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German Pages 225 [226] Year 2015
Alexander Denzler, Ellen Franke, Britta Schneider (Hrsg.) Prozessakten, Parteien, Partikularinteressen
bibliothek altes Reich
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Herausgegeben von Anette Baumann, Stephan Wendehorst und Siegrid Westphal
Band 17
Prozessakten, Parteien, Partikularinteressen | Höchstgerichtsbarkeit in der Mitte Europas vom 15. bis 19. Jahrhundert Herausgegeben von Alexander Denzler, Ellen Franke, Britta Schneider
Gedruckt mit Unterstützung des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst
ISBN 978-3-11-035981-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-036020-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039561-7 ISSN 2190-2038 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: Ausschnitt aus: Johann Caspar Höckner: Das ordentliche Gerichtsverfahren, 1655, aus: Christoph Friderici: Processus Iudicarius cum novis additionibus Iohan. Georgii Nicolai. Dresden (Löffler) 1655, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Graphische Sammlung. Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Der Erfolg eines informellen wissenschaftlichen Netzwerks basiert vor allem auf dem Tatendrang, dem wissenschaftlichen Engagement und der Kreativität seiner Mitglieder. Der vorliegende Band ist das Ergebnis der Zusammenarbeit vieler aktiver Netzwerker und enthält die Beiträge der 12. Nachwuchstagung des Netzwerks Reichsgerichtsbarkeit, die vom 22. bis 23. November 2013 in den Räumlichkeiten der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung e. V. in Wetzlar stattfand. Bei der Organisation der Tagung und der Vorbereitung dieses Sammelbandes erhielten wir vielfältige Unterstützung. Vor allem möchten wir der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung e. V. danken, die uns großzügig nicht nur ihre Räumlichkeiten und Infrastruktur zur Verfügung stellte, sondern überdies die Tagung und den Sammelband finanziert hat. Wir danken zudem allen an der Tagung beteiligten Netzwerkern, die einerseits mit ihren Vorträgen und Diskussionsbeiträgen zum fruchtbaren und konstruktiven wissenschaftlichen Dialog über den Stand und die Perspektiven der Höchstgerichtsforschung beitrugen und andererseits ihre Redebeiträge für die vorliegende Publikation zur Verfügung stellten. Darüber hinaus hat Frau Müller durch ihre organisatorische Unterstützung den perfekten Ablauf der Tagung sichergestellt. Dafür gebührt ihr unser Dank ebenso wie wir Prof. Dr. Anja Amend-Traut, Prof. Dr. Anette Baumann und Dr. Stephan Wendehorst zu großem Dank verpflichtet sind. Sie waren es, die uns mit ihrer Erfahrung sowie mit Rat und Tat zur Seite standen. Ferner wollen wir Dipl.-Jur. Univ. Josef Bongartz sowie Dr. Stefan A. Stodolkowitz, die bei der Redaktion der Texte behilflich waren und Korrektur lasen, in den Dank mit einschließen. Nicht zuletzt danken wir Bettina Neuhoff vom Verlag de Gruyter Oldenbourg, in deren erfahrenen Händen die Betreuung des Bandes lag, für ihre Geduld und Unterstützung. Eichstätt/Berlin/Würzburg, im April 2015
Alexander Denzler Ellen Franke Britta Schneider
Inhalt Vorwort | V Alexander Denzler, Ellen Franke, Britta Schneider Einleitung | 1 Daniel Luger Eine bislang unbeachtete Quelle zur Reichsgerichtsbarkeit im 15. Jahrhundert Prolegomena zur Edition des königlichen Gerichtsbuchs (1442–1451) | 31 Robert Riemer Wechselwirkungen zwischen kriegerischen Konflikten und der Tätigkeit des Reichskammergerichts | 41 Ulrike Schillinger Die Neue Rottweiler Hofgerichtsordnung von 1572 | 55 Ulrich Hausmann, Thomas Schreiber Euer Kaiserlichen Majestät in untertänigster Demut zu Füßen Das Kooperationsprojekt „Untertanensuppliken am Reichshofrat in der Regierungszeit Kaiser Rudolfs II. (1576–1612)“ | 71 Fabian Schulze Die Rolle der oberdeutschen Reichskreise und der Reichsgerichte bei der Bekämpfung der Kipper- und Wipperkrise 1618–1626 | 97 Christel Annemieke Romein Vaterland, patria und Patriot in den Rechtsangelegenheiten Hessen-Kassels (1647–1655) | 117 Thomas Dorfner Empfehlungen, die man nicht ablehnen kann? Empfehlungsschreiben und Patronage am Reichshofrat (1658–1740) | 137 Carlo Steiner Zivilrechtspraxis im 18. Jahrhundert Höchstrichterliche Prozesse vor den Berner Räten | 155
VIII | Inhalt Stefan Andreas Stodolkowitz Der Zivilprozess des Oberappellationsgerichts Celle am Ende des Alten Reiches Bilanz und Perspektiven | 175 Stefan Xenakis Daß man täglich die Bauern, schaarenweise in Wetzlar auf die Sollicitatur ziehen sieht Legitimation von Rechtsansprüchen in Untertanenprozessen | 195
Alexander Denzler, Ellen Franke, Britta Schneider
Einleitung 1 Das Netzwerk Reichsgerichtsbarkeit Am Rande des Münchener Historikertages 1996 gründeten die seinerzeitigen Nachwuchswissenschaftler Siegrid Westphal und Stefan Ehrenpreis das Netzwerk Reichsgerichtsbarkeit. 1997 kamen die Leiterin der Forschungsstelle zum Reichskammergericht, Anette Baumann, sowie Stephan Wendehorst hinzu. Seit nunmehr 19 Jahren arbeitet das Netzwerk Reichsgerichtsbarkeit erfolgreich an der Vernetzung von (Nachwuchs)Forschenden. Die Grundidee war es, Doktoranden und Habilitanden zusammenzubringen, die sich mit der Überlieferung des Reichskammergerichts und des Reichshofrats sowie mit der Überlieferung territorialer Obergerichte und anderer Höchstgerichte in Europa beschäftigen. Besonders galt es, den Austausch über Fächer- und Ländergrenzen hinweg zu fördern und dem wissenschaftlichen Nachwuchs eine Plattform für den fächerübergreifenden Austausch zu bieten. Diese Interdisziplinarität war und ist Kernaufgabe des Netzwerks, da dieses Forschungsgebiet gleichermaßen von Historikern und Rechtshistorikern bearbeitet wird. So bestehen seit Jahren enge Kooperationen mit zahlreichen historischen und rechtshistorischen Lehrstühlen oder Professuren, mit Archiven und weiteren Forschungseinrichtungen, vor allem in Deutschland sowie in Österreich. Hervorzuheben ist insbesondere die Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung e. V. Das Netzwerk lebt dabei stets durch und von jedem einzelnen seiner Netzwerker, die sich allen voran im Rahmen der Tagungen durch Vorträge, Aufsätze, Diskussionsbeiträge, Kommentare und pragmatische Unterstützung jeder Art wie etwa das Überlassen von Räumlichkeiten einbringen. Daneben bedarf es aber auch einer kleinen Gruppe, einer Art wissenschaftlichen Vorstands, um die Interessen zu bündeln, Themen zu setzen, Tagungen zu organisieren oder Sammelbände herauszugeben. Maßgeblich prägten in den vergangenen knapp zwanzig Jahren folgende Personen den wissenschaftlichen Vorstand: Anja Amend-Traut, Anette Baumann, Stefan Ehrenpreis, Peter Oestmann, Stephan Wendehorst, Siegrid Westphal und Steffen Wunderlich. Inzwischen hat das Netzwerk dreizehn Nachwuchstagungen bzw. -workshops organisiert und – mit dem vorliegenden – acht Sammelbände publiziert.¹ Viele
1 Anja Amend-Traut / Anette Baumann / Stephan Wendehorst / Steffen Wunderlich (Hrsg.): Die höchsten Reichsgerichte als mediales Ereignis (bibliothek altes Reich, künftig: baR, Bd. 11). Mün-
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der aktiven Netzwerker der ersten Stunde sind dem Status des Nachwuchswissenschaftlers längst entwachsen und bereichern die Veranstaltungen als etablierte Experten. Für uns als Nachwuchswissenschaftler waren und sind die Netzwerktagungen in mehrfacher Hinsicht eine Bereicherung: In vertrauter, konstruktiver Atmosphäre ermöglichen sie den fachlichen Austausch nicht nur mit anderen Doktoranden oder Habilitanden, sondern auch mit den Experten des Forschungsgebietes, darunter Professoren der Rechts- und Geschichtswissenschaften, Archivare (insbesondere die Bearbeiter der Reichskammergerichts-Repertorien sowie der Erschließungsbände der Reichshofratsakten) und weitere Gäste aus dem In- und Ausland. Innerhalb der Diskussionen, die über Projekte in den verschiedensten Bearbeitungsstadien geführt werden, geben die Beteiligten mit Fragen, Hinweisen und Anregungen wichtige Hilfestellungen. Gerade für junge Forscher ist dies von unschätzbarem Wert. Diese Möglichkeit möchten wir auch künftig jungen Kollegen bieten. Wir sind daher dankbar, dass wir das Netzwerk ein Stück weiter voranbringen dürfen. Unser nun vorliegender, erster Sammelband in neuer Besetzung geht auf eine Tagung zurück, die im November 2013 in den Räumlichkeiten der Forschungsstelle für Höchstgerichtsbarkeit im Alten Europa in Wetzlar unter dem Thema „Höchstgerichte im Heiligen Römischen Reich – Stand und Perspektiven der Forschung“ stattfand. Anknüpfend an den ersten Sammelband des Netzwerks „Prozeßakten als Quelle“² haben wir uns bewusst dazu entschieden, nach einer Reihe von Tagungen mit konkreter Fragestellung thematisch offen zu bleiben, um wieder einmal die Vielfalt laufender Forschungsprojekte zu zeigen. Die unter diesem Dach schließ-
chen 2012; Anja Amend / Anette Baumann / Stephan Wendehorst / Steffen Wunderlich (Hrsg.): Die Reichsstadt Frankfurt als Rechts- und Gerichtslandschaft im Römisch-Deutschen Reich (baR, Bd. 3). München 2008; Anja Amend / Anette Baumann / Stephan Wendehorst / Siegrid Westphal (Hrsg.): Gerichtslandschaft Altes Reich. Höchste Gerichtsbarkeit und territoriale Rechtsprechung (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, künftig: QFHG, Bd. 52). Köln/Weimar/Wien 2007; Anette Baumann / Peter Oestmann / Stephan Wendehorst / Siegrid Westphal (Hrsg.): Rechtspraxis im Alten Reich. Annäherungen, Fallstudien, Statistiken (QFHG, Bd. 50). Köln/Weimar/Wien 2005. Siegrid Westphal / Eva Ortlieb / Anette Baumann in Verbindung mit dem Netzwerk Reichsgerichtsbarkeit (Hrsg.): Reichsgerichtsbarkeit. Zeitenblicke – Online Journal für die Geschichtswissenschaften 3 (2004), Nr. 3, http://www.zeitenblicke.de/2004/03/index.htm (abgerufen: 11. 08. 2014); Anette Baumann / Peter Oestmann / Stephan Wendehorst / Siegrid Westphal (Hrsg.): Reichspersonal. Funktionsträger für Kaiser und Reich (QFHG, Bd. 46). Köln/Weimar/ Wien 2003; Anette Baumann / Siegrid Westphal / Stephan Wendehorst / Stefan Ehrenpreis (Hrsg.): Prozeßakten als Quelle. Neue Ansätze zur Erforschung der Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich (QFHG, Bd. 37). Wien/Köln/Weimar 2001. 2 Baumann/Westphal/Wendehorst/Ehrenpreis (Hrsg.): Prozessakten als Quelle (wie Anm. 1).
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lich versammelten Beiträge zeigen – auch 14 Jahre später –, dass Prozessakten als Quellen nichts von ihrer Aktualität und Faszination eingebüßt haben. Diesem Phänomen tragen wir nun mit dem veränderten Buchtitel „Prozessakten, Parteien, Partikularinteressen. Höchstgerichtsbarkeit in der Mitte Europas vom 15. bis 19. Jahrhundert“ Rechnung. Wir nehmen die Prozessakten explizit in den Haupttitel auf und knüpfen an die Tradition, Prozessakten als primäre Quellen unserer Forschungen zu nutzen nicht nur an, sondern führen diese fort. So möchte der vorliegende Band zweierlei leisten – einerseits aktuell laufende Forschungen zur Höchstgerichtsbarkeit als Einblicke in den Stand der Forschung bündeln sowie andererseits auf diesem Fundament neue und weitere Perspektiven entwickeln. In diesem Sinne ist es uns als Herausgeber ein Bedürfnis einleitend unter Einbeziehung der vorliegenden Beiträge den Stand der Forschungen zu den Reichsgerichten zu resümieren sowie auf Defizite und Perspektiven der Forschung hinzuweisen. Für die territorialen Obergerichte hat Stefan A. Stodolkowitz diese Aufgabe in seinem vorliegenden Sammelbandbeitrag bereits ansatzweise übernommen.
2 Das Reichskammergericht: Stand und Perspektiven der Forschung Das bereits gut erforschte Reichskammergericht wird zweifelsohne auch fortan eine wichtige Rolle für die Forschung spielen. Dies unterstreichen nicht nur neueste (englischsprachige) Überblickswerke, die nur scheinbar selbstverständlich dieses Gericht thematisieren,³ oder Barbara Stollberg-Rilinger, die jüngst das „ständische“ Reichsgericht⁴ zum Fallbeispiel erhoben hat, um der Frage nachzugehen,
3 Joachim Whaley: Germany and the Holy Roman Empire (Oxford History of Early Modern Europe), 2 Bde. Oxford 2012, hier Bd. 1: From Maximilian I to the Peace of Westphalia 1493–1648, S. 32f. (Aus dem Englischen von Michael Haupt: Von Maximilian I. bis zum Westfälischen Frieden 1493–1648. Darmstadt 2014, S. 31); Robert von Friedeburg: Europa in der frühen Neuzeit (Neue Fischer Weltgeschichte, Bd. 5). Frankfurt a. M. 2012, S. 59; Thomas Maissen: Geschichte der Frühen Neuzeit (C. H. Beck Wissen). München 2013, S. 58; Karl Vocelka: Frühe Neuzeit 1500–1800 (UTB basics). Konstanz 2013, S. 33 u. 64. 4 Das Reichskammergericht war natürlich immer auch kaiserlich. Dies kann jedoch nicht über die ständische Grundausrichtung in Abgrenzung zu dem am Kaiserhof angesiedelten Reichshofrat hinwegtäuschen. Dem widerspricht auch nicht, dass die Zeitgenossen das Reichskammergericht zumeist mit dem Zusatz „kaiserlich“ oder dergleichen bezeichnet haben. Siehe zu dem „zwar umständlichen, jedoch korrekten, weil der dualistischen Verfassungskonstruktion des Gerichts gemäßen Titel ‚kaiserlich und des Reichs Kammergericht‘“ bzw. zu der „nicht mehr ausrottbaren und zumeist unreflektierten Gewohnheit[sbezeichnung]“ Reichskammergericht einschließlich
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ob sich die Frühe Neuzeit als eine Epoche der Formalisierung begreifen lässt.⁵ Nicht weniger wichtig ist, dass in den letzten gut zehn Jahren – die folgende Betrachtung hat vor allem, aber nicht ausschließlich den Zeitraum von 2004 bis 2014 im Blick – zahlreiche wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten entstanden sind, die das Reichskammergericht zum (Haupt)Gegenstand haben. Diese Arbeiten beruhen oftmals auf jenen älteren Forschungen, die seit den 1970er Jahren erschienen sind und deren Leistung bereits verschiedentlich resümiert und gewürdigt wurde.⁶ Darüber hinaus tragen die neueren Qualifikationsarbeiten den Keim für künftige Forschungen in sich. So behandelt die 2012 erschienene Dissertation von Robert Riemer vergleichend die Handels- und Handwerkszentren Frankfurt und Hamburg, und zwar auf Grundlage des Verzeichnis- und Erschließungsprojektes der Reichskammergerichtsakten.⁷ Die Möglichkeiten eines solchen Zugriffs unterstreicht der Autor mit dem Beitrag im vorliegenden Sammelband. Der Netzwerker Steffen Wunderlich wiederum qualifizierte sich mit der Auswertung und Edition des Protokollbuchs
einer kurzen Begriffsgeschichte Sigrid Jahns: Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich, Teil I: Darstellung (QFHG, Bd. 26/1). Köln/Weimar/Wien 2011, S. 1 (Anm. 1) u. S. 42 (Anm. 6). 5 Barbara Stollberg-Rilinger: Die Frühe Neuzeit – eine Epoche der Formalisierung?, in: Andreas Höfele / Jan-Dirk Müller / Wulf Oesterreicher (Hrsg.): Die Frühe Neuzeit. Revisionen einer Epoche (Pluralisierung & Autorität, Bd. 40). Berlin/Boston 2013, S. 3–27. Siehe dies.: Die Würde des Gerichts. Spielten symbolische Formen an den Höchsten Reichsgerichten eine Rolle?, in: Peter Oestmann (Hrsg.): Zwischen Formstrenge und Billigkeit. Forschungen zum vormodernen Zivilprozeß (QFHG, Bd. 56). Köln/Weimar/Wien 2009, S. 191–216. 6 Siehe u. a. (sortiert nach dem Erscheinungsjahr): Karl Härter: Neue Literatur zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, in: Ius Commune 21 (1994), S. 215–240; Bernhard Diestelkamp: Tendenzen und Perspektiven in der Erforschung der Geschichte des Reichskammergerichts, in: ders. (Hrsg.): Recht und Gericht im Heiligen Römischen Reich (Ius Commune. Sonderhefte, Bd. 122). Frankfurt a. M. 1999, S. 277–283; Siegrid Westphal: Zur Erforschung der Reichsgerichtsbarkeit – eine Zwischenbilanz, in: Jahrbuch der historischen Forschung in der Bundesrepublik Deutschland. Berichtsjahr 1999. München 2000, S. 15–22; dies./Stefan Ehrenpreis: Stand und Tendenzen der Reichsgerichtsforschung, in: Baumann/Westphal/Wendehorst/Ehrenpreis (Hrsg.): Prozeßakten als Quelle (wie Anm. 1), S. 1–13; Ralf-Peter Fuchs: The Supreme Court of the Holy Roman Empire: The State of Research and the Outlook, in: Sixteenth Century Journal 34 (2003), S. 9–27; Edgar Liebmann: Reichskammergericht und Reichshofrat in der historischen Forschung von 1866 bis zur Gegenwart, in: Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte 6 (2004/2005), S. 81–103; ders.: Reichs- und Territorialgerichtsbarkeit im Spiegel der Forschung, in: Anja Amend / Anette Baumann / Stephan Wendehorst / Siegrid Westphal (Hrsg.): Gerichtslandschaft Altes Reich. Höchste Gerichtsbarkeit und territoriale Rechtsprechung (QFHG, Bd. 52). Köln/Weimar/Wien 2007, S. 151–172. 7 Robert Riemer: Frankfurt und Hamburg vor dem Reichskammergericht. Zwei Handels- und Handwerkszentren im Vergleich (QFHG, Bd. 60). Köln/Weimar/Wien 2012.
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von Assessor Mathias Alber.⁸ Das Reichskammergericht ist ferner Gegenstand von Doktorschriften, die sich in den vergangenen Jahren mit Reformations-⁹ und Zunftprozessen,¹⁰ Streitigkeiten um Hoheitsrechte,¹¹ der Pfändungskonstitution der Reichskammergerichtsordnung von 1555,¹² der letzten Generation von Assessoren,¹³ dem Fiskal,¹⁴ den Ehaften des Hofgerichts Rottweil,¹⁵ dem Oberappellationsgericht Celle¹⁶ und der Sprache der Zeugen¹⁷ auseinandergesetzt haben. Das Reichskammergericht behandeln des Weiteren Studien, die sich der Rechtspolitik unter französischer Herrschaft,¹⁸ dem Humanismusideal und der Herrschaftspra-
8 Steffen Wunderlich: Das Protokollbuch von Mathias Alber. Zur Praxis des Reichskammergerichts im frühen 16. Jahrhundert (QFHG, Bd. 58), 2 Bde. Köln/Weimar/Wien 2011. 9 Tobias Branz: Reformationsprozesse am Reichskammergericht. Zum Verhältnis von Religionsfriedens- und Landfriedensbruchtatbeständen und zur Anwendung der Tatbestände in reichskammergerichtlichen Reformationsprozessen (Bochumer Forschungen zur Rechtsgeschichte, Bd. 8). Herzogenrath 2014; Wolfgang Friedrich: Territorialfürst und Reichsjustiz. Recht und Politik im Kontext der hessischen Reformationsprozesse am Reichskammergericht (Jus ecclesiasticum, Bd. 83). Tübingen 2008; Christian Vajen: Die rechtliche Anerkennung reformierter Reichsstände durch den Religionsfrieden vor Abschluß des Westfälischen Friedensvertrages. Eine Darstellung auf der Basis lippischer Reichskammergerichtsprozesse (Bochumer Forschungen zur Rechtsgeschichte, Bd. 1). Aachen 2006. 10 Philipp Nordloh: Kölner Zunftprozesse vor dem Reichskammergericht (Rechtshistorische Reihe, Bd. 370). Frankfurt a. M. u. a. 2008. 11 Kathrin Dirr: Hoheitsrechtliche Streitigkeiten zwischen den Kölner Erzbischöfen und der Stadt Köln auf Grundlage reichskammergerichtlicher Verfahren des 16. und 17. Jahrhunderts (Rechtshistorische Reihe, Bd. 313). Frankfurt a. M. u. a. 2005. 12 Miriam Katharina Dahm: Die Pfändungskonstitution gemäß RKGO 1555, Teil 2, Tit. XXII und ihr Verhältnis zum Landfrieden (Bochumer Forschungen zur Rechtsgeschichte, Bd. 4). Aachen 2008. 13 Eric-Oliver Mader: Die letzten „Priester der Gerechtigkeit“. Die Auseinandersetzung der letzten Generation von Richtern des Reichskammergerichts mit der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (Colloquia Augustana, Bd. 20). Berlin 2005. 14 Björn Alexander Rautenberg: Der Fiskal am Reichskammergericht. Überblick und exemplarische Untersuchungen vorwiegend zum 16. Jahrhundert (Rechtshistorische Reihe, Bd. 368). Frankfurt a. M. 2008. 15 Michael Jack: Die Ehafte des Hofgerichts Rottweil vor dem Reichskammergericht (Bochumer Forschungen zur Rechtsgeschichte, Bd. 6). Aachen 2012. 16 Stefan Andreas Stodolkowitz: Das Oberappellationsgericht Celle und seine Rechtsprechung im 18. Jahrhundert (QFHG, Bd. 59). Köln/Weimar/Wien 2011. 17 Matthias Bähr: Die Sprache der Zeugen. Argumentationsstrategien bäuerlicher Gemeinden vor dem Reichskammergericht (1693–1806) (Konflikte und Kultur, Bd. 26). Konstanz 2012. 18 Christine Petry: „Faire des sujets du roi“: Rechtspolitik in Metz, Toul und Verdun unter französischer Herrschaft (1552–1648) (Pariser historische Studien, Bd. 73). München 2006.
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xis am Niederrhein,¹⁹ dem Justiz- und Policeywesen des 18. Jahrhunderts,²⁰ der Aktenversendung,²¹ dem Wirken des Reichsgerichts in der Reichsstadt Wetzlar²² oder in Schwäbisch Hall²³ sowie seit kurzem der Rekatholisierung in den Hochstiften Würzburg und Bamberg²⁴ oder aber den Landständen in Hessen²⁵ widmen. Darüber hinaus bilden die Aktenbestände des Reichskammergerichts eine wichtige Quellengrundlage für Qualifikationsschriften mit vorwiegend landesgeschichtlicher Perspektive, wie sie in Beiträgen zum Historischen Atlas von Bayern zu finden sind. Mit dem überlieferten Aktenmaterial lassen sich hier vor allem strittige Fragen über landesherrliche Rechte und Jurisdiktionen in kleinräumigeren Herrschaftsgebieten nachvollziehen und einordnen.²⁶ Einige Arbeiten befassen sich darüber hinaus mit Fragestellungen, die die Überlieferung beider Reichsgerichte sowie der Territorialgerichte nutzen.²⁷
19 Elisabeth M. Kloosterhuis: Erasmusjünger als politische Reformer: Humanismusideal und Herrschaftspraxis am Niederrhein im 16. Jahrhundert (Rheinisches Archiv, Bd. 148). Köln/Weimar/ Wien 2006. 20 Christoph Schmelz: Die Entwicklung des Rechtswegestaates am Beispiel der Trennung von Justiz und Policey im 18. Jahrhundert im Spiegel der Rechtsprechung des Reichskammergerichts und des Wismarer Tribunals (Schriften zur Rechtsgeschichte, H. 117). Berlin 2004. 21 Karsten Alexander Hake: Juristenfakultäten, Aktenversendung und Reichskammergericht (Bochumer Forschungen zur Rechtsgeschichte, Bd. 7). Aachen 2013. 22 Sigrid Schieber: Normdurchsetzung im frühneuzeitlichen Wetzlar. Herrschaftspraxis zwischen Rat, Bürgerschaft und Reichskammergericht (Studien zur Policey und Policeywissenschaft). Frankfurt a. M. 2008. 23 Patrick Oelze: Recht haben und Recht behalten. Konflikte um die Gerichtsbarkeit in Schwäbisch Hall und seiner Umgebung (15.–18. Jahrhundert) (Historische Kulturwissenschaft, Bd. 16). Konstanz 2011. 24 Hanna Brommer: Rekatholisierung mit und ohne System: Die Hochstifte Würzburg und Bamberg im Vergleich (ca. 1555–1700). Göttingen 2014. 25 Tim Neu: Die Erschaffung der landständischen Verfassung. Kreativität, Heuchelei und Repräsentation in Hessen (1509–1655) (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne). Köln/Weimar/ Wien 2013. 26 Sarah Hadry: Neu-Ulm. Der Altlandkreis (Historischer Atlas von Bayern, Teil Schwaben, Reihe I, H. 18). München 2011; Annett Haberlah-Pohl: Münchberg. Der Altlandkreis (Historischer Atlas von Bayern, Teil Franken, Reihe I, H. 39). München 2011; Doris Pfister: Donauwörth. Der ehemalige Landkreis (Historischer Atlas von Bayern, Teil Schwaben, Reihe I, H. 17). München 2008; Günter Christ: Lohr am Main. Der ehemalige Landkreis (Historischer Atlas von Bayern, Teil Franken, Reihe I, H. 34). München 2007. Siehe demnächst auch Teresa Massinger: „Jemand muß doch die Landes-Hoheit . . . haben“. Herrschaftskonflikte im Altlandkreis Dinkelsbühl (Zugleich ein Beitrag zum Historischen Atlas von Bayern), Phil. Diss. Eichstätt 2014. 27 Britta Schneider: Fugger contra Fugger. Die Augsburger Handelsgesellschaft zwischen Kontinuität und Konflikt (1560–1597/98), Phil. Diss. Bamberg 2013 (in Druckvorbereitung für die Reihe „Studien zur Fuggergeschichte“); Andreas Flurschütz da Cruz: Zwischen Füchsen und Wölfen.
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Diese Reihe an Qualifikationsarbeiten wird in den kommenden Jahren eine Fortsetzung erfahren. Darauf verweist nicht nur der vorliegende Sammelband – die meisten Beiträge entspringen noch laufenden Promotionen oder noch ungedruckten Dissertationen –, sondern auch die hier nicht dokumentierten Doktorschriften, die entweder noch im Entstehen sind²⁸ oder demnächst gedruckt vorliegen werden.²⁹ Das Reichskammergericht ist aber nicht nur Gegenstand von zahlreichen Promotionen. Anja Amend-Traut, die über viele Jahre das Netzwerk mitleitete, legte ihre rechtshistorische Habilitationsschrift über Wechselverbindlichkeiten vor dem Reichskammergericht vor.³⁰ Ebenso habilitierte sich das ehemalige Vorstandsmitglied Peter Oestmann zu einem Thema aus dem Umfeld Reichsgerichtsbarkeit.³¹ Nicht zuletzt ist auf die Habilitation von Siegrid Westphal – ebenfalls langjähriges Vorstandsmitglied und nach wie vor aktive Unterstützerin des Netzwerks – hinzuweisen. Sie war eine der ersten, die beide Höchstgerichte gemeinsam betrachtete und damit eine Pionierleistung vorlegte.³²
Konfession, Klientel und Konflikte in der fränkischen Reichsritterschaft nach dem Westfälischen Frieden (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven, Bd. 29). Konstanz/München 2014; Thomas Ruppenstein: Aspekte der Herrschaftsverfassung des Hochstifts Bamberg im Wechselspiel zwischen Fürstbischof und Domkapitel vom Ende des 17. bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts (Arbeitstitel). 28 Siehe etwa die Arbeit von Tanja Brüggemann zum Thema „Zeremoniell und gerichtliche Förmlichkeiten vor den obersten Gerichten des Alten Reiches“ oder von Thorsten Süß zum Thema „Die Paderborner Obergerichtsbarkeit in der Frühneuzeit“ (Informationsgrundlage: http://www.jura.uni-muenster.de/go/organisation/institute/rechtsgeschichte/rg3/forschung/ dissertationen.html; abgerufen am: 31. 03. 2015). 29 Alexander Denzler: Über den Schriftalltag im 18. Jahrhundert. Die Visitation des Reichskammergerichts von 1767 bis 1776, Phil. Diss. Eichstätt 2012 (in Druckvorbereitung für die Reihe „Norm und Struktur“); Christian O. Schmitt: Säuberlich banquerott gemachet. Konkursverfahren aus Frankfurt am Main vor dem Reichskammergericht, Diss. iur. Würzburg (in Druckvorbereitung); Maria von Loewenich: Amt und Prestige. Die Kammerrichter in der ständischen Gesellschaft (1711–1806), Phil. Diss. Münster 2011. Josef Bongartz beschäftigt sich mit der Konfliktlösung in Würzburger Handels- und Gewerbesachen während der Frühen Neuzeit und in diesem Zusammenhang mit der Gerichtsbarkeit des Hochstifts Würzburg (laufendes Projekt an der Universität Würzburg, Betreuerin Anja Amend-Traut). 30 Anja Amend-Traut: Wechselverbindlichkeiten vor dem Reichskammergericht. Praktiziertes Zivilrecht in der Frühen Neuzeit (QFHG, Bd. 54). Köln/Weimar/Wien 2009. 31 Peter Oestmann: Rechtsvielfalt vor Gericht. Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich (Rechtsprechung. Materialien und Studien. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main, Bd. 18). Frankfurt a. M. 2002. 32 Siegrid Westphal: Kaiserliche Rechtsprechung und herrschaftliche Stabilisierung. Reichsgerichtsbarkeit in den thüringischen Territorialstaaten 1648–1806 (QFHG, Bd. 43). Köln/Weimar/ Wien 2002.
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Neben wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten waren es aber auch einfach nur informelle Begegnungen, die die Forschungen zur Reichsgerichtsbarkeit bereichert haben. So erfahren wir aus dem Vorwort des 62. Bandes der sogenannten Grünen Reihe, dass dieser seinen Anfang nahm „auf einen sommerlichen Gartenfest bei Albrecht Cordes“.³³ Allein dieser erste Blick auf die Forschungen zeigt, dass die Höchstgerichtsbarkeit nach wie vor ein sehr ertragreiches Forschungsfeld ist. In diesem Sinne kamen Allgemein- und Rechtshistoriker auch in den letzten Jahren zusammen, um sich etwa über die Höchstgerichte in Europa,³⁴ der Argumentationskultur der Juristen³⁵ oder dem medialen Charakter der höchsten Gerichte³⁶ auszutauschen. Es liegen daneben zwei Sammelbände vor, die die Rechts- und Gerichtslandschaft des Alten Reiches und der Reichsstadt Frankfurt zum Gegenstand haben.³⁷ Der auch mit diesem Sammelband dokumentierte Austausch von Allgemein- und Rechtshistoriker war, ist und bleibt also ein unerlässlicher, aber keineswegs selbstverständlicher Bestandteil der Forschungen. So war es 2003 auf der dritten Netzwerktagung möglich, interdisziplinär die Prozesspraxis, allen voran des Reichskammergerichts, zu betrachten. Die Spannweite der Untersuchungen reichte von normengeschichtlichen Zugängen über die minutiöse Rekonstruktion von Einzelfällen bis zur statistischen Auswertung abertausender Prozesse.³⁸ Letzterer Punkt verweist auf die im Jahr 1978 begonnene und 2008 förmlich beendete Inventarisierung der gut 70 000 Prozessakten des Reichs-
33 Ludolf Hugo: Vom Missbrauch der Appellation, eingeleitet und herausgegeben von Peter Oestmann, übersetzt von Bernd-Lothar von Hugo (QFHG, Bd. 62). Köln/Weimar/Wien 2012. 34 Leopold Auer / Werner Ogris / Eva Ortlieb (Hrsg.): Höchstgerichte in Europa. Bausteine frühneuzeitlicher Rechtsordnungen (QFHG 53). Köln/Weimar/Wien 2007. 35 Albrecht Cordes (Hrsg.): Juristische Argumentation – Argumente der Juristen (QFHG, Bd. 49). Köln/Weimar/Wien 2006. 36 Anja Amend-Traut / Anette Baumann / Stephan Wendehorst / Steffen Wunderlich (Hrsg.): Die höchsten Reichsgerichte als mediales Ereignis (baR, Bd. 11). München 2012. 37 Amend/Baumann/Wendehorst/Westphal (Hrsg.): Gerichtslandschaft Altes Reich (wie Anm. 1); Anja Amend / Anette Baumann / Stephan Wendehorst / Steffen Wunderlich (Hrsg.): Die Reichsstadt Frankfurt als Rechts- und Gerichtslandschaft im römisch-deutschen Reich (baR, Bd. 3). München 2008. 38 Anette Baumann / Peter Oestmann / Stephan Wendehorst / Siegrid Westphal (Hrsg.): Prozesspraxis im Alten Reich. Annäherungen, Fallstudien, Statistiken (QFHG, Bd. 50). Köln/Weimar/ Wien 2005.
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kammergerichts.³⁹ Der eigentliche (Mit)Initiator⁴⁰ und Förderer dieses Projekts sowie „Nestor moderner Reichskammergerichtsforschung“,⁴¹ Bernhard Diestelkamp, hat auch in der vergangenen Dekade mehrere Studien zum Reichskammergericht vorgelegt.⁴² Er hat überdies die dem Sammelband zugrunde liegende Tagung durch seine Diskussionsbeiträge und sein offenes Ohr für die Vorträge der Nachwuchswissenschaftler bereichert. Die rund 80 Inventarbände, die mittlerweile vorliegen,⁴³ können geradezu als Motor der Forschungen zum Reichskammergericht begriffen werden. So wurde etwa 2008 anlässlich der Veröffentlichung eines Inventarbandes vom Münchner Hauptstaatsarchiv, der unter dem Buchstaben „J“ vor allem die Prozessakten jüdischer Kläger führt, darauf hingewiesen, dass hier ein „noch weitgehend unbekannter Fundus an Quellen zur Erforschung der Rechtsgeschichte und der Lebenswelt der Juden“ vorliegt.⁴⁴ Dieser Fundus wurde in den letzten Jahren bearbeitet. So
39 Siehe hierzu den bilanzierenden Sammelband Friedrich Battenberg / Bernd Schildt (Hrsg.): Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozessakten. Bilanz und Perspektiven der Forschung (QFHG, Bd. 57). Köln/Weimar/Wien 2010. 40 Diestelkamp bezeichnet sich selbst nicht als Initiator. Dies entspräche nicht „der historischen Wahrheit [. . . ]. Richtig ist vielmehr nur, dass ich das Projekt von Anfang an und länger als alle anderen Beteiligten begleiten durfte“ (Bernhard Diestelkamp: Rückblick auf das Projekt zur Inventarisierung der Prozeßakten des Reichskammergerichts, in: Battenberg/Schildt (Hrsg.): Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozessakten [wie Anm. 39], S. 3–9, hier S. 3). 41 So die berechtigte Widmung des Sammelbandes Battenberg/Schildt (Hrsg.): Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozessakten (wie Anm. 39). 42 An Monographien sind zu nennen Bernhard Diestelkamp: Ein Kampf um Freiheit und Recht. Die prozessualen Auseinandersetzungen der Gemeinde Freienseen mit den Grafen zu Solms-Laubach. Köln/Weimar/Wien 2012 und ders.: Vom einstufigen Gericht zur obersten Rechtsmittelinstanz. Die deutsche Königsgerichtsbarkeit und die Verdichtung der Reichsverfassung im Spätmittelalter (QFHG, Bd. 64). Köln/Weimar/Wien 2014. An Aufsätzen sind u. a. zu nennen Bernhard Diestelkamp: Beobachtungen zur Schriftlichkeit im Kameralprozeß, in: Oestmann (Hrsg.): Zwischen Formstrenge und Billigkeit (wie Anm. 5), S. 105–115 und ders: Rückblick (wie Anm. 40). Siehe ferner die umfassende Edition Friedrich Battenberg / ders. (Hrsg.), bearbeitet von Christine Magin und Julia Maurer: Die Protokoll- und Urteilsbücher des Königlichen Kammergerichts aus den Jahren 1465 bis 1480. Mit Vaganten und Ergänzungen (QFHG, Bd. 44), 3 Bde. Köln/Weimar/Wien 2004 und daneben die Festschrift Nils Jörn / Haik Thomas Porada (Hrsg.): Lebenswelt und Lebenswirklichkeit des Adels im Ostseeraum. Festgabe zum 80. Geburtstag von Bernhard Diestelkamp (Schriftenreihe der David-Mevius-Gesellschaft, Bd. 5). Hamburg 2009. 43 Siehe hierzu neben Battenberg/Schildt (Hrsg.): Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozessakten (wie Anm. 39) die Datenbank zur „Erfassung und inhaltlichen Erschließung der Prozessakten des Reichskammergerichts“ unter http://www.jura.uni-wuerzburg.de/lehrstuehle/amend_ traut/forschungsprojekt_datenbank_hoechstgerichtsbarkeit/ (abgerufen am: 10. 08. 2014). 44 Monika Ruth Franz: Juden als Kläger vor dem Reichskammergericht, in: Münchner Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 1 (2008), S. 73f., hier S. 74.
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ist ein Sammelband zu „Kaiser und Reich in der jüdischen Lokalgeschichte“⁴⁵ erschienen. Er betrachtet, ebenso wie der Sammelband „Juden im Recht“,⁴⁶ die jüdische Lebenswelt im Spiegel der Prozessakten der beiden Höchstgerichte. Die Reichskammergerichtsakten dienen somit erfreulicherweise als Quellen für Forschungsfelder, die nicht unmittelbar mit der reichsgerichtlichen Tätigkeit zusammenhängen. Das heißt natürlich nicht, dass die Eigengeschichte der beiden Reichsgerichte, deren Organisation sowie das Verfahrensrecht nachrangige Forschungsfelder sind. Gerade die – es wird darauf zurückzukommen sein – praxeologische Analyse der Gerichtsorganisation steht noch aus. Und auch die im Umfeld der Gerichte agierenden Akteure bedürfen nach wie vor der Erforschung. Dies verdeutlichen die bereits vorliegenden Forschungen von Sigrid Jahns zu den Assessoren⁴⁷ und von Anette Baumann zu den Anwälten,⁴⁸ aber auch eine im Druck befindliche Arbeit über die Kammerrichter.⁴⁹ Daneben lohnt es sich nach wie vor, die Untertanen vor Gericht zu behandeln. Dies unterstreichen in diesem Sammelband Ulrich Hausmann und Thomas Schreiber, neben Stefan Xenakis. Erstgenannte legen einen Beitrag über Untertanensuppliken unter Kaiser Rudolf II. vor. Den Ausführungen liegt dabei ein internationales Forschungsprojekt zugrun-
45 Stefan Ehrenpreis / Andreas Gotzmann / Stephan Wendehorst (Hrsg.): Kaiser und Reich in der jüdischen Lokalgeschichte (baR, Bd. 7). München 2013. 46 Andreas Gotzmann / Stephan Wendehorst (Hrsg.): Juden im Recht. Neue Zugänge zur Rechtsgeschichte der Juden im Alten Reich (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 39), Berlin 2007. 47 Jahns: Das Reichskammergericht und seine Richter Teil I (wie Anm. 4); dies.: Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich, Teil II: Biographien, 2 Teilbde. (QFHG 26/2). Köln/Weimar/Wien 2003. 48 Anette Baumann: Das Reichskammergericht in Wetzlar und seine Prokuratoren, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung (künftig ZRG GA) 115 (1998), S. 474–497; dies: Advokaten und Prokuratoren in Speyer (1495–1690). Berufswege in der Frühen Neuzeit, in: ZRG GA 117 (2000), S. 550–565; dies: Anwälte am Reichskammergericht. Die Prokuratorendynastie Hofmann in Wetzlar (1693–1806) (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, H. 28). Wetzlar 2001; dies.: Die Prokuratoren am Reichskammergericht in Speyer und Wetzlar – Stand der Forschungen und Forschungsdesiderate, in: dies./Peter Oestmann / Stephan Wendehorst / Siegrid Westphal (Hrsg.): Reichspersonal. Funktionsträger für Kaiser und Reich (QFHG, Bd. 46). Köln/Weimar/Wien 2003, S. 179–197; dies: Die Prokuratoren am Reichskammergericht in den ersten Jahrzehnten seines Wirkens, in: Bernhard Diestelkamp (Hrsg.): Der Weg zur Gründung des Reichskammergerichts und die ersten Jahrzehnte seines Wirkens (1451–1527) (QFHG, Bd. 45). Köln/Weimar/Wien 2003, S. 161–196; dies: Advokaten und Prokuratoren. Anwälte am Reichskammergericht in Wetzlar (1690–1806) (QFHG, Bd. 51). Köln/Weimar/Wien 2006; dies: Die Advokaten und Prokuratoren am Reichskammergericht, in: Deutscher AnwaltsVerein e. V. (Hrsg.): Die Anwälte und ihre Geschichte. Zum 140. Gründungsjahr des Deutschen Anwaltsvereins. Berlin 2011, S. 23–39. 49 Loewenich: Amt und Prestige (wie Anm. 29).
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de, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung finanziert wird.⁵⁰ Neben einzelnen Qualifikationsarbeiten sind es insbesondere auch größere Projekte, die die Arbeiten zur Höchstgerichtsbarkeit voranbringen. Dies unterstreichen drei Bände der Grünen Reihe, die alle im Umfeld von DFG-Projekten entstanden sind.⁵¹ Erkenntnispotential birgt zudem der Vergleich der Höchstgerichte mit den territorialen Obergerichten. Gerade das von Stefan Stodolkowitz monographisch untersuchte Oberappellationsgericht Celle,⁵² welches auch im Rahmen dieses Sammelbandes behandelt wird, zeigt die Möglichkeit auf, die verschiedenen Gerichtsinstanzen vergleichend zu betrachten. Gleiches gilt für das Hofgericht Rottweil. Obgleich es 2012 mittels einer Doktorschrift eine rechtshistorische Analyse erfuhr,⁵³ kann Ulrike Schillinger in ihrem Beitrag deutlich machen, dass es sich lohnt, hier weiter zu forschen. Zu nennen sind ferner die geistlichen Gerichte, die der ehemalige leitende Netzwerker Peter Oestmann jüngst mit den weltlichen Gerichten verglichen hat⁵⁴ und die auf der letzten Netzwerktagung beispielhaft mit dem Freisinger Offizialat behandelt wurden.⁵⁵ Solche Zugriffe auf sehr unterschiedliche Gerichte ermöglichen es, das Wirken der Höchstgerichte breiter zu kontextualisieren.⁵⁶ Der Perspektivenerweiterung oder zumindest der Fundierung bestehender Perspektiven dient daneben die Vorgeschichte des Reichskammergerichts im 15. Jahrhundert, die in den letzten Jahren allen voran mit der Edition der Protokoll- und Urteilsbücher⁵⁷ eine neuerliche
50 Siehe hierzu die Online-Präsentation des Projektes unter http://www-gewi.uni-graz.at/ suppliken/kurzbeschreibung.html (abgerufen am: 25. 03. 2015). 51 Battenberg/Diestelkamp (Hrsg.): Die Protokoll- und Urteilsbücher (wie Anm. 42); Peter Oestmann: Ein Zivilprozeß am Reichskammergericht. Edition einer Gerichtsakte aus dem 18. Jahrhundert (QFHG, Bd. 55). Köln/Weimar/Wien 2009 und ders. (Hrsg.): Gemeine Bescheide. Teil 1: Reichskammergericht 1497–1805 (QFHG, Bd. 63/1). Köln/Weimar/Wien 2013. 52 Stodolkowitz: Oberappellationsgericht Celle (wie Anm. 16). 53 Jack: Ehafte des Hofgerichts Rottweil (wie Anm. 15). 54 Peter Oestmann: Geistliche und weltliche Gerichte im Alten Reich. Zuständigkeitsstreitigkeiten und Instanzenzüge (QFHG, Bd. 61). Köln/Weimar/Wien 2012. 55 Miriam Hahn und Duane Henderson haben auf der Tagung das DFG-Projekt „Eheprozesse vor dem Freisinger Offizialat im späten Mittelalter“ vorgestellt. Hierfür möchten wir uns an dieser Stelle nochmals bedanken. Da auf der Tagung lediglich erste Befunde präsentiert wurden, haben die Vortragenden von einer Publikation abgesehen. Siehe zum Projekt http://www.eheprozessefreisingeroffizialat.geschichte.uni-muenchen.de/index.html (abgerufen am: 08. 08. 2014). 56 Siehe neben den unter Anm. 28 bereits angeführten Studien die Arbeit von Josef Bongartz. Sie beschäftigt sich mit der Konfliktlösung in Würzburger Handels- und Gewerbesachen während der Frühen Neuzeit und in diesem Zusammenhang mit der Gerichtsbarkeit des Hochstifts Würzburg (laufendes Projekt an der Universität Würzburg, Betreuerin Anja Amend-Traut). 57 Battenberg/Diestelkamp (Hrsg.): Die Protokoll- und Urteilsbücher (wie Anm. 42).
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Beachtung erfuhr und die Daniel Luger gleichfalls in diesem Sammelband behandelt.⁵⁸ Anzuführen sind daneben drei weitere Editionen, die in den letzten Jahren erschienen sind: Zum einen liegt die bereits erwähnte Edition des Protokollbuchs von Mathias Alber vor.⁵⁹ Zum anderen hat, wie angedeutet, Peter Oestmann nicht nur die Gemeinen Bescheide des Reichskammergerichts ediert,⁶⁰ denen in absehbarer Zeit die Erlasse des Reichshofrats folgen sollen. Darüber hinaus hat der Münsteraner Rechtsprofessor 2009 die umfassende Edition einer Gerichtsakte herausgegeben.⁶¹ Hierzu gibt es ergänzend seit 2012 einen Leitfaden zur Arbeit mit den Akten.⁶² All diese Editionen ermöglichen einen unmittelbaren Zugang zu den Quellen des Reichskammergerichts. Und auch das 2004 von Anette Baumann vorgelegte Findbuch zu den gedruckten Relationen und Voten des Reichskammergerichts lädt dazu ein,⁶³ mit und über das Reichskammergericht zu forschen. Daran anknüpfend hat letztere jüngst 48 von ihr gefundene Sammlungen von Relationen und Voten der Richter aus dem 16. Jahrhundert in Form einer Datenbank erschlossen.⁶⁴ Die hier – gewiss nicht vollständig – angeführten Publikationen der letzten Jahre sowie die Beiträge dieses Sammelbandes verdeutlichen also, dass es weiterhin perspektivenreich ist, sich mit den Höchstgerichten, aber auch mit anderen Gerichtsinstanzen und Gerichtslandschaften zu beschäftigen. Dies unterstreicht, neben einem Sammelband über Adel und Gerichtsbarkeit,⁶⁵ die Schriftenreihe
58 Siehe daneben Diestelkamp: Vom einstufigen Gericht zur obersten Rechtsmittelinstanz (wie Anm. 42). 59 Wunderlich: Das Protokollbuch von Mathias Alber (wie Anm. 8). 60 Oestmann: Gemeine Bescheide (wie Anm. 51). 61 Ders.: Ein Zivilprozeß am Reichskammergericht (wie Anm. 51). 62 Ders./Wilfried Reininghaus: Die Akten des Reichskammergerichts. Schlüssel zur vormodernen Geschichte (Veröffentlichungen des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen, Bd. 44). Düsseldorf 2012. 63 Anette Baumann: Gedruckte Relationen und Voten des Reichskammergerichts vom 16. bis 18. Jahrhundert. Ein Findbuch (QFHG, Bd. 48). Köln/Weimar/Wien 2004. 64 http://www.jura.uni-frankfurt.de/53689561/Projekt-Richterprotokolle; http://www.reichs kammergericht.de/forschungsstelle.htm; http://data.rg.mpg.de/rkg/DFG02.mdb; http://data. rg.mpg.de/rkg/2014-06-22_Richterprotokolle_gesamt.pdf (abgerufen am: 19. 04. 2015). Die Einleitung und die Datenbank liegen auch in gedruckter Form sowie digital auf CD-ROM vor Anette Baumann: Die Gutachten der Richter – Ungedruckte Quellen zum Entscheidungsprozess am Reichskammergericht (1524–1627) (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, H. 43). Wetzlar 2015 (im Erscheinen). Die komplexe und umfangreiche Datenbank ist Bestandteil des Verbunds DARIAH (Digital Research Infrastructure for the Arts and Humanities), einem Projekt der EU – http://www.dariah.fr/contribution2015-ecole-d-ete-bdd-archives-judiciaires (abgerufen am: 20. 04. 2015). 65 Anette Baumann / Alexander Jendorff (Hrsg.): Adel, Recht und Gerichtsbarkeit im frühneuzeitlichen Europa (baR, Bd. 15), München 2014.
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der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung e. V.⁶⁶ sowie neben manchen Ausstellungen der letzten Jahre,⁶⁷ Carlo Steiner. Er setzt sich in diesem Sammelband mit der Berner Zivilrechtspraxis auseinander. Annemieke Romein wiederum beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der Vaterlandsargumentation, die in Gerichtsprozessen zu greifen ist. Sie untersucht damit Sprach- und Argumentationsmuster, wie sie zuletzt Mathias Bähr in seiner 2012 vorgelegten Studie behandelt hat.⁶⁸ Studien wie diese knüpfen an Forschungen an, die sich mit der Raum-, Zeitoder Gefühlswahrnehmung der Menschen auseinandersetzten. Eine derartige Wahrnehmungs- und Wissens- beziehungsweise, wie es Winfried Schulze formuliert hat, Bewusstseinsgeschichte⁶⁹ steht dabei pars pro toto für das seit langem bekannte Erkenntnispotential, welches in den Gerichtsakten liegt. So flossen bereits bei den „Arbeiten zu den Hexenprozessen [. . . ] geschlechtergeschichtliche und erfahrungs- sowie mentalitätsgeschichtliche Perspektiven mit ein.“⁷⁰ Das Wissen um dieses Erkenntnispotential ist freilich keine Selbstverständlichkeit. Umwelt- und Wirtschaftshistoriker arbeiten immer noch sehr selten mit den Gerichtsakten.⁷¹ Und wenn im Rezensionsportal „sehepunkte“ eine Rezension zur
66 Eine Übersicht der mittlerweile 42 Hefte ist unter http://www.reichskammergericht.de/ publikationen.htm (abgerufen am: 20. 04. 2015) einsehbar. 67 Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung e. V. (Hrsg.): Spott und Respekt – die Justiz in der Kritik, bearb. v. Anja Eichler / Eva Fußwinkel / Nadine Löffler (Katalog anlässlich der gleichnamigen Ausstellung Reichskammergerichtsmuseum 23. 09. 2010 bis 31. 01. 2011). Petersberg 2010; Anette Baumann / Anja Eichler (Hrsg.): Die Affäre Papius. Korruption am Reichskammergericht (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Reichskammergerichtsmuseum Wetzlar 02.06. bis 30. 09. 2012). Petersberg 2012; Anette Baumann / Anja Eichler / Stefan Xenakis: Augenscheine. Karten und Pläne vor Gericht (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Reichskammergerichtsmuseum Wetzlar 21. 11. 2014 bis 23. 01. 2015). Wetzlar 2014. 68 Bähr: Die Sprache der Zeugen (wie Anm. 17). 69 Ein kulturhistorisches Experimentierfeld par excellence: Gerichtsakten als Quelle. Möglichkeiten und Grenzen: Interview mit Prof. Dr. Winfried Schulze, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 3, Abschnitt 18, http://www.zeitenblicke.de/2004/03/interview/schulze.htm (abgerufen am: 10. 08. 2014). 70 Westphal/Ehrenpreis: Stand und Tendenzen der Reichsgerichtsforschung (wie Anm. 6), S. 9. 71 Inwieweit die Reichskammergerichtsprozesse als Quelle für die Umweltgeschichte dienen können, wurde bereits 2001 von Stefan Breit und Manfred Hörner im Rahmen der Otto-von-Freising-Tagung „Umweltgeschichte und Landesgeschichte in Bayern“ an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt erörtert (http://www.geschichte-bayerns.de/mailingliste/ geschichte-bayernsAlists.lrz-muenchen.de/msg00069.html; abgerufen am: 31. 03. 2015). Bezüglich der Wirtschaftsgeschichte ist auf folgenden Sammelband hinzuweisen: Anja Amend-Traut / Albrecht Cordes / Wolfgang Sellert (Hrsg.): Geld, Handel, Wirtschaft. Höchste Gerichte im Alten Reich als Spruchkörper und Institution (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu
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Studie von Matthias Bähr⁷² lediglich die Überschrift „Detailstudie zur Arbeit des Reichskammergerichts“ führt,⁷³ dann überdeckt dies jenes weitreichende Erkenntnispotential, welches mit dem vorliegenden Sammelband weiter ausgelotet wird. Darüber hinaus ist es gerade die sowohl epochenübergreifende als auch europäische Betrachtungsweise, die die Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit künftig bereichern kann.⁷⁴ Ein ertragreiches Forschungsfeld könnte hierbei, wie angedeutet, darin bestehen, aus einer praxeologischen Perspektive die Arbeitsweise vormoderner Gerichte vergleichend zu untersuchen. Eine solche Alltagsgeschichte der (außer-)europäischen Gerichtspraxis – so ließe sich etwa formulieren – könnte an die neuere Archiv-⁷⁵ und Verwaltungsgeschichte⁷⁶ anknüpfen. Und da es keine Praxis ohne Akteure gibt, wäre dies auch eine Möglichkeit, die bereits angeführten Forschungen zum Personal des Reichskammergerichts zu bündeln und zu erwei-
Göttingen. Neue Folge, Bd. 23). Berlin/Boston 2013. Mark Häberlein formulierte beispielsweise das Desiderat für handelsrechtliche Fragestellungen, die Überlieferung der Reichsgerichte als Quellen zu nutzen Mark Häberlein: Frühneuzeitliche Handelsgesellschaften zwischen Markt und Recht, in: Thomas M. J. Möllers (Hrsg.): Vielfalt und Einheit. Wirtschaftliche und rechtliche Rahmenbedingungen von Standardbildung (Schriften des Augsburger Center for Global Economic Law and Regulation, Bd. 19). Baden-Baden 2008, S. 127–147, hier S. 135. 72 Bähr: Die Sprache der Zeugen (wie Anm. 17). 73 Es handelt sich um eine Sammelrezension der Studien von Bähr: Die Sprache der Zeugen (wie Anm. 17) und Diestelkamp: Ein Kampf um Freiheit und Recht (wie Anm. 42), verfasst von Robert Riemer: Detailstudien zur Arbeit des Reichskammergerichts (Rezension), in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 11, http://www.sehepunkte.de/2013/11/22546.html (abgerufen am: 07. 08. 2014). 74 Siehe hierzu neben Auer/Ogris/Ortlieb (Hrsg.): Höchstgerichte in Europa (wie Anm. 34) jüngst Leopold Auer / Eva Ortlieb (Hrsg.): Appellation und Revision im Europa des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs, Jg. 3, Bd. 1). Wien 2013. Zum Reichskammergericht findet sich dort ein Beitrag von Bernd Schildt: Das Reichskammergericht als oberste Rechtsmittelinstanz im Reich, S. 67–86. Siehe ferner Ignacio Czeguhn / José Antonio López Nevot / Antonio Sánchez Aranda / Jürgen Weitzel (Hrsg.): Die Höchstgerichtsbarkeit im Zeitalter Karls V. Eine vergleichende Betrachtung (Schriftenreihe des Zentrums für rechtswissenschaftliche Grundlagenforschung, Bd. 4). Baden-Baden 2011. 75 Markus Friedrich: Die Geburt des Archivs. Eine Wissensgeschichte. München 2013. 76 Thomas Becker: Kulturtechniken der Verwaltung. Forschungsbericht. Speyer/Wien 2010. Online unter: http://www.bar.admin.ch/themen/01555/01556/index.html (abgerufen am: 07. 08. 2014); ders: Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Verwaltung, in: Jahrbuch für Europäische Verwaltungsgeschichte 15 (2003), S. 311–336; Stefan Haas: Verwaltungsgeschichte nach Cultural und Communicative Turn. Perspektiven einer historischen Implementationsforschung, in: Stefan Brakensiek / Corinna von Bredow / Birgit Näther (Hrsg.): Herrschaft und Verwaltung in der Frühen Neuzeit (Historische Forschungen, Bd. 101). Berlin 2014, S. 181–194, sowie insgesamt diesen Sammelband.
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tern, etwa – wie bereits vorgeschlagen⁷⁷ – mittels einer Datenbank. So könnte das „Reich der Juristen“⁷⁸ weitere Konturen gewinnen. Darüber hinaus stünde mit einer akteurszentrierten Geschichte der Gerichtspraxis auch jene Materialität im Fokus, für die sich die jüngere Forschung, vor allem nach den breiten Untersuchungen zur symbolischen Kommunikation,⁷⁹ vermehrt interessiert.⁸⁰ Schließlich werden derzeit intensiv die außergerichtlichen Möglichkeiten der Konfliktaustragung und Konfliktlösung untersucht;⁸¹ auch hierdurch eröffnen sich neue Perspektiven⁸² für die Erforschung der (Höchst-)Gerichtsbarkeit. Ausgehend von der Tatsache, dass die Gerichtsbarkeit in den Jahrhunderten, in denen keine Gewaltentrennung existierte, eng mit der Gesetzgebung sowie den politischen Herrschaftsträgern als Exekutivgewalten verbunden war, beschreitet nicht zuletzt Anette Baumann mit einem von ihr initiierten und 2013 begonnenen Projekt neue Wege. Die Rede ist vom DFG-Forschungsvorhaben „Speyer als Zentralort des Reiches – Speyer als juristischer und politischer Entscheidungsort“, in dem erstmals die Interaktion zwischen Reichstag und Gericht im Rahmen der Speyrer Visitationen untersucht wird.⁸³ Daneben ist es nicht zuletzt die immer breiter werdende Forschung zum Reichshofrat, die auch den Blick auf das „ständische“ Reichsgericht weiten wird. In die-
77 Bernd Schildt: Wandel in der Erschließung der Reichskammergerichtsakten. Vom gedruckten Inventar zur Online-Recherche in der Datenbank, in: Battenberg/ders. (Hrsg.): Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozessakten (wie Anm. 39), S. 35–60, hier S. 60. 78 So die Formulierung von Thomas Lau: Teutschland. Eine Spurensuche 1500 bis 1650. Stuttgart 2010, S. 136–147. 79 Siehe zum Gerichtswesen Reiner Schulze (Hrsg.): Symbolische Kommunikation vor Gericht in der Frühen Neuzeit (Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, Bd. 51). Berlin 2006. 80 Siehe hierzu etwa, neben Mark Häberlein / Christof Jeggle (Hrsg.): Materielle Grundlagen der Diplomatie. Schenken, Sammeln und Verhandeln im Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Konstanz/München 2013, die Sektion „Die Materialität der Geschichte. Dinge als Signaturen ihrer Epoche“ auf dem Historikertag zu Göttingen (23.–26. 09. 2014). Die Sektion wird vorgestellt unter http://www.historikertag.de/Goettingen2014/events/die-materialitaet-der-geschichte-dingeals-signaturen-ihrer-epoche (abgerufen am: 31. 03. 2015). 81 Gemeint ist der LOEWE-Schwerpunkt „Außergerichtliche und gerichtliche Konfliktlösung“. Siehe hierzu in diesem Sammelband den Beitrag von Stefan Xenakis. 82 Siehe zur Perspektivierung der Forschung auch Eva Ortlieb / Siegrid Westphal: Die Höchstgerichtsbarkeit im Alten Reich: Bedeutung, Forschungsentwicklung und neue Perspektiven, in: ZRG GA 123 (2006), S. 291–304 und Siegrid Westphal: Does the Holy Roman Empire Need a New Institutional History?, in: R. J. W. Evans / Michael Schaich / Peter H. Wilson (Hrsg.): The Holy Roman Empire 1495–1806 (Studies of the German Historical Institute London). Oxford 2011, S. 77–94. 83 http://gepris.dfg.de/gepris/projekt/243097442 sowie http://www.reichskammergericht.de/ forschungsstelle.htm (abgerufen am: 19. 04. 2015).
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sem Sinne lässt sich sagen: Das Reichskammergericht bleibt ein wichtiger, da breit etablierter und perspektivenreicher, jedoch keineswegs selbstverständlicher und vollständig beleuchteter Bestandteil der Forschung.⁸⁴
3 Der Reichshofrat: Stand und Perspektiven der Forschung Während die Reichskammergerichtsforschung – wie gezeigt – bereits über eine jahrzehntelange Forschungstätigkeit sowie eine nahezu abgeschlossene Erschließung der Akten verfügt, intensivieren sich die Forschungen zum Reichshofrat erst seit 15 bis 20 Jahren. Diese Tatsache erstaunt umso mehr, da der multifunktionale Reichshofrat spätestens ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in gewisser Hinsicht als das bedeutendere der beiden Reichsgerichte bezeichnet werden kann – ein Umstand, auf den die Frühneuzeitforschung zu Recht hinweist.⁸⁵ Für seine im Vergleich zum Reichskammergericht besondere Stellung sprechen mehrere Gründe. Zum einen ist der – sowohl geographisch als auch sachlich weiter ge-
84 Aus diesem Grund seien hier abschließend noch folgende Beiträge genannt: Anette Baumann: The Holy Roman Empire: the Reichskammergericht, in: Alain Wijffels/ C. H. (Remco) van Rhee (Hrsg.): European Supreme Courts. A portrait through history, London 2013, S. 96–103; Eva Ortlieb: Rechtssicherheit für Amtsträger gegen fürstliche Willkür? Die Funktion der Reichsgerichte, in: Christoph Kampmann / Ulrich Niggemann (Hrsg.): Sicherheit in der Frühen Neuzeit. Norm – Praxis – Repräsentation (Frühneuzeit-Impulse, Bd. 2). Köln/Weimar/Wien 2013, S. 622–637; Bernd Schildt: Das Reichskammergericht als oberste Rechtsmittelinstanz im Reich, in: Auer / Ortlieb (Hrsg.): Appellation und Revision (wie Anm. 74), S. 67–85; Siegrid Westphal: Reichskammergericht, Reichshofrat und Landfrieden als Schutzinstitute der Reichsverfassung, in: Thomas Simon / Johannes Kalwoda (Hrsg.): Schutz der Verfassung: Normen, Institutionen, Höchst- und Verfassungsgerichte (Der Staat, Beiheft 22). Berlin 2014, S. 13–37; dies.: Stabilisierung durch Recht. Reichsgerichte als Schiedsstelle territorialer Konflikte, in: Ronald Asch / Dagmar Freist (Hrsg.): Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Köln/Weimar/Wien 2005, S. 235–253. 85 Peter Oestmann: Rechtsverweigerung im Alten Reich, in: ZRG GA 127 (2010), S. 51–141, hier S. 67; Anette Baumann / Alexander Jendorff: Einleitung: Adelskultur(en) und Rechtskultur(en) in der Frühen Neuzeit als Problemzusammenhang, in: dies. (Hrsg.): Adel, Recht und Gerichtsbarkeit (wie Anm. 65), S. 9–30, hier S. 29; Tobias Schenk: Die Geschichte Brandenburg-Preußens und der Hohenzollern im Spiegel der Akten des kaiserlichen Reichshofrats. Ein Rundgang durch drei Jahrhunderte, in: Jürgen Luh (Hrsg.): Perspektivwechsel. Ein anderer Blick in die Geschichte Brandenburg-Preußens (Kulturgeschichte Preußens – Colloquien, Nr. 1), Absatz 12, URL: http://www. perspectivia.net/content/publikationen/kultgep-colloquien/1-2014/schenk_geschichte (abgerufen am: 24. 03. 2015).
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fasste – Zuständigkeitsbereich des Reichshofrats ausschlaggebend. So fungierte das Gremium als oberster Lehnshof, Hüter der kaiserlichen Reservatrechte, kaiserliches Beratungsgremium und nicht zuletzt als Reichsgericht. Zum anderen darf die alltägliche Nähe des kaiserlichen Rates zum Reichsoberhaupt nicht unterschätzt werden. Der Nimbus und die Autorität der (zumeist) habsburgischen Kaiser verschafften auch dem Reichshofrat Gewicht. Letzteres konnte – wie die Forschungen Volker Press’ verdeutlichten – insbesondere unter Leopold I. gefestigt und gesteigert werden.⁸⁶ Die Erforschung des Reichshofrats, die sich im Schatten des Reichskammergerichts jahrzehntelang eher bescheiden ausnahm, ist – das darf wohl, insbesondere mit vergleichendem Blick auf den Stand des ersten Netzwerkbandes von 2001, konstatiert werden – ein gutes Stück vorangekommen. In den letzten 15 Jahren ist ein erfreulicher Zuwachs an Arbeiten zu verzeichnen. Wenn Anette Baumann und Alexander Jendorff 2014 konstatieren, die Forschungen stünden „noch am Anfang“,⁸⁷ so mag dieses Bild bezogen auf die noch zu verzeichnenden und auszuwertenden Akten zutreffen, doch zeichnet sich ab, dass die Forschung die Potentiale, die die Reichshofratsakten bereithalten, wahrnimmt und perspektivisch noch stärker für die anhaltende Neubewertung des Alten Reiches nutzen wird. Die Forschung ruht gegenwärtig auf mehreren Säulen. Zwei zentrale Säulen stehen in Wien – dem Hauptsitz des Reichshofrats über Jahrhunderte hinweg. Zugleich ist Wien die Stadt, in der sich mit dem Österreichischen Staatsarchiv, Abteilung Haus-, Hof- und Staatsarchiv der Hüter des umfangreichen sowie inhaltlich bedeutsamen Reichshofratsarchivs befindet. Es ist Segen und Fluch gleichermaßen, dass die Überlieferung des Reichshofrats auf ein Archiv konzentriert ist. Segen insoweit, als es dem Forscher – anders als beim Reichskammergericht – erspart bleibt, diverse Archive zu konsultieren, wenn Fragestellungen jenseits von geographischen Zuordnungen sein Interesse bilden. Fluch, weil ein Archiv als Institution die Erschließung dieser Akten, die ungefähr die Dimension der Reichskammergerichtsüberlieferung erreichen,⁸⁸ allein schultern muss. Während mehrere Staatsund Landesarchive in Deutschland mit zahlreichen Archivaren die Erschließung 86 Volker Press: Die kaiserliche Stellung im Reich zwischen 1648 und 1740. Versuch einer Neubewertung, in: Johannes Kunisch (Hrsg.): Das Alte Reich. Ausgewählte Aufsätze von Volker Press (Historische Forschungen, Bd. 59). Berlin 1997, S. 189–222; ders.: Der Reichshofrat im System des frühneuzeitlichen Reiches, in: Friedrich Battenberg / Filippo Ranieri (Hrsg.): Geschichte der Zentraljustiz in Mitteleuropa. Festschrift für Bernhard Diestelkamp zum 65. Geburtstag. Weimar/ Köln/Wien 1994, S. 349–363. 87 Baumann/Jendorff: Einleitung: Adelskultur(en) und Rechtskultur(en) (wie Anm. 85), S. 11. 88 Man geht auch für den Reichshofrat von ca. 70–80 000 Gerichtsakten aus. Zuletzt Tobias Schenk: Wiener Perspektiven für die hessische Landesgeschichte: Die Akten des kaiserlichen Reichshofrats, in: Archivnachrichten aus Hessen 11/2 (2011), S. 4–8, hier S. 5. Leopold Auer schätzt
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der Reichskammergerichtsakten in den letzten vierzig Jahren vorangetrieben haben, bewerkstelligen gegenwärtig zwei Mitarbeiter des Erschließungsprojektes der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen diese Arbeit für den Reichshofrat allein. Damit ist die erste und stärkste Wiener Säule angesprochen: Das von Wolfgang Sellert geleitete Erschließungsprojekt der Reichshofratsakten.⁸⁹ Es handelt sich hierbei um ein an der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen angesiedeltes Langzeitprojekt, in dem bis zum Jahr 2025 zwei der elf Judizialserien des Reichshofrats wissenschaftlichen Kriterien entsprechend erschlossen werden. Verbunden ist diese Erschließungsarbeit zugleich mit einer Publikationstätigkeit der ehemaligen und derzeitigen Mitarbeiter. Als ehemalige Mitarbeiterin ist Eva Ortlieb zu nennen, die aufgrund zahlreicher Publikationen zum Reichshofrat als Expertin ausgewiesen ist.⁹⁰ Ferner hat Tobias Schenk – seit 2009 Mitarbeiter im Projekt – zahlreiche Veröffentlichungen vorgelegt, wobei er in verdienstvoller Weise den einen Umfang von ca. 50 000 bis 70 000 Fällen, „wobei die höhere Zahl eher den Tatsachen entsprechen dürfte“, ders.: Das Archiv des Reichshofrats und seine Bedeutung für die historische Forschung, in: Bernhard Diestelkamp / Ingrid Scheurmann (Hrsg.): Friedenssicherung und Rechtsgewährung. Sechs Beiträge zur Geschichte des Reichskammergerichts und der obersten Gerichtsbarkeit im alten Europa. Bonn/Wetzlar 1997, S. 117–130, hier S. 118. Ca. 70 000 Gerichtsakten nimmt auch Wolfgang Sellert: Vorwort, in: ders. (Hrsg.): Die Akten des Kaiserlichen Reichshofrats, Serie I: Alte Prager Akten, Bd. 1, A–D, bearb. von Eva Ortlieb. Berlin 2009, S. 7–17, hier S. 8, an. Die gesamte Schriftgutüberlieferung des Reichshofrats umfasst ca. 1,3 Regalkilometer und ca. 100 000 Akten, dazu zuletzt Tobias Schenk: Der Reichshofrat als oberster Lehnshof. Dynastie- und adelsgeschichtliche Implikationen am Beispiel Brandenburg-Preußens, in: Baumann / Jendorff (Hrsg.): Adel, Recht und Gerichtsbarkeit (wie Anm. 65), S. 255–294, hier S. 257. 89 Online-Informationen zum Erschließungsprojekt „Die Akten des Kaiserlichen Reichshofrats“ der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen unter http://reichshofratsakten.de/ (abgerufen am: 24. 08. 2014). Eine archivische Version der Erschließungsergebnisse ist abrufbar im Archivinformationssystem des Österreichischen Staatsarchivs http://www.archivinformationssystem.at/ suchinfo.aspx (abgerufen am: 24. 08. 2014). 90 Sie promovierte 2001 mit einer Abhandlung zum Reichshofrat. Eva Ortlieb: Im Auftrag des Kaisers. Die kaiserlichen Kommissionen des Reichshofrats und die Regelung von Konflikten im Alten Reich (1637–1657) (QFHG, Bd. 38). Köln/Weimar/Wien 2001. Ferner erschloss sie die Klägerbuchstaben A–O der Judizialserie Alte Prager Akten im Rahmen des Göttinger Erschließungsprojektes der Reichshofratsakten – Wolfgang Sellert (Hrsg.): Die Akten des Kaiserlichen Reichshofrats, Serie I: Alte Prager Akten, Bde. 1–3, A–O, bearb. von Eva Ortlieb. Berlin 2009–2012. Zudem legte sie zahlreiche Aufsätze zum Reichshofrat und dessen Gerichts- sowie Gratialtätigkeit vor, u. a. dies.: Die Formierung des Reichshofrats (1519–1564). Ein Projekt der Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Zusammenarbeit mit dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv, in: Amend/Baumann/Wendehorst/Westphal (Hrsg.): Gerichtslandschaft Altes Reich (wie Anm. 1), S. 17–25; dies.: Gnadensachen vor dem Reichshofrat (1519–1564), in: Auer/Ogris/dies. (Hrsg.): Höchstgerichte (wie Anm. 34), S. 177–202; dies.: Das Prozeßverfahren in der Formierungsphase des Reichshofrats, in: Oestmann (Hrsg.): Zwischen Formstrenge und
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Blick auf die wichtige, noch weiter einzulösende Verknüpfung von Reichs- und Landesgeschichte lenkt, indem er die Bedeutung des Reichshofrats für einzelne Territorien nicht nur hervorhebt, sondern auch empirisch durchmisst.⁹¹ Von den beiden Projektmitarbeitern Ulrich Rasche und Tobias Schenk wird gegenwärtig die Judizialserie Antiqua verzeichnet;⁹² die Erschließung der Serie Alte Prager Akten konnte 2014 abgeschlossen werden.⁹³ Die anderen neun Judizialserien, von denen etliche insbesondere Akten des 18. Jahrhunderts beinhalten, bleiben jedoch bis 2025 unberührt.⁹⁴ Ferner werden die Gratialakten⁹⁵ sowie die zum Reichshofratsarchiv gehörenden Sonderbestände,⁹⁶ die den über das Reichskammergericht hinausgehenden Kompetenzbereich des Reichshofrats widerspiegeln – nach gegenwärtigem Planungsstand – mit Abschluss des Erschließungsprojektes weiterhin unerschlossen im Magazin des Haus-, Hof- und Staatsarchivs ruhen.
Billigkeit (wie Anm. 5), S. 117–138; dies.: Reichshofrat und Reichskammergericht im Spiegel ihrer Überlieferung und deren Verzeichnung, in: Battenberg/Schildt (Hrsg.): Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozessakten (wie Anm. 39), S. 205–224; insgesamt siehe ihre Bibliographie unter http://www.rechtsgeschichte.at/index.php?article_id=20&clang=0 (abgerufen am: 24. 08. 2014). 91 Tobias Schenk: Reichsgeschichte als Landesgeschichte. Eine Einführung in die Akten des kaiserlichen Reichshofrats, in: Westfalen 90 (2012), S. 107–161; ders.: Das Alte Reich in der Mark Brandenburg. Landesgeschichtliche Quellen aus den Akten des kaiserlichen Reichshofrats, in: Jahrbuch für Brandenburgische Landesgeschichte 63 (2012), S. 19–71; ders.: Reichsjustiz im Spannungsverhältnis von oberstrichterlichem Amt und österreichischen Hausmachtinteressen. Der Reichshofrat und der Konflikt um die Allodifikation der Lehen in Brandenburg-Preußen (1717–1728), in: Amend-Traut/Cordes/Sellert (Hrsg.): Geld, Handel, Wirtschaft (wie Anm. 71), S. 103–219; ders.: Der Reichshofrat als oberster Lehnshof (wie Anm. 88). Weitere Veröffentlichungen unter http://reichshofratsakten.vweb12-test.gwdg.de/?page_id=211 (abgerufen am: 24. 08. 2014). 92 Bereits erschienen sind zwei Bände: Wolfgang Sellert (Hrsg.): Die Akten des Kaiserlichen Reichshofrats, Serie II: Antiqua, Bde. 1–2, Karton 1–144, bearb. von Ursula Machoczek und Ulrich Rasche. Berlin 2010–2014. 93 Wolfgang Sellert (Hrsg.): Die Akten des Kaiserlichen Reichshofrats, Serie I: Alte Prager Akten, Bde. 1–5, A–Z, bearb. von Eva Ortlieb und Tobias Schenk. Berlin 2009–2014. 94 Einen Einblick in die Tektonik der im Haus-, Hof- und Staatsarchiv verwahrten Reichsarchive gewährt das Archivinformationssystem des Österreichischen Staatsarchivs http://www. archivinformationssystem.at/detail.aspx?ID=17 (abgerufen am: 24. 08. 2014). 95 Hierzu gehören die Akten, die im Zusammenhang mit dem Lehnswesen stehen, im Rahmen der Privilegienerteilung und –bestätigung entstanden sind oder aus Gnadengesuchen resultieren. Vgl. dazu Leopold Auer / Eva Ortlieb: Die Akten des Reichshofrats und ihre Bedeutung für die Geschichte der Juden im Alten Reich, in: Gotzmann/Wendehorst (Hrsg.): Juden im Recht (wie Anm. 46), S. 25–38, hier S. 29. 96 Dazu gehören „insbesondere die 900 Bände umfassende Reihe der reichshofrätlichen Protokollbücher, aber auch das Fiskalarchiv und das Archiv der Plenipotenz in Mailand, Akten zum Münz-, Polizei-, Post- und Zollwesen im Reich oder die Überlieferung der kaiserlichen Bücherkommission“ (ebd., S. 28).
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Ausgeklammert bleibt ferner die Protokollüberlieferung des Reichshofrats, die eine bedeutende Quellengattung zur Beleuchtung der Geschäftsabläufe innerhalb des Reichshofrats darstellt. Dies gilt insbesondere für die Resolutionsprotokolle.⁹⁷ An der Hebung dieser Schätze beteiligt sich die zweite Wiener Säule – das Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien, dessen Institutsvorstand, Thomas Simon, sich mit Kooperationen aktiv an der Arbeit des Netzwerks beteiligt und auch auf diese Weise die Reichsgerichtsforschung fördert. Am Wiener Institut betreiben zwei Abteilungen drittmittelfinanziert Reichshofratsforschungen – einerseits die KRGÖ⁹⁸ und auf der anderen Seite das Projektcluster Jüdisches Heiliges Römisches Reich.⁹⁹ Letztgenanntes wird von Stephan Wendehorst, einem ehemaligen Vorstandsmitglied des Netzwerks, geleitet, und zu den laufenden Agenden gehört unter anderem die Erschließung der jüdischen Betreffe des Reichshofrats. Die an der KRGÖ betriebene Reichshofratsforschung ist eng verbunden mit Leopold Auer, dem ehemaligen Direktor des Haus-, Hof- und Staatsarchivs, sowie mit der bereits genannten Eva Ortlieb. Zu einem von der KRGÖ initiierten und geleiteten Vorhaben zählt unter anderem das Drittmittelprojekt „Appellationen an den Reichshofrat (1519–1740)“.¹⁰⁰
97 Zur Protokollüberlieferung siehe die Überblicksdarstellungen von Lothar Groß: Reichshofratsprotokolle als Quellen niederösterreichischer Geschichte, in: Jahrbuch für Landeskunde Niederösterreichs 26 (1936), S. 119–123; Barbara Staudinger: Die Resolutionsprotokolle des Reichshofrats als Quelle zur jüdischen Geschichte, in: Baumann/Westphal/Wendehorst/Ehrenpreis (Hrsg.): Prozeßakten als Quelle (wie Anm. 1), S. 119–140; dies.: Die Resolutionsprotokolle des Reichshofrates (RHR), in: Zeitenblicke 3 (2004), Nr. 3, [13. 12. 2004] (http://www.zeitenblicke.de/2004/03/ staudinger/index.html) (abgerufen am: 24. 08. 2014); Tobias Schenk: Die Protokollüberlieferung des kaiserlichen Reichshofrats im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, in: Wilfried Reininghaus / Marcus Stumpf (Hrsg.): Amtsbücher als Quellen der landesgeschichtlichen Forschung (= Westfälische Quellen und Archivpublikationen, Bd. 27). Münster 2012, S. 125–145. 98 Informationen zur Reichshofrats-Abteilung der KRGÖ an der Universität Wien unter http:// www.univie.ac.at/reichshofrat/ (abgerufen am: 24. 08. 2014). 99 Die Webpräsenz des Projektclusters finden Sie unter https://jhrr.univie.ac.at/ (abgerufen am: 24. 08. 2014). 100 http://www.univie.ac.at/reichshofrat/index.php?article_id=24{&}clang=0 (abgerufen am: 24. 08. 2014), Projektleitung und -betreuung: Hofrat Hon.-Prof. Dr. Leopold Auer sowie Dr. Eva Ortlieb. Folgende Publikationen sind aus dem Projekt bereits hervorgegangen: Ellen Franke: Bene appellatum et male iudicatum. Appellationen an den Reichshofrat in der Mitte des 17. Jahrhunderts an Beispielen aus dem Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreis, in: Auer / Ortlieb (Hrsg.): Appellation und Revision (wie Anm. 74), S. 121–145, online zugänglich unter http://hw.oeaw.ac.at/0xc1aa500d_0x002e3998.pdf (abgerufen am: 24. 08. 2014); dies.: Die Macht des Faktischen. Prozessuale Wirkung von unbeschränkten Appellationsprivilegien in der reichshofrätlichen Gerichtspraxis der Frühen Neuzeit, in: Kamila Staudigl-Ciechowicz / Philipp Klausberger / Ramon Pils / Philipp Scheibelreiter / Christoph Schmetterer (Hrsg.): recht [durch] setzen/
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Eine dritte Säule, die zusammenfassend beschrieben werden soll, ruht gleichfalls auf mehreren Schultern und resultiert aus verschiedenen Schulen. Nachdem Wolfgang Sellert sich in den 1960/70er mit seinen Reichshofratsforschungen qualifiziert hatte,¹⁰¹ trat in den 1980er und 1990er Jahren eine stetig wachsende Gruppe von Reichshofratsforschern mit Qualifizierungsarbeiten hervor. Von rechtshistorischer Seite sind die Sellert-Schüler Peter Jessen (1986)¹⁰² sowie Manfred Uhlhorn (1991)¹⁰³ zu nennen. Die Reihe geschichtswissenschaftlicher Arbeiten führte u. a. 1992 Gabriele Haug-Moritz mit ihrer Dissertation zum Württembergischen Ständekonflikt an.¹⁰⁴ Dazu gesellten sich 1999 Thomas Lau¹⁰⁵ und Martin Fimpel;¹⁰⁶ zu Beginn des neuen Jahrtausends folgten dann Monographien Schlag auf Schlag,
Making Things Legal. Gesetzgebung und prozessuale Wirklichkeit in den europäischen Rechtstraditionen (Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs, Jg. 3, H. 2). Wien 2013, S. 386–392; dies.: Küstrin – Speyer – Wien. „Ein Kampf um das Recht“ im 16. Jahrhundert – der Konflikt zwischen Markgraf Johann von Brandenburg(-Küstrin) und den Brüdern Borcke, in: Sascha Bütow / Peter Riedel / Uwe Tresp (Hrsg.): Das Mittelalter endet gestern. Heinz-Dieter Heimann zum 65. Geburtstag (Studien zur brandenburgischen und vergleichenden Landesgeschichte, Bd. 18). Berlin 2014, S. 160–185. Eine bei Ellen Franke derzeit in Arbeit befindliche Monographie wird das zentrale Ergebnis dieses Projektes sein. 101 In erster Linie ist seine Habilitationsschrift zu nennen: Wolfgang Sellert: Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte. Neue Folge, Bd. 18). Aalen 1973. Ferner ders.: Über die Zuständigkeitsabgrenzung von Reichshofrat und Reichskammergericht insbesondere in Strafsachen und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte. Neue Folge, Bd. 4). Aalen 1965. Zu den jüngeren Arbeiten Sellerts siehe die vom Erschließungsprojekt der Reichshofratsakten an der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen bereitgestellte Bibliographie unter http://reichshofratsakten.de/?page_id=25 (abgerufen am: 24. 08. 2014). 102 Peter Jessen: Der Einfluß von Reichshofrat und Reichskammergericht auf die Entstehung und Entwicklung des Oberappellationsgerichts Celle (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte. Neue Folge, Bd. 27). Aalen 1986. 103 Manfred Uhlhorn: Der Mandatsprozeß sine clausula des Reichshofrats (QFHG, Bd. 22). Köln/ Wien 1990. 104 Gabriele Haug-Moritz: Württembergischer Ständekonflikt und deutscher Dualismus. Ein Beitrag zur Geschichte des Reichsverbands in der Mitte des 18. Jahrhunderts (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B Forschungen, Bd. 122). Stuttgart 1992. 105 Thomas Lau: Bürgerunruhen und Bürgerprozesse in den Reichsstädten Mühlhausen und Schwäbisch Hall in der Frühen Neuzeit (Freiburger Studien zur Frühen Neuzeit, Bd. 4). Bern/ Berlin/Bruxelles/Frankfurt a M./New York/Wien 1999. 106 Martin Fimpel: Reichsjustiz und Territorialstaat. Württemberg als Kommissar von Kaiser und Reich im Schwäbischen Kreis (1648–1806) (Frühneuzeit-Forschungen, Bd. 6). Tübingen 2000.
