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German Pages 202 [206] Year 2022
Albert Grzesinski
Politische Reden 1919–1933 Herausgegeben von Dietfrid Krause-Vilmar
Weimarer Schriften zur Republik
Franz Steiner Verlag
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Weimarer Schriften zur Republik Herausgegeben von Michael Dreyer und Andreas Braune Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Ursula Büttner, Prof. Dr. Alexander Gallus, Prof. Dr. Kathrin Groh, Prof. Dr. Christoph Gusy, Prof. Dr. Marcus Llanque, Prof. Dr. Walter Mühlhausen, Prof. Dr. Wolfram Pyta, Dr. Nadine Rossol, Prof. Dr. Martin Sabrow Band 21
Albert Grzesinski
POLITISCHE REDEN 1919–1933 Herausgegeben von Dietfrid Krause-Vilmar
Franz Steiner Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Bundesministerium der Justiz und des Vereins Weimarer Republik e. V.
Umschlagabbildung: Albert Grzesinski auf der Verfassungsfeier der Berliner Schutzpolizei am 11. August 1929. Seine Reden zum Tag der Weimarer Verfassung beschloss ein Hochruf mit erhobenem Arm auf Vaterland und Republik. Bundesarchiv: Bild 102–08224/ Fotograf Georg Pahl. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2022 Layout und Herstellung durch den Verlag Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-13318-0 (Print) ISBN 978-3-515-13319-7 (E-Book)
Abbildung 1: Portrait des preußischen Innenministers Albert Grzesinski aus dem Jahre 1927. Friedrich Ebert Stiftung, Archiv der sozialen Demokratie 6/ FOTA044004. Fotograf nicht bekannt.
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Albert Grzesinski: Öffentliche Reden und Ansprachen
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Dolchstoßlegende, Kriegsschuld und nationale Würde . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegen Unterdrückung der Pressefreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum preußischen Republikschutzgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Polizei als Hüter der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur politischen Strategie der Freien Gewerkschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Staat schützt die Rechte der Bürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Polizeiliche Durchsuchungen ohne Ansehen der Person . . . . . . . . . . . . . . . . . Für die deutsch-französische Freundschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Staat sichert das friedliche Demonstrationsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegen die private Bewaffnung von Bürgern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Polizei als Freund und Helfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundzüge einer demokratischen Kulturpolitik im Osten . . . . . . . . . . . . . . . Preußen als Hort des demokratisch-republikanischen Staatsgedankens . . . Polizei und mediale Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur kommunalen Amtsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine der Wirklichkeit verbundene Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu den Aufgaben eines politischen Staatsbeamten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Für Friedrich Ebert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Demokratisierung der kommunalen Selbstverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . Zur Zivilisierung der Polizei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Silvesterbetrachtung 1928 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu den entgleisten politischen Demonstrationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Verächtlichmachung des politischen Gegners . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das zum 1 . Mai nicht aufgehobene Demonstrationsverbot . . . . . . . . . . . . . . . Lucifer ante Portas! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Kampf um die politische Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur neuen rechtlichen Stellung der Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Polizei sichert den Sozialstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entschiedene Abwehr bei tätlichen Angriffen gegen Polizisten . . . . . . . . . . . Zum preußischen Volksentscheid 1931 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wahl zwischen Demokratie und Faschismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Für eine feste staatliche Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum nationalsozialistisch geführten Bürgerkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Preußen muss für die Arbeiterbewegung gehalten werden . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
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Die furchtbare Gefahr des Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur politischen Geschichte der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Rückblick auf die Revolution 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Meine letzte Wahlrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Biographische Daten zu Albert Grzesinski Zur Edition
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Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Bildlegenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
Einleitung
Wer war Albert Grzesinski, den heute keiner mehr kennt, während die Erinnerung an seine damaligen politischen Freunde und Weggefährten wie Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann und seine preußischen Kabinettskollegen wie Otto Braun und Carl Severing auf Straßen-, Platz- und Gebäudenamen öffentlich erhalten geblieben ist? Selbst enge Berliner Mitarbeiter Grzesinskis wie Ferdinand Friedensburg, Wilhelm Abegg und Robert W . Kempner sind nicht vergessen . In der Stadt Kassel, wo Grzesinski fast zwanzig Jahre lang politisch wirkte, erinnern weder Straße noch Platz an ihn; es ist bezeichnend, dass wir erst im Rahmen von Lokalstudien auf den bedeutenden preußischen Staatsmann aufmerksam wurden . „Grzesinski ist, obgleich ein herausragender demokratischer Politiker der Weimarer Zeit, heute weitgehend vergessen“, schrieb Thomas Albrecht im Jahre 19991 . Dessen exzellente Studie wurde nur von wenigen Fachhistorikern aufgegriffen .2 Auch in der sozialdemokratischen Geschichtsschreibung und historischen Traditionsbildung kommt dieser führende sozialdemokratische Politiker, der mehrere Jahre Staatsminister in Preußen war, nicht vor . Liegt das möglicherweise daran, dass er in seinem unabhängigen Denken und Handeln innerhalb des sozialdemokratischen Spektrums nicht leicht zuzuordnen war? Oder daran, dass ihm jede Form der Selbstdarstellung fremd war? Dabei hatte auch Hagen Schulze bereits vor Jahren Grzesinskis Bedeutung für die preußische Politik herausgehoben und bemerkt, „dass Severing dem neuen Regierungssystem zwar den symbolkräftigen Namen, dieser ihm aber erst den eigentlichen Inhalt gegeben hatte .“3
Albrecht, Thomas: Für eine wehrhafte Demokratie . Albrecht Grzesinski und die preußische Politik in der Weimarer Republik (=Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung . Reihe: Politik und Gesellschaftsgeschichte, Band 51 . Herausgegeben von Dieter Dowe und Michael Schneider) . Bonn 1999 . 2 Rossol, Nadine/ Ziemann, Benjamin (Hg .): Aufbruch und Abgründe . Das Handbuch der Weimarer Republik . Darmstadt 2021 . Auch in diesem neuesten Handbuch zur Weimarer Republik wird Grzesinski nur beiläufig erwähnt (S . 328 f . und S . 400), während die maßgeblich von ihm durchgesetzte Polizeireform Karl Severing zugeschrieben wird . 3 Schulze, Hagen: Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung . Eine Biographie . Frankfurt, Berlin, Wien 1977, S . 515 . 1
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Einleitung
Zunächst einige Daten zur Person selbst . Thomas Albrecht stellte eingehend die politische Lebensgeschichte Albert Grzesinskis dar, eingebettet in die ausführliche Behandlung seines politischen Denkens und Wirkens . Eberhard Kolb beschrieb den „Lebensweg eines deutschen Sozialdemokraten“ eindrucksvoll .4 Grzesinski selbst stellt in seinen Erinnerungen „Im Kampf um die deutsche Republik“ sein Handeln in der Zeit der Weimarer Republik eingehend dar .5 Wir werden daher im Folgenden nur die wichtigsten Stationen seines politischen Wirkens nennen, soweit diese für das Verständnis seiner Reden unerlässlich sind . Er wurde am 28 . Juli 1879 in Treptow an der Tollense in Pommern als einziges Kind des Hausmädchens Bertha Ehlert unehelich geboren . Eine Lehre im Metalldrückerund Gürtlerhandwerk schloss er erfolgreich ab und arbeitete in diesem Beruf an verschiedenen Orten . 1897 trat er dem Deutschen Metallarbeiterverein und drei Jahre später der Sozialdemokratie bei . Er kam über gewerkschaftliche Tätigkeit in Offenbach nach Kassel, wo er 1913 Vorsitzender des Gewerkschaftskartells Kassel und Umgebung wurde . Er war hier die herausragende Persönlichkeit in den ersten Monaten seit dem November 1918 . Große Energie, politischer Klarblick und entschlossene Handlungsfähigkeit sowie langjährige gewerkschaftliche Organisationserfahrung zeichneten ihn aus . Der Kasseler Arbeiter- und Soldatenrat arbeitete unter seinem Vorsitz in den Monaten nach Kriegsende gemeinsam mit der städtischen Verwaltung (unter Oberbürgermeister Erich Koch-Weser, dem späteren Reichsinnenminister) an den dringenden Tagesaufgaben wie der Sicherung der Ernährung und Versorgung der Bevölkerung sowie an der Rückführung der Soldaten, da die Oberste Heeresleitung unter General Paul von Hindenburg die Stadt und den Hauptbahnhof Kassel zum zentralen Ort für die Demobilisierung des Heeres bestimmt hatte . Grzesinski entfaltete – Tag und Nacht arbeitend – eine umfassende Verwaltungsarbeit, um die drängenden prefpreProbleme anzugehen . So ließ er den Hauptbahnhof militärisch absperren und niemanden in die Stadt kommen, der nicht in Kassel wohnte oder Angehörige in der Stadt hatte, um die Stadt nicht versorgungstechnisch und sicherheitspolitisch durch Tausende Soldaten zu überfordern; gleichzeitig richtete er Massenspeisungen im Bahnhof ein . Die Munitionsfabrik löste er auf, die dem Militär unterstehenden Lebensmittelbestände überführte er in städtisches Eigentum, die Militärschlachterei bezog er in die städtischen Versorgungsbetriebe ein . Der Arbeiter- und Soldatenrat in Kassel wurde von ihm nicht als Instrument einer sozialistischen Revolution, sondern als eine spontan geschaffene Organisation verstanden, die vor allem durch die Herstellung der Demokratie und Republik den arbeitenden Klassen die politische Mitgestaltung zu öffnen hatte . Auf
Albert Grzesinski: Im Kampf um die deutsche Republik . Erinnerungen eines Sozialdemokraten . Herausgegeben von Eberhard Kolb . München 2001, S . 11–27 . 5 Albert Grzesinski (wie Anm . 4), S . 63–307 . 4
Einleitung
Augenhöhe mit dem Bürgertum, so dachte er, sollte eine Zusammenarbeit zwischen Arbeiterbewegung und Bürgertum beginnen .6 Grzesinskis umfassende politische Fähigkeiten, seine Sachkompetenz, Initiativund Führungsfähigkeit sowie seine Verwaltungserfahrungen verhalfen ihm im preußischen Staat nach 1918 zu herausgehobenen Aufgaben und Ämtern . Bereits 1919 wurde er Unterstaatssekretär im preußischen Kriegsministerium . Mit großem Geschick bewältigte er, der nie Soldat gewesen war, mit Unterstützung durch Reichsfinanzminister Matthias Erzberger, als Reichskommissar die schwierige Abwicklung der Militärverwaltung . Von Mai 1925 bis zum Oktober 1926 war er Polizeipräsident in Berlin . Er war Mitglied der Preußischen Landesversammlung (1919–1921) und des Preußischen Landtags (1921–1933) . Dann wurde er für vier Jahre (1926 bis 1930) preußischer Innenminister . Anschließend ernannte ihn die Regierung Braun erneut zum Polizeipräsidenten in Berlin . Als einer der ersten sozialdemokratischen Spitzenbeamten wurde er im Juli 1932 im Rahmen des Staatsstreichs der Reichsregierung unter Franz von Papen gegen die preußische Regierung entlassen . Im März 1933 emigrierte er über Österreich und die Schweiz nach Paris, von dort 1937 nach New York . Gnadenlos hatte die NSRegierung am 1 . April 1933 seine Versorgungsbezüge eingestellt, ihn am 24 . Juli 1933 aus dem Staatsdienst entlassen und vier Wochen später – gemeinsam mit 32 anderen Politikern und Schriftstellern – ausgebürgert, weil er „durch ein Verhalten, das gegen die Pflicht zur Treue gegen Reich und Volk verstößt, die deutschen Belange geschädigt“7 habe . In New York nahm er 1943 in verschiedenen Fabriken seinen alten Beruf als Metalldrücker wieder auf . Eine Initiative der Sozialdemokratischen Partei, ihn nach Deutschland zu holen, erfolgte Jahre zu spät . Er starb dort am 31 . Dezember 1947 . Die politische Rede spielte in der Zeit der Weimarer Republik (kein Fernsehen, Rundfunk im Aufbau, kein Internet usw .) eine ungleich größere Rolle als heute – nicht zuletzt im Rahmen der politischen Bildung und argumentativen Darlegung der eigenen Politik, auch im jeweils eigenen politischen LagerBeim Blick auf die politische Laufbahn Grzesinskis nach 1919 fällt auf, dass er sich weder als Polizeipräsident in Berlin noch als preußischer Innenminister auf die Reform und Neuordnung der Polizei – so wichtig ihm diese war, wie wir andernorts gezeigt haben, und so gründlich er diese auch umzusetzen versuchte – beschränkte . Sofern er überhaupt der Nachwelt bekannt wurde, galt er als „Polizeiminister“ . Ohne jede Frage kann er praktisch und theoretisch als hochrangiger Experte in allen die Polizei betreffenden Fragen gelten . Die durch Otto Braun, Carl Severing und vor allem nachdrücklich von ihm selbst langfristig an-
Krause-Vilmar, Dietfrid: Albert Grzesinski und der Kasseler Arbeiter- und Soldatenrat 1918/1919 . In: 1918 . Zwischen Niederlage und Neubeginn . Katalog zur Ausstellung . Kassel 2019, S . 44–57 . 7 Reichssteuerblatt 23 (1933), Nr . 40 vom 1 . September . Zitiert nach Grossmann, Kurt R .: Emigration . Geschichte der Hitler-Flüchtlinge 1933–1945 . Frankfurt a . M . 1969, S . 328 . – Die Ausbürgerung sei „wegen Begünstigung ostjüdischer Einwanderung nach Deutschland“ erfolgt (Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration . Band I, München, New York, London, Paris 1980, S . 252) . 6
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Einleitung
gelegte Polizeireform, die zugleich Modernisierung und Demokratisierung als Ziele hatte, war jedoch immer zugleich Teil eines Staat, Politik und Gesellschaft übergreifenden politischen Programms zur Gestaltung der Demokratie . Dies ergab sich auch aus seinem umfassenden Verständnis der Polizei, die Staat und Gesellschaft in besonderer Weise zu schützen habe . Daher gab er der polizeilichen Tätigkeit einen umfassenderen, einen universalen Horizont, der das Spektrum der inneren Politik in Deutschland weit ausleuchtete . Wir entdecken nicht zuletzt auch in seinen Reden umfangreiche weitere Arbeitsfelder, in denen er sich in energischer Weise nachhaltig und anhaltend engagierte . Die im Jahr 1919 beschlossene Verfassung enthielt für verantwortliche Politiker wie ihn große Herausforderungen, denen er sich immer wieder neu stellte . Der Titel seiner Erinnerungen „Im Kampf um die Republik“ übertreibt in keiner Weise seine Aktivitäten . Überwiegend aus seinem Nachlass veröffentlichen wir politische Reden von ihm, die er in der Zeit der Weimarer Republik gehalten hat . In ihnen wird sein Staat und Gesellschaft umfassendes Konzept der Durchsetzung und Sicherung einer rechtsstaatlich gefestigten Republik sichtbar . Deutlich wird die Perspektive der Begründung, Sicherung und ständigen Erneuerung der Demokratie . Wir möchten im Folgenden dieses Ensemble – denn um ein solches handelte es sich – eines staats- und gesellschaftspolitischen Reformwerkes zur Stärkung der Demokratie in seinen einzelnen Dimensionen skizzieren . An Aktualität hat diese Perspektive unseres Erachtens bis heute nichts eingebüßt . Bei aller Verständigung zwischen Braun, Severing und Grzesinski im Grundsätzlichen, die in den Jahren der Republik in jeweils unterschiedlicher Intensität und Kontinuität die Sicherung der Demokratie verfolgten, war bei Grzesinski ganz deutlich das Motiv der Politik für die arbeitenden Klassen erkennbar . Für den aus der aktiven freigewerkschaftlichen Bewegung kommenden Grzesinski war die Herstellung der demokratischen Republik in Deutschland ab 1918 die entscheidende und vordringliche Aufgabe, der alle anderen Aufgaben unterzuordnen waren . Keinen Moment vergaß Grzesinski, woher er als Gewerkschafter und Metallarbeiter kam und für wen er stritt . Allein der republikanische Rechts- und Verfassungsstaat garantierte in seinen Augen die politische Gleichheit aller Staatsbürger . Und dies bedeutete für Grzesinski, der zeit seines Lebens der Arbeiterbewegung verbunden blieb, historisch erstmals in Deutschland die Mitwirkung der bislang von den Entscheidungen in Staat und Regierung ausgeschlossenen sozialen Klassen . Arbeiterpolitik, Politik von Arbeitern und für Arbeiter, war nun möglich . Das Besondere bei Grzesinski – auch weitgehend im Unterschied zu Severing und zu dem ebenfalls aus proletarischem Milieu kommenden Otto Braun – war die in dieser Grundfrage nicht nachlassende kämpferische unabhängige Haltung sowie der sprachliche Klartext, für den er bekannt war . Er war kein „Vertreter einer bestimmten Politik, er lebte und kämpfte für sie .
