Preußische Jahrbücher: Band 56 [Reprint 2020 ed.] 9783112366806, 9783112366790


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German Pages 652 Year 1885

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Table of contents :
Inhalt
Die Grenzen zwischen Malerei und Plastik und die Gesetze des Reliefs.
Die Verwaltung der Stadt Berlin.
Flotten-Fragen.
Prinz Friedrich Karl.
Drei Briefe von E. M. Arndt.
Politische Correspondenz.
D. Emil Herrmann weil. Präsident des ev. Oberkirchenrathes zu Berlin, gest. den 16. April 1885 zu Gotha.
Die Entwicklung der sächsischen Amtsverfassung im Vergleich mit der brandenburgischen Kreisverfassung.
Der Hof von Yildiz-Kiosk.
Die Schlußworte des Goethe'schen Faust.
Das Schicksal des deutschen Bauernstandes bis zu den agrarischen Unruhen des 15. und 16. Jahrhunderts.
Politische Correspondenz.
Notizen.
Der Hof von Yildiz Kiosk.
Die Zukunft der wissenschaftlichen Hygiene in Deutschland.
Der erste Barbar auf dem römischen Kaiserthrone.
Studien über die Schwankungen des Volkswohlstandes im Deutschen Reiche.
Politische Correspondenz.
Notizen.
Rousseau als Musiker.
K. Fr. Reinhard im auswärtigen Ministerium zu Paris.
Briefe von E. M. Arndt an Franz Hegewisch.
Politische Correspondenz.
Notizen.
Die neuere Forschung über Maria Stuart.
Ueber Kants Lehre von Begriff und Aufgabe der Philosophie.
K. Fr. Reinhard im auswärtigen Ministerium zu Paris.
Strafjustiz und Oeffentliche Meinung.
Zwei Briefe des Kronprinzen Ludwig von Baiern an Napoleon I.
Politische Correspondenz.
Berichtigung.
Grundprobleme der römischen Geschichte in ihrer verschiedenen Auffassung bei Ranke und Mommsen
Das Dresdener Lutherdenkmal und der Streit um den ächten Lutherkopf Rietschels.
August Strindberg, ein schwedischer Sensationsschriftsteller.
Adolf Menzel.
Politische Correspondenz.
Notizen.
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Preußische Jahrbücher: Band 56 [Reprint 2020 ed.]
 9783112366806, 9783112366790

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Preußische Jahrbücher. H e v ci ii s q e (\ e b e n

von

H. von Treitschke unb H. Delbrück.

S e ch s u n d fu n fzi g st er Band.

Berlin, 1885. Druck und Verlag von Georg Reimer.

Erstes Heft. Die Grenzen zwischen Malerei und Plastik und die Gesetze deS Reliefs. (Guido Hauck.)..................................................................................................... Seite Die Verwaltung der Stadt Berlin. 1IL (EdgarLoening.) .. ............................. — Flotten-Frageu. (B.*)................................................................................................ — Prinz Friedrich Karl. (H. Delbrück.).........................................................................— Drei Briefe von E. M. Arndt. (E. Martin.).................................................... — Politische Correspondenz: Der englische Ministerwechsel. ( lich verbunden werden. Im bewußten Gegensatze zu solchen Bauplänen einer Kirchenverfassung, bei welchen es als die Aufgabe der synodalen Einrichtungen angesehen wird, das Kirchenregiment zu kontroliereu und ein Gegengewicht gegen etwaige Uebergriffe desselben zu bilden, forderte Herrmann ein stetes Zusammenwirken des consistorialen und synodalen Elementes. Jedes derselben soll von dem andern den Beitrag empfan­ gen, den es aus sich selbst nicht zu leisten vermag. Seit diesem Vor-

115

D. Emil Herrmann.

trag waren die Blicke aller, welche in der endlichen Herbeiführung einer kirchlichen Organisation die unerläßliche Voraussetzung

für

eine wirk­

samere Entfaltung der in der evangelischen Kirche vorhandenen geistigen

Kräfte erblickten,

ein

wurde,

in

das

Vorläufig

bot

auf Herrmann

erwariungsvoll

Jahrzehnt

ganzes

jenem

ihm

nur

bis

vergehen,

sollte

gerichtet.

ihm

zu

aufgestellte Ziel

Programm

Aber noch verwirklichen.

deutsch-evangelische Kirchentag,

der

geboten

Gelegenheit

zu dessen

Vorsitzenden er im Jahre 1864 zu Altenburg gewählt wurde, dann und

wann

Gelegenheit,

reiten

zu helfen.

mit

Worten

beredten

diese Verwirklichung

Zu Kiel im Jahre 1867,

zu

vorbe­

Stuttgart im Jahre

1869 und endlich auf dem letzten im Jahre 1872 zu Halle abgchaltenen Kirchentage Hal Herrmann die Verhandlungen mit der ihm eigenen Um­

sicht und Gewandtheit geleitet.

Bkit

seinem

Rücktritt vom Präsidium

des Kirchentages ist auch eine Vertagung desselben ad caleiidas graecas

eingetreten.

Inzwischen hatten die Ereignisse von 1866 auf Herrmanns Leben

eine

tiefgreifende

eigenen Worte:

Rückwirkung

ausgeübt.

seiner geschichtlichen Mission gegebene nach dem

Bundesbeschlusse

Hören

wir

daß Preußen nicht blos

„Ueberzeugt,

ethische Nothwendigkeit,

14. Juni 1866

vom

darüber

durch

auch

nach

seine

eine mit sondern formalem

Recht zu dem Kriege genöthigt sei,

und daß Deutschlands Zukunft mit

Preußen stehe und

ich

falle,

bekannte

mich

mit Herz

nnd Mund zu

Preußen, während meine akademische Umgebung in erheblicher Mehrzahl

im entgegengesetzten Lager stand.

Der Gegensatz verfehlte nicht, anch in

das Privatleben einzudringen, alte Freundschaftsbande zu erschüttern und

den Frieden des akademischen Gemeinlebens aufs tiefste zu schädigen." Unter diesen Umständen wurde es ihm nicht schwer, den im Herbst 1867 an ihn ergehenden Ruf an die Universität in Heidelberg anzunehmen,

um dort der Nachfolger Mittermehers zu werden.

Auch in der neuen

Heimath fand Herrmann bald Gelegenheit zu einer über den akademischen

Beruf hinausreichenden welche

das

Thätigkeit.

und

in die politischen und kirchlichen Fragen,

badische Land damals

bewegten

unmittelbar eingreifenden

Das lebhafteste Interesse nahm er an den Verwickelungen

deö Staates mit der katholischen Kirche, die damals grade ihren Höhe­ punkt in dem Streite über die Besetzung des

von Freiburg erreicht hatten.

erzbischöflichen Stuhles

Der badischen Regierung mußte es um

so dringender angelegen sein, unfricdsame und der römischen Politik die­

nende Kandidaten vom erzbischöflichen Stuhle fern zu halten, je aggressiver die Restaurationspolitik der Curie grade in Baden

vorgegangen war,

wo das zu zwei Drittheilen katholische, von einem evangelischen Fürsten-

D. Emil Herrmann.

116

hause regierte Land ein besonders günstiger Boden für ihre Bestrebungen

zu sein schien.

In einer Schrift:

„das staatliche Beto bei Bischofswah­

len nach dem Rechte der oberrheinischen Kirchenprovinz" wies Herrmann

auf Grund archivalischer Studien mit überzeugender Klarheit nach, daß dem Staate vertragsmäßig das Reckt zustehe, bei der Besetzung des erz­

bischöflichen Stuhles ein entscheidendes Beto auszuüben. dem Großherzog

Seit 1869 von

in die erste Kammer berufen, fehlte es ihm auch hier

art mannigfachem Anlaß zur unmittelbaren Theilnahme an Ver­

nicht

handlungen,

welche die gtechtöstellung der Kirchen im Staate betrafen,

und mit derselben Entschiedenheit, mit welcher

er für das Recht des

Staates gegenüber den Uebergriffen Roms eingetreten ist, hat er and)

die Selbständigkeit der Kirchen auf ihrem Gebiete und

legenheiten in Anspruch genommen.

in ihren Ange­

So trat er bei dem heftigen Kampfe

um das Stiftungsgesetz mit großer Lebhaftigkeit der Staatsregierung ent­ gegen,

welche dem

enge Grenzen ziehen

kirchlicherr Stiftungsgebiet wollte.

Dagegen

seiner Meinung nach zu

hat Herrmann an

der innern

kirchlichen Entwickelung der evangelischen Landeskirche in Baden, deren auf breitester Grundlage entstandene Verfassung überdies bei seinem Ein­ tritt in dieselbe bereits ins Leben getreten war, keinen unmittelbar thätigen

Antheil genommen.

Er hielt sich von jeder persönlichen Mitwirkung ab­

sichtlich fern, weil ihm dieselbe wie er in seinen Aufzeichnungen selbst schreibt

„in

ihrem vorherrschenden Geiste und Tolle llicht sympathisch

waren".

Als im Jahre 1872 der Eultusminister voll Mühler seine Elltlassullg genommen hatte und Dr. Falk an seine Stelle getreten war, sollte endlich das solange versäumte und trotz wiederholter Allsätze

niemals

von der

Stelle gekommene kirchliche Verfassungswerk in Preußen zum Abschluß ge­ bracht werden.

Glücklicherweise war bei Eilltritt des Wechsels im Eultus-

ministerium and) das Präsidium des evang. Ober-Kirchenrathes noch un­

erledigt, nachdem der bisherige Inhaber dieser Stellung llicht lallge zuvor

verstorben war, und es galt mm für dieselbe den Malln zu suchen, der mit dem vollen Berställdniß für die Bedürfnisse der evangelischen Kirche die Energie des Handelns verbände, um das so lange versäumte Werk

in thatkräftigen Angriff zu nehmen.

Es gab keinen zweiten, der für die

in Rede stehellde Aufgabe geeigneter erschien als Herrmann.

War dock)

bei ihm die genaueste Kenntniß der in Betracht kommenden kirchenrecht­ lichen Fragen und ein durch persönliche Anschauung und Erfahrung ge-

wonnener Ueberblick über die kirchlichelt Berhältnisse in gallz Deutsch­

land mit der idealsten Begeisterung für die culturgeschichtliche und natio­

nale Bedeutung der evangelischen Kirche

verbunden.

Dabei

ließ

ihn

117

D. Emil Herrmann.

seine Stellung als langjähriger Präsident des deutschen Kirchentages auch

als einen Mann

des Bertrauens

positive Richtung erscheinen.

für die in demselben vorherrschende

So wurden denn schon im Sommer 1872

von Berlin aus mit ihm Verhandlungen angeknüpft, welche seine Be­

rufung zum Präsidenten des Evangelischen Ober Kirchenraths bezweckten. Wohl verhehlte sich Herrmann keinen Augenblick die Schwierigkeiten, die

in Berlin seiner warteten.

Er war sich dessen klar bewußt, daß auf der

einen Seite Bestrebungen zu überwinden waren, die durch Beibehaltung

der von der Mehrzahl der außerordentlichen Provinzialsynoden befürwor­ teten Vorschlagsliste das kirchliche Verfassungswerk auf seiner grundlegen­ den Stufe, in Gemeinde-Kirchenrath und Gemeinde-Vertretung, zu ver­

kümmern drohten, und daß auf der andern Seite der kirchliche und poli­ tische Liberalismus das Verfassungswerk in Bahnen zu lenken suchte, die nach seiner oft laut ausgesprochenen Ueberzeugung dem innersten Wesen

der evangelischen Kirche widersprachen.

Er hat selbst den sich ihm auf-

drängendeit Bedenken in den nachfolgenden Auslassungen seiner Auszeich­

nungen bestimmten Ausdruck gegeben.

„Zwei Jahrzehnte von größter

Wichtigkeit, so schreibt er, waren vergangen, ohne daß es dem OberKirchenrathe

gelungen

war,

seine auf das Verfassungswerk

gerichtete

Hauptaufgabe wesentlich zu fördern; selbst die Anfechtungen seiner eigenen

rechtlichen Existenz hatte er nicht zu überwinden vermocht. hatte man die Unmöglichkeit,

Inzwischen

mit consistorialem Behördenregiment der

Kirche ihre Leistungsfähigkeit ju erhalten, immer schmerzlicher erfahren.

Während die moderne Staatsentwickelnng Formen der Freiheit schuf, die nur ein gottesfürchtiges und gewissenernstes Volk mit gutem und heil­ samen Inhalte ausfüllen kann, entfremdeten sich immer zahlreichere Volks­

theile der Kirche, welche doch allein die beharrliche Pflanz- und Pflege­ stätte jener Gesinnung sein kann: und während wachsende sociale Schäden

das Handeln der Kirche immer nachdrücklicher herausforderten, stellte sich

der Mangel der Bedingungen immer handgreiflicher heraus, von denen die Handlungsfähigkeit

eines Gemeinwesens abhängt.

Das Leben der

Kirche zog sich mehr und mehr in die freien Vereine zurück, die, wenn

sie sich nicht um Werke der christlichen Nächstenliebe sammelten, sondern Kirchenpolitik trieben oder mit Lehrstreitigkeiten, selbst bis zur Verurtheilung dissentirender Personen und Richtungen sich befaßten, ein hitziges

Parteiwesen großzogen, welches auch auf den religiös empfänglichen Theil

des Laienstandes abstoßend und erkältend wirkte.

Wer noch der Ueber­

zeugung lebte, daß die Kirche der Reformation trotz alledem und allein die innerliche Ausstattung besitze, um die ethischen Faktoren des Gemein­ lebens in kräftige Action zu setzen und darin beharrlich zu erhalten, dem

D. Emil Herrmann.

118

mußte zunächst die Entbindung und Organisirung

ihrer theils schlum­

mernden theils durch Zusammenhangslosigkeit gelähmten Kräfte, also der

als

Ausbau der Berfassung,

die dringendste Aufgabe

erscheinet!; nur

darüber durfte man zweifeln, ob nicht Zeit und Stunde dazu in Preußen schon versäumt und den auflösenden oder in falscher Weise sammelnden Mächten die Herrschaft überlassen sei." Aber alle diese Bedenken wurden doch von seiner Liebe zu Preußen

überwogen auf dem für ihn von jeher, und seit dem Jahre 1870 mehr

denn je zuvor, seine Hoffnungen für die Zukunft der evangelischen Kirche beruhten; sowie von der lockenden Aussicht, eine dem Ausbau der evange­ lischen Kirchenverfassung längst mit Borliebe zugewandte Thätigkeit

auf

dem Gebiete der größten evangelischen Landeskirche von durchgreifenden Erfolgen gekrönt zu sehen.

So entschloß er sich nach längeren Berhand-

lungen im Spätherbst 1872, dem ebenso ehren- wie verantwortungsvollen Rufe nach Berlin zu folgen, wo er

Amt eingeführt wurde. pflichtungen

Doch

am 12. November in sein neues

gestatteten

ihm

seine Heidelberger Ver­

erst im Januar 1873 die Uebersiedlung nach Berlin und

den vollen Eintritt in die Geschäfte des neuen Amtes.

des hochherzigen Sinnes

Als ein Zeugniß

und des freudigen Vertrauens ebensowohl zu

der Führung, welche dem preußischen Staate auch auf dem Gebiete der evangelischen Kirche gebührt, wie zu den in dieser Kirche selbst vorhan­ denen lebendigen Kräften, mit dem er sein neues Amt angetreten hat,

möge hier die nachfolgende Stelle aus einem Briefe Herrmanns angeführt werden, den er kurz vor seiner Uebersiedlung nach Berlin an einen ihm

persönlich nahestehenden und durch amtliche Beziehung eng verbundenen Freund gerichtet hat.

„So lange ich das Bewußtsein in mir trage, daß ich in der Welt

etwas zu vertreten habe, sind es zwei große reale und zugleich geistige Mächte, an deren Dienst ich mich gebunden weiß, die mir niemand ent­

reißen darf, deren Kraft und Ehre für mich den Besitz der irdischen und ewigen Güter einschließt, nach dem meine Seele verlangt.

großen Realitäten heißen: die Reformation und Preußen. ihnen niemals etwas vergeben zu

haben, wenigstens

Diese beiden Ich glaube

nicht mit meinem

Wissen, und hoffe ihnen ungetrennt in meiner neuen Stellung meine

Treue beweisen zu können.

Auf diesem Boden, denke ich, stehe ich auch

mit Ihnen zusammen, und der Herr bescheert uns auch wohl noch, daß, nachdem Preußen seine

unsere Augen

auch

große Mission so weit zum Ziele gefördert hat,

noch die Kirche der Reformation

in

frischer Kraft

und würdiger Gestalt ihres Amtes warten sehen." Kaum war Herrman

im Januar 1873

nach Berlin

übergesiedelt,

119

D. Emil Herrmann.

als

er

rüstig

mit der ihm in

langjährigen

eigenen Thatkraft das

nahm.

Angriff

Unter

Benutzung

Arbeiten des

vorbereitenden

übernommene Werk sofort und

Berücksichtigung

bisherigen

der

Kirchenregiments,

zu denen er freilich auch in einigen wesentlichen Punkten sich ablehnend

verhalten mußte,

arbeitete Herrmann die Entwürfe der kirchlichen Ver­

fassungsgesetze in rascher Aufeinanderfolge persönlich aus,

um sie nach

dem Ergebnisse weiterer Berathungen theils im Ober-Kirchenrath, theils in Konferenzen mit dem Minister Falk nach Verlauf von kaum einem halben Jahre so weit zum Abschluß zu bringen, daß bereits am 16. September 1873 die Kirchengemeinde- und Shnodalordnung durch den König erlassen

werden

konnte.

war

Damit

die

kirchengesetzliche Grundlage

für

die

preSbhteriale Organisation der Gemeinden und die synodale der Kreise

und Provinzen in Preußen, Brandenburg, Pommern, Posen, Schlesien

und

Sachsen

geschaffen,

während

Westphalen

und

Rheinland

die

Organisation behielten,

welche sie schon durch die Kirchenordnung

6. März 1838 besaßen.

Nachdem dann in verhältnißmäßig kurzer Frist

vom

die auf dieser neuen Grundlage gebildeten Gememeinde-Kirchenräthe und

Gemeinde - Vertretungen,

sowie

die Kreisshnoden

in

Funktion getreten

waren und im Anfang des Jahres 1875 auch die Provinzial-Synoden in erstmaliger Versammlung getagt hatten, konnte noch im Spätherbst des letztgenannten Jahres die außerordentliche Generalshnode zusammentreten,

um die ganze preußische Landeskirche durch Berathung und Beschlußfassung über den ihr vorgelegten Entwurf einer Generalshnodal-Ordnung zu einem, die acht älteren Provinzen umfassenden synodalen Ganzen vereinigen zu helfen.

ES ist hier nicht der Ort, das Verfassungswerk, dessen Gelingen,

wie schon oben bemerkt, nicht zum geringsten Theil der kräftigen Initiative und der zähen Ausdauer Herrmanns zu verdanken ist, im einzelnen näher zu beleuchten, noch alle die Schwierigkeiten zu erörtern, die vor der Erreichung dieses Zieles überwunden werden mußten.

Aber das darf nicht

unausgesprochen bleiben, daß es wesentlich der weisen Beschränkung zu

verdanken ist, mit welcher Herrmann alle Fragen von unmittelbar dog­

matischer Bedeutung

vorläufig bei Seite gelassen hat, wenn die heiße

Arbeit diesmal von reicherem und besserem Erfolg gewesen ist als die

früheren auf Herbeiführung einer kirchlichen Verfassung gerichteten Ver­

suche. er

mit

Und auch das Verdienst darf ihm niemand streitig machen, daß großer Selbstverleugnung

in jedem Stadium des bedeutsamen

Werkes es verstanden hat, seine persönlichen Wünsche und Anschauungen so weit es nur irgend ohne eine Verleugnung seiner Grundgedanken mög­

lich war, der höheren Rücksicht

unterzuordnen.

auf das Zustandekommen des Werkes

Das letztere gilt insonderheit von den viel angefochtenen

120

D. Emil Herrmann.

sogenannten Schlußbestimmungen, durch welche dem Laienelemente auf beii synodalen Stufen eine zahlreichere Bertretung und den größeren Gemeinden ein stärkerer Einfluß eingeräumt wurde, als es in der ur­ sprünglichen Berfassung der Fall war. Man kann nicht einmal sagen, daß sich Herrmann hinsichtlich derselben nur gefügt habe, weil er der Stärke der ihni seitens des Ministers gegenübertretenden Initiative nicht hätte widerstehen können. Er erkannte selbst die innere Nothwendigkeit einer stärkeren Bertretung des Laienelementes, wenn er auch ohne die gewonnene Ueberzeugung, daß die Annahme jener Schlußbestimmnngen die unerläßliche Borbedingung für die erforderliche tandesgesetzliche Ge­ nehmigung des gesammten Berfassungswerkes sei, dieselben weder in An­ regung gebracht haben noch mit solcher Entschiedenheit für sie eingetreten sein würde. Und wenn es ihm wirtlich ein Opfer gekostet hätte, jene Schlußbestimmungen dem Berfassungsentwurf einzuverleiben, so war es ein sehr geringer Preis für das hohe Ziel, das in Frage stand und für das er Jahrzehnte hindurch mit Wort und That eingetreten war. Ueberdies schwebte ihm bei der an sich schon großen und lohnenden Aufgabe, einen so bedeutsamen, aus einer Mannigfaltigkeit von Provinzen bestehen­ den großen evangelischen Kirchenkörper, wie es die preußische Landeskirche ist, zu einem handelnden Ganzen zu verbinden, ein noch höheres Ziel vor Augen. Sein weitreichender Blick und sein ideales Streben behielt auch dabei die gesammte evangelische Kirche Deutschlands im Auge „man sollte meinen, so schreibt er nach dem Abschluß der preußischen Kirchen­ verfassung, daß, wenn dies für Preußen gelingen konnte, der Gedanke einer organisch verbundenen evangelischen Kirche Deutschlands nicht mehr als chimärisch behandelt werden dürfte." Darum legte er einen beson­ deren Werth auf den diesen Blick auf die gefammte deutsch-evangelische Kirche offen haltenden § 19 der GeneralsynodalordnungEr nannte denselben gelegentlich „die Flaggenstange, auf welcher eine spätere Zeit die Flagge der deutschen evangelischen Kirche aufhissen kann", und freute sich, daß man ihm diese nicht auch ausgerissen hatte, während er seine Zugendträume von einer deutschen evangelischen Kirche gerade in seinen letzten Lebensjahren in weitere Ferne denn je gerückt sah. Mit ganz besonderem Schmerze erfüllte es ihn, daß nicht einmal in Preußen selbst das Streben, die gesammten evangelischen Provinzialkirchen einschließlich der in den neu erworbenen Landestheilen zu einem Ganzen zu verbinden, *) Derselbe lautet: Die General-Synode nimmt Kenntniß von den Beziehungen der Landeskirche zu den übrigen Theilen der deutschen evangelischen Kirche, beschließt über die der weiteren Entwickelung ihres Gemeinschaftsbaudes dienenden Einrich­ tungen und betheiligt sich durch von ihr gewählte Abgeordnete an etwaigen Ver­ tretungskörpern der deutschen evangelischen Kirche.

D. Emil Herrmann.

121

zur gesetzlichen Anerkennung gelangen konnte.

In seinem ersten Entwurf

der preußischen Kirchenverfassung hatte er eine Bestimmung ausgenom­

men,

durch welche der

Anschluß jener kleineren Landeskirchen gefördert

werden sollte; aber er mußte sie dem, wie es scheint von höherer Seite veranlaßten Widerspruch des Ministers Falk opfern, weil man — leider nicht ohne Grund — befürchtete, in den Provinzen werde in einer sol­

chen Bestimmung die Absicht oder der Wunsch einer Zusammenschließung gefunden werden,

die man dort als Attentat (!) auf die eigene Selbst­

ständigkeit aufgefaßt haben würde.

welches Herrmann

Das Berdienst,

das Zustandekommen

um

der

kirchlichen Berfassung sich erworben hatte, fand in allen Kreisen mit Aus­

nahme der extremen Parteien von rechts und links die allgemeinste AnAuch bicjenißen,

erkennung.

welche angesichts der sogenannten Schluß­

bestimmungen eine Democratisirung der Kirche und deren Auslieferung

an die unkirchlichen Massen befürchteten,

sich mit denselben be­

haben

freundet und sie in ihrem Sinne zu verwerthen

gewußt,

Namentlich

hatte sich Herrmann von Seiten des Königs, der den Gang der Ber­ fassungsarbeiten von ihren ersten Stadien an mit dem lebhaftesten per­

Interesse

begleitete,

erfolgreichen

Thätigkeit

sönlichen

seiner

1875 auf Herrmanns

erstatteten

Anschluß

Bericht

an

eine

über

wiederholter zu

ehrenvollster

ersten Provinzialsynoden

Cabinetsordre,

dem Collegium

Anerkennung

erging am 20. März

So

den Verlauf der

allerhöchste

den Auftrag,

erfreuen.

die

in

welcher

es

im

königliche Anerkennung

für das bisher erreichte auszusprechen mit Bezug auf ihn selbst heißt:

„zugleich fühle Ich mich bewogen, Ihnen, seinem Präsidenten,

meinen

besonderen Dank auszudrücken, daß unter Ihrer ebenso verständnißvollen wie kräftigen Führung das lang erstrebte bedeutungsvolle Werk der evan­

gelischen

Kirchenverfassung für meine älteren Provinzen in erwünschter

Weise bis zu einem Stadium zur Wirklichkeit gebracht ist, welches Meine zuversichtliche Hoffnung

begründet, daß

Hülfe auch der Abschluß gesichert sei."

nunmehr mit

Gottes weiterer

Nachdem dieser Abschluß durch

die Generalsynodal-Ordnung erreicht war, erhielt Herrmann einen aber­

maligen königlichen Erlaß vom 27. Januar 1876,

welcher der innigsten

Befriedigung des Monarchen über das nunmehr erreichte Ziel Ausdruck

gab

und

dann hinzufügte,

„dabei

kann Ich

mir nicht verhehlen,

daß

hauptsächlich Ihrer unermüdlichen und umsichtigen Thätigkeit das Gelingen

des großen Werkes zuzuschreiben, ist".

Die Hoffnung, welche Herrmann

nach diesem glücklichen und in verhältnißmäßig kurzer Zeit erreichten Ab­ schluß des Verfassungswerkes beseelte, daß es ihm vergönnt seine werde,

an der Spitze der kirchlichen Verwaltung stehend, nun in friedlicher Ent-

D. Emil Herrmann.

122

Wickelung des kirchlichen Lebens die Früchte seines Werkes ausreifen zu

sehen, sollte sich leider ntcht erfüllen.

Das zerklüftende Parteiwesen, das

durch die gemeinsame Arbeit aller in der Kirche vorhandenen Richtungen auf dem in der Verfassung gegebenen Boden überwunden werden sollte, trat

nun erst mit verschärfter Bitterkeit unb Heftigkeit hervor.

Grade diejenige

Partei, welche die Herbeiführung einer Kirchenverfassung auf der Grund­ lage des Gemeindeprinzips auf ihre Fahne geschrieben hatte, und welche nach der Erreichung dieses Zieles am meisten Ursache gehabt hätte, die

Dinge sich friedlich entwickeln zu lassen, führte durch ein schroffes provo­ katorisches Auftreten die schwersten Conflikte herbei, aus denen lediglich

die inzwischen zu maßgebendem Einfluß gelangte entgegengesetzte kirchliche Richtung Vortheil zog.

Herrmanns Bestreben, alle wohlmeinenden aber

seither der Kirche fernstehenden Elemente der evangelischen Gemeinden in die kirchliche Mitarbeit hineinzuziehen und so in dieser Mitarbeit für die

Kirche zurückzugewiunen, sind am meisten von denen durchkreuzt worden,

von denen er in diesem Bestreben die kräftigste Unterstützung erwarten durfte. Grade die schwierigsten dogmatischen Differenzen wurden gewaltsam

in den Vordergrund gedrängt und 511111 Gegenstände principieller Entschei­ dungen gemacht.

Wohl ist er bei denselben unentwegt, und ohne sich ein­

schüchtern zu lassen, treten,

und

für das Recht der evangelischen Lehrfreiheit einge-

als ihm zugemuthet wurde,

bei dem gegen den Prediger

D. Shdow eingeleiteten Verfahren Grundsätze preiszugeben,

mit denen

er zugleich das innerste Wesen des Protestantismus, wie er denselben er­

faßte, verleugnet haben würde, da ist er keinen Augenblick darüber zweifel­ haft geblieben, daß er lieber auf sein Amt und auf die Durchführung des Verfassungswerkes verzichten müsse, als

Grundsätze die Hand zu bieten.

zu einer Vergewaltigung jener

Aber ebensowenig hat er jemals aus

seiner Ueberzeugung ein Hehl gemacht, daß diejenigen der Kirche einen

schlechten Dienst erweisen, die solche principielle dogmatische Entscheidungen vom Zaune brechen.

Noch viel größer war sein Bedauern über die mit

gradezu unverantwortlicher Leichtfertigkeit hervorgerufene Beunruhigung, die ein auf den liturgischen Gebrauch des Apostolicums gestellter Antrag in den

weitesten Kreisen zur Folge hatte.

Andererseits wußte eine zu maßgebendem

Einfluß gelangte Partei die dadurch herbeigeführten Conflicte, die der evan­

gelischen Kirche aus dem Civilstandsgesetze erwachsenen Schädigungen, die Rückwirkung, welche der Culturkampf auch auf die ohne ihre Schuld in Mit­

leidenschaft gezogene evangelische Kirche ausübte, zu ihren Gunsten und in ihrem Interesse auszubeuten und sich der neuen Verfassung als eines Mittels

für ihre Parteizwecke zu bemächtigen. Als Herrmann sah, daß er diesen Be­

strebungen gegenüber, die nach seiner Ueberzeugung den von ihm erstrebten

123

D. Emil Herrmann.

Segen

der Verfassung

verkümmern

und

der

evangelischen Kirche zum

tiefsten Schaden gereichen mußten, an maßgebender Stelle nicht den Rück­ halt fand,

der

ihm für ein ersprießliches Wirken unentbehrlich schien,

reichte er im November 1877 sein Entlassungsgesuch ein, das nach längeren Verhandlungen im Mai 1878 vom Könige angenommen wurde, nachdem

ihm nicht lange vorher durch die Ernennung zum Wirklichen Geheimenrath ein neuer Beweis allerhöchster Anerkennung zu Theil geworden war.

Es

ist eine völlige Verkennung der thatsächlichen Verhältnisse, wenn ein kirch­ liches Parteiblatt neuerdings behauptet hat,

Herrmann habe seinen Ab­

schied in dem Gefühle genommen, den ihm bereiteten Schwierigkeiten nicht Diese Auffassung findet in den nachfolgenden Worten,

gewachsen ju sein.

die wir einer von ihm selbst verfaßten Denkschrift entnehmen, ihre voll­

ständige Widerlegung.

„Nicht daß mich, so heißt es in Bezug hierauf, die

Kämpfe schreckten, welche mit den bewußt negativen Richtungen, oder mit

denjenigen zu bestehen sind, welche in guter Meinung, aber in Verkennung der inneren Gesetze des geschichtlichen Lebens alles feste historische Leben der Kirche in Fluß bringen und durch ein Gemeindebewußtsein ersetzen

wollen, welches doch nur durch den Besitz jenes Erbes aus seiner Be­ schränktheit und Dürftigkeit herausgehoben werden kann.

Den Einen wie

den Andern, so verschieden sie auch zu behandeln sind, fühle ich mich voll­

ständig gewachsen und bin sicher, daß der Kampf gegen ihre Bestrebungen

bei einiger Weisheit und Kraft der Leitung zur Erstarkung unserer Kirche

Ueberdies lagen die von dieser Seite herkommenden

ausschlagen wird.

Schwierigkeiten schon beim Antritt meines Amtes klar vor; während der

Führung desselben aber haben sie sich nicht vermehrt,

sondern eher ver­

mindert, indem unter dem segensreichen Einfluß der Verfassung die re­ ligiös empfänglichen und nach der Gemeinschaft mit der Kirche verlängern

den Elemente der kirchlichen Linken sich von den nur negativen und auf­

lösenden Bestandtheilen zu scheiden begonnen haben, ein Scheidungsproceß,

ohne dessen ungehemmten und durch Verketzerung nicht aufgehaltenen Fort­ gang das Ziel einer kirche nicht

erreicht

verbundenen

kann."

Der Rücktritt

von

seiner

einfluß­

ist,

soweit

es sich um den Verzicht auf die mit ihr

äußeren

Ehren

handelte, Herrmann

reichen Stellung den;

großen und geistesmächtigen evangelischen Landes­

werden

nicht schwer

nur das bedauerte er, daß es ihm versagt sein sollte,

gewor­

seine letzten

Kräfte im Dienste der evangelischen Kirche und des ihm völlig zur zwei­ ten Heimath

gewordenen preußischen Vaterlandes zu verwerthen.

Die

Unthätigkeit, zu welcher er wenigstens auf den Gebieten des öffentlichen Lebens verurtheilt war, wurde ihm doppelt schwer, je ernster und größer die Aufgaben waren, die sich aus den erschütternden Ereignissen ergaben, Preußische Jahrbücher.

Bd. LVI. Heft 2.

IQ

welche unmittelbar nach seinem Fortgang von Berlin alles andere in den Hintergrund krängten. Als ein Zeugniß seines heißen Patriotismus mögen die nachfolgenden, wenige Tage nach dem zweitem Attentat an einen gleichgesinnten Freund in Berlin gerichteten Zeilen hier eine Stelle finden. „Die Gedanken, so schreibt er am 8. Juni 1878, weilen immer in Berlin und verweigern jede Beschäftigung, die ihren Stoff auf än­ derns Boden sucht. Die gräßliche That des Mörders vom 2. Juni — parricida patriae nannten die Römer einen solchen Verruchten — hat gleichsam einen neuen Mittelpunkt der Geschichte geschaffen, von dem aus wenigstens die nächsten Zwecke und Aufgaben für patriotische Männer sich anders als vorher gestalten oder doch gruppiren. Während man. glaubte, auf einem im wesentlichen unangefochtenen Boden sittlicher Gesammtüberzeugung zu stehen unk für Entbindung, Organisirung und Leitung der guten Kräfte wirken zu sollen, drängt sich auf einmal die Nothwendigkeit eines Kampfes auf Tod und Leben gegen einen ganze Volkstheile umfassenden Feind auf, der unser ganzes Besitzthum und historisches Erbe aufs tiefste haßt 'and in einem großen Brande verzeh­ ren will. Natürlich geht das esse vor dem bene esse, und so mögen fürs erste der eiserne Wille und die zerschmetternde Gewalt gegen die grobgewachsenen höllischen Brächte in den Vordergrund treten. Ortho­ pädie, Gymnastik, auch Therapie mögen zunächst der Chirurgie das Feld überlassen, daß sie die Eiterbeule ausschneide, selbst auf die Gefahr hin, daß auch gesundes Fleisch nicht ganz unberührt bleibt. Und wenn nament­ lich von nationaUiberaler Seite darin gefehlt worden ist, daß man zu viel Gefahren von der Macht der Obrigkeit und zu wenig von der Frei­ heit befürchtet hat, so möge man auch in den Einrichtungen auf die Her­ stellung eines richtigeren und für unsere Volksart geeigneten Gleichge­ wichts Bedacht nehmen. Aber um Gotteswillen vergesse man nicht, daß man so zwar dem Bösen wehren, aber nicht das Gute machen sann. Die positive schöpferische Thätigkeit, ohne welche wir unserer Aufgabe nicht gerecht werden können, wird dadurch wohl gesichert, von Hinder­ nissen befreit, aber nimmermehr ersetzt." Weder in Heidelberg, wohin ihn zunächst die Rücksicht auf eine dort weilende, schwer kranke Tochter zog, welche er bei seiner Uebersiedelung nach Berlin dort hatte zurücklassen müssen, und die nun wenigstens in den letzten Jahren eines langen Dulderlebens der elterlichen Liebe und Gemeinschaft nicht entbehren sollte, noch in Gotha, wo er im Jahre 1883 seinen letzten Aufenthalt nahm, ist er zu einem befriedigenden Genusse der ihm beschiedenen Muße gelangt. Er war zu sehr an rastlose Thätig­ keit gewöhnt, um nicht den Mangel eines berufsmäßigen Wirkens unk

125

D. Emil Herrmann.

Andrerseits aber wußte er sich auch

Schaffens schmerzlich zu empfinden.

völlig frei zu halten von jener verbitterten Stimmung, die so leicht aus

der Erfahrung erwächst, sich in seinem besten Streben und Wollen verkannt zu sehen und in den Briefen, welche er in diesen letzten Jahren

mit vertrauten Freunden gewechselt hat, kommt ein innerer Friede zum Ausdruck, welchen nur ein gutes Gewissen am Schluffe solchen Wirkens

So schreibt er aus Heidelberg:

zu geben vermag.

„Noch bin ich hier nicht angewachsen und werde wohl auch niemals anwachsen.

Es ist mir, als verlebte ich als Fremder eine Ausruhzeit im

Ich bin in einem langen Leben zu sehr daran ge­

günstigeren Sinne.

wöhnt, durch Beruf an einen bestimmten Ort gebunden zu sein, um an

einem frei gewählten Aufenthaltsort einwurzeln zu können.

Doch suche

ich mich mit diesem Bkangel, der mich für andere ziemlich unzugänglich

mackt durch den Gedanken auszusöhnen, daß es einem zur Lebensneige

gehenden Mann

gebührt,

auf

Erde

dieser

nicht

wurzelfester, sondern

lockerer zu werden und sich dadurch in der Reisestimmung zur Ewigkeit

zu befestigen.

Diesen Gedanken ans

„Ich bin ein Gast auf Erden."

Ende legte ihm der Heimgang manches treuen Freundes und Mitarbeiters

doppelt nahe

und mit der Ruhe und Fassung,

wie mit dem gläubigen

Vertrauen des gereiften Ehristen, sah er dem eigenen Abschied entgegen.

So

bekennt er in

von

dem Tode des

einem köstlichen Briefe, ihm

seit

Jahrzehnten

zu welchem ihm

innig

die Kunde

befreundeten Dörner

Anlaß gab: „Seit Dorners Tode sind mir die rapid über mich kommenden Greisenalters

nur beunruhigend.

wachsenden Jndieien

nicht mehr

erschreckend

oder

des auch

Wo so ein Stück Leben dahin geht besteht an dem

Rest nicht mehr das alte Interesse." — Eine Erkältung,

die

er sich bei dem Besuche seines in Göttingen

lebenden Sohnes zugezogen hatte

führte eine Lungenentzündung herbei,

welcher ec nach kurzer Krankheit am 16. April dieses Jahres erlegen ist.