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u. a. 2001 aus den Federn von Eva Ortlieb¹⁰⁷ und Barbara Staudinger,¹⁰⁸ Siegrid Westphal (2002),¹⁰⁹ Stefan Ehrenpreis (2006)¹¹⁰ und Sabine Ullmann (ebenfalls 2006).¹¹¹ Einige Vertreter dieser mittleren Reichshofratsgeneration überzeugten eigene Schüler von der Faszination der Reichshofratsakten und regten diese zu Qualifikationsarbeiten an. So stammt ein Teil der jüngsten Riege von Reichshofratsforschern und -forscherinnen aus der Schule von Gabriele Haug-Moritz. Zu nennen sind die Arbeiten von Verena Kasper-Marienberg¹¹² sowie Thomas Schreiber.¹¹³ Letzterer wirkt zusammen mit Ulrich Hausmann im Rahmen des bereits genannten, von Gabriele Haug-Moritz sowie Sabine Ullmann initiierten und geleiteten deutschösterreichischen Kooperationsprojekts.¹¹⁴ Zur jüngsten Generation können auch die Arbeiten der Schüler von Johannes Burkhardt und Barbara Stollberg-Rilinger gezählt werden. Hervorzuheben sind die Untersuchungen von Thomas Dorfner,¹¹⁵ David Petry¹¹⁶ sowie Fabian Schulze.¹¹⁷ Nicht zuletzt ist auf die bereits genannten Arbeiten aus der Schule Mark Häberleins hinzuweisen, die die Überlieferungen des
107 Ortlieb: Im Auftrag des Kaisers (wie Anm. 90). 108 Barbara Staudinger: Juden am Reichshofrat. Jüdische Rechtsstellung und Judenfeindschaft am Beispiel der österreichischen, böhmischen und mährischen Juden 1559–1670 (unveröff. Diss. phil. Univ. Wien). Wien 2001. 109 Westphal: Kaiserliche Rechtsprechung (wie Anm. 32). 110 Stefan Ehrenpreis: Kaiserliche Gerichtsbarkeit und Konfessionskonflikt. Der Reichshofrat unter Rudolf II. 1576–1612 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 72). Göttingen 2006. 111 Sabine Ullmann: Geschichte auf der langen Bank. Die Kommissionen des Reichshofrats unter Kaiser Maximilian II. (1564–1576) (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Bd. 214, Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches, Bd. 18). Mainz 2006. 112 Verena Kasper-Marienberg: „vor Euer Kayserlichen Mayestät Justiz-Thron“. Die Frankfurter jüdische Gemeinde am Reichshofrat in josephinischer Zeit (17651790) (Schriften des Centrums für Jüdische Studien, Bd. 19). Innsbruck/Wien/Bozen 2012. 113 Thomas Schreiber: Suppliken in den Alten Prager Akten des Reichshofrats. Kaiserbild und kaiserliche Gnadengewalt im 16. und frühen 17. Jahrhundert (unveröff. Diplomarbeit Univ. Graz). Graz 2010. 114 Siehe Anm. 50. 115 Thomas Dorfner: „Es kommet mit einem Reichs=Agenten haubtsächlich darauf an. . . “. Die Reichshofratsagenten und ihre Bedeutung für die Kommunikation mit dem und über den Reichshofrat (1658–1740), in: Amend-Traut/Baumann/Wendehorst/Wunderlich (Hrsg.): Die höchsten Reichsgerichte (wie Anm. 36), S. 97–111; ferner ist sein Beitrag in diesem Band zu nennen. 116 David Petry: Konfliktbewältigung als Medienereignis. Reichsstadt und Reichshofrat in der Frühen Neuzeit (Colloquia Augustana, Bd. 29). Berlin 2011. 117 Siehe seinen Beitrag in diesem Band.
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Reichskammergerichts und des Reichshofrats gleichermaßen in ihre Forschungen mit einbezogen haben und einbeziehen.¹¹⁸ Konnte also 2001 noch ein „Vorsprung“¹¹⁹ der Reichskammergerichtsforschung konstatiert werden, so ist gegenwärtig eine Verringerung dieses „Ungleichgewichts“¹²⁰ unverkennbar, was sich auch im vorliegenden Tagungsband ablesen lässt. Wo kann bzw. konnte die jüngere Reichshofratsforschung inhaltlich anschließen? Wo geht sie eigenständige Wege? Ein reichshofratstypisches Forschungsfeld bilden die kaiserlichen Lokalkommissionen, bei deren Erforschung in der Vergangenheit beachtenswerte Fortschritte erzielt werden konnten.¹²¹ Diese reichshofrätlichen Kommissionen, soweit sie eigenständig kaiserliche Gerichtsgewalt ausübten und nicht wie am Reichskammergericht innerhalb eines laufenden Verfahrens aktiv wurden, haben unsere Kenntnisse von der Funktionsfähigkeit des Reiches bereichert. So wurde unter anderem deutlich, dass dank dieser vom Kaiser angebotenen Ausschüsse die kaiserliche Präsenz im Reich (häufig unter Einbeziehung ausgewählter Reichsstände) gewahrt werden konnte – vor allem in Phasen, in denen andere Institutionen (wie bspw. der Reichstag oder das Reichskammergericht) nur eingeschränkt handlungsfähig waren. Nicht minder bemerkenswert ist der Fortschritt, der auf dem Gebiet der Erforschung der jüdischen Geschichte des Heiligen Römischen Reiches mit Bezug auf den Reichshofrat erzielt werden konnte. So hat dieses „lebendige Forschungsfeld“ einen nicht geringen Anteil an der Erforschung des Reichsgerichts,¹²² insbesondere mit Blick auf „Kaiser und Reich als bedeutende Bezugsgrößen jüdischer Lebenswelten“.¹²³ Letzteres schlägt sich insbesondere in der Vielzahl der gewährten Privilegien nieder, wofür naturgemäß der Reichshofrat zuständig war.¹²⁴
118 Siehe Anm. 27. 119 Siegrid Westphal / Stefan Ehrenpreis: Einleitung. Stand und Tendenzen der Reichsgerichtsforschung (wie Anm. 6), S. 1. 120 Ebd.; ebenso Auer/Ortlieb: Die Akten des Reichshofrats (wie Anm. 95), S. 28. 121 Siehe die Arbeiten von Eva Ortlieb (Anm. 90) sowie Sabine Ullmann (Anm. 111). 122 Vgl. hierzu die Rezension von Peter Rauscher zu Ehrenpreis/Gotzmann/Wendehorst (Hrsg.): Kaiser und Reich in der jüdischen Lokalgeschichte (wie Anm. 45) in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 7/8 [15. 07. 2013], URL: http://www.sehepunkte.de/2013/07/20026.html (abgerufen am: 24. 03. 2015). 123 Andreas Gotzmann / Stephan Wendehorst: Zwischen Kaiser, Landesherrschaft und Halacha: Zwischenräume als jüdische Rechts- und Handlungsspielräume, in: dies. (Hrsg.): Juden im Recht (wie Anm. 46), S. 1–8, hier S. 4. 124 Quellenmaterial findet sich hierzu u. a. in der Gratialserie des Reichshofrats, siehe dazu die Ausführungen von Auer/Ortlieb: Die Akten des Reichshofrats (wie Anm. 95), S. 32f. mit dem Verweis auf dazu durchgeführte Projekte und deren Ergebnisse.
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Hervorzuheben sind ferner die Forschungen zu den Agenten, deren offizielle Hauptaufgabe es war, als Prozessvertreter Schriftsätze zu unterschreiben und beim Reichshofrat einzureichen sowie Protokollauszüge einzuholen. Dass die Einhaltung dieser normativen Vorgabe (wie so häufig) mitnichten der Realität entsprach und eine unzulässige Verengung des Betätigungsfeldes der Agenten darstellen würde, haben zwei junge Nachwuchswissenschaftler erhellt. Sie fokussierten ihr Erkenntnisinteresse auf das Spannungsverhältnis zwischen den Reichshofratsagenten und dem Reichshofrat (als ihrem Dienstherrn) einerseits und ihren Klienten (als ihren Auftraggebern) auf der anderen Seite. So hat zum einen Thomas Dorfner verdeutlicht, dass „unter der Hand und im Vertrauen“ den Reichshofratsagenten eine bedeutende Rolle in reichshofrätlichen Verfahren zukam. Dorfner gelang es auf diese Weise, Schlaglichter auf die informellen Ebenen des reichshofrätlichen Geschäftsablaufs sowie auf die Netzwerke im Umfeld der Institution zu werfen, obgleich sich die sogenannten Hinterbühnen einer Institution aufgrund der diffizilen Quellenlage nur schwer fassen lassen.¹²⁵ Damit knüpft die Reichshofratsforschung an aktuelle Forschungsfelder der Frühneuzeit-Forschung an.¹²⁶ In diesem Zusammenhang ist des Weiteren auf die Forschungen von David Petry hinzuweisen. Er untersuchte in seiner Dissertation das Wechselspiel ausgewählter Reichsstädte (Nürnberg, Augsburg und Dinkelsbühl) mit dem Reichshofrat unter Karl VI.¹²⁷ Zwar verfolgte Petry die Mechanismen innerhalb der Reichshofratsagentie weniger als Dorfner, doch arbeiteten beide überzeugend heraus, welche Patronagenetze und familiären Beziehungen bei der Rekrutierung der Agenten wirkten und wie sie als Mittler zwischen den Prozessparteien und den Reichshofräten prozesslenkend agierten. Eine derart akteurszentrierte Perspektive nehmen auch die Forschungen zu den Untertanenkonflikten vor dem Reichshofrat ein, die gegenwärtig im bereits genannten Projekt „Untertanensuppliken am Reichshofrat in der Regierungszeit Kaiser Rudolfs II. (1576–1612)“¹²⁸ durchgeführt werden. Sie gehen der Problematik nach, inwiefern sich die Präsenz des Kaisers im Reich über „die sich in der kaiserlichen Gnadengewalt manifestierende autoritative Macht des Kaisers“¹²⁹ erhellen lässt. Dabei wird auf zentrale Fragen der Frühneuzeitforschung fokussiert, wie der „monarchischen Herrschaftsausübung [der Habsburger, E.F.] sowie deren institutionellen Kontexten“ und der Frage nach dem „frühneuzeitlichen
125 Vgl. seinen Beitrag in diesem Band sowie die in Anm. 115 angegebene Literatur. 126 Vgl. hierzu u. a. Stollberg-Rilinger: Die Frühe Neuzeit (wie Anm. 5), S. 3–11. 127 Siehe Anm. 116. 128 Siehe Anm. 50. 129 Siehe hierzu den Projektantrag der Antragstellerinnen, S. 2 unter http://www-gewi.uni-graz. at/suppliken/static/content/projektantrag.pdf (abgerufen am: 24. 08. 2014).
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Reich als politischem Kommunikations- und Handlungsraum“.¹³⁰ Im Vordergrund stehen mittelbare Untertanen, deren Suppliken dem Reichshofrat die Möglichkeit eröffneten, einerseits in reichsständische Landesherrschaften einzugreifen und andererseits der Autorität des Kaisers als oberstem Richter Geltung zu verschaffen. Wie dieses Wechselverhältnis kommunikativ ausgestaltet war und welche Rückschlüsse sich daraus auf die Funktionsfähigkeit des Reiches um 1600 ergeben – fernab von Top-down oder Bottom-up-Prägungen –, sind zentrale Fragen des Projekts. Zugleich vermag es, an die bereits von Eva Ortlieb durchgeführten Forschungen zur kaiserlichen bzw. reichshofrätlichen Gnadenpraxis¹³¹ anzuknüpfen und selbige zu erweitern. Weniger allgemein-, sondern mehr rechtshistorisch ausgerichtet sind die Fragen nach der reichshofrätlichen Prozesspraxis. So sind mit den Untersuchungen zum reichshofrätlichen Verfahren vergleichende Blicke auf reichskammergerichtliche Verfahren sowie die Prozessführung vor territorialen Höchstgerichten möglich.¹³² Letztere tragen dazu bei, das Wechselspiel zwischen Reichs- und Territorialebene, mithin wieder allgemeinhistorische Zugänge, zu erhellen. Zwar stehen diesbezügliche Forschungen noch am Anfang, doch wurde im Rahmen des an der KRGÖ der Universität Wien betriebenen Appellationenprojektes deutlich, dass sich das gerichtsförmige Verfahren vor dem Reichshofrat in der Appellationsinstanz von jenem vor dem Reichskammergericht nicht grundlegend unterschied. So konnten hinsichtlich des Appellationsverfahrens für die Mitte des 17. Jahrhunderts erstaunliche Parallelen herausgearbeitet werden, auch schufen wichtige normative Rechtsquellen für beide Reichsgerichte eine gemeinsame Basis zur Rechtsfindung. Zu nennen ist bspw. der Jüngste Reichsabschied von 1654.¹³³ Wenngleich der Forschungsstand zu diesem Zeitpunkt noch keine Synthesen erlaubt, so zeichnet sich doch mit voranschreitender Erforschung des reichshofrätlichen Verfahrens auf der Rechtsmittelebene ab, dass sich das herkömmliche Bild eines weniger formalisierten Reichsgerichts nicht für sämtliche Verfahrensarten und Zeiten seines Bestehens halten lassen wird. Dafür spricht auch die sich verfestigende Erkenntnis, dass das Verhältnis von Reichskammergericht und Reichshofrat weniger als Konkurrenz gesehen wer-
130 Ebd., S. 2 und 7. 131 Siehe Anm. 90 132 Hierzu Franke: Bene appellatum et male iudicatum (wie Anm. 100) sowie dies.: Rezension zu Stodolkowitz: Das Oberappellationsgericht Celle (wie Anm. 16), in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 5 [15. 05. 2012] – online unter http://www.sehepunkte.de/2012/05/20815.html (abgerufen am: 24. 08. 2014). 133 Franke: Bene appellatum et male iudicatum (wie Anm. 100), S. 126–137, insbesondere auch S. 139.
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den kann. Vielmehr handelte es sich um zwei parallel agierende, komplementäre Höchstgerichte „für jeweils spezifische Klientelgruppen“ und mit jeweils spezifischen Aufgabenbereichen.¹³⁴ Es lag somit ein Doppelangebot vor, ähnlich wie es in den Territorien mit den vorhandenen „Hofgerichten neueren Typs“¹³⁵ sowie den landesherrlichen Justizkanzleien üblich geworden war. In wichtigen Streitfällen riefen die Parteien sowohl die Wiener Hofburg als auch das Reichskammergericht an. Wie die Untertanen dieses Doppelangebot nutzten, ist jedoch nach wie vor eine noch zu erhellende Forschungsaufgabe – ebenso wie die generelle Frage, wer wann in welchem Ausmaß und zu welchen Zwecken den Reichshofrat nutzte. Daran schließen sich – insbesondere aus einem akteurszentrierten Blickwinkel – weitere Desiderate an, die einer Bearbeitung bedürfen.¹³⁶ Hervorzuheben sind Felder, auf denen der Reichshofrat die alleinige Zuständigkeit beanspruchte. Zu nennen sind unter anderem die Bücheraufsicht, die Standeserhebungen oder das Postwesen. Hinzuweisen ist ferner – und in diesem Bereich sollte fortan verstärkt geforscht werden – auf das Lehnswesen. Während sich in der zweiten Hälfte und insbesondere gegen Ende des 17. Jahrhunderts große Reichsstände anschickten, sich vom habsburgischen Kaiserhaus zu lösen, blieb das Lehnsband ein sehr bedeutsames Scharnier zwischen dem Kaiser und den Reichsständen. Der Reichslehnsnexus war sicherlich einer der wesentlichen Faktoren, der das Reich zusammenhielt.¹³⁷ Die Bedeutung des Kaisers als oberster Lehnsherr ist dabei von der Frühneuzeitforschung lange Zeit unterschätzt worden. Dem Lehnswesen wurde – anders als in der mediävistischen Zunft – nur noch ge-
134 Zuletzt Eva Ortlieb: Reichshofrat und Reichskammergericht im Spiegel ihrer Überlieferung und deren Verzeichnung, in: Battenberg/Schildt (Hrsg.): Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozessakten (wie Anm. 39), S. 205–224, hier S. 222–224; Westphal: Kaiserliche Rechtsprechung (wie Anm. 32), S. 6, 267; sich auf Siegrid Westphal beziehend Wolfgang Sellert: Vorwort, in: ders. (Hrsg.): Die Akten des Kaiserlichen Reichshofrats, Serie I, Bd. 1 (wie Anm. 88), S. 14, und Tobias Schenk: Ein Erschließungsprojekt für die Akten des kaiserlichen Reichshofrats, in: Archivar 63 (2010), S. 285–290, http://www.archive.nrw.de/archivar/hefte/2010/ausgabe3/Archivar_3_10. pdf (abgerufen am: 24. 08. 2014); ferner Wolfgang Sellert: Pax Europae durch Recht und Verfahren, in: Auer/Ogris/Ortlieb (Hrsg.): Höchstgerichte (wie Anm. 34), S. 97–114, hier S. 106, Anm. 56. 135 Siehe hierzu Heiner Lück: Die Kursächsische Gerichtsverfassung 1423–1550 (Forschungen zur Deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 17). Köln/Weimar/Wien 1997, S. 120, 275. Zum gesamten Themenkomplex auch Karl Kroeschell: recht unde unrecht der sassen. Rechtsgeschichte Niedersachsens. Göttingen 2005, S. 212. 136 Hinzuweisen ist an dieser Stelle auf ein von Anette Baumann, Albrecht Cordes sowie Luise Schorn-Schütte in Vorbereitung befindliches Projekt über die Interaktion von Reichskammergericht und Reichshofrat. Die Herausgeber danken Prof. Dr. Anette Baumann M.A. für die freundliche Mitteilung. 137 Vgl. hierzu den Call for Papers zur 13. Nachwuchstagung des Netzwerks Reichsgerichtsbarkeit vom 2./3. Oktober 2014.
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ringe Bedeutung beigemessen.¹³⁸ Mit der neu ausgerichteten Verfassungsgeschichte sowie den Neuansätzen einer Kulturgeschichte des Politischen Münsteraner Prägung werden zu Recht Perspektivwechsel eingeleitet. Als dafür einstehende Nachwuchswissenschaftler sind Thomas Dorfner sowie Clemens von der Heide zu nennen,¹³⁹ aber auch Tobias Schenk, der sich mit dieser Problematik jüngst befasst hat.¹⁴⁰ Die Untersuchung des frühneuzeitlichen Lehnswesens darf also als eines der fruchtbarsten, noch weiter zu bearbeitenden Felder bei der fortschreitenden Neubewertung des Alten Reiches betrachtet werden. Vor diesem Hintergrund versprechen die genannten – ausschließlich dem Reichshofrat zustehenden – Kompetenzen nicht nur Kenntniszuwachs im Bereich der „monarchischen Herrschaftsausübung“¹⁴¹ der Habsburger, sondern auch Einblicke in die nach wie vor noch stiefmütterlich behandelten Fragen zum Reichsbewusstsein der Untertanen. Mit dem Reichsbewusstsein der Untertanen wird erneut auf die akteurszentrierte Perspektive der aktuellen Frühneuzeitforschung hingewiesen, von der die Reichshofratsforschung nicht nur profitiert, sondern zu der sie bislang unerschöpftes Material beisteuern kann. Der multifunktionale Reichshofrat übte mittels Gerichts-, Verwaltungs- und Beratungstätigkeit direkte Herrschaft über die reichsunmittelbaren Untertanen aus. Auf diese Weise war er Gewährsmann für den Frieden zwischen den Reichsständen, aber auch innerhalb der Landesherrschaften (und damit im ganzen Reich). Folglich war das Gremium auch zugleich ein wichtiger Bezugspunkt für mittelbare Untertanen.¹⁴² Denn Herrschaft basiert einerseits auf formeller Autorität und deren institutioneller Umsetzung.¹⁴³ Andererseits aber – und dies ist die Kehrseite ein und derselben Me-
138 Schenk: Der Reichshofrat als oberster Lehnshof (wie Anm. 88), S. 260f. 139 Siehe hierzu das Tagungsprogramm der 13. Nachwuchstagung des Netzwerks Reichsgerichtsbarkeit vom 2./3. Oktober 2014 (https://blognetzwerkreichsgerichtsbarkeit.files. wordpress.com/2014/08/13-nachwuchstagung-des-netzwerks-reichsgerichtsbarkeit_ programm_web.pdf, abgerufen am: 24. 03. 2015) sowie den Tagungsbericht von Clemens von der Heide unter http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5725?title= was-das-reich-zusammenhielt-das-verhaeltnis-von-reichs-und-territorialgerichtsbarkeit-imheiligen-roemischen-reich-13-nachwuchstagung-des-netzwerks-reichsgerichtsbarkeit&recno= 3&q=&sort=&fq=&total=5520 (abgerufen am: 24. 03. 2015). 140 Schenk: Der Reichshofrat als oberster Lehnshof (wie Anm. 88). 141 Siehe hierzu den Projektantrag für das Projekt „Untertanensuppliken am Reichshofrat in der Regierungszeit Kaiser Rudolfs II. (1576–1612)“ unter http://www-gewi.uni-graz.at/suppliken/ static/content/projektantrag.pdf (abgerufen am: 24. 08. 2014). 142 Vgl. sowohl das Projekt „Appellationen an den Reichshofrat (1519–1740)“ (wie Anm. 100) sowie das Projekt „Untertanensuppliken am Reichshofrat in der Regierungszeit Kaiser Rudolfs II. (1576–1612)“ (wie Anm. 50). 143 Aufschlussreich Stollberg-Rilinger: Die Frühe Neuzeit – eine Epoche (wie Anm. 5).
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daille – setzt Herrschaft die Akzeptanz durch die Beherrschten, deren Kooperation sowie die Einhaltung informeller Regeln voraus. In diesem dynamischen Kräftefeld waren die politischen Akteure auf der jeweiligen ständischen Hierarchieebene im Kampf um Herrschaft über „Land und Leute“ mit dem unauflösbaren Gegensatz von Machtzugriffsnotwendigkeit einerseits sowie Konsensdruck andererseits konfrontiert. In diesem Kampf waren Kaiser und Reich für zahlreiche Untertanen die letzte Instanz. Diese Verzahnung, diese Konkurrenzen sowie die daran beteiligten Akteure unter Berücksichtigung der jeweiligen Zeitumstände zu erforschen, stellt eine der großen Herausforderungen der Frühneuzeit- und Reichshofratsforschung dar und könnte zugleich der zu Recht stets eingeforderten Verknüpfung von Reichsund Landesgeschichtsforschung starke neue Impulse verleihen.¹⁴⁴ Nicht zuletzt ist das „Rekrutierungssystem des Kaiserhofes für die Besetzung der einzelnen Stellen“¹⁴⁵ nach wie vor – wie schon 2001 beklagt – weitgehend unklar, insbesondere mit Blick auf das höchste Amt, dem des Reichshofratspräsidenten und dessen Verflechtungen am kaiserlichen Hof.¹⁴⁶ In diesem Zusammenhang stehen Fragen nach der Loyalität der Reichshofräte gegenüber ihrem kaiserlichen Dienstherrn ebenso im Vordergrund wie die Wahrnehmung eigener Hausmachtund Standesinteressen im Zuge der Reichshofratstätigkeit. Erste biographische Einblicke in derartige Vorgänge lassen sich den detailreichen Studien von Kathrin Rast am Beispiel des Reichshofratsvizepräsidenten Johann Heinrich Notthafft Reichsgraf von Wernberg (1604–1665) entnehmen.¹⁴⁷ Diese Befunde müssen durch weitere
144 Zuerst Peter Moraw / Volker Press: Probleme der Sozial- und Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit (13.–18. Jahrhundert). Zu einem Forschungsschwerpunkt, in: Zeitschrift für Historische Forschung 2 (1975), S. 95–108; ferner u. a. der Sammelband von Rolf Kiessling / Sabine Ullmann (Hrsg.): Das Reich in der Region während des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Forum Suevium, Bd. 6). Konstanz 2005; Tobias Schenk: Das Alte Reich in der Mark Brandenburg. Landesgeschichtliche Quellen aus den Akten des kaiserlichen Reichshofrats, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 63 (2012), S. 19–71, hier S. 20f.; Gabriele Haug-Moritz: Was heißt „Reichs- und Landesgeschichte verbinden“? Zur fortdauernden Aktualität eines alten Forschungspostulats, in: Dieter Bauer / Dieter Mertens / Wilfried Setzler (Hrsg.): Netzwerk Landesgeschichte. Gedenkschrift für Sönke Lorenz (Tübinger Bausteine zur Landesgeschichte, Bd. 21). Ostfildern 2013, S. 17–30. Siehe hierzu auch das von Anette Baumann seit 2013 durchgeführte Projekt „Speyer als Zentralort des Reiches – Speyer als juristischer und politischer Entscheidungsort“ (wie Anm. 83), das ebenfalls darauf zielt, Reichsund Landesgeschichte stärker miteinander zu verzahnen. 145 Westphal/Ehrenpreis: Stand und Tendenzen der Reichsgerichtsforschung (wie Anm. 6), S. 3. 146 Ebd., S. 3f. Damit könnte auch der Geheime Rat in den Fokus der Forschung gelangen, denn sowohl die Reichshofratspräsidenten als auch die -vizepräsidenten gehörten qua Amt diesem Gremium an. 147 Kathrin Rast: Nutzung und Inanspruchnahme des Reichshofrats durch adlige Mitglieder der Herrenbank am Beispiel des Vizepräsidenten Johann Heinrich Notthafft Reichsgraf von Wern-
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Einzeluntersuchungen ergänzt werden, um perspektivisch eine Vergleichsbasis zu schaffen, die längerfristig verallgemeinernde Aussagen ermöglichen dürfte. Zusammengenommen bergen sowohl die Akten des Reichshofrates als auch jene des Reichskammergerichts nach wie vor ein hohes Forschungspotential. Forschungen, die beide Reichsgerichte gar als Doppelangebot in den Blick nehmen, stehen allerdings noch am Anfang. Mit Blick auf die skizzierte Forschungstradition und das Thema des vorliegenden Sammelbandes lässt sich abschließend also festhalten, dass die Prozessakten nach wie vor unerschöpftes Material in Bezug auf die Akteure (Parteien und Partikularinteressen) bereithalten. Zugleich darf auf die Vitalität der Höchstgerichtsforschung hingewiesen werden, von der auch der vorliegende Sammelband zeugt. Die vielfältigen Gerichtsakten bieten ein reichhaltiges Reservoir an Quellenmaterial, an das stets neue Forschungsimpulse, aktuelle Fragestellungen und multiperspektivische Zugangsweisen herangetragen und empirisch durchmessen werden können. Auf diese Weise sind interdisziplinäre Theoriekonzepte und innovative Methodenvielfalt zu einem Wegbereiter und selbstverständlichen Wegbegleiter der Höchstgerichtsforschung geworden. Daraus erklärt sich die ungebrochene Faszination der Geschichts- und Rechtswissenschaft für dieses Material. Die Forschung auf diesem Weg ein Stück weit zu begleiten, Nachwuchswissenschaftler für die faszinierenden Prozessakten zu gewinnen und damit zur Vitalität der Höchstgerichtsforschung weiter beizutragen, ist ein Kernanliegen des Netzwerks Reichsgerichtsbarkeit. Darüber hinaus bleibt es Aufgabe, Nachwuchswissenschaftler über Fächergrenzen hinweg zu vernetzen, mit den Experten generationenübergreifend ins Gespräch zu bringen und auf diese Weise den fachlichen Austausch zu befördern. Um die Vernetzung auch im Internetzeitalter komfortabel zu gestalten, wurde unter www.netzwerk-reichsgerichtsbarkeit.de eine neue Webpräsenz eingerichtet, die das Netzwerk digital abbilden und über dessen Arbeit informieren soll. Auf diese Weise erhält jeder, der über die Reichsgerichte oder andere Höchstgerichte inner- und außerhalb Europas forscht, Gerichtsakten als Quelle nutzt oder Auskünfte über die Reichsgerichtsbarkeit benötigt, wichtige Informationen.
berg (1604–1665), in: Baumann / Jendorff (Hrsg.): Adel, Recht und Gerichtsbarkeit (wie Anm. 65), S. 295–330.
Daniel Luger
Eine bislang unbeachtete Quelle zur Reichsgerichtsbarkeit im 15. Jahrhundert Prolegomena zur Edition des königlichen Gerichtsbuchs (1442–1451)
1 Forschungsstand „Was ist [. . . ] Fortführung des Mittelalters und was weist in die Neuzeit?“¹ In zahlreichen Studien zur spätmittelalterlichen Höchstgerichtsbarkeit im römisch-deutschen Reich steht die Frage nach Kontinuität und Wandel am Übergang zur Frühen Neuzeit mehr oder weniger explizit im Zentrum der Untersuchung.² Dies gilt insbesondere für das königliche Kammergericht, das sich nach dem Verschwinden des Hofgerichts um die Mitte des 15. Jahrhunderts zum möglicherweise wichtigsten Herrschaftsinstrument Kaiser Friedrichs III. überhaupt entwickelte.³ Dennoch stand die Erforschung des königlichen Kammergerichts – wohl hauptsächlich aufgrund der disparaten Quellenüberlieferung – lange Zeit im Schatten des im
1 Bernhard Diestelkamp: Vom Königlichen Hofgericht zum Reichskammergericht. Betrachtungen zu Kontinuität und Wandel der höchsten Gerichtsbarkeit am Übergang zur frühen Neuzeit, in: Gerhard Dilcher / Bernhard Diestelkamp (Hrsg.): Recht, Gericht, Genossenschaft und Policey. Studien zu Grundbegriffen der germanistischen Rechtshistorie. Symposion für Adalbert Erler. Berlin 1986, S. 44–64, hier S. 44. 2 Siehe zuletzt Bernhard Diestelkamp: Vom einstufigen Gericht zur obersten Rechtsmittelinstanz. Die deutsche Königsgerichtsbarkeit und die Verdichtung der Reichsverfassung im Spätmittelalter (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, künftig: QFHG, Bd. 64). Köln/Weimar/Wien 2014 mit weiteren Literaturangaben. Vgl. auch die älteren Studien zum Kammergericht: Otto Franklin: Das königliche Kammergericht vor dem Jahre 1495. Berlin 1871; Johann Lechner: Reichshofgericht und königliches Kammergericht im 15. Jahrhundert, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung Ergänzungs-Bd. 7 (1907), S. 44–186; Johann Adolf Tomaschek: Die höchste Gerichtsbarkeit des deutschen Königs und Reiches im XV. Jahrhundert, in: Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse 49, 3 (1865), S. 521–612. 3 Paul-Joachim Heinig: Kaiser Friedrich III. und Hessen, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 32 (1982), S. 63–101, hier S. 100. Vgl. auch Christine Reinle: Zur Gerichtspraxis Kaiser Friedrichs III, in: Paul-Joachim Heinig (Hrsg.): Kaiser Friedrich III. (1440–1493) in seiner Zeit. Studien anlässlich des 500. Todestags am 19. August 1493/1993 (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu Johann Friedrich Böhmer Regesta Imperii, künftig: FKPG, Bd. 12). Köln/Weimar/Wien 1993, S. 317–353.
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Zuge der Reichsreform von 1495 gegründeten und von der neueren Forschung umfassend untersuchten Reichskammergerichts.⁴ Neue Impulse erhielt die Forschung zum königlichen Kammergericht unter Kaiser Friedrich III. durch die in den 1960er Jahren fortgesetzte Edition der „Deutschen Reichstagsakten“ des 15. Jahrhunderts sowie nicht zuletzt durch das seit dem Jahr 1982 laufende, höchst ertragreiche Unternehmen der „Regesta Imperii – Regesten Kaiser Friedrichs III. (1440–1493)“, im Zuge dessen bislang über 10 000 Urkunden dieses Herrschers – darunter zahlreiche Iudicialia – in 28 Bänden nach dem Provenienzprinzip publiziert wurden.⁵ Außerdem ist an dieser Stelle insbesondere auf die fundamentale Edition der „Protokoll- und Urteilsbücher des königlichen Kammergerichts Friedrichs III. aus den Jahren 1465 bis 1480“ zu verweisen, die in den Jahren 1997 bis 2001 im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts erarbeitet und im Jahr 2004 von Friedrich Battenberg und Bernhard Diestelkamp herausgegeben wurde.⁶ Auf dieser erweiterten Quellengrundlage konnte die Forschung die bisher als tiefer Einschnitt interpretierte Neuorganisation der Reichsgerichtsbarkeit im Jahr 1495 neu bewerten sowie den Blick auf einige zentrale Aspekte der Kammergerichtsbarkeit Friedrichs III. schärfen. Nachdem das im Hochmittelalter entstandene Hofgericht um die Mitte des 15. Jahrhunderts verschwunden war, erfuhr das bereits für die Regierungszeit König Wenzels zu belegende königliche Kammergericht unter Kaiser Friedrich III. eine zunehmende Verfestigung, stellte allerdings wie das ältere Hofgericht keine von den politischen Gewalten unabhängige, eigenständige Institution dar, sondern blieb weiterhin eng an die Person des Herrschers sowie seinen wandernden Hof gebunden.⁷ Vermehrt kamen im königlichen Kammergericht studierte Juristen zum Einsatz, die zusammen mit adeligen Räten als Beisitzer
4 Siehe etwa Bernhard Diestelkamp (Hrsg.): Das Reichskammergericht. Der Weg zu seiner Gründung und die ersten Jahrzehnte seines Wirkens (1451–1527) (QFHG, Bd. 45). Köln/Weimar/Wien 2003; ders.: Vom Königlichen Hofgericht (wie Anm. 1), S. 44–64. 5 Siehe zuletzt Paul-Joachim Heinig / Christian Lackner / Alois Niederstätter (Hrsg.): Regesten Kaiser Friedrichs III. (1440–1493) nach Archiven und Bibliotheken geordnet, H. 28: Die Urkunden und Briefe aus den Archiven und Bibliotheken der Stadt Nürnberg, Teil 3: 1456–1463, bearbeitet von Dieter Rübsamen. Wien/Köln/Weimar 2013; Johannes Helmrath (Hrsg.): Deutsche Reichstagsakten, Ältere Reihe, Bd. 19, Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Friedrich III., 5. Abteilung, Teil 2. München 2013; Gabriele Annas (Hrsg.): Deutsche Reichstagsakten, Ältere Reihe, Bd. 19, Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Friedrich III., 5. Abteilung, Teil 3. München 2013. 6 Friedrich Battenberg / Bernhard Diestelkamp (Hrsg.): Die Protokoll- und Urteilsbücher des Königlichen Kammergerichts aus den Jahren 1465 bis 1480 mit Vaganten und Ergänzungen, bearbeitet von Claudia Helm, Christine Magin, Julia Maurer und Christina Wagner (QFHG, Bd. 44). Köln/ Weimar/Wien 2003. 7 Diestelkamp: Vom einstufigen Gericht (wie Anm. 2), S. 55–152.
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fungierten, während als Richter entweder der König beziehungsweise Kaiser selbst oder von ihm eingesetzte Kammerrichter tätig wurden. Die wichtigste Differenz zwischen Hof- und Kammergericht lag vermutlich in den strukturell abweichenden Verfahrensregeln und den daraus resultierenden Methoden der Rechtsfindung bzw. Rechtsanwendung. Zudem hatte das königliche Kammergericht im Gegensatz zum älteren Hofgericht keine eigene Kanzlei. Der anfallende Schriftverkehr wurde durch einzelne, meist juristisch ausgebildete und auf Kammergerichtsagenden spezialisierte Mitarbeiter in der römischen Kanzlei Friedrichs III. erledigt.⁸ Hinsichtlich der Frage nach Schriftlichkeit und Aktenverwaltung des königlichen Kammergerichts hat die Forschung angesichts der breiter werdenden Quellenbasis ab dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts eine zunehmend intensiver und differenzierter geführte Produktion von Prozessschriftgut konstatiert.⁹ Denn während die Analyse der Reichsgerichtsbarkeit vor der Regierungszeit Kaiser Friedrichs III. beinahe ausschließlich auf urkundliche Quellen angewiesen ist, die im Zusammenhang mit Gerichtsprozessen ausgestellt wurden, stehen für Forschungen zum Kammergericht in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zunehmend umfangreichere und vielfältigere Quellenbestände zur Verfügung. Neben zahlreichen, als einzelne Blätter überlieferten Urkundenkonzepten, Protokollen und Prozessakten sind hier vor allem ein von April 1467 bis Dezember 1468 geführtes Gerichtsbuch, ein Urteilsbuch für die Jahre 1471 bis 1474 sowie ein Protokollbuch mit Aufzeichnungen zu Sitzungen des königlichen Kammergerichts in den Jahren 1465 bis 1480 zu nennen.¹⁰ Diese zunehmende Verschriftlichung der Gerichtsprozesse vor dem Kammergericht wird von der neueren Forschung mit der Verpachtung des Gerichtsbetriebes durch den Kaiser an den Passauer Bischof Ulrich von Nußdorf bzw. den Mainzer Erzbischof Adolf von Nassau in den Jahren 1464 bis 1469 bzw. 1470 bis 1475 in Verbindung gebracht, auf deren Initiative es zu einer effektiveren Funktionsweise des Kammergerichts und einem damit verbundenen Bürokratisierungsschub ge-
8 Siehe Christine Magin: Schriftlichkeit und Aktenverwaltungb am Kammergericht Friedrichs III., in: Susanne Lepsius / Thomas Wetzstein (Hrsg.): Als die Welt in die Akten kam. Prozeßschriftgut im europäischen Mittelalter. Frankfurt a. M. 2008, S. 349–387, hier S. 351f. 9 Siehe Julia Maurer: Das Königsgericht und sein Wirken von 1451 bis 1493, in: Bernhard Diestelkamp (Hrsg.): Das Reichskammergericht. Der Weg zu seiner Gründung und die ersten Jahrzehnte seines Wirkens (1451–1527) (QFHG, Bd. 45). Köln/Weimar/Wien 2003, S. 79–115, hier S. 81–84; Magin: Schriftlichkeit und Aktenverwaltung (wie Anm. 8), S. 352–354; dies.: Das kaiserliche Kammergericht und seine Quellen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: Giovanna Nicolaj (Hrsg.): La Diplomatica dei Documenti Giudiziari (dai Placiti agli Acta – secc. XII–XV). Vatikan 2004, S. 399–424, hier S. 406–408. 10 Siehe Magin: Schriftlichkeit und Aktenverwaltung (wie Anm. 8), S. 352–354.
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kommen sei.¹¹ Man hat diese Entwicklung auch mit einer größeren Wirksamkeit des Kammergerichts und dem von Peter Moraw geprägten Begriff des „Verdichtungsprozesses“ im Heiligen Römischen Reich am Übergang vom späten Mittelalter zur Frühen Neuzeit in Verbindung gebracht.¹²
2 Das königliche Gerichtsbuch (1442–1451) Im Zuge neuer Untersuchungen zum Kanzleiwesen Kaiser Friedrichs III. konnte durch den Autor dieses Beitrags vor kurzem eine bislang unbekannte, umfangreiche Quelle zur Reichsgerichtsbarkeit im 15. Jahrhundert aufgefunden werden, welche eine Neubewertung der oben skizzierten Forschungsfragen notwendig macht. Dies betrifft vor allem die Frage nach dem Verhältnis zwischen Hofgericht und Kammergericht am Beginn der Regierungszeit Friedrichs III. sowie die Frage nach der Entwicklung von Schriftlichkeit und Aktenverwaltung am Kammergericht. Darüber hinaus bietet diese neu gesichtete Quelle zahlreiche Informationen für weitere Forschungsfragen, etwa bezüglich der spätmittelalterlichen Hofgerichtsbarkeit als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele.¹³ Bei der gesichteten Quelle handelt es sich um das älteste bekannte Amtsbuch des königlichen Kammergerichts, ein heute unter der Signatur HS 367 (rot) in der Bibliothek des niederösterreichischen Benediktinerstiftes Göttweig aufbewahrtes Gerichtsbuch für die Jahre 1442 bis 1451, dessen Existenz bislang lediglich aufgrund der Erwähnung eines kunigliche[n] gerichtsbuch[s] in einem Schreiben der römischen Kanzlei aus dem Jahr 1447 vermutet werden konnte.¹⁴ Dieses in Göttweig überlieferte Gerichtsbuch weist einen sogenannten Kopert-Einband auf; der Buchblock ist durch einen flexiblen Gebrauchseinband aus Leder umschlossen, der ohne mit Holz verstärkte Buchdeckel auskommt.¹⁵ Der hintere Teil des Umschlages bildet dabei eine Klappe, an deren Ende ein ledernes, teilweise erhaltenes Schließband angebracht war. Auf den Charakter dieser
11 Siehe Magin: Das kaiserliche Kammergericht (wie Anm. 9), S. 404f.; Maurer: Das Königsgericht (wie Anm. 9), S. 85–89. 12 Vgl. zuletzt Diestelkamp: Vom einstufigen Gericht (wie Anm. 2), S. 146–152. 13 Siehe etwa Friedrich Battenberg: Herrschaft und Verfahren. Politische Prozesse im mittelalterlichen römisch-deutschen Reich. Darmstadt 1995. 14 Siehe Magin: Schriftlichkeit und Aktenverwaltung (wie Anm. 8), S. 373, Anm. 86, die einen Hinweis übernommen hat von Paul-Joachim Heinig: Kaiser Friedrich III. (1440–1493). Hof, Regierung und Politik (FKPG, Bd. 17/I). Köln/Weimar/Wien 1997, S. 666. 15 Zu dieser Einbandform vgl. allgemein Agnes Scholla: Libri sine asseribus. Zur Einbandtechnik, Form und Inhalt mitteleuropäischer Koperte des 8. bis 14. Jahrhunderts. Leiden 2002.
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Handschrift als Gebrauchs- und Geschäftshandschrift weist außer der Verwendung eines Koperts auch die relativ schmucklose Gestaltung des Einbandes hin. Die beiden Buchdeckel sowie der Buchrücken wurden lediglich durch doppelte Streicheisenlinien verziert, die auf dem vorderen und hinteren Deckel jeweils einen rechteckigen Rahmen bilden. Das dadurch entstandene Mittelfeld ist durch doppelte Linien in rautenförmige Felder geteilt. Otto Mazal weist auf diese Form des Buchschmucks als Spezifikum für Buchbinder des Wiener Raumes im 15. Jahrhundert hin,¹⁶ weshalb im Fall dieses Gerichtsbuchs davon ausgegangen werden kann, dass die Handschrift bis heute in jener Form überliefert ist, in der sie auch ursprünglich angelegt wurde.
Abb. 1. Königliches Kammergerichtsbuch 1442–1451 (Vorderdeckel)¹⁷
In einer ausführlichen Einleitung am Beginn des Gerichtsbuchs gibt sich Michael von Pfullendorf, Schreiber am Kammergericht Friedrichs III., als Verfasser der Handschrift zu erkennen.¹⁸ Bei Michael von Pfullendorf handelt es sich um eine vielschichtige Persönlichkeit mit einer juristischen Familientradition. Sein Vater Jodocus von Pfullendorf ist als literarisch tätiger Schreiber des Rottweiler Hofgerichts sowie als wahrscheinlicher Verfasser der etwa in das Jahr 1430 zu datierenden
16 Otto Mazal: Einbandkunde. Die Geschichte des Bucheinbandes. Wiesbaden 1997, S. 108. 17 Stiftsbibliothek (künftig: StiB) Göttweig, HS 367 (rot). 18 StiB Göttweig, HS 367 (rot), fol. 1r. Bei Pfullendorf handelt es sich auch um den Verfasser des oben erwähnten Kanzleischreibens, in dem das von ihm selbst geführte „königliche Gerichtsbuch“ erwähnt wird; siehe oben Anm. 14.
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„Rottweiler Hofgerichtsordnung“ bekannt.¹⁹ Daneben scheint sich Michael wohl bereits während seiner juristischen Ausbildung an einer nicht bekannten Universität für den italienischen Renaissance-Humanismus begeistert zu haben und wurde nach seinem Eintritt in die römische Kanzlei Friedrichs III. im Jahr 1442 ein enger Vertrauter des königlichen Protonotars und humanistischen Gelehrten Enea Silvio Piccolomini. Dieser wiederum erwähnt Michael und die gemeinsame Suche nach unbekannten Texten antiker Autoren in zahlreichen Briefen und Werken. So bezeichnete der Italiener in einem seiner Briefe Michael von Pfullendorf als alter ego und charakterisierte seinen schwäbischen Freund als jemanden, qui et verbis Ulixes est et factis Achilles.²⁰ Diese Verbindung aus juristischen und humanistischen Interessen spiegelt sich auch in den ersten beiden Seiten der Göttweiger Handschrift wider. Am Vorsatzblatt zitiert Michael aus dem ersten Buch des Codex Iustinianus, in dem das Auftreten von Klerikern vor Gericht als für deren Würde abträglich erklärt wird.²¹ Auf der folgenden Seite schildert Pfullendorf in knappen Worten seine bisherige Karriere am Hof Friedrichs III. und äußert seine Beweggründe für die Abfassung dieses Buchs in humanistischer Manier mit Anklängen an die Reden Ciceros. So sei es ihm selbst, nachdem er drei Jahre als Schreiber und Sekretär in der römischen Kanzlei ad scribendum in iudicio camere caesaree tätig gewesen sei, im Jahr 1445 notwendig erschienen, zum Nutzen des Staates²² all das in einem Buch niederzuschreiben, was in seiner Gegenwart am Kammergericht verkündet, geregelt und geurteilt worden sei, sodass jeder, der sein Werk zur Hand nehmen werde, es als authenticum registrum verwenden könne.²³ Im Gegensatz dazu weist der weitere Inhalt der Handschrift keinerlei humanistische Stilisierung oder literarische Züge auf. Der Codex bietet auf 120 Folien protokollarische Aufzeichnungen zu Gerichtsprozessen vor dem königlichen Kammergericht Friedrichs III., die mit der Sitzung des Kammergerichts in Frankfurt
19 Zur Person Pfullendorfs siehe zukünftig Daniel Luger: Humanismus und humanistische Schreiber in der Kanzlei Kaiser Friedrichs III. Diss. Wien 2014. 20 Zum nicht immer friktionsfreien Verhältnis zwischen Pfullendorf und Piccolomini siehe Claudia Villa: ‚Immo alter ego‘: Michele di Pfullendorf ed Enea Silvio Piccolomini, in: Maria Antonietta Terzoli (Hrsg.): Enea Silvio Piccolomini, Gelehrter und Vermittler der Kulturen. Basel 2006, S. 239–252. 21 StiB Göttweig, HS 367 (rot), vorderes Vorsatzblatt: Absurdum etenim est clericis immo et oprobriosum si peritos se velint disceptationum esse forensium themeratoribus huius sanctionis pena quinquaginta librarum auri feriendis. Vgl. Cod. Iust. 1.3.40 (41). 22 StiB Göttweig, HS 367 (rot), fol. 1r: Utile admodum est rei publice que in privatorum causis iudicialiter terminantur sic transcribi atque recondi ut cum opus his fuerit publica possit fides et certum testimonium exhiberi [. . . ]. Vgl. etwa Cic. Sest. 21 oder Fam. 12, 14, 3. 23 StiB Göttweig, HS 367 (rot), fol. 1r.
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Abb. 2. Einträge zur Sitzung des königlichen Kammergerichts am 4. August 1442²⁵
am Main am 16. Juli 1442 – also etwa einen Monat nach der Königskrönung in Aachen – einsetzen und vor der Abreise des römischen Königs und dessen Gefolges zur Kaiserkrönung und Eheschließung in Rom im Jahr 1451 abbrechen.²⁴ Bereits eine erste statistische Auswertung der im Göttweiger Codex verzeichneten Gerichtssitzungen macht die Fülle an bislang unbekannten Informationen zur Aktivität des Kammergerichts in der frühen Regierungszeit Friedrichs III. deutlich. Während für den Zeitraum von 1442 bis 1451 bislang durchschnittlich sechs Sitzungen des Kammergerichts pro Jahr und für die gesamte Regierungszeit Friedrichs III. knapp neun Sitzungen jährlich bekannt waren,²⁶ ergibt eine Untersuchung des Gerichtsbuchs für die Jahre 1442–1451 einen Durchschnitt von 33 Sitzungen pro Jahr. 24 Pfullendorf wurde im Jahr 1451 mit der Organisation des Romzuges betraut und verstarb während dieser Tätigkeit am Beginn des Jahres 1452 in Siena; siehe Heinig: Kaiser Friedrich III. (wie Anm. 14), S. 742. 25 StiB Göttweig, HS 367 (rot), fol. 5r. 26 Siehe Lechner: Reichshofgericht und königliches Kammergericht, S. 118–140 (wie Anm. 2); Maurer: Das Königsgericht (wie Anm. 9), S. 85.
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An dieser Stelle ist ein Vergleich mit den Jahren 1464 bis 1475 lohnend, also mit jenem Zeitraum, der bislang als Belebung des Gerichtswesens am Hof Friedrichs bzw. als Aktivierung des Kammergerichts durch dessen Verpachtung an Bischof Ulrich von Passau und Erzbischof Adolf von Mainz galt. Für diesen Zeitraum sind lediglich 19 Sitzungen pro Jahr bekannt.²⁷ Das übergeordnete Gliederungsprinzip der Handschrift sind die jeweiligen Gerichtssitzungen, welche in chronologischer Abfolge verzeichnet sowie durch die Angabe von Sitzungsort und Sitzungsdatum eingeleitet werden. Danach folgt die Nennung des jeweiligen Kammerrichters und der Beisitzer, wobei letztere stets in zwei Kolumnen angeführt werden, die auf eine entsprechende Sitzordnung während der Verhandlung zurückgehen könnten.²⁸ Danach schließen die einzelnen protokollarischen Einträge an, die in Inhalt und Länge durchaus vielfältig sind. Unter anderem werden ergangene Urteile, Mandate, Kommissionen und Ladungen sowie erteilte Bevollmächtigungen und Protestationen von Parteien, Botenrelationen, königliche Verfügungen oder Kanzleivermerke festgehalten. Im Vergleich mit den jüngeren Amtsbüchern des königlichen Kammergerichts, insbesondere mit dem Gerichtsbuch für die Jahre 1467/1468, sind zahlreiche Parallelen – von der gleichartigen, stark formalisierten Struktur über die inhaltliche Vielgestaltigkeit bis hin zur sprachlichen und syntaktischen Gestaltung der Einträge – zu bemerken, die wohl auf die Ausbildung gewisser Formulargewohnheiten in der Kanzlei und somit auf eine Kontinuität in der Schriftführung des Kammergerichts schon seit dem Beginn der Regierungszeit Friedrichs III. schließen lassen. Auch eine weitere Entwicklung des Kammergerichts, die bislang in erster Linie mit der „Mainzer Pachtzeit“ des Kammergerichts in den 70er Jahren des 15. Jahrhunderts in Verbindung gebracht wurde, scheint bereits am Beginn der Regierungszeit Friedrichs III. ihren Anfang genommen zu haben. Dies betrifft die differenzierte Produktion von Prozessschriftgut. So geben zahlreiche Einträge im Gerichtsbuch der Jahre 1442 bis 1451, insbesondere zu Urteilen des königlichen Kammergerichts, den Inhalt der jeweiligen Gerichtsentscheidung nicht oder nur äußerst verkürzt wieder und begnügen sich stattdessen mit Formulierungen wie ut apud registrum habetur oder nota apud registrum.²⁹ Diese Einträge sind deutliche Hinweise auf Intertextualität in der Frühphase der Schriftführung am königlichen Kammergericht. Es muss allerdings für jeden einzelnen Fall geklärt werden, ob es sich dabei um einen Verweis auf einen Eintrag in den Reichsregistern oder um einen 27 Vgl. Maurer: Das Königsgericht (wie Anm. 9), S. 85–89; Battenberg/Diestelkamp (Hrsg.): Die Protokoll- und Urteilsbücher (wie Anm. 6), Bd. 3, S. 1365–1385. 28 Vgl. auch Maurer: Das Königsgericht (wie Anm. 9), S. 101f. 29 StiB Göttweig, HS 367 (rot), u. a. fol. 35v, 36v, 53r–v, 61r–v, 65v, 69v, 70r.
Eine bislang unbeachtete Quelle zur Reichsgerichtsbarkeit im 15. Jahrhundert |
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Beleg für die Existenz weiterer, bislang unbekannter Amts- oder Urteilsbücher des Kammergerichts handelt. Einige lose Zettel, die dem Göttweiger Gerichtsbuch beiliegen und in den meisten Fällen ebenfalls von der Hand Pfullendorfs stammen, geben zudem Auskunft über die Arbeitsweise des Schreibers bei der Anlage der Handschrift. Zwei dieser Zettel wurden wohl während der Gerichtssitzungen selbst oder kurz danach geführt, enthalten in knappen Worten die personelle Besetzung des Gerichts sowie den Verlauf der jeweiligen Sitzung und wurden offensichtlich als Vorlage für die spätere Reinschrift benutzt.³⁰ Außerdem zog Pfullendorf auch Botenrelationen als Informationsquelle heran. Das sind schriftliche Berichte von vereidigten Gerichtsboten auf Einzelblättern, die ebenfalls in das Gerichtsbuch eingetragen wurden und darüber hinaus in zwei Fällen auch im Original der Handschrift beiliegen.³¹ Ohne einer gründlichen inhaltlichen Analyse des Göttweiger Gerichtsbuches im Rahmen einer geplanten Edition dieser Quelle vorgreifen zu wollen, kann an dieser Stelle hinsichtlich der enthaltenen Streitgegenstände ein deutlicher Schwerpunkt auf vermögensrechtlichen, grundherrlichen und lehnsrechtlichen Verfahren festgestellt werden. Außerdem sind zahlreiche Streitigkeiten aus anderen Rechtsgebieten, wie etwa dem Strafrecht, beispielsweise Injurien oder Friedbruch, zu bemerken. Hinsichtlich der landschaftlichen Herkunft der vor dem Kammergericht streitenden Parteien zeigt sich eine besonders breite regionale Streuung, die über die „königsnahen Landschaften“³² des Reiches deutlich hinausgeht und von der Grafschaft Görz bis zur Hansestadt Bremen sowie vom Hochstift Utrecht bis zum Deutschordensland reicht. Das Gerichtsbuch für die Jahre 1442 bis 1451 stellt somit nicht nur eine erstrangige Quelle für die spätmittelalterliche Rechts- oder Kanzleigeschichte dar, sondern bietet darüber hinaus auch zahlreiche bislang unbekannte Informationen für weitere Forschungsfragen, etwa lokal-, sozial-, oder personengeschichtlicher Natur.
30 Ebd., fol. 34a und 99a. Zur entsprechenden Reinschrift siehe ebd., fol. 77v. 31 Ebd., fol. 31a und 104a. 32 Zu diesem von Peter Moraw geprägten Begriff siehe etwa ders.: Franken als königsnahe Landschaft im späten Mittelalter, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 112 (1976), S. 123–138, besonders S. 124–127.
Robert Riemer
Wechselwirkungen zwischen kriegerischen Konflikten und der Tätigkeit des Reichskammergerichts 1 Einleitung Die Aussage, es gebe einen direkten Zusammenhang zwischen der Arbeit des Reichskammergerichts, dem Auftreten der Prozessparteien und militärischen Auseinandersetzungen beziehungsweise sonstigen Konflikten, ist sicherlich wenig überraschend und kann grundsätzlich als zutreffend gelten. Das zeigte sich schon früh, als Maximilian I. den Ewigen Landfrieden und die Gründung des ständischen Gerichts als Gegenleistung für die Unterstützung der Kriege gegen Frankreich, die Eidgenossen und die Osmanen akzeptierte.¹ In welchen weiteren Formen zeigt sich dieser Zusammenhang von Militär und Justiz? Einerseits haben kriegerische Ereignisse einen zu erwartenden und – wie ich zeigen werde – nachweisbaren, manchmal auch zyklisch leicht verschobenen Einfluss auf die Frequentierung des Reichskammergerichts. Dies ist nicht nur im plakativen Fall der zwangsweisen Schließung des Gerichts am Beginn des Pfälzischen Erbfolgekrieges (1688–1697) deutlich sichtbar, sondern auch bei anderen Auseinandersetzungen, in deren Verlauf zwar das Reichskammergericht weiterarbeitete, aber der Zugang zumindest aus einzelnen Territorien und Städten des Alten Reiches konfliktbedingt erschwert war. Andererseits wurden beispielsweise
1 Die Zahl der Studien zum Reichskammergericht, dessen Geschichte, Personal, einzelnen Prozessen und vielen weiteren Detailthemen ist in den letzten Jahrzehnten enorm gestiegen, so dass hier auf eine Nennung verzichtet wird. Allein ein Blick auf die inzwischen mehr als 60 Bände umfassende „Grüne Reihe“ zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich macht deutlich, wie präsent das Thema in der Forschung, aber auch in der Öffentlichkeit ist (Reichskammergerichtsmuseum in Wetzlar, sonstige Ausstellungen, mit der Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung dokumentierte Vorträge und Tagungen). Teile des Beitrages basieren auf meinen eigenen Untersuchungen zu Hamburg und Frankfurt: Robert Riemer: Frankfurt und Hamburg vor dem Reichskammergericht. Zwei Handels- und Handwerkszentren im Vergleich (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, künftig: QFHG, Bd. 60). Köln/Weimar/ Wien 2012. Zugleich danke ich Frau Amend-Traut für den Hinweis auf ihre Ausführungen zum „Einfluss kriegerischer Auseinandersetzungen auf das Schicksal von Handelsgesellschaften“ in: Anja Amend-Traut: Bretano, Fugger und Konsorten – Handelsgesellschaften vor dem Reichskammergericht (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, künftig: SGRKG, Bd. 37). Wetzlar 2009, S. 37–39.
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Kaufverträge zu militärisch relevanten Handelsgütern auch gerichtlich überprüft. Sie liefern dann in einigen Fällen interessante Details zur Ausrüstung der Soldaten oder zur Reichweite des einzelnen Geschäfts, vor allem wenn dieses nicht nur auf ein Territorium oder das Reich beschränkt war, sondern auch über dessen Grenzen hinausgriff. Zur Abrundung des Bildes kann auf diejenigen in regelmäßigen Abständen belegbaren Fälle verwiesen werden, in denen der Reichsfiskal säumige Reichsstände wegen ausbleibender Steuerzahlungen verklagte. Dies war vor allem im Norden des Reiches öfter der Fall, wenn die Einsicht zur Notwendigkeit des Beitrages zur Türkenhilfe fehlte.² Die folgenden Ausführungen beschäftigen sich am Beispiel Frankfurts am Main mit Einflüssen kriegerischer Konflikte auf die Arbeit des Reichskammergerichts sowohl hinsichtlich der Inanspruchnahme seitens der den Prozess eröffnenden Parteien als auch mit Blick auf einzelne Handelsgeschäfte, die vom Krieg direkt betroffen waren oder militärisch relevante Güter zum Gegenstand hatten. Die Ausgangslage bezüglich der Quellenbasis scheint angesichts von mehr als 1 600 überlieferten Frankfurter Prozessen für die Zeit der Existenz des Reichskammergerichts (1495–1806) hervorragend zu sein, doch ist die Selektion einzelner themenbezogener Fälle nicht ganz einfach. Obwohl ein Findbuch für den Bestand vorliegt, ist dieses nicht eindeutig (und kann es auch gar nicht sein),³ so dass es sich eher um Zufallstreffer handelt, wenn beispielsweise der Bankrott eines Handelshauses aufgrund einer Kriegsfinanzierung festgestellt werden könnte. Für den Beitrag greife ich deshalb auf Fälle zurück, die mir im Rahmen meiner früheren Untersuchungen der Reichskammergerichtsprozesse aus Frankfurt aufgefallen sind,⁴ weil sich bei einigen von ihnen ein deutlicher Bezug zu Konflikten beziehungsweise
2 Zum Reichsfiskal, der – nicht nur in steuerlichen/finanziellen Streitsachen – als kaiserlicher Anwalt am Reichskammergericht fungierte, siehe Winfried Schulze: Reichskammergericht und Reichsfinanzverfassung im 16. und 17. Jahrhundert (SGRKG, Bd. 6). Wetzlar 1989, S. 8–11, 17. 3 Inge Kaltwasser (Bearb.): Inventar der Akten des Reichskammergerichts 1495–1806. Frankfurter Bestand (Veröffentlichungen der Frankfurter Historischen Kommission, Bd. 21). Frankfurt a. M. 2000. – Der Hinweis auf die Uneindeutigkeit stellt keineswegs eine Kritik an der Leistung der Bearbeiterin dar, sondern ist allgemein zu verstehen, da er sich aus den Verzeichnungs- und Indexierungskriterien für die Inventare ergibt. Die zusammenfassenden Texte zur Inhaltsangabe eines Falles können diesen nicht komplett erfassen, so dass etwa der direkte oder indirekte Bezug eines Handelsgeschäfts zu Krieg oder sonstigen Konflikten aus dem Findbucheintrag nicht zwingend abzuleiten ist. Vielmehr ist dafür das Sichten der kompletten Akte in den jeweiligen „verdächtigen“ Fällen notwendig, um über einzelne Protokoll-, Gravamina- und sonstige Einträge auch scheinbar nebensächliche, für unser Thema aber bedeutsame Hinweise zu entdecken. Dabei sind Zufallstreffer, die sich bei der Suche nach anderen Inhalten ergeben können, natürlich nicht ausgeschlossen. 4 Siehe dazu Riemer: Frankfurt und Hamburg (wie Anm. 1).
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Kriegen herstellen lässt. Dies ist etwa dann der Fall, wenn sich die Prozessparteien um Schlechtleistungen bei Montierungsverträgen stritten. In dieser Situation handelt es sich um ein Geschäft mit militärischer Ausrüstung, das mit einem aktuellen oder kurz bevorstehenden militärischen Konflikt in Verbindung stand. Doch auch dann ist Vorsicht geboten und eine zeitliche Einordnung unabdingbar: Nach dem Dreißigjährigen Krieg leisteten sich die Territorialstaaten stehende Heere, die natürlich auch im normalen Friedensbetrieb ausgerüstet werden mussten und somit keinen direkten Bezug zu einem kriegerischen Konflikt aufweisen.⁵ Allein die zeitliche unmittelbare Nähe eines Prozesses (oder besser: des als Klagegrund dienenden strittigen Geschäfts) zu einer größeren Auseinandersetzung lässt keine hinreichend genaue Aussage zu, ob eine unmittelbare Wechselwirkung zwischen kriegerischen Konflikten und der Tätigkeit des Reichskammergerichts bestand, es sei denn, die Überlieferungen in den Quellen sind so eindeutig und umfangreich, dass sich die Verbindung zu einem Krieg oder Konflikt direkt herstellen lässt. Dementsprechend sind im Folgenden die genannten Beispiele und Prozesszahlen (siehe Abschnitt 2.2.) nicht als abschließend anzusehen, sondern lediglich als tendenzielle Hinweise, die diese Fälle in Bezug zum gesamten Prozessaufkommen Frankfurts setzen. Notwendig ist zu Beginn noch eine kurze Erläuterung zur Begrifflichkeit „kriegerischer Konflikt“, da dessen Definition die Art beziehungsweise Anzahl der infrage kommenden Prozesse bestimmt. Die „normalen“ Kriege in der Zeit der Existenz des Gerichts sind unproblematisch, aber schwieriger ist die Abgrenzung weiterer Konflikte wie etwa innerstädtischer Unruhen (zum Beispiel der Frankfurter Fettmilch-Aufstand am Beginn des 17. Jahrhunderts⁶). Eine grundsätzliche Relevanz dieser Ereignisse hinsichtlich des hier gewählten Themas wäre in jedem Fall zu prüfen, da von einem Bruch des Ewigen Landfriedens durch mindestens
5 Hinsichtlich der hier nur ganz knapp angedeuteten Veränderungen im Kriegswesen im Verlauf der Frühen Neuzeit verweise ich unter anderem auf den entsprechenden Abschnitt bei Johannes Burkhardt: Deutsche Geschichte in der Frühen Neuzeit. München 2009, S. 78–88, der diese Veränderungen mit Bezug zum Alten Reich thematisiert, sowie auf die einschlägigen und sehr ausführlichen Bände von Siegfried Fiedler und Georg Ortenburg zum Heereswesen der Neuzeit: Siegfried Fiedler: Taktik und Strategie der Landsknechte 1500–1650. Augsburg 2002; Georg Ortenburg: Waffen der Landsknechte 1500–1650. Augsburg 2002; Siegfried Fiedler: Taktik und Strategie der Kabinettskriege 1650–1792. Augsburg 2002; Georg Ortenburg: Waffen der Kabinettskriege 1650–1792. Augsburg 2002. Hier finden sich zugleich weiterführende Hinweise zu den Montierungen, die auch im vorliegenden Beitrag noch ausführlicher dargestellt werden. 6 Siehe dazu z. B. Matthias Meyn: Die Reichsstadt Frankfurt vor dem Bürgeraufstand von 1612 bis 1614. Struktur und Krise (Studien zur Frankfurter Geschichte, Bd. 15). Frankfurt am Main 1980; Robert Brandt / Olaf Cunitz / Jan Ermel / Michael Graf : Der Fettmilch-Aufstand. Bürgerunruhen und Judenfeindschaft in Frankfurt am Main 1612–1616. Frankfurt a. M. 1996.
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eine beteiligte Partei auszugehen ist, wobei Frieden hier nicht nur das Gegenstück zu Krieg ist, sondern für gewaltsame, auch mit militärischen Mitteln ausgetragene Differenzen unterhalb der Schwelle eines „richtigen“ Krieges steht.
2 Frankfurter Beispiele 2.1 Einflüsse auf die Inanspruchnahme des Reichskammergerichts Die Inanspruchnahme des Reichskammergerichts durch Frankfurter Prozessparteien mit mehr als 1 600 Fällen, also ungefähr zwei Prozent aller überlieferten Reichskammergerichts-Prozesse, gestaltete sich im zeitlichen Verlauf keineswegs gleichmäßig, sondern wies immer wieder Höhen und Tiefen auf – mit teilweise überraschenden Einzelheiten. Interessant für diese Untersuchung sind die Auswirkungen der Reichspolitik auf das Klageverhalten der Einwohner, obwohl die folgenden Aussagen für die ersten Jahrzehnte bei durchschnittlich knapp zwei Fällen pro Jahr natürlich mit Vorsicht zu genießen sind. 1502/1503 sowie auch 1519 sind keine Prozesse nachweisbar – zum erstgenannten Zeitpunkt musste Maximilian nach dem Entzug des Reichsregiments durch die Stände das Gericht neu gründen, zum zweitgenannten stellte der Tod des Kaisers die Existenz „seines“ Gerichts in Frage, bevor Karl V. dessen Erhaltung bestätigte.⁷ Bis 1555 hielt sich die Inanspruchnahme des Reichskammergerichts durch Frankfurter Parteien auf einem leicht höheren, aber verglichen mit späteren Jahrzehnten dennoch bescheidenem Niveau. Hier scheinen bei den Frankfurtern Bedenken ob der katholischen Ausrichtung des Gerichts vorhanden gewesen zu sein; die Blockade des Gerichts während des Schmalkaldischen Krieges und der Seitenwechsel Frankfurts in das Lager der Kaisergegner haben ein Übriges dazu beigetragen.⁸ Ab der Mitte der 1540er Jahre machten sich die Auswirkungen des konfessionellen Konfliktes deutlich bemerkbar, so dass 1545 und 1547 jeweils nur 7 Volker Press: Das Reichskammergericht in der deutschen Geschichte (SGRKG, Bd. 3). Wetzlar 1996, S. 16–19. Auch 1505 und 1506 ist kein Fall nachweisbar, da nun die Stände als Aufsichtsgremium des Gerichts Mühe hatten, dessen Tätigkeit aufrecht zu erhalten. 1507 musste es deshalb erneut bewilligt werden und folgerichtig ist in diesem Jahr auch ein Prozess belegt. 8 Filippo Ranieri: Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption (QFHG, Bd. 17), 2 Bde. Köln/ Wien 1985, S. 300. Im gesamten Reich war in dieser Zeit die Zahl der jährlich eingehenden Prozesse rückläufig, sie sank von durchschnittlich ca. 280 (Anfang der 1530er) auf 171 (Mitte der 1540er). Dieser Wert wurde erst in der zweiten Hälfte des Dreißigjährigen Krieges wieder erreicht. Für den
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140 120 100 80 60 40 20
v 14 or 1 95 49 15 –1 5 05 50 15 –1 4 15 51 15 –1 4 25 52 15 –1 4 35 53 15 –1 4 4 54 15 5–1 4 55 55 15 –1 4 6 56 15 5–1 4 75 57 15 –1 4 8 58 15 5–1 4 95 59 16 –1 4 0 60 16 5–1 4 1 6 16 5–1 14 25 62 16 –1 4 3 6 16 5–1 34 4 64 16 5–1 4 55 6 16 –1 54 6 6 16 5–1 64 75 67 16 –1 4 8 68 16 5–1 4 95 69 17 –1 4 05 70 17 –1 4 15 7 17 –1 14 25 72 17 –1 4 35 73 17 –1 4 4 74 17 5–1 4 55 75 17 –1 4 6 76 17 5–1 4 75 77 17 –1 4 8 78 17 5–1 4 95 79 –1 4 80 6
0
Zeitraum vor 1495 1495–1504 1505–1514 1515–1524 1525–1534 1535–1544 1545–1554 1555–1564 1565–1574 1575–1584 1585–1594 1595–1604 1605–1614 1615–1624 1625–1634 1635–1644
Anzahl der Prozesse 3 11 18 11 24 23 25 35 56 35 56 71 54 77 66 43
Zeitraum
Anzahl der Prozesse
1645–1654 1655–1664 1665–1674 1675–1684 1685–1694 1695–1704 1705–1714 1715–1724 1725–1734 1735–1744 1745–1754 1755–1764 1765–1774 1775–1784 1785–1794 1795–1806
65 59 44 60 63 87 29 126 98 69 59 102 62 40 18 45
Abb. 1. Geschäftsanfall aus Frankfurt am Reichskammergericht 1495–1806 (1 634 Prozesse).⁹ 9 Die Werte für dieses Diagramm finden sich in Tabellenform bei Riemer: Frankfurt und Hamburg (wie Anm. 1), S. 109.
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ein Prozess, 1546 sogar kein einziger nach Speyer gelangte.¹⁰ Erst nach der Beilegung der Differenzen zwischen Kaiser und Stadt – Frankfurt war Mitglied des Schmalkaldischen Bundes – nahmen die Frankfurter das Reichskammergericht wieder als Option zur Klärung ihrer Rechtssachen wahr und trugen 1548 mit dem Augsburger Interim gleich sieben Verfahren nach Speyer. Nach der konfessionellen Einigung im Augsburger Religionsfrieden von 1555, die für das Reichskammergericht eine Erweiterung des Personals um protestantische Juristen mit sich brachte, wuchs die Zahl der Prozesse aus dem Reich stark an¹¹ – eine Entwicklung, die auch für Frankfurt zu beobachten ist. An der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert schwankte die Frequentierung des Gerichts durch Frankfurter Parteien, sie war – wie im gesamten Reich¹² – generell leicht rückläufig. Allerdings stand die Dekade mit der größten Anzahl Frankfurter Prozesse während der Speyerer Zeit des Gerichts noch aus. Diese folgte nämlich ausgerechnet am Beginn des Dreißigjährigen Krieges (1615–1624), als insgesamt 77 Prozesse aus Frankfurt das Personal in Speyer beschäftigen.¹³ In dieser Zeit war die Messe bereits seit Jahrzehnten der Glanzpunkt der Stadt und die innerstädtischen politischen Auseinandersetzungen im Gefolge des Fettmilch-Aufstandes wie auch die daraus resultierenden Differenzen zwischen christlichen und jüdischen Einwohnern konnten mit Hilfe kaiserlicher Vermittlung beigelegt werden.¹⁴ Anfang
Höhepunkt der Auseinandersetzungen zwischen Bauern und Ständen im Jahr 1525 ist ebenfalls kein Prozess nachzuweisen, allerdings war Frankfurt von den Ereignissen nur am Rande betroffen. Das Gericht befand sich zu dieser Zeit noch nicht fest in Speyer und eine Reise an das Gericht ob der unsicheren Lage außerhalb der schützenden Stadtmauern schien offensichtlich wenig wünschenswert. 10 Bei den beiden Prozessen handelt es sich einerseits um einen Erbschaftsstreit sowie andererseits um eine Kapitalforderung aus einem Schuldschein. Kaltwasser (Bearb.): Inventar der Akten des Reichskammergerichts (wie Anm. 3), S. 627f., 925f., J272, S74. 11 Ranieri: Recht und Gesellschaft (wie Anm. 8), S. 140f., 300. Anfang der 1590er werden pro Jahr im Schnitt 670 Prozesse aus dem gesamten Reich in Speyer anhängig. 12 Ebd., S. 300. Für das Alte Reich sind zu dieser Zeit die Jahre mit der höchsten Frequentierung während der Speyerer Zeit des Gerichts vorbei. 13 Dies entspricht – wie leicht zu erkennen ist – einem jährlichen Schnitt von knapp acht Fällen. Dieser Wert wird erst zum nächsten Jahrhundertwechsel wieder erreicht. 14 Anton Schindling: Wachstum und Wandel vom Konfessionellen Zeitalter bis zum Zeitalter Ludwigs XIV. Frankfurt am Main 1555–1685, in: Frankfurter Historische Kommission (Hrsg.): Frankfurt am Main. Die Geschichte der Stadt in neun Beiträgen. Sigmaringen 1991, S. 205–260, hier S. 229–238. Einen Überblick zur Stadtgeschichte liefert der letztgenannte Sammelband. Zur Frankfurter Messe und Handelsgeschichte siehe z. B. Nils Brübach: Die Reichsmessen von Frankfurt am Main, Leipzig und Braunschweig (14.–18. Jahrhundert) (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 55). Stuttgart 1994; Alexander Dietz: Frankfurter Handelsgeschichte. 4 Bde. Frankfurt a. M. 1910–1925.
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der 1630er Jahre wurde schließlich auch Frankfurt von den Kriegsereignissen erreicht, die sich besonders auf Wirtschaft und Messe auswirkten, wenngleich die Stadt, ähnlich wie Hamburg im Norden des Reiches, nicht erobert wurde. Folgerichtig nahm die Zahl der Verfahren erkennbar ab – von acht im Jahr 1630¹⁵ auf nur eines zwei Jahre später. Den allgemein im Reich zu beobachtenden Abwärtstrend bei der Inanspruchnahme des Reichskammergerichts¹⁶ vollzog Frankfurt damit nach, allerdings in deutlich abgeschwächtem Maße,¹⁷ obwohl die Stadt zeitweise in Kriegsgebiet lag. Nach 1648 nahm die Zahl der Frankfurter Prozesse wieder leicht zu und erreichte in den nächsten fünf Dekaden bis zur Vertreibung des Gerichts aus Speyer knapp sechs pro Jahr. Obwohl sich die Zahl der Einwohner der Stadt zwischen 1655 und 1700 annähernd verdoppelte¹⁸ (unter anderem als Folge hugenottischer Einwanderung) und die Messe eine glanzvolle Wiederauferstehung feierte, waren auch seit 1675 nur sechs Prozesse im Jahr vor die Speyerer Richter gebracht worden – eine Folge der Auseinandersetzungen zwischen Frankreich und dem Reich sowie der damit einhergehenden wirtschaftlichen Blockadepolitik von
15 Womit genau der größte jährliche Durchschnitt während der Speyerer Zeit des RKGs erreicht wurde. 16 Vgl. dazu Ranieri: Recht und Gesellschaft (wie Anm. 8), S. 139, 300; Anette Baumann: Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung zum 17. und 18. Jahrhundert (QFHG, Bd. 36). Köln/Wien 2001, S. 18–31. 17 Dieser Wert wird nochmals deutlich während des Spanischen Erbfolgekrieges und zur Zeit der französischen Revolution unterschritten. – Zur Erinnerung: Wie auch Hamburg versuchte sich die Stadt am Main nach den negativen Erfahrungen aus der Zeit des Schmalkaldischen Krieges möglichst neutral zu verhalten, um als Folge dieser Politik den ohnehin vorhandenen wirtschaftlichen Negativtrend nicht weiter zu verstärken. 18 1655 werden 17 000, viereinhalb Jahrzehnte später 32 000 Einwohner geschätzt. Zur Bevölkerungsentwicklung Frankfurts siehe auch die folgenden Zahlen: 10 000 Einwohner (1385), 10 000–12 000 (1500), 12 000–14 000 (1555), 20 000 (1620), 17 000 (1655), 32 000 (1700) und 40 000 (1800). Die gerundeten Angaben sind zusammengestellt worden aus Konrad Bund: Frankfurt am Main im Spätmittelalter 1311–1519, in: Frankfurter Historische Kommission (Hrsg.): Frankfurt am Main (wie Anm. 14), S. 53–150, hier S. 66–70; Schindling: Wachstum und Wandel (wie Anm. 14), S. 209; Heinz Duchhardt: Frankfurt am Main im 18. Jahrhundert, in: Frankfurter Historische Kommission (Hrsg.): Frankfurt am Main (wie Anm. 14), S. 261–302, hier S. 261, 297; Kaltwasser (Bearb.): Inventar der Akten des Reichskammergerichts (wie Anm. 3), S. 34; Wolfgang Klötzer: Frankfurt am Main von der Französischen Revolution bis zur preußischen Okkupation 1789–1866, in: Frankfurter Historische Kommission (Hrsg.): Frankfurt am Main (wie Anm. 14), S. 303–348, hier S. 305. Die Zahl für das Jahr 1800 gibt nur die „richtige“ Stadtbevölkerung an; in den der Stadt gehörenden Dörfern (Nieder- und Oberrad, Bornheim, Hausen, Bonames, Dortelweil, Nieder-Erlenbach und Niederursel) leben nochmals ca. 5 000 bis 6 000 Personen.
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Kaiser und Reichstag im Devolutionskrieg, im Reunionskrieg und im Pfälzischen Erbfolgekrieg.¹⁹ Eine überraschende Auffälligkeit ist dennoch, dass das Frankfurter Prozessaufkommen von der Vertreibung des Gerichts aus Speyer kaum beeinflusst wurde. Zwar ist ein Absinken der Prozesszahlen von neun (1686) auf drei (1688) festzustellen, doch abgesehen vom Jahr 1689, in welchem kein Prozess nachweisbar ist, waren die Frankfurter in den Jahren 1690–1692 mit drei Prozessen pro Jahr vertreten. Im Jahr darauf (1693) wurde das Gericht in Wetzlar offiziell wiedereröffnet und wie aus großen Teilen des Reiches²⁰ gab es auch aus Frankfurt im ersten Wetzlarer Jahr ein sehr hohes Prozessaufkommen – 27 Prozesse bedeuten die höchste Anzahl aus einem einzigen Jahr überhaupt (für Frankfurt). Im Durchschnitt stieg die Inanspruchnahme durch Frankfurter Parteien bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts leicht an, jedoch ist gerade nach der Blockade des Gerichts durch die Politik des Präsidenten von Ingelheim ein massiver Bruch in der Frequentierung festzustellen.²¹ Die stärkste Inanspruchnahme kann zwischen 1715 und 1724 mit 126 Prozessen nachgewiesen werden. Eine Erklärung hierfür liefern die wieder steigende Akzeptanz des Gerichts und das Ende des Spanischen Erbfolgekrieges, welches zugleich die durch den Kaiser verfügte Wirtschaftsblockade gegen Frankreich beendete und so zu einem weiteren Zwischenhoch der Frankfurter Messe wie des Handels im Allgemeinen beitrug. Darüber hinaus fielen in diese Zeit die Nachwirkungen geplatzter Börsenspekulationen in England und den Niederlanden, deren Folgen auch in Frankfurter Prozessen aufgearbeitet werden
19 Zur Wirtschaftspolitik des Reiches im Rahmen der Auseinandersetzungen zwischen Frankreich und dem Alten Reich siehe z. B. Ingomar Bog: Der Reichsmerkantilismus. Studien zur Wirtschaftspolitik des Heiligen Römischen Reichs im 17. und 18. Jahrhundert (Forschungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 1). Stuttgart 1959, S. 142–151. Es ist ausdrücklich davor zu warnen, einen statischen Zusammenhang zwischen einem Steigen der Einwohnerzahl und einer stärkeren Inanspruchnahme des Reichskammergerichts zu erwarten. Dies ist wegen der zwischen den sozialen Schichten differierenden Zugangsmöglichkeiten zum Gericht ohne genauere Untersuchungen nicht möglich (für Hamburg hatte dies Tobias Freitag: Die Prozesse der Stadt Hamburg und ihrer Bewohner vor dem Reichskammergericht. Magisterarbeit Greifswald 2001, S. 22, festgehalten, und dies lässt sich auf Frankfurt übertragen). 20 Bernhard Diestelkamp / Hartmut Harthausen / Georg Schmidt-von Rhein: Das Reichskammergerichtsmuseum Wetzlar. Wetzlar 1987, S. 23; Baumann: Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit (wie Anm. 16), S. 133–135. Nach der Neuaufnahme der Tätigkeit des Gerichts lag die Zahl der jährlichen Prozesse zwischen 100 und 200 und ging in einzelnen Jahren sogar deutlich darüber hinaus. 21 Georg Schmidt-von Rhein: Das Reichskammergericht in Wetzlar (SGRKG, Bd. 9). Wetzlar 2000, S. 18. Nicht nur die Zahl der Frankfurter Fälle brach ein, sondern ebenso die hamburgische und die anderer Reichsstände: Freitag: Hamburg vor dem Reichskammergericht (wie Anm. 19), S. 25.
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mussten.²² In den folgenden drei Dekaden nahm die Frequentierung des Reichskammergerichts ab, stieg dann aber am Beginn der zweiten Jahrhunderthälfte nochmals an, um zum Ende des Jahrhunderts wieder leicht zu sinken. Dies ist insofern beachtenswert, weil offensichtlich weder der Siebenjährige Krieg und die französische Besetzung der Stadt noch die steigende Anzahl von Beschwerden über die Arbeit des Gerichts²³ die Frankfurter von dessen Nutzung abhalten konnten.²⁴
2.2 Auswirkungen von Konflikten auf Handelsgeschäfte Die Einflüsse vor allem überregionaler Konflikte und Kriege sind deutlich sichtbar geworden, so dass wir uns nun einigen konkreten Beispielfällen zuwenden wollen. Das heißt, wir begeben uns von der übergeordneten Ebene, auf der Konflikte ganz allgemein für eine geringere Inanspruchnahme des Gerichtes und damit für eine reduzierte Vermittlung und Rechtsprechung sorgten, auf die untergeordnete Ebene, bei der sich Auseinandersetzungen und Kriege in konkreten Prozessgegenständen sowie in den Argumentationen der beteiligten Parteien zeigen. In mehr als einem Dutzend Frankfurter Prozesse wurde aufgrund von Kriegsmateriallieferungen am Reichskammergericht prozessiert, darunter auch in den folgenden Fällen: 1798 zogen zwei Frankfurter Händler nach Wetzlar in einem Streit mit zwei Kaufleuten aus Siegen. Sie baten um die Möglichkeit einer Appellation trotz Überschreitens der Frist (wegen des Todes ihres Anwalts) im Verfahren gegen die Beklagten (Appellaten), bei denen sie Munition im Gesamtgewicht von 378 656 Pfund bestellt hatten. Die Beklagten, Betreiber einer Munitionsfabrik, lieferten die Ware von Siegen nach Frankfurt, allerdings konnten sich die Parteien trotz vertraglicher Festlegung über die Höhe der Frachtkosten nicht einigen (ca. 15 400 Gulden plus Zinsen). Wie es in der Akte heißt, war dieser Prozess eine der „traurigen Folgen des in diesem Jahrzehend zwischen kayserlicher Majestät und der französischen Republik geführten unseligen Krieges“ – gemeint ist hier natürlich der Revolutions- beziehungsweise Erste Koalitionskrieg in den 1790er Jahren.²⁵ 22 Siehe dazu etwa die Auseinandersetzungen zwischen den Bankiers de Rhon und der Firma Faesch: Riemer: Frankfurt und Hamburg (wie Anm. 1), S. 266f.; Kaltwasser (Bearb.): Inventar der Akten des Reichskammergerichts (wie Anm. 3), S. 849–852, R23, R26, R35. 23 Schmidt-von Rhein: Das Reichskammergericht (wie Anm. 21), S. 21. So ist von bestechlichen und parteilichen Richtern die Rede, doch dringend notwendige Visitationen, die diesen Missständen hätten abhelfen können, fanden in Kriegszeiten oder bei sonstigen Blockaden des Gerichts nicht statt. 24 1758 gelangten 18 Frankfurter Prozesse nach Wetzlar (nach 1693 die zweitgrößte Anzahl). 25 Kaltwasser (Bearb.): Inventar der Akten des Reichskammergerichts (wie Anm. 3), S. 247f., C9.
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Der im Jahr 1688 begonnene Krieg zwischen Frankreich und dem Reich – es handelt sich um den Pfälzischen Erbfolgekrieg – schlug sich auch in verschiedenen Verfahren nieder. So klagte der Frankfurter Messerschmied Johann Peter Feiner 1693 gegen einen Frankfurter Gasthalter und einen Schneider, mit denen er eine gemeinsame Sozietät gebildet hatte. Strittig war zwischen ihnen die Offenlegung beziehungsweise Teilung des Gewinns aus einem Geschäft mit dem Landgrafen Georg von Hessen-Darmstadt, dem sie 1688 ein Regiment mit 1 000 Fußsoldaten ausgerüstet hatten.²⁶ Der nachfolgende Auszug aus einer der Prozessakte beiliegenden Montierungsliste verdeutlicht den Umfang des getätigten Geschäfts und ermöglicht zugleich einen detaillierten Einblick in die Ausrüstung zeitgenössischer Infanterie. Vertrag zwischen dem Kommissar des Landgrafen Georg von Hessen und Johann Peter Feiner zu Frankfurt 1688 über eine völlige Ausstattung von Musketieren²⁷ #8 (Ausstattung der Musketiere): . . . die hierbey beschriebene völlige Montirung der einen Musquetierer nach der jenigen art, prob und gute, deren von jedem stück von beeden contrahirenden theilen eines verpitschieret worden umb bey der Liefferung die veraccordirte prob Jurechnen, des Herrn Landgrafens Fürstl. Dhlt. Allhier in Franckfurt zu lieffern, und zwar in folgenden stücken; Einen guten starken weißgrauen tuchenen Rock mit roher ohngebleichter Leinwand gefüttert und mit gelben aufschlägen von Tuch. Einen grauen Caput oder Regenrock mitt einem gelben Kragen. Einen Schwartzen Huth mitt einer falschen silbernen schnur eingefasset und einer falschen silbernen hutschnur.