Einleitung
Die Bedeutung der Novemberevolution für die arbeitenden Klassen ist ein häufig wiederkehrender Topos in den meisten seiner Reden noch bis in das Jahr 1932 (37)8 . Viele seiner öffentlichen Reden als Sozialdemokrat enthalten diesen „historischen“ Rückgriff auf 1918, manche einen regelrechten Exkurs in die Geschichte der Arbeiterbewegung und ihrer Erfolge . (13, 36, 37). Immer wieder erinnerte er – ähnlich einem Feldherrn vor der nächsten Schlacht, der den versammelten Soldaten ihre großen Erfolge früherer Kämpfe zuruft – anschaulich an den Sieg der Novemberrevolution und das Ende jener vergangenen sozialen und politischen Verhältnisse im monarchischen Staat, in dem die Arbeiterschaft im Unterschied zum Adel und Bürgertum politisch keine Rolle spielte . Vergesst nicht – so der Tenor – was wir mit der Schaffung der demokratischen Republik erreicht haben . Die Arbeiterschaft „vergisst nicht das monarchistische System der Vorkriegszeit; sie vergisst nicht die zwölf Jahre Sozialistengesetz und die Polizeischikanen gegen die Arbeiterbewegung und ihre Führer .“ In seiner ersten parlamentarischen Rede (1) wies er den von der politischen Rechten gegenüber der Sozialdemokratie erhobenen Schuldvorwurf an der Katastrophe des Krieges mit dem Hinweis auf die Tatsache zurück, dass die arbeitenden Klassen in der Vergangenheit systematisch von Regierung und Verwaltung ferngehalten wurde . „Ihnen allein fällt somit die Verantwortung für die Katastrophe zu . Sie sind schuld an allem, was vorangegangen ist“, rief er dem deutsch-nationalen Gegner zu . Die Weimarer Verfassung zu achten und zu erhalten, zieht sich wie ein roter Faden durch viele seiner Reden . Er legte konkret dar, was im Einzelnen zu tun war . Zuallererst war die politische Gleichheit durch die Aufhebung der im Osten zum Teil noch bestehenden Gutsherrschaft herzustellen, um jedem Bürger das kommunale Wahlrecht zu ermöglichen . Dies konnte er übrigens erfolgreich durchsetzen . Wiederholt rief er in seinen Reden (4, 6, 9, 11, 22), besonders gegenüber den Beamten und Angestellten der Polizei, die im August 1919 in Weimar von gewählten Volksvertretern beschlossene Verfassung in Erinnerung; dabei verdeutlichte er besonders den demokratischen Weg der Willensbildung, auf dem die Verfassung zustande kam: Die Weimarer Verfassung ist im Gegensatz zu früheren und anderen Verfassungen nicht das Werk Einzelner, wie von ihren Gegnern oft fälschlich behauptet wird . Sie wurde in absolut freier Entschließung nach monatelangen eingehenden Beratungen von der Nationalversammlung in der Schlussabstimmung mit 262 gegen 75 Stimmen angenommen . (4)
Wiederholt setzte er sich für eine unbedingte Geltung der in der Verfassung niedergelegten Grundrechte für jedermann ein . Den Schutz selbst gegnerischer politischer Meinungen achtete er im Falle eines von der Aufhebung der Immunität bedrohten kommunistischen Abgeordneten des Landtags bis hin zu diesem drohenden gericht-
Die kursiv in Klammern gesetzten Zahlen verweisen auf die Nummerierung der im Folgenden wiedergegebenen Reden, in denen das entsprechende Thema enthalten ist .
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lichen Verfahren, da eine richterliche Befassung die Meinungsfreiheit einzuschränken bedrohte . (2, 6) . Die Verfassung sah er als einen Vertrag an, einer Urkunde gleich, „die kraft der Mehrheit auch für die Minderheit unter allen Umständen bindend ist .“ Dieses Verständnis der absoluten Bindung einer unterlegenen Minderheit an die Beschlüsse der Mehrheit ergibt sich aus seinem Verständnis von Allgemeininteresse und Einzelinteresse . Diesem Verständnis folgend setzte er zum Beispiel auch den Impfzwang gegen Masern in Preußen durch . Der in den Kommunen gelebten Demokratie als Fundament des Rechtsstaates galt ein wiederkehrender Apell in seinen Reden . Die Eingemeindungen dürfen nicht die kommunale Bürokratie verstärken und dadurch die wirkliche Selbstverwaltung untergraben (15). Bürgernähe und Bürgerbeteiligung müssten bei der großstädtischen Verwaltung erhalten bleiben; deshalb sprach er sich für eine „Dekonzentrierung der Verwaltung“ (19) aus . Deutlich stellte er in historischen Exkursen den Fortschritt der neuen demokratischen Verwaltung gegenüber derjenigen des vergangenen Obrigkeitsstaates gegenüber . (16, 17) Die Verwaltung hatte den Bürgern zu dienen: In der Verfassung von Weimar heißt es: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus . Das bedeutet im parlamentarisch-demokratisch regierten Staat, dass der gesamte Verwaltungsapparat sich als im Dienste des Volkswillens stehend betrachten muss, dass er auch dem Sinne nach allein sich als Vollstrecker des in Gesetzen niedergelegten Willens der Volksvertretung betrachten muss . Die Bürokratie ist und darf nur sein ein Mittel zum Zweck und nicht, wie früher einmal, Selbstzweck, als willenloses Organ in der Hand einzelner Machthaber . (16)
Eine große Rede hielt er zur „neuen rechtlichen Stellung der Frauen“ (27), deren Erziehungs- und Bildungsaufgabe für ihre Kinder politische und gesellschaftliche Wirklichkeiten einschließen müsse: Darum eben verlangen wir (als Sozialisten) die Teilnahme der Frau am politischen Leben, die Teilnahme der Frau am kulturellen Leben, verlangen wir den Kampf gegen die erniedrigende häusliche Not, gegen Wohnungselend und Hunger . (27)
Grzesinski sah nicht nur die politische Bedeutung der staatlichen Verwaltung klar . Er betrieb folgerichtig die personelle Besetzung der Ämter mit Persönlichkeiten, die die demokratische Republik aktiv zu vertreten versprachen . Dass die Verwaltungsbeamten nicht Repräsentanten obrigkeitsstaatlicher Macht, sondern „Vertrauensleute“ der Bevölkerung sein sollten, entsprach seit je seinem demokratischen Selbstverständnis . Dazu gehörte für ihn auch eine verstärkte Berufung von Frauen in die Exekutive . Seine Personalpolitik speiste sich aus seiner Verwaltungserfahrung und persönlichen Erfahrungen mit höheren Beamten während der Kriegsjahre in Kassel . Als Abgeordneter des Preußischen Landtags forderte er „republikanisch demokratisch denkende und fühlende Personen“ in „Leitung, Verwaltung und Exekutive“, womit ein klarer Trennungsstrich zu den Gegnern und Feinden republikanischer Demokratie gezogen wur-
Einleitung
de . Grzesinski setzte von Anfang an im Innenministerium und in der gesamten Polizei in Preußen eine konsequent demokratische Personalpolitik um . Auch bei den politischen Beamten in der preußischen Inneren und Allgemeinen Verwaltung kam die Besetzung mit demokratisch eingestellten Persönlichkeiten voran . Mit Staatssekretär Wilhelm Abegg (DDP), dem Leiter der Polizeiabteilung im Ministerium Erich Klausener (Zentrum) und dem ihm wohlgesonnenen Ministerpräsidenten Otto Braun im Rücken repräsentierte sein Ministerium nicht nur parteipolitisch die Weimarer Koalition, sondern war in seiner demokratischen Verbundenheit bestens für die Kämpfe mit den politischen Gegnern aufgestellt . Seine zutiefst republikanische und an der Verfassung orientierte politische Haltung dokumentierte Grzesinski nicht nur bei Republikgegnern, sondern auch, wenn erforderlich, gegenüber Mitgliedern seiner eigenen politischen Partei . Grzesinski sah die das Wirtschaftsleben kontrollierenden und regelnden Aufgaben des Staates als historisch gewachsen an . Es habe sich „im Laufe der Entwicklung gezeigt, dass das freie Walten der wirtschaftlichen Kräfte eine ganze Reihe wesentlicher gesellschaftlicher Funktionen nicht zu erfüllen im Stande war .“ (28) Die polizeiliche Nahrungsmittelkontrolle zum Beispiel sei gegenwärtig deshalb erforderlich, „weil die so oft in hehren Tönen gepriesene wirtschaftliche Selbstständigkeit des Individuum[s] nur dahin führt, dem schrankenlosen Egoismus des Einzelnen Tür und Tor zu öffnen .“ Demgegenüber sei es Aufgabe des demokratischen Staates heute, „bei einer regelnden Tätigkeit den Schutz des wirtschaftlich Schwachen vor dem wirtschaftlich Starken zur Geltung zu bringen .“ Die Polizei des Staates habe den Sozialstaat zu sichern . In derselben Rede verdeutlichte Grzesinski einzelne der in diesem Zusammenhang für die Polizei typischen Arbeitsfelder . Er nennt u . a . die Nahrungsmittelpolizei, Gewerbepolizei, Verkehrspolizei, Baupolizei, Feuerpolizei, Wasserpolizei („Von der Wiege bis zum Grabe steht der Mensch gewissermaßen unter Polizeiaufsicht – im guten Sinne natürlich .“) und verdeutlichte die Aufgabe am Beispiel der Gesundheitspolizei . Am Beispiel der Chemischen Industrie, von denen einige die Abwässer in die Flussläufe leiten, wies er auf das Fischsterben und auf die außerordentliche Bedeutung der Tatsache hin, dass dadurch der weitere Gebrauch des Wassers gefährdet sei . Die Polizei suchte er als Teil des Staates zu „zivilisieren“; sie wurde als „Freund und Helfer“ der Bürger konzipiert .9 Sowohl als Polizeipräsident wie auch als preußischer Innenminister richtete Grzesinski ein Hauptaugenmerk auf die Demokratisierung und Zivilisierung der Polizei (11, 14, 20) . Die Aus- und Fortbildung der Polizeibeamtenschaft förderte er in jährlich stattfinden Polizeiwochen mit z . T . über 400 Teilnehmern . Diese dienten der fachlichen und politischen Bildung sowie Weiterbildung; sie zielten auf die Krause-Vilmar, Dietfrid: Albert Grzesinski und die Neuordnung der preußischen Polizei nach 1924 . In: Vom drohenden Bürgerkrieg zum demokratischen Gewaltmonopol (1918–1924) . Herausgegeben von Andreas Braune, Michael Dreyer und Sebastian Elsbach . Stuttgart 2021 (Weimarer Schriften zur Republik, 16), S . 209–226 .
