164 59 46MB
German Pages 652 Year 1885
Preußische Jahrbücher. H e v ci ii s q e (\ e b e n
von
H. von Treitschke unb H. Delbrück.
S e ch s u n d fu n fzi g st er Band.
Berlin, 1885. Druck und Verlag von Georg Reimer.
Erstes Heft. Die Grenzen zwischen Malerei und Plastik und die Gesetze deS Reliefs. (Guido Hauck.)..................................................................................................... Seite Die Verwaltung der Stadt Berlin. 1IL (EdgarLoening.) .. ............................. — Flotten-Frageu. (B.*)................................................................................................ — Prinz Friedrich Karl. (H. Delbrück.).........................................................................— Drei Briefe von E. M. Arndt. (E. Martin.).................................................... — Politische Correspondenz: Der englische Ministerwechsel. ( lich verbunden werden. Im bewußten Gegensatze zu solchen Bauplänen einer Kirchenverfassung, bei welchen es als die Aufgabe der synodalen Einrichtungen angesehen wird, das Kirchenregiment zu kontroliereu und ein Gegengewicht gegen etwaige Uebergriffe desselben zu bilden, forderte Herrmann ein stetes Zusammenwirken des consistorialen und synodalen Elementes. Jedes derselben soll von dem andern den Beitrag empfan gen, den es aus sich selbst nicht zu leisten vermag. Seit diesem Vor-
115
D. Emil Herrmann.
trag waren die Blicke aller, welche in der endlichen Herbeiführung einer kirchlichen Organisation die unerläßliche Voraussetzung
für
eine wirk
samere Entfaltung der in der evangelischen Kirche vorhandenen geistigen
Kräfte erblickten,
ein
wurde,
in
das
Vorläufig
bot
auf Herrmann
erwariungsvoll
Jahrzehnt
ganzes
jenem
ihm
nur
bis
vergehen,
sollte
gerichtet.
ihm
zu
aufgestellte Ziel
Programm
Aber noch verwirklichen.
deutsch-evangelische Kirchentag,
der
geboten
Gelegenheit
zu dessen
Vorsitzenden er im Jahre 1864 zu Altenburg gewählt wurde, dann und
wann
Gelegenheit,
reiten
zu helfen.
mit
Worten
beredten
diese Verwirklichung
Zu Kiel im Jahre 1867,
zu
vorbe
Stuttgart im Jahre
1869 und endlich auf dem letzten im Jahre 1872 zu Halle abgchaltenen Kirchentage Hal Herrmann die Verhandlungen mit der ihm eigenen Um
sicht und Gewandtheit geleitet.
Bkit
seinem
Rücktritt vom Präsidium
des Kirchentages ist auch eine Vertagung desselben ad caleiidas graecas
eingetreten.
Inzwischen hatten die Ereignisse von 1866 auf Herrmanns Leben
eine
tiefgreifende
eigenen Worte:
Rückwirkung
ausgeübt.
seiner geschichtlichen Mission gegebene nach dem
Bundesbeschlusse
Hören
wir
daß Preußen nicht blos
„Ueberzeugt,
ethische Nothwendigkeit,
14. Juni 1866
vom
darüber
durch
auch
nach
seine
eine mit sondern formalem
Recht zu dem Kriege genöthigt sei,
und daß Deutschlands Zukunft mit
Preußen stehe und
ich
falle,
bekannte
mich
mit Herz
nnd Mund zu
Preußen, während meine akademische Umgebung in erheblicher Mehrzahl
im entgegengesetzten Lager stand.
Der Gegensatz verfehlte nicht, anch in
das Privatleben einzudringen, alte Freundschaftsbande zu erschüttern und
den Frieden des akademischen Gemeinlebens aufs tiefste zu schädigen." Unter diesen Umständen wurde es ihm nicht schwer, den im Herbst 1867 an ihn ergehenden Ruf an die Universität in Heidelberg anzunehmen,
um dort der Nachfolger Mittermehers zu werden.
Auch in der neuen
Heimath fand Herrmann bald Gelegenheit zu einer über den akademischen
Beruf hinausreichenden welche
das
Thätigkeit.
und
in die politischen und kirchlichen Fragen,
badische Land damals
bewegten
unmittelbar eingreifenden
Das lebhafteste Interesse nahm er an den Verwickelungen
deö Staates mit der katholischen Kirche, die damals grade ihren Höhe punkt in dem Streite über die Besetzung des
von Freiburg erreicht hatten.
erzbischöflichen Stuhles
Der badischen Regierung mußte es um
so dringender angelegen sein, unfricdsame und der römischen Politik die
nende Kandidaten vom erzbischöflichen Stuhle fern zu halten, je aggressiver die Restaurationspolitik der Curie grade in Baden
vorgegangen war,
wo das zu zwei Drittheilen katholische, von einem evangelischen Fürsten-
D. Emil Herrmann.
116
hause regierte Land ein besonders günstiger Boden für ihre Bestrebungen
zu sein schien.
In einer Schrift:
„das staatliche Beto bei Bischofswah
len nach dem Rechte der oberrheinischen Kirchenprovinz" wies Herrmann
auf Grund archivalischer Studien mit überzeugender Klarheit nach, daß dem Staate vertragsmäßig das Reckt zustehe, bei der Besetzung des erz
bischöflichen Stuhles ein entscheidendes Beto auszuüben. dem Großherzog
Seit 1869 von
in die erste Kammer berufen, fehlte es ihm auch hier
art mannigfachem Anlaß zur unmittelbaren Theilnahme an Ver
nicht
handlungen,
welche die gtechtöstellung der Kirchen im Staate betrafen,
und mit derselben Entschiedenheit, mit welcher
er für das Recht des
Staates gegenüber den Uebergriffen Roms eingetreten ist, hat er and)
die Selbständigkeit der Kirchen auf ihrem Gebiete und
legenheiten in Anspruch genommen.
in ihren Ange
So trat er bei dem heftigen Kampfe
um das Stiftungsgesetz mit großer Lebhaftigkeit der Staatsregierung ent gegen,
welche dem
enge Grenzen ziehen
kirchlicherr Stiftungsgebiet wollte.
Dagegen
seiner Meinung nach zu
hat Herrmann an
der innern
kirchlichen Entwickelung der evangelischen Landeskirche in Baden, deren auf breitester Grundlage entstandene Verfassung überdies bei seinem Ein tritt in dieselbe bereits ins Leben getreten war, keinen unmittelbar thätigen
Antheil genommen.
Er hielt sich von jeder persönlichen Mitwirkung ab
sichtlich fern, weil ihm dieselbe wie er in seinen Aufzeichnungen selbst schreibt
„in
ihrem vorherrschenden Geiste und Tolle llicht sympathisch
waren".
Als im Jahre 1872 der Eultusminister voll Mühler seine Elltlassullg genommen hatte und Dr. Falk an seine Stelle getreten war, sollte endlich das solange versäumte und trotz wiederholter Allsätze
niemals
von der
Stelle gekommene kirchliche Verfassungswerk in Preußen zum Abschluß ge bracht werden.
Glücklicherweise war bei Eilltritt des Wechsels im Eultus-
ministerium and) das Präsidium des evang. Ober-Kirchenrathes noch un
erledigt, nachdem der bisherige Inhaber dieser Stellung llicht lallge zuvor
verstorben war, und es galt mm für dieselbe den Malln zu suchen, der mit dem vollen Berställdniß für die Bedürfnisse der evangelischen Kirche die Energie des Handelns verbände, um das so lange versäumte Werk
in thatkräftigen Angriff zu nehmen.
Es gab keinen zweiten, der für die
in Rede stehellde Aufgabe geeigneter erschien als Herrmann.
War dock)
bei ihm die genaueste Kenntniß der in Betracht kommenden kirchenrecht lichen Fragen und ein durch persönliche Anschauung und Erfahrung ge-
wonnener Ueberblick über die kirchlichelt Berhältnisse in gallz Deutsch
land mit der idealsten Begeisterung für die culturgeschichtliche und natio
nale Bedeutung der evangelischen Kirche
verbunden.
Dabei
ließ
ihn
117
D. Emil Herrmann.
seine Stellung als langjähriger Präsident des deutschen Kirchentages auch
als einen Mann
des Bertrauens
positive Richtung erscheinen.
für die in demselben vorherrschende
So wurden denn schon im Sommer 1872
von Berlin aus mit ihm Verhandlungen angeknüpft, welche seine Be
rufung zum Präsidenten des Evangelischen Ober Kirchenraths bezweckten. Wohl verhehlte sich Herrmann keinen Augenblick die Schwierigkeiten, die
in Berlin seiner warteten.
Er war sich dessen klar bewußt, daß auf der
einen Seite Bestrebungen zu überwinden waren, die durch Beibehaltung
der von der Mehrzahl der außerordentlichen Provinzialsynoden befürwor teten Vorschlagsliste das kirchliche Verfassungswerk auf seiner grundlegen den Stufe, in Gemeinde-Kirchenrath und Gemeinde-Vertretung, zu ver
kümmern drohten, und daß auf der andern Seite der kirchliche und poli tische Liberalismus das Verfassungswerk in Bahnen zu lenken suchte, die nach seiner oft laut ausgesprochenen Ueberzeugung dem innersten Wesen
der evangelischen Kirche widersprachen.
Er hat selbst den sich ihm auf-
drängendeit Bedenken in den nachfolgenden Auslassungen seiner Auszeich
nungen bestimmten Ausdruck gegeben.
„Zwei Jahrzehnte von größter
Wichtigkeit, so schreibt er, waren vergangen, ohne daß es dem OberKirchenrathe
gelungen
war,
seine auf das Verfassungswerk
gerichtete
Hauptaufgabe wesentlich zu fördern; selbst die Anfechtungen seiner eigenen
rechtlichen Existenz hatte er nicht zu überwinden vermocht. hatte man die Unmöglichkeit,
Inzwischen
mit consistorialem Behördenregiment der
Kirche ihre Leistungsfähigkeit ju erhalten, immer schmerzlicher erfahren.
Während die moderne Staatsentwickelnng Formen der Freiheit schuf, die nur ein gottesfürchtiges und gewissenernstes Volk mit gutem und heil samen Inhalte ausfüllen kann, entfremdeten sich immer zahlreichere Volks
theile der Kirche, welche doch allein die beharrliche Pflanz- und Pflege stätte jener Gesinnung sein kann: und während wachsende sociale Schäden
das Handeln der Kirche immer nachdrücklicher herausforderten, stellte sich
der Mangel der Bedingungen immer handgreiflicher heraus, von denen die Handlungsfähigkeit
eines Gemeinwesens abhängt.
Das Leben der
Kirche zog sich mehr und mehr in die freien Vereine zurück, die, wenn
sie sich nicht um Werke der christlichen Nächstenliebe sammelten, sondern Kirchenpolitik trieben oder mit Lehrstreitigkeiten, selbst bis zur Verurtheilung dissentirender Personen und Richtungen sich befaßten, ein hitziges
Parteiwesen großzogen, welches auch auf den religiös empfänglichen Theil
des Laienstandes abstoßend und erkältend wirkte.
Wer noch der Ueber
zeugung lebte, daß die Kirche der Reformation trotz alledem und allein die innerliche Ausstattung besitze, um die ethischen Faktoren des Gemein lebens in kräftige Action zu setzen und darin beharrlich zu erhalten, dem
D. Emil Herrmann.
118
mußte zunächst die Entbindung und Organisirung
ihrer theils schlum
mernden theils durch Zusammenhangslosigkeit gelähmten Kräfte, also der
als
Ausbau der Berfassung,
die dringendste Aufgabe
erscheinet!; nur
darüber durfte man zweifeln, ob nicht Zeit und Stunde dazu in Preußen schon versäumt und den auflösenden oder in falscher Weise sammelnden Mächten die Herrschaft überlassen sei." Aber alle diese Bedenken wurden doch von seiner Liebe zu Preußen
überwogen auf dem für ihn von jeher, und seit dem Jahre 1870 mehr
denn je zuvor, seine Hoffnungen für die Zukunft der evangelischen Kirche beruhten; sowie von der lockenden Aussicht, eine dem Ausbau der evange lischen Kirchenverfassung längst mit Borliebe zugewandte Thätigkeit
auf
dem Gebiete der größten evangelischen Landeskirche von durchgreifenden Erfolgen gekrönt zu sehen.
So entschloß er sich nach längeren Berhand-
lungen im Spätherbst 1872, dem ebenso ehren- wie verantwortungsvollen Rufe nach Berlin zu folgen, wo er
Amt eingeführt wurde. pflichtungen
Doch
am 12. November in sein neues
gestatteten
ihm
seine Heidelberger Ver
erst im Januar 1873 die Uebersiedlung nach Berlin und
den vollen Eintritt in die Geschäfte des neuen Amtes.
des hochherzigen Sinnes
Als ein Zeugniß
und des freudigen Vertrauens ebensowohl zu
der Führung, welche dem preußischen Staate auch auf dem Gebiete der evangelischen Kirche gebührt, wie zu den in dieser Kirche selbst vorhan denen lebendigen Kräften, mit dem er sein neues Amt angetreten hat,
möge hier die nachfolgende Stelle aus einem Briefe Herrmanns angeführt werden, den er kurz vor seiner Uebersiedlung nach Berlin an einen ihm
persönlich nahestehenden und durch amtliche Beziehung eng verbundenen Freund gerichtet hat.
„So lange ich das Bewußtsein in mir trage, daß ich in der Welt
etwas zu vertreten habe, sind es zwei große reale und zugleich geistige Mächte, an deren Dienst ich mich gebunden weiß, die mir niemand ent
reißen darf, deren Kraft und Ehre für mich den Besitz der irdischen und ewigen Güter einschließt, nach dem meine Seele verlangt.
großen Realitäten heißen: die Reformation und Preußen. ihnen niemals etwas vergeben zu
haben, wenigstens
Diese beiden Ich glaube
nicht mit meinem
Wissen, und hoffe ihnen ungetrennt in meiner neuen Stellung meine
Treue beweisen zu können.
Auf diesem Boden, denke ich, stehe ich auch
mit Ihnen zusammen, und der Herr bescheert uns auch wohl noch, daß, nachdem Preußen seine
unsere Augen
auch
große Mission so weit zum Ziele gefördert hat,
noch die Kirche der Reformation
in
frischer Kraft
und würdiger Gestalt ihres Amtes warten sehen." Kaum war Herrman
im Januar 1873
nach Berlin
übergesiedelt,
119
D. Emil Herrmann.
als
er
rüstig
mit der ihm in
langjährigen
eigenen Thatkraft das
nahm.
Angriff
Unter
Benutzung
Arbeiten des
vorbereitenden
übernommene Werk sofort und
Berücksichtigung
bisherigen
der
Kirchenregiments,
zu denen er freilich auch in einigen wesentlichen Punkten sich ablehnend
verhalten mußte,
arbeitete Herrmann die Entwürfe der kirchlichen Ver
fassungsgesetze in rascher Aufeinanderfolge persönlich aus,
um sie nach
dem Ergebnisse weiterer Berathungen theils im Ober-Kirchenrath, theils in Konferenzen mit dem Minister Falk nach Verlauf von kaum einem halben Jahre so weit zum Abschluß zu bringen, daß bereits am 16. September 1873 die Kirchengemeinde- und Shnodalordnung durch den König erlassen
werden
konnte.
war
Damit
die
kirchengesetzliche Grundlage
für
die
preSbhteriale Organisation der Gemeinden und die synodale der Kreise
und Provinzen in Preußen, Brandenburg, Pommern, Posen, Schlesien
und
Sachsen
geschaffen,
während
Westphalen
und
Rheinland
die
Organisation behielten,
welche sie schon durch die Kirchenordnung
6. März 1838 besaßen.
Nachdem dann in verhältnißmäßig kurzer Frist
vom
die auf dieser neuen Grundlage gebildeten Gememeinde-Kirchenräthe und
Gemeinde - Vertretungen,
sowie
die Kreisshnoden
in
Funktion getreten
waren und im Anfang des Jahres 1875 auch die Provinzial-Synoden in erstmaliger Versammlung getagt hatten, konnte noch im Spätherbst des letztgenannten Jahres die außerordentliche Generalshnode zusammentreten,
um die ganze preußische Landeskirche durch Berathung und Beschlußfassung über den ihr vorgelegten Entwurf einer Generalshnodal-Ordnung zu einem, die acht älteren Provinzen umfassenden synodalen Ganzen vereinigen zu helfen.
ES ist hier nicht der Ort, das Verfassungswerk, dessen Gelingen,
wie schon oben bemerkt, nicht zum geringsten Theil der kräftigen Initiative und der zähen Ausdauer Herrmanns zu verdanken ist, im einzelnen näher zu beleuchten, noch alle die Schwierigkeiten zu erörtern, die vor der Erreichung dieses Zieles überwunden werden mußten.
Aber das darf nicht
unausgesprochen bleiben, daß es wesentlich der weisen Beschränkung zu
verdanken ist, mit welcher Herrmann alle Fragen von unmittelbar dog
matischer Bedeutung
vorläufig bei Seite gelassen hat, wenn die heiße
Arbeit diesmal von reicherem und besserem Erfolg gewesen ist als die
früheren auf Herbeiführung einer kirchlichen Verfassung gerichteten Ver
suche. er
mit
Und auch das Verdienst darf ihm niemand streitig machen, daß großer Selbstverleugnung
in jedem Stadium des bedeutsamen
Werkes es verstanden hat, seine persönlichen Wünsche und Anschauungen so weit es nur irgend ohne eine Verleugnung seiner Grundgedanken mög
lich war, der höheren Rücksicht
unterzuordnen.
auf das Zustandekommen des Werkes
Das letztere gilt insonderheit von den viel angefochtenen
120
D. Emil Herrmann.
sogenannten Schlußbestimmungen, durch welche dem Laienelemente auf beii synodalen Stufen eine zahlreichere Bertretung und den größeren Gemeinden ein stärkerer Einfluß eingeräumt wurde, als es in der ur sprünglichen Berfassung der Fall war. Man kann nicht einmal sagen, daß sich Herrmann hinsichtlich derselben nur gefügt habe, weil er der Stärke der ihni seitens des Ministers gegenübertretenden Initiative nicht hätte widerstehen können. Er erkannte selbst die innere Nothwendigkeit einer stärkeren Bertretung des Laienelementes, wenn er auch ohne die gewonnene Ueberzeugung, daß die Annahme jener Schlußbestimmnngen die unerläßliche Borbedingung für die erforderliche tandesgesetzliche Ge nehmigung des gesammten Berfassungswerkes sei, dieselben weder in An regung gebracht haben noch mit solcher Entschiedenheit für sie eingetreten sein würde. Und wenn es ihm wirtlich ein Opfer gekostet hätte, jene Schlußbestimmungen dem Berfassungsentwurf einzuverleiben, so war es ein sehr geringer Preis für das hohe Ziel, das in Frage stand und für das er Jahrzehnte hindurch mit Wort und That eingetreten war. Ueberdies schwebte ihm bei der an sich schon großen und lohnenden Aufgabe, einen so bedeutsamen, aus einer Mannigfaltigkeit von Provinzen bestehen den großen evangelischen Kirchenkörper, wie es die preußische Landeskirche ist, zu einem handelnden Ganzen zu verbinden, ein noch höheres Ziel vor Augen. Sein weitreichender Blick und sein ideales Streben behielt auch dabei die gesammte evangelische Kirche Deutschlands im Auge „man sollte meinen, so schreibt er nach dem Abschluß der preußischen Kirchen verfassung, daß, wenn dies für Preußen gelingen konnte, der Gedanke einer organisch verbundenen evangelischen Kirche Deutschlands nicht mehr als chimärisch behandelt werden dürfte." Darum legte er einen beson deren Werth auf den diesen Blick auf die gefammte deutsch-evangelische Kirche offen haltenden § 19 der GeneralsynodalordnungEr nannte denselben gelegentlich „die Flaggenstange, auf welcher eine spätere Zeit die Flagge der deutschen evangelischen Kirche aufhissen kann", und freute sich, daß man ihm diese nicht auch ausgerissen hatte, während er seine Zugendträume von einer deutschen evangelischen Kirche gerade in seinen letzten Lebensjahren in weitere Ferne denn je gerückt sah. Mit ganz besonderem Schmerze erfüllte es ihn, daß nicht einmal in Preußen selbst das Streben, die gesammten evangelischen Provinzialkirchen einschließlich der in den neu erworbenen Landestheilen zu einem Ganzen zu verbinden, *) Derselbe lautet: Die General-Synode nimmt Kenntniß von den Beziehungen der Landeskirche zu den übrigen Theilen der deutschen evangelischen Kirche, beschließt über die der weiteren Entwickelung ihres Gemeinschaftsbaudes dienenden Einrich tungen und betheiligt sich durch von ihr gewählte Abgeordnete an etwaigen Ver tretungskörpern der deutschen evangelischen Kirche.
D. Emil Herrmann.
121
zur gesetzlichen Anerkennung gelangen konnte.
In seinem ersten Entwurf
der preußischen Kirchenverfassung hatte er eine Bestimmung ausgenom
men,
durch welche der
Anschluß jener kleineren Landeskirchen gefördert
werden sollte; aber er mußte sie dem, wie es scheint von höherer Seite veranlaßten Widerspruch des Ministers Falk opfern, weil man — leider nicht ohne Grund — befürchtete, in den Provinzen werde in einer sol
chen Bestimmung die Absicht oder der Wunsch einer Zusammenschließung gefunden werden,
die man dort als Attentat (!) auf die eigene Selbst
ständigkeit aufgefaßt haben würde.
welches Herrmann
Das Berdienst,
das Zustandekommen
um
der
kirchlichen Berfassung sich erworben hatte, fand in allen Kreisen mit Aus
nahme der extremen Parteien von rechts und links die allgemeinste AnAuch bicjenißen,
erkennung.
welche angesichts der sogenannten Schluß
bestimmungen eine Democratisirung der Kirche und deren Auslieferung
an die unkirchlichen Massen befürchteten,
sich mit denselben be
haben
freundet und sie in ihrem Sinne zu verwerthen
gewußt,
Namentlich
hatte sich Herrmann von Seiten des Königs, der den Gang der Ber fassungsarbeiten von ihren ersten Stadien an mit dem lebhaftesten per
Interesse
begleitete,
erfolgreichen
Thätigkeit
sönlichen
seiner
1875 auf Herrmanns
erstatteten
Anschluß
Bericht
an
eine
über
wiederholter zu
ehrenvollster
ersten Provinzialsynoden
Cabinetsordre,
dem Collegium
Anerkennung
erging am 20. März
So
den Verlauf der
allerhöchste
den Auftrag,
erfreuen.
die
in
welcher
es
im
königliche Anerkennung
für das bisher erreichte auszusprechen mit Bezug auf ihn selbst heißt:
„zugleich fühle Ich mich bewogen, Ihnen, seinem Präsidenten,
meinen
besonderen Dank auszudrücken, daß unter Ihrer ebenso verständnißvollen wie kräftigen Führung das lang erstrebte bedeutungsvolle Werk der evan
gelischen
Kirchenverfassung für meine älteren Provinzen in erwünschter
Weise bis zu einem Stadium zur Wirklichkeit gebracht ist, welches Meine zuversichtliche Hoffnung
begründet, daß
Hülfe auch der Abschluß gesichert sei."
nunmehr mit
Gottes weiterer
Nachdem dieser Abschluß durch
die Generalsynodal-Ordnung erreicht war, erhielt Herrmann einen aber
maligen königlichen Erlaß vom 27. Januar 1876,
welcher der innigsten
Befriedigung des Monarchen über das nunmehr erreichte Ziel Ausdruck
gab
und
dann hinzufügte,
„dabei
kann Ich
mir nicht verhehlen,
daß
hauptsächlich Ihrer unermüdlichen und umsichtigen Thätigkeit das Gelingen
des großen Werkes zuzuschreiben, ist".
Die Hoffnung, welche Herrmann
nach diesem glücklichen und in verhältnißmäßig kurzer Zeit erreichten Ab schluß des Verfassungswerkes beseelte, daß es ihm vergönnt seine werde,
an der Spitze der kirchlichen Verwaltung stehend, nun in friedlicher Ent-
D. Emil Herrmann.
122
Wickelung des kirchlichen Lebens die Früchte seines Werkes ausreifen zu
sehen, sollte sich leider ntcht erfüllen.
Das zerklüftende Parteiwesen, das
durch die gemeinsame Arbeit aller in der Kirche vorhandenen Richtungen auf dem in der Verfassung gegebenen Boden überwunden werden sollte, trat
nun erst mit verschärfter Bitterkeit unb Heftigkeit hervor.
Grade diejenige
Partei, welche die Herbeiführung einer Kirchenverfassung auf der Grund lage des Gemeindeprinzips auf ihre Fahne geschrieben hatte, und welche nach der Erreichung dieses Zieles am meisten Ursache gehabt hätte, die
Dinge sich friedlich entwickeln zu lassen, führte durch ein schroffes provo katorisches Auftreten die schwersten Conflikte herbei, aus denen lediglich
die inzwischen zu maßgebendem Einfluß gelangte entgegengesetzte kirchliche Richtung Vortheil zog.
Herrmanns Bestreben, alle wohlmeinenden aber
seither der Kirche fernstehenden Elemente der evangelischen Gemeinden in die kirchliche Mitarbeit hineinzuziehen und so in dieser Mitarbeit für die
Kirche zurückzugewiunen, sind am meisten von denen durchkreuzt worden,
von denen er in diesem Bestreben die kräftigste Unterstützung erwarten durfte. Grade die schwierigsten dogmatischen Differenzen wurden gewaltsam
in den Vordergrund gedrängt und 511111 Gegenstände principieller Entschei dungen gemacht.
Wohl ist er bei denselben unentwegt, und ohne sich ein
schüchtern zu lassen, treten,
und
für das Recht der evangelischen Lehrfreiheit einge-
als ihm zugemuthet wurde,
bei dem gegen den Prediger
D. Shdow eingeleiteten Verfahren Grundsätze preiszugeben,
mit denen
er zugleich das innerste Wesen des Protestantismus, wie er denselben er
faßte, verleugnet haben würde, da ist er keinen Augenblick darüber zweifel haft geblieben, daß er lieber auf sein Amt und auf die Durchführung des Verfassungswerkes verzichten müsse, als
Grundsätze die Hand zu bieten.
zu einer Vergewaltigung jener
Aber ebensowenig hat er jemals aus
seiner Ueberzeugung ein Hehl gemacht, daß diejenigen der Kirche einen
schlechten Dienst erweisen, die solche principielle dogmatische Entscheidungen vom Zaune brechen.
Noch viel größer war sein Bedauern über die mit
gradezu unverantwortlicher Leichtfertigkeit hervorgerufene Beunruhigung, die ein auf den liturgischen Gebrauch des Apostolicums gestellter Antrag in den
weitesten Kreisen zur Folge hatte.
Andererseits wußte eine zu maßgebendem
Einfluß gelangte Partei die dadurch herbeigeführten Conflicte, die der evan
gelischen Kirche aus dem Civilstandsgesetze erwachsenen Schädigungen, die Rückwirkung, welche der Culturkampf auch auf die ohne ihre Schuld in Mit
leidenschaft gezogene evangelische Kirche ausübte, zu ihren Gunsten und in ihrem Interesse auszubeuten und sich der neuen Verfassung als eines Mittels
für ihre Parteizwecke zu bemächtigen. Als Herrmann sah, daß er diesen Be
strebungen gegenüber, die nach seiner Ueberzeugung den von ihm erstrebten
123
D. Emil Herrmann.
Segen
der Verfassung
verkümmern
und
der
evangelischen Kirche zum
tiefsten Schaden gereichen mußten, an maßgebender Stelle nicht den Rück halt fand,
der
ihm für ein ersprießliches Wirken unentbehrlich schien,
reichte er im November 1877 sein Entlassungsgesuch ein, das nach längeren Verhandlungen im Mai 1878 vom Könige angenommen wurde, nachdem
ihm nicht lange vorher durch die Ernennung zum Wirklichen Geheimenrath ein neuer Beweis allerhöchster Anerkennung zu Theil geworden war.
Es
ist eine völlige Verkennung der thatsächlichen Verhältnisse, wenn ein kirch liches Parteiblatt neuerdings behauptet hat,
Herrmann habe seinen Ab
schied in dem Gefühle genommen, den ihm bereiteten Schwierigkeiten nicht Diese Auffassung findet in den nachfolgenden Worten,
gewachsen ju sein.
die wir einer von ihm selbst verfaßten Denkschrift entnehmen, ihre voll
ständige Widerlegung.
„Nicht daß mich, so heißt es in Bezug hierauf, die
Kämpfe schreckten, welche mit den bewußt negativen Richtungen, oder mit
denjenigen zu bestehen sind, welche in guter Meinung, aber in Verkennung der inneren Gesetze des geschichtlichen Lebens alles feste historische Leben der Kirche in Fluß bringen und durch ein Gemeindebewußtsein ersetzen
wollen, welches doch nur durch den Besitz jenes Erbes aus seiner Be schränktheit und Dürftigkeit herausgehoben werden kann.
Den Einen wie
den Andern, so verschieden sie auch zu behandeln sind, fühle ich mich voll
ständig gewachsen und bin sicher, daß der Kampf gegen ihre Bestrebungen
bei einiger Weisheit und Kraft der Leitung zur Erstarkung unserer Kirche
Ueberdies lagen die von dieser Seite herkommenden
ausschlagen wird.
Schwierigkeiten schon beim Antritt meines Amtes klar vor; während der
Führung desselben aber haben sie sich nicht vermehrt,
sondern eher ver
mindert, indem unter dem segensreichen Einfluß der Verfassung die re ligiös empfänglichen und nach der Gemeinschaft mit der Kirche verlängern
den Elemente der kirchlichen Linken sich von den nur negativen und auf
lösenden Bestandtheilen zu scheiden begonnen haben, ein Scheidungsproceß,
ohne dessen ungehemmten und durch Verketzerung nicht aufgehaltenen Fort gang das Ziel einer kirche nicht
erreicht
verbundenen
kann."
Der Rücktritt
von
seiner
einfluß
ist,
soweit
es sich um den Verzicht auf die mit ihr
äußeren
Ehren
handelte, Herrmann
reichen Stellung den;
großen und geistesmächtigen evangelischen Landes
werden
nicht schwer
nur das bedauerte er, daß es ihm versagt sein sollte,
gewor
seine letzten
Kräfte im Dienste der evangelischen Kirche und des ihm völlig zur zwei ten Heimath
gewordenen preußischen Vaterlandes zu verwerthen.
Die
Unthätigkeit, zu welcher er wenigstens auf den Gebieten des öffentlichen Lebens verurtheilt war, wurde ihm doppelt schwer, je ernster und größer die Aufgaben waren, die sich aus den erschütternden Ereignissen ergaben, Preußische Jahrbücher.
Bd. LVI. Heft 2.
IQ
welche unmittelbar nach seinem Fortgang von Berlin alles andere in den Hintergrund krängten. Als ein Zeugniß seines heißen Patriotismus mögen die nachfolgenden, wenige Tage nach dem zweitem Attentat an einen gleichgesinnten Freund in Berlin gerichteten Zeilen hier eine Stelle finden. „Die Gedanken, so schreibt er am 8. Juni 1878, weilen immer in Berlin und verweigern jede Beschäftigung, die ihren Stoff auf än derns Boden sucht. Die gräßliche That des Mörders vom 2. Juni — parricida patriae nannten die Römer einen solchen Verruchten — hat gleichsam einen neuen Mittelpunkt der Geschichte geschaffen, von dem aus wenigstens die nächsten Zwecke und Aufgaben für patriotische Männer sich anders als vorher gestalten oder doch gruppiren. Während man. glaubte, auf einem im wesentlichen unangefochtenen Boden sittlicher Gesammtüberzeugung zu stehen unk für Entbindung, Organisirung und Leitung der guten Kräfte wirken zu sollen, drängt sich auf einmal die Nothwendigkeit eines Kampfes auf Tod und Leben gegen einen ganze Volkstheile umfassenden Feind auf, der unser ganzes Besitzthum und historisches Erbe aufs tiefste haßt 'and in einem großen Brande verzeh ren will. Natürlich geht das esse vor dem bene esse, und so mögen fürs erste der eiserne Wille und die zerschmetternde Gewalt gegen die grobgewachsenen höllischen Brächte in den Vordergrund treten. Ortho pädie, Gymnastik, auch Therapie mögen zunächst der Chirurgie das Feld überlassen, daß sie die Eiterbeule ausschneide, selbst auf die Gefahr hin, daß auch gesundes Fleisch nicht ganz unberührt bleibt. Und wenn nament lich von nationaUiberaler Seite darin gefehlt worden ist, daß man zu viel Gefahren von der Macht der Obrigkeit und zu wenig von der Frei heit befürchtet hat, so möge man auch in den Einrichtungen auf die Her stellung eines richtigeren und für unsere Volksart geeigneten Gleichge wichts Bedacht nehmen. Aber um Gotteswillen vergesse man nicht, daß man so zwar dem Bösen wehren, aber nicht das Gute machen sann. Die positive schöpferische Thätigkeit, ohne welche wir unserer Aufgabe nicht gerecht werden können, wird dadurch wohl gesichert, von Hinder nissen befreit, aber nimmermehr ersetzt." Weder in Heidelberg, wohin ihn zunächst die Rücksicht auf eine dort weilende, schwer kranke Tochter zog, welche er bei seiner Uebersiedelung nach Berlin dort hatte zurücklassen müssen, und die nun wenigstens in den letzten Jahren eines langen Dulderlebens der elterlichen Liebe und Gemeinschaft nicht entbehren sollte, noch in Gotha, wo er im Jahre 1883 seinen letzten Aufenthalt nahm, ist er zu einem befriedigenden Genusse der ihm beschiedenen Muße gelangt. Er war zu sehr an rastlose Thätig keit gewöhnt, um nicht den Mangel eines berufsmäßigen Wirkens unk
125
D. Emil Herrmann.
Andrerseits aber wußte er sich auch
Schaffens schmerzlich zu empfinden.
völlig frei zu halten von jener verbitterten Stimmung, die so leicht aus
der Erfahrung erwächst, sich in seinem besten Streben und Wollen verkannt zu sehen und in den Briefen, welche er in diesen letzten Jahren
mit vertrauten Freunden gewechselt hat, kommt ein innerer Friede zum Ausdruck, welchen nur ein gutes Gewissen am Schluffe solchen Wirkens
So schreibt er aus Heidelberg:
zu geben vermag.
„Noch bin ich hier nicht angewachsen und werde wohl auch niemals anwachsen.
Es ist mir, als verlebte ich als Fremder eine Ausruhzeit im
Ich bin in einem langen Leben zu sehr daran ge
günstigeren Sinne.
wöhnt, durch Beruf an einen bestimmten Ort gebunden zu sein, um an
einem frei gewählten Aufenthaltsort einwurzeln zu können.
Doch suche
ich mich mit diesem Bkangel, der mich für andere ziemlich unzugänglich
mackt durch den Gedanken auszusöhnen, daß es einem zur Lebensneige
gehenden Mann
gebührt,
auf
Erde
dieser
nicht
wurzelfester, sondern
lockerer zu werden und sich dadurch in der Reisestimmung zur Ewigkeit
zu befestigen.
Diesen Gedanken ans
„Ich bin ein Gast auf Erden."
Ende legte ihm der Heimgang manches treuen Freundes und Mitarbeiters
doppelt nahe
und mit der Ruhe und Fassung,
wie mit dem gläubigen
Vertrauen des gereiften Ehristen, sah er dem eigenen Abschied entgegen.
So
bekennt er in
von
dem Tode des
einem köstlichen Briefe, ihm
seit
Jahrzehnten
zu welchem ihm
innig
die Kunde
befreundeten Dörner
Anlaß gab: „Seit Dorners Tode sind mir die rapid über mich kommenden Greisenalters
nur beunruhigend.
wachsenden Jndieien
nicht mehr
erschreckend
oder
des auch
Wo so ein Stück Leben dahin geht besteht an dem
Rest nicht mehr das alte Interesse." — Eine Erkältung,
die
er sich bei dem Besuche seines in Göttingen
lebenden Sohnes zugezogen hatte
führte eine Lungenentzündung herbei,
welcher ec nach kurzer Krankheit am 16. April dieses Jahres erlegen ist.
Sein Name wird in der preußischen Landeskirche und weit über deren
Kreise hinaus unvergessen fortleben und erst spätere Geschlechter werden das Werk der Kirchenverfassung, das er ihr als dauerndes Vermächtniß hinterlassen hat, in vollem Umfange zu würdigen wissen.
D. Rogge.
Die Entwicklung der sächsischen Amtsverfassung im Vergleich mit der brandenburgischen Kreisverfassung. Non
Conrad Bornhak.
Die beiden großen Ostmarken des nördlichen Deutschlands, Branden burg und Sachsen, haben bei allen gemeinsamen Grundzügen in der Ent
wicklung ihres öffentlichen Rechts, ja bei der fast vollständigen Ueberein stimmung desselben bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts hinein, seit
dieser Zeit die über den Gemeinden stehenden untersten Behörden für die allgemeine Landesverwaltung abweichend von einander ausgebildet, indem in Brandenburg seit der Zeit des Großen Kurfürsten sich die Kreisverfassung
entwickelte, die Aemter zu vollständiger Bedeutungslosigkeit herabsanken,
in Sachsen dagegen zur allgemeinen Einteilung des Landes wurden.
Die
Aemter starben in Brandenburg ab, in Sachsen gelangten sie zu neuer Blüte.
Dies ist um so auffallender, da die Grundbesitzverhältnisse, auf
denen sich jede Verwaltung des flachen Landes aufbaut, in Brandenburg und Sachsen dieselben sind, indem in beiden Ländern der Großgrundbesitz vorherrscht.
Eine Untersuchung der Gründe dieser verschiedenen Entwick
lung ist der Zweck dieses Aufsatzes.
In allen Ostmarken Deutschlands, militärischen Kolonisationen auf altslavischem Boden, findet sich seit den ältesten Zeiten ein Vorherrschen
des Großgrundbesitzes über den Kleingrundbesitz. Dasselbe mag militärischen Rücksichten seine Entstehung verdanken, indem absichtlich von dem Mark
grafen, dem die Vertheilung von Grund und Boden unbeschränkt zustand, eine möglichst große Zahl von Ritterlehen verliehen wurde, um ein starkes Ritterheer aufstellen zu können.