26 Ebd., S. 335f., F31. Die Ausstattung von Soldaten (Montierung) war ein einträgliches Geschäft, welches bedingt durch die in der Frühen Neuzeit häufigen Kriege und militärischen Scharmützel immer Konjunktur hatte und im Gegensatz zum anderen Handel von der unsicheren Lage profitierte. Die Einhaltung von Lieferverträgen und deren pünktliche Umsetzung war für den anfordernden Kriegsherren lebenswichtig, da die Söldnerheere wegen Versorgungsmängeln (oder noch schlimmer: ausstehendem Sold) leicht außer Kontrolle gerieten. So meuterte die habsburgische Armee in den Niederlanden zwischen 1572 und 1607 46 Mal, d. h. im Schnitt einmal pro Jahr. In diesem Zusammenhang wird die Bedeutung privater Finanziers von Territorialherren deutlich, die nicht nur die Hofhaltung, sondern auch die Armeen ihrer Schuldner kreditierten. Da Krieg ein teures Geschäft war – besonders die Artillerie kostete enorm viel –, reichten selbst diese Finanzhilfen meist nicht aus, weswegen die Krieg führenden Parteien zu alternativen Finanzierungsmethoden wie der Münzverschlechterung und dem Verkauf militärischer Ämter (z. B. der Posten eines Regiments-Obersten) griffen. Paul Kennedy: Aufstieg und Fall der großen Mächte. Ökonomischer Wandel und militärischer Konflikt von 1500–2000. Frankfurt a. M. 2000, S. 126–128; Riemer: Frankfurt und Hamburg (wie Anm. 1), S. 246, Anm. 163. 27 Kaltwasser (Bearb.): Inventar der Akten des Reichskammergerichts (wie Anm. 3), S. 335f., F31 #8 (Ausrüstung der Musketiere). Zu den Abkürzungen: fl = Gulden, kr = Kreuzer.
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Einem halstuch. Zweyen Hembdern. Einem paar guten kalbfellenen hosen. Einem paar wollenen Weißgrauen Strümpfen. Einem paar guter Schuhe. Einem Leibgeheng von Büffelledder zur Bayonette. Einer Bayonette. Einem rantzen von rauhem Kalbfell. Einer patron Taschen mitt einem breiten Büffelriemen, schnalle und rauher Kalbfellenen decke. Einer Monsquette, welche nach dem Modell, wir Sie verpitschirt, sambt einem Leddernen riemen sein soll. Einer blechernen halbmäßigen flasche mitt einem Leddernen riemen. (im Gesamtpreis zu 19 fl 30 kr pro Ausrüstung [Nettopreis 15 fl 41 kr]) [. . . ] . . . in allem aber die Liefferung so eingerichtet werde, daß die völlige Montirung der fünffhundert Mann innerhalb denen vorgesetzten acht wochen gelieffert sey.
Ein zeitgleich ablaufender Konflikt war der Große Türkenkrieg von 1683 bis 1699 zwischen der Heiligen Liga und dem Osmanischen Reich. Einen Teil der Montierung der Ligatruppen der Republik Venedig übernahmen mehrere Frankfurter Kaufleute – darunter der bereits erwähnte Johann Peter Feiner –, die sich wegen wechselseitiger Schadenersatzansprüche in Wetzlar gegenüber standen.²⁸ Dieser Fall zog drei weitere nach sich, weil die Verteilung und Weiterreichung der aus Venedig ins Reich transferierten Gelder strittig war.²⁹
28 Kaltwasser (Bearb.): Inventar der Akten des Reichskammergerichts (wie Anm. 3), S. 460, H56. 29 Ebd., S. 1096–1100, Z7, Z8, Z9. 1693 landete der spätere RKG-Fall Z7 zunächst vor dem Frankfurter Schöffengericht, wo sich der Frankfurter Bürger und Kaufmann Johann Zwierlein und der kurpfälzische Agent Georg Christoph Hofmann als Beklagte des erwähnten Montierungsgeschäfts wiederfanden. Das Gericht hatte den Klägern Johann Peter Feiner und Georg Gundelach 3 000 Gulden aus den Montierungsverträgen für die Republik Venedig zugesprochen und die beiden Erstgenannten appellierten dagegen beim Reichskammergericht und forderten die Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und Abweisung der monetären Forderung. Die ursprünglichen Kläger und jetzigen Appellaten waren vom Auftraggeber der Montierung (Prinz Wilhelm von Nassau) beziehungsweise seinem Bevollmächtigten (Baron Johann Baptist Derby, Vicomte de Menteich) mit einer Anweisung auf Zwierlein bezahlt worden, wobei die Appellanten gleichzeitig einen Teil der Werbe- und Marschgelder vorstrecken sollten, für die Zwierlein in Venedig mit Donativgeldern der Republik Venedig, also Zahlungen, die deren Einwohner zur Unterstützung des Krieges gegen die Osmanen geleistet hatten, kompensiert wurde. Dabei erhielt er auch die Gelder für die Montierung der geworbenen und nach Venedig transferierten Truppen, die Feiner und Gundelach zustanden und um die nun prozessiert wurde. Die Prozesse Z8 und Z9 führte Zwierlein gegen den kurpfälzischen Hauptmann Charles Hallewein, der Anwerbung und Transport der Soldaten übernommen, sowie gegen Oberst Derby, der als Bevollmächtigter Nassaus das Regiment
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Alle drei hier vorgestellten Beispiele betreffen Fälle, aus denen sich nur mittelbar ein Bezug zu direkten Kriegshandlungen herstellen lässt. Daher betrachten wir beispielhaft vier weitere Fälle, bei denen direkte Kriegsfolgen zu konstatieren sind. In einem der ältesten Frankfurter Prozesse von 1499 widersprachen die Stadt Frankfurt und die dortige jüdische Gemeinde einer von König Maximilian für den Krieg gegen die Schweizer kurzfristig erlassenen Steuer von 2 000 Gulden auf die jüdischen Gemeinden in Frankfurt, Worms, Braunschweig, Mühlhausen und Northeim. Die Stadt Frankfurt machte im Widerspruch zum Reichsoberhaupt ihren alleinigen Anspruch auf Steuererhebung bei ihrer jüdischen Gemeinde gegenüber dem Reichshauptmann Ritter Siegmund Rohrbach, dem königlichen Steuereintreiber, geltend.³⁰ Im Jahr 1638 wiederum lagen die Grafen zu Stolberg-Königstein (Königstein im Taunus) in einem kriegsbedingten Streit um den gemeinsamen Besitz und Gebrauch eines Weinzehnten (zu Bergen und Seckbach). Was war geschehen? Zwischen 1635 und 1638 machte „allerhand streunende[s] Kriegsvolk“ die Gegend in dieser frühen Phase des Französisch-Schwedischen Krieges innerhalb des Dreißigjährigen Krieges unsicher, so dass der Kläger die Weinberge brach liegen, während der Beklagte diese unter Gefahr und erheblichen Kosten bearbeiten ließ. Letzterer weigerte sich, die Einnahmen für den Wein zu teilen – es sei denn, die ihm entstandenen Kosten würden ebenfalls geteilt.³¹ In der Spätphase des Spanischen Erbfolgekrieges im frühen 18. Jahrhundert gründeten Friedrich du Fay und Abraham Ludwig Pasche eine Handelsgesellschaft, die letztlich Forderungen in Höhe von mehr als 7 700 Reichstalern gegenüber dem säumigen Kriegslieferanten Mohr von Mohrenfeld geltend machte.³² Im Jahr 1801 schließlich widersprach die jüdische Gemeinde in Frankfurt der Stadt wegen der wöchentlichen Erhebung von 1 000 Gulden Einquartierungsgeld zur Versorgung der französischen Besatzungstruppen. Grundsätzlich war diese städtische Forderung aber nicht ungewöhnlich – in der Akte finden sich entsprechende Regelungen für die Jahre 1634 und 1759, also den Dreißigjährigen und den Siebenjährigen Krieg.³³
befehligte und der ursprünglich die Vollmacht zur Annahme und Verteilung der Donativgelder an Zwierlein weitergegeben hatte. 30 Ebd., S. 322f., F15a. 31 Ebd., S. 959f., S130. 32 Amend-Traut: Bretano, Fugger und Konsorten (wie Anm. 1), S. 38. 33 Kaltwasser (Bearb.): Inventar der Akten des Reichskammergerichts (wie Anm. 3), S. 597f., J212.
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3 Zusammenfassung Ein Zusammenhang zwischen der Tätigkeit des Reichskammergerichts und (militärischen) Konflikten ist an dem hier gewählten Einzelbeispiel der Reichsstadt Frankfurt am Main in verschiedenen Varianten nachweisbar. Einerseits beeinflussten solche Auseinandersetzungen die Inanspruchnahme des Gerichts und dessen Handlungsfähigkeit, andererseits entstanden als ungerecht oder unangemessen empfundene finanzielle Verpflichtungen oder die ordnungsgemäße Abwicklung von Handelsgeschäften litt. So begegnen uns in mehreren Prozessen Hinweise, dass Parteien die Nicht- oder Schlechtlieferung von Waren als Kriegsfolge deklarierten, um so von der Vertragserfüllung oder wenigstens den anstehenden Schadensersatzforderungen entbunden zu werden. Dabei ist nicht immer klar, ob es sich um tatsächliche oder nur vorgeschobene Einwände handelte.³⁴ Darüber hinaus fällt eine dritte Variante auf – der Streit um Geschäfte mit Kriegslieferungen in Konflikten, die das Reich selbst lediglich tangierten oder gar nicht betrafen. Hinsichtlich der Inanspruchnahme des Reichskammergerichts durch die Frankfurter Prozessparteien wird deutlich, dass Blockaden am Gericht selbst die Zahl der nach Speyer und Wetzlar getragenen Prozesse einbrechen ließen, während ansonsten die lokalen beziehungsweise regionalen Ereignisse – etwa in Form von Krieg – den Zugang zum Gericht regelten. Ein hier aus Gründen der Themenbegrenzung nicht zu leistender Vergleich mit Hamburg³⁵ würde in einer ausführlichen Untersuchung sicherlich Abweichungen zwischen beiden Städten sichtbar machen (etwa hinsichtlich des bereits erwähnten Fettmilch-Aufstandes in Frankfurt), aber die Aussage zum Einfluss solcher Ereignisse auf die Inanspruchnahme bleibt davon unberührt. Denn wie etwa unsichere Zukunftsaussichten, die Prioritätensetzung der Prozessparteien oder die Beeinflussung des Gerichts im Falle reichsweiter Kriege deutlich machen, bestand ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen kriegerischen Konflikten und der Inanspruchnahme des Reichskammergerichts. Darüber hinaus wurde das Prozessaufkommen von kriegerischen Konflikten durch das Aufkommen einer speziellen Gruppe von Fällen beeinflusst, die unmittelbar aus diesen kriegerischen Konflikten resultierten, sei es hinsichtlich von militärischen Ausrüstungsverträgen oder den ebenso bereits erwähnten Bankrotten aufgrund von Kriegsfinanzierung.
34 Vgl. Riemer: Frankfurt und Hamburg (wie Anm. 1), S. 359f. 35 Siehe dazu ausführlich in Riemer: Frankfurt und Hamburg (wie Anm. 1), die Kapitel zur Hamburger Inanspruchnahme des Reichskammergerichts (S. 34–44) und den Hamburger Handelsprozessen in Speyer und Wetzlar (S. 195–224).
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Eine sehr viel detailliertere Untersuchung der einzelnen Prozesse, der Gegenstände, Beteiligten und Argumente sowie eine Heranziehung der relevanten Fälle aus dem gesamten Bestand der Überlieferungen zum Reichskammergericht³⁶ oder zumindest weiteren Städten und Territorien kann sicherlich weitere spannende Details liefern.
36 Der Gesamtbestand erschließt sich u. a. über die diversen Findbücher oder über den elektronischen Zugriff über die aus einem Projekt von Bernd Schildt entstandene Datenbank (siehe dazu einführend Bernd Schildt: Inhaltliche Erschließung und ideelle Zusammenführung der Prozessakten des Reichskammergerichtes mittels einer computergestützten Datenbank, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 25 [2003], S. 269–290).
Ulrike Schillinger
Die Neue Rottweiler Hofgerichtsordnung von 1572 1 Einleitung Im Folgenden soll die Neuordnung des Verfahrens am Hofgericht Rottweil durch die Prozessordnung von 1572 skizziert werden, wobei auf die Problemstellung sowie die Ergebnisse der diesem Beitrag zugrundeliegenden Dissertation der Verfasserin¹ Bezug genommen wird. Zudem soll der Versuch unternommen werden, das Rottweiler Hofgericht sowie die Neuordnung seines Prozesses in den Kontext zur bisherigen Forschung zum Reichskammergericht und zum Reichshofrat zu setzen. Zur Einführung wird zunächst ein Überblick über das Rottweiler Hofgericht sowie zum Forschungsstand gegeben.
2 Grundlegend zum Rottweiler Hofgericht Im Südwesten des Alten Reiches wurden im beginnenden Spätmittelalter in Ergänzung zum Reichshofgericht sogenannte Landgerichte tätig, die sich seit dem 14. Jahrhundert als kaiserlich bezeichneten.² Während einige dieser Landgerichte ihre Wurzeln in Reichsgutgerichten beziehungsweise Reichs- und später Landvogteien hatten, entwickelten sich andere aus „öffentlichen Landgerichten reichslehnshängiger echter Grafschaften“.³ Der Ursprung des Rottweiler Hofgerichts wird dabei überwiegend in einem königlichen Patrimonial- und Domanialgericht an
1 Die sich bereits in einem fortgeschrittenen Stadium befindende Dissertation trägt den Arbeitstitel „Die Neuordnung des Prozesses am Hofgericht Rottweil“. Sie entsteht an der Universität Bayreuth unter Betreuung von Prof. Dr. Bernd Kannowski. 2 Georg Grube: Die Verfassung des Rottweiler Hofgerichts (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B Forschungen, Bd. 55). Stuttgart 1969, S. 8. 3 Friedrich Merzbacher: Art. Landgericht, in: Adalbert Erler / Ekkehard Kaufmann (Hrsg.): Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte (künftig: HRG), Bd. 2. 1. Aufl. Berlin 1978, Sp. 1495–1501, hier Sp. 1499. Überblicksartig zu den Landgerichten: Hans Erich Feine: Die kaiserlichen Landgerichte in Schwaben im Spätmittelalter, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung (künftig: ZRG GA) 66 (1948), S. 148–235. Im Übrigen Grube: Die Verfassung (wie Anm. 2), S. 8.
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der Königsburg gesehen,⁴ das für die Bewohner der königlichen Ländereien, die Reichsbeamten und die Schutzkirchen zuständig war.⁵ Zu den wichtigsten kaiserlichen Landgerichten zählten neben dem Rottweiler Hofgericht das Landgericht des Burggrafentums Nürnberg, das Würzburger Landgericht und das Landgericht in Schwaben.⁶ Die kaiserlichen Landgerichte waren für die in ihrem Wirkungsbereich gesessenen Reichsunmittelbaren zuständig. Ihre Hauptaufgabe bestand in der Beurkundung jeglicher Art von Schriftstücken, weshalb sie auch als „Notariatskollegien“⁷ bezeichnet wurden.⁸ Daneben waren sie in streitigen Sachen tätig, wobei die meisten kaiserlichen Landgerichte – hierunter auch das Rottweiler Hofgericht – die Blutgerichtsbarkeit nicht innehatten.⁹
4 Feine: Die kaiserlichen Landgerichte (wie Anm. 3), S. 160–163; Grube: Die Verfassung (wie Anm. 2), S. 10f.; Robert Scheyhing: Das kaiserliche Landgericht auf dem Hofe zu Rottweil, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte (künftig: ZWLG) 20 (1962), S. 83–95, hier S. 86–88. Nach anderen Ansichten wird der Ursprung des Gerichts in einem schwäbischen Herzogsgericht, in einem Grafschaftsgericht oder in der Landvogtei Niederschwaben gesehen. Siehe zum Herzogsgericht Heinrich Glitsch / Karl Otto Müller: Die alte Ordnung des Hofgerichts zu Rottweil (um 1435), in: ZRG GA 41 (1920), S. 281–369, hier S. 285, und Helmut Maurer: Rottweil und die Herzöge von Schwaben. Zu den hochmittelalterlichen Grundlagen des Rottweiler Hofgerichts, in: ZRG GA 85 (1968), S. 59–77, hier S. 71, 77; zum Grafschaftsgericht Franz Ludwig Baumann: Die Gaugrafschaften im Wirtembergischen Schwaben. Ein Beitrag zur historischen Geographie Deutschlands. Stuttgart 1879, S. 163f.; Hans Greiner: Das ältere Recht der Reichsstadt Rottweil. Mit geschichtlicher und sprachlicher Einleitung. Stuttgart 1900, S. 25f., und Max Speidel: Das Hofgericht zu Rottweil. Ein Beitrag zu seiner Geschichte unter der Herrschaft der Alten Hofgerichtsordnung. Rottweil 1914, S. 4, 6; zur Landvogtei Hans Niese: Die Verwaltung des Reichsgutes im 13. Jahrhundert. Ein Beitrag zur deutschen Verfassungsgeschichte. Innsbruck 1905, S. 203, 295f. 5 Speidel: Das Hofgericht zu Rottweil (wie Anm. 4), S. 1–3. 6 Ferner bestanden kaiserliche Landgerichte in Rothenburg ob der Tauber, Schweinfurt, Wimpfen, Bamberg, in der Baar zu Fürstenberg, im Hegau, im Albgau zu Stühlingen, im Klettgau, im Thurgau und in Rankweil: Grube: Die Verfassung (wie Anm. 2), S. 8. Oestmann nennt darüber hinaus Ulm und Zürich: Peter Oestmann: Art. Hofgerichte, in: HRG, Bd. 2. 2. Aufl. Berlin 2012, Sp. 1087–1091, hier Sp. 1088. 7 Werner Meyer: Die Verwaltungsorganisation des Reiches und des Hauses Habsburg-Oesterreich im Gebiet der Ostschweiz. 1264–1460. Diss. phil. Affoltern am Albis 1933, S. 200. 8 Joachim Fischer: Das kaiserliche Landgericht Schwaben in der Neuzeit, in: ZWLG 43 (1984), S. 237–286, hier S. 241; Grube: Die Verfassung (wie Anm. 2), S. 8. 9 Merzbacher: Landgericht (wie Anm. 3), Sp. 1499. Die Blutgerichtsbarkeit hatte ein Pürschgericht inne, welches für Straftaten zuständig war, die in der Rottweiler Pürsch (auch Pirsch genannt) begangen wurden. Bei der Pürsch handelt es sich um ein verstreutes Gebiet, welches aus der ehemaligen Reichsvogtei Oberschwaben hervorgegangen war: Grube: Die Verfassung (wie Anm. 2), S. 13.
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Das Rottweiler Hofgericht wird erstmals im Jahre 1290 in einer Urkunde Kaiser Albrechts I. erwähnt, in der er die Stadt Rottweil vom Gerichtszwang jeglicher fremder Gerichte, auch der des Hofgerichts, befreite.¹⁰ Etwa seit der Mitte des 15. Jahrhunderts bezeichnete sich das Rottweiler Landgericht als kaiserliches Hofgericht.¹¹ Diese Bezeichnung ist wohl auf den im Jahr 771 in den Urkunden erscheinenden ehemaligen Königshof Rotuvilla zurückzuführen,¹² in dessen unmittelbarer Nähe sich die Gerichtsstätte des Hofgerichts befand.¹³ In seiner produktivsten Zeit (circa 1360 bis 1494) wirkte das Rottweiler Hofgericht weit über Schwaben hinaus.¹⁴ Es machte sich dabei insbesondere durch seine Beurkundungstätigkeit einen Namen.¹⁵ Daneben baute es seine richtende Tätigkeit in streitigen Sachen immer weiter aus.¹⁶ Aus dieser Zeit stammt auch die um 1435 verfasste Alte Hofgerichtsordnung des Gerichts.¹⁷ Sie gab unter anderem vor, dass neben dem – aus den Reihen der Grafen von Sulz kommenden – Hofrichter beziehungsweise seinem Statthalter 13 Rottweiler Bürger, darunter der Bürgermeister, als Urteilsprecher am Rottweiler Hofgericht wirken sollten.¹⁸ Das Rottweiler Hofgericht konkurrierte dabei mit anderen Land-, Territorialund Stadtgerichten, im Speziellen im Südwesten und in Franken. Es konnte sich
10 Heinrich Günter: Urkundenbuch der Stadt Rottweil, Bd. 1 (Württembergische Geschichtsquellen, Bd. 3). Stuttgart 1896, Nr. 57, S. 19f. 11 Günter: Urkundenbuch der Stadt Rottweil, Nr. 1011a, S. 423 (wie Anm. 10), bzw. Hauptstaatsarchiv Stuttgart (künftig: HStASt) C1 Bü 108, unfol. 12 Jürgen Sydow: Städte im deutschen Südwesten. Ihre Geschichte von der Römerzeit bis zur Gegenwart. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1987, S. 23. 13 Grube: Die Verfassung (wie Anm. 2), S. 10. 14 Grube: Die Verfassung (wie Anm. 2), S. 20f. Einen großen Sprengel nennen auch die Alte und die Neue Hofgerichtsordnung: Alte Hofgerichtsordnung, Teil 1 Tit. 6, abgedruckt bei Glitsch/Müller: Die alte Ordnung (wie Anm. 4), S. 312–369, hier S. 319; Neue Hofgerichtsordnung, Teil 2 Tit. 1, fol. 30rv. Letztere Ordnung wird hier nach der 1573 zu Mainz gedruckten Ausgabe zitiert. Sie trägt den Titel „Ernewerte Ordnung der Rö[mischen] Kay[serlichen] Met. [Majestät] Kaiserlichen Hoffgerichts zü Rottweil“. 15 Feine: Die kaiserlichen Landgerichte (wie Anm. 3), S. 155f.; Fischer: Das kaiserliche Landgericht Schwaben (wie Anm. 8), S. 241; Grube: Die Verfassung (wie Anm. 2), S. 12–14, 42f. 16 Grube: Die Verfassung (wie Anm. 2), S. 26, 75f. 17 Edition der Handschrift bei Glitsch/Müller: Die alte Ordnung (wie Anm. 4), S. 312–369. Als Urheber wird der Stadt- und Hofgerichtsschreiber Jodocus von Pfullendorf vermutet. Siehe hierzu Wolfgang Irtenkauf : Die Rottweiler Hofgerichtsordnung (um 1430) (Litterae. Göppinger Beiträge zur Textgeschichte, Nr. 74). Göppingen 1981, S. 8, und Karl-Otto Müller: Zur Datierung der Handschrift der alten Rottweiler Hofgerichtsordnung um 1435, in: Württembergische Vierteljahreshefte für Landesgeschichte, NF. 31 (1925), S. 280–290, hier S. 280f. 18 Alte Hofgerichtsordnung (wie Anm. 14), Teil 1 Tit. 1, S. 316f.; Neue Hofgerichtsordnung (wie Anm. 14), Teil 1 Tit. 1, fol. 1v.
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jedoch während des 14. und 15. Jahrhunderts eine Art übergeordnete Stellung mit Blick auf die anderen kaiserlichen Landgerichte erarbeiten. Die Alte Hofgerichtsordnung nennt in diesem Zusammenhang Fälle, in denen aus Rottweiler Sicht andere Landgerichte ihren Wirkungskreis überschritten hätten oder schwere Fehler im Verfahren vorgefallen wären.¹⁹ Von einer eigentlichen Berufung an das Rottweiler Hofgericht kann man jedoch vor dem Hintergrund von Teil 5 Titel 16 der Alten Hofgerichtsordnung, der ausdrücklich eine inhaltliche Überprüfung von Urteilen anderer Gerichte durch das Hofgericht untersagt, nicht ausgehen.²⁰ Alle reichsunmittelbaren, in seinem Wirkungsbereich sesshaften Personen und Institutionen waren dem Rottweiler Hofgericht grundsätzlich unterworfen.²¹ Allerdings begehrte schon früh eine stetig wachsende Zahl von territorialen Obrigkeiten, Städten und Personen die Befreiung von diesem Gerichtszwang durch den Kaiser. Trotz vielfacher Bemühungen des Gerichts, solchen Befreiungen entgegenzuwirken – unter anderem durch die verschärften Anforderungen des Abforderungsverfahrens²² und die Ehehaftsfälle, also Fälle, in denen das Hofgericht trotz Exemtion seine Zuständigkeit behielt²³ – erteilte der Kaiser immer mehr Exemtio-
19 Alte Hofgerichtsordnung (wie Anm. 14), Teil 5 Tit. 16, S. 335f.; Teil 6 Tit. 1, S. 338; Teil 8, S. 341f.; Teil 9 Tit. 15, S. 350f., und Teil 11 Tit. 15, S. 367f. Die Neue Hofgerichtsordnung qualifiziert das Überschreiten des Wirkungskreises durch ein anderes Landgericht als Ehehaftstatbestand: Neue Hofgerichtsordnung (wie Anm. 14), Teil 2 Tit. 5 § 14, fol. 37rv. 20 Alte Hofgerichtsordnung (wie Anm. 14), Teil 5 Tit. 1, S. 335f. lautet: Item wer dehain gericht fürvordert und latt umb das das er maint, er sige durch des selben gerichcz urtail beswaert und im anders geurtailt, denn recht ist, da denn der cleger mit wilkür in das selb recht getreten ist, sölichs rechtvertiget das hofgericht nit, denn warüber geurtailt ist, dabi lat man das beliben. Dann so verre von der lantgericht wegen, die da über griffend und richtend über die si nit ze richten hand, die werdend darumb fürgenomen als hernach begriffen ist. 21 Friedrich Thudichum: Geschichte der Reichsstadt Rottweil und des Kaiserlichen Hofgerichts daselbst (Tübinger Studien für Schwäbische und Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2, H. 4). Tübingen 1911, S. 74. 22 Alle Reichsunmittelbaren, die sich im Einzugsbereich des Hofgerichts befanden und im Allgemeinen oder Besonderen von Römischen Kaisern oder Königen von der Zuständigkeit des Rottweiler Hofgerichts durch ein Exemtionsprivileg befreit wurden, konnten sich selbst oder ihre Untertanen bei Ladung vor das Hofgericht an ein anderes Gericht verweisen lassen. Dieses Ersuchen um Verweisung, die Abforderung, musste vor Gericht geschehen. Das Exemtionsprivileg war im Original oder in einem vom Rottweiler Hofgericht ausgestellten Vidimus vorzulegen. Zum Ganzen siehe Neue Hofgerichtsordnung (wie Anm. 14), Teil 2 Tit. 4, fol. 32v–34r. 23 Der Begriff Ehaft ist bedeutungsreich und wurde infolgedessen in unterschiedlichen Bedeutungszusammenhängen verwendet. Werkmüller nennt im Eintrag zu Ehaft im HRG unter anderem die ehaft not im Sinne von echter Not, darüber hinaus Bedeutungen wie ‚gesetzlich‘, ‚rechtlich‘, ‚richtig‘, ‚berechtigt‘, ‚vorschriftsmäßig‘, ‚rechtsgültig‘ und ‚rechtskräftig‘: Dieter Werkmüller: Art. Ehaft, in: HRG, Bd. 1, 2. Aufl. Berlin 2008, Sp. 1191f., hier Sp. 1191. Der Begriff wurde jedoch vorwie-
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nen von der Zuständigkeit des Rottweiler Hofgerichts. Auch das im Jahre 1495 ins Leben gerufene und in der Tradition des königlichen beziehungsweise kaiserlichen Kammergerichts stehende Reichskammergericht trug zum Abstieg des Rottweiler Hofgerichts bei.²⁴ Aus einem anfänglichen Konkurrenzverhältnis entwickelte sich sogar schnell ein Subordinationsverhältnis: Vom Hofgericht war, wie auch schon zum königlichen beziehungsweise kaiserlichen Kammergericht, die Appellation an das Reichskammergericht möglich.²⁵ Weitere Konkurrenz erwuchs dem Hofgericht von Seiten der Territorien, die damit begannen, ihre eigenen Gerichtsbarkeiten zu etablieren und diese mit Privilegien de non evocando und de non appellando zu schützen.²⁶ Die seit der Errichtung des Reichskammergerichts vermehrt zu hörenden Klagen der Stände über das Hofgericht, insbesondere auf den Reichstagen,²⁷ führten zu einer Visitation des Hofgerichts im Jahre 1571 und im Zuge dessen zur Formulierung einer Neuen Hofgerichtsordnung,²⁸ welche ab 1572 Geltung hatte. Gegen die zunehmenden Beschwerden über das Hofgericht und die Befreiungen von dessen Zuständigkeit sowie die Nichtdurchsetzbarkeit seiner Urteile konnte jedoch auf lange Sicht auch diese Neuerung nichts ausrichten. 1692 stellte das Gericht seine letzte Urkunde aus;²⁹ am 22. Juni 1784 fand die letzte Gerichtsverhandlung statt.³⁰ Offiziell aufgelöst wurde das Rottweiler Hofgericht jedoch nie.
gend im Kontext von Entschuldigungsgründen, insbesondere für Säumnis, verwendet: Michael Jack: Die Ehafte des Hofgerichts Rottweil vor dem Reichskammergericht (Bochumer Forschungen zur Rechtsgeschichte, Bd. 6). Aachen 2012, S. 25. 24 Thudichum: Geschichte der Reichsstadt Rottweil (wie Anm. 21), S. 85. 25 Neue Hofgerichtsordnung (wie Anm. 14), Teil 3 Tit. 17, fol. 53rv. 26 Grube: Die Verfassung (wie Anm. 2), S. 33, 39, 63. 27 Hier sind vor allem der Reichstag zu Augsburg 1566 und der Reichstag zu Speyer 1570 zu nennen. Zu den Beschwerden im Jahre 1566: Maximilian Lanzinner / Dietmar Heil (Bearb.): Deutsche Reichstagsakten. Reichsversammlungen 1556–1662. Der Reichstag zu Augsburg 1566, 1. Teilbd. München 2002, S. 851f.; 2. Teilbd. München 2002, S. 995. Zu den Beschwerden im Jahr 1570: Maximilian Lanzinner (Bearb.): Deutsche Reichstagsakten, Reichsversammlungen 1556–1662. Der Reichstag zu Speyer 1570, 1. Teilbd. Protokolle. Göttingen 1988, S. 266f.; 2. Teilbd. Akten und Abschied. Göttingen 1988, S 1228f. 28 Diese Visitation samt Errichtung einer neuen Hofgerichtsordnung kündigte Kaiser Maximilian II. mit Brief vom 26. Februar 1571 dem Hofrichter und den Urteilsprechern an (HStASt, C1 Bü 9, unfol.). 29 HStASt, C1 Bü 324 (12./15. Januar 1692), unfol.; Grube: Die Verfassung (wie Anm. 2), S. 80. 30 Heinrich Ruckgaber: Geschichte der Frei- und Reichsstadt Rottweil, Bd. 2, Abt. 1. Rottweil 1836, S. 114–119.
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3 Forschungsstand zum Hofgericht Rottweil Die meisten Abhandlungen zum Rottweiler Hofgericht gehen auf das erste Viertel des 20. Jahrhunderts zurück und konzentrieren sich auf die Entstehung des Gerichts, seine Zuständigkeit, das Gerichtspersonal sowie die Alte Hofgerichtsordnung. Hier sind unter anderem Josef Kohler,³¹ Friedrich Thudichum³² und Max Speidel³³ zu nennen. Hervorzuheben sind ferner Heinrich Glitsch und Karl Otto Müller, die im Jahre 1920 die von ihnen wieder aufgefundene Handschrift der Alten Hofgerichtsordnung samt Anmerkungen zum Fund und zur Handschrift veröffentlichten.³⁴ Nach vereinzelten Beiträgen zum Rottweiler Hofgericht etwa von Hans Erich Feine³⁵ und Robert Scheyhing³⁶ folgte 1969 das wohl ausführlichste im 20. Jahrhundert zum Rottweiler Hofgericht erschienene Werk. Georg Grube befasst sich darin in einer detaillierten und quellenintensiven Untersuchung zum einem mit der Geschichte des Hofgerichts, zum anderen – im Hauptteil des Buches – mit den Personen des Hofgerichts.³⁷ Adolf Laufs wiederum untersuchte 1993 die Verflechtungen zwischen der Stadt Rottweil und dem Hofgericht als „Residenz des Rechts“.³⁸ In seiner 2008 erschienenen Dissertation befasste sich ferner Stefan Lang mit dem jüdischen Leben im Südwesten des Reiches während der Frühen Neuzeit. Dabei setzte er sich mit den Beschwerden des Schwäbischen Kreises über die Vielzahl von jüdischen Prozessen vor dem Rottweiler Hofgericht auseinander.³⁹ Jüngst (im Jahre 2012) erschienen ist die Arbeit von Michael Jack über die Ehehaften des Rottweiler Hofgerichts vor dem Reichskammergericht.⁴⁰ Jack untersuchte dabei die einzelnen seitens des Hofgerichts vorgebrachten Ehehaftstatbe-
31 Josef Kohler: Das Verfahren des Hofgerichts Rottweil (Urkundliche Beiträge zur Geschichte des bürgerlichen Rechtsganges, H. 1). Berlin 1904. 32 Thudichum: Geschichte der Reichsstadt Rottweil (wie Anm. 21). 33 Speidel: Das Hofgericht zu Rottweil (wie Anm. 4). 34 Glitsch/Müller: Die alte Ordnung (wie Anm. 4). 35 Feine: Die kaiserlichen Landgerichte (wie Anm. 3). 36 Scheyhing: Das kaiserliche Landgericht (wie Anm. 4). 37 Grube: Die Verfassung (wie Anm. 2). 38 Adolf Laufs: Die Verfassung und Verwaltung der Stadt Rottweil, 1650–1806 (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe B Forschungen, Bd. 22). Stuttgart 1963. 39 Stefan Lang: Ausgrenzung und Koexistenz. Judenpolitik und jüdisches Leben in Württemberg und im „Land zu Schwaben“ (1492–1650) (Schriften der südwestdeutschen Landeskunde, Bd. 63). Ostfildern 2008, S. 221–228. 40 Jack: Die Ehafte (wie Anm. 23). Jack beschreibt sechs Gruppen von Ehehaftstatbeständen: 1. Geächtete und Gebannte, 2. (Faktische) Prorogation durch Vertragsklauseln, 3. Rechtsverweigerung
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stände und teilte diese in Gruppen ein. Daneben erörterte er aus der Perspektive des Reichskammergerichts und unter Zuhilfenahme der Datenbank zur „Erfassung und inhaltlichen Erschließung der Prozessakten des Reichskammergerichts (1495–1806)“⁴¹ die Argumentationen der Parteien, die an das Rottweiler Hofgericht appelliert hatten.
4 Gegenstand, Aufbau und Ergebnisse der Untersuchung In meiner Untersuchung betrachte ich die von der Forschung weitgehend unberücksichtigte Neue Hofgerichtsordnung von 1572. Grube und Jack beziehen die Ordnung zwar auch in ihre Forschungen mit ein,⁴² das in der Neuen Hofgerichtsordnung dargestellte Verfahren ist allerdings bislang noch nicht thematisiert worden. So stellen Kohler und Thudichum lediglich am Rande fest, dass die Ordnung der Reichskammergerichtsordnung von 1555 nachgebildet sei und keinen großen Eigenwert besitze.⁴³ Grube hingegen betont, dass dies noch zu untersuchen sei.⁴⁴ Die Untersuchung möchte dementsprechend den Fragen nachgehen, inwieweit die Reichskammergerichtsordnung von 1555 die Neue Hofgerichtsordnung geprägt hat und ob bei der Errichtung der Neuen Hofgerichtsordnung auch auf die um 1435 entstandene Alte Hofgerichtsordnung zurückgegriffen wurde. Kam dabei der Antrieb, eine neue Ordnung zu schaffen, von außen und/oder von innen? Wer nahm Einfluss auf die Ausgestaltung der Neuen Hofgerichtsordnung? Welche Ziele wurden mit der Neuordnung des Prozesses verfolgt und wurden diese Ziele erreicht? Schließlich soll untersucht werden, welche Stellung das Rottweiler Hofgericht sowohl vor als auch nach der Reformierung seiner Ordnung im Südwesten des Reiches hatte.
und Vollstreckungssachen, 4. Landfriedenssachen/Kriminalität, 5. Einzelne Sonderkompetenzen des Reichs und des Hofgerichts, 6. Angelegenheiten des Hofgerichts, ebd., S. 3f. 41 Die Mitte der 1990er Jahre von Prof. Dr. Bernd Schildt (Ruhr-Universität Bochum) begründete Datenbank enthält Informationen aus ca. 70 000 vor dem Reichskammergericht geführten Prozessen. Näheres hierzu unter http://www.jura.uni-wuerzburg.de/lehrstuehle/amend_traut/ forschungsprojekt_datenbank_hoechstgerichtsbarkeit/ (abgerufen am: 13. 07. 2014). 42 Grube: Die Verfassung (wie Anm. 2), S. 52–58; Jack: Die Ehafte (wie Anm. 23), S. 28f. 43 Kohler: Das Verfahren, S. 116f. (wie Anm. 31); Thudichum: Geschichte der Reichsstadt Rottweil (wie Anm. 21), S. 87f. 44 Grube: Die Verfassung (wie Anm. 2), S. 57.
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Konkret gliedert sich die Untersuchung wie folgt: Im einführenden Teil werden zunächst Alte Hofgerichtsordnung und Reichskammergerichtsordnung von 1555 in ihren Entstehungsgeschichten und in ihrem Aufbau skizziert. Daran anschließend wird, basierend auf Quellenmaterial, das im Hauptstaatsarchiv Stuttgart aufgefunden wurde, die Visitation des Hofgerichts im Jahre 1571 nachgezeichnet.⁴⁵ Im Hauptteil erfolgt die Analyse der Neuen Hofgerichtsordnung, wobei vergleichend die Alte Hofgerichtsordnung und vor allem die Reichskammergerichtsordnung von 1555 herangezogen werden. Hierzu wurde im Vorfeld der Untersuchung eine Synopse dieser Texte erstellt; zum Teil werden auch frühere Reichskammergerichtsordnungen oder Ordnungen weiterer Gerichte herangezogen. In einem weiteren, wiederum anhand des archivalischen Quellenmaterials erarbeiteten Teil werden die Verhältnisse und Geschehnisse nach Errichtung der Neuen Hofgerichtsordnung dargestellt. Der letzte Teil der Untersuchung widmet sich schließlich der Stellung des Hofgerichts im Südwesten des römisch-deutschen Reiches. Im Zuge meiner Forschungen kam ich zu folgenden Ergebnissen: Die Visitation und die Reformierung des Rottweiler Prozesses wurden seitens des Gerichtspersonals, hier sind vor allem der Hofgerichtsschreiber Dr. Johann Spreter sowie der Anwalt Dr. Hans Bernhard Rümelin zu nennen, aktiv vorbereitet.⁴⁶ Schon im Vorfeld der Visitation hatte man in Rottweil angefangen, die alte Gerichtsordnung zu überarbeiten.⁴⁷ Ziel war es, den größtmöglichen Einfluss auf eine von den Reichsständen, insbesondere den Kurfürsten und dem Schwäbischen Kreis initiierte Reform zu haben sowie die Jurisdiktion des Gerichts zu festigen, wenn nicht sogar zu erweitern.⁴⁸ Nach der Reform behielt der Rottweiler Stadtrat trotz gegenteiliger Befürchtungen der Grafen von Sulz als Hofrichter wie auch des Stadtrats selbst das Recht, die dreizehn Beisitzer des Hofgerichts auszuwählen.⁴⁹ Auch am grundsätzlichen Bestehen der Rottweiler Ehehaften hatte die Reformierung nichts geändert, allerdings waren nunmehr sämtliche Ehehaften in der Neuen Hofgerichtsordnung verzeichnet.⁵⁰ Insgesamt ist der in der Neuen Hofgerichtsordnung beschriebene Verfahrensgang – ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt kann mit vollkommener Sicherheit
45 Hierzu insbesondere HStASt, C1 Bü 9, unfol.; HStASt, B203 Bü 2, unfol. 46 HStASt, C1 Bü 110, fol. 11f. (27. April 1570). 47 HStASt, C1 Bü 110, fol. 11f. (27. April 1570); Grube: Die Verfassung (wie Anm. 2), S. 53. 48 HStASt, C1 Bü 110, fol. 1f. (31. Oktober 1570); Lanzinner/Heil (Bearb.): Deutsche Reichstagsakten (wie Anm. 27), 1. Teilbd., S. 444, 479, 484; Lang: Ausgrenzung und Koexistenz (wie Anm. 39), S. 224f. 49 Neue Hofgerichtsordnung (wie Anm. 14), Teil 1 Tit. 1, fol. 1v. 50 Ebd., Teil 2 Tit. 5, fol. 34r–40r.
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nicht geklärt werden – deutlich weniger regelungsintensiv als in der Reichskammergerichtsordnung von 1555. Dies ließ den Rottweiler Parteien einen größeren Spielraum im Prozessverlauf. Es finden sich zudem Anklänge an nach 1555 ergangene Reichsabschiede und Gemeine Bescheide. In diesem Zusammenhang ist insbesondere der Reichsabschied von 1570 zu nennen, der mit Blick auf das Reichskammergericht Änderungen zur Beschleunigung und Flexibilisierung des Verfahrens festschrieb.⁵¹ Anhand der ausführlichen Beschreibungen in der Neuen Hofgerichtsordnung zu Zitationen,⁵² Zustellung,⁵³ Sprengel,⁵⁴ Abforderungsverfahren⁵⁵ und Ehehaften⁵⁶ wird ferner ersichtlich, dass die Zuständigkeitsfrage weiterhin einen der zentralen Punkte für das Hofgericht ausmachte. Zudem zeigt sich die neue Ordnung in einigen Bereichen – beispielsweise bei den Vorschriften zur Zitation⁵⁷ oder zur Gegenklage⁵⁸ – strenger als die Reichskammergerichtsordnung von 1555.⁵⁹ Damit war wohl eine Verfahrensbeschleunigung intendiert worden. Es bestand darüber hinaus die Möglichkeit, in einfach gelagerten Sachen vollumfänglich mündlich zu verhandeln.⁶⁰ Das in der Neuen Hofgerichtsordnung dargestellte Acht- und Anleiteverfahren orientierte sich nahezu vollständig an der Alten Hofgerichtsordnung. Das Rottweiler Hofgericht war schon seit seinen Anfängen für dieses Exekutionsverfahren bekannt und angesehen.⁶¹ Wohl mangels anderer Vollstreckungsmöglichkeiten blieben die Verfasser der Neuen Hofgerichtsordnung bei diesem mit der Zeit immer wirkungsloser gewordenen Verfahren, versuchten dem Ganzen jedoch durch Begrifflichkeiten aus dem römischen Recht einen modernen und gelehrten Anstrich zu geben und somit das Verfahren des Hofgerichts für Rechtsuchende attraktiver
51 Maximilian Lanzinner: Reichsversammlungen und Reichskammergericht 1556–1586 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, H. 17). Wetzlar 1995, S. 35. 52 Neue Hofgerichtsordnung (wie Anm. 14), Teil 2 Tit. 7–9, fol. 40v–41v. 53 Ebd., Teil 1 Tit. 17f., fol. 14v–17v. 54 Ebd., Teil 2 Tit. 1, fol. 30rv. 55 Ebd., Teil 2 Tit. 4, fol. 32v–34r. 56 Ebd., Teil 2 Tit. 5, fol. 34r–40r. 57 Ebd., Teil 2 Tit. 7–9, fol. 40v–41v. 58 Ebd., Teil 3 Tit. 12, fol. 50v. 59 Reichskammergerichtsordnung (künftig: RKGO) von 1555, Teil 3 Tit. 12 §§ 3–6, S. 229f, abgedruckt bei Adolf Laufs (Hrsg.): Die Reichskammergerichtsordnung von 1555 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, künftig: QFHG, Bd. 3). Köln/Wien 1976, S. 73–280. 60 Neue Hofgerichtsordnung (wie Anm. 14), Teil 3 Tit. 2, fol. 45r, und Tit. 3, fol. 46r. 61 Friedrich Battenberg: Reichsacht und Anleite im Spätmittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte der höchsten königlichen Gerichtsbarkeit im Alten Reich, besonders im 14. und 15. Jahrhundert (QFHG, Bd. 18). Köln/Wien 1986, S. 342.
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zu gestalten.⁶² Insgesamt könnten die eher kurz gehaltenen, grundsätzlicheren Vorschriften – an manchen Stellen auch die Lücken – zu einer größeren Flexibilität des Rottweiler Verfahrensganges geführt haben. Rottweil und – als Richter des Hofgerichts – die Grafen von Sulz versuchten im Nachgang zur Visitation und zur Neuordnung des Verfahrens, die in der Neuen Hofgerichtsordnung festgehaltenen Vorgaben umzusetzen. Hierunter ist die Anordnung hervorzuheben, das Hofgericht mit mehr gelehrten Juristen zu besetzen.⁶³ Die damit verbundenen finanziellen Lasten ruhten jedoch – wie auch schon zuvor der Unterhalt des Gerichts – allein und vollumfänglich auf den Schultern der Stadt Rottweil.⁶⁴ Weder die Grafen von Sulz als Hofrichter noch der Kaiser, dem das Hofgericht schließlich unmittelbar zugeordnet war, ließen der Stadt Geldmittel zukommen.⁶⁵ Komplikationen ergaben sich auch aufgrund anderer Verhaltensweisen des Kaisers. Erteilte er einerseits den Ständen Exemtionsprivilegien gegen das Hofgericht oder intervenierte er gegen die Rottweiler Exekution,⁶⁶ kassierte er andererseits regelmäßig sämtliche gegen das Hofgericht erteilte Exemtionen.⁶⁷ Abgesehen von dieser ambivalenten Haltung des Kaisers, die auf den Druck der aufstrebenden
62 Siehe insbesondere Neue Hofgerichtsordnung (wie Anm. 14), Teil 2 Tit. 10–13, fol. 41v–43v. 63 Neue Hofgerichtsordnung (wie Anm. 14), Teil 1 Tit. 1, fol. 1v und fol. 2, Tit. 2, fol. 4v–5r.; HStASt, C1 Bü 195, fol. 243v (um 1574). 64 Grube: Die Verfassung (wie Anm. 2), S. 71. Rottweil benötigte seine finanziellen Ressourcen für die Vergrößerung des Stadtgebiets: Josef Adolf Merkle: Das Territorium der Reichsstadt Rottweil in seiner Entwicklung bis zum Schluß des 16. Jahrhunderts (Darstellungen aus der Württembergischen Geschichte, Bd. 11). Stuttgart 1913, S. 82–130. Zwischen den Grafen von Sulz und Rottweil herrschte seit 1570 Streit hinsichtlich der Übernahme der Visitationskosten; HStASt, C1 Bü 192, fol. 101v–102r (Abschied zwischen Sulz und Rottweil d[es] Hofgerichts neuen Ordnung Execution; ergangen am 16. Dezember 1574) und HStASt, C1 Bü 191, fol. 372r (Abschied zwischen Sulz und Rottweil d[es] Hofgerichts neuen Ordnung Execution; ergangen am 16. Dezember 1574). Grube merkt hierzu an, dass die Grafen von Sulz schwer verschuldet waren und deshalb nicht zur Unterhaltung des Hofgerichts beitrugen: Grube: Die Verfassung (wie Anm. 2), S. 70. 65 HStASt, C1 Bü 192, fol. 123v, undat. Hierzu auch Wilfried Enderle: Rottweil und die katholischen Reichsstädte im Südwesten, in: Anton Schindling / Walter Ziegler (Hrsg.): Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession, Bd. 5 (Der Südwesten). Münster 1993, S. 214–230, hier S. 225. 66 Zu den Exemtionsprivilegien: Grube: Die Verfassung (wie Anm. 2), S. 41; Paul Matthias Wehner: Alte und erneuerte Ordnung und Reformation des Hofgerichts zu Rottweil. Frankfurt a. M. 1610, S. 79–82; Johann Georg von Zimmern: Manuale caesareo-dicasteriale sive quodlibeta-judiciaria theoretico-practica ex judicii-caesareo-aulici, Neuauflage des Werkes von 1679. Rottweil 1720, S. 67–75. 67 HStASt, B203 U 65 (25. August 1578). Darüber hinaus hierzu: Feine: Die kaiserlichen Landgerichte, S. 153 (wie Anm. 3); Grube: Die Verfassung (wie Anm. 2), S. 22; Speidel: Das Hofgericht zu Rottweil (wie Anm. 4), S. 47.
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Territorien wie auch der Stadt Rottweil zurückzuführen ist, hat das Rottweiler Hofgericht sein langes Überleben der grundsätzlich positiven Haltung der habsburgischen Kaiser zu verdanken.⁶⁸ Zu Anfang des 16. Jahrhunderts hatte es jedoch auch in diesem Verhältnis Spannungen gegeben. Das Hofgericht hatte sich mit Österreich aufgrund von Kompetenzstreitigkeiten mit dem von Österreich dominierten Landgericht in Schwaben zerstritten. Zu dieser Zeit stellten die Habsburger den Kaiser, weshalb dieser sowohl dem „Stammland“ Österreich als auch dem ihm unmittelbar untergebenen Hofgericht nahestand. Die Auseinandersetzungen konnten jedoch bereits 1539 durch eine Einigung über die jeweiligen Kompetenzen beendet werden.⁶⁹ In der Folge zeigte sich, dass Rottweil und das Hofgericht – insbesondere, weil die Stadt im „Konfessionellen Zeitalter“ katholisch blieb – Österreich verbunden waren.⁷⁰ So war Österreich nicht zuletzt ein wichtiger Unterstützer auf den Reichstagen, wenn es um die immer wieder geforderte Abschaffung der kaiserlichen Landgerichte, allen voran des Rottweiler Hofgerichts und des Landgerichts in Schwaben, ging.⁷¹
5 Das Rottweiler Hofgericht und das Reichskammergericht Die ältere Forschung hat des Öfteren vorgebracht, dass die nach dem Vorbild der Reichskammergerichtsordnung von 1555 errichteten Prozessordnungen, so auch die Neue Rottweiler Hofgerichtsordnung, lediglich Kopien dieser seien ohne oder mit lediglich stark begrenztem Eigenwert.⁷² Dies ist jedoch zu kurz gegriffen.⁷³
68 Grube: Die Verfassung (wie Anm. 2), S. 79. 69 Fischer: Das kaiserliche Landgericht Schwaben (wie Anm. 8), S. 269f.; Max Gut: Das ehemalige kaiserliche Landgericht auf der Leutkircher Heide und in der Pirs. Eine rechts- und verfassungsgeschichtliche Untersuchung (Urkundliche Beiträge zur Geschichte des bürgerlichen Rechtsganges, H. 2). Berlin 1907, S. 18. 70 HStASt, B203 Bü 2, unfol.; HStASt, C1 Bü 10, unfol. 71 Johann Jacob Moser: Von der teutschen Justiz=Verfassung. Zweyter Teil (Neues teutsches Staatsrecht, Bd. 8.2). Neudruck der Ausgabe Frankfurt/Leipzig 1774. Osnabrück 1967, S. 924–926. 72 Kohler: Das Verfahren (wie Anm. 31), S. 116f.; Johann Christoph Schwartz: Vierhundert Jahre deutscher Civilproceß-Gesetzgebung. Darstellungen und Studien zur deutschen Rechtsgeschichte. Berlin 1898, S. 759; Thudichum: Geschichte der Reichsstadt Rottweil (wie Anm. 21), S. 87f. 73 In diese Richtung auch Kern, der in diesem Zusammenhang auf die Erhöhung des mündlichen Anteils im Verfahren an den Kurpfälzer Gerichten verweist: Bernd-Rüdiger Kern: Die Gerichtsordnungen des Kurpfälzer Landrechts von 1582 (QFHG, Bd. 23). Köln/Wien 1991, S. 242f. Auch Oestmann merkt an, dass zahlreiche Prozessordnungen von der RKGO von 1555 beeinflusst wur-
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Gerade durch die Untersuchung der näheren Umstände der Visitation und der Errichtung der Neuen Hofgerichtsordnung wird ersichtlich, welche Punkte für Rottweil wichtig waren und wie versucht wurde, diese mit einer neuen Ordnung umzusetzen. Zu nennen sind hier unter anderem das Recht des Stadtrats weiterhin die Beisitzer zu bestimmen,⁷⁴ die Ehehaften,⁷⁵ die Zuständigkeit des Gerichts⁷⁶ und die grundsätzliche Verschriftlichung des Verfahrens, jedoch unter gleichzeitiger Beibehaltung einer gewissen Flexibilität durch erhöhte Mündlichkeit beziehungsweise gänzlich mündlicher Verfahren.⁷⁷ Die Ordnung spiegelt in diesem Zusammenhang auch das Bestreben des Rottweiler Hofgerichts wider, als Hofgericht „älteren Typs“⁷⁸ die Wandlung zu einem der nach dem Vorbild des Reichskammergerichts entstandenen Hofgerichte „jüngeren Typs“⁷⁹ zu vollziehen, dabei jedoch trotzdem Legitimation aus seinem langen Bestehen und Wirken zu ziehen. An den Hofgerichten „älteren Typs“ bestand dabei die klassische Trennung zwischen Richter und Laienurteilsprechern. Das Verfahren lief weitgehend mündlich ab. An den Hofgerichten „jüngeren Typs“ hingegen entschieden juristisch vorgebildete Räte.⁸⁰ Wie erwähnt, entwickelte sich bereits kurz nach der Gründung des Reichskammergerichts aufgrund der Appellationsmöglichkeit ein Subordinationsverhältnis zwischen beiden Gerichten.⁸¹ Die Zahl der Appellationen stieg in der Folgezeit beträchtlich an, wobei das Reichskammergericht selten die Rottweiler Entscheidungen bestätigte.⁸² Die vielen Appellationen stellten für das Reichskammergericht
den, spricht hier jedoch von einer „Ausstrahlungswirkung“: Peter Oestmann: Gemeine Bescheide, Reichskammergericht 1497–1805, Bd. 1 (QFHG, Bd. 63/1). Köln/Weimar/Wien 2013, S. 17. 74 Neue Hofgerichtsordnung (wie Anm. 14), Teil 1 Tit. 1, fol. 1v. 75 Ebd., Teil 2 Tit. 5, fol. 34r–40r. 76 Ebd., Teil 2 Tit. 1, fol. 30rv. 77 Ebd., Teil 3 Tit. 2, fol. 45r, und Tit. 3, fol. 46r. 78 Zur Bezeichnung und Unterscheidung der Hofgerichte „älteren Typs“ und „jüngeren Typs“: Heiner Lück: Die kursächsische Gerichtsverfassung (1423–1550) (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 17). Köln/Weimar/Wien 1997, S. 120; Oestmann: Hofgerichte (wie Anm. 6), Sp. 1089f.; ders.: Gerichtsbarkeit als Ausdruck öffentlicher Gewalt, in: Gerhard Dilcher / Diego Quaglioni (Hrsg.): Die Anfänge des öffentlichen Rechts. Auf dem Weg zur Etablierung des öffentlichen Rechts zwischen Mittelalter und Moderne (Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient. Beiträge, Bd. 25). Bologna/Berlin 2011, S. 275–307, hier S. 298f. 79 Oestmann: Gerichtsbarkeit (wie Anm. 78), S. 298f. 80 Ebd. 81 Neue Hofgerichtsordnung (wie Anm. 14), Teil 3 Tit. 17, fol. 53rv. 82 Lanzinner/Heil (Bearb.): Deutsche Reichstagsakten (wie Anm. 27), 2. Teilbd., S. 706, 689, 824, 839, 1228; Grube: Die Verfassung (wie Anm. 2), S. 49.
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eine spürbare Belastung im Arbeitsablauf dar.⁸³ Vor diesem Hintergrund mag es seltsam erscheinen, dass man in Rottweil anlässlich der Visitation des Hofgerichts den Vorschlag unterbreitete, das Reichskammergericht zugunsten des Rottweiler Hofgerichts zu entlasten. Dies sollte dergestalt erfolgen, dass erstinstanzliche Fälle nach dem Begehren der klagenden Partei vor dem Rottweiler Hofgericht statt vor dem Reichskammergericht zu verhandeln waren.⁸⁴ Die Visitation sowie die Errichtung der Neuen Hofgerichtsordnung konnten allerdings nichts daran ändern, dass das Reichskammergericht weiterhin mit Appellationen gegen Rottweiler Urteile überflutet wurde.⁸⁵ Während Grube jedoch die vielen gegen Rottweiler Urteile gerichteten Entscheidungen des Reichskammergerichts als generelle Ablehnung der Ehehaften durch das Reichskammergericht bewertete,⁸⁶ resümierte Jack, dass das Reichskammergericht dem Hofgericht gegenüber eine „freundlichere Haltung“ als bisher angenommen hatte.⁸⁷ Er zieht diesen Schluss unter anderem daraus, dass das Reichskammergericht als Appellationsinstanz Exemtionen der Stände vom Rottweiler Gerichtszwang nur dann anerkannte, wenn diese Exemtionen ausdrücklich die Rottweiler Ehehaften nannten.⁸⁸ Die Rolle des Reichskammergerichts beim Niedergang des Rottweiler Hofgerichts sei deshalb weniger durch seine konkrete Rechtsprechung als vielmehr durch seine schiere Existenz und die Möglichkeit seiner Inanspruchnahme gegen das Hofgericht geprägt gewesen.⁸⁹
6 Das Rottweiler Hofgericht und der Reichshofrat In Fällen von Rechtsverweigerung, Rechtsverzögerung⁹⁰ oder bei fehlerhafter Besetzung des Hofgerichts soll nach Wehner und von Zimmern alleine der Reichs-
83 Kaiser Maximilian II. an den Hofrichter und die Urteilsprecher des Hofgerichts Rottweil, Brief vom 26. Februar 1571, HStASt, C1 Bü 9, unfol. 84 HStASt, C1 Bü 192, fol. 131v–132r, undat. 85 Ebd., fol. 95r (Kopie der kaiserlichen Instruktion zur Visitierung des Hofgerichts zu Rottweil, 28. August 1623). 86 Grube: Die Verfassung (wie Anm. 2), S. 66. 87 Jack: Die Ehafte (wie Anm. 23), S. 131. 88 Ebd., S. 116–120, 131. 89 Ebd., S. 131. 90 Mit Blick auf die Unterscheidung von Rechtsverweigerung und Rechtsverzögerung merkt Oestmann an, dass die Grenzen zwischen beiden Begriffen oftmals verschwammen. Zudem seien die Rechtsfolgen „jeweils identisch“ gewesen. Peter Oestmann: Rechtsverweigerung im Alten Reich, in: ZRG GA 127 (2010), S. 51–141, hier S. 59f.
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hofrat für Appellationen gegen Rottweiler Urteile zuständig sein.⁹¹ Problematisch an dieser Darstellung erscheint, dass hier im Zusammenhang mit den Fällen der Rechtsverweigerung und der Rechtsverzögerung der Begriff „Appellation“ verwendet wird. Eine Appellation war in diesen Fällen aufgrund einer fehlenden untergerichtlichen Entscheidung gerade nicht möglich.⁹² Vielmehr hatten die betroffenen Parteien eine Rechtsverweigerungsbeschwerde zu erheben.⁹³ Oestmann betont allerdings, dass „im frühen 16. Jahrhundert noch nicht streng zwischen Rechtsverweigerungsprozessen und Appellationen unterschieden“ wurde und „diese Schwierigkeit auch in der späteren Zeit weiterhin bestand“.⁹⁴ Insofern ist zu vermuten, dass Wehner und Zimmern hier zwar den Begriff „Appellation“ verwenden, jedoch eigentlich von einer Rechtverweigerungsbeschwerde ausgehen. Harpprecht führt zudem an, dass in der Praxis ebenfalls das Reichskammergericht mit Fällen von Rechtsverweigerung, Rechtsverzögerung und fehlerhafter Besetzung des Hofgerichts befasst gewesen sei.⁹⁵ Mit Blick auf das Verhältnis von Rottweiler Hofgericht und Reichshofrat ist ferner zu bedenken, dass es häufiger personelle Beziehungen zwischen dem Reichshofrat und dem Rottweiler Hofgericht gab. So wurde beispielsweise der von 1575 bis 1582 am Hofgericht tätige Kanzleiverwalter Dr. Johann Hildebrand Möck (von Balgheim) im Jahr 1590 Kanzler in Innsbruck. Von 1596 bis 1601 war er Mitglied des Reichshofrats und wurde 1599 zum Vertreter des Reichsvizekanzlers ernannt.⁹⁶ Dr. Johann Baptista Sachs hingegen, der 1590 in Rottweil als Hofgerichtsadvokat angefangen hatte, von 1602 bis 1624 das Kanzleiverwalteramt bekleidete und schließlich von 1624 bis 1642 dem Gericht als Assessor beisaß, lehnte im Jahre 1605 einen Ruf an den Reichshofrat ab.⁹⁷
91 Wehner: Alte und erneuerte Ordnung (wie Anm. 66), S. 4f., 181; von Zimmern: Manuale caesareo-dicasteriale (wie Anm. 66), S. 292–296. Auch Grube greift diesen Punkt im Sinne von Wehner und Zimmern auf: Grube: Die Verfassung, S. 68 (wie Anm. 2). Näher zum Appellationsverfahren am Reichshofrat: Wolfgang Sellert: Prozessrechtliche Aspekte zur Appellation an den Reichhofrat, in: Leopold Auer / Eva Ortlieb (Hrsg.): Appellation und Revision im Europa des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs, Bd. 3). Wien 2013, S. 104–112. 92 Oestmann: Rechtsverweigerung (wie Anm. 90), S. 60, 98f., 115, 117. 93 Ebd., S. 98f., 115. 94 Ebd., S. 94f. 95 Johann Heinrich Freiherr von Harpprecht: Geschichte des Kaiserlichen und Reichs-CammerGerichts unter der Glorwürdigsten Regierung Kaisers Carl des Fünften als eine Fortsetzung des Cammergerichtlichen Staats-Archivs oder Sammlung von gedruckten und mehrenteils ungedruckten Actis Publicis etc., Bd. 5. Ulm/Frankfurt 1767, § 17, S. 28. 96 Grube: Die Verfassung (wie Anm. 2), S. 231, Anm. 21. 97 Ebd. (wie Anm. 2), S. 225, Anm. 48 und S. 232, Anm. 24.
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Für weitere Forschungen zum Rottweiler Hofgericht, im Speziellen das Verhältnis zum Reichshofrat betreffend, dürften wohl auch die Ergebnisse des von Sabine Ullmann und Gabriele Haug-Moritz geleiteten Forschungsprojekts zu Supplikationen an den Reichshofrat in der Regierungszeit Kaiser Rudolfs II. von großem Interesse sein.⁹⁸
7 Fazit Es ist festzuhalten, dass sich das Rottweiler Hofgericht in einem Spannungsfeld zwischen Neuerung und Streben nach Attraktivität für den Rechtsuchenden auf der einen Seite und der Legitimation durch die Tradition des Hofgerichts im Sinne des „alten Herkommens“⁹⁹ sowie der Konservierung der bestehenden Formen auf der anderen Seite bewegte. Die immer effektiver werdende Rechtsprechung des Reichskammergerichts legte es dabei nahe, den Leitlinien der Reichskammergerichtsordnung von 1555 zu folgen beziehungsweise in manchen Punkten sogar darüber hinauszugehen. Von einer „Kopie“ der Reichskammergerichtsordnung durch die Neue Hofgerichtsordnung kann allerdings nicht die Rede sein. Mit Blick auf die Beziehungen zwischen dem Rottweiler Hofgericht und dem Reichskammergericht ist zu betonen, dass der Arbeitsgang des Reichskammergerichts zwar aufgrund der vielen Appellationen gegen Rottweiler Urteile erschwert wurde, das Gericht jedoch keineswegs eine generell ablehnende Haltung gegenüber den Rottweiler Ehehaften einnahm. Es erkannte die Befreiungen von der Rottweiler Zuständigkeit nur dann an, wenn diese ausdrücklich auf die Ehehaften Bezug nahmen. Das Verhältnis zwischen dem Hofgericht und dem Reichshofrat ist demgegenüber noch weitgehend unerforscht. Die personellen Verbindungen zwischen Rottweil und Wien deuten dabei an, dass hier ein ertragreiches Forschungsfeld vorliegt, dessen vertiefende Behandlung künftigen Forschern vorbehalten bleibt.
98 http://www-gewi.uni-graz.at/suppliken/projektteile.html (abgerufen am: 13. 07. 2014). Siehe hierzu auch den Beitrag der Projektmitarbeiter, Ulrich Hausmann und Thomas Schreiber, in diesem Sammelband. 99 Ausführlicher zum Herkommen: Peter Oestmann: Rechtsvielfalt vor Gericht. Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich (Rechtsprechung, Bd. 18). Frankfurt a. M. 2002, S. 37–39, 113–119, 228f.
Ulrich Hausmann, Thomas Schreiber
Euer Kaiserlichen Majestät in untertänigster Demut zu Füßen Das Kooperationsprojekt „Untertanensuppliken am Reichshofrat in der Regierungszeit Kaiser Rudolfs II. (1576–1612)“
1 Hinführung und Forschungsstand Mein durch Gottes Gerichts auch meiner armen klainen Khinder willen allerdiemuettigist bitt, die wollen sich meines Elendts [. . . ] allergenedigist erbarmen.¹
Untertanen, die sich in der Frühen Neuzeit auf dem Wege der Supplikation² Hilfe suchend an ihre Obrigkeiten wandten, sind in der Geschichtswissenschaft mittlerweile ein bekanntes Phänomen. Zunächst war es jedoch die Rechtsgeschichte, die hier Maßgebliches geleistet hat. Erinnert sei an dieser Stelle insbesondere an die Arbeiten von Werner Hülle.³ Auch die historische Kriminalitätsforschung widmete Supplikationen und ihrer Bedeutung im Rahmen der Begnadigungspraxis besondere Aufmerksamkeit.⁴ Seitdem im Zuge der kulturgeschichtlichen Wende
1 Österreichisches Staatsarchiv, Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien (künftig: ÖStA HHStA), Reichshofrat (künftig: RHR), Alte Prager Akten, K. 89, fol. 332v (Hans Kuechlin, 1581). 2 Im vorliegenden Beitrag werden die Begriffe „Supplikation“, „Supplik“ und „Bittschrift“ synonym verwendet. Siehe hierzu Michael Hochedlinger: Aktenkunde. Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit (Historische Hilfswissenschaften). Köln/Weimar/Wien 2009, S. 211f., Karl Härter: Policey und Strafjustiz in Kurmainz. Gesetzgebung, Normdurchsetzung und Sozialkontrolle im frühneuzeitlichen Territorialstaat (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 190). Frankfurt a. M. 2005, S. 212f. und Birgit Rehse: Die Supplikations- und Gnadenpraxis in Brandenburg-Preußen. Eine Untersuchung am Beispiel der Kurmark unter Friedrich Wilhelm II. (1786–1797) (Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Bd. 35). Berlin 2008, S. 84–88. Eine abgrenzende Definition nach formalen und praxeologischen Gesichtspunkten strebt das Projekt nach Abschluss der Auswertungsphase an. Zunächst sei auf die knappen Ausführungen auf den folgenden Seiten verwiesen. 3 Der wesentliche Anstoß zur Supplikenforschung erfolgte 1973 durch den rechtshistorischen Beitrag von Werner Hülle: Das Supplikationswesen in Rechtssachen. Anlageplan für eine Dissertation, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 90 (1973), S. 194–212; ders.: Art. Supplikation, in: Adalbert Erler (Hrsg.): Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (künftig: HRG), Bd. 5. Berlin 1998, Sp. 91f. 4 Für die Kriminalitäts- und Strafrechtsforschung siehe Paul Frauenstädt: Das Begnadigungsrecht im Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte des Strafrechts, in: Zeitschrift für die gesamte
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Herrschaft zunehmend als kommunikative Praxis verstanden und beschrieben wird, an der Herrschende wie Untertanen gleichermaßen Anteil haben,⁵ gerät der Akt des Supplizierens – wörtlich: des demütig Flehens und Vor-jemandemauf-die-Knie-Fallens⁶ – nun zunehmend in den Blick breiterer Historikerkreise. Die Frühneuzeitforschung hat hierbei für die Ebene der territorialen Staatlichkeit des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation ausdrücklich herausgearbeitet, dass der Akt des Supplizierens eine gängige Kommunikationspraxis zwischen Untertanen und ihren Obrigkeiten darstellte. Suppliken gelten demnach heute als integraler Bestandteil der sich in der Frühneuzeit verdichtenden Kommunikation zwischen Herrschern und Untertanen.⁷
Strafrechtswissenschaft 17 (1897), H. 1, S. 887–910; Carl Schué: Das Gnadebitten in Recht, Sage, Dichtung und Kunst. Ein Beitrag zur Rechts- und Kulturgeschichte, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 40 (1918), S. 143–286; Andreas Bauer: Das Gnadenbitten in der Strafrechtspflege des 15. und 16. Jahrhunderts. Dargestellt unter besonderer Berücksichtigung von Quellen der Vorarlberger Gerichtsbezirke Feldkirch und des Hinteren Bregenzerwaldes (Rechtshistorische Reihe, Bd. 143). Frankfurt a. M. 1996; Karl Härter: Das Aushandeln von Sanktionen und Normen. Zur Funktion und Bedeutung von Supplikationen in der frühneuzeitlichen Strafjustiz, in: Cecilia Nubola / Andreas Würgler (Hrsg.): Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung und Justiz in Europa (14.–18. Jahrhundert). Berlin 2005, S. 243–274; Carl A. Hoffmann: Die gesellschaftliche und rechtliche Bedeutung von Suppliken im städtischen Strafverfahren des 16. Jahrhunderts – das Beispiel Augsburg, in: Cecilia Nubola / Andreas Würgler (Hrsg.): Forme della comunicazione politica in Europa nei secoli XV–XVIII/Formen der politischen Kommunikation in Europa vom 15. bis 18. Jahrhundert. Suppliche, gravamina, lettere/Bitten, Beschwerden, Briefe. Berlin 2004, S. 73–94. 5 Siehe etwa Stefan Brakensiek: Herrschaftsvermittlung als kultureller Austausch, in: Michael North (Hrsg.): Kultureller Austausch. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung. Köln/ Weimar/Wien 2009, S. 163–173; Heiko Droste: Kommentar, in: ebd., S. 219–227. 6 Im deutschen Sprachraum war der Begriff „Supplikation“ bzw. „Supplizieren“ ab ca. 1500 in Gebrauch, bis er um 1800 durch „Petition“ abgelöst wurde. Das lateinische Verb „supplicare“ bedeutet bitten, jemanden flehentlich bitten, anflehen, demütig vor jemandem auf die Knie fallen. Siehe hierfür Helmut Neuhaus: Reichstag und Supplikationsausschuß. Ein Beitrag zur Reichsverfassungsgeschichte in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 24). Berlin 1977, S. 74–76. 7 Als Pionier dieses Forschungsfeldes gilt durchweg Helmut Neuhaus (Neuhaus: Reichstag [wie Anm. 6]; ders.: Supplikationen als landesgeschichtliche Quellen. Das Beispiel der Landgrafschaft Hessen, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 28/29 [1978/1979], S. 110–190 und S. 63–97). Weitere Impulse kamen von Peter Blickle in den späten 1980ern bzw. frühen 1990ern mit seinem stände- bzw. „revoltengeschichtlich“ geführten Zugriff auf Suppliken und Gravamen (Peter Blickle: Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300–1800 [Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 1]. München 1988; ders. [Hrsg.]: Resistance, representation and community [The origins of the modern state in Europe, Bd. E]. Oxford 1997). Später wurde die Quellengattung von Blickle mit der Frage auf Einflussmöglichkeiten von Untertanen auf die staatliche Gesetzgebung und „gute Policey“ konfrontiert: Peter Blickle (unter Mitarbeit von Rosi Fuhrmann) (Hrsg.): Gemein-
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Grundsätzlich anders bewertet die Forschung das Phänomen Supplikation mit Blick auf die Spitze des Reichssystems. Denn so sehr Supplikationen auf territorialstaatlicher bzw. reichsstädtischer Ebene Beachtung fanden, so wenig wurden sie als Mittel der Herrschaftskommunikation zwischen Reich und Kaiser beschrieben. Zudem wurde der Reichshofrat, also jene Behörde, der die Bearbeitung der Bittschriften an den Kaiser in erster Linie oblag, vorrangig als Reichshöchstgericht wahrgenommen und auch als solches erforscht.⁸ Einzig Helmut Neuhaus lenkte die Aufmerksamkeit auf den Reichstag und dessen Supplikationsausschuss, doch die
de und Staat im Alten Europa (Historische Zeitschrift, Beiheft 25). München 1998. Maßgeblich für die jüngere Supplikenforschung (Auswahl): Gerd Schwerhoff : Das Kölner Supplikenwesen in der Frühen Neuzeit. Annäherungen an ein Kommunikationsmedium zwischen Untertanen und Obrigkeit, in: Georg Mölich / ders. (Hrsg.): Köln als Kommunikationszentrum. Studien zur frühneuzeitlichen Stadtgeschichte (Der Riss im Himmel, Bd. 4). Köln 2000, S. 473–496; Cecilia Nubola / Andreas Würgler (Hrsg.): Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung und Justiz in Europa (14.–18. Jahrhundert) (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient, Bd. 19). Berlin 2005 (mit einem ausführlichen Forschungsbericht); Martin P. Schennach: Supplikationen, in: Josef Pauser / Martin Scheutz / Thomas Winkelbauer (Hrsg.): Quellenkunde der Habsburgermonarchie (16.–18. Jahrhundert). Ein exemplarisches Handbuch (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsbd. 44). Wien/München 2004, S. 572–585; Rehse: Supplikations- und Gnadenpraxis (wie Anm. 2); Irene Kubiska-Scharl / Michael Pölzl: Die Karrieren des Wiener Hofpersonals 1711–1765 (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte, Bd. 58). Wien 2013; Irene Kubiska-Scharl: Von kaiserlichen Gnadengaben und untertänigsten Bitten. Das Supplikationswesen am Wiener Hof in der Mitte des 18. Jahrhunderts, in: Franz M. Eybl / Gábor Almási (Hrsg.): Nebenschauplätze. Ränder und Übergänge in Geschichte und Kultur des Aufklärungsjahrhunderts (Das achtzehnte Jahrhundert und Österreich, Bd. 28). Bochum 2014, S. 177–191; für Frankreich maßgeblich: Natalie Zemon Davis: Der Kopf in der Schlinge. Gnadengesuche und ihre Erzähler. Frankfurt a. M. 1991, und dies.: Fiction in the archives. Pardon tales and their tellers in 16th-century France. Stanford 1987; für England: Andreas Würgler (gemeinsam mit Beat Kümin): „Petitions, Gravamina and the early modern state: local influence on central legislation in England and Germany (Hesse)“, in: Parliaments, Estates and Representation/Parlements, États et Représentation 17 (1997), S. 39–60; für Spanien: Arndt Brendecke: Imperium und Empirie. Funktionen des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft. Köln/ Weimar/Wien 2009; Zugriff zur internationalen Supplikenforschung bei: Lex Heerma van Voss (Hrsg.): Petitions in social history (International review of social history, supplement, Bd. 9). Cambridge 2001; Richard W. Hoyle: Petitioning as popular politics in early sixteenth-century England, in: Historical Research 75 (2002), S. 365–389. Die Frühneuzeitforschung hat Suppliken zudem als Ego-Dokumente erkannt (siehe hierzu die weiteren Ausführungen dieses Beitrags). 8 Siehe hierzu die Einleitung in diesem Sammelband sowie den Forschungsüberblick bei Wolfgang Sellert: Der Reichshofrat: Begriff, Quellen und Erschließung, Forschung, institutionelle Rahmenbedingungen und wichtigste Literatur, in: Zeitenblicke 3, (2004). Online: URL: http://www.zeitenblicke.de/2004/03/sellert/index.html (abgerufen am: 30. 06. 2014).
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Fokussierung auf diese Institutionen übersah den hohen Stellenwert personaler Herrschaft und besonders die bedeutende Rolle der kaiserlichen Autorität.⁹ Die Supplikationspraxis als wesentliches Moment der Herrschaftskommunikation der reichsmittelbaren Untertanen mit dem Kaiser konnte schon allein deswegen nicht in den Blick geraten, weil sie die Forschung als inexistent erachtete. So lautete etwa der Befund von Karl Otmar von Aretin im Jahr 1997: „Es gab zwar Ausnahmen, aber im Großen und Ganzen gilt, dass der Einfluss von Kaiser und Reich über der Ebene aufhörte, von der aus das Leben des Einzelnen bestimmt wurde“.¹⁰ Die Historikerzunft begriff also das Alte Reich als ein politisches System, das sich zwar „über einen komplexen Kommunikations- und Handlungszusammenhang zwischen Kaiserhof und Reichsständen in regionalen sowie reichsweiten Organisationen konstituierte und in das die reichsunmittelbaren Herrschaftsträger mehr oder weniger intensiv eingebunden waren – nicht aber die unter der Landeshoheit der verschiedenen Herrschaftsträger lebende ländliche bzw. städtische Bevölkerung.“¹¹ Gemäß dieser Sichtweise hätten weder Untertanen ihre Anliegen vor den Reichshofrat bringen dürfen noch Supplikationen überhaupt in großem Umfang an den Kaiser gerichtet werden können. Mit der zunehmenden Erforschung und Erschließung der Aktenüberlieferung des Reichshofrats mehrten sich jedoch die Hinweise darauf, dass das Überlieferungsmaterial weit mehr Untertanensuppliken an den Kaiser enthält, als bislang vermutet.¹²
9 Vgl. Neuhaus: Reichstag (wie Anm. 6), S. 118: „Hinter dieser formellen Gleichstellung von Kaiser und Reichstag im Bereich des Supplikationswesens wird deutlich, daß die Supplikanten nicht mehr so auf den Kaiser hofften, sondern ihr Glück vielmehr bei der Gesamtheit der Reichsstände suchten. Das Ansehen des Kaisers schwand, zugleich aber wuchsen Macht und Bedeutung des Reichstags.“ 10 Karl Otmar von Aretin: Das Alte Reich 1648–1806, Bd. 1: Föderalistische oder hierarchische Ordnung. 2. Aufl. Stuttgart 1997, S. 13. 11 Sabine Ullmann, vm der Barmherzigkait Gottes Willen: Gnadengesuche an den Kaiser in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Rolf Kießling / Sabine Ullmann (Hrsg.): Das Reich in der Region während des Mittelalters und in der Frühen Neuzeit (Forum Suevicum, Bd. 6). Konstanz 2005, S. 161–184. 12 Das Langzeiterschließungsprojekt der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen „Die Akten des Kaiserlichen Reichshofrats“ unter der Leitung von Wolfgang Sellert hat 2006 mit der Neuverzeichnung von ausgewählten Beständen des Reichshofrats begonnen. Die Projektseite ist unter der URL: http://reichshofratsakten.de zu erreichen (abgerufen am: 30. 06. 2014); Sellert: Der Reichshofrat (wie Anm. 8); Tobias Schenk: Ein Erschließungsprojekt für die Akten des kaiserlichen Reichshofrats, in: Archivar 63 (2010), S. 285–290. Vgl. auch Anja Amend-Traut: Wechselverbindlichkeiten vor dem Reichskammergericht. Praktiziertes Zivilrecht in der Frühen Neuzeit (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, künftig: QFHG, Bd. 54). Köln/Weimar/Wien 2009, S. 186–191. Forschungsdesiderat markiert durch: Ullmann, Gnadengesuche (wie
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2 „Untertanensuppliken am Reichshofrat in der Regierungszeit Kaiser Rudolfs II. (1576–1612)“ – ein internationales Kooperationsprojekt Nach weiteren Recherchen und exemplarischen Fallanalysen¹³ gelang es, ein internationales, von der DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft) und dem österreichischen FWF (Fonds zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung) gestütztes Forschungsunternehmen zu initiieren. Im April 2012 nahm das Kooperationsprojekt „Untertanensuppliken am Reichshofrat in der Regierungszeit Kaiser Rudolfs II. (1576–1612)“ unter der Leitung von Gabriele Haug-Moritz (Graz) und Sabine Ullmann (Eichstätt-Ingolstadt) seine Arbeit auf.¹⁴ Zum Untersuchungszeitraum ist Folgendes anzumerken: So wünschenswert es wäre, die Thematik in einem zeitlich weiter gespannten Rahmen zu erforschen, so wenig war dies in Anbetracht der Projektlaufzeit und der Verzeichnungssituation der Reichshofratsakten sinnvoll zu leisten. Erst die im Rahmen des erwähnten Erschließungsprojektes geleisteten Vorarbeiten und die enge Zusammenarbeit mit den Kooperationspartnern ermöglichten die Bearbeitung der 36 Jahre umfassenden und überaus bewegten Regierungszeit Kaiser Rudolfs II. Beim Tod Kaiser Maximilians II. auf dem Regensburger Reichstag am 12. Oktober 1576 und zur Regierungsübernahme durch seinen Sohn Rudolf befand sich der Reichshofrat noch in der Konsolidierungs-
Anm. 11); Eva Ortlieb: Gnadensachen vor dem Reichshofrat, in: Leopold Auer / Werner Ogris / dies. (Hrsg.): Höchstgerichte in Europa. Bausteine frühneuzeitlicher Rechtsordnungen (QFHG, Bd. 53). Köln/Weimar/Wien 2007, S. 177–202; Eva Ortlieb: Das Prozeßverfahren in der Formierungsphase des Reichshofrats (1519–1564), in: Peter Oestmann (Hrsg.): Zwischen Formstrenge und Billigkeit. Forschungen zum vormodernen Zivilprozess (QFHG, Bd. 56). Köln/Weimar/Wien 2009, S. 117–138; dies.: Lettere di intercessione imperiale presso il Consiglio aulico, in: Karl Härter / Cecilia Nubola (Hrsg.): Grazia e giustizia. Figure della clemenza fra tardo medioevo ed età contemporanea (Annali dell’Istituto storico italo-germanico, Bd. 81). Bologna 2011, S. 175–203. An dieser Stelle möchte das Projekt Eva Ortlieb seinen ausdrücklichen Dank aussprechen. Die vielen Hinweise zu den Überlieferungsmaterialien und zur Arbeitsweise des Reichshofrats, die sie uns gegeben hat, erlaubten oftmals erst das zügige Voranschreiten der Projektarbeit. 13 Thomas Schreiber: Suppliken in den Alten Prager Akten des Reichshofrats. Kaiserbild und kaiserliche Gnadengewalt im 16. und frühen 17. Jahrhundert (unveröff. Diplomarbeit Univ. Graz). Graz 2011. 14 Die Projekthomepage findet sich unter der URL: http://www-gewi.uni-graz.at/suppliken/ vorstellung.html (abgerufen am: 30. 06. 2014). Kooperationspartner: Maximilian Lanzinner (Bonn), Thomas Olechowski und Eva Ortlieb (Wien), Wolfgang Sellert (Göttingen), Peter H. Wilson (Hull), Zentrum für Informationsmodellierung in den Geisteswissenschaften Graz, Österreichisches Staatsarchiv Wien, Kommission für Neuere Geschichte Österreichs.
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und Verfestigungsphase. Im Zuge vermehrter reichspolitischer Konflikte setzte seit den frühen 1580er Jahren jedoch eine „steigende Inanspruchnahme“ des Höchstgerichts ein. Dessen Urteile und Kommissionen riefen die zunehmende Kritik der (protestantischen) Stände hervor, die unter Verweis auf das Reichskammergericht die kaiserliche Jurisdiktion am Prager Hof grundsätzlich in Frage stellten.¹⁵ Indes blieb die Zahl der Eingaben an den Reichshofrat bis zu Rudolfs Tod 1612 relativ konstant, wobei Supplikationsverfahren einen bedeutenden Anteil der Aktenüberlieferung ausmachen.¹⁶ Das Projekt begreift das Supplikationswesen am Reichshofrat als Kommunikationsform zwischen Beherrschten und Herrschenden und versucht, die sich aus den bisherigen Definitionsbemühungen ergebenden „fast unüberwindlich scheinenden Probleme“¹⁷ bei der Definition des Phänomens der Supplikation hinter sich zu lassen. Um dieses Ziel zu erreichen, arbeitet das Projekt mit einem weiten Arbeitsbegriff der Supplikation, der durch die weitere Forschungsleistung des Projekts noch präziser bestimmt wird. Die Supplikation wird dabei zunächst als Quellengattung, als Textsorte verstanden, die – so die dem Projektantrag¹⁸ zugrunde liegende Definition – charakterisiert ist durch: 1. den in der Neuzeit primär (wenn auch nie ausschließlich) in schriftlicher Form vollzogenen Sprechakt des Bittens 2. die asymmetrische Kommunikationssituation, welche dem Gefälle an auctoritas und potestas zwischen Adressant und Adressat zugrunde liegt und durch das Supplikationsverfahren immer wieder aufs Neue hergestellt und auch verändert wird 3. eine der asymmetrischen Kommunikationssituation Rechnung tragende sprachliche und formale Ausgestaltung der Quellensorte 4. die Vielfalt der auf dem Supplikationswege vorgetragenen Inhalte. 15 Stefan Ehrenpreis: Die Tätigkeit des Reichshofrats um 1600 in der protestantischen Kritik, in: Wolfgang Sellert (Hrsg.): Reichshofrat und Reichskammergericht. Ein Konkurrenzverhältnis. Köln/Weimar/Wien 1999, S. 27–46, hier S. 29–31 und 34–46. 16 Eva Ortlieb / Gerd Polster: Die Prozessfrequenz am Reichshofrat (1519–1806), in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 26 (2004), S. 189–216, hier S. 193–196. Die Anzahl der in den reichshofrätlichen Aktenbeständen überlieferten Verfahren weicht indes von den Einträgen in den Reichshofratsprotokollen ab, was bei einem Vergleich der quantifizierenden Analysen von Ehrenpreis und Ortlieb zu berücksichtigen ist. 17 Rosi Fuhrmann / Beat Kümin / Andreas Würgler: Supplizierende Gemeinden. Aspekte einer vergleichenden Quellenbetrachtung, in: Blickle (Hrsg.): Gemeinde und Staat (wie Anm. 7), S. 267–323, hier S. 322. 18 Die im Projektantrag formulierten Forschungsfragen sind auch für diesen Beitrag maßgeblich. Über die Projekthomepage http://www-gewi.uni-graz.at/suppliken/konzeption.html (abgerufen am: 30. 06. 2014) ist der Antrag abrufbar.
