Propaganda oder Autonomie?: Das russische Fernsehen von 1970 bis heute [1. Aufl.] 9783839404836

In dieser Studie wird der strukturelle Wandel des russischen Fernsehens vom sowjetischen Status quo (1970-1985) bis zum

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INHALTSVERZEICHNIS
Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen
Einleitung
I. THEORIETEIL: MEDIENWANDEL UND GESELLSCHAFTSWANDEL IM POSTSOWJETISCHEN RUSSLAND
1. Von Transformationskonzepten zur systemtheoretischen Differenzierungstheorie
1.1 Historischer und soziokultureller Hintergrund der massenmedialen Ausdifferenzierung im neuen Russland
1.2 Zu transformationstheoretischen Konzepten
1.2.1 Transformation als Übertragung des marktwirtschaftlichen und demokratischen Modells auf postsozialistische Gesellschaftsstrukturen
1.2.2 Transformation als regionaler, nicht-linearer Prozess
1.2.3 Massenmediale Transformation als Ausdifferenzierungsprozess
1.3 Differenzierungstheoretische Prämissen
1.4 Resümee
2. Organisationsgesellschaft versus funktionale Differenzierung: Wechsel des Primats der Differenzierungsformen als Kontext massenmedialer Ausdifferenzierung im postsowjetischen Russland
2.1 Organisationsgesellschaft als gesellschaftliche Differenzierungsform der Sowjetunion
2.1.1 Theoretischer Ausgangspunkt: Die These von der Organisationsgesellschaft
2.1.2 Antinomie zwischen parteilicher Zentralisierung und funktionaler Differenzierung
2.1.3 Verringerte soziale Distanz zwischen einzelnen Systemtypen und die Rolle der Propaganda
2.1.4 Soziale, sachliche und zeitliche Geschlossenheit
2.1.5 Trennung zwischen formeller und informeller Ebene
2.1.6 Übergang von der Organisationsgesellschaft zur funktionalen Differenzierung
2.2 Die funktionale Differenzierungsform
2.3 Ausdifferenzierung oder Globalisierung eines Mediensystems?
2.3.1 Auf dem Weg zu einer Theorie der Weltgesellschaft
2.3.2 Massenmediale Ausdifferenzierung im Kontext der weltgesellschaftlichen Prozesse
3. Typen medialer Kommunikation
3.1 Funktionssystem der Massenmedien als Multiplikator der Wirklichkeiten
3.2 Propaganda als Konstrukteur singulärer Wirklichkeit
3.3 Public Relations als Simulation der massenmedialen Kommunikation
4. Ausdifferenzierungskonzept der modernen Massenmedien in Russland
4.1 Ausdifferenzierung als ein gradueller Prozess
4.2 Bezugsprobleme der massenmedialen Ausdifferenzierung in Russland
4.3 Bedingungen massenmedialer Ausdifferenzierung in Russland
4.3.1 Exogene Bedingungen
4.3.2 Endogene Bedingungen
4.4 Anstelle einer Zusammenfassung
II. SOZIOLOGISCHE REKONSTRUKTION MASSENMEDIALER AUSDIFFERENZIERUNG AM BEISPIEL DES RUSSISCHEN FERNSEHENS
0. Methodisches Vorgehen
0.1 Fallstudie als Forschungsdesign
0.2 Spezifikation von Hypothesen
0.3 Gütekriterien der Fallstudie
0.4 Klassifizierungsprinzipien der Fernsehsender in der Sowjetunion/Russischen Föderation im Zeitraum von 1970 bis 2005
1. Quasi-Massenmedien und ihre Konstruktion der sozialen Wirklichkeit in der Sowjetunion am Beispiel des sowjetischen Fernsehens (1970 bis 1985)
1.1 Hierarchische Unterordnung des Fernsehens unter den Parteiapparat
1.1.1 Technischer Aufbau des sowjetischen Fernsehens
1.1.2 Über die innere Organisation des sowjetischen Fernsehens
1.1.3 Die Kontrolle der Fernsehorganisation durch den Parteiapparat
1.1.4 Personaltransfer
1.1.5 Sanktionen
1.1.6 Der Journalist als „Handlanger der Partei“
1.2 Konvergenz parteilicher und quasi-massenmedialer Entscheidungskriterien
1.2.1 Das parteiliche Programm der Medienlenkung
1.2.2 Quasi-massenmediale Entscheidungskriterien im Fernsehen
1.2.3 Thematische Geschlossenheit des sowjetischen Fernsehens
1.3 Trennung zwischen offiziellen und nicht-offiziellen Medien
1.4 Publikum und Rezeption
1.5 Zusammenfassung
2. Phase Eins: Erosion parteilicher Kontrollmechanismen und Herausbildung des massenmedialen Codes am Beispiel des sowjetischen Fernsehens (1986 bis 1991)
2.1 Die Erosion der parteilichen Kontrollmechanismen des Fernsehens
2.2 Entstehung des massenmedialen Codes und thematische Öffnung des sowjetischen Fernsehens
2.3 Zur Rolle des Journalisten: Der Journalist als Aufklärer
2.4 Das Auseinandertreten der Systembildungsebenen: Zur Divergenz parteilicher und massenmedialer Entscheidungskriterien am Beispiel der Nachrichten
2.5 Zusammenfassung
3. Phase Zwei: Trennung des russischen Fernsehens vom Staat auf Organisationsebene (Ende 1991 bis Ende 1995)
3.1 Öffnung der thematischen Horizonte: Die Entstehung der drei massenmedialen Bereiche: Nachrichten/Berichte, Werbung und Unterhaltung
3.1.1 Entstehung der Nachrichtenproduktion
3.1.2 Produktion von Werbung: Werbung als Bedingung autopoietischer Massenmedien
3.1.3 Unterhaltung als Mechanismus zur Sicherung der Zuschauerquoten
3.2 Kommerzialisierung des russischen Fernsehens: Aufhebung der hierarchischen Unterordnung unter den Staat auf Organisationsebene
3.2.1 Entstehung kommerzieller Fernsehsender
3.2.2 Kommerzialisierung des staatlichen Fernsehens als Legalisierung der Schattenwirtschaft
3.2.3 Pluralisierung der Fernsehorganisationen
3.3 Medienpolitische Dezentralisierung und Erosion der Kontrollmechanismen des Fernsehens
3.4 Zur Rolle des Journalisten
3.5 Berücksichtigung der Publikumserwartungen: Entstehung der Zuschauerforschung
3.6 Zusammenfassung
4. Phase Drei: Ausdifferenzierung der PR zum informellen Bereich innerhalb des russischen Fernsehens. Zeitalter der Medienkriege (Ende 1995 bis Anfang 2000)
4.1 Zentralisierung versus funktionale Differenzierung: Aktualisierung der alten und Entstehung neuer Instrumente der Medienlenkung während der Präsidentenwahlkampagne 1996
4.2 Ko-Evolution der politischen und wirtschaftlichen Lenkungsstrategien des Fernsehens
4.3 Einnistung der informellen Public Relations in die massenmediale Produktion
4.3.1 Formelle versus informelle Ebene
4.3.2 Medienkriege als Verarbeitung der politischen und wirtschaftlichen Konkurrenzprobleme
4.3.3 Die Parlaments- und Präsidentenwahlen 1999/2000 als Beispiel für einen Medienkrieg
4.4 Die Rolle des Journalisten: Der Journalist als Spezialist der informellen Public Relations
4.5 Publikum und Rezeptionsprozesse
4.6 Zusammenfassung
5. Phase Vier: Konkurrenz zwischen autopoietischen Massenmedien, informellen Public Relations und der Propaganda am Beispiel des russischen Fernsehens (ab 2000)
5.1 Zentralisierung staatlicher Mechanismen zur Kontrolle des Fernsehens
5.1.1 (Teil-)Monopolisierung des Fernsehens als Versuch hierarchischer Unterordnung auf Organisationsebene
5.1.2 Einwirkung auf die redaktionelle Linie, Zensur und andere Kontrollmechanismen des Fernsehens
5.2 Zum Anteil der Propagandainhalte in den Nachrichten
5.3 Formelle versus informelle Ebene
5.4 Ko-Existenz formeller und informeller Entscheidungskriterien im russischen Fernsehen
5.5 Zusammenfassung
6. Fallzusammenfassung und Ausblick
6.1 Typen der Medienkommunikation zwischen 1970 und 2005
6.2 Zukunftsszenarien des Medienwandels in Russland
Anhang
Quellenverzeichnis
Literatur
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Propaganda oder Autonomie?: Das russische Fernsehen von 1970 bis heute [1. Aufl.]
 9783839404836

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Propaganda oder Autonomie? Das russische Fernsehen von 1970 bis heute

herausgegeben von Markus Kaiser | Band 4

2006-04-26 16-13-17 --- Projekt: T483.kusp.eurasica.amelina / Dokument: FAX ID 023c114045470306|(S.

1

) T00_01 Schmutztitel.p 114045470314

Anna Amelina (Dr. rer. soc.) lehrt Mediensoziologie an der Universität Bielefeld. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Mediensoziologie sowie Osteuropa- und Transnationalisierungsforschung.

2006-04-26 16-13-17 --- Projekt: T483.kusp.eurasica.amelina / Dokument: FAX ID 023c114045470306|(S.

2

) T00_02 Vakat.p 114045470322

Anna Amelina

Propaganda oder Autonomie? Das russische Fernsehen von 1970 bis heute

2006-04-26 16-13-17 --- Projekt: T483.kusp.eurasica.amelina / Dokument: FAX ID 023c114045470306|(S.

3

) T00_03 Titel.p 114045470330

Diese Dissertation wurde unterstützt mit einem Stipendium der FriedrichNaumann-Stiftung. Die Drucklegung erfolgt mit Unterstützung des Zentrums für Deutschlandund Europastudien der Universität Bielefeld (ZDES).

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2006 transcript Verlag, Bielefeld Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Kai Reinhardt, Bielefeld Satz: Jörg Burkhard, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-483-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2006-04-26 16-13-17 --- Projekt: T483.kusp.eurasica.amelina / Dokument: FAX ID 023c114045470306|(S.

4

) T00_04 Impressum.p 114045470338

I NHALTSVERZEICHNIS Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen

10

Einleitung

15

I. THEORIETEIL: MEDIENWANDEL UND GESELLSCHAFTSWANDEL IM POSTSOWJETISCHEN RUSSLAND 1. Von Transformationskonzepten zur systemtheoretischen Differenzierungstheorie 1.1 1.2

23

Historischer und soziokultureller Hintergrund der massenmedialen Ausdifferenzierung im neuen Russland

24

Zu transformationstheoretischen Konzepten

28

1.2.1 Transformation als Übertragung des marktwirtschaftlichen und demokratischen Modells auf postsozialistische Gesellschaftsstrukturen 29 1.2.2 Transformation als regionaler, nicht-linearer Prozess

32

1.2.3 Massenmediale Transformation als Ausdifferenzierungsprozess 34 1.3

Differenzierungstheoretische Prämissen

37

1.4

Resümee

43

2. Organisationsgesellschaft versus funktionale Differenzierung: Wechsel des Primats der Differenzierungsformen als Kontext massenmedialer Ausdifferenzierung im postsowjetischen Russland 45 2.1

Organisationsgesellschaft als gesellschaftliche Differenzierungsform der Sowjetunion

46

2.1.1 Theoretischer Ausgangspunkt: Die These von der Organisationsgesellschaft

46

2.1.2 Antinomie zwischen parteilicher Zentralisierung und funktionaler Differenzierung

48

2.1.3 Verringerte soziale Distanz zwischen einzelnen Systemtypen und die Rolle der Propaganda

53

2.1.4 Soziale, sachliche und zeitliche Geschlossenheit

56

2.1.5 Trennung zwischen formeller und informeller Ebene

59

2.1.6 Übergang von der Organisationsgesellschaft zur funktionalen Differenzierung

61

2.2

Die funktionale Differenzierungsform

63

2.3

Ausdifferenzierung oder Globalisierung eines Mediensystems? 68

2.3.1 Auf dem Weg zu einer Theorie der Weltgesellschaft

68

2.3.2 Massenmediale Ausdifferenzierung im Kontext der weltgesellschaftlichen Prozesse

73

3. Typen medialer Kommunikation 3.1

77

Funktionssystem der Massenmedien als Multiplikator der Wirklichkeiten

78

3.2

Propaganda als Konstrukteur singulärer Wirklichkeit

92

3.3

Public Relations als Simulation der massenmedialen Kommunikation

97

4. Ausdifferenzierungskonzept der modernen Massenmedien in Russland

103

4.1

Ausdifferenzierung als ein gradueller Prozess

104

4.2

Bezugsprobleme der massenmedialen Ausdifferenzierung in Russland

107

Bedingungen massenmedialer Ausdifferenzierung in Russland

112

4.3

4.3.1 Exogene Bedingungen

112

4.3.2 Endogene Bedingungen

114

4.4

119

Anstelle einer Zusammenfassung

II. SOZIOLOGISCHE REKONSTRUKTION MASSENMEDIALER AUSDIFFERENZIERUNG AM BEISPIEL DES RUSSISCHEN FERNSEHENS 0. Methodisches Vorgehen

123

0.1

Fallstudie als Forschungsdesign

123

0.2

Spezifikation von Hypothesen

128

0.3

Gütekriterien der Fallstudie

133

0.4

Klassifizierungsprinzipien der Fernsehsender in der Sowjetunion/Russischen Föderation im Zeitraum von 1970 bis 2005

1. Quasi-Massenmedien und ihre Konstruktion der sozialen Wirklichkeit in der Sowjetunion am Beispiel des sowjetischen Fernsehens (1970 bis 1985) 1.1

Hierarchische Unterordnung des Fernsehens unter den Parteiapparat

134

137 139

1.1.1 Technischer Aufbau des sowjetischen Fernsehens

141

1.1.2 Über die innere Organisation des sowjetischen Fernsehens

143

1.1.3 Die Kontrolle der Fernsehorganisation durch den Parteiapparat 146 1.1.4 Personaltransfer

151

1.1.5 Sanktionen

152

1.1.6 Der Journalist als „Handlanger der Partei“

153

1.2

Konvergenz parteilicher und quasi-massenmedialer Entscheidungskriterien

155

1.2.1 Das parteiliche Programm der Medienlenkung

155

1.2.2 Quasi-massenmediale Entscheidungskriterien im Fernsehen

158

1.2.3 Thematische Geschlossenheit des sowjetischen Fernsehens

162

1.3

Trennung zwischen offiziellen und nicht-offiziellen Medien

165

1.4

Publikum und Rezeption

169

1.5

Zusammenfassung

174

2. Phase Eins: Erosion parteilicher Kontrollmechanismen und Herausbildung des massenmedialen Codes am Beispiel des sowjetischen Fernsehens (1986 bis 1991) 2.1

177

Die Erosion der parteilichen Kontrollmechanismen des Fernsehens

179

Entstehung des massenmedialen Codes und thematische Öffnung des sowjetischen Fernsehens

186

2.3

Zur Rolle des Journalisten: Der Journalist als Aufklärer

191

2.4

Das Auseinandertreten der Systembildungsebenen: Zur Divergenz parteilicher und massenmedialer Entscheidungskriterien am Beispiel der Nachrichten

193

Zusammenfassung

197

2.2

2.5

3. Phase Zwei: Trennung des russischen Fernsehens vom Staat auf Organisationsebene (Ende 1991 bis Ende 1995) 3.1

Öffnung der thematischen Horizonte: Die Entstehung der drei massenmedialen Bereiche: Nachrichten/Berichte, Werbung und Unterhaltung

199

201

3.1.1 Entstehung der Nachrichtenproduktion

202

3.1.2 Produktion von Werbung: Werbung als Bedingung autopoietischer Massenmedien

205

3.1.3 Unterhaltung als Mechanismus zur Sicherung der Zuschauerquoten

210

3.2

Kommerzialisierung des russischen Fernsehens: Aufhebung der hierarchischen Unterordnung unter den Staat auf Organisationsebene

213

3.2.1 Entstehung kommerzieller Fernsehsender

214

3.2.2 Kommerzialisierung des staatlichen Fernsehens als Legalisierung der Schattenwirtschaft

218

3.2.3 Pluralisierung der Fernsehorganisationen

223

3.3

Medienpolitische Dezentralisierung und Erosion der Kontrollmechanismen des Fernsehens

224

3.4

Zur Rolle des Journalisten

231

3.5

Berücksichtigung der Publikumserwartungen: Entstehung der Zuschauerforschung

233

Zusammenfassung

234

3.6

4. Phase Drei: Ausdifferenzierung der PR zum informellen Bereich innerhalb des russischen Fernsehens. Zeitalter der Medienkriege (Ende 1995 bis Anfang 2000) 237 4.1

4.2 4.3

Zentralisierung versus funktionale Differenzierung: Aktualisierung der alten und Entstehung neuer Instrumente der Medienlenkung während der Präsidentenwahlkampagne 1996

240

Ko-Evolution der politischen und wirtschaftlichen Lenkungsstrategien des Fernsehens

246

Einnistung der informellen Public Relations in die massenmediale Produktion

252

4.3.1 Formelle versus informelle Ebene

252

4.3.2 Medienkriege als Verarbeitung der politischen und wirtschaftlichen Konkurrenzprobleme

255

4.3.3 Die Parlaments- und Präsidentenwahlen 1999/2000 als Beispiel für einen Medienkrieg 4.4

260

Die Rolle des Journalisten: Der Journalist als Spezialist der informellen Public Relations

265

4.5

Publikum und Rezeptionsprozesse

268

4.6

Zusammenfassung

271

5. Phase Vier: Konkurrenz zwischen autopoietischen Massenmedien, informellen Public Relations und der Propaganda am Beispiel des russischen Fernsehens (ab 2000) 5.1

Zentralisierung staatlicher Mechanismen zur Kontrolle des Fernsehens

273 275

5.1.1 (Teil-)Monopolisierung des Fernsehens als Versuch hierarchischer Unterordnung auf Organisationsebene 277 5.1.2 Einwirkung auf die redaktionelle Linie, Zensur und andere Kontrollmechanismen des Fernsehens

284

5.2

Zum Anteil der Propagandainhalte in den Nachrichten

293

5.3

Formelle versus informelle Ebene

295

5.4

Ko-Existenz formeller und informeller Entscheidungskriterien im russischen Fernsehen

299

Zusammenfassung

300

6. Fallzusammenfassung und Ausblick

303

5.5

6.1

Typen der Medienkommunikation zwischen 1970 und 2005

303

6.2

Zukunftsszenarien des Medienwandels in Russland

307

Anhang

309

Quellenverzeichnis

315

Literatur

317

V ERZEICHNIS DER T ABELLEN UND A BBILDUNGEN Abbildungen Abbildung 1: Massenmediale Kommunikation als doppelte Selektionsleistung Abbildung 2: Die Beziehungen zwischen Propagandaauftraggeber, Propagandaproduktion und Propagandapublikum Abbildung 3: Beziehungen zwischen PR-Produktion, den Massenmedien und ihren Publika Abbildung 4: Innere Organisation des sowjetischen Fernsehens Abbildung 5: Hierarchische Unterordnung des sowjetischen Fernsehens unter den Parteiapparat zwischen 1970 und 1985 Abbildung 6: Drehbuch der sowjetischen Abendnachrichten Vremja

83 94 102 144 150 160

Tabellen Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3:

Regulative der Publikumsaufmerksamkeit Typisierung globaler Diffusionsprozesse Das Konzept massenmedialer Ausdifferenzierung im postsowjetischen Russland Tabelle 4: Konzeptspezifikation für die erste Hypothese Tabelle 5: Konzeptspezifikation für die zweite Hypothese Tabelle 6: Konzeptspezifikation für Propagandakommunikation in der Sowjetunion Tabelle 7: Konzeptspezifikation für die Ausdifferenzierung der autopoietischen Massenmedien im postsowjetischen Russland Tabelle 8: Die sowjetische Fernsehlandschaft von 1970 bis 1985: Zentrale Fernsehsender mit landesweiter und überregionaler Reichweite Tabelle 9: Wachstum der Zahl der Fernsehsendeanlagen und Fernsehgeräte von 1960 bis 1986 Tabelle 10: Unterrichtsfächer an der Fakultät für Journalistik der Moskauer Lomonossov-Universität 1973 Tabelle 11: Die sowjetische Fernsehlandschaft von 1986 bis 1991: Zentrale Fernsehsender mit landesweiter und überregionaler Reichweite Tabelle 12: Die Fernsehlandschaft der Russischen Föderation von Ende 1991 bis Ende 1995: Zentrale Fernsehsender mit landesweiter und überregionaler Reichweite

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Tabelle 13: Volumen des Marktes für Fernsehwerbung in Russland 1994-1999 Tabelle 14: Massenmediale Entscheidungskriterien des russischen Fernsehens im Zeitraum von 1991 bis 1995 Tabelle 15: Die Fernsehlandschaft der Russischen Föderation von Ende 1995 bis Anfang 2000: Zentrale Fernsehsender mit landesweiter und überregionaler Reichweite Tabelle 16 : Russische Medienkonzerne, ihre Eigentümer und Geschäftsbereiche 1999 Tabelle 17: Journalistische Semantik zum Begriff des Medienkriegs Tabelle 18: Verteilung der Kräfte vor den Parlamentswahlen 1999 Tabelle 19: Fernsehberichterstattung über die russischen Präsidentschaftskandidaten 1999 (3.-21. März) und Wahlergebnisse (in Prozent) Tabelle 20: Die Fernsehlandschaft der Russischen Föderation von 2000 bis 2005: Zentrale Fernsehsender mit landesweiter und überregionaler Reichweite Tabelle 21: Russische Fernseheigentümer 2005 Tabelle 22: Inhaltliche Aussagen der russischen Journalisten über die Kriterien der massenmedialen Produktion (2001) Tabelle 23: Typen der Medienkommunikation in Russland zwischen 1970 und 2005

208 222

239 248 257 261

265

274 284 299 306

D ANKSAGUNG Allen, die das Zustandekommen dieses Buches finanziell und ideell gefördert haben, möchte ich an dieser Stelle einen ausdrücklichen Dank aussprechen: Der Friedrich-Naumann-Stiftung danke ich für das Doktoranden-Stipendium, das meine Promotion an der Universität Bielefeld erst ermöglichte. Dem Zentrum für Deutschland- und Europastudien der Universität Bielefeld (ZDES) danke ich für die finanzielle Förderung der Manuskriptveröffentlichung. Für die engagierte Unterstützung meines Projektes möchte ich meiner Doktormutter Prof. Dr. Barbara Hölscher und meinem Doktorvater Prof. Dr. Klaus Dammann danken. Für die sorgfältige Betreuung und packende Anregungen bin ich Ihnen sehr verbunden. Schließlich möchte ich meinen Dank Norbert Winkelmann, Sabina Schommers und Kai Reinhard aussprechen, die mir eine große Hilfe waren, den Text in Form bringen. Bielefeld, im April 2006

Anna Amelina

E INLEITUNG In dieser Arbeit wird der strukturelle Wandel des russischen Fernsehens vom sowjetischen Status quo (1970-1985) bis zur Gegenwart (2005) untersucht. Der massenmediale Wandel, der neben dem Fernsehen auch andere Verbreitungsmedien umfasst, beginnt 1995/1996 in der Zeitperiode, die unter den Stichwörtern Perestroika (Umbau) und Glasnost (Offenheit) bekannt ist. Den Wandel des russischen Fernsehens analysiere ich als Erosion der Propagandakommunikation und Ausdifferenzierung des Funktionssystems der Massenmedien. Das Fernsehen steht in diesem Zusammenhang stellvertretend für die russischen Medien. Die Leitfrage der vorliegenden Arbeit lautet: Wie läuft der mediale Wandel im neuen Russland ab? Die Beantwortung dieser Frage soll das Muster des medialen Wandels erklären und die soziologische Beschreibung des Verlaufs dieses Wandels ermöglichen. Bei der Untersuchung der Prozesse der Erosion der Propaganda und der Autonomisierung der Massenmedien am Beispiel des russischen Fernsehens wird die Wechselbeziehung zwischen Medienstrukturen und parteilichen/staatlichen Kontrollmechanismen berücksichtigt. Der Einsatz der Kontrollmechanismen der Medien variierte in der Sowjetunion und später in der Russischen Föderation je nach parteilicher/staatlicher Medienpolitik. Ein wiederkehrender Bestandteil dieser Politik blieb die Idee, dass Medien ein notwendiges Instrument politischer Machtausübung sind. Ursprünglich wurde dieses Medienkonzept in der sowjetischen Medienpolitik (1970-1985) umgesetzt: Die Medienorganisationen wurden hierarchisch dem Parteiapparat untergeordnet. Medienmonopol, Zensur, Personalauswahl für die Medien und Sanktionen gegenüber Journalisten waren parteiliche Instrumente der Medienlenkung in dieser Periode. Auch nach dem Beginn der Reformen (1986-1991) sollten Medien Propagandabotschaften verbreiten. Aber die Inhalte der Propaganda haben sich geändert. Nun durften die Medien über neue und aktuelle Inhalte berichten. Schließlich bewirkte diese thematische Öffnung die Infragestellung der Notwendigkeit der Zensur. Seit 1991 zeichnete sich die Medienpolitik der neuen russischen Regierung durch Zulassung der Medienautonomie aus. Medien wurden als vierte Gewalt angesehen. Pressefreiheit1 wurde gesetzlich verankert. Aber nach den Präsidentenwahlen 1996 werden die Medieninstanzen zunehmend von politischen und ökonomischen 1 In der Sowjetunion wurde 1990 das liberale Gesetz „Über Presse und andere Medien“ verabschiedet. In der Russischen Föderation wurde 1991 ein „Gesetz über Massenmedien“ verabschiedet, das die Pressefreiheit garantiert.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

Organisationen instrumentalisiert und müssen die „Schatten“-PR ihrer Auftraggeber erfüllen. Formell wurde vom Staat jedoch eine liberale Medienpolitik vertreten. Diese Situation änderte sich mit den Präsidentenwahlen im Jahre 2000. Zwar wird formell vom Staat nach wie vor die Pressefreiheit unterstützt, faktisch wird aber eine solche Medienpolitik angesteuert, die auf Stärkung der klassischen Kontrollmechanismen der Medien, wie Monopolisierung der Medien, Zensur sowie Sanktionen gegenüber den Medienorganisationen und gegenüber den Journalisten, setzt. Die hierarchische Unterstellung des Fernsehens unter den Präsidentenapparat wird angestrebt. Die gesellschaftlich-politische Bedeutung meiner Untersuchung besteht somit in der Klärung der Frage, wie die Ausdifferenzierung des Mediensystems von politischen Eingriffen abhängt. Dafür werden Kontrollmechanismen der Medien aufgezählt, analysiert und Schlussfolgerungen über staatliche Lenkungsansprüche an die Medien in Russland getroffen. Die Studie besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil wird in Anlehnung an die systemtheoretische Differenzierungstheorie ein Ausdifferenzierungskonzept der modernen Massenmedien im Hinblick auf die Umbruchprozesse im neuen Russland2 entwickelt. Der zweite Teil der Arbeit widmet sich der soziologischen Rekonstruktion dieses massenmedialen Ausdifferenzierungsprozesses am Beispiel des Fernsehens. Im ersten Kapitel des Theorieteils suche ich nach einem passenden theoretischen Zugang für die Untersuchung des medialen Wandels im neuen Russland. Nach kritischer Betrachtung verschiedener transformationstheoretischer Ansätze wird im Kapitel I.1 der systemtheoretischen Differenzierungstheorie Vorrang eingeräumt. In Anlehnung an diese Theorie wird der massenmediale Wandel in Russland als Prozess der Erosion von Propagandastrukturen und der Ausdifferenzierung eines Funktionssystems der Massenmedien aufgefasst: Propagandakommunikation und das moderne Funktionssystem der Massenmedien sind zwei mediale Kommunikationstypen, die für zwei verschiedene Formen der gesellschaftlichen Differenzierung kennzeichnend sind: Propaganda – für die sowjetische Organisationsgesellschaft, das Funktionssystem der Massenmedien – für die funktional differenzierte Gesellschaftsform. Propaganda ist dabei als Kommunikationstyp zu verstehen, der auf Vermittlung eines totalitären Weltbildes ausgerichtet ist. Das Publikum ist den Produktionsinstanzen von Propaganda hierarchisch untergeordnet. Botschaften, die ein homogenes Welt- oder Gesellschaftsbild verbreiten, sollen von dem Publikum als Handlungsanweisungen übernommen werden, so die Intention des Propagandaauftraggebers. Diese mediale Kommunikationsform war für die sowjetische Organisationsgesellschaft charakteristisch.

2 Mit Russland ist hier und weiter unten immer der Staat Russische Föderation gemeint. Beide Bezeichnungen gelten nach dem Artikel 1 der Verfassung der Russischen Föderation als synonym.

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EINLEITUNG

Das Funktionssystem der Massenmedien ist ein Kommunikationstyp, der sich auf der Grundlage eines binären Codes und autopoietischer Geschlossenheit reproduziert. In den redaktionellen Produktionsprozessen dieses Systems werden Rezipienten als ein Publikum beobachtet, das den Produktionsinstanzen nicht untergeordnet ist. Außerdem ist das autopoetische Mediensystem durch Themenoffenheit gekennzeichnet. Dieser Kommunikationstyp bildet sich innerhalb der funktional differenzierten Gesellschaftsform. Während in der Organisationsgesellschaft der Sowjetunion die Propaganda die Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit übernahm, realisiert in der funktional differenzierten Gesellschaft (des Westens) das System der Massenmedien die Herstellung mehrerer Wirklichkeiten. Im Kapitel I.2 werden die beiden gesellschaftlichen Differenzierungsmuster – die Organisationsgesellschaft und die funktionale Differenzierung – mit dem Ziel vorgestellt, gesellschaftliche Dimensionen des medialen Wandels in Russland auszuarbeiten. Der Begriff Organisationsgesellschaft resultiert aus der Feststellung der Dominanz einer einzigen Organisation – der kommunistischen Partei – über alle anderen gesellschaftlichen Strukturen der Sowjetunion. Die kommunistische Partei übertrug ihre Funktionsprinzipien auf alle Ebenen des sozialen Lebens (Interaktion, Organisation, Gesellschaft) und strebte dadurch ihre vollständige Steuerung an. Die Funktionssysteme konnten sich deshalb in der Sowjetunion kaum zur dominanten Differenzierungsform ausbilden. Wenn überhaupt, dann reproduzierten sie sich im Sowjetreich eher als sekundäres bzw. tritiäres Differenzierungsmuster. Ich nehme an, dass nach Beginn der Perestroika die Organisationsgesellschaft zunehmend durch die funktionale Differenzierung abgelöst wird, die sich dann zur dominanten Differenzierungsform entwickelt (s. I.2.1).3 Dabei wird als funktionale Differenzierung eine Gesellschaftsform bezeichnet, in der sich Teilsysteme ausbilden, die für die Gesellschaft eine spezifische Funktion erfüllen. Das Verhältnis dieser Systeme (Wirtschaft, Politik, Massenmedien, Kunst, Erziehung, Wissenschaft usw.) zueinander ist als nicht-hierarchisch zu definieren. Der Prozess des Wechsels von Differenzierungsformen bildet den Kontext für die Erosion der alten quasi-massenmedialen Propagandastrukturen und die Entstehung des neuen Funktionssystems der Massenmedien (s. I.2.2). Außerdem gehe ich in diesem Kapitel der Frage nach, welche Rolle die weltgesellschaftliche Dynamik bei dem Prozess des Wechsels dieser Differenzierungsformen spielt. Denn zum einen nehme ich an, dass die sowjetische Organisationsgesellschaft von weltgesellschaftlichen Globalisierungsprozessen weitgehend verschont blieb.4 Zum anderen habe ich mich mit der Annahme der Weltgesellschaft kritisch auseinander gesetzt und behaupte, dass erst 3 Allerdings wird diese These vom Wechsel der Differenzierungsformen im zweiten Teil der Arbeit ausschließlich am Beispiel der medialen Kommunikation plausibilisiert. 4 Auch wenn Entstehung dieses Staatsgebildes der globalen Diffusion kommunistischer Ideen zu verdanken ist.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

mit Beginn der Erosion der Organisationsgesellschaft die weltgesellschaftlichen Prozesse aktiviert werden konnten. So wird der Umstrukturierungsprozess medialer Strukturen in der Sowjetunion durch die Globalisierungsprozesse eines schon bestehenden globalisierten Mediensystems tangiert. Sie wirken als eine begünstigende Bedingung für die Erosion von Propagandastrukturen und die Ausdifferenzierung des Mediensystems im neuen Russland (s. I.2.3). Im Kapitel I.3 wird die strukturelle Ebene des Medienwandels in Russland dargestellt. Dafür werden drei Typen medialer Kommunikation – die Propaganda, das Funktionssystem der Massenmedien und die Public Relations – betrachtet. In allen Fällen wird zwischen Produktions- und Rezeptionsstrukturen unterschieden. Anhand der wechselseitigen Selektionsprozesse zwischen Produktions- und Rezeptionseinheiten wird die Differenz zwischen der Propaganda, dem Funktionssystem der Massenmedien und der Öffentlichkeitsarbeit hervorgehoben. Die Berücksichtigung der Public Relations bei der Analyse massenmedialer Ausdifferenzierung in Russland ist notwendig, weil sich Öffentlichkeitsarbeit, die vor allem für die funktional differenzierte Gesellschaft typisch ist, im neuen Russland zum neuen Propagandainstrument der politischen Organisationen wandelt. Diese theoretischen Annahmen münden schließlich in ein Konzept der massenmedialen Ausdifferenzierung. Hier wird die prozessuale Ebene des Medienwandels modelliert. Die Ausdifferenzierung von modernen Massenmedien in Russland wird als ein Prozess aufgefasst, dessen Bezugsproblem im Übergang von der Organisationsgesellschaft zur funktionalen Differenzierung liegt. Dieser Prozess wird durch endogene Bedingungen (massenmediale Globalisierungsprozesse) und exogene Bedingungen (Erosion parteilicher Kontrollmechanismen, Entstehung massenmedialer Märkte) angetrieben (s. I.4). Im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit erfolgt die soziologische Rekonstruktion der massenmedialen Ausdifferenzierung im neuen Russland. Methodisch wird der Prozess der massenmedialen Ausdifferenzierung als ein Fall konstruiert. Die Rekonstruktion erfolgt am Beispiel des Fernsehens mit Hilfe der Analyse von Sekundärliteratur (s. II.1 bis II.4) sowie durch Interpretation von Experteninterviews mit Vertretern des russischen Fernsehens (s. II.4 und II.5). Bei der Analyse organisationeller Umstrukturierungsprozesse des Fernsehens werden nur die so genannten führenden zentralen Fernsehsender der Russischen Föderation berücksichtigt, die aus Moskau auf den großen Teil der Regionen Russlands ausstrahlen. Die regionalen und städtischen Fernsehsender werden aufgrund ihrer niedrigen Reichweite außer Acht gelassen. Nach der Spezifikation von Forschungshypothesen und der Darstellung der Erhebungsinstrumente wird die Periodisierung des Entstehungsprozesses begründet. Die Phasen der massenmedialen Ausdifferenzierung werden je nach Herausbildung spezieller massenmedialer Strukturen eingeteilt (s. II.0). Den massenmedialen Ausdifferenzierungsprozess beschreibe ich anhand der grundlegenden Dimensionen beider Differenzierungsformen: der sowjetischen Organisationsgesellschaft und der funktionalen Differenzierungsform. 18

EINLEITUNG

Dabei bilde ich aus diesen Dimensionen entsprechende Duale, um den gesellschaftlichen Übergangsprozess als Übergang von einem zum anderen Pol der Antinomie zu fixieren: • Zentralisierung versus funktionale Differenzierung, • Minimierung sozialer Distanz zwischen einzelnen Systemtypen versus Vergrößerung der sozialen Distanz, • Geschlossenheit versus Offenheit, • Trennung zwischen formeller und informeller Ebene versus Minimierung dieser Trennung. Die Entstehung oder Nicht-Entstehung massenmedialer Strukturen wie Code, autonome massenmediale Organisationen, massenmediale Entscheidungskriterien, Trennung zwischen Medienproduktion und Medienrezeption sowie massenmedialer Selbstbeschreibung wird als Ausprägung dieser Duale gesehen. Eine kurze Zusammenfassung des massenmedialen Ausdifferenzierungsprozesses im postsowjetischen Russland am Beispiel des Fernsehens soll einen Überblick über den zweiten Teil dieser Arbeit geben: Die Vorphase (1970-1985) ist als prä-massenmediale Phase zu verstehen. Hier wird der Status quo des sowjetischen Fernsehens vorgestellt. Aufgrund der zentralisierten Organisation und hierarchischen Unterordnung der Partei können sowjetische Quasi-Massenmedien weder den massenmedialen Code noch andere massenmediale Strukturen vorweisen. Denn parteiliche Kontrollmechanismen verhindern die Herausbildung der massenmedialen Autopoiesis. Die sowjetischen Medien sind als Propagandamedien zu definieren (s. II.1). Die 1. Phase des Wandels (1986-1991) ist durch die Erosion parteilicher Kontrollmechanismen der Medien gekennzeichnet. In dieser Phase entsteht der Code der autopoietischen Massenmedien. Diese Phase endet mit der Unterstellung der Fernsehorganisation der Regierung der Russischen Föderation und dem Zerfall der Sowjetunion Ende 1991 (s. II.2). Die 2. Phase (Ende 1991-Ende 1995) ist vor allem durch die Herausbildung massenmedialer Organisationen und massenmedialer Entscheidungskriterien im neuen Russland zu charakterisieren. Sie endet mit den Vorbereitungen zu den Präsidentenwahlen 1995/96, als massenmediale Eigenlogik und informelle Produktionsprozesse aufeinander treffen (s. II.3). Die 3. Phase (Ende 1995-Anfang 2000) ist durch die Dualität der medialen Strukturen zu charakterisieren: Auf der einen Seite haben sich bereits viele massenmediale Strukturen wie Code, massenmediale Organisationen, Entscheidungskriterien sowie journalistische Selbstbeschreibung herausgebildet. Auf der anderen Seite jedoch bildet sich parallel dazu ein informeller Bereich auf der Produktionsebene der Medien aus. Diesen Bereich bezeichne ich als informelle PR-Kommunikation. Er entsteht durch die Ko-Evolution der politischen und wirtschaftlichen Lenkungsstrategien der Massenmedien. Die Entstehung dieses informellen Bereichs in den Medien ist ein Kennzeichen der 19

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Dominanz des Merkmals der Trennung zwischen formeller und informeller Ebene im neuen, sich verändernden Russland. Durch die Entstehung eines informellen Bereichs innerhalb der Medieninstanzen wird die autopoietische Kommunikation irritiert (s. II.4). Die 4. Phase des Wandels (ab 2000) ist durch einen Zuwachs der Dominanz von staatlichen Kontrollmechanismen des Fernsehens (und anderer Medien) gekennzeichnet. Zum einen werden die autopoietischen Medien durch diese Kontrollversuche irritiert: Dies äußert sich vor allem durch den Einschluss der staatlichen Vorgaben in die redaktionellen Linien und die Zunahme journalistischer Selbstzensur. Zum anderen können die auopoietischen Massenmedien als Folge der Kontrolleingriffe ihre exklusive Zuständigkeit für die Leistung der Informationsproduktion nicht mehr durchsetzen. Denn neben autopoietischen Massenmedien existieren nun Elemente von Propaganda und die Kommunikation der informellen Public Relations (s. II.5). Der Befund meiner Untersuchung ist folgender: Es begann eine Ausdifferenzierung der autopoietischen Massenmedien, aber die Erosion staatlicher Kontrollmechanismen des Fernsehens (und anderer Medien) ist nur partiell gegeben. Eher kann man von einer Evolution dieser Kontrollmechanismen unter neuen strukturellen Bedingungen ab dem Jahre 2000 sprechen. Die Trennung von politischer Macht ist auf der Ebene der massenmedialen Entscheidungskriterien und auf der Organisationsebene noch nicht vollständig vorhanden. Durch den Wiederaufbau der Kontrollmechanismen versucht der Staat, massenmediale Autopoiesis zu verhindern. Mit anderen Worten: Der Ausdifferenzierungsprozess des massenmedialen Funktionssystems in Russland ist nicht abgeschlossen (s. II.6).

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I. T HEORIETEIL : M EDIENWANDEL

UND G ESELLSCHAFTSWANDEL IM POSTSOWJETISCHEN R USSLAND

1. V ON T RANSFORMATIONSKONZEPTEN ZUR SYSTEMTHEORETISCHEN D IFFERENZIERUNGSTHEORIE Die politischen Reformen in der Sowjetunion, die von sowjetischer Führung 1985 eingeleitet wurden, setzten innerhalb (und außerhalb) dieses Landes eine Vielzahl von Wandlungsprozessen in Gang. Die Neuerungen betrafen nicht nur Politik, Wirtschaft und Bildung, sondern auch sowjetische Medienstrukturen. Der Wandel russischer Medienstrukturen – das Hauptthema dieser Arbeit – ist durch das ambivalente Verhältnis der politischen Führung zu den Medieninstanzen gekennzeichnet: Die Medien sollen frei sein, gleichzeitig müssen sie jedoch, wenn es die Führung verlangt, die Führungsmeinung weitergeben. Dieser Dualismus im Verhältnis zwischen Medien und Politik prägt den medialen Wandel im neuen Russland. Parallel wird dieser Wandel durch zwei andere Teilprozesse tangiert: Zum einen entwickeln sich seit 1991 die massenmedialen Märkte. Zum anderen findet seit Beginn der Reformen eine zunehmende Vernetzung russischer Medien mit ausländischen Medienorganisationen statt. Mit Hilfe welcher Theorie ist dieser komplexe Veränderungsprozess am besten zu erfassen? Für die Analyse massenmedialer Transformation existieren verschiedene theoretische Zugänge. In diesem Kapitel möchte ich der Frage nachgehen, ob die Transformationstheorien, die sich auf die Erklärung des strukturellen Wandels in den postsozialistischen Ländern spezialisieren, auch für die Untersuchung der massenmedialen Umstrukturierung im neuen Russland geeignet sind (s. I.1.2). Nach einer kritischen Betrachtung der Transformationskonzepte entscheide ich mich dafür, den Medienwandel in Russland als Prozess der Ausdifferenzierung eines Funktionssystems der Massenmedien zu begreifen. Deshalb werde ich anschließend die Hauptthesen der Luhmann’schen Differenzierungstheorie vorstellen (s. I.1.3). Diese Grundannahmen werden für die Analyse des Medienwandels in Russland einen Rahmen vorgeben. Zuvor werde ich den historischen und den soziokulturellen Hintergrund des Medienwandels in Russland schildern. Dieser kurze Überblick soll der Leserschaft helfen, den Kontext der massenmedialen Veränderungen zu verstehen (s. I.1.1).

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1.1 Historischer und soziokultureller Hintergrund der massenmedialen Ausdifferenzierung im neuen Russland Die sowjetische Gesellschaft entstand infolge der Oktoberrevolution 1917. Von russischen Historikern werden vier historische Entwicklungsetappen dieser Gesellschaft unterschieden1: Die Gründungsphase der sowjetischen Gesellschaft fand im Zeitraum von 1917 bis 1926 statt. Sie umfasste die Revolution, den Bürgerkrieg und die nachfolgende Stabilisierung. Mit der Übernahme der Macht über die ganze Gesellschaft wollte die bolschewistische Partei die sozialistischen Ideen in der Praxis verwirklichen. Die sozialistische Ideologie lehnte die Ausbeutung der arbeitenden Massen und dessen Diskriminierung ab. Ihre Ideale waren soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit und Ausweitung der individuellen Freiheiten. Angeführt von der bolschewistischen Partei wurden schließlich die Bauern zu der Schicht, die die Oktoberrevolution umsetzte. Das Ziel der bolschewistischen Partei war die Initiierung einer weltweiten kommunistischen Revolution. Mit Erweisung dieses Ziels als realitätsfern wurde es durch ein anderes ersetzt: „Aufbau des Kommunismus in einem abgeteilten Land“.2 Die Entwicklung des Stalinismus fand in der Periode zwischen 1927 und 1953 statt. Ab der zweiten Hälfe der zwanziger Jahre begann Josef Stalin den innerparteilichen Kampf mit den Mitgliedern, die mit seinem Führungsstil und seiner ideologischen Färbung der sozialistischen Ideen nicht einverstanden waren. In den dreißigen Jahren wurde so die Macht vollständig um Stalin und seine Parteibürokratie gebündelt. Das Militär, der repressive Apparat und die Parteibürokratie waren privilegiert und unterstützten die Umsetzung des Totalitarismus. Noch Ende der zwanziger Jahre formulierte Stalin die Idee von „gesetzmäßiger Verschärfung des Klassenkampfes beim Aufbau des Sozialismus“. Allein der Staat durfte der Eigentümer der Produktionsmittel sein. Als Klassenfeinde wurden folgende Gruppen eingestuft: 1) Ein Teil der privilegierten Bürokratie, die mit Stalins Vorgaben nicht einverstanden war, 2) die Bauernschaft – zunächst wohlhabende Bauern und anschließend alle Bauern, 3) die bis jetzt einigermaßen unabhängige Schicht der Gebildeten, die aufrichtig die Verwirklichung des Sozialismus verfolgte. Diese Klassenfeinde waren stark durch die Massenrepressalien betroffen: Sie wurden entweder physisch vernichtet oder nach Sibirien in die Arbeitslager deportiert. Die übrig gebliebenen Bauern wurden ökonomisch ausgebeutet, indem sie zur Arbeit in den staatlich organisierten Kolchosen gezwungen wurden.3 Die Hochreife erreichte das sowjetische System zwischen 1954 und 1975. Dieser Zeitraum wird von russischen Historikern als Periode des „realen Sozi1 Zur historischen und soziokulturellen Entwicklung der Sowjetunion (1917-1985) vgl. Ɂɚɫɥɚɜɫɤɚɹ, 2004: ɋɨɜɪɟɦɟɧɧɨɟ ɪɨɫɫɢɣɫɤɨɟ ɨɛɳɟɫɬɜɨ: 32 ff. 2 Auf Russisch: „ɩɨɫɬɪɨɟɧɢɟ ɤɨɦɦɭɧɢɡɚɦɚ ɜ ɨɬɞɟɥɶɧɨ ɜɡɹɬɨɣ ɫɬɪɚɧɟ“. 3 Vgl. ebd.: 42.

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alismus“ bezeichnet. Für die sowjetische Gesellschaft dieser Periode waren folgende Merkmale charakteristisch: a) ein totalitärer Staat, der über einen polizeilich-repressiven Apparat und eine loyale Bürokratieschicht verfügte und alle gesellschaftlichen Bereiche überwachte; b) eine fast vollständig verstaatlichte Planwirtschaft; c) sowjetische Medien waren verstaatlicht und der Spitze der kommunistischen Partei unterstellt. Die letzte Etappe (1976-1985) ist durch die Stagnation und Krise des sowjetischen Gesellschaftsmodells gekennzeichnet. Bis zur Mitte der sechziger Jahre verringerte sich noch der ökonomische Rückstand der Sowjetunion zu den westlichen Ländern. Jedoch hat sich seit Beginn der siebziger Jahre das ökonomische Wachstum verlangsamt und schließlich angehalten.4 Die Planwirtschaft konnte die anfallenden Aufgaben der Produktion und der Verteilung nicht bewältigen. Die Verschlechterung der Lebensbedingungen führte zur Zunahme informeller Tauschprozesse zwischen den Bürgern. Die Unterschlagung des Staatseigentums und die Abnahme der Disziplin der Arbeitnehmer waren die Folgen. Die rechtlichen Mittel konnten diese Prozesse nicht stoppen, weil auch Gerichte und Milizen zunehmend korrupt wurden. Auf der Verwaltungsebene verlor das Zentrum zunehmend die Steuerungskapazitäten über die Peripherien. Die ideologische Macht der KPdSU nahm ab. Die wachsende Trennung zwischen offiziellen Parolen und tatsächlichem Zustand des sowjetischen Systems äußerte sich u.a. in den zahlreichen Witzen, deren Zielscheibe sowjetisches Leben, die sowjetische Führung und die kommunistische Partei wurden. 1985 leitete die sowjetische Führung erste politische Reformen ein, die auf politische, wirtschaftliche und ideologische Erneuerung der sowjetischen Gesellschaft zielten. Diese Reformpolitik, die unter dem Terminus Perestroika bekannt ist, bewirkte die Öffnung der sowjetischen Gesellschaft. Der sowjetische Bürger bekam zunehmend Möglichkeiten, neue Ideen, neue Länder und neue politische Formen kennen zu lernen. Die Abnahme der parteilichen Kontrolle ermöglichte die Ingangsetzung zahlreicher Umstrukturierungsprozesse in allen Bereichen des sowjetischen Lebens.5 Auch die Strukturen sowjetischer Propagandainstanzen sollten reformiert werden. Auf der einen Seite wurde durch die sowjetische Führung die abnehmende Kontrolle der Medien initiiert, auf der anderen Seite wurden die Medien nach wie vor als Instrument der Durchführung dieser Reformen angesehen. Die Liquidierung der Monopolmacht der KPdSU und KGB, der Zerfall der Sowjetunion im Jahre 1991, war ein Wendepunkt, seit dem die Umgestaltungsprozesse durch die politischen Vorgaben nicht mehr steuerbar waren. Die politischen Repressalien wurden eingestellt. Somit wurde die Grundlage der selbständigen Einschätzung der politischen Machtprozesse durch die Individuen geschaffen. Die Menschen konnten nun gegen die als unfair wahrge4 Vgl. ebd.: 48. 5 Ausführlicher zu den Wandlungsprozessen im neuen Russland seit 1985 vgl. Ɂɚɫɥɚɜɫɤɚɹ, 2004: 128 ff.

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nommene Politik protestieren. Zunehmend bildeten sich in Russland neue politische Bereiche aus: politische Parteien, Stiftungen, Nichtregierungsorganisationen. Formal haben demokratische Rechte und Bürgerfreiheiten zugenommen. Doch ihre praktische Umsetzung wird immer noch zum Kampfobjekt zwischen politischen Institutionen und Interessengruppen. Doch die Prozesse der Reproduktion der politischen Macht in der Gesellschaft haben sich in bestimmten Bereichen nicht geändert. So hat sich der Anteil der Beamten im neuen Russland im Vergleich zur Sowjetunion erheblich erhöht. Zudem erhielten sie eine führende Rolle bei der Umsetzung der politischen und wirtschaftlichen Reformprojekte. Folglich stieg auch die Korruption innerhalb dieser Strukturen. Auch die russische Wirtschaft hat sich geöffnet. Privateigentum und Gründung von Privatunternehmen sind nun möglich. Der Tausch des Rubels in ausländische Währungen wurde ebenso erlaubt. Die Tätigkeit ausländischer Unternehmen in Russland, der Aktienkauf von russischen Unternehmen durch Ausländer sowie das Anlegen des Geldes in ausländischen Banken ist möglich geworden. Der Umsatz des Außenhandels ist um ein Mehrfaches gestiegen. Somit erhöhte sich die Abhängigkeit Russlands von der Weltwirtschaft und die Anpassung wirtschaftlicher Produktionsstrukturen an diese Strukturen. Als Folge dieser Öffnung wurde der Großteil der russischen Unternehmen geschlossen, weil sie der Konkurrenz mit hoch technisierten ausländischen Unternehmen nicht standhalten konnten. Die nationale Industriestruktur begünstigte die Stärkung der Rohstoffbranche. Die Privatisierung des sowjetischen Eigentums war eine Verteilung zwischen der regierenden Elite und der Spitze der kriminellen Strukturen.6 Diese Privatisierung führte zur Zerstörung vieler Zweige der Großindustrie. Sie behinderte die Entwicklung der kleinen und mittelgroßen Unternehmen, führte zur Abnahme der Produktion und zur kriminellen Aneignung der Natur- und Bodenschätze. Am Ende der Privatisierung verfügte der russische Staat über keine Mittel, um soziale Marktwirtschaft zu betreiben und dadurch Übergangsprozesse abzumildern. Obwohl sich die marktwirtschaftlichen Beziehungen zunehmend weiterentwickeln, ist der nationale russische Markt eher durch Monopole als durch Konkurrenz gekennzeichnet. Während die Großunternehmen neue Managementformen und Effektivitätssteigerungsstrategien entwickeln, arbeiten die kleinen und mittleren Unternehmen auf der Grundlage von Tauschbeziehungen. Vorindustrielle Produktionsformen werden wiederbelebt. Qualifiziertes Personal ist gezwungen, niedrig qualifizierten Tätigkeiten nachzugehen. Die sowjetischen Rechtsnormen werden seit Beginn der Reformen kontinuierlich restrukturiert. Es wurde eine Verfassung sowie eine Vielzahl neuer Gesetze und Codices verabschiedet. Allerdings widersprechen viele gesetzliche Regelungen einander. Üblich wurde die Abweichung der regionalen Gesetzgebungen von den föderalen Gesetznormen. So widersprechen 30 Prozent 6 Vgl. ebd.: 30.

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der regionalen gesetzlichen Normen der föderalen Verfassung.7 Die gleichzeitige Rechtskräftigkeit mehreren Normen in bestimmten Bereichen erlaubt es den zuständigen Beamten und Richtern, diejenigen Normen auszusuchen, die für den jeweiligen Fall besser geeignet sind. Diese Praxis führt zur Korruption und Verletzung des Imperativs: gleiches Gesetz für alle. Die staatliche Kontrolle der Einhaltung der Gesetze fehlt. Die korrupten Rechtsinstanzen sind nicht in der Lage, diese Funktion zu erfüllen. Wenn kleinere kriminelle Vorgehen noch bestraft werden, bleiben mittlere und größere Vorgehen unbestraft. Häufig gibt es Bereiche, die gesetzlich nicht reguliert sind, was die Möglichkeiten für unbestrafte rechtwidrige Handlungen eröffnet. Vor allem steht die Exekutive über der Legislative und der Judikative. Die telefonischen Anweisungen von den staatlichen Amtsinhabern – so genanntes Telefonrecht – ist immer noch ein gängiges Lenkungsinstrument der Rechtsinstanzen. Zu betonen ist, dass die Veränderung der sozialen Strukturen Russlands nach fast 20 Reformjahren schon so weitreichend ist, dass die Wiederaktualisierung der sowjetischen Strukturen nicht mehr möglich ist. Allerdings verläuft der strukturelle Wandel der (post-)sowjetischen Übergangsgesellschaft nicht problemlos. Zum einen entsteht im neuen Russland als Folge der Umstrukturierung eine Vielzahl sozialer und politischer Probleme: Verbreitung von Kriminalität, Sicherheitsprobleme, Tschetschenienkonflikt, Migration und Probleme mit der Anerkennung des Status von Migranten, Zerstörung der Kommunalnetze und Wohnanlagen, Zerrüttung des Militärs und die schnell fortschreitende Abnahme der Bevölkerungszahl in östlichen und nördlichen Regionen Russlands. Zum anderen ist auf der Ebene der Gesellschaftsstrukturen ein spezielles Problem beobachtbar, das die Demokratisierungs- und Liberalisierungsprozesse im heutigen Russland zunehmend schwächt: das Problem der Imitation der Reformen durch den Staat und durch andere politische Institutionen. Unter solchen Imitationsvorgängen versteht der russische Soziologe Levada „Nutzung der Formen, der Parolen, der Begriffe [durch die Machtinstanzen], ohne dass die inhaltliche Füllung dieser Begriffe in die Praxis umgesetzt wird.“8 Mit Hilfe der Imitation der Reformen kann man auf diese Weise gewisse liberale Veränderungen vorweisen, aber zugleich eine Politik verfolgen, die z.B. auf Entdemokratisierung und Zentralisierung des Politiklebens zielt. Durch staatliche Instanzen werden auf diese Weise demokratische Wahlen, ein Mehrparteiensystem und staatliche Gewaltenteilung imitiert. Die Beachtung der Gesetze wird propagiert. Praktisch herrscht aber das „Telefonrecht“ bei Rechtsentscheidungen. bhnlich wird die Unterstützung der Kleinunternehmerschaft und der wirtschaftlichen Konkurrenz durch den Staat betont, faktisch werden aber die staatlichen Monopole bevorzugt. bhnliche Parolen verbreitet der Staat bezüglich der Medienfreiheit, Unterstützung der Bildung und der Erziehung. Eine weitere Dimension des Imitationsproblems ist 7 Ebd.: 129. 8 Vgl. ebd.: 132, zit. nach Ʌɟɜɚɞɚ, 2003: Ɋɚɦɤɢ ɢ ɜɚɪɢɚɧɬɵ ɢɫɬɨɪɢɱɟɫɤɨɝɨ ɜɵɛɨɪɚ: ɧɟɫɤɨɥɶɤɨ ɫɨɨɛɪɚɠɟɧɢɣ ɨ ɯɨɞɟ ɪɨɫɫɢɣɫɤɢɯ ɬɪɚɧɫɮɨɪɦɚɰɢɣ, Übersetzung d. Verfasserin.

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das Auseinandertreten der rechtlichen Normen und Gesetze mit alltäglichen sozialen Praktiken. Aktuelle Forschungen zu diesem Thema bestätigen, dass zur Zeit in Russland eine „Institutionalisierung nichtrechtlicher (Schatten-) Praktiken“ stattfindet, die „die kriminelle Umwandlung gesellschaftlicher Grundinstitutionen“9 erwarten lässt. Mit Hilfe welches Begriffsapparats lassen sich diese vielseitigen, unkontrolliert ablaufenden Veränderungen der (post-)sowjetischen Gesellschaftsstruktur beschreiben und erklären? Gibt es transformationstheoretische Konzepte, die speziell für die Analyse des massenmedialen Wandels im neuen Russland geeignet sind?

1 . 2 Zu t r a n s f o r m a t i o n s t h e o r e t i s c h e n K o n z e p t e n Zu Beginn der 1990er Jahre entstanden viele sozialwissenschaftliche Konzepte, die soziale Umformungs- und Umgestaltungsprozesse in ehemals staatssozialistischen Ländern analysierten. Die ersten Untersuchungen der Transformationsprozesse hatten eher einen beschreibenden Charakter. Die später folgenden Studien versuchten die postsozialistischen Wandlungsprozesse theoretisch einzuordnen. Zentral war vor allem die Frage: Welche der vorhandenen Theorien sind für die Erklärung des gesellschaftlichen Wandels in ehemals sozialistischen Ländern brauchbar? Die ersten Versuche, gesellschaftliche Wandlungsprozesse theoretisch einzubetten, gingen von einer Zielgerichtetheit der Transformationsprozesse aus. Sie postulierten die Möglichkeit der konfliktlosen Übertragung der westlichen Gesellschaftsmuster auf postsozialistische Strukturen und bewerteten solche Übertragungsprozesse allgemein als durchweg positiv. Mit dem Auftreten erster Konflikte und Probleme in den dem Wandel unterzogenen Ländern wurde offensichtlich, dass die Annahmen über die Zielgerichtetheit von Transformation ein schwaches Erklärungspotential haben und nicht in der Lage sind, die nicht-linearen Entwicklungsprozesse zu erklären. Folglich kehrten die Transformationsforscher von teleologischen Übertragungsmodellen ab.10 So können die Transformationskonzepte grob in zwei Varianten eingeteilt werden: in 1) teleologische und 2) nicht-teleologische Transformationsansätze. Die Transformationsforschung hat sich insbesondere auf die Untersuchung politischer und wirtschaftlicher Transformationsprozesse konzentriert.11 Die Untersuchungen zu massenmedialen Transformationsprozessen sind nicht 9 Ebd., Übersetzung d. Verfasserin. 10 Zum Wandel der Transformationsdiskussion vgl. Temkina/Grigor’ev, 1996: Russland als Transformationsgesellschaft: Konzepte und Diskussionen: 10-47; vgl. auch Schneider, 1997: Begriffe und theoretische Konzepte zur politischen Transformation: 17-24. 11 Vgl. Woltmann/Wiesenthal/Bönker, 1995: Transformation sozialistischer Gesellschaften.

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zahlreich. Sie wurden größtenteils ohne direkte Einbettung in einen theoretisch-konzeptionellen Rahmen durchgeführt und sind eher als empirisch-deskriptiv einzustufen. Eine Ausnahme stellen die modernisierungstheoretischen Erklärungsansätze dar: Sie bildeten die Grundlage für einige Untersuchungen massenmedialer Transformationsprozesse in ehemals staatssozialistischen Ländern.

1.2.1 Transformation als Übertragung des marktwirtschaftlichen und demokratischen Modells auf postsozialistische Gesellschaftsstrukturen Die teleologische Variante der Transformationstheorien definiert Transformation als Einführung der demokratischen und marktwirtschaftlichen Institutionen nach westlichem Vorbild in postsozialistischen Ländern.12 Die Transformationsprozesse besitzen somit ein vorgegebenes Ziel: Demokratie und Marktwirtschaft. Die Geschwindigkeit und das Ausmaß der Übertragungsprozesse stehen hier im Mittelpunkt des Interesses. Die Annahme der Zielgerichtetheit der Transformationsprozesse vertreten zum einen die neoliberalen Erklärungskonzepte und zum anderen die durch die Modernisierungstheorie geprägte Transformationsforschung. Beide Richtungen legen Schwerpunkte auf die Untersuchung politischer und wirtschaftlicher Transformationsprozesse. Die Forschungsergebnisse versuchen diese konzeptionell in einen theoretischen Zusammenhang einzubetten.

Neoliberale Transformationskonzepte Neoliberale Erklärungsansätze gehen von einem ökonomischen Determinismus aus, d.h., wenn der Staat die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen korrekt bestimmt, ist von einer gelungenen Übertragung der marktwirtschaftlichen Institutionen in postsozialistische Länder auszugehen. Zu solchen Bedingungen zählen: 1) die Entstehung der vom Staat unabhängigen ökonomischen Organisationen, die durch Privatisierung erreicht werden soll, 2) das Recht auf Privateigentum, 3) durch den Staat nicht gelenkte Preisbildung, 4) offener Wettbewerb zwischen ökonomischen Einheiten sowie 5) entsprechende rechtliche und politische Rahmenbedingungen.13 In diesem Kontext verhalten sich ökonomische Organisationen als nutzenmaximierende Unternehmen, die ihre Entscheidungen an neuen Rahmenbedingungen orientieren. Aus dieser Perspektive stellen sich die im Wandel auftretenden Probleme höchstens als Probleme falscher Implementierungsstra12 Vgl. Voltmer, 2000: Massenmedien und demokratische Transformation in Osteuropa: 123-152. 13 Vgl. ɏɭɞɨɤɨɪɦɨɜ/Ⱦɪɨɡɞɨɜ/Ɉɥɶɫɟɜɢɱ, 1995: Ɋɵɧɨɤ ɢ ɪɟɮɨɪɦɵ ɜ Ɋɨɫɫɢɢ: 171181.

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tegien für die richtigen Rahmenbedingungen dar. Die Aufgabe der Politik ist es aus dieser Sicht, für die richtige Implementierung der wirtschaftlich notwendigen Rahmenbedingungen zu sorgen. Dieses Konzept betrachtet die Übergangsstrukturen der postsozialistischen Länder als informationsleeren Raum, auf dessen Grundlage ohne Hindernisse neue Institutionen aufgebaut werden können: Werden die neuen marktwirtschaftlichen Mechanismen in Gang gesetzt, konstituiert sich automatisch die Marktwirtschaft. Erwartungsmuster und strukturelle Gegebenheiten des sozialistischen Zeitalters lösen sich demnach mit Beginn der Übertragungsprozesse auf. Folgende Aspekte wurden am neoliberalen Ansatz bereits mehrfach kritisiert: • Die Zielgerichtetheit der Transformationsprozesse ist fraglich und wurde durch den tatsächlichen Verlauf des Wandels bis dato nicht nachgewiesen. • Die neoliberalen Konzepte lassen strukturelle Gegebenheiten staatssozialistischer Länder außer Acht. Dabei lassen sich gerade Transformationsprobleme unter Berücksichtigung der ehemals staatssozialistischen Form sozialer Ordnung besser erklären. • Auch die Annahme der kausalen Abhängigkeit des Handelns von ordnungspolitischen Rahmenbedingungen kann die strukturelle Komplexität der Wandlungsprozesse in postsozialistischen Ländern nicht angemessen erfassen. Denn die Eigensicht der wirtschaftlichen Organisationen auf die neuen Rahmenbedingungen wird hier nicht berücksichtigt.14 Die Anwendung der neoliberalen Medienkonzepte auf massenmediale Transformation erscheint in diesem Zusammenhang nicht als vorteilhaft. So kritisiert Medienforscher John Downing15, dass die Transformationsansätze vom Typ „Transition“ ursprünglich aus Theorien stammen, die für die Erklärung der sozialen Strukturen westlicher Länder entwickelt wurden. So wurden solche Konzepte wie „civil society“ und „public sphere“ für die Erklärung der westlichen Massenmedien ausgearbeitet. Für die Beschreibung medialer Transformation in postsozialistischen Ländern sind sie daher nicht geeignet. Aus meiner Sicht ist nicht die Herkunft dieses Ansatzes der Grund für dessen Ablehnung. Außer der oben genannten Nachteile dieses Konzepts ist er zudem wenig differenziert. Handelnde Akteure, Organisationen und Institutionen werden hier vermischt. Auch verschiedene Handlungs- oder Kommunikationsebenen werden nicht voneinander unterschieden. Zudem wird keine Differenzierung zwischen regionalen (postsozialistischen) und globalen (weltweit möglichen) Strukturtypen vorgenommen. Der Gedanke von einer Übertragung der westlichen Modelle auf postsozialistische Strukturen ist zwar interessant, er vereinfacht jedoch die Komplexität der Transformationsprozesse zu sehr. 14 Vgl. ebd.: 171 ff. 15 Vgl. Downing, 1996: Internationalizing Media Theory.

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Modernisierungstheoretische Transformationskonzepte Insbesondere Wolfgang Zapf16 verwendete die Modernisierungstheorie für die Erklärung der Transformationsprozesse in postsozialistischen Ländern. Auch er ist von einer Zielgerichtetheit der Transformationsprozesse überzeugt. Zapf lehnt sich an den systemtheoretisch-evolutionistischen Ansatz von Talcott Parsons an, der Modernisierung als einen selbstläufigen Prozess charakterisiert. Dieser Prozess zeichnet sich durch die Erhöhung der Selbstregulierungs- und Anpassungsmechanismen sowie durch die Kapazitätssteigerung gesellschaftlicher Teilsysteme aus. Im Laufe des Modernisierungsprozesses kommt es zur Universalisierung der Gesellschaftsstrukturen. Vier evolutionäre Universalien werden dann für die Struktur der modernen Gesellschaft ausschlaggebend: a) Bürokratie, b) Geld und Marktsystem, c) universalistisches Rechtssystem, d) demokratische Assoziation.17 Im Anschluss an den Parsons’schen Ansatz definiert Zapf Transformation als einen evolutionären Prozess, dessen Ziel die Übertragung evolutionärer Universalien wie Marktwirtschaft, Demokratie, Rechtsstaat, Wohlfahrt u.a. auf die Strukturen postsozialistischer Länder ist. Transformation wird hier als ein besonderer Typ der Modernisierung verstanden. In postsozialistischen Ländern handelt es sich zudem um „nachholende“ Modernisierung, da die westlichen „evolutionären Errungenschaften“ als nachzuahmende Muster dienen.18 Zwar gesteht dieses Konzept den ehemals staatssozialistischen Ländern die Möglichkeit der Selbstregulierung bei der Wahl der nachzuahmenden Muster zu, dennoch werden die zukünftigen Ergebnisse der Transformationsprozesse nicht infrage gestellt: „Konkurrenzdemokratie, Marktwirtschaft und Wohlstandsgesellschaft mit Wohlfahrtsstaat und Massenkonsum sind die Basisinstitutionen, innerhalb derer um Innovation gekämpft wird.“19 Im Kontext dieses Ansatzes wird die Rolle der Massenmedien danach bewertet, wie begünstigend sie sich auf die Entwicklung der sich transformierenden Länder in die „richtige“ Richtung auswirken. Aus dieser Sicht müssen sich auch die Massenmedien selbst nach dem „richtigen“ Muster entwickeln: Sie sollen nach Unabhängigkeit von staatlichen Institutionen streben. Dabei ist es wichtig, sich von unerwünschten Formen sozialer Kontrolle, wie politische oder wirtschaftliche Einflussnahme, zu befreien und nach erwünschter Form sozialer Kontrolle, wie Vorgaben der öffentlichen Meinung, zu streben.20 Diese modernisierungstheoretische Richtung hat sich schnell bei der Untersu16 Vgl. Zapf, 1990: Modernisierung und Modernisierungstheorien: 23-39; Zapf, 1994: Modernisierung, Wohlfahrtsentwicklung und Transformation; vgl. auch Müller, 1998: Postsozialistische Krisen; Weymann, 1998: Sozialer Wandel: 8697. 17 Vgl. Zapf, 1990: 34. 18 Zum Begriff „nachholende Modernisierung“ vgl. auch Ettrich, 1992: Von der Erfolgswissenschaft zur Krisenwissenschaft: 122-141. 19 Vgl. Zapf, 1990: 35. 20 Ʉɨɥɶɰɨɜɚ, 1999: ɉɪɨɢɡɜɨɞɫɬɜɨ ɧɨɜɨɫɬɟɣ: ɫɤɪɵɬɵɟ ɦɟɯɚɧɢɡɦɵ ɤɨɧɬɪɨɥɹ.

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chung medialer Transformationsprozesse in postsozialistischen Ländern sowie bei Analysen medialen Wandels in Entwicklungsländern durchgesetzt.21 Die Untersuchungen medialer Transformationsprozesse im postsozialistischen Russland haben zwar eher beschreibenden Charakter, dennoch sind sie mit den genannten teleologischen Annahmen verknüpft.22 Transformationsforscher trugen insbesondere folgende Kritikpunkte an modernisierungstheoretischen (medialen) Transformationskonzepten vor: • Vor allem ist die Zielgerichtetheit der Transformationsprozesse in postsozialistischen Ländern in Frage zu stellen, denn die realen Wandlungsprozesse weisen nicht den problemlosen Übergang vom Staatssozialismus zu den von der Modernisierungstheorie postulierten Universalien nach. • Modernisierungstheoretische Transformationskonzepte postulieren, dass sowohl in postsozialistischen Ländern als auch in Entwicklungsländern ein Prozess vom gleichen Typ stattfindet. Auch diese Annahme wird von Transformationsforschern angezweifelt. • Ebenfalls wird der universalistische Anspruch der Modernisierungstheorie in Frage gestellt. Die Kritiker betonen die Pluralität der Regulierungsmuster und die prinzipielle Offenheit der Transformationsprozesse. • Schließlich wird kritisiert, dass von dieser Theorie regionale Strukturen der postsozialistischen Länder nicht analysiert werden. Die Modernisierungstheorie nimmt eher eine homogenisierende Perspektive ein und konstatiert die Erfüllung ein und desselben Prozesses in allen postsozialistischen Ländern.23

1.2.2 Transformation als regionaler, nicht-linearer Prozess Transformationskonzepte mittlerer Reichweite haben ihren Schwerpunkt auch in der Untersuchung politischer und wirtschaftlicher Transformationsprozesse. Aber im Gegensatz zu neoliberalen und modernisierungstheoretischen Konzepten weichen sie von teleologischen und universalistischen Vorstellungen ab. Auch ökonomischer Determinismus durch richtig gesetzte Rahmenbedingungen wird von ihnen angezweifelt. Die Erklärung der Transformationsprozesse kann aus dieser Perspektive nur unter Berücksichtigung des regionalen strukturellen Kontextes sowie der Geschichte der ehemals staatssozialistischen Länder geschehen. Weil die Zukunft der Transformationsländer hier ohne teleologische Brille betrachtet wird, verzichten diese Konzepte auf die Vorhersage endgültiger Er21 Ruhlmann, 1996: Modernisierung und Dependenz: 19-47. Chang, 1989: Mass Media in China; McDaniel, 1994: Broadcasting in the Malay World; Fox, 1997: Latin American Broadcasting; Splichal, 1994: Media Beyond Socialism. 22 Vgl. Androunas, 1993: Soviet Media in Transition; Murray, 1994: The Russian Press from Brezhnev to Yeltsin. 23 Vgl. Mense-Petermann, 2000: Institutioneller Wandel und wirtschaftliche Restrukturierung: 31-33; Vgl. Ʉɨɥɶɰɨɜɚ, 1999.

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gebnisse der Transformationsprozesse. Insgesamt wird aus dieser Perspektive Transformation als offener Prozess aufgefasst, der sich durch politisch gesteuerte und historisch einmalige Veränderung politischer und wirtschaftlicher Strukturen auszeichnet. Die historische Einmaligkeit der Transformationsprozesse in ehemals staatssozialistischen Ländern verbietet es, diese Wandlungsprozesse in einen umfassenderen theoretischen Rahmen zu setzen. Stattdessen sollen im Mittelpunkt der Transformationsforschung Probleme und regionale Schwierigkeiten des Wandels stehen. Nicht nur politisch vorgegebene Rahmenbedingungen, sondern die handelnden Instanzen sowie das Zusammenspiel zwischen diesen zwei Seiten ist für diese Konzepte ein wichtiger Untersuchungsschwerpunkt. In akteurstheoretischen Konzepten wird daher auf die Erforschung der Wechselverhältnisse zwischen Transformationsstrukturen (z.B. Institutionen) und handelnden Akteuren konzentriert.24 Im Bereich der Medientransformation sind in diesem Zusammenhang vor allem die Texte von Olesja Kolzova zu nennen.25 Bei der Untersuchung der medialen Kontrollmechanismen im neuen Russland geht sie auf die Akteursebene und analysiert hier das Zusammenspiel verschiedener „Agenten der Kontrolle“ in den Medienorganisationen. Aus ihrer Sicht ist die regelnde Kraft von Institutionen der sich transformierenden Gesellschaft Russlands im Unterschied zu stabilen westlichen Gesellschaften eher als gering einzustufen. Die Entscheidungen in medialen Organisationen werden daher nicht durch verfestigte Regeln, sondern durch situative Aspekte bedingt. Da sich alle gesellschaftlichen Strukturen (auch die medialen) im Übergang befinden, erscheint für Kolzova die Untersuchung der Mikrostrukturen des situativen Handelns der Akteure am fruchtbarsten. Der institutionelle Aspekt wird nicht vollständig als erklärende Variable ausgeschlossen, vielmehr werden die Institutionen als Ressource begriffen, die die Akteure konform (im Falle der Befolgung formeller Regeln) oder abweichend (im Falle der Befolgung informeller Regeln) nutzen. Gleichzeitig formuliert Kolzova die Hypothese über die tragende Kraft der informellen Regeln im postsowjetischen Russland. Zusammenfassend lassen sich also folgende Schwerpunkte der Transformationskonzepte mittlerer Reichweite hervorheben: • Statt eines Übergangs vom Sozialismus zu Demokratie und Marktwirtschaft ist der Transformationsprozess als reflexiver, sich selbst ändernder Entwicklungsprozess zu verstehen. Statt eines zielgerichteten weist er einen problemlösenden Charakter auf. • Die automatische, problemlose Übertragung westlicher Muster auf ehemals sozialistische Länder ist fraglich, weil diese durch die im Staatssozia24 Mense-Petermann, 2000: 34 ff. 25 Ʉɨɥɶɰɨɜɚ, 1999; Ʉɨɥɶɰɨɜɚ, 2001: ɉɪɨɢɡɜɨɞɫɬɜɨ ɧɨɜɨɫɬɟɣ: ɬɢɩɵ ɜɥɢɹɧɢɹ ɧɚ ɪɚɛɨɬɭ ɠɭɪɧɚɥɢɫɬɨɜ. Zu massenmedialen Transformationsprozessen in anderen osteuropäischen Ländern vgl.: Kleinwächter, 1996: Zwischen Macht und Markt: 85-104.

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lismus entwickelten Strukturen geprägt sind. Die Annahme, in postsozialistischen Ländern herrsche während des ‚Umbaus‘ ein strukturelles Vakuum, ist daher nicht aufrechtzuerhalten. Deshalb muss, so die Intention der Anhänger dieses Ansatzes, bei Transformationsstudien verstärkt der sozialhistorische strukturelle Kontext berücksichtigt werden, z.B. die Dichotomie zwischen formellen und informellen Strukturen in Russland.26 • Zudem weist jedes Land seine regionalen Ausprägungen der staatssozialistischen Regulierungsmechanismen auf. Diese regionalen Erwartungsstrukturen sollten als wichtige Erklärungsvariable für die Transformationsprozesse herangezogen werden. Weil die Transformation durch das staatssozialistische Erbe der jeweiligen Länder beeinflusst wird, kann sie nicht als Homogenisierung verstanden werden. Denn die regionalen Lagen bilden aufgrund der historisch gewachsenen Strukturen ihren eigenen Typ von Transformation aus. Auch die aktuellen Transformationsvorgänge unterscheiden sich regional von Land zu Land. Insgesamt ist so von regional spezifischen Transformationspfaden auszugehen.27

1.2.3 Massenmediale Transformation als Ausdifferenzierungsprozess Einige Ideen der Transformationskonzepte mittlerer Reichweite möchte ich zur Erklärung des medialen Wandels im postsowjetischen Russland übernehmen: 1. das Verständnis von Transformation als einen offenen reflexiven Prozess, 2. die Berücksichtigung der historisch gewachsenen Strukturen der ehemals staatssozialistischen Länder sowie 3. die Idee von regionalen Ausprägungen des Transformationsprozesses. Diese Thesen erweitern den Erklärungsrahmen – im Gegensatz zur Idee einer Linearität des Entwicklungsprozesses. Allerdings fehlt bei den Transformationskonzepten mittlerer Reichweite der breite theoretische Rahmen, der es erlauben würde, die Komplexität des Transformationsprozesses hinreichend zu berücksichtigen. Ich vertrete aber die Ansicht, dass für die Analyse der Transformationsprozesse die Einbettung in einen breiteren theoretischen Rahmen notwendig ist. Eine solche Einbettung erlaubt es, zwischen verschiedenen Ebenen der Transformationsstrukturen und verschiedenen Typen der Transformationsprozesse zu unterscheiden. Somit ermöglicht sie, die Komplexität der Transformationsvorgänge hinreichend zu berücksichtigen. Eine bessere Alternative zur Analyse der Wandlungsprozesse in postsozialistischen Ländern stellt deshalb die soziologische Differenzierungstheorie dar. In ihrer systemtheoretischen Fassung unterscheidet sie zum einen verschiedene Ebenen der Systembildung (Interaktion, Organisation, Gesellschaft) 26 Dieser Punkt wird im Weiteren vertieft: vgl. I.2.1.5. 27 Vgl. Mense-Petermann, 2000: 13 ff.

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und interessiert sich auf Gesellschaftsebene für verschiedene Formen gesellschaftlicher Differenzierung. Zum anderen trennt sie verschiedene Typen der Differenzierungsprozesse (gesellschaftliche Differenzierung, Ausdifferenzierung und Innendifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme) voneinander. Die systemtheoretische Differenzierungstheorie beinhaltet aber zugleich die eben genannten drei Thesen der Transformationskonzepte mittlerer Reichweite: • Wenn Transformation als offener, reflexiver Prozess begriffen wird, wird Differenzierung als Ergebnis eines zufälligen Evolutionsprozesses verstanden. • Wenn Transformationsforscher die Berücksichtigung der gewachsenen Strukturen in postsozialistischen Ländern fordern, so analysiert die Differenzierungstheorie bereits verschiedene gesellschaftliche Strukturen als verschiedene gesellschaftliche Differenzierungsformen. • Postulieren Transformationsforscher die Berücksichtigung regionaler Ausprägungen der Transformationsprozesse, so erfüllt die Differenzierungstheorie diese Forderung durch Berücksichtigung der Möglichkeit regional unterschiedlicher Differenzierungsformen. Zugleich werden regionale Formen im Kontext der globalen weltgesellschaftlichen Strukturen gedacht. Die systemtheoretische Globalisierungstheorie28 gibt die Möglichkeit, regionale Differenzierungsprozesse im Kontext der globalen Strukturen (und umgekehrt) zu analysieren. In diesem Zusammenhang interessiert mich vor allem das Verhältnis zwischen regional unterschiedlichen Differenzierungsformen und Prozessen gesellschaftlicher Globalisierung im Bereich der Massenmedien (vgl. I.2.3). Die Differenzierungstheorie erlaubt die Beschreibung der Transformationsprozesse sowohl in postsozialistischen Ländern als auch in so genannten Entwicklungsländern. Sie grenzt jedoch die Entwicklung nicht normativ ab: Die Pluralität der Differenzierungsformen ist in diesem Konzept zugelassen. Unterschiedliche regionale Ausprägungen der Differenzierungsprozesse sind möglich und ihre historische Einmaligkeit wird nicht abgestritten. In Anlehnung an die systemtheoretische Differenzierungstheorie ist die Ausgangsthese dieser Arbeit zu formulieren: Bei den Transformationsprozessen im postsowjetischen Russland handelt es sich um den Wechsel der primären gesellschaftlichen Differenzierungsformen. Wenn vor Beginn der Perestroika die Organisationsgesellschaft29 eine dominante Differenzierungsform der sowjetischen sozialen Ordnung darstellte, begann nach 1985 in Russland

28 Vgl. Stichweh, 2000c: Die Weltgesellschaft. 29 Der Begriff Organisationsgesellschaft bezeichnet eine gesellschaftliche Differenzierungsform, die sich durch die hierarchische Unterordnung aller gesellschaftlichen Strukturen unter eine Organisation (hier: die kommunistische Partei) auszeichnet (vgl. I.2.1).

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ein Übergang zur funktional differenzierten Gesellschaftsform.30 So nehme ich an, dass nach der Wende 1985 die Erosion der sowjetischen Gesellschaftsstrukturen und die Ausdifferenzierung der funktionalen Differenzierungsstrukturen einsetzten.31 Beide Differenzierungsformen zeichnen sich jeweils durch einen besonderen Typ der medialen Operationsweise aus. Während für die Organisationsgesellschaft Propagandakommunikation kennzeichnend ist, bildet sich in der funktional differenzierten Gesellschaftsform ein Funktionssystem der Massenmedien aus, das sich nicht einer einzelnen Organisation unterordnet. Die Transformation medialer Strukturen ist in diesem theoretischen Kontext als Erosion des medialen Kommunikationstypus der Propaganda und als Ausdifferenzierung eines Funktionssystems der Massenmedien zu verstehen32: Im neuen Russland findet die Ausdifferenzierung eines Funktionssystems der Massenmedien statt, da der kommunikative Bezug zur Aktualität und Neuheit (und folglich der massenmediale Code Information/Nicht-Information) erst nach Beginn der Perestroika (seit 1995/1996) hergestellt wird. Auch Entwicklungen wie Trennungsprozesse von Partei und Staat oder zunehmendes Erreichen der redaktionellen und journalistischen Eigenständigkeit, wie sie in Russland zu beobachten sind, werden von der Theorie der massenmedialen Ausdifferenzierung behandelt. Der Synchronisationsbedarf zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen wird im Zuge der umfassenden Dezentralisierungsprozesse im neuen Russland unabdingbar. Durch zahlreiche Veränderungen in der Übergangsphase erhöht sich der Kontingenzdruck. Diese Passagen deuten auf den Übergang zur funktionalen Differenzierung hin. Mit dem Beginn der Glasnost-bra unterliegt das in der kommunistischen Ideologie verwurzelte Prinzip der staatlichen Geheimhaltung der Erosion. Wird die Pressefreiheit zunächst nur partiell möglich, so wirken die ersten „aufklärerischen“ Veröffentlichungen auf die bestehenden medialen Strukturen zurück: Es wird mehr und mehr nach Ausdehnung der Pressefreiheit verlangt. Mit der Abschaffung der Zensur als Institution33 bedarf die staatliche Geheimhaltung von Ereignissen und Informationen einer Begründung, die Pressefreiheit hingegen nicht mehr. Glasnost wird zur dominierenden Semantik der Perestroika-Zeit. Ihr Prinzip ist mit dem aufklärerischen Prinzip der Neuzeit verwandt, denn sie thematisiert die Befreiung von ideologischen (hier: parteilichen) Deutungsmustern. Die Herausbildung einer funktional differenzierten Wirtschaft und Politik bilden den Entwicklungskontext für den Entstehungsprozess der modernen Massenmedien im neuen Russland. Die Entstehung der Informationsmärkte 30 Hier widerspreche ich M. Brie, der das Scheitern funktionaler Differenzierung im neuen Russland postuliert. Vgl. Brie, 1995: Russland: Die versteckten Rationalitäten anomisch spontanter Wandlungsprozesse: insb. 56-57. 31 Vgl. I.2. 32 Zur ausführlichen Definition der Propaganda und des Funktionssystems der Massenmedien vgl. I.3. 33 Durch das Gesetz „Über Presse und andere Medien“ von 1990.

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begünstigte die Herausbildung massenmedialer Organisationen. Medien begannen mit der Beobachtung ihres Publikums, das sich bald in Spezialpublika differenzierte. Die Hoffnungen der Medienorganisationen und Medienvertreter auf ihre zukünftige Rolle in der Gesellschaft kristallisierten sich im Konzept der Medien als vierter Gewalt heraus. Nach diesem Konzept sollten die Medien neben drei politischen Gewaltbereichen zu einer vierten Gewalt werden, die einen Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse ausüben würde. Die Herausbildung von journalistischen Rollen sowie Entscheidungskriterien und eine Innendifferenzierung massenmedialer Produktion in Spezialbereiche folgten. Die kurze Aufzählung der medialen Herauslösungsprozesse aus dem gesellschaftlichen Kontext im post-sowjetischen Russland legt nahe, die Transformation russischer Massenmedien als Ausdifferenzierung eines Funktionssystems zu erfassen. Die Anlehnung an die Differenzierungstheorie erlaubt sowohl strukturelle als auch prozessuale Aspekte des medialen Wandels zu berücksichtigen. Sie stellt einen elaborierten Begriffsapparat zur Verfügung, um die Entstehung des Funktionssystems der Massenmedien in Russland zu beschreiben. Außerdem ist die Differenzierungstheorie für die Analyse des strukturellen Wandels sowohl auf der Gesellschaftsebene als auch auf der Ebene gesellschaftlicher Teilsysteme geeignet. Deshalb ziehe ich bei meiner Untersuchung die soziologische Differenzierungstheorie vor.

1.3 Differenzierungstheoretische Prämissen Zum Gegenstand der Differenzierungstheorie Die Theorie sozialer Differenzierung interessierte sich vor allem für die Gleich- und Ungleichartigkeit der Teile eines sozialen Ganzen. Die Klassiker der Differenzierungstheorie, Adam Smith und Emil Durkheim, widmeten sich Prozessen gesellschaftlicher Arbeitsteilung sowie dem Prozess der Pluralisierung von Berufen und arbeitsspezifischen Tätigkeiten. Sie postulierten ein lineares Modell der gesellschaftlichen Entwicklung: von einer segmentären zu einer arbeitsteilig differenzierten Gesellschaft. Heute besteht die Differenzierungstheorie aus mehreren Theorieentwürfen. Allgemein anerkannt unter den Differenzierungstheoretikern ist die Annahme der funktionalen Differenzierung des umfassenden Gesellschaftssystems. Dafür hat sich der Begriff des Funktionssystems oder des funktionalen Teilsystems eingebürgert. Als Formen sozialer Differenzierung wurden außer der segmentären und der arbeitsteiligen/funktionellen Differenzierung die Stratifikation und Zentrum/Peripherie-Differenzierung eingeführt. Einen bedeutsamen Zweig der Differenzierungstheorie stellt das systemtheoretische Paradigma dar. Aber die Entwürfe von Talcott Parsons, Richard Münch, Neil Smelser und Niklas Luhmann unterscheiden sich in einzelnen Aspekten deutlich voneinander. In diesem systemtheoretischen Rahmen ent37

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stand auch die handlungstheoretische Richtung der Differenzierungstheorie (D. Rueschemeyer, S.N. Eisenstadt, W. Schluchter u.a.).34 Die Einführung des neueren systemtheoretischen Paradigmas35 verschob die Interessensschwerpunkte der Differenzierungstheorie: „Hat man sich zunächst in differenzierungstheoretischer Perspektive vor allem für die Veränderung der dominanten Differenzierungsformen interessiert, also gewissermaßen für die (wechselnde) Art, wie ein sozialen Ganzes auf oberster gesellschaftlicher Ebene in Teile zerlegt wird, dann fragen sozialwissenschaftliche Systemtheoretiker in neuerer Zeit eher nach der Bildung von Teilsystemen innerhalb eines größeren Ganzen. Dem ersten Ansatz entspricht das Systemkonzept des aus Teilen zusammengesetzten Ganzen36, dem zweiten dagegen die Vorstellung, dass die Systeme durch die Fähigkeit zur Grenzerhaltung und Identitätsbewahrung gegenüber ihrer Umwelt gekennzeichnet sind.“37

Zur Differenzierungstheorie Niklas Luhmanns Aus der theoretischen Perspektive Niklas Luhmanns betrachtet, können Prozesse gesellschaftlicher Differenzierung nicht als Aufteilung und Dekomposition der umfassenden Gesellschaft in komplementäre Teile verstanden werden. Gesellschaftliche Differenzierung versteht er als Systemdifferenzierung, d.h. als Differenzierung von System/Umwelt-Differenzen aufgrund der Autopoiesis38 der Teilsysteme: „Systemdifferenzierung ist somit nichts anderes als rekursive Systembildung, die Anwendung der Systembildung auf ihr eigenes Resultat. Dabei wird das System, in dem weitere Systeme entstehen, rekonstruiert durch die weitere Unterscheidung von Teilsystem und Umwelt.“39 Die Luhmann’sche Theorievariante erlaubt, sowohl strukturelle als auch prozessuale Aspekte der sozialen Differenzierung zu berücksichtigen. Von der Differenzierungstheorie werden Wandel und Wechsel der Differenzierungsformen behandelt. Auch über die Bedingungen der Differenzierungsprozesse werden Aussagen gemacht. Diese Theorie hat zudem den Vorteil, dass sie sowohl sozialstrukturelle als auch semantische Phänomene berücksichtigen kann: 34 Mayntz, 1988: Differenzierung und Verselbständigung: 11 ff. 35 Vgl. Luhmann, 1999: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. 36 Diese Perspektive der Differenzierungstheorie wird auch als Dekompositionsparadigma bezeichnet. 37 Mayntz, 1988: 13. 38 Die Autopoiesis setzt die operative Schießung jedes (sozialen) Systems voraus: So ist die Produktion der neuen Elemente des Systems an die alten Operationen gebunden, und sie bedingt zugleich die weiteren Operationen. D.h., für die Reproduktion des Systems werden nur systemspezifische Operationen und keine anderen verwendet. Die Operationen der sozialen Systeme (Interaktion, Organisation, Gesellschaft) sind Kommunikationen: Mit diesen unterscheidet sich ein soziales System von seiner Umwelt. 39 Luhmann, 1998: Die Gesellschaft der Gesellschaft: 597.

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VON TRANSFORMATIONSKONZEPTEN ZUR DIFFERENZIERUNGSTHEORIE „Dort, wo andere soziologische Konzepte für Sozialstruktur oder Semantik optieren müssen […], bezeichnen differenzierungstheoretische Begriffe wie Ausdifferenzierung oder Innendifferenzierung eine Ebene der Systembildung, die Differenzen von Sozialstruktur und Semantik übergreift und gerade deshalb deren Zusammenspiel im Prozeß der Systembildung zu analysieren erlaubt“.40

Differenzierungsstrukturen Sowohl die gesellschaftliche Struktur als auch die Strukturen der Teilsysteme der Gesellschaft werden von der Differenzierungstheorie analysiert. Mit dem Begriff der primären gesellschaftlichen Differenzierung erfasst sie die Strukturen von Gesellschaften. Mit dem Begriff der Form der Innendifferenzierung werden interne Strukturen von gesellschaftlichen Teilsystemen benannt. Die primäre gesellschaftliche Differenzierung bezeichnet hier die Differenzierung des umfassenden Gesellschaftssystems in Teilsysteme, die Kommunikation unter stärker beschränkenden Voraussetzungen ermöglichen. Die Teilsysteme sind weder Interaktionen noch Organisationen: Es sind spezifische Kommunikationsbereiche, die die Gesamtgesellschaft aus je einem eigenen spezifischen Gesichtspunkt des Sinns reproduzieren. Die gesellschaftliche Leistung der Komplexitätsreduktion ermöglicht so die Konstitution von besonderen Kommunikationsbereichen. Unter der Form der primären gesellschaftlichen Differenzierung versteht man sodann die Art und Weise der Realisation der Beziehungen zwischen den Teilsystemen des umfassenden Gesellschaftssystems: „Von Form der Systemdifferenzierung sprechen wir mithin, wenn von einem Teilsystem aus erkennbar ist, was ein anderes Teilsystem ist, und das Teilsystem sich durch diesen Unterschied bestimmt. Die Form der Differenzierung ist also nicht nur eine Einteilung eines umfassenden Systems, sie ist vielmehr die Form mit der Teilsysteme sich selbst als Teilsysteme beobachten können – als dieser oder jener clan, als Adel, als Wirtschaftssystem der Gesellschaft. Und dabei vertritt die so geformte (unterschiedene) Differenz zugleich die Einheit des umfassenden Systems der Gesellschaft, das man dann nicht gesondert beobachten muß.“ 41

Dabei stützt sich der Differenzierungsprozess auf Differenzen von System/Umwelt und Gleichheit/Ungleichheit in Bezug auf die Verhältnisse der Teilsysteme untereinander. Die Differenzierungsformen variieren dementsprechend in Bezug auf Grenzen zwischen den Teilsystemen und ihren Umwelten innerhalb der Gesellschaft. Die Formen der Teilsysteme wandeln sich mit der Veränderung der Gesellschaftsstruktur. Es sind a) segmentäre Differenzierung (Stämme, Dörfer), b) Zentrum/Peripherie-Differenzierung (Großreiche), c) hierarchische Differenzierung in Schichten (Stratifikation), d) funk-

40 Stichweh, 1988: Differenzierung des Wissenschaftssystems: 46. 41 Luhmann, 1998: 610, vgl. ebd.: 595-618.

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tionale Differenzierung (Funktionssysteme).42 Über den „Primat einer Differenzierungsform“ spricht man dann, „wenn man feststellen kann, dass eine Form die Einsatzmöglichkeiten anderer reguliert.“43 Die soziale Ordnung der Gesellschaft wird durch die Form der gesellschaftlichen Differenzierung beschrieben. Die Form der modernen gegenwärtigen Gesellschaft ist nach Luhmann funktionale Differenzierung.44 Sie zeichnet sich dadurch aus, dass die gesellschaftlichen Teilsysteme spezifische Funktionen reproduzieren, für die sie exklusiv verantwortlich sind. Funktionale Differenzierung entstand im Wechsel der primären Differenzierungsformen, im Übergang von der Stratifikation zur Moderne. Die Form der Innendifferenzierung erfasst die Beziehungen zwischen internen Elementen innerhalb eines gesellschaftlichen Teilsystems. Dabei ist die Innendifferenzierung als Wiederholung der System/Umwelt-Differenz in einem bereits ausdifferenzierten System zu verstehen. „Sie ist relativ zur Außenwelt eine schon domestizierte, schon pazifizierte Umwelt mit verringerter Komplexität.“45 Der Schwerpunkt dieser Arbeit wird auf der Innendifferenzierung des Funktionssystems der Massenmedien liegen.46 Meine Annahme ist, dass sich die soziale Ordnung im postsowjetischen Russland im Übergang zur funktionalen Differenzierungsform befindet. Der Wechsel der primären Differenzierungsformen – von der Organisationsgesellschaft zur funktionalen Differenzierung – bildet den Kontext, in dem die Entstehung eines Funktionssystems der Massenmedien erst möglich wird. Denn ein solches System kann sich nur im Kontext dieser Differenzierungsform ausbilden. Auf die innere Strukturierung des Funktionssystems der Massenmedien werde ich ausführlich im Kapitel I.3 dieser Arbeit eingehen.

Differenzierungsprozesse Die Differenzierungstheorie widmet sich Prozessen wie gesellschaftlicher Differenzierung sowie Aus- und Innendifferenzierung der gesellschaftlichen Teilsysteme. Zusätzlich soll der Prozess der Entdifferenzierung oder Erosion der Teilsysteme erläutert werden. Unter dem Prozess der gesellschaftlichen Differenzierung ist die Entstehung der System/Umwelt-Differenzen innerhalb des umfassenden Gesell42 Neben der primären Differenzierung werden sekundäre oder tertiäre Differenzierungen nicht ausgeschlossen. So kann neben der funktionalen Differenzierung auch eine Schichtung als sekundäre Differenzierungsform der Gesellschaft existieren. Ihre gesellschaftliche Ordnungskraft besitzt dann aber einen schwächeren Generalisierungsgrad als die funktionale Differenzierung. 43 Ebd.: 612. 44 Vgl. Luhmann, 1990a: Das Moderne der modernen Gesellschaft: 87-108. 45 Luhmann, 1999: 259. 46 Zur Innendifferenzierung der modernen Massenmedien vgl. Luhmann, 1996: Die Realität der Massenmedien.

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schaftssystems zu verstehen. Sie betreffen die Bildung von Teilsystemen und die Bestimmung der System/Umwelt-Beziehungen innerhalb der Gesellschaft. Diese Prozesse bringen die gesellschaftliche Struktur hervor, die dann, wie bereits oben erwähnt, als Form der primären gesellschaftlichen Differenzierung erfassbar ist. Der Wandel der gesellschaftlichen Differenzierungsformen wird durch diese Prozesse der gesellschaftlichen Differenzierung zustande gebracht. Dieser Wandel wird von Luhmann als nicht-linearer offener Prozess aufgefasst, der evolutionär unter dem Druck der sozialen Komplexität geschieht. Die soziokulturelle Evolution stellt nach Luhmann einen Prozess der Produktion unwahrscheinlicher Strukturen dar. Dieser Prozess wird durch die Mechanismen der Variation, der Selektion und der Restabilisierung ermöglicht.47 Die gesellschaftlichen Differenzierungsstrukturen sind demnach als Resultat der soziokulturellen Evolution zu verstehen. Die Evolutionstheorie kann man zum einen als Beschreibungsalternative für soziale Wandlungsprozesse verstehen. Zum anderen kann sie als Zusatzinstrument zur Differenzierungstheorie Dimensionen aufzeigen, über die die Differenzierung verläuft.48 Ohne hier näher auf das systemtheoretische Evolutionskonzept einzugehen zu wollen, möchte ich vor allem eine Aussage dieser Theorie herausgreifen: Der Evolutionsprozess selbst wird als nicht planbar und nicht zielgerichtet beschrieben.49 Übertragen auf Differenzierungsprozesse heißt das, dass diese durch eine Selektion zufälliger Ereignisse zustande kommen. Die Idee, dass es im Laufe der soziokulturellen Evolution zum Wechsel der primären Formen gesellschaftlicher Differenzierung kommt, beinhaltet somit kein normatives Endziel: „Sehr vereinfacht ausgedrückt ist die Evolution der gesellschaftlichen Differenzierungsformen eher als Epochensequenz von archaisch-tribalen Gesellschaften, Hochkulturen und moderner (Welt-)Gesellschaft zu verstehen. Diese Entwicklung stellt allerdings keine lineare Sequenz dar, weil sich seit Herausbildung der Hochkulturen weltweit verschiedene Differenzierungsformen durchgesetzt haben und einander bekannt sind.“50

So verzichtet die Luhmann’sche Differenzierungstheorie auf ein lineares Modell gesellschaftlicher Entwicklung. Die Beschreibung des Wechsels der Differenzierungsformen erfolgt post factum, auf Zukunftsprognosen historischer Ereignisse wird im Rahmen der Theorie verzichtet. Die Anwendung dieser Ideen auf den Gesellschaftswandel in postsozialistischen Ländern erlaubt, diesen als einen offenen und reflexiven Prozess zu beschreiben, der neue gesellschaftliche Strukturen hervorbringt.51 47 Luhmann, 1998: 498-504. 48 Im Evolutionsprozess des massenmedialen Systems übernimmt beispielsweise das Publikum die Selektionsfunktion der massenmedialen Beiträge (vgl. I.3.1). 49 Luhmann, 1998: 413-430. 50 Ebd.: 615-616. 51 Baecker, 1995: Nichttriviale Transformation.

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Der Begriff der Ausdifferenzierung bezieht sich auf Prozesse der Konstitution von Teilsystemen in einer umfassenden Gesellschaft. Diese Bezeichnung resultiert aus der Charakterisierung des Gesellschaftssystems als emergent. Der Emergenzbegriff erfasst die Beziehung des umfassenden Gesellschaftssystems und seiner Teilsysteme. Die Entstehung der Teilsysteme in der Gesellschaft beschreibt er, im Gegensatz zur klassischen Vorstellung über die Zerlegung der Gesellschaft in separate Teile, als Herausbildung der globalen Zugriffsweisen auf die Welt.52 Denn im Prozess der Ausdifferenzierung bauen die Operationen des entstehenden Systems immer wieder die Differenz zwischen dem System und seiner Umwelt auf. Im Zuge der Ablösung der klassischen Dekompositionsparadigmen durch die Idee der Systemdifferenzierung als Konstitution der System/UmweltDifferenzen interessiert sich die Differenzierungstheorie stärker für die Herausbildung der Teilsysteme innerhalb des umfassenden Gesellschaftssystems. Dieses Interesse gilt insbesondere den Konstitutionsprozessen der gesellschaftlichen Funktionssysteme. So beschäftigen sich die Konzepte der Ausdifferenzierung der Funktionssysteme53 mit dem Entstehungs- und Entwicklungszusammenhang solcher Teilsysteme, die für das umfassende Gesellschaftssystem eine spezifische Funktion erfüllen. Diesen Theorien liegt die wichtige differenzierungstheoretische Annahme zugrunde, dass es im Laufe der soziokulturellen Evolution zum Wechsel der primären Formen gesellschaftlicher Differenzierung kommt. Für Europa wird dabei der Übergang von der stratifikatorischen zur funktionalen Differenzierungsform postuliert. Das zentrale Forschungsinteresse der Theorie der Ausdifferenzierung von Massenmedien54 liegt demnach in der Erklärung der evolutionären Herausbildung dieses Funktionssystems auf der Grundlage eines solchen Übergangs (s. I.4). Die Prozesse der Innendifferenzierung sind als Prozesse der Produktion von inneren Differenzen innerhalb eines Teilsystems der Gesellschaft zu verstehen. Sie sind für meine Fragestellung von Relevanz, da ich die Herausbildung der inneren massenmedialen Strukturen im neuen Russland untersuchen werde (s. I.3.1). Zusätzlich möchte ich den Begriff der Entdifferenzierung einführen.55 Als Entdifferenzierung eines Teilsystems ist ein Prozess zu verstehen, der zu dem 52 Vgl. Mayntz, 1988: Funktionelle Teilsysteme in der Theorie sozialer Differenzierung: 11-17. 53 Zu Ausdifferenzierungskonzepten der Funktionssysteme vgl. Luhmann, 1981: Die Ausdifferenzierung von Erkenntnisgewinn: Zur Genese der Wissenschaft: 102-140; Tyrell, 1976: Probleme einer Theorie der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung der privatisierten modernen Kernfamilie: 393-417; Teubner, 1989: Recht als autopoietisches System: 36-61; Cachay, 1988: Sport und Gesellschaft. 54 Zu den Ausdifferenzierungskonzepten für das Funktionssystem der Massenmedien vgl. Blöbaum, 1994; Marcinkowsky, 1993: 35-46. 55 Fuchs-Henritz/Lautmann/Rammstedt/Wienhold, 1995: Lexikon zur Soziologie: 168.

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Verschwinden eines Systemzusammenhangs führt. Kennzeichnend für diesen Prozess ist das Verschwinden struktureller Differenzen, die einen Systemzusammenhang herstellen. Dieser Prozess erfolgt stufenweise, er zeichnet sich durch Minderung des systemischen Leistungspotentials und durch Zerstörung der Bestandsvoraussetzungen des Systems aus. Er endet schließlich mit der Auflösung der Differenz zwischen System und Umwelt. Die Entdifferenzierungsprozesse können nicht nur gesellschaftliche Teilsysteme, sondern auch einzelne innere Formen der Teilsysteme betreffen. Als Synonymbegriff zur Entdifferenzierung werde ich den Begriff der Erosion verwenden. In Anlehnung an dieses Konzept ist der mediale Wandel in Russland als Erosion von Propagandakommunikation und als Konstitution eines Funktionssystems der Massenmedien zu begreifen, die im Zuge des Wechsels von Differenzierungsformen stattfinden. Aber statt den Übergang von der Stratifikation zur funktionalen Differenzierung zu postulieren, gehe ich von einer Ablösung der Organisationsgesellschaft durch die funktionale Differenzierung aus. Dieser Entstehungsprozess ist als offen und reflexiv zu verstehen.

1.4 Resümee Die Differenzierungstheorie Luhmanns bietet einen elaborierten Begriffsapparat für die Beschreibung der massenmedialen Wandlungsprozesse im postsowjetischen Russland. Sie erfasst diesen Prozess als offen und reflexiv. Durch den Begriff der Differenzierungsform erlaubt sie, das strukturelle ‚Erbe‘ der postsozialistischen Länder zu analysieren. Gleichzeitig erlaubt die Differenzierungstheorie, die Untersuchung des Wandels sowohl universell als auch länderspezifisch auszurichten. Kombiniert mit der systemtheoretischen Globalisierungstheorie bietet sie die Möglichkeit, regional unterschiedliche Differenzierungsformen in den Kontext der weltgesellschaftlichen Prozesse zu setzen. Auf diese Weise kann ich regionale Entwicklungspfade der Wandlungsprozesse in postsozialistischen Ländern berücksichtigen, ohne auf eine Erklärung der Einbettung dieser Prozesse in globale weltgesellschaftliche Zusammenhänge verzichten zu müssen.56 Die Transformationsprozesse in den postsozialistischen Ländern sind aus differenzierungstheoretischer Sicht als Wechsel der primären Formen gesellschaftlicher Differenzierung zu begreifen. In diesem Wechsel findet die Erosion alter und eine Ausdifferenzierung neuer Gesellschaftsstrukturen statt. Im Fall des postsozialistischen Russland nehme ich den Übergang von der Organisationsgesellschaft zur funktionalen Differenzierung an. Anschließend sollen Transformationen einzelner Bereiche der Gesellschaft (auf Ebene der Funktionssysteme) voneinander unterschieden werden: wirtschaftliche, politische, künstlerische, erzieherische, rechtliche, massenmediale Transformationen usw. 56 Vgl. dazu weiter unten I.2.3 und I.4.3.2.

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In der vorliegenden Arbeit wird die massenmediale Transformation im neuen Russland untersucht. Da ich mich hier für die Differenzierungstheorie entschieden habe, steht in meiner Arbeit die Aus- und Innendifferenzierung des Funktionssystems der Massenmedien in Russland im Mittelpunkt. Die These des Übergangs zur funktionalen Differenzierung im neuen Russland bildet die Grundlage für die Erforschung dieses Differenzierungsprozesses. Sie wird in der Arbeit jedoch nicht weiter vertieft. Eher stehen die Beschreibung der beiden Differenzierungsformen – der Organisationsgesellschaft und funktionaler Differenzierung – (s. I.2) sowie die Entwicklung des theoretischen Konzepts der massenmedialen Ausdifferenzierung (s. I.3 und I.4) im Mittelpunkt des Theorieteils dieser Studie.

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2. O RGANISATIONSGESELLSCHAFT VERSUS FUNKTIONALE D IFFERENZIERUNG : W ECHSEL DES P RIMATS DER D IFFERENZIERUNGSFORMEN ALS K ONTEXT MASSENMEDIALER A USDIFFERENZIERUNG IM POSTSOWJETISCHEN R USSLAND Den medialen Wandel im postsowjetischen Russland verstehe ich als Erosion von Propagandastrukturen und Ausdifferenzierung eines Funktionssystems der Massenmedien. Als Propaganda definiere ich einen Kommunikationstyp, der auf die Verbreitung eines totalitären Welt- oder Gesellschaftsbildes spezialisiert ist. Unter Propagandainstanzen sind dann Organisationen zu verstehen, die im Auftrag totalitäre Inhalte produzieren. Die Selektion der Inhalte im Produktionsprozess erfolgt durch die Selektionskriterien des Propagandaauftraggebers. Propagandainstanzen führen diese Selektionen lediglich aus. Kennzeichnend für Propagandainhalte ist, dass die Darstellung des Auftraggebers immer positiv gefärbt ist, die Gegner des Auftraggebers erscheinen jedoch immer im negativen Licht. Diese totalitäre Ideologievermittlung basiert auf der Annahme, dass die Wirkung von Propaganda nach einem StimulusResponse-Modell verläuft. Die Meinung und die Interessen des Publikums werden deshalb von den Propagandainstanzen nicht untersucht. Gestützt durch repressive Mechanismen entsteht zwischen Propangandaproduzenten und dem Propagandapublikum ein Machtgefälle, indem das Publikum der Produktionsebene hierarchisch untergeordnet ist. Als Funktion von Propaganda ist die Konstruktion eines singulären totalitären Gesellschaftsbildes zu verstehen (s. I.3.2). Mit dem Beginn des Gesellschaftswandels im (post-)sowjetischen Russland konstituiert sich hier ein neuer Kommunikationstyp: Das Funktionssystem der Massenmedien, das durch die Spezialisierung auf die Differenz zwischen Information und Nicht-Information charakterisierbar ist. Die Information wird in den massenmedialen Instanzen, den Redaktionen und Medien (Zeitungen, Zeitschriften, Radio, Fernsehen) produziert. Die Selektion der Information wird dabei anhand der eigenlogischen massenmedialen Entscheidungskriterien vorgenommen. Die massenmedialen Produkte zeichnen sich durch prinzipielle Themenoffenheit aus. Die Beziehung zwischen Produktions- und Rezeptionsseite ist als wechselseitige Selektion zu verstehen: Massenmediale Organisationen wählen Themen und Beiträge aus. Das Publikum selegiert die massenmedialen Produkte durch die Zuteilung oder NichtZuteilung der Aufmerksamkeit. Schließlich wird die Rezeptionsseite von Medieninstanzen als differenzierte Spezialpublika betrachtet: Mit Hilfe spezieller 45

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Beobachtungsinstrumente, wie z.B. Einschaltquotenmessung, werden Publikumsinteressen in den massenmedialen Produktionsstrukturen berücksichtigt. Die Funktion dieses Funktionssystems ist als Erzeugung pluraler gesellschaftlicher Wirklichkeiten zu beschreiben (s. I.3.1). Dieser mediale Wandel – von Propaganda zu autopoietischen Massenmedien – vollzieht sich innerhalb des gesellschaftlichen Wandels im neuen Russland. Diesen ordne ich als Wechsel des Primats der primären Differenzierungsformen ein: Die Strukturen der sowjetischen Organisationsgesellschaft verlieren an Dominanz, und die funktionale Differenzierung setzt sich mehr und mehr durch (vgl. I.1.3).1 D.h., in der Sowjetunion kanalisierte die Differenzierungsform Organisationsgesellschaft die gesellschaftliche Verbreitung anderer Differenzierungsformen, wie Zentrum/Peripherie- oder funktionale Differenzierung. Aber im neuen Russland werden funktionale Aspekte zunehmend dominanter: Es entstehen Situationen und Kontexte, in denen funktionale Kriterien Verwendungsmöglichkeiten anderer Differenzierungsformen regulieren.2 Dieser Wandel dient als gesellschaftlicher Kontext für den Prozess der Ausdifferenzierung des Funktionssystems der Massenmedien im neuen Russland. Die nähere Beschreibung beider Differenzierungsformen (s. I.2.1 und I.2.2) ist notwendig, um gesellschaftliche Dimensionen des medialen Wandels im neuen Russland herauszuarbeiten. Diese sollen bei der empirischen Analyse russischer Medienstrukturen am Beispiel des Fernsehens leitend werden (s. II.0.1). Außerdem möchte ich wissen, ob im Zuge des Übergangs zur funktionalen Differenzierung globalisierte Medienprozesse in Russland eine besondere Rolle spielen. Aus diesem Grund werde ich mich mit dem systemtheoretischen Konzept der Weltgesellschaft kritisch auseinander setzten (s. I.2.3).

2.1 Organisationsgesellschaft als gesellschaftliche Differenzierungsform der Sowjetunion 2.1.1 Theoretischer Ausgangspunkt: Die These von der Organisationsgesellschaft Bei der Charakterisierung der Sozialstruktur der Sowjetunion werde ich mich an die These von der Organisationsgesellschaft anlehnen. Diese These wurde von Detlef Pollack (1994) zur Beschreibung der Sozialstruktur der DDR entwickelt. Nach Pollack war die funktionale Differenzierung in der DDR nicht hinreichend ausgeprägt, weil die Organisation der kommunistischen Partei al1 Eine Differenzierungsform (z.B. funktionale Differenzierung) wird dann als primär bezeichnet, wenn sie die Einsatzmöglichkeiten anderer Differenzierungsformen (z.B. segmentärer Differenzierung) bestimmt. 2 Allerdings muss hier angemerkt werden, dass die These des Primatwechsels in dieser Arbeit nur am Beispiel der Medienkommunikation plausibilisiert werden kann.