Ueber diesem absichtlich sehr ungleich ver
teilten Besitze erhob sich als Verwaltungsbeamter vorwiegend des flachen
Landes ein landesherrlicher Präfekt mit dem Titel Vogt, dessen Haupt
aufgabe in der Abhaltung der Volksgerichte und in der Handhabung der mit der Gerichtsbarkeit eng verbundenen Polizei bestand.
Außerdem hatte
Die Entwicklung der sächsischen Amtsverfassung rc.
127
er auch die Zinse, welche als Anerkennung des Obereigenthums des Landes herrn von den Bauergütern zu zahlen waren, einzuziehen.
Der Groß
grundbesitz übte also auf diese noch äußerst beschränkte staatliche Thätigkeit
nicht den geringsten Einfluß aus. Nach mehreren Menschenaltern machte sich aber in jenen militärischen
Kolonisationen die Uebermacht dieses nicht nur durch seinen Reichthum,
sondern auch seine Waffentüchtigkeit angesehenen Großgrundbesitzes geltend. Die Landesherren selbst gaben ihm die erste Gelegenheit, seine Macht zu
bethätigen.
Seit Anfang des 13. Jahrhunderts betrachteten die deutschen
Landesherren,
je mehr
mit
der durchgeführten Erblichkeit ihrer Würde
dieselbe mit ihrem Besitz an Grund und Boden verwuchs, das Landes-
sürstenthum nicht mehr als ein Amt, sondern als ein ererbtes Familien Mehrere Söhne eines verstorbenen Landesherrn theilten daher das
gut.
Land unter sich.
Die Folge war, daß die Einkünfte zu mehreren Hofhal
tungen nicht mehr ausreichten.
Da die Steuern, die Beden, nur als
freiwillige außerordentliche Beihilfen der Unterthanen in allgemeinen Landes nöten betrachtet wurden, so war eine fortgesetzte Erhebung oder gar Stei
gerung derselben unmöglich.
Da neue Einnahmequellen in keiner Weise
zu beschaffen waren, so sahen sich die Landesherren genötigt, das Kapital
vermögen anzugreifen durch Veräußerung der landesherrlichen Regierungs
rechte.
Die städtischen Gemeinden, die dieselben meist für ihren Stadt
bezirk erwarben, gewannen auf diese Weise ihre Autonomie.
Auf dem
flachen Lande war die Möglichkeit zu solchen Veräußerungen ganz besonders gegeben, da hier ein ansehnlicher Großgrundbesitz die materiellen Mittel
zum Erwerbe der Staatshoheitsrechte besaß. Tie Großgrundbesitzer, die Rittergutsbesitzer, wie sie nach der Art ihres Kriegsdienstes hießen, erwarben daher zunächst die Zinse der Bauer
güter der ihnen zunächst gelegenen Landgemeinden und damit das Ober eigenthum über dieselben, sie erwarben ferner die Gerichtsbarkeit und die
nach mittelalterlicher Anschauung untrennbar damit verbundene Polizeigewalt
des Vogts über die bei ihren Rittergütern gelegenen Dörfer.
Auch die
Kriegsdienste der Bauern, vorwiegend bestehend in Diensten wie Ausrüstung
eines Heerwagens, Ausbesserung von Burgen
und
dergleichen,
wurden
an die Großgrundbesitzer veräußert, die die bisherigen Kriegsdienste der Bauern in Hofdienste zur Bestellung ihres Ackers verwandelten.
In dem
größten Theile des flachen Landes der östlichen Marken waren daher im
Anfänge des 14. Jahrhunderts die Rittergutsbesitzer die Obereigenthümer des bäuerlichen Grundbesitzes des bei ihrem Ritterbesitze belegenen Dorfes, die Inhaber der Gerichtsbarkeit und Polizei, die, weil sie nur eine Per
tinenz des Familienguts, des Ritterguts, war, als patrimoniale bezeichnet
128
Die Entwicklung der sächsischen Amtsverfassung
Auch
wird.
über
einige Städte,
die
später sogenannten Mediatstädte
erwarben Großgrundbesitzer die landesherrlichen Regierungsrechte. Hand
in Hand
mit dieser Übertragung der Vogteirechte auf den
Großgrundbesitz ging die Exemtion der Rittergutsbesitzer von der Gerichts barkeit
und Polizeigewalt
des Vogtes
und
die Unterstellung unter die
landesherrlichen Hofgerichte, also die Verleihung eines eximierteu Gerichts standes.
Die landesherrlichen Vogteien und die Patrimonialherrschaften
waren damit zu einander koordinierten Verwaltungsbezirken geworden.
Die Verknüpfung der Staatshoheitsrechte mit dem Großgrundbesitze ging aber noch einen Schritt weiter.
Da in den patrimonialen Gebieten
Gericht, Polizei, Obereigenthum über die 'Bauergüter und Dienste der
Bauern zu Pertinenzen des Rittergutes geworden waren, kam auch in den noch
unmittelbar
landesherrlichen Gebieten,
die
von
äußerst
geringem
Umfange waren — in Teltow waren z. B. 1375 unter 90 Dörfern 2,
im Havellande unter 104 Dörfern noch 6 unmittelbar landesherrlich —, der Gedanke zum Durchbruch, daß die dem Vogte zur Ausübung verblie
benen Staatshoheitsrechte, Gericht, Polizei und Zinsrecht, Pertinenzen der Burg, auf der der Vogt residierte, der landesherrlichen Domäne, seien. Auch in den unmittelbar landesherrlichen Gebieten wurde der Kriegsdienst
der Bauern in einen Hofdienst für die Domäne verwandelt.
Damit ist
die Entwicklung des Patrimonialstaats vollendet, die Staatshoheitsrechte
sind allgemein Pertinenzen des Großgrundbesitzes geworden.
Zur Bezeich
nung der Domäne dient nun im Sprachgebrauche des späteren Mittelalters das Wort' Amt.
Rach
vollständiger
Durchführung
Verwaltungsshstems seit Ende des 15. und besonders
des
patrimonialen
seit Anfang
des
16. Jahrhunderts verdrängen daher im ganzen östlichen Deutschland, in Brandenburg,
Magdeburg, Pommern, Schlesien und in den sächsischen
Territorien die Bezeichnungen Amt und Amtöhauptmann oder Amtmann allmählich die der Vogtei und des Vogtes.
Das Amt in diesem älteren Sinne ist also die landesherrliche Do mäne und die zu ihr gehörigen Dörfer.
Der Amtshauptmann hat die
Domänenbewirthschaftung, wobei er die Hofdienste der Bauern in Anspruch
nimmt, die Einziehung des Zinses von den Bauergütern und die Gerichts und Polizeiverwaltung für den Amtsbezirk. Das Amt ist mithin 'ein den einzelnen Patrimonialherrschaften in jeder Beziehung koordinirter Verwal
tungsbezirk, es ist eine Patrimonialherrschaft, deren Eigenthümer der Lan desherr ist.
Diese Entwicklung hatte sich in Brandenburg und Sachsen vollstän dig übereinstimmend vollzogen bis auf einen Punkt, die richterliche Zustän
digkeit des Vogtes oder Amtshauptmannö.
Jede Strafgerichtsbarkeit wie
im Vergleich mit der brandenburgischen KreiSverfassnng.
129
die Civilgerichtsbarkeit über die Ritterbürtigen war den landesherrlichen
Hofgerichten Vorbehalten. Hierin lag aber eine große Belästigung nament lich für die Adlichen, da diese, sofern überhaupt Recht und Gesetz herrschte,
wegen jeder geringfügigen Klage sich an das landesherrliche Hoflager be
geben und dort zu Recht stehen mußten. zwei Wege.
Entweder man übertrug
Um dies zu verhüten,
gab es
die dem Hofgerichte vorbehaltene
Gerichtsbarkeit kommissarisch dem Vogte oder Amtshauptmann, oder man errichtete mehrere Hofgerichte für kleinere Bezirke.
Letzteres geschah im
14. Jahrhundert in Brandenburg und Thüringen, ersteres unter den letzten Askaniern vorübergehend in Brandenburg, dauernd seit der zweiten Hälfte
des
14. Jahrhunderts in den sächsischen Territorien mit Ausnahme von
Thüringen.
Es wurde in Sachsen die Strafgerichtsbarkeit in sämmtlichen
mit derselben nicht beliehenen patrimonialen Gebieten den Vögten über tragen.
Im Jahre 1428 wurde auf eine Beschwerde des Adels bereits
als allgemeiner Rechtsgrundsatz aufgestellt, daß dem Adel die bürgerliche,
den Vögten oder Amtleuten außer dieser die peinliche Gerichtsbarkeit und zwar nicht nur in dem Amte, sondern auch in den patrimonialen Gebieten zustehe.
Die Besitzer dieser Gebiete erhielten ferner auch ihren Eivitge-
richtsstand vor dem Amtshauptmann.
Nur die mächtigeren Patrimonial-
herren, welche selbst mit der Gerichtsbarkeit in Strafsachen beliehen waren,
bewahrten für sich und ihre Familie den Gerichtsstand vor den landes
herrlichen Obergerichten.
So entstand hinsichtlich der Justiz in Sachsen
ein Unterschied zwischen amtssässigen und schriftsässigen Rittergutsbesitzern und Gebieten.
In den amtssässigen Gebieten hatte der Amtshauptmann
die Strafgerichtsbarkeit, über die Besitzer dieser Gebiete auch die Civilge
richtsbarkeit,
weitere Rechte standen ihm gegenüber den Amtssassen nicht
zu, die schriftsässigen Gebiete dagegen waren den Aemtern wie bisher voll ständig koordinirt. Diese in Sachsen bereits in gewisser Hinsicht vorhandene Unterord
nung der kleineren patrimonialen Gebiete unter die Amtshauptleute konnte
bei dem Uebergange vom mittelalterlichen Rechtsstaate zum Militärstaate des 17. und 18. Jahrhunderts nicht ohne Einfluß bleiben.
Den ersten
Anstoß gab die Einführung eines stehenden Heeres und die dadurch noth
wendig gewordene fortdauernde Erhebung von Steuern zur Erhaltung des selben während des dreißigjährigen Krieges. Nach mittelaterlichem Staatsrecht, welches der herrschenden Naturalwirthschaft entsprach, hatte der Fürst die Verwaltungskosten des Landes
mit den Einkünften der Domänen und Regalien zu decken, nur für außer
ordentliche Bedürfnisse wurde von den Ständen eine Steuer bewilligt, die
auf die einzelnen Aemter,
Patrimonialherrschaften und Städte vertheilt.
130
Die Entwicklung der sächsischen Amtsverfassung
von den Amtshauptleuten, Patrimonialherren und Magistraten eingezogen
und
landesherrliche
an
Schoßeinnehmer abgeliefert
wurde.
Mit dem
Sinken des Geldwerthes durch die Entdeckung Amerikas, das sich seit der Mitte des 16. Jahrhunderts in Norddeutschland geltend machte,
reichten
aber die Einkünfte aus Domänen und Regalien in keiner Beziehung mehr aus, schon damals war die dauernde Erhebung von Steuern erforderlich. Damit aber der Landesherr mit diesen neuen Steuern nickt ein stehendes
Heer anwerbe und die ständische Freiheit vernichte,
nahmen die Stände
diese Steuern in eigene Verwaltung und deckten mit ihnen die baudes
schulden,
die sie ihrerseits
Obersteuerkollegium
als
So entstand
vom Landesherrn übernahmen.
sogenannte märkische Kreditwerk,
1534—1549 das
ständische Centralbehörden
1570 das sächsische die
für
Steuerver
waltung. Nach Einführung des stehenden Heeres in Brandenburg und Sachsen während des dreißigjährigen Krieges war aber diese Verwaltung mit Dar-
lehen,
die der Landesherr kontrahirte,
nahmen,
und die die Stände später über
Die Stände mußten
nicht mehr möglich.
um
ihrer
eigenen
Sicherheit gegen eine Brandschatzung der fremden Soldateska willen der
Einführung des gefürchteten Miles perpetuus zustimmen und dem Lan
desherren Steuern hierfür zu eigener Verwaltung bewilligen.
Zur Ver
waltung dieser neuen Kriegssteuern waren auch neue Organe erforderlich,
und an diesem Punkte schlägt die Entwicklung Brandenburgs und Sachsens
vollständig verschiedene Wege ein. In
Brandenburg
war
unter
Georg
Wilhelm
die
landesherrliche
Macht auf den tiefsten Standpunkt herabgesunken, und gerade unter ihm, im Jahre 1620, Noch
erhielt Brandenburg zuerst ein kleines stehendes Heer.
war die Macht der Stände
ungebrochen,
nur die Gewalt, das
stehende Heer, konnte ihnen dieselbe rauben, sie mußten, um dies zu ver hüten, das Söldnerheer unter ihrem Einfluß oder, was dasselbe war, die
Hand auf dem Beutel behalten.
Die völlige Ohnmacht des Landesherrn,
der meist in Preußen weilte, während Kaiserliche, Schweden und Sachsen abwechselnd Brandenburg brandschatzten,
ließ den Ständen freie Hand.
Die ständischen Wahlbezirke der Ritterschaft zu den Ausschußtagen, die „Kreise", wurden die neuen Steuerverwaltungsbezirke, ständische Kreisbe
amte die Organe*).
Indem unter dem Großen Kurfürsten das Stände-
thum in der Centralverwaltung völlig vernichtet, und die ständische Kreis verwaltung, unter die strengste staatliche Controlle gestellt, zu einer Ver
waltung
durch Laien
nach staatlichen Gesetzen wurde,
entstand in
*) Bergl. über die Entstehung der märkischen Kreisverfassnng den Aufsatz: und ,Negierung' in Preußen von Delbrück, Band LIV, S. 518 ff.
der
Landrath
im Vergleich mit der brandenburgischen Kreisverfassung.
Kreisverfassung eine lebensfähige Selbstverwaltung.
131
Die Beseitigung der
Stände in der Centralverwaltung der einzelnen Provinzen mußte erfolgen,
da die seit der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts unter einem Landes zusammengeschwemmten brandenburg-preußischen Terri
herrn
gleichsam
torien
zu ihrer eigenen Erhaltnng einer engeren Vereinigung bedurften,
die Stände aber naturgemäß die eifrigsten Vertreter des Territorialismus waren.
In keinem deutschen Staate sind daher die Stände so vollständig
vernichtet worden wie in Brandenburg-Preußen. tismus
in der Central-
Gegenüber dem Absolu
und Provinzialverwaltung war es ein um
so
eifrigeres Bestreben der Stände, die Lokalverwaltung, soweit sie sie noch die ständische Selbstverwaltung der Kreise zu be
besaßen, zu erhalten,
Diese
wahren.
hatte
ihr
mächtigsten Gesellschaftsklasse,
eigentliches Fundament
im
Gegensatze der
der Rittergutsbesitzer, zum Absolutismus.
Reben diesen neuen Verwaltungsbezirken, den Kreisen, welche patri-
moniales und unmittelbar landesherrliches Gebiet gleichmäßig umfaßten, verloren die Aemter
immer mehr an Bedeutung.
statt der
Als 165)1
bisherigen Verwaltung der Domänen die Verpachtung derselben durchge führt wurde, fielen die Amtshauptmannschaften fort, um später noch ein
mal als Sinekuren für verdiente Offiziere neu zu erstehen.
Der Do-
mänenpächter pachtete zugleich die Domäne, die Zinse und Hofdienste der Amtsbauern,
die Gerichtsbarkeit
und die Polizei über die Amtsdörfer.
Das Amt blieb also nicht nur eine Patrimonialherrschaft wie jede andere
mit dem einzigen Unterschiede, daß ihr Eigenthümer der Landesherr war, der
patrimoniale Charakter
letzte Spur davon,
trat
sogar
noch stärker hervor,
daß das Amt ursprünglich
ein
indem die
staatlicher Verwal
tungsbezirk war, eben die Verwaltung des Amtes durch Staatsbeamte,
verschwand. Abweichend von der brandenburgischen war die Entwicklung der neueren
Staatsverwaltung in Kursachsen.
in sitz,
sieben Kreise,
Dieses zerfiel zwar auch seit Alters her
wozu noch die Markgrafschaften Ober- und Niederlau
der Hennebergische Antheil
und
die sächsischen Bisthümer kamen.
Diese Kreise, Kurkreis, Thüringer, Meißener, Erzgebirgischer, Leipziger, Vogtländischer und Neustädter Kreis,
waren aber nicht wie anfangs die
brandenburgischen nur Wahlbezirke der Ritterschaft für die Ausschußtage,
sondern zum größten Theile ehemals selbstständige Territorien, einem
einheitlichen
Jeder Kreis
hatte zwar
allmählich waren.
zu
sächsischen
Staatswesen
die nur
verschmolzen
seine besonderen Kreistage und einen
kurfürstlichen Beamten mit dem Titel Kreishauptmann, Landeshauptmann
oder Landvogt, der, wie die seit Kaiser Sigismund in Brandenburg für die Altmark, Mittelmark und Neumark eingesetzten, aber seit dem 15. und
Die Entwicklung der sächsischen Amtsverfassung
132
16. Jahrhundert größtenteils wieder beseitigten Landeshauptleute für die
die Polizeiverwaltung der Aemter
allgemeine Landessicherheit zu sorgen,
und Patrimonialherrschaften zu beaufsichtigen und die Verhandlungen mit den Ständen seiner Provinz im Auftrage des Kurfürsten zu führen hatte.
Für die
waren
neue Kriegösteuerverwaltung
die
sächsischen Kreise
ebenso wie die eben erwähnten fünf märkischen Provinzen keine geeigneten Bezirke wegen ihrer zu großen Ausdehnung.
Kleinere,
die Aemter und
Patrimonialherrschaften umfassende Bezirke etwa von der Größe der mär kischen Kreise gab es in Sachsen nicht.
dreißigjährigen Kriege
und während
in Sachsen bedeutend gestiegen.
war gerade vor dem
Ueberdies
desselben die landesherrliche Macht
Kurfürst August hatte bei seinem 1586
erfolgten Tode die Verwaltung, besonders die Finanzen, in dem blühend
sten Zustande hinterlassen. als es sich herausstellte,
Und gegen Ende des dreißigjährigen Krieges,
daß ein Staat ohne stehendes Heer sich nicht
länger erhalten könne, und daher dauernde Kriegösteuern erforderlich seien, war die landesherrliche Gewalt, besonders durch den Prager Frieden von 1635, welcher den Kurfürsten zum Herrn in seinem eigenen Lande machte,
derart entwickelt, daß die Stände die eigene Verwaltung der neuen Kriegö
steuern nicht in Anspruch nehmen konnten. zur Machtfrage.
Die Rechtsfrage wurde hier
Die größere landesherrliche Macht während des dreißig
jährigen Krieges, der Zeit des Uebergangeö vom mittelalterlichen Rechtsstaate zum Militärstaate des 17. und 18. Jahrhunderts, verhinderte trotz
des fast gleichen Umfanges des Großgrundbesitzes in Brandenburg und
Sächselt in letzterem Lande die Bildung eines sich auf den Großgrund besitz
stützenden, der
verwaltungsbezirks,
märkischen
zu dem
Kreisverfassung
in Sachsen
entsprechenden Selbst
dieselben
socialen Grundlagen
vorhanden waren wie in Brandenburg und den dazugehörigen Territorien
Pommern und Magdeburg. Der Kurfürst übertrug in den sächsischen Territorien die Kriegssteuer
verwaltung nicht einem ständischen Landkommissar, sondern seinem eigenen
Beamten, dem Amtshauptmanne.
Zu diesem Zwecke bedurften aber die
Aemter einer völligen Umgestaltung, welche erfolgte im engsten Anschluß
an die historisch gewordene Gestaltung der Aemter. selben Bezirke für die Domänen,
Bisher waren die
Polizei- und Gerichtsverwaltung
des
unmittelbar landesherrlichen Gebietes gewesen in Coordinirung mit den Patrimonialherrschaften.
Nur die Strafgerichtsbarkeit und die Gerichts
barkeit über die Eximirten war den Amtshauptleuten auch für die unbe
deutenderen patrimonialen Gebiete, die der sogenannten Amtssassen, über tragen worden.
So besaßen
in der Justiz
die Amtshauptleute bereits
eine höhere Zuständigkeit als die meisten Patrimonialherren.
Ihr Amts-
im Vergleich mit der brandenburgischen Kreisverfassung.
die Polizei- und
sprenge! ist das alte Amt für die Civilgerichtsbarkeit,
Finanzverwaltuug,
133
das alte Amt und eine Reihe patrimonialer Gebiete
für die Strafgerichtsbarkeit und die Gerichtsbarkeit über Eximirte.
Nur in dem unmittelbar landesherrlichen Gebiete hatten bisher die Amthauptl-'Ute die Steuern eingezogen.
Da man nun eines landesherr
lichen Beamten für das ganze flache Land zur Erhebung der Kriegssteuern bedurfte,
so knüpfte man an die erweiterten Amtsbefugnisse des Amts
hauptmannes auf dem Gebiete der Justiz an.
Seine richterlichen Befug
nisse gegenüber den amtssässigen patrimonialen Gebieten rechtfertigten die
Uebertragung auch
den
der Steuerverwaltung
erweiterten Amtsbezirk.
auf den Amtshauptmann für
Die Einziehung
der Kriegssteuern
wurde
also dem Amtshauptmann nicht nur in dem alten Amte, sondern auch für
die Mediatstädte und patrimonialen Dörfer aufgetragen, in denen er die
Strafgerichtsbarkeit und die Gerichtsbarkeit über die von den Ortsgerichten epimirten Personen in Civilsachen hatte, die ihm also in gewisser Hinsicht schon untergeben waren.
Die Gemeindeeinnehmer der unmittelbar lan
desherrlichen und der dem Amtshauptmann untergeordneten patrimonialen
Dörfer,
die man durch die Bezeichnungen Amtsdorfschaften
dörfer unterschied,
wie die Gemeindeeinehmer
amtssässigen Städte hatten die in ihren Gemeinden
an den Amtssteuereinnehmer abzuliefern. dem Amtshauptmanne
und Amts
der Amtsstädte
und der
erhobenen Steuern
Diese wie die Einnehmer der
nicht untergeordneten patrimonialen Gebiete, der
sogenannten schriftsässigen, führten die eingezogenen Summen an die für jeden Kreis
bestellten
zwei Kreissteuereinnehmer
ab.
Es gab demnach
jetzt ein Amt im älteren engeren Sinne, dies ist die kurfürstliche Domäne
mit den dazugehörigen Dörfern,
das unmittelbar landesherrliche Gebiet,
und im neueren weiteren Sinne, dies ist das alte Amt und die patrimo nialen Gebiete, in denen der Amtshauptmann die höhere Gerichtsbarkeit
zu üben und mit Hülfe deö Amtssteuereinnehmers die direkten Steuern zu
verwalten hatte. Der Kurfürst war zwar im Stande gewesen,
die Macht des Groß
grundbesitzes vorübergehend zurückzudrängen, die Bildung ständischer Steuer verwaltungsbezirke zu verhindern und die Steuerverwaltung seinem Be amten, dem Amtshauptmanne, zu übertragen, aber dauernd ließ sich der Großgrundbesitz auch in Sachsen nicht bei Seite schieben.
Auf den Land
tagen von 1653 und 1657 erhoben die Stände die bittersten Klagen über
die
neue Einrichtung, die eine Gleichstellung
der Rittergutsbesitzer und
ihrer Unterthanen mit den amtssässigen Bauern zu enthalten schien.
In
der Erledigung dieser Gravamina sicherte der Kurfürst zu, die Amtshaupt
leute und Schösser sollten künftig mit denen von Adel, Städten und an-
Die Entwicklung der sächsischen Amtsverfassung
134
deren Gerichtsherren sich über die Ab- und Eintheilung der Steuern ver
nehmen und ihnen die Einbringung ihrer Portionen anheimgeben,
auch
wegen der eingehobenen Gelder bei jerer Anlage unverlangt richtige Rech Dadurch war mit der alten einseitig patrimonialen Amts
nung legen.
verwaltung endgiltig gebrochen.
Das neue Amt, der Steuerverwaltungs
bezirk für das unmittelbar landesherrliche wie für das patrimouiale Ge biet,
ein
war
ständischer
Selbstverwaltungsbezirk
unter
vorwiegender
Theilnahme des Großgrundbesitzes, aber auch, abweichend von der bran
denburgischen Kreisverfassung,
von städtischen Abgeordneten.
Dem Um
fange nach umfaßte durchschnittlich ein sächsisches Amt den fünften Theil des Gebietes eines brandenburgischen Kreises.
Roch
im Laufe des
17. Jahrhunderts wurde dem Amtshauptmanne
auch die Aufsicht über die Polizeiverwaltung der zu dem neuen Amtsbezirke gehörigen kleineren Patrimonialherrschaften und Städte, in denen er bereits die Steuerverwaltung hatte, übertragen, während die schriftsässigen Patri-
monialherrschaftcn und Städte wie bisher unmittelbar unter der Landes regierung standen. In Brandenburg wie in Sachsen hat sich also die Macht des Groß grundbesitzes auch in der Berwaltung des neuen Militärstaates geltend ge
macht, nur waren in der kritischen Uebergangsperiode des dreißigjährigen Krieges
die
Machtverhältnisse
in
beiden
Territorien
verschiedene.
In
Brandenburg waren die Stände mächtig, der Kurfürst schwach, es ent
stand die Kreisverfassung, die mit dem steigenden landesherrlichen Ein flüsse und der Beseitigung der ständischen Autonomie zu einem Institute
der Selbstverwaltung im modernen Sinne wurde.
In Sachsen vermochte
der Kurfürst dem Amtshauptmann die Steuerverwaltung zu übertragen, aber
bald darauf mußte er dem Großgrundbesitz das Zugeständnis von Amts
versammlungen machen, deren Befugnisse ungefähr denen der märkischen
Kreistage entsprachen.
So führten die verschiedenen Machtverhältnisse in
dem Nebergangszeitpunkte zu verschiedenen Verwaltungsbezirken, in Bran denburg
zur Kreisverfassung,
in Sachsen zur neueren Amtsverfassung.
Die gleichen gesellschaftlichen Grundlagen, auf denen der Staat sich aufbaut,
in beiden Territorien bewirkten aber
noch
in
der Mitte des 17. Jahr
hunderts eine Annäherung der Amtsverfassung an die Kreisverfassung, die
auf dem Gebiete der inneren Verwaltung seit 1660 in den Hauptzügen
mit einander übereinstimmen. Es läßt sich aber nicht verkennen, daß die Amtsverfassung in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine wesentlich unvollkommenere Bil dung war als die gleichzeitige brandenburgische Kreisverfassnng
Zunächst
waren nicht alle patrimonialen Gebiete den Aemtern untergeordnet, die
im Vergleich mit der brandenburgischen KreiSverfaffung.
135
Schriftsätzen standen nach wie vor unmittelbar unter der Landesregierung. Außerdem hatte in Sachsen die den entwickelteren Kulturstufen eigenthüm
liche Scheidung der sogenannten inneren Verwaltung, der Polizei- und Steuerverwaltung, von der Naturalbewirthschaftung der Domänen und der
Beide Mängel verschwanden in der ersten
Rechtspflege nicht stattgefunden.
Hälfte des 18. Jahrhunderts, also zwei Menschenalter später als in Bran
denburg.
Die
schriftsässigen
wurden
Gebiete
wenigstens
insofern
den
Aemtern einverleibt, als den Amtshauptleuten meist die Oberaufsicht über
die Verwaltung
der
schriftsässigen Rittergutsbesitzer als landesherrlichen
Commissaren übertragen wurde, während im übrigen die Selbständigkeit
der schriftsässigen Gebiete, namentlich ihre von den Aemtern unabhängige
Steuerverwaltung erhalten blieb.
Die Unterordnung der patrimonialen
Verwaltung unter die staatliche war immerhin eine unvollständigere als in Brandenburg, indem namentlich die selbständige patrimoniale Steuer verwaltung der Schriftsassen erhalten blieb, aber im wesentlichen war diese
Unterordnung auch in Sachsen erreicht, und gegen Ende des 18. Jahr hunderts werden Amtssassen und Schriftsassen gleichmäßig nebeneinander
als zu den Aemtern gehörig aufgeführt.
Die Amtsverfassung war damit
thatsächlich zur allgemeinen Einteilung des Landes mit Ausnahme der selbständigen größeren Städte, wie Dresden und Leipzig, geworden.
Ferner schied sich in Sachsen in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahr hunderts die Polizei- und Steuerverwaltung von der Domänenverwaltuug
und Rechtspflege durch die Verpachtung der Domänenämter. Schon Kur
fürst
August
dieselbe gegen Ende des 16. Jahrhunderts versucht.
hatte
Dieser Versuch scheiterte aber wie ein ähnlicher Joachims I. von Branden
burg an den unentwickelten volkswirthschaftlichen Verhältnissen; der richtige Zeitpunkt für den Ueb.rgang von der Natural- zur Geldwirthschaft war noch nicht gekommen.
In Brandenburg-Preußen nöthigten aber, als der
Uebergang möglich war, die Bedürfnisse des Großstaats weit früher zum Bruch mit dem man möchte sagen patriarchalischen System der Domänen
verwaltung, bei der die nächst gelegenen Domänen den Ueberschuß ihrer Erträge zur kurfürstlichen Küche lieferten, die entfernteren denselben bei
den
mangelhaften
Transportmitteln
Grunde
zu
gehen
lassen
mußten.
Während daher in Brandenburg seit 1651 das Pachtsystem konstant durch geführt wurde,
gelangte man in Sachsen, wo man sich stets im alten
Geleis fortbewegte, zu demselben ein halbes Jahrhundert später, und erst 1732 erwähnt ein
sächsischer
„kürzlich" überall emgeführt.
Statistiker,
die
Domänenverpachtung
sei
In Brandenburg wie in Sachsen wurde nun
nicht nur die Domäne, sondern auch,
den patrimonialen Anschauungen
entsprechend die an ihr haftenden subjektiv dinglichen Rechte, die Leistungen
Die Entwicklung der sächsischen AmtSverfaffung
136
der Bauern, die Gerichtsbarkeit und Polizei über den Domänenbezirk, ver-
pachtet.
In Brandenburg, wo dies die einzigen Funktionen der Amts
gewesen
hauptleute schaften von
der
verschwanden
waren,
Bildfläche,
in
anders
damit
Amtshauptmann
die
wo
Sachsen,
die
Amtshaupt
außerdem die Steuerverwaltung und die höhere Polizei über eine
leute
Reihe patrimonialer Gebiete gewonnen hatten.
Die Aemter
und
ihre
Pächter traten jetzt zu den Amtshauptleuten in dasselbe Verhältniß wie
die patrimonialen Gebiete und die Rittergutsbesitzer.
Der Amtshauptmann
hatte nicht nur in den patrimonialen Gebieten, die zu dem Amte gehörten,
sondern auch in dem Domänenbezirk die Steuerverwaltung und die höhere Polizei, d. h. die Aufsicht über die Localpolizeiverwaltung.
Der
und das Amt
Kreis
zu völlig analogen Ver
damit
waren
Kreis wie Amt sind die untersten Bezirke für
waltungsbezirken geworden.
die Verwaltung der direkten Steuern! mit einer ständischen Selbstverwaltung,
Abgesehen von der
sowie Aufsichtsbezirke für die Vocalpolizeiverwaltung.
eigenthümlichen
Stellung
der
schriftsässigen Gebiete
liegen
die einzigen
Unterschiede darin, daß die Amtshauptleute nicht wie Kreiskommissare und
Landräthe von der Ritterschaft des betreffenden Bezirks aus ihrer Mitte vorgeschlagen,
sondern einseitig vom Landesherr», jedoch
herkömmlicher
Weise aus der Zahl der ritlerschaftlichen Amtseingesessenen, ernannt wer den,
und daß die Aemter viel kleinere Verwaltungsbezirke sind als die
Kreise. Allmählig verschwand aber in Sachsen die Theilnahme der Ritter-
gutsbesitzer und der
Aemter,
und
seit
städtischen Vertreter der Mitte des
Spuren mehr davon.
Zunächst
an
der Steuerverwaltung der
18. Jahrhunderts
finden
sich
keine
fiel in's Gewicht der geringe Umfang
des Amtsbezirks.
Das Amt war sehr wohl geeignet zur Bildung einer
Sammtgemeinde,
aber
dem Rittergutsbesitz verwaltung.
durchschnittlich
beruhende, den
klein
zu
für
eine
fast nur
auf
Bauernstand ausschließende Selbst
Zahlreiche Aemter hatten gar keine amtssässigen Ritterguts
besitzer uvd Städte, sehr viele andere vier oder fünf Rittergutsbesitzer und
eine Stadt, aber es finden sich doch auch Aemter, wie z. B. Stolpen und
Torgau mit 39, Meißen mit 30, Leipzig mit 26 amtssässigen Ritterguts besitzern und in der Regel einer Stadt.
Hier hätte sich jedenfalls eine
ständische Selbstverwaltung erhalten können.
In diesem Falle würde man
dieselbe auch in den kleineren Aemtern durch Zusammenlegung mehrerer
Aemter befördert haben, wie man in Brandenburg aus practischen Grün den schon im 18. Jahrhundert, die wegen der korporativen Entwicklung der
Kreise weit schwierigere Aufgabe löste, größere Kreise in mehrere selbst
ständige Kreise zu zerlegen.
Der räumliche Umfang kann also nicht das
im Vergleich mit der brandenburgischen Kreiöverfassung.
137
entscheidende Moment gewesen sein, da sich auch in den größten Aemtern, die an Umfang des Gebiets und Zahl der Rittergutsbesitzer den märkischen Kreisen
nahe kamen,
die ständische Selbstverwaltung vollständig verlor.
Es fiel vielmehr noch ein anderer Grund in's Gewicht.
Sachsen war mit geringen Ausnahmen, der Lausitz und den thüringi schen Stiftsländern ein auch in ständischer Beziehung durchaus einheitliches
Territorium.
Zur Vernichtung
der Stände, zu der in Brandenburg-
Preußen das unabweisliche Bedürfniß einer Realunion der einzelnen Terri
torien nöthigte, lag in Sachsen an und für sich keine Veranlassung vor, sie
wäre hier auch weit schwieriger gewesen, da dem Fürsten nicht einzelne
Territorialstättde, sondern die Stände fast des ganzen Landes gegenüber standen.
Dazu kam noch ein zweites Moment.
In Brandenburg-Preußen
mußten schon die ungeheuren, beständig steigenden Ansprüche für das Heer,
zu denen die Stände nimmermehr die nöthigen Mittel gewährt hätten, zur Beseitigung des ständischen Steuerbewilligungsrechtes führen.
fand
3n Saäflen
dagegen seit dem dreißigjährigen Kriege keine irgendwie erhebliche
Steigerung der Staatsbedürfnisse statt, so daß das Verhältniß von Fürst
und Ständen im ganzen ungetrübt bleiben konnte.
Als dann unter August
dem Starken für den verschwenderischen Hofhalt, die Bestechung der polni schen Großen und den nordischen Krieg bedeutendere Geldmittel flüssig ge
macht werden mußten, konnte sich der König außer den Kämpfen in Polen nicht auch noch in solche mit den Ständen seiner Erblande einlassen.
Er
verschaffte sich daher die nöthigen Mittel durch fortwährende Veräußerun
gen, die sich fast durch seine ganze Negierungszeit hinziehen.
Um nur an
die bedeutenderen zu erinnern, verkaufte er 1697 die Reichsvogtei über Quedlinburg und Nordhausen an Preußen für 34 000 Thlr., verzichtete
auf Lauenburg zu Gunsten Hannovers gegen Zahlung von 1 100 000 Thlr.,
veräußerte ferner 1698 den Petersberg bei Halle an Preußen für 40 000
Thlr., das Amt Borna an Gotha für 500 000 Gld.,. 1700 die Landes
hoheit über Henneberg an Sachsen-Zeitz für 45 000 Thlr., 1702 Gräfen hainichen
an
Dessau
für 35 000 Thlr.,
Mansfeld an
Hannover für
600 000 Thlr., 1712 Pforta an Sachsen-Weimar für 100 000 Gld., ver
zichtete 1719 auf die Lehnshoheit über Schwarzburg gegen 200 000 Thlr.,
1724 auf die Ansprüche auf Hanau zu Gunsten von Hessen-Kassel gegen 600 000 Thlr. schen
Nur einmal wagte es August der Starke, zu seinen polni
Unternehmungen
1704
eine Accise und 1705
eine
Vermögens-,
Rang- und Kopfsteuer auszuschreiben, versicherte aber hinterher, um jeden Konflikt mit den Ständen zu vermeiden, denselben, daß das kein Präzedens-
fall sein solle, womit sich denn auch die Stände zufrieden gaben.
That
sächlich kam auch ein Steuerausschreiben ohne ständische Bewilligung nicht
Die Entwicklung der sächsischen Amtsverfassung
138
Sachsen ist daher eins der wenigen deutschen Territorien,
wieder vor.
in denen
sich
die
Stände bei
ihrer Macht
erhielten.
Die
ständische
Steuerbewilligung namentlich, die immer nur von sechs zu sechs Jahren stattfand, blieb bis zum Uebergange in den neuen Verfassungsstaat be stehen. Bei diesem sich forterhaltenden Einflüsse der Stände auf die Eentral-
verwaltung
erschien
die Theilnahme
an
der Amtsverwaltung
werthloö.
Wie in Frankreich seit hundert Jahren der jeweilig mächtigsten Gesellschafts klasse mit der Centralverwaltung alle Macht in die Hände fällt, und daher
keine der
aufeinander folgenden Regierungen das Bedürfniß nach einer
so auch in Sachsen
Selbstverwaltung der kleineren Bezirke gefühlt hat,
während des 18. Jahrhunderts.