Sein Name wird in der preußischen Landeskirche und weit über deren

Kreise hinaus unvergessen fortleben und erst spätere Geschlechter werden das Werk der Kirchenverfassung, das er ihr als dauerndes Vermächtniß hinterlassen hat, in vollem Umfange zu würdigen wissen.

D. Rogge.

Die Entwicklung der sächsischen Amtsverfassung im Vergleich mit der brandenburgischen Kreisverfassung. Non

Conrad Bornhak.

Die beiden großen Ostmarken des nördlichen Deutschlands, Branden­ burg und Sachsen, haben bei allen gemeinsamen Grundzügen in der Ent­

wicklung ihres öffentlichen Rechts, ja bei der fast vollständigen Ueberein­ stimmung desselben bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts hinein, seit

dieser Zeit die über den Gemeinden stehenden untersten Behörden für die allgemeine Landesverwaltung abweichend von einander ausgebildet, indem in Brandenburg seit der Zeit des Großen Kurfürsten sich die Kreisverfassung

entwickelte, die Aemter zu vollständiger Bedeutungslosigkeit herabsanken,

in Sachsen dagegen zur allgemeinen Einteilung des Landes wurden.

Die

Aemter starben in Brandenburg ab, in Sachsen gelangten sie zu neuer Blüte.

Dies ist um so auffallender, da die Grundbesitzverhältnisse, auf

denen sich jede Verwaltung des flachen Landes aufbaut, in Brandenburg und Sachsen dieselben sind, indem in beiden Ländern der Großgrundbesitz vorherrscht.

Eine Untersuchung der Gründe dieser verschiedenen Entwick­

lung ist der Zweck dieses Aufsatzes.

In allen Ostmarken Deutschlands, militärischen Kolonisationen auf altslavischem Boden, findet sich seit den ältesten Zeiten ein Vorherrschen

des Großgrundbesitzes über den Kleingrundbesitz. Dasselbe mag militärischen Rücksichten seine Entstehung verdanken, indem absichtlich von dem Mark­

grafen, dem die Vertheilung von Grund und Boden unbeschränkt zustand, eine möglichst große Zahl von Ritterlehen verliehen wurde, um ein starkes Ritterheer aufstellen zu können.

Ueber diesem absichtlich sehr ungleich ver­

teilten Besitze erhob sich als Verwaltungsbeamter vorwiegend des flachen

Landes ein landesherrlicher Präfekt mit dem Titel Vogt, dessen Haupt­

aufgabe in der Abhaltung der Volksgerichte und in der Handhabung der mit der Gerichtsbarkeit eng verbundenen Polizei bestand.

Außerdem hatte

Die Entwicklung der sächsischen Amtsverfassung rc.

127

er auch die Zinse, welche als Anerkennung des Obereigenthums des Landes­ herrn von den Bauergütern zu zahlen waren, einzuziehen.

Der Groß­

grundbesitz übte also auf diese noch äußerst beschränkte staatliche Thätigkeit

nicht den geringsten Einfluß aus. Nach mehreren Menschenaltern machte sich aber in jenen militärischen

Kolonisationen die Uebermacht dieses nicht nur durch seinen Reichthum,

sondern auch seine Waffentüchtigkeit angesehenen Großgrundbesitzes geltend. Die Landesherren selbst gaben ihm die erste Gelegenheit, seine Macht zu

bethätigen.

Seit Anfang des 13. Jahrhunderts betrachteten die deutschen

Landesherren,

je mehr

mit

der durchgeführten Erblichkeit ihrer Würde

dieselbe mit ihrem Besitz an Grund und Boden verwuchs, das Landes-

sürstenthum nicht mehr als ein Amt, sondern als ein ererbtes Familien­ Mehrere Söhne eines verstorbenen Landesherrn theilten daher das

gut.

Land unter sich.

Die Folge war, daß die Einkünfte zu mehreren Hofhal­

tungen nicht mehr ausreichten.

Da die Steuern, die Beden, nur als

freiwillige außerordentliche Beihilfen der Unterthanen in allgemeinen Landes­ nöten betrachtet wurden, so war eine fortgesetzte Erhebung oder gar Stei­

gerung derselben unmöglich.

Da neue Einnahmequellen in keiner Weise

zu beschaffen waren, so sahen sich die Landesherren genötigt, das Kapital­

vermögen anzugreifen durch Veräußerung der landesherrlichen Regierungs­

rechte.

Die städtischen Gemeinden, die dieselben meist für ihren Stadt­

bezirk erwarben, gewannen auf diese Weise ihre Autonomie.

Auf dem

flachen Lande war die Möglichkeit zu solchen Veräußerungen ganz besonders gegeben, da hier ein ansehnlicher Großgrundbesitz die materiellen Mittel

zum Erwerbe der Staatshoheitsrechte besaß. Tie Großgrundbesitzer, die Rittergutsbesitzer, wie sie nach der Art ihres Kriegsdienstes hießen, erwarben daher zunächst die Zinse der Bauer­

güter der ihnen zunächst gelegenen Landgemeinden und damit das Ober­ eigenthum über dieselben, sie erwarben ferner die Gerichtsbarkeit und die

nach mittelalterlicher Anschauung untrennbar damit verbundene Polizeigewalt

des Vogts über die bei ihren Rittergütern gelegenen Dörfer.

Auch die

Kriegsdienste der Bauern, vorwiegend bestehend in Diensten wie Ausrüstung

eines Heerwagens, Ausbesserung von Burgen

und

dergleichen,

wurden

an die Großgrundbesitzer veräußert, die die bisherigen Kriegsdienste der Bauern in Hofdienste zur Bestellung ihres Ackers verwandelten.

In dem

größten Theile des flachen Landes der östlichen Marken waren daher im

Anfänge des 14. Jahrhunderts die Rittergutsbesitzer die Obereigenthümer des bäuerlichen Grundbesitzes des bei ihrem Ritterbesitze belegenen Dorfes, die Inhaber der Gerichtsbarkeit und Polizei, die, weil sie nur eine Per­

tinenz des Familienguts, des Ritterguts, war, als patrimoniale bezeichnet

128

Die Entwicklung der sächsischen Amtsverfassung

Auch

wird.

über

einige Städte,

die

später sogenannten Mediatstädte

erwarben Großgrundbesitzer die landesherrlichen Regierungsrechte. Hand

in Hand

mit dieser Übertragung der Vogteirechte auf den

Großgrundbesitz ging die Exemtion der Rittergutsbesitzer von der Gerichts­ barkeit

und Polizeigewalt

des Vogtes

und

die Unterstellung unter die

landesherrlichen Hofgerichte, also die Verleihung eines eximierteu Gerichts­ standes.

Die landesherrlichen Vogteien und die Patrimonialherrschaften

waren damit zu einander koordinierten Verwaltungsbezirken geworden.

Die Verknüpfung der Staatshoheitsrechte mit dem Großgrundbesitze ging aber noch einen Schritt weiter.

Da in den patrimonialen Gebieten

Gericht, Polizei, Obereigenthum über die 'Bauergüter und Dienste der

Bauern zu Pertinenzen des Rittergutes geworden waren, kam auch in den noch

unmittelbar

landesherrlichen Gebieten,

die

von

äußerst

geringem

Umfange waren — in Teltow waren z. B. 1375 unter 90 Dörfern 2,

im Havellande unter 104 Dörfern noch 6 unmittelbar landesherrlich —, der Gedanke zum Durchbruch, daß die dem Vogte zur Ausübung verblie­

benen Staatshoheitsrechte, Gericht, Polizei und Zinsrecht, Pertinenzen der Burg, auf der der Vogt residierte, der landesherrlichen Domäne, seien. Auch in den unmittelbar landesherrlichen Gebieten wurde der Kriegsdienst

der Bauern in einen Hofdienst für die Domäne verwandelt.

Damit ist

die Entwicklung des Patrimonialstaats vollendet, die Staatshoheitsrechte

sind allgemein Pertinenzen des Großgrundbesitzes geworden.

Zur Bezeich­

nung der Domäne dient nun im Sprachgebrauche des späteren Mittelalters das Wort' Amt.

Rach

vollständiger

Durchführung

Verwaltungsshstems seit Ende des 15. und besonders

des

patrimonialen

seit Anfang

des

16. Jahrhunderts verdrängen daher im ganzen östlichen Deutschland, in Brandenburg,

Magdeburg, Pommern, Schlesien und in den sächsischen

Territorien die Bezeichnungen Amt und Amtöhauptmann oder Amtmann allmählich die der Vogtei und des Vogtes.

Das Amt in diesem älteren Sinne ist also die landesherrliche Do­ mäne und die zu ihr gehörigen Dörfer.

Der Amtshauptmann hat die

Domänenbewirthschaftung, wobei er die Hofdienste der Bauern in Anspruch

nimmt, die Einziehung des Zinses von den Bauergütern und die Gerichts­ und Polizeiverwaltung für den Amtsbezirk. Das Amt ist mithin 'ein den einzelnen Patrimonialherrschaften in jeder Beziehung koordinirter Verwal­

tungsbezirk, es ist eine Patrimonialherrschaft, deren Eigenthümer der Lan­ desherr ist.

Diese Entwicklung hatte sich in Brandenburg und Sachsen vollstän­ dig übereinstimmend vollzogen bis auf einen Punkt, die richterliche Zustän­

digkeit des Vogtes oder Amtshauptmannö.

Jede Strafgerichtsbarkeit wie

im Vergleich mit der brandenburgischen KreiSverfassnng.

129

die Civilgerichtsbarkeit über die Ritterbürtigen war den landesherrlichen

Hofgerichten Vorbehalten. Hierin lag aber eine große Belästigung nament­ lich für die Adlichen, da diese, sofern überhaupt Recht und Gesetz herrschte,

wegen jeder geringfügigen Klage sich an das landesherrliche Hoflager be­

geben und dort zu Recht stehen mußten. zwei Wege.

Entweder man übertrug

Um dies zu verhüten,

gab es

die dem Hofgerichte vorbehaltene

Gerichtsbarkeit kommissarisch dem Vogte oder Amtshauptmann, oder man errichtete mehrere Hofgerichte für kleinere Bezirke.

Letzteres geschah im

14. Jahrhundert in Brandenburg und Thüringen, ersteres unter den letzten Askaniern vorübergehend in Brandenburg, dauernd seit der zweiten Hälfte

des

14. Jahrhunderts in den sächsischen Territorien mit Ausnahme von

Thüringen.

Es wurde in Sachsen die Strafgerichtsbarkeit in sämmtlichen

mit derselben nicht beliehenen patrimonialen Gebieten den Vögten über­ tragen.

Im Jahre 1428 wurde auf eine Beschwerde des Adels bereits

als allgemeiner Rechtsgrundsatz aufgestellt, daß dem Adel die bürgerliche,

den Vögten oder Amtleuten außer dieser die peinliche Gerichtsbarkeit und zwar nicht nur in dem Amte, sondern auch in den patrimonialen Gebieten zustehe.

Die Besitzer dieser Gebiete erhielten ferner auch ihren Eivitge-

richtsstand vor dem Amtshauptmann.

Nur die mächtigeren Patrimonial-

herren, welche selbst mit der Gerichtsbarkeit in Strafsachen beliehen waren,

bewahrten für sich und ihre Familie den Gerichtsstand vor den landes­

herrlichen Obergerichten.

So entstand hinsichtlich der Justiz in Sachsen

ein Unterschied zwischen amtssässigen und schriftsässigen Rittergutsbesitzern und Gebieten.

In den amtssässigen Gebieten hatte der Amtshauptmann

die Strafgerichtsbarkeit, über die Besitzer dieser Gebiete auch die Civilge­

richtsbarkeit,

weitere Rechte standen ihm gegenüber den Amtssassen nicht

zu, die schriftsässigen Gebiete dagegen waren den Aemtern wie bisher voll­ ständig koordinirt. Diese in Sachsen bereits in gewisser Hinsicht vorhandene Unterord­

nung der kleineren patrimonialen Gebiete unter die Amtshauptleute konnte

bei dem Uebergange vom mittelalterlichen Rechtsstaate zum Militärstaate des 17. und 18. Jahrhunderts nicht ohne Einfluß bleiben.

Den ersten

Anstoß gab die Einführung eines stehenden Heeres und die dadurch noth­

wendig gewordene fortdauernde Erhebung von Steuern zur Erhaltung des­ selben während des dreißigjährigen Krieges. Nach mittelaterlichem Staatsrecht, welches der herrschenden Naturalwirthschaft entsprach, hatte der Fürst die Verwaltungskosten des Landes

mit den Einkünften der Domänen und Regalien zu decken, nur für außer­

ordentliche Bedürfnisse wurde von den Ständen eine Steuer bewilligt, die

auf die einzelnen Aemter,

Patrimonialherrschaften und Städte vertheilt.

130

Die Entwicklung der sächsischen Amtsverfassung

von den Amtshauptleuten, Patrimonialherren und Magistraten eingezogen

und

landesherrliche

an

Schoßeinnehmer abgeliefert

wurde.

Mit dem

Sinken des Geldwerthes durch die Entdeckung Amerikas, das sich seit der Mitte des 16. Jahrhunderts in Norddeutschland geltend machte,

reichten

aber die Einkünfte aus Domänen und Regalien in keiner Beziehung mehr aus, schon damals war die dauernde Erhebung von Steuern erforderlich. Damit aber der Landesherr mit diesen neuen Steuern nickt ein stehendes

Heer anwerbe und die ständische Freiheit vernichte,

nahmen die Stände

diese Steuern in eigene Verwaltung und deckten mit ihnen die baudes­

schulden,

die sie ihrerseits

Obersteuerkollegium

als

So entstand

vom Landesherrn übernahmen.

sogenannte märkische Kreditwerk,

1534—1549 das

ständische Centralbehörden

1570 das sächsische die

für

Steuerver­

waltung. Nach Einführung des stehenden Heeres in Brandenburg und Sachsen während des dreißigjährigen Krieges war aber diese Verwaltung mit Dar-

lehen,

die der Landesherr kontrahirte,

nahmen,

und die die Stände später über­

Die Stände mußten

nicht mehr möglich.

um

ihrer

eigenen

Sicherheit gegen eine Brandschatzung der fremden Soldateska willen der

Einführung des gefürchteten Miles perpetuus zustimmen und dem Lan­

desherren Steuern hierfür zu eigener Verwaltung bewilligen.

Zur Ver­

waltung dieser neuen Kriegssteuern waren auch neue Organe erforderlich,

und an diesem Punkte schlägt die Entwicklung Brandenburgs und Sachsens

vollständig verschiedene Wege ein. In

Brandenburg

war

unter

Georg

Wilhelm

die

landesherrliche

Macht auf den tiefsten Standpunkt herabgesunken, und gerade unter ihm, im Jahre 1620, Noch

erhielt Brandenburg zuerst ein kleines stehendes Heer.

war die Macht der Stände

ungebrochen,

nur die Gewalt, das

stehende Heer, konnte ihnen dieselbe rauben, sie mußten, um dies zu ver­ hüten, das Söldnerheer unter ihrem Einfluß oder, was dasselbe war, die

Hand auf dem Beutel behalten.

Die völlige Ohnmacht des Landesherrn,

der meist in Preußen weilte, während Kaiserliche, Schweden und Sachsen abwechselnd Brandenburg brandschatzten,

ließ den Ständen freie Hand.

Die ständischen Wahlbezirke der Ritterschaft zu den Ausschußtagen, die „Kreise", wurden die neuen Steuerverwaltungsbezirke, ständische Kreisbe­

amte die Organe*).

Indem unter dem Großen Kurfürsten das Stände-

thum in der Centralverwaltung völlig vernichtet, und die ständische Kreis­ verwaltung, unter die strengste staatliche Controlle gestellt, zu einer Ver­

waltung

durch Laien

nach staatlichen Gesetzen wurde,

entstand in

*) Bergl. über die Entstehung der märkischen Kreisverfassnng den Aufsatz: und ,Negierung' in Preußen von Delbrück, Band LIV, S. 518 ff.

der

Landrath

im Vergleich mit der brandenburgischen Kreisverfassung.

Kreisverfassung eine lebensfähige Selbstverwaltung.

131

Die Beseitigung der

Stände in der Centralverwaltung der einzelnen Provinzen mußte erfolgen,

da die seit der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts unter einem Landes­ zusammengeschwemmten brandenburg-preußischen Terri­

herrn

gleichsam

torien

zu ihrer eigenen Erhaltnng einer engeren Vereinigung bedurften,

die Stände aber naturgemäß die eifrigsten Vertreter des Territorialismus waren.

In keinem deutschen Staate sind daher die Stände so vollständig

vernichtet worden wie in Brandenburg-Preußen. tismus

in der Central-

Gegenüber dem Absolu­

und Provinzialverwaltung war es ein um

so

eifrigeres Bestreben der Stände, die Lokalverwaltung, soweit sie sie noch die ständische Selbstverwaltung der Kreise zu be­

besaßen, zu erhalten,

Diese

wahren.

hatte

ihr

mächtigsten Gesellschaftsklasse,

eigentliches Fundament

im

Gegensatze der

der Rittergutsbesitzer, zum Absolutismus.

Reben diesen neuen Verwaltungsbezirken, den Kreisen, welche patri-

moniales und unmittelbar landesherrliches Gebiet gleichmäßig umfaßten, verloren die Aemter

immer mehr an Bedeutung.

statt der

Als 165)1

bisherigen Verwaltung der Domänen die Verpachtung derselben durchge­ führt wurde, fielen die Amtshauptmannschaften fort, um später noch ein­

mal als Sinekuren für verdiente Offiziere neu zu erstehen.

Der Do-

mänenpächter pachtete zugleich die Domäne, die Zinse und Hofdienste der Amtsbauern,

die Gerichtsbarkeit

und die Polizei über die Amtsdörfer.

Das Amt blieb also nicht nur eine Patrimonialherrschaft wie jede andere

mit dem einzigen Unterschiede, daß ihr Eigenthümer der Landesherr war, der

patrimoniale Charakter

letzte Spur davon,

trat

sogar

noch stärker hervor,

daß das Amt ursprünglich

ein

indem die

staatlicher Verwal­

tungsbezirk war, eben die Verwaltung des Amtes durch Staatsbeamte,

verschwand. Abweichend von der brandenburgischen war die Entwicklung der neueren

Staatsverwaltung in Kursachsen.

in sitz,

sieben Kreise,

Dieses zerfiel zwar auch seit Alters her

wozu noch die Markgrafschaften Ober- und Niederlau­

der Hennebergische Antheil

und

die sächsischen Bisthümer kamen.

Diese Kreise, Kurkreis, Thüringer, Meißener, Erzgebirgischer, Leipziger, Vogtländischer und Neustädter Kreis,

waren aber nicht wie anfangs die

brandenburgischen nur Wahlbezirke der Ritterschaft für die Ausschußtage,

sondern zum größten Theile ehemals selbstständige Territorien, einem

einheitlichen

Jeder Kreis

hatte zwar

allmählich waren.

zu

sächsischen

Staatswesen

die nur

verschmolzen

seine besonderen Kreistage und einen

kurfürstlichen Beamten mit dem Titel Kreishauptmann, Landeshauptmann

oder Landvogt, der, wie die seit Kaiser Sigismund in Brandenburg für die Altmark, Mittelmark und Neumark eingesetzten, aber seit dem 15. und

Die Entwicklung der sächsischen Amtsverfassung

132

16. Jahrhundert größtenteils wieder beseitigten Landeshauptleute für die

die Polizeiverwaltung der Aemter

allgemeine Landessicherheit zu sorgen,

und Patrimonialherrschaften zu beaufsichtigen und die Verhandlungen mit den Ständen seiner Provinz im Auftrage des Kurfürsten zu führen hatte.

Für die

waren

neue Kriegösteuerverwaltung

die

sächsischen Kreise

ebenso wie die eben erwähnten fünf märkischen Provinzen keine geeigneten Bezirke wegen ihrer zu großen Ausdehnung.

Kleinere,

die Aemter und

Patrimonialherrschaften umfassende Bezirke etwa von der Größe der mär­ kischen Kreise gab es in Sachsen nicht.

dreißigjährigen Kriege

und während

in Sachsen bedeutend gestiegen.

war gerade vor dem

Ueberdies

desselben die landesherrliche Macht

Kurfürst August hatte bei seinem 1586

erfolgten Tode die Verwaltung, besonders die Finanzen, in dem blühend­

sten Zustande hinterlassen. als es sich herausstellte,

Und gegen Ende des dreißigjährigen Krieges,

daß ein Staat ohne stehendes Heer sich nicht

länger erhalten könne, und daher dauernde Kriegösteuern erforderlich seien, war die landesherrliche Gewalt, besonders durch den Prager Frieden von 1635, welcher den Kurfürsten zum Herrn in seinem eigenen Lande machte,

derart entwickelt, daß die Stände die eigene Verwaltung der neuen Kriegö­

steuern nicht in Anspruch nehmen konnten. zur Machtfrage.

Die Rechtsfrage wurde hier

Die größere landesherrliche Macht während des dreißig­

jährigen Krieges, der Zeit des Uebergangeö vom mittelalterlichen Rechtsstaate zum Militärstaate des 17. und 18. Jahrhunderts, verhinderte trotz

des fast gleichen Umfanges des Großgrundbesitzes in Brandenburg und

Sächselt in letzterem Lande die Bildung eines sich auf den Großgrund­ besitz

stützenden, der

verwaltungsbezirks,

märkischen

zu dem

Kreisverfassung

in Sachsen

entsprechenden Selbst­

dieselben

socialen Grundlagen

vorhanden waren wie in Brandenburg und den dazugehörigen Territorien

Pommern und Magdeburg. Der Kurfürst übertrug in den sächsischen Territorien die Kriegssteuer­

verwaltung nicht einem ständischen Landkommissar, sondern seinem eigenen

Beamten, dem Amtshauptmanne.

Zu diesem Zwecke bedurften aber die

Aemter einer völligen Umgestaltung, welche erfolgte im engsten Anschluß

an die historisch gewordene Gestaltung der Aemter. selben Bezirke für die Domänen,

Bisher waren die­

Polizei- und Gerichtsverwaltung

des

unmittelbar landesherrlichen Gebietes gewesen in Coordinirung mit den Patrimonialherrschaften.

Nur die Strafgerichtsbarkeit und die Gerichts­

barkeit über die Eximirten war den Amtshauptleuten auch für die unbe­

deutenderen patrimonialen Gebiete, die der sogenannten Amtssassen, über­ tragen worden.

So besaßen

in der Justiz

die Amtshauptleute bereits

eine höhere Zuständigkeit als die meisten Patrimonialherren.

Ihr Amts-

im Vergleich mit der brandenburgischen Kreisverfassung.

die Polizei- und

sprenge! ist das alte Amt für die Civilgerichtsbarkeit,

Finanzverwaltuug,

133

das alte Amt und eine Reihe patrimonialer Gebiete

für die Strafgerichtsbarkeit und die Gerichtsbarkeit über Eximirte.

Nur in dem unmittelbar landesherrlichen Gebiete hatten bisher die Amthauptl-'Ute die Steuern eingezogen.

Da man nun eines landesherr­

lichen Beamten für das ganze flache Land zur Erhebung der Kriegssteuern bedurfte,

so knüpfte man an die erweiterten Amtsbefugnisse des Amts­

hauptmannes auf dem Gebiete der Justiz an.

Seine richterlichen Befug­

nisse gegenüber den amtssässigen patrimonialen Gebieten rechtfertigten die

Uebertragung auch

den

der Steuerverwaltung

erweiterten Amtsbezirk.

auf den Amtshauptmann für

Die Einziehung

der Kriegssteuern

wurde

also dem Amtshauptmann nicht nur in dem alten Amte, sondern auch für

die Mediatstädte und patrimonialen Dörfer aufgetragen, in denen er die

Strafgerichtsbarkeit und die Gerichtsbarkeit über die von den Ortsgerichten epimirten Personen in Civilsachen hatte, die ihm also in gewisser Hinsicht schon untergeben waren.

Die Gemeindeeinnehmer der unmittelbar lan­

desherrlichen und der dem Amtshauptmann untergeordneten patrimonialen

Dörfer,

die man durch die Bezeichnungen Amtsdorfschaften

dörfer unterschied,

wie die Gemeindeeinehmer

amtssässigen Städte hatten die in ihren Gemeinden

an den Amtssteuereinnehmer abzuliefern. dem Amtshauptmanne

und Amts­

der Amtsstädte

und der

erhobenen Steuern

Diese wie die Einnehmer der

nicht untergeordneten patrimonialen Gebiete, der

sogenannten schriftsässigen, führten die eingezogenen Summen an die für jeden Kreis

bestellten

zwei Kreissteuereinnehmer

ab.

Es gab demnach

jetzt ein Amt im älteren engeren Sinne, dies ist die kurfürstliche Domäne

mit den dazugehörigen Dörfern,

das unmittelbar landesherrliche Gebiet,

und im neueren weiteren Sinne, dies ist das alte Amt und die patrimo­ nialen Gebiete, in denen der Amtshauptmann die höhere Gerichtsbarkeit

zu üben und mit Hülfe deö Amtssteuereinnehmers die direkten Steuern zu

verwalten hatte. Der Kurfürst war zwar im Stande gewesen,

die Macht des Groß­

grundbesitzes vorübergehend zurückzudrängen, die Bildung ständischer Steuer­ verwaltungsbezirke zu verhindern und die Steuerverwaltung seinem Be­ amten, dem Amtshauptmanne, zu übertragen, aber dauernd ließ sich der Großgrundbesitz auch in Sachsen nicht bei Seite schieben.

Auf den Land­

tagen von 1653 und 1657 erhoben die Stände die bittersten Klagen über

die

neue Einrichtung, die eine Gleichstellung

der Rittergutsbesitzer und

ihrer Unterthanen mit den amtssässigen Bauern zu enthalten schien.

In

der Erledigung dieser Gravamina sicherte der Kurfürst zu, die Amtshaupt­

leute und Schösser sollten künftig mit denen von Adel, Städten und an-

Die Entwicklung der sächsischen Amtsverfassung

134

deren Gerichtsherren sich über die Ab- und Eintheilung der Steuern ver­

nehmen und ihnen die Einbringung ihrer Portionen anheimgeben,

auch

wegen der eingehobenen Gelder bei jerer Anlage unverlangt richtige Rech­ Dadurch war mit der alten einseitig patrimonialen Amts­

nung legen.

verwaltung endgiltig gebrochen.

Das neue Amt, der Steuerverwaltungs­

bezirk für das unmittelbar landesherrliche wie für das patrimouiale Ge­ biet,

ein

war

ständischer

Selbstverwaltungsbezirk

unter

vorwiegender

Theilnahme des Großgrundbesitzes, aber auch, abweichend von der bran­

denburgischen Kreisverfassung,

von städtischen Abgeordneten.

Dem Um­

fange nach umfaßte durchschnittlich ein sächsisches Amt den fünften Theil des Gebietes eines brandenburgischen Kreises.

Roch

im Laufe des

17. Jahrhunderts wurde dem Amtshauptmanne

auch die Aufsicht über die Polizeiverwaltung der zu dem neuen Amtsbezirke gehörigen kleineren Patrimonialherrschaften und Städte, in denen er bereits die Steuerverwaltung hatte, übertragen, während die schriftsässigen Patri-

monialherrschaftcn und Städte wie bisher unmittelbar unter der Landes­ regierung standen. In Brandenburg wie in Sachsen hat sich also die Macht des Groß­ grundbesitzes auch in der Berwaltung des neuen Militärstaates geltend ge­

macht, nur waren in der kritischen Uebergangsperiode des dreißigjährigen Krieges

die

Machtverhältnisse

in

beiden

Territorien

verschiedene.

In

Brandenburg waren die Stände mächtig, der Kurfürst schwach, es ent­

stand die Kreisverfassung, die mit dem steigenden landesherrlichen Ein­ flüsse und der Beseitigung der ständischen Autonomie zu einem Institute

der Selbstverwaltung im modernen Sinne wurde.

In Sachsen vermochte

der Kurfürst dem Amtshauptmann die Steuerverwaltung zu übertragen, aber

bald darauf mußte er dem Großgrundbesitz das Zugeständnis von Amts­

versammlungen machen, deren Befugnisse ungefähr denen der märkischen

Kreistage entsprachen.

So führten die verschiedenen Machtverhältnisse in

dem Nebergangszeitpunkte zu verschiedenen Verwaltungsbezirken, in Bran­ denburg

zur Kreisverfassung,

in Sachsen zur neueren Amtsverfassung.

Die gleichen gesellschaftlichen Grundlagen, auf denen der Staat sich aufbaut,

in beiden Territorien bewirkten aber

noch

in

der Mitte des 17. Jahr­

hunderts eine Annäherung der Amtsverfassung an die Kreisverfassung, die

auf dem Gebiete der inneren Verwaltung seit 1660 in den Hauptzügen

mit einander übereinstimmen. Es läßt sich aber nicht verkennen, daß die Amtsverfassung in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine wesentlich unvollkommenere Bil­ dung war als die gleichzeitige brandenburgische Kreisverfassnng

Zunächst

waren nicht alle patrimonialen Gebiete den Aemtern untergeordnet, die

im Vergleich mit der brandenburgischen KreiSverfaffung.

135

Schriftsätzen standen nach wie vor unmittelbar unter der Landesregierung. Außerdem hatte in Sachsen die den entwickelteren Kulturstufen eigenthüm­

liche Scheidung der sogenannten inneren Verwaltung, der Polizei- und Steuerverwaltung, von der Naturalbewirthschaftung der Domänen und der

Beide Mängel verschwanden in der ersten

Rechtspflege nicht stattgefunden.

Hälfte des 18. Jahrhunderts, also zwei Menschenalter später als in Bran­

denburg.

Die

schriftsässigen

wurden

Gebiete

wenigstens

insofern

den

Aemtern einverleibt, als den Amtshauptleuten meist die Oberaufsicht über

die Verwaltung

der

schriftsässigen Rittergutsbesitzer als landesherrlichen

Commissaren übertragen wurde, während im übrigen die Selbständigkeit

der schriftsässigen Gebiete, namentlich ihre von den Aemtern unabhängige

Steuerverwaltung erhalten blieb.

Die Unterordnung der patrimonialen

Verwaltung unter die staatliche war immerhin eine unvollständigere als in Brandenburg, indem namentlich die selbständige patrimoniale Steuer­ verwaltung der Schriftsassen erhalten blieb, aber im wesentlichen war diese

Unterordnung auch in Sachsen erreicht, und gegen Ende des 18. Jahr­ hunderts werden Amtssassen und Schriftsassen gleichmäßig nebeneinander

als zu den Aemtern gehörig aufgeführt.

Die Amtsverfassung war damit

thatsächlich zur allgemeinen Einteilung des Landes mit Ausnahme der selbständigen größeren Städte, wie Dresden und Leipzig, geworden.

Ferner schied sich in Sachsen in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahr­ hunderts die Polizei- und Steuerverwaltung von der Domänenverwaltuug

und Rechtspflege durch die Verpachtung der Domänenämter. Schon Kur­

fürst

August

dieselbe gegen Ende des 16. Jahrhunderts versucht.

hatte

Dieser Versuch scheiterte aber wie ein ähnlicher Joachims I. von Branden­

burg an den unentwickelten volkswirthschaftlichen Verhältnissen; der richtige Zeitpunkt für den Ueb.rgang von der Natural- zur Geldwirthschaft war noch nicht gekommen.

In Brandenburg-Preußen nöthigten aber, als der

Uebergang möglich war, die Bedürfnisse des Großstaats weit früher zum Bruch mit dem man möchte sagen patriarchalischen System der Domänen­

verwaltung, bei der die nächst gelegenen Domänen den Ueberschuß ihrer Erträge zur kurfürstlichen Küche lieferten, die entfernteren denselben bei

den

mangelhaften

Transportmitteln

Grunde

zu

gehen

lassen

mußten.

Während daher in Brandenburg seit 1651 das Pachtsystem konstant durch­ geführt wurde,

gelangte man in Sachsen, wo man sich stets im alten

Geleis fortbewegte, zu demselben ein halbes Jahrhundert später, und erst 1732 erwähnt ein

sächsischer

„kürzlich" überall emgeführt.

Statistiker,

die

Domänenverpachtung

sei

In Brandenburg wie in Sachsen wurde nun

nicht nur die Domäne, sondern auch,

den patrimonialen Anschauungen

entsprechend die an ihr haftenden subjektiv dinglichen Rechte, die Leistungen

Die Entwicklung der sächsischen AmtSverfaffung

136

der Bauern, die Gerichtsbarkeit und Polizei über den Domänenbezirk, ver-

pachtet.

In Brandenburg, wo dies die einzigen Funktionen der Amts­

gewesen

hauptleute schaften von

der

verschwanden

waren,

Bildfläche,

in

anders

damit

Amtshauptmann­

die

wo

Sachsen,

die

Amtshaupt­

außerdem die Steuerverwaltung und die höhere Polizei über eine

leute

Reihe patrimonialer Gebiete gewonnen hatten.

Die Aemter

und

ihre

Pächter traten jetzt zu den Amtshauptleuten in dasselbe Verhältniß wie

die patrimonialen Gebiete und die Rittergutsbesitzer.

Der Amtshauptmann

hatte nicht nur in den patrimonialen Gebieten, die zu dem Amte gehörten,

sondern auch in dem Domänenbezirk die Steuerverwaltung und die höhere Polizei, d. h. die Aufsicht über die Localpolizeiverwaltung.

Der

und das Amt

Kreis

zu völlig analogen Ver­

damit

waren

Kreis wie Amt sind die untersten Bezirke für

waltungsbezirken geworden.

die Verwaltung der direkten Steuern! mit einer ständischen Selbstverwaltung,

Abgesehen von der

sowie Aufsichtsbezirke für die Vocalpolizeiverwaltung.

eigenthümlichen

Stellung

der

schriftsässigen Gebiete

liegen

die einzigen

Unterschiede darin, daß die Amtshauptleute nicht wie Kreiskommissare und

Landräthe von der Ritterschaft des betreffenden Bezirks aus ihrer Mitte vorgeschlagen,

sondern einseitig vom Landesherr», jedoch

herkömmlicher

Weise aus der Zahl der ritlerschaftlichen Amtseingesessenen, ernannt wer­ den,

und daß die Aemter viel kleinere Verwaltungsbezirke sind als die

Kreise. Allmählig verschwand aber in Sachsen die Theilnahme der Ritter-

gutsbesitzer und der

Aemter,

und

seit

städtischen Vertreter der Mitte des

Spuren mehr davon.

Zunächst

an

der Steuerverwaltung der

18. Jahrhunderts

finden

sich

keine

fiel in's Gewicht der geringe Umfang

des Amtsbezirks.

Das Amt war sehr wohl geeignet zur Bildung einer

Sammtgemeinde,

aber

dem Rittergutsbesitz verwaltung.

durchschnittlich

beruhende, den

klein

zu

für

eine

fast nur

auf

Bauernstand ausschließende Selbst­

Zahlreiche Aemter hatten gar keine amtssässigen Ritterguts­

besitzer uvd Städte, sehr viele andere vier oder fünf Rittergutsbesitzer und

eine Stadt, aber es finden sich doch auch Aemter, wie z. B. Stolpen und

Torgau mit 39, Meißen mit 30, Leipzig mit 26 amtssässigen Ritterguts­ besitzern und in der Regel einer Stadt.

Hier hätte sich jedenfalls eine

ständische Selbstverwaltung erhalten können.

In diesem Falle würde man

dieselbe auch in den kleineren Aemtern durch Zusammenlegung mehrerer

Aemter befördert haben, wie man in Brandenburg aus practischen Grün­ den schon im 18. Jahrhundert, die wegen der korporativen Entwicklung der

Kreise weit schwierigere Aufgabe löste, größere Kreise in mehrere selbst­

ständige Kreise zu zerlegen.

Der räumliche Umfang kann also nicht das

im Vergleich mit der brandenburgischen Kreiöverfassung.

137

entscheidende Moment gewesen sein, da sich auch in den größten Aemtern, die an Umfang des Gebiets und Zahl der Rittergutsbesitzer den märkischen Kreisen

nahe kamen,

die ständische Selbstverwaltung vollständig verlor.

Es fiel vielmehr noch ein anderer Grund in's Gewicht.

Sachsen war mit geringen Ausnahmen, der Lausitz und den thüringi­ schen Stiftsländern ein auch in ständischer Beziehung durchaus einheitliches

Territorium.

Zur Vernichtung

der Stände, zu der in Brandenburg-

Preußen das unabweisliche Bedürfniß einer Realunion der einzelnen Terri­

torien nöthigte, lag in Sachsen an und für sich keine Veranlassung vor, sie

wäre hier auch weit schwieriger gewesen, da dem Fürsten nicht einzelne

Territorialstättde, sondern die Stände fast des ganzen Landes gegenüber standen.

Dazu kam noch ein zweites Moment.

In Brandenburg-Preußen

mußten schon die ungeheuren, beständig steigenden Ansprüche für das Heer,

zu denen die Stände nimmermehr die nöthigen Mittel gewährt hätten, zur Beseitigung des ständischen Steuerbewilligungsrechtes führen.

fand

3n Saäflen

dagegen seit dem dreißigjährigen Kriege keine irgendwie erhebliche

Steigerung der Staatsbedürfnisse statt, so daß das Verhältniß von Fürst

und Ständen im ganzen ungetrübt bleiben konnte.

Als dann unter August

dem Starken für den verschwenderischen Hofhalt, die Bestechung der polni­ schen Großen und den nordischen Krieg bedeutendere Geldmittel flüssig ge­

macht werden mußten, konnte sich der König außer den Kämpfen in Polen nicht auch noch in solche mit den Ständen seiner Erblande einlassen.

Er

verschaffte sich daher die nöthigen Mittel durch fortwährende Veräußerun­

gen, die sich fast durch seine ganze Negierungszeit hinziehen.

Um nur an

die bedeutenderen zu erinnern, verkaufte er 1697 die Reichsvogtei über Quedlinburg und Nordhausen an Preußen für 34 000 Thlr., verzichtete

auf Lauenburg zu Gunsten Hannovers gegen Zahlung von 1 100 000 Thlr.,

veräußerte ferner 1698 den Petersberg bei Halle an Preußen für 40 000

Thlr., das Amt Borna an Gotha für 500 000 Gld.,. 1700 die Landes­

hoheit über Henneberg an Sachsen-Zeitz für 45 000 Thlr., 1702 Gräfen­ hainichen

an

Dessau

für 35 000 Thlr.,

Mansfeld an

Hannover für

600 000 Thlr., 1712 Pforta an Sachsen-Weimar für 100 000 Gld., ver­

zichtete 1719 auf die Lehnshoheit über Schwarzburg gegen 200 000 Thlr.,

1724 auf die Ansprüche auf Hanau zu Gunsten von Hessen-Kassel gegen 600 000 Thlr. schen

Nur einmal wagte es August der Starke, zu seinen polni­

Unternehmungen

1704

eine Accise und 1705

eine

Vermögens-,

Rang- und Kopfsteuer auszuschreiben, versicherte aber hinterher, um jeden Konflikt mit den Ständen zu vermeiden, denselben, daß das kein Präzedens-

fall sein solle, womit sich denn auch die Stände zufrieden gaben.