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Ausgehend von dieser offenen Definition arbeitet das Projekt mit einem präzise eingegrenzten Quellenbestand. Es schließt dabei an die Verzeichnung des Göttinger Erschließungsprojekts der Akten des Kaiserlichen Reichshofrats an¹⁹ und ergänzt diese systematisch. Durch die umfassende Erfassung der Untertanensuppliken, die in der deutschen Expedition sämtlicher Gratial- wie Judizialserien des Reichshofrats der rudolfinischen Zeit überliefert sind,²⁰ rückt nun ein bislang dementierter Baustein der frühneuzeitlichen politischen Ordnung des Reiches in den Fokus: die sich in der kaiserlichen Gnadengewalt manifestierende autoritative Macht²¹ des Kaisers, die nicht nur die bislang (nahezu) ausschließlich behandelten Reichsstände, sondern auch die reichsmittelbare Bevölkerung erreichte. Der – durch die breite Überlieferung nachhaltig dokumentierte – Erfolg der Kommunikation zwischen supplizierendem Untertan und dem Kaiser bzw. seinem und des Reichs Hofrat – so die Grundannahme – gründet darin, dass beide Seiten auf gleiche Handlungsorientierungen, Schlüsselbegriffe und Verhaltensnormen²² rekurrierten, die den Kommunikationsakt „Supplik“ in ganz spezifischer Weise sprachlich-rhetorisch wie verfahrensmäßig formten und durch die Weise, wie sie dies taten, die kaiserliche Rechts- und Gnadengewalt reproduzierten, transformierten und modifizierten. Auf Grundlage dieser Einordnungen und Befunde erfolgt der sich gegenseitig ergänzende, über die gemeinsame Textsorte „Supplik“ verklammerte Zugriff sowohl aus Sicht der Supplizierenden und deren Obrigkeiten (Teilprojekt Eichstätt) als auch aus der Perspektive des kaiserlichen Supplikationsempfängers (Teilprojekt Graz).
19 Die Akten des Kaiserlichen Reichshofrats. Online: URL: http://reichshofratsakten.de/ (abgerufen am: 30. 06. 2014). 20 Untersucht wurden alle einschlägigen Judizial- und Gratialakten: 1. Alte Prager Akten, 2. Antiqua, 3. Decisa, 4. Denegata antiqua, 5. Judicialia Miscellanea, 6. Badische Akten, 7. Ärzte- und Arzneiprivilegien, 8. Confirmationes Privilegiorum (deutsche Expedition), 9. Geleitbriefe, 10. Gewerbe-, Fabriks- und Handlungsprivilegien, 11. Impressorien, 12. Laienherrenpfründen, 13. Mandate, Patente und Paßbriefe in Kriegssachen, 14. Moratorien, 15. Notariatus, 16. Paßbriefe, 17. Praebendae regiae, 18. Promotoriales, 19. Restitutiones natalium ac legitimationes, 20. Salva guardia, 21. Schutzbriefe, 22. Patentes und Steckbriefe, 23. Primae Preces. 21 Heinrich Popitz: Phänomene der Macht. Tübingen 2009, S. 27–29; zum Charakter autoritativer Macht in der Frühen Neuzeit ebd., S. 109 und 134–136. 22 Zur Bedeutung symbolischer Interaktion und festgelegter Verhaltensweisen siehe Harriet Rudolph: „Sich der höchsten Gnade würdig zu machen“. Das frühneuzeitliche Supplikenwesen als Instrument symbolischer Interaktion zwischen Untertanen und Obrigkeit, in: Nubola / Würgler (Hrsg.): Bittschriften und Gravamina (wie Anm. 7), S. 421–449, hier S. 445–448.
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3 Handlungs- und Wirkungsweisen von SupplikantInnen und ihren Obrigkeiten in ausgewählten süddeutschen Städten und Territorien (Eichstätt) Das Eichstätter Teilprojekt schließt dabei an die aktuellen Forschungsansätze einer „Kulturgeschichte des Politischen“²³ an und begreift, wie angedeutet, „Herrschaft als ein kommunikatives Verhältnis zwischen Akteuren in ungleicher hierarchischer Stellung“.²⁴ Insofern zählen Bittschriften neben Beschwerden, gerichtlichen Klagen und Appellationen, „Laufen gen Hof“,²⁵ Visitationen, regelmäßigen Berichten von kommunalen und herrschaftlichen Amtsträgern sowie Anzeigen und Rügen zu den „institutionalisierten Kommunikationsformen zwischen der Norm setzenden Landesherrschaft und den Normadressaten“.²⁶ So fungierten Suppliken für Gerd Schwerhoff als zentrales „Kommunikationsmedium zwischen Untertanen und Obrigkeiten“,²⁷ das nach Stefan Brakensiek eine „akzeptanzorientierte Herrschaft“²⁸ stützte bzw. überhaupt erst ermöglichte. Demzufolge erschöpft sich ihr vorrangiger Quellenwert – im Unterschied etwa zu jenem von Gravamina – weniger in Erkenntnissen für die Ständegeschichte oder die Devianz- und Revol-
23 Siehe hierfür etwa Einleitung und Beiträge im Sammelband Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.): Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 35). Berlin 2005. 24 André Holenstein: Klagen, anzeigen und supplizieren. Kommunikative Praktiken und Konfliktlösungsverfahren in der Markgrafschaft Baden im 18. Jahrhundert, in: Magnus Eriksson / Barbara Krug-Richter (Hrsg.): Streitkulturen. Gewalt, Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft (16.–19. Jahrhundert) (Potsdamer Studien zur Geschichte der ländlichen Gesellschaft, Bd. 2). Köln/Weimar/Wien 2003, S. 335–369, hier S. 336. 25 Renate Blickle: Laufen gen Hof. Die Beschwerden der Untertanen und die Entstehung des Hofrats in Bayern, in: Blickle (Hrsg.): Gemeinde und Staat (wie Anm. 7), S. 241–266. 26 Stefan Brakensiek: Akzeptanzorientierte Herrschaft. Überlegungen zur politischen Kultur der Frühen Neuzeit, in: Helmut Neuhaus (Hrsg.): Die Frühe Neuzeit als Epoche (Historische Zeitschrift, Beiheft 49). München 2009, S. 395–406, hier S. 403. Siehe Achim Landwehr: Policey im Alltag. Die Implementation frühneuzeitlicher Policeyordnungen in Leonberg (Studien zu Policey und Policeywissenschaft). Frankfurt a. M. 2000, S. 277–283; ders.: „Normdurchsetzung“ in der Frühen Neuzeit? Kritik eines Begriffs, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 48 (2000), S. 146–162; ders.: Policey vor Ort. Die Implementation von Policeyordnungen in der ländlichen Gesellschaft der Frühen Neuzeit, in: Karl Härter (Hrsg.): Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 129). Frankfurt a. M. 2000, S. 47–70. 27 Schwerhoff : Kölner Supplikenwesen (wie Anm. 7), bes. S. 474. 28 Brakensiek: Akzeptanzorientierte Herrschaft (wie Anm. 26), S. 400–403.
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tenforschung. Vielmehr lösten Suppliken laut Andreas Würgler einen „guten Teil des Regierungs- und Verwaltungshandelns aus“²⁹ und verdeutlichen zugleich – so André Holenstein – die „hohe soziale Nachfrage nach Streitschlichtung und Konfliktlösung“.³⁰ Untertanen konnten demzufolge Bittschriften gezielt einsetzen, um sich bei ihrer Obrigkeit über regionale bzw. lokale Amtsträger oder aber beim Reichsoberhaupt über die eigene Obrigkeit zu beschweren. Diese institutionalisierte Dreieckskommunikation (Triangulierung) zwischen kaiserlicher bzw. obrigkeitlicher Zentralgewalt, (im-)mediater Herrschaft und Untertan besaß ein „beachtliches Kontrollpotential“³¹ für Rechtsprechung und Verwaltung. Jede kaiserliche Intervention verstärkte die Wahrnehmung von Kaiser und Reich in der Region, die überhaupt erst die Grundlage für das Supplizieren der Untertanen an ihren allergnädigsten Herrn darstellte. Nicht alleine symbolische Wirkmacht besaßen indes die prächtig inszenierten Kaiserhuldigungen der Reichsstädte und die einige Monate währenden Reichstage, in deren Rahmen auch Beschwerden und Supplikationen eingereicht wurden.³² Wie viele SupplikantInnen den weiten Weg nach Wien bzw. Prag (seit 1583 kaiserliche Residenz) auf sich nahmen, versucht das Projekt näherungsweise herauszufinden.³³ In beiden Fällen, sowohl am Kaiserhof als auch zu den Reichstagen, konnten Kontakte zu kaisernahen Amtsträgern und Hofleuten den Ausschlag für die Übermittlung und Bewilligung der Gesuche geben. Auch „Verehrungen“ dürften hierbei eine nennenswerte Rolle gespielt haben.³⁴
29 Andreas Würgler: Bitten und Begehren. Suppliken und Gravamina in der deutschsprachigen Frühneuzeitforschung, in: Nubola / Würgler (Hrsg.): Bittschriften und Gravamina (wie Anm. 7), S. 17–52, hier S. 36. Vgl. hierzu auch Rehse: Supplikations- und Gnadenpraxis (wie Anm. 2), S. 601f. 30 Holenstein: Klagen (wie Anm. 24), S. 363. 31 Stefan Brakensiek: Einleitung: Herrschaft und Verwaltung in der Frühen Neuzeit, in: ders./ Corinna von Bredow / Birgit Näther (Hrsg.): Herrschaft und Verwaltung in der Frühen Neuzeit (Historische Forschungen, Bd. 101). Berlin 2014, S. 9–24, hier S. 12. 32 Siehe Harriet Rudolph: Das Reich als Ereignis. Formen und Funktionen der Herrschaftsinszenierung bei Kaisereinzügen (1558–1618) (Norm und Struktur, Bd. 38). Köln 2011. 33 Vgl. Ullmann: Gnadengesuche (wie Anm. 11), S. 184: „Es mag wohl vorgekommen sein, daß die Bittsteller ihre Briefe direkt am Kaiserhof einreichten, aber ein Großteil der Gesuche konnte in jedem Fall während der Reisen zugestellt werden, da sich im kaiserlichen Gefolge stets auch Mitglieder des Reichshofrats befanden.“ 34 Vgl. Oswald Gschließer: Der Reichshofrat. Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559 bis 1806. Wien 1942, S. 50, 62, 80, 328, 333, 366, 377, 472 und 485; Wolfgang Sellert: Richterbestechung am Reichskammergericht und am Reichshofrat, in: J. Friedrich Battenberg / Filippo Ranieri (Hrsg.): Geschichte der Zentraljustiz in Mitteleuropa. Festschrift für Bernhard Diestelkamp zum 65. Geburtstag. Köln/Weimar/Wien 1994, S. 329–348; Stefan Ehrenpreis: Korruption im Verfahren. Bestechung an den höchsten Reichsgerichten zwischen Gerichtsfinanzierung und Rechtsbeugung, in: Niels Grüne / Simona Slanicka (Hrsg.): Korrup-
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Durch die ständigen Eingaben war der räumlich zumeist fern gelegene Kaiserhof mit seinen Beamten gut informiert über die konkreten Verhältnisse und Problemlagen in den betreffenden Regionen des Reiches. In dieser Hinsicht ist die erwähnte „Bedeutung der individuellen Initiativen von Untertanen für die Ingangsetzung staatlicher Entscheidungsverfahren“³⁵ kaum zu unterschätzen. So waren nicht zuletzt Supplikationen konstitutiv für die besondere Ausprägung frühneuzeitlicher Verwaltung und Staatlichkeit – eine Staatlichkeit, die durch ein wechselseitiges, wenn auch nicht gleichgewichtiges Aufeinanderbezogensein von Herrschenden und Beherrschten charakterisiert war. Die Position des Mediators, dem das „Bedürfnis nach Klärung, Regelung und Entscheidung von außen bzw. unten her“³⁶ zugetragen wurde, entspricht dem verbreiteten Kaiserbild als obersten Richter und Schutzherrn der Gerechtigkeit. Diese und andere Legitimationsmuster bestimmen die Supplikationen, die ihrerseits als formalisierte Ego-Dokumente³⁷ mit realen bzw. fingierten Selbstbeschreibungen seltene sozial- und kulturhistorische Einblicke in Lebensumstände und Denkweisen verschiedener Gesellschaftsgruppen ermöglichen. Hierbei ist – soweit möglich – in Einzelfällen zu überprüfen, inwieweit die Lebensverhältnisse und Umstände realitätsnah geschildert wurden oder ob gewisse Topoi wie „arm“ und „alt“ vorherrschen, um das sachliche Anliegen durch besondere Bedürftigkeit zu unterstreichen. Auch die oftmals stark religiös geprägte Erzählstruktur kann sowohl zeitgenössischen Konventionen entsprechen als auch Ausfluss persönlicher Frömmigkeit bzw. konfessioneller Identität sein.³⁸ Der Appell an den barmherzigen und mildtätigen Kaiser um Begnadung spie-
tion. Historische Annäherungen an eine Grundfigur politischer Kommunikation. Göttingen 2010, S. 283–305; David Petry: Konfliktbewältigung als Medienereignis. Reichsstadt und Reichshofrat in der Frühen Neuzeit (Colloquia Augustana, Bd. 29). Berlin 2011, S. 82f. 35 Holenstein: Klagen (wie Anm. 24), S. 369. 36 Ebd., S. 338. 37 Vgl. Otto Ulbricht: Supplikationen als Ego-Dokumente. Bittschriften von Leibeigenen aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Winfried Schulze (Hrsg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte (Selbstzeugnisse der Neuzeit, Bd. 2). Berlin 1996, S. 149–174; Helga Schnabel-Schüle: Ego-Dokumente im frühneuzeitlichen Strafprozeß, in: ebd., S. 295–317; Claudia Ulbrich: Zeuginnen und Bittstellerinnen. Überlegungen zur Bedeutung von Ego-Dokumenten für die Erforschung weiblicher Selbstwahrnehmung in der ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, in: ebd., S. 207–226; Würgler: Bitten (wie Anm. 29), S. 42; Alexander Schunka: Gäste, die bleiben. Zuwanderer in Kursachsen und der Oberlausitz im 17. und 18. Jahrhundert (Pluralisierung & Autorität, Bd. 7). Hamburg 2006, S. 107 und 120f.; Rehse: Supplikations- und Gnadenpraxis (wie Anm. 2), S. 40f. und 69–71. Gegenüber der Bewertung von Suppliken als Ego-Dokumente ablehnend bzw. skeptisch sind hingegen Schwerhoff : Kölner Supplikenwesen (wie Anm. 7) und Rudolph: Supplikenwesen (wie Anm. 22). 38 Vgl. Rehse: Supplikations- und Gnadenpraxis (wie Anm. 2), S. 161f.
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gelt wiederum das Idealbild eines paternalistischen, christlichen Herrschers von Gottes Gnaden wider, diente zugleich aber als Legitimationsstrategie zur Inpflichtnahme der sogenannten fons iustitiae für die Erhaltung von Recht und Gerechtigkeit.³⁹ Ferner ist das Projekt angebunden an die jüngsten Forschungen zur (Höchst-) Gerichtsbarkeit im Reich, indem es die praxeologische Wirkungskraft sowie die Inszenierung von Rechtsprechung und Gerichtshoheit untersuchen möchte.⁴⁰ Hierbei ergeben sich folgende Fragen, die im Rahmen des Eichstätter Teilprojekts bearbeitet werden: Wie erfolgte die Bearbeitung der kaiserlichen Fürbittschreiben durch die jeweilige Obrigkeit? Lässt sich hier ein zunehmend formalisierter Verfahrensgang ausmachen? Mit welchen Argumentationsstrategien versuchten die reichsstädtischen bzw. territorialen Obrigkeiten die kaiserlichen Interventionsansprüche in ihren Hoheitsbereich abzuwehren? War das Supplikationsverfahren am Kaiserhof begleitet von weiteren Eingaben und Verfahren bei den obrigkeitlichen Behörden vor Ort? Woher bezogen die Untertanen das erforderliche Wissen für ihr Supplizieren an den Kaiser? Ist ein Zusammenhang nachzuweisen zwischen der sozialen und wirtschaftlichen Stellung der SupplikantInnen und den Reaktionen ihrer Obrigkeiten? Inwiefern stellten letztere den eigenen Herrschaftsanspruch der Rechts- und Gnadengewalt des Kaisers gegenüber? Wie verlief der politisch-normative Diskurs über die Legitimierung kaiserlicher Macht? Und worin unterschied sich die Kommunikation zwischen den jeweiligen Herrschaftsträgern, etwa einer Reichsstadt, einem reichsunmittelbaren Grafen, einem weltlichen Landesfürsten oder eines geistlichen Kurfürsten einerseits und dem Kaiser andererseits? Über diese wichtigen Fragen hinaus ermöglichen die reichshofrätlichen Verfahren auch einen externen Blick auf andere (Höchst-)Gerichte als Vor- bzw. Parallelinstanzen, insbesondere hinsichtlich Zuständigkeit, Tätigkeit und Nutzung der jeweiligen Gerichte. Denn ihr individuelles Streben nach Recht führte die Untertanen in gerichtlichen Angelegenheiten nicht nur an den Reichshofrat, sondern auch an das Reichskammergericht, das Hofgericht in Rottweil wie auch die kaiserlichen Landgerichte in Schwaben. Zu beachten ist hierbei die gegenseitige prozessuale Be-
39 Vgl. Ullmann: Gnadengesuche (wie Anm. 11), S. 168 und 173f. 40 Nach Franz-Josef Arlinghaus: Gnade und Verfahren. Kommunikationsmodi in spätmittelalterlichen Stadtgerichten, in: Rudolf Schlögl (Hrsg.): Interaktion und Herrschaft. Die Politik der frühneuzeitlichen Stadt (Historische Kulturwissenschaft, Bd. 5). Konstanz 2004, S. 137–162, hier S. 160–162 stellt die „Herstellung von Recht und Gerechtigkeit“ ein „zentrales, unersetzbares Feld kommunikativer Repräsentation“ dar, weshalb die Reichsstädte versuchten, „durch Kommunikation Akzeptanz zu schaffen“ und dadurch „Legitimation durch Verfahren“ zu begründen.
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einflussung⁴¹ und das Ineinandergreifen bzw. Zusammenlaufen der verschiedenen Rechtswege bzw. Wege zum Recht für die Untertanen.⁴²
4 Kaiserliche Rechts- und Gnadengewalt in actu – die Dimension des Supplikenempfängers (Graz) Der Blick auf das Handlungsmuster von Untertanen, die Bittschriften an den Kaiser richteten, sowie auf ihre jeweiligen Obrigkeiten (Projektteil Eichstätt) ist aber nur eine Seite der Medaille, provozierte die Übergabe der Suppliken doch immer auch ein Tätigwerden von Seiten des Kaisers. In welcher Weise der Reichshofrat mit den eingebrachten Untertanenbittschriften verfuhr, steht im Erkenntnisinteresse des in Graz bearbeiteten Teilprojekts. Diese Fragestellung eröffnet zugleich Einblicke in die unauflösliche, jedoch bislang nur punktuell erforschte Verflechtung kaiserlicher Rechts- und Gnadengewalt, die der Supplikationspraxis ebenso voraus liegt wie sie sich in ihr konkretisiert. Das Grazer Teilprojekt schließt damit an ein für die Forschungsgeschichte des Reichshofrats generell zu beobachtendes Defizit an: der nur punktuell erforschten Verfahrenspraxis am Reichshofrat, auch und gerade in ihrem Spannungsfeld zu den (besser erforschten) Normierungen reichshofrätlichen Handelns. Welches heuristische Potential der detaillierten Analyse von diskursiven wie performativen Bestandteilen von Verfahren für eine Kulturgeschichte des Politischen in der
41 Zum Wandel des Verfahrens im Laufe des 16. Jahrhunderts siehe Renate Blickle: Supplikationen und Demonstrationen. Mittel und Wege der Partizipation im bayerischen Territorialstaat, in: Werner Rösener (Hrsg.): Kommunikation und ländliche Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Moderne (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 156). Göttingen 2000, S. 263–317, hier S. 271–289, und Karl Härter: Strafverfahren im frühneuzeitlichen Territorialstaat: Inquisition, Entscheidungsfindung, Supplikation, in: Andreas Blauert / Gerd Schwerhoff (Hrsg.): Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne (Konflikte und Kultur – historische Perspektiven, Bd. 1). Konstanz 2000, S. 459–480, hier S. 461–475. 42 Diese Lesart, die vom oft beschriebenen „Konkurrenzverhältnis“ zwischen Reichskammergericht und Reichshofrat abweicht (vgl. den Sammelband Wolfgang Sellert [Hrsg.]: Reichshofrat und Reichskammergericht. Ein Konkurrenzverhältnis [QFHG, Bd. 34]. Köln/Weimar/Wien 1999 und darin besonders Ehrenpreis: Tätigkeit [wie Anm. 15], S. 27–46), findet sich bereits im Titel der zeitgenössischen Abhandlung „Gründlicher Underricht, Von der im heiligen Römischen Reich entstandenen, Aber seythero noch unerledigten Frage: Ob der Kayserliche Hoff Raht, mit und neben dem Kayserlichen Cammer Gericht zu Speyer, concurrentem Jurisdictionem, in allen und jeden Sachen, ohne underscheid habe?“. Amberg 1613. Siehe auch Barbara Stollberg-Rilinger: Die Würde des Gerichts. Spielten symbolische Formen an den Höchsten Reichsgerichten eine Rolle?, in: Oestmann (Hrsg.): Formstrenge und Billigkeit (wie Anm. 12), S. 214.
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Frühen Neuzeit innewohnt, wurde bereits mehrfach unter Beweis gestellt.⁴³ Für das Gerichtswesen wurde ein solcher Zugriff, jenseits genuin rechtshistorischer, prozessrechtlicher Zugangsweisen, jedoch noch kaum erprobt. Eine der vielen unbeantworteten Fragen ist hierbei, inwieweit die im Reich seit den 1590er Jahren vor allem von protestantischer Seite gegen den Reichshofrat vorgebrachten Beschwerden, die sich auch und vor allem gegen dessen Verfahrenspraxis (summarische Verfahren) und die von ihm beanspruchten Zuständigkeiten richteten,⁴⁴ Konsequenzen für den Umgang mit Supplikationen bewirkten. So dürfte die kaiserliche Reaktion auf diese Beschwerden von Grund auf die mit dem Phänomen der Untertanensuppliken verklammerte Dimension offenlegen. Den Reichshofrat alleine auf seine gerichtliche Funktion (einschließlich freiwilliger Gerichtsbarkeit) zu beschränken, wie von protestantischer Seite propagiert, schien dem Kaiser gänzlich unvereinbar zu sein mit seiner hocheit, autorität und jurisdiction.⁴⁵ Zu bedenken ist also die unauflösliche Verflochtenheit der kaiserlichen Rechts- und Gnadengewalt, die der Supplikationspraxis innewohnte, sich in ihr manifestierte und sich dergestalt konkretisierte, wie mit den Bittschriften verfahren wurde. Folgende Forschungsfragen stehen daher für den Grazer Projektteil im Vordergrund: 1. Wie wurden Untertanensupplikationen eingebracht? Stimmt die Bearbeitung der Bittschriften mit dem am kaiserlichen Hof ansonsten gebräuchlichen Verfahrensgang überein? Waren weitere kaiserliche Behörden oder der Kaiser persönlich involviert? Welche Akteure hatten auf Seiten der Supplikationsabsender und des Reichshofrats Anteil am Supplikationsverfahren? 2. Lassen sich Korrelationen ausmachen zwischen den Kontexten, die dem Supplikationsweg vorauslagen, und der Art und Weise, wie mit den Bittschriften verfahren wurde? 3. Ist ein Zusammenhang zwischen sprachlich-formaler Präsentation und materieller Seite der Supplikation erkennbar? Lassen sich verschiedene Supplikationsinhalte verschiedenen Verfahrenswegen zuweisen? 43 Im Überblick: Hans-Jürgen Bömelburg / Gabriele Haug-Moritz: Art. Stand/Stände, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 12. Stuttgart 2010, Sp. 824–849; Tim Neu / Michael Sikora / Thomas Weller (Hrsg.): Zelebrieren und Verhandeln. Zur Praxis ständischer Institutionen im frühneuzeitlichen Europa (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme, Bd. 27). Münster 2009, S. 37–60. 44 Stefan Ehrenpreis: Kaiserliche Gerichtsbarkeit und Konfessionskonflikt. Der Reichshofrat unter Rudolf II. 1576–1612 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 72). Göttingen 2006. 45 Michael Caspar Londorp: Der Römischen Kayserlichen Majestät und deß heiligen Römischen Reichs geist- und weltlicher Stände, Chur- und Fürsten, Grafen, Herren und Städte Acta publica und schrifftliche Handlungen, Ausschreiben, Sendbrieff, Bericht [. . . ]. Frankfurt a. M. 1668, S. 71f.
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4. Wie weit ist das Verfahren formalisiert? 5. Lassen sich institutionelle Züge im Supplikationsverfahren in dem Sinne greifen, dass Wiederholbarkeit und Regelmäßigkeit nachweisbar sind?⁴⁶ 6. In welcher Relation stehen Supplikationsverfahren und summarische Prozessformen? 7. Welche Selbstdeutungsangebote kommunizierte der Reichshofrat im und durch das Verfahren symbolisch? Welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus für die kommunikative Formung autoritativer Macht ziehen, und unterlag diese Formung im Untersuchungszeitraum Veränderungen?
5 Die Onlinedatenbank Untertanensuppliken am Reichshofrat Um die Ergebnisse der Arbeit nicht nur für die Fragestellungen der beiden Teilprojekte fruchtbar zu machen, sondern auch für die vielfältigen geschichtswissenschaftlichen Forschungsfelder, für die Suppliken eine herausragende Quelle darstellen, wurden all jene Verfahren, in denen sich Supplikationen an den Kaiser erhalten haben, digitalisiert. Dank der Kooperation mit dem „Zentrum für Informationsmodellierung in den Geisteswissenschaften („Austrian Center for Digital Humanities“) an der Karl-Franzens-Universität Graz und der Kooperation mit dem Österreichischen Staatsarchiv ist es uns möglich, die Untertanensuppliken der rudolfinischen Zeit der Forschung via Onlinezugriff dauerhaft, zitierbar und kostenlos zur Verfügung zu stellen.⁴⁷
46 Zum institutionentheoretischen Hintergrund der Begrifflichkeit siehe Gerd Melville: Institutionen als geschichtswissenschaftliches Thema. Eine Einleitung, in: ders. (Hrsg.): Institutionen und Geschichte. Theoretische Aspekte und mittelalterliche Befunde (Norm und Struktur, Bd. 1). Köln/Weimar/Wien 1992, S. 1–24. 47 Die Datenbank ist über die Homepage des DFG/FWF Projekts „Untertanen am Reichshofrat in der Regierungszeit Kaiser Rudolfs II. (1576–1612)“ abrufbar: http://www-gewi.uni-graz.at/ suppliken/vorstellung.html (abgerufen am: 30. 06. 2014). Das Hosting der Scans erfolgt über das Geisteswissenschaftliche Asset Management System (GAMS) der Universität Graz. Das GAMS ist ein System zur Verwaltung, Speicherung und Publikation digitaler Ressourcen, die in wissenschaftlichen Kontexten produziert werden. Es bietet den Nutzern Open Access und persistente Zitierbarkeit, so dass die über das GAMS publizierten Inhalte und Ressourcen nachhaltig über einen „permanenten Link“ referenziert werden können. Siehe auch das Zentrum für Informationsmodellierung Graz, GAMS, Online, URL: http://informationsmodellierung.uni-graz.at/de/forschen/gams/ (abgerufen am: 30. 06. 2014).
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Es wäre jedoch wenig ertragreich, den Zugriff auf beinahe 1 500 digitalisierte Archivalieneinheiten (ca. 20 000 digitalisierte Seiten) zu ermöglichen, ohne ein entsprechendes Rechercheinstrument zur Verfügung zu stellen. Daher entwickelte das Zentrum für Informationsmodellierung eine eigens auf diese Quellengattung zugeschnittene Datenbank.⁴⁸ Datenbanklösungen für die Quellenpräsentation wurden dabei bislang vorrangig für serielle Quellen erprobt oder aber, so es sich um heterogeneres Aktenmaterial von Verwaltungs- oder Gerichtsbehörden handelte, „unterkomplex“ in Listenform präsentiert. Dass eine solche Vorgehensweise der Rezeption eher ab-, denn zuträglich ist, lehrten Beispiele aus der eigenen Forschungspraxis, bei denen einzelne SupplikantInnen mehrere Verfahren anhängig machten oder aber mehrere SupplikantInnen an einem Verfahren beteiligt waren. Wenn überdies noch, was sehr häufig der Fall ist, in einem Verfahren mehrfach suppliziert, mehrfach entschieden und noch dazu in unterschiedlicher Weise entschieden wurde, dann dürfte deutlich sein, dass einfache Auflistungen diese Vielgestaltigkeit der Supplikationspraxis nicht einmal in Grundzügen abbilden können. Um der Heterogenität und Komplexität der reichshofrätlichen Supplikationsverfahren Rechnung zu tragen, entschied sich das Projekt für eine relationale Datenbank, die es ermöglicht, Informationen auf verschiedenen Ebenen zu sammeln und diese miteinander zu verknüpfen. Drei Ebenen werden unterschieden: 1. Angaben zu den SupplikantInnen wie Name, Geschlecht, Herkunft, Herrschaft etc. 2. Informationen zum Verfahren als solchen, wie etwa Verfahrensdauer, Gegenstand etc. und schließlich 3. die jeweiligen Verfahrensschritte, also die einzelnen Eingaben der SupplikantInnen, die reichshofrätlichen Entscheidungen, die Reaktionen der involvierten Obrigkeiten etc.⁴⁹ Damit ist es möglich, sehr komplexe Fragen an die Datenbank zu generieren, wie beispielsweise jene nach allen Verfahren, an denen weibliche katholische
48 Aufgabe des Zentrums für Informationsmodellierung in den Geisteswissenschaften der Universität Graz ist die angewandte Forschung mit Schwerpunkt Theorie der Informationsmodellierung und Texttechnologie sowie die praxisorientierte Umsetzung des Forschungsgegenstandes in Projekten und Lehre. Im Vordergrund der Projektarbeit stehen nachhaltige und automationsgestützte Verarbeitung, Langzeitarchivierung und digitales Wissensmanagement. URL: http://informationsmodellierung.uni-graz.at/de/aktuelles/ (abgerufen am: 30. 06. 2014) und http://informationsmodellierung.uni-graz.at/de/forschen/ (abgerufen am: 30. 06. 2014). 49 Der Terminus „Verfahrensschritte“ wird hier nicht im juristischen Sinn, sondern primär als pragmatischer datenbankinterner Begriff verstanden.
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SupplikantInnen aus dem Herzogtum Bayern beteiligt waren, in denen wegen Ausweisung suppliziert wurde und deren Supplikationen mit einem kaiserlichen Fürbittschreiben an den Herzog von Bayern positiv beantwortet wurden. Die Möglichkeit der Referenzierung digitalisierter Quellen mittels einer solchen Datenbank erscheint dem Projekt als eine sehr innovative Publikationsform archivalischer Quellen.⁵⁰ Gerade durch die Referenzierung der erhobenen Reichshofratsakten in einer komplexen Datenbank mit breit differenzierbaren Recherchemöglichkeiten wird damit erstmals die Möglichkeit gegeben, kleinteilige Abfragen zu erstellen, die sehr unterschiedlichen Fragestellung angepasst werden können. Die Abfrageergebnisse können darüber hinaus anhand der in die Datenbank eingebundenen digitalisierten Quellen unmittelbar für die eigene Weiterarbeit genutzt werden. In solchen Auswertungsmöglichkeiten sieht die Projektgruppe einen zentralen, weit über ihr eigenes Forschungsvorhaben hinausweisenden Mehrwert ihrer Arbeit, zumal sie mit diesem Vorgehen einen Vorschlag zur – im Vorzeichen der neuen elektronischen Möglichkeiten – gegenwärtig intensiv diskutierten Frage unterbreiten möchte, wie die Innovationen des digitalen Zeitalters für die Editionspraxis fruchtbar gemacht werden können.⁵¹
6 Erste quantitative und qualitative Ergebnisse Das Forschungsprojekt gelangte bislang zu folgenden, vorläufigen Ergebnissen, die hier abschließend angeführt werden sollen: 1. Um die Hypothese, dass sich reichsmittelbare Untertanen in wesentlich breiterem Umfang als bislang angenommen Hilfe suchend an den Kaiser gewandt haben, zu verifizieren bzw. zu falsifizieren, wurden in der bisherigen Projektlaufzeit alle Reichshofratsakten aus der Regierungszeit Kaiser Rudolfs II. (1576–1612), insgesamt knapp 7 800 Verfahren, gesichtet. Das Ergebnis ist ebenso bemerkenswert wie erstaunlich. 47 Prozent aller überlieferten Reichshofratsverfahren aus der Regierungszeit Kaiser Rudolfs II. wurden von nichtadeligen reichsmittelbaren Untertanen initiiert. Das bedeutet, die Hälfte aller Verfahren am Reichshofrat in
50 Vgl. Tobias Schenk: Präsentation archivischer Erschließungsergebnisse analog und digital. Das deutsch-österreichische Kooperationsprojekt „Die Akten des Kaiserlichen Reichshofrats“, in: Thomas Aigner / Stefanie Hohenbruck / Thomas Just / Joachim Kemper (Hrsg.): Archive im Web. Erfahrungen, Herausforderungen, Visionen/Archives on the Web. Experiences, Challenges, Visions. St. Pölten 2011, S. 187–202. 51 Am 16./17. Juni 2014 veranstaltete das Projekt einen Workshop in Graz, in dessen Rahmen unter anderem die Anzeige- und Recherchemöglichkeiten der Datenbank vorgestellt wurden. Eine Publikation der Beiträge ist vorgesehen.
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der Zeit um 1600 wurde von nichtadeligen Untertanen des Reiches eingebracht.⁵² Dieser Befund ist umso erstaunlicher, als die Überlieferungschancen von Supplikationen der Untertanen ungleich geringer sind als die Suppliken derjenigen Akteure des politischen Systems, deren Handeln für die „große“ Politik ausschlaggebend war. Kaiser und Reich waren demnach in Wahrnehmungswelten und Handlungspraktiken von Untertanen im Alten Reich in einem Ausmaß präsent, wie es bislang nicht einmal ansatzweise bekannt war. Die via supplicationis der reichsmittelbaren Bevölkerung stellte, dies sei als erstes zentrales Ergebnis festgehalten, in der Zeit um 1600 eine gängige kommunikative Praxis dar. 2. In der Verfahrenspraxis des Reichshofrats, dessen „Würde“ in institutionellen, materiellen und symbolisch-zeremoniellen Formen „ganz und gar die des Kaisers selbst“⁵³ war, konkretisierte sich die kaiserliche Gnadengewalt. Der Kaiser (und damit auch der Reichshofrat) bildeten somit im Reich einen in den kommunikativen Praktiken her- wie dargestellten zentralen Bezugspunkt politischer Herrschaft um 1600.⁵⁴ Mit diesen beiden ersten Ergebnissen ist zum einen die Meistererzählung vom Alten Reich als einem Kommunikations- und Handlungsraum, der ausschließlich Obrigkeiten umfasste, falsifiziert. Zum anderen ist aber auch Neuhaus‘ Annahme, dass „die Supplikanten nicht mehr so sehr auf den Kaiser hofften, sondern ihr Glück vielmehr bei der Gesamtheit der Reichsstände suchten“,⁵⁵ zu relativieren. So scheint freilich die Anwesenheit des Kaisers respektive des kaiserlichen Hofrats im Reich während der Reichstage eine wichtige Rolle gespielt zu haben. Denn gerade die Reichshofratsüberlieferung aus der Zeit der ersten beiden Reichstage unter Kaiser Rudolf II. (1582 und 1594) weist einen sehr hohen Anteil von Untertanensupplikationen auf. Einer Verlagerung des Supplikationswesens vom Kaiser zum Reichstag entspricht dieser Befund jedoch nicht. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein: Die persönliche Präsenz des Kaisers auf dem Reichstag begünstigte seinen Anspruch, als Quelle der Gnade wahrgenommen und als solche angerufen zu werden, wie die hohen Eingabezahlen, insbesondere zum Zeitpunkt des Reichstags von 1582, nahelegen.⁵⁶
52 Nicht alle SupplikantInnen stammen aus dem Reichsgebiet bzw. waren Untertanen des Reiches. Siehe die näheren Angaben zur geographischen Herkunft unter Punkt 3(a) auf S. 88. 53 Stollberg-Rilinger: Würde des Gerichts (wie Anm. 42), S. 212–215. 54 Vgl. Barbara Stollberg-Rillinger: Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Vormoderne politische Verfahren (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 25). Berlin 2001, S. 9–24, hier S. 11. 55 Neuhaus: Reichstag (wie Anm. 6), S. 118. 56 Insbesondere ragt der erste rudolfinische Reichstag von 1582 mit einer beinahe doppelt so hohen Eingabefrequenz von Untertanensupplikationen heraus. Vgl. auch Eva Ortlieb: Reichs-
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3. Quantitative Abfragen der Datenbankinhalte zeigen die weit gestreute geographisch-politische, soziale und konfessionelle Herkunft der SupplikantInnen. (a) Geographische Herkunft: So stammen diese aus dem gesamten Reichsgebiet (inklusive Reichsitalien, die Spanischen Niederlande und die habsburgischen Erblande) und in Einzelfällen auch aus Polen, Ungarn, Frankreich, Spanien und Italien. Vermehrt finden sich Supplizierende aus den Reichsstädten Nürnberg, Augsburg und Frankfurt sowie dem kaiserlichen Residenzort Prag; letztere waren überwiegend am Kaiserhof tätig oder gehörten in dessen unmittelbares Umfeld. Nicht allein die geographische Nähe zum Hof, sondern auch und besonders das persönliche Näheverhältnis zum Kaiser, wie etwa ein Dienstverhältnis, dürfte den Supplikationsweg begünstigt haben. Entsprechend der geographischen Herkunft sind zwar zumeist deutsche, aber auch lateinische und italienische Supplikationen überliefert. In der Regel waren es Einzelpersonen oder Kleingruppen wie Ehepaare, Geschwister, Erbengemeinschaften oder Gläubigergruppen, die sich an den Kaiser wandten. Untertanenverbände oder ganze Dörfer, die sich über ihre Herrschaft beschwerten und denen die Revoltenforschung besondere Aufmerksamkeit schenkt,⁵⁷ stellen Ausnahmen dar. (b) Soziale Herkunft: Die in den Suppliken enthaltenen Berufsangaben reichen von Tagelöhnern, Dienstleuten und Scharfrichtern über Bauern, Gastwirte, Handwerker, Buchdrucker, Soldaten, Ärzte, Juristen, Kleriker, Kaufleute bis zu fürstlichen Räten. Die SupplikantInnen stammten also aus allen sozialen Schichten. So schlug auch die kaiserliche Leibwäscherin den ordentlichen – schriftlichen – Verfahrensweg ein, um ein außerordentliches Anliegen an ihren
hofrat und Reichstage, in: Thomas Olechowski / Christian Neschwara / Alina Lengauer (Hrsg.): Grundlagen der österreichischen Rechtskultur. Festschrift für Werner Ogris zum 75. Geburtstag. Köln/Weimar/Wien 2010, S. 343–363, hier S. 343–345, und Ortlieb/Polster: Prozessfrequenz (wie Anm. 16), S. 196, 205 und 212–216. 57 Vgl. Winfried Schulze: Die veränderte Bedeutung sozialer Konflikte im 16. und 17. Jahrhundert, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.): Der Deutsche Bauernkrieg 1524–1526. Göttingen 1975, S. 277–302; ders.: Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit (Neuzeit im Aufbau, Bd. 6). Stuttgart/Bad Cannstatt 1980, S. 76–85; Fuhrmann / Kümin / Würgler: Supplizierende Gemeinden (wie Anm. 17); Werner Troßbach: „Widerständige Leute“? „Protest“ und „Abwehrverhalten“ in Territorien zwischen Elbe und Oder 1500–1789, in: Markus Cerman / Robert Luft (Hrsg.): Untertanen, Herrschaft und Staat in Böhmen und im „Alten Reich“. Sozialgeschichtliche Studien zur Frühen Neuzeit (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, Bd. 99). München 2005, S. 203–233.
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Dienstherrn vorzubringen. Frauen supplizierten mitunter für ihre bedrängten Männer bzw. illegitimen Kinder, hauptsächlich aber in eigener Sache.⁵⁸ (c) Konfession: Entgegen anders gearteter Annahmen⁵⁹ sind nicht nur römisch-katholische, sondern auch lutherische und reformierte sowie jüdische BittstellerInnen vertreten.⁶⁰ Unerwartet ist allerdings der Befund, dass sehr viele SupplikantInnen darauf verzichteten, mit ihrer konfessionellen Zugehörigkeit zu argumentieren. Lediglich sieben Prozent aller SupplikantInnen machten solche Angaben. Dieses Ergebnis erstaunt in einer Zeit, die von der Forschung als konfessionelles Zeitalter charakterisiert wird. SupplikantInnen, die die Möglichkeit auf Bewilligung der Bitte etwa durch Verweis auf ihren katholischen Glauben zu erhöhen versuchten, wären insofern keine Überraschung. Augenscheinlich sahen die meisten SupplikantInnen aber darin kein Mittel, um die Chance zur Durchsetzung ihres Anliegens zu erhöhen. Das „konfessionelle Zeitalter“⁶¹ war – soweit es Bittschriften an den Kaiser betrifft – scheinbar in einem weit geringeren Maß konfessionell als angenommen. 4. Bitten: Bereits nach kursorischen qualitativen Auswertungen wird die enorme Bandbreite des Supplikationswesens ersichtlich. Bitten um kaiserliche Fürbittschreiben bzw. Interzessionen, Befehle und Ermahnungsschreiben an die eigene
58 Vgl. Siegrid Westphal: Die Inanspruchnahme des Reichshofrats durch Frauen – quantitative Aspekte, in: dies. (Hrsg.): In eigener Sache. Frauen vor den höchsten Gerichten des Alten Reiches. Köln/Weimar/Wien 2005, S. 29–39. 59 Prominent vertreten von Filippo Ranieri: Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert (QFHG, Bd. 17), 2 Bde. Köln/Weimar/Wien 1985, S. 180f., abwägend diskutiert bei Anette Baumann: Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsakten – eine sozialgeschichtliche Untersuchung zum 17. und 18. Jahrhundert (QFHG, Bd. 36). Köln/Weimar/ Wien 2001, S. 33–35. 60 Insbesondere Juden am Reichshofrat sind vergleichsweise gut erforscht, siehe etwa Barbara Staudinger: Juden am Reichshofrat. Jüdische Rechtsstellung und Judenfeindschaft am Beispiel der österreichischen, böhmischen und mährischen Juden 1559–1670 (unveröff. Diss. phil. Univ. Wien). Wien 2001; dies.: „Gelangt an eur kayserliche Majestät mein allerunderthenigistes Bitten“. Handlungsstrategien der jüdischen Elite am Reichshofrat im 16. und 17. Jahrhundert, in: Sabine Hödl / Peter Rauscher / Barbara Staudinger (Hrsg.): Hofjuden und Landjuden. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit. Berlin/Wien 2004, S. 143–183; Leopold Auer / Eva Ortlieb: Die Akten des Reichshofrats und ihre Bedeutung für die Geschichte der Juden im Alten Reich, in: Andreas Gotzmann / Stephan Wendehorst (Hrsg.): Juden im Recht. Neue Zugänge zur Rechtsgeschichte der Juden im Alten Reich. Berlin 2007, S. 25–38; Verena Kasper-Marienberg: Vor Euer Kayserlichen Mayestät Justiz-Thron. Die Frankfurter jüdische Gemeinde und der Reichshofrat in josephinischer Zeit (1765–1790) (Schriften des Centrums für Jüdische Studien, Bd. 19). Innsbruck/Wien/Bozen 2012. 61 Siehe allgemein Maximilian Lanzinner: Konfessionelles Zeitalter 1555–1618 (Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 10). 10. völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart 2001.
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Obrigkeit, Einsetzungen einer kaiserlichen Kommission, Poenal- bzw. Exekutorialmandate oder Zitationen an die Gegenpartei lassen sich ebenso finden wie Bitten um Gewerbe- und Handelsprivilegien, Pass-, Geleit- und Schutzbriefe oder Patente für Arretierung bei Schuldforderungen. Die kaiserlichen Gnaden- und Reservatrechte wurden insbesondere für die restitutio in integrum bzw. honoris et famae, Legitimierung der eigenen Person oder unehelicher Kinder, Gewährung und Bestätigung von Privilegien (darunter auch Impressorien) sowie Präsentation auf Pfründen mittels Panisbriefen oder Primae Preces angerufen. Die archivalische Überlieferung der jeweiligen Verfahren in den verschiedenen Teilbeständen der Judicialia und Gratialia⁶² suggeriert eine systematische Aufteilung der Gesuche nach inhaltlichen Kriterien, doch diese stimmt nur teilweise mit den Gegenständen überein und sollte nicht zu vorschnellen Klassifizierungen verleiten. In einigen Fällen sind Akten eines einzigen Verfahrens getrennt und in verschiedene Teilbestände abgelegt worden. Auch hier bietet die Datenbank die Möglichkeit einer Zusammenführung und eines Vergleichs mit anderen Verfahren derselben SupplikantInnen. Besondere Erwähnung an dieser Stelle verdienen die Supplikationen um kaiserliche Promotorial-, Interzessions-, Befehls- bzw. Kompulsorialschreiben an das Reichskammergericht, das Hofgericht zu Rottweil und das kaiserliche Landgericht in Schwaben. Augenscheinlich waren einige Verfahren gleichzeitig an verschiedenen Höchstgerichten anhängig. Daher bestand reger Aktenaustausch zwischen diesen Gerichten und dem Reichshofrat. Teilweise wählten SupplikantInnen bei lange ausbleibender Urteilsfindung oder aus anderen Gründen das jeweils andere Gericht, mitunter sogar aufgrund einer Weisung des Reichshofrats. Eine nähere Analyse dieser Verfahren könnte die Diskussion um die Zuständigkeiten und Arbeitsweisen der Reichsgerichte neu befruchten. 5. Sprachlich-formale Gestalt: Vergleichbar mit Bittschriften an die Landesherren waren alle Supplikationen direkt an den Kaiser gerichtet und adressiert, im Gegensatz etwa zum Reichskammergericht.⁶³ Dies schlug sich auch in Aufbau, Stil und Rhetorik der Bittgesuche nieder. Eine idealtypische Supplik an den Kaiser –
62 Lothar Groß: Reichsarchive, in: Ludwig Bittner (Hrsg.): Gesamtinventar des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs, Bd. 1 (Inventare österreichischer staatlicher Archive, Bd. 5/4). Wien 1936, S. 273–294, bes. S. 275–283; Ortlieb/Polster: Prozessfrequenz (wie Anm. 16), S. 193f. 63 Ortlieb: Prozeßverfahren (wie Anm. 12), S. 122; dies./Polster: Prozessfrequenz (wie Anm. 16), S. 201. Vgl. Stefan A. Stodolkowitz: Das Oberappellationsgericht Celle und seine Rechtsprechung im 18. Jahrhundert (QFHG, Bd. 59). Köln/Weimar/Wien 2011, S. 35: „Schriftsätze an das Reichskammergericht wurden an den Kammerrichter als Vertreter des Kaisers adressiert [. . . ].“
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Abb. 1. Veit Reichitzer, Diener des kaiserlichen Kammerdieners Hans Papp, bittet um Fürbitt schreiben an den Herzog von Württemberg zum Verkauf seiner väterlichen Erbschaft zu Deger schlacht im Oberamt Tübingen (ÖStA HHStA, RHR, Alte Prager Akten, K. 154, fol. 773–775).
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Abb. 1 (Fortsetzung)
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Abb. 1 (Fortsetzung). Diese Supplikation wurde am 27. Februar 1586 expediert, die Kreuzfaltung ist noch deutlich zu erkennen.
auch in Anlehnung an die zeitgenössischen Formularbücher⁶⁴ – entspricht etwa folgendem Muster:⁶⁵
64 Vgl. etwa Alexander Huge / Guiseppe Boghi / Gottlieb L. Heyer: Rhetorica und Formulare, Teutsch, dergleich nie gesehen [. . . ]. Tübingen 1530, pag. 47v–48v. 65 Die Bezeichnungen der einzelnen Abschnitte einer idealtypischen Supplik orientieren sich an Hochedlinger: Aktenkunde (wie Anm. 2), S. 135–154, und Rehse: Supplikations- und Gnadenpraxis (wie Anm. 2), S. 157–173, wobei sich „Narratio“ und „Petitio“ auch als Glossen in Supplikationsschriften finden lassen. In vielen Suppliken sind nach den jeweiligen Abschnitten Absätze eingefügt, lediglich die „Legitimatio“ schließt meist direkt an die „Narratio“ an. Die kursiv gesetz-
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Abschnitt
Formeln bzw. Umschreibung
Funktion
Inscriptio
Allerdurchlauchtigster großmächtigster und unüberwindlichster Römischer Kaiser (auch zu Ungarn und Böhmen König), Allergnädigster Herr Kann aus höchster Notdurft anzurufen nicht umgehen. Bitte, gnädigst zu vernehmen. (Erzählung der Einzelumstände und Schilderung der konkreten Problemlage in unterschiedlicher Ausführlichkeit und stilistischer Gestaltung) Dieweil ich armer betrübter Mann hierdurch (etwa unrechtmäßige Inhaftierung oder verweigerte bzw. verzögerte Rechtshilfe) zum Höchsten beschwert bin und ich zur Erhaltung meiner Frau und armen Kinder meine Hantierung nicht verrichten kann. So (ge)langt an E R K M mein alleruntertänigstes (um Gottes und des Jüngsten Gerichts willen) höchstflehentliches Bitten, Sie wollen mich aus ksl. Macht mit einem Privileg/Befehl begaben, damit ich nicht an den Bettelstab komme. Solche hohe ksl. Gnade will ich zeit meines Lebens zu verdienen mit Leib, Gut und Vermögen beflissen sein und will Gott anrufend bitten für Eure lange Gesundheit und glückliche Regierung, Zur gnädigsten Antwort untertänigst befehlend. Alleruntertänigster (und) Gehorsamster (Diener/Kaplan) (Name, z. T. Beruf, Herkunft)
Anrede mit Titulatur
Exordium Narratio
Legitimatio
Petitio
„Sanctio“ als Courtoisie
Subscriptio
Rechtfertigung für die „Behelligung“ des Kaisers Scheinbar objektiver Informationsgehalt, doch meist bewegend und appellativ ausgestaltet⁶⁶ Legitimierung des Anspruchs auf kaiserliche Hilfe durch Berufung auf Gerechtigkeit bzw. Recht und Herkommen Eigentliche Bitte, als performativer Akt stilisiert und mit Bewahrung vor Elend begründet
Obligatorische und obligierende Diensterbietung und Devotion, oft mit Precatio als Gebetsfürbitte⁶⁷ Personalisierung, Vollzug des Untertanenverhältnisses
Die Untertanensuppliken an Kaiser Rudolf II. sind mehrheitlich nicht datiert, jedoch auf der Rückseite mit dem Präsentations- bzw. Expeditionsdatum und
ten Quellenparaphrasen sind zur besseren Lesbarkeit der heutigen Schriftsprache angepasst und teilweise aus mehreren Suppliken zusammengesetzt. 66 Vgl. Ullmann: Gnadengesuche (wie Anm. 11), S. 167f. 67 Vgl. Rehse: Supplikations- und Gnadenpraxis (wie Anm. 2), S. 162f. Laut Renate Blickle: Interzession. Die Fürbitte auf Erden und im Himmel als Element der Herrschaftsbeziehungen, in: Nubola/Würgler (Hrsg.): Bittschriften und Gravamina (wie Anm. 7), S. 293–322, bes. S. 312–320, fungierte die Gebetsfürbitte als Dankesgabe und Gegenwert im Sinne des antiken Konzepts do ut des.
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Bearbeitungsvermerken wie „Hievon Copej“ versehen. Ferner finden sich zumeist der Außentitel als Adresse, mitunter sogar der Name des Bearbeiters wie Hanniwald für Reichshofrat Andreas Hannewaldt und ggf. die Entscheidung in kurzer Form Abzuweisen oder Fiat (ut petitum). Der Kern der Supplikation, die Petitio als die eigentliche Bitte, ist häufig in Form eines verschriftlichten performativen Aktes gestaltet, zum Teil mit starker religiöser Aufladung als anflehender Kniefall. So heißt es etwa: [. . . ] dahero ich ad genua supplex zu Ewer May[estä]t geflohen, dieselbe umb Iesu Christi marter, wunden, blut und todt willen angeruffen und noch anruffe, das gerechtigste einsehen zuhaben und mir helffen zulassen.⁶⁸ Erst eine solche rituell vollzogene symbolische Unterwerfung und Demonstration der eigenen Ohnmacht als Gegenbild zur herrschaftlichen Machtfülle und Autorität ermöglicht die Teilhabe an der kaiserlichen Gnade. Bei einer Supplikation als verschriftlichte Form des unterwürfigen Bittens ist somit stets der Kniefall mitzudenken bzw. (nicht ausschließlich) wird dieser in der Frühen Neuzeit (auch) schriftlich „vollzogen“.⁶⁹ Indes dürfte die persönlich auf Knien dem Kaiser vorgetragene Bitte im Lauf des 16. Jahrhunderts einer formalisierten Einreichung der Suppliken gewichen sein. So beschreibt Joseph Gruber seine Bitte mit den Worten anstatt aines allerunderthenigsten Fusfals.⁷⁰ Der Gnaden- und Unterwerfungsaspekt stellt insofern ein der Supplikation immanentes Moment dar, welches jenes hierarchische Verhältnis zwischen Kaiser und reichsmittelbarem Untertanen voraussetzt, das im verschriftlichten Akt abgerufen, hergestellt und zugleich bestätigt wird. Die Devotion drückt die Erwartungshaltung der SupplikantInnen gegenüber dem Kaiser aus, seiner Verpflichtung als Herrscher nachzukommen und setzt den Kaiser damit als Schutzherren unter Druck, sich eines hilfebedürftigen Untertanen anzunehmen und dessen Anliegen zu berücksichtigen.⁷¹ 6. Reichshofrätliche Entscheidungspraxis: Die Wechselseitigkeit des Gnadebittens und des Gnadegewährens spiegelt sich auch in der reichshofrätlichen Entscheidungspraxis wider. Der Reichshofrat reagiert häufig ohne Gegenprüfung zugunsten der SupplikantInnen und setzte dabei ein sehr breites Repertoire an
68 ÖStA HHStA, RHR, Decisa, K. 1120 (Peter Daucher, 1609). 69 Siehe Barbara Stollberg-Rilinger: Knien vor Gott – Knien vor dem Kaiser. Zum Ritualwandel im Konfessionskonflikt, in: Gerd Althoff (Hrsg.): Zeichen – Rituale – Werte. Internationales Kolloquium des Sonderforschungsbereichs 496 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme, Bd. 3). Münster 2004, S. 501–533. 70 ÖStA HHStA, RHR, Judicialia Miscellanea, K. 34 (Joseph Gruber, 1601). 71 Vgl. Ortlieb: Lettere di intercessione (wie Anm. 12); Blickle: Interzession (wie Anm. 67), S. 302–309.
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kaiserlichen Schreiben ein. Dieses reichte von Fürbittschreiben oder Empfehlungen an die zuständige Obrigkeit mit dem Begehren, den SupplikantInnen nach Möglichkeit weiterzuhelfen, über kaiserliche Anordnungen, Ermahnungen, die Gewährung von Geleit- oder Schutzbriefen oder die Bewilligung kaiserlicher Moratorien bis hin zu Mandata sine clausula oder der Einsetzung einer kaiserlichen Kommission. 7. Gegenstände: Das Supplikationswesen am Reichshofrat um 1600 beschränkte sich nicht auf die – von der Kriminalitätsforschung für die Landesbzw. Stadtebene eindrücklich herausgearbeitete – Fürsprache Dritter zum Zwecke der Begnadigung devianter Personen. Die Untertanen supplizierten vielmehr in erster Linie für sich selbst und nicht nur bei strafrechtlicher Verfolgung, sondern oftmals aus sozioökonomischen Ursachen,⁷² wie zum Beispiel bei Schwierigkeiten, ausstehende Schuldforderungen einzutreiben, bei Hilfebedürftigkeit aufgrund eigener Verschuldung oder bei – aus ihrer Sicht – Benachteiligungen jedweder Art durch Obrigkeiten bzw. Gläubiger. Auch verletzte Gewerbe- und Druckprivilegien, verweigerte Pfründen, Probleme wegen konfessioneller Zugehörigkeit oder nicht gewährte Rechtshilfe veranlassten Untertanen, ihr Heil beim Kaiser zu suchen. Der Weg der Supplikation direkt an das Reichsoberhaupt war demnach eine (unter mehreren) Möglichkeit(en), aktiv eigene Interessen in Problemlagen jedweder Art zur Geltung zu bringen.
72 Vgl. hierfür auch André Holenstein: Bittgesuche, Gesetze und Verwaltung. Zur Praxis „guter Policey“ in Gemeinde und Staat des Ancien Régime am Beispiel der Markgrafschaft Baden(-Durlach), in: Blickle (Hrsg.): Gemeinde und Staat (wie Anm. 7), S. 325–357, hier S. 333 und 336f.; Rehse: Supplikations- und Gnadenpraxis (wie Anm. 2), S. 359–362, 504f. und 584.
Fabian Schulze
Die Rolle der oberdeutschen Reichskreise und der Reichsgerichte bei der Bekämpfung der Kipper- und Wipperkrise 1618–1626 Der Fall guter Münzen ist gemeiniglich ein vnbetrüglich Indicium des bald hernach gefolgten Untergangs der Land vnd Imperien aller Orten gewesen. (Sentenz eines Probationstagsabschieds der korrespondierenden Reichskreise Bayern, Franken und Schwaben von 1585)¹
Die Kipper- und Wipperzeit zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges gilt als eine der größten grenzüberschreitenden Münz- und Währungskrisen im frühneuzeitlichen Europa.² Sie ging ursprünglich nur von einigen wenigen Territorien des Heiligen Römischen Reichs aus, wuchs sich dann aber rasch zu einer Herausforderung des gesamten Reichsverbandes aus. Dieser Beitrag wird anhand der Reichskreise und der Reichsgerichte der Frage nachgehen, inwieweit das Heilige Römische Reich auf der Ebene von supraterritorialen Institutionen und rechtlichen Instrumentarien in der Lage war, auf das Phänomen der Kipper und Wipper zu reagieren. Dabei wird im Einzelnen Folgendes thematisiert: Wie wurde das Münzwesen im Reich organisiert und wie sollte es auf supraterritorialer Ebene kontrolliert werden? Welche Rolle war dabei den Reichskreisen zugedacht, welche den Reichsgerichten? Schließlich wird der Frage nachzugehen sein, wie die besagten Reichsinstitutionen angesichts der Kipper- und Wipperkrise tatsächlich agierten und inwieweit Untätigkeit auf Ebene der Reichsjustiz durch Reichskreise ausgeglichen werden konnte. Die folgenden Ausführungen basieren primär auf der Untersuchung der Münzprobationstagsakten süddeutscher Reichskreise. Prozessakten der Reichsgerichte wurden in die Untersuchung insoweit einbezogen, wie sie durch die bisherige Forschung erschlossen oder durch Quelleneditionen zugänglich waren. Angesichts der skizzierten Fragestellung präsentiert sich die aktuelle Forschungslage höchst heterogen: Der Dreißigjährige Krieg als epochale Zäsur der
1 Der Probationstagsabschied vom 05./15. 05. 1585 ist ediert bei Johann Christoph Hirsch: Des Teutschen Reichs Münz-Archiv, 8 Bde. Nürnberg 1756–1768, hier Bd. 2, S. 335–342, Zitat S. 339. 2 Gemäß Rudolf Vierhaus möchte ich „Krise“ in diesem Zusammenhang als einen Prozess verstanden wissen, der seinen Ausgangspunkt in der Störung eines vorherigen funktionstüchtigen politisch-sozialen Systems nimmt und die systemspezifischen Steuerungskapazitäten überfordert oder ihre Anwendung verhindert. Vgl. Rudolf Vierhaus: Zum Problem historischer Krisen, in: Karl-Georg Faber / Christian Meier (Hrsg.): Historische Prozesse (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik, Bd. 2). München 1978, S. 313–329, hier S. 328f.
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deutschen wie europäischen Geschichte ist in einer geradezu unüberschaubaren Vielzahl an Forschungsliteratur eingehend untersucht und dargestellt worden. Stellvertretend für verschiedene Impulsgeber der jüngeren Forschungsdiskussionen sei hier nur auf die Beiträge Johannes Burkhardts, Heinz Duchhardts, Christoph Kampmanns und Anton Schindlings hingewiesen.³ Dagegen sind die Untersuchungen zur Kipper- und Wipperthematik aus jüngerer Zeit noch überschaubar.⁴ Für die Tätigkeit der Reichskreise und der Reichsgerichte in der Epoche des Dreißigjährigen Kriegs ist die Forschungslage jedoch nicht mehr als befriedigend zu bezeichnen.⁵
3 Johannes Burkhardt: Der Dreißigjährige Krieg. 7. Aufl. Frankfurt a. M. 2006; Christoph Kampmann: Europa und das Reich im Dreißigjährigen Krieg. Geschichte eines europäischen Konflikts. 2. Aufl. Stuttgart 2013; Heinz Duchhardt (Hrsg.): Der Westfälische Friede. Diplomatie – politische Zäsur – kulturelles Umfeld – Rezeptionsgeschichte (Historische Zeitschrift, Beiheft NF, Bd. 26). München 1998; Albrecht Ernst / Anton Schindling (Hrsg.): Union und Liga 1608/09. Konfessionelle Bündnisse im Reich – Weichenstellung zum Religionskrieg? (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B Forschungen, Bd. 178). Stuttgart 2010. 4 Konrad Schneider: Frankfurt und die Kipper- und Wipperinflation der Jahre 1619–1623 (Mitteilungen aus dem Frankfurter Stadtarchiv, Bd. 11). Frankfurt a. M. 1990; Ulrich Rosseaux: Die Kipper und Wipper als publizistisches Ereignis. Eine Studie zu den Strukturen öffentlicher Kommunikation im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 67). Berlin 2001; Steffen Leins: Das Prager Münzkonsortium 1622/23. Ein Kapitalgeschäft im Dreißigjährigen Krieg am Rand der Katastrophe. Münster 2012. In diesem Zusammenhang noch erwähnenswert sind zwei Arbeiten aus den 1970er Jahren: Hans Christian Altmann: Die Kipperund Wipperinflation in Bayern (1620–1623). Ein Beitrag zur Strukturanalyse des frühabsolutistischen Staates (Miscellanea Bavarica Monacensia, Bd. 63). München 1976; Konrad Schneider: Das Münzwesen in den Territorien des Westerwaldes, des Taunus und des Lahngebietes und die Münzpolitik des Oberrheinischen Reichskreises im 17. Jahrhundert. Diss. Bonn 1977. 5 Ferdinand Magen: Die Reichskreise in der Epoche des Dreißigjährigen Krieges. Ein Überblick, in: Zeitschrift für Historische Forschung (künftig: ZHF) 9 (1982), S. 409–460; Markus Nadler: Der Bayerische Reichskreis im europäischen Konflikt des Dreißigjährigen Krieges, in: Wolfgang Wüst / Michael Müller (Hrsg.): Reichskreise und Regionen im frühmodernen Europa – Horizonte und Grenzen im spatial turn (Mainzer Studien zur neueren Geschichte, Bd. 29). Frankfurt a. M. 2011, S. 303–316; Thomas Christmann: Die Reichsmünzordnungen und deren Umsetzung durch die Reichskreise, in: Reiner Cunz (Hrsg.): Währungsunionen. Beiträge zur Geschichte überregionaler Münz- und Geldpolitik (Numismatische Studien, Bd. 15). Hamburg 2002, S. 197–219. Dagegen sind die Ausführungen zum Fränkischen Kreis bei Gerhard Schön: Münz- und Geldgeschichte der Fürstentümer Ansbach und Bayreuth im 17. und 18. Jahrhundert. Diss. München 2008, unter reichshistorischer Perspektive nur von geringem Mehrwert, aber für eine geldgeschichtlich fokussierte Arbeit immer noch bemerkenswert. Einen rechtsgeschichtlichen Zugang mit Fokus auf das Reichskammergericht bietet Anja Amend-Traut: „Geld regiert . . . “ Frühneuzeitliche Geldpolitik im Lichte zeitgenössischer Rechtsprechung, in: Ignacio Czeguhn (Hrsg.): Recht im Wandel – Wandel des Rechts. Festschrift für Jürgen Weitzel zum 70. Geburtstag. Köln/Weimar/Wien 2014, S. 367–408. Zuletzt sei auf den Beitrag von Robert Riemer in diesem Band hingewiesen.
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Zieht man dann noch in Betracht, dass der bisherigen Reichsforschung zumeist ein gewisses Desinteresse am vermeintlich so „unübersichtlichen“ Münzwesen der Frühen Neuzeit bescheinigt werden muss, verwundert es nicht, wie wenig über das Agieren von Reichsinstitutionen in der Kipper- und Wipperzeit bekannt ist.⁶
1 Das Münzwesen als Basis und Herausforderung reichsständischer Kooperation Der bereits im 17. Jahrhundert im Sprachgebrauch etablierte Begriff der Kippermünze bezeichnete ein Geldstück, dessen Nennwert sich in ungewöhnlicher Höhe von seinem tatsächlichen Materialwert abhob. Solche Zahlungsmittel waren in der Regel das Produkt eines manipulativen Geschäftsmodells von Geldwechslern und Spekulanten, das im Auswechseln höherwertiger Münzen durch minderwertige Prägungen mit geringerem Feinmetallgehalt bestand. Dabei kamen zur raschen Ermittlung des Metallgewichts einer Münze oft handliche Schnellwaagen zum Einsatz, mit denen die schwereren, hochwertigen Münzen „ausgewippt“ werden konnten.⁷ In den Jahren 1618 bis 1623 nahmen derartige Praktiken so massiv überhand, dass die gesamte damit einhergehende Geldkrise als „die große Kipperund Wipperzeit“ in die deutsche Geschichtsschreibung einging und der Begriff „Kipper und Wipper“ auch noch zur Umschreibung späterer geldwirtschaftlicher Krisenzeiten Verwendung fand.⁸ Münzmanipulationen durch Einschmelzung und Umprägung höherwertiger Münzen versprachen zwar einen schnellen Gewinn, waren aber im ganzen Heiligen Römischen Reich verboten.⁹ Die Peinliche Halsgerichtsordnung Karls V. kannte drei unterschiedliche Tatbestände der Münzfälschung, die meist allesamt bei der Herstellung von Kippermünzen erfüllt wurden: In dreierley weiß würd die müntz gefelscht / Erstlich wann eyner betrieglicher weiß eyns andern zeychen darauff schlecht / Zum andern wann eyner vnrecht metall darzu setzt / Zum dritten /
6 Vgl. hierzu die jüngste Kritik Konrad Schneiders an den Schlagwörtern „Unübersichtlichkeit“ und „Durcheinander“, die er zur Beschreibung des frühneuzeitlichen Münzwesens für nicht hilfreich erachtet. Vgl. Konrad Schneider: Reichskreise und europäisierter Geldumlauf, in: Wüst / Müller (Hrsg.): Reichskreise und Regionen (wie Anm. 5), S. 283–301, hier S. 283. 7 Vgl. Konrad Schneider: Art. Kipper- und Wipperzeit, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 6. Darmstadt 2007, Sp. 579–582, hier vor allem Sp. 579f. 8 Vgl. ebd., insbes. Sp. 582. 9 Vgl. Joachim Ernst von Beust: Sciagraphia Juris Monetandi in Sacro Imperio Romano-Germanico oder Entwurf von der Müntz-Gerechtigkeit im Heil. Römisch-Teutschen Reich. Leipzig 1745, S. 326.
100 | Fabian Schulze so eyner der müntz ire rechte schwere geuerlich benimbt.¹⁰ Für alle drei manipulativen Praktiken waren harte, aber unterschiedliche Strafen vorgesehen.¹¹ Das Münzen unter falschem Zeichen (Gepräge) wurde dabei als das verwerflichste Vergehen eingestuft, das sogar mit dem Feuertod geahndet werden sollte und noch im 18. Jahrhundert als crimen laesae maiestatis galt.¹² Tatsächlich leistete die starke Fragmentierung des Münzwesens in Europa und insbesondere im Heiligen Römischen Reich seit dem Hochmittelalter Münzmanipulationen Vorschub. Je stärker sich die Gewichte und Münzfüße von Herrschaft zu Herrschaft unterschieden, desto lukrativer wurden die beschriebenen Praktiken. Manche Münzherren, die ihren Prägungen einen höheren Edelmetallgehalt zubilligten, mussten mit einem ständigen Abfluss ihres Geldes in die Gebiete rechnen, in denen minderwertigere Münzen Zahlungsmittel waren.¹³ Vor diesem Hintergrund wurde das Münzwesen aber auch zum Motor für politische Kooperation insbesondere in jenen Regionen, in denen sich viele Münzherren etabliert hatten. Gerade im besonders münzherrenreichen Heiligen Römischen Reich wurden stände- und territoriumsübergreifende Absprachen in Währungsangelegenheiten und Münzfragen umso dringender, je bedeutender die Geldwirtschaft für das gesamte Wirtschaftsleben wurde.¹⁴ Erste Anfänge einer überregionalen Standardisierung des Münzwesens fanden schon im 14. Jahrhundert statt und führten zur Etablierung von Münzvereinen, deren Mitglieder sich auf gemeinsame Münzsorten und Münzfüße einigten.¹⁵ Der Rheinische Münzverein war die wohl bedeutendste und langlebigste derartige Vereinigung im Reich vor dem Beginn der
10 Art. CXI: Straff der müntzfelscher und auch dero so on habend freiheyt müntzen, zitiert nach dem Digitalisat der Bayerischen Staatsbibliothek, http://daten.digitale-sammlungen.de/ bsb00029222/image_59 (= S. XXIIII) (abgerufen am: 12. Januar 2014). 11 Wer Münzen minderwertiges Metall beimengte, sie einschmolz oder ihr vorgeschriebenes Gewicht reduzierte, sollte am leib oder gut nach gestalt der sachen gestraft werden, ebd., S. XXIIII. 12 Der Delinquent solle mit dem fewer vom leben zum todt gestrafft werden, ebd., S. XXIIII. Zur Rechtslage zur Mitte des 18. Jahrhunderts von Beust: Sciagraphia (wie Anm. 9), S. 330. 13 Zu diesem Grundproblem vgl. Fritz Blaich: Die Wirtschaftspolitik des Reichstags im Heiligen Römischen Reich (Schriften zum Vergleich von Wirtschaftsordnungen, Bd. 16). Stuttgart 1970, hier insbes. S. 26f., 48f., 61–66, und Hans-Wolfgang Bergerhausen: „Exclusis Westphalen et Burgundt“. Zum Kampf um die Durchsetzung der Reichsmünzordnung von 1559, in: ZHF 20 (1993), S. 189–203, hier S. 191, 196. 14 Zur zunehmenden Bedeutung der Geldwirtschaft zu Beginn der Frühen Neuzeit vgl. u. a. Johannes Burkhardt: Art. Wirtschaft, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7. Stuttgart 1992, S. 511–594, hier S. 550–594. 15 Der Münzfuß bezeichnet die in gesetzlicher Form festgehaltenen Vorschriften über Gewicht und Feingehalt einer Münze.
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Frühen Neuzeit.¹⁶ Doch die Münzvereine des Spätmittelalters hatten üblicherweise einen auf eine bestimmte Region beschränkten Mitgliederkreis und konnten keine für Nichtmitglieder verbindlichen Regelungen treffen.¹⁷ Es überrascht nicht, dass das Münzwesen bei den um reichsweite Vereinheitlichung bemühten Kaisern Maximilian I. und Karl V. zu Beginn der Frühen Neuzeit neben einigen anderen Projekten ganz oben auf der Reformagenda stand.¹⁸ Eine grundlegende Neugestaltung des Münzwesens im Reich erwies sich von Anfang an als schwierig, denn nur wenige Reichsstände waren bereit, eine umfassende Münzreform unter kaiserlicher Ägide mitzutragen. Hierbei kamen auch unterschiedliche wirtschaftliche Interessen zwischen edelmetallfördernden Ständen und solchen ohne nennenswerte eigene Gold- oder Silbervorkommen zum Tragen.¹⁹ Die Ausarbeitung und erfolgreiche Implementierung einer Reichsmünzordnung nahm letztlich Jahrzehnte in Anspruch und trug erst nach verschiedenen Vorstufen 1559 Früchte.²⁰ Wie bei praktisch allen anderen vorangegangenen erfolgreichen Institutionalisierungsschritten auf Reichsebene bestand die Lösung aus einem Kompromiss zwischen Kaiser und Reichsständen. Auf der Basis eines reichsweit einheitlichen Münzfußes wurden acht Münzsorten für allerorts gangbar erklärt,²¹ wodurch das Reich eine Doppelwährung (sowohl Goldals auch Silbermünzen) erhielt, die sich letztlich zu einer faktisch reinen Silberwährung fortentwickelte.²² Kleinere Münzen, die sogenannten Scheidemünzen, konnten regional verschieden sein, sollten aber ebenso stets einen bestimmten
16 Zum Rheinischen Münzverein ab 1385/86 vgl. Karl Weisenstein: Das kurtrierische Münz- und Geldwesen vom Beginn des 14. bis zum Ende des 16. Jahrhunderts (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Historische Hilfswissenschaften, Bd. 3). Koblenz 1995; vgl. auch Konrad Schneider: Untersuchungen zum rheinischen Geldumlauf um 1450. Aufzeichnungen eines unbekannten rheinischen Wardeins, in: Düsseldorfer Jahrbuch 74 (2003), S. 45–103. 17 Vgl. Hendrik Mäkeler: Reichsmünzwesen im späten Mittelalter, Teil I: Das 14. Jahrhundert (Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 209). Stuttgart 2010, S. 246–257. 18 Vgl. Thomas Christmann: Das Bemühen von Kaiser und Reich um die Vereinheitlichung des Münzwesens. Zugleich ein Beitrag zum Rechtsetzungsverfahren im Heiligen Römischen Reich nach dem Westfälischen Frieden (Schriften zur Rechtsgeschichte, Bd. 41). Berlin 1988, S. 64f. 19 Vgl. Christmann: Die Reichsmünzordnungen (wie Anm. 5), S. 201–205. 20 Zu den Reformversuchen von 1509 und der Reichsmünzordnung von Esslingen von 1524 vgl. Schneider: Das Münzwesen in den Territorien (wie Anm. 4), S. 40–44. Zu den entsprechenden Reichstagsbeschlüssen vgl. Hirsch: Des Teutschen Reichs Münz-Archiv (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 240–248; zu den Münzregelungen des Augsburger Reichsabschieds von 1551 vgl. Christmann: Das Bemühen (wie Anm. 18), S. 64f., und Helmut Neuhaus: Reichsständische Repräsentationsformen im 16. Jahrhundert. Reichstag, Reichsdeputationstag und Reichskreistag (Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 33). Berlin 1982, S. 365–372. 21 Vgl. Christmann: Das Bemühen (wie Anm. 18), S. 67–70, 72f. 22 Vgl. Schneider: Reichskreise und europäisierter Geldumlauf (wie Anm. 6), S. 286.
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Feinsilbergehalt aufweisen. Damit war das Fundament für eine gewisse Vereinheitlichung im Reichsmünzwesen gelegt, ohne den bisherigen Freiraum für regionale Besonderheiten allzu sehr einzuschränken. Als langfristig problematisch erwies sich allerdings ein etwas zu hoch angesetzter Feinsilbergehalt für Scheidemünzen, der ihre Prägung kaum lukrativ machte und so zu Regelverstößen animierte.²³
2 Reichskreise und Münzprobationstage als Kontrollinstanzen Die neuen Regelungen im Reichsmünzwesen bedurften Kontrollinstanzen, die nicht zu zentralistisch, aber dennoch handlungsfähig und praktikabel sein sollten. Dazu griff man auf die nach 1500 geschaffenen zehn Reichskreise zurück. Diese Institutionen waren schon lange nicht mehr nur für die Wahl von Reichskammergerichtsassessoren zuständig, sondern waren bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts schon mit verschiedenen anderen Aufgaben im exekutiven Bereich betraut worden.²⁴ 1551 und nochmals endgültig 1559 wurde ihnen nun zusätzlich die Aufsicht über das Münzwesen aufgetragen.²⁵ An der bisherigen rechtlichen Zuständigkeit änderte dies allerdings wenig, denn grundlegende Neuregelungen im Münzwesen sollten auch weiterhin dem Reichstag überlassen bleiben.²⁶ Für die Reichskreise brachte die ihnen anvertraute Regionalisierung der Münzaufsicht einen bedeutenden Institutionalisierungsschub und führte zur Schaffung zusätzlicher Kreisämter und zur Etablierung neuer Kontroll- und Beratungsformen auf Kreisebene. Jeder Reichskreis hatte nun auf Kosten seiner Mitglieder
23 Mit zeitgenössischen Quellenbelegen Robert Wuttke: Zur Kipper- und Wipperzeit in Kursachsen, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 15 (1894), S. 119–156, hier S. 126f. 24 Zur Entwicklung der Reichskreise vor 1555 vgl. Adolf Laufs: Der Schwäbische Kreis. Studien über Einungswesen und Reichsverfassung im deutschen Südwesten zu Beginn der Neuzeit (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, NF., Bd. 16). Aalen 1971, S. 1–55, 156–270. Prägnant auch bei Heinz Mohnhaupt: Die verfassungsrechtliche Einordnung der Reichskreise in die Reichsorganisation, in: Karl Otmar von Aretin (Hrsg.): Der Kurfürst von Mainz und die Kreisassoziationen 1648–1746. Zur verfassungsmäßigen Stellung der Reichskreise nach dem Westfälischen Frieden (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 2). Wiesbaden 1975, S. 1–30, hier S. 6–9. 25 Zu den Regelungen des Augsburger Reichsabschieds von 1551 zum Münzwesen (§§ 34–52) vgl. Christmann: Das Bemühen (wie Anm. 18), S. 64f. 26 Ebd., S. 69.
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einen Generalwardein einzustellen, dessen Aufgabe darin bestand, das gesamte Münzwesen in seinem Reichskreis zu überwachen. Zu seiner Tätigkeit gehörten regelmäßige Visitationsreisen zu allen Münzstätten im Kreisgebiet, die Einsammlung von Münzproben und deren Gewichts- und Feingehaltsbestimmung nach einer fest vorgeschriebenen Prozedur.²⁷ Des Weiteren sollten sich alle in einem Reichskreis ansässigen Reichsstände im Besitz des Münzrechts ein- bis zweimal im Jahr zu einem Münzprobationskonvent (Probationstag) zusammenfinden, auf dem der Generalwardein des Kreises unter Anwesenheit der anderen im Kreis tätigen Münzmeister und Wardeine die Ergebnisse seiner Arbeit zu präsentieren hatte.²⁸ Noch am Versammlungsort wurden Stichproben aus möglichst allen Münzstätten probiert, das heißt geprüft, wodurch der Feingehalt der jeweiligen Münzsorten ermittelt wurde, und die Ergebnisse den Kreisständen kommuniziert. Minderwertige oder gefälschte Münzsorten wurden meist umgehend in Form von öffentlich ausgehängten Münzedikten verrufen und somit für ungültig erklärt. Das Reichsrecht billigte den Kreisen hierin eine gewisse Eigenständigkeit zu, denn Münzverrufe bedurften keiner vorherigen oder nachträglichen richterlichen Bestätigung. Zur Ahndung größerer Münzvergehen war aber eine enge Kooperation mit den Reichsgerichten vorgeschrieben: Schwere Verfehlungen gegen die Reichsmünzordnung waren direkt dem kaiserlichen Fiskal in Speyer zu melden, der die Verursacher vor den Reichsgerichten auf Strafzahlungen oder gar den Verlust des Münzprivilegs verklagen sollte.²⁹
27 Die dem Augsburger Reichsabschied inkorporierte Probationsordnung ist ediert bei Hirsch: Des Teutschen Reichs Münz-Archiv (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 405–412. Zur Tätigkeit eines Kreiswardeins/ Generalwardeins vgl. Konrad Schneider: „Auss des Kauffmanns Säckel“ – Der oberrheinische Kreiswardein Wolf Krämer und seine Kommentare zum Geldwesen der Jahre 1605–1620, in: Der Wormsgau 19 (2000), S. 38–61. 28 Die Teilnahme an Probationstagen wurde zur Pflicht erklärt, nach dreimaligem Fehlen sollte ein Entzug des Münzrechts gegenüber dem entsprechenden Kreisstand möglich sein. Zudem wurde es zur Pflicht erhoben, sämtliche Münzmeister und Wardeine auf den Kreis und die Reichsmünzordnung zu vereidigen, vgl. §§ 7, 8, 14 und 16 der Probationsordnung von 1559. 29 Zur Rolle der Fiskale am Reichskammergericht vgl. Sigrid Jahns: Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich. Teil I: Darstellung (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im alten Reich, künftig: QFHG, Bd. 26/I). Köln/Weimar/Wien 2011, S. 98–167, zu den verschiedenen Fiskalen u. a. S. 101–104, insbes. S. 103, Anm. 11, sowie Rudolf Smend: Das Reichskammergericht. Erster Teil: Geschichte und Verfassung. Weimar 1911, S. 359–362 zum kaiserlichen Fiskal. Zu den Strafandrohungen für Münzstände gemäß §§ 170, 175f. des Reichsabschieds von 1559 vgl. Christmann: Das Bemühen (wie Anm. 18), S. 74–77.
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3 Die drei korrespondierenden Kreise Zum Reformpaket von 1570/71 gehörte auch die Festschreibung einer Korrespondenzpflicht zwischen mehreren Reichskreisen. Im Rahmen eines Reichsdeputationstags wurde beschlossen, dass bestimmte benachbarte Reichskreise zu Handhabung gerechter Münz und Abwendung alles Betrugs gemeinsame Probationstage veranstalten oder zumindest in beständiger Korrespondenz verbleiben müssten.³⁰ Hierzu wurde das Reich in drei Währungszonen eingeteilt. Die erste derartige Kooperationszone sollten die Reichskreise am Rhein, die zweite die beiden Sächsischen Kreise und die dritte die Kreise Bayern, Schwaben, Franken und Österreich bilden.³¹ Zu diesem Zeitpunkt hatten Franken, Bayern und Schwaben die ersten gemeinsamen Probationstage aber schon längst hinter sich, denn Deputationen der drei Kreise waren bereits seit 1564 mehrfach in Nördlingen zusammengetreten.³² Von nun an wechselten die Tagungsorte Nürnberg, Regensburg und Augsburg, nomineller Ausschreiber und Direktor der Probationstage wurde der Bamberger Bischof.³³ Österreich wurde über die Korrespondenz der drei Kreise mit dem Kaiser zwar indirekt beteiligt, aktiv nahmen österreichische Vertreter jedoch in der Regel nicht teil.³⁴ Innerhalb der drei Kreise wurde es rasch üblich, dass nur zwei bzw. drei Stände stellvertretend für den ganzen Kreis teilnahmen: Für den Fränkischen Reichskreis der schon erwähnte Bischof von Bamberg und die Reichsstadt Nürnberg, für den Bayerischen Kreis das Herzogtum bzw. Kurfürstentum Bayern, der Erzbischof von Salzburg und die Reichsstadt Regensburg, für Schwaben der Herzog von Würt-
30 Vgl. Frankfurter Deputationsabschied von 1571, § 28. In diesem Zusammenhang sind zudem von Bedeutung: §§ 11–13, 19–24 und 29–31; vgl. hierzu auch Beust: Sciagraphia (wie Anm. 9), S. 250f.; Bergerhausen: Exclusis Westphalen (wie Anm. 13), S. 199; Maximilian Lanzinner: Friedenssicherung und Zentralisierung der Reichsgewalt. Ein Reformversuch auf dem Reichstag von Speyer 1570, in: ZHF 12 (1985), S. 287–310. 31 Mit Quellenauszügen Beust: Sciagraphia (wie Anm. 9), S. 250f.; Hirsch: Des Teutschen Reichs Münz-Archiv (wie Anm. 1), Bd. 1, Vorrede § 32. Zur Etablierung der Kooperation der Rheinischen Reichskreise Schneider: Das Münzwesen in den Territorien (wie Anm. 4), S. 73f. 32 Der Probationstagsabschied ist ediert bei Johann Georg von Lori: Der Sammlung des baierischen Münzrechts zweyter Band, von 1564 bis 1664. München 1768, S. 1–5. Vgl. zudem Hirsch: Des Teutschen Reichs Münz-Archiv (wie Anm. 1), Bd. 1, Vorrede § 33. 33 Vgl. Johann Jacob Moser: Compendium iuris publici Regni moderni germanici. Tübingen 1731, S. 294. 34 Vgl. Christmann: Das Bemühen (wie Anm. 18), S. 87f. Österreich prägte seit 1524 ein Achtel Gulden mehr aus der Kölner Mark Silber, als es die Reichsgesetze vorsahen, und sonderte sich 1573 endgültig von den übrigen Kreisen ab, vgl. ders.: Das Bemühen (wie Anm. 18), S. 58–60, 88.