Es fehlte der in Brandenburg-Preußen
vorhandene Gegensatz der besitzenden Klassen zum Absolutismus,
welcher
jene nöthigte, den Einfluß auf die Verwaltung, den sie in der Central instanz verloren, wenigstens in kleineren Kreisen festzuhalten. die anfangs vorhandene Selbstverwaltung der
So ist denn
sächsischen Aemter an der
Theilnahmlosigkeit der Stände zu Grunde gegangen, die, ohnedies Herren des Staates, an der Amtsverwaltung kein Interesse hatten und auch nicht
durch eine starke Staatsgewalt zur Theilnahme an der Amtsverwaltung gezwungen wurden. Dieses verschiedene Verhältnis des Staates zu den besitzenden Klassen
oder im Sprachgebrauche
des 17. und 18. Jahrhunderts von Fürst und
Ständen trug nicht am wenigsten zur Ueberflügelung des reicheren und deßhalb
ursprünglich
Preußen bei.
weit
In Preußen,
mächtigeren
Sachsens
durch
Brandenburg-
wo in der Central- mir Provinzialinstanz
das absolutistische Regiment herrschte, kamen hierdurch die staatlichen Ge sichtspunkte zur Geltung, ihnen mußte sich die ständische Selbstverwaltung der Kreise unterordnen, ihnen mußte sie dienstbar werden.
In Sachsen
herrschte — umgekehrt wie in Preußen — die Bureaukratie zwar in der
Lokalverwaltung,
aber
die ständische Mitwirkung in
der Centralinstanz
machte die Büraukratie wie die ganze Staatsmaschinerie den gesellschaft
lichen Interessen der Stände dienstbar.
Eine Annäherung beider Extreme
hat sich erst in diesem Jahrhundert vollzogen, und auf diese weitere Ent
wicklung wollen wir noch einen Blick werfen.
Es bestand in das
Amt
an
der
im
Verwaltung,
burg-Preußen
Sachsen
weiteren
seit der
Sinne innerhalb
Mitte des vorigen Jahrhunderts
ohne jede Betheiligung
dieses
Amtes
der
der Amtssassen
wie
in
Branden
sammt der dazu gehörigen Justiz und Polizei verpachtete
Domänenbezirk, welcher ebenfalls als Amt bezeichnet wurde.
Die Uebel
stände der Justizverpachtung machten sich jedoch in beiden Staaten immer
im Vergleich mit der brandenburgischen Kreisverfassung.
139
fühlbarer, mehr und mehr stellte sich heraus, daß den Pächtern, den so
genannten Beamten, und den von ihnen angestellten und besoldeten, daher
durchaus abhängigen Justitiaren die Justiz nur Mittel zum Zweck, zur Erpressung möglichst großer Summen von den Bauern war, die natür
lich, wenn sie der Beamte bei seinem Jnstitiar verklagte, stets den Prozeß
verloren.
In Sachsen war die Justi;pacht ein nicht nur für die Bauern,
sondern auch für die privilegirten Stände drückendes Verhältniß, da dem Domänenpächter auch die früher dem Amtöhauptmann zugestandene Straf
gerichtsbarkeit über die amtssässigen patrimonialen Gebiete und die Ge richtsbarkeit über die amtssässige Nitterschaft verpachtet war, so daß der
Domänenpächter bei einer Kollision seiner wirthschaftlichen Interessen mit
denen
der benachbarten Rittergutsbesitzer
eine furchtbare Waffe in der
Hand hatte.
Es
war daher
daß sich die in ihrer Existenz bedrohten
natürlich,
sächsischen Landstände der Angelegenheit annahmen.
tober 1763
Bereits am 13. Ok
sie auf vollständige Beseitigung der Justizpacht an.
trugen
Dringendere Bedürfnisse, namentlich die Heilung der dem Lande durch den
siebenjährigen Krieg geschlagenen Wunden, verzögerten aber die von den Ständen gewünschte Reform.
In Preußen entzog dagegen Friedrich der
Große 1766 für das Fürstenthum Halberstadt, 1770 für die übrigen öst lichen Provinzen den Pächtern die Gerichtssporteln, vereinigte hinsichtlich
der Justiz mehrere Domänenämter zu einem Justizamte unter einem vom Staate angestellten,
von
diesem
besoldeten und von den Pächtern ganz
unabhängigen Justizamtmanne, der von dem Landesjustizkollegium geprüft und von der Verwaltungsbehörde, der Kriegs- und Domänenkammer, zu
Nach diesem in Preußen
deren Bezirk das Amt gehörte, angestellt wurde.
erfolgte
gegebenen Vorbilde
auch
in Sachsen
durch
31. März 1784 die Beseitigung der Justizpacht. die Gerichtssporteln,
und
es
ein Rescript
vom
Die Pächter verloren
wurde abweichend von Preußen nicht für
mehrere, sondern für jedes einzelne Domänenamt ein Justizamtmann er
nannt, der von dem Landesjustizkollegium, Landesregierung genannt, ge prüft und von der obersten Domänenbehörde, dem Geh. Finanzkollegium,
angestellt wurde. den Ständen
Die vollständige Durchführung dieser Einrichtung wurde
in der Landtagsproposition vom 6. Januar 1793 bekannt
gemacht. Es bestanden
seit dieser Zeit drei verschiedene Arten von Amtsbe
zirken in Sachsen neben einander.
Das
vorzugsweise so genannte Amt
unter dem Amtshauptmann war ein Verwaltungsbezirk für die Verwal
tung der direkten Steuern mit Ausnahme der schriftsässigen Gebiete und für
die Kontrolle
der Lokalpolizeiverwaltung.
Preußische Jahrbücher. Bd. LVI. Hest 2.
Innerhalb
dieses 11
Amtes
140
Die Entwicklung der sächsischen Amtsverfassnng rc.
lag das Domänenamt,
umfassend die Domäne
und die dazu gehörigen
unmittelbar landesherrlichen Dörfer, unter dem Domänenpächter, der als
Beamter oder Amtmann bezeichnet wurde.
Es war dies der Bezirk für
die Domänenbewirthschaftung und die Lokalpolizeiverwaltung des unmittel
bar landesherrlichen Gebiets, die dem Domänenpächter wie iir Preußen
verblieben war.
Endlich bestand innerhalb jedes Amtes ein Justizamt zur
Ausübung der von Hause aus dem Amtshauptmann zustehenden Gerichts
barkeit erster Instanz über das Domänenamt, sowie der Strafgerichtsbar keit und der vollen Gerichtsbarkeit über die Erinnerten der amtssässigen Gebiete.
Domänenamt und Justizamt eutsprechen vollständig den analogen
Bildungen in Brandenburg-Preußen,
während das Amt die Stelle der
brandenburgischen Kreise vertritt. eigeutlich nur staatliche Patrimonialgerichte,
Die Justizämter,
ver
schwanden in Sachsen 1854 mit der Beseitigung der Patrimonialgerichts
barkeit, indem an die Stelle der bisherigen Nntergeriebte 122 kollegiale Die ebenfalls rein patrimoniale Polizeigewalt der
Bezirksgerichte traten.
Domänenpächter
siel
dagegen
erst
mit der allgemeinen Aufhebung der
gutsherrlichen Polizei durch die Verwaltungsgesetzgebung des Jahres 1871. Damit hörten auch die Domänenämter als Verwaltungsbezirke auf zu be
stehen.
Es blieben als Verwaltungsbezirke
nur
die Aemter
unter den
Amtshauptleuten erhalten, die nach Beseitigung der patrimouialen Elemente
in der Lokalverwaltung eine oollständige Umgestaltung erfuhren durch eine ausgebildete
kommunale
und
obrigkeitliche Selbstverwaltung
der Amts
bezirke in Verbindung mit einer Verwaltungsgerichtsbarkeit.
Die östlichen Provinzen Preußens und Sachsen haben am spätesten mit
der patrimouialen Verwaltung gebrochen,
sie sind aber eben dadurch vor
dem französischen Systeme der Präfekturen, Unterpräfekturen und Bürger
meistereien bewahrt worden und zu einer wirklichen Selbstverwaltung ge langt.
Richtig erkannte man in Preußen wie in Sachsen, daß die Durch
führung derselben nur erfolgen könne im Anschluß an die geschichtlich ge
gebenen Verhältnisse.
Bei aller Uebereinstimmung in den leitenden Ideen
ist daher in Sachsen die Amtsverfassung, in Preußen die Kreisverfassung erhalten worden, Amt wie Kreis haben aber einen neuen Ausbau erhalten
durch eine alle Besitzmassen gleichmäßig in den Dienst des Staates stellende Selbstverwaltung.
Der Hof von Mdiz-Kiosk. Dem Fremden, der sich,
ru Schiff von Norden kommend, der türki
schen Hauptstadt nähert,
fällt
kaiserlicher Schlösser auf,
deren
weiße Fanden und langgestreckte gelb
in ben Fluthen spiegeln.
sich
getünchte Mauern
des Bosporus
der letzten Windung
Paläste und
stattlicher
lange Reihe
die
Wenn das Schiff aus
heraus
bei Arnautköi
und
in das
weite Wasserbecken einbiegt, welches die Rhede von Konstantinopel bildet, erblickt man auf der sich
die
Bagdsche werden.
langen hin,
des
Fanden deren
hineinragenden Halbinsel
Meer
in's
Mauern und Kuppeln
alten Serail.
der
breite
neuen
Paläste Tschiragan
Marmortreppen
die Zinnen,
hart am Ufer ziehen
Rechts von
den
und
Dolma
Wellen bespült
Links auf dem asiatischen Ufer und diesen Schlössern fast gegen
über liegend gewahrt mau Beyler Bey
des Hügels
hinaufreichenden,
denzen, welche
die Prachtliebe
inmitten
seiner bis zum Gipfel
prächtigen Gärten. der
Aber
früheren Sultane
alle diese Resi
schuf,
deren Bau
Millionen verschlungen und die Zerrüttung der Finanzen des Landes be
schleunigte, sind vom Hof verlassen und sind fast unbewohnt. noch einige Frauen
In aus
dem Berfall preisgegeben.
den Nebengebäuden dem
Harem
des
des
Sultans
Sie
alten Serail hausen Abdul
Asis.
Sie
wurden in jener Schreckeusnacht des Mai 1876 mit ihrem Gebieter dahin überführt und sind seitdem dort geblieben. Schlosses stehen leer und sind
Die Prachtgemächer des alten
der Besichtigung der Fremden zugänglich.
Auch die Paläste von Dolma-Bagdsche und Beyler Bey sind nur von einigen
Wächtern
und
Dienern
bewohnt.
Sie werden gelegentlich zur
Aufnahme fürstlicher Gäste hergerichtet iinb in jedem derselben wird eine
Reihe von Gemächern wenigstens soweit in Stand gehalten, daß die zeit weiligen Bewohner den europäischen Comfort Zuletzt war diese
Gastfreundschaft
der
nicht allzu sehr vermissen.
im Februar 1882 nach Stambul
entsendeten deutschen Mission erwiesen worden, und Fürst Radziwill hatte damals mit seiner Begleitung einen Seitenflügel des Palais von Dolma-
Bagdsche bewohnt.
Nur Tschiragan ist nicht ganz von der kaiserlichen
11*
142
Der Hof von Mdiz-Kiosk.
Familie verlassen worden. Der weitaus größte Theil des Palastes frei lich steht leer, aber an einigen Fenstern des östlichen Flügels sind die Vorhänge aufgezogen und dort sieht man bisweilen menschliche Gestalten. Hier soll der unglückliche Sultan Murad wohnen. Ich sage: er soll; denn gesehen hat ihn niemand in den letzten Jahren. Ob derselbe noch lebt, ist ungewiß; es wäre nicht das erste Mal, daß man den Tod eines Mitgliedes der kaiserlichen Familie jahrelang verheimlicht. Jedenfalls geschieht Alles, um bei der Bevölkerung die Meinung zu erhalten, daß der Vorgänger Abdul Hamid's noch am Leben sei. Eine Postenkette umgiebt den Palast auf allen Seiten. Die Mannschaften haben Befehl, auf Jeden zit feuern, der in der Nähe jener Fenster zu landen sucht oder sich nur davor längere Zeit aufhält. Den Fischern ist es nicht gestattet, auf diesem Theil des Bosporus ihr Geschäft zu betreiben. Alle Fahr zeuge, auch die fremdländischer Marinen, müssen eilends vorüberfahren und dürfet! erst in einer bestimmt abgegrenzten Entfernung vom Palast Anker werfen. Diese Entfernung ist so gemessen, daß man selbst mit einem Fernrohr nicht zu unterscheiden vermag, ob die Gestalt, die sich an schönen Sommertagen an dem offenen Fenster des Palastes zeigt, die des Sultans Murad ist. Wo aber weilt der gegenwärtige Besitzer aller dieser herrlichen Schlösser? Man zeigt dem Fremden eine kleine, unansehnliche Billa, welche, auf der Spitze des Berges oberhalb Tschiragans gelegen, nur mit einem Theil ihres Daches über die Baumwipfel emporragt und die von anderen noch unbedeutenderen Baulichkeiten umgeben ist. Was hat den Sultan Abdul Hamid dazu veranlaßt, die prächtigen Gemächer der Bosporusschlösser zu verlassen und sein Hoflager in diesem abgelegenen, schwer zugänglichen Theil der kaiserlichen Gärten aufzuschlagen? War es die Vorliebe für reinere Luft oder weiteren Ausblick, den dieser auf dem Hügelrücken gelegene Punkt gewährt; scheuchten ihn die trüben Erinne rungen an die Vorgänge des Jahres 1876 von der Schwelle der Paläste, die seine unglücklichen Verwandten bewohnten? Der Glaube an böse Vorbedeutungen ist mit dem Fatalismus der Moslem recht wohl ver einbar. Als Sultan Abdul Asis den von ihm erbauten Palast von Tschiragan zum ersten Mal betrat, glitt sein Fuß auf den glatten Marmorstufen der Eingangshalle aus. Aber weniger Geistesgegenwart zeigend als Wilhelm der Eroberer, als er beim Betreten des englischen Ufers strauchelte, kehrte der orientalische Fürst erschreckt um und war nie zu bewegen, den Palast zu beziehen, vor dessen Besitznahme ihn seiner Meinung nach ein bedeutungsvolles Vorzeichen gewarnt hatte. Eben dieser Palast war es, der ihm für wenige Tage zum Gefängniß wurde
und in dem er sich, — ob freiwillig oder in den Händen der Mörder, dieses Geheimniß ist noch nicht aufgeklärt, — qualvoll verbluten sollte. Ob es diese oder andere Gründe sind, welche ben gegenwärtig regierenden Padischah bewogen haben, das Gartenhaus am Mdiz-Kiosk zur Residenz zu erwählen, ist schwer festzustellen. Vielleicht war auch der Umstand dabei maßgebend, daß die BosporuSschlösser von der Seeseite leicht zu überrumpeln und auch landwärts nicht in dem Maße durch eine Truppen aufstellung zu vertheidigen sind, wie dies bei Mdiz-Kioök der Fall ist. Thatsache bleibt, daß Sultan Abdul Hamid seit seiner Thronbesteigung die selbstgewählte Residenz nicht mehr verlassen hat und auch nicht ge neigt scheint, dieselbe gegen einen der größeren Paläste zu vertauschen, obgleich die 2l6ge(e0enl}eit der ersteren und die beschränkten Räumlich keiten den Anforderungen einer kaiserlichen Hofhaltung keineswegs ent* sprechen. Aildiz-Kiosk ist eine Art Gartenhaus im Stil und Charakter der italienischen Casinos, welche wie in Italien so auch im Orient das noth wendige Attribut jeder größeren herrschaftlichen Parkanlage bilden. Die Sultane erbauten deren zu allen Zeiten und in großer Anzahl an beiden Ufern des Bosporits. Gegenwärtig giebt es deren wohl an 20 auf den verschiedenen kaiserlichen Besitzungen in der Nähe der Hauptstadt. Sie sind in Bauart und innerer Einrichtung einander sehr ähnlich, bestehen fast immer aus 2 Stockwerken mit symmetrischer Zimmereintheilung: in der Mitte eine größere Hatte, daneben einige Gemächer. Ueberall Divans, schwerfällige Faitteuils, die längs den Wänden aufgestellt sind, große Spiegel in Goldrahmen, darunter die niemals fehlenden Marmor consolen mit Pariser Pendulen. In der Mitte des Zimmers ein Tisch mit irgend einem Tafelaufsatz aus Silber, Malachit oder Bronce. Die einzelnen Räume unterscheiden sich nur durch die verschiedene Farbe des großblumigen Möbeldamastes und der Wandbekleidung. Früher wurden die Stoffe dazu in der Seidenfabrik von Jsmid gefertigt; neuerdings be zieht man sie aus Frankreich. Nirgends eine Spur orientalischer Eigenart. Die Räume gleichen in ihrer langweiligen Pracht und geschmacklosen Ueberladung den fürstlichen Wartesalons europäischer Bahnhöfe. Wenn man eines dieser kleinen Lustschlösser besticht hat, hat man sie alle ge sehen. Der große Park von Tschiragan enthält deren mehrere; der höchst gelegene ist Aildiz-Kiosk. Eine hohe, gelbgetünchte Mauer umgiebt den Park in seiner ganzen Ausdehnung Die Türken haben eine Vorliebe für die gelbe Farbe; sie wenden sie gern in ihrer Kleidung, in ihrer Zimmereinrichtung an. Aber die milderen, gedämpfteren Töne, welche das Kunstgewebe des Abendlandes bei der Benutzung dieser Farbe vor-
Der Hof von Dildiz-KioSk.
144
Ein grelles Orangegelb ist gewissermaßen
zieht, sind dort wenig beliebt. im Orient die
officielle Farbe
Die
der
Gebäude
Pforte,
hohen
oder Negierungsbauten.
bei kaiserlichen-
alle
die Ministerien,
Kasernen
und
Wachthäuser, die Umfriedungen der Paläste sind mit dieser dunklen Oker, färbe übertüncht, welche — man muß es zugeben — von Weitem etwas
und
Prächtiges, Glänzendes hat
nicht
reichen Landschaftsbildes beiträgt.
zur Belebung deS farben
wenig
Ehe
Mdiz-Kiosk
seine jetzige
hohe
Bestimmung hatte, waren die rückwärtigen Theile des kaiserlichen Parkes von der Stadt aus schwer zugänglich.
holperige Straße,
den Stadttheil, umgiebt,
der
die Paläste
nach dem Rücken
entsetzlich schlecht gehaltene,
kaum und von
und
Tschiragan
dort nach dem nächst
Seil einigen Fahren gelangt man auf einer
angelegten breiten Chaussee
Bor
kaiserlichen Residenz führt.
passirbar, führte durch
von Dolma-Bagdsche
des Hügels
gelegenen Uferort Onaköy.
in Serpentinen
Eine
für leichteres Fuhrwerk
zu
befindet
demselben
welches zur
dem Thor, sich
links
zwischen
2 Wachthäusern ein Nebeneingang, welcher den geschäftlichen Verkehr mit
für
stets
Das Hauptthor ist
dem Innern vermittelt. nur
den Sultan oder
die Botschafter
geschlossen
geöffnet.
mit) wird
Auf dem
kleinen
staubigen, schattenlosen Platze vor der zuletzt beschriebenen Eingangspforte
lungern
einige Bettler
stets
welche
und Tagediebe,
den Ankommenden
umschwärmen und sich zum Halten oder Tränken der Reitpferde anbicten.
Etwas weiter entfernt befindet sich ein elender Schuppen, in welchem die
Wagen
der
Würdenträger
oder Diplomaten Schutz
Tritt man zwischen
Regen finden.
gegen Sonne
und
den beiden Schildwachen, welche auf
einem kleinen Brett stehend durch ein Sonnensegel geschützt sind, in das Innere der Umfriedigung/ so gewahrt man rechts nur wenige Schritt von
der Umfassungsmauer entfernt den Mdiz-Kiosk.
Audienzen, hier
finden die officiellen Diners
sonderen Anlässen wird das Gebäude benutzt;
wohnt.
Hier ertheilt der Sultan
statt.
Nur bei solchen be
im Uebrigen ist es unbe
Der Sultan hält sich für gewöhnlich in seinem Harem auf, d. h.
einem etwa 200 Schritt von dem Hauptgebäude entfernt liegenden, durch eine hohe Mauer dem
oder in
einem
vor
Blick des
Unbefugten
der Eingangsthür
kleinen Gartenpavillon.
entzogenen
desselben gelegenen
Etablissement einstöckigen,
Derselbe enthält nur 2—3 niedrige, in der be
Eros ist es, der sein Verlangen nach der Helena befriedigt.
Er findet
sie, vermählt sich mit ihr und zeugt einen Sohn — Euphorien, der frei Im vierten Akt kehrt dann Faust mit Mephistopheles
lich bald stirbt.
nach Deutschland zurück.
Für letzteren nun ist Helena das, was sie für
Princip der Verführung, nur
den christlichen Volksglauben ist,
Mephistopheles sie als Volksglaube
sie
solches begünstigt und
verabscheut.
verwendet,
während
daß der
Für Faust hingegen steht Helena so hoch,
wie für Homer, oder eigentlich noch höher.
Denn bei Homer bleibt sie
Bei Goethe erscheint sie als Liebe gebend mit)
immerhin Unheilstifterin.
empfangend, die jedoch als reine Wohlthat gefaßt wird.
Berührt werden
zwar in den Reden der Helena auch Verunglimpfungen, die sie erfahren hatte, aber auf Faust's Bild vou ihr hat dies gar keinen Einflttß.
Es ist nun aber streitig, was Faust's Verkehr mit Helena eigentlich bedeuten soll.
Sicherlich hat Goethe so zu
sagen eine Vermählung des
mittelalterlichen germanischen Geistes mit dem antiken im Sinn, eine Er
frischung des ersteren ditrch die innige Berührung mit dem letzteren, eilte Art Renaissance. bestimmt ist,
Kunst
Man
streitet
jedoch
darüber,
ob Helena mehr dazu
Faust's Geist in das hellenische Schöttheits-Ideal und die
hineintauchen
Zti
lassen,
oder
aber
den Geist
des thatkräftigen
Heroismus oder der heroischen Thatkraft in ihm zu wecken.
Letzteres
würde sehr gut zu dem Haupt- und Schlußideal passen, zu welchem sich
Faust emporarbeitet.
Dttrch
seinen
Rath
und Mephisto's Zauberkunst
wird ein Krieg zu Gunsten des Kaisers entschieden, und dieses Verdienst trägt unserm Helden
die Belehnung mit dem Meeresstrande ein.
gelingt ihm, den dem Wasser abgerungenen Boden zu kolonisiren.
Es
Dieses
Einlenken in tüchtige praktische Thätigkeit macht seinem Titanismus und egoistischen Glückseligkeitsdrang ein Ende, aber gerade die volle Anstren
gung seiner Kräfte zum Besten seiner Mitmenschen wird nun sein höchstes
Glück.
Man hat nun also seinen Verkehr mit der Heroine Helena, sein
Weilen
auf
griechischem
Heroismus deuten wollen.
Boden,
Allein
als
Vorschule
für diesen praktischen
diese Deutung ist
schwerlich richtig.
Hätte ihn der Dichter in Verkehr mit Heroen wie Herkules gebracht, der
durch seine zwölf Leistungen das Land von Ungeheuern befreite und daher
als großer Wohlthäter gefeiert wird, so wäre jene Deutung erträglicher.
Die Schlußworte des Goethe'schen Faust.
170
Aber die Verbindung mit dem schönsten Weibe, mag dieses auch noch so umworben gewesen
viel von Halbgöttern
Wahrscheinlicher
werden.
hellenische Welt
ist,
daß
kann so nicht
sein,
Goethe
das
schildern will als Ergreisen der
aufgefaßt
Hineintauchen
in die
erlösenden Macht
der
Schönheit, als Mittel der Befruchtung Faust's durch das Schönheitsideal,
durch ästhetische Natur- und Kunstanschauung.
Man hat zwar eingewendet, Dies ist aber nicht richtig.
von Kunst sei im Faust nirgendwo die Rede.
In einem anberen Zusammenhang,
494 f.), sagt Goethe selbst: mit Kunst verwandt "
aber doch auch im Fällst (II, 1, V.
„denn das Naturell der Frauen ist so nah
Ist nun Helena
schönste aller Frauen, so
die
wird die Liebe zu ihr wohl auch mit Kurlstellthllsiasmlls in Zusammen
hang gebracht sein.
Bon Ellphorion ferner, dem Sohne der Helena und
Faust's, heißt es (II, 3, 1139), daß er sich als Knabe schon verkünde als
künftigen Meister alles Schönen (vgl. B. 12G3). Wie lückenhaft würde ferner die Laufbahn Fausts erscheinen, hätte
er nicht, wie Goethe llnd Schiller selbst, das Höchste ilud das Beste auch
einmal im Schönen gesucht, zumal Plato dazu angeleitet hatte.
nach Plato
zeigt
sich als ein Entwickelungsmoment
Denn
des philosophischen
Triebes, den er als Eros bezeichnet, die Freude an schönen Gestalten. Dieser philosophische Trieb ist aber bei Plato nicht einseitig theoretisch
gemeint, sondern ztlgleich auf ein praktisches Lebensideal bezogen; es kann
daher hier ans ihn hingewiesen werden, obgleich Faust das rein abstrakte und spekulative Philosophiren
von Anfang an als unfruchtbar erfahren
Der Schluß des Faustdramas lehrt, daß Goethe über die Schranke,
hatte.
welche in
der direkten Verwechselung der sittlichen
Harmonie liegt, allerdings hinausgekommen ist.
mit der ästhetischen
Gerade deshalb ist aber
Fausts hellenischer Enthusiasmus vermuthlich nicht zu fassen als unmittel bare und positive Vorschule zur Begeisterung
für das thätige Leben,
sondern als Durchgangspunkt, der zwar seine Berechtigung hatte, der aber überwunden werden mußte, weil er an sich doch nicht das Höchste war.
Ist aber diese unsere Deutung richtig, so ist audb nicht anzunehmen, daß Goethe, indem er sagte „das ewig Weibliche zieht uns hinan", vorzugs
weise an dasjenige gedacht hat, was sich in der Helena darstellte. Es ist nun aber drittens
Goethe meine damit
nicht
auch
sowohl
die
Ansicht
Maria
ausgesprochen worden,
oder Helena,
Indessen auch diese Ansicht ist mit Schwierigkeiten behaftet. uns lediglich an die Endgestalt Gretchens,
als Gretchen.
Halten wir
so begegnet uns ein Ideal
ohne bestimmten Inhalt, so daß wir auf unsere Frage keine Antwort er halten.
Einen bestimmten, concreten Gehalt bietet uns nur die Marga-
Die Schlußworte des Goethe'schen Faust.
rete
ersten Theiles.
des
Diese nun
ist zwar
171
eine höchst anziehende
Während Mephistopheles sie zu dem Zwecke Faust in die Arme
Figur.
führt, um diesen durch Sinnlichkeit zu erniedrigen, hatte in Wahrheit für
diesen das Berhältniß
Veredlendes.
etwas
eher
am Ende des zweiten Theiles
erscheint
fällt sie, und
Freilich
sie zunächst als Büßerin, dann
aber als vollständig geläutert, ja als Jdealgestalt
in
der unmittelbaren
Sie ist es, durch die Faust in die obere
Umgebung der Himmelskönigin.
Welt, wo sie bereits heimisch ist, eingeführt und eingeweiht wird.
trotz alledem kann man
doch
nicht sagen,
Aber
daß sie es allein oder vor
zugsweise ist, die
in Faust das Bewußtsein seiner wahren Bestimmung
wachgerufen hat.
Sie hat den in Grübeleien gleichsam Erstorbenen in's
Leben zurückgerufen und neuen Lebensmuth in ihm erweckt.
zum Höchsten
hat sie ein erfolgreiches Streben ermöglicht.
Seine Liebe zu
Aber dadurch
in ihm doch nur wieder
konnte ihn an sich doch keineswegs auf
ihr
Daher ist nicht wahr--
die Staffel menschlicher Vollkommenheit erheben.
scheinlich, daß die in Rede stehenden Schlußworte ausschließlich oder vor zugsweise durch
das
Verhältniß
Fausts
zu Gretchen
als
illustrirt er
scheinen sollten.
Wenn sich dieselben nun weder speciell auf Maria, noch auf Helena,
noch auf Gretchen*) beziehen, so muß aus der eigenthümlichen Natur des Weiblichen überhaupt ermittelt werden,
was Goethe
im
Sinne hat.
Die eigenthümliche Natur des Weibes zeigt sich nun theils in der höheren Empfänglichkeit, theils in der Fähigkeit, den Zeugungstrieb zu wecken,
und wenn wir letzteren
Begriff
im
Sinne des Faustdramas erweitern,
so werden wir auf den Begriff des begeisterten Schaffens überhaupt
geführt. meint
ist,
Es ist aber wiederum nicht wahrscheinlich, daß das Erstere ge die
nämlich
Empfänglichkeit
für
höhere
Empfänglichkeit.
Eindrücke des Erhabenen
In
hingebungsvoller
und Göttlichen
sind
die
Wenn sie einmal vom Idealen ergriffen
Frauen den Männern voraus.
sind, geben sie sich mit einer noch rückhaltloseren unbedingten Begeisterung
demselben hin, als die Männer.
uns hinanziehe,
sei
vollen Empfänglichkeit, welche Humanitätsideal,
Aber Goethe meint schwerlich, das, was
eine Nachbildung und Aneignung jener hingebungs
auf welches
die Frauen auszeichnet. sein Faust
Aktivität, nicht auf weibliche Receptivität.
Denn das
ganze
hinführt, weist auf männliche
Es ist auch nicht anzunehmen,
*) Noch eins ist zn erwähnen, nämlich was Goethe im 1. Akt des 2. Theiles von den sogenannten Müller n sagt, ans deren nnterirdischem Reiche Faust die Schatten der Helena und des Paris hervorholt. Gemeint ist entweder die gebärende Natur kraft (man denke an Isis, Demeter u. s. w.) oder in Plato's Sinne an das Reich der Ideen. Aber die Stelle führt uns nicht weiter, da sie selbst sehr dunkel ist. Preußische Jahrbücher.
Bd. LVI. Heft 2.
13
Die Schlußworte des Goethe'schen Faust.
172
daß Goethe
hauptsächlich
au
die Ausdauer im Dulden,
die Treue im
Kleinen, die unermüdliche Opferfreudigkeit und Hülfsbereitschaft, die Frauen z. B. in Kranken-
und Armenpflege zeigen, denkt.
wäre dieser Gesichtspunkt vielleicht
wie sie
Trivial
aber
das ewig Weibliche kann
nicht in diesen engen Kreis hineingebannt sein.
Daher ist es wahrschein
nicht,
licher, daß der Dichter die andere Seite meint.
Physisch
betrachtet ist
das Weibliche das, was nicht allein die Liebe, sondern auch den Zeugungs
trieb des Mannes erregt.
Dem entspricht auf dem geistigen Gebiete jede
schöpferische Thätigkeit, die mit der Zeugung daS gemein hat, daß bei ihr der Producirende aus seinem eigenen Wesen producirt und daß sie mit Lust oder Begeisterung erfolgt, nachdem sie erregt ist.
Was nun ge
eignet ist, diese wahrhaft männliche schöpferische Thätigkeit zu wecken, das
zieht uns hinan, weil nicht abstraktes Erkennen und ästhetisches Genießen,
auch nicht egoistisches Herrschen, sondern schaffende Thätigkeit unsere höchste Bestimmung ist.
ist schon gesagt. Weiblichen höheren
im
Warum es als das Weibliche bezeichnet werden kann,
Das ewig Weibliche aber steht im Gegensatz zu dem trivialen,
makrokosmischen
äußerlichen Sinne;
es ist das Weibliche int
und mikrokosmischen,
genug im kosmischen
Sinne, dasjenige Weibliche, was eine universale Bedeutung hat, was eine
Seite der ganzen physischen und moralischen Weltordnung ausmacht. Zu diesen Mächten, die geeignet sind, unsere begeisterte Thätigkeit zu er regen, hat Goethe gewiß die durch Maria repräsentirte Religion, gewiß auch die durch Helena repräsentirte Kunst gerechnet, vielleicht auch die Denn auch diese ist
durch Gretchen dargestellte ideale Geschlechtsliebe.
geeignet, eine Begeisterung zu wecken, die bei normaler Entwicklung die Thatkraft steigert, und am Anfang des 4. Aktes des 2. Theiles (V. 28) heißt es von dem Wolkengebilde,
„Wie Seelenschönheit
welches Faust
an Gretchen erinnert:
steigert sich die holde Form . . . und zieht das
Beste meines Innern mit sich fort".
Aber der Ausdruck lautet ganz
allgemein, daS ewig Weibliche umfaßt vielleicht noch mehr.
In der phy
sischen Welt hat alles Unkultivirte, aber Kulturfähige, wie der Boden,
den Faust dem Meere abgewonnen hat, diesen Charakter des ewig Weib lichen,
weil schaffende Thätigkeit Hervorlockenden.
Ausdruck nicht auf das materielle Gebiet beschränken.
Nur darf man den
Wie dem auch sei,
man wird zugeben müssen, daß der Kern der im Vorstehenden gegebenen
Deutung auf das Schlußwort einer Dichtung paßt, von der heute feststeht,
daß sie die begeisterte Freudigkeit des thatkräftigen Schaffens und Arbei tens zum Besten der Menschheit als unsere wahre Bestimmung feiert.
Das Schicksal des deutschen Bauernstandes bis zu den agrarischen Unruhen des 15. und 16. Jahrhunderts. Bon
Karl Lamprecht.
Der Satz, daß der Bauer das beharrende Element im Staatsleben
bilde,
gehört mit zu denjenigen Gemeinplätzen, welche die politische Er
fahrung jeden großen Kulturvolkes schon sehr früh auszuprägen
Pflegt.
In dieser Thatsache liegt das Anerkenntniß, daß es zu allen Zeiten na
tionaler Entwicklung
eine tiefgreifende Umwälzung
Bauer unruhig zu werden beginnt:
bedeutet,
wenn der
greift er zur Waffe, schlägt er los,
so müssen Anlässe vorliegen, welche die elementarsten Leidenschaften auf
Solche Anlässe sind für den Bauer nicht mit
zuregen im Stande sind.
vorübergehenden Schwierigkeiten und Verstimmungen, sondern nur mit
wesentlichen Abwandlungen aber die Entfaltung
der
ländlichen Zustände gegeben.
Nun ist
der ländlichen Kultur eilte im Vergleich zu
anderen wirthschaftlichen Entwickluitgen außerordentlich
langsame;
allen schon
deshalb, weil der Betrieb des Landbaus viel mehr wie jeder andere
wirthschaftliche
Betrieb
etwa
in
Gewerbe
Schranken und Bedingungen geknüpft ist.
und
Handel
an
natürliche
Die Industrie und theilweis
auch der Verkehr mögen die Grenzen der Jahreszeiten wie der Zeit über haupt in dem für dieselbe bisher jedesmal herkömmlichen Sinne durch
brechen, sie mögen Arbeitskräfte von früher imgekannter Wucht und An zahl Einem Zwecke und räumlich engbegrenzten Zielen dienstbar machen:
die Landwirrhschaft vermag dies nicht.
Zwar hat sie in unserem Jahr
hundert auf Grund wissenschaftlicher Fortschritte, namentlich in der Chemie,
wie in Folge der außerordentlichen Verschiebung aller Productionsbedingungen durch den Handel ihren Betrieb wesentlich erweitert: aber gleich
wohl wird sie immer ungleich mehr, als jede andere menschlich-productive 13*
Dos Schicksal des deutschen Bauernstandes
174
Thätigkeit den Schranken bis
der Natur unterworfen bleiben.
vor etwa 100 Jahren vollzog sich aller Fortschritt
Namentlich
auf landwirth-
schaftlichem Gebiete nur allmählich; und für das Mittelalter wird man
etwa von der Zeit Karls d. Gr. ab bis zur
im Ganzen und Großen
Mitte des 14. Jahrhunderts einen ganz besonders langsamen Fortschritt der landwirthschaftlichen Technik behaupten können.
im 4. und 5. Jahrhundert zwischen Elbe,
Sehr natürlich.
Erst
unserer Zeitrechnung wurden die Germanen
Donau und Rhein wie in
landen völlig und endgültig seßhaft;
den linksrheinischen Römer
erst seit dieser Zeit erwarben sie
volles Heimathsrecht durch unwiderruflichen Uebergang von einem Leben
in kombinirter Acker- und Weidewirthschaft zum reinen Ackerbau. Seitdem verzichtete man auf weitere Züge und auf ein theilweis in Raub
ausgehendes Erwerbsleben;
Plünderung
und
man sah sich zum ersten Male
mit den Augen des unverbrüchlich seßhaften Einwohners im Lande um, man begann zu roden, zu pflanzen, zu bauen. Diese Thätigkeit der ersten
förmlichen
und bald
leidenschaftlich durchgeführten Besiedelung umfaßte
4 bis 5 Jahrhunderte: auf der straffen Heranziehung der während dieser
Zeit errungenen nationalen Kräfte für die Zwecke des Staates beruht in
nicht geringem Maße die Größe der Karolingerzeit. Konnte man aber nun vom 5. bis zum 9. Jahrhundert neue und
einschneidende landwirthschaftliche Detailerfahrungen machen, während man so in's Große wirkte?
Galt es nicht vielmehr,
die nationalen, wie die
den Römern abgesehenen Wirthschaflskenntisse zur ausgedehntesten Besied lung zu verwenden?
Auch im eigentlichen Mittelalter der Ottonen, der Salier und Staufer
kam es noch immer nicht zu wesentlichen Vervollkommnungen des Acker baus.
Zwar
war jetzt
das Land
in unsäglicher Arbeit mit ungefähr
ebensoviel Ansiedelungen bedeckt als heutzutage; und die Umschaffung der sumpf- und urwaldstrotzenden Germania des Tacitus zu dem fruchtbaren Kulturland der Gegenwart wie schon der Humanistenzeit war im Rohbau
fertiggestellt.
Aber die Ansiedlungen waren klein, unscheinbar waren die
Fluren, weit dehnte sich Weide und Wald, und unermeßlicher als die Schätze
einer
mühsam
errungenen
Kultur
erschienen
noch
Gaben, welche die alte Natur des Landes freigebig darbot.
immer
die
„Dem reichen
Wald es wenig schadet, ob sich ein Mann mit Holze ladet"
behauptet
Vridanks Bescheidenheit noch in später Stauferzeit in straffälligem Ge gensatz zu den Forstpolizeigesetzen der Gegenwart.
Und so rodete man
denn weiter, nicht so sehr im Großen wie vor der Ottonenzeit, sondern im Ausbau der einzelnen Fluren.
Die kühnen Bahnbrecher,
Karolingerzeit noch massenhaft in
die Waldwüsten der Ardennen, des
welche zur
bis zu teil agrarischen Unruhen des 15. und 16. Jahrhunderts.