That­

sächlich kam auch ein Steuerausschreiben ohne ständische Bewilligung nicht

Die Entwicklung der sächsischen Amtsverfassung

138

Sachsen ist daher eins der wenigen deutschen Territorien,

wieder vor.

in denen

sich

die

Stände bei

ihrer Macht

erhielten.

Die

ständische

Steuerbewilligung namentlich, die immer nur von sechs zu sechs Jahren stattfand, blieb bis zum Uebergange in den neuen Verfassungsstaat be­ stehen. Bei diesem sich forterhaltenden Einflüsse der Stände auf die Eentral-

verwaltung

erschien

die Theilnahme

an

der Amtsverwaltung

werthloö.

Wie in Frankreich seit hundert Jahren der jeweilig mächtigsten Gesellschafts klasse mit der Centralverwaltung alle Macht in die Hände fällt, und daher

keine der

aufeinander folgenden Regierungen das Bedürfniß nach einer

so auch in Sachsen

Selbstverwaltung der kleineren Bezirke gefühlt hat,

während des 18. Jahrhunderts.

Es fehlte der in Brandenburg-Preußen

vorhandene Gegensatz der besitzenden Klassen zum Absolutismus,

welcher

jene nöthigte, den Einfluß auf die Verwaltung, den sie in der Central­ instanz verloren, wenigstens in kleineren Kreisen festzuhalten. die anfangs vorhandene Selbstverwaltung der

So ist denn

sächsischen Aemter an der

Theilnahmlosigkeit der Stände zu Grunde gegangen, die, ohnedies Herren des Staates, an der Amtsverwaltung kein Interesse hatten und auch nicht

durch eine starke Staatsgewalt zur Theilnahme an der Amtsverwaltung gezwungen wurden. Dieses verschiedene Verhältnis des Staates zu den besitzenden Klassen

oder im Sprachgebrauche

des 17. und 18. Jahrhunderts von Fürst und

Ständen trug nicht am wenigsten zur Ueberflügelung des reicheren und deßhalb

ursprünglich

Preußen bei.

weit

In Preußen,

mächtigeren

Sachsens

durch

Brandenburg-

wo in der Central- mir Provinzialinstanz

das absolutistische Regiment herrschte, kamen hierdurch die staatlichen Ge­ sichtspunkte zur Geltung, ihnen mußte sich die ständische Selbstverwaltung der Kreise unterordnen, ihnen mußte sie dienstbar werden.

In Sachsen

herrschte — umgekehrt wie in Preußen — die Bureaukratie zwar in der

Lokalverwaltung,

aber

die ständische Mitwirkung in

der Centralinstanz

machte die Büraukratie wie die ganze Staatsmaschinerie den gesellschaft­

lichen Interessen der Stände dienstbar.

Eine Annäherung beider Extreme

hat sich erst in diesem Jahrhundert vollzogen, und auf diese weitere Ent­

wicklung wollen wir noch einen Blick werfen.

Es bestand in das

Amt

an

der

im

Verwaltung,

burg-Preußen

Sachsen

weiteren

seit der

Sinne innerhalb

Mitte des vorigen Jahrhunderts

ohne jede Betheiligung

dieses

Amtes

der

der Amtssassen

wie

in

Branden­

sammt der dazu gehörigen Justiz und Polizei verpachtete

Domänenbezirk, welcher ebenfalls als Amt bezeichnet wurde.

Die Uebel­

stände der Justizverpachtung machten sich jedoch in beiden Staaten immer

im Vergleich mit der brandenburgischen Kreisverfassung.

139

fühlbarer, mehr und mehr stellte sich heraus, daß den Pächtern, den so­

genannten Beamten, und den von ihnen angestellten und besoldeten, daher

durchaus abhängigen Justitiaren die Justiz nur Mittel zum Zweck, zur Erpressung möglichst großer Summen von den Bauern war, die natür­

lich, wenn sie der Beamte bei seinem Jnstitiar verklagte, stets den Prozeß

verloren.

In Sachsen war die Justi;pacht ein nicht nur für die Bauern,

sondern auch für die privilegirten Stände drückendes Verhältniß, da dem Domänenpächter auch die früher dem Amtöhauptmann zugestandene Straf­

gerichtsbarkeit über die amtssässigen patrimonialen Gebiete und die Ge­ richtsbarkeit über die amtssässige Nitterschaft verpachtet war, so daß der

Domänenpächter bei einer Kollision seiner wirthschaftlichen Interessen mit

denen

der benachbarten Rittergutsbesitzer

eine furchtbare Waffe in der

Hand hatte.

Es

war daher

daß sich die in ihrer Existenz bedrohten

natürlich,

sächsischen Landstände der Angelegenheit annahmen.

tober 1763

Bereits am 13. Ok­

sie auf vollständige Beseitigung der Justizpacht an.

trugen

Dringendere Bedürfnisse, namentlich die Heilung der dem Lande durch den

siebenjährigen Krieg geschlagenen Wunden, verzögerten aber die von den Ständen gewünschte Reform.

In Preußen entzog dagegen Friedrich der

Große 1766 für das Fürstenthum Halberstadt, 1770 für die übrigen öst­ lichen Provinzen den Pächtern die Gerichtssporteln, vereinigte hinsichtlich

der Justiz mehrere Domänenämter zu einem Justizamte unter einem vom Staate angestellten,

von

diesem

besoldeten und von den Pächtern ganz

unabhängigen Justizamtmanne, der von dem Landesjustizkollegium geprüft und von der Verwaltungsbehörde, der Kriegs- und Domänenkammer, zu

Nach diesem in Preußen

deren Bezirk das Amt gehörte, angestellt wurde.

erfolgte

gegebenen Vorbilde

auch

in Sachsen

durch

31. März 1784 die Beseitigung der Justizpacht. die Gerichtssporteln,

und

es

ein Rescript

vom

Die Pächter verloren

wurde abweichend von Preußen nicht für

mehrere, sondern für jedes einzelne Domänenamt ein Justizamtmann er­

nannt, der von dem Landesjustizkollegium, Landesregierung genannt, ge­ prüft und von der obersten Domänenbehörde, dem Geh. Finanzkollegium,

angestellt wurde. den Ständen

Die vollständige Durchführung dieser Einrichtung wurde

in der Landtagsproposition vom 6. Januar 1793 bekannt

gemacht. Es bestanden

seit dieser Zeit drei verschiedene Arten von Amtsbe­

zirken in Sachsen neben einander.

Das

vorzugsweise so genannte Amt

unter dem Amtshauptmann war ein Verwaltungsbezirk für die Verwal­

tung der direkten Steuern mit Ausnahme der schriftsässigen Gebiete und für

die Kontrolle

der Lokalpolizeiverwaltung.

Preußische Jahrbücher. Bd. LVI. Hest 2.

Innerhalb

dieses 11

Amtes

140

Die Entwicklung der sächsischen Amtsverfassnng rc.

lag das Domänenamt,

umfassend die Domäne

und die dazu gehörigen

unmittelbar landesherrlichen Dörfer, unter dem Domänenpächter, der als

Beamter oder Amtmann bezeichnet wurde.

Es war dies der Bezirk für

die Domänenbewirthschaftung und die Lokalpolizeiverwaltung des unmittel­

bar landesherrlichen Gebiets, die dem Domänenpächter wie iir Preußen

verblieben war.

Endlich bestand innerhalb jedes Amtes ein Justizamt zur

Ausübung der von Hause aus dem Amtshauptmann zustehenden Gerichts­

barkeit erster Instanz über das Domänenamt, sowie der Strafgerichtsbar­ keit und der vollen Gerichtsbarkeit über die Erinnerten der amtssässigen Gebiete.

Domänenamt und Justizamt eutsprechen vollständig den analogen

Bildungen in Brandenburg-Preußen,

während das Amt die Stelle der

brandenburgischen Kreise vertritt. eigeutlich nur staatliche Patrimonialgerichte,

Die Justizämter,

ver­

schwanden in Sachsen 1854 mit der Beseitigung der Patrimonialgerichts­

barkeit, indem an die Stelle der bisherigen Nntergeriebte 122 kollegiale Die ebenfalls rein patrimoniale Polizeigewalt der

Bezirksgerichte traten.

Domänenpächter

siel

dagegen

erst

mit der allgemeinen Aufhebung der

gutsherrlichen Polizei durch die Verwaltungsgesetzgebung des Jahres 1871. Damit hörten auch die Domänenämter als Verwaltungsbezirke auf zu be­

stehen.

Es blieben als Verwaltungsbezirke

nur

die Aemter

unter den

Amtshauptleuten erhalten, die nach Beseitigung der patrimouialen Elemente

in der Lokalverwaltung eine oollständige Umgestaltung erfuhren durch eine ausgebildete

kommunale

und

obrigkeitliche Selbstverwaltung

der Amts­

bezirke in Verbindung mit einer Verwaltungsgerichtsbarkeit.

Die östlichen Provinzen Preußens und Sachsen haben am spätesten mit

der patrimouialen Verwaltung gebrochen,

sie sind aber eben dadurch vor

dem französischen Systeme der Präfekturen, Unterpräfekturen und Bürger­

meistereien bewahrt worden und zu einer wirklichen Selbstverwaltung ge­ langt.

Richtig erkannte man in Preußen wie in Sachsen, daß die Durch­

führung derselben nur erfolgen könne im Anschluß an die geschichtlich ge­

gebenen Verhältnisse.

Bei aller Uebereinstimmung in den leitenden Ideen

ist daher in Sachsen die Amtsverfassung, in Preußen die Kreisverfassung erhalten worden, Amt wie Kreis haben aber einen neuen Ausbau erhalten

durch eine alle Besitzmassen gleichmäßig in den Dienst des Staates stellende Selbstverwaltung.

Der Hof von Mdiz-Kiosk. Dem Fremden, der sich,

ru Schiff von Norden kommend, der türki­

schen Hauptstadt nähert,

fällt

kaiserlicher Schlösser auf,

deren

weiße Fanden und langgestreckte gelb­

in ben Fluthen spiegeln.

sich

getünchte Mauern

des Bosporus

der letzten Windung

Paläste und

stattlicher

lange Reihe

die

Wenn das Schiff aus

heraus

bei Arnautköi

und

in das

weite Wasserbecken einbiegt, welches die Rhede von Konstantinopel bildet, erblickt man auf der sich

die

Bagdsche werden.

langen hin,

des

Fanden deren

hineinragenden Halbinsel

Meer

in's

Mauern und Kuppeln

alten Serail.

der

breite

neuen

Paläste Tschiragan

Marmortreppen

die Zinnen,

hart am Ufer ziehen

Rechts von

den

und

Dolma

Wellen bespült

Links auf dem asiatischen Ufer und diesen Schlössern fast gegen­

über liegend gewahrt mau Beyler Bey

des Hügels

hinaufreichenden,

denzen, welche

die Prachtliebe

inmitten

seiner bis zum Gipfel

prächtigen Gärten. der

Aber

früheren Sultane

alle diese Resi­

schuf,

deren Bau

Millionen verschlungen und die Zerrüttung der Finanzen des Landes be­

schleunigte, sind vom Hof verlassen und sind fast unbewohnt. noch einige Frauen

In aus

dem Berfall preisgegeben.

den Nebengebäuden dem

Harem

des

des

Sultans

Sie

alten Serail hausen Abdul

Asis.

Sie

wurden in jener Schreckeusnacht des Mai 1876 mit ihrem Gebieter dahin überführt und sind seitdem dort geblieben. Schlosses stehen leer und sind

Die Prachtgemächer des alten

der Besichtigung der Fremden zugänglich.

Auch die Paläste von Dolma-Bagdsche und Beyler Bey sind nur von einigen

Wächtern

und

Dienern

bewohnt.

Sie werden gelegentlich zur

Aufnahme fürstlicher Gäste hergerichtet iinb in jedem derselben wird eine

Reihe von Gemächern wenigstens soweit in Stand gehalten, daß die zeit­ weiligen Bewohner den europäischen Comfort Zuletzt war diese

Gastfreundschaft

der

nicht allzu sehr vermissen.

im Februar 1882 nach Stambul

entsendeten deutschen Mission erwiesen worden, und Fürst Radziwill hatte damals mit seiner Begleitung einen Seitenflügel des Palais von Dolma-

Bagdsche bewohnt.

Nur Tschiragan ist nicht ganz von der kaiserlichen

11*

142

Der Hof von Mdiz-Kiosk.

Familie verlassen worden. Der weitaus größte Theil des Palastes frei­ lich steht leer, aber an einigen Fenstern des östlichen Flügels sind die Vorhänge aufgezogen und dort sieht man bisweilen menschliche Gestalten. Hier soll der unglückliche Sultan Murad wohnen. Ich sage: er soll; denn gesehen hat ihn niemand in den letzten Jahren. Ob derselbe noch lebt, ist ungewiß; es wäre nicht das erste Mal, daß man den Tod eines Mitgliedes der kaiserlichen Familie jahrelang verheimlicht. Jedenfalls geschieht Alles, um bei der Bevölkerung die Meinung zu erhalten, daß der Vorgänger Abdul Hamid's noch am Leben sei. Eine Postenkette umgiebt den Palast auf allen Seiten. Die Mannschaften haben Befehl, auf Jeden zit feuern, der in der Nähe jener Fenster zu landen sucht oder sich nur davor längere Zeit aufhält. Den Fischern ist es nicht gestattet, auf diesem Theil des Bosporus ihr Geschäft zu betreiben. Alle Fahr­ zeuge, auch die fremdländischer Marinen, müssen eilends vorüberfahren und dürfet! erst in einer bestimmt abgegrenzten Entfernung vom Palast Anker werfen. Diese Entfernung ist so gemessen, daß man selbst mit einem Fernrohr nicht zu unterscheiden vermag, ob die Gestalt, die sich an schönen Sommertagen an dem offenen Fenster des Palastes zeigt, die des Sultans Murad ist. Wo aber weilt der gegenwärtige Besitzer aller dieser herrlichen Schlösser? Man zeigt dem Fremden eine kleine, unansehnliche Billa, welche, auf der Spitze des Berges oberhalb Tschiragans gelegen, nur mit einem Theil ihres Daches über die Baumwipfel emporragt und die von anderen noch unbedeutenderen Baulichkeiten umgeben ist. Was hat den Sultan Abdul Hamid dazu veranlaßt, die prächtigen Gemächer der Bosporusschlösser zu verlassen und sein Hoflager in diesem abgelegenen, schwer zugänglichen Theil der kaiserlichen Gärten aufzuschlagen? War es die Vorliebe für reinere Luft oder weiteren Ausblick, den dieser auf dem Hügelrücken gelegene Punkt gewährt; scheuchten ihn die trüben Erinne­ rungen an die Vorgänge des Jahres 1876 von der Schwelle der Paläste, die seine unglücklichen Verwandten bewohnten? Der Glaube an böse Vorbedeutungen ist mit dem Fatalismus der Moslem recht wohl ver­ einbar. Als Sultan Abdul Asis den von ihm erbauten Palast von Tschiragan zum ersten Mal betrat, glitt sein Fuß auf den glatten Marmorstufen der Eingangshalle aus. Aber weniger Geistesgegenwart zeigend als Wilhelm der Eroberer, als er beim Betreten des englischen Ufers strauchelte, kehrte der orientalische Fürst erschreckt um und war nie zu bewegen, den Palast zu beziehen, vor dessen Besitznahme ihn seiner Meinung nach ein bedeutungsvolles Vorzeichen gewarnt hatte. Eben dieser Palast war es, der ihm für wenige Tage zum Gefängniß wurde

und in dem er sich, — ob freiwillig oder in den Händen der Mörder, dieses Geheimniß ist noch nicht aufgeklärt, — qualvoll verbluten sollte. Ob es diese oder andere Gründe sind, welche ben gegenwärtig regierenden Padischah bewogen haben, das Gartenhaus am Mdiz-Kiosk zur Residenz zu erwählen, ist schwer festzustellen. Vielleicht war auch der Umstand dabei maßgebend, daß die BosporuSschlösser von der Seeseite leicht zu überrumpeln und auch landwärts nicht in dem Maße durch eine Truppen­ aufstellung zu vertheidigen sind, wie dies bei Mdiz-Kioök der Fall ist. Thatsache bleibt, daß Sultan Abdul Hamid seit seiner Thronbesteigung die selbstgewählte Residenz nicht mehr verlassen hat und auch nicht ge­ neigt scheint, dieselbe gegen einen der größeren Paläste zu vertauschen, obgleich die 2l6ge(e0enl}eit der ersteren und die beschränkten Räumlich­ keiten den Anforderungen einer kaiserlichen Hofhaltung keineswegs ent* sprechen. Aildiz-Kiosk ist eine Art Gartenhaus im Stil und Charakter der italienischen Casinos, welche wie in Italien so auch im Orient das noth­ wendige Attribut jeder größeren herrschaftlichen Parkanlage bilden. Die Sultane erbauten deren zu allen Zeiten und in großer Anzahl an beiden Ufern des Bosporits. Gegenwärtig giebt es deren wohl an 20 auf den verschiedenen kaiserlichen Besitzungen in der Nähe der Hauptstadt. Sie sind in Bauart und innerer Einrichtung einander sehr ähnlich, bestehen fast immer aus 2 Stockwerken mit symmetrischer Zimmereintheilung: in der Mitte eine größere Hatte, daneben einige Gemächer. Ueberall Divans, schwerfällige Faitteuils, die längs den Wänden aufgestellt sind, große Spiegel in Goldrahmen, darunter die niemals fehlenden Marmor­ consolen mit Pariser Pendulen. In der Mitte des Zimmers ein Tisch mit irgend einem Tafelaufsatz aus Silber, Malachit oder Bronce. Die einzelnen Räume unterscheiden sich nur durch die verschiedene Farbe des großblumigen Möbeldamastes und der Wandbekleidung. Früher wurden die Stoffe dazu in der Seidenfabrik von Jsmid gefertigt; neuerdings be­ zieht man sie aus Frankreich. Nirgends eine Spur orientalischer Eigenart. Die Räume gleichen in ihrer langweiligen Pracht und geschmacklosen Ueberladung den fürstlichen Wartesalons europäischer Bahnhöfe. Wenn man eines dieser kleinen Lustschlösser besticht hat, hat man sie alle ge­ sehen. Der große Park von Tschiragan enthält deren mehrere; der höchst­ gelegene ist Aildiz-Kiosk. Eine hohe, gelbgetünchte Mauer umgiebt den Park in seiner ganzen Ausdehnung Die Türken haben eine Vorliebe für die gelbe Farbe; sie wenden sie gern in ihrer Kleidung, in ihrer Zimmereinrichtung an. Aber die milderen, gedämpfteren Töne, welche das Kunstgewebe des Abendlandes bei der Benutzung dieser Farbe vor-

Der Hof von Dildiz-KioSk.

144

Ein grelles Orangegelb ist gewissermaßen

zieht, sind dort wenig beliebt. im Orient die

officielle Farbe

Die

der

Gebäude

Pforte,

hohen

oder Negierungsbauten.

bei kaiserlichen-

alle

die Ministerien,

Kasernen

und

Wachthäuser, die Umfriedungen der Paläste sind mit dieser dunklen Oker, färbe übertüncht, welche — man muß es zugeben — von Weitem etwas

und

Prächtiges, Glänzendes hat

nicht

reichen Landschaftsbildes beiträgt.

zur Belebung deS farben­

wenig

Ehe

Mdiz-Kiosk

seine jetzige

hohe

Bestimmung hatte, waren die rückwärtigen Theile des kaiserlichen Parkes von der Stadt aus schwer zugänglich.

holperige Straße,

den Stadttheil, umgiebt,

der

die Paläste

nach dem Rücken

entsetzlich schlecht gehaltene,

kaum und von

und

Tschiragan

dort nach dem nächst­

Seil einigen Fahren gelangt man auf einer

angelegten breiten Chaussee

Bor

kaiserlichen Residenz führt.

passirbar, führte durch

von Dolma-Bagdsche

des Hügels

gelegenen Uferort Onaköy.

in Serpentinen

Eine

für leichteres Fuhrwerk

zu

befindet

demselben

welches zur

dem Thor, sich

links

zwischen

2 Wachthäusern ein Nebeneingang, welcher den geschäftlichen Verkehr mit

für

stets

Das Hauptthor ist

dem Innern vermittelt. nur

den Sultan oder

die Botschafter

geschlossen

geöffnet.

mit) wird

Auf dem

kleinen

staubigen, schattenlosen Platze vor der zuletzt beschriebenen Eingangspforte

lungern

einige Bettler

stets

welche

und Tagediebe,

den Ankommenden

umschwärmen und sich zum Halten oder Tränken der Reitpferde anbicten.

Etwas weiter entfernt befindet sich ein elender Schuppen, in welchem die

Wagen

der

Würdenträger

oder Diplomaten Schutz

Tritt man zwischen

Regen finden.

gegen Sonne

und

den beiden Schildwachen, welche auf

einem kleinen Brett stehend durch ein Sonnensegel geschützt sind, in das Innere der Umfriedigung/ so gewahrt man rechts nur wenige Schritt von

der Umfassungsmauer entfernt den Mdiz-Kiosk.

Audienzen, hier

finden die officiellen Diners

sonderen Anlässen wird das Gebäude benutzt;

wohnt.

Hier ertheilt der Sultan

statt.

Nur bei solchen be­

im Uebrigen ist es unbe­

Der Sultan hält sich für gewöhnlich in seinem Harem auf, d. h.

einem etwa 200 Schritt von dem Hauptgebäude entfernt liegenden, durch eine hohe Mauer dem

oder in

einem

vor

Blick des

Unbefugten

der Eingangsthür

kleinen Gartenpavillon.

entzogenen

desselben gelegenen

Etablissement einstöckigen,

Derselbe enthält nur 2—3 niedrige, in der be
Eros ist es, der sein Verlangen nach der Helena befriedigt.

Er findet

sie, vermählt sich mit ihr und zeugt einen Sohn — Euphorien, der frei­ Im vierten Akt kehrt dann Faust mit Mephistopheles

lich bald stirbt.

nach Deutschland zurück.

Für letzteren nun ist Helena das, was sie für

Princip der Verführung, nur

den christlichen Volksglauben ist,

Mephistopheles sie als Volksglaube

sie

solches begünstigt und

verabscheut.

verwendet,

während

daß der

Für Faust hingegen steht Helena so hoch,

wie für Homer, oder eigentlich noch höher.

Denn bei Homer bleibt sie

Bei Goethe erscheint sie als Liebe gebend mit)

immerhin Unheilstifterin.

empfangend, die jedoch als reine Wohlthat gefaßt wird.

Berührt werden

zwar in den Reden der Helena auch Verunglimpfungen, die sie erfahren hatte, aber auf Faust's Bild vou ihr hat dies gar keinen Einflttß.

Es ist nun aber streitig, was Faust's Verkehr mit Helena eigentlich bedeuten soll.

Sicherlich hat Goethe so zu

sagen eine Vermählung des

mittelalterlichen germanischen Geistes mit dem antiken im Sinn, eine Er­

frischung des ersteren ditrch die innige Berührung mit dem letzteren, eilte Art Renaissance. bestimmt ist,

Kunst

Man

streitet

jedoch

darüber,

ob Helena mehr dazu

Faust's Geist in das hellenische Schöttheits-Ideal und die

hineintauchen

Zti

lassen,

oder

aber

den Geist

des thatkräftigen

Heroismus oder der heroischen Thatkraft in ihm zu wecken.

Letzteres

würde sehr gut zu dem Haupt- und Schlußideal passen, zu welchem sich

Faust emporarbeitet.

Dttrch

seinen

Rath

und Mephisto's Zauberkunst

wird ein Krieg zu Gunsten des Kaisers entschieden, und dieses Verdienst trägt unserm Helden

die Belehnung mit dem Meeresstrande ein.

gelingt ihm, den dem Wasser abgerungenen Boden zu kolonisiren.

Es

Dieses

Einlenken in tüchtige praktische Thätigkeit macht seinem Titanismus und egoistischen Glückseligkeitsdrang ein Ende, aber gerade die volle Anstren­

gung seiner Kräfte zum Besten seiner Mitmenschen wird nun sein höchstes

Glück.

Man hat nun also seinen Verkehr mit der Heroine Helena, sein

Weilen

auf

griechischem

Heroismus deuten wollen.

Boden,

Allein

als

Vorschule

für diesen praktischen

diese Deutung ist

schwerlich richtig.

Hätte ihn der Dichter in Verkehr mit Heroen wie Herkules gebracht, der

durch seine zwölf Leistungen das Land von Ungeheuern befreite und daher

als großer Wohlthäter gefeiert wird, so wäre jene Deutung erträglicher.

Die Schlußworte des Goethe'schen Faust.

170

Aber die Verbindung mit dem schönsten Weibe, mag dieses auch noch so umworben gewesen

viel von Halbgöttern

Wahrscheinlicher

werden.

hellenische Welt

ist,

daß

kann so nicht

sein,

Goethe

das

schildern will als Ergreisen der

aufgefaßt

Hineintauchen

in die

erlösenden Macht

der

Schönheit, als Mittel der Befruchtung Faust's durch das Schönheitsideal,

durch ästhetische Natur- und Kunstanschauung.

Man hat zwar eingewendet, Dies ist aber nicht richtig.

von Kunst sei im Faust nirgendwo die Rede.

In einem anberen Zusammenhang,

494 f.), sagt Goethe selbst: mit Kunst verwandt "

aber doch auch im Fällst (II, 1, V.

„denn das Naturell der Frauen ist so nah

Ist nun Helena

schönste aller Frauen, so

die

wird die Liebe zu ihr wohl auch mit Kurlstellthllsiasmlls in Zusammen­

hang gebracht sein.

Bon Ellphorion ferner, dem Sohne der Helena und

Faust's, heißt es (II, 3, 1139), daß er sich als Knabe schon verkünde als

künftigen Meister alles Schönen (vgl. B. 12G3). Wie lückenhaft würde ferner die Laufbahn Fausts erscheinen, hätte

er nicht, wie Goethe llnd Schiller selbst, das Höchste ilud das Beste auch

einmal im Schönen gesucht, zumal Plato dazu angeleitet hatte.

nach Plato

zeigt

sich als ein Entwickelungsmoment

Denn

des philosophischen

Triebes, den er als Eros bezeichnet, die Freude an schönen Gestalten. Dieser philosophische Trieb ist aber bei Plato nicht einseitig theoretisch

gemeint, sondern ztlgleich auf ein praktisches Lebensideal bezogen; es kann

daher hier ans ihn hingewiesen werden, obgleich Faust das rein abstrakte und spekulative Philosophiren

von Anfang an als unfruchtbar erfahren

Der Schluß des Faustdramas lehrt, daß Goethe über die Schranke,

hatte.

welche in

der direkten Verwechselung der sittlichen

Harmonie liegt, allerdings hinausgekommen ist.

mit der ästhetischen

Gerade deshalb ist aber

Fausts hellenischer Enthusiasmus vermuthlich nicht zu fassen als unmittel­ bare und positive Vorschule zur Begeisterung

für das thätige Leben,

sondern als Durchgangspunkt, der zwar seine Berechtigung hatte, der aber überwunden werden mußte, weil er an sich doch nicht das Höchste war.

Ist aber diese unsere Deutung richtig, so ist audb nicht anzunehmen, daß Goethe, indem er sagte „das ewig Weibliche zieht uns hinan", vorzugs­

weise an dasjenige gedacht hat, was sich in der Helena darstellte. Es ist nun aber drittens

Goethe meine damit

nicht

auch

sowohl

die

Ansicht

Maria

ausgesprochen worden,

oder Helena,

Indessen auch diese Ansicht ist mit Schwierigkeiten behaftet. uns lediglich an die Endgestalt Gretchens,

als Gretchen.

Halten wir

so begegnet uns ein Ideal

ohne bestimmten Inhalt, so daß wir auf unsere Frage keine Antwort er­ halten.

Einen bestimmten, concreten Gehalt bietet uns nur die Marga-

Die Schlußworte des Goethe'schen Faust.

rete

ersten Theiles.

des

Diese nun

ist zwar

171

eine höchst anziehende

Während Mephistopheles sie zu dem Zwecke Faust in die Arme

Figur.

führt, um diesen durch Sinnlichkeit zu erniedrigen, hatte in Wahrheit für

diesen das Berhältniß

Veredlendes.

etwas

eher

am Ende des zweiten Theiles

erscheint

fällt sie, und

Freilich

sie zunächst als Büßerin, dann

aber als vollständig geläutert, ja als Jdealgestalt

in

der unmittelbaren

Sie ist es, durch die Faust in die obere

Umgebung der Himmelskönigin.

Welt, wo sie bereits heimisch ist, eingeführt und eingeweiht wird.

trotz alledem kann man

doch

nicht sagen,

Aber

daß sie es allein oder vor­

zugsweise ist, die

in Faust das Bewußtsein seiner wahren Bestimmung

wachgerufen hat.

Sie hat den in Grübeleien gleichsam Erstorbenen in's

Leben zurückgerufen und neuen Lebensmuth in ihm erweckt.

zum Höchsten

hat sie ein erfolgreiches Streben ermöglicht.

Seine Liebe zu

Aber dadurch

in ihm doch nur wieder

konnte ihn an sich doch keineswegs auf

ihr

Daher ist nicht wahr--

die Staffel menschlicher Vollkommenheit erheben.

scheinlich, daß die in Rede stehenden Schlußworte ausschließlich oder vor­ zugsweise durch

das

Verhältniß

Fausts

zu Gretchen

als

illustrirt er­

scheinen sollten.

Wenn sich dieselben nun weder speciell auf Maria, noch auf Helena,

noch auf Gretchen*) beziehen, so muß aus der eigenthümlichen Natur des Weiblichen überhaupt ermittelt werden,

was Goethe

im

Sinne hat.

Die eigenthümliche Natur des Weibes zeigt sich nun theils in der höheren Empfänglichkeit, theils in der Fähigkeit, den Zeugungstrieb zu wecken,

und wenn wir letzteren

Begriff

im

Sinne des Faustdramas erweitern,

so werden wir auf den Begriff des begeisterten Schaffens überhaupt

geführt. meint

ist,

Es ist aber wiederum nicht wahrscheinlich, daß das Erstere ge­ die

nämlich

Empfänglichkeit

für

höhere

Empfänglichkeit.

Eindrücke des Erhabenen

In

hingebungsvoller

und Göttlichen

sind

die

Wenn sie einmal vom Idealen ergriffen

Frauen den Männern voraus.

sind, geben sie sich mit einer noch rückhaltloseren unbedingten Begeisterung

demselben hin, als die Männer.

uns hinanziehe,

sei

vollen Empfänglichkeit, welche Humanitätsideal,

Aber Goethe meint schwerlich, das, was

eine Nachbildung und Aneignung jener hingebungs­

auf welches

die Frauen auszeichnet. sein Faust

Aktivität, nicht auf weibliche Receptivität.

Denn das

ganze

hinführt, weist auf männliche

Es ist auch nicht anzunehmen,

*) Noch eins ist zn erwähnen, nämlich was Goethe im 1. Akt des 2. Theiles von den sogenannten Müller n sagt, ans deren nnterirdischem Reiche Faust die Schatten der Helena und des Paris hervorholt. Gemeint ist entweder die gebärende Natur­ kraft (man denke an Isis, Demeter u. s. w.) oder in Plato's Sinne an das Reich der Ideen. Aber die Stelle führt uns nicht weiter, da sie selbst sehr dunkel ist. Preußische Jahrbücher.

Bd. LVI. Heft 2.

13

Die Schlußworte des Goethe'schen Faust.

172

daß Goethe

hauptsächlich

au

die Ausdauer im Dulden,

die Treue im

Kleinen, die unermüdliche Opferfreudigkeit und Hülfsbereitschaft, die Frauen z. B. in Kranken-

und Armenpflege zeigen, denkt.

wäre dieser Gesichtspunkt vielleicht

wie sie

Trivial

aber

das ewig Weibliche kann

nicht in diesen engen Kreis hineingebannt sein.

Daher ist es wahrschein­

nicht,

licher, daß der Dichter die andere Seite meint.

Physisch

betrachtet ist

das Weibliche das, was nicht allein die Liebe, sondern auch den Zeugungs­

trieb des Mannes erregt.

Dem entspricht auf dem geistigen Gebiete jede

schöpferische Thätigkeit, die mit der Zeugung daS gemein hat, daß bei ihr der Producirende aus seinem eigenen Wesen producirt und daß sie mit Lust oder Begeisterung erfolgt, nachdem sie erregt ist.

Was nun ge­

eignet ist, diese wahrhaft männliche schöpferische Thätigkeit zu wecken, das

zieht uns hinan, weil nicht abstraktes Erkennen und ästhetisches Genießen,

auch nicht egoistisches Herrschen, sondern schaffende Thätigkeit unsere höchste Bestimmung ist.

ist schon gesagt. Weiblichen höheren

im

Warum es als das Weibliche bezeichnet werden kann,

Das ewig Weibliche aber steht im Gegensatz zu dem trivialen,

makrokosmischen

äußerlichen Sinne;

es ist das Weibliche int

und mikrokosmischen,

genug im kosmischen

Sinne, dasjenige Weibliche, was eine universale Bedeutung hat, was eine

Seite der ganzen physischen und moralischen Weltordnung ausmacht. Zu diesen Mächten, die geeignet sind, unsere begeisterte Thätigkeit zu er­ regen, hat Goethe gewiß die durch Maria repräsentirte Religion, gewiß auch die durch Helena repräsentirte Kunst gerechnet, vielleicht auch die Denn auch diese ist

durch Gretchen dargestellte ideale Geschlechtsliebe.

geeignet, eine Begeisterung zu wecken, die bei normaler Entwicklung die Thatkraft steigert, und am Anfang des 4. Aktes des 2. Theiles (V. 28) heißt es von dem Wolkengebilde,

„Wie Seelenschönheit

welches Faust

an Gretchen erinnert:

steigert sich die holde Form . . . und zieht das

Beste meines Innern mit sich fort".

Aber der Ausdruck lautet ganz

allgemein, daS ewig Weibliche umfaßt vielleicht noch mehr.

In der phy­

sischen Welt hat alles Unkultivirte, aber Kulturfähige, wie der Boden,

den Faust dem Meere abgewonnen hat, diesen Charakter des ewig Weib­ lichen,

weil schaffende Thätigkeit Hervorlockenden.

Ausdruck nicht auf das materielle Gebiet beschränken.

Nur darf man den

Wie dem auch sei,

man wird zugeben müssen, daß der Kern der im Vorstehenden gegebenen

Deutung auf das Schlußwort einer Dichtung paßt, von der heute feststeht,

daß sie die begeisterte Freudigkeit des thatkräftigen Schaffens und Arbei­ tens zum Besten der Menschheit als unsere wahre Bestimmung feiert.

Das Schicksal des deutschen Bauernstandes bis zu den agrarischen Unruhen des 15. und 16. Jahrhunderts. Bon

Karl Lamprecht.

Der Satz, daß der Bauer das beharrende Element im Staatsleben

bilde,

gehört mit zu denjenigen Gemeinplätzen, welche die politische Er­

fahrung jeden großen Kulturvolkes schon sehr früh auszuprägen

Pflegt.

In dieser Thatsache liegt das Anerkenntniß, daß es zu allen Zeiten na­

tionaler Entwicklung

eine tiefgreifende Umwälzung

Bauer unruhig zu werden beginnt:

bedeutet,

wenn der

greift er zur Waffe, schlägt er los,

so müssen Anlässe vorliegen, welche die elementarsten Leidenschaften auf­

Solche Anlässe sind für den Bauer nicht mit

zuregen im Stande sind.

vorübergehenden Schwierigkeiten und Verstimmungen, sondern nur mit

wesentlichen Abwandlungen aber die Entfaltung

der

ländlichen Zustände gegeben.

Nun ist

der ländlichen Kultur eilte im Vergleich zu

anderen wirthschaftlichen Entwickluitgen außerordentlich

langsame;

allen schon

deshalb, weil der Betrieb des Landbaus viel mehr wie jeder andere

wirthschaftliche

Betrieb

etwa

in

Gewerbe

Schranken und Bedingungen geknüpft ist.

und

Handel

an

natürliche

Die Industrie und theilweis

auch der Verkehr mögen die Grenzen der Jahreszeiten wie der Zeit über­ haupt in dem für dieselbe bisher jedesmal herkömmlichen Sinne durch­

brechen, sie mögen Arbeitskräfte von früher imgekannter Wucht und An­ zahl Einem Zwecke und räumlich engbegrenzten Zielen dienstbar machen:

die Landwirrhschaft vermag dies nicht.

Zwar hat sie in unserem Jahr­

hundert auf Grund wissenschaftlicher Fortschritte, namentlich in der Chemie,

wie in Folge der außerordentlichen Verschiebung aller Productionsbedingungen durch den Handel ihren Betrieb wesentlich erweitert: aber gleich­

wohl wird sie immer ungleich mehr, als jede andere menschlich-productive 13*

Dos Schicksal des deutschen Bauernstandes

174

Thätigkeit den Schranken bis

der Natur unterworfen bleiben.

vor etwa 100 Jahren vollzog sich aller Fortschritt

Namentlich

auf landwirth-

schaftlichem Gebiete nur allmählich; und für das Mittelalter wird man

etwa von der Zeit Karls d. Gr. ab bis zur

im Ganzen und Großen

Mitte des 14. Jahrhunderts einen ganz besonders langsamen Fortschritt der landwirthschaftlichen Technik behaupten können.

im 4. und 5. Jahrhundert zwischen Elbe,

Sehr natürlich.

Erst

unserer Zeitrechnung wurden die Germanen

Donau und Rhein wie in

landen völlig und endgültig seßhaft;

den linksrheinischen Römer­

erst seit dieser Zeit erwarben sie

volles Heimathsrecht durch unwiderruflichen Uebergang von einem Leben

in kombinirter Acker- und Weidewirthschaft zum reinen Ackerbau. Seitdem verzichtete man auf weitere Züge und auf ein theilweis in Raub

ausgehendes Erwerbsleben;

Plünderung

und

man sah sich zum ersten Male

mit den Augen des unverbrüchlich seßhaften Einwohners im Lande um, man begann zu roden, zu pflanzen, zu bauen. Diese Thätigkeit der ersten

förmlichen

und bald

leidenschaftlich durchgeführten Besiedelung umfaßte

4 bis 5 Jahrhunderte: auf der straffen Heranziehung der während dieser

Zeit errungenen nationalen Kräfte für die Zwecke des Staates beruht in

nicht geringem Maße die Größe der Karolingerzeit. Konnte man aber nun vom 5. bis zum 9. Jahrhundert neue und

einschneidende landwirthschaftliche Detailerfahrungen machen, während man so in's Große wirkte?