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le gesellschaftlichen (Funktions-)Bereiche beherrschte. Mit anderen Worten war die gesamte DDR-Gesellschaft als eine Organisation institutionalisiert. Diese These möchte ich auf den sowjetischen Gesellschaftskontext übertragen. Die These von der Organisationsgesellschaft – also von der Einrichtung einer Gesamtgesellschaft als Organisation – hat ihre Grundlage in einer wichtigen soziologischen Unterscheidung: der Trennung zwischen zwei Typen sozialer Systeme – der Organisation und der Gesellschaft. Die Entstehung der Sozialsysteme vom Typ Organisation ist an den Übergang zur westlichen und nicht-westlichen Moderne gekoppelt. D.h., mit der zunehmenden funktionalen Differenzierung wird gleichzeitig das Auseinandertreten der einzelnen Systembildungsebenen postuliert: „Damit ist gemeint, dass die Ebenen, auf denen sich die einzelnen Systemtypen konstituieren, also die Konstitutionsebenen für personale Systeme, Interaktionszusammenhänge, Organisationen und Gesellschaften, weiter auseinander gezogen werden und an Unabhängigkeit voneinander gewinnen.“3

Die parallelen Prozesse der funktionalen Differenzierung und der Differenzierung von Systembildungsebenen führt zu einer beträchtlichen Zunahme der gesellschaftlichen Komplexität. Für die Analyse der sowjetischen Gesellschaftsstrukturen ist hier entscheidend, dass Organisationssysteme im Vergleich zu Gesellschaftssystemen einen geringeren Grad an sozialer Komplexität aufweisen. Zudem funktionieren beide Systemtypen nach verschiedenen Logiken. Während Gesellschaft einen Typ der Sozialsysteme darstellt, der alle sozialen Formen umfasst, ist Organisation ein Typ der Sozialsysteme, der sich durch Verknüpfung von Entscheidungen auf Basis der Mitgliedschaft konstituiert. Jede Organisation ist durch ein spezifisches Programm, ein spezifisches Personal und eine spezifische Struktur zu charakterisieren. Mit dem Erwerb der Mitgliedschaft werden Programm, Struktur und Personal der Organisation angenommen. Die Austritte aus der Organisation dienen als Prüffolie für Organisationsstrukturen. Nach Bedarf können dann das Programm, die Struktur und das Personal der Organisation korrigiert werden.4 Wendet man die Unterscheidung zwischen Organisation und Gesellschaft auf den sowjetischen Kontext an, so ist die kommunistische Partei als Organisation zu verstehen, die alle gesellschaftlichen Bereiche beherrschte. Der Versuch, die Gesamtgesellschaft als die der Partei unterstellten Organisation zu etablieren, ist für die Beschreibung der sozialen Ordnung dieses Landes maßgeblich. Die charakteristischen Merkmale der sowjetischen Sozialordnung ergeben sich dann aus dem Widerspruch zwischen den Logiken und Komplexitätsgraden der Systemtypen Gesellschaft und Organisation:

3 Pollack, 1994: Kirche in der Organisationsgesellschaft: 57. 4 Vgl. ebd.: 60.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE? „Wird eine Gesellschaft in ihrer Gesamtheit auf eine organisationsspezifische Logik verpflichtet, kommt es zwangsläufig zu gesamtgesellschaftlichen Spannungen, Widersprüchen und Brüchen. Eine Gesellschaft besitzt ab einem bestimmten Modernisierungsgrad ein Komplexitätsniveau, das nicht mehr auf das Komplexitätsniveau von Organisationen heruntertransformiert werden kann. Wird dies dennoch versucht, so sind die vorgenommenen Reduktionen komplexitätsinadäquat, und es bilden sich Gegensätze zwischen überstrukturierter und unterstrukturierter bzw. überformalisierter und unterformalisierter Komplexität – Gegensätze, die unversöhnbar sind, die die gesellschaftliche Entwicklung hemmen und zur Aufrechterhaltung der Systemstrukturen gleichwohl notwendig sind“.5

Deshalb ist es sinnvoll, von „konstitutiver Widersprüchlichkeit“ der sowjetischen Sozialordnung zu sprechen.

2.1.2 Antinomie zwischen parteilicher Zentralisierung und funktionaler Differenzierung Ist eine Sozialordnung durch die Funktionslogik einer Organisation geprägt, kann sich die funktionale Differenzierung – das Hauptmerkmal der modernen (Welt-)Gesellschaft – nicht hinreichend entwickeln. Man könnte vermuten, dass eine funktionale Differenzierung in der Sowjetunion nur rudimentär vorhanden war.6 • Allen Bereichen der Gesellschaft war ein parteilicher Steuerung- und Kontrollapparat angehängt, der differenzminimierend wirkte.7 Vor allem zielten die parteilichen Kontrollmechanismen auf die Minderung der Leitdifferenzen der potentiell möglichen Funktionssysteme. Dadurch waren die

5 Ebd.: 61. 6 Ich nehme an, dass kaum Systemlogiken (systemische Codes) ausgebildet waren. Zudem soll zwischen den formalen (von der Partei vorgenommen) Bezeichnungen der Gesellschaftsbereiche wie Wirtschaft, Politik, Recht, Erziehung, Massenmedien usw. und der damals existierenden Unterordnung aller Gesellschaftsbereiche unter die Partei unterschieden werden. Denn die alltagssprachliche Bezeichnung belegt noch nicht das Vorhandensein der funktionalen Differenzierung. 7 Steuerung wird hier systemtheoretisch als Differenzminimierung verstanden. In der funktional differenzierten Gesellschaft wird politische Steuerung als Versuch des politischen Systems verstanden, bestimmte (politisch beobachtete) Unterschiede in Zuständen der anderen gesellschaftlichen Teilsysteme zu verringern. Schließlich wird politische Steuerung als Selbststeuerung der Politik selbst definiert. Die politischen Differenzminimierungsprogramme können nach Luhmann aber nicht auf die systemischen Leitdifferenzen (Codes) angewandt werden, weil die politische Steuerung dadurch sich selbst aufheben würde (vgl. Ulrich, 1994: Politische Steuerung: 84 ff.). In der sowjetischen Organisationsgesellschaft ging die Steuerung vom Parteiapparat aus, der Zentrum der Gesellschaft war, in die Peripherie. Sie wurde mit Hilfe der parteilichen Kontrollmechanismen verwirklicht.

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Prozesse der funktionalen Differenzierung zwangsläufig eingeschränkt und angehalten. Alle ursprünglichen Funktionsbereiche wurden hierarchisch der kommunistischen Partei unterstellt. Ihre Funktionsprinzipien wurden jedoch nicht durch Eigenlogiken, sondern durch die „Planvorgaben und Ziele aus dem politisch-administrativen System“ geleitet. Die kommunistische Partei übertrug ihre eigene Struktur, ihr eigenes Programm und Personal auf die Gesamtgesellschaft. Die Gesamtgesellschaft wurde der Funktionslogik dieser einen Organisation unterworfen. Deshalb werde ich nicht von Funktionssystemen, sondern von Gesellschaftsbereichen in der Sowjetunion sprechen. Alle diese Bereiche waren hierarchisch der kommunistischen Partei unterstellt.8

Hierarchie als Voraussetzung für zentralisierte Steuerung Die Hierarchie der parteilichen Strukturen zog sich durch die ganze Gesellschaft hindurch. Alle Ebenen des sozialen Lebens waren den organisatorischen Subeinheiten der Partei hierarchisch unterstellt. Die Logik der (Partei-) Macht stand über den Funktionserfordernissen aller anderen Gesellschaftsbereiche. Der Code parteifreundlich vs. parteifeindlich bzw. parteinützlich vs. parteischädlich war das Doppel, das die Kommunikation der Politik, des Rechts, der Wirtschaft, der Erziehung, der Wissenschaft und zeitweise sogar der Familie regelte.9 Die Partei selbst war hierarchisch organisiert. An ihrer Spitze befand sich der so genannte Parteiapparat. Dieser ist ein „außerbürokratisches, aber immer über die Organisationsspitze auf das Gesamtsystem einwirkendes Weisungsorgan“.10 Er stellte zugleich die Spitze der Gesellschaft dar. Die Hierarchie zwischen Partei und Gesellschaft erlaubte es dem Zentrum (dem Parteiapparat), seine Vorgaben und Anweisungen an jeden beliebigen Punkt der Gesellschaft zu übertragen. Zugleich diente diese (organisationelle) Hierarchie der Stabilisierung der zentralisierten Systemsteuerung.11 In der Organisation des Parteiapparats waren die Einflussmittel konzentriert. So kann von „zentralisierter Akkumulation von Übertragungsmedien […], wie z.B. physische Gewaltmittel, Prestige, Charisma oder materielle Belohnungsmittel“ in den Händen des Parteiapparats gesprochen werden, die „verschiedene Rezipienten zur Übernahme derselben Selektionsleistungen motivieren“ sollten. Die Konzentration generalisierter Medien im Zentrum führte zu schneller Verbreitung der Homogenisierungstendenzen, wobei die 8 Pollack, 1994: 61. 9 Bei Familienproblemen konnte man sich immer an das zuständige Parteikomitee wenden. 10 Sinowjew, 1981: Kommunismus als Realität: 307; vgl. ebd.: 307 ff. 11 Vgl. Geser, 1983: Strukturformen und Funktionsleistungen sozialer Systeme: 159 ff.

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„Perspektive des Gesamtsystems sowohl nach innen als auch nach außen einheitlich zum Ausdruck“ gebracht werden musste. Mittels dieser Homogenisierung wurde in der Organisationsgesellschaft der Zustand verringerter innerer Komplexität erzielt.12 Zum Parteiapparat zählten die Parteifunktionäre der Rayons-, Stadt-, Gebiets-, Republikkomitees und, auf Unionsebene, das Zentralkomitee der Partei (ZK der KPdSU). Der Parteiapparat selbst war auch hierarchisch aufgebaut. An seiner Spitze befand sich der Generalsekretär des ZK der KPdSU. Nach ihm folgte das berüchtigte Zentralkomitee der KPdSU, aus dessen Mitgliedern das so genannte Politbüro rekrutiert wurde. Die unterste Hierarchie war von verantwortlichen Mitarbeitern in Regionen und Industrie besetzt. Dabei reproduzierte sich der Parteiapparat relativ autonom von den restlichen Parteistrukturen: „Der Parteiapparat kontrolliert die Parteiorganisation in den Kommunen, kontrolliert die Aufnahme der Bürger in die Partei, gibt den Parteiorganisationen die Richtlinien vor und wählt unter den Parteimitgliedern die geeignetsten Mitglieder für sich aus.13 […] Einmal entstanden, erhält und regeneriert der Parteiapparat sich jedoch selbst – unabhängig von der Masse der gewöhnlichen Mitglieder und den Basisinstitutionen der Partei.“14

Neben den anderen gesellschaftlichen Institutionen war dem Parteiapparat auch der Staat untergeordnet. Die Mitglieder des Parteiapparats waren zugleich die Inhaber der wichtigsten Staatsposten: des Staatsoberhaupts, der Minister usw.15 Zugleich befand sich der Parteiapparat außerhalb des Staates – über ihm. Deshalb hatte das Staatsoberhaupt keinen Titel – er war ‚nur‘ Generalsekretär des Zentralkomitees der Partei. Durch die Kontrolle der Staatsfunktionen besaß der Parteiapparat: • die Befehls- und Kontrollmacht: dadurch war Autonomie jeglichen Individuums und jeglicher Organisation von der Partei unmöglich; • einen polizeilich-repressiven Apparat; • die Kontrolle über die Fortbewegung der Individuen (Inlandpass): strengste Ein- und Ausreisekontrolle an der Grenze sowie die Unmöglichkeit auszureisen (außer durch staatlichen Zwang zum Exil); • die Kontrolle der Kommunikation zwischen den Bürgern, Kontrolle über die Massenmedien16;

12 Ebd.: 76 ff. 13 Die Prinzipien der Rekrutierung des Personals in die Partei waren a) freiwillige Basis der Mitgliedschaft und b) Auslese (nicht alle werden aufgenommen). „Die Anwärter werden nach genau festgelegten Grundsätzen ausgewählt“ (Sinowjew, 1981: 242 ff.). 14 Ebd.: 245. 15 Zur Rolle der Partei in Basiskollektiven vgl. Sinowjew, 1991: 246-247. 16 Zur hierarchischen Unterordnung der Medienstrukturen unter den Parteiapparat vgl. II.1.1.

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• •

das Monopol auf die Produktion von Lebensmitteln und Waren; das Monopol auf die Produktion von Wahrheiten.17

Durch die Nutzung der staatlichen Verwaltungsstrukturen war die parteiliche Steuerung des sozialen Lebens gewährleistet. Jede der staatlichen Verwaltungsebenen war bestimmten Instanzen des Parteiapparats untergeordnet. Die unteren Verwaltungsebenen waren dabei immer den oberen untergeordnet. Kennzeichnend für diese Struktur war, dass jede Verwaltungsebene mangelnde Informationen über sich selbst hatte. Nur die höhere Ebene besaß Informationen über die untere Ebene.18 Der Parteiapparat befand sich an der Spitze der organisatorischen Hierarchie innerhalb der Parteiorganisation und innerhalb der Gesellschaft. Er war sowohl für die Regierung als auch für alle Vorkommnisse innerhalb der Gesellschaft zuständig. Er doublierte zusätzlich die Verwaltungsapparate der Industrie, der Landwirtschaft, der Wissenschaft, des Militärs, der (Quasi-) Massenmedien usw. Diese Überwachungs- und Kontrollstrukturen der sowjetischen (Quasi-)Massenmedien werde ich im Weiteren als parteiliche Kontrollmechanismen der Medien bezeichnen. Diese Kontrollmechanismen verhinderten die Herausbildung der Differenz zwischen Information und NichtInformation. Die Legitimation seiner Macht erhielt der Parteiapparat durch die marxistisch-leninistische „wissenschaftliche“ Lehre.19 Somit wurde auch die religiöse Funktion vom Parteiapparat übernommen. Der Marxismus-Leninismus wird zur für alle Parteimitglieder verbindlichen Lehre und zur offiziellen Selbstbeschreibung des sowjetischen Staates. Der Einfluss des Parteiapparats „ist Macht, die alle Macht und alle Wahrheit konzentriert, ansammelt, wie ein Gehirn einzieht und behält, und mit ihrem Netz alle Zellen der Gesellschaft umfasst. Jeder Mensch, jede Tätigkeit befindet sich unter ihrer Kontrolle und im Bereich ihrer Zuständigkeit. Sie kontrolliert alles, einschließlich eigener geheimpolizeilicher Kontrolle, einschließlich vor allem sich selber. In dieser Kontrolle des Zentrums, das wie eine Spinne mit seinem Netz alles Soziale umwickelt, besteht der eigentliche Totalitarismus.“20

Inklusion von Individuen Auch auf individueller Ebene wurden der Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen und die Teilnahme an wichtigen Kommunikationswegen zentralistisch verteilt. Die Individualisierung konnte insofern nicht stark ausgeprägt sein, da die biographischen Wahlmöglichkeiten eindeutig eingeschränkt wa17 18 19 20

Vgl. Ɇɨɪɟɧ, 1995: Ɉ ɩɪɢɪɨɞɟ ɋɋɋɊ: 45-51. Vgl. Ʉɨɪɞɨɧɫɤɢɣ, 2000: Ɋɵɧɤɢ ɜɥɚɫɬɢ: 11-61, insb. 53. Vgl. I.2.1.3. Vgl. Ɇɨɪɟɧ, 1995: 61, Übersetzung d. Verfasserin.

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ren. Mit Schulbeginn wurden alle Kinder in die so genannte Oktoberorganisation aufgenommen. Mit zehn Jahren mussten sie ein Treueversprechen an die KPdSU abgeben und traten in die Pionierorganisation ein. Nur in Ausnahmefällen wurde die Aufnahme der Kinder in die Pionierorganisation abgelehnt: entweder bei Kindern religiöser Menschen oder bei Dissidentenkindern. Die Jugendlichen traten in den „KOMSOMOL“ ein. Etwa 90 Prozent der Jugendlichen der Sowjetunion (zwischen 1960 und 1990) besaß die Mitgliedschaft in diesem Jugendverband. 1989 waren 19,5 Millionen Sowjetbürger Mitglieder der kommunistischen Partei.21 Die Mitgliedschaft in der Gewerkschaftsorganisation der Sowjetunion betrug im Zeitraum zwischen 1960 und 1990 beinahe 100 Prozent aller Erwachsenen.22 Nicht nur die Mitglieder der Partei, sondern alle Bürger der Sowjetunion wurden als Mitglieder bzw. interne Umwelt der Partei behandelt. Das Handeln jedes Einzelnen wurde von der Partei als Entscheidung in Bezug auf den Code parteifreundlich/parteifeindlich zugerechnet und in Bezug auf Annahme oder Ablehnung des sozialistischen Programms kontrolliert. Auch uneindeutige Handlungen, die weder parteifreundlich noch parteifeindlich ausgeflaggt waren, wurden als staatsfeindliches Handeln eingeordnet. Weil die Partei ihren Führungsanspruch auf allen Ebenen durchsetzten musste, wurden die nicht sanktionierten Aktivitäten als parteifeindlich abgestempelt. Denn sie fanden ohne Zustimmung der Partei, sozusagen hinter ihrem Rücken, statt, was sie natürlich sofort verdächtig machte. Deshalb wurden alle nicht verbotenen gesellschaftlichen Aktivitäten, wie z.B. soziale Bewegungen, gesellschaftliche Rituale und Traditionen, der Partei unterstellt: „Einen nichtorganisierten Raum ideologischer Neutralität durfte es nicht geben.“23 Nichtsdestotrotz existierten in der Sowjetunion nicht formalisierte Kommunikationskontexte. Die Gegensätze und Machtlücken konnten von Individuen unter Umständen zum Erreichen eigener Ziele ausgenutzt werden. Die Akzeptanz der parteipolitischen Ziele war jedoch die Voraussetzung für die Versorgung mit Leistungen seitens des Systems. Um die eigenen Interessen innerhalb der offiziellen Organisationsgesellschaft durchzusetzen, mussten Individuen sowie Organisation bereit sein, die Anforderungen des parteipolitischen Machtapparats zu erfüllen. Auf der anderen Seite war der Machtapparat bereit, die Individuen und Organisationen mit Bildungschancen und Einkommenserhöhungen, Kompetenzverbesserung und Zugang zu den Privilegien24 zu versorgen. Die individuelle Loyalität gegenüber dem System und die Belohnung mit entsprechenden Leistungen seitens des Systems konstituierten ein Austauschverhältnis, das zur Systemstabilität beitrug:

21 Vgl. Ȼɭɬɟɧɤɨ/Ɋɚɡɥɨɝɨɜ, 1996: Ɍɟɧɞɟɧɰɢɢ ɫɨɰɢɨɤɭɥɶɬɭɪɧɨɝɨ ɪɚɡɜɢɬɢɹ Ɋɨɫɫɢɢ. 1960-1990-ɟ ɝɝ.: 238-241. 22 Zur Mitgliedschaft in sowjetischen Verbänden vgl. ausführlicher ebd.: 221-222. 23 Pollack, 1994: 64. 24 Bessere Versorgung mit Lebensmitteln und Kleidung, gute Erholungsheime und Auslandsreisen sind einige Beispiele für diese positiven Sanktionen.

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ORGANISATIONSGESELLSCHAFT VERSUS FUNKTIONALE DIFFERENZIERUNG „Da man aber, wenn man seine Interessen erfolgreich durchsetzen wollte, gar nicht anders konnte als sich loyal zum System zu verhalten und seine Arbeitskraft dem System zur Verfügung zu stellen, zog das System sogar noch aus der Verfolgung individueller Interessen Gewinn. Man machte mit, um zu profitieren, und weil man um profitieren zu können, mitmachen musste, profitierte das System.“25

Obwohl der Machtapparat die Unterordnung seitens der Individuen voraussetzte, lieferte er ihnen die Handlungsmöglichkeiten zur Verfolgung individueller Ziele im Rahmen des offiziell Möglichen. Gerade dieser Mechanismus der gegenseitigen Anpassung bedingte jahrzehntelange Stabilität des sowjetischen Systems.

2.1.3 Verringerte soziale Distanz zwischen einzelnen Systemtypen und die Rolle der Propaganda Die moderne funktional differenzierte Gesellschaft zeichnet sich durch eine Differenzierung der einzelnen Systembildungsebenen aus. D.h. die Systemtypen – Interaktion, Organisation, Gesellschaft – entwickeln im Laufe der soziokulturellen Evolution ihre Eigenlogiken und sind nicht durch andere Systemtypen substituierbar. Die zentralisierte Struktur der sowjetischen Organisationsgesellschaft erzwang die Minimierung der sozialen Distanz zwischen den einzelnen Typen der sozialen Systeme.26 Sämtliche interaktive, organisationale und gesellschaftliche Kommunikation war der Eigenlogik einer Organisation untergeordnet: der Organisation der KPdSU. Die parteilichen Programme, die Strukturen und das Personal der Partei sollten nach Möglichkeit auf allen Ebenen der Kommunikation präsent sein. Die Durchdringung aller Systembildungsebenen durch Parteilogik wurde durch doppelte Steuerung gewährleistet: durch Steuerung mit Hilfe der Kontrollapparate und durch ideologische Steuerung.27 So, mit allgegenwärtiger Kontrolle im Gesamtsystem und durch ideologische Orientierung, konnte die zentralisierte Struktur der Sowjetunion aufrechterhalten werden: • Verschiedene Organisationen, vor allem die (Geheim-)Polizei und parteiinterne Kontrollinstanzen, kümmerten sich um die Überwachung der Kommunikationsabläufe innerhalb der Organisationsgesellschaft, wobei die Konzentration der Sanktionsmittel im Zentrum (im Parteiapparat) gegeben war. • Die ideologische Steuerung erfüllte die Aufgabe, die im Zentrum festgelegten homogenen Erwartungen auf alle Ebenen der Systembildung zu übertragen. Den der Partei untergeordneten Subeinheiten verlieh die ideo25 Ebd.: 66. Entsprechende Anpassungsstrategien setzten sich auch unter sowjetischen Journalisten durch (vgl. II.1.1.6). 26 Zum Begriff Minimierung der Distanz zwischen Systembildungsebenen vgl. Pollack, 1994: 63. 27 Der Steuerungsbegriff wird hier systemtheoretisch als Differenzminderung gehandhabt.

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logische Steuerung eine Identität. Auf der anderen Seite wurde durch die Ideologie eine inhaltliche Spezifizierung von Regeln des alltäglichen Lebens festgelegt. Meine These ist folgende: Nicht nur die Kontrolle durch Überwachungsinstanzen (exogene Steuerung) machte die sowjetische Ordnung überlebensfähig, erst die Internalisierung von kommunistischer Ideologie auf allen Kommunikationsebenen (endogene Steuerung) sicherte die Aufrechterhaltung dieser Gesellschaftsstruktur. In Anlehnung an Alexandr Sinowjew (1981) werde ich zwischen zwei Ebenen der kommunistischen Ideologie unterscheiden: zwischen 1) der Ebene der Gesellschaftsbeschreibung und 2) der Ebene der „praktischen Ideologie“. 1) Die kommunistische Ideologie sollte als eine Weltbeschreibung für die ganze Gesellschaft fungieren. Um genau zu sein, war es eine Selbstbeschreibung der kommunistischen Partei, die zur offiziellen Selbstbeschreibung der sowjetischen Gesellschaft wurde. Die kommunistische Ideologie gründete sich auf die marxistisch-leninistische Lehre. Der Marxismus-Leninismus wurde von der Partei als die einzige universelle „Wissenschaft“ eingestuft. Diese „Wissenschaft“ beschrieb nicht nur die historische Wahrheit über die Menschheit, sondern auch die letzte Wahrheit über die Natur, die als reine Materie aufgefasst wurde. Jede Kritik am Materialismus war in diesem Zusammenhang ein Tabubruch. Die marxistisch-kommunistische Lehre lieferte die Grundlage für alle parteilichen Entscheidungen und legitimierte sie zugleich.28 So konnte nur die Partei die letzte und richtige Erklärung für alle Weltgeschehnisse geben, ob es sich um nicht-soziale (z.B. physische oder biologische) oder soziale (z.B. künstlerische, massenmediale u.a.) Ereignisse handelte. Die Lehre vom Marxismus-Leninismus verlieh der Partei den Anspruch auf Besitz des umfassenden Wissens und der letzten Wahrheit: Nur die Partei, in Gestalt des Parteiapparats, konnte die „richtigen“ Entscheidungen treffen und bestimmen, was als wahr und was als falsch, was als real und was als nicht-real anzusehen ist: „Sie [die Ideologie] erhebt den Anspruch, eine Wissenschaft zu sein, und erhebt den Anspruch, die Religion aus der Seele des Menschen zu verdrängen und deren Platz einzunehmen, das heißt sie fordert, dass die Menschen an die Wahrheit der Ideologie und der von ihr verkündeten Lehre von einem paradiesischen Leben in der kommunistischen Gesellschaft der Zukunft glauben.“29 28 Die semantische Struktur des Marxismus-Leninismus beinhaltete die Orientierung an idealisierten Werten. Diese Orientierung an abstrakten Zielsetzungen erfüllte für den Parteiapparat eine unmittelbare Funktion: Sie waren „hervorragend zur Deduktion fast beliebiger, untereinander inkommensurabler oder gar konfliktiver sozialer Handlungserwartungen“ geeignet (vgl. Geser, 1983: 85). 29 Sinowjew, 1981: 354. Zu Ausmaß und Durchringung aller Ebenen der sowjetischen Gesellschaft durch Ideologie vgl. ebd.: 350-351, 355 ff. Vor allem während der erzieherischen und beruflichen Sozialisation von Individuen war „ideo-

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2) Die zweite Ebene der kommunistischen Ideologie bestand aus Regeln, die Erwartungen und Kommunikationsabläufe im sowjetischen Alltag strukturierten. Diese Entscheidungsprogramme und Normen wurden von den ideologischen Texten abgeleitet und für die einzelnen Bereiche des sozialen Lebens angepasst.30 Die Entwicklung und Verfestigung dieser ideologischen Regeln geschah durch die Einführung von speziellen sowjetischen Kulten und Ritualen31, wobei diese Rituale für die Parteiorganisation eine spezielle Funktion erfüllten: „Der Kult der Opferbereitschaft zum Beispiel erleichtert es den Behörden, die Jugend zu den ‚großen Baustellen des Kommunismus‘ zu schicken, und mildert die Unzufriedenheit mit schwierigen Lebensbedingungen. Der Führerkult festigt […] die Autorität der Führung.“32

Der Feindeskult erfüllte die Funktion, die von der Führung begangenen Fehler zu kaschieren. Da die sowjetische Führung per Definition fehlerfrei war, mussten die aktuellen Probleme des sowjetischen Lebens durch Feindesaktivitäten erklärt werden. Die inneren Feinde (z.B. Dissidentenbewegung) und die äußeren Feinde (Westen) wurden dann bekämpft, indem einzelne als Feinde eingestufte Personen (vor allem so genannte innere Feinde) in ritualisierter Form in zur Abschreckung dienenden Prozessen verurteilt wurden.33 Die Verbreitung der ideologischen Botschaften wurde durch Propagandainstanzen34 übernommen. Die quasi-massenmedialen Propagandaorganisationen, zu ihnen zählen Presse, Radio und Fernsehen sowie Nachrichtenagenturen, Verlage u.a., waren unmittelbar der Spitze des Parteiapparats unterstellt. Die Funktion der Propagandamedien bestand vor allem in der Übertragung von ideologischen Erwartungen. Es handelte sich hier nicht einfach um die Verbreitung von Propagandamitteilungen. Nein, die Propagandabotschaften sollten Anleitungen zum Handeln sein und wurden auch so verstanden.35 Sie sollten die Erwartungen und Zielsetzungen der Partei an alle Gesellschaftsmitglieder vermitteln und die Übernahme dieser Erwartungen erzwingen. Denn die Annahme ideologischer Botschaften war für alle Mitglieder verbindlich. Deshalb waren sie so schematisch und stereotyp formuliert, dass selbst

30 31 32 33 34

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logische Ausbildung“ unentbehrlich. Zudem existierten auch spezielle Organisationen (der so genannte Ideologieapparat), die für die Bewahrung und Reproduktion der ideologischen Lehre zuständig waren (ebd.: 356 ff.). Ebd.: 374 ff. Zu solchen Entscheidungskriterien im Bereich der Propagandakommunikation vgl. II.1.2 Ausführlicher zu sowjetischen Ritualen vgl.: Ƚɥɟɛɤɢɧ, ȼ., 1998: Ɋɢɬɭɚɥ ɜ ɫɨɜɟɬɫɤɨɣ ɤɭɥɶɬɭɪɟ. Sinowjew, 1981: 376. Vgl. ebd.: 367 ff. Hier und im Weiteren werde ich die mediale Form in der Sowjetunion sowohl als Propagandakommunikation als auch als Quasi-Massenmedien bezeichnen. Zur Unterscheidung zwischen Massenmedien und Propaganda siehe I.3.2. Vgl. Sinowjew, 1981: 350-386.

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bei schlecht gebildeten Zeitgenossen keine Verständigungsschwierigkeiten oder Zweifel bezüglich der Deutung der Propagandainhalte auftreten konnten. Die ideologischen Botschaften wurden vom Propagandaapparat vom Zentrum in die Peripherie geleitet. Der schematische Charakter der Mitteilungen trug zu einer schnellen Homogenisierung der Erwartungsstrukturen bei. Beide ideologischen Ebenen, sowohl ideologische Lehre als auch „praktische Ideologie“, wurden durch die Propagandainstanzen verbreitet. Während die marxistisch-leninistische Weltbeschreibung identitätsstiftende Funktionen gesellschaftsweit erfüllte, diente die „praktische Ideologie“ – Regeln und Normen, die die Alltagskommunikation regulierten – der Steuerung der Kommunikationsabläufe auf allen Ebenen der Gesellschaft. Die ideologische Steuerung durch die Propagandamedien im Sinne der Weiterleitung von Anweisungen, die als Anleitung zum Handeln dienten, sollte zur Akzeptanz der gegebenen Gesellschaftsordnung durch die Gesellschaftsmitglieder beitragen.

2.1.4 Soziale, sachliche und zeitliche Geschlossenheit Die sowjetische Organisationsgesellschaft strebte soziale, zeitliche und sachliche Geschlossenheit an.36 Weil jegliche Kommunikation nach einem Programm, dem der Partei, ausgerichtet sein sollte, mussten kommunikative Abweichungen von den Parteivorgaben unterbunden werden. Durch die soziale, sachliche und zeitliche Abschottung der Kommunikation sollte vor allem die Beobachtung der nicht-sowjetischen Kontexte beschränkt werden. Die soziale Abschottung des sowjetischen Systems hat sich vor allen im Inklusionszwang für sowjetische Staatsbürger manifestiert: Die sowjetischen Bürger besaßen keine Möglichkeit, ihre Mitgliedschaft der Sowjetunion zu kündigen. In den formal organisierten Sozialsystemen stellen die Austrittsentscheidungen der Mitglieder eine Möglichkeit dar, die Entscheidungslogik des Systems zu überprüfen. Wandern die Mitglieder aus der Organisation ab, können die Organisationsentscheidungen reflektiert und notfalls korrigiert werden. Diese Möglichkeit der Austrittsentscheidung gab es für die sowjetischen Bürger nicht. Weder das Programm noch das Personal der kommunistischen Partei konnte von den Mitgliedern des Sowjetstaates in Frage gestellt werden. Die Geschlossenheit der territorialen Grenzen des Systems sowie der Führungsanspruch der Partei sicherten der Parteiführung die Stelle an der Gesellschaftsspitze. Wie die „internen Kunden“ der Partei – eigene Mitglieder sowie andere sowjetische Bürger – ihre Aktivitäten bewerteten, spielte für die Partei nur in Bezug auf den Code parteifreundlich/parteifeindlich eine Rolle. So war die Berücksichtigung der Wünsche und Bedürfnisse der internen Kunden

36 Zu den Begriffen sachliche, zeitliche und soziale Geschlossenheit vgl.: Pollack, 1994: 68 ff.

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nicht das Anliegen der Partei. Umgekehrt: Die Parteiumwelt hatte sich an ihre Entscheidungen anzupassen. Die Abwesenheit von Mechanismen, mit denen die Partei ihre Entscheidungen prüfen und kontrollieren konnte, hatte zur Folge, dass die Lernfähigkeit der Partei stark eingeschränkt war. Da die Partei nie Rückmeldungen über ihre Entscheidungen erhielt, konnte sie ihre Informationsgenerierung nicht erneuern. Das Erkennen der auftretenden Probleme war gehemmt, das Lernen gebremst. Als Folge ihrer Lernunfähigkeit hoffte die Partei, durch den Erhalt des Programms, des Personals und der hierarchischen Struktur auch den gesellschaftlichen Wandel aufzuhalten. Sie war an einer Stabilität der Herrschaftsverhältnisse und dem Status quo interessiert: Aus Sicht der Partei drohte mit jeder unerwarteten Veränderung der Machtverlust: „Die Festschreibung der Machtverhältnisse, die Fixierung auf vorgegebene ideologische Ziele, die Unterdrückung abweichender, innovativer und kritischer Bestrebungen und die daraus resultierenden Entwicklungshemmungen und Modernisierungsrückstände machten die Abschottung des Systems erforderlich.“37

Die soziale Abschottung des Systems – die vollständige und notwendige Inklusion – verhinderte den sozialen Wandel des Systems und damit die Alternative, einen humanen Sozialismus zu schaffen. Die sachliche Abschottung der Kommunikation wird durch Propagandainstanzen reproduziert. Sie findet auf Ebene der Kommunikationsthemen statt und manifestiert sich insbesondere in der Verhinderung der Vergleichsmöglichkeiten zwischen den sowjetischen und nichtsowjetischen Kontexten. Die Diffusion von Themen und Ideen, die Beobachtung eines Gegenübers konnte unter solchen Bedingungen nur sehr beschränkt stattfinden. Da der Propagandaapparat unmittelbar dem Parteiapparat unterstellt war, waren die parteilich-ideologischen Entscheidungskriterien und sachlichen Programme der Propagandaproduktion übereinstimmend. Die Propagandaproduktion war darauf ausgerichtet, die öffentliche Meinung, die öffentliche bußerungen und, soweit möglich, auch die Gedanken der Individuen zu orientieren. Ein mächtiger Kontroll- und Zensurapparat, der auf repressiv-polizeiliche Gewalt gestützt war, unterstützte die Arbeit der Propagandaproduktion. Er bewirkte, dass weder massenmediale Informationen noch Bücherveröffentlichungen unkontrolliert erschienen. Alle Informationen, die sowjetische Bürger zu erhalten hatten, sollten mit den Parteivorgaben abgeglichen sein und übereinstimmen: „Das System der Geheimhaltung deutet auf einen der wichtigsten Züge der kommunistischen Staatsgewalt. Es durchdringt das ganze Leben der Gesellschaft. Geschlossene Institutionen und Versammlungen, geheime Verfügungen, Konferenzen, Beratungen […] Schriftliche Verpflichtungen zur Verschwiegenheit, spezielle Einlaßgenehmigungen und Berechtigungsscheine für den Zugang zu bestimmten Dokumenten… […]. Unter Bedingungen, wo Ausschluss von Öffentlichkeit, Geheimhal37 Pollack, 1994: 71.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE? tung, strenge Auswahl von Eingeweihten und Genehmigungen solch eine Rolle spielen, ist es leicht, jemanden wegen ‚Verletzung des Dienstgeheimnisses‘, ‚Verleumdung des Staates‘ oder ‚Sammeln von Angaben‘ zur Verantwortung zu ziehen. Die Menschen leben in einer Atmosphäre ständiger Bedrohung, und das wirkt stärker auf sie als Handlungen dieser Art […].“38

Nicht nur der Zensurmechanismus wirkte auf die Produktion öffentlicher Information ein. Sämtliche Information, die das ideologische, von der Partei vorgegebene Bild vom Sozialismus trübte, wurde vernichtet. Propagandaproduktion vereinte die Verheimlichung von Fakten mit der Produktion von Pseudo-Fakten. Die durch die Quasi-Massenmedien hergestellte Realität sollte vollständig den ideologischen Vorgaben entsprechen: „Mit Hilfe der Zensur, der Verfälschung und der vorbereiteten Spektakel entsteht eine Welt, in der tausende Pseudo-Informationen die Pracht des Systems lobpreisen. Danach fanden in der Sowjetunion noch nie Streiks oder Proteste statt; weder Flugzeugunglücke noch Zugunfälle gibt es in der sowjetischen Realität; im Gegenteil, Freude und Enthusiasmus belegen den unaufhörlichen Fortschritt und Aufschwung des Kommunismus. […] Es wird eine mythische, ausgeschmückte […] Welt hergestellt, in der Information keine Überraschung, Verwunderung oder Erschütterung ist – dieser Begriff bedeutet hier nur eins: Bestätigung.“39

Eine weitere Form der Vereinnahmung der öffentlichen Kommunikation durch Propaganda war die Übereinstimmung der öffentlichen Sprache mit der Parteisprache. Die bürokratische Parteisprache wurde in der öffentlichen und privaten Kommunikation obligatorisch für die Beschreibung eines jeden Phänomens. Auch dies war eine Form der Steuerung des sozialen Lebens durch die Partei. Über die Abweichung von der Parteisprache war die Veränderung von Erwartungen beobachtbar und sanktionierbar. Die Realität der sowjetischen Gesellschaft wurde durch die Parteisprache auf der Ebene der Lexik bestimmt. An dieser Stelle möchte ich die erste Hypothese dieser Arbeit formulieren: Hypothese 1: Für die sowjetische Organisationsgesellschaft war Propagandakommunikation kennzeichnend. Auch auf zeitlicher Ebene vollzog sich in der sowjetischen Organisationsgesellschaft eine Abschottung. Die Entwicklung von alternativen Zukunfts- und Vergangenheitsmodellen war in der sowjetischen Organisationsgesellschaft unterbunden. Nur die Partei besaß das Wissen über die „historische Wahrheit“, diese Wahrheit gründete in der marxistisch-leninistischen Lehre. Die Zukunfts- wie Vergangenheitsperspektiven waren durch sozialistische Entwürfe festgelegt. Aus dieser Perspektive konnte die Zukunft nur als Triumph des Sozialismus eintreten und die Vergangenheit war als Vorstadium der 38 Sinowjew, 1981: 341. 39 Ɇɨɪɟɧ, 1995: 55, Übersetzung d. Verfasserin.

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kommunistischen Revolution gedacht. Die „Wissenschaft vom historischen Materialismus“, eine Teillehre des Marxismus-Leninismus, postulierte eine Abfolge der historischen Entwicklungsstadien von Kapitalismus über Sozialismus zu Kommunismus. Insofern konnte die sowjetische Vergangenheit nur als Weg zum Sozialismus modelliert werden.40 Die Partei legte nicht nur die nationale Vergangenheit der Zarenepoche fest, auch die europäische Vergangenheit und Weltvergangenheit wurden von ihr umgeschrieben. Selbst die Aufklärungsphilosophen sowie Karl Marx wurden, je nach aktuellen parteilichen Erfordernissen, umgedeutet. Da aufgrund der Parteierfordernisse die Vergangenheit regelmäßig umgeschrieben wurde, wurde ihr eine ständige (geheim-)polizeiliche Kontrolle auferlegt, die sich in Repressionen und dem Töten von Zeitzeugen bestimmter historischer Ereignisse manifestierte.41 Das Umschreiben von Geschichte, die Vernichtung von Akten und Dokumenten war der andere Weg der Kontrolle über die Vergangenheit. Aus der Geschichte der Oktoberrevolution wurden in den 1930er Jahren auf diese Weise ihre Hauptaktivisten ausgeschlossen: Trotzkij, Sinovjev, Bucharin, Kamenev. Lenin und Stalin blieben auf diese Weise als einzige Anführer der Oktoberrevolution in den Geschichtsbüchern bestehen. Erst mit dem Beginn der Zerstörung des Systems konnte diese zeitliche Schließung durchbrochen werden. Das ideologische Programm der Partei zielte auf die Homogenisierung von Erwartungen in zeitlicher, sachlicher und sozialer Hinsicht. Aber die ideologisch verordnete Geschlossenheit der Organisationsgesellschaft konnte nicht immer erreicht werden. Denn mit der Weiterentwicklung der Vervielfältigungstechniken (Schreibmaschine, Kopierer usw.) war die Möglichkeit zur heimlichen Reproduktion der ausgeschlossenen Inhalte gegeben. Auf der Grundlage neuer Techniken entstand so in der Sowjetunion ein Bereich der informellen „Schatten“-Kommunikation: der „Samisdat“.42

2.1.5 Trennung zwischen formeller und informeller Ebene Durch das Streben nach Beherrschung aller gesellschaftlichen Bereiche und aller Ebenen der Systembildung durch eine Organisation entstand im System ein Bruch zwischen der offiziellen und der inoffiziellen Ebene, zwischen formalen und informellen Strukturen: Der Komplexitätsgrad der sowjetischen Gesellschaftsordnung war so hoch, dass die Komplexität nicht durch eine Organisation verarbeitet werden konnte. Die Tatsache, dass eine Organisation an der Spitze der Gesellschaft stand, machte ihre Selektionsleistung noch lange nicht komplexitätsadäquat. Sie konnte nicht alle Kommunikationen steuern, 40 Zur Evolution der Zeitvorstellungen in der Sowjetunion vgl. ɉɵɠɢɤɨɜ, 2003: Ɉɬ „ɞɢɤɬɚɬɭɪɵ ɩɪɨɥɟɬɚɪɢɚɬɚ“ ɤ „ɨɛɳɟɧɚɪɨɞɧɨɦɭ ɝɨɫɭɞɪɚɫɬɜɭ“. 41 Vgl. Ɂɚɫɥɚɜɫɤɚɹ, 2004: 42 ff. 42 „Samisdat“ bedeutet übersetzt aus dem Russischen Selbstverlag (vgl. ausführlicher II.1.3).

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deshalb blieben immer informelle, schwer kontrollierbare Bereiche neben der Organisationsgesellschaft bestehen. Dies führte dazu, dass durch die gesamte Sozialordnung eine Trennlinie zwischen Organisationsgesellschaft und informellem Sektor entstand. Die informellen Strukturen hatten teilweise die Funktion, die Steuerungslücken zu füllen, die sich aufgrund der mangelnden Problemverarbeitungskapazität der Partei entwickelten: „Neben der Planwirtschaft bildete sich eine Schattenwirtschaft heraus, neben dem Handel ein Schwarzmarkt, neben der gesteuerten Kultur eine Subkultur. Die Differenz zwischen Offiziellem und Inoffiziellem trat gewissermaßen an die Stelle der gebremsten funktionalen Differenzierung und holte Versäumnisse der gesellschaftlichen Entwicklung nach.“43

Außer der Erbringung einer Ersatzleistung für Steuerungsdefizite der Parteiführung bot der informelle Sektor Mechanismen, die außerhalb des Offiziellen den Zugang zu Ressourcen und Kommunikationswegen ermöglichten und zudem personelle Rückzugsmöglichkeiten gaben. Innerhalb der Organisationsgesellschaft entwickelte sich eine Kommunikationsstruktur, die die zentralisierten Verteilungsmechanismen von Ressourcen, Macht und Gütern „verdrehten“. Wenn allen Ebenen des sozialen Lebens organisatorische Regelungen (Begrenzungen, Verbote, Normen) angehängt waren, dann existierten hier immer auch die typisierten Formen der Verletzung dieser Regelungen. Zu diesen informellen Mechanismen zählten Korruption, Tauschbeziehungen, verschiedene Formen von Verletzungen der Verwaltungsordnung und der Kaderverteilung. Genau wie eine zentralisierte Kommunikationsstruktur und Verteilungsmechanismen waren Schattenwirtschaft und informelle Verteilungsmechanismen ein unabdingbares Merkmal der sowjetischen Sozialordnung. Die Dynamik der Organisationsgesellschaft äußerte sich unter anderem in der Vereinnahmung der offiziellen Verteilungsmechanismen durch die inoffiziellen. So waren die Einheiten des Parteiapparats auf verschiedenen staatlichen Verwaltungsebenen die Teilnehmer der informellen administrativen Märkte. Sie konkurrierten um die Güter und Leistungen „von oben“ und waren die wahren Entwickler der Mechanismen der Schattenwirtschaft.44 Über die Schattenwirtschaft weiteten sich die informellen Mechanismen auf andere Gesellschaftsbereiche aus, sie existierten sowohl mit als auch ohne Beteiligung von Parteieinheiten. Innerhalb der Organisationsgesellschaft erfüllten die informellen Beziehungen eine wichtige Funktion: „[D]ie informellen Netze [erbrachten] also in mehrfacher Hinsicht systemstabilisierende Leistungen. Dabei kam es, je mehr die Effektivität der offiziellen Organisationen sank, desto mehr zu einem Vordringen informeller Beziehungen in den offiziel43 Pollack, 1994: 74. 44 Ausführlicher zur Struktur der informellen administrativen Märkte in der Sowjetunion und im neuen Russland vgl. Ʉɨɪɞɨɧɫɤɢɣ, 2000: 61-102.

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ORGANISATIONSGESELLSCHAFT VERSUS FUNKTIONALE DIFFERENZIERUNG len Bereich. Sachbezogene, durch Unterstellung, Aufgabenzuteilung und Rechenschaftspflichtigkeit charakterisierte Sozialbeziehungen wurden zunehmend personalisiert und an die Stelle formalisierter Beziehungen traten im wachsenden Maße informelle Umgangsformen. Auf der einen Seite ging auf diese Weise die Bedeutung von klar abgegrenzten Verantwortlichkeiten an Anweisungsmöglichkeiten zurück. Andererseits entstanden offenere und kollegialere, aber moralisch und normativ enger definierte Sozialbeziehungen.“45

2.1.6 Übergang von der Organisationsgesellschaft zur funktionalen Differenzierung Bei der Frage nach den Gründen für den Beginn des Wandels der sowjetischen Organisationsgesellschaft sind vor allem folgende Aspekte hervorzuheben: die Lernunfähigkeit der Partei (und des Parteiapparats) und die informationelle Geschlossenheit. Beide Punkte hängen unmittelbar zusammen. Oben wurde der Aufbau der sowjetischen Gesellschaftsordnung als sachlich, zeitlich und sozial geschlossen und daher die Lernfähigkeit der Partei als stark eingeschränkt charakterisiert. Auch die informationelle Geschlossenheit (auf sachlicher Ebene) bedingte die Lernunfähigkeit der Partei und des Parteiapparats. Nach Karl Weick ist der „Prozess des Organisierens“ als Evolution zu verstehen. Nur wenn neue Themen, neue Informationen in die Organisationsstrukturen eingefügt werden, sind Variation, Selektion und Retention der Organisationsstrukturen möglich. Eine Variation der Kommunikation war durch die Partei aber nicht zugelassen. Bei Selektionsvorgängen wurden von der Partei also immer wieder die gleichen Strukturen (retrospektiv) ausgewählt und gespeichert. Die Evolution der Partei und somit der Organisationsgesellschaft war dadurch weitgehend verhindert. Aber die Evolution einer Organisation, so Weick, ist die einzige Möglichkeit ihrer Fortexistenz. Hört die Evolution aufgrund von Abwesenheit neuer Informationen auf, fällt die Organisation auseinander.46 Dies geschah auch mit der Organisation Sowjetunion, denn sie zeichnete sich durch informationelle Geschlossenheit aus. Diese Geschlossenheit, vor allem auf thematischer Ebene sowie durch Abwesenheit der neuen Informationstechnologien, verhinderte das Eindringen neuer Informationen in das System.47 Der Wandel der Organisationsgesellschaft setzt mit Beginn der politischen Reformen 1985 ein. Diese Reformen zielen zunächst auf den Erhalt und die Erneuerung der bestehenden Ordnung, wenn auch mit erheblichen bnderungen: Die sowjetische Gesellschaft sollte demokratisch und marktwirtschaftlich umgebaut werden. Die Pläne für diesen Umbau entwirft der Parteiapparat.

45 Pollack, 1994: 75. 46 Weick, 1995: Der Prozess des Organisierens. 47 Castells, 2003: Jahrtausendwende: 5-72. Zu Ursachen der technologisch-informationellen Rückständigkeit der Sowjetunion vgl. Ʉɚɫɬɟɥɶɫ, Ʉɢɫɟɥɟɜɚ, 2000: Ɋɨɫɫɢɹ ɢ ɫɟɬɟɜɨɟ ɫɨɨɛɳɟɫɬɜɨ.

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Die Umstrukturierungsprozesse, die durch diese Reformen ausgelöst werden, laufen zunehmen unkontrolliert und spontan ab (vgl. I.1). Es beginnt die Öffnung des sowjetischen Systems auf sachlicher, zeitlicher und sozialer Ebene. So wird die freie Meinungsäußerung privat und in den Medien möglich, was zur Pluralisierung und Differenzierung von Kommunikationsthemen führt. Vergangenheits- und Zukunftsperspektiven werden umbewertet. Dies führt zur Infragestellung der offiziell vorgegebenen Zukunft. Die Ein- und Ausreiseordnung aus der Sowjetunion wird gelockert, so dass die Beobachtung von nicht-sowjetischen Kontexten beginnt. Diese Öffnung wird nur möglich, weil die zentralisierte Steuerung aller gesellschaftlichen Bereiche durch die Partei mehr und mehr aufgehoben wird. Mit dem Zurücktreten der Partei aus der Steuerung des gesellschaftlichen Lebens beginnt die Herausbildung moderner Funktionssysteme in Russland.48 Die Einführung des realen Wahlrechts, die Trennung der politischen von Parteiämtern sowie die Gründung des Parlaments ermöglichen den Beginn der modernen politischen Kommunikation. Es folgt die Ausdifferenzierung der Staaten aus der ehemaligen Sowjetunion. Folglich konstituierte sich im Jahre 1991 auch die Russische Föderation als unabhängiger Staat. In diesem Staat wird die Gewaltenteilung in Exekutive, Legislative und Judikative eingeführt (vgl. I.1.1). Bereits in der Sowjetunion begannen die Reformen der Planwirtschaft, die mit der Entstehung des russischen Staates fortgeführt wurden. In Anlehnung an neoliberale Ideen wurde mit der so genannten „Schocktherapie“ begonnen. Dies bedeutete Verzicht auf staatliche Preisregulierung, Schaffung entsprechender Rahmenbedingungen für die marktwirtschaftlichen Prozesse und Privatisierung vom Staatseigentum. Später bildeten sich die Märkte und außerstaatliche ökonomische Organisationen.49 Die Erosion der zentralisierten Steuerung erreichte im Grunde alle Bereiche der Gesellschaft: Kunst, Erziehung, Bildung, Recht, Wissenschaft, Sport, Familie und natürlich die (Quasi-)Massenmedien. Der zunehmende Steuerungsverlust manifestiert sich hier in der Erosion der parteilichen Kontrollmechanismen der Medienkommunikation: vor allem in der Abschaffung der Zensur, der Sanktionen gegen journalistische Meinungsäußerung und der polizeilich-repressiven Verfolgung von Journalisten und Rezipienten mit eigener Meinung. Auch die ideologischen Aspekte der öffentlichen Kommunikation unterlagen einer langsamen Erosion. Die neue Ideologie der Glasnost (Offenheit) und der Perestroika (Umbau) war den Journalisten zunächst vom Parteiapparat vorgegeben. Ihre Popularisierung führte dazu, dass neue Kontrollen und Sanktionen nicht mehr möglich waren, denn sie hätten im Widerspruch 48 Wenn ich vom Beginn der Entstehungsprozesse der Funktionssysteme im neuen Russland spreche, ist dies eine reine Feststellung der Ingangsetzung dieser Entwicklungen. Ich mache hier keine Aussagen über Erfolg oder Misserfolg sowie über die Dauer dieser Prozesse. 49 Zur Periodisierung der Herausbildung der Marktwirtschaft im neuen Russland vgl. Ȼɟɥɹɟɜɚ, 2001: ɋɨɰɢɚɥɶɧɚɹ ɬɪɚɧɫɮɨɪɦɚɰɢɹ ɢ ɫɪɟɞɧɢɣ ɤɥɚɫɫ ɜ Ɋɨɫɫɢɢ: 24-33.

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zum neuen Parteikurs gestanden. So war der Parteiapparat gezwungen, zunehmend freie Meinungsäußerungen zu tolerieren. Schließlich wurden die parteilichen Kontrollmechanismen der Massenmedien selbst in Frage gestellt. Sie konnten nicht mehr begründet werden. Beide Prozesse – die Öffnung auf sachlicher, zeitlicher und sozialer Ebene sowie die Dezentralisierung gesellschaftlicher Strukturen – sind als Ausgangslage für die Entstehung neuer Massenmedien in Russland zu werten. Die Freisetzung sozialer Kontingenz durch diese Prozesse macht die Ausdifferenzierung eines Funktionssystems notwendig: des Funktionssystems der Massenmedien.50

2.2 Die funktionale Differenzierungsform Der gesellschaftliche Wandel im neuen Russland ist als Übergang von einer Organisationsgesellschaft zur funktional differenzierten Gesellschaftsform zu verstehen. Beide Differenzierungsformen zeichnen sich durch jeweils einen besonderen Typ der medialen Operationsweise aus: Während für die Organisationsgesellschaft Propagandakommunikation kennzeichnend ist, bildet sich in der funktional differenzierten Gesellschaftsform ein Funktionssystem der Massenmedien aus, das nicht von einer einzelnen Organisation dirigiert wird. Folglich lassen sich aus den Grundzügen beider Differenzierungsformen Dimensionen ableiten, die dem Wandel der Medienstrukturen im neuen Russland einen Rahmen geben (s. II.0.1). Deshalb sollen an dieser Stelle die Grundcharakteristika der funktionalen Differenzierungsform vorgesellt werden. Die Theorie der funktionalen Differenzierung konzentriert sich auf die Analyse der Differenzierungsvorgänge in Europa. Hier wechselt die funktionale Differenzierungsform die Stratifikation zwischen dem 15. und dem 20. Jahrhundert ab.51 Der Primat dieser Differenzierungsform setzt sich spätestens dann durch, wenn sie die Verwendung über herkömmliche Differenzierungsformen wie Stratifikation, Zentrum/Peripherie-Differenzierung und Segmentation reguliert.

Beobachtung als Funktion Der Begriff der funktionalen Differenzierung bezeichnet den Sachverhalt, dass jedes der Teilsysteme für das umfassende Gesellschaftssystem eine spezifische Funktion erfüllt, die für einen Problembereich in der Gesellschaft (und nicht im Teilsystem selbst oder für die Erhaltung des Teilsystems) zuständig ist. Die Teilsysteme (bzw. Funktionssysteme) sind in Bezug auf die von jedem 50 Zum Ausdifferenzierungskonzept der Massenmedien in Russland siehe I.4. 51 Vgl. Luhmann, 1998: 707 ff. Es werden auch andere Datierungen für den Übergang Europas zur Moderne angenommen: vgl. Stichweh, 2000c: 247 ff.

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einzelnen System erfüllte Funktion ungleich, d.h. jedes Teilsystem differenziert sich nach eigener spezifischer Funktion in der Gesellschaft aus. Aber dieser Ungleichheit ist jedes Teilsystem im gleichen Maße ausgesetzt. Als wichtigste Teilsysteme werden von Luhmann das Wirtschaftssystem, das politische System, das Wissenschaftssystem, das Rechtssystem, das Erziehungssystem, die Religion, die Familien, das Kunstsystem, das Medizinsystem und das System der Massenmedien genannt. Die Differenzierung in Funktionssysteme bestimmt somit, dass die wichtigste Kommunikation in der Gesellschaft auf die jeweiligen Funktionen orientiert wird. Das Primat der funktionalen Differenzierung schließt eine in der Gesellschaft verbindliche Rangordnung der Teilsysteme untereinander aus: „Vielmehr ergeht an alle Systeme der Auftrag, sich selbst im Verhältnis zu anderen zu überschätzen, dabei aber auf die gesamtgesellschaftliche Verbindlichkeit der Selbstbewertung zu verzichten“.52 Da Luhmann die Bestimmung der Strukturen der modernen Gesellschaft durch die funktionale Differenzierung als Form der primären Differenzierung postuliert, wird die moderne Gesellschaft in seinen Werken auch als funktional differenzierte Gesellschaft bezeichnet.53 Die Funktionssysteme reproduzieren sich autopoietisch. D.h., sie sind auf der Ebene ihrer Operationen, hier: Kommunikationen, geschlossen. Deshalb lässt sich die Entwicklung der autopoietischen Funktionssysteme von außen nicht gezielt steuern. Die Vorstellung, dass eine gesellschaftliche Instanz, z.B. der Staat, auf die Funktionssysteme absichtsvoll einwirken kann, trifft deshalb für die funktional differenzierte Gesellschaft nicht zu.54 Um die Autopoiesis fortzusetzen, ist jedes System gezwungen, zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz zu unterscheiden. Für ein Funktionssystem existieren drei Möglichkeiten, die Selbstreferenz zu vollziehen: • Erstens ist ein Funktionssystem in der Lage, das Gesamtsystem zu beobachten, in dessen innerer Umwelt es sich reproduziert. Diese Beobachtung wird als Funktion bezeichnet. • Die zweite Möglichkeit für ein Funktionssystem, die Selbstreferenz zu vollziehen, heißt Reflexion. Als Vorrat spezieller Semantiken ermöglicht

52 Luhmann, 1998: 748; vgl. ebd.: 743-748. 53 Vgl. auch Fuchs, 1992: Die Erreichbarkeit der Gesellschaft: 67-89. 54 Politische Steuerung wird dann systemtheoretisch als Operation des politischen Systems aufgefasst. Sie stellt dann keine absichtsvolle Lenkung, sondern einen Prozess der Differenzminimierung dar: Sie ist ein „Versuch, bestimmte Unterschiede zu verringern, die das steuernde System bei der Beobachtung anderer Systeme erkennt (bzw. zu erkennen glaubt). […] Zugleich muss jedoch berücksichtigt werden, dass nicht alle Differenzen für politische Steuerungsabsichten geeignet sind. […] Gerade jene Differenzen, die die Autonomie der sozialen Systeme begründen, stehen nicht zur Disposition. Politische Steuerung ist nur unter der Voraussetzung möglich, dass die Systemdifferenz erhalten bleibt. Und sie ist darauf angewiesen, ihre eigenen Differenzminimierungsprogramme so anzulegen, dass sie von den gesteuerten Systemen verstanden und akzeptiert werden können.“ (Ulrich, 1994: 91)

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die funktionssystemische Reflexion, die Einheit des Systems als Gesamtheit zu beobachten. • Als drittes kann ein Teilsystem die anderen Teilsysteme in der gesellschaftlichen Umwelt (oder auch andere Systeme in der gesellschaftsexternen Umwelt) beobachten. Diese Art der Selbstreferenz wird als Leistung bezeichnet. Von Leistungen kann man dann sprechen, wenn wechselseitige Beziehungen zwischen mindestens zwei Teilsystemen zu beobachten sind: So wird z.B. durch das Wirtschaftssystem die wissenschaftliche Forschung finanziert, oder im politischen System werden die gesetzlichen Regelungen für das Wissenschaftssystem erlassen. Durch die Leistungsbeziehungen werden die Funktionssysteme eng miteinander vernetzt. Die Integration der funktional differenzierten Gesellschaft ist als dynamisch und nicht als gleichgewichtsbedürftig zu beschreiben. Sie beruht auf der Einschränkung der Freiheitsgrade einzelner Funktionssysteme. Während ein Teilsystem für die Gesellschaft eine Funktion erfüllen muss und für die anderen Teilsysteme Leistungen zu erbringen hat sowie für die Identitätssicherung reflexive Beobachtung betreibt, um sich zu reproduzieren, „existiert [das Gesellschaftssystem] in der Erfüllung seiner Funktion, den Teilsystemen eine geordnete Umwelt bereitzustellen“.55

Formen der Innendifferenzierung Die inneren Strukturen der Funktionssysteme können verschiedene Formen der Innendifferenzierung aufweisen.56 Alle im Laufe der soziokulturellen Evolution entstandenen Formen der primären gesellschaftlichen Differenzierung können für die innere Differenzierung der Funktionssysteme strukturgebend werden: Segmentierung, Zentrum/Peripherie-Muster, Stratifikation und funktionale Differenzierung. Vor allem ist eine Segmentbildung in Funktionssystemen denkbar: So stellen z.B. Staaten Segmente des politischen Systems dar. Auch die Zentrum/Peripherie-Differenzierung kann innerhalb der Funktionssysteme vorkommen. Hervorzuheben ist, dass in Funktionssystemen die eindeutige Normung durch ein bestimmtes Differenzierungsmuster eher selten vorkommt. Aber auch durch Inklusionspotential kann die Innendifferenzierung eines Funktionssystems bestimmt werden: nämlich „durch Anzahl und Art der Adressaten, die im System für interne Kommunikation zur Verfügung stehen“.57 So wird die Innendifferenzierung des Funktionssystems der Massenmedien durch Innendifferenzierung zwischen massenmedialer Produktion (= medialen Produ55 Luhmann, 1975a: Interaktion, Organisation, Gesellschaft: 59. 56 Vgl. Luhmann, 1999: 256-285. 57 Marcinkowski, 1993: Publizistik als autopoietisches System: 78.

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zenten-Organisationen) und massenmedialem Publikum bestimmt. Massenmediale Produktionsstrukturen differenzieren sich wiederum segmentär in 1) Nachrichten/Berichte, 2) Werbung und 3) Unterhaltung. Die gesellschaftliche Funktion der Massenmedien besteht darin, Realitätsannahmen zu produzieren, die gesellschaftsweit anschlussfähig sind.58 Obwohl die Funktionssysteme eine durchaus unterschiedliche Innendifferenzierung aufweisen können, ist ihre innere Strukturierung durch zum Teil vergleichbare Elemente charakterisiert. 1. Der Code dient als Ausgangspunkt für die Entstehung der Funktionssysteme. Bildet sich ein Funktionssystem auf der Grundlage des eigenen Codes aus, wird es als autopoietisch geschlossen bezeichnet. D.h., es bedarf eigener Operationen (hier: Kommunikationen), um sich selber zu reproduzieren. Die Trennung zwischen den Funktionssystemen ist als Trennung zwischen funktionssystemischer Kommunikation zu verstehen. Diese Trennung ist nur aufgrund der Orientierungsleistung des Codes möglich, wobei für jedes Funktionssystem ein eigener Code postuliert wird. Die Codes stellen binäre Schematismen dar, deren Leistung darin besteht, die funktionssystemische Kommunikation zu orientieren und ihre Anschlussfähigkeit zu sichern. Als Beispiele für binäre Codes von Funktionssystemen kann man Überlegene/Unterlegene im System der Politik, wahr/ unwahr im Wissenschaftssystem, Haben/Nicht-Haben im Wirtschaftssystem, recht/unrecht im Rechtssystem und gesund/krank im System der Krankenbehandlung nennen. Das System der Massenmedien konstituiert sich auf Grundlage des Codes Information/Nicht-Information. Ist die funktionssystemische Kommunikation durch einen binären Code gesichert, ist kein Eingriff von außen in die Erfüllung der teilsystemspezifischen Funktion möglich. Im jeweiligen Funktionssystem stellt der Code die Ablehnung der Leitdifferenzen der anderen Teilsysteme dar, zugleich wird ihre Relevanz für die Gesamtgesellschaft akzeptiert. Die funktional differenzierte Gesellschaft ist als polykontextural zu definieren, denn mehrere Codierungen gelten zugleich, obwohl sie sich gegenseitig verwerfen. 2. Da der Code eine binäre Unterscheidung darstellt, hat er einen zyklischen Charakter. So kann der massenmediale Code unaufhörlich die Kommunikation nach dem Doppel Information/Nicht-Information sortieren. Der zyklische Charakter des Codes bedarf zusätzlicher Entscheidungskriterien, die die Bedingungen der Richtigkeit für die Verwendung der Codewerte festlegen. Solche Regeln werden Programme genannt. Auf Programmebene wird die binäre Ausrichtung eines Codes vermieden. Programme bringen für die funktionssystemische Kommunikation eine zusätzliche Orientierungsleistung. Folgende Beispiele seien hier erwähnt: Theorien im Wissenschaftssystem, politische Programme im System der Politik, Lehrpläne im System der Erziehung. Das System der Massenmedien bildet auch ent-

58 Zur Innenstrukturierung der Massenmedien siehe ausführlicher I.3.1.

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sprechende Entscheidungskriterien aus: Informationssammlungsprogramme, Selektionsprogramme, Prüfprogramme und Darstellungsprogramme. Die Herausbildung von Rollen zählt auch zur Struktur der Funktionssysteme. Bei den funktionssystemischen Rollen wird zwischen so genannten Leistungs- und Publikumsrollen unterschieden. Während Leistungsrollen in der Regel durch die Verberuflichung gekennzeichnet sind, handelt es sich bei den Publikumsrollen um so genannte komplementäre Rollen. Die Beispiele hierfür sind: Politiker und Wähler, Richter und Kläger, Unternehmer und Konsument usw. Im System der Massenmedien stellt der Journalist die Leistungsrolle und der Rezipient die Publikumsrolle dar. Auch der Systemtyp der Organisation kann zum Sinnzusammenhang eines Funktionssystems gehören. Eine neuere systemtheoretische Diskussion zu diesem Thema behandelt das Problem der direkten Zuordnung von Organisationen zu den Funktionssystemen.59 In Anlehnung an Luhmann gehe ich davon aus, dass bestimmte Typen von Organisationen den Funktionssystemen zuzuordnen sind, wobei zwischen beiden Systemtypen kein hierarchisches, sondern ein netzwerkartiges Verhältnis besteht.60 Hier sind beispielsweise die Schulen für das Erziehungssystem, Krankenhäuser für das System der Krankenbehandlung, Unternehmen für die Wirtschaft, Staat und Parteien für die Politik zu nennen. Dem System der Massenmedien werden Organisationen wie z.B. Redaktionen und Medienträger (Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehsender und Radiostationen) zugeordnet. Auch Nachrichtenagenturen, Werbeagenturen und Produzenten medialer Unterhaltungsinhalte sind dazu zu zählen. Mit Reflexionstheorien beobachtet ein Funktionssystem sich selbst. Von Reflexion wird gesprochen, wenn ein Teilsystem mit Hilfe der System/Umwelt-Unterscheidung seine Einheit als Gesamtheit thematisiert. Im System der Massenmedien erfüllen diese Aufgaben die Theorien des Journalismus sowie andere Formen der medialen Selbstthematisierung. Erfolgsmedien oder symbolisch generalisierte Medien der Kommunikation sind für die Konstitution einiger Funktionssysteme von Bedeutung. So dient z.B. Liebe als Medium für die Ausdifferenzierung der Familien. Geld ist das Medium des Wirtschaftssystems und Macht das des politischen Systems. Das System der Massenmedien bedarf nach Luhmann keines symbolischen Mediums.

Zwischenfazit Die Ausdifferenzierung der Massenmedien im neuen Russland findet im Kontext des Wechsels des Primats gesellschaftlicher Differenzierungsformen statt. 59 Vgl. Kneer, 2001: Organisation und Gesellschaft: 407-428; Tacke, 2001: Organisation und funktionale Differenzierung. 60 Vgl. Luhmann, 1998: 845-846. Es können natürlich Organisationen existieren, die zu keinem Funktionssystem gehören.

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Dieser gesellschaftliche Übergang lässt sich anhand der grundlegenden Charakteristika dieser Differenzierungsformen modellieren. Anhand der jeweils vier gesellschaftlichen Grundmerkmale werden Duale formuliert, die den Wechsel der Differenzierungsformen markieren: • • • •

Zentralisierung versus funktionale Differenzierung, Minimierung sozialer Distanz zwischen einzelnen Systemtypen versus Vergrößerung der sozialen Distanz, Geschlossenheit versus Offenheit, Trennung zwischen formeller und informeller Ebene versus Minimierung dieser Trennung.

Diese Duale sollen für die Analyse des Wandels russischer Medienstrukturen im zweiten Teil der Arbeit herangezogen werden. Prozesse der Erosion von Propaganda und Ausdifferenzierung der Massenmedien werden als Ausprägung dieser gesellschaftlichen Dimensionen analysiert werden.61

2.3 Ausdifferenzierung oder Globalisierung eines Mediensystems? Der massenmediale Wandel im neuen Russland, so meine Annahme, findet während des gesellschaftlichen Übergangs zur funktionalen Differenzierung statt. Dieser Wechsel von der Organisationsgesellschaft zur funktionalen Differenzierung wird von Globalisierungsprozessen beeinflusst. Denn die Form der funktionalen Differenzierung ist durch Dynamiken zu charakterisieren, die zunehmend auf dem ganzen Erdball wirksam werden. Die Idee von einer Globalisierung des Musters funktionaler Differenzierung ist in der (systemtheoretischen) Theorie der Weltgesellschaft zusammengefasst.62 Doch ich möchte fragen, inwiefern diese Theorie geeignet ist, um die Zusammenhänge zwischen der Ausdifferenzierung autopoietischer Medienstrukturen im neuen Russland und internationalen Medienprozessen zu erklären.

2.3.1 Auf dem Weg zu einer Theorie der Weltgesellschaft Die These von der Weltgesellschaft Niklas Luhmann beschreibt die moderne Gesellschaft der Gegenwart als Weltgesellschaft.63 Der Gedanke der Weltgesellschaft besagt, dass das Gesellschaftssystem heute nur noch einmal vorkommt: „In der heutigen Zeit ist die 61 S. II.6, Fallstrukturierung in der Tabelle 21. 62 Stichweh, 2000c: Die Weltgesellschaft. 63 Luhmann, 1998: 145-171; Luhmann, 1975b: Die Weltgesellschaft: 51-71.

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Gesellschaft Weltgesellschaft. Es gibt nur ein einziges Gesellschaftssystem. In früheren Zeiten war das jedoch anders. Wir brauchen deshalb einen Begriff, der sowohl die Einzigkeit als auch eine Mehrheit von Gesellschaftssystem bezeichnen kann“.64 Die Annahme der Weltgesellschaft folgt aus der systemtheoretischen Bestimmung des Gesellschaftsbegriffs: 1. Er geht auf die Prämissen der allgemeinen Systemtheorie zurück, wonach jedes System die Grenze zwischen System und Umwelt selbst produziert und autopoietisch ist. 2. Die Trennung zwischen sozialen und nicht-sozialen Systemen wird auf der Grundlage von Sinn und Kommunikation produziert. Mit Kommunikation als Letztoperation und Sinn als Kommunikationsmedium unterscheiden sich soziale Systeme von lebenden Wesen, Maschinen, der Psyche und anderen Systemen. 3. Schließlich wird die Gesellschaft als ein Typ der sozialen Systeme von anderen Systemtypen dieser Art (Organisation und Interaktion) unterschieden.65 In diesem Sinne ist die Gesellschaft derjenige Typ der sozialen Systeme, der alle Kommunikationen einschließt und demzufolge keine soziale Umwelt haben kann. Eine Gesellschaft kann auch Teilsysteme ausbilden, die analytisch der Gesellschaftsebene – und nicht der Organisations- und Interaktionsebene – zuzuordnen sind.

Weltweite funktionale Differenzierung als weltgesellschaftliche Bedingung Für dieses System der Weltgesellschaft ist die Differenzierung in Teilsysteme, die sich in Orientierung an spezifische Funktionen reproduzieren, kennzeichnend. Hierzu zählt auch ein globalisiertes Funktionssystem der Massenmedien. Funktionale Differenzierung ist, in der Terminologie von Rudolf Stichweh, die erste Innovation, ohne die die Entstehung der Weltgesellschaft nicht denkbar wäre. Im 15./16. Jahrhundert steht die Weltgesellschaft in ihren Anfängen und für ihre Weiterverwirklichung ist kennzeichnend, „dass sie sich in dem Maße realisiert, in dem Kommunikation zwischen bis dahin getrennten Gesellschaften als Beschleunigungsfaktor in die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen eingreift, die nur noch als globale Systeme zu beschreiben sind.“66 Luhmann unterstreicht, dass mit der Umstellung der gesellschaftlichen Strukturen auf funktionale Differenzierung eine Definition der modernen Gesellschaft aufgrund der territorialen Grenzen nicht mehr möglich ist:

64 Luhmann, 1975a: Interaktion, Organisation, Gesellschaft: 11. 65 Vgl. Luhmann, 1998: 78-91. 66 Stichweh, 2000c: 251.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE? „Eine primär regionale Differenzierung widerspräche dem modernen Primat der funktionalen Differenzierung. Sie würde daran scheitern, daß es unmöglich ist, alle Funktionssysteme an einheitliche Raumgrenzen zu binden, die für alle gemeinsam gelten. Regional differenzierbar in der Form von Staaten ist nur das politische System und mit ihm das Rechtssystem der modernen Gesellschaft. Alle anderen operieren unabhängig von den Raumgrenzen.“67

Der Systemtyp der Organisation und die Kommunikationstechniken stellen zusätzliche Formen der Strukturbildung dar, die neben funktionaler Differenzierung für die Dynamik der Weltgesellschaft als Voraussetzung fungieren.68

Das Phänomen der Regionalisierung Die Theorie der Weltgesellschaft streitet die unterschiedlichen Entwicklungsniveaus im Weltsystem nicht ab. Natürlich weist die Weltgesellschaft regional unterschiedliche Lagen auf, und es gibt wenig Anhaltspunkte dafür, das allmähliche Verschwinden dieser Unterschiede zu verkünden.69 Nach der Auffassung von Luhmann und Stichweh steht aber die Gegebenheit der regionalen Unterschiede nicht im Widerspruch zur Annahme der Weltgesellschaft, denn die Divergenzen fallen auf, so Luhmann, wenn regional verglichen wird; vergleicht man dagegen historisch, sind die übereinstimmenden Tendenzen nicht zu übersehen.70 Allerdings ist die These von einer vollständigen Realisierung der Weltgesellschaft kritisch zu hinterfragen.71 Aus meiner Sicht ist die Frage nach der Vollrealisierung der Weltgesellschaft eine empirische: die Durchsetzung funktionaler Differenzierung weltweit muss zuerst regional vergleichend überprüft werden. Bevor diese These näher ausgeführt wird, möchte ich den systemtheoretischen Begriff der Region definieren. Klaus Kuhm unterscheidet zwischen zwei methodischen Zugängen zur Analyse regionaler Entwicklungen: einem klassifikatorischen und einem operationalen. Die klassifikatorische Handhabung des Regionenbegriffs ist mit der Logik des Begriffs der sozialen Klassen verwandt. Hier wird eine Art von 67 Luhmann, 1998: 166. 68 Zur Bedeutung der Organisation für die funktionale Differenzierung vgl. ausführlicher Türk, 1995: „Die Organisation der Welt“: 185. 69 Zu verschiedenen Ungleichheitsbegriffen im Globalisierungsdiskurs vgl.: Franz, 1997: Ungleichheitssemantiken im Globalisierungsdiskurs: 843-856. 70 Luhmann, 1998: 145-167. 71 Vgl. hierzu: Stauth, 1999: Authentizität und kulturelle Globalisierung: 40-41; auch Stauth, 1995: Globalisierung, Modernität, nicht-westliche Zivilisationen: 92. Einer Vollrealisierung der Weltgesellschaft müssen interkulturelle Vergleichsprozesse vorangehen, die die Angleichung der Kommunikationsmedien und Strukturformen der Weltgesellschaft erst ermöglichen. Erst wenn solche Prozesse z.B. zwischen sowjetischer Organisationsgesellschaft und funktional differenzierter Gesellschaft beobachtbar sind, ist die Hypothese über die Vollrealisierung der Weltgesellschaft für meine Untersuchungsfrage nahe liegend.

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Clustern bezüglich der territorialen Verteilung von Menschen nach verschiedenen Merkmalen gebildet: von der Hautfarbe bis zu ungleichheitsspezifischen Verteilungen der Lebenslagen. Es werden so die „Bevölkerungsaggregate gebildet […], die sich durch räumliche Zuordnung zu einer Region aufrunden lassen.“72 Die klassifikatorische Handhabung des Begriffs erklärt jedoch nicht, wie die Regionalisierung geschieht. Die operationale (hier: systemtheoretische) Bestimmung der Region kommt dafür eher in Betracht. Die Bildung von Regionen wird aus der systemtheoretischen Perspektive als struktureller Effekt der Weltgesellschaft beschrieben. Den Ausgangspunkt dieser Argumentation bildet die bereits oben dargelegte Annahme der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft. Zwei Argumente sind hier besonders wichtig: • Trotz funktionaler Differenzierung besitzt die Gesellschaft keinen Mechanismus, der die Funktionssysteme in Übereinstimmung mit den demographischen und räumlichen Umweltgegebenheiten bringen würde. • Die Funktionen, die von jedem einzelnen Teilsystem erfüllt werden, können nicht von einem anderen ersatzweise getragen werden. D.h., die moderne Gesellschaft verzichtet auf die Mehrfachabsicherung der Funktionen. Die Folge dieses Verzichts auf die Mehrfachabsicherung ist die steigende Abhängigkeit der Funktionssysteme voneinander. Dies geschieht in Form von so genannten strukturellen Kopplungen73 sowie gegenseitigen Leistungen zwischen Funktionssystemen. Eine Region ist dann als eine Reihe von strukturellen Kopplungen zwischen den Funktionssystemen zu verstehen, die eine Art regionaler Sonderlage entstehen lässt und auf die Gesellschaft zurückwirkt. Dieser operationale Begriff der Regionalisierung beschreibt solche strukturellen Kopplungen und Leistungsbezüge zwischen Funktionssystemen, „in denen u.U. kleinste soziale Differenzen durch Selektivitätsverstärkung zur Stabilisierung und zum Ausbau regionaler Unterschiede über Systemgrenzen hinweg genutzt werden können“.74 Die uneinheitlichen Entwicklungen in den Funktionssystemen selbst werden so in Beziehung zueinander gesetzt. Das Vorhandensein der Nationalstaaten trägt zusätzlich dazu bei, dass Regionen diese „Wellen“ in der Entwicklung der Weltgesellschaft zur Durchsetzung ihrer Interessen benutzen.

72 Kuhm, 2000: Raum als Medium gesellschaftlicher Kommunikation: 337. 73 Als strukturelle Kopplung ist ein Beziehungsnetz zwischen zwei Funktionssystemen zu verstehen, der die gegenseitigen systemischen Irritationen in Strukturformen umwandelt, ohne die Autonomie der Systeme zu zerstören. 74 Ebd.: 338.

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Die Weltgesellschaft als Realität? Die Entstehung von Regionen wird in dieser Begriffsbestimmung aus weltgesellschaftlichen Voraussetzungen abgeleitet. Allerdings wird hier eingeräumt, dass die Regionalisierung danach geschieht, „ob die Gestaltungsmittel der Kommunikation: Erfolgs- und Verbreitungsmedien in einem begrenzten, oft korrupten Sinne zur Verfügung stehen oder ob […] [diese Prozesse] an einer Ausgangslage ansetzten, die durch vollrealisierte funktionale Differenzierung gekennzeichnet ist.“75 Der letzte Gedanke ist bezogen auf meinen Untersuchungsgegenstand sehr wichtig, denn insbesondere die sowjetische soziale Ordnung war primär nicht funktional differenziert (vgl. I.2.1). Deshalb möchte ich den hier dargestellten Begriff der Region ausweiten: Als regional sind nicht nur solche Strukturen zu verstehen, die auf Grundlage der verschränkten Leistungsbezüge und struktureller Kopplungen der Funktionssysteme zueinander entstehen, sondern auch kommunikative Verdichtungen auf Basis der räumlichen Kontakte, die durch Abwesenheit bzw. schwache Ausprägung der funktionssystemischen Kommunikation oder durch andere Differenzierungsformen gekennzeichnet sind. In diesem Sinne kann nach der Revolution von 1917 die Sowjetunion als eine Region auf dem Territorium eines Staates beschrieben werden, in der nicht die funktionale Differenzierung, sondern die Organisationsgesellschaft die primäre Differenzierungsform bildete.76 Die hier von mir vertretene Ausweitung des Regionenbegriffs widerspricht der These von der vollständigen Realisierung der Weltgesellschaft. Deshalb wird in dieser Arbeit folgende Fassung der Weltgesellschaftsthese präferiert: • Zwar gehe ich, in Anlehnung an Luhmann, davon aus, dass im historischen Vergleich die Durchsetzung funktionaler Differenzierung in vielen Regionen, also Globalisierungsprozesse, zu beobachten sind. Ob jedoch die Weltgesellschaft bereits vollständig vollzogen ist, ist eine empirische Frage. Ich gehe eher davon aus, dass das nicht der Fall ist. • Bestimmte Regionen, in denen die funktionale Differenzierung eine primäre Differenzierungsform darstellt, sind durch globalisierte Dynamiken gekennzeichnet. Insofern halte ich an der These vom Zusammenhang von Globalisierung und funktionaler Differenzierung fest. • Die regionalen Ungleichheiten in der modernen Welt sind sowohl durch Globalisierung der Funktionssysteme als auch durch regionale Erosion anderer primärer Differenzierungsformen (wie Organisationsgesellschaft, Zentrum/Peripherie-Differenzierung oder Stratifikation) gekennzeichnet. • Regional sind in diesem Kontext nicht nur strukturelle Kopplungen der Funktionssysteme, sondern auch Kommunikationsräume, die sich durch 75 Ebd.: 342. 76 Bei der empirischen Bestimmung einer Region aus systemtheoretischer Sicht sind historische Zeit und die Dauer der regionalen Bildung zu berücksichtigen. Sie variieren je nach Untersuchungsgegenstand und sind deshalb je nach Reichweite wissenschaftlicher Fragestellungen relativ.

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eine schwache Ausprägung funktionaler Differenzierung oder sogar durch Vorhandensein und Erosion anderer Differenzierungsformen charakterisieren lassen.

2.3.2 Massenmediale Ausdifferenzierung im Kontext der weltgesellschaftlichen Prozesse Regionaler Anschluss an globale Prozesse Weltgesellschaft und funktionale Differenzierung sind keine planetare Realität. Der Entstehungsprozess eines Funktionssystems der Massenmedien ereignet sich in einer Region, die primär nicht funktional differenziert ist. Ein solcher Ausdifferenzierungsprozess beginnt in der ehemaligen Sowjetunion, als hier noch die Differenzierungsform Organisationsgesellschaft vorherrschend ist. Der massenmediale Ausdifferenzierungsprozess ist als regional zu verstehen, da er im Zuge des Wechsels des Primats regional unterschiedlicher Differenzierungsformen stattfindet, die bis dato nebeneinander existiert haben. Der Prozess des Wechsels des Primats der Differenzierungsformen – vom Primat der Organisationsgesellschaft zum Primat der funktionalen Differenzierung – ist der Kontext, in dem die Ausdifferenzierung des massenmedialen Funktionssystems in Russland stattfindet.77 Im Übergang zum Primat der funktionalen Differenzierung findet der Anschluss an Globalisierungsprozesse statt, denn die funktionale Differenzierung bringt die Dynamik der Globalisierung mit sich einher. Auch der massenmediale Entstehungsprozess in Russland wird an die Globalisierungsvorgänge angeschlossen.78 Solche Globalisierungsprozesse, wie globale Diffusion, globale Vernetzung und Dezentralisierung der Funktionssysteme, finden auch im existierenden globalisierten Funktionssystem der Massenmedien statt.79 Meine Annahme ist, dass der massenmediale Konstitutionsprozess in Russland von Globalisierungsprozessen des bereits existierenden Funktionssystems der Massenmedien in anderen Weltregionen tangiert wird.

77 Gleichzeitig ist dieser Wechsel durch eine Vielzahl anderer Ausdifferenzierungsprozesse (Politik, Recht u.a.) gekennzeichnet, die jedoch in dieser Arbeit nicht untersucht werden. 78 Zur Einführung in die Globalisierungskonzepte vgl. Dürrschmidt, 2002: Globalisierung. 79 Ausführlicher zu massenmedialen Globalisierungsprozessen vgl. I.4.3.2.

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Interpenetration zwischen globalen und regionalen Medienstrukturen Wir beobachten eine scheinbar paradoxe Situation: 1) es gibt in vielen Ländern der Welt einen Kommunikationszusammenhang, der als globalisiertes Funktionssystem der Massenmedien zu definieren ist80, und 2) kommen in einem nationalen Kontext (im postsowjetischen Russland), in dem autopoietische Medien nicht ausdifferenziert sind, Wandlungsprozesse in Gang, die als Entstehung eines Funktionssystems der Massenmedien unter konkreten regionalen Bedingungen zu verstehen sind. 1) Angemerkt sei, dass in dieser Interpretation zwei Definitionen von global voneinander abgegrenzt werden: a) global im Sinne von Mustern, die in verschiedenen regionalen und nationalen Kontexten auf ähnliche Art und Weise funktionieren, und b) global als Annahme notwendiger weltweiter Verbreitung gleicher Muster. In dieser Arbeit wird die erste Definition von global präferiert. Folglich besagt die Annahme der globalisierten Massenmedien, dass für die Weltmedien die Welt der Bezugspunkt ihres Operierens ist. Sie besagt nicht, dass diese Form sich bereits in allen Regionen der Weltgesellschaft etabliert hat. Wenn konstatiert wird, dass die Operationsweise der autopoietischen Massenmedien global ist, so heißt dies: Dieses System kann potentiell weltweit in verschiedenen Regionen auf die gleiche typische Art und Weise funktionieren. Das tun Massemedien in mehreren Regionen bereits. Dies heißt jedoch nicht, dass dieses Muster bereits flächendeckend auf dem ganzen Planeten etabliert ist. 2) Zudem sollten folgende Aspekte von Regionalität voneinander unterschieden werden: a) Regional ist demnach die Durchsetzung oder die NichtDurchsetzung eines Funktionssystems der Massenmedien in verschiedenen Regionen. b) Regional unterschiedlich können massenmediale Strukturen in den Ländern sein, auf deren Territorium autopoietische Massenmedien bereits operieren. Die regionalen Medienorganisationen, Sprache, Technikstandorte und Publikum stellten dann die regionale Dimension der autopoetischen Massenmedien dar.81 Die Annahme von Globalisierungsprozessen in den Massenmedien ist die Antwort auf die Frage: Welche Verbindung besteht zwischen einem schon existierenden Funktionssystem der Massenmedien in anderen Ländern und dem Entstehungsprozess autopoietischer Massenmedien in Russland? Die Ausdifferenzierung der Massenmedien findet im Kontext der regionalen Strukturen statt, soweit sie mit regionalem Wechsel der Differenzierungsformen zusammenhängt. Da jedoch bereits ein Funktionssystem existiert, dass globale Prozesse und Mechanismen aufweist, hängt diese Ausdifferenzierung insofern von dem bestehenden Funktionssystem ab, indem dieses bestimmte 80 Luhmann, 1975c: Veränderungen im System gesellschaftlicher Kommunikation und die Massenmedien: 13-30. 81 Zur lokalen und globalen Dimension von Globalisierung vgl. z.B. Korff, 1995: Globale Integration und lokale Fragmentierung.

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Strukturmuster vorgibt. Diese Muster werden durch die Globalisierungsprozesse wirksam. Die Prozesse der Globalisierung haben in diesem Fall des Wechsels der Differenzierungsformen die Funktion, die Interpenetration zwischen den neu entstehenden regionalen und den bereits gegebenen Strukturen der Funktionssysteme voranzutreiben.82 Es sind Prozesse, die regionale und globale funktionssystemische Strukturen miteinander vergleichbar machen. Massenmediale Globalisierungsprozesse haben sodann die Funktion, die entstehenden massenmedialen Strukturen in Strukturen der Weltmassenmedien zu integrieren.

Theoretische Perspektiven: Ausdifferenzierung oder Globalisierung? Die Konstitution eines massenmedialen Funktionssystems wurde bereits in Anlehnung an die Differenzierungstheorie als regional bezeichnet. Aus Sicht der Theorie der Weltgesellschaft kommt die regionale Konstitution eines Funktionssystems durch Mechanismen der Weltgesellschaft zustande: im Zusammenhang meiner Arbeit durch Einwirkung massenmedialer Globalisierungsprozesse auf den regionalen massenmedialen Entstehungsprozess. Beiden Theorien ist gemein, dass sie sich auf universale, nämlich funktionssystemische Aspekte der Wandlungsprozesse beziehen, aber beide Typen von Theorien haben unterschiedliche Beschreibungshorizonte: • Die Ausdifferenzierungstheorie beschreibt (bis dato) ihren Begriffsapparat nach regionalen Aspekte teilsystemischer Konstitution. D.h., sie bezieht sich auf einen regionalen Kontext des Entstehungsprozesses. • Die Theorie der Globalisierung der Funktionssysteme beschreibt weltweite, globale Mechanismen für die Entstehung und Innendifferenzierung der Funktionssysteme. Sie bezieht sich auf den globalen Kontext. Die Entstehungsbedingungen autopoietischer Massenmedien im neuen Russland kann aus meiner Sicht nur durch Kombination der beiden Analyseperspektiven – der Theorie der Ausdifferenzierung und der Theorie der Globalisierung – erklärt werden. Deshalb werden massenmediale Globalisierungsprozesse im Weiteren als eine der Bedingungen massenmedialer Ausdifferenzierung begriffen (s. I.4.3.2).

82 Zur Interpenetration zwischen globalen und lokalen Medienstrukturen am Beispiel der globalen Medienunternehmen und globalen städtischen Zentren vgl. Krätke, 2002: Medienstadt: insb. 202-219.

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3. T YPEN MEDIALER K OMMUNIKATION Die Analyse des Wandels der russischen Medienstrukturen erfordert eine Begrifflichkeit, mit deren Hilfe eine Identifikation dieser Strukturen vorgenommen werden kann. Zu diesem Zweck werden hier drei Typen medialer Kommunikation vorgestellt: das Funktionssystem der Massenmedien, die Propagandakommunikation und die Public Relations. Als mediale Kommunikationstypen werden hier diejenigen Sozialsysteme bezeichnet, die im Medium der Vervielfältigungstechnik entstehen. Die Definition medialer Kommunikationstypen soll zur Klärung folgender Fragen beitragen: Welcher dieser Typen dominierte in der Sowjetunion? Wie evoluiert die Medienkommunikation seit 1985? Welche der medialen Kommunikationstypen setzten sich schließlich im Prozess der Ausdifferenzierung durch? Die Strukturen des Funktionssystem der Massenmedien werden beleuchtet (s. I.3.1), um später zu fragen: Haben sich diese Strukturen innerhalb der neuen russischen Übergangsgesellschaft tatsächlich herausgebildet? Entstand im neuen Russland ein autopoietischer Sinnzusammenhang, der die Funktion der Bereitstellung pluraler Wirklichkeiten für differenzierte Publika erfüllt? Anschließend werde ich die Strukturen des Kommunikationstyps Propaganda beschreiben, von denen ich annehme, dass er für die Sowjetunion charakteristisch war. Diesen Begriffsapparat werde ich im empirischen Teil der Arbeit anwenden, um herauszufinden, ob und wie sich die Strukturen der Propaganda seit Beginn der Reformen verändern. Unterliegen die Propagandastrukturen im neuen Russland einer vollständigen Erosion? Dabei beziehe ich mich auf folgende Definition von Propaganda: „Propaganda […] ist ein kommunikativer Prozess der Akzeptanz angesonnener Verhaltensprämissen […]. Dabei ist die zugrunde liegende Struktur stets gleichartig. Die anzusinnende Verhaltensalternative ist einzigartig, auf immer gültig und von allen anerkannt und sie wird stets in einer Situation kommuniziert, die die generelle Akzeptanz dieser Botschaft suggeriert und für den Fall der Nichtakzeptanz Sanktionen beibehält.“1

Auch Public Relations werden hier als gesonderter Kommunikationstyp vorgestellt (s. I.3.3). Öffentlichkeitsarbeit entstand aus der Notwendigkeit moderner Organisationen, die Unsicherheit ihrer komplexen und mehrdeutigen Umwelten zu verarbeiten. Ihre Operationsweise imitiert die journalistische Operationsweise, was letztlich zur Kopplung der PR an die modernen Massenmedien führt. Die Beschreibung dieser Kommunikationsform ist hier wich1 Merten, 2000: Struktur und Funktion der Propaganda: 143 ff.

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tig, weil auch im neuen Russland seit 1995/1996 vielfältige PR-Techniken angewandt werden. Die aus dem Westen importierten PR-Strategien werden an russische Verhältnisse adoptiert und insbesondere während der Präsidenten-, Gouverneurs- und Oberbürgermeisterwahlen eingesetzt.2 Welche Strukturen der modernen PR werden in Russland übernommen? In welchem Zusammenhang koexistieren sie mit anderen russischen Medienstrukturen – diese Fragen sollen im empirischen Teil meiner Arbeit untersucht werden.

3.1 Funktionssystem der Massenmedien als Multiplikator der Wirklichkeiten Die Annahme, bei medialen Wandlungsprozessen handle es sich um eine Ausdifferenzierung von autopoietischen Massenmedien, kann erst dann überprüft werden, wenn man weiß, welchen Aufbau und welche Innenstrukturierung ein solches System aufweist. Bei dieser Analyse wird der Schwerpunkt auf systemtheoretischen Medientheorien liegen.3 Im Rahmen der Theorie der funktionalen Differenzierung von Niklas Luhmann werden die Massenmedien als Teilsystem der modernen Gesellschaft definiert, das für sie eine spezifische Funktion erfüllt. Diese Funktion ist die Bereitstellung einer nicht-konsenspflichtigen gemeinsamen Hintergrundrealität für alle Sozialsysteme innerhalb der Gesellschaft. Das System der Massenmedien differenziert sich auf der Grundlage der Verbreitungstechnologie aus. Als Ausdifferenzierungsprozess wird hier die Konstitution eines geschlossenen Sinnzusammenhangs durch einen Code verstanden.4 Der massenmediale Entstehungsprozess wird durch Prozesse der Innendifferenzierung begleitet: So kommt es zur Trennung zwischen der Produktions- und Publikumsseite der Massenmedien, zur Entstehung systemspezifischer Strukturen wie Programme, Organisationen, Rollen und Selbstbeschreibungen sowie zur Innendifferenzierung der Produktionsseite in Nachrichten/Berichte, Werbung und Unterhaltung. Dieser Abschnitt ist der Beschreibung von inneren Strukturen der Massenmedien gewidmet.

Technik als Grundlage massenmedialer Kommunikation Die technischen Verbreitungsmedien der Kommunikation dienen als Grundlage für die Konstituierung des Systems der Massenmedien. Die Verbreitungstechnologien – Druckpresse, fotographische oder elektronische Kopierverfah2 Siehe II.4.1. 3 Vgl. Luhmann, 1996: Die Realität der Massemedien; Scholl, 2002: Systemtheorie und Konstruktivismus in der Kommunikationswissenschaft; Merten/Schmidt/ Weischenberg, 1994: Die Wirklichkeit der Medien; Marcinkowski, 1993: Publizistik als autopoietisches System. 4 Zum Konzept der massenmedialer Ausdifferenzierung vgl. I.4.

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ren, Funk (nicht jedoch telefonische Verbindungen einzelner Personen) – sind somit als Medien der Kommunikation zu verstehen. Die Technologie fungiert als Medium, da sie als Grundlage für besondere Kommunikationsformen dient und Kommunikationen miteinander verbindet, die sonst keine Anschlüsse finden würden. Aus evolutionstheoretischer Sicht stellen die Verbreitungsmedien die Lösung für eine der evolutionären Unwahrscheinlichkeiten der Kommunikation dar: nämlich die Unwahrscheinlichkeit der Erreichbarkeit der physisch abwesenden Adressaten.5 Historisch gesehen war die Schrift das erste Verbreitungsmedium, das es ermöglichte, die Mündlichkeit zu überwinden und Kommunikation über die Grenze von Interaktionen hinaus auszuweiten. Aber erst die technischen Verbreitungsmedien erlauben die Ausdifferenzierung eines Systems der Massenmedien.6 Dadurch wird der Verlauf massenmedialer Kommunikation in hohem Grad unabhängig von der mündlichen Interaktion aller an der Kommunikation Beteiligten. Es entsteht ein operativ geschlossenes System, das sich durch eigene kommunikative Operationen reproduziert und somit auf sich selbst (Selbstreferenz) und auf die Umwelt (Fremdreferenz) beziehen kann, d.h. sich selbst als System von der Umwelt als Nicht-System unterscheiden kann.

Code und massenmedial erzeugte soziale Redundanz Wie alle anderen Sozialsysteme reproduziert sich das Funktionssystem der Massenmedien durch Kommunikation, die als Letztelement und Grundoperation sozialer Systeme zu verstehen ist. Die Anschlussfähigkeit der massenmedialen Kommunikation wird durch einen binären Code Information/NichtInformation gesichert. Er reguliert das Pendeln zwischen zwei Seiten einer Differenz. Der positive Wert – Information – sichert die Anschlussfähigkeit der Operationen. Der negative Wert – Nichtinformation – ist ein negatives Korrelat, ein Gegensatz, der die Erzeugung des positiven Wertes bedingt. Aus der unterscheidungstheoretischen Sicht ist Information als Differenz zu beschreiben, die zu weiteren Differenzen innerhalb eines Systems führt. Es ist wichtig zu unterstreichen, dass die Produktion der Information ein systeminterner Prozess ist. D.h., die Informativität wird durch die Strukturen des jeweiligen Systems bestimmt. So definiert das System der Massenmedien den Informationsgehalt von Ereignissen durch den Code Information/Nichtinformation. Dieser hat ein besonderes Verhältnis zur Zeit: Informationen kann man nicht wiederholen. Denn Information ist kein dauerhafter Vorgang, sonders ein Ereignis; sie verschwindet, sobald sie sich ereignet hat, und Information wird zur Nichtinformation. Die schon „verarbeitete“ Information hat kei5 Zum Umwahrscheinlichkeitstheorem vgl. Luhmann, 1999: 220-223. 6 Zu Besonderheiten des Mediums Fernsehen vgl. z.B.: Spangenberg, 2001: Elektronisches Sehen – Das Beispiel des Fernsehens: 207-223.

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nen Informationsgehalt mehr und bewirkt keine Veränderung der systemischen Erwartungsstrukturen, weil sich diese schon beim ersten Empfang der Information geändert haben. Eine Nachricht zum Beispiel, die man ein zweites Mal in einer anderen Zeitung liest, hat für den Adressaten keinen Informationswert mehr. Diese Besonderheit prägt die Operationsweise des Systems der Massenmedien. Es ist gezwungen, ständig Information in Nichtinformation zu transformieren. „Das System führt ständig den eigenen Output, nämlich Bekanntsein von Sachverhalten, in das System wieder ein, und zwar auf der Negativseite des Codes, als Nichtinformation; und es zwingt sich dadurch selbst, ständig für neue Informationen zu sorgen.“7 Diese Funktionsweise des Systems der Massenmedien erzeugt soziale Redundanz. Soziale Redundanz ist für jede Kommunikation charakteristisch: Man kann Kommunikation sogar als Verbreitung von Redundanz verstehen. Dieser Begriff bezeichnet einen Überschuss an Informationsmöglichkeiten, der funktional sinnvoll ist: Wenn Information verbreitet wird, besteht die Möglichkeit, sie nicht nur vom Mitteilenden, sondern auch von allen Adressaten zu erfahren. Information wird dann als bekannt voraussetzt. Dieser Sachverhalt spielt keine große Rolle, wenn es bei privater Kommunikation bleibt. Aber bei massenmedialer Kommunikation ist davon auszugehen, dass mitgeteilte Informationen den breiten Adressatenkreis erreichen und bekannt sind. Die massenmedial erzeugte Bekanntheit von Information ist gleich Nichtinformation und erfordert somit die Produktion neuer Information. „Insofern bewirken Massenmedien gesellschaftsweite soziale Redundanz, also den unmittelbar anschließenden Bedarf für neue Information.“8

Produktion versus Publikum Das Funktionssystem der Massenmedien wird durch die reflexive Verknüpfung von zwei Ebenen hervorgebracht: 1) durch die Ebene der Produktion von massenmedialer Information (Ebene massenmedialer Organisationen) und 2) durch die Publikumsebene. Die Produktionsseite der Massenmedien ist dann organisationsförmig strukturiert. Die Entscheidung, das Publikum im Funktionssystem der Massenmedien zu verorten, gründet sich in der Unterscheidung zwischen Leistungs- und Publikumsrollen innerhalb der Funktionssysteme. Die Leistungsrollen werden den professionellen Institutionen und die Publikumsrollen den Abnehmern funktionaler Leistungen – sozialen (Groß-)Gruppen oder Individuen – zugeordnet. Die Leistungsempfänger werden „situativ in die sozialen Funktionsbereiche inkludiert, also ohne analytisch ein für alle mal einem dieser Funktionsbereiche zugerechnet werden zu müssen.“ Inklusion in die Funktionssysteme ist 7 Luhmann, 1996: 42. 8 Ebd.: 43; vgl. ebd.: 32-44.

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dann als „momentane kommunikative Operation im System beobachtbar, also etwa als Wählen, Kaufen, Studieren oder Sport treiben.“9 Im Funktionssystem der Massenmedien werden mediale Leistungen durch massenmediale Organisationen erbracht. Auf personeller Ebene wird die Position des Journalisten und des Redakteurs als Leistungsrolle angesehen. Die Publikumsrollen werden dann den Rezipienten zugeordnet. Das Funktionssystem der Massenmedien kommt erst durch die Verknüpfung der Selektionsleistungen der Produktions- und der Publikumsseite zustande: Massenmediale Organisationen produzieren Themen und Beiträge. Die massenmedialen Inhalte als solche können jedoch alleine, ohne Aufmerksamkeitszuwendung des Publikums, kein Funktionssystem konstituieren. Sie stellen zunächst nur eine Kommunikationsofferte dar, die sich an das potentielle Publikum richtet. Erst indem das Publikum den massenmedialen Beiträgen Aufmerksamkeit zuteilt (oder nicht zuteilt), kommt massenmediale Kommunikation zustande. Insofern wirkt das potentielle Publikum als innere Umwelt der massenmedialen Organisationen. Die in den Kommunikations- und Medienwissenschaften verbreitete Annahme des hierarchischen Aufbaus der massenmedialen Kommunikation wird hier somit nicht übernommen.10 Denn die Annahme des Machtgefälles zwischen Medienorganisationen und Rezipienten kann nicht aufrechterhalten werden, wenn auch die Publikumsseite dem System der Massenmedien zuzuordnen ist. Stattdessen gehe ich von der Annahme „zirkulär kursierender Kommunikation zwischen Sender und Empfänger“ aus. Denn der Empfänger (das Publikum) kommuniziert nicht direkt mit dem Sender, und der Sender wendet sich nicht direkt unmittelbar an den Empfänger, sondern: „Man selegiert nicht mehr in der Kommunikation, man selegiert für die [massenmediale] Kommunikation. […] Kommunikation kommt dann wie in einem Hyperzyklus wechselseitiger Selektion [der des Senders und der des Empfängers – A.A.] zustande, kann aber, wenn und soweit sie zustande kommt, sich nicht mehr selber korrigieren“.11 Massenmediale Kommunikation konstituiert sich also durch die doppelte Selektionsleistung – der Produktionsorganisationen und des Publikums. Während massenmediale Organisationen durch ihre Selektionen eine bestimmte Themen- und Beitragsstruktur produzieren, wendet sich das Publikum den Medienangeboten auf der Grundlage des Mediums der Aufmerksamkeit zu. Die Verknüpfung von Selektionsleitungen von Produktionsorganisationen und dem Publikum vollzieht sich mit Hilfe gegenseitiger Beobachtungsmechanismen. Während die selektive Verteilung der (Publikums-)Aufmerksamkeit mit Hilfe der Einschaltungen oder (bei der Presse) übers Geld vollzo9 Marcinkowski, 1993: 80. 10 Im Bereich der Propagandakommunikation ist jedoch von einem hierarchischen Verhältnis zwischen Produktionseinheiten und dem Publikum auszugehen (vgl. I.3.2). 11 Luhmann, 1998: 308.

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gen wird, verfügt die Produktionsseite über spezielle Organisationen und Techniken zur Beobachtung des aktuellen und des potentiellen Publikums12: „Innerhalb des journalistischen Systems sind genau zu diesem Zweck rollenmäßig separierte Beobachtungspositionen vorgesehen, beispielsweise Instrumente zur chronometrischen Erfassung des Zuwendungsniveaus zu einzelnen Verbreitungsmedien, speziellen Sendungen oder Kategorien von Themen im potentiellen Publikum. Die Rede ist von den bekannten Instrumenten der Reichweitenmessung, Akzeptanz- und Marktforschung, der Demoskopie oder besser Telemetrie aber ebenso – wenn auch antiquiert wirkend – der Rezeption von Hörer- und Zuschauerpost sowie von Leserbriefen. Darüber hinaus bemüht sich die empirische Zuschauerforschung darum, Erwartungsstrukturen des Publikums durch Identifikation einzelner Nutzertypen sichtbar und operabel zu machen.“13

Mit anderen Worten stellt das Publikum die wichtigste Bezugsgröße der massenmedialen Produktionsorganisationen dar. Die massenmediale Produktionsseite werde ich im Weiteren auch mit dem Begriff des Journalismus bezeichnen.

Innendifferenzierung massenmedialer Produktion Die Struktur der Funktionssysteme wird durch die Form ihrer Innendifferenzierung bestimmt. Die Produktionsseite der Massenmedien differenziert sich nach N. Luhmann in drei Bereiche a) Nachrichten und Berichte, b) Werbung und c) Unterhaltung. Es liegt nahe, die Bereiche Nachrichten/Berichte, Werbung14 und Unterhaltung15 als innere Differenzierung der Produktionsseite der massenmedialen Kommunikation zu betrachten, weil sich diese Bereiche medienübergreifend konstituieren. Diese Differenzierung wird vor allem durch die Beziehungen der Massenmedien zu ihrer innergesellschaftlichen Umwelt definiert. Die besonderen systemischen Umweltbeziehungen werden mit dem Begriff der strukturellen Kopplung bezeichnet. Dieser Begriff erfasst die (von einem dritten System aus beobachteten) Beziehungen zwischen zwei Systemen, die erstens autopoietisch operieren und bei denen zweitens ihr Operieren füreinander nicht folgenlos bleibt. Der Begriff der strukturellen Kopplung gründet sich auf der Annahme, dass die Operationsweise eines autopoietischen Systems nicht durch direkte Steuerung von außen beeinflusst werden kann.

12 Zur Unterscheidung zwischen aktuellem und potentiellem Publikum siehe: Marcinkowski, 1993: 82-83, 87-89. 13 Ebd.: 92. 14 Vgl. z.B. Willems, 2002: Die Gesellschaft der Werbung. 15 Vgl. z.B. Schmitz, 1995: Fernsehen zwischen Apokalypse und Integration.

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Abbildung 1: Massenmediale Kommunikation als doppelte Selektionsleistung

Potentielles Publikum Aufmerksamkeit

Aktuelles Publikum

Massenmediale Produktion: Organisationen

Beiträge

Aufmerksamkeit

Quelle: Marcinkowski, 1993: 83, 91; Überarbeitung durch die Verfasserin.

So differenzieren sich die Bereiche der Massenmedien nach strukturellen Kopplungen aus: Jeder Bereich ist mit einem anderen Funktionssystem gekoppelt: So ist die Werbung eindeutig mit dem Wirtschaftssystem gekoppelt16, Nachrichten/Berichte mit der Politik und Unterhaltung (weniger eindeutig) mit dem Kunstsystem.17 Diese massenmedialen Bereiche orientieren sich am gleichen Code Information/Nichtinformation, aber sie behandeln unterschiedliche Realitätsausschnitte der medialen Umwelt. Dementsprechend sind die inhaltlichen Aussagen in den Medien nach Nachrichten/Berichte, Werbung und Unterhaltung zu unterscheiden.18 16 Zu den Austauschbeziehungen zwischen Massenmedien und Wirtschaft vgl. Siegert, 2002: Medienökonomie und Systemtheorie: 161-179. 17 Daher lehne ich die These der Verdrängung des Journalismus durch Unterhaltung ab. Vgl. z.B. Hohlfeld, 2002: Distinktionsversuche im Fernsehjournalismus: 101-114. 18 Vgl. Luhmann, 1996: Die Realität der Massenmedien: 117-129.

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Auf organisationeller Ebene manifestiert sich diese Innendifferenzierung durch die Bildung spezieller Organisationen, wie z.B. Nachrichtenagenturen19 und Nachrichtenredaktionen, Werbeagenturen und Werbeabteilungen20 sowie Unterhaltungsproduzenten und Unterhaltungsredaktionen.21 Auch auf Ebene der Entscheidungskriterien wird diese Differenzierung in Nachrichten/Berichte, Werbung und Unterhaltung sichtbar.

Massenmediale Organisationen und massenmediale Programme Die Produktion der massenmedialen Information findet in massenmedialen Organisationen statt. Als massenmediale Organisationen sind in erster Linie die Medien (wie Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehsender, Radiostationen, Verlage u.a.) sowie Redaktionen22 als massenmediale (Teil-)Organisationen zu nennen. Auch Organisationen wie Nachrichtenagenturen, Werbeagenturen und Organisationen, die massenmediale Unterhaltung produzieren, sind dem System der Massenmedien zuzuordnen.23 Als formal organisierte Sozialsysteme stellen massenmediale Produktionseinheiten füreinander jeweils interne Umwelten dar. Sie sind dem gleichen Funktionssystem zuzurechnen, weil durch ihre Leistung innerhalb des massenmedialen Systems eine einheitliche Operationsweise generiert wird. Sie produzieren massenmediale Informationen, auch massenmediale Produkte genannt, die sich in Themen und in auf Themen gerichtete Beiträge gliedern. Massenmediale Organisationen unterscheiden sich in der sachlichen Dimension sowie nach den Medienträgern, die zeitliche und soziale Differenzierungen der Medienorganisationen vorgeben. Die sachliche Differenzierung der Medienorganisationen erfolgt nach Typen von Themen oder Themenbereichen. Die technischen Träger der Verbreitungsmedien bedingen die soziale Reichweite der Medienbeiträge sowie die zeitliche und räumliche Gebundenheit der Mediennutzung. Die soziale Reichweite des Mediums ist durch die Größenordnung des erreichbaren Publikums 19 Vgl. Wilke, 1993: Agenturen im Nachrichtenmarkt. 20 Vgl. Schierl, 2002: Der Werbeprozess aus organisationsorientierter Perspektive: 429-425; Tropp, 2002: Integrierte Kommunikation aus der Perspektive einer Werbeagentur: 445-465. 21 Zu Interdependenzen zwischen diesen Organisationstypen vgl. z.B.: Rössler, 2002: Von der Agenturwirklichkeit zur Pressewirklichkeit: 165-181. 22 Blöbaum, 1994: Journalismus als soziales System: 289-293; Rühl, 1979: Die Zeitungsredaktion als organisiertes soziales System. 23 Ich gehe selbstverständlich von Kommerzialisierungstendenzen in Massenmedien aus und betrachte sie als Folge der strukturellen Kopplung zwischen Massenmedien und Wirtschaft. Vgl. hierzu z.B.: Siegert, 1996: Die Beziehung zwischen Medien und Ökonomie als systemtheoretisches Problem: 43-57; Weber, 1999: Das System Journalismus: Oszillieren zwischen Selbstreferenz und Fremdsteuerung: 161-180. Vgl. auch: Karmasin, 1998: Medienökonomie als Theorie (massen-)medialer Kommunikation: 119.