175
Schwarzwaldes, des Spessarts und anderer Gebirge gezogen waren, wie
sie sich einsam im Hochwald ihr Rott- und Brandland angelegt hatten, sehr im Widerspruch mit den großen Herren, denen der Witdbann ge
hörte: sie wurden jetzt zahm und behaglich, Kinder und Enkel umspielten sie, und aus dem Rodehof der Waldeinsamkeit erwuchs langsam ein Weiler
mit wegsamer Dorfstraße, mit Häusern und Höfen und der Kapelle eines abgeschieden lebenden Waldbruders. Nicht minder erbreiterten sich nunmehr die frühbesiedelten schon von
Anbeginn größeren Dorffluren an den zugänglichen Berghalden und an
den Flußlehnen; und rascher noch als sie vermehrte sich ihre Bevölkerung. In der Stauferzeit hatte Deutschland zum ersten Male allgemein fühl
baren Ueberfluß an Menschen; der Nahrungsspielraum verengte sich zu sehends, und der landwirthschaftliche Betrieb, immerhin noch der nahezu einzige Erwerbszweig, vermochte
dem
gesteigerten Andrängen
völkerung nicht mehr Genüge zu leisten. besserungen im Anbau ein,
der Be
Zwar führte man einige Ver
eine intensivere Bestellung rang der Natur
reichlichere Gaben ab als bisher: indeß diese Fortschritte verfingen nur langsam gegenüber der rapiden Zunahme der Bevölkerung und wurden deshalb nur mäßig und unzusammenhängend eingeführt.
Es blieb nichts übrig als auszuwandern.
Mächtig ergossen sich die
deutschen Siedelschaaren über die Elbe und in die böhmischen Waldge birge, sie zogen die Donau hinab und sie besetzten Mähren, das Weichsel gebiet wurde
im Ober-
und Unterlauf zugleich in Angriff genommen,
und weit nach Osten zu suchten die Leute des äußersten Westens, vom Rhein- und Moselland,
in Siebenbürgen neue Sitze.
Es war ein ge
waltiges mehr als zwei Jahrhunderte lang dauerndes Drängen: fast zwei Drittel alles Landes,
in welchem heut die deutsche Zunge klingt,
wurde
damals erst erobert und was mehr heißt, besiedelt. Und
schließlich
doch
fand
der Ueberschuß
der Bevölkerung
nur Abfluß nach dem fremden Osten;
drängte man in der Heimath selbst den Städten zu.
zeiten
her
hatten
die Städte
theilweis
keineswegs aus
nicht minder energisch
Von den Römer
die Wohlthaten
einer höheren
wirthschaftlichen Kultur gewahrt oder vermittelt erhalten; noch glimmten in ihnen die letzten Spuren römisch-industrieller Ueberlieferung unter der sorgsamen Hut
namentlich
der Bischöfe und Aebte.
Die Nation
als
solche nahm erst jetzt an diesen wenigen Resten ernstgemeinten und selbst ständigen Antheil; erst jetzt begann das Handwerk zu einer ebenbürtigen
Schwester des Ackerbaus zu erwachsen, indem ihm die jüngeren ackerlosen
Söhne vom platten Lande her zuzogen.
Die Folge war eine etwa seit
Beginn des 12. Jahrhunderts rasch steigende Zunahme der Stadtbevölke-
Das Schicksal des deutschen Bauernstandes
176
rung, und gleichzeitig mit ihr, wenn auch theilweise auf Grund anderer das
Wirthschaftsbedingungen,
kaufmännischen Wohlstands;
erste Erwachsen
es ist bekannt,
städtischen Handels
und
daß die Städte von dieser
Doppelentwicklung aus sehr bald eine eigenartige Stellung sogar im po litischen Leben der Nation zu erreichen wußten. Somit war das platte Land entlastet: nach dieser Ausscheidung frei
gewordener Elemente vermochte es den alten Zustand des landwirthschaftlichen Betriebs nahezu aufrecht zu erhalten; bis zum Schluß des Mittel
alters wurden in dieser Hinsicht wesentliche Fortschritte nicht mehr gemacht. Es begreift sich, wenn unter der schützenden Dauer dieser äußern natür lichen Bedingungen
im Berfassungsleben
des platten Landes
Schluß des Bkittelalters Elemente eine Rolle spielen,
noch am
welche demselben
schon in der Urzeit vor anderthalb Jahrtausenden zugeführt waren: wenn man irgendwo
von verhältnißmäßig bedächtiger Entwicklung des Land
lebens reden darf, so gewiß in der Geschichte der ländlichen Zustände des
deutschen
Mittelalters.
Gleichwohl
hinderte
natürlich
dieser
langsame
Verlauf der Entwicklung nicht, daß Deutschland am Schluß des Mittel
alters eine der nachhaltigsten Bauernrevolutionen erlebte, deren die Ge
schichte überhaupt gedenkt. sagten von vornherein,
Aber das versteht sich nach dem bisher Ge
daß die tiefsten Gründe dieser Revolution nicht
localer oder zeitlich vorübergehender Natur gewesen sein können, wie man das noch neuerdings wieder, wohl gar unter Belastung der Reformation,
Es ist das ebenso falsch, als wenn man alle selbständigen
behauptet hat.
Folgen dieser Revolution leugnen und als ihr Ergebniß nur einen ver
stärkten Rückfall wird
in
die
früheren Zustände behaupten will.
man sich daran gewöhnen müssen,
Reformationszeit den
Vielmehr
in den Bauernaufständen der
unausbleiblichen Versuch
eines
radikalen Bruchs
mit einer langen, nunmehr unleidlich und hoffnungslos gewordenen Wirthschaftlichen Vergangenheit zu sehen, geradeso wie man sich längst daran
gewöhnt hat,
in den Erscheinungen der Renaissance auf dem Felde der
Kunst, des Humanismus in den literarischen und wissenschaftlichen Be ziehungen, endlich der Reformation auf religiösem Gebiete nur Haupt
strömungen einer und derselben Richtung zu sehen, deren Ziel die Ent
wicklung der modernen Persönlichkeit gegenüber der gebundenen Indivi dualität des Mittelalters war. Bei solcher Auffassung schrumpft die Frage fast zu nebensächlicher
Bedeutung zusammen, ob denn die Bauern in den Aufständen des 15. und 16. Jahrhunderts, im Zeitalter Maximilians und Luthers mit den
Waffen in der Hand siegten oder nicht: die wirthschaftlichen Gestaltungen,
welche sich im Gähren dieser Aufstände vorbereiteten,
mußten die abge-
bis zu den agrarischen Unruhen des 15. und 16. Jahrhunderts.
177
standenen Bildungen des Mittelalters in jedem Falle ersetzen. viel ist zuzugeben,
Nur so
daß der volle Eintritt der neuen Wirthschaftsorgani
sation des platten Landes durch das Mißgeschick der bäuerlichen Kriegs erhebungen
erheblich verzögert
wurde;
in
der That sind
infolgedessen
nach vereinzelten Neubildungen in früherer Zeit große Reste mittelalter licher Kultur
auf dem platten Lande erst in unserem Jahrhundert ver
schwunden. Wie radikal aber der grundsätzliche Bruch mit den mittelalterlichen Wirthschaftseinrichtungen
trotz
aller bäuerlichen
Niederlagen
schon
im
16. Jahrhundert und keineswegs erst mit der französischen Revolution war, mag kurz an einem der wichtigsten Punkte nachgewiesen werden.
Wir kennen heutzutage als Landgemeinde durchgehends nur die po litische oder Personalgemeinde; sie besteht im Allgemeinen aus allen er wachsenen selbständigen Personen des Ortes; ihr nächster Zweck ist die
politische Verwaltung ohne grundsätzliche Rücksicht auf landwirthschaftliche Interessen; sie ist ihrem Wesen nach von der Stadtgemeinde nicht ver
schieden.
Die Person macht in ihr Alles, der Grundbesitz nichts.
Wie anders die spätmittelalterliche Landgemeinde. Sie hat keine all
gemeinen staatlichen, sondern
nur locale wirthschaftliche Zwecke;
sie ist
eine Genossenschaft zum Landesanbau und zur Landesnutzung. Die Person gilt in ihr nichts, der Grundbesitz Alles; an ihn allein ist jede Gemeinde
berechtigung der Personen gebunden. Es liegt auf der Hand, daß innerhalb der ländlichen Entwicklung
wohl kaum ein klaffenderer Einschnitt zu denken ist, als derjenige, welcher durch den Uebergang von der mittelalterlichen zur heutigen Landgemeinde
bezeichnet wird. Und eben dieser Uebergang beginnt sich schon im 16. Jahr hundert zu vollziehen,
zum deutlichen Beweis,
daß sich die mittelalter
lichen Grundlagen trotz aller Bauernniederlagen nicht mehr halten ließen: die Freiheit der Persönlichkeit,
welche auf geistigem
Gebiete gewonnen
war, mußte schließlich doch dem materiellen Leben auch des Bauern zugute kommen. Sieht man aber geistige und materielle Entwicklungen innerhalb der Geschichte mit jenem Bewußtsein
ihrer fortwährenden Verquickung an,
welches die beobachtende Kenntniß der menschlichen Einzelexistenz zur Pflicht macht, und erblickt man demgemäß in den Bauernaufständen des Refor mationszeitalters nur
eine der vielen Convulsionen eines sich durchaus
vom Mittelalter loslösenden und scheidenden Zeitalters, so wird man die Anlässe zur Neubildung nicht mehr in einzelnen Thatsachen des 15. Jahr
hunderts, sondern vielmehr im ganzen Entwicklungscharakter der ländlichen
Kultur des Mittelalters suchen.
Das Schicksal des deutschen Bauernstandes
178
Gehen wir hier auf die älteste nur in römischer Ueberlieferung zu
gängliche Zeit zurück, so fallen uns die einfachen und strengen Züge einer noch urzeitlichen, durchaus im Schooße der politischen und militärischen
Einrichtungen geborgenen Agrarverfassung in die Augen.
In den Zeiten
des Caesar und Tacitus war der Deutsche vor Allem Krieger; mit dem Speere suchte
fassung.
er seinen Erwerb,
Die Heereseintheilung
Grundlage;
militärisch war
auf
beruhte
staatliche Ver
seine
der denkbar
natürlichsten
Geschlechter und Sippen bilderen ursprünglich die einzelnen
Heerestheile,
gemeinsam wahrten die Verwandten ihr gleiches Blut in
Abwehr und Angriff.
Diese durch Geschlechtsbeziehungen
zusammenge
haltenen Heerestheile aber waren zugleich die Pfeiler für den Aufbau der Staatsverfassung: wie jeder
einzelne
derselben
die Grundlage
für
ein
Gericht abgab, so bildeten sie vereint das höchste Gericht und die gemeine
Staatsversammlung.
Das Heer als solches war der Souverän, und auch
in seinen Theilen fielen wiederum militärische und gerichtliche Pflichten und Funktionen zusammen.
Nur
die Personen bildeten
auf
diese Weise
in ältester Zeit
den
Staat; der Staat zog mit ihnen auf ihren Wanderungen, er war landund
gebietlos.
Indeß allmählich wurde
besitz der ältesten,
zum Herdeu-
man seßhafter;
noch nomadisirenden Zeit und zur kriegsgewonnenen
Fahrhabe kam das Land als unverrückbares Besitzthum.
Der Germane
sah diese neue Beute zunächst ebenso an wie jede Beute anderer Art; alle
Krieger, d. h. alle selbständigen Freien hatten ein wohlerworbenes Recht
auf ihu,
und die Heeresversammlung verlieh jedem Volksgenossen
den
verdienten Antheil.
Nun aber unterschied sich diese Beute der Natur der Sache nach doch in einem Punkte sehr von jedem anderen Kriegserwerb; wenn auch mit
dem Speer in heißem Kampf errungen, war sie doch ein ohne Weiteres nur wenig einträglicher Besitz, sie verlangte, um nutzbar zu sein, nochmaligen friedlichen Kampf mit Pflug
denn
alle Mühe
der Volks-
und Egge.
und Heeresgenossen,
So
wandte
nachdem
einen
sich
der ruhige
Besitz des Landes nach außen gesichert war, diesem neuen inneren Kriege gegen die feindliche Unkultur des Bodens zu;
hier galt es in wieder
holtem, nicht geringerem Mühen, wie gegen äußere Gegner,
das Land
erst wirklich zur Heimath umzuschaffen: nicht umsonst bezeichnete unsere Sprache einst Kampf und Ackerbau mit demselben Worte Arbeit.
Für
diesen inneren Kampf wurde die alte Heeresgliederung zum letzten Male vor ihrem völligen Verfalle aufgeboten.
Wie sie in gemeinsamem Ringen
während der Schlacht zu einander gestanden hatten, so besetzten die ein
zelnen Heeresabtheilungen jetzt in gemeinsamer Ansiedlung das Land, und
bis zu den agrarischen Unruhen des 15. nnd 16. Jahrhunderts.
kultivirten, meist von Einem Orte aus, die occupirten Bezirke.
179 Ja in
ältester Zeit war das kameradschaftlich-verwandtschaftliche Bewußtsein vielleicht
noch so stark, daß man gemeinsam rodete, gemeinsam anbaute, gemeinsam
erntete.
Je mehr indeß die Wildheit des Landes überwunden schien, je
weniger der Einzelne auf die Hülfe Aller angewiesen war, um so stärker
schwand
der
alte Zusammenhang.
Schon
längst
war zumeist die Er
innerung an die alte Blutsgemeinschaft erloschen, durch fremd eingesprengte Elemente verwischt und durch Auszug zugehöriger Mitglieder ihrer Aus schließlichkeit beraubt; jetzt begann auch der alte militärische Charakter der
urzeitllchen Organisation zu verblassen.
Die Krieger wurden neben ihrer
zunächst noch fest gewahrten militärischen Eigenschaft doch vor Allem zu
Bauern, die Heeresabtheilung zur Dorfgemeinde, die Kameraden zu Markund Flurgenossen.
Aber Ein Moment sollte auch ferner für alle Zeit an
die alten Verhältnisse erinnern: die Vertheilung des Grundbesitzes. es Heeresgenossen geziemt,
war das erbeutete Land in gleicher Berück
sichtigung Aller verloost worden:
jeder Krieger erhielt genügendes Land
zur Ernährung seiner Familie und seines Hausgesindes,
Betrieb dieser Wirthschaft
und Weide,
Wie
nothwendigen
in Jagd und Fischfang.
sowie die zum
gemeinen Nutzungen in Wald
Diese gleichen Theile,
Hufen ge
nannt, wurden dem gerodeten Boden durch Ackertheilung auf's Festeste ein verleibt: sie hielten sich weit über die Dauer der alten Heeresverfassnng
hinaus,
und noch heute scheinen Spuren ihres Daseins in den Aeckern
unserer Dorffluren unauslöschlich durch. Es liegt indeß auf der Hand, daß diese ganze agrarische Organisa
tion, so unverbrüchlich ihre Umrisse erhalten blieben, dennoch unter dem Drucke
stets wachsender Bevölkerungsmengen gar
bald grundstürzenden
Aenderungen im Innern unterliegen mußte. Zur Beurtheilung Eingehens auf die Art, Flur anbauten.
dieser Aenderungen
bedarf
es
eines genaueren
in welcher die germanischen Dorfgenossen ihre
Es geschah das so,
daß sämmtliche Genossen zunächst
irgend ein fruchtbares Stück der Flur von ziemlicher Größe gemeinsam rodeten: von dem gesammten Rottumfang erhielt jeder Genosse ein gleich-
werthiges Stück zugetheilt.
Reichte das erste gerodete Stück nicht mehr
aus, so nahm man ein zweites, drittes, viertes in die gleiche Behand lung.
Natürlich wählte man alle diese Stücke,
welche fast überall in
Deutschland Gewannen heißen, in der Nähe des Dorfes; denn hier waren
sie am einfachsten zu schützen und zu erreichen:
und
so bedeckte sich all
mählich die engere Umgebung des Dorfes mit fest aneinanderschließenden
Gewannen,
in deren jeder alle Genossen mit dem Besitze eines glcich-
werthigen Ackerstückes vertreten waren.
Ein in sich durchaus rationelles
Das Schicksal des deutschen Bauernstandes
180
und der Organisation der Dorfbewohner durchaus entsprechendes System:
konnte der gebundene Wirthschaftscharakter des Einzelnen, seine enge Ein bettung in die konstante Wirthschaftsweise der Genossenschaft wohl besser
zum Ausdruck gelangen,
Kette der Ackerstücke,
als in der durch alle Gewannen hinlaufenden
in der bunten Gemengelage der Aecker jedes Ein
zelnen, welche eine Bewirthschaftung außerhalb des Schutzes und der Auf
sicht der Genossenschaft nicht gestattete? Aber gerade dieser enge Schluß der ganzen agrarischen Anlage band die Markgenossen gegenüber dem Andrängen einer sich rasch vermehrenden
Bevölkerung;
Theilung einer
in diesen Fluren ließ sich keine Hufe zusetzen;
Hufe
sogar die
war mit großen Schwierigkeiten verknüpft.
So
wurde der unabänderliche Bau der Flurverfassung, dem Bater noch eine Wohlthat, schon den Söhnen zur Plage:
nur Ein Familiensohn fand in
dem Dorfe den gleichen Raum, wie ihn der Bater genossen; die übrigen waren gezwungen, aus dem Dorfe zu weichen.
Aber noch bedurfte es zu solcher Auswanderung keines großen Wag nisses und langen Besinnens.
Die Bezirke,
in welchen eine ursprüng
liche Heeresabtheilung sich in einer oder mehreren Dorfschaften heimisch gemacht hatte, besaßen den beträchtlichen Umfang meist mehrerer Quadrat meilen; vor fast jedem Dorf dehnte sich noch Urwalddickicht in verschwen
derischer Fülle.
In seinem Dunkel verschwand
das jüngere Geschlecht,
bald hallte der Wald von der Axt wider und über den Baumeswipfeln
schwebten Wolken dichten Rauches;
nur wenige Wochen, und in Roden
und Sengen war eine neue Ansiedlung gewonnen.
Aber auch diese neuen
Sitze wurden wieder wie die alten Fluren angelegt; auch für sie bestand daher eine geschlossene Anzahl von Hufen und damit die Nothwendigkeit
für deren Ausbau.
Auf diese Weise
trieb
jede Generation die nächst
folgende oder wenigstens eine der nächstfolgenden wiederum der überwie
genden Kopfzahl nach mir Axt und Feuer in den Wald;
eine progressiv
immer stärkere Lichtung und Besiedlung auch bisher entlegener Landes bis man spätestens im 8. Jahrhundert bei der
theile wurde angebahnt,
Unmöglichkeit eines weiteren Ausbaues im bisher verfolgten System an
gelangt zu sein schien.
Damit erhob sich die bedrohliche Frage nach dem
Schicksal künftiger Generationen. Es ist von Interesse zu sehen, wie man eine Lösung zunächst in Veränderungen der Flurverfassung versuchte.
Hatte man die einzelnen Ge
nossenantheile, die Hufen, bisher in innigster gegenseitiger Verkettung und
Verquickung angelegt, so wurde nunmehr die Forderung absoluter Trennung
der Antheile verwirklicht.
Einer einzigen Straße entlang reihte man die
Hufen, jedes Areal für sich und-in ihm den zur Hufe gehörigen Bauern-
bis zu den agrarischen Unruhen des 15. und 16. Jahrhunderts.
181
Hof, gleich Perlen an einem Faden, auf, und legte die gemeinsame Weide und den Wald rings um das so entstehende bandartige Gebilde.
Diese
neue Anlageform existirte schon in der Karolingerzeit, z. B. im Odenwald; ihr wichtigster Vortheil bestand in der Möglichkeit, durch Neuanlage an beiden Dorfenden die Hufenzahl in ziemlich weiten Grenzen zu erhöhen.
Trotz dieser außerordentlichen Vortheile ist indessen die Vermuthung nicht
begründet, daß den jüngeren Generationen mit der Entdeckung dieser neuen
Anlageform geholfen gewesen sei. Es ergiebt sich hier eine Erscheinung von großem geschichtlichem In teresse: die neue Anlageform ist im frühen Mittelalter nur wenig benutzt
worden.
Vielleicht deshalb, weil man sie nur an wenigen Orten kannte?
Aber sie ist gleichwohl im 12. und 13. Jahrhundert für die Kolonisation
des deutschen Ostens von der Elbe ab das durchaus maßgebende System gewesen.
Oder etwa deshalb, weil sie sich nur im flachen Lande Nord^
ostdeutschtands verwenden ließ?
Indeß sie sindet sich später auch ganz ge
wöhnlich auf den schroffen Abhängen des Erzgebirges und der Sudeten. Der wahre Grund für ihre Vernachlässigung vor dem 12. Jahrhundert wird
vielmehr
in
der
wirthschaftlichen Unreife
der
zu
Bauernschaft
suchen sein. Die neue Hufe mit ihrer freieren Anlage forderte eine kräftige Wirthschaftsindividualität, welche sich vom genossenschaftlichen Gängelbande
hier und da zu lösen vermochte,
sie verlangte eine freie Initiative und
eine hochentwickelte Fähigkeit des Wettbewerbs:
Eigenschaften, welche der
alte Genossenschaftsbetrieb grundsätzlich nicht aufkommen ließ, welche erst die zunehmende Verengung des Nahrungsspielraums im 12. und 13. Jahr
hundert bei den Siedelfahrern des Ostens zeitigte. So blieb denn die Errungenschaft des neuen Ftursystems auf längere
Zeit hindurch nur ein großer Zukunft aufgespartes Kuriosum,
und den
Bauern schon des fränkischen und Karolingischen Zeitalters und noch mehr
des 10. und 11. Jahrhunderts blieb nichts übrig, als zu theilen.
Das
hieß die Einleitung des wirthschaftlichen Bankerutts des altfreien Bauern
standes.
Und das Unglück wollte,
daß sich gleichzeitig andere Entwick
lungen vollzogen, welche ebenfalls die ursprüngliche Harmonie der mark-
genössischen Zustände untergraben mußten. Die alte souveräne Heeres- und Volksversammlung der Taciteischen
Zeit hatte, wie wir schon sahen, ein Verfügungsrecht über das Land, wie über jede andere Kriegsbeute besessen.
Diese Souveränetät war nunmehr
an die fränkischen Könige übergegangen, und damit auch das Verfügungs recht über Grund und Boden.
Ein Recht, das von den Königen der
Merowingischen und Karolingischen Zeit gründlichst ausgenutzt wurde.
Damals lagen die großen Waldgebiete in Mitteldeutschland noch wüst,
Das Schicksal des deutschen Bauernstandes
182
noch war
des Menschen Fuß nicht in die
höheren Alpenthäler vorge
drungen, der Böhmerwald blieb noch bis zur Hussitenzeit in seiner Un
wegsamkeit das Hauptvertheidigungsmittel des Landes, und Schwarzwald Solche unwirthliche Gegenden
und Bogesen bildeten meilenweite Einöden.
überspannte jetzt vor Allem das BerfügungSrecht des Königs; sie wurden zu Königssorsten gemacht und sahen immer häufiger jene großen Jagd
auszüge des königlichen Hofes, deren einen so traurigen Ausgangs das Aber die hohen Reichsbeamten, die Grafen und
Nibelungenlied schildert.
Herzöge, empfanden das gleiche Bedürfniß ungemessener Jagdlust wie ihr Herr, und der König
indem er Waldstrecken
kam demselben entgegen,
von der Ausdehnung vieler Quadratmeilen dem Wildbann der Großen
zuwies.
Das bedeutete den Uebergang alles Hochwaldeigenthums in die
Hände der überreich Beschenkten; ihnen stand nunmehr die Erlaubniß zur
Anrodung in Bergeshöhen und Waldestiefen zu; und die Siedelleute der Bannwälder wurden Hörige der neuen Grundherren.
Aber auch in's Kleine ergossen sich die Gewalten, welche dem Kenig der Bolksversammlung über Grund und
aus dem alten BerfügungSrecht
Boden überkommen waren.
Der
rüstete
König
ihm nahe stehende Ge
die so privilegirten Bkannen erschienen
treue mit Rodungspatenten aus;
in irgend einer Mark, die ihnen zur Ansiedelung gut erschien, und rück sichtslos,
ohne Anhören
der
alten Dorfgenossenschaften, begannen sie in
derselben zu roden und zu bauen.
Die Folgen all die ernstesten.
dieser Vorgänge
waren
im 8. Jahrhundert
schon
Infolge der vielfach nothwendig gewordenen Theilung der
alten großen Hufengüter, wie auf Grund der Einwirkung der königlichen
Bodenrechte hatte sich eine ungeheure Verschiebung des Grundbesitzes und damit des einzigen wirthschaftlichen Machtmittels unter den Volksgenossen
vollzogen.
Ursprünglich
hatte
Gleichheit
Grund und Bodens geherrscht,
wie
vertheilung des Landes ergab;
jeder
sie
im
des
Genuß
nationalen
sich nothwendig aus der Beute-
besaß gleich viel, nur wenige Vor
nehme standen an Schwere der Pflichten wie Nutzungswerth des Besitzes über der gleichförmigen Masse
Im 8. Jahrhundert war
der
freien kriegsbereiten
der freien
der Stand
an vielen Orten nahezu zerstört;
über
besitz strotzende
der
neue
Amtsadel,
ihm
sich
Gewalten und dem freien Verwaltungsrecht
adelnden Verkehr
am Herrscherhofe,
und
Volksgenossen.
gleichen Dorfleute
erhob
sich der von Grund
politisch
aus den souveränen
des Königs, social aus dem
materiell
aus
dem
immer offenen
Beutel königlicher Milde gebildet hatte; und unter ihm stand die große Masse der minderfreien Leute, in den mannigfachsten Abstufungen schon vorhan
dener oder zukünftig drohender Abhängigkeit vom neugebildeten Amtsadel.
bis zu den agrarischen Unruhen des 15. und 16. Jahrhunderts.
183
Und neben der weltlichen Aristokratie der Laien stand noch die geist
liche des Klerus.
Bildung war zu allen Zeiten und ist auch noch in der
Gegenwart trotz Volksschule und Schulzwang verhältnißmäßig theuer, nie
ist sie
theurer
wahrscheinlich
Wirthschastsbetrieb
hunderts den
Familienklosters
in
wie
gewesen
in
den Zeiten der späteren
Wir kennen aus dem Ende des 9. Jahr
Merowinger und Karolinger. der Eifel;
der Abtei
Prüm,
des Karolingischen
Veranschaulichung desselben sei hier
zur
angeführt, daß in ihm jährlich, soweit eine Kontrole aus den Detailan gaben noch möglich
ist,
die Mast von
6300 Scheffeln
Aussaat von
Hufen gehörten zu ihm,
etwa 6700 Schweinen sowie die
Getreide
von welchen
vorgesehen
1600 hörige
war;
jährlich 125000 Frontage auf die
Aecker der Abtei geleistet wurden, und allein die Einnahme an Zinseiern betrug jährlich 20900 Stück.
Es
sind Zahlen,
wie man sie heute auf
stellen würde, um etwa eine kleine Stadt zu verproviantiren. Erfolg im 9. Jahrhundert?
Mönchen,
von
Und der
Die Ernährung von im Ganzen etwa 180
denen 100 zugleich
und Behauptung einer Bildung,
Priester waren, und die Bewahrung
welche
nach den erhaltenen schriftstelle
rischen Elaboraten der guten Mönche
des 9. Jahrhunderts zu urtheilen,
eine auch für diese Zeit nicht gerade
überschwängliche war.
kann kein Zweifel sein,
daß
Gleichwohl
die Prümer Zustände ganz gewöhnliche, die
Verwendung der abteilichen Mittel eine normale und gewissenhafte war.
Man
muß
sich
erinnern, daß die kirchliche Bildung keine aus der Zeit
erwachsene, sondern eine
aus
längst
verflossenen Jahrhunderten höherer
Kultur importirte war, und daß sie nur mit äußerster Anstrengung gegen über der Barbarei der Umgebung aufrecht erhalten werden konnte.
Da
her unterlag sie den hohen Preisen, welche alle Zeit für jeden räumlich oder zeitlich
importirten Werth gegolten
haben.
Die Kirche
aber
als
Stützerin dieser Bildung — das ergiebt sich als nothwendige Folgerung
— mußte reich, sehr reich sein; die von Christus gepredigte Armuth hätte ihren Untergang bedeutet; erst das 13. Jahrhundert, dessen Bildung schon zum guten Theile aus der eigenständigen nationalen Entwicklung der germanisch-romanischen Völkerfamilie hervorwuchs, sah eben deshalb die Erschei
nung der Bettelnden.
Und es liegt auf der Hand, daß mit dem vollen
Erwerb einer nationalen und freien Bildung im 16. Jahrhundert für die
Kirche im Sinne Christi mit dem alten Privilegium ausschließlicher und importirter Bildung zugleich jeder Grund für einen abnormen Vermögensstand wegfiel: mit demselben Recht, mit welchem das frühe Mittelalter der Kirche
fast ungemessene materielle Mittel zur Verfügung
gestellt
hatte,
haben
sich die Reformatoren des 16. Jahrhunderts gegen den gleißenden und
nunmehr lügnerischen Reichthum eines hierarchischen Systems gewendet.
184
Das Schicksal des deutschen Bauernstandes
karolingische Zeiten
Für merowingische und
bestand geradezu
aber
die heilige Pflicht der Laien und vor allem des Königs, die Kirche aufs stattlichste zu dotiren; sie kamen ihr nach, und da der Reichthum in jener
Zeit nur in Grundbesitz besitzerin.
Neben
bestand,
den
wurde
so
der
Amtsadel
die Kirche zur Großgrund
trat
Laien
die
Hierarchie
der
Bischöfe und Aebte; auch sie wurde mit fruchtbarem Kulturland wie mit
in Wald und Oede ausgestattet, und auch
vielen Quadratmeilen Landes
in geistlichem Wildland erhoben sich grundhörige Siedelungen. Die Bildung des geistlichen und weltlichen Adels war in der Karo-
tingerzeit
so
Organisation
weit
des
ja
fortgeschritten,
abgeschlossen,
daß
sich
an
eine
ihm unterstehenden Grundeigens denken ließ; die ein
zelnen Besitzungen werden
jetzt
gestaltet, gleichviel ob sie aus
einem
zu
einzigen großen Aufbau aus
altem Hausbestand
oder aus ursprünglich
freiem Einzelbesitz herstammten, dessen Inhaber sich in adlichen oder kirch
Schutz begeben
lichen
hatten:
und
auch
das
grundhörige
neu aufge
nommene Rottland in Waldestiefe wurde dem neuen System eingeordnet.
Das Verdienst
vollendeter
dieser
Allsbildung
neuen
Organisation ge
bührt vor Allem Karl dem Großell, einem der größten Verwaltllngsgenies
in einer seiner berühmtesten Verordnungen,
des Mittelalters überhaupt:
liegt ein
vermuthlich vom Jahre 812,
abgeschlossenes Bild
der
neuen
grundherrschaftlichen Einrichtungen vor. Der Besitz der Grundherren
lag nicht nur an wenigen Orten, wie
etwa heutzutage das in Domänen concentrirte Landeigenthum des Staates
oder der großen Standesherren:
für die Verwaltung unserer Domänen
ausgedehnten
bedarf es einer so
nur eine Zeit hoher Kultur
Centralisation des Betriebes, wie sie
leisten kann.
des Königs, des Adels, der Kirche welcher das Land
Vielmehr elltsprach der Besitz
im Mittelalter durchaus der Art, in
von den Einzelkräften der freien Volksge
bis dahin
nossen besiedelt worden war; weit zerstreut durch viele Dörfer, schon bei
kleinen Grundherrschaften
in
einem
Umfang
von 30 bis 40 Quadrat
meilen, verlief sich der grundherrliche Besitz in einzelne Hufen und Feld flächen.
Und das Landeigen hervorragender Grundherrschaften war noch
ganz anders zerstreut.
Güter der Abtei Prüm Z. B. reichten, in
Die
viele hunderte von Dörfern
zu dem holländischen
zersplittert,
Rheindelta und
von
von den
der Neckarmündung
Quellen der
bis
Lahn bis
Angers und Rouen.
Für diesen Besitz also
galt
es
geschlossene Organisation aufzustellen.
zur Karolingerzeit
eine in sich ab
Sie konnte selbstverständlich nicht
auf die Errichtung großer Rittergüter hinauslaufen, sondern nur auf die Einrichtung gewisser Steuer- und Zinseinnahmestellen und die Ausbildung
bis zu den agrarischen Unruhen des 15. und 16. Jahrhunderts.
eines geregelten Transportwesens,
um den
nahmestellen an Naturalproducten
an
schaffen.
der
Erlös
den Sitz der
Zu diesem Zwecke bildete man
185
einzelnen
Ein
Grundherrschaft zu
überall, wo eine Anzahl von
Hufen derselben Grundherrschaft in benachbarten Dörfern zusammenlagen,
einen besondern Verband
dieser hörigen Hufen
im Hauptort als Mittelpunkt;
mit
einem Bauernhöfe
und diesem Haupthofe wurde ein grundr
herrlicher Beamter vorgesetzt, der Meier,
welcher die Zinse
Meierhof ressortirender Grundholden in Empfang nahm
und
aller vom für deren
richtige Ablieferung an den Grundherrn sorgte. Der erste Blick schon zeigt es: diese
nicht so sehr
mit
grundherrliche Verwaltung ist
unserm Rittergutsbetrieb,
wie
vielmehr
mit unserer
Steuerverwaltung zu vergleichen, nur daß die Steuern und Zinse nicht in
Geld, sondern in den mannigfachsten Raturalprodukten abgeliefert wurden. Aber bildeten die
indem sie sich zu
größern Grundherrschaften dieser für
straffen Organisation ausgestalteten?
bis
außerordentlich
Mußten sie nicht mit dem Verfall
alles politischen Bestehens im 9. Jahrhundert, Ohnmacht noch
nicht Staaten im Staate,
mittelalterliche Verhältnisse
in den Zeiten staatlicher
tief in's 10. Jahrhundert hinein die triftigste Ver
anlassung empfinden, auf Grund ihrer weit verzweigten Decentralisation
die lokale politische Verwaltung an sich zu reißen, welche der Staat doch nicht mehr leistete?
Der Staat kam diesen natürlichen Strebungen der Grundherren ent
gegen.
Er übertrug den Grundherren in einer langen Reihe von Einzel
privilegien die Vollmacht, fast alle staatlichen Rechte gegenüber den grund hörigen Leuten ihres Besitzes selbst zu vertreten; er dankte zu Gunsten der
Grundherren ab. Aber während der Staat so an sich selbst verzweifelte, bestanden noch
auf dem platten Lande die Reste uralter politischer Bildungen, wie sie die freien Volksgenossen geschaffen hatten: und diese Reste mußten den grund herrlichen Ansprüchen entgegentreten oder wenigstens passiven Widerstand
leisten.
Wir sahen früher, daß sich stets je eine Heeresabtheilung, welche zu gleich den Rahmen eines Gerichtes bildete, gemeinsam anzusiedeln pflegte:
die Ansiedler jeder Mark waren also zugleich die Genossen eines gemein
samen militärischen, politisch-gerichtlichen und wirthschaftlichen Verbandes. Oft saßen sie ursprünglich in nur einem Dorfe, bisweilen in mehreren;
aber ihr Gebiet reichte unter
allen Umständen weit über den Umkreis
dieser Heimstätten hinaus, nicht selten umfaßte
Quadratmeilen.
es
eine Anzahl
von
In diesem Umfang lag das natürliche Siedlungsgebiet
der Söhne und Enkel der ursprünglichen Eroberer: die ganze Mark stand
Das Schicksal des deutschen Bauernstandes
186
ihnen offen und wurde von ihnen im Laufe der Jahrhunderte
reichen Ansiedelungen bedeckt.
Aber
wo
mit zahl
sie auch immer innerhalb der
Mark Neuland aufnehmen, überallhin trugen sie zugleich den alten Ver band der Mark:
dem ursprünglichen Verfassungsgedanken gemäß sollten
die Einwohner von Mutter-, Tochter- und Enkeldörfern ein und derselben Heeresabtheilung, ein und demselben Gerichtsverband, ein und derselben
Wirthschaftsgemeinde angehören.
Eine Forderung,
welche theilweis an
politischewirthschaftlichen Entwicklungen, theilweis an der rapiden Zunahme der Bevölkerung scheiterte.
Schon im 8. Jahrhundert war der freie Volksgenosse durchschnittlich
um
zu arm,
den gewaltigen Anforderungen der Karolingischen Politik
militärisch gewachsen zu sein;
vom Aufgebot der deiltschen Bauern nach
Spanien oder Italien, nach den sächsischen Flachlanden oder den avarischen Pußten mußte man absehen: hier konnten nur reisige Leute im Lehnsver-
bande zu kriegerischen Erfolgen verhelfen.
So witrde der Bauer schon
im 8. und 9. Jahrhundert halb und halb aus der Heeresverfassnng hin ausgedrängt;
im 10. und 11. Jahrhundert
schlug
er,
wenigstens unter
Königsbanner, feine letzten Schlachten; seitdem wurde er als ttnkriegerisch
Man kann sich die Einbuße kaum verhängnißvoll genug vor
angesehen.
stellen, welche der Bauer mit dieser Ausscheidung aus dem Heeresverbande
erlitt.
Die älteste nationale Verfassung, auf deren Grundlage sich der
Bauer des Mittelalters in seinem Kampfe gegen neuere Bildungen stellen
mußte, war eine ursprünglich fast ausschließlich militärische gewesen; jetzt ging ihm dieser Kernpunkt und damit die innerste Weihe seiner politischen
Berechtigung verloren.
Es ist kein Zufall, wenn die Gewährung politi
scher Gleichberechtigung und wirthschaftlicher Freiheit
für den Bauer
im
Beginn unseres Jahrhunderts mit der Einführung der allgemeinen Wehr pflicht zusammenfiel; hier wurden nur älteste und tiefste Grundlagen er
neuert,
und
das
deutsche Volksheer der Gegenwart kann in feiner na
tionalen Anlage auf eine zweitausendjährige,
nur
lang und unglücklich
unterbrochene Vergangenheit zurückschauen.
Bon diesem Standpunkte aus läßt sich begreifen, wie empfindlich mit dem Verlust kriegerischer Ehre und Pflicht zugleich die politischen Rechte des Bauernstandes geschädigt werden mußten.