Galt es nicht vielmehr,

die nationalen, wie die

den Römern abgesehenen Wirthschaflskenntisse zur ausgedehntesten Besied­ lung zu verwenden?

Auch im eigentlichen Mittelalter der Ottonen, der Salier und Staufer

kam es noch immer nicht zu wesentlichen Vervollkommnungen des Acker­ baus.

Zwar

war jetzt

das Land

in unsäglicher Arbeit mit ungefähr

ebensoviel Ansiedelungen bedeckt als heutzutage; und die Umschaffung der sumpf- und urwaldstrotzenden Germania des Tacitus zu dem fruchtbaren Kulturland der Gegenwart wie schon der Humanistenzeit war im Rohbau

fertiggestellt.

Aber die Ansiedlungen waren klein, unscheinbar waren die

Fluren, weit dehnte sich Weide und Wald, und unermeßlicher als die Schätze

einer

mühsam

errungenen

Kultur

erschienen

noch

Gaben, welche die alte Natur des Landes freigebig darbot.

immer

die

„Dem reichen

Wald es wenig schadet, ob sich ein Mann mit Holze ladet"

behauptet

Vridanks Bescheidenheit noch in später Stauferzeit in straffälligem Ge­ gensatz zu den Forstpolizeigesetzen der Gegenwart.

Und so rodete man

denn weiter, nicht so sehr im Großen wie vor der Ottonenzeit, sondern im Ausbau der einzelnen Fluren.

Die kühnen Bahnbrecher,

Karolingerzeit noch massenhaft in

die Waldwüsten der Ardennen, des

welche zur

bis zu teil agrarischen Unruhen des 15. und 16. Jahrhunderts.

175

Schwarzwaldes, des Spessarts und anderer Gebirge gezogen waren, wie

sie sich einsam im Hochwald ihr Rott- und Brandland angelegt hatten, sehr im Widerspruch mit den großen Herren, denen der Witdbann ge­

hörte: sie wurden jetzt zahm und behaglich, Kinder und Enkel umspielten sie, und aus dem Rodehof der Waldeinsamkeit erwuchs langsam ein Weiler

mit wegsamer Dorfstraße, mit Häusern und Höfen und der Kapelle eines abgeschieden lebenden Waldbruders. Nicht minder erbreiterten sich nunmehr die frühbesiedelten schon von

Anbeginn größeren Dorffluren an den zugänglichen Berghalden und an

den Flußlehnen; und rascher noch als sie vermehrte sich ihre Bevölkerung. In der Stauferzeit hatte Deutschland zum ersten Male allgemein fühl­

baren Ueberfluß an Menschen; der Nahrungsspielraum verengte sich zu­ sehends, und der landwirthschaftliche Betrieb, immerhin noch der nahezu einzige Erwerbszweig, vermochte

dem

gesteigerten Andrängen

völkerung nicht mehr Genüge zu leisten. besserungen im Anbau ein,

der Be­

Zwar führte man einige Ver­

eine intensivere Bestellung rang der Natur

reichlichere Gaben ab als bisher: indeß diese Fortschritte verfingen nur langsam gegenüber der rapiden Zunahme der Bevölkerung und wurden deshalb nur mäßig und unzusammenhängend eingeführt.

Es blieb nichts übrig als auszuwandern.

Mächtig ergossen sich die

deutschen Siedelschaaren über die Elbe und in die böhmischen Waldge­ birge, sie zogen die Donau hinab und sie besetzten Mähren, das Weichsel­ gebiet wurde

im Ober-

und Unterlauf zugleich in Angriff genommen,

und weit nach Osten zu suchten die Leute des äußersten Westens, vom Rhein- und Moselland,

in Siebenbürgen neue Sitze.

Es war ein ge­

waltiges mehr als zwei Jahrhunderte lang dauerndes Drängen: fast zwei Drittel alles Landes,

in welchem heut die deutsche Zunge klingt,

wurde

damals erst erobert und was mehr heißt, besiedelt. Und

schließlich

doch

fand

der Ueberschuß

der Bevölkerung

nur Abfluß nach dem fremden Osten;

drängte man in der Heimath selbst den Städten zu.

zeiten

her

hatten

die Städte

theilweis

keineswegs aus­

nicht minder energisch

Von den Römer­

die Wohlthaten

einer höheren

wirthschaftlichen Kultur gewahrt oder vermittelt erhalten; noch glimmten in ihnen die letzten Spuren römisch-industrieller Ueberlieferung unter der sorgsamen Hut

namentlich

der Bischöfe und Aebte.

Die Nation

als

solche nahm erst jetzt an diesen wenigen Resten ernstgemeinten und selbst­ ständigen Antheil; erst jetzt begann das Handwerk zu einer ebenbürtigen

Schwester des Ackerbaus zu erwachsen, indem ihm die jüngeren ackerlosen

Söhne vom platten Lande her zuzogen.

Die Folge war eine etwa seit

Beginn des 12. Jahrhunderts rasch steigende Zunahme der Stadtbevölke-

Das Schicksal des deutschen Bauernstandes

176

rung, und gleichzeitig mit ihr, wenn auch theilweise auf Grund anderer das

Wirthschaftsbedingungen,

kaufmännischen Wohlstands;

erste Erwachsen

es ist bekannt,

städtischen Handels

und

daß die Städte von dieser

Doppelentwicklung aus sehr bald eine eigenartige Stellung sogar im po­ litischen Leben der Nation zu erreichen wußten. Somit war das platte Land entlastet: nach dieser Ausscheidung frei­

gewordener Elemente vermochte es den alten Zustand des landwirthschaftlichen Betriebs nahezu aufrecht zu erhalten; bis zum Schluß des Mittel­

alters wurden in dieser Hinsicht wesentliche Fortschritte nicht mehr gemacht. Es begreift sich, wenn unter der schützenden Dauer dieser äußern natür­ lichen Bedingungen

im Berfassungsleben

des platten Landes

Schluß des Bkittelalters Elemente eine Rolle spielen,

noch am

welche demselben

schon in der Urzeit vor anderthalb Jahrtausenden zugeführt waren: wenn man irgendwo

von verhältnißmäßig bedächtiger Entwicklung des Land­

lebens reden darf, so gewiß in der Geschichte der ländlichen Zustände des

deutschen

Mittelalters.

Gleichwohl

hinderte

natürlich

dieser

langsame

Verlauf der Entwicklung nicht, daß Deutschland am Schluß des Mittel­

alters eine der nachhaltigsten Bauernrevolutionen erlebte, deren die Ge­

schichte überhaupt gedenkt. sagten von vornherein,

Aber das versteht sich nach dem bisher Ge­

daß die tiefsten Gründe dieser Revolution nicht

localer oder zeitlich vorübergehender Natur gewesen sein können, wie man das noch neuerdings wieder, wohl gar unter Belastung der Reformation,

Es ist das ebenso falsch, als wenn man alle selbständigen

behauptet hat.

Folgen dieser Revolution leugnen und als ihr Ergebniß nur einen ver­

stärkten Rückfall wird

in

die

früheren Zustände behaupten will.

man sich daran gewöhnen müssen,

Reformationszeit den

Vielmehr

in den Bauernaufständen der

unausbleiblichen Versuch

eines

radikalen Bruchs

mit einer langen, nunmehr unleidlich und hoffnungslos gewordenen Wirthschaftlichen Vergangenheit zu sehen, geradeso wie man sich längst daran

gewöhnt hat,

in den Erscheinungen der Renaissance auf dem Felde der

Kunst, des Humanismus in den literarischen und wissenschaftlichen Be­ ziehungen, endlich der Reformation auf religiösem Gebiete nur Haupt­

strömungen einer und derselben Richtung zu sehen, deren Ziel die Ent­

wicklung der modernen Persönlichkeit gegenüber der gebundenen Indivi­ dualität des Mittelalters war. Bei solcher Auffassung schrumpft die Frage fast zu nebensächlicher

Bedeutung zusammen, ob denn die Bauern in den Aufständen des 15. und 16. Jahrhunderts, im Zeitalter Maximilians und Luthers mit den

Waffen in der Hand siegten oder nicht: die wirthschaftlichen Gestaltungen,

welche sich im Gähren dieser Aufstände vorbereiteten,

mußten die abge-

bis zu den agrarischen Unruhen des 15. und 16. Jahrhunderts.

177

standenen Bildungen des Mittelalters in jedem Falle ersetzen. viel ist zuzugeben,

Nur so­

daß der volle Eintritt der neuen Wirthschaftsorgani­

sation des platten Landes durch das Mißgeschick der bäuerlichen Kriegs­ erhebungen

erheblich verzögert

wurde;

in

der That sind

infolgedessen

nach vereinzelten Neubildungen in früherer Zeit große Reste mittelalter­ licher Kultur

auf dem platten Lande erst in unserem Jahrhundert ver­

schwunden. Wie radikal aber der grundsätzliche Bruch mit den mittelalterlichen Wirthschaftseinrichtungen

trotz

aller bäuerlichen

Niederlagen

schon

im

16. Jahrhundert und keineswegs erst mit der französischen Revolution war, mag kurz an einem der wichtigsten Punkte nachgewiesen werden.

Wir kennen heutzutage als Landgemeinde durchgehends nur die po­ litische oder Personalgemeinde; sie besteht im Allgemeinen aus allen er­ wachsenen selbständigen Personen des Ortes; ihr nächster Zweck ist die

politische Verwaltung ohne grundsätzliche Rücksicht auf landwirthschaftliche Interessen; sie ist ihrem Wesen nach von der Stadtgemeinde nicht ver­

schieden.

Die Person macht in ihr Alles, der Grundbesitz nichts.

Wie anders die spätmittelalterliche Landgemeinde. Sie hat keine all­

gemeinen staatlichen, sondern

nur locale wirthschaftliche Zwecke;

sie ist

eine Genossenschaft zum Landesanbau und zur Landesnutzung. Die Person gilt in ihr nichts, der Grundbesitz Alles; an ihn allein ist jede Gemeinde­

berechtigung der Personen gebunden. Es liegt auf der Hand, daß innerhalb der ländlichen Entwicklung

wohl kaum ein klaffenderer Einschnitt zu denken ist, als derjenige, welcher durch den Uebergang von der mittelalterlichen zur heutigen Landgemeinde

bezeichnet wird. Und eben dieser Uebergang beginnt sich schon im 16. Jahr­ hundert zu vollziehen,

zum deutlichen Beweis,

daß sich die mittelalter­

lichen Grundlagen trotz aller Bauernniederlagen nicht mehr halten ließen: die Freiheit der Persönlichkeit,

welche auf geistigem

Gebiete gewonnen

war, mußte schließlich doch dem materiellen Leben auch des Bauern zugute kommen. Sieht man aber geistige und materielle Entwicklungen innerhalb der Geschichte mit jenem Bewußtsein

ihrer fortwährenden Verquickung an,

welches die beobachtende Kenntniß der menschlichen Einzelexistenz zur Pflicht macht, und erblickt man demgemäß in den Bauernaufständen des Refor­ mationszeitalters nur

eine der vielen Convulsionen eines sich durchaus

vom Mittelalter loslösenden und scheidenden Zeitalters, so wird man die Anlässe zur Neubildung nicht mehr in einzelnen Thatsachen des 15. Jahr­

hunderts, sondern vielmehr im ganzen Entwicklungscharakter der ländlichen

Kultur des Mittelalters suchen.

Das Schicksal des deutschen Bauernstandes

178

Gehen wir hier auf die älteste nur in römischer Ueberlieferung zu­

gängliche Zeit zurück, so fallen uns die einfachen und strengen Züge einer noch urzeitlichen, durchaus im Schooße der politischen und militärischen

Einrichtungen geborgenen Agrarverfassung in die Augen.

In den Zeiten

des Caesar und Tacitus war der Deutsche vor Allem Krieger; mit dem Speere suchte

fassung.

er seinen Erwerb,

Die Heereseintheilung

Grundlage;

militärisch war

auf

beruhte

staatliche Ver­

seine

der denkbar

natürlichsten

Geschlechter und Sippen bilderen ursprünglich die einzelnen

Heerestheile,

gemeinsam wahrten die Verwandten ihr gleiches Blut in

Abwehr und Angriff.

Diese durch Geschlechtsbeziehungen

zusammenge­

haltenen Heerestheile aber waren zugleich die Pfeiler für den Aufbau der Staatsverfassung: wie jeder

einzelne

derselben

die Grundlage

für

ein

Gericht abgab, so bildeten sie vereint das höchste Gericht und die gemeine

Staatsversammlung.

Das Heer als solches war der Souverän, und auch

in seinen Theilen fielen wiederum militärische und gerichtliche Pflichten und Funktionen zusammen.

Nur

die Personen bildeten

auf

diese Weise

in ältester Zeit

den

Staat; der Staat zog mit ihnen auf ihren Wanderungen, er war landund

gebietlos.

Indeß allmählich wurde

besitz der ältesten,

zum Herdeu-

man seßhafter;

noch nomadisirenden Zeit und zur kriegsgewonnenen

Fahrhabe kam das Land als unverrückbares Besitzthum.

Der Germane

sah diese neue Beute zunächst ebenso an wie jede Beute anderer Art; alle

Krieger, d. h. alle selbständigen Freien hatten ein wohlerworbenes Recht

auf ihu,

und die Heeresversammlung verlieh jedem Volksgenossen

den

verdienten Antheil.

Nun aber unterschied sich diese Beute der Natur der Sache nach doch in einem Punkte sehr von jedem anderen Kriegserwerb; wenn auch mit

dem Speer in heißem Kampf errungen, war sie doch ein ohne Weiteres nur wenig einträglicher Besitz, sie verlangte, um nutzbar zu sein, nochmaligen friedlichen Kampf mit Pflug

denn

alle Mühe

der Volks-

und Egge.

und Heeresgenossen,

So

wandte

nachdem

einen

sich

der ruhige

Besitz des Landes nach außen gesichert war, diesem neuen inneren Kriege gegen die feindliche Unkultur des Bodens zu;

hier galt es in wieder­

holtem, nicht geringerem Mühen, wie gegen äußere Gegner,

das Land

erst wirklich zur Heimath umzuschaffen: nicht umsonst bezeichnete unsere Sprache einst Kampf und Ackerbau mit demselben Worte Arbeit.

Für

diesen inneren Kampf wurde die alte Heeresgliederung zum letzten Male vor ihrem völligen Verfalle aufgeboten.

Wie sie in gemeinsamem Ringen

während der Schlacht zu einander gestanden hatten, so besetzten die ein­

zelnen Heeresabtheilungen jetzt in gemeinsamer Ansiedlung das Land, und

bis zu den agrarischen Unruhen des 15. nnd 16. Jahrhunderts.

kultivirten, meist von Einem Orte aus, die occupirten Bezirke.

179 Ja in

ältester Zeit war das kameradschaftlich-verwandtschaftliche Bewußtsein vielleicht

noch so stark, daß man gemeinsam rodete, gemeinsam anbaute, gemeinsam

erntete.

Je mehr indeß die Wildheit des Landes überwunden schien, je

weniger der Einzelne auf die Hülfe Aller angewiesen war, um so stärker

schwand

der

alte Zusammenhang.

Schon

längst

war zumeist die Er­

innerung an die alte Blutsgemeinschaft erloschen, durch fremd eingesprengte Elemente verwischt und durch Auszug zugehöriger Mitglieder ihrer Aus­ schließlichkeit beraubt; jetzt begann auch der alte militärische Charakter der

urzeitllchen Organisation zu verblassen.

Die Krieger wurden neben ihrer

zunächst noch fest gewahrten militärischen Eigenschaft doch vor Allem zu

Bauern, die Heeresabtheilung zur Dorfgemeinde, die Kameraden zu Markund Flurgenossen.

Aber Ein Moment sollte auch ferner für alle Zeit an

die alten Verhältnisse erinnern: die Vertheilung des Grundbesitzes. es Heeresgenossen geziemt,

war das erbeutete Land in gleicher Berück­

sichtigung Aller verloost worden:

jeder Krieger erhielt genügendes Land

zur Ernährung seiner Familie und seines Hausgesindes,

Betrieb dieser Wirthschaft

und Weide,

Wie

nothwendigen

in Jagd und Fischfang.

sowie die zum

gemeinen Nutzungen in Wald

Diese gleichen Theile,

Hufen ge­

nannt, wurden dem gerodeten Boden durch Ackertheilung auf's Festeste ein­ verleibt: sie hielten sich weit über die Dauer der alten Heeresverfassnng

hinaus,

und noch heute scheinen Spuren ihres Daseins in den Aeckern

unserer Dorffluren unauslöschlich durch. Es liegt indeß auf der Hand, daß diese ganze agrarische Organisa­

tion, so unverbrüchlich ihre Umrisse erhalten blieben, dennoch unter dem Drucke

stets wachsender Bevölkerungsmengen gar

bald grundstürzenden

Aenderungen im Innern unterliegen mußte. Zur Beurtheilung Eingehens auf die Art, Flur anbauten.

dieser Aenderungen

bedarf

es

eines genaueren

in welcher die germanischen Dorfgenossen ihre

Es geschah das so,

daß sämmtliche Genossen zunächst

irgend ein fruchtbares Stück der Flur von ziemlicher Größe gemeinsam rodeten: von dem gesammten Rottumfang erhielt jeder Genosse ein gleich-

werthiges Stück zugetheilt.

Reichte das erste gerodete Stück nicht mehr

aus, so nahm man ein zweites, drittes, viertes in die gleiche Behand­ lung.

Natürlich wählte man alle diese Stücke,

welche fast überall in

Deutschland Gewannen heißen, in der Nähe des Dorfes; denn hier waren

sie am einfachsten zu schützen und zu erreichen:

und

so bedeckte sich all­

mählich die engere Umgebung des Dorfes mit fest aneinanderschließenden

Gewannen,

in deren jeder alle Genossen mit dem Besitze eines glcich-

werthigen Ackerstückes vertreten waren.

Ein in sich durchaus rationelles

Das Schicksal des deutschen Bauernstandes

180

und der Organisation der Dorfbewohner durchaus entsprechendes System:

konnte der gebundene Wirthschaftscharakter des Einzelnen, seine enge Ein­ bettung in die konstante Wirthschaftsweise der Genossenschaft wohl besser

zum Ausdruck gelangen,

Kette der Ackerstücke,

als in der durch alle Gewannen hinlaufenden

in der bunten Gemengelage der Aecker jedes Ein­

zelnen, welche eine Bewirthschaftung außerhalb des Schutzes und der Auf­

sicht der Genossenschaft nicht gestattete? Aber gerade dieser enge Schluß der ganzen agrarischen Anlage band die Markgenossen gegenüber dem Andrängen einer sich rasch vermehrenden

Bevölkerung;

Theilung einer

in diesen Fluren ließ sich keine Hufe zusetzen;

Hufe

sogar die

war mit großen Schwierigkeiten verknüpft.

So

wurde der unabänderliche Bau der Flurverfassung, dem Bater noch eine Wohlthat, schon den Söhnen zur Plage:

nur Ein Familiensohn fand in

dem Dorfe den gleichen Raum, wie ihn der Bater genossen; die übrigen waren gezwungen, aus dem Dorfe zu weichen.

Aber noch bedurfte es zu solcher Auswanderung keines großen Wag­ nisses und langen Besinnens.

Die Bezirke,

in welchen eine ursprüng­

liche Heeresabtheilung sich in einer oder mehreren Dorfschaften heimisch gemacht hatte, besaßen den beträchtlichen Umfang meist mehrerer Quadrat­ meilen; vor fast jedem Dorf dehnte sich noch Urwalddickicht in verschwen­

derischer Fülle.

In seinem Dunkel verschwand

das jüngere Geschlecht,

bald hallte der Wald von der Axt wider und über den Baumeswipfeln

schwebten Wolken dichten Rauches;

nur wenige Wochen, und in Roden

und Sengen war eine neue Ansiedlung gewonnen.

Aber auch diese neuen

Sitze wurden wieder wie die alten Fluren angelegt; auch für sie bestand daher eine geschlossene Anzahl von Hufen und damit die Nothwendigkeit

für deren Ausbau.

Auf diese Weise

trieb

jede Generation die nächst­

folgende oder wenigstens eine der nächstfolgenden wiederum der überwie­

genden Kopfzahl nach mir Axt und Feuer in den Wald;

eine progressiv

immer stärkere Lichtung und Besiedlung auch bisher entlegener Landes­ bis man spätestens im 8. Jahrhundert bei der

theile wurde angebahnt,

Unmöglichkeit eines weiteren Ausbaues im bisher verfolgten System an­

gelangt zu sein schien.

Damit erhob sich die bedrohliche Frage nach dem

Schicksal künftiger Generationen. Es ist von Interesse zu sehen, wie man eine Lösung zunächst in Veränderungen der Flurverfassung versuchte.

Hatte man die einzelnen Ge­

nossenantheile, die Hufen, bisher in innigster gegenseitiger Verkettung und

Verquickung angelegt, so wurde nunmehr die Forderung absoluter Trennung

der Antheile verwirklicht.

Einer einzigen Straße entlang reihte man die

Hufen, jedes Areal für sich und-in ihm den zur Hufe gehörigen Bauern-

bis zu den agrarischen Unruhen des 15. und 16. Jahrhunderts.

181

Hof, gleich Perlen an einem Faden, auf, und legte die gemeinsame Weide und den Wald rings um das so entstehende bandartige Gebilde.

Diese

neue Anlageform existirte schon in der Karolingerzeit, z. B. im Odenwald; ihr wichtigster Vortheil bestand in der Möglichkeit, durch Neuanlage an beiden Dorfenden die Hufenzahl in ziemlich weiten Grenzen zu erhöhen.

Trotz dieser außerordentlichen Vortheile ist indessen die Vermuthung nicht

begründet, daß den jüngeren Generationen mit der Entdeckung dieser neuen

Anlageform geholfen gewesen sei. Es ergiebt sich hier eine Erscheinung von großem geschichtlichem In­ teresse: die neue Anlageform ist im frühen Mittelalter nur wenig benutzt

worden.

Vielleicht deshalb, weil man sie nur an wenigen Orten kannte?

Aber sie ist gleichwohl im 12. und 13. Jahrhundert für die Kolonisation

des deutschen Ostens von der Elbe ab das durchaus maßgebende System gewesen.

Oder etwa deshalb, weil sie sich nur im flachen Lande Nord^

ostdeutschtands verwenden ließ?

Indeß sie sindet sich später auch ganz ge­

wöhnlich auf den schroffen Abhängen des Erzgebirges und der Sudeten. Der wahre Grund für ihre Vernachlässigung vor dem 12. Jahrhundert wird

vielmehr

in

der

wirthschaftlichen Unreife

der

zu

Bauernschaft

suchen sein. Die neue Hufe mit ihrer freieren Anlage forderte eine kräftige Wirthschaftsindividualität, welche sich vom genossenschaftlichen Gängelbande

hier und da zu lösen vermochte,

sie verlangte eine freie Initiative und

eine hochentwickelte Fähigkeit des Wettbewerbs:

Eigenschaften, welche der

alte Genossenschaftsbetrieb grundsätzlich nicht aufkommen ließ, welche erst die zunehmende Verengung des Nahrungsspielraums im 12. und 13. Jahr­

hundert bei den Siedelfahrern des Ostens zeitigte. So blieb denn die Errungenschaft des neuen Ftursystems auf längere

Zeit hindurch nur ein großer Zukunft aufgespartes Kuriosum,

und den

Bauern schon des fränkischen und Karolingischen Zeitalters und noch mehr

des 10. und 11. Jahrhunderts blieb nichts übrig, als zu theilen.

Das

hieß die Einleitung des wirthschaftlichen Bankerutts des altfreien Bauern­

standes.

Und das Unglück wollte,

daß sich gleichzeitig andere Entwick­

lungen vollzogen, welche ebenfalls die ursprüngliche Harmonie der mark-

genössischen Zustände untergraben mußten. Die alte souveräne Heeres- und Volksversammlung der Taciteischen

Zeit hatte, wie wir schon sahen, ein Verfügungsrecht über das Land, wie über jede andere Kriegsbeute besessen.

Diese Souveränetät war nunmehr

an die fränkischen Könige übergegangen, und damit auch das Verfügungs­ recht über Grund und Boden.

Ein Recht, das von den Königen der

Merowingischen und Karolingischen Zeit gründlichst ausgenutzt wurde.

Damals lagen die großen Waldgebiete in Mitteldeutschland noch wüst,

Das Schicksal des deutschen Bauernstandes

182

noch war

des Menschen Fuß nicht in die

höheren Alpenthäler vorge­

drungen, der Böhmerwald blieb noch bis zur Hussitenzeit in seiner Un­

wegsamkeit das Hauptvertheidigungsmittel des Landes, und Schwarzwald Solche unwirthliche Gegenden

und Bogesen bildeten meilenweite Einöden.

überspannte jetzt vor Allem das BerfügungSrecht des Königs; sie wurden zu Königssorsten gemacht und sahen immer häufiger jene großen Jagd­

auszüge des königlichen Hofes, deren einen so traurigen Ausgangs das Aber die hohen Reichsbeamten, die Grafen und

Nibelungenlied schildert.

Herzöge, empfanden das gleiche Bedürfniß ungemessener Jagdlust wie ihr Herr, und der König

indem er Waldstrecken

kam demselben entgegen,

von der Ausdehnung vieler Quadratmeilen dem Wildbann der Großen

zuwies.

Das bedeutete den Uebergang alles Hochwaldeigenthums in die

Hände der überreich Beschenkten; ihnen stand nunmehr die Erlaubniß zur

Anrodung in Bergeshöhen und Waldestiefen zu; und die Siedelleute der Bannwälder wurden Hörige der neuen Grundherren.

Aber auch in's Kleine ergossen sich die Gewalten, welche dem Kenig der Bolksversammlung über Grund und

aus dem alten BerfügungSrecht

Boden überkommen waren.

Der

rüstete

König

ihm nahe stehende Ge­

die so privilegirten Bkannen erschienen

treue mit Rodungspatenten aus;

in irgend einer Mark, die ihnen zur Ansiedelung gut erschien, und rück­ sichtslos,

ohne Anhören

der

alten Dorfgenossenschaften, begannen sie in

derselben zu roden und zu bauen.

Die Folgen all die ernstesten.

dieser Vorgänge

waren

im 8. Jahrhundert

schon

Infolge der vielfach nothwendig gewordenen Theilung der

alten großen Hufengüter, wie auf Grund der Einwirkung der königlichen

Bodenrechte hatte sich eine ungeheure Verschiebung des Grundbesitzes und damit des einzigen wirthschaftlichen Machtmittels unter den Volksgenossen

vollzogen.

Ursprünglich

hatte

Gleichheit

Grund und Bodens geherrscht,

wie

vertheilung des Landes ergab;

jeder

sie

im

des

Genuß

nationalen

sich nothwendig aus der Beute-

besaß gleich viel, nur wenige Vor­

nehme standen an Schwere der Pflichten wie Nutzungswerth des Besitzes über der gleichförmigen Masse

Im 8. Jahrhundert war

der

freien kriegsbereiten

der freien

der Stand

an vielen Orten nahezu zerstört;

über

besitz strotzende

der

neue

Amtsadel,

ihm

sich

Gewalten und dem freien Verwaltungsrecht

adelnden Verkehr

am Herrscherhofe,

und

Volksgenossen.

gleichen Dorfleute

erhob

sich der von Grund­

politisch

aus den souveränen

des Königs, social aus dem

materiell

aus

dem

immer offenen

Beutel königlicher Milde gebildet hatte; und unter ihm stand die große Masse der minderfreien Leute, in den mannigfachsten Abstufungen schon vorhan­

dener oder zukünftig drohender Abhängigkeit vom neugebildeten Amtsadel.

bis zu den agrarischen Unruhen des 15. und 16. Jahrhunderts.

183

Und neben der weltlichen Aristokratie der Laien stand noch die geist­

liche des Klerus.

Bildung war zu allen Zeiten und ist auch noch in der

Gegenwart trotz Volksschule und Schulzwang verhältnißmäßig theuer, nie

ist sie

theurer

wahrscheinlich

Wirthschastsbetrieb

hunderts den

Familienklosters

in

wie

gewesen

in

den Zeiten der späteren

Wir kennen aus dem Ende des 9. Jahr­

Merowinger und Karolinger. der Eifel;

der Abtei

Prüm,

des Karolingischen

Veranschaulichung desselben sei hier

zur

angeführt, daß in ihm jährlich, soweit eine Kontrole aus den Detailan­ gaben noch möglich

ist,

die Mast von

6300 Scheffeln

Aussaat von

Hufen gehörten zu ihm,

etwa 6700 Schweinen sowie die

Getreide

von welchen

vorgesehen

1600 hörige

war;

jährlich 125000 Frontage auf die

Aecker der Abtei geleistet wurden, und allein die Einnahme an Zinseiern betrug jährlich 20900 Stück.

Es

sind Zahlen,

wie man sie heute auf­

stellen würde, um etwa eine kleine Stadt zu verproviantiren. Erfolg im 9. Jahrhundert?

Mönchen,

von

Und der

Die Ernährung von im Ganzen etwa 180

denen 100 zugleich

und Behauptung einer Bildung,

Priester waren, und die Bewahrung

welche

nach den erhaltenen schriftstelle­

rischen Elaboraten der guten Mönche

des 9. Jahrhunderts zu urtheilen,

eine auch für diese Zeit nicht gerade

überschwängliche war.

kann kein Zweifel sein,

daß

Gleichwohl

die Prümer Zustände ganz gewöhnliche, die

Verwendung der abteilichen Mittel eine normale und gewissenhafte war.

Man

muß

sich

erinnern, daß die kirchliche Bildung keine aus der Zeit

erwachsene, sondern eine

aus

längst

verflossenen Jahrhunderten höherer

Kultur importirte war, und daß sie nur mit äußerster Anstrengung gegen­ über der Barbarei der Umgebung aufrecht erhalten werden konnte.

Da­

her unterlag sie den hohen Preisen, welche alle Zeit für jeden räumlich oder zeitlich

importirten Werth gegolten

haben.

Die Kirche

aber

als

Stützerin dieser Bildung — das ergiebt sich als nothwendige Folgerung

— mußte reich, sehr reich sein; die von Christus gepredigte Armuth hätte ihren Untergang bedeutet; erst das 13. Jahrhundert, dessen Bildung schon zum guten Theile aus der eigenständigen nationalen Entwicklung der germanisch-romanischen Völkerfamilie hervorwuchs, sah eben deshalb die Erschei­

nung der Bettelnden.

Und es liegt auf der Hand, daß mit dem vollen

Erwerb einer nationalen und freien Bildung im 16. Jahrhundert für die

Kirche im Sinne Christi mit dem alten Privilegium ausschließlicher und importirter Bildung zugleich jeder Grund für einen abnormen Vermögensstand wegfiel: mit demselben Recht, mit welchem das frühe Mittelalter der Kirche

fast ungemessene materielle Mittel zur Verfügung

gestellt

hatte,

haben

sich die Reformatoren des 16. Jahrhunderts gegen den gleißenden und

nunmehr lügnerischen Reichthum eines hierarchischen Systems gewendet.

184

Das Schicksal des deutschen Bauernstandes

karolingische Zeiten

Für merowingische und

bestand geradezu

aber

die heilige Pflicht der Laien und vor allem des Königs, die Kirche aufs stattlichste zu dotiren; sie kamen ihr nach, und da der Reichthum in jener

Zeit nur in Grundbesitz besitzerin.

Neben

bestand,

den

wurde

so

der

Amtsadel

die Kirche zur Großgrund­

trat

Laien

die

Hierarchie

der

Bischöfe und Aebte; auch sie wurde mit fruchtbarem Kulturland wie mit

in Wald und Oede ausgestattet, und auch

vielen Quadratmeilen Landes

in geistlichem Wildland erhoben sich grundhörige Siedelungen. Die Bildung des geistlichen und weltlichen Adels war in der Karo-

tingerzeit

so

Organisation

weit

des

ja

fortgeschritten,

abgeschlossen,

daß

sich

an

eine

ihm unterstehenden Grundeigens denken ließ; die ein­

zelnen Besitzungen werden

jetzt

gestaltet, gleichviel ob sie aus

einem

zu

einzigen großen Aufbau aus­

altem Hausbestand

oder aus ursprünglich

freiem Einzelbesitz herstammten, dessen Inhaber sich in adlichen oder kirch­

Schutz begeben

lichen

hatten:

und

auch

das

grundhörige

neu aufge­

nommene Rottland in Waldestiefe wurde dem neuen System eingeordnet.

Das Verdienst

vollendeter

dieser

Allsbildung

neuen

Organisation ge­

bührt vor Allem Karl dem Großell, einem der größten Verwaltllngsgenies

in einer seiner berühmtesten Verordnungen,

des Mittelalters überhaupt:

liegt ein

vermuthlich vom Jahre 812,

abgeschlossenes Bild

der

neuen

grundherrschaftlichen Einrichtungen vor. Der Besitz der Grundherren

lag nicht nur an wenigen Orten, wie

etwa heutzutage das in Domänen concentrirte Landeigenthum des Staates

oder der großen Standesherren:

für die Verwaltung unserer Domänen

ausgedehnten

bedarf es einer so

nur eine Zeit hoher Kultur

Centralisation des Betriebes, wie sie

leisten kann.

des Königs, des Adels, der Kirche welcher das Land

Vielmehr elltsprach der Besitz

im Mittelalter durchaus der Art, in

von den Einzelkräften der freien Volksge­

bis dahin

nossen besiedelt worden war; weit zerstreut durch viele Dörfer, schon bei

kleinen Grundherrschaften

in

einem

Umfang

von 30 bis 40 Quadrat­

meilen, verlief sich der grundherrliche Besitz in einzelne Hufen und Feld­ flächen.

Und das Landeigen hervorragender Grundherrschaften war noch

ganz anders zerstreut.

Güter der Abtei Prüm Z. B. reichten, in

Die

viele hunderte von Dörfern

zu dem holländischen

zersplittert,

Rheindelta und

von

von den

der Neckarmündung

Quellen der

bis

Lahn bis

Angers und Rouen.

Für diesen Besitz also

galt

es

geschlossene Organisation aufzustellen.

zur Karolingerzeit

eine in sich ab­

Sie konnte selbstverständlich nicht

auf die Errichtung großer Rittergüter hinauslaufen, sondern nur auf die Einrichtung gewisser Steuer- und Zinseinnahmestellen und die Ausbildung

bis zu den agrarischen Unruhen des 15. und 16. Jahrhunderts.

eines geregelten Transportwesens,

um den

nahmestellen an Naturalproducten

an

schaffen.

der

Erlös

den Sitz der

Zu diesem Zwecke bildete man

185

einzelnen

Ein­

Grundherrschaft zu

überall, wo eine Anzahl von

Hufen derselben Grundherrschaft in benachbarten Dörfern zusammenlagen,

einen besondern Verband

dieser hörigen Hufen

im Hauptort als Mittelpunkt;

mit

einem Bauernhöfe

und diesem Haupthofe wurde ein grundr

herrlicher Beamter vorgesetzt, der Meier,

welcher die Zinse

Meierhof ressortirender Grundholden in Empfang nahm

und

aller vom für deren

richtige Ablieferung an den Grundherrn sorgte. Der erste Blick schon zeigt es: diese

nicht so sehr

mit

grundherrliche Verwaltung ist

unserm Rittergutsbetrieb,

wie

vielmehr

mit unserer

Steuerverwaltung zu vergleichen, nur daß die Steuern und Zinse nicht in

Geld, sondern in den mannigfachsten Raturalprodukten abgeliefert wurden. Aber bildeten die

indem sie sich zu

größern Grundherrschaften dieser für

straffen Organisation ausgestalteten?

bis

außerordentlich

Mußten sie nicht mit dem Verfall

alles politischen Bestehens im 9. Jahrhundert, Ohnmacht noch

nicht Staaten im Staate,

mittelalterliche Verhältnisse

in den Zeiten staatlicher

tief in's 10. Jahrhundert hinein die triftigste Ver­

anlassung empfinden, auf Grund ihrer weit verzweigten Decentralisation

die lokale politische Verwaltung an sich zu reißen, welche der Staat doch nicht mehr leistete?

Der Staat kam diesen natürlichen Strebungen der Grundherren ent­

gegen.

Er übertrug den Grundherren in einer langen Reihe von Einzel­

privilegien die Vollmacht, fast alle staatlichen Rechte gegenüber den grund­ hörigen Leuten ihres Besitzes selbst zu vertreten; er dankte zu Gunsten der

Grundherren ab. Aber während der Staat so an sich selbst verzweifelte, bestanden noch

auf dem platten Lande die Reste uralter politischer Bildungen, wie sie die freien Volksgenossen geschaffen hatten: und diese Reste mußten den grund­ herrlichen Ansprüchen entgegentreten oder wenigstens passiven Widerstand

leisten.

Wir sahen früher, daß sich stets je eine Heeresabtheilung, welche zu­ gleich den Rahmen eines Gerichtes bildete, gemeinsam anzusiedeln pflegte:

die Ansiedler jeder Mark waren also zugleich die Genossen eines gemein­

samen militärischen, politisch-gerichtlichen und wirthschaftlichen Verbandes. Oft saßen sie ursprünglich in nur einem Dorfe, bisweilen in mehreren;

aber ihr Gebiet reichte unter

allen Umständen weit über den Umkreis

dieser Heimstätten hinaus, nicht selten umfaßte

Quadratmeilen.

es

eine Anzahl

von

In diesem Umfang lag das natürliche Siedlungsgebiet

der Söhne und Enkel der ursprünglichen Eroberer: die ganze Mark stand

Das Schicksal des deutschen Bauernstandes

186

ihnen offen und wurde von ihnen im Laufe der Jahrhunderte

reichen Ansiedelungen bedeckt.

Aber

wo

mit zahl­

sie auch immer innerhalb der

Mark Neuland aufnehmen, überallhin trugen sie zugleich den alten Ver­ band der Mark:

dem ursprünglichen Verfassungsgedanken gemäß sollten

die Einwohner von Mutter-, Tochter- und Enkeldörfern ein und derselben Heeresabtheilung, ein und demselben Gerichtsverband, ein und derselben

Wirthschaftsgemeinde angehören.

Eine Forderung,

welche theilweis an

politischewirthschaftlichen Entwicklungen, theilweis an der rapiden Zunahme der Bevölkerung scheiterte.

Schon im 8. Jahrhundert war der freie Volksgenosse durchschnittlich

um

zu arm,

den gewaltigen Anforderungen der Karolingischen Politik

militärisch gewachsen zu sein;

vom Aufgebot der deiltschen Bauern nach

Spanien oder Italien, nach den sächsischen Flachlanden oder den avarischen Pußten mußte man absehen: hier konnten nur reisige Leute im Lehnsver-

bande zu kriegerischen Erfolgen verhelfen.