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zu bestimmen. So zeichnet sich das Medium des Fernsehens durch die höchste soziale Reichweite aus: „Durch die von ihm produzierten Themen und Beiträge werden auch Publika erreicht, die ihrerseits nie oder selten mit Zeitschriften, Film oder Buchpublikationen in Berührung kommen.“24 Die Entstehung der formal organisierten Sozialsysteme ist nur unter der Bedingung eines hohen Komplexitätsniveaus möglich, das erst in der modernen Gesellschaft erreicht wird.25 Luhmanns Annahme ist, dass die meisten und die wichtigsten Organisationen bestimmten Funktionssystemen zuzuordnen sind. Organisationen werden als Träger der funktionssystemischen Kommunikation definiert.26 Sie operieren auf der Grundlage des funktionssystemspezifischen Codes. Zudem erbringen sie eine besondere Leistung: „Formale Organisationen stellen die Beachtung unwahrscheinlicher Programmstrukturen, wie sie mit funktionaler Differenzierung der Gesellschaft überall aufkommen, dauerhaft und personenunabhängig sicher.“27 Kommunikation in und zwischen medialen Organisationen bestimmt weitgehend die Strukturierung der Produktionsseite der massenmedialen Kommunikation. Unabhängig davon, ob sie im Rahmen eines Funktionssystem operiert oder nicht, konstituiert sich eine Organisation als System auf der Grundlage von drei Prinzipien: 1) der Entscheidung, 2) der Mitgliedschaft und 3) der Unterscheidung zwischen Entscheidung und Programm.28 • Die Autopoiesis von Organisationen kommt aufgrund des Prinzips der Entscheidung zustande. Deshalb wird organisationelle Kommunikation als Reproduktion von Entscheidungen definiert. So reproduzieren sich die Medienorganisationen auf der Grundlage der Veröffentlichungsentscheidungen. • Nach der Theorie der formal organisierten Sozialsysteme ist die Grundlage für die Bildung von Organisationen im Prinzip der Mitgliedschaft zu sehen, d.h. der Eintritt und der Austritt der Mitglieder wird an Bedingungen geknüpft. In Medienorganisationen handelt es sich primär um die Eintrittsund Austrittsentscheidungen von Redakteuren und Journalisten. • Die Reproduktion von Entscheidungen in massenmedialen Organisationen wird durch Entscheidungsprogramme geregelt.29 Organisatorische Pro24 Marcinkowski, 1993: 87. 25 Türk, 1995: 155-217. 26 Zur Diskussion über Verhältnis von Organisationssystemen und funktionaler Differenzierung vgl. Kneer, 2001: Organisation und Gesellschaft: 407-428; Tacke, 2001: Organisation und gesellschaftliche Differenzierung. 27 Schimank, 1996: Theorien gesellschaftlicher Differenzierung: 171. 28 Vgl. Luhmann, 1998: 826-846. 29 In der Forschungsliteratur wird zwischen Entscheidungsprämissen und Entscheidungsprogrammen unterschieden: „Entscheidungsprämissen sind dabei auf Zeit gestellt und besitzen für die jeweilige Organisation nur bis auf weiteres Gültigkeit. Zusammengenommen formieren diese (in sich elastischen) Prämissen journalismuseigene Entscheidungsprogramme („Selbstprogrammierung“), die intern als Korrektiv gegen die Emotionen, Motive, Interessen, Einstellungen, morali-

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gramme sind als Erwartungen zu verstehen, die für mehrere Entscheidungen aktuell sind. Dabei wird zwischen Zweck- und Konditionalprogrammen unterschieden. Die Entscheidungsprogramme der massenmedialen Organisationen sind den Programmen des Funktionssystems der Massenmedien gleichzusetzen. Denn massenmediale Organisationen sind dem Funktionssystem der Massenmedien zugeordnet. Sie orientieren sich am gleichen Code Information/Nichtinformation. Die organisationalen Entscheidungsprogramme geben dann die Bedingungen der richtigen Zuordnung der Codewerte an. Wenn die massenmediale Kommunikation auf der Code-Ebene geschlossen ist, sind auf der Ebene der massenmedialen Programme durchaus Elemente aus den anderen Funktionssystemen vorhanden. So können z.B. wirtschaftliche Kriterien des Marketings oder der Marktforschung durchaus massenmediale Entscheidungen kanalisieren, ohne dabei die massenmediale Reproduktionsweise durch wirtschaftliche Kommunikation zu ersetzen.30 Dies ist so lange möglich, wie die massenmediale Kommunikation auf der Code-Ebene nicht tangiert wird. Im Anlehnung an Bernd Blöbaum31 möchte ich massenmediale Entscheidungsprogramme in fünf Kategorien unterteilen: 1) Informationssammlungsprogramme, 2) Selektionsprogramme, 3) Prüfprogramme, 4) Darstellungsprogramme. Diese Arbeitsroutinen auf der Produktionsseite der Massenmedien differenzieren sich auch je nach massenmedialem Bereich: 1. Informationssammlungsprogramme sind die Techniken der Informationserzeugung. Vor allem durch die Arbeitstechnik der Recherche wird die Umwelt nach Informationen abgetastet. Durch direkte journalistische Beobachtung mit Hilfe der Informanten, durch Nachrichtenagenturen oder durch Beobachtung anderer Medien werden die Informationen im Bereich der Nachrichten aktiv generiert. Im Bereich der Werbung hingegen dienen die Arbeitstechniken der Marktforschung der Informationssuche: Mit ihrer Hilfe soll die Umwelt nach für die Werbung relevanten Zielgruppen bzw. Zielpublikum untersucht werden. 2. Programme der Informationsselektion sind als Kriterien zu verstehen, die es erlauben, routinemäßig die Auswahl der gesammelten Information zu treffen. Im Bereich der Nachrichten zählen zu solchen Selektoren: Aktualität/Neuheit, Objektivität (wird etwa durch die Trennung zwischen Nachricht und Kommentar und die Kennzeichnung des Kommentars als solchen erzeugt32), regionale/politische Nähe, Quantität, sachliche Relevanz, Konflikt, Personalisierung, Negativismus, Überraschung, Planbarkeit, Visualischen Verpflichtungen der einzelnen am Journalismus beteiligten Personen fungieren.“ (Marcinkowski, 1993: 99) 30 Vgl. z.B. Ruß-Mohl, 1995: Redaktionelles Marketing und Management: 104142. 31 Blöbaum, 1994: 277-285. 32 Boventer, 1993: Können Journalisten objektiv sein: 185-186.

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sierbarkeit des Ereignisses u.a.33 Im Bereich der Werbung geschieht die Informationsselektion durch die zielgruppenrelevanten Kriterien und den Etat.34 Im Bereich der Unterhaltung wird die Informationsauswahl durch die Kriterien Neuheit, Mode, Niveau und Qualität gesteuert.35 Die (gemessene) Publikumsaufmerksamkeit, an der sich die Popularität der Medienprodukte ablesen lässt, wird in allen drei Medienbereichen zur Selektion der Entscheidungen herangezogen. An dieser Stelle wird die genuine Vernetzung der Produktionsseite der Massenmedien mit der Publikumsseite sichtbar. Denn die Meinung des Publikums wird in die Entscheidungsregeln der Produktionsseite eingeführt. Die Selektion von Nachrichten, Werbung und Unterhaltung wird außerdem durch die redaktionelle Linie der Medienorganisation (das Medienprofil) bedingt. Auch die Orientierung an anderen Medienorganisationen spielt bei der Selektion der Medieninhalte eine wichtige Rolle. 3. Programme der Informationsüberprüfung sind Entscheidungsroutinen, die die Richtigkeit der Information bilanzieren. Sie liegen quer zu den Selektionsprogrammen und haben die Funktion, die Glaubwürdigkeit der journalistisch produzierten Information zu untermauern. Im Bereich der Nachrichten stellt die Quellenangabe die Arbeitstechnik dar, die die Korrektheit der journalistischen Informationen (Fakten) legitimiert. Bei direkter journalistischer Beobachtung des Ereignisses entfällt die Quellenangabe. Im Bereich der Werbung und der Unterhaltung werden die erzeugten Informationen mit Hilfe von Tests überprüft. Im Testverfahren werden kleinen Rezipientengruppen die Werbe- und Unterhaltungsinhalte (vor allem Filme und Fernsehserien) vorgeführt. Durch Annahme und Ablehnung der Inhalte, die im Fragebogen dokumentiert werden, soll die potentielle Aufmerksamkeit für die demonstrierten Inhalte gemessen werden. 4. Programme der Informationsdarstellung sind die Arbeitsroutinen für die Präsentation von Informationen. Die Nachricht, der Kommentar, der Bericht, die Reportage sind Beispiele für die Darstellungstechniken im Bereich der Nachrichten. Verschiedene Formen der Werbedarstellung – von Sponsoring bis Werbespots – haben sich im Bereich der Werbung durchgesetzt. Auch in der Unterhaltung haben sich differenzierte Regeln der Darstellung, von unterschiedlichen TV-Shows bis zu Unterhaltungsmagazinen, etabliert. Natürlich variieren sie je nach den technischen Umsetzungsmöglichkeiten des Verbreitungsmediums (Fernsehen, Radio, Presse, Internet).36 33 In der Nachrichtenwertforschung werden solche Kriterien als so genannte „Nachrichtenwerte“ untersucht, vgl. Reimann, 2002: Globalisierung: 37, Tab. 1; vgl. auch: Eilderst, 1997: Nachrichtenfaktoren und Rezeption: 19-57. 34 Hölscher, 2002: Das Denken in Zielgruppen. Über die Beziehungen zwischen Marketing, Werbung und Lebensstilforschung: 481-497. 35 Görke, 2002: Unterhaltung als soziales System: 63-77. 36 Blöbaum unterscheidet, wie o.g., zudem auch die so genannten Ordnungsprogramme. So strukturieren spezielle Ressorts die Anordnung der Darstellungs-

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Aufmerksamkeit des Publikums Medienrezeption ist als individueller Konstruktionsprozess zu verstehen.37 Ohne an dieser Stelle näher auf die Rezeptionsmuster eingehen zu wollen, möchte ich die Kriterien der Verteilung der Publikumsaufmerksamkeit auf die Medieninhalte schildern.38 Die Zuwendung des Publikums zu den Medieninhalten ist durch Erwartungen strukturiert. In erster Linie sind hier die lebensstiltypischen Erwartungsstrukturen zu nennen. Im Rahmen der Cultural Studies wird in diesem Zusammenhang von den soziokulturellen Erfahrungen der Rezipienten gesprochen.39 Lebensstile als moderne Formen der sozialen Ungleichheit konstituieren sich auf der Grundlage von ungleichheitsrelevanten Merkmalen wie Einkommen, Bildung, private Lebensform, Konsumpräferenzen, soziokulturelle Präferenzen u.a. Die Nutzung und Rezeption von Medien ist heute als fester (wenn nicht wichtigster) Bestandteil der kulturellen Präferenzen der Individuen anzusehen.40 Als lebensstiltypisches Nutzungsverhalten ist dann die Rezeption und Nutzung von Medienangeboten zu definieren, die mit anderen lebensstiltypischen Merkmalen wie Bildung, Einkommen, Alter u.a. zusammenhängt. In Tabelle 1 sind außer lebensstiltypischen Kriterien auch andere Gesichtspunkte abgebildet, die die Verteilung der Publikumsaufmerksamkeit zu den Medieninhalten regulieren.

37 38

39 40

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formen innerhalb der Medienorganisationen. Weil diese Definition auf der Ebene organisationeller Binnendifferenzierung einzuordnen ist, wird dieser Aspekt in meiner Arbeit nicht weiter berücksichtigt. Zu konstruktivistischen Grundlagen der Luhmann’schen Theorie der Massenmedien vgl. weiter unten. Stuart Hall unterscheidet zwischen der Vorzugsleseart, der ausgehandelten Leseart und der oppositionellen Leseart der Rezeption vgl., Winter 2001: Die Kunst des Eigensinns: 129 ff. Winter/Mikos, 2001: Die Fabrikation des Populären: 89. Jäckel, 1999: Die kleinen und die großen Unterschiede. Anmerkungen zum Zusammenhang von Mediennutzung und Individualisierung: 277-293.

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Tabelle 1: Regulative der Publikumsaufmerksamkeit Kriterien der Publikumsaufmerksamkeit

Merkmale/Ausprägungen

Lebensstilmerkmale

Alter, Einkommen, Bildung, Bildungsinteressen, private Lebensform (besonders wichtig), konsumspezifische und kulturelle Präferenzen

Merkmale der Mediennutzung

Vorliebe für bestimmte Medienformen, Quantität der Medienrezeption, Tageszeit der Medienrezeption, Umgebung der Medienrezeption, gleichzeitige Nutzung mehrerer Medien

Gruppen-, Netzwerk-, Orga- regionale Kriterien sind dominierend für Interpretanisationszughörigkeit, regio- tionsleistung,41 Konfession als sichtbarste Form der nale Zugehörigkeit, konfessi- kulturellen Identität onelle Zugehörigkeit Publikumsrollen

„Informationssuchender“: im Bereich Nachrichten/Berichte, „Konsument“: im Bereich der Werbung, „Zuschauer“: im Bereich der Unterhaltung

Quelle: eigene Ausarbeitung

Funktionen der Massenmedien Reproduktion der Wirklichkeiten Die Universalzuständigkeit massenmedialer Funktion macht für die systemspezifische Kommunikation alle Sachverhalte thematisierbar. Denn auf der Grundlage des Codes Information/Nichtinformation können alle Sachverhalte, alle Kommunikationen des eigenen und der anderen Teilsysteme, die sich zu Themen zusammenfassen lassen, als Information erkannt und zur Nichtinformation verarbeitet und dann auf dem Hintergrund der Nichtinformation wieder als Information aufgefangen werden. Aber die Selektivität von allem wird von dem System der Massenmedien autonom vollzogen. Welche gesellschaftliche Funktion erfüllen also die Massenmedien? Aus der Darstellung der Funktionsweise des Systems der Massenmedien tritt deutlich hervor, dass die Massenmedien für die Gesellschaft eine Hintergrundrealität bereitstellen. So werden bestimmte Annahmen als bekannt gehandhabt: Sie müssen nicht neu in die Kommunikation eingeführt und begründet werden (soziale Redundanz). Das Vorhandensein der Hintergrundrealität setzt aber nicht die Gleichheit der Meinungen voraus. Im Gegenteil gibt es bei übereinstimmenden Realitätsannahmen die Möglichkeit, davon Abstand zu nehmen und persönliche Meinungen zu bilden. Durch die Bereitstellung einer Hintergrundrealität produziert das System der Massenmedien für die 41 Vgl. Winter, 2001.

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Gesellschaft ein Gedächtnis, das an allen Operationen, d.h. an allen Kommunikationen des Gesellschaftssystems, beteiligt ist. Es gewährleistet die ständige Konsistenzprüfung in Bezug auf die bekannten Sachverhalte und schließt inkonsistente Informationen als unwahrscheinlich aus.42 Somit dient die Realität der Massenmedien – die Behandlung bestimmter Realitätsausschnitte (Themen) – als Hintergrund der anderen, nicht konsenspflichtigen Realität: „Jeder kann sich als Beobachter der Beobachtung durch andere aussetzten, ohne dass das Gefühl ankäme, man lebe in verschiedenen, inkommensurablen Welten“.43 Auf solche Weise können wir zwei Realitäten des Systems der Massenmedien unterscheiden. Die erste Realität ist die der Operationen, also der Kommunikationen, des Systems: z.B. die Mitteilungen der Presse oder des Fernsehens, Lesen, Fernsehen, Zuhören sowie Verstehen auf der Seite der Adressaten. Die zweite Realität des Systems der Massenmedien ist das, „was für sie oder durch sie für andere als Realität erscheint.“44 Diese Realität der Massenmedien ist nicht als bloße Reihe von Operationen zu verstehen, sondern als eine Folge von beobachtenden Operationen: Durch ihre Beobachtungen erzeugen die Massenmedien eine „transzendentale Illusion“ – die Realität der Gesellschaft.45 Die durch die Massenmedien täglich neu produzierten Informationen und die dadurch hervorgerufenen Veränderungen erzeugen in der Gesellschaft wiederum einen Bedarf an einem Gesamturteil des Geschehens: Die Gesellschaft versucht sich selbst zu beschreiben und zu bewerten, d.h. zu beobachten. Sie tut dies durch das System der Massenmedien, und die Art der Beobachtung – die Funktionsweise des Systems der Massenmedien – erzeugt in der Gesellschaft die Bereitschaft, sich mit Überraschungen, mit unerwarteten Schwierigkeiten, mit Irritationen zu konfrontieren: „Das deutet auf einen rekursiven Konstitutionszusammenhang von Irritabilität, Informationsverarbeitung, Realitätskonstruktion und Gedächtnis hin. Die Ausdifferenzierung eines darauf spezialisierten Funktionssystems [der Massenmedien] dient der Steigerung einer darauf spezialisierten Kommunikationsweise und zugleich ihrer Normalisierung. […] [N]ur so ist es möglich, die moderne Gesellschaft in ihrem Kommunikationsvollzug endogen unruhig einzurichten wie ein Gehirn und sie damit an einer allzu starken Bindung an etablierte Strukturen zu hindern.“46

42 Vgl. Luhmann, 1996: 120-121. Zum systemtheoretischen Gedächtniskonzept der Massenmedien vgl. Esposito, 2002: Soziales Vergessen: 237-252; Assmann, 2002: Das Archiv und die neuen Medien des kulturellen Gedächtnisses: 268-281; Assmann/Assmann, 1994: Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis: 114-140. Zu weiteren konstruktivistischen Gedächtnistheorien vgl. z.B. Schmidt, 1992: Gedächtnis; Assmann/Harth, 1991: Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. 43 Luhmann, 1996: 121. 44 Ebd.: 14. 45 Vgl. ebd.: 12-15. 46 Ebd.: 175.

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Deshalb sind Massenmedien als schnell lernendes Funktionssystem zu charakterisieren.

Konstruktivismus Die Annahme, „Massenmedien erzeugen Realitäten“, gründet sich in konstruktivistischen Ideen: „Wenn alle Erkenntnis auf Grund einer Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz erarbeitet werden muß, gilt zugleich, dass alle Erkenntnis (und damit alle Realität) eine Konstruktion ist. Denn diese Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz kann es ja nicht in der Umwelt des Systems geben (was wäre da ‚Selbst‘ und was wäre da ‚Fremd‘?), sondern nur im System selbst.“47

Somit halte ich mich an konstruktivistischen Theorien, die annehmen, dass kognitive und soziale Systeme nicht imstande sind, zwischen Voraussetzungen der Existenz von Realobjekten und Voraussetzungen ihrer Erkenntnis zu unterscheiden, weil sie nicht in der Lage sind, unabhängig von ihrer Erkenntnis solche Realobjekte zu begreifen. Man kann auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung die Operationen anderer Systeme beobachten und sogar die Bedingungen erkennen, die ihre Erkenntnis bestimmen. Aber der Beobachter zweiter Ordnung ist auch nicht in der Lage, die Voraussetzungen der Existenz der beobachtbaren Objekte von den Voraussetzungen eigener Erkenntnis abzugrenzen.48 Das System der Massenmedien erzeugt also seiner Funktion gemäß zusätzlich zur eigenen die gesellschaftliche Realität. Und obwohl die gesellschaftliche Realität von Massenmedien konstruiert wird, existiert sie für die kognitiven und sozialen Systeme als eine nicht konsenspflichtige Realität, weil die Massenmedien die Illusion einer kognitiv zugänglichen Realität unangetastet lassen. Denn kein kognitives System kann auf Realitätsannahmen verzichten – als System muss es immer zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz unterscheiden. Wenn ein System seine Realitätsannahmen als eigene Konstruktion handhaben würde und dann auf die Unterscheidung Selbstreferenz/Fremdreferenz zurückführen würde, würde sich diese Unterscheidung als paradox erweisen und zusammenbrechen, weil die Unterscheidung zwischen 47 Ebd.: 16. 48 Das bedeutet nicht, dass es keine Realität gibt. Die Realität wird in der Luhmann’schen Theorie mit dem Begriff der Welt ausgedrückt. Die Welt ist nicht als Gegenstand, sondern im Sinne der Phänomenologie Husserls als unerreichbarer Horizont gedacht. Diese Unerreichbarkeit der Realität lässt keine andere Wahl, als eine eigene Realität zu konstruieren oder zu beobachten, wie die anderen Beobachter die Realität konstruieren. Dies ist nur unter zwei Bedingungen möglich, nämlich: 1) wenn die beobachtenden Operationen ein sich selbst reproduzierendes System bilden, und 2) wenn dieses System zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz unterscheidet.

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System und Umwelt aufgehoben wäre. Durch die Doppelwertigkeit der Vorstellung von Realität (also durch die Unterscheidung System/Umwelt) wird die Autopoiesis sozialer und kognitiver Systeme gesichert.49

3.2 Propaganda als Konstrukteur singulärer Wirklichkeit Während autopoietische Massenmedien nur in einer heteronomen Gesellschaft funktionsfähig sind, die sich durch gleichberechtigte Teilsysteme auszeichnet, kann Propaganda als Kommunikationstyp nur innerhalb der Gesellschaftsform entstehen, die einen totalitären Aufbau hat. In der sowjetischen Organisationsgesellschaft erhob die kommunistische Partei den totalitären Anspruch, alle Individuen und alle sozialen Systeme zu steuern (vgl. I.2.1). Durch die mehrstufigen Überwachungsinstanzen konnte diese Lenkung gewährleistet werden. Die Propaganda erfüllte für die Partei die Funktion der Steuerung der Verhaltenserwartungen: „[D]ie Funktion von Propaganda [lag] in der Erzeugung von Macht durch Drohung mit Macht“.50 Auf der Ebene der sowjetischen Gesellschaft erzeugte sie eine Realität, die für alle sozialen Systeme und alle Individuen verbindlich war: die Realität der Partei.

Zur Definition von Propaganda Die hier formulierte Definition von Propaganda soll vor allem die Unterschiede zwischen der Kommunikation der Massenmedien und der Propagandakommunikation scharf hervorheben.51 Das Hauptmerkmal der autopoietischen Massenmedien ist die interne Unterscheidung zwischen Produktions- und Publikumsseite, die sich in reflexiver Verknüpfung zueinander befinden. Die Produktionsseite wird, wie bereits oben erläutert, durch massenmediale Organisationen getragen. Die Publikumsseite stellt eine interne Größe des Mediensystems dar. Die Selektionen auf beiden Ebenen machen massenmediale Kommunikation möglich: Auf der Produktionsseite findet die Selektion von Themen und Beiträgen statt, über Verteilung von Aufmerksamkeit funktioniert die Publikumsselektion. Dabei stehen beide Ebenen im engen Bezug zueinander: Die Beiträge der massenmedialen Produktionsseite orientieren sich an speziellen Publika; die Aufmerksamkeitszuteilung des Publikums gegenüber den massenmedialen Inhalten dient der Produktionsseite wiederum als

49 Vgl. ebd.: 16-22. 50 Merten, 2000: 159. 51 Einen guten Überblick über die Geschichte der Propagandaforschung gibt Merten (2000) in seinem Artikel „Struktur und Funktion der Propaganda“. Zur Propagandadefinition von Lasswell: Lasswell, H., 1995: Propaganda, In: Jackhall, R. (Hrsg.): Propaganda, London: 13-25 (zuerst abgedruckt in: Encyclopedia of the Social Sciences, Bd. 12, London 1934).

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systeminterner Input, der mit Hilfe spezieller Organisationen und Instrumente (Befragungen, Einschaltquotenmessungen u.a.) beobachtet wird. Ganz anders sieht der Kommunikationsfluss von Propagandakommunikation aus. Hier findet kein gegenseitiger Einfluss zwischen den Mitteilenden (der Produktionsebene) und den Adressaten (Publikumsebene) statt. Zwar sieht auch die Propagandakommunikation die Differenzierung in Produktionsseite und Publikumsseite vor. Im Unterschied zu den autopoietischen Massenmedien wird hier jedoch die Ebene des Publikums der Produktionsebene hierarchisch untergeordnet. Propagandakommunikation ist der Organisationsebene zuzuordnen. Die Produktionsseite der Propaganda wird durch eine Organisation (z.B. durch eine Partei oder einen Staat) geleitet. Deshalb sind die Produktionseinheiten der Propaganda der leitenden Organisation hierarchisch unterstellt. Produktionsstätten der Propaganda bilden dann das Subsystem der sie leitenden Organisation. Der Produktionsbereich der Propaganda antizipiert die Annahme der Mitteilungen durch das Zielpublikum, das als „willenlose Masse“ gesehen wird: „Dem Adressat von Propaganda wird – vorsätzlich und konsequent – die Befolgung dieser Verhaltensprämisse abverlangt, womit ihm zugleich die Freiheit eigener Entscheidung entzogen wird. […] Damit der Rezipient dieser Vorabentscheidung (bedingungslos) folgt, werden positive und insbesonders negative Sanktionen skizziert, die […] möglichst so formuliert werden, dass sie nicht überprüft werden können. Typisch hierfür ist, dass sie in die Zukunft verlegt werden – als Drohung“52 oder – wie im Anwendungsbereich dieses Buchs - als Endsieg des Kommunismus.

In der Intention der Propagandakommunikation bedeutet das Verstehen der Mitteilungen immer das „richtige“ Verstehen, also die Annahme der Inhalte durch das Publikum. Diese Annahme wird als Akzeptanz der politischen Macht des Auftraggebers der Propaganda gedeutet. Die Interessen des Publikums selbst werden dabei nicht in die Propagandaproduktion eingeschlossen. Stattdessen wird auf der Produktionsebene eine automatische Übereinstimmung der Publikumsinteressen mit den Propagandainhalten erwartet. Das Publikum wird von den Propagandainstanzen nicht beobachtet und nicht in die internen Regeln als Komponente eingeführt, weil dadurch die hierarchische Unterordnung des Publikums unter die Produktionsseite aufgehoben wäre. Das heißt, zwischen Produktion und Publikum sind keine Organisationen zwischengeschaltet, um die Aufmerksamkeitsverteilung des Publikums zu beobachten oder die Produktionsprogramme zu korrigieren. Die Funktion der Beobachtung der Publikumsinteressen übernimmt die Organisation, die als Auftraggeber der Propaganda fungiert. Aber sie tut dies nicht durch Monitoring der Publikumsinteressen, sondern konstruiert ausgehend von ihren eigenen Zielen dem Produktionsbereich die eigens formulierten „Publikumsinteressen“ vor.

52 Ebd.: 153.

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Abbildung 2: Die Beziehungen zwischen Propagandaaufttraggeber, Propagandaproduktion und Propagandapublikum

direkte Anweisungen, Auswahl des leitenden Personals und Kontrolle der Produktionseinheiten von Propaganda

Propagandaauftraggeber Überwachung und Sanktionen des Publikums von Teilorganisationen des Propagandaauftraggebers

Beobachtungsinstanzen zwischen Produktion und Rezeption existieren nur in Form der vom Propagandaauftraggeber formulierten Anweisungen über Rezipientenwünsche Produktion von Propaganda: Organisationen der Presse, des Radios, des Fernsehens

Erwartung automatischer Annahme der Mitteilung durch den Adressaten in Form der Übernahme und Bestätigung der Inhalte

Konstruktion des Publikums als „Masse“

Quelle: Eigene Ausarbeitung

Da in der Propagandakommunikation die Selektionsleistungen der Mitteilenden und der Adressaten nicht verknüpft sind, ist der Adressat den Propagandamitteilungen schutzlos ausgesetzt. Denn er kann seine Interessen nicht durch einen Wechsel der Aufmerksamkeit manifestieren. Zudem zeichnet sich die Propagandakommunikation durch eine sehr hohe Redundanz aus, d.h. auf verschiedenen Kommunikationskanälen werden die gleichen Inhalte übermittelt. Dies macht für den Rezipienten den Wechsel der Aufmerksamkeit auf neue Inhalte fast unmöglich. Allerdings ist die Ablehnung der Propagandainhalte durch die Nutzung der so genannten „außersystemischen“ Medien53 wahrscheinlich. Nur muss ein solches Nutzungsverhalten in der durch umfassende Propaganda gekennzeichneten Gesellschaft geheim bleiben, denn die Propaganda treibende Organisation kontrolliert durch spezielle Einrichtungen sowohl die Produktions- als auch die Publikumsseite.

53 Als außersystemische Medien werden informelle, verbotene oder im Ausland produzierte Medienquellen bezeichnet.

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Resümierend gewinne ich folgendes Modell (vgl. Abb. 2): Zu sehen ist, dass die Propaganda treibende Organisation 1) die Produktionsseite der Propaganda leitet, 2) die Publikumsseite der Propaganda kontrolliert, und 3) die Funktion der Beobachtung der Beziehungen zwischen Produktion und Publikum übernimmt; sie erfüllt sie, ohne eine tatsächliche Beobachtung (z.B. Meinungsumfragen) zu betreiben, sondern nur durch Formulierung der in das Propagandaschema passenden Publikumsinteressen und -wünsche.

Die Strukturierung von Propaganda Als Hauptkommunikationskanal der Propaganda sind die Organisationen der Verbreitungsmedien (Presse, Fernsehen und Radio) zu nennen. Die Organisation dieser Verbreitungsmedien ist so gestaltet, dass die Leitung durch die herrschende Organisation ermöglicht wird.54 Auch die Unterhaltungsproduzenten und Nachrichtenagenturen befinden sich im gleichen Abhängigkeitsverhältnis. So waren in der Sowjetunion alle Verbreitungsmedien, Nachrichtenagenturen und Unterhaltungsproduzenten zum Zwecke der Verbreitung von Propaganda zentralistisch organisiert, den Teilorganisationen der Partei untergeordnet und durch diese kontrolliert.55 Außer den Verbreitungsmedien werden zur Propagandaverbreitung auch interne Kommunikationskanäle wie z.B. Parteibroschüren und Parteiversammlungen genutzt. Auf ihre Untersuchung wird aber in dieser Arbeit verzichtet. Produktionsstätten der Propaganda orientieren sich an dem gleichen Code wie Propagandaauftraggeber. So richtete sich die sowjetische Propagandaproduktion an den Code parteifreundlich/parteifeindlich oder parteinützlich/ parteischädlich aus. Die Produktionsprogramme der Propaganda zeichnen sich aus durch die Übernahme der Entscheidungskriterien, die vom Propagandaauftraggeber formuliert wurden. Es kommt zur Differenzminderung zwischen journalistischen Programmen und Programmen des Auftraggebers. Nicht zuletzt fungieren die Organisationen der Zensur und andere Kontrollmechanismen als spezielle Einrichtungen, die zusätzlich zur Differenzminderung zwischen parteilichen und journalistischen Entscheidungsstrukturen beitragen. In der Sowjetunion kam es auf diese Weise zur Übernahme der parteilichen Entscheidungskriterien in die journalistischen Produktionsprogramme.

54 Insofern kann Propagandakommunikation durchaus auch in einer funktional differenzierten Gesellschaft vorkommen, wenn es sich z.B. um Propagandakommunikation der politischen Parteien handelt. Doch größtenteils nutzen die politischen Organisationen in funktional differenzierten Gesellschaft die Instrumente der politischen PR, um ihre Zielpublika zu überzeugen. Der Kommunikationstyp der Propaganda ist eher für die oben beschriebene Organisationsgesellschaft als für die funktional differenzierte Gesellschaft typisch. 55 Vgl. ausführlich zu Propagandastrukturen in der Sowjetunion II.1.

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Die Rekrutierung des Fachpersonals für Propaganda wird im Kontext der Organisationsgesellschaft von der Organisation geregelt, die an der Gesellschaftsspitze steht: in der Sowjetunion vom Parteiapparat. Die Ausbildungswege bereiten das Fachpersonal für die Arbeit in den Propagandaeinrichtungen vor. So war in der Sowjetunion die Rekrutierung des Propagandapersonals durch Parteiorgane kontrolliert. Die (Leistungs-)Rolle des Journalisten wird in diesem Kontext durch die Rolle des „Propagandisten“ ersetzt. Die Inhalte der Propaganda bestehen hauptsächlich aus den vom Auftraggeber vorgegebenen Inhalten und Semantiken. Bei der Produktion der Propaganda wird hier auf die Konstruktion der journalistischen Objektivität verzichtet. Während die autopoietischen Massenmedien Objektivität durch die Trennung von Fakt und Kommentar konstruieren, zeichnen sich die Propagandainhalte durch die Abwesenheit dieser Trennung aus. Deshalb ist die Thematisierung der Auftraggeberorganisation immer positiv. Die Thematisierung der feindlichen Umwelt hingegen ist mit einer negativen Wertung versehen. Die Inhalte haben nur eine Wahrheit – die Wahrheit der Propaganda. Alle andere Inhalte, z.B. die Inhalte der alternativen Medien, sind „Lüge“ und „Täuschung des Feindes“ und haben kein Existenzrecht. Aus diesen Gründen waren die Lobpreisungen der Partei und der Parteiführung ein notwendiger Bestandteil der Propagandainhalte in der Sowjetunion. Die „kapitalistischen Feinde“ und ihre „Täuschungsmedien“ waren stets mit negativer Wertung versehen. Deshalb kann man vom Ausschließlichkeitscharakter und vom Alleinvertretungsanspruch der Propagandainhalte sprechen.56 Propagandamedien sind genauso wie Massenmedien mit der Reproduktion der Wirklichkeitskonstruktion beschäftigt.57 Aber Propaganda konstruiert, im Unterschied zu Massenmedien, nur eine einzige Wirklichkeit.58 Als gesellschaftliche Funktion der Propaganda ist deshalb die Reproduktion der Macht des Propagandaauftraggebers zu nennen. Die Artikulation einer einzigen, für alle sozialen und psychischen Systeme verbindlichen Wirklichkeit soll nach Intention der herrschenden Organisation ihre gesellschaftliche Position legitimieren. Dabei soll eine solche Realität der Kontrolle und Steuerung der „Massen“ dienen und somit die Machtverteilung reproduzieren. Deshalb wurde der Zerfall der sowjetischen Organisationsgesellschaft erst dann möglich, als die Propagandakommunikation aufhörte, diese legitimierende Funktion zu erfüllen, und die Medien begannen, die Gesellschaft zu beobachten und damit

56 Vgl. Merten, 2000: 153, 162. 57 Auch bei der Definition von Propaganda stütze ich mich auf die konstruktivistischen Annahmen. Auch die Medieninhalte der Propaganda sind eine Konstruktion. Aber sie unterscheiden sich von den Konstruktionen des Funktionssystems der Massenmedien, weil beide Typen der Konstruktionen auf verschiedene Art und Weise produziert werden. 58 Eine interessante Frage in diesem Zusammenhang ist, wie die Funktionsweise von Propaganda die Gedächtnisfunktion in einer totalitären Gesellschaft erfüllt? Wie wird die Information gelöscht und erinnert?

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zwangsläufig den herkömmlichen Aufbau der sozialen Ordnung in Frage zu stellen.

3.3 Public Relations als Simulation der massenmedialen Kommunikation Bei den massenmedialen Entstehungsprozessen im postsowjetischen Russland spielen die PR eine besondere Rolle. Im Prozess der Erosion und Evolution parteilicher/politischer Kontrollmechanismen der Massenmedien werden PR unter bestimmten Bedingungen zum Instrument der Propaganda. Dies erfordert eine Definition und eine Abgrenzung dieses Kommunikationstypus von massenmedialer Kommunikation. Genau wie bei der Erfassung der massenmedialen Strukturen und der Definition von Propaganda soll die Luhmann’sche Systemtheorie auch hier helfen, die Kommunikationsstrukturen der PR zu definieren. Zur Definition von PR Im Gegensatz zur Annahme des Funktionssystems der PR59 definiere ich PR als die Kommunikation von Organisationen. Olaf Hoffjann beschrieb sehr plausibel, warum die PR-Kommunikation speziell für moderne Organisationen als notwendiger Kommunikationstyp von Bedeutung wird: „Organisationen operieren zwar autopoietisch und damit autonom, sie sind allerdings nicht autark. […] Es gibt demnach für jede Organisation eine Vielzahl von Systemen, die die Handlungsfähigkeit auf sehr unterschiedliche Art und Weise beschränken. Und je mehr diese Umweltsysteme die dysfunktionalen Folgen des fokalen Systems kritisieren und gleichzeitig die funktionalen ausblenden, desto eher kann dies zu einer existenzbedrohenden Situation führen. Offensichtlich stehen Organisationen in einer funktional differenzierten Gesellschaft unter einem nahezu permanenten Legitimationsdruck. Mit der zunehmenden Ausdifferenzierung der Gesellschaft und der damit ansteigenden Zahl von Beobachterperspektiven dürfte dieser Druck eher zu- als abnehmen.“60

Das „Problem des Legitimationsdrucks“ wird, so Hoffjann, für alle Organisations- und Funktionssysteme in der modernen Gesellschaft aktuell. Die Ausdifferenzierung der PR-Kommunikation ist als Lösungsstrategie dieses gesellschaftlichen Problems zu verstehen. Jedoch nimmt die entstandene PRKommunikation nicht die Form eines Funktionssystems ein. Als spezieller Kommunikationstyp ist sie der Organisationsebene der Systembildung zuzuordnen.

59 Vgl. Ronnenberger/Rühl, 1992: Theorie der Public Relations. 60 Hoffjann 2002: Angefreundete Feinde: Die Beziehungen zwischen Journalismus und Public Relations in sozialen Konflikten: 184.

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Aufgrund der Bearbeitung ähnlicher Problemlagen lassen sich „funktionale Gemeinsamkeiten“ der PR-Kommunikation aus Organisationen unterschiedlicher Funktionssysteme ableiten: „Die Funktion von Public Relations ist dabei die Legitimation der Organisationsfunktion gegenüber den als relevant eingestuften Umweltsystemen.“61 Demnach orientiert sich die PR-Kommunikation in erster Linie an dem gleichen Code wie die Organisation, die sie bedient. Als Sekundärcode dient den PR das Doppel „legitimierend vs. nichtlegitimierend“: „PR kommuniziert also (sekundär) stets über die Legitimation“.62 Die Legitimation soll dabei über Vertrauen gewonnen werden. Als Eigenleistung von Systemen stellt Vertrauen einen Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität dar, das „auf einem Überziehen vorhandener Informationen hinsichtlich der Erwartbarkeit zukünftiger Ereignisse beruht“.63 Während Personenvertrauen durch konsistente Selbstdarstellung von Personen erreicht wird, wird Systemvertrauen durch Bezug auf abstrakte Leistungen (z.B. Verträge, Expertise, symbolische Medien u.a.) gewonnen.64 In diesem Kontext erzeugen PR die konsistenten (Selbst-)Darstellungen des Vertrauensobjekts. Vor allem das Einfügen der fremden Erwartungen in die Selbstdarstellung des Vertrauensobjekts durch PR wirkt legitimierend: „So ist Öffentlichkeitsarbeit aus der Perspektive der Organisation ein Mittel der Unsicherheitsabsorption. Reduziert werden soll Unsicherheit, die für […] Organisationen durch komplexere und häufig mehrdeutige Umwelt entsteht“.65 Das Verhältnis zwischen der Produktionsseite der PR und ihrem Publikum ist als nicht hierarchisch zu beschreiben. Weil die PR-Produktion vor allem mit massenmedialer Produktion um die Aufmerksamkeit des Publikums ringt, simuliert sie weitgehend die massenmediale Kommunikationsweise. Das Publikum soll, so die Intention, von sich aus seine Aufmerksamkeit den PR-Themen der Kommunikation widmen. Durch Simulation der massenmedialen Kommunikationsweise werden die eigentlichen Ziele der PR-Inhalte, z.B. Legitimation bestimmter Organisationen, verdeckt. Die Publika der PR-Organisationen sind die relevanten Umwelten für die Auftraggeberorganisation. Dabei soll hier zwischen Publikum, bestehend aus Organisationen, und Publikum im Sinne von menschlichen Rezipienten unterschieden werden. Um die Operationsweise der relevanten Umweltsysteme zu simulieren und die Annahme der Kommunikationsangebote der PR von relevanten Organisationen oder Zielgruppen zu ermöglichen, wird die ständige Beobachtung der Gesellschaft sowie der Medieninhalte durch die PR notwendig. Als Strukturen der PR-Kommunikation fungieren dann: 1) PR-Organisationen oder organisationelle Abteilungen (Subsysteme der Organisationen), 2) 61 62 63 64 65

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Ebd.: 185. Ebd.: 186. Krause, 2001: Luhmann-Lexikon: 229. Vgl. ebd. Peters, 1998: Vertrauen in der öffentlichen Kommunikation: 44 ff.

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PR-Entscheidungsprogramme, 3) PR-Techniken, 4) Rollen (PR-Journalist vs. Rezipient), 5) Verbreitungsmedien66: 1. Mit der PR-Agentur entsteht ein spezifischer Typ der PR-Organisation. Häufig differenziert sich innerhalb einer Organisation ein Subsystem der PR aus: z.B. als PR-Abteilung einer Großorganisation. 2. Als Entscheidungsregeln sind in erster Linie Programme der Selektion von PR-Inhalten zu nennen. Dabei ist hier von einer Hierarchie der Auswahlkriterien auszugehen: der erste Selektor sind organisationelle Interessen des PR-Auftraggebers, der zweite Selektor sind die PR-Techniken, ein drittes Auswahlkriterium sind die Interessen relevanter Umweltsysteme und ein viertes Kriterium sind spezifisch journalistische Entscheidungskriterien. Aber im Gegensatz zur journalistischen Kommunikation werden PR-Themen nicht durch das Aktualitätskriterium bestimmt. Eher sollen solche Themen selegiert werden, mit denen die als relevant eingestuften Umwelten kontinuierlich „bearbeitet“ werden können. 3. Für die PR-Kommunikation werden journalistische Arbeitstechniken wie Recherche oder massenmediale Darstellungsformen übernommen. Als spezielle PR-Technik ist die Inszenierung von Medienereignissen zu verstehen. So werden z.B. spezielle Events vorbereitet, die die Medienaufmerksamkeit für das ausgewählte PR-Thema stimulieren sollen. Im Bereich der politischen PR zählen zu solchen PR-Inszenierungen beispielsweise die Fernsehdebatten zwischen den Politikern, inszenierte Politikerauftritte in ungewöhnlichen Situationen u.a. 4. Die Herausbildung von eigenständigen Berufsrollen innerhalb der PR ist nicht abgeschlossen. Das Fachpersonal der Öffentlichkeitsarbeit wird hauptsächlich aus dem Journalismus rekrutiert. Auch die Fachausbildung für PR hat sich nicht verfestigt. 5. Es wurde angedeutet, dass die Kommunikationsangebote der Öffentlichkeitsarbeit entweder durch typische PR-Medien oder über das System der Massenmedien verbreitet werden. Bei den spezifischen PR-Medien werden extra- und intraorganisatorische unterschieden. Zu den ersten zählen z.B. Pressekonferenzen, Pressemitteilungen, Service- und Dienstleistungen (Hotlines und Infomobil), Mailing-Aktionen, Informationsbroschüren; zu den zweiten sind etwa Branchenpublikationen oder Mitarbeiterschulungen zu zählen. Vom System der Massenmedien als Kommunikationskanal versprechen sich die PR eine hohe Erreichbarkeit der Zielpublika und somit ein hohes Aufmerksamkeitspotential für PR-Angebote.67

66 Vgl. Dernbach, 2002a: Public Relations als Funktionssystem :143-144. 67 Vgl. ebd. sowie Dernbach, 2002b: Fachjournalismus und Public Relations: 181193.

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Strukturelle Kopplung zwischen Massenmedien und Public Relations Obwohl sowohl die massenmediale als auch die PR-Kommunikation jeweils unterschiedliche Operationsweisen haben, sind sie durch ein reflexives Beziehungsnetz miteinander verbunden. Der Begriff der strukturellen Kopplung gründet auf der Annahme, dass die Operationsweise eines autopoietischen Systems nicht durch direkte Steuerung von außen beeinflusst werden kann. Der Einfluss eines Umweltsystems auf ein anderes ist dann nur in Form einer Übersetzung der Umweltirritationen in die systeminternen Informationen des perturbierten Systems möglich. Folglich bildet das perturbierte System nach Maßgabe seiner Operationsweise die Strukturen aus, die mit den Strukturen des anderen Systems verbunden sind. Als Beispiel ist die strukturelle Kopplung zwischen dem politischen und dem Wirtschaftssystem in Form von Steuern und Abgaben zu nennen, oder die zwischen Politik und Recht – in Form der Verfassung. Der Begriff der strukturellen Kopplung erlaubt es vor allem, die zweiseitige Beziehung zwischen PR und massenmedialer Kommunikation zu berücksichtigen. Sowohl 1) der Einfluss der Öffentlichkeitsarbeit auf die massenmediale Produktion (die so genannte Determinationshypothese68) als auch 2) die Anpassung der PR-Kommunikation an die massenmediale Operationsweise (die so genannte Medialisierungsthese)69 werden durch den Begriff der strukturellen Kopplung erfasst. 1. Die massenmediale Produktion (= Journalismus) ist vor allem in zwei Aspekten von der PR-Produktion abhängig: Da sich zum einen die journalistische Produktion durch Themenoffenheit auszeichnet, ist die PRProduktion als Themenlieferant der Massenmedien von hoher Relevanz. Denn PR unterrichten den Journalismus über die Themen aus verschiede68 Der steuerungstheoretische Determinationsansatz sieht die journalistische Kommunikation im einseitigen Abhängigkeitsverhältnis von der Öffentlichkeitsarbeit. Eine der bekanntesten Untersuchungen zu diesem Thema weist z.B. nach, dass 62 Prozent der inhaltsanalytisch untersuchten journalistischen Inhalte auf Initiative der Öffentlichkeitsarbeit zurückzuführen sind (vgl. Baerns, 1991: Öffentlichkeitsarbeit oder Journalismus: 91). Der Einfluss von PR auf die Produktion massenmedialer Inhalte besteht zudem in der Einnistung sowie fehlenden Markierung der PR-Themen in den Massenmedien (vgl. Grossenbacher, 1989: Die Medienmacher 90; Nissen/Menningen, 1977: Der Einfluß der Gatekeeper auf die Themenstruktur der Öffentlichkeit: 164). Zwar wird durch diesen Ansatz der Zusammenhang zwischen journalistischer Berichterstattung und Öffentlichkeitsarbeit thematisiert, er beweist jedoch keine kausale Beziehung zwischen beiden Kommunikationstypen. 69 Die Medialisierungsthese behauptet, dass sich die politischen PR der Operationsweise der Massenmedien anpassen. Sie tun es freiwillig, um für politische Inhalte die Publikumsaufmerksamkeit zu gewinnen. „Als Belege für ‚Mediendemokratie‘ werden die zunehmende Personalisierung sowie die Abnahme der ideologischen Differenzen, die durch die Beobachtung des Medien- und Meinungsmarktes verursacht werden, genannt“ (Hoffjann, 2002: 181). Dieser Ansatz thematisiert nur die PR-Kommunikation innerhalb des politischen Systems.

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nen gesellschaftlichen Teilsystemen. Zum anderen erweist sich die „Sachkompetenz der PR“ als sehr nützlich für den Journalismus, weil sie fachlich richtig ist und zudem die aufwendigen Recherchen ersetzt. Durch die Heterogenität journalistischer Redaktionen und die Möglichkeit der Selektion der PR-Beiträge wird die massenmediale Abhängigkeit von den PR teils aufgehoben.70 2. Auch die PR-Produktion ist in zwei Aspekten auf den Journalismus angewiesen. Zum einen kann durch die massenmediale Produktion die Herstellung der Legitimation der PR-Auftraggeber gegenüber relevanten Teilöffentlichkeiten beeinflusst werden. Denn die Funktion der Massenmedien besteht in der Organisation der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung: PRInhalte können in diesem Zusammenhang vom Journalismus schnell aussortiert werden und die Interessen der PR-treibenden Organisation als gesellschaftlich irrelevant eingestuft werden. Werden aber PR-Inhalte von massenmedialen Entscheidungskriterien als informativ eingeordnet, können die Kommunikationsangebote der PR über die Massenmedien ihre Zielpublika erreichen. Weil die Relevanz des Journalismus für die Gesellschaft besonders hoch ist, sind PR, und das ist der zweite Punkt, darauf angewiesen, die Medieninhalte zu beobachten. Da sich die für PR relevanten Umweltsysteme über massenmediale Kommunikation orientieren, müssen die PR, um diese Umweltsysteme zu erreichen, zwangsläufig ein Monitoring der massenmedialen Inhalte und der massenmedialen Operationsweise betreiben. Auf diese Weise werden PR von den Massenmedien perturbiert und irritiert.71 So kommt es zur Simulation des Journalismus durch die Öffentlichkeitsarbeit: „Die Simulation des Journalismus durch PR reicht von den journalistischen Selektionskriterien über den Aufbau bis hin zur sprachlichen Gestaltung der Pressemitteilungen. […] Für das – handelnde – PR-System könnte man auch formulieren, dass die Irritationen umso legitimierender wirken können, je genauer sie die journalistische Operationsweise simulieren: ‚Dadurch kann es PR gelingen, die Kontingenz journalistischer Selektionen zu reduzieren und partiell und temporär erwünschte Wirklichkeiten im journalistischen System zu schaffen, ohne jedoch dessen operationale Geschlossenheit zur berühren‘.“72

Weil Simulation der massenmedialen Operationsweise ein notwendiger Bestandteil der PR-Kommunikation ist, können PR sich erst nach Entstehung der Massenmedien konstituieren. Erst dann entwickelt sich das Netz gegenseitiger Abhängigkeit zwischen Massenmedien und PR: Auf der einen Seite sind Massenmedien auf Fachinformationen der PR angewiesen, deshalb fügen sie PRThemen den massenmedialen Themen zu. Auf der anderen Seite ist das Erzie70 Vgl. Hoffjann, 2002: 187-188. 71 Vgl. ebd.: 188-189. 72 Ebd.: 189-190, zit. nach Scholl/Weischenberg, 1998: Journalismus in der Gesellschaft: 135.

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len der öffentlichen Legitimation für eine Organisation von massenmedialer Thematisierung abhängig, deshalb simulieren PR die massenmediale Operationsweise. Neben ökonomischen Gründen ist die Glaubwürdigkeit und hohe gesellschaftliche Relevanz der Massenmedien dafür ausschlaggebend, dass PR-Angebote bevorzugt durch Massenmedien ihr Zielpublikum erreichen sollen (s. Abb. 3). Abbildung 3: Beziehungen zwischen PR-Produktion, den Massenmedien und ihren Publika

Potentielles Publikum Aufmerksamkeit Zielpublika der PR Aktuelles Publikum Zielpublika der PR

Beiträge

Massenmediale Produktion: Organisationen

Beiträge

Kopplung zwischen Massenmedien und PR

PRProduktion: Organisationen

Aufmerksamkeit

Quelle: Eigene Ausarbeitung auf der Grundlage der Abbildung 1.

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4. A USDIFFERENZIERUNGSKONZEPT DER MODERNEN M ASSENMEDIEN IN R USSLAND Der Wandel russischer Medienstrukturen zeichnet sich durch die Erosion der Propaganda und durch die Ausdifferenzierung der autopoietischen Massenmedien aus. Außerdem entstehen in Russland PR-Strukturen, die sich in besonderer Beziehung zu den Massenmedien befinden. Während Propaganda in totalitären Gesellschaften dominiert, sind beide anderen Kommunikationstypen für funktional differenzierte Gesellschaftsformen charakteristisch. Wie haben sich während des gesellschaftlichen Übergangs massenmediale Strukturen im neuen Russland konstituiert? Im ersten Kapitel dieser Arbeit habe ich theoretische Zugänge für die Analyse des medialen Wandels in Russland gesucht und mich für die Verwendung der systemischen Differenzierungstheorie entschieden. Sie beantwortet die Frage, wie der massenmediale Wandel im postsowjetischen Russland zu definieren ist: nämlich als Erosion der Propaganda und als Herausbildung eines Funktionssystems der Massenmedien. Im zweiten Kapitel wurden zwei Differenzierungsformen – Organisationsgesellschaft und die durch weltgesellschaftliche Dynamiken geprägte funktionale Differenzierung – beschrieben. Somit wurde die Frage nach dem gesellschaftlichen Kontext der massenmedialen Ausdifferenzierung im postsowjetischen Russland geklärt. Schließlich habe ich aus den Grundzügen dieser Differenzierungsformen gesellschaftliche Dimensionen abgeleitet, die die Entstehungsprozesse des massenmedialen Funktionssystems kontextualisieren: • Zentralisierung versus funktionale Differenzierung, • Minimierung sozialer Distanz zwischen einzelnen Systemtypen versus Vergrößerung der sozialen Distanz, • Geschlossenheit versus Offenheit, • Trennung zwischen formeller und informeller Ebene versus Minimierung dieser Trennung. Im dritten Kapitel wurden verschiedene Typen medialer Kommunikation vorgestellt. Es beantwortet somit die Frage, welche Typen der massenmedialen Strukturen im Ausdifferenzierungsprozess entstehen und welche verschwinden. Es bleibt noch eine Frage offen: Wie soll der prozessuale Charakter des Medienwandels erfasst werden? Mit anderen Worten: Wie läuft die Ausdifferenzierung autopoietischer Massenmedien in Russland genau ab? Zu diesem Zweck wird in dieser Arbeit massenmediale Ausdifferenzierung als gradueller Prozess definiert. Dies beruht auf bereits vorhandenen Ar103

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beiten über Ausdifferenzierung der Massenmedien in Europa1 sowie auf systemtheoretischen Differenzierungsannahmen.2 Mit ihnen gehe ich davon aus, dass der Wechsel des Primats der Differenzierungsformen als Grundlage für die Ausdifferenzierung des Funktionssystems der Massenmedien dient. Allerdings nehme ich für den Wandel russischer Massenmedien nicht den Übergang von der Stratifikation zur funktionalen Differenzierung an. Stattdessen begreife ich die gesellschaftlichen Umbruchprozesse in Russland seit 1985 allgemein als Übergang von einer Organisationsgesellschaft zur funktionalen Differenzierung. Im zweiten Teil der Arbeit wird das hier entwickelte Konzept für die Analyse des massenmedialen Wandels im post-sowjetischen Russland verwendet. Das Ausdifferenzierungskonzept wird unter Berücksichtigung folgender Aspekte entwickelt: • Definition des Ausdifferenzierungsprozesses (s. I.4.1), • Bezugsproblem der massenmedialen Ausdifferenzierung in Russland (s. I.4.2), • Bedingungen der massenmedialen Ausdifferenzierung in Russland (s. I.4.3).

4.1 Ausdifferenzierung als ein gradueller Prozess Der Prozess der massenmedialen Konstitution wird hier als eine Sequenz von Ausdifferenzierungsschritten begriffen.3 Diese Position weicht von der Luhmann’schen Vorstellung der Systemausdifferenzierung ab. Er geht nämlich davon aus, dass mit Ausdifferenzierung eines funktionssystemischen Codes, z.B. des Codes Information/Nicht-Information, bereits die Grenze zwischen System/Unwelt konstituiert wird. Tritt zu dieser Bedingung eine autopoietische Schließung von Kommunikation hinzu, kann von Ausdifferenzierung eines Funktionssystems gesprochen werden. Allerdings war Luhmann an der Entwicklung einer Differenzierungs- und Gesellschaftstheorie interessiert, als er seinen Ausdifferenzierungsbegriff festlegte. Um die zeitlich-situative Kom1 Ein Konzept der Ausdifferenzierung autopoietischer Massenmedien aus systemtheoretischer Sicht wurde bereits von Bernd Blöbaum erarbeitet. Auf der Grundlage der Differenzierungstheorie und der Theorie der Massenmedien beschreibt dieses Konzept die Bedingungen und Prozesse der Ausdifferenzierung der massenmedialen Strukturen in Deutschland (vgl. Blöbaum, 1994). Diesem Modell liegt die Annahme zugrunde, dass sich das Funktionssystem der Massenmedien während der historischen Periode des Übergangs von der Stratifikation zur funktionalen Differenzierung in Europa konstituiert hatte. Die massenmediale Ausdifferenzierung wird auf den Zeitraum zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert in (West-)Europa festgelegt. 2 Zu Ausdifferenzierungskonzepten anderer Funktionssysteme vgl.: Tyrell, 1976: 393-417; Luhmann, 1981b: 102-140; Teubner, 1989: 36-61; Cachay, 1988. 3 Vgl. Stichweh, 1988: Differenzierung des Wissenschaftssystems: 51 ff.

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plexität konkreter historischer Ausdifferenzierungsvorgänge zu erfassen, erscheint mir eine graduelle Fassung des Ausdifferenzierungsbegriffs vorteilhafter. Denn die Herausbildung eines funktionssystemischen Codes und das Hinzukommen der operativen Schließung hängen in konkreten historischen Situationen mit der Entstehung weiterer Systemstrukturen zusammen. Deshalb gehe ich davon aus, dass nicht nur die Entstehung eines Codes, sondern auch die Herausbildung einzelner Strukturdimensionen eines Funktionssystems eine notwendige Voraussetzung für den Ausdifferenzierungsvorgang darstellt: • Der Code dient (analytisch) als Ausgangspunkt für die Entstehung der Funktionssysteme, da mit ihm die systembildende Grenzziehung vorgenommen wird. Die Herausbildung eines Codes ist für die Konstituierung eines Funktionssystems unabdingbar, weil er die Unterscheidung zwischen dem System und seiner Umwelt reproduziert und dadurch die systemische Autopoiesis gewährleistet. Das System der Massenmedien bildet sich auf der Grundlage des Codes Information/Nicht-Information heraus. Ein Funktionssystem bedarf weiterer Strukturen, um die Zirkularität des Codes zu regulieren sowie die Rekursivität seiner Operationen zu sichern.4 • Auf der Ebene der Ausdifferenzierung besonderer Funktionsrollen, die sich an der Ausführung bestimmter Tätigkeiten orientieren, kommt es zur Herausbildung von Leistungs- und Publikumsrollen. Während Leistungsrollen zu Beginn der Konstitution nur durch eine Rollenkombination ihrer Inhaber erfüllt werden können, weist die steigende Exklusivität der Leistungsrollen auf einen höheren Ausdifferenzierungsgrad des Funktionssystems hin.5 Im System der Massenmedien entstehen die Leistungsrolle des Journalisten und die Publikumsrolle des Rezipienten, was zur interner Differenzierung zwischen massenmedialer Produktion und Publikum führt. • Organisationen entstehen als Sozialsysteme, die die Dynamik der Funktionssysteme besonders stark prägen. Zu den Organisationen der Massenmedien zählen Redaktionen sowie Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehanstalten, Radiostationen u.ä. Auch Nachrichtenagenturen, Werbeagenturen und Produzenten massenmedialer Unterhaltung sind dem massenmedialen Funktionssystem zuzuordnen. Der Prozess organisatorischer Pluralisierung ist für den Entstehungszusammenhang eines Funktionssystems besonders wichtig, weil funktionssystemische Entscheidungskriterien in Organisationen konstituiert und reproduziert werden. • Auf der Programmebene des massenmedialen Funktionssystems differenzieren sich Arbeitstechniken und (Darstellungs-)Formen aus, die die korrekte Zuschreibung der Codewerte ermöglichen. Zunächst fungieren nur wenige Kriterien als Bedingungen der Zuordnung der Codewerte. Im Laufe des Entwicklungsprozesses werden sie vielfältiger, es entstehen: 1) Programme der Informationssuche, 2) Selektionsprogramme, 3) Prüfpro4 Erfolgsmedien oder symbolisch generalisierte Medien der Kommunikation sind für die Konstitution einiger Funktionssysteme von Bedeutung. Für die Bildung von Massenmedien ist kein symbolisches Medium notwendig. 5 Vgl. Stichweh 1988: 55.

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gramme und 4) Darstellungsprogramme. Kennzeichnend für massenmediale Ausdifferenzierung ist, dass die Publikumskomponente in Entscheidungskriterien massenmedialer Produktion eingeführt wird. Unter Reflexion ist die Selbstbeobachtungssemantik der jeweiligen Funktionssysteme zu verstehen. So ist z.B. eine Journalismustheorie als Reflexion des massenmedialen Systems zu verstehen. Wenn ein Funktionssystem über eine eigene Reflexionstheorie verfügt, weist dies auf seinen hohen Ausdifferenzierungsgrad hin, denn es beobachtet sich selbst als eine aus der Umwelt ausdifferenzierte Einheit. Aber diese Selbstbeschreibungen können auch bei unmittelbarer Genese des Funktionssystems eine besondere Rolle spielen: Als antizipierende Semantik6 können sie unter besonderen Bedingungen die Rolle des internen Auslösers im Konstitutionsprozess einnehmen.7

Festzuhalten bleibt, dass keine notwendige Reihenfolge des Codes und der weiteren Systemstrukturen im Entstehungsprozesses postuliert werden kann. Die hier skizzierten Strukturdimensionen können sich z.B. parallel herausbilden, und der Code ist nicht als zwangsläufig zuerst entstehender Schematismus zu verstehen. In ihrem Entstehungsprozess beeinflussen funktionssystemische Strukturen einander wechselseitig, deshalb ist der Verlauf des Ausdifferenzierungsprozesses als reflexiv zu bezeichnen. Obwohl eine vollständige Beschreibung der kausal-genetischen Vorgänge in Funktionssystemen nur empirisch möglich ist, sind analytische Kriterien notwendig, die es erlauben, den Beginn und das Ende des Ausdifferenzierungsprozesses zu bestimmen. Folgende analytischen Kriterien bieten sich dafür an: a) Das Ausdifferenzierungsmodell sieht die vollständige Ausbildung jeder der oben beschriebenen Strukturdimensionen vor. Die Konstitution von Code, Leistungs- und Publikumsrollen, Organisationen, Programmen und Reflexionstheorien sind die Mindestvoraussetzung, um von der Ausdifferenzierung eines (massenmedialen) Sinnzusammenhangs zu sprechen.8 b) Die zunehmende Differenzierung zwischen diesen Strukturdimensionen dient dann als Indikator für Prozesse der Verselbstständigung und Innendifferenzierung innerhalb dieses Funktionssystems.9 c) Die Beobachtung des Funktionssystems durch seine Umweltsysteme sowie die Anerkennung seines Leitwerts ist der dritte Indikator der Ausdifferenzierung. Denn nur in Bezug auf die Umweltbeobachtung kann ein Funktionssystem seine „exklusive Zuständigkeit“ für eine bestimmte gesellschaftliche Leistung durchsetzen:

6 7 8 9

Stichweh, 2000b: Semantik und Sozialstruktur: 242-243. Vgl. weiter unten, I.4.3.1. Stichweh, 1988: 51. Ebd.: 51.

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AUSDIFFERENZIERUNGSKONZEPT DER MODERNEN MASSENMEDIEN IN RUSSLAND „[D]ie Durchsetzung eines Monopolanspruchs auf das Erbringen einer bestimmten Leistung erhöht die Selbstständigkeit eines Teilsystems, indem sie ihm nicht nur Drohpotential an die Hand gibt, sondern auch das Einstreichen eines ‚Monopolgewinns‘ ermöglicht, da mangels einer sachverständigen externen Kontrolle der Leistungsqualität und des erforderten Preises die alternativlosen Abnehmer weder die Chance von Voice noch von Exit haben.“10

d) Neben diesen drei Kriterien, mit denen sich der Ausdifferenzierungsgrad eines Funktionssystems bestimmen lässt, erscheint die so genannte „Schwelle der legitimen Indifferenz“ als vierter Indikator für den Erfolg des Ausdifferenzierungsprozesses. Diese Wendung bezeichnet den Sachverhalt, dass die regelnden Eingriffe seitens der Umweltsysteme auf das sich ausdifferenzierte Funktionssystem regelmäßig scheitern. Insbesondere der Misserfolg der Steuerungsansprüche seitens politischer Strukturen deutet auf den Abschluss des Ausdifferenzierungsprozesses hin: „Der selbstreferentielle Operationsmodus funktionaler Teilsysteme enthält also zum einen eine Tendenz zur Verabsolutisierung von Umweltindifferenz. Zum anderen errichtet die Selbstreferentialität eines Teilsystems aber auch für Außenwirkungen jeglicher Art, also auch für politische Steuerungsversuche die Barriere einer eigengesetzlichen Kausalstruktur. An dieser Barriere muß jede externe Steuerung scheitern. Mit der Immunität gegenüber externer Steuerung tritt dann der Tatbestand der Verselbständigung eines funktionalen Teilsystems zutage.“11

Diese vier Kriterien werden mir im zweiten Teil meiner Arbeit erlauben, die Ingangsetzung und Beendung sowie den Grad der massenmedialen Ausdifferenzierung in der Russischen Föderation einzuschätzen.

4.2 Bezugsprobleme der massenmedialen Ausdifferenzierung in Russland Bei der Frage nach der Genese eines Funktionssystems unterscheidet Luhmann zwischen zwei analytischen Ebenen: die des Problems und die seiner Problemlösung.12 Ein Funktionssystem differenziert sich nach Luhmann in Bezug auf die Lösung eines gesellschaftlichen Problems aus. In diesem Entstehungsprozess wird soziale Komplexität verarbeitet und reduziert. Aus komplexitätstheoretischer Sicht wird im Entstehungsprozess eines Funktionssystems die gesellschaftliche Komplexität so verarbeitet, dass die vorhandene nicht organisierte Komplexität in die organisierte Form, nämlich in Form eines Systems umgewandelt wird. Von einem Funktionssystem kann also erst dann gesprochen werden, wenn sich spezifische Vorgänge beobach10 Ebd: 37. 11 Rosewitz/Schimank, 1988: Verselbstständigung und politische Steuerbarkeit gesellschaftlicher Teilsysteme: 297. 12 Luhmann, 1971: Öffentliche Meinung: 9 ff.

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ten lassen, die auf eine Reduktion der sozialen Komplexität seitens des Funktionssystems hinweisen. In Bezug auf welche gesellschaftlichen Probleme konstituieren sich dann autopoietische Massenmedien im neuen Russland? Die Genese der autopoietischen Massenmedien im neuen Russland wird durch den Übergang von der Organisationsgesellschaft zur funktionalen Differenzierung geschaffen. Das „Bezugsproblem der sozialen Komplexität“ hängt mit diesem Wechsel primärer Differenzierungsformen unmittelbar zusammen. Ähnlich wie beim Übergang von der Stratifikation zur funktionalen Differenzierung im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts wird der Prozess des Umbaus der sozialen Ordnung in der Sowjetunion durch den Anstieg des Kontingenzdrucks begleitet. Dieser Kontingenzdruck wird insbesondere durch zwei Prozesse erzeugt: 1) durch die Öffnung der sowjetischen Organisationsgesellschaft auf sachlicher und zeitlicher Ebene13 und 2) durch die Dezentralisierung der gesellschaftlichen Strukturen und die damit einhergehende Herausbildung der Funktionssysteme. Diese beiden Prozesse sind gesellschaftliche Probleme, für die die Ausdifferenzierung der autopoietischen Massenmedien in Russland eine gesellschaftliche Lösungsstrategie darstellt.

Öffnung auf sachlicher Ebene Die Öffnung des sowjetischen Systems auf sachlicher Ebene setzte mit Beginn der Perestroika 1985/86 ein. Durch sie ist die Einführung von neuen, durch den Parteiapparat nicht-vorselegierten Themen in alle Kommunikationskontexte ermöglicht worden. Zum einen waren das sämtliche Themen aus zuvor geheim gehaltenen Bereichen sowjetischen Lebens: Fakten und Daten über Misserfolge der Planwirtschaft, über zukünftige Probleme der Planwirtschaft, Daten über aktuelle Probleme bei der Erziehung von sowjetischen Jugendlichen, über wachsenden materiellen Abstand zwischen der Sowjetunion und den kapitalistischen Ländern usw.14 Es kam erstmals zur Pluralisierung von Themen der öffentlichen Kommunikation in den sowjetischen Verbreitungsmedien. Die Zulassung der nicht-vorselegierten Themen bot Vergleichsmöglichkeiten zwischen sowjetischen und nicht-sowjetischen Lebens- und Weltmustern. Die Beobachtung von nicht-sowjetischen Kontexten, die Vergleiche mit nicht-sowjetischer Lebensweise auf personeller, organisationeller und gesellschaftlicher Ebene begünstigten die Diffusion von Themen und Ideen.15 Bis zu Beginn der Perestroika war ein machtvoller Kontroll- und Zensurapparat darauf spezialisiert, solche Beobachtungs- und Vergleichsmöglichkei13 Es vollzieht sich zudem die Öffnung der sowjetischen Organisationsgesellschaft auf der sozialen Ebene: Ein Austritt aus der Organisation „Sowjetunion“ sowie Reisen ins Ausland werden für Mitglieder des Systems möglich. Aber dieser Prozess steht nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit massenmedialer Ausdifferenzierung. 14 Ⱥɮɚɧɚɫɶɟɜ, 1988: ɂɧɨɝɨ ɧɟ ɞɚɧɨ. 15 Zum Begriff der (globalen) Diffusion vgl. I.4.3.

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ten zu verhindern. Die (von der Parteispitze angeordnete) Abnahme der Kontrolle öffentlicher Kommunikation ließ nicht nur die Einführung der neuen Themen in die Kommunikation zu, sie führte auch zunehmend zur Infragestellung der Notwendigkeit einer solchen Kontrolle. Das heißt, als die Öffnung auf sachlicher Ebene in Form der Zulassung nicht-vorselegierter Kommunikationsthemen begann, hat sie sich selbst verstärkt, indem die Notwendigkeit der noch verbliebenen Kontrolle in Frage gestellt wurde. Diese Öffnung auf sachlicher Ebene ist gemäß der Komplexitätstheorie als Bezugsproblem für die Entstehung der autopoietischen Massenmedien zu verstehen. Die Einführung von neuen Themen in die Kommunikation und die Begründung der Abdingbarkeit der parteilichen Zensur wurde von den sich herausbildenden Massenmedien übernommen.

Öffnung auf zeitlicher Ebene Auch auf zeitlicher Ebene der Kommunikation fand seit Beginn der Perestroika eine zunehmende Öffnung statt. Im sowjetischen System war die Konstruktion von Vergangenheit und Zukunft durch partei-ideologische Kriterien festgelegt: die Vergangenheit als Befreiung vom Kapitalismus und die Zukunft als Erreichen des Kommunismus (im Gegensatz zum Kapitalismus).16 Diese Zeitkonstruktion war singulär, weil sie sich auf das Zeitmodell einer einzigen Großorganisation stützte. Statt einer Vielzahl von Vergangenheits- und Zukunftsperspektiven verschiedener gesellschaftlicher Bereiche waren auf der Gesellschaftsebene die Zeitentwürfe einer Organisation verbindlich. Mit dem fortschreitenden Wandel der sowjetischen Sozialordnung nach dem Beginn der Perestroika wurde die zeitliche Geschlossenheit des sowjetischen Systems zunehmend aufgelöst. Die Öffnung auf zeitlicher Ebene brachte zunächst einen Wandel des Vergangenheitshorizonts mit sich. Die sowjetische Vergangenheit – Revolution, Industrialisierung, Kollektivierung, Repressionen – wurde thematisiert, offizielle Geschichtsversionen wurden in Frage gestellt. Die offizielle sowjetische Zukunftsperspektive erschien in diesem Zusammenhang auch fragwürdig: Die Notwendigkeit des Strebens nach Kommunismus war nach dem Bekanntwerden der Verbrechen des kommunistischen Regimes nicht mehr ersichtlich. Es kam gleichzeitig zur Entwicklung mehrerer alternativer Vergangenheits- und Zukunftsperspektiven. Diese schlagartige Entstehung von alternativen Zukünften und Vergangenheiten erzeugte eine Orientierungslosigkeit auf individueller und organisationeller Ebene. Unsicherheit und Risiko wurden zu dominanten Merkmalen der Zukunftsperspektiven der Perestroika- und der postsowjetischen Phase.17 16 Zur Charakterisierung des sowjetischen Zeitmodells vgl. Ɇɨɪɟɧ, 1995: 70-71. 17 Zur analogen Risikowahrnehmung in Ostdeutschland vgl. Baecker, 1998: Poker im Osten: Probleme der Transformationsgesellschaft.

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An dieser Stelle finden wir eine weitere Parallele zu herkömmlichen Ausdifferenzierungsideen der modernen Massenmedien. Denn nicht nur die Umbruchphase im postsowjetischen Russland, sondern bereits der Übergang von Stratifikation zur funktionalen Differenzierung in Europa des 18. und 19. Jahrhunderts wurde vom Wandel der Zeitvorstellungen begleitet.18 War für die Stratifikation noch das lineare Zeitmodell charakteristisch, so änderte sich der Zeitentwurf während des Übergangs zur Moderne. Das neue Zeitmodell war durch das Auseinandertreten von Vergangenheit und Zukunft gekennzeichnet. Der immer weiter wachsende Abstand zwischen Gestern und Morgen musste immer schneller überbrückt werden. Die „Differenz von Erfahrung und Erwartung“ wurde immer gravierender, sie bedurfte zugleich eines Mechanismus, der diesen Abstand in der aktuellen Kommunikation „überbrücken“ konnte.19 Beim Umbau der Organisationsgesellschaft in Russland ist ein vergleichbarer Prozess des Wechsels der Zeitvorstellungen zu beobachten, mit dem Unterschied, dass hier das „sowjetische“ Zeitmodell durch das moderne ersetzt wird. Dieses moderne Zeitmodell hat sich bereits, wie schon erwähnt, in der funktional differenzierten Ordnung durchgesetzt. Und gerade das Auseinandertreten von Vergangenheit und Zukunft als Veränderung der Zeitvorstellungen wird mit Beginn der Reformen im neuen Russland zunehmend sichtbar. Sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft werden auf personellen, organisationellen und gesellschaftlichen Ebenen als kontingent erlebt. Der Abstand zwischen Erfahrung und Erwartung wächst. Das Hinzukommen mehrerer alternativer Vergangenheits- und Zukunftshorizonte ist dann als Indikator der gewandelten Zeitvorstellungen zu verstehen. Das Problem der Umstellung des Zeitmodells (der Öffnung auf zeitlicher Ebene) wird durch die Entstehung der autopoietischen Massenmedien bearbeitet. Die entstehenden Massenmedien übernehmen erstens die Aufgabe, alternative Vergangenheits- und Zukunftsperspektiven in die Kommunikation einzuführen. Zweitens sorgen sie mit ihrer ständigen Wiederaktualisierung der Kommunikation für die punktuelle und dauerhafte Überbrückung der Differenz zwischen Vergangenheit und Zukunft.

Dezentralisierung der Organisationsgesellschaft Die Öffnung des sowjetischen Systems auf zeitlicher, sachlicher (und sozialer) Ebene findet parallel zur Dezentralisierung der Organisationsgesellschaft statt. Der letztgenannte Prozess wird von einer Erosion der parteilichen Steuerung der Gesellschaft begleitet. Wenngleich die politischen Reformen der Organisationsgesellschaft durch den Parteiapparat eingeleitet waren, so entwickelten sie sich doch zunehmend zu (vom Parteiapparat) nicht mehr kontrol18 Vgl. Blöbaum, 1994: 106 ff. 19 Vgl. ebd.: 109.

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lierbaren Wandlungsprozessen. So war die Öffnung des Systems als Zugeständnis seitens der Parteispitze gegenüber den Mitgliedern des Systems, vor allem der jungen Generationen, gedacht. Aber gerade durch diese Öffnung konnte sich die Kommunikation an globale Prozesse koppeln, sodass die Schließung des Systems immer unwahrscheinlicher wurde. Dieser Prozess war begünstigend für die Genese einzelner Funktionssysteme. Der zunehmende Verzicht auf die Steuerung aller Gesellschaftsebenen durch den Parteiapparat bedeutete auch die Erosion der parteilichen Kontrollmechanismen dieser Steuerung. Dieser Prozess führte zur enormen Steigerung der sozialen Kontingenz. Zum einen wurde die soziale Kontingenz in einzelnen gesellschaftlichen Bereichen freigesetzt: Wirtschaft, Politik, Erziehung, Wissenschaft und viele andere Bereiche verloren an herkömmlichen Orientierungskriterien, an Orientierungssicherheit.20 Zum anderen erhöhte sich der Druck der gesamtgesellschaftlichen Kontingenz, denn die gesellschaftlichen Leit- und Orientierungsbilder sind vielfältig geworden. Jedoch gab es noch keine Kriterien, an denen festgemacht werden konnte, welche der neuen Leitbilder richtig oder falsch sind. Die freigesetzte Kontingenz wirkt auf die ablaufenden Wandlungsprozesse zurück und verstärkt somit den Kontingenzdruck. Er bedarf zunehmend kommunikativer Selektionsleistungen. Diese Selektion und Reproduktion der Themen gesellschaftlicher Kommunikation wird mit einer weiteren funktionalen Ausdifferenzierung möglich: mit der Herausbildung eines Funktionssystems der Massenmedien. Die Funktion dieses Systems besteht in der „Herstellung und Bereitstellung der aktuellen Themen öffentlicher Kommunikation“.21 Dadurch erzeugen die Massenmedien eine gesellschaftliche Hintergrundrealität: die Erwartung, dass es eine gemeinsame gesellschaftliche Realität gibt. Massenmedien werden zum Selektionsmechanismus der gesellschaftlichen Kommunikation, der die Komplexität, die durch die gesellschaftliche Kontingenz entsteht, durch „Herstellung und Bereitstellung von öffentlichen Themen“ reduziert. Die Entstehungsprozesse einzelner Funktionssysteme werden nicht mehr durch eine gesellschaftliche Spitze gesteuert. Zum einen bilden die entstehenden Funktionssysteme spezifische Eigenlogiken aus, zum anderen unterhalten sie auch die Beziehungen untereinander. Dies geschieht im Kontext gesellschaftlicher Umbruchprozesse. Diese Entstehungsprozesse von Funktionssystemen bedürfen in diesem neuen Kontext ebenso neuer Mechanismen kommunikativer Synchronisation. Durch Selektion und Thematisierung der Umweltereignisse werden verschiedene Umweltausschnitte im Medium der Presse, des Radios und des Fernsehens präsent. Wie im Spiegel werden Wandlungsprozesse verschiedener gesellschaftlicher Bereiche durch den Monitor der Massenmedien füreinander sichtbar.22 Aber die Erbringung der Selekti20 Zur Semantik der Reformen vgl. Ⱥɮɚɧɚɫɶɟɜ, 1989. 21 Vgl. Marcinkowski, 1993: 51. 22 Zur Synchronisationsfunktion der Massenmedien vgl. Luhmann, 1975c: Veränderungen im System gesellschaftlicher Kommunikation und die Massenmedien: 20-21.

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onsleistung durch Massenmedien ist nur möglich, weil der alte Selektionsmechanismus öffentlicher Kommunikation, die Propaganda, mehr und mehr der strukturellen Erosion unterliegt. Auch die Erzeugung gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen wird von den entstehenden Massenmedien sofort wahrgenommen – hier kommt die orientierende Funktion der Massenmedien zum Ausdruck.23 Denn sie liefern gleich zu Beginn des gesellschaftlichen Umbruchs gesellschaftliche Selbstbeobachtungen: Als Semantik des Übergangsprozesses werden die Begriffe Perestroika und Glasnost verbreitet. Später werden semantische Duale wie „von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft“, „vom Sozialismus zum Kapitalismus“ sowie „vom Totalitarismus zur Demokratie“ thematisiert.

4.3 Bedingungen massenmedialer Ausdifferenzierung in Russland Der Konstitutionsprozess eines massenmedialen Funktionssystems im neuen Russland ist als Verselbstständigung eines Kommunikationstyps innerhalb eines gesellschaftlichen Kontexts zu verstehen. Bei der Frage nach den Kräften, die eine solche Ausdifferenzierung antreiben, kann nachträglich zwischen so genannten endogenen und exogenen Bedingungen unterschieden werden.24 Exogene Bedingungen werden von Ereignissen in der Systemumwelt angeregt. Als endogene Bedingungen werden die Vorgänge innerhalb des Systems bezeichnet, die seine Weiterentwicklung begünstigen. Ein klassisches Beispiel hierfür ist z.B. der Konkurrenzmechanismus. Endogene wie exogene Bedingungen beziehen sich gleichermaßen auf Prozesse der Aus- und Innendifferenzierung der Funktionssysteme, weil beide Prozesstypen eng miteinander verflochten sind.

4.3.1 Exogene Bedingungen Für den massenmedialen Ausdifferenzierungsprozess in der Sowjetunion (später im neuen Russland) dient die Erosion parteilicher Kontrollmechanismen25 als exogene Bedingung. Wenn der Parteiapparat – die Spitze der Organisationsgesellschaft – die Minderung der Kontrolle der Propagandakommunikation beschließt, kommen Prozesse in Gang, die diese Erosion der Kontrollmechanismen einleiten. Schließlich manifestiert sich diese Erosion in der Abschaffung der sowjetischen Zensur- und Kontrollmechanismen (durch das Gesetz 23 Zur massenmedialen Funktion vgl. I.3.1. 24 Vgl. Mayntz, 1988: 11 ff. 25 Zur Steuerung und Kontrolle der Gesellschaft durch den Parteiapparat vgl. I.2.1.2. Parteiliche Kontrollmechanismen der Propagandakommunikation werden ausführlich in II.1 behandelt.

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„Über Presse und andere Medien“ von 1990)26. Mit der zunehmenden Verdichtung und Beschleunigung der Kommunikation kann die Zensur die anfallenden Selektionsaufgaben nicht mehr erfüllen. Der Mechanismus der Zensur wird selbst nicht hinreichend komplex, um die soziale Komplexität zu verarbeiten. Dieser Mechanismus isolierte zu viel Kontingenz, statt sie zu verarbeiten. Insofern konnte die Zensur die gesellschaftliche Funktion der Herstellung und Bereitstellung von Themen nicht erfüllen. Hervorzuheben ist, dass die formelle Abschaffung der sowjetischen Kontrollmechanismen noch nicht deren endgültiges Verschwinden bedeutet. Denn die sowjetischen Kontrollmechanismen der Massenmedien unterliegen auch einer Evolution: Es bilden sich z.B. neue Kontrollmechanismen aus, die den sowjetischen funktional äquivalent sind. Um diese Entwicklungen zu berücksichtigen, werden Erosion und Evolution der parteilichen Kontrollmechanismen der Massenmedien im zweiten Teil dieser Arbeit untersucht. Die Erosion von Kontrollmechanismen werde ich für den Systemzustand annehmen, wenn die Kontrollansprüche der Partei – und später des Staates und anderer politischer sowie wirtschaftlicher Organisationen – gegenüber den Massenmedien immer wieder scheitern. Die Schwächung der parteilichen Kontrollmechanismen zu Beginn des massenmedialen Konstitutionsprozesses wird durch die einsetzende journalistische Aufklärung27 begleitet. Denn die Journalisten fühlen sich dazu berufen, die „Wahrheit“ über das kommunistische Regime zu verbreiten. Diese Wahrheit beinhaltet die Überzeugungen der Rollenträger, die natürlich auch ideologisch geprägt sind. Die „Aufklärungssemantik“ ist als Enttraditionalisierungssemantik zu verstehen, weil sie die sowjetische Vergangenheit und die sowjetische Lebensweise in Frage stellt.28 Die Herstellung der neuen gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen wird durch den entstehenden Journalismus möglich, weil er für seine Existenz eine alle überzeugende Legitimation gefunden hat. Journalisten entdecken sich als Ausführer der vierten Gewalt – der Gewalt der öffentlichen Meinung. Diese journalistische Reflexion wird in den Medien so intensiv diskutiert, dass sie schließlich alle Publika erreicht. Ein solcher Entstehungsprozess, in dem die systemische Reflexion zur Legitimation der Eigenfunktion dient, wird von Rudolf Stichweh als Nachfragemodell der Ausdifferenzierung bezeichnet. Hier entsteht ein Funktionssystem durch die gesellschaftliche Nachfrage nach seinen spezifischen Leistungen. Der „reflexive Bezug zur Einheit des Systems“ dient dabei als „Startmechanismus […] für die Artikulation der funktionalen Autonomie.“29 Die Aufklärungsoffensive der Presse und des Fernsehens ist als Zwischenstadium auf dem Weg zur Autonomisierung der Massenmedien zu verstehen. 26 In der Russischen Föderation wurde später 1991 ein „Gesetz über Massenmedien“ verabschiedet, das die Pressefreiheit garantiert. 27 Über den Zusammenhang von Journalismusentstehung und Aufklärung in Deutschland im 19. Jahrhundert vgl. Blöbaum, 1994: 146. 28 Vgl. Ⱥɮɧɚɫɶɟɜ/Ɏɟɪɪɨ, 1988. 29 Stichweh, 1988: 102.

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Mit Beginn der Reformen geraten die planwirtschaftlichen Verteilungsmechanismen des sowjetischen Systems ins Wanken. Nach dem Zerfall des sowjetischen Staates und der Gründung der Russischen Föderation (1991) werden wirtschaftliche Reformen unumgänglich. Es beginnt die Herausbildung der Marktwirtschaft. Diese Entwicklung beeinflusst unmittelbar die sich herausbildenden Massenmedien. Die Entstehung der massenmedialen Märkte wurde zur weiteren exogenen Bedingung der massenmedialen Ausdifferenzierung. Sie führte zur Kommerzialisierung der Massenmedien und erlaubte die Pluralisierung von massenmedialen Organisationstypen. Es war die ökonomische Kommunikation, die letztlich zur Institutionalisierung der massenmedialen Organisationen beitrug. So führte die ökonomische Profitorientierung zur Institutionalisierung der journalistischen Produktion sowie des journalistischen Berufs. Mit Herausbildung der Märkte, vor allem der Informationsmärkte, entsteht ein Publikum, das Informationen als Konsumangebote nachfragt. Die Ausbildung einer massenmedialen Öffentlichkeit in Russland schafft ein hohes Anschlusspotential für weitere massenmediale Strukturen.

4.3.2 Endogene Bedingungen Der Übergang zur funktionalen Differenzierung in Russland, so die oben formulierte These, ist an Globalisierungsprozesse gekoppelt (vgl. I.2.3). Gerade die sachliche und zeitliche Öffnung der Kommunikation begünstigt die Globalisierungsdynamiken im neuen Russland. Außer der Erosion parteilicher Kontrollmechanismen und der Herausbildung von Informationsmärkten gibt es auch endogene Bedingungen, die den massenmedialen Ausdifferenzierungsprozess in Russland beeinflussen: Globalisierungsprozesse der Massenmedien. Auf diesen Punkt möchte ich an dieser Stelle etwas näher eingehen. Der Begriff der Globalisierungsprozesse wird in der Systemtheorie nur in Bezug auf Funktionssysteme der modernen Gesellschaft verwendet.30 Es wird von Prozessen der Globalisierung eines bestimmten Funktionssystems, in unserem Fall dem der Massenmedien, gesprochen.31 Rudolf Stichweh unterscheidet drei Typen von Globalisierungsprozessen, die theoretisch in jedem der Funktionssysteme beobachtbar sein können. Es sind 1) globale Diffusion, 2) globale Vernetzung und 3) Dezentralisierung in Funktionssystemen.32 Funktionale Differenzierung, Vorhandensein der multi30 Vgl. Stichweh, 2000c: 14. 31 Zur Globalisierung von Massenmedien vgl. systemtheoretisch z.B.: Hepp, 2002: Die Globalisierung von Medienkommunikation: 451-466; vgl. nicht-systemtheoretisch: Jarren/Meier, 1999: Globalisierung der Medienlandschaft und ihre medienpolitische Bewältigung: 231-250; Wilke, 1999b: Strategien und Grenzen der Internationalisierung von Massenmedien: 47-60; vgl. auch: Knoche, 1999: Zum Verhältnis von Medienpolitik und Medienökonomie in der globalen Informationsgesellschaft: 89-107. 32 Stichweh, 2000: 254-262.

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nationalen Großorganisationen sowie die Techniken der Telekommunikation fungieren als Bedingungen dieser Globalisierungsprozesse.33 Vor allem Prozesse globaler Diffusion und globaler Vernetzung innerhalb der globalisierten Massenmedien möchte ich zur Erklärung der massenmedialen Konstitution im neuen Russland heranziehen. Der Gesichtspunkt funktionssystemischer Dezentralisierung wird im Rahmen dieser Arbeit nicht berücksichtigt, weil dieser Prozess nur im globalen Kontext analysierbar ist und daher in meiner regional begrenzten Studie nicht untersucht werden kann.

Globale Diffusion Der Begriff globale Diffusion bezeichnet weltweite Prozesse der Übernahme standardisierter Muster durch soziale Systeme.34 Er beschreibt Homogenisierungsprozesse in der modernen Gesellschaft: „Bei globaler Diffusion geht es um Beobachtungs- und Vergleichsbeziehungen zwischen Einheiten, die durch große Distanzen voneinander getrennt sein können“.35 Als Ursache für globale Diffusion ist historisch die Zunahme gegenseitiger Beobachtungsverhältnisse der sozialen Systeme zu nennen: „Ob wir auf der Ebene von Individuen, von Organisationen oder von sozialen Systemen überhaupt argumentieren, in jedem Fall beobachten die jeweils relevanten Einheiten einander mit zunehmender Häufigkeit und Intensität, darin gestützt durch die Möglichkeit der Verbreitung von Kommunikation. Beobachtungen erfolgen auf der Ebene der kategorialen Zugehörigkeit und kategorialen Selbstzurechnung: Staaten beobachten Staaten, Zentralbanken andere Zentralbanken, fundamentalistische Sekten andere fundamentalistische Sekten und Individuen schließlich andere menschliche Wesen mit Anspruch auf Individualität.“36

Die hohe Intensität der Beobachtungsverhältnisse schafft die Möglichkeit für eine schnelle Übernahme und Anpassung von Neuerungen weltweit in verschiedenen Bereichen. Bei der Untersuchung der massenmedialen Diffusionsprozesse sollen folglich Übernahme und Adaption der funktionssystemischen Strukturen (Entscheidungskriterien, Organisationsmuster, Selbstbeschreibun-

33 Zur Rolle der transnationalen Konzerne im Mediensystem vgl. Meier, 1999: Wandel durch Kommerzialisierung: Transnational operierende Medienkonzerne strukturieren Öffentlichkeit und Märkte: 61-76. 34 Weil der Begriff der institutionellen Muster zur stark an die Theorie des Neoinstitutionalismus angelehnt ist, möchte ich ihn hier durch die Bezeichnung standardisierte Muster ersetzten. Unter solchen Mustern verstehe ich systemische Strukturen verschiedener Art: sowohl strukturelle Aspekte der Funktionssysteme (Programme, Rollen, Semantiken u.a.) als auch strukturelle Aspekte von Organisationen (z.B. Entscheidungsprogramme). 35 Stichweh, 2000c: 256. 36 Ebd.: 255.

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gen, massenmedialer Produkte) berücksichtigt werden.37 Kommen weltweite Nachahmungsprozesse in Gang, können die standardisierten Muster bei der Übernahme dem regionalen Kontext in verschiedenem Maße angepasst werden (s. Tab. 2). Tabelle 2: Typisierung globaler Diffusionsprozesse Typen der Diffusionsprozesse

Ausprägungen

schwache Diffusion (Beobachtung, Monitoring, Information) mittlere Diffusion (Kommunikation, Dialog, Konferenzen) starke Diffusion (Übernahme)

unklare Diffusion (Indikatoren der Übernahme von Anderen, ohne Quelle zu kennen) klare Diffusion (Übernahme von anderen mit Nennung der Quelle)

negative Diffusion (Ablehnung)

unklare negative Diffusion klare negative Diffusion

totale Diffusion

(organisatorische) Dominanz transformiert in Diffusion Homogenisierungstendenzen

Quelle: Becker, 2001: Diffusion und Globalisierung: 337-338, Überarbeitung durch die Verfasserin.

Hervorzuheben ist, dass hier keine Notwendigkeit weltweiter Angleichung von standardisierten Kommunikationsmustern postuliert wird. Homogenisierung ist nur eine von diversen Ausprägungen der Diffusionsprozesse. Anstelle ausschließlicher Homogenisierung besagt die Annahme der globalen Diffusion, dass für die Übernahmeprozesse von standardisierten Mustern ein begrenzter Vorrat von Semantiken zur Verfügung steht.38

37 Zu Anpassungsprozessen globaler massenmedialer Muster vgl. Stöber, 2000: Die Adaption und Diffusion von Medienkonzepten als Motor der Ausdifferenzierung des Mediensystems: 59-75; vgl. auch: Siegert, 2000: Branding – Medienstrategie für globale Märkte: 85-86. 38 Zum globalen Themenvorrat vgl. Stäheli, 2000: Die Kontingenz des globalen Populären: 85-111.

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Globale Vernetzung Die Argumente für die globale Dimension der Vernetzungsprozesse finden sich außer in der Systemtheorie in den Netzwerktheorien39 sowie in der Informationstheorie von Manuel Castells.40 Systemtheoretisch ist globale Vernetzung durch die Einschließung jedes einzelnen kommunikativen Akts in die Sequenz von Kommunikationen gekennzeichnet. Stichweh erläutert dies anhand von zwei Hypothesen, die er auf die Systemtheorie und auf die Netzwerktheorie anwendet. Für den Vollzug der Weltgesellschaft ist entscheidend, „dass in jeder einzelnen Interaktion ein Und-so-weiter anderer Kontakte der Teilnehmer präsent ist“.41 Deshalb wird diese Hypothese von Stichweh als die Und-so-weiterHypothese bezeichnet. Nach dieser Hypothese ist nicht die Überschreitung der gewaltigen zeitlichen und räumlichen Abstände durch jede einzelne Kommunikation für die Dynamik der sich globalisierenden Funktionssysteme ausschlaggebend. Jede einzelne Kommunikation bietet, netzwerktheoretisch gesehen, das Potential, an anschließenden Kommunikationen teilzuhaben: „Erst dies eröffnet die Möglichkeit weltweiter Verflechtungen, eine Möglichkeit, die wiederum als Selektivitätsbewusstsein in der einzelnen Interaktion relevant wird und auf diese Weise in die Interaktionssteuerung eingreift.“42 Die Annahme der Und-so-weiter-Ketten wird durch die so genannte Dekontextualisierungshypothese gestützt. Diese betont eine der kennzeichnenden Bedingungen der modernen Gesellschaft: vor allem funktionale Differenzierung und symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien. Die Ausdehnung der Netzwerkketten ist also nur dann möglich, wenn vorliegende funktionale Spezifikationen die Kommunikation von den herkömmlichen Kontexten entbinden. Das heißt, im Rahmen der funktionssystemischen Kommunikation verlieren andere (lokale, überlieferte) Ansprüche an orientierender Bedeutung. Die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien wie z.B. Geld, Macht, Wahrheit und Liebe sichern zusätzlich die Entkopplung der funktionssystemischen Kommunikation von herkömmlichen lokalen Kontexten. Im Unterschied zu globalen Diffusionsprozessen bringt die globale Netzwerkbildung ein Überraschungspotential mit sich einher: „Einerseits wird den Vernetzungen durch die ordnungsbildenden Abstraktionen der Funktionssysteme eine vereinheitlichte Struktur auferlegt; andererseits wird man bei von Ereignis zu Ereignis, von Kommunikation zu Kommunikation, von tie zu tie fortschreitenden Wirkungen mit überraschenden Veränderungen und Diskontinuitäten rechnen können, die nicht – wie dies für den ersten Mechanismus [der Diffusion]

39 Zu Netzwerktheorien vgl. ausführlich Weyer, 2000: Soziale Netzwerke: 1-29, 63-76; vgl. hierzu auch: Sydow/Windeler, 2000: Steuerung von und in Netzwerken: 1-25. 40 Vgl. Castells, 2001: Bausteine einer Theorie der Netzwerkgesellschaft: 423-441. 41 Stichweh, 2000c: 257. 42 Ebd.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE? der Fall ist – durch einen schmalen set von in der Diffusion erfolgreichen Modellen renormalisiert werden.“43

Weil die modernen Organisationen aufgrund ihrer Sachspezialisierung für die weltgesellschaftliche Dynamik von besonderer Bedeutung sind, sind vor allem die Vernetzungen zwischen Organisationen für die Untersuchung funktionssystemischer Globalisierung besonders interessant. Bei den Untersuchungen massenmedialer Vernetzung wird es sich deshalb insbesondere um die Vernetzung zwischen massenmedialen Organisationen handeln.44

Strukturelle Vernetzung durch Globalisierungsprozesse Die globalisierten Massenmedien weisen eine bestimmte innere Strukturierung auf.45 Wenn massenmediale Strukturen in einer Weltregion (wie z.B. im neuen Russland) entstehen, wirken sich die schon entwickelten Medienregeln auf den entstehenden Kommunikationstyp aus. Das heißt, die innere Strukturierung der regional neuen Medienstrukturen wird von den globalisierten funktionssystemischen Strukturen beeinflusst.46 Wenn diese junge Medienkommunikation (zu einem späteren Zeitpunkt) die gleichen Typen von Strukturen aufweist wie globalisierte Massenmedien (wie auch immer diese ausgeprägt sind), dann wird dieser Kommunikationstyp zum Teil des globalisierten Funktionssystems der Massenmedien. Mit anderen Worten: Das massenmediale Funktionssystem, das sich schon in verschiedenen Regionen der Welt ausdifferenziert hatte, konditioniert den (regionalen) Entstehungsprozess autopoietischer Massenmedien in Russland. Aus dieser Perspektive wird deutlich, welche Rolle massenmediale Globalisierungsprozesse für die Ausdifferenzierung der Massenmedien in Russland spielen. Die medialen Globalisierungsprozesse sind dann das Bindeglied zwischen dem regionalen Entstehungskontext und den gegebenen globalisierten funktionssystemischen Strukturen. Sie vernetzen regionale mit globalen Strukturen und machen die russischen Massenmedien in langfristiger Perspektive zum Teil der Welt-Massenmedien. Strukturelle Ungleichheiten werden durch Globalisierungsprozesse vergleichbar gemacht. Globalisierungsprozesse be43 Ebd.: 261. 44 Zur globalen Vernetzung innerhalb der Massenmedien vgl. Karmasin, 1998: 131, 134. Kleinsteuber/Thomaß, 1996: 125-144. 45 Diese Strukturen sind Code, Trennung zwischen Produktion und Rezeption, Programme, Rollen, Organisationstypen, Reflexion, wie sie im I.3.1 beschrieben wurden. Vgl. hierzu z.B. Görke/Kollbeck, 1996: (Welt-)Gesellschaft und Mediensystem: 263-281; zur geographischen Strukturierung des Mediensystems vgl. z.B. Krätke, 2002: Medienstadt. 46 Robertson bezeichnet ein solches Phänomen mit dem Begriff der Glokalisierung, die als Interpenetration zwischen globalen Mustern und lokalen Strukturen zu verstehen ist. Vgl. Robertson, 1998: Glokalisierung: Homogenität und Heterogenität im Raum und Zeit: 192-221.

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einflussen die Formen, die die entstehenden regionalen Strukturen annehmen, und sie realisieren die Interpenetration zwischen regionalen und globalen Strukturen. An dieser Stelle möchte ich eine Hypothese über die Bedingungen der massenmedialen Ausdifferenzierung im neuen Russland formulieren: Hypothese 2: Folgende Bedingungen waren begünstigend für die Ausdifferenzierung autopoietischer Massenmedien in der Sowjetunion ab 1985/86: 2a) Erosion parteilicher Kontrollmechanismen und Herausbildung massenmedialer Märkte, 2b) globale massenmediale Prozesse: globale Diffusion massenmedialer Entscheidungskriterien und massenmedialer Inhalte sowie globale Vernetzung auf der Ebene der massenmedialen Organisationen.

4 . 4 A n s t e l l e e i n e r Zu s a m m e n f a s s u n g Das hier entwickelte Konzept dient als Grundlage für die Rekonstruktion des massenmedialen Ausdifferenzierungsprozesses im neuen Russland. Einen Überblick über das Konzept gewinnt der Leser in Tabelle 3. Die Ausarbeitung der einzelnen Etappen des massenmedialen Ausdifferenzierungsprozesses sowie ihre soziologische Rekonstruktion findet im anschließenden zweiten Teil der Arbeit statt.

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Quelle: Eigene Ausarbeitung.

massenmediale Reflexionstheorien.

massenmediale Entscheidungskriterien,

massenmediale Organisationen,



endogen: • Diffusion massenmedialer Entscheidungskriterien und Inhalte; • Vernetzung massenmedialer Organisationen.



Produktion und Publikum (= Leistungs- und Publikumsrollen), •

exogen: • Erosion parteilicher Kontrollmechanismen; • Entwicklung massenmedialer Märkte.



massenmedialer Code, vollständige Ausdifferenzierung einzelner Ebenen; wachsende Distanz zwischen den Ebenen; Anerkennung des systemischen Leitwerts in der gesellschaftlichen Umwelt und Generalisierung der Nachfrage nach eigenen Leistungen; Scheitern der Steuerungsansprüche aus der Umwelt und insbesondere der Steuerungsansprüche des Staates.

Bedingungen

Kriterien für Ingangsetzung/Beendung der Ausdifferenzierung

Ausdifferenzierungsebenen der Massenmedien

Tabelle 3: Das Konzept massenmedialer Ausdifferenzierung im postsowjetischen Russland





Öffnung auf sachlicher und zeitlicher Ebene; Dezentralisierung der Organisationsgesellschaft und Herausbildung von Funktionssystemen.

Bezugsprobleme

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II. SOZIOLOGISCHE REKONSTRUKTION MASSENMEDIALER AUSDIFFERENZIERUNG AM BEISPIEL DES RUSSISCHEN FERNSEHENS

0. M ETHODISCHES V ORGEHEN

0.1 Fallstudie als Forschungsdesign Falldefinition Bei dem Untersuchungsdesign der Studie handelt es sich um ein Fallmodell. Für dieses Untersuchungsdesign ist kennzeichnend, „dass in der Analyse einer historischen Konkretion eines Falls das Verhältnis vom Allgemeinen und Besonderen von vornherein thematisch ist. Es kommt darauf an zu rekonstruieren, wie der Fall seine spezifische Wirklichkeit im Kontext allgemeiner Bedingungen konstruiert hat.“1 Als Fall wird in dieser Studie der Prozess der Ausdifferenzierung eines Funktionssystems der Massenmedien im neuen Russland definiert. Der massenmediale Ausdifferenzierungsprozess wird am Beispiel des russischen Fernsehens herausgearbeitet, da sich im Vergleich zu anderen Medien das Fernsehen durch die größte soziale Reichweite auszeichnet. Der Ausdifferenzierungsprozess wird deshalb im Bereich des sowjetischen Fernsehens und des postsowjetischen Fernsehens rekonstruiert. Was die zeitliche Abgrenzung des Untersuchungszeitraums betrifft, so wird das sowjetische Fernsehen zwischen 1970 und 1985 untersucht. Den Beginn des massenmedialen Wandels datiere ich auf 1985/1986. Das noch-sowjetische – und später das postsowjetische – Fernsehen wird im Zeitraum von 1985 bis 2005 untersucht. Bei der Untersuchung der organisatorischen Restrukturierung des sowjetischen/russischen Fernsehens wurden die so genannten führenden zentralen Fernsehsender der Sowjetunion/der Russischen Föderation berücksichtigt. Als zentrale Fernsehsender werden hier sowohl die Sender mit landesweiter als auch Sender mit überregionaler Reichweite bezeichnet (s. II.0.4). Die Ausdifferenzierung regionaler und städtischer Fernsehstationen kann in dieser Arbeit aus forschungspraktischen Gründen nicht berücksichtigt werden. Folgende Aspekte sind Gegenstand der Fallrekonstruktion: • der Prozess der Ausdifferenzierung des Funktionssystems der Massenmedien im neuen Russland, • die Erosion parteilicher Mechanismen zur Kontrolle der Massenmedien im neuen Russland als Bedingung massenmedialer Ausdifferenzierung,

1 Hildenbrand, 1991: Fallrekonstruktive Forschung, in: Flick/von Kardorff/Keupp/ von Rosenstiel/Wolff (Hrsg.): Handbuch qualitative Sozialforschung: 257.

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die Globalisierungsprozesse des Weltsystems der Massenmedien: globale Diffusion und globale Vernetzung als Bedingung massenmedialer Ausdifferenzierung.

Demzufolge sollen der massenmediale Entstehungsprozess selbst, seine Bedingungen und seine Eigenlogik im Mittelpunkt der Fallrekonstruktion stehen. Das Ziel meiner Fallrekonstruktion ist es, kausal-genetische Vorgänge im Prozess der massenmedialen Konstitution im neuen Russland herauszuarbeiten. Bei der Auswahl dieses Falls spielten die Zugangsmöglichkeiten zum Material eine entscheidende Rolle. Die Kenntnis der russischen Sprache sowie Kontakte zu Vertretern russischer Medien beeinflussten meine Entscheidung, den massenmedialen Wandlungsprozess in Russland und nicht in anderen postsowjetischen Ländern zu untersuchen. Inhaltlich wird der Fall auf zwei Arten eingegrenzt. Zum einen erfolgt die inhaltliche Abgrenzung des Falls durch ein Kategorienschema, das bei der Konzeptspezifikation von Hypothesen entwickelt wurde (s. II.0.2, Tab. 4 und 5). D.h. die Datenerhebung und Datenanalyse werden gestoppt, wenn diese Kategorien aufgearbeitet sind. Zum anderen dienen spezielle inhaltliche Dimensionen der Eingrenzung des Falls. Diese Dimensionen sind Duale, die im Theorieteil der Arbeit aus den Charakteristika zweier Gesellschaftsformen (der sowjetischen Organisationsgesellschaft und der funktionalen Differenzierungsform) entwickelt wurden: • Zentralisierung vs. funktionale Differenzierung, • Minimierung sozialer Distanz zwischen einzelnen Systemtypen vs. Vergrößerung der sozialen Distanz, • Geschlossenheit vs. Offenheit, • Trennung zwischen formeller und informeller Ebene vs. Minimierung dieser Trennung. Der Prozess massenmedialer Ausdifferenzierung wird in Bezug auf diese vier Dimensionen analysiert. Sowohl das Kategorienschema als auch die inhaltlichen Dimensionen bestimmen in dieser Studie die Fallstrukturierung (s. II.0.2, Tab. 6 und 7). Durch ihre Anwendung wird das Fallmaterial in Abhängigkeit von Theorie und Fragestellung in einzelne Kategorien und Abschnitte geordnet.

Methoden der Materialsammlung und der Datenanalyse Bei der Materialsammlung wurden verschiedene Datenquellen kombiniert (Triangulation).2 Als Hauptgrundlage für die Fallrekonstruktion dienten die Sekundärquellen: soziologische Studien über den massenmedialen Wandel in 2 Ebd.: 432 ff.

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METHODISCHES VORGEHEN

Russland. Außerdem wurden so genannte Experteninterviews (n=32) mit Vertretern des russischen Fernsehens durchgeführt (2001). Schließlich führte ich zusätzlich zahlreiche Internetrecherchen zum untersuchten Thema durch. Alle Texte wurden mit Hilfe der strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet.

Sekundärquellen Die Verwendung von bereits durchgeführten Studien über den massenmedialen Wandel im neuen Russland erlaubt die Rekonstruktion einer langfristigen zeitlichen Perspektive. Der Vorteil der Analyse mehrerer Sekundärquellen ist zudem, dass eine Berücksichtung unterschiedlicher Systemebenen (vor allem der Organisations- und Gesellschaftsebenen), die aufgrund der Fallstrukturierung erforderlich ist, möglich wird. Daher betrachte ich es nicht als Nachteil, dass die durchgeführten soziologischen Studien Konstruktionen der Forscher sind, die bereits vorselegiertes Wissen liefern. Auf der Basis dieser Daten „konstruiere“ ich mit Hilfe meines theoriegeleiteten Kategoriensystems eine neue wissenschaftliche Beschreibung der medialen Wandlungsprozesse im neuen Russland. Die Auswahl der Studien richtete sich nach zeitlichen und inhaltlichen Vorgaben, die aus der Fragestellung abgeleitet waren. Herangezogen wurden Studien über die russischen Medienstrukturen im Allgemeinen und über das sowjetisch-russische Fernsehen im Besonderen, die im Zeitraum zwischen etwa 1970 und 2005 entstanden sind.3 Die Sekundärquellen wurden mit Hilfe der strukturierenden Inhaltsanalyse ausgewertet.4 Das Ziel der strukturierenden Inhaltsanalyse ist eine eindeutige Zuordnung des Textmaterials zu den theoriegeleiteten Kategorien. Diese Kategorien werden auch als Strukturierungsdimensionen bezeichnet. Zu diesem Zwecke wird ein Kategoriensystem entwickelt. Anschließend kann die Auswertung beginnen. Bei mir diente die Hypothesenspezifikation als ein solches Kategoriensystem (vgl. Kap. II.0.3 sowie Tab. 4 u. 5). Es wurde bereits aus den Hypothesen abgeleitet. Die einzelnen Variablendimensionen in diesem Schema dienten als Strukturierungsdimensionen bei der Inhaltsanalyse. Anschließend wurden die Schlüsselbeispiele an konkreten Textstellen formuliert. Die Bearbeitung des Materials erfolgte in zwei Schritten: Zunächst wurden die Stellen in den Texten gekennzeichnet, die den Kategorien zugeordnet werden sollten. Danach wurden die je nach Art der Strukturierung markierten Inhalte herausgegliedert, analysiert und interpretiert. Anschließend wurden die Kategorien entsprechend den oben genannten theoretischen Dimensionen eingeschätzt. 3 Zur Liste der Sekundärquellen vgl. das Verzeichnis im Anhang. 4 Zur qualitativen Inhaltsanalyse vgl. Mayring, 2002: Einführung in die qualitative Sozialforschung: 118-121.

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Experteninterviews mit den Vertretern des russischen Fernsehens Die Analyse von bereits durchgeführten Studien allein konnte nicht die vollständige Fallrekonstruktion sichern. Da es für die aktuellen Entwicklungen der russischen Medienstrukturen wenige Studien gibt, habe ich problemzentrierte Interviews mit Vertretern des russischen Fernsehens durchgeführt (n=32). Der Fragebogen wurde so formuliert, dass die durch die Interviews gewonnenen Daten für die Analyse des Medienwandels sowohl für die dritte (Ende 1995 bis Anfang 2000) als auch für die vierte Phase des Wandels (ab 2000) verwendbar sind. Ausgewählt wurden Interviewpartner (Journalisten und Redakteure), die in den landesweit führenden zentralen Fernsehsendern tätig waren. Die Auswahl richtete sich nach dem Forschungsinteresse der Studie, die führenden – und nicht regionale – Fernsehsender zu untersuchen. In Anlehnung an das Kategoriensystem (vgl. Tab. 4 u. 5) wurde für die Interviews ein Leitfaden mit offenen Fragen in russischer Sprache formuliert.5 Die Interviews wurden auf Tonbandgerät aufgenommen und anschließend in normales Schriftrussisch transkribiert. Für jedes Interview wurde ein Kommentar angefertigt. Nach der Transkription wurden die Interviews mit Hilfe der strukturierenden Inhaltsanalyse ausgewertet. Wie bei der bereits oben geschilderten Vorgehensweise wurden mit Hilfe des Kategoriensystems bestimmte Aspekte aus dem Textmaterial herausgegliedert, interpretiert und den theoretischen Dimensionen zugeordnet.

Internetrecherche Zusätzlich zu den Experteninterviews wurden für die jüngere Entwicklung der russischen Medienstrukturen (ab 2000) Internetdaten hinzugezogen. Dabei handelt es sich um Informationen verschiedener Art: von Experteninterviews, die auf Homepages der russischen Medieninstitute veröffentlicht sind, bis hin zu Informationen über einzelne Medienorganisationen auf den Homepages der Medienverbände.6 Bei meinen Recherchen wurden die Grenzen der Erhebung zeitlich und inhaltlich festgelegt. Zeitlich begrenzten sich die Daten auf den Zeitraum von 2000 bis 2005. Ausgewertet wurden die Internetdaten, je nach Art der Information, mit Hilfe der strukturierenden Inhaltsanalyse. Wie bereits erläutert, wurden relevante Inhalte Hilfe des theoriegeleiteten Kategoriensystems nach Strukturierungsdimensionen (Kategorien) ausgegliedert und interpretiert.

5 Zum Interviewleitfaden vgl. Anhang. 6 Zu Internetadressen vgl. Verzeichnis der Internetquellen der Studie.

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METHODISCHES VORGEHEN

Fallstrukturierung Die Strukturierung des Falls erfolgte in Abhängigkeit von Theorie und Fragestellung der Studie. Das Material wurde nach theoriegeleiteten Kategorien erhoben, analysiert und interpretiert (s. II.0.2). Die Fallgenerierung wird abgeschlossen, wenn der Untersuchungszweck erfüllt ist und die Fallstrukturierung rekonstruiert werden kann. Anschließend wird der Fall in einen Zusammenhang mit medientheoretischen Thesen gesetzt (siehe II.6). Auch die zeitliche Strukturierung des Falls erfolgt theoriegeleitet. Demnach wird der Prozess der Ausdifferenzierung der autopoietischen Massenmedien in Phasen eingeteilt, die der inneren Logik des Prozesses gemäß ausgegliedert werden: • In der Vorphase (1970-1985) wurde der Status quo des sowjetischen Fernsehens beschrieben. Die Fernsehorganisation ist zentralisiert und der kommunistischen Partei hierarchisch untergeordnet. In dieser Phase sind sowjetische Medien als Propagandamedien charakterisierbar. • Die 1. Phase des medialen Wandels (1986-1991) zeichnet sich durch Erosion parteilicher Kontrollmechanismen des Fernsehens aus. In dieser Phase bilden sich der massenmediale Code und einzelne Entscheidungskriterien der Medien – wie Aktualität und Objektivität – aus. Diese Phase wird durch Unterstellung der Fernsehorganisation der neuen russischen Regierung und den Zerfall der Sowjetunion im Dezember 1991 abgeschlossen. • Die 2. Phase des Wandels (Ende 1991 bis Ende 1995) ist durch Pluralisierung der Organisationstypen im russischen Fernsehen gekennzeichnet. Dadurch wird die hierarchische Unterordnung des Fernsehens unter den (neuen) Staat aufgehoben. Die Innendifferenzierung der Fernsehproduktion in drei Bereiche – Nachrichten/Berichte, Werbung und Unterhaltung – sowie Ausdifferenzierung der medialen Märkte in diesen Bereichen führen zur Steigerung der massenmedialen Innendifferenzierung. • Die 3. Phase (Ende 1995 bis Anfang 2000) des medialen Wandels in Russland ist durch die Ambivalenz der medialen Produktionsstrukturen im russischen Fernsehen charakterisierbar. Neben genuin massenmedialen Strukturen existieren im Bereich der Medienproduktion gesetzlich unzulässige, informell verankerte Strukturen. Mechanismen wie Schmiergeld, Tauschbeziehungen und personelle Netzwerke bringen einen Typ der medialen Kommunikation hervor, den ich als Kommunikation der informellen PR bezeichne. • Ab 2000 gewinnen die staatlichen Kontrollmechanismen des Fernsehens, wie z.B. (Teil-)Monopolisierung des Fernseheigentums, Zensur, Einwirkung auf die redaktionelle Linie, Behinderung des Zugangs zur Information, an Aktualität. In dieser 4. Phase des Medienwandels strebt der Staat die hierarchische Unterordnung des Fernsehens an. Allerdings kann sich die massenmediale Kommunikation aufgrund der Pluralität der Organisationstypen im Fernsehen (und in anderen Medien) nach wie vor weiter reproduzieren. 127

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Die Periodisierung des medialen Wandels im neuen Russland erfolgte anhand der Kategorien, die im Ausdifferenzierungsmodell ausgearbeitet wurden (vgl. I.4.4). Zum einen wurde auf die Entstehung (oder Nicht-Entstehung) der Ausdifferenzierungsebenen (Code, Leistungs- und Publikumsrollen, Entscheidungskriterien, Organisationen, Reflexionstheorien) geachtet, zum anderen wurde an die Indikatoren gedacht, die auf den Abschluß der massenmedialen Ausdifferenzierung hinweisen (vollständige Ausdifferenzierung einzelner Ebenen, wachsende Distanz zwischen den Ebenen, Anerkennung des systemischen Leitwerts in der gesellschaftlichen Umwelt und Generalisierung der Nachfrage nach eigenen Leistungen, Scheitern der Steuerungsansprüche aus der Umwelt und insbesondere des Staates). Außerdem habe ich bei der Phaseneinteilung auf den Grad der Herausbildung anderer medialer Formen (Propaganda und Public Relations) geachtet. Das heißt, nicht die politischen oder wirtschaftlichen Vorgänge bestimmen die Phaseneinteilung, sondern die inneren Entstehungsprozesse der massenmedialen Strukturen. Eine Fallzusammenfassung wird am Ende der Studie präsentiert (siehe II.6).