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temberg und die Reichsstadt Augsburg.³⁵ Damit war jeder Kreis von einem oder zwei seiner Kreisdirektoren und seiner jeweils bedeutendsten Handelsstadt vertreten. Die Probationstage der drei korrespondierenden Kreise waren somit faktisch Kreisdeputationstage und keine Vollversammlungen sämtlicher Kreis- bzw. Münzstände,³⁶ was erstaunlicherweise selbst in der aktuellen Reichskreisforschung nur in den seltensten Fällen Erwähnung findet und gewissen Fehleinschätzungen Vorschub leistet.³⁷
4 Anfänge und Eskalation der Kipperund Wipperkrise Die Probationstage verschiedener Reichskreise stellten bereits seit Ende des 16. Jahrhunderts immer öfter größere Verstöße gegen die in der Reichsmünzordnung festgelegten Münzfüße fest und forderten weitere Reformen im Reichsmünzwesen, die sich aber vor dem Hintergrund zunehmender konfessionell befeuerter politischer Spannungen auf mehreren Reichstagen als undurchführbar erwiesen.³⁸ Als nach 1613 jahrzehntelang kein Reichstag mehr zusammentrat, wurden einzelne Reformpläne auf Reichskreisbasis hervorgebracht, zu deren Umsetzung die Mithilfe des Reichsoberhaupts benötigt wurde. So rief ein Nürnberger Proba-
35 Der in Ansbach tätige Johann Christoph Hirsch erklärte 1756 in seinem Münz-Archiv, Bamberg und Nürnberg seien 1572 allein zu Erspahrung der Kosten und ohne Beeinträchtigung der Mitspracherechte aller anderen Kreisstände mit der Kreisvertretung beauftragt worden. Es sei dann bei dieser Zusammensetzung geblieben. Dennoch habe sich an der Rechtslage im Grundsatz nichts geändert und im 18. Jahrhundert gelte weiterhin: Das Münzwesen bey dem Fränkischen Cr.[eis] ist ein gemein Werck aller Mit=Stände desselben. Vgl. Hirsch: Des Teutschen Reichs Münz-Archiv (wie Anm. 1), Bd. 1, Vorrede § 34f. Johann Jacob Moser spricht hingegen in Bezugnahme auf die Probationstage von einigen wenigen für beständig hierzu erwählten Ständen, vgl. Moser: Compendium (wie Anm. 33), S. 294. 36 Zum praktischen Ablauf der gemeinsamen Probationstage der drei Kreise mit ihrer Sitzordnung und den Solennitäten siehe Beust: Sciagraphia (wie Anm. 9), S. 258f., 265, und Hirsch: Des Teutschen Reichs Münz-Archiv (wie Anm. 1), Bd. 1, Vorrede § 32. 37 So zuletzt bei András Fargó, der die Probationstage der drei korrespondierenden Kreise irrigerweise abwechselnd „in den verschiedenen Kreistagen“ verortet. Vgl. András Fargó: Die Verwaltungsstruktur des Königreichs Ungarn und die Raumbildung der ständischen Politik – im Vergleich zu den deutschen Reichskreisen, in: Wüst/Müller (Hrsg.): Reichskreise und Regionen (wie Anm. 5), S. 173–194, hier S. 191. 38 Udo Gittel: Die Aktivitäten des Niedersächsischen Reichskreises in den Sektoren „Friedenssicherung“ und „Policey“ (1555–1682) (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, Reihe 35, Bd. 14). Hannover 1996, S. 304–306.
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tionstag den Kaiser im Mai 1618 dazu auf, als oberster Wahrer des Reichsrechts (und damit auch der Reichsmünzordnung) Kommissare in die verschiedenen Reichskreise zu entsenden, die die Missstände in den Münzstätten untersuchen sollten und gegebenenfalls Prozesse gegen die Verantwortlichen vor dem Reichskammergericht anzuregen hätten.³⁹ Der Kaiser blieb jedoch untätig, womit der Plan scheiterte.⁴⁰ Und das hatte gute Gründe. Denn es war der Kaiser selbst, der sich mit Beginn des Dreißigjährigen Kriegs nicht mehr an die grundlegenden Prinzipien der Reichsmünzordnung gebunden fühlte. Angesichts leerer Staatskassen gab Kaiser Ferdinand II. zur Bezahlung seiner in Böhmen eingesetzten Söldner sämtliche Münzstätten Böhmens und Niederösterreichs zu Beginn des Jahres 1622 an ein privates Konsortium aus Adligen und Bankiers ab, das ihm eine Jahrespacht von fünf Millionen Gulden zusicherte.⁴¹ Zur Amortisierung der Pachtsumme und größtmöglicher Gewinnmaximierung überschwemmte das Konsortium die habsburgischen Erblande und die angrenzenden Reichsterritorien in den folgenden Monaten mit gewaltigen Mengen an minderwertigen Münzen. Das dafür benötigte Rohsilber ließen die Geschäftsleute in ganz Europa aufkaufen und brachten über dutzende Mittelsmänner auch die noch höherwertigen Silbermünzen aus dem Reichsgebiet in großen Mengen an sich, um sie zu Kippermünzen umprägen zu lassen.⁴² Die vom Kaiser über ein Jahr lang geduldeten Machenschaften des Konsortiums blieben im Reich nicht lange verborgen und gaben für die übrigen Fürsten ein verheerendes Beispiel ab.⁴³ Tatsächlich waren spätestens mit Beginn der Kriegshandlungen in Böhmen 1618 viele andere Reichsstände schon bald der Verlockung erlegen, ihre Finanzlage durch Münzmanipulationen zu verbessern.⁴⁴ Der Schritt des Kaisers von 1622 war
39 Der Probationstagsabschied der drei Kreise Bayern, Franken und Schwaben vom 15. 05. 1618 ist ediert bei Lori: Der Sammlung des baierischen Münzrechts (wie Anm. 32), S. 294–296. Bereits 1615 hatten die drei Kreise den Kaiser um Entsendung von Kommissaren gebeten. Diese sollten aber nicht die Prägestätten, sondern direkt den Münzhandel kontrollieren und dazu auf den Messen von Frankfurt, Leipzig und Straßburg Präsenz zeigen, vgl. Friedrich Freiherr von Schrötter: Das Kippergeld in den Fürstentümern Brandenburg-Bayreuth und -Ansbach 1620–1622, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 7 (1934), S. 1–34, hier S. 8. 40 In keinem der folgenden Münzprobationstagsabschiede der drei Kreise finden sich weitere Hinweise auf derartige Kommissionen. Vgl. Lori: Der Sammlung des baierischen Münzrechts (wie Anm. 32), S. 296–305. 41 Hierzu umfassend Leins: Das Prager Münzkonsortium (wie Anm. 4). 42 Vgl. ebd., S. 67–110. 43 Vgl. Rosseaux: Die Kipper und Wipper (wie Anm. 4), S. 400f. 44 Offenbar nahm die Münzverschlechterung im Reich 1617 ihren Anfang und beschränkte sich anfangs auf den Niedersächsischen Reichskreis. Dort ließ Braunschweig-Wolfenbüttel als eines der ersten größeren Reichsterritorien Kippermünzen in größerer Stückzahl prägen und sabotierte
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somit nicht der Auslöser der herrschenden Geldkrise, trug aber maßgeblich zu ihrer katastrophalen Zuspitzung bei. Schließlich bestand die Reaktion der meisten Reichsstände angesichts der massenhaften Verbreitung minderwertiger fremder Münzen in ihren Territorien darin, ihrerseits den Feinsilbergehalt der Münzen drastisch zurückzufahren, um nicht selbst hohe Verluste zu erleiden.⁴⁵ Besonders häufig litten kleinere Münzsorten unter Manipulationen, da sie schnell in großer Stückzahl geprägt und leicht auf den Märkten in Umlauf gebracht werden konnten. Grobe Sorten wie der Reichstaler, die ihren Feingehalt einigermaßen halten konnten, wurden dagegen bald zu horrenden Kursen gehandelt, während die massenhaft verfälschten Scheidemünzen immer schwerer ihre Abnehmer fanden. Die allgemeine Vertrauenskrise in kleine Münzsorten führte sogar soweit, dass manche Bauern ihre Ernte lieber zu Hause horteten, als sie gegen minderwertiges Geld zu verkaufen. Tatsächlich eskalierte die Lage im Lauf des Jahres 1622 dermaßen, dass manche Fürsten Unruhen in ihren Ländern befürchteten. So berichtet das Theatrum Europaeum von Hungeraufständen in Norddeutschland aufgrund von Münzkonfusionen, wobei es allein in Magdeburg 16 Tote und 200 Verletzte gegeben haben soll.⁴⁶ Die Kipper- und Wipperinflation wuchs sich mancherorts zu einer veritablen Krise der öffentlichen Ordnung aus, die bei der Bevölkerung tiefes Misstrauen über das Handeln und die prinzipielle Handlungsfähigkeit der jeweiligen verantwortlichen Obrigkeiten aufkommen ließ.⁴⁷ So brachte ein Probationstagsabschied der drei Kreise bereits im Mai 1618 die Befürchtung zum Ausdruck, dass die grassierende Inflation der Fürsten und Stände dieser correspondierenden Kraißen Authorität verkleinerlich wirken werde.⁴⁸ Tatsächlich riefen die Kipper und Wipper auch ein gewaltiges Echo in der zeitgenössischen Bildpublizistik hervor und wurden in einer umfangreichen Serie von Flugschriften zum
Gegenmaßnahmen des Niedersächsischen Kreises längere Zeit, vgl. Gittel: Die Aktivitäten (wie Anm. 38), S. 306, und Christmann: Das Bemühen (wie Anm. 18), S. 91. 45 Zum Grahamschen Gesetz und dem Malestroict-Effekt, nach denen minderwertige Münzen höherwertige immer verdrängen, vgl. Schneider: Art. Kipper- und Wipperzeit (wie Anm. 7), Sp. 580. 46 Vgl. Johann Philipp Abelin: Theatrum Europaeum, Bd. 1. Frankfurt a. M. 1635, S. 769. 47 Vgl. Leins: Das Prager Münzkonsortium (wie Anm. 4), S. 109f, 132–136. Zu anderen Währungsund Wirtschaftskrisen in Europa zeitgleich zur Kipper- und Wipperkrise Charles P. Kindleberger: The economic crises of 1619 to 1623, in: Journal of Economic History 51 (1991), S. 149–175. 48 Vgl. § 3 des Münzprobationsabschieds der drei korrespondierenden Kreise zu Nürnberg, 15. 05. 1618, zitiert nach Lori: Der Sammlung des baierischen Münzrechts (wie Anm. 32), S. 295. Probationstagsabschiede wurden im Original in der Regel nicht paragraphiert, die hier zitierte Paragrapheneinteilung nach Lori kann von denen in anderen Editionen abweichen.
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Anlass vehementer religiös-moralischer Kritik an der herrschenden Wirtschaftsund Währungsmisere.⁴⁹
5 Die Passivität der Reichsgerichte und erste Wege aus der Krise Zudem waren die zur Kipper- und Wipperzeit üblich gewordenen Praktiken der meisten Münzherren aus reichsrechtlicher Sicht keineswegs legitim. Bei wortgetreuer Auslegung der Reichsmünzordnung(en) hätte fast jeder von ihnen im Lauf der Jahre 1618 bis 1623 seine Münzprivilegien dauerhaft verlieren müssen, schließlich waren fast alle an Münzmanipulationen beteiligt gewesen oder hatten ihre Prägestätten rechtswidrig verpachtet. Doch eine Klagewelle auf Privilegienentzug von Seiten der Reichskreise oder des kaiserlichen Fiskals vor dem Reichkammergericht oder Reichshofrat scheint weitgehend ausgeblieben zu sein. Der Forschung ist bisher fast nichts über derartige Verfahren bekannt. Lediglich Friedrich von Schrötter weist auf einen langen Prozess des Reichskammergerichts gegen die beiden fränkischen Markgrafen wegen Münzmanipulationen hin, der jedoch nie zu Ende geführt worden sei.⁵⁰ Über mögliche Ursachen der Untätigkeit des Reichskammergerichts lässt sich angesichts des derzeitigen Forschungsstands nur spekulieren, erhellende Quellenaussagen sind schwer ausfindig zu machen. Doch war es offenbar in der Regel nicht einmal bis zur Klageerhebung gekommen, denn schon 1618 hatten die drei korrespondierenden Kreise gegenüber dem Kaiser und dem Kammerrichter eine Beschwerde über den Kammergerichtsfiskal eingereicht, der ungeachtet oftmahliger Ersuchung wider diejenigen, so im Münzwerk des H[eiligen] Reichs Ordnung übertreten, seinem tragenden Amt und Beruf keineswegs nachgelebt habe.⁵¹ Inwieweit die Untätigkeit des kaiserlichen Anklägers für die offenbar große Zurückhaltung des Reichskammergerichts in Münzprozessen tatsächlich ausschlaggebend war, muss letztlich dahingestellt bleiben. Jedenfalls scheint auch der Reichshofrat, der als zweites Höchstgericht des Reiches möglicherweise alternativ zum Reichskammergericht gegen Falschmünzerei hätte juristisch einschreiten können, nicht
49 Vgl. allgemein Rosseaux: Die Kipper und Wipper (wie Anm. 4); Leins: Das Prager Münzkonsortium (wie Anm. 4), hier insbes. S. 132f. 50 Schrötter: Das Kippergeld (wie Anm. 39), S. 1–34, hier S. 33. 51 Vgl. Gustav Schöttle: Münz- und Geldgeschichte von Ulm in ihrem Zusammenhang mit derjenigen Schwabens, in: Württembergische Vierteljahreshefte für Landesgeschichte (künftig: WVLG), NF. 31 (1922–1924), S. 54–128, Zitat S. 81.
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aktiv geworden zu sein.⁵² Auch in diesem Fall lässt sich über die Hintergründe nur spekulieren, politisches Desinteresse von Seiten des Kaisers und anderer an Münzmanipulationen beteiligter Landesherren wäre jedoch eine naheliegende Erklärung.⁵³ Dem Phänomen der massenhaften Falschmünzerei konnte oder wollte also die Reichsjustiz nicht beikommen. Stattdessen bedurfte es politischer Lösungen. Erste konstruktive Initiativen gingen von den großen Handelsstädten aus. Bereits 1620 konferierten Vertreter von Augsburg, Straßburg, Frankfurt, Nürnberg und Ulm in Augsburg und einigten sich auf neue Obergrenzen für die Wechselkurse der wichtigsten Reichsmünzen, mussten aber bald einsehen, dass ihr Vorhaben ohne die Einbeziehung der Reichsfürsten keine Aussicht auf Erfolg hatte.⁵⁴ Immerhin initiierte Erzherzog Leopold V. von Tirol in Verbindung mit Herzog Maximilian von Bayern Mitte des Jahres 1621 eine Versammlung einiger süddeutscher Reichsstände in Füssen, die ähnliche Regelungen verabschiedete wie zuvor die Reichsstädte. Der Erzherzog handelte aber offenbar nicht aus eigenem Antrieb, sondern aufgrund massiven Drucks italienischer Kaufleute, die der Innsbrucker Regierung gedroht hatten, sich der handlungen in Teütschland genzlich zu enteüssern, sollte man im Reich nichts gegen die herrschende Münzkonfusion unternehmen.⁵⁵ Die Füssener Konferenz muss daher eher als beschwichtigendes Signal an die internationale Kaufmannschaft interpretiert werden, ein wirklicher Reformwille war vermutlich noch nicht vorhanden. Als die Kipper- und Wipperkrise 1622 ihren Höhepunkt erreichte, setzten sogar die bisher noch meist halbjährlich praktizierten gemeinsamen Probationstage der drei im Münzwesen unierten Kreise Franken, Bayern und Schwaben aus. Stattdessen wurde die Münzthematik auf separaten Kreistagen Schwabens in Ulm und Frankens in Nürnberg weiterverhandelt. Beiden Konventen kam diesmal zugute, dass man bereits erste hoffnungsvolle Signale aus einem anderen Teil des Rei-
52 In den 14 Probationstagsabschieden der drei korrespondierenden Kreise aus den Jahren 1618 bis 1623 finden sich keine Hinweise auf erfolgreich angestoßene Prozesse auf Aberkennung von Münzprivilegien, vgl. Lori: Der Sammlung des baierischen Münzrechts (wie Anm. 32), S. 292–398. 53 So auch jüngst das Fazit bei Amend-Traut: Geld regiert (wie Anm. 5), S. 407. 54 Protokoll und Originalrezess der Reichsstädtekonferenz von Augsburg vom 17. 03. 1620 finden sich in: Stadtarchiv Augsburg (künftig: StadtAA), Münzakten, Nr. 10 Münz-Probationstags-Acta 1600–1631, unfol. 55 Münzabrede von Füssen zwischen Bayern, Österreich, Salzburg, dem Hochstift Augsburg und den Reichsstädten Augsburg und Nürnberg, 20. 07. 1621, vgl. Lori: Der Sammlung des baierischen Münzrechts (wie Anm. 32), S. 328–331. Die Korrespondenz Erzherzog Leopolds mit der Reichsstadt Augsburg anlässlich der Konferenz von Füssen von 1621 findet sich in: StadtAA, Münzakten, Nr. 10 Münz-Probationstags-Acta 1600–1631, unfol. Zitat entnommen aus dem Einladungsschreiben des Erzherzogs an die Reichsstadt Augsburg, Innsbruck, 19. 06. 1621.
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56 Gittel: Die Aktivitäten (wie Anm. 38), S. 307. 57 Zum Niedersächsischen Kreisabschied von Lüneburg vom 12. 06. 1622 vgl. Gittel: Die Aktivitäten (wie Anm. 38), S. 307f., zum Fränkischen Kreisabschied von Nürnberg vom 08./18. 11. 1622 vgl. Hirsch: Des Teutschen Reichs Münz-Archiv (wie Anm. 1), Bd. 4, S. 171–173. 58 Vgl. etwa das Einstellungspatent für den Münzmeister Conrad Stutz durch den Ansbacher Markgraf Joachim Ernst vom 23. 12. 1622, ediert bei Hirsch: Des Teutschen Reichs Münz-Archiv (wie Anm. 1), Bd. 4, S. 175f. 59 Schulden mussten immer in der Münzqualität zurückgezahlt werden, in der sie eingegangen wurden. Das Risiko, dass bestimmte Münzsorten zwischenzeitlich verboten oder im Wert neu angesetzt worden waren, trug – je nach Lage der Dinge – entweder der Gläubiger oder der Schuldner. Der Kreisabschied ist in Auszügen ediert bei: Hirsch: Des Teutschen Reichs Münz-Archiv (wie Anm. 1), Bd. 4, S. 149–151. 60 Vgl. Gustav Schöttle: Die große deutsche Geldkrise von 1620–1623 und ihr Verlauf in Oberschwaben, in: WVLG, NF. 30 (1921), S. 36–57, hier S. 53f.
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6 Das Münzmeistertribunal von 1623 und andere Reformen der drei Kreise Freilich standen die ersten Erfolge des Jahres 1622 nur auf einem schwachen Fundament, denn kein einzelner Reichskreis wäre in der Lage gewesen, sich auf Dauer von der Geldwirtschaft im übrigen Reichsgebiet abzukoppeln. Jedoch konnten die neuen Initiativen anderen Reichskreisen und ihren Ständen von nun an als Vorbild dienen. Als der Bamberger Bischof für Anfang April 1623 wieder einen bayerischfränkisch-schwäbischen Probationstag nach Augsburg ausschrieb, geschah dies in Berufung auf des Niedersächsischen und Fränkischen Kraises Exempel, aber dißfalls ohne vorgehende Autorität der Röm[isch] Kayserl[lichen] Maj[estät] und gesamter Churfürsten und Ständt des Reichs gemeinen Schluß, da eine Münzreform anderst nicht, als provisionaliter bey dieser Correspondenz sich werde practicieren lassen.⁶¹ Konkret ging es darum, den Reichstaler wieder auf den langjährigen und bewährten gerechten und gangbaren Reichswerth von 18 Batzen bzw. 72 Kreuzer zu senken, wodurch man hoffte, dass sich das gesamte Preisniveau bald wieder auf ein Normalmaß einpendeln würde.⁶² Bei den Beratungen erwiesen sich die Vertreter des soeben zum Kurfürsten aufgestiegenen Bayernherzogs als treibende Kraft, was damit zusammenhängen sollte, dass sich ihr Landesherr in zeitgleichen Verhandlungen zum Probationstag am 6. April 1623 mit Kaiser Ferdinand II. auf die gewaltige Entschädigungssumme von zwölf Millionen Gulden für seinen Einsatz im Böhmisch-Pfälzischen Krieg geeinigt hatte und eine Auszahlung in werthaltiger Münze angestrebt haben dürfte.⁶³ Auch zur direkten Bekämpfung der Falschmünzerei ergriffen die drei Kreise konkrete Maßnahmen. Anstatt auf richterliche Urteile aus Speyer oder Wien zu warten,⁶⁴ wurden sämtliche in Schwaben, Bayern und Franken tätigen Münzmeister und Wardeine auf den nächsten Probationstag nach Augsburg im Juli vorgeladen.⁶⁵ Jeder Münzmeister und Wardein musste vor ein Komitee treten, das aus den Generalwardeinen der drei Kreise bestand, und durch Beantwortung von Prüfungsfragen die Beherrschung seines Handwerks glaubhaft nachweisen. Einige
61 Der Probationstagsabschied der drei Kreise von Augsburg vom 10. 04. 1623 ist ediert bei Lori: Der Sammlung des baierischen Münzrechts (wie Anm. 32), S. 343–348, Zitate S. 344. 62 Vgl. ebd., S. 343f. 63 Vgl. Dieter Albrecht: Maximilian I. von Bayern 1573 –1651. München 1998, S. 573; erstmals herausgearbeitet bei Altmann: Die Kipper und Wipperinflation (wie Anm. 4), S. 143f. 64 Vgl. hierzu unten Anm. 76 und die weiteren Ausführungen in den Kap. 7 und 8 dieses Beitrags. 65 Zum Münzprobationstag der drei Kreise zu Augsburg vom 28. 07. 1623 vgl. Lori: Der Sammlung des baierischen Münzrechts (wie Anm. 32), S. 352f.
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bestanden die Examinierung durch dieses Münzmeistertribunal nicht und wurden mit Berufsverboten belegt, anderen wurde zur Auflage gemacht, die Rechnungsbücher ihrer Münzstätten einer Prüfung durch die Generalwardeine unterziehen zu lassen. Im Anschluss wurden alle für weiterhin tauglich befundenen Münzmeister von neuem auf die Reichsmünzordnung und die drei Reichskreise vereidigt.⁶⁶ Unter den Kreisständen, deren Münzpersonal für untauglich erklärt wurde, befanden sich sogar mächtigere Stände, zum Beispiel der Markgraf von Ansbach.⁶⁷ Das Vorgehen der drei korrespondierenden Kreise fand auch in anderen Reichskreisen Anklang. In Niedersachsen hatte man zum Teil schon 1622 eine Neuvereidigung der Münzmeister vorgenommen, im Obersächsischen Reichskreis zog man 1624 nach.⁶⁸ Die Reichsjustiz spielte in all diesen Fällen keine Rolle.
7 Lehren aus der Krise? Zur Vermeidung eines Wiederauflebens der Kipperzeit verfuhren die drei oberdeutschen Kreise mehrgleisig. Es wurde nach wie vor auf Regelverschärfungen gesetzt. Der Probationstag vom April 1623 schrieb nochmals ausdrücklich fest: Welche Ständ aber in diesen dreyen Kraisen, sie seyen unter den höhern, mittlern oder nidern begriffen, von dato dieses Abschieds einig Werk durch ihre sonderbare Münzmeister werden münzen lassen, und ihre Münzmeister und Wardeine zu dem vorstehenden nächsten Probationtag zu Pflichten nicht stellen, die sollen ipso facto ihres Münz-Regals sich verlustig gemacht haben.⁶⁹ Zudem sollte jeder einzelne der anwesenden Kreistagsgesandten dazu verpflichtet sein, unabhängig etwaiger Dienst- und Loyalitätspflichten gegenüber seinem Herrn, derartige Fälle umgehend dem Kaiser oder dem Reichskammergericht zu melden. Ansprechpartner in Speyer seien die Krais Procuratores, die zusammen mit dem kaiserlichen Fiskal eine Klage rasch vorantreiben müssten.⁷⁰
66 Lori: Der Sammlung des baierischen Münzrechts (wie Anm. 32), S. 353. 67 Ebd., S. 354, 356–359. 68 Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden (künftig: HStADr), 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Loc. 9803/6, fol. 148–150; „Relation“ der kursächsischen Gesandten an Kurfürst Johann Georg über den Ablauf des obersächsischen Probationstags von Anfang Oktober 1625, Leipzig, HStADr, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Loc. 9803/7, 14. 10. 1625, fol. 161–197, hier 173v-174r und 195r. 69 Lori: Der Sammlung des baierischen Münzrechts (wie Anm. 32), S. 346. 70 Vgl. ebd., S. 346. Vermutlich sind in diesem Fall Prokuratoren gemeint, die schon für einzelne Kreisstände tätig waren. Zur Stellung der Prokuratoren am Reichskammergericht vgl. Anette Baumann: Advokaten und Prokuratoren. Anwälte am Reichskammergericht (1690–1806) (QFHG,
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Es folgten sogar konkrete Forderungen, wie das Reichskammergericht derartige Klagen zu behandeln habe: Einsprüche der Beklagten mit dem Ziel, den Prozess zu verschleppen, oder sonsten andere im Recht zugelassene Suspensiv-Mittel dürfte das Gericht nicht akzeptieren, schließlich geschehe alles im Interesse der Allgemeinheit und es sei Gefahr im Verzug: summum propter interesse reipublicae, morae periculum.⁷¹ Auch solle dem Judici die Hand ganz ungesperrt seyn, sine omnia mora, per Mandata sine Clausula in Verfügung der Execution ganz strengiglich zu verfahren.⁷² Weitergehende Überlegungen zur Verpflichtung kreiseigener Prokuratoren für Münzprozesse wurden nicht realisiert.⁷³ Tatsächliche praktische Relevanz erlangten die verabschiedeten Regelungen im Untersuchungszeitraum aber nicht mehr, denn in akuten Fällen hielten sich die Kreise weiterhin die Option offen, auch umgehend selbst gegen diejenigen unter ihren Kreisständen aktiv vorgehen zu können, die erneut Kippermünzen prägen ließen. Dies traf beispielsweise 1626 die Fürstabtei und die Reichsstadt Kempten, an denen Württemberg und Kurbayern ein Exempel statuierten. Über heftige Anklagen auf mehreren Probationstagen und die Androhung militärischer Exekution wurden die beiden Kemptener Reichsstände dermaßen unter Druck gesetzt, dass sie ihre Münzstätten aufgaben.⁷⁴ Die Reichsstadt sah sich sogar genötigt, ihren eigenen Münzmeister in Haft zu nehmen.⁷⁵ Weder die Stadt noch die Fürstabtei unterhielten künftig noch eigene Prägestätten und der Fürstabt lagerte seine Münzproduktion auf die offizielle Kreismünzstätte in Augsburg aus.⁷⁶ In Franken fand man indes eine ausgesprochen pragmatische Lösung, die ganz ohne Androhung von Prozessen in Speyer oder abschreckende Exempel auskam. Auf einer Konferenz in Beiersdorf einigten sich die vier größten Kreisstände
Bd. 51). Köln/Weimar/Wien 2006, und Jahns: Das Reichskammergericht und seine Richter (wie Anm. 29). 71 Vgl. Lori: Der Sammlung des baierischen Münzrechts (wie Anm. 32), S. 346. 72 Vgl. ebd., S. 346. 73 Vgl. ebd., S. 406, 410. 74 Vgl. Harald Derschka: Fundmünzen aus Kempten. Katalog und Auswertung der in Kempten (Allgäu) gefundenen Münzen und münzähnlichen Objekte aus dem Mittelalter und der Neuzeit (Allgäuer Forschungen zur Archäologie und Geschichte, Bd. 2). Friedberg 2007, S. 79f. 75 Vgl. hierzu § 6 des Münzprobationstagsabschieds der drei Kreise zu Nürnberg, 14. 10. 1626, ediert bei Lori: Der Sammlung des baierischen Münzrechts (wie Anm. 32), S. 410–412, hier S. 411. 76 Vgl. Adolf Horchler: Münzstätten der Kemptner Fürstäbte, in: Allgäuer Geschichtsfreund 4 (1891), S. 71–73. Zum Fall Kempten finden sich in der Überlieferung zum Reichshofrat im Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien u. a. noch zwei bisher unausgewertete Kartons an Quellenmaterial (ÖStA HHStA, RHR, Judicialia Miscellanea, K. 26–27, Fiskal contra Kempten, 1625, Übertretung der Münzordnung betreffend). Ich bedanke mich bei Ellen Franke für diesen Hinweis.
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Bamberg, Würzburg, Ansbach und Kulmbach-Bayreuth auf die Gründung einer gemeinschaftlich betriebenen Münzstätte, in der jeder der vier Fürsten sein neues Geld ausmünzen lassen konnte, wobei jedem Fürsten die gleichen Prägemengen zuerkannt wurden.⁷⁷ Die Münzstätte sollte von Anfang an unter der gemeinen und General Quardeinen Censur stehen.⁷⁸ Die neu gefundene Einigkeit im Fränkischen Reichskreis wurde nun nicht nur dem Kaiser und anderen Reichskreisen kommuniziert,⁷⁹ sondern auch auf Münzprägungen in symbolträchtiger Bildsprache der breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht. Ein Taler von 1625 zeigt die vier Fürsten in Brustbildern und Wappen im Avers, im Revers die einander innig zugeneigten römischen Göttinnen des Friedens und der Gerechtigkeit mit der Umschrift: ¯ SIC PUBLICA COMODA STABUNT, frei übersetzt: So wird das allgemeine Wohl bestehen.⁸⁰ Tatsächlich waren die Kipper und Wipper nach dem Jahr 1624, in dem der Kaiser als einer der letzten großen Landesherren im Reich eine Rückkehr zur alten Reichsmünzordnung verkündete, für Jahrzehnte kein drängendes Problem der Reichspolitik mehr, obwohl der bald immer verheerender wütende Dreißigjährige Krieg von allen Beteiligten noch unvorstellbare Geldmittel verschlang.⁸¹ Aber offenbar waren die Erfahrungen der Jahre 1618 bis 1623 für die meisten Landesherren doch so einprägsam gewesen, dass sich für längere Zeit nur noch wenige von ihnen der Illusion hingaben, ihrer Geldsorgen durch Münzmanipulationen ledig werden zu können.
77 Gedruckter Rezess der Beiersdorfer Konferenz, Beiersdorf, HStADr, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Loc. 9803/4, 10./20. 07. 1624, fol. 275f.; ebd., fol. 72–74: Der Bischof von Bamberg teilt in seiner Funktion als Direktor des Fränkischen Kreises dem Obersächsischen Kreis die Ratifikation der Beiersdorfer Beschlüsse mit, Bamberg, 28. 01. 1625. Der Fränkische Münzverein von 1624 mit seiner Neuauflage von 1637 findet Erwähnung bei Schön: Münz- und Geldgeschichte (wie Anm. 5), S. 127–130. 78 Vgl. HStADr, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Loc. 9803/4, fol. 275r. 79 Ebd., Kommunikationsschreiben Bambergs an Kursachsen, fol. 272–274. 80 Ein Abbild der Münze findet sich bei Franz Drescher: Die Münzen von Bamberg 1500–1802 (Dreschers Münzkataloge des Deutschen Reiches ab der Neuzeit von 1500–1800, Bd. 12). Bad Reichenhall 1979/80, S. 25, die Umschrift auf S. 8; hier allerdings fehlerhaft wiedergegeben: SIC PUBLICA COMODA [sic] STRABUNT [sic]. 81 Vgl. Rosseaux: Die Kipper und Wipper, S. 68–70 (wie Anm. 4). Während des Krieges wurde der Taler zumeist mit 90 Kreuzern gehandelt, was zwar über den 72 Kreuzern der Reichsmünzordnung lag, aber weit entfernt von den Werten der Kipper- und Wipperzeit blieb, vgl. Christmann: Die Reichsmünzordnungen (wie Anm. 5), S. 210.
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8 Ausblick und Fazit Die Reichsgerichtsbarkeit, die auf dem Höhepunkt der Falschmünzerei kaum nachweisbare aktive Schritte gegen die Verantwortlichen unternommen hatte, erlangte offenbar erst nach Beendigung der akuten Krisenphänomene 1623/24 doch noch eine gewisse Bedeutung, indem sie sich fortan in unzähligen Prozessen von der zivilrechtlichen Aufarbeitung verschiedenster Geschäftsabschlüsse bis hin zu Steuerzahlungsfragen in den Inflationsjahren zu kümmern hatte.⁸² Diesbezüglich konnte Anette Baumann einen signifikant hohen Anteil an Prozesseingängen am Reichskammergericht aus dem Bereich der Geldwirtschaft bis Mitte des 17. Jahrhunderts feststellen. So stritten noch in den Jahren vor 1648 mehr als die Hälfte aller Prozessteilnehmer um Geldangelegenheiten, erst nach dem Westfälischen Frieden war wieder ein deutlicher Abfall derartiger Verfahren zu verzeichnen.⁸³ Auch in strafrechtlich relevanten Fällen stellte Anja AmendTraut jüngst anhand einer Analyse von Reichskammergerichtsakten zu Fällen aus Frankfurt a. M. fest, dass Münzvergehen aus ihrem Untersuchungsgebiet bis in die Jahre der Kipper- und Wipperinflation weder auf Reichs- noch auf territorialer Ebene geahndet wurden, danach sei aber eine noch in den 1620er Jahren einsetzende zunehmend systematische Sanktionierung derartiger Vergehen festzustellen.⁸⁴ Offenbar hatten die Erfahrungen aus den Jahren 1618 bis 1623 bei den politischen Entscheidungsträgern zu gewissen Lernprozessen geführt. Ob es von nun an zu einer engeren Kooperation von Reichskreisen und Reichsgerichten in der Ahndung von Münzdelikten kam, muss einer anderen Untersuchung vorbehalten bleiben. Für die in diesem Beitrag untersuchten Jahre der akuten Kipper- und Wipperzeit ist sie jedenfalls nicht feststellbar. Vielmehr scheint die Reichsgerichtsbarkeit keinen nennenswerten Beitrag auf dem Höhepunkt der
82 Als eines unter vielen möglichen Beispielen sei hier nur der Fall Imhof gegen Oesterreicher von 1624 genannt, nachzulesen im Extract aus dem Informat einiger Rechtsgelehrten [. . . ], Speyer den 20/30 Junii An[no] 1624, ediert bei Hirsch: Des Teutschen Reichs Münz-Archiv, Bd. 4, Vorrede, 15 Blatt ohne Paginierung (wie Anm. 1). Weitere Prozessbeispiele finden sich bei Amend-Traut: Geld regiert (wie Anm. 5). 83 Anette Baumann: Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung zum 17. und 18. Jahrhundert (QFHG, Bd. 36). Köln/Weimar/Wien 2001, hier S. 84–88. Zu Zivilverfahren vor dem Reichskammergericht vgl. ebenso Anja Amend-Traut: Zivilverfahren vor dem Reichskammergericht, in: Friedrich Battenberg / Bernd Schildt (Hrsg.): Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozessakten. Bilanz und Perspektiven der Forschung (QFHG, Bd. 57). Köln/Weimar/Wien 2010, S. 125–155, insbes. S. 140. 84 Amend-Traut: Geld regiert (wie Anm. 5), S. 407.
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Krise des Münzwesens im Reich erbracht zu haben. Die Reichskreise spielten hingegen eine sehr viel aktivere Rolle in der unmittelbaren Krisenbewältigung. Sie agierten praktisch unabhängig von der Reichsjustiz und traten bisweilen sogar selbst als gerichtsähnliche Instanzen auf, wie das Münzmeistertribunal von 1623 oder das Vorgehen gegen die beiden falschmünzenden Reichsstände aus Kempten belegen.
Christel Annemieke Romein
Vaterland, patria und Patriot in den Rechtsangelegenheiten Hessen-Kassels (1647–1655) Das zentrale Thema dieses Beitrags sind die Begriffe Vaterland, Patria und Patriot.¹ Diese Vaterlandsrhetorik kann, gemäß Robert von Friedeburg, wie folgt definiert werden: [. . . ] the rhetoric of fatherland began to be used to describe the jurisdictions of princes as well as to describe the Empire [. . . ] rather than functioning as literary rhetoric the denomination of a jurisdiction as a patria carried the legal meaning of a coherent closed legal district, rather than a bundle of varying rights over diverse tenants and vassals.²
Conal Condren und Robert von Friedeburg gehen davon aus, dass Vaterlandsargumentationen entweder dazu verwendet wurden, um einen Anspruch auf ein Amt (Lat.: officium) geltend zu machen oder um die Leistungsfähigkeit eines Individuums, etwa eines Prinzen in einem Amt, zu kritisieren.³ In der Regel begegnen diese
1 Die Autorin möchte sich beim Netzwerk Reichsgerichtsbarkeit für die Einladung zur Konferenz im November 2013 und die darauf folgende Einladung zur Veröffentlichung dieses Artikels bedanken. Des Weiteren möchte sich die Autorin bei den nachfolgenden Personen für die Unterstützung, das Kommentieren und das Überprüfen dieses Artikels bedanken: Herrn Prof. Dr. Robert von Friedeburg, Herrn Prof. Dr. Thomas Simon, Herrn Dr. Jan H. Waszink, Herrn Dr. Tim Neu, Herrn Drs. Bart Canton M.A., Frau Marianne B. Klerk M.A., Frau Vera van Dijk M.A., Herrn Daniel Habegger MSc, Herrn Tobias Dienst. Ein besonderer Dank geht an Herrn Hauprecht Freiherr Schenck zu Schweinsberg, für die Zugangsgewährung zum Stift Kaufungen/Archiv der Althessischen Ritterschaft Kaufungen (künftig: AARK). Eine kürzere Version dieses Artikels ist bereits in englischer Fassung publiziert geworden: Christel Annemieke Romein: Fatherland Rhetoric and the „threat of absolutism“: Hesse-Cassel and the Reichskammergericht (1646–1655), in: Seventeenth Century 29 (2014), S. 277–292. Auch digital abrufbar unter http://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/0268117X.2014.926458 (abgerufen am: 29. 09. 2014). 2 Robert C. F. von Friedeburg: Why Did Seventeenth-Century Estates Address the Jurisdictions of their Princes as Fatherlands?, in: Randolph C. Head (Hrsg.): Orthodoxies and Heterodoxies in Early Modern German. Culture Order and Creativity 1500–1750. Leiden 2007, S. 169–194, hier S. 172. 3 Conal Condren: Argument and Authority in Early Modern England. The Presupposition of Oaths and Offices. Cambridge 2006; ders.: Historical Epistemology and the Pragmatics of Patriotism in Early-Modern England, in: Robert C. F. von Friedeburg (Hrsg.): „Patria“ und „Patrioten“ vor dem Patriotismus. Pflichten, Rechte, Glauben und die Rekonfigurierung europäischer Gemeinwesen im 17. Jahrhundert. Wiesbaden 2005, S. 67–90; ders.: The Problem of Audience, Office and the Language of Political Action in Lawson’s Politica and Hobbes’s Leviathan, in: Robert C. F. von Friedeburg
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Phänomene in Krisenzeiten, bspw. wenn die Politik des Fürsten als schädlich für das Fürstentum empfunden wurde. Zu den zentralen Wörtern zählen: Vaterland, patria und Patriot.⁴ Diese wurden verwendet, um die eigene Liebe zum Vaterland deutlich zu bekunden, rhetorisch das Vaterland zu verteidigen und den eigenen Anspruch auf ein Amt zu rechtfertigen. Die Behauptung, ein Patriot zu sein, war keine leere Redefigur. Denn eine solche Rolle zog etwa moralische Verpflichtungen nach sich.⁵ Um die Ansprüche, Pflichten und Gewohnheiten des Vaterlandes aufrecht zu erhalten sowie um die Bevölkerung vor einer Gewaltherrschaft zu schützen, konnte es notwendig werden, eine solche Position als Patriot einzunehmen.⁶ Gerade während des 17. Jahrhunderts führten die zunehmenden Belastungen des Krieges und die daraus resultierenden Steuern und Schuldverschreibungen dazu, dass sich bestimmte Personen oder Personengruppen dazu berufen fühlten.⁷ Georg Schmidt behauptete, dass die genannten zentralen Begriffe oft allgemein in Bezug auf das Heilige Römische Reich, selten jedoch im Zusammenhang mit einem bestimmten Fürstentum verwendet wurden.⁸ Vaterland und Patriot waren insofern Teil eines abstrakten politischen Diskurses ohne konkreten Realitätsbezug oder Handlungsbedarf. Nichtsdestoweniger zeigen Quellen aus dem Stift Kaufungen, früher bekannt als das Archiv der Althessischen Ritterschaft, dass im Falle Hessen-Kassels die Vaterlandsargumentation auch juristisch konnotiert war und nicht nur in politischen Schriften verwendet wurde. Der vorliegende Beitrag beleuchtet vor diesem Hintergrund folgende drei Thesen: (1) Die Begriffe Vaterland und Patriot wurden auch in Bezug auf ein Fürstentum verwendet und waren nie exklusiv mit der „kaiserlichen Sprache“ verbunden. (2) Während eines Rechtsstreites wurde das Vokabular auch in juristischem Zusammenhang angewandt. (3) Diese Begriffe wurden sowohl vom landsässigen Adel als auch vom Landesherrn selbst verwendet. Die ersten zwei Punkte wurden bereits von Robert von Friedeburg in
(Hrsg.): Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit. Erträge und Perspektiven der Forschung im deutsch-britischen Vergleich. Berlin 2001, S. 287–303. 4 Robert von Friedeburg: How „new“ is the „New Monarchy“? Clashes between Princes and Nobility in Europe’s Iron Century, in: Leidschrift 27 (2012), S. 17–30, hier S. 29. 5 Alexander Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt. Politische Diskurse im Alten Reich (1555–1648). Leiden/Boston 2007, S. 32 und S. 40. 6 Condren: Historical Epistemology and the Pragmatics (wie Anm. 3), S. 67–90; ders.: The Problem of Audience (wie Anm. 3), S. 287–303; Schmidt: Vaterlandsliebe (wie Anm. 5), S. 50 und S. 67f. 7 Friedeburg: How „new“ is the „New Monarchy“ (wie Anm. 4); ders.: State Forms and State Systems in Modern Europe, in: EGO. European History Online. Mainz 2010 (http://www.ieg-ego. eu/friedeburgr-2010-en; abgerufen am: 09. 05. 2014). 8 Georg Schmidt: „Absolutes Dominat“ oder „deutsche Freiheit“, in: Friedeburg (Hrsg.): Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit (wie Anm. 3), S. 265–284.
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seiner Arbeit über Hessen-Kassel beleuchtet.⁹ Der letzte Punkt leistet hingegen einen neuen Beitrag zu diesem Forschungsfeld.¹⁰ Zunächst soll jedoch der ereignisgeschichtliche Hintergrund skizziert werden: Als Landgraf Moritz von Hessen-Kassel (1572–1632) zum Calvinismus konvertierte und in die protestantische Union eintrat, führte dies zwischen 1605 und 1628 zu einer Störung seiner Beziehungen zum Adel.¹¹ Der landsässige Adel beanstandete die militärischen Pläne des Landgrafen Moritz während des Dreißigjährigen Krieges. Er argumentierte, dass diese den Wohlstand der Landgrafschaft schädigen würden. Als Moritz durch Verhandlungen des Adels mit dem kaiserlichen Kommandanten Tilly zur Kapitulation gezwungen wurde, kam es zu einer Entmilitarisierung. Wolfgang Günther, der Berater des Landgrafen, merkte im Jahre 1624 an, dass der Adel mit diesen Verhandlungen das Fürstentum verraten hätte.¹² Die schwierige Situation verschärfte sich 1626, als Moritz ein Urteil des Reichshofrates bezüglich der umstrittenen Erbfolge von Hessen-Marburg ablehnte und eine neue Armee versammelte, um sein verweigertes Erbrecht wiederzuerlangen.¹³ Durch ein militärisches Eingreifen Tillys wurde Landgraf Moritz jedoch gezwungen, zugunsten seines Sohnes Wilhelm V. (1602–1637) abzudanken.¹⁴ Der Konflikt zwischen dem Landesherrn und dem im Land ansässigen Adel entzündete sich erneut, als Amelie Elisabeth, die Witwe Wilhelms V. und Regentin für den minderjährigen Wilhelm VI., im Jahre 1646 4 000 Malter Getreide ohne die Zustimmung der Landstände beschlagnahmte.¹⁵ Die Ritterschaft war darüber erzürnt und traf sich im Dezember in Kaufungen, um über weitere Maßnahmen zu diskutieren. Amelie Elisabeth sah diese Zusammenkunft als einen Versuch der Adligen an, die Autorität ihrer Regierung zu untergraben. Daher verbot sie solche
9 Vgl. besonders Robert von Friedeburg: The Making of Patriots. Love of Fatherland and Negotiating Monarchy in Seventeenth-Century Germany, in: The Journal of Modern History 77 (2005), S. 881–916. 10 AARK, Repositur 6, Gefach 15, S. 54, Nr. 5, Replik. 11 Armand Maruhn: Necessitäres Regiment und fundamentalgesetzlicher Ausgleich. Der hessische Ständekonflikt 1646–1655 (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte, Bd. 139). Darmstadt 2004, S. 24–32. 12 Friedeburg: Why did seventeenth-century estates (wie Anm. 2), S. 181. 13 Heiner Boehncke / Hans Sarkowicz: Die Geschichte Hessens. Frankfurt 2010, S. 70; Karl E. Demandt: Geschichte des Landes Hessen. Kassel 1972, S. 252. 14 Volker Press: Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655), in: Walter Heinemeyer (Hrsg.): Das Werden Hessens. Marburg 1986, S. 303–307. 15 Maruhn: Necessitäres Regiment (wie Anm. 11), S. 40–52. Siehe zur Zusammensetzung der Landstände sowie zur Rolle und Zusammensetzung des landsässigen Adels: Tim Neu: Rhetoric and Representation. Reassessing Territorial Diets in Early Modern Germany, in: Central European History 43 (2010), S. 1–24, hier S. 11f.
120 | Christel Annemieke Romein Treffen. Der Adel legte der Landgräfin im Jahre 1647 in einer Remonstratio seine Beschwerden vor. Dies geschah in der Hoffnung, die Landgräfin zur Anerkennung der Privilegien – die sie mit der Hessischen Chronik begründeten – zu bewegen.¹⁶ Mit der Hilfe von Dr. Heinrich Dietrich, einem Göttinger Juristen, erwirkte der Adel von Hessen-Kassel am 14. September 1647 ein Mandatum sine clausula vom Reichskammergericht.¹⁷ Demnach sollte Amelie Elisabeth bestraft werden für den Fall, dass sie in Zukunft versuchen werde, Steuern einzutreiben. Des Weiteren wurde darin festgehalten, dass Amelie die 4 000 Malter Getreide wieder zurückgeben müsse.¹⁸ Trotz dieser günstigen Entscheidung beschlossen die Adeligen, Amelie das Mandat nicht zu unterbreiten, da diese noch auf eine informelle Lösung des Konfliktes hofften. Stattdessen entschieden sie sich, Amelies Reaktion auf die Remonstratio abzuwarten. Mit dem Westfälischen Frieden im Oktober 1648 legte der Adel seine Beschwerde dann erneut vor. Zwischen 1648 und 1651¹⁹ wurde zugunsten des Adels, wohl von einem Speyerer Juristen, ein Gutachten geschrieben.²⁰ Es behandelte drei Fragen: Darf ein Fürst Gesetze oder Verfügungen erlassen ohne vorhergehende Beratung der Landstände? Darf ein Fürst Versammlungen verbieten, die das Wohlergehen des Vaterlandes (de salute patriae) betreffen? Besitzen die Landstände von Hessen-Kassel das Recht, sich für derartige Zwecke zu versammeln, wenn sie es für nötig erachten?²¹ Die erste Frage bezieht sich auf die prinzipielle Akzeptanz von Amelies Macht mit der Einschränkung, dass das Vorgehen der Landgräfin illegal sei (mit Verweis auf das regimen politicum), wenn die Privilegien des Adels verletzt werden sollten. Ferner gingen die Argumente dahin, das Vaterland werde durch die Landstände
16 Hessisches Staatsarchiv Marburg (künftig: StAM), Bestand 5, Nr. 19147, Remonstration. 17 Maruhn: Necessitäres Regiment (wie Anm. 11). 18 StAM, Bestand 304 I, Nr. 504. 19 Von Friedeburg datiert dieses Dokument auf die Zeit nach 1648, Maruhn und Neu bevorzugen eine Datierung auf 1651. Neu geht sogar von einer Abfassung vor den Exceptiones aus. Vgl. Robert von Friedeburg: Widerstandsrecht und Landespatriotismus. Territorialstaatsbildung und Patriotenpflichten in den Auseinandersetzungen der niederhessischen Stände mit Landgräfin Amelie Elisabeth und Landgraf Wilhelm VI. von Hessen-Kassel 1647–1653, in: Angela de Benedictis / Karl-Heinz Lingens (Hrsg.): Wissen, Gewissen und Wissenschaft im Widerstandsrecht (16.–18. Jahrhundert). Frankfurt a. M. 2003, S. 304; Maruhn: Necessitäres Regiment (wie Anm. 11), S. 206, Anm. 182; Tim Neu: Die Erschaffung der landständischen Verfassung, Kreativität, Heuchelei und Repräsentation in Hessen (1509–1655) (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne). Köln/Weimar/Wien 2013, S. 413. Die Autorin geht von einer Entstehungszeit des Gutachtens zwischen 1648 und 1650 aus, weil es Einfluss auf den Inhalt der Exzeptionsschrift gehabt haben dürfte. 20 StAM, Bestand 73, Nr. 1816, Gutachten 1648 (Die Datierung ist unsicher.). 21 Friedeburg: The Making of Patriots (wie Anm. 9), S. 909.
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repräsentiert und Versammlungen seien unabdingbar. Amelie schien hier mit den meisten Punkten einverstanden gewesen zu sein. Mit der Notwendigkeit von Zusammenkünften des Adels ohne Zustimmung verhielt es sich jedoch schwieriger.²² So traf sich im Jahre 1649 der Adel im Kloster von Kirchhain. Hier diskutierten die Anwesenden über die fehlende Reaktion auf die mittlerweile zwei Jahre zurückliegende Remonstratio.²³ Zugleich wurde in Kirchhain eine Stellungnahme verfasst, die der Landgräfin übermittelt wurde. Dieses Treffen ohne Zustimmung der Landgräfin führte zu der Gefangenschaft des Obervorstehers des Adels Otto von der Malsburg. Dieser kam, wie ein einfacher Bürger, für drei Wochen ins Gefängnis.²⁴ Der Adel war über diese öffentliche Demütigung seines Obervorstehers erzürnt und agierte infolgedessen wesentlich aggressiver. Im Januar 1650 erwirkte er erneut ein mandatum gegen Amelie. Im Oktober übernahm Wilhelm VI., nachdem er volljährig geworden war, die Regierung von Hessen-Kassel. Gegenüber dem Adel war er jedoch kaum versöhnlicher als seine Mutter. Die unüberbrückbaren Differenzen zwischen dem Landgrafen und dem Adel führten zu einem frühen Rückzug des Adels aus dem Großen Landkommunikationstag (vom 25. September bis zum 17. Oktober 1650).²⁵ In der Antwort des neuen Landgrafen auf den Konflikt, den Exceptiones sub- et obreptiones, wurde der Adel beschuldigt, eine ungünstige Gesinnung zu besitzen, welche schädlich für den Landgrafen und das Vaterland sei.²⁶ Am 17. Januar 1651 legte der Landgraf in einer Liste mit 84 Punkten dem Reichskammergericht seine Sicht der Dinge dar.²⁷ Aufgrund der weiterhin angespannten Beziehung änderte der Adel seine Strategie und entschied sich neuerlich für eine juristische Vorgehensweise. Ausgehend von diesem Konfliktverlauf besteht der vorliegende Aufsatz aus drei Teilen: Der erste Teil beschreibt die Sequenz der (Gesetzes)texte und die allgemeinen Argumentationen, welche in Hessen-Kassel angewendet wurden. Der
22 Ebd., S. 910f.; Maruhn: Nessitäres Regiment (wie Anm. 11), S. 206. 23 Ritterschaftliches Protokoll, Kirchhain, 24. Oktober 1649, in: Günter Hollenberg / Berthold Jäger (Hrsg.): Hessen-Kasselische Landtagsabschiede 1649–1798. Marburg 1994, S. 3–5; Maruhn: Necessitäres Regiment (wie Anm. 11), S. 59. 24 Maruhn: Necessitäres Regiment (wie Anm. 11); Pauline Puppel: Die Regentin. Vormundschaftliche Herrschaft in Hessen 1500–1700 (Geschichte und Geschlechter, Bd. 43). Frankfurt 2004; dies.: „Heroina Hassiaca“ oder „Schwester der Gorgo“? Landgräfin Amelie Elisabeth und die Hessische Ritterschaft, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 57 (2007), S. 99–125. 25 Raingard Esser: Landstände und Landesherrschaft. Zwischen „status provincialis“ und „superioritas territorialis“: Landständisches Selbstverständnis in deutschen Territorien des 17. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 23 (2001), S. 177–194, hier S. 185. 26 Maruhn: Nessitäres Regiment (wie Anm. 11). 27 AARK, Repositur 6, Gefach 15, Nr. 5, S. 54, P.P.; Friedeburg: Widerstandsrecht und Landespatriotismus (wie Anm. 19), S. 299.
122 | Christel Annemieke Romein zweite Teil fokussiert die Begriffe Vaterland, patria und Patriot und die Frage, ob diese während des Konflikts zwischen 1646 und 1655 in den offiziellen Texten, die tatsächlich zum Reichskammergericht geschickt wurden, verwendet wurden. Schließlich werden im dritten Teil mögliche Gründe für die Verwendung dieses Vaterlandvokabulars diskutiert und danach gefragt, wie dieses interpretiert werden kann.
1 Gerichtliche Klage und Argumentation Das Mandatum inhibitorium et cassatorium sine clausula datiert auf den 14. September 1647 und besagt, dass dem Adel keine Steuern auferlegt werden könnten, wenn nicht eine Mehrheit der Landstände zustimme.²⁸ Amelie drohte eine Strafzahlung, sollte sie ein weiteres Mal das Versammlungsrecht ihrer Untertanen und ihre Zustimmung zur Besteuerung verweigern. Nichtsdestotrotz präsentierte der Adel das Mandat der Landgräfin nicht, da sie – wie Tim Neu meint²⁹ – das Schweigen der Landgräfin auf die Remonstratio vom 12. August als stille Zustimmung zu ihrem Versammlungsrecht deuteten. Laut Maruhn, der ebenfalls zu diesem Themenkomplex gearbeitet hat, konnte der Adel am Urteil ablesen, dass sein Protest als rechtmäßig gewertet wurde, obwohl das Urteil aus dem Jahr 1650 von Amelie Elisabeth und Wilhelm VI. ignoriert wurde.³⁰ Darauf folgte ein Mandatum secundum, in dem die Bestrafung der Adeligen Riedesel und von der Malsburg für nicht rechtmäßig erklärt wurde.³¹ Dieses Mandatum sine clausula war trotz des Dreißigjährigen Krieges recht schnell erwirkt worden. Der Angeklagte wurde in einem sine clausula-Verfahren nicht angehört.³² Es lag bei dem Kläger, das Urteil dem Beklagten zu übermitteln.³³ Ein derartiges Verbotsmandat sollte den rechtlichen Schutz des Klägers und seiner Besitztümer (inhibitorium) bewirken und ihn vor weiterer Strafverfolgung schützen (cassatorium).³⁴ Vom Landgrafen von Hessen-Darmstadt wurde es in einem Brief an Amelie Elisabeth kritisiert und als willkürlich bezeichnet. Dementsprechend riet er Amelie Elisabeth dazu, lieber dem Reichskammergericht als dem Adel zu antworten.³⁵ 28 Maruhn: Necessitäres Regiment (wie Anm. 11), S. 40–52. 29 Neu: Die Erschaffung der landständischen Verfassung (wie Anm. 19), S. 381. 30 Ebd., S. 192. 31 Ebd., S. 61 und S. 201. 32 Ebd., S. 193. 33 Ebd., S. 193f. 34 Ebd., S. 194. 35 Ebd., S. 195.
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Zugunsten des Landgrafen wurden die Exceptiones sub- et obreptiones³⁶ am 17. Januar 1651 in die Akten aufgenommen.³⁷ Dieses Dokument hinterfragte die Zuständigkeit des Reichskammergerichts.³⁸ Die Untergrabung der Regierung seitens des Adels sei als crimen laesae majestatis anzusehen. Bezeichnenderweise werden in den Exceptiones die Beschwerdeführer lediglich als einige Untertanen bezeichnet und nicht als niederhessische Ritterschaft.³⁹ 1652 wurde beim Reichskammergericht in Speyer eine umfängliche Replik⁴⁰ gegen den Landgrafen Wilhelm VI. von Hessen-Kassel eingereicht, die sich gegen die Regentschaft seiner inzwischen verstorbenen Mutter richtete. Diese wurde von Konrad Blaufelder, dem Rechtsanwalt des Adels in Speyer, vorgelegt.⁴¹ Der Adel stützte seine Argumentation auf die Notwendigkeit, im Namen des Vaterlandes und zur Wahrung seines Wohlstandes protestieren zu müssen. Trotz seines Protests erkannte er den Landgrafen als seinen Souverän an. Im Auftrag von Wilhelm VI. von Hessen-Kassel wurde die Duplik, welche vom Rechtsanwalt Georg Groll geschrieben worden war, am 22. April 1653 am Reichskammergericht eingebracht.⁴² Der Landgraf betonte darin den Wert des Reichskammergerichts und seine Dankbarkeit, dass der Kaiser sich dieser Angelegenheit annehme. Zudem unterstrich er seine superioritas territorialis. Ausgehend von dieser Argumentation kann mit Simon behauptet werden, dass das Leitprinzip des Landesherrn die Aufrechterhaltung von pax et justitita⁴³ und damit einhergehend die tranquillitas ordinis⁴⁴ sowie die Sicherstellung der Grundbedürfnisse, also Nahrung und Versorgung,⁴⁵ waren. Der Erfolg oder Misserfolg hierin wurde als Maßstab für die Legitimität seiner Regierung angesehen. Landgraf Wilhelm VI. betonte, dass sich der Adel mit dem Fall an ihn habe wenden müssen und nicht an
36 AARK, Repositur 6, Gefach 15, Nr. 5, S. 54, Exceptionsschrift; Friedeburg: Widerstandsrecht und Landespatriotismus (wie Anm. 19), S. 299. 37 Laut Maruhn wurde ein erster Entwurf vom landgräflichen Juristen Georg Goll bereits ein Jahr zuvor verfasst: Maruhn: Necessitäres Regiment (wie Anm. 11), S. 203. 38 Ebd., S. 202. 39 Ebd. 40 AARK, Repositur 6, Gefach 15, Nr. 5, S. 54, Replik. 41 Esser: Landstände und Landesherrschaft (wie Anm. 25), S. 186; siehe ferner den Vergleich Landgraf Wilhelms VI. mit der Ritterschaft, Kassel, 2. Oktober 1655, in: Hollenberg / Jäger (Hrsg.): Landtagsabschiede 1649–1798 (wie Anm. 23), S. 66, Anm. 25. 42 Esser: Landstände und Landesherrschaft (wie Anm. 25), S. 186; Vergleich Landgraf Wilhelms VI. mit der Ritterschaft, Kassel, 2. Oktober 1655, in: Hollenberg / Jäger (Hrsg.): Landtagsabschiede 1649–1798 (wie Anm. 23), S. 66, Anm. 25. 43 Maruhn: Necessitäres Regiment (wie Anm. 11), S. 22, 27, 93, 105, 221. 44 Ebd., S. 22f., 26. 45 Ebd., S. 166.
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das Reichskammergericht. Denn früher habe sich der Adel noch auf das Urteil des Landesherrn verlassen. Dass der Landgraf der Anrufung des Reichskammergerichts gleichwohl zustimmte, war der Wiederherstellung seiner eigenen Reputation geschuldet. In der Duplik wurde ferner argumentiert, dass sich der Adel einerseits über das Wohlergehen des Fürstentums beklage, aber andererseits eine Armee und die kurzfristige Bereitstellung von Mitteln dafür für überflüssig halte. Der Landgraf hielt diese beiden Aussagen für widersprüchlich. Denn für ihn war die Armee zur Verteidigung des Fürstentums notwendig.⁴⁶ Der Adel stellte den Landgrafen als einen Mann dar, der, unter dem Vorwand der necessitas, die Immunität des Adels verringere, um so seine Privilegien aufzuheben und die Landstände abzuschaffen. Diese Verleumdung war inakzeptabel für Wilhelm VI., da ein solches Verhalten für den Adelsstand unwürdig sei. Des Weiteren merkte er an, dass es wertvolle Zeit gekostet und zu mehr Konfusionen geführt hätte, wenn er auf die Meinung des Adels gewartet hätte. Denn letztendlich hätten der Landgraf und der Adel ein gemeinsames Ziel, nämlich den Fortbestand der Landgrafschaft Hessen-Kassel. Das wohl für interne Zwecke erstellte Gutachten über die Duplik diskutiert, ob es dem Landgrafen erlaubt sei, Steuern ohne Zustimmung des Adels einzuführen.⁴⁷ Der vorgebrachte Hauptkritikpunkt war, dass die Adeligen als Untertanen und nicht als Vasallen wahrgenommen würden.⁴⁸ Der anonyme Verfasser benutzt verschiedene Argumente, um die Duplik anzugreifen. Er stellt heraus, dass der Adel in seinen Schriften keinen Einspruch erhoben habe contra superioritatem et regalia principis, sondern sagt nur de modo exercendi superioritatem et regalia tam in causis ordinarijs quam extraordinarijs, alß necessitates, belli et similium, welches das ubliche herkommen und observant quae optima rerum auch iuris et legum interpraes ist, erklären muß.⁴⁹
Daraus schließt er, dass der Adel die Oberhoheit des Landgrafen nicht angezweifelt und die Ausnahmesituation des Kriegs als eine ebensolche anerkannt habe.⁵⁰ Die Beratungen innerhalb des Adels stellten keine Vorbereitung dafür dar, Wilhelms VI. Position zu untergraben, auch wenn sie ihren Zweck darin hatten, gegen drei Punkte, die das Wohlergehen des Fürstentums Hessen-Kassel betrafen, zu
46 AARK, Repositur 6, Gefach 15, Nr. 5, S. 54, Duplik, S. 69–71. 47 Friedeburg: Widerstandsrecht und Landespatriotismus (wie Anm. 19), S. 304; Maruhn: Necessitäres Regiment (wie Anm. 11), S. 206, Anm. 182; Neu: Die Erschaffung der landständischen Verfassung (wie Anm. 19), S. 413. 48 AARK, Repositur 6, Gefach 15, Nr. 5, S. 54, Uberschicktes Bedencken Siner ebensoher Von Speijer. Über die Duplic Schrifft. 49 Ebd., S. 20f. 50 Ebd., S. 9.
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protestieren.⁵¹ Zunächst war dies die Beschneidung des Versammlungs- und Beratungsrechts des Adels. Ferner wurden die Kriegskosten trotz der Friedensverträge von 1648 thematisiert.⁵² Schließlich wollten die Landstände beratschlagen, wie sie damit umgehen sollten, dass ohne ihre verbindliche Zustimmung Steuern erhoben werden sollten.⁵³ Denn davon waren nicht nur die einfache Bevölkerung, sondern auch die Adeligen selbst betroffen.⁵⁴ Die Juristen Wilhelms VI. hätten überdies in der Replik Dinge gelesen, die dort nicht stünden, wie etwa die Verwendung von Sächsischem statt hessischem Recht.⁵⁵ Der Adel reagierte aufgebracht auf diese Unterstellungen.⁵⁶ Sein Verhalten sollte dabei nicht als Ungehorsam interpretiert werden, vielmehr versuche er, seine Privilegien zu verteidigen.⁵⁷ Problematisch an der Argumentation des Landgrafen sei, dass diese primär auf ausländischen Rechtsquellen aufbaue und das romisch[e] Reichß und die privilegia undt herkommens deßelbigen freijer leuthen nation gar nicht appliciren.⁵⁸ Schließlich variierten Gebräuche und Gesetze stark.⁵⁹ Die Triplik, welche am 26. Juni 1655 eingereicht wurde, wurde von Dr. Paul Gambs, einem weiteren Anwalt des Adels, verfasst.⁶⁰ Sie kann als Ergänzung der Replik angesehen werden und ist eine offizielle Antwort auf die Duplik.⁶¹ Es ist wichtig zu betonen, dass sich der Adel 1636 der Entscheidung des Kaisers, den Landgrafen zu exilieren, widersetzt hatte. Obwohl Wilhelm V. ein Verbannter war – er lebte fortan in seinen nordwestlichen Herrschaftsgebieten – wurde seine Familie nicht vollständig ausgewiesen. Nach dem Tod Wilhelms V. (1637) war der Adel trotz folgender zweier Problemkreise versöhnlich:⁶² Zum einen war es unklar,
51 Ebd., S. 26f., 32f. 52 Ebd., S. 20, 22. 53 Ebd., S. 18f., 34. Vgl. auch: Friedeburg: Widerstandsrecht und Landespatriotismus (wie Anm. 19), S. 304. 54 AARK, Repositur 6, Gefach 15, Nr. 5, S. 54, Über die Duplic Schrift, S. 3, 13, 24f. 55 Ebd., S. 10f. 56 Ebd., S. 10. 57 Ebd., S. 21. 58 Ebd., S. 1f. 59 Caspar Hirschi: The Origins of Nationalism. An Alternative History from Ancient Rome to Early Modern Germany. Cambridge 2012. 60 Esser: Landstände und Landesherrschaft (wie Anm. 25), S. 186; Vergleich Landgraf Wilhelms VI. mit der Ritterschaft, Kassel, 2. Oktober 1655, in: Hollenberg / Jäger (Hrsg.): Landtagsabschiede 1649–1798 (wie Anm. 23), S. 66, Anm. 25. 61 Peter Oestmann: Leitfaden zur Benutzung von Reichskammergerichtsakten, in: ders. / Wilfried Reininghaus (Hrsg.): Die Akten des Reichskammergerichts. Schlüssel zur vormodernen Geschichte (Veröffentlichungen des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen, Bd. 44). Düsseldorf 2012, S. 6–20. 62 Puppel: Die Regentin (wie Anm. 24), S. 195.
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wer zum Befehlshaber erhoben werden sollte, um die besetzten Landgrafschaften zu verteidigen.⁶³ Zum anderen beanspruchten neben Wilhelm VI. zwei weitere Konkurrenten das Erbe von Hessen-Kassel. Dies waren Landgräfin Juliane von Hessen-Rotenburg, die zweite Frau des verstorbenen Landgrafen Moritz, und Landgraf Georg II. von Hessen-Darmstadt. Letzterer kümmerte sich bereits in der Vergangenheit um die administrativen Angelegenheiten des Fürstentums.⁶⁴ Georg, der mit militärischen Mitteln seinen Herrschaftsanspruch durchzusetzen versuchte, bat den Kaiser um Unterstützung. Die Legitimation für seinen Anspruch auf Hessen-Kassel sah er darin begründet, dass er der Cousin von Wilhelm V. war und dass dieser Kaiser Ferdinand II. Wilhelm einst zwang, die Regierung über sein Lehnsgut an Georg zu übertragen.⁶⁵ Daher richteten sich die Verhandlungen im November und Dezember 1637 auch auf eine mögliche permanente Übertragung der Lehnsherrschaft über Hessen-Kassel an Georg II. von Hessen-Darmstadt. Da Landgräfin Amelie nur wenig bis gar keinen Kontakt zum Fürstentum pflegte, konnte sie nicht direkt intervenieren. Daher beauftragte sie den Kurfürsten von Mainz, in ihrem Namen zu verhandeln und zwischen dem Kaiser, ihrem Cousin Georg und ihrer Stief-Schwiegermutter Juliana zu vermitteln. Am 1. November 1637 wurden die Landstände zu einem Landtag einberufen. Die Landstände erklärten hier ihre Loyalität gegenüber dem achtjährigen Wilhelm VI.⁶⁶ Auf diese Loyalitätsdemonstration aus dem Jahre 1637 bezog sich der Adel in seiner Triplik und verlangte hierfür eine Anerkennung. Der Adel erachtete die Beschlagnahmung von 4 000 Maltern Getreide unter dem Vorwand der necessitas als einen Versuch des Landgrafen, den traditionellen Anspruch des Adels auf solche Steuern zu unterwandern. Der Adel proklamierte, dass das Wohlergehen des Fürstentums sowohl durch die Kriegsführung als auch durch das Fehlen von Ressourcen bedroht sei. Obschon der Adel die kaiserliche Zustimmung durch das Mandat des Reichskammergerichts für seine Versammlungen besaß, widersetzte sich der Landgraf diesem Dekret und verbot im Jahre 1655 erneut alle nichtöffentlichen Sitzungen. Über diese Anordnung des Landgrafen beschwerte sich der Adel in der Triplik und erklärte, dass er es zur Lösung der Situation als notwendig erachte, einen Prozess zu führen. Man würde versuchen, das
63 Ilse Bechert: Die Aussenpolitik der Landgräfin Amelia Elisabeth von Hessen-Kassel. Diss. phil. Marburg 1946, S. 5. 64 Ebd., S. 5; Puppel: Die Regentin (wie Anm. 24), S. 192. 65 Bechert: Die Aussenpolitik der Landgräfin Amelia (wie Anm. 63), S. 5. 66 Puppel: Die Regentin (wie Anm. 24), S. 195. Der Landtag bestand aus Ritterschaft, Prälaten und der Landschaft als Vertreter bestimmter privilegierter Städte. Siehe: Neu: Rhetoric and Representation (wie Anm. 15), hier S. 11f.
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Land zu schützen, die Gesetze zu wahren und sicherzustellen, dass die Privilegien des Adels respektiert werden. Die Quadruplik⁶⁷ von 1655 des Landgrafen reagiert auf die Triplik. Der durch den Adel ausgelöste Rechtsstreit sei eine injustia.⁶⁸ Die Pflichten des Landgrafen würden durch diese Rechtssache behindert. Die Landsteuern seien necessitas non habet legem⁶⁹ und die Politik des Landgrafen pro defensione patriae ausgerichtet.⁷⁰ Ferner ist ein Text zu erwähnen, der im Archiv des Stifts Kaufungen verwahrt wird. Er trägt den Titel Ohn Vorgreiffliche Memorialien. Deren man sich bei Vorstehender gütlicher handlung zugebrauchen und stammt aus den Jahren 1653 bis 1655.⁷¹ Auf 108 Seiten werden Argumente präsentiert, die die Sichtweise des Adels unterstützen. Er wurde nicht in die Akten des Reichskammergerichts aufgenommen und kann daher als informeller Entwurf angesehen werden. Insgesamt werden neun Mal die Begriffe Vaterland und Patriot verwendet. Das Hauptanliegen dieser Memorialien ist die Versammlungsfreiheit des Adels. Der Adel akzeptiere zwar die superioritas territorialis und die biblische Verpflichtung, der Obrigkeit Folge zu leisten. Dies verleihe dem Landgrafen jedoch nicht die Macht, Steuern abzupressen. Die adeligen Untertanen seien vielmehr aufgrund ihrer Steuerfreiheit in einer besonderen Position, die es nicht erlaube, sie zu übergehen. Dies sei ebenso erforderlich wie die Tatsache, dass sie im Notfall bereit wären, zu helfen. Druck und ein Versammlungsverbot helfen diesbezüglich nicht. Sie wollten deshalb tun, was sie für das Beste für das Vaterland erachteten. Mit der Unterzeichnung eines außergerichtlichen Vergleichs am 2. Oktober 1655 und nicht mit einem Rechtsspruch des Reichskammergerichts endeten die Streitigkeiten zwischen dem Landgrafen und dem Adel.⁷² Da weder der Landgraf noch die Landstände sicher waren, was ein Urteil bedeuten würde, nahmen sie die Sache in die eigene Hand und erreichten diese Vereinbarung.⁷³ Der Vergleich enthielt
67 Neu: Die Erschaffung der landständischen Verfassung (wie Anm. 19), S. 413; Maruhn: Necessitäres Regiment (wie Anm. 11), S. 17. 68 Hessisches Staatsarchiv Darmstadt, Bestand E2, Nr. 20/2, Entwurff loco Quadruplicarum (o. O., o. D.), S. 18. 69 Ebd., S. 8. 70 Ebd., S. 10. 71 AARK, Repositur 6, Gefach 15, Nr. 5, S. 54, Ohn Vorgreiffliche Memorialien (Die Datierung ist unsicher.). 72 Maruhn: Necessitäres Regiment (wie Anm. 11), S. 209; Friedeburg: Why did seventeenth-century estates (wie Anm. 2), S. 189. 73 Maruhn: Necessitäres Regiment, S. 181–184 und 207–209 (wie Anm. 11); Neu: Die Erschaffung der landständischen Verfassung (wie Anm. 19), S. 371f.
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acht verschiedene Themen:⁷⁴ (1) Landtagsversammlungen und Steuerbewilligung, (2) Justiz und Recht, (3) Akzeptanz der religiösen Überzeugung des lutherischen Adels, (4) Militärdienst für die Untertanen des Adels, (5) die Zustimmung, Steuern zu erheben, (6) Bestimmungen über die Besitzverhältnisse, (7) die Ernennung des höchsten Finanzvertreters des Adels und die Pflichten des Landgrafen sowie (8) Vorschriften über die Versammlungen der Adligen. Derzeit existieren in der Forschung zahlreiche Interpretationen dieses Textes,⁷⁵ der zu folgenden vier Schlüssen kam: (1) Der Landgraf erhielt nicht das Recht, ohne die Zustimmung des Adels Steuern zu erheben. Dieses Privileg des Adels wurde somit wiederhergestellt. Umgekehrt galten im Falle der neccesitas andere Regeln, wenngleich sich der Landgraf für sein Handeln nachträglich nicht rechtfertigen musste. Dennoch hatte der Adel einen wichtigen Sieg errungen, denn die Bedingungen der Besteuerung waren nun explizit festgelegt und von beiden Seiten angenommen worden. (2) Die lutherische Konfession wurde anerkannt. (3) Der Adel erhielt nicht die Oberhand bei juristischen oder finanziellen Disputen. (4) Das Versammlungsrecht des Adels wurde auf private Angelegenheiten beschränkt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass dem Landgrafen keine uneingeschränkte Macht zugesprochen wurde und dass nicht alle ursprünglichen Privilegien des Adels wiederhergestellt wurden. Karl E. Demandt und in einem gewissen Maße auch Volker Press gehen davon aus, dass mit dem Vergleich, der der aktiven Teilnahme der Ritter einen Riegel vorschob, die Tür zum „Absolutismus“ aufgestoßen wurde.⁷⁶ Press war bei seinen Schlussfolgerungen vorsichtiger und bezeichnet die neue Situation als eine Form des „Semi-Absolutismus“.⁷⁷ Maruhn und von Friedeburg kritisieren die Begriffe „Semi-Absolutismus“ oder „Willkürherrschaften“, 74 CCLXVI Fürstliche Resolutiones auf die Ritterschafftliche Gravamina. Vom 2ten October 1655, in: Christoph Ludwig Kleinschmidt (Hrsg.): Sammlung kurhessischer Landes-Ordnungen und Ausschreiben. Kassel 1767, S. 240–245. 75 Demandt: Geschichte des Landes Hessen (wie Anm. 13), S. 266; ders.: Die Hessischen Landstände nach dem 30jährigen Krieg, in: Dieter Gerhard (Hrsg.): Ständische Vertretungen in Europa im 17. und 18. Jahrhundert. Göttingen 1969, S. 162–182; Press: Hessen im Zeitalter der Landesteilung (wie Anm. 14), S. 323–324; Maruhn: Duale Staatsbildung contra ständisches Landesbewusstsein 1655 als Epochenjahr der hessischen Landesgeschichte, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde 109 (2004), S. 71–94; Friedeburg: The Making of Patriots (wie Anm. 9); Friedeburg: Adel und ständische Vertretungen: Repräsentationen des Landes? Weshalb aus „Rittern“ und „Vasallen“ „Patrioten“ wurden, in: Eckart Conze / Alexander Jendorff / Heide Wunder (Hrsg.): Adel in Hessen. Herrschaft, Selbstverständnis und Lebensführung vom 15. bis ins 20. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, Bd. 70). Marburg 2010, S. 169–186. 76 Demandt: Geschichte des Landes Hessen (wie Anm. 13), S. 266; ders.: Die Hessischen Landstände nach dem 30jährigen Krieg (wie Anm. 75). 77 Press: Hessen im Zeitalter der Landesteilung (wie Anm. 14), S. 323f.
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indem sie argumentieren, dass der Vergleich konstitutionelle Beschränkungen kreiert habe und so dem Adel die Möglichkeit der aktiven Teilnahme gegeben wurde.⁷⁸ Gemäß dieser Autoren kann der Beginn einer Willkürherrschaft nicht auf dieses eine Argument gestützt werden. Obschon eine Vielzahl der Argumente bei beiden Parteien zu finden war, wurden einige ausschließlich von einer Partei benutzt. Beispielsweise verwendete nur der Adel Argumente mit Bezügen auf eine tyrannische Herrschaft oder zur Gründung einer absolutus dominatus. Solchen Beweisführungen wurde mit Necessitas-Argumenten des Landgrafen begegnet. Um die Unterschiede in der Interpretation der necessitas zu diskutieren, traf sich der Adel in Versammlungen in Abwesenheit Wilhelms VI. Da die Landgräfin nicht eingeladen wurde, wurden solche adeligen Versammlungen als illegale Proteste gewertet, infolgedessen sich der Adel der laesae majestatis schuldig machte. Der Adel und der Landgraf diskutierten dieselben Themen, bewerteten diese jedoch – auch hinsichtlich Ursache und Wirkung – sehr unterschiedlich. Der Landgraf behauptete, dass er die Einnahmen durch die Steuern für die Deckung der Kriegskosten benötige, um so die Wohlfahrt und den Wohlstand in der Landgrafschaft wiederherzustellen. Im Gegensatz dazu behauptete der Adel, dass der Wohlstand und die Wohlfahrt der Landgrafschaft durch die Kosten der Kriegsführung und durch die Steuerpolitik gefährdet seien. Sobald der Landgraf versuchte, mit dem Versammlungsverbot oder mit der Steuerpolitik zu argumentieren, verwies der Adel umgehend auf seine Immunität und Privilegien. Als Gegenantwort des Adels auf Beschuldigungen bezüglich der laesae majestatis sowie in Bezug auf die illegalen Versammlungen fungierten die Loyalität und die Liebe zum Vaterland. In nahezu allen Fällen, in welchen solche Argumente Verwendung fanden, wurden auch die Wörter Vaterland, patria und Patriot benutzt. Denn durch dieses Vokabular wurde eine unbestreitbare Verbundenheit zur Landgrafschaft impliziert.
2 Gebrauch der Begriffe Der Adel erachtete die Politik des Landgrafen als schädlich für die Landgrafschaft Hessen-Kassel. Zudem verwüstete der Dreißigjährige Krieg das Fürstentum. Dies führte dazu, dass der Adel heftig darauf reagierte, als die Landgräfin Amelie versuchte, mehr Steuern in Form von Grundnahrungsmitteln einzufordern. In den
78 Maruhn: Duale Staatsbildung (wie Anm. 75), S. 71–94; Friedeburg: The Making of Patriots (wie Anm. 9); Friedeburg: Adel und ständische Vertretungen (wie Anm. 75); Friedeburg: Why did seventeenth-century estates (wie Anm. 2), S. 189.
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vom Adel verwendeten Begrifflichkeiten wurde in diesem Zusammenhang die Liebe zum Vaterland betont. Dieser Wortgebrauch unterschied sich vom Gebrauch des Landgrafen.⁷⁹ Die Verwendung dieser Worte soll nun anhand der zuvor eingeführten Schriftsätze nachvollzogen werden. Zu Beginn wird die Argumentation des Adels diskutiert, anschließend die des Landgrafen untersucht. In der Replik bezieht sich der Adel auf die Gefahren einer Willkürherrschaft. Die Tatsache, dass der Adel bei der Erhebung von Steuern nicht berücksichtigt wurde, wurde als Indikator einer möglichen despotischen Herrschaft gedeutet. Dieses „Versehen“ gefährde die Wohlfahrt und das Wohlergehen des Vaterlandes und der Bevölkerung. Der Adel merkt weiter an, dass sie auf daß gemeine Weßen nicht acht. haben, noch sich deß Vaterlandts Heijl undt Wohlfahrt ahnnehmen, so handtlen sie wieder die gegebene Trew, undt seindt sowoll, als wan sie daß Vatterlandt flichfen oder verrathen hetten.⁸⁰
Die Landstände benötigten, um die Einwohner zu schützen, Vatterlandts Friedt, Ruhe, Wollfahrt und Bestes [. . . ] oder auch Conservierung ihrer Privilegien, Immunitäten undt Gerechtigkeit betreffen[.]⁸¹ Der Adel müsse wenn nötig in der Lage sein, den Landgrafen vor möglichen Bedrohungen (in Bezug auf Privilegien, Immunität oder Gerechtigkeit) zu warnen. Diese Fähigkeit wurde dem Adel jedoch durch das vom Landgrafen verordnete Versammlungsverbot genommen.⁸² Ein absolutus dominatus war unerwünscht, da dies die Traditionen des Vaterlandes untergraben werde, zugleich sei es eine Bedrohung für die Privilegien, die Freiheit und die Gerechtigkeit. Nichtsdestoweniger berate sich der Adel im Rahmen der derzeitigen Krise nur über Fragen der Wohlfahrt des Fürstentums. Zudem verneinten sie die Anschuldigung, daß sie contra patriae salute patriae et principis etwas machinirt hetten.⁸³ In der Triplik, welche als ein klärender Text gedacht war, wurde die Vaterlandsargumentation seltener verwendet. Trotzdem findet sie sich auch hier. Die wichtigste Referenz bezieht sich dabei auf die Versammlungsfreiheit.⁸⁴ In der Duplik, welche im Namen des Landgrafen verfasst worden war, ist ebenfalls von Vaterland die Rede. In diesem Dokument wird betont, dass Wilhelm VI. als Salute pro patria suprema lege⁸⁵ angesehen werde. Auch während der
79 Friedeburg: The Making of Patriots (wie Anm. 9), S. 909. 80 AARK, Repositur 6, Gefach 15, Nr. 5, S. 54, Replik, S. 42. 81 Ebd., S. 72–74. 82 Ebd., S. 81–85. 83 Ebd., S. 91. 84 AARK, Repositur 6, Gefach 15, Nr. 5, S. 54, Triplik, S. 36f. 85 AARK, Repositur 6, Gefach 15, Nr. 5, S. 54, Duplik, S. 37.
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Zeit, als er selbst noch minderjährig war, habe seine Mutter mit ihrer Politik die Rechtsordnung aufrechterhalten.⁸⁶ Der Landgraf merkte an, dass der Adel in der Vergangenheit dem Urteil seiner Vorgänger vertraut habe, und dass der Landgraf den fürstlichen Auftrag erfülle, das Vaterland zu beschützen. Der Adel solle mit der Situation so umgehen, wie es bereits seine Vorfahren getan hätten: als treue, loyal patriotische Untertanen, die den Ernst der Situation begreifen und Gott für seine gute Führung danken. In der Duplik steht geschrieben, das sie sich der gemeinen noth, dermaßen sorgfültig, fürst undt vatterlich ahngenommen, das dargegen die Landtstände an ihren ort nichts, was zur defension undt rechung das Vatterlandes, undt zu wieder bringung frisch, ruh undt einigkeit nöthig undt gefärig, an sich erweichen zu laße, gefliße geweßen mitt underthanigen dank erbiethen, das sie ihres theils gegen Ihr f [ürstliche] g[naden] sich hin wiederumb alß getrewe ständen undt patriotten eignet undt gebühret[.]⁸⁷
Beweise für diese passive und verantwortungsbewusste Haltung des Adels in der Vergangenheit fänden sich nach Aussage der Duplik in der Hessischen Chronik.⁸⁸ Um die Landgrafschaft Hessen-Kassel zu verteidigen, wurden, so heißt es, in kurzer Zeit große Geldmittel benötigt. Dem Landgrafen war zwar bekannt, dass Personen mit wenigen Ressourcen durch diese Steuerpflicht stark geschädigt würden, erachtete es aber als eine Notwendigkeit, um das Vaterland zu verteidigen.⁸⁹ Der Landgraf erwartete allerdings nicht, dass der Adel hiergegen protestieren würde, denn auch ihre Besitztümer benötigten Schutz. Der Adel habe keine Einwände gehabt, als der Kaiser die Landstewer, die Reichstewer oder die Türckenstewer einführte.⁹⁰ Basierend auf dieser Geschichte des Fürstentums entscheide eben Wilhelm VI., ob er in Kriegszeiten Geld und Soldaten zur Verteidigung benötige.⁹¹ Folglich sei es sein Recht, Besitztümer zu beschlagnahmen. In der Duplik ist auch vermerkt, dass, wenn auch nicht verbindlich, der Adel sich an den Kosten des Krieges beteiligen könne.⁹² Im Vergleich von 1655 wird im vierten Paragraph der Militärdienst thematisiert. Hier stimmt die Verwendung des Wortes Vaterland des Landgrafen überein mit der des Adels. Es heißt:
86 Ebd., S. 37, 63, 111f. 87 Ebd., S. 32f. 88 Ebd., S. 96–98. 89 Ebd., S. 18–24, 52f., 87f. 90 Ebd., S. 26–31. 91 Ebd., S. 32. 92 Ebd., S. 56–68, 71.