So witrde der Bauer schon

im 8. und 9. Jahrhundert halb und halb aus der Heeresverfassnng hin­ ausgedrängt;

im 10. und 11. Jahrhundert

schlug

er,

wenigstens unter

Königsbanner, feine letzten Schlachten; seitdem wurde er als ttnkriegerisch

Man kann sich die Einbuße kaum verhängnißvoll genug vor­

angesehen.

stellen, welche der Bauer mit dieser Ausscheidung aus dem Heeresverbande

erlitt.

Die älteste nationale Verfassung, auf deren Grundlage sich der

Bauer des Mittelalters in seinem Kampfe gegen neuere Bildungen stellen

mußte, war eine ursprünglich fast ausschließlich militärische gewesen; jetzt ging ihm dieser Kernpunkt und damit die innerste Weihe seiner politischen

Berechtigung verloren.

Es ist kein Zufall, wenn die Gewährung politi­

scher Gleichberechtigung und wirthschaftlicher Freiheit

für den Bauer

im

Beginn unseres Jahrhunderts mit der Einführung der allgemeinen Wehr­ pflicht zusammenfiel; hier wurden nur älteste und tiefste Grundlagen er­

neuert,

und

das

deutsche Volksheer der Gegenwart kann in feiner na­

tionalen Anlage auf eine zweitausendjährige,

nur

lang und unglücklich

unterbrochene Vergangenheit zurückschauen.

Bon diesem Standpunkte aus läßt sich begreifen, wie empfindlich mit dem Verlust kriegerischer Ehre und Pflicht zugleich die politischen Rechte des Bauernstandes geschädigt werden mußten.

Von jeher hing nach deut­

scher Anschauung namentlich Heerespflicht und Gerichtspflicht zusammen; nur der freie Krieger war befähigt, über seine Genossen das Urtheil zu sprechen.

Da liegt die Folgerung nahe genug, daß mit dem Untergang

der ländlichen Heeresverfassung auch die Gerichtsverfassung der alten Zeit zu Grunde gehen mußte, wie sie bisher in selbständiger Ausübung inner­ halb jeder Besiedelungsmark gepflegt ward.

bis zu den agrarischen Unruhen deS 15. und 16. Jahrhunderts.

187

In der That ist das mit wenigen Ausnahmen der Gang der Dinge gewesen.

Ueberall drangen die Grundherren, Laienadel wie Hierarchie,

in die alte freiheitliche Gerichtsorganisation des Platten Landes ein; hatten

sie sich ursprünglich damit begnügt,

nur ihre grundhörigen Bauern aus

den alten Gerichtsbezirken auszuscheiden und zu besonderen Gerichten mit ihren Meierhöfen als Mittelpunkt zusammenzuschweißen,

so

griffen

sie

bald auch, umfassender schon im 10. und 11. Jahrhundert, in die durch die grundherrlichen Ausscheiduugeu bereits

trümmerhaft gewordene Ge­

richtsverfassung der Freien ein und brachten allmählich fast überall ihre

eigene Gerichtsherrlichkeit zur Geltung. So war denn die frühere Harmonie militärischer, gerichtlicher und

wirthschaftlicher Interessen innerhalb der alten Besiedelungsmarken spätestens

mit dem Schlüsse der Stauferzeit endgültig geknickt und verloren*).

Die

politischen und kriegerischen Rechte waren dem Bauer genommen,

ohne

sie aber hatte seine wirthschaftliche Autonomie keinen Halt.

Zudem war

die alte Organisation der wirthschaftlichen Interessen durch den Ausbau

der Mark unter dem Drucke fortwährender Bevölkerungszunahme in sich zerstört und völlig zerrüttet. Ursprünglich Quadratmeilen,

hatte

es

in jeder Mark,

auch solchen von mehreren

nur Eine Vertretung und Eine Regelung des fast noch

durchaus genossenschaftlichen Wirthschaftslebens gegeben: alle Heeres- und Gerichtsgenossen waren zugleich Markgenossen gewesen:

gemeinsam hatte

man über den Acker verfügt, wie über Wald und Weide, und genossen­

schaftlichem

Beschluß

unterlag

der Anbau wie

die Ernte des Jahres.

Aber jetzt waren der Ansiedelungen gar viele geworden; die Bevölkerung

der Mark war von Hunderten auf ebenso viele Tausende gestiegen;

der

deutsche Genossenschaftsbegrisf, der nicht bloß gemeinsame Ziele genossen­ schaftlicher Thätigkeit, sondern volle Lebens- und Erlebensgemeinschaft vor­ aussetzt, war auf diese Massen nicht anwendbar.

Die alte Wirthschafts­

genossenschaft zerplatzte unter dem Drucke progressiver Bevölkerungszahlen; an Stelle der einen Bildung traten Dutzende von Wirthschaftsgenossen­ schaften; jedes Dorf schuf sich seine eigene Organisation, die alte Mark­

genossenschaft wurde zur lokalen Dorfwirthschaftsgemeinde vereinzelt. Vorgang von weitgreifenden Folgen.

Ein

Indem die alte eine und untheil-

bare Wirthschaftsgenossenschaft sich auflöste,

verschwand zugleich der für

*) Die Bedeutung der Entwicklung der Heeresverfassung für die Geschichte des Bauern­ standes, auch im späteren Mittelalter, hat neuerdings in diesen Jahrbüchern Bd. 53 S. 547 f. besonders Delbrück in seinem Aufsatze über historische Methode (gegen Janssen) hervorgehoben; die dort S. 544 ff. gegebene Uebersicht der Gründe für die Entstehung der bäuerlichen Revolutionen des 15. und 16. Jahrhunderts legt auch sonst Vergleiche mit dem oben behandelten Thema nahe. Preußische Jahrbücher.

Bd. LVI.

Heft 2.

14

188

Das Schicksal des deutschen Bauernstandes

die älteste Zeit so überaus bezeichnende Zusammenhang politischer und

wirtschaftlicher Berechtigungen: das Leben der Wirthschaftsorganisation pulsirte nicht mehr in demselben Körper,

richtßorganisation angehörten;

welchem die Heeres- und Ge-

es war auf kleinere Besiedlungseinheiten

innerhalb der alten Mark herabgesunken, und die freie Kraft kam ihm

nicht mehr zu Gute, welche dem Bauernstande einstmals aus der harmoni­

schen Anlage

aller großen Lebensinteressen fast in Ueberfülle zuwuchs.

Es kann nicht Wunder nehmen,

wenn nunmehr die neue von keinem

großen Trieb mehr getragene Wirthschaftsgemeinde der Einzelansiedlung

dem egoistischen Drängen widerstand.

der

grundherrlichen Kräfte nicht lange mehr

Der Grundherr, welcher Grundhörige im Dorfe besaß, über-

vortheilte durch dieselben die schwache Zahl der selbständigen Dorfgenossen;

die Berfügungsfreiheit der vereinzelten Dorfgemeinde verkümmerte

zu­

sehends, und die Ansprüche des Grundherrn verdichteten sich mit gleicher

Schnelligkeit zur Behauptung eines allgemeinen Eigenthums am gesammten

Dorfe, vornehmlich an den Theilen von Wald und Weide, welche sich im

Gemeindebesitz befanden.

So wurde der Grundherr zum Dorfherrn; auch

die letzten Reste alter Freiheit, wie sie sich im wirthschaftlicheu Leben des Platten Landes immer noch ausgeprägt hatten,

verfielen der Disposition

weltlicher und geistlicher Grundherrschaften.

So standen die Dinge zur Stauferzeit, als ein neues, bisher un­ geahntes Leben die wirthschaftliche Entwicklung der Nation zu durchdringen

begann, sodaß allmählich eine Umformung aller materiellen Daseinsbe­

dingungen eintrat.

Die Epoche der Naturatwirthschaft schloß; die Zeiten

der Geldwirthschaft brachen herein.

Bisher war die Landwirthschaft die

einzige ausschlaggebende Wirthschaftsform der Nation gewesen, nur langsam, wenn

auch

jährigen

in

stets zunehmendem Maße waren

Verlaufe

bis in

die Zeiten

in ihrem vielhundert­

der Salier und Staufer

hinein

überschüssige Wirthschaftskräfte gesammelt und in völliger Umschaffung des Landes zum Kulturland, wie in der Erhaltung immer größerer Be­ völkerungsmassen nutzbar angelegt worden.

Jetzt begannen neue Genera­

tionen das Ergebniß dieser Mühen zu genießen; auf Grund der bisherigen

Kräfteansammlung

erwuchs

eine reichere Lebenshaltung des Einzelnen,

neue Bedürfnisse konnten befriedigt werden und wurden deshalb rege; die

Industrie erstarkte zu einem selbständigen Lebensfaktor der Bolkswirthschaft

und der Handel erblühte mit einer Schnelligkeit, welche sogar für unsere

viel gewöhnten Augen etwas Ueberraschendes hat.

Der Rheinhandel bei

Koblenz z. B. zeigt um das Jahr 1267 erst einen Jahresumsatz von durch­ schnittlich 15 000 kg Silber; dieser Durchschnitt ist 1368 auf 50 000 kg,

1464—1465 auf 200 000 kg Silber gestiegen. Damit begann zum ersten

bis zu den agrarischen Unruhen des 15. und 16. Jahrhunderts.

189

Male das Geld etwas flüssiger zu werden; seit etwa 1460 sinkt der ge­ wöhnliche Zinsfuß auf 5 Proe. gegenüber etwa 10 Proc. um das Jahr 1250.

Natürlich mußte

in

diesen

ein

immer beträchtlicherer Theil der Bevölkerung

neuen wirthschastlichen

aufgehen.

Lebensregungen

Seit

der

Stauferzeit beginnen sich die Städte in stets lebhaftem, wachsendem Zu­

drang zu füllen; die Weingärten innerhalb

der Mauern

verschwinden;

immer enger dehnt sich Gasse an Gasse; und am Schluß des Mittelalters ist vieler Orten das einst

schlotternd

Gewand

sitzende

der

Befestigung

zur unerträglich engen Schnürbrust geworden. dieser Entwicklung.

Die Landbevölkerung trug die Kosten

in der Merowinger-

und

der weltliche

Karolingerzeit

Wie sich

Amtsadel

unter

schweren Blutungen der Bolksfreiheit aus dem Stande der freien Bauern ausgeschieden hatte, so löste sich jetzt, in der Stauferzeit und bis tief ins

14. Jahrhundert hinein, der Bürgerstand in einer zweiten Emanation aus den ländlichen Bevölkerungsschichten.

Es waren die kräftigsten, die unter-

nehmendsten und erfotgwürdigsten Elemente mehrere Generationen

hindurch dem

des

Bauernstandes,

unbekannten Glück der

welche

städtischen

lange vor Schluß des Mittelalters war das

Entwicklung zuzogen; schon

Bürgerthum, im Gegensatz zum Königthum, zu Adel und Geistlichkeit der

verheißungsvolle Träger einer neuesten deutschen Entwicklung. Der Bürger konnte

diese Rolle

ohne die unter

übernehmen

nickt

schweren Kämpfen erstrittene Entfaltung einer selbständigen imb nationalen Geistesbildung:

das Bürgerthum

hat durch die Grundlegung einer erst­

litterarischen und gesellschaft­

maligen volksthümlichen, künstlerischen wie

lichen Bildung im 14. und 15. Jahrhundert das Siegel von den Pforten der Renaissance und der Reformation gelöst. Der Bauer war

von diesem Aufschwung ausgeschlossen.

Er hatte

die rittermäßige Bildung des 12. und 13. Jahrhunderts mit Gleichmuth ertragen; sie war zu exklusiv und zu exotisch, um in ihm den Wunsch des

Besitzes wach zu rufen; zudem hatte

er

ihr noch eine uralte specifisch

mittelalterliche, naturwirthschaftliche Bildung von geistig und social festen Umrissen entgegenzusetzen;

mit Neid mochte damals noch mancher Ritter

gleich Neidhard von Reuenthal

auf die

sichere Form

wußten Takt der bäuerlichen Gesellschaft herabblicken.

Jahrhundert wurde das anders.

Der Bauer hatte

und den selbstbe­

Im 14, und 15. sein Bestes

Städte abgegeben; in den nunmehr beginnenden Kämpfen

an die

zwischen Adel

und Bürgerthum um die politische und sociale Führung der Nation war er der Prügelknabe;

die

ewigen Fehden

des

ausgehenden

Mittelalters

zehrten an seinen wirthschastlichen Kräften, welche zudem nicht den neuer­

dings führenden und darum

besonders gewinnreichen Wirthschaftsformen 14*

190

der

Das Schicksal des deutschen Bauernstandes rc.

Industrie und des Handels

er verarmte,

angehörten:

verbitterte,

verrohte*). Damit waren alle Fermente

gegeben,

einer agrarischen Revolution

so deutlich, daß auch die Zeitgenossen

sie durchweg erkannten:

keine Re­

volution ist beharrlicher, länger und allseitiger vorausgesagt worden, als

des 15. und 16. Jahrhunderts.

die agrarischen Unruhen

und 9. Jahrhundert

waren die

materiellen Kräfte

der

Schon im 8. freien Volksge­

nossen gebrochen worden, wie sie der Urverfassung der ersten Ansiedelun­

gen entsprochen

hatten;

spätestens

die Salier- und

außerdem den Ruin der militärischen und

Bauern.

Jetzt

tiefsten Eingriffe

aber, in

kamen

im 14. und 15. Jahrhundert, die Rechte

der Bauer wurde der Paria der nalen Bildung.

Stauferzeit

brachte

politischen Berechtigungen des

des Standes

und

der

hierzu

die

Menschenbrust:

nationalen Gesellschaft und der natio­

Es spricht für die ursprünglich von großartiger Freiheit

und Einheit getragene Organisation

der ländlichen Verfassung, daß der­

selbe Bauer, den Jahrhunderte um altes Recht und ursprünglichen Wohl­ stand gebracht hatten, auch jetzt noch den neuen Zumuthungen auf socialem

und geistigem Gebiete stand, ja diese

mit

Abwehr

allem Mark hoch angelegter Naturen wider­

leistete,

obwohl

die 2. Hülste des

14. Jahr­

hunderts und das 15. Jahrhundert infolge des rapiden Aufschwungs der

neuen

städtischen Wirthschaftsformen

sich

durch

eine

außergewöhnliche

Billigkeit aller Preise auszeichneten und damit eine besonders leichte und sorglose Lebensführung ermöglichten. *) Dergl. Gothein, „Ueber die Lage des Bauernstandes am Ende des Mittelalters, vornehmlich in Südwestdeutschland" in der Westdeutschen Zeitschrift für Geschichte und Kunst Bd. 4 S. 1—23.

Politische Correspondenz. Anblick der inneren Politik. — Ein mi 1 teleuropäisches Zollbündniß. — Welfische Legitimität. — Paderborner Erlaß. — Berliner

Maurerstrike. — Der asiatische Konflikt. Berlin, Ende Juli.

Die langen parlamentarischen Ferien, welche durch den frühzeitigen Schluß des Reichstags und des Landtags dem deutschen Volke in diesem Sommer zu Theil geworden, werden als eine Wohlthat zwar empfunden, aber nicht in dem

Grade zum befriedigten Rückblick und zum hoffnungsvollen Zukunftsblick ange­ wendet, wie

könnte.

cs

in einem großen und gesunden Nationalleben der Fall sein

Die Ursachen dieses Zustandes, der nicht ohne starkes Unbehagen in

manchen Kreisen ist, sind verschiedener Art.

Die Feste, welche fast ohne Auf­

hören bei jedem Anlaß gefeiert werden, zum Theil mit einem Prunk und einer Fülle des Genusses, wie sie im deutschen Leben in keiner andern Periode vor­ gekommen sind, zeigen, daß ein Gefühl der Kraft, der Erhebung, der Befrie­

digung über ein nie besessenes Gut noch immer durch die große Masse des deutschen Mittelstandes geht.

Es wäre schlimm, wenn es anders wäre in einer

Zeit, wo wir Deutsche das beneidete Volk sind, wo der Blick nirgends auf Zu­

stände trifft, die mit den unsern den Vergleich aushalten.

Wohl können wir

uns nicht mit dem englischen Reichthum und der englischen Machterstreckung

messen.

Aber die englische Presse ist am freigebigsten, uns mit dem Titel des

Schiedsrichters der Welt zu beehren, eine Nolle, die weder unser Kaiser, noch

unser Kanzler, noch unser Volk begehren.

Wenn der englische Stolz zu so über­

treibender Anerkennung fremder Macht sich herabläßt, so weiß er warum.

Das

englische Machtgebäude, noch immer das größte der Welt, ist in den wichtigsten Fugen erschüttert und das englische Volk wird mehr und mehr die Heilung der

drohenden Nisse als ein Werk von solcher Schwere erkennen, wie es noch nie zu vollbringen gehabt hat.

Wenn in so beneideter Stellung, deren Glanz und Werth in großen Krei­ sen des deutschen Volks, vor Allen von den Deutschen des Auslandes nach

Gebühr empfunden wird, dennoch ein Gefühl der Sorge und des Unbehagens

sich vielfach nicht unterdrücken läßt, so darf man vor dieser Thatsache nicht die

Politische Correspondenz.

192

Augen verschließen, und noch weniger darf man durch Verdächtigung und Ver­ ketzerung ihrer Quellen die Thatsache beseitigen wollen.

Sieht man ab von unversöhnlichen Feinden, wie Ultramontanismus und Sozialdemokratie, so gehen Sorgen und Zweifel durch die liberale Denkart,

wie durch die konservative.

In der liberalen Denkart herrscht vielfach das Ge­

fühl, besiegt zu sein ohne bekehrt zu sein, und gar mancher von diesen Unbe­ kehrten würde auch gern bekehrt, sähe er nur den Anfang tragender Kräfte

eines dauernden Zustandes. Eigenthümliche,

Die konservative Denkart hat in Deutschland das

daß sie nicht einen gegebenen Zustand vertheidigen, sondern

vielmehr den gegebenen Zustand noch durchgreifender verändern möchte, als ihre Gegnerin.

Daß die konservative Denkart, ohnedies durch den Partikularismus,

der innerhalb ihrer seine Stellung vorzugsweise sucht und behauptet, mehr ge­

spalten als die liberale, mit dem heutigen Zustand sein kaun, liegt auf der Hand.

nicht aufrichtig zufrieden

Diese Zufriedenheit wird zuweilen erheuchelt,

indem der Kampf des leitenden Staatsmannes gegen den Liberalismus dahin ausgelegt wird, als seien die Ziele der konservativen Partei auch diejenigen des

Staatsmannes.

Wie wenig dies in Wahrheit der Fall, verhehlen sich indeß

auch die konservativen Wortführer nicht, und so ist es natürlich, daß Unbehagen

und Sorge die im Grunde vorherrschenden Gefühle auch auf dieser Seite sind. Aus den liberalen Reihen wird die Klage laut, daß das Wirken des ersten

Reichskanzlers, so reich an ungewöhnlichen Erfolgen, doch so wenig beigetragen habe, den politischen Geist der Nation zu bilden.

Bei der Art der Argumen­

tation und bei der Art, wie die Parteizerklüftung benutzt und,

anstatt durch

Vermittlung des Verständnisses zusammenhängender Gedanken geheilt zu werden, vielmehr an Zahl und Heftigkeit gesteigert worden sei, habe die große Stellung,

welche der Reichskanzler dem deutschen Volke verschafft, doch nichts beigetragen zur Verbreitung und Befestigung der inneren Einheit.

Solche Beschwerden sind begreiflich, aber sie sind nicht gerecht.

Sie richten

die Anklage einseitig gegen den Mann, dem die Nation so Unvergleichliches

verdankt, und übersehen den großen Theil der Schuld, welcher die Führung fast aller Parteien trifft, nicht bloß die parlamentarische, sondern die geistige

Führung überhaupt.

Wir wollen nicht zurückkommen auf die schweren Fehler,

welche auf liberaler Seite von 1877 bis 1879 begangen worden sind. Wir wählen als Beispiel eine Handlungsweise, die so eben vor unseren Augen geübt wird.

Es ist ja eine der falschesten Behauptungen, deren Beleuchtung bei einer-

anderen Gelegenheit lehrreich sein wird, daß der Liberalismus, wenn wir das Wort in seinem historischen Sinne nehmen

und daraus

nicht willkürlich die

Bezeichnung für eine beliebig herausgegriffene Tagesmeinung machen, zusam­

menfalle mit dem sogenannten Manchesterthum.

Immerhin bildet die deutsche

Freihandelsschule zur Zeit einen Theil des deutschen Liberalismus, der vielleicht nicht durch seine Zahl, aber unbestreitbar durch die geistigen Kräfte, die sich noch

um seine Fahne sammeln,

für die Thätigkeit und Entwicklung des gesummten

Liberalismus in Deutschland wichtig ist.

Politische Correspondenz.

193

Nun wird wahrlich kein Verständiger verlangen, daß diese manchesterlichen Liberalen sich zur schutzzöllnerischen Lehre bekennen, wie sie heute vorgetragen wird, als das Widerspiel der freihändlerischen Dogmatik, mit dem glücklichen Erfolg, in der Marter des Verstandes die Vorgängerin überall zu erreichen. Was man aber von den fähigen unter diesen Systematikern des Geschehenlassens

verlangen könnte, das wäre die Offenheit für die Sprache der Thatsachen. Hat man in Deutschland und anderwärts an das Wort doctrinär doch ein

Odium geheftet, als ob jede Doctrin, was nur die falsche thut, den Geist ge­ gen die Thatsachen blind machte. Glauben wirklich unsere deutschen Freihändler

an den Sieg ihres Dogmas, sobald Hände übergegangen sind?

nur die Zügel

des Reiches

in andere

Dann wären sie eine Sekte in des Wortes klein­

lichster Bedeutung. Man kann aber mit Sicherheit annehmen, daß kaum einer von ihnen die Rückkehr zum radikalen Freihandel empfehlen wird, und wenn es geschehen sollte, wird der betreffende sicher für jede Partei unmöglich werden. Freilich die entgegengesetzte Doktrin, wonach die Menschheit den größten Fort--

schritt macht, wenn nicht bloß die eine oder die andere Nation, sondern alle Nationen sich mit den höchsten Zollmauern umgeben, so wie sie

gehen und

stehen, wie ihr Wirthschaftsgebiet, wie die Stufe ihrer Entwicklung u. s. w. immer beschaffen sein möge — diese Doktrin, die heute selbstgefällig und un­

duldsam wie nur jemals eine gepredigt wird, kann nicht mehr lange verfehlen, auf eine Narrensekte beschränkt zu werden.

Anspruch

auf

Den Freihändlern, welche doch den

einen weiten Blick erheben, muß

aber der Vorwurf gemacht

werden, daß sie nicht im Stande sind, zu begreifen, warum ihre Idee so viel

von der lange behaupteten Herrschaft eingebüßt hat, mit welchen Mitteln das Wahre derselben für die Menschheit bewahrt werden kann. Daß die Zeit der großen Erfindungen auf dem Gebiete der Verkehrs­

technik nicht die Bestimmung haben kann, die Methode der chinesischen Abson­ derung zur Pflicht aller Völker zu machen, darüber bedarf es allerdings keines

Wortes.

Aber die alte Freihandelslehre beging den schweren Fehler, der an­

fangs verzeihlich, mit der Zeit zur unverantwortlichen Gedankenlosigkeit gewor­ den ist, daß sie die unmittelbare Beseitigung der Zollschranken empfahl ohne

Rücksicht auf die Verschiedenheit der wirtschaftlichen Zustände, welche, durch Kultur und Polltik geschaffen, ohne darauf gerichtete ernste Arbeit nicht ver­

schwinden werden.

Die Freihandelslehre bildete sich ein, die Beseitigung der

Zollschranken allein werde die Verallgemeinerung eines normalen Typus der wirtschaftlichen Zustände herbeiführen.

Das war der Irrthum einer doctri-

nären Uebereilung, den mau endlich ablegen sollte.

Die Sache verhält sich

umgekehrt: die Annäherung der übrigen wirtschaftlichen und politischen Be­ dingungen muß vorausgehen, ehe der Freihandel segensreich wirken kann.

Die

Zeit drängt nach der Bildung großer gleichartiger Wirthschaftsgebiete, inner­

halb deren die Bedingungen des wirtschaftlichen Lebens übersehbar und darum auch einer unterstützenden Staatsaktien zugänglich sind.

Der deutsche Kanzler hat im Jahre 1879 die Zollreform nicht eingeleitet

Politische Correspondzen.

194

mit dem Satz, daß aus Deutschland ein sich selbst genügendes Wirthschaftsge-

biet, ein zweites Reich der Mitte gemacht werden könne, sondern mit Betonung der Nothwendigkeit, zunächst eine gewisse Gleichheit für den internationalen Wettkampf, wenigstens auf dem inneren Markt herzustellen und sodann der

Regierung Waffen für die Erlangung wahrhaft gegenseitiger Handelsverträge

zu

Bei den Punktationen vom September 1879 in Wien war auch

liefern.

die Berpflichtung zur Anbahnung worden.

noch

und Handelsbundes

eines Zoll-

festgestellt

Wie Fürst Bismarck im Reichstag erklärt hat, ist diese Vereinbarung

nicht zur Ausführung

Schwierigkeiten,

gelangt wegen der

vielfachen entgegenstehenden

aber vie Hindernisse haben zumeist auf der österreichisch-un­

garischen Seite gelegen.

Indem jetzt Deutschland der allgemeinen Erhöhung

seiner Zölle vom Jahre 1879 eine Erhöhung des damaligen Getreidezolls, die allerdings eine Verdreifachung ausmacht, Besorgnisse

erwacht,

daß

solgen ließ, sind

in Ungarn

starke

für die ungarische Getreideproduktiou der deutsche

Markt durch diesen Zoll nun ganz verloren gehen könne.

In dieser Stim­

mung hat sich die ungarische Presse der nicht zum Bollzug gelangten Verein­ barung von 1879 entsonnen und die Erörterung dieses Bollzuges auf die Ta-

gesordnung gesetzt. reich-Ungarns

worden. kommen.

Bisher hatte mau

angenommen, der Widerstand Oester­

sei nicht zum wenigsteu auch von magyarischer Seite angefacht

Diesmal jedoch scheint der Widerstand

allein von Eisleithauien zu

Eine offiziöse Zeitung der dortigen Regierung hat bemerkt: bei dem

Zollbund werde die deutsche Landwirthschaft durch reichisch - ungarischen

keine merkliche Einbuße

die Konkurrenz

erleiden,

österreichische Industrie durch die deutsche Konkurrenz

wohl

der

öster­

aber werde die

erheblich

beeinträchtigt

werden; der ganze Bortheil würde somit auf die deutsche Seite fallen,

daher

sei es besser sich mit einzelnen Berkehröerleichterungen an Stelle des umfassen­ den Zollbundes zu begnügen. Diese Weisheit läuft darauf hinaus,

die Aufgabe im Stich zu lassen.

Damit wird aber nicht nur ein großer Gewinn aufgegeben, sondern auch ein auf die Dauer tödtlicher Schaden

rungen einzuführen hat man ausgerichtet.

hervorgerufen.

einige Mal versucht,

Dies liegt in der Natur der Sache.

Einzelne Verkehrserleichte-

aber nicht das Geringste Bei Erleichterungen im

Einzelnen und Hemmungen im Ganzen entsteht immer die Frage, wer bei den Erleichterungen der Benachtheiligte ist.

Es ist die Geschichte von dem Gutsherrn

und der Gutsherrin, die ihre Grenze nicht reguliren konnten, bis sie durch ihre

Heirath aus den Gütern einen einzigen Besitz machten. Ein Zollbund wurde in

das beiderseitige Wirthschaftsleben einen solchen Aufschwung bringen, daß jede

Frage verschwinden würde, welcher Theil in der einen Beziehung der Gewinner

und in der anderen der Verlierer geworden sei.

Man sollte denken, Niemand müßte diese Idee freudiger und eifriger er­

greifen wie die Freihändler.

Statt dessen kommen diese Herren mit dem Ein­

wand, der mitteleuropäische Zollbund werde durch Schaffung

nahezu

sich

eines

großen,

selbst genügenden Marktes die Epoche der allgemeinen Handels-

195

Politische Correspondenz. freiheit nur weiter hinausschieben. Urtheils?

Ist dies nicht eine klägliche Schwäche des

Der einfachste Menschenverstand gebietet, den großen unmittelbaren

Bortheil zu ergreifen,

nicht aber ihn zu verschmähen für die jeder Bürgschaft

ermangelude Hoffnung des

chimärischen

Außerdem aber ist

größten Gutes.

der einzig gangbare Weg, der zur immer größeren Handelsfreiheit führt, nur

durch Bündnisse zu erlangen, welche nicht bloß Verkehrsfreiheit einführen und es dabei auf die Wirkungen derselben

ankommen lassen, sondern

welche die

Solidarität der politischen und wirthschaftlichen Bedürfnisse zur Voraussetzung

nehmen und die Entwicklung dieser Solidarität sicher stellen und beschleunigen. Die bloße Anregung des mitteleuropäischen Zollbundes veranlaßt den

ebenso

geistreichen als gründlichen Nationalökonomen Leroh-Beaulieu zur Erörterung

der Möglichkeit eines Zollvereins der Staaten des sogenannten Münzbundes.

lateinischen

Es wäre eine höchst voreilige und thörichte Annahme, daß diese

beiden Zollvereine

sich

immer auf Tod und Leben bekämpfen müßten.

dann

Die gegentheilige Entwicklung ist zu erwarten, nämlich, daß beide Zollvereine,

nachdem jeder die Verhältnisse seines inneren Marktes sich hat reguliren lasten,

Eine Solidarität

zu gegenseitigen Annäherungen kommen.

kontinentalen

des

West-Europa wäre eine der größten Wohlthaten und Sicherstellungen für die europäische Kultur. Wir gehen in diesen Zukunftsbildern nicht weiter, aber es ist ein schmerz­ licher Gedanke, daß auf einem so kleinen Raume wie der, welchen das konti­

dessen Bestimmung es doch

nentale West-Europa einnimmt,

gewesen ist, die

höchsten Geistesschätze der Menschheit theils aufzunehmen theils zu zeitigen, und der sie nun auch bewahren und noch reicher entwickeln sollte — daß auf einem so kleinen Raum die nothwendigsten Handlungen und

erreichbare Znkunftsträume erscheinen.

höchste Kultur umschließenden Raume den Fortschritt hemmen,

dehnt

meßlicher aus, und während

Entwicklungen wie un­

Während auf diesem zur Zeit noch die unnatürliche Eifersucht und Zerklüftung

sich die Aaukeewelt in Amerika immer uner­

wir

aus der

wirthschaftlichen Einheit auch nur

Central-Europas schon eine Unmöglichkeit machen, schreiben wir Abhandlungen über die Verlegung des Schwerpunktes der Weltwirthschaft in die zwischen dem atlantischen und

spektive

mit

einem

stillen Ocean und

laben

uns

an

Region

dieser Per­

elegischen Behagen, während doch nur unsere Trägheit,

Kleinlichkeit und Mutlosigkeit uns die Krone der Kultur und wirthschaftlichen Macht vom Haupte fallen lassen kann.

Während wir zaghaft und befangen

vor jedem nothwendigen Schritt zögern,

erobert

Rußland

die

alten Kultur­

stätten Asiens mit ihren verschütteten, der Wiederbelebung harrenden Schätzen.

Auch

dahin blicken wir wohl gierig, wir

nehmen, aber die Zollschranke,

möchten

wohl auch einen Antheil

welche durch die mitteleuropäische Kultur und

Wirthschaft geht, wagen wir nicht anzurühren, diese Zollschranke, welche deut­ sches Kapital, deutsche Arbeit und Uuternehmungskraft vom Osten znrückhält, indem sie gleichzeitig die Unterdrückung

des deutschen Elementes in Oesterreich

durch das unproduktive Slaventhum besiegelt und dem wahnwitzigen Expansions-

196

Politische Correspondenz.

trieb der russischen Panslavisten die Schranken zugleich des Westens, des Ostens

und des Südens öffnet.

Dahin

Wenn die Zügel nicht mehr von

kommen wir

mit dieser Freihandelsklugheit.

einem Bismarck

deutsche Wagen bald im Sande stecken.

geführt werden, wird der

Immer und immer wieder ertönt das

Geschrei der kleinlichen und verzagten Insassen: stillhalten! non possumus!

Bei einem Blick auf die Dinge, welche in diesem Sommer die Oberfläche

unseres politischen Gebens aufgeregt haben, wird der niederschlagende Eindruck der Kleinlichkeit nur bestärkt.

Diejenigen Engländer, Franzosen, Russen haben

wahrlich sehr unrecht, welche befürchten, die deutsche Nation warte mit gespannter Kraft auf die Entwickelung der großen Weltfragen, die sich unaufhaltsam, oft unter dem Sträuben der Betheiligten, vorwärtsschieben, um zu gelegener Stunde den ihrer jetzigen Kraft entsprechenden Gewinn zu verlangen. seine weiter so denken, das Bolk denkt nicht so.

Wenn vielleicht

Und wenn es sich fügen sollte,

daß die großen Entscheidungen, wie es wahrscheinlich ist, sich noch länger ver­

zögern, so wird Deutschland dann wahrscheinlich

keine Leitung haben, welche

mit überlegenem Blick die Tinge erfaßt und mit überlegener Kraft gestaltet. Wir haben uns in diesem Sommer die Zeit vertrieben mit der Legitimität

des Herzogs von Cumberland und mit dem Paderborner Erlaß.

kämpferin der Legitimität ist natürlich die ultramontane Presse.

Die Bor­

Es ist wahr­

haft beschämend, daß jenes Dogma, welches der schlaue Talleyrand, jenes Haupt

voll revolutionärer Sünden, wie er genannt worden ist, auf dem Kongreß zu Wien als dreistes Auskunftsmittel erfand, theils um dem besiegten Frankreich

unter der bourbonischen Firma den ebenbürtigen Antheil an der neuen Ein­

richtung Europas zu sichern, theils um in Gemeinschaft mit Metternich die Er­

starkung Preußens, das heißt Deutschlands zu hindern, daß dieses beleidigende Dogma noch einmal dienen soll, dem heiligen Lebensrecht der deutschen Nation in den Weg geworfen zu werden.

Nach diesem Dogma besteht Deutschland

neben der leitenden Macht aus einigen zwanzig Rittergütern, die sich privat­

rechtlich vererben, ganz einerlei, wie die Erben beschaffen sind, ob sie Ausländer­ geworden, ob sie gegen den Bestand des Reiches conspirirt haben und weiter

conspiriren wollen u. s. w.

Man hat die Frage aufgewerfen, welcher anderen

Nation wohl der UltramontaniSmus einen gleichen Schimpf anthun dürfte. Aber der UltramontaniSmus findet dienstwillige Bundesgenossen in der Demo­

kratie, welche mit erheucheltem Jubel dem UltramontaniSmus darin beistimmt,

daß die Sache der Monarchie untrennbar sei von jener Karrikatur der Legi­ timität.

Die Demokratie thut, als ob sie sich freue, daß die Monarchie sich

selbst untergrabe.

Wer die Geschichte kennt, weiß, daß um noch ältere Zeiten

zu übergehen, seit den Zeiten des Franken Pipin die Monarchie ihren Beruf

darin gezeigt hat, das Werkzeug der historischen Lebenskräfte und des Bedürfnisies der Bölkerentwicklung zu sein.

Ununterbrochene Pflichterfüllung in diesem

Dienst ist die Legitimität der Herrschergeschlechter, eine andere giebt es nicht. Die Herrschergeschlechter, dE sich an diesem Beruf versündigen, gehen zu Grunde,

das ist der Spruch der Geschichte, deren Beruf es ist, die Legitimität des Privat-

197

Politische Correspondenz. rechts zu zertreten, wo sie nicht hingehört.

Es ist ein eitles Geprahle der De­

mokratie, wenn sie meint, was sie Volk nennt, sei der Richter im Namen der geschichtlichen Legitimität, bis das Volk sich zum alleinigen Herrn mache.

giebt keinen europäischen Staat, für den Thron

Es

in welchem die Legitimität des Privatrechts

inne gehalten worden.

Aber kein

europäischer Staat, der

diesen Namen verdient, ist eine Demokratie geworden; denn der Verfassungs­ kampf, der in Frankreich vor unseren Augen gekämpft wird, bewegt sich um die Frage, ob Frankreich eine Republik sein kann, während es keine Demokratie sein kann.

Die Republik wird konservativ sein oder wird nicht sein, hat ihr

Begründer gesagt. Das andere Ereignis; dieses Sommers war der Paderborner Erlaß.

Ein

Bischof bestimmt für seine Diözese, daß das Priesterseminar keine Zöglinge aus­

nehmen soll, die nicht, wie es die Staatsvorschrift verlangt, auf einer deutschen Universität studirt und Zeugniß über den Besuch gewisser Vorlesungen beige­

bracht haben.

Diesen Erlaß zieht die ultramoutane Presse anS Licht, erhebt ein

wüthendes Geschrei, daß dies die Anerkennung der Maigesetze sei,

und er­

schließlich, daß der Papst dem Bischof die Zurücknahme des Erlasses

zwingt

befiehlt. Zwei Dinge sind durch diesen Vorfall bestätigt und der öffentlichen Wahr­ nehmung wiederum nachdrücklich eingeschärft worden.

Zuerst, daß das Gesetz

über die Vorbildung der Geistlichen der katholischen Kirche, falls sie dem Gesetz

gehorsamen wollte, nicht den mindesten Schaden zufügen würde.

Mit diesen

wenig eingreifenden Bedingungen könnte sie sich so fanatische Kleriker erziehen, als sie nur immer gebraucht.

Es handelt sich bei dem Kulturkampf nicht um

den Inhalt der Maigesetze, sondern den Beweis, welchen der Ultramontanismus liefern will, daß der Staat nicht die Macht hat, dem Organismus Roms irgend

welche Bedingungen aufzuerlegen, daß er vielmehr seinerseits Bedingungen zu erfüllen

sein.

hat, um nicht der Feindschaft und dem Angriff Roms ausgesetzt zu

Das Zweite was dieser Vorfall eingeschärft hat, ist, daß die Regierung

Roms in dieser Frage beherrscht wird durch den demagogischen Apparat, welchen

die deutschen Ultramontanen lenken.

Es ist keine Frage, daß in der hohen

Prälatur, daß namentlich im Haupte des gegenwärtigen Papstes selbst die Er­ wägung Eingang findet, ob nicht bei der schwierigen Lage des Papstthums ein anderes Verhältniß zu einigen der großen Regierungen, namentlich der des

deutschen Reiches herbeizusühren fei. Diesem Gedanken widersetzen sich mit aller Heftigkeit die deutschen Ultramontanen, welche unermüdlich den Beweis wieder­ holen, das deutsche Reich bleibe der gefährlichste Gegner Roms, schon ein nur zeit­ weises Hand in Haudgehen mit demselben sei das größte Wagniß, die Schwächung

oder Zertrümmerung desselben sei erreichbar und Roms dringendstes Bedürfniß. Hoffentlich wird die Saat dieser doppelten Wahrnehmung in der deutschen

Politik aufgehen, in der Politik der Regierenden wie des Volkes.