0.2 Spezifikation von Hypothesen Die Leitfrage dieser Arbeit lautet: Wie strukturiert sich der mediale Wandel im neuen Russland? Im Theorieteil der Arbeit sind die Hypothesen medienübergreifend formuliert worden, da der massenmediale Ausdifferenzierungsprozess – so die theoretische Implikation – als medienübergreifende Absonderung eines Funktionssystems zu verstehen ist. Aus den theoretisch abgeleiteten Hypothesen soll nun ein Kategoriensystem entwickelt werden, das die Bearbeitung und Analyse des Untersuchungsmaterials erlaubt. Dieser Vorgang erfolgt in zwei Schritten: Im ersten Schritt werden aus den Hypothesen einzelne Variablen und Variablendimensionen ausgegliedert. Im zweiten Schritt werden die Variablendimensionen mit Dualen in Verbindung gesetzt, die den Gesellschaftswandel im neuen Russland charakterisieren. Hypothese 1: Für die sowjetische Organisationsgesellschaft war der Medientyp der Propagandakommunikation charakteristisch. Hypothese 2: Folgende Bedingungen waren ausschlaggebend für die Ausdifferenzierung autopoietischer Massenmedien in der Sowjetunion ab 1985/86: 2a) exogene Bedingungen: Erosion parteilicher Kontrollmechanismen und Herausbildung massenmedialer Märkte, 2b) endogene Bedingungen: Prozesse der Globalisierung des Weltsystems der Massenmedien: globale Diffusion massenmedialer Entscheidungskriterien und massenmedialer Inhalte sowie globale Vernetzung auf der Ebene der massenmedialen Organisationen.

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Tabelle 4: Konzeptspezifikation für die erste Hypothese Variablen

Indikatoren der Propagandakommunikation

• Orientierung der Kommunikation am Machtcode: parteitreu/ parteifeindlich, • hierarchische Unterordnung der Medienorganisationen unter die Partei, • Einspeisung parteilicher Programme (Regeln) in die massenmedialen Programme (Regeln), • Ersetzung der journalistischen Rollen durch andere, parteiliche Rollen, • eine hierarchische Beziehung zwischen der Propagandaproduktion und dem Publikum: 1. Konstruktion des Publikums als ‚Masse’ durch Produktionsstrukturen der Propaganda, 2. Erzwingen der Anschlusskommunikation, 3. Abwesenheit von Beobachtungsinstanzen zwischen der Propagandaproduktion und dem Publikum. Quelle: eigene Ausarbeitung Variablendimensionen

Indikatoren autopoietischer Massenmedien • Code (Information/NichtInformation), • Autonomie massenmedialer Organisationen, • Programme der massenmedialen Produktion (Suche, Selektion, Überprüfung, Darstellung von Information), • journalistische Rollen, • massenmediale Selbstbeschreibungen, • nicht-hierarchische Beziehung zwischen Medienproduktion und Publikum: 1. Berücksichtigung der Publikumserwartungen in der Medienproduktion, 2. freiwillige Anschlusskommunikation seitens des Publikums, 3. Beobachtungsinstanzen zwischen Medienproduktion und Publikum.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

Tabelle 5: Konzeptspezifikation für die zweite Hypothese Vari- Erosion parteilicher Kontrollablen mechanismen der Medien Vari• Orientierung der quasi-massenablenmedialen Kommunikation am dimenMachtcode parteifreundlich/ sionen parteifeindlich schwächt ab und löst sich auf; • die hierarchische Unterordnung der Medienorganisationen unter der Partei wird aufgehoben; • Formen und Mechanismen, die diese hierarchische Unterordnung gewährleisten, werden aufgehoben.

Herausbildung massenmedialer Märkte

Massenmediale Globalisierungsprozesse: 1. Diffusion der Inhalte und der Entscheidungskriterien 2. Vernetzung auf Organisationsebene

Herausbildung autopoietischer Massenmedien

• Übernahme und Adaption massenmedialer Inhalte, • Übernahme und Adaption massenmedialer Entscheidungskriterien, Kooperation/Beobachtung/ Kontakte mit international tätigen Medienunternehmen.

• Herausbildung des massenmedialen Codes (Information/ Nicht-Information), • nicht-hierarchische Beziehung zwischen Medienproduktion und Publikum: 1. freiwillige Anschlusskommunikation seitens des Publikums, 2. Beobachtungsinstanzen zwischen Medienproduktion und Publikum, 3. Berücksichtigung der Publikumserwartungen in der Medienproduktion. • Entstehung massenmedialer Programme (Suche, Selektion, Überprüfung und Darstellung von Information), • Entstehung neuer Typen massenmedialer Organisationen, • Herausbildung journalistischer Rollen, • Entstehung massenmedialer Selbstbeschreibungen.

Quelle: eigene Ausarbeitung

130

• Vorhandensein monetärer Tauschbeziehungen, • Vorhandensein wirtschaftlicher Organisationen, • Kommerzialisierung massenmedialer Produkte, • Profit in massenmedialen Organisationen wird möglich.

METHODISCHES VORGEHEN

Die in der Konzeptspezifikation gewonnenen Variablendimensionen werden nun auf die theoretischen Dimensionen angewendet, die den gesellschaftlichen Übergangsprozess im postsowjetischen Russland charakterisieren: • Zentralisierung versus Funktionale Differenzierung, • Minimierung sozialer Distanz zwischen einzelnen Systemtypen versus Vergrößerung der sozialen Distanz, • Geschlossenheit versus Offenheit, • Trennung zwischen formeller und informeller Ebene versus Minimierung dieser Trennung. Diese Anwendung bringt zwei idealtypische Modelle hervor: ein Modell der Propagandakommunikation und ein Modell des Ausdifferenzierungsprozesses im neuen Russland. Tabelle 6: Konzeptspezifikation für Propagandakommunikation in der Sowjetunion Dimension

Dimensionenspezifikation

Zentralisierung

• durch Orientierung der Kommunikation am Machtcode: parteitreu/parteifeindlich, • durch hierarchische Unterordnung der Medienorganisationen unter die Partei (durch parteiliche Kontrollmechanismen der Medien), • durch die Ersetzung der journalistischen Rollen durch parteiliche Rollen (z.B. Propagandist, Agitator u.a.), • durch eine hierarchische Beziehung zwischen Propagandaproduktion und Publikum: 1. Konstruktion des Publikums als ‚Masse’ durch die Produktionsstrukturen der Propaganda, 2. Erzwingung der Anschlusskommunikation seitens des Publikums, 3. Abwesenheit von Beobachtungsinstanzen zwischen Propagandaproduktion und Publikum.

Minimierung der Distanz zwischen den Systembildungsebenen

durch die Durchdringung der parteilichen Programme (Regeln) in die massenmedialen Programme (Regeln)

Trennung zwischen formeller und informeller Ebene

neben Propagandamedien existieren informelle Medien

Geschlossenheit

zentrale Stellung der parteilichen Inhalte in den medialen Inhalten

Quelle: eigene Ausarbeitung

131

PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

Tabelle 7: Konzeptspezifikation für die Ausdifferenzierung der autopoietischen Massenmedien im postsowjetischen Russland Dimension

Dimensionenspezifikation

Dezentralisierung/funktionale Differenzierung

• Orientierung der quasi-massenmedialen Kommunikation am Machtcode parteifreundlich/parteifeindlich schwächt ab und löst sich auf; • Die hierarchische Unterordnung der Medienorganisationen unter die Partei wird aufgehoben ļ Erosion parteilicher Mechanismen zur Kontrolle der Medien; • Entstehung der Strukturen des Funktionssystems der Massenmedien: Code, Leistungs- und Publikumsrollen, Entscheidungskriterien, Organisationen, Reflexionstheorien; • nicht-hierarchische Beziehung zwischen der Medienproduktion und dem Publikum 1. freiwillige Anschlusskommunikation seitens des Publikums, 2. Beobachtungsinstanzen zwischen Medienproduktion und Publikum, 3. Berücksichtigung der Publikumserwartungen durch die Medienproduktion.

Maximierung der Distanz zwischen den Systembildungsebenen

• die parteilichen Programme (Regeln) verschwinden aus den massenmedialen Programmen (Regeln), • Entstehung massenmedialer Entscheidungskriterien (Suche, Selektion, Überprüfung, Darstellung von Information).

Trennung zwischen formeller und informeller Ebene nimmt ab

informelle Medien verschwinden.

Offenheit

• zentrale Stellung der Parteiinhalte unterliegt Erosion, • es entwickelt sich eine prinzipielle Themenoffenheit der Medien, • Prozesse massenmedialer Globalisierung werden in Gang gesetzt.

Quelle: eigene Ausarbeitung

132

METHODISCHES VORGEHEN

Die Untersuchung der medialen Formen von Propaganda und Massenmedien wird sich an diesen Modellen orientieren. Die Konzeptspezifikation dient als Kategoriensystem für die inhaltsanalytische Arbeit.

0.3 Gütekriterien der Fallstudie Die Gütekriterien der qualitativen Sozialforschung können aufgrund eingeschränkter Standardisierbarkeit der Methoden in dieser Fallstudie nicht herangezogen werden: „Viele Formen von Objektivität, Reliabilität und Validität wurden für standardisierte Forschung entwickelt und sind daher nur bedingt auf qualitative Forschung übertragbar.“7 Denn qualitative Sozialforschung zeichnet sich durch die Pluralität der Herangehensweisen aus. Die Übernahme allgemeingültiger Gütekriterien würde dem Charakter dieses Zuganges widersprechen. Deshalb habe ich mich bei der Methodenwahl und dem Untersuchungsdesign an den Kernkriterien der qualitativen Sozialforschung orientiert: 1) intersubjektive Nachvollziehbarkeit, 2) Indikation des Forschungsprozesses8 und 3) Methodenkontrolle.9 1) Die intersubjektive Überprüfbarkeit wird in der qualitativen Sozialforschung durch intersubjektive Nachvollziehbarkeit ersetzt, weil qualitatives Vorgehen wenig standardisiert ist. Die intersubjektive Nachvollziehbarkeit kann u.a. durch Dokumentation des Forschungsprozesses gewährleistet werden.10 Gemäß dieser Forderung habe ich die Erhebungs- und Auswertungsmethoden dieser Studie erläutert (vgl. II.0.1) 2) Mit dem Kriterium der Indikation wird der Anspruch auf Angemessenheit des gesamten Forschungsprozesses bezeichnet. Zum einen soll hier die Angemessenheit der qualitativen Arbeitsweise bezüglich der Fragestellung der Untersuchung gewährleistet werden. Zum anderen soll die Methodenwahl dem Untersuchungsgegenstand angemessen sein. Gemäß der ersten Anforderung habe ich bezüglich der Fragestellung der Arbeit („Wie strukturiert sich der mediale Wandel im neuen Russland?“) und den daraus folgenden Forschungshypothesen eine mehrdimensionale Konzeptspezifikation angefertigt (vgl. II.0.1, II.0.2). Diese legte die qualitative Vorgehensweise aufgrund ihres vielschichtigen Charakters nahe. Gemäß der zweiten Anforderung habe ich die Erhebungs- und Auswertungsmethoden auf ihre Angemessenheit überprüft. Dabei gelang ich zu dem Schluss, dass eine Triangulation der Erhebungsmethoden (Analyse der Sekundärquellen, Leitfadeninterviews und Internetrecherche) die beste Herangehensweise ist, um den Verlauf des Medienwandels im langen Zeitraum von 1970 bis 2005 zu erfassen. Die qualitative Auswertung der Daten mit Hilfe der strukturierenden In7 Steinke, 2003: Güterkriterien qualitativer Forschung, in: Flick/von Kardorff/ Steinke (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch: 323. 8 Vgl. ebd.: 323 ff. 9 Vgl. Mayring, 2002: 29. 10 Vgl. Steinke: 324.

133

PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

haltsanalyse hielt ich für angemessen, weil so unterschiedlich gewonnene Daten einheitlich vor dem Hintergrund bestimmter Dimensionen analysiert und interpretiert werden können. 3) Die Methodenkontrolle soll speziell bei qualitativen Untersuchungen systematisch und nach begründeten Regeln erfolgen. Die Untersuchungsschritte müssen daher nach vorher festgelegten Regeln stattfinden. Dieser Forderung bin ich durch die Festlegung des Untersuchungsdesigns der Studie vor dem Ablauf der Untersuchung nachgegangen (vgl. II.0.1, II.0.2).11

0.4 Klassifizierungsprinzipien der Fernsehsender in der Sowjetunion/Russischen Föderation i m Ze i t r a u m v o n 1 9 7 0 b i s 2 0 0 5 Seit Beginn der Reformen fanden im russischen Fernsehen zahlreiche organisationelle Umstrukturierungen und Neugründungen statt. Da bei der Analyse der massenmedialen Ausdifferenzierung in Russland die Veränderungen auf organisationeller Ebene des Fernsehens im Mittelpunkt des Interesses stehen werden, möchte ich Klassifizierungsprinzipien des sowjetischen/russischen Fernsehens vorstellen. In der Russischen Föderation werden die Fernsehsender nach dem so genannten geographischen Prinzip klassifiziert. Danach werden Sender, die aus Moskau in die Regionen ausstrahlen, als zentral bezeichnet. Die zentralen Fernsehsender werden wiederum in föderale und nicht-föderale untergliedert. Föderale Sender haben einen speziellen juristischen Rahmen: sie sind staatlich und wurden durch Präsidentenerlass gegründet. Zu föderalen Sendern zählten 2005 Pervij Kanal, Rossija, Kultura und TVZ. Zu nicht-föderalen zentralen TV-Sendern gehörten 2005 NTV, STS, Ren-TV, TNT, Sport12, 7TV, MuzTV, MTV, TV-3, DTV, Rambler, Euronews. Pervij Kanal sowie Rossija erreichen mit 99 bzw. 98 Prozent einen Großteil der Bevölkerung der Russischen Föderation. Alle weiteren oben genannten Sender erreichen jeweils maximal 74 Prozent.13 11 Angemerkt sei, dass die drei hier angeführten Kriterien der qualitativen Forschung (intersubjektive Nachvollziehbarkeit, Indikation und Methodenkontrolle) eine ähnliche Funktion für den qualitativen Forschungsprozess aufweisen, wie die klassischen Kriterien der quantitativen Forschung – Objektivität (intersubjektive Überprüfbarkeit der Methoden), Reliabilität (Verlässlichkeit der methodischen Verfahren) und Validität (Gültigkeit der Verfahren) – für den quantitativen Forschungsprozess. Zur Konkurrenz und Vereinbarkeit der qualitativen mit den quantitativen Methoden vgl. Kelle/Erzberger, 2003: Qualitative und quantitative Methoden: kein Gegensatz, in: Flick et al., 2003: 299 ff. 12 Sport ist zwar ein staatlicher Fernsehsender, er wurde aber nicht durch den Präsidentenerlass ins Leben gerufen. 13 In Russland erfolgt die Fernsehausstrahlung auf der Grundlage unterschiedlicher Technologien: Verbreitung per bther, Kabel oder Satellit. Am stärksten hat sich

134

METHODISCHES VORGEHEN

Als regional werden die Fernsehstationen genannt, die innerhalb einer Region bzw. einer Verwaltungseinheit der Russischen Föderation Informationen verbreiten.14 Die Anzahl der regionalen Fernsehsender in der Russischen Föderation kann heute nur geschätzt werden. Ende 2003 wurden vom zuständigen Ministerium15 2070 Fernsehlizenzen ausgestellt. Viele Lizenzinhaber verzichten jedoch auf die Ingangsetzung des Fernsehbetriebs; andere Fernsehunternehmen können mehr als nur eine Lizenz vorweisen. Für das Jahr 2003 nahmen die Experten deshalb die Existenz von 1650 funktionierenden regionalen Fernsehsendern an. In jeder Region bzw. Verwaltungseinheit der Russischen Föderation existiert mindestens ein staatlicher Fernsehsender, der formell der Regierung der jeweiligen Verwaltungseinheit unterstellt ist. Die Berichterstattung über Regierungsaktivitäten sowie über lokale Wahlkampfe stellen die zentrale Thematisierungsleistung dieser Fernsehstationen dar. Diese Sender strahlen einige Stunden am Tag auf der gleichen Frequenz wie der Fernsehsender Rossija aus, was eine sehr gute Erreichbarkeit der Zuschauer sichert.16 Bei der Rekonstruktion des massenmedialen Ausdifferenzierungsprozesses werde ich nur diejenigen zentralen Fernsehsender berücksichtigen, deren Marktanteile 1 Prozent übersteigen. Diese Sender werden im weiteren als führende zentrale Fernsehsender bezeichnet. Die Sender 7TV, Muz-TV, MTV, TV-3, DTV, Rambler und Euronews werden aus diesem Grund nicht untersucht. Auch regionale und städtische TV-Sender werden in dieser Arbeit aus forschungspraktischen Gründen nicht berücksichtigt.

aber die Verbreitung im bther durchgesetzt. Die oben angegebenen Zahlen über die Erreichbarkeit der Bevölkerung durch die Fernsehsender beziehen sich auf die Verbreitung im bther (vgl. ɒɚɪɢɤɨɜ, 2003a: 10000 ɤɢɥɨɦɟɬɪɨɜ ɷɮɢɪɚ: 20 ff., in: www.acvi.ru, Datum: 10.10. 2005). 14 In manchen Fällen wird eine regionale Fernsehstation nicht nur innerhalb einer Region ausgestrahlt, sondern auch in anliegenden Gebieten. 15 Im Jahre 2004 wurde das Ministerium für Presse, Fernsehen und Massenkommunikation in Ministerium für Kultur- und Massenkommunikation umgewandelt. 16 Vgl. ɒɚɪɢɤɨɜ, 2003a: 10000 ɤɢɥɨɦɟɬɪɨɜ ɷɮɢɪɚ: 20 ff., in: www.acvi.ru, Datum: 10.10. 2005.

135

1. Q UASI -M ASSENMEDIEN UND IHRE K ONSTRUKTION DER SOZIALEN W IRKLICHKEIT IN DER S OWJETUNION AM B EISPIEL DES SOWJETISCHEN F ERNSEHENS (1970 BIS 1985)

Einleitung In diesem Kapitel werden strukturelle Charakteristika des sowjetischen Fernsehens in der Periode zwischen 1970 und 1985 vorgestellt (s. Tab. 8). Meine Hypothese bezüglich der sowjetischen Massenmedien lautet: Für die sowjetische Organisationsgesellschaft war die Propagandakommunikation kennzeichnend. Ich gehe davon aus, dass sowohl der massenmediale Code Information/Nicht-Information als auch andere systemische Strukturen (Differenzierung in Produktion und Publikum, massenmediale Entscheidungskriterien, Organisationen, Rollen) nach der Oktoberrevolution 1917 nicht hinreichend ausdifferenziert waren. Aus diesem Grund werden sowjetische Verbreitungsmedien im Weiteren als Quasi-Massenmedien bezeichnet.1 Die Hypothese werde ich im vorliegenden Kapitel am Beispiel des Fernsehens erhärten. Die Produktionsseite der quasi-massenmedialen Kommunikation bildet den Schwerpunkt dieser Untersuchung. Die Publikumsseite und die Rezeptionsprozesse werden hier nur eingeschränkt berücksichtigt. Die strukturellen Eigenschaften des sowjetischen Fernsehens lassen sich aus vier strukturellen Charakteristika der sowjetischen Gesellschaftsordnung2 ableiten: • Die Abwesenheit des massenmedialen Codes aufgrund der Unterordnung der Medien unter den Parteiapparat folgt aus dem in der sowjetischen Gesellschaft gegebenen Merkmal der Zentralisierung gesellschaftlicher Kommunikation durch die Partei. In erster Linie werden hier die Kontrollmechanismen untersucht, mit deren Hilfe der Parteiapparat die QuasiMassenmedien leitete (s. II.1.1). Auch die Nicht-Berücksichtigung der Publikumserwartungen durch die Produktionsstrukturen sowjetischer Qua1 Organisationen von sowjetischer Presse, Radio und Fernsehen wurden zwar formal als massenmedial bezeichnet, ihrer Logik nach waren sie jedoch, so meine Annahme, Propagandamedien der kommunistischen Partei. 2 Diese waren 1) Gegenläufigkeit von parteilicher Zentralisierung und funktionaler Differenzierung, 2) Minimierung sozialer Distanz zwischen einzelnen Systemtypen, 3) soziale, sachliche und zeitliche Geschlossenheit, 4) Trennung zwischen formellen und informellen Ebenen (vgl. I.2.1).

137

PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

si-Medien wird als Indikator der Abwesenheit autopoietischer Geschlossenheit behandelt. Zudem werden die Rezeptionsmuster sowjetischer Fernsehzuschauer vorgestellt (s. II.1.4). • Die Konvergenz der parteilichen und quasi-massenmedialen Entscheidungskriterien folgt aus dem Merkmal der sowjetischen Gesellschaft der Verringerung sozialer Distanz zwischen verschiedenen Systemtypen (s. II.1.2). • Die thematische Geschlossenheit der quasi-massenmedialen Inhalte geht aus einem weiteren Merkmal des sowjetischen Systems hervor, der sozialen, sachlichen und zeitlichen Geschlossenheit (s. II.1.3). • Die Trennung zwischen offiziellen und nicht-offiziellen Medien folgt aus dem Merkmal der Trennung zwischen formellen und informellen Ebenen (s. II.1.3). Tabelle 8: Die sowjetische Fernsehlandschaft von 1970 bis 1985: Zentrale Fernsehsender mit landesweiter und überregionaler Reichweite Phase

Fernsehorganisation3

Potentielle Reichweite4

Gründung

1951

1970 bis Sowjetisches Zentral1985 fernsehen: I. und II. Programme „gesellschaftlichpolitische Sendungen“

95-98 % der Bevölkerung der Sowjetunion

III. Programm regional ausgerichtetes Fernsehen Moskaus

Bevölkerung Moskaus und des Mokauer Einzugsgebiets

IV. Programm Bildungsprogramm,

europäischer Teil der Sowjetunion

Auflösung –

Leningrad, LeninV. Programm grader Gebiet und regional ausgerichtetes Leningradsches Fernsehen 30 Großstädte Quelle: Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2001: Ɍɟɥɟɪɟɤɥɚɦɧɵɣ ɛɢɡɧɟɫ: 50 ff.

3 Die Namen der Fernsehsender wurden in lateinischer Schrift geschrieben, aber nicht übersetzt. Diese Schreibweise wird im ganzen Text beibehalten. 4 Die potentielle Reichweite wird hier auf unterschiedliche Weise angegeben, weil die Zuschauerforschung in Russland erst seit Beginn der 90er Jahre entstand.

138

QUASI-MASSENMEDIEN UND IHRE KONSTRUKTION DER SOZIALEN WIRKLICHKEIT

1.1 Hierarchische Unterordnung des Fernsehens unter den Parteiapparat5 Für die sowjetische Gesellschaftsordnung erfüllten die Quasi-Massenmedien die Funktion der ständigen Aufrechterhaltung der offiziellen Wirklichkeit einer Organisation: der kommunistischen Partei. Ohne Konstruktion und Aufrechterhaltung der Parteirealität für alle sowjetischen Bürger wären die Herrschaftsansprüche der Partei nicht zu verwirklichen gewesen. Die quasimassenmediale Kommunikation in der Sowjetunion ist somit als Propagandakommunikation zu definieren.6 Aus Parteisicht bestand die Funktion der Presse, des Radios und des Fernsehens in der „Propaganda und Agitation“ der parteilichen Inhalte und entsprechender „Erziehung der Massen“. Dabei stützte sich die Führungsspitze auf zwei Annahmen: 1. Die (quasi-)wissenschaftliche Begründung der Parteilehre7 bewirkt die Ergebenheit der Massen der Partei gegenüber, 2. Das Funktionieren der Massenmedien erfolgt nach dem „Stimulus-Reaktion-Modell“. Die offiziellen Mitteilungen sollten danach vom Publikum ohne jegliche Verzerrungen empfangen werden.8 Seit Beginn der 1960er Jahre wird die Rolle des Fernsehens als Propagandainstrument von der Parteiführung zunehmend erkannt. So wird nach der Phase der Ausbildung der vereinzelten Fernsehzentren in sowjetischen Republiken 1951 das Zentralstudio in Moskau gegründet, das 1955 mit regelmäßigen Ausstrahlungen beginnt (später wird es als Zentralfernsehen bezeichnet). 1960 wird dem Fernsehen unter Nikita Chruschtschev ein gleichrangiger Status neben den anderen Propagandainstrumenten der Partei offiziell zugewiesen. So wird am 29. Januar 1960 ein ZK-Beschluss der KPdSU „Über die weitere Entwicklung des sowjetischen Fernsehens“ verabschiedet. Dort werden dem Fernsehen als Propagandainstrument der Partei folgende Aufgaben zugewiesen: „die Propagierung der Beschlüsse der Parteitage und Plenarsitzungen des ZK der KPdSU, der Innen- und Außenpolitik des Sowjetstaates, des Kampfes der Sowjetunion um eine friedliche Lösung internationaler Probleme […] sowie die Darstellung der Arbeit der Sowjetmenschen, die die großen Ideen des Marxismus-Leni-

5 Unter dem Parteiapparat, der speziell das Fernsehen kontrollierte, verstehe ich im Weiteren 1) das Zentralkomitee der KPdSU mit seinen Teilorganisationen und 2) das Politbüro (s. II.1.1.3). 6 Propagandakommunikation besteht strukturell aus Propagandamedien und Propagandapublikum, wobei das Propagandapublikum hierarchisch den Propagandamedien untergeordnet ist. Propagandakommunikation ist analytisch der Organisationsebene und nicht der Ebene der Funktionssysteme zuzuordnen (s. I.3.2.). 7 Zu der kommunistischen Ideologie siehe I.2.1.3. 8 Vgl. Mickiewicz, 1999: Changing Channels: 28, vgl. auch 23 ff.

139

PROPAGANDA ODER AUTONOMIE? nismus und das grandiose Programm des kommunistischen Aufbaus praktisch in die Tat umsetzen.“9

Seit Beginn der siebziger Jahre, während der Regierungszeit von Leonid Breschnev und bis zum Beginn der Perestroika und dem anschließenden Zerfall der Sowjetunion, wird das Fernsehen neben der Presse zu einem wichtigen Instrument der Wirklichkeitskonstruktion für die Parteiführung. Es wird als Medium der Vermittlung der Parteivorstellungen angesehen und für seine antizipierte propagandistische Wirkung hoch geschätzt. Die Vorzüge des Fernsehens gegenüber der Presse und dem Radio sah die Parteiführung in seiner Multifunktionalität. Zum einen erhöhten die Darstellungsformen des Fernsehens die Glaubwürdigkeit der Berichterstattung und zum anderen ermöglichte das Fernsehen die Übertragung von Kommunikation über weite räumliche Distanzen hinweg. Am 5. März 1971 werden die Weisungen für das Fernsehen formuliert, die unmittelbar an die so genannte Pressetheorie von Lenin (s. II.1.2.1) anschließen. So ist die Hauptbestimmung des Fernsehens nach wie vor die, die „Beschlüsse der Parteitage und Plenarsitzungen des ZK der KPdSU zu propagieren“. Zusätzlich weist die Partei dem Fernsehen Aufträge wie die „Mobilisierung der Werktätigen zum Aufbau der kommunistischen Ordnung“, die „Entlarvung der bourgeoisen Ideologie“ und die „Darstellung der erfolgreichen Planerfüllung“ zu.10 Am Beispiel des sowjetischen Fernsehens wird hier gezeigt, wie quasimassenmediale Kommunikation durch Kontrollmechanismen des Parteiapparats gesteuert wurde. Diese Kontrollmechanismen gründeten sich in den strukturellen Charakteristika des sowjetischen Fernsehens: in seiner hierarchischen Unterordnung unter den Parteiapparat und in seiner zentralisierten Organisationsstruktur. Schriftliche Anweisungen, mündliche Direktiven, Telefonanweisungen waren u.a. die Kommunikationsmittel der hierarchischen Unterordnung.11 Die Steuerung des Fernsehens auf Organisationsebene erfolgte durch Kontrollmechanismen wie: 1. Monopolisierung des Fernsehens durch den Staat, wobei der Staat wiederum dem Parteiapparat unterstellt war. Sie diente als Voraussetzung für die Steuerung der Fernsehens auf Organisationsebene; 2. Zensur; 3. Überwachung durch KGB und Parteiboten (= Instrukteure); 4. Personaltransfer: Auswahl des Personals (u.a. Einstellung/Entlassung der Fernsehleitung), ideologische Ausbildung des Personals; 5. Sanktionen.

9 Zit. nach Kunze, 1978: Journalismus in der UdSSR: 302. 10 Zit. nach Müller, 2001: Zwischen Zensur und Zäsur: 27. 11 Vgl. Mickiewicz, 1999: 25 ff.

140

QUASI-MASSENMEDIEN UND IHRE KONSTRUKTION DER SOZIALEN WIRKLICHKEIT

Durch die Herausbildung der Kontrollmechanismen war die Unterordnung der Medien unter die Partei gesichert. Als Voraussetzung dafür diente der technische Aufbau des sowjetischen Fernsehens.

1.1.1 Technischer Aufbau des sowjetischen Fernsehens Bereits vor Beginn der Oktoberrevolution 1917 legte der Führer der Kommunistischen Partei der Bolschewiken Lenin in seinem später viel zitierten Artikel „Parteiorganisation und Parteiliteratur“ (1905) die Rolle der Presse als Agitator und Propagandist der kommunistischen Ideen fest. Die Verbreitung kommunistischer Propaganda wurde demnach zur zentralen Aufgabe der Presse erhoben.12 Unmittelbar nach der Revolution 1917 hielt die Parteiführung eine landesweite Agitationskampagne in der Presse zur Erhöhung der Akzeptanz des neuen Regimes für erforderlich. Allerdings hatte das neue sowjetische Regime außer der Frage nach Lenkung der Presse auch andere Probleme zu überwinden, um das Erreichen der Bevölkerung mit Propaganda-Mitteilungen zu sichern. Vor allem sind hier der Analphabetismus und der fehlende Zugang der breiten Bevölkerungsschichten zu Verbreitungsmedien zu nennen. 70 Prozent der Bevölkerung Russlands war Anfang der 1920er Jahre des Lesens und Schreibens unkundig, die gedruckten Presseerzeugnisse waren für sie zudem finanziell nicht zugänglich. So wurden nach dem 27. Oktober 1917 nicht nur Maßnahmen zur Kontrolle der Presse ergriffen, sondern auch die Reformen durchgeführt, die den Zugang breiter Bevölkerungsschichten zu Medien erst ermöglichten. Sowohl das Schulsystem als auch die Organisation des Pressewesens wurden reformiert.13 Im Zusammenhang mit dem Analphabetismus-Problem gewann das neue Medium Radio eine besondere Bedeutung. Genau wie die Elektrifizierung wurde das Radio zum Gegenstand des leninschen Programms der revolutionären Reformen erhoben, da seine Reichweite höher als die der Zeitungen war. Mit Hilfe des Radios sollte die Bevölkerung Information über die Reformpolitik der neuen Moskauer Führung vermittelt bekommen. Die Reden führender Parteimitglieder und ihrer Anhänger wurden sodann im Radio übertragen.14 Wir sehen, dass sich schon zu Gründungszeiten des Sowjetstaates die Parteiführung nicht nur um Aufbau von Propagandaproduktion, sondern auch um die Bedingungen für den Empfang und das Verstehen der Propaganda kümmerte. Der Aufbau der technischen Struktur des sowjetischen Fernsehens zielte ebenso auf die Generierung der Bedingungen für den Empfang der Propagandainhalte.

12 Vgl. Hutter, 1980: Die sowjetische Informationspolitik: 28-31. 13 Vgl. Ƚɪɚɛɟɥɶɧɢɤɨɜ, 2001: Ɇɚɫɫɨɜɚɹ ɢɧɮɨɪɦɚɰɢɹ ɜ Ɋɨɫɫɢɢ: 75-94. Zur Struktur der sowjetischen Presse vgl. Kunze, 1978: 68-74. 14 Zur Ausbau der technischen Infrastruktur des Radios vgl. Hutter, 1980: 179-183.

141

PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

Als die Parteiführung das Fernsehen als Propagandamedium entdeckte, wurde seine Organisation zentralisiert sowie seine technische Infrastruktur ausgebaut.15 1951 wurde das Zentralfernsehen gegründet, das 1954 in mehrere Hauptredaktionen aufgegliedert wurde. Seit 1952 sind die Fernsehstationen in den Hauptstädten der Unionsrepubliken instand gesetzt worden. Die Masseneinführung des Fernsehens in der Sowjetunion sowie seine Entwicklung zu einem wichtigen Verbreitungsmedium der kommunistischen Propaganda fand in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts statt. In dieser Zeit wurde das Allunions-Zentrum der Fernsehübertragung „50 Jahre der Oktoberrevolution“ (TTZ) aufgebaut, zu dem das Fernsehzentrum Ostankino, das Fernsehzentrum Na Schabolovke sowie ein System von Übertragungswagen zählten. In den Jahren 1965-1975 entstand ein einheitliches Kabel- und Relaisnetz, das die Übertragung der Programme des Zentralfernsehens auf dem Großteil des sowjetischen Territoriums erlaubte. Diese Programme wurden vom Moskauer Fernsehturm Ostankino gesendet und über ein Bodenstationen-System weiterverbreitet. So war das AllunionsZentrum durch Kabel- und Relaisnetze sowie später auch per Satellit mit allen Fernsehzentren und Übertragungsstationen der Sowjetunion vernetzt.16 Da das Allunions-Zentrum landesweite Fernsehübertragungen tätigte, konnten die Übertragungen aus den republikanischen und örtlichen Fernsehzentren nur einige Stunden pro Tag auf der gleichen Frequenz eingefügt werden. Es ist zu sehen, dass bereits der Aufbau der Übertragungstechnik durch Zentralisierung gekennzeichnet ist. So erfolgte der Kommunikationsfluss durch die Technik bedingt aus dem Zentrum in die Peripherie. 1967 begannen erste Farbfernsehübertragungen mit Hilfe des technischen Systems SECAM, 1975 konnten die farbigen Fernsehprogramme auf dem Territorium des ganzen Landes empfangen werden. Zusammenfassend ist festzuhalten: „Bereits Mitte der siebziger Jahre zählte das Empfangs- und Übertragungsnetz der Sowjetunion 130 Fernsehzentren, über 1800 Übertragungsstationen, über 100.000 Kilometer Relaisstrecken, über 70 Empfangsstationen des Satellitensystems Orbita“.17 Das Wachstumstempo der Fernsehstationen und Fernsehgeräte ist in Tabelle 9 abgebildet.18

15 Vgl. Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2001: 50 ff. 16 Die Nutzung von Satelliten sollte die Erreichbarkeit des Fernsehempfangs landesweit sichern. Aufgrund der Landesgröße war diese Technologie zudem billiger als der ausschließliche Ausbau der Relaisnetze, denn bei der Nutzung von Satelliten ersetzte der Bau einer Empfangs-Übertragungsstation 200 Relaisübertragungsstationen (vgl. Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2001: 51). 17 Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2001: 50. 18 Seit der Abschaffung von monatlichen Fernsehgebühren 1962 wird sowjetisches Fernsehen vorwiegend durch den Staatshaushalt sowie eine Gebühr bei dem Kauf der Fernsehgeräte finanziert.

142

QUASI-MASSENMEDIEN UND IHRE KONSTRUKTION DER SOZIALEN WIRKLICHKEIT

Tabelle 9: Wachstum der Zahl der Fernsehsendeanlagen und Fernsehgeräte von 1960 bis 1986 Jahr

1960

1970

1980

1986

Fernsehsendeanlagen

275

1233

3447

7401

Fernsehgeräte

4,8 Mio.

34,8 Mio.

66,8 Mio.

85,2 Mio.

Quelle: Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2001: Ɍɟɥɟɪɟɤɥɚɦɧɵɣ ɛɢɡɧɟɫ: 51, Übersetzung d. Verfasserin.

1.1.2 Über die innere Organisation des sowjetischen Fernsehens Mit der technischen Entwicklung des sowjetischen Fernsehens wurde von der Partei sein Potential als Propagandamedium verstärkt wahrgenommen. Es begann die Zentralisierung des sowjetischen Fernsehens. So wurde 1970 Gosteleradio – das staatliche Komitee für Fernsehen und Hörfunk – gegründet, ein unions-republikanisches Organ, das über Rechte und Zuständigkeiten eines Ministeriums verfügte.19 Die Verbreitung der kommunistischen Ideologie durch das Fernsehen und Radio gehörte zum obersten Anliegen dieses Komitees. Die Zentralisierung des Sendebetriebs innerhalb der gesamten Sowjetunion und die Koordination der Arbeit von zentralen, republikanischen und örtlichen Fernseheinheiten wurden zu den Hauptaufgaben von Gosteleradio. Dementsprechend sollten diesem Ministerium alle Einheiten des sowjetischen Fernsehens unterstellt werden: das Zentralfernsehen, das republikanische und das örtliche Fernsehen (s. Abb. 4). Das Zentralfernsehen war eine staatliche Organisation, die unionsweit für die Produktion der Fernsehsendungen sowie für den Sendebetrieb zuständig war. Zugleich sicherte sie die landesweite Übertragung der Fernsehprogramme. Zwei Kanäle des Zentralfernsehens (Programme I und II) erreichten Anfang der achzigen Jahre jeweils 87 und 47 Prozent der sowjetischen Bevölkerung.20 Später, zu Beginn der neunziger Jahre, wurde die Reichweite dieser Fernsehprogramme auf 95 bis 97 Prozent der sowjetischen Bevölkerung geschätzt. Die Programme III, IV und V des Zentralfernsehens wurden auf dem europäischen Territorium Russlands empfangen.21

19 Davor war ein Komitee für Hörfunk und Fernsehen beim Ministerrat der UdSSR für die Regulierung der Fernseh- und Radioproduktion zuständig (vgl. Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2001: 50). 20 Vgl. Müller, 2001: 28. 21 Ausführlicher dazu: Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2001: 49-67.

143

PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

Abbildung 4: Innere Organisation des sowjetischen Fernsehens Ministerrat der UdSSR

Das staatliche Komitee für Fernsehen und Hörfunk Gosteleradio Zentralfernsehen Hauptredaktion Fern- Hauptdirektion sehen Propaganda Information

Buchhaltung Transport Planung Personalbüro

Auslands-Dienst Produktion Technik

Internationales Leben Kaderausbildung Jugendprogramme Kinderprogramme

Hauptredaktion Hörfunk

Literatur und Schauspiel

Volkskunst Bildung Kinderprogramme Sport

Periodika Haus der Aufnahme Technisches Zentrum Ostankino Technisches Zentrum Na Schabolovke

Ministerräte der Republiken

Exekutivkomitees der Kreise, Bezirke, Gebiete und Städte

Institut f. HF/TVTechnologie Institut für Weiterbildung

Musik

Örtliche Hauptverwaltung

Planfinanzierung

Soziologischer Dienst/Leserbriefe

Komitees für Fernsehen und Hörfunk der Republiken Republikanische Fernsehstudios Örtliche Komitees für Fernsehen und Hörfunk Örtliche Fernsehstudios

Quelle: Müller, 2001: 33, Überarbeitung d. Verfasserin.

Der republikanische und örtliche Fernsehbetrieb wurde Mitte der siebziger Jahre von 130 Fernsehzentren aus betrieben. In den Hauptstädten der Sowjetrepubliken sowie in zehn Großstädten (Leningrad, Volgograd, Novosibirsk, Vladivostok u.a.) fand die Ausstrahlung auf zwei bis drei Fernsehfrequenzen 144

QUASI-MASSENMEDIEN UND IHRE KONSTRUKTION DER SOZIALEN WIRKLICHKEIT

statt. Das republikanische Fernsehen sendete sowohl in Russisch als auch in den Nationalsprachen. Auf der Ebene der Teilrepubliken waren Komitees für Fernsehen und Hörfunk der Republiken für Produktion und Sendebetrieb zuständig. Auf Kreis-, Gebiets- und Bezirksebenen waren die so genannten Örtlichen Studios den Örtlichen Komitees für Fernsehen und Hörfunk unterstellt. Die Sendezeit der Örtlichen Studios war jedoch sehr gering. Auf der Grundlage neuer Kompetenzen des Staatskomitees für Fernsehen und Hörfunk des Ministerrates der UdSSR (= Gosteleradio) wurde eine Hauptverwaltung des örtlichen Fernsehens gegründet, die eine weitgehende Zentralisierung der Fernsehproduktion auf verschiedenen Verwaltungsebenen durchgeführt hat. Während die örtlichen Sendeanstalten bis 1970 formal den republikanischen Komitees unterstellt waren und aufgrund der mangelnden Überwachung relativ autonom vom Zentrum funktionierten, erlaubte die Gründung der Örtlichen Hauptverwaltung diese Studios in die zentralisierte Hierarchie einzugliedern. So wurden die örtlichen Fernsehstationen von dieser Teilorganisation des Gosteleradio unmittelbar kontrolliert. Republikanische Komitees für Fernsehen und Hörfunk blieben formal den republikanischen Ministerräten unterstellt. Jedoch hatte nur die Örtliche Hauptverwaltung die Kompetenzen, über Weisungen, Personal- und Organisationsfragen von republikanischen und örtlichen Komitees zu entscheiden. Außerdem fand eine Überwachung der Arbeit dieser Komitees durch die eigene Propagandaabteilung von Gosteleradio statt.22 Nach diesen Umstrukturierungen waren der Sende- und Produktionsbetrieb des sowjetischen Fernsehens, orientiert an den Verwaltungsebenen des Staates, hierarchisch organisiert. So wurden republikanische und örtliche Fernsehstationen, die zu Beginn noch relative Entscheidungsautonomie hatten, da dem Zentralfernsehen in Moskau zum Teil noch technische Verbreitungsinfrastruktur fehlte, schließlich unter eine zentrale Leitung gestellt. Sergej Lapin, der über 30 Jahre Vorsitzender von Gosteleradio gewesen ist, setzte sich aktiv für die Schließung der regionalen Fernsehstationen und für eine verstärkte Zentralisierung ein. Folglich war das Zentralfernsehen wesentlich mächtiger als das republikanische und örtliche Fernsehen. Die Entwicklung der Übertragungstechnik erlaubte dem Zentralfernsehen, das sich in Moskau befand, die Übertragung auf mehreren Fernsehkanälen. Es muss kurz erläutert werden, welche Bedeutung die Bezeichnung des Fernsehkanals im sowjetischen Fernsehen hatte. Im technischen Sinne ist ein Fernsehkanal eine Sendefrequenz, auf der die Übertragung des Fernsehsignals erfolgt. In der Regel nutzt eine Organisation (ein Sender) einen Fernsehkanal. Das Zentralfernsehen war nicht nach Sendern bzw. Kanälen, sondern nach Hauptredaktionen gegliedert. Zu Ende der siebziger Jahre sendete das Zentralfernsehen mehrere Fernsehprogramme, die jeweils auf einzelnen Sendefrequenzen ausgestrahlt wurden (Programme I, II, III, IV und später V).23 Ein 22 Vgl. Müller, 2001: 30-33. 23 Über Gründung und Geschichte dieser Fernsehprogramme vgl. ebd.: 40-43.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

Programm bezeichnete man als einen Kanal. Eine organisatorische Teilung nach Fernsehkanälen war jedoch nicht vorhanden. Stattdessen waren die organisatorischen Einheiten des Zentralfernsehens die Hauptredaktionen, die für alle Programme Sendungen produzierten oder in bestellten. So widmeten sich Ende der sechziger Jahre elf Hauptredaktionen der Produktion, Vorbereitung und Ausstrahlung der Programme des Zentralfernsehens. Diese Redaktionen waren dem Hauptdirektorium der Programme des Zentralfernsehens unterstellt. Analoge Abteilungen (Redaktionen) existierten auch in den republikanischen Fernsehzentren sowie in örtlichen Studios. Genau wie bei der Presse und dem Radio war die Zentralisierung der inneren Struktur des Fernsehens eine notwendige Voraussetzung für die hierarchische Unterordnung der quasi-massenmedialen Organisationen unter die Parteiorganisation.24 Die Zentralisierung der Fernsehorganisation ging mit ihrer Monopolisierung durch den Parteiapparat einher. Formal wurde das Fernsehen (wie auch andere Verbreitungsmedien) durch staatliche Behörden geleitet. Real wurde seine Steuerung durch den Parteiapparat ausgeführt: „Der wichtigste Mechanismus im Zusammenspiel zwischen staatlicher Zuständigkeit und parteilicher Einflussnahme besteht darin, dass alle medienpolitischen Entscheidungen von der Parteiführung getroffen, von staatlichen Organen – in diesem Fall also von ‚Gosteleradio‘ – ausgeführt und diese Ausführung wiederum von Verantwortlichen der Partei überwacht wird. Während der Staat die verwalterischen und exekutiven Aufgaben wahrnimmt, obliegt die Kontrolle und Leitung des Komitees de facto der Partei. […] ‚Auf allen Verwaltungsebenen besteht neben dem Verwaltungssapparat ein parallel aufgebauter Parteiapparat.‘“25

Die weiteren parteilichen Kontrollmechanismen (oder Lenkungsinstrumente) waren Zensur, Überwachung durch den KGB und Parteiboten (Instrukteure), Personaltransfer, Sanktionen.

1.1.3 Die Kontrolle der Fernsehorganisation durch den Parteiapparat Die Überwachung und Kontrolle der Arbeit des staatlichen Gosteleradio wurde durch eine der mächtigsten Teilorganisationen der Partei – dem Sekretariat des Zentralkomitees der KPdSU – wahrgenommen. Während der Regierungszeit von Leonid Breschnev war das ZK-Sekretariat der einflussreichste Ausschuss der Partei.26 1985 zählte er 23 Abteilungen. Vor allem zwei Abteilun24 Auch die innere Struktur der Presse und des Radios war durch Zentralisierung gekennzeichnet. Vgl. zu Radio: Hutter, 1980: 179-183. Zur Struktur der sowjetischer Presse vgl. Kunze, 1978: 68-74. 25 Müller, 2001: 34. 26 Müller schreibt hierzu: „Im Prinzip ist das ‚Politbüro des Zentralkomitees‘ das eigentliche Führungsgremium der gesamten Partei. Es versteht sich als kollektive Führungsinstanz, dessen Mitglieder vom Zentralkomitee gewählt werden. Doch

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gen – 1) Agitprop (Abteilung für Agitation und Propaganda) und die 2) Abteilung für Parteiarbeit und Ideologie – waren für die Kontrolle von Gosteleradio zuständig. Eine dritte Teilorganisation, 3) Glavlit (Hauptverwaltung für die Angelegenheiten der Literatur und der Verlage), stand dem Zentralkomitee der KPdSU speziell für Zensurarbeit zur Verfügung. Dieser Kontroll- und Zensurmechanismus verhinderte Situationen, in denen die einzelnen Berichte einander widersprechen konnten und eine nicht-offizielle Einschätzung der politischen oder wirtschaftlichen Ereignisse bringen konnten: 1) Agitprop wurde vom Sekretär für Ideologie und Kaderfragen geleitet. Diese Position hatte im Parteiapparat einen besonderen Rang: Der Chefideologe der Partei erarbeitete die so genannte „generelle ideologische Linie der Partei“. Zugleich war er für die Überwachung und Einhaltung dieser Linie in allen Abteilungen des ZK KPdSU und somit auch im Agitprop zuständig. Der Chefideologe der Partei ist zudem ein Mitglied des Politbüros, eines anderen Parteiausschusses des Zentralkomitees. Im ZK-Sekretariat war also eine besondere Rolle ausdifferenziert, die für die Konsistenzprüfung der ideologischen Kriterien zuständig war (und somit für ihre Auswahl und Reproduktion innerhalb der Parteiorganisation). Dass sich ihre Zuständigkeit auf die QuasiMassenmedien und speziell auf die Fernsehkontrolle erstreckte, ist einer der Indikatoren für die Unterordnung der medialen Logik unter die Parteilogik. In Anlehnung an die „generelle ideologische Linie der Partei“ wurden in der Agitprop speziellere Direktiven für das Fernsehen erarbeitet. Die Entscheidungen über Finanzierung, Personalfragen und Fernsehinhalte wurden hier getroffen und an die Führung von Gosteleradio weitergeleitet. Auch die Besetzung von Führungspositionen bei Gosteleradio wurde in der Agitprop bestimmt. Für die Sicherung der Kommunikation zwischen Agitprop und Gosteleradio war innerhalb der Agitprop eine Abteilung, Sektion Hörfunk und Fernsehen, zuständig. Die Mitarbeiter dieser Abteilung – Instrukteure – realisierten die Kontrolle der vorgegebenen Richtlinien auf unterschiedlichen Organisationsebenen des Fernsehens. Ihr Auftrag bestand darin, die Parteikontrolle bis auf die unterste Ebene der Fernsehorganisation zu sichern. Die Instrukteure überwachten und lernten das Fernsehpersonal unmittelbar in den Redaktionen und Studios an. Außerdem beteiligten sich die Instrukteure als Gesandte27 der Agitprop an allen richtungweisenden redaktionellen Konferenzen des Zentralfernsehens. Durch die Ausdifferenzierung dieser speziellen Rolle innerhalb des Parteiapparats konnten die parteilichen Entscheidungen und Entscheiweder unter Stalin noch unter Breschnev hat das Politbüro großen Einfluss gehabt. Breschnev regierte mit Hilfe des ZK-Sekretariats gewissermaßen am Politbüro vorbei. Zwar hatte das Votum des Politbüros, besonders in Personalfragen, immer noch Gewicht, zumal die Politbüromitglieder auch gleichzeitig dem ZKSekretariat angehörten; die täglichen politischen Entscheidungen wurden aber vom ZK-Sekretariat getroffen. Erst unter Gorbatschev werden die Entscheidungskompetenzen vollends ins Politbüro zurückverlagert.“ (Müller, 2001: 35) 27 Vgl. Müller, 2001: 35.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

dungskriterien unmittelbar an die Fernsehleitung sowie an die Redakteure und Journalisten vermittelt werden.28 Neben dem Generaldirektor der sowjetischen Hauptnachrichtenagentur TASS sowie den Chefredakteuren der Parteizeitungen war der Leiter von Gosteleradio verpflichtet, einmal pro Woche an den Sitzungen des ZK-Sekretariats teilzunehmen. Jeweils wöchentlich hatten diese Medienleiter auch zu einem Gespräch mit dem Chefideologen der Partei zu erscheinen. Auf diesen Treffen wurden zum einen die Inkonsistenzen der quasi-journalistischen Produktion mit der ideologischen Linie der Partei kritisiert. Zum anderen wurden den Medienleitern die aus Parteisicht berichtenswerten Ereignisse „empfohlen“. So fand (im Sinne des Lenkungsanspruchs der Partei) die Angleichung der parteilich-ideologischen Vorgaben mit den (quasi-)massenmedialen Entscheidungen statt.29 Eine Form der Kontrolle stellten zudem die Telefonanrufe dar. Diese Weisungsform gewann schnell eine große Verbreitung. Ihr Vorteil bestand für die Parteifunktionäre darin, dass die Weisungen ohne schriftliche Fixierung und somit ohne nachprüfbare Verantwortung getätigt werden konnten. 2) Die Abteilung für Parteiarbeit und Ideologie setzte sich auch für die Kontrolle der Medien und speziell des Fernsehens ein. Ihre Hauptaufgabe bestand vor allem in der Auswahl und Verteilung der Parteikader. In Zusammenarbeit mit Agitprop kümmerte sie sich um Auswahl, Ausbildung und Einsatz der Fernsehleitung. Die Auswahl und „ideologische Bildung“ des Fernsehpersonals wurde somit durch die Partei bestimmt. 3) Glavlit (die Hauptverwaltung für Angelegenheiten der Literatur und der Verlage) war die dritte (Teil-)Organisation, die sich der Beaufsichtigung der Fernsehberichterstattung widmete. Offiziell war Glavlit dem Ministerrat untergeordnet. Die Führung von Glavlit wurde zugleich vom Sekretär für Ideologie und Kaderfragen kontrolliert. Die 1922 gegründete Glavlit erfüllte für das Fernsehen und andere Medien die Funktion des Hauptzensors. Zu den Aufgaben der Glavlit gehörte die „ideologisch-politische Beobachtung und Regulierung des Büchermarktes, […] Entfernung von Quellen aus der vorrevolutionären Zeit und aus den Revolutionsjahren vom Markt und aus den Bibliotheken“.30 Auch die Überwachung von folgenden Verboten gehörte dem Aufgabenbereich der Glavlit an: • das Verbot der Herausgabe und Verbreitung der Werke, die Kritik an der Sowjetmacht beinhalten, • das Verbreitungsverbot für Militärgeheimnisse der Sowjetrepublik, • das Verbot von politischen und religiösen Fanatismus fördernden Ausgaben. 28 Zur Rolle des Journalisten in der Sowjetunion vgl. II.1.1.4. 29 Vgl. Müller, 2001: 34-37. 30 Zit. nach: Ƚɪɚɛɟɥɶɧɢɤɨɜ, 2001: Ɇɚɫɫɨɜɚɹ ɢɧɮɨɪɦɚɰɢɹ ɜ Ɋɨɫɫɢɢ: 83, Übersetzung d. Verfasserin.

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QUASI-MASSENMEDIEN UND IHRE KONSTRUKTION DER SOZIALEN WIRKLICHKEIT

Im Laufe der Zeit vereinte Glavlit die ideologische Überwachung aller Produkte von Presse, Buchdruck, Radio, Fernsehen, Kinofilmen, Malerei, Vorlesungen, Ausstellungen sowie von importierten ausländischen Ausgaben und Büchern. Zudem kontrollierte sie die Einziehung der politisch unerwünschten Veröffentlichungen.31 Der Zensurvorgang in der Fernsehproduktion differenzierte sich in zwei Arten: ideologische und „faktologische“ Zensur. Unter ideologischer Zensur ist die Abgleichung der Fernsehinhalte mit parteilicher Ideologielehre und die Darstellung aller Inhalte aus der ideologischen Perspektive zu verstehen (s. II.1.2). Als „faktologische“ Zensur wird das Verbot der Veröffentlichung, das Verschweigen und das Entfernen von Fakten bezeichnet, die aus Sicht des Zensors die Konsistenz der Ideologie und Staatssicherheit gefährden können. Außerdem existierten genaue Kriterien der zur Veröffentlichung nicht zugelassenen Informationen. Diese bezogen sich auf a) Militär- und Staatsgeheimnisse, b) branchenspezifische Informationen sowie c) Verbote, die sich auf journalistische Standards beziehen, wie z.B. das Verbot der Berichterstattung über Katastrophen.32 Der zensorische Prozess im Fernsehen fand vermittels der Sichtung des Fernsehmaterials durch den Zensor statt. Die Sichtung erfolgte unmittelbar in den Fernsehradaktionen, da zum einen der Fernsehbetrieb durch die Zensurarbeit nicht gefährdet werden sollte und zum anderen jede Redaktion ihre eigenen Zensoren hatte. Über die Zulassung von Filmbeiträgen wurde allerdings längerfristiger entschieden.33 Da die Kontrolle und Regie der Gosteleradio zugleich von mehreren Behörden wahrgenommen wurde, war eine hohe Zahl interorganisatorischer Verflechtungen, die sich aus dem Zusammenspiel staatlicher und parteilicher Organe entwickelten, kennzeichnend (s. Abb. 5). Außer der unmittelbaren Kontrolle des Fernsehens durch den Parteiapparat existierten noch zwei zusätzliche Kontrollmechanismen: Personaltransfer und Sanktionen. Ihre Funktion bestand vor allem darin, auf allen Organisationsebenen die Unterordnung des Fernsehens unter die Parteivorgaben zu sichern.

31 Vgl. ebd.: 83. 32 Angemerkt sei, dass die Berichterstattung über Katastrophen und Krisen nur für inländische Nachrichten unzulässig war. In der Berichterstattung über „feindliche“ kapitalistische Länder wurden negative Informationen zugelassen, um den Kapitalismus als unattraktiv darzustellen. 33 Vgl. Müller, 2001: 33-37, und Hutter, 1980: 103-123.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

Abbildung 5: Hierarchische Unterordnung des sowjetischen Fernsehens unter den Parteiapparat zwischen 1970 und 1985

STAAT

PARTEI

OBERSTER SOWJET

POLITBÜRO ZENTRALKOMITEE ZK-SEKRETARIAT ABTEILUNGEN Sekretär für Ideologie und Kaderfragen

Agitprop (Abteilung für Agitation und Propaganda)

Sektion Fernsehen und Hörfunk

Glavlit Abteilung für Parteiarbeit und Ideologie

Auswahl und Ausbildung der Fernsehleitung

Instrukteure

Gosteleradio (Komitee für Fernsehen und Hörfunk)

Vorsitzender Kollegium

Quelle: Müller, 2001: 39, Überarbeitung d. Verfasserin.

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MINISTERRAT

(Hauptverwaltung für Angelegenheiten der Literatur und Verlage)

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1.1.4 Personaltransfer Die Integration der Amtsinhaber des sowjetischen Staates in die parteipolitische Elite bildet einen Mechanismus der unmittelbaren Kontrolle und Überwachung der Fernsehorganisation sowie der Radio- und Presseinstanzen. Deshalb ist die Parteitreue ein unabdingbares Einstellungskriterium bei der Besetzung von Staatsämtern. Diese These trifft insbesondere auf die Leitung des Gosteleradio zu.34 Zu seinem Amt wird der Leiter des Gosteleradio von einer Staatsbehörde, dem Obersten Sowjet der UdSSR, ernannt.35 Als Kabinettmitglied und Staatssekretär ist er rechtmäßig dem Ministerrat, also einem staatlichen Gremium, unterstellt. Zugleich ist er Mitglied eines einflussreichen Parteiausschusses – des Zentralkomitees der KPdSU.36 Eine ähnliche Mitgliedschaftsverteilung gilt auch für ein anderes Leitungsorgan des Gosteleradio – das Kollegium. Formal ist das Kollegium auch ein staatliches Organ. Die Mitglieder des Kollegiums sind jedoch zugleich Mitglieder des Zentralkomitees der KPdSU. So wird das Kollegium zur weiteren Schnittstelle zwischen parteilicher und staatlicher Organisationsstruktur.37 Zusätzlich wurden besonders qualifizierte Mitarbeiter des Kulturbereichs und der Quasi-Massenmedien verpflichtet, eine Mitgliedschaft in den so genannten „Kreativen Verbänden“ einzugehen, die durch die Partei geleitet und in die vorgegebene Richtung gelenkt wurden. Von etwa 100.000 Journalisten, die 1987 in der Sowjetunion tätig waren, waren 85.182 Mitglieder des Journalistenverbandes.38 Die Mitgliedschaft der staatlichen und parteilichen Entscheidungsträger in der Fernsehorganisation (sowie in die Organisationen der Presse und des Radio) trug zur hierarchischen Unterordnung unter den Parteiapparat bei: „Betrachtet man […] die Kontroll- und Leitungsmechanismen der Partei, so kann das sowjetische Fernsehen nur noch mit großer Vorsicht – unter Berücksichtigung der formalen Trennung zwischen Staats- und Parteiorganen – als ‚staatlich‘ charakterisiert werden. Zwar obliegt die Leitung und Kontrolle des Fernsehens formal dem Staat; durch die Auswahl der Kader und ihre Einbindung in die Parteihierarchie ist es letztlich aber die Partei, die das Fernsehen lenkt und kontrolliert.“39

34 Im Weiteren werde ich dieses Lenkungsinstrument auch als Einstellungs-/Entlassungsmechanismus des Fernsehpersonals bezeichnen. 35 Die Fernsehleitung wird, wie schon oben ausgeführt, im Agitprop bestimmt. Sergej Lapin blieb der Vorsitzende von Gosteleradio von 1970 bis 1985. 36 Dieser soll nicht mit dem Sekretariat des Zentralkomitees der KPdSU verwechselt werden. 37 Vgl. Müller, 2001: 34. 38 Vgl. Mickiewicz, 1999: 26. Ausführlicher zur Rolle des Journalistenverbandes der UdSSR vgl. Kunze, 1978: 97-115. 39 Müller, 2001: 35.

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1.1.5 Sanktionen Eines der Merkmale der sowjetischen Gesellschaft war die Notwendigkeit der individuellen Anpassung an die bestehende Gesellschaftsordnung (vgl. I.2.1.2). Weil alle gesellschaftlichen Ressourcen in den Händen der Partei konzentriert waren, konnte auf individueller Ebene der Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen nur durch Anpassung an Parteivorgaben erlangt werden. Sanktionen dienten dabei zur Steuerung der Anpassung auf individueller Ebene. In der Presse, im Radio und im Fernsehen wurde der Mechanismus der positiven und der negativen Sanktionen seitens des Parteiapparats eingesetzt. Negative Sanktionen waren 1) Öffentliche Rüge auf den Partei- und Kollektivversammlungen der Medienorganisation, 2) Entlassung, 3) Ausschluss aus der Partei mit darauf folgendem Ausschluss aus den Berufsverbänden, 4) strafrechtliche Verfolgung und in seltenen Fällen 5) Ausweisung aus der UdSSR. Positive Sanktionen bestanden in 1) der Vergabe von einzelnen Privilegien40, 2) Beförderungen, 2) der Einführung der Journalisten in den speziellen Kreis der Bevorteilten – in die so genannte Nomenklatura41, die über eine ganze Fülle von Privilegien verfügte. Als Folge der Anwendung von Sanktionen bildeten sich bei den sowjetischen Journalisten Anpassungsstrategien aus. Die erste Strategie bestand in der journalistischen Selbstzensur, also in einer Abgleichung der Texte mit der „generellen ideologischen Linie“ der Partei durch einzelne Journalisten. Die zweite Strategie bestand im Erraten von parteinützlichen Ideen durch die Journalisten und die Einführung dieser Ideen in ihre Texte: der vorauseilende Gehorsam.42 Es stellt sich also die Frage: Waren die sowjetischen Journalisten überhaupt noch Journalisten?

40 Die einzelnen Privilegien waren: Zugang zu „geschlossenen“ Lebensmittelläden, die eine gute Auswahl an Lebensmittel hatten; Zugang zu komfortablen Erholungsheimen, in denen nur Auserwählte Urlaub machen durften; Erlaubnis, an der Reise in das sozialistische und (in Ausnahmefällen) sogar in das kapitalistische Ausland teilzunehmen; Lösung der Wohnprobleme, Zugang zu größeren und besseren Wohnungen. 41 Das Wort Nomenklatura wird mit „Verzeichnis“ übersetzt. Da in der Sowjetunion Privilegierte in besonderen Verzeichnissen vermerkt waren, hat sich dieses Wort für die Bezeichnung für Parteifunktionäre und andere Privilegierte eingebürgert. Die Nomenklatura besaß alle der oben genannten Privilegien. 42 Zu negativen Sanktionen und ihren Folgen am Beispiel der sowjetischen Presse vgl. ȼɨɥɤɨɜ/ɉɭɝɚɱɟɜɚ/əɪɦɨɥɸɤ, 2000: ɉɪɟɫɫɚ ɜ ɨɛɳɟɫɬɜɟ (1959-2000).

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QUASI-MASSENMEDIEN UND IHRE KONSTRUKTION DER SOZIALEN WIRKLICHKEIT

1.1.6 Der Journalist als „Handlanger der Partei“ Innerhalb autopoietischer Funktionssysteme differenzieren sich spezifische Rollen aus, die als Leistungs- und Publikumsrollen bezeichnet werden. Die Leistungsrolle innerhalb der autopoietischen Massenmedien wird dem Journalisten, die Publikumsrolle dem Rezipienten zugeordnet. Die Abwesenheit der massenmedialen Eigenlogik in der Sowjetunion soll sich daher in der Rolle des sowjetischen Journalisten widerspiegeln. Will man untersuchen, ob sowjetische Journalisten für die Produktion der massenmedialen Inhalte oder für die Produktion von Propaganda zuständig waren, müssen Teilaspekte der Berufsrolle des sowjetischen Journalisten wie Aufgabenkreis, Selbstbeschreibung und berufliche Ausbildung analysiert werden. Wenn zu den zentralen journalistischen Aufgaben Pflichten wie 1) Vermittlung der Parteipolitik, 2) Unterstützung der Partei bei der Verwirklichung ihrer Ziele sowie 3) die Erziehung der sowjetischen Menschen zählten, ist der Beruf des sowjetischen Journalisten nicht als journalistisch im modernen Sinne zu verstehen.43 Das Wort „Journalismus“ ist hier lediglich die formale Bezeichnung. Inhaltlich stand die Vermittlung der Parteipolitik – also: Propaganda – im Mittelpunkt der quasi-journalistischen Arbeit. Dass das Arbeitsfeld des sowjetischen Journalisten nicht in objektivierter Berichterstattung oder aktualitätsgeleiteter Vermittlung von Fakten bestand, wird von der Parteiführung und den Journalisten selbst nicht verheimlicht. Im Gegensatz, es wurde eine Selbstbeschreibung des sowjetischen Journalisten in Anlehnung an die Parteilehre herausgearbeitet, die die Funktion des Journalisten als Vermittler der Parteiinhalte manifestiert. Seine Aufgaben sind: • „Die Formung der marxistisch-leninistischen Weltanschauung und der kommunistischen Moral beim sowjetischen Publikum, • Propaganda für die Entscheidungen der Parteikongresse und der Parteiplenen, • Propaganda für die Erfüllung der volkswirtschaftlichen Planungen durch die Arbeitenden, • Beleuchtung der heldenhaften Arbeit und der hohen moralischer Ideale sowjetischer Menschen, • Kritik der gesellschaftsfeindlichen Ereignisse“.44 Mit höchstem Lob und größter Anerkennung ihrer Arbeit wurden die sowjetischen Journalisten von Nikita Chrutschov (1959) als „Handlanger der Partei“ betitelt: „Die Journalisten bezeichnen wir als Helfer der Partei. Die Journalisten mögen es mir nicht verübeln, wenn ich sage, dass sie nicht nur ergebene Helfer, sondern buchstäblich Handlanger unserer Partei, aktive Kämpfer für ihre große Sache sind. Wa43 Zum Berufsbild des sowjetischen Journalisten vgl. Kunze, 1978: 145-151. 44 Ƚɪɚɛɟɥɶɧɢɤɨɜ, 2001: 92. Übersetzung d. Verfasserin.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE? rum Handlanger? Weil sie tatsächlich der Partei immer zur Hand sind. Sobald irgendeine Entscheidung erklärt und verwirklicht werden muss, wenden wir uns an sie. Sie aber, als der zuverlässigste Transmissionsriemen, nehmen die Entscheidung auf und tragen sie direkt in unser Volk hinein.“45

Die Produktion von Propaganda war das einzige Engagement der „journalistischen“ Berichterstattung sowohl im Nachrichten- als auch im Unterhaltungsbereich des sowjetischen Fernsehens. Neu entworfene Fernsehkonzepte wurden nicht nur umfangreich zensiert. Sie unterlagen auch dem starren Ritual der Machtstrukturen, die unveränderbar ihre Machtposition durch Besetzung der Hauptzeit der Berichterstattung zelebrierten. Als Korrespondenten waren zudem, insbesondere in ausländischen Büros, Offiziere des KGB in den Medienbetrieb involviert.46 Im Sinne der Partei-Ergebenheit haben 1970 24 Fakultäten und Abteilungen für Journalismus sowie die so genannten Parteischulen (Ausbildungszentren des Parteiapparats) den quasi-journalistischen Nachwuchs ausgebildet. Die universitäre Ausbildung zum Fernsehjournalisten (Dauer: fünf oder sechs Jahre) gestaltete sich ähnlich wie bei Zeitungsjournalisten und unterschied sich hauptsächlich bei der Vermittlung technischen Wissens. Folgende Fächer mussten z.B. 1973 die Journalistik-Studenten der Moskauer LomonossovUniversität im Laufe ihres Studiums belegen47: Tabelle 10: Unterrichtsfächer an der Fakultät für Journalistik der Moskauer Lomonossov-Universität 1973 Die revolutionäre und demokratische Presse in Russland (19. Jahrhundert)

30 Stunden

Die Entstehung und Entwicklung der bolschewistischen Presse (1882-1917)

24 Stunden

Die sowjetische Parteipresse in der Periode des Kampfes um den Sozialismus und seine Überführung in den Kommunismus (19171958)

28 Stunden

Die Theorie und Praxis der Partei- und Sowjetpresse

72 Stunden

Die Auslandspresse der Gegenwart (die Hälfte der Zeit wird der kommunistischen Presse der wichtigsten westlichen Länder gewidmet; für die „New York Times“ z.B. steht genauso viel Zeit wie für den „Worker“ zur Verfügung)

30 Stunden

45 Zit. nach: Kunze, 1978: 107. 46 Nichtsdestotrotz konnte sich in der Nachrichtenberichterstattung der Presse in einem bestimmten thematischen Rahmen journalistische Professionalität artikulieren. Das waren Themen wie Aufdeckung kleiner Amtsvergehen und sozialer Probleme, die das Regime nicht unmittelbar tangierten. Im Fernsehen war diese Kritik jedoch nicht vorhanden. 47 Ausführlicher zur Ausbildung des sowjetischen Journalisten vgl. ebd.: 43-56.

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QUASI-MASSENMEDIEN UND IHRE KONSTRUKTION DER SOZIALEN WIRKLICHKEIT Seminare über praktische Probleme der sowjetischen Presse

42 Stunden

Seminare über die Abfassung von Leitartikeln und Kritiken, Herstellung und Lay-out

12 Stunden

Praktische Berufsausbildung an einer Zeitung oder Zeitschrift

100 Stunden

Gesamt:

338 Stunden

Quelle: Kunze, 1978: 48-49, graphische Darstellung d. Verfasserin.

1.2 Konvergenz parteilicher und quasi-massenmedialer Entscheidungskriterien Da der Parteiapparat die Quasi-Massenmedien lenkte und kontrollierte, waren parteilich-ideologische Kriterien innerhalb der journalistischen Entscheidungskriterien zentral. Aber die Übertragung der ideologischen Kriterien auf die massenmediale Arbeit setzte eine parteiliche Richtlinie des Umgangs mit den Medien voraus. Denn es war von der Partei festgelegt worden, wie und was die (Quasi-)Massenmedien zu veröffentlichen hatten. Bereits Lenin hat Prinzipien formuliert, die ich im Weiteren das parteiliche Programm der Medienlenkung nennen werde.48

1.2.1 Das parteiliche Programm der Medienlenkung Noch vor der Machtergreifung durch die bolschewistische Arbeiter- und Bauernpartei (KPR[B]) wurde von Lenin ein politisches Programm formuliert, das die Lenkung der Presse durch die Partei später maßgeblich beeinflusste. Es definierte die Presse als wichtigstes Kampfmittel der Partei und wurde nachträglich als marxistisch-leninistische Pressetheorie bezeichnet. In diesem Programm formulierte Lenin in Anlehnung an Wilhelm Liebknecht normative Grundsätze zum kommunistischen Grundverständnis der Presse: Die Presse soll als Forum der politischen Propaganda und Agitation dienen. Auch die politische Mobilisierung und Erziehung der Massen gehört zu ihren zentralen Aufgaben. Die wichtigsten Prinzipien des kommunistischen Verständnisses der Presse waren: 1) Parteilichkeit, 2) Objektivität/Sachlichkeit, 3) Volksnähe, und 4) Glasnost/Offenheit.49 1) Im Lenin’schen Sprachvorrat war Parteilichkeit eine Doktrin, die jede journalistische Veröffentlichung als offenkundige Vervielfältigung der Klas48 Zum Begriff des Programms vgl. I.3.1. 49 Vgl. ɉɪɚɣɫ, 2000: Ɍɟɥɟɜɢɞɟɧɢɟ, ɬɟɥɟɤɨɦɦɭɧɢɤɚɰɢɢ ɢ ɩɟɪɟɯɨɞɧɵɣ ɩɟɪɢɨɞ: ҏ102-106. Christiane Kunze übersetzt diese Kriterien als Parteilichkeit, Sachlichkeit, Realismus und Kritik: vgl. Kunze, 1978: 154-158.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

sen-Weltanschauung definierte. Die Presse sollte daher für eine offene Interessenverteidigung der Arbeiterklasse „einschreiten“. Da die Partei die Avantgarde der Gesellschaft ist, ist der Geist der Partei in alle Regierungsentscheidungen, in alle Tätigkeitsfelder der Regierung einzubeziehen. Das Dekret „Über die Presse“, das vom Rat der Volkskommissare am zweiten Regierungstag verabschiedet wird, gibt einen klaren Hinweis auf die offizielle Definition der Pressefreiheit: „Jedermann weiß, daß die bürgerliche Presse eine der schlagkräftigsten Waffen der Bourgeoise ist. Besonders in dem kritischen Augenblick, wo sich die neue Macht, die Arbeiter- und Bauernmacht gerade erst zu festigen versuchte, war es unmöglich, diese Waffe vollständig dem Feind zu überlassen, muss man sich doch klar darüber sein, dass sie in diesen Minuten in seiner Hand genau so gefährlich ist wie Bomben und Maschinengewehre.“50

An diesem gesetzlichen Akt sind vor allem die zensorischen Gründe für die Schließung der Presseorgane interessant: „Widerstand und Unbotmäßigkeit gegen die Arbeiter- und Bauernregierung“, „verleumderische Entstellung von Tatsachen“ und „Aufruf zu kriminellen Handlungen“.51 Das Dekret versprach, nach der „Herstellung der normalen Verhältnisse im öffentlichen Leben“ alle diese Verbote aufzuheben. Aber dies geschah erst im Jahre 1990. 1919 wurden die Anforderungskriterien an die Parteilichkeit in der Presse von der Regierung vereinfacht, indem das Privateigentum auf Presse, Presseorgane und andere Medien abgeschafft wurde. Als Medieneigentümer waren die Organisation der kommunistischen Partei, Regierungsorgane sowie öffentliche Organisationen wie Gewerkschaften u.ä. zugelassen. Presseorgane sollten zur „Tribüne“ ihrer Herausgeberorganisationen umgestaltet werden.52 2) Das Kriterium der Objektivität/Sachlichkeit der Presse ist nicht mit westlichen Ideen der Unparteilichkeit und Neutralität der Medien gleichzusetzen. Die Definition der „sozialistischen realistischen Objektivität“ beruht auf Vertrauen in die Wissenschaftlichkeit der marxistisch-leninistischen „Theorie“.53 Diese Theorie begründete die „wissenschaftliche Wahrheit“ der marxistisch-leninistischen Lehre und legitimierte somit die Machtverhältnisse in der Sowjetunion. 50 Zit. nach Kunze, 1978: 30. 51 Ebd.: 30-31. 52 Nach dem Beginn der Perestroika stellte der Wechsel der Eigentumsformen ein ernsthaftes Problem dar, weil das Konzept des „Herausgebers“ durch das Kriterium der Parteilichkeit geprägt war. Als hinderlich erwies sich vor allem, dass nach dem Parteilichkeitsprinzip der Medieneigentümer bestimmt, was als Wahrheit anzusehen ist. Dass mediale Organisationen verschiedene private Eigentümer haben können, hatte weitreichende Konsequenzen für die medialen Wandlungsprozesse selbst (wer entscheidet jetzt, was die Wahrheit ist?) und für die politischen Reformen (hat Regierung noch Autorität?). Ausführlicher dazu in den nächsten Kapiteln. 53 Zur marxistisch-leninistischen Theorie als Selbstbeschreibung des sowjetischen Systems vgl. Kap. I.2.1.2.

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Angewendet auf die Arbeit der Quasi-Massenmedien hieß das konkret: Je höher der Umfang der Information und je umfangreicher die Reportagen in den Medienorganen sind, desto eher wird die Hingabe der Massen den wissenschaftlich bestätigten politischen Wahrheiten gegenüber wachsen. „Objektivität ist die grundlegende Forderung der Lenin’schen Methodologie“. Sie gründet sich darin, dass der „historische Materialismus eine wissenschaftliche Weltanschauung ist“ – so ein Zitat aus einem sowjetischen JournalistenLehrbuch.54 Und: Es sind die Informationen als richtig und wahr zu betrachten, die von der Partei als solche definiert wurden. 3) Das Kriterium der Volksnähe beinhaltete die Forderung nach einem Massencharakter der Presse. Die Medienorgane mussten mit den Massen verbunden sein. Diese Verbundenheit sollte sich in steigenden Auflagen widerspiegeln, welche nicht kommerziellen, sondern ideologischen Zielen dienen sollten: „Unsere Presse […] darf keine Aufgaben oder Interessen haben, die sich von den Aufgaben und Interessen des Volkes unterscheiden“.55 Zum einen bedeutete das Prinzip der Volksnähe, dass die Massenmedien offen für die Ansichten und Meinungen der Massen zu sein haben. Auf der anderen Seite postulierte dieses Prinzip die Aufrechterhaltung der Beziehung zwischen Medien und Lesern, Vermeidung von Banalitäten, Umerziehung von Menschen. Die allumfassende Massenzugänglichkeit der Zeitungen und später auch anderer Medien war diesem Konzept nach sehr erwünscht. Auch die Gewissheit, dass die Medien bereit sind, die Öffentlichkeit im Sinne der Regierungsziele zu „erziehen“, hing damit zusammen. 4) Glasnost oder Offenheit war dasjenige der Lenin’schen Prinzipien, das später zur Begründung der Reformeneinleitung unter Michail Gorbatschow diente. Im Lenin’schen Verständnis bedeutet dieses Prinzip die breite Propaganda der positiven Seiten sowjetischer Entwicklung. Zusätzlich hatte Glasnost eine Bedeutung, die in Richtung des westlichen Prinzips der Pressefreiheit ging. Gemeint sind hier jene unter Lenins Forderungen, in denen er die Zeitungen dazu ermuntert, nach den Nachteilen der wirtschaftlichen Vorgänge und des wirtschaftlichen Lebens in den Kommunen zu suchen und sie zu kritisieren. Die „kritische Glasnost“ war erwünscht, weil angenommen wurde, dass sie die Wirksamkeit der Propaganda erhöhen würde. Die Kritik der mittleren Regierungsorgane durch die Presse, die Aufdeckung von Missständen des alltäglichen Lebens, sollte in Maßen zugelassen sein, weil sie die Arbeit der Presse in den Augen des Publikums legitimieren sollte. So sollten die Massen durch die gemäßigte Kritik Vertrauen in die die Medien lenkende Regierung gewinnen. Allerdings war die Verbreitung dieses Lenin’schen Prinzips durch die anderen Kriterien begrenzt: Zu viel Kritik sowie die Kritik der höheren Regierungsorgane widersprachen den Kriterien der Parteilichkeit und der Volksnähe. 54 Ʌɢɩɨɜɱɟɧɤɨ, 1985: Ɉɱɟɪɤ ɬɟɨɪɢɢ ɠɭɪɧɚɥɢɫɬɢɤɢ: 56, zit. nach ɉɪɚɣɫ, 2000: 105, Übersetzung d. Verfasserin. 55 Ʌɟɧɢɧ, 1958: Ʌɟɧɢɧ ɜ ɩɟɱɚɬɢ: 16, zit. nach ɉɪɚɣɫ, 2000: 105, Übersetzung d. Verfasserin.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

Das parteiliche Programm der Lenkung von Massenmedien hat sich mit der Entstehung des Fernsehens inhaltlich nicht verändert, sondern ist auf das zusätzliche Verbreitungsmedium ausgeweitet worden.

1.2.2 Quasi-massenmediale Entscheidungskriterien im Fernsehen Da eine Organisation alle Gesellschaftsbereiche leitete, hat sich in der Sowjetunion die soziale Distanz zwischen verschiedenen Typen der Sozialsysteme (Gesellschaft, Organisation und Interaktion) verringert. Diese Distanzminimierung äußerte sich darin, dass auf allen Systembildungsebenen Parteientscheidungen, Parteistrukturen und Parteipersonal durchgesetzt werden mussten: „Vor allem auf der Organisationsebene wurden die parteilichen Entscheidungskriterien gleichgeschaltet und in die Struktur der jeweiligen Organisation aufgenommen, zumal alle Organisationen hierarchisch bestimmten Parteistellen untergeordnet waren.“56 Folglich wurden die parteilichen Entscheidungskriterien auch in die quasi-massenmedialen Organisationen übertragen. Auch fand eine Angleichung parteilicher und quasi-massenmedialer Entscheidungskriterien im sowjetischen Fernsehen statt: Die Kriterien Parteilichkeit, Objektivität, Volksnähe und Offenheit dienten als Selektoren für alle quasi-massenmedialen Produktionsvorgänge: 1) Informationssammlung, 2) Informationsselektion, 3) Informationsprüfung und 4) Informationsdarstellung. Zusätzlich wurde die Vermittlung der Inhalte durch die generelle Partei-Linie reguliert: 1. So war die Suche und Sammlung von Information im sowjetischen Fernsehen durch eine starke Einschränkung des Zugangs zu Informationsquellen gekennzeichnet. Lediglich die staatliche Nachrichtenagentur TASS bot im ganzen Land Informationen an. Diese waren aber selbst durch parteiliche Kriterien vorselegiert.57 Journalistische Untersuchungen als Informationsquelle waren unvorstellbar. Die Suche nach Information wurde durch die Aufnahme und Übernahme parteilicher Vorgaben ersetzt. 2. Die Informationsselektion wurde im Fernsehen (wie in anderen Medien) vom Kontroll- und Zensurapparat übernommen. Die Abteilungen des Zentralkomitees der KPdSU sowie die Zensurbehörde Glavlit entschieden über die Brauchbarkeit und Unbrauchbarkeit von Informationen. Das Ausmaß der faktologischen Zensur ist dabei enorm.58 Nach den oben genannten Kriterien wurden sowohl für Nachrichten als auch für Unterhaltung die Inhalte ausgesucht. Negative Information über das sowjetische Leben durften danach nicht gezeigt werden:

56 Pollack, 1994: 56 57 Vgl. Hutter, 1980: 187-192. Die zweite sowjetische Nachrichtenagentur APN war auf Propaganda im Ausland spezialisiert. 58 Vgl. ebd.: 47-80.

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QUASI-MASSENMEDIEN UND IHRE KONSTRUKTION DER SOZIALEN WIRKLICHKEIT „Flugzeugunfälle etwa werden nur dann bekannt gegeben, wenn auch Ausländer dabei zu schaden gekommen sind oder wenn eine Aeroflotmaschine im Ausland abgestürzt ist: so die TU-144 auf dem Flugtag von Le Bourges (1973). Dafür werden die Ereignisse dieser Art in den Medien reichlich behandelt, wenn sie im westlichen Ausland oder in Japan passiert sind.“59

3. Eine Informationsprüfung fand im sowjetischen Fernsehen tatsächlich statt. Es war aber eine Prüfung der Übereinstimmung der bereits ausgewählten Inhalte mit den parteilichen Kriterien. In Fällen der NichtÜbereinstimmung, die allerdings selten auftraten, wurden die Inhalte verworfen. Die direkte Verfälschung von Fakten, Informationen und statistischen Angaben war ein Instrument, um die realen mit den erwarteten Informationen konsistent zu halten.60 4. Auch die Informationsdarstellung erfolgte nach ideologischen Grundsätzen. Ein Beleg für die Abwesenheit der Aktualitätsproduktion der sowjetischen Medien findet sich im geringen Anteil der Live-Sendungen. Durch die Aufzeichnung der Sendungen sollte nämlich die Erhöhung der Parteikontrolle über die Sendeinhalte durch die Zensoren und Instrukteure gesichert werden. Während im Unterhaltungsbereich die Darstellung nach Kriterien des sozialistischen Realismus vorherrschend war, bestand der Großteil der Nachrichtensendungen aus Berichten über Aktivitäten der Parteifunktionäre: „Die Reden der Mitglieder des Politbüros mussten in voller Länge übertragen werden. Die Reden der Kandidaten in das Politbüro sowie der Sekretäre des Zentralkomitees der KPdSU durften gekürzt werden. Das Mitglied des Politbüros musste immer als Hauptnachricht der Abendsendung präsentiert werden. […] Auch die Darstellung des gesamten Politbüros folgte strengen Regeln, alle Mitglieder mussten immer mit vollem Rang und Namen genannt werden, was zur Folge hatte, dass ein beträchtlicher Teil der Sendung nur aus dem Vorlesen des Namen und des Ranges der über ein Dutzend Parteifunktionäre bestand“.61

In Abbildung 6 ist anhand des Drehbuchs der Nachrichtensendung Vremja die darstellerische Präferenz für Parteiinhalte zu sehen.62 Am Beispiel von Nachrichten und von Unterhaltung möchte ich die Produktions- und Inhaltsstrukturen der Propaganda illustrieren.

59 Ebd.: 69. 60 Ausführlicher zu Fälschungen und zum Verschweigen von Information in verschiedenen Themen in den sowjetischen Quasi-Massenmedien vgl. ebd.: 46-80. 61 Vgl. Mickiewicz, 1999: 54, Übersetzung d. Verfasserin. 62 Zu Vremja-Nachrichten vgl. II.1.2.2.1.

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Abbildung 6: Drehbuch der sowjetischen Abendnachrichten Vremja Parteileben (im Politbüro des ZK der KPdSU, Materialen des Parteiforums) Sowjetisches Leben (Sitzungen des Obersten Sowjets, Regierungsentscheidungen) Wirtschaft (Nachrichten aus der Produktion, Arbeitserfolge) Ausland (zunächst aus brüderlichen Ländern, danach aus kapitalistischen) Neuigkeiten aus Wissenschaft und Kultur Sport Wetter Quelle: ɐɜɢɤ/ɇɚɡɚɪɨɜɚ, 2002: Ɍɟɥɟɜɢɡɢɨɧɧɵɟ ɧɨɜɨɫɬɢ Ɋɨɫɫɢɢɢ: 142, Übersetzung d. Verfasserin.

1.2.2.1 Produktion von Propaganda-Nachrichten am Beispiel der Sendung Vremja Vor allem am Beispiel der Nachrichten ist der Vorrang der ideologischen über massenmediale Kriterien deutlich zu erkennen. Wie erwähnt war die Anzahl der Live-Sendungen im Zeitraum von 1970 bis 1985 im Fernsehen sehr gering. Nur eine Sendung des Zentralfernsehens wurde direkt übertragen: die Vremja-Nachrichten. Aufgrund der territorialen Größe des Landes wurde die Nachrichtensendung je nach Zeitzone in verschiedene Regionen ausgestrahlt. So wurde Vremja fünf Mal am Tag live übertragen. Diese Abendnachrichten wurden üblicherweise von einem Sprecherpaar, einem Mann und einer Frau, geleitet. Im Unterschied zum Journalisten war der Sprecher eine offizielle Person. Die von ihm vorgelesenen Texte waren Verlautbarungen der offiziellen Meinung der regierenden Organisation. Der Sprecher selbst war der offizielle Repräsentant der Parteilinie. Im Grunde genommen war er der Pressesprecher der Partei. Vremja wurde von den Mitgliedern des Führungsapparats der Partei rezipiert und war deshalb politisch besonders bedeutsam.63 Während der LiveÜbertragung wurde die Möglichkeit von unerwünschten Überraschungen auf 63 Miciewicz, 1999: 54, ɐɜɢɤ/ɇɚɡɚɪɨɜɚ, 2002: 37.

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ein Minimum reduziert: Die gefilmten Reportagen sowie die Texte des Nachrichtensprechers wurden von Zensoren gesichtet; auch das Drehbuch der Sendung wurde überprüft. Außerdem wurden die Nachrichten, die bereits im fernen Osten gesendet worden waren, nochmals genauestens rezipiert, um vor der Moskauer Übertragung die Mitteilungen auszuschließen, die von den Sowjetoberen als politisch und ideologisch inkorrekt eingestuft werden könnten. So war die Regierung – also der Parteiapparat – das Zielpublikum dieser Mitteilungen. Vor allem der Zugang zur Herstellung von Nachrichten blieb unveränderbar. Alle vorselegierten Mitteilungen wurden durch die ideologische Brille betrachtet. Berichtenswert waren nicht die journalistisch ausgesuchten Ereignisse, sondern das, was die Partei für mitteilenswert hielt. Die Kontrollmechanismen bestimmten einerseits, von welchen Ereignissen in den Nachrichten zu berichten erlaubt war und andererseits, in welcher Interpretation diese Ereignisse dargeboten werden durften. Im Bereich der Darstellung von Nachrichten wird diese ideologische Sichtweise durch die präzise festgelegten Kriterien der Nachrichtenpräsentation vervollständigt (vgl. Abb. 6). Von Zeit zu Zeit wurde die Darstellung der Abendnachrichten variiert: Die Nachrichten wurden mal von einem Sprecher, mal von einem Sprecherpaar vorgelesen. Es wurden sogar Versuche unternommen, die Vermittlung der Information zu erneuern: durch Direktschaltungen aus Städten, durch Vorbereitung der Nachrichten von regionalen Fernsehstudios vor Ort, durch Verringerung der mündlichen Mitteilungen usw. Doch die inhaltlichen Vorgaben und die Reihenfolge der Berichterstattung blieben konstant.64

1.2.2.2 Produktion von Propaganda-Unterhaltung Das Selektionsprogramm im Bereich der Unterhaltung ist anhand der Auswahl der Kinofilme beobachtbar. Die Filme sowjetischer Produktion waren dabei dominant.65 Eine Ausstrahlung von ausländischen (selbst in sozialistischen Ländern produzierten) Filmen in der Sowjetunion war selten. Während im Kinoverleih zu Beginn der 80er Jahre der Anteil der ausländischen Filme 25 Prozent betrug (davon 3% amerikanische Filme), war der Anteil der ausländischen Filme im sowjetischen Fernsehen wesentlich geringer. Denn der zensorische Selektionsmechanismus besaß im Fernsehen eine höhere Kontrollkapazität als das Auswahlverfahren für den Kinoverleih. Die dominierenden Kinothemen waren Filme über Erfolge industrieller Produktion, Filme zu moralisch-ethischen Themen, die die Grenzen des Zulässigen aufzeigten, sowie historische Filme. Die Historienfilme konzentrierten sich hauptsächlich 64 Vgl. ɐɜɢɤ/ɇɚɡɚɪɨɜɚ, 2002: 23-32. 65 Jährlich wurden in der Sowjetunion 120 Filme produziert, die nach dem Kinoverleih in das Fernsehprogramm gelangten. Die Filmproduktion gestaltete sich ohne Orientierung auf wirtschaftlichen Profit.

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auf sowjetische Geschichte: den Zweiten Weltkrieg und die Oktoberrevolution. Filmgenres wie Komödie, Thriller oder Melodram waren selten.66 Die vaterländischen Filme, die die Selektionsbarrieren der Zensur nicht überwinden konnten, warteten Jahre oder sogar Jahrzehnte in den Regalen der Zensurbehörde auf die Zulassung. Manche von ihnen wurden nie gezeigt. Im Falle für literarische Werke entstand aufgrund des Zensurmechanismus eine spezielle Bezeichnung „Schreiben in die Schublade“ („ɩɢɫɚɬɶ ɜ ɩɨɥɤɭ“). So wurde das Schreiben der regimekritischen oder unpolitischen Werke bezeichnet, die weder veröffentlicht noch der Zensurbehörde vorgelegt werden durften. Denn die Schriftsteller ahnten die Zensurfolgen und schützten sich durch den Mechanismus der Selbstzensur.

1.2.3 Thematische Geschlossenheit des sowjetischen Fernsehens Thematische Geschlossenheit der Fernsehinhalte Die Geschlossenheit der quasi-massenmedialen Inhalte ist ein Charakteristikum, das aus einem Kennzeichen der sowjetischen Gesellschaftsordnung hervorgeht: soziale, sachliche und zeitliche Geschlossenheit des sowjetischen Systems. Bemerkenswert ist, dass die sowjetischen Quasi-Massenmedien selbst zur Reproduktion der sachlichen und zeitlichen Geschlossenheit der sowjetischen Organisationsgesellschaft durch die thematische Schließung beitrugen. Sowohl die sachlichen als auch die zeitlichen Aspekte der quasi-massenmedialen Inhalte waren in Übereinstimmung mit den parteilichen Kriterien der Medienlenkung eingeschränkt. Diese thematische Schließung war sowohl für Nachrichten als auch für Unterhaltung charakteristisch. Einzige Ausnahme bildeten vielleicht populär-wissenschaftliche Themen, die jedoch aus ideologischen Gründen – dem Nachweis der hohen Bildung der sowjetischen Bürger – ins Fernsehprogramm aufgenommen wurden. In dieser Periode (1970-1985) waren die Fernsehsendungen (wie auch Presseartikel und Radiosendungen) durch Großtuerei, Kritiklosigkeit sowie durch Verschweigen der Widersprüche und Konflikte des alltäglichen Lebens gekennzeichnet. Dagegen waren verschiedene Jubiläumsdaten sowie die Vorbereitungen auf diese mehr als ausreichend beleuchtet: Der 50. und 60. Jahrestag der Oktoberrevolution, der 50. Jahrestag des sowjetischen Jugendverbandes Komsomol (VLKSM), 100 Jahre seit der Geburt von Lenin und das 50- und 60-jährige Jubiläum der Gründung der Sowjetunion. Um diese Jubiläen nicht durch negative Informationen zu tangieren, wurde in den Medien über bestehende Probleme und Schwierigkeiten nicht berichtet. Offen über aktuelle Fragen des gesellschaftlichen Lebens zu sprechen, erschien deshalb 66 Im Kinoveleih betrug der Anteil der Filme dieser Genres in unterschiedlichen Jahren zwischen 8% und 13% vom Gesamtverleih (vgl. Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2001: 145).

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schon als abweichendes Verhalten. Die Kritiker wurden als Dissidenten und Andersdenkende bezeichnet, ihr Verhalten hart sanktioniert.67 Statt zu kritisieren, initiierten die Quasi-Massenmedien verschiedene neue Arbeitswettbewerbe, die von den Arbeitenden übernommen werden sollten.68 Offizielle Beschreibungen des sowjetischen Fernsehens hoben derartige Berichterstattungen lobend hervor: „In Reportagen und Korrespondenzen, die den patriotischen Initiativen der führenden Kollektive Moskaus, Leningrads […] und anderer Städte und Gebiete gewidmet sind, wird dem Kampf um die Qualität der Produkte und die Effektivität der Produktion große Aufmerksamkeit geschenkt. Das Programm ‚Vremja‘ informiert regelmäßig über die Lage auf den wichtigsten Bauobjekten […]. Alles Neue, was in der landwirtschaftlichen Produktion entsteht und auf den Feldern und Farmen erzeugt wird sowie die führende Erfahrung der Werktätigen des Dorfes finden Widerspiegelung in der Sendung ‚Vremja‘.“69

Geschlossenheit versus Globalisierung Gerade vor dem Hintergrund der Globalisierungsprozesse im Weltsystem der Massenmedien stellt sich die Frage: Wie konnte diese thematische Geschlossenheit des sowjetischen Fernsehens aufrechterhalten werden? Hätte sie durch die massenmediale Globalisierung nicht überwunden werden können? Der Prozess der globalen massenmedialen Diffusion besteht darin, dass besonders erfolgreiche technische und kreative Innovationen, Prinzipien der Organisation der Nachrichtenproduktion sowie massenmediale Regeln und Normen, die in einem Land entwickelt werden, schnell zum Repertoire der Möglichkeiten für massenmediale Organisationen in anderen Ländern gehören (vgl. I.4.3.2). Während sich weltweit gewisse Standards in der Produktion und in der Darstellung von Nachrichten, Werbung und Unterhaltung durchsetzten oder zumindest das Streben danach vorhanden war, wurde dieser „verderbliche“ Einfluss in den sowjetischen quasi-massenmedialen Organisationen gemieden. Sowjetische Nachrichten wurden als besonderer Typus, als besondere sowjetische Art der Informationsvermittlung angesehen und dementsprechend hergestellt.70 Globalisierungstheoretisch gesprochen, waren die Möglichkeiten für internationale Beobachtungsprozesse in diesem Kontext nicht vorhanden. Findet aber keine Beobachtung (zwischen Organisationseinheiten) statt, können globale Diffusionsprozesse nicht in Gang kommen. 67 Während der Breschnev-Zeit waren übliche Sanktionen nicht nur Strafverfolgung, Einlieferung ins Arbeitslager oder Ausweisung: Die Andersdenkenden, häufig Künstler, wurden in psychiatrische Anstalten eingeliefert und über Jahre „behandelt“. 68 Vgl. Ƚɪɚɛɟɥɶɧɢɤɨɜ, 2001: 93. 69 ɐɜɢɤ/ɇɚɡɚɪɨɜɚ, 2002: 37-38. 70 Ebd.: 37.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

Nur in Ausnahmefällen konnten sowjetische Fernsehjournalisten ausländische Sendungen beobachten. Wenn sich diese Gelegenheit ergab, wurden die ausländischen Sendungen jedoch heftig kritisiert. Diese Vorgänge sind gemäß der Globalisierungstheorie als schwache Beobachtung mit anschließender Ablehnung der massenmedialen Standards zu definieren (vgl. I.4.3.2). Als Beispiel seien die Auszüge aus dem Stenogramm der Unionstagung zu Problemen der Radio- und Fernsehinformation (23.-26. November 1966) angeführt, auf der den anwesenden Journalisten eine Nachrichtensendung des Senders BBC gezeigt wurde.71 Hier ein Ausschnitt aus der Rede des Vertreters des Hauptredakteurs der Hauptredaktion des Zentralfernsehens für Information Chasanov: „Ich möchte nochmals auf die gestrige englische Sendung zu sprechen kommen. Sie beeindruckt natürlich mit der Vollkommenheit ihrer professionellen Meisterleistung. Ich sage direkt, es ist schwer mit dieser ausgezeichneten Meisterleistung, mit dieser Schärfe, mit diesem Rhythmus, mit diesem genau berechneten Bilderwechsel zu konkurrieren – all dies ist hervorragend gestaltet.“

Danach folgt seine Kritik: „Mir gefiel nicht besonders die Scheinobjektivität englischer Kommentatoren. Unter allem, was sie machten, spürte man den doppelten Boden […]. Wir haben die Möglichkeit selbst zu entscheiden, wie welches Thema darzustellen ist, wir werden ja nirgendwohin vorgeladen. Aber die werden vorgeladen. Denen sagt man genau, was zu tun ist und wie.“72

Die sachliche und zeitliche Geschlossenheit der Sowjetunion wurden nicht nur durch die Einschränkung der quasi-massenmedialen Inhalte, sondern auch durch das Erschweren des Zugangs zu den nicht-sowjetischen Massenmedien erreicht. So wurde der Zugang zu den ausländischen Radiosendern blockiert. Um „feindliche“ Radiosender (BBC, Voice of Amerika, Radio Liberty, Deutsche Welle u.a.) für die sowjetischen Zuhörer unzugänglich zu machen, wurde ein technisches System zur Störung der Frequenzen dieser Sender entwickelt. Die Einreise- und Ausreiseflüsse wurden von den Organen der inneren Sicherheit kontrolliert. Ausländische Zeitungen und Bücher waren nur für Leser mit einer Spezialerlaubnis zugänglich. Der Filmimport für Kinoverleih und Fernsehen war begrenzt auf Werke, die den parteilichen Kriterien der Medienlenkung entsprachen. Aber kein System der informationellen Schließung konnte absolut effektiv sein. Die Globalisierungsprozesse bei den Welt-Massenmedien und im Bereich der modernen Kommunikationstechnologien konnten die Sowjetunion nicht meiden. So konnte in einigen Grenzterritorien der Sowjetunion, wie z.B. in den Baltischen Republiken, finnisches Fernsehen empfangen werden. Nach 71 Das Stenogramm dieser Konferenz war mit dem Vermerk ‚Nur für Dienstgebrauch‘ gedruckt (vgl. ebd.). 72 Zit. Nach ɐɜɢɤ/ɇɚɡɚɪɨɜɚ, 2002: 28. Übersetzung d. Verfasserin.

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der Einstellung der Frequenzstörung hatten die ausländischen Radiostationen ein schätzungsweise großes Publikum besonders unter der städtischen Bevölkerung (s. II.1.3). Durch Fotokopiertechnik konnten verbotene Werke des Samisdat (= Selbstverlag) vervielfältigt und verbreitet werden. Diese Technologie sowie die Nutzung von Computertechnologie wurde in der Sowjetunion zum Gegenstand zahlreicher widersprüchlicher behördlicher Verbote, die nicht nur kaum durchsetzbar, sondern auch wirtschaftlich schädlich waren.73 Später (mit Beginn der Perestroika) blühte trotz strafrechtlicher Verfolgung das Einschmuggeln von Videokassetten auf.74 Diese medialen Prozesse konnten die Standards der Propaganda-Produktion jedoch nicht verändern. Vielmehr trugen sie zur Entstehung eines (gegenüber den offiziellen Medien) alternativen Medienbereichs bei. Innerhalb (und außerhalb) der Sowjetunion entstand ein Bereich, der für das sowjetische Publikum eine alternative Wirklichkeit produzierte. Es bildete sich die Trennung zwischen offiziellen und nicht-offiziellen Medien.

1.3 Trennung zwischen offiziellen und nicht-offiziellen Medien Die sowjetischen Quasi-Massenmedien waren nicht in der Lage, die anfallenden Kommunikationsprobleme adäquat zu verarbeiten. Dies hing mit ihrer Stellung innerhalb der Organisationsgesellschaft zusammen. Diese Gesellschaft verfügte aber interessanterweise über einige Modernitätsmerkmale, die auch in westlichen Ländern beobachtbar sind: formale Teilung in verschiedene Gesellschaftsbereiche75, Professionalisierung, hohes Bildungsniveau der Bürger: Ihr Komplexitätsniveau war also hoch. Allerdings konnten die Partei und die von ihr kontrollierten Instanzen die anfallende Komplexität nicht adäquat verarbeiten. Auch die sowjetischen Quasi-Massenmedien waren dazu nicht in der Lage. Da die Komplexitätsreduktion der Quasi-Massenmedien inadäquat war, musste innerhalb der Gesellschaft ein alternativer Bereich entstehen, der diese Funktion hätte ausfüllen können. Ich spreche hier von so genannten außersystemischen, parallelen oder alternativen Medien. Im Bereich des Fernsehens waren in der Sowjetunion keine Alternativmedien vorhanden. Weil aber die Trennung zwischen offiziellen und inoffiziellen Medien nach dem Beginn von Reformen im Prozess der Ausdifferenzierung der Massenmedien speziell fürs Fernsehen aktuell wird, werde ich hier näher auf sowjetische Alternativmedien und ihre Funktionen eingehen. 73 Schließlich war das Scheitern der sowjetischen Organisationsgesellschaft durch diese informationelle Rückständigkeit mitverursacht (vgl. I.2.1.6). 74 Vgl. Mickiewicz, 1999: 27. 75 Es existierte eine formelle Trennung in (Plan-)Wirtschaft, (Partei-)Politik, (Partei-)Wissenschaft, Erziehung, Krankenbehandlung, Kunst, Sport und (Propaganda-)Medien.

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Diese Medien möchte ich in drei Gruppen unterteilen: 1) Samisdat (= selbsterzeugte Texte), 2) ausländische Radiosender und 3) Emigrantenpresse. Die bedeutendste Rolle kam vor allem den ersten zwei Verbreitungsmedien zu. 1) Als Samisdat (= Selbstverlag) wurden in der Sowjetunion per Hand geschriebene, auf der Schreibmaschine getippte oder fotokopierte Texte bezeichnet, die Andersdenkenden, den so genannten Dissidenten, die Möglichkeit gab, ihre, die Partei ablehnende, Haltung zu verbreiten. Deshalb war Samisdat nicht nur ein alternativer Medienbereich, sondern auch eine politische Opposition gegenüber der Parteiherrschaft. (Es sei daran erinnert, dass alle Handlungen, die von der Partei nicht ausdrücklich genehmigt wurden, verboten waren.) Die Bezeichnung „Samisdat“ wurde vom Dichter Michail Glaskov in den 1950er Jahren eingeführt. Aber die ersten selbsterzeugten Texte erschienen in der Sowjetunion bereits zwischen 1918 und 1922, als das Fehlen von Druckpapier Dichtung in handschriftliche Arbeit verwandelte.76 Die Entstehung und zunehmende thematische Schließung offizieller sowjetischer Medien zwang die oppositionellen Dichter und Schriftsteller zum Verzicht auf das Papier. Die Literatur wurde seitdem mündlich überliefert. Der Samisdat der 30er und 40er Jahre war deshalb hauptsächlich mündlich. Es entstand die „Berufsgruppe“ der professionellen Erinnerer („Zapamjanalschiki“), die sich auf die Überlieferung der mündlichen Texte spezialisierten. Der Großteil dieser Texte wurde später auf diese Weise auf Tonband aufgenommen – durch mündliches Vorsprechen. Zwischen den 60er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts wurden Samisdat-Texte schriftlich überliefert. Ivan Sasurskij gliedert Samisdat-Literatur dieser Periode in vier Typen auf: 1. Kritik der sowjetischen Gesellschaftsordnung, 2. erotische und pornographische Texte, 3. religiöse Literatur, 4. „Formalistische bsthetik“ – eine spezielle Dicht- und Literaturrichtung“.77 Personen mit Hochschulbildung – Wissenschaftler, Intellektuelle – und andere, die zum Kreisen der Andersdenkenden gehörten, waren vermutlich die Hauptabnehmer dieser Texte. Die Daten über den Publikumsumfang des Samisdat sind aus nahe liegenden Gründen nicht vorhanden. In den neuen wissenschaftlichen Untersuchungen dieses alternativen Medienbereichs wird eine nicht allzu große Verbreitung und ein eher kleiner Publikumsumfang angenommen.78 Auf der anderen Seite wird ihm in den genannten Milieus hohe Popularität bescheinigt. Ivan Sazurskij erwähnt, dass in Leningrad zu Beginn 76 Die Geschichte alternativer Textproduktion und -verbreitung hat in Russland eine lange Tradition: vgl. ausführlicher Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, 2001: Ɋɟɤɨɧɫɬɪɭɤɰɢɹ Ɋɨɫɫɢɢ: 255. 77 Vgl. ebd.: 256. 78 Vgl. Ƚɪɚɛɟɥɶɧɢɤɨɜ, 2001: 93

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der 80er Jahre etwa zehn Samisdat-Zeitschriften herausgegeben wurden.79 Ohne jetzt den Publikumsumfang der alternativen Medienerzeugnisse bestimmen zu können, ist anzunehmen, dass seine Anziehungskraft in der Verbotenheit der Texte lag: Das machte sie automatisch glaubwürdiger als offizielle Quellen. Eine der bekanntesten Zeitschrift des Samisdat war das von 1968 bis 1983 erschienene Informationsmagazin „Chronik der laufenden Ereignisse“, das über die Menschenrechtsverletzungen in der UdSSR informierte. Nach Alexandr Grabelnikov (2001) erfüllte Samisdat in der Sowjetunion folgende Funktionen: • „Informationsfunktion – Verbreitung von an ein bestimmtes Publikum gerichtete Mitteilungen, • kritische Funktion – Aufzeigen von Fehlern und Nachteilen des sowjetischen Systems, • kommunikative Funktion – Stärkung der sozialen Beziehungen zwischen Personengruppen durch Informieren über das Vorhandensein ähnlich Andersdenkender, • Funktion der individuellen Selbstverwirklichung – durch die Möglichkeit des Selbstausdrucks, • kompensatorische Funktion – durch Ersatz der soziokulturellen Verluste“.80 Aus systemtheoretisch-konstruktivistischer Sicht erfüllte der Selbstverlag die Funktion der Konstruktion einer alternativen Wirklichkeit innerhalb der sowjetischen Organisationsgesellschaft. Ende der 80er Jahre wird die Produktion der selbsterzeugten Texte überflüssig. Die Verabschiedung des Pressegesetzes im Jahre 1990 legalisiert alle Presseerzeugnisse. Durch die neue Freiheit der Meinungsäußerung werden die alternativen Ausgaben nicht mehr benötigt.81 2) Die ausländischen Radiosender waren eine nicht zu unterschätzende alternative Informationsquelle für das sowjetische Publikum. Denn alle anderen „system-externen“ Medien blieben für das sowjetische Publikum offiziell unzugänglich. Ausländische Presse war in der Sowjetunion ausschließlich in Moskau und nur für ausländische Besucher gestattet. Ausländische Radiosender im Mittelwellebereich berichteten in ihrer Muttersprache und waren deshalb für die meisten sowjetischen Bürger unzugänglich. Auch ausländisches Fernsehen konnte nur in einer Region empfangen und verstanden werden: das finnische Fernsehen in der Karelofinnischen Teilrepublik. Auf Vorschlag des sowjetischen Außenministers A. Gromyko wurde im August 1972 auf der Generalversammlung der Vereinten Nationen eine völkerrechtliche Regelung des Satellitendirektfernsehens getroffen. Danach wurde u.a. die Übertragung westlichen Fernsehens via Satellit auf sowjetisches Territorium verhindert. 79 Vgl. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, 2001: 256. 80 Ƚɪɚɛɟɥɶɧɢɤɨɜ, 2001: 93. 81 Aber ab 2000, mit Zunahme der (Selbst-)Zensur der russischen TV-Sender wird as Internet zum neuen Medium des Samisdat.

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Mit der Verbreitung des Transistorradios wurden deshalb die ausländischen Kurzwellensender, die in russischer Sprache für das sowjetische Publikum berichteten, zunehmend populärer. Von der Parteiführung wurden sie als Störfaktor bei der Modellierung der sozialistischen Realität als „Diversion gegen sozialistischen Gesellschaftsaufbau“82 angesehen.83 Radio Liberty, BBC, Deutsche Welle und Voice of Amerika zählten zu den beliebtesten unter den ausländischen Radioquellen. Das Personal dieser Sender bestand zum Teil aus Emigranten, die als Redakteure beschäftigt waren. Auf Grundlage ihrer eigenen Erfahrungen konnten sie die Wünsche und Interessen des sowjetischen Zielpublikums erschließen. Die Sendeinhalte gaben die Weltereignisse wieder, die in sowjetischen Medien verschwiegen wurden. Auch Lesungen von verbotenen Literaturwerken der Exildichter und Exilschriftsteller gehörten in ihr Programm. Nach Einschätzungen westlicher Wissenschaftler betrug der Zuhöreranteil der ausländischen Kurzwellensender zwischen 40 und 60 Millionen Menschen. 50 bis 75 Prozent der sowjetischen Bevölkerung aus verschiedenen Republiken sollten danach diese Sender präferiert haben. Dabei wurden die ausländischen Radiosendungen sowohl von Arbeitern als auch von Intellektuellen rezipiert. Die sowjetischen Untersuchungen zum Publikumsumfang ausländischer Sender blieben geheim.84 3) Den dritten Typ alternativer Medien bildete die russische Exilpresse. Denn seit dem Ende des Bürgerkrieges 1922 wurde im Ausland oppositionelle russische Presse herausgegeben. Bekannte russische Schriftsteller und Regimegegner waren häufig an der Herausgabe dieser Zeitungen und Zeitschriften beteiligt.85 Die Exilpresse teilte sich in zwei Lager auf: Monarchie-Anhänger und Liberale. In Frankreich wurden Letzte Nachrichten, Freier Gedanke und Gemeinsame Sache herausgegeben; in Deutschland: Stimme Russlands, Steuer, Kommendes Russland, Was tun?. Auch in Polen, Bulgarien, der Türkei, Finnland, Lettland, Estland und anderen Ländern wurden die Emigrantenzeitungen herausgegeben.86 Allerdings war die Exilpresse dem sowjetischen Leser gänzlich unzugänglich. Erst mit Beginn von Glasnost und Perestroika wurde russische Emigrantenpresse legal in der Sowjetunion verkauft. 82 Ɇɚɬɟɪɢɚɥɵ ɏɏ ɫɴɟɡɞɚ Ʉɉɋɋ, Ɇɨɫɤɜɚ, 1971: 90, zit. nach Hutter, 1980: 235. 83 Um den Empfang der so genannten „feindlichen Stimmen“ zu verhindern, wurde in der Sowjetunion zunächst ein technisches System der Frequenzstörung dieser Sender entwickelt. Jedoch konnte diese Empfangsstörung durch einfache Tricks beseitigt werden. Mit einigen Ausnahmen wurde dann die Störung ausländischer Sender bereits 1960 eingestellt. Auch die Strafverfolgung des Hörens ausländischer Sender war Ende der 60er Jahre abgeschafft. Nach der Aufhebung dieser Strafe wurde allerdings die Bestrafung der (öffentlichen und privaten) Diskussion über die Sendeinhalte der „feindlichen Stimmen“ eingeführt (vgl. Hutter, 1980: 238). 84 Vgl. Hutter, 1980: 239-241. 85 Vgl. Ƚɪɚɛɟɥɶɧɢɤɨɜ, 2001: 81. 86 Übersetzung der Titel durch die Verfasserin. Vgl. ausführlicher hierzu Ƚɪɚɛɟɥɶɧɢɤɨɜ, 2001: 81.