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ohne Unterscheid sowohl Ihrer F[ürstlich] G[naden] eigenen Untertanen alß Ritterschafft Hintersaßen zu exerzieren und da innen sonderlich gestalten Zustand und erheischender Notturfft nach zu Versicherung des Vatterlands heilsame gute Ordnung zu stellen[.]⁹³
Der Adel wurde mit einbezogen, da die Musterung der Untertanen zur Verteidigung der Landgrafschaft in Zeiten des Krieges in dessen Zuständigkeitsbereich lag. Der Adel konnte jedoch durch casum necessitas⁹⁴ übergangen werden und der Landgraf so Maßnahmen ohne die Zustimmung des Adels vornehmen, musste sich jedoch nachträglich für sein Handeln rechtfertigen. Tab. 1. Vaterlandsargumentation in den beim Reichskammergericht eingereichten Texten; Anzahl der Verwendung innerhalb der Quellen von Hessen-Kassel (Stift Kaufungen).
Patriot patria Vaterland Total
Replik
Duplik
Triplik
Vergleich
1 8 8
1 9 6
1 2 3
0 0 1
17
16
6
1
3 Diskussion der Begriffe Welche Funktion übt der Vaterlandsbegriff in diesen Beispielen aus? Was kann aus diesen Beispielen abgelesen werden? Einerseits zeigen die Texte des Reichskammergerichts, dass Wörter wie Vaterland, patria und Patriot auch im Justizbereich verwendet wurden. Daher kann gefolgert werden, dass, im Gegensatz zu früheren Annahmen, die Vaterlandsrhetorik auch in Gerichtsverfahren eingesetzt wurde. Von Friedeburgs Analyse dieses Phänomens beschränkt sich lediglich auf die Depositionen (1647), das Gutachten (1648–1651) und die Replik (1652).⁹⁵ Die vorliegende Arbeit konnte nun eindeutig zeigen, dass der Gebrauch dieser Ar-
93 Vergleich Landgraf Wilhelms VI. mit der Ritterschaft, Kassel, 2. Oktober 1655, in: Hollenberg / Jäger (Hrsg.): Landtagsabschiede 1649–1798 (wie Anm. 23), S. 62, § 4. 94 Ebd., S. 63. 95 Friedeburg: Widerstandsrecht und Konfessionskonflikt. Notwehr und Gemeiner Mann im deutsch-britischen Vergleich 1530 bis 1669 (Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, Bd. 27). Berlin 1999; Friedeburg: Widerstandsrecht und Landespatriotismus (wie Anm. 19); Friedeburg: The Making of Patriots (wie Anm. 9).
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gumentation in juristischen Abhandlungen nicht nach 1652 aufhörte, sondern mindestens bis zum Vergleich (1655) fortbestand. Des Weiteren konnte gezeigt werden, dass die Vaterlandsrhetorik nicht ausschließlich vom Adel verwendet wurde, sondern auch vom Landgrafen. Der Wortgebrauch des Landgrafen scheint jedoch vor allem reaktiv zu sein. Die verwendeten Wörter sowie die Themenbereiche, in welchen die Vaterlandsargumentation angewendet wurde, enthüllen zudem die Sichtweise des Adels. Sie waren überzeugt davon, Patrioten zu sein, weil sie loyal gegenüber ihrem Vaterland waren und weil sie handelten, als ihr Vaterland bedroht wurde. Sich selbst als einen Patrioten zu titulieren, bedeutete im Falle des Adels den Anspruch, sich für die Verteidigung des Vaterlands, hier das Fürstentum HessenKassel, in Stellung bringen zu müssen. Diese Sichtweise beinhaltete nicht nur die Aufgabe, das Vaterland zu verteidigen, sondern auch die Verpflichtung, sich gegen jeden Herrscher zu stellen, der die Grenzen seines Aufgabenbereiches überschritt. Die selbsternannten Patrioten beschrieben sich als äußerst loyal gegenüber dem Vaterland, seinen Bräuchen und Privilegien. Die Vaterlandsargumentation bezog sich auf ein bestimmtes Fürstentum, auf Hessen-Kassel. Die Loyalität des Adels galt dem Vaterland. Diese Loyalität untergrub die Loyalität der Adligen gegenüber dem Landgrafen, wenn dieser das Vaterland gefährdete. Mit dieser Wortwahl gelang es den Adligen, sich selbst als Patrioten zu definieren und gleichzeitig den Landgrafen von der Definition eines Patrioten auszuschließen. Dies bedeutet einen Wechsel der Argumentationsmuster. Anstatt sich auf das politische Amt des Landgrafen zu konzentrieren, um den Landgrafen dort anzugreifen, lag der Fokus nun auf dem Vaterland. All dies erklärt den Gebrauch der Wörter Vaterland, patria und Patriot durch den Adel. Es erklärt jedoch nicht, warum der Landgraf ebenfalls diese Art der Wörter verwendete. Die ursprünglichen Argumente des Landgrafen können auf zwei Kernpunkte eingegrenzt werden: Erstens der Landgraf besitze die superioritatis territorialis über sein Lehnsgut und zweitens alle Menschen innerhalb seines Fürstentums seien seine Untertanen und müssten ihm gehorchen. Diese Argumente erschienen seinen Anwälten jedoch nicht als hinreichend, und es wurde argumentiert, ein Versammlungsrecht für Adelige sei aus zweierlei Gründen schädlich für das Land: Einerseits seien Versammlungen des Hessischen Konvents in Kaufungen und Wetter problematisch und mehrdeutig, da sowohl private als auch politische Themen besprochen werden könnten. Insbesondere durch die Diskussionen politischer Themen könne die Regierung des Landgrafen untergraben werden, solange der Landgraf diesen Versammlungen nicht beiwohne. Andererseits gelten sowohl für die Ritterschaft als auch für die Untertanen die glei-
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chen Regeln und Vorschriften.⁹⁶ Sollte der Adel das Versammlungsrecht erhalten, könnten die einfachen Untertanen des Landes ebenfalls dieses Recht einfordern. Dies wurde als äußerst schädlich für das Heilige Römische Reich empfunden.⁹⁷ Diese beiden Gründe stehen im Einklang mit der superioritatis territorialis des Landgrafen und seiner Herrschaft über alle Untertanen.
4 Fazit Durch die Auswertung der Quellen aus dem Stift Kaufungen konnten neue Erkenntnisse gewonnen werden. Es hat sich gezeigt, dass sowohl die Anwälte der Adligen als auch die Anwälte des Landgrafen in ihren Argumentationen die Vaterlandsrhetorik einsetzten. Die Argumente indes gingen weit über die formellen Aspekte des Herrschens hinaus. Es ist nicht erstaunlich, dass sich der Adel auf die Loyalität zum Vaterland sowie auf die Bräuche und Privilegien konzentrierte. Diese Themen waren für den Adel immanent wichtig, da sie sich auf spezifische adelige Rechte und Privilegien bezogen. Allerdings beweist die Betonung der Vaterlandsloyalität innerhalb der Argumentationen auch, dass das Vaterland instrumentalisiert wurde und als eigenständige, argumentative Kategorie vor Gericht verwendet wurde. Des Weiteren ist die Tatsache erwähnenswert, dass die Anwälte des Landgrafen damit argumentierten, der Landgraf sei im rechtlichen Sinne der offizielle Vertreter des Vaterlandes. Dies erklärt allerdings nicht, warum Wörter wie Vaterland oder Patriot in der Argumentation akzeptiert wurden, denn diese Wörter ersetzen scheinbar nur die Wörter Lehnsgut und Untertan. Eine mögliche Erklärung hierfür könnte sein, dass Verweise auf das Lehnswesen mit einer negativen Konnotation behaftet waren, welche eng mit dem absolutus dominatus verbunden war. Die in der Duplik verwendete Argumentation verweist stark auf diese gemeinhin mittelalterlichen, feudalen Elemente. Dennoch band sie die Argumentation des Adels bezüglich Patriotismus und Vaterland mit ein. Wichtig in diesem Kontext ist nicht nur die Benutzung der Begriffe, sondern besonders, auf wen diese angewandt wurden. Der Landgraf bezeichnet sich nicht selbst als Patriot. Der Gebrauch durch den Adel scheint als Warnzeichen empfunden worden zu sein, die Patrioten wurden offenbar als aufmerksame Wächter des Gemeinwohls wahrgenommen. Der Landgraf würdigt ihren Einsatz, indem er ihren Wortgebrauch kopierte und dankte. Trotzdem forderte er sie auf, ihn, wie ihre Vorfahren auch, in der Krisensituation alleine handeln zu lassen.
96 AARK, Repositur 6, Gefach 15, Nr. 5, S. 54, Duplik, S. 81f. 97 Ebd., S. 79–89.
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Es ist deutlich geworden, dass sowohl der Adel als auch der Landgraf die alten Einflusssphären bevorzugten. Dies wird durch den Gebrauch der Begriffe Vaterland und Patriot offenbar. Denn der Adel beanspruchte die Position des Patrioten, um das Vaterland und sein Wohl zu beschützen. Der Landgraf wiederum sollte sein Fürstentum als guter Herrscher beschützen, weshalb er auf die Warnsignale „seiner“ Patrioten reagierte.
Thomas Dorfner
Empfehlungen, die man nicht ablehnen kann? Empfehlungsschreiben und Patronage am Reichshofrat (1658–1740)¹
Einleitung Im Januar 1712 war Graf Christian Ernst von Pappenheim gezwungen, einen neuen Reichshofratsagenten auszuwählen und zu bestallen, der fortan die gräflichen Interessen am Kaiserhof vertreten und die am Reichshofrat anhängigen Prozesse führen würde.² Der bis dato für den Grafen tätige Reichshofratsagent war am 8. Januar 1712 verstorben. Daraufhin bewarben sich binnen weniger Tage vier Agenten um die vakant gewordene Stelle.³ Graf Christian Ernst erhielt jedoch nicht nur die Bewerbungsschreiben der vier Agenten, sondern außerdem einen Brief von Reichshofrat Johann Wilhelm Graf Wurmbrand.⁴ Dieser war Mitglied der Herrenbank des Reichshofrats und folglich mit den Prozessen von Graf Christian Ernst, beispielsweise gegen den benachbarten Markgrafen von Brandenburg-Ansbach, befasst.⁵
1 Die folgenden Ausführungen basieren auf Ergebnissen, die ich im Zuge meines Dissertationsvorhabens „Mittler zwischen Haupt und Gliedern. Die Reichshofratsagenten und ihre Bedeutung für die Verfahren am Reichshofrat (1658–1740)“ gewonnen habe. Die Dissertation wurde im Dezember 2013 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster eingereicht. Für Anmerkungen zum Aufsatzmanuskript danke ich herzlich Sven Solterbeck (Münster). 2 Zu Graf Christian Ernst siehe Hans Schwackenhofer: Die Reichserbmarschälle, Grafen und Herren von und zu Pappenheim. Treuchtlingen/Berlin 2002, bes. S. 245f. 3 Die Agenten Christoph Kleibert, Ignatius Friedrich Lamprecht sowie Johann Christoph Schlegel verfassten ihre Schreiben bereits am Folgetag (9. Januar). Wolfgang Michael von Pauernfeind brachte seine Bewerbung am 13. Januar zu Papier. Die Bewerbungsschreiben finden sich im Bestand Staatsarchiv Nürnberg (künftig: StAN), Herrschaft Pappenheim, Akten, 9322. 4 StAN, Herrschaft Pappenheim, Akten, 9322, Johann Wilhelm Graf Wurmbrand an Christian Ernst Graf Pappenheim, 27. 01. 1712, unfol. Wurmbrand fungierte ab Februar 1728 als Präsident des Reichshofrats. Vgl. Oswald von Gschließer: Der Reichshofrat. Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559–1806 (Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte des ehemaligen Österreich, Bd. 33). Wien 1942, S. 336. 5 Siehe allgemein Robert Schuh: Das vertraglich geregelte Herrschaftsgemenge. Die territorialstaatsrechtlichen Verhältnisse in Franken im 18. Jahrhundert im Lichte von Verträgen des Fürstentums Brandenburg-Ansbach mit Benachbarten, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 55 (1995), S. 137–170.
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Bei Wurmbrands Brief handelt es sich um ein Empfehlungsschreiben für einen der vier Bewerber, nämlich für Agent Christoph Kleibert. Wurmbrand schildert darin zunächst, wie Kleibert ihn angesprochen und um ein Empfehlungsschreiben gebeten habe. Dabei habe der Agent beteuert, dass er gerade in Wurmbrands Empfehlung ein sonderbares Vertrauen setze.⁶ Aus diesem Grund empfehle er nun Graf Christian Ernst nachdrücklich die Bestallung des Agenten. Sollte sich der Graf für Kleibert entscheiden – so Wurmbrand weiter –, würde er damit nicht nur dem Agenten, sondern auch ihm eine sonderbahre Gefälligkeit erweisen, die keinesfalls unerwidert bleiben solle. Entsprechend schloss Reichshofrat Wurmbrand seinen Brief an Graf Christian Ernst mit folgenden Worten: ich aber werde diese mir hierunter erzeigende sonderbahre Gefälligkeit in andere weiß und wege widerumben zuverschulden ohnermangeln.⁷ Gleich zu Beginn ist anzumerken, dass es sich bei dem von Reichshofrat Wurmbrand verfassten Empfehlungsschreiben keineswegs um ein außergewöhnliches, weil seltenes Schriftstück handelt – im Gegenteil. In den Staats-, Stadt- und Adelsarchiven sind zahlreiche Empfehlungsschreiben überliefert, mit denen sich Reichshofräte bei (reichsständischen) Prozessparteien für die Bestallung eines bestimmten Prozessvertreters einsetzten. Allein im Staatsarchiv Nürnberg haben sich mehrere Empfehlungsschreiben von Reichshofräten für Reichshofratsagenten erhalten, darunter auch ein weiteres Empfehlungsschreiben von Reichshofrat Wurmbrand.⁸ Inwiefern allerdings könnte sich eine intensivere Beschäftigung mit den Empfehlungsschreiben von Reichshofräten als lohnenswert erweisen? Oder anders, und zwar in Hinblick auf die Fragestellung des Sammelbandes formuliert: Inwiefern kann eine Fokussierung auf diese spezifische Quellengattung neue Erkenntnisperspektiven auf den Reichshofrat eröffnen?⁹ Bei reichshofrätlichen Prozessen lässt sich eine deutliche Trennung zwischen „Vorder-“ und „Hinterbühnen“ ausmachen:¹⁰ Auf den Vorderbühnen wurden die
6 StAN, Herrschaft Pappenheim, Akten, 9322, Johann Wilhelm Graf Wurmbrand an Christian Ernst Graf Pappenheim, 27. 01. 1712, unfol. 7 Ebd. 8 StAN, Fstm. Brandenburg-Ansbach, Wiener Reichshofratsagentie, 11, Johann Wilhelm Graf Wurmbrand an Markgraf Karl Wilhelm Friedrich, 30. 07. 1740, unfol. (Empfehlung für Reichshofratsagent Johann Samuel Korneffer). 9 Siehe allgemein Hans Medick: Entlegene Geschichte? Sozialgeschichte und Mikro-Historie im Blickfeld der Kulturanthropologie, in: Joachim Matthes (Hrsg.): Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs. Göttingen 1992, S. 167–178, hier S. 168–170. 10 Der Begriff „Hinterbühne“ entstammt der Soziologie Erving Goffmans. Vgl. Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, 8. Aufl. München/Zürich 2010, S. 104f.; siehe ferner Oswald Neuberger: Von sich reden machen. Geschichtsschreibung in einer organisierten
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Prozessschriften gewechselt, und es galten die in der Reichshofratsordnung formalisierten Vorschriften, allen voran das Referentengeheimnis sowie das strikte Schriftlichkeitsgebot.¹¹ Die Audienzen des Reichshofrats hingegen, in deren Rahmen die Agenten ihr mündliche[s] Vorbringen [. . . ] in die Feder reden konnten, waren bereits in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts abgeschafft worden.¹² Vincenz Hanzely konstatierte daher in den 1780er Jahren treffend, dass alles, was am Reichshofrat angebracht werden will, schriftlich vorgetragen werden muss.¹³ Die Empfehlungsschreiben der Reichshofräte hingegen eröffnen einen Blick auf die „Hinterbühnen“ der Reichshofratsprozesse. Dort, auf besagten Hinterbühnen, lassen sich oftmals vielfältige informelle Interaktionen zwischen Reichshofräten und Reichshofratsagenten bzw. zwischen Reichshofräten und den Prozessparteien beobachten. Diesem Beitrag liegt daher die Prämisse zugrunde, dass Reichshofratsprozesse oftmals nur angemessen analysiert werden können, wenn nicht allein die gewechselten Schriftsätze ausgewertet, sondern auch die informellen Interaktionen der beteiligten Akteure auf den Hinterbühnen untersucht werden. Die Empfehlungsschreiben der Reichshofräte sollen in diesem Beitrag in vier Schritten vorgestellt und interpretiert werden. Einleitend sollen knapp die Rahmenbedingungen des Empfehlungsdiskurses untersucht werden. Das Augenmerk wird dabei vor allem auf das Spannungsverhältnis zwischen formalisierten, d. h. schriftlich fixierten, und informellen Regeln gerichtet. In einem zweiten Schritt soll geprüft werden, ob es zwischen den Empfehlungsschreiben der Reichshofräte qualitativ merkliche Unterschiede gab. Im dritten Teil soll analysiert werden, welche Auswirkungen das Empfehlungsschreiben eines Reichshofrats auf dessen Beziehung zur betreffenden Prozesspartei hatte. Abschließend wird die Frage aus der Überschrift dieses Beitrags aufzugreifen und zu beantworten sein: War es reichsständischen Prozessparteien überhaupt möglich, das Empfehlungsschreiben eines Reichshofrats abzulehnen?
Anarchie, in: ders. / Birgit Volmerg / Thomas Leithäuser / Günther Ortmann / Burkard Sievers (Hrsg.): Nach allen Regeln der Kunst. Macht und Geschlecht in Organisationen. Freiburg i. Br. 1995, S. 25–72, hier S. 44f. 11 Jürgen Weitzel: Die Anwaltschaft an Reichshofrat und Reichskammergericht, in: L’assistance dans la resolution des conflits, 4eme partie: L’Europe médiévale et moderne (Recueils de la Société Jean Bodin pour l’Histoire Comparative des Institutions, Bd. LXV). Brüssel 1998, S. 197–214, hier S. 198. 12 Zu den Audienzen des Reichshofrats siehe den Gemeinen Bescheid vom 15. 10. 1613. Dominik Adolph von Weingarten: Verzeichnuß Derer bey dem Kaiserl. höchst=preislichen Reichs=Hof=Rath/ von dem Jahr 1613 bis ad Annum 1725 ergangenen/Die Agenten, Procuratoren und Partheyen Betreffenden Decretorum Communium. Wien 1728, S. 13. 13 Vincenz Hanzely: Anleitung zur neuesten Reichshofrathspraxis, 2 Bde. Frankfurt a. M./Leipzig 1784, hier Bd. 1, S. 237.
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1 Die Rahmenbedingungen des Empfehlungsdiskurses Für die Reichshofratsagenten war es oftmals alles andere als einfach, eine vakant gewordene Agentie zu erlangen. Einerseits bildete das Bewerbungsschreiben in vielen Fällen nachweislich den ersten Kontakt zwischen einem Reichshofratsagenten und einer reichsständischen Prozesspartei. Andererseits konkurrierten – in aller Regel – mehrere Reichshofratsagenten um die zu besetzende Agentie. Selbst um die Stelle bei Graf Christian Ernst von Pappenheim bewarben sich vier Agenten, obwohl die politisch-soziale Rangposition des Grafen vergleichsweise niedrig war und dieser auch nur ein geringes jährliches Salarium bezahlen konnte.¹⁴ Vor dem Hintergrund dieser Konkurrenzsituation versuchten die Agenten ihre Chancen durch Empfehlungsschreiben zu verbessern. Dieser Befund vermag zunächst nicht zu erstaunen. Wolfgang Reinhard hat bereits vor 20 Jahren treffend dargelegt, dass Mitte des 17. Jahrhunderts „rational standardisierte und konsequent formalisierte Rekrutierungsverfahren noch nicht flächendeckend verbreitet“ waren.¹⁵ Karriere und sozialer Aufstieg des Einzelnen wurden vor allem durch die Einbindung in personale Netzwerke ermöglicht und befördert. Dementsprechend betonen Reinhard und sein Schüler Christian Wieland in ihren Forschungen zur Römischen Kurie, wie ubiquitär der Empfehlungsdiskurs in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts gewesen sei.¹⁶ Dieser Befund besitzt – cum grano salis – auch für den Kaiserhof zwischen 1658 und 1740 Gültigkeit. Andreas Pečar beispielsweise erwähnt beiläufig in seiner Untersuchung des höfischen Adels am Kaiserhof Karls VI., dass sich in den Adelskorrespondenzen zahlreiche Bitten um Empfehlungsschreiben erhalten haben.¹⁷ Die Reichshofratsagenten bemühten sich vor allem bei zwei Personengruppen um Empfehlungsschreiben: In der Mehrzahl der Fälle baten sie einflussreiche Amts-
14 Das jährliche Salarium betrug 40 Gulden. Siehe StAN, Herrschaft Pappenheim, Akten, 9322, Johann Christoph Schlegel an Christian Ernst Graf Pappenheim, 16. 03. 1715, unfol. 15 Wolfgang Reinhard: Amici e creature. Politische Mikrogeschichte der römischen Kurie im 17. Jahrhundert, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken (künftig: QuFiAB) 76 (1996), S. 308–333, hier S. 319f. 16 Reinhard: Amici e creature (wie Anm. 15), S. 319–323; Christian Wieland: Parteien in Rom, von Florenz aus gesehen. Eine römische Gruppe im diplomatischen Dienst der Medici während des Pontifikats Pauls V. (1605–1621), in: QuFiAB 82 (2002), S. 490–528, hier S. 511, 515. 17 Andreas Pečar: Die Ökonomie der Ehre. Höfischer Adel am Kaiserhof Karls VI. (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne). Darmstadt 2003, S. 94, 97.
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träger am Kaiserhof um Unterstützung in Form einer Empfehlung.¹⁸ Standen sie zudem bereits in Diensten eines hochrangigen, d. h. kurfürstlichen oder fürstlichen Prinzipals, ersuchten sie bisweilen auch diesen um ein Empfehlungsschreiben.¹⁹ Dabei war es durchaus üblich, dass Agenten ihre Bitte um eine Empfehlung parallel an mehrere Personen adressierten, um so ihre Chancen auf Unterstützung zu erhöhen. Im Folgenden sollen ausschließlich Empfehlungsschreiben von Amtsträgern am Kaiserhof untersucht werden. Betrachtet man die einschlägigen Bestände in den territorialen Archiven nämlich genauer, wird offenbar, dass die ganz überwiegende Zahl der Empfehlungsschreiben von Reichshofräten für Agenten verfasst wurde. Das Empfehlungsschreiben eines Reichshofrats war allerdings nicht ohne Gegengaben bzw. Reziprozitätsakte zu erhalten. Die Gegengabe der Agenten bestand dabei vor allem in verbalen Insinuationen.²⁰ Sie rühmten den jeweiligen Reichshofrat als besonders einflussreiches und vielvermögendes Mitglied des Gremiums. Die Reichshofräte reproduzierten die ihnen erwiesenen Komplimente teilweise in den Empfehlungsschreiben an die Prozessparteien. Der eingangs erwähnte Reichshofrat Wurmbrand beispielsweise betonte in seinem Schreiben an Graf Christian Ernst, Agent Kleibert habe gerade in sein Vorwort ein sonderbahres Vertrauen gesetzet.²¹ Materielle Gegengaben in Gestalt von Geld oder Geschenken lassen sich hingegen nicht nachweisen. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass derartige Gegengaben in aller Regel keine Quellen produzierten. In Anbetracht der zeitgenössischen Kritik am Verkauf von Empfehlungsschreiben können sie jedoch keinesfalls ausgeschlossen werden.²² Exemplarisch sei auf Ahasver Fritsch verwie18 Exemplarisch sei auf Oberstkämmerer Johann Maximilian Graf Lamberg verwiesen, der der Reichsstadt Augsburg im Jahr 1667 die Dienste von Reichshofratsagent Conrad Oswald Garb empfahl: Stadtarchiv Augsburg (künftig: StadtAA), Reichshofratsakten, 5, Johann Maximilian Graf Lamberg an Oktavian Langenmantel, 30. 11. 1667, unfol. 19 Reichshofratsagent Franz Joseph Kistler bemühte sich 1729 um die agentie des Groß Hertzogen von florentz und ersuchte deshalb Kurfürst Karl Albrecht von Bayern um eine Empfehlung. Hauptstaatsarchiv München (künftig: HStAM), Kurbayern, Kasten schwarz, 391, Franz Joseph Kistler an Kurfürst Karl Albrecht, 07. 12. 1729, unfol. 20 Bereits Marcel Mauss betont, dass Gabe und Gegengabe keinesfalls auf materielle Dinge beschränkt sein müssen. Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften. 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1999, S. 22. Zu realen und verbalen Insinuationen siehe Christian Weise: Politischer Redner, Das ist: kurtze und eigentliche Nachricht, wie ein sorgfältiger Hofmeister seine Untergebenen zu der Wohlredenheit anführen soll. Leipzig 1683, S. 183. 21 StAN, Herrschaft Pappenheim, Akten, 9322, Johann Wilhelm Graf Wurmbrand an Christian Ernst Graf Pappenheim, 27. 01. 1712, unfol. 22 Vgl. hierzu auch Ingo Stader: Herrschaft durch Verflechtung. Perugia unter Paul V. (1605–1621). Studien zur frühneuzeitlichen Mikropolitik im Kirchenstaat (Beiträge zur Kirchen- und Kulturgeschichte, Bd. 5). Frankfurt a. M. 1997, S. 212f.
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sen, der Ende des 17. Jahrhunderts monierte, hohe wie niedere Minister würden für ihre Empfehlungen Geldzahlungen annehmen.²³ Die Kritik von Fritsch führt beinahe zwangsläufig zur Frage nach der zeitgenössischen Wahrnehmung: Aus heutiger Sicht erscheint ein Empfehlungsschreiben, mit dem ein Richter für die Bestallung eines bestimmten Prozessvertreters warb, als eindeutiger und gravierender Verstoß gegen die prozessrechtliche Unabhängigkeit.²⁴ Die Wahrnehmung der Zeitgenossen hingegen war keineswegs derart eindeutig. Genau besehen waren die Reichshofräte mit unterschiedlichen formalen sowie informellen Regeln konfrontiert, auf die sie sich wahlweise berufen konnten, um ihr Handeln zu legitimieren:²⁵ Die Unparteilichkeit und Unabhängigkeit des Richters war einerseits in der Reichshofratsordnung von 1654 schriftlich kodifiziert und damit eine formale Vorschrift. Die Reichshofräte waren explizit angewiesen, sich alles ungebührlichen anhangs, geschäfften und partheylichkeit, die entweder unrecht oder verdächtig [. . . ] sein möchten, [zu] enthalten.²⁶ Wollte ein Reichshofrat für einen Agenten kein Empfehlungsschreiben verfassen, konnte er sich auf diesen formalen Standpunkt zurückziehen. Reichsvizekanzler Schönborn beispielsweise, der qua Amt Mitglied des Reichshofrats war, lehnte 1728 die Bitte von Reichshofratsagent Theodor de L’Eau um ein Empfehlungsschreiben ab.²⁷ Sein Richterliches ambt, so Schönborns Begründung, gestatte es nicht, den Partheyen
23 Es schämen und scheuen sich weder hohe noch niedere Ministri [. . . ] Geschencke zu nehmen / und also ihre intercessiones und recommendationes um Geld zu verkauffen. Ahasver Fritsch: Der beschämte Geschenck=Fresser. Nebst einer treuhertzigen Warnung. o. O. 1720, S. 5f. 24 Zur prozessrechtlichen Unabhängigkeit siehe Rainer Hamm: Der gesetzliche Richter und die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit unter besonderer Berücksichtigung des Strafverfahrens. Diss. jur. Frankfurt a. M. 1973, S. 13f. 25 Zur „Normenkonkurrenz“ in der Frühen Neuzeit siehe Hillard von Thiessen: Korruption und Normenkonkurrenz. Zur Funktion und Wirkung von Korruptionsvorwürfen gegen die GünstlingMinister Lerma und Buckingham in Spanien und England im frühen 17. Jahrhundert, in: Jens Ivo Engels / Andreas Fahrmeir / Alexander Nützenadel (Hrsg.): Geld – Geschenke – Politik. Korruption im neuzeitlichen Europa (Historische Zeitschrift, Beiheft 48). München 2009, S. 91–120, hier S. 94–96; sowie Jens Ivo Engels: Politische Korruption und Modernisierungsprozesse. Thesen zur Signifikanz der Korruptionskommunikation in der westlichen Moderne, in: Niels Grüne / Simona Slanicka (Hrsg.): Korruption. Historische Annäherungen an eine Grundfigur politischer Kommunikation. Göttingen 2010, S. 35–54, hier S. 37–39. 26 Reichshofratsordnung (künftig: RHRO) 1654, Tit. I, § 16. Vgl. Wolfgang Sellert (Hrsg.): Die Ordnungen des Reichshofrats 1550–1766, 2 Bde. (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, künftig: QFHG, Bd. 8). Köln/Wien 1980/1990, hier Bd. 2, S. 85. Empfehlungsschreiben werden in der RHRO des Jahres 1654 nicht explizit thematisiert. 27 Hugo Hantsch: Reichsvizekanzler Friedrich Karl von Schönborn (1674–1746). Einige Kapitel zur politischen Geschichte Kaiser Josefs I. und Karls VI. (Salzburger Abhandlungen und Texte aus Wissenschaft und Kunst, Bd. 2). Augsburg 1929, S. 142.
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einen Agenten proprio motu zu recommendiren.²⁸ Andererseits existierte im Untersuchungszeitraum die allgemein anerkannte, allerdings schriftlich nicht fixierte Pflicht, Verwandte und Klienten, aber auch Freunde sowie Landsleute zu unterstützen.²⁹ War ein Reichshofrat also gewillt oder in der Pflicht, eine Empfehlung für einen Reichshofratsagenten zu verfassen, konnte er sein Handeln mit dem informellen Normensystem der Patronage legitimieren.³⁰
2 Ernstgemeinte Rekommandationen versus „Allerweltsempfehlungen“ In Anbetracht der großen Anzahl überlieferter Empfehlungsschreiben von Reichshofräten für Reichshofratsagenten darf deren Wirkung bei den reichsständischen Prozessparteien jedoch nicht überschätzt werden. Die Wirksamkeit muss vielmehr von Fall zu Fall überprüft werden. Damit korrespondiert, dass die Schreiben – in aller Regel – in ernstgemeinte sowie weniger ernstgemeinte Empfehlungen oder „Allerweltsempfehlungen“ differenziert werden können.³¹ Allerweltsempfehlungen von Reichshofräten waren kürzer, unspezifischer sowie weniger nachdrücklich formuliert als ernstgemeinte Empfehlungen. Spezielle Symbole zur Kennzeichnung ernstgemeinter Empfehlungsschreiben, wie sie Vincent Ilardi bei Rekommandationen der Renaissancezeit nachgewiesen hat, sind hingegen nicht zu finden.³² Die Unterschiede zwischen ernstgemeinten und weniger ernstgemeinten Empfehlungen werden besonders evident, wenn man mehrere Empfehlungen eines bestimmten Reichshofrats vergleicht. Im Folgenden sollen exemplarisch zwei Empfehlungen von Reichshofrat Michael Achatius Kirchner eingehender betrachtet
28 Generallandesarchiv Karlsruhe (künftig: GLAK), Hegau, 123, Nr. 112, Theodor de L’Eau an Schwäbische Reichsritterschaft, 28. 07. 1728, unfol.; vgl. auch die vorangegangene Absage Schönborns an de L’Eau: GLAK, Hegau, 123, Nr. 112, Schönborn an Theodor de L’Eau, 01. 06. 1728 (Abschrift), unfol. 29 Thiessen: Korruption und Normenkonkurrenz (wie Anm. 25), S. 94. 30 Zum „Ethos der Patronage“ siehe Hillard von Thiessen: Diplomatie und Patronage. Die spanischrömischen Beziehungen 1605–1621 in akteurszentrierter Perspektive (Frühneuzeit-Forschungen, Bd. 16). Epfendorf 2010, S. 35. 31 Der Begriff „Allerweltsempfehlung“ wurde bereits von Wolfgang Reinhard im Kontext der Patronageforschung verwendet. Reinhard: Amici e creature (wie Anm. 15), S. 322. 32 Vincent Ilardi: Crosses and Carets: Renaissance Patronage and Coded Letters of Recommendation, in: The American Historical Review 92 (1987), S. 1127–1149.
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werden.³³ Kirchner empfahl Herzog Moritz Wilhelm von Sachsen-Zeitz die Dienste von Agent Klerff sowie der Schwäbischen Reichsritterschaft die Dienste von Agent Kistler. Bei der Empfehlung für Agent Klerff handelt es sich allem Anschein nach um eine Allerweltsempfehlung.³⁴ Auffällig ist zunächst die Kürze des Kirchner’schen Schreibens. Gleichermaßen knapp fallen dessen lobende Worte für Agent Klerff aus. Der Reichshofrat hob lediglich Klerffs gutte qualitaeten hervor und versicherte, dass Klerff, weil dieser bei den kaiserlichen Ministern und Reichshofräten in gutten Credit stehet, die herzoglichen Angelegenheiten nachdrücklich befördern könne.³⁵ Deutlich anders liest sich hingegen Kirchners zweite, an die Schwäbische Reichsritterschaft adressierte Empfehlung.³⁶ Das Schreiben ist ungleich länger, und die lobenden Worte sind wesentlich spezifischer. Zunächst betonte der Reichshofrat, dass des nun erwehnten H: Kistlers unverdroßner fleiß, Richtigkeit und gueter credit an verschiedenen hohen und vermögenden ohrten nebst übrigen rühmlichen qualiteten weithin bekannt seien. Dementsprechend – so Kirchner weiter – wäre sein Empfehlungsschreiben eigentlich gar nicht erforderlich gewesen, da Agent Kistler auch ohne sein zuthun vor sich einen favorablen ausschlag zu hoffen haben könte. Abschließend brachte Kirchner seine Überzeugung zum Ausdruck, dass Agent Kistler nach seiner Bestallung keine Gelegenheit ungenutzt lassen würde, die ihm damit erwiesene Gnade abzudienen. Bemerkenswert ist überdies, dass Reichshofrat Kirchner die Reichsritter in der Salutatio sowie der Conclusio seines Schreibens als seine Patronen bezeichnete.³⁷ Hieraus darf jedoch nicht vorschnell auf die Existenz einer dauerhaften Patronage33 Vgl. auch die beiden Empfehlungsschreiben von Reichshofrat Andlern: Hohenlohe-Zentralarchiv Neuenstein (künftig: FA Nst), La 30, Bü 801, Franz Friedrich von Andlern an Graf Heinrich Friedrich von Hohenlohe-Langenburg, 08. 11. 1679, unfol. (Empfehlung für Agent Johann Franz von Bernhardi); sowie GLAK, Hegau, 123, Nr. 108, Franz Friedrich von Andlern an Freiherr Johann von Bodman, 28. 09. 1690, unfol. (Empfehlung für Agent Adam Ignatius Heunisch). 34 Hauptstaatsarchiv Dresden (künftig: HStADr), 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Loc. 8237/9, Michael Achatius Kirchner an Moritz Wilhelm von Sachsen-Zeitz, 14. 10. 1712, unfol. 35 Zur Bedeutung von Sozial- und Symbolkapital bei der Auswahl eines Reichshofratsagenten siehe auch Thomas Dorfner: „Es kommet mit einem Reichs=Agenten haubtsächlich darauf an . . . “. Die Reichshofratsagenten und ihre Bedeutung für die Kommunikation mit dem und über den Reichshofrat (1658–1740), in: Anja Amend-Traut / Anette Baumann / Stephan Wendehorst / Steffen Wunderlich (Hrsg.): Die höchsten Reichsgerichte als mediales Ereignis (bibliothek altes Reich, Bd. 11). München 2012, S. 97–111, hier S. 99–103. 36 GLAK, Hegau, 123, Nr. 112, Michael Achatius Kirchner an den Schwäbischen Ritterkreis, 09. 07. 1701, unfol. 37 Zum Dispositionsrahmen siehe Kirsten Erwentraut: Briefkultur und Briefsteller – Briefsteller und Briefkultur, in: Albert Meier (Hrsg.): Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom
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beziehung geschlossen werden.³⁸ Die Beziehung zwischen Reichshofrat Kirchner und den Reichsrittern war alles andere als dauerhaft, sondern durch einen stark ereignishaften Charakter gekennzeichnet.³⁹ Kirchner trat anlässlich der vakanten Agentie mit den Reichsrittern in Kontakt und ist nicht als deren Klient anzusehen. Der Terminus Patron wurde von Reichshofrat Kirchner gezielt zur „Verhaltensmotivation“ eingesetzt.⁴⁰ Er sollte den Schwäbischen Reichsrittern zur Ehre gereichen und seiner Empfehlung mehr Nachdruck verleihen. Aus welchen Gründen Reichshofrat Kirchner für Agent Kistler ein besonders nachdrückliches Empfehlungsschreiben verfasste, kann indes nur näherungsweise geklärt werden. Festzuhalten ist zunächst, dass Kirchner mit seinen Ausführungen zu Kistlers Credit keineswegs übertrieben hatte. Agent Kistler verfügte infolge seiner Vorkarriere tatsächlich über ein großes Maß an Credit bei verschiedenen hohen und vermögenden ohrten.⁴¹ Vor seiner 1696 erfolgten Aufnahme in den Kreis der Agenten hatte Kistler neun Jahre in Diensten von Reichshofratspräsident Wolfgang zu Öttingen-Wallerstein gestanden und diesen auf verschiedenen Gesandtschaftsreisen begleitet.⁴² Andere Gründe für die besonders nachdrückliche Empfehlung können hingegen ausgeschlossen werden: Es existierte keine verwandtschaftliche Verbindung zwischen Reichshofrat Kirchner und Agent Kistler.⁴³ Ebenfalls ausgeschlossen ist, dass Reichshofrat Kirchner aufgrund von Herkunft aus derselben Region eine besonders nachdrückliche Empfehlung für Agent Kistler verfasste.⁴⁴
16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 2: Die Literatur des 17. Jahrhunderts. München 1999, S. 266–285. 38 Ich folge hier der Minimaldefinition von Richard P. Saller bzw. Guido O. Kirner, wonach es sich bei Patronage um eine „persönliche, asymmetrische und dauerhafte Sozialbeziehung zwischen zwei Personen“ handelt. Guido O. Kirner: Apostolat und Patronage (I). Methodischer Teil und Forschungsdiskussion, in: Zeitschrift für Antikes Christentum 6 (2002), S. 3–37, hier S. 21; Richard P. Saller: Personal Patronage Under the Early Empire. Cambridge 1982, S. 1. 39 Vgl. die instruktiven Ausführungen zu reichsstädtischer Korrespondenz bei André Krischer: Reichsstädte in der Fürstengesellschaft. Politischer Zeichengebrauch in der Frühen Neuzeit (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne). Darmstadt 2006, S. 138. 40 Mark Hengerer: Amtsträger als Klienten und Patrone? Anmerkungen zu einem Forschungskonzept, in: Stefan Brakensiek / Heide Wunder (Hrsg.): Ergebene Diener ihrer Herren? Herrschaftsvermittlung im Alten Europa. Köln/Weimar/Wien 2005, S. 45–78, hier S. 73. 41 GLAK, Hegau, 123, Nr. 112, Michael Achatius Kirchner an den Schwäbischen Ritterkreis, 09. 07. 1701, unfol. 42 Siehe das Gesuch von Philipp Jacob Kistler an Leopold I.: Österreichisches Staatsarchiv, Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien (künftig: ÖStA HHStA), Reichshofrat (künftig: RHR), Reichskanzlei (künftig: RK) – Verfassungsakten, RHR 50, Philipp Jacob Kistler an Leopold I., undat. (1696), unfol. 43 Reichshofrat Kirchner war mit Elisabeth Freiin von Partenfeld verheiratet. 44 Agent Kistler wurde in der Ortschaft Schlanders im heutigen Südtirol geboren. Reichshofrat Kirchner hingegen stammte aus dem thüringischen Raum und besuchte das Gymnasium in
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Reichsständische Prozessparteien achteten daher präzise auf die Qualität der Empfehlungsschreiben. Gelangte eine Prozesspartei zu der Überzeugung, dass die Bewerbung eines Agenten durch eine schöne,⁴⁵ considerable⁴⁶ oder vortreffl.[iche] recommendation⁴⁷ unterstützt wird, hatte der betreffende Bewerber sehr gute Chancen, die vakante Agentie zu erlangen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Kirchners knappe und kühle Empfehlung für Agent Klerff diesem nicht zur Agentie verhalf. Herzog Moritz Wilhelm von Sachsen-Zeitz entschied sich gegen Agent Klerff.⁴⁸ Der von Reichshofrat Kirchner mit großem Nachdruck empfohlene Philipp Jacob Kistler hingegen erhielt die Agentie der Schwäbischen Reichsritterschaft.⁴⁹
3 Die Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Prozesspartei und Reichshofrat Entsprach eine Prozesspartei einer Rekommandation und engagierte den empfohlenen Agenten, erwies sie dem betreffenden Reichshofrat zweifelsohne eine Gefälligkeit.⁵⁰ Damit stellt sich beinahe zwangsläufig die Frage nach Akten der Re-
Coburg. Zu Kirchners Vita siehe die Leichenpredigt von Simon Wagner: Auserlesenes Vorbild eines in Gott vollkommenen Welt-Ministers in Ihro Excellenz, Regensburg 1735; sowie Tobias Schenk: Reichsjustiz im Spannungsverhältnis von oberstrichterlichem Amt und österreichischen Hausmachtinteressen: Der Reichshofrat und der Konflikt um die Allodifikation der Lehen in Brandenburg-Preußen (1717–1728), in: Anja Amend-Traut / Albrecht Cordes / Wolfgang Sellert (Hrsg.): Geld, Handel, Wirtschaft. Höchste Gerichte im Alten Reich als Spruchkörper und Institution. Berlin/Boston 2013, S. 104–219, hier S. 135f. 45 GLAK, Hegau, 123, Nr. 112, Kanton Donau an Kanton Hegau-Allgäu-Bodensee, 28. 08. 1701, unfol. 46 StadtAA, Reichshofratsakten, 5, Dekret des Geheimen Rats der Reichsstadt Augsburg, 03. 01. 1711, unfol. 47 GLAK, Hegau, 123, Nr. 112, Kanton Donau an Kanton Hegau-Allgäu-Bodensee, 17. 02. 1729, unfol. 48 HStADr, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Loc. 8237/9, Moritz Wilhelm von Sachsen-Zeitz an Michael Achatius Kirchner, undat. (Konzept), unfol. Das Konzept enthält den handschriftlichen Vermerk: gehet nicht ab. Ob bzw. warum das Schreiben nicht abgeschickt wurde, lässt sich nicht klären. Sicher ist jedoch, dass nicht der von Reichshofrat Kirchner empfohlene Klerff, sondern Johann Christoph Schlegel die Agentie erhielt. Vgl. HStADr, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Loc. 8237/9, Moritz Wilhelm von Sachsen-Zeitz an Johann Christoph Schlegel, 17. 02. 1713 (Konzept), unfol. 49 Vgl. GLAK, Hegau, 123, Nr. 112, Philipp Jacob Kistler an Schwäbische Ritterschaft, 03. 09. 1701, unfol. 50 So die Wortwahl der Reichshofräte Heuwel und Wurmbrand. Siehe exemplarisch GLAK, Hegau, 123, Nr. 112, Leopold Ignaz von Heuwel an Kanton Donau, 22. 12. 1728, unfol.
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ziprozität.⁵¹ Wie die Empfehlungsschreiben belegen, erkannten die Reichshofräte ihre Verpflichtung zur Gegenleistung, die aus der Realisierung eines Empfehlungsschreibens resultierte, explizit an. Für den Fall, dass die Schwäbischen Reichsritter seiner Empfehlung folgen würden, versprach beispielsweise Reichshofrat Nicolai, diese Gefälligkeit bey sich ereignender Gelegenheit schuldiger maßen [. . . ] abzudienen.⁵² Es lassen sich jedoch Unterschiede ausmachen, wie deutlich Reichshofräte ihre Verpflichtung gegenüber einer Partei einerseits mit den anhängigen Prozessen andererseits verknüpften. Ein Teil der Reichshofräte bekannte sich zwar generell zu ihrer Verpflichtung, bezog sich jedoch nicht auf anhängige Prozesse. Reichshofrat Berger beispielsweise empfahl 1729 dem Magistrat der Reichsstadt Augsburg die Dienste von Agent Klerff, verpflichtete sich im Gegenzug jedoch nur allgemein zu aller gerechten willfährigkeit.⁵³ Einen expliziten Bezug zu den Prozessen des Magistrats stellte er nicht her. Andere Reichshofräte boten in ihren Empfehlungsschreiben mit deutlichen Worten an, die Interessen der betreffenden Partei in reichshofrätlichen Angelegenheiten zu befördern. Stellvertretend sei ein Empfehlungsschreiben von Reichshofrat Binder angeführt.⁵⁴ Dieser unterstützte 1728 Agent Heunisch bei dessen Bemühungen, die Agentie des Schwäbischen Ritterkreises zu erlangen. Hierzu sandte er ein Schreiben an die Reichsritter und bat darum, Agent Heunisch zu bestallen und diesem die erforderliche Vollmacht zu übersenden. Er zweifle nicht – so Reichshofrat Binder am Ende seines Empfehlungsschreibens – an geneigter willfahrung, welche durch alle nur mögliche dienste einiger maßen zu erwiederen, ohnermangelen werde, zu dem Ende Dero fingerzeig abwarthe, worinnen solche angenehm seyn können, allermaßen ich mit besonderer application an den Tag zu legen, geflissen seyn werde, daß ich in aller Hochachtung seye.⁵⁵
Besonders die Aufforderung, ihm bei Gelegenheit einen fingerzeig zu geben, war für die Reichsritter eine höchst willkommene Einladung, die eigenen Anliegen und Interessen in Zukunft vor allem an Reichshofrat Binder heranzutragen.
51 Bernhard Streck: Geben und Nehmen. Oder die Korruption in den Tiefen der Menschheit, in: Kursbuch 120 (1995), S. 1–8. 52 GLAK Hegau, 123, Nr. 108, Anton Franz von Nicolai an Freiherr Johann von Bodman, 28. 09. 1690, unfol. (Empfehlungsschreiben für Agent Adam Ignatius Heunisch). 53 StadtAA, Reichshofratsakten, 5, Johann Heinrich von Berger an Magistrat der Reichsstadt Augsburg, 11. 05. 1729, unfol. (Empfehlungsschreiben für Agent Achatius von Klerff). 54 GLAK, Hegau, 123, Nr. 112, Johann von Binder an Kanton Donau, 04. 12. 1728, unfol. 55 Ebd.
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Die Prozessparteien hofften, durch die Berücksichtigung eines Empfehlungsschreibens beim betreffenden Reichshofrat ein allgemeines Gefühl der Verpflichtung erzeugen zu können. Damit war die Hoffnung verknüpft, bei Bedarf von diesem Reichshofrat unterstützt zu werden oder zumindest keinerlei Nachteile durch ihn befürchten zu müssen. Eine erste gute Gelegenheit, ein Anliegen an den jeweiligen Reichshofrat heranzutragen, bot bereits die Antwort auf dessen Empfehlungsschreiben: Die Partei teilte ihm mit, sie werde den empfohlenen Agenten engagieren und bat im Gegenzug um Unterstützung in einem anhängigen Prozess. Stellvertretend sei auf eine Empfehlung von Reichshofrat Franz Friedrich von Andlern verwiesen: Nachdem im Frühjahr 1678 der bisherige Agent der Zisterzienserabtei Schöntal verstorben war,⁵⁶ empfahl Reichshofrat Andlern dem Abt die Dienste von Agent Johann Theodor von Tollet.⁵⁷ Abt Franciscus war gewillt, den empfohlenen Agenten zu engagieren. Zugleich erkannte er die sich eröffnende Möglichkeit, Reichshofrat Andlern eine Gefälligkeit zu erweisen. Am 13. Juni 1678 unterrichtete er Andlern über die vollzogene Bestallung des empfohlenen Agenten und bat zugleich um Unterstützung in den Differenzen mit Kurmainz. Konkret hielt der Abt in seinem Schreiben fest: Allermassen bey heutiger ordinari [Post, T.D.] die gewohnliche Vollmacht H. von Tollet übersände, meinen Hochgeehrten H. anbey auch dienstl. ersuchendt, durch dessen bekannte hochvermögenheit mir undt meins gotteshaus bey dem hochpreyslichen ReichshofRath angebrachtes desiderium bey eraignender Vorfallenheit grossg. zu secundieren[.]⁵⁸
Abt Franciscus bemühte sich zu diesem Zeitpunkt, die (umstrittene) Reichsunmittelbarkeit seiner Abtei durch kaiserliche Privilegien bestätigen zu lassen.⁵⁹ Der Kurfürst von Mainz hingegen bestritt den reichsunmittelbaren Status der Abtei und betonte, diese sei Bestandteil des Mainzer Territoriums und unterstehe daher seinem Schutz. Die Erfolgsaussichten von Abt Franciscus, die gewünschten kaiserlichen Privilegien zu erhalten, waren dabei vor allem aus einem Grund denkbar schlecht: Die politisch-soziale Rangposition des Kurfürsten war in der 56 Es handelt sich um Dr. Johann Bernhard Hauser. 57 Siehe auch das Bewerbungsschreiben von Johann Theodor von Tollet an Vratislaw Metzger: Staatsarchiv Ludwigsburg (künftig: StAL), B 503 II, Bü 161, Johann Theodor von Tollet an Vratislaw Metzger, 05. 06. 1678, unfol. 58 StAL, B 503 II, Bü 161, Abt Franciscus von Schöntal an Franz Friedrich von Andlern, 13. 06. 1678 (Konzept), unfol. 59 Zu den Auseinandersetzungen zwischen den Äbten von Schöntal und den Kurfürsten von Mainz siehe Johannes Brümmer: Kunst und Herrschaftsanspruch. Abt Benedikt Knittel (1650–1732) und sein Wirken im Zisterzienserkloster Schöntal (Forschungen zu Württembergisch-Franken, Bd. 40). Sigmaringen 1994, S. 46–49. Brümmers Ausführungen zu Kaiser, Reich und Reichshofrat sind allerdings teilweise stark revisionsbedürftig.
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Auseinandersetzung stets sehr präsent, was zur Folge hatte, dass besonders die Catholische[n] HH Reichshofräthe nicht gern wider Maintz was thun wollten.⁶⁰ Vor diesem Hintergrund kam Abt Franciscus das Empfehlungsschreiben eines einflussreichen und erfahrenen Reichshofrats der Gelehrtenbank mehr als gelegen.⁶¹ Indem Abt Franciscus den protegierten Agenten engagierte, erwies er Reichshofrat Andlern eine Gefälligkeit, die – genau besehen – den Auftakt für weitergehende Bemühungen bildete. Als Reichshofrat Andlern beispielsweise im Mai des Folgejahres heiratete, ließ Abt Franciscus einen kunstvoll vergoldeten Silberbecher ankaufen.⁶² Die Übergabe dieser Verehrung oblag Agent Tollet, der die gute Gelegenheit ergriff und Reichshofrat Andlern auch die Confirmations sach nochmahlen recommendirt[e].⁶³ Allerdings darf nicht übersehen werden, dass Empfehlungsschreiben von Reichshofräten auch zu einem gravierenden Problem für reichsständische Prozessparteien werden konnten. Hierauf wird im letzten Teil des Beitrags einzugehen sein.
4 Empfehlungen, die man nicht ablehnen kann? Was nämlich tun, wenn ein Reichshofrat einen Agenten mit großem Nachdruck empfahl, die Prozesspartei diesen jedoch nicht einstellen wollte oder konnte? Viele Parteien empfanden es als ausnehmend heikel, einen mit Nachdruck empfohlenen Agenten abzulehnen. In derartigen Situationen ist zumeist eine diffuse Angst vor Nachteilen nachweisbar. Wollte eine Partei der Empfehlung eines Reichshofrats nicht entsprechen, ließ sich dies faktisch nur auf eine einzige Weise begründen: Im Antwortschreiben musste die Fiktion erzeugt werden, als ob die Entscheidung bereits getroffen worden war, als das Empfehlungsschreiben des Reichshofrats eintraf.⁶⁴ Die betreffende Partei beteuerte, sie hätte nichts lieber getan, als den empfohlenen Agenten zu engagieren, allerdings sei die Wiederbesetzung – be-
60 So die Einschätzung von Agent Tollet. StAL, B 503 II, Bü 161, Johann Theodor von Tollet an Vratislaw Metzger, 04. 05. 1679, unfol. 61 Andlern wurde am 23. November 1661 zum Reichshofrat ernannt. Zu Andlerns Vita siehe Oswald von Gschließer: Art. „Andlern, Franz Friedrich Freiherr von“, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 1: Aachen–Behaim. Berlin 1953, S. 273. 62 Siehe das Schreiben von Johann Theodor von Tollet an Vratislaw Metzger: StAL, B 503 II, Bü 161, Johann Theodor von Tollet an Vratislaw Metzger, 07. 05. 1679, unfol. 63 Ebd. 64 Zur Bedeutung von Fiktionen siehe v. a. Günther Ortmann: Als ob. Fiktionen und Organisationen. Wiesbaden 2004.
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dauerlicherweise! – bereits vollzogen gewesen.⁶⁵ Es soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass sich durchaus Fälle nachweisen lassen, in denen das Empfehlungsschreiben eines Reichshofrats tatsächlich zu spät eintraf. Der bereits erwähnte Reichshofrat Andlern sandte am 8. November 1679 ein Empfehlungsschreiben an Graf Heinrich Friedrich von Hohenlohe-Langenburg und bat, die vakant gewordene Agentenstelle mit Johann Franz von Bernhardi zu besetzen.⁶⁶ Als das Empfehlungsschreiben Mitte November in Langenburg eintraf, war die gräfliche Agentie jedoch bereits seit mehreren Wochen wieder besetzt.⁶⁷ Als noch größere Belastung wurde die Entscheidungssituation von Parteien wahrgenommen, wenn sich mehrere als einflussreich erachtete Reichshofräte mit Nachdruck für unterschiedliche Agenten einsetzten.⁶⁸ Bisweilen nahm eine Partei die Situation tatsächlich als unentscheidbar wahr, so dass sie letztlich entschied, nicht zwischen zwei Bewerbern zu entscheiden, sondern beide einstellte. Ein – trotz Lücken in der Überlieferung – anschaulicher Fall hierfür ist die Neubesetzung der Agentie von Herzog Johann Ernst von Sachsen-Saalfeld Ende des Jahres 1710. Im Dezember 1710 wurde durch den Tod von Johann Adam Diettrich die Agentie von Herzog Johann Ernst von Sachsen-Saalfeld vakant. Daraufhin bewarben sich der Sohn des Verstorbenen sowie drei Reichshofratsagenten um die Nachfolge. Der erst 23 Jahre alte Otto von Diettrich hatte zwar den Agenteneid noch nicht geleistet,⁶⁹ beteuerte jedoch, Kaiser Joseph I. habe ihm bereits das Jawort zur Rhsh Raths Agentie [. . . ] ertheilet.⁷⁰ Seine Bemühungen um die saalfeldische Agentie wurden zudem durch eine Empfehlung von Reichshofrat Heuwel unterstützt.⁷¹
65 Siehe exemplarisch StadtAA, Reichshofratsakten, 5, Magistrat der Reichsstadt Augsburg an Johann Heinrich von Berger, 02. 06. 1729 (Konzept), unfol. 66 FA Nst, La 30 Bü 801, Franz Friedrich von Andlern an Graf Heinrich Friedrich von Hohenlohe, 08. 11. 1679, unfol. 67 Die Agentie war seit 21. Oktober 1679 mit Matthias Ignatius Nipho besetzt. Siehe auch FA Nst, La 30 Bü 801, Matthias Ignatius Nipho an Graf Heinrich Friedrich von Hohenlohe, 15. 09. 1679, unfol. 68 André Krischer: Das Problem des Entscheidens in systematischer und historischer Perspektive, in: ders. / Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.): Herstellung und Darstellung von Entscheidungen. Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 44). Berlin 2010, S. 35–64, hier S. 36. 69 Otto von Diettrich an Joseph I., ps. 27. 12. 1710. ÖStA HHStA, RHR RK – Verfassungsakten, RHR 50, 2. Diettrichs Schreiben enthält einen Vermerk von Reichshofratsvizepräsident Karl Ludwig von Sinzendorff, der eine genaue Datierung der Eidesleistung ermöglicht: Admittatur ad Iuramentum 7. January 1711. Juratum 8. January 1711. 70 Staatsarchiv Coburg (künftig: StACo), LA B, 1706, Johann Otto von Diettrich an Johann Ernst von Sachsen-Saalfeld, 27. 12. 1710, unfol. 71 So StACo, LA B, 1706, Friedrich Wilhelm von Eisenberg an Herzog Johann Ernst von SachsenSaalfeld, undat. Postskript, unfol.
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Gleich drei Reichshofräte verfassten Empfehlungen für den erfahrenen Agenten Peter Friedrich von Klerff.⁷² Außerdem bemühten sich Johann Christoph Schlegel und Georg Ferdinand Maul um die Agentie, wobei die Bewerbung des Letzteren ebenfalls durch die Empfehlung eines Reichshofrats unterstützt wurde. In Anbetracht von vier Bewerbern sowie fünf Empfehlungsschreiben von Reichshofräten kommt der Einschätzung des sachsen-saalfeldischen Gesandten am Kaiserhof, Friedrich Wilhelm von Eisenberg, besondere Bedeutung zu. Wie beurteilte Eisenberg die Situation und wie gewichtete er die fünf Empfehlungsschreiben? In seinem an Herzog Johann Ernst adressierten Gutachten konstatierte Eisenberg: Meinen Pflichten nach zu votiren, so wäre wol dem Hn von Klerff das Praedicat Rath und Agent zu conferiren, als durch den mir am meisten getrauete, E. Hochfürstl. Durchl. hohes interesse, bevorab bey H. ReichshofRath Baron Kirchnern, beobachten laßen zu können, gestallt er sehr intrant, habil und fleißig ist. Den vom H. Referenten vorgeschlagenen [=Agent Maul, T.D.] aber, scheinet auch nicht rathsam zu praeteriren, dann es wird Jenem allzeit lieber seyn, wann die etwan aufzubringenden Sachen, durch einen von Ihm recommendirten und Ihm angehörigen, als durch einen andern, fürbracht werden, dahero Ihm die Agenten-bedienung wol auch mit zu geben, wie es dann öftern hier zu geschehen pflegt, daß eine Parthei 2 und 3 Agenten hält.⁷³
In Eisenbergs Wahrnehmung waren zwei Bewerber besonders geeignet für saalfeldische Dienste – jedoch aufgrund unterschiedlicher Bewertungskategorien. In Anbetracht von drei Empfehlungsschreiben bescheinigte Eisenberg Agent Klerff ein hohes Maß an Sozialkapital (sehr intrant). Auch Klerffs Fleiß und Geschicklichkeit machten ihn in Eisenbergs Augen zu einem geeigneten Agenten, und so sprach sich der Gesandte für dessen Bestallung aus. Bei der Einschätzung von Agent Maul spielten hingegen Fleiß und Geschicklichkeit keine Rolle. Eisenberg erachtete diesen für geeignet, weil er dem Referenten, welcher den Römhilder Erbstreit bearbeitete, angehörig war.⁷⁴ Es bestand somit eine klienteläre, auf Freundschaft oder Landsmannschaft basierende Verbindung zwischen dem Referenten und Agent Maul. Diese Verbindung wurde auch durch die Empfehlung des Referenten offenbar und ließ eine Ablehnung Mauls nicht ratsam erscheinen.
72 Die drei Empfehlungsschreiben zugunsten von Klerffs sind nicht überliefert, mittels mehrerer Gutachten ist jedoch eindeutig nachweisbar, dass drey eigen RhRäthe [. . . ] denselben recommandiret haben. Siehe StACo, LA B, 1703, Herzog Johann Ernst von Sachsen-Saalfeld an Hofrat Haff, 27. 08. 1712 (Konzept), unfol. 73 StACo, LA B, 1706, Friedrich Wilhelm von Eisenberg an Herzog Johann Ernst von Sachsen-Saalfeld, undat. Postskript, unfol. 74 Zum Erbstreit nach dem Tod von Herzog Heinrich von Römhild siehe Siegrid Westphal: Kaiserliche Rechtsprechung und herrschaftliche Stabilisierung. Reichsgerichtsbarkeit in den thüringischen Territorialstaaten 1648–1806 (QFHG, Bd. 43). Köln/Weimar/Wien 2002, S. 213–248.
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Wie die auf den 1. Januar 1711 datierten Bestallungsbriefe belegen, wurden sowohl Peter Friedrich von Klerff als auch Georg Ferdinand Maul als sachsen-saalfeldische Agenten bestallt.⁷⁵ Zu diesem Zeitpunkt befand sich der Prozess gegen Sachsen-Meiningen um die Römhildische Sukzession in einem fortgeschrittenen Stadium.⁷⁶ Herzog Johann Ernst und sein Gesandter Eisenberg wollten daher nicht riskieren, durch die Ablehnung von Agent Klerff bei drei Reichshofräten oder aber durch Ablehnung von Agent Maul beim Referenten des Prozesses möglicherweise in Misskredit zu geraten. Eine diffuse Angst vor Nachteilen ließ es ihnen geboten erscheinen, von der seit 1685 geübten Praxis abzuweichen und fortan nicht einen, sondern zwei Agenten zu bestallen.⁷⁷
Vier Thesen zum Schluss Am Ende des Beitrags sollen die Ausführungen thesenartig zusammengefasst werden: 1. Die Reichshofräte agierten in einem Spannungsfeld konkurrierender formaler und informeller Regeln. Sie waren einerseits Amtsinhaber und durch die formalen Regeln der Reichshofratsordnung zu strikter Neutralität und Unparteilichkeit verpflichtet. Andererseits waren sie jedoch auch Familienmitglieder oder Patrone. Es war folglich ihre soziale Pflicht, Verwandte, Klienten oder Landsleute zu unterstützen und zu begünstigen. Die informellen, gruppenbezogenen Regeln waren für Reichshofräte mindestens ebenso handlungsleitend wie die formalen Regeln der Reichshofratsordnung. 2. Die Prozessparteien hingegen hofften, durch die Berücksichtigung einer Empfehlung beim betreffenden Reichshofrat ein Gefühl der Gewogenheit bzw. Verpflichtung zu erzeugen. Die Bestallung eines protegierten Agenten bildete bisweilen den Auftakt für weitergehende Bemühungen der Parteien, die Gunst des betreffenden Reichshofrats zu gewinnen. 3. Umgekehrt war bei reichsständischen Prozessparteien die Sorge überaus groß, wenn sie ein ernstgemeintes Empfehlungsschreiben ablehnen mussten oder wollten. In der Wahrnehmung der Prozessparteien handelte es sich bei nachdrücklichen Empfehlungen von einflussreichen Reichshofräten tatsächlich um Empfehlungen, die man nicht ablehnen konnte. Diese Sorge der Parteien ist üb-
75 StACo, LA B, 1706, Bestallungsbriefe für Klerff und Maul, 01. 01. 1711 (Konzept), unfol. 76 Westphal: Kaiserliche Rechtsprechung und herrschaftliche Stabilisierung (wie Anm. 74), S. 216f. 77 StACo, LA B, 1703, Herzog Johann Ernst von Sachsen-Saalfeld an Hofrat von Haff, 27. 08. 1712 (Konzept), unfol.
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rigens höchst aufschlussreich: Sie rechneten augenscheinlich nicht damit, dass ihr Prozess von unparteiischen und unbeeinflussbaren Reichshofräten bearbeitet würde. 4. Die zahlreichen Empfehlungsschreiben von Reichshofräten für Reichshofratsagenten ermöglichen einen Blick auf die vielfältigen informellen Interaktionen, die sich auf den Hinterbühnen der Prozesse abspielten. Zugleich kann mittels dieser spezifischen Quellengattung die Verflechtung von Reichshofräten, Agenten und Parteien genauer bestimmt werden. Der Beitrag sollte somit verdeutlicht haben, dass sich neue Erkenntnisperspektiven auf den Reichshofrat eröffnen, wenn die Hinterbühnen der Prozesse in die Analyse miteinbezogen und konsequent ausgeleuchtet werden.
Carlo Steiner
Zivilrechtspraxis im 18. Jahrhundert Höchstrichterliche Prozesse vor den Berner Räten¹
1 Einleitung 1.1 Höchstgerichte in der Eidgenossenschaft Die alte Eidgenossenschaft war eine komplizierte Gemengelage unterschiedlicher Territorien, die auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlicher Intensität miteinander verbunden waren.² Die einzige gesamteidgenössische Institution war die Tagsatzung. Außer bei der Verwaltung der gemeinsamen Untertanengebiete hatte dieser Gesandtenkongress allerdings keine exekutiven Kompetenzen und auch keine höchstgerichtliche Funktion. Die Rechtsprechung war immer Sache der einzelnen Orte, und Konflikte zwischen den Orten wurden durch eidgenössische Vermittlung oder durch Schiedsgerichte beigelegt.³ Auch der Reichshofrat und das Reichskammergericht entfalteten auf dem Gebiet der Schweiz nur eine geringe Wirkung. Nach der Exemtion der Eidgenossenschaft von den Reichsgerichten im Jahr 1648 beschränkte sich deren Zuständigkeit auf die wenigen beim Reich verbliebenen Territorien.⁴ In der Stadt und Republik Bern, die in diesem Beitrag im Mittelpunkt stehen soll, bestand für Streitigkeiten in Zivilsachen ein vierstufiger Instanzenzug. Streitfragen konnten mittels Rekurs oder Appellation vom Gemeindegericht über das Amtsgericht vor die Appellationskammer und von dieser schließlich vor den Großen Rat gezogen werden, welcher als höchste Gewalt alle Rechtsfragen ab-
1 Im vorliegenden Text präsentiere ich einige Aspekte meines gleichnamigen Dissertationsprojektes. Dieses wurde im Rahmen des Forschungsschwerpunktes TeNOR (Text und Normativität) der Universität Luzern durch ein Forschungsstipendium des Schweizerischen Nationalfonds finanziert und wird durch Prof. Dr. André Holenstein (Universität Bern) und Prof. Dr. Michele Luminati (Universität Luzern) betreut. 2 Andreas Würgler: Eidgenossenschaft, in: Historisches Lexikon der Schweiz (künftig: HLS), Bd. 4. Basel 2005, S. 114–121. 3 Andreas Würgler: Die Tagsatzung der Eidgenossen. Politik, Kommunikation und Symbolik einer repräsentativen Institution im europäischen Kontext (1470–1798) (Frühneuzeit-Forschungen, Bd. 19). Epfendorf/Neckar 2013, S. 314–322. 4 Christian Hesse: Reichsgerichte, in: HLS, Bd. 10. Basel 2011, S. 197f.
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schließend beurteilte.⁵ Auch die sittengerichtlichen Prozesse, die sogenannten Consistorialsachen, konnten vom lokalen Chorgericht der Kirchgemeinde über das Oberchorgericht in der Hauptstadt bis vor den Großen Rat gezogen werden.⁶
1.2 Untersuchungsgegenstand Gegenstand meiner Untersuchung sind die im 18. Jahrhundert vor dem Großen Rat der Stadt und Republik Bern geführten höchstrichterlichen Prozesse in Zivilund Consistorialsachen. Die in diesen Prozessen verhandelten Streitgegenstände begrifflich auf einen Nenner zu bringen, ist schwierig. Inhaltlich decken sie zwar das ganze thematische Spektrum des modernen Zivilrechts ab, sie gehen gleichzeitig aber darüber hinaus, da auch herrschafts-, verfahrens- und verwaltungsrechtliche Streitfragen zahlreich vertreten sind. Gar nicht vertreten sind Fälle aus dem Bereich des Strafrechts – die ganze Masse der Prozesse könnte daher als „nicht strafrechtlich“ definiert werden. Entscheidend für die Umschreibung dieser Prozesse als zivilrechtlich ist aber deren Zustandekommen durch die zivilrechtliche Dispositionsmaxime. Das heißt, dass im Gegensatz zu strafrechtlichen Prozessen, bei denen die Justiz aus eigenem Verfolgungsinteresse aktiv wurde, immer die involvierten Akteure selber die richterliche Klärung ihrer Streitsache verlangten. Aufgrund der breiten thematischen Fächerung der Streitgegenstände und dem Umstand, dass die Akteure selber deren richterliche Klärung verlangten, erlaubt die Untersuchung dieser Prozesse einen von der Forschung bislang unberücksichtigten Zugang zur Gesellschaft des Ancien Régime. Sie ermöglicht einen Überblick über die sozio-ökonomischen Problemfelder des 18. Jahrhunderts und zeigt auf, wie die Obrigkeit mit den daraus erwachsenen Konflikten umging.
1.3 Forschungsstand und Quellenlage Während die älteren Forschungen zum Rechts- und Gerichtswesen in der Eidgenossenschaft vor allem normative Rechtsquellen berücksichtigten,⁷ beschäftigen sich die jüngeren Forschungen vermehrt auch mit Quellen, die aus der Rechtspraxis
5 René Pahud de Mortanges: Absicherung der Macht: die Justiz, in: André Holenstein (Hrsg.): Berns mächtige Zeit: Das 16. und 17. Jahrhundert neu entdeckt (Berner Zeiten, Bd. 3). Bern 2006, S. 47–55, hier S. 49. 6 Thomas Brodbeck: „Christliche Zucht“ durch die Chorgerichte. Die Alltagspraxis der Sittenzucht, in: Holenstein (Hrsg.): Berns mächtige Zeit (wie Anm. 5), S. 241–248, hier S. 242. 7 Vgl. Hermann Rennefahrt: Grundzüge der bernischen Rechtsgeschichte, 4 Bde. Bern 1928–1936.
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entstanden sind. Der Fokus dieser Forschungen liegt aber zumeist auf dem Bereich des Strafrechts und der Kriminalitätsgeschichte, während die Prozesse aus dem nicht strafrechtlichen Bereich weitgehend vernachlässigt werden.⁸ Die Ursache für diese Forschungslücke muss vor allem in der großen Masse dieser Prozesse gesehen werden, machten diese doch den größten Teil der vor Gericht verhandelten Konflikte aus.⁹ Im Gegensatz zum Reich liegen zu den Höchstgerichten im Raum der Eidgenossenschaft keine Untersuchungen vor. Trotz aller institutionellen Unterschiede zwischen der städtischen Ratsgerichtsbarkeit in Bern und dem Reichskammergericht sowie dem Reichshofrat bietet es sich an, die Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Reich als Forschungskontext für die eigene Untersuchung zu berücksichtigen. Vor allem die sozialgeschichtlichen Untersuchungen von Anette Baumann¹⁰ und Filippo Ranieri¹¹ müssen in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Denn die Berücksichtigung dieser Untersuchungen ermöglicht 8 Zu erwähnende Studien sind: Michael Blatter: Gericht als Angebot. Schriftgutverwaltung und Gerichtstätigkeit in der Klosterherrschaft Engelberg 1580–1622 (Clio Lucernensis, Bd. 10). Zürich 2012; Sibylle Hofer: Richten und Strafen: Die Justiz, in: André Holenstein (Hrsg.): Berns goldene Zeit: Das 18. Jahrhundert neu entdeckt (Berner Zeiten, Bd. 4). Bern 2008, S. 471–477; Maria Gfeller: Von Schulden und Verträgen. Das Zivilgericht Worb 1700–1846, in: Heinrich Richard Schmidt (Hrsg.): Worber Geschichte. Bern 2005, S. 334–347; Katja Hürlimann: Soziale Beziehungen im Dorf. Aspekte dörflicher Soziabilität in den Landvogteien Greifensee und Kyburg um 1500. Zürich 2000; Stefan von Below / Stefan Breit: Wald – von der Gottesgabe zum Privateigentum. Gerichtliche Konflikte zwischen Landesherrn und Untertanen um den Wald in der Frühen Neuzeit (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte, Bd. 43). Stuttgart 1998; Heinrich Richard Schmidt: Dorf und Religion: Reformierte Sittenzucht in Berner Landgemeinden in der Frühen Neuzeit (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte, Bd. 41). Stuttgart/Jena/New York 1995; Roland E. Hofer: „Üppiges, unzüchtiges Lebwesen“. Schaffhauser Ehegerichtsbarkeit von der Reformation bis zum Ende des Ancien Régime (1529–1798) (Geist und Werk der Zeiten, Bd. 82). Bern/Berlin 1993; Christian Simon: Untertanenverhalten und obrigkeitliche Moralpolitik. Studien zum Verhältnis zwischen Stadt und Land im ausgehenden 18. Jahrhundert am Beispiel Basels (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft, Bd. 145). Basel 1981. 9 Christine Schedensack: Nachbarn im Konflikt: Zur Entstehung und Beilegung von Rechtsstreitigkeiten um Haus und Hof im frühneuzeitlichen Münster (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Münster, Bd. 24). Münster 2007, S. 4. 10 Anette Baumann: Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung zum 17. und 18. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, künftig: QFHG, Bd. 36). Köln/Weimar/ Wien 2001. 11 Filippo Ranieri: Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert (QFHG, Bd. 17), 2 Bde. Köln/Wien 1985. Vgl. auch Christian Wieland: Bayerischer Adel und Reichskammergericht im 16. Jahrhundert: Quantifizierende Bemerkungen, in: Anette Baumann / Peter Oestmann / Stephan Wendehorst / Siegrid Westphal (Hrsg.): Prozesspraxis im Alten Reich. Annäherungen – Fallstudien – Statistiken (QFHG, Bd. 50). Köln/Weimar/Wien 2005, S. 91–118.
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aufgrund der ähnlichen Fragestellung und Konzeption einen Vergleich der Rechtspraxis bei höchstrichterlichen Prozessen im Reich mit jener in Bern. Die zentralen Quellen der eigenen Untersuchung sind die in den Berner Ratsmanualen festgehaltenen Urteile zu den höchstrichterlichen Zivilprozessen. Es wurde im Rahmen des Projekts die Hälfte der Ratsmanuale des 18. Jahrhunderts in Zweijahresschritten¹² bearbeitet. Insgesamt sind 1387 höchstrichterliche Urteile erfasst worden. Diese Urteile entsprechen im gesamten 18. Jahrhundert einem gleichen Schema: nach der Nennung der Parteien folgt eine kurze Schilderung des Streitgegenstandes, daran anschließend werden die Vorinstanzen mit dem Verhandlungsdatum aufgezählt und zum Schluss folgt das höchstrichterliche Urteil. Dieses Urteil beschränkt sich in der Regel auf die Feststellung, ob die Vorinstanzen jeweils wohl oder übel – so die gängige Formulierung¹³ – geurteilt hätten und ob daher das Urteil der letzten Vorinstanz wohl oder übel vor dem Rat angefochten wurde. Nur selten werden die Urteile auch begründet. Zu 362 höchstrichterlichen Verhandlungen sind zusätzlich gedruckte Prozessschriften überliefert. Diese haben einen Umfang von einigen wenigen bis zu mehreren hundert Seiten und wurden den Ratsherren zur Vorbereitung der Verhandlung ausgehändigt. Sie präsentieren ein detailliertes Bild des gesamten Prozesshergangs vom Einreichen der Klage bis zur Genehmigung des Rekurses vor die höchste Instanz und enthalten die Argumentationen der Parteien, das relevante Beweismaterial sowie die vorinstanzlichen Urteile.
1.4 Fragestellung und Methode Beim wissenschaftlichen Arbeiten mit Gerichtsquellen unterscheidet Gerd Schwerhoff zwei methodische Ansätze, die er anhand zweier idealtypischer Monographien als die Modelle „Ginzburg“¹⁴ und „Davis“¹⁵ bezeichnet. Arbeiten, die er dem ersten Modell zurechnet, versuchen anhand der Gerichtsquellen zu den Lebens- und Alltagswelten der vor Gericht auftretenden Akteure durchzudringen. Demgegenüber betonen Arbeiten, die er dem zweiten Modell zurechnet, dass Gerichtsquellen nicht als Selbstzeugnisse verstanden werden können. Sie beschränken sich daher auf
12 Ausgewertet wurden die Ratsmanuale der Jahre 1700/01, 1704/05, 1708/09 etc. bis 1797/98. 13 Diese Formulierung findet sich in allen 1387 untersuchten Urteilen. Vgl. Staatsarchiv des Kantons Bern (künftig: StAB), AII 825, Ratsmanual Nr. 309, 10. 03. 1758, S. 342. 14 Vgl. Carlo Ginzburg: Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600. Frankfurt a. M. 1983. 15 Vgl. Natalie Zemon Davis: Fiction in the Archives. Pardon Tales and their Tellers in SixteenthCentury France (The Harry Camp lectures at Stanford University). Stanford 1987.
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die Analyse der vor Gericht eingesetzten Darstellungsstrategien, welche wiederum Rückschlüsse auf die „gesellschaftliche ‚Wahrheit‘ der Epoche“ erlauben.¹⁶ Die außerordentlich günstige Quellenlage für die Stadt und Republik Bern durch die sich ergänzenden quantitativ und qualitativ auswertbaren Gerichtsquellen – die Urteile und die gedruckten Prozessschriften – erlaubt es, beide Herangehensweisen zu berücksichtigen.¹⁷ In einem ersten Teil der in Entstehung begriffenen Promotionsschrift¹⁸ soll in Anlehnung an das Modell „Ginzburg“ einer sozialhistorischen Fragestellung nachgegangen werden. Da in den untersuchten Prozessen immer die Parteien selber die richterliche Klärung ihrer Streitsache verlangten, drängt sich hier als Ausgangspunkt der Überlegungen das im Rahmen der historischen Kriminalitätsforschung entwickelte Konzept der Justiznutzung auf. Mit diesem Ansatz werden die Justiz und ihre Institutionen nicht mehr als Instrumente der Obrigkeit zur sozialen Kontrolle verstanden. Vielmehr rücken die Nutzer der Justiz, also die vor Gericht auftretenden Akteure, in den Mittelpunkt des Interesses. Die Justiz wird also als Angebot der Obrigkeit begriffen, welches die Akteure zur Beilegung von Konflikten unterschiedlich nutzten und durch diese Nutzung auch mitgestalteten.¹⁹ Mit einem solchen Ansatz stellt sich die Frage nach den vor Gericht auftretenden Akteuren und den verhandelten Streitgegenständen. Durch die statistische Auswertung der 1387 Prozesse sollen hier aber nicht die individuellen Lebens- und Alltagswelten der am Prozess beteiligten Akteure im Sinne einer Mikrogeschichte, sondern vielmehr die gesamtgesellschaftlichen Strukturen und Prozesse nachgezeichnet werden. Anhand der Fragestellung „wer verklagte wen und weshalb?“ sollen also die Konfliktfelder und Konfliktlinien in der Berner Gesellschaft des 18. Jahrhunderts herausgearbeitet werden. Indem in der Untersuchung nur die höchstrichterlichen Prozesse berücksichtigt werden, kann das Problem der unüberschaubaren Masse an zivilrechtlichen Prozessen aller gerichtlichen Ebenen umgangen werden. Gleichzeitig sind Aussagen zum ganzen bernischen Territorium für das gesamte 18. Jahrhundert möglich.
16 Gerd Schwerhoff : Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum. Zum Profil eines „verspäteten“ Forschungszweiges, in: Andreas Blauert / Gerd Schwerhoff (Hrsg.): Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven, Bd. 1). Konstanz 2000, S. 21–68, hier S. 29–31. Vgl. auch Gerd Schwerhoff : Historische Kriminalitätsforschung (Historische Einführungen, Bd. 9). Frankfurt a. M. 2011, S. 69. 17 Vgl. Joachim Eibach: Kriminalitätsgeschichte zwischen Sozialgeschichte und Historischer Kulturforschung, in: Historische Zeitschrift 263 (1996), S. 681–715, hier S. 709f. 18 Siehe hierzu Anm. 1. 19 Martin Dinges: Justiznutzungen als soziale Kontrolle in der Frühen Neuzeit, in: Blauert / Schwerhoff (Hrsg.): Kriminalitätsgeschichte (wie Anm. 16), S. 503–544, hier S. 503–511.
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Durch die Beschränkung auf die höchstrichterlichen Prozesse müssen hier aber auch Abstriche gemacht werden. Denn nicht alle Streitsachen konnten bis vor die höchste Instanz gelangen. So hätte sich bei kleineren Streitsummen der immense zeitliche und monetäre Aufwand einer Weiterziehung für die Akteure nicht gelohnt. Alltägliche Konflikte werden in dieser Untersuchung also nicht berücksichtigt. Beim Skizzieren der gesellschaftlichen Konfliktfelder und Konfliktlinien werden vielmehr die großen gesellschaftlichen Gräben und Verwerfungen, nicht aber die feinen Risse nachgezeichnet. Neben der Nutzung der Justiz durch die verschiedenen Akteure soll auch die Angebotsseite der Justiz mit einem quantitativen Ansatz analysiert werden. Hier stellt sich die Frage nach den Versuchen der Obrigkeit, die Nutzung der Justiz zu steuern. Dies erfolgte sowohl durch die Förderung von außergerichtlichen Formen der Konfliktlösung als auch durch die Erhöhung der mit den Prozessen verbundenen Kosten.²⁰ Die Berner Obrigkeit versuchte auch mit weiteren, sehr unterschiedlichen Maßnahmen – prinzipielle Schriftlichkeit aller Eingaben, Setzung von Fristen für alle Prozesshandlungen der Parteien, Verpflichtung der Richter, vor Eröffnung des Verfahrens einen Ausgleich zwischen den Parteien zu suchen – die Zahl der höchstrichterlichen Prozesse zu vermindern und die Räte zu entlasten.²¹ Zu fragen ist hierbei, ob diese Maßnahmen erfolgreich waren und zu einer Stagnation oder gar einem Rückgang der höchstrichterlichen Prozesse führten. Daneben werden die Urteile der Räte statistisch untersucht. Da in den Quellen nicht nur die höchstrichterlichen Urteile festgehalten sind, sondern immer auch erwähnt wird, ob die Vorinstanzen wohl oder übel geurteilt haben, soll insbesondere der Frage nachgegangen werden, zu wessen Gunsten die höchstrichterlichen Urteile ausfielen und ob die unteren Instanzen tendenziell anders urteilten. Diese Frage ist dann von besonderem Interesse, wenn zwischen den vor Gericht auftretenden Akteuren ein asymmetrisches Kräfteverhältnis bestand – etwa wenn Einzelpersonen gegen ihre Gemeinde klagten oder wenn die Obrigkeit selbst als klagende oder beklagte Partei in einem Rechtsstreit auftrat. Die Frage nach Tendenzen in der Rechtsprechung ist wiederum bedeutend für die Analyse der Nachfrageseite. Denn wenn es klare Tendenzen gab, ist anzunehmen, dass die Akteure – oder zumindest ihre professionellen Rechtsbeistände – darum wussten. Sie hätten also die Erfolgsaussichten einer Klage abschätzen können, was wiederum die Entscheidung, ob man sich zur Lösung eines Konfliktes des obrigkeitlichen Justizangebotes
20 Dinges: Justiznutzungen als soziale Kontrolle (wie Anm. 19), S. 514. 21 Hofer: Richten und Strafen (wie Anm. 8), S. 476.
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bedient oder nicht, beeinflussen konnte.²² Aber nicht nur die Erfolgsaussichten, sondern auch die erwartete Dauer eines Prozesses sowie die damit verbundenen Kosten und deren Verhältnis zum Streitwert hatten einen großen Einfluss auf die Entscheidung der Akteure für oder gegen eine Nutzung des obrigkeitlichen Justizangebotes. Da sich in den Quellen nur selten Angaben zum Streitwert und den effektiven Prozesskosten finden, lässt sich diese Frage nur punktuell, nicht aber statistisch beantworten.²³ Hinsichtlich der Verfahrensdauer jedoch lassen sich stichhaltige Daten ermitteln, da die Quellen durchgängige Datumsangaben bei allen aufgezählten vorinstanzlichen Verhandlungen enthalten und somit eine hervorragende Datengrundlage für die Untersuchung der durchschnittlichen Prozessdauer vorhanden ist. Im zweiten Teil der Untersuchung soll in Anlehnung an das Modell „Davis“ nach den Argumentationsmustern und Strategien gefragt werden, welche die Akteure vor Gericht einsetzten, um zu ihrem Recht zu gelangen. Hier gilt es zu berücksichtigen, dass Quellen, die im außergewöhnlichen Handlungskontext eines Gerichtsverfahrens entstanden sind, die dahinter liegende gesellschaftliche „Wirklichkeit“ nur unzureichend und verzerrt abbilden. Denn einerseits stand den Aussagen der Akteure und der von ihnen getroffenen Auswahl des vorgelegten Beweismaterials stets das strategische Anliegen zugrunde, sich selbst vor Gericht möglichst positiv und das vertretene Anliegen als rechtlich begründet darzustellen. Anderseits muss auch der Prozess der Verschriftlichung berücksichtigt werden.²⁴ Die zentrale Quelle für die qualitative Analyse der Prozesspraxis sind nicht die in den Ratsmanualen festgehaltenen knappen Urteile, sondern die ausführlichen, gedruckten Prozessschriften. Diese sind aber stark normiert, wurden sie doch von professionellen Rechtsbeiständen verfasst, von amtlicher Stelle korrigiert und autorisiert und schließlich von einem hochobrigkeitliche[n] Buchdrucker²⁵ gedruckt. Die Frage nach den Argumentationsmustern und der Beweisführung zielt also nicht auf das Rechtsverständnis und die Werthaltungen der vor Gericht auftretenden Akteure, sondern auf den von ihnen vermuteten Erwartungshorizont und das Selbstverständnis der Adressaten – der Ratsherren.²⁶ Die Analyse der Argumentationen und der Beweisführungen der Akteure sowie der wenigen erhaltenen Urteilsbegründungen der Räte erlaubt somit Rückschlüsse auf das Rechtsverständ-
22 Vgl. Dinges: Justiznutzungen als soziale Kontrolle (wie Anm. 19), S. 517f. 23 Zu den Schwierigkeiten bei der Berechnung des Streitwertes vgl. Baumann: Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit (wie Anm. 10), S. 102–104. 24 Schwerhoff : Historische Kriminalitätsforschung (wie Anm. 16), S. 65–69. 25 Universitätsbibliothek Bern UB/ZB HXXII 3a, S. 1. Gedruckte Prozessschrift zur höchstrichterlichen Verhandlung Sterchi/Blatter vs. Wenger/Hänni vom 23. 01. 1795. 26 Schwerhoff : Historische Kriminalitätsforschung (wie Anm. 16), S. 69.