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Konstituierung und Festigung einer demokratisch überzeugten und modernen Polizei . „Der demokratische Staat habe die Bevölkerung zu steigerndem Selbstbewusstsein erzogen, so dass sie nicht mehr sich bevormunden und kommandieren lasse, wie es im alten Staat der Fall gewesen sei .“ In hohem Maße käme es für die Polizei darauf an, das Vertrauen der Bevölkerung zu genießen; nach dem Auftreten des Polizeibeamten werde zum Teil auch der Staat beurteilt; der einzelne Beamte „müsse sich stets bewusst sein, dass er der sichtbare Vertreter des Staates nach außen hin“ sei . Die Polizei müsse die aus dem Militär des Obrigkeitsstaates stammende Disziplin ablegen und sich zivilisieren (20) . Ziel müsse es sein, den Waffengebrauch zu vermeiden . Überhaupt soll der Polizeibeamte als ein um Verständnis bemühter Mensch, nicht als anordnender Befehlsgeber in Erscheinung treten . „Denn die Polizei kann und soll mit ihren Befugnissen helfen und fördern; sie kann aber auch immensen Schaden anrichten .“ (28) Im Streit der politischen Parteien trat er unmissverständlich für Toleranz und Achtung gegnerischer Auffassungen ein, sofern diese nicht als Feinde der Verfassung und der Demokratie auftraten . Grzesinski konstatierte einen verhängnisvollen Zusammenhang zwischen der Hasssprache in der Publizistik bestimmter politischer Parteien, die durch Intoleranz und Verantwortungslosigkeit gekennzeichnet war, und den gewaltsamen Zusammenstößen und körperlichen Verletzungen und Tötungen auf Seiten politischer Gruppen . (10, 23) Er verwies auf die getroffenen Vorkehrungen, die Partei- und Organisationsführer für eine vollkommene und allgemeine Entwaffnung verantwortlich zu machen . Zivilpersonen sollten „möglichst überhaupt keine Waffen führen .“ Entschieden trat er Beleidigungen, Verächtlichmachungen, der Hasssprache, besonders jedoch gewaltsamen Formen der politischen Auseinandersetzung entgegen . Es sei nur ein kleiner Schritt von der Nichtachtung und Verachtung der politisch Andersdenkenden zur Überzeugung, dass auch die gewalttätige Bekämpfung von Menschen anderer Überzeugung politisch gerechtfertigt sei . „Von Gewalttaten dieser Art bis zum Mord ist dann naturgemäß nur ein kleiner Schritt .“ Der Polizei als Hüter der Verfassung komme dabei die Aufgabe zu, sofern einige auf den Gedanken kommen, „ihren Willen etwa mit Gewalt dem andern Teil und der Gesamtheit aufzwingen zu wollen“, dem entgegenzutreten und „jeden Gewaltakt abzuwehren“ . Die Verständigung der Völker untereinander, insbesondere das Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland, im Sinne des von ihm geschätzten und geachteten Außenministers Gustav Stresemann blieb ihm ein zentrales Anliegen (8, 36) . Das alte Regime habe systematisch zum Krieg geführt . Er verlangte, „den geschichtlichen Tatsachen objektiv gegenüberzutreten“ . Hier müsse endgültig reiner Tisch gemacht werden . Dies sei eine Voraussetzung auch für „eine objektive Verständigung mit den anderen Völkern, ein Zusammenarbeiten mit der ganzen Menschheit, aus Gründen der Gleichberechtigung, des gegenseitigen Verstehens .“ Diese angestrebte Verständigung bezog sich ausdrücklich auch auf die bewusste Verwerfung der traditionellen deutschen Ostmarkenpolitik, zu deren Ziel „die Ausrottung und Unterdrückung von Minderheiten“
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gehört habe . In Zukunft müsse es darum gehen, „im friedlichen Wettbewerb mit Angehörigen fremdsprachlicher Minderheiten kulturellen Zielen zuzustreben .“ Grzesinski setzte sich für eine umfassende Volksbildung, besonders in den Grundschulen im Osten des Landes, ein.(12) Eingehend stellte er die Notwendigkeit eines umfassenden Ausbaus des gesamten Schulwesens, insbesondere des vor 1918 vernachlässigten ländlichen Volksschulwesens dar . Schulen sollten geistige und kulturelle Mittelpunkte der Gemeinden werden, die auch der schulentlassenen Jugend noch „zum Aufenthalt und zu geselligen und belehrenden Zusammenkünften dienen können .“ Der Staat wird weiterhin das gesamte Berufs-, Fach- und Fortbildungswesen ebenso fördern wie die Volkshochschulen, Theater und Initiativen, „die sich der Pflege des Büchereiwesens, der Musik und Kunst zur Aufgabe gemacht haben .“ Drängende Aufgabe war in seinen Augen – wie dargelegt – die praktische Herstellung der Demokratie . Dieser wichtige Schritt musste zuerst gelingen, bevor gesellschaftlich weiter gedacht und gehandelt werden konnte . Dem hier skizzierten Reformund Gestaltungskonzept der Demokratie konnten sich seiner Auffassung nach die auf dem Boden der Verfassung stehenden Parteien anschließen . Sein Konzept mündete folgerichtig in eine Regierungspolitik der Weimarer Koalition, die in Preußen bis zum Staatsstreich von oben im Juli 1932 Bestand hatte . Die Zusammenarbeit mit verfassungstreuen bürgerlichen Parteien erschien ihm angesichts der gegebenen politischen Mehrheitsverhältnisse unabdingbar . An die Adresse von Auffassungen in seiner eigenen Partei warnte er davor, von der Regierungsmitwirkung deshalb Abstand zu nehmen, „weil etwa nicht alle Blütenträume reifen, und die Verantwortung zu tragen unbequem sein würde .“ Preußen, der territorial und von der Bevölkerung her größte deutsche Staat, in dem von 1919 bis 1932 sozialdemokratisch geführte Regierungen den Kurs bestimmten, galt, und zwar erst recht nach dem NSDAP-Wahlerfolg im September 1930, in Deutschland als ein Bollwerk der Demokratie . Er wurde nicht müde, immer wieder die Gestaltungsmöglichkeiten zu betonen, die sich mit der demokratischen Republik für die Arbeiterbewegung ergeben hatten (5, 26, 34) . Früher sei das Volk „fast nur Objekt der Gesetzgebung und der Verwaltung“ gewesen, heute gehe die Staatsgewalt von ihm aus . Hier liege für jeden einzelnen eine „ungeheure Verantwortung“ . Realismus erfordere jedoch schmerzlich festzustellen, „wie verhältnismäßig viele Arbeiter und Angestellte denjenigen Verbänden angehören und nachlaufen, die letzten Endes nichts anderes wollen als die Vorkriegszeit mit aller Hohenzollern- und Junkerherrlichkeit schnell wieder herbeizuführen, d . h . sich das Joch wieder aufzuerlegen, das 1918 abgeschüttelt worden ist .“ Dies erfordere Aufklärungsinitiativen und politische Bildung . Bereits in den ersten Jahren der Republik sah Grzesinski die Bedrohungen des demokratischen Rechtsstaates, die von republikfeindlichen und antidemokratischen Kräften ausgingen . Die Ermordung des Reichsaußenministers Dr . Walter Rathenau am 24 . Juni 1922 führte zu Gegenmaßnahmen der Republik, insbesondere zu Republikschutzgesetzen . Grzesinski sah zu dieser Zeit – der Faschismus hatte im Sommer
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dieses Jahres im Königreich Italien noch nicht seinen „Marsch auf Rom“ angetreten und in Ungarn war mit dem Reichsverweser Horthy nach der Zerschlagung der Räterepublik die Monarchie wieder hergestellt worden – für die demokratische Republik unter anderem auch die Gefahr einer Wiederherstellung der Monarchie . Deutlich wird in dieser Rede im Preußischen Landtag (3) bereits zu diesem Zeitpunkt seine entschlossene Haltung in der Frage der Republik- und Verfassungstreue der Beamten . Hier war Grzesinski zu keinem Kompromiss bereit . Er bedauerte im Grunde, dass ein Gesetz zum Schutz der Republik überhaupt erforderlich sei, da doch ein Beamter, „wenn er Bestrebungen zur Wiederherstellung der Monarchie oder gegen den Bestand der Republik im Amte oder in der Öffentlichkeit fördert oder wenn er die Republik und ihre Einrichtungen oder ihre Führer verleumdet, beschimpft und verächtlich macht, [ . . .] vom Amt entfernt werden muss .“ Schließlich habe die Republik „keinen Beamten genötigt, gegen seine Überzeugung in ihrem Dienste zu bleiben; er konnte gehen; und zwar ehrenvoll gehen .“ (3) In den ersten Jahren der Republik war Grzesinski sich ganz sicher, die Gefahren für den Bestand der Republik von Seiten des Staates abwehren zu können . Das änderte sich ab 1929 mit der Verrohung der politischen Diskussion bis in die parlamentarischen Verhandlungen hinein und in das zunehmend äußerst gewaltsame Vorgehen insbesondere der sogenannten Kampfverbände der SA und des Rotfrontkämpferbundes, die vor dem Einsatz von Waffen und vor Totschlag nicht zurückschreckten . In den Jahren 1930–1933 tritt eine öffentlich vernehmbare, argumentative Zurückweisung antidemokratischer Propaganda in seinen Reden in den Vordergrund (25, 35) . Und auch Verzweiflung wird sichtbar . „Wann endlich wird sich eine geschlossene Front aller Anständigen und Gesitteten bilden, die von Parteimördern und den dahinter stehenden Parteien geschlossen abrückt, und diese verruchte Art des politischen Kampfes infamiert!“ (29) Die Erkenntnis bahnt sich an, zu lange zugewartet zu haben . „Es muss immer wieder gesagt werden, dass die Republik und die republikanischen Parteien, die Sozialdemokratische Partei zuallererst, die Lügen und Verleumdungen der Gegner viel zu lange mit vornehmen Achselzucken übergangen hat, anstatt deutlich und drastisch zu antworten .“(30) Und klar erkannte er im Dezember 1931 (33) die Methoden der NSDAP, mit Hilfe des gesetz- und rechtswidrigen unmittelbaren Terrors gegen Demokraten und Republikaner den Staat sturmreif zu schießen, um ihn selbst zu übernehmen: Was heute sich in vielen Teilen Deutschlands auf dem flachen Lande vollzieht, das ist zwar kein Putsch, aber praktisch die Außerkraftsetzung der Reichsverfassung und der bestehende Bürgerkrieg . Außerkraftsetzung der Reichsverfassung durch terroristische Maßnahmen der Nazihorden . […] Was mit dem Stimmzettel nicht geglückt ist und nicht glücken kann und wird, soll mit dem Knüppel, dem Schlagring, dem Dolch und Revolver und moralischen Bestialitäten aller Art erreicht werden . (33)
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Wie dargelegt war Grzesinski davon überzeugt, dass Härte und Strenge des Staates gegen die Feinde der Demokratie unerlässlich ist . Im Rahmen der ihm gegebenen Möglichkeiten hat er dies auch umgesetzt . 1931 und 1932 erkannte er jedoch (31, 32), dass der Zeitpunkt verstrichen war, zu dem man den Gefahren, die der demokratischen Republik in ihrer Existenz drohten, möglicherweise noch hätte wehren können . Die Organe der Republik – so seine bittere Bilanz – hatten nicht den Willen zur Macht und nicht die Mittel erhalten, die Macht auszuüben . Man könne Härte und Strenge nur dann verlangen, „wenn man den Organen der Republik die Möglichkeit dazu gibt .“ Den Republikanern müsse „der Wille zur Macht und zur Ausübung der Macht noch erst beigebracht werden .“ (31) Noch einmal formuliert er seine verfassungstreuen Perspektiven, die gegen den Missbrauch machtvoll ins Feld hätten geführt werden müssen: Man soll und muss in dem demokratischen Staat jedem politischen, jedem weltanschaulichen Gedanken Ausdruck geben können, aber man muss sich klar sein, dass die Staatsbürger dieses hohe Gut selbst vernichten, wenn sie die Freiheit der Meinung zur Hetze und Lüge und zu gröblichen Beleidigungen ausnutzen . So geht es nicht, und je rascher mit einem solchen Zustand Schluss gemacht wird, umso besser ist es für die Demokratie und Republik . (30)
Tragisch die Worte aus seiner letzten Wahlrede am 26 . Februar 1933, eine dem Rundfunk zugedachte Rede, da ihm Redeverbot auferlegt worden war und ein persönliches öffentliches Auftreten für ihn angesichts drohender SA-Stürme nicht mehr verantwortbar war: „Von Sicherheit und innere Stärke der Gewalthaber zeugen solche Maßnahmen bestimmt nicht .“ […] (38) Albert Grzesinskis politische Bedeutung reicht über seine historische Wirkung im Preußen der Weimarer Zeit noch hinaus; wir zählen ihn zu den Wegbereitern der Demokratie in Deutschland . In nichts anderem sah er seine Aufgabe und sein Lebenswerk . Dass die Republik von Weimar ihre Ziele in vierzehn Jahren nicht erreichen konnte, lag an anderen und keineswegs an ihm und entwertet seine politischen Ideen und seinen Kampf für die Republik nicht . Die verbreitete Meinung, dass die Weimarer Republik „gescheitert“ sei, verstellt übrigens die historisch belegte Tatsache, dass sie von Demokratiefeinden verschiedener Couleur gewaltsam und mit krimineller Energie zerschlagen wurde . Und sie verstellt vollständig die in diesem Aufbruch nach 1918 erreichten praktischen Fortschritte derjenigen, die sich im „Neuland“ für die Umsetzung demokratischer Politik engagierten . Auf diese Fortschritte gestützt gelang erst der demokratische Wiederaufbau nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur . Grzesinskis Leistung sehen wir darin – auch in seinen Reden wird dies sichtbar –, dass er umfassende Perspektiven für den Transformationsprozess aus dem wilhelminischen Obrigkeitsstaat in einen modernen demokratischen Verfassungsstaat entwarf und praktizierte . Er hat zudem das „Bollwerk Preußen“ gegen antidemokratische, insbesondere gegen nationalsozialistische Angriffe in überzeugender verfassungstreuer Staatsautorität auch mit Hilfe des staatlichen Gewaltmonopols befestigt und vertei-
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digt . Seine Perspektiven für die Transformation autoritärer oder totalitärer Staaten in demokratische politische Lebensformen haben unserer Auffassung nach an Gültigkeit nichts eingebüßt und sind bis in unsere Gegenwart aktuell und von großer Bedeutung geblieben . Treffend würdigte der englische Historiker Anthony Glees ihn vor Jahren mit den Worten: It was not possible to dissolve the people . But Grzesinski did demonstrate a willingness to pursue the enemies of the republic, with all the means at his disposal . This is something that is rarely attributed to Social Democrat politicians of the Weimar era . Some accused him of doing too much, others of doing too little . Yet the evidence suggests, quite simply, that he was aware of the real nature of the anti-republican threat, that he understood how it might be countered, and that his policies in Prussia were an energetic and determined way of fighting it .10
Dietfrid Krause-Vilmar
im Februar 2022
Glees, Anthony: Albert C . Grzesinski and the Politics in Prussia 1926–1930 . In The English Historical Review 79 (1974), S . 834 .