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QUASI-MASSENMEDIEN UND IHRE KONSTRUKTION DER SOZIALEN WIRKLICHKEIT

Die Herausbildung und Popularität der alternativen Medien in der Sowjetunion deutet darauf hin, dass die Selektionskapazität der Quasi-Massenmedien den Anforderungen einer zunehmend komplex werdenden Gesellschaft nicht entsprechen konnte. Der Informationsbedarf des Parteiapparats wurde durch die Mitteilungen des KGB sowie die aktuellen, aber für Außenstehende geheimen Informationen der Nachrichtenagentur TASS (der so genannter „rote TASS-Dienst“) gedeckt.87 Alle anderen gesellschaftlichen Bereiche, einschließlich der Medien selbst88, alle anderen Organisationen und alle NichtMitglieder des Parteiapparats wurden von diesen Informationsquellen notwendigerweise ausgeschlossen.

1.4 Publikum und Rezeption Nicht-Berücksichtigung der Publikumserwartungen als Indikator für Propagandakommunikation Während für die autopoietischen Massenmedien das Publikum als innere Differenzierung des Systems fungiert, verlaufen die Produktionsprozesse der Propagandakommunikation ohne Einbeziehung der Publikumserwartungen.89 Die Vernachlässigung der Publikumskomponente geht auf die Annahme der Propagandaproduzenten zurück, dass der Rezipient als ein Objekt zu verstehen ist, auf das die Propagandamitteilungen unmittelbar einwirken. Den Parteivorgaben gemäß war die Hauptaufgabe des sowjetischen Fernsehens, das Publikum an der kommunistischen Ideologie zu orientieren, diese dem Publikum zu vermitteln und „einzurichten“. Dieses Charakteristikum des sowjetischen Fernsehens geht auf Lenins Ideen zur Rolle des Rezipienten im Kommunikationsprozess zurück. Von Gustave Le Bon übernahm er das Verständnis vom „Ich-schwachen“ Rezipienten. In seinem Buch „Psychologie der Massen“ charakterisierte Le Bon individuelles Verhalten innerhalb der Masse so: „Das Schwinden der bewussten Persönlichkeit, Vorherrschaft des unbewussten Wesens, Leitung der Gedanken und Gefühle durch Beeinflussung und Übertragung in der gleichen Richtung.“90 Über Metaphern können deshalb dem Rezipienten die vereinfachten Ideen eingeflößt werden. Durch geschickte 87 Vgl. Hutter, 1980: 107-108, Mickiewicz, 1999: 28. 88 Die Versorgung der Verbreitungsmedien mit Nachrichten durch die staatlichen Nachrichtenagenturen TASS und APN war äußert mangelhaft. Aufgrund der ziemlich langsamen Nachrichtenbeschaffung, Inkonsistenz zwischen inländischen und ausländischen Nachrichten sowie starker Zensur und Partei-Kontrolle kann man sie nicht als Nachrichtenagenturen im autopoietischen Sinne bezeichnen. Eher stellten sie einen zusätzlichen Mechanismus der informationellen Schließung des sowjetischen Systems dar (vgl. Hutter, 1980: 108-110, 187-197). 89 Vgl. I.3. 90 Le Bon, Gustave, 1932 (1895) Psychologie der Massen, 6. Aufl. Leipzig, zit. nach: Müller, 2001: 44.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

Kombination der Worte mit den Bildern können ergreifende Ideendarstellungen geschaffen werden, die in die Köpfe der Massen wandern. Dieser Vorstellung gemäß wurden die quasi-massenmedialen Produktionsprozesse im sowjetischen Fernsehen organisiert: „die Informationsverbreitung via Bildschirm [ist] kein Prozess der Faktenvermittlung und soll es auch gar nicht sein. Ihre Aufgabe ist es, mit den entsprechenden Bildern auf das Bewusstsein der Massen einzuwirken und die Absichten der Partei – etwa eine vorteilhafte Darstellung des Staates – zu erfüllen. Da der Rezipient aus Sicht der Partei nur in der Lage ist, grobe Ideenverbindungen zu begreifen, dient die Informationsvermittlung allenfalls nur der ‚Orientierung‘ der Masse.“91

Die in den massenmedialen Organisationen übliche Frage: ‚Was hält das Publikum von dieser Mitteilung?‘, wurde in der quasi-massenmedialen Organisation des sowjetischen Fernsehens durch die Frage ersetzt: ‚Wie bewertet die Parteiorganisation den Erfolg dieser Sendung beim Publikum?‘ Diese strukturelle Besonderheit des sowjetischen Fernsehens kam nicht nur darin zum Ausdruck, dass die Zuschauerinteressen im Fernsehprogramm nicht berücksichtigt wurden, sondern auch darin, dass die Fernsehleitung nach Anordnung des Parteiapparats jede Sendung absetzen konnte. Eines der bekanntesten Beispiele einer solchen Nicht-Beachtung der Publikumserwartungen war die Absetzung einer sehr populären Sendung „Klub der Lustigen und Geschickten“ („KVN“).92 Wegen seiner zweifelhaften Witze erschien dieser Humorwettbewerb für die Parteiführung als regimeschädlich. Denn nicht die Medieninstanzen legte fest, welche Sendung für potentielles Publikum gut war, sondern der Parteiapparat entschied, welche Sendung fürs Publikum interessant zu sein hat. Die Quasi-Massenmedien waren der Partei hierarchisch untergeordnet und hatten ihre Entscheidungskriterien verinnerlicht. So wurde auch die Publikumsbeurteilung der quasi-massenmedialen Inhalte von den medienkontrollierenden Instanzen übernommen: „Die Parteiobrigkeit nimmt die Funktion der Berechnung von Forderungen des Publikums an die Massenmedien auf sich. Die Parteiobrigkeit gibt (zu verschiedenen Problemen) den Kommunikatoren der Information Empfehlungen – oder besser: Befehle – weiter, in welchen sie die Forderungen des Publikums bereits einkalkuliert hat. Das heißt, die Kalkulation nicht in der unmittelbaren Form, sondern in parteibürokratisch-politisierten Formulierungen.“93

Die Beobachtung des aktuellen und des potentiellen Publikums durch sowjetische Propagandainstanzen existierte nicht, weil sie nach Parteivorgaben nicht existieren durfte.94 Stattdessen wurde ein Muster der „Publikumsforderungen“ 91 92 93 94

Müller, 2001: 44. Zu Daten über die Beliebtheit der „KVN“-Sendung vgl. Hutter, 1980: 224-229. Ebd.: 139. Vielmehr sollte der Dialog zwischen Regierten und Partei auf Parteiversammlungen stattfinden.

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eingeführt, mit dessen Hilfe der Parteiapparat zusätzlichen Einfluss auf Produktionsinstanzen der Propaganda ausübte. Der Apparat operierte als umfassender Selektionsmechanismus, der sowohl die Mitteilungen der Produktionsseite selegiert als auch die Beobachtung des Publikums durch die Medien imitiert. Die Vermutungen über potentielle Publikumsinteressen bezog das Parteiapparat aus seiner eigenen Informationsquelle: dem Apparat der KGB. Diese vermuteten Publikumsinteressen wurden vom Parteiapparat in parteilichideologischen Begriffen formuliert, die mit der herrschenden Parteisemantik kompatibel waren: „[N]iemals blieben die Massenmedien dabei stehen, einfach das Interesse des Publikums an einer Gerichtschronik heranzuziehen. Im Parteilatein wird dies als ‚Interesse an der Funktion der demokratischen sowjetischen Rechtssprechung‘ formuliert. Niemals betrachten diese Medien die Forderung des Publikums, in die Information möchten auch Mitteilungen über westliche Kultur einbezogen werden […]. In der Ausdrucksweise der Partei heißt das dann: ‚Forderung der Massen, die Information über progressive Kultur unter Bedingungen des Kapitalismus auszuweiten‘.“95

Aber das Wissen darüber, wie das Publikum die Fernsehinformation versteht, fehlte dem Parteiapparat. Die Erforschung der Rezeptionsprozesse der sowjetischen Zuschauer war aus mehreren Gründen minimal und wurde teils geheim gehalten. Einerseits interessierte sich der Parteiapparat sehr wohl dafür, ob die „ideologische Spritze“ wirkt. Andererseits wurde die Annahme der Treue der Sowjetbürger gegenüber dem Regime ständig manifestiert und die Wirkung der medialen Propagandainstrumente gelobt. Die Durchführung entsprechender Untersuchungen hätte als offenes Anzweifeln der Wirksamkeit dieser Instrumente angemutet. Zudem waren wissenschaftliche Untersuchungen der Rezeptionsprozesse des sowjetischen Publikums aufgrund der Angst der Sowjetbürger vor Sanktionen nicht durchführbar.96 Die Meinungsforschung wurde bereits durch Stalin verboten und durch Chrutschov und Breschnev teils wiederbelebt. Diese offiziell erlaubten Untersuchungen der Mediennutzung brachten Ergebnisse zu Tage, die von der Parteiführung nicht erwartet worden waren: So waren die Hochschulabsolventen besonders unzufrieden mit den Werken der zeitgenössischen sowjetischen Schriftsteller. Die höher Gebildeten bewerteten den gesamten Inhalt der Fernsehprogramme besonders kritisch. Im Unterschied zu anderen Gruppen zeigten sie hohes Interesse an politischer Berichterstattung und an Nachrichtensendungen. Deren Inhalte schätzten sie aber kritischer ein als andere Gruppen.97 Eine andere Untersuchung über die im Exil lebenden Sowjetbürger schlussfolgerte, dass die wachsende Zunahme des Bildungsniveaus der sowjetischen Bevölkerung und der Generationswechsel der alten ungebildeten Generation durch die junge gebildete Generation Ende der 70er Jahre die sinken95 Ebd.: 141. 96 Ebd.: 123-131 97 Vgl. Mickiewicz, 1999: 28 ff.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

de Akzeptanz der existierenden Gesellschaftsordnung durch die Sowjetbürger bedingten.98

Rezeption im Sozialismus Da Untersuchungen der Rezeptionsprozesse in der Sowjetunion fehlen, werde ich mich hier auf die Studie der amerikanischen Medienforscherin Ellen Mickiewicz von 1998 beziehen.99 Sie hat mit Hilfe von Fokusgruppen eine Untersuchung der Rezeptionsmuster russischer Zuschauer durchgeführt. Da die Teilnehmer zur in der Sowjetunion aufgewachsenen Generation gehörten, erlauben die Ergebnisse dieser Untersuchung, mit gewissen Einschränkungen100, Schlüsse über die Rezeptionsprozesse der Fernsehinformation der sowjetischen Zuschauer zu ziehen. Mickiewicz’ Untersuchung basiert auf konstruktivistischen Annahmen, wonach die Rezeption als aktiver (Konstruktions-)Prozess der massenmedialen Information durch die Zuschauer zu verstehen ist. Die Haupterkenntnis dieser Untersuchung lautet, dass „das russische Publikum außergewöhnlich erfahren in Bezug auf das ‚Herausfischen‘ der Information aus offiziellen Nachrichten ist“.101 Schlussfolgernd waren die Überzeugungen des sowjetischen Rezipienten nicht so formbar, wie die sowjetische Parteiführung dies angenommen hatte. Das „Abklopfen“ der offiziellen Mitteilungen in Bezug auf die angedeuteten politischen Vorgänge oder indirekte Drohungen entwickelten sich aus dem starken und durch offizielle Medien nicht gedeckten Informationsbedarf der sowjetischen Rezipienten. Denn im Gegensatz zum westlichen Rezipienten stellte für den sowjetischen Mediennutzer nicht ein Zuviel, sondern ein Zuwenig an Information ein Problem dar. Mickiewicz hält fest, dass die Zerlegung und Interpretation der offiziellen Berichterstattung zum notwendigen Teil des Rezeptionsprozesses in der Sowjetunion wurde. So versuchten die Mediennutzer die von ihnen vermuteten wegselegierten Informationen wiederherzustellen. Mickiewicz’ Resultat: „Die sowjetischen Zuschauer waren schon lange Dekonstruktivisten“.102 Die Ergebnisse dieser Untersuchung erlauben, (nur) Bestandteile des sowjetischen Rezeptionsmusters zu lokalisieren. Mickiewicz nennt dieses Rezeptionsmuster „die Heuristik der sowjetischen Epoche“. Danach bildete weder der Wissensvorrat noch der Umfang der faktologischen Kenntnisse die Grund98 Ebd: 29. 99 Vgl. Mickiewicz, 1999: 286 ff. 100 Zum einen unterscheiden sich die Rahmenbedingungen der Studie von den Rahmenbedingungen in der Sowjetunion, zum anderen fand seit 1985 ein rasanter Wandel der sowjetischen/russischen Gesellschaftsstrukturen statt. Deshalb sollte diese Studie nur als hypothetische Illustration der Rezeptionsprozesse in der Sowjetunion interpretiert werden. 101 Ebd.: 287, Übersetzung d. Verfasserin. 102 Ebd., Übersetzung d. Verfasserin.

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lage für die Aneignungsprozesse der sowjetischen Fernsehmitteilungen. Eher war es die Art und Weise der Rezeption selbst, die auf Grundlage der Lebenserfahrungen in der Sowjetunion und der Nutzung der individuellen und soziokulturellen Ressourcen beruhte. Skepsis ist der Ausgangspunkt der „Heuristik der sowjetischen Epoche“. Im Laufe von Jahrzehnten waren Fernsehnachrichten aus einer einzigen staatlich kontrollierten Quelle zugänglich. Die Zuschauer stellten die Glaubwürdigkeit dieser Quelle in Frage, dennoch verfolgten sie aufmerksam die Nachrichten. Diese Skepsis zusammen mit dem ausgeprägten Interesse an Informationen ist vermutlich Grundlage der Rezeptionsprozesse für den heutigen russischen Zuschauer. Mit Hilfe ihrer Strategie suchen sie die für sich wichtigen Informationen aus und berichtigen sie mit Hilfe individueller Ressourcen. Individuelle Rezeption ist hier Prozess der „Suche“ und „Endverarbeitung“ von Information. Bei der Untersuchung des sowjetischen Rezeptionsmusters mit Hilfe von Fokusgruppen wurden die vier grundlegenden Aspekte der „Heuristik der sowjetischen Epoche“ festgestellt: 1) Misstrauen zu besonders positiven Mitteilungen, 2) Analyse des Aufbaus der Nachrichtensendung, 3) Suche nach Quellen der mitgeteilten Information und nach denjenigen, denen die Mitteilung nützlich sein könnte, 4) Suche nach Widersprüchen in den Nachrichten.103 1) Von den Zuschauern wurden besonders positive Informationen sofort bemerkt. Da die sowjetischen Nachrichtensendungen die Aufgabe hatten, die Zuschauer zu erziehen und sie zu notwendigen politischen Zielen zu führen, wurde in den Nachrichten häufig die Wunschrealität für die Wirklichkeit ausgegeben. Kleine Erfolge wurden so zu großen Errungenschaften. Denn nach der kommunistischen „Theorie“ bewegte sich die Gesellschaft unausweichlich in die richtige Richtung. Auf Grundlage dieser Erfahrung lehnten die russischen Zuschauer in der Untersuchung von 1998 besonders optimistische Reportagen ab. 2) Die Zuschauer achteten auf die Reihenfolge der Mitteilungen in den Nachrichtensendungen. In der sowjetischen Epoche wurden die Abendnachrichten um 21 Uhr gleichzeitig auf allen Fernsehkanälen live ausgestrahlt. Sie waren das einzige einflussreiche Nachrichtenmagazin im ganzen Land. Die Mitteilungen erfolgten in einer strengen Reihenfolge, die durch ideologische Regeln bestimmt war. Die Möglichkeit, Information aus verschiedenen (z.B. staatlichen und nicht-staatlichen) Quellen zu vergleichen, war, mit Ausnahme der informellen Texte und der „feindlichen“ Radiosender, deren Inhalte nicht besprochen werden durften, nicht vorhanden. Die Reihenfolge der Mitteilungen über die Parteifunktionäre bildete eine Art Geheimsprache, nach der Vermutungen über Machtkämpfe innerhalb des Parteiapparats angestellt wurden.

103 Ebd.: 289 ff.

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3) Wem bringt die mitgeteilte Information Gewinn, ist die Frage, bei der die russischen Zuschauer ihre kritischen Fähigkeiten nutzten. Auf ideologischen Schulungen wurden die Sowjetbürger getrimmt: Für die Kapitalisten ist es gewinnbringend, falsche Informationen zu verbreiten, um sich im besseren Licht zu präsentieren. Aber diese von Partei-Ideologen aufgezwungene Strategie konnte vom Zuschauer auch in Bezug auf sowjetische Nachrichten angewendet werden. 4) Die Unstimmigkeiten und Inkonsistenzen in den Nachrichten fielen den russischen Zuschauern unmittelbar auf. Las ein populärer Fernsehjournalist 1998 einen für ihn untypischen Text vor, wurde es erkannt und ideologiekritisch interpretiert. Die Teilnehmer der Fokusgruppen von 1998 hatten sowohl eine aktive als auch eine passive Strategie der Informationsverarbeitung demonstriert. Zwar besaßen die Zuschauer mit Hochschulausbildung mehr Filtermechanismen und konnten die Wahl der Nachrichtensendungen besser begründen als die Zuschauer mit niedrigerem Ausbildungsniveau. Dennoch waren die grundlegenden Aspekte der Rezeptionsprozesse für alle an der Untersuchung teilnehmenden Gruppen typisch: Die aktive Strategie bestand darin, das Fernsehprogramm umzuschalten oder das Gerät auszuschalten. Eine besonders verbreitete passive Strategie bestand in der Fortsetzung des Zuschauens, aber mit veränderter Bewertung der Information.104 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass russische Zuschauer über einen besonderen Selektionsmechanismus verfügen, der auf der Grundlage eigener Lebenserfahrung und Milieuzugehörigkeit entstanden ist. Ihre Lebenserfahrungen stellen dabei ein wichtiges Filtersystem bei der Nachrichtenrezeption dar. Beispielweise überprüfen die Zuschauer die Nachrichtenmitteilungen durch Gespräche mit Freunden, Verwandten und Bekannten, also innerhalb ihrer personellen und beruflichen Netzwerke.

1 . 5 Zu s a m m e n f a s s u n g In diesem Kapitel wurde vor allem die Funktionsweise der Propagandamedien am Beispiel des sowjetischen Fernsehens analysiert. Abschließend wurde das sowjetische Rezeptionsmuster vorgestellt. Die zentralen Kennzeichen der Propagandamedien sind die hierarchische Unterordnung unter den Propagandaauftraggeber, (in diesem Falle) den Parteiapparat, und die zentralisierte Organisation des sowjetischen Fernsehens. Folgende parteiliche Kontrollmechanismen steuern die Propagandamedien: 1. Monopolisierung des Fernsehens durch den Parteiapparat und den Staat, der wiederum dem Parteiapparat unterstellt war. Dies diente als Voraussetzung für die Lenkung des Fernsehens auf der Organisationsebene, 104 Vgl. Mickiewicz, 1999: 291.

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2. Zensur, 3. Überwachung durch KGB und Parteiboten (= Instrukteure), 4. Personaltransfer: Auswahl des Personals (u.a. Einstellung/Entlassung der Fernsehleitung), ideologische Bildung des Personals, 5. Sanktionen. Die sowjetischen Propagandamedien und speziell das Fernsehen orientierten sich am Code parteifreundlich/parteifeindlich, was an der Selektion der Fernsehinhalte ablesbar ist. Folglich bestand die Funktion dieser Medien darin, die offizielle Wirklichkeit der sowjetischen Gesellschaft zu konstruieren. Auch die Rolle des Journalisten ist im Kontext der Propagandaproduktion als eine instrumentelle zu beschreiben.105 Der Journalist wird zum Vermittler von Propaganda. Journalistische Entscheidungskriterien werden durch parteiliche Entscheidungskriterien ersetzt. An Stelle von Kriterien der Suche, Prüfung, Selektion und Darstellung von Information stehen bei der Berichterstattung die Kriterien der Parteilichkeit, Sachlichkeit, Volksnähe und Offenheit. Sowjetische Journalisten mussten folglich individuelle Anpassungsstrategien an die bestehenden Verhältnisse entwickeln: die Strategie der Selbstzensur und die Strategie des vorauseilenden Gehorsams. Die Selektion der Realitätsausschnitte durch die Propagandamedien war nicht komplexitätsadäquat, deshalb bildeten sich für das sowjetische Publikum alternative Medien in Form von Samisdat, ausländischen Radiosendern und Exilpresse aus. Im Bereich des Fernsehens existierten jedoch keine alternativen Quellen. Die Funktion der alternativen Medien bestand in der Konstruktion einer alternativen Wirklichkeit: einer zur offiziellen Realität oppositionellen Realität. Allerdings konnte sie hauptsächlich auf der Wahrnehmungsebene der Individuen existieren, weil eine Kommunikation über sie verboten war. Ein weiteres Charakteristikum von Propagandamedien ist ihre thematische Geschlossenheit. Kennzeichnend ist, dass eine der Funktionen der Propagandamedien gerade darin bestand, die sachliche und zeitliche Geschlossenheit der sowjetischen Organisationsgesellschaft aufrechtzuerhalten. Die Geschlossenheit auf der Ebene der Fernsehinhalte konnte nicht durch globale Medienprozesse durchbrochen werden, weil die Möglichkeiten der gegenseitigen Beobachtung zwischen sowjetischen und kapitalistischen Medieninstanzen im globalen Kontext größtenteils eingeschränkt waren. Die thematische Geschlossenheit des sowjetischen Fernsehens brachte zwei Typen von quasi-massenmedialen Nachrichten hervor: positive Mitteilungen über das Leben in der Sowjetunion sowie negative Mitteilungen über die inneren und äußeren Feinde des Staates. Die Propaganda-Nachrichten im sowjetischen Fernsehen waren durch die Abwesenheit der Trennung zwischen Fakt und Kommentar gekennzeichnet. Aber gerade durch diese Trennung wird die journalistische Objektivität in autopoietischen Massenmedien konstruiert.

105 Vgl. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ɂ., 2001: Ɋɟɤɨɧɫɬɪɭɤɰɢɹ Ɋɨɫɫɢɢ: 278.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

Die sowjetische Propagandakommunikation zeichnete sich durch die hierarchische Unterordnung des Publikums unter die Propagandamedien aus. Aus der Sicht der Propagandamedien und des sie leitenden Propagandaapparats nimmt das Publikum die Propagandamitteilungen ohne Verzerrungen wahr und nutzt sie als Anleitungen zum alltäglichen Handeln. Diese Erwartung an das Publikum war durch einen polizeilich-repressiven Apparat gestützt, der sich auf die Identifikation und Überwachung der ‚Abtrünnigen‘ spezialisierte. Außer der Überwachung des Publikums und der Selektion der Fernsehinhalte (mit Hilfe von Zensur und anderen Kontrollmechanismen) übernahm der Parteiapparat die Beobachtung zwischen Propagandamedien und PropagandaAdressaten. Während im System autopoietischer Massenmedien spezielle Instanzen die Beobachtung des Publikums durch Medienorganisationen ermöglichen, diente die Übernahme dieser Funktion durch den Parteiapparat der Imitation der Beziehung zwischen Propagandamedien und Propagandapublikum. Schließlich entwickelte das sowjetische Publikum Rezeptionsmuster, die die Abwesenheit der aktualitätsbezogenen Inhalte im Fernsehen auf individueller Ebene kompensierten.

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2. P HASE E INS : E ROSION PARTEILICHER K ONTROLLMECHANISMEN UND H ERAUSBILDUNG DES MASSENMEDIALEN C ODES AM B EISPIEL DES SOWJETISCHEN F ERNSEHENS (1986 BIS 1991)

Einleitung In diesem Kapitel wird die erste Phase der Ausdifferenzierung der autopoietischen Massenmedien im neuen Russland am Beispiel des Fernsehens beschrieben (s. Tab. 11). Sie beginnt 1985/1986 mit ersten Reformen im Bereich der Propagandakommunikation, die eine Veränderung der Berichterstattungsmuster initiieren. Das Ende dieser Phase setze ich gegen Ende 1991 an, gleichzeitig mit dem Zerfall des sowjetischen Staates und der Gründung der Russischen Föderation. Denn dieser Zeitpunkt markiert die ersten Veränderungen auf der Organisationsebene des Fernsehens: die Auflösung von Gosteleradio und die Umstrukturierung des Zentralfernsehens. Die ersten Veränderungen des sowjetischen Fernsehens sind durch einen Strukturwechsel von zentralisierten Quasi-Massenmedien hin zu sich autopoietisch strukturierenden Massenmedien zu charakterisieren. Da die Evolution der quasi-massenmedialen Strukturen als Teilevolution der sowjetischen Gesellschaftsordnung zu verstehen ist, möchte ich die Beschreibung dieses Wandlungsprozesses an den Dualen ausrichten, entlang derer der Gesellschaftswandel im postsowjetischen Russland stattfand (vgl. S. 68). Innerhalb dieser Duale sind die strukturellen Neuerungen des sowjetischen Fernsehens einzuordnen, die sich im Wandel von der Propaganda zu Massenmedien herauskristallisierten: • Die Erosion der parteilichen Kontrollmechanismen des Fernsehens (und der anderen Medien) führt zur zunehmenden Aufhebung der hierarchischen Unterordnung der Verbreitungsmedien unter den Parteiapparat, was auf die Dezentralisierung sowjetischer Gesellschaftsstrukturen schließen lässt (s. II.2.1). • Das Verschwinden der inoffiziellen Verbreitungsmedien ist als Ausdruck der Minimierung der Trennung zwischen formellen und informellen Ebenen zu verstehen (s. II.2.1). • Die thematische Öffnung des sowjetischen Fernsehens (und anderer Medien) initiiert die sachlichen und zeitlichen Öffnungsprozesse des sowjetischen Systems (s. II.2.2).

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?



Die Divergenz zwischen parteilichen und journalistischen Entscheidungskriterien ist als Ausdruck der Maximierung der Systembildungsebenen zu beschreiben. Sie wird hier am Beispiel der Evolution der Nachrichtenberichterstattung analysiert (s. II.2.4).

Außerdem werde ich in diesem Kapitel auch auf die veränderte Rolle des Journalisten eingehen (s. II.2.3). Tabelle 11: Die sowjetische Fernsehlandschaft von 1986 bis 1991: Zentrale Fernsehsender mit landesweiter und überregionaler Reichweite Phase

Fernsehorganisation

1986 bis 1991

Sowjetisches Zentralfernsehen:

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potentielle Reichweite

I. Programm „gesellschaftlich-politische Sendungen“

95-98 % der Bevölkerung der Sowjetunion

II. Programm „gesellschaftlich-politische Sendungen“ (Sendezeit ab Mai 1991 – halbtags)

95-98 % der Bevölkerung der Sowjetunion

III. Programm regional ausgerichtetes Fernsehen Moskaus

Bevölkerung Moskaus und des Moskauer Einzugsgebiets

IV. Programm Bildungsprogramm

europäischer Teil der Sowjetunion

V. Programm regional ausgerichtetes Leningradsches Fernsehen

Leningrad, Leningrader Gebiet und 30 Großstädte

Telekanal 2X2: von 8 bis 18 Uhr auf der Frequenz des III. Programms, privates Fernsehen

Bevölkerung Moskaus und des Mokauer Einzugsgebiets

Gründung

Auflösung

1951

Dez. 1991

Sep. 1990



PHASE EINS: 1986-1991 Vtoroj Kanal republikanisches Fernsehen Russischer Föderation (6 Stunden Sendezeit auf der Frequenz des II. Programms), staatliches Fernsehen Russischer Föderation

95-98 % der Bevölkerung der Sowjetunion

Mai 1991



Quelle: Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2001: 50 ff.

2.1 Die Erosion der parteilichen Kontrollmechanismen des Fernsehens Politische Reformen der Medien Die Konkurrenz zwischen dem sowjetischen Staat und den Ländern mit kapitalistischer Orientierung war ein zentraler Grund für die Durchführung der zahlreichen Reformen zur Verbesserung des Wirtschaftszustandes in der Sowjetunion. Mit dem Wechsel der obersten sowjetischen Führungskraft, des Generalsekretärs der KPdSU, wurden immer wieder neue Reformen durchgeführt, die die ökonomische Rückständigkeit der Sowjetunion gegenüber dem Westen vermindern sollten. Der Beginn der Umgestaltungsphase, die (wie sich später herausstellte) den Zerfall des sowjetischen Staates einleitete, setzte mit dem Plenum des Zentralkomitees der KPdSU im April 1985 ein. Auf diesem Plenum stellte der neue Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, sein richtungsweisendes Reformenprojekt vor. Der Prozess der „Uskorenija“, der Beschleunigung, sollte die zentrale Komponente der Reformprozesse bilden. Danach sollten die Steuerung der Gesellschaft durch die Partei, die Effizienz der Produktionsprozesse und der soziale Bereich (Schulbildung, Kultur) beschleunigt werden, und durch die Beschleunigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts sollte das westliche Informatisierungsniveau erreicht werden. Etwas später wurden dem Reformprogramm von Gorbatschow die Begriffe „Perestroika“ (Umgestaltung) und „Glasnost“ (Offenheit) hinzugefügt. Die Verwirklichung von Glasnost sollte die Beschleunigungsstrategie unterstützen. Durch die so genannte „Selbstkritik der Werktätigen“ auf allen Verwaltungsebenen des Staates wurde intendiert, die Hindernisse auf dem Weg der Beschleunigung zu beseitigen. Die Perestroika-Idee bedeutete die Umgestaltung von Organisationsstrukturen aller gesellschaftlichen Bereiche. Vor allem aber sollten die Wirtschaft, die Politik und sogar die politische Ideologie zwecks Beschleunigung einem strukturellen Wandel unterzogen und durch die Beschleunigungsstrategie der Wandel der Gesellschaftsstrukturen des ganzen Landes herbeigeführt werden. Die Partei sollte dabei den Gesellschaftswandel einleiten und herbeiführen. Da 179

PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

nach Beginn der Reformen keine rasante Beschleunigung der gesellschaftlichen Prozesse bemerkbar war, wandelte sich „Perestroika“ zum zentralen Schlüsselwort der Reformpläne, zur Hauptsemantik des Umgestaltungsprozesses.1 Die Politik der Glasnost war der entscheidende Vorgang auf dem Wege der massenmedialen Ausdifferenzierung. Sie erlaubte die Zulassung neuer Themen in der öffentlichen Kommunikation und bedingte die Schwächung parteilicher Kontrollmechanismen der Medien. Aber die Politik der Glasnost stellte für die neue Parteiführung unter Gorbatschow keinen Selbstzweck dar. Seit Reformbeginn fanden innerhalb des Parteiapparats heftige Machtkämpfe statt, denn die konservativen Mitglieder waren mit den neuen politischen Entwicklungen nicht einverstanden. Der Reformer Gorbatschow gehörte zum liberalen Flügel innerhalb der Parteiführung. In den innerorganisatorischen Machtkämpfen der Parteiführung sollte der Bund zwischen Gorbatschow und teils befreiten, aber kontrollierten Medien eine Unterstützung für den Reformkurs sicherstellen. In seinem Kampf gegen die konservativen Kräfte schrieb Gorbatschow dem Fernsehen einen zentralen Stellenwert zu. Denn die Fernsehansprachen erlaubten ihm, sich über die parteiliche Hierarchie hinweg an die einzelnen Bürger zu wenden. Auch der Aufbau eines positiven persönlichen Images mit Hilfe des Fernsehens sollte die Akzeptanz der Reformpläne in der Bevölkerung gewährleisten.2 Diese Propagandamedien reproduzierten ein durch die Parteiinstanzen selektiertes Bild der sowjetischen Gesellschaft. Die bnderung dieses Bildes, die zunächst nur minimal war, brachte die Stabilität der sowjetischen Organisationsgesellschaft in Gefahr. Bereits die kleinsten Abweichungen von der jahrzehntelang wiederholten „Wahrheit“ erzeugten enorme Zweifel am Status quo sowohl bei den Journalisten als auch beim Publikum. Die Zulassung neuer Themen in der öffentlichen Kommunikation ermöglichte die Wahrnehmung der Kontingenz gesellschaftlicher Prozesse: Warum gibt es nicht mehr nur eine Beschreibung der Geschehnisse? Sind mehrere Beschreibungen möglich? Kann das Leben auch anders sein als bis vor kurzem noch vorgegeben?3

Der Beginn der Erosion parteilicher Kontrollmechanismen Die quasi-massenmedialen Strukturen waren in der Sowjetunion ein Teil des Steuerungsapparates der Partei. Ihre Funktion bestand in der Konstruktion eines Realitätsbildes nach den Vorgaben der Partei. Nach der Einführung von Glasnost bekamen Medien die neue Rolle des Verbündeten von Gorbatschow. Die Zusammenarbeit der Medienorgane mit der Führung des Zentralkomitees der KPdSU sollte diesmal die Durchsetzung der neuen politischen Richtung – 1 Vgl. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ɂ., 2001: 7 ff. 2 Vgl. ebd.: 8. 3 Als Illustration zur Zunahme der sozialen Kontingenz in dieser Periode vgl. Ⱥɮɚɧɚɫɶɟɜ, 1989: Ɍɚɤ ɠɢɬɶ ɧɟɥɶɡɹ.

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PHASE EINS: 1986-1991

der Politik von Glasnost und Perestroika – unterstützen. Mit Einverständnis der neuen politischen Führung durften ab jetzt neue Realitätsausschnitte von den Medien thematisiert werden. Vor allem handelte es sich um Themen, die nach Ansicht der neuen Führung bei der Durchsetzung der Reformen unabdingbar waren. So durften die Journalisten Nachforschungen über die sowjetische Vergangenheit anstellen.4 Auf Grundlage von zuvor geheim gehaltenen Archivmaterialien wurden „Verbrechen der KPdSU“ sowie historische Fakten über die Oktoberrevolution und über den Zweiten Weltkrieg in der Berichterstattung thematisiert. Auch die Entscheidungen der mittleren und höheren Hierarchieebenen der Partei durften ab jetzt von den Journalisten in Frage gestellt werden. Auf den ersten Blick erfüllten die Medien für die Partei die gleiche Funktion wie vor der Glasnost-bra: nämlich die Parteientscheidungen zu thematisieren und zu aktualisieren. Allerdings betrafen die neuen Umgestaltungsversuche der Partei alle Gesellschaftsbereiche, weshalb sich die Anlässe für kritische bußerungen enorm vermehrten. Die Politik der Glasnost bot zunächst den Medieninstanzen der Presse die Gelegenheit, in bestimmten Fragen eine eigene Position einzunehmen.5 Deshalb begünstigte diese Politik den Entstehungsprozess der massenmedialen Strukturform, die als redaktionelle Linie bezeichnet wird. Als massenmediales Entscheidungskriterium ging die redaktionelle Linie im hier beschriebenen Kontext mit der Wahrnehmung der Möglichkeit einer von der Partei unabhängigen Berichterstattung einher. Der Prozess der Autonomisierung von Redaktionen begann.6 Die ideologische Ausrichtung des Zentralfernsehens, also der Fernsehpropaganda, sollte nach Meinung der sowjetischen Leitung erhalten bleiben.7 Denn obwohl es Neuerungen bei der Selektion von Fernsehinformation gab, war die strukturelle Ablösung des Zentralfernsehens vom Parteiapparat auf Organisationsebene und die vollständige Ablehnung parteilicher Entscheidungskriterien noch nicht gegeben. Der Meinungspluralismus sollte im Zentralfernsehen nur im durch den Parteiapparat und seine Zensoren bestimmten Rahmen präsentiert werden. Um die Zunahme der kritischen Berichterstattung 4 Sie kannten den investigativen Journalismus nicht und nutzten also die Arbeitstechniken, die sie während ihrer beruflichen Sozialisation erlernt hatten (vgl. II.1.1.6). 5 Vgl. Mickiewicz, 1999: 66 ff. 6 Die offizielle Trennung der Redaktionen von ihren Herausgebern (Partei und Vereinen) wurde 1990 durch das Pressegesetz ermöglicht. Folglich trennten sich die Presseredaktionen von ihren Herausgebern und wurden selbst zu Herausgebern eigener Zeitungen und Zeitschriften. Im Fernsehen setzt dieser Prozess der Autonomisierung auf Organisationsebene erst ab Ende 1991 ein (vgl. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ɂ., 2001: 20 ff.). 7 Dass erneuertes Fernsehen zunehmend zur Bedingung der Reform- und Umgestaltungsprozesse wurde, erkannten zuerst die Reformgegner. Wenn im Zentralfernsehen kritische Reportagen über regionale Probleme ausgestrahlt wurden, kam es manchmal zur Stromabschaltung in der besagten Region durch den regionalen Parteiapparat.

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zu bremsen, wurden im Fernsehen die klassischen Instrumente der Fernsehlenkung eingesetzt. Moderatoren mit kritischer Ausrichtung wurden entlassen. Besonders „brennende“ Stellen wurden aus den Filmen herausgeschnitten. Populäre Sendungen wurden eingestellt. Nicht-ideologisch orientierten Redakteure wurden auf Parteiversammlungen ermahnt. Auch die Leitung des Zentralfernsehens wurde fast jedes Jahr durch den Parteiapparat ausgewechselt.8 Der Parteiapparat versuchte, so viel Druck wie nur möglich im Rahmen der neuen Perestroika- und Glasnost-Ideologie auf das Fernsehen auszuüben. Aber selbst die Zensur und Geheimhaltung von Informationen mussten ab jetzt begründet werden.9 Denn die Sanktionen gegen die freie Meinungsäußerung im Fernsehen wurden durch die Presse mit Empörung beleuchtet. Es erschien absurd, dass man in der Glasnost-bra Kritik äußern durfte, aber nur dann, wenn sie nicht die Regierenden und ihre Politik betraf. Im Laufe einiger Jahre wurde das Zentralfernsehen deshalb von vielen beliebten Moderatoren und Managern verlassen.10 Das „Apparatprinzip“ der Personaleinstellung: „Wir stellen dich ein, und wir werden dich entlassen“, war nicht mehr wirksam, weil die personellen Ressourcen des Zentralfernsehens bereits sehr ausgedünnt waren. Deshalb ist hier es angebracht, von einer Erosion des parteilichen Kontrollmechanismus ‚Personaltransfer‘ zu sprechen.11 Gerade in dieser Phase ist der reflexive Charakter der massenmedialen Entstehungsprozesse gut beobachtbar: Die beginnende Erosion der Kontrollmechanismen des Fernsehens und die Einführung neuer Themen in die öffentliche Kommunikation – ein politischer und ein massenmedialer Vorgang – verstärken einander wechselseitig. Wenn zunächst das Maß der kritischen bußerungen durch die immer noch vorhandene starke Medienkontrolle ausgeglichen wurde, wurde diese Praxis im Laufe der ersten Perestroika-Jahre zum Problem für den Parteiapparat. Denn die totale Kontrolle der medialen Berichterstattung schuf ein Glaubwürdigkeitsproblem für die Parteiführung. Man konnte jetzt weder eine Publikation verbieten noch Redaktionsmitglieder entlassen, ohne den neuen Parteikurs selbst in Frage zu stellen. So erstaunlich es klingt, aber gerade die Zunahme der Telefonate und Anweisungen „von oben“ in die Fernsehredaktionen dient als Indikator für die Schwächung der parteilichen Kontrollmechanismen des Fernsehens. Da die „klassischen“ parteilichen Kontrollmechanismen (vor allem Zensur und der Einstellungs-/Entlassungsmechanismus) aufgrund der Glasnost-Politik nicht mehr intakt waren, sind verschiedene Teilorganisationen der Partei dazu übergegangen, die telefonische Anweisung als Lenkungsinstrument des Fernsehens stärker zu nutzen.12 Die Zunahme der Telefonate weist auf den Beginn von Dezentralisie8 Vgl. Ɇɭɪɚɬɨɜ, 2001: 30 ff. 9 Mickiewicz, 1999: 47 ff. 10 Die Fernsehjournalisten konnten jetzt in die neu gegründeten Presseinstanzen wechseln. Außerdem wurde der Austritt aus der Fernsehorganisation nicht sanktioniert. 11 Vgl. Ɇɭɪɚɬɨɜ, 2001: 31 ff. 12 Vgl. Mickiewicz: 115.

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rungsprozessen innerhalb der Parteiorganisation hin. Die Dezentralisierung der Parteistruktur führte zunehmend zur Schwächung des Parteieinflusses innerhalb der Gesellschaft im Allgemeinen und der Medienstrukturen im Besonderen. Die Dezentralisierung der Parteikontrolle über das Fernsehen Ende der 80er Jahre erlaubte es den Redakteuren, sich vielen der Anweisungen zu widersetzen. Denn auch eine Entlassungsdrohung hatte unter den gegebenen Bedingungen auf sie keine Wirkung mehr. Auch der Aufgabenbereich der Zensurbehörde Glavlit wurde nach Beginn der Reformen zunehmend eingeschränkt. Ab 1987/1988 verzichtete Glavlit auf die so genannte ideologische und politische Vorzensur, die sich bis dahin auf alle gedruckten und gefilmten Informationsträger sowie auf die Kunst erstreckte. Seitdem spezialisierte sich die Behörde auf die Bewachung der Staatsgeheimnisse, wobei dieser Begriff immer noch relativ weit ausgelegt werden konnte. Mit der Verabschiedung des revolutionären Pressegesetzes 1990 wurde die Zensur vollständig aufgehoben. Die Mitarbeit der Glavlit mit den Medieninstanzen fand seitdem auf Vertragsbasis statt. Nach dem Putsch im August 1991 folgte die vollständige Auflösung der Organisation.13 Schließlich wurde die Zensur auch gesetzlich abgeschafft. Das Gesetz von 1990 „Über Presse und andere Medien“ galt als revolutionär, weil es zum einen die Aufhebung der Zensur garantierte. Zum anderen ermöglichte es die Autonomie der Redaktionen von ihren Herausgebern. Während bis dahin lediglich „gesellschaftlichen Instanzen“ wie Parteiorgane und ihnen nahe stehende Organisationen, wie Gewerkschaften und Vereine, Herausgeber von Presseerzeugnissen sein durften, so erlaubte das Gesetz den Redaktionen erstmalig, zu Herausgebern der eigenen Presseerzeugnisse und Fernsehprogramme zu werden. Die Redaktionen konnten als rechtliche Personen auftreten, die auf Grundlage einer Satzung tätig sind. Zudem wurden Regeln für die offizielle Registrierung neuer Presse-, Radio- und Fernsehorganisationen eingeführt. Nicht nur Organisationen, sondern auch private Personen konnten seitdem zu Herausgebern von Medienerzeugnissen werden. Die Gründung zahlreicher neuer Medieninstanzen im Pressebereich folgte sofort. Diese Gründungswelle war von der Trennung der alten Redaktionen von ihren Herausgebern begleitet. Die Zeitungen und die Zeitschriften, die von Zentralkomitee der KPdSU, von Gewerkschaften und von Komsomolzenorganisationen herausgegeben wurden, wollten sich von diesen Instanzen trennen. Dies waren z.B. die Zeitschriften Oktjabr, Znamja, Inostrannaja literatura, Volga, Druschba narodov, Junost, Novij mir, Ural, Zwezda, Smena, Literaturnaja gazeta, Megapolis-Express, Tschelovek i Zakon, Ogonjok und viele andere.14 Im März 1991 waren bereits 1800 Zeitungen und Zeitschriften registriert. Etwa 870 von ihnen waren neu.15 Die intensive Gründung der ersten nicht13 Vgl. Ƚɪɚɛɟɥɶɧɢɤɨɜ, 2001: 94 ff. 14 Vgl. Ɏɟɞɨɬɨɜ, 2002: ɉɪɚɜɨ ɦɚɫɫɨɜɨɣ ɢɧɮɨɪɦɚɰɢɢ ɜ Ɋɨɫɫɢɣɫɤɨɣ Ɏɟɞɟɪɚɰɢɢ: 47-61. Außerdem führte dieses Gesetz die Möglichkeit ein, die Medien wegen persönlicher Beleidigung zu verklagen. 15 Vgl. Ƚɪɚɛɟɥɶɧɢɤɨɜ, 2001: 98.

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staatlichen Fernsehorganisationen findet größtenteils nach 1991 statt: in der Periode zwischen Ende 1991 und Ende 1995. Aber die ersten Schritte zur Kommerzialisierung des Fernsehens wurden bereits im Juli 1990, nach der Verabschiedung des Pressegesetztes, gemacht: so unterschrieb Michail Gorbatschev einen Erlaß, der dem Gosteleradio erlaubte die Fernsehzeit nichtstaatlichen Fernsehstationen zur Verfügung zu stellen. So konnte im Mai 1991 in Moskau der kommerzielle Fernsehsender Fernsehkanal 2X2 gegründet werden.16 Wegen des politischen Konflikts mit der sowjetischen Regierung hatte die Regierung der russischen Föderation ein besonderes Interesse an einem eigenen staatlichen Fernsehsender. Im Juni 1990 wurde von der Versammlung der Volksdeputierten der Russischen Förderation die Gründung eines Fernsehsenders beschlossen, der der Regierung der Russischen Föderation unterstellt werden sollte. Im Mai 1991, einen Monat vor den Präsidentenwahlen in der Russischen Föderation, bekam der zweite Fernsehkanal den Status des staatlichen Fernsehsenders Russlands (Vtoroj Kanal)17. Aber die Konfrontation zwischen dem ersten Fernsehkanal, der die Interessen der sowjetischen Regierung repräsentierte, und dem zweiten Kanal, der nun zum Sprachrohr der russischen Regierung werden sollte, dauerte nicht lange an. Mit dem Zerfall der Sowjetunion im Dezember 1991 wurde auch der erste Fernsehkanal in die Zuständigkeit des neuen russischen Staates übergegeben: Es begann die Reorganisation des Zentralfernsehens in einzelne Fernsehsender. Bereits vorher (nach dem August-Putsch 1991), am 21. August 1991, verabschiedete Präsident Jelzin den Erlass, nach dem alle Massenmedien auf dem Territorium Russlands der Regierung der Russischen Förderation unterstellt wurden. Danach folgten die Regierungsbeschlüsse, die die Fernsehbehörde Gosteleradio vollständig auflösten. Sein Eigentum wurde zwischen dem WGTRK (dem Vtoroj Kanal) und den neu gegründeten Sendern Ostankino (ehemals erstes Fernsehprogramm), Peterburg (Leningradsches Fernsehen) sowie Moskva (Moskauer Gebietsfernsehen) aufgeteilt. Die Redaktionskollektive dieser Fernsehstationen bekamen Rechte als Mitbegründer dieser Sender.18 Auf der Grundlage der regionalen Infrastruktur des ehemaligen Gostelerado wurden 88 regionale staatliche Fernsehsender (GTRK) gegründet. Für die neuen Führungskräfte des staatlichen Fernsehens (Oleg Popzov und Jegor Jakovlev) war die Idee von Medien als vierter Gewalt von hoher

16 Ausführlicher dazu vgl. II.3.2.1. 17 Bereits 1990 gründete die Regierung der Russischer Föderation ein Organ, das alternativ zu Gosteleradio (das der Regierung der UdSSR unterstellt war) medienpolitische Steuerung ermöglichen sollte. WGTRK – Allrussische staatliche Fernseh- und Radiokampanie – umfasste später die Radiostation Radio Rossiji, den Fernsehsender Vtoroj Kanal und den Radiosender Golos Rossiji, der im Ausland sendete (vgl. ɒɚɪɢɤɨɜ, 2003b: Ɍɟɥɟɜɢɡɢɨɧɧɨɟ ɢ ɪɚɞɢɨɜɟɳɚɧɢɟ: 651654). 18 Vgl. Ɏɟɞɨɬɨɜ, 2002: 122.

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Bedeutung.19 Die dominierenden medialen Organisationen im neuen Russland waren von den politischen Verbündeten Jelzins geleitet, die bei seinem politischen Aufstieg geholfen haben. Deshalb konnte die russische Regierung nicht ohne Weiteres, zumindest nicht zu Beginn der 90er Jahre, die Leitung des staatlichen Fernsehens auswechseln: „Die Partnerschaft mit der befreiten ‚demokratischen‘ journalistischen Gemeinschaft brachte der neuen politischen Führung Russlands die notwendige Unterstützung, weshalb die Wiederbelebung des staatlichen Mediensystems für sie nicht notwendig erschien.“20

Ereignisse wie der Zerfall der Sowjetunion und das Verbot der KPdSU schufen einen neuen Kontext für das Funktionieren der Medienorganisationen, deshalb wurde im Dezember 1991 in der neu gegründeten Russischen Föderation ein „Gesetz über die Massenmedien“ verabschiedet; im Jahre 1992 trat es in Kraft. Obwohl es von der gleichen Autorengruppe wie das Pressegesetz geschrieben war, war es noch radikaler in der Durchsetzung des Rechts auf Pressefreiheit. Das Pressegesetz wurde unter der Bedingung der Notwendigkeit von Kompromissen mit den Anhängern der alten Regeln verfasst. Das „Gesetz über die Massenmedien“ entstand jedoch nach dem Verbot von KPdSU. Es zielte auf die bessere Regulierung der Organisationsstrukturen und Tätigkeitsfelder der Medienorganisationen.21 Mit Übernahme des Zentralfernsehens in die Zuständigkeit des neuen russischen Staates endete die erste Phase der massenmedialen Ausdifferenzierung im Bereich des Fernsehens. Parteiliche Kontrollmechanismen des Fernsehens wie Zensur, Personaltransfer (u.a. Einstellungs-/Entlassungsmechanismus), Überwachung und Sanktionen lösten sich zunehmend im Erosionsprozess auf. Die organisationelle Unterordnung des Fernsehens unter den Parteiapparat wurde schließlich aufgehoben. Aber die vollständige Trennung des Fernsehens vom Staat auf der Organisationsebene, also der Zerfall des Mechanismus der Monopolisierung, wird erst später, in der zweiten Phase des massenmedialen Entstehungsprozesses (Ende 1991 bis Ende 1995), erfolgen. Die seit 1986 zunehmende Erosion der parteilichen Kontrollmechanismen erlaubte die Trennung der Medien- von Parteistrukturen auf der Ebene der inhaltlichen Aussagen sowie auf der der Entscheidungskriterien und später auch auf Ebene der Organisationsstrukturen des sowjetischen Fernsehens. Sie begünstigte die Ausdifferenzierung eines autopoietischen Systems der Massenmedien. Die Erosion parteilicher Kontrollmechanismen führte außerdem zur Legalisierung von Samisdat-Erzeugnissen. Nach der Verabschiedung des Pressege19 Die neue Fernsehleitung gehörte ursprünglich dem liberalen Flügel innerhalb der Parteiorganisation an und trat für die Ausweitung der Reformen und Rücknahme der Medienkontrolle ein. Ausführlicher zur Idee der Medien als vierter Gewalt, die für die entstehenden russischen Massenmedien eine legitimierende Funktion erfüllte, vgl. II.2.3. 20 Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ɂ., 2001: 204. 21 Vgl. Ɏɟɞɨɬɨɜ, 2002: 68 ff.

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setzes war jede registrierte Zeitung oder Zeitschrift legal. Auch regimekritische Themen, die zuvor durch Samisdat verbreitet wurden, waren ab jetzt in der öffentlichen Kommunikation zugelassen.22

2.2 Entstehung des massenmedialen Codes und thematische Öffnung des sowjetischen Fernsehens Thematische Öffnung als Take-off für die massenmediale Eigenlogik Die inhaltliche Struktur der „gesellschaftlich-politischen“, „aufklärerischen“ und „publizistischen“ Sendungen des alten Zentralfernsehens bestand aus positiven Informationen über das sowjetische Regime und das sowjetische Leben. Negatives (Streiks, Verarmung der Bevölkerung, Flugzeugunglücke und Erdbeben) wurde nur über das Leben in den kapitalistischen Ländern berichtet: „Nomenklatura-Fernsehen und Kino, welche die ‚Errungenschaften‘ im ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Leben präsentierten, wurde von JubelReportern gemacht. Angenehme Nachrichten formierten Generationen von Bürgern mit geschlossenen Augen und einem katastrophalen Maß an Kurzsichtigkeit. Die Einführung von Glasnost veränderte diese Situation radikal.“23

Die Politik der Glasnost, der informationellen Öffnung, spiegelte sich zuerst in der Presse wider: „Lesen ist interessanter als leben“ waren die geflügelte Worte dieser Jahre, die genau die Stimmung dieser Zeit trafen: „Die Öffnung der Archive, die Veröffentlichung der neuen Bewertungen der sowjetischen Geschichte, die offene Besprechung ökonomischer Probleme der sowjetischen Ordnung, das Erscheinen der ersten radikalen Autoren, stürmisches Politikleben – all dies trug zum enormen Zuwachs der Autorität und Popularität der gedruckten Verbreitungsmedien bei.“24

Dass die neuen Medieninhalte publikumswirksam waren, spiegelt sich in den Auflagenzahlen der Presseerzeugnisse wider: „1989 erreichte die TagesAuflage der 8800 Zeitungen 230 Millionen, und die Tages-Auflage der 1629 Zeitschriften erreichte 220 Millionen Exemplare. Ein Jahr später waren die Zeitungsauflagen um 4,6 Prozent und die Zeitschriftenauflagen um 4,3 Prozent gestiegen“.25 Bald erreichte die informationspolitische Wende auch das Fernsehen. Die ersten Neuerungen in der Fernsehproduktion betrafen die Ausstrahlung neuer, andersartiger Sendungen. Die thematische Öffnung manifestierte sich also zu22 23 24 25

Vgl. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ɂ., 2001: 256 ff. Ɇɭɪɚɬɨɜ, 2001: ɗɜɨɥɹɰɢɹ ɧɟɬɟɪɩɢɦɨɫɬɢ: 97. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ɂ., 2001: 17. Ƚɪɚɛɟɥɶɧɢɤɨɜ, 2001: 98; Übersetzung d. Verfasserin.

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nächst in bnderungen der Inhalte und der Darstellungsstruktur des Fernsehens. Einen besonderen Typ neuer Fernsehinhalte stellten die neuen Dokumentarfilme dar. Diese kritischen Filme, die vor 1985 keine Chance gehabt hätten, gezeigt zu werden, bildeten einen Teil der neuen massenmedialen Inhalte, die die sachliche (thematische) und zeitliche Geschlossenheit des sowjetischen Systems mehr und mehr nivellierten. So erschien 1986 der Dokumentarfilm von Juris Podnieks „Ist es leicht jung zu sein?“ („Legko li byt molodim“), der das schwere Schicksal der sowjetischen Jugendlichen porträtierte. Dieser und andere Dokumentarfilme beginnen mit der Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit, der sowjetischen Gegenwart und der sowjetischen Zukunft. Mit ihnen begann erstmalig die Selbstbeobachtung der sich wandelnden sowjetischen Gesellschaft: „Das neue Kino eröffnete eine neue Geographie – Lebensbereiche, die zuvor der Kinokamera unzugänglich waren. Ebenso wie der Mönch auf der mittelalterlichen Radierung, der seinen Kopf durch das Himmelgewölbe schiebt, um dahinter zu schauen, sah der Zuschauer erstmals die zuvor dem Fernsehschirm unzugängliche Realität, mit dem Unterschied, dass er selbst in dieser Realität lebte. Das neue Kino verblüffte mit seiner Vielschichtigkeit. Es war ein echtes Lexikon der Sozialtypen. Frauenlager. Sonderlager. Stadthöhlen (Wir verkaufen unseren Körper, aber ihr – euer Gewissen). Krankenhäuser für Drogenabhängige. Gefängniszellen der Todgeweihten. Wenn Dokumentaristen den unansehnlichen Seiten des Lebens begegneten, lernten sie, die Kamera nicht abzuschalten. Diese Bilder sind unerträglich, aber versuch deine Augen nicht abzuwenden – lautete immer häufiger die Stimme hinter dem Bild. […] In diesen Filmen sahen wir, wie die Beamten des Ministeriums für Wasserwirtschaft systematisch den Kaspischen Golf verseuchten. Wie die ruhmreichen Bewässerer den Oralsee verschwinden ließen, wie die malerischen Strände zur Müllhalde wurden. Dies waren nicht einfach Bilder über ökologische Katastrophen, sondern Bilder über ökologische Verbrechen. Darüber, wie durch die Vernichtung der Natur die Menschen sich selbst zerstören. Noch gestern galten die Bilder von Überbauung der Flüsse und von Großbaustellen als Krönung jeder Fernsehreportage. Dokumentaristen filmten gerne Beton- und Montagearbeiter – die ruhmreichen Erbauer der Wasserkraftwerke. Auf der Suche nach schwindelerregenden Aussichten waren Kameramänner genau so mutig wie ihre Helden. Wer hätte beim Anblick dieser Bilder denken können, dass große Baustellen große Zerstörungen mit sich bringen? Dass der Preis für Kilowattstunden, die von den weltgrößten Turbinen erbrachten wurden, Dutzende überfluteter Städte, Tausende verschwundener Dörfer, Millionen Hektar verdorbenen Erdbodens und die Vernichtung einmaliger Wälder und Kulturdenkmäler war? Das neue Kino wurde zum neuen Einblick in alte Gegebenheiten. Noch gestern filmten die Dokumentaristen gern die Rentiere in der Tundra. Und jetzt konnten wir sehen, wie in der gleichen Tundra diese erstaunlichen Geschöpfe erbarmungslos massenhaft vernichtet wurden (Herrscherin Tundra). Wir sahen die Baracken der Erbauer der BAM.26 Dünne Holzwege statt Asphalt. Umgegrabene Erde. Kaputte Treibhäuser. Eroberung von Sibirien – der Ausdruck, der noch gestern die Zeitungsspalten und Fernsehbilder dominierte, erlangte plötzlich eine unheimli-

26 Bajkalo-Amurskaja Magistral (abgekürzt: BAM) ist die Haupteisenbahnstrecke, die Moskau mit dem Pazifischen Ozean verbindet und deren Aufbau über Jahrzehnte dauerte.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE? che Bedeutung. Die BAM wurde zum längsten Denkmal der sowjetischen Stagnation (Zone BAM. Ständige Bewohner).“27

Diese thematische Öffnung der Massenmedien erfüllte eine Funktion für den Prozess des Übergangs von einer Gesellschaftsordnung zur anderen: Durch die Einführung neuer Themen in die öffentliche Kommunikation wurde zunehmend die sachliche und zeitliche Geschlossenheit der sowjetischen Gesellschaft aufgehoben. Der Umfang von Live-Sendungen im Fernsehen nahm in den ersten zwei Jahren der Perestroika um ein (1986/1987) 30-faches zu.28 Die „Lethargie des Fernsehens“ war beendet. Es wuchs die Anzahl der Sendungen eines neuen Typs, deren Hauptpersonen zuständige Entscheidungsträger waren, die die Fragen des Publikums im Studio und die telefonischen Fragen des Fernsehpublikums zu beantworten hatten. „Dialog“, „Elterntag – Samstag“, „Musikalischer Ring“, „Bitte ums Wort“ „Mit dem Gesicht zum Problem“ – die Namen der Sendungen waren Ausdruck der neuen Stimmung. Neue Fernsehformate wie Presse-Konferenzen, Fernsehforen und Fernsehdemos wurden schlagartig populär.29 Das Fernsehpublikum als Form wurde in die inhaltliche Struktur der Sendungen eingeführt. Die neuen Sendungen waren so konstruiert, dass sich das Fernsehpublikum (auf verschiedene Art und Weise) an der Diskussion in der Sendung beteiligte. Der fragende Mensch wurde zum notwendigen Bestandteil der Sendungen. So war z.B. das Leningradsche Telereferendum „Öffentliche Meinung“ auf diese Art aufgebaut. Zudem wurden die Telefonate des Fernsehpublikums noch während der Sendung computergestützt bearbeitet (ein Novum für das sowjetische Fernsehen) und sofort vom anwesenden Soziologen analysiert. „Vor und nach Mitternacht“, „Fünftes Rad“, Morgen- und Abendnachrichten wurden zu neuen Formen der Konstruktion von sozialer Identität: „Sie konstruierten öffentliches Selbstbewusstsein.“30 Auch der thematische Wandel innerhalb einzelner Sendungen war Ausdruck der Evolution von Fernsehthemen. So war die neue Sendung „Blick“ (1987) zunächst als „informations-musikalische Sendung“ konzipiert, die Musikvideos präsentierte. Zunehmend aber wendeten sich die Moderatoren kritischen und „gefährlichen“ Themen zu. Die thematische Öffnung des Fernsehens (und anderer Medien) war ein Vorgang, der unmittelbar mit der Herausbildung des massenmedialen Codes zusammenhing. Vor Beginn der Reformen verhinderten die Selektionsmechanismen des Parteiapparats die massenmediale Selektion von Information. Mit zunehmender Erosion der parteilichen Kontrollmechanismen der Medien und der daraus folgenden Themenöffnung wurden neue Mechanismen der Selekti27 28 29 30

Ɇɭɪɚɬɨɜ, 2001: 23-25. Übersetzung der Verfasserin. Vgl. ebd.: 19. Vgl. auch Mickiewicz, 1999: 65 ff. Ɇɭɪɚɬɨɜ, 2001: 20, vgl. ebd. Zu den Daten über die enorme Steigerung der Pressepopularität vgl. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ɂ., 2001: 13. Ƚɪɚɛɟɥɶɧɢɤɨɜ, 2001: 98.

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on öffentlicher Kommunikation erforderlich. Wie sollte in einer komplexen Gesellschaft der explosionsartig zunehmende Themenkonsum verarbeitet werden? Der massenmediale Code Information/Nicht-Information wurde in dieser Situation zum Selektor, der die Bearbeitung des offenen Themenflusses realisierte. Als indirekter Indikator für die Herausbildung des massenmedialen Codes im Fernsehen dient die oben erwähnte enorme Zunahme der Liveausstrahlung.31 Der Verzicht auf Aufzeichnung erlaubte erstmalig, nicht-vorselegierte Themen auszustrahlen. Der Bezug zu Aktualität und Neuheit konnte im Fernsehen also erst seitdem technisch hergestellt werden. Natürlich geschah die Ingangsetzung des Codes unter speziellen Voraussetzungen. Zum einen begünstigte die Zulassung von Regimekritik die Herausbildung von redaktionellen Linien in den Redaktionen. Zum anderen wurde mit der Erosion der Kontrollmechanismen die hierarchische Unterordnung der Medien und der Redaktionen unter den Parteiapparat mehr und mehr aufgehoben. D.h. die Redaktionen wurden zunehmend autonomer vom parteilichen Überbau. Die thematische Öffnung ließ eine Überzahl von nicht vorselegierten Informationen zu, und in den sich autonomisierenden Redaktionen konnte sich dann der Entscheidungsprozess über die Selektion der Kommunikation als Information oder Nicht-Information einsetzen.32

Funktionen der entstehenden Massenmedien Die entstehenden Massenmedien übernahmen im Prozess des gesellschaftlichen Umbruchs eine orientierende Funktion. Sie produzierten Beschreibungen des Übergangsprozesses. Dies ist insbesondere an der Semantik der Perestroika deutlich zu sehen. Am Beispiel einer Inhaltsanalyse der Sendungen im sowjetischen Fernsehen von 1989 kann die Dynamik der Thematisierung der Perestroika festgestellt werden.33 So bildeten die Themen mit PerestroikaBezug im sowjetischen Fernsehen im Juli 1989 39,1 Prozent des Anteils an der Gesamtberichterstattung. Die qualitative Inhaltsanalyse der gleichen Studie erlaubt die Zuordnung folgender inhaltlicher Füllung der PerestroikaSemantik: Demokratie, Neues Denken, Wirtschaftsumbau, nationale Frage und Perestroika in anderen Ländern. Somit ist zu beobachten, dass sich der Gesellschaftswandel im Medium Fernsehen selbst thematisiert und als Selbstbeschreibung des Wechsels der Gesellschaftsformen fungiert. Zudem bearbeiteten die entstehenden Massenmedien in dieser Phase das Problem des gesellschaftlichen Dezentralisierungsprozesses.34 Denn die Entstehung neuer Funktionssysteme geschah auch durch die öffentliche Themati31 Vgl. Ɇɭɪɚɬɨɜ, 2001: 19. 32 Zur Herausbildung des Codes am Beispiel der Nachrichten siehe II.2.4. 33 Vgl. Lerg/Ravenstein/Schiller-Lerg, 1991: Sowjetische Publizistik zwischen Öffnung und Umgestaltung: 41. 34 Zu Bezugsproblemen der massenmedialen Ausdifferenzierung vgl. I.4.2.

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sierung, ebenso musste die Notwendigkeit der Entstehung dieser Systeme begründet werden. Vor allem ist das am Beispiel des sich ausdifferenzierenden Politiksystems zu sehen. Zum einen musste in der öffentlichen Kommunikation begründet werden, dass Politik nur ein Teilbereich der Gesellschaft ist, und nicht ein Bereich, der alles Soziale umfasst. Zum anderen mussten die Mechanismen und Strukturen des neuen politischen Systems, wie Wahlverfahren und die Organisation des Parlaments, zu den öffentlichen Themen hinzugefügt werden. Zum dritten mussten sich die Wähler als Publikum des politischen Systems ihrer neuer Rolle bewusst werden. Die Funktion der Einführung dieser Themen in die öffentliche Kommunikation übernahmen die neuen Massenmedien. Vor allem die Live-Übertragungen der Versammlung der Volksdeputierten (1989) bildete einen Höhepunkt der Politisierung des gesellschaftlichen Lebens: „Im Grunde genommen wurde der erste Kongress zur riesigen Soap Opera, die das Land so verzauberte, dass sich die Straßen leerten. Im Unterschied zu den konkurrierenden latein-amerikanischen Fernsehserien jedoch trugen die Live-Übertragungen der politischen Ereignisse, die häufige Ausstrahlung der Dokumentar- und Spielfilme über Verbrechen des Kommunismus zur Politisierung der Massen bei.“35

Die Politisierung aller Bereiche der Gesellschaft war begünstigend für die Ausdifferenzierung weiterer politischer Strukturen. Und sie war Indikator für Veränderungen der sowjetischen Gesellschaftsordnung. Die Medien trugen zur Politisierung bei und konnten selbst dieser Welle nicht entrinnen: Die Fernsehmoderatoren und -journalisten wurden zu den Helden des neuen Zeitalters. So wurden viele populäre Presse- und Fernsehjournalisten als Abgeordnete des neuen Parlaments gewählt.36 Mit der Politisierung des Fernsehens wurde der Mehrheit der politischen Themen und Ideen in die mediale Kommunikation eingeführt.37 Aber dieser Pluralismus wurde nicht automatisch als Konkurrenz von Themen begriffen. Weil der Themenpluralismus für öffentliche Kommunikation doch ein Novum darstellte, wurde er von Medien, von Journalisten und vom Publikum als Widerstreit, als Kampf der Themen, wahrgenommen. Die Intoleranz, die auf Demonstrationen ausgelebt wurde, übertrug sich in die Fernsehstudios. Die Gäste der analytischen Sendungen wurden von Moderatoren regelrecht verhört. Die Meinung des Journalisten war zudem wichtiger als die des Gastes, journalistische Fragen nahmen mehr Zeit als die Antwort des Gastes in Anspruch.38 Diese journalistische Haltung hängt unmittelbar mit dem neuen Selbstbild des Journalisten zusammen.

35 36 37 38

Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ɂ., 2001: 8. Vgl. Ƚɪɚɛɟɥɶɧɢɤɨɜ, 2001: 95. Vgl. Mickiewicz, 1999: 83 ff. Vgl. Ɇɭɪɚɬɨɜ, 2001: 60.

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2 . 3 Zu r R o l l e d e s J o u r n a l i s t e n : Der Journalist als Aufklärer Ende der 80er Jahre setzte sich in der Sowjetunion eine neue journalistische Selbstbeschreibung durch: die Idee vom Journalismus als vierter Gewalt. Nach diesem Konzept sollen sich die Massenmedien neben den drei politischen Gewalten als vierte Gewalt an der Umgestaltung der Gesellschaft beteiligen. Als unabhängige gesellschaftliche Institution sollen die Massenmedien die Funktion der Beobachtung und Beeinflussung der politischen Macht gewinnen. Die Bedeutung des Konzeptes der vierten Gewalt für die sich verselbständigenden Massenmedien ist nur im Kontext der politischen Veränderungen erklärbar, die die Reformen der Gorbatschow-Führung einleiteten. Denn vor dieser Zeit war der Anspruch der Medien auf alternative Positionen nicht nur undenkbar, sondern auch strafbar. In der neuen Selbstbeschreibung thematisierten sich die Journalisten als Volksvertreter, die in der Lage waren, die Entscheidungen der politischen Macht zu beeinflussen. Eine begünstigende Bedingung für die Entwicklung dieses Selbstbildes stellte die Beendigung des unpopulären Afghanistan-Krieges im Jahre 1989 dar. Die journalistische Thematisierung der zuvor tabuisierten negativen Folgen des Krieges leitete die Neubewertung des ganzen sowjetischen Systems ein. Die darauf folgende journalistische Neubewertung der bisherigen Rolle der Partei innerhalb der Gesellschaft trug zur „Politisierung der Massen“ bei.39 Die Funktion des journalistischen Konzepts der Medien als vierte Gewalt bestand in der Begründung eines neuen Handlungskontextes der Massenmedien. Die zunehmende Unabhängigkeit der Massenmedien von Kontrollmechanismen des Parteiapparats konnte so nach außen legitimiert und begründet werden. Hier wird funktionssystemische Reflexion zu Beginn des Ausdifferenzierungsprozesses artikuliert, was auf die Entstehung des Funktionssystems der Massenmedien aufgrund von gesellschaftlicher Nachfrage nach massenmedialen Leistungen hindeutet.40 Durch die Zuweisung einer gesellschaftlichen Aufgabe an die Medien zu Beginn der Ausdifferenzierung konnte eine Identität dieses Systems generiert werden. Aber im Unterschied zur westlichen Idee der Medien als public sphere bekam die Idee der vierten Gewalt bei sowjetischen Journalisten eine besondere Prägung: „[S]ie sahen ihre Aufgabe nicht in der Informierung des Publikums oder der Formierung eines glaubwürdigen Realitätsbildes, sondern in der Aufklärung, Agitation und Organisation der Massen zum Zwecke der wahren Werte und Ideale.“41

39 Vgl. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ɂ., 2001: 15 ff. 40 Zu Nachfragemodell der Ausdifferenzierung vgl. I.4.3.1. 41 Ebd.: 16, Übersetzung d. Verfasserin.

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Nicht nur Aufklärung im Sinne der Übermittlung der objektiven Information, der faktologischen Wahrheit, sondern auch die Verarbeitung und Überwindung der Rückstände der kommunistischen Ideen in der Bevölkerung wurde zur journalistischen Aufgabe. Die Anhänger der alten Ideologie wurden in den neuen Medien deshalb als „rot-braune Kommuno-Faschisten“ bezeichnet. Der Drang zur Übermittlung der neuen „richtigen“ Ideen, wie Marktwirtschaft und Demokratie, war für die journalistische Kommunikation dieser Periode kennzeichnend. In dieser Umbruchphase änderten sich auch die Wege der Personalrekrutierung für die sich verselbständigten Redaktionen.42 Durch Generationenwechsel kam in den Journalismus eine hohe Anzahl von Neulingen. Zum einen waren das Personen aus anderen Berufsgruppen, die zuvor mit Journalismus nichts zu tun hatten. Zum anderen drangen in die Redaktionen die Vertreter von sowjetischer Intelligenzija, so genannte Vosmedesjatniki, ein, die sich der Durchsetzung der demokratischen Werte im (post-)sowjetischen Russland verpflichtet fühlten. Learning by doing ersetzte in diesem Kontext die sowjetische Ausbildung von Journalisten.43 Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre beginnt im noch-sowjetischen Journalismus ein Generationenwechsel. Zwar sind aus dieser Periode keine Untersuchungen über journalistische Berufskarrieren vorhanden, weshalb sich auch keine Prozentualanteile zwischen Neuzugängen und altem Personal in den Redaktionen angeben lassen. Aber das offensichtliche Wachstum der Medienbranche erlaubt es, Schlüsse über den Bedarf an neuen Arbeitkräften zu ziehen. Bis Ende der 80er Jahre blieb journalistische Arbeit in der Sowjetunion nur einem kleinen Kreis von Eingeweihten überlassen. Mit der Herausbildung neuer medialer Organisationen seit der Verabschiedung des Pressegesetzes 1990 entstanden zahlreiche Arbeitsplätze. Zudem hatten die neuen Medien Bedarf an Journalisten, die ohne sowjetische Ideologie-Folien über die Themen wie Politik und Wirtschaft veröffentlichten. Die zuvor in den sowjetischen Medien tätigen Journalisten konnten diesem Anspruch nicht gerecht werden. Die neu entstandenen publizistischen Organe beschäftigten ein Personal, das zu 90 Prozent aus Neulingen sowie aus alten Journalisten bestand, die zuvor über harmlose Themen (wie Theater und Kunst) veröffentlicht hatten. Einige Verlage bildeten journalistischen Nachwuchs selber aus und ver-

42 Vgl. ebd.: 18. 43 Die parteilichen Inhalte wurden in der journalistischen Ausbildung spätestens nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Verbot der kommunistischen Partei abgeschafft. Seitdem verändern sich die Ausbildungsinhalte ständig, ein Phänomen, das nicht nur mit der Autonomisierung der Medien, sondern auch mit der Entstehung der neuen Medien zusammenhängt. Aufgrund von Untersuchungslücken in diesem Bereich werde ich hier und in weiteren Kapiteln auf die Schilderung der Evolution der journalistischen Ausbildung im neuen Russland verzichten müssen.

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zichteten vollständig auf die Zusammenarbeit mit Journalisten der alten Schule.44 Der Teil der neuen Journalisten, die aus anderen Berufen zum Journalismus wechselten, waren, wie bereits erwähnt, die so genannten Vosmedesjatniki. Diese Intelligenzija-Vertreter der 80er Jahre verstanden die neue demokratische Publizistik als ihr eigenes Medium. Sie waren durch Samisdat und ausländische Radiosender sozialisiert und werteten die sowjetische Ordnung als nicht zukunftsfähig. Unterdessen spielte die sowjetische Sozialisation in ihrem Kommunikationsstil dennoch eine Rolle, denn sie behielten die Überzeugung bei, dass eine Idee legitimer ist als die Fakten. Sie handelten nach der Formel: „mehr Idee, weniger Information“.45 Der große Unterschied zwischen den Laien und den alten journalistischen Kadern bestand darin, dass die Neuen keine Angst vor der politischen Führung hatten, zumal die (geheim-)polizeilichen Strafen gegen Andersdenkende aufgehoben wurden. Vor Beginn der Perestroika äußerte sich der Unterschied zwischen formalisierter und nicht-formalisierter Kommunikation darin, dass das Beobachten nicht kommuniziert werden durfte. Die sowjetischen Journalisten hatten die Notwendigkeit der Differenz zwischen Denken und Sprechen verinnerlicht. Die neuen Journalisten besaßen aber einen „neuen“ Kommunikationsstil: „Ich schreibe, was ich denke“. Dieser Stil entsprach viel besser dem Kontext der laufenden Ereignisse, dem Anwachsen der Ereignisse und dem gesellschaftlichen Bedarf an Kommunikationssynchronisation. Für die neuen Journalisten war die Offenheit der Information selbstverständlich. Während selbst die handwerklich besten Journalisten der sowjetischen Epoche in der neuen Situation eher orientierungslos waren, zelebrierte die neue journalistische Generation die Offenheit. Die Idee der Medien als vierter Gewalt diente dabei als Legitimation und Auslöser von Journalismus zugleich.

2.4

Das Auseinandertreten der Systembildungsebenen: Zu r D i v e r g e n z p a r t e i l i c h e r u n d m a s s e n m e d i a l e r Entscheidungskriterien am Beispiel der Nachrichten

Abwesenheit von Medienkontrolle führt zunächst zur Ablehnung journalistischer Entscheidungskriterien Zu Beginn der Perestroika wurde im sowjetischen Fernsehen nur eine einzige Nachrichtensendung ausgestrahlt: die Vremja.46 Sie war primär nach ideologischen Prinzipien aufgebaut: Auswahl, Aufbau und Darstellung der Inhalte entsprachen den partei-politischen Anforderungen. Die alte Darstellungsweise der Nachrichten beruhte auf der Einordnung der Ereignisse in das ideologi44 Ebd.: 18 ff. 45 Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ɂ., 2001: 17 ff. 46 Ausführlicher zur Darstellungsstruktur von Vremja vgl. II.1.2.2.1.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

sche Schema. Die Ereignisse, die dem offiziellen Wirklichkeitsbild nicht entsprachen, wurden verschwiegen. Eine Trennung zwischen dem Fakt und Kommentar wäre in diesem Kontext undenkbar. Sie widerspräche der Logik der Propagandakommunikation. Der Weg zur zunehmenden Verselbstständigung der Massenmedien führte jedoch nicht direkt zu autopoietischen Standards der Nachrichtenproduktion. Am Beispiel der Veränderung der Selektionskriterien der Nachrichtenproduktion wird im Folgenden gezeigt, wie sich allmählich der Wandel dieser Kriterien vollzog. In autopoietisch ausdifferenzierten Massenmedien ist eines der wichtigsten Entscheidungskriterien der Nachrichtenproduktion die so genannte Objektivität. Sie wird durch die Trennung der Fakten vom Kommentar hergestellt. D.h., die Fakten und Kommentare werden in der Sendung markiert. Die neu entstehende Nachrichtenproduktion in Russland war zunächst von der kaum geregelten bußerung der journalistischen Meinung dominiert. Statt die Fakten von den Kommentaren zu trennen, begriffen die Journalisten die zunehmende Schwächung der Zensur und anderer Kontrollmechanismen als Möglichkeit, dem Zuschauer ihre persönliche Meinung mitzuteilen. Die Gründe dafür erwachsen aus den Prinzipien der Propagandaproduktion. Zum einen durfte in den sowjetischen Medien nur eine ideologische Sicht vertreten werden – Konkurrenz von Themen oder Meinungen war hier nicht vorhanden. Dies ist der Grund für den Drang der neuen Journalisten zur persönlichen Meinungsäußerung. Aber, da es die Trennung zwischen Fakt und Kommentar in sowjetischen Medien nicht gab, war zum anderen die Notwendigkeit dieser Trennung, also das journalistische Kriterium der Objektivität, den russischen Journalisten nicht bekannt. Unter Meinungspluralismus verstanden sie die freie bußerung ihrer persönlichen Meinung: Das bekannt werden des journalistischen Prinzips der Objektivität, der Notwendigkeit der Trennung zwischen Fakten und Kommentar, „selbst die Existenz einer solchen Idee war für die russische Reporter eine große Neuigkeit – eine unangenehme Neuigkeit. Ohne Erfahrung in der Arbeit mit Fakten als solchen, nahmen die Reporter diese Idee als Angriff auf ihre journalistische Eigenart, als Angriff auf ihr Recht auf Glasnost wahr. Bei manchen rief sie sogar Empörung hervor. Die Unparteilichkeit war für sie ein Synonym für Gleichmütigkeit, ein Bestreben, den Journalisten zu kastrieren, eine Rechtfertigung der Abwesenheit bürgerlichen Engagements durch angeblich professionelle Eigenschaften.“47

Dennoch legitimierte sich diese neue Praxis der journalistischen Meinungsäußerung, die die Belehrung und sogar die „Missionierung“ des Zuschauers beinhaltete, nicht mithilfe der Idee der freien individuellen Meinungsäußerung. Die journalistische Aufgabe der Aufklärung des Zuschauers beruhte auf der tiefen Überzeugung über die neue Rolle des Journalisten und des Journalismus im Umgestaltungsprozess. Es war eine adaptierte Idee der Medien als vierte Gewalt, die die Zulässigkeit, ja sogar die Notwendigkeit der Bewertung der 47 Ɇɭɪɚɬɨɜ, 2001: 46, Übersetzung d. Verfasserein.

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Ereignisse durch den Journalisten als Experten postulierte.48 Deshalb fand die Ausdifferenzierung der journalistischen Objektivität im stufenweisen Prozess statt: Zunächst entstand die Form des Faktums und erst dann wurde die Notwendigkeit der Trennung zwischen Fakt und Kommentar wahrgenommen. Dieser Entstehungsprozess wird hier am Beispiel der Konkurrenz zweier Nachrichtentypen im noch-sowjetischen Fernsehen dargestellt.

Konkurrenz zwischen Propaganda-Nachrichten und journalistischen Nachrichten Die erste zu Vremja konkurrierende Sendung war TSN (= Fernsehnachrichtendienst), die im September 1989 ihre Arbeit begann. Das Team der Sendung bestand aus jungen Journalisten (Durchnittsalter 33 Jahre). Zu ihren Entscheidungskriterien der Nachrichtenproduktion zählten: kurze und klare Wiedergabe der Nachrichten, thematische Breite der Informationen, und vor allem die Auswahl „brennender“ Themen: „Reportagen aus dem Baltikum, dem Kaukasus und Moldavien, parlamentarische Nachrichten, der Kampf zwischen Gorbatschow und Jelzin. Die ökonomische Blockade Litauens, die Zerstörung der Lenin-Denkmäler, der Begräbnisort des Trotzkij-Mörders in Moskau […]“.49 Die Berichterstattung von TSN enthielt mehr politische Positionen der Journalisten als Fakten – dies war der Hauptvorwurf an sie. Jedoch betrug schon die reine Anzahl an Fakten in den TSN-Nachrichten das Dreifache von Vremja. Und dieser neue „Überfluss“ der reinen Fakten war gefährlich für die politische Führung. Die Darstellung der Nachrichten in Vremja dagegen orientierte sich nicht danach, „was im Land und in der Welt tatsächlich geschah, sondern danach, was im Land und in der Welt zu geschehen hatte.“50 Die Konkurrenz zwischen den beiden Nachrichtensendungen war die Konkurrenz zwischen zwei Zugängen zu den Nachrichten, zwischen zwei Typen der medialen Kommunikation. Diese Konkurrenz leitet die Ausdifferenzierung von Fakten ein: Das Journalisten-Team von TSN strebte die Befreiung von offiziellen Vorgaben in der Nachrichtenproduktion an. Deshalb wurden statt offiziellen Positionen ausschließlich Fakten dargestellt. Dies war das erste Mal, dass im Nachrichtenbereich der Code der Massenmedien mit dem Code der Propaganda in Konkurrenz trat. Es fand also kein automatischer Wechsel des Codes statt, stattdessen wurde ein langwieriger Prozess der Konkurrenz zwischen Propaganda und Aktualität initiiert. Mit der ersten Differenzierung der Nachrichten entstand die erste Differenzierung des Publikums. Der Zuschauer hatte jetzt die Wahlmöglichkeit zwischen zwei Nachrichtensendungen. Ein Teil der Rezipienten war immer noch daran gewöhnt, einem Nachrichtensprecher (wie in Vremja) zu vertrau48 Vgl. dazu II.2.3. 49 Ɇɭɪɚɬɨɜ, 2001: 26. 50 Ebd., Übersetzung d. Verfasserin.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

en. Die jungen Journalisten von TSN mit eigener redaktioneller Linie bezüglich der aktuellen Ereignisse waren demnach nicht objektiv. Nach der kritischen Darstellung der Ereignisse in Litauen (Sturm des Fernsehturms in Vilnius durch die sowjetische Armee am 13. Januar 1991) wurden den TSNNachrichten neue Mitarbeiter – Zensoren – zugeteilt. Zwei Wochen später wurde die Sendung geschlossen.51

Ausdifferenzierung des Kommentars Mit der zunehmenden Auflösung des sowjetischen Parteiapparats boten sich erste Möglichkeiten der journalistischen Meinungsäußerung. Aber beim Streben nach Autonomie wurden statt des journalistischen Kommentars persönliche Meinungen verbreitet. Diese Tendenz begann mit der Gründung der zweiten zu Vremja alternativen Nachrichtensendung Vesti im Juni 1991, deren Team aus Journalisten aus dem ehemaligen TSN-Team bestand. Aufgrund des Machtkampfes zwischen Gorbatschow und Jelzin wurde das zweite Fernsehprogramm im Mai 1991 der Regierung der Russischen Föderation unterstellt. Regierungsabsichten gemäß sollte er die Interessen der Regierung der russischen Föderation unterstützen. Die Gründung der Nachrichtensendung Vesti sollte ein Pendant zur traditionellen Nachrichtensendung Vremja bilden, die die Interessen der sowjetischen Regierung thematisierte. Die Gründung von Vesti wurde von dem alten Journalistenteam von TSN als großer Schritt zur Meinungsfreiheit bewertet. Die Trennung zwischen Denken und Sprechen war nicht mehr notwendig. Außer der Berichterstattung über Ereignisse wurde der Zuschauer über den Sinn dieser Ereignisse „aufgeklärt“: „Die Meinungen über die Fakten wurden mitunter wichtiger als die Fakten selbst. Nicht verwunderlich, dass viele von ihnen [den Journalisten] Vesti als eigenes Autorenprogramm empfanden“.52 Statt ein breites Meinungsspektrum in der Sendung widerzuspiegeln oder es zumindest anzustreben, wurde der Stil der Belehrung des Zuschauers bevorzugt. So entstand im (post-)sowjetischen Fernsehen zum ersten Mal das Problem der Trennung zwischen Fakten und Kommentar in der Berichterstattung. Während den professionellen journalistischen Standards gemäß die persönliche Meinung des Journalisten nicht im Mittelpunkt der Sendung zu stehen hat, war diese Bedingung für die neuen russischen Journalisten aufgrund der Nachhaltigkeit der Propagandamuster kaum erfüllbar: „Vom unifizierten staatlichen Bevormunder (dem Kreml’schen Nachrichtensprecher) ist das Fernsehen zum Institut der politischen Missionare übergewechselt. Dem Wesen nach war dies die andere Seite der gleichen Bevormundung.“53

51 Vgl. Ɇɭɪɚɬɨɜ, 2001: 27-29. 52 Ɇɭɪɚɬɨɜ, 2001: 38. 53 Ebd.: 40, Übersetzung d. Verfasserin.

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PHASE EINS: 1986-1991

Es ist zu sehen, dass das Problem der Trennung zwischen Fakten und Kommentaren erst nach der Ausdifferenzierung der journalistischen Form des Faktums entsteht. Diese Trennung wird für die Journalisten zum Problem, weil sich die propagandistischen Berichterstattungsmuster trotz struktureller Neuerungen relativ stabil reproduzierten: In den sowjetischen „Nachrichten“ gab es keine analytischen Sendungen und Diskussionen aufgrund des geschlossenen Charakters der Information, weil die Fakten als solche fehlten. Die ideologisch bearbeiteten Fakten erforderten keine Analysen, weil sie die Schlussfolgerungen beinhalteten. Dieses ideologische Schema schlug sich im erneuerten Fernsehen darin nieder, dass sich die Journalisten, die Ereignisse ohne Bewertung präsentierten, als unprofessionell abwerteten. Diese Haltung bedingte den Stil der Fernsehdiskussionen. Zum Beispiel wurde das Thema der Einführung der Marktwirtschaft durch Übermittlung der Ideen geprägt; Zahlen und Fakten zu dem Thema wurden daher kaum berücksichtigt.54 Später jedoch, mit zunehmender Ausdifferenzierung der Fakten in den Nachrichtensendungen, bildete sich die Form des Kommentars mehr und mehr aus. Es entstanden analytische Sendungen über Fakten, die auf die Verarbeitung von Meinungen über Fakten spezialisiert waren. So entstand 1992 auf dem ersten Kanal Ostankino die analytische Sendung Itogi („Ergebnisse“).55

2 . 5 Zu s a m m e n f a s s u n g In der ersten Phase der massenmedialen Ausdifferenzierung, die hier am Beispiel des sowjetischen Fernsehens untersucht wurde, kommt es zur Herausbildung des massenmedialen Codes. Auf der einen Seite trug die Erosion der parteilichen Kontrollmechanismen des Fernsehens (und anderer Medien) zu Verselbständigung der (Fernseh-)Redaktionen bei: Zensur, Personaltransfer (u.a. Einstellungs-/Entlassungsmechanismus), Überwachung und Sanktionen lösen sich zunehmend auf. Auf der anderen Seite bedingte die GlasnostPolitik eine thematische Öffnung des sowjetischen Fernsehens. Beide Prozesse trugen zur Entstehung des Codes Information/Nicht-Information unmittelbar bei. Als Indikator für diesen dient die starke Zunahme der Live-Übertragungen im (noch) sowjetischen Fernsehen: Sie weist auf einen entstehenden Bezug der neuen Kommunikation zu Neuheit und Aktualität hin. Auf die Entstehung der massenmedialen Kommunikation, ja auf ihre Formalisierung, deutet zudem das Verschwinden der informellen Medien. Sicherlich beeinflusste die neue Selbstbeschreibung der journalistischen Arbeit die Ausdifferenzierung des massenmedialen Codes erheblich. Die adaptierte Idee der Medien als vierter Gewalt erlaubte es, den neuen Sinnzusammenhang nach außen zu legitimieren: Sie begründete den gesellschaftli54 Vgl. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ɂ., 2001: 17 ff. 55 Vgl. Ɇɭɪɚɬɨɜ, 2001: 35. Zur Innendifferenzierung journalistischer Entscheidungskriterien siehe II.3.2.2.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

chen Bedarf an massenmedialen Informationen. Innerhalb des Journalismus (also innerhalb der massenmedialen Produktionsstrukturen) begründete das neue Konzept die Notwendigkeit der journalistischen Umbewertung der eigenen Rolle. Parallel zum massenmedialen Code, bedingt durch Erosion der Kontrollmechanismen, entstehen die ersten massenmedialen Entscheidungskriterien. Auf redaktioneller Ebene entsteht die so genannte redaktionelle Linie als Entscheidungsbezug (zunächst in Presseorganisationen). Auf der Ebene der massenmedialen Darstellungs- und Selektionskriterien differenzieren sich Formen wie Fakten und Kommentare heraus. Durch Trennung von Fakt und Kommentar wird das journalistische Kriterium der Objektivität erzeugt. Kennzeichnend ist, dass die Ausdifferenzierung der journalistischen Kriterien erst nach der Themenöffnung der sowjetischen Medien möglich wird. Mit der Konkurrenz zwischen zwei Typen der medialen Kommunikation, die hier am Beispiel zweier Nachrichtensendungen illustriert wurde, entsteht übrigens ein Phänomen, das ich im Weiteren als journalistische Migration bezeichnen werde. Die Journalisten, die sich als Vertreter der neuen ‚befreiten‘ Medien wahrnehmen, wandern aus quasi-massenmedialen Redaktionen ab: Sie können jetzt selbst ihre alten Arbeitsplätze kündigen und neue Medienorganisationen gründen. Zum einen hängt dieses Phänomen mit der Erosion des parteilichen Kontrollmechanismus Einstellung/Entlassung zusammen. Zum anderen ist journalistische Migration nur mit der Entstehung der genuin massenmedialen Organisationen möglich.56 Die Entstehung von ersten massenmedialen Strukturen – des Codes, der ersten massenmedialen Entscheidungskriterien (z.B. der redaktionellen Linie), der ersten massenmedialen Inhalte – findet einen Anschluss auf der Rezipientenseite. Da die Zuschauerforschung bis 1991 nur sporadisch durchgeführt wurde, verfüge ich über keine Daten bezüglich der Abnahme oder Zunahme der Zuschauerzahlen bei den neuen Fernsehinhalten. Aber anhand der starken Zunahme der Auflagenzahlen der thematisch ähnlich angesiedelten Presseerzeugnisse lässt sich das Interesse des Publikums an neuen Inhalten ablesen. Die Publikumserwartungen werden zunehmend durch Produktionsinstanzen des Fernsehens beobachtet und als Element in die interne Produktionsmuster eingeführt, was am Aufbau der Fernsehsendungen erkennbar ist: Die neuen Darstellungsformen der Sendungen, wie Talkshows, Fernsehmeetings u.a., sind durch die Anwesenheit des Fernsehpublikums in der Sendung gekennzeichnet. Zudem wurden Anrufe der Zuschauer in Live-Sendungen möglich.

56 Der Prozess der Pluralisierung der Organisationstypen wird im russischen Fernsehen in der zweite Phase der massenmedialen Ausdifferenzierung besonders intensiv (vgl. II.3.2.3).

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3. P HASE Z WEI : T RENNUNG DES RUSSISCHEN F ERNSEHENS VOM S TAAT AUF O RGANISATIONSEBENE (E NDE 1991 BIS E NDE 1995)

Einleitung Diese Phase der massenmedialen Konstitution beginnt, als für das sowjetische Fernsehen die neue russische Regierung zuständig wird, also mit dem Beginn der Auflösung des Zentralfernsehens und mit der Gründung erster kommerzieller Fernsehsender. Sie endet 1995/1996 mit der Herausbildung des informellen Bereichs innerhalb der russischen Massenmedien, des Bereichs der informellen PR-Kommunikation. Die zweite Phase der massenmedialen Ausdifferenzierung ist von Kommerzialisierungsprozessen russischer Medienorganisationen geprägt. Die Kommerzialisierung führt zur Pluralisierung der massenmedialen Organisationen im Fernsehen (s. Tab. 12). Es kommt zudem zur Innendifferenzierung der Produktionsseite der Massenmedien in Nachrichten/Berichte, Werbung und Unterhaltung, die ich am Beispiel des Fernsehens näher beschreiben werde. Der massenmediale Ausdifferenzierungsprozess verläuft innerhalb des Rahmens, der durch zwei Gesellschaftsformen – die Organisationsgesellschaft und die funktional differenzierte Gesellschaft – vorgegeben wird.1 In der zweiten Phase der massenmedialen Differenzierung ist zu sehen, dass der Entstehungsprozess der Massenmedien aus Charakteristika der neuen Differenzierungsform folgt: • Die Entstehung der drei massenmedialen Bereiche (Nachrichten/Berichte, Werbung und Unterhaltung) geht aus der zunehmenden Offenheit der neuen Gesellschaftsform hervor (s. II.3.1). • Die Kommerzialisierung des russischen Fernsehens und die anschließende Aufhebung der hierarchischen Unterordnung unter den Staat auf Organisationsebene (s. II.3.2) sowie die Erosion der Kontrollmechanismen des Fernsehens (s. II.3.3) folgen aus dem Prozess gesellschaftlicher Dezentralisierung. • Die Legalisierung der Schattenwirtschaft im staatlichen Fernsehen durch den Kommerzialisierungsprozess folgt aus der Minimierung der Trennung zwischen formeller und informeller Ebene (II.3.2.2).

1 Zu den gesellschaftlichen Dualen, die den medialen Wandel rahmen, vgl. oben: 68.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

Außerdem werde ich in diesem Kapitel auf die Rolle des Journalisten (s. II.3.4) und auf die Konstituierung des Publikums (s. II.3.5) eingehen. Tabelle 12: Die Fernsehlandschaft der Russischen Föderation von Ende 1991 bis Ende 1995: Zentrale Fernsehsender mit landesweiter und überregionaler Reichweite Phase

Fernsehorganisation

Potentielle Reichweite in Russischer Förderation2

Gründung

Auflösung

Ende 1991 bis Ende 1995

Ostankino (ehem. I. Programm), zunächst staatliches Fernsehen, 1994 teils privatisiert

95-98 % der Bevölkerung

Dez. 1991



RTR (ehem. Vtoroj Kanal und ehem. II. Programm; Sendezeit: ganztags), staatliches Fernsehen

95-98 % der Bevölkerung

Mai 1991



Moskva (ehem. III. Programm), staatliches Fernsehen

Bevölkerung Moskaus und des Moskauer Einzugsgebiets

Dez. 1991



Telekanal 2X2 (von 8 bis 18 Uhr auf der Frequenz von Moskva), ab September 1991 privatisiert

Bevölkerung Moskaus und des Moskauer Einzugsgebiets

Sep. 1990



Rossijskie Universiteti (Bildungsprogramm, auf der Frequenz des ehem. IV Programms)

Europäischer Teil der RF

Dez. 1991

Auflösung – 1997 (Sendezeit ab Okt. 1993 – halbtags, ab Sep. 1996 – eine Stunde am Tag)

2 Angemerkt sei, dass 1990 die Bevölkerung der Sowjetunion 285,5 Millionen Menschen umfasste. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion umfasste die Bevölkerung des neuen Staates Russische Föderation im Jahr 1991 148,7 Millionen Menschen (vgl. Ȼɭɬɟɧɤɨ/Ɋɚɡɝɨɥɨɜ, 1996: 4).

200

PHASE ZWEI: ENDE 1991 BIS ENDE 1995 Peterburg3 (ehem. V. Programm), staatliches Fernsehen

Petersburg, Leningrader Gebiet und 30 Großstädte

Dez. 1991



TV-6 Moskva (6. Frequenzkanal in Moskau), privates Fernsehen

Jan. 1993: 500.000 Zuschauer; Mitte 1996: 67,7 Millionen Zuschauer

Jan. 1993



NTV (auf der Frequenz des IV. Programms), privates Fernsehen

Europäischer Teil der RF

Okt. 1993 (Sendezeit im Okt. 1993 – 6 Stunden täglich; ab Okt. 1996 – ganztags)

Quelle: Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2001: 50 ff.

3.1 Öffnung der thematischen Horizonte: Die Entstehung der drei massenmedialen Bereiche: Nachrichten/Berichte, Werbung und Unterhaltung Mit dem Übergang zur funktionalen Differenzierung entwickelten sich auch im neuen Russland Funktionssysteme wie Politik, Wirtschaft, Recht u.a. In diesem Zeitraum ist insbesondere der Zusammenhang zwischen dem Entstehungsprozess der Massenmedien und dem Entstehungsprozess der Wirtschaft interessant. Denn die Entstehung vom Staat autonomer Fernsehorganisationen war an die Konstituierung der Fernsehmärkte gekoppelt. Die Entwicklung von (Fernseh-)Märkten wie dem Nachrichtenmarkt, einem Werbemarkt und dem Markt für Fernsehprogramme verlief parallel mit der Entstehung der kommerziellen Fernsehsender. D.h., für die Entstehung eines neuen Typus von Medienorganisationen wie kommerzieller Sender war die Herausbildung der Fernsehmärkte unabdingbar. Diese Wirtschaftsmärkte wiederum konnten sich nur entwickeln, weil der Kommerzialisierungsprozess des Fernsehens in Gang gesetzt wurde. Diese Märkte bildeten die Umwelt, aus der oder in der sich die kommerziellen Fernsehsender konstituiert haben. Schließlich schafften diese Märkte einen Kontext, in dem die Konkurrenz zwischen kommerziellen und staatlichen Fernsehsendern um Zuschauerquoten entstand.

3 In den kommenden Jahren wurde der Sender in „Petersburg – 5. Kanal“ umbenannt.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

3.1.1 Entstehung der Nachrichtenproduktion Konstitution erster nicht-staatlicher Nachrichtenagenturen Der Nachrichtenmarkt bildete die Umwelt, aus der sich die mediale Nachrichtenproduktion ausdifferenzieren konnte. Als Teil des Wirtschaftssystems musste sich der Nachrichtenmarkt erst selbst konstituieren, um die Entstehung massenmedialer Nachrichtenproduktion als Produktion von konkurrierender Nachrichteninformation zu begünstigen. Mit der Abnahme der staatlichen Kontrolle der Nachrichten und vor allem mit der Auflösung des Zensurapparats durch das Pressegesetz von 1990 wurde das parteiliche Monopol auf die Sammlung und Verbreitung von Informationen gebrochen.4 Neben den staatlichen Nachrichtenagenturen TASS und APN bildeten sich kommerziellen Agenturen heraus. Die Konstitution des Nachrichtenmarktes begann. Die Entstehung und Konkurrenz mehrerer nichtstaatlicher Nachrichten- und Informationsagenturen machte Information zur Ware. Neben der größeren Agentur Interfax entstanden mittlere und kleinere Nachrichtenagenturen, die sich auf Themensparten – von Sport- bis Kulturinformation – spezialisierten. Da die Anzahl der Presseerzeugnisse, Radiostationen und Fernsehsender in der alten Sowjetunion und anschließend in ihrem Nachfolger-Staat Russland enorm zunahm, war der Bedarf nach Informationen verschiedenster Art sehr groß.5 Die Herstellung von Nachrichten stellte zu Beginn dieser Phase eine „Heimindustrie“ dar: Befreundete Journalisten trafen sich in privaten Wohnungen, sammelten die Informationen per Telefon bei Freunden oder Bekannten und produzierten ihre Texte auf der Schreibmaschine. Die Großzahl der neuen Agenturen konnte sich aufgrund geringer Professionalität, Abwesenheit finanzieller Unterstützung sowie aufgrund der Unfähigkeit, eine kontinuierliche Nachrichtenproduktion zu gewährleisten, nicht etablieren. Nur diejenigen Nachrichtenagenturen, die nach marktwirtschaftlichen Prinzipien funktionierten, blieben bestehen.6

Entstehung der Nachrichtenagentur Interfax Die erste große Nachrichtenagentur, die den zentralisierten Informationsfluss in der noch existierenden Sowjetunion durchbrechen konnte, war die Agentur 4 Die parteiliche Kontrolle der Nachrichtenproduktion existierte trotz des Pressegesetzes in wenig ausgeprägter Form bis zur Auflösung der Partei und dem Zerfall der Sowjetunion 1991. Zur Erosion parteilicher Kontrollmechanismen siehe auch II.3.3. 5 Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ə., 2001: ɋɢɫɬɟɦɚ ɫɪɟɞɫɬɜ ɦɚɫɫɨɜɨɣ ɢɧɮɨɪɦɚɰɢɢ Ɋɨɫɫɢɢ: 210222. 6 Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ə., 2002: ɋɪɟɞɫɬɜɚ ɦɚɫɫɨɜɨɣ ɢɧɮɨɪɦɚɰɢɢ ɩɨɫɬɫɨɜɟɬɫɤɨɣ Ɋɨɫɫɢɢ: 66.

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PHASE ZWEI: ENDE 1991 BIS ENDE 1995

Interfax. 1989 wurde sie von einer Gruppe von Journalisten gegründet, die zuvor für Radio Moskau tätig waren.7 Entscheidungskriterien des westlichen Nachrichtenjournalismus wie Aktualität, Objektivität, Kurzfassung der Texte u.a. wurden zur Arbeitsgrundlage der neuen Agentur. Daher wurden ausländische Journalisten und Diplomaten zu den ersten Kunden von Interfax. Als Hauptverbreitungsmedium der Agentur diente das Faxgerät, da die Telegraphverbindungen und Fernschreiber im Staatseigentum waren. Durch die Wahl des neuen Verbreitungsmediums konnte die Agentur die Unabhängigkeit vom 1989 noch bestehenden Zensurapparat sichern. Durch die neue Verbreitungstechnik, neue Kriterien der Nachrichtenproduktion sowie ein alternatives Realitätsbild distanzierte sich Interfax von der führenden staatlichen Nachrichtenagentur TASS. Kennzeichnend ist, dass bei der Gründung dieser später sehr erfolgreichen Medienorganisation die Orientierung an einer westlichen Nachrichtenagentur – der Agentur Reuters – im Vordergrund stand. Dies ist ein Beispiel für Diffusionsprozesse im Bereich der Nachrichtenproduktion. So dienten die Kriterien der Nachrichtenproduktion von Reuters als Vorbild für die entstehende russische Agentur. Zudem bemühte sich Interfax um eine ähnliche Positionierung auf dem Medienmarkt wie Reuters.8 Die finanzielle Unabhängigkeit von Reuters beruht auf ihrem Tätigkeitsschwerpunkt der Sammlung und Verbreitung von Wirtschaftsinformationen. Als Kunden dieser Informationen fungieren dann Großunternehmen und Banken. Nur 10 bis 12 Prozent des Gesamtumfangs der Informationsproduktion von Reuters richten sich an traditionelle Medien. Dieses Modell war für die Entwicklung von Interfax in den 90er Jahren orientierend. Zusätzlich zu den allgemeinpolitischen Nachrichten bot die Agentur 30 spezialisierte Nachrichtenpakete, die Nachrichten aus den Hauptindustriezweigen Russlands zusammenstellten. Den größten Gewinn erzielte und erzielt die Agentur dementsprechend durch den Verkauf von Wirtschaftsnachrichten. Auch die Präsenz auf dem Weltnachrichtenmarkt ist ein Ziel von Interfax: Mitte der 90er Jahre eröffnete sie eigene Vertretungen in Frankfurt, London und Tokio.9

Pluralisierung der Nachrichtenagenturen Die Kommerzialisierung der Nachrichtenproduktion sowie die Konkurrenz zwischen staatlichen und kommerziellen Nachrichtenagenturen bedingte auch die Umstrukturierung der ehemaligen sowjetischen Agenturen mit Monopolstellung. 1992 wurde die größte nationale staatliche Agentur TASS in ITARTASS umbenannt. Die ehemals zweitgrößte Nachrichtenagentur APN wurde im gleichen Jahr in RIA Westi umgetauft. Diese Agenturen sahen sich ge7 Dieser Radiosender richtete sich an westliche Länder und war für sowjetische Zuhörer nicht zugänglich. 8 Vgl. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ə., 2001: 217 ff. 9 Vgl. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ə., 2002: 64 ff.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

zwungen, die Effizienz und Schnelligkeit der Nachrichtenproduktion zu verbessern. Durch Übernahme neuer Verbreitungstechnologien, Schaffung von Abnehmer-Netzwerken, Berücksichtigung von Kundeninteressen, Einsatz von Marketingstrategien sowie durch eine Differenzierung der Nachrichtenproduktion und vor allem durch die Veränderung der professionellen Standards konnten die ehemaligen Monopol-Agenturen die führende Stellung auf dem Nachrichtenmarkt Russlands beibehalten. Für die Produktion von Fernsehnachrichten gründete ITAR-TASS eine spezielle Redaktion. Auch RIA Westi öffnete eine Redaktion für die Produktion von Videonachrichten. Trotz ihrer führenden Stellung sind die beiden staatlichen Nachrichtenagenturen nicht mehr die einzigen Nachrichtenproduzenten auf dem Nachrichtenmarkt. Schon im Jahre 1994 ist eine Differenzierung der Nachrichtenagenturen nach folgenden Charakteristika festzustellen: • Es bilden sich nationale Nachrichtenagenturen, die Nachrichten landesweit sammeln und verbreiten: ITAR-TASS, Interfax, RIA Westi. • Es entstehen auf bestimmte Themen oder Sparten spezialisierte Nachrichtenagenturen. Die Spezialisierung auf wirtschaftliche und politische Informationen dominiert. • Es werden regionale Nachrichtenagenturen gegründet, die Informationen in und über bestimmte Regionen Russlands sammeln. • Schließlich entstehen ab 1994 die Nachrichtenagenturen im Internet.10 Die Nachrichtenagenturen im Internet wurden aufgrund der beschleunigten Informationsproduktion gleich zu den stärksten Konkurrenten der nationalen Nachrichtenagenturen. In der Gründungsphase waren sie für die Unzuverlässigkeit ihrer Informationen bekannt. Aber die Aktualität der Internetnachrichten machte Internetagenturen sowohl bei den Kunden und als auch beim Publikum schnell beliebt. Nicht nur die dauerhaft erzeugte Aktualität des Internets beförderte die Internetagenturen zum einflussreichsten Bestandteil der russischen Nachrichtenproduktion, sondern auch das regelmäßig wiederkehrende Informationsvakuum. Dieses Vakuum entstand während zahlreicher Krisen und Konflikte der postsowjetischen Epoche, vor allem in Situationen, wo staatliche Instanzen versuchten, den Informationsfluss durch die Nicht-Herausgabe von Informationen zu unterbinden.11 Eine der letzten Situationen dieser Art war die Währungskrise im August 1998: Damals verlor der russische Rubel an Wert, aber der Bevölkerung waren nur die offiziellen staatlichen Angaben bekannt. In dieser Situation konnte man alternative Informationen nur von Internetagenturen erhalten. Diese Agenturen befriedigten in bestimmten Situationen den gesellschaftlichen Bedarf nach aktueller Information besser als andere Nachrichtenproduzenten.

10 Vgl. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ə., 2001: 214. 11 Ebd.: 214 ff.

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Aufhebung der Geschlossenheit: Eintritt der Weltagenturen in die russische Nachrichtenproduktion Nach der Ausdifferenzierung neuer Typen von Nachrichtenorganisationen war das staatliche Nachrichtenmonopol sowohl auf nationaler als auch auf regionaler Ebene (auf der Ebene der föderalen Einheiten der Russischen Föderation) gebrochen. Auf regionaler Ebene wurden regionale Nachrichtenagenturen aktiv: Ihre Informationsprodukte wurden nicht mehr, wie in der Sowjetunion, zentralisiert hergestellt und kontrolliert. Auf nationaler Ebene existierten neben staatlichen auch kommerzielle Nachrichtenagenturen. Aber auch die Weltnachrichtenagenturen verschafften sich Zugang zu russischen Informationsmärkten. Weltnachrichtenagenturen wie Reuters, Agence France-Presse und Associated Press boten ihre Informationen ab Mitte der 90er Jahre am russischen Markt an. Für die staatlichen Nachrichtenagenturen (ITAR-TASS und RIA Westi) erhöhte sich somit der Konkurrenzdruck erheblich. Allerdings hatte (und hat) nicht jede Medienorganisation Zugang zu verschiedenen Nachrichtenquellen. Den Zugang zu Informationen verschiedener Agenturen (darunter Weltnachrichtenagenturen) und somit Vergleichsmöglichkeiten besaß nur eine Reihe finanziell besser gestellter Medien. Die finanziell schlechter gestellten Medien waren (und sind) daher gezwungen, auf die weniger zuverlässigen Informationen der Internetagenturen zurückzugreifen, wenn sie Vergleichsmöglichkeiten mit Informationen der staatlichen Agenturen brauchten. Im Bereich der Fernsehnachrichten allerdings waren den führenden russischen Fernsehsendern die Videoinformationen der Weltnachrichtenagenturen zugänglich.12

3.1.2 Produktion von Werbung: Werbung als Bedingung autopoietischer Massenmedien Der Kommerzialisierungsprozess des russischen Fernsehens wäre ohne die Entstehung von kommerzieller (Fernseh-)Werbung nicht möglich. Denn die Fernsehwerbung stellte eine zum staatlichen Etat alternative Finanzierungsmöglichkeit dar. Diese Finanzierungsform machte die entstandenen kommerziellen Fernsehsender vom Staat unabhängig. Zwar versuchte der Staat nach wie vor, auf die redaktionelle Linie der staatlichen Sender einzuwirken, durch die zunehmende finanzielle Unabhängigkeit konnten sich diese jedoch mehr und mehr von der staatlichen Bevormundung lösen (s. II.3.3). Die Entwicklung der massenmedialen Werbeproduktion hing mit der Entstehung des Marktes für die Fernsehwerbung eng zusammen.13 Deshalb wird hier zunächst die Herausbildung dieses Marktes beschrieben. Anschließend wird der Zusammenhang zur medialen Werbeproduktion hergestellt. 12 Vgl. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ə., 2002: 67 ff. 13 Zu Entwicklung der rechtlichen Regelungen im Bereich der Fernsehwerbung von 1990 bis 1996 vgl. Ʉɪɵɥɨɜ, 1996: 98-108; vgl. auch Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2001: 78 ff.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

Die Konstituierung des Marktes für die Fernsehwerbung ist in zwei Phasen aufzuteilen. Die erste Phase ist durch eine Ko-Evolution des Fernsehwerbemarktes mit dem Markt der Fernsehprogramme gekennzeichnet. Sie war zudem durch das Aufkommen russischer Finanzunternehmen als Werbeauftraggeber auf dem russischen Fernsehmarkt geprägt. Die zweite Phase ist durch Diffusionsprozesse von Werbeproduktion und Werbeinhalten im russischen Fernsehen zu charakterisieren. Dabei wurden diese globalen Prozesse durch die Dominanz transnationaler Werbeauftraggeber auf dem russischen Fernsehmarkt beeinflusst.

