicht erkennbar und sie waren wohl auch nicht für notwendig befunden worden.16 Die Menschen auf dem Platz befanden sich konstant in Bewegung. Die verschiedenen Teile des Tahrir-Platzes konnte man kaum spezifischen politischen Gruppen zuordnen. Insofern war es in gewisser Weise schwierig, sich auf dem Platz zu orientieren. Nach dem Fall Mubaraks und der Räumung des Platzes traten die Auseinandersetzungen innerhalb der Opposition in den Vordergrund. Dabei waren die unterschiedlichen Vorstellungen zur Zukunft des Landes zum Teil gänzlich inkompatibel. Viele dieser Gruppen waren am Jahrestag der Revolte, also am 27. Januar 2012, wieder auf dem Tahrir-Platz präsent (Egypt Independent 2012). Zwar war der Platz auch jetzt nicht eindeutig aufgeteilt, doch präsentierten sich Muslimbrüder, die Jugendbewegung des 6. April, die Jugendkoalition des 25. Januar und andere Gruppen nun nebeneinander, statt 15 | Beobachtungen von Dimitris Soudias am 8.3.2011. 16 | Interview von Dimitris Soudias mit Aktivistinnen und Aktivisten am 9.3.2012.
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miteinander auf gemeinsam genutzten Bühnen.17 Damit zerfiel der Dialog (oder besser gesagt: ›Polylog‹) in einem gemeinsam geteilten Raum in eine Vielzahl von Monologen in einem gemeinsamen, aber nun parzellierten Raum. Die Zuhörerinnen und Zuhörer konnten immer noch von Bühne zu Bühne ziehen, aber es dominierte die Rede zu den Gleichgesinnten. Dabei kam es auch zu Spannungen. Rufe gegen die Muslimbruderschaft wurden laut und einige Demonstrierende warfen Steine und Schuhe auf deren Bühne. Die Angesprochenen reagierten zunächst, indem sie die Lautsprecher aufdrehten und den Protestrufen schallende Koranverse entgegensetzten. Wütende Demonstrierende versuchten daraufhin, die Bühne zu stürmen. Erst nachdem ein kontroverses Banner der Muslimbrüder zum Jahrestag der Revolution abgehängt wurde, entspannte sich die Situation.
F A ZIT Die Berichterstattung über die arabische Revolte von 2011 rückte zunächst die Rolle des Internets und der sozialen Netzwerke in den Mittelpunkt. Ohne deren Bedeutung zu bestreiten, wurde hier ein anderer Ansatz verfolgt, indem ein mehrdimensionaler Raumbegriff verwendet wurde, der eine neue Perspektivierung der Ereignisse im Lichte der Diskussion über Präsenz und implizites Wissen ermöglicht. Präsenz, verstanden als die gleichzeitige Anwesenheit von mehreren Menschen in einem gemeinsam geteilten Raum, so wurde argumentiert, erzeugt eine Art von Wissen und von Eindrücken, die sich nicht ohne Verluste sprachlich abbilden und medial kommunizieren lassen. Dies wurde zunächst am Beispiel der social governance in den sogenannten informellen Stadtteilen Kairos verdeutlicht. Während mediale Kommunikation meist nur unter Personen stattfindet, die die kontinuierliche Bereitschaft haben, sich miteinander auszutauschen, ist das Aufeinandertreffen von unterschiedlichen Menschen in den Straßen und Plätzen eines Stadtviertels zunächst zufällig. Das gegenseitige Beobachten und Beobachtet-Werden ist keine kommunikative Interaktion in dem Sinne, dass Mitteilungen ausgetaucht würden, sondern eine sensuelle Erfahrung, die habituelle Prägungen voraussetzt und hinterlässt. So lässt sich das individuelle Gefühl der Fremdheit oder Vertrautheit in dem einen oder anderen Stadtviertel zwar beschreiben, aber nicht vollständig mitteilen. Dies ist verbunden mit den raumgebundenen normativen Ordnungen, welche die Erwartungen und zum Teil auch das Verhalten der Bewohnerinnen und Bewohner strukturieren. Für sie sind diese Regeln habitualisiert und bedürfen daher im Alltag keiner Explikation oder Diskursivierung. Das Beispiel der ägyptischen Revolution zeigt jedoch deutlich, dass sich die prägende Wirkung des dauerhaften Zusammen-Lebens grundlegend vom situativen Zusammen-Handeln unterscheidet. Die Revolution war zwar in den neuen Medien und den sozialen Netzwerken seit über zehn Jahren vorbereitet und an17 | Ebd.
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gebahnt worden, aber der Sturz Mubaraks und seiner Nationaldemokratischen Partei wurde letztendlich erst in den entscheidenden achtzehn Tagen des Januar und Februar 2011 erkämpft, als Hunderttausende von Ägypterinnen und Ägyptern die zentralen Straßen und Plätze des Landes und insbesondere den Kairoer Midan al-Tahrir für sich reklamierten und dauerhaft besetzten. In einer Situation, die in einem hohen Maße politisch aufgeladen war, und in einer symbolischen und diskursiven Rahmung (framing), die das Volk (sha’b) gegen das Regime (nizam) stellte, wurden ideologische Differenzen und habituell verinnerlichte Normen in den Hintergrund gedrängt bzw. kreativ verhandelbar gemacht. Die gleichzeitige Anwesenheit von sehr unterschiedlichen Menschen, die in ihrem Alltag allenfalls punktuelle Berührungspunkte miteinander haben, schuf die Gelegenheit für spontane Begegnungen und neue Konstellationen. Aus dem anfänglichen Nebeneinander des Marschierens und der Sprechchöre entwickelten sich so Gespräche, Diskussionen und gemeinsame Aktionen. Die verbreitete Frustration über die politischen Verhältnisse und die daraus erwachsene gemeinsame Opposition gegen das Mubarak-Regime gaben diesem Zusammensein einen spontanen politischen Rahmen. Dieses Gefühl des Dabei-Seins und die Dynamik des Zusammen-Handelns gingen über das hinaus, was die jungen Bloggerinnen und Blogger aus den sozialen Medien kannten. Deswegen überwog unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Wahrnehmung, dass die Zeit der Besetzung des Tahrir-Platzes ein außerordentliches Erlebnis war, das von einer Atmosphäre beherrscht und einem Geist durchdrungen war, der auch für die Zukunft verpflichtet. Noch einmal soll an dieser Stelle abschließend aus den Aufzeichnungen von Soueif zitiert werden: If we, the pro-democracy movement, win this battle, the spirit that inspires Tahrir will pervade the country. In the Midan [al-Tahrir], every shade of the political spectrum is represented. […] Our society is rich and complex and varied and we revel in it. The people are so way ahead of their government. If you could see my nieces hanging banners from balconies […] you would know beyond a shadow of doubt: Egypt deserves its place in the sun – out of the shadow of this brutal regime. (2012, 141f.)
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Präsenz und Raum in der Arabischen Revolte — Ägypten im Jahr 2011
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Pädagogik
Präsenzerfahrungen in der Pädagogik Jörg Zirfas
E INLEITUNG Die folgenden Überlegungen nehmen pädagogische Theorien und Modelle der Präsenzerfahrungen in der Moderne in den Blick. Diese Erfahrungen, die in der Regel nicht mit dem Begriff »Präsenz«, sondern mit Begriffen wie Gegenwart, Gegenwärtigkeit, Augenblick oder Ereignis bezeichnet werden, erscheinen für die moderne Pädagogik in mehrfacher Hinsicht bedeutsam, denn sie markieren nicht nur den Ausgangspunkt und das Ziel von Erziehung und Bildung, sondern legitimieren auch ihre Formen und bestimmen ihre Inhalte. Dabei wird das erzieherische Rekurrieren auf Präsenz fast durchweg positiv verstanden, d.h. Präsenz wird kaum mit der negativen Plötzlichkeit, dem Erschrecken, dem choc, dem Sprung zwischen Gegensätzlichkeiten oder dem Umschlag in das nicht intendierte Andere in Verbindung gebracht. Dieser Sachverhalt gründet in einem historisch gut dokumentierbaren Verständnis von Erziehung und Lernen, das oftmals mit Kontinuitäten, Stetigkeiten und Weiterentwicklungen operierte, um die intendierten Wirkungen einer vor allem moralischen Bildung nicht zu gefährden. Da die Pädagogik als eine Wissenschaft gelten muss, für die eine optimistische Perspektive der Bildsamkeit eine regulative conditio sine qua non ist, werden erzieherische Entscheidungsmomente und selbst krisenhafte Augenblicke eher in ein (ggf. dialektisch verstandenes) Entwicklungsmodell integriert, denn als Reaktion auf pädagogisches Scheitern konzipiert. Und selbst ein Eingeständnis des Scheiterns enthält implizit noch Möglichkeiten seiner Überwindung – kann man doch durch Schädigungen aller Art bekanntlich klug werden. In dieser Pädagogik der stetigen Vorgänge, sei sie nun als (technisches) Herstellen oder als (natürliches) Wachsenlassen gedacht, sind die negativen unsteten erzieherischen Vorgänge der Krise, der Erweckung, der Ermahnung, der Beratung, der Begegnung, des Wagnisses und des Scheiterns – kurz: pädagogisch wenig beherrschbare Krisenerfahrungen der Präsenz – bislang kaum thematisch geworden (Bollnow 1959). Es wäre an dieser Stelle genauer herauszuarbeiten, ob und inwieweit der pädagogische Diskurs der Präsenz auf eine nachmetaphysische Pädagogik angewiesen
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ist, in der der Eigenzeit des Kindes, in ihren normativen, aber auch empirischen Implikationen, eine größere Bedeutsamkeit eingeräumt wird (vgl. Mollenhauer 1986). In einem Punkt ist die Gegenwärtigkeit allerdings in hohem Maße durch die Moderne bedingt, nämlich dort, wo sie, mit der Aufklärung ansetzend, das radikal Neue in der Erziehung fordert. Die Präsenz kann in der Neuzeit deshalb als neu und einzigartig betrachtet werden, weil sich im 18. Jahrhundert ein Begriff von Neuheit durchzusetzen begann, der nicht schon auf das feststehende Muster eines quasi naturalen Erfahrungshintergrundes abhob, indem er die Erkenntnis des Gewesenen und die Erwartung des Kommenden kurzschloss: »[S]ei es, dass sich die Geschichten strukturell wiederholen, sei es, dass sich vor dem Ende der Welt nichts grundsätzlich Neues mehr ereignen könnte« (Koselleck 1995: 311). Nunmehr wird eine Differenz von Erfahrung und Erwartung bedeutsam, in der die Zeit nicht mehr die alle Geschichten bestimmende Form bildet, weil sich in ihr selbst die Geschichte und das Neue abspielen. Entsprechend kann auch der Gedanke einer radikalen Präsenz in der Pädagogik erst im 18. Jahrhundert gedacht werden; er wird vor allem im Neuhumanismus und in der Romantik bestimmendes Gedankengut der Erziehung. Wenn im Folgenden von Präsenzerfahrungen die Rede ist, so werden diese im Rahmen von (normativen) Modellen des Lernenden angesprochen, der neue Erfahrungen machen kann. Damit wird hier ein Modell von Erfahrung angenommen, das die »gewohnte Erfahrung« ausschließt. Erfahrungen zu machen bedeutet, einen distanzierten und distanzierenden, reflexiven Akt zu vollziehen, der tendenziell schon über die gewohnten Anschauungen hinausgeht. Somit sind Erfahrungen ausgeschlossen, die nur Bekanntes registrieren. Erfahrungen, die mehr sind als bloße Wiederholungen von gelebten und erlebten Momenten, beginnen mit einem »Anderen«, »Fremden«, das die gewohnte Codierung der Erfahrung in Frage stellt: etwas ist anders, fällt uns auf, stört uns etc. Gewohnte bzw. bekannte Erfahrungen könnte man dagegen als (einfache) Wahrnehmungen oder als Kondensate von Wahrnehmungsmustern bezeichnen. Erfahrungen machen bedeutet Transformationen von (zeitlichen) Erfahrungsmustern bewirken. Dies gilt auch und gerade für die Erfahrung von Zeitlichkeit bzw. Präsenz: Zeitliches kann nur erfahren werden. Erfahren ist als Vorgang ein Innewerden von Anderswerdendem im eigenen Anderswerden. ›Ergriffen werden‹, ›mitgerissen werden‹, ›beglückt werden‹, ›angesprochen werden‹, ›erschreckt werden‹ sind sinnfällige Ausdrücke für das eigene Mithineingenommenwerden von dem, was an Zeitlich-Seiendem erfahren wird. […] Wo Zeitliches erfahren wird, werden wir mit dem so Erfahrenen anders. (Perpeet 1970: 254)
Wie wurden nun Präsenzerfahrungen in der Pädagogik seit der Neuzeit verstanden? Hierzu sollen chronologisch und exemplarisch die Konzeptionen der Imagination des Glücks bei Rousseau, der Gegenwärtigkeit im Spiel bei Schleiermacher, der ästhetischen Kontemplation bei Schopenhauer, der Polarisation der Aufmerksamkeit bei Montessori, des fruchtbaren Moments bei Copei und der Präsenz als
Präsenzerfahrungen in der Pädagogik
Gabe bei Derrida untersucht werden.1 In den hier diskutierten pädagogischen Modellen der Präsenzerfahrung sind die Erfahrung der Präsenz und die Erfahrung in der Präsenz nicht immer scharf trennbar, was nicht begrifflichen Ungenauigkeiten, sondern phänomenalen Gegebenheiten geschuldet ist.2
R OUSSE AU UND DAS IMAGINÄRE G LÜCK DER › REINEN ‹ P R ÄSENZ Mit Jean-Jacques Rousseau (1712-1784) beginnt die Pädagogik konsequent die Problematik der Gegenwärtigkeit zu reflektieren. Denn seine Pädagogik zielt darauf ab, das Glück der Gegenwart ebenso zu gewährleisten, wie das Glück der Zukunft des Zöglings; anders gesagt soll das Glück der Zukunft durch dasjenige der Gegenwart etabliert und vermittelt werden. »Die Mutter will, daß ihr Kind glücklich ist, und zwar sofort. Hierin hat sie recht […]« (Rousseau 1990: 108, Anm.). Denn die antizipierte glückliche Zukunft könnte (dies ist angesichts der hohen Kindersterblichkeit im 18. Jahrhundert ein durchaus realistischer Gedanke) nicht eintreten, und somit wären bei einer Nichtorientierung an einem gegenwärtigen Glück sowohl die Kindheit als auch das Erwachsenenalter Zeiten des Unglücks: »Was soll man daher von dieser barbarischen Erziehung denken, die die Gegenwart einer ungewissen Zukunft opfert, die ein Kind mit allen möglichen Fesseln bindet und es allmählich unglücklicht macht, um ihm für eine ferne Zukunft irgendein angebliches Glück zuzubereiten, das es höchstwahrscheinlich nie genießen wird?« (ebd.: 184). Erziehung, die ihr Ziel im Erwachsenen und nicht im Kind findet, dezentriert die kindliche Erfahrung und macht unmöglich, worauf es Rousseau ankommt, nämlich eine glückliche Selbstbeziehung (Zirfas 1993: 341ff.). In der Fixierung auf die Zukunft wird die Gegenwart entwertet, weil sie für jene vergeudet wird. Die »größte, wichtigste und nützlichste Regel jeglicher Erziehung« lautet für Rousseau deshalb, »Zeit [zu] verlieren und nicht [zu] gewinnen« (Rousseau 1990: 212). Mit dieser Pädagogik des Verweilens wird die Präsenz selbst nur als Verzögerung im Dienste der vollendeten Selbstbeziehung begriffen und eben deshalb ganz als Mittel für die Gestaltung der Zukunft benutzt. Ein Modell für eine geglückte Selbstbeziehung, die dem Primat der Gegenwärtigkeit verpflichtet ist, liefert Rousseau in seinen »Träumereien« (1988). Rousseau geht es hier darum, zu zeigen, dass der Mensch sich dann glücklich fühlt, wenn es ihm gelingt, die Einbildung im Schnittpunkt der Selbstpräsenz festzuhalten. In Augenblicken ohne zeitliches Bewusstsein, in denen sich der Mensch vollkommen 1 | Vgl. die Untersuchungen von Ursula Pfeiffer, die sich dem »Augenblick und seiner Stellung in der Zeit« widmen, wobei sie überwiegend auf philosophische (Arendt, Rombach, Theunissen, Gadamer) und kaum auf pädagogische Modelle (Prange) eingeht (2007: 119ff.). 2 | Die dauerhafte Erfahrung einer Jetzt-Zeit liefert den Menschen einer Ewigkeit des Zeitlichen aus; dieser Zustand ist konstitutiv für Psychopathologien der Zeit, die sich in Depression und Melancholie niederschlagen (vgl. Theunissen 1991: 218ff.).
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dem Gefühl der Gegenwärtigkeit seiner selbst hingeben kann, währt ein Zustand des Glücks. Gibt es aber einen Zustand, in dem die Seele eine hinlänglich feste Lage findet, um sich darin ganz auszuruhen und sich darin ganz zu sammeln, ohne in die Vergangenheit zurückzublicken oder in die Zukunft vorgreifen zu müssen, wo alle Zeit ihr gleichgültig ist, wo das Gegenwärtige immer fortdauert, ohne aber seine Dauer merken zu lassen, und ohne irgendeine Spur von Aufeinanderfolge, ohne irgendein Gefühl der Beraubung oder des Genusses, der Freude oder des Kummers, des Verlangens oder der Furcht, bloß auf das Gefühl unseres Daseins eingeschränkt, welches Gefühl die Gegenwart ganz erfüllte: solange dieser Zustand währt, kann der, der sich darin befindet, sich glücklich nennen […]. (Ebd.: 699)
In der Imagination wird die Zeit aufgehoben in einer imaginären Präsenz, die Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart in einem Augenblick – »der Ewigkeit ohne Langeweile« (ebd.: 693) – verdichtet.3 So kann das, was man in der Phantasie erfährt, auch nicht etwas Zeitliches sein, denn dies würde das vollkommene Gefühl der Gegenwart sofort aufheben. Dazu verurteilt, Gegenwart zu bleiben und doch »zukünftige Vergangenheit« werden zu wollen, bleibt das Glück der Präsenz in sich gespalten.4 Dazu verurteilt, das Lebensglück zu sein, ohne das zeitliche Leben glücklicher zu machen, beschreibt die Imagination ein ekstatisches Erlebnis (ebd.: 649), dem in seiner Ekstase das Leben sich zum Sein »verflüchtigt«. »Und was genießt man in einer solchen Lage? Nichts, das außer uns selbst wäre, nichts als sich selbst und sein eigenes Dasein, und solange dieser Zustand währt, ist man, wie Gott, sich selbst genug. Das Gefühl des Daseins, von jeder anderen Empfindung entblößt, ist an sich selbst ein köstlicher Genuß der Zufriedenheit und Ruhe […]« (ebd.: 699). Das Selbst, das Gefühl des Daseins an sich selbst, das man in der Träumerei genießt, gleicht der Unmittelbarkeit der reinen Selbstbeziehung. Die Funktion der Einbildung ist es, sich selbst durchsichtiger zu machen, sich selbst unmittelbar fühlbar werden zu lassen. Ihr Sinn liegt nicht in ihrer Erfüllung eines Wunsches, 3 | Ein Modell, das wir in der Neuzeit auch bei Sigmund Freuds Theorie der zeitlichen Kompetenz der Phantasie wieder finden: »Das Verhältnis der Phantasie zur Zeit ist überhaupt sehr bedeutsam. Man darf sagen: eine Phantasie schwebt gleichsam zwischen drei Zeiten, den drei Zeitmomenten unseres Vorstellens. Die seelische Arbeit knüpft an einen aktuellen Eindruck, einen Anlaß in der Gegenwart an, der imstande war, einen der großen Wünsche der Person zu wecken, greift von da aus auf die Erinnerung eines früheren, meist infantilen, Erlebnisses zurück, in dem jener Wunsch erfüllt war, und schafft nun eine auf die Zukunft bezogene Situation, welche sich als die Erfüllung jenes Wunsches darstellt, eben den Tagtraum oder die Phantasie, die nun die Spuren ihrer Herkunft vom Anlasse und von der Erinnerung an sich trägt« (1908: 174). 4 | »Das Paradox der Phantasie: sie allein weckt oder reizt den Wunsch, doch sie allein übersteigt oder teilt in derselben Bewegung und aus demselben Grund die Präsenz« (Derrida 1983: 532).
Präsenzerfahrungen in der Pädagogik
sondern in dem durch sie erreichbaren und erreichten unmittelbaren (formalen) Gefühl der Authentizität, des Bei-sich-selbst-Seins. In der ästhetischen Erfahrung der Phantasie scheint für Rousseau die Möglichkeit auf, sich des »Gefühls zu sein« zu vergewissern (Winnicott 1997: 94, 99). Dieses ›pure‹ Gefühl des Daseins hat keinen Inhalt, keine Geschichte; es ist raum- und zeitlos, es hat keine Sorgen, keine Ängste, keine Schmerzen, keine Hoffnung. Ganz dem gegenwärtigen Augenblick gehörig, erinnerte ich mich an gar nichts, ich hatte keinen deutlichen Begriff von meinem Individuum, nicht die mindeste Vorstellung dessen, was mir begegnet war, ich wußte weder wer, noch wo ich war, fühlte weder Weh noch Furcht, noch Unruhe […]. Ich fühlte in meinem ganzen Wesen eine beglückende Stille, mit der, so oft ich mich an sie erinnern kann, alle Wirkung der mir bekannten Vergnügungen nicht zu vergleichen ist. (Rousseau 1988: 652)
Die Phantasie vermittelt die Basis eines Selbstgefühls, das als Grundlage der Selbststeigerung und -vervielfältigung fungiert. In ihrer höchsten Potenz beraubt sich nach Rousseau die Phantasie ihrer ureigensten Eigenschaft des Bilderproduzierens, um über sich hinaus zurückzukehren zu jenem »sentiment naturel« des solitaire, das von keinem Bild je erreicht werden kann, da es durch das Bild vernichtet wird. Diese Form der Selbstvergegenwärtigung ist keine integrale, sondern eine durchgängig kontingente, die gleichsam die Fülle der Vergänglichkeit ausschöpft. Sie erinnert an die aionische Lebenszeit, wie sie von Hans-Georg Gadamer charakterisiert wird: Der Aion ist umfassend, ohne Teile zu umfassen. In ihm ist alles zugleich. Er ist volle Gegenwärtigkeit, in der keine Zukunft aussteht oder der keine Vergangenheit abgeht. Sein Sein ist nicht leblose Präsenz, sondern eine unendliche Möglichkeit oder Potenz (нƤƨƯƮư ƣхƬƠƫƨư), in gewisser Weise also doch vieles, wie das Samenkorn oder wie der Punkt es auf ihre Weise auch sind. (1993: 291)
Mit der ästhetischen Präsenz ist hier nicht das Jetzt einer linearen Zeit oder die Plötzlichkeit, das Erschrecken und der metabolische Bruch gemeint. Diese Präsenz besteht auch nicht wie in der integralen Präsenz aus einer Reduktion von Vergangenheit und Zukunft auf die Gegenwart, sondern Präsenz meint hier die Zeit der Fülle und die Fülle der Zeit, meint das sich der Zeit mimetisch Angleichen, das einem die unverfügbaren menschlichen Möglichkeitsbereiche erahnen lässt. Diese werden bei Rousseau zum einen mit einer omnipotenten Geste und zum anderen mit einem Authentizitätsversprechen aufgeladen.
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S CHLEIERMACHER UND DIE G EGENWART IM S PIEL Rousseaus Maxime, derzufolge es in der Erziehung darum gehe, Zeit zu verlieren, wurde spätestens dann problematisch, als man sich die Frage stellte, inwieweit es überhaupt legitim sei, die Zeit der Kinder für pädagogische Hoffnungen in Anspruch zu nehmen. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834) setzt an dieser temporalen Frage an. In seiner Sicht kommt man pädagogisch nicht umhin, Anfang, Dauer und Ende der Erziehung festzulegen, um so nicht nur die pädagogischen Aspirationen zu konkretisieren, sondern die Erziehung selbst operationabel und funktional gestalten zu können. Schleiermacher geht davon aus, dass das Zeitbewusstsein des Kindes entscheidend dafür ist, ob und wie dieses sich symbolische, soziale und kulturelle Traditionen aneignet, wie es sich selbst im Augenblick begreift und versteht und wie es seinen Selbstentwurf in die Zukunft hinein bestimmt (vgl. Mollenhauer 1981: 70). Im Sinne eines anthropologischen Faktums wird schließlich betont, dass Kinder »ganz in der Gegenwart« leben (Schleiermacher 1983: 81). Für Schleiermacher, der diese Problematiken als einer der ersten systematisch erziehungswissenschaftlich thematisiert, gibt es ein Modell, das diese temporalen Problematiken auf den Punkt bringt, nämlich das Spiel (ebd.: 81ff.).5 Denn das Kennzeichen eines gelungenen Spiels ist das Bewusstsein der Entwicklung. Insofern kann Schleiermacher die Gegenwart mit der Vergangenheit, aber vor allem mit der Zukunft verbinden, denn diese gehört als unabdingbare Voraussetzung zur Erziehung. Dabei erscheinen Entwicklung und Bildung bei Schleiermacher immer als unabhängig von einer chronologischen Zeit und situiert in einer Sphäre freier wechselseitiger Einwirkungen (vgl. Zirfas 2001). Leitend für diese Bildungs- und Erziehungstheorie ist nach Schleiermacher die ethische Theorie einer Förderung jeden Lebensmoments, denn die Gegenwart – als einzelner Moment, aber auch als eine zeitliche Reihe betrachtet – darf nicht der Zukunft geopfert werden. Wenn Schleiermacher die Aneignung eines Zeitbewusstseins durch das Kind plausibel zu machen versucht, setzt er voraus, dass Bewusstsein wesentlich temporales Bewusstsein ist, das sich symmetrisch vom Gegenwartsbewusstsein sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft er-
5 | Ein weiterer wichtiger Theoretiker in diesem Zusammenhang ist Hans Scheuerl, der in seiner rekonstruktiven Strukturanalyse des Spiels – Scheuerl arbeitet sechs Merkmale des Spiels heraus, nämlich: Freiheit, Unendlichkeit, Schicksalhaftigkeit, Ambivalenz, Geschlossenheit und Gegenwärtigkeit – die hier als Präsenz bestimmte Spielerfahrung unter dem Begriff »Gegenwärtigkeit« fasst (1954: insb. S. 69ff.). Mit diesem Titel ist nach Scheuerl die Kehrseite von Zweckfreiheit, Unendlichkeit und Scheinhaftigkeit gemeint, nämlich die Zeitenthobenheit, die stehende Bewegtheit des Spiels. Wenn Scheuerl von »Unendlichkeit« spricht, so verweist er darauf, dass das Spielen einen Ewigkeitscharakter hat, auf ständige Wiederholung und auf möglichste Ausdehnung in der Zeit angelegt ist: Man kann sich nicht satt spielen.
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weitert (vgl. Schleiermacher 1983: 83).6 Die Verbindung von Gegenwärtigkeit und Zukunftsbewusstsein gelingt Schleiermacher dann auf verblüffend einfache Weise: »Die Lebenstätigkeit, die ihre Beziehung auf die Zukunft hat, muß zugleich auch ihre Befriedigung in der Gegenwart haben; so muß auch jeder pädagogische Moment, der als solcher seine Beziehung auf die Zukunft hat, zugleich auch Befriedigung sein für den Menschen, wie er gerade ist« (ebd.: 84). Diese Lebenstätigkeit ist für Schleiermacher das Spiel, »die Befriedigung des Moments ohne Rücksicht auf die Zukunft« (ebd.: 86), in dessen Rücken doch gleichsam die ›List der Zukunft‹ in Gestalt der Übung als Funktionalität der Wiederholung und vor allem als Potenzialität der Entwicklung präsent ist. Im Spiel bekommt die Zeit gleichsam einen Inhalt und wird doch aufgehoben; in ihm lässt sich Bestehendes mit Veränderungen verknüpfen (vgl. Zirfas 2004).7 Die Erfahrungen des Spiels betonen die Momente des Zeitlichen und Werdenden, der Veränderung und des Übergangs, den fragilen Charakter von Entwicklungsprozessen, das Angewiesensein des Vorscheins auf die Vergangenheit und das Selbstbewusstsein, das sich auf die eigenen Dispositionen und Disponibilitäten bezieht. Bildung ist dann der Gang einer fortschreitenden Entwicklung, die ihren Ausgangspunkt in der befriedigenden Gegenwart des Spiels nimmt und die durch die an der Zukunft orientierte Übung weiter verfolgt wird. »Ist der Mensch sich der Entwicklung bewußt, so ist das zugleich Befriedigung der Gegenwart und der Zukunft« (Schleiermacher 1983: 87). Damit wird die Präsenzerfahrung als ein In-der-Gegenwart-Sein zu einem kontinuierlichen Zeiterleben, einer andauerndpräsenten Befriedigung, die eine radikale zeitliche Differenzerfahrung verhindert: »Die ganze Erziehung ist eine Reihe solcher befriedigten Momente, deren einer in den anderen übergeht« (ebd.: 85). Man kann diese Idee durchaus für einen überspannten pädagogischen Präsentismus halten, der danach strebt, das sich entwickelnde kindliche Zeiterleben mit dem pädagogischen Programm eines ethischen Fortschritts im Spiel zu vermitteln. Spielen bedeutet nach Schleiermacher, seinen Tätigkeiten freien Lauf lassen (ebd.: 217). Spielen eröffnet somit die Möglichkeiten der Selbsterfahrung und des Selbstbewusstseins. Und man könnte sagen, dass diese Erfahrung der Selbstständigkeit durch die Konzentration auf die Präsenz im Spiel realisiert wird. Denn die auf die Gegenwart fokussierten spielerischen Erfahrungen vermitteln mir, dass ich es bin, der dieses Leben zu führen hat, dass ich es bin, der es zeitlich strukturiert, dass ich es bin, der dieser Strukturierung Bedeutung verleiht und dass ich es bin, 6 | Vgl. die – diese Thesen Schleiermachers stützenden – empirischen Untersuchungen von Jean Piaget (1955) und die Notizen von Barbara Sichtermann (1981). 7 | »Der sinnliche Trieb will, daß Veränderung sei, daß die Zeit einen Inhalt habe; der Formtrieb will, daß die Zeit aufgehoben, daß keine Veränderung sei. Derjenige Trieb also, in welchem beide verbunden wirken […] der Spieltrieb also würde dahin gerichtet sein, die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität zu vereinbaren« (Schiller 1984: 178, 14. Brief).
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der hierbei eine Veränderung erfährt. Im Spielen kommt somit eine schöpferische Zeit zum Ausdruck, die die Vergangenheit mit der Gegenwart im Hinblick auf die Zukunft verknüpft, weil sich in ihm der Zusammenhang von Erinnerung, Vergegenwärtigung und Vorahnung, und damit die Möglichkeit, Übergänge zu schaffen, entfalten lässt.8 Denn das dreidimensionale Zeitmodell von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist gleichsam zentriert in der Gegenwart und aufgespannt in die Richtungen des Vergangenen und Zukünftigen.9 Weil die Erfahrungen in der Gegenwart in sich sinnvoll und befriedigend sind, und gleichzeitig die Möglichkeit von Zukunft vorbereiten, darf die Gegenwart pädagogisch nicht mit der Zukunft verrechnet werden (vgl. Koch 2001: 16ff.).
S CHOPENHAUER UND DIE P R ÄSENZ DER Ä STHE TISCHEN K ONTEMPL ATION Die ästhetische Erfahrung wird oftmals als Erfahrung der Vergegenwärtigung bestimmt, als ein Verweilen, das mit dem Fluss der Zeit nicht mitgeht, als ein Aufwachen, Erwecken, ein Sprung, ein Schock oder eine Plötzlichkeit. Auch hier geht es also um eine zeitliche Erfahrung, die als Sich-heraus-Reißen aus der Zeit beschrieben werden kann. Genau genommen kann man an der Erfahrung des ästhetischen Verweilens zwei Zeitbezüge festhalten, einen negativen, der darauf abhebt, dass man sich vom Fluss der Zeit losreißt, und einen positiven, der das Aufgehen in der Sache als Präsenz bestimmt (vgl. Theunissen 1991: 285ff.). Ästhetische Erfahrung bedeutet, so betrachtet, ein Stillstellen des Beobachters und des Gegenstandes, ein Anhalten der Bewegung von Subjekt, Objekt und ihrer Beziehung. Man befreit sich zunächst vom Modus des Bestimmenwollens und -müssens in theoretischer, praktischer oder utilitaristischer Perspektive, um dann in der Reflexion die Zusammenhänge von Wahrgenommenem, Wahrnehmung und begrifflicher Bestimmung neu zu konstituieren. 8 | In den Worten von Winnicott: »Der wesentliche Aspekt des Spielens liegt darin, daß es stets mit einem gewissen Wagnis verbunden ist, das sich aus dem Zusammenwirken von innerer Realität und dem Erlebens der Kontrolle über reale Objekte ergibt. […] Dennoch bewerten wir Spiel und Kulturerfahrung ganz besonders hoch, denn sie verbinden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft« (1997: 59, 126). 9 | Bei Augustinus findet sich diese Zentrierung am prägnantesten, wenn er von praesentia de praeteritis, praesentia de futuris und praesentia de praesentibus, oder von memoria, expectatio und contuitus (Augustinus 1988, Buch XI) spricht. Doch in allen Zukunfts- wie Vergangenheitsbestimmungen wird deutlich, dass die Gegenwart im Vergleich zur Zukunft – aber auch zur Vergangenheit – einen Vorrang genießt. »Denn nur als zukünftige Gegenwart entfaltet die Zukunft sich in eine zukünftige Vergangenheit und eine zukünftige Zukunft; nur als vergangene Gegenwart umschließt die Vergangenheit eine vergangene Zukunft und eine vergangene Vergangenheit« (Theunissen 1991: 152).
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Die ästhetische Theorie der Kontemplation von Arthur Schopenhauer (17881860) ist hier ein signifikantes Beispiel. Die Kontemplation ist für Schopenhauer eine doppelte Bewegung, eine des Subjekts und eine des Objekts. Das erhabene Objekt auf der Gegenstandsseite entspricht dem inneren Zustand des Subjekts auf der anderen Seite. Das Objekt wird herausgerissen aus allen Relationen, die sich insgesamt zurückführen lassen auf den eigenen Willen; es wird herausgerissen aus dem Wo, dem Wann, dem Warum und dem Wozu, d.h. es wird losgelöst aus Raum, Zeit und Kausalität. Ebenso wird das Subjekt »gereinigt« von allen Beziehungen zum Willen; das Subjekt wird »reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntniß« (Schopenhauer 1982: 232). Die Welt als Vorstellung tritt in der Kontemplation rein und vollkommen hervor, da das Subjekt von ihr ganz durchdrungen erscheint: »[I]n ihr halten sich aber Beide ganz das Gleichgewicht: und wie das Objekt auch hier nichts als die Vorstellung des Subjekt ist, so ist auch das Subjekt, indem es im angeschauten Gegenstand ganz aufgeht, dieser Gegenstand selbst geworden, indem das ganze Bewußtseyn nichts mehr ist, als dessen deutlichstes Bild« (ebd.: 233). Schopenhauers Theorie der ästhetischen Erfahrung bezieht sich auf eine unauflösbare, ununterscheidbare Einheit von Gegenstand und Betrachter. Seine Theorie zielt statt auf Simultaneität als Kontrast zwischen Zeit und Ewigkeit, auf die Zeitlosigkeit der Kontemplation selbst. Er betont dabei die Bewusstlosigkeit der Differenz von Stoff (Wille) und Form (Vorstellung) und beschreibt die Differenzlosigkeit im Sichverlieren an den Gegenstand, als Zusammenfallen von Subjektivität und Objektivität. Darüber hinaus weiß der Mensch sich in der ästhetischen Erfahrung als kontemplativ, er sieht und bezieht sich im Sehen auf sich selbst, so dass er in der Selbstreflexion des Sehens über die Realität hinaus gelangt. In den Termini von Martin Seel lässt sich hier davon sprechen, dass die ästhetische Erfahrung als kontemplative die korresponsive Erfahrung zugunsten einer imaginativen (metaphysischen) Erfahrung übersteigt (vgl. Seel 1991: Kap. 1-3, 2000: 148ff.). Im Jetzt der Kontemplation wird das Ineinanderübergehen von Selbst und Welt für den Betrachter erfahrbar. Dieses Losreißen von der Bewegung der Zeit kann man als eine Erfahrung des Sich-Zurücknehmens-aus-der-Zukunft und ein Sich-von-der-VergangenheitBefreien interpretieren. Die ästhetische Erfahrung als Kontemplation lässt sich als ein Aufgehen in der Gegenwart als ästhetisches Glück des Erlebens des Augenblicks verstehen. Im ästhetischen Verweilen bricht die Ewigkeit in die Gegenwärtigkeit ein. Darin liegt auch das utopische Moment der ästhetischen Erfahrung. Dieses Verweilen ist eine Befreiung von der Zeit, keine Befreiung durch sie. In der vollkommenen ästhetischen Gegenwart, der integralen Präsenz, ist jegliche Zeit erloschen, jede irreversible und reversible Vorstellung von Zeit dem Gedanken der Ruhe und Sicherheit gewichen. Eine ästhetische Präsenzerfahrung bedeutet, so betrachtet, ein Herausnehmen aus der Zeit, um die zeitlichen Vollzüge des Geschehens umso intensiver erleben zu können. Die ästhetische Erfahrung gewährt somit eine Simultanität der Zeiten. Dabei wird deutlich, dass im Zusammenhang
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vom Aufgehen in der Sache und Nichtmitgehen mit der Zeit eine flüchtige Affirmation der humanen Präsenz aufscheint, die uns die Unverfügbarkeit und Unbestimmbarkeit der menschlichen Gegenwärtigkeit erfahrbar macht (Seel 2000: 9).
M ONTESSORI UND DIE P OL ARISATION DER A UFMERKSAMKEIT Maria Montessori (1870-1952) steht mit ihrer Thematik der Polarisation der Aufmerksamkeit in einer Geschichte des pädagogischen Denkens, das vor allem den Wendepunkt, die Entscheidung, den revolutionären Sprung und den Neuanfang in der Pädagogik betont. In der Geschichte der Pädagogik findet man eine Fülle von Erziehungsmodellen, die mit der Ansicht einhergehen, dass man von Grund auf neu anfangen müsse, weil die bisherigen Versuche auf einer falschen Anthropologie, einer verfehlten Ethik oder einer lückenhaften Didaktik basierten. Von Platon über Montessori bis hin zur community education geht es mithin immer um eine neu anfangende Pädagogik (vgl. de Haan 1996: 246ff.). Zur Veranschaulichung und Legitimierung dieses Denkens zitiert sie immer wieder eine Beobachtung, die nicht nur unter dem Begriff der Polarisation der Aufmerksamkeit, sondern – in der Sekundärliteratur – auch unter dem des Montessori-Phänomens firmiert: Die erste Erscheinung, die meine Aufmerksamkeit auf sich zog, zeigte sich bei einem dreijährigen Mädchen, das damit beschäftigt war, die Serie unserer Holzzylinder in die entsprechenden Öffnungen zu stecken und wieder herauszunehmen. Diese Zylinder ähneln Flaschenkorken, nur haben sie genau abgestufte Größen, und jedem von ihnen entspricht eine passende Öffnung in einem Block. Ich erstaunte, als ich ein so kleines Kind eine Übung wieder und wieder mit tiefem Interesse wiederholen sah. Dabei war keinerlei Fortschritt in der Schnelligkeit und Genauigkeit der Ausführung feststellbar. Alles ging in einer Art unablässiger gleichmäßiger Bewegung vor sich. […] Auch wollte ich feststellen, bis zu welchem Punkt die eigentliche Konzentration der Kleinen gehe, und ich ersuchte daher die Lehrer, alle übrigen Kinder singen und herumlaufen zu lassen. Das geschah auch, ohne daß das kleine Mädchen sich in seiner Tätigkeit hätte stören lassen. Darauf ergriff ich vorsichtig das Sesselchen, auf dem die Kleine saß, und stellte es mitsamt dem Kinde auf einen Tisch. Die Kleine hatte mit rascher Bewegung ihre Zylinder an sich genommen und machte nun, das Material auf den Knien, ihre Übung unbeirrt weiter. Seit ich zu zählen begonnen hatte, hatte die Kleine ihre Übung zweiundvierzigmal wiederholt. Jetzt hielt sie inne, so als erwachte sie aus einem Traum, und lächelte mit dem Ausdruck eines glücklichen Menschen. (Montessori 1992: 124)
Was hier beschrieben wird lässt sich als eine besondere Form von Präsenz, nämlich als einen absoluten Anfang bestimmen (Sünkel 1994: 98). Absolut deshalb, weil hier eine Situation der reinen pädagogischen Potenzialität gegeben zu sein scheint, in der die Erziehung als Vermittlungsmaßnahme bis hin zum Selbstständigwerden des Zöglings ihren zunächst völlig unbestimmten und offenen Ausgang
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nimmt. Erziehung aber kann nicht offen bleiben, wenn Entwicklungsprozesse in Gang kommen sollen; anders formuliert: die bloße Präsenz sagt nichts darüber aus, wie Erziehung als kommunikative Vermittlung strukturiert und gestaltet werden muss. Erziehung bedenkt daher in der Regel nicht die reine Potenzialität der offenen Anfänge, sondern eher die gefilterte Potenzialität der relativen Anfänge, seien es ergänzende wie der Schulanfang10 oder die Konfirmation, oder seien es korrektive Neuanfänge, wie sie durch die Geschichte der Pädagogik immer wieder zu beobachten sind. Nicht von Geburt an, wie bei Rousseau, und auch nicht so früh als möglich, wie bei Pestalozzi, sollen die Kinder nach Montessori pädagogische Betreuung finden. Die Pädagogik Montessoris lebt vom Glauben an den revolutionären Sprung, mit dem jedes Kind sich als neuer Mensch in die alte Welt versetzen kann. Die umgewandelten Kinder nennt Montessori die »Normalen«, Kinder, die sich durch Konzentration, Arbeit, Disziplin und Soziabilität auszeichnen, während die extrasozialen Kinder launenhaft, unordentlich, schüchtern und faul sind. Die Grenzlinie zwischen diesen beiden Kindergruppen verläuft über die Polarisation der Aufmerksamkeit, einen zeitlichen Nullpunkt, der den Meridian zwischen alt und neu bildet. Das Kind vollzieht in der Präsenz der Aufmerksamkeit an sich einen Übergang, eine Selbstumwandlung, die man als Übergangsritual (im Sinne van Genneps) beschreiben kann. Das Kind löst sich aus seiner gewohnten Umgebung, erfährt in der Konzentration, im zeitvergessenen Augenblick höchster Intensität, eine Umwandlung und gliedert sich danach wieder in die Umwelt ein. Voraussetzung für dieses Wunder ist eine geeignete Umgebung, geschultes Lehrpersonal und pädagogisches Material: Dann erscheint das wahre Kind: vor Freude strahlend in unermüdlicher Tätigkeit begriffen, denn in seinem Leben ist Tätigkeit gleichbedeutend mit einer Art seelischen Stoffwechsel, womit alle Entwicklung eng zusammenhängt . Von jetzt an verläuft alles gemäß seiner eigenen Wahl: es spricht stürmisch auf bestimmte Übungen an, wie etwa auf die der Stille, es begeistert sich für gewisse Anleitungen, die ihm den Weg zur Gerechtigkeit und Würde weisen. Eifrig nimmt es alles in sich auf, was der Entwicklung seines Denkens förderlich ist. Hingegen weist es andere Dinge zurück: Belohnung, Süßigkeiten, Spielsachen. Ferner gibt es zu erkennen, dass Ordnung und Disziplin ihm lebenswichtige Bedürfnisse und Kundgebungen sind. (Montessori 1992: 143)
Der neue Mensch ist kein Produkt der Pädagogik, sondern lediglich ihre Erscheinung. Normale Kinder sind wie Wunder und dem Pädagogen bleibt lediglich, dieses Wunder wahrzunehmen und anzuerkennen. Das Wunder der Wandlung oder Bekehrung, die Konversion zum Heil, geht letztlich von den Kindern selbst 10 | Man muss hier an die Homogenisierung der Anfänge erinnern (Luhmann 1990). Wie selbstverständlich gehen wir davon aus, dass Kinder zu einem bestimmten Zeitpunkt, nämlich mit fünf oder sechs Jahren, eingeschult werden, und damit als »Lernanfänger« gelten.