Ein lokales, aber bedeutungsvolles Ereigniß dieses Sommers war die mehr­

wöchentliche Arbeitseinstellung der Berliner Maurergesellen, welche dazu geführt

198

Politische Correspondenz.

hat, daß den Maurern zwar von dem größeren Theil der Arbeitgeber die ge­

forderte Lohnerhöhung einstweilen bewilligt worden, daß aber die Maurer weder die allgemeine Lohnfixirung noch irgend eine Bürgschaft einer dauernden Er­

höhung erlangt haben.

Uns hat sich bei Beobachtung dieser Bewegung eine

Lehre bestätigt, die wir schon lange aus den sozialen Kämpfen der Gegenwart

Die Maurermeister haben sich geweigert, mit der Strikekom-

gezogen haben.

mission zu unterhandeln, weil diese Kommission nicht in der Lage sei, die Er­ füllung

der von ihr etwa übernommenen Verpflichtungen zu

gewährleisten.

Hier liegt nicht der einzige, aber ein sehr wichtiger Punkt, von dem aus die Lösung der sozialen Frage in Angriff genommen werden muß.

Es muß eine

Solidarität abgegrenzter Arbeiterschaften in Bezug auf die Leistungen, eine kor­

porative Disziplin nach und nach gebildet werden, welche den Arbeitern eine sittliche Gesammtaktion,

gestattet.

nicht bloß ein zerstreutes revolutionäres Vordringen

Es ist jetzt nicht die Zeit, diesen Gedanken auszuführen.

Wie sehr

er aber durch die Entwicklung der Verhältnisse gefordert ist, beweist der Plan der Maurermeister,

auf Grund des § 100a der

Gewerbeordnung die

Ge­

sellen zur Theilnahme an der Jnuungsversammlung und an der Jnnuugsver-

waltuug für begrenzte Zwecke zu berufen.

Wenn dieser Plan zur Ausführung

kommt, wird aus ihm nur ein leicht vergeblicher Versuch hervorgehen, der aber

vielleicht dazu führt,

daß man andere Grundlagen für die Organisation der

Arbeiter sucht.

Wenn der Berliner Maurerstrike viele beklagenswerthe Folgen gehabt hat, so wird er doch dazu beitragen, die Weisung zu geben für einen der Wege, auf

welchen die Lösung der sozialen Frage herbeizuführen ist.

*

*

* Das Toryministerium in England ist nun seit einem Monat am Werk. Es ist durchaus natürlich, daß die großen Fragen, welche dem englischen Staat vorliegen, in diesen wenigen Wochen keine erheblichen Fortschritte gemacht haben.

War doch das Ministerium noch dazu durch die eigenthümliche Thatsache, vor­

läufig mit einem Parlament regieren zu müssen, in welchem es nicht die Ma­ jorität besitzt, vielfach gefesselt.

Aber gerade wenn man dieses Hinderniß in

Betracht zieht, muß man bemerken, daß die Dinge doch ein anderes Ansehen

gewonnen haben. Am 6. Juli gab der Premierminister Lord Salisbury im Oberhaus ein Programm, welches drei Punkte enthielt.

In Bezug auf die asiatische Frage

erklärte der Lord, es sei nöthig, die Politik der vorigen Regierung an dem Punkt wieder aufzunehmen, bis zu welchem diese sie geführt habe.

Die erste

Pflicht sei, die von der englischen Regierung übernommenen Verpflichtungen auszuführen.

Nun habe England dem Emir von Afghanistan den Zulfikarpaß

versprochen, und von diesem Versprechen, welches die vorige Negierung gegeben, könne die gegenwärtige nicht abgehen; denn es sei eine Lebensfrage für Eng­

land, zu beweisen, daß das von England gegebene Wort aufrecht erhalten werde. Uebrigens sei dem Emir das Versprechen erst gegeben worden, nachdem Ruß-

Politische Correspondenz.

199

land zugesagt, Zulfikar dem Emir überlassen zu wollen.

Um die Ausführung

dieses Versprechens bewege sich gegenwärtig der Streit.

Die mit dem Wunsch

einer freundschaftlichen Lösung geführten Unterhandlungen könnten zum Ziel führen, aber es sei zu früh, sich zuversichtlich darüber auszusprechen.

Dies ist der Punkt, auf welchem die Dinge jetzt noch stehen.

Rußland will sein

Versprechen der Verzichtung auf den Zulfikarpaß nicht halten, indem es endlose

Streitigkeiten erhebt, welche Landschaftstheile unter dem Namen Zulfikar zu begrei­

fen seien.

Es ist erheiternd, wie Rußland in diesen wenigen Wochen, bald durch

die russische, bald durch die ihm befreundete Presse im Ausland, immerfort andere Theile hat bezeichnen lassen, die es nicht abtreten will, und immerfort andere Gründe

hat anführen lassen, aus denen es nicht in die Abtretung willigen könne. Werfen wir einen Blick auf diese merkwürdige Landschaft.

Nördlich vom Paropamisus

zieht sich eine Kette von Vorbergen vom linken Ufer des Kuscht nach dem rechten Ufer des Herirud.

Diese von Osten nach Westen laufende Gebirgskette ent­

sendet strahlenförmig eine Reihe niedriger paralleler Höhenzüge nach Norden. Zwischen diesen Ausläufern befinden sich Thäler, von denen einige Quellen

enthalten, andere nur steinig sind. Zulfikar?

Welcher Theil dieser Landschaft ist nun

Dieser Name ist zuerst dem westlichsten Parallelzug, welcher eine

Strecke den Herirud begleitet, verliehen worden, er beruht auf einer persischen Legende.

Zualfekar hieß das Schwert des Propheten.

An dieser Stelle soll

er es seinem Schwiegersohn Ali, dem Märtyrer, übergeben haben. Alis später geltend

gemachtes Nachfolgerecht

ist bekanntlich bestritten,

worden, der Streit um die Berechtigung Alis

er selbst

getödtet

hat die muhamedanische Welt

in die Parteien der Schiiten und der Sunniten getheilt.

Schiiten heißen die

Anhänger Alis und eine schiitische Legende ist es, welche sich an die besprochene Landschaft knüpft, die aber auch sunnitisch umgebildet worden. Nach der schiitischen

Sage soll der Prophet mit seinem Schwert den Stein des Gebirges durch­ schlagen haben und so den Weg gebahnt zur Ausdehnung der Herrschaft Alis von Persien nach dem südlichen Turkestan.

Nach der sunnitischen Umbildung

soll der Teufel aus Freude über die dem Ali verliehene Herrschaft das Gebirg getheilt haben.

Mit einem Wort, es handelt sich hier um einen sehr niedrigen

Paß, der bei der steinigen Beschaffenheit des Orientalen erregt hat.

den Paß gewesen,

Gebirges

die

Phantasie der

Zualfekar, Zulfikar ist offenbar zuerst der Name für

später hat man den Namen übertragen auf den breiten

Uferrand, der sich vor dem Paß, also am rechten Ufer des Herirud eine Strecke hinzieht, während auf dem linken User die Berge hier nahe an dem Fluß herantreten, aber dem Paß gegenüber einen breiten Durchgang lassen, an welchem der sich verflachende Fluß eine Furt gestattet. Punktes leuchtet sofort ein.

Die strategische Wichtigkeit des

Es ist die von der Natur geschaffene Uebergangs-

stelle von Persien nach dem südlichen Turkestan, welches bisher afghanisch war und das nördliche Afghanistan bildete.

Da der Paß für Artillerie zugänglich

sein soll, so ist die Stelle wichtig nicht nur für die Abwehr einer von Persien her vor­

dringenden Heeresabtheilung, sondern überhaupt für die Schließung des Thales des

Politische Correspondenz.

200

Herirud, auch gegen eine von Norden kommende Abtheilung. Die Russen können natürlich östlich von Zulfikar den Kuschk nnd den Murghab entlang gegen Afgha-

nistan Vordringen, aber es ist klar, wie wichtig ihnen die Beherrschung des Thales des Herirud

für

ihre Operationen sein muß, durch welches sie den Paro-

pamisus umgehen können.

Auch entziehen sie dem Emir mit Zulfikar die west­

liche Flaukenstellung, wie

sie

ihm

mit Pendjeh

Aber verfolgen wir erst die Ausdehnung des also einen Paß,

eine vor dem Paß

östliche

die

entzogen haben.

Er bedeutet

Jemens Zulfikar.

liegende Thalstrecke,

welchen der Paß theilt; er hat sich dann aber auch

einen Gebirgszug,

auf das am Ostabhang

des Gebirgszuges liegende Thal erstreckt und schließlich auch auf die dem Paß gegenüberliegende östliche Parallelkette.

Die

herrschung des Herirud sichern, kannten das Versprechen, dem Emir Zulfikar

Russen nun wollten sich die Be­

aber

die Landschaft nicht und gaben

zu überlassen.

Hinterher wurden sie die

Unbequemlichkeiten dieser Ueberlassung gewahr und versuchen nun, von der Er­ füllung des gegebenen Versprechens durch

eine Reihe Ausreden loszukommen,

die sicher einmal in einer künftigen Operette nach Offenbachscher Manier ver­ wendet werden.

Nur wird es die Aufgabe des Librettisten

sein, in die Vor­

wände etwas mehr Wahrscheinlichkeit, Anstand und Zusannnenhang zu bringen. Zuerst sagten die Russen, Zulfikar bedeute nur den Paß, sie müßten also den

nördlichen

Theil

des

Höhenzuges

zu suchen haben.

seinen

mit

Kommunikationen behalten, obwohl sie

Einsattelungen

behufs

ihrer

im Westen des HöhenzugeS gar nichts

Sie glaubten offenbar, von den nördlichen Höhen herab den

Paß beherrschen zu können, dann aber besannen sie sich, daß sie den Paß auf

alle Fälle selbst behalten sollten, und erklärten

Uferrand, mit dessen Besitz

nun: Zulfikar heiße nur der

sich der Emir genügen lassen.

könne

Um einen

Vorwand für die plötzliche Beanspruchung des Passes zu haben, wurden Quellen

erdacht, deren Wasser durch den Paß transportirt werden müsse, um die russi­ des Paropamisus

schen Posten auf den Vorbergen

Diese Quellen wurden unter

schönen

nicht verdursten zu lassen.

orientalischen Namen

präsentirt, bald

sollten sie im Südwesten, bald im Nordwesten von dem Paß, also in unmittel­

barer Nähe des Herirud liegen, keinen Weg finden, als durch

und das aus ihnen geschöpfte Wasser sollte

den Paß.

Indessen

scheint die russische Diplo­

matie doch bemerkt zu haben, daß Salisbury nicht Gladstone ist.

tritt Herr Lessar, der russische Ingenieur,

Auf einmal

Grenzkommissar und sachverständige

Adlatus der russischen Botschaft in Loudon, mit einer anderen Forderung auf.

Ohne es gerade zu sagen,

scheint

mau von der Forderung des Passes abzu­

stehen, verlangt aber die nächste, östlich vor dem Paß liegende Parallelkette, um die afghanische Besatzung des Passes nöthigenfalls in dem Rücken fassen zu

können.

Die bewußten Quellen oder Brunnen haben nun ihre Lage so ver­

ändert, daß die Transporte aus ihnen für die russischen Militärposten östlich um den Paß herumgebracht werden können.

daß die durch Herrn von Lessar

Man muß sich übrigens erinnern,

erst vor einigen Monaten vorgeschlagene

Grenzlinie nicht nur die Zulfikargegend, sondern die sämmtlichen Parallelzüge

Politische Correspondenz.

201

der Zulfikarlinie südlich vom beanspruchten russischen Gebiet beließ, also unter der Herrschaft Afghanistans.

Jetzt aber wollen die Russen ihr Gebiet bis zu

dem Stock der Vorberge des Paropamisus ausdehnen: vor Kurzem verlangten sie als westlichsten Punkt die Höhe von Akrobat, jetzt verlangen sie die sämmt­

lichen nach Norden sich erstreckenden Gebirgsausläufer, von denen

für einen

kurzen Abschnitt der Verhandlungen nur noch einmal der westlichste, wie es

scheint, ausgenommen werden soll.

Wir haben einen Blick auf diese russischen Querzüge geworfen,

um zu

zeigen, daß ein gedeihlicher Ausgang der Unterhaudlungen eigentlich unmöglich ist.

Sie werden sicherlich noch lange fortgehen, denn es ist noch einige Monate

zu heiß zum Kriegführen.

Wenn Rußland sich Afghanistans bemächtigen will,

oder zunächst der dies Land beherrschenden Positionen,

so wird es durch den

Aufschub einiger Jahre für dieses Werk nicht besser gerüstet sein,

wird England zur Vertheidigung besser gerüstet sein.

wohl

aber

Daher bringt der Auf­

schub des Kampfes, wenn Rußland einmal die Erreichung des indischen Oceans

ins Auge gefaßt hat,

ihm nur Nachtheil.

Wenn es aber erst seinen ganzen

Organismus ausheilen will, kann es ein Jahrundert warten, und dann ist die

Heilung noch fraglich.

Die Kriegspartei sieht aber gerade die Heilung Ruß­

lands in dem Fortgang der asiatischen Eroberung.

Der Kampf kann also

nur hinausgeschoben werden, wenn England sich entschließt,

den Russen die

Umgebung des Zulfikarpasses mit oder ohne den Paß selbst hinzuwerfen um

einiger Friedensjahre willen.

Das

Ministerum Salisbury

sieht

indeß nach

einem solchen Entschluß nicht aus, und obgleich die deutschen Zeitungen nichts

davon zu bemerken scheinen, sind die Vorbereitungen zum großen Kampf über­ all ersichtlich.

Die Meinung wird freilich überall laut, daß die Entscheidung

erst durch die im November bevorstehende Neuwahl des Unterhauses gegeben

werden könne.

Läßt sich aber die Entscheidung solange hinauszögern?

Es ist

noch nicht einmal sicher, daß die Führung der liberalen Partei, daß Herr Glad­ stone selbst vor und während der Wahlen mit einem Programm des Friedens

um jeden Preis der jetzigen Regierung entgegentreten werde.

Der Geistliche in der Politik.

w.

Die Enthüllungen der Pall Mall

Gazette.

Wir sind genöthigt noch

einmal auf die Stoecker'sche Angelegenheit zu­

rückzukommen, da die Kreuzzeitung (Leitartikel vom 24. Juli) behauptet,

wir

seien in einem Punkt, wo wir Stoecker ganz besonders streng beurtheilt haben, nicht genügend informirt gewesen und daher verpflichtet, unsere Beschuldigung

zurückzunehmen.

Gewiß würden wir

keinen Augenblick anstehen, daS zu thun,

wenn uns ein Fehler nachgewiesen wäre und wir wollen gleich von vornherein generell bemerken, daß in der That doch noch nachträglich eine Anzahl ent­

schuldigender Momente für Herrn Stoecker zu Tage gekommen sind.

Stoecker

war, wie der Abgeordnete Rechtsanwalt Wolff sehr richtig hervorgehoben hat, in

Politische Correspondenz.

202

dem Bäcker'schen Prozeß in der ungünstigsten Kampfessituation von der Welt; er war der Sache nach der Beschuldigte, der Form nach aber nur Zeuge und entbehrte also vieler der Hülfsmittel,

welche die Prozeßordnung dem

Ange­

klagten gewährt, und welche seine Gegner, die eben in dieser günstigen Situa­ tion waren, mit so diabolisch advokatischer Geschicklichkeit auszunutzen wußten. Was aber den von uns so

besonders betonten Punkt betrifft,

hiermit gar nichts zu thun und wir zunehmen.

Wir haben gesagt,

es

dem ganzen Prozeß erschienen,

so hat derselbe

haben auch nicht das Geringste zurück--

sei uns „als das moralisch abstoßendste in neben dem leichtfertigen Eid,

die

Art

wie

Stoecker in dem Augenblick, wo ihm „Irrthum" über „Irrthum" nachgewiesen

wurde, sich nicht scheute, seinerseits nicht etwa seine Ankläger, sondern außerhalb stehende Ehrenmänner, die Jenenser theologische Facullät, den Professor Bey­

schlag, der Unwahrheit zu der That nachweislich

jene

Die Kreuzzeitung behauptet, daß in

beschuldigen."

Beiden sachlich

im

Unrecht gewesen seien.

Wir

erwidern, daß es uns darauf gar nicht ankommt; selbst wenn die Sachen wirk­

lich völlig so liegen, wie die Kreuzzeitung

sie darstellt,

so wäre auch nicht der

Schatten einer Berechtigung vorhanden von einer Unwahrheit der Fakultät oder Beyschlags zu reden.

Diese hatten nach den ihnen gewordenen Berichten nicht

nur Veranlassung genug ihre Auffassung

heute liegt doch

halten, sondern auch

für richtig zu

die Sache so, daß ein erheblicher Spielraum für subjective

Auffassung zu Ungunsten Stoeckers übrig bleibt.

Ob man sein Eingreifen in

die Verhandlungen der Thüringer Kirchenconferenz für wesentlich

oder un­

wesentlich, ob man das einmalige Anbringen des Neichsboten für typisch, oder für singulär halten will, darüber giebt es eine objective Coustatirung nicht mehr.

Herrn Stoeckers Erklärungen waren nicht so unrichtig, wie sie seinen Gegnern

erschienen sind; aber sie waren auch nicht völlig correet, und von einem Ehren­

mann erwartet man, daß Erklärungen, die er abgiebt, dem Wortlaut wie dem Geiste nach absolut zuverlässig

sind.

Wer

sich

in solchen Dingen nicht der

allergrößesten Exactheit befleißigt, riskirt eben im Parteikampf der Unwahrheit

geziehen zu werden, und er hat nicht das Recht ebenso zu antworten, sondern

muß froh fein, wenn es ihm gelingt, durch sorgfältige Beweisführung, die An­ klage genügend abzuschwächen.

kennt.

Das ist es, was die Kreuzzeitung völlig ver­

Sie stellt sich auf den Standpunkt des Sprüchworts, wie man in den

Wald hineinschreit,

so schreit es wieder heraus: die Jenenser und Beyschlag

haben Stoecker der Unwahrheit geziehen, folglich kann man es ihm nicht übel nehmen, wenn er sie wieder der Unwahrheit zeiht.

Dabei

ist erstens völlig

übersehen der Unterschied der Ausdrucksweise in der Polemik des Parteikampfes und der Aussage eines beeidigten Zeugen vor Gericht.

Ferner aber und vor

allem der Unterschied der Situation: den Jenensern und Beyschlag kann für Stoecker günstigste Auffassung angenommen — zum werden, daß sie in ihrer Anklage zu weit gegangen sind;

unter dem nicht

unverschuldeten Verdacht mehrfacher

- die

Vorwurf gemacht

Stoecker aber stand

bewußter

Unwahrheit

und wer in einer solchen Lage zu dem Auskunftsmittel greift, andere nicht an-

Politische Correspondenz.

203

wesende, über jeden Verdacht der Unwahrhastigkeit erhabene,

im höchsten An­

sehen stehende Persönlichkeiten der Unwahrheit zu beschuldigen, ja sogar noch

stärkere Ausdrücke nicht

scheut, der

bricht den Stab

über sich selbst.

wiederholen es noch einmal, der objective Thatbestand der Streitfrage uns etwas ganz Nebensächliches, ja Gleichgültiges.

war es, welche Stoecker mit seinen Anklägern

Wir ist für

Die Art der Vertheidigung

moralisch

auf dieselbe Stufe

verweist.

So niedrig diese Stufe nun auch ist, so sind wir darum doch weit entfernt, in den Ruf einzustimmen, daß Stoecker sich politisch unmöglich gemacht habe, daß er aus dem öffentlichen Leben ausscheiden müsse. vom Wesen des öffentlichen Lebens,

die

Die ideale Vorstellung

sich in Deutschland

ausgebildet hat,

ehe wir ein öffentliches Leben besaßen, hat leider seit wir den Segen des Con-

stitutionalismus, der Wahl- und Parteikämpfe in Deutschland practisch kennen,

schnell verbleichen müssen.

Es ist ein völlig vergebliches Bemühen die Politik

durchweg „anständig" machen zu wollen.

Gift verlangt zuweilen Gegengift.

Nun gar die Purification mit irgend einer beliebig herausgegriffenen Persön­

lichkeit in s Werk zu setzen, ist widersinnig. Stoecker hat nichts gethan, was die­ jenigen, die vorher seine politischen Freunde gewesen sind, abhalten könnte, es weiter zu sein.

Die jüngst lancirte Nachricht, daß mau von conservativer Seite

beabsichtige, ihn nicht wieder zum Abgeordnetenhaus candidiren zu lassen,

scheint uns wenig glaublich.

er­

Der wirkliche Punkt, von dem ein schwerer mora­

lischer Schade abgewehrt werden muß, ist das Verbleiben Streckers in seinem Amt, der Conflict zwischen dem Politiker und dem Geistlichen.

Es ist der

Punkt, an dem auch die Juden, so zu sagen, der christlichen Kirche ihren Re­ spect beweisen, indem sie den Widerspruch zwischen der Tribüne und der Kanzel

empfinden oder wenigstens zu empfinden behaupten.

Ist hier wirklich ein gene­

reller oder nur ein zufälliger, persönlicher Widerspruch vorhanden?

Diese Frage, die Frage nach der Compatibilität des geistlichen Amts mit der Politik, wollen wir daher noch einmal eingehend erörtern. Herr Stoecker selbst soll sich einmal gegen den Vorwurf verwahrt haben, daß er Politik und Religion verquicke. es

eine

Es kommt darauf an, in welchem Sinne

gesagt wird, aber so ganz allgemein hätte

er gewiß nicht nöthig gehabt,

solche Behauptung als einen Vorwurf zurückzuweisen.

einfache Plattheit zu

schaffen habe.

Es ist doch eine

behaupten, daß die Religion nichts mit der Politik zu

Ein Blick in

die Geschichte

der Menschheit

zeigt,

allen Zeiten und in allen Völkern die Religion eins der stärksten, allerstärkste Element der Politik, nicht nur der inneren, äußeren gewesen ist.

sondern

daß

zu

meist das

oft auch ver­

Der ursprüngliche, ewig unüberwindliche Gegensatz der

politischen und religiösen Gemeinschaften der Menschheit, des Staates und der Kirche ist einer der Grundgedanken der Ranke'schen Weltgeschichte.

Das achtzehnte und die erste Hälfte unseres Jahrhunderts ist vielleicht die­

jenige Periode der Weltgeschichte, in der weniger als in irgend einer anderen die politischen Ereignisse von den religiösen Potenzen berührt werden. Preußische Jahrbücher. Bd. LVI. Heft 2. 15

Obgleich

Politische Correspondenz.

204 freilich immer noch

mehr,

als es die landläufige Geschichtsauffassung meint:

der siebenjährige Krieg, die französische Revolution sind sehr stark von reli­

giösen oder auch antireligiösen Atomenten durchsetzt. Jahrhunderts

Zum Character unseres

es, daß die religiösen Ideen eine fortwährend sich stei­

gehört

Wir wollen auf die

gernde Bedeutung im öffentlichen Leben erlangt haben.

tieferen Gründe dieser Erscheinung nicht eingehen, sondern bei zwei rein prak­

die, man mag sich dazu politisch stellen wie

tischen Momenten stehen bleiben,

man will, genügen die Ursachen dieser Erscheinung hervortreten zu lassen.

Das

erste ist die moderne Auffassung von dem Wesen der öffentlichen Schule.

So­

viel auch schon im vorigen Jahrhundert von allgemeiner Schulpflicht die Rede

gewesen ist, werden.

erst in unserer Generation ist sie im Begriff zur Wirklichkeit zu

Die Schule ist Staatsschule und soll ausschließlich Staatsschule sein.

Aber indem der Staat in dieser Weise die öffentliche Erziehung übernimmt und

sie weiter und immer weiter ausdehnt, entsteht ein ganz neues Gebiet der Be­ rührung, der Wechselwirkung und

Staat und Kirche.

des Kampfes zwischen

auch der Frictien,

Welche Stellung soll die Religion und demnächst die Cor-

poration der religiösen Genieinschaft, die Kirche in dieser öffentlichen Erziehung einnehmeu?

Nothwendig müssen hier heftige,

das politische Leben erfüllende

Gegensätze sich erheben, die man nicht mit dem Satz, daß die Religion nichts

mit der Politik zu thun habe

bei Seite schieben kann.

Hier ist ein Streit­

object ersten Ranges und welch' herrliche Mittel des Kampfes bietet der heutige Coustitutionalismus gerade den religiösen Corporationen!

Das ist das zweite

Moment, welches wir meinen: die allgemeine Einführung von Volksvertretungen

Im 18. Jahrhundert entbehrte

auf dem Continent.

politischen

gegenüber

Machtmittel

der

absoluten

die Kirche

Monarchie;

der der

großen moderne

Coustitutionalismus giebt ihr eine Analogie zu dem Einfluß, den sie im mittel­ alterlichen Lehnsstaat auszuüben vermochte.

Schwerlich ist diese Art von Ein­

fluß schon im Zenith, wer weiß was wir davon noch zu erleben haben.

Die

Agitationsmaschinerie einer Hierarchie ist besser organisirt und dauerhafter als irgend eine andre,

also

mentarischen Staat

eine

muß auch die Kirche im constitutionellen und parla­

spielen.

Wenn wir also

weder den ideellen Zusammenhang von Religion und Politik,

noch die augen­

blicklich praktische Existenz

ganz

hervorragende Rolle

großer von der Religion berührter politischer Fra­

gen leugnen, dabei dem Geistlichen nicht nur zugestehen, sondern auch von ihm

fordern, daß er sich ganz und gar als Staatsbürger fühle:

es dennoch begründen

können,

wie würde man

den Geistlichen von der politischen Agitation

fern zu halten? Irgend ein fundamentales Gesetz den Geistlichen von der Politik auszu­

schließen, giebt es gewiß nicht; es kann sich nur darum handeln, praktische Erwägungen die Trennung wünschenswerth machen.

ob gewisse

So sicher es ist,

daß Religion und Politik Gemeinsames haben, so sicher ist auch, daß sie nicht identisch sind, daß die Religion desto gefährdeter ist, je tiefer sie in die Politik hineingezogen wird.

Politik wird beherrscht nicht nur von Ideen, sondern auch

Politische Correspondeuz.

205

von Interessen und oft ganz materiellen Interessen; die Parteien setzen sich zu­

sammen aus Combinationen von persönlichen, ideellen und materiellen Gegen­ sätzen und Interessen.

Indem die Religion ein Element der Politik wird, wird

sie auch ergriffen von dem Gegensatz dieser Interessen.

Ewig bewegt sie sich

in dem Widerspruch, daß sie innerhalb der Politik steht und sich doch von ihr Die gräßlichsten Erscheinungen der Geschichte,

freihalten soll.

die

sich ver­

götternden Cäsaren, die zu weltlicheu Fürsten herabgesunkenen Kirchenhäupter des ausgehenden Mittelalters, sind entstanden, wo dieser Gegensatz, der Gegensatz

von

Staat und

Religion,

als solcher verloren ging.

schlimmer als die eines fanatischen Religiösen.

Keine Demagogie ist

Welches praktische Hülfsmittel

das Dilemma zu überwinden, bietet also unser Jahrhundert und unsere Ber­ fassung, wenn wir beide Sätze anerkennen: die Kirche hat ein natürliches In­ teresse an der Politik und sie darf sich doch nicht zu tief hineinziehen lassen in

die Politik?

Fragen wir nach einem Borbild,

das wir benützen könnten,

so

bietet sich England dar. Hier hat die Kirche ihre officieüe politische Mitwirkung

in den 24 Bischöfen, welche im Oberhaus sitzen; die Wahlfähigkeit zum Unter­ haus aber ist der Geistlichkeit versagt.

Früher bestand das Verbot ganz unbe­

dingt für jeden geweihten Priester; erst

unter der

Königin Victoria ist ein

Gesetz erlassen, wonach ein Priester, der aus dem geistlichen Dienst ausscheidet,

Diese Einrichtung hat sich ganz vorzüglich bewährt.

wählbar wird.

Indem

dem niederen Klerus der Eintritt in das Parlament verschlossen wird, ist ihm

freilich nicht die Agitation verboten; aber die Bestimmung hat einerseits die so zu sagen symbolische Bedeutung, daß die politische Thätigkeit des Klerus dem

Geiste der

seits den Ehrgeiz:

nationalen Gesetze nicht

entspricht

und sie fesselt

anderer­

wo das letzte Ziel, das höchste Mittel doch auf alle Fälle

verschlossen ist, wird die Versuchung, die vorbereitenden Stufen zu betreten, sehr

abgeschwächt.

Trotzdem fehlt es der Kirche

an der nothwendigen — ohne

Agitation bestehenden — Repräsentation eben im Oberhaufe nicht.

So eng

Staat und Kirche in England verbunden sind, viel enger als bei uns, so hat man sich auf diese Weise doch vor gar zu schlimmen Auswüchsen behütet.

Als unsere Verfassung ins Leben trat war eine Repräsentation der Kirche

im Herrenhause nicht zu beschaffen.

Die Vertreter der evangelischen Kirche

wären nichts anderes als königliche Beamte gewesen. schon eher eine analoge Institution vorstellen.

schen Bischöfen jede evangelische Provinzialsynode ein präsentirte.

Heute könnte man sich

Wenn etwa neben den katholi­

oder zwei Mitglieder

Das würde an sich eine rein reactionäre Maßregel, eine Beklei­

dung der Kirchen mit politischen Funktionen sein, die dem Geist der Zeit durch­

aus widerspricht.

Wenn man aber dafür das Ausscheiden der Geistlichkeit aus

der politischen Agitation, oder wenigstens ein starkes Zurückdräugen aus derselben

erreichen konnte, so mochte der Tausch für alle Betheiligten, die nicht an der Agitation als solcher Gefallen haben, gleichmäßig vortheilhaft erscheinen. Leider aber müssen wir selbst sofort hinzufügen,

daß wir diesen Vorschlag als einen

rein akademischen betrachten; es ist nicht die geringste Aussicht ihn unter den

Politische Correspondenz.

206

gegenwärtigen Verhältnissen zu realisiren.

Andere Mittel freilich sehen wir

auch nicht; unser Oberkirchenrath wird sich schwerlich je zur Nachahmung jenes Erlasses des Gera'schen Consistoriums entschließen, welcher der Geistlichkeit die Betheiligung an der politischen Agitation untersagte,

Nach dem was wir oben

angeführt haben, ist es auch eigentlich nicht zu verlangen: es ist ein natürlicher

und berechtigter Trieb, der die Vertreter der Kirche zur Betheiligung an der Politik führt.

Was aber wohl verlangt werden kann und was wir deshalb

mit aller Entschiedenheit wiederholen, ist, daß wenn einmal der natürliche Con­

flict zwischen der Natur der Politik und des Dienstes am Worte Gottes zu einer Katastrophe geführt hat, wie diesmal in den Stoeckerscheu Processen, unsere evangelische Kirche ihren Charakter wahre und Herr Strecker aus dem Dienst

Kommen muß es nothwendig einmal; je früher es ge­

derselben ausscheide. schieht, desto besser.

Vom Prozeß Stoecker kommen wir Gazette.

auf die Enthüllungen der Pall Mall

Es ist nicht unser Werk diese Gedanken-Verbindung; dies Meisterstück

der Publicistik hat die „Nation" zu uns mit solcher Bewunderung

Stande

erfüllt,

an derselben vorübergehen zu dürfen.

gebracht

und

ihre Leistung

hat

daß wir unmöglich glauben schweigend „Es ist wohlthuend", sagt die „Nation",

„sein Auge von einem solchen Stande der öffentlichen Zustände fortzuwenden

und sich au gesunderen Verhältnissen zu erquicken; an Verhältnissen, in denen durch eine Jahrhunderte lange freie Entwickelung die öffentliche Meinung zu einer

Kraft und Bedeutung gelangt ist, um die verderblichen Auswüchse des Lebens

durch die selbständige ureigene That zu beseitigen!" Was die „Nation" zu diesem Hymnus begeistert

hat,

Hauptinhalt derselben

sind die Enthüllungen der Pall Mall Gazette.

ist folgender.

Die Präventiv-Thätigkeit der

der Gewalt im Dienste der regie­

ist in England aus Furcht vor Mißbrauch

renden Partei eine sehr geringe.

So

ist

Der

Polizei

es möglich

geworden, daß sich die

Kuppelei zu einem ganz organisirten Gewerbe entwickelt hat.

Ein ehemaliger

Bordell-Wirth z. B. errichtet eine Agentur der Stellen-Vermittelung für Gou­

vernanten, Ladenmädchen rc.

Melden

sich geeignete Persönlichkeiten, so sucht

man sie unter falschen Vorspiegelungen womöglich in bringen, wo sie ohne alle Verbindungen sind,

ein

fremdes Land zu

hält sie hin, bis

sie von allen

Mitteln entblößt sind und bringt sie dadurch so weit herunter, daß sie endlich den Vorschlägen, die ihnen gemacht werden, keinen Widerstand mehr entgegen­

zusetzen wissen und fallen.

Ein

gräßliches Gewerbe, das

andern Verbrechen nie völlig zu unterdrücken

so wenig, wie alle

sein wird, dem der Staat aber

doch ein starkes Hinderniß in den Weg legen kann, vermöge des Systems der

polizeilichen Concessionirung. Vermittelung errichten, dessen

unterliegt.

Niemand darf bei uns ein Bureau für Stellenmoralische Zuverlässigkeit

begründeten Zweifeln

Auf diese Weise schützen wir uns in Deutschland wie in England;

sollte einmal bei uns etwas Aehnliches entdeckt werden, so würde man einfach

die Polizei anweisen, in diesen Concessionen vorsichtiger zu verfahren, vielleicht

207

Politische Correspondenz.

auch die gesetzlichen Bestimmungen noch etwas verschärfen. ist für ein so nüchternes Verfahren

nicht

Und mit welcher Lust sie

liche Meinung tüchtig in dem Schmutz herumwühlen. thut!

das

Der englische Staat

Hier muß erst die öffent­

gemacht.

Wie reizend piquant die Pall Mall Gazette die Geschichten zu

erzählen weiß.

Wie sie einige jener Unglücklichen, wie sie einen solchen Wirth,

der deshalb sogar schon in Belgien sechs Jahre im Zuchthaus selber interviewt

hat!

Alles natürlich

von jeder journalistischen Speculation.

gesessen hat,

Liebe zur Tugend,

aus reiner

fern

Der Besitzer der Pall Mall Gazette

gehört ja zu den Frommen, er ist ein Puritaner.

Es ist eigentlich schon eine Beleidigung, daß die „Nation" den Einwand,

ob „die heikle Frage nur zu Sensationszwecken aufgegriffen sei" vorzieht „un­ erörtert" zu lassen, statt ihn energisch znrückzuweisen.

dadurch in ihrer Begeisterung nicht stören.

Jedenfalls läßt sie sich

Wir freilich, wir Deutsche, „wir

verlieren eine gesunde Basis für das Volksleben immer mehr."

In England

aber, man höre, welche Heldenthat hier „wiederum die innere kernfeste Gesund­

heit des englischen Nationalcharakters in überraschender Weise offenbart hat."

„Ein junges vornehmes Mädchen erbot sich, um die volle Wahrheit über den englischen Mädchenhandel nach dem Continent aufzuhellen, sich an ein belgisches Bordell verhandeln zu lassen, und als man sie auf die furchtbaren Gefahren

aufmerksam machte, sagte sie: God lias been with ine hitherto, why should

ho forsake nie, if in bis causc I face the risk? of nie tliere as well as hcreu*)!

Surely he will take care

Das ist eine Gestalt aus ähnlichem Holz ge­

schnitzt wie es Gordon war." So weit die „Nation". Den Vergleich mit Gor-

don möchte ein Spötter für nur zu richtig halten, da er bekanntlich bei seinem Unternehmen unterging.

Die junge Dame hat hoffentlich einen verständigen

Vater gehabt, der es auf die practische Probe nicht ankommen ließ.

In alten

Zeiten, als der liebe Gott noch Jehovah hieß, hat er zwar einmal im Hause des Königs Abimelech für Frau Sarah, die sich in analoger Situation befand, inter-

venirt, heute aber haben wir ein Gebot das heißt: suchen.

Wir wollen die Eigenthümlichkeiten des

Du sollst Gott nicht ver­

englischen Characters nicht

gering achten, aber wenn es deutsch ist, wie auch die „Nation" zu meinen scheint,

sich nicht zu dem Heroismus jener Heldin zu.erheben, so gefällt uns der deutsche Mädchencharacter

besser und wir halten es für wahrscheinlich,

daß deutsche

Väter ihren Töchtern den Umgang mit der Heroine der „Nation" rundweg

verbieten würden. Wird denn nun aber die „ureigne" That der öffentlichen Meinung in Eng­

land dem Uebel wirklich abhelfen? Die „Nation" meint: „man kann dessen sicher sein".

Zunächst ist dies aber doch nur die „ureigne" Meinung der „Nation".

Nicht von allen Seiten sind derartige Erhebungen der öffentlichen Mei­

nung in England so günstig beurtheilt worden.

Um den Enthusiasmus der

*) „Gott ist biö heute mit mir gewesen; wie sollte er mich verlassen, wenn ich in seiner Sache der Gefahr entgegengehe. Er wird mich dort so gut wie hier behüten."

Politische Correspondenz.

208

„Nation" zu einiger Nüchternheit zurückzuführen, erlauben wir uns einen Passus

aus Macaulay's Essay über Lord Byron zu reproduciren:

„Wo know no spcctaclc so ridiculous as the British public in one of its perioclical fits of morality.

In general, clopements, divorces, and family

quarrels, pass witli little notice. day, and sorget it.

geous.

AVc read the scandal, talk about it for a

But once in six or scvcn years our virtnc becomes outra-

We cannot süsser the laws of religion and decency to be violated.

We must makc a stand against vice.

English

people

appreciatc the

AYe must teacli libertines that the

importancc of domestic ties.

Accordingly

some unfortunate man, in no respcct more depravcd thau hundreds whose offenccs liave been treated witli lenity, is singied out as an expiatory sacri-

fice.

lf he has children, tliey are to be faken from bim.

fession, he is to be driven from it. liissed by the lower.

lf he has a pro-

11c is ent by the higher Orders, and

Ile is, in truth, a sort of whipping-boy,

by whose

vicarious agonies all the otlier transgressors of the saine dass are, it is supposed, sufficiently chastised.

AVe reflect very complacently on our own sevc-

rity, and comparc witli great pride the high Standard of morals establishcd in England witli the Parisian laxity.

victim is ruined and heartbroken.

scvcn years more“.*) —

At length our anger is satiated.

Our

And our vir tue goes quietly to sleep for D.