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Albert Grzesinski: Öffentliche Reden und Ansprachen
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Dolchstoßlegende, Kriegsschuld und nationale Würde In der Verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung am 24. September 19191 Im Rahmen der Debatte um den Etat des Kriegsministeriums im September 1919 hatte der Abgeordnete Georg Klaußner2 (USPD) eine nationalistisch motivierte Fahnenverbrennung in scharfer Weise kritisiert. Er bezog sich dabei auf einen Vorfall am 23. Juni 1919 in Berlin, bei der „eine Anzahl Studenten und Angehörige der Freiwilligenformation, die auf dem Wege ihre Abzeichen (Eichenkranz mit Schwert) entfernten; sie trugen erbeutete französische Fahnen aus dem Zeughause und begaben sich zum Denkmal des alten Fritz, wo sie unter Absingung nationaler Lieder wie (Die Wacht am Rhein und Stolz weht die Fahne schwarzweiß-rot) und Hurrarufen die Fahnen niederlegten und verbrannten.“3 Gegen Klaußner sprach der Abgeordnete Walther Gräf4 (DNVP). Dessen Rede war der Anlass für Grzesinskis ersten Auftritt in der preußischen Landesversammlung. Zweimal ergriff er das Wort. Das „Casseler Volksblatt“ berichtete von „einer äußerst wirkungsvollen kurzen, aber im ganzen Hause beachteten Jungfernrede, die noch gewürzt wurde durch einen Ordnungsruf seitens des amtierenden Zentrummannes Dr. Porsch, weil Grzesinski die Behauptung, die Linke sei schuld am Zusammenbruch der Armee, eine wissentliche Verleumdung nannte.“5
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Herr Abgeordnete Graef hat Veranlassung genommen, hier die Beschuldigung auszusprechen, dass wir, nämlich die Herren von der Linken, die Schuldigen sind, dass die Armee zertrümmert worden ist . Ich muss diese Behauptung als eine ganz unerhörte Verleumdung und nach den Veröffentlichungen der letzten Zeit als eine Verleumdung bezeichnen, von der ich annehmen muss, dass sie wissentlich geschehen ist . […] Meine Damen und Herren, wir sind sicherlich alle tief erschüttert über den Ausgang des Krieges und über den Friedensvertrag, der uns aufoktroyiert worden ist, und wir wollen alle Kräfte anstrengen, um dieses furchtbare Ereignis auszugleichen, um wie-
Verfassunggebende Preußische Landesversammlung 53 . Sitzung vom 24 . September 1919, Band IV der Niederschriften, Sp . 4250–4252 und 4256–4258 (TOP Haushalt des Kriegsministeriums [Zeughaus]) . 2 Georg Klaußner (*1882 †1936), Metalldrücker, 1900 Eintritt in die SPD, 1917 Wechsel zur USPD, 1919– 1921 Mitglied in der Verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung, 1921–1933 MdL, politisch verfolgt 1933–1934, KZ Brandenburg, KZ Oranienburg und andere Haftstätten; an den Haftfolgen verstorben . 3 Die Freiheit . Berliner Organ der Unabhängigen Sozialdemokratie Deutschlands, Nr . 292, Abend-Ausgabe vom 23 .6 .1919 . 4 Walther Graef (*1875 † 1939), DNVP, MdL 1921 bis 1932 . 5 Casseler Volksblatt 29 (1919), Nr . 225 vom 26 .9 .1919; dort auch Wiedergabe dieser Rede Grzesinskis auf der ersten Seite . 1
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der aufzubauen, um das alte deutsche Volk, demokratisch und republikanisch gesinnt, hochzubringen, wie es dem deutschen Volke seiner Tüchtigkeit entsprechend gebührt . Aber, meine Damen und Herren, Sie auf der Rechten sind die Allerletzten, die uns hier, wie Sie es immer tun, Schuld an dieser Katstrophe beimessen können . Ihre ganze Politik der letzten Jahrzehnte, die Sie beeinflusst haben, die Sie geführt haben, ist die Ursache des Zusammenbruches, ist die Ursache davon, dass die ganze Welt gegen uns aufgestanden ist, und Ihre fortwährende Kritik hier, die Art Ihrer Kritik, die Art Ihres Auftretens hier im Hause, die Art Ihres Auftretens draußen hindert, dass das Volk nun endlich gemeinsam und ernstlich an den Aufbau gehen kann . Wenn Sie ernstlich an diesem Aufbau mitwirken wollen, meine Herren, dann müssen Sie anders handeln als Sie hier handeln, dann sind Sie verpflichtet, den geschichtlichen Tatsachen objektiv gegenüberzutreten, sofern Sie überhaupt dazu in der Lage sind . Durch die Veröffentlichungen der letzten Zeit ist klar und deutlich festgestellt worden, dass die bis zum 9 . November regierenden Personen, die Ihnen politisch nahestehen, Ihre Parteifreunde, mit die Schuld an dem Kriege und damit an dem Zusammenbruche haben . Meine Damen und Herren, haben Sie denn die Protokolle von Wien, die jetzt veröffentlicht worden sind, nicht gelesen?6 Haben Sie nicht gelesen, wer die Kriegstreiber gewesen sind, die natürlich damit auch den Zusammenbruch verschuldet haben? Sie können die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, dass das alte Regime systematisch zum Kriege geführt hat, und dass Sie das alte Regime maßgebend und bestimmend beeinflusst haben . Uns, die Arbeiterschaft, die Mittelschichten haben Sie immer von der Regierung ferngehalten, und Sie haben es verhindert, dass sich diese Kreise an der Regierung und an der Verwaltung beteiligen konnten . Ihnen allein fällt somit die Verantwortung für die Katastrophe zu . Sie sind schuld an allem, was vorangegangen ist . Nachdem nun Ihre Politik zu dieser Katastrophe geführt hat, verstehe ich es durchaus, wenn Sie die Schuld von sich abwälzen wollen . Aber die historische Wahrheit lehrt, dass Sie im Unrecht sind . Der Abgeordnete Graef hat geglaubt, die Vorgänge, die der Abgeordnete Klaußner kritisierte, und die sich am 23. Juni abgespielt haben, als einen Akt nationaler Verzweiflung der in Frage kommenden jungen Leute anzusehen . Ich kann es durchaus verstehen, wie die Leute, die bisher an dem alten Regime gehangen und die immer von einem Sieg über die ganze Welt geträumt haben und ihn als ganz sicher bezeichneten, nun über den Ausgang und, wenn man ein klein wenig klar sieht, den doch eigentlich selbstverständlichen Ausgang entrüstet und enttäuscht sind . Ich kann es aber nicht
Goos, Roderich: Das Wiener Kabinett und die Entstehung des Weltkrieges . Mit Ermächtigung des Leiters des Deutschösterreichischen Staatsamtes für Äußeres auf Grund aktenmäßiger Forschung dargestellt . Wien 1919 . – Die Veröffentlichung von Goos löste in Deutschland eine breite Diskussion der Kriegsschuldfrage aus; vgl . Dreyer, Michael und Lembcke, Oliver: Die deutsche Diskussion um die Kriegsschuldfrage 1918/19 (Beiträge zur Politischen Wissenschaft, Band 70), Berlin1993, S . 191–198 .
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verstehen, wie Abgeordnete, bei denen man doch ein gewisses Verantwortlichkeitsgefühl voraussetzen muss, hier etwas billigen, was der ‚Vorwärts‘ mit Recht als einen Dummenjungenstreich bezeichnet hat, der uns im Auslande nicht zum Vorteil, sondern höchstens zum Schaden gereicht, an der Sache aber nichts ändert . Ich kann, wie gesagt, diesen Ausdruck nationaler Verzweiflung nicht billigen und muss es ablehnen, diese Tat als einen Ausdruck nationaler Würde anzusehen . Mit nationaler Würde hat diese Tat sicherlich nichts zu tun, und ich stimme dem Herrn Abgeordneten Klaußner in seinem Urteil durchaus zu . In diesem Zusammenhange ist erwähnens- und beachtenswert, dass in demselben Augenblick, in welchem solche Ausbrüche nationaler Würde sich ereigneten, Angehörige der Kreise, die angeblich die nationale Würde in Erbpacht genommen, sich bei auswärtigen Armeen um Stellen beworben haben . Wenn der Abgeordnete Gräf gesagt hat, das trifft sicherlich nicht zu, so geht meine Kenntnis dahin, dass doch solche Bewerbungen stattgefunden haben, und dass die verschiedenen Dienststellen ganz offiziell vom Kriegsministerium darauf hingewiesen worden sind, dass solche Gesuche bei der amerikanischen, aber auch bei anderen Armeen keine Aussicht auf Erfolg haben . Das setzt voraus, dass nicht nur einzeln, sondern in größerer Zahl Bewerbungen zu auswärtigen Armeen stattgefunden haben . Also die Nachricht ist nicht unverbürgt, sondern es liegen dafür amtliche Dokumente vor . Meine Damen und Herren, wir nehmen für uns in Anspruch, dass auch wir Gefühl für nationale Würde haben, aber nationale Würde etwas anders auffassen als Sie, nicht in dieser explosionsartigen, sehr wenig klugen und vor allen Dingen zu nichts führenden Art, sondern wir betrachten es als nationale Würde, wenn das ganze Volk aus dem Bewusstsein, in welcher elenden und unglücklichen Lage es sich befindet, nun ernstlich gemeinsam an den Aufbau geht und alle diejenigen entsprechend wertet und zurückweist, die es in diese national unwürdige Lage geführt haben . Hier endgültig reinen Tisch zu machen, meine Damen und Herren, betrachten wir als einen Ausdruck nationaler Würde, im Übrigen auch eine objektive Verständigung mit den anderen Völkern, ein Zusammenarbeiten mit der ganzen Menschheit, aus Gründen der Gleichberechtigung, des gegenseitigen Verstehens .“ [Grzesinski ergriff nochmals im Laufe der Debatte das Wort:]
„Meine Damen und Herren, zwei Dinge will ich kurz noch einmal besprechen: den Zusammenbruch der Armee und die Lage im Juni zur Zeit der Fahnenverbrennung! Es wird immer wieder gesagt, dass die Revolution die Ursache sei, dass die Armee zusammengebrochen ist . Ich will feststellen: In einem Brief Hindenburgs aus dem ersten Drittel des Oktobers an den Prinzen Max von Baden schreibt Hindenburg dem Sinne nach, dass die Lage der Armee infolge des Abfalls Bulgariens und der Türkei unhaltbar geworden ist,
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dass sie in der Verteidigung aber durchaus intakt sei .7 Meine Damen und Herren, bis zum 9 . November der Revolution war die Entscheidung des Krieges endgültig zuungunsten Deutschlands gefallen, so dass also Wirkungen der Revolution auf die Armee ohne Einfluss auf den Ausgang des Krieges sein und bleiben mussten . Doch noch eins über die Stimmung der Truppen! Können Sie denn absolut nicht begreifen, dass, wenn ein Volk, das 4 ½ Jahre unter den fürchterlichsten Entbehrungen sich im Kriege befindet, dessen Angehörige sich an der Front befinden, die ständig wissen, dass ihre Angehörigen im Lande diese furchtbare Not leiden, dies nicht ohne Einfluss auf die Soldaten bleiben kann? Ich gebe zu, meine Damen und Herren, nicht alle Soldaten und nicht alle im Inneren haben diese furchtbare Not gelitten, wohl aber diejenigen, auf welche es bei der Verteidigung des Landes, beim Zusammenhalt des Heeres ankam, und deren Angehörige . Sie haben mit wenig Kriegsunterstützung auskommen müssen, haben das ganze Elend der Lebensmittelversorgung, die Unterernährung, empfunden . Wenn die Fahnenverbrennung nur das alleinige Vorkommnis gewesen, vielleicht heute oder im Januar vorgekommen wäre, dann könnte man glatt darüber hinweggehen, brauchte ihr keine Bedeutung beizumessen . Aber ich bitte Sie, das Datum zu beachten . Mai und Juni sind die Monate, in denen der Friedensvertrag vorgelegt wurde, in denen die schweren Verhandlungen über ihn stattgefunden haben, und in denen der Friedensvertrag schließlich – es war im Juni – unterzeichnet worden ist . Das Ausland war trotz Nationalversammlung und trotz parlamentarischer Regierung sich durchaus nicht im Klaren, wer in Deutschland regiert, und wer bevollmächtigt den Friedensvertrag unterzeichnen würde . Im Gegenteil, es lag eine Reihe von Äußerungen hoher Offiziere vor, die direkt dazu aufforderten, erneut in den Krieg einzutreten, die geradezu dazu aufforderten, dem Friedensvertrag Widerstand entgegenzusetzen, die den Frieden absolut nicht unterzeichnen wollten und sich gegen die Regierung mit der rücksichtslosesten Schärfe gewandt haben, weil diese Miene machte, dem Volke endlich den Frieden zu geben und aus der furchtbaren Notlage die einzig mögliche Konsequenz zu ziehen . Der Brief Generalfeldmarschall von Hindenburgs vom 3 . Oktober 1918 an den neu ernannten Reichskanzler Prinz Max von Baden lautete: „Die Oberste Heeresleitung bleibt auf ihrer am Sonntag, dem 29 .9 . gestellten Forderung der sofortigen Herausgabe des Friedensangebots an unsere Feinde bestehen . Infolge des Zusammenbruchs der mazedonischen Front, der dadurch notwendig gewordenen Schwächung unserer Westreserven und infolge der Unmöglichkeit, die in den Schlachten der letzten Tage eingetretenen erheblichen Verluste zu ergänzen, besteht nach menschlichem Ermessen keine Aussicht mehr, dem Feinde den Frieden aufzuzwingen . Der Gegner seinerseits führt ständig neue frische Reserven in die Schlacht . Noch steht das deutsche Heere festgefügt und wehrt siegreich alle Angriffe ab . Die Lage verschärft sich aber täglich und kann die Oberste Heeresleitung zu schwerwiegenden Entschlüssen zwingen . Unter diesen Umständen ist es geboten, den Kampf abzubrechen, und dem deutschen Volke und seinen Verbündeten nutzlose Opfer zu ersparen . Jeder versäumte Tag kostet Tausenden von tapferen Soldaten das Leben .“ Wir zitieren ihn nach: Schröder, Heinz: Das Ende der Dolchstoßlegende . Geschichtliche Erkenntnis und politische Verantwortung . Hamburg 1946, S . 7 f . 7
Gegen Unterdrückung der Pressefreiheit
In diese Zeit fallen die Fahnenverbrennung und eine Reihe von hochwichtigen, in ihrer außenpolitischen Wirkung unübersehbaren Reden hochgestellter Offiziere und anderer hochgestellter Beamten . In diesem Zusammenhang hat also auch die Fahnenverbrennung ihre Bedeutung und von diesem Gesichtspunkte aus muss sie gewertet werden, nämlich von dem Standpunkt: Wer regiert in Deutschland, und wer hat etwas zu sagen? Sie hätten sich, als Sie an der Regierung gewesen sind, solche Disziplinlosigkeit und solche törichten Vorgänge und Maßnahmen, wie sie sich bei der Fahnenverbrennung ereignet haben, sicherlich nicht gefallen lassen . Sie wären mit der rücksichtslosesten Entschiedenheit und mit allen Machtmitteln, die Ihnen zu Gebote gestanden hätten, dagegen eingeschritten . Hier ist nichts geschehen . Eine Kritik im Parlament wegen der außenpolitischen Wirkung, die das Volk zu verantworten und in seiner Gesamtheit zu tragen hat, ist sehr wohl berechtigt . Wir weisen solche Dinge zurück und bezeichnen sie als das, was sie sind, als eine ganz unerhörte Einmischung, einen ganz unerhörten Eingriff in die einzig mögliche Maßnahme der Regierung .
