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German Pages 108 [204] Year 1960
GEORG K A U F F M A N N · P O U S S I N - S T U D I E N
GEORG
KAUFFMANN
POUSSIN-STUDIEN
M I T 46 TAFELN
WALTE R D E G R U Y T E R & C O .
/
B E R L I N
VORMALS G . J . G O S C H E N ' S C H E V E R L A G S H A N D L U N G - J. G U T T E N T A G , VERLAGSBUCHHANDLUNG
- GEORG REIMER
- KARL J. T R Ü B N E R
1960
- V E I T & COMP.
GEDRUCKT DER
DEUTSCHEN
MIT
UNTERSTÜTZUNG
FORSCHUNGSGEMEINSCHAFT
Alle Rechte, insbesondere das der Ubersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. O h n e ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomedianischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. © i960 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Gösdien'sdie Verlagshandlung J. Guttentag Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer - Karl J.Trtlbner - Veit & Comp., Berlin W35 Printed in Germany · Archiv-Nr. 35 10 ί ο
Satz und Druck: Otto von Holten in Berlin
M E I N E M VATER
Vorwort Die Anfänge dieser Studien reichen bis 1952 zurück, als ich mich, gefördert durch ein Stipendium des französischen Staates, in Paris mit Poussin beschäftigen konnte. Von allen, die mir die Arbeit erleichtert haben, verdanke ich das meiste Herrn Prof. Herbert von Einem, der mir während meiner Assistentenzeit jede Freiheit und in jeder Frage verständnisvollste Hilfe gewährt hat. Auf das Liebenswürdigste haben Jurgis und Helene Baltrusaitis in Paris nicht nur Anteil genommen, sondern audi durch Mitteilung eines in ihrem Besitz befindlichen, mit handschriftlichen Bemerkungen eines Anonymus aus dem Kreise Poussins versehenen Exemplare der »Vier Bücher von menschlicher Proportion« von Dürer wesentlich zur Aufklärung gewisser Probleme poussinscher Meßmethoden beigetragen und mit der Erlaubnis zur Publikation einiger Photographien aus diesem Buch mein Material entscheidend bereichert. Mehrere Museen und Bibliotheken haben mich zur photographischen Wiedergabe von Gegenständen ihres Besitzes ermächtigt, die National-Gallery in Washington fertigte eine farbige Aufnahme von Poussins »Treppenmadonna« an, das Cabinet des Dessins im Louvre gestattete die Spezialuntersuchung einiger Zeichnungen. Den Konservatoren aller dieser wissenschaftlichen Institutionen gilt der Ausdruck meiner Dankbarkeit. Jede Unterstützung fand ich bei Herrn Dr. H. Peters, dem Leiter der graphischen Sammlung im Städtischen Museum zu Düsseldorf. Bei der Beschaffung ausländischer Literatur hat Herr Prof. Jan Bialostocki von Warschau aus großzügig geholfen. Prof. W. Krull beriet mich in einigen mathematischen, projektive Geometrie betreffenden Fragen. Sehr wichtig war die stete Bereitwilligkeit von Dr. Herbert Köllner beim Photographieren. Besonders fühle ich mich Herrn Prof. Andre Grabar verpflichtet, der mir die methodischen Wege meiner Untersuchungen eröffnete, und dankbar erinnere ich mich an mancherlei Gelegenheiten, bei denen Prof. Günter Bandmann mit freundschaftlichem Rat zu meiner Seite gestanden hat — Herrn Dr. von Staa, Herrn Dr. Wenzel und dem Verlag de Gruyter gilt der Ausdruck meiner Dankbarkeit, daß sie dies Buch in ihre Obhut genommen haben und bei der Herstellung von Text und Abbildungen so besondere Sorgfalt haben walten lassen. Florenz, den 30. März i960
Georg Kauffmann
Inhaltsverzeichnis Einleitung
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Erster
Teil
Poussin und das Problem der Proportion Poussin und das Problem der Proportion
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I. Poussin und Bosse
16
II. Poussin und Dürer
25
a) »Les Quatre Livres d'Albert Dürer«
26
b) Der Kommentar
29
Zweiter
Teil
Die »Treppenmadonna« von 1648 Die »Treppenmadonna« von 1648
36
I. Die Vorzeichnungen
40
a) Das Blatt in Dij on
4t
b) Das Fragment in Paris
42
c) Das Blatt in New York
43
d) Das große Blatt in Paris
44
e) Das Kompositionsprinzip
46
II. Das Gemälde
48
a) Der Zirkel
50
b) Die Beziehungen zur Ideenwelt Belloris
53
Dritter
Teil
Die Krise des Raumsinnes Die Krise des Raumsinnes
66
I. Die Problematiker der Perspektive in Frankreich (Historische Studie)
66
a) Girard Desargues
68
b) Gr6gorie Huret
72
c) Zweifel
72
II. Das Selbstbildnis von 1650
82
a) Das Bild des Künstlers
87
b) »Portraiture«
95
Schlußbemerkung
99
Anhang: Die Randbemerkungen zu »Les quatre livres d'Albert Dürer«. Ed. Jean Jeansz. Arnheim 1 6 1 3 (Coll. J.u. H. Baltrusaitis)
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Bibliographie
103
Abbildungsnachweis
104
Register
105
Bildtafeln
Am Rande beigefügte Zahlen beziehen sidi auf den Abbildungsteil. Die genauen Titel der in Abkürzung gegebenen Literatur sind der Bibliographie zu entnehmen. — Alte Texte folgen in Schreibweise und Akzentsetzung der originalen Vorlage, lediglich die Interpunktion wurde zuweilen heutigem Gebraudi angepaßt.
Einleitung Die Gestalt von N i c o l a s P o u s s i n i s t f ü r uns nicht gleichmäßig überschaubar. Während die Tätigkeit seiner Jugend im Dunkel bleibt, liegen die ersten Jahre selbständigen Wirkens vor aller Augen, indes die Spätzeit seines Schaffens mit ihren geheimnisvollen und hintergründigen Werken noch keine einheitliche Beurteilung erfahren hat. Infolge des Verlustes vieler Frühwerke werden sich die Anfänge Poussins nicht mehr ganz erhellen lassen. Dagegen brauchen die Probleme des Spätstils keineswegs als unauflösbar zu gelten; denn wenn auch nur wenige Zeugnisse zugänglich sind — die Urteile von Bellori und Felibien, auf die sich unser Poussinbild im wesentlichen gründet, sind für die Zeit v o r der Pariser Reise (1640—42) am brauchbarsten — bieten Gemälde und Zeichnungen doch Gelegenheit, auch für die Alterskunst des großen Klassikers die Bildungsgrundlagen zu suchen und aufzuschließen. Bei dem Bemühen um Ansatzpunkte wird vor allem ein Gemälde, das unter den von 1642 bis 1665 (dem Tode Poussins) entstandenen Werken einen hervorragenden Platz einnimmt, in das Licht der Aufmerksamkeit rücken: die 1648 gemalte »Treppenmadonna«. Ihr ist immer ein hoher Rang zuerkannt worden, und für die Kenntnis der stilistischen Entwicklung Poussins hat man sie stets als wichtig empfunden; aber noch hat sie keine eigene Untersuchung erfahren, geschweige, daß sie ausgeschöpft wäre. Eigentümlich ist, wie sie aus der Reihe der übrigen Marienbilder Poussins herausfällt, indem sie die Figuren zwar ins Freie, jedoch nicht wie sonst, in landschaftliche Umgebung versetzt, und von allen anderen Werken des erwähnten Zeitabschnitts unterscheidet sie sich durch die ungewöhnliche Strenge, mit der die Abmessungen einzelner architektonischer Glieder untereinander in Einklang gebracht und auf die im Dreieck komponierte Gruppe hin bezogen werden. Gleichermaßen als Typus wie als individuelles Gebilde für sich alleine stehend, ist sie doch in allen Zügen, mit denen sie sich über die anderen Werke hinaus erhebt, allgemeiner gültigen Stilmerkmalen verpflichtet. Die Spätwerke zeichnen sich insgesamt durch hohe Klarheit der Disposition, sorgfältigste Anordnung aller Formen, ein Aufmerken auf das jedem Gegenstande eigene Volumen und einen Sinn für den genauen Standpunkt selbst des geringsten Details innerhalb des Bildganzen aus. Vor allem tritt diese Regularität des Bildaufbaus jedoch in den unmittelbar auf die Rückkehr aus Paris folgenden Jahren hervor, ihren Höhepunkt erreicht sie am Selbstbildnis für Chantelou (Louvre), ihr zu Grunde liegt offenbar eine Beschäftigung mit Proportionsproblemen, wobei hier der Ausdruck »Proportion« zunächst nicht im besonderen für jenes System fixierbarer, zahlenmäßig zu bestimmender Maßverhältnisse nach Art von Dürers Proportionslehre stehen möge, sondern einfach für die Abstimmung aller in einem Bilde überhaupt verwendeter Größen in ihrer Bezogenheit aufeinander. Wir haben Ursache, diese — wie wir also sagen wollen — »Proportioniertheit«, die Poussins späte Produktion bestimmt, vor allem aber in den vierziger Jahren konstitutive Macht gewinnt, die gleichermaßen aus den Sakramentenbilder (zweite Serie), aus den sogenannten »heroischen« Land-
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Schäften, wie auch aus der organisierten Gliederung der »Treppenmadonna« spricht, als Reflex von Bestrebungen anzusehen, die ihrerseits sehr viel weiter ausgegriffen haben, als das sichtbare Resultat vermuten läßt und die ζ. B. auch eine Auseinandersetzung mit der Verwendbarkeit von Leonardo und Dürer keineswegs ausschließen, Daß die »Treppenmadonna« solche sdiwer faßbaren Strukturverhältnisse in einer vereinzelt gebliebenen Zuspitzung vor Augen führt und dieselben infolgedessen leichter als sonstwo isolierbar macht, erklärt ihren besonderen Wert für die Forschung, der um so größer ist, als sie zudem durch Vorzeichnungen, die Einsicht in die Bildgenese erlauben, ergiebig ist. Sobald es um die Erhellung der damaligen Absichten Poussins geht, wird sie, wo zeitgenössische Aussagen weder erreichbar, noch auch nach Art der aufkommenden Probleme zu erwarten sind, am ehesten fruchtbare Aspekte öffnen und damit zur Beurteilung einer Kunstleistung beitragen, die zu den großartigsten, zugleich aber audi zu den verwickeltsten des europäischen Geistes zählt. Der Schwerpunkt folgender Studien liegt auf jener »Proportioniertheit«, die als Grundbegriff der kennzeichnenden, in sich aber sehr komplexen Erscheinung des »stimmigen Ebenmaßes« im Alterswerk angesehen wird. Sie wird nur an Erscheinungen untersucht, die zwischen 1640 und 1650, in der eigentlich »geometrischen« Epoche liegen. Dabei war neues, von der bisherigen Forschimg unberührt gelassenes Gelände zu erschließen. Als praktisch hat sich erwiesen, der Untersuchimg über die »Treppenmadonna« ein Kapitel über gewisse Probleme poussinscher Meßmethoden voraufgehen zu lassen, um dessen Ergebnisse zur Würdigung ihres Stiles heranziehen zu können. Der dritte Teil bringt dann eine neue Deutung des Selbstbildnisses im Louvre. Obwohl die Arbeit neuartige Wege geht, reiht sie sich als ein Ganzes doch größeren Forschungszusammenhängen ein. Anthony Blunt hat Erfahrungen bloßgelegt, auf denen das vielschichtige oeuvre der zweiten Schaffenshälfte aufbaut. Erwin Panofsky hat mit scharfsinnigen Analysen den Blick für sinnbildlich zu verstehende Ausdruckswerte geschult und damit auch unsere Deutung der mit zunehmendem Alter mehr und mehr zum Gleichnis werdenden Malerei des großen Franzosen erleichtert. Beide Forscher haben sich Poussin zudem von der theoretischen Seite genähert; es ist ein Anliegen audi dieser Arbeit, Poussins theoretische Vorstellung nicht als etwas für sidi Bestehendes zu würdigen, sondern gewisse Eigentümlichkeiten seiner Gedankenwelt aus den Bildern her durchsichtiger, einleuchtender und damit im Grunde erst verstehbar zu machen.
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Erster
Teil
Poussin und das Problem der Proportion Wir sehen P o u s s i n s Spätwerk mit seiner Rückkehr aus Paris 1642, das er fluchtartig verlassen hatte, einsetzen. Wieder in der ewigen Stadt, wendet er der höfischen Sphäre für immer den Rücken. Zu abgezogenem Leben entschlossen, wird er zum »Philosophen auf der Höhe des Pincio«, als den ihn die Nachwelt in Erinnerung behalten hat. Jetzt erst — so könnte man sagen — wird er ganz er selbst, gelingt es ihm, seinen Stil zu äußerster Verdichtung zu bringen, von Stufe zu Stufe steigend jene Qualitäten zu erringen, die von da an mit dem Begriff französischer klassischer Kunst für immer verbunden bleiben werden. Poussins »rationalistische« Kunstauffassung bildet sich erst in dieser Epoche. In seinen Landschaften wird die Wildheit der Natur zu cartesianischer Ordnung gebändigt. Man kann an einem Gemälde wie dem »Diogenes« im Louvre (1648), einer seiner nobelsten »heroischen« Naturschilderungen beobachten, daß sich die Komposition in einzelne Abschnitte gliedert, deren jeder als ein selbständiges Bild für sich Bestand haben könnte. Trotz der Eigengesetzlichkeit der Bildteile steht das Ganze in herrlicher Harmonie. Die Frage, wie die so vollkommene Koordination zustande komme, ist nicht geradewegs zu beantworten —, sie erhebt sich vor einem größeren Komplex, dem des Rätsels poussinscher Kompositionskunst, genauer (da hier »komponieren« als ein Abstimmen von Formwerten aufeinanderhin verstanden wird) vor dem P r o b l e m d e r P r o p o r t i o n in seinem Spätwerk. Unschwer kann erklärt werden, warum in der Kunstwissenschaft die Systematik poussinscher Kompositionen bisher vornehmlich innerhalb des Bild r a u m e s betrachtet worden ist 1 : räumliche Tiefe bietet sich auf einem Gemälde, das den Gesetzen der Zentralperspektive unterworfen ist, mittels faßlidier mathematisch-geometrischer Prinzipien dem Verständnis dar. Die Grundlagen einer Bildordnung lassen sich infolgedessen am ehesten vom Räumlichen her betrachten. Vorstellungen der Renaissance wirken dabei nach2. Zentralperspektive als Systematik der Raumerfahrung unterwirft natürlich mit dem ganzen Gefüge auch die Bild f l ä c h e einer strengen Maßordnung. Da aber das vornehmste Ziel dieser zu hoher Vollkommenheit ausgebildeten Konstruktionsmediode doch die dem Sehen adäquate Erfassung der Außenwelt blieb, traten hinter der Erzielung räumlicher Illusion in der Renaissance auch alle anderen, der Perspektive sonst noch innewohnenden künstlerischen Möglichkeiten zurück. Es hat den Anschein, als sei es dem Barock vorbehalten geblieben, die Ordnung der F l ä c h e eines Bildes zum Problem zu erheben, als eine eigene, von allen anderen
Sobald etwa Blunt von der strengen Reguliertheit der späten Landschaften spricht, meint er die Ordnung des Bildraumes; vgl. Blunt p. 163. 2 A. Blunt: Artistic Theorie in Italy. Oxford 1940. Neudruck 1956. p. 49—52. 1
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Aufgaben des Künstlers unabhängige. Poussins »Diogenes« ζ. B. wird erst verstellbar, sobald das Gemälde nidit nur als ein dreidimensional gegliederter, r ä u m l i c h e r Organismus aufgefaßt wird, sondern auch als ein planer, z w e i d i m e n s i o n a l e r ; damit gelangt neben dem »vorn« und »hinten« auch das »oben« und »unten« der Bildfläche und damit diejenige Dimension zum Sprechen, der Poussin eine eigene, kennzeichnend-skeptische Aussage anvertraut hat: »unten«, nahe dem Bildrand, Bettler und Philosoph am Rande des verschatteten, bis zum Grunde hin klaren Quells, »oben«, in der Sonne das prangende Reich der Paläste (nicht zufällig die architektonischen Anspielungen auf den Vatikan!) mit dem breiten, spiegelnden Strom3, eine philosophische Betrachtung über das »Niederste« und das »Höchste« innerhalb sozialer Hierarchie. Poussins Spätwerke unterscheiden sich darin von der klassischen Tradition des Florentiner Quattrocento und von Raffael, daß sie in erster Linie die zwischen den Rahmenleisten sich spannende Leinwand, d a s z w e i d i m e n s i o n a l e A r b e i t s f e l d des M a l e r s e i n e r k o m p o s i t o r i s c h e n G l i e d e r u n g u n t e r z i e h e n . Jedes Studium der »Proportioniertheit« von Werken aus Poussins Spätstil kann darum von perspektivischen Untersuchungen absehen. Statt dessen stellt sich die Aufgabe, Methoden ins Auge zu fassen, die auf Flächengliederung zielen. I. Poussin und Bosse Während die Durchgestaltung des Bildraumes ausschließlich Sache der Perspektive ist, kann die Geschichte der Flächengestaltung an keiner auch nur annähernd abgerundeten und allgemein anerkannten Methodik abgelesen werden. Poussin ging selbständige Wege. Keiner seiner Biographen wußte von den Verfahrensweisen, denen er bei der Gliederung seiner Kompositionen gefolgt ist. Am ehesten bietet Verwertbares Andr6 Fdlibien, der als Sekretär des französischen Botschafters, des Marquis de Mareuil, 1647 Rom mit Poussin (den er unter einem gewissen AmbassadeurAspekt als den Gründer, und — in Italien — als Künder national-französischer Kunst schildert), zusammengetroffen war: «Outze la lecture qu'il faisoit des meilleuis Livies qui pouvoient lui appiendres ... ce qui cause les dSformitez,... il (Poussin) s'appliqua..., pour se iendie capable dans la pratique que dans la theone de son Ait, ä Studier la Geometrie, et particuli&rement l'optique... II se servit pout cela des icnts du Pere Zaccolini Theatin .. .·, il s'est contents d'avoir montrS par ses propres Peintures ce qu'il avoit appns de Ρέιβ Zaccolini, et mesme des livies d'Alhazen et de Vitellion. II avoit aussi beaucoup d'estime pour les livies d'Albeit Dure (sic), et pour le Traiti de la Peinture de Leon Baptiste Albert»4. Dem Bericht Fdlibiens lassen sich ähnliche, wenngleich weniger umfangreiche Bemerkungen von Bellori8 — der zudem 9
Vgl. die nur bei »flächenhaftem« Sehen als Kombination verständliche Gruppierung eucharistisdier Symbole in »Herbst« (Louvre); Sauerländer p. 172. 4 F£libien p. 319 f. 6 Vgl. Bellori Vita.
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eine Proportionsfigur des »Antinous« als Beispiel poussinscher Messungen abbildet — und von Passen® an die Seite stellen. Es heißt zwar bei Felibien, Poussin »habe an seinen Bildein demonstriert, was ei gelernt habe«, doch wird nicht gesagt, welche Auswirkungen auf seine Kunst im einzelnen dies Studium gezeitigt habe, gänzlidi unklar bleibt, ob Kompositionsprinzipien aus diesen geometrischen und optischen Studien abgeleitet worden sind. Immerhin kann man sagen, daß sich die Systematik poussinscher Bildordnung vor dem Hintergrund reicher mathematischer, geometrischer und optischer Kenntnisse entfaltet. Für die Frage, ob nun die Besonderheit der Flädienorganisation in einer handgreiflichen Beziehung zu wissenschaftlichen und theoretischen Lehren steht, wird zunächst ein Brief, der in der Korrespondenz des Malers ein wenig beachtetes Dasein führte, herangezogen werden müssen: 1653 hat der Künstler von Rom aus nach Paris an Abraham Bosse geschrieben. Die wenigen, noch dazu nur im Nachdruck erhaltenen Zeilen7 sind das einzig erhaltene Dokument seines Verkehrs mit einem Manne der Wissenschaft. Bosse war zwar von Haus aus Kupferstecher, darüberhinaus glänzte er jedoch als Meister der Mathematik. Den Großteil der Schriften von Girard Desargues, der zu den wichtigsten Geometern des 17. Jahrhunderts zählt8, hat er veröffentlicht. Poussins Schreiben lautet: «J'ay eu quelquefois du plaisir et ay profite des divers jugemens que l'on a fait de moy ainsi ά la haste, comme ont accoustume de faire nos Frangois, qui en cela se tiompent trop souvent; je vous suis iedevable d'en avoir juge favorablement. Si vous me regalez de vos demiers ouvrages, j'en feray le mesme estime que des autres que j'ay de vous, que je tiens tres-chers. — Pour ce qui concerne le Livre de Leonard Vinci, il est vray que j'ay dessinS les Figures humaines qui sont en celuy que tient Monsieur le Chavalier Du Puis,· mais toutes les autres, soit geometrales ou autrement, sont d'un certain de Gli Alberti, celui-lä mesme qui a trace les Plantes qui sont au Livre de la Rome Sousterraine,· et les gaufes Paisages qui sont au deniere des figunnes humaines, de la copie que Monsieur de Chambray a fait imprimer, y ont esti ajonts par un certain Errard, sans que j'en aye rien sceu. — Tout ce qu'il y α de bon en ce livre se peut ecrire sur une fueille de papier en grosse lettre; et ceux qui croyent que j'approuve tout ce qui y est ne me connoissent pas; moi qui professe de ne donner jamais le lieu de franchise aux choses de ma profession que je connois estre mal faites et mal dites. — Au demeurant, il n'est pas besoin de vous ecrire toudiant les Legons que vous donnez en l'Academie, vous estres trop bien /onde». Man sieht, die Bekanntschaft zwischen Poussin und Bosse datiert schwerlich erst von 1653. Poussin läßt Komplimente über Bosses letzte »Werke« einfließen. Vielleicht 6
Passeri p. 326; J. Hess, in »Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte« V—XIX. 1928. S. 33. A. Bosse: Traite des pratiques geometrales et perspectives. Paris 1665. p. 128. — Der Brief wird auch in anderen Schriften Bosses zitiert; ihn mit F. S. Bassoli als Fälschung anzusehen (»Raccolta vinciana« XVII, 1954. p. 157—175) ist ungerechtfertigt, da er noch zu Lebzeiten Poussins im Druck erschien. 8 R. Taton: L'ceuvre mathematique de G. Desargues. Paris 1951. T
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erhielt er den «Moyen universel de pratiquer la perspective sur les tableaux, ou surfaces irregulieres», der 1653 in Paris erschienen war, die geometrische Demonstration des Ausgleichs der Krümmung einer Malfläche mittels perspektivischer Kunstgriffe. Die Bemerkung Felibiens « . . . la lecture qu'il faisoit des meilleuis livies qui pouvoient lui apprendre.. . ce qui cause les d6formitez» weist möglicherweise auf ähnliche, vielleicht gerade auf diese Lektüre hin. Wenn wir dann in dem Briefe lesen « . . . de vos demiers ouviages, j'en ferny le mesme estime que des auties que j'ay de vous», dürfen wir glauben, Poussin habe mehrere Bücher Bosses gekannt, und wenn wir finden, daß von Bosses sechs bis 1653 erschienenen Werken allein vier der durch Desargues ausgebildeten »projektiven«« Geometrie gewidmet sind9, dürfen wir mit Bestimmtheit annehmen, daß Poussin Kenntnis von dieser zweidimensionalen, alles Räumliche auf seine flächenhafte Erscheinung reduzierenden Technik besaß. Im weiteren Verlauf des Briefes stoßen wir auf herbe Kritik an Leonardo: «Poui ce qui conceme le livre de Leonard Vinci..tout ce qu'il y α de bon en ce livie se peut ecnre sur une fueille de papiei en grosse lettre». Ein erstaunliches Urteil. Cassiano besaß eine Abschrift des Leonardoschen Buches mit Zeichnungen, die Poussin um 1635 angefertigt hatte10; er schenkte es Paul de Chantelou 11 . Dieses Manuskript wurde 1651 in italienischer Sprache (durch Raphael Dufresnoy) und in französischer Sprache (durch Roland Freart de Chambray) mit Stichen Eirards nach den Zeichnungen Poussins herausgegeben; die Stiche überarbeiten die Zeichnungen und bauen die Hintergründe aus. In der Pariser Akademie wurde die Druckausgabe, die den Franzosen zum ersten Male Gedanken des Leonardokreises nahebrachte, auf das Lebhafteste begrüßt. Poussins Kritik ist eine vereinzelte negative Äußerung inmitten des Uberschwangs. Die Nachwelt hat diese Äußerung stets «peu nuancee»12, eine Entgleisung ohne Aussagewert genannt. Indessen nötigen die Umstände doch zu anderer Meinung. Vielleicht lassen sich die Hintergründe der poussinschen Kritik mit Kenntnis der persönlichen Bande erhellen, die Bosse, wie auch Poussin, mit Charles Errard verknüpften, über den wir in Poussins Schreiben unfreundlich lesen: «les gaufes Paisages qui sont derriere des figurines (damit sind die Illustrationen in Leonardos Malerei9
«La maniere universelle de M. Desargues». Paris 1643; «La pratique du trait έ preuves de M. Desargues». Paris 1643; «Maniere universelle de M . Desargues pour pratiquer la perspective par petit pied, comme le geometral». Paris 1648; ferner der erwähnte »moyen universel» von 1653. Die beiden anderen Publikationen behandeln die Stecherkunst (1645) und allgemeinere kunsttheoretische Fragen («Sentiments sur la distinction des diverses manures de peinture, dessein et graveure». Paris 1649). 10 Zuletzt T. D. Kamenskaja: Κ woprosu ο rukopisi »traktata ο shiwopisi« Leonardo da Vinci i eje illjustraziach w sobranii Ermitaga, in »Trudy gosudarstwennogo Ermitaga«. I. 1957. p. 49-S9 (vgl. J. Bialostocki in »Burlington Magazine«. 1937. p. 425). 11
K. Trauman Steinitz: Leonardo da Vincis Trattato della Pittura. Copenhagen p. 74 ff. 12
^58.
Correspondance p. 420, note. — Α. Fontaine: Acad6miciens d'autrefois Paris i9r4. p. 79, note 1.