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aus. Kinder verkörpern damit die Möglichkeit, die zyklische Erneuerung der Welt immer wieder von vorne zu beginnen. So lauten die Schlusssätze von Kinder sind anders: »Aber das Kind ersteht immer wieder und kehrt immer wieder, frisch und lächelnd, um unter den Menschen zu leben. Wie Emerson sagt: das Kind ist der ewige Messias, der immer wieder unter die gefallenen Menschen zurückkehrt, um sie ins Himmelreich zu führen« (ebd.: 221). Dem Kind kommt in dieser Pädagogik eine Erlösungsqualität zu, weil seine Existenz noch von einer Gegenwärtigkeit gekennzeichnet ist, in der sich Zeit und Ewigkeit verbinden (vgl. Kierkegaard 1923). Weil das Kind Zeit »anders« als ein Erwachsener erlebt, hütet es durch seine Möglichkeiten eines präsentischen Zeiterlebens in der spielenden Konzentration ein fast sakrales Geheimnis dessen, was sein könnte. Gerade die Reformpädagogik zu Beginn des 20. Jahrhunderts knüpft mit Montessori an ein Kinderbild an, in welchem das Kind als neuer Messias erscheint, der für die Menschheit das Heil bedeutet. Hier ist es das Kind, das die Revolution ins Neue hinein anstoßen wird. Insofern vollzieht die singuläre Präsenz nicht nur den Bruch mit der bisherigen, durch die Erwachsenen praktizierten falschen Pädagogik, sondern auch den phylogenetischen Kulminationspunkt einer Entwicklung, die letztlich durch einen kosmischen Schöpfungsplan vorgegeben ist. Dabei geht Montessori durchaus mit der pädagogisch etablierten Idee konform, dass die bisherige Entwicklung der Menschen eine zum Schlechten hin sei, da sie zur Selbst- und Weltentfremdung durch die Herrschaft über die äußeren Dinge geführt habe. Entsprechend werde ein kindgemäßer Ort benötigt, der Kindergarten, ebenso wie kindgemäße Materialien für einen Neuanfang. Die Erneuerung der Erziehung kann die Prozesse bis zu dem Punkt treiben, an dem alles neu und völlig anders wird. Nur durch die theologische Anbindung des Augenblicks, in dem das Kind als neuer Mensch erscheint, bewahrt das Ereignis den Charakter eines tatsächlichen Neuanfangs; nur durch die Manifestation eines göttlichen Willens war die Radikalität des Bruchs garantiert. Mit der Einsetzung des Kindes in die Zeit des vollständigen Neubeginns oblag es dem Kind selbst, völlig frei und schöpferisch zu handeln. (de Haan 1996: 262)
Damit erscheint das Kind als Kind einer höheren Ordnung, bestimmt dazu, eine Menschheit zu bilden. Nunmehr setzt ein neues pädagogisches Verhältnis ein, in der die Erwachsenen von den Kindern lernen: Während jene sich als Irrläufer der Geschichte entpuppen, in deren Fußstapfen sich nur der Verfall verstetigt, erhebt sich die neue Generation sozusagen auf den Trümmern des Fortschritts. Die Kinder werden zu den Eltern der Erwachsenen: »Das Kind ist der Erzeuger der Menschen. Die gesamten Möglichkeiten des Erwachsenen hängen davon ab, inwieweit das Kind diese ihm anvertraute geheime Aufgabe erfüllen konnte« (Montessori 1992: 197). Das Kind wird zum radikalen Erneuerer der Menschheit.11 11 | Die Präsenz des radikalen Anfangs erscheint für Montessori wohl deshalb unumgänglich, weil diese einerseits eine Kontamination mit der bisherigen irrigen Pädagogik
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C OPEI UND DER F RUCHTBARE M OMENT In der Geschichte der Pädagogik findet man eine ganze Reihe von Beschreibungen und Reflexionen solcher »fruchtbaren Momente im Bildungsprozess« (Copei 1963): Sei es in Platons Dialog Menon oder seinem Siebten Brief, sei es in Montessoris Konzept der Polarisation der Aufmerksamkeit – immer zeichnet sich die Produktivität des Lernens dadurch aus, dass man sich von vermeintlich sicherem Wissen löst, stereotype habituelle Reaktionen durchbricht, Erwartungshaltungen konterkariert und so zu neuen Wahrnehmens-, Handlungs- und Wissensstrukturen vorstößt. Im Bildungs-Kairos erfüllt sich die Zeit, hier gelingen fruchtbare Augenblicke. Daher ist auch in der Bildungstheorie der Kairos oft als Ergebnis eines Entwicklungsprozesses, als eine Erfüllung, als Erreichen einer Bildungsstufe, als subjektives Gefühl des Wissens, der Freude und des Glücks bestimmt worden (vgl. Bosshart 1944; Pfliegler 1960). Gelegentlich ging man sogar so weit zu behaupten, dass jeder Augenblick, der nicht sinnvoll in einen integrierten zeitlichen Zusammenhang eingefügt werden kann, nicht zum »Aufbau der gereiften Persönlichkeit« beitragen kann, und somit einem »sinnlosen Schwinden« verfällt (Bollnow 1969: 38, vgl. 25ff.).12 Im Unterschied zu vielen Modellen, die von einer pädagogischen Unverfügbarkeit solcher Momente ausgehen, hebt Friedrich Copei (1902-1945) zumindest partiell auf ihre pädagogische Verfügbarkeit ab. Copei definiert den fruchtbaren Moment als eine Form der sinnhaften Indifferenz, in dem sich ein äußerer, vorgegebener Sinn mit einer inneren, sich entwickelnden Struktur zusammenschließt: »[D]ie Verschmelzung von Subjekt und Objekt« endet dann in Formen »tiefster und lebendigster Sinnerfassung und Sinngestaltung« (1963: 86, 101). Man kann diesen Augenblick mit Johannes Bilstein auch als ekstatischen Moment im Bildungsprozess bestimmen, in dem sich ein Mensch durch Erschütterungen unterschiedlichster – intellektueller, ethischer, ästhetischer und religiöser – Art dazu veranlasst sieht, sein Leben ändern zu müssen (2004: 298ff.). In der Konzentration auf die teils erlittene, teils selbst herbeigeführte Erfahrung als Konfrontation mit einem Anderen, Fremden und Neuen emergiert die Lösung eines Problems, und zwar oftmals dann, wenn man es nicht erwartet. Man kann den ganzen Prozess als die allmähliche Klärung einer dunkeln Intention – oder Intuition – bis zum Punkte des Aufleuchtens bezeichnen. Er ist zugleich der Anschmiegungsprozess des Denkens an die Sache, im ›fruchtbaren Moment‹ verschmelzen beide, vermeidet – und damit das pädagogische Paradox, die neue Erziehung mit den alten Erziehern bewerkstelligen zu müssen, umgeht –, und weil diese andererseits immer wieder für eine fundamentale Erneuerung, d.h. für eine sinnvolle und richtige Zukunft der Menschheit, sorgt und damit die ggf. erlahmenden revolutionären Kräfte jeweils neu »entbindet«. 12 | Vgl. auch die Überlegungen von Hans Blumenberg zum Lebenszeitaugenblick mit seinem unmittelbaren Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft (1986: 249ff.).
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Jörg Zirfas der Krampf des Suchens löst sich in einem Hingegebensein und in einem Verschmelzen mit der Sache. Nicht ich denke, es denkt in mir, das ist immer wieder der Eindruck der großen Männer in solchen Momenten gewesen. (Copei 1963: 72)
Obwohl diese Stelle den Sachverhalt des Ergriffenseins oder auch der Erwählung nahe legt, differenziert Copei an anderer Stelle idealtypisch verschiedene Phasen oder Etappen, die zu einem fruchtbaren Moment hinführen und die dann auch pädagogisch genutzt werden können: im Ausgang und vor dem Hintergrund von »Selbstverständlichkeiten« tauchen »Anstöße« auf, in denen jene erschüttert und in Frage gestellt werden; es entwickelt sich eine »Frage- und Staunenshaltung«, die versucht, den Dingen neu und anders auf den Grund zu gehen; hierfür wird die »Aufmerksamkeit« geschärft und es werden »Methoden der Klärung« in Gang gebracht, die ein Überspringen der Irritation im Lernprozess ermöglichen sollen. Schließlich kommt es dann zu dem »fruchtbaren Moment«, der als eine besondere Art der Erkenntnis gefasst wird: »Wie das Auftauchen einer Leuchtrakete über einem dunklen Gelände, das für einen Augenblick das ganze Feld in allen Einzelheiten und deren Zusammenhang unter sich überblicken lässt und dann verlischt, alles wieder in Dunkel hüllend« (ebd.: 68; vgl. 59ff.). Aufschlussreich ist hier auch Copeis Erklärung der Bedingungen der Möglichkeit von fruchtbaren Momenten: »Ob es zu einem Anstoß und ob es zu einer Intention, d.h. einer fruchtbaren Vermutung kommt, ferner, ob die Potenz, die im Vorstoß wirkt, genügt, zuletzt die Kluft zur Leistung zu überspringen, das hängt auch vom Anstoß hier und da, vom Zufall, das hängt aber vor allem davon ab, wie viel der Einzelne an Begabung mitbringt« (ebd.: 67). Mit der Fruchtbarkeit des fruchtbaren Moments ist also Mehreres verbunden: eine »vor-romantische Metaphorik der Prägnanz«, die mit der imaginären Vorstellung eines dunklen Grundes einhergeht, aus dem das Neue, das Plötzliche und Überraschende hervorgehen (Bilstein 2004: 301), ein Moment der Erwählung und des Ergriffenwerdens, das unausweichlich zu sein scheint, aber gleichwohl auch pädagogisch angebahnt wie verhindert werden kann, ein erzieherisches Dual von aktiver Gestaltung und quasi religiöser unio mystica (ebd.: 302), eine freudige Lösung von Suchprozessen, Spannungen und Widerständen, eine echte geistige Leistung für alle Lebensbereiche und eine das Leben des Betroffenen »umformende Macht«, eine »Gewalt« und »Erschütterung« (Copei 1963: 89), bei der die Fruchtbarkeit zur Furchtbarkeit wird. Der Bildungs-Kairos ist ein erhabener, fast metaphysischer Augenblick, in dem der Alltag in einem anderen Licht erscheint, weil sich Wahrheit und Richtigkeit des Lebens eingestellt haben.
Z USAMMENFASSUNG MIT D ERRIDA : D IE G ABE DER P R ÄSENZ Fasst man die hier rekonstruierten pädagogischen Theorien und Modelle zusammen, so wird deutlich, dass sich unter dem Titel Präsenz in der modernen Pädagogik vielfältige Sachverhalte mit unterschiedlichen pädagogischen Funktiona-
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litäten subsumieren lassen: So betont Rousseau die Fülle der Möglichkeiten des Augenblicks, Schleiermacher die Befriedigung in der Gegenwart, Schopenhauer das Sich-Herausreißen aus zeitlichen Bezügen, Montessori den pädagogischen Neuanfang und Copei den pädagogisch motivierbaren, aber letztlich doch unverfügbaren Durchbruch einer Vorstellung. Mit diesen Ideen ist oftmals ein ästhetischer Grundzug verknüpft, etwa wenn von der Imagination bei Rousseau, vom Spiel bei Schleiermacher und Montessori oder von der Kontemplation bei Schopenhauer die Rede ist. Außerdem bieten diese pädagogischen Präsenzerfahrungen Erfahrungen der Befriedigung und des Glücks, insofern in ihnen als fundamental erachtete humane Wünsche zur Erfüllung oder auch anthropologische Gegebenheiten zur Vollendung kommen. Schließlich geht es in allen Modellen um die Befreiung vom Zwang der Zeit, um eine andere Zeit, in der auch andere Formen der Erziehung und Bildung möglich werden. Diese andere Zeit wird traditionell als Ewigkeit gedacht, die hier mit der Präsenz eine konstitutive Verbindung eingeht.13 Damit implizieren die genannten Modelle der Pädagogik die Paradoxie, als zugleich zeitlich und außerhalb der Zeit gelten zu müssen. Jacques Derrida (1930-2004) hat diese Koinzidenz von Präsenz und Ewigkeit auch für die Pädagogik in einer plausiblen und programmatischen Version festgehalten. In seinem Buch über das »Zeit geben« (Donner le temps 1993) bedenkt er die Möglichkeit und Unmöglichkeit der Gabe. Fasst man die dort gegebenen Überlegungen zusammen, so darf die Gabe, wenn es sie denn gibt, in keiner Weise als ökonomisches Modell oder Tausch verstanden werden. Die Gabe ist vielmehr – und hier knüpft Derrida an das Modell der Gabe als potlatsch oder kula bei Marcel Mauss an – das A-Ökonomische, das Überschießende und die Verausgabung. Während die Zeit des Tausches gleichbedeutend mit der Ewigkeit einer Allzeitlichkeit ist, in der jede Gabe zu einer bestimmten Zeit zurückgegeben werden kann oder muss, ist die Zeit der Gabe die Ewigkeit der Zeitlosigkeit. Sie fällt aus der Zeit, da sie das chronokratische Modell der ökonomischen Zeit unterbricht, weil ihre 13 | Ewigkeit lässt sich einerseits verstehen als Ewigkeit, die jenseits der Zeit nichts als deren Anderes, nämlich Zeitlosigkeit bedeutet. Diese Ewigkeit reißt sich von der Zeit als Vergänglichkeit los und gewährt eine Befreiung von der Vergänglichkeit, insofern sie die Zeiten auf die Gegenwart hin verdichtet. Dieser verweilenden Ewigkeit lässt sich eine Ewigkeit entgegenstellen, die als das Andere der Zeit zugleich Zeit ist, nämlich die aionische Ewigkeit, die die Ewigkeit in der Zeit meint. Die Ewigkeit in der Zeit meint die Ewigkeit des Vollzugs von Zeit in der Erinnerung der Vergangenheit, dem Verweilen in der Gegenwart und der Antizipation der Zukunft einer Zeit, in der diese selbst zu einer anderen geworden wäre, in der Zeit als Ewigkeit, Ewigkeit als Zeit aufscheint. Dieser Zeit der Ewigkeit wäre die Zeit zugleich Ewigkeit, insofern diese nicht nur punktuell in der Zeit auftaucht, sondern gleichsam zur ganzen Zeit wird. Man kann noch eine dritte Form der Ewigkeit festhalten, in der die Zeitlosigkeit in ihr Gegenteil, nämlich die Allzeitlichkeit mutiert und der Gedanke der zeitlosen Ewigkeit zur Ewigkeit der Zeit, zum bloßen Reflex von Entstehen und Vergehen, verkommt.
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Paradoxalität »die Zeit zerreißt« (ebd.: 19). Damit ist der Bezug der Gabe (Präsent) zur Präsenz und zum Präsens bezeichnet. Die Präsenz, das Präsens der Gabe – hier schließt Derrida an Kierkegaard an – »gibt« den paradoxen Augenblick, der als Gegenwart zwar in der Zeit situiert ist und doch als Widerschein einer zeitlosen Ewigkeit Zeitlosigkeit besitzt und damit gleichzeitig auch auf die Fülle einer Ewigkeit in der Zeit abhebt, da er die Verausgabung und Intensität der Gabe bedingt. Die Gabe muss daher als ein transitives Ereignis, das sich selbst gibt, gedacht werden (ebd.: 155). Sie muss sich der subjektiven Intentionalität, Verfügbarkeit und Herstellbarkeit – auch der pädagogischen – entziehen. Es geht Derrida um die Hingabe an die Ereignishaftigkeit der Gabe: Man kann in pädagogischen Verhältnissen des Gebens nicht davon sprechen »Zeit [zu] geben – Zeit [zu] nehmen – Zeit [zu] schenken« (Flitner 1989), sondern die Gabe kann sich nur als Überraschung für alle Beteiligten – Geber, wie Nehmer – ereignen. Wer Erziehung und Bildung als Gabe versteht, darf sich mithin nicht auf ein Tauschverhältnis einlassen (vgl. Wimmer 1996) und er muss eine a-teleologische Bildungsidee vertreten (vgl. Reichenbach 2001). Erziehung als intentionales Geben etwa eines spezifischen Wissens und Könnens stellt die Gabe in Frage, will doch der Erzieher in der Regel eine entsprechende Reaktion »wiederhaben«, d.h. eine der Intentionalität entsprechende Kompetenz, eine Einstellung oder einen Charakterzug. Wenn der Erzieher im emphatischen Sinne Derridas Erziehung »gibt«, dürfte er nichts (zurück)verlangen, er müsste seine Intention und seine Maßnahmen im Grunde vergessen. Der Augenblick des Gebens fordert daher das absolute Vergessen (vgl. Derrida 1993: 29). Nur das (pädagogische) Vergessen eröffnet mögliche Zeiträume für die Selbstbildung des Zöglings. Wenn es die Gabe der Erziehung gibt, so ist diese entpflichtend (ebd.: 178, 200). Die pädagogische Zeit der Gabe ist eine ekstatische Zeit des Ereignisses, die zugleich innerhalb wie außerhalb der Zeit geschieht, und die die Möglichkeit wie Unmöglichkeit der Gabe bezeichnet (Derrida 2003). Wenn die Gabe der Bildung sich also nicht pädagogisch intentional verwirklichen lässt, dann vielleicht strukturell. Die Präsenz der Bildung verdankt sich in diesem Sinne einem impliziten Handlungskontext, einem pädagogisch wohlgeordneten Ganzen aus Familie, Gesellschaft und Staat, in dem den Pädagogen und den Zöglingen unbewusst Möglichkeiten von Präsenzerfahrungen geboten werden. Vielleicht löst also das implizite Wissen14 die Paradoxien einer Bildung als Gabe ein – und sie bildet eine Intention ohne Intentionalität, ein Wissen ohne Erinnerung, eine Zeitlichkeit ohne Zeit oder ein unbewusstes Bewusstsein. Denn gerade ein nicht-intentionaler temporaler Rahmen kann in seiner hintergründigen Unerkanntheit höchst wirksam sein, weil er in seiner künstlichen Natürlichkeit die Illusionen des erzieherisch Guten und Richtigen umso nachhaltiger garantieren kann. Man weiß eben, wie man sich pädagogisch zu verhalten hat, kann diesen 14 | Daniel Stern macht darauf aufmerksam, dass der Gegenwartsmoment, verstanden als Prozesseinheit der Erfahrung, oftmals nicht explizit, verbal und symbolisch, sondern »lediglich« implizit erfasst wird (2005: insb. 123ff.).
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modus operandi aber kaum benennen bzw. fängt erst dann an, ihn zu reflektieren und zu modifizieren, wenn Ereignisse der Präsenz ausbleiben. Man gibt eben, was man nicht hat – Zeit.15
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15 | An dieser Stelle müsste ein zweiter Aufsatz stehen, der die impliziten Präsenzstrukturen moderner Pädagogik – theoretisch, historisch, empirisch oder vergleichend – zu rekonstruieren hätte. Es bedarf wohl keiner Erwähnung, dass eine solche Rekonstruktion des impliziten, handlungsleitenden pädagogischen Zeitwissens im Vergleich zu dem hier vorgelegten theoretisch-historischen Abriss von Präsenzmodellen eine ungleich schwierigere Aufgabe darstellt.
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Religionswissenschaft wird heute weitgehend verstanden als eine primär sozialwissenschaftlich orientierte Kulturwissenschaft. Das impliziert zunächst, dass ReligionswissenschaftlerInnen voraussetzen, dass ihnen ihr Gegenstand nicht in einer positivistisch-objektiven Weise gegeben ist. Als paradigmatisch für diese Ausrichtung des Faches kann die Einführung in die Religionswissenschaft von Hans Georg Kippenberg und Kocku von Stuckrad gelten, in der sie die Forderung aufstellen, dass »Glaubensanschauungen und Handlungen nicht isoliert von der öffentlichen Kommunikation über sie Gegenstand von Religionswissenschaft werden können« (2003: 11). Damit soll mit einem in der religionswissenschaftlichen Forschung dominanten hermeneutischen Prinzip gebrochen werden, das nach dem Schema individuelles Erleben – Ausdruck des Erlebens – Verstehen des Ausdrucks des Erlebens arbeitet. Nicht mehr der subjektive Akt des Glaubens, sondern Religion als öffentliches Kommunikationsgeschehen soll im Fokus der Forschung stehen. Bereits 1983 hatten Kippenberg und Burkhart Gladigow konstatiert, dass Religionswissenschaft noch immer von der sogenannten Phänomenologie beeinflusst sei, die die Einschaltung des Religionsphänomens in das eigene Leben zur Methode erklärt habe, und die darauf ziele, das Wesen der Religion oder zumindest religiöser Phänomene jenseits aller kultureller Bedingtheit zu bestimmen (1983: 9f.). Inzwischen gilt eine solche Religionsphänomenologie als weitgehend überwunden. Der alten »Religionswissenschaft des Verstehens« (Mensching 1959) wurde attestiert, überwiegend von theologischen Prämissen geleitet zu sein (Fitzgerald 2000) und Soziologie und Religionsethnologie sind nun darum bemüht, die Wahrheitsund Wesensfrage aus ihren Forschungen und Ergebnissen herauszuhalten, da sich die Religionswissenschaft von einem Korrespondenzmodell der Wahrheit, dem sie im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts häufig verpflichtet war, verabschieden müsse. Die Krise der Repräsentation, zuerst formuliert in der writing culture debate der 1980er Jahre (Clifford/Marcus 1986; Berg/Fuchs 1993), und die neo-pragmatistische Kritik an Auffassungen von einer Korrespondenz von Sprache und Wirklichkeit (Rorty 1981) haben für die Religionswissenschaft wichtige Im-
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pulse geliefert, um einerseits die bis dahin in der Religionsphänomenologie dominante Methode der Einfühlung in die Perspektive der Gläubigen theoretisch wie praktisch zu problematisieren und andererseits die favorisierte Suche nach dem ›Wesen‹ religiöser Phänomene und die damit verbundene Bestimmung von ›Religion‹ als einer kulturübergreifenden universalen Kategorie als Klassifizierungsunternehmung westlicher, in der Tradition der Aufklärung stehender Wissenschaftler offen zu legen. Analog zu den bekannten methodologischen Reflexionen aus der Ethnologie (Geertz 1993) und Geschichtswissenschaft (White 1991), die herausstellen, dass die Produktion von wissenschaftlichen Texten grundsätzlich an literarische Tropen gebunden ist, wird es eine der dringenden methodischen Forschungsaufgaben der Religionswissenschaft bleiben, die Produktion religionswissenschaftlicher Texte auf ihre diskursiven und von literarischen Gattungen bestimmten Strukturen hin zu reflektieren. Dann kann auch deutlich gemacht werden, dass und wie diese Texte ihrerseits wiederum – insbesondere im Zuge der kolonialen Expansion Europas – in fremdkulturellen Kontexten religionsproduktiv gewirkt haben. In der Religionswissenschaft ist allerdings bis heute umstritten, ob die Erhebung und erklärende Beschreibung ihrer Gegenstände die primäre Aufgabe religionswissenschaftlicher Forschung ist oder ob diese auch eine interpretierende Sinnermittlung zu leisten habe (vgl. Waardenburg 2001). Das hängt damit zusammen, dass in der religionswissenschaftlichen Theoriebildung das Verhältnis von dem von Kippenberg/Stuckrad sogenannten individuellen Erleben zum Ausdruck des Erlebens ebenso weitgehend ungeklärt ist wie das Verhältnis dieser beiden Termini zu dem religionswissenschaftlichen Verstehen des Ausdrucks des Erlebens. Das Problem ist, mit anderen Worten, inwieweit die Perspektive der ›Gläubigen‹ in der religionswissenschaftlichen Forschung berücksichtigt werden muss. Allein zu postulieren, man wolle sich davon verabschieden, wie es Kippenberg und Stuckrad tun, und sich Religion als einem kommunikativen Geschehen zuwenden,1 lässt zumindest die Frage offen, warum Menschen so viel Zeit und Energie in derartig geprägte Formen von Kommunikation investieren, wo es doch auch andere und direktere Möglichkeiten der Kommunikation gäbe. Lässt also der Ausdruck des Erlebens Rückschlüsse auf das individuelle Erleben zu, um noch einmal in das von Kippenberg und Stuckrad als überholt verworfene hermeneutische Modell zurückzufallen? Ist individuelles Erleben als eine nicht-propositionale oder vorbegriffliche Form der Erfahrung anzusehen, die erst sekundär in Propositionen übersetzt wird, die der Erfahrung damit eine bestimmte Struktur und Kohärenz verleihen, die wir Religion nennen? Oder muss man dem religiösen Erleben jeden Status eines Zuvorkommens absprechen, da jede Erfahrung bereits im Modus der Wiederholung gemacht wird und nicht außerhalb einer ständig sich verschiebenden Kette von Zeichen gedacht/gemacht werden kann (vgl. Derrida 1988)? Inwie1 | »Wir können deshalb, im Kontext einer soziologischen Theorie, Religion ausschließlich als kommunikatives Geschehen auffassen« (Luhmann 2000: 40).
Präsenz und implizites Wissen — Religionswissenschaftliche Perspektiven
weit stellt das Postulat, dass in der Religion die Idee eines Zugangs zu etwas Transzendentem oder Heiligem nur praktisch/performativ erfahren werden kann, für die Religionswissenschaft eine methodische und theoretische Herausforderung dar? Wie lassen sich religiöse Erfahrungen einer Präsenz des Transzendenten und ihre Diskursivierungen in religiösen Praktiken und Artikulationen aus der Perspektive der Religionswissenschaft so fassen, dass man einer Privilegierung von religiöser Unmittelbarkeit individuellen Erlebens entgeht und dennoch das Spannungsverhältnis von Unmittelbarkeit und Präsenz als ein von den Akteuren vorausgesetztes ›implizites Wissen‹ religiöser Erfahrung und expliziter Referenz auf diese Erfahrung aufrecht erhält? Gerade die immer wieder anzutreffende These, dass ›religiöse Erfahrung‹ als Präsenzerfahrung nicht expliziert oder allenfalls in negativen Begriffen ausgedrückt werden kann, hat ja auch zu einer Globalisierung des Diskurses um religiöse Erfahrung beigetragen. Längst ist daher die Annahme eines nur ›unmittelbar‹ zu erfahrenden und nicht sprachlich zu diskursivierenden ›Heiligen‹, von dessen Präsenz nichtsdestoweniger gewusst wird, nicht mehr nur auf Diskurse der Mystik, des Zen oder des Advaita Vedanta begrenzt. Vielmehr wird die Figur als eine Universalie der religiösen Erfahrung überhaupt aufgefasst und mit einer breiten Zahl transkultureller Übersetzungsphänomene zwischen unterschiedlichen religiösen Traditionen verknüpft. Indem die Religionswissenschaft die Annahme einer solchen universellen impliziten religiösen Erfahrung kritisch hinterfragt und die Diskurse über Erfahrung in ihrer Genealogie (im Sinne von Foucault 1978) religionsgeschichtlich untersucht, stellt sich aber zugleich das Problem einer religionswissenschaftlichen Wissenschaftssprache, die implizite Wissensformen insofern immer nur anteilig explizit machen kann, als sie in ihrer Terminologie immer auch kulturell präformiert ist und darüber hinaus, wie bereits angedeutet, selbst religionsproduktiv in transkulturelle Prozesse eingewirkt hat (und einwirkt). Ausgehend von der Annahme, dass Kulturen niemals in Reinform vorliegen, untersucht Religionswissenschaft Diskursivierungsprozesse religiöser Präsenzerfahrung daher als transkulturelle Phänomene (Hock 2002: 67ff.). Dabei begreift sie Prozesse der Reflexivität von Selbsterfahrung nicht mehr als Ausdruck oder Repräsentation vorgängiger Unmittelbarkeit jeglicher Subjektpositionen, sondern als synchron und diachron zu bestimmende kulturelle Aushandlungen und Positionierungen. Nach wie vor dominieren allerdings Diskurse der persönlichen Präsenzerfahrung des ›Heiligen‹, Göttlichen oder Absoluten die autobiographische Selbstkonstitution religiöser Akteure in verschiedenen kulturellen wie religiösen Kontexten. Dass diese Positionierungen von den Akteuren als letztgültig begründete und die kulturellen Systeme als Gesamtheit deutende Orientierungsleistungen angesehen werden, stellt für die Religionswissenschaft eine besondere methodische Schwierigkeit dar, insofern als ihr Untersuchungsgegenstand fordert, darüber hinaus auch zu fragen, wie diese Orientierungsleistungen für eine Gesellschaft funktional zu bestimmen sind. Wenn, wie Niklas Luhmann konstatiert, Religion nur als Kommunikation existiert und gesellschaftliche Bedeutung von Re-
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ligion nicht aus dem individuellen Erfahrungsgehalt abgeleitet werden kann, dann bedeutet das für die Religionswissenschaft auch zu fragen, ob und wie Erfahrungswissen nicht nur als individuelles, privates Wissen, sondern zugleich als eine Form des kollektiven, öffentlichen Wissens bestimmt werden muss (Luhmann 2000: 41ff.).2 Können ReligionswissenschaftlerInnen überhaupt eine religiöse Binnenerfahrung des individuellen Erlebens verstehen oder gar sich in sie hineindenken? Oder ist Religion ein Konstrukt der Religionswissenschaften, das, wie Jonathan Z. Smith es scharf und inzwischen klassisch formuliert hat, außerhalb des Wissenschaftsbetriebes keine unabhängige Existenz besitzt – und damit allenfalls analytischen Zwecken des Vergleichens und Generalisierens dient (1982: xi)? Mit anderen Worten: Ist ›Religion‹ eine wissenschaftliche Kategorie, die eine teilnehmende Beobachtung und eine erfahrungsnahe Beschreibung geradezu verhindert (Geertz 1987)? Um diese in der Religionswissenschaft breit diskutierten Fragen aufzunehmen und dabei eine etwas veränderte Forschungsperspektive zu skizzieren, sollen im Folgenden Erleben und Artikulation nicht, wie bisher weitgehend geschehen, auseinandergerissen, sondern aufeinander bezogen werden. In diesem Beitrag wird zunächst davon ausgegangen, dass religiöse Erfahrungen nicht nur nach wie vor ein wichtiges Thema religionswissenschaftlicher Forschungen sind, sondern dass die Beschäftigung mit ihnen auch zu theoretischen Präzisierungen führen sowie neue Forschungsfelder eröffnen kann. Hubert Knoblauch hat bereits darauf hingewiesen, dass mit der Zurückweisung der Religionsphänomenologie durch die sozial- und kulturwissenschaftlich ausgerichtete Religionsforschung der letzten Jahrzehnte die »Erfahrungsdimension […] geradezu stiefmütterlich behandelt [worden sei]« (2004: 69). Meine These lautet nun, dass Präsenzerfahrungen, die als religiöse Erfahrungen gerahmt werden, als Diskursivierungen oder performative Setzungen von Präsenz beschreibbar sind. Dazu bedarf es aber auch einer weiterführenden Reflexion über das Verhältnis von Methoden und Theorie in der Religionswissenschaft. Jonathan Z. Smith hat bereits vor vielen Jahren das Theoriedefizit der Religionswissenschaft beklagt: »But the ›how‹ and the ›why‹ and, above all, the ›so what‹ remain most refractory. These matters will not be resolved by new or increased data. In many respects, we already have too much. It is a problem to be solved by theories and reasons, of which we have had too little« (1982: 35). Allerdings musste Gavin Flood auch 1999 noch eine gewisse Theoriefeindlichkeit gegenwärtiger Religionswissenschaft konstatieren. »Religious Studies has method but no theory because it does not attempt to impose theory upon data, but rather wishes to allow religious phenomena to reveal themselves« (1999: 16). Zwar, so Flood weiter, sei die Religionswissenschaft nicht in der Lage einen eigenen metatheoretischen Diskurs zu generieren, Rekurse auf andere Wissen2 | Vgl. Casanova (1994) und die kritische Diskussion der Differenzierung von Öffentlichem und Privatem bei Hubert Knoblauch (2006).
Präsenz und implizites Wissen — Religionswissenschaftliche Perspektiven
schaftsdisziplinen und Traditionen könnten jedoch fruchtbare neue Perspektiven eröffnen (ebd.: 17). Methodisch steht die Religionswissenschaft vor der Herausforderung, immer nur von den diskursiven oder performativen Setzungen und Artikulationen ausgehen zu können, um über religiöse Erfahrungen zu sprechen, also von den sozialen, in mediale Strukturen eingebetteten Kommunikationsund Selbstverständigungsprozessen (Brück 2007: 74). Nicht-propositionales, d.h. implizites religiöses Wissen ist ihr nur in der Form konkreter kultureller Explikationen zugänglich. Das bedeutet aber nicht, dass diese methodische Beobachtungsproblematik außerhalb der Religionswissenschaft ebenfalls als methodisches Problem gegeben sein muss. Theoretisch müssen wir davon ausgehen, dass das Verhältnis von Erleben und Artikulation von ganz anderer Art sein kann als das, was wir beobachten können. Religionswissenschaft hat es immer mit dem Deuten von Gedeutetem zu tun. Die Phänomene, die unter der Perspektive der Religion untersucht werden, sind bereits Auslegungen, oder um es in der Tradition von Alfred Schütz zu formulieren, sie sind ›Konstrukte erster Ordnung‹. Aufgabe der Religionswissenschaft ist es, ausgehend von der Spannung zwischen Alltagsdeutung und Fremdwerden dieser Deutungen, Konstrukte zweiter Ordnung zu bilden, eine Aufgabe, die man im Anschluss an Hans-Georg Soeffner als eine grundlegend hermeneutische bezeichnen kann. Dabei handelt es sich nicht um einen hermeneutischen Zugang, der einen homogenen lebensweltlichen Zusammenhang in Form eines geteilten wirkungsgeschichtlichen Horizontes und eines darin verorteten zentrierten Erkenntnis- und Verstehenssubjektes zur Voraussetzung hat. Vielmehr wird hermeneutisch hier im Sinne eines grundsätzlichen Vorauslaufens des Gedeutetseins aller Wirklichkeit verstanden (Soeffner 2004). Ein Problem ergibt sich daraus, dass ReligionswissenschaftlerInnen, die Religionen, religiöse Handlungen, Rituale, Artikulationen usw. beobachten und beschreiben, dazu tendieren, die Beobachterperspektive, die sie einnehmen, den religiös Handelnden selbst als Kompetenz zuzuschreiben. Dabei wird oft ausgeblendet, dass die beteiligten Akteure weder nachzuvollziehen noch zu wissen brauchen, was ReligionswissenschaftlerInnen beobachten. Erkennen und Erfahren sind zwei Aspekte eines Wirklichkeitsbezugs, der auf sehr unterschiedliche Weisen bestimmt werden kann. Martin Heidegger (1977) hat zwischen dem Zuhandensein und dem Vorhandensein unterschieden, um deutlich zu machen, dass der Vollzug von Erfahrung und die Reflexion über Erfahrung voneinander zu unterscheidende Modi des Wirklichkeitsbezuges darstellen. Die Rezitation eines Mantra und die religions- oder sprachwissenschaftliche Analyse der grammatikalischen Struktur dieses Mantra sind offensichtlich zwei voneinander zu unterscheidende Tätigkeiten. Ihre Differenz liegt aber nicht im Gegenstand, also den Worten die in dem Mantra artikuliert werden oder gar in einem die Worte transzendierenden Bezugsbereich, sondern in einer jeweils zu unterscheidenden Bezugs- und Betrachtungsweise auf den Erfahrungsgegenstand. Für die kulturwissenschaftlich arbeitende Religionswissenschaftlerin, die sich von jeglichem Anspruch distanziert, die Binnenperspektive der religiösen Akteure auch nur ansatzweise zum Gegenstand ihrer Forschungen
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machen zu wollen, ist diese Feststellung banal. Dass wir zu Erfahrungs- und Erkenntnisgegenständen eine distanzierte und thematisierende Einstellung einnehmen können ist sozusagen Voraussetzung dafür, überhaupt Religionswissenschaft und insbesondere vergleichende Religionswissenschaft betreiben zu können; denn Vergleichen beruht wiederum auf der Voraussetzung der Möglichkeit der Distanzierung von Unmittelbarkeit. Das bedeutet aber mindestens zweierlei. Zum einen offensichtlich, dass die Thematisierung einer Religion, religiöser Handlungen, Phänomene und Strukturen durch die Religionswissenschaft immer ein sekundäres Produkt ist, die darüber hinaus mit Begriffen arbeitet, die man, wie den Religionsbegriff mit Jonathan Z. Smith als »second-order, generic concept« bezeichnen kann (1998: 281). Zum anderen, und das wird in der kulturwissenschaftlich arbeitenden Religionswissenschaft meist ausgeblendet, zeichnet sich kulturelles Wissen immer durch einen Doppelcharakter aus, eine praktische Dimension, die handlungsleitend ist und die ich mit Joachim Renn, auf dessen Ansatz ich unten näher eingehen werde, die Dimension des impliziten Wissens nennen möchte, und eine explizite Dimension, die als Ergebnis einer Verständigungs- und Vergewisserungspraxis durch die Angehörigen von Religions-, Sprach- und Kulturgemeinschaften artikuliert wird.3 Indem die Religionswissenschaft erneut die Frage nach der Diskursivierung religiöser Erfahrung fokussiert, die als eine der Bestimmungskategorien für ›Religion‹ überhaupt durch eine für den Zusammenhang von Präsenz und implizitem Wissen zentrale Differenz zwischen einer vorausgesetzten impliziten Zugänglichkeit und einer stets defizitären expliziten Referenz geprägt ist, kann sie an gegenwärtige Diskurse über Präsenz anschließen und von ihnen profitieren (Gumbrecht 2004, 2012; Mersch 2002; Steiner 1990; Agamben 2004). Ich werde meine Überlegungen in drei Schritten ausführen: Zunächst werde ich einige Aspekte des religionswissenschaftlichen Diskurses über religiöse Erfahrung skizzieren, dabei aber bewusst eklektisch vorgehen. Zweitens werde ich aufzeigen, inwieweit die Theorie des ›impliziten Wissens‹ beitragen kann, die »Übersetzungsverhältnisse« zwischen individuellem Erleben und Ausdruck des Erlebens zu erhellen (Renn 2006). Zum dritten werde ich nach sprachlichen Artikulationen dieser Übersetzungsverhältnisse fragen.
R ELIGIÖSE E RFAHRUNG Das Thema der religiösen Erfahrung als Präsenzerfahrung ist seit mehreren Jahrzehnten Gegenstand fundamentaler methodischer Kontroversen innerhalb der Religionswissenschaft und erhält im aktuellen Forschungsfeld zu ›Präsenz und implizitem Wissen‹ noch einmal in besonderer Weise Relevanz, als hier ein methodisches Problem aufgenommen wird, das sich in der Diskussion um die Dis3 | Zu dieser Unterscheidung siehe Loenhoff (2003: 107).