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Gegen Unterdrückung der Pressefreiheit Im Preußischen Landtag am 7. Oktober 19218 Als die Immunität des Abgeordneten Otto Kunze9 (KPD) wegen der Unterzeichnung eines Zeitungsartikels aufgehoben werden soll, wendet sich Grzesinski nicht nur im Ausschuss, sondern auch im Landtag dagegen. Der Antrag lautete: „Dem Ersuchen der Staatsanwaltschaften bei den ordentlichen Gerichten des Ruhrgebiets um Genehmigung der Strafverfolgung und Verhaftung des Abgeordneten Kunze wird stattgegeben.“ Die Oberstaatsanwaltschaft hatte der Klageschrift gegen den Abgeordneten Exemplare der „Bergischen Volksstimme“ beigefügt, von denen der Abgeordnete Schulz (Neukölln) darlegte, dass einige dieser Artikel nicht von dem Beschuldigten selbst verfasst worden waren. „Die einfache Durchsicht der Zeitungen hatte ergeben, dass die Zeitungen, die unter Anklage gestellt sind, zu einem Teil überhaupt nicht vom Abgeordneten Kunze verantwortlich gezeichnet sind.“10
Sitzungsberichte des Preußischen Landtags . 1 . Wahlperiode . 52 . Sitzung am 7 . Oktober 1921 . (TOP war „Beratung des Antrages des Geschäftsordnungsausschusses über die strafgerichtliche Verfolgung des Abgeordneten Kunze wegen Aufforderung zu hochverräterischem Unternehmen“), Sp . 3553–3555 . 9 Otto Kunze (*17 .März 1884 in Löbschütz bei Leipzig; Todesdatum – nach 1933 – nicht ermittelbar), USPD, VKPD, KAG, SPD . MdL 1921–1924 . 10 Sitzungsberichte des Preußischen Landtags . 1 . Wahlperiode . 52 . Sitzung am 7 . Oktober 1921 (wie Anmerkung 1), Sp . 3555 . – Karl Schulz (1884–1933), KPD, MdL 1921–1924, 1928–1932 . Weber, Kommunismus II, S . 294 . 8
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Gegen Unterdrückung der Pressefreiheit
Grzesinski warnte davor, das Instrument der Aufhebung der Immunität eines Abgeordneten aus politischer Gegnerschaft heraus zu missbrauchen.
Meine Damen und Herren, meine politischen Freunde haben bei dem Antrage der Kommunistischen Partei bereits im Ausschuss gegen die Aufhebung der Immunität gesprochen, auch dagegen gestimmt und bedauern den Antrag des Ausschusses . Wir werden auch heute hier dagegen stimmen, und ich bitte Sie ganz dringend, den Antrag des Ausschusses abzulehnen und die Genehmigung zur Strafverfolgung des Abgeordneten Kunze nicht zu erteilen . Wir müssen allerdings mit großem Befremden feststellen, dass in immer steigendem Maße die Praxis Platz greift, dass Abgeordnete als verantwortliche Redakteure zeichnen, und wenn wir auch in Bezug auf die Kommunistische Partei und ihre Lage ein gewisses Verständnis für dieses Verfahren bei Ihnen aufbringen, so möchten wir doch sagen, dass Sie damit ihrer eigenen Sache und dem Parlament durchaus nicht nützen . Es muss meines Erachtens alles vermieden werden, was den Eindruck erwecken könnte, als sollte die Immunität Deckmantel zur Begehung von Straftaten in Fällen sein, die mit der Tätigkeit des Abgeordneten nicht in unmittelbarem Zusammenhange stehen . Im Übrigen stehen meine politischen Freunde auf dem Standpunkt, dass ein strenger Unterschied zwischen gemeinen und den rein politischen Verbrechen gemacht werden muss . In Bezug auf den Fall Kunze sind wir der Meinung, dass es sich zweifellos um ein politisches Vergehen handelt, dessentwegen die Immunität des Abgeordneten nicht aufgehoben werden darf; wir können jedenfalls der Aufhebung nicht zustimmen . Wir möchten uns ferner zu dem von einer Seite im Ausschuss bereits aufgestellten Grundsatz bekennen, dass Zeitungsartikel und Versammlungsäußerungen im Allgemeinen nicht zur Aufhebung der Immunität führen sollten . Wenn wir auch im vorliegenden Falle zugeben, dass die von der Strafverfolgungsbehörde angezogenen Zeitungsartikel ein bisschen sehr knollig und, wie mir scheint, auch im höchsten Maße politisch ungeschickt sind, so reicht uns dieser Tatbestand doch zur Aufhebung der Immunität nicht aus . Wir ziehen dabei weiter in Erwägung, dass wie in diesen Artikeln sich ähnliche Ausdrücke auch im Manifest der Kommunistischen Partei vom 7 . Dezember befinden und es keinem Staatsanwalt eingefallen ist und hoffentlich auch nicht einfallen wird, in Bezug auf die Abgeordneten, welche sich zu diesem Manifest bekennen, etwa den Antrag zu stellen, die Immunität aufzuheben . […] Ich habe bereits im Ausschuss gesagt, dass man sich auch hüten solle, etwa aus politischer Gegnerschaft heraus die Immunität eines Abgeordneten aufzuheben . Es ist zwar bestritten worden, dass die politische Gegnerschaft bei der Stellungnahme der bürgerlichen Parteien hier eine Rolle gespielt hat . Aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass der mitteldeutsche Aufstand und die scharfe politische Gegnerschaft gegenüber den Kommunisten doch nicht ganz ohne Einfluss auf die Abstimmung im Ausschuss auf Seiten der bürgerlichen Parteien gewesen ist . Das würden wir im Interesse des Parlaments außerordentlich bedauern . Wir sollten uns vergegenwär-
Gegen Unterdrückung der Pressefreiheit
tigen, dass wir hier als Parlament in Fällen wie den vorliegenden gewissermaßen zugleich Richter sind und uns der höchsten Objektivität befleißigen sollten . Ich möchte aber auch die Hoffnung noch nicht aufgeben, dass die Parteien, welche im Ausschuss für die Aufhebung der Immunität gestimmt haben, sich inzwischen eine objektivere Beurteilung des Falles Kunze zu Eigen gemacht haben . Von den Demokraten nehme ich es als selbstverständlich an, dass sie ebenso wie im Ausschuss auch hier in der Vollversammlung stimmen werden . Die Annahme des Ausschussantrages würde auch eine politische Unklugheit allerersten Ranges sein, denn mit einem solchen Beschluss schaffen Sie doch letzten Endes nur Märtyrer, und dazu liegt doch wohl gar kein Anlass vor . Um noch einmal zum Ausgangspunkt meiner Ausführungen zurückzukommen, so sagte ich vorhin, dass eigentlich Zeitungsartikel nicht zur Aufhebung der Immunität ausreichen sollten, und hier handelt es sich um ein journalistisches Vergehen . Es steht fest, dass Abgeordneter Kunze nicht aktiv an einer hochverräterischen Tat sich beteiligt oder etwa an einem gemeinen Verbrechen mitgewirkt hat . Meine politischen Freunde schätzen auch das Recht der Wähler, von den von ihnen nominierten Abgeordneten im Parlament vertreten zu sein, höher ein als das Interesse der Strafjustiz, einen deutschen Bürger vor die Schranken des Gerichts und zur Verurteilung zu bringen . Wir bitten daher das Haus, den Ausschussantrag auf Drucksache Nr . 1054 abzulehnen . Meine Damen und Herren, noch eins zum Schluss . Unter den heutigen Verhältnissen tragen wir außer den vorgetragenen grundsätzlichen Erwägungen aber doch noch Bedenken, einen Abgeordneten der Linken dem Strafrichter zu überantworten, indem wir die Hand dazu bieten, dass die Immunität aufgehoben wird . Wir tragen Bedenken, dieser heutigen Justiz einen Abgeordneten der Linken auszuliefern, weil wir nicht mehr die Überzeugung haben, dass er objektive Richter finden wird, sondern weil wir fürchten, dass der politisch verbissene Gegner in der Toga des Richters über den angeklagten Abgeordneten zu Gericht sitzt . Aus all diesen Gründen bitten wir Sie nochmals dringend, den Antrag des Ausschusses, die Immunität aufzuheben, abzulehnen . [Der Antrag auf Aufhebung der Immunität des Abgeordneten wurde nach der Debatte an den Geschäftsordnungsausschuss zurückverwiesen.11]
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Zum preußischen Republikschutzgesetz
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Zum preußischen Republikschutzgesetz Im Preußischen Landtag am 6. Juli 192212 Die Ermordung des Außenministers Walther Rathenau (DDP) am 24. Juni 1922 war der grausame Höhepunkt einer Reihe politischer Morde führender politischer Repräsentanten in der Frühphase der Weimarer Republik. Keine drei Wochen zuvor hatte es einen Attentatsversuch mit Blausäure auf den ersten Ministerpräsidenten der Republik Philipp Scheidemann gegeben. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht waren im Januar 1919, der bayerische USPD-Fraktionsvorsitzende Karl Gareis und der ehemalige Finanzminister Matthias Erzberger waren 1921 ermordet worden. Nach dem Mord an Rathenau unterzeichneten der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB), der Allgemeine freie Angestelltenbund (AfA-Bund), SPD, USPD und KPD das „Berliner Abkommen“ („Zur Verteidigung der Republik und der Grundrechte der Arbeitnehmerschaft“). Gut drei Wochen später verabschiedete der Reichstag mit den Stimmen der SPD, der USPD, des Zentrums und aus der DVP am 21. Juli 1922 ein ›Gesetz zum Schutze der Republik‹, ein Ausnahmegesetz gegen den Terror. Zur Begründung der die Reichsgesetzgebung ergänzenden preußischen Republikschutzgesetze sprach Grzesinski grundlegende Fragen der Sicherung der demokratischen Republik an, besonders auch angesichts nicht nur offener, sondern im Geheimen agierender Gegner.
Meine Damen und Herren, der Mord an dem Reichsaußenminister Dr . Rathenau hat die politischen Leidenschaften unseres Volkes aufs tiefste erregt . Alle Anhänger der Republik und eines ruhigen Aufbaues der deutschen Volkswirtschaft und unseres Volkslebens sind auf das höchste entsetzt über den moralischen Abgrund, der durch den Mord sichtbar wurde und durch das, was die Polizeiorgane bei der Suche nach den Mördern noch weiterhin entdeckt haben: weit verzweigte, gut organisierte, äußerst dicht haltende Mörderbanden, die sich zum Ziel gesetzt haben, hervorragende Republikaner, Volksführer und wahre Vaterlandsfreunde meuchlings zu ermorden . An diesem Abgrund sind wir sehr lange, viel zu lange, dahingewandelt . Wenn wir hineinstürzen, d . h . wenn wir nicht gründlich Ordnung schaffen, ist unser Volk und unser Land dahin . Die junge deutsche Republik, schwer beladen mit den Sünden des zusammengebrochenen Kaiserreichs, hat draußen in der Welt Feinde genug und muss sich – wir erleben das während der dreieinhalb Jahre leider allzu häufig – nur zu oft tüchtig und mit äußerstem Geschick ihrer Haut wehren . Da ist es gebieterische Pflicht der Selbsterhaltung, dass wir uns im Innern nicht in den Rücken fallen und abwürgen
Sitzungsberichte des Preußischen Landtags . 1 . Wahlperiode 1921–1924 . 161 . Sitzung vom 6 . Juli 1922 (TOP Gesetzentwürfe zum Schutz der Republik), Sp . 11676–11683 .