ιδ
traktat gemeint) . . . y ont este ajonts par un certain Eiiaid». Wie kann es zur Mißstimmung gegen Errard gekommen sein? Drei Jahre nach dem Brief, mit dem wir uns befassen, also 1656, veröffentlichte Bosse ein kleines Heft unter dem Titel «Representation des diflerentes figures humaines, avec les mesures prises sur les antiques qui sont de prdsent a Rome, recueillies et mises en lumiere par Α. Bosse». Auf 20 Tafeln im Taschenformat sind von verschiedenen Seiten vier römische Antiken, Heracles, Melager, Apoll und Venus wiedergegeben, denen die Maße der Originale beigefügt sind. Diese Messungen waren — entgegen der Titelankündigung — fremdes Eigentum. Im Vorwort heißt es nebenbei, sie stammten von »vornehmen Herren«, die vor zehn Jahren die Studien aus der Hand gegeben hätten. Die anonyme Erwähnung erboste die Urheber Roland Freart de Chambray und Charles Errard, welch letzterer deshalb vor der Akademie in Paris eine Klage wegen geistigen Diebstahls anstrengte. Diese Klage kam erst sehr viel später, am 3 1 . Juli r66o im Zusammenhang mit anderen Plagiatstreitigkeiten zwischen Bosse und Le Bicheur zur Verhandlung 13 . Sich verteidigend, erläutert Bosse, Roland Freart habe die Skizzen zur Verfügung gestellt mit der Bestimmung, nach zehn Jahren für Ihre Veröffentlichung zu sorgen,· im übrigen handele es sich bei den Maßfiguren um keine Unbekannten, denn «plusieurs personnes en ont des copies«14. Je mehr sich die Vorgeschichte des Streites klärt, um so wahrscheinlicher wird, daß Poussin zu denen zählte, die von den Figuren zumindest Kenntnis hatten. Bevor nämlich Roland Fr6art die Skizzen weitergab, ruhten sie sechs Jahre in seinem Besitz: 16 Jahre lagen zwischen ihrer Entstehung und der Veröffentlichung, gezeichnet wurden sie also 1640. In diesem Jahr sind Charles Errard und Roland Freart in Rom gewesen, der eine mit seinem Bruder, Herrn von Chantelou, mit dem Ziel, Poussin nach Paris an den Hof zu ziehen, der andere im Zuge eines Auftrags von Sublet de Noyer, Antiken zu messen 15 . Es kann nicht zweifelhaft sein, daß die von Errard gezeichneten,von Roland Freart verwahrten, von Bosse später gestochenen Antikenmessungen r640 unter den Augen Poussins in Rom entstanden sind. In der Bibliothfeque des Beaux-Arts (Paris) hat sich ein handlich gebundenes Buch erhalten, das originale Aufnahmen Errards enthält 16 , Zeugnisse der Zusammenarbeit mit Roland Freart r640 in Rom 1 7 . Die Zeichnungen sind etwa spannengroß mit Rötel auf ziemlich rauhem Papier entworfen. Was nun die Teilnahme Poussins anlangt, sei erwähnt, daß sich in diesem Buch eine Proportionsfigur des «Antinous» befindet, derjenigen ähnlich, die Bellori 1672 veröffentlichte und von der er sagt, sie stamme
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Vgl. A . Fontaine: Academiciens d'autrefois. Paris 19x4. p. 93. Bosses Verteidigung ist unter dem Titel «Lettre du Sr. Bosse pour reponse έ celle d'un amy» erschienen, die fragliche Stelle p. X2. 15 G. de Saint-Georges: Memoires in6dites sur la vie et les ouvrages des membres de l'Academie Royale, de Peinture et de Sculpture. 2. vol (Paris 1682). Ed. Paris 1854. I. p. 74 f. 16 Ohne Signatur. Von ursprünglich 4X Blatt sind heute noch 40 vorhanden. 17 Auf dem Vorsatzblatt die handschriftliche Eintragung: »proportions que j'ay mesurdes avec Möns. Errard sur les originaux mesme a Rome l'annie 1640 — De Chambray«. 14
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von Poussin. Wie diese ist sie in reines Profil gerückt. Zweimal ist in dem Buch der Beaux-Arts Bibliothek die Statue vermessen worden, einmal von rechts und einmal von links her. Beide Aufnahmen stehen nicht miteinander in Beziehung; die eine ist ein wenig größer als die andere und zeigt audi andere Messungen; wichtig aber ist vor allem, daß die rechts befindliche sich insofern von den Rötelskizzen absondert, als sie mit der Feder auf ein transparentes Blättchen gerissen ist, das erst später auf den leeren Teil der Seite geklebt wurde. Vielleicht ist Poussin der Autor dieser später zugefügten Skizze. Die von derjenigen Errards merklich unterschiedene Handschrift der Maßeintragungen findet ihre Parallele in seinen Rechnungsauszügen — es empfiehlt sich dabei nicht nur die Zahlen, sondern auch die charakteristische Schreibweise des Buchstabens »p« genaueren Vergleichen zu unterziehen18. Außer dem Antinous ist noch der Laokoon sowie verschiedene Aufnahmen des Fußes 'vom Apoll von Belvedere auf gleichem Transparentpapier dem Buche zugefügt. Auch diejenigen Zeichnungen zu Leonardos Malereitraktat, die als Originale Poussins angesprochen werden19, sind auf gesonderten Blättchen dem Text beigegeben. Die Federstudien des Pariser Bandes verraten insgesamt dieselbe Sicherheit der Linienführung, eine feinere Manier als die Aufnahmen von Errard (vgl. Abbildung 31 mit Abbildung 32). Wenn auch weder die Aufnahme Errards noch diejenige, die Poussin zuzuschreiben sein wird, dem Beispiel Belloris als Vorbild gedient haben kann, sind beide Messungen doch ein und derselben, die Konturweiten fixierenden Meßmethode unterworfen, der gleichen, die auch für Belloris Figur bestimmend gewesen ist. Damit scheint ein Zwiespalt in den Quellenschriften seiner Lösung näherzurücken: zwischen Bellori und Felibien, die beide von einer Maßfigur des »Antinous« berichten, besteht keine Einigkeit über den Autor der Skizze. Wenn Bellori sagt, Poussin habe die Antike gezeichnet («nportiamo in ultimo» — heißt es am Ende der Vita Poussins — «le misuie, e proporzioni della celebre statua d'Antinoo tiascntte puramente dal suo originale»20, bestünde die Möglichkeit, ihm zuzustimmen, sobald seine Mitteilung auf die r e c h t e der beiden Studien als Beispiel einer Poussinschen Messung des Stückes bezogen wird. Berichtet dagegen Felibien abweichend, nicht Poussin, sondern Errard habe die in der Folge berühmt gewordene Messung durchgeführt « . . . les proportions que Γοη α donnies dans l'estampe qui est ä la fin de la vie de Poussin» — das bezieht sich auf Belloris Text — «sont fausses et du dessin du Sieur Errard»21, wäre auch diese Feststellung angesichts der l i n k e n Maßaufnahme schwerlich anzufechten. Errard und Poussin gemeinsam an einem Werk beteiligt zu denken, hat nichts Befremdliches. Die Bibliotheque de l'Institut bewahrt ein Skizzenbuch mit Architek18
»P« bedeutet »portion« oder »partie«, Maßeinheiten, die sich in »minutes« unterteilen. Ambrosiana, H. 228 inf. 20 Bellori Vita p. 202. Später ist der dort abgebildete »Antinous« durchweg dem Poussin zugeschrieben, audi separat veröffentlicht worden: G. de Saint-Georges: Mesures de la celebre Statue de l'Antinous . . . de Nicolas Poussin«. Paris 1803. 21 Felibien p. 317. 19
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turstudien, vorbereitenden Arbeiten zu Roland Frearts «Paralleles de l'Architecture antique et de la moderne», von dem Mariette behauptet, es stamme von Poussin und zeige zudem die Schrift der Brüder Chantelou sowie diejenige von Charles Errard22. Wenn ich auch angesichts des Bandes der Bibliotheque des Beaux-Arts Errard für den alleinigen Zeichner der Architektururteile halten muß23, scheint doch wichtig und die Lage kennzeichnend, daß Mariette eine Arbeitsgemeinschaft zwischen Roland Freart, seinem Bruder Paul de Chantelou, Poussin und Charles Errard für möglich, ja für selbstverständlich hält. Die Antikenmessungen der Bibliotheque des Beaux-Arts stammen aus einer Zeit ungetrübten Einvernehmens zwischen allen Beteiligten, also auch zwischen Poussin und Errard, die Kopien Bosses von 1656 greifen auf diesen in sich geschlossenen Kreis antike Proportion Studierender zurück. Um sich nun klarzumachen, aus welchen Ursachen das Zerwürfnis herrühren mag, das später die Einheit gemeinsamen Strebens störte, fragt sich zuerst, welche Bedeutung den kleinen Figuren von Errard zugemessen wurde, daß sie noch 16 Jahre später im Druck veröffentlicht wurden, woraus dann sogar eine Klage vor der Akademie erwuchs. 1674, zwei Jahre vor seinem Ende, druckte Bosse ein letztes Büchlein, einen Katalog seiner Schriften nebst wenigen Bemerkungen zum Inhalt einer jeden einzelnen24; dabei kommt er noch einmal auf die Maßfiguren Errards zu sprechen, auf eine mehr grundsätzliche Art, in der etwas von der reichen Erfahrung eines arbeitsamen Lebens mitzuschwingen scheint: «. . . l'on peut bien dessinei par le moyen d'une Edielle de mesure, les hauteurs et les laigeuis d'un corps humain, veu de fiont pai son devant ou majeste, et par son deniere (sgavoir) depuis le sommet de la teste jusqu.es au bas du ventre et des fesses, α cause que tuant une ligne ä plomb par son milieu, un coste est egal et semblable ä l'autre, ainsi que d'une colonne, mais qu'il n'en sera pas le mesme pour les largeurs en les voyant par son piofil, ny non plus pour les bras, cuisses, jambes, pieds et mains, puisque leurs costez oppose ζ sont quasi tous differens; a moins d'y placer aussi une ligne droite par le milieu en forme d'axes ou d'essieux, pour de part et d'autre y portes les mesures requises, sur des droites de front perpendiculaires ä ces essieux; car de faire autrement, il est impossible qu'un Disciple puisse en venir ä bout sur c e qui en est e χ ρ 1 i qu έ par c es dits Auteurs » 25 . 22
Handschriftliche Feststellung von Mariette, dem Bande vorgeheftet, dessen Signatur Man. ro29—1030; Ν ioo in fol. Zuerst hat Lemmonier (Archives de l'Art Francais VI. I9r6. p. 114) versuchsweise Errard als einzigen Autor vorgeschlagen,· vgl. auch C. P. Landon: Vie et ceuvres des peintres les plus celebres. Paris 1803—1817 (12 vol) XI. 23 Zeichnungen Errards zu bestimmen ist angesichts des wenigen, was erhalten ist, schwierig. Der Institutsband zeigt eine gleiche Schrift in Buchstaben und Ziffern wie der Beaux-Arts Band, außerdem die gleiche Röteltechnik. 24 Catalogue des traittez que le Sr. Α . Bosse a mis au jour, avec une deduction en gros de ce qui est contenu dans chacun. Paris 1674. 26 Catalogue des traittez . . . {1674) p. 4 f.
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Die Fragen, mit denen Bosse hier in nicht sehr flüssig vorgebrachten Sätzen ringt, beziehen sich auf ein fundamentales Problem jeglicher Figurenmessung. Es ist ein Unterschied, ob der Kanon einer Proportion bloß auf die objektive Struktur des menschlichen Körpers zurückgreift —, in diesem Fall kann man von einem anthropometrischen Verfahren sprechen — oder ob er sich auf die sichtbaren Proportionen bezieht, so, wie sie sich auf einer Malfläche darstellen würden. Dann handelt es sich um ein quasi-technisches Verfahren, einem Bauriß vergleichbar. Beide Methoden koinzidieren nur unter der Bedingung, daß die Figuren im Kunstwerk o h n e V e r k ü r z u n g e n dargeboten werden, in welchem Falle dann die Dimensionen des Objektes praktisch mit denen seines Abbildes identisch sind. Die Maßaufnahmen von Errard und Roland Freart rücken zwar die Figuren in strenge Front- und Seitenansicht (was an den Sockeln gut zu erkennen ist); aber die Meßstrecken beziehen sich doch auf die plastische Struktur der Körper, die, mannigfach gedreht und gewendet, mit ihren einzelnen Abmessungen in sehr verschiedenen Ebenen liegen. Die Maße eignen sich nur selten, und zwar immer dann, wenn sie parallel zur Zeichenebene verlaufen, zu maßstabgerechter bildlicher Wiedergabe. Diese aber ist Bosses erstes Ziel. Deshalb schlägt er Errards Methode abändernd ein System vor, welches sich von den individuellen Besonderheiten des Leibes löst und allein dessen flächenhaft projiziertes Erscheinungsbild der Messung unterworfen wissen will: » . . . mit Hilfe einer senkrechten Maßaxe kann man sehr gut die Breite und die Höhe eines menschlichen Körpers feststellen, . . . sobald von dieser rechts wie links wagrecht abgehende Erstreckungen abgetragen werden; wenn man es nämlich anders macht, kann ein Schüler unmöglich dasjenige Ziel eneichen (d.h. die bildlich-getreue Wiedergabe der antiken Statuen), das den Autoren (also Errard und Roland der Freart) vorschwebt», «il est impossible qu'un Disciple puisse en venir ä bout sur ce qui en est expliqu6 par cesdits Auteuis». Unter dem Gesichtspunkt ihrer Verwendung für einen Malschüler sind die Messungen — so schließt Bosse an anderer Stelle, aber im Hinblick auf das gleiche Problem — «des choses incomplettes et mal reglees pour les Estudians»26. In der Geschichte der Proportion gebührt Albrecht D ü r e r der entscheidende Verdienst, eine Meßmethode ausgebildet zu haben, die das anthropometrische System als Ausgangspunkt hat, dieses zugleich aber auch mit dem planimetrischen System zu voller Deckung bringt, indem er seine Figuren straks aufrichtet und in die Hauptansichten, Front oder Rücken und Profil zerlegt. Diese Positionen werden auf einer gemeinsamen Standlinie vereinigt und ein und demselben Proportionssystem unterworfen. Damit ist einerseits die genaueste Auskunft über alle anatomischen Verhältnisse des Leibes gesichert (wie denn Dürer die vertikalen Intervalle seiner Meßstrekken nicht durch irgendeine vorgegebene Einheit regelt, sondern der natürlichen Einteilung des Körpers folgen läßt), und zugleich auch dessen bildlich exakte Wiedergabe. Bosses Vorschlag der senkrechten Maßachse nähert sich dem von Dürer erfundenen System, und der Franzose versäumt nicht, sich auf die Autorität des deutschen 28
22
Lettre du Sr. Bosse pour reponse 4 celle d'un sieur amy... Paris 1661. p. 12.
Renaissancemeisters zu berufen: die Maßachse — heißt es — sei «utile et facile ä pratiquei que ce que nous en avons du Sgavant Albeit Dure r» 27 . Damit tritt die Auseinandersetzung um die Maßfiguren vor einen kunsttheoretischen Hintergrund. An den kleinen Skizzen von 1640 scheiden sich 1656 die Geister. Bosse klagt: «j'ay lemaique que l'ongine de tout ce mal, vient de Monsieur L e Brun ..car Monsieur Enaid et le secretaire, ils n'ont fait que lui servir de tesmoins interessez»·, im Grunde sei der leidige Streit von LeBrun vom Zaune gebrochen. Warum? «... ledit LeBrun» — fährt Bosse fort — «n'a autre sujet de m'en vouloir qu'a cause que i'ay destruit toutes les objections qu'il m'a faites... au sujet du TraitS de Peinture attnbui ä Leonard da Vinci»28. Bosses Ansichten unterscheiden sich von denen der Akademie. Leonardos Malereitraktat ist einer der kritischen Punkte, und es verdient Beachtung, daß er die Kritik an Errards Messungen mit Kritik an Leonardos Buch verquickt. Auch bei Poussin ist die negative Äußerung über Leonardo mit Unfreundlichkeit gegen Errard gekoppelt. Es liegt unter diesen Umständen nahe, Poussins Brief als eine Abkehr von Ansichten der Gruppe LeBrun, als Zeichen der Hinwendung zur Gegenpartei zu werten. Dabei braucht die Kritik an Leonardo nicht tragisch genommen zu werden. Jan Bialostocki hat gezeigt, daß Poussin noch 1651 ein Bild nach gewissen Anweisungen Leonardos gemalt hat, »Pyrasmus und Thisbe« in Frankfurt 29 . Poussins abschätziges Wort sagt weniger über sein Urteil gegenüber Leonardo, als über seine Position auf einem von starken Spannungen durchzogenen Felde der Kunsttheorie aus. Der Sinn des Schreibens kulminiert in den Worten: «il n'est pas besoin de vous ecnre toudiant les LeQons que vous donnez an l'Academie, vous estres trop bien /onde». Es ist unklar, wie Poussin schon 1653 Kenntnis von den «Lemons en l'Academie» haben konnte, sind diese doch erst 1663 (im Todesjahr des Meisters) zum Druck befördert worden. Vielleicht las er Manuskripte. Wahrscheinlicher, daß er aus den Schriften Bosses Schloß, audi die Lehrstunden seien lobenswert. Seit T648, der Gründung der Akademie, unterrichtete Bosse in Perspektive. Nach anfänglichem Erfolg stellten sich grundsätzliche Schwierigkeiten ein, die anwuchsen und schließlich LeBrun bestimmten, 1661 den Ausschluß Bosses durchzusetzen. Poussins Brief war dazu angetan, Bosses Position zu stärken,· dieser hat in kritischen Zeiten dann auch nach Kräften von den Zeilen Gebrauch gemacht30. So findet sich, daß Poussins Schreiben an Bosse zu den Präludien einer Auseinandersetzung gehört, die in der Folge noch mächtig anschwellen sollte und deren Gründe in Stilverschiebungen während der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu suchen sind. Poussin hat von fem an dieser Umbildung teilgenommen. Nachdem er aus Bosses Schriften die Uberzeugung von der Aktualität von dessen Grundsätzen gewonnen hatte, zögerte er nicht, dies zum Ausdruck zu bringen. Eine Akzeptierung 27
Catalogue des traittez... p. 4. Lettre du Sieur Bosse... p. 2. 29 La Revue des Arts. 1954. p. i3r—136. 80 Die Formel «tesmoin la lettre de Monsieur Poussin» kehrt in Bosses polemischen Schriften so häufig wieder, daß Einzelnachweise sich erübrigen. 28
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von Bosses Proportionsideen heißt aber zugleich: Abwendung von der ihm noch 1640 geläufigen Meßweise, die Zeit der Zusammenarbeit mit Errard gehört 1653 einer künstlerischen Vergangenheit an. Damit tritt audi Poussins Verhältnis zu Leonardo in neue Beleuchtung; denn Bosses Gründe, sich vom Malerei traktat zu distanzieren, müßten auf ihre Gültigkeit im Hinblick auf Poussin geprüft werden. Davon soll hier aber nicht weiter die Rede sein. Für das Problem der Proportion im Spätwerk Poussins — und damit kommen wir zum eigentlichen Thema zurück — sind die dargelegten Verhältnisse insofern wichtig, als Bosse zu denjenigen Meistern zählt, die einen ausgeprägten F l ä c h e n stil entwickelt haben. Seine graphischen Arbeiten sind nicht selten an einen Kulissenaufbau aus bildparallel hintereinander liegenden Registern zu erkennen, der das Auge stufenweise von Zone zu Zone in den Raum hineinschleust. Geht es um die Darstellung von Freiraum, schließt dieser ganz unvermittelt an eine flache Vorderbühne an, ohne daß die hier gültige Perspektive sich nach hinten zu fortsetzen ließe. Daraus kann der 25
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Eindruck entstehen, als sei der freie Raum nur auf eine Wand gemalt, die hinter der Figurenplattform senkrecht aufgeht. Das gleiche Flächendenken bestimmt auch die theoretische Konzeption Bosses. Ein Bild soll für ihn aus hintereinander geordneten Flächen bestehen 31 , die jede so ausgestaltet sind, daß sie für sich bestehen und doch alle aufeinander bezogen werden könnten. Gerard de Lairesse hat später — wahrscheinlich in Anlehnung an Bosse — versuchsweise ein solcherart »geschichtetes« Bild in seine Bestandteile, d. h. in eine ganze, hintereinanderliegend zu denkende Bilders e r i e aufgelöst und dieses Gedankenexperiment an einer Tafel seines »Großen Malerbuches« anschaulich klargemacht. Er will dabei zeigen, daß sich der Bild r ä u m im Grunde aus mehreren Bild f l ä c h e n zusammensetze. Auch extreme Spekulationen Bosses lassen sich noch als Ausdruck eines überstarken Flächenbewußtseins verstehen. Die schwierigen Gedankengänge, ζ. B. wie eine Wölbung durch Malerei in der Weise täuschend abzugleichen sei, daß sie wie eine flache Decke wirke 32 , gehören zu seinem Kultus des Ebenen33. Was Vignola begonnen hatte34, bringt Bosse in über Jahre sich hinziehenden Untersuchungen zur Vollendung. Die Fläche war — wenn man so sagen kann — sein künstlerisches Element. Damit aber treffen wir auf die 31
A. Bosses: Traite des pratiques gdometrales et perspectives. Paris 1665. p. 10. Moyen universel de pratiquer la perspective sur les tableaux, ou surfaces in^guli£res. Paris 1653. p. 8: « . . . qu'une surface combe, ainsi qu'un tableau fait sur une voute, luy (nämlich dem Beschauer) fasse la mesme sensation que si eile estoit dioite, plate et verticals. 33 Präponderanz der Fläche ist Bosses erster ästhetischer Grundsatz; über Architektur liest man folgendes: »Die große Menge von Avant-Corps und Arrtäre-Corps ist ganz unnötig, denn man sieht die Seitenflächen nicht.« Pilaster und Basreliefs werden empfohlen, weil sie so flach sind — Goujons Fontaine des Innocents erscheint Bosse aus dem eigentümlichen Grunde lobenswert, daß sie so f l a c h sei («Des ordres des colonnes en l'Ardbitecture.» Paris 1664. p. XLII u. 2; weiteres im «Traite des pratiques geometrales». Paris 1665. p. 1 und pl. 18 u. 19). 34 Le due regole della prospettiva pratica (Ausgabe V. Danti). Rom 1611. p. 89. 32
24
Stelle, an der er Poussin verbunden gewesen ist. «Raffael» — sagt Bosse — «n'avoit une si accomplie
et paifaite
auties couleurs pour exptimei
connoissance
de l'alliage
ρas
de la couleur de l'air avec les
le relief des corps par les Toumans
et Fuyans (techni-
sche Ausdrücke, die Distanz- und Fluchtlinien einer Perspektivkonstruktion bezeichnen sollen), suivant la raison des coupes perspectives
paralleles
au plan du
tableau»
— Raffael, so ließen sich diese Worte verstehen, sah Raum, Licht und Farbe noch kontinuierlich ineinander übergehen, er wußte noch nicht soviel von einzelnen, hintereinander gelegenen, farblich jeweils für sich zu behandelnden B i l d f l ä c h e n — «comme l'illustre Monsieur P o u s s i n » . Wir wissen von Felibien, daß Poussin sich mit Dürer befaßte, freilich nicht, unter welchem Aspekt. Für Bosse ist Dürer als Vor-
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bild für flächenhafte Projektion des menschlichen Erscheinungsbildes wichtig. Sollte auch Poussins Distanzierung gegenüber Errard aus einer gewissen Annäherung an Dürersche Gedanken und damit seine Wendung zu Bosse als Zeichen der Abkehr von anthropometrischen, dreidimensionalen Proportionsmethoden zu verstehen sein? Dann bestünde zwischen beiden Künstlern nicht nur eine Gemeinsamkeit der theoretischen Haltung, sondern auch der künstlerischen Praxis.
Π. Poussin und Dürer Bosses Verhältnis zu Dürer kann wesentlich genauer umrissen werden, als dasjenige Poussins zu dem großen Nürnberger. Wie Dürer erläutert Bosse optische Erfahrungen an der sogenannten »Sehkugel«. Diese ist das Produkt einer Theorie, derzufolge die Größe der Dinge in ihrer Projektion auf einem kugelförmigen Sehfeld, d. h. in Winkelmaßen, nicht in Längenerstreckungen wahrgenommen werden. Bosse
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demonstriert mit denselben Beispielen, wie Dürer, der die optischen Korrekturen von
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Buchstaben an einer Mauer untersucht mit dem Ergebnis, daß die höher gelegenen auch höher gestreckt sein müßten, oder bemerkt, daß die Windungen gedrehter Säulen oben weiter auseinander gezogen sein müßten, als unten, oder findet, daß hochgestellte Figuren größer gebildet sein müßten als tiefer stehende35. Dürers »Sehkugel« — und dies erklärt ihre Anziehungskraft für Bosse — entwickelt sich aus einer starken Flächenanschauung. Künstler, die elementar plastisch empfunden haben, wie Michelangelo, haben Dürer nicht zu verstehen gewußt36. Uber Poussins Verhältnis zu Dürer gibt es nicht mehr als Felibiens erwähnte Bemerkung. Im malerischen Werk läßt sich nidits dürerisches finden (was angesichts der Tatsache, das etwa Guido Reni Dürer verwendet hat 3T , zumindest nicht undenkbar wäre). Zudem spricht Felibien ja auch von «1 i ν r e s d'Albert Dure» (vgl. oben S. 16). Die Forschung ist sich immer bewußt 36
Institutionum geometricarum libri quator. Nürnberg 1525. S. 87, 91 und 116. Die entsprechenden Stellen bei Bosse: Des ordres de colonnes en l'ardiitecture. Paris 1664. p. I f f . pl. XLII. fig. 4. 36 A. Condivi: Vita di Michelangelo Buonarroti, ed P. d'Ancona, Mailand 1928, p. 176. — E. Panofsky, in »Zeitschrift für bildende Kunst«, 1927/28. S. 226. 37 Vgl. A. Weixlgärtner: Alberto Duro, in der Festschrift für Julius von Schlosser. Wien r927. S. T62 ff. Wichtig J. Hess in »Zeitschrift für Kunstgeschichte«. 1956. S. r8o-i98. 25
gewesen, daß in Poussins Dürerstudien wichtige Einsichten in das Wesen seiner Kunst schlummern. Vor allem Blunt war bestrebt, Licht in dieses Dunkel zu bringen38. Es scheint ihm gelungen, ein Zeugnis für Poussins Dürerlektüre auszumachen. Poussins Gedanken über die »Schönheit« lehnen sich an Formulierungen von Gallucci an, die dieser im Anhang seiner italienischen Ausgabe der »Vier Bücher von menschlicher Proportion« veröffentlicht hat 39 . Hiernach ist der Schluß erlaubt, daß Poussin die fragliche Ausgabe kannte. Mehr auszumachen, ist bis heute nicht gelungen. Mit Aufmerksamkeit dürfen wir deshalb eine f r a n z ö s i s c h e Ausgabe des Dürerschen Proportionenwerkes betrachten, die reichlich mit Randbemerkungen eines Anonymus versehen sind, der unter diejenigen Freunde Poussins zu lokalisieren ist, mit denen er 1640 in Rom Antiken ausgemessen hat. Es handelt sich um eine Ausgabe von Jean Jeansz, 1613 in Arnheim verlegt, einen Neudruck der ersten französischen Ubersetzimg des Werkes durch Louis Meigret (1557), die sich ihrerseits auf die von Camerarius angefertigte lateinische Fassung (1532) des deutschen Urtextes von 1528 stützt. Das jetzt im Besitze von Herrn und Frau Baltrusaitis in Paris befindliche Buch wurde seinerzeit in Moskau erworben393. a) « L e s Q u a t r e L i v r e s d ' A l b e r t D ü r e r » Der Dürersche Text wird — wie gesagt — von zahlreichen Randbemerkungen einer paläographisch ins r 7. Jahrhundert zu datierenden Hand begleitet (im Anhang-s. S.iorsind die Marginalien im Einzelnen aufgeführt). Da sich ihr Verfasser namentlich nicht zu erkennen gibt, sind wir auf Schlußfolgerungen angewiesen. Zunächst wäre auf den wechselnden Gebrauch einmal der französischen und dann der italienischen Sprache hinzuweisen. Da es sich um einen französischen Drudetext handelt, möchte man in dem Schreiber einen Franzosen sehen. Auch bedient sich eher ein Franzose des Italienischen, als vice versa. Poussin sprach und schrieb fließend Italienisch. F61ibien verwendet italienische Lehnworte und bringt im Zusammenhang französisch abgefaßter Texte den ursprünglich italienischen Ausdruck »svelte«40 der auch in den Marginalien als Wort für »schlanken Wuchs« vorkommt41. Das Studium menschlicher Proportion war während des 17. Jahrhunderts unter den Italienern im Zuge einer allgemeineren Abkehr von den Wissenschaften nicht mehr im Schwange, während es französischen 38
Poussins notes on Painting, in »Journal of the Warburg Institute« I. 1937/38. p. 344 bis 351. 39 Di Alberto Durero... della Simmetria dei Corpi humani Libri quattro Ed. G. P. Gallucci. Venedig 1594. 3 ®a Dank der freundlichen Erlaubnis der Besitzer hat der Verfasser das Buch im September 1958 auf dem »Colloque Poussin« in Paris bekannt machen können, vgl. Abb. 2r. 40 F61ibien p. 130: «une taille si agreable et si aisSe, que les Italiens nomment Svelte»j auch Poussin braucht «svelte» in seiner französischen Korrespondenz: « . . . au lieu d'estie Sgpyet, sveltes, et 16gers ...» Correspondance p. 47. 41 fol 37: «In qaesta figura le larghezze d'Albeito fanno buon effetto, ma sono suelte». fol 55 v: «medie proportional! tra la prima figura robusta et questa svelta» (siehe Anhang). 26
Künstlern neuen Anreiz bot. Da in den Marginalien die Maße des Menschen zuweilen mit solchen antiker Figuren in Beziehung gesetzt sind 42 , sich die erwähnten Antiken ausnahmslos in Rom befinden, darf man den Schreiber in Rom vermuten. Dort lebte eine Kolonie französischer Künstler, die — wie man weiß — Antikenmessungen vorgenommen hat. Dem pflichtet ein Name bei, der häufiger genannt wird: «cette proportion est trouvee fort belle par M. Stella» (fol 7 v), «cette femme est bien proportionee
au dire
de Μ.