3.1.2.1 Erste Phase (1991 bis 1994): Ko-Evolution des Marktes für Fernsehwerbung mit dem Markt für Fernsehprogramme Die erste Fernsehwerbung wurde 1990 auf dem Fernsehsender Telekanal 2x2 übertragen.14 Zum großen Teil war dies Reklame von Großhandelsunternehmen, die in diesen Jahren entstanden sind. Häufig wurde diese Reklame in Form einer einfachen Textanzeige gesendet, wie z.B. „Computer ab Lager in Moskau“. Unter den Werbeauftraggebern befanden sich auch Cafés, Restaurants und andere Unternehmen aus dem Dienstleistungsbereich, die zu dieser Zeit in Moskau entstanden sind. Werbung für ausländische Konsumgüter war selten.15 Mit zunehmender Entwicklung des Werbemarktes folgte eine Differenzierung in: • Werbeauftraggeber, • Werbeproduzenten (= Werbeagenturen), • Werbevermittler16, • Verbreitungsmedien der Werbung, • Zielgruppen der Werbung (= Werbepublikum).17

14 Der Telekanal 2x2 war der erste kommerzielle Fernsehsender in der noch existierenden Sowjetunion. Allerdings war seine Reichweite nur auf Moskau und das Moskauer Gebiet beschränkt. Ausführlicher zur Entstehung dieses Senders siehe II.3.2.1). 15 Vgl. Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2001: 78-79. 16 Zu Werbevermittlern zählen Organisationen, die auf den Einkauf von Werbezeit im Fernsehen spezialisiert sind, und Organisationen, die auf den Verkauf von Werbezeit im Fernsehen spezialisiert sind. Schließlich teilten sich die zwei Vermittlerorganisationen Primier SV und Video International den Vermittlungsmarkt für Fernsehwerbung auf. Ende der 90er Jahr wird Video International zum führenden Werbevermittler auf dem russischen Medienmarkt (vgl. Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2001: 189 ff.). 17 Ausführlicher zu Differenzierungsprozessen im Bereich der Werbung im neuen Russland vgl. ebd.: 167-188, 189-227.

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PHASE ZWEI: ENDE 1991 BIS ENDE 1995

Nach Angaben von Krylov existierten in Russland im Jahre 1995 bereits 7000 Werbeagenturen, 2000 von ihnen befanden sich in Moskau. Aber nur 130 von den 2000 Moskauer Werbeagenturen waren als professionell einzustufen.18 Nicht nur der erste kommerzielle Fernsehsender, sondern auch die staatlichen Sender Ostankino und RTR (ehemals erstes und zweites Programm) beteiligten sich an der Verbreitung von Fernsehwerbung.19 Zwei Voraussetzungen waren für die Entwicklung des Fernsehmarktes unabdingbar: erstens die Entstehung der großen Werbeauftraggeber (Bank „Menatep“, Börse „Alisa“, Unternehmen wie „Ekarambus“ und „MMM“), zweitens erhielten die Fernsehredaktionen der staatlichen Sender die Möglichkeit, einen Teil ihrer Sendezeit für Werbung zu verkaufen.20 Bis 1991 wurde die Fernsehproduktion von Gosteleradio finanziert. Aus diesem Etat wurde das Geld für die Produktion der Fernsehprogramme zentralisiert zugeteilt: Die Programmproduktion besaß keinerlei kommerziellen Charakter. Ab 1991/1992 begann die Transformation der Fernsehsendungen in Ware: In der ersten Phase boten die Produzenten- oder Vermittlerorganisationen den Fernsehsendern ihre Sendungen in Tausch gegen Werbezeit an. So tauschte z.B. der Werbevermittler Video International die Fernsehserie „Santa-Barbara“ gegen eine Minute Werbezeit pro Folge mit dem Sender RTR. In diesem Zeitabschnitt besaßen die Fernsehprodukte bereits einen Warencharakter. Die Kaufoperation selbst verlief allerdings als Tauschgeschäft ohne Geld.21 1993 wurde der Tausch durch monetäre Finanzierung ersetzt. Die Kaufverträge wurden in Form des Kaufs von Lizenzen auf Fernsehprogramme geregelt. Mit der Entstehung des Lizenzerwerbs und Durchsetzung des Autorenrechts begann die Aufteilung des Archivs des bereits aufgelösten Gosteleradio.22 Durch die rapide Entwicklung des Fernsehmarktes für Werbung (s. Tab. 18 Vgl. Ʉɪɵɥɨɜ, 1996: 33. 19 Zu Kommerzialisierungsprozessen im staatlichen Fernsehen s. II.3.2.2. 20 Vgl. Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2001: 79. Allerdings beherrschten sie noch keine Verkaufsstrategien für Werbezeit. So entstanden die Vermittlerorganisationen, die sich auf An- und Verkauf von Fernsehwerbezeit spezialisierten. 21 Vgl. ebd.: 80. 22 Es entbrannten mehrere Konflikte, denn es gab viele rechtliche Probleme, die nach dem Zerfall von Gosteleradio die Zuordnung der alten Fernsehsendungen und Filme zu den Eigentümern betrafen. Es war unklar: Sind die Redaktionen, die den Auftrag in der sowjetischen Zeit erfüllt haben, die Eigentümer der Fernsehrechte, oder sind dies die Nachfolger von Gosteleradio? Wie sollten Regelungen getroffen werden, wenn manche dieser Organisationen gar nicht mehr existierten? Erst 1993 war die erste gesetzliche Regelung über das Autorenrecht formuliert. Dieses Dokument beinhaltete viele widersprüchliche Regelungen (z.B. hatte sowohl der Produzent als auch der Auftraggeber der Sendung die Autorenrechte). Es hatte eine große Anzahl an Rechtsstreit zur Folge, die teils bis jetzt noch nicht geklärt wurden. Schließlich wurde im Juni 1993 ein „Gesetz über Autorenrecht und Nebenrechte“ erlassen, das die persönlichen Rechte von den Eigentumsrechten des Autors trennte (vgl. ebd.: 80-81).

207

PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

13) verfügten die Fernsehsender plötzlich über Geldeinnahmen. Gleichzeitig begannen die staatlichen Fernsehsender Werbeeinnahmen in die Produktion eigener Fernsehsendungen zu investieren. Von diesem Zeitpunkt an entwickelte sich der Markt für Fernsehprogramme, genau wie der Markt für Fernsehwerbung, mit rasanter Geschwindigkeit.23 Tabelle 13: Volumen des Marktes für Fernsehwerbung in Russland 1994-1999 Jahr

Anzahl der ausgestrahlten Werbespots

Werbezeit (Stunden)

Durchschnittszahl Durchschnittsdauer der Werbespots der Werbezeit im pro Tag Fernsehen am Tag (Stunden)

1994

242618

1707

665

4,7

1995

193436

1527

530

4,2

1996

262196

2120

718

5,8

1997

358282

2601

982

7,1

1998

530837

3539

1454

9,7

1999

703429

3818

1927

Quelle: Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2001: Ɍɟɥɟɪɟɤɥɚɦɧɵɣ ɛɢɡɧɟɫ: 179.

10,5 24

Folglich vollzieht sich eine Differenzierung in Medienorganisationen, die die Fernsehprogramme produzieren (= Unterhaltungsproduzenten), und diejenigen, die diese Produkte übertragen (= Fernsehsender). Die Fernsehsendungen (insbesondere Serien) konnten von den Sendern bei Unterhaltungsproduzenten in Auftrag gegeben werden. Die Fernsehsender bekamen die Wahl zwischen heimischen und ausländischen Fernsehprodukten. Die Entwicklung des Marktes für Fernsehprogramme bedingte die Entstehung des Marktes der Zuschauerinteressen, die wiederum zur Differenzierung des Publikums in Spezialpublika führte.

23 Vgl. ebd. Nicht so schnell entwickelte sich der Markt des Fernsehsignals. Die Verbreitung des Fernsehsignals wurde größtenteils durch das Staatsbudget finanziert. Der Werbemarkt war an diesen Bereich nicht gekoppelt. 24 In dieser Tabelle werden auch Daten präsentiert, die über den hier analysierten Zeitraum hinausgehen. Sie sollen die Weiterentwicklung des Werbemarktes veranschaulichen.

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PHASE ZWEI: ENDE 1991 BIS ENDE 1995

3.1.2.2 Zweite Phase (ab 1995): globale Diffusionsprozesse im Werbebereich Als 1995 die Privatisierung abgeschlossen wurde und die Finanzpyramiden zusammenbrachen, wurden die transnationalen Konzerne zu den dominierenden Werbeauftraggebern auf dem russischen Fernsehwerbungsmarkt. So sind auf dem russischen Fernsehmarkt viele der weltweit führenden Werbeauftraggeber vertreten: Procter & Gamble, Mars, Unilever, Wrigley, Stimorol, Nestlé, Cadbury.25 Einige von ihnen, wie z.B. Nestlé, gründeten in Russland zudem eigene Niederlassungen. Ab diesem Zeitpunkt besaß die russische Fernsehwerbung auf Fernsehkanälen mit landesweiter Reichweite Darstellungsmerkmale, die analog zur westlichen Fernsehwerbung waren.26 Denn nach dem Erscheinen der transnationalen Werbeauftraggeber folgten auch die transnationalen Werbeagenturen auf den russischen Markt. Erwähnenswert ist, dass im Bereich der internationalen Werbung zwei Strategien transnationaler Werbeauftraggeber unterscheiden werden27: • Sie können sich durch ihre „primäre“ Werbeagentur weltweit begleiten lassen. Denn normalerweise besitzt jede große internationale Werbeagentur mehrere Niederlassungen und ist somit ein Organisationsnetzwerk. • Sie suchen auf jedem nationalen Markt eine neue Werbeagentur. Diese Werbeagentur kann sowohl ein Teil eines internationalen Werbe-Organisationennetzwerkes oder eine nationale (hier: russische) Werbeagentur sein. Bei der Werbeproduktion für russische Märkte können diese Konzerne zwischen folgenden Möglichkeiten auswählen: 1. Der Werbespot, der bereits von der „primären“ Werbeagentur für andere nationale Zielpublika entwickelt wurde, wird in Russland ohne bnderungen ausgestrahlt (= totale Standardisierung28). 2. Ein solcher Werbespot wird durch eine russische Werbeagentur oder durch die Niederlassung einer transnationalen Werbeagentur an die kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen Russlands angepasst, wobei die Kernbotschaft der Werbung erhalten bleibt (= Teilstandardisierung). 25 Vgl. ebd.: 181. Nur die großen Autohersteller hatten kein hohes Interesse am russischen Markt. 26 Auf regionalen Fernsehsendern blieben die russischen Werbeauftraggeber mit 90 Prozent dominierend (vgl. ebd.: 196). 27 Vgl. Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2001: 205. 28 In der Fachliteratur wird zwischen Standardisierung der Werbebotschaft und der Standardisierung des Werbemanagements unterschieden. Die internationale Standardisierung der Werbebotschaft wird dabei in zwei Schritte aufgeteilt: Standardisierung der Kernbotschaft (inhaltliche Komponente der Werbung) sowie Vereinheitlichung der bildlichen und sprachlichen Gestaltung. Stimmt die Kernbotschaft in allen Zielländern überein, liegt die Teilstandardisierung der Werbung vor. Sind auch die bildliche und sprachliche Umsetzung der Werbebotschaft identisch, wird von totaler Standardisierung gesprochen, vgl. Dmoch, 1996: Internationale Werbung. Standardisierung in Grenzen: 179-199.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

3. Eine neue Werbebotschaft wird speziell für russisches Zielpublikum von einer russischen Werbeagentur oder von der Niederlassung einer transnationalen Werbeagentur entwickelt. Da die russischen Werbeagenturen in dieser Phase noch sehr jung waren und meist keine Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit transnationalen Werbeauftraggebern gesammelt hatten, beschränkte sich die Zusammenarbeit der transnationalen Konzerne auf die Niederlassungen der internationalen Werbeagenturen in Russland. Auf dem russischen Werbemarkt waren z.B. internationale Werbeagenturen wie DMB & B, BBDO, Ogilvy & Mather (später Bestandteil von WPP), Young & Rubicam, Adventa (Amirati Puris Lintas) und McCann-Ericsson/Moskau (McCann-Ericsson Worldwide) vertreten.29 Deshalb wurden die totale Standardisierung oder Teilstandardisierung der Werbebotschaft zu den gängigsten Strategien der Produktion von Fernsehwerbung in Russland. Folglich kam es zur Angleichung der Werbeinhalte des russischen Fernsehens mit Inhalten der Fernsehwerbung westlicher Länder. Die globalen Homogenisierungsprozesse betrafen also sowohl die Werbeproduktion als auch die Werbeinhalte.30 Die Werbung leitete die Kommerzialisierungsprozesse im russischen Fernsehen ein und begünstigte die Entstehung der massenmedialen Autopoiesis. Die Autonomie der kommerziellen Fernsehsender auf Organisationsebene wurde durch kommerzielle Werbung überhaupt erst möglich (s. II.3.2). Werbung bedingte zudem die Konstitution der Entscheidungskriterien, die massenmediale Inhalte als werbefreundliches Umfeld definierten. Wie die Einführung der Werbeinhalte die Selektion der Unterhaltungsinhalte im neuen russischen Fernsehen bedingte, wird im nächsten Abschnitt am Beispiel der Fernsehfilme gezeigt.

3.1.3 Unterhaltung als Mechanismus zur Sicherung der Zuschauerquoten Mit der Konstituierung der Fernsehmärkte nahm der Anteil der Kinofilme im russischen Fernsehen zu. Der Zeitraum von 1991 bis 1998 wird deshalb als „das goldene Zeitalter“ des Kinos im russischen Fernsehen bezeichnet.31 Die Fernseh- und Kinofilme, die die Weltindustrie des Kinos und des Fernsehens 29 Vgl. Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2001: 205 ff. 30 Einige Jahre später gingen viele russische Werbeagenturen Kooperationen mit den Niederlassungen transnationaler Werbeagenturen ein, um sich Zugang zu den transnationalen Werbeauftraggebern zu verschaffen. Viele russische Werbeagenturen wurden dann zu Bestandteilen der internationalen Werbe-Organisationsnetzwerke (vgl. ebd.: 217-218). Zur Differenzierung der russischen Werbeorganisationen vgl. ebd.: 189-193. 31 Vgl. ebd.: 143. Die Währungskrise 1998 bedingte auch die Finanzkrise des Fernsehens. Ab dann wurden im Unterhaltungssegment zunehmend mehr russische Fernsehserien ausgestrahlt, die günstiger in Produktion und im Einkauf waren.

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im Laufe ihrer Existenz produziert hatte, lernte der russische Zuschauer im Laufe einiger Jahre kennen. Da der Übergang der Kinoproduktion von staatlich gesteuerter zu kommerzieller Organisation die lang andauernde Krise des Kinos bedingte, konnte die Kinowirtschaft nicht in Konkurrenz mit dem Fernsehen treten. Die Konkurrenz zwischen den neuen kommerziellen Fernsehsendern um die Zuschauerquoten beförderte das Fernsehen zum Hauptverbreitungsmedium für Kinofilme. Die Zerstörung des staatlichen Monopols auf Kinoproduktion, die Ermöglichung des Zugangs zu ausländischen Kino- und Filmressourcen sowie die Entstehung der Märkte für Fernsehwerbung und Fernsehprodukte bedingten den Wandel der Filmstruktur des Fernsehens. Da die Haupteinnahmen sowohl der kommerziellen als auch der staatlichen Fernsehsender durch Werbung erbracht wurden, strebten alle Fernsehender nach einer Erhöhung der Zuschauerquoten: Je höher die Zuschauerquoten sind, desto höher sind die Werbeeinnahmen des Senders. Zu Beginn dieser Entwicklung war der Markt für Fernsehsendungen noch in der Konstituierungsphase (1991-1993). Die Eigenproduktion von Fernsehfilmen war für neu entstandene Sender zu kostspielig. Aufgrund des Mangels an Fernsehformaten mit potentiell hohen Zuschauerquoten wurden Kinofilme zum Instrument der Erhöhung dieser Quoten. Vor allem die neu gegründeten kommerziellen Sender (Telekanal 2x2, NTV, TV-6) erhielten den Zugang zu den Videoarchiven der großen ausländischen oder internationalen Medienunternehmen. Die Ausstrahlung ausländischer Filme und Serien war somit die Strategie der Zuschauerbindung und der Sicherung der Finanzierung durch Werbeeinnahmen. So betrug der Umfang an Fernseh- und Kinofilmen auf den zentralen Fernsehsendern mit landesweiter Reichweite (ORT, RTR und NTV) etwa 30 Prozent der Sendezeit.32 Mit der Entwicklung des Werbemarktes und zunehmenden Gewinnen konnten sich die neu gegründeten kommerziellen Sender Lizenzverträge mit führenden ausländischen Filmproduzenten und Kinoverleihen leisten und Kino- sowie Fernsehfilme in großen „Paketen“ erwerben. Zeitgleich mit dem Publikum der westeuropäischen Länder konnten russische Zuschauer die Neuerscheinungen ausländischer Filme sehen. Aber nicht nur der Umfang der Sendezeit der Filme sondern auch die Filmstruktur und Filminhalte haben sich im russischen Fernsehen verändert.33

Zwischenfazit Die Innendifferenzierung der Medienproduktion in Nachrichten/Berichte, Werbung und Unterhaltung kommt zustande, weil es zwischen neu entstehenden kommerziellen Fernsehsendern und internationalen Medienproduzenten zu gegenseitigen Beobachtungsprozessen kommt. Neues russisches Fernsehen 32 Vgl. Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2001: 147. 33 Vgl. ebd.: 144-147.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

sucht nach neuen Formen der Produktion von Information und von Unterhaltung und findet diese Formen im Ausland. Die Zusammenarbeit mit westlichen Medienproduzenten ermöglicht die Übernahme und Anpassung der internationalen Methoden der Medienproduktion, was den Schluss auf Ingangsetzung der Prozesse globaler Diffusion im russischen Fernsehen erlaubt.34 Die Ausdifferenzierung von Nachrichten war nicht zuletzt durch diesen Prozess begünstigt. So wurden die Nachrichten im ersten kommerziellen Sender Russlands Telekanal 2x2 unmittelbar vom englischen Partnersender übernommen und übersetzt übertragen.35 Zwar erreichte dieser Sender nur einen vergleichsweise kleinen Zuschauerkreis (die Zuschauer von Moskau und Umgebung), aber ihre Übertragung hat die Standards der ausländischen Nachrichten im russischen Fernsehen vorgeführt. Die Beobachtung dieser Standards durch das Publikum ist dadurch ermöglicht worden. Später bekamen die neuen kommerziellen und die umstrukturierten staatlichen Sender Zugang zu internationalen Nachrichten. Vor allem durch den Zugang der Weltagenturen zum russischen Nachrichtenmarkt konnte die Übernahme eines Teils der Weltnachrichten im russischen Fernsehen zustande kommen. Deshalb können wir hier von globaler Diffusion der Weltnachrichten sprechen.36 Mit dem Erscheinen der transnationalen Werbeauftraggeber auf den russischen Werbemarkt kam es zur Übernahme westlicher Werbung im russischen Fernsehen.37 Standardisierungsvorgänge machten die Übertragung der Standards internationaler Werbeproduktion in Russland möglich. Auch führten sie zu internationalen Homogenisierungsprozessen der Werbeinhalte. Aber es fand auch eine Anpassung der internationalen Werbung an die kulturelle Symbolik Russlands statt. Zum Beispiel wurde Mitte der 90er Jahre eine Zeitlang ein Fernsehwerbespot mit einem Holzfäller ausgestrahlt, der seinen Hunger inmitten eines kalten sibirischen Waldes mit dem Schokoriegel Snickers stillte. Auch der Unterhaltungsbereich ist durch internationale Diffusionsprozesse gekennzeichnet. Die Übernahme von Unterhaltungsformaten und TalkShows, Quiz-Shows u.a. fand durch unmittelbare Kopie oder durch den Kauf der Sendelizenzen statt. Durch den Zugang zu ausländischen Filmressourcen (1991-1993) sowie durch den Kauf von Lizenzen (1994-1995) für ausländische Filme und Serien war die Übernahme, also die Diffusion der Unterhaltungsinhalte, gesichert. Vor allem die Konkurrenz zwischen den Sendern, also die Kommerzialisierung des Fernsehens, bedingte die Zunahme von Unterhal34 Zu Prozessen globaler Diffusion als Bedingung massenmedialer Ausdifferenzierung vgl. I.4.3.2. 35 Siehe unten II.3.2.1. 36 Angemerkt sei, dass nicht behauptet wird, dass die führenden russischen Sender alle Fernsehnachrichten der Weltagenturen übernahmen. Es handelte (und handelt) sich vor allem um die Übernahme der so genannten Schlüsselnachrichten des Tages. 37 1999 betrug der Anteil an Fernsehwerbung etwa 12 Prozent der Sendezeit auf dem jeweiligen zentralen Sender, vgl. Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2001: 180.

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tungsinhalten. Während bis Ende der 80er Jahre fast ausschließlich sowjetische Fernsehfilme für Unterhaltung im Fernsehen sorgten, so schrumpfte deren Anteil in der Periode von 1991 bis 1995 auf ein Drittel des gesamten Filmvolumens (36 Prozent) auf den führenden Fernsehsendern (Ostankino, RTR, NTV, TV-6). Amerikanische Fernsehfilme machten 32 Prozent des Filmumfangs aus und westeuropäische Filme 15 Prozent. Der Gesamtumfang der Fernsehfilme betrug ca. 30 Prozent der Sendezeit.38

3.2

Kommerzialisierung des russischen Fernsehens: Aufhebung der hierarchischen Unterordnung unter den Staat auf Organisationsebene

Die Kommerzialisierung der russischen Massenmedien ist der Ausdruck der Dezentralisierungsprozesse, die den postsowjetischen Gesellschaftswandel kennzeichnen. Denn Kommerzialisierung bedingt die Trennung des Fernsehens vom Staat auf der Organisationsebene. Folglich können sich nun genuin massenmediale Organisationen herausbilden. Neben dem staatlichen Fernsehen entsteht ein neuer Typ der Fernsehorganisation: das kommerzielle Fernsehen. Aber auch das staatliche Fernsehen wird durch die Kommerzialisierung eigenständiger: Obwohl es in diesem Zeitraum immer noch dem Präsidenten unterstellt ist, findet fortschreitend eine Erosion der zentralisierten Fernsehstruktur sowie der staatlichen Kontrollmechanismen des Fernsehens statt (s. II.3.3). Denn die zunehmende Kommerzialisierung begünstigt die Ablösung der Medien von der staatlichen Lenkung. Die Berichterstattung über den ersten Tschetschenienkrieg (1994-1995) dient uns als Indikator dieser Entwicklung. Auf eine Dezentralisierung der massenmedialen Kommunikation deutet die Entstehung einer großen Zahl regionaler kommerzieller Fernsehsendern ab 1991 hin. 1991 findet die Gründung des ersten Pay-TV-Senders statt. Bereits 1991 entsteht in Russland die erste „Internationale Assoziation des Radios und Fernsehens“ (MART), zu deren Mitgliedern 70 regionale Fernsehsender zählen. 1995 wird ein anderer nicht-kommerzieller Fernsehverein, die „Nationale Assoziation der Fernsehsender“ (NAT), gegründet.39 In diesem Abschnitt sollen die Kommerzialisierungsprozesse im russischen Fernsehen am Beispiel der Entstehung von drei kommerziellen Fernsehsendern (Telekanal 2x2, NTV und TV-6) sowie am Beispiel der Umstrukturierung der staatlichen Fernsehsender (ORT und RTR) vorgestellt werden. Mit Ausnahme des Fernsehsenders Telekanal 2x2 handelt es sich bei diesen Sendern um so genannte führende zentrale Fernsehsender mit landesweiter bzw. überregionaler Reichweite. Da der Telekanal 2x2 der erste kommerzielle 38 Vgl. Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2001: 146-147. 39 Vgl. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ə., 2001: 180-190.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

Fernsehsender Russlands war, ist die Analyse seiner Entstehung für unsere Untersuchung unabdingbar.

3.2.1 Entstehung kommerzieller Fernsehsender Telekanal 2X2 1990 wurde der erste russische Fernsehsender gegründet, der seine Finanzierung ausschließlich durch Werbung sicherte. Der Telekanal 2X2 wurde auf Weisung des Vorsitzenden von Gosteleradio als kommerzielles Unternehmen gegründet. Dies war das erste Mal in der Geschichte von Gosteleradio, dass die Behörde ein kommerzielles Tochterunternehmen mit den Rechten einer juristischen Person gründete. Juristisch war der Sender zunächst eine staatliche Abteilung des Staatskomitees, die jedoch ausschließlich durch Werbeeinnahmen finanziert wurde. Im August 1991 wurde der Sender in eine GmbH umgewandelt. Im Jahre 1990 hatte das (noch) sowjetische Fernsehen folgende Sendestruktur: Es existierten zwei allunionumfassende Sendebetriebe (die Programme I und II des Zentralfernsehens), die ganztägig sendeten. In Moskau wurde das III. Programm von 18 bis 23 Uhr ausgestrahlt. Außerdem sendete ein Bildungsprogramm auf dem IV. Kanal auf den europäischen Teil der Sowjetunion. Das Leningradsche Fernsehen nutzte den V. Sendekanal und wurde nicht im ganzen Land, sondern in etwa 20-30 Großstädten verbreitet. Alle diese Sendeeinheiten waren im Eigentum von Gosteleradio. Dem neu gegründeten Telekanal 2x2 wurde die Sendezeit von 8 bis 18 Uhr auf dem III. Programm zugeteilt. Der Telekanal 2x2 wurde ohne Programmkonzept und ohne inhaltliche oder ideologische Schwerpunkte gegründet. Die redaktionelle Linie des Senders wurde deshalb durch aktuell verfügbare Möglichkeiten der Programmgestaltung bestimmt. Zudem besaß der Sender zur Gründungszeit kein Kapital für den Einkauf von Fernsehprodukten, deshalb wurde das Programm aus den zufälligen Filmmaterialien zusammengestellt. Aufgrund der Besonderheiten des Vertrags zwischen dem Sender und dem technischen Verbreiter des Signals wurde der eineinhalbstündige Programmblock des Senders sechs Mal am Tag zusammen mit der ganzen Werbung wiederholt. Schon in der ersten Existenzwoche gewann der Telekanal 2x2 große Popularität in Moskau und Umgebung. Vor dem Hintergrund des sowjetischen Fernsehens der 80er Jahre, im dem ideologische, politische und belehrende Themen dominierten, erschien reines Unterhaltungsfernsehen als eine Innovation. Während die anderen Fernsehsender ganztags die Diskussionen des Kongresses der Volksdeputierten übertrugen, konnte man auf dem Telekanal 40 Bald gab der Sender die sechsmalige Wiederholung der Fernsehblöcke auf und stellte die Programmgestaltung auf das übliche Tagesformat um.

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2x2 Fernseh-, Zeichentrickfilme und Musikvideos sehen – die Inhalte, die für kommerzielles Fernsehen weltweit charakteristisch sind. Bald gab der Sender die sechsmalige Wiederholung der Fernsehblöcke auf und stellte die Programmgestaltung auf das übliche Tagesformat um. Zu diesem Zeitpunkt schloss er einen Vertrag mit dem Sender Super Channel. Der englische Fernsehsender betrachtete die Zusammenarbeit mit dem Telekanal 2x2 als Möglichkeit der Markteroberung in Russland. Zwischen beiden Sendern wurde ein Vertrag über die Übertragung von Sendungen geschlossen. Auf diese Weise bekam der russische Sender kostenlosen Zugang zu den lizenzierten Programmressourcen des englischen Senders.41 Die Kooperation des Telekanal 2x2 mit Super Channel markierte für das ganze sowjetische (und später russische) Fernsehen ein neues Zeitalter. Es fanden erste Erfahrungen mit der Übertragung fremder Fernsehkonzepte und Fernsehformate auf das russische Fernsehen statt. Die Vernetzung zwischen den Fernsehorganisationen bedingte in diesem Fall die internationale Diffusion der massenmedialen Inhalte. So war das Programm des Telekanal 2x2 eindeutig von ausländischen Fernsehsendungen dominiert. Es setzte sich dabei aus drei SendungsTypen zusammen: Zeichentrickfilme, Spielfilme und ausländische Nachrichten.42 In der damaligen Situation, als russische Nachrichten teils noch nach sowjetischen Kriterien produziert wurden, gewann die Übertragung ausländischer Nachrichten große Attraktivität für russische Zuschauer. Denn für ihn stellten sie eine der ersten Möglichkeiten dar, einen anderen Zugang zur Information und ein neues Niveau der Berichterstattung kennen zu lernen. Die Entstehung des Telekanal 2x2 fand in einer Phase statt, als die Politik der Glasnost und die informationelle Öffnung in vollem Gange war. Sie ist als Ergebnis der Dezentralisierung der politischen und ideologischen Muster sowie der Entwicklung der Fernsehmärkte zu begreifen. Obwohl der Sender einen vergleichbar kleinen Zuschauerkreis hatte (Bewohner von Moskau und der Moskauer Region), stellte die Entstehung von Telekanal 2x2 und insbesondere seine Zusammenarbeit mit Super Channel einen der wichtigsten Schritte für den Wandel des sowjetischen (und später russischen) Fernsehens dar: Der Sender verschaffte dem russischen Zuschauer erstmalig den Zugang zu Inhalten, die im Ausland produziert wurden.

TV-6 Moskva Der Fernsehsender TV-6 Moskva erhielt 1993 eine Sendelizenz mit Senderecht auf dem VI. Kanal in Moskau. Die Gründungsorganisation von TV-6 war die „Moskauer unabhängige Sende-Körperschaft“ (MNVK), die aus privaten Per-

41 Die Zusammenarbeit mit Super Channel zerfiel im Jahre 1992 (vgl. ebd: 59). 42 Zunächst waren das die Nachrichten von BBC und ITN, später nur ITNNachrichten.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

sonen, kommerziellen Unternehmen und der Moskauer Stadt-Regierung bestand. Die Gründung von TV-6 geschah auf der Grundlage eines vorbereiteten Programmkonzepts: Er sollte sich als „Familiensender“ im russischen Fernsehen etablieren. Diese Strategie wurde mit Hilfe der ausländischen Sendeinhalte umgesetzt. Weil TV-6 keine finanziellen Ressourcen für den Kauf oder für die Produktion eigener Fernsehsendungen hatte, stützte er sich auf ausländische Quellen. Die elektronische Bibliothek Ted Turners, zu der er Zugang gewann, stellte die Grundlage für die Programmzusammensetzung dieses russischen Senders dar. So dominierten die Nachrichten von CNN International und die Spielfilme des Senders TNT im Programm. So begünstigte auch in diesem Fall die internationale Vernetzung zwischen Fernsehorganisationen die internationale Diffusion der Fernsehinhalte. Während der Gründungsphase betrug die Reichweite des Senders 20-25 Prozent der Bevölkerung Moskaus. Die Attraktivität des Senders für die Werbeauftraggeber und somit seine Konkurrenzfähigkeit hingen unmittelbar von seiner Reichweite ab. Aus diesem Grunde wurden im Laufe von drei Jahren sehr umfangreiche Arbeiten zur Verbesserung der technischen Erreichbarkeit der Bevölkerung durchgeführt. Gelöst wurde dieses Problem durch die Bildung eines Netzwerks.43 Während der Sender zu seiner Gründung 500.000 Zuschauer erreichen konnte, waren es Mitte 1996 schon 67,7 Millionen Zuschauer in ganz Russland.44 Die Verbesserung der technischen Erreichbarkeit machte TV-6 folglich zu einem beliebten Werbeträger.45

NTV Im Oktober 1993 entstand noch ein kommerzieller russischer Sender: NTV. Der Präsidentenerlass teilte der Aktiengesellschaft die Sendezulassung auf der IV. Frequenz ab 18 Uhr zu.46 Die Gründung des NTV fand ohne staatliche Be-

43 Das Netzwerk ist eine der Organisationsformen kommerziellen Fernsehens. Zunächst entstanden Fernsehnetze in den USA, später in Italien und in einer Reihe anderer Länder. Der Netzwerk bildet sich um eine Hauptstation und verkauft oder gibt seine Produktion an weitere Fernsehstationen weiter. Diese besitzen Lizenzen über die Verbreitung des Signals auf einem bestimmten Territorium. Auf der Grundlage ihrer Lizenzen senden sie die Produktionen des Hauptsenders auf ihrem Territorium. Insbesondere zwischen 1996 und 1997 kam die Entwicklung der Fernsehsender auf Grundlage des Netzmodells in Gang. So wurde 1996 der Netzwerksender STS und 1997 der Netzwerksender TNT gegründet (Vgl. Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2001: 70-71). 44 1996 erreichte TV-6 85 Prozent der Bevölkerung Moskaus. Es hat 200 Partner oder Tochterunternehmen auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion. 45 Vgl. Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2001: 61-64. 46 NTV begann seine Arbeit aufgrund eines Erlasses des Präsidenten, da zu dem Zeitpunkt die Lizenzkommission (1991–1993) aufgelöst wurde und es noch kei-

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teiligung statt. Die finanzielle Grundlage des Senders bildete privates Kapital.47 Der Sender NTV wurde als kommerzielles Medienunternehmen gegründet, das sich durch eine durchdachte Marketingstrategie, Programmkonzepte und einen Geschäftsplan auszeichnete. Er sollte sich an die gut verdienende Mittelschicht richten. Als Programmschwerpunkte sollte die Produktion eigener Nachrichtensendungen sowie der Einkauf hochwertiger Spielfilme werden. Nach Expertenschätzungen wurden bis zu 30 Millionen Dollar in den Aufbau des hauseigenen Nachrichtendienstes investiert. Journalisten wurden angeworben, ein Korrespondentennetz wurde geschaffen. Mehrere Gründe machten den Sender attraktiv für Werbeauftraggeber. Die Reichweite in Moskau betrug 100 Prozent. Zudem war NTV kein Moskauer Lokalsender, sondern erreichte den ganzen europäischen Teil Russlands. Zwar konnte er aus technischen Gründen nur in Städten empfangen werden, trotzdem konnten er zu Sendebeginn 30 Millionen Zuschauer erreichen. Außerdem diente die Programmzusammensetzung des Senders als perfekte Werbeumgebung: qualitativ hochwertige ausländische Spielfilme und Nachrichtenprogramme nach westlichem Vorbild. Da die staatlichen Fernsehsender Ostankino und RTR beim Publikum unbeliebt waren und andere kommerzielle Sender zu diesem Zeitpunkt nur in Moskau und der Moskauer Region übertragen werden konnten, war der Gründungszeitpunkt für NTV besonders günstig. NTV wurde aufgrund seiner Reichweite und Programmkonstellation besonders beliebt bei den Werbeauftraggebern. Für die Entwicklung des Senders war begünstigend, dass sich die Zeit von 1992 bis 1994 durch ein rapides Wachstum der (Fernseh-)Werbebranche auszeichnete.48

Zwischenfazit Im Unterschied zur Kommerzialisierung des westeuropäischen Fernsehens verlief die Kommerzialisierung des russischen Fernsehens zeitgleich zur Konstituierung der Fernsehmärkte. Die internationale Diffusions- und Vernetzungsprozesse, die die Fernsehkommerzialisierung begleiteten, führten sowohl in Europa als auch in Russland zur Vergrößerung des Anteils der Werbeinhalte sowie zur Erhöhung der Anzahl ausländischer (vor allem amerikanischer) Fernsehfilme. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass bei der Gründung der zwei oben dargestellten Sender (Telekanal 2x2 und TV-6) die Kooperation mit ausne für die Lizenzvergabe zuständige Organisation gab. Die Gesetzgebung über Lizenzvergabe war zudem nicht funktionsfähig (vgl. Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2001: 654). 47 Vgl. ebd.: 64. 48 Die Preise für die Werbezeiten stiegen stetig an. Der Preisindex änderte sich im Laufe dieser Jahre 5-6 Mal. Und die Preisabstände haben sich im Laufe eines Jahres verdreifacht (vgl. ebd.: 64-67).

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

ländischen Medienunternehmen beobachtbar war. Im Falle des Senders NTV konnte zwar keine solche Zusammenarbeit, aber die Orientierung an Kriterien der westlichen Fernsehproduktion beobachtet werden. Die Prozesse internationaler Diffusion und Vernetzung spielten also eine unmittelbare Rolle bei der Gründung der kommerziellen Fernsehsender.49

3.2.2 Kommerzialisierung des staatlichen Fernsehens als Legalisierung der Schattenwirtschaft Ende 1991 existierten in Russland zwei staatliche Fernsehsender: Ostankino (bisher I. Programm) und RTR (bisher Vtoroj Kanal).50 Die Kommerzialisierung des staatlichen Fernsehens begann zu dem Zeitpunkt, als die Berücksichtigung der neuen Marktbedingungen unvermeidlich wurde. Denn seine Existenz hing bislang von dem Können der Leitung ab, sich an den Entscheidungsstrukturen der politischen bmter zu orientieren. Die Veränderungen im ökonomischen Bereich wurden weder von der Leitung noch vom Personal dieser Kanäle wahrgenommen, da gegen 1991/1992 die staatlichen Fernsehetats noch stabil waren. Das Personal war mit der gegebenen Situation zufrieden, weil ihm illegale „schwarze“ Geschäfte eine Aufbesserung des Einkommens erlaubten.51 Die Krise des staatlichen Fernsehetats beschleunigte die Kommerzialisierung der staatlichen Fernsehsender. Mit jedem Vierteljahr wurden die Mittel knapper: Der Staat konnte etwa ein Fünftel bis ein Viertel der Fernsehproduktion finanzieren. Mit der Herausbildung der Fernsehmärkte und der Gründung der kommerziellen Sender, aber vor allem mit der rapiden Verkleinerung des staatlichen Fernsehetats, wurde auch für die staatlichen Sender die Übernahme von marktüblichen kommerziellen Strategien unvermeidlich. Dieser Kommerzialisierungsprozess ging mit der Legalisierung der Schattenwirtschaft im staatlichen Fernsehen einher. Angestoßen war die Bildung zweier abgeteilter staatlicher Fernsehanstalten auf der Grundlage dieser zwei Kanäle in erster Linie durch den politischen Konflikt zwischen der sowjetischen Regierung und der Russischen Föderation – bis Dezember 1991 eine Teilrepublik der Sowjetunion. Im Unterschied zu anderen Teilrepubliken besaß die Russische Föderation keine Staatlichkeitsattribute wie eine Wissenschaftsakademie oder republikanisches Fernsehen. Bekanntermaßen wuchs seit Beginn der Perestroika die nationale Selbstidentifizierung der in der Sowjetunion lebenden Völker. Der Zerfall des sowjetischen Staatsgebildes war unmittelbar durch eine solche „Souveränitätsparade“ ausgelöst worden. Vor allem die politische Elite Russlands war an der Grün49 Zu den Begriffen globale Diffusion und globale Vernetzung vgl. I.4.3.2. 50 In der Sowjetunion besaßen das erste und das zweite Programm das umfangreichste Übertragungsnetz und galten als „unionsweite“ Kanäle, weil sie zwischen 95 und 98 Prozent der Bevölkerung der Sowjetunion erreichten. 51 Vgl. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, 2001: 211 ff.

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dung des neuen russischen Staates auf dem Territorium der Russischen Föderation interessiert. Dieser Entstehungsprozess eines neuen Staates sollte nach Ansicht der politischen Führung der Russischen Föderation (vor allem des Vorsitzenden des Kongresses der Volksdeputierten der Russischen Föderation Boris Jelzin) durch alle Machtinstrumente unterstützt werden: Fernsehen als Medium von Regierungsmitteilungen gehörte danach zu einem entscheidenden Lenkungsmechanismus im politischen Prozess. Schließlich wurde auf Basis des Vtoroj Kanal52 des Zentralfernsehens der staatliche Fernsehsender der Russischen Föderation RTR gegründet (vgl. Tab. 12). Das vom Zentralfernsehen übrig gebliebene erste Programm wurde nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Konstituierung der russischen Föderation als eigenständiger Staat in die Fernsehstation Ostankino umgewandelt. Beide Fernsehanstalten wurden zunächst unmittelbar dem Präsidenten der Russischen Föderation unterstellt.53 In der sozialistischen Planwirtschaft bekam Gosteleradio, die das Zentralfernsehen, die republikanischen und örtlichen Fernsehanstalten leitete, Spielund Dokumentarfilme von Goskino (= staatliches Kino) kostenlos. Ab 1991 mussten alle Film- und Fernsehproduktionen bezahlt werden. Gleichzeitig wurden die Fernsehetats verkleinert. Die Einführung von Fernsehwerbung war unter diesen Umständen für das staatliche Fernsehen die einzige Möglichkeit, ihre finanziellen Einnahmen zu sichern. Da weder rechtliche noch institutionelle Regeln für Werbung existierten, entstanden beim Fernsehen Schatteninstrumente der Profitmaximierung. Die Leitung der staatlichen Fernsehsender war nicht in der Lage, die Finanzierung durch Werbung formell zu regeln. Deshalb wurden alle Fernsehredaktionen der staatlichen Sender in juristische Personen umgewandelt. Jede Redaktion erhielt das Recht, in ihren Sendungen Werbung zu verbreiten und den Werbegewinn für sich zu behalten.54 Fernsehredaktionen erzielten durch die Ausstrahlung von Werbung in ihren Programmen hohe Gewinne. Einige Redaktionen gründeten so genannte „Unabhängige Studios“. Das Personal dieser Studios war identisch mit dem Personal der jeweiligen Fernsehredaktion. Zudem nutzten die Studios die technischen Ressourcen des staatlichen Fernsehens. Sie produzierten Fernsehprogramme und tauschten sie gegen Werbezeit ein. Die Programme wurden in der Sendezeit der „Mutter“-Redaktion des jeweiligen Studios verbreitet. Bald waren beide staatlichen Fernsehkanäle in zahlreiche „Unabhängige Studios“ zerteilt. Auf den Frequenzen der staatlichen Sender arbeiteten sozusagen mehrere kleine Sender. Denn rechtlich und finanziell waren sie von der Leitung der staatlichen Fernsehsender unabhängig. Gleichzeitig war das Personal (vor allem die Leitung) dieser kleinen Studios identisch mit den Fernsehredaktio52 Der Vtoroj Kanal wurde im Mai 1991 auf der Grundlage des II. Programms des Zentralfernsehens gegründet, vgl. II.1.2.1. 53 Zur Entwicklung der medienpolitischen Instanzen in dieser Phase vgl. II.3.3. 54 Dieser Vorgang fand auch in Fernsehanstalten der Ukraine, Weißrussland und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken statt, vgl. Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2001: 68.

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nen des staatlichen Fernsehens. So wurde mit staatlichem Etat die Verbreitung von Fernsehprogrammen unabhängiger Produzenten finanziert, die ihre Werbeeinnahmen vollständig für sich behielten. Die hohen Einnahmen des Fernsehpersonals führten dazu, dass für alle Arten von Tätigkeiten neben dem offiziellen Preis ein zusätzlicher Schattenpreis existierte. Betrug der staatliche Durchschnittslohn bei Ostankino 100.000 Rubel monatlich, so lag der Schattenverdienst bei 1000 bis 2000 Dollar. Diese Summe entsprach zwei offiziellen Jahreseinkommen. Die Kommerzialisierung des staatlichen Fernsehens fand zunächst informell statt. Erst im November 1994 wurde dieser Zustand auch juristisch anerkannt. Der Präsidentenerlass wandelte die staatliche Fernsehanstalt Ostankino in die Aktiengesellschaft ORT („Öffentliches Russisches Fernsehen“) um. Der Vorsitzende des Aufsichtsrates der Aktiengesellschaft ORT wurde Präsident Boris Jelzin. 51 Prozent der Aktien blieben im Eigentum der Russischen Föderation, 49 Prozent wurden kostenlos an mehrere Finanzgruppen und Banken abgegeben55. Die Bezeichnung des neuen Senders als „Öffentliches Fernsehen“ entsprach jedoch keineswegs der Eigentumsform der umgewandelten Fernsehanstalt. Die öffentlichen Rundfunkanstalten in westlichen Ländern (z.B. die BBC in England, ARD und ZDF in Deutschland) haben freie Hand in der Auswahl der Fernsehsendungen unter der Bedingung der Erfüllung der gesetzlich vorgeschriebenen Aufgaben. Vor allem steht hier die Darstellung und Wiedergabe eines möglichst breiten Spektrums an Themen und Meinungen im Vordergrund. Theoretisch entsprach zu diesem Zeitpunkt die organisationelle Struktur des Senders ORT dem Modell des öffentlichen Rundfunks – mit einer Ausnahme. Die russische Gesetzgebung legte keine Aufgaben und Verpflichtungen für das öffentliche Fernsehen fest. Die Umwandlung dieses staatlichen Fernsehsenders in eine Aktiengesellschaft kann deshalb als kostenlose Privatisierung verstanden werden. Aus diesen Gründen werde ich ORT im hier untersuchten Zeitraum als kommerzielles Fernsehen bezeichnen. Denn obwohl der Staat 51 Prozent der Aktien besaß, verzichtete er vollständig auf die Finanzierung des „öffentlichen“ Senders. Diese Aufgabe übernahmen die Eigentümer der 49 Prozent der Privataktien. Nur ein Sender, der landesweit empfangen werden konnte, blieb vollständig im Staatseigentum: der Sender RTR.56 Nach wie vor wurde er nur teilweise aus dem staatlichen Etat finanziert: Dem Sender wurde nur die Summe für das Gehalt des Personals zugewiesen. Die restlichen Ausgaben musste der Sender durch Werbegelder abdecken.57 Die Fernsehwerbung stellte für ihn deshalb eine unentbehrliche Finanzquelle dar. In der untersuchten Phase befand sich RTR unmittelbar unter der Kontrolle des Präsidenten. Formell war 55 Zu diesen zählten u.a. RAO Gasprom, LogoWAZ, Mikrodin, Objedinennij Bank, Bank „Stolitschnij“, Bank „Menatep“, Bank „Nationalnij Kredit“, Alfa-Bank. 56 Im Staatseigentum blieb eine Organisation, die Presseerzeugnisse, Verlage und zwei Fernsehsender (RTR und Kultura) umfasste: WGTRK. 57 Vgl. ɐɜɢɤ/ɇɚɡɚɪɨɜɚ, 2002: Ɍɟɥɟɜɢɡɢɨɧɧɵɟ ɧɨɜɨɫɬɢ Ɋɨɫɫɢɢ: 47.

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die Leitung des einzigen landesweiten staatlichen Senders der Regierung der Russischen Föderation unterstellt. Allerdings besaß die Regierung keine Instrumente zur Leitung der Sendeanstalt. Nur der Präsident konnte über die Einstellung oder Entlassung der Fernsehleitung entscheiden. Auf der anderen Seite konnte sich der Leiter der staatlichen Fernsehanstalt nicht unmittelbar an den Präsidenten wenden: Er wendete sich an die Präsidialverwaltung.58 So war faktisch der Leiter des staatlichen Fernsehens der Präsidialverwaltung unterstellt. Auch der Einstellungsmechanismus der Fernsehleitung durch die politische Führung war für diesen Sender sowie für ORT erhalten geblieben, was auf eine nicht vollständige Erosion der staatlichen Kontrollmechanismen des Fernsehens hindeutet.

Zwischenfazit Der Kommerzialisierungsprozess der staatlichen Fernsehsender veränderte sowohl die Entscheidungskriterien der massenmedialen Produktion als auch die Beziehung der staatlichen Sender zu oberen politischen bmtern (s. II.3.3). Der erste staatliche Fernsehsender Ostankino wurde aufgrund der Kommerzialisierungsprozesse zur Aktiengesellschaft ORT umstrukturiert und faktisch privatisiert. Aber auch der übrig gebliebene staatliche Sender RTR musste sich an die neuen Marktbedingungen anpassen und durch Werbung finanzieren. Die Entstehung der kommerziellen Sender und die Kommerzialisierung des staatlichen Fernsehens waren durch die Einführung werberelevanter Entscheidungskriterien in die massenmediale Produktion gekennzeichnet (s. Tab. 14).59 Die Notwendigkeit der Finanzierung über Werbeeinnahmen bedingte die Übernahme dieser Kriterien sowohl für den Bereich der Nachrichten als auch für Unterhaltungsbereich.60 Deshalb können wir die Einführung von Werbung in die massenmediale Kommunikation für den russischen Kontext als eine der wichtigsten Bedingungen für das Erreichen massenmedialer Eigenständigkeit charakterisieren.

58 Vgl. Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2001: 88. 59 Es sei angemerkt, dass dieser Ausdifferenzierungsvorgang auf eine Vergrößerung der sozialen Distanz zwischen einzelnen Typen der sozialen Systeme hindeutet. 60 Auch wenn die neuen Medienkriterien entstanden, bleibt die Frage nach dem Ausdifferenzierungsgrad dieser Kriterien offen. Zunächst scheinen diese Kriterien sowohl auf den formellen als auch auf den informellen Ebenen der Medienproduktion zu gelten. Die weitere Ausdifferenzierungsphase, die Ende 1995 beginnt, erlaubt es, eher von der formalen Übernahme massenmedialer Entscheidungskriterien in neuen russischen Medienorganisationen zu sprechen (s. II.4).

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Tabelle 14: Massenmediale Entscheidungskriterien des russischen Fernsehens im Zeitraum von 1991 bis 1995 Kriterien der Medienproduktion Ferseh- Kriterien der bereiche Informationssammlung

Kriterien der Informationsselektion

Kriterien der Informationsprüfung

Kriterien der Informationsdarstellung

Zugang zu Nachrichten/ Quellen, wie Berichte Personen, anderen Medien und Internet

Neuheit, Aktualität, Objektivität: Trennung zw. Fakt und Kommentar, Personifizierung der Nachrichten, Konflikte und Katastrophen, Sensationalismus, Negativismus61, Nähe des Themas am Zuschauer, Interessen der Zuschauer, Größe und Bedeutung des Themas, Anschluss an Weltnachrichten, Orientierung am Senderprofil

Glaubwürdigkeit der Ereignisse, Quellenangaben, Zuschauerquoten

Live-Übertragung, Berücksichtigung verschiedener Meinungen, Personalisierung der Darstellung: Autorennachrichten, „Verpackung“ der Nachrichten, lakonische Sprache, Zusammenwirken von Text und Bildern

61 In der Zeit zwischen 1991 und 1995 blieb auch die starke Orientierung der russischen Medien, und speziell des russischen Fernsehens, auf einer Selektion und Darstellung von negativen Informationen bestehen. Russische Medienwissenschaftler kritisierten die in dieser Zeitperiode beobachtbare Abwesenheit eines Gleichgewichts zwischen positiven und negativen Informationen im Fernsehen. Die fortbestehende „Explosion des Negativismus“ ist als Reaktion auf die frühe-

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PHASE ZWEI: ENDE 1991 BIS ENDE 1995 Kriterien der Medienproduktion Ferseh- Kriterien der bereiche Informationssammlung

Kriterien der Informationsselektion

Kriterien der Informationsprüfung

Kriterien der Informationsdarstellung

Werbung

Suche nach Käufergruppen mit Hilfe der Marktforschung62

zielgruppenspezifische Kriterien

Zuschauerquoten, Marktforschung, Tests

Platzierung im zielgruppenrelevanten Medienumfeld

Unterhaltung

Zugang zu Medienressourcen durch Kontakte mit internationalen Medienorganisationen

neue Themen, Orientierung am Senderprofil

Orientierung am Senderprofil

Orientierung an vermuteten Publikumspräferenzen, Orientierung an Einschaltquoten, Programmumfeld

Quelle: Eigene Ausarbeitung auf der Grundlage von ɐɜɢɤ/ɇɚɡɚɪɨɜɚ, 2002: 45-88, 123-139; Ʉɪɵɥɨɜ, 1996: 27-55; vgl. Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2001: 93-167.

3.2.3 Pluralisierung der Fernsehorganisationen Während die organisationelle Hierarchie des sowjetischen Fernsehens auf der Trennung zwischen zentralem, republikanischem und örtlichem Fernsehen beruhte, differenzierten sich im Fernsehbereich in der Periode zwischen 1991 und 1995 verschiedene Organisationstypen für den Fernsehbereich aus: 1) Übertragungsorganisationen (= Fernsehsender), 2) Produktionsorganisationen für Fernsehprogramme, 3) Werbeagenturen, 4) Vermittlerorganisationen, 5) Nachrichtenagenturen, 6) Marktforschung- und Medienforschungs- sowie Publikumsforschungsinstitute.63 Nach dem russischem Medienwissenschaftler Jasen Zasurskij64 differenzieren sich die russischen Fernsehsender in diesem Zeitraum nach folgenden Charakteristika: • nach dem Entstehungsprinzip: 1) Entstehung aus alten Strukturen, 2) neu entstandene Organisationen;

re Kritiklosigkeit des sowjetischen Fernsehens zu verstehen, vgl. Ɇɭɪɚɬɨɜ, 2001: 79-103. 62 Zu Schwierigkeiten der Entstehung von Marktforschung in Russland vgl. Ʉɪɵɥɨɜ, 1996: 45-54. 63 Zur Ausdifferenzierung der Zuschauerforschung siehe unten II.3.5. 64 Vgl. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ə., 2001: 176 ff.

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nach Erreichbarkeit: 1) gesamtnationale (föderale) Fernsehsender (ORT, RTR, NTV), 2) föderale Netzwerke (z.B. TV-6, STS65), 3) zwischenregionale Fernsehsender (z.B. Kultura), 4) regionale, 5) örtliche (örtliches und Bezirksfernsehen); • nach dem Typ der Übertragung: 1) ätherisch (alle Fernsehstationen, die die traditionelle Verbreitung des Fernsehsignals von der Übertragungsstation zum Kunden nutzen), 2) Satellitenfernsehen (z.B. Kosmos-TV), 3) Kabelfernsehen (als städtisches Fernsehen); • nach den Typen der Fernsehprogramme: 1) Vollprogramme, 2) Spartenprogramme; • nach Eigentumsformen: 1) staatliche, 2) nichtstaatliche: a) private, b) Aktiengesellschaften, c) GmbH, d) Joint-Venture-Unternehmen. Die Pluralisierung der Typen von Fernsehorganisationen ist als Resultat der Dezentralisierungsprozesse im russischen Fernsehen zu verstehen. Sie dient als Indikator für den fortschreitenden Ausdifferenzierungsprozess des Funktionssystems der Massenmedien im neuen Russland.

3.3 Medienpolitische Dezentralisierung und Erosion der Kontrollmechanismen des Fernsehens Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde die organisationelle Unterordnung des Fernsehens unter den sowjetischen Parteiapparat aufgelöst: Mit dem nachfolgenden Verbot der kommunistischen Partei war ihre Macht endgültig aufgehoben. Nichtsdestotrotz existierten die staatlichen Kontrollmechanismen des Fernsehens im neuen Russland weiter. Denn auch die neue politische Macht versuchte, die entstehenden autopoietischen Medien, einschließlich des Fernsehens, zu steuern. Die neuen Kriterien der Medienlenkung entsprachen zwar nicht mehr den sowjetischen Kriterien von „Objektivität, Volksnähe, Realismus und Kritik“. Es handelte sich auch nicht mehr um die umfassende Kontrolle aller medialen Aussagen. Aber die Idee, dass für die Machtausübung und Machtübernahme die Kontrolle und Lenkung der Massenmedien in bestimmten politischen Situationen unabdingbar ist, blieb für die Beziehung des neuen Staates mit den Massenmedien nach wie vor richtungweisend.66 Da die vollständige Überwachung der Massenmedien auf der Grundlage des Pressegesetzes von 1990 und später auf der Grundlage des Gesetzes „Über die Massenmedien“ (1991) nicht mehr möglich war, versuchten die politischen Organisationen – zunächst (bis Dezember 1991) die sowjetische Regierung und später die Regierung der Russischen Föderation – den massenmedialen Produktionsprozess wenigstens teilweise zu kontrollieren. Dies erfolgte mit Hilfe verschiedener medienpolitischer Kontrollmechanismen. Hierzu zäh65 STS wurde als Fernsehnetzwerk im Dezember 1996 gegründet. 66 Mickiewicz, 1999: 136 ff.

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len solche erprobten Lenkungsinstrumente wie die Einwirkung auf redaktionelle Linie des Senders, die durch Anweisungen vom Regierungsapparat an die Fernsehleitung stattfand und die als Teilzensur zu werten ist, und die Einstellung und der Wechsel der Fernsehleitung des staatlichen Fernsehens durch den Präsidenten der Russischen Föderation. Mit der Kommerzialisierung des Fernsehens wird Drohung des Lizenzentzugs bei den kommerziellen Sendern als Lenkungsinstrument seitens des Staates eingesetzt. Obwohl der sowjetische und später der russische Staat die Medien zu lenken versuchte, ist in der Periode von 1991 bis 1995 verstärkte Erosion der staatlichen Medienkontrolle aufgrund des Kommerzialisierungsprozesses im Fernsehen zu beobachten. Deshalb (und aufgrund der Pluralisierung der Organisationstypen des Fernsehens) können wir in diesem Zeitraum von einer fortschreitenden Aufhebung der hierarchischen Unterordnung der Medien unter die staatliche Instanzen sprechen. Die Erosion staatlicher Kontrollmechanismen umfasste fünf Etappen: 1) Im August 1991 fand in der noch bestehenden Sowjetunion ein Regierungsputsch statt. Während dieses ist die Nicht-Bereitschaft der Journalisten mittleren Ranges, allen Anweisungen des „Sonderkomitees“ zu folgen, als Ausdruck von erhöhter journalistischer Autonomie im Fernsehen zu interpretieren.67 Während der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow Urlaub auf der Insel Foros machte, hat die „Sonderkommission“ mit Hilfe des Militärs für einige Tage die Macht ergriffen. Die Kommission behauptete, dass der sowjetische Präsident schwer krank sei. Währenddessen konnte Gorbatschow die Insel nicht verlassen. Das Fernsehen wurde unmittelbar unter die Kontrolle der Kommission gestellt: Dies äußerte sich darin, dass die Fernsehleiter der Kommission unterstellt wurden. Nachrichtentexte für das Fernsehen (und andere Medien) wurden von Mitgliedern der Kommission selbst entworfen und von Nachrichtensprechern vorgelesen. Tagsüber wurde im Fernsehen stundenlang das Ballett „Schwanensee“ übertragen, das nach sowjetischer Tradition immer bei Tod oder Erkrankung eines Parteifunktionärs gesendet wurde. Die Kommission gab eine Pressekonferenz. Aber bevor sie gesendet wurde, musste sie zurechtgeschnitten werden, denn es gab Stellen, in denen die zitternden Hände und die Aufregung eines Kommissionsmitglieds zu sehen waren. Die dafür zuständige Journalistin hat jedoch diese Stellen in der gesendeten Version gelassen, weil sie es für wichtig hielt, dass die Bevölkerung die Schwäche der selbsternannten Kommission sieht. Aufgrund von landesweitem Widerstand wurde zwei Tage später der Regierungsputsch beendet. Angemerkt sei, dass die politischen Führungen der Russischen Föderation und anderer Teilrepubliken der noch bestehenden Sowjetunion während der Tage des Putsches ausländische Fernsehsender wie BBC und CNN als Informationsquellen nutzten.

67 Vgl. Mickiewicz, 1999: 103 ff.

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2) Die zweite Jahreshälfte 1991 und das Jahr 1992 ist durch die Nutzung der staatlichen Kontrollmechanismen des Fernsehens durch Regierungsinstanzen der Russischen Föderation gekennzeichnet: Der Mechanismus des Wechsels der Leitung der staatlichen Sender, Entscheidungen über den Fernsehetat und die Einwirkung auf die redaktionelle Linie der staatlichen Sender durch Telefonate sind hier zu nennen.68 Nach dem Putsch wurden alle Medien auf dem Territorium der Russischen Föderation der russischen Regierung unterstellt. Diese Entscheidung wird nach dem Zerfall der Sowjetunion starke Auswirkungen auf den Prozess der Erosion staatlicher Kontrollmechanismen der Medien haben. Denn ab jetzt war der Oberste Sowjet der Russischen Föderation und sein Vorsitzender, Präsident Jelzin, für die Leitung des Fernsehens zuständig. Diese Zuständigkeit äußerte sich darin, dass die Einstellung und Entlassung der Fernsehleitung sowie der Fernsehetat durch die Präsidialverwaltung bestimmt waren. Solange die Interessen der Journalisten und der Politiker übereinstimmten, wurde diese Beziehung von beiden Seiten nicht problematisiert.69 So wurden als Leiter des staatlichen Fernsehens Ostankino und RTR der liberale Jegor Jakovlev und Oleg Popzov eingestellt. Jakovlev beschloss die Entlassung der KGB-Funktionäre aus Ostankino. Zudem konnten die Journalisten, die zuvor die moderne Nachrichtensendung TSN produziert hatten, nach Ostankino zurückkehren. Es kam wieder zur Konkurrenz zweier Nachrichtensendungen: der traditionellen Sendung Vremja und der modernen Vesti (mit dem Team des ehemaligen TSN). Nach einem Wettbewerb, der von Soziologen und angesehenen Medienmachern kontrolliert wurde, entschied sich die Leitung für die moderne Version der Nachrichten: für Vesti. Denn diese Nachrichtensendung zeichnete sich durch die Trennung von Fakten und Kommentaren aus.70 Schließlich wurde im Oktober 1992 die Fernsehleitung von Ostankino ausgetauscht. Im Dezember 1992 wurde das Föderale Informationszentrum (FIZ) gegründet, das bis Ende 1993 existierte. Es besaß u.a. eine Kontrollfunktion gegenüber den zentralen und regionalen Fernsehsendern und befand sich in Konkurrenz zum Presseministerium71: Seine Aufgabe bestand „in der Koordinierung staatlicher Presse-, Radio- und Fernsehpolitik“, sowie „in der Ver68 Mickiewicz, 1999: 109 ff. 69 Vgl. Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2001: 88. 70 Vgl. Ɇɭɪɚɬɨɜ, 2001: ɗɜɨɥɸɰɢɹ ɧɟɬɟɪɩɢɦɨɫɬɢ: 37 ff. In dieser Zeit drangen im Juni 1992 50.000 protestierende Menschen in das Gebäude des staatlichen Fernsehens in Moskau ein. Die kommunistische Protestbewegung akzeptierte die neuen Fernsehinhalte nicht. 71 Das Ministerium für Information und Presse der Russischen Föderation wurde von Boris Jezlin im Juni 1990 gegründet. Es übernahm kurz nach dem Putsch 1991 die Aufgaben des Staatlichen Pressekomitees der UdSSR („Goskompetschati“). Später wurde es in „Pressekomitee der Russischen Föderation“ umbenannt. Es war für die Registrierung der Medien zuständig und ist Ende 1993 aufgelöst worden (vgl. Ɏɟɞɨɬɨɜ, 2002: 67, 118 ff.).

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mittlung staatlicher Politik der Russischer Föderation“72. Vor allem bestand seine Funktion darin, eine präsidententreue inhaltliche Linie in die massenmedialen Inhalte staatlicher Medien (vor allem: des staatlichen Fernsehens) einfließen zu lassen. Dies geschah vor allem durch telefonische Anweisungen an die Leiter staatlicher Medien. Diese Propagandainhalte waren deshalb nicht am Publikum, sondern lediglich an der politischen Führung orientiert. Der liberale Egor Jakovlev wurde entlassen, der neue Fernsehleiter von Ostankino Vjatscheslav Bragin erfüllte im Gegensatz zu seinem Vorgänger die Anweisungen „von oben“ während der Sendezeit. Da seine Aufgabe im Einwirken auf die redaktionelle Linie des staatlichen Senders bestand, stellten Programmänderungen für ihn kein Hindernis dar. Die Popularität der politischen Sendeinhalte wurde an der Reaktion der Jelzin-Anhänger gemessen, die die Ansichten des Präsidenten teilten. Meinungspluralismus war in diesem Zeitraum im staatlichen Fernsehen nicht möglich. Schließlich wechselte das ehemalige TSN-Team wieder die TV-Organisation und wanderte 1993 zum neu gegründeten kommerziellen Sender NTV ab. 3) Das Jahr 1993 ist durch die Konkurrenz zweier Machtzentren um die Fernsehlenkung gekennzeichnet. Es war politisch durch die Verfassungskrise geprägt. Ellen Mickiewicz (1999) behauptet sogar, dass sich die Verfassungskrise aus dem Kampf um die Fernsehkontrolle entwickelte.73 Am Anfang des Jahres kämpften mehrere politische Organisationen um die Möglichkeit, Sendezeit zu erhalten. Denn neben dem Präsidenten hatte auch der Oberste Sowjet Anspruch auf die Fernsehkontrolle erhoben, zumal sich das hauptsächlich mit Kommunisten besetzte Parlament im Konflikt mit dem Präsidenten befand. Das Parlament bemühte sich, so genannte Beobachtungskomitees zur Kontrolle des Fernsehens zu gründen. Zudem hatte es nur beschränkten Zugang zur Fernsehzeit: Es gab mit Parlamentskij Tschas („Parlamentsstunde“) nur eine Sendung über die Arbeit des Parlaments, die täglich gesendet wurde. Allerdings waren ihre Inhalte nach den politischen Ansichten der Abgeordneten sortiert, die Sendung war nicht auf den Zuschauer ausgerichtet. Im April 1993 fand ein Volksreferendum über das Vertrauen zur Präsidentenpolitik statt. Während der Vorbereitung auf das Referendum war die Verteilung der Sendezeit zwischen Präsidenten- und Parlamentsseite ungleich. Der Zugang zur Sendezeit wurde durch die Präsidialverwaltung (dem Präsidentenapparat) kontrolliert. Die präsidentenfreundlichen Kommentare im Fernsehen überwogen in der Berichterstattung. In diesem Referendum erhielt der Präsident die Volksunterstützung, aber die Regierungskrise war noch nicht vollständig entschärft. Im September 1993 versuchte der Präsident noch einmal, per Erlass die Privatisierung der Sendebetriebe zu erreichen und die staatlichen Anstalten in Aktiengesellschaften umzuwandeln. Aber das oppositionelle Parlament lehnte diese Entscheidung ab. 72 Vgl. Ukas des Präsidenten der Russischen Föderation Nr. 1674 (Dezember 1992), zit. nach Ɏɟɞɨɬɨɜ, 2002: 123. 73 Mickiewicz, 1999: 126 ff., 119 ff.

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Im Oktober 1993 wurde das Parlament per Präsidentenerlass vorzeitig aus dem Amt entlassen. Die Abgeordneten weigerten sich jedoch, das Parlamentsgebäude zu verlassen und beschlossen die Entlassung des Präsidenten aus dem Amt. Trotz der Abschaltung des Stroms und der Kanalisation dauerte die Belagerung des Parlaments fünf Tage. Der Präsident verordnete in Moskau den Ausnahmezustand. Eine mit dem Parlament sympathisierende Protestbewegung versuchte daraufhin, das Gebäude des staatlichen Fernsehens zu besetzen. Folglich brachen die staatlichen Sender Ostankino und RTR die Fernsehübertragungen ab. Einige Stunden herrschte im Land ein Informationsvakuum, kein einziger landesweiter Fernsehsender funktionierte mehr. Schließlich wurde RTR auf die Frequenz des ersten Fernsehkanals aufgeschaltet. Kurz vor der Niederlage der Abgeordneten wurde über diesen Sender eine Live-Sendung von CNN übertragen.74 Nach diesem Konflikt wurden einzelne Zeitungen für einige Tage verboten. Die Inhalte des Konflikts wurden sowohl im Fernsehen als auch in der Presse zensiert. Zwei Zeitungen konnten ihre Lizenz nur unter Bedingung des Wechsels ihrer Hauptredakteure wiedererhalten.75 Obwohl der Konflikt mit einer Stärkung der Präsidentenmacht endete, wurde die staatliche Kontrolle des Fernsehens schwächer. Zum einen lag dies an der „partnerschaftlichen“ Beziehung zwischen Präsidentenmacht und demokratisch orientierten Medien. Zum anderen entstanden zwischen 1993 und 1994 unabhängige kommerzielle Fernsehsender, die sich durch die üblichen Lenkungsinstrumente, wie Telefonate „von oben“, Einstellung und Entlassung der Fernsehleitung, Zensur der Inhalte sowie Bestimmung des Etats nicht mehr führen ließen. Die Zerrüttung der staatlichen Medienkontrolle des Fernsehens setzte sich mit der Erlassung (1991) und mit der Modifizierung (1994) der ersten gesetzlichen Akte über Lizenzvergabe sowie mit der Gründung der ersten staatlichen Lizenzkommission 1991 fort: Die neuen kommerzieller Sender konnten nun durch den Staat nicht direkt kontrolliert werden. Später, Ende 1993, wurde die Lizenzkommission aufgelöst, und für die Lizenzvergabe wurde der neu gegründete Föderale Radio- und Fernsehdienst (FSTR) zuständig, der auch die Aufgaben des Ende 1993 aufgelösten Presseministeriums übernahm.76 4) Die pluralistische Berichterstattung über den Tschetschenienkrieg im Fernsehen und in anderen Medien zwischen 1994 und 1995 deutet auf die Zunahme der massenmedialen Eigenständigkeit und auf die Erosion bestimmter staatlicher Kontrollmechanismen hin: die Erosion des Einstellungs-/Entlassungsmechanismus (Personaltransfer) und die Einwirkung auf die redaktionelle Linie. Denn sowohl die staatlichen als auch die kommerziellen Massenmedien sind in der Lage, unabhängige Positionen zu beziehen, auch wenn sie den 74 Vgl. Mickiewicz, 1999: 128. 75 Vgl. ebd.: 132. 76 Der föderale Dienst wurde 1999 in Ministerium für Presse, Fernsehen und Massenkommunikation (MPTR) umgetauft.

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Interessen der Regierenden widerspricht. Diese Entwicklung wird hier kurzgefasst nachgezeichnet. Als demokratische Massenmedien waren die Zeitungen, Fernseh- und Radiosender zu verstehen, die sich als Anhänger von demokratischen Werten und Orientierungen bezeichneten. Obwohl die Presse nach der Auflösung des sowjetischen Staates zum Teil durch Zuschüsse aus dem staatlichem Etat finanziert wurde, gründete sich die damalige Unterstützung der Regierung durch die Presse nicht in ihrer finanziellen Abhängigkeit, sondern in der gegenseitigen unterstützenden Beziehung. Die Presse- und Fernsehleitung schrieb sich eine führende Rolle bei der Initiierung und Ausarbeitung von Reformprojekten zu. Deshalb galt die Unterstützung der demokratischen Medien gerade der Regierung, die demokratische und marktwirtschaftliche Veränderungen anstrebte. Die Furcht vor einer Verstaatlichung der Medien im Falle der Rückkehr der kommunistischen Partei an die Macht stärkte bei den Medien-Leitenden die antikommunistische Orientierung: „Ihre Existenz, ihren Einfluss und ihre Popularität, von der Privatisierung der Medienorgane ganz zu schweigen, hatte die Presse [und andere Medien] dem neuen politischen Regime zu verdanken.“77 Das konfliktlose Nebeneinander zwischen Massenmedien und Politik wurde durch den Beginn des ersten Tschetschenienkrieges beendet. Sowohl die staatliche als auch die kommerzielle demokratische Presse, das demokratische Fernsehen und die oppositionellen Medien (mit Ausnahme der nationalistischen Zeitungen) lehnten den Tschetschenienkrieg ab. Das demokratische Regime sollte ihrer Ansicht nach dazu dienen, den Krieg durch offene und öffentliche politische Entscheidungsprozesse zu vermeiden: Demokratische Werte waren mit einem Bürgerkrieg nicht zu vereinbaren. Der Tschetschenienkrieg löste einen Konflikt zwischen Medien und Staat aus. Dem Selbstbild der Medien als vierte Gewalt gemäß bestand ihre Aufgabe darin, die politischen Instanzen auf ihre Fehler hinzuweisen. Denn diesem Selbstbild entsprechend sollten die Medien in der Lage sein, einen Einfluss auf die politische Macht auszuüben (s. II.3.4). Als die mediale Kritik an der Kriegsentscheidung keine politische Veränderung erzielte, wurde die Kritik verschärft: Ein Großteil der Presse sowie der staatliche Sender RTR und der kommerzielle Sender NTV tauschten ihre regierungsunterstützende gegen eine regierungskritische Position aus. Eine regierungsunterstützende Berichterstattung wurde lediglich vom ersten Kanal Ostankino und von der Regierungszeitung Rossijskaja Gaseta beibehalten. Dieser Konflikt zwischen Massenmedien und Regierung dauerte zwei Jahre. Die Fokussierung auf unschöne Details des Tschetschenienkrieges, auf die zahlreichen Opfer unter den Soldaten bildete die Priorität der Berichterstattung.

77 Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ɂ., 2001: 56.

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Durch die kritische Berichterstattung nahm die Popularität des Präsidenten in der Bevölkerung laut Umfragen stark ab.78 Zu Beginn des Jahres 1996 betrug die Beliebtheit des Präsidenten nach den Umfragen der großen Meinungsforschungsinstitute zwischen 6 und 10 Prozent. Die starke mediale Kritik am Tschetschenienkrieges führte zur Einführung von bis dahin politisch tabuisierten Themen in die massenmediale Kommunikation. Dies waren Themen wie „Gesundheit des Präsidenten“, „Präsident und Alkohol“. Während früher der Großteil der russischen Medien die Reformpläne des Präsidenten unterstützte, so wurden jetzt persönliche und politische Leistungen des Präsidenten in Frage gestellt.79 Die Informationspolitik der Regierung orientierte sich trotz starker massenmedialer Kritik am sowjetischen Muster.80 Zum einen war sie durch Unprofessionalität der Mitteilungen über den Krieg gekennzeichnet, die vom speziell gegründeten staatlichen Informationszentrum produziert wurden. Zum anderen versuchten die politischen Amtsinhaber den Zugang unabhängiger Journalisten zum Kriegsgebiet zu verweigern sowie den Informationsfluss durch Nicht-Ausgabe wichtiger Informationen den Informationsfluss zu steuern. Aber die Unstimmigkeiten zwischen den Behauptungen der Militär- und Regierungsbeamten wurden von den Kriegsbildern des unabhängigen Fernsehens unmittelbar widerlegt. Vor allem der unabhängige kommerzielle Sender NTV hat durch die Berichterstattung seiner Kriegsreporter ein umfangreiches Bild über den Krieg vermittelt. Schließlich drohte die Regierung dem unabhängigen Sender mit dem Entzug der Fernsehlizenz. NTV versuchte durch eine Ausweichstrategie seine Unabhängigkeit zu wahren: Es wurden nach wie vor Kriegsbilder gezeigt, aber die Zahl der Toten wurde nicht übermittelt. Auch der staatliche Sender RTR berichtete negativ über den Tschetschenienkrieg. Zwar besaß er nicht die Möglichkeit, Korrespondenten in das Kriegsgebiet zu schicken, aber er zeichnete sich durch kritische Kommentare aus. Der früher übliche Mechanismus der Entlassung und Einstellung der Fernsehleiter durch den Präsidenten wurde zunehmend wirkungsloser. So wurde die Entscheidung über die Entlassung des Leiters des staatlichen Fernsehens RTR, Oleg Popzov, mehrmals getroffen, aber nicht ausgeführt. Dies deutet auf die Erosion dieses Kontrollmechanismus hin.81 Für das Publikum bedeutete die pluralistische Berichterstattung über den Tschetschenienkrieg eine Zunahme von Vergleichsmöglichkeiten: Offizielle Bilder konkurrierten mit unabhängigen Nachrichten. So ist durch die Kommerzialisierung des Fernsehens und die Entstehung neuer kommerzieller Sender eine pluralistische Berichterstattung auch über konfliktreiche Themen möglich geworden. Das heißt, die Kommerzialisierung des Fernsehens löste ein Problem der Übergangsgesellschaft: Verschiedene Probleme der sich differenzierenden Gesellschaft machen ein größeres Spektrum der Informations78 79 80 81

Vgl. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ɂ. 2001: 61 ff. Vgl. ebd.: 56 ff. Vgl. Mickiewicz, 1999: 244 ff., 249 ff. Vgl. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ɂ., 2001: 56.

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PHASE ZWEI: ENDE 1991 BIS ENDE 1995

produktion notwendig: Kommerzialisierung ermöglichte in diesem Kontext Pluralismus. 5) Die Zulassung kommerzieller politischer Werbung vor den Parlamentswahlen 1995 ermöglicht zunehmende Mediatisierung politischer Kommunikation. Erst durch mediale Berichterstattung des Fernsehens werden Parteien als politische Akteure im Medium der öffentlichen Meinung wahrgenommen.82 Während der Parlamentswahlen im Dezember 1995 hatten die Parteien und ihre Kandidaten die Möglichkeit, die kostenlose gesetzlich vorgeschriebene Sendezeit zu nutzen. Jedoch waren in diesen Sendungen journalistische Fragen und Analysen untersagt. Die Einführung der kommerziellen politischen Werbung versprach den Parteien massenmedial erzeugte Aufmerksamkeit, wobei die Ausgaben für die Werbung gesetzlich geregelt waren. Politische Werbung gab einer größeren Zahl an Kandidaten die Möglichkeit, sich auf dem Bildschirm zu zeigen: Die Werbung erlaubte im Unterschied zum Referendum 1993 mehr Pluralismus auf dem Bildschirm. Trotzdem überwog in den Nachrichten die Berichterstattung über die Präsidentenanhänger. Da zu diesem Zeitpunkt die Parteien in Russland schwach ausdifferenziert waren, kam dem Fernsehen die Funktion der Thematisierung der Parteien in der massenmedialen und politischen Kommunikation zu. Viele der politischen Parteien wurden erst durch die politische Werbung als solche in das politische Leben aufgenommen.83

3 . 4 Zu r R o l l e d e s J o u r n a l i s t e n Der Prozess massenmedialer Ausdifferenzierung betrifft auch die Leistungsrolle des Journalisten. Die journalistische Leistungsrolle als Struktur des massenmedialen Funktionssystems entsteht bereits in der ersten Phase des Ausdifferenzierungsprozesses. Zwischen 1991 und 1995 wird das Selbstbild des Journalisten als Aufklärer nach wie vor gepflegt (1). Die Ausdifferenzierung der journalistischen Berufsstandards vollzieht sich in der Suche nach den „richtigen“ moralisch-ethischen Normen und Werten (2). Zeitgleich existiert nach wie vor das Phänomen der „journalistischen Migration“ fort: Es gewinnt durch die Kommerzialisierungsprozesse in den Medien ein noch breiteres Ausmaß. 1) Obwohl zwischen den an demokratischen Werten orientierten Medien und der politischen Führung bis zu Beginn des ersten Tschetschenienkrieges eine Art Partnerschaft bestand, begriff sich die Presse und andere Medien zu Beginn der 90er Jahre als „vierte Gewalt“ mit hohen Einfluss auf politische und gesellschaftliche Prozesse. Dieser Selbstbeschreibung gemäß war journa82 Vgl. Mickiewicz, 1999: 164 ff. 83 Auch die neue Unternehmerschaft unterstützte die Parteien durch Finanzierung: Durch diesen finanziellen Vorschuss erhoffte sie sich für später besondere Entscheidungen und Sicherheiten.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

listische Kritik an der Regierungsmacht unabdingbar, wenn diese aus Sicht der Medien Fehlentscheidungen traf. Dieses Selbstbild schlug sich in der beruflichen Sozialisation der Journalisten nieder, die Verantwortung des Journalisten gegenüber der Gesellschaft wurde gepflegt84: Nationale und regionale journalistische Verbände veranstalteten regelmäßige Tagungen und pflegten Kontakte zu ausländischen und internationalen Journalistenverbänden. Der nationale Journalistenverband Russlands entwickelt im Jahre 1994 einen „Ethischen Kodex des russischen Journalisten“, in dem die ethisch-moralischen Normen ihren Ausdruck finden.85 Gleichzeitig ist journalistischer Widerstand gegen die Festlegung der moralisch-ethischen und professionellen Normen zu beobachten. Das Vorhandensein der Normen wird von einem Teil der russischen Journalisten als Angriff auf die Pressefreiheit interpretiert. Oft wird die Freiheit der journalistischen Meinungsäußerung als Freiheit der bußerung der persönlichen Meinung (miss-)verstanden.86 Da in den sowjetischen Quasi-Massenmedien jede Aussage geregelt war, wird die erneute Festlegung von Normen als Störung der journalistischen Autonomie begriffen, auch in dem Fall, wenn diese Normen von der journalistischen Gemeinschaft selbst entwickelt werden. Die Häufung von Klagen gegen die Persönlichkeitsverletzung durch die Journalisten ist als Indikator für diese Weigerung gegenüber der Festsetzung journalistischer (professioneller) Normen zu verstehen.87 Die berufliche Sozialisation der Journalisten fand in diesem Zeitraum unmittelbar in den neu entstehenden und sich umstrukturierenden alten Organisationen statt. Dabei wurden die beruflichen Standards häufig von westlichen Vorbildorganisationen übernommen.88 2) Zugleich wird von russischen Medienwissenschaftlern die mangelnde Professionalität russischer Journalisten kritisiert. Die ethisch-moralischen Regeln der Berichterstattung z.B. über ethnische Konflikte, Geiselnahmen, Terroranschläge, Konflikte und Katastrophen verschiedener Art, sollen ausgewogen sein und die Privatsphäre der Beteiligten sowie ihre Persönlichkeitsrechte nicht verletzen.89 In dieser Periode fehlt diese Ausgewogenheit, weil die Journalisten noch über wenig Erfahrungen in diesen Themen verfügen, die nach dem Wandel der medialen Strukturen zum Mittelpunkt der Berichterstattung wurden.

84 85 86 87 88 89

Vgl. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, 2001: 22 ff. Vgl. Ʌɚɡɭɬɢɧɚ, 2000: ɉɪɨɮɟɫɫɢɨɧɚɥɶɧɚɹ ɷɬɢɤɚ ɠɭɪɧɚɥɢɫɬɚ: 191 ff. Vgl. Ɇɭɪɚɬɨɜ, 2000: 44 ff, auch Ʌɚɡɭɬɢɧɚ, 2000: 92 ff. Vgl. Ɏɟɞɨɬɨɜ, 2002: 463 ff; auch Ʌɚɡɭɬɢɧɚ, 2000: 154. Vgl. ɐɜɢɤ/ɇɚɡɚɪɨɜɚ, 2002: 86 ff. Vgl. Ɇɭɪɚɬɨɜ, 2001: 44.

232

PHASE ZWEI: ENDE 1991 BIS ENDE 1995

3.5

Berücksichtigung der Publikumserwartungen: E n t s t e h u n g d e r Zu s c h a u e r f o r s c h u n g

Während zu Beginn der Entstehungsperiode der autopoietischen Massenmedien eine erste Berücksichtigung der Publikumsinteressen und erste Differenzierungen des Publikums begannen, so kommt es im Zeitraum von 1991 bis 1995 zur verstärkten Differenzierung des massenmedialen Systems in Produktion und in Publikum. Dabei ist Publikum als innere Umwelt des Mediensystems zu verstehen. Im Fernsehen äußert sich diese Entwicklung in der Einführung des Instruments Einschaltquotenmessung (1). Außerdem schalten sich zwischen Produktions- und Rezeptionsseite Organisationen ein, die sich auf die Beobachtung des Publikums spezialisieren. Solche Organisationen, wie z.B. Zuschauerforschungsinstitute, ermöglichen die Konstruktion des Publikums als interne Umwelt der Massenmedien (2). 1) Einschaltquoten sind ein Mechanismus des kommerziellen Fernsehens, der eine Beobachtung des „Publikums“ durch Medieninstanzen erlaubt. Während in der Presse die Auflagenzahlen als Indikator der Anschlusskommunikation seitens der (wie auch immer zusammengesetzten) Publika dienen, so sind das im Bereich des Fernsehens die Einschaltquoten. Beginnt sich die Produktionsseite der Massenmedien an den Zuschauerquoten zu orientieren, nach ihnen Programme auszuwählen, abzusetzen oder die Programmkonzepte zu überprüfen, so ist eine innere Differenzierung der Massenmedien in Produktion und Publikum zu beobachten. Wie wir gesehen haben, entwickeln sich die Zuschauerquoten im neuen Russland seit 1992 zu einem solchen Instrument (vgl. II.3.1.2, II.3.1.3 und II.3.2). Zudem fließen sie in die Entscheidungskriterien der neuen massenmedialen Organisationen ein. 2) Bis zu Beginn der 90er Jahre fand die Erforschung des Fernsehpublikums in Russland vereinzelt, im Zusammenhang mit verschiedenen Projekten der Publikumsforschung, statt. Vor der Entstehung der kommerziellen Sender hatten die zwei staatlichen Sender noch keine umfangreiche Zuschauerforschung betrieben, da im Rahmen des Zentralfernsehens die Konkurrenz um den Zuschauer noch abwesend war. Mit der Entstehung des kommerziellen Fernsehens und der Konstituierung der Fernsehwerbung entstand bei den Fernsehorganisationen ein Bedarf an der Erforschung der Zuschauerinteressen. Das Konzept des Durchschnittszuschauers reichte den kommerziellen Sendern nicht aus, um die Publikumsinteressen sowie die Interessen der Werbeauftraggeber ausreichend zu berücksichtigen. Denn für Werbeauftraggeber waren nicht nur die Zuschauerzahlen, sondern auch nach verschiedenen Merkmalen segmentierte Zuschauerzielgruppen von Interesse. So entwickelten sich in Russland bereits zwischen 1992 und 1994 die Voraussetzungen für die Konstituierung der Zuschauerforschung. Die französischen und englischen Unternehmen begannen als erste mit der Realisierung von Quotenmessung in Russland. Es folgten verschiedene Projekte der Zuschauermessung in verschiedenen territorialen Einheiten Russlands: „Russian

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

Media Monitor“, „Russian Audience Research“ u.a.90 Sie entsprachen den internationalen Standards und übernahmen die international verbreitete Tagebuch-Methode der Zuschauermessung. Vor allem das etwas spätere Erscheinen der transnationalen Werbeauftraggeber, wie z.B. Procter&Gamble, Mars, Unilever, auf dem russischen Werbemarkt (ab 1994) begünstigte die Entwicklung der Zuschauerforschung erheblich. Diesen Werbeauftraggebern folgten transnationale Werbeagenturen, die für die beworbenen Marken weltweit verbreitete Werbung herstellten. Da die Zuschauerforschung und Quotenmessung als notwendiger Bestandteil der Werbeproduktion angesehen wird, waren diese Werbeagenturen an zuverlässigen Ergebnissen der Zuschauerforschung interessiert. Neben den transnationalen Werbeagenturen wurden die russischen Fernsehsender zu Kunden der Zuschauerforschungsinstitute.91 Mit der Konstituierung der Nachfrage nach Zuschauerforschung gründeten die internationalen Zuschauerforschungsinstitute ihre Niederlassungen in Russland: Zum Beispiel gründete die englische Gallup Poll eine Zweitorganisation Russian Research Ltd. Außerdem entstanden auch russische Zuschauermessungsinstitute: Gallup Media, V-Ratio, VZIOM/Mediamar, NISPI, Komkon-2, Fond Obtschestvennoje mnenie (FOM). Sie verwendeten verschiedene Methoden der Zuschauerforschung: persönliche Befragung, telefonische Interviews auf der Grundlage verschiedener Computerprogramme sowie Quotenmessung mit Hilfe spezieller Messgeräte (TV-Metr).92 Die Einführung von Zuschauerquoten und die Entstehung der Organisationen zur Beobachtung des Publikums im neuen russischen Fernsehen sind als zusätzlicher Indikator für die autopoietische Schließung der Massenmedien zu werten.

3 . 6 Zu s a m m e n f a s s u n g Die zweite Phase massenmedialer Ausdifferenzierung ist durch die Entstehung einer ganzen Reihe neuer massenmedialer Strukturen gekennzeichnet. In dieser Phase kommt es zur Ausdifferenzierung von drei Bereichen massenmedialer Produktion im russischen Fernsehen: Nachrichten/Berichte, Werbung und Unterhaltung. Dieser Vorgang der Innendifferenzierung massenmedialer Produktion wurde durch die Ko-Evolution der entstehenden Massenmedien mit der entstehenden modernen Marktwirtschaft begünstigt. Die Herausbildung der (Fernseh-)Märkte diente als Umwelt für die Ausdifferenzierung von Nachrichten, von Werbung und von Unterhaltung. Es entstehen neue Typen von massenmedialen Organisationen wie Nachrichtenagenturen, Werbeagenturen und Unterhaltungsproduzenten.

90 Vgl. Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2001: 94 ff. 91 Vgl. ebd. 92 Erst ab 1999.

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PHASE ZWEI: ENDE 1991 BIS ENDE 1995

Mit der Entstehung von drei massenmedialen Bereichen kommt es zur vollständigen Öffnung der thematischen Horizonte im russischen Fernsehen. Vor allem der Nachrichtenbereich führt die thematische Öffnung herbei. Durch Dezentralisierung der Nachrichtenquellen kann eine Pluralisierung der Themenausschnitte erreicht werden. Mit der Einführung kommerzieller Werbung in die Fernsehproduktion wird die Trennung zwischen Staat und Fernsehen auf Organisationsebene möglich: Denn kommerzielle Werbung stellt die zum staatlichen Etat alternative Finanzierungsquelle für TV-Sender dar. Zugleich bedingt die Werbung die Konstitution von kommerziell geprägten Entscheidungskriterien im Fernsehen. Der Bereich der Unterhaltung übernimmt für das kommerzialisierte Mediensystem die Aufgabe der Sicherung der Zuschauerquoten, d.h. er führt die Sicherung der Anschlusskommunikation für das Mediensystem herbei. Die Ko-Evolution der neuen Medienstrukturen mit den Medienmärkten begünstigt die Dezentralisierungsprozesse im russischen Fernsehen. Denn der Kommerzialisierungsprozess führte unmittelbar zur Aufhebung der hierarchischen Unterordnung des Fernsehens unter den Staat und folglich zur Aufhebung der staatlich zentralisierten Organisationsstruktur des Fernsehens. Es kommt zur Pluralisierung der Organisationstypen des russischen Fernsehens. Die Entstehung neuer Typen massenmedialer Organisationen, der kommerziellen Fernsehsender, ist durch globale massenmediale Prozesse geprägt. Die anschließende Umstrukturierung der staatlichen Fernsehsender erfolgt im Kontext der Legalisierung der Schattenwirtschaft im Fernsehen. Für diese Kommerzialisierungsprozesse ist die Übernahme der marktrelevanten Entscheidungskriterien in die massenmediale Produktion kennzeichnend. Der Prozess der Kommerzialisierung des Fernsehens kommt mit der Dezentralisierung der medienpolitischen Strukturen einher. Dies äußert sich in der fortschreitenden Erosion der staatlichen Kontrollmechanismen des Fernsehens: des Einstellungs-/Entlassungsmechanismus der Fernsehleitung, der Einwirkung auf die redaktionelle Linie und der Monopolisierung des Medieneigentums. Zum neuen Lenkungsinstrument des Fernsehens wird die Drohung des Lizenzentzugs bei den kommerziellen Sendern, der bei kritischer Berichterstattung über den Tschetschenienkrieg angewendet wird. In diesem Kontext bleibt das Selbstbild des Journalisten als Aufklärer nach wie vor aktuell. Mit dem Aufkommen neuer massenmedialer Strukturen wird die mangelnde Professionalität russischer Journalisten kritisiert. Diese Kritik ist als Indikator zunehmender journalistischer Selbstbeobachtung zu werten. Die Berücksichtigung der Publikumserwartungen sowie die Bildung von Medienorganisationen, die sich auf die Beobachtung des Publikums spezialisieren, sind ein weiterer Indikator für die Konstituierung des Funktionssystems der Massenmedien gegen Ende 1995.

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4. P HASE D REI : A USDIFFERENZIERUNG DER PR ZUM INFORMELLEN B EREICH INNERHALB DES RUSSISCHEN F ERNSEHENS . Z EITALTER DER M EDIENKRIEGE (E NDE 1995 BIS A NFANG 2000) „Ohne es manchmal selbst zu wissen, sind Journalisten Teil einer großen unsichtbaren Armee, die einen Medienkrieg führt.“1

Einleitung Das Besondere an der Mediatisierung der Politik in Russland war die Schwierigkeit der öffentlichen Diskussion über politische Programme.2 Denn den Wählern (dem Publikum) und den Politikern war die Auswahlmöglichkeit zwischen mehreren politischen Programmen neu. Im Kontext der zunehmenden Konkurrenz zwischen politischen Organisationen wandelt sich die Rolle der Medien wieder: Aus Sicht der Politik sollten sie der Übermittlung und Überzeugung des Publikums dienen. Die politischen Machtkämpfe können und sollen mit medialen Mitteln gewonnen werden – so zumindest war die Ansicht der Politik. In dieser Phase findet dementsprechend eine Reihe von Medienkampagnen statt, die als Medienkriege bezeichnet werden. In der nun kommerzialisierten Medienlandschaft bot das Medieneigentum die Einwirkungsmöglichkeiten auf die redaktionelle Linie. So widmeten sich die Medien – je nach dem politischen Lager ihrer Eigentümer – negativer medialer Berichterstattung über Politiker, die zu konkurrierenden politischen Gruppierungen gehörten: „In Russland hat die Mediatisierung der Politik zum Sieg des ‚Kompromats‘3, zum Wettbewerb der PR-Strategien und zum Wettbewerb der Journalisten um die ausdrucksreichste Gleichsetzung der Politiker mit Teufeln und mit Engeln geführt“.4 Die Mediatisierung der Politik im neuen Russland führte zur Wiederaktualisierung der strukturellen Trennung zwischen der formellen und der informellen Ebene innerhalb der neuen Massenmedien: Auf der einen Seite existierten 1 Auszug aus dem Interview Nr. 8, Übersetzung d. Verfasserin; Quelle: eigene Erhebung 2001. 2 Zur Mediatisierungsthese vgl. I.3.3. 3 Das Wort Kompromat bezeichnet im Russischen eine Sammlung von kompromittierendem Material über eine (öffentliche) Person. Diese Bezeichnung stammt aus der sowjetischen Geheimdienstsprache. Die deutsche Analogie dieser Bezeichnung könnte das Wort Rufmordmaterialen sein. 4 Ɂɚɫɭɫɤɢɣ, ɂ., 2001: 102, Übersetzung d. Verfasserin.

237

PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

die autopoietischen Massenmedien nach wie vor weiter, auf der anderen Seite bildete sich innerhalb der massenmedialen Produktionseinheiten ein Bereich, der sich auf informelle PR-Kommunikation spezialisierte. Mit anderen Worten koexistierten in diesem Zeitraum zwei mediale Kommunikationstypen nebeneinander. Vor allem für die Bereiche der Werbung und der Unterhaltung war eine autopoietische Funktionsweise kennzeichnend. Der Bereich Nachrichten/Berichte wurde sowohl durch autopoietische Medienkommunikation als auch durch informelle PR geprägt. In diesem Kapitel werde ich mich vor allem der Untersuchung der informellen PR im russischen Fernsehen widmen (zur Fernsehlandschaft der Russischen Föderation s. unten Tab. 15). Die Bereiche Werbung und Unterhaltung hatten sich bereits ausdifferenziert, weshalb ich im Weiteren nicht auf sie eingehen werde. Hier fanden weitere Innendifferenzierungen statt: Es folgte die Pluralisierung der Organisationstypen der Werbeagenturen und Unterhaltungs-Produzenten. Es kam zur Innendifferenzierung der Entscheidungskriterien und Herausbildung weiterer Rollen.5 Zu erwähnen ist, dass es 1998 aufgrund der Währungskrise zum Zusammenbruch des (Fernseh-)Werbemarktes kam, was weitreichende Folgen für die Medienautonomie mit sich brachte. In diesem und den nachfolgenden Jahren brachte die Suche nach Finanzierungsmöglichkeiten die jungen Medienorganisationen in Abhängigkeit von Medieneigentümern. Die mangelnden Werbegelder zwangen die Medien, die Kontrollmechanismen der neuen Medieneigentümer zu akzeptieren. Diese Kontrollmechanismen und ihre Evolution soll an dieser Stelle thematisiert werden: • In der Präsidenten-Wahlkampagne 1996 wurde ein Teil der alten sowjetischen Kontrollmechanismen des Fernsehens wiederaktualisiert und neue Instrumente der Medienlenkung wurden in Form der politischen PR eingesetzt (s. II.4.1): Es entwickelte sich zunächst eine Zentralisierungstendenz im Bereich der Medienpolitik. • Nach den Präsidentenwahlen wurden diese staatlichen (alten und neuen) Lenkungsstrategien sowohl durch politische als auch durch wirtschaftliche Organisationen übernommen (s. II.4.2). Diese Vorgänge gehen zum einen auf Dezentralisierungsprozesse, zum anderen auf die Minimierung der Distanz zwischen einzelnen Systemtypen zurück. • Die Ko-Evolution der politischen und wirtschaftlichen Lenkungsstrategien des Fernsehens bewirkte schließlich die Spaltung des Mediensystems in einen formellen und einen informellen Bereich, was auf eine zunehmende Trennung zwischen der formellen und der informellen Ebene im russischen Übergangskontext hindeutet (s. II.4.3). Nach der Institutionalisierung des Bereichs der informellen PR beginnen die so genannten Medienkriege, die als Verarbeitungsmechanismus für politische und wirtschaftliche Konkurrenzprobleme dienen (s. II.4.3.2). Die Evolution der politischen Kontrollmechanismen irritiert sowohl die journalistische Selbst5 Vgl. Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2001: 167 ff.

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PHASE DREI: ENDE 1995 BIS ANFANG 2000

wahrnehmung (s. II.4.4) als auch auf die Positionierung des Publikums innerhalb des Mediensystems (s. II. 4.5). • Auf der Ebene der massenmedialen Inhalte wird die thematische Offenheit während des Wahlkampfes durch partielle Zensur eingeschränkt.6 Tabelle 15: Die Fernsehlandschaft der Russischen Föderation von Ende 1995 bis Anfang 2000: Zentrale Fernsehsender mit landesweiter und überregionaler Reichweite Phase

Fernsehorganisation

Potentielle Reichweite in Russischer Föderation

Gründung

95-98 % der Bevölkerung

Dez. 1991

RTR, staatlich

95-98 % der Bevölkerung

Mai 1991

NTV, privat

Europäischer Teil der RF

Okt. 1993

TV-6, privat

67,7 Millionen Zuschauer

Jan. 1993

STS, privat

75 Millionen Zuschauer

Dez. 1996

Telekanal 2X2, privat

Bevölkerung Sep. 1990 Moskaus und des Moskauer Einzugsgebiets

Ren-TV, privat

75 Millionen Zuschauer

Ende 1995 ORT (ehem. bis Ostankino), Anfang 2000 teils staatlich, teils privat

Auflösung

Juni 1997

Jan. 1997

6 Auf die Analyse der Fernsehinhalte wird in diesem Kapitel verzichtet. Angemerkt sei, dass die Inhalte im Bereich der Werbung und Unterhaltung, vor allem im Fernsehen, nach wie vor durch globale Diffusionsprozesse gekennzeichnet sind (vgl. ausführlich dazu http://www.acvi.ru, Stand: 10.11.2004).

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE? Peterburg – 5. Kanal (ehem. V. Programm), staatlich

Petersburg, Leningrader Gebiet und 30 Großstädte

Dez. 1991

Peterburg (ehem. V. Programm), privat

Petersburg, Leningrader Gebiet und 30 Großstädte

Juni 1998

Kultura, staatlich

84 Millionen

Aug. 1997

TVZ, staatlich (zunächst war die Sendezeit von 8 bis 18 Uhr auf der Frequenz des Senders Moskva7, später fand die Fernsehübertragung ganztags statt)

Bevölkerung Moskaus und des Mokauer Einzugsgebiets, später: Ausstrahlung auf 88 Regionen der RF

Juni 1997

TNT, privates Fernsehen

ca. 80 Millionen Zuschauer

Jan. 1998

Ab Sommer 1999 findet Fernsehbetrieb auf der Frequenz von RTR statt und ist bis auf 3 Stunden begrenzt

Quelle: Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2001: Ɍɟɥɟɪɟɤɥɚɦɧɵɣ ɛɢɡɧɟɫ: 50.

4 . 1 Ze n t r a l i s i e r u n g v e r s u s f u n k t i o n a l e D i f f e r e n z i e r u n g : Aktualisierung der alten und Entstehung neuer Instrumente der Medienlenkung während der Präsidentenwahlkampagne 1996 Die kritische Berichterstattung über den Tschetschenienkrieg und die Erfolge der oppositionellen Parteien8 bei den Parlamentswahlen verringerten die Chancen des amtierenden Präsidenten Jelzin auf eine Wiederwahl. Im Kontext 7 Moskva wurde später in Moskovia umbenannt und ab 18 Uhr auf der gleichen Frequenz ausgestrahlt. Im Jahre 2006 sendet Moskovia drei Stunden am Tag in Moskau und im Moskauer Einzugsgebiet. 8 Einschließlich der von Vladimir Schirinovski gegründeten nationalistischen Partei LDPR.

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PHASE DREI: ENDE 1995 BIS ANFANG 2000

der schlechten Wahlprognosen wurde das im sowjetischen Parteiapparat gängige Schema der Kontrolle der Gesellschaft mittels Kontrolle der Medien von der neuen russischen Regierung unter Leitung des Präsidenten Boris Jelzin wieder entdeckt. Aber der Prozess der Mediatisierung von Politik verhinderte die ausschließliche Anwendung der alten sowjetischen Instrumente der Medienlenkung. Den Wahlstrategen des Präsidententeams war klar, dass allein durch die Kontrolle über die Medienorgane der Wahlerfolg nicht erreichbar ist. Die Parlamentswahlen Ende 1995 zeigten deutlich, dass die Nicht-Zulassung der oppositionellen Parteien zu zentralen Medien sowie eine kritische Berichterstattung über sie in regierungsnahen Medien deren Wahlsieg nicht verhindern konnten. Das bedeutet, dass alte Kontrollinstrumente wie (partielle) Zensur und (Teil-)Monopolisierung der Medienorganisationen aufgrund der autopoietischen Schließung der Massenmedien nicht mehr wirksam waren. Die Strategien der politischen PR westlicher Art sollten zu den neuen Instrumenten der Medienlenkung werden.9 Als PR-Strategien werden die auf Nutzung der medialen Eigenlogik basierenden Kommunikationstechniken bezeichnet, die seitens politischer und wirtschaftlicher Organisationen zwecks Verbesserung des öffentlichen Images dieser Organisationen eingesetzt werden.10 Zusammen mit alten Kontrollmechanismen des Fernsehens wie 1) Einstellungs- und Entlassungsmechanismus der Fernsehleitung, 2) TeilMonopolisierung der Medienorgane und 3) Einwirkung auf die redaktionelle Linie sollten die politischen PR-Strategien den Erfolg des alten Präsidenten bei den Präsidentschaftswahlen 1996 sichern. Der Einsatz dieser Mechanismen geschah wie folgt:

Mechanismus der Teilmonopolisierung Kurz vor den Präsidentschaftswahlen wurde ein Großteil der elektronischen Medien in die so genannte „Koalition der Machtpartei“ aufgenommen. ORT wurde vom Öl-Magnaten Boris Beresovski, dem Chef-Berater Jelzins geleitet. Der kommerzielle Sender NTV schloss sich dieser „Koalition“ an. Durch die bisherige kritische Berichterstattung über den Tschetschenienkrieg besaß er einen Vertrauensvorschuss vieler Zuschauer. Dieses Vertrauen sollte jetzt für den Aufbau eines positiven Präsidenten-Image genutzt werden. Natürlich gab es auch einige Medien, die vor dem Wahlkampf demonstrativ eine neutrale Position angenommen hatten.11

9 Vgl. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ɂ., 2001: 65 ff. In Russland werden (formelle und informelle) Strategien der politischen PR als „neue Informationstechnologien“ bezeichnet. Zur Strukturierung der russischen PR-Märkte vgl.: Ʉɭɡɶɦɢɱ/ɉɪɚɲɤɨɜɢɱ, 2001. 10 Vgl. I.3.3. 11 Vgl. ebd.: 64.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

Einstellungs- und Entlassungsmechanismus/Personaltransfer Auf dem zweiten Fernsehkanal RTR wurde der Leiter ausgewechselt: Oleg Popzov war Journalist der ersten demokratischen Welle, der sich als Vertreter der vierten Gewalt ansah. Seine Belassung auf dem Leiterposten wurde für die politische Macht vor den Präsidentschaftswahlen inakzeptabel. Der Leiter des ehemals kritischsten Senders NTV, Igor Malaschenko, wurde zum Verantwortlichen für die Konzipierung des Präsidenten-Images in der Wahlkampagne des amtierenden Präsidenten bestimmt.12 Die politischen Public Relations haben sich erst in Kombination mit diesen Lenkungsinstrumenten zum neuen staatlichen Lenkungsmechanismus der Medien entwickelt. Insgesamt haben sich zwei Organisationen mit der PRBeratung des Präsidenten bei den Wahlen 1996 beschäftigt: ein amerikanisches Beraterteam und das russische Beratungsunternehmen Stiftung für effektive Politik (FEP). Das amerikanische Beraterteam hat erstmalig die Strategien der politischen PR, so wie sie in den USA üblich sind, angewandt. Es sind keine Dokumente in russischer Sprache vom Einsatz des amerikanischen Beraterteams erhalten geblieben. Auch die russische Presse hat ihre Mitwirkung an Präsidentenwahlen 1996 bis jetzt noch nicht beleuchtet. 1996 erschien in der Zeitschrift Time ein Artikel „Rescuing Boris: The Secret Story of How Four U.S. Advisers Used Polls, Focus Groups, Negative Ads and All The Other Techniques of American Campaigning to Help Boris Yeltsin Win“. Auf Deutsch etwa: „Boris Retten: Die geheime Geschichte über vier amerikanische Berater, die mit Hilfe von Befragungen, Fokus-Gruppen, Kompromittierung und all den anderen Techniken der amerikanischen Wahlkampagnen Boris Jelzin zum Sieg verholfen haben“. Aus diesem Artikel sind einige Einzelheiten über die Wahlstrategie der amerikanischen Berater bekannt geworden.13 Beauftragt wurden die amerikanischen Berater durch den Leiter des Wahlstabs des Präsidenten Oleg Soskovez. Bald jedoch übernahm die Tochter Jelzins, Tatjana Djatschenko, die Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Team. Im Laufe der Wahlvorbereitungen hatte sie als Einzige täglichen Zugang zu ihrem Vater. Das amerikanische Team legte die inhaltliche Richtung der Wahlkampagne fest: „Aufgrund schlechter Umfrageergebnisse und Misstrauen der Bevölkerung gegenüber dem Präsidenten fiel die Wahl des amerikanischen Teams auf folgende WahlStrategie: Die Bevölkerung musste überzeugt werden, dass Jelzin die einzige Alternative zu den Kommunisten darstellt. Die Notwendigkeit, die Kommunisten aufzuhalten, sollte zur Grundlage der Wahlkampagne werden. Um diese Strategie zu verwirklichen, wurden vom Team Befragungen in Fokusgruppen durchgeführt. Es sollte festgestellt werden, was die Bevölkerung an den Kommunisten am meisten ab12 Vgl. ebd.: 76. 13 Vgl. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ɂ., 2001: 71 ff..

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PHASE DREI: ENDE 1995 BIS ANFANG 2000 schreckt. Lange Schlangen und Lebensmittelknappheit wurden oft erwähnt, aber am größten war die Angst vor einem Bürgerkrieg.“14

Daher richtete sich der Großteil der inhaltlichen Aussagen der Wahlkampagne auf die Hervorhebung der Möglichkeit eines Bürgerkrieges im Falle einer Niederlage Jelzins. Ein Teil der russischen Bevölkerung sehnte sich in der Tat nach den alten Zeiten. Aber die Möglichkeit eines Bürgerkriegs schreckte alle ab. „Wählt Jelzin und alles wird ruhig bleiben“ – dies war die Wahlstrategie der amerikanischen Berater. Unmittelbar vor den Wahlen wurden politische Werbespots gehäuft übertragen, die Vergleiche mit der sowjetischen Periode beinhalteten.15 In der ersten Phase der Wahlkampagne war im Fernsehen durchaus eine pluralistische Berichterstattung vorhanden. Auch war die kritische Berichterstattung über den Tschetschenienkrieg noch möglich. Nun wurde Jelzin eine stärkere Kontrolle des Fernsehens empfohlen: „Wenn eine Wahlveranstaltung geplant ist, so ist es notwendig, staatliche Fernseh- und Radiosender über ihre Ziele, Bedeutung und die erwartete Darstellungsweise der Ereignisse zu informieren“.16 Dies war die Anwendung des Lenkungsinstruments Einwirkung auf die redaktionelle Linie der staatlichen Fernsehsender. Durch die Teilmonopolisierung der Massenmedien und den Einstellungs- und Entlassungsmechanismus konnte diese Forderung erfüllt werden. Die zweite Organisation, sich mit der Vorbereitung der Wahlstrategien für den Präsidenten beauftragt wurde, war die Stiftung für effektive Politik (FEP).17 Sie beschäftigte sich vor allem mit den Techniken der Sammlung, Selektion und Darstellung von Information. Sie analysierte „stereotypisierte, wiederkehrende Reaktionen der Massenmedien auf die Entwicklung der Ereignisse, was es erlaubt sie [die Reaktionen] auszugliedern und zu lenken.“18 Die Organisation spezialisierte sich auf Beobachtung der Regeln und Eigenlogiken der massenmedialen Kommunikation zwecks ihrer Instrumentalisierung im Interesse der Regierung. Als wichtigste Eigenlogik der massenmedialen Produktion stellte die FEP ein mediales Berichterstattungsmuster fest, das als „Zentrum der medialen Tagesordnung“ bezeichnet wurde.19 Die zentralen Nachrichtenthemen wurden – nach Beobachtungen der Stiftung durch die Massenmedien eigenständig – unabhängig von Politik und anderen Bereichen zusammengetragen: „Der Mechanismus der Themenanordnung in den Nachrichten bestand im Zusammenziehen der peripheren Themen um das Hauptthema des Tages, das den Rah14 15 16 17

Ebd.: 74, Übersetzung d. Verfasserin. Vgl. ebd. Ebd., Übersetzung d. Verfasserin. Die Vorbereitung der Wahlstrategie durch die „Stiftung für effektive Politik“ fand von Januar 1995 bis März 1996 statt (vgl. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ɂ., 2001: 65). 18 Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ɂ., 2001: 103. 19 Im Russischen heißt dieser Begriff „ɢɧɮɨɪɦɚɰɢɨɧɧɚɹ ɩɨɜɟɫɬɤɚ ɞɧɹ“, vgl. ebd.: 103.

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menkontext und Bewertungen für die Tagesereignisse vorgibt“.20 Das Agieren der Politiker sollte deshalb danach bewertet werden, ob es ihnen gelang, das Zentrum der medialen Tagesordnung zu besetzten, d.h. zum zentralen Inhalt der Nachrichten zu werden. Im Rahmen der Wahlkampagne bedeutete dies, dass die Wahlaktivitäten in den Kontext der „informationellen Tagesordnung“ passen mussten. Wurden die erwünschten Themen zu zentralen Wahlthemen, stiegen die Chancen des Präsidentschaftskandidaten auf einen Wahlerfolg. Waren die aktuellen Wahlthemen mit der „informationellen Tagesordnung“ nicht konsistent, wurden sie durch andere Themen verdrängt.21 Das heißt, die politischen PR-Strategien für die Wahlkampagne wurden auf Grundlage der Beobachtung und Analyse der massenmedialen Eigenlogik generiert: Denn für die politischen PR ist die Nutzung der „Techniken der Mediendramaturgie“, d.h. die Simulation der massenmedialen Operationsweise, unabdingbar. Aus einem wenig bekannten Dokument der Stiftung für effektive Politik vom März 1996 gehen die PR-Strategie sowie der Lenkungsmechanismus der Medien in der Präsidenten-Wahlkampagne deutlich hervor: „Die Ursache der Misserfolge zu Beginn von Jelzins Wahlkampagne liegt in der Überschätzung der realen organisationellen und koordinativen Ressourcen des Stabs […], die aus dem letzten Wahlerfolg folgt. Die Quelle all seiner Erfolge gründet sich in der Erschaffung eines Bildes, also eines symbolischen Bildes einer notwendigen, aber praktisch (in dem kurzen Zeitraum) nicht realisierbaren Wirklichkeit. Es gibt keine Wunder – die Probleme bleiben, nach den Wahlen müssen sie mit gewöhnlichen Mitteln gelöst werden. Um die Chance auf den Wahlerfolg zu bekommen, ist es notwendig ein Bild der ‚beginnenden Lösung aller Probleme‘ zu konstruieren. Mit anderen Worten, wir inszenieren etwas, für dessen Erschaffung wir weder die Zeit noch die Möglichkeiten haben… Wenn der Präsident wieder eine zentrale Stelle in der gesamtrussischen Arena einnimmt, soll er wieder der ‚Herrscher der Gefühle‘ der Bevölkerung, ihr ‚Held‘ werden. […] Der Schlüssel zum Sieg liegt in der Mediendramaturgie der Wahlkampagne […]. Dabei sollte man nicht die elektronischen Medien fetischisieren. Der wachsende Chor von Lobpreisungen, der durch alle Medienkanäle landesweit übertragen wird, führt nur zum gegenteiligen Ergebnis. Die Menschen unterhalten sich nicht über Amtssprache und Verbeugungen an die Macht – in ihrem Kreis erzählen sie nur das, was für sie wichtig und interessant ist. Massenmedien sind nur in dem Maße bedeutsam, in dem sie die Inhalte, Ideologeme und Machart (Anlässe) für ‚Alltagsplaudereien‘ geben – also für eine reale politische Diskussion der Basis, die zu keiner Minute in Russland endete. Politische Initiativen und Situationen können auf die untere Ebene (auf die Ebene der Massenkommunikation) in dem Maße übertragen werden, in dem sie ‚DRAMATURGISCH‘ und ‚DRAMATISIERT‘ sind, d.h. sie müssen in interessanten und den Menschen zugängigen Stoff verwandelt werden (Anekdote, Drehbuch, Mythos – all das sind Arten der gesellschaftlich-politischen Dramaturgie). Massenmedien sind in

20 Ebd. Das „Zentrum der informationellen Tagesordnung“ ist somit als mediale Darstellungsregel (d.h. Darstellungsprogramm) zu verstehen, das die (bereits selektierte) Nachrichtenthemen nach ihrer Wichtigkeit in die Darstellungsformate einordnet. 21 Vgl. ebd.: 103-104.