Von jeher hing nach deut
scher Anschauung namentlich Heerespflicht und Gerichtspflicht zusammen; nur der freie Krieger war befähigt, über seine Genossen das Urtheil zu sprechen.
Da liegt die Folgerung nahe genug, daß mit dem Untergang
der ländlichen Heeresverfassung auch die Gerichtsverfassung der alten Zeit zu Grunde gehen mußte, wie sie bisher in selbständiger Ausübung inner halb jeder Besiedelungsmark gepflegt ward.
bis zu den agrarischen Unruhen deS 15. und 16. Jahrhunderts.
187
In der That ist das mit wenigen Ausnahmen der Gang der Dinge gewesen.
Ueberall drangen die Grundherren, Laienadel wie Hierarchie,
in die alte freiheitliche Gerichtsorganisation des Platten Landes ein; hatten
sie sich ursprünglich damit begnügt,
nur ihre grundhörigen Bauern aus
den alten Gerichtsbezirken auszuscheiden und zu besonderen Gerichten mit ihren Meierhöfen als Mittelpunkt zusammenzuschweißen,
so
griffen
sie
bald auch, umfassender schon im 10. und 11. Jahrhundert, in die durch die grundherrlichen Ausscheiduugeu bereits
trümmerhaft gewordene Ge
richtsverfassung der Freien ein und brachten allmählich fast überall ihre
eigene Gerichtsherrlichkeit zur Geltung. So war denn die frühere Harmonie militärischer, gerichtlicher und
wirthschaftlicher Interessen innerhalb der alten Besiedelungsmarken spätestens
mit dem Schlüsse der Stauferzeit endgültig geknickt und verloren*).
Die
politischen und kriegerischen Rechte waren dem Bauer genommen,
ohne
sie aber hatte seine wirthschaftliche Autonomie keinen Halt.
Zudem war
die alte Organisation der wirthschaftlichen Interessen durch den Ausbau
der Mark unter dem Drucke fortwährender Bevölkerungszunahme in sich zerstört und völlig zerrüttet. Ursprünglich Quadratmeilen,
hatte
es
in jeder Mark,
auch solchen von mehreren
nur Eine Vertretung und Eine Regelung des fast noch
durchaus genossenschaftlichen Wirthschaftslebens gegeben: alle Heeres- und Gerichtsgenossen waren zugleich Markgenossen gewesen:
gemeinsam hatte
man über den Acker verfügt, wie über Wald und Weide, und genossen
schaftlichem
Beschluß
unterlag
der Anbau wie
die Ernte des Jahres.
Aber jetzt waren der Ansiedelungen gar viele geworden; die Bevölkerung
der Mark war von Hunderten auf ebenso viele Tausende gestiegen;
der
deutsche Genossenschaftsbegrisf, der nicht bloß gemeinsame Ziele genossen schaftlicher Thätigkeit, sondern volle Lebens- und Erlebensgemeinschaft vor aussetzt, war auf diese Massen nicht anwendbar.
Die alte Wirthschafts
genossenschaft zerplatzte unter dem Drucke progressiver Bevölkerungszahlen; an Stelle der einen Bildung traten Dutzende von Wirthschaftsgenossen schaften; jedes Dorf schuf sich seine eigene Organisation, die alte Mark
genossenschaft wurde zur lokalen Dorfwirthschaftsgemeinde vereinzelt. Vorgang von weitgreifenden Folgen.
Ein
Indem die alte eine und untheil-
bare Wirthschaftsgenossenschaft sich auflöste,
verschwand zugleich der für
*) Die Bedeutung der Entwicklung der Heeresverfassung für die Geschichte des Bauern standes, auch im späteren Mittelalter, hat neuerdings in diesen Jahrbüchern Bd. 53 S. 547 f. besonders Delbrück in seinem Aufsatze über historische Methode (gegen Janssen) hervorgehoben; die dort S. 544 ff. gegebene Uebersicht der Gründe für die Entstehung der bäuerlichen Revolutionen des 15. und 16. Jahrhunderts legt auch sonst Vergleiche mit dem oben behandelten Thema nahe. Preußische Jahrbücher.
Bd. LVI.
Heft 2.
14
188
Das Schicksal des deutschen Bauernstandes
die älteste Zeit so überaus bezeichnende Zusammenhang politischer und
wirtschaftlicher Berechtigungen: das Leben der Wirthschaftsorganisation pulsirte nicht mehr in demselben Körper,
richtßorganisation angehörten;
welchem die Heeres- und Ge-
es war auf kleinere Besiedlungseinheiten
innerhalb der alten Mark herabgesunken, und die freie Kraft kam ihm
nicht mehr zu Gute, welche dem Bauernstande einstmals aus der harmoni
schen Anlage
aller großen Lebensinteressen fast in Ueberfülle zuwuchs.
Es kann nicht Wunder nehmen,
wenn nunmehr die neue von keinem
großen Trieb mehr getragene Wirthschaftsgemeinde der Einzelansiedlung
dem egoistischen Drängen widerstand.
der
grundherrlichen Kräfte nicht lange mehr
Der Grundherr, welcher Grundhörige im Dorfe besaß, über-
vortheilte durch dieselben die schwache Zahl der selbständigen Dorfgenossen;
die Berfügungsfreiheit der vereinzelten Dorfgemeinde verkümmerte
zu
sehends, und die Ansprüche des Grundherrn verdichteten sich mit gleicher
Schnelligkeit zur Behauptung eines allgemeinen Eigenthums am gesammten
Dorfe, vornehmlich an den Theilen von Wald und Weide, welche sich im
Gemeindebesitz befanden.
So wurde der Grundherr zum Dorfherrn; auch
die letzten Reste alter Freiheit, wie sie sich im wirthschaftlicheu Leben des Platten Landes immer noch ausgeprägt hatten,
verfielen der Disposition
weltlicher und geistlicher Grundherrschaften.
So standen die Dinge zur Stauferzeit, als ein neues, bisher un geahntes Leben die wirthschaftliche Entwicklung der Nation zu durchdringen
begann, sodaß allmählich eine Umformung aller materiellen Daseinsbe
dingungen eintrat.
Die Epoche der Naturatwirthschaft schloß; die Zeiten
der Geldwirthschaft brachen herein.
Bisher war die Landwirthschaft die
einzige ausschlaggebende Wirthschaftsform der Nation gewesen, nur langsam, wenn
auch
jährigen
in
stets zunehmendem Maße waren
Verlaufe
bis in
die Zeiten
in ihrem vielhundert
der Salier und Staufer
hinein
überschüssige Wirthschaftskräfte gesammelt und in völliger Umschaffung des Landes zum Kulturland, wie in der Erhaltung immer größerer Be völkerungsmassen nutzbar angelegt worden.
Jetzt begannen neue Genera
tionen das Ergebniß dieser Mühen zu genießen; auf Grund der bisherigen
Kräfteansammlung
erwuchs
eine reichere Lebenshaltung des Einzelnen,
neue Bedürfnisse konnten befriedigt werden und wurden deshalb rege; die
Industrie erstarkte zu einem selbständigen Lebensfaktor der Bolkswirthschaft
und der Handel erblühte mit einer Schnelligkeit, welche sogar für unsere
viel gewöhnten Augen etwas Ueberraschendes hat.
Der Rheinhandel bei
Koblenz z. B. zeigt um das Jahr 1267 erst einen Jahresumsatz von durch schnittlich 15 000 kg Silber; dieser Durchschnitt ist 1368 auf 50 000 kg,
1464—1465 auf 200 000 kg Silber gestiegen. Damit begann zum ersten
bis zu den agrarischen Unruhen des 15. und 16. Jahrhunderts.
189
Male das Geld etwas flüssiger zu werden; seit etwa 1460 sinkt der ge wöhnliche Zinsfuß auf 5 Proe. gegenüber etwa 10 Proc. um das Jahr 1250.
Natürlich mußte
in
diesen
ein
immer beträchtlicherer Theil der Bevölkerung
neuen wirthschastlichen
aufgehen.
Lebensregungen
Seit
der
Stauferzeit beginnen sich die Städte in stets lebhaftem, wachsendem Zu
drang zu füllen; die Weingärten innerhalb
der Mauern
verschwinden;
immer enger dehnt sich Gasse an Gasse; und am Schluß des Mittelalters ist vieler Orten das einst
schlotternd
Gewand
sitzende
der
Befestigung
zur unerträglich engen Schnürbrust geworden. dieser Entwicklung.
Die Landbevölkerung trug die Kosten
in der Merowinger-
und
der weltliche
Karolingerzeit
Wie sich
Amtsadel
unter
schweren Blutungen der Bolksfreiheit aus dem Stande der freien Bauern ausgeschieden hatte, so löste sich jetzt, in der Stauferzeit und bis tief ins
14. Jahrhundert hinein, der Bürgerstand in einer zweiten Emanation aus den ländlichen Bevölkerungsschichten.
Es waren die kräftigsten, die unter-
nehmendsten und erfotgwürdigsten Elemente mehrere Generationen
hindurch dem
des
Bauernstandes,
unbekannten Glück der
welche
städtischen
lange vor Schluß des Mittelalters war das
Entwicklung zuzogen; schon
Bürgerthum, im Gegensatz zum Königthum, zu Adel und Geistlichkeit der
verheißungsvolle Träger einer neuesten deutschen Entwicklung. Der Bürger konnte
diese Rolle
ohne die unter
übernehmen
nickt
schweren Kämpfen erstrittene Entfaltung einer selbständigen imb nationalen Geistesbildung:
das Bürgerthum
hat durch die Grundlegung einer erst
litterarischen und gesellschaft
maligen volksthümlichen, künstlerischen wie
lichen Bildung im 14. und 15. Jahrhundert das Siegel von den Pforten der Renaissance und der Reformation gelöst. Der Bauer war
von diesem Aufschwung ausgeschlossen.
Er hatte
die rittermäßige Bildung des 12. und 13. Jahrhunderts mit Gleichmuth ertragen; sie war zu exklusiv und zu exotisch, um in ihm den Wunsch des
Besitzes wach zu rufen; zudem hatte
er
ihr noch eine uralte specifisch
mittelalterliche, naturwirthschaftliche Bildung von geistig und social festen Umrissen entgegenzusetzen;
mit Neid mochte damals noch mancher Ritter
gleich Neidhard von Reuenthal
auf die
sichere Form
wußten Takt der bäuerlichen Gesellschaft herabblicken.
Jahrhundert wurde das anders.
Der Bauer hatte
und den selbstbe
Im 14, und 15. sein Bestes
Städte abgegeben; in den nunmehr beginnenden Kämpfen
an die
zwischen Adel
und Bürgerthum um die politische und sociale Führung der Nation war er der Prügelknabe;
die
ewigen Fehden
des
ausgehenden
Mittelalters
zehrten an seinen wirthschastlichen Kräften, welche zudem nicht den neuer
dings führenden und darum
besonders gewinnreichen Wirthschaftsformen 14*
190
der
Das Schicksal des deutschen Bauernstandes rc.
Industrie und des Handels
er verarmte,
angehörten:
verbitterte,
verrohte*). Damit waren alle Fermente
gegeben,
einer agrarischen Revolution
so deutlich, daß auch die Zeitgenossen
sie durchweg erkannten:
keine Re
volution ist beharrlicher, länger und allseitiger vorausgesagt worden, als
des 15. und 16. Jahrhunderts.
die agrarischen Unruhen
und 9. Jahrhundert
waren die
materiellen Kräfte
der
Schon im 8. freien Volksge
nossen gebrochen worden, wie sie der Urverfassung der ersten Ansiedelun
gen entsprochen
hatten;
spätestens
die Salier- und
außerdem den Ruin der militärischen und
Bauern.
Jetzt
tiefsten Eingriffe
aber, in
kamen
im 14. und 15. Jahrhundert, die Rechte
der Bauer wurde der Paria der nalen Bildung.
Stauferzeit
brachte
politischen Berechtigungen des
des Standes
und
der
hierzu
die
Menschenbrust:
nationalen Gesellschaft und der natio
Es spricht für die ursprünglich von großartiger Freiheit
und Einheit getragene Organisation
der ländlichen Verfassung, daß der
selbe Bauer, den Jahrhunderte um altes Recht und ursprünglichen Wohl stand gebracht hatten, auch jetzt noch den neuen Zumuthungen auf socialem
und geistigem Gebiete stand, ja diese
mit
Abwehr
allem Mark hoch angelegter Naturen wider
leistete,
obwohl
die 2. Hülste des
14. Jahr
hunderts und das 15. Jahrhundert infolge des rapiden Aufschwungs der
neuen
städtischen Wirthschaftsformen
sich
durch
eine
außergewöhnliche
Billigkeit aller Preise auszeichneten und damit eine besonders leichte und sorglose Lebensführung ermöglichten. *) Dergl. Gothein, „Ueber die Lage des Bauernstandes am Ende des Mittelalters, vornehmlich in Südwestdeutschland" in der Westdeutschen Zeitschrift für Geschichte und Kunst Bd. 4 S. 1—23.
Politische Correspondenz. Anblick der inneren Politik. — Ein mi 1 teleuropäisches Zollbündniß. — Welfische Legitimität. — Paderborner Erlaß. — Berliner
Maurerstrike. — Der asiatische Konflikt. Berlin, Ende Juli.
Die langen parlamentarischen Ferien, welche durch den frühzeitigen Schluß des Reichstags und des Landtags dem deutschen Volke in diesem Sommer zu Theil geworden, werden als eine Wohlthat zwar empfunden, aber nicht in dem
Grade zum befriedigten Rückblick und zum hoffnungsvollen Zukunftsblick ange wendet, wie
könnte.
cs
in einem großen und gesunden Nationalleben der Fall sein
Die Ursachen dieses Zustandes, der nicht ohne starkes Unbehagen in
manchen Kreisen ist, sind verschiedener Art.
Die Feste, welche fast ohne Auf
hören bei jedem Anlaß gefeiert werden, zum Theil mit einem Prunk und einer Fülle des Genusses, wie sie im deutschen Leben in keiner andern Periode vor gekommen sind, zeigen, daß ein Gefühl der Kraft, der Erhebung, der Befrie
digung über ein nie besessenes Gut noch immer durch die große Masse des deutschen Mittelstandes geht.
Es wäre schlimm, wenn es anders wäre in einer
Zeit, wo wir Deutsche das beneidete Volk sind, wo der Blick nirgends auf Zu
stände trifft, die mit den unsern den Vergleich aushalten.
Wohl können wir
uns nicht mit dem englischen Reichthum und der englischen Machterstreckung
messen.
Aber die englische Presse ist am freigebigsten, uns mit dem Titel des
Schiedsrichters der Welt zu beehren, eine Nolle, die weder unser Kaiser, noch
unser Kanzler, noch unser Volk begehren.
Wenn der englische Stolz zu so über
treibender Anerkennung fremder Macht sich herabläßt, so weiß er warum.
Das
englische Machtgebäude, noch immer das größte der Welt, ist in den wichtigsten Fugen erschüttert und das englische Volk wird mehr und mehr die Heilung der
drohenden Nisse als ein Werk von solcher Schwere erkennen, wie es noch nie zu vollbringen gehabt hat.
Wenn in so beneideter Stellung, deren Glanz und Werth in großen Krei sen des deutschen Volks, vor Allen von den Deutschen des Auslandes nach
Gebühr empfunden wird, dennoch ein Gefühl der Sorge und des Unbehagens
sich vielfach nicht unterdrücken läßt, so darf man vor dieser Thatsache nicht die
Politische Correspondenz.
192
Augen verschließen, und noch weniger darf man durch Verdächtigung und Ver ketzerung ihrer Quellen die Thatsache beseitigen wollen.
Sieht man ab von unversöhnlichen Feinden, wie Ultramontanismus und Sozialdemokratie, so gehen Sorgen und Zweifel durch die liberale Denkart,
wie durch die konservative.
In der liberalen Denkart herrscht vielfach das Ge
fühl, besiegt zu sein ohne bekehrt zu sein, und gar mancher von diesen Unbe kehrten würde auch gern bekehrt, sähe er nur den Anfang tragender Kräfte
eines dauernden Zustandes. Eigenthümliche,
Die konservative Denkart hat in Deutschland das
daß sie nicht einen gegebenen Zustand vertheidigen, sondern
vielmehr den gegebenen Zustand noch durchgreifender verändern möchte, als ihre Gegnerin.
Daß die konservative Denkart, ohnedies durch den Partikularismus,
der innerhalb ihrer seine Stellung vorzugsweise sucht und behauptet, mehr ge
spalten als die liberale, mit dem heutigen Zustand sein kaun, liegt auf der Hand.
nicht aufrichtig zufrieden
Diese Zufriedenheit wird zuweilen erheuchelt,
indem der Kampf des leitenden Staatsmannes gegen den Liberalismus dahin ausgelegt wird, als seien die Ziele der konservativen Partei auch diejenigen des
Staatsmannes.
Wie wenig dies in Wahrheit der Fall, verhehlen sich indeß
auch die konservativen Wortführer nicht, und so ist es natürlich, daß Unbehagen
und Sorge die im Grunde vorherrschenden Gefühle auch auf dieser Seite sind. Aus den liberalen Reihen wird die Klage laut, daß das Wirken des ersten
Reichskanzlers, so reich an ungewöhnlichen Erfolgen, doch so wenig beigetragen habe, den politischen Geist der Nation zu bilden.
Bei der Art der Argumen
tation und bei der Art, wie die Parteizerklüftung benutzt und,
anstatt durch
Vermittlung des Verständnisses zusammenhängender Gedanken geheilt zu werden, vielmehr an Zahl und Heftigkeit gesteigert worden sei, habe die große Stellung,
welche der Reichskanzler dem deutschen Volke verschafft, doch nichts beigetragen zur Verbreitung und Befestigung der inneren Einheit.
Solche Beschwerden sind begreiflich, aber sie sind nicht gerecht.
Sie richten
die Anklage einseitig gegen den Mann, dem die Nation so Unvergleichliches
verdankt, und übersehen den großen Theil der Schuld, welcher die Führung fast aller Parteien trifft, nicht bloß die parlamentarische, sondern die geistige
Führung überhaupt.
Wir wollen nicht zurückkommen auf die schweren Fehler,
welche auf liberaler Seite von 1877 bis 1879 begangen worden sind. Wir wählen als Beispiel eine Handlungsweise, die so eben vor unseren Augen geübt wird.
Es ist ja eine der falschesten Behauptungen, deren Beleuchtung bei einer-
anderen Gelegenheit lehrreich sein wird, daß der Liberalismus, wenn wir das Wort in seinem historischen Sinne nehmen
und daraus
nicht willkürlich die
Bezeichnung für eine beliebig herausgegriffene Tagesmeinung machen, zusam
menfalle mit dem sogenannten Manchesterthum.
Immerhin bildet die deutsche
Freihandelsschule zur Zeit einen Theil des deutschen Liberalismus, der vielleicht nicht durch seine Zahl, aber unbestreitbar durch die geistigen Kräfte, die sich noch
um seine Fahne sammeln,
für die Thätigkeit und Entwicklung des gesummten
Liberalismus in Deutschland wichtig ist.
Politische Correspondenz.
193
Nun wird wahrlich kein Verständiger verlangen, daß diese manchesterlichen Liberalen sich zur schutzzöllnerischen Lehre bekennen, wie sie heute vorgetragen wird, als das Widerspiel der freihändlerischen Dogmatik, mit dem glücklichen Erfolg, in der Marter des Verstandes die Vorgängerin überall zu erreichen. Was man aber von den fähigen unter diesen Systematikern des Geschehenlassens
verlangen könnte, das wäre die Offenheit für die Sprache der Thatsachen. Hat man in Deutschland und anderwärts an das Wort doctrinär doch ein
Odium geheftet, als ob jede Doctrin, was nur die falsche thut, den Geist ge gen die Thatsachen blind machte. Glauben wirklich unsere deutschen Freihändler
an den Sieg ihres Dogmas, sobald Hände übergegangen sind?
nur die Zügel
des Reiches
in andere
Dann wären sie eine Sekte in des Wortes klein
lichster Bedeutung. Man kann aber mit Sicherheit annehmen, daß kaum einer von ihnen die Rückkehr zum radikalen Freihandel empfehlen wird, und wenn es geschehen sollte, wird der betreffende sicher für jede Partei unmöglich werden. Freilich die entgegengesetzte Doktrin, wonach die Menschheit den größten Fort--
schritt macht, wenn nicht bloß die eine oder die andere Nation, sondern alle Nationen sich mit den höchsten Zollmauern umgeben, so wie sie
gehen und
stehen, wie ihr Wirthschaftsgebiet, wie die Stufe ihrer Entwicklung u. s. w. immer beschaffen sein möge — diese Doktrin, die heute selbstgefällig und un
duldsam wie nur jemals eine gepredigt wird, kann nicht mehr lange verfehlen, auf eine Narrensekte beschränkt zu werden.
Anspruch
auf
Den Freihändlern, welche doch den
einen weiten Blick erheben, muß
aber der Vorwurf gemacht
werden, daß sie nicht im Stande sind, zu begreifen, warum ihre Idee so viel
von der lange behaupteten Herrschaft eingebüßt hat, mit welchen Mitteln das Wahre derselben für die Menschheit bewahrt werden kann. Daß die Zeit der großen Erfindungen auf dem Gebiete der Verkehrs
technik nicht die Bestimmung haben kann, die Methode der chinesischen Abson derung zur Pflicht aller Völker zu machen, darüber bedarf es allerdings keines
Wortes.
Aber die alte Freihandelslehre beging den schweren Fehler, der an
fangs verzeihlich, mit der Zeit zur unverantwortlichen Gedankenlosigkeit gewor den ist, daß sie die unmittelbare Beseitigung der Zollschranken empfahl ohne
Rücksicht auf die Verschiedenheit der wirtschaftlichen Zustände, welche, durch Kultur und Polltik geschaffen, ohne darauf gerichtete ernste Arbeit nicht ver
schwinden werden.
Die Freihandelslehre bildete sich ein, die Beseitigung der
Zollschranken allein werde die Verallgemeinerung eines normalen Typus der wirtschaftlichen Zustände herbeiführen.
Das war der Irrthum einer doctri-
nären Uebereilung, den mau endlich ablegen sollte.
Die Sache verhält sich
umgekehrt: die Annäherung der übrigen wirtschaftlichen und politischen Be dingungen muß vorausgehen, ehe der Freihandel segensreich wirken kann.
Die
Zeit drängt nach der Bildung großer gleichartiger Wirthschaftsgebiete, inner
halb deren die Bedingungen des wirtschaftlichen Lebens übersehbar und darum auch einer unterstützenden Staatsaktien zugänglich sind.
Der deutsche Kanzler hat im Jahre 1879 die Zollreform nicht eingeleitet
Politische Correspondzen.
194
mit dem Satz, daß aus Deutschland ein sich selbst genügendes Wirthschaftsge-
biet, ein zweites Reich der Mitte gemacht werden könne, sondern mit Betonung der Nothwendigkeit, zunächst eine gewisse Gleichheit für den internationalen Wettkampf, wenigstens auf dem inneren Markt herzustellen und sodann der
Regierung Waffen für die Erlangung wahrhaft gegenseitiger Handelsverträge
zu
Bei den Punktationen vom September 1879 in Wien war auch
liefern.
die Berpflichtung zur Anbahnung worden.
noch
und Handelsbundes
eines Zoll-
festgestellt
Wie Fürst Bismarck im Reichstag erklärt hat, ist diese Vereinbarung
nicht zur Ausführung
Schwierigkeiten,
gelangt wegen der
vielfachen entgegenstehenden
aber vie Hindernisse haben zumeist auf der österreichisch-un
garischen Seite gelegen.
Indem jetzt Deutschland der allgemeinen Erhöhung
seiner Zölle vom Jahre 1879 eine Erhöhung des damaligen Getreidezolls, die allerdings eine Verdreifachung ausmacht, Besorgnisse
erwacht,
daß
solgen ließ, sind
in Ungarn
starke
für die ungarische Getreideproduktiou der deutsche
Markt durch diesen Zoll nun ganz verloren gehen könne.
In dieser Stim
mung hat sich die ungarische Presse der nicht zum Bollzug gelangten Verein barung von 1879 entsonnen und die Erörterung dieses Bollzuges auf die Ta-
gesordnung gesetzt. reich-Ungarns
worden. kommen.
Bisher hatte mau
angenommen, der Widerstand Oester
sei nicht zum wenigsteu auch von magyarischer Seite angefacht
Diesmal jedoch scheint der Widerstand
allein von Eisleithauien zu
Eine offiziöse Zeitung der dortigen Regierung hat bemerkt: bei dem
Zollbund werde die deutsche Landwirthschaft durch reichisch - ungarischen
keine merkliche Einbuße
die Konkurrenz
erleiden,
österreichische Industrie durch die deutsche Konkurrenz
wohl
der
öster
aber werde die
erheblich
beeinträchtigt
werden; der ganze Bortheil würde somit auf die deutsche Seite fallen,
daher
sei es besser sich mit einzelnen Berkehröerleichterungen an Stelle des umfassen den Zollbundes zu begnügen. Diese Weisheit läuft darauf hinaus,
die Aufgabe im Stich zu lassen.
Damit wird aber nicht nur ein großer Gewinn aufgegeben, sondern auch ein auf die Dauer tödtlicher Schaden
rungen einzuführen hat man ausgerichtet.
hervorgerufen.
einige Mal versucht,
Dies liegt in der Natur der Sache.
Einzelne Verkehrserleichte-
aber nicht das Geringste Bei Erleichterungen im
Einzelnen und Hemmungen im Ganzen entsteht immer die Frage, wer bei den Erleichterungen der Benachtheiligte ist.
Es ist die Geschichte von dem Gutsherrn
und der Gutsherrin, die ihre Grenze nicht reguliren konnten, bis sie durch ihre
Heirath aus den Gütern einen einzigen Besitz machten. Ein Zollbund wurde in
das beiderseitige Wirthschaftsleben einen solchen Aufschwung bringen, daß jede
Frage verschwinden würde, welcher Theil in der einen Beziehung der Gewinner
und in der anderen der Verlierer geworden sei.
Man sollte denken, Niemand müßte diese Idee freudiger und eifriger er
greifen wie die Freihändler.
Statt dessen kommen diese Herren mit dem Ein
wand, der mitteleuropäische Zollbund werde durch Schaffung
nahezu
sich
eines
großen,
selbst genügenden Marktes die Epoche der allgemeinen Handels-
195
Politische Correspondenz. freiheit nur weiter hinausschieben. Urtheils?
Ist dies nicht eine klägliche Schwäche des
Der einfachste Menschenverstand gebietet, den großen unmittelbaren
Bortheil zu ergreifen,
nicht aber ihn zu verschmähen für die jeder Bürgschaft
ermangelude Hoffnung des
chimärischen
Außerdem aber ist
größten Gutes.
der einzig gangbare Weg, der zur immer größeren Handelsfreiheit führt, nur
durch Bündnisse zu erlangen, welche nicht bloß Verkehrsfreiheit einführen und es dabei auf die Wirkungen derselben
ankommen lassen, sondern
welche die
Solidarität der politischen und wirthschaftlichen Bedürfnisse zur Voraussetzung
nehmen und die Entwicklung dieser Solidarität sicher stellen und beschleunigen. Die bloße Anregung des mitteleuropäischen Zollbundes veranlaßt den
ebenso
geistreichen als gründlichen Nationalökonomen Leroh-Beaulieu zur Erörterung
der Möglichkeit eines Zollvereins der Staaten des sogenannten Münzbundes.
lateinischen
Es wäre eine höchst voreilige und thörichte Annahme, daß diese
beiden Zollvereine
sich
immer auf Tod und Leben bekämpfen müßten.
dann
Die gegentheilige Entwicklung ist zu erwarten, nämlich, daß beide Zollvereine,
nachdem jeder die Verhältnisse seines inneren Marktes sich hat reguliren lasten,
Eine Solidarität
zu gegenseitigen Annäherungen kommen.
kontinentalen
des
West-Europa wäre eine der größten Wohlthaten und Sicherstellungen für die europäische Kultur. Wir gehen in diesen Zukunftsbildern nicht weiter, aber es ist ein schmerz licher Gedanke, daß auf einem so kleinen Raume wie der, welchen das konti
dessen Bestimmung es doch
nentale West-Europa einnimmt,
gewesen ist, die
höchsten Geistesschätze der Menschheit theils aufzunehmen theils zu zeitigen, und der sie nun auch bewahren und noch reicher entwickeln sollte — daß auf einem so kleinen Raum die nothwendigsten Handlungen und
erreichbare Znkunftsträume erscheinen.
höchste Kultur umschließenden Raume den Fortschritt hemmen,
dehnt
meßlicher aus, und während
Entwicklungen wie un
Während auf diesem zur Zeit noch die unnatürliche Eifersucht und Zerklüftung
sich die Aaukeewelt in Amerika immer uner
wir
aus der
wirthschaftlichen Einheit auch nur
Central-Europas schon eine Unmöglichkeit machen, schreiben wir Abhandlungen über die Verlegung des Schwerpunktes der Weltwirthschaft in die zwischen dem atlantischen und
spektive
mit
einem
stillen Ocean und
laben
uns
an
Region
dieser Per
elegischen Behagen, während doch nur unsere Trägheit,
Kleinlichkeit und Mutlosigkeit uns die Krone der Kultur und wirthschaftlichen Macht vom Haupte fallen lassen kann.
Während wir zaghaft und befangen
vor jedem nothwendigen Schritt zögern,
erobert
Rußland
die
alten Kultur
stätten Asiens mit ihren verschütteten, der Wiederbelebung harrenden Schätzen.
Auch
dahin blicken wir wohl gierig, wir
nehmen, aber die Zollschranke,
möchten
wohl auch einen Antheil
welche durch die mitteleuropäische Kultur und
Wirthschaft geht, wagen wir nicht anzurühren, diese Zollschranke, welche deut sches Kapital, deutsche Arbeit und Uuternehmungskraft vom Osten znrückhält, indem sie gleichzeitig die Unterdrückung
des deutschen Elementes in Oesterreich
durch das unproduktive Slaventhum besiegelt und dem wahnwitzigen Expansions-
196
Politische Correspondenz.
trieb der russischen Panslavisten die Schranken zugleich des Westens, des Ostens
und des Südens öffnet.
Dahin
Wenn die Zügel nicht mehr von
kommen wir
mit dieser Freihandelsklugheit.
einem Bismarck
deutsche Wagen bald im Sande stecken.
geführt werden, wird der
Immer und immer wieder ertönt das
Geschrei der kleinlichen und verzagten Insassen: stillhalten! non possumus!
Bei einem Blick auf die Dinge, welche in diesem Sommer die Oberfläche
unseres politischen Gebens aufgeregt haben, wird der niederschlagende Eindruck der Kleinlichkeit nur bestärkt.
Diejenigen Engländer, Franzosen, Russen haben
wahrlich sehr unrecht, welche befürchten, die deutsche Nation warte mit gespannter Kraft auf die Entwickelung der großen Weltfragen, die sich unaufhaltsam, oft unter dem Sträuben der Betheiligten, vorwärtsschieben, um zu gelegener Stunde den ihrer jetzigen Kraft entsprechenden Gewinn zu verlangen. seine weiter so denken, das Bolk denkt nicht so.
Wenn vielleicht
Und wenn es sich fügen sollte,
daß die großen Entscheidungen, wie es wahrscheinlich ist, sich noch länger ver
zögern, so wird Deutschland dann wahrscheinlich
keine Leitung haben, welche
mit überlegenem Blick die Tinge erfaßt und mit überlegener Kraft gestaltet. Wir haben uns in diesem Sommer die Zeit vertrieben mit der Legitimität
des Herzogs von Cumberland und mit dem Paderborner Erlaß.
kämpferin der Legitimität ist natürlich die ultramontane Presse.
Die Bor
Es ist wahr
haft beschämend, daß jenes Dogma, welches der schlaue Talleyrand, jenes Haupt
voll revolutionärer Sünden, wie er genannt worden ist, auf dem Kongreß zu Wien als dreistes Auskunftsmittel erfand, theils um dem besiegten Frankreich
unter der bourbonischen Firma den ebenbürtigen Antheil an der neuen Ein
richtung Europas zu sichern, theils um in Gemeinschaft mit Metternich die Er
starkung Preußens, das heißt Deutschlands zu hindern, daß dieses beleidigende Dogma noch einmal dienen soll, dem heiligen Lebensrecht der deutschen Nation in den Weg geworfen zu werden.
Nach diesem Dogma besteht Deutschland
neben der leitenden Macht aus einigen zwanzig Rittergütern, die sich privat
rechtlich vererben, ganz einerlei, wie die Erben beschaffen sind, ob sie Ausländer geworden, ob sie gegen den Bestand des Reiches conspirirt haben und weiter
conspiriren wollen u. s. w.
Man hat die Frage aufgewerfen, welcher anderen
Nation wohl der UltramontaniSmus einen gleichen Schimpf anthun dürfte. Aber der UltramontaniSmus findet dienstwillige Bundesgenossen in der Demo
kratie, welche mit erheucheltem Jubel dem UltramontaniSmus darin beistimmt,
daß die Sache der Monarchie untrennbar sei von jener Karrikatur der Legi timität.
Die Demokratie thut, als ob sie sich freue, daß die Monarchie sich
selbst untergrabe.
Wer die Geschichte kennt, weiß, daß um noch ältere Zeiten
zu übergehen, seit den Zeiten des Franken Pipin die Monarchie ihren Beruf
darin gezeigt hat, das Werkzeug der historischen Lebenskräfte und des Bedürfnisies der Bölkerentwicklung zu sein.
Ununterbrochene Pflichterfüllung in diesem
Dienst ist die Legitimität der Herrschergeschlechter, eine andere giebt es nicht. Die Herrschergeschlechter, dE sich an diesem Beruf versündigen, gehen zu Grunde,
das ist der Spruch der Geschichte, deren Beruf es ist, die Legitimität des Privat-
197
Politische Correspondenz. rechts zu zertreten, wo sie nicht hingehört.
Es ist ein eitles Geprahle der De
mokratie, wenn sie meint, was sie Volk nennt, sei der Richter im Namen der geschichtlichen Legitimität, bis das Volk sich zum alleinigen Herrn mache.
giebt keinen europäischen Staat, für den Thron
Es
in welchem die Legitimität des Privatrechts
inne gehalten worden.
Aber kein
europäischer Staat, der
diesen Namen verdient, ist eine Demokratie geworden; denn der Verfassungs kampf, der in Frankreich vor unseren Augen gekämpft wird, bewegt sich um die Frage, ob Frankreich eine Republik sein kann, während es keine Demokratie sein kann.
Die Republik wird konservativ sein oder wird nicht sein, hat ihr
Begründer gesagt. Das andere Ereignis; dieses Sommers war der Paderborner Erlaß.
Ein
Bischof bestimmt für seine Diözese, daß das Priesterseminar keine Zöglinge aus
nehmen soll, die nicht, wie es die Staatsvorschrift verlangt, auf einer deutschen Universität studirt und Zeugniß über den Besuch gewisser Vorlesungen beige
bracht haben.
Diesen Erlaß zieht die ultramoutane Presse anS Licht, erhebt ein
wüthendes Geschrei, daß dies die Anerkennung der Maigesetze sei,
und er
schließlich, daß der Papst dem Bischof die Zurücknahme des Erlasses
zwingt
befiehlt. Zwei Dinge sind durch diesen Vorfall bestätigt und der öffentlichen Wahr nehmung wiederum nachdrücklich eingeschärft worden.
Zuerst, daß das Gesetz
über die Vorbildung der Geistlichen der katholischen Kirche, falls sie dem Gesetz
gehorsamen wollte, nicht den mindesten Schaden zufügen würde.
Mit diesen
wenig eingreifenden Bedingungen könnte sie sich so fanatische Kleriker erziehen, als sie nur immer gebraucht.
Es handelt sich bei dem Kulturkampf nicht um
den Inhalt der Maigesetze, sondern den Beweis, welchen der Ultramontanismus liefern will, daß der Staat nicht die Macht hat, dem Organismus Roms irgend
welche Bedingungen aufzuerlegen, daß er vielmehr seinerseits Bedingungen zu erfüllen
sein.
hat, um nicht der Feindschaft und dem Angriff Roms ausgesetzt zu
Das Zweite was dieser Vorfall eingeschärft hat, ist, daß die Regierung
Roms in dieser Frage beherrscht wird durch den demagogischen Apparat, welchen
die deutschen Ultramontanen lenken.
Es ist keine Frage, daß in der hohen
Prälatur, daß namentlich im Haupte des gegenwärtigen Papstes selbst die Er wägung Eingang findet, ob nicht bei der schwierigen Lage des Papstthums ein anderes Verhältniß zu einigen der großen Regierungen, namentlich der des
deutschen Reiches herbeizusühren fei. Diesem Gedanken widersetzen sich mit aller Heftigkeit die deutschen Ultramontanen, welche unermüdlich den Beweis wieder holen, das deutsche Reich bleibe der gefährlichste Gegner Roms, schon ein nur zeit weises Hand in Haudgehen mit demselben sei das größte Wagniß, die Schwächung
oder Zertrümmerung desselben sei erreichbar und Roms dringendstes Bedürfniß. Hoffentlich wird die Saat dieser doppelten Wahrnehmung in der deutschen
Politik aufgehen, in der Politik der Regierenden wie des Volkes.
Ein lokales, aber bedeutungsvolles Ereigniß dieses Sommers war die mehr
wöchentliche Arbeitseinstellung der Berliner Maurergesellen, welche dazu geführt
198
Politische Correspondenz.
hat, daß den Maurern zwar von dem größeren Theil der Arbeitgeber die ge
forderte Lohnerhöhung einstweilen bewilligt worden, daß aber die Maurer weder die allgemeine Lohnfixirung noch irgend eine Bürgschaft einer dauernden Er
höhung erlangt haben.
Uns hat sich bei Beobachtung dieser Bewegung eine
Lehre bestätigt, die wir schon lange aus den sozialen Kämpfen der Gegenwart
Die Maurermeister haben sich geweigert, mit der Strikekom-
gezogen haben.
mission zu unterhandeln, weil diese Kommission nicht in der Lage sei, die Er füllung
der von ihr etwa übernommenen Verpflichtungen zu
gewährleisten.