Stella»
(fol 1 3 ) , « M . S t e l l a
tiouve
cette
propotion
fol 60 v). Es gibt eine Reihe Künstler dieses Namens, Vlamen, Italiener, Franzosen, von denen jedoch nur einer ausführlicher Antiken gemessen hat: Jaques Stella aus Lyon, der 1623 nach Rom gekommen war, dort 1624 den aus Paris zureisenden Poussin mit offenen Armen empfing, ihm die Wege ebnete und mit ihm zusammen Bauten und Statuen des Altertums studierte. Damals legte sich der Grund zu einer lebenslangen Freundschaft. Ehe- und kinderlos, vermachte Stella seinem Neffen Antoine Bouzonnet 1657 testamentarisch eine Stiftung, die den Jüngling in Stand setzte, fünf Jahre in Rom zu leben; Poussin nahm sich des Unerfahrenen an. Claudine, die Schwester von Antoine, hat als kunstfertige Graphikerin manche Poussinsche Komposition gestochen, darunter auch die »Treppenmadonna«. — Freilich hat Jaques sein Urteil zu den einzelnen Proportionen nicht selbst abgeben können, auf fol 47 des Dürertraktates lesen wir in den Randbemerkungen «selon 1' Alb on de M. Stella il ne faut tien changer». Als Stella gegen 1635 Rom verließ, kann er sein »Album« zurückgelassen haben, vermutlich im Kreis seiner Freunde. Im Leben Poussins spielt eine Gruppe von Männern ihre Rolle, die mit ihm zusammen Proportionsstudien betrieben hat: Algardi, Duquesnoy, die Brüder Roland Freart de Chambray und Paul de Chantelou, Errard, sowie eben Stella. Auf diesen Kreis deuten die Marginalien hin, — auf fol 47 findet sich die Notiz «proporüone oidinata da S. Ch. pai via d'una media proportionale». Die Abkürzung »S. Ch.« dürfte kaum anders als »Sieur Chambray« oder «Sieur Chantelou» aufzulösen sein. belle»
Weiterzugehen scheint bei der Problematik graphologischer Beurteilung von Schriften des 17. Jahrhunderts nicht empfehlenswert, Poussin selbst als den Schreiber der Marginalien anzunehmen, mangels überzeugender Vergleichsbeispiele nicht ratsam. Mit der gebotenen Reserve wäre nur darauf zu deuten, daß die Hand des anonymen Verfassers der Randbemerkungen besondere Ähnlichkeit mit derjenigen von Paul de Chantelou erkennen läßt. Als Vergleichsbeispiele können die resümierenden Bemerkungen dienen, in denen Chantelou sich auf den Briefen Poussins deren Inhalt zusammenfaßt, und die in ihrer lakonischen Schlichtheit mit den Randbemerkungen bei Dürer zusammengehen. Auf Abbildung 45 und 46 sind Chantelous Worte quer zur Adresse bzw. zum Poussinschen Brieftext geschrieben, deutlich lesbar. Man vergleiche sie mit der Marginalie fol 47, oder 33. Häufig findet sich hinter, gelegentlich auch vor einem Satz im Dürerbuch ein Zeichen in Kreuzform (χ) — vgl. die Abbil42
Vgl. fol 32 ν «largeurs de l'hercule de fameze»; ebenso fol 33; fol 47 «larghezze del meleagro», ferner fol 47 v, 53, 5s, 69 (siehe Anhang). 27
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düngen 34, 37, 39, 41 und 44. Diese Marke kommt auch sonst in Chantelous Schriften vor43. Roland Freart und Paul de Chantelou waren 1640 zusammen in Rom. Nach Jahresfrist kehrten sie zusammen mit Poussin nach Paris zurück. Inzwischen füllte man die Wartezeit mit kunsttheoretischen Studien und Antikenmessungen. Roland Freart legte den Grund zu seiner «Parallele d'Ardhitecture»44, fertigte zusammen mit Errard die Messungen des Skizzenbuches der Beaux-Arts Bibliothek an, Paul de Chantelou übernahm von Cassiano Dal Pozzo das jetzt in Leningrad befindliche Exemplar von Leonardos Malereitraktat mit den Illustrationen von Poussin45. Es fügt sich in diesen Rahmen, die Randbemerkungen als von Chantelou herrührend 1640 in Rom entstanden zu denken46. Die Abkürzung «S. Ch.» bezöge sich dann auf seinen Bruder, «Sieur Chambray», was um so einleuchtender wäre, da dieser vor allem sich mit mathematischen und geometrischen Problemen befaßte47, ihm vor allem die «proportione ordinata par via d'una media proportionale» — was dies im einzelnen besagen will, wird gleich besprochen werden — zuzutrauen wäre. «Les Quatre Livres d'Albert Dürer» in der Arnheimer Ausgabe von 1613, später — wie audi Chantelous Leonardomanuskript — nach Rußland verschlagen: sehr wahrscheinlich hat auch Poussin sie gekannt. Von seinen ersten römischen Tagen bis hin zu seinen letzten hat er sich mit der Proportion antiker Plastik befaßt. Als frühestes Zeugnis ist — durch wunderbaren Zufall 48 — ein etwa 1625 anzusetzendes, jetzt im Louvre befindliches Wachsmodell der »Ariadne«, eigen in der mit üblichen Meßverfahren nicht in Verbindimg zu bringenden Proportioniertheit, eine reduzierte Variante wohl des vatikanischen Stückes40, erhalten geblieben50. Noch wenige Tage vor seinem Ende fand Poussin »neue Kraft«, mit einigen ihm von Bourdon empζ. B. auf der Kopie des Testamentes von Poussin Bibl.-Nat. man 12347 fol 226; ferner hinter Chantelous Signatur des Leningrader Malereitraktates von Leonardo (für eine photographische Aufnahme danke ich Frau Käte Steinitz, Los Angeles). 4 4 Paris 1650. Uber die vorbereitenden Studien in Rom vgl. das Vorwort des Werkes (Epistre p. 4). 43
Auf dem Vorsatzblatt handschriftlidi: «Ce livie ma estß άοηηέ ä Rome au mois d'Aoust 1640 par Monsieur Le Cavalier del Pozzo au voyage que ly ay fait pour amener en France Μ. Poussin. Chantelou». 45
Nadi 1640 ist Chantelou nicht mehr in Rom gewesen und hat sich, obwohl er 1643 und nodi 1648 römische Büsten von Poussin bezog, von den Fragen antiker Proportion abgewandt. Vgl. H. Chardon: Les Freres Freart de Chantelou. Le Mans 1867,· Ε. Bonnaffe: Dictionnaire des Amateurs francais aux XVII. siecle. Paris 1884. 4 7 Vgl. W. Fraenger: Die Bildanalysen des Roland Freart de Chambray. Diss. Heidelberg 1917. S. 9 ff. 4 8 Ein Brand beschädigte das Wachsmodell, ohne es doch zu vernichten. 4 9 Sollte sidi die Figur auf das in der gestreckten Haltung besser vergleichbare Exemplar in F l o r e n z zurückführen lassen, läge das Entstehungsdatum noch früher. 5 0 Α. E. Brinckmann: Barockbozetti II. Frankfurt 1925. S. 8 f.; Passeri S. 325. M. Charageat, in «La Revue des Arts» ΙΠ. 1933- Ρ- 35—3948
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fohlenen jungen Malern Antiken auszumessen51. Schwerlich dürfte er an Dürer vorbeigegangen sein, als dessen »Vier Bücher von menschlicher Proportion« in Rom Gegenstand eindringlichen Studiums seiner Freunde gewesen sind. Die dabei benützte Ausgabe ist in Lyon gedruckt. Einige von Poussins wichtigsten Förderern stammen aus Lyon: Pointel, Raynon, Lumage, Serisier, Mercier und Jaques Stella52; seine Frau war in dieser Stadt zu Hause. Unmittelbar von dort könnte der Dürertext zu Poussin gedrungen sein, vielleicht kam ja überhaupt das Chantelou-Exemplar ursprünglich von Poussin, der es später dem Freunde überließ. Das sind Vermutungen. Mit Bestimmtheit können wir nur sagen, daß in Poussins engstem Kreise Dürer studiert worden ist, sehr wahrscheinlich von den Brüdern Chantelou in Rom um 1640. Deshalb dürfen wir den Kommentar des Exemplares Baltrusaitis als Dürerkommentar im Geiste Poussins werten, dürfen für ausgemacht halten, daß Poussin Dürer nicht nur italienisch, sondern auch französisch gelesen hat53, daß die Brüder Chantelou an diesen Dürerstudien beteiligt gewesen sind. In den Marginalien stecken wichtigere Einsichten in Poussins Kunst, als in den »Bellezza«Spekulationen, den Reminiszenzen aus Galluccis erweitertem Traktat. b) D e r K o m m e n t a r Mit großer Genauigkeit ist Dürers Text gelesen worden, Druckfehler sind korrigiert64, ein feineres Maßnetz ist über die Figuren gezogen, die manchmal auch an Stellen vermessen sind, an denen Dürer von näherer Bestimmung abgesehen hat55. Verzichtet Dürer gelegentlich auf die senkrechte Maßachse, wird sie in Bleistift zugefügt. öfter ist die anatomische Struktur durch Einzeichnen von Knochen und Gelenken verdeutlicht56. Am weitesten geht jedoch der Kommentar da über Dürer hinaus, wo er diejenigen Maße ermittelt, die sich ergeben, sobald die Körper aus der reinen Face- oder Profilansicht um einiges herausgedreht werden57. Mit dieser letzten Besonderheit erfährt Dürers vielschichtige Theorie eine kenn51
A.Fontaine: Les derniers jours de Poussin, in «Melanges Lemonnier». Paris 1913. p. 201—209; J· Adhemar: La demiere commande de Poussin, in «Bulletin de la Societe Poussin». I. Paris 1947. p. 50. 52 Neuerdings hat Blunt auf Poussins Beziehungen nach Lyon verwiesen, in »Journal of the Warburg and Courtauld Institute« VII. 1944. p. 160. 63 Blunts Bemerkung: »Poussin ... is much more likely to have read ... (Diiier's treatise) . . . in the Italian translation than in the German, Latin or even French version» (Journal of the Warburg Institute. I. 1937/38. p. 347), ist angesichts des vorliegenden Exemplares kaum aufrechtzuerhalten. 54 ζ. B. fol 24, 30; die Bemerkung fol 47 «Ce bras doit estre a. f. 62 et celuy du 62 icy» stellt eine Verwechslung des Druckes richtig: der fol 62 abgebildete Arm gehört auf fol 47, der dort befindliche fol 62; dort entsprechende Notiz (vgl. hierzu, ebenso wie für die folgenden Anmerkungen, den Anhang). 55 ζ. B. fol 53, 37/ 67. Ββ ζ. B. fol r3,26 v, 61. 57 ζ. B. fol 32, 34,4t, 5s. 29
3p
2p
48
43 Pfeil α
43 Pfeil b
zeichnende Vereinfachung. Die Messungen von Roland Freart und Charles Errard (vgl. oben) hatten Klarheit über die Proportion von Körpern zu gewinnen gesucht. Darum wurde der Maßstab immer unmittelbar der Figur aufgelegt und wurden Strecken ermittelt, die über die anatomische Struktur und das Volumen Auskunft erteilen. Die Resultate solcher Messungen dienen der Kenntnis des Stückes, bieten aber — wie schon Bosse kritisierte — keine Handhabe zu seiner bildlichen Wiedergabe an. Ein Proportionssystem gelangt zur Anwendung, das auf Analyse abgestellt ist. Es vermittelt Kenntnis von den plastischen Eigenschaften dreidimensionaler Gebilde. Die vollkommenste Ausbildung dieser, bis ins 19. Jahrhundert akademisch geübten Methode wird Audran verdankt 58 . — Als Gegenbeispiel kann Lairesse herangezogen werden, der ein Maßsystem verwendet, das sich von den Figuren gelöst hat. Ein starres Koordinatenschema, das weder auf die räumliche Ausdehnung der menschlichen Figur, noch auf deren natürliche Gliederung einzugehen vermag, bildet die Grundlage. Die vier Hauptteile des Systems gehen an der Natureinteilung des Leibes (oft nur um Haaresbreite) vorbei. Nicht das Stück selbst, seine Projektion auf einer Ebene bildet den Gegenstand der Messung. Diese Methode zielt auf Konstruktion, sofern mit ihrer Hilfe ein plastisches Gebilde zeichnerisch in den richtigen Proportionen reduziert werden kann. Die Projektionsebene, auf der sich die Messung abspielt, ist dabei die Malebene. Seit Brunelleschi gilt die Leinwand eines Malers als stoffliche »Sehebene« (vertikaler Schnitt durch die »Sehpyramide«), weshalb alle, auf die »Sehebene« bezüglichen Maße zugleich auch Bildmaße sind. Mit der Notierung von Projektionsmaßen aus ihrer Grundstellung herausgedrehter Figuren wird das Schwergewicht in den Anmerkungen zu Dürers Text auf die zweite Art von Porportion verlagert. Systematisch wird eine lA-, Vi- und eine %-Ansicht (jeweils auf den Sektor zwischen Dürers Face- und zugehöriger Profilstellung bezogen) ermittelt. Zur Verdeutlichung sei die weibliche Proportionsfigur fol 34 zu Rate gezogen, deren Kopf ein Rundschädel ist, 69 Maßeinheiten 50 tief, und — wie aus der zugehörigen Faceansicht zu entnehmen ist — gleichfalls 69 Maßeinheiten breit. Infolgedessen beträgt der projizierte Durchmesser der Schädelkalotte immer 69 Maßeinheiten, man drehe den Kopf wie man wolle. Deshalb sind für die V4-, Vi- und %-Drehung stets »69« eingesetzt worden. Anders verhält es sich mit der Schulter, einem Körperteil von größerer Breite als Tiefe. Die im Profil allein wirksame Tiefe wird von Dürer mit 55 Einheiten angegeben, für die Schulterbreite mißt er 58
G. Audran: Les proportions du corps humain, mesurees sur les plus belles figures de l'Antiquite. Paris 1683. Die berühmten Messungen des Cte. Freddric de Clarac («Musie de sculpture antique et moderne». Paris i84r—1856, gehen in der Genauigkeit zwar etwas über Audran hinaus, verwenden aber dessen, der Körperstruktur folgende Methode, die im übrigen schon bei Cousin und den Carracci nachweisbar ist; vgl. G. Schadow: Polyclet, oder von den Maßen des Menschen (1834) III. Aufl. Berlin 1877. S. 12 f. 59 Dürers Maßeinheiten sind Aliquoten, d. h. ohne Rest in der Gesamtkörperlänge aufgehende Teile. Die Länge eines Menschen wird in 6 »Maßstäbe« = 60 »Zahlen« = 600 »Teile« = 1800 »Trümlein« aufgeteilt. Die 69 Einheiten des Schädels sind als 6 »Zahlen« und 9 »Teile«, also 0,69 »Maßstab« = etwa 1/Θ der Gesamtkörperlänge zu verstehen. 30
(bei der zugehörigen Facefigur) n o . Die Schulter ist doppelt so breit als tief. Zwischen beiden Extremen bewegen sich die Maße der Zwischenpositionen: 68 % Einheiten für die -Ansicht, 82 V2 für die ^-Ansicht, 96 Vi für die %-Ansicht. Diese Zahlenreihe ist gesetzmäßig: die Differenz zwischen Breiten- und Tiefenmaß eines Körperteils (im Falle der Schulter = 55 Maßeinheiten) durch vier geteilt, ergibt den Wert (13 %), um den die progressive Reihe ansteigt, bzw. die regressive abnimmt. Die Zwischenwerte gelten nur für das auf der Zeichenebene sich projizierende Abbild und stehen mit dem Körper in keinem objektiven Zusammenhang. Dürers System ist, wie man weiß, doppelsinnig: es erfaßt sowohl die Anatomie des Leibes, sichert durch die Profil- bzw. Frontstellung der senkrecht aufgereckten, sich mit der Hauptkörperebene parallel zur Zeichenebene haltenden Figuren aber auch die zeichnerische Wiedergabe. Sofern bei Dürer Körper- und Projektionsmaße zusammenfallen, vereinigt er Analyse und Konstruktion in einem umfassenden Verfahren. In den »gedrehten« Positionen dissoziieren sich Körper- und Bildmaße, wird die eine Seite des Dürerschen Systems zu u η gunsten der anderen bevorzugt. Zweifach äußert sich hier französischer Barock: indem Dürers Proportion ihres renaissancehaften, die Harmonie von Kunst und Natur voraussetzenden Hinweises auf »Wirklichkeit« entkleidet wird, aber auch, indem die Maße der »Drehpositionen« nicht empirisch-experimentell (durch Probieren am Körper) ermittelt, sondern errechnet werden; dieser Zug spekulativer Unanschaulichkeit läßt an die »wissenschaftliche« Kunstrichtung in Paris erinnern. Ursprünglich hatte Dürer sein Proportionsverfahren im Hinblick auf die Antike entwickelt, er demonstrierte in den Frühstadien seiner Versuche menschliches Wachstum an Körpern, die nach dem Muster antiker Plastiken bewegt waren80. Auch in unserem Dürerexemplar werden Vergleiche zu Antiken gezogen, indes in anderer Weise. Die Menschen werden von dem antiken Vorbild getrennt, sofern die Maße der Figuren nur zum Vergleich n e b e n die Menschengestalten geschrieben werden. Zuweilen wird erwähnt, daß Dürers Messungen Ergebnisse zeitigten, die denen an Antiken gewonnenen vergleichbar seien 81 . Bellori kommt uns in den Sinn. Berühmt ist seine Deutung der Helena als eines antiken Standbildes, — wie anders habe der Inbegriff von Schönheit sonst Gestalt annehmen können 62 . Auch für den Schreiber der Randbemerkungen bietet die antike S t a t u e den Kanon des schönen Ebenmaßes 60
Vgl. die Apolloserien. Α. M. Friend: Dürer and the Hercules Borghese-Piccolomini, in »The Art Bulletin« XXV, 1943, p. 40-53. — E. Panofsky: Dürers Stellung zur Antike, in »Jahrbuch für Kunstgeschichte« I (XV). ^21/22. S. 54—55; ibid: Albrecht Dürer. Frinceton 1948. I. p. 226 f. 61 ζ. B. fol 53 v: «le buste de cette figaie a uη giand lappoit poui la hauteui a la Venus de Medicis». 62 »(Elena) non fu cosi bella costei, quäl da loio si finse, ροίάιέ si trovaiono in essa difetti e ripiensioni; anzi si tiene di'ella mai navigasse a Troja, ma die in suo luogo vi fosse poitata la sua statua, per la cui bellezza si gueneggiö dieci anni» (Bellori Idea. p. 11); hierzu Ε. Panofsky: »Idea«. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie. Berlin-Leipzig 1924. S. 63.
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dar, den Dürer dagegen aus dem natürlichen Gewächs des Menschenleibes zu gewinnen hoffte und deshalb auch die ganze Spannweite kreatürlicher Bildungen durchmaß. Der Schreiber der Marginalien findet die ideale Norm im einzelnen, exemplarischen antiken Kunstwerk, die Fülle der Spielarten ist ihm kein Gegenstand des Studiums. Seine Bemerkungen kreisen nur um die mittelgroßen Figuren, nicht um Dürers sehr kleine, und auch nicht um seine sehr großen Konstruktionen63. Rechnerisch ermittelt er zwischen Dürers Extremen Mittelwerte eines Durchschnittstyps84: wiederum französische Klassik mit ihrem Sinn für «mesure», «mediocrite»85. Hatte Dürer bei seinen antik bewegten Proportionsfiguren die natürliche Gestalt als eins mit der idealen verstanden, sieht der Kommentator den Menschen sub specie der Antike als Sonderfonn. Sebastian Bourdon, Poussin nahestehend, berichtet über die Verwendung antiker Plastik im akademischen Unterricht folgendermaßen: « . . . apres avoir dessine une figure d'apr&s nature... l'etudiant fit un autre trait de cette figure sur un papier ä part. II (Bourdon) . . . demandoit qu'en feasant cette seconde operation, le jeune dessinateur cherchät dans ce nouveau trait ä dormer ä sa figure le caractere de quelque figure antique, de l'Hercule Commode par exemple...; qu'il vetifiät ensuit, le compas ä la main, si ce qu'il avoit dessine d'aprbs nature etoit dans les mesures que donnoit 1'antique» — hier lesen wir über die gleiche, das Naturgebilde korrigierende Nonnfunktion antiker Plastik und stoßen im weiteren Verlauf des Zitates auf den Namen Poussin: — «pour etre mieux fonde dans son sentiment, il (immer Bourdon) en avoit confere avec l'illustre Poussin, et il se trouvoit muni de 1'approbation de ce grand homme»66. In Poussins Bildern finden sich Beispiele, an denen sich die Worte von Bourdon veranschaulichen lassen. Man hat sich ζ. B. gewundert, welhalb Vergleiche, die Zeitgenossen wie LeBrun zwischen Poussinschen Figuren und bekannten Antiken gezogen haben, heute nicht mehr so leicht nachvollziehbar sind87. Die gemalten Personen weichen von den Antiken, die ihnen als Vorbild gedient haben sollen, oft nicht unerheblich ab. In dieser U n ä h n l i c h k e i t verrät sich jedoch gerade eine besondere Art von Antikenrezeption. Bei Felibien wird über einige Figuren der «Mannalese» (Louvre), 1639 für Chantelou gemalt, gesagt: «On trouve que cet homme... tire sa ressemblance de la statue de Seneque qui est ä Rome», oder «le jeune homme qui luy parle, tient beaueoup de l'Antinous qui est ä Belvedere», oder «les deux autres qui se batent sont de proportions differentes. Le 63
Am Fehlen der sonst vorkommenden Fingerspuren läßt sich sehen, daß der Text zu den abnormen, io-Kopf großen Gestalten völlig unberührt geblieben ist. 64 ζ. B. fol 36 v: «media proportionale fia le due prime figure d'huomini di questo libro» mit entsprechenden Zahlenwerten. 65 Vgl. F. Schalk in «Romanische Forschungen« 64. 1952. S. 263—303. — L. Fritsch »Justesse«, Ausdruck der klassischen Moral in Frankreich (ungedruckt). ββ Η. Jouin: Conferences de l'Academie Royale de Peinture et de Sculpture. Paris 1883. p. 137. 67 S.-Ch. Emmerling: Antikenverwendung und Antikenstudium bei Nicolas Poussin. Würzburg r939.
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plus jeune peut avoir est6 pris sur le modelle des enfans de Laocoon»68.
Im Vergleich
52
des «homme couche» mit der ««statue de Seneque», oder des sidi u m M a n n a balgen-
53
den Knaben mit seinem ««modelle d'enfant de Laocoon», findet man neben einer
55
nur generellen Ähnlichkeit des Bewegungsschemas, das aber, aus der ursprünglichen
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Raum-Zeitfunktion gelöst, seiner spezifischen Ausdrucksgebärde völlig entkleidet ist, nichts Vergleichbares als einzelne Merkmale der körperlichen Konstitution. Die A n tiken liefern Exempla für den Leib eines Greises, eines Knaben. Sofern diesen gemalten Beispielen Proportionsstudien zugrunde liegen sollten, werden diese im Malwerk jedenfalls nur m i t t e l b a r wirksam: sie geben dem Künstler den notwendigen Begriff von menschlicher Körperlichkeit in ihren Geschlechts- und Altersmerkmalen und treten an die Stelle des Naturvorbildes. Hier orientiert sich Poussin an Kunstwerken, nicht an Naturformen, deren nach allen Richtungen hin sich ausbreitendes, überquellendes Wachstumsstreben wenig zuvor den Manierismus gefesselt hatte. W i e schwer es gewesen ist, den Rückweg zu den typischen Grundgebilden der Naturwesen zu
finden,
verrät gelegentlich Audran: » . . . das, was
Μ α η i e r zu nennen
man
in der Maleiey
pflegt, ist ein Fehler, und nichts anderes, als ein gewisser
licher Trait oder Zug, welcher einem oder dem anderen Meister so wohl gefallen, er damit der Sache zu viel getan; wodurch aber das richtige Absehen, Natur
zu folgen,
wie jedermann
suchet, und wohin
außer Acht gelassen wird. Was soll demnach keiten tunl Ich meines
so schwerlich
ein Zeichner
eine liebdaß
der w a h r e n zu
bei sovielen
Orts weiß hierzu nichts anderes, denn die
gelangen, SchwierigAnticken«69.
Gleichen Grundsätzen begegnet man bei Bosse («on doit etie tr&s exact ä observer l'air et la proportion et condition dans l'espnt
de ces sculptures
antiques
suivant
les divers ages,
sexes
70
s» ), und von Poussin heißt es bei Felibien entsprechend, er sei «entrd des andern
rence entre leurs Dieux, corps impassibles,
sculpteurs
qui ont si doctement
les heros et les hommes,
fait paroistre de la diffe-
representant
les uns comme 11
et les autres comme des substances mortelles et penssables» .
des Dies
ist völlig richtig und kann durch die Beispiele der Mannalese belegt werden. Felibien äußert hier eine adäquate Deutung der Poussinschen Antikenauffassung in den mittleren, noch v o m Ausklingen maniristischer Töne gekennzeichneten Jahren 7 2 . N u n jedoch, an der Schwelle zur Spätzeit, zum »klassischen Stil««, kommt zu dieser — wie wir sagen dürfen — älteren Anschauung etwas Neues hinzu, etwas, von dem die Biographen n i c h t s zu berichten wissen, etwas, was sich als eine zweite Phase verstehen ließe. Hatte die erste auf v o m Manierismus gebahnten Wegen den Rückzug zur Natur an den Antiken zu finden gehofft, den Maßkanon antiker Plastik an Stelle
68
F61ibien p. 4 1 2 . G. Audran: Des menschlichen Leibes Proportionen [deutsch von J. J. Sandrar] s. d. S. 2 (Vorrede). Die Sperrungen nicht original. 70 A. Bosse: Le peintre converty... Paris 1667. p. 3 4 f. 71 Felibien p. 3 8 6 . 72 Zur manieristisdien Kunstlehre siehe auch H. Fegers: Das politische Bewußtsein in der französischen Kunstlehre des 1 7 . Jahrhunderts (Diss. Heidelberg 1 9 3 7 J Mainz r943. S. 2 3 . 69
33
47 32
47
eines Naturkanons verwendet, wird jetzt auch, das Formgesetz an sich wichtig. In ihm wird nicht mehr nur das Gesetz einer körperlichen Bildung geschätzt, sondern es wird — in einem weiteren Sinne — als ein allgemeiner Ausdruckswert schön proportionierter Verhältnismäßigkeit genommen. Bildliche Erscheinung wird dabei wichtig. Die anthropometrische Messung verliert zugunsten planimetrischer Methoden an Bedeutung. Wir dürfen die Randbemerkungen zu Dürers »Vier Bücher von menschlicher Proportion« zum Anlaß der Frage nehmen, ob nicht Poussin um 1640 im Zuge einer Beschäftigung mit Dürer jene Wendung vollzogen hat, die ihn von der, später noch durch Bourdon, Felibien u. a. bekundeten Auffassung von der Antike als Vorbilder menschlicher Charaktere abführen und zu Vorstellungen hinleiten sollte, auf denen die Kunst wohlproportionierter Flächengliederung von Bildern wie dem erwähnten »Diogenes« und vor allem der »Treppenmadonna« sich entfalten konnte. Dann dürften wir die Entwicklung Poussinscher Meßmethoden etwa folgendermaßen charakterisieren: am Anfang das Wachsmodell der »Ariadne«, die Etude einer Bewegungsform. Ziehen wir dann das Skizzenbuch der Ecole des Beaux-Arts mit den Messungen von Roland Freart und Charles Errard als Beispiel Poussinscher Meßweise zu Rate, stoßen wir auf die graphische Darstellung von Körpern, die zu den »antikisch« gewachsenen Figuren der »Manalese« passen würden, zugleich dürfte sich die Wendung zu projektiven Methoden anbahnen, welche in die Zukunft weist. Wichtig, daß diese Entwicklung von Anfang an mit dem Namen Chantelou verbunden ist: auch die «Ariadne» kam in Pauls Besitz. Wie intensiv vor allen die letzte Stufe der Planimetrie durchdacht worden ist, zeigen einerseits die projektiven Antikenmessungen des Exemplars Baltrusaitis, andererseits Rolands «Paralleles d'Architecture antique et de la moderne»73, die — wie es im Vorwort expressis verbis heißt — auf die römischen Studien von 1640 zurückgehen. Antike und moderne Bauformen werden in diesem Buche flächenhaft zusammengesehen und mit Hilfe
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einer senkrechten Achse, die durch die Mitte jedes Stücks geführt ist, vermessen. Diese, für das Architekturstudium neuartige Weise findet schlechterdings keine andere methodische Vorstufe als Dürers »Vier Bücher von menschlicher Proportion«74. Der Sinn planimetrischer Projektion liegt in der Transposition planimetrischer Maße auf die Ebene, in der Verwandlung von Körper- in Bildwerte, womit sich die Möglichkeit bietet, die Proportion von Körpern für die Proportioniertheit eines ganzen Bildgefüges innerhalb einer flächigen Komposition zu nutzen. Von Lairesse ist der Fall bekannt, daß die planimetrische Vierteilung einer stehenden Figur zu einer Serie
50
von Bildregistern umgedeutet wird, die jetzt das Konstruktionsgerüst für die Gruppe einer sitzenden Frau mit Kind abgeben. Dieses In-Beziehung-setzen äquivalenter BildParis 1650. Es überrascht nicht, gerade in Bosse einen begeisterten Anwalt der «Parallele d'Architecture» zu finden («Trait6 sur des ordres de colonnes». Paris r664. pi. XVI. XXXII. passim). Roland Frearts Dürerstudien äußern sich auch darin, daß er das Dürersche Prinzip der »Sehkugel« übernimmt, vgl. J. Baltrusaitis: Anamorphoses ou Perspectives curieuses. Paris 1955. 73
74
p. 12.
34
großen vermag die keimende Kraft, die Fruchtbarkeit planimetrischer Proportion für den Ausbau eines größeren Bildzusammenhanges zu veranschaulichen. — Im folgenden wird gezeigt werden, daßPoussins Bildordnung in der Spätzeit auf ähnlichen Prinzipien wie Lairesse aufbauen kann. Aus der Doppelnatur des Dürerschen Maßsystems konnte die Nachwelt zwei getrennte Proportionsvorstellungen gewinnen. Das Wiener Hofmuseum besitzt eine von Dürer abgeleitete v o l l p l a s t i s c h e Rundfigur 75 , in den Dürer-Marginalien wird dagegen die »unkörperliche«, die bildhafte, die f l ä c h i g e Komponente isoliert. 75
J. Meder: Die Handzeichnung und ihre Technik. Wien 1929. S. 225. Abb. 82; vgl. auch. J. von Schlosser: Die Wiener Schule der Kunstgeschichte. Innsbruck ^34. S. 146.
35
Zweiter
Teil
Die »Treppenmadonna« von 1648 Der seit Felibien geläufige und nur dem 19. und 20. Jahrhundert zeitweilig abhanden gekommene Name »Treppenmadonna« 1 scheint für ein Gemälde, das eine größere Figurengruppe darstellt, eine recht begrenzte Bezeichnung zu sein, Die heilige Familie 2 rastet zusammen mit Elisabeth und dem Johannesknaben
ι
neben einer Brunnenschale auf den Stufen einer Treppenanlage, die zu einem nicht überschaubaren Tempelbezirk gehört. Maria und Elisabeth sind, wie in Gedanken, ruhig beieinander, während das Christuskind einen Apfel von einem Bäumchen hinter Elisabeth (oder aus einem Korb zu Füßen der Gruppe) greifen will, den Johannes ihm darreicht. Joseph hantiert im Schatten versunken mit einem Zirkel auf einer Tafel; ruhiges Licht läßt die Formen hervortreten, funkelt auf kostbaren Gefäßen, erwärmt die rötlichen und gelblichen Töne des Steines und strahlt im Himmel auf Wolken wieder, die im frischen Blau geballt sind 3 . Ein Stufenunterbau erhöht die heiligen Personen über das Bodenniveau, und der Blick des Betrachters hebt sich, da der Augenpunkt sehr tief gelegen ist4, von unten her zu ihnen auf, wodurch der Eindruck verstärkt wird, daß die hochgestellten Personen unnahbar in einer unbetretbaren Sphäre thronen. Die Bauten tragen antikes Gepräge. Mächtige korinthische Kapitelle sind als Bestandteile einer im übrigen klassizistisch, barocken Architektur zu unterscheiden. Poussin zeigt sich hier noch nicht von jener »wissenschaftlichen« Seite, mit
»Une vierge assise sur des degrez« (F61ibien p. 355). In neueren Auktionskatalogen wird eine »Flucht nach Ägypten« bzw. einfach eine »Heilige Familie« genannt (G. Duplessis, 1874; H. Mireur, 1912), wo aller Wahrscheinlichkeit nach die »Treppenmadonna« gemeint ist. Vgl. audi J. Smith: Catalogue raisonne of the works of the most eminent Dutch, Flemish, and French painters. VIII. London 1837. Nr. 78 (»Holy Family«). 2 Die Maße des Leinwandbildes werden mit 68,9 x 97,3 cm angegeben. Gemalt wurde es für Nicolas Hannequin, Sieur de Fresne. Später befand sich das Gemälde bei Roger de Gaignieres, im dritten Viertel des 18. Jahrhunderts ist es beim Abbd Le Blanc, einem der berühmtesten Kenner seiner Zeit und zwischen T833 und 1844 beim Duke of Southerland in Staffordhouse, wo Waagen es bewunderte [1854, II, 63). Seit 1951 Teil der S. H. Kress Collection, in die es 1949 gelangte,· ausgestellt in der National Gallery zu Washington. Eine alte Kopie bei Th. Bertin-Mourot (Ex. Lerolle); alte Nachzeichnung Louvre 32357. Vgl. W. E. Suida: Paintings and Sculptures from the Kress Collection. 195 r. Nr. 97 (dort auch die letzten Ausstellungen); »Studio« vol 150, Nr. 748 (July 1955). p. 7,· vgl. auch «Bulletin de la Societe Poussin» II. 1948. p. 47 (X) und « Gazette des Beaux-Arts» 1938. p. 366. 1
3
Da ich das Original nicht sehen konnte, beziehe ich midi bei Farbangaben auf eine bunte Wiedergabe aus der Werkstatt der National Gallery in Washington. Vgl. auch die nach diesem Vorbild als befriedigend zu bezeichnende Faibtafel bei P. Jamot: Connaissance de Poussin. Paris 1948. Abb: 139. 4 Er befindet sich unmittelbar neben dem rechten Fuß der Madonna.