Präsenz und implizites Wissen — Religionswissenschaftliche Perspektiven
kursivierung der religiösen Präsenzerfahrung in theologischen, philosophischen und religionswissenschaftlichen Diskursen bis an die Schwelle des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt; als systematisches Phänomen kann die bezeichnete Figur als Kernelement einer fortschreitenden Globalisierung des Diskurses zur religiösen Erfahrung betrachtet werden (Nehring 2005b). Was auch immer religiöse Erfahrung sein mag und unabhängig davon, dass Menschen überall Erfahrungen machen und immer gemacht haben und dass sie diese Erfahrungen auch artikuliert haben mögen – als Propheten, Mystiker, Seher, Erleuchtete usw. –, religiöse Erfahrung als Kategorie sui generis, die zu einem Gegenstand der religionswissenschaftlichen Forschung und Reflexion geworden ist, ist eine neuzeitliche Erscheinung (vgl. Proudfoot 1985; Jay 2005). Wilhelm Dilthey hat die Herauslösung von religiöser Erfahrung aus religiöser ritueller Praxis als eigene Kategorie mit dem Aufkommen der pietistischen Bewegungen, der katholischen Mystik von Port Royal und den ›amerikanischen Sekten‹ in Zusammenhang gebracht und als Gegenbewegung zur europäischen Aufklärung gedeutet, in der man eine »Verschiebung in dem Werteverhältnis zwischen dem religiösen Erlebnis und den Wirkungen der Kirche, der Sakramente, der Überlieferungen auf die Seele« beobachten könne (1958: 293). Inhaltlich bestimmt Dilthey diese Verschiebung folgendermaßen: »Die letzte Instanz für die religiöse Wahrheit wird nicht in den Zeugnissen der Schrift, sondern im Erlebnis gefunden, und die Schrift ist die Anweisung zu solchen Erlebnissen« (ebd.). Dilthey ging es hier um die Abgrenzung der Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften. Während letztere sich auf die Natur beziehen und auch den Menschen als Teil der Natur erforschen, haben erstere das menschliche Leben als ein ›Erleben‹ zum zentralen Gegenstand ihrer Forschungen gemacht, Im einen Fall, so Dilthey, gehe es um ein Erklären, im zweiten Fall um ein Verstehen. Drei Aspekte machen die innere Struktur dieser Geisteswissenschaften aus: das Erleben des Lebens durch den Einzelnen, der Ausdruck, den der Einzelne diesem Erleben gibt und das Verstehen dieses Erlebens durch die anderen (Dilthey 1981). Kippenbergs und Stuckrads Kritik an einer hermeneutischen Zugangsweise, die sie überwinden wollen, hat hier ihren Anhaltspunkt. Das Leben kommt nach Dilthey zu bestimmender Bedeutung als Sinn eines Lebenszusammenhangs. Und dieser Sinn ist nicht in der Tradition der Schrift vorgegeben, sondern gegenwärtig im Erleben eines Selbst, sofern dieses in der Weise des Innewerdens seiner Selbst bewusst wird. Im Rückgang auf die Ursprünglichkeit des erlebten Bewusstseins vor dem, was die Metaphysik als Selbstreflexion begriffen hatte, sieht Dilthey das Neue. Die religiöse Erfahrung, die Dilthey auch ›Erlebnis‹ nennt, kann aber der Religionswissenschaft schon dadurch, dass sie bei ihm als eine Verschiebung gedacht wird – also nicht als Ausdruck eines ursprünglichen unmittelbaren Zugangs zu dem Gehalt von ›Religion‹, sondern nur in der Differenz zu Tradition, Zeugnissen der Schrift, und Metaphysik –, nicht als Kategorie sui generis dienen. Vielmehr wird die Religionswissenschaft die Genealogie des Konzepts der religiösen Erfahrung
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sowie die diskursiven Formationen, in denen es sich artikuliert, untersuchen müssen. Den historischen Ausgangspunkt der von Dilthey konstatierten Verschiebung bzw. Hervorhebung von Erfahrung als etwas Unmittelbarem und aller konzeptuellen Fassung Vorgängigem führt Wayne Proudfoot auf Friedrich Schleiermacher (1763-1834) zurück, über den Dilthey eine Biographie verfasst hat und der in seiner Schrift Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799) Religion in Abgrenzung zur Kritik der Aufklärung neu bestimmen wollte (Proudfoot 1985). Schleiermacher war geprägt vom Pietismus und wurde nach einer Erweckungserfahrung seines Vaters in der Herrnhuter Brüdergemeinde erzogen. Wilfred Cantwell Smith nimmt an, dass Schleiermachers Reden das erste Buch war, das je über ›Religion an sich‹ geschrieben worden ist, d.h. »nicht über eine bestimmte Art oder ein Beispiel, sondern ausdrücklich über Religion selbst als einem generischen Etwas« (1991: 45). Religion ist bei Schleiermacher ihrem Wesen nach »weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl« (1958: 29), sie ist »Sinn und Geschmack fürs Unendliche« (ebd.: 30). Schleiermacher bestimmt Religion als eine »eigene Provinz im menschlichen Gemüt« (ebd.: 37), aber diese Bestimmung ist nicht durch Spekulation oder als wissenschaftliche Konstruktion oder Abstraktion freizulegen, sondern einzig und allein in der Erfahrung und insbesondere im Nachvollzug einer Erfahrung von besonderer Intensität. Damit deutet schon Schleiermacher den Forschungsansatz für weiteres religionswissenschaftliches Arbeiten in dieser Richtung an. Er verweist seine Leser auf sie selbst und fordert sie auf, in ihrem Innersten das zu finden, was sich in der Religionsgeschichte der Menschheit als kontemplative Erfahrung finden lasse (ebd.: 54f.). Ebenfalls 1799 verfasste Schleiermacher eine Rezension zu Kants Anthropologie (1984), in der er insbesondere Kants Spaltung von empirischem und transzendentalem Bewusstsein kritisierte. Er warf ihm vor, theoretische und praktische Anthropologie voneinander zu trennen und die Notwendigkeit einer ganzheitlichen Betrachtung des Menschen zu verkennen (vgl. Nowak 2002: 91). In der von Schleiermacher geforderten Vereinigung von transzendentalem und empirischem Bewusstsein hat Giorgio Agamben die »nachkantische Ursünde« gesehen, die die Wissenschaften inklusive der Religionswissenschaft maßgeblich beeinflusst hat (2001: 49). Sowohl die Psychologie des 19. Jahrhunderts, die ihren »Mythos durch die Überwindung der Kantschen Opposition von transzendentalem und empirischem Ich« konstruiert als auch die Lebensphilosophie von Bergson und Dilthey, die darauf gerichtet gewesen ist, die »erlebte Erfahrung, die sich der vorbegrifflichen Unmittelbarkeit der Introspektion offenbart«, zu erfassen, haben dazu beigetragen, dass ›unmittelbare Erfahrung‹ in Wissenschaft wie Religion gleichermaßen als Grundkategorie konstruiert werden konnten (ebd.: 52, 54). Sowohl esoterische Bewegungen des 19. Jahrhunderts wie die Theosophie als auch die frühe Phänomenologie konnten sich auf diese Diskurse über Erfahrung berufen. Dilthey selbst hat seine Lebensphilosophie in Hermeneutik verwandelt,
Präsenz und implizites Wissen — Religionswissenschaftliche Perspektiven
bzw. nur diejenigen ›unmittelbaren‹ Erfahrungen als der geisteswissenschaftlichen Reflexion wirklich zugänglich wahrgenommen, die diskursiviert worden sind, indem sie in Sprache (bspw. Literatur, Dichtung) einen Ausdruck gefunden haben. Edmund Husserl sah in der zweiten Cartesianischen Meditation die Aufgabe der Phänomenologie darin, »die reine und sozusagen noch stumme Erfahrung […] zur reinen Aussprache ihres eigenen Sinnes zu bringen […]« (1995: 40). Methodisch soll dies durch die phänomenologische Epoché, die Ausklammerung der natürlichen Einstellung, gewährleistet werden. Der empirischen Psychologie wirft Husserl dabei vor, ein ursprüngliches Datum der Erfahrung des Bewusstseins eben nicht aufzeigen zu können. Die Epoché oder Reduktion als Schritt zurück hinter vertraute Vorurteile und Denkmuster ist für die religionswissenschaftliche Frage nach der Erfahrung zu einem zentralen Schritt geworden. Dazu ist zu bemerken, dass Epoché in der religionswissenschaftlichen Adaption vor allem bedeutet, dass man seinen eigenen Glauben, ein subjektives Urteil oder die persönliche Meinung ausklammert, nicht aber die Frage des objektiven Status von Phänomenen im phänomenologischen Prozess der eidetischen oder phänomenologischen Reduktion.4 Husserls eidetische Reduktion wurde in der Religionsphänomenologie zu einer Typologie von religiösen Phänomenen oder ganzen Religionen, wohingegen die »Einschaltung in das eigene Leben«, die Gerard van der Leeuw ebenfalls als einen zentralen Schritt seiner phänomenologischen Methode bestimmt (1933: 688), einen Zugang vermitteln soll zum Strom der unmittelbaren Erfahrung des Lebens jenseits aller geschichtlichen oder sprachlichen Differenzen. Selten beachtet wird, dass Husserl in seinen späten Werken, insbesondere in der Krisisschrift, deutlich gemacht hat, dass die die Wissenschaften tragende Erfahrung keine stumme, vorbegriffliche Anschauung sein kann, sondern Erfahrung der konkreten Wirklichkeit in ihrem historischen Zusammenhang – und das bedeutet auch: in ihrer jeweiligen Begrifflichkeit. Auch die Grundlage der Religionswissenschaft kann somit keine stumme, vorbegriffliche, nicht-propositionale religiöse Erfahrung sein. Husserl macht damit deutlich, dass die ›stumme Erfahrung‹, was auch immer sie sein mag und ob sie überhaupt Erfahrung genannt werden kann, der Wissenschaft in keiner Weise zugänglich ist (vgl. Bernet/Kern/Marbach 1989: 203). Indem die Religionswissenschaft und insbesondere die Religionsphänomenologie an die Bestimmung des Erlebnisses durch Dilthey und an die frühen Aussagen Husserls zur ›stummen Erfahrung‹ angeknüpft hat, hat sie sich in drei Problembereiche hineinbegeben, die sich bis heute auf ihre Forschung auswirken: erstens die Frage nach der Kohärenz religiöser Aussagen, zweitens die Privilegierung symbolischer Formen und drittens die Vermischung von Teilnehmer- und Beobachterperspektive. Die Unterstellung, dass Religion ein umfassendes und kohärentes System darstelle, das sinnvolle Erfahrung ermögliche, ist nicht nur eine praktische Forderung an die geschichtlichen Religionen, sondern bewegt auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihnen. Peter L. Bergers Konzept des ›Nomos‹, 4 | Kritisch hierzu vor allem Flood (1999).
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mit Hilfe dessen Religionen eine sinnvolle Ordnung errichten (1967), gehört dazu ebenso wie Clifford Geertz’ ›Model von‹ und ›Model für‹ eine allgemeine Seinsordnung (1987). Auch die Privilegierung symbolischer Formen und die Nachordnung von Bedeutung und Ritual5 in der religionswissenschaftlichen Forschung geht auf diese Tradition zurück. Weitgehend außer Acht gelassen – darauf wird unten noch ausführlicher einzugehen sein – ist dabei, dass ein Großteil derer, die von der symbolischen Bedeutung nichts wissen, dennoch an einem symbolischen System teilhaben, dessen Bedeutung ihnen verborgen ist und das sie nicht verstehen. Das führt zu der Frage nach Teilnehmern und Beobachtern und auch zu der Frage nach dem Verhältnis von religiösen Spezialisten und religionswissenschaftlichen Forschern. Die Religionswissenschaft tendiert, wie oben bereits ausgeführt, dazu, die eigene Beobachtung so aus der Position von religiös Teilnehmenden machen zu wollen (teilnehmende Beobachtung), dass diese, um eine Forderung von Wilfred Cantwell Smith aufzugreifen, der Darstellung des Beobachteten zustimmen können (1963: 83ff.). Dadurch werden zum einen religiöse Spezialisten und ihre Artikulationen tendenziell bevorzugt, andererseits wird leicht übersehen, dass die religiösen Akteure gar nicht unbedingt zu wissen brauchen, was die ReligionswissenschaftlerInnen beobachten. TheologInnen und ReligionswissenschaftlerInnen haben zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Erfahrung des ›Heiligen‹, des Numinosen oder des Unbedingten nicht nur als das Wesentliche des Christentums propagiert, sondern es zum Wesentlichen von Religion überhaupt gemacht. So vertritt der Marburger Theologe und Religionswissenschaftler Rudolf Otto (1869-1937) die Auffassung, dass Religion keine geschichtliche, nicht-religiöse Quelle habe und weist damit jeden Gedanken an einen soziokulturellen Ursprung oder eine historische Entwicklung des Religiösen zurück. Auch wenn Otto zur Zeit seiner Abfassung von seinem berühmten Buch Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen (1917) nach wie vor der Ansicht war, dass sich die Erfahrung des Numinosen vornehmlich in »der biblischen Religion« finde, hat eine frühere Reise nach Indien und Japan (1911-12) ihn dazu veranlasst, sich zunehmend auch asiatischen Religionen zuzuwenden, insbesondere der hinduistischen Bhakti-Tradition, dem Advaita Vedanta und dem japanischen Zen, in denen er die gleichen Erfahrungen zu entdecken meint wie im Christentum – eine Entdeckung, die sich im interreligiösen Austausch zwischen Asien und Europa als ausgesprochen religionsproduktiv erweisen sollte (vgl. Sharf 1995). So haben Hindu-Reformer und Reformbuddhisten das Konzept der religiösen Erfahrung als Essenz von Religion übernommen, um traditionelle Autoritäten zu untergraben und überlieferte Konzepte neu zu interpretieren (vgl. Halbfass 1990). In diesem sich neu entwickelnden Diskursfeld hat auch der amerikanische Psychologe und Pragmatist William James eine nicht unbedeutende Rolle ge5 | Dazu Bell (1992); vgl aber auch die Kritik von Rappaport (1999), der Ritual und Religion gleichsetzt.
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spielt. 1902 erschienen seine Gifford Lectures The Varieties of Religious Experience, in denen er Religion definiert als »die Gefühle, Handlungen und Erfahrungen von einzelnen Menschen in ihrer Einsamkeit, sofern diese sich selber als Personen wahrnehmen, die in Beziehung zu etwas stehen, das sie in irgendeinem Sinne als das Göttliche betrachten« (1979: 41). James hat entscheidend dazu beigetragen, dass in der Folgezeit Religionswissenschaft im Allgemeinen und Religionspsychologie im Besonderen die religiöse Erfahrung in den Blick nahmen. Diese Privilegierung einer herausragenden, besonderen und überraschenden Erfahrung gegenüber Strukturen, Dogmen, Texten und Artikulationen hat, wie oben gezeigt, nicht nur die Religionswissenschaft geprägt, sondern auch einer breiten Debatte über Mystik und Spiritualität Anlass gegeben.6 Allerdings hat James in seinen Varieties die religiöse Erfahrung nicht als eine Kategorie sui generis von anderen außergewöhnlichen Erfahrungen abgetrennt und sich dagegen verwehrt, sie als Bereich einer eigenen wissenschaftlichen Beschäftigung mit ihr zu privilegieren.7 Dagegen hat Rudolf Otto in Das Heilige die Erinnerung an ein Gefühl »religiöser Erregtheit« zur Bedingung für »Religionskunde« überhaupt gemacht und zugleich die These aufgestellt, dass das, worauf sich dieses Gefühl bezieht, in allen Religionen als das Wesentliche und Ausschließliche gelten müsse. Dabei legt Otto die Teilnehmer- und die Beobachterperspektive zusammen. Eine Perspektive dritter Ordnung (vgl. Münch 2004: 202) wird nur dann als legitim anerkannt, wenn sie mit der Perspektive erster Ordnung, also der eigenen religiösen Erfahrung korreliert: Wir fordern auf, sich auf einen Moment starker und möglichst einseitiger religiöser Erregtheit zu besinnen. Wer das nicht kann oder wer solche Momente überhaupt nicht hat, ist gebeten nicht weiter zu lesen. Denn wer sich zwar auf seine Pubertätsgefühle, Verdauungsstockungen oder auch Sozialgefühle besinnen kann, auf eigentümlich religiöse Gefühle aber nicht, mit dem ist es schwierig Religionskunde zu treiben. (Otto 1917: 8)
Ist das ursprüngliche Grunddatum der Erfahrung des Numinosen nicht definierbar, so kann es, da es dem Phänomenologen in der eigenen Erfahrung, und damit, so der Anspruch, jedem Menschen zugänglich ist, dennoch erörtert und dem Leser und der Leserin unterstellt werden. In der Religionswissenschaft haben diese Ansätze eine große Resonanz entfaltet, indem sie nicht nur die Religionsphänomenologie über Jahrzehnte geprägt haben, sondern sich bis in die Gegenwart hinein in interkulturellen populär-religiösen und neurowissenschaftlichen Diskursen wiederfinden. So fungiert etwa eine weitgehend unkritische Übernahme der Schleiermacherschen Konzeption von Religion in der Regel als Basis für die neuro6 | Hier eine Auswahl relevanter Arbeiten: Katz (1978, 1983), Staal (1975), Almond (1982), Formann (1999), Stace (1961). 7 | Darauf weist besonders Ann Taves hin (2009).
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physiologische Suche nach Religion in unterschiedlichen Regionen des Gehirns.8 Meist wird auf ein Religionsmodell zurückgegriffen, das erstens die Vorläufigkeit religiöser Erfahrung vor jeglicher Explikation – in Dogmen, Texten, Ritualen und Strukturen – als gegeben annimmt und zum zweiten von einer Universalität religiöser Erfahrung unabhängig von kultureller Prägung ausgeht. Auch hier wird eine Kohärenz aus der Perspektive dritter Ordnung erst hergestellt. Allerdings haben kritische Diskussionen um die Etablierung von Religion als einer Kategorie sui generis (Matthes 1993, McCutcheon 1997, Fitzgerald 2000) in der Religionswissenschaft auch zu einer kulturalistischen Wende und zur Abkehr von einer Privilegierung der Perspektive der Gläubigen vor wissenschaftlichen Konzeptionalisierungen beigetragen. In diesem Zusammenhang haben ReligionswissenschaftlerInnen, die ein essentialistisches Verständnis von Religion zu dekonstruieren suchten, das Thema der Präsenz religiöser Erfahrung zunehmend ausgeblendet oder methodisch als der Theologie zugehörig zurückgewiesen. Religionswissenschaft wurde nun im Duktus kritischer Theorien betrieben, in denen eine »grundlegende Skepsis gegenüber der Vorstellung, Sprache sei ein transparentes Medium zur Erfassung und Kommunikation von Wirklichkeit« zum Ausdruck kommt (Nünning 1998: 312). Das zeigt sich in religionswissenschaftlichen Arbeiten auf zweierlei Weisen: Zum einen lässt die Auffassung von Sprache als unhintergehbarer Bedingung jeglicher Wirklichkeitswahrnehmung jede Wirklichkeit jenseits von Sprache als unzugänglich erscheinen. Eine Religionswissenschaft, die sich zuvor und insbesondere in der religionsphänomenologischen Tradition mit dem Wesen des Transzendenten befasst hatte, konnte nun als bloße religiöse Spekulation zurückgewiesen werden. Zum anderen konnten religionswissenschaftliche Repräsentationen fremder Religionen nun in ihren performativen Aspekten und in ihrer Teilhabe an der Konstruktion sozialer Wirklichkeiten kritisch analysiert werden; womit vor allem die Frage nach der Macht innerhalb dieser Repräsentationen in den Vordergrund rückte.
E XPRESSION UND V ERGLEICH : R UDOLF O T TO UND M A X M ÜLLER Es waren insbesondere Rudolf Ottos Bestimmung des ›Heiligen‹ als einer »eigentümlichen Kategorie«, die »begrifflicher Erfassung völlig unzugänglich ist« sowie sein Versuch, das ›Heilige‹ »minus seines sittlichen Momentes und […] minus seines rationalen Momentes überhaupt« zu beschreiben, die die Kritik der späteren kulturwissenschaftlichen Religionswissenschaft auf sich gezogen haben (1917: 5f.). Gerade hier könnte sich aber auch ein Ansatzpunkt bieten, über religiöse Präsenzerfahrung neu nachzudenken. Damit will ich nicht sagen, dass die Religionswissenschaft Kategorien wie das ›Heilige‹, das Numinose und womöglich auch noch 8 | Aquilis und Newbergs Buch The Mystical Mind, (1999) dt. Der gedachte Gott, ist zu einem Klassiker der sogenannten Neurotheologie geworden (Newberg/d’Aquili 2008).
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ihre Erfahrung wieder in ihren sprachlichen Kanon aufnehmen und rehabilitieren sollte. Vielmehr geht es mir um die Frage, wie eine Wissensart, die sich selbst als religiös konnotiert, in einer religionswissenschaftlichen Metasprache so nachgebildet werden kann, dass das in dieser Wissensart implizite Wissen in den Blick kommt. An den Anfang seines Buches Das Heilige stellt Otto eine Betrachtung über das Verhältnis von Rationalität und Irrationalität an und stellt die These auf, dass Gott (das Wesen der Gottheit) rational nicht restlos zu erfassen sei: [W]enn die rationalen Prädikate auch gewöhnlich im Vordergrunde stehen, so erschöpfen sie die Idee der Gottheit so wenig, daß sie geradezu nur von und an einem Irrationalen gelten und sind. Sie sind durchaus auch wesentliche Prädikate, aber sie sind synthetische wesentliche Prädikate, und sie werden selber nur recht verstanden, wenn sie so verstanden werden, das heißt, wenn sie einem Gegenstande als ihrem Träger beigelegt werden, der selber in ihnen noch nicht mit erkannt ist, auch nicht in ihnen erkannt werden kann, sondern auf eine eigene andere Weise erkannt werden muss. Denn irgendwie auffaßbar muss er sein: wäre er es nicht so wäre von ihm ja überhaupt nichts anzugeben. (Ebd.: 2)
Otto nimmt ein religiöses a priori an, das ›Heilige‹, das durch eine nicht rationale Intuition, durch die Fähigkeit der ›Ahndung‹ erfahren werden kann. Mittels des epistemologischen Schemas des Kantschülers Jakob Friedrich Fries unterscheidet Otto Wissen, Glauben und Ahndung, wobei Ahndung als Ergänzung zu Wissen (»theoretisches Erkennen der Welt und Weltzusammenhänge so wie es in der Wissenschaft sich gestaltet«) und Glauben (religiöse Dogmen, die aus den a priorischen Begriffen wie Gott, Unsterblichkeit und Freiheit abgeleitet werden) gedacht wird (ebd.: 175). Anders als Fries versteht Otto Ahndung allerdings nicht nur als ästhetische Intuition, sondern als religiöse Erfahrung. Indem Otto das Religiöse vom Moralischen und Rationalen unterscheidet und es als reine unkonzeptionelle Vernunft charakterisiert, macht er das religiöse Gefühl zu einer unabhängigen Quelle von Wissen. Kants Versuch, die Erkenntnis a priori aus der Möglichkeit der Erfahrung abzuleiten, hat Otto mit Fries zurückgewiesen. Neben das, was Kant erstmals den ›Vernunftglauben‹ genannt hat, stellt Otto so das ›Irrationale‹ (vgl. Kobusch 2010). Entscheidend ist dabei, dass das Irrationale nicht als Vorrationales gefasst wird, jedenfalls nicht als etwas, was sich einfach in Kippenberg und Stuckrads Schema von individuellem Erleben und Ausdruck des Erlebens einordnen ließe. Während Otto bekanntermaßen jeden Gedanken einer Entwicklung von Religion ablehnt und das Vorprädikative nicht als ›Voraussetzung‹ für propositionales, explizites, begriffliches oder reflexives Wissen begreift, sondern als einen eigenen Bereich postuliert, spielt diese komplementär-hierarchische Struktur in einem anderen einflussreichen Zweig der vergleichenden Religionswissenschaft eine bedeutende Rolle. Als herausragendes Beispiel soll hier der Ansatz von Max Müller angeführt werden. Im dritten Kapitel der elementaren Formen des religiösen Lebens behandelt Emile Durkheim die Hauptbegriffe der elementaren Religion und bezieht sich dabei
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ausführlich auf die zwischen 1888 und 1892 gehaltenen Gifford Lectures des Begründers der vergleichenden Religionswissenschaft, Friedrich Max Müller, über Natural Religion. »Die Religion muß,« so zitiert er Müller »um den Platz zu halten, der ihr als legitimes Element unseres Bewußtseins zukommt, mit einer sinnlichen Erfahrung beginnen« (Durkheim 1994: 108). Das Motto von Müllers Gifford Lectures (Nihil est in intellectu quod non ante fuerit in sensu) veranlasst Durkheim zu der Frage, welches nun diese Erfahrungen sind, die den religiösen Gedanken gezeugt haben. Von Interesse ist hier nicht so sehr die Antwort, die Durkheim bei Max Müller findet, sondern vielmehr die Beobachtung, dass sowohl Müller wie Durkheim von der Prämisse ausgehen, dass eine Erfahrung in Gedanken übersetzt wird – etwa, wie Müller ausführt, in Götternamen. Auch wenn diese Übersetzung den religiös Praktizierenden nicht unbedingt bewusst sein müsse, könne die Religionswissenschaft eine Rückübersetzung leisten und so die ursprünglichen Empfindungen entschlüsseln. »There are thousands of people whose faith is such that it could move mountains, and who yet, if they were asked what religion really is, would remain silent, or would speak of outward tokens rather than of the inward nature, or of the faculty of faith« (Müller 1899: 13). Müller selbst war von einer mentalen Disposition überzeugt »which, independent of, nay in spite of sense and reason, enables man to apprehend the Infinite under different names, and under varying disguises« (ebd.). In Abgrenzung zu Kant, dem Müller vorwarf, bei der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori stehengeblieben zu sein und der damit dem menschlichen Verstand ein Transzendieren des Endlichen aberkannt habe, geht er von einem Vermögen im Menschen aus, das Unendliche zu erfassen, »a power independent of sense and reason«.9 Während die Theoretic Theology mit diesen Fragen befasst sei, sah er es als seine Aufgabe an, die Religionswissenschaft als Comparative Theology (später Comparative Religion) als beschreibende Wissenschaft zu entwickeln und gab damit einer ganzen Fachrichtung einen Namen.10 Beschreiben kann die Religionswissenschaft aber nur, was zuvor als ›Sichtbares‹ festgelegt wurde – dazu dient das Vergleichen. Müller hat dieses Arbeiten in einem Satz zusammengefasst: »All higher knowledge is aquired by comparison and rests on comparison« (1870: 9). Religion geht aber auch für Müller nicht im Sichtbaren und Beschreibbaren auf, sondern verweist auf etwas, woraus sie sich speist, auf einen quasi transzendenten Referenzpunkt, der Vergleiche überhaupt ermöglicht. Dieser ist aber nur mittelbar Gegenstand der Religionswissenschaft: »I do not mean religion as a silent power, working in the heart of men; I mean religion in its outward appearance, religion as something outspoken, tangible, and definite, that can be described and communicated to others. We shall find that in that sense religion lies within a very small compass« (ebd.: 89). Müllers Beschäfti9 | Anzumerken ist, dass Max Müller die erste Übersetzung von Kants Kritik der reinen Vernunft ins Englische vorgelegt hat (1922). 10 | Zu Müller vgl. Kippenberg (1997); Masuzawa (1993, 2003, 2005); Stone (2002); Van den Bosch (2002).
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gung mit der vedischen Religion diente der Suche nach einem Ursprung von Religion überhaupt, und er war davon überzeugt, dass die Religionswissenschaft »eine neue Welt von Schönheit und Wahrheit« offenbaren werde, »die wie ein blauer Frühlingshimmel hinter den dunklen Wolken der alten Mythologie emporsteigt« (1876: 203). Religion als etwas Ausgesprochenes, als Kommunikation, als etwas das beschrieben werden kann: In seinen Untersuchungen zum Ursprung der Sprache betont Müller – in deutlicher und scharfer Abgrenzung zu Darwin –, dass Sprache als das genuine Vermögen des Menschen Dinge nicht nur bezeichnet, sondern insofern performativ ist, als sie Konzeptionen von Dingen ausdrückt (1899; vgl. Knoll 1986). Sprache hat als Träger von Konzeptionen insofern eine eminent religionswissenschaftliche Bedeutung, als sie Einblicke in die frühe Geschichte menschlicher Vorstellungen eröffnet. Allerdings hat es die Religionswissenschaft nur mit einem schmalen Spektrum von Ausdrücken und Artikulationen dessen zu tun, was als implizites Wissen explizit gemacht worden ist. Religionswissenschaft muss das Sichtbare beschreiben, und dazu gehören historisch gewachsene Texte und Traditionen, Rituale, Mythologien, religiöse Gemeinschaften, Lehren, Institutionen, Architektur, Ikonographie und vieles mehr. Vor allem in den Mythen sieht Müller diese Explikation eines ursprünglichen und impliziten Verhältnisses des Menschen zur Welt. Der mythische Diskurs gilt ihm als ein verspätetes Produkt der Sprache, welches aufzeigt, dass sich in die Sprache eine Krankheit eingeschlichen hat, die das implizite ursprüngliche Wissen verstellt. Nun ist die in der Religionswissenschaft des 19. Jahrhunderts dominante Suche nach Ursprüngen heute kaum noch von Bedeutung und spielt wissenschaftsgeschichtlich allenfalls eine untergeordnete Rolle (vgl. Masuzawa 1993; Kippenberg 1997). Damit ist aber weder die Frage nach dem Verhältnis von Erfahrung, impliziter Gewissheit und Explikation, noch die nach der Bedeutung von Vergleichen und Übersetzungen obsolet geworden. Wenn man nun die Ansätze von Otto und Müller auf die Fragestellung nach dem Verhältnis von implizitem und explizitem Wissen hin vergleicht, so kann man an ihnen ein klassisches Problem der Religionsphilosophie, das sich in der Tat, wie Kippenberg und Stuckrad herausstellen, in der Religionswissenschaft und insbesondere in der klassischen Religionsphänomenologie im Muster individuelles Erleben – Ausdruck des Erlebens – Verstehen des Ausdrucks des Erlebens niedergeschlagen hat, erneut diskutieren: Ist Erfahrung als vorbegriffliches, nichtbegriffliches oder nicht-propositionales Wissen dem Ausdruck vorläufig? Oder ist eine nicht-propositionale Erfahrung nur als Negativfolie von propositionalem Wissen zu bestimmen (Bromand/Kreis 2010)? Oder stellt religiöse Erfahrung eine Wissensform anderer Art dar, die nicht vollständig in eine begriffliche, propositionale, explizite oder reflexive Form übersetzt werden kann, die aber dennoch insofern auf sie bezogen bleibt, als sie eine notwendige Voraussetzung jeglicher Explikation darstellt? Müller, der – hierin ganz in der romantischen Tradition verhaftet – den Ursprung der Sprache in der Natur verortete, hatte auch die Artikulation von Got-
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tesnamen nicht als sekundäre Repräsentation eines Naturereignisses verstehen wollen, sondern als die Entwicklung eines Namens aus der Natur.11 Die schlichte Unterscheidung von vorbegrifflichem Erleben und begrifflichem Ausdruck des Erlebens greift daher bereits bei diesem Begründer der Religionswissenschaft zu kurz. Otto wiederum fasst Ausdrücke von Erfahrungen als einen Überschuß, der nicht erfasst wird von dem theoretischen Erkennen der Welt und der Weltzusammenhänge, so wie es in der Wissenschaft sich gestaltet, […] nicht verwendbar als ›Lehraussagen‹ im strengen Sinne und weder systematisierbar noch als Obersätze zu theoretischer Ableitungen brauchbar. Sie sind analogischer, nicht adäquater Natur, und in dieser Einschränkung aber doch zweifellos wahrer Natur, und müssten darum […] doch selber als ›Erkenntnisse‹ bezeichnet werden, allerdings Erkenntnisse intuitiv-gefühlsmäßiger, nicht reflektionsmäßiger Art. (1917: 175f.)
Müller und Otto gehen also weder von einem Vorprädikativen aus, das nachträglich explizit gemacht wird, noch von einer Wissensform, die sich der Rationalität entzieht. Vielmehr spricht Otto von zwei Wissensformen, einem reflexiven Wissen und einem Erfahrungswissen, das einen Überschuss zu den expliziten reflexiven Wissensformen darstellt und Müller betont den expressivistischen Charakter religiöser Aussagen gegenüber Begriffen als Repräsentationen einer gegebenen Wirklichkeit. Unter Absehung der Frage nach dem Ursprung von Religion, wie sie Müller gestellt hat, und mit einer deutlichen Distanzierung von der Vorstellung, das Numinose oder das ›Heilige‹ seien genuine und vornehmste Gegenstände der Religionswissenschaft, will ich im Folgenden fragen, ob nicht sowohl von Müllers wie von Ottos Denkfiguren Verbindungen zu neueren Ansätzen in der Sprachphilosophie sowie in der verstehenden Soziologie gezogen werden können.
R ELIGIONSWISSENSCHAF TLICHE S PR ACHE Wie muss eine religionswissenschaftliche Wissenschaftssprache beschaffen sein, die der Aufgabe, religiöse Erfahrung und ihre Explikation zusammen zu denken, gewachsen ist? Dazu möchte ich zwei Überlegungen anstellen. Wahrscheinlich ist das größte Problem der phänomenologischen Frage das Problem der Sprache. Welche Rolle spielt Sprache und welche Rolle spielt Repräsentation durch Sprache. Vor allen zwei Aspekte stehen dabei in der religionswissenschaftlichen Debatte und insbesondere in der Kritik an der Religionsphänomenologie im Vordergrund: Das Problem der Trennung von Sein und Bedeutung und das Problem, ob und 11 | »Deification… does not mean the application of the name and concept of God to certain phenomena of nature. No, it means the slow an inevitable development of the concept and name of God out of these very phenomena of nature – it means the primitive theogony that takes place in the human mind as living in human language« (Müller 1898: 118).
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wie weit Bedeutung in der Sprache, die das Sein zum Ausdruck bringt, enthalten ist, bzw. transportiert wird. Mit anderen Worten: Ist Sprache die Repräsentation oder Imitation einer bereits gegebenen Wirklichkeit oder Wahrheit, oder ist Sprache wesentlich konstruierend, indem sie Repräsentationen von Repräsentationen formuliert und sich dabei niemals direkt auf etwas der Erfahrung Vorausgehendes beziehen kann? Ich kann hier nicht auf Husserl und Derridas Kritik an dessen Trennung von existierenden Dingen und Einbildung durch Intuition eingehen (Derrida 1992), das Grundproblem muss aber kurz angeschnitten werden: Indem Husserl die Bedeutung der Repräsentation von ihrer Existenz ablöst, macht er jede Bewusstseinserscheinung zu einem legitimen Untersuchungsobjekt. Dies war für ReligionswissenschaftlerInnen ein hinreichender Grund, um sich nun auch mit paranormalen Erscheinungen zu beschäftigen; Grund genug vor allem auch dafür, religiöse Phänomene so zu untersuchen, dass neben dem Namengeben der religiösen Phänomene die Einschaltung in das eigene Leben zu einem wesentlichen Schritt des phänomenologischen Erkenntnisprozesses werden musste.12 Religionsphänomenologen haben Husserls Auffassung, derzufolge Existenz und Bedeutung unterschieden werden können, im Wesentlichen übernommen. Daraus ergaben sich aber zwei Probleme, die am Ende die schon erwähnte massive Kritik an der ganzen Forschungsrichtung hervorgerufen haben: Einerseits entstand eine Spannung zwischen religiöser Aussage der Innenperspektive und phänomenologisch neutraler Repräsentation durch die Religionswissenschaft (Beispiele sind: »Jesus ist für unsere Sünden gestorben« oder »Um Shiva zu verehren muss man Shiva werden«) (vgl. Flood 1999: 99ff.), andererseits mutierte die Religionswissenschaft zur Religionsproduktion, indem mit der Erarbeitung von zeit- und raumübergreifenden Idealtypen (Opfer, Priester, Offenbarung etc.) auch eine Metasprache geschaffen wurde, die diese Idealtypen zu Begriffen erstarren ließ, die nun ihrerseits religionsproduktiv auf religiöse Handlungen, Anschauungsformen und Strukturen in den verschieden Kulturen, in denen europäische Religionskonzeptionen rezipiert wurden, zurückwirken konnten. Reinhardt Kosellecks Untersuchungen zu Wortgeschichte und Begriffsgeschichte könnten hier für die Religionswissenschaft fruchtbar gemacht werden. Koselleck wendet sich in seinen Überlegungen zu einer sozialgeschichtlichen Begriffsgeschichte gegen eine »unbesehene Übertragung gegenwärtiger und zeitgebundener Ausdrucke […] in die Vergangenheit« und übt darüber hinaus Kritik an einer »Geschichte von Ideen, sofern diese als konstante Größen eingebracht wurden, die sich nur in verschiedenen historischen Gestalten artikulieren ohne sich in ihrem Kern zu ändern« (1989: 115). Weiter unterscheidet Koselleck zwi12 | Religionsphänomenologie versteht der herausragende Vertreter der Religionsphänomenologie Gerard van der Leeuw als eine Erlebniswissenschaft. Durch eigenes Nacherleben der religiösen Phänomene soll deren Sinn und Struktur offengelegt, Idealtypen erarbeitet und mit diesen Idealtypen die religiösen Phänomene klassifiziert werden (Leeuw 1933: 640f.).
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schen Worten und Begriffen: »Ein Wort kann nun – im Gebrauch – eindeutig werden. Ein Begriff dagegen muss vieldeutig bleiben, um ein Begriff sein zu können« (ebd.: 119). Die klassische Religionsphänomenologie kann deshalb kaum für eine mit kulturwissenschaftlichen Ansätzen kompatible Religionswissenschaft reaktiviert werden, weil sie genau diese Unterscheidung von Begriff und Wort, ebenso wenig mitmacht wie die Differenzierung von ›Bedeutung‹ und ›Sinn‹, um das religionsphänomenologische Problem in Anlehnung an Gottlob Frege auszudrücken (Frege 1986).13 Dadurch kommt es zu einer Fusion von Begriffen, die in der religionswissenschaftlichen Arbeit als analytische Begriffe eingeführt werden, mit der populären Verwendung von Worten wie sie von Akteuren verwendet werden, die ihre Erfahrungen als religiös konnotieren. Da die Grundbegriffe der Religionswissenschaft nicht rein in einer klassischen Wissenschaftssprache verortbar sind, muss immer wieder auf die Umgangssprache als Metasprache zurückgegriffen werden. Diese kann als metaphorische Sprache jedoch wissenschaftliche Anforderungen an Exaktheit und Objektivität nicht erfüllen, so dass wissenschaftliche Erkenntnis alltagssprachlich kontaminiert wird. Nach Frege sollten die kategorialen Erläuterungen einer Metasprache die Eigenschaften der jeweiligen wissenschaftlichen Einzelerkenntnisse abbilden. Die Metasprache kann gar nicht adäquat sein, da sie die Unvollständigkeit der singulären Aspekte zum Ausdruck bringt. In den Grundlagen der Arithmetik hat Frege das für die weitere Sprachphilosophie prägend (Searle, Wittgenstein, Brandom u.a) so ausgedrückt: »nur im Zusammenhang eines Satzes bedeuten Wörter etwas« (1987: §46). Was für die Religionswissenschaft ein Problem der Abgrenzung von – auch durch die Theologie – diskursiv geprägten Termini wie »Religiöse Erfahrung« darstellt, die weitgehend als religiöse Praktiken übergreifende Metabegriffe fungieren, kann aber methodisch fruchtbar gemacht werden, wenn die Religionswissenschaft, indem sie Religion als einen Aspekt von Kultur behandelt, auch nicht-propositionale Gehalte – mehrdeutige, ambivalente, kulturell dynamische Wissensformen, Praktiken und Ressourcen – synchron wie diachron in den Blick nimmt. Anne Koch hat gefordert, dass eine religionswissenschaftliche Metasprache so flexibel sein muss, dass sie sich immer wieder kontextualisieren bzw. an ihren Gegenstand rückbinden lässt: Rückbindungen an Handlung, Handlungsumgebung und Singularität sind nur einige von mehreren Merkmalen einer religionswissenschaftlichen Metasprache, die Non-Propositionalität mit einbezieht oder sogar nutzt. Eine weitere Rückbindung geschieht an somato-sinnliche Abläufe des menschlichen Körpers und an religionsrhetorische Prozesse des Glaubhaftmachens, welche bei modernen Rezipienten oft unausdrücklich, ›schleichend‹
13 | Vgl. zu der eigenwilligen Verwendung von ›Sinn‹ und ›Bedeutung‹ bei Frege auch Bertram (2011).