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lassen, und meine politischen Freunde sind entschlossen, sich durch entsprechende gesetzgeberische Maßnahmen im Reich und in den Ländern rücksichtslos zu wehren . Es ist in diesen Tagen wiederholt darauf hingewiesen worden, dass die Republik wahrhaftig Langmut genug gehabt hat mit ihren politischen Gegnern im Innern . Unduldsamkeit kann ihr bestimmt auch der Böswilligste nicht nachsagen; höchstens – auch das ist betont worden – ist sie zu tolerant gewesen: im Vertrauen auf den oft erklärten Willen der anderen Seite und die Einsicht der anderen . Wir bedauern durchaus nicht, so gehandelt zu haben; denn Toleranz ist ein wichtiger Bestandteil demokratischer und sozialdemokratischer Grundsätze im Gegensatz zu den Grundsätzen, die bis zum Kriegsende in Preußen und Deutschland angewendet und gerade auch von dieser Tribüne hier sehr oft zum Schaden des Volkes von Ihnen (nach rechts) verkündet worden sind . Auch jetzt noch wollen wir durchaus, dass sich jeder in der Republik wohlfühle und jedem Staatsbürger die Rechte gewährt werden, die er nach der Verfassung hat . Nur schmähen, beschimpfen, verleumden, vergewaltigen, das lassen wir uns nicht mehr länger gefallen . Vor allem lassen wir uns auch nicht mehr von Beamten, die Diener des republikanischen Staates sein sollen und Pflichten ihm gegenüber haben, offenen oder geheimen Widerstand bieten . Die Reichsverfassung sichert Presse-, Vereins-, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit jedem . In keinem Lande der Welt bestehen in Bezug auf diese Grundrechte weitergehende Freiheiten und Möglichkeiten . Jeder hat in Deutschland die Möglichkeit, auch seiner abweichenden Meinung ungehindert und offen in Wort und Schrift Ausdruck zu verleihen . Von den Feinden der Republik, die früher rücksichtslose Unterdrückung gegen Andersdenkende zum Staatsprinzip erhoben haben, ist jedoch mit diesen Rechten in der schändlichsten Weise Missbrauch getrieben worden . Die Presse- und Redefreiheit ist zur Schimpf- und Schmähfreiheit geworden gegenüber der Republik, ihren Einrichtungen und Führern . Das Vereins- und Koalitionsrecht hat Deutschen die Möglichkeit gegeben, Mörderbanden zu organisieren, und – ich will auch das hier aussprechen – eine große Partei drüben im Reichstag und hier in diesem Hause, die durch ihre Redner oft erklärt hat, ihr Programm nur mit verfassungsmäßigen Mitteln erreichen zu wollen, ist durch einzelne ihrer Mitglieder in Verbindung mit diesen Mörderbanden getreten und hat dadurch eine sehr schwere Schuld auf sich geladen . 13 Ihre (nach rechts) Presse hat durch die Schreibweise in den letzten Jahren die Atmosphäre geschaffen, in der allein die Mordtaten des letzten Jahres in Deutschland geschehen konnten . Am 24 . Juni anlässlich der Trauerfeier für den ermordeten Rathenau hat der Reichskanzler Ihnen (nach rechts) zugerufen: So geht es nicht weiter!14 Mit der „großen Partei drüben im Reichstag“ ist die Deutsch-Nationale Volkspartei (DNVP) gemeint . Reichskanzler war 1922 Joseph Wirth (Zentrum), der in seiner Rede im Reichstag am 25 . Juni 1922 nach rechts zeigend gesagt hatte: „Da steht der Feind, der sein Gift in die Wunden eines Volkes träufelt . – Da
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Namens meiner politischen Freunde möchte ich dieses Wort vielfach unterstreichen . Jawohl, so wie bisher geht es nicht weiter! Die Republik wird und muss sich gegen ihre offenen, aber auch gegen ihre geheimen Widersacher schützen . In diesem Zusammenhange will ich nicht auseinandersetzen, warum der Schutz der Republik außen- wie innenpolitisch eine Lebensnotwendigkeit für das deutsche Volk ist; das sollte nach den Erfahrungen der drei letzten Jahre eigentlich jedes politische Kind wissen . Ich will nur sagen: Der Versuch, die Monarchie wieder zu errichten – und das kann nach Lage der Sache in Deutschland nur ein gewaltsamer Versuch sein – wird von der deutschen Arbeitnehmerschaft bestimmt im Keime erstickt werden; eine vorübergehende Aufrichtung der Monarchie – und es könnte sich nur um eine ganz vorübergehende Aufrichtung, um eine Episode handeln – wird unweigerlich den blutigsten Bürgerkrieg zur Folge haben . Meine Damen und Herren (nach rechts), die Kreise, mit denen einzelne Ihrer Führer in Verbindung gestanden haben, mögen nicht etwa an Ungarn denken und hoffen, dass es hier gehen könnte wie dort! Ein Horthy-Ungarn ließe sich die deutsche Arbeiterschaft auch nicht eine Woche gefallen, und, wie ich hoffe, auch das demokratische Bürgertum würde es sich nicht gefallen lassen .15 Wer mit solchen Gedanken und Plänen spielt, spielt mit dem Leben und der Zukunft des deutschen Volkes . In diesen Tagen ist oft darauf hingewiesen worden, dass die Sozialdemokratie sich doch früher so nachdrücklich gegen Ausnahmegesetze und Ausnahmebestimmungen gewandt habe und nun nicht Gleiches tun oder verlangen könnte . Der Herr Berichterstatter hat bereits andeutungsweise, soweit es im Rahmen einer Berichterstattung möglich ist, darauf hingewiesen, dass ein solcher Hinweis ganz und gar abwegig ist . Die Sozialdemokratie hat selbst unter dem Sozialistengesetz, das besonders in den ersten Jahren in der allerrücksichtslosesten Weise und aufs brutalste gegen sie angewandt wurde, nie etwas Strafbares begangen . Nur ein einziges Mal, auf dem Parteikongress in Wyden im Jahre 1880, im ersten Jahre nach dem Erlass des Sozialistengesetzes, ist in der Fassung eines Beschlusses, in dem Stellung gegen das Sozialistengesetz genommen wurde, das Wort „gesetzlich“ herausgestrichen worden, so dass es hieß, dass der Kampf gegen dieses Gesetz „mit allen Mitteln“ aufgenommen werden sollte . Im nächsten Jahre in Kopenhagen ist das Wort „gesetzlich“ wieder eingefügt worden . 16 Unter dem Sozialistengesetz sind früher auch Gesinnungen verfolgt worden, wohingegen wir heute nur die Verfolgung von Straftaten und Verbrechen verlangen .
steht der Feind – und darüber ist kein Zweifel: dieser Feind steht rechts!“ 15 Am 20 . März 1920 war der Admiral Miklós Horthy zum „Reichsverweser“ Ungarns gewählt worden, mit dessen Amt er ein autoritäres einer Monarchie ähnliches Regime begründete . 16 Das Sozialistengesetz wurde im Oktober 1878 erstmals für zweieinhalb Jahre verkündet, dann jedoch dreimal bis zum Jahre 1890 verlängert . Der Parteikongress im Schloss Wyden (Kanton Zürich) 1880 tagte im letzten Jahr des ersten Sozialistengesetzes .
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Wenn noch ein Zweifel an dem Willen des arbeitenden Volkes, die Republik unter allen Umständen und ernstlich zu schützen, hätte auftauchen können – , die gewaltigen Demonstrationen am Tage der Beerdigung Rathenaus, am 27 . Juni, und die zweite große Demonstration am verflossenen Dienstag dürften diesen Zweifel behoben haben . Das war eine gewaltige Kundgebung der deutschen Republikaner, insbesondere der deutschen Arbeiterschaft, vielleicht die gewaltigste und einheitlichste, die wir je erlebt haben . Diese Millionen, die da zum Schutze der Republik demonstrierten, haben doch einen großen politischen Weitblick gezeigt, einen größeren Weitblick als die vielen, die so gern von oben auf den Arbeiter herabsehen . Meine Damen und Herren, Sie wissen, dass die Demonstrationen am Dienstag zugunsten von Forderungen stattfanden, welche der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund, die Arbeitsgemeinschaft freier Angestelltenverbände und die sozialdemokratische und die unabhängige sozialdemokratische Partei gemeinsam aufgestellt und erstmalig unter dem 27 . Juni veröffentlicht haben . Mit Genehmigung des Herrn Präsidenten erlaube ich mir, auch an dieser Stelle diese Forderungen bekannt zu geben: Sofortiges Verbot und strenge Bestrafung jeder monarchistischen oder antirepublikanischen Agitation in Wort, Bild und Schrift . Bestrafung auch derjenigen, die solche Agitation oder Angriffe auf die Republik und ihre Organe irgendwie verherrlichen, belohnen oder begünstigen . Verbot und sofortige Auflösung aller monarchistischen oder antirepublikanischen Verbindungen . Verbot der monarchistischen Fahnen und Farben . Sofortige Beseitigung aller monarchistischen Embleme in den öffentlichen Gebäuden und Anstalten . Strenge Vorschriften zur Säuberung der Regierungsstellen und Behörden einschließlich der Gerichte und der Reichswehr von allen monarchistischen oder antirepublikanischen Elementen, Aufhebung derjenigen Rechte, die dieser Säuberung entgegenstehen . Verbot des Waffentragens außerhalb des Dienstes . Verbot des Uniformtragens für ehemalige Offiziere . Untersagung weiterer Ernennung von Reserveoffizieren . Einsetzung eines außerordentlichen Gerichtshofes in Berlin, dessen Kammern aus je einem Richter und sechs Laienbeisitzern bestehen, die vom Reichspräsidenten zu ernennen sind . Übertragung der Anklageerhebung an einen vom Reichsjustizminister zu ernennenden republikanischen Reichskommissar .17 Schaffung einer Reichsexekutive, insbesondere einer Reichskriminalpolizei . Vorschriften zur Erleichterung der Verhaftung und Anordnung, sofortige Verhaftung solcher Personen, die gegen Gesetze zum Schutze der Republik verstoßen . Bestimmungen über Beschlagnahme und Einziehung des Vermögens des Verurteilten sowie über Entziehung von Pensionen und Bezügen .
In der Niederschrift der Sitzung des Landtags steht irrtümlich: ‹antirepublikanischen Reichskommissar› .
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Die Geltungsdauer ist zunächst auf mindestens zwei Jahre festzusetzen . Vom Reichstag erwarten wir, dass er dieses Gesetz in kürzester Frist verabschiedet und nicht früher auseinandergeht, bis es in Kraft getreten ist . Unabhängig hiervon fordern wir: sofortige Amnestie im Reiche und in den Ländern für alle wegen politischer Vergehen Verurteilten mit Ausnahme derjenigen, die im Sinne dieses Gesetzes strafbare Handlungen begangen haben . Amnestie auch für die aus Anlass des Eisenbahnerstreiks zur Verantwortung Gezogenen . Einstellung aller aus demselben Anlass eingeleiteten Disziplinarverfahren .
Schon einmal haben die gleichen Gewerkschafts- und Parteigruppen ähnliche Forderungen gestellt, das war nach dem Kapp-Putsch am 19 . März 1920 . Obwohl auch Vertreter bürgerlicher Parteien des Reichstags und des Landtags damals versprochen hatten, sich für Durchsetzung der Forderungen bei ihren Fraktionen einzusetzen, ist nicht das geschehen, was hätte geschehen müssen und können . Eine grenzenlose Enttäuschung hatte sich deswegen im Volke festgesetzt, umso mehr, als bald nach dem Kapp-Putsch die Reaktion in Preußen und in Deutschland frecher denn je ihr Haupt erhob . Meine Damen und Herren, ein nochmaliges Übergehen – das möchte ich Ihnen von den bürgerlichen Parteien zurufen – so berechtigter und doch eigentlich selbstverständlicher Forderungen lässt sich die Arbeiterschaft bestimmt nicht mehr gefallen . Alle die, die für eine ruhige Entwicklung in Deutschland sind und den Aufbau ernstlich wollen – und, meine Herren, gerade Sie hier aus der Mitte betonen ja immer, dafür zu sein – müssen dafür sorgen, dass die Forderungen alsbald gesetzgeberisch und verwaltungsmäßig im vollsten Umfange erfüllt werden . Naturgemäß ist ein großer Teil der Forderungen an die Reichsgesetzgebung gerichtet . Wir hoffen und wünschen, dass die gesetzgebenden Körperschaften des Reichs, die sich gestern erstmalig mit diesen Dingen beschäftigt haben, den politischen Blick haben und die Kraft finden, das zu tun, was heute das Gebot der Stunde ist . Mein Parteifreund Silberschmidt hat gestern gesagt: Wenn dieses Gebot der Stunde nicht erkannt wird, wenn der Reichstag nicht die Kraft findet, die notwendigen Gesetze zu schaffen, dann bleibt nichts anderes übrig, als das Volk zu befragen und an das Land zu appellieren . – Ich möchte betonen, dass gerade auch meine politischen Freunde hier im Landtage auf diesem Standpunkte schon sehr früh gestanden haben und dass wir das, was unser Freund Silberschmidt drüben sagte, ausdrücklich hier heute unterstreichen wollen .18 Von der preußischen Regierung erwarten wir, dass sie ihren großen Einfluss auf die Reichsgesetzgebung im Sinne der Arbeiterforderungen ausübt . Und dann, meine Damen und Herren, keine halbe Maßregel! Halbe Maßregeln sind schlimmer als gar keine . Das Schutzschwert der Republik muss haarscharf geschliffen werden .
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Hermann Silberschmidt (1866–1927), (SPD), MdR 1920–1927 .