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nis der Berner Obrigkeit, wobei vor allem das Verhältnis von altem Herkommen und gesetztem Recht sowie von Schriftlichkeit und Mündlichkeit in der Rechtspraxis des 18. Jahrhunderts interessiert. Bei den vor Gericht verfolgten Strategien und der Formulierung der Eingaben kam den professionellen Rechtsbeiständen eine zentrale Rolle zu, kannten sie doch den Erwartungshorizont der Räte am besten. Ihrem Einfluss auf die Strategien und Argumentationsmuster der Akteure bei den höchstrichterlichen Verhandlungen soll deshalb gezielt nachgegangen werden, indem diese mit den Verhandlungen vor den unteren Instanzen verglichen werden, wo die Akteure ohne professionellen Rechtsbeistand ihr Anliegen verfochten. Hier stellt sich die Frage nach dem Einfluss des römischen Rechts auf die bernische Rechtspraxis im 18. Jahrhundert.
1.5 Kategorisierung der Streitgegenstände Bei der seriellen Arbeit mit Gerichtsquellen kommt der Kategorisierung der Streitgegenstände oder Delikte eine zentrale Rolle zu. Hierbei findet sich in der Literatur eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze,²⁷ deren Übertragung auf den Berner Quellenbestand mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden ist. So beschäftigt sich die historische Kriminalitätsforschung vornehmlich mit Fällen aus dem Bereich des Strafrechts, welcher in den hier behandelten Quellen gar nicht vertreten ist, während andere Forschungen – etwa zu Nachbarschafts- oder Nutzungskonflikten – nur einen Teilbereich der für Bern untersuchten Prozesse betreffen. Hat eine Untersuchung hingegen nicht einen spezifischen Rechtsbereich, sondern die ganze Tätigkeit eines Gerichts – etwa die Chorgerichte oder das Reichskammergericht – zum Gegenstand, können die Kategorisierungen aufgrund der unterschiedlichen gerichtlichen Zuständigkeiten nicht oder nur bedingt übertragen werden.²⁸ Es ist daher erforderlich, mit einer individuellen Kategorisierung zu arbeiten. Deutlich ist dabei, dass vor den Räten – abgesehen von einigen „Exoten“²⁹ – immer
27 Dies führte zwar „für die einzelnen Untersuchungen zu einer gewissen Konsistenz und interessanten Ergebnissen“, welche „allerdings auf Kosten der Vergleichbarkeit gehen“: Hürlimann: Soziale Beziehungen im Dorf (wie Anm. 8), S. 70. Vgl. auch Schwerhoff : Historische Kriminalitätsforschung (wie Anm. 16), S. 63f. 28 Deshalb kann in dieser Untersuchung die Kategorisierung von Ranieri: Recht und Gesellschaft (wie Anm. 11) nicht übernommen werden. 29 So stritt man sich z. B. 1773 in der Gemeinde Chappelle-sur-Moudon über die Frage, ob die neue Kirchenglocke nur zum Gebet oder auch zu den Gemeindeversammlungen läuten dürfe (StAB, AII 902, Ratsmanual Nr. 386, 11. 02. 1773, S. 230–232), oder die beiden Wächter des Schlosses Lenzburg stritten sich 1757, wer von beiden der Ältere sei, da diesem die Dienstwohnung im Schloss zustand (StAB, AII 824, Ratsmanual Nr. 238, 27. 12. 1757, S. 221f.).
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wieder die gleichen Fragen verhandelt wurden. Davon ausgehend lassen sich insgesamt 20 Kategorien unterscheiden.³⁰ In vielen Prozessen wurden allerdings mehrere Streitfragen gleichzeitig verhandelt, die nicht unbedingt der gleichen Kategorie zuzurechnen sind. Deshalb sollen nicht die Prozesse, sondern die verhandelten Streitfragen beziehungsweise die hinter den Prozessen stehenden Konflikte die zentrale Einheit der statistischen Auswertung sein. Ein Prozess kann daher gleichzeitig verschiedenen Konfliktkategorien zugeordnet werden. Aus Gründen der Übersichtlichkeit werden für die Auswertung und Interpretation der Daten die 20 Kategorien schließlich zu vier größeren Gruppen³¹ zusammengefasst. Diese Gruppen und Kategorien werden im Folgenden näher vorgestellt, wobei kleinere Kategorien – wie etwa die Konflikte um Bewilligungen zum Hausbau oder um die Gütertrennung nach einer Ehescheidung – aus Platzgründen weggelassen werden. Die vier Gruppen und ihre Kategorien bilden ein breites Spektrum an Konflikten ab, denen aber häufig die gleichen Ursachen zugrunde liegen. Um Wiederholungen zu vermeiden, werden deshalb in einem ersten Schritt nur die Resultate der statistischen Auswertung präsentiert und die gewonnenen Daten schließlich im letzten Kapitel zusammenfassend interpretiert.
2 Die gesellschaftlichen Konfliktfelder und Konfliktlinien 2.1 Konflikte um kollektive Ressourcen In Anlehnung an die Ausführungen von Elinor Ostrom zu den Allmenderessourcen³² können drei Kategorien als Konflikte um kollektive Ressourcen verstanden
30 Die 20 Konfliktkategorien sind: Nutzung der Gemeindegüter, Verwaltung der Gemeindegüter, Heimatrecht, Ausüben eines Gewerbes, Abgaben an die Obrigkeit und die Gemeinden, obrigkeitliche Konfiskationen, Amtsführung von Landvögten, Bewilligungen zum Hausbau, Anerkennung der Vaterschaft, Ehescheidung, Ehetrennung, Einlösung des Eheversprechens, Auflösung des Eheversprechens, Gütertrennung nach einer Scheidung, Alimentation nach einer Scheidung, Bevogtung, Bezug von Abgaben, vermögensrechtliche Konflikte, erbrechtliche Konflikte und verfahrensrechtliche Konflikte. 31 Die vier Gruppen sind: Konflikte um kollektive Ressourcen, Konflikte mit der Obrigkeit und den Gemeinden, familienrechtliche Konflikte und Konflikte um private Ressourcen. 32 Vgl. Elinor Ostrom: Die Verfassung der Allmende. Jenseits von Staat und Markt (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften, Bd. 104). Tübingen 1999.
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werden: Konflikte um das Heimatrecht einer Gemeinde, Nutzungskonflikte und Konflikte aus dem gewerblichen Bereich. Das Heimatrecht war das zentrale Kriterium für die soziale Positionierung innerhalb der ständischen Gesellschaft.³³ Wer ohne das entsprechende Heimatrecht in einer Gemeinde lebte, war ein sogenannter Hintersasse und in der Regel gegenüber den Ortsbürgern in vielen Belangen benachteiligt. Hintersassen mussten bei der Wohnsitznahme in der Gemeinde ein Einzugsgeld und fortan eine jährliche Steuer, das Hintersassengeld, bezahlen. Sie waren von der politischen Partizipation an der Gemeindeversammlung ausgeschlossen und konnten nicht an der Nutzung der Gemeindegüter teilhaben.³⁴ Zudem hatten sie im Armutsfall keinen Anspruch auf die aus dem Gemeindevermögen finanzierte Armenfürsorge; waren Hintersassen auf die Armenfürsorge angewiesen, verwies man sie an ihre Heimatgemeinde.³⁵ Die Hintersassen waren deshalb bestrebt, in das Heimatrecht ihres Wohnortes aufgenommen zu werden, während gleichzeitig die Gemeinden versuchten, Neuaufnahmen zu verhindern, um so den Kreis der Nutzungsberechtigten möglichst klein zu halten. Das Heimatrecht der Gemeinden entsprach dabei in der Stadt Bern dem Zunftrecht der städtischen Zünfte, da diese für die Armenfürsorge ihrer Mitglieder verantwortlich waren.³⁶ In zwei Drittel der Konflikte um das Heimatrecht stritten sich ein Einzelner oder eine Familie mit einer Korporation – also mit einer Gemeinde, Landschaft oder einer städtischen Zunft – um die Aufnahme in das Heimat-, Land- oder Zunftrecht. In einem Drittel dieser Konflikte stritten sich zwei Korporationen untereinander, wer eine bestimmte Person oder Familie aufzunehmen habe. Unter den insgesamt 83 Konflikten um das Heimatrecht gibt es nur einen Fall, bei dem die Interessenlage eine andere war: Die Landschaften Saanen und Interlaken stritten sich 1702 um das Heimat- und Wohnrecht der begüterten Waisentöchter des in beiden Landschaften heimatberechtigten Schneiders Jsac Grüniger. Der Konflikt wurde schließlich mit einem Kompromiss beigelegt – beide Landschaften durften bis zur Volljährigkeit und Heirat der beiden Töchter einen Teil des Vermögens verwalten.³⁷ Die Konflikte um das Heimatrecht zeigen im Verlauf des 18. Jahrhunderts signifikante Veränderungen. Nachdem in den ersten drei Jahrzehnten nur wenige Konflikte um das Heimatrecht bis vor die Räte gezogen wurden, folgt zur Jahrhun-
33 Daniel Schläppi: Das Heimat- und Burgerrecht – Instrument der Aus- und Abgrenzung, in: Holenstein (Hrsg.): Berns goldene Zeit (wie Anm. 8), S. 211–213. 34 André Holenstein: Hintersassen, in: HLS, Bd. 6. Basel 2007, S. 367f. 35 Erika Flückiger Strebel: Armut und Armenfürsorge, in: Holenstein (Hrsg.): Berns mächtige Zeit (wie Anm. 5), S. 491–493. 36 Schläppi: Das Heimat- und Burgerrecht (wie Anm. 33), S. 212. 37 StAB, AII 593, Ratsmanual Nr. 7, 22. 04. 1702, S. 568–570.
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dertmitte ein sprunghafter Anstieg dieser Prozesse. In den 1740er Jahren, auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung, wurden mit 30 Prozessen sieben Mal mehr Prozesse um das Heimatrecht vor den Räten geführt als in den 1710er und 1720er Jahren. Nachdem die Konflikte um das Heimatrecht zu Beginn der zweiten Jahrhunderthälfte wieder auf das Niveau der ersten drei Jahrzehnte fielen, stiegen sie in den 1770er Jahren nochmals markant auf knapp 20 Prozesse an. In den 1780er Jahren wurden wieder fast keine Prozesse um das Heimatrecht bis vor die Räte gezogen, im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts zeigt sich aber wieder ein deutlicher Anstieg dieser Konflikte. Eng verwandt mit den Konflikten um das Heimatrecht einer Gemeinde sind die Konflikte um die Nutzung der Gemeindegüter. Streitgegenstand waren hier meistens die kollektiven Ressourcen Wald, Wasser und Weideland, seltener Wege und Plätze. Konflikte um Nutzungsrechte werden in der Literatur auch als Konflikte mit der Obrigkeit beschrieben.³⁸ Entscheidend für diese Zuordnung ist die häufig asymmetrische Parteienkonstellation. Denn in der Regel standen sich vor Gericht Einzelpersonen und ihre Gemeinde oder Gemeinden und die Obrigkeit gegenüber. Nutzungskonflikte mit symmetrischer Parteienkonstellation, also wenn sich vor Gericht Einzelpersonen oder Gemeinden untereinander um die Nutzung kollektiver Ressourcen stritten, bleiben bei dieser Zuordnung allerdings unberücksichtigt. Konflikte um die Nutzung kollektiver Ressourcen sollen deshalb in dieser Untersuchung unabhängig von der Parteienkonstellation als eigenständige Kategorie untersucht werden. Für eine Typologie der doch sehr heterogenen Nutzungskonflikte schlägt Andreas Ineichen die Unterscheidung nach deren Trägern vor: erstens Nutzungskonflikte zwischen Untertanen und der Herrschaft, zweitens Nutzungskonflikte zwischen benachbarten Siedlungsverbänden, drittens Nutzungskonflikte zwischen unterschiedlichen Gruppen eines Siedlungsverbandes und viertens Nutzungskonflikte zwischen externen Nutzern und den Bewohnern eines Siedlungsverbandes.³⁹ Die Übertragung dieser Typologie auf die vor den Räten geführten Prozesse um Nutzungsrechte zeigt ein eindeutiges Bild: Während sich in nur drei Fällen Untertanen und die Obrigkeit gegenüberstanden, wobei es immer um den Bezug von Brennholz ging, fanden zwei Drittel aller Nutzungskonflikte zwischen unterschiedlichen Gruppen eines Siedlungsverbandes statt. Bei der Hälfte dieser Nutzungskonflikte standen sich nicht näher
38 Vgl. Andreas Würgler: Bitten und Aufbegehren. Proteste wider die Obrigkeit, in: Holenstein (Hrsg.): Berns goldene Zeit (wie Anm. 8), S. 441; von Below/Breit: Wald – von der Gottesgabe zum Privateigentum (wie Anm. 8). 39 Andreas Ineichen: Nutzungskonflikte, in: HLS, Bd. 9. Basel 2010, S. 301f.
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bestimmbare Einzelpersonen und ihre Gemeinde, in 30 Prozent Tauner⁴⁰ und ihre Gemeinde und in zwölf Prozent Hintersassen und ihre Gemeinde gegenüber. In acht Prozent der Nutzungskonflikte innerhalb eines Siedlungsverbandes stritten sich Bauern und Gewerbetreibende – meistens Müller – um die Wassernutzung. Die mit 15 Prozent der Nutzungskonflikte zweitgrößte Gruppe in dieser nach den Konfliktträgern definierten Typologie bilden die Nutzungskonflikte zwischen verschiedenen Siedlungsverbänden, wobei sich zumeist zwei Gemeinden um die Nutzung von Alpwiesen oder Wäldern stritten. Nutzungskonflikte zwischen Angehörigen eines Siedlungsverbandes und externen Nutzern machen knapp zehn Prozent aller Nutzungskonflikte aus, wobei sich meistens Bauern und Gewerbetreibende um die Wassernutzung stritten. Bei zehn Prozent aller Nutzungskonflikte können die Konfliktträger nicht zugeordnet werden. Die Typologie von Ineichen muss aber zwingend um eine weitere Typologie ergänzt werden. Es stellt sich nämlich die Frage nach den umstrittenen Ressourcen. Mit 39 Prozent aller Nutzungskonflikte war der Wald die umstrittenste Ressource, gefolgt vom Weideland mit 22 Prozent und dem Wasser mit 17,5 Prozent. Deutlich abgeschlagen liegen die Konflikte um Feldrechte sowie um Weg- und Platzrechte mit je knapp sieben Prozent. Die herausragende Stellung der Konflikte um den Wald erstaunt wenig, unterlag doch diese „Zentralressource der vor- und frühindustriellen Zeit“⁴¹ in der Spätphase des Ancien Régime einem zunehmenden Nutzungsdruck, was auch ein erhöhtes Konfliktpotential zur Folge hatte. Die Nutzungskonflikte zeigen im Verlauf des 18. Jahrhunderts die gleichen signifikanten Veränderungen wie die Konflikte um das Heimatrecht. Nachdem in den drei ersten Jahrzehnten nur vereinzelt Konflikte um die Nutzung kollektiver Ressourcen vor den Räten verhandelt wurden, stiegen diese Prozesse in den 1730er Jahren markant an und verharrten für drei Jahrzehnte auf diesem hohen Niveau von knapp 20 Prozessen pro Jahrzehnt. Auf einen leichten Rückgang in den 1760er Jahren auf zehn Prozesse folgte eine weitere markante Zunahme in den 1770er Jahren auf über 20 Prozesse. In den zwei letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts scheinen die Konflikte um die Nutzung der Gemeindegüter etwas an Brisanz verloren zu haben – die Nutzungskonflikte verharrten auf dem Niveau der 1760er Jahre. Die Spitzenwerte der Konflikte um
40 Tauner waren die landarmen Angehörigen der Dorfbevölkerung, welche für die Selbstversorgung zu wenig Land besaßen und deshalb auf zusätzliches Einkommen aus Tagelöhnerei angewiesen waren: Niklaus Landolt: Tauner, in: HLS, Bd. 12. Basel 2013, S. 212f. 41 Von Below/Breit: Wald – von der Gottesgabe zum Privateigentum (wie Anm. 8), S. 55f.
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das Bürgerrecht und um die Nutzung der Gemeindegüter in den 1740er und 1770er Jahren müssen in Zusammenhang mit der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung gesehen werden. In beiden Jahrzehnten verschärften durch schlechtes Wetter ausgelöste Teuerungskrisen die ohnehin angespannte wirtschaftliche Lage,⁴² was den Druck auf die Ressourcen des Weidelandes und des Waldes markant erhöhte. Dass die Konflikte aus dem gewerblichen Bereich den Konflikten um kollektive Ressourcen zugeordnet werden, mag auf den ersten Blick erstaunen. Versteht man aber die Märkte für bestimmte Güter und Dienstleistungen als kollektive Ressourcen, die von den entsprechenden Korporationen, also den Meisterschaften und Zünften, verwaltet und von den Gewerbetreibenden genutzt wurden,⁴³ und betrachtet man gleichzeitig die Parteienkonstellation sowie die verhandelten Streitfragen genauer, ist diese Zuordnung der gewerblichen Konflikte zu den Konflikten um kollektive Ressourcen notwendig. Bei diesen Konflikten standen sich immer Einzelpersonen, die ein Gewerbe betreiben wollten, und die entsprechende Korporation, welche dies zu verhindern versuchte, gegenüber. In drei Viertel dieser Konflikte wurde die Frage verhandelt, ob eine bestimmte Person das Recht habe, in einem bestimmten Gebiet ihr Gewerbe zu betreiben – ob sie also an der kollektiven Ressource des lokalen Marktes partizipieren dürfe. Und in einem Viertel dieser Konflikte wurden Voraussetzungen zur Teilnahme am Markt – meistens die Aufnahme in eine bestimmte Meisterschaft oder Zunft – verhandelt. Die insgesamt 85 Konflikte dieser Kategorie verteilen sich auf 24 verschiedene Gewerbe, wobei über die Hälfte der Konflikte auf nur fünf verschiedene Gewerbe fallen. Dies sind die Wirte mit 17,5 Prozent, die Schmiede mit 13 Prozent, die Metzger mit acht Prozent und die Bäcker und Müller mit je sieben Prozent. So wie die Konflikte um das Bürgerrecht und um die Nutzung der Gemeindegüter nahm auch die Zahl der gewerblichen Konflikte in den 1740er Jahren markant zu. Im Gegensatz zu ersteren zeigt sich aber bei den gewerblichen Konflikten keine Entspannung in den 1750er und 1760er Jahren. Die gewerblichen Konflikte verharrten – abgesehen von einem markanten Einbruch in den 1780er Jahren – in der zweiten Jahrhunderthälfte auf diesem hohen Niveau von etwa 15 Prozessen pro Jahrzehnt.
42 Christian Pfister: Klimageschichte der Schweiz 1525–1860. Das Klima der Schweiz von 1525–1860 und seine Bedeutung in der Geschichte von Bevölkerung und Landwirtschaft (Academica Helvetica, Bd. 6), 2 Bde. Bern 1984, hier Bd. 2, S. 116–119. 43 Vgl. dazu die Definition von Allmenderessourcen bei Ostrom: Die Verfassung der Allmende (wie Anm. 32), S. 38–42.
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2.2 Konflikte mit der Obrigkeit und den Gemeinden In Anlehnung an die Forschungen zum bäuerlichen Widerstand und zu den Unruhen und Revolten in der Frühen Neuzeit⁴⁴ sollen die verschiedenen Konflikte mit der Obrigkeit und mit den Gemeinden als eigenständige Konfliktgruppe analysiert werden. Die in dieser Gruppe zusammengefassten Konflikte entzündeten sich zumeist an den zu entrichtenden Abgaben oder an den zu leistenden Diensten. Seltener gab die obrigkeitliche Konfiskation von Handelsgütern Anlass zu Konflikten. Die Parteienkonstellation war in diesen Prozessen immer asymmetrisch. Neben der eigentlichen Obrigkeit – meistens in Form ihrer Vertreter vor Ort, den Landvögten – traten in diesen Prozessen auch andere Inhaber von Herrschaftsrechten wie Städte, Gemeinden, Klöster oder Inhaber privater Herrschaften, sogenannte Twingherren, als Parteien auf. Die mit Abstand größte Kategorie bei den Konflikten mit der Obrigkeit bilden mit 59 Prozent die Streitfragen um Abgaben. Am häufigsten gaben dabei mit 20 Prozent das Hintersassen- und Einzugsgeld Anlass zu Konflikten, gefolgt vom Zehnt und den verschiedensten Frondiensten mit je 19 Prozent. Seltener waren der Ehrschatz⁴⁵ mit zehn Prozent, die Vogt- und Lehenzinsen mit je sechs Prozent und schließlich die bei Bedarf erhobenen Armensteuern mit fünf Prozent Gegenstand von Konflikten. Bezieht man die Träger der Konflikte in die Auswertung ein, kann zwischen Konflikten um Abgaben an die Gemeinde und Konflikten um Abgaben an die Obrigkeit und an andere Herrschaftsträger unterschieden werden. Streitgegenstand bei den Konflikten um Abgaben an die Gemeinde waren neben dem Hintersassenund Einzugsgeld und den Armensteuern meistens Frondienste beim Straßenbau und dem Unterhalt von Flussschwellen, seltener die Holzfuhren. Drei Viertel der Konflikte um zu erbringende Dienste wurden innerhalb der Gemeinden ausgetragen und nur in einem Viertel stritten sich zwei Gemeinden untereinander oder eine Gemeinde mit der Obrigkeit um solche Leistungen. Insgesamt fanden 47 Prozent der Konflikte um Abgaben auf der Gemeindeebene statt und in 53 Prozent dieser Konflikte stritten sich Einzelne oder Gemeinden mit der Obrigkeit oder anderen
44 Vgl. Andreas Würgler: Unruhen und Öffentlichkeit. Städtische und ländliche Protestbewegungen im 18. Jahrhundert. Tübingen 1995; Peter Blickle: Unruhen in der ständischen Gesellschaft (Frühneuzeit-Forschungen, Bd. 1). München 1988; Winfried Schulze: Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der Frühen Neuzeit (Neuzeit im Aufbau, Bd. 6). Stuttgart-Bad Cannstatt 1980. 45 Beim Ehrschatz handelte es sich um eine Handänderungsgebühr, die bei der Besitzübertragung von unbeweglichen Gütern außerhalb der rechtmäßigen Erbfolge an den Lehensherrn zu entrichten war: Barbara Roth: Ehrschatz, in: HLS, Bd. 4. Basel 2005, S. 106.
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Herrschaftsträgern. In den drei ersten Jahrzehnten wurden vor den Räten nur selten Prozesse um Abgaben geführt. Ab den 1730er Jahren stieg jedoch deren Zahl massiv bis auf 27 Prozesse in den 1750er Jahren an. Anschließend ging zwar deren Zahl wieder zurück, mit durchschnittlich 15 Prozessen pro Jahrzehnt wurden aber immer noch deutlich mehr dieser Konflikte vor den Räten verhandelt als in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts. Die Konflikte um Konfiskationen bilden mit 27 Prozent die zweitgrößte Kategorie der Konflikte mit der Obrigkeit. Diese Konflikte müssen im Zusammenhang mit der in der zweiten Jahrhunderthälfte intensivierten obrigkeitlichen Wirtschaftspolitik und Handelsgesetzgebung gesehen werden.⁴⁶ Streitgegenstand waren immer Handelswaren – meistens Vieh, aber auch Getreide, Wein, Tabak, Spirituosen oder Textilien –, welche vom zuständigen Landvogt aufgrund von Unregelmäßigkeiten wie falscher Deklaration oder fehlender Verzollung konfisziert und nun vom Händler zurückgefordert wurden. Während in der ersten Jahrhunderthälfte nur vereinzelt Prozesse um konfiszierte Handelswaren vor den Räten geführt wurden, stieg deren Zahl in der zweiten Jahrhunderthälfte kontinuierlich bis auf über 20 Prozesse in den 1790er Jahren an.
2.3 Familienrechtliche Konflikte Das Familienrecht umfasst nach modernem Rechtsverständnis den Bereich der Ehe, das Güterrecht, das Kindesverhältnis, also die rechtliche Beziehung zwischen Eltern und Kind, sowie die Vormundschaft.⁴⁷ Mit Ausnahme der Fragen zur Vormundschaft und zum Güterrecht wurden diese Materien im 18. Jahrhundert von den Chorgerichten beurteilt und als Consistorialsachen bezeichnet. Da diese Materien schon im zeitgenössischen Rechtsverständnis weitestgehend als Einheit begriffen wurden, empfiehlt es sich, diese unter Einbezug der Vormundschaftsprozesse und der Fragen zum Güterrecht als eigenständige Gruppe unter dem modernen Begriff Familienrecht beizubehalten.⁴⁸ Bei 44 Prozent der familienrechtlichen Prozesse handelt es sich um Klagen auf Vaterschaftsanerkennung. Diese waren häufig verbunden mit der verfahrensrechtlichen Frage, ob der angeklagte Mann den Purgationseid leisten müsse oder leisten dürfe. Auch die Klagen auf Einlösung des Eheversprechens standen meistens
46 Vgl. Regula Wyss / Nelly Ritter: Kammern und Kommissionen, in: Holenstein (Hrsg.): Berns goldene Zeit (wie Anm. 8), S. 32f. 47 Vgl. Peter Weimar (Hrsg.): Schweizerisches Zivilgesetzbuch ZGB. Zürich 2000, Art. 90–455. 48 Die Ausführungen zu den verhältnismäßig seltenen Konflikten um das Güterrecht und die Vormundschaft werden hier aus Platzgründen weggelassen.
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in Zusammenhang mit einer Klage auf Vaterschaftsanerkennung. Diese machen 17 Prozent der insgesamt 438 familienrechtlichen Konflikte aus und gingen meistens von der Frau aus. Auch bei den Prozessen um Ehescheidung trat meistens die Frau als Klägerin auf. Der Anteil liegt hier bei 16 Prozent der familienrechtlichen Konflikte. Bei Klagen um Auflösung des Eheversprechens (acht Prozent der familienrechtlichen Konflikte) standen sich nur selten die Verlobten vor Gericht gegenüber, da hier meistens ein Elternteil oder eine Gemeinde versuchte, die Eheschließung der Verlobten zu verhindern. Wurden zu Beginn des 18. Jahrhunderts nur selten Klagen auf Vaterschaftsanerkennung vor den Räten verhandelt, nahm deren Zahl zur Jahrhundertmitte markant zu. Einen ersten Höhepunkt erreichten sie mit 27 Prozessen in den 1740er Jahren. In den 1750er und 1760er Jahren sank die Zahl dieser Klagen auf unter 20 pro Jahrzehnt, sie nahm aber anschließend wieder kontinuierlich bis auf knapp 50 Klagen in den 1790er Jahren zu. Die Klagen auf Einlösung des Eheversprechens bewegten sich anfangs auf dem gleichen Niveau wie die Klagen auf Vaterschaftsanerkennung, sie stagnierten aber in den 1730er und 1740er Jahren bei zehn Klagen pro Jahrzehnt und fielen anschließend wieder in den einstelligen Bereich zurück. Diese Entwicklung wurde auch von Heinrich Richard Schmidt in seiner Studie zu den ländlichen Chorgerichten Vechigen und Stettlen bei Bern nachgewiesen. Schmidt beobachtete, dass ab den 1730er Jahren die Klagen auf Einlösung des Eheversprechens immer weiter hinter den Klagen auf Vaterschaftsanerkennung zurückblieben. Daraus folgerte er, dass es immer häufiger zur Aufnahme von sexuellen Kontakten kam, ohne dass diesen das traditionell erforderliche Eheversprechen vorangegangen wäre. Als Träger dieses veränderten Sexualverhaltens identifizierte Schmidt die zumeist von der aufkommenden Protoindustrie lebenden ländlichen Unterschichten, die durch die neue Wirtschaftsweise weniger in die kommunalen und agrarischen Strukturen eingebunden waren und sich damit sowohl der kirchlich-obrigkeitlichen Sittenzucht als auch den moralischen Normen der Dorfgemeinschaft zunehmend entzogen hätten.⁴⁹ Zu diesem Befund einer abnehmenden Bedeutung der Ehe im 18. Jahrhundert passt auch die markante Zunahme der Klagen auf Ehescheidung in der zweiten Jahrhunderthälfte. Diese ist sowohl bei den lokalen Chorgerichten⁵⁰ als auch bei den höchstrichterlichen Prozessen zu beobachten, wo in der ersten Jahrzehnten nur einzelne, in der zweiten Jahrhunderthälfte aber über 15 Klagen auf Ehescheidung pro Jahrzehnt geführt wurden.
49 Schmidt: Dorf und Religion (wie Anm. 8), S. 217–229. 50 Ebd., S. 265–289.
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Die Klagen auf Auflösung des Eheversprechens zeigen mit Spitzenwerten von zehn Prozessen pro Jahrzehnt in den 1740er Jahren und in den zwei letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts eine ähnliche Entwicklung wie die Konflikte um kollektive Ressourcen. Auch inhaltlich gibt es Parallelen zu den Konflikten um das Heimatrecht. Standen sich nämlich bei Klagen auf Auflösung des Eheversprechens nicht die Verlobten selber oder deren Familien, sondern deren Heimatgemeinden gegenüber, können diese Prozesse auch als Konflikte um das Heimatrecht verstanden werden. Weil Kinder immer das Heimatrecht des Vaters erbten, versuchte in diesen Fällen die Heimatgemeinde des Mannes eine Eheschließung und somit die Aufnahme der zu erwartenden Kinder in ihr Heimatrecht zu verhindern. In diesem Sinne zu deuten sind auch diejenigen Klagen auf Vaterschaftsanerkennung, bei denen sich nicht die Mutter und der zur Annahme des Kindes verurteilte Vater, sondern deren Heimatgemeinden vor dem Rat gegenüberstanden. Auch bei diesen Prozessen stand nicht die Vaterschaft, sondern die damit verbundene Frage des Heimatortes des unehelichen Kindes und somit dessen Zugang zu den Gemeindegütern im Vordergrund.
2.4 Konflikte um private Ressourcen In der vierten und letzten Gruppe können schließlich jene Konflikte zusammengefasst werden, welche nach modernem Rechtsverständnis den Bereichen des Erbrechts, des Sachenrechts und des Schuldrechts zugeordnet werden. Allen diesen Konflikten gemeinsam ist, dass es sich hier um private Forderungen oder Besitzansprüche handelt. Aus den Quellen ist aber nicht immer eindeutig ersichtlich, ob der Anspruch oder die Forderung durch eine Erbschaft, einen Vertrag oder eine unerlaubte Handlung zustande gekommen ist. Die sachenrechtlichen und die schuldrechtlichen Konflikte werden deshalb in der Kategorie der vermögensrechtlichen Konflikte zusammengefasst.⁵¹ Diese Kategorie umfasst folglich alle Konflikte um Zahlungs- und Schadenersatzforderungen, Konflikte um Besitzansprüche, Fragen zur Gültigkeit von Verträgen sowie die seltenen Konflikte um die Geschäftsführung und Beteiligung an Handelsgesellschaften. Der Kategorie der erbrechtlichen Konflikte wurde ein Prozess nur dann zugeordnet, wenn die Forderung oder der Besitzanspruch eindeutig aus einer Erbschaft hervorging. Ansonsten wurden diese Streitigkeiten der Kategorie der vermögensrechtlichen Konflikte zugeordnet.
51 Vgl. Claudio Soliva: Sachenrecht, in: HLS, Bd. 10. Basel 2011, S. 601f.
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Zwei Drittel der Konflikte um private Ressourcen entfallen auf die vermögensrechtlichen und ein Drittel auf die erbrechtlichen Konflikte. Im Gegensatz zu den Konflikten um kollektive Ressourcen zeigen sie keine signifikanten Veränderungen im Verlauf des Jahrhunderts. Erbrechtliche und vermögensrechtliche Konflikte wurden mit zusammen etwa 15 Prozessen pro Jahrzehnt relativ häufig und konstant vor den Räten verhandelt.
3 Zusammenfassung Im Verlauf des 18. Jahrhunderts kam es in den eidgenössischen Orten vermehrt zu sozialen Konflikten,⁵² die auch immer wieder zu städtischen oder ländlichen Unruhen führten.⁵³ Ein Beispiel aus Bern, das europaweit Schlagzeilen machte, war die Henzi-Verschwörung von 1749.⁵⁴ Diesen Konflikten lagen zunehmende politische, wirtschaftliche und soziale Spannungen zugrunde, deren Ursachen sehr vielfältig waren. So erfuhr die Landwirtschaft einen grundlegenden Strukturwandel, und durch die aufkommende Protoindustrie entstanden zwar neue, aber auch prekäre Verdienstmöglichkeiten. Das einsetzende Bevölkerungswachstum verstärkte den Druck auf die ohnehin beschränkten Ressourcen und parallel dazu kam es zur Abschottung des städtischen Patriziats und auf dem Land zu einer Abschließung des Heimatrechts. Die aus diesen Spannungen erwachsenen Konflikte mussten aber nicht zwingend in Unruhen und Aufständen gipfeln, denn zumeist bedienten sich die Akteure bei ihrem Widerstand subtilerer Aktionsmittel. Diese reichten von ritualisierten und symbolischen Handlungen, etwa in Form von Rügebräuchen wie der nächtlichen Katzenmusik, über das Einreichen von Bittschriften und Beschwerden bis zur Verweigerung von Abgaben oder des Huldigungseides. Ein bewährtes Mittel zur Austragung von sozialen Konflikten bestand auch in der Nutzung des obrigkeitlichen Justizangebotes. Die zunehmenden sozialen Spannungen spiegeln sich deshalb auch in den vor den Räten geführten höchstrichterlichen Zivilprozessen wider. Die Untersuchung dieser Prozesse ermöglicht es somit, einen Überblick über die Konfliktfelder und Konfliktlinien in der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts zu gewinnen. Dabei zeigt sich durch das ganze 18. Jahrhundert hindurch eine zwar nicht gleichmäßige, aber doch deutliche Zunahme der höchstrichterlichen Zivilprozesse,
52 Andreas Würgler: Soziale Konflikte, in: HLS, Bd. 11. Basel 2012, S. 647–649. 53 Niklaus Landolt: Ländliche Unruhen, in: HLS, Bd. 7. Basel 2008, S. 597–599; Andreas Würgler: Städtische Unruhen, in: HLS, Bd. 11. Basel 2012, S. 772–774. 54 Anne-Marie Dubler: Henzi-Verschwörung, in: HLS, Bd. 6. Basel 2007, S. 286f.
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welche sich in den Krisensituationen der 1740er und 1770er Jahre markant akzentuierte. Von dieser Zunahme waren aber nicht alle Konfliktfelder gleichermaßen betroffen. Besonders umstritten waren die zu erbringenden Abgaben und die zu leistenden Dienste. Ihren Höhepunkt erreichten diese Konflikte zur Jahrhundertmitte, sie blieben aber auch in der zweiten Jahrhunderthälfte virulent. In der Hälfte dieser Konflikte standen sich Gemeinden oder Einzelpersonen und die Obrigkeit gegenüber, während die andere Hälfte innerhalb der Gemeinden ausgetragen wurde. Hier standen sich zumeist die rechtlich benachteiligten Hintersassen und ihre Gemeinde gegenüber. Die zunehmenden sozialen Spannungen zeigen sich aber auch deutlich bei den Konflikten um die kollektiven Ressourcen, also bei den Konflikten um das Heimatrecht und um die damit verbundene Nutzung der Gemeingüter – des Waldes, des Weidelandes und der Armenfürsorge – sowie bei den Konflikten um den Zugang zu den Märkten für Güter und Dienstleistungen. Diese kollektiven Ressourcen waren für die Überlebensstrategien der wirtschaftlich und rechtlich benachteiligten Bevölkerungsgruppen vor allem in Krisenzeiten von zentraler Bedeutung. Folglich traten in diesen Prozessen neben Gewerbetreibenden zumeist Tauner und Hintersassen als klagende Partei auf. Ihnen gegenüber standen die Gemeinden, die Meisterschaften und die städtischen Zünfte, welche die eigenen Privilegien zu sichern und den Kreis der Nutzungsberechtigten möglichst klein zu halten versuchten. Im Gegensatz zu den kollektiven Ressourcen zeigen sich bei den Konflikten um private Ressourcen keine signifikanten Veränderungen im Verlauf des Jahrhunderts. Die Ursache muss in der Personenkonstellation dieser Prozesse gesucht werden – es waren zumeist Angehörige der städtischen und ländlichen Mittel- und Oberschicht, die sich vor Gericht um Zahlungen, Besitzansprüche oder Erbschaften stritten. Diese Schichten waren von den witterungsbedingten Teuerungskrisen der 1740er und 1770er Jahre weniger betroffen als die wirtschaftlich oder rechtlich benachteiligten Tauner und Hintersassen. Neben den Konflikten um Abgaben und Dienste und um den Zugang zu den kollektiven Ressourcen zeigen sich die gesellschaftlichen Veränderungen des 18. Jahrhunderts schließlich bei einem dritten Konfliktfeld – den familienrechtlichen Konflikten. Der Rückgang der Klagen auf Einlösung des Eheversprechens bei gleichzeitiger Zunahme der Klagen auf Vaterschaftsanerkennung sowie die etwas später einsetzende Zunahme der Klagen auf Ehescheidung zeugen von einem veränderten Verhältnis zu Ehe und Sexualität. Dieses neue, durch das Aufkommen der neuen Wirtschaftsweisen ermöglichte Sexualverhalten brachte dessen Träger zunehmend in Konflikt mit den moralischen Normen der Dorfgemeinschaft und mit der kirchlich-obrigkeitlichen Sittenzucht.
Stefan Andreas Stodolkowitz
Der Zivilprozess des Oberappellationsgerichts Celle am Ende des Alten Reiches Bilanz und Perspektiven
1 Einführung Stand und Perspektiven der Forschung – getreu dem Thema der Tagung sollen Bilanz und Ausblick Gegenstand dieses Beitrags zum Zivilprozess des Oberappellationsgerichts Celle sein. Der Zeitrahmen umfasst dabei, beginnend mit der Gründung des Oberappellationsgerichts im Jahre 1711, das 18. und den Übergang ins 19. Jahrhundert. Leitend für diesen Beitrag ebenso wie für die bisherigen und künftigen Forschungen sollte die Prämisse der engen Verbindung zwischen Territorialjustiz und Reichsgerichtsbarkeit sein. Gerichtsverfassung und Verfahren der obersten Territorialgerichte orientierten sich am Vorbild der höchsten Gerichte des Reiches. Nicht nur materiellrechtlich, sondern auch prozessual war das Reich trotz bestehender Unterschiede ein in wesentlichen Bereichen einheitlicher Rechtsraum. Abgesichert wurde diese Einheit durch die Möglichkeit der Rechtsuchenden, sich gegen Entscheidungen territorialer Gerichte im Rechtsmittelwege an die Reichsgerichte zu wenden. Auch die großen Territorien, die im Besitz unbeschränkter Appellationsprivilegien waren, mussten sicherstellen, dass ihr Justizwesen den gemeinrechtlichen Grundlinien des an den Reichsgerichten praktizierten Prozessrechts entsprach; durch die Rechtsmittel der Nichtigkeitsbeschwerde (querela nullitatis) und der Beschwerde wegen verweigerter oder verzögerter Justiz (querela denegatae vel protractae iustitiae), die von den Appellationsprivilegien unberührt blieben, konnten das Reichskammergericht und der Reichshofrat die Funktion einer Kontrollinstanz ausüben. Trotz im Detail oftmals scharfer Zuständigkeitskonflikte und vieler Versuche seitens der Territorialherren, Rechtsmittel an die Gerichte des Reiches zu verhindern,¹ dürfen die Gegensätze nicht darüber hinwegtäuschen, dass Reichsgerichte
1 Siehe insbesondere Jürgen Weitzel: Der Kampf um die Appellation ans Reichskammergericht. Zur politischen Geschichte der Rechtsmittel in Deutschland (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, künftig: QFHG, Bd. 4). Köln/Wien 1976; ders.: Der Reichshofrat und das irreguläre Beschneiden des Rechtsmittels der Appellation, in: Leopold Auer / Eva Ortlieb (Hrsg.): Appellation und Revision im Europa des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs, Bd. 3). Wien 2013, S. 163–173; zu Konflikten zwischen dem Reichs-
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und Territorialjustiz gleichermaßen das Ziel einer funktionierenden Rechtspflege auf allen Ebenen des Reiches verfolgten. Hierfür bedurfte es der vereinheitlichenden Klammer der Reichsgerichte ebenso wie leistungsfähiger Unter- und Mittelinstanzen in den Territorien. Reich und Territorien waren keine scharf voneinander abgegrenzten Herrschaftsverbände, sondern eine Gesamtrechtsordnung, zu deren Funktionieren alle Ebenen gleichermaßen beitrugen.² So konnte eine Territorialjustiz, die nach dem Vorbild der Reichsgerichte arbeitete, diese entlasten; zugleich hatte sie den Vorteil größerer Nähe zu den Rechtsuchenden. Im Folgenden soll zunächst eine Bilanz des bisherigen Forschungsstandes zur Zivilrechtspraxis des Oberappellationsgerichts Celle gezogen werden. Daran anschließend sollen in zwei Punkten Perspektiven für mögliche künftige Forschungsvorhaben aufgezeigt werden. Dieser Ausblick soll zunächst weitere mögliche Untersuchungsfelder zum gemeinen Zivilprozess im 18. Jahrhundert und sodann dessen Fortentwicklung im beginnenden 19. Jahrhundert zum Gegenstand haben.
2 Bilanz Die bisherigen Untersuchungen zur Verfahrenspraxis am Oberappellationsgericht Celle,³ insbesondere die Auswertung der im Landesarchiv Schleswig erhaltenen lauenburgischen Prozessakten des Gerichts aus dem Zeitraum 1747 bis 1816,⁴ haben eine Verfahrensweise erkennen lassen, die am Vorbild der Reichsgerichte orientiert und zugleich Neuerungen gegenüber aufgeschlossen war. Die normative Grundlage für die Praxis des Oberappellationsgerichts war dessen Gerichtsord-
kammergericht und dem Oberappellationsgericht Celle Peter Jessen: Der Einfluß von Reichshofrat und Reichskammergericht auf die Entstehung und Entwicklung des Oberappellationsgerichts Celle unter besonderer Berücksichtigung des Kampfes um das kurhannoversche Privilegium De Non Appellando Illimitatum (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, NF., Bd. 27). Aalen 1986, S. 95–117. 2 Vgl. zu dieser Sichtweise im Hinblick auf die frühneuzeitliche Gesetzgebung Wilhelm Brauneder: Frühneuzeitliche Gesetzgebung: Einzelaktionen oder Wahrung einer Gesamtrechtsordnung?, in: Barbara Dölemeyer / Diethelm Klippel (Hrsg.): Gesetz und Gesetzgebung im Europa der Frühen Neuzeit (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 22). Berlin 1998, S. 109–129. 3 Jessen: Der Einfluß (wie Anm. 1), S. 124–213. 4 Stefan Andreas Stodolkowitz: Das Oberappellationsgericht Celle und seine Rechtsprechung im 18. Jahrhundert (QFHG, Bd. 59). Köln/Weimar/Wien 2011; ders.: Das Rechtsmittel der Appellation am Oberappellationsgericht Celle, in: Auer / Ortlieb (Hrsg.): Appellation und Revision (wie Anm. 1), S. 269–290.
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nung aus dem Jahre 1713.⁵ Diese folgte weitgehend dem prozessualen Vorbild des Reichskammergerichts, wich von diesem aber insofern ab, als gerichtliche Audienzen nicht vorgesehen waren; nur für Vergleichsversuche und im Rahmen der Beweisaufnahme konnten mündliche Termine abgehalten werden.⁶ Damit betonte die Oberappellationsgerichtsordnung das Prinzip des schriftlichen Verfahrens stärker als das Reichskammergericht.⁷ Hierin kann eine Anlehnung an das streng schriftliche Verfahren des Reichshofrats gesehen werden, die auf den Einfluss der beiden an der Ausarbeitung der Celler Gerichtsordnung maßgeblich beteiligten hannoverschen Juristen Andreas Gottlieb von Bernstorff (1649–1726) und Weipart Ludewig Fabricius (1640–1724) zurückzuführen sein dürfte: Fabricius war drei Jahre Reichshofratsagent in Wien gewesen, und sein Schwager Johann Helwig Sinold, genannt Schütz (1623–1677), hatte dem Reichshofrat angehört. Schütz war zudem der Schwiegervater Andreas Gottlieb von Bernstorffs.⁸ Das strenge Schriftlichkeitsprinzip sollte der Konzentration des Prozessstoffs und der Verfahrensbeschleunigung dienen. Verzögerungen durch weitschweifigen Parteivortrag in Audienzen sollten vermieden werden. Dieses Bestreben setzte die Oberappellationsgerichtsordnung durch die Regelung fort, nach der ein Austausch von Schriftsätzen in der Appellationsinstanz nur zugelassen wurde, wenn der Sachverhalt noch nicht hinlänglich aufbereitet war. Damit lief das Verfahren nach folgendem Muster ab:⁹ Nach Einlegung der Appellation beim iudex a quo innerhalb von zehn Tagen nach Kenntnisnahme der beschwerenden Entscheidung und Einführung sowie Begründung beim Oberappellationsgericht prüfte dieses die Einhaltung der Formalien und die Erheblichkeit des Rechtsmittels. Ein Verstoß gegen Frist- und Formvorschriften hatte ein das Rechtsmittel verwerfen-
5 Chur-Braunschweig-Lüneburgische Landes-Ordnungen und Gesetze. Zum Gebrauch der Fürstenthümer, Graf- und Herrschaften Calenbergischen Theils, Bd. II. Göttingen 1740, S. 1–179. 6 Teil II Tit. 3 § 21, Tit. 8 Sektion II § 4, Tit. 8 Sektion III §§ 1–6 der Oberappellationsgerichtsordnung von 1713 (künftig: OAGO) = Chur-Braunschweig-Lüneburgische Landes-Ordnungen (wie Anm. 5), S. 83, 117, 122–124. 7 Zum Reichskammergericht Bernhard Diestelkamp: Beobachtungen zur Schriftlichkeit im Kameralprozeß, in: Peter Oestmann (Hrsg.): Zwischen Formstrenge und Billigkeit. Forschungen zum vormodernen Zivilprozeß (QFHG, Bd. 56). Köln/Weimar/Wien 2009, S. 105–115. 8 Nachweise bei Stefan Andreas Stodolkowitz: Das Oberappellationsgericht Celle als Mittler zwischen Reichsjustiz und territorialer Gerichtsbarkeit, in: Anja Amend-Traut / Anette Baumann / Stephan Wendehorst / Steffen Wunderlich (Hrsg.): Die höchsten Reichsgerichte als mediales Ereignis (bibliothek altes Reich, Bd. 11). München 2012, S. 191–219, hier S. 207f. 9 Zum Verfahrensablauf siehe Stodolkowitz: Das Rechtsmittel der Appellation (wie Anm. 4), S. 276–279.
178 | Stefan Andreas Stodolkowitz des decretum desertorium zur Folge.¹⁰ Kam das Gericht zu dem Ergebnis, dass die Appellation offensichtlich unbegründet war, schlug es das Rechtsmittel durch ein – seit einer Gerichtsreform von 1733 knapp zu begründendes¹¹ – Dekret, das als decretum reiectorium bezeichnet wurde, ab.¹² Andernfalls eröffnete es, so sah es jedenfalls die Oberappellationsgerichtsordnung vor, den Appellationsprozess, indem es „gewöhnliche Appellations-Processe, als Citatio an appellaten (wie wohl vors erste ohne Communication des Libelli Gravaminum) zu Fundirung Unsers Ober-Appellations-Gerichts Jurisdiction in der Sache, Compulsoriales (wann die Acta prioris Instantiae nicht bereits eingebracht sind) und inhibitio“ erließ.¹³ In den 40 durch Akten überlieferten Verfahren, in denen das Oberappellationsgericht den Appellationsprozess eröffnete, verfügte dieses die citatio, die Ladung der gegnerischen Partei, ebenso wie die inhibitio, das Verbot an den Vorderrichter, weiter in der Sache tätig zu sein, stets, während die Einforderung der Vorakten durch compulsoriales naturgemäß unterblieb, wenn die Vorakten dem Oberappellationsgericht bereits zuvor übersandt worden waren. Trotz citatio erhielt die gegnerische Partei zunächst noch keine Abschrift der Rechtsmittelschrift, und sie erhielt noch keine Gelegenheit, auf das Rechtsmittel zu erwidern. Denn zunächst teilte das Gericht gleichzeitig mit der Eröffnung des Appellationsprozesses die Sache einem Referenten und einem Koreferenten zu, die eine Entscheidung vorbereiteten, über die sodann das Plenum des Gerichts entschied.¹⁴ Nur wenn das Gericht den Rechtsstreit in diesem Stadium noch nicht für entscheidungsreif erachtete, sondern „selbige also beschaffen befunden, daß die Sache einer
10 Teil II Tit. 2 §§ 9, 10, Tit. 3 § 2 OAGO = Chur-Braunschweig-Lüneburgische Landes-Ordnungen (wie Anm. 5), S. 75, 77; Friedrich von Bülow: Über die Verfassung, die Geschäfte und den Geschäftsgang des Königlichen und Churfürstlich Braunschweig-Lüneburgischen Ober-Appellations-Gerichts zu Zelle, Zweyter Theil. Göttingen 1804, S. 70f., 79; Georg Heinrich Oesterley: Handbuch des bürgerlichen und peinlichen Processes für das Königreich Hannover. Zweyter Theil: Bürgerlicher Prozeß, Zweyte Abtheilung. Göttingen 1819, S. 355. 11 § 4 des Reglements wegen verbesserter Einrichtung des Ober-Appellations-Gerichts vom 31. März 1733 = Chur-Braunschweig-Lüneburgische Landes-Ordnungen (wie Anm. 5), S. 182. 12 Teil II Tit. 3 § 3 OAGO = Chur-Braunschweig-Lüneburgische Landes-Ordnungen (wie Anm. 5), S. 77; von Bülow: Über die Verfassung (wie Anm. 10), S. 178; Stefan Andreas Stodolkowitz: Gericht und Gesellschaft. Die Rechtsprechung des Oberappellationsgerichts im 18. Jahrhundert, in: Peter Götz von Olenhusen (Hrsg.): 300 Jahre Oberlandesgericht Celle. Festschrift zum 300jährigen Jubiläum am 14. Oktober 2011. Göttingen 2011, S. 65–76, hier S. 74–76. 13 Teil II Tit. 3 § 4 OAGO = Chur-Braunschweig-Lüneburgische Landes-Ordnungen (wie Anm. 5), S. 77f. 14 Teil II Tit. 3 §§ 5–8 OAGO = Chur-Braunschweig-Lüneburgische Landes-Ordnungen (wie Anm. 5), S. 78f.
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weiteren Ausführung bedarff“,¹⁵ erließ es eine Zwischenentscheidung, übermittelte dem Rechtsmittelgegner eine Abschrift der Rechtsmittelschrift und gab den Parteien Gelegenheit zum Austausch von Schriftsätzen. In den meisten Fällen hielt es dies indes nicht für erforderlich, sondern nahm „die Sache per Decretum ex officio für beschlossen“¹⁶ an und fällte sogleich ein Endurteil.¹⁷ Der Rechtsmittelgegner erhielt mithin zumeist keine Gelegenheit, auf die Appellation zu erwidern. Diese Vorgehensweise erschien opportun, wenn die Appellationsbegründung keinen gegenüber der Vorinstanz neuen Tatsachenvortrag enthielt. Lediglich zusammen mit dem Endurteil erhielt der Rechtsmittelgegner eine Abschrift der Rechtsmittelschrift. Wenn er unterlag, konnte er nun seinen Standpunkt im Wege des Rechtsbehelfs der restitutio in integrum ausführen.¹⁸ Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung forderte die Gerichtsordnung die Parteien und Advokaten auf, den Streitgegenstand in erster Instanz so gründlich auszuführen, dass es eines weiteren Austauschs von Schriftsätzen in der Appellationsinstanz nicht mehr bedurfte.¹⁹ Der mit diesem Verfahrensablauf durch die Einschränkung des Parteischriftwechsels beabsichtigte Beschleunigungseffekt trat offenbar, soweit sich dies anhand der erhaltenen Prozessakten beurteilen lässt, nicht wie erhofft ein. Die durch die Akten aus dem Herzogtum Lauenburg überlieferten Appellationsverfahren dauerten durchschnittlich neuneinhalb Jahre.²⁰ Vor allem die umständliche Vorbereitung der Urteile durch umfangreiche Relationen eines Referenten und eines Koreferenten²¹ sowie die hohe Arbeitsbelastung des Gerichts waren hierfür verantwortlich. Deshalb entwickelte die gerichtliche Praxis einen anderen Weg, die Mehrzahl der Verfahren zügig einer Entscheidung zuzuführen, indem sie den förmlichen Appellationsprozess weitgehend entbehrlich machte. So wandte das Gericht die
15 Teil II Tit. 3 § 6 OAGO = Chur-Braunschweig-Lüneburgische Landes-Ordnungen (wie Anm. 5), S. 78. 16 Teil II Tit. 3 § 7 OAGO = Chur-Braunschweig-Lüneburgische Landes-Ordnungen (wie Anm. 5), S. 78. 17 Stodolkowitz: Das Oberappellationsgericht Celle (wie Anm. 4), S. 175. 18 Teil II Tit. 14 § 2 OAGO = Chur-Braunschweig-Lüneburgische Landes-Ordnungen (wie Anm. 5), S. 150f.; Friedrich von Bülow / Theodor Hagemann: Practische Erörterungen aus allen Theilen der Rechtsgelehrsamkeit, hin und wieder mit Urtheils-Sprüchen des Zelleschen Tribunals und der übrigen Justizhöfe bestärkt, Bd. I. 2. Aufl. Hannover 1806, S. 237. 19 Teil II Tit. 3 § 9 OAGO = Chur-Braunschweig-Lüneburgische Landes-Ordnungen (wie Anm. 5), S. 79. 20 Stodolkowitz: Das Oberappellationsgericht Celle (wie Anm. 4), S. 197, 280. 21 Teil II Tit. 12 §§ 10, 11 OAGO = Chur-Braunschweig-Lüneburgische Landes-Ordnungen (wie Anm. 5), S. 139–141.
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Vorschrift der Gerichtsordnung, dass vor Eröffnung des Appellationsprozesses die Erheblichkeit des Rechtsmittels zu prüfen war, extensiv an und unterzog jedes Rechtsmittel sogleich nach Eingang des Appellationslibells einer strengen Schlüssigkeitsprüfung. Kam es schon auf der Grundlage der Rechtsmittelschrift zu dem Ergebnis, dass das Rechtsmittel keine Aussicht auf Erfolg hatte, so lehnte es die Eröffnung des Appellationsprozesses durch ein decretum reiectorium ab. Meistens forderte das Gericht hierfür nicht einmal die Akten der Vorinstanz ein. Insgesamt wurden rund zwei Drittel der Rechtsmittel durch decretum desertorium oder decretum reiectorium außerhalb des förmlichen Appellationsprozesses abgeschlagen.²² Für offensichtlich begründete Rechtsmittel entwickelte die gerichtliche Praxis ebenfalls einen Weg einer Entscheidung außerhalb des förmlichen Appellationsprozesses, obwohl die Oberappellationsgerichtsordnung dies nicht vorsah. Spätestens ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gab das Gericht offensichtlich begründeten Rechtsmitteln statt, indem es das angefochtene Urteil aufhob und die Sache zum weiteren Verfahren an das vorinstanzliche Gericht zurückverwies. Hierfür erließ es ein sogenanntes rescriptum de emendando an das Gericht der Vorinstanz, mit dem es diesem zugleich Anweisungen für das weitere Verfahren gab.²³ In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entschied das Oberappellationsgericht über die Mehrheit der Rechtsmittel außerhalb des förmlichen Prozesses durch abschlägiges Dekret oder stattgebendes Reskript. Dabei vergingen von der Einführung des Rechtsmittels bis zur Entscheidung oftmals nur wenige Monate, zumeist jedenfalls weniger als ein Jahr.²⁴ Diese Verfahrensweise ermöglichte damit eine erhebliche Beschleunigung gegenüber dem langwierigen förmlichen Appellationsprozess; zugleich trug sie zur Entlastung des Gerichts bei. Zur Eröffnung des Appellationsprozesses kam es in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts nur noch in rund fünf Prozent der Fälle. Der von der Gerichtsordnung als Regelfall vorgesehene förmliche Prozess wurde damit zum Ausnahmefall für umfangreiche und schwierige Verfahren, die einer besonders vertieften Durchdringung des Sachund Streitstoffs bedurften.²⁵ Nach seiner Gerichtsordnung war das Oberappellationsgericht auch zuständig für die „causae denegatae vel protractae Justitiae, wann jemand über Unsere
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Stodolkowitz: Das Oberappellationsgericht Celle (wie Anm. 4), S. 169. Von Bülow: Über die Verfassung (wie Anm. 10), S. 181–186. Stodolkowitz: Das Oberappellationsgericht Celle (wie Anm. 4), S. 195, 279. Stodolkowitz: Das Rechtsmittel der Appellation (wie Anm. 4), S. 284.
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Cantzleyen und andere höhere Gerichte wegen verzögerter oder verweigerter Justitz sich mit Grund zu beschweren haben mögte.“²⁶ Damit übernahm die Oberappellationsgerichtsordnung das am Reichskammergericht entwickelte Rechtsmittel der Beschwerde wegen verweigerter oder verzögerter Justiz. Der Hintergrund hierfür war die Vorgabe der Reichskammergerichtsordnung, dass einer Rechtsverweigerungsbeschwerde an das Reichskammergericht ein Abhilfeersuchen an des „undergerichts nechste oberkeyt und herrschaft“ vorauszugehen hatte.²⁷ Der territoriale Gerichtsherr konnte diese Abhilfezuständigkeit an ein oberstes Territorialgericht delegieren. In der braunschweig-lüneburgischen Territorialjustiz erhielt dieses Abhilfeersuchen die Gestalt eines ordentlichen Rechtsmittelverfahrens. Das Oberappellationsgericht entschied über Beschwerden wegen Rechtsverweigerung oder -verzögerung gegen die ihm unmittelbar nachgeordneten Gerichte, nämlich die Hofgerichte, Justizkanzleien und Konsistorien. Diese wiederum waren für Rechtsverweigerungsverfahren gegen die Untergerichte, die Ämter, Stadtgerichte und Patrimonialgerichte, zuständig.²⁸ Damit fügte sich das Rechtsmittel der Rechtsverweigerungsbeschwerde in die institutionalisierte Hierarchie der Territorialjustiz ein. Zugleich verlagerte sich die Aufsicht über die Gerichte von den Reichsgerichten auf die höheren Territorialgerichte. Zwar bestand weiterhin die Möglichkeit, wegen Rechtsverweigerung die Reichsgerichte anzurufen, wenn der territoriale Instanzenzug ausgeschöpft war. In der Praxis kamen solche Fälle aber kaum jemals
26 Teil II Tit. 1 § 10 OAGO = Chur-Braunschweig-Lüneburgische Landes-Ordnungen (wie Anm. 5), S. 67. 27 Teil II Tit. 1 § 2 Reichskammergerichtsordnung (künftig: RKGO) 1555 = Adolf Laufs (Hrsg.): Die Reichskammergerichtsordnung von 1555 (QFHG, Bd. 3). Köln/Wien 1976, S. 168. 28 Tit. 25 der Calenbergischen Hofgerichtsordnung von 1639 = Chur-Braunschweig-Lüneburgische Landes-Ordnungen (wie Anm. 5), S. 402f.; §§ 11–13 der Celleschen Hofgerichtsordnung von 1685 = Ludwig von Schlepegrell (Hrsg.): Zellische Canzley- und Hofgerichts-Ordnung nebst Justiz-Reglement vom Jahre 1718. Lüneburg 1828, S. 108f.; Tit. 29 § 2 der Lauenburgischen Hofgerichtsordnung von 1681 = Ernst Spangenberg (Hrsg.): Corpus Constitutionum Ducatus Lauenburgici oder Sammlung der für das Herzogthum Lauenburg ergangenen Verordnungen und Ausschreiben. Hannover 1822 (Sammlung der Verordnungen und Ausschreiben welche für sämmtliche Provinzen des Hannoverschen Staats, jedoch was den Calenbergischen, Lüneburgischen, und Bremen- und Verdenschen Theil betrifft, seit dem Schlusse der in denselben vorhandenen Gesetzsammlungen bis zur Zeit der feindlichen Usurpation ergangen sind, Vierter Theil, Zweite Abtheilung, die Lauenburgischen Verordnungen bis 1739 enthaltend), S. 289; vgl. Oesterley: Handbuch (wie Anm. 10), S. 615f. Zum Umgang mit Rechtsverweigerung innerhalb der Territorialjustiz vgl. Hans Schlosser: Spätmittelalterlicher Zivilprozeß nach bayerischen Quellen. Gerichtsverfassung und Rechtsgang (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 8). Köln/Wien 1971, S. 86–92.
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vor, während Rechtsverweigerungsbeschwerden am Oberappellationsgericht keine Seltenheit waren.²⁹ Das gerichtliche Verfahren bei Rechtsverweigerungsbeschwerden war in der Oberappellationsgerichtsordnung minutiös geregelt, die insofern weitgehend der Praxis des Reichskammergerichts³⁰ folgte. Die Gerichtsordnung sah Promotorialschreiben sowie mandata poenalia de administranda iustitia an das nachgeordnete Gericht vor; auch konnte das Oberappellationsgericht den Rechtsstreit im Wege der Avokation an sich ziehen. Dabei differenzierte die Gerichtsordnung zwischen Fällen der Rechtsverweigerung einerseits und der Verzögerung andererseits sowie zwischen bewiesenen und nicht bewiesenen Rechtsverweigerungsvorwürfen.³¹ Diese Einzelheiten sollen hier nicht näher ausgeführt werden; sie spielten in der gerichtlichen Praxis keine entscheidende Rolle. In den im Bestand des Landesarchivs Schleswig überlieferten 15 Rechtsverweigerungsverfahren reagierte das Oberappellationsgericht auf die Beschwerde, wenn es sie für erheblich erachtete, stets durch ein sogenanntes rescriptum de administranda iustitia, durch das es das nachgeordnete Gericht anwies, dem Verfahren Fortgang zu geben. Für die Avokation eines Rechtsstreits finden sich in den Akten keine Belege; sie scheint nur als ultima ratio für Fälle in Frage gekommen zu sein, in denen Reskripte erfolglos blieben. Der ursprüngliche Anwendungsbereich der Rechtsverweigerungsbeschwerde waren Fälle, in denen ein Gericht keine Entscheidung traf und dadurch dem Rechtsuchenden die richterliche Tätigkeit versagte. In der Celler Rechtspraxis sind indes Beschwerden zu beobachten, die den Vorwurf der Rechtsverweigerung auf eine abschlägige Entscheidung eines Gerichts stützen. Dies betrifft insbesondere, aber nicht nur, Fälle, in denen ein Gericht den Rechtsweg mit der Begründung für unstatthaft erklärte, der Streitgegenstand sei eine nicht justitiable Policeyoder Kammersache.³² Zuweilen wurden derartige abschlägige Entscheidungen gleichzeitig sowohl mit der Appellation als auch mit der Rechtsverweigerungs-
29 Stefan Andreas Stodolkowitz: Rechtsverweigerung und Territorialjustiz. Verfahren wegen iustitia denegata vel protracta am Oberappellationsgericht Celle, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung (künftig: ZRG GA) 131 (2014), S. 128–181. 30 Zur Praxis der Rechtsverweigerungsbeschwerde am Reichskammergericht siehe Peter Oestmann: Rechtsverweigerung im Alten Reich, in: ZRG GA 127 (2010), S. 51–141. 31 Teil II Tit. 1 § 10 OAGO = Chur-Braunschweig-Lüneburgische Landes-Ordnungen (wie Anm. 5), S. 67f. 32 Landesarchiv (künftig: LA) Schleswig, Abt. 216, Nrn. 68, 1140; der Ausschluss des ordentlichen Rechtsweges in Kammersachen beruhte insbesondere auf der Göhrder Konstitution vom 19. Oktober 1719 = Chur-Braunschweig-Lüneburgische Landes-Ordnungen (wie Anm. 5), S. 588–592; vgl. Stodolkowitz: Rechtsverweigerung und Territorialjustiz (wie Anm. 29), S. 153–161.
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beschwerde angefochten.³³ Dies erschwert eine klare Abgrenzung zwischen der Appellation und der Rechtsverweigerungsbeschwerde; zugleich verliert die letztere ihren Ausnahmecharakter als besonderer Rechtsbehelf für Fälle der Untätigkeit eines Gerichts.
3 Perspektiven I. Die Praxis des Appellationsverfahrens im 18. Jahrhundert Die bisherigen Ergebnisse zur Verfahrenswirklichkeit am Oberappellationsgericht Celle im 18. Jahrhundert lassen etliche Fragen offen, die Gegenstand künftiger Untersuchungen sein könnten. Diese Fragen berühren nicht nur die Celler Rechtspraxis, sondern allgemein die Anwendung des gemeinen Zivilprozessrechts im Reich und in den Territorien. Da das Reich trotz vieler Abweichungen und Zersplitterungen in Details durch die vereinheitlichende Klammer der Reichsgerichte und des durch diese geprägten gemeinen Zivilprozesses ein einheitlicher Rechtsraum war, kann die Praxis eines hohen Territorialgerichts nicht losgelöst von anderen Gerichten betrachtet und bewertet werden. Weitgehend ungeklärt ist bislang die Herkunft der in Celle zu beobachtenden Verfahrensweise, offensichtlich begründeten Appellationen außerhalb des förmlichen Appellationsprozesses durch ein rescriptum de emendando an den iudex a quo stattzugeben. In Celle scheint sie im Laufe des 18. Jahrhunderts entstanden zu sein. Da sie in der Oberappellationsgerichtsordnung von 1713 nicht geregelt ist, ist anzunehmen, dass sie deren Verfassern noch nicht bekannt war und diese keine Veranlassung für eine entsprechende verfahrensrechtliche Neuerung sahen. Die Gemeinen Bescheide des Oberappellationsgerichts,³⁴ die unter anderen Gesichtspunkten ein für die Verfahrenspraxis aufschlussreicher Untersuchungsgegenstand sein könnten, sind insofern unergiebig; in ihnen finden sich keine Regelungen zu dieser Verfahrensweise. Noch in den 1750er Jahren kamen rescripta de emendando ausweislich der erhaltenen Prozessakten nur in Einzelfällen zur Anwendung. Im
33 LA Schleswig, Abt. 216, Nrn. 68, 85. 34 Die 77 bis 1819 erschienenen Gemeinen Bescheide des Oberappellationsgerichts sind abgedruckt bei Theodor Hagemann (Hrsg.): Die Ordnung des Königlichen Ober-Appellations-Gerichts zu Celle. Hannover 1819, S. 229–275; vgl. von Bülow: Über die Verfassung (wie Anm. 10), S. 393; Stodolkowitz: Das Oberappellationsgericht Celle (wie Anm. 4), S. 84; allgemein zu Gemeinen Bescheiden frühneuzeitlicher Gerichte Peter Oestmann (Hrsg.): Gemeine Bescheide. Teil 1: Reichskammergericht 1497–1805 (QFHG, Bd. 63,1). Köln/Weimar/Wien 2013, S. 11–19.
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letzten Drittel des 18. Jahrhunderts steigt ihr Anteil deutlich an.³⁵ Erhellend könnten Vergleiche mit anderen Territorialgerichten sein. Insofern fehlt es bislang an einschlägigen Untersuchungen der Verfahrenspraxis anderer Gerichte. Für Vergleiche könnte sich wegen der umfangreichen Aktenüberlieferung insbesondere das Wismarer Tribunal anbieten, zumal dieses – ebenso wie das Oberappellationsgericht – Akten nicht erst im förmlichen Appellationsprozess anlegte, sondern für jede bei Gericht eingegangene Sache, so dass auch Verfahrenserledigungen außerhalb des Appellationsprozesses überliefert sein dürften.³⁶ Über die Ebene der Territorialjustiz hinaus dürfte ein Vergleich mit der Verfahrenspraxis des Reichshofrats aufschlußreich sein. Spätestens zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die Entscheidung durch rescriptum de emendando auch an anderen Territorialgerichten gebräuchlich. Die Prozessrechtsliteratur des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts beschrieb sie als reguläre Verfahrensweise im Appellationsverfahren und sah ihre Herkunft überwiegend in den sogenannten Ordinationen des Reichskammergerichts.³⁷ Diese waren ebenfalls Entscheidungen außerhalb des Appellationsprozesses und hatten sich ihrerseits wohl aus den am Reichshofrat üblichen Reskripten entwickelt. Die Einzelheiten der praktischen Anwendung des Appellationsverfahrens an den hohen Gerichten der Frühen Neuzeit sind trotz der reichen Aktenüberlieferung der Reichsgerichte noch nicht hinlänglich erforscht. So hat sich die rechtshistorische
35 Vgl. die statistischen Angaben bei Stodolkowitz: Das Oberappellationsgericht Celle (wie Anm. 4), S. 169f. 36 Hans-Konrad Stein: Bericht über den Tribunalsbestand im Stadtarchiv Wismar und Vorschläge zur Verzeichnung der Tribunalsakten, in: Nils Jörn / Bernhard Diestelkamp / Kjell Ake Modéer (Hrsg.): Integration durch Recht. Das Wismarer Tribunal (1653–1806) (QFHG, Bd. 47). Köln/Weimar/ Wien 2003, S. 367–370, hier S. 369. 37 Ludwig Harscher von Almendingen: Metaphysik des Civil-Processes oder Darstellung der obersten Grundsätze des gerichtlichen Verfahrens in den bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten. Ein Handbuch für gebildete Geschäftsmänner. Gießen 1821, S. 189; Friedrich Christian Bergmann: Grundriß einer Theorie des deutschen Civilprocesses. ND der Ausgabe Göttingen 1827. Aalen 1973, S. 286; Justus Claproth: Einleitung in den ordentlichen bürgerlichen Proceß. Zum Gebrauche der practischen Vorlesungen, Zweyter Theil. 3. Aufl. Göttingen 1795, S. 587f.; Wilhelm August Friedrich Danz: Grundsätze des gemeinen, ordentlichen, bürgerlichen Prozesses. 2. Aufl. Stuttgart 1795, S. 601; Wilhelm Endemann: Das deutsche Zivilprozessrecht. ND der Ausgabe Heidelberg 1868. Aalen 1969, S. 925; Nikolaus Thaddäus Gönner: Handbuch des deutschen gemeinen Prozesses in einer ausführlichen Erörterung seiner wichtigsten Gegenstände, Bd. III. Erlangen 1802, S. 426; Sylvester Jordan: Art. Appellation, in: Julius Weiske (Hrsg.): Rechtslexikon für Juristen aller teutschen Staaten enthaltend die gesammte Rechtswissenschaft, Bd. I. Leipzig 1839, S. 351–408, hier S. 399; Ernst Peter Johann Spangenberg: Art. Appellation, in: Johann Samuel Ersch / Johann Gottfried Gruber (Hrsg.): Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste, Fünfter Theil. Leipzig 1820, S. 3a.
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Forschung auch mit den Ordinationen als gerichtlichen Entscheidungen außerhalb des Appellationsprozesses bislang nicht vertiefend befasst. Eine Ursache hierfür dürfte in der Aktenführung des Reichskammergerichts liegen, nach der Akten, anders als am Celler Oberappellationsgericht, erst im Stadium des Appellationsprozesses (Judizialverfahren) angelegt wurden, so dass die vor diesem liegende Phase des Extrajudizialverfahrens nicht lückenlos dokumentiert ist.³⁸ Im Übrigen sind auch die Gemeinen Bescheide des Reichskammergerichts³⁹ insofern unergiebig; sie erwähnen die Ordinationen nicht. Dies bestätigt die Erkenntnis Oestmanns, nach der die Gemeinen Bescheide die gerichtliche Praxis des Reichskammergerichts nicht lückenlos widerspiegeln.⁴⁰ Einen Ansatzpunkt für weitere Untersuchungen bieten insofern mehrere in lateinischer Sprache verfasste Abhandlungen des 18. Jahrhunderts, die sich mit diesen Verfahrensmodalitäten befassen. Die früheste ist eine Schrift aus Mainz aus dem Jahre 1753 unter dem Titel „Dissertatio inauguralis politico-publica de ordinationibus, seu novo judicandi genere supremorum imperii tribunalium“. Pütter nahm diese Abhandlung 1766 in seinen Sammelband „Opuscula rem iudiciariam illustrantia“ auf.⁴¹ Schon ihr Titel bezeichnet die Ordinationen als eine neue Verfahrensweise der Reichsgerichte. Diese gründete, so der Verfasser der Abhandlung, Johann Franz Anton Marx, auf der Erkenntnis, dass das Rechtsmittelgericht in eindeutigen Fällen ein Verfahren durch wenige Worte an den Vorderrichter viel schneller und effizienter bearbeiten kann als durch einen aufwendigen Prozess.⁴² Diesen Weg habe der Reichshofrat in Gestalt von Reskripten an den Vorderrichter beschritten. Marx referiert unter Bezugnahme auf Mosers „Merkwürdige Reichs-Hoffraths-Conclusa“ zahlreiche Verfahren aus dem ersten Drittel des 18. Jahrhunderts, in denen der Reichshofrat die Eröffnung des Appellationspro-
38 Peter Oestmann: Die Rekonstruktion der reichskammergerichtlichen Rechtsprechung des 16. und 17. Jahrhunderts als methodisches Problem, in: ders.: Aus den Akten des Reichskammergerichts. Prozeßrechtliche Probleme im Alten Reich (Rechtsgeschichtliche Studien, Bd. 6). Hamburg 2004, S. 368f.; Filippo Ranieri: Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert (QFHG, Bd. 17), Bd. 1. Köln/Wien 1985, S. 77; vgl. Anette Baumann: Die quantifizierende Methode und die Reichskammergerichtsakten, in: Anette Baumann / Siegrid Westphal / Stephan Wendehorst / Stefan Ehrenpreis (Hrsg.): Prozeßakten als Quelle. Neue Ansätze zur Erforschung der Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich (QFHG, Bd. 37). Köln/Weimar/Wien 2001, S. 55–67, hier S. 58f. 39 Herangezogen wurde die Edition Oestmann (Hrsg.): Gemeine Bescheide (wie Anm. 34). 40 Oestmann (Hrsg.): Gemeine Bescheide (wie Anm. 34), S. 58. 41 Johann Stephan Pütter: Opuscula rem iudiciariam imperii illustrantia. Frankfurt a. M./Leipzig 1768, S. 602–650. 42 Johann Franz Anton Marx: Dissertatio inauguralis politico-publica de ordinationibus, seu novo judicandi genere supremorum imperii tribunalium. Mainz 1753, S. 18.
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zesses beschloss, zugleich aber das weitere Verfahren aussetzte, ein Reskript an den Vorderrichter erließ und diesen aufforderte, dem Rechtsmittel abzuhelfen und darüber zu berichten. Kam der Vorderrichter dieser Aufforderung des Reichshofrats nach, bedurfte es des Appellationsprozesses nicht.⁴³ Das früheste von Marx erwähnte derartige Verfahren stammt aus dem Jahre 1712. Für das Reichskammergericht leitet Marx die Entstehung der Ordinationen von den decreta praelocutoria ab, durch die das Gericht vor der Entscheidung mit der Formel „Noch zur Zeit abgeschlagen“ Vorgaben erteilte, die der Rechtsmittelführer erfüllen musste, damit das Gericht den Appellationsprozess eröffnete. Diese Vorgaben betrafen ursprünglich vorwiegend die Zulässigkeit des Verfahrens. Das Reichkammergericht konnte dem Appellanten aber auch aufgeben, sich zunächst noch einmal an den Vorderrichter zu wenden, damit dieser der Appellation abhelfe. Eine solche Verfügung wurde als Ordination bezeichnet; sie richtete sich in der Regel nicht unmittelbar an den Vorderrichter, sondern an den Appellanten, und unterschied sich dadurch von den Reskripten des Reichshofrats. Marx zitiert etliche Beispielsfälle aus der Gerichtspraxis, die er dem Werk Georg Melchior von Ludolfs⁴⁴ entnimmt.⁴⁵ Der erste Fall, den Marx erwähnt, stammt schon aus dem Jahre 1691. Gut zwanzig Jahre später, 1776, am Ende also der Reichskammergerichtsvisitation, befasste sich Peter Joseph Cramer von Clausbruch (1752–1820) erneut mit diesem Thema. Seine ebenfalls an der Universität Mainz entstandene Dissertation trägt den Titel „dissertatio inauguralis de ordinationibus in processu camerae imperialis usitatis“. Da der Verfasser ein Sohn des kurkölnischen Reichskammergerichtsassessors Johann Arnold Cramer von Clausbruch (1720–1792) war,⁴⁶ ist anzunehmen, dass er über vertiefte Einblicke in die Verfahrenspraxis des Reichskammergerichts verfügte. Während die Abhandlung von Marx vor allem Beispiele aus der Praxis des Reichskammergerichts und des Reichshofrats darstellt, nähert sich Cramer von Clausbruch, der diese empirisch-deskriptive Herangehensweise von Marx ausdrücklich kritisiert, dem Thema systematischer. Er beginnt seine Abhandlung mit einer Definition der am Reichskammergericht gebräuchlichen Ordinationen: „Ordinationes esse decreta, quibus Camera Imperialis partibus li-
43 Marx: Dissertatio inauguralis politico-publica (wie Anm. 42), S. 20–40. 44 Georg Melchior von Ludolf : De jure camerali commentatio systematica, ex fontibus legum publicarum et recessus visitationis novissimae concinnata, neueste Ausgabe, hrsg. von Johann Jakob von Zwierlein. Wetzlar 1741. 45 Marx: Dissertatio inauguralis politico-publica (wie Anm. 42), S. 58–69. 46 Sigrid Jahns: Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich (QFHG, Bd. 26/II), Bd. 1. Köln/Weimar/Wien 2003, S. 139.
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tigantibus extra ordinem in cujusvis processus genere prospicit.“⁴⁷ Er grenzt die Ordinationen von decreta praelocutoria und von Mandaten ab und unterscheidet verschiedene Erscheinungsformen von Ordinationen, die, wie er ausführt, sowohl im Extrajudizialverfahren als auch im Judizialverfahren Anwendung finden konnten. Weiters differenziert er zwischen ordinationes antecedaneae, die auf den Versuch einer gütlichen Einigung gerichtet seien, ordinationes accessoriae, die parallel zu Zitationen, Mandaten und Appellationsprozessen ergingen, und ordinationes principales, die anstelle anderer prozessualer Verfügungen erlassen wurden.⁴⁸ In Fällen, in denen das Reichskammergericht die Appellation aus formalen Gründen abschlug, konnte es dem Vorderrichter gleichwohl durch eine Ordination Anweisungen für das weitere Verfahren geben, wenn die Beschwerde des Appellanten sachlich gerechtfertigt erschien. So konnte das Gericht Einfluss auf territoriale Gerichtsverfahren auch dann nehmen, wenn die Voraussetzungen eines förmlichen Verfahrens vor dem Reichskammergericht nicht erfüllt waren.⁴⁹ Die weiteren systematischen Ausführungen Cramers setzen eine vollständige Übersetzung und Auswertung seiner Abhandlung voraus, die den Rahmen dieses Beitrages, der mehr Perspektiven eröffnen als Ergebnisse präsentieren soll, sprengen würde. Auch eine Dissertation des Gießener Juristen Helwig Bernhard Jaup (1750– 1806)⁵⁰ setzt sich mit den Ordinationen des Reichskammergerichts auseinander. Jaup war schon 1771 zum ordentlichen Professor der Rechte an der Universität Gießen berufen worden und legte 1777 seine Dissertation zum Erwerb der Doktorwürde vor. Sie trägt den Titel „Summa capita commentationis iuris publici germanici de privilegiorum de non adpellando S. R. I. statibus concessorum effectu quoad querelas nullitatis querelas denegatae seu protractae iustitiae, mandata de administranda iustitia, et alia remedia“. Im Titel der zweiten Auflage aus dem Jahre 1792 ersetzte der Autor die Worte „et alia remedia“ durch „et ordinationes“; Veränderungen des Inhalts der Abhandlung korrespondieren damit indes nicht. Jaup schildert Verfahrensformen neben dem erstinstanzlichen Verfahren und dem förmlichen Appellationsprozess, nämlich die Nichtigkeitsbeschwerde, die Rechtsverweigerungsbeschwerde, mandata de administranda iustitia sowie die Ordinationen. Diese Zusammenstellung erscheint insofern unsystematisch, als Nichtigkeits- und Rechtsverweigerungsbeschwerden eigenständige Rechtsmittel waren, mandata de administranda iustitia und Ordinationen hingegen Entscheidungsformen inner-
47 Peter Joseph Cramer von Clausbruch: Dissertatio inauguralis de ordinationibus in processu camerae imperialis usitatis. Mainz 1776. 48 Cramer von Clausbruch: Dissertatio inauguralis de ordinationibus (wie Anm. 47), S. 2f. 49 Cramer von Clausbruch: Dissertatio inauguralis de ordinationibus (wie Anm. 47), S. 54. 50 Zur Biographie siehe Teichmann: Art. Jaup, Helwig Bernhard, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 13. Leipzig 1881, S. 736f.
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halb hergebrachter Verfahrensweisen. So konnte das Reichskammergericht einer Rechtsverweigerungsbeschwerde anstelle des in der Reichskammergerichtsordnung⁵¹ vorgesehenen Promotorialschreibens oder der Avokation durch ein Mandat, das mandatum de administranda iustitia, stattgeben,⁵² und mit Ordinationen konnte es formlos und flexibel Anordnungen in verschiedenen Verfahrenssituationen treffen. Möglicherweise hatten sich diese Entscheidungsformen Ende des 18. Jahrhunderts so weit verselbständigt, dass Jaup sie als eigenständige Verfahrensweisen begriff. Hinsichtlich der Ordinationen unterschied Jaup ebenso wie Cramer von Clausbruch zwischen ordinationes antecedaneae, ordinationes principales und ordinationes accessoriae.⁵³ Die Brücke von der Praxis der Reichsgerichte mit ihren Ordinationen und Reskripten zur Verfahrenswirklichkeit in der Territorialjustiz schlägt eine Göttinger Dissertation aus dem Jahre 1798. Ihr Autor ist Heinrich Georg Friedrich Claren, der 1803 Advokat in Celle⁵⁴ und 1818 Prokurator bei der Celler Justizkanzlei⁵⁵ war. In seiner Abhandlung mit dem Titel „De eo quod iustum est circa rescripta de emendando seu ordinationes praesertim secundum ius provinciale Brunsvico Luneburgicum“ beschreibt er die vor den braunschweig-lüneburgischen Territorialgerichten, insbesondere dem Oberappellationsgericht Celle gebräuchliche Verfahrensweise, offensichtlich begründeten Appellationen durch ein an den Vorderrichter gewandtes rescriptum de emendando stattzugeben. Er setzt sie in Beziehung zu den Ordinationen des Reichskammergerichts, die er als Vorbild dieser Verfahrensweise nennt. Einen Vorläufer der Entscheidung durch Reskript sieht er in der Regelung der Oberappellationsgerichtsordnung von 1713,⁵⁶ nach der das Gericht auch in Fällen, in denen es den Appellationsprozess eröffnete, in der Sache entscheiden konnte, ohne dem Rechtsmittelgegner zuvor Gelegenheit zur Erwiderung zu geben, wenn die Rechtsmittelschrift keinen neuen Tatsachenvortrag
51 Teil II Tit. 26 § 2 RKGO 1555 = Laufs (Hrsg.): Die Reichskammergerichtsordnung (wie Anm. 27), S. 203. 52 Oestmann: Rechtsverweigerung (wie Anm. 30), S. 70. 53 Helwig Bernhard Jaup: Summa capita commentationis iuris publici germanici de privilegiorum de non adpellando S. R. I. statibus concessorum effectu quoad querelas nullitatis querelas denegatae seu protractae iustitiae, mandata de administranda iustitia, et ordinationes. 2. Aufl. Gießen 1792, S. 20–24. 54 Königl[ich] Groß-Brittannischer und Churfürst[lich] Braunschweig-Lüneburgischer StaatsKalender auf das Jahr 1803. Lauenburg 1803, S. 35. 55 Königlich Großbritannisch-Hannoverscher Staats-Kalender auf das Jahr 1818. Lauenburg 1818, S. 59. 56 Teil II Tit. 3 §§ 7, 8 OAGO = Chur-Braunschweig-Lüneburgische Landes-Ordnungen (wie Anm. 5), S. 78f.