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der er wenig später antike Tempel archäologisch exakt rekonstruiert oder aus Architekturbüchern (Palladio) übernimmt6. Die symmetrisch im Dreieck aufgebaute Gruppe gäbe audi für sich genommen, ohne ihre architektonische Fassung, ein Bild. Aus der klaren Scheidung des vorderen, den Figuren vorbehaltenen Bildfeldes von dem in einer tiefer gelegenen Schicht sich breitenden architektonischen Komplex, erwächst der Eindruck der Ablösbarkeit des einen vom anderen; wirklich hat Poussin eine Variation der Gruppe später auch vor landschaftlichem Hintergrund setzen können6. Auch durch die Farbe werden die Figuren hervorgehoben. Die Architektur zieht ihre natürliche Würde allein aus den Abmessungen, die Figuren verdanken etwas Monumentales zur Hauptsache dem klassischen, seit Tizian mit einem höheren Grad von Gültigkeit behafteten Farbdreiklang ihrer Gewänder: volles Rot, tiefes Blau und kostbares Goldgelb stehen ernst und groß vor dem gedämpft dahinter zurücktretenden Stein. Ungebrochene Farben bleiben den Heiligen (und dem Himmel!) vorbehalten, während die leise Tönung der Bauten wie vom zarten Widerschein der Gewänder auf einer von Natur aus unfarbigen Oberfläche herzurühren scheint. — Elisabeth lagert, die Füße kreuzweise übereinandergeschlagen, auf der unteren Treppenstufe, der gleichen, auf der Johannes und Joseph sitzen. Ihre knochigen Hände sind ineinandergefaltet. Maria, um eine Stufe erhöht, setzt den linken Fuß auf eine Vase. — Das Leben der Gruppe steigert sich von ruhiger Stellung an den Rändern zu reicher, harmonisch gestillter Bewegtheit im Innern. Die Personen werden in jeweils anderen Ansichten, aber paarweis aneinander angenäherten Bewegungsformen wahrgenommen. So kommt es zu wenigen Grundhaltungen. St. Elisabeth und der Johannesknabe sind nach dem gleichen Muster, einmal zu gedankenvollem Aufmerken, das andere Mal zu lebhafter jugendlicher Aktivität hin abgewandelt. Entsprechend beruht die Sitzweise der Madonna und die momentan erfaßte, halb stehende, halb thronende Stellung des Jesuskindes auf einer beidemal ähnlichen kontrapostischen Disposition der Glieder. Joseph bleibt für sich. In räumlichem Sinne sind die Baulichkeiten nicht mit der Gruppe verwachsen, im Hinblick auf die Fläche wirken sie dagegen wie deren notwendige Ergänzung. Der Kontrast zwischen Mensch und Stein, organischer und stereometrischer Körperhaftigkeit wird noch überwogen durch die Gegensätzlichkeit des gelockerten Gliederspieles und seiner Fesselung in senkrechte und waagrechte Fluchten. Dabei ist ein Entsprechungsverhältnis zwischen der Gruppe und der Architektur wahrzunehmen. An den Seiten, wo mächtige Rahmenformen nach oben streben, ist das Bild zugestellt, in der Mitte entwickelt sich Freiraum. Diese Verteilung verfährt umgekehrt wie die der Figuren und läßt den meisten Platz hinter Maria und dem Kinde. Nur hinter ihnen geht es hoch hinaus. Christus wird von der Vorhalle des Tempels wie von einem Baldachin oder einem Nimbus bekrönt, wodurch das Auge genau in der Mitte des Bildes festgehalten wird. Die Gruppe kulminiert in ihm und sein Haupt bildet die geometrisch exakte Spitze eines Dreiecks ihrer Komposition. 5 β
Vgl. die »Phocion«-Landschaften bei Lord Derby und im Louvre. Louvre 714 (um 1650). Grautoff II. 138. 37
Angesichts dieser Betonung des göttlichen Sohnes und der Erhebung seiner Mutter über die Reihe der übrigen Figuren kann die Benennung »Treppenmadonna« verständlich und als dem Sinne Poussins nicht widerstreitend angesehen werden. Zur künstlerischen Erfassung des Bildes ist — und damit kommen wir zu unserem Thema zurück — der Begriff der F l ä c h e wichtig. An der »Treppenmadonna« kann jene charakteristische Anschauung von der Bildfläche, die Poussins Spätwerke bestimmt und von der wir gesprochen haben, deutlich gemacht werden. Die Bildebene wird nicht so sehr zusammenhängend als aufgegliedert gesehen. Mangelnde Tiefe läßt das plane, breitformatige Bild in Schichten wirksam werden und betont die klaren Abstufungen einer rhythmischen Flächenordnung, die den Intervallen gleichen formalen Wert und gleiche Gewichtigkeit verleiht wie jeder dinglichen Form. Das Auge erblickt das eine mit dem anderen zusammen, Geschlossenes und Freies, Eckiges und Rundes, Gekurvtes und Rechtwinkliges, Gelagertes und Ragendes in verschiedenen Höhenmaßen. Daß dabei spröde Strenge gewahrt bleibt, gibt einer gewissen Vergleichbarkeit zu toskanischem Geiste Raum. Die Disposition der Figuren auf genau bemessenem, gestuften Unterbau, umgeben von festen, meist elementaren Formbestandteilen, gehört zum Florentiner Stil, man könnte an Andrea del Sarto, auch an Michelangelos »Treppenmadonna« denken. Florentinischen Ursprungs ist die gewendete Haltung der Maria 7 , Rafiaelschen Gepräges der Gruppenbau, römisch dessen »gravitas«. Venezianisches scheint in den Farben der Gewänder aufzuleben, in dem lichten Himmel — und wer fühlte in den vertieften Stimmungswerten, wie sie in der meditativen Ruhe des Joseph weben, geheimnisvoll in den Früchten hinter der Brunnenschale glühen, nicht jenen, das Gefühl zum Klingen bringenden »romantischen« Ton von Giorgiones Dichtungen? In Florenz wie in Venedig ist Poussin gewesen, in Rom wohnte er den Großteil seines Lebens8. Diese Anklänge an verschiedene Stilbereiche halten sich jedoch in den vagen Grenzen bloßer Assoziation. Das Verhältnis Poussins zu italienischer Kunst gehört zu den schwierigsten Problemen seines Stiles und kann durch das bloße Konstatieren habitueller Ähnlichkeiten nicht erfaßt werden. Hier genügt es zu sagen, daß er seinem Werk etwas Vielgesichtiges gelassen hat. Das gilt auch in ikonographischer Hinsicht. Die Heilige Familie unter blauem Himmel am Boden gelagert, wird im 17. Jahrhundert unter dem Einfluß franziskanischer Meditationsfrömmigkeit ein beliebter Bildvorwurf 9 . Das Spiel des Christus- und Johannesknaben kündet von der »humanitas Salvatoris nostri« 10 . Die Geste, mit der Christus sich anschickt, den Apfel zu 7
Vgl. Raffaels Wiesen-Madonna in Wien, wo die von Leonardo aufgenommene (Anna Selbdritt), später Allgemeingut gewordene Haltung wohl zum erstenmal in der neueren Kunstgeschichte erscheint. W. R. Valentiner, in «Gazette des Beaux-Arts» 1957. p. 129—148. 8 Felibien p. 313. D. Mahon: »Burlington Magazine« LXXXVIII. 1946. p. 15-20, 37-42. 9 E. Male: L'Art religieux apres le Concile de Trente. Paris. II. Auflage 1951. p. 309. 10 B. Knipping: De Iconografie van de Contra-Reformatie in de Nederlanden. Hilversum 1939.1. p. 160. 38
greifen, ist mehr als Spiel. Der Kirche sind Äpfel von hoher Symbolik, für Poussin, dem sie im »Herbst« (Louvre) als Inbegriff von Sünde und Heil vorschweben 11 , wird die Annahme der mystischen Frucht durch Christus zum immerwährend gültigen Symbol christlidier Erlösung. Elisabeth, des Johannes Mutter, heftet den Blick auf Christus. Wie des zukünftigen Schicksals einsichtig, ringt sie die Hände. Ihre Sehergabe hat die Christen viel beschäftigt; als sie von Maria im sechsten Monat nach der Empfängnis des hlg. Johannes mit einem dreimonatlichen Besuch erfreut wurde, erkannte und pries sie dieselbe sogleich als die Mutter ihres Herrn (Lucas I, 39) mit Worten, welche seitdem unzählige Male aus frommem Munde nachgesprochen wurden, dem Magnificat. Es ist nicht ungewöhnlich, die heilige Frau, welche auch durch die Stimbinde mit einem Kennzeichen sibyllinischer Urerfahrung ausgezeichnet ist, mit seherischen Zügen in der Nähe Christi vorzufinden. Im 17. Jahrhundert rücken Sibyllen, sonst den Propheten beigeordnet, in die Nähe des Heilandes 12 . Prophezeiungen kommenden Leides hat Poussin auch in die »Flucht der Heiligen Familie« (Dulwich) eingemischt13. — Die Szenerie der Tempel wird durch die Beigabe von Brunnen und Apfelbäumchen paradisisch als Jenseitsmilieu, Himmelsstadt verdeutlicht, wobei der Brunnen auch auf Maria bezogen werden kann als tiefsinniger Gegenstand uralter Tradition, Quelle des Lebens, «fons vitae». Sofern die Bezeichnung des Bildes auf Maria Bezug nimmt, wirkt es angemessener, von einer »Brunnenmadonna« nach Vorbild berühmter Beispiele zu sprechen, als von einer »Treppenmadonna«, was demgegenüber eine nur sekundäre Benennung ist, die insofern doch auch wieder ihre Berechtigung hat, als sie sich auf ein ganz ungewöhnliches künstlerisches Motiv bezieht: es dürfte Mühe kosten, für die Treppe Analogien nachzuweisen; denn sollte Poussin meinen, die Heilige Familie raste auf den Stufen desselben Tempels, in dem Maria, während ihrer Jugend verborgen, von Engeln behütet, zur Jungfrau heranwuchs, wäre dieser tief poetische Gedanke in der Kunstgeschichte ohne Beispiel 14 . Da der Sinn der Treppe ikonographisch höchstens als Stufenleiter der Tugenden Marias 15 , sonst aber aus der religiösen Sphäre nicht erklärbar ist, fragt sich, ob nicht andere ikonographische Uberlieferungen, neben den sakralen, für das Bild bestimmend gewesen sind. Dies ist in der Tat der Fall, wenngleich der Nachweis nicht in Kürze zu führen ist. Hier habe nur die Bemerkung Platz, daß allen Schwierigkeiten bei Erschließung der profanen Quellen des Bildes nichts Beunruhigendes beizumessen ist, da Poussin in zunehmendem Alter seine Absichten immer weniger hervorkehrt. 11
Vgl. W. Sauerländer, in »Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst«. III. Folge. VII. ^56. p. 172. 12 B. Knipping a. a. O. p. 302—306; K. Künstle: Ikonographie der christlichen Kunst I. Freiburg 1928. S. 308 ff. 13 Ch. Mitchell: Poussins Flight into Egyt, in »Journal of the Warburg Institute« I. ^37/ 38. p. 342 ff. 14 Die mir bekannten Treppen bei »Heiligen Familien« (2. B. Bassano oder bei Nosadella, vgl. H. Voss in »Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz« ΠΙ. S. 456) scheinen mit Poussin in keinem erkennbaren Zusammenhang zu stehen. 15 Vgl. W. Menzel: Christliche Symbolik II. Regensburg 1856. p. 507. 39
In dieser Hinsicht ist der heilige Joseph kennzeichnend, eine typische, nur im Spätwerk denkbare Figuration, deren rätselhafte Tätigkeit mit dem Zirkel, der Erfahrung unzugänglich bleibt und deren ganz vereinzeltes Auftreten gleichfalls direkten ikonographischen Aufschluß verwehrt. Die sich hier abzeichnenden Probleme, deren Behandlung die Position des Bildes innerhalb einer ganzen Domäne Poussinscher Kunst — an deren Spitze es steht und die zu repräsentieren es alle Voraussetzungen bietet — zu klären verspricht, verdichten sich greifbarer, sobald die Genese des Bildes, wie sie aus den Vorzeichnungen ersichtlich ist, in Betracht gezogen wird. I. Die Vorzeichnungen
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Vielseitig hat Poussin die Möglichkeiten bildhaften Zur-Schau-stellens der Heiligen Familie durchprobt — doch war ihm der Gegenstand nicht immer nahe. Er griff ihn zuerst gegen Ende der 30er Jahre in malerischen Kompositionen vom Stil der »Pearson«-Madonna16 auf — nach 1655, der Vollendung der »Heiligen Familie« für Madame de Montmort 17 , die spätere Gemahlin Chantelous, hat er das Thema nie mehr behandelt. In höchstens zwanzig Jahren entstanden mehr als zwanzig Bilder. Wir gruppieren heute diese Schar nach Typen 18 und sprechen Anfang der 40er Jahre von »Madonnen in skulpturaler Pose«, herben Zeugnissen neu gebändigter Kunstübung (»Roccatagliata-Madonna«19) — von den »Bildern mit fünf Figuren im Dreiecksaufbau«, zu denen auch die »Treppenmadonna« zählt — den »Gemälden mit sechs und mehr Figuren«, weitläufigeren Panoramen, in denen die heiligen Personen schon früher vorkommende Gruppierungen abwandeln, vgl. die »Familie mit den elf Figuren« in Chatsworth20 — schließlich von den eng umgrenzten Steilformaten der Spätzeit, zu denen auch Chantelous ernste »Grande Vierge«21 gehört; so sehr jedoch gliedernde Akzente den Uberblick erleichtern, so wenig lassen die herausgehobenen Abteilungen den zwischen ihnen waltenden Zusammenhang erkennen, so geringen Einblick gewähren sie auf die verschlungenen Pfade, die das Thema von den Anfängen bis zu seinen letzten Formulierungen hat wandern müssen. Jedes Bild ist anderen Fassungen in Einzelheiten, einer Gebärde, einer Figurenverbindung, oder durch Vorgriff auf einen erst später mehr in den Vordergrund tretenden Charakter verpflichtet. Werden dann noch Handzeichnungen in Betracht gezogen, kompliziert sieb die Lage. Manche Studien lassen bei der Frage nach ihrer Zugehörigkeit zwischen diesem oder jenem Gemälde schwanken, fügen sich dieser oder jener Genealogie gleichermaßen passend 16 17 18 19 20 21
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Friedländer Drawings I. fig. 6. ibid. Poussin S. 244. ibid. Drawings I. p. 20-24. ibid. Poussin S. 214. Grautoff Poussin II. Nr. 132. Friedländer Poussin S. 242.
ein. Um nur ein Beispiel zu nennen: die Zeichnung im Louvre Nr. 3^43722 ist mit der »Treppenmadonna«, wie auch, der »Louvre-Madonna« (Nr. 714) zu verbinden. Die Graphik enthält sonst nicht greifbare Zwischenlösungen und stellt die Grenzen der Typengruppen dadurch weiter in Frage. Um das Besondere der »Treppenmadonna« zu fassen, bedarf es deshalb einer Auswahl. Werden jene Handzeichnungen beiseite gelassen, die daneben auch auf andere Bilder Bezug nehmen, und nur die ihr allein zugehörigen berücksichtigt, beschränkt sich die Zahl der Stücke auf vier.
1
a) D a s B l a t t i n D i j o n 2 3 Der rapid mit der Feder geschriebene, mit breitem Pinsel kräftig überwaschene 2 Entwurf trägt im kratzigen, mitunter ausfahrenden und repetierenden Strich, in den schwarzen, undurchdringlichen Lavierungstiefen, im schemenhaften Ausdruck der ovalen Gesichter, denen Mund und Nase fehlen — nur die Augen sind angedeutet — alle Merkmale des graphischen Duktus der mittleren 40er Jahre. In der Datierung auf 1646 schließe ich mich Friedländer an24. Die Zeichnung beschränkt sich auf Figuren, der Hintergrund bleibt bis auf eine Mauer mit einer offenen Tür und einem Podest — vielleicht eine »erste Idee« des Brunnens — offen. Noch wird Elisabeth nicht angetroffen. Ihren Platz nehmen Kinder ein, unter denen Johannes nicht mit aller Sicherheit auszumachen ist; doch ist seine Art zu sitzen bei dem Kinde links außen vorgebildet. Joseph wird durch tiefe Schatten abgedeckt und weiter als im Gemälde in die Tiefe zurückgeschoben. Der Augenpunkt liegt wesentlich höher als in dem fertigen Bilde, etwa in Höhe des linken Knies der Madonna, so daß der charakteristische Eindruck einer Untersicht noch nicht besteht. Die wohl interessanteste Frage, welche an das Blatt zu stellen wäre, lautet: Welches Stadium der Entwicklungsarbeit tritt uns hier vor Augen? Wie im Gemälde wird das Licht von links herangeführt — kein Zug eines Frühstadiums. Anfangs pflegt Poussin die Beleuchtung außer acht zu lassen, höchstens die Einfallsrichtung der Lichtstrahlen in wenigen Markierungen festzulegen25. Eine zweite Beobachtung geht mit dieser zusammen. Der Unterbau der Gruppe bleibt angedeutet. Verschiedene Linien lassen über ihren Zweck im unklaren, einige Horizontalen können nicht lokalisiert werden,· bezeichneten sie Stufen, läge deren Höhe rechts in anderer Flucht als links. Aber die Dreieckskomposition rechnet mit dem gleichen Stufenunterbau wie im Gemälde und macht uns glauben, daß die Planung des Künstlers in Wahrheit weiter gediehen ist, als der sonst unfertige Zustand des Blattes auf den ersten Blick vermuten läßt. 22
Friedländer Drawings I. Nr. 48. Nr. 870. 24 Drawings I. Nr. 45. Die technische Angabe »bistre wash« scheint unzutreffend, nachdem neuerdings festgestellt worden ist, daß Poussin kein Bister, eine Tinte aus Holz-Sud, sondern einfach gemischtes Wasserfarbenpigment verwendet hat; vgl. J. Watrous: The Craft of old Master Drawings. Wisconsin 1957. p. 82. 25 Vgl. u. a. Stockholm 5404 (ν), Friedländer Drawings II. Nr. r35. 23
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b] D a s F r a g m e n t i n 3
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Paris2®
Die — bisher unveröffentlichte — Skizze füllt die Rückseite einer bekannten Zeichnung zum Rinaldo-Armida-Thema, der zuliebe das ursprünglich wesentlich größere Blatt zweiseitig rigoros beschnitten wurde, und zeigt in großzügiger Manier den Joseph der »Treppenmadonna« auf einem mehrstufigen Unterbau 27 . Das Entstehungsdatum der Studie ist aus einigen Details ersichtlich. Neben nicht weiter deutbaren (figürlichen?) Motiven oberhalb des ausgestreckten Beines von Joseph, hat die Schere an der linken unteren Ecke den Oberkörper eines quer über die großen Stufen gezeichneten Mannes verschont, der, den rechten Arm erhoben, inmitten einer Landschaft steht 28 . Nach Haltung, Kleidung und nach der Barttracht zu schließen, gehört diese gestrichelte Figur zur »Ordination« einer der SakramentenSerien und steht dem Christus auf einem Blatt des Louvre nahe, das um 1645 angesetzt wird 29 . In diesem Zusammenhang ist interessant, daß sich auf der Rückseite des Blattes in Dijon (a) gleichfalls eine Studie zu einem der Sakramentenbilder vorfindet. Da auf dem Fragment in Paris der zur »Treppenmadonna« gehörige Teil der Skizze unter der gestrichelten Figur befindlich ist, muß er früher als diese, zugleich also auch früher als das Dijoner Blatt sein, womit die Josephskizze als das früheste bekannte Zeugnis an die Spitze aller erhaltenen Vorzeichnungen zur »Treppenmadonna« tritt. Hier läßt sich jetzt mit Fug und Recht von einem Frühstadium der Bildidee sprechen. Der Federstrich betont den Umriß, vernachlässigt Modellierung und Lichteinfall. Joseph ähnelt in kleinen, kennzeichnenden Zügen der späteren Fassung in Dijon. In beiden Fällen springt das aufgestemmte Knie weit vor, weiter als in jeder anderen Fassung. Beidemal ist die gleiche Variante eingetragen: der linke Schenkel steht senkrecht, zugleich ist er auch leicht angezogen, entsprechend dem Bestreben, das Bein näher an den Körper heranzunehmen, es schließlich — im Gemälde — ganz verschwinden zu lassen. Für spätere Arbeitsphasen an der Bildkomposition ist eine Vase charakteristisch, auf die Maria den linken Fuß setzt; sie fehlt nur in Dijon und dem neuen Fragment; daß dieses v o r die Dijon-Zeichnung gehört, bestätigt auch der Mantel des Joseph, der in einer sonst nicht üblichen, besonderen Falte über die Stufen hängt. Die Lage des Augenpunktes festzustellen, ist wegen des geringen Bildausschnittes nicht möglich, doch sei darauf hingewiesen, daß sich das Dingliche unsubstanziell, raumlos und wie in einem Durchschnitt flach vor Augen stellt. So wenig und Verworrenes das Blatt als Ganzes zu bieten scheint, ist es doch 26
Louvre Nr. 758. 9 x 13 cm. 1953 hatte ich Gelegenheit, durch Lösung der Verklebung die Rüdeseite freizulegen. Keiner der Vorbesitzer des aus der Collection Deperet über die Sammlung His de la Salle (Nr. 341) in den Louvre gelangten Blattes hat die Skizze verso vermerkt; vgl. Catalogue Both de Tauzia 1881. Nr. 285. — Vom Museum 1870 gestempelt. 28 Zum besseren Verständnis ist die Abbildung um 90 Grad entgegen dem Uhrzeigersinn zu drehen. 29 Friedländer Drawings I. Nr. 95. 27
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wertvoll als eine Bestätigung unserer Deutung des zuvor besprochenen Entwurfes. Von Anfang an hat Poussin die Heilige Familie auf zwei mächtigen, durchgehenden Stufen gruppiert, deren eine als breite Basis dient, deren andere Joseph und den linken Teil der Gruppe zu tragen hat 30 . Damit wird Gewißheit, daß die spätere Niederschrift in Dijon den Unterbau unausgesprochen voraussetzt Poussins Ideen in der Tat weiter fortgeschritten waren, als die tastende Zeichenweise glauben macht. c) D a s B l a t t i n N e w
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York31
Gegen die beiden vorhergehenden Studien wirkt diese wie eine neue Welt. Sie gibt nicht nur Auskunft über die heilige Gruppe, sondern auch über den Hintergrund. Das Gegenständliche hat sich konkretisiert. Statt der drei Kinder in Dijon sehen wir einen blumenstreuenden Engel, Elisabeth und Johannes. Jetzt erst läßt sich deutlich das Bildthema erkennen. Ausgeführt bis in Details wie Zirkel und Winkelmaß zu Josephs Füßen bietet sich die Studie bildmäßig geschlossen dar. Der Kontrastreichtum in den Schattierungen entspricht den späteren 40er Jahren, einer Datierung auf 1647 wäre nichts entgegenzusetzen32.
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Das offensichtlich nach den beiden bisher betrachteten Zeichnungen einzuordnende Blatt zeigt die Heilige Familie auf einem Unterbau aus Stufen und Blöcken inmitten einer Landschaft. Die linke Seite ist verstellt, rechts vermag der Blick mehr in die Natur vorzudringen. Die Gruppe kampiert in der Nähe eines zierlichen Brünnchens, das später zugefügt worden ist und auf das Gemälde vordeutet. Auch die Schrägwand mit der offenen Tür scheint später zu sein. Ursprünglich war die rückwärtige Mauer bis an den linken Bildrand hin durchgezogen. Hierin äußert sich eine Flächenbetonung, die audi darin zum Ausdruck kommt, daß alle Requisiten auf Grundlinien parallel zur Zeichenebene angeordnet sind und daß Verkürzungen vermieden werden. Dann wurden der Podest und die Wand hinzugefügt, deren räumlich belebendes Element in offensichtlicher Diskrepanz zur ersten Anlage steht. — Die Art des Arrangements auf Quadern und Stufen ließe sich auf das glücklichste mit Thomas Coutures Ausdruck «style elementaire»33 verbinden. Die Heilige Familie ist von einfachsten Gebilden umgeben, geometrisch simpelsten Körpern, Produkten des rechten Winkels, die alle auf drei Grundformen zurückgehen, auf Stufe, Würfel 30
Daß nur zwei Stufen, nicht noch eine dritte, jetzt durch Beschneiden des unteren Randes verlorene, gezeichnet waren, ist ziemlich sicher. Unter dem 7 mm breit verklebten rechten Rand sind Andeutungen ebenen Grundes erhalten. Auch stammt die später quer zugefügte Figur aus einer breitformatigen Komposition, in der sie, wie hier, ganz am rechten Rande aufragt; also wäre kaum etwas zu ergänzen. 31 Pierpont Morgan Library. 32 Friedländer (Drawings I. Nr. 46) hält für möglich, daß die Skizze nicht eigenhändig sei. Indessen fügt sie sich folgerecht in die Geschichte der Entwicklung der »Treppenmadonna« ein. Wenn also Kopie, dann exakt nach einem Originalentwurf. 33 Paysage. Entretiens d'Atelier. Paris 1869. Der Ausdruck ist speziell auf Poussin gemünzt. 43
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und ein rechteckiges Wandstück. Hiermit wird der Hintergrund bestritten und zwar durch Verdoppelung eines jeden Elementes: es gibt zwei Stufen, zwei Würfel (sofern der Körper rechts von Joseph unter dem Säulenstumpf ein Würfel ist) und zwei, durch einen hochgezogenen Pfeiler getrennte Wandstücke. Wiederholung mehrt die Zahl, ohne das Repertoire zu bereichern. Die richtungslose Komposition litte unter dem Verzicht auf Schrägen und wäre öde ohne Kontrastmotive. Was wäre die unterste Stufe ohne das zierliche Kästdien, das gebauchte Gefäß, die runde Schale; sie erst machen ihre fundamentale Bedeutung ins Auge fallend. Im Widerspiel klobiger Grundgebilde und Zierformen kunstgewerblicher Züchtung (die schlank-zerbrechliche Fontäne vor dem Würfel, Tuch und Pflanzen verschiedener Art vor Mauer und Pfeiler) belebt sich ein eigener Reiz, verdeutlicht sich das Elementare als das »Nicht-Profilierte«, das Schmuckhafte als bewegliche Zutat. d) D a s g r o ß e B l a t t i n j
Paris34
Unter allen Vorzeichnungen zur »Treppenmadonna« kommt diese, ausführlichste, dem Gemälde am nächsten, so nahe, daß sie ihm unmittelbar voraufzugehen, also 1647/48 entstanden zu sein scheint. Von reidier Schauwirkung, berücksichtigt sie Figuren, Steine, Himmel und Wolken gleichermaßen, ohne doch durch allzu große Ausführlichkeit den Charakter eines Entwurfes zu verleugnen 35 . Zahlreicher Überschneidungen wegen ist diese Zeichnung nicht leicht zu lesen. Auf der linken Seite steht vor der in die Tiefe führenden Mauer mit der Türöffnung eine Ziegelwand und davor noch eine Brunnenschale; ähnlich überschneiden sich auf der rechten Seite Säulen mit einer Treppenwange. Die Methode der Vervielfältigung tritt auch hier, am deutlichsten in den drei Bogenöffnungen des Bauwerkes links oberhalb der Treppe hervor. Der linke Bogen spiegelt sozusagen den rechten, wobei das Postament zwischen Elisabeth und Johannes — das jetzt statt der verschleifenden Tudidrapierung eine bekrönende, die Senkrechte straffende Vase trägt —, analog dem
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Pfeiler auf der N e w Yorker Zeichnung (c), als eine Symmetrieachse aufgefaßt werden kann 3 6 . Die Pariser Zeichnung kommt insofern über die vorhergehende Phase hinaus, als aus den »Elementen« der Umgebung der heiligen Gruppe genau benennbare Dinge geworden sind. Statt vor einer Ansammlung geometrischer Körper befindet sich der Betrachter jetzt vor einer wie aus der Erfahrung hergenommenen Lokalität. Dieser Eindruck wird auch durch die vordere Treppe verstärkt, die aus der Tiefe zum eigentlichen Bildschauplatz heraufzuführen scheint; sie intensiviert, als ein kommunizierendes Motiv, die Verbindung zwischen dem Betrachter und dem Bilde im Sinne des Erfahrungsraumes. Es mag mit solchen Veränderungen zusammenhängen, daß die Verdoppelung von Grundelementen keine entscheidende Rolle mehr spielt, son34
Louvre 32439. Friedländer Drawings I. Nr. 47. 38 Völlig symmetrisch wird der Bau durch den am linken äußeren Bildrand angegebenen Eckpfeiler. 35
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dem das Schwergewicht auf der Wiederholung einzelner Felder und Größenabschnitte liegt. Der Ziegelmauer auf der linken Seite entspricht rechts eine Treppe, die dem Prinzip planimetrischen Aufbaus folgend, mit der Mauer in eine bildparallele Bezugsebene tritt. Die Entstehung der Zeichnimg kann nur bei genauer Untersuchung verfolgt werden. Verschiedene Schichten liegen übereinander, deren unterste als die erste Anlage anzusehen ist; sie lehnt sich noch an das Stadium des New Yorker Blattes an. Im Winkel zwischen dem aufgestellten Bein des Joseph ist ursprünglich ein Podest gewesen, dessen Abmessungen dem Podest entsprechen, der links unter der später zugefügten Brunnenschale gerade noch erkennbar ist37 (die Rekonstruktion Abbildung 6 verdeutlicht diese erste Phase). In einer zweiten Phase wurde am rechten Bildrand die Säule zugefügt — die als ein Säulenstumpf schon auf der New Yorker Zeichnung vorkommt — und zu einer Säulenreihe ausgebaut, deren Schäfte hintereinander stehen (Rekonstruktion Abbildung 7). Erst daraufhin kann die Idee der Treppe aufgekommen sein. A n die Staffelung der Säulenschäfte lehnen sich die Treppenstufen und richten sich nach den Rücksprüngen von Säule zu Säule. Das dunklere Pigment bezeugt ein anderes Stadium der Arbeit (Rekonstruktion Abbildung 8). Die Treppe ist sozusagen der Umschlag aus der Staffelung der Vertikalen in die der Horizontalen 38 . Die gegenständliche Welt dehnt sich nunmehr immer weiter aus, ohne daß es möglich wäre, noch von weiteren »Phasen«« der Entwicklung zu sprechen, da eines das andere bedingt und jeder Zusatz sogleich, seine Konsequenzen hat. Die Stufen rufen die Treppenwange hervor, die nachträglich über die Säulen hinweg gezeichnet wurde. Die Anlage der Treppe bedeutet das Aufgeben des Säulenmotives an dieser Stelle. Ungeklärt bleibt, ob Poussin schon vor oder erst nach der Verwerfung der Säulen deren obere Endungen als formale Ansatzpunkte benutzt hat, von denen aus nach links hin waagrechte Parallelen gezogen werden, die die Maße des Gebälkes der Portikusanlage hinter Maria bestimmen. Möglicherweise spielt hier der Gedanke einer Pergola mit hinein, die die heilige Gruppe von rechts her überdachen sollte. Wichtig wäre dann, hervorzuheben, daß Poussin die formale Seite dieses gegenständlichen Motives für seine Komposition nutzbar gemacht hat, indem er die Protikusanlage den Fluchtbahnen der Pergola auf das genaueste einpaßte 39 . Der Portikus wird dann am äußersten linken Bildrand nochmals wiederholt, so daß jetzt, am Ende der Entwicklung, der Arbeitsprozeß über den ursprünglich vorhandenen Formen zum Stillstand kommt. Zuletzt erhöht Poussin die Treppe um die oberste Stufe. Damit stellt er das Gleich-
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D i e innere Grenze des linken Türpfostens bildet die linke Kante des Postamentes,
das den Türdurchbruch verstellt (nur am Original klar erkennbar). 38
Entsprechendes findet sidi auch sonst. D i e Zeichnung »Ehe« der zweiten Sakramenten-
serie (Louvre RF 17, Friedländer Drawings I. Nr. 93) bringt Säulenstaffelung und Deckengebälk in ähnliche Beziehung. 39
Ähnliche waagerechte Linien, die auf Architektur bezogen werden
(diesmal
ohne
gegenständlichen Sinn) befinden sich auf einer Zeichnung in Windsor, vgl. A . Blunt: T h e French Drawings in Windsor Castle. Oxford—London 1945 Nr. 211.