Präsenz und implizites Wissen — Religionswissenschaftliche Perspektiven oder ›in der Schwebe‹ vonstatten gehen wie auch reflektiert, erfahrungsbasiert oder fundamentalisiert. (2007: 38)
Mit dem Zugeständnis, letztlich mit nicht abschließbaren Grundbegriffen arbeiten zu müssen, nimmt Religionswissenschaft, wie Koch deutlich macht (ebd.: 37f.), einen wichtigen Aspekt kultureller Praxis auf: Jede kulturelle Praxis wählt nämlich aus der unendlichen Möglichkeit der Handlungsoptionen nur die jeweils relevanten aus. Wenn Religionswissenschaft sich in diesem Feld der kulturellen Selektion von implizitem Wissen und der ebenfalls selektiven Explikation von religiösen Präsenzerfahrungen bewegt, kann es nicht ihre Aufgabe sein, ein idealtypisches vollkommenes Handlungsfeld (wie den Islam, den Hinduismus, die säkulare Moderne, Bhakti, Erfahrung, Meditation o.ä.) metasprachlich zu rekonstruieren, sondern nur diejenigen Aspekte, die für die Akteure relevant erscheinen. Religionswissenschaft hat es immer mit lokalen und kontextuellen Instantiierungen von Sprache zu tun (vgl. Sedmak 2001: 124). Damit ist aber auch immer die Innenperspektive Gegenstand religionswissenschaftlicher Reflexion, die Perspektive der Betroffenen, die sich von der Außenperspektive der Religionswissenschaftlerin unterscheidet. Auch wenn Religionswissenschaft nur die Diskursivierungen und die öffentliche Kommunikation religiöser Innenperspektiven erforschen kann, wird sie doch davon ausgehen müssen, dass es sich dabei um unterschiedliche Wissensformen handelt, die man mit Bertrand Russell als ›knowledge by acquaintance‹ auf Seiten der Innenperspektive und ›knowledge by description‹ auf Seiten der Religionswissenschaftlerin unterscheiden könnte (1912). Sie kann dann zumindest unterstellen, dass auch Formen impliziten Wissens, die sich nicht in Propositionen vermitteln oder darstellen lassen und die an religiöse Performanzen, Handlungen, Rituale u.ä. zurückgebunden werden für die Akteure handlungsleitend sind. Dann kann Religionswissenschaft, wie Hubert Knoblauch aufgezeigt hat, ihr Augenmerk auch auf Phänomene richten, die gemeinhin unter Kategorien wie ›schwebende Religiosität‹ oder ›unsichtbare Religion‹ (Luckmann) gefasst werden (2009). Denn das, was Knoblauch als ›Spiritualität‹ bezeichnet, lässt sich als eine Art Narrativierung oder Semantisierung fassen, d.h. als Explikation einer bestimmten Art von Erfahrungen, die als ›implizites Wissen‹ beschrieben werden können. Kommen wir zurück zu Kippenbergs und Stuckrads Kritik an der Relation individuelles Erleben – Ausdruck des Erlebens – Verstehen des Ausdrucks des Erlebens. Otto hat Ausdrücke von Erfahrung als eigenen Bereich neben das theoretische Erkennen gestellt. Mit anderen Worten: Wenn wir diese Erfahrungen als eine Form von implizitem Wissen bezeichnen, dann ist klar, dass implizites Wissen zwar in Differenz zum expliziten Wissen steht, dass es aber nicht nur nicht-propositionales, nichtbegriffliches Wissen einschließt, sondern auch propositionales. ›Religiöse Erfahrung‹ ist eine kommunikative Konstruktion, die wir da beobachten können, wo in der Religion Erfahrung expliziert wird. Religionswissenschaft beobachtet immer nur aus einer Position zweiter Ordnung. Wenn sie aber auf eine fixierte Metaspra-
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che der Begrifflichkeit verzichtet und stattdessen, wie oben dargelegt, auf den Gebrauch der Worte achtet,14 dann kann sie diese Position auch einnehmen, ohne behaupten zu müssen, man könne die ›eigentliche‹ Erfahrung der Religion aufgrund ihres impliziten Status gar nicht erkennen. Das implizite Wissen, das hier als ein Wissen der religiösen Erfahrung untersucht wird, hat bereits Michael Polanyi als »Personal Knowledge« bezeichnet und damit den individuellen Charakter dieser Wissensform hervorgehoben (1973). Das Personale, so Polanyi, meint weder das Objektive noch das Subjektive; »it transcends the disjunction between subjective and objective« (ebd.: 300). Warum? Polanyi führt in diesem Zusammenhang den Begriff ›commitment‹ ein und differenziert zwischen denjenigen, die in einem Akt des Wissens ›committed‹ sind und denjenigen, die als Nichtbeteiligte diesen Akt als subjektiven Akt identifizieren. Jedes Wissen hat nach Polanyi Aktcharakter (Mitchell 2006: 59ff.) und er kritisiert eine Korrespondenztheorie von Wahrheit, die die Korrespondenz von subjektivem Glauben und Tatsachen zur Grundlage hat: »The ›actual facts‹ are accredited facts, as seen within the commitment situation, while subjective beliefs are the convictions accrediting these facts as seen non-committialy, by someone not sharing them« (Polanyi 1973: 304). Darüber hinaus bestimmt Polanyi ›personal knowledge‹ aufgrund seines Aktcharakters als deiktisch. Implizites Wissen existiert also, gerade weil es die Trennung zwischen Subjektivem und Objektivem überschreitet, nur in öffentlichen und externalisierten Handlungen und In-Szene-Setzungen. Wir können daher der Religion sehr wohl dabei zusehen, wie sie implizites Wissen expliziert. Die Differenz zwischen der impliziten Geltung und der expliziten Legitimation ist aber, wie Kippenberg und Stuckrads Kritik zeigt, ein konstantes Muster in gegenwärtigen religionswissenschaftlichen Diskursen, wobei das implizite Wissen als persönlich-subjektives Wissen definiert wird, das explizite Wissen hingegen als öffentlich-objektives Wissen. Diese Unterscheidung wird aber der Problematik auf doppelte Weise nicht gerecht: Insbesondere die neuere Ritualforschung hat herausgestellt, dass implizites Wissen nicht exklusiv als persönliches Wissen verstanden werden kann, sondern stets auch als eine kollektive Praxis, die in Organisationen gelernt wird, die demnach auch als eine praktisch eingeübte Form der Gewissheit erschließbar sein muss. Zum anderen können wir kaum noch davon ausgehen, dass ein implizites Wissen der Religion gegen ein explizites Wissen der Wissenschaft gestellt werden kann. Die Differenz, das haben Polanyis Ausführungen zu Wissenschafts- und Erkenntnistheorie deutlich gemacht (vgl. Mai 2009), verläuft vielmehr innerhalb der Teilbereiche: Es gibt die Differenz implizit/explizit sowohl innerhalb der Religion wie innerhalb der Wissenschaft.
14 | Gavin Flood spricht von der »centrality of narrative in the process of understanding religion« und unterscheidet die insider und die outsider-Perspektive als »different narrative accounts« (1999: 119).
Präsenz und implizites Wissen — Religionswissenschaftliche Perspektiven
E XPLIK ATION STAT T R EPR ÄSENTATION Die Religionswissenschaft und die Ethnologie stecken nach wie vor in dem Dilemma, nicht ausreichend geklärt zu haben, inwieweit allgemeine Wahrheitsaussagen in die Beschreibung anderer Kulturen und Religionen eingehen dürfen oder können. Während Teile der Religionswissenschaft das religiöse Sprachspiel zu ihrem zentralen Anliegen gemacht haben – wie oben bei James, Otto, van der Leeuw und anderen gezeigt wurde; zu erinnern ist aber auch an Wilfred Cantwell Smiths Unterscheidung von ›Faith‹ und ›Belief‹, seine Bestimmung von Religionen als ›cumulative traditions‹, sein Projekt einer Welteinheitstheologie (1981, vgl. dazu Nehring 2005a) und seine Forderung einer dialogischen Religionswissenschaft, die die Teilnehmerperspektive als konstitutiv für religionswissenschaftliches Forschen ansieht (1963) – haben die Ethnologie und die kulturwissenschaftlich arbeitende Religionswissenschaft dieses Spiel als der Wissenschaft nicht zugänglich suspendiert und damit eine Inkommensurabilität postuliert, die keinen Zugriff auf fremde religiöse Erfahrung mehr zulässt. Wittgenstein hatte in den Philosophischen Untersuchungen gezeigt, dass die verschiedenen Praktiken unserer Kultur Sprachspielen gleichen, die letztlich unvermittelbar sind. Peter Winch hat diesen Gedanken ausgebaut und hinsichtlich Beschreibungen unseres kulturellen, sozialen und wissenschaftlichen Selbstverständnisses weiterentwickelt (1966). Allerdings hat der daraus resultierende interkulturelle Relativismus in der Beschreibung von Lebensformen insofern in eine Sackgasse geführt, als eine repräsentationalistische Sichtweise von Sprachspielen als expliziten Artikulationen von Lebensformen dazu geführt hat, die unmittelbare Abhängigkeit jeder Erfahrung von der partikularen Geschlossenheit einer kollektiven Sprache als unhintergehbar anzunehmen. Wittgensteins Sozialisierungskonzept wurde meist im Zusammenhang seines Privatsprachenarguments betrachtet, das er bekanntermaßen so formuliert: »Es kann nicht ein einziges Mal nur ein Mensch einer Regel gefolgt sein. Es kann nicht ein einziges Mal nur eine Mitteilung gemacht, ein Befehl gegeben, oder verstanden worden sein etc. -- Einer Regel folgen […] sind Gepflogenheiten (Gebräuche, Institutionen)« (1967: §199). Das Privatsprachenargument stellt jede Behauptung eines Zugangs zu religiöser Erfahrung über private bzw. nur individuelle Erfahrungen von Präsenz des ›Heiligen‹, Göttlichen, Numinosen in Frage, ebenso wie es auch impliziert, dass der einzelne Gläubige untrennbar auf die Gesamtheit seiner religiösen Tradition bezogen ist und ohne die Gemeinschaft, bzw. außerhalb diskursiver Formationen, die die religiöse Gemeinschaft bereitstellt, keine Erfahrungen machen kann. Dieses Argument, das auch Saul Kripke in seiner berühmten Kritik von Wittgensteins Thesen über die Privatsprache vorbringt (1987: 141), zielt vor allem auf die semantischen Bedeutungen von Regeln, bzw. von religiös konnotierten Erfahrungen, nicht aber auf die Frage, wie die Praxis der Regelbefolgung sich vollzieht. Wittgenstein fährt allerdings fort: »Darum ist ›der Regel folgen‹ eine Praxis. Und der Regel zu folgen glauben ist nicht: der Regel folgen. Und darum kann man
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nicht der Regel ›privatim‹ folgen, weil sonst der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen« (1967: §202). Einer Regel folgen ist nach Wittgenstein eine Praxis, die innerhalb des Bezugsrahmens einer »gemeinsamen menschlichen Handlungsweise« (ebd.: §206) stattfindet. Es geht also nicht um Verstehen oder Deutungen, sondern um eine Praxis. Neuere Lesarten der Wittgensteinschen ›Lebensformen‹, die handlungstheoretisch ansetzen, können für die Religionswissenschaft gerade da hilfreich sein, wo diese in repräsentationskritischen Dilemmata der Wahrnehmung des Fremden, dem ›othering‹, in der Kritik an dem phänomenologischen Dreischritt individuelles Erleben – Ausdruck des Erlebens – Verstehen des Ausdrucks des Erlebens und in internen Debatten um den Eurozentrismus der eigenen Begrifflichkeit15 stecken geblieben ist. Die wissenschaftliche Erforschung religiösen Handelns hat unmittelbar an die Sprache der Akteure anzuschließen. Das bedeutet aber keineswegs, dass die empirische religionswissenschaftliche Forschung das den Akteuren selbst verfügbare Wissen über die Regeln, denen sie als religiös Handelnde folgen, bloß wiedergeben könnte oder müsste. Zwei Aspekte sind hier zu beachten: Zum einen muss die Frage der Repräsentation in der religionswissenschaftlichen Arbeit als Problem der inter/kulturellen Übersetzung reflektiert werden. Zum anderen ist zu fragen, ob das Explizieren eines impliziten Wissens, das in der religiösen Erfahrung verankert ist, auch anders als in repräsentationalistischen Paradigmen verdeutlicht werden kann. Abschließend sollen diesbezüglich die Ansätze des Soziologen Joachim Renn und des Philosophen Robert B. Brandom betrachtet werden.
K ULTURELLE Ü BERSE T ZUNG Die mittlerweile etablierte Kritik an repräsentationalistischen Ansätzen hat immer wieder gezeigt, dass die Repräsentation des ›native point of view‹ nicht ohne weiteres möglich ist (vgl. Berg 1993). Nun wird die Religionswissenschaft, ähnlich wie die Ethnologie, oftmals mit der Metapher des Übersetzens zwischen Kulturen belegt (Tyler 1991; Asad 1993). Wenn man aber nicht von einer grundsätzlichen Inkommensurabilität zwischen Kulturen ausgeht und zugleich zugesteht, dass ReligionswissenschaftlerInnen religiöse Aussagen, Handlungen, Texte, Rituale usw. niemals vollständig in die eigenen kulturellen Muster und in die eigene Wissenschaftssprache übersetzen können, dann muss reflektiert werden, worin die Gemeinsamkeiten zwischen entgegengesetzten Kulturformen (der religiösen und der wissenschaftlichen, der fremden und der eigenen) bestehen. Die Annahme der Inkommensurabilität und Unübersetzbarkeit muss, wie Joachim Renn herausstellt (2005), zumindest eine Erfahrung des Abstands voraussetzen, die jemanden 15 | Siehe dazu Fitzgerald (2000) und McCutcheon (2000); Zur Begriffsgeschichte von ›Religion‹ und der Problematisierung eines Eurozentrismus des religionswissenschaftlichen Diskurses über diesen Begriff siehe Bergunder (2012 im Druck).
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dazu bringt, diese Annahme zu formulieren. Wenn wir behaupten, dass es in einer anderen Sprache kein Äquivalent für ein bestimmtes Konzept gibt, müssen wir zumindest einen Vergleichspunkt haben, auch wenn dieser in keiner der beiden zu vergleichenden Sprachen ausgedrückt werden kann. Der Vergleich, der ja in der Beschreibung religiöser Phänomene intentional geleistet werden muss, transzendiert jede explizite Artikulation, und zwar genau deshalb, weil er auf der Vorannahme basiert, dass er sich auf die impliziten Inhalte beziehen muss, die nicht zwischen den Kulturen ausgedrückt werden können, die allerdings im praktischen Gebrauch stets präsent sind. Dieser von Renn hervorgehobene Aspekt ist für die religionswissenschaftliche Theoriebildung deshalb relevant, weil er einerseits aufzeigt, dass die Beschreibung religiöser Phänomene nicht in den Aporien kultureller Inkommensurabilität enden muss, andererseits dennoch die Erfahrung der Unübersetzbarkeit ernst nimmt und auf die Grenzen der eigenen Sprachspiele als Grenzen der eigenen Identität reflektiert. Renn fordert, zwischen zwei Modi der Kultur zu unterscheiden, der performativen und der expliziten Kultur, die sich darin unterscheiden, welche Funktion der expliziten Sprache zukommt (ebd.: 211). Wie oben bereits ausgeführt, lässt sich aus der Tatsache, dass religiöse Akteure Regeln folgen bzw. in der Lage sind, ihnen zu folgen, nicht zwingend schließen, dass sie auch in der Lage sein müssen, die Regeln selbst zu benennen, also das was sie implizit tun auch zu explizieren. Hans Julius Schneider hat herausgestellt, dass ›einer Regel folgen‹ in erster Linie eines habitualisierten, eingeübten Könnens bedarf, nicht unbedingt aber eines expliziten Wissens (2000). Renn versteht kulturelles Wissen als implizites, »vornehmlich praktische[s] Wissen, das den konstitutiven Hintergrund für explizite kommunikative Akte, Erfahrungen, Urteile und Handlungen bildet« (2004: 233). Wir können daher differenzieren zwischen religiösen Erfahrungen, religiöser Gewissheit (vgl. Wittgenstein 1970) und religiösen Performanzen einerseits und religiösen Texten, Regeln, Ritualen, Strukturen usw. andererseits. Beide Aspekte können durch die Rolle und Funktion expliziter Sprache differenziert werden. Die Funktion impliziten Wissens kann nicht durch regelhafte Anwendung expliziten Wissens substituiert werden; implizites Wissen geht also auch nicht auf in einer Bestimmung als ›noch nicht‹ thematisiertes Wissen. Schon Polanyi hatte ja in diesem Sinne konstatiert, dass wir mehr können als wir zu sagen wissen. Renn argumentiert nun, dass Konzeptualisierungen von Kultur meist einem kognitivistischem Modell folgen und dass das Verhältnis von implizitem und explizitem Wissen meist im Muster der Repräsentation eines noch nicht thematisierten, aber im Prinzip vollständig explizierbaren Wissens gedacht wird. Dagegen betont Renn, dass der Geltungsmodus impliziten Wissens von demjenigen des expliziten Wissens insofern zu unterscheiden ist, als der Bezug zur Praxis für das implizite Wissen von zentraler Bedeutung ist. Implizites religiöses Wissen ist daher nicht in seinen möglichen Explikationen (Texte, Aussagen, Dogmen) zugänglich, sondern nur indirekt durch seine Wirkungen und in performativen Akten, in denen es sichtbar wird. Der entscheidende systematische Schritt, den Renn vorschlägt, ist, dass kulturelle Explikationen, als Wissenssysteme die auf Inten-
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tionalität basieren, als symbolische Ordnungen, die auf textuelle und sprachliche Strukturen referieren und als Institutionen, die in Normen und Regeln verankert sind, selbst Übersetzungen und damit Transformationen im Geltungsmodus darstellen. Die irrtümliche Annahme eines kognitivistischen Kulturmodells liegt darin, die Explikation impliziten Wissens als vollständige Repräsentation eines kulturellen Wissens aufzufassen, das bisher nur noch nicht explizit gemacht worden ist (Renn 2004: 235). Renn betont dagegen, dass explizites Wissen tendenziell eine Abstraktion und Fixierung kultureller Handlungsmuster darstellt, während implizites Wissen als für die Praxis konstitutives Wissen flexibel und reformulierbar sein muss (2005: 212). Sowohl der Übergang von implizitem Wissen zu explizitem Wissen, als auch die wissenschaftliche reflexive und rekonstruktive Beschreibung einer anderen Religion durch die Religionswissenschaft, stellen also, nach dem Ansatz von Renn, Übersetzungsverhältnisse dar, die zu reflektieren sind. Weder die dialogische Perspektive, die Cantwell Smith für die Religionswissenschaft im Verhältnis zu ihrem Gegenstand gefordert hat und die eine wie auch immer artikulierte Innenperspektive in die religionswissenschaftliche Forschung einbezieht, noch der phänomenologische Ansatz, der eine implizite religiöse Erfahrung zum Ausgangspunkt religionswissenschaftlicher Forschung macht, sondern die – auch schon von Peter Winch angeregte – Selbstreflexion des eigenen wissenschaftlichen Standpunktes in der Beschreibung religiöser/fremdreligiöser Lebensformen rückt damit in den Vordergrund. Religionswissenschaft ist selbst eine Form der kulturellen Explikation einer Lebensform, die sich im Rahmen des Wissenschaftssystems auf die Beschäftigung mit anderen, religiös konnotierten Lebensformen spezialisiert hat. Wenn die Formen des impliziten und des expliziten religiösen Wissens also nicht vereinfachend in dem von Kippenberg und Stuckrad monierten Dreischritt abgebildet werden und wenn implizit nicht mit subjektiver Innerlichkeit im Gegensatz zu expliziten öffentlichen Glaubensinhalten gleichgesetzt wird, dann eröffnet sich für die Religionswissenschaft auch ein Zugang zu Formen des Religiösen, die sich im Selbstverständnis der religiösen Individuen und Gruppen als nicht mitteilbar darstellen, die aber sehr wohl als handlungsleitendes Wissen erschließbar sind (Renn 2004: 247f.).
E XPRESSIVE V ERNUNF T Auch Robert Brandoms sprachphilosophischer Ansatz kann für die Religionswissenschaft fruchtbar gemacht werden, um religiöse Erfahrung als implizites religiöses Wissen in den Blick zu nehmen. Robert Brandoms Hauptwerk Making it Explicit (1994), kann als eine systematische Ausarbeitung der Frage gelesen werden, wie Menschen die Fähigkeit entwickeln, Begriffe zu verwenden. Sein Ansatz fragt somit auch danach, wie man verstehen kann, »was es heißt explizit zu sagen oder zu denken, dass etwas der Fall ist« (Brandom 2001: 31). ›Bedeutung ist Gebrauch‹, so könnte man Brandoms These zuspitzen, die er neu ausarbeiten will. Ausge-
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hend von einem Ansatz sozialer Praxis interessiert sich Brandom für die genaue Struktur, die eine genuin bedeutungsvolle – und das heißt bei ihm: sprachliche – Praxis aufweisen muss. Hier geht es nicht nur darum, dass ein Begriff richtig auf einen Gegenstand bezogen wird, sondern vor allem um die Kenntnis der inferentiellen Beziehungen, die zwischen Begriffen bestehen, da der Gehalt eines Begriffs wesentlich davon abhängt, in welchen Inferenzen er zu anderen Begriffen steht. Brandoms Ansatz unterscheidet sich damit generell von repräsentationalen Theorien des Gehalts, die die Beziehung zwischen Begriffen und Gegenständen als konstituierend ansehen. Brandom entwickelt eine kulturgeschichtliche Differenz zwischen der Tradition der Aufklärung, die die Repräsentation in den Vordergrund gerückt hat und der Romantik, die als Gegenposition dazu die Expression betont habe (ebd.: 17). Schon diese Differenzierung ist für die Religionswissenschaft von Interesse. Erst vor wenigen Jahren hat Burkhard Gladigow wieder gefragt: »War die Religionswissenschaft ein ›Kind der Aufklärung‹,….oder vielmehr ein ›Kind der Romantik‹ – als einer Reaktion auf die Aufklärung?«, um daraufhin zu konstatieren: »Für beide Positionen können gute Argumente gefunden werden« (2004: 18). Gladigow ordnet die Entstehung der Religionswissenschaft eher der Romantik zu, die mit Schleiermachers Reden zwischen Aufklärung und Romantik begonnen habe und deren zeitliche Formierungsphase mit Max Müller am Ende des 19. Jahrhunderts ihren Abschluss gefunden habe (vgl. Kippenberg/Luchesi 1991). Brandom sieht sich in der Tradition der Romantik, allerdings distanziert er sich nicht nur vom Repräsentationalismus der Aufklärung, sondern auch vom Expressivismus der frühen Romantiker. Letzterer habe in der Tradition Herders darunter einen Prozess verstanden, durch den ein Inneres zu Äußerem wird, allerdings müsse der Prozess des Ausdrückens nicht als ein Transformieren von Innerem zu Äußerem gedacht werden, »sondern als ein Explizitmachen des Impliziten« (Brandom 2001: 18). Brandom entwickelt daraus einen relationalen Expressivismus, indem er herausstellt, dass etwas, »was wir nur tun können, zu etwas wird, was wir können«, also mit Ryle gesprochen, ein ›knowing-how‹ in der Form eines ›knowing-that‹ kodifiziert wird (ebd.: 18f.). Dabei – und darin setzt er sich von romantischen Ansätzen ab – ist aber das implizite Können wie auch das implizite Glauben, dass etwas der Fall ist, nicht unabhängig von der Explikation, dass etwas der Fall ist, verständlich zu machen. Brandom wehrt sich gegen die Vorstellung, dass das, was ausgedrückt wird, und der ausdrückende Ausdruck getrennt voneinander betrachtet und untersucht werden können. »Das was ausgedrückt wird muss anhand der Möglichkeit verstanden werden, es auszudrücken« (ebd.: 19). Brandoms relationaler Expressivismus zielt also darauf, »sprachliche Performanzen und die intentionalen Zustände, die durch sie ausgedrückt werden, jeweils als wesentliche Bestandteile eines Ganzen zu verstehen, das nur in Begriffen ihrer Relation verständlich ist« (ebd.: 19). Die von Kippenberg und Stuckrad kritisierte Abfolge von individuellem Erleben – Ausdruck des Erlebens – Verstehen des Ausdrucks des Erlebens ist in ihrer romantischen Wendung der Unterstellung, dass es eine Relation zwischen innerem
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Gefühl bzw. religiöser Präsenzerfahrung und dessen Ausdruck durch Worte und Gesten gibt, die ReligionswissenschaftlerInnen verstehen können, in der Tat zurückzuweisen. Bei der Expression oder Explikation handelt es sich nicht um ein Begrifflichmachen einer noch vorbegrifflichen Erfahrung; vielmehr tritt das, was ausgedrückt wird, in zweierlei Gestalt auf: als das Implizite (lediglich potenziell Ausdrückbare) und als das Explizite (das tatsächlich Ausgedrückte). Es handelt sich also um ein Ganzes, das nur in Begriffen der Relation der beiden Aspekte ausgedrückt werden kann, d.h. dass die Relata – impliziter Glaube und Explikation durch Worte oder Gesten – nur durch eine Bezugnahme auf das Verhältnis des Ausdrückens verständlich werden. »Über Expression zu reden heißt, über einen Prozess der Transformationen von etwas zu reden, was kraft seiner Rolle in diesem Prozess als ein Gehalt sichtbar wird […]« (ebd.: 28). Bislang wurde dieser Ansatz in der Religionswissenschaft nicht fruchtbar gemacht.16
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Populäre Achtsamkeit Kulturelle Aspekte einer Meditationspraxis zwischen Präsenzerfahrung und implizitem Wissen Andreas Nehring und Christoph Ernst
I. S TICHWORT ›A CHTSAMKEIT‹ Der Begriff der ›Achtsamkeit‹ beschreibt eine selbstreflexive Form der Aufmerksamkeitslenkung des phänomenalen Bewusstseins, in der das eigene Erleben aus Perspektive einer Beobachtung zweiter Ordnung im Rahmen einer meditativen Praxis widergespiegelt wird. Achtsamkeit zielt nicht auf eine gesteigerte Erfahrung der Selbstwahrnehmung im Sinne einer vertieften Reflexion. Vielmehr wird eine nicht wertende, neutrale Haltung angestrebt, in der Gedanken und Empfindungen im Prozess ihres Entstehens und Vergehens beobachtet werden (›MonitorPosition‹). Man spricht in diesem Zusammenhang auch von dem Zustand des ›Gewahrseins‹. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass die Wahrnehmung von einem Wissen darüber begleitet wird, alle Inhalte der Selbstwahrnehmung zuzulassen, wohingegen dem alltäglichen fokussierten Bewusstsein die Tendenz zugeschrieben wird, die Wahrnehmung den eigenen Konzepten, Interpretationen und Beurteilungen unterzuordnen und zu verengen. Als Bewusstseinszustand ist Achtsamkeit weniger eine aktive Selbsterforschung als eine passive Widerspiegelung von Gedanken und Empfindungen in einer gegebenen Situation. Daher wird Achtsamkeit auch als ›Öffnung‹ der Selbstwahrnehmungsfähigkeit auf die Vielfalt und ›Fülle‹ des gesamten Spektrums des inneren Erlebens und seiner Wahrnehmung erklärt (›mindfulness‹). Als Form der emotionalen und rationalen Akzeptanz gegenüber einem gegebenen Zustand wird Achtsamkeit aber auch eine Einsichtsmöglichkeit in die Dynamik bewusster Denkprozesse und ein vertieftes Bewusstsein für die Verbindung dieser Denkprozesse mit körperlichen Zuständen zugeschrieben. Durch die Verknüpfung mit der besonderen körperlichen Erfahrungssituation einer meditativen Praxis soll Achtsamkeit eine Möglichkeit darstellen, die Verflechtung habitualisierter Bewertungs- und Gefühlsmuster mit einem impliziten Körperwissen explizit zu erfahren, um so
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im alltäglichen Erleben Spielräume für deren Gestaltung und Veränderung zu eröffnen. Entlehnt aus der Theravāda-buddhistischen Tradition des Vipassanā sind diese Eigenschaften von Achtsamkeit seit den späten 1970er Jahren unter anderen durch den amerikanischen Molekularbiologen Jon Kabat-Zinn unter dem Titel einer ›Mindfulness-Based Stress Reduction‹ (MBSR) für therapeutische Zwecke in der Medizin und der Psychologie nutzbar gemacht und mit großem Erfolg bei der Behandlung einer breiten Palette von psychosomatischen und körperlichen Erkrankungen verwendet worden. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass die heute angewandten Übungen aus der buddhistischen Meditationstechnik erst über die Begegnung mit der westlichen Kultur und deren Verständnis von individueller Erfahrung ihre jetzigen Ausformungen angenommen haben. Sowohl als philosophisches Konzept als auch als Meditationspraxis wird Achtsamkeit im Westen seit dem 19. Jahrhundert rezipiert und erfährt gegenwärtig, weit über die Medizin und die Psychotherapie hinaus, in der Wissenschaft, der Religion, dem Erziehungssystem und der Populärkultur erhebliche Beachtung. Es hat sich ein breiter Diskurs um Achtsamkeit entfaltet und man kann ohne Übertreibung behaupten, dass Achtsamkeit das derzeit populärste Schlagwort ist, wenn es um die Schulung des Bewusstseins geht. In der Wirtschaft wird gestressten Mitarbeitern Achtsamkeitsmeditation als Burn-Out-Prävention empfohlen. In der Medizin, der Psychologie und den kognitiven Neurowissenschaften werden die gesundheitsfördernden Effekte von Achtsamkeitsmeditation erforscht. Philosophen fordern Achtsamkeitsmeditation in der Schule, um Kinder mit der Dynamik des eigenen Bewusstseins und seinen körperlichen Auswirkungen vertraut zu machen. Religiöse Akteure an der Schnittstelle zwischen institutionalisierter Religion und Esoterik sehen in Achtsamkeitsmeditation das Kernphänomen einer westliche und östliche Einflüsse verbindenden spirituellen Praxis. In der Pädagogik diskutiert man Achtsamkeit als eine Praxis der Selbstfürsorge und der Erhaltung von Lernfreude. Und in der Medienlandschaft ist dort, wo die gestiegene öffentliche Berichterstattung über psychische Erkrankungen sich in Fragen der persönlichen Lebensgestaltung übersetzt, fast reflexartig von Achtsamkeitsmeditation als einem zeitgemäßen Sinnangebot die Rede. Man kann hier von ›populären‹ Achtsamkeitsdiskursen sprechen, die heterogene gesellschaftliche Kontexte übergreifen. Um die Vielfalt der Bezugnahmen auf Achtsamkeit in Wissenschaft und Gesellschaft angemessen beurteilen zu können, ist es im Unterschied zur bisherigen Forschung angezeigt, die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen soziokulturellen Rezeptionen und Anwendungen von Achtsamkeit in das Zentrum der wissenschaftlichen Betrachtung zu rücken. Es ist nicht nur notwendig, das Wissen um die (empirisch zu validierende) psychologische Wirksamkeit von Achtsamkeit zu vertiefen, sondern auch die gesellschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen des Konzeptes besser zu verstehen. Die Akzeptanz und Wirksamkeit von Achtsamkeit spielen ineinander und Akzeptanz kann nur über die Aufklärung der kulturellen Voraussetzungen erklärt werden. Die kulturwissenschaftliche Befragung zielt
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deshalb auf mehr als eine Kritik der empirischen Forschung, ihr Anliegen ist es vielmehr, diese Forschung auf eine breitere Grundlage zu stellen. Im Folgenden sollen Ideen entwickelt werden, die sich auf die Wechselwirkungen von psychosozialen und kulturellen Dynamiken beziehen. Es geht darum, die scheinbar einfache Frage zu beantworten, warum gerade Achtsamkeitsmeditation gegenwärtig so populär ist, was also die Attraktivität dieser Meditationspraxis in der Gegenwartskultur auszeichnet. Die vorliegenden Überlegungen verstehen sich als ein erster Schritt in diese Richtung.
II. K ULTURWISSENSCHAF TLICHE A NSAT ZMÖGLICHKEITEN Eine kulturwissenschaftliche Herangehensweise betrachtet das Achtsamkeitskonzept im Kontext der zeitgenössischen Bedingungen seiner kulturellen Repräsentation. Achtsamkeit ist als eine Praxis verflochten mit Diskursen ihrer Legitimation und Auslegung, also mit expliziten Semantiken. Gegenüber positivistischen Versuchen, die supponierte ›Wirksamkeit‹ von Achtsamkeit empirisch zu bestätigen, ist zu betonen, dass diese Semantiken nicht nur abgeleitete Deutungen von dem sind, was in meditativer Praxis ›erfahren‹ wird, sondern dass sie die Erfahrungsdimension einer ausagierten Meditationspraxis in Form von Erwartungen und Voreinstellungen mitstrukturieren. Was das Phänomen der multidimensionalen Rezeption von Achtsamkeit für die Kulturwissenschaft interessant macht, ist, dass hier ein Anwendungsfall einer übergeordneten sozial- und kulturwissenschaftlichen Frage zu erkennen ist – und zwar der Frage, wie sich in einem gegebenen Kontext die Grenze zwischen einer nur dem individuellen Bewusstsein zugänglichen Erfahrung (aus Perspektive der ersten Person) und ihrer Repräsentation in der Kommunikation, also durch Medien wie die Sprache, die klassischen Massenmedien, aber auch in körperlichen Praktiken externalisierten, stabilisierten und für eine reflexive Betrachtung objektivierbaren Diskursen (aus Perspektive der dritten Person) ausgestaltet. Die Frage lautet also, anders formuliert, wie zwischen Achtsamkeit als einer nur ›privat‹ zu erlebenden Sinnerfahrung (Bewusstsein) und den ›öffentlichen‹ Formen der Verhandlung von Achtsamkeit in gesellschaftlichen Diskursen (Kommunikation) übersetzt wird. Diese funktionale Frage des ›Wie‹ kann gleichwohl nicht von ihren impliziten Dimensionen des ›Was‹, ›Wann‹, ›Wozu‹ und ›Warum‹ abgelöst werden. Jede kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit Achtsamkeit – egal aus welcher fachlichen oder theoretischen Facette der Kulturwissenschaft – muss die Achse einer historisch-kulturvergleichenden Aufarbeitung der Rezeption von Achtsamkeit in ›westlichen‹ und ›östlichen‹ Diskursen ebenso einschließen, wie sie es notwendig macht, das systematisch-kulturanalytische Verständnis von Achtsamkeit in diesen aktuellen Semantiken zu vertiefen. In historisch-kulturvergleichender Perspektive ist die zeitgenössische Rezeption von Achtsamkeit in Deutschland mannigfaltig durch kulturelle Austausch-
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und Transferbeziehungen überschrieben. Spontan denkt man z.B. an die große Linie der (stets nur gegen die Folie der jeweiligen Figurationen des Christentums verständlich zu machenden) Rezeption des Buddhismus. Doch das ist nur eine Dimension des Phänomens, denn zum einen sind die Quellen der jeweiligen buddhistischen Auslegung von Achtsamkeit selbst äußerst heterogen, zum anderen lässt sich Achtsamkeit nicht auf den Buddhismus reduzieren und passt deshalb nur bedingt in die Stereotype eines west-östlichen Kulturtransfers. Die Rezeption von Achtsamkeit in Europa ist in wesentlichen Teilen nicht direkt ›aus Asien‹ erfolgt, sondern vermittelt durch Diskurse aus dem (gegenüber Europa unterschiedlichen) Kulturraum Nordamerikas. In ganz ähnlicher Weise ist in der systematisch-kulturanalytischen Perspektive die Rezeption von Achtsamkeit nicht auf den Funktionsbereich der religiösen Sphäre und ihrem Diskurs um die Qualität religiöser Erfahrung reduzierbar. Vielmehr steht Achtsamkeit für ein teilsystemübergreifendes Sinnangebot, das sich als ›Spiritualität‹ begreifen lässt und als solches Phänomen tiefere Befindlichkeiten der Gesellschaft aufgreift. Im Hintergrund steht hier ein aus der wissenssoziologischen Forschung entlehnter Begriff von ›Spiritualität‹ (vgl. Knoblauch 2009). Spiritualität beschreibt in diesem Verständnis verschiedene, nicht an Organisationen gebundene Formen der Suche nach persönlichen Sinnerfahrungen. Diese Sinnerfahrungen können, müssen aber nicht ›religiös‹ definiert werden. Spiritualität ist ein Oberbegriff für eine Vielzahl institutionell ungebundener Praktiken der individuellen Weltauslegung im Horizont einer persönlichen Sinnerfahrung. Ein derart breit gefasstes und in den Kontext von Begriffen des impliziten Wissens gerücktes Verständnis von Spiritualität kann die verschiedenen, teilweise gegenläufigen Deutungen von Achtsamkeit in den einschlägigen Funktionskontexten auf Gemeinsamkeiten hin befragen. Erkenntnistheoretisch lässt sich der Begriff der Spiritualität als eine Erfahrungsdimension impliziter Gewissheit konzipieren, die als Grundlage sinnbezogener Deutungsprozesse erfahren und vergegenwärtigt wird. In diesem Lichte repräsentiert Achtsamkeit die Möglichkeit einer individuellen Selbsterfahrung im Sinne der Wahrnehmung eigener, alltäglicher Bewusstseinsmechanismen. In der Rezeption von Achtsamkeit verbergen sich folglich tiefenstrukturelle Fragen der gesellschaftlichen Strategien und Praktiken der Diskursivierung von individuellen Bewusstseinserfahrungen. Um ihr Zusammenspiel greifbar zu machen, müssen die historisch-vergleichende und die systematisch-analytische Perspektive entlang einer gemeinsamen Leitlinie ausgerichtet werden. Diese Leitlinie, so der Vorschlag des vorliegenden Textes, kann darin bestehen, dass die verschiedenen Diskurse zur Achtsamkeit sich inhaltlich um die Frage konzentrieren, wie eine als implizites Wissen verkörperte Präsenzwahrnehmung des eigenen Bewusstseins in explizite kommunikative Formen übersetzt wird. Am Beispiel von Diskursen zur Achtsamkeit kann also – zurückprojiziert auf die Grundproblematik – die Frage diskutiert werden, wie sich, abstrakt gesagt, Bewusstsein und Kommunikation aneinander ausrichten.
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Diese Abstraktion ist nicht nur von theoretischem Interesse, sondern methodisch geboten. Sie liefert eine Heuristik, um die Repräsentation von Achtsamkeit in verschiedenen Kontexten zu betrachten. Ausgehend von dieser Grundheuristik können top down spezifische Kriterien entwickelt werden, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den verschiedenen Rezeptionskontexten von Achtsamkeit auszuarbeiten und sichtbar zu machen. Die mit dem impliziten Wissen bekanntermaßen assoziierte Paradoxie eines ›mehr Wissens als Sagen Könnens‹ (Michael Polanyi) deutet auf einen Bruchpunkt in der Übersetzung von Bewusstsein und Kommunikation hin. Von diesem Bruchpunkt her lassen sich verschiedene Achtsamkeitsdiskurse unterschiedlich konfigurieren und folglich analysieren. Es ist die Absicht der folgenden exemplarischen Betrachtungen von zeitgenössischen Achtsamkeitsdiskursen, die kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem (medien-)kulturellen Phänomen voranzutreiben. Den Anfang macht eine historisch-kulturvergleichende Perspektive, die sich mit den allgemeinen Rezeptionsbedingungen von Achtsamkeitsmeditation befasst. Sie wird im Anschluss um eine systematisch-kulturanalytische Perspektive ergänzt und erweitert, die ausgewählte Ansätze aus dem aktuellen Diskurs um Achtsamkeit vorstellt.