*) „Es giebt kein lächerlicheres Schauspiel als das britische Volk in einem seiner Periodisch wiederkehrenden Anfälle von Moralität. Für gewöhnlich wird von Ent­ führungen, Scheidungen und Familienzwisten wenig Notiz genommen. Man liest den Skandal, bespricht ihn einen Tag lang und vergißt ihn. Doch einmal alle sechs oder sieben Jahre, fühlt sich die Tugend beleidigt. Man kann es nicht dulden, daß die Gesetze der Religion miD des Anstandes verletzt werden. Man muß dem Laster einen Damm entgegensetzen. Man muß der Liederlichkeit zeigen, daß das englische Volk die Bedeutung der Familienbande zu schätzen weiß. Demzufolge wird nun ein Unglücklicher, obgleich in keiner Hinsicht verderbter als hundert andere, deren Vergehen mit Nachsicht behandelt worden, zum Sühnopfer aus­ erlesen. Hat er Kinder, so müssen sie ihm genommen werden. Bekleidet er ein Amt, so muß er daraus entfernt werden. Die höheren Klassen schneiden ihn, die niederen zischen ihn aus. Er ist thatsächlich eine Art Prügeljunge, durch dessen stellvertretende Qualen man alle anderen Uebertieter derselben Art genügend zu züchtigen vermeint. Selbstgefällig blicken wir auf unsere Strenge, und vergleichen mit erhabenem Stolz den hohen Standpunkt der Moral in England mit der Pariser Lockerheit. Endlich ist unser Grimm gesättigt. Unser Opfer ist zu Grunde gerichtet. Und die Tugend schickt sich an weitere sieben Jahre zu schlafen."

N o t iz e n. Das

biographische

Lexikon

des

Kaiserthums

Oesterreich

von

Constant v. Wurz back. Das Schwert des Damokles schwebt

schon einige Zeit über diesem alt-

österreichischen Werke, dessen Erscheinen vor mehr als dreißig Jahren von patrio­

tischem Beifall begrüßt wurde. in Wien

Die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften

übernahm die Unterstützung

desselben,

und in der Staatsdruckerei

daselbst wurde es in vortrefflicher Ausstattung gedruckt und verlegt. Aus

dem

jugendkräftigen Berfasser und Herausgeber,

der die Last der

großen Arbeit ganz allein getragen, ist inzwischen ein Greis

kann den Anfechtungen, welchen das Werk zehnten ausgesetzt

geworden.

Er

seit den letzten anderthalb Jahr­

ist, und welche seine Bollendung zn Hintertreiben drohen,

nicht mehr mit der früheren Kraft und Begeisterung entgegeutreten. Was ist in den dreißig Jahren,

während welcher 51 Bände des biogra­

phischen Lexikons im Druck erschienen sind und zugleich für die wenigen noch

ausstehenden Theile das Material gesammelt und wohlgeordnet

bereitgestellt

wurde, aus dem gemeinsamen österreichischen Baterlande geworden, dem das Werk ein Ehrendenkmal werden sollte!

Zwar das Staats- und Völkerrecht kennt noch das Kaiserthum Oester­ reich als eine einheitliche Monarchie.

Aber von den Bölkern Cis- und Trans-

Leithaniens will keiner mehr von einer gemeinsamen österreichischen Natio­ nalität etwas wissen.

die

Soldaten

Ist ja sogar Radetzky's Denkmal in Prag,

in welchem

der Oesterreichischen Armee den Feldmarschall

Schilde tragen, schon zum Anachronismus geworden!

auf dem

Es giebt officiell keine

österreichische Armee mehr, sondern nur eine gemeinsame, und daneben die Honved-Armee und auch Grillparzers: „In deinem Lager ist Oesterreich!" muß

als Legende verklingen. Wie

sollte da Wurzbach's biographisches Lexikon Oesterreichs nicht auch

ein Anachronismus sein?

Dem Magyaren,

dem Polen, dem Czechen,

Italiener wurde es nach und nach ein Dorn im Auge.

lutionen

konnten darin

nicht in

dem

Die Helden der Revo­

ihrem Sinne als National-Helden

gefeiert

werden.

Wohl hat der greise Geschichtschreiber, welcher fast mit allen Idiomen der

österreichischen Bölter vertraut ist, von Anbeginn seines Werkes an, alle ihre

Notizen.

210 nationalen Quellen

getreulich benutzt und sich gegen alle Nationalitäten der­

gleichen Unpartheiligkeit befleißigt.

Allein den Plan des Werkes

im Verlauf

seines Erscheinens umzustoßen, die Biographien nach Nationalitäten zu ordnen,

oder sie gar in verschiedenen Sprachen abzufassen, das vermochte er nicht.

Und

solche oder ähnliche Forderungen traten gerade an ihn heran, nachdem die ein­

heitliche

Staatssprache

im Kaiserstaate aufgegeben,

in Transleithanien

das

Magyarische als solche eingefübrt worden, und man auch in den cisleithauischen Kronlanden ähnliche unentwickelte Idiome, neben der deutschen Sprache zu gleich­

berechtigten Landessprachen erhoben hatte. Das Hauptärgerniß giebt Wurzbachs Lexikon dadurch, daß es immer noch

Gesammt-Oesterreich einheitlich umfaßt, und den altösterreichischen Standpunkt,

von dem aus es begonnen, und noch vor Eintritt der politischen Wandlungen

zum größten Theile ausgeführt worden, bis ans Ende festzuhalten sucht, wenn auch in möglichst milder Form.

Seit dem Herbst 1884 ist der 50. und 51. Band des Lexikons erschienen. Beide Bände noch

im Druck und Verlag der Kaiserlichen Staatöd ruckerci in

Wien, welche schon Schwierigkeiten wegen Fortsetzung des Werkes, das plötzlich

mit dem 50. Bande abgeschlossen werden sollte, erhoben hatte.

Wahrscheinlich

entzieht auch die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften, wie längst angekündigt

worden, dem Verfasser die bisherige Unterstützung. leicht die Vollendung des Lexikons

in Frage

Schon hierdurch wird viel­

gestellt.

Durch Kündigung des

Druckes und Verlages von Seiten der Staatsdruckerei würde sie sicherlich zur Unmöglichkeit, da die Beschaffung der gleichen typischen Ausstattung von anders wo her ein schwer zu überwindendes Hinderniß wäre.

denartige Alphabete slavischer Mundarten und

Es sind u. a. verschie­

der magyarischen

Welch hartes Geschick, wenn dem Verfasser die mühevolle,

erforderlich.

seine ganze Kraft

für ein Menschenalter in Anspruch nehmende Arbeit am Abende seines Lebens so gelohnt werden sollte!

Auch die wissenschaftliche Welt würde einen solchen Ausgang recht zu be­

dauern haben.

Denn bei allen Mängeln, welche dem lexikalischen Unternehmen

eines Einzelnen bei solchem Umfange nothwendig

anhaften

müssen, ist der

Werth des Wurzbach'schen Sammelwerkes für die Geschichte durchaus nicht zu

unterschätzen, da der Verfasser auch bei den kleinsten Biographien die benutzten

und zu benutzenden Quellen in möglichster Vollständigkeit verzeichnet hat.

Die

beiden jüngst erschienenen Bände umfassen den Buchstaben V bis Vrbna. Möchten die vorstehenden Zeilen dazu beitragen, das in Norddeutschland

nur wenig bekannte und benutzte Sammelwerk des verdienten Oesterreichischen Gelehrten mehr in Erinnerung zu-bringen.

Verantwortlicher Redacteur:

Trpss.

Professor Dr. H. Delbrück Berlin W. Wichmann-Str. 21.

Druck und Verlag von Ge0rg SÄci in er in Berlin.

Der Hof von Mdiz Kiosk. (Schluß.) Was der Türkei im gegenwärtigen Augenblick am Meisten noththut,

ist

die

Männer

thatkräftige Führung

der

durch

einen geschickten Staatsmann.

alten Schule sind verbraucht und neue Talente läßt

Die

das

Von den Ministern, welche

Mißtrauen des Sultans nicht aufkommen.

seit dem Tode Ali und Fuad Paschas das große Staatssiegel in Händen

gehabt haben, hat keiner eine irgendwie hervorragende Befähigung gezeigt. Midhat war vielleicht der Einzigste, der Umsicht und Energie genug be­

sessen hätte, das Ansehen der Pforte wieder zu heben; aber er ist elend

in der Verbannung zu Grunde gegangen.

Seit dem letzten Kriege hat

nur ein Mann sich längere Zeit hindurch das Vertrauen des Sultans zu

erhalten vermocht;

es

dies der gegenwärtige Premierminister Said

ist

Pascha, der den Beinamen führt: Jahren bekleidete

er

Bureaus der Pforte.

Kütschük, d. h. der Kleine.

einen untergeordneten Posten

noch

in

Bor zehn einem der

Wer damals dem kleinen, unscheinbaren Männchen

mit dem struppigen Bart, dem ängstlichen Gesichtsausdruck und scheuen, unterwürfigen Wesen begegnete, hätte schwerlich vermuthet, daß diese Per­

sönlichkeit wenige Jahre später die höchste Würde des Reichs bekleiden

würde.

Selbst in Stambul ist ein so rasches Aufsteigen auf der Leiter

Seine

des Beamtenthums selten.

Pascha

außer

schnelle Beförderung

glücklichen Zufälligkeiten,

Sultans auf ihn lenkten,

verdankt Said

die Aufmerksamkeit des

vor Allem seiner Abneigung gegen Intriguen

und einer Rechtschaffenheit,

Probe bestanden hat.

welche

welche bereits

zu

verschiedenen Malen die

Dem Sultan ist er blind ergeben; er gilt selbst

in türkischen Kreisen für unbestechlich und auch heute noch für arm.

Sein

Konak ist dürftig eingerichtet, seine Lebensweise äußerst einfach; er besitzt nicht einmal ein Landhaus für

die Sommermonate.

Said Pascha ist

niemals im Auslande gewesen, hat auch keine höhere Verwaltungsstelle

in der Provinz bekleivet und sein politischer Gesichtskreis ist demgemäß beschränkt. Den Mangel persönlicher Erfahrung aber Preußische ^uyrducher. Bd. LVI. Heft 3.

ersetzt 1(5

er durch

Der Hof von Mdiz-Klvsk.

212

große Schlauheit, die sich hinter der Maske eines ängstlichen, verschüch­ terten Wesens verbirgt, und durch eine in der Atmosphäre des Serails

ungewöhnliche

Festigkeit

auch dem

Sultan gegenüber.

Er hat

schon

wiederholt seine Entlassung eingereicht, wenn die Befehle seines Herrn ihn mit seiner politischen Ueberzeugung in Conflict brachten, — ein Auf­

treten, das nach den türkischen Vorstellungen dienstlicher Subordination gar nicht zulässig ist und ein weit größeres Wagniß bedeutet,

unter analogen Verhältnissen in Europa damit verbindet.

als man

Da Abdul

Hamid weiß, daß solche Acte ungewohnter Selbstständigkeit nicht persön­ lichen Motiven entspringen und er keinen treueren und ehrlicheren Rath­ geber finden könnte, als Said, so hat er bisher der Pression seines ersten Dieners stets nachgegeben.

In wichtigen Momenten besitzt der Letztere

mithin einen gewissen indirecten Einfluß; gesichert für die Dauer ist seine

Stellung dadurch noch keineswegs.

Vor einem Jahr hat ihm der Sultan

den Titel „Großvezir" verliehen; doch bedeutet dies nur eine Ranger­

höhung; die Amisbefugnisse des ersten Ministers sind dadurch nicht er­ weitert.

Die anderen Minister sind einfach Vollzugsorgane der vom Palais

ausgehenden Befehle.

in der Gunst.

Bald steht der eine, bald der andere etwas höher

Hin und wieder zieht der Sultan auch die entlassenen

und in Ungnade gefallenen Würdenträger wieder zur Audienz und ent­ läßt sie mit Geschenken.

Dies soll den im Amt befindlichen das Gefühl

allzugroßer Sicherheit rauben und die Entlassenen von Intriguen und

Conspirationcn abhalten.

Bei besondern Anlässen wird der nach

berufene Ministerrath durch diese Exminister verstärkt.

Es kommen dann

gegen 30 alte Paschas zusammen, die sich Alle gegenseitig gründlich hassen

und doch eine Uebereinstimmung erzielen müssen.

langwierig und ermüdend.

Die Berathungen sind

Es ist schon vorgekommen, daß die Sitzung

über 10 Stunden gedauert hat.

Von einer systematischen Bearbeitung

der Vorlage ist selbstverständlich nicht die Rede.

Man sitzt in Gruppen,

plaudert und raucht und bereitet sich Abends auf Divans und Lehnstühlen ein Nachtlager.

Die kaiserliche Küche liefert die Mahlzeiten.

Der Sul­

tan wird durch Adjutanten oder Mitglieder der Versammlung im Wege

mündlichen Rapports über den Gang der Verhandlung auf dem Laufen­ den erhalten.

Seine Wünsche geben den Beschlüssen der Versammlung

die nöthige Directive und die Sitzung wird meistens so lange fortgesetzt,

bis in dieser Hinsicht ein Einverständniß erzielt und der Sultan mit dem Ergebniß zufrieden ist. Das ganze Verfahren ist mehr oder weniger eine

Komödie und nur darauf berechnet,

den Sultan der Verantwortlichkeit

für seine eigenwilligen Entschließungen zu entheben. Das Verfahren selbst

Der Hof von Uildiz-Kiosk.

213

hat für die hohen Staatsbeamten etwas Entwürdigendes, und eine Be­ rufung zu einem in Jilviz tagenden Ministerrath ist für sie allemal der unerfreulichste und peinlichste Theil ihrer Amtsthätigkeit. Noch weniger einflußreich als die Stellung eines hohen Pfortenbe-

Obwohl stets in Jildiz an­

amten ist die der obersten Palastchargen. wesend,

können sie ihrem Herrn

um eines Auftrags gewärtig zu sein,

nur auf besondern Befehl nahen.

Regelmäßige Vorträge finden nicht

Alle Meldungen werden schriftlich gemacht und im Privatsecretariat

statt.

abgegeben.

sichtbar,

Der Sultan ist für die meisten seiner Hofbeamten nur dann

wenn sich durch Abhaltung einer Hoffestlichkeit oder

officiellen

Die Ansagen gehen vom Ober-

Audienz dazu ein äußerer Anlaß bietet.

Mit diesem Hofamt ist zugleich die Gesammtlei-

eeremonienmeister aus.

tung der Hofhaltung verbunden.

Inhaber dieser wichtigen und mühe­

vollen Stellung ist feit einer Reihe von Jahren Munir Pascha. Derselbe,

ein großer, stattlicher, eorpulenter Herr,

feinen Umgangsformen,

von europäisier Bildung und

war früher in der Diplomatie beschäftigt

jahrelang bei der Pariser Botschaft angestellt. sische Sprache,

und

Er beherrscht die franzö­

wie nur Wenige seiner Landsleute und verdankt diesem

Umstande feine Hofearriere, welche er als erster Dolmetscher des Divans begann und welche ihn im Lauf weniger Jahre zu einer der höchsten Hof­ stellungen führte.

Nicht minder als seine Sprachkenntniß sind dabei auch

sein Tact und seine Vorsicht maßgebend gewesen. politischen Intrigue oder Parteinahme

Er hat sich von jeder

fern gehalten.

Obwohl er als

Dolmetscher bei allen wichtigen Unterredungen des Sultans mit fremden Vertretern fuugirend, im Besitz der meisten Staatsgeheimnisse ist, hat er

der Versuchung, dieselben zu persönlichen Vortheilen zu verwerthen stets

widerstanden.

Unter

der

Maske jovialer

Gutmüthigkeit und Pariser

Boulevardhumors verbirgt er kluge Berechnung und scharfe Beobachtung. Obwohl seine Stellung in Folge der nie rastender! Hofcabalen mannig­

fachen Schwankungen ausgesetzt ist, hat er sich doch unter schwierigen Ver­ hältnissen zu behaupten und in gewissem Sinne unentbehrlich zu machen

gewußt.

welche

Er vertritt am Hofe die Gruppe der Indifferenten d. h. solcher,

ohne Anlehnung

an eine auswärtige Macht oder eine politische

Partei sich einem heiteren Epikureismus ergeben und den Dingen ihren Lauf lassen, wohlwissend, daß die Tage der Monarchie gezählt sind und die Zeiten einstiger Machtfülle des Sultanats nie wiederkehren können.

Seit dem Tode oes greifen Hamdi Pascha's,

der vornehmsten und

würdevollsten Erscheinung des Hofes,

ist die höchste Palastwürde eines

Oberkammerherrn unbesetzt geblieben.

Abdul Hamid war diesem geistig

unbedeutenden, aber der Dynastie treu ergebenen, liebenswürdigen alten

214

Der Hof von Mldiz-Kiosk.

Herrn äußerst zugethan.

Er hat seitdem oftmals geäußert,

er fände in

seiner Umgebung keinen, der würdig sei, die Stellung des Verstorbenen

Den

einzunehmen.

höchsten Rang

Kriegsminister Osman Pascha,

am Hofe bekleidet

gegenwärtig

der

welcher als Palastmarschall für die per­

sönliche Sicherheit des Sultans verantwortlich und als solcher Befehls­

haber der kaiserlichen Garden und Wachen ist.

Er hat sein Bureau im

Seraskierat und erscheint nur bei besonderen Anlässen in Mdiz-Kioßk.

Ob­

wohl der „Löwe von Plewna" sein Prestige in militärischen Kreisen längst eingebüßt und sich namentlich bei den türkischen Officierkorps durch Will­ kürherrschaft und Verwahrlosung der Armeeverhältnisse äußerst mißliebig

„Ew. Majestät

gemacht hat, halt der Sultan doch große Stücke auf ihn. können ruhig schlafen,

denn ein Osman wacht."

unter welcher sich der

schlaue General

aller Anstrengungen

einer

Dies ist die Devise,

im Palais

eingeführt und trotz

mächtigen Gegenpartei in der Gunst seines

Gebieters zu behaupten gewußt Hai.

Solange dieser Mann an der Spitze

der Heeresverwaltung steht, ist an eine militärische Reform nicht zu den­ ken.

Alle

Bemühungen

der

deutschen

Jnstructeure

müssen

fruchtlos

bleiben. Osman Pascha und sein Anhang wollen keine Reformen, welche sie selbst aus dem Sattel heben,

die alttürkische Partei desorganisiren

und den Sultan fremdländischem Einfluß zugänglich machen würden. Zu der nächsten Umgebung des Großherrn gehören außer den Ge­

nannten noch die Generaladjutanten Nusred, Nedschib, Fuad, Veli Riza u. A., alles Männer ohne persönlichen Einfluß oder politische Bedeutung. Sie erscheinen regelmäßig Vormittags in der kaiserlichen Residenz, bringen

rauchend, plaudernd und Kaffee trinkend einige Stunden in den als Anti-

chambres dienenden Räumen der oben beschriebenen kleinen Pavillons zu, gelangen nur selten und bei besonderen Anlässen in den Gesichtskreis des

Sultans und bilden

mit ihren glänzenden Uniformen die

nothwendige

Staffage bei feierlichen Audienzen oder Hofceremonien.

Eine bevorzugte Stellung unter dieser Kategorie genießen die Mar­ schälle Achmed Muktha und Fuad, welche durch ihre militärische Leistungen

bekannt und auch zu diplomatischen Missionen

verwendet

worden sind,

sowie der Generaladjutant Ali Rizani Pascha, welcher bei Beginn der egyptischen Krisis als Commissar nach Kairo entsendet wurde und später

dem Kaiser Wilhelm den Jmtiazorden Militärs

sind

auch

Mitglieder

überbrachte.

verschiedener

Diese drei hohen

militärischer

Specialcom­

missionen, denen die Prüfung von Reformvorschlägen auf dem Gebiet der

Ausrüstung und Verwaltung obliegt.

Sie versammeln sich an bestimmten

Tagens der-Woche in einem der Gartenhäuser des Palais. Der schleppende

Gang dieser Verhandlungen und ihre Resultatlosigkeit sind nur zu bekannt.

Der Hof von Dildiz-KioSk.

215

An den Berathungen dieser ständigen Commissionen betheiligt sich auch ein Officier,

ganz

eine

welcher,

gleichfalls zum Hofe des Sultans gehörig,

besondere Stellung

Gunst Abdul Hamid’s

dabei

erfreut.

einnimmt und sich

Es ist

der speciellen

dies der ehemalige französische

Oberstlieutenant Dreyse, ein Elsässer von Geburt, welcher während der Anwesenheit

als

Hamid

des

Sultans

Abdul Asts

Ordonnanzofficier zugetheilt

in

Paris

und

von

dem

Prinzen Abdul

diesem

Thronbesteigung nach Constantinopel berufen worden war.

mit einem hohen Range in die türkische Armee einzutreten.

eS ab,

behielt seine Charge als „Commandant".

eine

seiner

nach

Dreyse lehnte

besondere,

der

französischen

sehr

Er

Der Sultan gestattete, daß er ähnliche

Uniform anlegte; nur

mußte er die bisherige Kopfbedeckung mit dem Fez vertauschen.

Wahr­

scheinlich ist er auch heute nicht völlig aus dem Verband der französischen Armee ausgeschieden.

Abdul Hamid sieht seinen europäischen Günstling

häufig,

geht mit ihm spazieren, hört seine Rathschläge in militärischen

Fragen

und

überhäuft

ihn

mit

äußeren Zeichen

seines Wohlwollens.

Einen bestimmten Einfluß in politischen Angelegenheiten hat Oberst Drehst

indessen nicht erreicht und wahrscheinlich auch nicht erstrebt.

Er ist aus­

schließlich Soldat, als solcher erbitterter Gegner des Kriegsministers und

steht zu seinen deutschen Kameraden in einem, bei einem Franzosen sehr anerkennenswerthen, freundschaftlichen Verhältniß. Die Berufung deutscher

Officiere hat er lebhaft unterstützt. Angelegenheiten ungeachtet hat seiner bedient,

Seiner Zurückhaltung in politischen

sich Sultan Hamid

dennoch

gelegentlich

um neben dem officiellen Verkehr Unterhandlungen mit

einzelnen Mitgliedern der französischen Regierung zu führen.

So wurde

vor einigen Jahren, als vor der tunesischen Occupation zwischen Stambul

und Paris ein gespanntes Verhältniß eingetreten war, durch Vermittelung Dreyse’s von türkischer Seite ein Annäherungsversuch gemacht, der wegen der ablehnenden Haltung Herrn Freycinet’s zunächst allerdings resultatlos blieb,

nach dessen Rücktritt aber freundlichere Beziehungen mit den lei­

tenden Persönlichkeiten am Quai d’Orsay anbahnte.

Bekanntlich liebt es

der Sultan sehr, über die Köpfe seiner Minister und Botschafter hinweg

durch

besondere Agenten

handeln.

Dies System

mit fremden Höfen oder Regierungen zu ver­ einer

geheimen und mit den officiellen Kund­

gebungen keineswegs immer im Einklang stehenden Cabinetspolitik hat

nicht wenig zur Diskreditirung des Ansehens der Pforte im Auslande bei­ getragen und das Vertrauen zu den amtlichen Erklärungen der türkischen Staatsmänner erschüttert.

Unter den Sendboten,

deren sich der Sultan für vertrauliche Mit­

theilungen bedient, hat in letzter Zeit Reschid Bey eine bevorzugte Stel-

Der Hof von Mdiz-Kiosk.

216

Dieser junge Beamte war, ebenso wie sein College

lung eingenommen.

Raghib Bey, Zögling der Militärschule von Galata und wurde vor etwa

8 Jahren ausgewählt

aus der Zahl der Abiturienten von Abdul Hamid persönlich und zum Dienst

im Privatsecretariat bestimmt.

Sein ge­

schmeidiges Wesen und eine nicht zu unterschätzende Gewandtheit in der Ausführung geheimer Missionen erwarben ihm die besondere Gunst seines

Herrn.

Durch seine Entsendung nach Berlin, wohin er den General Ali

Nizamy im Herbst 1881 begleitete, wurde er auch in weiteren politischen Kreisen

Er

bekannt.

gilt für einen

besonderen Freund

Deutschlands.

Doch dürfte die Sympathie für unser Land wohl nur der Reflex der je­

des Sultans sein.

weiligen Stimmung ein

Es ist nicht zu erwarten,

daß

strebsamer Effendi, dessen Carriere lediglich von der Willkür des

Padischah abhängt, in kritischen Momenten jemals eine eigene Meinung

äußert

oder der gerade herrschenden Strömung gar offen entgegentritt.

So lange der Sultan bei seinen Annäherungsversuchen an Deutschland beharrt und in der Anstelluug Fremder das deutsche Clement bevorzugt,

so lange wird auch Reschid Bey den deutschen Interessen das Wort reden und der geeignete Ueberbringer confidentieller Mittheilungen sein.

Bei

einem Jdeenumschwung in Aildiz wird er aber ebenso wie jeder andere Diener des Hofes die Farbe wechseln. Jede der auswärtigen Botschaften

hat

ihre besonderen Freunde im

Palais, deren Intervention in schwierigen Fällen nachgesucht mit) oft mit Erfolg verwerthet wird. lange Zeit

Raghib Bey hatte mit der russischen Vertretung

intime Beziehungen.

Die

schwierigen

Verhandlungen

über

die Kriegskostenentschädigungsfrage, welche mit der Abberufung des reiz­

baren Herrn von Novikow dieses

Palastbeamten

Herr Nelidow,

ein

endeten,

geführt.

Der

wurden

häufig

durch Vermittlung

gegenwärtige Vertreter Rußlands,

äußerst gewandter,

in

der Schule Jgnatiew's groß-

gezogeuer Diplomat, hat es verstanden, das frühere gespannte Verhältniß

in ein freundschaftliches umzuwandeln,

es

und

bedurfte

für ihn um so

größerer Geschicklichkeit, da er als Ueberbringer der Kriegserklärung vom April 1877 und

Mitunterzeichner

des

Sultan persona ingratissima war.

zu allen Zeiten

enge Fühlung

gehalten

Hofes, und die geheimen Fonds, zur Berfügung stehen,

haben

Friedens

die

von S. Stefano beim

Die russische Vertretung hat aber mit

einzelnen Angestellten

des

dem Botschafter für solche Zwecke

die Pflege

dieser

Beziehungen

wesentlich

erleichtert.

Die englische Botschaft verfügt Biceadmirals Hobart Pascha,

in

der Person

ihres Landsmanns,

über einen zwar bereitwilligen, aber ziem­

lich ungeschickten Vermittler für

die

Geltendmachung

secreter

Wünsche.

Hobart Pascha, ein waghalsiger Seemann, hat sich früher durch tollkühne Unternehmungen einen gewissen Nuf gemacht. Seine Führung eines Blockadebrechers während des amerikanischen Secessionskrieges ist in Marinekreisen bekannt. Auch während des letzten russisch-türkischen Krieges gelang es ihm, auf der Donau an den russischen Strandbatterien vorbei und in das Schwarze Meer zu entkommen. Seine militärische Capacität und administrative Befähigung wird nicht hoch angeschlagen; mit Aus­ nahme jener seemännischen Abenteuer, die er selbst in eitler „Never caught“ betitelten Broschüre beschrieben hat, weist seine Laufbahn keine erheblichen Leistungen auf. In türkischen Kreisen ist er wegen seines rauhen Wesens unbeliebt, aus der Pforte durch stete finanzielle Verlegenheiten unbequem. Im Palais dagegen, wo er Bielen durch barsches Auftreten iniponirt, hat er als Generatadjutant seine petites eutrees und, wenn auch keinen Einfluß, doch häufig Gelegenheit, britische Jnteressen zu Gehör zu bringen. Für die Marine hat Sultan Abdul Hamid kein besonderes Interesse gezeigt. Die mächtigen Panzerschiffe, welche zu Zeiten seines Oheims mitten im Bosporits vor den kaiserlichen Palästen ankerten, sind in die Docks des „Goldenen Horns" verwiesen und befinden sich nach Aussage der Fachmänner in einem so verwahrlosten Zustande, daß ihre Indienst­ stellung ungeheure Kosten unb längere Zeit verlangen würde. Seit dem Frühjahr 1878 ist keines dieser großen Fahrzeuge in See gegallgen. Uebungsfahrten der Marine sind in der Türkei ebenso unbekannt, wie Feldmanöver der Landarmee. Jetzt ankern im Bosporus nur einige Dampfavisos, welche vornehmen Gästen gelegentlich für Vergnügungs­ fahrten zur Verfügung gestellt werden, und ein Kanonenboot, das als Wachtschiff dient. Die Entfernung der Panzerflotte ist früher vielfach commentirt worden. Man wird sich erinnern, daß die Palastrevolution von 1876 unter Mitwirkung von Marinelruppen ausgeführt und das Signal zum Ueberfall von einem der Panzerschiffe ausgegeben wurde. Diese Vorgänge haben das Vertrauen des Sultans auf die Zuverlässig­ keit seiner Seeofficiere erschüttert. Die Bewachung der Residenz ist einem ausgewählten Jnfanteriecorps zugewiesen, welches, wie schon er­ wähnt, unter dem Befehl Osman Pascha's steht und die ganze Umwallung von Mdiz-Kiosk besetzt hält. Diese Truppe ist in einem Barackenlager untergebracht, das sich längs der äußeren Umfassungsmauer hinzieht. Die Kaserne an der Seeseite ist mit 2 Bataillonen besetzt. Die Kopfzahl der Truppen, welche diesen Sicherheitsdienst versehen, kann auf ca. 10000 Mann veranschlagt werden. Der Eintritt in das Innere der Umwallung wird natürlich auf das

218

Der Hof von Aildiz-Kiosk.

Schärfste überwacht.

Nur die Beamten und Diener werden eingelassen.

Personen, welche amtliche Geschäfte in's Palais führen,

müssen

sich vor

dem wachthabenden Officier legitimiren.

Sultan Abdul Hamid ertheilt häufig Audienzen und ist im Ganzen

Fremden viel zugänglicher

seine Borgänger.

als

Neben den Vertretern

auswärtiger Mächte empfängt er auch gelegentlich Fremde von Distinetion,

journalistischen Welt.

der haute finance und

aus

Männer

Bennet,

des „New-Zork-Herald", Gordon

Besitzer

Pariser Timescorrespondenten Oppen, Geburtsort Blowitz zu

nennen

redungen, die natürlich

bald

wohl nur zu

diesem Zweck

der

sich

mib

Weit dem bekannten

dem

seinem böhmischen

nach

pflegt, hatte der Sultan längere Unter­

ihren Weg

in

die Presse

wurden.

abgehalten

fanden und die

Ueberhaupt un.terhält

Abdul Hamid mit der Presse einen viel intimeren Verkehr, als dies am

üblich

bisher

türkischen Hofe

war.

Nedaeteure

Die

in

der

türkischer

Sprache erscheinenden offieiösen Blätter „Vakit", „Terdschumani Hakikat" französischen Pfortenjournals „La Turquic“ erhalten

und des

structionen

aus

Mdiz-Kiosk;

„El Djewa’ib“,

das

ebenso

als Organ

der

der Herausgeber

des

ihre In­

arabischen

panislamitischen Partei angesehen

werden kann und in Tausenden von Exemplaren von Eonstantinopel nach

Egypten und den französischen Colonien Nordafrika'ö versendet wird.

Das

Zeitungslesen hat unter der türkischen Bevölkerung in den letzten Jahren

sehr zugenommen; aber eine strenge Censur sorgt dafür, daß die politische

nicht

Aufklärung der Gläubigen

Ausfälle gegen

schlage.

eine

regierungsfeindliche Richtung ein­

die Fremden

und Schmähungen des Christen­

thums sind in den türkischen Blättern der

Hauptstadt

nichts Seltenes.

Alle Berichte über auswärtige Vorgänge sind in usuni Delphini zurecht gestutzt

paßt.

und dem politischen Verständniß

Da nur wenig Europäer

entzieht sich der Einfluß, kreis ausübt,

unserer

die

türkische Schriftsprache kennen, so

den die officiöse Orientpresse auf ihren Leser­

Beobachtung.

wenn in kritischen Zeiten

unteren Volksklassen ange­

der

eine

wegung die Massen ergreift.

In

fanatische,

Europa

erstaunt

den Fremden

man

dann,

feindselige Be­

Man übersieht, daß eine solche Stimmung

oft lange vorher durch die türkische oder arabische Presse vorbereitet war und genährt wird.

Sultan Abdul Hamid ist der erste Padischah, der den

Einfluß der Presse erkannt hat und für politische Zwecke verwerthet. weicht auch darin von den Gepflogenheiten

sich

aus

Reichs

welches

europäischen

unterrichtet.

aus

den

Zeitungen Es

besteht

wichtigsten

Sultan in türkischer Sprache

über die

im

Er

seiner Vorgänger ab, daß er Vorgänge

Palais

ein

außerhalb seines

Uebersetzungsbureau,

abendländischen Blättern Auszüge für den herstellt

und

auch

ganze Werke übersetzt.

Der Hof von Mdiz-Kiosk. Namentlich wird Alles,

die deutschen,

was

219 und französischen

englischen

Die Folge

Zeitungen über die Türkei berichten, dem Sultan vorgelegt.

davon ist sehr oft das Verbot der Einführung derjenigen Blätter, deren Kritik den Sultan verstimmt aus

spondenten

vor 4 Jahren

der

in

einem

Ausweisnng

oder die

hat,

ihrer

Corre-

Gabriel Charmes

Seitdem

türkischen Hauptstadt.

Artikel der „Revue des deux

vielbeachteten

Mondes“ die türkischen Zustände einer

herben Kritik

etwas

unterzogen

hat, steht auch diese Zeitschrift mit verschiedenen anderen Pariser Blättern

auf dem Index. ergeht

Den

nicht

es

in

besser.

Pera

Thema der Tagespolitik,

erscheinenden

wird

Es das

gerade

des unvorsichtigen Blattes

nach

sich.

verboten,

dasjenige

die allgemeine Aufmerksamkeit er­

und Uebertretungen

regt, zu behandeln,

Zeitungen

levantinischen

meistens

ihnen

sofort die

ziehen

Confiscation

der eghptischen Wirren

Während

durften die perotischen Blätter weder Telegramme noch Berichte über die Vorgänge am Nil bringen,

und

diese

lächerliche Beschränkung war um

so zweckloser, als die levantinische Gesellschaft durch Privatdepeschen uno

die Mittheilungen

der

vom Ausland

eintreffenden Zeitungen

Verlauf der Krisis stets genau informirt war. drückung

einer

ausgeht,

so

in Pera

ist

die

erscheinenden Zeitung

Aufhebung

über den

Da der Befehl zur Unter­ gewöhnlich

dieser den Besitzer

vom Palais

schwer schädigenden

Maßregel nicht leicht zu erlangen und immer mit großen Geldopfern ver­

bunden.

damit zu helfen, daß

der Herausgeber

sucht sich

Häufig

er

eine neue Concession nachsucht und sein Blatt unter einem anderen Namen erscheinen läßt.

Von deutschen Zeitungen finden im Palais die „Kölnische" und die „Münch. Allg. Ztg." die

befohlen, werden.

daß

ihm

meiste

täglich

aus

Der Sultan hat

diesen

Blattern

kürzlich

unterbreitet

Daß diese Uebersetzungen sehr wortgetreu ausfallen, kann füglich

bezweifelt werden.

Die Beurtheilung, welche

türkischen Zuständen angedeihen geschwächt und,

läßt,

wird

die europäische Presse den

gewiß

in vielen Fällen ab­

von byzantinischen Formen umkleidet, an das Ohr des

Sultans gelangen. pomphaft.

Beachtung.

Auszüge

Alles,

Der türkische Curialstyl

was

im

Palais

zum

ist äußerst schwerfällig und

Vortrag

kommt,

Berichte,

Meldungen, Gutachten oder Memoires, kurz alle Schriftstücke, welche den

Charakter von Jmmediatberichten und phrasenhaften Hofstyl

des

gesprochenen Worts,

haben,

welche

in

müssen

eingekleidet werden.

den weitschweifigen

Selbst die Uebersetzung

der Dolmetscher

nehmen hat, unterliegt dem Zwang der Etiquette.

bei

Audienzen vorzu­

Den Redewendungen

des Ausländers wird dabei ein Stempel von Unterwürfigkeit aufgedrückt,

der den Intentionen, wie

dem Wesen

des Sprechenden

fern

liegt und

auch im Widerspruch steht zu der Form zwangloser Höflichkeit, welche Abdul Hamid bei den von ihm ertheilten Audienzen gestattet. Bei feier­ lichen Anlassen, bei der Begrünung fürstlicher Personen oder der Ent­ gegennahme von Beglaubigungsschreiben auswärtiger Bertreter wird natürlich das übliche Hofcerenwniell beobachtet, welches dem europäischen sehr ähnlich ist. Der Sultan erwartet seinen Gast alsdann stehend, auf einer niedrigen Estrade, welche in der Fensternische des großen Saals von Mdiz-KioSk angebracht ist mit) welche der Fremde mit dem Oberceremonienmeister und dem bei dieser Gelegenheit als Dolmetscher fungirenden Minister der auswärtigen Angelegenheiten betritt. Das Gefolge des Gastes, die Palasrbeam:en, Minister und Generäle, welche stets in großer Zahl anwesend sind, stehen im Saal selbst in ehrerbietiger Ent­ fernung. Alle türkischen Beamten verharren in einer etwas gebeugten Stellung mit niedergeschlagenen Augen, die eine Hand in die andere gelegt. Diese Haltung der Arme ist der Ueberrest der alten Sitte, welche verlangte, raß der Untergebene vor dem Höherstehenden die Arme über der Brust kreuze. Unter Abdul Asis hielt man die Arme noch verschränkt, so daß die Hände das Ellenbogengelenk umschlossen. Diese Haltung hatte noch den Anschein von Feierlichkeit. Die jetzige Haltung der Hande, welche sich auf dem Unterleib begegnen und in Verbindung mit der ge­ krümmten Stellung den Eindruck machen, als sei der Betreffende von heftigen Magenbeschwerden heimgesucht, wirkt dagegen komisch, namentlich bei Militärpersonen, bei denen wir im Abendland eine straffe, aufrechte Haltung zu sehen gewohnt sind. Längs den Wänden des Saals und auf den Treppenstufen, die zum obern Stockwerk führen, sind Leibwachen, Palastdiener und Sais aufgestellt. Schwarze Haremsdiener erscheinen niemals in der Umgebung des Sultans. Die Leibwache in violettsammtnen Schnürröcken, einen Busch von wallenden Straußenfedern auf der schwarzen kalpakähnlichen Kopfbedeckung, mit blitzenden Hellebardeu bewaffnet, ist für unsern Geschmack zu theatralisch aufgeputzt. Dagegen gewähren die albanesischen Leibwächter und Sais in ihren rothen reich­ gestickten Aermelwesten, den goldbetreßten Gamaschen und breiten, bunt­ seidenen Gürteln, in denen ein ganzes Arsenal silberbeschlagener Waffen steckt, einen prächtigen, malerischen Anblick. Diese Leute haben fast alle bei den albanesischen Aufständen oder in den montenegrinischeu Grenz­ kriegen eine Rolle gespielt. Viele von ihnen sind unbotmäßige Banden­ chefs oder einflußreiche Häuptlinge der Grenzdistricte, die man unter der Form eines Ehrendienstes beim Sultan in der Hauptstadt festhält, um sie besser überwachen zu können. Manche sind als Gefangene hierher gebracht. Sie dienen als Geiseln für die Aufrechterhaltung der Ordnung

221

Der Hof von Mdiz-Kiosk.

in den schwerzugänglichen Grenzgebieten. internirt.