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gewicht zwischen der ganzen Treppe und der Ziegelmauer in der linken Hälfte her, wobei dahingestellt bleibe, ob die Ziegelmauer der Treppe, oder diese jener angepaßt worden ist. Eine Formentwicklung wird verfolgbar, in der sich, rund um die Figuren Glied an Glied fügt, die auf der linken Seite ihren Ausgang genommen hat und ebendort endet. Dabei geht eines aus dem anderen zwingend hervor. Auch scheinbar untergeordnete Motive sind mit Folgerichtigkeit bedacht. Es bleibt zu erwähnen, daß sich in gleichmäßigem Abstand senkrechte Linien in Bleistift über das Blatt gezogen finden, deren Zweck zu sein scheint, das Metrum abzugeben, innerhalb dessen sich die rhythmische Flächenordnung vollzieht. Auf den Sinn solcher senkrechten Flächenteilung wird noch im folgenden eingegangen werden (vgl. S. 8ο f.). Auch die Unterschiede, die zwischen der großen Louvrezeichnung und dem Gemälde bestehen, werden erst im zweiten Kapitel behandelt. Poussin hat dieses Blatt mit allen Überzeichnungen auf das sorgsamste kopiert und dem ihm freundschaftlich verbundenen Paul de Chantelou geschenkt. Diese Kopie ist erhalten und befindet sich in Bayonne (Musee Bonnat Nr. 257). Chantelou ist nicht der Empfänger des Bildes gewesen, und es mag merkwürdig berühren, daß einem anderen als dem Besteller Einblick in den Werdegang der Komposition gewährt und Vorgänge vor ihm enthüllt werden, die für gewöhnlich Geheimnis bleiben. Wir kennen de Fresne, den Auftraggeber der »Treppenmadonna«, einen hohen Jagdaufseher, hinreichend, um zu wissen, daß sein Kunstgeschmack, der sich zwar an Giulio Romano, selbst an Michelangelo gebildet hatte, aber auch für leichtere Bilder von Sneyders («toutes nudites»40) empfänglich war, nicht über alle Gaben verfügte, das für ihn bestimmte Meisterwerk in seinem Reichtum ganz zu würdigen. Chantelou aber war — wie sich zeigen wird — für einige Probleme des Bildes vorbereitet. Was das Motiv der ungewöhnlichen Schenkung der Zeichnungskopie gewesen sein mag, muß deshalb später, zusammen mit diesen Problemen erörtert werden. e) D a s 2 3 4 5
Kompositionsprinzip
Jede der vier Vorzeichnungen zur »Treppenmadonna« ließe sich eigens benennen. Das Blatt in Dijon experimentiert mit der Figurenzahl und zielt auf die Anordnung der Personen auf der von vornherein feststehenden Stufenbühne, trägt also die Kennzeichen einer Gruppenstudie 41 . Das kleine Fragment des Louvre ist Teil einer nodi vieles offenlassenden generellen Dispositionsskizze. Die Zeichnung in New York erprobt, wie eine »maquette«, zum ersten Male szenische Wirkung. Der große Entwurf im Louvre, der die fertige Gruppe enthält, beschäftigt sich ausschließlich mit der Gestaltung des Bildgefüges anhand gegenständlich-verdinglichter Formenwerte, wobei 40
E. Bonnaffe: Dictionnaire des Amateurs franpais aux XVII siecle. Paris 1884. p. 116. Außer der »Treppenmadonna« lieferte Poussin für die Fresne noch ein Bachanal. 41 Nach der unterschiedlichen Lebendigkeit der Strichführung zu urteilen, stand eher der linke als der rechte Teil der Gruppe im Brennpunkt der Aufmerksamkeit. 46
in strenger Flächenordnung, als handele es sich um einen Konstruktionsriß, das Bildmäßige organisiert wird. Angesichts dieser Reihe müssen bisherige Urteile revidiert werden. Es scheint nicht angebracht, die Uberzeichnungen des großen Pariser Blattes als »Reuezüge«42, d. h. als Verbesserungen einer ursprünglich nur unbestimmten, erst im Verlauf der Arbeit präziser gefaßten Bildidee anzusehen, sie stellen keine Altemativlösungen dar, sondern gehören in einen durchaus einheitlichen, von keinerlei Schwankungen der Intention getrübten Plan. Dieser Plan umfaßt weniger das Gegenständliche als das Methodische der künstlerischen Verfahrensweise. Unter diesen Umständen ist es irrig, die waagerechten Linien zwischen Säulen und Portikus η u r als den Plan einer Pergola anzusprechen43. Säulen und Portikus gehören gegenständlich nicht zusammen, denn abgesehen davon, daß deren, von den obersten Treppenstufen überschnittene, also weiter zurückliegende Stützen vorn in keine gemeinsame Ebene rücken, gehört die ganze Portikusanlage einer anderen Entwurfsphase an als die Säulen. Sie kann erst kurz nach Einfügung der Treppe, die nach den Säulen gezeichnet wurde, im ganzen umrissen worden sein. Die waagerechten Balken der Pergola sind also zugleich auch als bloße Formwerte, ganz unabhängig von ihrer dinglichen Substanzialität wichtig. Als solche erst fügen sie sich in die erkennbare Genese der Bildvorstellung verständlich ein. Poussin hat die architektonische Fassimg seiner Gruppe langsam aus einem Urmotiv, einer Kombination aus Würfel und Mauer, nach Art musikalischer Behandlungsweise entfaltet. Das Blatt in Dijon (a) enthält von dem Hintergrund nur diesen Keim, einen Podest, und eine in die Tiefe führende Wand. Die New Yorker Zeichnung (c) zeigt seine Vervielfältigung. Das große Blatt im Louvre (d) umspinnt die weiter ausgebaute Struktur mit reichen Füllstimmen. Was in der Theorie des Spätbarock (Lairesse) gefordert wurde: Ausbildung des gedanklichen wie auch des malerischen Konzeptes aus einem Kern (nucleus), ist in den Studien zur »Treppenmadonna« lange vor jeder gedanklichen Formulierung ins Werk gesetzt44. Auch die Kunsttheorie fände das Gemälde wichtig. Weil sich für eine »Treppenmadonna« keine Vorform, kein feststehender ikonographischer Typus hatte nachweisen lassen, war die Treppe ein sekundärer Bestandteil genannt worden. Die Genese des Bildes lehrt, daß Poussin in der Tat nicht von der Vorstellung einer »Treppenmadonna·' ausgegangen, sondern erst nach mehreren Schritten dorthin gelangt ist. Man kann den Finger auf die Stelle legen, wo ihm in der Endphase der Gedanke einer Treppe gekommen ist. Deshalb ist es unrichtig, schon in der New Yorker Zeichnung, ja in dem Blatte in Dijon Andeutungen der Treppe zu konstatieren45. In beiden Fällen ist keine Treppe erkennbar, auf der Maria sitzen könnte. Auch auf dem Fragment im Louvre geht hinter Joseph keine Treppe auf. In 42
So Friedländer Drawings I. p. 26. Nr. 47. Friedländer ebendoit. 44 Hierzu G. Kauffmann: Studien zum Großen Malerbudi des Gerard de Lairesse, in »Jahrbuch für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft«. 1956. S. 195. 45 So Friedländer Drawings I. p. 25. 43
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der New Yorker Zeichnung ist die Sitzweise der Madonna nur so zu deuten, daß sie auf einem eigenen Sitz thront, nach Art der zwischen »Fortitudo« und »Temperantia« postierten Raffaelschen »Veritas«« in der Stanza della Segnatura. Da man sich nicht denken kann, daß Maria mit Joseph auf ein und derselben Stufe sitzt, bleibt der Gedanke an diese Plazierung am sinnvollsten 48 . Unerkennbar ist auf dem Dijon-Blatt, was der kräftige waagerechte Federstrich zwischen dem Kopf des Joseph und dem linken Arm der Madonna besagen soll. Er läuft in gleicher Höhe mit der Oberkante des Würfels links. In Anbetracht der in späteren Studien (New York und Paris, c und d) sich offenbarenden Konstruktionsweise liegt es nahe, in dieser Andeutung nicht die erste Spur eines D i n g e s , sondern des für den Aufbau der ganzen Komposition so bestimmenden V e r f a h r e n s (Projektion einzelner Abmessungen mit dem Ziel, Äquivalente zu schaffen) zu sehen, womit sich die ganze Reihe der Vorzeichnungen einheitlich unter einem, verschiedene Phasen der Planung und Ausführung durchlaufenden Kompositionsprinzip zusammenschlösse, das in stetiger Abfolge vom ersten zagen Ansatz (Dijon) bis zum vollstimmigen Spiel (große LouvreZeichnung) anwächst. Das Fragment im Louvre fällt nicht aus diesem Rahmen. Seine bildparallelen Grundstufen erfüllen keine andere formale Aufgabe als auch die Linien der späteren Pergola. Also ließe sich zusammenfassend sagen, Poussin sei ein Prinzip der Einordnung des Dinglichen in flächenhafte Bindungen gegenwärtig gewesen, b e v o r n o c h i r g e n d e i n a n d e r e r , ü b e r d i e F i g u r e n u n d das »Urmotiv«« von W ü r f e l u n d P f o s t e n h i n a u s g e h e n d e r , auf das G e g e n s t ä n d l i c h e b e z o g e n e r G e d a n k e in i h m Gestalt gewonnen hatte. Nicht schrittweise hat Poussin sein Bildgefüge abgeklärt, sondern er hat es durch Zugrundelegen eines Prinzips geordnet, das in der künstlerischen Arbeit ein Prius darstellt. Alle Bildteile fügen sich langsam um die Figuren herum nach vorbestimmtem Gesetz. Die Vertiefung des Bildgehaltes durch die Aufnahme ikonographisch sprechender Beziehungen vollzieht sich erst im Bereich des Gegenständlichen, also in einer sekundären Schaffensphase.
II. Das Gemälde ι
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Mächtig und fest spannt sich die Komposition der "Treppenmadonna«« im Zusammenspiel von Kontrast und Ineinander. Als Höhepunkt und Abschluß langwieriger Entwicklungsarbeit zieht das Gemälde aus den Erfahrungen seiner Vorstudien gewissermaßen die Summe und wächst zugleich noch beträchtlich über die geistige Welt der Zeichnungen hinaus. Unterschiede heben es von der großen Louvre46
Maria auf einer Stufe: Diese erst mit dem Aufkommen der Treppe mögliche Vorstellung setzt insofern eine Änderung der ursprünglichen Disposition voraus, als die Madonna auf einem eigenen Podest in der gleichen Ebene mit Joseph hätte sitzen können, auf einer Stufe rückt sie jedoch um ein Weniges in die Tiefe hinter Joseph zurück. In der allgemeinen Irrelevanz des Räumlichen konnte Poussin darüber hinwegsehen. 48
als seiner unmittelbaren Vorstufe ab. Fast alle Projektionen sind verschleiert, keine der sorgsam geplanten Korrespondenzen stimmt mehr recht. Die Säulenreihe ist durch zwei nach außen, aus dem Fluchtbereich der Treppenstufen verschobene Pilaster ersetzt, die oberhalb des Rahmens ins Unsichtbare führen, also keine Anhaltspunkte für die Portikusanlage mehr abgeben. Die Symmetrie der Portikusanlage wird links durch mächtige, gleichfalls über den Bildausschnitt hinausweisende Säulen gestört. Das Säulenmotiv ist dadurch näher an Maria herangerückt und durch die voluminösere Formgebimg in seiner Bedeutsamkeit gesteigert. Gehaltliches meldet sich hier zu Worte, denn die Säule ist jetzt als eine Hoheitsform zu begreifen und mit Maria in Bezug zu bringen. Während des Mittelalters wird dieser Zusammenhang ζ. B. durch die Madonnenfiguren an den Mittelsäulen von Portalen ausgedrückt. Im Barock ist Maria mit der Säule in Geburts- und Epiphaniedarstellungen häufig47 (vgl. auch Parmigianinos «Madonna dal collo lungo» in Florenz). Die Treppe, die auf der großen Louvrezeichnung von unten her zu dem Absatz emporführt, von dem die den Figuren als Plattform dienenden Stufen aufgehen, ist ausgeschieden und dadurch die Distanziertheit vermehrt worden. Zugleich ist damit auch der Effekt der Untersicht verstärkt, rückt doch der Augenpunkt so dem unteren Bildrand näher, ohne doch innerhalb der Komposition einen anderen Platz einzunehmen als auf der Zeichnung. Uber der Portikusanlage strahlt jetzt der blaue Himmel, luftig, nach oben hin aufgeschlossen, ins Freie hinausstrebend aktiviert sich eine vertikale Richtungstendenz, die durch den kräftigen Riegel der unteren Stufe, der lagernden Basis der ganzen Bildanlage, einen festen Abstoßpunkt erhält. Die Zeichnung ist demgegenüber mehr zentriert. — Im Detail herrscht neue Beredtsamkeit, in Körbchen, Vase, Kästchen, Früchten. Joseph, der bisher lesend oder schreibend gegeben war, hantiert im Schatten versunken mit einem Zirkel. Auch dies ist gegenüber den Studien ein neues Moment. Zeichnung
Die Malerei des 17. Jahrhunderts hat Joseph bei der Heiligen Familie häufig in der Tätigkeit des Zimmermanns gezeigt48, alte Uberlieferung setzt sich darin fort (Dürers Marienleben), symbolische Vorstellungen verknüpfen sich mit ihr, ζ. B. Vorausdeutungen auf das Kreuz der Passion. Bei Poussin wird auf solche Zusammenhänge nicht angespielt. Der Zirkel erinnert nur entfernt an den Zimmermann. Dem Habitus nach ist Joseph kein Handwerker. Er mißt mit dem Zirkel auf einer Tafel. Hierfür gibt es in der Malerei keine Entsprechungen, und auch im Werke Poussins scheint er ohne Vorstufen zu sein. Zwar finden wir schon in New York Zirkel und Winkelmaß, ohne daß diese Gerätschaften doch in näherer Beziehung zur Person und ihrem gehaltlichen Ausdruck stünden. In Paris fehlen sie wieder. In allen Vorzeichnungen wird Joseph nicht anders denn allgemein kontemplativ gezeigt, wie es schon bei Raffael üblich ist. Das 17. Jahrhundert hat diesen »Kontemplationsty« besonders 4T
H. G. Evers: Tod, Macht und Raum als Bereiche der Architektur. München 1939. S. 98. E. Male: L'Art religieux apres le Concile de Trente. Paris. II. Aufl. 1951. p. 309—325,· A. Blunt: Journal of the Warburg Institute II. 1938/39. p. 53 ff. 48
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geliebt. Seitdem der Heilige durch. Isolanis «Summa de donis St. Josephi» (r522) als Gelehrter von reidiem philosophisch-historischem Wissen geschildert worden ist, malt man ihn immer mehr nachdenklich-einsiedlerisch40. Blunt hat infolgedessen — mit vollem Recht — den Zirkel bei Poussin als Sirtnzeichen im Geiste Isolanis verstanden50. Aber es fragt sich doch, ob damit der Poussinschen Konzeption völlig Gerechtigkeit zu Teil geworden ist, dahingestellt bleibt, welche genaueren Vorstellungen der Künstler mit dieser ganz eigenen Figuration verband. Denn der Zirkel ist mehr als nur das Kennzeichen von Gelehrsamkeit, es braucht ζ. B. nur an Dürers »Melancholia«-Stich oder an das mittelalterliche Beispiel des «Deus mundi elegans Architectus» erinnert zu werden, das uns bei Alanus ab Insulis vor Augen gestellt wird 51 . Ehe aber derartiges zur Sprache kommen kann, müssen Zusammenhänge erläutert werden, zu deren Klarlegung ich weiter ausholen muß. a) D e r Z i r k e l Um Poussins Absicht genauer zu lesen, bedarf es einer kurzen Betrachtung52: Bei einem Tischler ist die Beigabe eines Zirkels unmittelbar verständlich, ebenso gebräuchlich ist er als Attribut einer »Geometria«, sofern sie Erdmessung im eigentlich-praktischen Sinne ist, — beidemal deutet er auf handwerkliche Tätigkeit hin. Indessen kommt er bei »Geometria« auch in übertragener Bedeutung vor, er steht zugleich für ihre allgemeine Schätzung und Bestimmimg der Körper, «nel compasso si rappresenta la linea, la superficie, β la piofonditä, nelle quali consiste il general soggetto della Geometria» heißt es bei Ripa53. Unter ähnlichem Doppelverhältnis begegnet man bei «Misura» einem Zirkel in der Bedeutung »Meßkunst« als Gerät, wie auch in der Bedeutung »Maßhalten« als ethisch-moralischem Symbol, — «non solo per misura materialede' siti, campi, edificij, ma ancora per misura morale, 54 e moderazione di se medesimo» . Hieraus wird verstehbar, daß der Zirkel in der emblematischen Literatur vorwiegend für zwei Bereiche in Anspruch genommen worden ist. Als Werkzeug erscheint er bei den Begriffen »Geographia«55, »Cosmo49
Ausführliche Literaturverweise zur Josephsikonographie des 17. Jahrhunderts finden sich bei H. Soehner: Ein Hauptwerk Grecos, in Zeitschrift f. Kunstwissenschaft XI. 1957. S. 185 ff. 50
Journal of the Warburg Institute II. 1938/39. p. 53 ff.
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Symbolisme cosmique et Monuments religieux. Exposition Paris 1953. Nr. 152,· zu den literarischen Quellen vgl. E. R. Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern. II. Aufl. 1948. S. 517—529. 52
Die ausführlichste Studie über die Bedeutungen des Zirkels haben E. Panofsky und F. Saxl geliefert: Dürers Kupferstich »Melancholia I«. Eine typen- und quellengeschiditlidie Untersuchung (Studien zur Bibliothek Warburg II). Leipzig—Berlin. ^ 2 3 . 63 ΙΠ. ρ. Γ77.
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Ripa IV. p. T47.
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Ripa III. p. 176.
graphia56 usw., für Geistiges kommt er u. a. bei »Sculptura« (Pierre Bontemps: Urne Franz' I) und »Architettura« (Giovanni Bologna) vor ; denn wenn diese »Artes« auch mit dem Zirkel in der Hand geübt werden, sind sie doch nicht denkbar ohne »Mathematica«, die als ihnen obergeordnete spekulative· Wissenschaft den Zirkel ausschließlich in geistiger Bedeutung führt". Als stellvertretendes Zeichen ist der Zirkel bei»Oeconomia«58, »Lex«59, »Justitia«60 aufzufassen. Hier verkörpert er den Oberbegriff des Maßvollen. «II compasso significa, quanto ciascuno debba misurare le sue fozze»ei. »Schönheit«, als Verhältnismäßigkeit aller anschaubaren Teile im Ganzen62 und »Urteilskraft«, als Fähigkeit, das Gemäße zu erkennen63, tragen den Zirkel, der schließlich als Symbol des raisonnablen Prinzips schlechthin dem »Verstände« eigen und von hier aus der personifizierten »Wissenschaft« verliehen wird. Die Leistung des Zirkels, aus einem Punkt heraus den Kreis zu schlagen, kann als eine Allegorie der deduktiven Wissenschaftsmethode angesehen werden. Dann sagt Philotheus: «On ne peut dans la science ήβη faire de juste et de paxfait si Ton n'en piend le pnncipe.. umgekehrt bedeutet ein zerbrochener Zirkel »Unbestimmtheit, Verwirrung, Verzweiflung und zerrütteter Verstand«65. Je komplexer ein Begriff, auf um so mehr Seiten spielt sein Sinnbild an und um so mehr Sinnzeichen können aufgeboten werden; wenn ζ. B. in der Vorstellung von »Freigebigkeit« der Zug des »Maßvollen« mit enthalten ist, wird die Allegorie der »Liberalitas« mit einem Zirkel versehen66, der dann den Begriff um die Nuance »bestimmte Bemessung« bereichert. Je nach den philosophischen Anschauungen, die einem Begriff zugrunde liegen, ist seine Struktur (damit auch die Konstellation seiner allegorischen Attribute) von Fall zu Fall verschieden. Ripa stellt »Theoria« wie »Practica« als stehende Figuren dar, weil für ihn das theoretische wie auch das praktische Verhalten von »Activitas« bestimmt sind87,· wird jedodi betrachtende Nachdenklichkeit als Grundlage sowohl der »Theoria« wie der »Practica« empfunden, sind beide Be
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Boudard II. p. 130.
«Sta in atto di tiiaie col compasso il ciicolo, perchb sebbene la Mathematica έ speculativa scienza». Ripa IV. p. 78. 58
58 60 61 62 63 64 65
ββ
ibid. II. p. 285. ibid. IV. p. 9. ibid. III. p. 182. ibid. II. p. 286. Boudard I. p. 66. ibid. II. p. 147. Emblemes ou devises chrötiennes. Ed. van Sdiouten. Utrecht 1697. p. 127. A. Breysig: Wörterbuch der Bildersprache. Leipzig 1830.
Ripa V. p. 24: «La libeitä e una mediociitä nello spendeie per abito virtuoso, e moderato». 67 Theorie und Praxis «sono diretti a bene operare con arte, dot a misura, e a segno, come» — und hier tritt die philosophische Wurzel zutage — «testifica Aristoteles per pnncipio di tutta la sua Metafisica» heißt es Ripa V. p. 275•,das Entsprechende zu «Practica» IV. p. 398.
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sitzend abgebildet, wie bei Boudard68. »Meditatio« ist seit alters eine Sitzfigur69. Wegen der Vieldeutigkeit der meisten Sinnzeichen und wechselseitigen Uberschneidung ihrer Bedeutungskreise sinkt mit der Zahl der Beifügungen die Ablesbarkeit einer Bildformulierung. Während im 18. Jahrhundert die bis in unsere Tage herrschende Meinung aufkam, jede Allegorie habe unmißverständlich zu sein70, rechnete das 16. und 17. Jahrhundert mehr mit der Natur des sinnbildlichen Denkens. Ripa rät, den Sinn einer Allegorie vorsichtshalber unter das Bild zu schreiben: «mi paie cosa da osservarsi il sottoscnveie i nomi, eccetto quando devono essere in forma d'Enigma,· peiche senza la cognizione della cosa significata, se non sono immagini tiiviali, die per l'uso alia prima vista da tutti oidinanamente si ήconoscono»71. Entschleiert sich also eine Allegorie nicht «prima vista», darf daraus nicht geschlossen werden, daß kein genau fixierbarer Begriff hinter ihr steht72. Als Beispiel diene eine Radierung Guido Renis, deren Betrachtung sich auch im Hinblick auf Poussin fruchtbar erweisen wird. Diesem Blatt ist bisher keine Gerechtigkeit widerfahren: eine auf einer Stufe sitzende Frau, die mit der Linken einen Zirkel hält, sich mit der Rechten auf einen Gegenstand stützt, der wie ein Buch aussieht, hieß wechselweise »Die Wissenschaft«73, »Die Malerei« 74 oder »Die Liebe zum Studium« (Bartsch). Als Sitzfigur gehört sie in den großen Kreis der »Meditatio«-Figuren und zwar — angesichts des Zirkels — in die Untergruppe »Consideratio«75. Nun richtet sie beide Zirkelspitzen nach oben, stützt die rechte Hand auf das Buch und weist sich dadurch als eine »Theoria«-Variante aus. Ein Blick auf Boudards »Theorie« macht diese Deutung evident78. Schließlich wecken kubische Formen in der Nähe der Figur die Erinnerung an Ripas »Planimetria«, jene «ars geometrica», die aus Länge und Breite Oberflächen bestimmt und deren Allegorie unter ihren Attributen einen mächtigen Kubus führt 77 . Der Begriff »Theoria geometrica« dürfte dem Gesamtsinn am nächsten 68
Boudard zu »Theoria«: «Comme eile n'a pour ob)et que la paitie speculative d'une science, on la reprisente assise tianquillement dans une attitude pensive» (III. p, 161). — Äschylos, der im allgemeinen in der Emblematik sitzend (rezeptiv, »studierend«) gezeigt wird (vgl. van Veen: Emblemata Horaziana. Amsterdam 1684. p. 179), kommt stehend vor, sobald seine geistige Tätigkeit als «actio» (produktiv, »dichtend«) begriffen wird; Schoonhoven: Emblemata. Lüttich 1626. p. 28. Siehe auch Lairesse II. S. 132. 69 Ripa IV. p. 90. 70 Vgl. B. Croce: La parola del Passato. I. 3. 1946. 71 Ripa I. p. XLIV (Proemio). 72 Hierzu Ε. H. Gombrich: Icones symbolicae, in «Journal of the Warburg and Courtauld Institutes» XI. 1948. p. 163 f. Ferner wichtig: A. Pigler: The importance of iconographical Exactitude, in »The Art Bulletin«. 1939. p. 237. 73 M. v. Boehn: Guido Reni. Bielefeld-Leipzig Γ910. S. no. 74 Katalog der Mostra Guido Reni. Bologna 1954. p. 137. Nr. 37; dort heißt es übrigens auch: «... il significato dell'Allegoria e poco chiaio». 75 Ripa II. p. 31. Auf »Consideratio« deutet auch der Putto, der die Feder in ein Tintenfaß taucht, wie um die »Betrachtungen« der Sitzenden festzuhalten. 70 III. p. 161. 77 Ripa IV. p. 389.
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kommen. Wenn es bei Ripa audi keine sitzende »Theoria« gibt, schließt dies nicht aus, daß Guido Renis Beispiel auf Ripa zurückgreift. Es finden sich alle Kennzeichen seiner Figur bei Ripa einzeln wieder, an verschiedenen Stellen seines Werkes. Das Sinnbild kam als Ganzes durch die Kombination der einzelnen Attribute »Sitzen« (»Meditatio«), dem »Zirkel, Spitzen nach oben« und dem »Buch« (»Theoria«) sowie den »Kuben« (»Planimetria-Geometria«) zustande. Wir nähern uns Poussin, wenn wir eine andere, ähnlich komposite Allegorie ins Auge fassen, die bisher noch nicht mit Guido Renis Figur in Verbindung gebracht worden ist, obwohl sie zu deren Verständnis wesentliches beizutragen vermag. Wir sehen eine nackte Frau, die auf harten Quadern liegt, den Blick erhoben. Die eine Hand hält einen Zirkel, die andere führt den Pinsel: auch hier also Hinweis auf »Theoria« in der Verbindung mit »Geometria«, also gleichfalls eine »Theoria geometrica«. Durch die malende Hand wird aber außerdem der bei Reni fehlende Bezirk des Künstlerischen berührt. »Theoria artificialis« könnte die Figur unter der Bedingung heißen, daß dem Begriff »künstlerisch« der Bestandteil »geometrisch« einbeschrieben wird. In Wahrheit ist das Blatt jedoch anders benannt worden. Auf dem mächtigen Kubus links am Rande springt das Wort IDEA kapital ins Auge. Die sinnbildliche Komposition stammt von A. Clouwet und befindet sich als Textvignette im Erstdruck der berühmten Rede über »die Idee des Künstlers« von Bellori, des Freundes von Poussin78, sie verkörpert jene theoretisch fixierte Potenz, die Bellori Inbegriff aller wahrhaft künstlerischen Produktion dünkte. Es ist nicht unwesentlich, daß Guido Reni einer der wenigen Künstler gewesen ist, die Belloris theoretischen Ansprüchen zu genügen vermochten: «vantavasi Guido dipingere la bellezza non quale gZi si offenva agli occhi, ma simile α quell a die vedeva nell' Idea » 79 . Wenn wir daher sagen, Guidos Radierung — über deren Bestimmung man sonst gar nichts weiß — stehe im Einklang mit Bellori, je greife dessen »IDEA«-Vignette voraus, so begründen wir dies mit der Gemeinsamkeit der allegorischen Struktur, stehen dabei jedoch von vornherein einer Parallele von geschichtlicher Wahrscheinlichkeit gegenüber.
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Ohne weiter auf beide Allegorien einzugehen, auf ihre Unterschiede, ihren spezifischen theoretischen Sinn, sei hier nur hervorgehoben, daß der Zirkel bei Guido wie auch bei dem Beispiel bei Bellori in einem Sinnbild Verwendung findet, das ein allgemeines Prinzip künstlerischen Schaffens zum Ausdruck bringt und infolgedessen auch für die Malerei Interesse beanspruchen kann. b) D i e B e z i e h u n g e n z u r I d e e n w e l t
Belloris
»Obgleich Ziikel und Lineal audi in der Werkstatt des Tischlers vorkommen, sind sie doch hauptsächlich mathematische Instrumente, und wenn sie ohne andere Tisch78
Giov. Pietro Bellori: L'Idea del pittore, dello scultore e dell'Architetto. Discorso. Die 1664 gehaltene — für die Kunsttheorie in höchstem Grade bedeutungsvolle — Anspradie wurde zuerst 1672 als Vorwort der Viten gedruckt. Grundlegend E. Panofsky: »Idea«. BerlinLeipzig 1924. S. 57—63; neuerdings K. Donnahue, in »Marsyas«. III. 1943—45. p. ro7 ff. 79 Bellori Idea p. 11. 53
lerweikzeuge eisdieinen, deuten sie vornehmlich auf intellektuelle Ziele hin«80.
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Diese, aus dem mittelalterlichen »Deus Architectus« des Alanus und Dürers »Melancholia« ohne weiteres einsichtige Wahrheit erfährt durch unsere Untersuchung eine gewisse Präzisierung, denn es hat sich ergeben, daß ein Zirkel, sobald er nicht e i n d e u t i g als Berufsabzeichen bestimmbar ist, sinnbildlich erklärt werden m u ß. Damit stellt sich die Aufgabe, aus den mannigfachen Schattierungen, denen der Gehalt des Symbols unterworfen ist, die für Poussin maßgebliche herauszusondem. Die Heilige Familie erscheint in der »Treppenmadonna« wie eine Reihe historischer Personen in einem bestimmten Moment auf Stufen in einem Tempelbezirk auf der Rast. Bedeutungsschwere Anspielungen lassen sich deshalb nicht — wie etwa bei den allegorischen Figurationen der Emblemebücher — als ein primärer Bildinhalt unmittelbar ablesen, sondern können nur mittelbar als Analogien aus dem Gemälde — [als ihrer bildlichen Entsprechung) — erschlossen werden. Der Weg zur Deutung führt über eine Interpretation des Kunstwerkes und des ihm zugrunde liegenden Ausdruckswillens. Aus der Genese, als dem sichtbaren Weg der schöpferischen Planung, wird deutlich, daß in der »Treppenmadonna« zwischen dem System von Ebenenkorrespondenzen, auf dem der Hintergrund beruht, und den Bauten, die ihn beleben, ein Verhältnis der Bedingung waltet. Weil eine Landschaft keine geometrisch umschreibbaren Flächen darbietet, läßt sich Natur nicht im Riß abbilden. Freiraum ist untektonisierbar. Der Aufriß der großen Louvrezeichnung (d) ist nur an Architekturformen zu verwirklichen. Planimetrisches ist nur im Architektonischen enthalten und nur an Architektur künstlerisch wirksam. Der Einzelfall einer Heiligen Familie vor Außenarchitektur trifft sich im Werke Poussins mit einer exemplarischen Projektionsmethode planimetrischer Art als Grundlage der ganzen Komposition. E i n e b e s o n d e r e A r t z u z e i c h n e n — , u n d d i e i h r e n t s p r e c h e n d e S z e n e r i e . Der stille Tempelbezirk, den man sieht, wurzelt in ganz anderen Gründen als der poetischen Idee von einem »Schauplatz«. Um eine nähere Bestimmung des sinnbildlichen Gehaltes der Josephsfigur bemüht, wäre beim Fehlen handwerksmäßiger Attribute der Zirkel zunächst als ein Symbol des »Maßhaltens« zu verstehen, so wie er Cavazzolas mönchischem Joseph attribuiert ist im Sinne einer frühzeitig greifbaren Tradition: auf einer Bildnisminiatur des Savino da Faenza (i486) begleitet links ein Pfau [»sinnenhafte Lebensfreude«), rechts Zirkel und Winkelmaß (»beherrschte Lebensführung«) kennzeichnend den Dargestellten81. Also nicht nur auf eine schon dem 16. Jahrhundert vorschwebende Gelehrsamkeit des Heiligen, sondern zugleich auch auf dessen strenges Maßhalten ließe sich der Zirkel beziehen, insbesondere bei Poussin; denn in Bezug auf die konsequente Beherrschtheit der Bildkomposition ließe sich weiter fragen: soll der Zirkel etwa auch auf das Kunstwerk als ein Ganzes, auf die Durchmessenheit des Bildhinter80
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A. Blunt: Blake's Ancient of Day's, in »Journal of the Warburg Institute« II, Idi danke Herrn Dr. P. Melier für diesen Hinweis.