III. H ISTORISCH - KULTURVERGLEICHENDE P ERSPEK TIVE In Europa, vor allem aber in den USA, ist seit den frühen 1980er Jahren ein verstärktes Interesse an buddhistischen Ansätzen der Meditation und ihrer Brauchbarkeit für Psychologie und klinische Praxis zu beobachten. Ein Grund dafür ist, dass ein Achtsamkeitstraining im Rahmen verhaltensmedizinischer Programme erfolgreich eingesetzt wird. Das gilt insbesondere für das bereits erwähnte, von Jon Kabat-Zinn entwickelte ›Mindfulness-Based Stress Reduction‹-Programm (MBSR). Als weiterer Grund werden die Berührungspunkte zwischen moderner psychologischer Theoriebildung, vor allem im Bereich der kognitiven Psychologie, und dem Achtsamkeitskonzept angenommen (vgl. Dockett/Dudley-Grant/Bankart 2003). Keiner anderen Religion lässt sich – wenn man wesentliche Aspekte der Rezeptionslinien des Buddhismus im Westen, wie sie sich seit dem 19. Jahrhundert verfolgen lassen, betrachtet – eine so hohe Affinität zum wissenschaftlichen Denken zusprechen wie dem Buddhismus. Auf der Suche nach Erklärungen für die Attraktivität des Buddhismus unter westlichen Anhängern wird immer wieder betont, dass der Buddhismus, anders als die christliche Religion, kein ›Glaubenssystem‹ sei, das auf dogmatischen Vorannahmen beruhe, sondern ein rational nachvollziehbares Wissenssystem, das in der menschlichen Vernunft gründe. Dementsprechend gilt der Buddhismus eher als eine ›Philosophie‹, die mit modernen Wissenschaften, insbesondere der Psychologie, der Biologie und der Physik, durchaus vereinbar ist. Innerhalb der jüngsten westlichen Rezeption des Buddhismus gibt es auch Strömungen, die auf eine grundsätzliche Vereinbarkeit des Buddhismus mit den Grundeinsichten der Neurowissenschaften abheben (vgl. Austin
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1999, 2010; Hilbrecht 2010; Houshmand/Livingston/Wallace 1999; Singer/Ricard 2008; Wallace 2007). Um die gegenwärtige Rezeption der Achtsamkeitsmeditation in ihrer Breite zu erfassen, muss aber noch ein weiterer Aspekt bedacht werden: Attraktiv erscheint auch die experimentell-investigative Orientierung des Buddhismus, die der Überlieferung zufolge auf den Buddha selbst zurückgeht. Dieser hatte seine Schüler dazu angehalten, nichts kritiklos zu übernehmen, sondern stets selbst zu prüfen, ob ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit als ein Kontinuum von Prozessen unterschiedlicher Subtilität auch den Lehranweisungen entspricht und ob diese sich schließlich für die geistige Praxis als hilfreich erweisen. Umgekehrte Versuche, den Buddhismus naturwissenschaftlich zu begründen, erscheinen allerdings angesichts des religiösen Selbstverständnisses von Buddhisten unangemessen. Der Heilsweg bzw. der Weg der Leidensaufhebung müsse sehr viel umfassender verstanden werden als eine ethisch-religiöse Lebenspraxis, innerhalb derer Lehren und Praktiken, die sich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen decken, nur einen, stets aber auf den Erlösungszweck bezogenen, Aspekt ausmachen. Buddhisten zitieren dazu einen Vers aus dem Samyutta-Nikaya: »Nur dies verkünde ich, früher wie heute: das Leiden und des Leidens Aufhebung« (Samyutta-Nikaya, 22.86.4.23). Der Achtsamkeitsdiskurs ist also als Teil eines weiteren Diskurses über Buddhismus als Religion bzw. über das Konzept von Religion überhaupt zu betrachten. Diese Einbettung in eine übergeordnete Perspektive ist umso wichtiger, als der Buddhismus in westliche Vorstellungen von Religion nur schwer integrierbar ist. Vielmehr bietet der Buddhismus flexible Wege zum Erwachen und zur Aufhebung des Leidens an, die unterschiedlichste Methoden und Vorstellungen so integrieren, dass sie je nach kulturellem Kontext für die Reifung des Individuums fruchtbar eingesetzt werden können. Durch Introspektion, mittels einer durch meditative Schulung konzentrierten und gebündelten Aufmerksamkeit, kann die Wahrnehmung der Wirklichkeit zu einer Erfahrung des Geistes werden, die für jeden erlernbar ist. Auch wenn diese Aspekte bei der Rezeption der Achtsamkeit und der Praxis der Meditation in Europa und Nordamerika eine wichtige Rolle gespielt haben, ist doch auch zwischen teilweise sehr verschiedenen Rezeptionslinien zu unterscheiden. Vor allem fließen in der Übersetzung buddhistischer Praktiken von Asien in die USA und Europa verschiedene Linien aus der buddhistischen Tradition zusammen. Man kann deshalb in westlichen Rezeptionskontexten einer größeren Vielfalt an buddhistischen oder Buddhismus-basierten Richtungen, Praktiken und Vorstellungen begegnen, als in den Ländern Asiens, in denen sich der Buddhismus über zweieinhalb Jahrtausende in jeweils stärker gegeneinander abgeschlossenen Traditionen ausdifferenziert hat. Trotz der Vielfältigkeit buddhistischer Traditionen im Westen ist es möglich, allgemeine Trends in den Transformationsprozessen buddhistischer Praxis auszumachen. Dazu gehören beispielsweise die Auflösung der Distinktion zwischen
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Ordinierten und Laien-Buddhisten, die abnehmende Bedeutung der klösterlichen Tradition, die Zurückweisung oder Dezentralisierung von Lehrautoritäten, eine Pluralität von individuellen Zugehörigkeitsmustern und schließlich auch die zunehmende Betonung der psychologischen Bedeutung der Praxis im Gegensatz zu ritualisierten Formen religiösen Handelns (vgl. Allen 2002; Almond 1988; Batchelor 1994; Baumann 1995; Coleman 2001; Prebish/Baumann 2002; Tweed 1992; Zotz 2000). Während um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Nordamerika und Europa vom Buddhismus nur wenig Kenntnis vorhanden war, änderte sich dies mit dem sogenannten Weltparlament der Religionen in Chicago im Jahr 1893, das meist als das Initialmoment der Einführung buddhistischer Schulen in Nordamerika angesehen wird (vgl. Lüddeckens 2002). Dass diese Sichtweise jedoch nicht den historischen Entwicklungen entspricht, zeigt sich daran, dass schon lange zuvor asiatische Immigranten verschiedene Versionen des Buddhismus nach Amerika gebracht und diese dort praktiziert und zum Teil auch popularisiert hatten. Ein Großteil der Immigranten kam aus ostasiatischen Ländern, insbesondere aus Japan, so dass sich Formen des Mahāyāna, wie Nichiren Buddhismus, Jodo-ShinShu und auch Zen, in Amerika etablieren konnten. Zu bedenken ist, dass hinter der historischen Einschätzung des Weltparlaments der Religionen als Anfangspunkt des Buddhismus im Westen eine Differenzierung zwischen einem ethnischen Buddhismus der Immigranten und einem westlichen Buddhismus steht, der von amerikanischen Konvertiten, Sympathisanten und Suchenden angenommen und vertreten worden ist. Als der japanische Rinzai-Zen-Mönch Shaku Soen (1859-1919) vor dem Parlament auftrat, konnte er an ein positives Japan-Bild anknüpfen. Durch seine Gründungen erster Zen-Gemeinschaften in Kalifornien sowie durch die Schriften seines Schülers Daisetz T. Suzuki (1870-1966) wurde Zen in Amerika unter weißen Amerikanern schnell etabliert. Daisetz Teitaro Suzuki war wahrscheinlich der wichtigste Vertreter des japanischen Zen im Westen. Seine Schriften beeinflussten Intellektuelle wie John Cage, Erich Fromm, Allen Ginsberg und Jack Kerouac, aber auch Buddhismusforscher, die selbst zum Buddhismus konvertiert waren, wie Edward Conze, Christmas Humphreys und Alan Watts. Die Popularisierung der Lehren Suzukis durch die sogenannte Beat-Generation hat Zen dann zunehmend aus konfessionellen Bindungen herausgelöst (Brück/Whalen Lai 1997: 253). Alan Watts’ The Way of Zen avancierte neben Philip Kapleaus The Three Pillars of Zen zur am weitesten verbreiteten Einführung in den Buddhismus in Amerika. Während Zen in Amerika prominent war, spielte die Theravāda-Richtung des Buddhismus, anders als in England und Deutschland, bis in die 1980er Jahre in den USA und Europa eine eher untergeordnete Rolle. Nach dem Ende des britischen Kolonialismus kamen Migranten aus Sri Lanka und Burma nach England, indologische und buddhologische Forschung konzentrierte sich in Europa auf die Texte des Pāli-Kanon und insbesondere deutsche Mönche wie Nyanatiloka (18781957), Nyanaponika (1901-1994) und Lama Anagarika Govinda (1898-1985) hatten durch Übersetzungen buddhistischer Schriften die Meditationsbewegung bis etwa
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1960 wesentlich beeinflusst. In diesem Zusammenhang avancierte das Achtsamkeitskonzept nach dem Zweiten Weltkrieg erstmals zu einem integralen Bestandteil der westlichen Adaption des Buddhismus. Ein Beispiel hierfür ist die Arbeit des deutschen Mönches Nyanaponika Mahathera (Siegmund Feniger), einem konvertierten Juden, der zwischen den 1950er und 1980er Jahren wichtige Texte zum Thema Achtsamkeit übersetzt und bekannt gemacht hatte. Nyanaponika beeinflusste mit seinem 1954 in den USA erschienenen und in zahlreiche Sprachen übersetzten Bestseller The Heart of Buddhist Meditation auch in den USA ein Interesse an Achtsamkeitsmeditation aus der Theravāda-Richtung. Das Buch ist ein Bericht über eigene Erfahrungen mit der Einsichtsmeditation Vipassanā und eine Übersetzung des wichtigsten Sutras, dem Satipatthāna-Sutta, das die Grundlagen der Vipassanā darlegt. Bezeichnend ist, dass sich Nyanaponika in seinen Ausführungen auf einen burmesischen Meditationslehrer, Mahasi Sayadaw (1904-1982), beruft. Ausgangspunkt für die heutigen Vipassanā-Ansätze waren vor allem Lehrer aus Burma, Sri Lanka und Thailand. Nach Hans Gruber (1999) kann man, grob gesprochen, von vier Ansätzen ausgehen, die heute im Westen rezipiert werden. Der erste Ansatz geht auf den Laien und Politiker U Ba Khin (1899-1971) zurück, der die Technik des Körperdurchkehrens (›body scan‹/›body sweeping‹) entwickelt hat. Einer seiner wichtigsten und im Westen einflussreichsten Schüler ist der Inder Satya Narayan Goenka, der eine global aktive und besonders stark wachsende Vipassanā-Richtung aufgebaut hat, die heute mit über 120 Meditationszentren in allen Kontinenten etabliert ist. Goenka betont den universalen Anspruch der Achtsamkeitsmeditation und lehrt, dass Buddha keine Religion vertreten habe, sondern einen Weg zur Befreiung, der jedem Menschen, unabhängig von Glauben und Konfession, offen steht. Der zweite Ansatz ist aus einer klösterlichen Tradition heraus entstanden und beruft sich auf den im sechsten buddhistischen Konzil von 1956 ausgesprochen einflussreichen Mönch Mingun Sayadaw (1878-1955), der eine Technik des Erinnerns bekannt machte. Sein Schüler Mahasi Sayadaw (1904-1982) griff diese Technik auf. Unter dem Begriff Benennen (engl. Labelling: ›Etikettieren‹) ist sie als eine Bauchatemtechnik zur zweiten der heute in therapeutischen Kontexten am meisten verbreiteten Techniken avanciert. Mahasi Sayadaw lehrt, dass die Auf- und Abbewegung der Bauchdecke bei jedem Ein- und Ausatmen als zentrales Objekt der Einsichtsmeditation genommen werden soll. Die beiden anderen Ansätze sind thailändischen Ursprungs: die Lehre von der »Leerheit aller Dinge« von Ajahn Buddhadasa (1906-1993) und der »organische Naturweg der Ordensgemeinschaft« von Ajahn Chah (1918-1992). Es fällt auf, dass die genannten Ansätze allesamt im 20. Jahrhundert entstanden sind, also vergleichsweise neue Konzepte in der buddhistischen Praxis darstellen. Dazu muss man berücksichtigen, dass im Zuge buddhistischer Reformen mit dem Ende der Kolonisierung in Südostasien um die Mitte des 20. Jahrhunderts sich Vipassanā in Reaktion auf kulturelle Überformungen des Theravāda formiert hatte. In diesem Kontext wurden die Vipassanā-Techniken, die bis dahin exklusiv Mönchen vorbehalten waren, einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht, wo-
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bei vor allem zwei Strategien der Entdifferenzierung der Meditationspraxis und zugleich der kulturellen Resignifizierung eine Rolle gespielt haben: Vipassanā wurde als Meditationspraxis neu etabliert, indem man sie einerseits auf den ursprünglichen Buddhismus und den ersten Sangha des Buddha zurückführte und indem man andererseits die Universalität einer nicht auf Mönche beschränkten Praxis betonte, die auch für Laien offen steht. Seit den 1980er Jahren gilt Vipassanā als die am schnellsten wachsende Richtung des Buddhismus in den USA, was nicht zuletzt auf die relative Unabhängigkeit dieser Richtung von traditionellen buddhistischen Schulen zurückzuführen ist. Die Autonomie von Vipassanā ermöglichte eine Adaption der Meditationspraxis durch amerikanische und europäische Lehrer dergestalt, dass sie in westliche Sprachspiele und Denkformen integriert werden konnte. Zu den bekanntesten amerikanischen Lehrern von Vipassanā, die unter Mahasi Sayadaw studiert haben und von ihm autorisiert wurden (vgl. Fronsdal 1998), gehören etwa Sharon Salzberg, Joseph Goldstein und Jack Kornfield. Das Insight Meditation Center (IMC), das Salzberg, Goldstein und Kornfield 1974 in Barre, Massachusetts aufgebaut haben und das Spirit Rock Meditation Center, das Kornfield 1984 in Kalifornien gründete, avancierten schnell zu den beiden wichtigsten Zentren der Achtsamkeitsmeditation in den USA. Allerdings bildeten sie auch unterschiedliche Konzeptionen aus: Während das IMC eher ein traditionelles Verständnis von Vipassanā Meditation vertritt und sich stärker an den Lehren von Mahasi Sayadaw orientiert, wurden in Spirit Rock Elemente aus anderen Religionen (Yoga, Zen etc.) sowie der westlichen Psychologie und Psychotherapie in die Meditationspraxis integriert. Dies ist deshalb wichtig, weil eine solche Verbindung von Zen und Vipassanā auch den bedeutendsten zeitgenössischen Vertreter des Achtsamkeits-Konzeptes für die westliche Rezeption interessant machte: den vietnamesischen Mönch Thich Nhat Hanh. Dieser adaptiert sowohl Praktiken und Lehren aus der Theravāda-Tradition als auch aus dem Mahāyāna, die beide in seinem Land vertreten sind. Bekannt geworden als Vertreter eines politisierten ›engagierten Buddhismus‹, widmen sich seine Bücher der Verknüpfung des Achtsamkeitskonzeptes mit der holistischen Philosophie des ›Interseins‹, einer mystisch akzentuierten Theorie des bedingten Entstehens. Der Begriff Intersein ist ein Kunstwort, das Nhat Hanh selbst geprägt hat und das die wechselseitige Verbundenheit allen Seins zum Ausdruck bringen soll. Nhat Hanhs Anspruch ist es, die damit benannte Erfahrung durch Achtsamkeitsmeditation einzuüben.1 Bereits 1966 hatte er seinen eigenen Orden gegründet, den Tiep Hien Orden (›Order of Interbeing‹/›Intersein Orden‹), der heute als eine wichtige Keimzelle von Achtsamkeitszentren in der ganzen Welt gelten kann. Vor allem über die Vermittlung in therapeutischen Kontexten ist Achtsamkeitsmeditation wiederum von Amerika nach Europa eingeführt worden und über Schriften von Thich Nath Hanh neben denen von Autoren wie Watts, Kornfield, 1 | Der dafür propagierte Begriff mindfulness ist eine Übersetzung des Sanskritworts Sati.
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Goldstein oder Kabat-Zinn so popularisiert worden, dass inzwischen weder eindeutige Rezeptionslinien ausgemacht werden können noch eine eindeutige Zuordnung zu religiösen Traditionen sinnvoll erscheint. Denn gerade in Achtsamkeitszentren wird daran gearbeitet, das Achtsamkeitskonzept so zu rekontextualisieren, dass es sich zu einer einheitlichen Kontemplationslehre ausbauen lässt, die westliche und östliche mystische Traditionen miteinander verbindet. Ein in Deutschland bekanntes Beispiel dafür ist der ehemalige Benediktinermönch Willigis Jäger, der eine mystische Form der Spiritualität vertritt, die sich auf einen universalistischen Begriff religiöser Erfahrung stützt (vgl. Jäger 2004). Achtsamkeitszentren sind also Orte, an denen sich therapeutische und religiöse Praxis derart überschneiden, dass es angemessener erscheint, von popularisierter Spiritualität zu sprechen als von buddhistischer Tradition im engeren Sinne (Knoblauch 2009: 124ff.). Als Zwischenfazit lassen sich auf der Basis dieses kursorischen Einblicks in die Geschichte und Kontexte der Rezeption von Achtsamkeit folgende Punkte festhalten: 1) Analytische Selbsterforschung – Buddhismus als wissenschaftsaffine Philosophie: Die Rezeption von Achtsamkeitsmeditation in wissenschaftlichen (und therapeutischen) Kontexten im Westen ist durch die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert bestehende, generell positive, wenn auch sehr unspezifische Einschätzung des Buddhismus geprägt. Besonders sticht hervor, dass der Buddhismus als analytische und methodische Philosophie der Selbsterforschung des eigenen Bewusstseins begriffen wird und nicht zwingend als eine auf Dogmen gegründete religiöse Bewegung, was sozial eine hohe Affinität zu wissenschaftlichen Diskursen und westlichen Konzepten von Rationalität und Vernunft begründet hat. 2) Metonymische Anschlussfähigkeit – Achtsamkeit als übergreifendes buddhistisches Konzept: Als ein Konzept innerhalb des Buddhismus ist Achtsamkeit zwar maßgeblich durch die Vipassanā-Tradition des Theravāda-Buddhismus geprägt worden, war aber niemals auf eine buddhistische Schule festgelegt. Der Rezeption von Achtsamkeit ist seit jeher ein relativ undogmatischer und synkretistischer Zug eigen. Achtsamkeit war (und ist) im Westen daher mit heterogenen Erwartungen gegenüber einem unspezifischen Begriff von ›Buddhismus‹ kompatibel, wurde also nie exklusiv als einer buddhistischen Schule zugehörig wahrgenommen. Das begünstigte eine Rezeption, in der Achtsamkeit metonymisch als die Meditationspraxis des Buddhismus schlechthin angesehen werden konnte (im Unterschied etwa zur Zen-Praxis). 3) Spirituelle Körpererfahrung – Achtsamkeitsmeditation als universelle Erfahrungspraxis: Die in esoterischen Bewegungen beliebte Unterstellung einer ›einheitlichen‹, allen Menschen gemeinsamen, spirituellen Erfahrung (wie z.B. bei Willigis Jäger), die sich in kulturell unterschiedlichen Gestalten zu erkennen gibt, gewinnt in der Achtsamkeitspraxis Plausibilität durch die Rückbezüglichkeit von Achtsamkeit auf die selbstreflexive Körpererfahrung. Entscheidend ist dar-
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an, dass Achtsamkeit als Körpererfahrung auch ohne konfessionellen Überbau konzipiert werden kann. Das Achtsamkeitskonzept kann also als eine spirituelle und dennoch nicht-religiöse Praxis rezipiert werden.
IV. S YSTEMATISCH - KULTUR ANALY TISCHE P ERSPEK TIVE Das Konzept der Achtsamkeit hat im Kulturtransfer zahlreiche Veränderungen durchgemacht. Noch einmal näher zu betrachten ist die Rolle, die Achtsamkeit im Buddhismus von seinen modernen Interpreten zugeschrieben wird. Muss Achtsamkeit als Meditationspraxis als ein tragendes Fundament der buddhistischen Lehre betrachtet werden oder ist die religiöse Einbettung von Achtsamkeit ein »dogmatisches Beiwerk«2 , auf das zu verzichten ist? Der Achtsamkeitsdiskurs steht im Kontext der Frage, was unter der ›Religion‹ des Buddhismus zu verstehen sei. In der Religionswissenschaft und insbesondere der Religionssoziologie wird dies unter der Prämisse reflektiert, dass der Religionsbegriff abendländischen Ursprungs ist, in der Geschichte des Christentums in Europa seine entscheidende Prägung erhalten hat und daher nicht ohne Weiteres auf Kulturen asiatischer Prägung übertragen werden kann (vgl. Fitzgerald 2000; Matthes 1993; Saler 2000). Sinnvoll erscheint es daher, Achtsamkeit zunächst unter wissenssoziologischer Perspektive in den Blick zu nehmen, etwa in Analogie zu Thomas Luckmanns Interpretation des Religionsbegriffs (Luckmann 1991). Luckmanns Ansatz bietet zum einen eine kritische Erweiterung einer bis dahin weitgehend kirchensoziologischen Orientierung der Religionssoziologie, so dass über verfasste Formen des Religiösen hinausgeblickt werden kann. Zum anderen bietet sein funktionaler Religionsbegriff, der von einer inhaltlichen Bestimmung von Religion weitgehend absieht, eine Möglichkeit, Achtsamkeit als eine Praxis der Sinntranszendenz zu erfassen. Religionen stellen, so Luckmann, einen Vorrat an Sinnkonstruktionen bereit, die es den Menschen erlauben, ihre Wirklichkeit als sinnvoll und strukturiert zu interpretieren. Eine der Funktionen von Religion ist es, im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext bestimmte Weltansichten bereitzustellen, die insofern als Wirklichkeitsaussagen fungieren können, als sie durch das soziale Kollektiv objektiviert und legitimiert sind und durch deren subjektive Aneignung das Individuum in eine Ordnung einer zusammenhängenden Sinntradition integriert wird (ebd.: 88ff.). In diesem Sinne sollte Achtsamkeit nicht einfach als ein buddhistisches Wissenssystem bestimmt werden, welches Transzendenzerfahrungen ermöglicht, sondern vor allem als eine Form der Sinntranszendenz (Spiritualität), durch die sich das Individuum selbst als ein Sozialwesen konstituiert. Diesem Gedanken folgend bietet es sich an, Achtsamkeitsmeditation als eine Inklusionsform von individuellen psychischen Zuständen in die Gesellschaft 2 | So Ulrich Ott (2010: 11), der seine Einführung in die Meditation dezidiert frei von jeglichem »dogmatischen Beiwerk« verstanden wissen will.
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aufzufassen. Wie Hubert Knoblauch im Anschluss an Luckmann gezeigt hat, liegt darin auch die Plausibilität des Begriffs der ›Spiritualität‹ (2009: 121ff.). Der Begriff ›Spiritualität‹ verweist auf ein Kommunikationsangebot an das Individuum, bestimmte persönliche ›Erfahrungen‹ zu machen. Dies geschieht im Rahmen einer ›populären‹ Form von Kommunikation, also einer hochgeneralisierten, breit anschließbaren und für verschiedene Deutungen offenen Kulturform, die leicht erlernbar ist, keine besonderen Voraussetzungen zur Teilnahme erfordert und auf nahezu alle Lebensbereiche angewendet werden kann. Kulturtheoretisch betrachtet trägt die Populärkultur dazu bei, Prozesse des individuellen Selbstmanagements zu steuern, also Angebote in Bezug auf Lebensstile etc. zu machen. Dabei hat man es mit besonderen kommunikativen Formen zu tun, die meist eine sehr klare narrative Dramaturgie haben. So findet man bei der Achtsamkeitsmeditation vor allem eine Semantik des Nutzens für die Gesundheit und die Psyche, aber auch für den individuellen Lebenssinn. Als Form von Spiritualität besteht das Erfolgsmodell von Achtsamkeitsmeditation darin, ein Versprechen im Rahmen der eigenen Individualisierung, der eigenen ›Persönlichkeitsentwicklung‹ und der eigenen ›Bio-Graphie‹ zu machen – und all das verweist auf die Funktion des Populären (ebd.: 152). Dieser theoretische Rahmen – also Spiritualität als eine populäre Form der Semantisierung und Explikation individueller Erfahrungen aufzufassen – erlaubt es, das Besondere der Achtsamkeitsmeditation zwischen Religion, Therapie und ›Technologien des Selbst‹ herauszuarbeiten. Die Referenz auf buddhistische Traditionen der Selbstbefreiung oder Selbsterlösung drängt sich hier geradezu auf. Bezeichnend ist, dass aus dem Buddhismus ein subjektivistischer Ansatz herausgelesen wird, der sich in Auslegungen, die für westliche Leser bestimmt sind, noch verstärkt. Im Subjekt, so wird betont, liegt die Letztbegründung der buddhistischen Religion, und zwar sowohl der Ausgangspunkt der Wirklichkeitswahrnehmung, die als leidhaft verstanden wird, als auch das Potenzial der Erlösung davon. Nach Nyanaponika Thera, dessen Werke für die Rezeption der Achtsamkeitsmeditation in den USA grundlegend waren, gipfelt die subjektivistische Perspektive des Buddhismus in seinem Selbstverständnis als ›die Lehre vom Geist‹ (2007, 14ff.). Dabei gehe es darum, den Geist – den Nyanaponika synonym mit ›Bewusstsein‹ setzt – durch die Praxis der Achtsamkeit zu erkennen, zu formen und zu befreien. In Diskursen zur Achtsamkeitsmeditation wird dieser subjektivistische Aspekt der Buddha-Lehre in besonderer Weise betont, indem man auf den persönlich-individuellen Charakter des durch Meditation erworbenen Wissens verweist. Nyanaponika spicht von Achtsamkeitsmeditation als dem »Weg der Selbsthilfe« (ebd.: 12), die im Grunde die wirkliche Hilfe sei. Dass es sich hierbei bereits um eine normative Konstruktion handelt, wird nicht nur an Nyanaponikas dezidierter Absetzung von Lehren, »welche behaupten, dass der Mensch nur durch die Gnade eines Gottes erlöst werden könne« (ebd.: 165), deutlich, sondern vor allem dadurch, dass der »Weg der Selbsthilfe« einer expliziten Legitimation bedarf, die darin besteht, in der Achtsamkeitsmeditation ein
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Heilmittel gegen die kulturkritisch diagnostizierte »Degenerierung der Menschheit« zu sehen, gegen die »Katastrophen« der Selbstzerstörung, die im 20. Jahrhundert im christlichen Europa zu beobachten waren, sowie gegen die »geistlosen Zerstreuungen«. Achtsamkeit dagegen fördere die »Entfaltung eines hohen und höchsten Menschentums, dem wahren Übermenschen, von dem so viele Geister geträumt haben und dem so viele fehlgerichtete Anstrengungen galten« (ebd.: 21f.). Es wäre deshalb naiv, zu glauben, dass es bei Achtsamkeitsmeditation nur um den subjektiven Weg der Selbstbefreiung ginge. Achtsamkeitsmeditation ist eine kollektive Praxis, die eine Form der Gewissheit einüben soll, die gesellschaftlich vorgegeben ist und damit auch unter ideologischen Vorannahmen steht, von denen aus der Diskurs zur Achtsamkeit als Explikation impliziter Gewissheitszustände erschließbar wird. Die meisten Achtsamkeitsansätze, die derzeit in der therapeutischen Praxis eingesetzt werden, beziehen sich auf die Vipassanā-Meditation. Das Vipassanā ist auch diejenige Tradition, in der die Achtsamkeitslehren, die auf den Buddha selbst zurückgeführt werden, die breiteste Wirkung entfaltet haben. Die Vipassanā-Ansätze umfassen sowohl klar strukturierte technische Methoden als auch natürliche, flexible und offene Methoden. Als eine Praxis der Theravāda-Tradition baut Vipassanā in der Auslegung von Nyanaponika auf einer Tugendpraxis auf, die es ermöglicht, durch ›richtige Anstrengung‹, ›richtige Achtsamkeit‹ (sati) und ›richtige Konzentration‹ als den drei Faktoren des Geistestrainings, den Geist zu schulen und so Weisheit zu erlangen. Die Ansätze des Vipassanā beruhen vor allem auf dem Satipatthāna-Sutta und zum Teil auch auf dem Ānāpānasati-Sutta, dem Sutra vom bewussten Ein- und Ausatmen. Insbesondere im Satipatthāna-Sutta (Lehrrede von der Vergegenwärtigung der Achtsamkeit), einem Text aus dem Majjhimanikāya, aber auch im Mahāsatipatthāna-Sutta des Digha-nikāya und ansatzweise in anderen Sammlungen des Tripitaka, wird satiptthāna als der direkte Weg zu nibbāna entfaltet. Als direkter Weg (ekayāno maggo) ist satipatthāna von anderen Meditationswegen zu unterscheiden. Die Bezeichnung ekāyano oder ekāyano maggo wurde, wie Nyanaponika hervorhebt, vom Buddha ausschließlich auf die Vergegenwärtigung der Achtsamkeit (satipatthāna) angewandt und kommt im Kanon lediglich in den beiden Satipatthāna-Sutren sowie im Samyutta-nikāya vor (vgl. Nyanaponika 1973). Damit wird Achtsamkeit aus allen anderen Wegen als exklusiver Heilsweg herausgehoben. Der Begriff satipatthāna bedeutet in der Übersetzung etwa ›Vergegenwärtigung der Achtsamkeit‹ oder ›Präsenz der Achtsamkeit‹. Bhikkhu Anālayo weist in seinem Kommentar zum Satipatthāna-Sutta darauf hin, dass satipatthāna nicht missverstanden werden darf im Sinne von ›Grundlage‹ oder ›Ursache für Achtsamkeit‹, wie dies in einigen späteren Kommentaren geschieht, sondern dass der Pali-Ausdruck upatthāna gerade die Praxis der Vergegenwärtigung zum Ausdruck bringt und eine besondere Weise des Gegenwärtigseins bei einem Geschehen mit Achtsamkeit meint (2010: 41). Nyanaponika Thera spricht dagegen von Objekten der Achtsamkeit und sieht eine der wichtigsten Funktionen des reinen Beobach-
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tens in der Meditation in der »Gewinnung eines reinen Objekts, ohne Beimischungen und ohne Ich-Bezogenheit« (2007: 30). Im Satipatthāna-Sutta werden vier »Vergegenwärtigungen der Achtsamkeit« (sati und upatthāna) behandelt: die Betrachtung des Körperlichen (kāyānupassanā), die Betrachtung der Gefühle (vedanānupassanā), die Betrachtung des Bewusstseins (cittānupassanā) und die Betrachtung der Geistobjekte (dhammānupassanā). In einer Art Definition werden die vier satipatthānas wie folgt zusammengeführt: Welche vier? Hier, ihr Mönche, verweilt ein Mönch hinsichtlich des Körpers den Körper betrachtend, unermüdlich, wissensklar und achtsam, frei von Verlangen und Betrübtheit hinsichtlich der Welt. Hinsichtlich der Gefühle verweilt er die Gefühle betrachtend, unermüdlich, wissensklar und achtsam, frei von Verlangen und Betrübtheit hinsichtlich der Welt. Hinsichtlich des Geistes verweilt er den Geist betrachtend, unermüdlich, wissensklar und achtsam, frei von Verlangen und Betrübtheit hinsichtlich der Welt. Hinsichtlich der dhammas verweilt er dhammas betrachtend, unermüdlich, wissensklar und achtsam, frei von Verlangen und Betrübtheit hinsichtlich der Welt. (Sattipathana-Sutta 2010: 13)
In dieser zentralen Stelle des Satipatthāna-Sutta geht es um das Betrachten (anupassati), womit ungefähr ›kontemplieren‹ oder ›genau inspizieren‹ gemeint ist. Bezeichnet ist damit eine Art der Meditation, die dazu anleitet, Körper, Gefühle, Geist und dhammas (Leidhaftigkeit, Nicht-Selbstheit) hinsichtlich ihrer Vergänglichkeit (anicca), ihrer Leidhaftigkeit (dukkha) und ihrer Nicht-Selbstheit (anatta) wahrzunehmen.3 Im Satipatthāna-Sutta beinhaltet anupassati bereits Eigenschaften des Meditationsobjekts und ist auf die drei Daseinsmerkmale bezogen. Das Ziel ist also keineswegs ein voraussetzungsfreies Meditieren, sondern ein konkretes Gewahrwerden der drei genannten Eigenschaften der Wirklichkeit – ein Kernpunkt der Lehre des Buddha. Auffällig ist die Doppelung des Bezuges, wie sie beispielsweise in der Formulierung »hinsichtlich des Körpers den Körper betrachtend« zum Ausdruck kommt. Nicht nur die Unmittelbarkeit der Erfahrung des Körpers wird der Reflexion gegenübergestellt, sondern ein implizites Körperwissen soll durch Meditation explizit erfahrbar gemacht werden. Die vier satipatthānas konzentrieren sich auf die Betrachtung des Entstehens und Vergehens, d.h. die Achtsamkeit wird auf die Vergänglichkeit des Körpers, der Gefühle, des Geistes und der dhammas gerichtet. Eine Introspektion des Körpers und seiner Glieder gipfelt, wie auch in anderen Texten des Pali-Kanon, welche die Körperbetrachtung behandeln, in der Betrachtung des verwesenden Leichnams auf dem Leichenplatz: »Auf diese Weise verweilt
3 | Der klassische Text über die drei Daseinsmerkmale findet sich im Anguttara Nikaya 3, 137.
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er hinsichtlich des Körpers den Körper, innerlich, äußerlich, sowohl innerlich als auch äußerlich betrachtend« (Analayo 2010: 16). Die Formulierung von der ›innerlichen‹ und ›äußerlichen‹ Betrachtung des Körpers im Satipattāna-Sutra hat in den Kommentaren unterschiedliche Interpretationen erhalten. Während, wie Bikkhu Analayo in seiner Untersuchung zum Satipatthāna-Sutra gezeigt hat, diese Doppelung in den klassischen Kommentaren im Sinne der Betrachtung des eigenen Körpers und dem eines anderen Menschen ausgelegt wird, und dabei als Betrachtung Analogieschlüsse mit einbezieht (indem man z.B. von der Betrachtung des Leichenfeldes auf die Vergänglichkeit des eigenen Körpers schließt), geht es beim ›Körperdurchdenken‹ (›bodysweeping‹) vor allem um die Entwicklung und das klare Erfassen von exklusiv individuellen und subjektiven Körpergefühlen und Empfindungen (Gruber 1999: 48f.). Die Betrachtung verläuft in der Achtsamkeitsmeditation auf zwei Ebenen, die sich gegenseitig durchdringen. Mittels Körpertechnik sollen die physische und die psychische Ebene miteinander verschränkt werden, indem über den Körper, der in den Fokus der Aufmerksamkeit gestellt wird, das Bewusstsein verändert wird. Im Satipatthāna-Sutra sind die vier satipatthānas aber parallel aufgebaut und erfahren je ihre eigene Behandlung. Körper, Gefühle, Geist und dhammas werden getrennt behandelt. Alle vier werden auf ihre Vergänglichkeit hin beobachtet, und auch daraufhin, wie sie in Abhängigkeit voneinander entstehen und vergehen. Bikkhu Analayo bezieht die Praxis der Vipassanā-Meditation daher zu Recht auf die buddhistische Lehre vom Entstehen in Abhängigkeit (paticca samuppada), die im Kontext indischer Philosophie als radikale Kritik an jeglichen Kausalitätsüberlegungen gedeutet werden kann. Die Betrachtung, die bereits auf die Vergänglichkeit, Leidhaftigkeit und Nicht-Selbstheit der Objekte gerichtet ist, führt dann in die Erfahrung, dass nichts in sich besteht, alles voneinander abhängig ist, dass sich alles verändert. Diese Erfahrung, wenn sie auf die eigene Person angewandt wird, soll auch die Struktur und Ausrichtung des Geistes verändern. Die Betrachtung des Entstehens in Abhängigkeit durch die satipatthāna-Meditation ermöglicht Einsicht in die vergängliche Natur der fünf Daseinsgruppen (skandhas) und befähigt dazu, an nichts mehr festzuhalten und »unabhängig, an nichts in der Welt haftend« zu verweilen. Das ist der Weg zur Befreiung von Leid (dukkha). Abschließend heißt es im Sutra: »Ihr Mönche, wenn jemand diese vier satipatthanas auf diese Weise sieben Jahre lang entwickelt, kann eines von zwei Ergebnissen für ihn erwartet werden: entweder vollendete Erkenntnis hier und jetzt, oder, wenn noch eine Spur von Anhaften übrig ist, Nichtwiederkehr« (Analayo 2010: 23). Mit der Rezeption der Vipassanā-Meditation hat sich eine Verschiebung vollzogen, die Stephen Batchelor als eine Herabsetzung der Bedeutung traditioneller buddhistischer Lehraspekte gegenüber der Unmittelbarkeit spiritueller und körperlicher Erfahrung bezeichnet hat (vgl. 1994: 350). Insbesondere die buddhistische Lehre vom Entstehen in Abhängigkeit (patticca-samuppada) als eine systematische Untersuchung darüber, wie Leiden und Verblendung im Menschen entstehen, bzw. wie heilsames und unheilsames Wirken des karma in Werken, Worten und
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Gedanken durch Unwissenheit und Verblendung bedingt ist, erhält nun ganz neue Konnotationen. Die Betrachtung der Leidhaftigkeit allen Seins tritt zugunsten der ›Ganzheitlichkeit‹ von Körper und Geist sowie der letztlichen Alleinheit aller menschlichen Erfahrungsdimensionen weitgehend in den Hintergrund. Insbesondere im Rahmen einer individuell-subjektiven Reflexionspraxis gewinnt die Betonung der Wahrnehmung von Erfahrung an Gewicht und prägt die bereits in der historisch-vergleichenden Darstellung zu erkennende Distanz zum religiösen Kontext wesentlich mit aus. Dieser religiöse Kontext aber – und das ist eine Besonderheit, die sich aus den Bedingungen der Rezeption des Buddhismus im Westen ergibt – geht nicht verloren, sondern bleibt in den Deutungsmöglichkeiten von Achtsamkeit erhalten. Nachvollziehbar ist das an drei Positionen des gegenwärtigen Diskurses zu Achtsamkeit. Noch einmal aufzugreifen sind die Darlegungen von Thich Nhat Hanh und Jon Kabat-Zinns MBSR-Programm. Als Gegenprobe dient dann die Funktion, die der Philosoph Thomas Metzinger der Achtsamkeits-Meditation zuspricht. Beispiel 1: Thich Nhat Hanh: Achtsamkeit als Alltagspraxis In der breiten Rezeption der Schriften des vietnamesischen Mönchs Thich Nhat Hanh herrscht eine im religiösen Sinne ›spirituelle‹ Deutung von Achtsamkeit vor, wobei die Grenzen zwischen der therapeutischen Szene und der esoterischen Szene, die sich auf ihn berufen, als fließend bezeichnet werden müssen. Mit dem Achtsamkeitskonzept versucht Nhat Hanh, die Praxis der Meditation für eine positive Veränderung des Alltagslebens, also speziell auch der sozialen Bezüge, fruchtbar zu machen. Als eine Form emotionaler und rationaler Konzentration auf einen gegebenen Zustand resultiert aus Achtsamkeit die Einsicht in die Dynamik eigener Denkprozesse. Angestrebt ist ein vertieftes Bewusstsein für die Verflechtung von Denkprozessen mit der Objektwelt und dem sozialen Umfeld. Achtsamkeit bewirkt demnach nicht nur fundamentale Veränderungen der Wahrnehmung des eigenen Selbst und seiner Beziehung zur Wirklichkeit, sondern eine aus dieser Wahrnehmung resultierende veränderte Praxis des Weltbezugs. Mit Hilfe der Beobachterposition, die in der Meditation durch Introspektion eingenommen werden kann, soll die Einheit der Wirklichkeit realisiert/erfahren werden. Entscheidend für Nhat Hanh ist, dass es sich bei diesem Erfahren um einen intentional angestrebten Zustand innerhalb der Meditationspraxis handelt, der einerseits in der Vermittlung der Technik vorab in Aussicht gestellt wurde, andererseits die lebendige Verbindung mit der Wirklichkeit als ethische Haltung evozieren soll. Man kann daher von einem initiierten Übersetzungsprozess von explizitem in implizites Wissen sprechen. Die propagierte All-Einheit soll soweit verinnerlicht werden, dass sie körperlich manifest wird: Ihr seid euch der Gegenwart der körperlichen Form, von Gefühl, Wahrnehmung, geistigen Funktionen und des Bewußtseins gewahr. Ihr beobachtet diese Objekte solange, bis ihr erkennt, dass jedes von Ihnen eine innige Verbindung mit der Außenwelt hat: gäbe es die Welt
Populäre Achtsamkeit — Kulturelle Aspekte einer Meditationspraxis nicht, so könnte auch die Ansammlung der fünf Aggregate nicht existieren. […] Meditiert darüber, bis ihr in der Lage seid, das Vorhandene der Wirklichkeit von Eins-Sein in euch selbst zu erkennen und auch dass euer eigenes Leben und das Leben des Weltalls eins sind. (Thich Nhat Hanh 1995: 43, 45)
Nhat Hanh entwickelt die Achtsamkeitsmediation, die auf das Entstehen in Abhängigkeit und die wechselseitige Beziehung der Wirklichkeit fokussiert, als eine Methode der Introspektion. »Es geht um ein Eindringen des Geistes in den Geist selbst« (ebd.). Dieses Eindringen wird dezidiert von rationalen Zugangsweisen abgegrenzt: »Meditation ist kein diskursives Nachdenken über eine Philosophie der gegenseitigen Abhängigkeit«, vielmehr sollen die eigenen Konzentrationskräfte entfaltet werden, »um das wirkliche Wesen des Objektes der Betrachtung zu enthüllen« (ebd.). Damit wird die Erste-Person-Perspektive, die Selbstwahrnehmung durch Introspektion, zum Ausgangspunkt der Wahrnehmung von Wirklichkeit. Introspektion – als eine unhintergehbar subjektive Methode der Beobachtung – ist demnach der wissenschaftlichen Beobachtung aus der Dritte-Person-Perspektive entzogen und damit auch dem intersubjektiven Diskurs. Sie zielt auf eine Erfahrung, die man nur selber machen kann, bzw. auf eine qualitative ›Wahrnehmung‹. Nhat Hanh setzt dazu an der Schnittstelle der Beobachterposition in der ErstePerson-Perspektive und der Zweite-Person-Perspektive an. Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas und auch von sich selbst. Ausgehend von einer Gewissheit des Bezugs auf das eigene Denken und Bewusstsein sieht Nhat Hanh die Meditation als eine Methode, um das menschliche Bewusstsein anzuleiten, sich selbst reflexiv zu beobachten. Dies soll aber nicht in der begrifflichen Reflexion, sondern in der ganzheitlich-meditativen Einübung eines Wahrnehmens und Erlebens geschehen, welche die Perspektive der ersten und zweiten Person miteinander verschränkt. Der Meditierende entwirft ein Bild von sich als mit einem Bewusstsein ausgestattetem Subjekt. Dieses Subjekt kann sich auf sich selbst wie auch auf die Welt in der Weise reflexiv beziehen, dass es sich in der eigenen Selbstbezüglichkeit transzendiert – dass also Reflexion in der Selbstreflexion aufgehoben wird. Ausformuliert hat Nhat Hanh diesen Prozess in den Thesen von den ›Sieben Wundern der Achtsamkeit‹, die zu Grundartikeln auf den Websites zahlreicher Achtsamkeitszentren in ganz Europa geworden sind: 1. Achtsamkeit besteht darin, unsere authentische Präsenz hervorzubringen, uns im Hier und Jetzt lebendig werden zu lassen und mit den Dingen in Berührung zu kommen. 2. Achtsamkeit lässt uns erkennen, dass das Leben bereits da ist. Wir können wirklich mit ihm in Kontakt sein und ihm Sinn und Tiefe geben. 3. Achtsamkeit schenkt dem Objekt unserer Betrachtung Lebenskraft, berührt und umarmt es. Das macht uns selbst lebendig und das Leben wird realer. Dies gibt uns Nahrung und Heilung. 4. Achtsamkeit vermittelt Sammlung und Konzentration. Wenn wir in unserem Alltag konzentriert sind, werden wir alles tiefer betrachten und besser verstehen können.
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Andreas Nehring und Christoph Ernst 5. Achtsamkeit ermöglicht tiefes Schauen und lässt uns das Objekt unserer Betrachtung außerhalb und in uns selbst besser erkennen. 6. Achtsamkeit führt zu Verstehen, das tief aus unserem Inneren kommt. Wir erlangen Klarheit und so wird die Bereitschaft zur Akzeptanz gefördert. 7. Achtsamkeit führt zur Befreiung durch die so gewonnenen Einsichten. Wo immer wir Achtsamkeit praktizieren, ist Leben, Verständnis und Mitgefühl. (vgl. Thich Nhat Hanh o.J.)