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Mit äußerstem Befremden haben meine politischen Freunde dieser Tage gelesen, dass Vertreter der preußischen Provinzen im Reichsrat gegen die Schutzgesetze der Republik gestimmt haben . Es waren die Vertreter der Provinzen Hessen-Nassau, Schleswig-Holstein, Ostpreußen, Brandenburg, Pommern, Westpreußen-Posen, Niederschlesien und Oberschlesien . Es ist ganz ausgeschlossen, dass diese Abstimmung dem Willen der Mehrheit der Bevölkerung in den meisten dieser Provinzen entspricht . Sowohl die Reichsverfassung wie das Landesgesetz sind doch gemacht worden, damit die Provinzen durch Mehrheitswillen Einfluss im Reichsrat bekommen! Ich nehme bestimmt an, dass sich die in Frage kommenden Herren vor ihren Mandatgebern darüber noch werden zu verantworten haben . Herr Innenminister Köster hat gestern im Reichstage – der Herr Berichterstatter hatte bereits die Freundlichkeit, darauf Bezug zu nehmen – auf die riesengroße Verantwortung hingewiesen, die die Länder bei der Durchführung der Schutzgesetze haben, weil sie im Besitz der Exekutive sind . Meine politischen Freunde sind sich dieser Verantwortung vollbewusst und haben, um als preußischer Teil der großen Aufgabe, den Bestand der Republik zu sichern, gerecht zu werden, dem Verfassungsausschuss die vier Gesetzentwürfe vorgelegt, die, eingehend durchberaten, heute als Anträge des Ausschusses vorliegen . Die Voraussetzung für jede wirksame Schutzaktion ist eine weitgehende Amnestie der natürlichen Freunde der Republik, die durch frühere politische Kämpfe dem Strafrichter verfallen waren . Diese Amnestie ist umso notwendiger, als es dem Gerechtigkeitsgefühl weitester Volkskreise ins Gesicht schlagen muss, wenn immer wieder festgestellt werden kann, bis in die neueste Zeit hinein, dass Staatsverbrechen, wenn sie von rechts begangen werden, viel milder oder gar nicht bestraft werden, dass aber nach links zum Teil drakonische Strafen verhängt werden . Erfreulicherweise ist sich die überwiegende Mehrheit dieses Hauses der Notwendigkeit einer Amnestie durchaus bewusst . Unserer Meinung nach muss aber die Amnestie der Eisenbahner, welche in Verfolg des Februarstreiks mit dem Strafgesetzbuch in Konflikt gekommen sind, unter den Amnestierungen einen hervorragenden Platz einnehmen . Das Disziplinarverfahren gehört ja zur Zuständigkeit des Reiches, aber die Strafverfahren, die, zum Teil aus minderen Anlässen, eingeleitet worden sind, müssen im mittelbaren Interesse des Schutzes der Republik durch Amnestie erledigt werden . […] Ich will auf das Amnestiegesetz im Einzelnen und will auch auf die Ausnahmestimmungen nicht eingehen . […] Dann die Disziplinargesetznovelle! Mir erscheint sie so ziemlich das Wichtigste und Notwendigste, was zum Schutze der Republik von den Ländern geschehen muss, und wir wünschen, dass, wenn dieses Gesetz hier zur Verabschiedung gelangt, die anderen Länder in Deutschland sich uns anschließen werden . Ehe ich weiter darauf eingehe, möchte ich im Zusammenhang mit der Besprechung der Novelle zum Disziplinargesetz unserem sehr verehrtem Herrn Kollegen Dr . Preuß für die Anregung danken, die er bei der Beratung des Gesetzentwurfs über die Dienstvergehen der Privatdozenten
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gegeben hat, nämlich bei dieser Gelegenheit ein altes gegen die akademische Lehrfreiheit und die Sozialdemokratie geübtes Unrecht gutzumachen . Sie finden jetzt in dem § 4 Abs . 2 des Gesetzes auf Drucksache Nr . 3234 folgende Einfügung: Im Übrigen wird das Gesetz vom 17 . Juni 1898 betreffend die Disziplinarverhältnisse der Privatdozenten an den Landesuniversitäten usw . aufgehoben .19 Damit ist die lex Arons, ein Schandmal des alten Preußens, endlich gefallen, und wir begrüßen das .20 […] Es ist eigentlich bedauerlich, dass so selbstverständliche Bestimmungen wie die hier in Aussicht genommenen überhaupt notwendig sind . Wir hatten es für selbstverständlich gehalten, dass auch ohne dieses Gesetz jeder Beamte seine Dienstpflicht verletzt und vom Amte entfernt werden muss, wenn er Bestrebungen zur Wiederherstellung der Monarchie oder gegen den Bestand der Republik im Amte oder in der Öffentlichkeit fördert oder wenn er die Republik und ihre Einrichtungen oder ihre Führer verleumdet, beschimpft und verächtlich macht . Leider haben wir uns in dieser unserer Auffassung getäuscht . Die Disziplinarrichter und der Disziplinarhof sind darüber anderer Ansicht . Der Disziplinarhof bestraft ja neuerdings Eidverweigerer nur mit einem Verweis . Die Republik hat keinen Beamten genötigt, gegen seine Überzeugung in ihrem Dienste zu bleiben; er konnte gehen, und zwar ehrenvoll gehen . Von denen, die zurückgeblieben sind, muss verlangt werden, was man bei jedem Arbeiter und Angestellten als selbstverständlich voraussetzt: taktvollste Zurückhaltung und Pflichttreue . Der Staat hat sich darin leider vielfach täuschen lassen . Ich will von Einzelheiten absehen, trotzdem ich berghohes Material habe . So müssen wir denn dieses Gesetz schaffen und zur Durchführung bringen . […] Dann noch eins! Schielen Sie, meine Damen und Herren, in dieser wichtigen Lebensfrage unseres Volks, die auch eine sehr wichtige Lebensfrage für Preußen ist, doch nicht so sehr nach dem Reich! Tun Sie, was auch hier in Preußen als wichtige politische Pflicht getan werden muss! Wird drüben mehr getan, so wollen wir uns später dem gern anschließen . Und dann handeln Sie schnell! Dr . Hugo Preuß (1860–1925), MdL 1919–1925 . Er war Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und entwarf die Weimarer Reichsverfassung . – Dreyer, Michael: Hugo Preuß (1860–1925): Aufbruch in die neue Zeit . Die Weimarer Verfassung . In: Steinmeier, Frank-Walter (Hg .): Wegbereiter der deutschen Demokratie . 30 mutige Frauen und Männer 1789–1918 . München 2021, S . 391–402 . 20 Leo Arons war Physiker und Privatdozent der Berliner Universität . Die preußischen Behörden versuchten bald nach Arons Parteibeitritt zur SPD, ihn aus seinem Lehramt zu entfernen . Die für das Verfahren zuständige philosophische Fakultät widersetzte sich diesen Versuchen mehrfach . Da die Regierung kein direktes Eingriffsrecht auf die Anstellung von Privatdozenten hatte, wurde im Jahr 1898 ein Gesetz erlassen, das nunmehr auch Privatdozenten der staatlichen Disziplinargewalt unterstellte . Da dieses Gesetz vor allem auf Arons zugeschnitten war, wurde es „Lex Arons“ genannt . Dieses Gesetz stand in einem inneren Zusammenhang mit Versuchen des Kaisers in den 1890er Jahren, mit Hilfe von Ausnahmegesetzen das weitere Vordringen der Sozialdemokraten zu verhindern . 19
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Glaubt man drüben aus nicht unbekannten Gründen, nicht so weit, wie wir es für nötig halten, gehen zu dürfen, dann, meine Herren, gehen wir hier voran! Bekunden wir einmal das früher so oft und vielfach in rückschrittlichem Sinne angewendete Wort: Preußen in Deutschland voran! Und noch eins! Meine politischen Freunde stellen das ernste Ersuchen an die Staatsregierung – und wir wären für eine entsprechende Erklärung sehr dankbar, Herr Ministerpräsident –, dass die neuen Gesetze zum Schutze der Republik rücksichtslos durchgeführt werden .21 Die Organe, die mit der Durchführung betraut sind, müssen zuverlässige Republikaner und demokratisch gesinnt sein . Möglich, dass wir hier heute dasselbe Schauspiel erleben wie drüben im Reichstag, dass nämlich mit einem Male alle die Republik schützen wollen . Wir lassen uns dadurch nicht täuschen und auch nicht einlullen . Wir erwarten von der Staatsregierung, dass sie die Waffe, die wir nunmehr durch diese Gesetze ihr in die Hand zu geben im Begriff sind, nachdrücklichst gebraucht . Wir verlangen rücksichtsloses Vorgehen gegen die monarchistischen Verbände, Säuberung der Behörden und Exekutivorgane der Republik von den Monarchisten . Der Worte sind genug gewechselt, das Volk will Taten sehen .
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Ministerpräsident in Preußen war im Juli 1922 Otto Braun (SPD) .
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Die Polizei als Hüter der Verfassung Bei einer Verfassungsfeier am 11. August 192522 Polizeipräsident Grzesinski bei einer Feier zum Verfassungstag zu Beamten und Angestellten der Berliner Polizei über die Bedeutung der Weimarer Reichsverfassung und die besonderen Aufgaben der Polizei im demokratisch republikanischen Verfassungsstaat.
Meine Damen und Herren, Sie haben sich hier heute zum Gedenken der Reichsverfassung zusammengefunden . Ich danke Ihnen und hoffe zugleich, dass nicht dienstlicher Anlass allein es ist, der Sie hier anwesend sein lässt, sondern auch ein inneres Bedürfnis Sie treibt, als Beamte der Republik und Hüter der Verfassung und der Gesetze für das Verfassungswerk von Weimar, auf dem unser staatliches und Volksleben heute beruht, erneut Bekenntnis abzulegen . Nicht nur das offizielle Deutschland, sondern weiteste Kreise des deutschen Volkes begehen in immer steigendem Maße in diesen Tagen die Reichsverfassungsfeier und ahmen damit das Beispiel anderer großer demokratischer Kulturvölker nach, bei denen der Verfassungstag ein Festtag des gesamten Volkes ist . Sechs Jahre sind verflossen, seit sich das deutsche Volk durch die Nationalversammlung in Weimar seine demokratisch republikanische Verfassung gegeben und sich damit nach den furchtbaren Erschütterungen des Krieges, des Zusammenbruchs und der Umwälzung eine neue feste Grundlage für sein staatliches Dasein geschaffen hat . Es zeugt von der inneren Kraft, aber auch von dem Sinn des deutschen Volkes für Ruhe und Ordnung, dass es nach der entsetzlichen militärischen und staatlichen Katastrophe im Jahre 1918 so schnell wieder den Weg fand, auf dem allein ein staatliches, wirtschaftliches und soziales Leben eines Volkes sich entwickeln kann . Am 19 . Januar 1919 konnte die Nationalversammlung bereits gewählt werden . Am 6 . Februar traten die Vertreter des ganzen deutschen Volkes in Weimar, der Glanzstätte deutscher Kultur, zusammen, um in emsiger Arbeit ihre Hauptaufgabe zu lösen, nämlich die Verfassung zu schaffen . Die Weimarer Verfassung ist im Gegensatz zu früheren und anderen Verfassungen nicht das Werk Einzelner, wie von ihren Gegnern oft fälschlich behauptet wird . Sie wurde in absolut freier Entschließung nach monatelangen eingehenden Beratungen von der Nationalversammlung in der Schlussabstimmung mit 262 gegen 75 Stimmen angenommen . IISG: G 2140 . Rede bei der Verfassungsfeier am 11 .8 .1925 in der Friesenkaserne . Von ihm eingehend bearbeitetes Typoskript 11 Seiten DIN A 5, mehrere Einfügungen, zahlreiche Unterstreichungen ganzer Sätze und einzelner Worte mit rotem oder blauem Stift . Auf der ersten Seite o . links handschriftlich mit Tinte: „Verfassungsfeier 11 .8 .25 in der Friesen Kaserne“ .
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Abbildung 2: Albert Grzesinski auf der Verfassungsfeier der Berliner Schutzpolizei am 11. August 1929. Seine Reden zum Tag der Weimarer Verfassung beschloss ein Hochruf mit erhobenem Arm auf Vaterland und Republik. Bundesarchiv: Bild 102–08224/ Fotograf Georg Pahl.
Das Werden und Wesen der Weimarer Verfassung kommt klar in der Präambel, ihrem Vorspruch zum Ausdruck: Das deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuern und zu festigen, dem innern und dem äußeren Frieden zu dienen und den wirtschaftlichen Fortschritt zu fördern, hat sich diese Verfassung gegeben .