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grundes hindeuten, so daß sich dann, auf letzter Bedeutungsebene, eine Entsprechung ergäbe zwischen dem inhaltlichen Motiv des Heiligen und der künstlerischen Form in der durch die Bildtradition nicht recht erklärbaren architektonischen Inszenierung der Bühne? Bei einem Blick auf die Kunsttheorie, besonders einem Hinweis auf Belloris Vorstellungen über die Idee des Künstlers, vermag diese Frage einer Klärung nähergeführt zu werden. Bellori spricht von »Idee«, sobald er im platonischen Sinne jene Musterbilder meint, die im Weltschöpfer bei seinem Werk vor Augen schwebten, und sobald er insbesondere jenes »vollkommene und überragende geistige Urbild« bezeichnen will, daß in jedem Kunstwerk unsichtbar und im Geheimen hinter dem Abbild der Dinge wirkt, diese zugleich über bloße Naturerzeugnisse erhebend; in einem echten Kunstwerk vereinigt sich — wie Bellori sagt — die göttliche Wahrheit der »Idee« mit der sinnlichen Wahrscheinlichkeit der Naturdinge zu höherer Wirklichkeit, «cosi l'Idea constituisce il perfetto della bellezza naturale, ed unisce il vero al vensimile delle cose sottoposte all' Occhio»82. Nicht an sich, sondern nur in einer dem Augensinn zugänglichen Körperlichkeit kann die »Idee« Erfahrung werden — wobei sie sich unter dem geliehenen Kleide verrät. Bellori begreift sie als ein Ordnungsprinzip, das überall da, wo es wirkt, auch wahrnehmbar durchscheint. Den mißlichen Kreaturen unserer sublunarischen Welt verleiht die »Idee« im Kunstwerk Gestalt und Proportion. Durch sie vermag der Künstler jedes Ding zu adeln und sein ihm am Schöpfungstage verliehenes Grundgesetz mittels bestimmter Maßverhältnisse sinnlich zur Anschauung zu bringen. Das Interesse der klassischen Stilrichtung für Proportionsmethoden erfährt hier eine theoretische Beleuchtung. Wie jedes Kunstwerk ist auch das architektonische Gebilde von einer Idee beseelt, die es womöglich reiner als jede andere Gattung der bildenden Kunst zum Ausdruck zu bringen vermag, da es vor allem in Maßverhältnissen sich ausspricht. Der wahre Baumeister komponiert die Bauglieder nach einem idealen Plan, «un buon Architetto riguardando all' Idea ed all' esempio propostosi, fabbricö il mondo sensibile dal mondo ideale e intelligibile63», und deshalb gilt, wie für jedes Kunstwerk, auch für ein Gebäude, daß es jeder natürlichen Bildung überlegen, «supenore alia natura» sei, und sofern sich die Architekten der »erhabenen Formen der Ordnungen« bedienen, webt in den wohlproportionierten Gliedern ihres Werkes etwas vom allgemeinen Weltgesetz, «quant' all' Aichitettuia, diciamo die 1'Architetto deve concepire una nobile Idea , e stabilirsi una mente, die gli serva di legge e di ragione consistendo le sue invenzioni nell' ordine, nella disposizione, e nella misuia ed euritmia del tutto, e delle parti»M. In der »IDEA«-Vignette gewinnen diese sich auf dem Gebiete des Neuplatonismus bewegenden Vorstellungen die ihnen gemäße bildnerische Form. Die nackte Frau (Nacktheit gilt als Zeichen der Wahrheit85) erhebt den Blick zur reinen Höhe der 82 83 84 85
Bellori Idea p. 8. ebenda p. 14. Bellori Idea p. 16. Ripa V. p. 360. SS
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Imagination, die erschauten Bilder nehmen — von der Hand gemalt — auf der Leinwand Gestalt an. Die Attribution des Zirkels und der großen Quadern, auf denen die Frau sitzt, und auf die sie sich und ihr Malwerk aufstützt, bezeichnen als Anspielungen auf »Geometria« die Klarheit ihrer genau bemessenen — nicht schweifenden — Gedanken, während die Basis und der untere Teil einer kolossalen Säule im Hintergrunde auf die Baukunst verweisen, die kraft ihrer bis ins feinste zu regelnden Proportioniertheit bevorzugter Ausdrucksträger von Ideen ist. Mit einem glücklich formulierten Gleichnis, das sich als Motto der Vignette verwenden ließe, hat Bellori die Wirksamkeit der »Idee« im Ganzen künstlerischer Arbeit so beschrieben: «misuiata dal compasso dell' intelletto, diviene misura della memo, ed animata dall' Immaginativa, da vita al' Jmmagine»m.
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Es ist nicht nur das in diesem Satz verwendete Bild des Zirkels, das aufmerken läßt, sondern auch die ganz besondere Nähe dieser theoretischen Formulierung zu Poussins Gestaltungsweise. «Misuiata dal compasso dell' intelletto . . . ed animata dall' lmmaginativa» entwickelt sich in der »Treppenmadonna« die Gegenständlichkeit des architektonischen Hintergrundes aus einer vorgegebenen Fonnvorstellung. Auch bei Bellori geht die »Idee« als Vorbild des Verstandes, «piovidenzia dell' intelletto»*7, jeder künstlerischen Aktion voran, und Poussin handelt völlig in Belloris Sinn, wenn er im Verlauf seiner Arbeit zunächst die Methode ins Auge faßt, aus der später die Bildgegenstände erwachsen. In den zugleich als Projektionslinien wirksamen Gebäudeteilen der großen Louvrezeichnung (d) werden wir seiner »Idee« gewahr, noch ehe sie eigentlich sichtbar ist, und in den geometrischen Elementarformen, aus denen die Szenerie des New Yorker Blattes zum großen Teil besteht, begegnen wir ihr auf halbem Wege zum Dinglichen in ersten, idealen Grundgebilden, dem »Urstoff« der späteren Architektur,· unter diesen Umständen kann der Zirkel in der Hand des Joseph auf die Komposition des Gemäldes als eines von einer Idee durchwalteten Kunstwerkes bezogen werden, als eine Entsprechung zu dem Zirkel in der Hand der allegorischen Vignette. Wir haben Grund zu der Annahme, daß sich die ikonographische Formel des »kontemplativen« Joseph — wahrscheinlich unter dem Einfluß Isolanis — mit Vorstellungen von differenzierter geistiger Tätigkeit belebt hat, die ihrerseits von Poussin auf den Bereich des Künstlerischen hin interpretiert worden sind. Umfassend können die Ansichten Belloris an Poussins »Treppenmadonna« beleuchtet werden.
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Das Gemälde erwächst auf einem Grunde von Unwirklichkeit. Die geometrischen Elementarkörper auf der New Yorker Zeichnung (c) sind nicht etwas Natürliches, sondern etwas Künstliches. Sie bedürfen — um gezeichnet zu werden — keines Naturstudiums, sondern der theoretischen Einsicht, daß die Klarheit eines Bildgefüges mit der leichten Uberschaubarkeit der Bildgegenstände zusammenhänge und im Einheitsbezug aller Größen auf flächenhafter Korresponsion in der Sehebene beruhe. Ent86 87
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Bellori Idea p. 8. Bellori Idea p. ι8.
sprechend bietet die große Louvrezeichnung (d) keinen »Erfahrungsraum« dar, son-
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dem ein undurchschaubares Agglomerat von Bauteilen, das einzeln, Stück für Stück, zusammengetragen worden ist88. Die Verwirrung, die angesichts des Blattes aufkommt, wächst in dem Maße, als es räumlich gesehen wird, — »denn hart im R a u m e stoßen sich die Sachen«. Poussin hat aber das Räumliche nicht primär hervorgehoben, er hat sie in die stärkste Spannung zu Flächenwerten versetzt. Die natürliche Raumwirkung des Gemäldes hat er erst im letzten Augenblick dadurch herbeigeführt, daß
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er den Bestand der Zeichnung siebte, und — grob gesagt — immer nur ein Ding am gleichen Platz beließ. Er konzipierte auf anderes als »Vedute«, hinter seiner Gestaltungsabsicht steht eine höhere, geistige Welt. Vom Gestalterischen, vom aktuellen schöpferischen Tun aus betrachtet, ist die große Louvrezeichnung weniger für das
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Inhaltliche wichtig, als für eine spezifische Gesetzlichkeit des Sichtbaren. Sie ist kennzeichnender Ausdruck von Poussins Subjektverhalten im Räume. Die Perspektive gilt genau genommen nur im Nahraum, in der Zone, welche von den Figuren beherrscht wird; der Hintergrund schichtet sich in Kulissen (Skenographie), ist kein »Fluchtgebilde«80. Zwar ist er tiefenhaltig, deshalb aber doch nicht »perspektivisch«; die Bauten stehen hintereinander, sind dabei aber weniger nach Sehregeln als nach Denkgegebenheiten geordnet: der Begriff von der mathematischen Größe des »Abstandes« drängt sich vor die perspektivische Verkürzung des Gesehenen. Bewirkt wird das durch die kompositioneile Gravitation des ganzen Bildgefüges. Der Augenpunkt liegt tief, am tiefsten im Gemälde. Dieser, einerseits den G e h a l t des Bildes betref-
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fende Ausdruckswert, der die heilige Gruppe in die ihr gebührende Distanz gegenüber dem Beschauer erhöht, ist andererseits zugleich auch f o r m a l e s Kennzeichen einer bestimmten Gestaltungsabsicht. Die aus dem tiefliegenden Augenpunkt resultierende U n t e r s i c h t muß anders beurteilt werden als bei einem Werke der Renaissance, etwa Andrea del Sartos «Madonna del Sacco» (Florenz, SS. Annunziata), wo sie durch
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den Platz des Freskos in der Höhe über einer Tür unter Voraussetzung des zwischen Bild und Betrachter kommunizierenden gemeinsamen Raumes geboten war. Der Aufblick der »Treppenmadonna« ist dagegen vom Bildnerischen her ein Mittel, die Standfläche außer Sichtbereich zu ziehen und damit das Ablesen von Raumdistanzen an den Fußpunkten des Aufgehenden zu verhindern. Im Gemälde ist — gegenüber der Zeichnung — die Figurenzone von unten her eingeengt und damit eine Angleichung an die optischen Verhältnisse, die für die Hintergrundgestaltung maßgeblich sind, vollzogen worden. Die Untersicht gehört mit der planimetrischen Aufrißkonstruktion in ein und denselben Gestaltungszusammenhang, sie dient wie diese, dem Raum, als der entscheidenden Dimension der Wirklichkeitserfahrung, die Basis zu nehmen. Darstellung in zweidimensionaler Projektion nimmt den Dingen eine Qualität ihres Seins, mindert ihre gegenständliche Individualität, hebt ihre Fomqualität. Es besteht 88
In der Spätzeit setzt Poussin Hintergründe öfter aus nidit aneinanderpassenden Teilen zusammen, vgl. ζ. B. Friedländer Drawings I. Nr. 50 und 94. 89 Dieser Ausdruck von Dr. Elisabeth Ströker, der ich gesprächsweise Anregungen verdanke. 57
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eine innere Bindung zwischen der Untersicht und der flächenhaften Gesamtanlage unter dem Gesichtspunkt reduzierender Abstraktion des »Realen«. Ziehen wir jetzt eine Proportionsfigur zum Vergleich zu Rate, wird deutlich werden, daß wir an derjenigen Stelle unserer Untersuchung angelangt sind, an der sich das Problem Poussinscher Proportionsstudien mit dem der »Treppenmadonna« trifft. Jetzt vermag klar zu werden, wie Poussins Bemühungen um Proportionsweisen innerhalb seiner künstlerischen Produktion fruchtbringend fortleben. Wir greifen dabei auf die Figur des »Antinous« zurück, von der Bellori berichtet. In diesem Fall liegt der Augenpunkt noch jenseits der unteren Bildgrenze. Untersicht läßt die Standfläche hinter den Horizont gleiten. Sie erscheint da, wo sie die Bildfläche schneidet, als ein bloßer Grundstrich, auf dem die Figur aufruht. Bodenlosigkeit nimmt dem Raumeindruck jede Stütze, entstabilisiert die dritte Dimension und läßt sie abfließen, um desto reiner jene Qualitäten sprechen zu lassen, die an die Bild f l ä c h e gebunden sind und auf die es hier ankam. Die Proportion der Figur ist auf ein ζ w e i dimensionales Maßsystem eingerichtet. In strenger Profilansicht breitet sie sich wie im Riß. Buchstaben (F, G, Η usw.) unterscheiden Meßstrecken, die nicht das körperliche Volumen der Statue bestimmen, sondern die wechselnden Weiten ihrer lebendig ausschwingenden Konturgrenzen. Leicht geneigt steht sie vor einem Pfeiler aus sechs Quadern, dessen klar sich abzeichnende Fugen unschwer als die Abschnitte des Kanons sechsfacher Teilung zu verstehen und als Proportionssystem vitruvianischer Prägung mit dem Leibe auf der Bildfläche in Beziehung zu setzen sind. Es kann kein Zweifel sein, daß die Untersicht solche Ebenenbezüge begünstigt, beide Phänomene zusammen erst in höherem Sinne die Statue zu einem B i l d e machen, in dem sie die tastbaren Qualitäten zugunsten schaubarer Erscheinung verschweigen90, Läßt sich auf solche Weise zwischen der »Treppenmadonna« und dem von Bellori überlieferten Beispiel des »Antinous« eine Identität bildnerischer Gestaltungsmittel beobachten, so ist nicht minder ein beiden Fällen gemeinsamer Ausdruckswille zu konstatieren. Die Verdrängung des Raumes durch Flächenhaftigkeit steht unter dem höheren Gesichtspunkt des Irrealen. In der Emblematik, jenem Grenzgebiet zwischen Begrifflichkeit und Anschauimg, mit seiner merkwürdigen Verbindung von formelhafter Zeichensetzung und bildhafter Präsentation, finden sich Züge von »Unwirklidikeit«, die Poussins Stil in der »Treppenmadonna« nicht ganz unähnlich sind. Will Boudard hinter einer »Architectura« den ganzen Kreis ihres Wirkens umschreiben, fügt er das der Baukunst insgesamt zur Verfügung stehende Material, Ziegeln, Quadern, Säulen, so auf einer Plattform zusammen, daß der Eindruck einer kontinuierlichen Szenerie zur Not bestehen kann 91 . Dabei kommt nun die gleiche Situation wie auf dem großen Louvreblatt (d) zustande: eine Ziegelmauer, parallel zur Bildfläche, die Quadern als Untersatz der Säulen, welche rechts in die Tiefe führen? — eine Hier hat der tiefe Augenpunkt nichts mit einer »Monumentalisierung« zu tun, wie S. Ch. Emmerling anzunehmen geneigt scheint. Antikenverwendung und Antikenstudium bei Nicolas Poussin. Würzburg 1939. S. 56. 9 1 I. p. 40. 90
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zufällige Koinzidenz, die jedoch mancher Voraussetzungen bedurfte. Bei Ripa ist es Regel, eine Allegorie in einen Bildraum zu stellen, der mit Attributen der «figura» ausstaffiert ist ,«Simmetria» ζ. B. «accanto di una fabbtica di aitificiosa e bellissima aichitettuia»92. Finden sich in Ripas Text keine besonderen Ortsangaben, handeln die Illustratoren nach dem gewöhnlichen Prinzip auf eigene Faust. Sie bereiten damit eine Tradition, der schließlich auch da gefolgt wird, wo Ripa natürliche Lokalitäten erfordert. »Accademia« gehört eigentlich in einen «cortile ombroso, luogo boscareggio di villa, con Platani intorno alle piedi», der Stecher Faccenda gibt statt dieser malerischen Szenerie nur drei Bäume und eine Säule. Offenbar verstand er «cortile... luogo di villa» zunächst als Architektur, die sich vermittels einer Säule — vgl. die »IDEA«-Vignette aus Belloris Rede — darstellen läßt. In der Geschichte des künst- 14 lerischen Modells wird der allegorische Typus zum Rivalen des Naturvorbildes. Er erweitert den Schatz der Bildvorstellungen um abstrakte Formeln. Während Poussin in einem seiner mittleren Werke Theseus die Waffen seines Vaters noch am Rande eines Tempels unter einem Stein finden läßt (Chantilly), geschieht dies wenig später bei LaHyre nur noch unter jenem gestutzten Säulentorso, der in den Allegorien eben »Architektur« bedeutet. In der »Treppenmadonna« ist die Säule gehaltlich eine χ Hoheitsform. Außerdem — und dies verraten die Vorzeichnungen — ist sie aber zugleich auch nur Architektursymbol im Sinne jener wachsenden Entfremdung zwisdien figürlichen Szenen und ihrer naturgegebenen Umwelt im Verlauf der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts93. Französische Barockmalerei nimmt mit dem Caravaggismus ihren Anfang, um bei Berain zu enden. Der mariologische Sinn der Säulen wird in der »Treppenmadonna« erst mit der Endfassung vernehmlich. Faßt man die Vorstufen, also den eigentlichen Bereich der Konzeption, ins Auge, ließe dieser sich im Ganzen stilistisch dermaßen charakterisieren, daß man sagt, Poussin schreite hier gegenüber seinen früheren Bildern zum Formelhaften vor, in der szenischen Ausstattung tritt natürlidie Wirklichkeit zurück. Man hat die in seinen Werken der späteren 40er Jahre zu beobachtende Wandlung zu rationaler Kühle, wie sie im Selbstbildnis von 1650 (Louvre) gipfelt, stets als befremdliche Erstarrung angesehen und mit dem Lebensgang Poussins, seinen Pariser Enttäuschungen und einer dadurch verursachten Isolierung verknüpft, doch hebt eine parallele Entwicklung innerhalb der allegorischen Illustrationskunst diese Veränderung aus der persönlichen Sphäre in allgemeinere Stilzusammenhänge. Eine Annäherung zwisdien Malerei und Emblematik ist in einer Zeit, die sich anschickt, einen Schatz allegorischer Bildtypen als Exemplar an die Seite des alten Schatzes von Naturformen zu stellen, vor allem da begünstigt, wo das Erlebnis wirklicher Naturnähe in der bildenden Kunst als Gestaltungsantrieb zurückgeht. Sinnbildliches tritt alsdann hervor und die Gedanklichkeit steht vor der Tür. 92
V. p. 167. Als monumentales Gegenbeispiel wirklichkeitsnaher Ausmalung eines ursprünglich emblematisdien Konzeptes kann Vouets »Architektur« (Stockholm) dienen, wo die »figura« als Bauherrin, ihre Attribute wie ein Bauplatz »historisiert« sind. Abb: Konsthistorisk Tidskrift XXII. 1953. p. 3-4 (Reklameteil). 93
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Solche Bedingungsverhältnisse zu veranschaulichen, ist eben nun auch die Proportions18 figur des »Antinous« geeignet, deren reine, körperlose, bildliche, d. h. »unrealistische« Erscheinung gleichzeitig allegorisch hinterlegt ist. Im Hintergrund formieren sich Stufen zu einer Treppe, die wie ein Traumbild im Leeren zu stehen scheint. Vom örtlichen her unerklärbar, ist sie doch nicht »sinnlos«. «La scala ha i suoi giadi distinti ugaali, e pioporzionati al passo umano, per andai col medesimo moto del coipo all' innanzi, ed all' insu in un tempo,· nel che si mostia, die cosi le cose intelligibili hanno oidine, e proporzione»94. Gleichmäßig gestuft, dem Schritte angemessen, steht die Treppe für die Ordnung aller Dinge im Weltganzen. Sie hinter einer proportionierten, »regulierten« Statue anzutreffen, läßt Höheres vernehmlich werden. Der individuelle Personenwert des »Antinous« mündet in den allgemeineren Charakter einer Proportionsfigur ein, die durch das Sinnbild der Treppe gleichnishaft für alles maßvoll Geregelte, für alles unter »Misuria« zu Begreifende eintritt, auch hier Belloris »Idea«Begriff aufleuchten lassend.
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Treppe und Zirkel gehören der gleichen Bedeutungssphäre an und lassen sich unter Umständen auch wechselweise verwenden. Gibt Albrecht Dürer einer proportionierten menschlichen Gestalt gelegentlich einen Zirkel als allegorischen Hinweis auf das ihr innewohnende Ordnungsprinzip in die Hand95, meint er damit im Grunde nichts anderes, als was die Treppe hinter dem Antinous besagt. Übrigens kommen beide Symbole auch zusammen als Spielarten eines und desselben Gedankens vor. Ripa fügt seiner »Theoria« einen Zirkel (auf dem Haupte) und eine Treppe (unter ihren Füßen) als Sinnbilder geregelten Denkens bei. Wie der Zirkel steht auch die Treppe für «ogni deduzione di ragione»9e, «per andar discorrendo di grado in grado dalle cose vicine alle lontane, col tempo die e misuia del moto piogressivo, e di ogni moto, non potendo l'intelletto umano senza tempo fermaie, e assicuiaie il discoiso del piu e del meno»9T. Stufenweise wächst das Verständnis, von Nahem zu Fernerliegendem greifen nacheinander die Verstandesschlüsse aus. Der Zirkel auf dem Haupte gehört mit den Stufen zu Füßen der Figur in den gleichen Bedeutungsbereich, denn «il compasso significa» — wie erinnerlich — «per se stesso quasi sempie misuia»9s. Damit gelangen wir vor die unerwartete Frage, ob in dem Gemälde, dem unsere Aufmerksamkeit gilt, nicht auch die T r e p p e mit der von so persönlichem Sinn84
Ripa V. p. 276.
86
A. Dürer: Vier Bücher von menschlicher Proportion. Nürnberg 1528. S. XII.
86
Ripa V. p. 275.
87
Ebenda p. 276.
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Ich frage mich, ob der seltsame Bericht von William Blake, er habe die berühmte Figuer
seines »Weltschöpfers«, der vermittels des Zirkels die Welt umreißt, zuerst als eine Vision über seinem Haupte am oberen Ende des T r e p p e n h a u s e s seiner Wohnung in Lambeth erscheinen sehen (vgl. Mona Wilson: The Life of William Blake. London 1927), nicht in der Weise erklärt werden kann, daß sich die leicht entflammbare Phantasie des Künstlers in der Erinnerung an barocke Allegorien entzündete.
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gehalt erfüllten Figuration des heiligen Joseph in eine Beziehung gebracht werden muß. Die Kenntnis der Bildgenese macht es nicht leicht, in den fast zwangsläufig im Zuge eines folgerechten Kompositionsvorganges Gestalt annehmenden Stufen etwas anderes als bloße Fonnbestandteile zu sehen. Als solche sind sie ähnlich zu bewerten, wie jene, vom Thema der bildlichen Darstellung her nur schwer erklärbaren Treppenanlagen, die in der Renaissance nicht selten sind. Donatellos »Tanz der Salome« in Lille, oder Leonardos Vorzeichnung zur »Anbetung der Könige« in den Uffizien (I. 536) enthalten Treppen, an denen das spezifische Raumgefühl der Epoche erläutert werden kann. Bei Leonardo sind die Stufen eins mit den Fluchtlinien der zentralperspektivischen Konstruktion, der Blick des Betrachters gleitet an ihnen wie auf steinernen Schienen dem Augenpunkte zu. Auf Donatellos Relief — übrigens einem frühen Beispiel von Raumsystematik 99 — stehen die einzelnen Treppensteine im Dienste des fühlbar gegliederten Raumkontinuums, das sidi an ihnen, wie an einem plastischen Negativ, in seine Teilabschnitte zerlegt. Ein Barockraum ist nicht in dieser Weise strukturiert. Das vorwiegend flächenhafte Denken der »Treppenmadonna« schafft eine Treppe, die als Gegenstand wie ein Schemen, irrelevant in ihrer Stufentiefe, fast übermenschlich in der Stufenhöhe ist. Poussins Beispiel unterscheidet sich von denen der Renaissance durch eine andere Art des Räumlichen; gemeinsam aber ist beiden Epochen, eine Treppe ihrer gegenständlichen Form halber an einer bevorzugten Stelle in die Komposition einzubeziehen. Und doch ist damit nicht alles gesagt. Ob bei Leonardo oder Donatello die Treppe zugleich auch S y m b o l sein kann, ist eine Frage, die angesichts so schwer zu verstehender Treppenanlagen bei Pontormo oder Beccafumi nicht ohne Berechtigung ist. Bei Poussin finden wir dagegen e i n d e u t i g vom Sichtbaren her Sinnbildlichem vorgearbeitet. Der Grund des »Unwirklichen« — um bereits ausgeführte Gedanken wieder aufzunehmen — ist in der »Treppenmadonna« auch an der Malweise zu erkennen, die einen sehr eigenen Stil verrät, von dem sich sagen ließe, daß er Distanz bewahrt. Nicht in prallem Sein steht die Architektur vor Augen, sondern ein wenig wie der Schatten ihrer selbst 100 . Keine Farbigkeit sättigt die Sinne und keine Plastizität, die malerische Imagination befindet sich in einem Zustand des Gebändigtseins. Eine Tendenz wird spürbar derjenigen vergleichbar, der Bellori im Gefolge seiner Vorstellungen von der Idee des Künstlers Raum gibt: die Idee, «welche erhabene Geister als etwas Göttliches betrachten«, spricht nicht zum »niederen Volk, das alles nur mit seiner Sinnenhaftigkeit in Verbindung bnngt« («il popolo rifensce il tutto al senso dell' occhio»101). Die zarte, im Idealen verharrende Schwebelage des malerischen Vortrage erhebt das Gemälde zum Rang einer Kunst für erlesene Geister, nur Kenner vermögen die Fülle der Meisterschaft zu würdigen, mit der Poussin wie selbstver· 99
H. Kauflfmann: Donatello. Eine Einführung in sein Bilden und Denken. Berlin r935.
S. 63-66. 100
101
Hier wäre zum Vergleich die Farbtafel bei Jamot, Abb. 139 heranzuziehen.
Bellori Idea p. 16.
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ständlich seinem außerordentlich komplexen Kunstgebilde den organischen Wuchs einer zweiten, geistigen Naturhaftigkeit zu sichern wußte. Die Erinnerung an Belloris »fein gewählten Stil« 102 , charakterisiert, vor der »Treppenmadonna« ausgesprochen, in erster Linie ein Phänomen bildnerischer Formgebung (Stilisierung), sehr passend mit einem für das spätere 17. Jahrhundert gewichtigen theoretischen Ausdruck.
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Je feiner eine Kultur, um so differenzierteren Reizen ist sie zugänglich (die immer weniger aus der täglichen Umwelt zu gewinnen sind], und um so mehr entwickelt sie Skepsis gegenüber dem Augensinn und illusionistischen »trompe-l'oeil«. Für Bellori trifft diese Überlegung zu und ebenso auch für Poussin, dessen Verzicht auf malerische Sinnenhaftigkeit unlösbar mit einem Ergreifen allegorischer Ausdrucksmöglichkeiten gekoppelt ist. Verhüllte, anspielende Sinnbildlichkeit, die nicht an vorgeprägten Typen ihr Genüge findet, sondern symbolisches Material zu höchst persönlichen Gestaltungen verschmilzt, erscheint in der »Treppenmadonna« zum ersten Male, um von da an nicht mehr zu verschwinden (man denke nur an die geheimnisvollen Hinweise eschatologischer Art in den späten Landschaften 103 ). Nicht Willkür bahnt hier der Phantasie den Weg, sondern tief verständiges Eingehen auf das Wesen allegorischer Aussage. Erst jetzt, lange nach «Et in Arcadia ego», nach der »Inspiration des Dichters«, weiß Poussin mit jenem Schatz an Symbolen frei zu schalten, der in den Denkerstuben eines Ripa, eines Valerianus zusammengetragen worden ist, erst jetzt dringt er zu jener Höhe vor, die Ripa als das höchste Ziel des Bilderdenkens vorschwebte: «delle quali cose»— nämlich den Allegorien — «sentira ciascuno germigliaie tanto quantitä di concetti nell' ingegno suo, se non e piu che sterile, die per se stesso con una cosa, die si proponga, saia bastante a daie gusto e soddisfazione all'appetito di mold e diveisi ingegni, dipingendone l'Immagine in diverse moniere, e sempre bene»10*. Steht die flächenhafte Anlage der »Treppenmadonna« und damit der Rückgang von dreidimensionaler »Wirklichkeit« auf zweidimensional sich entfaltende »Erscheinung« von vornherein im Geiste des Künstlers fest, so nicht minder ein sorgsam gewählter Formenschatz, der jeweils die Möglichkeit allegorischer Aussage offenhält. Die schon in den ersten Studien fixierte Sitzweise des Joseph — ein Bein ausgestreckt, das andere gewinkelt an den Leib herangezogen — entspricht der symbolischen Haltung für »Denken« und bildet sowohl bei Guido Renis besprochener Radierung, wie auch bei der »IDEA«-Vignette einen wesentlichen Bestandteil. Friihzeitig hat Michelangelo diese Pose dem »Naaso« der Sixtinischen Decke als Kennzeichen spekulativer Entrücktheit verliehen 105 , seit der Hochrenaissance taucht sie immer wieder in den verschiedensten Abwandlungen auf (Veronese, Marc Anton). Ich erinnere hier besonders an Passarottis grüblerische »Malerei« ; Lairesse beschreibt die Bellori Idea p. 16: « . . . l'eleganza ...» W. Sauerländer: Die Jahreszeiten. Münchener Jahrbuch der bildenden Kunst. III. Folge. 1956. S. 169-184. 1 0 4 I. p. XLII (Proemio). 105 Ygj d a g e g e n ch. de Tolnay: Michelangelo. The Sistine Ceiling. Princeton 1955. p. 90. 102
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Haltung bei einer »Practica«, die »mit einem Ziikel, die Spitzen nach unten zugekehrt, mit einem gebogenen Knie sitzet«106, bis in die Neuzeit blieb die Stellung unvermindert wirksam (William Blake). — Die kubischen Gebilde, die zu den allerersten Formvorstellungen geboren, stehen im Dienste des planimetrischen Aufbaus und gehören zugleich in die Nähe jener geometrischen Elementarkörper, mit denen die Emblematik die Klarheit rationaler, speziell mathematischer Schlußfolgerungen zu verbildlichen pflegt. — Die Säulenreihe, die sich in der großen Louvrezeichnung (d) konstruktiv als sehr ergiebig zeigte, reiht sich als »Architekturzeichen«« gleichfalls unter die Sinnbilder. D e r s e l b e F o r m e n s c h a t z , d e r i n d e r B e l l o r i schen »IDEA «-Vignette von 1672 rein allegorische Aufg a b e n zu e r f ü l l e n h a t , l e b t in der » T r e p p e n m a d o n n a « « im R a h m e n e i n e s a u t o n o m e n K u n s t w e r k e s auf.