Interessant ist an diesen Passagen, dass das Erfahren an sich gegen eine Beobachterposition von außen, die Nhat Hanh in der üblichen Volte den Naturwissenschaften zuschreibt, zum Garanten von Präsenz und Kopräsenz gemacht wird. Die Semantik der ›Präsenz‹ bekommt bei Nhat Hanh und in der weiteren Rezeption seines Ansatzes insofern eine zentrale Funktion, als durch Achtsamkeit eine besondere Erfahrung vermittelt wird, die ein Selbstgefühl ermöglicht, das in einer Lösung von der Ich-Zentriertheit und zugleich in einem erhöhten Maß an Empathie und sozialer Kompetenz bestehen soll. Die sieben Wunder der Achtsamkeit beschreiben folglich einen Zustand, der durch die Meditationspraxis mittels einer einzuübenden Technik erreicht werden kann. Weniger die klassische Befreiung vom karmischen Prozess des Entstehens und Vergehens durch Einsicht in die Natur der dhammas ist das Ziel, sondern eine Veränderung der Alltagspraxis im Umgang mit sich selbst und der Umwelt – gesteigerte Selbstwahrnehmung wird zur Garantie einer gesteigerten Selbsterfahrung in den eigenen sozialen Relationen. Das Versprechen ist bekannt: Die Differenz von Subjekt und Objekt soll durch dieses Zusammenspiel von Körper und Geist überwunden werden. Dieser Wahrnehmungszustand wird in den Texten zur Achtsamkeitsmeditation unter dem Label ›Ganzheitlichkeit‹ beschrieben, ein Begriff der mit den Vorstellungen von Vergänglichkeit, Leidhaftigkeit und NichtSelbstheit aus den Texten des Pali-Kanon zunächst kaum vermittelbar ist. Nhat Hanh sieht hierin den besonderen Beitrag des Mahāyāna: »Wenn man die Wirklichkeit in ihrem letztlich vollkommenen Wesen wahrnimmt, hat der Übende eine Ebene von Weisheit erreicht, die man den nicht-unterscheidenden Geist nennt – eine wunderbare Verbundenheit, in der es keine Unterscheidung von Subjekt und Objekt gibt« (1995: 51f.). Beispiel 2: Jon Kabat-Zinn: Achtsamkeit als therapeutischer Buddhismus Achtsamkeitsmeditation ist in den letzten Jahren vor allem in therapeutischen Kontexten bekannt geworden. Besonders die »Mindfulness-Based Stress Reduction« (MBSR) des US-amerikanischen Molekularbiologen und Mediziners Jon Kabat-Zinn hat diese Art der Meditation als ein wirksames Mittel zur Therapie einer breiten Reihe von Erkrankungen etabliert. Von stressinduzierten psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen und somatoformen Schmerzerkrankungen wie Fibromyalgie und Burn-Out bis hin zu durch schwere Krankheiten ausgelösten Schmerzen wird Achtsamkeitsmeditation mit Erfolg zum Aufbau
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einer größeren Krankheitstoleranz und verbesserter Bewältigungsstrategien der Schmerzen angewendet. Bei der ›Mindfulness-Based Stress Reduction‹ handelt es sich um einen achtwöchigen Kurs, der Elemente aus verschiedenen Meditationstechniken miteinander verbindet. Seinen Ansatz hat Kabat-Zinn unter anderem in seinem Buch Full Catastrophe Living (1990) dargelegt, das in Deutschland unter dem (etwas profaneren) Titel Gesund durch Meditation (2006) erschienen ist. Achtsamkeit wird in diesem Buch als ein Übungsweg betrachtet, der zu innerer Ruhe führen soll und zu Einsichten, »die aus der eigenen inneren Weisheit entstehen« (Kabat-Zinn 2006: 27). Ein den Patienten »bisher unbekanntes Terrain ihrer Seele« soll durch die Achtsamkeitsmeditation aufgeschlossen werden (ebd.). Der Weg zu einem »wirklichen Selbstverständnis«, so das Versprechen, führt zu Heilung (ebd.). Kabat-Zinn bezieht sich mit der MBSR-Methode dezidiert auf die buddhistische Tradition und insbesondere die Vipassanā-Meditation und betont, dass er damit eine »zweitausendfünfhundert Jahre« alte Praxis aufnehme, die nicht nur in Klöstern, sondern auch unter Laien praktiziert worden sei, die aber heute unter der westlichen Jugend besondere Verbreitung gefunden habe. Während in der Rezeption des Konzeptes in der Psychologie die Beschreibung eines achtsamen Bewusstseinszustandes im Vordergrund steht, geht es bei KabatZinn um mehr: Achtsamkeit sei ein ›Pfad‹ bzw. ›Lebensweg‹, den man beschreiten müsse. Kabat-Zinn sieht sich von Ideen der buddhistischen Ethik beeinflusst, betont aber, dass es sich bei der Achtsamkeitsmeditation um einen Ansatz von »universaler Gültigkeit« handle (ebd.). Die Universalisierung und De-Kontextualisierung buddhistischer Meditationspraxis durch amerikanische Meditationslehrer wie Jack Kornfield, Joseph Goldstein und Sharon Salberg hatte den Boden für die Adaption in den therapeutischen Kontext bereitet: »Es ist eine Methode, die auch außerhalb des buddhistischen Kontextes angewendet werden kann, weswegen wir sie in der Stressklinik unterrichten […]. Ihre besondere Kraft liegt ja gerade darin, dass sie unabhängig von Glaubenssystemen und Ideologien funktioniert. Damit stehen ihre Vorzüge jedermann zur Verfügung« (ebd.: 27f.). An Kabat-Zinns MBSR-Methode fällt zunächst die Diskrepanz zwischen buddhistisch-religiöser und nicht-buddhistisch-szientistischer Kontextualisierung des Programms auf. Die MBSR ist damit ein Schlüsselphänomen dessen, was man die Übersetzung von Achtsamkeit in einen ›therapeutischen Buddhismus‹ nennen könnte. In diesem Geiste wird Achtsamkeit bei Kabat-Zinn als eine ganzheitliche Körpererfahrung beschrieben, die sich von einem Zustand der »Unachtsamkeit« unterscheide, wobei Unachtsamkeit (denkbar vage) in Anlehnung an den (umstrittenen) Parapsychologen Gary Schwartz als das »Nicht-Achten auf relevante Rückmeldungen von Körper und Geist, die für das harmonische Zusammenspiel beider notwendig sind«, definiert wird (ebd.: 191). In der Missachtung von körperlichen Signalen durch die Psyche sieht Kabat-Zinn die Ursache für die meisten Krankheiten: »Die Nichtbeachtung dieser Meldung führt zu Störungen; die Störungen wiederum zu Fehlsteuerung; Fehlsteuerung zu Unordnung und diese schließlich zu Krankheit« (ebd.).
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In der Achtsamkeitsmeditation gehe es um ein In-Sich-Hineinhören, das darauf basiert, eine Distanzaufnahme in Bezug auf automatisierte Reiz-Reaktions-Muster zwischen Körper und Geist zu erreichen. Durch MBSR verstehe man, »daß wir nicht unsere Gedanken sind« (ebd.: 75), was vor allem dadurch erzielt werde, dass man lerne, einfach nichts zu tun. Folglich versteht Kabat-Zinn die Achtsamkeitsmeditation paradox als »aktives Nicht-Tun« (ebd.: 51). Man lerne, »vom Aktions-Modus in den Seins-Modus umzuschalten« (ebd.: 35) und versuche dabei bewusst, »keine Vorstellungen zu projizieren, keine Erwartungen damit zu verbinden, nicht zu beurteilen. Stattdessen versucht man offen und empfänglich zu sein und alles, was man sieht, fühlt oder hört, genauso zu akzeptieren, wie es sich darbietet« (ebd.: 53). Im Zentrum steht die Konzentration auf das eigene Sein in einem fokussierten Augenblick: »Der Kern des Problems, der Krankheit, ist das Nicht-Erkennen der eigenen Ganzheit, die darin liegt, genau das zu sein, was man ist, und zwar in jedem Augenblick« (ebd.: 229). Angestrebt wird ein Zustand, in dem man sich nicht mehr mit den begrenzten und lokal isolierten Ereignissen des eigenen Körpers identifiziert. Die MBSR wird also als ein Versuch konzipiert, den Patienten für Wechselwirkungen zwischen Psyche und Körper zu sensibilisieren. Als zentrale Erkenntnis lehrt Kabat-Zinn ein »Miteinander-verzahnt-Sein« vermittels »Rückkoppelungsschleifen« aller Einzelsysteme im Körper und der Umwelt, was ihn zu einer Theorie der Einbettung des Körpers in die Umwelt und zur Definition von Gesundheit als einem »dynamische(n) Prozess« führt (ebd.: 149). In der persönlichindividuellen Disposition wird ein Aktivierungspotenzial für Selbstheilungskräfte gesehen. Voraussetzung dafür ist die Auffassung vom Körper als einem »kleinen Universum«, das sich selbst organisiert und mit Zellen ausgestattet ist, die über die Fähigkeit verfügen, »sich als Ganzes zu steuern, das heißt, die ihnen innewohnende Ordnung, das innere Gleichgewicht aufrechtzuerhalten« (ebd.: 143). Mit Hilfe eines szientistischen Überbaus wird ein Bild vom Menschen als einem Entropie-produzierenden System entworfen. Kabat-Zinn stellt die ganzheitliche Perspektive mittels einer Analogie zwischen dem buddhistischen Konzept des Entstehens in Abhängigkeit (paticca-samuppada) und der sogenannten GaiaHypothese der systemischen Ökologie, der ein systemtheoretisches Verständnis von Leben zu Grunde liegt, her. Nach Kabat-Zinn ist der Körper durch jene ›Rückkoppelungsschleifen‹, »die alle Systeme miteinander verbinden« (ebd.), in der Lage, sich reaktiv und selbstorganisierend (Autopoiesis) an seine Umgebung anzupassen. Kabat-Zinn knüpft damit an Ansätze an, wie sie im Umfeld von strukturfunktionalen und konstruktivistischen Konzepten in der Biologie, Anthropologie und Kognitionspsychologie bei Gregory Bateson, Humberto Maturana, Francisco Varela oder Eleanor Rosch entwickelt worden sind. Der niederländische Religionswissenschaftler Wouter J. Hanegraaff hat dieses Theoriefeld recht treffend als ›New Age-Science‹ bezeichnet (1996: 62ff.). Der zentrale Begriff ist bei Kabat-Zinn, wie gesagt, das ›Miteinander-verbunden-Sein‹, das die Verbindung von Geist und Körper und somit die ›Ganzheitlichkeit‹ ebenso markiert wie die Verbindung zu allen Lebewesen. Diese idealistisch-
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naturphilosophischen Spekulationen vom ›Ganz-Sein‹ machen für Kabat-Zinn den Unterschied von Achtsamkeitsmeditation und anderen Stressbewältigungstechniken aus. Kabat-Zinn greift dabei auf esoterisch-stereotype West-Ost-Weisheiten wie die folgende zurück: Das Hauptanliegen der westlichen Psychologien ist es, pathologische Störungen zu beheben und das Individuum so weit wiederherzustellen, daß es in seinem gewöhnlichen Alltagsbewußtsein möglichst ›normal‹ funktioniert. Der Ansatz östlicher Psychologien dagegen geht davon aus, daß unser gewöhnliches Alltagsbewußtsein kein optimaler, sondern ein sogenannter suboptimaler Bewußtseinszustand ist und daß eine intensive, systematische Schulung des Geistes, wie sie in der Meditation erfolgt vonnöten ist, um sich von den gewohnheitsmäßig verzerrten Ansichten unseres Alltagsbewußtseins zu befreien, die, wenn wir uns ihrer nicht ganz bewußt sind, die Erfahrung unseres eigenen grundlegenden Ganz-Seins behindern. (Kabat-Zinn 2006: 151)
Insgesamt kann man sagen, dass das MBSR-Programm vor allem auf das implizit-somatische Wissen abzielt, insbesondere in Differenz zu explizit-intentionalen Überzeugungen. Diese explizit-intentionalen Überzeugungen sollen in der Meditation als modellhaft, also kontingent und fehleranfällig begriffen werden. Die in der Selbsterfahrung von Achtsamkeit implizierte Selbsterforschung bildet somit die Basis für die Korrektur fehlerhafter Überzeugungen, unterstreicht aber auch die in der westlichen Rezeption angelegte Betonung der methodischen Selbsterforschung im Sinne eines reflexiven Selbstkorrekturprozesses, der aus der unmittelbaren Lebenserfahrung heraus entspringt. Über die Distanzierung von eigenen psychischen Prozessen bei gleichzeitiger Sensibilisierung für die eigene Körperwahrnehmung wird ein emotionaler Entlastungseffekt von Stressoren erzielt, der insbesondere in der Unterbrechung pathologischer oder eine gegebene Krankheitssituation verschlimmernder Bewertungsmuster zu liegen scheint. Eine psychische Distanzierung von einer gegebenen Situation und ihren Bewertungsmustern geht also mit somatischer Sensibilisierung und einer intensiven Körperarbeit einher, was scheinbar ein wichtiger Aspekt des Erfolgsmodells der MBSR ist. Auffällig ist nicht der Versuch der wissenschaftlichen Anreicherung des MBSRKonzeptes, sondern dass das MBSR-Programm die Lebensform der Achtsamkeit mit einem starken Individualitätsbegriff kombiniert: Einerseits wird unter Affirmation stereotyp ›östlicher‹ Ideen und Praktiken eine Distanzierung zu stereotyp ›westlichen‹ Konzepten von Individualität aufgebaut, andererseits aber nichts anderes als ein Heilsversprechen für das Individuum formuliert, insofern dieses auf dem »Pfad der Achtsamkeit« (ebd.: 324) seinen eigenen Weg gehen muss, um zu einem »Ganz-Sein« mit sich selbst zu gelangen. Beispiel 3: Thomas Metzinger: Achtsamkeit als säkulare Spiritualität Jon Kabat-Zinns MBSR wird vor allem in der Psychologie und der psychosomatischen Medizin rezipiert, weitere Bezüge finden sich aber auch in dezidiert reli-
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giösen Kontexten. Ein anderer Weg, in dem ein aus der westlichen Tradition hervorgehender Begriff verwendet wird, ist von dem deutschen Philosophen Thomas Metzinger vorgeschlagen worden. Seine Agenda lautet nicht ›Ganz-Sein‹, sondern, strikt auf Linie westlicher Rationalitäts- und Vernunftkonzepte, ›intellektuelle Redlichkeit‹, woraus er weitreichende gesellschaftliche Konsequenzen ableitet. Vorgestellt hat Metzinger seinen Begriff von Achtsamkeit Ende 2010 auf einer Konferenz zum Thema Meditation und Wissenschaft in Berlin; Aspekte davon werden auch in seinem Buch Der Ego-Tunnel (2009) und in Medienauftritten wie in einem Fernsehinterview mit Richard David Precht für die 3sat-Sendung Sternstunde Philosophie (2011) thematisiert. Metzinger ist also kein Autor aus dem (populären) esoterisch-spirituellen Bereich, sondern vielmehr ein dezidierter Wissenschaftler, der seine Erkenntnisse in popularisierter Form einer breiten Öffentlichkeit vorstellen will, gleichsam ein ›public intellectual‹. Der Dachbegriff von Metzingers Achtsamkeitsverständnis ist ›säkulare Spiritualität‹. Diese wird als eine moralische Pflicht zu radikaler Ehrlichkeit auch sich selbst gegenüber angesehen (Metzinger/Precht 2011). Säkulare Spiritualität sei die Fähigkeit, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Metzinger versteht unter Spiritualität also eine »epistemische Einstellung« (2010: 7) und spricht explizit von einer »spirituellen Einstellung« im Sinne einer »Form von Erkenntnis« (ebd.: 40), bei der unklar sei, ob sie sich mit einer spezifischen Methode in Verbindung bringen lasse. Das hänge damit zusammen, dass die gesuchte Form der Erkenntnis (a) nicht-theoretisch, (b) nicht-propositional, (c) nicht-kognitiv und (d) nicht-diskursiv sei (ebd.: 7). Es handele sich um eine »existenzielle Selbsterkenntnis«, die der »Selbstvervollkommnung« diene (ebd.). Metzinger führt die ideengeschichtlichen Grundlagen dieser Einstellung bis auf Wilhelm von Auvenge (Bischof von Paris, 13. Jhd.) zurück, als eine Praxis der geistigen Selbstreinigung und Vervollkommnung, und zieht Jiddu Krishnamurti heran, für den Spiritualität die »Unbestechlichkeit des Selbst« bedeutet (ebd.: 9). Ausgehend von seinem Spiritualitätsbegriff formuliert Metzinger einen Begriff intellektueller Redlichkeit als ethische Einstellung zum inneren Handeln und Form moralischer Integrität, die auf klar szientistischen Prinzipien basiert: (a) doxastische Autoregulation, (b) Kohärenz von Wissen und Meinung, (c) nur evidenzbasierte Überzeugungen und (d) Kognition dient nicht emotionalen Bedürfnissen (ebd.: 11). Die Ahnherren hierfür sind Autoren wie John Locke, Immanuel Kant und Friedrich Nietzsche. Das Ziel dieser ›achtsamen‹ Redlichkeit ist die Aufhebung einer religiös-moralischen Interpretation der Welt (ebd.: 12ff.). Intellektuelle Redlichkeit ist ein Sonderfall der spirituellen Einstellung. Metzinger begreift Achtsamkeit und Achtsamkeitsmeditation somit als eine Bewusstseinstechnik, die Aufklärung über die eigene Sterblichkeit geben soll. Im Zentrum steht die Einsicht, dass es keine Seele gibt, was Metzinger als die Auflösung der phänomenalen Selbstwahrnehmung bezeichnet (ebd.: 44). Mit Achtsamkeit wird so eine Lebensform assoziiert, die, als Suche nach »direkter Erfahrung«, »radikal individuell« ist (ebd.: 42), also eine Erfahrung, die sich nicht mehr im Schleier der
Populäre Achtsamkeit — Kulturelle Aspekte einer Meditationspraxis
Selbsttäuschung verfängt (ebd.: 43ff.). Eine Schulung in Achtsamkeitsmeditation ist eine persönliche Forschung am eigenen Ich aus Perspektive der ersten Person, während die Wissenschaft das Bewusstsein aus Perspektive der dritten Person erforscht. Die bewusstseinsphilosophischen Grundlagen hierfür sieht Metzinger in einem Begriff von Bewusstsein als »Mitwissen« (ebd.: 15), das als eine Integrationsform von Selbstwahrnehmung und Gewissen betrachtet wird. Durch eine achtsame Selbsterfahrung lassen sich eine redlich-unbestechliche Erkenntnis und eine moralisch-aufrichtige Lebensform erreichen. Metzinger verbindet das mit einer atheistisch-säkularen Grundtheorie, die auf eine naturalistische Weltsicht gegründet ist. Religionen, so Metzingers Kernargument, sind »adaptive Wahnsysteme« (ebd.: 32), die in ihrer gesellschaftlichen Manifestation als »fideistisch-dogmatische Religion« (Judentum, Christentum, Islam, aber auch Hinduismus und Buddhismus, vgl. ebd.: 42, 47), vorwiegend Unheil über die Menschheit gebracht haben; Achtsamkeitsmeditation helfe, sich von einem solchen Wahnsystem zu befreien und eine Akzeptanz für die eigene radikale Sterblichkeit zu entwickeln, also entsprechende Jenseitshoffnungen aufzugeben. Die Diskussion um die Konsequenzen eines naturalistischen Menschenbildes nennt Metzinger an verschiedenen Stellen ›Bewusstseinskultur-Debatte‹. Damit meint er die »Entwicklung […] einer flexiblen Grundeinstellung, einem Ansatz, der, wo immer es möglich ist, die Autonomie und die Freiheit des einzelnen Bürgers maximiert und sich als Richtlinie ein ›Prinzip der phänomenalen Freiheit‹ zu eigen macht« (Metzinger 2009: 334). Die Leitdisziplin der Debatte um eine Bewusstseinskultur ist die ›Neuroethik‹ oder auch ›Bewusstseinsethik‹. Die Themenfelder liegen auf der Hand: Experimentelle Reproduktion religiöser Erfahrung, Neuroenhancement mittels Medikamenten bzw. Implantaten, die Frage nach der Moralität von Bewusstseinszuständen und natürlich auch Aufmerksamkeitsmanagement im Zeichen moderner Medien (ebd.: 329ff.). Achtsamkeitsmeditation soll den »modernen Aufmerksamkeitsräubern« entgegenwirken, also vor allem der »Werbe- und […] Unterhaltungsindustrie« im »Mediendschungel« (ebd.: 329), und am besten flächendeckend in der Schule eingeführt werden: »Besonders wichtig ist natürlich, dass solche Meditationskurse in einem weltanschaulich vollkommen neutralen Rahmen stattfinden – keine Kerzen, keine Räucherstäbchen, keine Glöckchen. Deshalb stelle ich mir den Sportlehrer als natürlichen Ansprechpartner vor und keinesfalls den Religionslehrer« (ebd.: 331). Metzinger will damit dafür sorgen, dass das Gehirn als ein Organ begriffen wird, das der Pflege bedarf. Achtsamkeitsmeditation ist »Bewusstseinspflege«, die auf die Aufmerksamkeitsräuber der ›neuen‹ Medien und der »ständigen Kommunikation« reagiert. Man muss lernen, mit dem eigenen Geist richtig umzugehen (Metzinger/Precht 2011). In der Summe plädiert Metzinger dafür, die Erkenntnisse der Neurowissenschaften und der Philosophie des Geistes auf die Gesellschaft hin zu applizieren. Er verfährt dabei strikt szientistisch-aufklärerisch und entwickelt das Gegenteil von dem, was man als ›New Age-Science‹ bezeichnet. Interessant ist etwa Metzingers
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Funktionalisierung von Achtsamkeit und Achtsamkeitsmeditation als radikal skeptisch-kritische Geisteshaltung, in der weitestgehend von der somatisch-emotionalen Seite der Meditation abgesehen wird. Das Ziel der Meditationserfahrung liegt nicht in einer Reaktivierung oder Versöhnung mit einem impliziten somatischen Wissen, sondern ist rational verfasst: Die Erfahrung, die in der Achtsamkeitsmeditation zu machen ist, mag nicht-propositional sein, ist darin aber gerade keine Umstrukturierung eines impliziten Wissens, sondern eine Einsicht in die Kontingenz der eigenen propositionalen und expliziten Bewusstseinszustände (›Überzeugungen‹). Auch bei Metzinger findet sich also eine Konzeption von Achtsamkeit als individueller Selbsterkundungspraxis, die vorrangig bis exklusiv auf eine rationalskeptische Einstellung zielt. Der Vergleich der drei Positionen erlaubt das Formulieren eines weiteren Zwischenfazits: 1. Vertiefte Alltagserfahrung – Achtsamkeit als Reframing alltäglicher Erfahrungen: Egal ob man es als ein ›Nur-Sein‹ oder als eine radikale Akzeptanz des eigenen existenzialistischen Geworfen-Seins interpretiert, Achtsamkeit führt stets das Versprechen einer ›reineren‹, weil ›vorbehaltlosen‹ Erfahrung mit sich. Interessant ist, dass nicht der Erfahrungsmoment selbst als etwas ›tieferes‹ konzipiert wird (wie z.B. in der Mystik), sondern dass die Ergebnisse der Meditation eine ›tiefere‹ Lebensführung erlauben sollen. Nicht die Praxis selbst ist das Abtauchen in eine tiefere Schicht der Erfahrung, sondern die Ergebnisse der Praxis führen zu einer veränderten und ›tieferen‹ Einsicht. Achtsamkeit bezieht sich nicht – um in der Terminologie des Ansatzes des vorliegenden Bandes zu bleiben – auf herausgehobene, sondern auf alltägliche Präsenzerfahrungen. Versprochen wird eine neue Rahmung dieser alltäglichen Präsenz, also neue Perspektiven auf den Alltag, was vor allem durch eine Ausbildung größerer Toleranz gegenüber den alltäglichen Bewusstseinszuständen erreicht werden soll. 2. Verkörpertes Bewusstsein – Achtsamkeit als Bewusstseinstechnik verkörperter Erfahrung: Die Konzeption und die Rezeption von Achtsamkeit reflektiert diese Meditationspraxis so, dass sie über die Wahrnehmung des Bewusstseins als verkörpertem Bewusstsein eine veränderte Lebenspraxis in Aussicht stellt. Achtsamkeit soll dem Individuum auf Grundlage von zunächst explizit erlerntem, dann aber habitualisiertem implizitem Wissen Wege und Strategien im Umgang mit den Zuständen des eigenen Bewusstseins vermitteln. Dazu wird die Verkörperung dieser Zustände erfahrbar gemacht, also in der Meditationspraxis, wenn man so will, ›präsentifiziert‹. Und auch wenn relativ wenig zum Körper gesagt wird, führt die atheistische Position von Metzinger dieses Motiv der Reflexion auf das Bewusstsein als eines verkörperten Bewusstseins in der Akzeptanz der radikalen Kontingenz und Vergänglichkeit (›radikale Sterblichkeit‹) des Daseins ebenfalls mit sich.
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3. Differenzwissen Körper/Geist – Achtsamkeit als Einsicht in die Flüchtigkeit bewusster Zustände: Achtsamkeitsmeditation kann als eine Praxis betrachtet werden, die dem spätmodernen Subjekt durch die in ihr vermittelte Bewusstseinstechnik ein Differenzwissen um die Wechselwirkung von Bewusstsein und Körper zur Verfügung stellt. Bewusstsein wird als somatisches Bewusstsein erfahren. Sinn und Zweck dieser Praxis scheint zu sein, die phänomenale Vergänglichkeit von Bewusstseinszuständen einzuüben und auf diese Weise eine höhere Toleranz gegenüber Affekten, aber auch dysfunktionalen Bewusstseinszuständen zu erzielen. In der existenziellen Selbstvergegenwärtigung von Motiven wie Vergänglichkeit wird ein Antidot gegen ›dysfunktionale‹ Zustände gesehen. Was diese ›Dysfunktion‹ allerdings ist, ist hochgradig von der jeweiligen diskursiven Aneignung von Achtsamkeit abhängig.
V. E RGEBNISSE UND P ERSPEK TIVEN : A CHTSAMKEIT ALS POPUL ÄRE S PIRITUALITÄT Kulturwissenschaftlich ist an Achtsamkeit und ihrer Rezeption bemerkenswert, dass und wie sie in verschiedenen Diskursen adaptiert wird. Achtsamkeit trifft offenkundig nicht nur einen, sondern gleich verschiedene Nerven unterschiedlicher Diskurse. Dies kann und sollte Anlass zu weiteren, durchaus auch kritischen Analysen und Interventionen geben. Was wären mögliche Themenfelder, wie sie sich aus den Zwischenergebnissen ableiten? Wenn auch als Ergebnis erwartbar, so ist an den Überlegungen doch interessant, dass verschiedene Motive aus der buddhistischen Tradition im Achtsamkeitsdiskurs unter veränderten Vorzeichen und in wechselnden Konstellationen mitgeführt werden. Als Beleg zu nennen ist z.B. der enge Bezug von Achtsamkeit zu Körperlichkeit, der – man denke an Metzingers Motiv radikaler Sterblichkeit – teilweise auch ohne direkten Bezug zur buddhistischen Tradition auf ganz ähnliche Art formuliert wird wie in der buddhistischen Tradition selbst – man denke dort an die Bedeutung der Betrachtung von Leichen im Kontext der Auslegung des Satipatthāna-Sutras. Überhaupt ist es wichtig festzuhalten, dass die Integration von Achtsamkeit in westliche Diskurse wesentlich über das Motiv der Verkörperung von Bewusstsein funktioniert. Das führt zu einem zweiten, kulturwissenschaftlich deutlich schwierigeren Punkt, nämlich der impliziten Normativität von Achtsamkeitsdiskursen. Als soziale Praxis ist Achtsamkeit trotz ihrer Distanzierung von allen Ansprüchen und dogmatischen Positionierungen alles andere als eine nicht-normative Praxis. Achtsamkeitsdiskurse geben sich einen nicht-normativen Anstrich, der gerade in seinem Reinheitsversprechen, also dem supponierten Erfahrbarmachen von ›reiner Wahrnehmung‹, ›bloßem Dasein‹, ›unmittelbarer Präsenz‹ unter eben diesen normativen Bedingungen zu reflektieren ist. In jedem Diskurs, in dem Achtsamkeitsmeditation rezipiert wird, wird diese Meditationspraxis nach den Regeln und
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Vorgaben des jeweiligen Diskurses ideologisch angereichert, also unter die Bedingungen dieses Diskurses gestellt. Dementsprechend ist die hohe Adaptionsfähigkeit ein Indikator dafür, dass Achtsamkeit Eigenschaften aufweist, die das Konzept in der gegenwärtigen Gesellschaft für verschiedene ideologische Anreicherungen attraktiv machen. Eine zentrale Voraussetzung für die hohe diskursive Adaptionsfähigkeit von Achtsamkeit könnte darin liegen, dass Achtsamkeit als eine selbstkorrigierende Lebensform – also eine alltäglich anwendbare Praxis der reflexiven Selbstkorrektur – gedacht wird. Egal, ob in einem medizinisch-psychologischen Verständnis von Therapie oder einem philosophisch-weltanschaulichen, Achtsamkeit, so der Tenor, ermöglicht eine Distanz zu ›fehlerhaften‹ Bewusstseinszuständen, wie sie z.B. durch Krankheit oder leidvolle Beziehungen ausgelöst werden. Fehlerhafte Einstellungen und Überzeugungen müssen aber – um als Fehler erkannt zu werden – von einer Norm abweichen. Die naheliegende Frage ist natürlich: Wer definiert die Norm? Wer sagt, was ›dysfunktional‹ ist? Mit anderen Worten: Das Problem hier ist nicht, dass Achtsamkeit als soziale Praxis zwangsläufig normativ ist, sondern die explizite Zuschreibung, dass Achtsamkeit als Praxis ›neutral‹ sei. Auffallend ist weiter, dass die Korrektur, die durch Achtsamkeit als Praxis erreicht wird, als eine Selbstkorrektur angelegt ist. Als eine populäre Form von Spiritualität wird Achtsamkeit als eine Praxis der Selbstfürsorge lesbar, die – wie alle Konzeptionen des Selbst – unter historisch-kontingenten Bedingungen steht. Achtsamkeit steht allen Indizien zufolge im Zentrum solcher Konzepte, die in der spätmodernen, westlichen Gesellschaft die individuelle Selbstfürsorge normativ vermitteln. Auf die akademischen Reflexe in den Kulturwissenschaften ist wie kaum auf etwas Zweites Verlass, und natürlich müssen Kulturwissenschaftler an dieser Stelle auf die auch im vorliegenden Text bereits einmal dem Namen nach erwähnte Theorie der Selbstsorge Michel Foucaults und seine Analytik der Macht verweisen. Aber es gilt insoweit einmal ›achtsam‹ zu sein, als dieser Reflex, wenngleich gut bewährt, nicht als Automatismus reproduziert und deshalb vorläufig ausgesetzt werden soll. Es geht einzig um das Herausstreichen des systematischen Punktes. Dieser systematische Punkt ist wichtig, weil sich das Forschungsfeld Achtsamkeit besonders anbietet, um die Erfahrungswelt und die Konzepte des reflexiven Selbstbezugs des spätmodernen Subjektes in den westlichen Gesellschaften, seine Einbettung in systemisch differenzierte gesellschaftliche Teildiskurse wie Religion und Wissenschaft, aber auch die Wiedereinschreibungen von Achtsamkeit in die ursprünglichen Ausgangskulturräume zu studieren. Das setzt sowohl weiter reichende Überlegungen zu den zeitgenössischen Selbstkonzeptionen, dem Erfahrungsstatus des Individuums und der Verantwortungen, die ihnen zugeschrieben werden, voraus, als auch eine tiefer greifende Beschäftigung mit den Vermittlungskontexten und medialen Strategien, mit denen Achtsamkeit popularisiert wird. Was immer die weitere Forschung zeigen wird: Ausgehend von dem im vorliegenden Band vorgeschlagenen Ansatz, zwischen Präsenz und implizitem Wissen eine Wechselwirkung zu sehen, ist es in der Erforschung des Gesamtphänomens ›Achtsamkeit‹ wichtiger denn je, methodisch zwischen den Ebenen der expliziten
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diskursiven Akzeptanz und der impliziten körperlichen Wirksamkeit von Achtsamkeitsmeditation zu unterscheiden. Erst diese Unterscheidung erlaubt es, die Wechselwirkung zwischen beiden Dimensionen von Achtsamkeit sichtbar zu machen. Kultur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven müssen den Bruchpunkt zwischen der ideellen Diskursivierung (Akzeptanz) und der praktischen Habitualisierung (Wirksamkeit) von Achtsamkeit in der Achtsamkeitsmeditation in den Blick nehmen. Reduktionistisch wäre es, davon auszugehen, Achtsamkeitsmeditation sei unabhängig von den Rückkoppelungen mit kulturellen Sinnangeboten und sozialen Praxen wirksam. Zwischen Präsenz und implizitem Wissen dahingehend eine Wechselwirkung zu sehen, dass Präsenz (a) über implizites Wissen diskursiviert wird – z.B. in den Präsenzbegriffen der Achtsamkeitsdiskurse –, implizites Wissen aber (b) nur in Präsentifikationen wie konkreten Praktiken – z.B. in Achtsamkeitsmeditationen – kulturell anschaulich werden kann, trägt somit dazu bei, die (inter-)kulturellen Grundlagen dieser Meditationspraxis und der anhängigen Fragestellungen in Bezug auf das qualitative Moment dieser Praxis der Selbsterfahrung und ihrer diskursiven Verkettung neu zu perspektivieren.
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Präsenz und implizites Wissen Heilungsverfahren in christlichen Gruppierungen Chinas und deren Nähe zu volksreligiösen Praktiken Monika Gänßbauer
Mit diesem Beitrag möchte ich einige Zusammenhänge zwischen Präsenz und implizitem Wissen in den Heilungsverfahren chinesischer christlicher Gruppierungen im heutigen China aufzeigen. Aufgrund meines Feldzugangs und vieler Begegnungen vor Ort konzentriere ich mich dabei auf protestantische Gemeinschaften. Der Beitrag versteht sich als Versuch an einer Forschungsfrage und arbeitet mit der Hypothese, dass zwischen Phänomenen der Präsenz (Gumbrecht 2004) und Formen des impliziten Wissens (Polanyi 1985) eine Interdependenz angenommen werden kann. Zur Geltung kommt die implizite Dimension von Präsenz etwa in verschiedenen Formen eines In-Szene-Setzens oder in anschaulich-operativen Zeichenhandlungen. Der Wissensüberschuss von Präsenz wird also in konkreten Erfahrungsvollzügen diskursiviert. Implizites Wissen wird in diesem Zusammenhang als vorreflexive, erfahrungsgebundene, in körperlichen Praxen routinisierte und wiederholbare Wissensform verstanden.1 Als Quellen dienen mir mündliche und schriftliche Berichte über Heilungserfahrungen sowie die Fernseh-Dokumentation »The Cross – Jesus in China«. Diese Dokumentation wurde von der protestantischen »China Soul for Christ Foundation« gedreht, die ihren Sitz in Kalifornien hat und von Auslandschinesen geleitet wird, deren Ziel die Verbreitung des Christentums in der Volksrepublik China ist (China Soul for Christ Foundation 2003). In verschiedenen Teilen der Dokumentation wird auf die Geschichte und die aktuelle Situation von Christen in China eingegangen. Das Thema Heilungsverfahren christlicher Gruppierungen im heutigen China 1 | Für wertvolle Anregungen zu dem Beitrag danke ich Heike Paul, Michael Lackner, Theodor Ahrens, Andreas Nehring und Werner Kahl.
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ist bislang nur marginal erforscht. Dies liegt sicher auch daran, dass die offiziell anerkannte chinesische protestantische Kirche einer solchen Praxis bislang kritisch gegenüber steht und sie eher beschweigt als sich mit ihr auseinanderzusetzen. Dabei findet sich eine solche Praxis durchgehend in allen kirchlichen Gruppierungen Chinas, in inoffiziellen Hauskirchen ebenso wie in Gemeinden der offiziellen protestantischen Kirche selbst. Der Theologe Chen Zemin, ein Vertreter der letzteren, charakterisierte im Jahr 1995 die protestantische Kirche Chinas als »rückständig«. Es mangle an einer fundierten christlichen Ausbildung, und viele Glaubenspraktiken der chinesischen Kirche stünden dem »Aberglauben« (mixin 徟ᾉ)2 nahe (Chen 1995: 27).3 Damit repräsentiert er eine bis heute dominante Mehrheitsmeinung innerhalb der Kirchenleitung der anerkannten protestantischen Kirche Chinas. Das Thema Heilungserfahrungen ist nicht zuletzt deshalb ein relevantes Untersuchungsfeld, weil es ein virulentes Phänomen darstellt. Tang Xiaofeng schätzte 2011, dass 50 % aller chinesischen Christen aufgrund von Glaubensheilungen zum Christentum konvertierten (Tang 2011). Der Hongkonger Religionswissenschaftler Liang Jialin ging 1999 davon aus, dass sich über 60 % der Christen in China aufgrund von Glaubensheilungen dem Christentum zuwandten (1999: 226).4 Shaun Gallagher (2005: 247 und 28) diskursiviert die körperliche Erfahrung von Krankheit so: »Nothing about human experience remains untouched by human embodiment« und: »In certain circumstances one’s body will appear in the focus of attention […]. In the case of […] sickness […] it may appear as […] a burden or annoyance, or impotent«. Dem begegnen christliche Gruppierungen mit einem Einsatz für Heilung, der sich als »Verfahren des In-Ordnung-Bringens« deuten lässt (vgl. Ahrens 2008). Das Christentum trägt in China, wie auch in anderen Ländern Asiens und Afrikas, starke Züge einer »therapeutischen Religion« (ebd.). Claudia Währisch-Oblau (2001) und Gotthard Oblau (2011) haben zum Thema Heilungsberichte in protestantischen Kirchen Chinas aus einer theologisch-soziologischen Perspektive geforscht. Ihnen geht es vor allem um die Frage, wie solche Heilungsberichte interpretiert werden können, etwa als Ermächtigung der Margi-
2 | Dass die Prägung und Abgrenzung des Begriffs Aberglauben gegenüber Religion, die sich während der Republikzeit in China vollzog, stark auf christliche Konzepte bezogen ist, hat Michael Lackner jüngst deutlich gemacht (Lackner 2011b). 3 | Michael Lackner hat darauf hingewiesen, dass schon das 1924 erschienene Werk der beiden chinesischen Methodisten Li Ganchen und Luo Yuanyan, »Kompendium zur Ausrottung des Aberglaubens« (chines. Poxie Mixin Quanshu ⸈䙾徟ᾉܼк , mit dem englischen Untertitel »Superstitions: Their Origins and Fallacy«, eine ausführliche Liste von Techniken der Vorhersage, Geomantik und chiliastischer Kulte enthält, die es »auszurotten« gelte (Lackner 2011b). 4 | Edmond Tang zitiert sogar Berichte, nach denen 90 % aller Neubekehrten angaben, durch Heilung Christen geworden zu sein (2005: 481).
Heilungsverfahren in christlichen Gruppierungen Chinas
nalisierten der Gesellschaft oder als Hinweis auf ein marodes Gesundheitssystem, gerade auf dem Land.5 Die folgende Fragestellung geht in eine etwas andere Richtung. Ich möchte versuchen, den Vorgang von Handlungen chinesischer protestantischer Gruppierungen, die auf Heilung abzielen, in einem chinesisch-volksreligiösen Kontext zu verorten, in dem solche Heilungspraktiken seit Jahrtausenden eine Rolle spielen. Eine solche Verortung ist bisher nur am Rande geschehen und sollte meines Erachtens stärker erforscht werden. Im Rahmen des Internationalen Kollegs »Schicksal, Freiheit und Prognose«6 an der Universität Erlangen-Nürnberg kann eine solche Forschung Anbindung finden. Volksreligion definiere ich mit Yip Ching-Wah als »ein Konglomerat religiöser Überzeugungen und Bräuche, von denen chinesische Gemeinschaften durchdrungen sind« (2002: 28). Zuweilen überschneiden sich – auch in der folgenden Diskussion – die Begriffe Daoismus und Volksreligion, da deren Vorstellungen und Praktiken im chinesischen Raum oft ineinander übergehen. Eine Abgrenzung wurde meist gezwungenermaßen dann vorgenommen, wenn es von staatlicher Seite darum ging, erlaubte institutionalisierte Formen von Religion zu identifizieren und diese gegen verbotene Formen des »Aberglaubens« oder des »Sektierertums« (xiejiao 恒㔁) abzugrenzen. Aber auch von daoistischer Seite wurde mit solchen Distanzierungen gegenüber volksreligiösen Praktiken gearbeitet, um sich als sogenannte orthodoxe Richtung zu etablieren und gegen angeblich heterodoxe Richtungen abzugrenzen. Solche Grenzziehungsprozesse erscheinen mir für wissenschaftliche Bemühungen nicht weiterführend. Julia Ching schreibt über »chinesische Religion«, diese finde vielfältige Ausdrucksformen, und der Daoismus stehe für diejenige Form, die im Volk praktiziert werde (Ching/Küng 1999: 180ff.). Das bedeute nun nicht, dass Daoismus und chinesische Volksreligion identisch seien, aber der Daoismus stelle doch den einflussreichsten Strang dar, ohne dabei alles abzudecken, was Volksreligion sei (ebd.). Ich möchte die Verbindung von christlichen und volksreligiösen Elementen in Heilungsverfahren protestantischer Gruppierungen nicht mit dem Begriff Synkretismus fassen, da dieser, so Kurt Rudolph, »schillernde Begriff« (1992: 193ff.; Wrogemann 2012: 328) sehr kontrovers diskutiert wird und in der Religionswissenschaft oft einen pejorativen Klang hat (Yip 2002). Sinnvoller erscheint mir in diesem Zusammenhang der kulturwissenschaftliche Begriff der Hybridisierung, der Dynamiken eines Prozesses intrakultureller Aneignung bezeichnen soll. Das Begriffsfeld der Hybridisierung rückt multiple kulturelle Identitäten von Individu5 | Zu diesem Argument siehe auch Liu (2011: 82). 6 | Das Kolleg, auf sinologischer Seite geleitet von Michael Lackner und Thomas Fröhlich, befasst sich mit Fragen von Prognostik, Schicksal und Freiheit in der chinesischen Geschichte und Gegenwart.