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PHASE DREI: ENDE 1995 BIS ANFANG 2000 der Wahlkampagne notwendig, um den direkten Kanal zu schaffen: von der russischen Hauptstadt in die russische Regionen.“22

Für den PR-Stab des Präsidenten wurde also Inszenierung (die auf einer Simulation der Eigenlogik der Medien beruht) zu einer wichtigen Technik der politischen PR. Die „beginnende Lösung aller Probleme“ und die Schaffung des positiven Präsidentenimages wurde durch die Inszenierung folgender Ereignisse bewerkstelligt: „1) Liquidierung der Staatsschulden in der Lohnkasse, 2) Inszenierung ökonomischer Stabilität, 3) virtueller Eintritt Russlands in den Klub der G7-Staaten, 4) Ausgaben aus dem nicht existierenden PräsidentenFond, 5) wundersame Heilung des Präsidenten von allen Krankheiten“.23 Die von amerikanischen Ko-Beratern übernommenen politischen PR, vor allem die Technik der Inszenierung von Medienereignissen, bildeten das fehlende Glied, das die partielle Kontrolle oder Lenkung der medialen Kommunikation durch den Wahlstab des Präsidenten ermöglichte. Auch die Berater sahen PR als Instrument der Medienlenkung an. Hervorzuheben ist aber, dass politische PR allein noch kein Instrument der Medienlenkung darstellen. Erst in der Kombination mit den alten sowjetischen Instrumenten der Medienlenkung wurden sie zu einem solchen Instrument im Bunde der Kontrollmechanismen: Durch die Teilmonopolisierung der Medien und den Einsatz des Einstellungs-/Entlassungsmechanismus der Fernsehleitung konnte die Nachrichtenberichterstattung im Fernsehen zum Hauptmedium der Wahlkampagne des amtierenden Präsidenten werden. Der Zugang zu den Nachrichten (= Einwirkung auf die redaktionelle Linie) und die PR-Technik der medialen Inszenierung ermöglichten es, die für die Wahlaktivitäten notwendigen Themen ins „Zentrum der informationellen Tagesordnung“ zu rücken, sie im Kontext der Tagesereignisse darzustellen, ohne dass diese Themen unmittelbar als Propaganda sichtbar waren. So wurden die Aktivitäten des Präsidenten zum zentralen Thema der Nachrichten, die Initiativen der Opposition wurden zu peripheren Themen. Zusätzlich wurde durch die PR-Berater des Präsidenten die Strategie der Marginalisierung der Opposition verfolgt. So wurden beispielsweise öffentliche extremistische Aktivitäten in den Reihen der Kommunistischen Partei per Auftrag inszeniert. Die „Extremisten“ drohten öffentlich, nach einem kommunistischen Wahlerfolg die Meinungsfreiheit abzuschaffen und die neuen Medien zu verstaatlichen.24 Diese extremistischen Aktivitäten zielten auf die vorhandene bngste der Wähler, die eine gewaltsame Wiederherstellung des kommunistischen Regimes ablehnten. „Keine Rückkehr!“ – war der zentrale Slogan der Wahlkampagne, der aus der Hauptwahlstrategie folgte. Auf diese 22 Ɍɨɩɨɪɨɜ, ȼ., 1996: ȼɢɪɬɭɚɥɶɧɚɹ ɪɟɚɥɶɧɨɫɬɶ ɜɵɛɨɪɨɜ, ɋɜɨɛɨɞɧɚɹ ɦɵɫɥɶ Nr. 11: 24-30, zit. nach Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, 2001: 66, Übersetzung d. Verfasserin, Hervorhebung in Großbuchstaben durch Ivan Zasurskij. 23 Ebd.: 76, Übersetzung d. Verfasserin. 24 Vgl. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ɂ., 2001: 75.

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Strategie setzte der Präsidentenapparat – samt alter Kontrollmechanismen der Medien.25

4.2 Ko-Evolution der politischen und wirtschaftlichen Lenkungsstrategien des Fernsehens Die Involvierung eines großen Teils des journalistischen Personals der führenden zentralen Medien (Presse und Fernsehens) in die Wahlkampagne des Präsidenten führte zu einer starken Verbreitung der politischen PR-Strategien innerhalb der journalistischen Gemeinschaft.26 Nachdem sich die regierenden Politiker vom Erfolg der politischen PR während der Wahlen überzeugt hatten, begriffen sie sie „als Erfolgsformel der modernen Politik“.27 Die mediale Inszenierung der Politik wurde zum Wesen der Politik. Nach dem Wahlerfolg wurden die Mitglieder der „Stiftung für effektive Politik“ befördert. Zudem wurden regelmäßige Treffen der Regierung mit Mitgliedern der Stiftung institutionalisiert: Jeden Freitag fanden die Beratungen zwischen Vertretern der Exekutive und PR-Spezialisten statt.28 Hier ist auch eine Analogie zu den sowjetischen Kontrollmechanismen des Fernsehens feststellbar: In der Sowjetunion fanden auch wöchentliche „Beratungen“ zwischen der Kontrollbehörde Agitprop und Vertretern der zentralen Medienorgane statt. Statt nach politischen Lösungen von aktuellen Problemen zu suchen, arbeitete die Regierung lieber Strategien politischer Öffentlichkeitsarbeit aus. Vor allem die informellen (‚grauen‘) Techniken der politischen PR wie „Durchsickern von Information“ und Verbreitung von kompromittierendem Material („Kompromat“) wurden dabei verwendet. Folglich wurden fortwährend alle Journalisten, Politiker und Unternehmer, die Massenmedien beobachteten, in neuen PR-Strategien sozialisiert.29 Das Erlernen der formellen und informellen PR-Strategien30 durch Journalisten und Medienmanager führte dazu, dass das Wissen über den Einsatz der PR-Techniken nicht mehr ausschließlich der Regierung vorbehalten blieb:

25 1996 wurde Präsident Jelzin zum zweiten Mal zum Präsidenten Russlands gewählt. 26 Vgl. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ɂ., 2001: 77 ff. 27 Ebd.: 95, Übersetzung d. Verfasserin. 28 Vgl. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ɂ., 2001: 98. 29 Vgl. ebd.: 95. 30 Zur Unterscheidung zwischen formellen (gesetzlich erlaubten) und informellen (moralisch verwerflichen und gesetzlich verbotenen) PR-Techniken vgl. Ʉɭɡɶɦɢɱ/ɉɪɚɲɤɨɜɢɱ, 2001: 185. Sowohl formelle als auch informelle PRTechniken simulieren die Eigenlogik der Massenmedien, um ihre Botschaften an die Zielgruppen zu verbreiten.

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PHASE DREI: ENDE 1995 BIS ANFANG 2000 „Die PR des Krisenmanagements konnte jetzt vom Oberbürgermeister bis zum Gouverneur angewandt werden. In allen Bereichen und auf allen Ebenen, von Gewerkschaften und Universitätsrektoren bis hin zu Protestbewegungen wurden medial wirksame Ereignisse inszeniert, um glaubwürdig ein medienpolitisches Spektakel zu organisieren.“31

Die Diffusion von PR-Techniken führte schließlich dazu, dass sowohl formelle als auch informelle Elemente der PR durch wirtschaftliche und nichtstaatliche politische Organisationen übernommen wurden. Da PR nur in Kombination mit den alten sowjetischen Lenkungsinstrumenten als Kontrollmechanismus der Medien funktionierte, kam es zudem auch zur Übernahme der alten Lenkungsstrategien durch wirtschaftliche und nicht-staatliche politische Organisationen. Public Relations und politisches Consulting entstanden in Russland bereits vor 1996. Aber es existierten noch keine Instrumente der Medienlenkung, die durch Medieneigentümer selbst angewandt werden könnten. Bei den staatlichen Medien existierte der Mechanismus der Einwirkung auf die redaktionelle Linie, der sich noch aus der sowjetischen Epoche bewahrt hatte. Dieser Mechanismus bestand in der Übergabe von Anweisungen von der Präsidialverwaltung an die Fernsehleitung; von der Fernsehleitung wurden die Vorgaben an die Redakteure weitergereicht, die sie ihrerseits an die Abteilungsleiter und Journalisten weitergeben sollten. Dieses Lenkungsinstrument wirkte sich ähnlich auf die Produktionsprozesse der Medien aus wie Zensur. Die Entlassung der Chefredakteure der Medienorgane war zudem äußerst selten.32 Nach den Präsidentschaftswahlen 1996 fand eine Evolution der Medienkontrollmechanismen und Nutzung dieser Mechanismen im neuen Kontext durch politische und wirtschaftliche Organisationen statt. Auf der einen Seite legten die neuen PR-Techniken nahe, dass ein Einfluss auf die Massenmedien auch ohne Medienbesitz möglich ist. Auf der anderen Seite erleichterte das Eigentum an Medien den Zugang zur Medienlenkung. Medieneigentum verschaffte zudem einen Vorsprung im Fall politischer und wirtschaftlicher Konflikte. Die im Wahlkampf sozialisierten Medieneigentümer übernahmen jetzt vom Staat Lenkungsstrategien der Medien wie 1) PR-Kommunikation bestimmter Themen, 2) Teilmonopolisierung der Medienorganisationen (durch Organisation der Medienholdings) und 3) Einwirkung auf die redaktionelle Linie. Sowohl politische als auch wirtschaftliche Organisationen orientierten sich ab jetzt an einer Entscheidungsregel, dass auftretende (Konkurrenz-)Probleme durch Lenkung der „öffentlichen Meinung“ lösbar sind. Verschiedene Organisationen haben auf der Grundlage der Wahlkampagne Methoden für die Analyse des politischen Prozesses aus dem Blickwinkel der massenmedialen Eigenlogik gesammelt. Ob Konkurrenz zwischen politischen Ansichten oder 31 Ɂɚɫɭɪɫɤɩɢɣ, ɂ., 2001: 96, Übersetzung d. Verfasserin. 32 Selbst im staatlichen Fernsehen wurde der Einstellungs- und Entlassungsmechanismus nur in Ausnahmesituationen, wie z.B. bei Wahlen, angewandt. In den neuen kommerziellen Medien konnten staatliche Behörden diesen Mechanismus nicht einsetzten (vgl. oben II.4.1).

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Konkurrenz um die Privatisierung in der Wirtschaft: Die Lösung der Konkurrenzprobleme bestand nicht in der Entwicklung der jeweils notwendigen politischen und wirtschaftlichen Strukturen, sondern in der „Lenkung der Öffentlichkeit“. Sie manifestierte sich in der Lenkung einzelner medialer Organisationen mit Hilfe neuer und alter Kontrollmechanismen. Für große Wirtschaftsunternehmen wurde unter diesen Umständen der Kauf der Medienaktien ein wichtiges Instrument zur Durchsetzung eigener Interessen. Denn im Endstadium der Privatisierung hat sich die Konkurrenz um begehrtes Staatseigentum entscheidend verschärft. Vor allem die Gründung von (staatlichen und kommerziellen) Medienkonzernen erlaubte die Nutzung medialer Kontrollmechanismen durch Wirtschaft und Politik. Gegen Ende der 90er Jahre existierten in Russland insgesamt neun Medienkonzerne. Vier von ihnen (die ersten vier in der vorliegenden Tabelle) prägten die Medienlandschaft landesweit (s. Tab. 16).33 Tabelle 16: Russische Medienkonzerne, ihre Eigentümer und Geschäftsbereiche 199934 Eigentümer

Fernsehen/Radio

Zeitungen/ Zeitschriften

Nachrichtenagenturen/ Anderes

Staat (Kontrolle durch den Föderalen Radio- und Fernsehdienst und ab 1999 durch das Presseministerium35 sowie durch die Präsidialverwaltung)

Fernsehen: RTR (staatlicher Holding WGTRK), ORT (Aktiengesellschaft, 51% der Aktien staatlich, Großteil der restlichen 49% der Aktien gehörten dem Kremlnahen Roman Abramowitsch), Kultura (staatlicher Holding WGTRK), Kabelfernsehen Meteor-TV

Zeitungen: Rossijskaja Gazeta, Rossijskie Vesti

Nachrichtenagenturen: ITAR-TASS, RIA-Vesti

Zeitschriften: Rossijskaja Federacija, Rossija

Radio: Radio Rossii, Majak 33 Vgl. ebd.: 109. 34 Die Namen russischer Organisationen wurden in lateinischer Schrift geschrieben, aber nicht übersetzt. 35 Der Föderale Radio- und Fernsehdienst (FSTR) wurde 1993 gegründet. Ab 1999 übernahm das Ministerium für Presse, Fernsehen und Massenkommunikation

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PHASE DREI: ENDE 1995 BIS ANFANG 2000 Jurij Luschkov (Oberbürgermeister Moskaus): Stadtregierung Moskau, Bank Moskvy, Unternehmen AFKSistema, Mosbiznesbank, Moskovskij Bank Rekonstrukcii i rasvitija, Guta Bank

Fernsehen: TV-Zentr, Teleexpo, Stoliza (Moskaur Kabelfernsehen), TV-6 (zusammen mit Boris Berezovskij und dem LukoilKonzern

Zeitungen: Moskovskaja Pravda, Moskovskij Komsomolec, Vetschernij Klub, Obschaja Gazeta, Tverskaja, 13, Literaturnaja Gazeta (Holding Metropolis), Ausgabengruppe Metro

Werbeagentur: Maxima

Boris Berezovskij: Logowas, AVVA, Vereinte Bank, Sibneft (Boris Beresovskij)

Fersehen: ORT (unbedeutendes Aktienpaktet), TV-6 (26 % der Aktien).

Zeitungen: Nezavisimaja Gaseta, Ogonjok

Nachrichtenagentur: Nationalnaja slushba novostej

Fernsehen: NTV (zusammen mit dem GazpromMedia), TNT, NTV Plus (Kabelfernsehen).

Zeitungen: Segonja, Obschaja Gazeta, Novaja Gazeta

Operator der Telekommunikation: Bonum-1,

Radio: Echo Moskvy

Zeitschriften: Itogi, Sem’dnej, Karavan istorij

Unterhaltungsproduzent: NTV-Design, NTV-Profit

Radio: M-Radio

Filmstudio: Mosfilm

Radio: NCN (ehemaliges Prestige-Radio) Vladimir Gusinskij: Media-Most, NTV-Holding, Verlagshaus „Sem’ dnej“

(MPTR) seine Aufgaben, zu denen neben der Regestrierung der Presseezeugnisse auch die Lizenzvergabe an Fernsehsender zählte.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE? Vladimir Potanin: Holding ProfMedia/ Oniksimbank

Radio: Evropa Plus

Zeitungen: Izvestija (zusammen mit dem Lukoil-Konzern), Russkij Telegraf, Komsomolskaja Pravda, große Aktienpakte der regionalen Verlagszentren, die die regionalen Beilagen zur Komsomolskaja Pravda sowie die Zeitungen Antenna, Ekspress-Gazeta,

Nachrichtenagentur: Praim Verlagshaus: Segonja-Press

Zeitschrift: Expert SBS-Agro

Fernsehsender: Zeitungen: ORT (Aktienantei- Selskaja shizn, le) Kultura (zusammen mit B. Berezivskij)

Holding Gazprom-Media

Fernsehen: NTV (30 % der Aktien), ORT (3 % der Aktien)

Zeitungen: Trud, Tribuna, über 100 regionale Ausgaben, Delovoj vtornik (Beilage zu 60 regionalen Zeitungen). Zeitschriften: Gazovaja industrija, Faktor

Lukoil-Konzern

Fernsehen: TV-6, Ren-TV (Kredit durch Bank Moskva)

Zeitungen: Izvestija (49 % der Aktien) einschließlich der Beilagen Nedelja, Vidio As

„Alfa-Grup“

Fernsehen: Alfa-TV, MuzTV, TV – 31j kanal

Zeitschriften: TV-Park, KinoPark

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Werbeagenturen: Prem’er SV, ORTReklama

PHASE DREI: ENDE 1995 BIS ANFANG 2000 Andere ausschließlich kommerzielle Medien: Fernsehsender STS (Eigentümer sind STS-Holding und Story First Communications), Satelitenfernsehen Kosmos-TV (Eigentümer: Metromedia International Telcell Inc.) Verlagshaus Kommersant, Argumenti i Fakti, Independent Media, Verlagshaus Burda, Soverschenno sektretno, Moskovskie novosti, Verlagshaus Ekonomitscheskaja Gazeta, AOZT Viktor Schwarz und Co. Quelle: http://www.mediasprut.ru, Stand: 10.05.1999.37

Die neue Konkurrenzsituation leitete die so genannte Epoche der Medienkriege ein. Als Medienkrieg bezeichne ich eine spezielle Form der informellen PR-Kommunikation, die sich in Bezug auf Verarbeitung der politischen und wirtschaftlichen Konkurrenzprobleme im neuen Russland ausdifferenzierte.38 Da vor allem die informellen PR-Strategien zum Hauptinstrument der Medienkriege wurden, ist ein Medienkrieg „als Schlagabtausch der rivalisierenden Organisationen mit Medienberichten, die negative Information über Konkurrenten beinhalten[, zu beschreiben]“.39 Deshalb ist die Reihe der Medienkriege, die die russische Medienlandschaft zwischen 1996 und 1999 erschütterte, als besondere Form der Konkurrenz zu verstehen. Statt um den Zu36 In der vorliegenden Tabelle blieben regionale Medien unberücksichtigt. Bei regionalen Fernseh- und Radiosendern sowie Presseerzeugnissen muss auch zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Eigentümern unterschieden werden. Die staatlichen lokalen Fernsehstationen befinden sich größtenteils unter der Kontrolle lokaler Verwaltungen. Die nicht-staatlichen lokalen Fernsehstationen können sowohl vom Staat als auch vom Eigentümer, der in der Regel ein regionaler Konzern ist, kontrolliert werden. Aber es existieren auch regionale Fernsehstationen, die eine mehr oder weniger selbstständige redaktionelle Linie realisieren können. 37 In der vorliegenden Tabelle blieben regionale Medien unberücksichtigt. Bei regionalen Fernseh- und Radiosendern sowie Presseerzeugnissen muss auch zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Eigentümern unterschieden werden. Die staatlichen lokalen Fernsehstationen befinden sich größtenteils unter der Kontrolle lokaler Verwaltungen. Die nicht-staatlichen lokalen Fernsehstationen können sowohl vom Staat als auch vom Eigentümer, der in der Regel ein regionaler Konzern ist, kontrolliert werden. Aber es existieren auch regionale Fernsehstationen, die eine mehr oder weniger selbstständige redaktionelle Linie verwirklichen können. 38 Ausführlicher zur Definition des Medienkriegs s. II.4.3.2 und II.4.3.3. 39 Auszug aus dem Interview Nr. 2 (2001), Quelle: eigene Erhebung, Übersetzung d. Verfasserin.

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schauer, um Themen, um professionelle Journalisten und um Geltungsbereiche zu konkurrieren, „kämpften“ die Fernsehsender (und die Presse) auf der Seite politischer bzw. wirtschaftlicher Organisationen. Medienlenkriege wurden zum Instrument der Konkurrenzkämpfe innerhalb des politischen und des wirtschaftlichen Teilsystems. Die Koordination zwischen politischen und wirtschaftlichen Auftraggebern, Medieneigentümern und Medienleitern veränderte schließlich die journalistische Tätigkeit (s. II.4.4). Folglich sank die Glaubwürdigkeit der Presse und des Fernsehens, so dass ethische Normen der Medienproduktion völlig obsolet wurden. Gleichwohl, wenn die Medienlenkungsstrategien nicht genutzt wurden und die Berichterstattung mit Interessen der Medieneigentümer nicht auseinander ging, reproduzierte sich die Eigenlogik der autopoietischen Massenmedien weiter. Hervorzuheben ist, dass PR-Kommunikation nur auf Grundlage der Simulation der massenmedialen Kommunikation möglich ist. Die Ausdifferenzierung autopoietischer Massenmedien in Russland zwang alle medialen Organisationen – nicht nur Medien in Besitz kommerzieller Unternehmen, sondern auch die staatlichen Medienorgane – genuin massenmediale Standards in der Konkurrenz um das Publikum zu übernehmen.

4.3 Einnistung der informellen Public Relations in die massenmediale Produktion 4.3.1 Formelle versus informelle Ebene Die Trennung in formelle und informelle Gesellschaftsstrukturen war eines der grundlegenden Merkmale der sowjetischen Gesellschaftsordnung. In der Sowjetunion erfüllte die informelle Ebene die Funktion, die Probleme aufzufangen und zu verarbeiten, die durch die Organisationsstrukturen der Partei nicht verarbeitet werden konnten.40 Mit dem Beginn des Gesellschaftswandels hat sich diese Differenzierung verändert, ist jedoch nicht verschwunden. Während sich in der Sowjetunion diese Trennung in der Differenz zwischen offiziellen und inoffiziellen Medien äußerte, verlief im Zeitraum von 1996 bis 1999 diese Trennung innerhalb ein und denselben massenmedialen Produktionsstätten.41 Innerhalb der Produktionsseite der neuen Massenmedien entwickelte sich ein informeller Bereich der PR-Kommunikation. Formell war die mediale Produktion nach wie vor autopoietisch, informell jedoch koexistierten die Produktionsstrukturen der informellen PR mit den massenmedialen Pro40 Vgl. I.2.1.5. 41 Ab 1986 begann eine langsame Legalisierung der informellen Medien, bis 1990 durch das Gesetz über die Presse alle registrierten Medien als legal eingestuft wurden. In dieser Phase kam es zur Minimierung der Differenz ‚formell/informell‘. Auch zwischen 1991 und 1996 setzt sich diese Tendenz fort: Durch Kommerzialisierung des staatlichen Fernsehen wurden die informellen Korruptionsstrukturen im staatlichen Fernsehen überflüssig (vgl. II.2.2.1 und II.3.2.2).

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duktionsstrukturen. So wie die westlichen PR simulierten auch die informellen PR in Russland die massenmediale Operationsweise und massenmediale Beiträge.42 Der Unterschied zwischen der westlichen (formellen) PR und der informellen PR in Russland besteht in den Produktionswegen: Während die formelle PR-Information von dem Journalisten nach den primär journalistischen Kriterien ausgewählt wird, finden informelle PR-Informationen den Eingang in die massenmediale Berichterstattung durch informelle persönliche und informelle berufliche Kontakte. Informelle Beziehungen existierten im post-sowjetischen Fernsehen auch vor 1996, vor allem in Form von Korruption. Die Ko-Evolution der wirtschaftlichen und politischen Strategien zur Lenkung des Fernsehens führte zur Institutionalisierung der informellen PR-Kommunikation. Die Einnistung der informellen PR in massenmediale Produktionsstrukturen geschah durch Personal und Auftraggeber der PR, die häufig Medieneigentümer waren. Korruption in massenmedialen Organisationen, fehlende journalistische Professionalität sowie journalistische Anpassungsstrategien an Eigentümervorgaben (vorauseilender Gehorsam) waren für die Verbreitung der Auftragsmaterialien begünstigend (s. I.4.4). Zu unterscheiden ist zwischen positiver und negativer inhaltlicher Form der informellen PR-Kommunikation. Während positiv orientierte PR-Kommunikation sowohl für formelle (westliche) als auch für informelle PR möglich ist, ist die negative Form speziell für informelle PR kennzeichnend. Außerdem sind informellen PR nach ihrer Spezialisierung (politisch oder kommerziell) zu unterscheiden. Die informellen PR differenzieren sich nach massenmedialen Produktionsbereichen und sind in Russland in allen Verbreitungsmedien (Presse, Radio, Fernsehen, Internet) vorzufinden: • Im Bereich Nachrichten/Berichte dominieren informelle PR-Formen wie a) Auftragsartikel, Auftragssendungen (so genannte „Dschinsa“), b) „Kompromat“, c) Inszenierung von (positiven und negativen) Ereignissen, d) Medienkriege mit Hilfe des „Kompromats“. • Im Bereich der Werbung wird die so genannte verdeckte Werbung platziert.43 • Im Bereich der Unterhaltung werden die Auftragssendungen in Form von Schleichwerbung verbreitet.44 Die Entstehung der informellen PR irritiert die autopoietischen Massenmedien. Statt die Synchronisation gesellschaftlicher Vorgänge gemäß der massenmedialen Eigenlogik zu betreiben, wird massenmediale Kommunikation durch verschiedene Organisationen zur Verarbeitung ihrer Konkurrenzprob42 So geschieht z.B. die PR-Inszenierung der Medienereignisse u.a. an der Orientierung an Kriterien wie Aktualität, Sensationismus, Negativismus usw. 43 Angemerkt sei, dass Schleichwerbung in Russland verboten ist (vgl. Ʉɪɵɥɨɜ, 1996: 98 ff.). 44 Diese Schlussfolgerung ergibt sich nach der Analyse der Interviews (2001), insbesondere der Fragen 6, 8 und 9 des Leitfadens. Zum Leitfaden vgl. Anhang.

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leme instrumentalisiert. Ein russischer Medienkritiker verglich daher die Funktionsweise der informellen PR mit der Funktionsweise der kommunistischen Propaganda: „Die Meinungsfreiheit der Presse ist gestorben, bevor sie geboren wurde. Die Zeitungen fanden keine andere Existenzform als den Selbstverkauf an Geschäftemacher, die den politischen Einfluss und die ökonomische Rente beanspruchen und die nichts vom Verlagsmanagement verstehen. Die Zeitungen, die theoretisch respektabel und unabhängig hätten werden können, fanden ihren kleinen persönlichen Agitprop.“45

Auch wenn informelle PR einige Elemente von Propaganda beinhalten, besteht ihre Logik nicht – wie bei der Propaganda – in der direkten Vermittlung politischer Mitteilungen an Adressaten. Informelle PR simulieren die Eigenlogik der autopoietischen Massenmedien (ihre Operationsweise und ihre Beiträge), sie orientieren sich aber zugleich am Code der Auftraggeber. Informelle PR können also erst dann zustande kommen, wenn die autopoietische Medienkommunikation konstituiert ist. Offensichtlich erfüllte (und erfüllt) die informelle PR-Kommunikation für die Übergangsgesellschaft Russlands eine komplexitätsreduzierende Funktion. Der Prozess der gesellschaftlichen Dezentralisierung in Russland bedingte die Entstehung mehrerer Funktionssysteme sowie eine Pluralisierung ihrer Organisationseinheiten. Aber die Beziehungen zwischen diesen gesellschaftlichen Strukturen waren noch nicht ausgebildet. Dieses strukturelle Vakuum füllten informelle PR-Strukturen (PR-Auftraggeber, PR-Produzenten, PR-Techniken, PR-Beiträge).46 Sie übernahmen die Funktion der Organisationslegitimation in der sich wandelnden Umwelt. Ihre Entstehung war aufgrund der vorhandenen Trennung zwischen der formellen und der informellen Gesellschaftsebene möglich. Aber ausschlaggebend für ihre Institutionalisierung war die Idee der Medienkontrolle: Medienlenkung wurde immer noch gesellschaftsweit als unabdingbare Bedingung der Gesellschaftssteuerung definiert. Unter der Bedingung der Ausdifferenzierung autopoietischer Massenmedien evoluierten die Mechanismen der Medienlenkung in Russland: Sie erhielten die Form der informellen PR-Kommunikation und erfüllten eine neue Funktion.

45 Ʉɨɥɟɫɧɢɤɨɜ, 1997: ɋɜɢɧɰɨɜɵɟ ɜɨɣɧɵ, ɜ: ɇɨɜɨɟ ɜɪɟɦɹ, Nr. 42, zit. nach: Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, 2001: 89. 46 Die funktional differenzierte Gesellschaft zeichnet sich durch eine Pluralität der Teilsysteme, Heterarchie und Pluralität der Organisationseinheiten aus. Vor allem die Organisationseinheiten bedürfen hier einer Legitimation in den mehrdeutigen Umwelten. Diese Funktion wird in der Regel von der formellen PRKommunikation erfüllt (vgl. I.3.3).

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4.3.2 Medienkriege als Verarbeitung der politischen und wirtschaftlichen Konkurrenzprobleme Während Auftragssendungen, „Kompromat“, Inszenierungen von berichtenswerten Ereignissen und verdeckte Werbung für die Zuschauer nicht sichtbar waren, so stellten die Medienkriege eine Form der informellen PR dar, die auch von Rezipienten wahrgenommen wurde. Die „Epoche der Medienkriege“ beginnt nach dem Abschluss der Präsidentenwahlen 1996 und endet nach den Präsidentenwahlen 2000.47 Zwar nehmen Medienkriege alle Verbreitungsmedien in Anspruch – von der Presse bis zum Internet –, aber das Fernsehen stellt für sie ein zentrales Medium dar. In diesem Kapitel werde ich zunächst eine Definition des Medienkriegs formulieren. Dann wird der Verlauf eines Medienkriegs geschildert. Schließlich wird das Phänomen der Medienkriege durch ein Beispiel illustriert (s. II.4.3.3).

Zur Definition des Medienkrieges Die Auswertung der Interviews der eigenen Erhebung (2001) erlaubt, das Phänomen des Medienkrieges mit einer konkreten Definition zu versehen. Vorab seien besonders treffende Aussagen aus einzelnen Interviews zitiert: „Medienkrieg ist der Schlagabtausch der gegnerischen Seiten mit Medienberichten, die negative Information über Konkurrenten beinhalten.“ (Quelle: eigene Erhebung 2001, Interview Nr. 2) „Wichtiger Bestandteil der Medienkriege ist: Menschen nutzen die ‚Massenvernichtungswaffe‘ ‚Kompromat‘ – Information, die in die Hände der Journalisten gelangt, aber normalerweise dem journalistischem Verhaltenskodex gemäß nicht genutzt wird. Um den Konkurrenten in Verruf zu bringen, wird der verbotene Zug genutzt – das ‚Kompromat’“. (Quelle: eigene Erhebung 2001, Interview Nr. 5) „Medienkrieg? […] Es gibt Krieg zwischen den Medieneigentümern, die verschiedene politische Ansichten vertreten oder auf Seite verschiedener politischer Gruppierungen stehen. Es gibt auch den Krieg des Staates mit den Medien. Das ist auch ein Medienkrieg. Dies ist ein Krieg um das Recht auf Zugang zur Information. […] Mit welchen Mitteln? Mit allen. […] Lizenzverkauf, d.h. Herausgabe oder NichtHerausgabe der Lizenzen durch das Presseministerium, das zur Struktur der Exekutive gehört. Offene Propaganda durch die staatlichen Medien. Geschlossene Propaganda durch die Medien der Finanzunternehmen, die auf verschiedene Weise mit den staatlichen Strukturen zusammenhängen.“ (Quelle: eigene Erhebung 2001, Interview Nr. 7)

Medienkrieg ist also eine Form der informellen PR. Er ist ein Kommunikationsprozess, in dem zwei konkurrierende (politische oder wirtschaftliche) Or47 Einen guten Überblick über die Medienkriege in Russland geben Ʉɭɡɶɦɢɱ/ ɉɪɚɲɤɨɜɢɱ, 2001: 194-215.

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ganisationen, die zugleich Medieneigentümer sind, mediale Lenkungsstrategien nutzen. Durch Erzeugung einer Reihe medialer Bilder, so die Intention, sollen ihre Konkurrenzprobleme gelöst werden. Meistens sind dies solche Bilder, die für die öffentliche Autorität der gegnerischen Seite schädigend wirken. Diese Bilder gelangen von dem Auftraggeber auf den Bildschirm und in die Presse – durch den Einsatz verschiedener Kontrollinstrumente der Medien.48 Meistens wird hierfür eine Kombination aus klassischen und neueren Kontrollmechanismen genutzt. Zu den ersten zählten beispielsweise: • (Teil-)Monopolisierung in den Medien (vgl. Tab. 16), • Einwirkung auf die redaktionelle Linie und • Personaltransfer. Zu den neueren Lenkungsinstrumenten gehörten: • verschiedene Formen der informellen PR wie Auftragssendungen (oder Auftragsartikel), • PR-Inszenierungen von Medienereignissen, und vor allem • Verwendung von negativen Informationen, die das Ansehen des Konkurrenten beschädigen (= „Kompromat“).49 Im „Krieg der Medienbilder“ manifestiert sich der Kampf um die Steuerung der gesellschaftlichen Prozesse. Dabei sollen politische von den wirtschaftlichen Medienkriegen unterschieden werden. Politische Medienkriege konnten insbesondere vor den föderalen und regionalen Wahlen beobachtet werden. Wirtschaftliche Medienkriege fanden vor allem bei Privatisierungskonflikten zwischen Konzernen statt, die Medieneigentümer waren.50 In tabellarischer Form sind die Aussagen der Journalisten über das Phänomen der Medienkriege zusammengefasst:

48 Der Einsatz verschiedener Kontrollmechanismen der Medien wird am Beispiel des Medienkriegs in den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 1999/2000 verdeutlicht (vgl. II.4.3.3). 49 Zu Kommunikationstechniken der Medienkriege gehören z.B. „Sensation und Übertreibung“, „Technik des Kontrasts und der Gegenüberstellung“, „Verschweigen und Unterstreichen von Fakten“ speziell für das Fernsehen, vgl. zu PRTechniken auch Ʉɭɡɶɦɢɱ/ɉɪɚɲɤɨɜɢɱ, 2001: 204-208. 50 Ausführlich zu wirtschaftlichen Medienkriegen vgl. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, 2001: 83 ff.

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Tabelle 17: Journalistische Semantik zum Begriff des Medienkriegs Inhaltliche Dimensionen

Inhaltliche Aussagen von Journalisten

Phänomen

Ein Medienkrieg ist Krieg mit Hilfe von Information. Ein Medienkrieg wird zwischen wirtschaftlichen oder zwischen politischen Konkurrenten geführt. Es kann aber auch ein Krieg zwischen Medien und Politik sein. Ein Medienkrieg ist ein Interessenkonflikt von Politikern mit eigenem Medienzugriff. Wenn ein Politiker sich öffentlich machen möchte und ein anderer ihn daran hindert, ist das Medienkrieg. Ein Medienkrieg ist Krieg mit Hilfe von Kompromat. Ein Medienkrieg ist Krieg im Auftrag. Ein Medienkrieg findet statt, wenn das Fernsehen und andere Medien als Instrument des politischen Kampfes fungieren oder Instrument des Drucks und der Vernichtung einer politischen Gruppierung durch die andere sind. Wenn die Medienbesitzer mit Hilfe von Journalisten ihre Verhältnisse klären, findet Medienkrieg statt. Ein Medienkrieg ist ein politisches Überlebensmittel, um das Interesse an sich aufrechtzuerhalten. Ein Medienkrieg ist ein Kampf zwischen Vertretern der politischen Elite um das Recht auf die Kontrolle gesellschaftlicher Prozesse mit Hilfe der Massenmedien. Ein Medienkrieg ist ein Krieg der Fakten: Zwei Wahrheiten stoßen zusammen. Ein Medienkrieg ist die der Medienkonkurrenz analoge Erscheinung, bloß in ihrer negativen Form. Ein Medienkrieg ist ein Krieg des Staates mit den Medien.

Teilnehmer

Medieneigentümer, Politiker, Vertreter der politischen Elite, politische Gruppierungen, Staat, Medien, Journalisten

Instrumente der Medienlenkung

Kompromat ist das Hauptinstrument in Medienkriegen, unter normalen Umständen wird es aus ethischen Gründen nicht genutzt. PR-Techniken

Ziele

Vernichtung und Destabilisierung des Gegners. Darstellung des Gegners im negativen Licht. Senkung des öffentlichen Ansehens des Gegners. Dem Gegner eine führende Position in der Gesellschaft entziehen.

257

PROPAGANDA ODER AUTONOMIE? Gewinnen im Medienkrieg bedeutet …

Gewinn der Wahlen. den Konkurrenten Pleite machten.

Ursachen

Umverteilung von Ressourcen. Wunsch nach Mediensteuerung ist Ursache für Medienkriege.

Charakteristika

Abwesenheit aller moralisch-ethischen Normen während des Medienkriegs. Bei Teilnahme am Informationskrieg folgt der Tod der Informationsquelle als Massenmedium.

Quelle: eigene Erhebung 2001, Eigene Auswertung der Frage 16 und 17 des Leitfadens, Übersetzung d. Verfasserin.

Phasen eines Medienkrieges Der Ablauf eines Medienkrieges kann nach Ivan Zasurskij idealtypisch in drei Phasen unterteilt werden.51 1. In der ersten Phase werden durch eine angesehene Zeitung (z.B. durch Nezavisimaja Gazeta) mediale Fakten präsentiert, die einen Anlass für einen Medienkrieg darstellen. Diese Fakten werden zusätzlich mit einer Wertung versehen, die durch Auftraggeber vorgegeben wird. Diese Kommentare werden von landesweit führenden Analytikern verbreitet. 2. In der zweiten Phase wird die Thematisierung des Konflikts von zentralen Fernsehsendern (ORT, RTR, NTV) übernommen. Dabei wird die Auseinandersetzung zwischen zwei (wirtschaftlichen oder politischen) Organisationen größtenteils in wöchentlichen analytischen Informationsprogrammen (z.B. Itogi auf NTV oder Vremja auf ORT) kommuniziert. Denn in täglichen Nachrichtensendungen kann ein Konflikt nur aktualisiert, jedoch nicht weiterentwickelt werden. Zudem darf ein Thema in den Nachrichten nicht eine ganze Sendung füllen. In dieser Phase werden Handlungen konfligierender Parteien mit weiteren Wertungen versehen. Aber „die Tatsachen, die juristische Seite des Konflikts interessieren bereits niemanden. Bild, Meinung und Urteil sind generiert. Das Ziel ist erreicht.“52 3. In der dritten Phase eines Medienkriegs wird „abwehrende“ Berichterstattung der angegriffenen Partei durch „ihre“ Medien verbreitet. Außerdem werden politische Entscheidungen über Entlassungen und Ernennungen von Regierungsmitgliedern getroffen. Diese Phase ist nicht für alle Teilnehmer des Medienkriegs erforderlich: Für die Konfliktpartei, die ursprünglich den Konflikt initiierte, erübrigt sich die weitere Teilnahme an der medial vermittelten Auseinandersetzung. 51 Vgl. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ɂ., 2001: 90. 52 Ebd.: 90, Übersetzung d. Verfasserin.

258

PHASE DREI: ENDE 1995 BIS ANFANG 2000

Während zentrale Fernsehsender mit landesweiter Reichweite (ORT, RTR, NTV) für landesweite Verbreitung der konfliktträchtigen Themen sorgen, bilden kommerzielle Sender mit überregionaler Reichweite (TV-6, Ren-TV, STS, TNT) ein Milieu, das die mediale Resonanz der Konflikte verstärkt. Die regionalen TV-Stationen werden wiederum hauptsächlich in die regionalen Medienkriege involviert. Erwähnenswert ist, dass diese Sender sich entweder unter der Kontrolle regionaler Staatsämter oder unter der Kontrolle großer regionaler Konzerne befinden. Die schwierige ökonomische Situation in den Regionen lässt politische Kontrollmechanismen regionaler Medien fortbestehen, denn unabhängige kommerzielle Finanzierungsmöglichkeiten regionaler Medien fehlen. Die Involvierung des regionalen Fernsehens in die Medienkriege ist vor allem den neuen Berufsgruppen der Medienmanager und der PR-Spezialisten zu verdanken. Sie spezialisieren sich hauptsächlich auf (informelle) Öffentlichkeitsarbeit während der Präsidenten- und Parlamentswahlen und arbeiten in der Hauptstadt. Aber in Wahlpausen nehmen sie Aufträge in den Regionen an, in denen auch zahlreiche Wahlen (von Präsidenten der Teilrepubliken bis hin zu Oberbürgermeisterwahlen einzelner Städte) stattfinden. Diese These möchte ich mit einem Interviewauszug illustrieren: „Die schärfsten Medienkriege finden in den Regionen insbesondere vor den Wahlen statt. Ein Material durchzuboxen, einen Fernsehsender zu lenken, sich den Zugang zur Sendezeit zu verschaffen, ist [hier] viel einfacher als in Moskau auf föderaler Ebene. Provokatives Material wird gesendet. Man lädt die PR-Spezialisten [aus Moskau] ein. Um Geld zu verdienen, fahren sie in die Regionen, sie erfüllen den Auftrag, produzieren den Gegner blamierende Materialien. Für Geld werden Gegner [des Auftraggebers] im sehr schlechten Licht gezeigt. Ich habe Bekannte, die sich damit beschäftigen, aber ich werde keine Namen nennen.“ (Auszug aus dem Interview Nr. 27, Übersetzung d. Verfasserin, Quelle: eigene Erhebung 2001)

Massenmedien als „Konstrukteur der öffentlichen Meinung“ Das Hauptziel eines Medienkrieges ist die Steuerung der „öffentlichen Meinung“. Dieses Schema der Medienlenkung stammt vom sowjetischen Modell der Medienlenkung ab. Aber es hat eine Evolution durchlaufen: Statt Medienlenkung als Steuerungsstrategie einer Organisation wird die Lenkung der „öffentlichen Meinung“ durch informelle PR zum Einflussmittel mehrerer Organisationen: die Propagandakommunikation wurde durch die informellen PR (auf Grundlage der Simulation der autopoietischen Massenmedien) ersetzt. Nicht die Macht der Medien selbst, sondern die Zuschreibung dieser Macht ist Quelle für die Verbreitung der informellen PR-Kommunikation in Russland. Deshalb war es auch unerheblich, dass es bis dato niemand geschafft hat, die Wirkung der informellen PR zu belegen. Das Schema von der Macht der Massenmedien als Instrument der Generierung der öffentlichen Meinung war für politische und wirtschaftliche Organisationen ausreichend, um an Medienkriegen teilzunehmen. Aus ihrer Sicht wies das Vorhandensein der vorgegebenen Schlagzeilen im TV und in der Presse den Erfolg der Me259

PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

dienkriege nach. Um deren Wirkung beim Publikum waren sie nach dem alten propagandistischen Schema sicher.53

4.3.3 Die Parlaments- und Präsidentenwahlen 1999/2000 als Beispiel für einen Medienkrieg In seinem Buch Ɋɟɤɨɧɫɬɪɭɤɰɢ Ɋɨɫɫɢɢ ɜ 90-ɟ [Rekonstruktion Russlands54] von 2001 zählt Ivan Zasurskij alle Medienkriege in Russland zwischen 1996 und 2000 auf.55 Da Medienkriege bereits oben definiert und charakterisiert wurden, wird hier nur ein Beispiel für einen Medienkrieg gebracht: der Medienkrieg, der sich um die Parlaments- und Präsidentenwahlen 1999/2000 entwickelte. Im Laufe der zweiten Regierungszeit des Präsidenten Boris Jelzin wurde mehrmals das Regierungskabinett ausgewechselt. Das Parlament sprach dem Präsidenten zwei Mal das Misstrauen aus. Im Herbst 1999 fanden die Parlamentwahlen statt, im März 2000 – die Präsidentschaftswahlen. Dabei dienten die Parlamentswahlen als Stimmungstest für die Präsidentschaftswahlen. Bereits zu Beginn der Vorbereitung auf die Parlamentswahlen entbrannte ein Medienkrieg, der bis zum Ende der Präsidentenwahlen andauerte. Zu den Parlamentwahlen 1999 gründeten sich zwei konkurrierende Wahlparteien. Der erste Block, „Vaterland – ganz Russland“, wurde vom ehemaligen Premierminister Jevgenij Primakov und dem Moskauern Oberbürgermeister Jurij Luschkov geleitet. Primakov wurde später als Präsidentschaftskandidat gewählt. Der zweite Block gründete sich um die machthabende Regierung („Die Familie“), die kurz vor den Wahlen die Partei „Einheit“ ins Leben rief. Vladimir Putin, der ehemalige Leiter des Geheimdienstes „FSB“, wurde am 9. August 1999 als Vertreter des entlassenen Premierministers Stepaschin eingestellt. Am 16. August wurde er bereits vom Parlament zum Premierminister (Regierungschef) befördert. Schließlich wurde er zum Präsidentschaftskandidaten des Kremls (s. Tab. 18). Natürlich gab es auch andere Präsidentschaftskandidaten und politische Parteien, wie die kommunistische Partei von Genadij Sjuganov und die liberale Partei von Gregorij Javlinski, die an Parlaments- und Präsidentenwahlen teilgenommen haben. Aber im Unterschied zu den zwei großen politischen Blocks hatten sie nur bedingten Zugang zu den Medien. Obwohl die Kreml-Gruppe einen etwas besseren Zugang zu Medienressourcen als der Block „Vaterland“ hatte, war der Präsidentschaftskandidat Putin bei weitem nicht so bekannt und populär wie Evgenij Primakov, der durch seine Gestalt des sowjetischen „Apparatschik“ die alte Macht des sowjetischen Imperiums verkörperte. Deshalb entschieden sich die Kreml-Berater aus 53 Vgl. ebd.: 94. 54 Titel: Übersetzung d. Verfasserin. 55 Vgl. ebd.: 79-114.

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PHASE DREI: ENDE 1995 BIS ANFANG 2000

der „Stiftung für effektive Politik“, die Parlamentswahlen für die Einführung Putins ins öffentliche Leben zu nutzen. Dies sollte während des Medienkriegs geschehen, der die Parlamentswahlen begleiten sollte. Dadurch wurde auch das Hauptziel des Medienkrieges bestimmt: Putin sollte nicht einfach ins politische Leben eingeführt werden, sondern sofort zur Hauptperson der russischen Politik erhoben werden. Das Ansehen der gegnerischen Seite „Vaterland – ganz Russland“ sollte im Medienkrieg so beschädigt werden, dass ihr Präsidentschaftskandidat die Wahlen nicht antreten würde. Tabelle 18: Verteilung der Kräfte vor den Parlamentswahlen 1999 Politische Blocks

Kreml

‚Vaterland – ganz Russland‘

Präsidentschaftskandidat

Vladimir Putin

Evgenij Primakov

Politische Marke

„Einheit“, „Bund der rechten Kräfte“

„Vaterland – ganz Russland“

Fernsehsender (unionsweit)56

ORT, RTR, TV-6

NTV, TNT, TVZ

Medienkonzerne

Staatliche Medien, Boris Beresovski gehörende Massenmedien57, regionale Medien

Moskauer und regionale Medien, die vom Moskauer Oberbürgermeister58 und von Gouverneuren kontrolliert werden

Strategie

Angriff

Verteidigung

Quelle: Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ɂ., 2001: 118, Übersetzung d. Verfasserin.

Kontrollmechanismen als Instrumente des Medienkrieges Alte Kontrollmechanismen wie 1) Einwirkung auf die redaktionelle Linie zusammen mit 2) dem Einstellungs- und Entlassungsmechanismus (Redakteurswechsel), 3) Teilzensur aufgrund des 2. Tschetschenienkrieges und 4) 56 Zum Publikumsumfang dieser Sender vgl: Ɂɚɞɨɪɢɧ/ɋɸɬɤɢɧɚ, 2000: 83-84. Den größten Publikumsanteil verzeichnete demnach der Sender ORT. Im Zeitraum von Mai bis Dezember 1999 erhöhte sich sein Zuschaueranteil von 34,4 auf 41,4 Prozent der Bevölkerungszahl. Der zweitbeliebteste Sender in diesem Zeitraum war NTV, dessen Zuschaueranteil von 29,6 auf 26,4 % sank. 57 Vgl. Tabelle 16 in diesem Kapitel. 58 Vgl. Tabelle 16 in diesem Kapitel.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

Teilmonopolisierung (Kauf bestimmter Medien) wurden mit neuen Kontrollmechanismen kombiniert: unangekündigte Steuerprüfung, Drohung des Lizenzentzugs sowie informelle PR-Strategien: insbesondere die negativen PR und die Inszenierung von Medienereignissen.59

Der zweite Tschetschenienkrieg als Medienereignis Der zweite Tschetschenienkrieg begann im August 1999 nach dem Eindringen der tschetschenischen Kämpfer auf russisches Territorium in der Teilrepublik Dagestan. Es kann nicht behauptet werden, dass der zweite Tschetschenienkrieg inszeniert war. Aber der Krieg veränderte eindeutig die thematische Landschaft medialer Berichterstattung vor den Wahlkampagnen. Die mediale Berichterstattung über den Krieg und den Terror trug zur Konstruktion des Feindbildes „der tschetschenischen Terroristen“ bei. Zum einem erlaubte die Zensur des Presseministeriums nicht die Berichterstattung über Tote und Verletzte.60 Zum anderen veränderte sich auch das mediale Bild der regierenden Politiker, vor allem von Premierminister Putin aufgrund der Kriegssituation. Denn in der Wahl-Situation diente der Krieg als besonderer „Medienhintergrund“ für die Konstruktion des Politiker-Images: „Die strukturelle Besonderheit der modernen Wahlkampagnen besteht im Widerspruch zur klaren Präsentation der Absichten im Wahlprogramm und der Notwendigkeit, die Flexibilität und Verschwommenheit der politischen Richtung zu bewahren, um einen Teil der Wähler nicht abzuschrecken. Die einzige Möglichkeit, dieses Dilemma zu vermeiden, ist die Fixierung der öffentlichen Aufmerksamkeit auf Aktuelles, auf Krisen oder auf einen Krieg.“61

Solche Konflikte unterstützen die öffentliche Aufmerksamkeit für den regierenden Politiker – unabhängig davon, wie eindeutig seine politische Pläne sind. In diesem Zusammenhang erscheint eine Hypothese von Ivan Zasurkij sehr plausibel: Der russische Publizistikwissenschaftler behauptet, dass der Krieg einen unabdingbaren Bestandteil der Mediendemokratien darstellt: „Im Kontext politisch-bürokratischer Entscheidungsregeln können Politiker kaum die Eigenschaften präsentieren, die ihnen den Wahlerfolg sichern – Härte, die Fähigkeit schnell zu handeln und das Erzielen von schnellen Ergebnissen. Zwar bringt das politische Handeln auch Lösungen von Problemen, dies geschieht jedoch nicht so schnell und wird nicht so intensiv beobachtet wie ein Krieg.“62

Der Krieg garantiert dem Politiker mediale Aufmerksamkeit und erlaubt ihm, ein Image zu konstruieren, das über oben erwähnte Charakteristika verfügt. Zum anderen hilft die Erschaffung von Feinbildern, die Wähler von aktuellen 59 60 61 62

Vgl. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ɂ., 2001: 118 ff. Vgl. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ɂ., 2001: 122. Ebd.: 124, Übersetzung d. Verfasserin. Ebd.: 125, Übersetzung d. Verfasserin.

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politischen Problemen und Krisen abzulenken, so dass der Wahlerfolg der regierenden Partei (oder Gruppe) nicht beeinträchtigt wird.

PR-Strategie der Wahlkampagne Neben den oben genannten Kontrollmechanismen wurden informelle PRStrategien zum Hauptinstrument des Medienkrieges. Gemäß der Logik der (formellen wie informellen) PR besteht die Aufgabe der PR-Berater darin, ein unterhaltendes und dramatisches Wahlszenario zu entwickeln, das Publikumsaufmerksamkeit magisch anzieht. So können die Politiker-Images, die auch im Wahlszenario entworfen sind, unter besten Bedingungen öffentlicher Aufmerksamkeit präsentiert werden.63 Zur formellen PR-Strategie der Kreml-Gruppe gehörte das so genannte „Klonen“ der gegnerischen Partei durch die Gründung der Partei „Einheit“, die alle Attribute des populären Wahlblocks „Vaterland – ganz Russland“ übernahm. Die informelle PR-Strategie der so genannten Kreml-Gruppe beinhaltete folgende Elemente: 1) Marginalisierung der gegnerischen Kandidaten mit Hilfe von negativen PR, 2) „Nachrichtentechniken“, z.B. „Napilenie“ (s. unten) sowie 3) die Erschaffung eines positiven Images des neuen Kandidaten und die Wiederherstellung des Bildes vom „Großen Russland“ durch den Zugang zu den Nachrichten und die Einwirkung auf die redaktionelle Linie. 1) Es begann der Medienangriff auf „Vaterland – ganz Russland“ durch Medien der Kreml-Gruppe. Die Abendnachrichtensendung Vremja, die durch den wichtigsten landesweiten staatlichen Fernsehsender ORT übertragen wurde, wurde zum Zentrum der Medienangriffe: „‚Analytische‘ Fernsehshows erschütterten sogar den russischen Zuschauer, der viel erlebt hat. Auf dem Fernsehbildschirm zeigte man, wie der dem Kreml missliebige Generalstaatsanwalt Jurij Skuratov sich mit zwei Prostituierten vergnügt, wie tschetschenische Kämpfer einer Geisel den Kopf abschlagen und sogar, wie eine chirurgische Operation durchgeführt wird, die [der alternative Präsidentschaftskandidat] Evgenij Primakov in der Schweiz machen ließ.“64

Diese Berichterstattung begrenzte sich auf die Beleuchtung von Themen, die vom politischen Zentrum (dem Wahlstab des Premiers Putin) vorgegeben wurden. 2) In den Fernsehnachrichten wurde die besondere Kommunikationstechnik „Napilenie“ verwendet.65 Als Napilenie (ins Deutsche etwa mit „Zustau63 Im August 1999 bezogen 61 Prozent der russischen Bevölkerung Information über Wahlkampagnen aus den föderalen Fernseh- und Radiosendern. Im Dezember 1999 waren dies 79,7 Prozent (repräsentative Befragung der Stiftung „WZIOM“) (Vgl. Ɂɚɞɨɪɢɧ/ɋɸɬɤɢɧɚ, 2001: 82). 64 Ʉɚɝɚɪɥɢɰɤɢɣ, Ȼ., 2000: Ɋɟɫɬɚɜɪɚɰɢɹ Ɋɨɫɫɢɢ: 323, Zit. nach: Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, 2001: 125. 65 Vgl. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ɂ., 2001: 131.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

ben“ zu übersetzen) – bezeichnete man in PR-Fachkreisen die häufige, bezahlte Erwähnung des Namens Putins in den Nachrichtensendungen zu verschiedensten Anlässen (s. Tab. 19). Diese Erwähnungen sollten nach Ansicht der PR-Experten die Richtung des Wahlausgangs demonstrieren. Zudem verzichtete Putin auf kostenlose Werbezeit und war dadurch moralisch den anderen Kandidaten überlegen. Russische Medien vermittelten in diesem Wahlkampf politische Selbstdarstellungen Putins, ohne sie zu kommentieren. Dies hing mit der neuen gesetzlichen Begrenzung des journalistischen Kommentars zusammen. Die politische Fernsehwerbung anderer Präsidentschaftskandidaten ging in diesem Mediensturm unter und hatte insgesamt für diese Präsidentenwahlen nur geringe Bedeutung.66 Die Gegenstrategie des Wahlblocks „Vaterland – ganz Russland“ war gekennzeichnet durch die analoge Initiierung von Medienkampagnen. In den Fernsehsendern und Presseerzeugnissen, die der Moskauer Gruppe gehörten, wurden negative Informationen über die politischen Konkurrenten verbreitet. Der Kampf der negativen Informationen bedingte einen steigenden Vertrauensverlust der Medien bei dem Publikum. Schließlich verzichtete Evgenij Primakov auf die Präsidenschafskandidatur. Sein Wahlblock fiel nach der Niederlage in den Parlamentswahlen (Dezember 1999) auseinander.67 3) 1996 bestand die PR-Strategie der regierenden Gruppe in der medialen Vermittlung der „Lösung aller Probleme“. Im Jahr 2000 sollte mit Hilfe der Medien ein Verbund zwischen regierenden Eliten und dem „Volk“ medial simuliert werden. Es sollten alle Inhalte thematisiert werden, die mit dem Thema „Großes Russland“ zusammenhängen. Zwei Typen der Inhalte waren für die mediale Konstruktion des „Großes Russlands“ ausschlaggebend: Berichterstattung über die äußeren (ethnischen) Feinde und über die inneren (politischen) Feinde. Die Initiierung der Kriegskämpfe im zweiten Tschetschenienkrieg trug zur Erschaffung einer klaren Gestalt des Feindes bei.68 Im März 2000 wurde Vladimir Putin zum ersten Mal zum Präsidenten Russlands gewählt.

66 Zur politischen Werbung bei den Parlamentswahlen 1995 und 1999 vgl. Ɏɟɞɨɬɨɜ, 2000: ɉɨɥɢɬɢɱɟɫɤɚɹ ɪɟɤɥɚɦɚ ɧɚ ɜɵɛɨɪɚɯ ɜ Ƚɨɫɭɞɚɪɫɬɜɟɧɧɭɸ Ⱦɭɦɭ 1995 ɢ 1999 ɝɝ.: 36 ff. 67 Ausführlicher über die Gegenstrategie des Wahlblocks „Vaterland – ganz Russland“ vgl. ɐɭɥɚɞɡɟ, 2000: Ȼɨɥɶɲɚɹ ɦɚɧɢɩɭɥɹɬɢɜɧɚɹ ɢɝɪɚ: 155 ff. 68 Vgl. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, 2001: 157.

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PHASE DREI: ENDE 1995 BIS ANFANG 2000

Tabelle 19: Fernsehberichterstattung über die russischen Präsidentschaftskandidaten 1999 (3.-21. März) und Wahlergebnisse (in Prozent) PräsidentenKandidat

Zentrale Fernsehsender gesamt

ORT

RTR

NTV

Wahlergebnisse

Vladimir Putin

48,3

43,8

53,3

45,0

52,9

Genadij Sjuganov

11,4

10,2

10,7

16,9

29,2

Grigorij Javlinski

8,0

8,0

7,4

9,5

5,8

Aman Tuleev

2,7

2,5

4,2

2,6

2,9

Vladimir Schirinovski

11,8

11,3

8,7

16,9

2,7

Konstantin Titov

4,5

5,66

5,5

3,7

1,5

Ella Pamfilova

2,8

4,3

2,8

2,1

1,0

Stanislav Govoruchin

2,6

3,1

1,2

2,9

0,4

Jurij Skuratov

1,9

3,1

2,4

1,8

0,4

Aleksej Podbereskin

1,8

2,8

1,9

1,4

0,1

Umar Dschabrailov

2,0

3,9

0,6

1,4

0,1

Evgenij Sevostjanov

2,1

1,5

1,4

1,1

0

Quelle: Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ɂ., 2001: 127.

4.4 Die Rolle des Journalisten: Der Journalist als Spezialist der informellen Public Relations Die Anwendung der politischen PR bei den Präsidentschaftswahlen 1996 führte zur Entstehung einer Berufsgruppe der Medien- und PR-Managern. Die Involvierung des Personals der staatlichen Medien, der Werbeunternehmen, der Banken und Finanzgruppen bei den Präsidentschaftswahlen 1996 führte dazu, dass die Ausbildung im Bereich der informellen PR eine hohe Zahl von Spezialisten hervorbrachte. Das Personal des später entstandenen Bereichs der informellen PR bestand aus drei Gruppen: 1) Medienmanager, 2) PR-

265

PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

Spezialisten69 und 3) Journalisten. Im Laufe weiterer Medienkampagnen und Medienkriege haben die Journalisten zunehmend die Aufgaben der Medienmanager und PR-Spezialisten übernommen, und es fand eine weitere Sozialisation der Journalisten durch die Strategien der informellen PR statt, was auf die Irritation der autopoietischen Medien durch die informelle PR hindeutet. Die fehlende journalistische Professionalität war ursächlich für die Entstehung der informellen PR-Kommunikation innerhalb der massenmedialen Produktionsstätten. Statt journalistischer Professionalität übernimmt der Journalist professionelle Kriterien eines PR-Spezialisten. Einer der Gründe dafür liegt in den von früher beibehaltenen Anpassungsstrategien der postsowjetischen Journalisten: Anpassung an die Obrigkeit – ob Partei, Staat oder Auftraggeber. Selbst die Verfechter der unabhängigen Medien mussten gegen Ende der 90er Jahre feststellen, dass russische Journalisten sich eher an Vorgaben der Medieneigentümer orientieren, statt die redaktionelle Linie zu verteidigen. Aleksej Simonov, der Vorsitzende der einflussreichen „Stiftung zur Verteidigung der Glasnost“, beschrieb die Anpassung der Journalisten an die Anweisungen ‚von oben‘ als Hauptproblem russischer Massenmedien: „Die Menschen, die heute in der Presse dominieren, hängen leider von ihrer eigenen Vergangenheit ab. Sie spiegelt sich in ihrer Psychologie, ihrem Können und ihren Traditionen, die sie unbewusst in ihren Genen tragen. Ich glaube, dass das wichtigste Problem auf dem Weg zur Unabhängigkeit der russischen Massenmedien darin besteht, dass es in ihnen zu wenig unabhängiger Personen gibt.“70

Zudem wurde die Möglichkeit, informelle Schattengeschäfte zu betreiben, von vielen Journalisten, die in großen Medienkonzernen beschäftig waren, als privilegierter Zugang zu finanziellen Ressourcen wahrgenommen. Diese Erwartungshaltung trug auch zur Wiederaktualisierung sowjetischer Anpassungsstrategie der Journalisten bei. So sind bhnlichkeiten zwischen den Berufsstandards der neuen russischen Journalisten und den Berufsstandards der sowjetischen Journalisten feststellbar: „Im neuen Russland „[…] wuchs eine ganze Generation von Journalisten auf, die sich schlecht vorstellen können (oder es bereits vergessen haben), was ‚sauberer‘ Journalismus ohne ‚sozialen Auftrag‘ ist. Es entstand ein neuer journalistischer Professionalismus, der nicht der Professionalismus des Zeitungs-, Zeitschriften- oder Fernsehjournalisten, sondern PR-Professionalismus ist: der Professionalismus des Spezialisten für Werbung und Beförderung von Auftragsinformation (und Falschmeldungen) auf den Markt. Das Presseblei wurde zum Werkzeug des Bankiers und Politikers, der Journalist verwandelte sich in ein Sprachrohr. Ich verstehe nicht ganz, warum wir über den parteilichen Journalismus der Breschnev-Zeit schimpfen. Denn er wurde auch professionell und nach den Regeln der Wortkunst hergestellt.“71 69 Zu den Rekrutierungswegen russischer PR-Spezialisten vgl. Ʉɭɡɶɦɢɱ/ɉɪɚɲɤɨɜɢɱ, 2001: ɋɟɤɪɤɬɵ ɪɨɫɫɢɣɫɤɨɝɨ ɩɨɥɢɬɢɱɟɫɤɨɝɨ PR: 98-135. 70 Runder Tisch zu Problemen der russischen Medien (September 2001), vgl. http://www.internews.ru (Stand: 05.10.2001), Übersetzung d. Verfasserin. 71 Ʉɨɥɟɫɧɢɤɨɜ, 1997 zit. nach: Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ɂ., 2001: 89.

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Vor allem journalistische Solidarität gehört zu den Normen des informellen PR-Spezialisten. Als journalistische Solidarität wird eine Form der Zusammenarbeit unter Journalisten verstanden, die parallel als PR-Spezialisten oder im Auftrag der PR-Manager tätig sind. Journalistische Solidarität als informelle Beziehungsform reguliert den Zugang zu Aufträgen sowie die Möglichkeiten der Sanktion von schlechten Kunden: „Ehrenkodex? […] Es gibt bestimmte Spielregeln, wenn man von einem Menschen etwas erhält… Wenn Journalisten Zeitungen lesen und fernsehen, rechnen sie sofort die Auftragsartikel aus und benennen die Preise. Zeitweise sagt man: ‚Schau mal, er war bei uns und wir haben ihn weggeschickt, weil er zu wenig Geld brachte, aber die anderen haben seinen Auftrag angenommen, haben den Preis gedrückt.‘ Bei ihnen ist alles auf Geld aufgebaut und dieser Ehrenkodex ist ziemlich relativ. Als Ehre kann man dies nicht bezeichnen, es gibt einfach bestimmte Regeln: Wenn man den Auftrag eines Menschen erfüllt, seinen beauftragten Artikel oder Sendung veröffentlicht, aber er kein Geld zahlt, wird dies sofort über ein ‚Telefon‘ weitergegeben und über diesen Menschen wird nirgendwo mehr berichtet. Oder wenn es mit einem Kunden Probleme gibt, wird dies in der Regel über eigene nicht-öffentliche Kanäle weitergegeben. Und wenn alles in Ordnung ist, wird dies auch weitergegeben, dass man diesen Kerl senden darf. In unseren Medien herrscht heute der Kodex der Finanzehre, sozusagen.“ (Auszug aus dem Interview Nr. 18, Übersetzung d. Verfasserin, Quelle: eigene Erhebung 2001)

Auch die Preise für Auftragsartikel werden durch informelle journalistische Netzwerke aktualisiert: „Wozu soll ich Beispiele bringen, wenn alle genau wissen, wie die Politik die Massenmedien manipuliert. Wie sie beliebige Medien vor den Wahlen kauft usw. Alle wissen genaustens, wie viel es kostet, auf einem Fernsehsender ins Fernsehbild zu so einem [Journalisten] zu kommen, wie viel es kostet, einen Artikel in einer Ausgabe in Auftrag zu geben. All das ist bekannt. Alle, die im Fernsehen und in der Presse arbeiten, wissen, wie teuer für Politiker, für Abgeordnete die Massenmedien sind. Und die PR-Spezialisten kennen diese Menschen, die sich mit Wahlkampagnen beschäftigen, aus dem Wahlstab der Politiker.“ (Auszug aus dem Interview Nr. 8, Übersetzung d. Verfasserin, Quelle: eigene Erhebung 2001)

Die Verbreitung von Korruption in den Redaktionen ist auch ein Grund, warum sich statt Verfestigung journalistischer Berufsstandards die Standards der „Käuflichkeit“ eines Journalisten durchsetzen. Die Frage nach professionellen journalistischen Entscheidungsregeln, die in Form der Frage nach dem realen journalistischen Kodex operationalisiert war, erscheint in diesem Kontext für viele Journalisten mehr als absurd: „Ein journalistischer Kodex? Nur Sie können sich wohl an ihn erinnern! Alle pfeifen auf irgendwelche Normen und ethische Regeln. Schauen Sie, in welchem Land, in welcher Zeit wir leben, dieser Kodex ist lediglich eine Fiktion. Ich erinnere mich, als er in Russland von Chefredakteuren und bekannten Journalisten unterschrieben wurde. Das ist lange her. […] Na und? Es kam die Zeit und alle vergaßen, dass sie Menschen und nicht Wölfe sind. Geld – das ist der Hauptkodex und die Größe der

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE? Geldscheine ist seine Satzung.“ (Auszug aus dem Interview Nr. 5, Übersetzung d. Verfasserin, Quelle: eigene Erhebung 2001)72

4.5 Publikum und Rezeptionsprozesse Publikum Die innere Strukturierung autopoietischer Massenmedien besteht in der Verknüpfung der Selektionsprozesse der Produktions- und der Publikumsseite. Während die Produktionsseite Themen und Beiträge selektiert, wählt die Publikumsseite massenmediale Inhalte durch die Zuweisung der Aufmerksamkeit aus. Durch spezielle Organisationen wird außerdem aktuelles und potentielles Publikum von den Medienorganisationen beobachtet und bei der inneren Programmierung berücksichtigt. Das heißt, das Publikum stellt eine wichtige interne Komponente des massenmedialen Systems dar. Die autopoietischen Massenmedien lassen sich nach dem inneren Zusammenhang zwischen Produktions- und Publikumsseite von Propagandakommunikation und informeller PR-Kommunikation trennen.73 Welche innere Strukturierung der russischen Massenmedien (am Beispiel des Fernsehens) ist in der Zeit von 1996 bis 2000 beobachtbar? In diesem Zeitraum koexistieren zwei Typen medialer Kommunikation nebeneinander: 1) autopoietische Massenmedien und 2) der Bereich der informellen PRKommunikation. 1) Die massenmedialen Bereiche der Werbung und der Unterhaltung zeichnen sich durch die Berücksichtigung der Publikumserwartungen aus. So werden in diesen Bereichen die Methoden der Zuschauermessung verfeinert und verbessert. Es bilden sich immer mehr Organisationen, die für den Bereich Publikumsbeobachtung spezialisiert sind. Sowohl kommerzielle als auch staatliche Medien vergeben Aufträge, ihren potentiellen und aktuellen Publikumsumfang zu messen.74 2) Die Propagandakommunikation existiert in ihrer ursprünglichen Form in Russland nicht mehr. Sie hat sich zum Bereich der informellen PR gewandelt. Wo genau liegen die Unterschiede zwischen diesen beiden Kommunikationstypen? a) In einem Punkt ähnelt die informelle PR der Propaganda: Bei den informellen PR werden die Vorgaben an die Instanzen der Medienproduktion weitergeleitet. Diese Vorgaben werden in der Regel durch die Medieneigentümer mit Hilfe der alten und neuen Kontrollmechanismen durchgeführt. Dies kommt insbesondere im Bereich der Nachrichten/Berichte vor. 72 Zu weiteren Charakteristika des journalistischen Ethos vgl. Ʌɚɡɭɬɢɧɚ, 2000: ɉɪɨɮɟɫɫɢɨɧɚɥɶɧɚɹ ɷɬɢɤɚ ɠɭɪɧɚɥɢɫɬɚ: 155 ff. Ʉɭɡɧɟɰɨɜ, 2002: Ɍȼ-ɀɭɪɧɚɥɢɫɬɢɤɚ: ɤɪɢɬɟɪɢɢ ɩɪɨɮɟɫɫɢɨɧɚɥɢɡɦɚ: 186 ff. 73 Vgl. ausführlicher dazu I.3. 74 Vgl. Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2001: 93 ff.

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b) Der Kommunikationstyp der informellen PR zeichnet sich aber aus durch die Einführung der Publikumserwartungen in die Produktionsstrukturen. Denn das Publikum wird von PR-Auftraggebern nicht mehr als Masse wahrgenommen, die alle Botschaften annimmt und übernimmt. Die informellen PR orientieren ihre Kommunikation nicht an medialen Publika, sondern an den als relevant eingestuften Umwelten und Zielpublika. So lässt sich hier die Orientierung an der föderalen bzw. regionalen Regierungsinstanzen, an Eliten und an speziellen Zielpublika, wie z.B. bestimmten Unternehmergruppen, feststellen.75 c) Für den Kommunikationstyp der informellen PR, der als Mischform von Propaganda und moderner PR zu verstehen ist, gilt, dass die Beobachtungsinstanzen zwischen Produktions- und Publikumsseite durch die Auftraggeber der PR geleitet werden. Die Daten über die Beobachtung der als relevant eingestuften Umwelten werden dann gemäß den Vorgaben der Auftraggeber interpretiert. Diese Aussage lässt sich am Beispiel der Wahlbefragungen verdeutlichen: In der Wahlkampagne von Putin von 1999/2000 wurden manipulierte Befragungsergebnisse zwecks Erzeugung eines positiven Images des Präsidentschaftskandidaten eingesetzt. Die Befragungsergebnisse an sich sind noch keine PR-Kommunikation. Aber durch ihre Einbeziehung ins Wahlszenario und die entsprechende Interpretation wurden sie zum Element der informellen PR. In der Startphase jeder Wahlkampagne dient die Berichterstattung über die Befragungsergebnisse als mediales Ereignis, noch vor allen anderen Themen. Zudem gibt sie Orientierungspunkte für die Berichterstattung über die Kandidaten vor. So gaben die Befragungsergebnisse im Herbst 1999 den Journalisten die Möglichkeit, Putin als „Hoffnung der Nation“ darzustellen. In Kommentaren zu Befragungsergebnissen in analytischen Fernsehsendungen wurde die führende Position Putins in Befragungsergebnissen als positiv bewertet. Der oppositionelle Gegner – Moskaus Oberbürgermeister Luschkov – wurde negativ als „bösartig“, „kleinlich“, „hektisch“ oder „kränklich“ bezeichnet. Die Ergebnisse aller anderen Politiker wurden überhaupt nicht kommentiert. Neben soziologischen Befragungen führten einzelne analytische Sendungen auch so genannte interaktive Befragungen durch. Der Großteil der Anrufer war immer auf der Seite von Putin.76

Rezeption Medienkriege irritierten die autopoietischen Massenmedien. Von Rezipienten wurden die Medieninstanzen mit zunehmendem Misstrauen beobachtet. Wäh75 Vgl. Ʉɭɡɦɶɦɢɱ/ ɉɪɚɲɤɨɜɢɱ: 194 ff. 76 Vgl. ɋɨɝɨɦɨɥɨɜ/Ɂɜɨɧɨɜɫɤɢɣ, 2002: Ɉɩɪɨɫɵ ɨɛɳɟɫɬɜɟɧɧɨɝɨ ɦɧɟɧɢɹ ɤɚɤ ɫɪɟɞɫɬɜɨ ɦɚɧɢɩɭɥɹɰɢɢ.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

rend politische und wirtschaftliche Organisationen mit Hilfe der Massenmedien Medienkriege betrieben, lehnte das Publikum zunehmend sowohl Politik als auch Medien ab. So vertrauten gemäß einer repräsentativen Untersuchung der Stiftung „WZIOM“ im September 1999 nur etwa 25 Prozent der Bevölkerung Russlands den Medien.77 45 % schätzten Medien als „nicht vertrauenswürdig“ ein, 18 % waren „ausschließlich misstrauisch“ gegenüber den Massenmedien eingestellt. Etwa 12 % konnte sich nicht auf eine Antwort festlegen. In dieser Phase schaltet sich ein „Filtermechanismus“ der russischen Zuschauer ein. Nach der Rezeptionsstudie von Ellen Mickiewicz78, die 1998 durchgeführt wurde, wird in der hier untersuchten Phase das sowjetische Rezeptionsmuster des Publikums wiederaktualisiert. Zu den wesentlichen Elementen dieses Rezeptionsmusters gehören: 1) kritische Einstellung zu besonders positiven Nachrichtenmeldungen, 2) Analyse des Aufbaus der Nachrichtensendungen, 3) Suche nach dem Nutznießer der (vermeintlich oder tatsächlich bestellten) Information, 4) Suche nach Inkonsistenzen in der Nachrichtendarstellung. Insgesamt wurde eine ausgeprägte Kritikfähigkeit der russischen Zuschauer festgestellt. Die anderen empirischen Untersuchungen zeigen, dass sich insbesondere während der Wahlkampagnen der „Filtermechanismus“ der russischen Fernsehzuschauer einschaltet. Zwar fungierten föderale Fernsehsender für 79,9 Prozent der Russen als zentrale Informationsquelle während der Präsidentschaftswahlkampagne 199979, doch die Fernsehmitteilungen wurden von den Zuschauern kritisch wahrgenommen. Nach der Untersuchung der „Agentur regionaler politischer Forschungen“ („ARPI“), nahmen etwa 13 Prozent der Bevölkerung an, dass „die zentralen Fernsehsender die Wahlkandidaten und Parteien vor den Wahlen fast immer voreingenommen präsentieren.“80 Etwas mehr als 30 Prozent der Russen glaubten, dass „die zentralen Fernsehsender häufig politische Information verzerrt darstellen.“81 Trotz des Misstrauens gegenüber den zentralen Fernsehsendern blieb der Publikumsumfang dieser Sender stabil, was eine 8-monatige Untersuchung des „ARPI“ (zwischen Mai und Dezember 1999) herausfand.82 Offensichtlich sind russische Fernsehzuschauer bereit, politische Berichte zu konsumieren, auch wenn sie sie als manipulativ einschätzen. Auf der einen Seite geht dieses Rezeptionsverhalten aus dem sowjetischen Mediennutzungsmuster hervor. Auf der anderen Seite sind die Wahlmöglichkeiten der politischen Fernsehbe77 Diese Daten gehen aus der Befragung der Stiftung „WZIOM“ September 1999 hervor. Vgl. Ɂɚɞɨɪɢɧ/ɋɸɬɤɢɧɚ, 2000: Ɉɫɨɛɟɧɧɨɫɬɢ ɩɨɬɟɪɛɥɟɧɢɹ ɩɨɥɢɬɢɱɟɫɤɨɣ ɢɧɮɨɪɦɚɰɢɢ ɢ ɟɟ ɜɥɢɹɧɢɹ ɧɚ ɷɥɟɤɬɨɪɚɥɶɧɵɟ ɩɪɟɞɩɨɱɬɟɧɢɹ: 81. 78 Vgl. Mickiewicz, 1999: 286 ff. 79 Diese Daten gehen aus der Befragung der Stiftung „WZIOM“ vom Dezember 1999 hervor. Vgl. Ɂɚɞɨɪɢɧ/ɋɸɬɤɢɧɚ, 2000: 82. 80 Ebd.: 83, Übersetzung d. Verfasserin. 81 Ebd, Übersetzung d. Verfasserin. 82 Vgl. ebd.: 83-84.

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PHASE DREI: ENDE 1995 BIS ANFANG 2000

richterstattung im neuen Russland immer noch begrenzt. Denn die technische Reichweite der neuen und alten Fernsehsender unterscheidet sich stark voneinander: Während etwa 95 Prozent der Bevölkerung die regierungsnahen Stationen ORT und RTR empfangen können, sind das bei NTV lediglich 58 und bei TVZ 24 Prozent.83

4 . 6 Zu s a m m e n f a s s u n g Die dritte Phase der massenmedialen Ausdifferenzierung im neuen Russland ist durch die Ko-Existenz zweier Medienkommunikationstypen gekennzeichnet. Neben den autopoietischen Massenmedien entwickelt sich in den Produktionsstätten des Fernsehens der Kommunikationstyp der informellen PR. Informelle PR sind als organisationale Kommunikation zu verstehen: Sie sind eine Mischform zwischen Propaganda und der modernen PR-Kommunikation. Folgende Gemeinsamkeiten weisen sie mit der Propaganda-Kommunikation auf: • Die Selektion der Inhalte der informellen PR erfolgt durch die Auftraggeber-Organisation. • Die Berichterstattung über die Auftraggeber ist immer positiv, die Berichterstattung über den Konkurrenten immer negativ. Die Freund/FeindSemantik wird aktualisiert. • Im Nachrichtenbereich fehlt die Trennung zwischen Fakt und Kommentar. • Die Beobachtung der Publikumserwartungen sowie die Interpretation der Beobachtung übernimmt der Auftraggeber. Er formuliert auch die Wünsche des Publikums. • Fast immer ist die Steuerung des Publikums im Sinne der Übernahme von Handlungsanweisungen Ziel der informellen PR. Mit den modernen PR haben die informellen PR folgende Gemeinsamkeiten: • Die Produktionsstrukturen der informellen PR und der formellen PR gleichen sich an: PR-Auftraggeber, PR-Produzenten (Organisationen), PRTechniken, PR-Beiträge. In Russland sind die informellen PR oft in Medienorganisationen oder PR-Agenturen verwurzelt. • Auch durch informelle PR wird die massenmediale Eigenlogik simuliert: Dies geschieht erstens durch die Nachahmung massenmedialer Darstellungsformen, z.B. analytischer Sendungen. Zweitens orientieren sich die informellen PR bei der Inszenierung berichtenswerter Ereignisse an massenmedialen Selektionskriterien: Konflikte, Katastrophen, Berichterstattung über Prominente, Quantitäten usw. • Das Publikum wird nicht als Masse, sondern als die relevant eingestufte Umwelt (z.B. Regierung, Wähler, Eliten, wirtschaftliche Organisationen) verstanden. 83 Vgl. ebd.: 85.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

Die Entstehung des informellen PR-Bereichs geht auf die Spaltung zwischen formeller und informeller Ebene in der russischen Übergangsgesellschaft zurück: Da die Funktionssysteme im neuen Russland sich im Entstehungsprozess befinden, müssen informelle Strukturen bestimmte Funktionen im Übergangsprozess übernehmen. So übernimmt eine Form der informellen PR, der Medienkrieg, die Funktion der Verarbeitung politischer und wirtschaftlicher Konkurrenzprobleme in der Übergangsphase. Obwohl es in dieser Phase zur Evolution der staatlichen Kontrollmechanismen des Fernsehens (und anderer Medien) kommt, ist sie durch Dezentralisierungsprozesse gekennzeichnet. Alte (sowjetische) Kontrollmechanismen wie 1) Einwirkung auf die redaktionelle Linie, zusammen mit 2) dem Einstellungs- und Entlassungsmechanismus (Redakteurswechsel), 3) einer Teilzensur aufgrund des 2. Tschetschenienkrieges und 4) einer Teilmonopolisierung (Kauf bestimmter Medien) wurden mit neuen Kontrollmechanismen kombiniert: a) unangekündigte Steuerprüfung, b) Drohung des Lizenzentzugs sowie c) formelle und informelle PR-Strategien. Im informellen Bereich wurden vielfältige Formen der Schatten-PR benutzt, insbesondere negative PR („Kompromat“) und Inszenierungen von Medienereignissen. Natürlich kommt es zu Irritationen der journalistischen Autonomie auf der Organisationsebene, diese Irritationen verlaufen aber dezentral: die Übernahme der politischen Lenkungsinstrumente der Massenmedien durch wirtschaftliche Organisationen nach den Präsidentschaftswahlen 1996 führte dazu, dass die Medienorganisationen nicht unter dem Einfluss einer Organisation (z.B. einer Partei), sondern unter dem Einfluss mehrerer (politischer und wirtschaftlicher) Organisationen standen. Durch die Evolution der Instrumente der Medienlenkung und Übernahme dieser Instrumente durch die Wirtschaft wird die Herausbildung des parallelen informellen Bereichs der PR erst möglich. Die Ko-Existenz zweier Typen von medialer Kommunikation ist über die Einbeziehung/Nicht-Einbeziehung der Publikumserwartungen in die Produktionsstrukturen der Medien beobachtbar. Die autopoietischen Massenmedien (insbesondere Bereiche der Werbung und der Unterhaltung) berücksichtigen, wie oben bereits erwähnt, das aktuelle und das potentielle Publikum mit. Die Publikumsforschung wird ausgeweitet, ihre Instrumente werden verbessert. Gleichzeitig produzieren die informellen PR innerhalb der Medienorganisationen die Beiträge für ihre Zielpublika. Doch die Formulierung der Wünsche der Zielpublika wird hier durch den Auftraggeber der PR erledigt. Die Beobachtung des potentiellen PR-Publikums übernimmt zudem auch die Auftraggeber-Organisation. Sie gibt z.B. an, wie die Daten über die Mediennutzung den relevanten Umwelten (z.B. die Wähler) zu interpretieren sind. Folglich sinkt die Reputation des Fernsehens und der Presse bei Rezipienten. Der „Filtermechanismus“ der russischen Zuschauer wird aktiviert.

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5. P HASE V IER : K ONKURRENZ ZWISCHEN AUTOPOIETISCHEN M ASSENMEDIEN , INFORMELLEN P UBLIC R ELATIONS UND DER P ROPAGANDA AM B EISPIEL DES RUSSISCHEN F ERNSEHENS ( AB 2000)

Einleitung Die vierte Phase des medialen Wandels in Russland beginnt mit den Versuchen des Staates, sich die Fernsehorganisationen hierarchisch unterzuordnen. In dieser Phase des Wandels bleibt der informelle Medienbereich nach wie vor bestehen. Aber: Weil sich innerhalb des politischen Systems die Zentralisierungstendenzen verstärken, hören die Medienkriege auf.1 Wenn die Konkurrenz zwischen politischen Instanzen fehlt, werden Medienkriege auf der Ebene der landesweit führenden Medien überflüssig. Stattdessen werden auf das staatliche Fernsehen wieder die Kontrollmechanismen angewandt, die in bestimmten Bereichen die massenmediale Eigenlogik irritieren. Vor allem im Bereich der Nachrichten und Berichte können bei den staatlichen Fernsehsendern wieder Propagandainhalte beobachtet werden. Daneben existieren auch autopoietische Nachrichten sowie Nachrichten, die durch illegale Aufträge zustande kommen. Den kommerziellen Fernsehsendern kann die neue Medienpolitik noch nicht die gleichen Kontrollmechanismen auferlegen wie den staatlichen. Auch wenn die nicht-staatlichen Sender von Propagandainhalten weitgehend frei sind, verzichten sie auf Kritik der höheren politischen bmter. Für diese Lage sind die Mechanismen der Selbstzensur der Fernsehsender und vorauseilender journalistischer Gehorsam auf individueller Ebene verantwortlich. Gleichzeitig ist die Medienlandschaft – und speziell die Fernsehlandschaft – nach wie vor durch die Pluralisierung der Medienorganisationen gekennzeichnet. Die organisatorische Unterordnung des Fernsehens unter den Präsidentenapparat, so wie vor 1985, können Regierungsinstanzen nicht vollständig einrichten. Erwähnenswert ist, dass in Bereichen der Werbung und Unterhaltung nach wie vor Prozesse globaler massenmedialer Diffusion stattfinden. Diese Prozesse verlaufen vor allem auf der Ebene der Diffusion der Fernsehformate und Fernsehinhalte. bhnlich wie der westeuropäische Zuschauer sah man im russischen Fernsehen in den letzten Jahren Ableger der Sendungen „Wer wird Mil1 Deshalb erübrigt es sich auch, die russischen Präsidentschaftswahlen vom März 2004 zu analysieren, denn sie waren durch jegliche Abwesenheit der Konkurrenz gekennzeichnet.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

lionär?“, „Superstar“, „Big Brother“, „Herzblatt“ u.ä. sowie diverse amerikanische und europäische Fernsehserien (von „Kommisar Rex“ bis „Sex and the City“).2 Folgende strukturelle bnderungen lassen sich in dieser Phase, die noch nicht abgeschlossen ist, ausgliedern: • Für diese Periode der massenmedialen Ausdifferenzierung ist vor allem die Zentralisierung der Kontrollmechanismen des Fernsehens kennzeichnend (s. II.5.1). • Die thematische Offenheit des Fernsehens wird durch die Zentralisierung der Kontrollmechanismen des Fernsehens im Bereich der Nachrichtenproduktion beeinträchtigt (s. II.5.2). • Die Trennung zwischen formeller und informeller Ebene innerhalb der Medienproduktion bleibt nach wie vor bestehen (s. II.5.3). • Innerhalb der massenmedialen Entscheidungskriterien nisten sich in dieser Phase nicht-massenmediale Entscheidungskriterien ein (s. II.5.4).3 Bei der Analyse des Medienwandels werde ich in diesem Kapitel folgende Fernsehsender berücksichtigen: Tabelle 20: Die Fernsehlandschaft der Russischen Föderation von 2000 bis 2005: Zentrale Fernsehsender mit landesweiter und überregionaler Reichweite Phase

Fernsehorganisation

Potentielle ReichGründung weite in Russischer Föderation

Ab 2000

ORT (teils staatlich, teils privat) wurde 2002 in Pervij Kanal umbenannt

98-99 % der Bevölkerung

Dez. 1991

RTR (staatlich) wurde 2002 in Rossija umbenannt

98-99 % der Bevölkerung

Mai 1991

NTV, privat

117 Millionen Zuschauer

Okt. 1993

Auflösung

2 Zur Herkunft unterhaltender Inhalte im russischen Fernsehen s. II.4.2 sowie Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2004: Ɍɟɥɟɫɦɨɬɪɟɧɢɟ: ɢɬɨɝɢ ɫɟɡɨɧɚ, vgl. http://www.acvi.ru (Stand: 10.11.2004). 3 Auf die getrennte Betrachtung der journalistischen Rolle wird in dieser Phase verzichtet, weil sie einen unabgeschlossenen Charakter hat. Zu Kriterien der journalistischen Professionalität s. II.5.4. 4 Die Neugründungen und Auflösungen der Sender, die in dieser Phase stattfanden, sind fett markiert.

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PHASE VIER: AB 2000 TV-6, privat

67,7 Millionen Zuschauer

Jan. 1993

Januar 2002

TVS (auf der Frequenz von TV-6), privat

ca. 60 Millionen Zuschauer

Jan. 2002

Juni 2003

Sport (auf der Frequenz von TVS), staatlich

56 Millionen Zuschauer

Juni 2003

STS, privat

100 Millionen Zuschauer

Dez. 1996

Ren-TV, privat

113,5 Millionen Zu- Jan. 1997 schauer

Peterburg (ehem. V. Programm), privat

Petersburg, Leningrader Gebiet und 30 Großstädte

Juni 1998

Kultura, staatlich

90 Millionen Zuschauer

Aug. 1997

TVZ, staatlich

91 Millionen Zuschauer

Juni 1997

TNT, privates Fernsehen

105 Millionen Zuschauer

Jan. 1998

Quelle: Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2001: Ɍɟɥɟɪɟɤɥɚɦɧɵɣ ɛɢɡɧɟɫ: 50; http://www.media.online.ru (Stand: 10.01.2006)5.

5 . 1 Ze n t r a l i s i e r u n g s t a a t l i c h e r M e c h a n i s m e n z u r Kontrolle des Fernsehens Die Rekonstruktion der Idee vom „Großen Russland“, die zunehmende Zentralisierung der politischen Macht, vor allem aber die Reformen der Oberen Kammer des Parlaments6 zeugten vom Beginn einer neuen politischen Phase. Schon nach den Präsidentenwahlen 2000 sprach man vom „Putin’schen Stillstand“, vom Beginn der Periode der Stagnation sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft.

5 Sender, wie Muz-TV, DTV, 7TV, MTV, Sport, Rambler, Euronews, sowie regionale Fernsehsender werden bei der Analyse nicht berücksichtigt, weil sie jeweils nur 1 Prozent und weniger des Publikumsanteils aufweisen. 6 Veränderung der Besetzungsordnung im Sowjet der Föderation. Diese Reform besteht darin, dass nicht mehr die Gouverneure, sondern ihre Vertreter in der Oberen Kammer des Parlaments tagen. Die Einflussnahme auf diese Vertreter ist seitens des Präsidentenapparats umso leichter.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

Offiziell wird von dem Präsidenten und der präsidentennahen Partei „Einiges Russland“ die Politik der so genannten „gelenkten Demokratie“ verfolgt. Das offizielle Ziel dieser Politik ist die Durchführung der weiteren politischen und rechtlichen Reformen im neuen Russland. Die Festigung der demokratischen Verhältnisse und die Stärkung des Rechtsstaates zählen dabei zu den obersten Prioritäten dieses Kurses. Als Bedingung für die Durchführung dieser Reformen wird die Zentralisierung der politischen Macht beim Präsidenten und beim Präsidentenapparat angesehen. Die Notwendigkeit dieser Zentralisierung wird mit dem Übergangscharakter russischer Rechts- und Demokratieinstitutionen begründet: Da sich diese Institutionen noch nicht vollständig herausgebildet haben und immer noch Fehlentwicklungen aufweisen, ist eine übergeordnete Instanz notwendig, die ihnen die Entwicklungsrichtung einordnet: der Präsident und seine Verwaltung (d.h. Präsidentenapparat). Deshalb werden die Abwesenheit der Opposition im Parlament sowie die telefonischen Anweisungen der Regierungsbeamte an die Gerichte nicht als undemokratisch angesehen. Die Bevölkerung erscheint aus dieser Perspektive als „Masse“, an die die richtige Richtung der Demokratie erst noch vermittelt werden muss. Diese Aufgabe sollen die Medien übernehmen. So gewinnt die Idee der staatlichen Kontrolle über die Medien wieder an Aktualität. Wenn zwischen 1996 und 2000 vor allem die Technologien der informellen PR „Kontrolle der Massenmedien“ aus der Regierungssicht zu gewährleisten hatten, so wird ab 2000 die Tendenz zur Nutzung der ‚klassischen‘ Kontrollmechanismen durch den Präsidentenapparat verstärkt: • Durch die Wandlung der Eigentumsverhältnisse der führenden zentralen Fernsehsender (Sender mit landesweiter Reichweite) wird (Teil-)Monopolisierung als Kontrollmechanismus eingesetzt (s. II.5.1.1). • Die innere Organisation der zentralen Fernsehsender unterliegt einer Umstrukturierung, die die Einwirkung auf die redaktionelle Linie dieser Sender und in manchen Fällen die direkte Zensur der Medieninhalte erlaubt. Diese Mechanismen werden durch telefonische Anweisungen aus dem Präsidentenapparat an die Fernsehleitung und durch mündliche Anweisungen der Fernsehleitung an die Fernsehjournalisten aktiviert. Es werden keine schriftlichen Direktiven genutzt (s. II.5.1.2). • Der Einstellungs-/Entlassungsmechanismus der Fernsehleitung wird sowohl in den staatlichen als auch in den nicht-staatlichen Fernsehanstalten eingesetzt (s. ebd.). Die verstärkte Nutzung der ‚klassischen‘ Kontrollmechanismen des Fernsehens ist Folge der Zentralisierungstendenzen innerhalb des politischen Systems. Denn solange die führenden Fernsehsender Eigentum der kommerziellen Konzerne (und der starken politischen Kräfte) blieben, konnte der Kreml nicht ausschließen, dass sie die informellen Medientechnologien für Medienkriege einsetzen. Vor allem durch die Monopolisierung des Fernseheigentums durch den Staat und staatliche Konzerne wird versucht, die hierarchische Un276

PHASE VIER: AB 2000

terordnung des Fernsehens unter den Präsidentenapparat zu gewährleisten. Da aber mittlerweile die Fernsehlandschaft durch die Pluralisierung der Fernsehorganisationen7 auf föderaler und regionaler Ebene gekennzeichnet ist, entsteht in der Präsidialverwaltung ein Berufszweig der Medienmanager, die sich auf Koordinationen und Vermittlung der politischen Vorgaben an die Medieninstanzen spezialisiert haben.8 Nun muss die Frage geklärt werden, wie erfolgreich die Vermittlung staatlicher Vorgaben an die Medien geschieht.

5.1.1 (Teil-)Monopolisierung des Fernsehens als Versuch hierarchischer Unterordnung auf Organisationsebene Phasen der (Teil-)Monopolisierung Bereits 1998 versuchte der Staat, seinen Einfluss auf die Massenmedien durch die Umstrukturierung des staatlichen Fernsehsenders RTR zu stärken. Es wurde der staatliche Konzern WGTRK umorganisiert, der den Sender RTR, den Sender Kultura und regionale staatliche Fernsehstationen umfasste.9 Nach den Präsidentenwahlen 2000 wurde der Mechanismus der (Teil-)Monopolisierung auf Fernsehsender angewandt, die zuvor mehr oder weniger deutlich eine eigene redaktionelle Linie bezüglich politischer Ereignisse hatten: ORT, NTV, TV-6. Die Gründung und Umstrukturierung des Senders TVS ist auch in einer Reihe mit diesen Fällen von Monopolisierung zu nennen. 1) Der Monopolisierungsprozess begann mit informeller Erpressung der Medienorganisationen durch den Staat mit Hilfe formeller Vorwände, z.B. mit Hilfe gesetzlicher Regelungen, die im Zweifelsfalle unternehmensschädigend ausgelegt werden konnten. So wurden im Jahre 2000 als erstes die Ausstrahlungslizenzen zweier Fernsehsender, ORT und TVZ, durch Presseministerium zur Neuvergabe ausgeschrieben.10 Nach dem Bewerbungsverfahren durften die Sender die Ausstrahlungsfrequenzen beibehalten. Aber es war die öffentliche Vorführung des staatlichen Einflusses auf die Medien. Die höheren staatlichen Instanzen demonstrierten, wie kritische bußerungen sanktioniert werden können. Dabei dienten dem Staat formelle Fehler der Sender als Vor7 Nach Angaben des Ministeriums für Presse, Fernsehen und Massenkommunikation (ab 2004: Ministerium für Kultur und Massenkommunikation) gab es 2003 über 2070 gültige Fernsehlizenzen. Allerdings stimmt die Anzahl der Fernsehlizenzen nicht unbedingt mit der Anzahl der tatsächlich existierenden Fernsehsender überein. Denn manche TV-Sender arbeiten ohne Lizenz, andere haben Lizenzen, strahlen aber nicht aus. Und manche Sender verfügen über mehr als nur eine Fernsehlizenz (vgl. ɒɚɪɢɤɨɜ, 2003a: 10000 ɤɢɥɨɦɟɬɪɨɜ ɷɮɢɪɚ: 20 ff., in: http://www. acvi.ru, Datum: 10.10. 2005). 8 Vgl. Interview Nr. 31, Quelle : Eigene Erhebung (2001), siehe ausführlicher Kap. II.5.1.2. 9 Außerdem gehörten diesem Konzern einige Verlage und Radiostationen. 10 Vgl. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ɂ., 2001: 146.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

wand, um die Freigabe der Lizenzen zu initiieren. Außerdem wurde Boris Beresovski im Jahre 2000 der Einfluss auf die redaktionelle Politik des führenden Senders Russlands, ORT, genommen. Auf Empfehlung des Kremls reiste der Milliardär aus Russland aus. Aluminium- und Ölkonzerne sind formal Teilhaber von ORT. Informell übernahm die Präsidialverwaltung den Einfluss auf die redaktionelle Linie dieses Senders.11 2) Als zweite Etappe des Monopolisierungsprozesses ist die Auflösung des Journalistenteams sowie der Wechsel des Eigentümers des kommerziellen Senders NTV (2000-2001) zu nennen. Kurz danach findet der gleiche Vorgang mit dem kommerziellen Sender TV-6 statt (dessen Miteigentümer immer noch Boris Beresovski war), zu dem das Journalistenteam von NTV gewechselt hatte (Mitte 2001 bis Anfang 2002). Diese Vorgänge werden unten ausführlicher beschrieben, sie sind als gutes Beispiel für den Mechanismus der so genannten „nicht-formellen Nationalisierung“ zu verstehen. Einerseits ermöglicht dieser Mechanismus die staatliche Kontrolle der Medienorganisationen, auf der anderen Seite ermöglicht er, dank der Großinvestitionen aus der Privatwirtschaft, formal von der Unabhängigkeit des Fernsehens zu sprechen. Im Tausch für die „Neutralität“ erhalten die Vertreter der Privatwirtschaft ökonomische Vorteile, die informell durch den Kreml gewährleistet werden: Dies betrifft vor allem die „Nationalisierung“ von TV-6. Die Gründung und Auflösung des Senders TVS stellt den (vorläufig) letzten Monopolisierungsvorgang in dieser Reihe dar.

„Informelle Nationalisierung“ von NTV Der Fernsehsender NTV war die bedeutendste und politisch einflussreichste Organisation des Medienkonzerns „Media-Most“.12 Für die Journalisten des Medienkonzerns war die Orientierung an demokratischen und liberalen Werten von der ersten Demokratisierungswelle zu Beginn der 90er Jahre an kennzeichnend. Journalistische Professionalität war Einstellungsvoraussetzung. Für die Medienorganisationen des Konzerns war das Streben nach Objektivität, die Trennung zwischen Fakt und Kommentar charakteristisch. Oft versetzte diese Haltung den Sender NTV in Opposition gegenüber der Regierung. Als einen der letzten Beispiele des Konfliktes zwischen diesem Sender und den höheren politischen bmtern vor seiner Umstrukturierung ist die Berichterstattung über die „Kursk“-Tragödie zu nennen. Dem Sender NTV wurde das Hochschaukeln der Situation und eine Provokation der politischen Krise vorgeworfen. 11 Vgl. ɋɤɚɧɞɚɥɵ ɢ ɪɨɤɢɪɨɜɤɢ ɜ ɮɟɞɟɪɚɥɶɧɵɯ ɋɆɂ Ɋɨɫɫɢɢ 2002-2003, in: http://www.mediasprut.ru/jour/theorie/mediabeda.shtml (Stand: 05.05.2004). 12 1999 waren folgende Medienorganisationen Bestandteile der Gruppe MediaMost: der Fernsehsender NTV, die Radiostationen „Echo Moskvi“, „Sport“, „RDV“, der Verlag „Sem Dnej“, das Monatsheft „Karavan istorij“ und die Zeitschrift „Itogi“. 1998 wurde vom Konzern der Fernsehsender TNT gegründet.

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PHASE VIER: AB 2000

Denn die Präsidialinstanzen erwarteten von den Medien nicht Objektivität, sondern Loyalität. Das Vorhandensein von selbstständigen politischen Personen, die zudem über Medienressourcen verfügten, wie der Eigentümer von NTV, Gusinski, nahm der Präsidentenapparat als Bedrohung seiner Machtposition wahr. Die hohe Popularität des Präsidenten war in diesem Kontext kein Anlass zur politischen Unterstützung massenmedialer Unabhängigkeit. Im Gegenteil, da der Wahlsieg von Putin sowie sein Image zum großen Teil durch die Massenmedien (mit Hilfe der informellen PR) geschaffen wurden, betrachtete die Regierung die Kontrolle über die Medien als eine der Voraussetzungen politischer Stabilität, als Voraussetzung für die weitere Popularität des Präsidenten und seinen Erfolg in der Politik. So wurde der politische Erfolg nicht mehr wie 1996 als (mediale) Inszenierung des Erfolgs verstanden – Erfolg bedeutete jetzt: Die Selektion des Berichtenswerten durch das Präsidialamt soll die Ereignisse im Land beeinflussen und den politischen Status quo garantieren. In dieser Vorstellung fungieren die Massenmedien als Erzeuger erwünschter Wirklichkeiten: Wenn sie über etwas berichten, wird es real, und so kann durch Lenkung der Veröffentlichungen die Realität gesteuert werden. So war NTV als erster an der Reihe, als das Präsidialamt die Politik verstärkter Medienkontrolle einleitete. Die Situation um die Gruppe Media-Most war ursprünglich nicht eindeutig. Ihre Schulden an das staatliche Ölunternehmen Gasprom betrugen 211,6 Millionen Dollar. Zu Beginn des Jahres 2000 besaß Gasprom 14,3 Prozent der Aktien des gesamten Medienkonzerns. Außerdem besaß Gasprom 30 Prozent der Aktien speziell vom Sender NTV. Im Jahre 2000 betrugen die Aktiva des Medienkonzerns etwa 2 Milliarden Dollar. Direkt nach den Präsidentenwahlen bemühten sich die staatlichen Vertreter, den Konzern möglichst günstig aufzukaufen. Der Eigentümer Gusinski wurde aufgrund der Beschuldigung der Aneignung von 10 Millionen Dollar des Unternehmens „Russkoje Video“ verhaftet. Die politische Färbung hat die Auseinandersetzung um Media-Most gerade wegen der Verhaftung des Eigentümers erhalten. Wäre das Verfahren mit anderen Maßnahmen (z.B. Unterschrift über Nicht-Ausreise) durchgeführt worden, wäre die Situation in ihrer Form nicht so dramatisch eskaliert. Im Gefängnis musste Gusinski den Vertrag über den Verkauf des Medienkonzerns an Gasprom für 3000 Millionen Dollar unterschreiben. Gasprom verpflichtete sich, dafür die Schulden des Konzerns in Höhe von 473 Millionen Dollar zu bezahlen. Erwähnenswert ist, dass der Energieriese Gasprom im Jahre 2000 zu 38 Prozent dem russischen Staat gehörte.13 Nach Informationen des „Guardian“ war im Vertrag ein Punkt aufgeführt, der der Leitung von Media-Most einschließlich der führenden Journalisten „Garantien der persönlichen Sicherheit und Bewegungsfreiheit innerhalb und außerhalb des Landes“ zusicherte.14 Der Vertrag wurde durch den Minis13 Vgl. ɋɤɚɧɞɚɥɵ ɢ ɪɨɤɢɪɨɜɤɢ ɜ ɮɟɞɟɪɚɥɶɧɵɯ ɋɆɂ Ɋɨɫɫɢɢ 2002-2003, in: http://www.mediasprut.ru/jour/theorie/mediabeda.shtml (Stand: 05.05.2004). 14 Traynor, 2000: „Putin’s men blackmaild media mogul“, vgl. http://www. guardianunlimited.com.uk (Stand: 10.12.2000).

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

ter für Presse, Fernsehen und Massenkommunikation, Lesin, und dem Leiter von Gasprom, Koch, unterzeichnet. Aus wirtschaftlicher Perspektive ist der Verkauf eines Konzerns aufgrund von Verschuldung im Kontext ‚natürlicher‘ Unternehmenskonflikte durchaus normal. Als profitorientiertes Unternehmen war der Konzern Media-Most tatsächlich nicht erfolgreich. Berücksichtigt man aber die Umstände, unter denen die Unterzeichnung des Vertrags stattfand, sowie die Tatsache, dass die anderen föderalen Fernsehsender ORT und RTR der Bank „Vneschekonombank“ eine vergleichbare Summe schuldeten, ist kaum anzunehmen, dass diese Situation keinen politischen Hindergrund besaß. Der Konflikt um NTV war von einer Medienkampagne auf dem Sender selbst sowie in der Presse begleitet. Die Fragen nach der Freiheit der Meinungsäußerung in Russland sowie nach weiteren Bedingungen des journalistischen Arbeitens wurden wieder aktuell. Nach der Umwandlung der Eigentumsverhältnisse des Konzerns Media-Most begann die Umstrukturierung des Fernsehsenders NTV (s. II.5.1.2).

Auflösung von TV-6 Die nächste Etappe des Monopolisierungsprozesses im russischen Fernsehen stellte die Entziehung der Ausstrahlungslizenz des Senders TV-6 dar. An seiner Stelle wurde der politisch neutrale Sender TVS gegründet. 2000 befand sich der Sender TV-6 im Eigentum von Boris Beresovski und dem Öl-Unternehmen „Lukoil“ (mit Anteilen von 75 und 15 %). Der Konflikt um NTV beeinflusste den Austritt der Gruppe der führenden Journalisten unter der Führung von Evgenij Kiselev. Zum Team von Kiselev werden Levin (ehemaliger Chefproduzent von NTV), Kritschevskij, Sorokina, Osokin, Schenderovitsch, Maksimovskaja und einige andere gezählt. Da sich Beresovski nach den Präsidentenwahlen in Opposition zur offiziellen Macht befand, bot er dem ehemaligen NTV-Team Arbeit auf ‚seinem‘ Sender TV-6 an. Auf diese Weise hat TV-6, der bis 1999 den Kreml unterstützte, nach der „Nationalisierung“ von NTV seine kritische Haltung übernommen. Auf die regierungskritische redaktionelle Linie von TV-6 reagierten die höheren politischen bmter im Jahre 2001 mit der Anwendung des Mechanismus der „informellen Nationalisierung“. Genau wie im Falle des Senders NTV und des Konzerns Media-Most wurden zu Beginn der Zerschlagung von TV-6 keine politischen Argumente für die Umstrukturierung des Senders thematisiert. Im Mai 2001 fand die Versammlung der Aktionäre des Senders statt, auf der Kiselev zum Generaldirektor des Senders gewählt wurde. Aber der Aktienteilhaber von TV-6, Lukoil-Garant, Teilorganisation des LukoilKonzerns, beklagte die Verletzung der Rechte der Aktienminorität. LukoilGarant klagte vor Gericht mehrmals: Zum einen wurde die Leitung des Senders durch Kiselev angefochten, zum anderen sollte die Aktiengesellschaft TV-6 aufgelöst werden. Diese Klagen wurden durch das Medienunternehmen 280

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gewonnen. Aber im Juni 2001 wandte sich Lukoil-Garant an das Moskauer Schiedsgericht mit der Forderung, TV-6 auf der Grundlage des Gesetzes „Über Aktiengesellschaften“ zu schließen. Nach diesem Gesetz können die Aktionäre eines Unternehmens, das im Laufe von zwei Jahren jeweils zum Jahresende eine negative Bilanz hat, die gerichtliche Entscheidung über die Auflösung des Unternehmens fordern. Von 1998 bis 2000 und in der ersten Hälfte des Jahres 2001 war die Bilanz von TV-6 negativ. Zu Beginn 2001 betrugen die Schulden von TV-6 etwa 12 Millionen Dollar. Am 27. September 2001 beschloss das Gericht die Auflösung des Senders. Das Auflösungsverfahren des Senders musste von den Aktionären des Senders selbst durchgeführt werden. Die Ausstrahlungsfrequenz wurde neu ausgeschrieben. Der Konflikt um TV-6 besaß in vielen Aspekten Analogien zum früheren Konflikt um NTV. Das Kontrollpaket der Aktien des Senders (75 %) gehörte dem so genannten Oligarchen Beresovski – auch NTV wurde von einem politisch ambitionierten Spieler kontrolliert. Beresovski befand sich zum Zeitpunkt des Konflikts in offener Opposition zum Kreml. Zudem nahm sein Sender die Journalisten auf, die das umstrukturierte NTV aus journalistischer Überzeugung verlassen hatten. Vor seiner Auflösung galt TV-6 als der von den Kontrollmechanismen des Kremls unabhängigste Sender, der in der Lage war, eine eigene redaktionelle Linie zu halten. Der Sender war potentiell gefährlich. Politische Machtüberlegungen waren für die Auflösungen von NTV und TV-6 ursächlich. Vor allem die finanziellen Schwierigkeiten, die die Sender hatten, erlaubten es dem Staat, unter dem ökonomischem ‚Deckmäntelchen‘ die Eigentumsumwandlungen durchzuführen. Der Kreml wollte Loyalität der einflussreichen Fernsehsender, zumindest aber deren unkritische Position in Krisensituationen.

Gründung und Auflösung von TVS Am 11. Januar 2002 entschied das Obere Schiedsgericht wiederholt über die Auflösung von TV-6. Am 15. Januar wurde der neue Fernsehsender TVS gegründet. Das Journalistenkollektiv des aufgelösten TV-6 beschloss, die Zusammenarbeit mit Boris Beresovski zu beenden. Dieser Schritt war die Folge der Vereinbarung der Journalisten des neuen Medienunternehmens mit dem Presseminister Lesin. Danach durfte ein neuer Sender auf der Frequenz des TV-6 gegründet werden, jedoch ohne Teilnahme von Beresovski – nur unter dieser Bedingung konnte das Presseministerium den Journalisten den Erhalt der neuen Lizenz garantieren. Der Sender TVS wurde von zwei Organisationen geleitet: von der nichtkommerziellen Vereinigung Media-Sozium und von der GmbH Schestoj Kanal, die durch die ehemaligen Journalisten von TV-6 (dem so genannten Kiselev-Team) gegründet worden war. Die nicht-kommerzielle Vereinigung Media-Sozium, die von den einflussreichen Politikern Primakiv und Volskij gegründet worden war, wurde zum offiziellen Halter der Ausstrahlungslizenz 281

PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

des Senders. Zudem genoss Media-Sozium die Unterstützung des Kremls. Die Finanzierung des neuen Fernsehsenders übernahmen die führenden russischen Wirtschaftsunternehmen. Zu diesem so genannten „Pool der zehn Oligarchen“ zählten: Tschubais (RAO EES), Abramowitsch (Tschukostkij AO), Mamut (RSPP), Deripaska (RusAl), Evtuschenkov (AFK Sistema), Simin (Vimpelkom), Bendukidze (Objedenjennie maschinostroitelnie zavodi), Kiselev (Metalloinvest) und Vekselberg (SUAL-Holding). Diese Gruppe der einflussreichen Unternehmer versuchte sich für den Fall abzusichern, wenn der Kreml um die Umverteilung der informellen Märkte durch die Einleitung der Strafverfahren kämpfen würde, so wie dies bei den Unternehmern Gusinski und Beresovski der Fall war. Durch die Finanzierung des neuen Senders erhofften sich die Unternehmer, Einfluss auf seine redaktionelle Linie zu nehmen. Aus ihrer Sicht war der hauseigene Fernsehsender ein notwendiges Instrument zur Verteidigung der wirtschaftlichen Position auf informellen wirtschaftlichpolitischen Märkten. So hat der neue Sender eine politisch neutrale Position eingenommen, weil sich beide Seiten – Unternehmerschaft und Politik – innerhalb der Entscheidungsgremien des Senders gegenseitig neutralisierten. So konnte faktisch kein Teilhaber seine politische Position durch TVS verbreiten. Eine solche Konstellation erlaubte es, die Situation zu regeln und eine professionelle Gruppe von Journalisten vorübergehend zu behalten. Allerdings konnte TVS nicht die Position seines Vorgängers TV-6 in der russischen Fernsehlandschaft einnehmen. Im ersten Dreivierteljahr 2003 betrugen seine Zuschauerquoten nur 3,6 Prozent.15 Im Frühling 2003 wurde die Entscheidung über die Auflösung von TV-6 vom Moskauer Schiedsgericht für widerrechtlich erklärt. Die Entscheidung des Presseministers über die Auflösung von TV-6 wurde danach aufgehoben. Dadurch galt TV-6 wieder als formaler Inhaber der Ausstrahlungslizenz, auf der bereits TVS sendete. Aber auch die Auflösung des TVS wäre widerrechtlich gewesen. Das Gericht des Novosibirsker Gebiets, an das sich der unbekannte Bürger Kurkin wandte, verbot dem Presseministerium, den Fernsehsender TVS aufzulösen. Aufgrund der widersprüchlichen Entscheidungen bot der Presseminister Lesin den beiden Lizenzhaltern MNVK (Lizenzhalter des TV-6) und dem Media-Sozium (Lizenzhalter von TVS) an, einvernehmlich eine Entscheidung über eine Zukunft der Sendelizenz zu treffen. Schließlich wurde dieser Konflikt durch die Übergabe der Sendelizenz an MNVK gelöst. Das Journalisten-Team des neuen Fernsehsenders, das ursprünglich von NTV und dann von TV-6 kam, musste gehen. MNVK übergab die Ausstrahlungslizenz an den staatlichen Fernsehsender Sport. Die Lizenzhalter von TVS fochten diese Entscheidungen vor Gericht an. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Studie war die Situation über den Lizenz-Streit noch nicht entschieden. So beabsichtigte der Presseminister Seslavinski im Jahre 2004 die Frequenz des 15 Vgl. Internetseite des kommerziellen Forschungsinstituts COMCON: http://www .comcon-2.ru (Stand: 23.05.2003).