Hier liegt nicht der einzige, aber ein sehr wichtiger Punkt, von dem aus die Lösung der sozialen Frage in Angriff genommen werden muß.
Es muß eine
Solidarität abgegrenzter Arbeiterschaften in Bezug auf die Leistungen, eine kor
porative Disziplin nach und nach gebildet werden, welche den Arbeitern eine sittliche Gesammtaktion,
gestattet.
nicht bloß ein zerstreutes revolutionäres Vordringen
Es ist jetzt nicht die Zeit, diesen Gedanken auszuführen.
Wie sehr
er aber durch die Entwicklung der Verhältnisse gefordert ist, beweist der Plan der Maurermeister,
auf Grund des § 100a der
Gewerbeordnung die
Ge
sellen zur Theilnahme an der Jnuungsversammlung und an der Jnnuugsver-
waltuug für begrenzte Zwecke zu berufen.
Wenn dieser Plan zur Ausführung
kommt, wird aus ihm nur ein leicht vergeblicher Versuch hervorgehen, der aber
vielleicht dazu führt,
daß man andere Grundlagen für die Organisation der
Arbeiter sucht.
Wenn der Berliner Maurerstrike viele beklagenswerthe Folgen gehabt hat, so wird er doch dazu beitragen, die Weisung zu geben für einen der Wege, auf
welchen die Lösung der sozialen Frage herbeizuführen ist.
*
*
* Das Toryministerium in England ist nun seit einem Monat am Werk. Es ist durchaus natürlich, daß die großen Fragen, welche dem englischen Staat vorliegen, in diesen wenigen Wochen keine erheblichen Fortschritte gemacht haben.
War doch das Ministerium noch dazu durch die eigenthümliche Thatsache, vor
läufig mit einem Parlament regieren zu müssen, in welchem es nicht die Ma jorität besitzt, vielfach gefesselt.
Aber gerade wenn man dieses Hinderniß in
Betracht zieht, muß man bemerken, daß die Dinge doch ein anderes Ansehen
gewonnen haben. Am 6. Juli gab der Premierminister Lord Salisbury im Oberhaus ein Programm, welches drei Punkte enthielt.
In Bezug auf die asiatische Frage
erklärte der Lord, es sei nöthig, die Politik der vorigen Regierung an dem Punkt wieder aufzunehmen, bis zu welchem diese sie geführt habe.
Die erste
Pflicht sei, die von der englischen Regierung übernommenen Verpflichtungen auszuführen.
Nun habe England dem Emir von Afghanistan den Zulfikarpaß
versprochen, und von diesem Versprechen, welches die vorige Negierung gegeben, könne die gegenwärtige nicht abgehen; denn es sei eine Lebensfrage für Eng
land, zu beweisen, daß das von England gegebene Wort aufrecht erhalten werde. Uebrigens sei dem Emir das Versprechen erst gegeben worden, nachdem Ruß-
Politische Correspondenz.
199
land zugesagt, Zulfikar dem Emir überlassen zu wollen.
Um die Ausführung
dieses Versprechens bewege sich gegenwärtig der Streit.
Die mit dem Wunsch
einer freundschaftlichen Lösung geführten Unterhandlungen könnten zum Ziel führen, aber es sei zu früh, sich zuversichtlich darüber auszusprechen.
Dies ist der Punkt, auf welchem die Dinge jetzt noch stehen.
Rußland will sein
Versprechen der Verzichtung auf den Zulfikarpaß nicht halten, indem es endlose
Streitigkeiten erhebt, welche Landschaftstheile unter dem Namen Zulfikar zu begrei
fen seien.
Es ist erheiternd, wie Rußland in diesen wenigen Wochen, bald durch
die russische, bald durch die ihm befreundete Presse im Ausland, immerfort andere Theile hat bezeichnen lassen, die es nicht abtreten will, und immerfort andere Gründe
hat anführen lassen, aus denen es nicht in die Abtretung willigen könne. Werfen wir einen Blick auf diese merkwürdige Landschaft.
Nördlich vom Paropamisus
zieht sich eine Kette von Vorbergen vom linken Ufer des Kuscht nach dem rechten Ufer des Herirud.
Diese von Osten nach Westen laufende Gebirgskette ent
sendet strahlenförmig eine Reihe niedriger paralleler Höhenzüge nach Norden. Zwischen diesen Ausläufern befinden sich Thäler, von denen einige Quellen
enthalten, andere nur steinig sind. Zulfikar?
Welcher Theil dieser Landschaft ist nun
Dieser Name ist zuerst dem westlichsten Parallelzug, welcher eine
Strecke den Herirud begleitet, verliehen worden, er beruht auf einer persischen Legende.
Zualfekar hieß das Schwert des Propheten.
An dieser Stelle soll
er es seinem Schwiegersohn Ali, dem Märtyrer, übergeben haben. Alis später geltend
gemachtes Nachfolgerecht
ist bekanntlich bestritten,
worden, der Streit um die Berechtigung Alis
er selbst
getödtet
hat die muhamedanische Welt
in die Parteien der Schiiten und der Sunniten getheilt.
Schiiten heißen die
Anhänger Alis und eine schiitische Legende ist es, welche sich an die besprochene Landschaft knüpft, die aber auch sunnitisch umgebildet worden. Nach der schiitischen
Sage soll der Prophet mit seinem Schwert den Stein des Gebirges durch schlagen haben und so den Weg gebahnt zur Ausdehnung der Herrschaft Alis von Persien nach dem südlichen Turkestan.
Nach der sunnitischen Umbildung
soll der Teufel aus Freude über die dem Ali verliehene Herrschaft das Gebirg getheilt haben.
Mit einem Wort, es handelt sich hier um einen sehr niedrigen
Paß, der bei der steinigen Beschaffenheit des Orientalen erregt hat.
den Paß gewesen,
Gebirges
die
Phantasie der
Zualfekar, Zulfikar ist offenbar zuerst der Name für
später hat man den Namen übertragen auf den breiten
Uferrand, der sich vor dem Paß, also am rechten Ufer des Herirud eine Strecke hinzieht, während auf dem linken User die Berge hier nahe an dem Fluß herantreten, aber dem Paß gegenüber einen breiten Durchgang lassen, an welchem der sich verflachende Fluß eine Furt gestattet. Punktes leuchtet sofort ein.
Die strategische Wichtigkeit des
Es ist die von der Natur geschaffene Uebergangs-
stelle von Persien nach dem südlichen Turkestan, welches bisher afghanisch war und das nördliche Afghanistan bildete.
Da der Paß für Artillerie zugänglich
sein soll, so ist die Stelle wichtig nicht nur für die Abwehr einer von Persien her vor
dringenden Heeresabtheilung, sondern überhaupt für die Schließung des Thales des
Politische Correspondenz.
200
Herirud, auch gegen eine von Norden kommende Abtheilung. Die Russen können natürlich östlich von Zulfikar den Kuschk nnd den Murghab entlang gegen Afgha-
nistan Vordringen, aber es ist klar, wie wichtig ihnen die Beherrschung des Thales des Herirud
für
ihre Operationen sein muß, durch welches sie den Paro-
pamisus umgehen können.
Auch entziehen sie dem Emir mit Zulfikar die west
liche Flaukenstellung, wie
sie
ihm
mit Pendjeh
Aber verfolgen wir erst die Ausdehnung des also einen Paß,
eine vor dem Paß
östliche
die
entzogen haben.
Er bedeutet
Jemens Zulfikar.
liegende Thalstrecke,
welchen der Paß theilt; er hat sich dann aber auch
einen Gebirgszug,
auf das am Ostabhang
des Gebirgszuges liegende Thal erstreckt und schließlich auch auf die dem Paß gegenüberliegende östliche Parallelkette.
Die
herrschung des Herirud sichern, kannten das Versprechen, dem Emir Zulfikar
Russen nun wollten sich die Be
aber
die Landschaft nicht und gaben
zu überlassen.
Hinterher wurden sie die
Unbequemlichkeiten dieser Ueberlassung gewahr und versuchen nun, von der Er füllung des gegebenen Versprechens durch
eine Reihe Ausreden loszukommen,
die sicher einmal in einer künftigen Operette nach Offenbachscher Manier ver wendet werden.
Nur wird es die Aufgabe des Librettisten
sein, in die Vor
wände etwas mehr Wahrscheinlichkeit, Anstand und Zusannnenhang zu bringen. Zuerst sagten die Russen, Zulfikar bedeute nur den Paß, sie müßten also den
nördlichen
Theil
des
Höhenzuges
zu suchen haben.
seinen
mit
Kommunikationen behalten, obwohl sie
Einsattelungen
behufs
ihrer
im Westen des HöhenzugeS gar nichts
Sie glaubten offenbar, von den nördlichen Höhen herab den
Paß beherrschen zu können, dann aber besannen sie sich, daß sie den Paß auf
alle Fälle selbst behalten sollten, und erklärten
Uferrand, mit dessen Besitz
nun: Zulfikar heiße nur der
sich der Emir genügen lassen.
könne
Um einen
Vorwand für die plötzliche Beanspruchung des Passes zu haben, wurden Quellen
erdacht, deren Wasser durch den Paß transportirt werden müsse, um die russi des Paropamisus
schen Posten auf den Vorbergen
Diese Quellen wurden unter
schönen
nicht verdursten zu lassen.
orientalischen Namen
präsentirt, bald
sollten sie im Südwesten, bald im Nordwesten von dem Paß, also in unmittel
barer Nähe des Herirud liegen, keinen Weg finden, als durch
und das aus ihnen geschöpfte Wasser sollte
den Paß.
Indessen
scheint die russische Diplo
matie doch bemerkt zu haben, daß Salisbury nicht Gladstone ist.
tritt Herr Lessar, der russische Ingenieur,
Auf einmal
Grenzkommissar und sachverständige
Adlatus der russischen Botschaft in Loudon, mit einer anderen Forderung auf.
Ohne es gerade zu sagen,
scheint
mau von der Forderung des Passes abzu
stehen, verlangt aber die nächste, östlich vor dem Paß liegende Parallelkette, um die afghanische Besatzung des Passes nöthigenfalls in dem Rücken fassen zu
können.
Die bewußten Quellen oder Brunnen haben nun ihre Lage so ver
ändert, daß die Transporte aus ihnen für die russischen Militärposten östlich um den Paß herumgebracht werden können.
daß die durch Herrn von Lessar
Man muß sich übrigens erinnern,
erst vor einigen Monaten vorgeschlagene
Grenzlinie nicht nur die Zulfikargegend, sondern die sämmtlichen Parallelzüge
Politische Correspondenz.
201
der Zulfikarlinie südlich vom beanspruchten russischen Gebiet beließ, also unter der Herrschaft Afghanistans.
Jetzt aber wollen die Russen ihr Gebiet bis zu
dem Stock der Vorberge des Paropamisus ausdehnen: vor Kurzem verlangten sie als westlichsten Punkt die Höhe von Akrobat, jetzt verlangen sie die sämmt
lichen nach Norden sich erstreckenden Gebirgsausläufer, von denen
für einen
kurzen Abschnitt der Verhandlungen nur noch einmal der westlichste, wie es
scheint, ausgenommen werden soll.
Wir haben einen Blick auf diese russischen Querzüge geworfen,
um zu
zeigen, daß ein gedeihlicher Ausgang der Unterhaudlungen eigentlich unmöglich ist.
Sie werden sicherlich noch lange fortgehen, denn es ist noch einige Monate
zu heiß zum Kriegführen.
Wenn Rußland sich Afghanistans bemächtigen will,
oder zunächst der dies Land beherrschenden Positionen,
so wird es durch den
Aufschub einiger Jahre für dieses Werk nicht besser gerüstet sein,
wird England zur Vertheidigung besser gerüstet sein.
wohl
aber
Daher bringt der Auf
schub des Kampfes, wenn Rußland einmal die Erreichung des indischen Oceans
ins Auge gefaßt hat,
ihm nur Nachtheil.
Wenn es aber erst seinen ganzen
Organismus ausheilen will, kann es ein Jahrundert warten, und dann ist die
Heilung noch fraglich.
Die Kriegspartei sieht aber gerade die Heilung Ruß
lands in dem Fortgang der asiatischen Eroberung.
Der Kampf kann also
nur hinausgeschoben werden, wenn England sich entschließt,
den Russen die
Umgebung des Zulfikarpasses mit oder ohne den Paß selbst hinzuwerfen um
einiger Friedensjahre willen.
Das
Ministerum Salisbury
sieht
indeß nach
einem solchen Entschluß nicht aus, und obgleich die deutschen Zeitungen nichts
davon zu bemerken scheinen, sind die Vorbereitungen zum großen Kampf über all ersichtlich.
Die Meinung wird freilich überall laut, daß die Entscheidung
erst durch die im November bevorstehende Neuwahl des Unterhauses gegeben
werden könne.
Läßt sich aber die Entscheidung solange hinauszögern?
Es ist
noch nicht einmal sicher, daß die Führung der liberalen Partei, daß Herr Glad stone selbst vor und während der Wahlen mit einem Programm des Friedens
um jeden Preis der jetzigen Regierung entgegentreten werde.
Der Geistliche in der Politik.
w.
Die Enthüllungen der Pall Mall
Gazette.
Wir sind genöthigt noch
einmal auf die Stoecker'sche Angelegenheit zu
rückzukommen, da die Kreuzzeitung (Leitartikel vom 24. Juli) behauptet,
wir
seien in einem Punkt, wo wir Stoecker ganz besonders streng beurtheilt haben, nicht genügend informirt gewesen und daher verpflichtet, unsere Beschuldigung
zurückzunehmen.
Gewiß würden wir
keinen Augenblick anstehen, daS zu thun,
wenn uns ein Fehler nachgewiesen wäre und wir wollen gleich von vornherein generell bemerken, daß in der That doch noch nachträglich eine Anzahl ent
schuldigender Momente für Herrn Stoecker zu Tage gekommen sind.
Stoecker
war, wie der Abgeordnete Rechtsanwalt Wolff sehr richtig hervorgehoben hat, in
Politische Correspondenz.
202
dem Bäcker'schen Prozeß in der ungünstigsten Kampfessituation von der Welt; er war der Sache nach der Beschuldigte, der Form nach aber nur Zeuge und entbehrte also vieler der Hülfsmittel,
welche die Prozeßordnung dem
Ange
klagten gewährt, und welche seine Gegner, die eben in dieser günstigen Situa tion waren, mit so diabolisch advokatischer Geschicklichkeit auszunutzen wußten. Was aber den von uns so
besonders betonten Punkt betrifft,
hiermit gar nichts zu thun und wir zunehmen.
Wir haben gesagt,
es
dem ganzen Prozeß erschienen,
so hat derselbe
haben auch nicht das Geringste zurück--
sei uns „als das moralisch abstoßendste in neben dem leichtfertigen Eid,
die
Art
wie
Stoecker in dem Augenblick, wo ihm „Irrthum" über „Irrthum" nachgewiesen
wurde, sich nicht scheute, seinerseits nicht etwa seine Ankläger, sondern außerhalb stehende Ehrenmänner, die Jenenser theologische Facullät, den Professor Bey
schlag, der Unwahrheit zu der That nachweislich
jene
Die Kreuzzeitung behauptet, daß in
beschuldigen."
Beiden sachlich
im
Unrecht gewesen seien.
Wir
erwidern, daß es uns darauf gar nicht ankommt; selbst wenn die Sachen wirk
lich völlig so liegen, wie die Kreuzzeitung
sie darstellt,
so wäre auch nicht der
Schatten einer Berechtigung vorhanden von einer Unwahrheit der Fakultät oder Beyschlags zu reden.
Diese hatten nach den ihnen gewordenen Berichten nicht
nur Veranlassung genug ihre Auffassung
heute liegt doch
halten, sondern auch
für richtig zu
die Sache so, daß ein erheblicher Spielraum für subjective
Auffassung zu Ungunsten Stoeckers übrig bleibt.
Ob man sein Eingreifen in
die Verhandlungen der Thüringer Kirchenconferenz für wesentlich
oder un
wesentlich, ob man das einmalige Anbringen des Neichsboten für typisch, oder für singulär halten will, darüber giebt es eine objective Coustatirung nicht mehr.
Herrn Stoeckers Erklärungen waren nicht so unrichtig, wie sie seinen Gegnern
erschienen sind; aber sie waren auch nicht völlig correet, und von einem Ehren
mann erwartet man, daß Erklärungen, die er abgiebt, dem Wortlaut wie dem Geiste nach absolut zuverlässig
sind.
Wer
sich
in solchen Dingen nicht der
allergrößesten Exactheit befleißigt, riskirt eben im Parteikampf der Unwahrheit
geziehen zu werden, und er hat nicht das Recht ebenso zu antworten, sondern
muß froh fein, wenn es ihm gelingt, durch sorgfältige Beweisführung, die An klage genügend abzuschwächen.
kennt.
Das ist es, was die Kreuzzeitung völlig ver
Sie stellt sich auf den Standpunkt des Sprüchworts, wie man in den
Wald hineinschreit,
so schreit es wieder heraus: die Jenenser und Beyschlag
haben Stoecker der Unwahrheit geziehen, folglich kann man es ihm nicht übel nehmen, wenn er sie wieder der Unwahrheit zeiht.
Dabei
ist erstens völlig
übersehen der Unterschied der Ausdrucksweise in der Polemik des Parteikampfes und der Aussage eines beeidigten Zeugen vor Gericht.
Ferner aber und vor
allem der Unterschied der Situation: den Jenensern und Beyschlag kann für Stoecker günstigste Auffassung angenommen — zum werden, daß sie in ihrer Anklage zu weit gegangen sind;
unter dem nicht
unverschuldeten Verdacht mehrfacher
- die
Vorwurf gemacht
Stoecker aber stand
bewußter
Unwahrheit
und wer in einer solchen Lage zu dem Auskunftsmittel greift, andere nicht an-
Politische Correspondenz.
203
wesende, über jeden Verdacht der Unwahrhastigkeit erhabene,
im höchsten An
sehen stehende Persönlichkeiten der Unwahrheit zu beschuldigen, ja sogar noch
stärkere Ausdrücke nicht
scheut, der
bricht den Stab
über sich selbst.
wiederholen es noch einmal, der objective Thatbestand der Streitfrage uns etwas ganz Nebensächliches, ja Gleichgültiges.
war es, welche Stoecker mit seinen Anklägern
Wir ist für
Die Art der Vertheidigung
moralisch
auf dieselbe Stufe
verweist.
So niedrig diese Stufe nun auch ist, so sind wir darum doch weit entfernt, in den Ruf einzustimmen, daß Stoecker sich politisch unmöglich gemacht habe, daß er aus dem öffentlichen Leben ausscheiden müsse. vom Wesen des öffentlichen Lebens,
die
Die ideale Vorstellung
sich in Deutschland
ausgebildet hat,
ehe wir ein öffentliches Leben besaßen, hat leider seit wir den Segen des Con-
stitutionalismus, der Wahl- und Parteikämpfe in Deutschland practisch kennen,
schnell verbleichen müssen.
Es ist ein völlig vergebliches Bemühen die Politik
durchweg „anständig" machen zu wollen.
Gift verlangt zuweilen Gegengift.
Nun gar die Purification mit irgend einer beliebig herausgegriffenen Persön
lichkeit in s Werk zu setzen, ist widersinnig. Stoecker hat nichts gethan, was die jenigen, die vorher seine politischen Freunde gewesen sind, abhalten könnte, es weiter zu sein.
Die jüngst lancirte Nachricht, daß mau von conservativer Seite
beabsichtige, ihn nicht wieder zum Abgeordnetenhaus candidiren zu lassen,
scheint uns wenig glaublich.
er
Der wirkliche Punkt, von dem ein schwerer mora
lischer Schade abgewehrt werden muß, ist das Verbleiben Streckers in seinem Amt, der Conflict zwischen dem Politiker und dem Geistlichen.
Es ist der
Punkt, an dem auch die Juden, so zu sagen, der christlichen Kirche ihren Re spect beweisen, indem sie den Widerspruch zwischen der Tribüne und der Kanzel
empfinden oder wenigstens zu empfinden behaupten.
Ist hier wirklich ein gene
reller oder nur ein zufälliger, persönlicher Widerspruch vorhanden?
Diese Frage, die Frage nach der Compatibilität des geistlichen Amts mit der Politik, wollen wir daher noch einmal eingehend erörtern. Herr Stoecker selbst soll sich einmal gegen den Vorwurf verwahrt haben, daß er Politik und Religion verquicke. es
eine
Es kommt darauf an, in welchem Sinne
gesagt wird, aber so ganz allgemein hätte
er gewiß nicht nöthig gehabt,
solche Behauptung als einen Vorwurf zurückzuweisen.
einfache Plattheit zu
schaffen habe.
Es ist doch eine
behaupten, daß die Religion nichts mit der Politik zu
Ein Blick in
die Geschichte
der Menschheit
zeigt,
allen Zeiten und in allen Völkern die Religion eins der stärksten, allerstärkste Element der Politik, nicht nur der inneren, äußeren gewesen ist.
sondern
daß
zu
meist das
oft auch ver
Der ursprüngliche, ewig unüberwindliche Gegensatz der
politischen und religiösen Gemeinschaften der Menschheit, des Staates und der Kirche ist einer der Grundgedanken der Ranke'schen Weltgeschichte.
Das achtzehnte und die erste Hälfte unseres Jahrhunderts ist vielleicht die
jenige Periode der Weltgeschichte, in der weniger als in irgend einer anderen die politischen Ereignisse von den religiösen Potenzen berührt werden. Preußische Jahrbücher. Bd. LVI. Heft 2. 15
Obgleich
Politische Correspondenz.
204 freilich immer noch
mehr,
als es die landläufige Geschichtsauffassung meint:
der siebenjährige Krieg, die französische Revolution sind sehr stark von reli
giösen oder auch antireligiösen Atomenten durchsetzt. Jahrhunderts
Zum Character unseres
es, daß die religiösen Ideen eine fortwährend sich stei
gehört
Wir wollen auf die
gernde Bedeutung im öffentlichen Leben erlangt haben.
tieferen Gründe dieser Erscheinung nicht eingehen, sondern bei zwei rein prak
die, man mag sich dazu politisch stellen wie
tischen Momenten stehen bleiben,
man will, genügen die Ursachen dieser Erscheinung hervortreten zu lassen.
Das
erste ist die moderne Auffassung von dem Wesen der öffentlichen Schule.
So
viel auch schon im vorigen Jahrhundert von allgemeiner Schulpflicht die Rede
gewesen ist, werden.
erst in unserer Generation ist sie im Begriff zur Wirklichkeit zu
Die Schule ist Staatsschule und soll ausschließlich Staatsschule sein.
Aber indem der Staat in dieser Weise die öffentliche Erziehung übernimmt und
sie weiter und immer weiter ausdehnt, entsteht ein ganz neues Gebiet der Be rührung, der Wechselwirkung und
Staat und Kirche.
des Kampfes zwischen
auch der Frictien,
Welche Stellung soll die Religion und demnächst die Cor-
poration der religiösen Genieinschaft, die Kirche in dieser öffentlichen Erziehung einnehmeu?
Nothwendig müssen hier heftige,
das politische Leben erfüllende
Gegensätze sich erheben, die man nicht mit dem Satz, daß die Religion nichts
mit der Politik zu thun habe
bei Seite schieben kann.
Hier ist ein Streit
object ersten Ranges und welch' herrliche Mittel des Kampfes bietet der heutige Coustitutionalismus gerade den religiösen Corporationen!
Das ist das zweite
Moment, welches wir meinen: die allgemeine Einführung von Volksvertretungen
Im 18. Jahrhundert entbehrte
auf dem Continent.
politischen
gegenüber
Machtmittel
der
absoluten
die Kirche
Monarchie;
der der
großen moderne
Coustitutionalismus giebt ihr eine Analogie zu dem Einfluß, den sie im mittel alterlichen Lehnsstaat auszuüben vermochte.
Schwerlich ist diese Art von Ein
fluß schon im Zenith, wer weiß was wir davon noch zu erleben haben.
Die
Agitationsmaschinerie einer Hierarchie ist besser organisirt und dauerhafter als irgend eine andre,
also
mentarischen Staat
eine
muß auch die Kirche im constitutionellen und parla
spielen.
Wenn wir also
weder den ideellen Zusammenhang von Religion und Politik,
noch die augen
blicklich praktische Existenz
ganz
hervorragende Rolle
großer von der Religion berührter politischer Fra
gen leugnen, dabei dem Geistlichen nicht nur zugestehen, sondern auch von ihm
fordern, daß er sich ganz und gar als Staatsbürger fühle:
es dennoch begründen
können,
wie würde man
den Geistlichen von der politischen Agitation
fern zu halten? Irgend ein fundamentales Gesetz den Geistlichen von der Politik auszu
schließen, giebt es gewiß nicht; es kann sich nur darum handeln, praktische Erwägungen die Trennung wünschenswerth machen.
ob gewisse
So sicher es ist,
daß Religion und Politik Gemeinsames haben, so sicher ist auch, daß sie nicht identisch sind, daß die Religion desto gefährdeter ist, je tiefer sie in die Politik hineingezogen wird.
Politik wird beherrscht nicht nur von Ideen, sondern auch
Politische Correspondeuz.
205
von Interessen und oft ganz materiellen Interessen; die Parteien setzen sich zu
sammen aus Combinationen von persönlichen, ideellen und materiellen Gegen sätzen und Interessen.
Indem die Religion ein Element der Politik wird, wird
sie auch ergriffen von dem Gegensatz dieser Interessen.
Ewig bewegt sie sich
in dem Widerspruch, daß sie innerhalb der Politik steht und sich doch von ihr Die gräßlichsten Erscheinungen der Geschichte,
freihalten soll.
die
sich ver
götternden Cäsaren, die zu weltlicheu Fürsten herabgesunkenen Kirchenhäupter des ausgehenden Mittelalters, sind entstanden, wo dieser Gegensatz, der Gegensatz
von
Staat und
Religion,
als solcher verloren ging.
schlimmer als die eines fanatischen Religiösen.
Keine Demagogie ist
Welches praktische Hülfsmittel
das Dilemma zu überwinden, bietet also unser Jahrhundert und unsere Ber fassung, wenn wir beide Sätze anerkennen: die Kirche hat ein natürliches In teresse an der Politik und sie darf sich doch nicht zu tief hineinziehen lassen in
die Politik?
Fragen wir nach einem Borbild,
das wir benützen könnten,
so
bietet sich England dar. Hier hat die Kirche ihre officieüe politische Mitwirkung
in den 24 Bischöfen, welche im Oberhaus sitzen; die Wahlfähigkeit zum Unter haus aber ist der Geistlichkeit versagt.
Früher bestand das Verbot ganz unbe
dingt für jeden geweihten Priester; erst
unter der
Königin Victoria ist ein
Gesetz erlassen, wonach ein Priester, der aus dem geistlichen Dienst ausscheidet,
Diese Einrichtung hat sich ganz vorzüglich bewährt.
wählbar wird.
Indem
dem niederen Klerus der Eintritt in das Parlament verschlossen wird, ist ihm
freilich nicht die Agitation verboten; aber die Bestimmung hat einerseits die so zu sagen symbolische Bedeutung, daß die politische Thätigkeit des Klerus dem
Geiste der
seits den Ehrgeiz:
nationalen Gesetze nicht
entspricht
und sie fesselt
anderer
wo das letzte Ziel, das höchste Mittel doch auf alle Fälle
verschlossen ist, wird die Versuchung, die vorbereitenden Stufen zu betreten, sehr
abgeschwächt.
Trotzdem fehlt es der Kirche
an der nothwendigen — ohne
Agitation bestehenden — Repräsentation eben im Oberhaufe nicht.
So eng
Staat und Kirche in England verbunden sind, viel enger als bei uns, so hat man sich auf diese Weise doch vor gar zu schlimmen Auswüchsen behütet.
Als unsere Verfassung ins Leben trat war eine Repräsentation der Kirche
im Herrenhause nicht zu beschaffen.
Die Vertreter der evangelischen Kirche
wären nichts anderes als königliche Beamte gewesen. schon eher eine analoge Institution vorstellen.
schen Bischöfen jede evangelische Provinzialsynode ein präsentirte.
Heute könnte man sich
Wenn etwa neben den katholi
oder zwei Mitglieder
Das würde an sich eine rein reactionäre Maßregel, eine Beklei
dung der Kirchen mit politischen Funktionen sein, die dem Geist der Zeit durch
aus widerspricht.
Wenn man aber dafür das Ausscheiden der Geistlichkeit aus
der politischen Agitation, oder wenigstens ein starkes Zurückdräugen aus derselben
erreichen konnte, so mochte der Tausch für alle Betheiligten, die nicht an der Agitation als solcher Gefallen haben, gleichmäßig vortheilhaft erscheinen. Leider aber müssen wir selbst sofort hinzufügen,
daß wir diesen Vorschlag als einen
rein akademischen betrachten; es ist nicht die geringste Aussicht ihn unter den
Politische Correspondenz.
206
gegenwärtigen Verhältnissen zu realisiren.
Andere Mittel freilich sehen wir
auch nicht; unser Oberkirchenrath wird sich schwerlich je zur Nachahmung jenes Erlasses des Gera'schen Consistoriums entschließen, welcher der Geistlichkeit die Betheiligung an der politischen Agitation untersagte,
Nach dem was wir oben
angeführt haben, ist es auch eigentlich nicht zu verlangen: es ist ein natürlicher
und berechtigter Trieb, der die Vertreter der Kirche zur Betheiligung an der Politik führt.
Was aber wohl verlangt werden kann und was wir deshalb
mit aller Entschiedenheit wiederholen, ist, daß wenn einmal der natürliche Con
flict zwischen der Natur der Politik und des Dienstes am Worte Gottes zu einer Katastrophe geführt hat, wie diesmal in den Stoeckerscheu Processen, unsere evangelische Kirche ihren Charakter wahre und Herr Strecker aus dem Dienst
Kommen muß es nothwendig einmal; je früher es ge
derselben ausscheide. schieht, desto besser.
Vom Prozeß Stoecker kommen wir Gazette.
auf die Enthüllungen der Pall Mall
Es ist nicht unser Werk diese Gedanken-Verbindung; dies Meisterstück
der Publicistik hat die „Nation" zu uns mit solcher Bewunderung
Stande
erfüllt,
an derselben vorübergehen zu dürfen.
gebracht
und
ihre Leistung
hat
daß wir unmöglich glauben schweigend „Es ist wohlthuend", sagt die „Nation",
„sein Auge von einem solchen Stande der öffentlichen Zustände fortzuwenden
und sich au gesunderen Verhältnissen zu erquicken; an Verhältnissen, in denen durch eine Jahrhunderte lange freie Entwickelung die öffentliche Meinung zu einer
Kraft und Bedeutung gelangt ist, um die verderblichen Auswüchse des Lebens
durch die selbständige ureigene That zu beseitigen!" Was die „Nation" zu diesem Hymnus begeistert
hat,
Hauptinhalt derselben
sind die Enthüllungen der Pall Mall Gazette.
ist folgender.
Die Präventiv-Thätigkeit der
der Gewalt im Dienste der regie
ist in England aus Furcht vor Mißbrauch
renden Partei eine sehr geringe.
So
ist
Der
Polizei
es möglich
geworden, daß sich die
Kuppelei zu einem ganz organisirten Gewerbe entwickelt hat.
Ein ehemaliger
Bordell-Wirth z. B. errichtet eine Agentur der Stellen-Vermittelung für Gou
vernanten, Ladenmädchen rc.
Melden
sich geeignete Persönlichkeiten, so sucht
man sie unter falschen Vorspiegelungen womöglich in bringen, wo sie ohne alle Verbindungen sind,
ein
fremdes Land zu
hält sie hin, bis
sie von allen
Mitteln entblößt sind und bringt sie dadurch so weit herunter, daß sie endlich den Vorschlägen, die ihnen gemacht werden, keinen Widerstand mehr entgegen
zusetzen wissen und fallen.
Ein
gräßliches Gewerbe, das
andern Verbrechen nie völlig zu unterdrücken
so wenig, wie alle
sein wird, dem der Staat aber
doch ein starkes Hinderniß in den Weg legen kann, vermöge des Systems der
polizeilichen Concessionirung. Vermittelung errichten, dessen
unterliegt.
Niemand darf bei uns ein Bureau für Stellenmoralische Zuverlässigkeit
begründeten Zweifeln
Auf diese Weise schützen wir uns in Deutschland wie in England;
sollte einmal bei uns etwas Aehnliches entdeckt werden, so würde man einfach
die Polizei anweisen, in diesen Concessionen vorsichtiger zu verfahren, vielleicht
207
Politische Correspondenz.
auch die gesetzlichen Bestimmungen noch etwas verschärfen. ist für ein so nüchternes Verfahren
nicht
Und mit welcher Lust sie
liche Meinung tüchtig in dem Schmutz herumwühlen. thut!
das
Der englische Staat
Hier muß erst die öffent
gemacht.
Wie reizend piquant die Pall Mall Gazette die Geschichten zu
erzählen weiß.
Wie sie einige jener Unglücklichen, wie sie einen solchen Wirth,
der deshalb sogar schon in Belgien sechs Jahre im Zuchthaus selber interviewt
hat!
Alles natürlich
von jeder journalistischen Speculation.
gesessen hat,
Liebe zur Tugend,
aus reiner
fern
Der Besitzer der Pall Mall Gazette
gehört ja zu den Frommen, er ist ein Puritaner.
Es ist eigentlich schon eine Beleidigung, daß die „Nation" den Einwand,
ob „die heikle Frage nur zu Sensationszwecken aufgegriffen sei" vorzieht „un erörtert" zu lassen, statt ihn energisch znrückzuweisen.
dadurch in ihrer Begeisterung nicht stören.
Jedenfalls läßt sie sich
Wir freilich, wir Deutsche, „wir
verlieren eine gesunde Basis für das Volksleben immer mehr."
In England
aber, man höre, welche Heldenthat hier „wiederum die innere kernfeste Gesund
heit des englischen Nationalcharakters in überraschender Weise offenbart hat."
„Ein junges vornehmes Mädchen erbot sich, um die volle Wahrheit über den englischen Mädchenhandel nach dem Continent aufzuhellen, sich an ein belgisches Bordell verhandeln zu lassen, und als man sie auf die furchtbaren Gefahren
aufmerksam machte, sagte sie: God lias been with ine hitherto, why should
ho forsake nie, if in bis causc I face the risk? of nie tliere as well as hcreu*)!
Surely he will take care
Das ist eine Gestalt aus ähnlichem Holz ge
schnitzt wie es Gordon war." So weit die „Nation". Den Vergleich mit Gor-
don möchte ein Spötter für nur zu richtig halten, da er bekanntlich bei seinem Unternehmen unterging.
Die junge Dame hat hoffentlich einen verständigen
Vater gehabt, der es auf die practische Probe nicht ankommen ließ.
In alten
Zeiten, als der liebe Gott noch Jehovah hieß, hat er zwar einmal im Hause des Königs Abimelech für Frau Sarah, die sich in analoger Situation befand, inter-
venirt, heute aber haben wir ein Gebot das heißt: suchen.
Wir wollen die Eigenthümlichkeiten des
Du sollst Gott nicht ver
englischen Characters nicht
gering achten, aber wenn es deutsch ist, wie auch die „Nation" zu meinen scheint,
sich nicht zu dem Heroismus jener Heldin zu.erheben, so gefällt uns der deutsche Mädchencharacter
besser und wir halten es für wahrscheinlich,
daß deutsche
Väter ihren Töchtern den Umgang mit der Heroine der „Nation" rundweg
verbieten würden. Wird denn nun aber die „ureigne" That der öffentlichen Meinung in Eng
land dem Uebel wirklich abhelfen? Die „Nation" meint: „man kann dessen sicher sein".
Zunächst ist dies aber doch nur die „ureigne" Meinung der „Nation".
Nicht von allen Seiten sind derartige Erhebungen der öffentlichen Mei
nung in England so günstig beurtheilt worden.
Um den Enthusiasmus der
*) „Gott ist biö heute mit mir gewesen; wie sollte er mich verlassen, wenn ich in seiner Sache der Gefahr entgegengehe. Er wird mich dort so gut wie hier behüten."
Politische Correspondenz.
208
„Nation" zu einiger Nüchternheit zurückzuführen, erlauben wir uns einen Passus
aus Macaulay's Essay über Lord Byron zu reproduciren:
„Wo know no spcctaclc so ridiculous as the British public in one of its perioclical fits of morality.
In general, clopements, divorces, and family
quarrels, pass witli little notice. day, and sorget it.
geous.
AVc read the scandal, talk about it for a
But once in six or scvcn years our virtnc becomes outra-
We cannot süsser the laws of religion and decency to be violated.
We must makc a stand against vice.
English
people
appreciatc the
AYe must teacli libertines that the
importancc of domestic ties.
Accordingly
some unfortunate man, in no respcct more depravcd thau hundreds whose offenccs liave been treated witli lenity, is singied out as an expiatory sacri-
fice.
lf he has children, tliey are to be faken from bim.
fession, he is to be driven from it. liissed by the lower.
lf he has a pro-
11c is ent by the higher Orders, and
Ile is, in truth, a sort of whipping-boy,
by whose
vicarious agonies all the otlier transgressors of the saine dass are, it is supposed, sufficiently chastised.
AVe reflect very complacently on our own sevc-
rity, and comparc witli great pride the high Standard of morals establishcd in England witli the Parisian laxity.
victim is ruined and heartbroken.
scvcn years more“.*) —
At length our anger is satiated.
Our
And our vir tue goes quietly to sleep for D.
*) „Es giebt kein lächerlicheres Schauspiel als das britische Volk in einem seiner Periodisch wiederkehrenden Anfälle von Moralität. Für gewöhnlich wird von Ent führungen, Scheidungen und Familienzwisten wenig Notiz genommen. Man liest den Skandal, bespricht ihn einen Tag lang und vergißt ihn. Doch einmal alle sechs oder sieben Jahre, fühlt sich die Tugend beleidigt. Man kann es nicht dulden, daß die Gesetze der Religion miD des Anstandes verletzt werden. Man muß dem Laster einen Damm entgegensetzen. Man muß der Liederlichkeit zeigen, daß das englische Volk die Bedeutung der Familienbande zu schätzen weiß. Demzufolge wird nun ein Unglücklicher, obgleich in keiner Hinsicht verderbter als hundert andere, deren Vergehen mit Nachsicht behandelt worden, zum Sühnopfer aus erlesen. Hat er Kinder, so müssen sie ihm genommen werden. Bekleidet er ein Amt, so muß er daraus entfernt werden. Die höheren Klassen schneiden ihn, die niederen zischen ihn aus. Er ist thatsächlich eine Art Prügeljunge, durch dessen stellvertretende Qualen man alle anderen Uebertieter derselben Art genügend zu züchtigen vermeint. Selbstgefällig blicken wir auf unsere Strenge, und vergleichen mit erhabenem Stolz den hohen Standpunkt der Moral in England mit der Pariser Lockerheit. Endlich ist unser Grimm gesättigt. Unser Opfer ist zu Grunde gerichtet. Und die Tugend schickt sich an weitere sieben Jahre zu schlafen."