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en und Gruppen in den Blick, »die sich durch eine grundlegende Porosität kultureller […] Grenzen auszeichnen« (Lüsebrink 2003: 324). Volksreligion wird heute in der Volksrepublik China nicht mehr generell als Aberglaube (mixin 徟ᾉ) disqualifiziert. Stattdessen findet dort mittlerweile eine vorsichtige Annäherung an Ausprägungen dieses Bereichs von Religion statt, teils auch über die durch die UNESCO eingeführte Kategorie von schützenswertem »immateriellen Kulturerbe« (feiwuzhi wenhua yichan 䴲⠽䋼᭛࣪䘫ѻ), so beispielsweise bei Gao Bingzhong (2010).7 Liu Dake, Dozent an einer Parteihochschule, erklärt in einer aktuellen Publikation über volksreligiöse Praktiken, ›das aufrechte Bitten verleihe den nicht-existenten Gottheiten Existenz und verdichte sich in den Menschen zu absolutem Geist‹. Eine solch positive Wertung volksreligiöser Praktiken war bislang in Publikationen chinesischer Parteivertreter nicht vorstellbar, und so eröffnen sich neue Perspektiven für die Interpretation von Religionen in China, innerhalb wie auch außerhalb des Landes (Liu 2011: 160). Die vorsichtige Anerkennung von Volksreligion in akademischen Kreisen Chinas zeigt sich auch darin, dass das »Blue Book on Religion«, ein seit einiger Zeit jährlich erscheinender Bericht über Religionen Chinas, im Jahr 2011 auch eine Rubrik »Volksreligion« aufweist (Jin et al. 2011: 197ff.). Dies war in früheren Ausgaben nicht der Fall. Der chinesische Staat verkündet »als seine offizielle Religion den Atheismus« (Lackner 2011a: 239), und bis heute werden von der chinesischen Regierung nur folgende fünf Religionen anerkannt: Buddhismus, Daoismus, Islam, protestantisches und katholisches Christentum. Doch die Volksreligion ist in den letzten Jahren in China, ähnlich dem Christentum, enorm erstarkt. Liu Dake, der als ein Vertreter der Kommunistischen Partei Chinas zu dem Thema Volksreligion forscht, hat in einer Feldstudie über die Provinz Fujian festgestellt, dass dort im Jahr 2002 ca. 24.000 Stätten der Volksreligion existierten. Heute lägen die Zahlen vermutlich bereits bei 50.000 bis 60.000 (2011: 40). Mittlerweile finden sich in der Volksrepublik China sogar wissenschaftliche Texte, die betonen, dass alle heutigen Religionen Chinas aus dem Volksglauben hervorgegangen seien (Jin 2010: 2). Der Volksglaube sei der Boden, auf dem in China stets neue Religionen entstanden seien. Forscher wie Jin Ze von der Akademie für Sozialwissenschaften in Beijing interessiert dabei die Frage, wie sich Volksglaube und institutionalisierte Religionen in China heute verbinden. Er forderte auf einer Konferenz der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften und der Konrad Adenauer Stiftung 2009 in Beijing, Volksreligion als offizielle Religion in China anzuerkennen. Han Bingfang, ein Kollege Jins, erklärte im selben Jahr, der Volksglaube stelle eine sehr einflussreiche gesellschaftliche Ressource dar und könne ohne Frage eine Anpassung an den Sozialismus anleiten sowie gesellschaftliche 7 | Allerdings gilt für das Verlagswesen und das Internet eine Bestimmung aus dem Jahr 1998, die 2004 noch einmal ergänzt wurde. Ihr zufolge ist die Verbreitung von ›feudalem Aberglauben‹ (der freilich nicht näher definiert wird) verboten (Lackner 2011a: 243).
Heilungsverfahren in christlichen Gruppierungen Chinas
Harmonie in China befördern (2009: 180). Zum Vergleich: Chen Duxiu (18791942), Gründungsmitglied und erster Vorsitzender der Kommunistischen Partei, hatte einst erklärt: Wenn wir glauben, dass die Wissenschaft die Kompassnadel zur Entdeckung von Wahrheit darstellt, dann sind Geister und Dämonen, die Seele, die Techniken der Alchemie, Talismane und Zauberformeln, Schicksalsberechnung, das Orakel durch Hexagramme […], Geomantik, Yin und Yang und die Fünf Elemente sämtlich der Wissenschaft entgegengesetzte Absurditäten und Idiotien, an die man auf keinen Fall glauben kann. (Zitiert in Lackner 2011b)
Im Jahr 1927 begann die stärkste Verfolgung sogenannter »abergläubischer Berufe und Örtlichkeiten«, die China je gekannt hatte. Michael Lackner fasst diese Entwicklung wie folgt zusammen: Eine Säkularisierungsbewegung noch nicht dagewesenen Ausmaßes verstaatlichte Tempel und deren Eigentum, schloss Buden und Büros von Wahrsagern, die zum Ergreifen anderer, ›fortschrittlicher‹ Berufe gezwungen werden sollten und verbot die Ausübung der traditionellen chinesischen Medizin. Diese Kampagne gegen den Aberglauben führt in ihrer Rhetorik, Zielsetzung und polizeilichen Maßnahmen bruchlos zu den späteren Kampagnen der Volksrepublik China. (Ebd.)
Während der Kulturrevolution (1966-1976) galten dann in der Volksrepublik China sogar alle Religionen als auszurottender Aberglaube. Während Jin Ze heute den Volksglauben als »kleine Tradition« der chinesischen Geschichte bezeichnet (2010: 3),8 geht Zhu Haibin von der Fudan-Universität in Shanghai einen Schritt weiter, indem er im Volksglauben »Chinas wichtigste religiöse Tradition« erkennt (2011: 26). Von allen Glaubensformen habe der Volksglaube in den ostasiatischen Zivilisationen die weiteste Verbreitung gefunden. Zhu bezeichnet ihn entsprechend als »geistige Überzeugung aller Chinesen« und betont, dass er auch von den Eliten Chinas praktiziert worden sei (ebd.). Die Religionswissenschaftlerin Gao Shining betrachtet diese Entwicklung allerdings kritisch und spricht von einer »Infiltrierung des Christentums durch die Volksreligion« in ländlichen Gebieten Chinas (2002: 111f.). Das Christentum erhalte z.B. eine abergläubische Prägung, »wenn man von Gott […] annimmt, dass er alle Bitten sofort erhört […]. Manchmal wird […] Jesus auch als Erdgott, Herdgott oder Erntegottheit verehrt. Zuweilen werden christliche Liturgie und Gesang mit
8 | Die Unterscheidung zwischen »kleinen« und »großen« Traditionen geht auf den Ethnologen Robert Redfield (1897-1958) zurück.
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traditionellen, volksreligiösen Zeremonien vermengt, so dass auf volksreligiösen Feiern auch geistliche Lieder und Tänze dargebracht werden« (ebd.). Gao hält ein solches »mit Volksreligion und Aberglauben vermengtes Christentum« für »primitiv, grob und rückständig« (ebd.). In dieser Argumentation nimmt die Religionswissenschaftlerin, wie ich meine, Kategorien auf, wie sie bereits von westlichen Missionaren im 19. Jahrhundert angewandt und durch die religionsfeindliche Klassifizierung des Marxismus in China bis heute perpetuiert worden sind.9 Eine Gegenposition wird etwa vom Religionswissenschaftler Yuan Bujia vertreten, der schon 1997 darauf verwies, dass Christentum und Daoismus einander ergänzen könnten (Yuan 1997). Im Zusammenhang mit christlichen Heilungspraktiken in China wird von theologischer Seite oft die Frage aufgeworfen, inwieweit solche Praktiken nicht ein Erbe missionarischer Unternehmungen in China sind – immerhin lassen sich ähnliche Praktiken auch in anderen Kontexten der Welt finden. Gegen diese These spricht meines Erachtens, dass sich in China deutlich indigene Entwicklungen zeigen. Zum einen hatten die meisten Missionsunternehmen, die ab dem 19. Jahrhundert in China tätig waren, eine wenig charismatische Orientierung. Zum anderen lag die Zahl der evangelischen Christen Chinas im Jahr 1949, als alle ausländischen Missionare des Landes verwiesen wurden, bei lediglich 700.000, wovon wiederum 100.000 allein der indigen Gruppierung der Wahren Jesus-Kirche10 (Zhen Yesu Jiao 䛇俞䧋㔁) angehörten (Oblau 2011: 309). Einflussreiche indigene christliche Bewegungen bildeten sich in China bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Gao 1998: 23f.). Insofern ist davon auszugehen, dass der Einfluss der europäischen oder amerikanischen Missionskirchen auf die Praxis heutiger Heilungsgebete in China eher gering ist. Handlungen, die auf Heilung abzielen, sind in christlichen Gruppierungen Chinas stark verbreitet (Währisch-Oblau 2001). Diese Handlungen nehmen meist die Form von Gebeten an. Für die Heilung anderer zu beten, steht jedem chinesischen Christ, jeder Christin offen; es ist keine Ausbildung notwendig. Das explizite Wissen, auf das sich das Heilungsgebet im chinesisch-christlichen Kontext bezieht, besteht meines Erachtens meist (nur) darin, dass Jesus selbst in zahlreichen Erzählungen der Bibel als Heiler agiert und Menschen in seiner Nachfolge überzeugt sind, ebenfalls Krankheiten heilen und Dämonen austreiben zu können. Alan Hunter spricht in diesem Zusammenhang von einem tiefen buch-
9 | Du Xiaoan 㧫⺞⸘ beschreibt z.B., wie christliche Missionare im 19. Jahrhundert volksreligiös-daoistische Traditionen als Götzendienst und als sektiererisch betrachteten (2010: 207). 10 | Die Wahre Jesus-Kirche wurde in den 1920er Jahren von chinesischen Christen gegründet. Sie geht von zwei Phasen im Versprechen des Heiligen Geistes aus, sich ›auszuregnen‹: einmal im apostolischen Zeitalter und zum zweiten Mal kurz vor dem Zweiten Kommen Christi (vgl. Deng 2005).
Heilungsverfahren in christlichen Gruppierungen Chinas
stabengetreuen Glauben (1990: 16).11 Für Deng Zhaoming finden »Chinese peasants […] much comfort in the belief that they are returning to the essential truths and behaviour of first-century Christianity« (2005: 438).12 Sean Kim hat für den koreanischen Kontext Ähnliches festgestellt: »In the hands of the Korean evangelists, it the healing became a powerful instrument of conversion […]. The healings took place through Christian prayer and were validated in terms of the Bible. The healers saw themselves as following the example of Jesus and the apostles in healing the sick and casting out demons« (2011: 269). Ein großer Teil der jungen christlichen Gemeinden liegt in ländlichen Gebieten Chinas, wo der Ausbildungsstand der Menschen meist gering ist (Tang 2011). Oft sind es gerade Menschen aus unteren Gesellschaftsschichten, wie z.B. Bauern, die zu Evangelisten werden (vgl. China Soul for Christ Foundation 2003). Auch hier zeigt sich eine Parallele zur chinesischen Volksreligion, die ebenfalls hauptsächlich in den ländlichen Regionen Chinas praktiziert wird, und deren Ritualen oft Personen mit geringem Bildungsgrad vorstehen (Jin 2010: 3).13 Ich möchte im Folgenden einige Beispiele nennen, die als Diskursivierung von Präsenzerfahrungen im religiösen Bereich interpretiert werden können: In der Fernseh-Dokumentation »The Cross – Jesus in China« berichtet eine Evangelistin: »Wenn wir beteten, wurden viele Kranke geheilt«, und ein anderer erzählt: »Am Anfang erlebten wir in jedem Dorf, das wir besuchten, viele, viele Wunder. Wir legten unsere Hände auf und sie wurden geheilt« (China Soul for Christ Foundation 2003). Theodor Ahrens beschreibt solch christliches Heilungshandeln als ein rituelles Inklusionsverfahren, um Menschen zurück in die Gemeinschaft zu führen (Ahrens 2012).
11 | Auch Sugirtharajah konstatiert eine »peoples‹ appropriation of the Bible, where it is read with intimacy and authority in the community of the faithful« (2001: 215). 12 | Sugirtharajah stellt ebenfalls fest: »Their [the natives'] individual and personal engagement with the [biblical] text overrides any other possible interpretation« (2001: 108). 13 | Daniel H. Bays ist in einem Beitrag kursorisch auf Ähnlichkeiten zwischen der Organisation und den Aktivitäten christlicher und volksreligiöser Gruppierungen im China des 19. Jahrhunderts eingegangen. Lokale volksreligiöse Gruppen hätten sich oft um eine charismatische Persönlichkeit geschart, z.B. einen Menschen mit besonderen Fähigkeiten zur Heilung. Solche Gruppen hätten nicht über eine professionelle Leitung verfügt, sondern seien von Laien angeführt worden, die sich in ihrem Status kaum von anderen Gruppenmitgliedern unterschieden. Die Betonung lag auf der Gemeinschaft der Laiengläubigen. Ähnlich seien auch christliche Gemeinden im China des 19. Jahrhunderts organisiert gewesen (Bays 1985: 128).
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Eine Chinesin erinnert sich: »When my son started to get worse, I became more and more desperate […] but there was an old woman in the hospital who believed in Jesus. Pretty soon she kept coming and praying with me for the child. And then he started to get better« (zitiert in Währisch-Oblau 2001: 89). Solche Heilung wird oft mit einer »Austreibung von Dämonen« in Verbindung gebracht: There is an old woman in our church. Before she became a Christian, she was haunted by a Demon […]. Whenever she came home, she could see a skeleton in her house […]. Whenever she had to enter her house, she was terribly afraid. After she had become a believer, two sisters in the Lord went home with her […]. They fought the devil, they fought him in Spirit […]. After this fight, the devil never came back into the house. (Ebd.: 89f.)
Auch Yip Ching-Wah berichtet von einem Fall der Dämonenaustreibung: Eines Tages wurde ein Dorfbewohner von einem bösen Geist geplagt, was unter den verstörten Dorfbewohnern große Unruhe und Verwirrung hervorrief. Als sie hörten, dass Jesus solche bösen Geister austreiben könne, baten sie einen Christen aus einem benachbarten Dorf, für ihn zu beten. Der Besessene wurde geheilt, und die ganze Familie kam zum christlichen Glauben. (Zitiert in 2002: 44)
Auf die politischen Dimensionen des dämonologischen Paradigmas in China hat der Sinologe Barend ter Haar hingewiesen (2002). Krankheit wurde in den religiösen Traditionen Chinas häufig mit Besessenheit durch Dämonen gleichgesetzt: »One of the most basic notions in traditional Chinese religious culture is the persistent and fundamentally violent danger to human beings posed by all kinds of demons« (ebd.: 29). Der im christlichen Kontext gebräuchliche Begriff »Austreibung von Dämonen« lehnt sich an Begrifflichkeiten des volksreligiösen Kontextes an (gan gui 䍊儐). Auch die kontextualisierte Spielart des Christentums, wie sie sich in der Taiping-Bewegung des 19. Jahrhunderts zeigte, war stark von dem dämonologischen Paradigma geprägt. Hong Xiuquan, der Anführer der Taiping, erhält von Gottvater in einer Vision den Auftrag, die Dämonen aus der Welt zu entfernen. Gottvater selbst habe ihm erklärt, er werde der Dämonen nicht Herr, weder im Himmel noch auf Erden. So schreibt Hong sich letztlich stärkere Kräfte zu als Gott – ein Umstand, der meines Wissens bislang theologisch noch nicht untersucht worden ist.14 Zhu Haibin weist darauf hin, dass Daoisten über ihre Beschäftigung mit Aktivitäten des Volksglaubens oft ein sicheres Einkommen erzielen (2011: 38). Eine der Hauptaufgaben volksreligiöser Experten in China war und ist Heilung, auch mithilfe exorzistischer Mittel (Reiter 2000; Mozina 2011). Je nach Gefährlichkeit der Geister fällt die daoistische Therapie länger und auch teurer aus, so Lagerwey 14 | Zur Taiping-Rebellion siehe Wagner (1982) sowie Reilly (2004).
Heilungsverfahren in christlichen Gruppierungen Chinas
(Lagerwey: 2011). Ersteres kann für den christlichen Kontext auch festgestellt werden, nicht jedoch der zweite Umstand. Christliche Rituale sind für die Gläubigen kostenfrei. Die Dokumentation daoistischer ritueller Traditionen im heutigen China steht, so Kenneth Dean (2000: 662), noch am Anfang. In einem bebilderten Band hat John Lagerwey Szenen daoistischer Praxis festgehalten (1991). In einer Heilungszeremonie beispielsweise besprüht der Adept ein Kind mit geweihtem Wasser, das göttliche Energien enthalten soll, um böse Kräfte auszutreiben (ebd.: 34). Dagegen wird dem Kranken in christlichen Heilungsgebeten meist die Hand aufgelegt. Präsenz ist hier, um mit Gumbrecht zu sprechen, »für Menschenhände greifbar« und »kann unmittelbar auf menschliche Körper einwirken« (2004: 11). Präsenz bedeutet, wiederum mit Gumbrecht, »auf Reichweite zu sein« (ebd.: 10). Wenn man sich in diesem Zusammenhang die Worte von Claude Lévi-Strauss vergegenwärtigt, denen zufolge der Heiler »reine Aktivität und Selbstverströmung« verkörpere, während im Kranken Selbstentfremdung wirksam sei, dann zeigt sich, dass, und wie solche Praktiken als »Produktion von Präsenz« (Gumbrecht) interpretiert werden können (Lévi-Strauss 1967: 201). Protestantische Heilungsrituale können in einer ruhig-feierlichen Stimmung stattfinden, beispielsweise wenn Kranke nach dem Gottesdienst vorne am Altar niederknien und ein Gemeindeglied oder der Pastor für sie betet. Hier sind meist nur die mit lauter Stimme vorgetragenen, emotional stark beteiligten Worte des Betenden zu hören, zuweilen unterstützt durch ein bestätigendes »Amen« des Kranken. Es sind hier Worte, die als Medizin fungieren (Engelke 2007: 236). Der Betende vermittelt eine starke Präsenz. Präsenz steht in Beziehung, so Gabriel Marcel (1985). Der Betende bezieht sich zum einen auf den Kranken, zum anderen auf den Gott, den er anruft und in dessen Namen er handelt. In der chinesischen daoistisch-volksreligiösen Tradition nimmt der Adept eine ähnliche Position ein. Im Gebet ruft er Geister bzw. Gottheiten an. Diese können daraufhin Wohnung nehmen im Adepten und von diesem in Dienst genommen werden. In beiden Kontexten, dem christlichen wie dem daoistisch-volksreligiösen, agiert der Mensch als Medium göttlicher Kräfte oder anders gesagt: Er hilft, die Präsenz der angerufenen Gottheiten zu ›intensivieren‹, wobei im Bereich daoistischer Schulrichtungen meist nicht von einer Form des impliziten Wissens ausgegangen werden kann. Hier werden Rituale durch geheimes Buchwissen von einem Experten an den anderen weiter gegeben (Gumbrecht 2004: 105). Für Werner Kahl kommt in Heilungserfahrungen christlicher Gruppierungen in Asien und Afrika ein Weltwissen zum Ausdruck, das zu dem antiken-frühchristlichen Weltwissen vielfältige Affinitäten aufweist. Das antike-frühchristliche Weltwissen ging davon aus, dass eine numinose Sphäre und die sichtbare Welt einander überschneiden. Menschen der Antike wussten sich auf vielfältige Wirkmächte bezogen – »lebens-
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fördernde wie lebensschädigende Geistwesen, die das Leben in all seinen Bezügen durchdringen bzw. bedrängen können« (Kahl 2010: 252).15 In China haben sich schon früh ganzheitliche Leibvorstellungen herausgebildet, in denen der Mensch sich als Universum en miniature oder als Abbild einer himmlischen Hierarchie verstand – als ein Mikrokosmos, der mit dem Makrokosmos in einer folgenreichen Wechselwirkung steht. Marcel (1985) spricht ebenfalls vom Leib als über den Körper hinausgehend: Leib sei Entfaltung und Beziehung, offene Beziehung zur Umwelt und zu anderen Menschen. Yip Ching-Wah hat das ländliche, von Heilungserfahrungen geprägte Christentum einmal als »Verwirklichung protestantischer Substanz in Gestalt der chinesischen Volksreligion« beschrieben (2002: 42). Diese Formulierung scheint mir geglückt, da sie solche Praktiken nicht entwertet. Auch kommt der Begriff der Gestalt dem des Leibes nah und kann das leiblich-präsente Geschehen gut fassen. Das christliche Heilungsgebet wird oft umrahmt von Liedern und Gesängen. In der Filmdokumentation »The Cross – Jesus in China« fällt die enge Verbindung zwischen Musik, Predigt und Gebet auf. Ein ländlicher Pastor berichtet: »An Festtagen, wie Hochzeiten oder einem Begräbnis, kamen wir mit unseren Trommeln und verkündeten das Evangelium« (China Soul for Christ Foundation 2003). Tanz, Aufführungen und Erzählungen biblischer Geschichten gehen ineinander über. Ein anderer Evangelist erzählt von seinen Besuchen bei Nationalen Minderheiten16: »Ich spreche ihre Sprache. So kann ich für sie predigen und ihre Lieder singen« (ebd.). Matthew Engelke hat in seinem Werk »A Problem of Presence Beyond Scripture in an African Church« für die christliche Gruppierung der Masowe apostolics in Zimbabwe die Bedeutung von Musik herausgearbeitet (2007: 201). Die Stimme werde von den Masowe apostolics im Gesang ebenso wie in der Predigt als die angemessene Materialisierung von Sprache ernst genommen, als »the hold in the presence. It is, for the apostolics, the material of the divine« (ebd.). Gesänge verschieben, so Engelke, den Ort der lebendigen und direkten Sprache vom Prediger zum Gemeindeglied, hin zur Gemeinschaft einer Praxis (ebd.: 223). Die Rolle der Musik in christlichen Gemeinschaften Chinas wäre meines Erachtens auch ein lohnendes Forschungsthema zu Fragen von Präsenz und implizitem Wissen.
15 | Der Religionswissenschaftler Guy Williams spricht sogar – mit Rückgriff auf Analogien aus dem Bereich des Schamanismus – davon, dass der Apostel Paulus und potentiell frühchristliche Gläubige generell als besessen durch den Geist Gottes bezeichnet werden können (Williams 2009). 16 | In China sind neben den Han-Chinesen, die die Mehrheit der Bevölkerung stellen, 55 Nationale Minderheiten anerkannt, z.B. die Zhuang, die Miao und die Hui etc. Sie leben oft in Autonomen Regionen.
Heilungsverfahren in christlichen Gruppierungen Chinas
N ICHT - ABSCHLIESSENDE B EMERKUNGEN Bei meinen Besuchen in chinesischen Gemeinden wurde mir oft von Heilungserfahrungen berichtet. In den Gesprächen wurden sehr bereitwillig viele Facetten des christlichen Lebens angesprochen. Niemals jedoch wurde der Vorgang eines Heilungsereignisses reflektiert, weder vor noch nach dem Ereignis. Michael Polanyi hat das menschliche Erkennen ausgehend von der Tatsache betrachtet, »dass wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen« (1985: 15), und auf dieser Grundlage seine Theorie vom impliziten Wissen entwickelt. Auch christliche Heilungserfahrungen in China werden sprachlich nicht »kontextualisiert«, außer dass man sie kommentiert mit einem »Gott sei gedankt« (ganxie shen デ寊䤆). Kontextualisierungshinweise werden, so Nina Janich, genutzt, um offene oder uneindeutige Situationen zu vereindeutigen (2009: 37). Kontextualisierung schafft die Voraussetzungen für Anschlusskommunikation, da durch sie gemeinsame Kontexte des Verstehens erkannt oder erzeugt werden können (ebd.). Nach Marcel allerdings kann leibliches Erleben gar nicht verstanden werden, es sei schlicht nicht mitteilbar: »Leiblich bin ich mir selbst Geheimnis« (1985: 17). Hans Ulrich Gumbrecht konstatiert, es sei »für uns überaus schwierig […], das ›Deuten‹ zu unterlassen« (2004: 127). Dennoch plädiert er dafür, die produktive Spannung zwischen Präsenz und Sinn zu erleben, statt »die Präsenzseite einfach einzuklammern, wie wir es in unserem […] Alltagsleben offenbar ganz automatisch tun« (ebd.). Für Susanne Langer ist »unsere reine Sinneserfahrung […] bereits ein Prozeß der Formulierung« (1984: 95ff.). Sie bezeichnet die Sinne als Aufnahmebehälter par excellence für Bedeutung. Wir bedienten uns der Sinneserfahrung, um Erfahrungen zu begreifen (ebd.). Christliche Gemeindeglieder sind oft anwesend, wenn für andere gebetet wird, sie sind (an-)teilnehmend. Sie lernen durch die häufig wiederkehrende Erfahrung des Geschehens und versuchen sich aller Wahrscheinlichkeit nach später auch selbst darin. Darum handelt es sich hier um ein vorreflexives Verfahrenswissen einer akkumulierten Wissensform. Implizites Wissen zeigt sich handlungswirksam im Können und verdankt sich weitgehend der Erfahrung und Übung und oft gerade nicht der sprachlichen Instruktion (Janich 2009: 45).17 Hans Georg Neuweg beschreibt das Handeln in solchen Situationen als »situation-matching strategy«, als ein Reagieren auf der Grundlage einer Ähnlichkeit zwischen der gegenwärtigen Situation und anderen Situationen, auf die man in der Vergangenheit gestoßen ist (2000: 202).
17 | Noch einmal sei hier auf den Unterschied zu Schulen des Daoismus hingewiesen, in denen wirkmächtiges, heilkräftiges Wissen in Form von Heiligen Schriften und Unterweisungen von einem Meister an den Schüler weiter gegeben wird.
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Was jedoch, wenn ein Heilungsgebet sich als nicht wirksam erweist? Wird dann die Verantwortung für die Krankheit möglichen Verfehlungen des Kranken oder Menschen im Nahbereich, den Ahnen oder gar der angerufenen Gottheit angelastet?18 Oder war die Präsenz des Heilers nicht stark genug? Diese Fragen sind meines Wissens bislang weder für den christlichen noch den volksreligiösen Kontext Chinas aktuell untersucht worden. Die Forschung zu Zusammenhängen zwischen Präsenz und implizitem Wissen steht erst am Anfang. Heilungserfahrungen in religiösen Kontexten Chinas sind faszinierende Präsenzphänomene, deren weitere Erforschung sich in diesem Zusammenhang lohnen würde.
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I. »G OT T IST GEGENWÄRTIG « In der 1729 veröffentlichten Sammlung »Geistliches Blumengärtlein inniger Seelen« des niederrheinischen Predigers und Schriftstellers Gerhard Tersteegen findet sich ein Text, dessen Liedfassung bis heute oft zum Eingang des Gottesdienstes gesungen wird: »Gott ist gegenwärtig« (Tersteegen 1729). Eben diese Gewissheit der Gegenwart Gottes ist es, die einen Gottesdienst zum Gottesdienst macht und ihn von einer Feier religiöser Selbstvergewisserung oder moralischer Ermahnung und Auferbauung unterscheidet. Was alles ein Gottesdienst auch sein mag, und in welcher Weise man ihn auch immer sinnvoll beschreiben kann – in psychologischer Perspektive, in Hinblick auf seine sozialen Funktionen, als ästhetische Inszenierung etc.: Alle diese Beschreibungen können zwar wichtige Momente verstehen helfen, die Gottesdienste auch aufweisen und erfüllen; sie sind ebenfalls unabdingbar für die Kenntnis und Reflexion kirchlichen Handelns. Sie erfassen aber nicht das, was einen Gottesdienst ausmacht; dies nämlich liegt außerhalb des Handelns der Beteiligten und gibt diesem Handeln doch allererst Bedeutung. Die Begegnung mit der Gegenwart Gottes ist bei Tersteegen darum nach dem Modell des Einzugs in den Jerusalemer Tempel gestaltet. Dem fulminanten Einsatz der drei Worte »Gott ist gegenwärtig« folgt – buchstäblich nach einer Atempause – die Aufforderung zu dem Tun, das der Gegenwart Gottes entspricht: »Lasset uns anbeten«. Der Kohortativ ist dabei essentiell: Der Erkenntnis der Gottesgegenwart entspricht die Aufforderung zur Praxis des Glaubens, die im Gebet ihr Zentrum hat. Weil hier Gott gegenwärtig ist, kommen menschliche Fähigkeiten an ihre Grenze: »Alles in uns schweige/und sich innigst vor ihm beuge«. Gottes Gegenwart ist, auch darin folgt Tersteegen treu alttestamentlichem Glauben, keine harmlose Selbstverständlichkeit, sondern die Konfrontation mit dem Herrn über Leben und Tod. Diese Gegenwart ist nicht von Menschen herbeizuführen, sondern Gottes Gabe – der Schöpfer aller Dinge könnte auch in erhabener Selbstbezüglichkeit in sich ruhen; und es ist seine Gnade, die es überhaupt ermöglicht,
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dass Menschen Zugang zu dieser Gegenwart erhalten und sie ertragen. Dieser Zugang zur Gegenwart Gottes verdichtet sich im Tempel als Ort der »Einwohnung« Gottes in der Welt (Schechina), der wiederum nach dem alttestamentlichen Typos als irdische Präsenz des himmlischen Thronsaales erscheint. Wer in Ehrfurcht vor Gott tritt, verstummt; »wer ihn kennt,/wer ihn nennt,/schlag die Augen nieder;/ kommt, ergebt euch wieder«. Diese Demut ist aber keine Selbstverleugnung, sondern die Entsprechung zu der Wirklichkeit, die mit dem Namen Gottes, »dem die Cherubinen/Tag und Nacht gebücket dienen«, bezeichnet ist. Tersteegens Aufforderung zur Ergebung, seine Betonung der alles übersteigenden Majestät Gottes mag in der Sprache, die er gebraucht, befremdlich anmuten und die ungebrochen affirmative Aufnahme des höfischen Zeremoniells kann theologisch problematische Assoziationen hervorrufen, wenn sie aus ihrem liturgischen Kontext und ihrer symbolischen Form gelöst und zu theo-ontologischen Aussagen umgeformt wird. In dieser Sprache kommt auch das Moment der Gewalt bzw. der Überwältigung zur Geltung, die allen Präsenzerfahrungen eignet. Es ist das Moment des unmittelbar Gewissen, das in der Macht der Erfahrung letztlich keinen Widerspruch duldet und darin unüberwindlich ist: Ich kann darüber diskutieren und nachdenken, ob ich das, was ich erfahren habe, sachgemäß benannt und zur Sprache gebracht habe; ich kann daran zweifeln, ob ich wirklich dem begegnet bin, dem ich zu begegnen meinte – aber die Erfahrung selbst und die Begegnung sind unmittelbar gewiss. Selbst wenn ich später diese Erfahrung vergesse oder verdränge, sie möglicherweise auch rationalisiere: Solange sie als Präsenzerfahrung lebendig ist, hat sie diese Macht; sowie diese Macht vergeht, ist die Präsenzerfahrung abgestorben. Es ist darum durchaus kein Zufall, wenn Präsenzerfahrungen auch außerhalb explizit religiöser Kontexte mit dem Begriff der »Epiphanie«1 bezeichnet werden: Präsenzerfahrungen haben Offenbarungscharakter, in dem sich zeigt, was unmittelbar Geltung beansprucht und darum Anerkennung einfordert. In Tersteegens Lied scheint das ebenfalls so zu sein: Der Text rechnet nicht mit Widerspruch und scheint keinen zu dulden. Das ist zunächst einmal nicht mehr als die Konsequenz der behaupteten Wirklichkeit: Wenn es wirklich um die Gegenwart Gottes geht, dann ist dieses Geschehen überwältigend; wo immer sie erscheint, ist das Allerheiligste, zu dessen Begriff es gehört, dass es unaussprechlich ist, weil es alles Sprechen übersteigt. Da das Allerheiligste eben den Ort markiert, an dem in dieser Welt das schlechthin Überweltliche gegenwärtig ist, bedarf 1 | So prominent bei Hans Ulrich Gumbrecht (2004: 111ff.). Dieser Gebrauch des Ausdrucks »Epiphanie« dürfte auf James Joyce zurückgehen; vgl. dazu Ulrich Schneider, der mit Recht darauf verweist, dass der Begriff bei Joyce nicht präzise bestimmt ist – was bei einer Künstlerästhetik auch nicht zu verlangen ist – und in der Literaturwissenshaft »vielleicht mehr Verwirrung gestiftet als zur Klärung beigetragen« hat (1982: 49). Schneider benennt treffend, warum Joyce gerade diesen Begriff verwendet: »Joyce vertraut offensichtlich darauf, daß sich gerade in der Sphäre des Feinsten und Flüchtigsten etwas offenbaren kann, was sonst verborgen bleibt« (ebd.).
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es der Vorbereitung und der Reinigung, um sich diesem Ort, der zugleich NichtOrt ist, allererst zu nähern. In ihrer expliziten religiösen Gestalt – die als Urbild aller Präsenzerfahrungen gelten kann – ist dieses Moment des Überwältigenden, das keinen Widerspruch duldet, offenkundig. Gerade als religiöse Erfahrung kann sie einerseits bekanntlich zu gewaltsamen Folgen führen, weil sie letzte Geltung beansprucht; anderseits lässt sich die Behauptung, eine Offenbarung empfangen zu haben, jederzeit ohne Angabe von Gründen zurückweisen. Tersteegen beansprucht nun gar keine universelle Geltung oder Anerkennung, sondern adressiert seine Aufforderung gezielt an diejenigen, die Gott kennen und also die Behauptung seiner Gegenwart nachvollziehen und geradezu überprüfen können, weil sie diese Aufforderung mit ihrem Wissen um Gott und seine Gegenwart verbinden und vergleichen können. Auf diese Weise ist für sie die in Tersteegens Lied evozierte Erfahrung keine willkürliche Behauptung, sondern Teil einer umfassenden Lebenspraxis. Wenn anders aber Präsenzerfahrungen solche Dimensionen der Wirklichkeit betreffen, die vom Sprechen und von den Begriffen nicht zu fassen sind, dann scheint auch die argumentative Kritik am Ende. Was unterscheidet in diesem Fall den Rekurs auf Präsenzphänomene von der bloßen Behauptung? Diese Frage verweist auf ein Kernproblem der Diskussion um Präsenz und implizites Wissen.
II. A GAINST I NTERPRE TATION ? Es gehört in der Tat zur Spezifik von Präsenzphänomenen, dass sie das überschreiten, was durch Sprache erfasst und eingelöst werden kann. Deswegen findet sich in den einschlägigen kulturwissenschaftlichen Diskursen nicht nur regelmäßig der auch aus alltagssprachlichen Kontexten bekannte Verweis darauf, dass man das, was hier erfahren werde, eigentlich nicht in Worte fassen könne, sondern darüber hinaus auch ein Rekurs auf Präsenz als vehemente Kritik an den Zurichtungen der Wirklichkeit durch Sprache und Begriff. »Präsenz« kann dabei geradezu als Parole gegen Interpretation und Hermeneutik fungieren.2 Nun ist bei Hans Ulrich Gumbrechts emphatischer Wendung gegen die Hermeneutik (2004) und ihren Vorgängern, wie vor allem Susan Sontags Appell »Against Interpretation« (1980, [1964]), wohl ein ähnlicher und in den Literaturwissenschaften nicht eben seltener Gestus zu vermuten, der schon zum Schlagwort vom ›Tod des Autors‹ geführt hat und bei dem man sich an das Mark Twain zugeschriebene Bonmot erinnert fühlen mag: ›Nachricht von meinem Tode stark übertrieben‹. So erfreut sich der Autor nach wie vor einer zwar angeschlagenen, aber immer noch 2 | Am bekanntesten und vielleicht auch reflektiertesten geschieht das bei George Steiner (1990). Als literarischer Vorläufer könnte Peter Handkes Stunde der wahren Empfindung von 1975 gelten; diese Erzählung dokumentiert allerdings auch, wie weit die sprachliche Beschwörung des Unmittelbaren hinter dem zurückbleiben kann, was sie beansprucht.
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robusten Gesundheit; und auch Interpretation wie Hermeneutik sind weiterhin nicht nur vorhanden, sondern notwendig und wirksam. Der Angriff war freilich nicht so ernst gemeint, wie es auf den ersten Blick erscheint: Sowohl Gumbrecht wie schon Sontag nehmen die Heftigkeit des Anfangs im Fortgang ihrer Essays zurück. So betont Gumbrecht am Ende, dass »diese kurze Schrift nicht als ›Pamphlet gegen‹ Begriffe und Sinn generell oder gegen Verstehen und Interpretation gedacht ist« (2004: 164), und Sontag hatte bereits erklärt, sie spreche »nicht von Interpretation in jenem weitesten Sinne, in dem Nietzsche das Wort gebraucht, wenn er (zu Recht) sagt, es gäbe keine Fakten, es gäbe nur Interpretationen« (1980: 11). Entsprechend unbestimmt bleibt, wogegen sich der Angriff eigentlich richtet; und kaum deutlicher wird, wofür hier gestritten wird. Die viel zitierte »Erotik der Kunst«, die Sontag anruft (ebd.: 18), hat eher evokativen Charme, als dass erkennbar würde, wofür sie steht. Sontags Essay zielt in seiner materialen Argumentation auf eine Kunstauffassung, die durch die Fixierung auf Inhalte bestimmt ist: »Diese Überbetonung des Inhaltsbegriffs bringt das ständige, nie erlahmende Streben nach Interpretation mit sich« (ebd.: 11). ›Interpretation‹ in dem von Sontag perhorreszierten Sinn wäre demnach »die Umsetzung von Kunst in Gedanken oder (was noch schlimmer ist) von Kunst in Kultur« (ebd.: 18). Der dabei aufgestellte Gegensatz ist allzu einfach angelegt: Aus der Einsicht, dass Kunstwerke nicht über ihre Gegenstände und diskursiven Gehalte zu erfassen sind, folgt eben keineswegs, sie bedeuteten nichts und seien der Interpretation nicht zugänglich. Sicherlich ist ein Einspruch gegen die Dominanz der Sujets in der Interpretation von Kunstwerken immer wieder notwendig, das trägt aber kein prinzipielles »Against Interpretation«, sondern verändert mit Recht den Begriff der Interpretation und damit den der ›Bedeutung‹ eines Kunstwerkes: Die Bedeutung von Kunst geht nicht in dem auf, was mit der begrifflichen Analyse kompatibel ist, und die Interpretation entschlüsselt nicht einen ›Inhalt‹, der im Werk verborgen ist, sondern ist ein Moment in dem Prozess, den das Kunstwerk in Gang setzt. Weil Kunst nicht etwas abbildet,3 kann die Interpretation nicht die begriffliche Wiedergabe des Inhalts bedeuten; darum ist die Zielvorstellung einer abschließenden oder ›richtigen‹ Interpretation nicht nur Fiktion, sondern irreführend. Dies ist aber nicht das Ende der Interpretation, vielmehr ist damit die Notwendigkeit eines Netzes von Interpretationen impliziert, die sich wiederum danach beurteilen lassen, ob sie weiterführend oder belanglos sind, sich am Werk bewähren oder in die Irre führen: Interpretation zielt nicht auf 3 | Auch die gegenständliche Kunst bildet im eigentlichen Sinn nicht ab, denn nicht die Abbildung ist das, was gegenständliche Kunst zur Kunst macht, sondern das was an den abgebildeten Gegenständen erscheint. Allenfalls ließe sich sagen, Kunst bilde nicht die Phänomene, sondern ihre Phänomenalität ab; damit aber würde der Abbildbegriff gesprengt (vgl. Picht 1987). Nur vordergründig steht das im Widerspruch zu Siegfried Kracauers These vom Film als Errettung der äußeren Wirklichkeit; vielmehr ist auch da nicht der Gegenstand selbst, sondern die Fähigkeit zu seiner Erfahrung das wesentliche Moment der ästhetischen Darstellung (vgl. Kracauer 1985).
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die Entschlüsselung des einen (ohnehin fiktiven) Sinns des Werks, sondern führt seine Bewegung weiter. Diese Offenheit der Interpretation gilt gleichermaßen für Kunstwerke wie für das Verstehen und die Auslegung der Bibel. Ist also der Rekurs auf »Präsenz« nur ein etwas überzogener rhetorischer Aufwand für die weder neue noch originelle Kritik an einseitiger Fixierung auf den Inhalt? Das wäre nicht nur enttäuschend, sondern würde auch den Impuls verspielen, der in diesem Angriff enthalten, aber unzureichend formuliert ist: Eben das zur Geltung zu bringen, was jenseits der Grenzen von Sprache und Begriff ist. Dabei geht es gerade nicht um die epistemologische Frage, wie nun auch dies in begrifflicher Erkenntnis zu fassen sei, sondern um die Wiedergewinnung verschütteter Wirklichkeit und lebendiger Erfahrung – nicht nur von Kunstwerken. Vielmehr geht es hier um eine fundamentale Anfrage an die gesellschaftlich dominierende Ontologie; darum ist es durchaus angemessen, wenn Gumbrecht hier eine epochale Perspektive eröffnet und die Entdeckung der »Präsenz« als Einspruch gegen die Subjekt-Objekt-Metaphysik der europäischen Neuzeit formuliert (2004: 38ff.). Auch hier handelt es sich allerdings eher um eine Problemanzeige denn um ein belastbares Konzept; und der plakative Gegensatz zur Hermeneutik bedarf erheblicher Präzisierung, soll er nicht ganz zurückgenommen werden müssen. Wie eine solche Zurücknahme des eigenen Anspruches hört es sich bei Gumbrecht an, wenn er einräumt, »wie ungereimt – wie grotesk, ja ›faschistisch‹ – es wäre, wollte man auf Begriffe, Sinn, Verstehen oder Interpretation verzichten« (ebd.: 164f.).4 Die nunmehr ermäßigte These soll sein, »daß diese cartesianische Dimension nicht die ganze Komplexität unseres Daseins abdeckt (und nie abdecken sollte)« (ebd.: 165).5 Die Problematik besteht darin, dass das cartesianische Paradigma auch in seinen szientivistischen Fortführungen gerade darin sein Pathos entfaltet, dass es beansprucht, sicher zwischen Wahrheit und Illusion zu unterscheiden und daher eine Ergänzung oder Relativierung ausschließt. Diese sichere Unterscheidung soll dadurch gewährleistet sein, dass Erkenntnis und Wirklichkeit einander ontologisch entsprechen, so dass das, was sich dem rationalen oder wissenschaftlichen Zugriff entzieht, als Täuschung durchschaubar ist und bestenfalls als subjektiver Affekt gelten kann. Weil der Rekurs auf »Präsenz« wiederum dieser cartesianischen Unterscheidung im Kern widerspricht, muss die in ihm enthaltene Problematisierung der Relation von Sprache und Wirklichkeit noch einmal und präziser reflektiert werden. 4 | Die meines Erachtens einigermaßen unpassende Einfügung des Wortes ›faschistisch‹ erklärt sich möglicherweise daraus, dass Gumbrecht im Textzusammenhang den politischen Intentionen konstruktivistischer und pragmatistischer Positionen ausdrücklich zustimmt, obwohl er deren ontologische Implikationen kritisiert. 5 | Der polemische Impetus ist freilich in der Fortsetzung des zitierten Satzes wieder erkennbar, wenn Gumbrecht vermutet, dass man uns die Alleingeltung der cartesianischen Dimension »mit wahrscheinlich heftigeren Druckmitteln« denn je zuvor weismachen will (ebd.: 165).