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Senders Sport öffentlich auszuschreiben.16 Dies geschah jedoch nicht und der Sender Sport sendete auch 2005 auf der Grundlage der vorläufig ausgestellten Lizenz weiter.17

Zwischenfazit Auch wenn der Ausgang des Konflikts um die Sendelizenz noch nicht bekannt ist, ist die Auflösung dieses TV-Senders in eine Reihe mit anderen Monopolisierungsvorgängen im russischen Fernsehen zu stellen (s. Tab. 21). Es ist zu sehen, dass die Sender, deren Eigentümer potentiell in Konflikt mit dem Kreml geraten können, umstrukturiert oder geschlossen werden. Kennzeichnend für solche Monopolisierungsprozesse ist die Begleiterscheinung der journalistischen Migration. Das Journalisten-Team von NTV wurde zuerst bei TV-6 aufgenommen. Mit der Auflösung von TV-6 gründete dieses Team TVS mit. Als TVS aufgelöst wurde, mussten die Journalisten gehen. Gerade das Kiselev-Team zeichnete sich bereits zu Beginn der massenmedialen Ausdifferenzierung (Ende der 80er bis Anfang der 90er Jahre) durch ausgeprägtes Streben nach journalistischer Objektivität aus18, und es behielt seine kritische Haltung gegenüber höheren politischen bmtern im Laufe all dieser Jahre bei. Der Phänomen der journalistischen Migration, das sich hier so gut beobachten lässt, ist deshalb als zusätzlicher Indikator für die Anwendung der staatlichen oder politischen Mechanismen zur Kontrolle des Fernsehens zu werten. In den oben beschriebenen Fällen wurde der Mechanismus der (Teil-) Monopolisierung durch den Staat angewandt. Allerdings kann die organisatorische Unterordnung des Fernsehens unter den Staat durch den Mechanismus der Teilmonopolisierung nicht vollständig gewährleistet werden, weil es inzwischen in Russland doch eine Pluralisierung der Organisationsformen des Fernsehens gibt. Um sie aufzuheben, müssten alle Fernseheinheiten verstaatlicht werden, was aber unter den gegebenen Bedingungen doch sehr unwahrscheinlich ist.19 Die Anwendung des Mechanismus der Teilmonopolisierung ermöglicht dem Staat sowohl die Einwirkung auf die redaktionelle Linie dieser Fernsehsender als auch eine partielle Zensur der Nachrichten.

16 Vgl. Interview vom 22.03.04; vgl. www.svoboda.org (Stand: 10.05.2004). 17 Vgl. Interview mit dem Mitglied der Lizenzkommission (FKK) Boris Bojarskov (November 2005) (vgl. http://www.ng.ru/tv/2005-11-25/16%20boyarskov.html (Stand: 20.11.2005). 18 Vgl. II.2.4. 19 Wie würde der Staat das verstaatlichte Fernsehen finanzieren können?

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

Tabelle 21: Russische Fernseheigentümer 2005 Fernsehsender

Eigentümer

Pervij Kanal (ehemaliges ORT)

51 % der Aktien staatlich 49 % der Aktion gehören Unternehmen, die Roman Abramowitsch nahe stehen20

Rossija (ehemaliges RTR)

Staatlicher Medienkonzern (WGTRK)

NTV

Gasprom-Media (Bestandteil des staatsnahen Konzerns Gasprom21)

STS

75 % der Aktien gehören dem amerikanischen Unternehmen Story First Communications22; 25 % der Aktien gehören dem russischen Unternehmen Alfa-Grupp

TNT

Gasprom-Media (Bestandteil des staatsnahen Konzerns Gasprom)

Ren-TV

70 % der Aktien gehören dem russischen Energieunternehmen RAO EES; 30% gehören der RTL-Group (Bertelsmann AG)

TVZ

97,3 % der Aktien gehören der Stadtregierung Moskau

Kultura

Staatlicher Medienkonzern (WGTRK)

Sport

Staatlicher Medienkonzern (WGTRK)

Quelle: http://www.media-online.ru (Stand: 10.01.2006)

5.1.2 Einwirkung auf die redaktionelle Linie, Zensur und andere Kontrollmechanismen des Fernsehens Aus den Interviews mit russischen Fernsehjournalisten (2001) und aus anderen Quellen23 lässt sich entnehmen, dass vor allem Fernsehsender mit staatlichem Eigentumsanteil (ORT, RTR, TVZ) mit einer hohen Zahl an staatlichen

20 Roman Abramowitsch ist russischer Öl- und Aluminiummilliardär. Er bekleidet zugleich das Gouverneursamt des Gebiets Tschukotka. 21 Ende 2004 waren bereits 51 % der Aktien von Gasprom staatlich. 22 Genauer: Story First Communications gehört 75 % der Aktien minus eine Aktie. 23 Vgl. ɀɭɪɧɚɥ ɨɬɟɱɟɫɬɜɟɧɧɵɟ ɡɚɩɢɫɤɢ, 2003, vgl. http://www.strana-oz.ru (14.03.2004).

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Kontrollmechanismen konfrontiert werden.24 Hier sind in erster Linie Lenkungsinstrumente wie 1) Einwirkung auf die redaktionelle Linie, 2) der Einstellungs-/Entlassungsmechanismus und 3) Zensur zu nennen. Die nichtstaatlichen Sender (REN-TV, STS) werden durch Behinderung des Informationszugangs beeinflusst. Der Mechanismus der journalistischen Selbstzensur auf Organisationsebene wird bei diesen Medienorganisationen aktiviert. Im Weiteren wirken auf individueller Ebene sowohl in staatlich kontrollierten als auch in privaten TV-Sendern Sanktionen und Selbstzensur des Journalisten.

Einwirkung auf die redaktionelle Linie Der Mechanismus der Einwirkung auf die redaktionelle Linie wird vor allem in den staatlich kontrollierten Fernsehsendern ORT25, RTR26, NTV und TVZ angewandt. Dies bestätigt sich zum einen durch die Aussagen von Fernsehjournalisten in den von mir durchgeführten Interviews (2001) und zum anderen durch die Interviews mit russischen Fernsehjournalisten aus anderen Quellen.27 Die Leiter der Fernsehsender erhalten die Vorgaben über erwünschte oder unerwünschte Fernsehinhalte durch die Mitarbeiter des Präsidentenamtes. Diese Vorgaben werden vom Fernsehleiter an die Chefredakteure weitergegeben. Sie wiederum verbreiten diese Vorgaben an die Journalisten. Dieser Mechanismus ist durch die hierarchische Verbreitung der Anweisungen von der Spitze der Hierarchie bis zu ihrem unteren Ende gekennzeichnet.28 Diese These soll hier mit Ausschnitten aus Interviewgesprächen illustriert werden: „[Frage der Verfasserin]: Wer schränkt [Inhalte] ein, wer filtert die Information? [Antwort eines Fernsehjournalisten]: All das geschieht nicht direkt. Beresovski zahlt nicht direkt, der Staat kontrolliert nicht direkt. Wenn wir von großen gesamtnationalen Fernsehsendern sprechen, so wie sie vor paar Jahren gewesen sind – betrachten wir die Gesamtsituation: ORT, RTR, NTV – da existierte eine mehrstufige Struktur. Der Staat kontrolliert [uns] nicht direkt, [uns] kontrollieren Menschen, die einmal wöchentlich in den Kreml fahren, die Meinung des Staates erfahren, oder sie fahren einmal wöchentlich, so wie das mit ORT gewesen ist, zu Beresovski, und erfahren seine Meinung. Dann – ein Mix – das ist das, was wir auf dem Bildschirm sehen. […] Oligarchen gibt es heute nicht mehr, und – es ist offensichtlich – es werden 24 Eigentlich wäre in dieser Reihe der Sender TNT zu nennen. Aber seine Ausrichtung hat rein unterhaltenden Charakter. Die Nachrichten sind auf diesem Sender minimal. Daher ist in diesem Fall eher von einer politisch neutralen Redaktionslinie des Senders auszugehen. 25 ORT wurde 2002 in Pervij Kanal umbenannt. 26 RTR wurde 2002 in Rossija umbenannt. 27 Vgl. ɀɭɪɧɚɥ ɨɬɟɱɟɫɬɜɟɧɧɵɟ ɡɚɩɢɫɤɢ, 2003, vgl. http://www.strana-oz.ru (Stand: 14.03.2004). 28 Vgl. auch Interview Nr. 2, Nr. 6, Nr. 24, Nr. 28, Nr. 29, Nr. 32, Quelle: eigene Erhebung 2001.

285

PROPAGANDA ODER AUTONOMIE? schwerpunktmäßig staatliche Ansichten vermittelt.“ (Auszug aus dem Interview Nr. 31, Übersetzung d. Verfasserin, Quelle: eigene Erhebung 2001).

Und: „[E]s existiert gemeinsames Bewusstsein dafür, was erlaubt und was verboten ist. Im Bereich ‚nicht verboten‘ finden journalistische und redaktionelle Handlungen statt, aber nicht nur die Fernsehleitung kann etwas verbieten. Wenn wir die Hierarchie betrachten, kann auch der mittlere Redakteur etwas verbieten […]. Der mittlere Redakteur kann den konkreten Journalisten oder Korrespondenten belehren. Dieser Prozess findet stufenweise statt, weil das Hierarchie ist.“ (Auszug aus dem Interview Nr. 10, Übersetzung d. Verfasserin; Quelle: eigene Erhebung 2001).

Erwähnenswert ist, dass es am Ende der Hierarchiekette zur Schwächung dieses Drucks kommen kann. D.h., die Journalisten haben eine relative gestalterische Freiheit in Bezug auf die Ausführung dieser Anweisungen29: „Weil ich in der Nachrichtenredaktion arbeite [kann ich sagen, dass] wir über Autonomie über unwichtige Entscheidungen verfügen. D.h., die Fernsehleitung unseres Senders TVZ wird nicht nachprüfen, was genau wir filmen und wie wir filmen, aber es ist offensichtlich, dass irgendwelche bedeutsamen Ereignisse – wir sollen das senden, was die Leitung für richtig hält. Also [haben wir] Autonomie in welchem Sinne? In Details. Also in dem, was unsere konkrete Redaktion interessiert. Die Leitung wird hier nicht stören […]. Andererseits, wenn die Leitung von uns etwas möchte, kann sie uns verpflichten, etwas zu tun. Aber ich denke, dass das eine Standardsituation ist, hier gibt es keinen direkten Druck, aber wenn die Leitung etwas braucht, kriegt sie das immer von uns.“ (Auszug aus dem Interview Nr. 6, Übersetzung d. Verfasserin; Quelle: eigene Erhebung 2001)

Oder: „Die Redaktion kann natürlich sich die Themen aussuchen, aber sie darf nicht die Interessen der Eigentümer berühren, und alle sind bestens informiert, dass man das nicht machen darf.“ (Auszug aus dem Interview Nr. 15, Übersetzung d. Verfasserin; Quelle: eigene Erhebung 2001)

Interessant ist, dass diese Vorgaben auf verschiedene Weise an die Fernsehleitung gelangen können. Zum einen existieren so genannte „Pressemanager“ (häufig die Mitarbeiter der Pressestellen von Regierungsinstanzen), die die Anweisungen persönlich übermitteln und die Koordination der Absender weitergegeben werden, falls diese durch mehrere Eigentümer übermittelt werden (s. oben).30 Zum anderen können diese Anweisungen telefonisch an die Fernsehleitung weitergereicht werden31: „[I]ch glaube, dass es kein Zufall ist, dass auf Arbeitstischen der Leiter großer Fernsehsender nach wie vor ‚vertuschki‘ stehen, so wie es früher war. […] Wissen Sie, 29 Vgl. auch Interview Nr. 23, Nr. 32 (2001), Quelle: eigene Erhebung. 30 Vgl. auch Interview Nr. 31, Nr. 29 (2001), Quelle: eigene Erhebung. 31 Vgl. auch Interview Nr. 12, Nr. 24 (2001), Quelle: eigene Erhebung.

286

PHASE VIER: AB 2000 was das ist? Das ist direkte Verbindung zu Kreml, zur Präsidialverwaltung. Und sie funktioniert, verstehen Sie?! So wie die früher standen. Ich war vor kurzem, gerade vor einem Monat, im Arbeitszimmer des Fernsehleiters eines der gesamtnationalen Fernsehsender. Auch bei ihm steht ‚vertuschka‘, so wie sie bei seinen Vorgängern vor zehn Jahren stand.“ (Auszug aus dem Interview Nr. 8, Übersetzung d. Verfasserin; Quelle: eigene Erhebung 2001)

Oder: „[Die] rufen an und weisen an: Mach SO. Hier ist die ganze Abhängigkeit. Die Eigentümer der Fernsehsender rufen an und sagen, wie man es machen muss.“ (Auszug aus dem Interview Nr. 23, Übersetzung d. Verfasserin; Quelle: eigene Erhebung 2001).

Der Auszug aus dem Interview (2003) mit dem Leiter des staatlichen Fernsehens „Rossija“ (ehemaliges RTR), Oleg Dobrodeev, soll hier illustrieren, wie dieser Mechanismus die massenmediale Kommunikation im russischen Fernsehens tangiert: Der Journalist fragt den Fernsehleiter: „Als Bürger, der in der Leitung einer staatlichen Körperschaft arbeitet, verspüren sie wirklich keinen feindlichen Druck des Staates?“ Der Fernsehleiter erzählt: „Ich antworte so: Im Fernsehen existieren immer Nischen. Das Problem unseres Fernsehens besteht darin, dass diese Nischen stark verschwommen sind. Eine Nachrichtensendung des einzelnen Fernsehsenders und der einzelnen Körperschaft, die zu 100 Prozent dem Staat gehört – ist eine sehr spezielle Funktion. Dem Drehbuch und den Schwerpunkten dieser Sendung gemäß kann man sich eine ziemlich genaue Vorstellung davon bilden, welche politischen Eckpunkte und Hauptthemen es im Land gibt. Dies ist offensichtlich die Nische, die die Nachrichtensendung des Fernsehkanals ‚Rossija‘ besetzt. Darunter versteht man ein hohes, um nicht zu sagen tiefes Maß des Informiertseins, und in diesem Sinne findet das Zusammenwirken, die Zusammenarbeit statt. Wir arbeiten in diese Richtung, damit unser Publikum, und auch der Gouverneur von Tschukotka und der Gouverneur des Korjaksk-Autonomiegebiet mit der Hauptstadt Palan usw. sich genau vorstellen können, welche Vorgaben heute existieren. Dies ist die Nische.“32

Es fällt auf, wie verschwommen der Leiter des staatlichen Fernsehens über die „Zusammenarbeit“ mit dem Staat spricht. Aber Dobrodeev weist auf die Orientierung der Nachrichten an der politischen Linie der Regierung, auf den Aufbau der Nachrichtensendung sowie auf sein Publikum hin. Führt man anschließend eine Analyse des Aufbaus der Nachrichtensendung beim Fernsehsender Rossija durch, so stellt man fest, dass in etwa 1/3 der Fälle die Aktivitäten des Präsidenten Putin an erster Stelle thematisiert werden (s. II.5.2).33 Dies deutet zum einen auf den Beginn des Personenkults um Putin. Zum ande32 Ⱦɨɛɪɨɞɟɟɜ, 2003: Ɉɬɜɟɬɫɬɜɟɧɧɵɣ ɛɢɡɧɟɫ. In: ɀɭɪɧɚɥ „Ɉɬɟɱɟɫɬɜɟɧɧɵɟ ɡɚɩɢɫɤɢ“, vgl. http://www.strana-oz.ru (Stand: 14.03.2004), Übersetzung, d. Verfasserin. 33 Vgl. die Inhaltsanalyse der Nachrichtensendungen, die zwischen April 2003 und April 2004 durch die Zeitung Kommersant durchgeführt wurde, in: http://www. kommersant.ru (Stand: 22.05.2004).

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

ren werden durch diese Platzierung die anderen Nachrichten zu peripheren Themen gemacht. Der Staat (die Regierung, der Präsident) wird als Zentrum des russischen Lebens durch Einwirkung auf die redaktionelle Linie konstruiert. Anhand der Aussage über die Adressaten der Nachrichtensendung lassen sich Schlüsse über die Aufgabe der Nachrichten des staatlichen Fernsehsenders ziehen. Vor allem die Gouverneure, also staatliche Amtsinhaber, sollen über „Eckpunkte“ und „Hauptthemen“, sprich Regierungspolitik, informiert werden. In diesem Kontext erscheinen die Nachrichten als Mittel der innerorganisatorischen Kommunikation, als Medium der Regierungspolitik, das die Information aus dem Zentrum in die Peripherie verbreitet. Ein Déjà-vu: Auch in der Sowjetunion wurden die Verbreitungsmedien für die Kommunikation innerhalb einer Organisation genutzt – sie sollten die Parteibeschlüsse und Parteimeinung verbreiten.

Zensur: Der Fall NTV Im Pressegesetz von 1990 und im Gesetz über Massenmedien von 1991 wurde die Zensur der massenmedialen Inhalte verboten. Die sowjetische Zensurinstanz Glavlit wurde aufgelöst, die parteiliche Zensur durch Zensoren in den Medien wurde abgeschafft. Danach gab es zwar immer wieder vereinzelte staatliche Bestrebungen, einzelne massenmediale Inhalte (wie z.B. die Berichterstattung über den ersten und den zweiten Tschetschenienkrieg) zu zensieren. Aber die Journalisten konnten, wie oben bereits gezeigt wurde, diese Verbote immer wieder umgehen (vgl. II.3.3). In der hier untersuchten Phase nehmen die politischen Bestrebungen, massenmediale Inhalte zu zensieren, zu. Dies wird durch die von mir durchgeführten Interviews im Jahre 2001 bestätigt.34 Auch diese Aussage möchte ich mit einem Interviewauszug illustrieren: „[Zensur?] Ja, solche Fälle gab es in der Tat. […] [A]ls in meiner Sendung, die auf einem gesamtnationalen Fernsehkanal gesendet wurde, und der gesamtnationale Kanal erreicht das ganze Territorium [des Landes], aber nicht live, sondern in Abhängigkeit von Zeitzonen, und deshalb existiert so genanntes System Orbita … meine Sendung wurde zunächst nach Vladivostok gesendet, aber zum Ausstrahlungszeitpunkt im europäischen Teil Russlands wurde aus der Sendung ein Stück ausgeschnitten und ein anderes eingefügt, ohne Autoren und Redaktion zu informieren. Dies geschieht überall.“ (Auszug aus dem Interview Nr. 10, Übersetzung d. Verfasserin; Quelle: eigene Erhebung 2001)

Außerdem zeigt die Geschichte der Umstrukturierung des Senders NTV, dass politische Zensurpläne einen systematischen Charakter bekommen. Diesen Umstrukturierungsvorgang möchte ich hier näher beleuchten.

34 Vgl. Interview Nr. 9, Nr. 12, Nr. 13, Quelle: eigene Erhebung 2001.

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Nachdem der Sender NTV in das Eigentum des Energie-Konzerns Gasprom übergeben wurde, konnte er eine Zeit lang eine relativ unabhängige redaktionelle Linie beibehalten. Der Generaldirektor des Senders, Boris Jordan, konnte sie praktisch nicht beeinflussen. Deshalb kam es gelegentlich zu Konflikten zwischen dem Sender und den höheren staatlichen bmtern. In solchen Situationen musste sich der Generaldirektor nachträglich bei den Machthabenden für den Sender entschuldigen. Als eines der letzten Beispiele dafür kann die Berichterstattung des Senders über die Terrorakte im Moskauer Musicaltheater gelten. So hat die Sendung von Savik Schuster, „Meinungsfreiheit“, im Herbst 2002 große Unzufriedenheit des Kremls hervorgerufen: sowohl durch die Diskussionen als auch durch Kommentare des Journalisten. Eine Woche nach dem Terroranschlag wurde die Sendung in aufgezeichneter Form ausgestrahlt. Die Möglichkeit von politisch ‚inkorrekten‘ Aussagen in der Sendung wurde dadurch erheblich eingeschränkt, was einen klassischen Fall von Zensur darstellt. Eine Zeit lang hat die Rüge des Presseministers zur Veränderung der Sendeinhalte der Informationssendungen beigetragen. So konnte man in den Nachrichten von Oktober bis Mitte Dezember 2002 eine Zunahme der Anzahl von dem Präsidenten gewidmeten Inhalten beobachten. Aber auch die Loyalität des Senders konnte ihn nicht vor Personalveränderungen retten. Der Leiter des Senders, Jordan, wurde durch Senkevitsch ersetzt. Das heißt, der Einstellungs-/Entlassungsmechanismus der Fernsehleitung wurde aktiviert. Es begann eine neue Kampagne zum Aufbau der Kontrolle über die redaktionelle Politik des Senders. Ende April 2003 wurde dem Vorschlag von Senkevitsch gemäß beschlossen, eine Abteilung der Schicht-Nachrichten-Redakteure zu schaffen. In ihrer Zuständigkeit befand sich ab jetzt die Kontrolle über die Zusammenstellung der Nachrichten und über den Inhalt der Aufzeichnungen einschließlich der Textinhalte der Programmmoderatoren. Diese Redakteure wurden dem Leiter des Senders und seiner Vertretung unmittelbar unterstellt. Die Kontrolle läuft folgendermaßen ab: „Alle Chefredakteure und Programmmoderatoren müssen rechtzeitig alle Materialien, die ausgestrahlt werden, beim diensthabenden Schicht-Nachrichten-Redakteur abgeben.“35 Ohne dessen Zustimmung kann keine Sendung zur Ausstrahlung freigegeben werden. Die Moderatoren der Autoren- und Nachrichtensendungen verlieren dadurch ihren Einfluss auf die redaktionelle Linie des Senders, was die ‚von oben‘ erwartete Berichterstattung sichert. Ein äußerlich ähnlicher Dienst der Schicht-Nachrichten-Redakteure existiert auch auf CNN – der Dienst der technischen Kontrolle und Koordination. Er „filtert die Dummheiten, nimmt aus den Sendeinhalten die Überlängen raus, achtet darauf, dass die Journalisten einander nicht duplizieren.“36 Aber in die Zuständigkeit dieses Dienstes

35 ȼɨɫɥɟɞɨɜ, 2003: ɇɨɜɵɣ ɢɫɯɨɞ ɫ ɇɌȼ, vgl. http://www.smi.ru (Stand: 12.12. 2003), Übersetzung d. Verfasserin. 36 Ebd., Übersetzung d. Verfasserin

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fällt nicht die Bestimmung der Sendeinhalte, im Unterschied zu dem beim umstrukturierten NTV gegründeten Dienst.

Behinderung des Informationszugangs Ein anderer Mechanismus, der vom Staat zur Kontrolle der nicht-staatlichen Medien eingesetzt wird, ist die Behinderung des Informationszugangs. Dieser Mechanismus beschränkt den Zugang der nicht-staatlichen Journalisten zu Informationen über die Regierungsarbeit sowie zu Informationen über die Arbeit föderaler und regionaler staatlicher bmter. Bei der Suche nach diesen Informationen werden die Journalisten der staatlichen Fernsehsender privilegiert. Die Journalisten nicht-staatlicher Medien werden durch Absage der Akkreditierung, durch schlechtere Bedingungen des Zugangs zu Informationen behindert.37 Ein Auszug aus meiner Erhebung soll diese Vorgehensweise illustrieren: „In Moskau werden die [nicht staatlichen] Medien durch Nicht-Zulassung kontrolliert […]. Ihnen wird das Filmen nicht erlaubt, sie haben begrenzten Zugang zum Kreml, sie kriegen die schlechtesten Plätze. Wie kann man die Rede eines Politikers kritisieren, wenn man ihn nur von weiten filmen kann… Der erste und der zweite Kanal kriegen bei offiziellen Anlässen die besten Positionen, privilegierte Stellung, Nähe zum Kreml. Sie genießen diese Nähe.“ (Auszug aus dem Interview Nr. 14, Übersetzung d. Verfasserin; Quelle: eigene Erhebung 2001)

Außerdem werden Informationen, die formell für Journalisten zugänglich sein müssten, durch staatliche bmter nicht herausgegeben: Fakten, Dokumente, Statistiken und andere Materialien. Auch hierzu ein Beispiel: „In Moskau wird der Druck auf verfeinerte Weise ausgeübt. Zum Beispiel werden wir einfach nicht akkreditiert, damit wir keinen kritischen Bericht über die Arbeit der Miliz oder des FSB38 zeigen. Diese Macht grenzt uns aus. […] Oder zum Beispiel, wenn es irgendwelche offiziellen Aufnahmen, beispielsweise durch eben jenen FSB, gibt, werden sie nur an staatliche Sender weitergegeben, und wir kriegen sie nicht. […] Die Macht kann die Journalisten in der Kriegszone nicht zulassen, […] weil sie einfach nicht wollen, dass man sieht, was da passiert.“ (Auszug aus dem Interview Nr. 30, Übersetzung d. Verfasserin; Quelle: eigene Erhebung 2001)

Vor allem auf der Ebene der so genannten föderalen Fernsehsender (also den Sendern mit hoher landesweiter Reichweite) ist diese Praxis sehr verbreitet. Die Untersuchung der „Stiftung zur Verteidigung der Glasnost“ von 2001, für die 1370 russische Journalisten befragt wurden, bestätigt, dass vor allem nicht-staatliche Medien von dieser Praxis betroffen sind.39 Die Absage der Informationsausgabe wird hauptsächlich 1) mit dem geheimen Charakter der In37 Vgl. Interview Nr. 27, Nr. 28, Nr. 30 (2001), Quelle: eigene Erhebung. 38 FSB ist der russische Geheimdienst und die Nachfolgerorganisation des KGB. 39 Vgl. Ɏɨɧɞ ɡɚɳɢɬɵ ɝɥɚɫɧɨɫɬɢ in: http://www.gdf.ru (Stand: 17.01.2005).

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formation und 2) mit dem Verbot durch Vorgesetzte begründet. Allerdings entwickelten die russischen Journalisten Lösungsstrategien für solche Fälle der Geheimhaltung von Information. Statt der offiziellen Wege verlassen sie sich hauptsächlich auf die informellen Methoden der Informationsgewinnung. Zu solchen Methoden zählen Schmiergelder, offene Berichterstattung über die Geheimhaltung der Information, Wendung an den Vorgesetzten, der die Information zurückhält.

Sanktionen Der Mechanismus der Sanktionen greift vor allem auf individueller Ebene in die journalistische Arbeit ein. In der hier untersuchten Phase teilen sich die Sanktionen der Fernsehjournalisten folgendermaßen auf:40 In der Redaktion gibt es • die Rüge durch den Redakteur bzw. Abteilungsleiter; • die Entfernung des Journalisten von seiner Sendung, ihm werden andere Aufgaben zugewiesen; • finanzielle Einbußen (weniger Geld bei regierungskritischen Berichten); • Entlassung aus der Medienorganisation, wobei die meisten Journalisten in Konfliktfällen selbst austreten. Einige Interviewauszüge sollen diese Aussagen illustrieren: „[D]ie Sendeinhalte werden kontrolliert, man kann den Nachrichtenjournalisten ‚schlagen‘, man kann [ihn] von der Arbeit entfernen, man kann [ihn] finanziell bestrafen.“ (Auszug aus dem Interview Nr. 12, Übersetzung d. Verfasserin; Quelle: eigene Erhebung 2001) „[E]s werden Redakteure oder Fernsehleiter entlassen. Die Steuerpolizei wird informiert.“ (Auszug aus dem Interview Nr. 13, Übersetzung d. Verfasserin; Quelle: eigene Erhebung 2001)

Auf rechtlicher Ebene werden folgende Sanktionen angewandt: die strafrechtliche Verfolgung der Journalisten und Mord: So wurden in Russland im Laufe des Jahres 2004 fünf Journalisten ermordet, einer ist verschwunden. Außerdem wurden in diesem Jahr dutzende Angriffe auf Journalisten verübt.41 Auch hierzu seien einige Interviewauszüge erwähnt: „Der [politische] Druck äußert sich in… ich würde sagen, es gibt mehrere Varianten […]. Im Notfall: strafrechtliche Verfolgung des Journalisten.“ (Auszug aus dem Interview Nr. 4, Übersetzung d. Verfasserin; Quelle: eigene Erhebung 2001) „Alle wissen, dass Journalisten getötet werden, dies liegt aber an der Machtlosigkeit sie zu beeinflussen und einzuschüchtern. Dies bestätigt aber, dass die Presse unab40 Vgl. Interview Nr. 4, Nr. 7, Nr. 12 (2001), Quelle: eigene Erhebung. 41 Vgl. Ɏɨɧɞ ɡɚɳɢɬɵ ɝɥɚɫɧɨɫɬɢ in: http://www.gdf.ru (Stand: 17.01.2005).

291

PROPAGANDA ODER AUTONOMIE? hängig ist, so unabhängig, dass sogar der Wunsch zu töten entsteht.“ (Auszug aus dem Interview Nr. 30, Übersetzung d. Verfasserin; Quelle: eigene Erhebung 2001)

Selbstzensur Durch die Zunahme der staatlichen Kontrollmechanismen wird die autopoietische Medienkommunikation im russischen Fernsehen irritiert. Auf diese Perturbation hin entwickeln die autopoietischen Massenmedien, die nach wie vor bestehen bleiben, einen zusätzlichen Selektionsmechanismus von Information: die Selbstzensur. Die Selbstzensur im russischen Journalismus besteht in der Eigenselektion massenmedialer Inhalte durch Journalisten: Die journalistischen Mitteilungen werden an den vermuteten politischen Vorgaben ‚von oben‘ ausgerichtet, noch bevor diese Vorgaben durch die Regierung oder durch den Präsidenten thematisiert werden.42 Außer auf individueller Ebene lassen sich in der hier untersuchten Phase die Vorgänge der Selbstzensur auf redaktioneller Ebene bzw. auf Ebene der Medienorganisationen beobachten. Wenn die Journalisten auf individueller Ebene durch Drohung von Entlassung oder finanziellen Einbußen angetrieben werden43, so wird die Selbstzensur auf der Organisationsebene durch die Drohung der Schließung der Medienorganisation im Falle von regierungskritischen bußerungen gefördert. Die Geschichten der Umstrukturierung von NTV, der Auflösung von TV-6 und TVS waren nicht nur Prozesse der Monopolisierung im Fernsehen, sie dienten auch als Zeichen des Einflusses der oberen Regierungsämter auf die Medien für die restliche journalistische Gemeinschaft. Hier ist ein Auszug aus einem Interview zur Illustration dieses Mechanismus. Ein Journalist aus einer nicht-staatlicher Fernsehanstalt beantwortet die Frage über den Druck der staatlichen bmter auf seine Arbeit: „Natürlich wird auf uns Druck ausgeübt. Selbstverständlich versuchen alle, die nicht zu faul sind, auf alle möglichen Arten Druck auf die redaktionelle Linie, auf die Arbeit der Journalisten auszuüben. Und dies in verschiedenen Formen und in der Vielfältigkeit, die man sich vorstellen kann. Die Frage ist, in welchen Fällen ist es erfolgreich, in welchen nicht. Im großen Teil der Fälle – ich spreche jetzt nicht von staatlichen Fernsehsendern, weil da ein ganz anderes hierarchisches System der Beziehungen mit den staatlichen Machtorganen existiert – aber in Fällen mit nichtstaatlichen Sendern ist von friedlicher Ko-Existenz [der nicht-staatlichen Sender mit den staatlichen Machtorganen] auszugehen, na ja – vom Versuch einer friedlichen Ko-Existenz, weil wir in bestimmten Fällen Zugeständnisse machen müssen. In nicht-prinzipiellen Fällen ist es für Journalisten einfacher, irgendwelche Anweisungen zu befolgen, und die [die offizielle Seite] mögen es so: ‚dies soll man nicht zeigen‘, ‚dies ist nicht gut gelungen‘. Wenn es nicht prinzipiell ist, sollte man sich mit ihnen das Verhältnis deswegen nicht verderben, denn wenn später eine prinzipielle Frage zur Debatte steht, wird es schwieriger sein, sie zu entscheiden. Deshalb diese Politik, Diplomatie in den Beziehungen mit ihnen. Aber jedenfalls haben sie keine direkte Einwirkungsmechanismen, d.h. die Entscheidung, was und wie gezeigt wird, 42 Vgl. auch II.1.1.3. 43 Vgl. oben sowie Interview Nr. 16, Quelle: eigene Erhebung 2001.

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PHASE VIER: AB 2000 bleibt bei uns. Im Unterschied zu staatlichen Massenmedien, wo andere Beziehungen herrschen, wo der Mitarbeiter des Pressedienstes [des Präsidenten] auf befehlerische Art mit dem Redakteur sprechen kann. Aber, dass es Druckversuche gibt, dies, ich wiederhole mich, sieht man zweifellos überall.“ (Auszug aus dem Interview Nr. 4, Übersetzung d. Verfasserin; Quelle: eigene Erhebung 2001)

Dem Mechanismus der Selbstzensur ist eine prominente Rolle in den Differenzierungsvorgängen des russischen Mediensystems ab 2000 zuzuschreiben. Die Annahme dieses Mechanismus widerspricht der von russischen und ausländischen Medienkritikern häufig vertretenen Meinung über die umfassende Lenkung der Massenmedien ab 2000. Die Anwendung der klassischen Kontrollmechanismen (wie Einwirkung auf die redaktionelle Linie, Einstellungs/Entlassungsmechanismus, Zensur) lässt sich nur durch das Eigentum der Medien gewährleisten. Aber die russische Fernsehlandschaft ist durch die Pluralisierung der Organisationstypen gekennzeichnet, d.h. durch das Vorhandensein von Sendern unterschiedlicher Eigentumsformen. Auf kommerzielle Fernsehsender (wie REN-TV, STS) besitzt der Staat keinen Einfluss durch seine Eigentümer.44 Zudem liegt der Schwerpunkt dieser Sender im Bereich der Unterhaltung. Warum werden dann trotzdem wenig kritische bußerungen über die Regierungsaktivitäten gesendet? Die geringe Zahl regierungskritischer Berichte ist gerade durch den Mechanismus der Selbstzensur der Journalisten und Medienorganisationen zu erklären.

5 . 2 Zu m A n t e i l d e r P r o p a g a n d a i n h a l t e i n d e n N a c h r i c h t e n Wie tangiert die Aktualisierung der Kontrollmechanismen der Medien die Ebene der Berichterstattung? Die staatlichen Kontrollmechanismen des Fernsehens werden hauptsächlich im Nachrichtenbereich angewandt. Zunehmend werden hier Berichte ausgestrahlt, die sowohl inhaltlich und als auch funktional der Propaganda nahe kommen. Der Unterhaltungsbereich wird dagegen nicht durch staatliche Steuerungsansprüche tangiert. Im Winter 2003/2004 betrug der prozentuale Anteil unterhaltender Inhalte (Filme und Shows) im russischen Fernsehen 70 Prozent der Fernsehzeit.45 51 Prozent dieser unterhaltenden Inhalte waren Filme und Fernsehserien, die zu 40 Prozent in den USA produziert wurden. Dass im Bereich der Nachrichten tatsächlich wieder Propagandastrukturen vorhanden sind, lässt sich durch die Untersuchung der Nachrichteninhalte plausibilisieren. Die Zeitung Kommersant führte seit 2003 regelmäßig Analysen der Abendnachrichten der Sender Pervij kanal (ehemaliges ORT), Rossija (ehemaliges RTR) und NTV durch. Besonders interessant im Rahmen meiner 44 Die Interviews mit den Leitern der Sender REN-TV und STS (2003) bestätigen dies, vgl. http://www.svoboda.org (Stand: 10.05.2004). 45 Gemessen wurde die Sendezeit auf Pervij Kanal, Rossija, NTV, STS, Ren TV, TNT in den Wintermonaten Dezember, Januar, Februar (vgl. Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2004: Ɍɟɥɟɫɦɨɬɪɟɧɢɟ: ɢɬɨɝɢ ɬɟɥɟɫɟɡɨɧɚ, in: http://www.acvi.ru (Stand: 10.11.2004).

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

Arbeit ist die Analyse der erstplatzierten Nachrichten innerhalb einer Nachrichtensendung. Wie im Kapitel II.1.2.2 bereits ausgeführt wurde, unterscheidet sich die Propagandaproduktion von der massenmedialen Produktion u.a. durch den Aufbau der Nachrichtensendung, also durch die Darstellungskriterien der Nachrichtensendung. Die erste ‚Nachricht‘ der sowjetischen Nachrichtensendung war immer der Parteiführung gewidmet. In der Regierungszeit von Breschnev begannen die Nachrichtensendungen zuerst mit der Darstellung seiner „richtungsweisenden“ Entscheidungen. Ein anderes Zeichen um den Personenkult von Breschnev war, dass seine Reden in den Nachrichten, im Unterschied zu den Reden anderer Parteifunktionäre, nicht gekürzt werden durften. Die Zeitung Kommersant führte eine Inhaltsanalyse der 288 ersten Nachrichtenaussagen der Abendnachrichten der Sender Pervij kanal (ehemaliges ORT) und Rossija (ehemaliges RTR) sowie der 286 ersten Nachrichtenaussagen auf NTV in der Zeit vom 15. April 2003 bis zum 14. April 2004 durch. Hier sind die Ergebnisse dieser Studie im Überblick: • Der Fernsehsender Rossija hält die Information für die Wichtigste, die die Tätigkeit des Staatsoberhaupts Putin betrifft. Im gemessenen Zeitraum wurde über seine Aktivitäten 111 Mal in erster Reihe berichtet. Diese Berichterstattung machte 38 Prozent von allen erstplatzierten Nachrichten auf diesem Fernsehsender aus. • Die Berichterstattung über Putin auf dem Pervij kanal bestand aus 65 erstplatzierten Nachrichten (24 % aller Erstnachrichten). • Nur auf dem Fernsehsender NTV betrug die Zahl der Hauptnachrichten über Putin nur 9 Stück, was 3 Prozent der Erstnachrichten im gemessenen Zeitraum ausmacht. • Dass die drei führenden Fernsehsender gleichzeitig die Aktivitäten Putins zu Hauptnachrichten befördern, geschieht jedoch selten. Im gemessenen Zeitraum kam dies nur 4 Mal vor. Der hohe Anteil der Erwähnung des Namens Putin in den Hauptnachrichten in den Sendern mit einem hohen staatlichen Eigentumsanteil ist ein Indikator für das Vorhandensein der Propagandakommunikation innerhalb der Nachrichten. Da aber die Tätigkeit Putins nicht das ausschließliche Thema der (ersten) russischen Fernsehnachrichten darstellt, und da die Nachrichtenberichterstattung auf diesen Fernsehkanälen durch Pluralismus von Themen gekennzeichnet ist, ist die Schlussfolgerung zu ziehen, dass die Form autopoietischer Massenmedien in Russland nach wie vor, trotz Elemente von Propaganda, dominierend ist. Wie wird die Zunahme der Propagandainhalte in den Medien von Rezipienten verarbeitet? Zwar verfüge ich über keine aktuellen Ergebnisse der Rezeptionsforschung im Jahre 2005, aber auf der Grundlage der Ergebnisse aus früheren Untersuchungen ist zu vermuten, dass die russischen Zuschauer über unterschiedlichen Strategien der Verarbeitung der Fernsehinformation verfü294

PHASE VIER: AB 2000

gen (vgl. II.4.5). Allerdings weist eine Untersuchung von Viktor Kolomiets aus dem Jahre 2002 darauf hin, dass die Zuschauerzufriedenheit mit dem Fernsehen vom Anteil der unterhaltenden Inhalte abhängt.47 Seiner Schätzung nach erwarten zwei Drittel der russischen Zuschauer, dass das Fernsehen den Bedarf nach solchen Inhalten wie Nachrichten, Serien, Quiz-, Talk- und Reality-Shows sowie Kriminalchronik stillt. Für dieses Publikum stellt das Fernsehen mangels günstiger Alternativen sowohl Informationsquelle als auch Freizeitbeschäftigung dar. D.h., die Zufriedenheit mit dem Fernsehen wird nicht durch Nachrichteninhalte, sondern durch Unterhaltung bestimmt. Der Anteil der unterhaltenden Inhalte stieg im russischen Fernsehen von 64 % im Winter 2001/2002 über 68 % im Winter 2002/2003 bis 70 % im Winter 2003/2004.48 So wundert es nicht, dass der Großteil der Zuschauer – 67 % der Befragten aus der 2002 durchgeführten Untersuchung – mit den Fernsehinhalten insgesamt zufrieden war. Lediglich 20 % der Befragten waren mit den Fernsehinhalten in diesem Jahr unzufrieden.

5.3 Formelle versus informelle Ebene Trotz der Zentralisierungstendenzen und vor allem trotz der Wiederbelebung des Monopolisierungsmechanismus blieb der Bereich der informellen Produktion innerhalb der Massenmedien weiter bestehen. Nach wie vor existieren im russischen Fernsehen neben der Orientierung am Publikum Orientierungen an politischen Vorgaben und finanziellen Interessen der (Fernseh-)Eigentümer. Zudem gelten die informellen Geschäfte für russische Journalisten nicht als moralisch verwerflich: Die Einkünfte durch Vermittlung informeller PR sind viel höher als normale Journalistengehälter. Zwei Aspekte sind in dieser Phase für den informellen TV-Markt begünstigend: 1) der Finanzierungsmechanismus der Fernsehsender und 2) die Unzulänglichkeit der Zuschauermessungsmethoden, wobei beide Aspekte miteinander verkoppelt sind. 1) Werbung und Sponsoring stellen in dieser Phase die Finanzierungsquellen des Fernsehens dar. Aber aufgrund der unzureichend ermittelten Zuschauerquoten reichen diese Quellen für die Finanzierung nicht aus. Zusätzliche Finanzierungsquellen (von staatlichen Zuschüssen bis zu informellen Geschäften) werden notwendig. 46 Repräsentative Untersuchung mit 2000 Befragten über 15 Jahre aus 74 Städten in 40 Regionen Russlands (vgl. Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2002: Ɍɟɥɟɜɢɞɟɧɢɟ ɝɥɚɡɚɦɢ ɬɟɥɟɡɪɢɬɟɥɟɣ 2002, Ⱥɧɮɥɢɬɢɱɟɫɤɢɣ ɰɟɧɬɪ „ȼɢɞɟɨ ɂɧɬɟɪɧɟɲɧɥ“, in: http://www .acvi.ru (Stand: 10.11.2004). 47 Repräsentative Untersuchung mit 2000 Befragten aus 74 Städten in 40 Regionen Russlands (vgl. Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2002: Ɍɟɥɟɜɢɞɟɧɢɟ ɝɥɚɡɚɦɢ ɬɟɥɟɡɪɢɬɟɥɟɣ 2002, Ⱥɧɮɥɢɬɢɱɟɫɤɢɣ ɰɟɧɬɪ „ȼɢɞɟɨ ɂɧɬɟɪɧɟɲɧɥ“, in: http://www.acvi.ru, Stand: 10.11.2004). 48 Vgl. Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, 2004: Ɍɟɥɟɫɦɨɬɪɟɧɢɟ: ɢɬɨɝɢ ɫɟɡɨɧɚ, in: http://www.acvi.ru, Stand: 10.11.2004.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

2) Die Techniken und die Qualität der Zuschauermessung sind so unzureichend, dass die ermittelten Zuschauerquoten der Sendungen nicht der wahren Popularität dieser Sendungen entsprechen. Heute wird nur der grobe Umfang des Publikums ermittelt. Nach den Angaben der Mitarbeiter von dem Zuschauerforschungs-Institut Gallup Media wird in Russland heute die Zuschauermessung mit Hilfe zweier Methoden – durch Tagebuchmethode und durch Einsatz spezieller Messgeräte („TV-Metr“) – betrieben. Insgesamt gibt es in Russland, das über 150 Millionen Einwohner hat, lediglich 1200 Messgeräte.49 Zwar wird in Zukunft die Messung der Zuschaueraufmerksamkeit in 1600 Haushalten angestrebt, aber selbst dann würde die Stichprobe lediglich bei 0,001 Prozent der Bevölkerung liegen. Außerdem werden die Messgeräte lediglich in 15 Großstädten Russlands verteilt. Die reine Quotenmessung erlaubt nur den Verkauf von Werbezeit an große internationale Konzerne, die sich an die Mittelschicht wenden. Für die genauere Werbeprogrammierung nach differenzierten Zuschauergruppen sind die gegebenen Methoden nicht ausreichend. Da die Sender aufgrund der mangelnden finanziellen Ressourcen weder Zuschauerquoten der Sendungen überprüfen können noch in die Eigenproduktion investieren können, wird beim Produktionsbeginn einer Sendung als erstes gefragt: „Wie viel illegalen Profit wirft diese Sendung ab?“50 Der russische Medienkritiker Keschischev (2003) beschreibt detailliert das Schema der Schattengeschäfte im russischen Fernsehen: „Die Abwesenheit klarer Bewertungen der Popularität einer Sendung erlaubt es der Fernsehleitung, lohnende ‚Schattengeschäfte‘ nach illegalem Schema durchzuführen. Am verbreitetsten sind: • ‚Gaben‘ an die Leitung für die Platzierung der Sendungen, die für überhöhte Preise erkauft sind; • Erhalt der Sponsorengelder ‚bar auf die Hand‘; • illegaler Kauf und Verkauf der Rechte auf die Ausstrahlung von Sportprogrammen; • feste Partner in der Musikbranche, die die Fernsehleitung für den Erhalt des Monopols schmieren; • Schmiergeld an die Fernsehleitung für den Kauf von Filmlizenzen und für die Wahl des Produzenten einer Fernsehserie. All dies führt zur Abhängigkeit des Produzenten jeglicher Fernsehprodukte von den Vorgaben und von der Persönlichkeit des konkreten ‚btheronkels‘ (des Generaldirektors, des Chefredakteurs, des Leiters der gesellschaftlich-politischen Programme usw.), mit dem der Produzent nach illegalem Schema zusammenarbeitet. Diese Mechanismen bringen den Aktionären direkte Verluste ein. So finanziert z.B. ein Sender die Produktion der Sendungen in autonomen Studios, die der Fernsehleitung des Senders gehören. Anschließend kauft die Fernsehleitung diese Sendungen von diesen Studios zu überhöhten Preisen. Die unabhängigen Studios, die der Fernsehlei49 Zum Vergleich: In Deutschland wird die Zuschauermessung mit Hilfe von 4500 Messgeräten betrieben (vgl. ebd.). 50 Ʉɟɲɢɲɟɜ, 2003: Ʉɚɤ ɩɪɟɜɪɚɬɢɬɶ ɨɬɟɱɟɫɬɜɟɧɧɨɟ ɬɟɥɟɜɢɞɟɧɢɟ ɜ ɪɟɚɥɶɧɵɣ ɛɢɡɧɟɫ. in: ɀɭɪɧɚɥ „Ɉɬɟɱɟɫɬɜɟɧɧɵɟ ɡɚɩɢɫɤɢ“, in: www.strana-oz.ru (Stand: 10.05.2004)

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PHASE VIER: AB 2000 tung gehören, machen einen guten Gewinn. Aber dem Fernsehsender bringen diese informellen Geschäfte nur Verluste ein.“51

Die illegalen Beziehungen innerhalb der Fernsehproduktion begünstigen den Erhalt der unzuverlässigen Zuschauerforschung. Die Fernsehleiter sind nicht interessiert, die gemessene Qualität der Produkte zu offenbaren, die sie in ihren Firmen produzieren und dem Fernsehkanal verkaufen. Auch das Monopol auf die Vermittlung der Fernsehwerbung durch das russische Unternehmen Video International verhindert die Verbesserung der Einschaltquotenmessung. Mit anderen Worten: Die schlechte Qualität der Einschaltquotenmessungen begünstigt die informellen Verhältnisse – und die informellen Verhältnisse bleiben wiederum stabil, so dass die Verbesserung der Zuschauermessung schwer erreichbar ist. Durch diese Strukturkonstellation wird die Weiterentwicklung der Fernsehmärkte eingeschränkt. Ein Indikator für die Institutionalisierung informeller Beziehungen im russischen Fernsehen ist der Anteil der informellen Geschäfte im Fernsehen: 30 Prozent von allen vermuteten Fernseheinkünften – so Keschischev – werden in dieser Phase durch illegale Geschäfte erwirtschaftet.52 Allerdings handelt es sich um potentiellen Profit, weil der informelle Markt in keinem Budget berücksichtigt wird. So werden z.B. während eines regionalen Wahlkampfes einem staatlichen Fernsehsender für die Imagekampagne eines Gouverneurs 1 bis 1,5 Millionen Dollar bezahlt. D.h., die bezahlte Information (weder Propaganda noch formelle PR, sondern informelle PR) wird durch diesen Sender ausgestrahlt. Da an solchen Wahlen mindestens drei Kandidaten teilnehmen und jährlich in Russland sieben bis acht Gouverneurswahlen stattfinden, rechnet der Medienkritiker Keschischev „minimum“ 60 Millionen Dollar aus, die am offiziellen Fernsehbudget ‚vorbeigehen‘. Die Ausmaße der informellen PR bleiben also nach wie vor hoch, so dass man hier von einem informellen Bereich innerhalb der Medienproduktion sprechen kann. Kennzeichnend ist, dass dieser Bereich nicht nur Nachrichten/Berichte, sondern offensichtlich auch Unterhaltungssendungen erfasst: „Jeder, der sich wenigstens ein bisschen mit der Fernsehküche auskennt und der ‚schwarzen‘ Platzierung der kommerziellen Inhalte schon begegnet ist, kann fehlerfrei das illegal bezahlte Material orten. Er schaut jede ‚Informations-‚ oder ‚gesellschaftlich-politische‘ Sendung sowie Interview-Sendungen (‚Alle zu Hause‘, ‚Nachtflug‘, ‚Frauenblick‘ von Oksana Puschkina, ‚Ohne Krawatte‘ usw.) mit dem Taschenrechner an: für dieses Sujet erhielt man 10.000 Dollar, für jenes 50.000… Selbst populäre und angesehene Sendungen haben diese Schwäche: ‚Mensch und Gesetz‘, ‚Total geheim‘, ‚Kriminell‘, ‚Aufrichtige Beichte’… Von den ‚analytischen‘ Wochenzeitschriften ganz zu schweigen: ‚Ergebnis‘, ‚Spiegel‘, ‚Gouverneursklub‘, ‚Zeiten‘…“53

51 Ebd., Übersetzung d. Verfasserin. 52 Vgl. Ʉɟɲɢɲɟɜ, 2003: ebd. 53 Ebd., Übersetzung der Verfasserin, alle Namen übersetzt.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

Kein Teil dieses Geldes fließt in die Entwicklung der Fernsehkanäle, ihrer Produktion, ihrer Technologien, selbst ein. An dieser illegalen Praxis ist nicht nur die Fernsehleitung, an ihr sind auch die Journalisten und Redakteure beteiligt. „Was die nicht-politische Sendungen betrifft […]: Dies funktioniert so, wie alles in unserem Land: Ich kenne [Fernsehredakteurin] Tante Manja, Tante Manja kennt mich, kennt meine Firma [die Fernsehunterhaltung produziert]. Sie arbeitet auf dem Sender, ich komme zu ihr, gebe ihr ein wenig Geld – und alles ist gut. Wenn sich über Tante Manja irgendwelche Wolken zusammenziehen, kriege ich Probleme, weil ich schlechte Sendung, schlechtes Rating habe. [Und] weil ein neuer [Fernsehradakteur] Onkel Vasja kommt und meint, dass meine Sendung überflüssig ist, sondern die Sendung von [Unterhaltungsproduzent] Onkel Petja notwendig ist, den er noch seit seiner Schulzeit kennt.“ (Auszug aus dem Interview Nr. 14; Übersetzung d. Verfasserin Quelle: eigene Erhebung 2001)

Gerade weil die Leitung mitmacht, wird der Rahmen des Zulässigen für die Journalisten aufgezeigt: Sie müssen die bezahlten Formate aufgrund der Anweisung der Leitung aufrechterhalten, folglich erscheint diese Praxis als etwas völlig Normales. Schließlich führen Journalisten eigene illegale Geschäfte durch, um neben anderen illegalen Verpflichtungen einen zusätzlichen Profit zu erwirtschaften. Gleichzeitig führt die ständige Ausstrahlung der informellen PR-Inhalte im Fernsehen dazu, dass sich die Zuschauer an sie gewöhnen: Sie stechen nicht mehr so sehr ins Auge. Auch dies begünstigt den Status quo, denn es fehlen die Anstöße für Veränderungen. Die Verbreitung der Praxis der informellen PR irritiert die autopoietische Medienkommunikation: Neben den massenmedialen Entscheidungskriterien werden die Kriterien der informellen PR für die Auswahl der Inhalte im Fernsehen ausschlaggebend (s. unten II.5.4). Sie bestehen weitgehend aus einer Simulation der massenmedialen Entscheidungskriterien: vor allem die Kriterien der Informationsselektion (Konflikte, Sensationen, Katastrophen usw.) und der Informationsdarstellung (verschiedene Fernsehformate). Weil sich aber die informelle Kommunikation durch die primäre Orientierung am Auftraggeber und nicht am massenmedialen Code auszeichnet, bringen die informellen Fernsehmärkte die Hauptselektoren der Inhalte hervor: AuftraggeberOrganisationen und ihre Codes. Folglich spalten sich die Fernsehinhalte in drei Kategorien: • bezahlte Inhalte der informellen PR, die sich an Auftraggeber und ihrem Code orientieren; • massenmediale Inhalte, die in Orientierung an den massenmedialen Code hergestellt sind, und • Propagandainhalte im Bereich Nachrichte/Berichte (vgl. II.5.2).

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PHASE VIER: AB 2000

5.4 Ko-Existenz formeller und informeller Entscheidungskriterien im russischen Fernsehen Die Analyse der Entscheidungskriterien im russischen Journalismus bestätigt die Ausgangsthese dieses Kapitels, dass in der vierten Phase des Wandels in Russland drei Typen der medialen Kommunikation funktionieren: die massenmediale Kommunikation, die Kommunikation der informellen PR und die Propagandakommunikation. Diese Typen stellen füreinander jeweils Umwelt dar. Die Auswertung der Interviews von 2001 erlaubt mir, die Entscheidungskriterien, die russische Journalisten in ihrer alltäglichen Arbeit verwenden, auszugliedern. Tabelle 22 illustriert die ambivalente Orientierung russischer Journalisten im medialen Produktionsprozess: Russische Journalisten richten sich sowohl nach massenmedialen Entscheidungskriterien als auch nach Vorgaben der Propaganda- oder PR-Auftraggeber, was auf die Irritation der massenmedialen Kommunikation durch Propaganda und PR hindeutet. Tabelle 22: Inhaltliche Aussagen der russischen Journalisten über die Kriterien der massenmedialen Produktion (2001) Techniken/Kriterien der Informationsproduktion

Inhaltliche Aussagen der Journalisten

Techniken der Informationssuche

Nachrichtenagenturen, persönliche Kontakte, Befragung vor Ort, Internet, Telefonate mit Nachrichtenproduzenten, Kontakt zu Pressestellen, Interviews, Suche im ‚Informationsfluss‘, analytische Arbeit mit Daten, Telefonate in Regionen, Suche im Archiv, Vorgaben durch Eigentümer

Kriterien der Informationsselektion: Nachrichten

Aktualität, Schnelligkeit, Exklusivität, Objektivität, Maß der Unterhaltsamkeit, journalistische Intuition, Glaubwürdigkeit, Zuschauerinteressen, Sensationismus, Informationswert des Ereignisses, informationeller Anlass, Aufmerksamkeit erregendes Ereignis, redaktionelle Linie, negative Information/Konflikt, nicht zu ‚brennende‘ Inhalte, Konjunktur, Bühnenreifheit des Ereignisses, Emotionshaftigkeit des Ereignisses, Orientierung an Zielpublika, soziale Relevanz des Ereignisses fürs Publikum, Eigeninteresse am Thema, Interessen des Auftraggebers, Relevanz für hohe politische bmter, Vorgaben ‚von oben‘, Schmiergeld

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE? Unterhaltung

Sendeformat, eigener Geschmack, Orientierung am Durchschnittszuschauer, Bühnenhaftigkeit, Abhängigkeit von Werbung (Werbeumfeld), Infotainment, Thema, Beachtung des Zuschauers, Zielpublika, ‚heiße‘ Sachen, Popularität der Sendung, Zuschauerquoten, Stars, Unterhaltsamkeit

Werbung

Adaption der Inhalte an das Publikum und an den kulturellen Kontext, kommerzielle Ergebnisse, Erfüllung des Auftrags

Kriterien der Informationsprüfung

Verweis auf Quelle, Überprüfung der Fakten durch unabhängige Quellen, Überprüfung durch persönliche Erfahrung, Überprüfung durch Datenbanken, Überprüfung im Gespräch, Überprüfung der Fakten im Internet, Überprüfung der Fakten im Archiv

Kriterien der Informationsdarstellung

Trennung zwischen Fakt, Kommentar und Erklärung, Darstellung beider Seiten eines Konfliktes in einem Bericht, Drehbuch, Fernsehformat, Kürze (in Nachrichten), redaktionelle Linie des Senders, Abhängigkeit vom Ziel der Sendung, Originalität, Redaktionsbesprechungen, klare verständliche Darstellung

Quelle: Eigene Auswertung, Eigene Erhebung 2001, Übersetzung d. Verfasserin.

5 . 5 Zu s a m m e n f a s s u n g Gemäß der neuen Medienpolitik der russischen Regierung werden staatliche Kontrollmechanismen des russischen Fernsehens (und anderer Medien) wieder aktiviert. Nach der Anwendung des Mechanismus der (Teil-) Monopolisierung („informelle Nationalisierung“ von NTV sowie Auflösung von TV-6 und TVS) kann der Staat in dieser Phase auf die Mehrzahl der zentralen und überregionalen TV-Sender (Pervij Kanal, Rossija, NTV, TVZ) einwirken. Den zentralen staatlich kontrollierten Fernsehsendern werden solche Kontrollmechanismen – wie 1) Einwirkung auf die redaktionelle Linie, 2) Einstellungs-/Entlassungsmechanismus und 3) partielle Zensur auferlegt. Auf die Sender ohne staatlichen Eigentumsanteil (vor allem REN-TV und STS) wird durch Behinderung des Informationszugangs eingewirkt. Auf individueller Ebene aktualisiert sich sowohl in staatlichen als auch in nicht-staatlichen Sendern der Mechanismus der Sanktionen gegen einzelne Journalisten. Die autopoietischen Massenmedien werden durch die Zunahme der staatlichen Kontrolleingriffe irritiert. Diese Irritation findet ihren Ausdruck in der Einführung der Selbstzensur auf individueller und organisationeller Ebene sowie in der Beeinträchtigung der journalistischen Entscheidungskriterien. Die Zentralisierung der Kontrollmechanismen des Fernsehens ab 2000 schränkt die thematische Offenheit der Nachrichteninhalte ein. Allerdings 300

PHASE VIER: AB 2000

mindern Propagandaelemente in den Nachrichten nicht die Popularität des Mediums Fernsehen bei den Rezipienten. Dieses Phänomen ist durch die hohe Zahl unterhaltender Inhalte im Fernsehen zu erklären. Denn gerade diese Medienprodukte muss das Medium Fernsehen nach Zuschauererwartungen liefern, um die Popularität beizubehalten. Die Trennung zwischen formeller und informeller Ebene im Bereich der medialen Produktion schränkt die Innendifferenzierung der Medienmärkte ein. So führt die schlechte Qualität der Instrumente der Zuschauerforschung zur Fortexistenz der informellen Geschäfte des „Auftragsjournalismus“ im Fernsehen. Aufgrund der Verbreitung der informellen Beziehungen und der daraus folgenden hohen Einnahmen bleibt das Interesse an Verbesserungen der Beobachtungsmöglichkeiten des aktuellen und des potentiellen Publikums bei den Fernsehleitern und Fernsehredakteuren gering. Folglich gehen russische Journalisten in ihrem routinisierten Arbeitsprozess sowohl nach massenmedialen Vorgaben als auch nach Vorgaben der PR- und Propagandaauftraggeber vor. In dieser Phase des Medienwandels sind im russischen Fernsehen drei Typen der Medienkommunikation beobachtbar: die massenmediale Kommunikation, die informelle PR-Kommunikation und die Elemente der Propagandakommunikation, wobei diese füreinander Umwelt sind. Die Medieninhalte im russischen Fernsehen kann man folglich in drei Sorten unterteilen: in die Inhalte der informellen PR, die durch informelle Beziehungen zustande kommen; in massenmediale Inhalte und in Propagandainhalte in den Nachrichten. Weil die Propagandaelemente bis jetzt nur im Nachrichtenbereich vorhanden sind, gehe ich in dieser Phase von der Dominanz des Kommunikationstyps der autopoietischen Massenmedien aus.

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6. F ALLZUSAMMENFASSUNG UND A USBLICK 6.1 Typen der Medienkommunikation zwischen 1970 und 2005 Die Leitfrage dieser Arbeit war folgende: Wie strukturiert sich der mediale Wandel im postsowjetischen Russland? Seit Beginn des Wandels lassen sich in Russland, wie am Beispiel des Fernsehens gezeigt wurde, drei Typen der Medienkommunikation beobachten: die autopoietische Kommunikation der Massenmedien, die Kommunikation der informellen Public Relations und die Kommunikation von Propaganda.1 Durch diese Kommunikationstypen wird der Medienwandel im neuen Russland strukturiert (s. Tab. 23). In der prä-massenmedialen Phase (1970-1985) war die Propagandakommunikation vorherrschend. Nach 1985 teilt sich die Entstehung der autopoietischen Massenmedien in Sequenzen auf, die ich unter Berücksichtigung der Kriterien eines Ausdifferenzierungsprozesses vorstellen möchte.2 In der ersten Phase des Wandels (1986-1991) hat die Erosion der parteilichen Kontrollmechanismen des Fernsehens die Ausdifferenzierung erster massenmedialer Strukturen wie Code und Entscheidungskriterien (Aktualität und Objektivität) gefördert. In dieser Phase wuchs bereits die Distanz zwischen einzelnen Strukturebenen des massenmedialen Funktionssystems. Die Idee der Medien als vierter Gewalt, als massenmediale Selbstbeschreibung, führte zur gesellschaftsweiten Anerkennung der systemischen Eigenlogik. Die entstehenden Massenmedien konnten sich als einziger Produzent öffentlicher Information positionieren. In der zweiten Phase des Wandels (Ende 1991 bis Ende 1995) setzte sich die Erosion der (jetzt) staatlichen Kontrollmechanismen des Fernsehens fort, was die Aufhebung der hierarchischen Unterordnung der Fernsehorganisation unter den Staat ermöglichte. In dieser Phase findet eine intensive Entstehung und Entwicklung der massenmedialen Märkte in den Bereichen der Nachrichten/Berichte, Werbung und Unterhaltung statt. Der dadurch begünstige Kommerzialisierungsprozess des Fernsehens förderte die Pluralisierung der Organisationstypen im russischen Fernsehen. Die Prozesse globaler Vernetzung und globaler Diffusion trugen zur Entstehung neuartiger Organisationstypen 1 Diese Typen der Medienkommunikation stellen füreinander Umwelt dar. 2 Zu den Kriterien für den Abschluß der Ausdifferenzierung vgl. I.4.1.

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

und organisationeller Entscheidungskriterien bei. Am Ende dieser Phase sind keine Propagandastrukturen im russischen Fernsehen mehr beobachtbar. Statt Propaganda entstehen mehrere Systemstrukturen (massenmediale Organisationen, Trennung zwischen Produktion und Publikum, neue Entscheidungskriterien), die durch die wachsende Distanz voneinander getrennt werden. Zudem ist diese Phase durch das wiederholte Scheitern der Steuerungsansprüche des Staates gegenüber den Medien sowie durch Aufrecherhaltung der Exklusivität für die Leistung der Informationsproduktion gekennzeichnet. Allerdings haben sich die Kriterien der journalistischen Professionalität (die der Ebene der journalistischen Rolle zuzurechnen sind) nicht vollständig herausgebildet, was auf den nicht-abgeschlossenen Charakter der massenmedialen Ausdifferenzierung in dieser Phase hindeutet. In der dritten Phase des Wandels (Ende 1995 bis Anfang 2000) finden die marktorientierten Prozesse im Fernsehen sowie die weitere Innendifferenzierung massenmedialer Produktion statt. Durch internationale Kontakte lernen russische Medienorganisationen die moderne Form der Öffentlichkeitsarbeit kennen. Allerdings werden die modernen PR an den russischen Kontext angepasst und durch informelle Beziehungen instrumentalisiert. Von Auftraggeberorganisationen werden sie hauptsächlich eingesetzt, um die negative Positionierung des Konkurrenten in der Öffentlichkeit zu erreichen. In dieser Phase ist die Ko-Existenz der massenmedialen Strukturen und der informellen PR-Strukturen in den Organisationen des russischen Fernsehens festzustellen, obwohl autopoietische Massenmedien und informelle PR füreinander Umwelt darstellen. Die informellen PR werden häufig von politischen und wirtschaftlichen Organisationen zur Beeinflussung der Berichterstattung im Bereich der Nachrichten eingesetzt. Die strukturelle Trennung zwischen formellen und informellen Kontexten im postsowjetischen Russland sowie die mangelnde journalistische Professionalität haben die Herausbildung der informellen PR begünstigt. Durch informelle PR werden die entstehenden autopoietischen Massemedien sowohl auf der Ebene der (Fernseh-)Organisationen als auch auf der Publikumsebene irritiert. In dieser Phase wird das Wachstum der Distanz zwischen einzelnen massenmedialen Systemebenen verlangsamt. Zudem können die autopoietischen Medienstrukturen keine exklusive Zuständigkeit für die Leistung der Informationsproduktion durchsetzen, was als Indikator für einen nicht-abgeschlossenen Charakter der massenmedialen Ausdifferenzierung in dieser Phase zu werten ist. In der vierten Phase des Wandels (ab 2000) werden staatliche Kontrollmechanismen des Fernsehens3 wiederaktualisiert. Es gelingt dem Staat, einige Steuerungsansprüche gegenüber dem Fernsehen durchzusetzen. So sind in diesem 3 Die politischen/staatlichen Kontrollmechanismen werden, wie oben bereits erwähnt (vgl. I.2.1.2), als Instrumente definiert, die auf die Minimierung der Differenz zwischen Information/Nicht-Information zielen.

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FALLZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK

Zeitraum Propagandainhalte in den Fernsehnachrichten beobachtbar. Diese Entwicklung wird durch fortexistierende massenmediale Globalisierungsprozesse nicht angehalten. Eher kann eine Irritationen der entstehenden autopoietischen Medien beobachtet werden: Sowohl auf individueller als auch auf Organisationsebene wird die journalistische Selbstzensur selbstverständlich, was die massenmediale Themenoffenheit einengt. In dieser Phase wird die Weiterentwicklung der Fernsehmärkte durch informelle Produktionsstrukturen im Fernsehen gebremst, was die Innendifferenzierung der massenmedialen Beobachtungsinstanzen des Publikums einschränkt. Sowohl die Entstehung von Propagandastrukturen als auch die Fortexistenz der informellen PR irritieren die entstehenden autopoietischen Massenmedien auf der Ebene der Entscheidungskriterien, was sich wiederum auf die Herausbildung der journalistischen Professionalität nicht begünstigend auswirkt. Das Vorhandensein mehrerer Typen der Medienkommunikation in der vierten Phase des Wandels deutet darauf hin, dass die autopoietischen Medienstrukturen keine exklusive Zuständigkeit für die Leistung der Informationsproduktion durchsetzen können. Deshalb ist der massenmediale Ausdifferenzierungsprozess im postsowjetischen Russland als nicht-abgeschlossen zu betrachten. Diese Befunde möchte ich abschließend in Beziehung zu Hypothesen setzen, die im theoretischen Abschnitt dieser Arbeit formuliert wurden: Hypothese 1: Für die sowjetische Organisationsgesellschaft war die Propagandakommunikation kennzeichnend. Hypothese 2: Folgende Bedingungen waren ausschlaggebend für die Ausdifferenzierung autopoietischer Massenmedien in der Sowjetunion ab 1985/86: 2a) exogene Bedingungen: Erosion parteilicher Kontrollmechanismen und Herausbildung massenmedialer Märkte; 2b) endogene Bedingungen: Prozesse der Globalisierung des Weltsystems der Massenmedien: globale Diffusion massenmedialer Entscheidungskriterien und massenmedialer Inhalte sowie globale Vernetzung auf der Ebene der massenmedialen Organisationen. Beiden Hypothesen wurde im zweiten Teil der Arbeit am Beispiel des sowjetischen/russischen Fernsehens nachgegangen. Die erste Hypothese konnte weitgehend durch die Darstellung der Propagandastrukturen des sowjetischen Fernsehens erhärtet werden. Für die zweite Hypothese, die auch weitgehend plausibilisiert wurde, lassen sich auf der Grundlage der empirischen Befunde folgende Präzisierungen formulieren: Die Erosion der parteilichen/staatlichen Kontrollmechanismen ist eine Bedingung, die die Ausdifferenzierung der autopoietischen Massenmedien vor allem auf der Code- und Organisationsebene begünstigt. Wird die Erosion der Kontrollmechanismen angehalten, wie dies in der Phase ab 2000 beobachtbar ist, wird die Ausdifferenzierung der autopoietischen Massenmedien gebremst: 305

PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

Die Massenmedien müssen dann die Irritationen verarbeiten, die durch staatliche Kontrollversuche zustande kommen. Da Massenmedien zudem ihre Exklusivität auf die Informationsproduktion verlieren, ist ihr längerfristiges Fortbestehen fraglich. Die Globalisierungsprozesse des Funktionssystems der Massenmedien und die Herausbildung der massenmedialen Märkte sind Bedingungen, die erstens zu einer Ausdifferenzierung solcher Strukturdimensionen der autopoietischen Massenmedien wie Entscheidungskriterien, massenmediale Produktion/massenmediales Publikum (= Leistungs- und Publikumsrollen) und massenmediale Organisationen beitragen. Zweitens begünstigen sie die Innendifferenzierung des massenmedialen Funktionssystems, wie es vor allem in der dritten Phase bei der Trennung zwischen Nachrichten/Berichten, Werbung und Unter beobachtbar ist. Allerdings können diese Bedingungen (Medienglobalisierung

Tabelle 23: Typen der Medienkommunikation in Russland zwischen 1970 und 2005 Phasen Typen der Medienkommunikation

1970-1985

1986-1991

Ende 1991 bis Ende 1995

Propaganda

dominierend

unterliegt Erosion

vollständige Erosion

Code und einzelne Systemstrukturen

Code und mehrere Systemstrukturen

autopoietische Massenmedien

informelle PR als informelle Strukturen innerhalb der Medieninstanzen Quelle: eigene Ausarbeitung

306

Ende 1995 ab 2000 bis Anfang 2000 einzelne Strukturen Code und mehrere Systemstrukturen, Irritation durch informelle PR

Code und mehrere Systemstrukturen, Irritation durch staatliche Kontrollmechanismen und informelle PR

vorhanden

vorhanden

FALLZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK

und Medienmärkte) nur dann wirksam werden, wenn die Erosion der Kontrollmechanismen der Medien fortschreitet. Werden die Kontrollmechanismen der Medien, wie in der letzten Phase ab 2000, aktiviert, können Globalisierungsprozesse und massenmediale Märkte keine weiteren Strukturausdifferenzierungen fördern, da Kontrollmechanismen der Medien auf die Hemmung des Codes zielen.

6 . 2 Zu k u n f t s s z e n a r i e n d e s M e d i e n w a n d e l s i n R u s s l a n d Der Prozess der Ausdifferenzierung der autopoietischen Massenmedien im neuen Russland – so der Endbefund dieser Arbeit – ist noch nicht abgeschlossen. Auch wenn Zukunftsprognosen unter systemtheoretisch arbeitenden Soziologen verpönt sind, bleibt die Frage nach der Entwicklungsrichtung des medialen Wandels im neuen Russland spannend. Deshalb möchte ich, ohne eine konkrete Zukunftsprognose für den Wandel der Medienstrukturen zu geben, zwei Szenarien der Medienentwicklung in Russland entwerfen. Szenario Nr. 1: Ausdifferenzierung autopoietischer Massenmedien Die Ausdifferenzierung autopoietischer Massenmedien im neuen Russland könnte in Zukunft im folgenden Rahmen abgeschlossen werden: Neben der vollständigen Ausdifferenzierung einzelner Systemebenen (Code, Produktion/ Publikum, Entscheidungskriterien, Organisationen, Reflexionstheorien) würde vor allem die vollständige Erosion der Kontrollmechanismen des Fernsehens (und anderer Medien) die Bildung einer legitimen Indifferenz des Mediensystems gegenüber Umwelteingriffen festigen. Die Minimierung der Differenz zwischen formellen und informellen Strukturen innerhalb russischer Medien wäre die Voraussetzung für diese Entwicklung. Ein solches Szenario wäre zu erwarten, wenn der gesellschaftliche Kontext in Russland durch 1) funktionale Differenzierung, 2) Vergrößerung der sozialen Distanz zwischen einzelnen Systemtypen, 3) Offenheit (also auch Globalisierung) sowie 4) Minimierung der Differenz zwischen formeller und informeller Ebene charakterisierbar sein würde. Eine vollständige Erosion staatlicher Kontrollmechanismen der Medien, die Fortsetzung der massenmedialen Globalisierungsprozesse sowie eine eigenständige Entwicklung der Medienmärkte wären notwendig, um diese Entwicklungsrichtung des Medienwandels zu begünstigen. Szenario Nr. 2: Dominanz der Propagandakommunikation? Die Dominanz der Propagandakommunikation könnte in einem Kontext erreicht werden, in dem die staatlichen Kontrollmechanismen gestärkt und die Medien dem Staat hierarchisch untergeordnet werden würden. Wenn diese Kontrollmechanismen die Selektion der Medieninhalte lückenlos übernehmen würde, könnte sich Propaganda als Kommunikationstyp weiter ausdifferenzie307

PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

ren. Allerdings wäre hierfür auf politischer Ebene die Einführung der rechtlich gültigen Sanktionen für journalistische und persönliche Meinungsäußerung notwendig. Denn Propaganda beinhaltet die Drohung mit Sanktionen gegenüber Meinungsäußerungen, die mit der offiziellen Ideologie nicht übereinstimmen. Mit der Stärkung der Kontrollmechanismen der Medien wären die Weiterentwicklung der Märkte und globale Diffusions- und Vernetzungsprozesse gebremst, was wiederum zur zunehmenden Erosion der massenmedialen Strukturen und Instanzen führen würde. Falls diese Entwicklung eintreten würde, ist zu vermuten, dass sich die informellen Strukturen der Medien (vor allem im Bereich des Internets) noch stärker entwickeln würden, um die Abwesenheit der massenmedialen Kommunikation zu kompensieren. Allerdings scheint dieses Szenario im Jahre 2006 (noch) nicht wahrscheinlich. Die Unterordnung der Medienorganisationen unter den Staat kann aufgrund der Pluralität der Organisationstypen im russischen Fernsehen (und in anderen Medien) nicht gewährleistet werden: bereits 2003 existierten in der gesamten Russischen Föderation über 1600 regionale, sowohl staatliche als auch private, Fernsehsender.4 Außerdem können sich immer noch Presse und Internet, solange sie der exekutiven Gewalt nicht untergeordnet sind, autopoietisch weiter reproduzieren. Solange in Russland keine Diktatur einritt, kann eine hierarchische Unterordnung des Fernsehens (und anderer Medien) unter den Staat rechtlich nicht umgesetzt werden. Es wurden lediglich zwei von vielen möglichen Entwicklungsperspektiven russischer Massenmedien skizziert. Letztlich wird die Zukunft zeigen, wie sich die Massenmedien im neuen Russland weiterentwickeln. Aber ohne Zweifel kann man schon heute sagen, dass diese wandelenden Massenmedien im Transformationsprozess (post-)sowjetischer Gesellschaftsformen eine spezielle Funktion erfüllen: Sie produzieren und reproduzieren gesellschaftliche Gegenwartsdiagnosen und konstruieren somit eine neue russische Identität. Perestroika, Markt, Demokratie, Öffnung – dies waren die Gesellschaftsdiagnosen zu Beginn der 90er Jahre. Ende der 90er Jahre wurden sie durch das Bild des Großen Russlands abgewechselt, das traditionelle Symbole der sowjetischen Breschnev-Zeit sowie imperialistische Symbole der vorrevolutionären Zarenepoche übernahm (vgl. II.4.3.3). So fand zu Beginn des dritten Jahrtausends eine „massenmediale Rekonstruktion“ des Bildes Russlands statt, das neben neuen auch vertraute Kategorien beinhaltete. Somit ist der Wandel der russischen Medienstrukturen als Umstrukturierung des sozialen Gedächtnisses der russischen Übergangsgesellschaft zu verstehen.

4 Vgl. ɒɚɪɢɤɨɜ, 2003a: 10000 ɤɢɥɨɦɟɬɪɨɜ ɷɮɢɪɚ: 20 ff., in: http://www. acvi.ru, Datum: 10.10. 2005.

308

A NHANG Leitfaden für die Interviews I

Version in Deutsch

Unabhängigkeit des Fernsehens, Autonomie der redaktionellen Arbeit Frage 1: Was sind die grundlegenden Voraussetzungen für das Bestehen der unabhängigen Massenmedien in einer Gesellschaft? Erläutern Sie bitte Ihre Position an Beispielen. Frage 2: Würden Sie behaupten, dass in den letzen zehn Jahren in Russland ein System der unabhängigen Massenmedien entstanden ist? Erläutern Sie bitte Ihre Antwort. Frage 3: Ist die intensive Entwicklung der Werbebranche förderlich für die Entstehung unabhängiger Massenmedien? Ist die Unabhängigkeit der Massenmedien ohne bzw. mit wenig kommerzieller Werbung möglich? Erläutern Sie Ihre Position. Frage 4: In welchen Formen äußert sich die redaktionelle Unabhängigkeit gegenüber dem ‚Mutterkonzern‘? Frage 5: In welchen Formen äußert sich die redaktionelle Abhängigkeit vom ‚Mutterkonzern‘? Frage 6: Wird seitens der Werbeauftraggeber und Sponsoren der Druck auf die journalistische/redaktionelle Arbeit ausgeübt? • im Bereich Nachrichten/Berichte, • im Bericht der Werbung, • im Bereich der Unterhaltung. Frage 7: Wird von regionalen oder föderalen bmtern der Druck auf journalistische/redaktionelle Arbeit ausgeübt? Wenn ja, dann in welchen Fällen: • im Bereich der Nachrichten, • im Bereich der Werbung, • im Bereich der Unterhaltung.

309

PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

Kriterien der Produktion von Information Frage 8: An welchen Kriterien orientiert sich der Autor (Journalist/Redakteur) bei der Produktion der Fernsehsendungen aus folgenden Bereichen: • aus dem Bereich Nachrichten/Berichte, • aus dem Bereich der Werbung, • aus dem Unterhaltungsbereich. Erläutern Sie Ihre Antwort. Frage 9: An welchen Kriterien orientiert sich der Autor (Journalist/Redakteur) bei: • Beobachtung und Sammlung von Information, • Selektion von Information, • Prüfung von Information, • Darstellung von Information, • Einordnung des Informationsprodukts in das TV-Programm. Frage 10: Welche Kriterien sind bei der Themenbestimmung der Fernsehsendung grundlegend? Erläutern Sie Ihre Antwort. Frage 11: Beschreiben Sie die berufsethischen Standards eines Journalisten/ Redakteurs (z.B. die Zulässigkeit von verdeckter Recherche, anonymen Quellen, schleichender [politischer oder kommerzieller] Werbung). Globalisierung der Massenmedien Frage 12: Würden Sie behaupten, dass russische Massenmedien im Hinblick auf die Offenheit und Zugänglichkeit von Informationen zum eindeutigen Bestandteil des globalen Kommunikationsraums geworden sind? Frage 13: Ist im russischen Fernsehen das Kopieren der Arbeitsmethoden des westlichen Fernsehfunks zu beobachten? Wenn ja, in welchen Bereichen: • im Bereich der Nachrichten/Berichte, • im Bereich der Werbung, • im Bereich der Unterhaltung. Erläutern Sie Ihre Antwort. Frage 14: Nennen Sie bitte konkret, welche Arbeitsmethoden des westlichen Fernsehfunks im russischen Fernsehen kopiert werden. Z.B. Methoden der Sammlung, der Selektion, der Prüfung von Information, Konzept der Fernsehsendung, Logik der Einordnung der Fernsehsendungen in das TV-Programm, anderes. 310

ANHANG

Erläutern Sie Ihre Antwort. Frage 15: Werden im russischen Fernsehen die Themen des westlichen Fernsehfunks kopiert? Erläutern Sie ihre Antwort.

Mediatisierung der Politik Frage 16: Inwiefern stellen Massenmedien, insbesondere das Fernsehen, ein wichtiges Element des politischen Machtkampfes dar? Verdeutlichen Sie ihre Meinung an Beispielen. Frage 17: Wie würden Sie den Ausdruck „Medienkrieg“ definieren? Könnten Sie Beispiele für einen „Medienkrieg“ in russischen Massenmedien nennen?

II Version in Russisch 1. ɇɟɡɚɜɢɫɢɦɨɫɬɶ ɬɟɥɟɜɢɞɟɧɢɹ 1. ȼ ɱɟɦ, ɧɚ ȼɚɲ ɜɡɝɥɹɞ, ɡɚɤɥɸɱɚɸɬɫɹ ɨɫɧɨɜɧɵɟ ɩɪɟɞɩɨɫɵɥɤɢ ɫɭɳɟɫɬɜɨɜɚɧɢɹ ɧɟɡɚɜɢɫɢɦɵɯ ɋɆɂ ɜ ɨɛɳɟɫɬɜɟ? ɉɨɹɫɧɢɬɟ ɫɜɨɸ ɩɨɡɢɰɢɸ ɧɚ ɩɪɢɦɟɪɚɯ. 2. Ɇɨɠɧɨ ɥɢ ɫɤɚɡɚɬɶ, ɱɬɨ ɡɚ ɩɨɫɥɟɞɧɢɟ ɞɟɫɹɬɶ ɥɟɬ ɜ Ɋɨɫɫɢɢ ɫɥɨɠɢɥɚɫɶ ɫɢɫɬɟɦɚ ɧɟɡɚɜɢɫɢɦɵɯ ɋɆɂ? ȿɫɥɢ ɞɚ, ɬɨ ɜ ɱɟɦ ɷɬɨ ɜɵɪɚɠɚɟɬɫɹ? Ʉɚɤɢɟ ɦɨɠɧɨ ɩɪɢɜɟɫɬɢ ɩɪɢɦɟɪɵ? ȿɫɥɢ ɧɟɬ, ɬɨ ɩɨɱɟɦɭ? 3. ɋ ɜɚɲɟɣ ɬɨɱɤɢ ɡɪɟɧɢɹ, ɫɩɨɫɨɛɫɬɜɭɟɬ ɥɢ ɢɧɬɟɧɫɢɜɧɨɟ ɪɚɡɜɢɬɢɟ ɪɟɤɥɚɦɧɨɣ ɢɧɞɭɫɬɪɢɢ ɫɬɚɧɨɜɥɟɧɢɸ ɧɟɡɚɜɢɫɢɦɨɝɨ ɬɟɥɟɜɢɞɟɧɢɹ? ɉɨɱɟɦɭ ɞɚ ɢɥɢ ɩɨɱɟɦɭ ɧɟɬ? ȼɨɡɦɨɠɧɚ ɥɢ ɧɟɡɚɜɢɫɢɦɨɫɬɶ ɬɟɥɟɜɢɞɟɧɢɹ ɩɪɢ ɨɬɫɭɬɫɬɜɢɢ ɪɟɤɥɚɦɵ ɢɥɢ ɨɱɟɧɶ ɧɟɛɨɥɶɲɢɯ ɟɟ ɨɛɴɟɦɚɯ? 2. Aɜɬɨɧɨɦɢɹ ɪɚɛɨɬɵ ɤɚɧɚɥɨɜ, ɪɟɞɚɤɰɢɣ 4. ɇɚɡɨɜɢɬɟ, ɜ ɤɚɤɢɯ ɮɨɪɦɚɯ ɩɪɨɹɜɥɹɟɬɫɹ ɚɜɬɨɧɨɦɢɹ ɪɟɞɚɤɰɢɢ ɩɨ ɨɬɧɨɲɟɧɢɸ ɤ „ɦɚɬɟɪɢɧɫɤɨɦɭ“ ɦɟɞɢɚ-ɩɪɟɞɩɪɢɹɬɢɸ (ɬɟɥɟɤɚɧɚɥɭ, ɫɬɭɞɢɢ ɢ ɬ.ɩ.). 5. ɇɚɡɨɜɢɬɟ ɜ ɤɚɤɢɯ ɮɨɪɦɚɯ ɩɪɨɹɜɥɹɟɬɫɹ ɡɚɜɢɫɢɦɨɫɬɶ ɪɟɞɚɤɰɢɢ ɩɨ ɨɬɧɨɲɟɧɢɸ ɤ „ɦɚɬɟɪɢɧɫɤɨɦɭ“ ɦɟɞɢɚ-ɩɪɟɞɩɪɢɹɬɢɸ (ɬɟɥɟɤɚɧɚɥɭ, ɫɬɭɞɢɢ ɢ ɬ.ɩ.). 311

PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

6. ɂɦɟɟɬ ɥɢ ɦɟɫɬɨ ɞɚɜɥɟɧɢɟ ɫɩɨɧɫɨɪɨɜ/ɪɟɤɥɚɦɨɞɟɬɚɥɟɣ ɧɚ ɪɚɛɨɬɭ ɪɟɞɚɤɬɨɪɨɜ/ɠɭɪɧɚɥɢɫɬɨɜ, ɟɫɥɢ ɞɚ ɬɨ ɜ ɤɚɤɢɯ ɫɥɭɱɚɹɯ: • ɞɚɜɥɟɧɢɟ ɧɚ ɩɪɨɢɡɜɨɞɫɬɜɨ ɢ ɬɪɚɧɫɥɹɰɢɸ ɧɨɜɨɫɬɟɣ/ɪɟɩɨɪɬɚɠɟɣ, • ɞɚɜɥɟɧɢɟ ɧɚ ɩɪɨɢɡɜɨɞɫɬɜɨ ɢ ɬɪɚɧɫɥɹɰɢɸ ɪɚɡɜɥɟɤɚɬɟɥɶɧɵɯ ɩɟɪɟɞɚɱ, • ɞɚɜɥɟɧɢɟ ɧɚ ɩɪɨɢɡɜɨɞɫɬɜɨ ɢ ɬɪɚɧɫɥɹɰɢɸ ɪɟɤɥɚɦɵ? • ȿɫɥɢ ɞɚ, ɬɨ ɜ ɱɟɦ ɤɨɧɤɪɟɬɧɨ ɜɵɪɚɠɚɟɬɫɹ ɷɬɨ ɞɚɜɥɟɧɢɟ? 7. ɂɦɟɟɬ ɥɢ ɦɟɫɬɨ ɞɚɜɥɟɧɢɟ ɨɪɝɚɧɨɜ ɮɟɞɟɪɚɥɶɧɨɣ ɢ ɪɟɝɢɨɧɚɥɶɧɨɣ ɜɥɚɫɬɢ ɧɚ ɪɚɛɨɬɭ ɪɟɞɚɤɬɨɪɨɜ/ɠɭɪɧɚɥɢɫɬɨɜ, ɟɫɥɢ ɞɚ ɬɨ ɜ ɤɚɤɢɯ ɫɥɭɱɚɹɯ: • ɞɚɜɥɟɧɢɟ ɧɚ ɩɪɨɢɡɜɨɞɫɬɜɨ ɢ ɬɪɚɧɫɥɹɰɢɸ ɧɨɜɨɫɬɟɣ/ɪɟɩɨɬɪɚɠɟɣ, • ɞɚɜɥɟɧɢɟ ɧɚ ɩɪɨɢɡɜɨɞɫɬɜɨ ɢ ɬɪɚɧɫɥɹɰɢɸ ɪɚɡɜɥɟɤɚɬɟɥɶɧɵɯ ɩɟɪɟɞɚɱ, • ɞɚɜɥɟɧɢɟ ɧɚ ɩɪɨɢɡɜɨɞɫɬɜɨ ɢ ɬɪɚɧɫɥɹɰɢɸ ɪɟɤɥɚɦɵ? • ȿɫɥɢ ɞɚ, ɬɨ ɜ ɱɟɦ ɤɨɧɤɪɟɬɧɨ ɜɵɪɚɠɚɟɬɫɹ ɷɬɨ ɞɚɜɥɟɧɢɟ? 3. Ʉɪɢɬɟɪɢɢ ɩɪɨɢɡɜɨɞɫɬɜɚ ɢɧɮɨɪɦɚɰɢɢ 8. Ʉɚɤɢɦɢ ɤɪɢɬɟɪɢɹɦɢ ɪɭɤɨɜɨɞɫɬɜɭɟɬɫɹ ɚɜɬɨɪ ɩɪɢ ɩɪɨɢɡɜɨɞɫɬɜɟ ɢ ɬɪɚɧɫɥɹɰɢɢ: ɚ) ɧɨɜɨɫɬɧɵɯ ɦɚɬɟɪɢɚɥɨɜ, ɛ) ɪɚɡɜɥɟɤɚɬɟɥɶɧɵɯ ɩɟɪɟɞɚɱ, ɫ) ɪɟɤɥɚɦɵ. ɉɨɱɟɦɭ ɷɬɢ ɤɪɢɬɟɪɢɢ, ɚ ɧɟ ɞɪɭɝɢɟ? 9. Ʉɚɤɢɦɢ ɤɪɢɬɟɪɢɹɦɢ ɪɭɤɨɜɨɞɫɬɜɭɟɬɫɹ ɠɭɪɧɚɥɢɫɬ/ɪɟɞɚɤɬɨɪ ɩɪɢ: • ɫɛɨɪɟ ɢɧɮɨɪɦɚɰɢɢ (ɬɟɯɧɢɤɢ ɢ ɦɟɬɨɞɵ ɫɛɨɪɚ), • ɫɨɪɬɢɪɨɜɤɢ ɫɨɛɪɚɧɧɨɝɨ ɦɚɬɟɪɢɚɥɚ (ɜɵɛɨɪ ɦɟɠɞɭ ɧɭɠɧɨɣ ɢ ɧɟɧɭɠɧɨɣ ɢɧɮɨɪɦɚɰɢɟɣ), • ɩɪɨɜɟɪɤɟ ɢɧɮɨɪɦɚɰɢɢ, • ɩɪɟɡɟɧɬɚɰɢɢ ɢɧɮɨɪɦɚɰɢɢ ɬɟɥɟɡɪɢɬɟɥɸ (= ɤɨɧɰɟɩɬ ɬɟɥɟɦɚɬɟɪɢɚɥɚ) • ɪɚɡɦɟɳɟɧɢɢ ɤɨɧɟɱɧɨɝɨ ɬɟɥɟɜɢɡɢɨɧɧɨɝɨ ɩɪɨɞɭɤɬɚ ɜ ɩɪɨɝɪɚɦɦɟ ɬɟɥɟɩɟɪɟɞɚɱ. ɉɨɱɟɦɭ ɷɬɢ ɤɪɢɬɟɪɢɢ, ɚ ɧɟ ɞɪɭɝɢɟ? 10. Ʉɚɤɢɦɢ ɤɪɢɬɟɪɢɹɦɢ ɪɭɤɨɜɨɞɫɬɜɭɟɬɫɹ ɠɭɪɧɚɥɢɫɬ/ɪɟɞɚɤɬɨɪ ɩɪɢ ɨɩɪɟɞɟɥɟɧɢɢ ɬɟɦ ɬɟɥɟɩɟɪɟɞɚɱ? ɉɨɱɟɦɭ ɷɬɢ ɤɪɢɬɟɪɢɢ, ɚ ɧɟ ɞɪɭɝɢɟ? 11. Ʉɚɤɨɜ ɪɟɚɥɶɧɵɣ ɤɨɞɟɤɫ ɠɭɪɧɚɥɢɫɬɚ/ɪɟɞɚɤɬɨɪɚ (ɧɚɩɪ. Ⱦɨɩɭɫɬɢɦɨɫɬɶ „ɩɨɞɩɨɥɶɧɨɣ“ ɪɚɡɜɟɞɤɢ ɢɧɮɨɪɦɚɰɢɢ, ɪɚɛɨɬɚ ɫ ɚɧɨɧɢɦɧɵɦɢ ɢɫɬɨɱɧɢɤɚɦɢ,ɜɨɡɦɨɠɧɨɫɬɶ ɫɤɪɵɬɨɣ – ɤɨɦɦɟɪɱɟɫɤɨɣ, ɩɨɥɢɬɢɱɟɫɤɨɣ – ɪɟɤɥɚɦɵ).

312

ANHANG

4. Ƚɥɨɛɚɥɢɡɚɰɢɹ ɋɆɂ 12. Ɇɨɠɧɨ ɥɢ ɭɬɜɟɪɠɞɚɬɶ, ɱɬɨ ɫ ɬɨɱɤɢ ɡɪɟɧɢɹ ɨɬɤɪɵɬɨɫɬɢ ɢ ɞɨɫɬɭɩɧɨɫɬɢ ɢɧɮɨɪɦɚɰɢɢ ɪɨɫɫɢɣɫɤɢɟ ɋɆɂ ɫɬɚɥɢ ɩɨɥɧɨɰɟɧɧɨɣ ɱɚɫɬɶɸ ɦɢɪɨɜɨɝɨ ɢɧɮɨɪɦɚɰɢɨɧɧɨɝɨ ɩɪɨɫɬɪɚɧɫɬɜɚ? ɉɨɹɫɧɢɬɟ ɫɜɨɣ ɨɬɜɟɬ. 13. Ɇɨɠɧɨ ɥɢ ɧɚɛɥɸɞɚɬɶ ɧɚ ɪɨɫɫɢɣɫɤɨɦ ɬɟɥɟɜɢɞɟɧɢɢ ɤɨɩɢɪɨɜɚɧɢɟ ɡɚɩɚɞɧɵɯ ɦɟɬɨɞɨɜ ɬɟɥɟɜɟɳɚɧɢɹ. ȿɫɥɢ ɞɚ, ɬɨ ɜ ɤɚɤɢɯ ɫɮɟɪɚɯ: ·ɜ ɫɮɟɪɟ ɧɨɜɨɫɬɟɣ/ɪɟɩɨɪɬɚɠɟɣ, ɜ ɪɚɡɜɥɟɤɚɬɟɥɶɧɨɣ ɫɮɟɪɟ, ɜ ɪɟɤɥɚɦɧɨɣ ɫɮɟɪɟ. ɉɨɹɫɧɢɬɟ ɫɜɨɣ ɨɬɜɟɬ. 14. ɇɚɡɨɜɢɬɟ ɤɨɧɤɪɟɬɧɨ, ɤɚɤɢɟ ɦɟɬɨɞɵ ɬɟɥɟɜɟɳɚɧɢɹ ɤɨɩɢɪɭɸɬɫɹ ɭ Ɂɚɩɚɞɚ: ɧɚɩɪ. ɦɟɬɨɞɵ ɫɛɨɪɚ, ɫɨɪɬɢɪɨɜɤɢ, ɩɪɨɜɟɪɤɢ ɢɧɮɨɪɦɚɰɢɢ, ɤɨɧɰɟɩɬ ɬɟɥɟɩɟɪɟɞɚɱɢ, ɥɨɝɢɤɚ ɪɚɡɦɟɳɟɧɢɟ ɩɟɪɟɞɚɱ ɜ ɬɟɥɟɩɪɨɝɪɚɦɦɟ, ɞɪɭɝɨɟ. ɉɨɹɫɧɢɬɟ ɫɜɨɣ ɨɬɜɟɬ. 15. ɂɦɟɟɬ ɥɢ ɦɟɫɬɨ ɤɨɩɢɪɨɜɚɧɢɟ ɬɟɦ ɬɟɥɟɩɟɪɟɞɚɱ? ɉɨɹɫɧɢɬɟ ɫɜɨɣ ɨɬɜɟɬ. 5. Ɇɟɞɢɨɬɢɡɚɰɢɹ ɩɨɥɢɬɢɤɢ 16. Ʉɚɤ ȼɚɦ ɤɚɠɟɬɫɹ, ɧɚɫɤɨɥɶɤɨ ɜɚɠɧɵɦ ɷɥɟɦɟɧɬɨɦ ɩɨɥɢɬɢɱɟɫɤɨɣ ɛɨɪɶɛɵ ɫɟɣɱɚɫ ɹɜɥɹɸɬɫɹ ɋɆɂ ɢ, ɩɪɟɠɞɟ ɜɫɟɝɨ, ɬɟɥɟɜɢɞɟɧɢɟ? Ɉɛɥɚɞɚɸɬ ɥɢ ɨɧɨ ɪɟɲɚɸɳɟɣ ɪɨɥɶɸ ɜ ɩɨɥɢɬɢɱɟɫɤɨɣ ɛɨɪɶɛɟ? ɉɨɱɟɦɭ? ɉɪɢɜɟɞɢɬɟ, ɩɨɠɚɥɭɣɫɬɚ, ɫɨɨɬɜɟɬɫɬɜɭɸɳɢɟ ɩɪɢɦɟɪɵ. 17. Ʉɚɤ ȼɵ ɩɨɧɢɦɚɟɬɟ ɬɟɪɦɢɧ ɢɧɮɨɪɦɚɰɢɨɧɧɚɹ ɜɨɣɧɚ? Ɇɨɠɟɬɟ ɥɢ ȼɵ ɩɪɢɜɟɫɬɢ ɩɪɢɦɟɪɵ ɢɧɮɨɪɦɚɰɢɨɧɧɵɯ ɜɨɣɧ ɜ ɪɨɫɫɢɣɫɤɨɣ ɩɨɥɢɬɢɤɟ?

Angaben über die Interviewpartner Interviewpartner Nr. 1: Herr K., Fachgebiet: Dokumentarfernsehen, Fernsehsender „Kultura“. Interviewpartner Nr. 2: Herr N., Fernsehjournalist, Fernsehsender „Kultura“. Interviewpartner Nr. 3: Herr S., Fernsehproduzent, Fernsehsender NTV. Interviewpartner Nr. 4: Herr G., Regisseur, Fernsehsender NTV. Interviewpartner Nr. 5: Herr G., Hauptredakteur, Fernsehsender TVZ. Interviewpartner Nr. 6: Herr E., Nachrichtenredakteur, Fernsehsender TVZ. Interviewpartnerin Nr. 7: Frau M., Hauptredakteurin, Fernsehsender TVZ. Interviewpartner Nr. 8: Herr N., Hauptredakteur, Fernsehsender TVZ. Interviewpartner Nr. 9: Herr F., Journalist, Fernsehsender TV-6. Interviewpartnerin Nr. 10: Frau V, Fernsehjournalistin, Fernsehsender TVZ. 313

PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

Interviewpartnerin Nr. 11: Frau S., Fernsehredakteurin, Fernsehzentrum „Avtorskoje televidenie“. Interviewpartnerin Nr. 12: Frau B., Programmredakteurin, Fernsehzentrum „Avtorskoje televidenie“. Interviewpartnerin Nr. 13: Frau A., Leiterin der Publikumsforschung, Fernsehsender Ren-TV. Interviewpartner Nr. 14: Herr R., Produzent der Nachrichtenredaktion, Fernsehsender TV-6. Interviewpartner Nr. 15: Herr M., Fernsehjournalist, Fernsehsender TV-6. Interviewpartnerin Nr. 16: Frau B, Texterin, Fernsehsender Ren-TV. Interviewpartner Nr. 17: Herr P., Redaktionsleiter, Fernsehsender REN-TV. Interviewpartnerin Nr. 18: Frau B., Nachrichtenredakteurin, Fernsehsender TV-6. Interviewpartner Nr. 19: Herr B., Fernsehautor, Moskauer Fernsehsender „Stoliza“. Interviewpartnerin Nr. 20: Frau Tsch., Programmredakteurin, Moskauer Fernsehsender „Stoliza“. Interviewpartnerin Nr. 21: Frau P., Fernsehjournalistin, Moskauer Fernsehsender „Stoliza“. Interviewpartner Nr. 22: Herr K., Berichterstatter über Tätigkeiten des Parlaments, Nachrichtendienst, Fernsehsender ORT. Interviewpartner Nr. 23: Herr D., Journalist, Nachrichtenagentur „Rosbizneskonsalting“. Interviewpartner Nr. 24: Herr N., Fernsehjournalist, Fernsehzentrum „Parlamentskij Tschas“ der Parlaments der Russischen Föderation. Interviewpartner Nr. 25: Herr Tsch., Fernsehjournalist, Fernsehsender TV-6. Interviewpartner Nr. 26: Herr R., Fernsehautor, Verträge mit dem Fernsehsender RTR und dem Fernsehsender TVZ. Interviewpartner Nr. 27: Herr D., Produzent, Fernsehsender ORT. Interviewpartner Nr. 28: Herr N., Nachrichtenjournalist, Fernsehsender ORT. Interviewpartner Nr. 29: Herr S., Fernsehredakteur, Fernsehsender RTR. Interviewpartner Nr. 30: Herr S., Fernsehproduzent, Fernsehzentrum „Figaro“, Verträge mit den Fernsehsendern TVZ, NTV, RTR. Interviewpartner Nr. 31: Herr F., Fernsehjournalist, Fernsehsender ORT. Interviewpartnerin Nr. 32, Frau K., Fernsehjournalistin, Fernsehsender ORT.

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Q UELLENVERZEICHNIS Verzeichnis der Sekundärquellen der Studie Hutter, E., 1980: Die sowjetische Informationspolitik. Ideologische Grundlagen und Wirkungsweise der Massenmedien, Freiburg. Kunze, Ch., 1978: Journalismus in der UdSSR, Münster; München. Lerg, W./Ravenstein, M./Schiller-Lerg, S., 1991: Sowjetische Publizistik zwischen Öffnung und Umgestaltung. Die Medien im Zeichen von Glasnost und Perestroika, Münster. Mickiewicz, E., 1999: Changing Channels: Television and the Struggle for Power in Russia, New York. Müller, M., 2001: Zwischen Zensur und Zäsur. Das sowjetische Fernsehen unter Gorbatschev, Münster. Ⱥɮɚɧɚɫɶɟɜ, ɘ. (ɨɛɳ. ɪɟɞ.), 1989: ɂɧɨɝɨ ɧɟ ɞɚɧɨ: ɝɥɚɫɧɨɫɬɶ, ɞɟɦɨɤɪɚɬɢɹ, ɫɨɰɢɚɥɢɡɦ, Ɇɨɫɤɜɚ. Ƚɪɚɛɟɥɶɧɢɤɨɜ, Ⱥ., 2001: Ɇɚɫɫɨɜɚɹ ɢɧɮɨɪɦɚɰɢɹ ɜ Ɋɨɫɫɢɢ: ɨɬ ɩɟɪɜɨɣ ɝɚɡɟɬɵ ɞɨ ɢɧɮɨɪɦɚɰɢɨɧɧɨɝɨ ɨɛɳɟɫɬɜɚ, Ɇɨɫɤɜɚ. Ⱦɭɛɢɰɤɚɹ, ȼ., 1998: Ɍɟɥɟɜɢɞɟɧɢɟ. Ɇɢɮɨɬɟɯɧɨɥɨɝɢɢ ɜ ɷɥɟɤɬɪɨɧɧɵɯ ɫɪɟɞɫɬɜɚɯ ɦɚɫɫɨɜɨɣ ɢɧɮɨɪɦɚɰɢɢ, Ɇɨɫɤɜɚ. Ɂɚɞɨɪɢɧ, ɂ./ɋɸɬɤɢɧɚ, Ⱥ., 2000: Ɉɫɨɛɟɧɧɨɫɬɢ ɩɨɬɪɟɛɥɟɧɢɹ ɩɨɥɢɬɢɱɟɫɤɨɣ ɢɧɮɨɪɦɚɰɢɢ ɢ ɟɟ ɜɥɢɹɧɢɟ ɧɚ ɩɨɥɢɬɢɱɟɫɤɢɟ ɩɪɟɞɩɨɱɬɟɧɢɹ, ɜ: Ɂɚɞɨɪɢɧ, ɂ. (ɪɟɞ.-ɫɨɫɬ.): ɋɆɂ ɢ ɩɨɥɢɬɢɤɚ ɜ Ɋɨɫɫɢɢ. ɋɨɰɢɨɥɨɝɢɱɟɫɤɢɣ ɚɧɚɥɢɡ ɪɨɥɢ ɋɆɂ ɜ ɢɡɞɢɪɚɬɟɥɶɧɵɯ ɤɨɦɩɚɧɢɹɯ, Ɇɨɫɤɜɚ: 96-110. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ɂ., 2001: Ɋɟɤɨɧɫɬɪɭɤɰɢɹ Ɋɨɫɫɢɢ: ɦɚɫɫ-ɦɟɞɢɚ ɢ ɩɨɥɢɬɢɤɚ ɜ 90ɟ, Ɇɨɤɜɚ. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ə. (ɨɛɳ. ɪɟɞ.), 2001: ɋɢɫɬɟɦɚ ɫɪɟɞɫɬɜ ɦɚɫɫɨɜɨɣ ɢɧɮɨɪɦɚɰɢɢ Ɋɨɫɫɢɢ, Ɇɨɫɤɜɚ. Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ə./ȼɚɪɬɚɧɨɜɚ, ȿ./Ɂɚɫɭɪɫɤɢɣ, ɂ. ɢ ɞɪ., 2002: ɋɪɟɞɫɬɜɚ ɦɚɫɫɨɜɨɣ ɢɧɮɨɪɦɚɰɢɢ ɩɨɫɬɫɨɜɟɬɫɤɨɣ Ɋɨɫɫɢɢ, Ɇɨɫɤɜɚɸ. ɉɪɚɣɫ, Ɇ., 2000: Ɍɟɥɟɜɢɞɟɧɢɟ, ɬɟɥɟɤɨɦɦɭɧɢɤɚɰɢɢ ɢ ɩɟɪɟɯɨɞɧɵɣ ɩɟɪɢɨɞ: ɩɪɚɜɨ, ɨɛɳɟɫɬɜɨ ɢ ɧɚɰɢɨɧɚɥɶɧɚɹ ɢɞɟɧɬɢɱɧɨɫɬɶ, Ɇɨɫɤɜɚ. Ʉɨɥɨɦɢɟɰ, ȼ. (ɨɛɳ. ɪɟɞ.), 2001: Ɍɟɥɟɪɟɤɥɚɦɧɵɣ ɛɢɡɧɟɫ, Ɇɨɤɜɚ. Ʉɪɵɥɨɜ, ɂ.,1996: Ɍɟɨɪɢɹ ɢ ɩɪɚɤɬɢɤɚ ɪɟɤɥɚɦɵ ɜ Ɋɨɫɫɢɢ, Ɇɨɫɤɜɚ. Ʉɭɡɧɟɰɨɜ, Ƚ., 2002: Ɍȼ-ɀɭɪɧɚɥɢɫɬɢɤɚ: ɤɪɢɬɟɪɢɢ ɩɪɨɮɟɫɫɢɨɧɚɥɢɡɦɵ, Ɇɨɫɤɜɚ. Ʉɭɡɶɦɢɱ, ȼ., ɉɪɚɲɤɨɜɢɱ, Ⱥ., 2001: ɋɟɤɪɟɬɵ ɪɨɫɫɢɣɫɤɨɝɨ ɩɨɥɢɬɢɱɟɫɤɨɝɨ ɉɊ, Ɇɨɫɤɜɚ. Ʌɚɡɭɬɢɧɚ, Ƚ., 2000: ɉɪɨɮɟɫɫɢɨɧɚɥɶɧɚɹ ɷɬɢɤɚ ɠɭɪɧɚɥɢɫɬɚ, Ɇɨɫɤɜɚ. 315

PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

Ɇɭɪɚɬɨɜ, ɋ., 2001: ɗɜɨɥɹɰɢɹ ɧɟɬɟɪɩɢɦɨɫɬɢ: ɢɫɬɨɪɢɹ ɢ ɤɨɧɮɥɢɤɬɵ ɷɬɢɱɟɫɤɢɯ ɩɪɟɞɫɬɚɜɥɟɧɢɣ, Ɇɨɤɜɚ. ȼɨɥɤɨɜ, Ⱥ./ɉɭɝɚɱɟɜɚ, Ɇ./əɪɦɨɥɸɤ, ɋ., 2000: ɉɪɟɫɫɚ ɜ ɨɛɳɟɫɬɜɟ (19592000). Ɉɰɟɧɤɢ ɠɭɪɧɚɥɢɫɬɨɜ ɢ ɫɨɰɢɨɥɨɝɨɜ. Ⱦɨɤɭɦɟɧɬɵ, ɂɧɫɬɢɬɭɬ ɫɨɰɢɨɥɨɝɢɢ ɊȺɇ. ɋɨɝɨɦɨɥɨɜ/Ɂɜɨɧɨɜɫɤɢɣ, 2002: Ɉɩɪɨɫɵ ɨɛɳɟɫɬɜɟɧɧɨɝɨ ɦɧɟɧɢɹ ɤɚɤ ɫɪɟɞɫɬɜɨ ɦɚɧɢɩɭɥɹɰɢɢ, Ɇɨɫɤɜɚ. Ɏɟɞɨɬɨɜ, Ⱥ., 2000: ɉɨɥɢɬɢɱɟɫɤɚɹ ɪɟɤɥɚɦɚ ɧɚ ɜɵɛɨɪɚɯ ɜ Ƚɨɫɭɞɚɪɫɬɜɟɧɧɭɸ Ⱦɭɦɭ 1995 ɢ 1999 ɝ., ɜ: Ɂɚɞɨɪɢɧ, ɂ. (ɪɟɞ.-ɫɨɫɬ.): ɋɆɂ ɢ ɩɨɥɢɬɢɤɚ ɜ Ɋɨɫɫɢɢ. ɋɨɰɢɨɥɨɝɢɱɟɫɤɢɣ ɚɧɚɥɢɡ ɪɨɥɢ ɋɆɂ ɜ ɢɡɞɢɪɚɬɟɥɶɧɵɯ ɤɨɦɩɚɧɢɹɯ, Ɇɨɫɤɜɚ: 36-56. Ɏɟɞɨɬɨɜ, Ɇ., 2002: ɉɪɚɜɨ ɦɚɫɫɨɜɨɣ ɢɧɮɨɪɦɚɰɢɢ ɜ Ɋɨɫɫɢɣɫɤɨɣ Ɏɟɞɟɪɚɰɢɢ, Ɇɨɫɤɜɚ. ɐɜɢɤ, ȼ., ɇɚɡɚɪɨɜɚ, ə., 2002: Ɍɟɥɟɜɢɡɢɨɧɧɵɟ ɧɨɜɨɫɬɢ Ɋɨɫɫɢɢɢ, Ɇɨɫɤɜɚ. ɐɭɥɚɞɡɟ, Ⱥ., 2000: Ȼɨɥɶɲɚɹ ɦɚɧɢɩɭɥɹɬɢɜɧɚɹ ɢɝɪɚ, Ɇɨɫɤɜɚ.

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LITERATUR

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PROPAGANDA ODER AUTONOMIE?

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LITERATUR

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