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In solche Ambivalenzen fügt die Treppe sich auf das Vollkommenste ein, denn auch sie ist als Bildform bevorzugter Träger eines künstlerischen Gestaltungswillens, den zu repräsentieren sie zugleich als Sinnform geeignet wäre. Sie als Symbol sehen, heißt eine der mehrfachen Anschauungsmöglichkeiten wahrnehmen, mit denen Poussin rechnet. Als Allegorie gehört sie mit dem Zirkel zusammen in den Bereich der »Misura« — Vorstellungen, denen das Konzept des Gemäldes verpflichtet ist. Der planimetrische Aufbau, in dem sich die gestaltende Kraft der »Idee« verwirklicht, wird durch Zirkel und Treppenstufen, die auf ihn hinweisen, hervorgehoben, und damit jener Prozeß betont, in dem die künstlerische Schöpfung sich eigentlich vollzieht107. Wenn sich also die sinnbildlichen Hinweise letzten Endes auf eine bestimmte Phase des Schaffensprozesses beziehen, hieße dies, daß Poussin den Glauben hegte, dieser Phase wohne etwas Beispielhaftes inne. Mit der Kopie der großen Louvre- 5 Zeichnung (d), die an Chantelou gegeben wurde, gelangte auch der Schlüssel für die Gestaltung in seine Hand. Chantelou war für die Probleme solcher Arbeitsmethodik vorbereitet, und zwar durch seine Neigung zu kunsttheoretischen Fragen. Das ausführlichste theoretische Schreiben, das wir von Poussins Hand besitzen, ist an Chantelou gerichtet108. Man kann den Text dieses Briefes, dem die Forschung bisher noch keinen rechten Sinn abzugewinnen und vor allem nicht mit Poussins malerischem oeuvre in Verbindung zu bringen wußte100, auf die spezifischen Eigentümlichkeiten der »Treppenmadonna«« beziehen. Poussin spricht von verschiedener Ver108
Lairesse I. S. 5. Zu Poussins, Belloris Vorstellungen vorbereitenden Bildkonzepten vgl. N. Ivanoff: Ii Concetto dello Stile nel Poussin e in Marco Boschini, in »Commentari« 1952. p. 51—61; L. Grassi ebenda p. 224 f. 108 Correspondance p. 370 (Nr. 156). 100 Kennzeichnend Grautoff, Poussin I. S. 451, Anm. 227. r932 hat A. Blunt herausgefunden, daß Poussins »Moden«-Lehre dem Venezianer Zarlino entlehnt ist; dabei bleibt die Frage nach dem Zusammenhang dieser Lehre mit Poussins Kunst weiter offen (Journal of the Warburg Institute. I. 1937/38. p. 349. Zusammenfassung der These von 1932 bei P.Alfas in ••Bull. Soc. hist, de l'Art Franc.» ^ 3 3 . ρ. Γ25—143); vgl. auch F. A. Yates: French Academies of the Sixteenth century. London 1947. p. 298. 10T
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fahrensweisen des künstlerischen Schaffens, den »modi«, und erläutert: «cette Mode
signifie
proprement
la raison ou la mesure et forme de laquelle
paiolle
nous
nous
servons ä faire quelque (hose. Laquelle nous abstraint ä ne passer oultre nous fesant operer en touttes les choses avec une certaine mediocrite teile ou
mediocnte ordre
quel
la
et moderation
determine, chose
se
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et moderation,
estre»110.
et partant m ani
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1 e proceder
Einen »modus« nennt
Poussin also »eine bestimmte Art oder festgefügte Ordnung innerhalb des Schaffensvorganges, in dem die Sache sich ganz mit ihrem Sein bewahrt«. D i e abstrakte Geometrisierung der Komposition der »Treppenmadonna«, in ihrer Verbindung mit sorgsamer Beachtung konkreter Gegenstandstreue in allem Dinglichen, wäre (nach Poussins Definition] als »modus« einer künstlerischen Verfahrensweise einzuschätzen, den — wie späterhin Belloris IDEA — eine Ordnungsvorstellung kennzeichnet, die die einzelnen Bildgegenstände, ohne ihnen irgend Gewalt anzutun, aus sich heraus entläßt. Poussins »moden«-Lehre, letzten Endes aus der antiken Musiktheorie hergen o m m e n 1 1 1 , ist keine originale denkerische Leistung des Künstlers. So, wie es jedoch falsch ist, ihren Aussagewert für Poussin z u überbewerten 1 1 2 , ist es verfehlt, sie als bloße »Literatur« abzutun: für die Erklärung der »Treppenmadonna« ist Poussins Brief an Chantelou mit der »moden«-Lehre u m so erheblicher, als er v o m 24. November 1647 datiert ist. Damals rückte die Vollendung des Gemäldes greifbar nahe, j
entstand die große Louvrezeichnung. Die Widmimg einer Kopie gerade dieses Blattes an Chantelou kann mit dem wohl gleichzeitigen Schreiben zusammengebracht werden; beide sind als Manifestation eines und desselben, in der »Treppenmadonna« Gestalt annehmenden künstlerischen Ausdruckswillens anzusehen. In Wort und Zeichen offenbart Poussin das in der Materie des Gemäldes verhüllte Sein. Noch vor der Jahrhundertmitte nehmen in der »Treppenmadonna« Anschauungen Gestalt an, die erst in der Folge zu breiterer geschichtlicher Geltung gelangen sollten. D e m Gemälde k o m m t deshalb die Ausnahmestellung eines Gründungswerkes zu. Dies gilt schließlich auch für die Position innerhalb der Entwicklung seines Schöpfers. W i e eine strenge Intrada tritt es an den Anfang einer ganzen Bilderwelt und dankt sein Dasein kraftvollem Zusammenraffen aller Kräfte vor neuem, großem Beginn. Das Jahr 1648 bringt eine Wende. War in der Frühzeit Poussins der menschliche Körper mit seinen agierenden Bewegungen bevorzugter Träger des Ausdruckswillens, nehmen n u n die Landschaften größeren Raum ein. Die Figuren werden kleiner, fügen sich den Naturformen ein und werden als symbolische Verkörperungen von Sinngehalten zugleich auch Träger von Stimmungen, die in der Landschaft selbst auf
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das vollkommenste ausgeprägt sind. Z u m ersten M a l e wird in der »Treppenmadonna« ein Bild h i n t e r g r u n d zum eigentlichen Träger der Bildgestalt gemacht und damit 110 111 112
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Correspondence p. 373. Vgl. zuletzt E. Winternitz, in »The Burlington Magazine« 1958. p. 51 (Februar). Wie ζ. B. bei H. Tietze, Repertorium f. Kunstwissenschaft. r9i6, Bd. 39. S. i8r ff.
das wesentliche Kunstprinzip der sogenannten »klassischen« Landschaften begründet: sorgfältigste Disposition eines Formgefüges, das w i e eine umgreifende Hülle die Figuren in sich a u f n i m m t 1 1 3 . W i r k ö n n e n unter diesem Gesichtspunkt die »Treppenm a d o n n a « eine »Architekturlandschaft« n e n n e n . ii3 v g i . hierzu A. Blunt: The heroic and ideal Landscape in the Work of Nicolas Poussin, in »Journal of the Warburg and Courtauld Institutes« VII. 1944.. p. 157; mir scheint bemerkenswert, daß sich die fast mathematisch anmutende Raumdisposition der »klassischen« Landschaften erst nach der Flächenproportionierung der »Treppenmadonna« einstellt, wird damit doch die methodische Möglichkeit gegeben, Beispiele der Renaissance zur Erklärung der Poussinschen Proportionsweise heranzuziehen. Wichtig wäre dabei G. Fiensch: Die Anfänge des deutschen Landschaftsbildes, in »Studien zur Kunstform«. Münster 19SS· S. 71—r2r.
65
Dritter
Teil
Die Krise des Raumsinnes Das sich, die Disposition der »Trepp en madonna« außerhalb des natürlichen Raumes und ohne Beziehung zu ihm vollzieht, läßt sich, als Charakteristikum genommen, durchaus mit Poussins Interesse an Dürer verbinden. Sollten die Anschauungen, aus denen das Kunstgebilde erwuchs, schon 1640 in Rom gekeimt sein? Als Poussin am Ende des gleichen Jahres nach Paris abreiste, machte er sich auch auf den Weg in das Zentrum aller um projektive Geometrie Bemühten. Vier Jahre zuvor hatte Desargues sein grundlegendes Traktat veröffentlicht 1 .
I. Die Problematiker der Perspektive in Frankreich (Historische Studie) Mehr als zehn Jahre lang hat die französische Akademie der bildenden Künste, welche 1648 in Paris als eine Verbindung von Meistern, die sich gegen die Gildenherrschaft empörten, gegründet worden war, die verschiedenen Phasen einer scharfen Auseinandersetzung durchlaufen. Dieser Kampf gehört zu den erbittertsten ihrer Geschichte und ist mit dem Namen Abraham B o s s e untrennbar verbunden. Auf Vermittlung des Sekretärs, Testelins, wurde Bosse schon im Gründungsjahr der Unterricht in Perspektive anvertraut. Seine Stunden hatten Erfolg, so daß er 1651 zum «membre honoraire» ernannt wurde (als Stecher konnte er kein »ordentliches« Mitglied werden). Bosse seinerseits bekräftigt das Einvernehmen durch Widmung zweier Perspektivtraktate an die hohe Körperschaft 2 . Bald aber trübten sich die Beziehungen. Von Erkenntnisdurst getrieben, sucht der Touroner Protestant «tiaiter des (hoses nouvelles»3 und vertieft seine Lehrmethode — «soumise aux regies universelles de Desargues» — geometrisch-mathematisch. Es ist die frische Zeit der allgemeinen Expansion: damals (am 30. August 1653) wird der Akademie auch der erste Druck von Leonardos Malereitraktat unterbreitet und Gegenstand eifriger Betrachtungen. — Bosse, dessen Anstellungsvertrag die Klausel enthielt, seine Lehrverpflichtung umfasse Perspektive und deren «dependances», war zu dem Schluß gelangt, daß sich der Anwendungsbereich seiner Disziplin nicht nur auf Raum1 «Exemple de l'une des manieres universelles du S. G. D. L. touchant la pratique de la perspective sans employer aucun tiers point, de distance ny d'autre nature, qui soit hors du champ de l'ouvrage.» Paris 1636. 2 Maniere universelle de M. Desargues pour pratiquer la perspective par petit pied. Paris 1648, und Moyen universel de pratiquer la perspective sur les tableaux, ou surfaces irreguläres. Paris r653. 3 A. Bosse: Trait£ des pratiques geometrales. Paris 1655. p. 37.
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konstruktion beschränke, und er hatte sich infolgedessen gefragt, was eigentlich alles von Perspektive »dependiere«. Da ihm — um 1655 — die Einsicht kam, Licht und Schatten, Farbengebung, auch die Komposition der Dinge im Bildraum hänge auf das engste mit Perspektivregeln zusammen, ja, jeder einzelne Pinselstrich müsse im Grunde im Rahmen ihrer Gesetze vollzogen werden, ein Maler vermöge also schlechterdings nidits ohne sie zu leisten, sie daher sei das eigentliche Fundament der Malkunst, hub er an, den Unterricht zu einer allgemeinen Mallehre auszuweiten. Unter den übrigen Akademiemitgliedern regte sich Beunruhigung. Die von den meisten als sekundär betrachtete Perspektivlehre drohte das Schwergewicht zu gewinnen; um die ins Wanken geratenen Verhältnisse zu festigen, den Anspruch Bosses auf das rechte Maß zurückzuschrauben, ließen die Akademiker eine offizielle Fassung formulieren: 1657 veröffentlichte LeBicheur die von LeBrun, dem Direktor, überwachte »Perspektive«. Seitdem gilt Bosse als Häretiker. Zwar versucht er entschieden, sich zu behaupten, doch kann er die Spannungen nicht lösen. 1661 wird er entlassen. Zum Äußersten entschlossen gründet der Geächtete in Saint-Denis-de-la-Chartes eine Schule unter keinem geringeren Anspruch als dem einer »Gegenakademie«. Darauf kommt es zum Rapport bei Staatsminister (Colbert), polizeilich wird die Schule geschlossen, Bosse verwarnt «d'ecriie aucunes letties, libelles, memoiies, requetes, facturus ni autre chose qui la (nämlich die Akademie) iegarde, ä peine de prison»4. Sicher trägt Bosses unseliges Temperament an dieser Zuspitzung mit Schuld, doch scheint es falsch, die Ursachen des harten Aufeinanderpralls nur im Persönlichen zu suchen5. Das Unverständnis zwischen LeBrun, der in Bosse nichts anderes als den Parteigänger eines revolutionären Mathematikers zu sehen vermochte, und Bosse, den es erbitterte, seine neuen Ideen, statt diskutiert (— schwierig, da sie die Kenntnis desarguischer Theorien voraussetzen —), immer wieder nur diskreditiert zu sehen, kommt aus tieferen Gründen und gleicht derjenigen Bitterkeit, mit der sich neuartiges Künstlertum und traditionsbewußte Sicherheit zu begegnen pflegen. Die Akademie war ja nicht frei von Restauration, ihre Gründung hatte mehr soziale, denn künstlerische Ursachen. Sie dachte noch in den Kategorien des 16. Jahrhunderts, wie sich denn auch Poussin zuerst gänzlich von ihr fern gehalten hat, um später gegen sie in Opposition zu treten. Bosses Akademiestreit ist nur als Teil jener größeren Bewegung zu erfassen, die von etwa 1636 bis gegen 1670 die Pariser Künstler mit wachsender Aufregung erfüllte, heftige unbeschreibliche Formen annahm und in breiter Welte in die Öffentlichkeit drängte. Plakate mit Schlagzeilen wie «Erreurs incroyables», "Fautes et faussetes enormes» usw. erschienen damals an den Mauern von Paris. Die Aufwallung hatte nur künstlerische und wissenschaftliche Probleme zur Ursache, die erwähnten 4
G. Vitet: Academie royale de peinture. Paris 1861. p. 252. So die beiden Darstellungen, die sich bisher mit dem »Fall Bosse« befaßt haben: A. Fontaine: Academiciens d'autrefois. Paris T9T4. p. 67—114 und A. Blum: Abraham Bosse et la Societe fran?aise aux dix-septieme siecle. Paris sd. p. 15—40. 5
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Plakate kämpften um m a t h e m a t i s c h e Wahrheiten. Seit der Renaissance hat P e r s p e k t i v e die Geister nicht in solchem Umfang erregt®. Die Unruhe hat auch diesmal zunächst einen soziologischen Grund. Perspektive ist nicht mehr eine entweder dem Techniker oder dem Künstler überlassene Übung, die aus den Regeln der Optik oder aus einer Reihe von Regeln mehr oder minder empirischer Natur abgeleitet wird, sondern direktes Anwendungsgebiet der Geometrie. Diese, der Renaissance ganz fremde Lage erschütterte die Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft. Wer ist Künstler? Wer Mathematiker? Abraham Bosse wird von Huret »der Geometer« genannt, Desargues, der Lehrer von Bosse, zählt unter seinen Schülern Plastiker (Buret), Architekten (Hureau), Maler (La Hyre), Philosophen (Pascal) und Geometer (Mersenne). Kennzeichnend, daß die Akademie gegen Bosse und seine Methoden sachlich zunächst nichts einwendet, sondern nur verlangt, den Namen «Desargues'», des zwischen den Fronten vagierenden «uomo universale», aus den Titelüberschriften auszumerzen: «Iis m'ont voulu obliger d'ötei son nom de ces traites . . . pi6tendant qu'il serait honteux qa'un homme comme Iuy, qui η' a ete ni ρ eint ι e ni dessinate u r , lern eüt donn6 des prer ceptes de lern art.. ,» . Die Maler suchen die Kunst von Fremden rein zu halten. Zweitens liegt aber dem allgemeinen Übel doch auch ein künstlerischer Kern zugrunde, es entwickelte sich, begünstigt durch eine Krise künstlerischer Anschauungsweisen. In ihren theoretischen Äußerungen, wie ihren ästhetischen Werturteilen stimmen Bosse und LeBrun weitgehend überein, die Meinungen divergieren erst, wenn es um Perspektive geht. Diese ist im Laufe ihrer wechselvollen Geschichte nicht konstant geblieben,· denn da ein Bild nicht nur »Wiedergabe des Außen«, sondern genauer »Wiedergabe des g e s e h e n e n Außen«8 ist, die jeweiligen Eigentümlichkeiten des Sehens also jeder, noch so »realistischen« Darstellung immanent bleiben, verändert sich mit den Wandlungen der Rezeptivität jeweils audi die künstlerische Perspektive: Bosses Auseinandersetzung mit LeBrun ist am ehesten als die schmerzhafte Reibung zweier künstlerischen Anschauungsformen zu verstehen. Da sich die Kunstgeschichte weitgehend auf optisch aufgenommene Erfahrungen stützt, ist die Entlarvung optischer Phänomene ein spezifisch kunsthistorisches Anliegen, die Deutung des Akademiestreites für die Erschließung des französischen Barockstiles von großer Wichtigkeit. a) G i r a r d
Desargues
Die neue Perspektivlehre gründet sich vor allem auf Desargues9 (1593—1661). 6
Bekanntlich ist auch die mathematische Erstlingsarbeit des 16jährigen Pascal (Essay pour les Coniques, 1640) als Maueranschlag erschienen. 7 A . Bosse: Trait6 des pratiques geometrales. Paris 1665. p. 124. Vgl. A . Fontaine a. a. O. p. 83 ff. 8 Vignola beginnt die «Due regole della prospettiva pratica» mit einer Anatomie des Auges. Ed. V. Danti. Rom 1 6 1 1 . 9 Desargues kunsthistorisch zu sehen versuchte zuerst L. Dimier in «Bull, de l'histoire de l'art francais» 1925. p. 7—22, freilich betrachtete er die Perspektivlehre desselben unter dem 68
Ursprünglich Techniker und Belagerungsingenieur, wandte dieser sich jedoch bald nobleren Professionen zu. Von der Baukunst kam er zur Theorie. Seine Tätigkeit als Architekt war nur ein Ubergang. In der Mathematik gelang ihm Bahnbrechendes10. Nur wenig hat er selbst veröffentlicht, das meiste ging in die Bücher von Bosse. Seine wichtigste mathematische Entdeckung war lange verschollen, kam dann in unzuverlässiger Abschrift zur Kenntnis und ist erst in neuester Zeit zufällig wieder aufgetaucht11. Die Ableitung der Kegelschnitte aus ihrer Grundform, dem Kreise, steht in einem (erst T907 gefundenen) Brief 12 . Mit souveräner Reserve hielt sich der große Geist im Hintergrunde: «Moy je ne suis artisan de la main, . . . je n'ay que la simple connoissance de la raison de 1'effect des regies . . . dont je propose la practique»13. Wie hell er aus dem Verborgenen leuchtete, verrät Pascal: «]e veux bien avouer que j'ai tächi d'imiter autant qu'il ma ete possible, sa metbode»14. Desargues bereicherte das Gebiet der »projektiven«, einer Form »synthetischer« (d. h. ohne rechnerische Substrukturen arbeitender) Geometrie, die Veränderungen untersucht, welche Figuren erleiden, sobald sie auf eine geneigte Ebene projiziert werden. Solche »Transformationen« setzen neben der Beherrschung der ebenen Geometrie eine hochentwickelte Kraft der inneren Anschauung des dreidimensionalen Raumes voraus. Seit alters stehen die M a l e r vor dem Problem der Projektion von Körpern auf einer planen Oberfläche; was Wunder, daß die Geschichte der projektiven Geometrie mehr als jede andere Gattung der Mathematik an Namen hängt, die der Kunstgeschichte geläufig sind. Desargues nahm als noch junger Mann Kontakt mit Malern auf 15 . Bei seinen Vorläufern war es nicht anders. Die erste Grundlegung proGesichtspunkt des optischen Spiels. Danach hat sich noch einmal P. H. Brieger mit der künstlerischen Wirkung Desargues auf die französische Sakralarchitektur befaßt, wenngleich mit wenig Erfolg (»The Art Bulletin«. XX. T938. p. 219 ff.). 10 Vgl. J. L. Coolidge: The history of Geometrical Methods. Oxford r940. Außerdem seien noch hervorgehoben Μ. Poudra: Histoire de la perspective ancienne et moderne. Paris 1864. p. 249—270; M. Cantor: Vorlesungen über Geschichte der Mathematik. II. (ΠΙ. Aufl.) Leipzig r9r4; P. Boutroux: L'Ideal scientifique des Mathematiciens. Paris 1910; L. Brunschvicg: Les Etapes de la Philosophie matl^matique. III. Aufl. Paris ^29. p. r24—r30; H. Brown: Scientific Organizations in Seventeenth Century France (1620-1680). Baltimore 1934,· F. Amodeo: Origine e sviluppo della Geometria proiettiva. Neapel 1939. p. 6—29 (nebst ausführlicher Literaturangaben). Die Arbeit von Chr. V. Nielsen: Nicolas Poussin og den Franske Kunsts Forhold til Perspetiven. Kopenhagen 1899 ist für unsere Fragestellung unergiebig. 11 r95o fand P. Moisy in der Pariser Nat.-Bibliothek einen Originaldruck des «Brouillon project d'une atteinte aux Evenemens des rencontres du Cone avec un Plan» (1639), hierzu R. Taton: L'oeuvre mathematique de G. Desargues. Paris r9Si. 12 an Mersenne vom 4. 4. 1638. 13 G. Desargues. Recit ou vray . . . Paris 1644. p. 24. 14 Oeuvre (Ed. Brunschwicg-Boutroux) I. Paris 1908. p. 128. 15 1628 hat Desargues Philipp de Champaigne bei der Konstruktion eines kühnen Freskos für die Pariser Karmelitenkirche beraten,· vgl. J.-A. Piganiol de la Force: Description de Paris, de Versailles... nouv. Ed. Paris r742. V. p. 346. (Das Fresko wurde dann 1647 entweder von B. Fldmalle oder von W. Damery ausgeführt.) 69
jektiver Geometrie stammt von Johannes Werner aus Nürnberg 16 , einem Manne aus Dürers unmittelbarer Nachbarschaft, welch letzterer mit Leonardo, Erhard Schön und Vignola zu ihren Wegbereitern zählt. Ursprünglich stand projektive Geometrie nicht im Dienste der Malerei. Sie fand bei technischen Aufgaben, wie dem Sonnenuhrbau (Francesco Maurolico) oder der regelrechten Bestimmung von Bausteinen kompliziert gekurvten Mauerwerkes (Bosse) praktische Verwendung. Zur Perspektivlehre kam es erst, als Desargues die genetische Bindung von Kegelschnitten an die kreisförmige Kegelbasis erfaßte: zugleich leuchtete ihm die Ähnlichkeit zwischen zwei parallelen und zwei zusammenlaufenden Geraden ein; denn letztere können — wie der Kegelschnitt — als Projektion einer Grundform (zwei parallele Vertikalen) auf eine geneigte Fläche angesehen werden 17 . Die »Sehstrahlen« der klassischen Perspektive sind für Desargues nicht optische, sondern geometrische Qualitäten. Was wir in einem zentralperspektivisch konstruierten Bilde als das R ä u m l i c h e empfinden, ist geometrische Depravation eines F l ä c h i g e n . In der Folge beschränkt sich Desargues darauf, vereinzelte Theoreme aufzustellen, als habe er nur beispielsweise zeigen wollen, daß es eigentlich keinen Raum, sondern nur eine dritte Dimension gebe, daß unser Raumeindruck nur ein abgeleiteter, durch die Tiefendimension »gestörter« Flächeneindruck sei. »Raum« ist komposit, aus drei, rechtwinklig gegeneinander versetzten Bezugsebenen bestehend. Bosse gebührt das geschichtliche Verdienst, die wissenschaftliche Betrachtungsweise dem künstlerischen Milieu vermittelt zu haben. Seine ersten Werke publizieren im Wesentlichen die Gedanken von Desargues18, bei seinem Kontakt mit Künstlern — wovon einerseits der Brief Poussins von 1653, andererseits die Unterrichtsstunden an der Akademie Kunde geben — hat er sich um Probleme bemüht, die aus der Anwendung der geometrischen Maximen für die Schaffenden erwachsen. In den späteren Büchern, vor allem dem «Peintre converty» 19 wird dann die bildende Kunst in den Mittelpunkt gestellt. Natürlich bewerten die Künstler Perspektive nicht als Mathematik, sondern prüfen sie auf ihre optischen Eigenschaften. Deshalb stand Bosse vor der schwierigen Aufgabe, die mathematische Terminologie in ein Idiom zu wandeln, von dem er hoffen durfte, daß es verstanden wurde. Die Kenntnis künstlerischer Denkweisen hatte Bosse aus seiner Tätigkeit als Stecher gewonnen. Folgendes Zitat gibt ein Bild von der Mühsal des Dolmetschens: «Je cioy, que suivant nostre manieie 16
de piatiquei
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pai deux
diffe-
Libellus super vigenti-duobus Elementis Conicis. Nürnberg 152a. Desargues ist nicht in der Weise radikaler Neuerer, daß sich keine Brücke zwischen ihm und der älteren Geometergeneration schlagen ließe: schon bei Jaques Aleaume, einem zu Beginn des 17. Jahrhunderts verstorbenen Mathematiker, finden sich Vorstufen, ζ. B. Ansätze für eine Betrachtung perspektivischer Fluchtlinien als depravierter Parallelen. Auch Desargues Bezeichnung «maniere universelle», die zum Ausdruck bringen soll, daß Tiefenund Flächendarstellung einem geometrischen Prinzip folgen, stammt ursprünglich von Aleaume, vgl. dessen »Perspective speculative« Ed. E. Migon. Paris 1643. 18 Vgl. A. Blum: Abraham Bosse. Paris sd. p. ar8 ff. 19 Paris 1667. 17
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rentes Eschelles, l'une nommi fuyante qui peut a bon dioit estre nomm.ee Perspective, et 1'autre de Front, qui sont chacune des Eschelles geometrales: l'on me doit concedei aussi que ces Eschelles ne doivent pas faire partie de l'ouvrage que l'on desire mettre en Perspective; mais semblable comme Celle du Geometral, estre un outil pour les mesures ou traces. Done pour soustenir ce que j'ay avance je dis que si on ne trouve pas une pratique plus breve de construire en relief le Geometral, et le tracer sur une surface platte, que pour le moyen de son Eschelle ordinaire; de mesme a moins que de trouver un moyen plus bref de tracer ou couper l'Eschelle fuyante perspective, l'on n'en sQauioit abreger la pratique, puis que fors la moniere de couper ladite Eschelle perspective fuyante, il n'y a aucune difference de la pratique du Geometral et celle du Perspecüve»20. Dies will dem Sinn nach besagen: »Nach unserer Methode perspektivischer Konstruktion sind der in die Tiefe führende Maßstab, der die Raumfluefat im eigentlichen perspektivischen Sinne regelt, und derjenige, der die Bildflädie in ihrer Breite unterteilt — wie alle geometrischen Hilfen — nur Mittel zum Zweck 21 ; sie dienen, zweidimensionale Figuren im Räume darzustellen. Dies geschieht mittels einer einzigen, gleichmäßig unterteilten Skala, die einmal über die ganze Breite der Bildfläche gelegt, das andere Mal zur Erzeugung der dritten Dimension projektiv depraviert wird. Es besteht, wie man sieht, außer in der Art, wie der Tiefenmaßstab unterteilt wird, überhaupt kein Unterschied zwischen Ebenengeometrie und Perspektive.« Die beiden Skalen «Eschelle du front» und «Eschelle fuyante» geben als Breiten- und Tiefenmaßstab den Index für die Raumwerte. Das klassische Problem der Zentralperspektive, wie die scheinbar kontinuierliche Abnahme objektiv gleicher Abstände der Tiefe zu technisch bewerkstelligt werden könne 22 , wird hier in der Weise gelöst, daß eine waagerechte Breitenskala und eine senkrecht stehende Höhenskala (mit jeweils gleicher Unterteilung) eingeführt werden, worauf der senkrecht stehende Maßstab mittels projektiver Konstruktion nach hinten in die Tiefe eingeklappt und damit die Diminution der Unterteilung geometrisch korrekt bewerkstelligt wird. Hier offenbart sich die «Conformite de pratiques des Eschelles de front et fuyantes, giometrales et perspectives, selon maniere Desargu.es»23. Flächenproportion und Tiefenproportion unterscheiden sich nur in ihrer jeweils verschiedenen geometrischen Darstellungsweise. Die Bild f l ä c h e unterliegt der «Geometrie egale», der Bild r ä u m der «Geometrie inegale»24. Es scheint, als habe die neue Perspektivmethode für die Künstler nicht des Reizes A. Bosse: Pour pratiquer la perspective sur les surfaces irreguli£res. Paris 1663. p. 5. Die Raumkonstraktion, wird nicht, wie in der Renaissance, selbst ein Teil des Raumes, vgl. Abb. 2 i . 2 2 E. Panofsky: The Codex Huyghens and Leonardo da Vinci's Art Theory. London 1940. p. 95 f. Vgl. dazu J. White: The Birth and Rebirth of pictorial space. London 1957. p. 132. note 36. 2 3 A. Bosse: Traite des pratiques geomdtrales et perspectives . . . Paris 1665. P· 9· 2 4 ibid: Les pratiques par figures . . . Paris 1665· p. 70. pi. 50 und 52. Hier die geometrische Demonstration des Vorganges. 20 21
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entbehrt, denn Projektionen, »plus bref« als jede andere Verfahrensweise, arbeiten ohne Augenpunkt, ohne Sehstrahlen und ohne Horizontlinie 25 . b) G r e g o i r e H u r e t Grdgoire Hurets (1606—1670) «Optique de portraiture et peinture» (Paris 1670) ist das Hauptwerk der akademischen Restauration und die wichtigste Resonanz auf Bosses und Desargues' Thesen. Sein Ziel liegt in einer Wiedergewinnung der verlorenen Unbefangenheit des Sehens. Zweifach, heißt es, sei Perspektive »unnatürlich«: sie rechne mit dem fixierten Auge und tue, indem sie die Bildgegenstände unter das Gesetz einheitlichen Aspektes zwinge, jedem Ding Gewalt an, «la Geometne est la science des proportions, eile ne peut admettre aucune neutralite, c'est pourquoi tout est ä son igard, on absolument vray, ou absolument faux»2e. Natürlich ist es dagegen,«libiement iegaider en se piomenant devant les tableaux», Bilder zu betrachten, «ainsi que Von voit le naturel»27; — zwei Sätze genügen, die Ziele von Huret zu kennzeichnen. c) Z w e i f e l Trotz gelegentlichen Widerspruches, die Theorien von Desargues und Bosse seien «purement scientifique» (darum «inutile ä discuter»28), läßt sich zeigen, daß sie im Gegenteil mit bildender Kunst in enger, ja lebendigster Verbindung stehen. Als Gegner stehen Bosse und Huret sich gegenüber, stellen Behauptung gegen Behauptung, und doch kann man nicht leugnen, daß sie durch ein Gemeinsames fest verbunden sind. Beide verraten die gleiche Unsicherheit gegenüber dem, was Ziel und Ende der Renaissanceperspektive gewesen ist: der malerischen Darstellung von K ö r p e r n . Ideenges chichtlich gehören beide Antagonisten als komplementäre Vertreter einer Situation zusammen, die sich K r i s e d e s R a u m s i n n e s nennen ließe, und welche um die Mitte des 17. Jahrhunderts französische Künstler (und nicht nur diese) vor akute Probleme stellt. «Toute figure de corps ou solide ... tombe sous la direction de la perspective pratique; mais qui plus, qui moins, suivant la diveisite des sujets, et la regulanti de leurs figures et superficies, comme Celles des Architectures et (hoses semblables, sur lesquelles aussi eile deploye toutes ses regies pour en trouver les precises apparences sur le tableau, sur lequel eile les fait etendie et 6largir, ou depraver, pour radieter l'obliquitS des parties dudit tableau, sur lesquelles elles se trouvent decntes ce que lesdites Architectures supportent incomparablement mieux, que les figures humaines et d'animaux ... C'est pourquoi eile ne peut π en contnbuer a la construction desdites figures, etc sinon pour la seule diminution de leur hauteur, suivant les divers enfonce25
Bis heute ist aus diesen Gründen projektive Perspektive den Malem interessant, vgl. M. Borissaliewich: Perspective sans points de fuite. Paris 1956. 28 Huret p. 75. 27 ebenda p. 76. 28 A. Blum: Abraham Bosse et la Societe franQaise aux dix-septi£mes siecle. Paris sd. p. 4.3.