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III. O NTOLOGIE UND S PR ACHE Die Dominanz des Inhalts in dem, was Sontag »Interpretation« nennt, ist darin begründet, dass die Sujets eben das sind, was der begrifflichen Sprache neben der Analyse tradierter formaler Prinzipien ohne weiteres zugänglich ist; ebenso folgt die Selbstreferentialität von Textwelten in dem, was bei Gumbrecht »Hermeneutik« heißt, aus dem einfachen Sachverhalt, dass das Medium der Wissenschaften eben die Sprache ist und die Praxis der Wissenschaften in der Produktion von Texten besteht.6 Es liegt in der Tradition der Wissenschaft und der abendländischen Philosophie und Erkenntnistheorie seit ihren Anfängen bei den Griechen, dass dabei dem Modus apophantischen Sprechens die zentrale Stellung zugeschrieben wird, dass also die Aussage als grundlegende, wenn nicht als eigentliche Funktion der Sprache angesehen wird. Es sind nicht zufällig die Felder des Ästhetischen und der Religion, in denen diese Unterstellung am deutlichsten problematisiert wird, weil hier Phänomene im Blick sind, die sich der Transformation in Begriffe und der Reduktion auf die Sprachform der Aussage ganz offensichtlich entziehen: Die Suggestion des logos apophantikos bedeutet nicht nur in der Interpretation von Kunst eine Verarmung. Sontags Angriff gegen die Fixierung auf die Inhalte in der Kunstinterpretation ist darum so unmittelbar überzeugend, weil jeder weiß, dass sich kein Kunstwerk durch die Wiedergabe seines Inhaltes befriedigend erfassen lässt und dass zahlreiche Kunstwerke höchsten Ranges geradezu triviale Sujets verarbeiten.7 Es ist vielmehr das Charakteristikum eines Kunstwerkes, dass es mehr sagt als es ausspricht und mehr zeigt als es darstellt. Das bringt freilich die Wissenschaften, deren Gegenstände durch derartige Phänomene bestimmt sind, in das charakteristische Dilemma, dass sich eben diese Gegenstände ihrem Medium wesentlich entziehen. Darum kann diesen Wissenschaften leicht ein endloses Gerede vorgeworfen werden, das doch nicht erfassen kann, wovon es redet. Es ist aber genau dieses Dilemma, das den entsprechenden Wissenschaften auch bei der Revision der vorherrschenden reduktionistischen Ontologie und Epistemologie ihr besonderes Gewicht gibt. Das Dilemma manifestiert sich in der Interpretation von Kunst darin, dass ihre Qualität nicht zuletzt darin besteht, um ihr Zurückbleiben hinter ihrem Gegenstand zu wissen und dies zu thematisieren. Was sich klar formulieren lässt und was mithilfe anerkannter Kategorien zu entscheiden wäre, ist gerade nicht das, was die Kunstwerke ›sagen‹. Keine Analyse der Adaption, Weiterentwicklung und Durchbrechung von Formprinzipien in einem Kunstwerk vermag an die Erfahrun6 | Offensichtlich ist dies in den Geistes- und Kulturwissenschaften; dass auch Naturwissenschaften wesentlich mit der Produktion von Texten und Vorstellungswelten befasst sind, kann hier nicht weiter erörtert werden. 7 | Dass der Rang musikdramatischer Werke bekanntlich nicht von der Qualität ihrer Libretti abhängt, ist nur ein Beispiel.
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gen heranzureichen, die sich im Hören von Musik oder dem Lesen eines Gedichts ereignen können. Die Erweiterungen vorgegebener harmonischer Regeln etwa, die ein Musikstück auszeichnen, sind nicht nur prima vista von harmonischen Fehlern nicht zu unterscheiden; sie sind vor allem nicht identisch mit seiner ästhetischen Bedeutung. Nicht anders steht es um den Versuch der Benennung von Ausdrucksgehalten, Gefühlen und Stimmungen, selbst wenn diese nicht in der subjektiven Intention der Künstler, sondern als Indikatoren intersubjektiver oder historischer Zustände genommen werden: Auch hier ist die propositionale Explikation, selbst wenn sie an den Werken plausibilisiert werden könnte, unendlich blasser als die ästhetische Erfahrung.8 Das Künstlerische der Kunst, so ließe sich formulieren, liegt weder in der Form noch in den Inhalten (vgl. Wiesing 2000); es ereignet sich aber auch nicht ohne sie, sondern mit und an ihnen. Darum bleibt die Analyse von Kunst notwendigerweise auf die Reflexion von spezifischen Inhalten und Gestaltungsweisen angewiesen, ohne darin das Wesen des Werkes in Begriffe transformieren zu können. Neue Kunstwerke wiederum entstehen nicht aus der Anwendung von in der Analyse von Kunstwerken herausgearbeiteten Formprinzipien; würden sie dies versuchen, dürfte das Ergebnis auf virtuose Leere oder Kitsch hinauslaufen. Es gilt auch hier, dass das Künstlerische an der Kunst weder mit diesen Prinzipien identisch noch von ihnen unabhängig ist. Daher ist es die eigentliche Aufgabe aller ästhetischen Bildung wie der künstlerischen Ausbildung, die sich notwendigerweise im Bereich des expliziten Wissens bewegt, an den formulierbaren und tradierbaren Regeln und Fähigkeiten so zu arbeiten, dass das zur Erscheinung kommen kann, was diese Regeln und Fähigkeiten transzendiert. Die Arbeit am expliziten ästhetischen Wissen dient dazu, dass sich das Unvorhersehbare ereignet. Wie aber lässt sich die notwendige Betonung des Unsagbaren gegen eine Apotheose der eigenen Vorlieben und Befindlichkeiten abgrenzen? Erforderlich ist eine sorgsame Reflexion auf die Funktion der Sprache in Hinblick auf das Unsagbare. Trivial und irreführend wäre allerdings die schlichte Auskunft, dass hier Sprache nicht zuständig sei. Aus der Einsicht in die Grenzen begrifflicher und propositio8 | Auf diesem Weg wird auch bei Gumbrecht (2011) die Inhaltsästhetik lediglich in einem neuen Gewand reproduziert. Dass der frühe »Schelmenroman aus der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts« die »Spannung zwischen Alltagswelt und religiöser Orthodoxie nacherlebbar« mache, »welche typisch gewesen sein mag für die Welt der Gegenreformation in Spanien«, und dass Shakespeares Sonette erlauben, das »Erleben eines anderen erotischen Begehrens«, »das nicht abzulösen ist von den Schichten seiner materiellen Umwelt«, nachzuerleben (ebd.: 24), lässt sich ohne Zweifel an den Texten belegen. Diese Aussagen sind aber, verglichen mit dem Lesen der Bücher selbst, nicht nur geradezu enttäuschend, sondern verankern die Bedeutung der Texte auch in der Erweiterung und Intensivierung unseres historischen Wissens – das aber ist nicht mehr als die Variante etablierter literaturwissenschaftlicher Interpretationsmuster und steht damit im Widerspruch zu Gumbrechts selbstgewähltem rebellischen Gestus.
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naler Sprache folgt eben nicht, dass nun nur noch Behaupten und Raunen möglich wäre. Vielmehr muss man sich auf die paradoxe Formulierung einlassen, dass das Unsagbare, wie es sich in Präsenzphänomenen zeigt, nur dann von bloßer Beliebigkeit zu unterscheiden ist, wenn es der kritischen, d.h. aber auch sprachlich vermittelten Überprüfung standhält. Der Gegensatz von Proposition und Sprachlosigkeit unterschlägt die Vielzahl von Sprachformen und Umgangsweisen, darunter insbesondere die Fähigkeit der Sprache, auf Wirklichkeit zu verweisen und das Leben in den verschiedenen Wirklichkeitsfeldern zu gestalten, die fundamental vom Anspruch unterschieden sind, Wirklichkeit abzubilden und einzufangen. Indem Gumbrecht diese Differenz einebnet, schlägt sein Rekurs auf das Jenseits der Sprache in die Affirmation subjektiver Befindlichkeit um. Wenn er spöttisch vermerkt, dass »jede andere als eine ›kritische‹ Einstellung zu den Dingen unserer Lebenswelten zumindest in den Augen des Durchschnittsgeisteswissenschaftlers wie eine Art Erbsünde« wirke (2004: 112), dann ist daran nicht nur der missglückte Vergleich signifikant – die Erbsünde ist in der theologischen Tradition eben dadurch gekennzeichnet, dass sie gerade keine Sache der Haltung, sondern mit dem Menschsein unvermeidlich gegeben und darum nicht einfach durchschaubar ist –, sondern vor allem der wiederum zu einfache Gegensatz: Kritik bedeutet eben nicht zwingend einen »weiteren theoretischen Looping der ›Selbstreflexion‹« (ebd.) und steht deshalb auch keineswegs im Gegensatz zu Präsenzerfahrungen. Sie dient vielmehr der Unterscheidung der Begegnungen mit dem Unsagbaren von Vorurteilen und falschen Eigentlichkeiten: Nicht alles, was den Status einer unmittelbaren Begegnung mit der leibhaftigen Wirklichkeit beansprucht, ist mehr als die Reproduktion von Stereotypen unterschiedlicher Herkunft.
IV. G L AUBE UND L EHRE Die Notwendigkeit, das Unaussagbare doch nicht unausgesprochen zu lassen, ist das genuine Problem religiöser Sprache. Diese ist ein paradigmatischer Fall des Sprechens über das Diesseits wie das Jenseits der Sprache und darin der Kunst wie den ästhetischen Diskursen eng verwandt (vgl. W. Schoberth 2011). Notwendig ist solches Sprechen zum einen, weil die Tradierung, aber auch die Eröffnung neuer religiöser Erfahrungen (wie aller Präsenzerfahrungen) ohne Sprache nicht zu denken ist; zum anderen um zwischen glaubwürdigen und irreführenden Präsenzerlebnissen und Epiphanien zu unterscheiden. 9 Für den Glauben ist nun die kritische Prüfung essentiell, wer oder was in solchen Präsenzerlebnissen 9 | Es ist sicher kein Zufall, dass Gumbrecht an zentralen Stellen ursprünglich religiöse und theologische Termini gebraucht, auch wenn er sie mehr als rhetorische Metaphern denn begrifflich präzise verwendet. Aus theologischer Perspektive ist festzuhalten, dass Epiphanie nicht die einzige oder primäre Weise der Erfahrung der Gegenwart Gottes ist, sondern eher eine Ausnahmeform darstellt.
Von Gottes Gegenwart und der Ontologie der Präsenz begegnet: Die biblische Tradition ist geprägt vom Bewusstsein dafür, dass die bloße Behauptung einer Gottesbegegnung oder Offenbarung verdächtig ist und oft genug zu anderen, unheilvollen Mächten führt. Die biblischen Schriften berichten nicht nur ausgesprochen selten von Epiphanien, sie erzählen solche Momente auch durchweg sehr zurückhaltend und mit charakteristischen Brechungen. Exemplarisch dafür kann die Erzählung aus 1 Kön 19, 11ff. stehen, die nahezu alle klassischen Epiphanieszenarien aufruft, um dann lapidar festzustellen, »aber der Herr war nicht darin«: Nach den dramatischen Erscheinungen aber kommt ein »stilles, sanftes Sausen«, und in ihm eine Stimme. Die Gegenwart Gottes wird erkennbar durch das Wort: Gotteserkenntnis ist allemal ein Wi edererkennen (vgl. Ritschl 1994). Gott ist kein Noumenon und keine namenlose transzendentale Macht, sondern gibt sich zu erkennen in seiner Geschichte; eben darum ist auch der Gottesbegriff nicht die grundlegende Form der Gottesrede, sondern die Erzählung, welche die Erfahrungen von Gottes Handeln und seiner Verheißung mitteilen und in denen die Welt auf Gott hin zur Sprache kommt. Diese innere Beziehung des Glaubens auf Sprache umfasst auch die Begriffssprache der Theologie. Diese ist aber nicht die Instanz, die ausdrücken könnte, was der Glaube ›eigentlich‹ glaubt, selbst wenn die Sprachform der Aussage, die der theologischen Reflexionsarbeit notwendig eignet, zu dieser Verwechslung, die auch in der theologischen Literatur durchaus nicht immer hinreichend vermieden wird, verführen kann. Wenn George A. Lindbeck theologische Aussagen als »second order […] propositions« bezeichnet (1984: 80),10 dann kommt darin zum Ausdruck, dass der Glaube seine Realität und damit auch seinen Verifikationskontext nicht in der theologischen Wissenschaft hat, sondern im Leben des Glaubens selbst. Zum Begriff des Glaubens gehören untrennbar beide Momente: Die Erfahrung der gegenwärtigen Wirklichkeit Gottes, die in Glaubenssätzen, wie tentativ auch immer, ausgesprochen wird, und die Praxis des Glaubens, der in jedem Leben neue und einzigartige Realisationen findet.11 Was der Glaube glaubt, ist ein Wissen, das jenseits dessen liegt, was begrifflich zu fassen ist. Glaube ist somit wesentlich implizites Wissen, das nie vollständig 10 | Lindbeck betont übrigens auch, dass dies von »Lehrsätzen qua Lehrsätzen« (1994: 122) gilt; der gegen seinen Vorschlag oft erhobene Einwand, er biete nicht mehr als eine neue Version der Fundierung der Theologie auf kulturell kontingente Überzeugungen und negiere darum den Wahrheitsanspruch theologischer Sätze, geht darum ins Leere bzw. übersieht die kategoriale Differenz zwischen theologischen Aussagen und Glaubensaussagen, die Lindbeck offenlegt. Natürlich können etwa theologische Sätze im Wortlaut identisch sein mit Bekenntnisaussagen, ihre Funktion ist aber eine andere. – Die Spezifik assertorischen Redens in Theologie und Glaube kann hier nicht weiter verfolgt werden; vgl. dazu aber Ingrid Schoberth (2005). 11 | Die theologische Tradition hat das erste terminologisch als fides quae, das zweite als fides qua gefasst; beide Momente sind nicht gegeneinander auszuspielen, sondern zwei Aspekte der einen Wirklichkeit des Glaubens.
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sein kann, zumal die Glaubenden in aller Regel nicht über die sprachlichen Mittel verfügen, das zu explizieren, was formulierbar wäre.12 Glaube ist wesentlich Partizipation an einer Praxis, in der das implizite und das explizite Wissen in einem komplexen Interdependenzverhältnis stehen. Glaube wäre missverstanden, wenn man ihn etwa als Anwendung seiner Dogmatik oder als Überzeugungssystem verstehen wollte: Der Glaube glaubt nicht an dogmatische Sätze. Diese sind vielmehr nur dann sinnvoll, wenn es ihnen gelingt, Glauben zur Sprache zu bringen und zu regulieren. Glaube ist aber auch nicht über seine sozialen, kulturellen, moralischen und religiösen Funktionen und Manifestationen zu erfassen. Er ist vielmehr durch das bestimmt, was er erfährt – und das ist prinzipiell mehr, als sich sagen lässt. Eben wegen dieses Überschusses über das hinaus, was sich klar sagen lässt, sind die Erfahrungen und das Wissen des Glaubens in sehr unterschiedlicher und natürlich auch von kulturellen Prägungen abhängiger Weise formuliert worden. Gleichwohl muss festgehalten werden, dass der Glaube in der Mannigfaltigkeit seiner Manifestationen eben derselbe Glaube ist; in theologischer Formulierung ist dies elementar so zu fassen, dass christlicher Glaube in jeder Zeit und an allen Orten seine Identität nicht in sich selbst oder in identifizierbaren Aussage- oder Ritualsystemen hat, sondern in Gottes Gegenwart in Jesus Christus, die seine ganze Geschichte in seinem Volk und in der gesamten Schöpfung umfasst.
V. S AKR AMENTALE P R ÄSENZ In der sakramentalen Gegenwart Gottes im Gottesdienst verdichtet sich diese Geschichte. Eben darum ist die Gegenwart Gottes aber auch und gerade in ihrer sakramentalen Gestalt, auf die das eingangs zitierte Lied Tersteegens verweist, durchaus verschieden zu denken und auszusagen. Das ist wiederum mit unterschiedlichen liturgischen Vollzügen verbunden, hat aber auch Konsequenzen für das alltägliche Leben. Tersteegens Lied erfasst dieses wesentliche Moment, indem es weder die Gegenwart Gottes zu beschreiben versucht noch eine Präsenztheorie oder -theologie vorstellt. Was die Gegenwart Gottes ist, erschließt sich nicht im Begriff und ist kein Gegenstand des ausdrücklichen und aussprechbaren Wissens; vielmehr wird sie in einer Praxis erfahren, die der Einübung bedarf. Gläubige haben keine Theo12 | Darum ist auch die empirische Erforschung von ›Religion‹ eine höchst komplexe Angelegenheit, die sich methodisch erst in ihren Anfängen befindet: Das Teilnahmeverhalten und die Zustimmungswerte zu Katechismusfragen, die sich mit den eingespielten Verfahren recht gut erheben lässt, geben nur ein sehr vages Bild, das leicht zu Fehlinterpretationen führen kann, zumal die soziokulturell bedingten Differenzen in der Fähigkeit und dem Willen zur Verbalisierung methodisch induzierte Verzeichnungen hervorbringen können. Vor allem die Praktische Theologie und ebenso das kirchenleitende Handeln rezipieren oft zu leichtfertig Aussagen aus empirischen Studien, ohne deren Validität kritisch zu reflektieren, und scheinen sie für die Wirklichkeit selbst zu halten.
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rie über die Gegenwart Gottes, sondern ein über diese Praxis vermitteltes Wissen, das wiederum verbunden ist mit der Kenntnis über die sakramentale Praxis, in der das Geheimnis der Gegenwart Gottes implizit enthalten ist. Man wird Christ und lernt die Gegenwart Gottes kennen, indem man in solche sakramentale Praxis hineinwächst. Solches Hineinwachsen geschieht sicher wesentlich auch über explizite Lernprozesse, und sicher ist auch das, was hier zu erfahren ist, nicht gänzlich unexplizierbar. Wenn es das wäre, könnten wir überhaupt nicht darüber reden. Dennoch kann hier in einem präzisen Sinn von implizitem Wissen gesprochen werden, weil nicht nur ein Überschuss über das Explizierbare gegeben ist, sondern das dem Glauben Wesentliche gerade in dem liegt, was letztlich nicht auszusagen ist, ohne Sprache aber gar nicht zu erfahren wäre. Darum muss über das Verhältnis von Implikation und Explikation ebenso nachgedacht werden wie über die Frage, wie die hier anvisierten Präsenzerfahrungen genauer bestimmt werden können: Die dabei erfahrene Präsenz ist ja ganz offenkundig nicht die Gegenwart von einem Etwas. Das berührt die Aufgabe der Theologie insgesamt. Es ist nämlich keineswegs ausgemacht, wie die Gegenwart Gottes zu verstehen ist und wie ihr im Handeln von Menschen entsprochen werden kann. In den verschiedenen Zeiten und Kulturen haben die Gläubigen in ihrer Glaubenspraxis darauf unterschiedliche Antworten gegeben. Dementsprechend sind die theologischen Theorien der sakramentalen Gegenwart Gottes kulturell und konfessionell unterschiedlich, und diese Unterschiede haben wiederum Folgen für das Erleben und Leben. Praktiken und Ritualordnungen wie Ewiges Licht, Tabernakel oder Bekreuzigen entsprechen ebenso einem bestimmten Verständnis der sakramental vermittelten Präsenz wie die Abendmahlsfrömmigkeit lutherischer oder reformierter Prägung je in ihrer Eigenart unmittelbar mit dem verbunden sind, wie hier die immanente Gegenwart Gottes gedacht wird. Theologische Artikulationsformen und liturgische Praxis sind dabei wechselseitig aufeinander bezogen; theologische Einsichten können ebenso auf die sakramentale Praxis zurückwirken wie die je unterschiedliche Wirklichkeit der Sakramentsfeiern theologische Reflexion in Gang setzt. In ihrer Genese sind explizite Sakramentstheologien ex-post-Theorien; das ist das Wahrheitsmoment in dem (gegenwärtig kirchenpolitisch oft missbrauchten) Prinzip des lex orandi, lex credendi: Weil das Gebet durch die gesamte Kirche getragen wird, in der der Glaube die Wirksamkeit des Geistes Gottes erkennt, geht es sachlich der theologischen Reflexion voraus. Dieser Vorrang eignet sich aber nicht zur Begründung eines liturgisch-theologischen Klerikalismus oder Revisionismus, weil dadurch eben das negiert würde, worin dieses Prinzip seine Begründung hat: Im Bekenntnis zu der im Leben der Gemeinde wirksamen Gegenwart des Geistes Gottes. Diese Gegenwart ist alles andere als selbstverständlich verfügbar; die Strategie, den Vorrang der Praxis des Glaubens zur Legitimierung von Herrschaft in der Kirche und der Unterdrückung der Vielgestaltigkeit des Glaubens auszunutzen, negiert in Wahrheit die Wirksamkeit des Geistes Gottes. Der unverzichtbare Kern dieses Prinzips ist die Ausrichtung an der gelebten Wirk-
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lichkeit des Glaubens, die Anfang und Horizont der theologischen Reflexionsarbeit ist; Friedrich Mildenberger (1991: 15 u.ö.) spricht in einer präzisierenden Aufnahme dieses Moments von der »einfachen Gottesrede« im Gegenüber zur theologischen Reflexion: In der einfachen Gottesrede aber muss sich das Reden von Gott selbst bewahrheiten. Gleichwohl ist auch diese Wirklichkeit des Glaubens nicht selbst schon das Kriterium, sondern die in ihr bekannte Gottesgegenwart. Eine der wirkmächtigsten Manifestationen der Interdependenz von theologischer Reflexion und Frömmigkeitspraxis lässt sich in der Reformation erkennen. Diese wird von Gumbrecht als epochaler Wandel beschrieben, weg von einer Präsenzkultur und hin »zum Subjekt-Objekt-Paradigma und zum hermeneutischen Feld als Fundierung dessen, was wir die ›neuzeitliche Welt‹ nennen« (2004: 46). Dabei missversteht er allerdings die Differenz »zwischen der mittelalterlichen (oder ›katholischen‹, wenn man so will – obwohl das Wort im Hinblick auf das Mittelalter selbstverständlich anachronistisch ist) und der protestantischen (d.h. frühneuzeitlichen) Theologie des Abendmahls« (ebd.) in charakteristischer Weise; es ist erstaunlich genug, dass auch die im Zitat enthaltene Selbstkorrektur nicht zur Problematisierung seiner eigenen These führt. Denn weder ist Gumbrechts Vorstellung vom mittelalterlichen Sakramentsverständnis triftig, noch erfasst er die theologischen und ontologischen Implikationen der reformatorischen Revision. Eine präzisere Reflexion auf diese Differenz kann aber für den Begriff der »Präsenz« einigen Aufschluss bringen. Hier geht es eben nicht um den vordergründigen Gegensatz von Präsenzkultur und Sinnkultur, sondern um das Verständnis von Präsenz selber. Denn die Reformatoren sehen im Abendmahl keineswegs eine ›bloße‹ Erinnerung, zumal in einem genuin theologischen Sinn Erinnerung etwas ganz anderes ist als die subjektive Bemühung, sich Vergangenes mental zu vergegenwärtigen (vgl. I. Schoberth 1992). Vielmehr betonen sowohl Luther als auch Calvin die ›Realpräsenz‹ Christi im Abendmahl, wenngleich mit anderen Sprachformen und Denkfiguren. Die entscheidende Frage ist also, wie diese reale Gegenwart Christi zu denken und auszusagen ist. Die Reformatoren verbindet die theologische Überzeugung – die in der Tat einen fundamentalen Umschwung im Sakramentsverständnis bedeutet –, dass weder der korrekte rituelle Vollzug durch den geweihten Priester noch die gewandelte Substanz die Gegenwart Christi vermittelt,13 sondern der auferstandene Herr sich selbst in der Feier und im Glauben seiner Gemeinde gegenwärtig macht. 13 | Gumbrechts Formulierung, die Messe sei das Ritual gewesen, »mit dessen Hilfe das ›wirkliche‹ Abendmahl und vor allem der Leib Christi und sein Blut ›wirklich‹ wieder präsent gemacht werden konnten« (2004: 46), nimmt nicht nur durch die Anführungszeichen der eigenen These die Pointe, sondern verfehlt auch das katholische Sakramentsverständnis. Die Feier des Sakraments dient nicht der Herstellung der Gottesgegenwart, sondern der Anteilgabe an dieser Gegenwart. Hier liegt einerseits eine fundamentale konfessionelle Differenz, insofern die Reformation sich entschiedenen gegen die Vorstellung der Notwendigkeit einer vermittelnden Instanz zwischen Gott und Menschen wendet, die dann eine Art
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Zur Sakramentsfeier gehört wesentlich die Bitte um die Gegenwart Gottes. Daran ist erkennbar, dass solche Gegenwart kein unterschiedsloses Vorhandensein ist: Gottes Gegenwart ist nicht selbstverständlich gegeben wie die Schwerkraft und gerade darum auch nicht jederzeit verfügbar. Dieses theologische Grundmoment steht ohne Zweifel in Spannung zu der metaphysischen Lehre von der Allgegenwart Gottes, wie sie etwa in der klassischen protestantischen Theologie tradiert wurde. Hier ist theologische Revisionsarbeit vonnöten, die auch die biblische Rede von Gottes Gegenwart – wie auch seiner Abwesenheit – neu durchbuchstabieren müsste. Dabei wären außerdem die unterschiedlichen konfessionellen Ausprägungen ins Gespräch zu bringen: Die auch tief in der Frömmigkeitspraxis verankerte Lehre von der perennierenden Gegenwart in den gewandelten Elementen ist vielleicht eine der grundlegendsten Differenzen zwischen der römischen und der reformatorischen Sicht; sie hat weitreichende theologische und ontologische Implikationen. Die katholische Frömmigkeitspraxis wie Lehre betonen die Stetigkeit der Gottesgegenwart im Sakrament: In den durch die Konsekration gewandelten und darin geheiligten Elementen ist die Gegenwart Gottes gewährleistet, so dass auch die nach der Eucharistiefeier aufbewahrten Hostien als Ort der Gegenwart des Herrn zu verehren sind. Dem entsprechen die Heiligung des Kirchenraumes, die Ehrerbietung beim Eintritt durch Weihwasserbesprengung und Verneigung (die zugleich die Reinigungsriten beim Betreten des Tempels fortsetzen) ebenso wie die Praxis des Ewigen Lichts als Zeichen der Gottesgegenwart etc. Die Protestantische Tradition dagegen sieht in diesen Formen eine Verunklarung der theologisch fundamentalen Einsicht, dass weder Ding noch Ort noch Ritus, sondern allein der Glaube der versammelten Gemeinde durch den Geist Gottes die Präsenz des Heiligen erfahrbar werden lässt. Lassen sich diese unterschiedlichen Traditionen und Wahrnehmungen als differente Gestalten der Antwort auf ein und dieselbe Begegnung mit dem gegenwärtigen Gott verstehen? Ist Präsenz eine Qualifikation besonderer Orte und Dinge? Oder ist sie ein Ereignis, das an Orten und Dingen erfahren werden kann, aber eben das benennt, was über diese hinausgeht? Die lutherische Tradition spricht davon, dass im Abendmahl Christus »in, mit und unter« den Elementen Brot und Wein real gegenwärtig ist. Diese Formel lutherischer Sakramentenlehre hat in ihrer soteriologischen Bedeutung auch eine ontologische, die freilich kaum hinreichend bedacht wurde (vgl. Metzke 1961). Wie solche Präsenz zu beschreiben ist, wäre noch zu diskutieren, zumal ein theologischer Begriff der Präsenz impliziert, dass Präsenz nicht ungebrochen gegeben ist. Was hier erfahren wird, ist kein Etwas, aber auch kein Gefühl und keine Stimmung, sondern ereignet sich in der lebendigen Begegnung. Zum
ontologischer Zwischenebene einnimmt. Andererseits ist eben hier auch die Gemeinsamkeit der Ökumene sichtbar, indem alle Konfessionen daran festhalten, dass dieses Geschehen der Anteilgabe an Gottes Gegenwart von Gott selbst ausgeht, wie immer dies im Einzelnen gedacht und artikuliert wird.
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biblischen Verständnis der Präsenz Gottes gehört das Bilderverbot; in ihm findet die Spannung von Verborgenheit und Offenbarung Gottes ihren Ausdruck.
L ITER ATUR Gumbrecht, Hans Ulrich (2004): Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. — (2011): Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur, München: Hanser. Kracauer, Siegfried (1985): Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Lindbeck, George A. (1984): The Nature of Doctrine. Religion and Theology in a Postliberal Age, Philadelphia, PA: Westminster Press. — (1994): Christliche Lehre als Grammatik des Glaubens. Religion und Theologie im postliberalen Zeitalter, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Metzke, Erwin (1961): »Sakrament und Metaphysik. Eine Lutherstudie über das Verhältnis des christlichen Denkens zum Leiblich-Materiellen«, in: Erwin Metzke/Karlfried Gründer (Hg.), Coincidentia oppositorum. Gesammelte Studien zur Philosophiegeschichte, Witten (Ruhr): Luther-Verlag, S. 158-204. Mildenberger, Friedrich (1991): Prolegomena: Verstehen und Geltung der Bibel (= Biblische Dogmatik. Eine Biblische Theologie in dogmatischer Perspektive, Band 1), Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlhammer. Picht, Georg (1987): Kunst und Mythos. Constanze Eisenbart/Enno Rudolph (Hg.), Vorlesungen und Schriften (= Band 2), Stuttgart: Klett-Cotta. Ritschl, Dietrich (1994): »Gotteserkenntnis durch Wiedererkennen«, in: Jürgen Roloff/Hans G. Ulrich (Hg.), Einfach von Gott reden. Ein theologischer Diskurs. Festschrift für Friedrich Mildenberger zum 65. Geburtstag, Stuttgart/ Berlin/Köln: Kohlhammer, S. 144-152. Schneider, Ulrich (1982): James Joyce »Dubliners«, München: Fink. Schoberth, Ingrid (1992): Erinnerung als Praxis des Glaubens (= Öffentliche Theologie 3), München: Kaiser. — (2005): »Referenzen und Kontexte. Ein praktisch-theologischer Diskurs zur Grammatik religiöser Sprache«, in: Michael Wladika (Hg.), Gedachter Glaube. Festschrift für Heimo Hofmeister, Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 290-301. Schoberth, Wolfgang (2011): »Bild und christliche Religion«, in: Manfred L. Pirner/ Johannes Lähnemann/Werner Haußmann (Hg.), Medien-Macht und Religionen. Herausforderung für interkulturelle Bildung, Berlin: ebv, S. 121-127. Sontag, Susan (1980): »Gegen Interpretation«, in: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, München/Wien: Hanser, S. 9-18. Steiner, George (1990): Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt?, München: Hanser.
Von Gottes Gegenwart und der Ontologie der Präsenz
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Autorinnen und Autoren
Frank Adloff, Prof. Dr., Professor für Allgemeine und Kultursoziologie am Institut für Soziologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Forschungsschwerpunkte: Sozialtheorie, Emotionssoziologie, Philanthropie, Zivilgesellschaft. Aktuelle Publikationen: Philanthropisches Handeln. Eine historische Soziologie des Stiftens in Deutschland und den USA, Frankfurt/New York 2010. (Hg. mit Jochen Roose): Geld stinkt nicht? Zivilgesellschaft zwischen Abhängigkeit und Autonomie. Themenschwerpunkt des Forschungsjournals Soziale Bewegungen, Heft 1, März 2011 Elisabeth Bronfen, Prof. Dr., Lehrstuhlinhaberin am Englischen Seminar der Universität Zürich, Global Distinguished Professor an der New York University, Forschungsschwerpunkte: Anglo-Amerikanische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Gender Studies, Psychoanalyse, Film- und Kulturwissenschaften. Aktuelle Publikationen: Specters of War, New Brunswick, NJ (erscheint 2012), Hollywood’s Engagement with Military Conflict (Hollywoods Kriege), Frankfurt a.M. (erscheint 2013) Christoph Ernst, Dr., Wiss. Mitarbeiter am Institut für Theater- und Medienwissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Forschungsschwerpunkte: Medientheorie, Kulturanalyse, Diagrammatik. Aktuelle Publikationen: Diagrammatik, Bielefeld 2010 (zus. mit Matthias Bauer), Konstruktion und Geltung. Beiträge zu einer postkonstruktivistischen Sozial- und Medientheorie, Wiesbaden 2012 (Hg. mit Joachim Renn und Peter Isenböck) Monika Gänßbauer, Prof. Dr., Vertretung für Professor Dr. Lackner am Lehrstuhl für Sinologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Forschungsschwerpunkte: Religionen in China, chinesische Literatur, Kampagnen- und Traumaforschung. Aktuelle Publikationen: Confucianism and Social Issues in China – the Academician Kang Xiaoguang, Bochum 2011, Kinder der Bergschlucht. Chinesische Gegenwartsessays, Bochum 2012
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Präsenz und implizites Wissen
Katharina Gerund, Dr., Amerikanistin und Koordinatorin des DFG-Graduiertenkollegs 1718 »Präsenz und implizites Wissen« an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Forschungsschwerpunkte: Afroamerikanische Literatur und Kultur, kulturelle Mobilität, Gender Studies, Diaspora Studies. Aktuelle Publikationen: Pirates, Drifters, Fugitives: Figures of Mobility in the US and Beyond, Heidelberg 2012 (zus. mit Heike Paul und Alexandra Ganser), Transatlantic Cultural Exchange: African American Women’s Art and Activism in West Germany, Bielefeld (erscheint 2013) Clemens Kauffmann, Prof. Dr., Lehrstuhlinhaber am Lehrstuhl für Politische Wissenschaft II/Politische Philosophie und Ideengeschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Leiter des Gerlach-Archivs und der Eric Voegelin-Bibliothek an der FAU, Forschungsschwerpunkte: Politische Philosophie der Antike und der Gegenwart, Demokratietheorie, Biopolitik. Aktuelle Publikationen: Politischer Platonismus, Würzburg 2008 (Hg. mit A. Eckl), Biopolitik im liberalen Staat, Baden-Baden 2011 (Hg. mit H.-J. Sigwart) Kay Kirchmann, Prof. Dr., Professor für Medienwissenschaft am Institut für Theaterund Medienwissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Forschungsschwerpunkte: Medien und Zeitlichkeit; Film- und Fernsehtheorie, -geschichte und -ästhetik. Aktuelle Publikationen: Theater und Medien, Bielefeld 2008 (Hg. mit Henri Schoenmakers, Stefan Blaeske und Jens Ruchatz), Medienreflexion im Film. Ein Handbuch. Bielefeld 2013 (Hg. mit Jens Ruchatz) Antje Kley, Prof. Dr., Lehrstuhlinhaberin des Lehrstuhls für Amerikanistik, insbesondere Literaturwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Funktionen des amerikanischen Romans, US-amerikanische Autobiographik, Transkulturalität und die multiethnischen Literaturen Nordamerikas und der anglophonen Karibik, Neuere Theoriebildung, insbesondere Poststrukturalismus, feministische Theorie/Gender Studies, Postkoloniale Theorie, Ethik und Ästhetik, Medientheorie. Aktuelle Publikationen: Ethik – Anerkennung – Gerechtigkeit: Philosophische, literarische und gesellschaftliche Perspektiven, München 2011 (Hg. mit Alexandra Böhm und Mark Schönleben), Narrative Patterns in the Novels of Richard Powers, Heidelberg 2012 (Hg. mit Jan Kucharzewski). Dirk Kretzschmar, Prof. Dr., Professor für Komparatistik am Department Germanistik und Komparatistik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Forschungsschwerpunkte: Literatur- und Kulturtheorie, Systemtheorie der Literatur, Kulturkomparatistik, Interkulturelle Literatur- und Kulturwissenschaft, Literatur- und Kulturgeschichte Osteuropas. Aktuelle Publikationen: Identität statt Differenz. Zum Verhältnis von Kunsttheorie und Gesellschaftsstruktur in Russland im
Autorinnen und Autoren
18. und 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2002, Alter und Altern in Literatur und Kultur der Gegenwart, Würzburg 2012 (Hg. mit Rudolf Freiburg) Klaus Lösch, Dr., Akademischer Oberrat am Lehrstuhl für Amerikanistik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Forschungsschwerpunkte: Native American Studies, Interkulturalitätstheorie und Kulturhermeneutik. Aktuelle Publikationen: Multiculturalism in Contemporary Societies: Perspectives on Difference and Transdifference, Erlangen 2002 (Hg. mit Helmbrecht Breinig und Jürgen Gebhardt), Cultural Encounters in the New World: Literatur- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu kulturellen Begegnungen in der Neuen Welt, Tübingen 2003 (Hg. mit Harald Zapf) Christoph Mautz, M.A., Wiss. Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Forschungsschwerpunkte: Theoretische Soziologie, Qualitative Methoden, Neue Formen der Vergemeinschaftung, Identität und Individualität. Aktuelle Publikation: Präsenz und Individualität. Sagbarkeit und Sichtbarkeit in Interaktion (in Vorber.) Andreas Nehring, Prof. Dr., Professor für Religions- und Missionswissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Forschungsschwerpunkte: Religionswissenschaftliche (Kultur-)Theorien, Postkoloniale Theologien, Transkulturelle Austauschprozesse zwischen Europa und Indien, Missionsgeschichte. Aktuelle Publikationen: Orientalismus und Mission – Die Repräsentation südindischer Religion durch deutsche Missionare, Wiesbaden 2003, Religious Turns – Turning Religions. Veränderte kulturelle Diskurse – neue religiöse Wissensformen, Stuttgart 2008 (Hg. mit Joachim Valentin) Heike Paul, Prof. Dr., Lehrstuhlinhaberin für Amerikanistik, insbesondere nordamerikanische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Sprecherin des DFG-Graduiertenkollegs 1718 »Präsenz und implizites Wissen«, Forschungsschwerpunkte: Amerikanische Mythen, Fremdheit, Präsenzphänomene in amerikanischer Literatur und Populärkultur, transatlantische kulturelle Mobilität und afro-kanadische Geschichte und Literatur. Aktuelle Publikationen: Screening Gender: Geschlechterszenarien in der gegenwärtigen US-amerikanischen Populärkultur, Münster 2007 (Hg. mit Alexandra Ganser), Pirates, Drifters, Fugitives: Figures of Mobility in the US and Beyond, Heidelberg 2012 (Hg. mit Alexandra Ganser und Katharina Gerund) Wolfgang Schoberth, Prof. Dr., Lehrstuhlinhaber am Lehrstuhl für Systematische Theologie 1 (Dogmatik) an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Forschungsschwerpunkte: Anthropologie, Theologische Ästhetik, Philosophische Theologie, religiöse Gegenwartskultur. Aktuelle Publikationen: Kirche – Ethik –
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Präsenz und implizites Wissen
Öffentlichkeit. Christliche Ethik in der Herausforderung, Münster 2002 (Hg. mit Ingrid Schoberth), Einführung in die theologische Anthropologie, Darmstadt 2006 Stefan Schukowski, Dr., Wiss. Assistent am Lehrstuhl für Komparatistik des Departments Germanistik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Forschungsschwerpunkte: Literatur- und Kulturtheorie, Interkulturelle Literaturwissenschaft, Gender Studies. Aktuelle Publikationen: Resisting Texts, München 2011 (Hg. mit Brigitte Rath), Gender im Gedicht, Bielefeld 2013 (in Vorbereitung) Christoph Schumann, Prof. Dr., Professor für Politik und Zeitgeschichte des Nahen Ostens an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Forschungsschwerpunkte: Politisches Denken in der Arabischen Welt, Staaten und politische Ordnungen im Nahen Osten, transnationaler Islam. Aktuelle Publikationen: Nationalism and Liberal Thought in the Arab East, London 2010, Liberal Discourses in the Middle East after 1967 (Hg. mit Meir Hatina, in Vorbereitung) Dimitris Soudias, Dipl. Pol., Politikwissenschaftler, Forschungsschwerpunkte: Theorie Sozialer Bewegungen, insbesondere »Politik der Straße« in Ägypten, Raumsoziologie, Versicherheitlichung. Aktuelle Publikationen: Negotiating Space – The Evolution of the Egyptian Street: 2000-2011, Kairo (in Vorbereitung) Jörg Zirfas, Prof. Dr., Professor am Institut für Pädagogik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Forschungsschwerpunkte: Pädagogische Anthropologie und Ethik, Erziehungs- und Bildungsphilosophie, Kulturpädagogik und Ästhetische Bildung, Qualitative Bildungs- und Sozialforschung. Aktuelle Publikationen: Geschichte der Ästhetischen Bildung. Band 2: Frühe Neuzeit. Paderborn u.a. 2011 (Hg. mit Leopold Klepacki), Takt und Taktlosigkeit. Über Ordnungen und Unordnungen in Kunst, Kultur und Therapie. Bielefeld 2012 (Hg. mit Günter Gödde)