Der

hat

Sultan

einflußreiche Kurdenchefs

Auch

auf

und macedonische Bandenführer sind

diese Weise in Constantinopel

von jeher das System

raublustige Stammeshäuptlinge,

deren

befolgt,

derartige

gegen

christliche

Ausschreitungen

Nachbarn der Pforte in Friedenszeiten oft Ungelegenheiten machen, unter persönliche

halten.

Aufsicht

zu

nehmen

Er weiß recht wohl,

und

in

glänzender

Einfluß dieser fanatischen Elemente Verwendung findet.

welche Alles

an die

Gefangenschaft

zu

der Augenblick kommen kann, wo der

daß

Vertheidigung

ihres

Glaubens

Es sind Männer,

setzen

und

deren

Kriegsdienste als Baschi-Bozuks nicht zu unterschätzen sind. Die einzigen wirklich militärischen Figuren des türkischen Hofstaats sind die Officiere der tscherkessischen Garde.

Nationalkostüm,

den langen

Sie

tragen das bekannte

faltiger! Waffenrock mit den Patronen auf

der Brust, hohe Stiefel, die Waffen an den schmalen, silberbeschlagenen Wehrgehängen, und nur der Halbmond an der schwarzen Lammfellmütze

kennzeichnet sie als Unterthanen vielleicht die

einzige

der Pforte.

Diese Elitetruppe,

wirklich kriegstüchtige Cavallerie darstellt,

numerisch sehr schwach.

welche

ist aber-

Das tscherkessische Regiment zählt gegenwärtig

höchstens 300 Pferde. Der Sultan trägt rrur bei feierlichen Gelegenheiten Uniform und

zwar den wenig kleidsamen Jnterimsrock der Infanterie.

Seine kleine

Figur und die nach vorn fallenden Schultern lassen ihn in dieser Tracht nicht Vortheilhaft

erscheinen.

Die glänzenden Decorationen passen nicht

zu dem einfachen Schnitt der schmucklosen Uniform, und er bewegt sich in

derselben mit einer gewissen Unbeholfenheit, welche verräth, daß ihm diese Kleidung ungewohnt und unbequem ist. viel besser aus.

In bürgerlicher Tracht sieht er

Er ist dann stets sehr sorgfältig, ja elegant gekleidet.

Bei Privataudienzen, welche in einem der Nebensalons von Jildiz-Kiosk

oder in den kleinen Gemächern des hart an den Harem stoßenden Gar­

tenpavillon ertheilt werden, erscheint der Sultan gewöhnlich im schwarzen Promenadenanzug, im Sommer auch bisweilen in einem morning-dress

aus hellem modischen Stoff.

Abdul Hamid liebt es, diesen Besprechun­

gen einen zwanglosen, fast vertraulichen Charakter zu geben.

Er nimmt

auf dem Sopha Platz, läßt dem Gast einen Sessel geben und bietet ihm

eigenhändig Cigaretten an. einer

der Privatsecretäre.

Als Dolmetsch fungirt Munir Pascha oder

Auch

dieser Beamte

darf

sich

setzen.

Sultan streift in der Unterhaltung die verschiedensten Gegenstände, launige Einfälle,

Der hat

treffende Bemerkungen und ist auch für einen guten

Witz empfänglich, wenn er in passender Form angebracht wird. steht etwas Französisch,

Er ver­

wenigstens soviel, um den Sinn der Gegenrede

Der Hos von Mdiz-Kiosk.

222

meistens schon vor der Uebersetzung zu errathen.

Er selbst drückt sich in­

dessen niemals in einer anderen Sprache aus, als in der türkischen. geschieht nicht satzweise,

Uebersetzung

sondern nach

Die

längeren Perioden.

Der Dolmetsch muß ein gutes Gedächtniß haben und

vor Allem

den

Sinn der Rede erfassen, da eine wortgetreue Wiedergabe unmöglich wäre. Das Amt

eines Dolmetsch

große Uebung

erfordert

und Gewandtheit.

Mißverständliche Auffassung oder incorrecte Wiedergabe kommt dennoch

bisweilen vor, namentlich dann, wenn es sich darum handelt, dem Sultan Sind dieselben wichtiger, poli­

unangenehme Mittheilungen zu machen.

tischer Natur,

so wird der fremde Diplomat gut thun, die Uebersetzung

durch seinen eigenen Dragoman, welchen er mitzubringen berechtigt ist,

controliren und ev. berichtigen zu lassen.

wie sie zuerst erwähnt wurde,

An eine feierliche Audienz,

sich immer unmittelbar

eine Festtafel an.

Die Veranstaltung

schließt

größerer

Diners am türkischen Hofe und die Zulassung europäischer Gäste zu den­

selben ist eine 'Neuerung,

welche zwar schon Abdul Asis einführte,

der er selbst aber nur höchst selten Gebrauch machte.

von

Im Ganzen will

die Sitte, daß der Beherrscher der Gläubigen ebenso wie der Papst allein

speist.

in

Gastmahle

unserm Sinne

überhaupt

entsprechen

nicht

den

orientalischen Gebräuchen, und ihre Einführung ist schon durch das Fehlen der

dafür

erforderlichen Zimmereinrichtungen

Geräthe

und

erschwert.

Stühle und Tische fehlen bekanntlich in der türkischen Haushaltung, ebenso wie

Messer

und

Gabeln.

Die

Speisen

werden

auf

einer

größeren

Messingplatte aufgetragen und diese auf einen niedrigen Schemel gestellt. den er ja über­

Der Türke nimmt seine Mahlzeit auf dem Divan ein,

haupt, solange er sich zu Hause aufhält, nicht verläßt.

Außer dem Haus­

herrn können also höchstens 3 oder 4 Personen von derselben Platte speisen, indem sie sich um das niedrige Tischchen in kauernder Stellung gruppiren.

Will ein reicher Orientale viele Gäste bei sich sehen,

so bilden sich

demselben Zimmer mehrere solcher kleinen Tafelrunden. Essen

wenig gesprochen wird,

in

Da aber beim

so trägt selbst diese Art der Gastfreund­

Noch jetzt halten die vor­

schaft keinen heiteren oder festlichen Charakter.

nehmen und mit den europäischen Tafeleinrichtungen wohlvertrauten Tür­

ken an der nationalen Form der Mahlzeiten fest. auf diese Art und zieht nur selten zur Mahlzeit hinzu.

werden,

Auch der Sultan speist

einen Vertrauten

oder Verwandten

Die Diners aber, zu welchen Europäer eingeladen

entsprechen durchaus den abendländischen Gebräuchen.

Sultan

Abdul Hamid scheint im Gegensatz zu seinem verstorbenen Oheim diese Art der Geselligkeit zu lieben; denn fast allwöchentlich findet eine größere

Tafel

in Mdiz-Kiosk

statt.

Dieser Fürst

ist

in seiner Neigung für

Der Hof von Mdiz-Kiosk.

223

Neuerungen sogar so weit gegangen, europäischen Damen Zutritt zu sei­

Mrs. Layard, die Gemahlin des britischen Bot­

nem Hofe zu gewähren.

schafters, der während des russisch-türkischen Krieges eine Zeit lang großen Einfluß in Stambul besaß,

Sultans des

war die erste Dame, die an der Tafel des

Seitdem ist diese Auszeichnung verschiedenen Damen

speiste.

diplomatischen Corps zu Theil geworden,

aus

allerdings weniger

Rücksichten einer im Orient gänzlich unbekannten Galanterie, als in Folge politischer Erwägungen,

welche den Sultan veranlassen,

sich dem einen

oder dem anderen Botschafter zu nähern und in der Hoffnung, ihn durch

besondere Gunstbezeugungen zu verpflichten.

päischen Dame

an

der Tafel

politische Bedeutung

und

wird

des in

Das Erscheinen einer euro­

eine

Großherrn hat daher Pforlenkreisen auch

als

gewisse

solche

be­

trachtet.

Die Galadiners in Mdiz-Kiosk verlaufen alle nach derselben Scha­

blone.

Der

einzige Unterschied besteht darin, daß die Tafel bald im

Sternen-Kiosk,

bald in einem der anderen Gartenhäuser servirt wird.

Der Sultan empfängt seine Gaste vor der Tafel in einem kleinen Kabi-

net,

wobei der Minister des Auswärtigen den Dolmetsch macht.

Man

tauscht einige der gebräuchlichen Höflichkeiten aus, an denen das türkische Gesellschaftsceremoniell so überreich ist.

Dann schreitet er seinen Gästen

voran in den Speisesaal, in welchem die übrigen Geladenen schon hinter ihren Stühlen bereit stehen und mit gesenktem Auge, die Hände über den

Bauch zusammengelegt und die Front nach ihrem Herrn gewendet, in ehrfurchtsvoller Haltung verharren. Der Sultan nimmt an einem schmalen Ende des Tisches Platz.

Zwischen ihm und seinen beiden Nachbarn, d. h.

dem vornehmsten Gast auf der

einen und dem Großvezier auf der an­

deren Seite besteht eine Entfernung, nicht zu groß, um die Unterhaltung zu ermöglichen.

Nun folgen zu beiden Seiten des Tisches die Geladenen

nach ihrem Range,

jedoch so,

daß ein Ausländer,

anwesend sind, mit einem Türken wechselt.

wenn deren mehrere

Neben dem Großvezier wird

gewöhnlich dem ersten Dolmetsch der Gesandtschaft der Platz angewiesen, so daß er der Unterhaltung, welche der Sultan mit dem Ehrengast führt, folgen kann. Am untern Ende der Tafel, dem Sultan gegeüber, sitzt der kleine Sohn des Sultans,

Mehemed mit seinem Spielkameraden und Oheim,

dem Sohne des ermordeten Abdul Asis.

Die Plätze neben

ihnen wer­

den gleichfalls als Ehrenplätze angesehen und denjenigen Fremden ange­ wiesen, welche noch ausgezeichnet werden sollen.

großen Menge

goldener

Leuchter besetzt.

Pariser Fabriken,

oder

doch

Die Tafel ist mit einer­

vergoldeter Aufsätze,

Schalen und

Die schönsten dieser Surtouts de table stammen aus verrathen aber denselben überladenen Geschmack, der

Der Hof von Mdiz-KioSk.

224

die Ornamente der türkischen Paläste und Mobilien charakterisirt.

Menü ist französisch, wie auch die Küche.

Das

Mr. Victor, der erste Leib­

koch, überwacht die Zubereitungen in den großen Küchen von Tschiragan. Bon hier werden

die Speisen in verdeckten Behältern durch

zahllose

Träger auf dem Kopf nach Jildiz getragen, dort auf rechaud’s erwärmt

und

servirt.

Dieser Vorgang

macht sie natürlich weniger schmackhaft,

viele Gerichte sind halb erkaltet, doch das lieben die Türken. Das Menü der kaiserlichen Galadiners ist fast immer dasselbe; bei jeder dieser Mahl­ zeiten werden nach der Suppe die kleinen in Hammelfett gebratenen Pa­

steten Börek und vor dem Dessert der Pillav servirt.

Meistens werden

aber auch sonst noch zwischen die französischen Gerichte einige Speisen eingeschoben,

blättern gekocht, das sog. Dolma und süße Gerichte; die

mit Creme

gefüllten Datteln

türkische

Reis in Wein­

z. B. Bohnen mit Hühnerfleisch,

unter letzteren sind

auch für unsere Gaumen sehr wohl­

Die anderen widerstehen uns meist wegen der Verwendung

schmeckend.

von Hammelfett.

Das auf der Tafel prangende,

Confect wird nicht servirt.

prachtvolle Obst und

Das Dessert fällt ziemlich spärlich aus. Doch

giebt es mitunter seltene Leckereien, wie Erdbeeren im Januar, Bananen und Ananas.

Der Sultan, Magen hat,

der sehr mäßig

ist und

außerdem

genießt sehr wenig, nimmt aber von

einen

schwachen

allen Speisen auf

seinen Teller, weil sonst nach türkischem Gebrauch die Gäste das Gericht

zurückweisen müssen.

Die alten Paschas futtern aber ganz gehörig.

Nur

die in der Nähe des Sultans sitzenden, welche auf ihren Stühlen stets eine halbe Wendung gegen den Padischah machen, asfectiren eine gewisse

Enthaltsamkeit. Natürlich trinkt keiner von den anwesenden Türken Wein.

Dem Fremden werden die bei Diners üblichen Sorten in leidlich guter Qualität eingeschenkt.

Die Enthaltung vom Wein schließt von selbst die

Ausbringung von Toasten aus, und dies ist das Einzigste, wodurch sich

die türkische Hoftafel von einer europäischen unterscheidet.

Der Sultan

unterhält sich viel mit seinem fremden Gast, richtet auch bisweilen ein Wort an den Großvezier und läßt den weiter entfernt sitzenden Fremden, welche er auszeichnen will, durch den Ceremonienmeister einige Höflichkei­

ten sagen. Für den dicken Munir Bey ist das Diner eine anstrengende Ange­

legenheit.

Er steht während der ganzen Tafel neben seinem Herrn, um

den Dragoman zu machen.

Da er beim Entgegennehmen der kaiserlichen

Rede ebenso wie beim Ueberbringen der Antwort die Armbewegungen und Bücklinge des Salems zu machen hat und das Diner meistens 2 Stunden

währt,

so ist diese Function für ihn eine Art Zimmergymnastik,

deren

Der Hof von Nildiz-Kiosk.

225

Effect deutlich auf seinem müden, schweißtriefenden Gesicht zu lesen ist. Munir entledigt sich aber seiner schwierigen Aufgabe mit unvergleichlicher

Geschicklichkeit; er beherrscht das Französische so gut, wie seine Muttersprache, und die Schnelligkeit und Genauigkeit seiner Uebersetzung macht

eine Unterhaltung mit dem Sultan äußerst leicht.

Man gewöhnt sich so

sehr an diese Form, daß einem die Verwendung des Dragoman durchaus nicht störend erscheint. Während der Tafel concertirt die Hofcapelle im Nebenzimmer hinter einer

Die

spanischen Wand.

Musikstücke

meist Potpourris

sind

aus

italienischen Opern, Ouvertüren, Märsche und andere melodiöse Tondich­ tungen.

Sie werden entweder vom ganzen Orchester oder von einzelnen

Instrumenten mit Begleitung des Claviers ausgeführt. Flötist steht besonders beim Sultan in Gunst.

einem Sänger eine italienische Arie vorgetragen; Musiker dem Auge unsichtbar.

Ein geschickter

Manchmal wird auch von immer aber sind die

Fremde Virtuosen, welche im Palais zu

concertiren wünschten, haben sich oft durch diese Einrichtung verletzt ge­ fühlt, einige sogar wegen dieser Beschränkung auf den Vortrag verzichtet,

die Meisten aber trösten sich mit dem reichen Honorar und dem Orden

und spielen

ihre Stücke hinter der spanischen Wand herunter.

werden nicht gestaltet.

sogleich beginnen.

Ist eine Nummer zu Ende,

Pausen

so muß die nächste

Dies wirkt etwas ermüdend; da aber die Musik nicht

so rauschend ist, wie die unserer Militärcapellen, so wird die Unterhaltung

nicht dadurch beeinträchtigt.

Nach der Tafel begiebt sich der Sultan mit

seinen fremden Gästen in ein kleines Rauchzimmer, wohin auch jetzt einige Der Sultan plaudert hier sehr

der vornehmsten Türken entboten werden.

zwanglos und gemüthlich und vertheilt aus seiner goldenen Dose eigen­

händig Cigaretten an die bevorzugten Gäste. dürfen aber nicht

rauchen.

Die anwesenden Paschas

Sobald sich der Sultan zurückgezogen hat,

begeben sich die Gäste in das große Antichambre, wo die anderen Gela­

denen bei Cigaretten und Kaffee verweilen.

Und von hier aus trennt sich

die Versammlung. Betritt man den großen Mittelraum des Palais, denselben, der als

Empfangssaal für feierliche Audienzen dient, so gewahrt man an einer der Wände neben dem Eingang in die Privatgemächer die lebensgroßen

Reiterporträts der beiden letztregierenden Sultane.

Der trotzige, herrische

Gesichtsausdruck, der bei Abdul Asis so charakteristisch war und durch den tief in die Stirn gerückten Fez einen noch finstereren Zug erhielt, ist von dem

europäischen Künstler

vortrefflich

wiedergegeben.

Jeder Zoll

Despot! möchte man beim Anblick dieser Erscheinung sagen.

welch jäher Sturz, welch schreckensvolles Ende!

ein

Und doch —

Mit seinem Vater Abdul

Der Hof von Mdiz-Kiosk.

226

Medschid hat der jetzt regierende Sultan eine große Aehnlichkeit.

sind die

gemeinsam

schönen,

Beiden

regelmäßigen Gesichtszüge und der etwas

müde, melancholische Ausdruck. Die starken, naheaneinderstoßenden Augen­ brauen, die feingeschnittene Nase und der weiche, glänzende Vollbart ver­ künden

tscherkessische

die

Abkunft

mütterlicherseits.

Der

Abdul

Kopf

Hamid's ist der Typus eines schönen Orientalen semitischer Nasse.

Abdul Asis war die mongolische Abstammung

mehr ausgeprägt.

dem regierenden Sultan giebt eS, soviel ich weiß, kein Porträt.

Vielleicht

haben ihn religiöse Bedenken abgehalten, einem Künstler zu sitzen. kanntlich verbietet der Koran die bildliche Darstellung

In Von Be­

lebender Wesen.

Dies Gesetz wird auch in der Architectur festgehalten, und in der Orna­ mentik orientalischer Prachtbauten sind Menschen- und Thiergestalten aus­ Blumen, Früchte und namentlich die bis zur höchsten Voll­

geschlossen.

endung getriebene Darstellung mathematischer Figuren bilden den einzigen

erlaubten Schmuck für Fanden und Wandbekleidungen. auf ein sehr dürftiges Gebiet beschränkt.

Die Malerei ist

In den neugebauten Palästen

findet sie wohl einige Verwendung in kleinen Deckengemälden und Sopra-

porte.

Aber auch

hier sind nur Stillleben aus der Pflanzenwelt und

milunter höchst seltsamer Weise Schiffe dargestellt.

Gemälde als Wand­

In den von

verzierung sind dem rechtgläubigen Türken nicht gestattet.

Sultan Abdul Hamid bewohnten Kiosken bilden denn auch die obener­

wähnten Porträts den einzigen Bilderschmuck und gleichzeitig einen Verstoß gegen die herrschende Sitte. Moslem;

Abdul Asis aber war kein strenggläubiger

er liebte die Malerei,

kaufte eine Menge Bilder,

meist sehr

zweifelhaften Werthes, die er in seinen Privatgemächern in Dolma-Bagdsche

aufhängen ließ, und soll sich auch selbst als Dilettant in dieser Kunst ver­

Von Abdul Hamid wird das Gleiche erzählt.

sucht haben.

an seinem Hof kein auswärtiger Künstler aufhält,

deres Studium

letzten Jahren

dieser Kunstbranche jedenfalls

haben

so

Da sich aber

ist ein eingehen­

ausgeschlossen.

sich allerdings einige Türken

In den

über das religiöse

Verbot hinweggesetzt und die Malerei systematisch betrieben.

Ein künst­

lerisch gebildeter Pfortenbeamter Hamdi Bey, gegenwärtig Director des

Antikenmuseums, hat es darin ziemlich weit gebracht, und die von ihm ausgestellten

Bilder

zeugen

von

Geschmack und

Talent.

Sie

stellen

meistens Scenen aus dem Harem dar, was eine weitgehende Vorurtheilslosigkeit des muhamedanischen Künstlers bekundet.

Obwohl

wir über

das Treiben in den Haremliks der vornehmen

Türken durch die Mittheilungen europäischer Damen und Aerzte längst genau informirt sind, so bleibt doch die Schranke unübersteiglich, welche Gesetz und Sitte zwischen dem öffentlichen Verkehr und dem Familienleben

227

Der Hof von Mdiz-Kiosk.

errichtet haben.

Es ist ein Irrthum, wenn vielfach angenommen wird,

die abgeschlossene Lebensweise der Frauen sei muhamedanische Einrichtung.

eine

türkische

oder

doch

Sie ist vielmehr allen Volksstämmen des

Orient gemeinsam; der Islam hat nur die Volkssitte in gesetzliche Formen gebracht.

Auch die Frauen der levantiuischen Juden, Armenier und selbst

der griechischen Rajahs sind von dem öffentlichen Leben ausgeschlossen und

leben in einer gesellschaftlichen Vereinsamung, die der Gefangenschaft des Religion und Sitte gestatten ihnen allerdings,

Harems sehr ähnlich ist.

unverschleiert zu gehen und sich Abends am offenen Fenster oder in der

geöffneten Thür des Haussturs dem Blick der Vorübergehenden zu zeigen. Aber die Theilnahme an öffentlichen Belustigungen ist ihnen so gut wie untersagt, unb ein gesellschaftlicher Verkehr beider Geschlechter besteht nicht.

Die reichen Armenier von Constantinopel, welche meistens eine durchaus europäische Erziehung und Bildung

genossen

haben,

halten

an diesem

Herkommen fest, und ihre Gastfreiheit geht nicht soweit, dem Fremden Zutritt zu ihrem Familienleben zu gestatten.

Bei dieser allgemeinen Ab­

grenzung, welche die levantinische Frauenwelt auf die innere Häuslichkeit beschränkt, ist die strenger durchgeführte Claustration der türkischen Frauen

weit weniger auffallend.

Man kann mit einem Türken noch so gut be­

kannt, ja nahe befreundet sein, so wird doch sein Familienleben niemals das Thema der Unterhaltung bilden.

Es gilt für unschicklich, nach dem

Befinden der Frau des Hauses zu fragen oder bei Krankheits- und Todes­

Das eheliche Verhältniß, — fast alle

fällen einen Antheil zu bekunden.

Türken leben in Einzelehe —, gilt als unpassender Gesprächsstoff. Diese Zurückhaltung,

welche

sich

schon Privatpersonen

gegenseitig

auferlegen, wird natürlich in noch viel höherem Maße bez. des kaiserlichen Harems gefordert. Das Familienleben des Sultans entzieht sich durchaus

der Oeffentlichkeit.

Irgendwie zuverlässige Angaben über das, was hinter

der hohen Umfriedigung des kaiserlichen Harems vor sich geht, sind nicht zu erlangen.

Die Hofbeamten vermeiden jedes Gespräch darüber.

Ihre

Unterhaltung verstummt überhaupt, sowie sie bei Spaziergängen im Park in die Nähe jener Umfriedigung gelangen.

Sie gehen still und mit ge­

senktem Blick daran vorüber, und auch der fremde Gast wird wohlthun,

dieses Verhalten zu beobachten,

wenn er nicht für tactlos und unehrer­

bietig gelten will.

Es

wäre

zum Schluß

hier

noch eine Persönlichkeit zu erwähnen,

welche unter allen Bewohnern von Mdiz-Kiosk vielleicht den bedeutendsten Einfluß besitzt, deren Wirkungskreis aber dem Auge des Europäers völlig

unzugänglich bleibt.

Es ist dies Bechram Aga, der Chef der Eunuchen.

Das Amt eines Kislar Agassi oder obersten Aufseher des Harems gilt Preußische Jahrbücher.

Bd. LVI.

Heft 3.

Der Hof von Mdiz-Kiosk.

228

an orientalischen Höfen stets als eine besondere Vertrauensstellung.

Die

Kenntniß aller Serailgeheimnisse und der nahe persönliche Verkehr mit dem

Fürsten verleiht ihm einen Charakter von Intimität, welche die mit dieser

Würde Bekleideten zu ihrem eigenen oder ihrer Günstlinge Vorlheil ge­ schickt auszunutzen

verstehen.

In

früheren Zeiten wurden sie von den

Großen des Reiches und Vertretern auswärtiger Mächte häufig umworben, und die Geschichte deß Serail von Stambul ist reich an Fällen, wo der­ artige Intriguen für die Gestaltung der staatlichen Verhältnisse entschei­

Wenngleich die Reformen der letzten Decennien an

dend gewesen sind.

der Schwelle des Harems Halt machten, so hat doch die Stellung des

Kislar Agassi in unserer Zeit eine erhebliche Beschränkung erfahren. Von

den auswärtigen Vertretern wird

seine Epistenz

und auch die

ignorirt,

höheren Pfortenbeamten bedürfen seiner Gunst nicht mehr,

um sich im

Amt zu erhalten.

spielt er in

Politischen Einfluß besitzt er nicht,

doch

den Grenzen des Familienlebens und der ihm speciell zugewiesenen Sphäre immerhin eine bedeutende Rolle.

Während früher der oberste Harems­

wächter eine gefürchtete Persönlichkeit war,

ein Wesen,

das sich für die

ihm und seinen Schicksalsgenossen zugefügte Schmach durch tückische Grau­

samkeit, Hochmuth und harte Behandlung seiner Untergebenen zu rächen

suchte,

sehen wir in Bechram Aga jetzt einen fetten,

dessen Benehmen

wohlwollende Würde

athmet und

behäbigen Herrn, der

sich

in seiner

correcten, europäischen Kleidung den Anschein eines höheren Staatsbeamten oder Geheimraths zu geben sucht.

Er bekleidet einen hohen Rang, besitzt

die höchste Ordensdecoration, welche

an türkische Beamte verliehen wird

und hält in seinem prächtig eingerichteten Konak einen glänzenden Haus­ halt.

Sein Marstall ist mit den besten Pferden arabischer Race versehen;

er ist sehr reich und liebt den Luxus, denn er hält einen Harem.

Seine

jüngeren Untergebenen ahmen dies Beispiel nach und treiben alle, mehr oder weniger, großen Aufwand.

Sie sind alle große Pferdeliebhaber und

treiben einen meist lucrativen Handel.

arabisches Pferd kaufen will,

Wer ein besonders werthvolles

wendet sich an diese Herren.

Die Preise,

welche von ihnen gefordert und — wenigstens von türkischen Liebhabern — gezahlt werden,

sind enorm.

Während ein gutes anatolisches Reit­

pferd für 20—30 Livr. (360—540 Mark) zu haben ist, werden für ara­ bische Hengste echter Abstammung nicht selten 300—500 Livr. gezahlt, und diese Preise steigen unter Umständen noch höher, wenn das Thier gewisse

äußere Abzeichen hat,

auf welche der Orientale

so

großen Werth legt.

Natürlich muß es ein Hengst und von weißer Farbe sein, womöglich mit einem dunklen Querstreif hinter dem Thier

besondern Werth

den Ohren.

verleiht,

habe

Warum dieses Abzeichen

ich

nie

ermitteln

können.

Der Hof von Mdiz-KioSk.

Vielleicht gilt es

229

als vererbtes Maal irgend eines berühmten Stamm­

Dunkelfarbige Pferde, Füchse oder Braune sind minderwerihig,

halters.

Rappen vom Handel vollständig ausgeschlossen.

Ein gläubiger Moslem

wird sich nie entschließen, ein mit dieser Teufelsfarbe behaftetes Pferd zu besteigen.

Bechram Aga läßt sich nur selten in Stambul und niemals in den

Christenquartieren sehen.

er

Doch empfängt

in seinem Konak Besuche

und ist auch gelegentlich Fremden von Distinction zugänglich. Besuch wird aber als eine weniger ihm,

merksamkeit betrachtet.

Ein solcher

wie dem Sultan geltende Auf­

Die schwarzen Haremsbeamten sind sehr zahlreich.

Viele wohnen in den Nebengebäuden der Paläste Tschiragan und Dolma-

Man begegnet ihnen oft in den Straßen der türkischen Quar­

Bagdsche.

tiere, wo sie durch ihr gespreiztes, aufgeblasenes Wesen und die gesuchte Eleganz

ihres Anzugs

auffallen.

Sie

tragen

ebenso

alle Hofbe­

wie

diensteten die einfache, schwarze, unkleidsame Tracht, welche Abdul Med-

schid für die ganze Beamtenwelt einführte, die zugeknöpfte Stambulina,

d. h. einen Tuchrock mit langen Schößen und ohne Kragen, schwarze Bein­ kleider und als einziges orientalisches Abzeichen den Fez. mäßigkeit dieser Tracht führt dahin,

Die Gleich­

auch im Orient sich jetzt ein

daß

Würdenträger sowenig von seinem Diener unterscheidet,

in Europa

wie

bei Anlegung des Gesellschaftsanzuges.

Die

Palais sind in gleicher Weise gekleidet,

nur tragen sie an den Röcken

Metallknöpfe

mit

der

kaiserlichen Thura.

aufwartenden Lakaien im

Die dunkle,

den fränkischen

Schnitt nachahmende Beamtentracht erscheint unserm Auge noch unfreund­ licher,

da

sie keinen Streifen

weißer Wäsche sehen läßt.

Die älteren

Türken, welche die neue, unbequeme Kleidung nur außerhalb des Hauses

anlegen und

daheim den Kaftan

und das weite Beinkleid bevorzugen,

tragen auch unter der Uniform buntfarbige Unterkleider aus Wolle oder

Kattun.

Grelle,

auffallende Muster,

wie sie bei uns früher zu baum­

wollenen Möbelüberzügen üblich waren, sind besonders beliebt.

Nur die

jüngeren, stutzerhaften Effendis haben sich zur Anlegung gestärkter, weißer

Leibwäsche bequemt und lassen mit Ostentation ihre breiten Manschetten sehen.

Der einzige Luxus, den die türkische Herrenwelt jeden Alters sich

gestattet, wird in lackirten Stiefeln getrieben.

Beim Ausgehen werden

darüber, selbst bei trockener Witterung, lederne Galoschen getragen. Nach

orientalischem Brauch wird bekanntlich die Fußbekleidung an der Thür des

Gemaches abgelegt, damit nicht durch den Staub und Schmutz der Straße der Wohnraum verunreinigt werde. Eine Concession an diese alte Sitte ist die Anlegung der doppelten Fußbekleidung, und auch Europäer, welche viel

in türkischen Häusern verkehren, thun gut, dieselbe Rücksicht zu beobachten. 17*

230

Der Hof von Mdiz-Kioök.

Die auf alle Rangklassen sich erstreckende Gleichmäßigkeit der Amts­ tracht ist bezeichnend

für das demokratische Element,

das

sich

von den

ersten Zeiten der Eroberung her im türkischen Staatswesen erhallen hat. Hier lag von jeher die Autorität nur in einer Hand, in der des Staats­ oberhaupts.

Die Kasten der asiatischen Despotieen oder die Stände des

europäischen

Mittelalters

sich

konnten

unter

Säbelherrschaft

der

der

Auch heute giebt es in der Türkei

Sultane und Khalifen nicht entwickeln.

noch keinen Adel, keine Aristokratie, keine bürgerlichen Klassenunterschiede.

der Bootsführer

und

Der Lastträger von Galata

von Skutari können,

wenn sie Glück und Geschick haben, ebenso gut Vezier, Bali oder Kapudan

Pascha werden, beamten. Princip

wie

Diese

eines

die Söhne

Mischung

würdigste Eigenart

Absolutismus

türkischen StaatSlebcns.

des

und Palast­

Grundideen

demokratischen

durchgeführten

praktisch

©enerase

der Botschafter,

von

mit die

bildet

erklärt

Sie

dem

merk­

auch den

Gleichmuth, den ein Mitglied dieses gesellschaftlichen Organismus in den einer

Wechselfällen

Steigen

Das

und

oft

bewegten,

auf

Fallen

Existenz

abenteuerlichen

ja

Stufenleiter

der

bewahrt.

socialen Erfolgs

des

regelt sich nicht nach Gesetzen oder nach de:n Maß persönlicher Fähigkeit. Ein Sturz von stolzer Höhe verlangt noch nicht den endgültigen Verzicht

auf Ansehen und Wohlleben; ebensowenig gewährt der Besitz dieser Güter

Diese Unbeständigkeit ist es, welche das

eine Sicherheit für die Zukunft. türkische Beamtenthltm corrumpirt

und

nothwendigerweise dahin geführt

hat, daß jeder, der im Besitz eines Amtes

ist, dasselbe ztt eigenem Vor­

theil ausbeutet und mißbraucht, um für die Zeit der Ungunst einen Zehr­ pfennig zu sammeln. bei

ihren

Mitbürgern

als Diener

Der Beamte

des Sultans,

Unzuverlässigkeit

des größten

diese Corporation

dazu beigetragen,

Stammesgenossen

und

discreditiren.

zu

Der

von dem Träger des Kaftan nicht sonder­

Träger der Stambulina wird lich geachtet.

und

Die Venalität

Theils der Beamten hat ihrerseits

gilt was

nicht er

ja

als Diener

des Staats, sondern

auch thatsächlich ist.

Der unab­

hängige, von seinen Renten, seinem Handwerk oder dem Landbatt lebende

Moslem macht keinen großen Unterschied zwischen einem höheren Pforten­

beamten und

einem

niederen Bediensteten.

und Vermögenslage Jedermann mit „Effen-

verschiedenen Lebensstellung dim", „Herr" angeredet

wird.

Bezeichnungen hinzuzufügen. geredet

und

bedient

sich

Erstere erwecken Furcht, ge­

Eigenthümlich ist es auch, daß ungeachtet der

nießen aber kein Ansehen.

Es

ist

nicht

üblich,

Titel oder andere

Auch der Sultan wird mit „Effendim" an­

dieser

Form

seinen

Untergebenen gegenüber.

Familien- und Geschlechtsnamen giebt es nicht in der Türkei. berühmter Väter können nicht,

wie

bei

uns, aus

den

Die Söhne

Leistungen ihrer

Der Hof von Aildiz-Kiosk.

231 Die türkischen

Vorfahren den Anspruch auf besondere Beachtung ableiten. Großen können

Ruhm

ihren

über ihr Vermögen sind sie beschrankt.

volle Existenz für immer, und Namen auf.

selbst

der Verfügung

in

Mit dem Tod erlischt eine glanz­ die Geschichte

türkischer Officier,

Ein

selbst

vererben;

nicht

bewahrt nur wenige

eine europäische Bildung er­

der

halten hatte und von dem Wunsch beseelt war, seine unbedeutende Person durch den Reflex

eines

berühmten

interessanter

Vorfahren

zu

machen,

erregte unlängst Erstaunen und Heiterkeit, als er auf seinen Visitenkarten dem eigenen Namen die Bezeichnung hinzufügte: „Enkel Fuad Paschas." Durch die Familie dieses jungen Reformtürken geht anscheinend ein frei­

geistiger Zug; denn seine Bkutter,

in perotischen Kreisen berühmte,

eine

türkische Schönheit, heirathete vor einem Jahr einen belgischen Diplomaten. So viel mir bekannt, ist dies der erste und einzigste Fall, wo eine Türkin der höheren Stände zum Ehristenthum übergetreten ist.

sie ihr Geburtsland verlassen.

als todeswürdiges

Verbrechen

äußerst selten;

kommen

sie

Bevölkerung und

Natürlich mußte

Der Moslem sieht einen Religionswechsel

an.

fast

Uebertritte zum

nur

in Provinzen

Zwanges vor.

äußeren

unter der Einwirkung

wird sich erinnern, wie der bloße Verdacht, für den Uebertritt zur orthodoxen Kirche

daß

Christenthum

sind

mit stark gemischter Man

türkisches Mädchen

ein

sei, die Excesse und

gewonnen

den Consulnmord in Salonik hervorrief.

Unter

den

vornehmen Türken Stambuls

der religiös-freisinnigen Anschauungen huldigt der Lehre Mohameds abgewendet hat.

Vorschriften des Korans

genau

Das Beispiel Sultan Abdul welche sich in der Umgebung

des Hofes befinden.

Kleine Uebertretungen

wie das Rauchen

den Tagen des

Spirituosen, welche

des Weins fallen, u. dgl. m.

kommen wohl häufig vor,

Fastenmonates,

der

Genuß

von

nach sophistischer Auslegung nicht unter das Verbot

das

Unterlassen der 5 Waschungen

Aber es wäre

punktes zu rühmen

es Manchen geben,

Aeußerlich wird er die religiösen

befolgen.

Hamid's ist natürlich maßgebend für Alle,

an

mag

und sich tn’6 Geheim von

gefährlich,

sich

oder denselben gar

eines

vor dem Gebet

solchen

öffentlich

freien Stand­

zur Schau zu tragen.

Fünfmal des Tages tritt ein grün beturbanter Muezzim auf die Terrasse von Mdiz-Kiosk, und sein weithin schallender, schriller Ruf verkündet den

Bewohnern des Parks, daß die Stunde zum Gebet gekommen.

gezogenen Töne des figurenreichen Gesanges in Moll gehaltenen Cadenz

und sind

machen

obwohl

mit

Die lang­

den Eindruck einer unserm Notensystem

nicht vereinbar, doch nicht ohne melodischen Reiz. Diese fünf zwischen Sonnenaufgang

und Untergang

fallenden Ab­

schnitte regeln zugleich die Mahlzeiten und dienstlichen Obliegenheiten deS

Der Hof von Vildiz-Kiosk.

232 Hofpersonals.

Nach dem Abendgebet verlassen Alle, welche nichl ein be­

sonderer Auftrag zurückhält, den Park

und

begeben

sich in ihre Stadt­

Der Sultan zieht sich in den Harem zurück, die Wachtposten

wohnungen.

der Umfriedigung werden verdoppelt,

und

um die kaiserliche Be­

rings

hausung herrscht Stille und Dunkelheit. Aus der vorstehenden Skizze wird

lager von Mldiz-Kiesk

wenig

man entnehmen,

daß

den Vorstellungen entspricht,

der Lebensweise und dem Haushalt

Fürsten

orientalischer

das Hof­

die wir mit 511 verbinden

Pracht, Ueppigkeit, Schwelgerei sind diesem prunklosen, fast ge­

pflegen.

sucht einfachen, kaiserlichen Wohnsitz

entfaltete Glanz hat

wenig

fern.

orientalische

Der bei besonderen Anlässen

Eigenart

bewahrt.

Die Ein­

richtung des kaiserlichen Wohnsitzes ist weder sehr kostbar noch besonders

geschmackvoll.

Die Festlichkeiten bieten

Kunstsinn ist hier nicht zu Hause.

keine überraschenden oder fesselnden Effecte der Scenerie. kleineren, deutschen Höfen wird mehr

An den meisten,

blendende Pracht entfaltet, herrscht

ein das Auge mehr befriedigender, ich möchte sagen stilvollerer Luxus. Aber

wenn

auch Abdul Hamid

in

den prächtigeren Räumen

von

Tschiragan oder Dolma