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mens requis, laissant au surplus la liberie au peintre de les desseigner sans aucune depravation, sui le tableau, aussi que les Yeux les voyent»29. Hier redet H u r e t von Perspektive und sucht ihr die Dingwelt zu entziehen30. Architekturen «et choses semblables» könnte man ihren Gesetzen unterwerfen, nicht «figures humaines et d'animaux». Diese sollten zwar ihrer Entfernung vom Beschauer entsprechend groß oder klein gebildet sein, duldeten aber keine Anpassimg an die Zentralkonstruktion der Fluchtlinien. Wir sehen »Figuren und Tiere« im Raum, aber nicht innerhalb der Perspektive, die also nidit als vollgültiges Substitut des Räumlichen betrachtet wird. Die Stelle «c'est pouiquoi eile (die Perspektive) ne peut rien contribuer ä la construction desdites figures, etc sinon pour la seule diminution de leur hauteur, suivant les divers enfoncemens ...» bezieht sich auf Hurets Auffassung vom Horizont «comme le profil d'un plan imaginaire, qui vient comme un grand niveau depuis la ligne d'intersection que le del fait avec la mer». Im Gegensatz zu Bosse kennt Huret eine Horizont 1 i η i e , er betrachtet sie als hintere Grenze jener E b e n e , deren vordere Kante durch das Auge des Beschauers läuft (die deshalb nur im Querschnitt, eben dem »Horizonte« zu Gesicht kommt) und die sich im Unendlichen mit der Standebene der Figuren trifft. Man hat also nur die einzelne Figur dem ihr an ihrem jeweiligen Standort verbleibenden Platz zwischen Horizontlinie und Standfläche einzupassen 31 . Dieses einfache Mittel «de marquer au tableau le point d'un quelconque enfoncement requis»32 ist von Leonardo her bekannt: es finden sich im Codex Hyghens Beij8 33 34 spiele , die mit entsprechenden Abbildungen bei Huret zusammengehen. Das 59 17. Jahrhundert gibt bewußt das alte Distanzpunktverfahren und damit den in die Tiefe gesetzmäßig sich gliedernden Raum auf, um gleitende Tiefe, ohne metrische Zäsuren zu gewinnen. Nicht minder wird die einstmals so straffe Bündelung der Sehstrahlen gelockert. «Pour moderer lesdites depravations, il faut multiplier les angles visuels, et ... distribuer divers points de concours sur la ligne horizontale du tableau»35. Bei nur einem Augenpunkt droht den Dingen am Bildrande die Gefahr übermäßiger perspektivisch bedingter Verzerrung, was sich mit Hilfe verschiedener auf der Horizontlinie verteilter Augenpunkte beheben läßt. Ein Bild wird in mehrere Perspektivsysteme unterteilt3®. Huret rechnet mit der Möglichkeit, daß jeder Bild29
Huret p. r. Deutlidier: «La Geomdtne n'a aucun pouvoir en la portzaicture de tous les ammaux, aibres, fleurs, paisages ...» (Huret, Au Lecteur). 31 Dabei wird die Augenhöhe jeder Figur mit den Augen des Betrachters auf die Horizonthöhe hin abgestimmt. 32 Huret sect. 42. p. 15. 33 Ε. Panofsky: The Codex Huyghens and Leonardo da Vinci's Art Theorie. London 1940. Tafel 50 und 63. 34 Huret Tafel I. Das gleidxe Verfahren bei Testa im Düsseldorfer Skizzenbuch. 35 ebenda sect. 139. p. 43. 38 Jedes System hält sich innerhalb der Grenzen, die mit einem Blick zu erfassen sind. Huret illustriert sein Prinzip, das sich ähnlich schon bei Donatello und Carpaccio »präperspektivisch« findet pi. IV (26, 27). 30
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gegenständ seinen eigenen Augenpunkt besitzt: «les figuies de tous ammaux et) auties sujets ... doivent estre portraites apres le natuzel comme les yeux les voyent, et chacune de lern point direct particulier, pose sur l'honzontale»37. Dies sind Symptome des Zerfalls. Nicht mehr planmäßig in den Raum geleitet, schweift der Blick unstet über die Bildfläche, — «le but de l'art de portraiture est de laisser aux yeux et au jugement la connaissance entiere de la superficie du tableau», die Bildfläche, «couverte ou ennchie d'une excellente decoration de figures» spielt sich als Träger einer Ansammlung koordinierter Bildgegenstände in den Vordergrund, mit der raumbedingten Subordination der Dinge unter die vordere Bildebene verflüchtigt sich Illusionistisches: «le jugement y trouve, non le natural mesme, ... mais son... portrait»39. Viel stärker scheint Bosse den alten Grundsätzen der Zentralperspektive verpflichtet: «je suppose . . . Ια position du tableau entre l'oeil et 1'object»30 — das ist Alberti. Wie dieser erklärt Bosse das Bild als Fenster, durch das man auf die vorgestellte Außenwelt schaut, «transparent comme un verre tres mince»40. Aber er fällt in eine Art doktrinärer Erstarrung, überspitzt das alte Prinzip. Auf das Strengste sind die Beziehungen zwischen Beschauer und Bild geregelt, welches nicht mit beiden, sondern nur mit einem Auge betrachtet werden darf, das nicht bewegt werden soll41, «afin que l'on ne tombe pas dans l'erreur ordinaire de desseigner et peindre comme l'oeil voit; mais faire en sorte que ce que l'on fera suivant les r&gles que je donne, fasse ä loeil du Regardant la mesme vision que le nature!, vued'unepareille 42 distance et elevation d' ο ei Ζ» . Das heißt also, weniger um das Sehen geht es bei dieser Perspektive als um die Dinge selbst. Der fortschrittliche Meister erklärt hier, wie im Rückgriff auf sehr frühe Formen von Renaissanceperspektive, welche anfangs nicht zur Darstellung von Räumen, sonderen von Körpern gedient zu haben scheint (erst seit Pomponius Gauricus ist der Raum wirklich präexistent43}, die Perspektive als Körpergeometrie im Rahmen der Optik. Die Qualitäten eines Körpers lassen sich nicht mehr durch die natürlich-sinnliche Wahrnehmung allein ausmachen, sondern bedürfen der geometrischen Demonstration. Unter diesen Umständen vermag ein Satz wie der folgende erst ganz verständlich zu werden: «Traveller par r&gle de 1' e f f et qu'aura l'ouvrage, laquelle maniere est celle qu'on nomme travailler en Perspective»4*. Alles Psychologische der Raumerfahrung scheint für Bosse wegzufallen. 37
Huret sect. a n . p. 74.
38
Huret sect. 216. p. 76.
39
Α. Bosse: Pour pratiquer la perspektive . . . Paris 1665. p. 9.
40
ibid: Traite des pratiques geometrales et perspectives. Paris 1665. p. 7.
41
A. Bosse: Traite sur la pratique des Ordres de Colomnes. Paris 1664. pl. X M L Hurets
»naives« Schauen bedient sich natürlich beider A u g e n , vgl. sect. 240. p. 91. 42
Α . Bosse: Τ τ β ϋ έ des pratiques geometrales. Paris 1665 (Avantpropos).
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E. Panofsky: Perspektive als »symbolische Form«, in »Vorträge der Bibliothek War-
burg« 1924—1925. Leipzig-Berlin 1927. S. 280,- neuerdings interessant die Diskussion Heydenreith—Siebenhüner, in »Kunstdrronik« VII. .1954. S. 129 ff.
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Wir stehen vor der eigentümlichen Tatsache, zwei verschiedene Perspektivmethoden gleichzeitig nebeneinander wirksam zu sehen. Die eine — Hurets Methode — dient der Reproduktion des zufälligen Augenscheins, «c'est la pnncipale fonction de l'ait de portraiture de faiie discernei la figuxe effective du sujet natuiel ... d'avec la figure s imp 1 em ent αρρ αϊ ente aux Y eu χ, qui est celle, qu' i 1 f au t deciii e sui le table a u» 45 , die andere bereitet ein gleichsam »konkretes« Nachbild der gegenständlichen Welt. Bosses Systematik will weitgehend die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit ersetzen. Als Mittler zwischen dem Ding und dem sehenden Auge gewinnt die Bild f l ä c h e (auf der sich der komplizierte Prozeß der optischen Erfahrung vollzieht) ihre extreme künstlerische Bedeutung. Beide Perspektivmethoden zeugen für eine Schwächung der naturhaften Naivität des Auges. Denn entweder sah man ein Ding «represente selon le plan geometral», isoliert und losgelöst aus seiner Umgebung, oder bemerkte es, sich unkontrolliertem Schauen überlassend, nur flüchtig, mit jener ungereinigten Diflusität, mit der man »wahrnimmt«. Im Bewußtsein gelangen das Ding und sein Erscheinungsbild nicht zu voller Deckung. *
Der Tiefgang des Perspektivstreites wird besonders deutlich an der hellen Wachheit, mit der seine geschichtlichen Voraussetzungen registriert und der Betrachtimg unterzogen werden. Huret wendet sich nicht nur gegen Bosse allein, sondern gegen eine Kunstrichtung, innerhalb derer Bosse nur ein Glied ist. Dürer, Cousin, Vignola, Barbara, Lomazzo und Marolois hätten vorbereitet, was Desargues und seine Propagandisten vollenden 46 . «Lesdits Seigneurs Marolois et Desargues ont beaucoup plus imites la transparance (Ubersetzung von Dürers Bezeichnung »Durchsehung« für »Perspektive«) d!Albert . . . quils n'ont pas imite sa prudence et moderation. Jean Cousin et le Sieur Daniel Barbaro etc d'une part, et le Marolois et Desargues etc, d'autre sont tombe dans l'erreur, quoy que differement, pour avoir voulu etendre les pensees d'Albert Dürer plus loin qu'il n'a fait»47. 44 45 46
Α. Bosse: Traite des pratiques geometrales. Paris 1665. p. 4. Huret sect. 234. p. 92. In der «Optique« wird der geistige Stammbaum der Gegner historisch exakt verzeich-
net: «Vitruve est le premier qui α donnd des mesures au corps hu main ... dont Ruscony en son traite sur Vitruve, α άοηηέ tiois figures des hommes qui se voyent en taille de bois, et lequel Vitruve a este suivy par L. B. Alberti,... qui a este imite par Albert Omer«. Die weitere Entwicklung wird folgendermaßen skizziert: (die Jahreszahlen von Huret!) Dürer (1532) — Vignola-Danti (1583) — Marolois (1614). Dies wäre der Stammbaum projektiver Figurenmessung. Die Genealogie projektiver Geometrie lautet: Dürer (1534, französische Ausgabe der »Vier Bücher von menschlicher Proportion« 1557) - Jean Cousin (Livre de portraiture, 1560) — Barbaro (1569) — Lomazzo (1590). — Huret sect. 217, 230, 231. Sektion 231 wird bemerkt, daß Marolois wie audi Desargues Dürers Holzschnitt der »Zeichner mit der Laute« (1525) abbilden. 47 Huret sect. 230. p. 83. 75
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Die Faszination des späteren 16. und 17. Jahrhunderts gegenüber Dürer hat vielerlei Gründe48; zu den wichtigsten zählt Dürers vollkommene Erfassung der Körperwelt. Der gelehrte Herausgeber Vitruvs, Daniel Barbaro, Patriarch von Aquileja, erläutert die Einteilung des menschlichen Körpers ebenso an Dürers Beispielen49, wie Cousin, der für seine Proportionen füllige, langhaarige, »deutsche«, an Dürers Frauengestalten orientierte Figurinen wählt50 und nicht nur seine Methode der Kopfkonstruktion dem Nürnberger Meister entlehnt51, sondern — wie dieser — Figuren genau von vorn, von der Seite und von hinten mißt, wobei Dürers senkrechte Achse Verwendung findet, von der aus rechts wie links die Erstreckungen abgegriffen werden. Solche Anleihen vollziehen sich auf dem Boden afiner Anschauungsweisen. Auch Cousin kennt Dürers Prinzip der »Sehkugel«52; die Zeitgenossen haben Cousin Dürer an die Seite gestellt53. Demgemäß kann Huret, wenn er Cousin tadelt, Dürer nicht loben. Als Beispiel einer charakteristischen Dürerkritik des späteren 17. Jahrhunderts zitiere ich eine Stelle, die Dürers Verfahren, höher gelegene Buchstaben an einer Mauer größer zu bilden als die tiefer gelegenen, zum Gegenstande hat: « . . . ci cela pouvoist estie, il seroit impossible de discern er les divers eloignemens des choses qui sont effectivement Sgales, comme seroient des colonnes ou pilastres etc ..., qui seroient egales entfelles et pos6es sur un mesme plan de niveau, mais ä divers Sloignemens, parce que si Ι'ΐηέgalite des angles, sous lesquels leui appaiences se viendroient iendie aux yeux du regardant, les luy faisoit croire effectivement inegales, il ne les luy feroit pas croire inSgalement eloignees, tout parce qu'ayant employe leurs fonctions a les leur faire croire d'inegales grandeurs, il ne leur en reste plus pour les faire croire d'eloignemens inegaux, que parce que ses deux effets contraires, estans l'un vray et Ϊautre faux, sont absolument incompatibles ensemble, et partant ne peuvent estre incorporez l'un avec 1'autre»54. Wieder erscheint das Problem des Räumlichen hinter diesen Worten. Die »Sehkugel« als ideelle Projektionsfläche vermag das Raumgefühl, das dem Menschen von Natur aus eingepflanzt ist, nicht zu verdrängen. Die physiologische Raumerfah48
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Erstmals überschauend H. Kauffmann: Albrecht Dürer in der Kunst und im Kunsturteil um 1600. Beiträge zur Kunst der Epoche von 1530-1650. Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 1940-1953. Berlin 1954. S. 18—60. Über Dürers Einfluß auf französische Plastik finde ich einiges Wenige bei L. Hautecoeur: Histoire de l'Ardütecture classique en France. I. 1. Paris p. 179. 49 D. Barbaro: La practica della Prospettiva. Venedig 1568. p. 18—186. Audi hier ist Dürers Holzschnitt der »Zeichner mit der Laute« kopiert, weitere Bemerkungen zu Dürer im Vorwort des Werkes. 60 J. Cousin: L'art de desseigner. Ed. Jollain. Paris 1685. p. 58. 51 ebenda p. 21 f. 52 J. Cousin: Li vre de Perspective. Paris 1560. ρ. CIIJ. 53 J. de Caurres: Oeuvres morales et diversifies. Paris 1584. - Zum Urteil des 16. Jahrhunderts über Cousin wichtig Guy de Fevre de la Boderie: La Galliade ou la Revolution des Arts et des Sciences. Paris 1578. Neuerdings A. Firmin-Didot: Etude sur Jean Cousin; ibid: Recueil des oeuvres choisies de Jean Cousin. Paris r873. 54 Huret sect. 240. p. 91.
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rung läßt sich nicht ins Planimetrische abstrahieren. Wohl können wir bemerken, daß die Projektionsbilder zweier Dinge gleich groß sind (der Daumen in der Nähe und der Schornstein in der Ferne), — aber erst, nachdem der objektive Entfernungsunterschied nicht ohne Mühe »vergessen« worden ist. Unfähig, flächig zu denken, gelingt Huret das Verständnis der Dürerschen Figurenmessung nicht: « . . . puisque les figures peintes ne representent les figures naturelles de relief, que par des avances et des reculemens feints, et lesquels ne semblent vrais que par l'agrandissement des parties feintes avancees, et par la diminution des parties feintes enfoncees. II s'ensuit qu'il faudroit aussi agrandii ou diminuer incessament lesdits mesures par rögle de perspective; ce qui obligeroit de mener une infinit6 de lignes, tout fuyantes que de plomb et de niveau par la manitre dite sect. 120, 196, ce qui seroit une besogne comme infinie, et qui serviroit que pour les parties situies de front, et paiallälement au tableau; car pour Celles qui seroient inclines, obliques ou fuyantes, .. .il y auroit encore beaucoup plus de difficult6, parce qu'il faudroit trouver les angles et biais desdites obliquitez, inclinations et fuites, tout ä l'egard du plan de face au tableau, pour apres degrader et pousser le tout en la place ou il doit estre enfonce, laquelle il faudra trouver pour une degradation proportioneile, qui seroit une besogne dont les An ges s euls purroient voir la f i n , m ais no η aucun ρ eint re du m on d e» 5 5 . Huret berührt hier das Problem der Verwendbarkeit Dürerscher Messungen im Bilde. Ohne Sinn für deren theoretischen Erkenntniswert, verwirft er die bahnbrechende Leistung des deutschen Meisters aus praktisch-utilitaristischen Gründen. Wie ist es unter diesen Umständen anders denkbar, als daß sich Huret gegen jeden Versuch wendet, einem »raumhaltigen« Bildträger, einer in die Tiefe führenden Wand, einem Gewölbe, einem konischen Spiegel ein geometrischerweise dermaßen konstruiertes Bild zu applizieren, das die optischen Verschiebungen, die durch den dreidimensionalen Bildträger verursacht werden, ausgleicht und den Anschein erweckt, als halte sich der Bildträger parallel zur Sehebene 68 . Solche Bilder scheinen sich von ihrem Grunde zu lösen und auf einer fingierten Projektionsebene zu schweben. Es sind dies die »Anamorphosen«, deren Wert nur ein theoretischer gewesen ist, die jedoch symptomatisch von höchster Bedeutung für die Kenntnis der Anschauungsweisen der Epoche und für deren philosophische Hintergründe sind. Die Meister dieser extremen Sonderform künstlerisch geübter Projektionsweisen, verfolgten ihre Untersuchungen der i m a g i n ä r e n Bildfläche in Paris, genauer gesagt dem Couvent des Minimes. Hier wirkten Marin Mersenne, Jean-Frangois Niceron, hier wohnte auch Descartes erst 1622—23, dann wieder von 1625 bis 1628. Eine Schule mathematisch und philosophisch gleichermaßen gebildeter Geister kam hier zusammen und bereitete ein Gebiet vor, das später Desargues und Bosse gemeinsam durchforschten; dabei standen 65
Huret sect. 2.32. p. 83. Die Annahme von Baltrusaitis, Huret habe solche optischen Konstruktionen verherrlicht, ist irrig (Anamorphoses ou perspectives curieuses. Paris 1955. p. 45). Die Verdammung der projektiven Praktiken steht unzweideutig in den sectionen 187, 198, 209. Ββ
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fast alle, die sich in dem Minoritenkloster projektiver Geometrie widmeten, mit Descartes in mehr oder minder naher Verbindung. Die wissenschaftlichen Früchte erschienen in kontinuierlicher Folge: 1637 die «Dioptrique» und die «Geometrie» von Descartes, 1638 und 1646 die »Perspective« und der »Thaumaturgus opticus« von Niceron (dessen «Dioptrique» ist dem «Thaumaturgus» beigefügt). 1648 bringt Maignan seine «Perspectiva horaria» zum Druck, 1651 erscheinen posthum «Optique» und «Catoptrique» von Mersenne. Alle Arbeiten reflektiren den gleichen Geist. Mersenne wie auch Descartes rangen mit dem Problem der Illusion. Ihre Arbeiten lassen sich unter dem Begriff des Z w e i f e l s verstehen. Auf dem Grunde genauer Kenntnisse des Sehmechanismus werden an kalkulierten Einzelfällen Wahmehmungstäuschungen demonstriert. Man sucht den Blick zu hintergehen, das Sehorgan in Frage zu stellen. Wie die Philosophie das Leben, betrachtet die Optik das Gesehene als Phantom. Im IV. Discours der «Dioptrique» entwickelt Descartes: die bildliche Wiedergabe der Dinge ist unzulänglich, denn sie zeige «sur une supeificie toute plate... des cois diveisement releves &> enfonces» und stelle «mesme suivant les regies de la perspective ... mieux des ceicles par les Lozanges (d. h. Ovale) que par d'autres cercles, et des cartes par d'autres cartes» dar, «ainsi de toutes les autres figures: en sorte que souvent, pour etre plus parfaites en qualite d'images, representer mieux un obiect, elles doivent ne luy resemble»57. Dieser sophistische Passus zieht die «Costruzione legittima», die zweite Regel Vignolas zum Beweise der Falschheit aller Erscheinungen in der physischen Welt heran. Perspektive ist nicht mehr das Instrument exakter Wiedergabe, sondern lügnerische Verfälschung wirklicher Verhältnisse. So hatte schon Plato »die Perspektive in ihren bescheidenen Anfängen verdammt, weil sie die wahren Maße der Dinge verzerre und subjektiven Schein und Willkür an die Stelle der Wirklichkeit und des νόμος setze»58. Mersenne gilt als ein Verbreiter des Florentiner Renaissancepiatonismus in Frankreich59, er und sein Kreis nehmen Gedankengänge wieder auf, die schon Ficinos «Theologia Platonica» enthielt60. Die Frage, welche innersten Ursachen eigentlich das tiefe Zerwürfnis zwischen der offiziellen Akademiekunst und den Wegbereitern projektiver Methoden haben heraufbeschwören können, ist nicht völlig zu beantworten, ohne daß bestehende Differenzen philosophischer Grundanschauungen in Betracht gezogen werden: dem Neoplatonismus der projektiven Geometer steht gegenüber eine mehr aristotelische Form der Wirklichkeitserfahrung. Denn — und damit kommen wir zum Schluß unserer Darlegungen — auch Huret entbehrt nicht der geschichtlichen Legitimation. Gegen jede »wissenschaftliche« Form BT
R. Descartes Oeuvres Ed. Adam-Tannery. VI. 1902. p. 113. E. Panofsky: Die Perspektive als »symbolische Form«, in »Vorträge der Bibliothek Warburg« 1924—25. Berlin-Leipzig. 1927. S. 290. 69 Vgl. F. A. Yates: The French Academies of the sixteenth century. Studies of the Warburg Institute, vol XV. London 1947. p. 185. 80 E. Panofsky: Studies in Iconology. New York 1939. p. 131. 68
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der Perspektive81 sieht er sein Vorbild in Leonardo, dessen Traktat über die Malerei ihn stark beeinflußt hat, was schon rein äußerlich an der Einteilung der «Optique» in einzelne »Sections« nach Art von Leonardos Paragraphenfolge zu erkennen ist. Mit Leonardo verbindet ihn das Heuristische, auch das Aphoristische (wobei nicht zu vergessen ist, daß Leonardos Manuskripte noch unerforscht ruhten), das Kompilierte. Leonardos Beitrag zur Perspektive ist nur gering gewesen62. Seine Betonung der natürlichen Augenerfahrung traf bei Huret auf verwandte Seiten. Leonardos Bindung an den Aristotelismus seiner Zeit ist gelegentlich hervorgehoben worden 63 . Dürfen wir hier einen Schlußpunkt setzen und uns zu Poussin zurückwenden, wobei wir die Ergebnisse unserer vorhergehenden Untersuchungen in Erinnerung rufen? Zuerst werden wir sagen dürfen, daß die in dem Brief an Bosse geäußerte Reserve Poussins gegenüber Leonardo jetzt in einem neuen Licht erscheint, vereinigt sie sich doch als ein Faktum auf das Beste mit anderen Fakten, etwa dem Studium Dürers oder dem Interesse für Bosse. Es darf in diesem Zusammenhang wiederum auf Poussins Verbindung nach Lyon verwiesen werden, denn aus dieser Stadt stammte auch Desargues, dort verbrachte er seine letzten Lebensjahre, dort ist er auch gestorben. Femer sehen wir aber auch — und zwar erst vor dem Hintergrund von Paris — die geistigen Umrisse der »Treppenmadonna« sich neuartig abzeichnen. Wohl niemand
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wird dieser Schöpfung etwas Carthesianisches streitig machen. Ihr kompositioneller, auf Flächenproportion beruhender Bildbau-Aufbau behauptet innerhalb der langen Geschichte der kompositionellen Mittel einen besonderen Platz. Daß Poussin gerade dieses Verfahren zur Verdeutlichung seiner Idee wählte, muß kunstgeschichtlich als eine M i t t e i l u n g
bewertet werden. Die Dürerstudien des Exemplares der »Vier
Bücher von menschlicher Proportion« aus der Sammlung Baltrusaitis legen nahe, unmittelbar vor der Pariser Reise 1640 Poussins erste Berührung mit planimetrischen Problemen anzusetzen. In Paris dürfte er ohne Mühe über »Dürer« mit projektiven Geometerns in Berührung und zuerst mit Bosse in Verbindimg gekommen sein, einen Kontakt begründend, dem 1653 dann der einzig erhaltene Brief ihre Korrespondenz entsprungen ist. Als Poussin 163s Leonardo illustrierte, hatte er diejenige Stufe erklommen, welche die Akademie erst nach 165 r erreichen sollte: daß sich Huret gerade auf dasjenige Leonardotraktat beruft, das mit den Illustrationen Poussins geschmückt war, kennzeichnet die »Verspätung«. Wenn es in bezug auf Huret heißt, »Künstler, welche nach dem Augenschein malen, modellieren ihre Figuren gern zuvor« 64 , darf angesichts des Wachsmodells der »Ariadne« gesagt werden, daß Poussins Anschauun61
Huret spricht generell »gegen alles Messen« (sect. 265), speziell gegen Alberti sect. 264. Eindringliche Untersuchung der Perspektivlelue Leonardos bei J. White: » The Birth and Rebirth of pictorial Space«. London 1957. p. 207—215. 63 G. v. Prantl: Leonardo da Vinci in philosophischer Beziehung. Sitzungsberichte d. königl. Bayerischen Akademie d. Wissenschaften (3. 1. 1885); vgl. auch L. Planiscig: Leonardos Porträte und Aristoteles, in »Festschrift, f. Julius Schlosser«. Wien ^ 2 7 . S. T37—r44 (Hinweis Prof. von Einem). 64 A. Bosse: Traite des pratiques gdometrales. Paris 1665. P· 29. 62
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gen sich ursprünglich nicht von jener naiven sinnenfrohen Seh weise unterscheiden; die Huret noch 1670 propagiert. Dann aber kommt eine Wende und es ist bedeutsam, diese in Begleitung der Brüder Chantelou vollzogen zu sehen. Paul von Chantelou dürfte Poussin mit dem in bürgerlichen Kreisen Frankreichs aufgekommenen Stoizismus vertraut gemacht haben, der dann in Alterswerken verewigt worden ist («Phocion»-Landschaften)e5, Schon die »Treppenmadonna« bewahrt in künstlerischer Gestalt, indem sie Anregungen aus Bereichen projektiver Vorstellungen verarbeitet, Philosophisches: denn unter den geschichtlichen Umständen wird man die neue F l ä c h i g k e i t als platonische Beschränkung auf das r e i n B i l d h a f t e ansehen. War für Poussin dieser künstlerische Neuplatonismus eine andere Form von Weltüberwindung? Auf einigen seiner Zeichnungen finden sich zarte, auf Abbildungen meist nicht erkennbare Konstruktionsmerkmale, Skalen, Fluchtlinien, Zirkelstiche. Bisher sind diese stummen Zeugen nicht auf ihren Aussagewert geprüft worden, man hat sie überhaupt nie beachtet. Eine Durchsicht der Bestände des Louvre lehrt, daß diese Merkmale von Konstruktionsverfahren herrühren, die Kennzeichen des Planimetrischen tragen, daß sie nicht dazu dienen, Perspektive aufzubauen. D i e , s o l c h e K o n s t r u k t i o n e n e n t h a l t e n d e n S t u d i e n b e s c h r ä n k e n sich i n s g e s a m t a u f B l ä t t e r , d i e m i t P a u l de C h a n t e l o u i n V e r b i n d u n g s t e h e n : Louvre 32429®® ist eine Vorstudie zur »letzten Ölung« der zweiten, für Chantelou bestimmten Sakramentenserie. Elf senkrechte, über das Blatt hinlaufende Linien von gleichmäßigem Abstand (2,85 cm) bilden eine Skala der Breite nach (Bosse: «Eschelle du front»). Da die Einteilung nicht an die Seitenränder heranreicht, ist das Blatt möglicherweise rechts wie links etwas beschnitten. Die Linien dienen als Grundgerüst für die rhythmische Gestaltung des Bildhintergrundes, dessen Metrik seinerseits das Maß für die davor si£.-/ ρ > • .,.
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\ Abb. 29. Skizzenbuch der Ecole des Beaux-Arts, Apoll
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Abb. 30. Errard (links) und Poussin (?) (rcchts), Proportionsstudien aus dem Skizzenbuch der Ecole des Beaux-Arts
Tafel 18
T a f e l 19
Abb. 33. Poussin (?), aus dem Skizzenbuch der Ecole des Beaux-Arts
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Abb. 34. Marginalie zu Dürer (Coli. Baltrusaitis)
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Abb. 38, 39. Marginalien zu Dürer (Coll. Baltrusaitis)
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