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enthielt und die Sache einer weiteren Durchdringung durch Parteischriftsätze nicht bedurfte.⁵⁷ In den rescripta de emendando und wohl ebenso in den Ordinationen und Reskripten der Reichsgerichte kann eine verstärkte Zuwendung zu Entscheidungsmöglichkeiten außerhalb des förmlichen Appellationsprozesses gesehen werden, die ihre Ursache in dessen Schwerfälligkeit und meist langer Verfahrensdauer hat. Damit wurde zugleich eine Entwicklung verstärkt, die schon in der Möglichkeit, im Appellationsprozess ohne Austausch von Schriftsätzen nur aufgrund der vorinstanzlichen Akten und des Appellationslibells ein Urteil zu fällen, angelegt war: Die Appellation büßte zunehmend ihre ursprüngliche Funktion ein, eine zweite Tatsacheninstanz zu eröffnen, und bewirkte in den meisten Fällen nur noch eine rechtliche Überprüfung des erstinstanzlichen Verfahrens. Dem entsprach es, dass neuer Tatsachenvortrag in der Appellationsinstanz im Wege des sogenannten beneficium non probata probandi et non deducta deducendi⁵⁸ nur möglich war, wenn dargelegt wurde, weshalb die neuen Tatsachen nicht schon in der Vorinstanz vorgebracht werden konnten. Die Frage, ob die zweite Instanz eine erneute Sachprüfung eröffnet oder aber nur eine Rechtsprüfung, hängt untrennbar zusammen mit dem Widerstreit zwischen dem Interesse an der raschen Beendigung eines Rechtsstreits und dadurch entstehender Rechtssicherheit einerseits und dem Streben nach einer um jeden Preis materiell richtigen Entscheidung andererseits – auf beides sind die Rechtsuchenden gleichermaßen angewiesen. Dieser Widerstreit kann nie in jeder Hinsicht zufriedenstellend aufgelöst werden: Im Interesse der Rechtssicherheit ist es unumgänglich, der Dauer und Gründlichkeit des Verfahrens, der Zahl möglicher Rechtsmittel und dem jederzeitigen Vortrag neuer Tatsachen Grenzen zu setzen; dass, wenn diese Grenzen erreicht sind, eine Entscheidung in Rechtskraft erwachsen kann, die inhaltlich falsch ist, muss die Rechtsgemeinschaft in Kauf nehmen. Wie allgemeingültig diese Fragen sind, zeigen die Entwicklungen des geltenden Berufungsrechts in der Zivilprozessreform des Jahres 2002⁵⁹: Diese
57 Heinrich Georg Friedrich Claren: De eo quod iustum est circa rescripta de emendando seu ordinationes praesertim secundum ius provinciale Brunsvico Luneburgicum. Göttingen 1798, S. 12. 58 Von Bülow: Über die Verfassung (wie Anm. 10), S. 82; Friedrich von Bülow / Theodor Hagemann / Ernst Spangenberg: Practische Erörterungen aus allen Theilen der Rechtsgelehrsamkeit, hin und wieder mit Urtheils-Sprüchen des Zelleschen Tribunals und der übrigen Justizhöfe bestärkt, Bd. VIII, 2. Abtheilung. Hannover 1829, S. 84–116; Ernst Spangenberg: Über das beneficium non probata probandi et non deducta deducendi, in: Archiv für die civilistische Praxis 9 (1826), S. 52–70; vgl. Ludolf Hugo: Vom Missbrauch der Appellation, hrsg. von Peter Oestmann (QFHG, Bd. 62). Köln/Weimar/Wien 2012. 59 Vgl. beispielhaft Hannes Unberath: Der Zweck der Rechtsmittel nach der ZPO-Reform – Theorie und Praxis, in: Zeitschrift für Zivilprozeß 120 (2007), S. 323–345.
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schränkte die Tatsachenprüfung in der Berufungsinstanz ein und verschob das Schwergewicht der zweiten Instanz auf die Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils auf Rechtsfehler. Zugleich ermöglicht das neue Berufungsrecht die Zurückweisung des Rechtsmittels nach rechtlicher Prüfung durch einstimmigen Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO⁶⁰ – gleichsam eine moderne Form des früheren decretum reiectorium.
4 Perspektiven II. Die Fortentwicklung des Zivilprozesses im frühen 19. Jahrhundert In der geschichtlichen Entwicklung der Rechtspflege sind die Gerichte der Territorien das Bindeglied zwischen dem gemeinen Zivilprozess der Frühen Neuzeit und dem modernen Zivilprozess, der ab der Mitte des 19. Jahrhunderts entstand und die Grundlage der heutigen Prozesspraxis bildet. Denn während die Judikatur des Reichskammergerichts und des Reichshofrats mit der Auflösung des Alten Reiches 1806 endete, setzten die Territorialgerichte ihre Tätigkeit über diese Zäsur hinweg fort, und zwar, dies zeigt jedenfalls das Celler Beispiel, zunächst ohne nennenswerte Änderungen; sie wandten auch in den folgenden Jahrzehnten den gemeinen Zivilprozess und damit im Wesentlichen den Prozess der Reichsgerichte an. So folgte die Rechtspraxis auch nach 1806 faktisch noch dem Vorbild des nicht mehr bestehenden Reichskammergerichts. Dies hat die Auswertung der Akten des Oberappellationsgerichts Celle aus dem Herzogtum Lauenburg gezeigt, deren Bestand bis ins Jahr 1816 reicht und die damit zehn Jahre über das Ende des Alten Reiches hinausgehen. Die Fortentwicklung des Zivilprozesses in den Jahrzehnten nach 1806 ist insofern ein Annex zur Geschichte der höchsten Reichsgerichte. Die Überlieferung des Oberappellationsgerichts Celle eröffnet auch für diesen Zeitraum die Möglichkeit einer auf Prozessakten gestützten Untersuchung. Zwar endet der Aktenbestand im Landesarchiv Schleswig mit dem Jahre 1816. Im Staatsarchiv Osnabrück sind jedoch in einem rund 400 Akten umfassenden Bestand⁶¹ zahlreiche Prozessakten des Oberappellationsgerichts aus den folgenden Jahrzehnten überliefert. Denn infolge der Gebietsgewinne des Königreichs Hannover nach den napoleonischen
60 Vgl. Uwe Gerken, in: Bernhard Wieczorek / Rolf A. Schütze: Zivilprozeßordnung und Nebengesetze. 4. Aufl. Berlin 2014, § 522 Rdnr. 62. 61 Niedersächsisches Staatsarchiv Osnabrück, Rep. 921; vgl. Theodor Penners (Hrsg.): Übersicht über die Bestände des Niedersächsischen Staatsarchivs in Osnabrück (Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archivverwaltung, Bd. 36). Göttingen 1978, S. 283f.
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Kriegen dehnte sich die Zuständigkeit des Oberappellationsgerichts Celle in den Jahren 1814 bis 1816 auf das Fürstentum Osnabrück, die Niedergrafschaft Lingen, die Grafschaft Bentheim und den Kreis Meppen aus.⁶² Dieser Aktenbestand umfasst vor allem die Jahrzehnte bis zur Reform der hannoverschen Justizorganisation und des Zivilprozesses der Jahre 1850/1852,⁶³ die den hergebrachten gemeinen Zivilprozess durch ein modernes mündliches Verfahren ersetzte und damit ein Bindeglied ist zur reichsweiten Reform des Zivilprozesses durch die Reichsjustizgesetze der Jahre 1877/1879. Der Aktenbestand des Oberappellationsgerichts im Staatsarchiv Osnabrück eröffnet Wege, die weitere Entwicklung des gemeinen Zivilprozesses bis zu den großen Zivilprozessreformen in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu untersuchen. Gegenstand solcher weiterer Untersuchungen könnte neben allgemeinen Untersuchungen der Verfahrenspraxis die Ausgestaltung des Rechtsmittels der Appellation im frühen 19. Jahrhundert sein; insofern stellt sich die Frage, wie sich die Appellation des gemeinen Zivilprozesses über die Zivilprozessrechtsreformen des 19. Jahrhunderts zur Berufung des modernen Zivilprozesses entwickelte. Von Interesse ist auch die Frage, welche Rolle das – aufgrund der weiteren Entwicklung des Prozessrechts verschwundene – Rechtsmittel der Rechtsverweigerungsbeschwerde in der territorialen Rechtspraxis des 19. Jahrhunderts hatte. Für die Verfahrenspraxis des frühen 19. Jahrhunderts sind ebenso wie für das 18. Jahrhundert im Übrigen Vergleiche mit anderen Territorialgerichten wünschenswert.
5 Schluss Das Wörtchen „wünschenswert“ ist insofern symptomatisch: Mit diesem Beitrag sollten – nach einem kurzen Überblick über die Bilanz bisheriger Forschungen – weniger Ergebnisse präsentiert als vielmehr Fragen aufgeworfen und zugleich mögliche Wege für künftige Untersuchungen aufgezeigt werden. Ein Feld, das wei-
62 Ernst Peter Johann Spangenberg: Das Oberappellationsgericht in Celle für das Königreich Hannover nach seiner Verfassung, Zuständigkeit und dem bei demselben Statt findenden Geschäftsgange und Proceßverfahren. Celle 1833, S. 16. 63 Martin Ahrens: Prozeßreform und einheitlicher Zivilprozeß. Einhundert Jahre legislative Reform des deutschen Zivilverfahrensrechts vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis zur Verabschiedung der Reichszivilprozeßordnung (Tübinger Rechtswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 102). Tübingen 2007, S. 430–487; Karl Gunkel: Zweihundert Jahre Rechtsleben in Hannover. Zur Erinnerung an die Gründung des kurhannoverschen Oberappellationsgerichts in Celle am 14. Oktober 1711. Hannover 1911, S. 300–307; Bernhard Heile: Die Zeit von 1733 bis 1866, in: Harald Franzki (Hrsg.): Festschrift zum 275jährigen Bestehen des Oberlandesgerichts Celle. Celle 1986, S. 63–107, hier S. 99–106.
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terer Bearbeitung bedarf, sind die durch den Gerichtsgebrauch im 18. Jahrhundert entwickelten Sachentscheidungsformen außerhalb des förmlichen Prozesses, die Ordinationen des Reichskammergerichts und die Reskripte des Reichshofrats. Zu den letzteren dürfte von den derzeitigen Forschungen zum Appellationsverfahren am Reichshofrat⁶⁴ Erkenntnisgewinn zu erwarten sein. Für die Ordinationen des Reichskammergerichts stehen die erwähnten Abhandlungen des 18. Jahrhunderts zur Verfügung, die zunächst übersetzt und vertiefend ausgewertet werden müssen, damit belastbare Aussagen über die Ordinationen und ihre verfahrenstechnische Einordnung getroffen werden können. Ein Ergebnis kann schon jetzt festgehalten werden: Das Reichskammergericht hielt auch in seiner Spätphase nicht starr an den überlieferten Regeln des förmlichen Prozesses fest, sondern entwickelte daneben neue Verfahrensweisen, mit denen es flexibler und oftmals effizienter auf Einzelfallfragen reagieren konnte. Eingang in die Territorialjustiz fand die neue Verfahrensweise in Gestalt der rescripta de emendando, deren Anwendung und Ausgestaltung anhand der überlieferten Prozessakten des Oberappellationsgerichts Celle zu beobachten ist. Unklar erscheint bislang, weshalb die zeitgenössischen Schriftsteller die Emendationsreskripte eher mit den Ordinationen des Reichskammergerichts gleichsetzten als mit den Reskripten des Reichshofrats, waren sie doch, ebenso wie diese und im Gegensatz zu jenen, nicht an die gegnerische Partei gerichtet, sondern unmittelbar an den Vorderrichter. Der Hintergrund für die Entstehung von Ordinationen und Reskripten dürfte die hohe Arbeitsbelastung der obersten Gerichte gewesen sein. Diese waren nicht mehr in der Lage, jeden an sie herangetragenen Fall im förmlichen Prozess detailliert selbst zu durchdringen. Ordinationen und Reskripte eröffneten die Möglichkeit, in einfach gelagerten Fällen den wesentlichen Punkt, auf den sich die Rechtsmittelbeschwer bezog, durch Vorgaben an den Vorderrichter zu entscheiden und diesem das übrige Verfahren zu überlassen. Dies stärkte die unteren Instanzen und entlastete die Reichsgerichte, trug aber zugleich dazu bei, dass sich der Schwerpunkt der Rechtsprechung mehr und mehr auf die Territorialgerichte verlagerte – eine Entwicklung, die auch an anderen Beispielen wie etwa den Rechtsverweigerungsverfahren abgelesen werden kann⁶⁵ und die kennzeichnend ist für die Spätphase der Reichsgerichtsbarkeit: Der Zweck der höchsten Gerichtsbarkeit des Reiches, Frieden und Recht im Reich zu gewährleisten, wurde zunehmend nicht mehr durch eine rege Tätigkeit der Reichsgerichte selbst erfüllt, 64 Vgl. Ellen Franke: Bene appellatum et male iudicatum. Appellationen an den Reichshofrat in der Mitte des 17. Jahrhunderts an Beispielen aus dem Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreis, in: Auer/Ortlieb (Hrsg.): Appellation und Revision (wie Anm. 1), S. 121–145, hier S. 123. 65 Stodolkowitz: Rechtsverweigerung und Territorialjustiz (wie Anm. 29), S. 180f.
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sondern durch eine den Vorgaben der Reichsgerichte entsprechende, im Übrigen aber überwiegend selbständige Tätigkeit der Territorialgerichte. Diese setzten ihre Tätigkeit nach dem Ende des Alten Reiches zunächst weitgehend unverändert fort; sie sind damit die Brücke, die den gemeinen Zivilprozess der frühen Neuzeit mit dem modernen Zivilprozess verbindet.
Stefan Xenakis
Daß man täglich die Bauern, schaarenweise in Wetzlar auf die Sollicitatur ziehen sieht Legitimation von Rechtsansprüchen in Untertanenprozessen
1 Einleitung Mit diesem Beitrag wird ein Projekt zur Erforschung von Untertanenprozessen an den höchsten Gerichten des Alten Reichs vorgestellt. Es ist im LOEWE¹ -Schwerpunkt „Außergerichtliche und gerichtliche Konfliktlösung“ angesiedelt; hierbei handelt es sich um einen vom Land Hessen finanzierten Forschungsverbund von Universität und Fachhochschule Frankfurt am Main, dem Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte und der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung. Das hier vorgestellte Teilprojekt hat zum Ziel, die seit den 1970er Jahren geleistete, sehr umfangreiche Forschung zu Untertanenprozessen am Reichskammergericht und am Reichshofrat in einer Bibliographie zu erfassen und die dort vorgestellten Formen der Konfliktlösung vor Gericht und im Umfeld der Prozesse systematisch zu erschließen und zugänglich zu machen.
1.1 Fragestellung im Rahmen des LOEWE-Schwerpunkts Der LOEWE-Schwerpunkt „Außergerichtliche und gerichtliche Konfliktlösung“ hat zwei vorrangige Erkenntnisziele. Er will erstens untersuchen, wie außergerichtliche Verfahren dabei helfen können, mit Streitigkeiten im internationalen Raum umzugehen, für die keine einheitliche Rechtsprechung angewendet werden kann. Zweitens geht es um Anregungen für die Rechtspraxis in Deutschland, wo zwischen Unternehmen und auch zwischen Privatleuten immer häufiger außergerichtliche Einigungen angestrebt werden. Bei beiden Fragekomplexen spielt die 1 Landesoffensive zur Entwicklung wissenschaftlich-ökonomischer Exzellenz. Siehe http://www. konfliktloesung.eu (abgerufen am: 23. 04. 2014). Dieser Beitrag baut in seiner Grundidee und in Teilen neben dem im Herbst 2013 in Wetzlar gehaltenen Vortrag auf ein im Rahmen des Schwerpunkts veröffentlichtes Arbeitspapier auf; vgl. Stefan Xenakis: Legitimation von Ansprüchen und Konfliktlösung bei Untertanenprozessen im Alten Reich. Frankfurt a. M. 2014, http://publikationen. ub.uni-frankfurt.de/files/32902/140402_xenakis.pdf (abgerufen am: 23. 04. 2014).
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Vielfalt von rechtlichen Regelungen angesichts wachsender kultureller Diversität eine Rolle, vor allem wenn es um die Akzeptanz von Vergleichslösungen geht.² Aufgrund dieser „Multinormativität“³ kann die rechtsgeschichtliche Forschung zum Alten Reich für die genannte Fragestellung relevant sein.⁴ Denn das Gemeine Recht galt bekanntermaßen nur subsidiär. In gerichtlichen Auseinandersetzungen galten vielmehr oft spezifische Rechte und Ansprüche, die speziell bei Untertanenprozessen deutlich divergierten. Zum Beispiel stießen moderne Eigentumsvorstellungen auf die alte Idee des geteilten Eigentums. Untertanenschaften orientierten sich gleichzeitig an den Ideen der Aufklärung und an überkommenen Rügebräuchen. Zu fragen ist ferner, wie man mit Problemen der Entscheidungsfindung umging, die sich auch heute noch stellen. Wie löste man etwa Fragen der Teilhabe, der Kosten, vor allem aber der Akzeptanz und der Durchsetzung von Urteilen? Welche Handlungszwänge gab es hier und wie wurden sie umgangen?⁵ Welche Faktoren gaben den Ausschlag, einen Konflikt vor Gericht, mit einem Vergleich oder gewaltsam zu lösen?⁶ Zur Beantwortung dieser Fragen soll im Rahmen des LOEWE-Schwerpunkts nach einer „klaren heuristischen Typologie und interdisziplinär anschlussfähigen Begrifflichkeiten“⁷ gesucht werden. Dies soll im Folgenden versucht werden. Zunächst jedoch sollen die Größenordnung des Phänomens „Untertanenprozesse“ verdeutlicht und die in der einschlägigen Literatur erarbeiteten Forschungsparadigmen vorgestellt werden.
1.2 Größenordnung und Bedeutung des Phänomens Untertanenprozess Untertanenprozesse kamen nicht selten, sondern sehr häufig vor: Diese Gattungen von Klagen sind leider in neueren Zeiten so häufig, daß man täglich die Bauern,
2 Vgl. Peter Collin: Richten und Schlichten. Differenzen und Komplementaritäten. Frankfurt a. M. 2012, http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/files/26974/121214_Collin_Richten_und_ Schlichten.pdf (abgerufen am: 23. 04. 2014), S. 4. 3 Vgl. ebd., S. 7. 4 Vgl. Xenakis: Legitimation (wie Anm. 1), S. 2. Auch fördert der interkulturelle Vergleich von Konfliktlösungssystemen Ähnlichkeiten mit Lösungen der Frühen Neuzeit zutage. Vgl. Bryanna Connolly: Non-State Justice Systems and the State. Proposal for a Recognition Typology, in: Connecticut Law Review 38 (2005/2006), S. 239–294, hier S. 241f. 5 Vgl. Collin: Richten (wie Anm. 2), S. 5. 6 Vgl. Carolin Stenz / Dennis Vogt: InitialWorkshop: Schlichten und Richten. Differenzierung und Hybridisierung, in: Journal on European History of Law 2 (2012), S. 175f., hier S. 175. 7 Vgl. Stenz / Vogt: InitialWorkshop (wie Anm. 6), S. 176.
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schaarenweise in Wetzlar auf die Sollicitatur ziehen sieht.⁸ Nicht nur dieser Eindruck Johann Jacobs von Zwierlein belegt dies. Vielmehr sah die Staatstheorie des 18. Jahrhunderts Auseinandersetzungen zwischen bäuerlichen Gemeinden und ihren Landesherren als einen ganz gewöhnlichen Vorgang⁹ und wichtigen Teil des politischen Geschehens in der Auseinandersetzung mit der Reichsverfassung an.¹⁰ Und auch die Forschung erachtet sie als ein „strukturelles Merkmal“¹¹ des Alten Reiches. Die Reichsgerichte fungierten hierbei als „Steuerungsinstanz“ zwischen Obrigkeit und Untertanen.¹² Ziel ihrer Rechtsprechung war demnach weniger die Beendigung von Konflikten, als vielmehr deren Einhegung und die Vermittlung zwischen den Parteien.¹³ Zu beachten ist dabei, dass Untertanenprozesse zwar immer nur einen verhältnismäßig kleinen Anteil der Verfahren am Reichskammergericht bildeten,¹⁴ wenn
8 Zitiert nach Werner Troßbach: Bauernbewegungen im Wetterau-Vogelsberg-Gebiet 1648–1806. Fallstudien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte, Bd. 52). Darmstadt/Marburg 1985, S. 453. 9 Vgl. Werner Troßbach: Widerstand als Normalfall. Bauernunruhen in der Grafschaft Sayn-Wittgenstein 1696–1806, in: Westfälische Zeitschrift 135 (1985), S. 25–111, hier S. 26f. 10 Vgl. Matthias Bähr: Die Sprache der Zeugen. Argumentationsstrategien bäuerlicher Gemeinden vor dem Reichskammergericht (1693–1806) (Konflikte und Kultur, Bd. 26). Konstanz 2012, S. 9–12. 11 Peter Blickle: Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300–1800 (Enzyklopädie deutscher Geschichte, künftig: EdG, Bd. 1). München 1988, S. 97; zum Zusammenhang Revolte – Prozess vgl. Werner Troßbach: Bauernbewegungen in deutschen Kleinterritorien zwischen 1648–1789, in: Winfried Schulze (Hrsg.): Aufstände, Revolten, Prozesse. Beiträge zu bäuerlichen Widerstandsbewegungen im frühneuzeitlichen Europa (Geschichte und Gesellschaft, Bd. 27). Stuttgart 1983, S. 233–260, hier S. 239–242, 253; Troßbach: Bauernbewegungen im Wetterau-Vogelsberg-Gebiet (wie Anm. 8), S. 4f.; Andreas Würgler: Unruhen und Öffentlichkeit. Städtische und ländliche Protestbewegungen im 18. Jahrhundert (Frühneuzeit-Forschungen, Bd. 1). Tübingen 1995, S. 277; Peter Bierbrauer: Bäuerliche Revolten im alten Reich. Ein Forschungsbericht, in: Peter Blickle (Hrsg.): Aufruhr und Empörung? Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich. München 1980, S. 1–68, hier S. 16. Zu Konflikten kam es in der Regel in den Jahren der großen europäischen Subsistenzkrisen, in denen man von regelrechten „Revoltenbündeln“ sprechen kann. Vgl. Steinar Imsen / Günter Vogler: Communal Autonomy and Peasant Resistance in Northern and Central Europe, in: Peter Blickle (Hrsg.): Resistance, Representation, and Community (The Origins of the Modern State in Europe, 13th to 18th Centuries, Bd. E). Oxford 1997, S. 5–43, hier S. 28. 12 Zumindest gilt dies für das späte 16. Jahrhundert. Vgl. Bähr: Die Sprache der Zeugen (wie Anm. 10), S. 29–34; Filippo Ranieri: Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechtsund sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, künftig: QFHG, Bd. 17/I), 2 Bde. Köln/Wien 1985, S. 194. 13 Damit relativiert sich auch die teils legendäre Dauer einiger Auseinandersetzungen. Vgl. Imsen / Vogler: Communal Autonomy (wie Anm. 11), S. 29. 14 Vgl. dazu die Angaben bei Ranieri: Recht und Gesellschaft (wie Anm. 12), S. 234–245.
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man aber die Gesamtzahl der Verfahren von 70 000 bis 80 000 berücksichtigt, resultieren daraus hohe absolute Werte. In den Jahren zwischen 1600 und 1806 bewegte sich die Anzahl von ländlichen Ortschaften und deren Organen auf Klägerwie auf Beklagtenseite zwischen zwei und 16 Prozent des Gesamtprozessvolumens und fiel dabei nur selten unter acht Prozent.¹⁵ Johann Nikolaus Becker, Mitte der 1790er Jahre Praktikant in Wetzlar, ermittelte allein in der Zeit zwischen 1772 und 1796 nicht weniger als 456 Prozesse von Untertanen gegen Obrigkeiten.¹⁶
1.3 Forschungsparadigmen Winfried Schulze sprach in diesem Zusammenhang von einer „Verrechtlichung sozialer Konflikte“.¹⁷ Zuvor stand die Erforschung von Untertanenprozessen allein unter dem Widerstandsparadigma; nun wurde aber klar, dass das Recht ein Feld eröffnete, welches von Obrigkeiten und Untertanen als politisch handelnden Akteuren für Auseinandersetzungen genutzt wurde. Die zunächst breit diskutierten Verlaufsmuster von Untertanenrevolten¹⁸ erwiesen sich damit als zu global und zu wenig aussagekräftig in konkreten Situationen. Stärker rückten nun die Handlungen und sich ständig ändernden Beziehungen der Akteure, „Herrscher“ wie „Beherrschte“, in den Vordergrund.¹⁹
15 Vgl. Anette Baumann: Die Gesellschaft der frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung zum 17. und 18. Jahrhundert (QFHG, Bd. 36). Köln/Weimar/Wien 2001, S. 145. Der neueste Überblick zur Forschung bei Bähr: Die Sprache der Zeugen (wie Anm. 10), S. 29–34. Verweise auf weitere Titel bei André Holenstein: Bauern zwischen Bauernkrieg und Dreißigjährigem Krieg (EdG, Bd. 38). München 1996, S. 109f.; Ranieri: Recht und Gesellschaft (wie Anm. 12), S. 234; Baumann: Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit (wie Anm. 15), S. 74. 16 Vgl. Manfred Hörner / Maria Schimke: Prozesse zwischen Untertanen und ihren Herrschaften vor dem Reichskammergericht in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts. Auseinandersetzungen um Fronen und Besitzwechselabgaben im Hochstift Würzburg, in: Dieter Albrecht (Hrsg.): Europa im Umbruch 1750–1850. München 1995, S. 279–303, hier S. 279f. Zahlen aus den Territorien bewegen sich in ähnlichen Größenordnungen. Vgl. Imsen / Vogler: Communal Autonomy (wie Anm. 11), S. 27. 17 Vgl. Winfried Schulze: Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit (Neuzeit im Aufbau, Bd. 6). Stuttgart-Bad Cannstatt 1980. 18 Solche Modelle wurden z. B. vorgeschlagen von Peter Bierbrauer, Claudia Ulbrich oder Renate Blickle, vgl. Blickle: Unruhen (wie Anm. 11), S. 82–84. 19 Siehe z. B. David Martin Luebke: His Majesties’ Rebels. Communities Factions and Rural Revolt in the Black Forest 1725–1745. Ithaca 1997, S. 54 f., oder die bereits genannten Arbeiten Werner Troßbachs.
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Den politischen Rahmen dieser Auseinandersetzungen bildete, neben den hier interessierenden höchsten Gerichten, auch die Herrschaftspraxis vor Ort, die sich gerade nicht vom Widerstandsparadigma her erschließen lässt,²⁰ sondern zunehmend unter den Gesichtspunkten von Kommunikation²¹ und sozialer Interaktion²² untersucht wurde. Zu beachten ist ferner die soziale Schichtung der gesamten ländlichen Gesellschaft²³ – nicht nur zwischen Obrigkeiten und Untertanen – die sich ihrerseits auf Konfliktverläufe auswirkte.²⁴ Es zeigte sich auch ein weiterer wichtiger, aber noch wenig beachteter Einwand gegen das Widerstandsparadigma. Obrigkeiten klagten wahrscheinlich nicht seltener gegen Untertanen als Untertanen gegen Obrigkeiten.²⁵ Das Widerstands-
20 Vgl. David Sabean: Das zweischneidige Schwert. Herrschaft und Widerspruch im Württemberg der frühen Neuzeit. Berlin 1986, S. 38f. 21 Vgl. Ludolf Pelizaeus: Dynamik der Macht. Städtischer Widerstand und Konfliktbewältigung im Reich Karls V. (Geschichte in der Epoche Karls V., Bd. 9). Münster 2007, S. 22; Bähr: Die Sprache der Zeugen (wie Anm. 10); Barbara Stollberg-Rilinger: Einleitung, in: dies. / André Krischer (Hrsg.): Herstellung und Darstellung von Entscheidungen. Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne (Zeitschrift für Historische Forschung, künftig: ZHF, Beiheft 45). Berlin 2010, S. 9–31, hier S. 20. 22 Vgl. Sabean: Das zweischneidige Schwert (wie Anm. 20), S. 38f.; Holenstein: Bauern (wie Anm. 15), S. 109; Andreas Suter: „Troublen“ im Fürstbistum Basel (1726–1740). Eine Fallstudie zum bäuerlichen Widerstand im 17. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 79). Göttingen 1985, S. 36–39. 23 Vgl. Robert von Friedeburg: Lebenswelt und Kultur der unterständischen Schichten in der frühen Neuzeit (EdG, Bd. 62). München 2002; Carl-Hans Hauptmeyer: Bäuerlicher Widerstand in der Grafschaft Schaumburg-Lippe, im Fürstentum Calenberg und im Hochstift Hildesheim. Zur Frage der qualitativen Veränderung bäuerlicher Opposition am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Winfried Schulze (Hrsg.): Aufstände, Revolten, Prozesse (wie Anm. 11), S. 217–237, hier S. 226–232; Sabean: Das zweischneidige Schwert (wie Anm. 20), S. 38f. 24 Vgl. Heide Wunder: Die bäuerliche Gemeinde in Deutschland. Von der Herrschaft mit Bauern zur Herrschaft über Bauern. Göttingen 1986, S. 19; Imsen / Vogler: Communal Autonomy (wie Anm. 11), S. 13; Helmut Gabel: Ländliche Gesellschaft und lokale Verfassungsentwicklungen zwischen Maas und Niederrhein im 17. und 18. Jahrhundert, in: Jan Peters (Hrsg.): Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften (Historische Zeitschrift, künftig: HZ, Beiheft 18). München 1995, S. 241–260, hier S. 252; Heinrich Kaak: Diskussionsbericht, in: ebd., S. 439–502, hier S. 439f.; Monika Mommertz: Von Besen und Bündelchen, Brandmalen und Befehdungsschreiben. Semantiken der Gewalt und die historiographische Entzifferung von „Fehde“-Praktiken in einer ländlichen Gesellschaft, in: Magnus Eriksson / Barbara Krug-Richter (Hrsg.): Streitkulturen. Gewalt, Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft (16.–19. Jahrhundert) (Potsdamer Studien zur Geschichte der ländlichen Gesellschaft, Bd. 2). Köln/Weimar/Wien 2003, S. 197–248, hier S. 239, 245. 25 Belegt ist dies für das hessische Hofgericht, vgl. Armand Maruhn: Prozesse niederadeliger Grundherren gegen Dorfgemeinden vor dem hessischen Hofgericht 1500–1620, in: Eckart Conze / Alexander Jendorff / Heide Wunder (Hrsg.): Adel in Hessen. Herrschaft, Selbstverständnis und
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paradigma kann schon von daher nicht die Grundlage für eine umfassende Untersuchung von Untertanenprozessen sein. Doch auch Schulzes Verrechtlichungsthese stand in der Kritik und bedarf einiger Modifikationen. Zwei Punkte sind anzuführen. Erstens: Der Verrechtlichungsbegriff beinhaltet scheinbar auch solche rechtlichen Konfliktaustragungsformen, die ihren Ort außerhalb der Gerichte hatten, zum Beispiel die Fehde oder dörfliche Rügebräuche. Faktisch geht es in Schulzes These aber um die Zunahme justizförmigen Konfliktaustrags. Hier ist der in der Forschung kürzlich vorgeschlagene Begriff der „Judizialisierung“ exakter, der den Kern von Schulzes These, die verstärkte Beteiligung der Justiz an Austrag und Lösung von Konflikten, auf den Punkt bringt.²⁶ Hier schließt sich zweitens an: Die Rezeption des römischen Rechts bedeutete für die dörfliche Gemeinde die Übergabe der Rechtsprechung in die Hand professioneller Juristen.²⁷ Die Frage ist deshalb, ob und wie sich hier Prozesse der „Enteignung“, stärker aber vielleicht noch der Wiederaneignung des Rechts ereigneten. Denn dieser Vorgang ist vergleichbar mit der besser untersuchten parallelen Entwicklung im Adel. Die jüngere Forschung zeigt, dass sich dieser durch die Besetzung juristischer Schaltstellen und die intensive Nutzung der Gerichte einen großen Teil seiner Macht erhalten oder wieder angeeignet hat.²⁸ Ein Vergleich zwischen Adligen und Untertanen würde zwar vor allem die Unterschiede zwischen beiden Gruppen deutlich machen.²⁹ Dennoch handelt es sich um homologe Vorgänge, nämlich jeweils eine Entwicklung von Eigenmacht und rechtlicher
Lebensführung vom 15. bis ins 20. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, Bd. 70). Marburg 2010, S. 269–291, hier S. 278–282, für Reichshofratskommissionen in der Mitte des 17. Jahrhunderts, vgl. Eva Ortlieb: Im Auftrag des Kaisers. Die kaiserlichen Kommissionen des Reichshofrats und die Regelung von Konflikten im Alten Reich (1637–1657) (QFHG, Bd. 38). Köln/Weimar/Wien 2001, S. 74, und für das Reichskammergericht in derselben Zeit, vgl. Baumann: Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit (wie Anm. 15), S. 74. 26 Vgl. Maruhn: Prozesse (wie Anm. 25), S. 275. 27 Vgl. Volker Press: Stadt und Dorfgemeinde im territorialstaatlichen Gefüge des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, in: Peter Blickle (Hrsg.): Landgemeinde und Stadtgemeinde in Mitteleuropa. Ein struktureller Vergleich (HZ, Beiheft 13). München 1991, S. 426–454, hier S. 446. 28 Vgl. Christian Wieland: Adel und Rechtssystem in der Frühen Neuzeit, in: Alfried Wieczorek / Bernd Schneidmüller / Alexander Schubert / Stefan Weinfurter (Hrsg.): Die Wittelsbacher am Rhein. Die Kurpfalz und Europa, Bd. 2. Regensburg 2013, S. 26–28. 29 Vgl. Maruhn: Prozesse (wie Anm. 25), S. 288f.; Anette Baumann / Alexander Jendorff (Hrsg.): Adel, Recht und Gerichtsbarkeit im frühneuzeitlichen Europa (bibliothek altes Reich, künftig: baR, Bd. 15). München 2014; sowie den entsprechenden Tagungsbericht: Adel und (Höchste) Gerichtsbarkeit. Adelige Rechtskultur im alten Europa, 29. 11. 2012–01. 12. 2012, Wetzlar, in: H-Soz-u-Kult, 12. 02. 2013, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4638 (abgerufen am: 23. 04. 2014).
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Selbsthilfe hin zur Delegation von Entscheidungen. Man sollte also in beiden Fällen von Transformationsprozessen oder einem Enkulturationsprozess sprechen.³⁰ Dieses sehr global gezeichnete historische Bild entspricht dem rechtssoziologischen Entwurf Niklas Luhmanns, wenn er sagt, dass Gesellschaften, die das Selbsthilferecht durch „zunehmende Zentralisierung der Entscheidungen über die Anwendung physischen Zwangs“ ersetzen, unentscheidbare Konflikte durch anhand von (meist rechtlichen) Kriterien entscheidbare Konflikte substituieren und dadurch ihr Konfliktpotential kanalisieren.³¹ Hier sollte man allerdings vorsichtig sein: Aus der Ethnologie stammt die Erkenntnis, dass Gewalt häufig keine Vorform geregelter Auseinandersetzung darstellt.³² Und auch im Verlauf der frühneuzeitlichen Unruhen liefen gewaltsame und gerichtliche Auseinandersetzung gleichzeitig und in Beziehung zueinander.³³
30 Verfechter des Begriffs der „Enkulturation“ sehen die Formen des justizförmigen Konfliktaustrags als Ergebnis gegenseitiger Lernprozesse von Anbietern und Nutzern der Justiz an. Vgl. dazu und zum Gesamtzusammenhang Martin Dinges: Justiznutzungen als soziale Kontrolle in der Frühen Neuzeit, in: Andreas Blauert / Gerd Schwerhoff (Hrsg.): Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven; Bd. 1). Konstanz 2000, S. 503–544, hier S. 539f. Solche Prozesse wurden zum Beispiel von David M. Luebke für die Grafschaft Hauenstein detailliert nachgezeichnet. Vgl. Luebke: His Majesties’ Rebels (wie Anm. 19), bes. S. 228–230. André Krischer betont die Unmöglichkeit der einseitigen Aneignung von Institutionen der Justiz für fremde Zwecke, denn diese Aneignung funktioniere nur unter Übernahme einiger Regeln der Institution, könne also nur ein reziproker Vorgang sein. Vgl. André Krischer: Das Problem des Entscheidens in systematischer und historischer Perspektive, in: Stollberg-Rilinger / ders. (Hrsg.): Herstellung und Darstellung von Entscheidungen (wie Anm. 21), S. 35–64, hier S. 49. 31 Das Substituieren nicht entscheidbarer durch entscheidbare Konflikte wird laut Luhmann in komplexeren Gesellschaften durch das zeitweilige Aussetzen von Entscheidungen und das prinzipielle Anerkennen eines gemeinsamen Wertekanons ermöglicht, vor dessen Hintergrund die Entscheidung des Konflikts ausgehandelt werden kann. Vgl. Niklas Luhmann: Legitimation durch Verfahren. Frankfurt a. M. 1983, S. 101–105, von dort auch das Zitat. 32 Vgl. Simon Roberts: The Study of Dispute. Anthropological Perspectives, in: John Bossy (Hrsg.): Disputes and Settlements. Law and Human Relations in the West (Past and Present Publications). Cambridge 1983, S. 1–24, hier S. 9f., 14. 33 Vgl. Troßbach: Bauernbewegungen im Wetterau-Vogelsberg-Gebiet (wie Anm. 8), S. 490–494, 499; ders.: Widerstand (wie Anm. 9), S. 28; ders.: Soziale Bewegung und politische Erfahrung. Bäuerlicher Protest in hessischen Territorien 1648–1806. Weingarten 1987, S. 137f.; Alexander Schunka: Schertlin und sein Volk. Bemerkungen zur Wahrnehmung und Erinnerung von Herrschaftsfunktionen bei nordschwäbischen Landbewohnern um die Wende zum 17. Jahrhundert, in: Ralf-Peter Fuchs / Winfried Schulze (Hrsg.): Wahrheit, Wissen, Erinnerung. Zeugenverhörprotokolle als Quellen für soziale Wissensbestände in der Frühen Neuzeit (Wirklichkeit und Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit, Bd. 1). Münster 2002, S. 225–255, hier S. 234–236, 255; Suter: Troublen (wie Anm. 22), S. 234.
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Würde man nun ein an Luhmann angelehntes Typologisierungsmodell für Untertanenprozesse zur systematischen Erschließung des historischen, in der Literatur beschriebenen, Befunds verwenden, liefe man Gefahr, sich seine Entwicklungsperspektive gleichsam durch die Hintertür mit einzuhandeln und die angesprochenen neueren rechtsethnologischen Befunde³⁴ außer Acht zu lassen. Noch weniger kann man aber von der historischen Entwicklung absehen und dichotomisch zwischen Vorgängen am Gericht, vor Kommissionen oder in informellen Zusammenkünften unterscheiden. Denn einerseits gab es die kategoriale Trennung zwischen gerichtlichem und außergerichtlichem Konfliktaustrag vor dem 19. Jahrhundert nicht.³⁵ Vor allem aber unterschied sich andererseits der frühneuzeitliche Kameralprozess so stark von heutigen Formen, dass bei einem Vergleich völlig verschiedene Institutionen als „Gericht“ behandelt würden.³⁶ So entspräche zum Beispiel eine Kommission „zur Güte“ einem außergerichtlichen Vergleich, eine Kommission „zu Güte und Recht“ dagegen stärker noch als der Kameralprozess einem modernen Gerichtsverfahren – ohne dass sich die Abläufe grundsätzlich unterschieden hätten.³⁷
1.4 Forderungen an ein Erklärungsmodell Die Untersuchung setzt also besser bei grundlegenden Vorgängen an, die den Verlauf eines Konflikts bestimmen. Damit wird auch die dörfliche Lebenswelt und der dortige infrajustizielle Bereich besser erfasst.³⁸ Ferner muss, wenn es denn
34 Vgl. Roberts: The Study of Dispute (wie Anm. 32), S. 9f., 14. 35 Vgl. Renate Blickle: Die Tradition des Widerstandes im Ammergau. Anmerkungen zum Verhältnis von Konflikt- und Revolutionsbereitschaft, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie (künftig: ZAA) 35 (1987), S. 138–159, hier S. 146. 36 Vgl. Stollberg-Rilinger: Einleitung (wie Anm. 21), S. 16. 37 Zu den beiden Arten von Kommissionen siehe Sabine Ullmann: Geschichte auf der langen Bank. Die Kommissionen des Reichshofrats unter Kaiser Maximilian II. (1564–1576) (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz – Universalgeschichte, Bd. 214). Mainz 2006, S. 35f.; zu diesem Gedankengang vgl. Xenakis: Legitimation (wie Anm. 1), S. 5f. 38 Vgl. André Holenstein: Ordnung und Unordnung im Dorf. Ordnungsdiskurse, Ordnungspraktiken und Konfliktregelungen vor den badischen Frevelgerichten des 18. Jahrhunderts, in: Mark Häberlein (Hrsg.): Devianz, Widerstand und Herrschaftspraxis in der Vormoderne. Studien zu Konflikten im südwestdeutschen Raum (15.–18. Jahrhundert) (Konflikte und Kultur – historische Perspektiven, Bd. 2). Konstanz 1999, S. 165–198, hier S. 192–195. Zum Begriff der „Infrajustiz“ siehe Karl Härter: Konfliktregulierung im Umfeld frühneuzeitlicher Strafgerichte. Das Konzept der Infrajustiz in der historischen Kriminalitätsforschung, in: Kritische Vierteljahresschrift für
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zur gewaltsamen Auseinandersetzung kommt, die Funktion der Gewalt in der jeweiligen Auseinandersetzung verstanden und in Beziehung zum gerichtlichen Konfliktaustrag gesetzt werden.³⁹ Die bisherige Forschung hat auch gezeigt, dass es stabile Nebenwege, zum Beispiel die Perpetuierung eines spezifischen, nicht sehr relevanten Konflikts mit wenigen negativen Auswirkungen⁴⁰ oder typische gewaltsame Verläufe gibt, die mit in das Modell integriert werden müssen. Die Konfliktparteien trugen ihren Streit zudem meist an mehreren Schauplätzen aus. Man sollte also das Ziel, typische Konfliktverläufe abzubilden, erst einmal hintanstellen und einzelne entscheidende Situationen ansehen, mit der Aussicht, am Ende typische Muster erkennen zu können. Hier soll daher ein Modell vorgeschlagen werden, das Schlüsselmomente genauer in den Blick nimmt. Es geht um Situationen, in denen ein Konflikt eine Wendung nimmt. Sie sollen im Hinblick auf ihre faktischen und – in einem umfassenden Sinn – rechtlichen Voraussetzungen, die Kommunikationsstrukturen, in die sie eingebettet sind, sowie die Ziele der beteiligten Akteure untersucht werden. Darüber hinaus soll das Modell ein Korrektiv für die von den jeweiligen Autoren vorgeschlagenen Erklärungsmuster bilden. Ein besonderer Umstand dieses Projekts ist es nämlich, dass es sich aufgrund des umfangreichen Untersuchungsgegenstands in erster Linie auf Literatur stützt.
Gesetzgebung und Rechtsprechung 95 (2012), S. 130–144, hier S. 132. Härter betont vor allem den heuristischen Wert des Begriffs „Infrajustiz“. Er sieht ihn als „kritischen Ausgangspunkt“, der die Aufmerksamkeit auf Prozesse der Konfliktlösung im Vorfeld des eigentlichen justizförmigen Austrags lenkt und hilft, eine Dichotomie zwischen „gerichtlich“ und „außergerichtlich“ angesichts der in der frühen Neuzeit noch nicht klar definierten Grenzen beider Formen zu überwinden, vgl. ebd., S. 133. Ausführlich: Benoît Garnot (Hrsg.): L’Infrajudiciaire du Moyen Age à l’époque contemporaine (Publications de l’Université de Bourgogne n. s., Bd. 81, Série du Centre d’Etudes Historiques, Bd. 5). Dijon 1996; Francisca Loetz: L’infrajudiciaire, in: Blauert / Schwerhoff (Hrsg.): Kriminalitätsgeschichte (wie Anm. 30), S. 545–562. Loetz stellt in Anlehnung an Garnot fest, dass das Konzept der Infrajustiz zwar häufig für Konfliktlösungsprozesse im Vorfeld der Gerichte verwendet wird, sich aber einer schlüssigen Konzeptualisierung entzieht, ebd., S. 546. Siehe auch Stollberg-Rilinger: Einleitung (wie Anm. 21), S. 27f. 39 Vgl. Troßbach: Widerstand (wie Anm. 9); Luebke: His Majesties’ Rebels (wie Anm. 19), S. 86f.; Suter: Troublen (wie Anm. 22), S. 21–22, 87–88, 381–388. 40 Vgl. Stollberg-Rilinger: Einleitung (wie Anm. 21), S. 19.
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2 Vorstellung eines Analyserasters Die in Schlüsselmomenten wirksamen Faktoren sind vor allem die eben erwähnten Handlungsoptionen und -risiken begrenzt rational handelnder Akteure,⁴¹ die jene im Rahmen einer kulturell bestimmten Übersetzungsleistung in ihr Handlungskalkül einbeziehen und, indem sie dies tun, eine sozialgeschichtlich beschreibbare Struktur hinterlassen.⁴² Insofern lassen sich Schlüsselmomente als Entwicklungsschritte in einem Konflikt auffassen.
2.1 Systemtheoretische Grundlagen Die Konstruktion eines Schlüsselmoments soll, so wird hier vorgeschlagen, auf Hugues Neveux’ Erklärungsmodell bäuerlichen Widerstands beruhen. Neveux fasst konkrete Situationen als Momentaufnahmen in einem Netz von Wahrnehmungen und Beziehungen auf, angesiedelt zwischen dem sogenannten Wirklichen und dem sogenannten Gedachten.⁴³ In den Bereich des Gedachten gehören Ansprüche, Erwartungen und auch Rechtsvorstellungen. Im Bereich zwischen dem Wirklichen und dem Gedachten bilden sich Gewohnheiten heraus. Diese von Neveux in Anlehnung an Pierre Bourdieu so bezeichneten habitudes sind unhinterfragte Schemata adäquaten Verhaltens in bestimmten Situationen.⁴⁴ Wenn dieses Netz gestört wird, kann es sich so weit verändern, dass es nicht mehr in seinen Ausgangszustand zurückkehrt.⁴⁵ Die Beziehungen der Akteure zum Wirklichen und Gedachten verändern sich grundlegend.⁴⁶ Habitudes, die zum Beispiel die Beziehung zur Herrschaft betreffen, stehen grundsätzlich in Frage.
41 Vollständig rational handelnde Akteure stehen nicht in der Notwendigkeit, etwas entscheiden zu müssen, sie können die notwendigen Handlungen logisch aus der Situation und ihrem Informationsstand ableiten. Vgl. Krischer: Das Problem des Entscheidens (wie Anm. 30), S. 36; Luhmann: Legitimation (wie Anm. 31), S. 60. 42 Vgl. Andreas Suter: Theorien und Methoden für eine Sozialgeschichte historischer Ereignisse, in: ZHF 25 (1998), S. 209–244, hier S. 228f. 43 Neveux baut hier auf den Ansatz Ernst Cassirers auf, der die wahrgenommene Welt zwischen dem sog. Wirklichen und dem sogenannten Gedachten aufbaut. Eine Situation ist demnach ein Knotenpunkt in einem Netz von aufeinander bezogenen Wahrnehmungen zwischen diesem Wirklichen und dem Gedachten. Vgl. Hugues Neveux: Les révoltes paysannes en Europe (XIVe–XVIIe siècle) (L’évolution de l’humanité). Paris 1997, S. 225f., 240, 264f. 44 Vgl. ebd., S. 208f. 45 Störungen müssen keine punktuellen Ereignisse sein, sie können auch aus langfristigen Veränderungen eines Knotens in diesem Netz bestehen, z. B. Herrschaftswechsel oder neue Steuern. 46 Vgl. ebd., S. 225f., 240.
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Ein Konflikt hat hier seinen Ausgangspunkt. Das Netz verändert sich dabei nun so lange, bis ein neuer stabiler Zustand erreicht ist; und so lange verursacht die mangelnde Übereinstimmung zwischen den Bereichen weitere Konflikte. Innerhalb dieses Veränderungsprozesses gibt es Momente, die von den Akteuren als entscheidend wahrgenommen werden oder die in der Rückschau als diejenigen erscheinen, die eine bestimmte Entwicklung eingeleitet haben.⁴⁷ Solche Momente können entweder neue Störungen produzieren oder auf eine Stabilisierung des Systems hinauslaufen. Hieran angelehnt sollen die in diesem Projekt untersuchten Schlüsselmomente konzeptualisiert werden. Man kann davon ausgehen, dass sich Aktionen von Untertanenschaften in der Regel in Prozessakten und somit mittelbar in der Literatur niederschlagen, die Untertanenprozesse zum Gegenstand hat; und auch die Sicht der Zeitgenossen auf den Konflikt, ihre in diesem Zusammenhang interessierende Bewertung der Ereignisse als entscheidend, hat zumindest eine Chance dazu. Dies kann zum Beispiel in Form von Zeugenaussagen geschehen, die von Dörfern oder Gerichten als Beweismittel in Prozessen gesammelt wurden. Für die Anlage des hier vorgestellten Projekts bedeutet dies, dass man davon ausgehen kann, solche Schlüsselmomente in der vorhandenen Literatur zu finden. Die Hypothese, dass mit einer Störung das gesamte Gefüge aus Wahrnehmungen und Beziehungen unumkehrbar gestört wird und weitere Störungen produzieren kann, erklärt auch, dass nach dem Ausbruch eines Konflikts nicht nur der entsprechende Anlass thematisiert wird, sondern dass sich in den darauf häufig folgenden Klagen der bäuerlichen Gemeinden lange Punktationen über bisher nicht thematisierte Konfliktfelder finden,⁴⁸ oder dass der Ausbruch eines Konflikts oft eine ganze Reihe weiterer Konflikte ans Licht bringt.⁴⁹
2.2 Untersuchungskriterien Ein solchermaßen konzeptualisierter Schlüsselmoment lässt sich mit Begriffen analysieren, die Niklas Luhmann in seinem Modell einer Legitimation durch Verfahren entwickelt hat.⁵⁰ Luhmann beschreibt dort sozial wirksame Mechanismen, die zur Legitimation von Ansprüchen führen können. Gemäß Luhmann handelt
47 Vgl. ebd., S. 251, 260. Ein Indiz können auch die gängigen Eskalationsschemata bäuerlicher Revolten bieten. Vgl. z. B. Schulze: Bäuerlicher Widerstand (wie Anm. 17), S. 28; siehe auch Pelizaeus: Dynamik (wie Anm. 21), S. 19–21. 48 Vgl. Troßbach: Widerstand (wie Anm. 9), S. 44. 49 Vgl. Neveux: Les révoltes paysannes (wie Anm. 43), S. 251. 50 Vgl. Luhmann: Legitimation (wie Anm. 31).
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es sich bei einem Verfahren, im Idealfall, um ein ausdifferenziertes und gegen seine Umwelt abgegrenztes soziales System. Innerhalb dieses Systems werden Entscheidungen mit einer gewissen Systemautonomie verhandelt und so lange offen gehalten, bis sich die Akteure mit ihrer sozialen Rolle im Verfahren identifizieren und die Entscheidung am Ende des Verfahrens als legitim ansehen.⁵¹ Dieses Konzept lässt sich nun nicht ohne Anpassungen auf die Untersuchung frühneuzeitlicher Konflikte anwenden, geschweige denn auf die schriftlichen Verfahren von Reichskammergericht und Reichshofrat. Denn diese waren nicht im modernen Sinn ausdifferenziert und gegen ihre Umwelt abgegrenzt. Aber sie folgten einer eigenen, von der Umwelt nur nach bestimmten Regeln beeinflussbaren Handlungslogik,⁵² hielten Entscheidungen sehr lange offen und ermöglichten damit entweder deren Hinnahme oder Lösungen durch Kompromisse.⁵³ Außerdem boten sie Anreize für Gewaltverzicht und die schriftliche Formulierung von Ansprüchen, das heißt in Luhmanns Sinn, für die Substitution nicht entscheidbarer Konflikte durch solche, die vor Dritten verhandelt werden können.⁵⁴ In diesem Sinn beeinflussen sie den Konflikt und dessen Lösung vor Ort. Damit ist für das hier vorgeschlagene Modell ein neuer Bezugsrahmen geschaffen: nicht das Verfahren selbst, sondern das gesamte System aus Untertanen, Herrschaft und Gericht ist relevant.⁵⁵ Entscheidend ist dabei ein Zusammenspiel von zwei Faktoren: auf der einen Seite der Umstand, dass ein Anspruch, so lange das System aufgrund des Verfahrens offen gehalten und die Entscheidung verzögert wird, immer wieder aktualisiert werden kann. Auf der anderen Seite sieht das Verfahren der Reichsgerichte aber gleichzeitig auch spezifische Orte und Anlässe für das Verhandeln dieser Ansprüche vor, so dass sie die Chance haben, stabile Teile des Netzes aus Wahrnehmungen und Beziehungen zu werden. Man kann somit Luhmanns Begriffe als Grundlage einer Heuristik⁵⁶ zu Strategien des Konfliktaustrags nutzen und Schlüsselmomente dahingehend bewerten, ob sie in dem eben beschriebenen Sinn zu einer Lösung bzw. Beilegung des Kon-
51 Luhmanns Ansatz findet sich zusammengefasst bei Stollberg-Rilinger: Einleitung (wie Anm. 21), S. 9. 52 Vgl. Stollberg-Rilinger: Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Vormoderne politische Verfahren (ZHF, Beiheft 25). Berlin 2001, S. 9–24, hier S. 15. 53 Zur Offenheit der reichsgerichtlichen Verfahren, speziell Kommissionsverhandlungen, vgl. Ullmann: Geschichte (wie Anm. 37), S. 233f., 293. 54 Vgl. Luhmann: Legitimation (wie Anm. 31), S. 101–105. 55 Der Ansatz ähnelt in dieser Beziehung Troßbachs funktionalem Prozessbegriff, vgl. Troßbach: Bauernbewegungen im Wetterau-Vogelsberg-Gebiet (wie Anm. 8), S. 13–15. Zur Anwendung von Luhmanns Verfahrensbegriff als Grundlage für eine Heuristik siehe Krischer: Das Problem des Entscheidens (wie Anm. 30), S. 47–50. 56 Vgl. ebd., S. 47.
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flikts beitrugen. Um eine Heuristik handelt es sich insofern, als dass nicht a priori von der Annahme ausgegangen werden soll, dass Prozesse im Luhmann’schen Sinn vorlagen. Ein entsprechendes Raster könnte aus folgenden Fragestellungen bestehen:⁵⁷ – Führte eine Aktion und/oder das Artikulieren eines Anspruchs dazu, dass ein Konflikt als ein verhandelbarer, rechtlicher Konflikt anerkannt und auf den unmittelbaren, gewaltsamen Austrag verzichtet wurde?⁵⁸ – Werden Konfliktgegenstände spezifiziert, zum Beispiel durch Zeugenverhöre oder durch Punktationen?⁵⁹ – Wird die Entscheidung dann auch tatsächlich an eine dritte Instanz delegiert?⁶⁰ – Gibt es ein zumindest teilweise ausdifferenziertes System, das verbindliche Entscheidungen treffen kann, zum Beispiel eine von allen Seiten anerkannte Kommission?⁶¹ – Wird Komplexität in einer Weise reduziert, dass eine Entscheidung herbeigeführt werden kann? – Wird eine Entscheidung herbeigeführt oder zumindest im stillen Einvernehmen ausgesetzt, weil die Parteien einen modus vivendi ausgehandelt haben?⁶² Wenn man die in der Literatur behandelten Fälle auf entsprechende Vorgänge untersucht, kann man erkennen, an welchen Stellen innerhalb und außerhalb der Gerichte und auf wessen Initiative Konflikte einer Lösung zugeführt wurden. Wichtig ist, dass nicht nur Einzelfälle betrachtet werden, sondern die Untersuchung anhand möglichst vieler Vergleichsfälle darauf angelegt ist, wesentliche Tendenzen abzubilden.
57 Eine Vorform dieses Rasters wurde erstmals vorgeschlagen in: Xenakis: Legitimation (wie Anm. 1), S. 8. 58 Vgl. Otfried Höffe: Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat. Frankfurt a. M. 1989, S. 174f.; Luhmann: Legitimation (wie Anm. 31), S. 103f. 59 Vgl. ebd., S. 101–103. 60 Vgl. Höffe: Politische Gerechtigkeit (wie Anm. 58), S. 173f. Auch ein rechtlich definierter Anspruch kann in der frühen Neuzeit eigenmächtig durchgesetzt werden. Vgl. Ullmann: Geschichte (wie Anm. 37), S. 198f. 61 Vgl. Luhmann: Legitimation (wie Anm. 31), S. 59–68. 62 Vgl. Siegrid Westphal: Stabilisierung durch Recht. Reichsgerichte als Schiedsstelle territorialer Konflikte, in: Ronald G. Asch / Dagmar Freist (Hrsg.): Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Köln 2005, S. 235–254; Ortlieb: Im Auftrag des Kaisers (wie Anm. 25), S. 351f.; Barbara Stollberg-Rilinger: Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 127 (2010), S. 1–32, hier S. 25; Ullmann: Geschichte (wie Anm. 37), S. 223.
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2.3 Abgrenzung des Untersuchungsgegenstands Die gesamte Untersuchung bezieht sich auf Prozesse am Reichskammergericht und am Reichshofrat⁶³ sowie die damit verbundenen vor- und außergerichtlichen Konfliktaustrags- und -lösungswege. Es geht also um Territorien, die in den Reichsgerichten ihre erste Appellationsinstanz hatten.⁶⁴ Behandelt werden auch nur solche Vorgänge, die am Ende in einen Prozess mündeten. Diese Einschränkung ist die theoretisch am besten zu begründende, denn sie beschränkt die Stichprobe auf solche Fälle, die sich auch tatsächlich in Prozessen verhandeln ließen. Untersuchte man stattdessen alle Unruhen, würden sich zwangsläufig neue Abgrenzungsprobleme ergeben, speziell hin zu passiveren Formen des Widerstands, und man müsste die Kriterien dafür, welche Fälle man mit in die Untersuchung hinein nimmt und welche nicht, willkürlich wählen.⁶⁵ Ausgespart werden auch solche Konflikte, bei denen sich Ursache und Dynamik des Geschehens nicht primär im jeweiligen Territorium begründet liegen. Das sind vor allem Territorien übergreifende Kriege, wie der Bauernkrieg⁶⁶ oder der Bayerische Aufstand von 1705/06, bei dem es auch um die Abwehr einer Besatzungsmacht, also eines externen Faktors, ging.⁶⁷ Aus demselben Grund sollen auch Territorien reichsstädtischer Obrigkeiten ausgespart werden. Es hat sich gezeigt, dass diese im Streit mit den Untertanen teilweise stärker durch innerstädtische
63 Neben der arbeitspragmatischen Begründung lässt sich für diese Auswahl auch ein verfassungsgeschichtlicher Grund angeben: Mit der Reichsreform geht die Verpflichtung zum Schutz der Untertanen vom örtlichen Grundherren auf den Kaiser über, d. h. es geht um solche Fälle, die im Rahmen des Reichsrechts behandelt werden. Vgl. Pelizaeus: Dynamik (wie Anm. 21), S. 21. 64 Vgl. Peter Blickle: Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300–1800 (EdG, Bd. 1). 3. Aufl. München 2012, S. 117. 65 Vgl. ebd., S. 127; Imsen / Vogler: Communal Autonomy (wie Anm. 11), S. 27. 66 Zur Unterscheidung aufgrund der Größe und Ziele vgl. Suter: Theorien (wie Anm. 42), S. 214; Karl S. Bader / Gerhard Dilcher: Deutsche Rechtsgeschichte. Land und Stadt – Bürger und Bauer im alten Europa (Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaft / Abteilung Rechtswissenschaft). Berlin/Heidelberg/New York u. a. 1999, S. 188f.; Winfried Schulze: Klettgau 1603. Von der Bauernrevolte zur Landes- und Policeyordnung, in: Heinrich Richard Schmidt (Hrsg.): Gemeinde, Reformation und Widerstand. Festschrift für Peter Blickle zum 60. Geburtstag. Tübingen 1998, S. 415–431, hier S. 425; Imsen / Vogler: Communal Autonomy (wie Anm. 11), S. 28; Neveux: Les révoltes paysannes (wie Anm. 43), S. 274; Matthew Koch: Rezension zu Hugues Neveux, Les révoltes paysannes en Europe, in: The Sixteenth Century Journal 29 (1998), S. 1162–1165, hier S. 1164. 67 Vgl. Friedeburg: Lebenswelt (wie Anm. 23), S. 122f. Ähnliches gilt für den Oberösterreichischen Bauernkrieg von 1595–1597, den Bayerischen Bauernaufstand von 1633 bis 1634 (hier wirken sich konfessionelle Probleme aus), den Schweizer Bauernkrieg von 1653, die Böhmische Revolte von 1680 und von 1775. Zu dieser Liste vgl. Imsen / Vogler: Communal Autonomy (wie Anm. 11), S. 28, und Schulze: Bäuerlicher Widerstand (wie Anm. 17), S. 61.
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Interessen und Konflikte beeinflusst wurden als durch den Streit selbst.⁶⁸ Mit einbezogen werden allerdings Landstädte, schon aufgrund der häufig vorgetragenen Forderung, landstädtische und ländliche Unruhen nicht voneinander isoliert zu betrachten.⁶⁹ Der zeitliche Schlusspunkt der Untersuchung wird mit der Französischen Revolution angesetzt, da auch hier Einflüsse von außerhalb der jeweiligen Territorien maßgeblich wurden und zu landesweiten Aufständen führten.⁷⁰ Auch hatten diese Aufstände teilweise eine neue rechtliche Qualität. Ein Indiz dafür ist, dass es nun zum ersten Mal seit dem Bauernkrieg wieder zu Archivverbrennungen kam.⁷¹
2.4 Umsetzung im Rahmen des Projekts Im Rahmen des Projekts wird die Literatur zu Untertanenprozessen⁷² anhand des oben unter Abschnitt 2.2 beschriebenen Rasters ausgewertet, und zwar speziell die dort als Formen des Konfliktaustrags beschriebenen – hier als Schlüsselmomente bezeichneten – Schritte von Obrigkeiten, Untertanen, Gerichten oder anderen Dritten. Entscheidend für die Aufnahme eines Schrittes in die Auswertung ist, dass er in irgendeiner Art rechtliche Qualität hatte, sei es als Klage, als Prozessschritt, als Supplikation, als rechtliche Selbsthilfe, als veröffentlichte Meinung über einen rechtlichen Sachverhalt oder auch in Form eines traditionellen Rügebrauchs. Diese Vorgänge werden, sofern sie im Zusammenhang mit der Artikulation von Rechtsansprüchen stehen, unter Oberbegriffen zusammengefasst. Der entscheidende Arbeitsschritt wird nun sein, diese Oberbegriffe dem oben beschriebenen Raster zuzuordnen und anhand des Vergleichs einer Vielzahl von Fällen zu prüfen, ob – oder unter welchen Umständen – man die entsprechenden 68 Vgl. Edwin E. Weber: Städtische Herrschaft und bäuerliche Untertanen in Alltag und Konflikt. Die Reichsstadt Rottweil und ihre Landschaft vom 30jährigen Krieg bis zur Mediatisierung (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Rottweil, Bd. 14), 2 Bde. Rottweil 1992. 69 Vgl. Julia Maurer: Der „Lahrer Prozess“ 1773–1806. Ein Untertanenprozeß vor dem Reichskammergericht (QFHG, Bd. 30). Köln/Weimar/Wien 1996, S. 143f. 70 Vgl. Siegfried Hoyer: Die Ideen der Französischen Revolution und der kursächsische Bauernaufstand 1790, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte 65 (1994), S. 61–76, hier S. 65–76; Rita Sailer: Untertanenprozesse vor dem Reichskammergericht. Rechtsschutz gegen die Obrigkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (QFHG, Bd. 33). Köln/Weimar/Wien 1999, S. 98f.; Volker Press: Der hohenzollern-hechingische Landesvergleich von 1798, in: Zeitschrift für Hohenzollerische Geschichte 101 (1978), S. 77–108, hier S. 82. 71 Würgler: Unruhen und Öffentlichkeit (wie Anm. 11), S. 286. 72 Die Untersuchung umfasst Titel, die den eben vorgestellten Kriterien entsprechen und die seit dem Zweiten Weltkrieg erschienen sind; zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Beitrags waren 177 Titel ausgewertet.
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Vorgänge als Schlüsselmoment zur Lösung eines Konflikts ansehen kann oder nicht. Stellten artikulierte Klageschriften schon eine Spezifizierung dar, die zur Lösung des Konfliktes führte? Oder trat der gegenteilige Effekt ein? Förderten sie, wie gelegentlich in der Literatur beschrieben, sogar eine Ausweitung des Konflikts, weil die klagende Partei nun – im Rechtsschutz des Prozesses – gewaltsame Aktionen vom Zaun brach?⁷³ Ähnliche Fragen stellen sich in Bezug auf die Zeugenverhöre: Wann oder unter welchen Umständen führten sie in erster Linie zu einer Spezifizierung der Konfliktgegenstände? Wann gaben sie dem Prozess eine entscheidende Wendung? Gingen von ihnen häufiger positive Wendungen aus, oder stand häufiger der Effekt im Vordergrund, dass sich anlässlich des Verhörs die entsprechenden Gemeinden solidarisierten und der Widerstand sich verstärkte?⁷⁴
2.5 Versuchsweise Anwendung des Analyserasters Mögliche Nutzen des oben vorgeschlagenen Analyserasters sollen nun an zwei vorläufigen, zum Zweck der Erläuterung gewählten Beispielen demonstriert werden. Es geht dabei nicht darum, alle oben aufgeführten Punkte auszuführen. Es soll vielmehr deutlich werden, dass das Raster es ermöglicht, aus einem eigentlich schon bekannten und in der Literatur beschriebenen Konflikt allgemeinere Aussagen zu Orten der Konfliktlösung und möglichen Problemen abzuleiten.
Konflikte im Gericht Reichenbach Die Untertanenkonflikte im Gericht Reichenbach, einem Teil der isenburgischen Herrschaften, begannen im Jahr 1652 mit der Verweigerung von Reichssteuern und Fronen. Forderungen nach der Rücknahme kurz zuvor eingeführter Wachdienste und nach Erleichterungen bei Fronen und Steuern wurden schon früh artikuliert, und zwar mit öffentlichem Protest und mit Supplikationen an den Fuldaer Abt als Lehnsherr, woraufhin dieser Vergleichsverhandlungen initiierte. Die Konflikt-
73 Diese Beobachtung belegte Troßbach mit dem Begriff der „parasitären Prozessnutzung“, vgl. Troßbach: Widerstand (wie Anm. 9), S. 28; siehe ebenfalls Luebke: His Majesties’ Rebels (wie Anm. 19), S. 86f. 74 Ein interessanter Befund in diesem Zusammenhang ist, dass viele Zeugenrotuli bei der Verzeichnung der RKG-Bestände im Bayerischen Hauptstaatsarchiv in den 1990er Jahren noch ungeöffnet in den Akten lagen, d. h. eventuell entstanden sie entgegen dem Prozessgang auf Initiative der Untertanen und ohne in die Beweiswürdigung eingegangen zu sein. Der Verfasser dankt Anette Baumann für diesen Hinweis.
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parteien fanden sich nach zwei Jahren zu einem Kompromiss bereit; es blieb aber bei Willensbekundungen. Bei den Untertanen gewannen, nachdem der Vergleich nicht in die Tat umgesetzt wurde, Freiheitsvorstellungen mehr und mehr an Kraft, und sie appellierten an den Reichshofrat. Dieser setzte aber, mangels Alternativen, wiederum den Fuldaer Abt als Leiter einer Vergleichskommission ein. Am Ende der Verhandlungen stand der von beiden Parteien abgelehnte sogenannte Fuldaer Rezess, der die zuvor gefundenen, unzureichenden Regelungen festschrieb. Die isenburgische Obrigkeit lehnte jetzt eine reichsrechtlich verbindliche Regelung ganz ab, den Untertanen erschien hingegen der erreichte Kompromiss nachteilig.⁷⁵ Der Fuldaer Rezess bildete damit nicht die Lösung, sondern vielmehr den Beginn eines noch weitere 100 Jahre andauernden Konflikts.⁷⁶ Das Analyseraster gibt nun Indizien, warum die mit den Supplikationen an den Fuldaer Abt erfolgte Spezifizierung des Konflikts nicht umgesetzt wurde. Die Vergleichsverhandlungen fanden sehr früh und damit zu einem Zeitpunkt statt, in der die Untertanenpartei ihre Ansprüche überhaupt erst formulierte; nach Neveux’ Modell entfaltete die Diskrepanz zwischen dem Wirklichen und dem Gedachten also noch große Dynamiken im Bereich des Gedachten. Das wird besonders daran deutlich, dass in der Phase der Supplikationen von den Untertanenvertretern unvermittelt ein „Freiheitsbrief“ formuliert wurde, der in Berufung auf nicht nachprüfbare alte Rechte die Dienstpflicht generell in Abrede stellte.⁷⁷ Ähnliches gilt auch für die isenburgische Obrigkeit, die sich zu diesem Zeitpunkt noch überhaupt nicht einem verbindlichen Vergleich unterwerfen wollte. Offensichtlich gelang es dem Reichshofrat auch nicht, Verbindlichkeit durchzusetzen.⁷⁸ Für die Delegation von Entscheidungen gibt es also offenbar günstige oder ungünstige Phasen im Konfliktverlauf. Im Vergleich mit anderen Fällen ließe sich diese Vermutung absichern und konkretisieren.
Die „Gondelsheimer Rebellion“ Einen anders gelagerten Fall stellt die so genannte Gondelsheimer Rebellion dar. Nachdem ein Streit mit der Herrschaft, den Freiherren von Mentzingen, um ein Waldstück ausgebrochen war, welches die Gemeinde für sich beansprucht hat, kam es dort zu jahrzehntelangen Auseinandersetzungen mit gewaltsamen Aus-
75 Vgl. Troßbach: Bauernbewegungen im Wetterau-Vogelsberg-Gebiet (wie Anm. 8), S. 297–307; ders.: Soziale Bewegung (wie Anm. 33), S. 19. 76 Vgl. Troßbach: Bauernbewegungen im Wetterau-Vogelsberg-Gebiet (wie Anm. 8), S. 316–364. 77 Vgl. ebd., S. 299–304. 78 Vgl. ebd., S. 309–315.
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schreitungen und Plünderungen.⁷⁹ Das interessante Merkmal dieses Falls ist die massive Einflussnahme des Nachbarterritoriums Kurpfalz, das als Schutzmacht der Untertanen auftrat.⁸⁰ 1722 begann ein Reichshofratsprozess, der erst 1774 mit einem – allerdings nicht vom Reichshofrat initiierten – Vergleich enden sollte.⁸¹ Der Streit wurde nicht nur in Wien, sondern auch vor der Reichsritterschaft⁸² und in der publizistischen Öffentlichkeit⁸³ ausgetragen. Vor allem aber griff Kurpfalz sogar militärisch auf Seiten der Untertanen gegen kaiserliche Truppen ein.⁸⁴ Es kam somit zu keinerlei Ausdifferenzierung des Konflikts, sondern er wurde von unterschiedlichen Parteien im jeweils eigenen Interesse ausgeweitet und an mehreren Schauplätzen ausgetragen. Auch konnte die Entscheidung des Konflikts nicht an eine Stelle delegiert werden, weil sich die Parteien von unterschiedlichen und, im Fall Kurpfalz, sehr mächtigen Akteuren Hilfe versprachen. Erst nachdem Kurpfalz als Schutzmacht der Untertanen unglaubwürdig geworden war, stiegen die Chancen für eine Einigung: Die mittlerweile vom Prozessieren völlig überschuldete Herrscherfamilie hätte sich beinahe mit den Untertanen in einer für sie vorteilhaften Weise über das strittige Land geeinigt; der Frieden scheiterte aber am Einspruch des – ausgerechnet – pfälzischen Oberamts, das nun zum Nachteil der Untertanen intervenierte. Es sah mit der Einigung seine Ansprüche geschmälert, denn das strittige Land war Teil einer Pfandherrschaft.⁸⁵ Nun, nachdem Pfalz als Schutzherr der Untertanen unglaubwürdig geworden war, konnte der Konflikt zwischen ihnen und der Herrschaft effektiv angegangen werden, die Verhandlungen dauerten allerdings nicht weniger als neun Jahre.⁸⁶ Über deren Verlauf gibt die Literatur leider keine Auskunft. Deutlich wird aber, dass der Konflikt nun einen Ort gefunden hat, an dem er auch gelöst und nicht mehr von verschiedenen Parteien an verschiedenen Schauplätzen weitergetrieben werden konnte. Der Reichshofrat war an der letztendlichen Lösung nicht beteiligt, auch wenn er mit drei Kommissionen⁸⁷ und mehreren Mandaten versuchte, ihn zu regulieren und einzuhegen.
79 Vgl. Thomas Adam: Die Gondelsheimer Rebellion von 1730. Ein Bauernaufstand und seine Folgen (Die Gondelsheimer Geschichte, Bd. 5). Heidelberg/Ubstadt-Weiher/Basel 2005. 80 Um eine Besonderheit handelt es sich dabei aber nicht, Einflussnahme über den Weg der Untertanen war vielmehr ein häufiges Phänomen in der Auseinandersetzung zwischen Territorien. 81 Vgl. Adam: Die Gondelsheimer Rebellion (wie Anm. 79), S. 26, 74, 137–139. 82 Vgl. ebd., S. 76–77. 83 Vgl. ebd., S. 117–120. 84 Vgl. ebd., S. 93f. 85 Vgl. ebd., S. 137. 86 Vgl. ebd., S. 137–139. 87 Vgl. ebd., S. 86–90, 129–131, 133–136.
Legitimation von Rechtsansprüchen in Untertanenprozessen |
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Die Analyse entlang des oben vorgeschlagenen Rasters zeigt, bei allen durch die Forschungslage bedingten Unsicherheiten, dass die Ausdifferenzierung eines Konfliktlösungssystems oder wenigstens eines spezifischen Orts eine notwendige Bedingung zu sein scheint, um einen Konflikt lösen zu können, und dass die häufige Einflussnahme von Nachbarterritorien im eigenen Interesse ein Faktor sein könnte, der sich dafür hinderlich auswirkte. Die Untersuchung einer Reihe ähnlicher Fälle nach diesen Kriterien könnte diesen Verdacht bestätigen.
3 Zusammenfassung und Schluss Am Anfang stand die Frage, wie sich die heutige Rechtsprechung auf außergerichtliche Einigungen im internationalen Raum und auch zwischen Privatleuten einstellen kann, wenn es keinen übergreifenden Normenkanon gibt. Diese Frage lenkte das Interesse auf die Praxis der höchsten Gerichte im Alten Reich, weil diese sich routinemäßig mit multiplen Normen auseinandersetzen mussten. Die Betrachtung der geschichtswissenschaftlichen Forschungsparadigmen zu Untertanenprozessen zeigte die Notwendigkeit eines Modells auf, das die Akteure als politisch handelnde Subjekte ebenso ernst nimmt wie die Komplexität von Konfliktverläufen. Die für eine vergleichende Untersuchung nötige Vereinfachung soll daher mit der Untersuchung typischer Schlüsselsituationen, die entscheidenden Einfluss auf Konfliktverläufe haben, erreicht werden. Mit dem von Hugues Neveux entwickelten Modell bäuerlichen Widerstands wurde eine Grundlage gefunden, einen solchen Schlüsselmoment als Ereignis in einem System von Akteuren, Wahrnehmungen und Normen in einer Weise zu konzeptualisieren, die eine Untersuchung solcher Momente anhand der schon existierenden Literatur ermöglicht. Neveux’ Ansatz ermöglicht darüber hinaus eine Erweiterung von Niklas Luhmanns Theorie der Legitimation durch Verfahren von modernen Gerichtsprozessen auf Untertanenkonflikte. Nicht mehr das Verfahren an sich bildet das Bezugssystem für die Prozesse der Legitimation sondern der gesamte Konflikt wird, angelehnt an Neveux, als Bezugssystem aufgefasst. Ansprüche bzw. Rechtsvorstellungen erhalten dann eine Chance auf Legitimierung, wenn das System ihre konstante Artikulation befördert. Schlüsselmomente sind somit als entscheidende Ereignisse für die Artikulation dieser Ansprüche aufzufassen. In Anlehnung an Luhmanns Theorie konnten zudem heuristische Kriterien entwickelt werden: Feststellen von Verhandelbarkeit, Spezifikation von Konfliktgegenständen, Delegation von Entscheidungen, spezifischer Ort der Verhandlung, Komplexitätsreduktion, Herbeiführen einer Entscheidung. Die Anwendung dieser Kriterien auf eine größere Zahl von in der Literatur beschriebenen Konflikten sollte
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erlauben, Schlüsselmomente des Konfliktverlaufs als erfolgreich oder weniger erfolgreich in Bezug auf die schlussendliche Lösung zu beurteilen. Eine mögliche Vorgehensweise wurde anschließend kurz beschrieben und an zwei Beispielen vorgeführt. Mit der Festlegung auf Untertanenprozesse in reichsunmittelbaren Kleinterritorien zwischen Bauernkrieg und Französischer Revolution wurde die Stichprobe schließlich auf einen gut vergleichbaren Konflikttypus eingegrenzt. Mit der hier vorgeschlagenen Methodik sollte demnach eine Grundlage geschaffen sein, um entscheidende Einblicke in den Umgang der Reichsgerichte mit typischen kommunikativen Konstellationen und Handlungszwängen zu gewinnen – Einblicke in Schlüsselmomente der Auseinandersetzung mit Konfliktparteien, die keinen konsistenten rechtlichen Rahmen anerkennen.
bibliothek altes Reich – baR herausgegeben von Anette Baumann, Stephan Wendehorst und Siegrid Westphal Als ein innovatives, langfristig angelegtes Forum für Veröffentlichungen zur Geschichte des Alten Reichs setzt sich die „bibliothek altes Reich – baR“ folgende Ziele: Anregung zur inhaltlichen und methodischen Neuausrichtung der Erforschung des Alten – Reichs – Bündelung der Forschungsdiskussion – Popularisierung von Fachwissen – Institutionelle Unabhängigkeit
Inhaltliche und methodische Neuausrichtung An erster Stelle ist die Gründung der Reihe „bibliothek altes Reich – baR“ als Impuls für die interdisziplinäre Behandlung der Reichsgeschichte und deren Verknüpfung mit neuen methodischen Ansätzen konzipiert. Innovative methodische Ansätze, etwa aus der Anthropologie, der Geschlechtergeschichte, den Kulturwissenschaften oder der Kommunikationsforschung, wurden in den letzten Jahren zwar mit Gewinn für die Untersuchung verschiedenster Teilaspekte der Geschichte des Alten Reichs genutzt, aber vergleichsweise selten auf das Alte Reich als einen einheitlichen Herrschafts-, Rechts-, Sozial- und Kulturraum bezogen. Die Reihe „bibliothek altes Reich – baR“ ist daher als Forum für Veröffentlichungen gedacht, deren Gegenstand bei unterschiedlichsten methodischen Zugängen und thematischen Schwerpunktsetzungen das Alte Reich als Gesamtzusammenhang ist bzw. auf dieses bezogen bleibt.
Bündelung der Forschung Durch die ausschließlich auf die Geschichte des Alten Reichs ausgerichtete Reihe soll das Gewicht des Alten Reichs in der historischen Forschung gestärkt werden. Ein zentrales Anliegen ist die Zusammenführung von Forschungsergebnissen aus unterschiedlichen historischen Sub- und Nachbardisziplinen wie zum Beispiel der Kunstgeschichte, der Kirchengeschichte, der Wirtschaftsgeschichte, der Geschichte der Juden, der Landes- und der Rechtsgeschichte sowie den Politik-, Literatur- und Kulturwissenschaften.
Popularisierung von Fachwissen Die „bibliothek altes Reich – baR“ sieht es auch als ihre Aufgabe an, einen Beitrag zur Wissenspopularisierung zu leisten. Ziel ist es, kurze Wege zwischen wissenschaftlicher Innovation und deren Vermittlung herzustellen. Neben primär an das engere Fachpublikum adressierten Monographien, Sammelbänden und Quelleneditionen publiziert die Reihe „bibliothek altes Reich – baR“ als zweites Standbein auch Bände, die in Anlehnung an das angelsächsische textbook der Systematisierung und Popularisierung vorhandener Wissensbestände dienen. Den Studierenden soll ein möglichst rascher und unmittelbarer Zugang zu Forschungsstand und Forschungskontroversen ermöglicht werden.
Institutionelle Unabhängigkeit Zur wissenschaftsorganisatorischen Positionierung der Reihe: Die „bibliothek altes Reich – baR“ versteht sich als ein grundsätzlich institutionsunabhängiges Unternehmen. Unabhängigkeit strebt die „bibliothek altes Reich – baR“ auch in personeller Hinsicht an. Über die Annahme von Manuskripten entscheiden die Herausgeber nicht alleine, sondern auf der Grundlage eines transparenten, nachvollziehbaren peer-review Verfahrens, das in der deutschen Wissenschaft vielfach eingefordert wird. Band 1: Lesebuch Altes Reich Herausgegeben von Stephan Wendehorst und Siegrid Westphal 2006. VIII, 283 S. 19 Abb. mit einem ausführlichen Glossar. ISBN 978-3-486-57909-3
Band 6: Siegrid Westphal, Inken Schmidt-Voges, Anette Baumann Venus und Vulcanus Ehen und ihre Konflikte in der Frühen Neuzeit 2011. 276 S. ISBN 978-3-486-57912-3
Band 2: Wolfgang Burgdorf Ein Weltbild verliert seine Welt Der Untergang des Alten Reiches und die Generation 1806 2. Aufl. 2008. VIII, 390 S. ISBN 978-3-486-58747-0
Band 7: Kaiser und Reich in der jüdischen Lokalgeschichte Herausgegeben von Stefan Ehrenpreis, Andreas Gotzmann und Stephan Wendehorst 2013. 321 S. ISBN 978-3-486-70251-4
Band 3: Die Reichsstadt Frankfurt als Rechts- und Gerichtslandschaft im Römisch-Deutschen Reich Herausgegeben von Anja Amend, Anette Baumann, Stephan Wendehorst und Steffen Wunderlich 2007. 303 S. ISBN 978-3-486-57910-9
Band 8: Pax perpetua Neuere Forschungen zum Frieden in der Frühen Neuzeit Herausgegeben von Inken Schmidt-Voges, Siegrid Westphal, Volker Arnke und Tobias Bartke 2010. 392 S. 2 Abb., ISBN 978-3-486-59820-9
Band 4: Ralf-Peter Fuchs Ein ‚Medium zum Frieden‘ Die Normaljahrsregel und die Beendigung des Dreißigjährigen Krieges 2010. X. 427 S. ISBN 978-3-486-58789-0
Band 9: Alexander Jendorff Der Tod des Tyrannen Geschichte und Rezeption der Causa Barthold von Wintzingerode 2012. VIII. 287 S. ISBN 978-3-486-70709-0
Band 5: Die Anatomie frühneuzeitlicher Imperien Herrschaftsmanagement jenseits von Staat und Nation Herausgegeben von Stephan Wendehorst 2015. 492 S. ISBN 978-3-486-57911-6
Band 10: Thomas Lau Unruhige Städte Die Stadt, das Reich und die Reichsstadt (1648–1806) 2012. 156 S. ISBN 978-3-486-70757-1
Band 11: Die höchsten Reichsgerichte als mediales Ereignis Herausgegeben von Anja Amend-Traut, Anette Baumann, Stephan Wendehorst und Steffen Wunderlich 2012. 231 S. ISBN 978-3-486-71025-0 Band 12: Hendrikje Carius Recht durch Eigentum Frauen vor dem Jenaer Hofgericht (1648–1806) 2012. 353 S. 2 Abb., ISBN 978-3-486-71618-4 Band 13: Stefanie Freyer Der Weimarer Hof um 1800 Eine Sozialgeschichte jenseits des Mythos 2013. 575 S., 10 Abb., ISBN 978-3-486-72502-5 Band 14: Dagmar Freist Glaube – Liebe – Zwietracht Konfessionell gemischte Ehen in Deutschland in der Frühen Neuzeit 2015. ISBN 978-3-486-74969-4
Band 15: Anette Baumann, Alexander Jendorff (Hrsg.) Adel, Recht und Gerichtsbarkeit im frühneuzeitlichen Europa 2014. 432 S. ISBN 978-3-486-77840-3 Band 16: André Griemert Jüdische Klagen gegen Reichsadelige Prozesse am Reichshofrat in den Herrschaftsjahren Rudolfs II. und Franz I. Stephan 2014. 517 S. ISBN 978-3-11-035267-2 Band 17: Alexander Denzler, Ellen Franke, Britta Schneider (Hrsg.) Prozessakten, Parteien, Partikularinteressen Höchstgerichtsbarkeit in der Mitte Europas vom 15. bis 19. Jahrhundert 2015. VIII, 214 S., 4 Abb., ISBN 978-3-11-035981-7 Band 18: Inken Schmidt-Voges Mikropolitiken des Friedens Semantiken und Praktiken des Hausfriedens im 18. Jahrhundert 2015. 365 S. ISBN 978-3-11-040216-2