N o t iz e n. Das
biographische
Lexikon
des
Kaiserthums
Oesterreich
von
Constant v. Wurz back. Das Schwert des Damokles schwebt
schon einige Zeit über diesem alt-
österreichischen Werke, dessen Erscheinen vor mehr als dreißig Jahren von patrio
tischem Beifall begrüßt wurde. in Wien
Die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften
übernahm die Unterstützung
desselben,
und in der Staatsdruckerei
daselbst wurde es in vortrefflicher Ausstattung gedruckt und verlegt. Aus
dem
jugendkräftigen Berfasser und Herausgeber,
der die Last der
großen Arbeit ganz allein getragen, ist inzwischen ein Greis
kann den Anfechtungen, welchen das Werk zehnten ausgesetzt
geworden.
Er
seit den letzten anderthalb Jahr
ist, und welche seine Bollendung zn Hintertreiben drohen,
nicht mehr mit der früheren Kraft und Begeisterung entgegeutreten. Was ist in den dreißig Jahren,
während welcher 51 Bände des biogra
phischen Lexikons im Druck erschienen sind und zugleich für die wenigen noch
ausstehenden Theile das Material gesammelt und wohlgeordnet
bereitgestellt
wurde, aus dem gemeinsamen österreichischen Baterlande geworden, dem das Werk ein Ehrendenkmal werden sollte!
Zwar das Staats- und Völkerrecht kennt noch das Kaiserthum Oester reich als eine einheitliche Monarchie.
Aber von den Bölkern Cis- und Trans-
Leithaniens will keiner mehr von einer gemeinsamen österreichischen Natio nalität etwas wissen.
die
Soldaten
Ist ja sogar Radetzky's Denkmal in Prag,
in welchem
der Oesterreichischen Armee den Feldmarschall
Schilde tragen, schon zum Anachronismus geworden!
auf dem
Es giebt officiell keine
österreichische Armee mehr, sondern nur eine gemeinsame, und daneben die Honved-Armee und auch Grillparzers: „In deinem Lager ist Oesterreich!" muß
als Legende verklingen. Wie
sollte da Wurzbach's biographisches Lexikon Oesterreichs nicht auch
ein Anachronismus sein?
Dem Magyaren,
dem Polen, dem Czechen,
Italiener wurde es nach und nach ein Dorn im Auge.
lutionen
konnten darin
nicht in
dem
Die Helden der Revo
ihrem Sinne als National-Helden
gefeiert
werden.
Wohl hat der greise Geschichtschreiber, welcher fast mit allen Idiomen der
österreichischen Bölter vertraut ist, von Anbeginn seines Werkes an, alle ihre
Notizen.
210 nationalen Quellen
getreulich benutzt und sich gegen alle Nationalitäten der
gleichen Unpartheiligkeit befleißigt.
Allein den Plan des Werkes
im Verlauf
seines Erscheinens umzustoßen, die Biographien nach Nationalitäten zu ordnen,
oder sie gar in verschiedenen Sprachen abzufassen, das vermochte er nicht.
Und
solche oder ähnliche Forderungen traten gerade an ihn heran, nachdem die ein
heitliche
Staatssprache
im Kaiserstaate aufgegeben,
in Transleithanien
das
Magyarische als solche eingefübrt worden, und man auch in den cisleithauischen Kronlanden ähnliche unentwickelte Idiome, neben der deutschen Sprache zu gleich
berechtigten Landessprachen erhoben hatte. Das Hauptärgerniß giebt Wurzbachs Lexikon dadurch, daß es immer noch
Gesammt-Oesterreich einheitlich umfaßt, und den altösterreichischen Standpunkt,
von dem aus es begonnen, und noch vor Eintritt der politischen Wandlungen
zum größten Theile ausgeführt worden, bis ans Ende festzuhalten sucht, wenn auch in möglichst milder Form.
Seit dem Herbst 1884 ist der 50. und 51. Band des Lexikons erschienen. Beide Bände noch
im Druck und Verlag der Kaiserlichen Staatöd ruckerci in
Wien, welche schon Schwierigkeiten wegen Fortsetzung des Werkes, das plötzlich
mit dem 50. Bande abgeschlossen werden sollte, erhoben hatte.
Wahrscheinlich
entzieht auch die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften, wie längst angekündigt
worden, dem Verfasser die bisherige Unterstützung. leicht die Vollendung des Lexikons
in Frage
Schon hierdurch wird viel
gestellt.
Durch Kündigung des
Druckes und Verlages von Seiten der Staatsdruckerei würde sie sicherlich zur Unmöglichkeit, da die Beschaffung der gleichen typischen Ausstattung von anders wo her ein schwer zu überwindendes Hinderniß wäre.
denartige Alphabete slavischer Mundarten und
Es sind u. a. verschie
der magyarischen
Welch hartes Geschick, wenn dem Verfasser die mühevolle,
erforderlich.
seine ganze Kraft
für ein Menschenalter in Anspruch nehmende Arbeit am Abende seines Lebens so gelohnt werden sollte!
Auch die wissenschaftliche Welt würde einen solchen Ausgang recht zu be
dauern haben.
Denn bei allen Mängeln, welche dem lexikalischen Unternehmen
eines Einzelnen bei solchem Umfange nothwendig
anhaften
müssen, ist der
Werth des Wurzbach'schen Sammelwerkes für die Geschichte durchaus nicht zu
unterschätzen, da der Verfasser auch bei den kleinsten Biographien die benutzten
und zu benutzenden Quellen in möglichster Vollständigkeit verzeichnet hat.
Die
beiden jüngst erschienenen Bände umfassen den Buchstaben V bis Vrbna. Möchten die vorstehenden Zeilen dazu beitragen, das in Norddeutschland
nur wenig bekannte und benutzte Sammelwerk des verdienten Oesterreichischen Gelehrten mehr in Erinnerung zu-bringen.
Verantwortlicher Redacteur:
Trpss.
Professor Dr. H. Delbrück Berlin W. Wichmann-Str. 21.
Druck und Verlag von Ge0rg SÄci in er in Berlin.
Der Hof von Mdiz Kiosk. (Schluß.) Was der Türkei im gegenwärtigen Augenblick am Meisten noththut,
ist
die
Männer
thatkräftige Führung
der
durch
einen geschickten Staatsmann.
alten Schule sind verbraucht und neue Talente läßt
Die
das
Von den Ministern, welche
Mißtrauen des Sultans nicht aufkommen.
seit dem Tode Ali und Fuad Paschas das große Staatssiegel in Händen
gehabt haben, hat keiner eine irgendwie hervorragende Befähigung gezeigt. Midhat war vielleicht der Einzigste, der Umsicht und Energie genug be
sessen hätte, das Ansehen der Pforte wieder zu heben; aber er ist elend
in der Verbannung zu Grunde gegangen.
Seit dem letzten Kriege hat
nur ein Mann sich längere Zeit hindurch das Vertrauen des Sultans zu
erhalten vermocht;
es
dies der gegenwärtige Premierminister Said
ist
Pascha, der den Beinamen führt: Jahren bekleidete
er
Bureaus der Pforte.
Kütschük, d. h. der Kleine.
einen untergeordneten Posten
noch
in
Bor zehn einem der
Wer damals dem kleinen, unscheinbaren Männchen
mit dem struppigen Bart, dem ängstlichen Gesichtsausdruck und scheuen, unterwürfigen Wesen begegnete, hätte schwerlich vermuthet, daß diese Per
sönlichkeit wenige Jahre später die höchste Würde des Reichs bekleiden
würde.
Selbst in Stambul ist ein so rasches Aufsteigen auf der Leiter
Seine
des Beamtenthums selten.
Pascha
außer
schnelle Beförderung
glücklichen Zufälligkeiten,
Sultans auf ihn lenkten,
verdankt Said
die Aufmerksamkeit des
vor Allem seiner Abneigung gegen Intriguen
und einer Rechtschaffenheit,
Probe bestanden hat.
welche
welche bereits
zu
verschiedenen Malen die
Dem Sultan ist er blind ergeben; er gilt selbst
in türkischen Kreisen für unbestechlich und auch heute noch für arm.
Sein
Konak ist dürftig eingerichtet, seine Lebensweise äußerst einfach; er besitzt nicht einmal ein Landhaus für
die Sommermonate.
Said Pascha ist
niemals im Auslande gewesen, hat auch keine höhere Verwaltungsstelle
in der Provinz bekleivet und sein politischer Gesichtskreis ist demgemäß beschränkt. Den Mangel persönlicher Erfahrung aber Preußische ^uyrducher. Bd. LVI. Heft 3.
ersetzt 1(5
er durch
Der Hof von Mdiz-Klvsk.
212
große Schlauheit, die sich hinter der Maske eines ängstlichen, verschüch terten Wesens verbirgt, und durch eine in der Atmosphäre des Serails
ungewöhnliche
Festigkeit
auch dem
Sultan gegenüber.
Er hat
schon
wiederholt seine Entlassung eingereicht, wenn die Befehle seines Herrn ihn mit seiner politischen Ueberzeugung in Conflict brachten, — ein Auf
treten, das nach den türkischen Vorstellungen dienstlicher Subordination gar nicht zulässig ist und ein weit größeres Wagniß bedeutet,
unter analogen Verhältnissen in Europa damit verbindet.
als man
Da Abdul
Hamid weiß, daß solche Acte ungewohnter Selbstständigkeit nicht persön lichen Motiven entspringen und er keinen treueren und ehrlicheren Rath geber finden könnte, als Said, so hat er bisher der Pression seines ersten Dieners stets nachgegeben.
In wichtigen Momenten besitzt der Letztere
mithin einen gewissen indirecten Einfluß; gesichert für die Dauer ist seine
Stellung dadurch noch keineswegs.
Vor einem Jahr hat ihm der Sultan
den Titel „Großvezir" verliehen; doch bedeutet dies nur eine Ranger
höhung; die Amisbefugnisse des ersten Ministers sind dadurch nicht er weitert.
Die anderen Minister sind einfach Vollzugsorgane der vom Palais
ausgehenden Befehle.
in der Gunst.
Bald steht der eine, bald der andere etwas höher
Hin und wieder zieht der Sultan auch die entlassenen
und in Ungnade gefallenen Würdenträger wieder zur Audienz und ent läßt sie mit Geschenken.
Dies soll den im Amt befindlichen das Gefühl
allzugroßer Sicherheit rauben und die Entlassenen von Intriguen und
Conspirationcn abhalten.
Bei besondern Anlässen wird der nach
berufene Ministerrath durch diese Exminister verstärkt.
Es kommen dann
gegen 30 alte Paschas zusammen, die sich Alle gegenseitig gründlich hassen
und doch eine Uebereinstimmung erzielen müssen.
langwierig und ermüdend.
Die Berathungen sind
Es ist schon vorgekommen, daß die Sitzung
über 10 Stunden gedauert hat.
Von einer systematischen Bearbeitung
der Vorlage ist selbstverständlich nicht die Rede.
Man sitzt in Gruppen,
plaudert und raucht und bereitet sich Abends auf Divans und Lehnstühlen ein Nachtlager.
Die kaiserliche Küche liefert die Mahlzeiten.
Der Sul
tan wird durch Adjutanten oder Mitglieder der Versammlung im Wege
mündlichen Rapports über den Gang der Verhandlung auf dem Laufen den erhalten.
Seine Wünsche geben den Beschlüssen der Versammlung
die nöthige Directive und die Sitzung wird meistens so lange fortgesetzt,
bis in dieser Hinsicht ein Einverständniß erzielt und der Sultan mit dem Ergebniß zufrieden ist. Das ganze Verfahren ist mehr oder weniger eine
Komödie und nur darauf berechnet,
den Sultan der Verantwortlichkeit
für seine eigenwilligen Entschließungen zu entheben. Das Verfahren selbst
Der Hof von Uildiz-Kiosk.
213
hat für die hohen Staatsbeamten etwas Entwürdigendes, und eine Be rufung zu einem in Jilviz tagenden Ministerrath ist für sie allemal der unerfreulichste und peinlichste Theil ihrer Amtsthätigkeit. Noch weniger einflußreich als die Stellung eines hohen Pfortenbe-
Obwohl stets in Jildiz an
amten ist die der obersten Palastchargen. wesend,
können sie ihrem Herrn
um eines Auftrags gewärtig zu sein,
nur auf besondern Befehl nahen.
Regelmäßige Vorträge finden nicht
Alle Meldungen werden schriftlich gemacht und im Privatsecretariat
statt.
abgegeben.
sichtbar,
Der Sultan ist für die meisten seiner Hofbeamten nur dann
wenn sich durch Abhaltung einer Hoffestlichkeit oder
officiellen
Die Ansagen gehen vom Ober-
Audienz dazu ein äußerer Anlaß bietet.
Mit diesem Hofamt ist zugleich die Gesammtlei-
eeremonienmeister aus.
tung der Hofhaltung verbunden.
Inhaber dieser wichtigen und mühe
vollen Stellung ist feit einer Reihe von Jahren Munir Pascha. Derselbe,
ein großer, stattlicher, eorpulenter Herr,
feinen Umgangsformen,
von europäisier Bildung und
war früher in der Diplomatie beschäftigt
jahrelang bei der Pariser Botschaft angestellt. sische Sprache,
und
Er beherrscht die franzö
wie nur Wenige seiner Landsleute und verdankt diesem
Umstande feine Hofearriere, welche er als erster Dolmetscher des Divans begann und welche ihn im Lauf weniger Jahre zu einer der höchsten Hof stellungen führte.
Nicht minder als seine Sprachkenntniß sind dabei auch
sein Tact und seine Vorsicht maßgebend gewesen. politischen Intrigue oder Parteinahme
Er hat sich von jeder
fern gehalten.
Obwohl er als
Dolmetscher bei allen wichtigen Unterredungen des Sultans mit fremden Vertretern fuugirend, im Besitz der meisten Staatsgeheimnisse ist, hat er
der Versuchung, dieselben zu persönlichen Vortheilen zu verwerthen stets
widerstanden.
Unter
der
Maske jovialer
Gutmüthigkeit und Pariser
Boulevardhumors verbirgt er kluge Berechnung und scharfe Beobachtung. Obwohl seine Stellung in Folge der nie rastender! Hofcabalen mannig
fachen Schwankungen ausgesetzt ist, hat er sich doch unter schwierigen Ver hältnissen zu behaupten und in gewissem Sinne unentbehrlich zu machen
gewußt.
welche
Er vertritt am Hofe die Gruppe der Indifferenten d. h. solcher,
ohne Anlehnung
an eine auswärtige Macht oder eine politische
Partei sich einem heiteren Epikureismus ergeben und den Dingen ihren Lauf lassen, wohlwissend, daß die Tage der Monarchie gezählt sind und die Zeiten einstiger Machtfülle des Sultanats nie wiederkehren können.
Seit dem Tode oes greifen Hamdi Pascha's,
der vornehmsten und
würdevollsten Erscheinung des Hofes,
ist die höchste Palastwürde eines
Oberkammerherrn unbesetzt geblieben.
Abdul Hamid war diesem geistig
unbedeutenden, aber der Dynastie treu ergebenen, liebenswürdigen alten
214
Der Hof von Mldiz-Kiosk.
Herrn äußerst zugethan.
Er hat seitdem oftmals geäußert,
er fände in
seiner Umgebung keinen, der würdig sei, die Stellung des Verstorbenen
Den
einzunehmen.
höchsten Rang
Kriegsminister Osman Pascha,
am Hofe bekleidet
gegenwärtig
der
welcher als Palastmarschall für die per
sönliche Sicherheit des Sultans verantwortlich und als solcher Befehls
haber der kaiserlichen Garden und Wachen ist.
Er hat sein Bureau im
Seraskierat und erscheint nur bei besonderen Anlässen in Mdiz-Kioßk.
Ob
wohl der „Löwe von Plewna" sein Prestige in militärischen Kreisen längst eingebüßt und sich namentlich bei den türkischen Officierkorps durch Will kürherrschaft und Verwahrlosung der Armeeverhältnisse äußerst mißliebig
„Ew. Majestät
gemacht hat, halt der Sultan doch große Stücke auf ihn. können ruhig schlafen,
denn ein Osman wacht."
unter welcher sich der
schlaue General
aller Anstrengungen
einer
Dies ist die Devise,
im Palais
eingeführt und trotz
mächtigen Gegenpartei in der Gunst seines
Gebieters zu behaupten gewußt Hai.
Solange dieser Mann an der Spitze
der Heeresverwaltung steht, ist an eine militärische Reform nicht zu den ken.
Alle
Bemühungen
der
deutschen
Jnstructeure
müssen
fruchtlos
bleiben. Osman Pascha und sein Anhang wollen keine Reformen, welche sie selbst aus dem Sattel heben,
die alttürkische Partei desorganisiren
und den Sultan fremdländischem Einfluß zugänglich machen würden. Zu der nächsten Umgebung des Großherrn gehören außer den Ge
nannten noch die Generaladjutanten Nusred, Nedschib, Fuad, Veli Riza u. A., alles Männer ohne persönlichen Einfluß oder politische Bedeutung. Sie erscheinen regelmäßig Vormittags in der kaiserlichen Residenz, bringen
rauchend, plaudernd und Kaffee trinkend einige Stunden in den als Anti-
chambres dienenden Räumen der oben beschriebenen kleinen Pavillons zu, gelangen nur selten und bei besonderen Anlässen in den Gesichtskreis des
Sultans und bilden
mit ihren glänzenden Uniformen die
nothwendige
Staffage bei feierlichen Audienzen oder Hofceremonien.
Eine bevorzugte Stellung unter dieser Kategorie genießen die Mar schälle Achmed Muktha und Fuad, welche durch ihre militärische Leistungen
bekannt und auch zu diplomatischen Missionen
verwendet
worden sind,
sowie der Generaladjutant Ali Rizani Pascha, welcher bei Beginn der egyptischen Krisis als Commissar nach Kairo entsendet wurde und später
dem Kaiser Wilhelm den Jmtiazorden Militärs
sind
auch
Mitglieder
überbrachte.
verschiedener
Diese drei hohen
militärischer
Specialcom
missionen, denen die Prüfung von Reformvorschlägen auf dem Gebiet der
Ausrüstung und Verwaltung obliegt.
Sie versammeln sich an bestimmten
Tagens der-Woche in einem der Gartenhäuser des Palais. Der schleppende
Gang dieser Verhandlungen und ihre Resultatlosigkeit sind nur zu bekannt.
Der Hof von Dildiz-KioSk.
215
An den Berathungen dieser ständigen Commissionen betheiligt sich auch ein Officier,
ganz
eine
welcher,
gleichfalls zum Hofe des Sultans gehörig,
besondere Stellung
Gunst Abdul Hamid’s
dabei
erfreut.
einnimmt und sich
Es ist
der speciellen
dies der ehemalige französische
Oberstlieutenant Dreyse, ein Elsässer von Geburt, welcher während der Anwesenheit
als
Hamid
des
Sultans
Abdul Asts
Ordonnanzofficier zugetheilt
in
Paris
und
von
dem
Prinzen Abdul
diesem
Thronbesteigung nach Constantinopel berufen worden war.
mit einem hohen Range in die türkische Armee einzutreten.
eS ab,
behielt seine Charge als „Commandant".
eine
seiner
nach
Dreyse lehnte
besondere,
der
französischen
sehr
Er
Der Sultan gestattete, daß er ähnliche
Uniform anlegte; nur
mußte er die bisherige Kopfbedeckung mit dem Fez vertauschen.
Wahr
scheinlich ist er auch heute nicht völlig aus dem Verband der französischen Armee ausgeschieden.
Abdul Hamid sieht seinen europäischen Günstling
häufig,
geht mit ihm spazieren, hört seine Rathschläge in militärischen
Fragen
und
überhäuft
ihn
mit
äußeren Zeichen
seines Wohlwollens.
Einen bestimmten Einfluß in politischen Angelegenheiten hat Oberst Drehst
indessen nicht erreicht und wahrscheinlich auch nicht erstrebt.
Er ist aus
schließlich Soldat, als solcher erbitterter Gegner des Kriegsministers und
steht zu seinen deutschen Kameraden in einem, bei einem Franzosen sehr anerkennenswerthen, freundschaftlichen Verhältniß. Die Berufung deutscher
Officiere hat er lebhaft unterstützt. Angelegenheiten ungeachtet hat seiner bedient,
Seiner Zurückhaltung in politischen
sich Sultan Hamid
dennoch
gelegentlich
um neben dem officiellen Verkehr Unterhandlungen mit
einzelnen Mitgliedern der französischen Regierung zu führen.
So wurde
vor einigen Jahren, als vor der tunesischen Occupation zwischen Stambul
und Paris ein gespanntes Verhältniß eingetreten war, durch Vermittelung Dreyse’s von türkischer Seite ein Annäherungsversuch gemacht, der wegen der ablehnenden Haltung Herrn Freycinet’s zunächst allerdings resultatlos blieb,
nach dessen Rücktritt aber freundlichere Beziehungen mit den lei
tenden Persönlichkeiten am Quai d’Orsay anbahnte.
Bekanntlich liebt es
der Sultan sehr, über die Köpfe seiner Minister und Botschafter hinweg
durch
besondere Agenten
handeln.
Dies System
mit fremden Höfen oder Regierungen zu ver einer
geheimen und mit den officiellen Kund
gebungen keineswegs immer im Einklang stehenden Cabinetspolitik hat
nicht wenig zur Diskreditirung des Ansehens der Pforte im Auslande bei getragen und das Vertrauen zu den amtlichen Erklärungen der türkischen Staatsmänner erschüttert.
Unter den Sendboten,
deren sich der Sultan für vertrauliche Mit
theilungen bedient, hat in letzter Zeit Reschid Bey eine bevorzugte Stel-
Der Hof von Mdiz-Kiosk.
216
Dieser junge Beamte war, ebenso wie sein College
lung eingenommen.
Raghib Bey, Zögling der Militärschule von Galata und wurde vor etwa
8 Jahren ausgewählt
aus der Zahl der Abiturienten von Abdul Hamid persönlich und zum Dienst
im Privatsecretariat bestimmt.
Sein ge
schmeidiges Wesen und eine nicht zu unterschätzende Gewandtheit in der Ausführung geheimer Missionen erwarben ihm die besondere Gunst seines
Herrn.
Durch seine Entsendung nach Berlin, wohin er den General Ali
Nizamy im Herbst 1881 begleitete, wurde er auch in weiteren politischen Kreisen
Er
bekannt.
gilt für einen
besonderen Freund
Deutschlands.
Doch dürfte die Sympathie für unser Land wohl nur der Reflex der je
des Sultans sein.
weiligen Stimmung ein
Es ist nicht zu erwarten,
daß
strebsamer Effendi, dessen Carriere lediglich von der Willkür des
Padischah abhängt, in kritischen Momenten jemals eine eigene Meinung
äußert
oder der gerade herrschenden Strömung gar offen entgegentritt.
So lange der Sultan bei seinen Annäherungsversuchen an Deutschland beharrt und in der Anstelluug Fremder das deutsche Clement bevorzugt,
so lange wird auch Reschid Bey den deutschen Interessen das Wort reden und der geeignete Ueberbringer confidentieller Mittheilungen sein.
Bei
einem Jdeenumschwung in Aildiz wird er aber ebenso wie jeder andere Diener des Hofes die Farbe wechseln. Jede der auswärtigen Botschaften
hat
ihre besonderen Freunde im
Palais, deren Intervention in schwierigen Fällen nachgesucht mit) oft mit Erfolg verwerthet wird. lange Zeit
Raghib Bey hatte mit der russischen Vertretung
intime Beziehungen.
Die
schwierigen
Verhandlungen
über
die Kriegskostenentschädigungsfrage, welche mit der Abberufung des reiz
baren Herrn von Novikow dieses
Palastbeamten
Herr Nelidow,
ein
endeten,
geführt.
Der
wurden
häufig
durch Vermittlung
gegenwärtige Vertreter Rußlands,
äußerst gewandter,
in
der Schule Jgnatiew's groß-
gezogeuer Diplomat, hat es verstanden, das frühere gespannte Verhältniß
in ein freundschaftliches umzuwandeln,
es
und
bedurfte
für ihn um so
größerer Geschicklichkeit, da er als Ueberbringer der Kriegserklärung vom April 1877 und
Mitunterzeichner
des
Sultan persona ingratissima war.
zu allen Zeiten
enge Fühlung
gehalten
Hofes, und die geheimen Fonds, zur Berfügung stehen,
haben
Friedens
die
von S. Stefano beim
Die russische Vertretung hat aber mit
einzelnen Angestellten
des
dem Botschafter für solche Zwecke
die Pflege
dieser
Beziehungen
wesentlich
erleichtert.
Die englische Botschaft verfügt Biceadmirals Hobart Pascha,
in
der Person
ihres Landsmanns,
über einen zwar bereitwilligen, aber ziem
lich ungeschickten Vermittler für
die
Geltendmachung
secreter
Wünsche.
Hobart Pascha, ein waghalsiger Seemann, hat sich früher durch tollkühne Unternehmungen einen gewissen Nuf gemacht. Seine Führung eines Blockadebrechers während des amerikanischen Secessionskrieges ist in Marinekreisen bekannt. Auch während des letzten russisch-türkischen Krieges gelang es ihm, auf der Donau an den russischen Strandbatterien vorbei und in das Schwarze Meer zu entkommen. Seine militärische Capacität und administrative Befähigung wird nicht hoch angeschlagen; mit Aus nahme jener seemännischen Abenteuer, die er selbst in eitler „Never caught“ betitelten Broschüre beschrieben hat, weist seine Laufbahn keine erheblichen Leistungen auf. In türkischen Kreisen ist er wegen seines rauhen Wesens unbeliebt, aus der Pforte durch stete finanzielle Verlegenheiten unbequem. Im Palais dagegen, wo er Bielen durch barsches Auftreten iniponirt, hat er als Generatadjutant seine petites eutrees und, wenn auch keinen Einfluß, doch häufig Gelegenheit, britische Jnteressen zu Gehör zu bringen. Für die Marine hat Sultan Abdul Hamid kein besonderes Interesse gezeigt. Die mächtigen Panzerschiffe, welche zu Zeiten seines Oheims mitten im Bosporits vor den kaiserlichen Palästen ankerten, sind in die Docks des „Goldenen Horns" verwiesen und befinden sich nach Aussage der Fachmänner in einem so verwahrlosten Zustande, daß ihre Indienst stellung ungeheure Kosten unb längere Zeit verlangen würde. Seit dem Frühjahr 1878 ist keines dieser großen Fahrzeuge in See gegallgen. Uebungsfahrten der Marine sind in der Türkei ebenso unbekannt, wie Feldmanöver der Landarmee. Jetzt ankern im Bosporus nur einige Dampfavisos, welche vornehmen Gästen gelegentlich für Vergnügungs fahrten zur Verfügung gestellt werden, und ein Kanonenboot, das als Wachtschiff dient. Die Entfernung der Panzerflotte ist früher vielfach commentirt worden. Man wird sich erinnern, daß die Palastrevolution von 1876 unter Mitwirkung von Marinelruppen ausgeführt und das Signal zum Ueberfall von einem der Panzerschiffe ausgegeben wurde. Diese Vorgänge haben das Vertrauen des Sultans auf die Zuverlässig keit seiner Seeofficiere erschüttert. Die Bewachung der Residenz ist einem ausgewählten Jnfanteriecorps zugewiesen, welches, wie schon er wähnt, unter dem Befehl Osman Pascha's steht und die ganze Umwallung von Mdiz-Kiosk besetzt hält. Diese Truppe ist in einem Barackenlager untergebracht, das sich längs der äußeren Umfassungsmauer hinzieht. Die Kaserne an der Seeseite ist mit 2 Bataillonen besetzt. Die Kopfzahl der Truppen, welche diesen Sicherheitsdienst versehen, kann auf ca. 10000 Mann veranschlagt werden. Der Eintritt in das Innere der Umwallung wird natürlich auf das
218
Der Hof von Aildiz-Kiosk.
Schärfste überwacht.
Nur die Beamten und Diener werden eingelassen.
Personen, welche amtliche Geschäfte in's Palais führen,
müssen
sich vor
dem wachthabenden Officier legitimiren.
Sultan Abdul Hamid ertheilt häufig Audienzen und ist im Ganzen
Fremden viel zugänglicher
seine Borgänger.
als
Neben den Vertretern
auswärtiger Mächte empfängt er auch gelegentlich Fremde von Distinetion,
journalistischen Welt.
der haute finance und
aus
Männer
Bennet,
des „New-Zork-Herald", Gordon
Besitzer
Pariser Timescorrespondenten Oppen, Geburtsort Blowitz zu
nennen
redungen, die natürlich
bald
wohl nur zu
diesem Zweck
der
sich
mib
Weit dem bekannten
dem
seinem böhmischen
nach
pflegt, hatte der Sultan längere Unter
ihren Weg
in
die Presse
wurden.
abgehalten
fanden und die
Ueberhaupt un.terhält
Abdul Hamid mit der Presse einen viel intimeren Verkehr, als dies am
üblich
bisher
türkischen Hofe
war.
Nedaeteure
Die
in
der
türkischer
Sprache erscheinenden offieiösen Blätter „Vakit", „Terdschumani Hakikat" französischen Pfortenjournals „La Turquic“ erhalten
und des
structionen
aus
Mdiz-Kiosk;
„El Djewa’ib“,
das
ebenso
als Organ
der
der Herausgeber
des
ihre In
arabischen
panislamitischen Partei angesehen
werden kann und in Tausenden von Exemplaren von Eonstantinopel nach
Egypten und den französischen Colonien Nordafrika'ö versendet wird.
Das
Zeitungslesen hat unter der türkischen Bevölkerung in den letzten Jahren
sehr zugenommen; aber eine strenge Censur sorgt dafür, daß die politische
nicht
Aufklärung der Gläubigen
Ausfälle gegen
schlage.
eine
regierungsfeindliche Richtung ein
die Fremden
und Schmähungen des Christen
thums sind in den türkischen Blättern der
Hauptstadt
nichts Seltenes.
Alle Berichte über auswärtige Vorgänge sind in usuni Delphini zurecht gestutzt
paßt.
und dem politischen Verständniß
Da nur wenig Europäer
entzieht sich der Einfluß, kreis ausübt,
unserer
die
türkische Schriftsprache kennen, so
den die officiöse Orientpresse auf ihren Leser
Beobachtung.
wenn in kritischen Zeiten
unteren Volksklassen ange
der
eine
wegung die Massen ergreift.
In
fanatische,
Europa
erstaunt
den Fremden
man
dann,
feindselige Be
Man übersieht, daß eine solche Stimmung
oft lange vorher durch die türkische oder arabische Presse vorbereitet war und genährt wird.
Sultan Abdul Hamid ist der erste Padischah, der den
Einfluß der Presse erkannt hat und für politische Zwecke verwerthet. weicht auch darin von den Gepflogenheiten
sich
aus
Reichs
welches
europäischen
unterrichtet.
aus
den
Zeitungen Es
besteht
wichtigsten
Sultan in türkischer Sprache
über die
im
Er
seiner Vorgänger ab, daß er Vorgänge
Palais
ein
außerhalb seines
Uebersetzungsbureau,
abendländischen Blättern Auszüge für den herstellt
und
auch
ganze Werke übersetzt.
Der Hof von Mdiz-Kiosk. Namentlich wird Alles,
die deutschen,
was
219 und französischen
englischen
Die Folge
Zeitungen über die Türkei berichten, dem Sultan vorgelegt.
davon ist sehr oft das Verbot der Einführung derjenigen Blätter, deren Kritik den Sultan verstimmt aus
spondenten
vor 4 Jahren
der
in
einem
Ausweisnng
oder die
hat,
ihrer
Corre-
Gabriel Charmes
Seitdem
türkischen Hauptstadt.
Artikel der „Revue des deux
vielbeachteten
Mondes“ die türkischen Zustände einer
herben Kritik
etwas
unterzogen
hat, steht auch diese Zeitschrift mit verschiedenen anderen Pariser Blättern
auf dem Index. ergeht
Den
nicht
es
in
besser.
Pera
Thema der Tagespolitik,
erscheinenden
wird
Es das
gerade
des unvorsichtigen Blattes
nach
sich.
verboten,
dasjenige
die allgemeine Aufmerksamkeit er
und Uebertretungen
regt, zu behandeln,
Zeitungen
levantinischen
meistens
ihnen
sofort die
ziehen
Confiscation
der eghptischen Wirren
Während
durften die perotischen Blätter weder Telegramme noch Berichte über die Vorgänge am Nil bringen,
und
diese
lächerliche Beschränkung war um
so zweckloser, als die levantinische Gesellschaft durch Privatdepeschen uno
die Mittheilungen
der
vom Ausland
eintreffenden Zeitungen
Verlauf der Krisis stets genau informirt war. drückung
einer
ausgeht,
so
in Pera
ist
die
erscheinenden Zeitung
Aufhebung
über den
Da der Befehl zur Unter gewöhnlich
dieser den Besitzer
vom Palais
schwer schädigenden
Maßregel nicht leicht zu erlangen und immer mit großen Geldopfern ver
bunden.
damit zu helfen, daß
der Herausgeber
sucht sich
Häufig
er
eine neue Concession nachsucht und sein Blatt unter einem anderen Namen erscheinen läßt.
Von deutschen Zeitungen finden im Palais die „Kölnische" und die „Münch. Allg. Ztg." die
befohlen, werden.
daß
ihm
meiste
täglich
aus
Der Sultan hat
diesen
Blattern
kürzlich
unterbreitet
Daß diese Uebersetzungen sehr wortgetreu ausfallen, kann füglich
bezweifelt werden.
Die Beurtheilung, welche
türkischen Zuständen angedeihen geschwächt und,
läßt,
wird
die europäische Presse den
gewiß
in vielen Fällen ab
von byzantinischen Formen umkleidet, an das Ohr des
Sultans gelangen. pomphaft.
Beachtung.
Auszüge
Alles,
Der türkische Curialstyl
was
im
Palais
zum
ist äußerst schwerfällig und
Vortrag
kommt,
Berichte,
Meldungen, Gutachten oder Memoires, kurz alle Schriftstücke, welche den
Charakter von Jmmediatberichten und phrasenhaften Hofstyl
des
gesprochenen Worts,
haben,
welche
in
müssen
eingekleidet werden.
den weitschweifigen
Selbst die Uebersetzung
der Dolmetscher
nehmen hat, unterliegt dem Zwang der Etiquette.
bei
Audienzen vorzu
Den Redewendungen
des Ausländers wird dabei ein Stempel von Unterwürfigkeit aufgedrückt,
der den Intentionen, wie
dem Wesen
des Sprechenden
fern
liegt und
auch im Widerspruch steht zu der Form zwangloser Höflichkeit, welche Abdul Hamid bei den von ihm ertheilten Audienzen gestattet. Bei feier lichen Anlassen, bei der Begrünung fürstlicher Personen oder der Ent gegennahme von Beglaubigungsschreiben auswärtiger Bertreter wird natürlich das übliche Hofcerenwniell beobachtet, welches dem europäischen sehr ähnlich ist. Der Sultan erwartet seinen Gast alsdann stehend, auf einer niedrigen Estrade, welche in der Fensternische des großen Saals von Mdiz-KioSk angebracht ist mit) welche der Fremde mit dem Oberceremonienmeister und dem bei dieser Gelegenheit als Dolmetscher fungirenden Minister der auswärtigen Angelegenheiten betritt. Das Gefolge des Gastes, die Palasrbeam:en, Minister und Generäle, welche stets in großer Zahl anwesend sind, stehen im Saal selbst in ehrerbietiger Ent fernung. Alle türkischen Beamten verharren in einer etwas gebeugten Stellung mit niedergeschlagenen Augen, die eine Hand in die andere gelegt. Diese Haltung der Arme ist der Ueberrest der alten Sitte, welche verlangte, raß der Untergebene vor dem Höherstehenden die Arme über der Brust kreuze. Unter Abdul Asis hielt man die Arme noch verschränkt, so daß die Hände das Ellenbogengelenk umschlossen. Diese Haltung hatte noch den Anschein von Feierlichkeit. Die jetzige Haltung der Hande, welche sich auf dem Unterleib begegnen und in Verbindung mit der ge krümmten Stellung den Eindruck machen, als sei der Betreffende von heftigen Magenbeschwerden heimgesucht, wirkt dagegen komisch, namentlich bei Militärpersonen, bei denen wir im Abendland eine straffe, aufrechte Haltung zu sehen gewohnt sind. Längs den Wänden des Saals und auf den Treppenstufen, die zum obern Stockwerk führen, sind Leibwachen, Palastdiener und Sais aufgestellt. Schwarze Haremsdiener erscheinen niemals in der Umgebung des Sultans. Die Leibwache in violettsammtnen Schnürröcken, einen Busch von wallenden Straußenfedern auf der schwarzen kalpakähnlichen Kopfbedeckung, mit blitzenden Hellebardeu bewaffnet, ist für unsern Geschmack zu theatralisch aufgeputzt. Dagegen gewähren die albanesischen Leibwächter und Sais in ihren rothen reich gestickten Aermelwesten, den goldbetreßten Gamaschen und breiten, bunt seidenen Gürteln, in denen ein ganzes Arsenal silberbeschlagener Waffen steckt, einen prächtigen, malerischen Anblick. Diese Leute haben fast alle bei den albanesischen Aufständen oder in den montenegrinischeu Grenz kriegen eine Rolle gespielt. Viele von ihnen sind unbotmäßige Banden chefs oder einflußreiche Häuptlinge der Grenzdistricte, die man unter der Form eines Ehrendienstes beim Sultan in der Hauptstadt festhält, um sie besser überwachen zu können. Manche sind als Gefangene hierher gebracht. Sie dienen als Geiseln für die Aufrechterhaltung der Ordnung
221
Der Hof von Mdiz-Kiosk.
in den schwerzugänglichen Grenzgebieten. internirt.
Der
hat
Sultan
einflußreiche Kurdenchefs
Auch
auf
und macedonische Bandenführer sind
diese Weise in Constantinopel
von jeher das System
raublustige Stammeshäuptlinge,
deren
befolgt,
derartige
gegen
christliche
Ausschreitungen
Nachbarn der Pforte in Friedenszeiten oft Ungelegenheiten machen, unter persönliche
halten.
Aufsicht
zu
nehmen
Er weiß recht wohl,
und
in
glänzender
Einfluß dieser fanatischen Elemente Verwendung findet.
welche Alles
an die
Gefangenschaft
zu
der Augenblick kommen kann, wo der
daß
Vertheidigung
ihres
Glaubens
Es sind Männer,
setzen
und
deren
Kriegsdienste als Baschi-Bozuks nicht zu unterschätzen sind. Die einzigen wirklich militärischen Figuren des türkischen Hofstaats sind die Officiere der tscherkessischen Garde.
Nationalkostüm,
den langen
Sie
tragen das bekannte
faltiger! Waffenrock mit den Patronen auf
der Brust, hohe Stiefel, die Waffen an den schmalen, silberbeschlagenen Wehrgehängen, und nur der Halbmond an der schwarzen Lammfellmütze
kennzeichnet sie als Unterthanen vielleicht die
einzige
der Pforte.
Diese Elitetruppe,
wirklich kriegstüchtige Cavallerie darstellt,
numerisch sehr schwach.
welche
ist aber-
Das tscherkessische Regiment zählt gegenwärtig
höchstens 300 Pferde. Der Sultan trägt rrur bei feierlichen Gelegenheiten Uniform und
zwar den wenig kleidsamen Jnterimsrock der Infanterie.
Seine kleine
Figur und die nach vorn fallenden Schultern lassen ihn in dieser Tracht nicht Vortheilhaft
erscheinen.
Die glänzenden Decorationen passen nicht
zu dem einfachen Schnitt der schmucklosen Uniform, und er bewegt sich in
derselben mit einer gewissen Unbeholfenheit, welche verräth, daß ihm diese Kleidung ungewohnt und unbequem ist. viel besser aus.
In bürgerlicher Tracht sieht er
Er ist dann stets sehr sorgfältig, ja elegant gekleidet.
Bei Privataudienzen, welche in einem der Nebensalons von Jildiz-Kiosk
oder in den kleinen Gemächern des hart an den Harem stoßenden Gar
tenpavillon ertheilt werden, erscheint der Sultan gewöhnlich im schwarzen Promenadenanzug, im Sommer auch bisweilen in einem morning-dress
aus hellem modischen Stoff.
Abdul Hamid liebt es, diesen Besprechun
gen einen zwanglosen, fast vertraulichen Charakter zu geben.
Er nimmt
auf dem Sopha Platz, läßt dem Gast einen Sessel geben und bietet ihm
eigenhändig Cigaretten an. einer
der Privatsecretäre.
Als Dolmetsch fungirt Munir Pascha oder
Auch
dieser Beamte
darf
sich
setzen.
Sultan streift in der Unterhaltung die verschiedensten Gegenstände, launige Einfälle,
Der hat
treffende Bemerkungen und ist auch für einen guten
Witz empfänglich, wenn er in passender Form angebracht wird. steht etwas Französisch,
Er ver
wenigstens soviel, um den Sinn der Gegenrede
Der Hos von Mdiz-Kiosk.
222
meistens schon vor der Uebersetzung zu errathen.
Er selbst drückt sich in
dessen niemals in einer anderen Sprache aus, als in der türkischen. geschieht nicht satzweise,
Uebersetzung
sondern nach
Die
längeren Perioden.
Der Dolmetsch muß ein gutes Gedächtniß haben und
vor Allem
den
Sinn der Rede erfassen, da eine wortgetreue Wiedergabe unmöglich wäre. Das Amt
eines Dolmetsch
große Uebung
erfordert
und Gewandtheit.
Mißverständliche Auffassung oder incorrecte Wiedergabe kommt dennoch
bisweilen vor, namentlich dann, wenn es sich darum handelt, dem Sultan Sind dieselben wichtiger, poli
unangenehme Mittheilungen zu machen.
tischer Natur,
so wird der fremde Diplomat gut thun, die Uebersetzung
durch seinen eigenen Dragoman, welchen er mitzubringen berechtigt ist,
controliren und ev. berichtigen zu lassen.
wie sie zuerst erwähnt wurde,
An eine feierliche Audienz,
sich immer unmittelbar
eine Festtafel an.
Die Veranstaltung
schließt
größerer
Diners am türkischen Hofe und die Zulassung europäischer Gäste zu den
selben ist eine 'Neuerung,
welche zwar schon Abdul Asis einführte,
der er selbst aber nur höchst selten Gebrauch machte.
von
Im Ganzen will
die Sitte, daß der Beherrscher der Gläubigen ebenso wie der Papst allein
speist.
in
Gastmahle
unserm Sinne
überhaupt
entsprechen
nicht
den
orientalischen Gebräuchen, und ihre Einführung ist schon durch das Fehlen der
dafür
erforderlichen Zimmereinrichtungen
Geräthe
und
erschwert.
Stühle und Tische fehlen bekanntlich in der türkischen Haushaltung, ebenso wie
Messer
und
Gabeln.
Die
Speisen
werden
auf
einer
größeren
Messingplatte aufgetragen und diese auf einen niedrigen Schemel gestellt. den er ja über
Der Türke nimmt seine Mahlzeit auf dem Divan ein,
haupt, solange er sich zu Hause aufhält, nicht verläßt.
Außer dem Haus
herrn können also höchstens 3 oder 4 Personen von derselben Platte speisen, indem sie sich um das niedrige Tischchen in kauernder Stellung gruppiren.
Will ein reicher Orientale viele Gäste bei sich sehen,
so bilden sich
demselben Zimmer mehrere solcher kleinen Tafelrunden. Essen
wenig gesprochen wird,
in
Da aber beim
so trägt selbst diese Art der Gastfreund
Noch jetzt halten die vor
schaft keinen heiteren oder festlichen Charakter.
nehmen und mit den europäischen Tafeleinrichtungen wohlvertrauten Tür
ken an der nationalen Form der Mahlzeiten fest. auf diese Art und zieht nur selten zur Mahlzeit hinzu.
werden,
Auch der Sultan speist
einen Vertrauten
oder Verwandten
Die Diners aber, zu welchen Europäer eingeladen
entsprechen durchaus den abendländischen Gebräuchen.
Sultan
Abdul Hamid scheint im Gegensatz zu seinem verstorbenen Oheim diese Art der Geselligkeit zu lieben; denn fast allwöchentlich findet eine größere
Tafel
in Mdiz-Kiosk
statt.
Dieser Fürst
ist
in seiner Neigung für
Der Hof von Mdiz-Kiosk.
223
Neuerungen sogar so weit gegangen, europäischen Damen Zutritt zu sei
Mrs. Layard, die Gemahlin des britischen Bot
nem Hofe zu gewähren.
schafters, der während des russisch-türkischen Krieges eine Zeit lang großen Einfluß in Stambul besaß,
Sultans des
war die erste Dame, die an der Tafel des
Seitdem ist diese Auszeichnung verschiedenen Damen
speiste.
diplomatischen Corps zu Theil geworden,
aus
allerdings weniger
Rücksichten einer im Orient gänzlich unbekannten Galanterie, als in Folge politischer Erwägungen,
welche den Sultan veranlassen,
sich dem einen
oder dem anderen Botschafter zu nähern und in der Hoffnung, ihn durch
besondere Gunstbezeugungen zu verpflichten.
päischen Dame
an
der Tafel
politische Bedeutung
und
wird
des in
Das Erscheinen einer euro
eine
Großherrn hat daher Pforlenkreisen auch
als
gewisse
solche
be
trachtet.
Die Galadiners in Mdiz-Kiosk verlaufen alle nach derselben Scha
blone.
Der
einzige Unterschied besteht darin, daß die Tafel bald im
Sternen-Kiosk,
bald in einem der anderen Gartenhäuser servirt wird.
Der Sultan empfängt seine Gaste vor der Tafel in einem kleinen Kabi-
net,
wobei der Minister des Auswärtigen den Dolmetsch macht.
Man
tauscht einige der gebräuchlichen Höflichkeiten aus, an denen das türkische Gesellschaftsceremoniell so überreich ist.
Dann schreitet er seinen Gästen
voran in den Speisesaal, in welchem die übrigen Geladenen schon hinter ihren Stühlen bereit stehen und mit gesenktem Auge, die Hände über den
Bauch zusammengelegt und die Front nach ihrem Herrn gewendet, in ehrfurchtsvoller Haltung verharren. Der Sultan nimmt an einem schmalen Ende des Tisches Platz.
Zwischen ihm und seinen beiden Nachbarn, d. h.
dem vornehmsten Gast auf der
einen und dem Großvezier auf der an
deren Seite besteht eine Entfernung, nicht zu groß, um die Unterhaltung zu ermöglichen.
Nun folgen zu beiden Seiten des Tisches die Geladenen
nach ihrem Range,
jedoch so,
daß ein Ausländer,
anwesend sind, mit einem Türken wechselt.
wenn deren mehrere
Neben dem Großvezier wird
gewöhnlich dem ersten Dolmetsch der Gesandtschaft der Platz angewiesen, so daß er der Unterhaltung, welche der Sultan mit dem Ehrengast führt, folgen kann. Am untern Ende der Tafel, dem Sultan gegeüber, sitzt der kleine Sohn des Sultans,
Mehemed mit seinem Spielkameraden und Oheim,
dem Sohne des ermordeten Abdul Asis.
Die Plätze neben
ihnen wer
den gleichfalls als Ehrenplätze angesehen und denjenigen Fremden ange wiesen, welche noch ausgezeichnet werden sollen.
großen Menge
goldener
Leuchter besetzt.
Pariser Fabriken,
oder
doch
Die Tafel ist mit einer
vergoldeter Aufsätze,
Schalen und
Die schönsten dieser Surtouts de table stammen aus verrathen aber denselben überladenen Geschmack, der
Der Hof von Mdiz-KioSk.
224
die Ornamente der türkischen Paläste und Mobilien charakterisirt.
Menü ist französisch, wie auch die Küche.
Das
Mr. Victor, der erste Leib
koch, überwacht die Zubereitungen in den großen Küchen von Tschiragan. Bon hier werden
die Speisen in verdeckten Behältern durch
zahllose
Träger auf dem Kopf nach Jildiz getragen, dort auf rechaud’s erwärmt
und
servirt.
Dieser Vorgang
macht sie natürlich weniger schmackhaft,
viele Gerichte sind halb erkaltet, doch das lieben die Türken. Das Menü der kaiserlichen Galadiners ist fast immer dasselbe; bei jeder dieser Mahl zeiten werden nach der Suppe die kleinen in Hammelfett gebratenen Pa
steten Börek und vor dem Dessert der Pillav servirt.
Meistens werden
aber auch sonst noch zwischen die französischen Gerichte einige Speisen eingeschoben,
blättern gekocht, das sog. Dolma und süße Gerichte; die
mit Creme
gefüllten Datteln
türkische
Reis in Wein
z. B. Bohnen mit Hühnerfleisch,
unter letzteren sind
auch für unsere Gaumen sehr wohl
Die anderen widerstehen uns meist wegen der Verwendung
schmeckend.
von Hammelfett.
Das auf der Tafel prangende,
Confect wird nicht servirt.
prachtvolle Obst und
Das Dessert fällt ziemlich spärlich aus. Doch
giebt es mitunter seltene Leckereien, wie Erdbeeren im Januar, Bananen und Ananas.
Der Sultan, Magen hat,
der sehr mäßig
ist und
außerdem
genießt sehr wenig, nimmt aber von
einen
schwachen
allen Speisen auf
seinen Teller, weil sonst nach türkischem Gebrauch die Gäste das Gericht
zurückweisen müssen.
Die alten Paschas futtern aber ganz gehörig.
Nur
die in der Nähe des Sultans sitzenden, welche auf ihren Stühlen stets eine halbe Wendung gegen den Padischah machen, asfectiren eine gewisse
Enthaltsamkeit. Natürlich trinkt keiner von den anwesenden Türken Wein.
Dem Fremden werden die bei Diners üblichen Sorten in leidlich guter Qualität eingeschenkt.
Die Enthaltung vom Wein schließt von selbst die
Ausbringung von Toasten aus, und dies ist das Einzigste, wodurch sich
die türkische Hoftafel von einer europäischen unterscheidet.
Der Sultan
unterhält sich viel mit seinem fremden Gast, richtet auch bisweilen ein Wort an den Großvezier und läßt den weiter entfernt sitzenden Fremden, welche er auszeichnen will, durch den Ceremonienmeister einige Höflichkei
ten sagen. Für den dicken Munir Bey ist das Diner eine anstrengende Ange
legenheit.
Er steht während der ganzen Tafel neben seinem Herrn, um
den Dragoman zu machen.
Da er beim Entgegennehmen der kaiserlichen
Rede ebenso wie beim Ueberbringen der Antwort die Armbewegungen und Bücklinge des Salems zu machen hat und das Diner meistens 2 Stunden
währt,
so ist diese Function für ihn eine Art Zimmergymnastik,
deren
Der Hof von Nildiz-Kiosk.
225
Effect deutlich auf seinem müden, schweißtriefenden Gesicht zu lesen ist. Munir entledigt sich aber seiner schwierigen Aufgabe mit unvergleichlicher
Geschicklichkeit; er beherrscht das Französische so gut, wie seine Muttersprache, und die Schnelligkeit und Genauigkeit seiner Uebersetzung macht
eine Unterhaltung mit dem Sultan äußerst leicht.
Man gewöhnt sich so
sehr an diese Form, daß einem die Verwendung des Dragoman durchaus nicht störend erscheint. Während der Tafel concertirt die Hofcapelle im Nebenzimmer hinter einer
Die
spanischen Wand.
Musikstücke
meist Potpourris
sind
aus
italienischen Opern, Ouvertüren, Märsche und andere melodiöse Tondich tungen.
Sie werden entweder vom ganzen Orchester oder von einzelnen
Instrumenten mit Begleitung des Claviers ausgeführt. Flötist steht besonders beim Sultan in Gunst.
einem Sänger eine italienische Arie vorgetragen; Musiker dem Auge unsichtbar.
Ein geschickter
Manchmal wird auch von immer aber sind die
Fremde Virtuosen, welche im Palais zu
concertiren wünschten, haben sich oft durch diese Einrichtung verletzt ge fühlt, einige sogar wegen dieser Beschränkung auf den Vortrag verzichtet,
die Meisten aber trösten sich mit dem reichen Honorar und dem Orden
und spielen
ihre Stücke hinter der spanischen Wand herunter.
werden nicht gestaltet.
sogleich beginnen.
Ist eine Nummer zu Ende,
Pausen
so muß die nächste
Dies wirkt etwas ermüdend; da aber die Musik nicht
so rauschend ist, wie die unserer Militärcapellen, so wird die Unterhaltung
nicht dadurch beeinträchtigt.
Nach der Tafel begiebt sich der Sultan mit
seinen fremden Gästen in ein kleines Rauchzimmer, wohin auch jetzt einige Der Sultan plaudert hier sehr
der vornehmsten Türken entboten werden.
zwanglos und gemüthlich und vertheilt aus seiner goldenen Dose eigen
händig Cigaretten an die bevorzugten Gäste. dürfen aber nicht
rauchen.
Die anwesenden Paschas
Sobald sich der Sultan zurückgezogen hat,
begeben sich die Gäste in das große Antichambre, wo die anderen Gela
denen bei Cigaretten und Kaffee verweilen.
Und von hier aus trennt sich
die Versammlung. Betritt man den großen Mittelraum des Palais, denselben, der als
Empfangssaal für feierliche Audienzen dient, so gewahrt man an einer der Wände neben dem Eingang in die Privatgemächer die lebensgroßen
Reiterporträts der beiden letztregierenden Sultane.
Der trotzige, herrische
Gesichtsausdruck, der bei Abdul Asis so charakteristisch war und durch den tief in die Stirn gerückten Fez einen noch finstereren Zug erhielt, ist von dem
europäischen Künstler
vortrefflich
wiedergegeben.
Jeder Zoll
Despot! möchte man beim Anblick dieser Erscheinung sagen.
welch jäher Sturz, welch schreckensvolles Ende!
ein
Und doch —
Mit seinem Vater Abdul
Der Hof von Mdiz-Kiosk.
226
Medschid hat der jetzt regierende Sultan eine große Aehnlichkeit.
sind die
gemeinsam
schönen,
Beiden
regelmäßigen Gesichtszüge und der etwas
müde, melancholische Ausdruck. Die starken, naheaneinderstoßenden Augen brauen, die feingeschnittene Nase und der weiche, glänzende Vollbart ver künden
tscherkessische
die
Abkunft
mütterlicherseits.
Der
Abdul
Kopf
Hamid's ist der Typus eines schönen Orientalen semitischer Nasse.
Abdul Asis war die mongolische Abstammung
mehr ausgeprägt.
dem regierenden Sultan giebt eS, soviel ich weiß, kein Porträt.
Vielleicht
haben ihn religiöse Bedenken abgehalten, einem Künstler zu sitzen. kanntlich verbietet der Koran die bildliche Darstellung
In Von Be
lebender Wesen.
Dies Gesetz wird auch in der Architectur festgehalten, und in der Orna mentik orientalischer Prachtbauten sind Menschen- und Thiergestalten aus Blumen, Früchte und namentlich die bis zur höchsten Voll
geschlossen.
endung getriebene Darstellung mathematischer Figuren bilden den einzigen
erlaubten Schmuck für Fanden und Wandbekleidungen. auf ein sehr dürftiges Gebiet beschränkt.
Die Malerei ist
In den neugebauten Palästen
findet sie wohl einige Verwendung in kleinen Deckengemälden und Sopra-
porte.
Aber auch
hier sind nur Stillleben aus der Pflanzenwelt und
milunter höchst seltsamer Weise Schiffe dargestellt.
Gemälde als Wand
In den von
verzierung sind dem rechtgläubigen Türken nicht gestattet.
Sultan Abdul Hamid bewohnten Kiosken bilden denn auch die obener
wähnten Porträts den einzigen Bilderschmuck und gleichzeitig einen Verstoß gegen die herrschende Sitte. Moslem;
Abdul Asis aber war kein strenggläubiger
er liebte die Malerei,
kaufte eine Menge Bilder,
meist sehr
zweifelhaften Werthes, die er in seinen Privatgemächern in Dolma-Bagdsche
aufhängen ließ, und soll sich auch selbst als Dilettant in dieser Kunst ver
Von Abdul Hamid wird das Gleiche erzählt.
sucht haben.
an seinem Hof kein auswärtiger Künstler aufhält,
deres Studium
letzten Jahren
dieser Kunstbranche jedenfalls
haben
so
Da sich aber
ist ein eingehen
ausgeschlossen.
sich allerdings einige Türken
In den
über das religiöse
Verbot hinweggesetzt und die Malerei systematisch betrieben.
Ein künst
lerisch gebildeter Pfortenbeamter Hamdi Bey, gegenwärtig Director des
Antikenmuseums, hat es darin ziemlich weit gebracht, und die von ihm ausgestellten
Bilder
zeugen
von
Geschmack und
Talent.
Sie
stellen
meistens Scenen aus dem Harem dar, was eine weitgehende Vorurtheilslosigkeit des muhamedanischen Künstlers bekundet.
Obwohl
wir über
das Treiben in den Haremliks der vornehmen
Türken durch die Mittheilungen europäischer Damen und Aerzte längst genau informirt sind, so bleibt doch die Schranke unübersteiglich, welche Gesetz und Sitte zwischen dem öffentlichen Verkehr und dem Familienleben
227
Der Hof von Mdiz-Kiosk.
errichtet haben.
Es ist ein Irrthum, wenn vielfach angenommen wird,
die abgeschlossene Lebensweise der Frauen sei muhamedanische Einrichtung.
eine
türkische
oder
doch
Sie ist vielmehr allen Volksstämmen des
Orient gemeinsam; der Islam hat nur die Volkssitte in gesetzliche Formen gebracht.
Auch die Frauen der levantiuischen Juden, Armenier und selbst
der griechischen Rajahs sind von dem öffentlichen Leben ausgeschlossen und
leben in einer gesellschaftlichen Vereinsamung, die der Gefangenschaft des Religion und Sitte gestatten ihnen allerdings,
Harems sehr ähnlich ist.
unverschleiert zu gehen und sich Abends am offenen Fenster oder in der
geöffneten Thür des Haussturs dem Blick der Vorübergehenden zu zeigen. Aber die Theilnahme an öffentlichen Belustigungen ist ihnen so gut wie untersagt, unb ein gesellschaftlicher Verkehr beider Geschlechter besteht nicht.
Die reichen Armenier von Constantinopel, welche meistens eine durchaus europäische Erziehung und Bildung
genossen
haben,
halten
an diesem
Herkommen fest, und ihre Gastfreiheit geht nicht soweit, dem Fremden Zutritt zu ihrem Familienleben zu gestatten.
Bei dieser allgemeinen Ab
grenzung, welche die levantinische Frauenwelt auf die innere Häuslichkeit beschränkt, ist die strenger durchgeführte Claustration der türkischen Frauen
weit weniger auffallend.
Man kann mit einem Türken noch so gut be
kannt, ja nahe befreundet sein, so wird doch sein Familienleben niemals das Thema der Unterhaltung bilden.
Es gilt für unschicklich, nach dem
Befinden der Frau des Hauses zu fragen oder bei Krankheits- und Todes
Das eheliche Verhältniß, — fast alle
fällen einen Antheil zu bekunden.
Türken leben in Einzelehe —, gilt als unpassender Gesprächsstoff. Diese Zurückhaltung,
welche
sich
schon Privatpersonen
gegenseitig
auferlegen, wird natürlich in noch viel höherem Maße bez. des kaiserlichen Harems gefordert. Das Familienleben des Sultans entzieht sich durchaus
der Oeffentlichkeit.
Irgendwie zuverlässige Angaben über das, was hinter
der hohen Umfriedigung des kaiserlichen Harems vor sich geht, sind nicht zu erlangen.
Die Hofbeamten vermeiden jedes Gespräch darüber.
Ihre
Unterhaltung verstummt überhaupt, sowie sie bei Spaziergängen im Park in die Nähe jener Umfriedigung gelangen.
Sie gehen still und mit ge
senktem Blick daran vorüber, und auch der fremde Gast wird wohlthun,
dieses Verhalten zu beobachten,
wenn er nicht für tactlos und unehrer
bietig gelten will.
Es
wäre
zum Schluß
hier
noch eine Persönlichkeit zu erwähnen,
welche unter allen Bewohnern von Mdiz-Kiosk vielleicht den bedeutendsten Einfluß besitzt, deren Wirkungskreis aber dem Auge des Europäers völlig
unzugänglich bleibt.
Es ist dies Bechram Aga, der Chef der Eunuchen.
Das Amt eines Kislar Agassi oder obersten Aufseher des Harems gilt Preußische Jahrbücher.
Bd. LVI.
Heft 3.
Der Hof von Mdiz-Kiosk.
228
an orientalischen Höfen stets als eine besondere Vertrauensstellung.
Die
Kenntniß aller Serailgeheimnisse und der nahe persönliche Verkehr mit dem
Fürsten verleiht ihm einen Charakter von Intimität, welche die mit dieser
Würde Bekleideten zu ihrem eigenen oder ihrer Günstlinge Vorlheil ge schickt auszunutzen
verstehen.
In
früheren Zeiten wurden sie von den
Großen des Reiches und Vertretern auswärtiger Mächte häufig umworben, und die Geschichte deß Serail von Stambul ist reich an Fällen, wo der artige Intriguen für die Gestaltung der staatlichen Verhältnisse entschei
Wenngleich die Reformen der letzten Decennien an
dend gewesen sind.
der Schwelle des Harems Halt machten, so hat doch die Stellung des
Kislar Agassi in unserer Zeit eine erhebliche Beschränkung erfahren. Von
den auswärtigen Vertretern wird
seine Epistenz
und auch die
ignorirt,
höheren Pfortenbeamten bedürfen seiner Gunst nicht mehr,
um sich im
Amt zu erhalten.
spielt er in
Politischen Einfluß besitzt er nicht,
doch
den Grenzen des Familienlebens und der ihm speciell zugewiesenen Sphäre immerhin eine bedeutende Rolle.
Während früher der oberste Harems
wächter eine gefürchtete Persönlichkeit war,
ein Wesen,
das sich für die
ihm und seinen Schicksalsgenossen zugefügte Schmach durch tückische Grau
samkeit, Hochmuth und harte Behandlung seiner Untergebenen zu rächen
suchte,
sehen wir in Bechram Aga jetzt einen fetten,
dessen Benehmen
wohlwollende Würde
athmet und
behäbigen Herrn, der
sich
in seiner
correcten, europäischen Kleidung den Anschein eines höheren Staatsbeamten oder Geheimraths zu geben sucht.
Er bekleidet einen hohen Rang, besitzt
die höchste Ordensdecoration, welche
an türkische Beamte verliehen wird
und hält in seinem prächtig eingerichteten Konak einen glänzenden Haus halt.
Sein Marstall ist mit den besten Pferden arabischer Race versehen;
er ist sehr reich und liebt den Luxus, denn er hält einen Harem.
Seine
jüngeren Untergebenen ahmen dies Beispiel nach und treiben alle, mehr oder weniger, großen Aufwand.
Sie sind alle große Pferdeliebhaber und
treiben einen meist lucrativen Handel.
arabisches Pferd kaufen will,
Wer ein besonders werthvolles
wendet sich an diese Herren.
Die Preise,
welche von ihnen gefordert und — wenigstens von türkischen Liebhabern — gezahlt werden,
sind enorm.
Während ein gutes anatolisches Reit
pferd für 20—30 Livr. (360—540 Mark) zu haben ist, werden für ara bische Hengste echter Abstammung nicht selten 300—500 Livr. gezahlt, und diese Preise steigen unter Umständen noch höher, wenn das Thier gewisse
äußere Abzeichen hat,
auf welche der Orientale
so
großen Werth legt.
Natürlich muß es ein Hengst und von weißer Farbe sein, womöglich mit einem dunklen Querstreif hinter dem Thier
besondern Werth
den Ohren.
verleiht,
habe
Warum dieses Abzeichen
ich
nie
ermitteln
können.
Der Hof von Mdiz-KioSk.
Vielleicht gilt es
229
als vererbtes Maal irgend eines berühmten Stamm
Dunkelfarbige Pferde, Füchse oder Braune sind minderwerihig,
halters.
Rappen vom Handel vollständig ausgeschlossen.
Ein gläubiger Moslem
wird sich nie entschließen, ein mit dieser Teufelsfarbe behaftetes Pferd zu besteigen.
Bechram Aga läßt sich nur selten in Stambul und niemals in den
Christenquartieren sehen.
er
Doch empfängt
in seinem Konak Besuche
und ist auch gelegentlich Fremden von Distinction zugänglich. Besuch wird aber als eine weniger ihm,
merksamkeit betrachtet.
Ein solcher
wie dem Sultan geltende Auf
Die schwarzen Haremsbeamten sind sehr zahlreich.
Viele wohnen in den Nebengebäuden der Paläste Tschiragan und Dolma-
Man begegnet ihnen oft in den Straßen der türkischen Quar
Bagdsche.
tiere, wo sie durch ihr gespreiztes, aufgeblasenes Wesen und die gesuchte Eleganz
ihres Anzugs
auffallen.
Sie
tragen
ebenso
alle Hofbe
wie
diensteten die einfache, schwarze, unkleidsame Tracht, welche Abdul Med-
schid für die ganze Beamtenwelt einführte, die zugeknöpfte Stambulina,
d. h. einen Tuchrock mit langen Schößen und ohne Kragen, schwarze Bein kleider und als einziges orientalisches Abzeichen den Fez. mäßigkeit dieser Tracht führt dahin,
Die Gleich
auch im Orient sich jetzt ein
daß
Würdenträger sowenig von seinem Diener unterscheidet,
in Europa
wie
bei Anlegung des Gesellschaftsanzuges.
Die
Palais sind in gleicher Weise gekleidet,
nur tragen sie an den Röcken
Metallknöpfe
mit
der
kaiserlichen Thura.
aufwartenden Lakaien im
Die dunkle,
den fränkischen
Schnitt nachahmende Beamtentracht erscheint unserm Auge noch unfreund licher,
da
sie keinen Streifen
weißer Wäsche sehen läßt.
Die älteren
Türken, welche die neue, unbequeme Kleidung nur außerhalb des Hauses
anlegen und
daheim den Kaftan
und das weite Beinkleid bevorzugen,
tragen auch unter der Uniform buntfarbige Unterkleider aus Wolle oder
Kattun.
Grelle,
auffallende Muster,
wie sie bei uns früher zu baum
wollenen Möbelüberzügen üblich waren, sind besonders beliebt.
Nur die
jüngeren, stutzerhaften Effendis haben sich zur Anlegung gestärkter, weißer
Leibwäsche bequemt und lassen mit Ostentation ihre breiten Manschetten sehen.
Der einzige Luxus, den die türkische Herrenwelt jeden Alters sich
gestattet, wird in lackirten Stiefeln getrieben.
Beim Ausgehen werden
darüber, selbst bei trockener Witterung, lederne Galoschen getragen. Nach
orientalischem Brauch wird bekanntlich die Fußbekleidung an der Thür des
Gemaches abgelegt, damit nicht durch den Staub und Schmutz der Straße der Wohnraum verunreinigt werde. Eine Concession an diese alte Sitte ist die Anlegung der doppelten Fußbekleidung, und auch Europäer, welche viel
in türkischen Häusern verkehren, thun gut, dieselbe Rücksicht zu beobachten. 17*
230
Der Hof von Mdiz-Kioök.
Die auf alle Rangklassen sich erstreckende Gleichmäßigkeit der Amts tracht ist bezeichnend
für das demokratische Element,
das
sich
von den
ersten Zeiten der Eroberung her im türkischen Staatswesen erhallen hat. Hier lag von jeher die Autorität nur in einer Hand, in der des Staats oberhaupts.
Die Kasten der asiatischen Despotieen oder die Stände des
europäischen
Mittelalters
sich
konnten
unter
Säbelherrschaft
der
der
Auch heute giebt es in der Türkei
Sultane und Khalifen nicht entwickeln.
noch keinen Adel, keine Aristokratie, keine bürgerlichen Klassenunterschiede.
der Bootsführer
und
Der Lastträger von Galata
von Skutari können,
wenn sie Glück und Geschick haben, ebenso gut Vezier, Bali oder Kapudan
Pascha werden, beamten. Princip
wie
Diese
eines
die Söhne
Mischung
würdigste Eigenart
Absolutismus
türkischen StaatSlebcns.
des
und Palast
Grundideen
demokratischen
durchgeführten
praktisch
©enerase
der Botschafter,
von
mit die
bildet
erklärt
Sie
dem
merk
auch den
Gleichmuth, den ein Mitglied dieses gesellschaftlichen Organismus in den einer
Wechselfällen
Steigen
Das
und
oft
bewegten,
auf
Fallen
Existenz
abenteuerlichen
ja
Stufenleiter
der
bewahrt.
socialen Erfolgs
des
regelt sich nicht nach Gesetzen oder nach de:n Maß persönlicher Fähigkeit. Ein Sturz von stolzer Höhe verlangt noch nicht den endgültigen Verzicht
auf Ansehen und Wohlleben; ebensowenig gewährt der Besitz dieser Güter
Diese Unbeständigkeit ist es, welche das
eine Sicherheit für die Zukunft. türkische Beamtenthltm corrumpirt
und
nothwendigerweise dahin geführt
hat, daß jeder, der im Besitz eines Amtes
ist, dasselbe ztt eigenem Vor
theil ausbeutet und mißbraucht, um für die Zeit der Ungunst einen Zehr pfennig zu sammeln. bei
ihren
Mitbürgern
als Diener
Der Beamte
des Sultans,
Unzuverlässigkeit
des größten
diese Corporation
dazu beigetragen,
Stammesgenossen
und
discreditiren.
zu
Der
von dem Träger des Kaftan nicht sonder
Träger der Stambulina wird lich geachtet.
und
Die Venalität
Theils der Beamten hat ihrerseits
gilt was
nicht er
ja
als Diener
des Staats, sondern
auch thatsächlich ist.
Der unab
hängige, von seinen Renten, seinem Handwerk oder dem Landbatt lebende
Moslem macht keinen großen Unterschied zwischen einem höheren Pforten
beamten und
einem
niederen Bediensteten.
und Vermögenslage Jedermann mit „Effen-
verschiedenen Lebensstellung dim", „Herr" angeredet
wird.
Bezeichnungen hinzuzufügen. geredet
und
bedient
sich
Erstere erwecken Furcht, ge
Eigenthümlich ist es auch, daß ungeachtet der
nießen aber kein Ansehen.
Es
ist
nicht
üblich,
Titel oder andere
Auch der Sultan wird mit „Effendim" an
dieser
Form
seinen
Untergebenen gegenüber.
Familien- und Geschlechtsnamen giebt es nicht in der Türkei. berühmter Väter können nicht,
wie
bei
uns, aus
den
Die Söhne
Leistungen ihrer
Der Hof von Aildiz-Kiosk.
231 Die türkischen
Vorfahren den Anspruch auf besondere Beachtung ableiten. Großen können
Ruhm
ihren
über ihr Vermögen sind sie beschrankt.
volle Existenz für immer, und Namen auf.
selbst
der Verfügung
in
Mit dem Tod erlischt eine glanz die Geschichte
türkischer Officier,
Ein
selbst
vererben;
nicht
bewahrt nur wenige
eine europäische Bildung er
der
halten hatte und von dem Wunsch beseelt war, seine unbedeutende Person durch den Reflex
eines
berühmten
interessanter
Vorfahren
zu
machen,
erregte unlängst Erstaunen und Heiterkeit, als er auf seinen Visitenkarten dem eigenen Namen die Bezeichnung hinzufügte: „Enkel Fuad Paschas." Durch die Familie dieses jungen Reformtürken geht anscheinend ein frei
geistiger Zug; denn seine Bkutter,
in perotischen Kreisen berühmte,
eine
türkische Schönheit, heirathete vor einem Jahr einen belgischen Diplomaten. So viel mir bekannt, ist dies der erste und einzigste Fall, wo eine Türkin der höheren Stände zum Ehristenthum übergetreten ist.
sie ihr Geburtsland verlassen.
als todeswürdiges
Verbrechen
äußerst selten;
kommen
sie
Bevölkerung und
Natürlich mußte
Der Moslem sieht einen Religionswechsel
an.
fast
Uebertritte zum
nur
in Provinzen
Zwanges vor.
äußeren
unter der Einwirkung
wird sich erinnern, wie der bloße Verdacht, für den Uebertritt zur orthodoxen Kirche
daß
Christenthum
sind
mit stark gemischter Man
türkisches Mädchen
ein
sei, die Excesse und
gewonnen
den Consulnmord in Salonik hervorrief.
Unter
den
vornehmen Türken Stambuls
der religiös-freisinnigen Anschauungen huldigt der Lehre Mohameds abgewendet hat.
Vorschriften des Korans
genau
Das Beispiel Sultan Abdul welche sich in der Umgebung
des Hofes befinden.
Kleine Uebertretungen
wie das Rauchen
den Tagen des
Spirituosen, welche
des Weins fallen, u. dgl. m.
kommen wohl häufig vor,
Fastenmonates,
der
Genuß
von
nach sophistischer Auslegung nicht unter das Verbot
das
Unterlassen der 5 Waschungen
Aber es wäre
punktes zu rühmen
es Manchen geben,
Aeußerlich wird er die religiösen
befolgen.
Hamid's ist natürlich maßgebend für Alle,
an
mag
und sich tn’6 Geheim von
gefährlich,
sich
oder denselben gar
eines
vor dem Gebet
solchen
öffentlich
freien Stand
zur Schau zu tragen.
Fünfmal des Tages tritt ein grün beturbanter Muezzim auf die Terrasse von Mdiz-Kiosk, und sein weithin schallender, schriller Ruf verkündet den
Bewohnern des Parks, daß die Stunde zum Gebet gekommen.
gezogenen Töne des figurenreichen Gesanges in Moll gehaltenen Cadenz
und sind
machen
obwohl
mit
Die lang
den Eindruck einer unserm Notensystem
nicht vereinbar, doch nicht ohne melodischen Reiz. Diese fünf zwischen Sonnenaufgang
und Untergang
fallenden Ab
schnitte regeln zugleich die Mahlzeiten und dienstlichen Obliegenheiten deS
Der Hof von Vildiz-Kiosk.
232 Hofpersonals.
Nach dem Abendgebet verlassen Alle, welche nichl ein be
sonderer Auftrag zurückhält, den Park
und
begeben
sich in ihre Stadt
Der Sultan zieht sich in den Harem zurück, die Wachtposten
wohnungen.
der Umfriedigung werden verdoppelt,
und
um die kaiserliche Be
rings
hausung herrscht Stille und Dunkelheit. Aus der vorstehenden Skizze wird
lager von Mldiz-Kiesk
wenig
man entnehmen,
daß
den Vorstellungen entspricht,
der Lebensweise und dem Haushalt
Fürsten
orientalischer
das Hof
die wir mit 511 verbinden
Pracht, Ueppigkeit, Schwelgerei sind diesem prunklosen, fast ge
pflegen.
sucht einfachen, kaiserlichen Wohnsitz
entfaltete Glanz hat
wenig
fern.
orientalische
Der bei besonderen Anlässen
Eigenart
bewahrt.
Die Ein
richtung des kaiserlichen Wohnsitzes ist weder sehr kostbar noch besonders
geschmackvoll.
Die Festlichkeiten bieten
Kunstsinn ist hier nicht zu Hause.
keine überraschenden oder fesselnden Effecte der Scenerie. kleineren, deutschen Höfen wird mehr
An den meisten,
blendende Pracht entfaltet, herrscht
ein das Auge mehr befriedigender, ich möchte sagen stilvollerer Luxus. Aber
wenn
auch Abdul Hamid
in
den prächtigeren Räumen
von
Tschiragan oder Dolma