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Wäre die Verfassung wirklich nur das Werk einzelner, so wäre sie nur ein Blatt Papier, wie es das Frankfurter Dokument von 1848 gewesen ist . So stehen aber heute hinter der Reichsverfassung genügend Kräfte, um ihren Geist durch die Adern des gesamten öffentlichen und privaten Lebens zu pumpen, und alle bisherigen Versuche von äußerst links und äußerst rechts, ihre Grundfesten mit Gewalt anzutasten, sind kläglich gescheitert und werden weiterhin scheitern . Die Weimarer Verfassung wird immer mehr Gemeingut des ganzen Volkes, welches erkannt hat, dass nach dem Zusammenbruch ein anderer wie der demokratisch-republikanische staatliche Aufbau in Deutschland einfach nicht denkbar ist . Das deutsche Volk, das durch die Kriegsjahre hindurch gegangen ist, fühlt sich mündig genug, sich selbst zu regieren . Dass es dazu die Kraft und die Fähigkeit hat, das haben die Nachkriegsjahre hinlänglich gezeigt . Ohne die Weimarer Verfassung hätten wir in Deutschland längst die Anarchie und vielleicht überhaupt kein deutsches Reich mehr . ‚Das Deutsche Reich ist eine Republik‘, heißt es im Artikel 1 der Verfassung, ‚die Staatsgewalt geht vom Volke aus .‘ Die Rechte, welche die Weimarer Verfassung damit jedem deutschen Staatsbürger gibt, sind zugleich die Ventile, aus denen der Überdruck der Unzufriedenheit entweichen kann, ohne den Staat als solchen zu gefährden . Dafür schafft die Reichsverfassung dem Einzelnen den Schutz, dass ihm gewisse Grundrechte – das Recht der Mitwirkung am staatlichen Leben, Wahlrecht, Vereins-, Versammlungsrecht, Koalitions- und Pressefreiheit – nicht genommen werden können . Die Verfassung ist so der Vertrag des einzelnen Deutschen mit der Gesamtheit des deutschen Volkes; allerdings kein Vertrag, der dem Einzelnen zur Annahme oder Ablehnung vorgelegt wird, sondern eine Urkunde, die kraft der Mehrheit auch für die Minderheit unter allen Umständen bindend ist . Das Verfassungswerk, das in einer Zeit geschaffen wurde, in der tagtäglich schwerste innere und äußere Kämpfe das damals lecke Reichsschiff umbrandeten, ist gewiss nicht ideal . Mancher Artikel trägt den Stempel eines nicht immer erfreulichen Kompromisses an der Stirn . Dennoch, als Ganzes gesehen, ist die Verfassung ein gutes Werk . Sie hat sich in den hinter uns liegenden schweren Jahren bewährt als eine feste tragfähige Grundlage unseres staatlichen Daseins . Vor allem im Jahre 1923, dem furchtbaren Jahr der Inflation und der Putschversuche, in dem es mehr als einmal schien, als würde das Reich doch noch hineingerissen werden in jenes grauenvolle Chaos, vor dem unser Land zu bewahren in den Stürmen von 1918 nur mit Aufbietung der letzten Kräfte gelungen war . Die Weimarer Verfassung ist das Instrument, das alles zusammenfasst, was deutsch ist, deutsch denkt und fühlt . Trotz weitgehender, mir zu weit gehender, Berücksichtigung partikularistischer Tendenzen in Deutschland lebt in der Verfassung der Großdeutsche Gedanke, der auch dadurch nicht ausgemerzt worden ist und nicht ausgemerzt werden kann, dass der Artikel 61 Abs . 2, der für Deutsch-Österreich nach Anschluss eine Vertretung im Reichsrat und bis dahin beratende Stimmen vorsieht, auf Gebot der Entente außer Kraft gesetzt werden musste .
Die Polizei als Hüter der Verfassung
Das deutsche Volk ist ein friedfertiges Volk . Es will auch nach dem Weltkriege, den es nicht gewollt und nicht veranlasst hat, in friedlicher Arbeit sein staatliches, wirtschaftliches und soziales Leben wieder aufbauen . Es will in Frieden mit den Völkern der Erde leben und im friedlichen Wettbewerb wirtschaftliche und Geistesgüter mit ihnen austauschen . Doch umso stärker empfindet unser Volk die Lasten des Versailler Vertrages und seine Ungerechtigkeiten und die Übergriffe, mit denen es dauernd in der Welt behandelt wird . Ich denke dabei gerade auch an die Vorgänge der allerletzten Zeit im Osten . An unserem Verfassungstage sprechen wir, und im Hinblick auf die letzte Entwaffnungsnote gerade auch wir als Polizei, die Hoffnung aus, dass diese Bedrückungen endlich aufhören mögen, damit das deutsche Volk seine staatlichen Einrichtungen und sein Eigenleben nach seinem Bedürfnis zu gestalten vermag . Wir wollen das freie Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht nur in der Theorie und nicht nur für die anderen, sondern auch für uns selbst angewandt sehen . Es ist noch nicht lange her, dass wirtschaftliche Kämpfe die Grundlagen des Staates erschütterten . Es ist ein Beweis für die schon erreichte innere Festigkeit unseres staatlichen Lebens, dass für die Zukunft solche Gefahren kaum noch bestehen . Die Unzufriedenheit im Volke ist allerdings groß . Das Volk hat ungeheure Lasten zu tragen . Minderung der Arbeitsfähigkeit durch Kriegs- und Zivilbeschädigungen, Arbeitslosigkeit, Verlust des Vermögens durch die Inflation haben Not und Elend in weiteste Kreise getragen . Auch die Beamten und die sich in Beschäftigung befindenden Angestellten und Arbeiter sind in ihrer großen Masse nicht so gestellt, dass sie frei von Not wären . Dafür machen Unwissende und demagogische Elemente den heutigen Staat und die Weimarer Verfassung verantwortlich . Als ob es früher nicht Not und Elend, Armut und Unzufriedenheit in ausreichendem Maße gegeben hätte . Die Grundursache unseres Unglücks ist der verlorene Krieg, der uns den Versailler Vertrag und die ‚Sanktionen‘ gebracht hat . Bei allen unseren staatspolitischen Betrachtungen, dann auch bei der Prüfung unserer Forderungen und Wünsche dürfen wir diese Tatsache nie aus dem Auge verlieren, wollen wir Enttäuschungen vermeiden und nicht zu Trugschlüssen kommen . Ich weiß, nicht alle Deutschen sind mit der Weimarer Verfassung einverstanden . Viele wollen an ihre Stelle etwas anderes setzen . Wenige allerdings wissen, was . Aber die Weimarer Verfassung – und das ist ihr ungeheurer Wert und darin ist das Ventil zu erblicken, von dem ich vorhin sprach – gibt ja dem Volk das Recht und in Verbindung mit den auf ihrem Grund erlassenen Gesetzen die Möglichkeit, sich ein anderes Parlament und damit eine andere Regierung zu wählen oder im Volksentscheid seinen anders gerichteten Willen zum Ausdruck zu bringen . Das deutsche Volk hat in Weimar sich tatsächlich die freieste Verfassung der Welt geschaffen . Aber es muss noch lernen, die Freiheit zu benützen . Hoffen wir am heutigen Tage, dass alle Teile des Volkes dies recht bald lernen und von dem Gedanken abkommen mögen, ihren Willen etwa mit Gewalt dem andern Teil und der Gesamtheit aufzwingen zu wollen .
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Die Reichsverfassung und die Verfassungen der Länder ermöglichen es jedem, nach seiner Fasson selig zu werden und für seine Überzeugung zu wirken und zu werben . Solange die Grundlagen der Verfassung nicht angetastet werden und gegen die Gesetze nicht verstoßen wird, ist weitgehende Duldung am Platze und angebracht . Wir als Polizei sind die Hüter der Verfassung und berufen und verpflichtet, jeden Gewaltakt abzuwehren und ihn im Keim rücksichtslos zu ersticken . Wir haben die Verfassung, die Gesetze und die gesetzestreuen Staatsbürger zu schützen und geschworen, den Anordnungen einer verfassungsmäßigen Regierung Folge zu leisten . Unser Vaterland dankt der Polizei außerordentlich viel . In den verflossenen unruhigen Jahren ist es den Polizeiorganen mit zuzuschreiben gewesen, dass der junge Staat den Anstürmen hat Trotz bieten können . Ich glaube, dass nicht nur eisernes Pflichtgefühl, sondern auch die innere Überzeugung jedes einzelnen Polizeibeamten von der Notwendigkeit, für diese Verfassung, für diese Gesetze und für die auf ihr beruhende jeweilige Regierung einzutreten, die Polizei zu diesem Erfolge befähigt hat . Nur wenn wir mit freudigem Bejahen des heutigen Staates trotz aller schweren Begleitumstände unsere Pflicht tun, werden wir weiterhin festes Bollwerk der Verfassung und des Staates sein und bleiben . Ich sagte vorhin, dass das staatliche Leben im neuen Deutschland sich bereits sehr gefestigt hat . Dass es sich immer weiter festige, ist dringend notwendig, denn wir gehen offenbar schweren Zeiten und einem trüben Winter entgegen . Die trotz aller Beschwörungen von amtlicher Seite zweifellos weitergehende Teuerung des täglichen Lebensbedarfs wird die Unzufriedenheit mehren und den demagogischen Elementen in unserem Volke Wasser auf ihre Mühlen leiten . Vielleicht werden auch wirtschaftliche Kämpfe in größtem Umfange einsetzen, um für die Angestellten und Arbeiter einen Ausgleich für die verteuerte Lebenshaltung zu erreichen . Das alles muss ertragen werden . In allen diesen Fragen hat sich die Polizei der größten Neutralität zu befleißigen, und im Übrigen haben wir unsere Pflicht zu tun bis zum Äußersten . Ich habe das Vertrauen, dass das deutsche Volk letzten Endes wie bisher so auch in Zukunft den rechten Weg gehen und nichts tun wird, was seine nationale Existenz zerstören könnte . Denn bei aller Meinungsverschiedenheit der deutschen Stämme und der sozialen Schichten in Deutschland untereinander, ist doch wohl die Überzeugung Gemeingut aller, dass Bürgerkrieg und damit Zerfall des deutschen Reiches als Nationalstaat das gesamte deutsche Volk ins Verderben stürzen müssten . So wird die Liebe zum deutschen Volke und zum deutschen Vaterlande uns auf dem richtigen Weg halten . Diese Liebe wollen auch wir, die wir heute als Beamte und Angestellte der Republik hier versammelt sind, aufs Neue bekunden, indem wir geloben, fest und treu zur Verfassung zu stehen, eingedenk unseres Eides . Unser deutsches Vaterland, die deutsche Republik und unser deutsches Volk, sie leben hoch!!!
Zur politischen Strategie der Freien Gewerkschaften
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Zur politischen Strategie der Freien Gewerkschaften Vor Vertrauensleuten des Deutschen Metallarbeiterverbandes in Kassel am 28. November 192523 Polizeipräsident Grzesinski folgte der Einladung des Deutschen Metallarbeiter Verbandes [DMV] in Kassel. Er kehrte an die Stadt seines langjährigen erfolgreichen Wirkens als Gewerkschaftsführer zurück. Anlass war die Ehrung von Mitgliedern, die 25 Jahre und länger dem DMV angehörten. Grzesinski blickte zurück auf die Unterdrückung der ersten gewerkschaftlichen Aktivitäten seitens der Polizei und der Unternehmer im Kaiserreich und schilderte konkret die Schwierigkeiten für Gewerkschaften bei dem in Kassel ansässigen Unternehmen Henschel & Sohn. Er warb für den Locarno-Vertrag, für Völkerverständigung und Frieden. Abschließend streifte er die preußische Regierungspolitik, insbesondere Fragen der Koalition verschiedener politischer Parteien.
Kolleginnen und Kollegen! Der Aufforderung, hier heute zu reden, bin ich gerne gefolgt . Zwar bin ich seit fünf Jahren der Metallarbeiterbewegung etwas entrückt . Dass ich nach wie vor mit ganzem Herzen bei Euch bin, dessen könnt Ihr versichert sein . Wenn ich sonach auch nicht mehr unmittelbar für die Metallarbeiter wirke, so kam und kommen mir in meiner amtlichen Stellung doch die Erfahrungen zugute, die ich als Gewerkschaftsfunktionär und Leiter des Verbandes in Offenbach und Kassel in Jahrzehnten gesammelt habe . Wir Älteren in der Bewegung, insbesondere auch diejenigen, die heute 25 Jahre und länger dem Verbande angehören, und die zu ehren wir heute beisammen sind, haben am eigenen Leibe gespürt, wie unsere Bewegung, als sie noch in ihren Anfängen war, nicht nur Hemmnisse bei den Unternehmern fand, sondern auch bei den Behörden, insbesondere bei der Polizei . Und als Polizeipräsident von Berlin weiß ich daher, wie ich es heute nicht machen darf und damit zugleich, wie ich zu handeln habe . [am Rande: „Zweckmäßigkeit eines Rückblicks“]
Wie war es doch in den 90er Jahren, ja, bis zum Kriegsausbruch in Preußen-Deutschland und besonders auch hier in Kassel? Das verhältnismäßig kleine Häuflein, das gewerkschaftlich organisiert war, und die Leiter und Vertrauensleute der Gewerkschaft IISG: G 2140 . Rede vor Vertrauensleuten des Metallarbeiterverbandes Kassel [anlässlich der Ehrung verdienter Metallgewerkschafter] am 28 . November 1925 . Von ihm eingehend handschriftlich bearbeitetes Typoskript, 22 Seiten, DIN A 5 Querformat, mehrere Einfügungen, wenige Unterstreichungen einzelner Worte bzw . Wortfolgen mit blauem Stift . Auf der ersten Seite o . rechts handschriftlich mit Tinte „Metallarbeiter Vertrauensleute in Kassel“ . Das Datum der Rede ergibt sich aus der Bemerkung auf S . 18 des Manuskriptes: „Gestern ist im Reichstag …“ .– Der Locarno Vertrag wurde vom Deutschen Reichstag am 27 .11 .1925 in Dritter Lesung angenommen .
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und der sozialdemokratischen Partei waren oft Freiwild von Polizei, Staatsanwälten und Richtern und hatten ungeheure persönliche Opfer zu bringen . Dazu kamen Maßregelungen durch die Unternehmer: Die Schikanen der Polizei hagelten nur so, kaum dass eine Versammlung ordentlich abgehalten werden konnte . Durch polizeiliche Auflagen wurden sie vielfach unmöglich gemacht . Wenn Arbeiter zusammenkommen wollten, wurden baupolizeiliche Vorschriften vorgeschützt, um die Zusammenkunft oder das Reden unmöglich zu machen . Ich spreche dabei nicht einmal von der Zeit des Sozialistengesetzes von 1878 bis 1890, sondern von der späteren Zeit, wo angeblich wieder normales Recht galt . Ich erinnere mich, dass im benachbarten Wolfsanger Landrat und Gendarm besonders schneidig waren; einmal war nach polizeilicher Ansicht der Saal nicht geeignet, weil unter ihm ein Stall war, oder es waren nicht genügend Ausgänge vorhanden . [am Rande: „Werkstattversammlung überwacht, Reden den Unternehmern angezeigt .“] Um die Gesundheit der Versammlungsteilnehmer zeigte sich die Polizei so außerordentlich besorgt, dass es vorkam, dass im Winter Versammlungen untersagt wurden in Räumen, in denen sich nicht genügend Heizgelegenheit befand, oder weil die Ventilation nicht ausreichend war . Aber trotz aller Widerwärtigkeiten ist unsere Bewegung vorangeschritten; sie ist groß und mächtig geworden, und lange vor dem Kriege waren die Gewerkschaften schon ein erheblicher Machtfaktor im öffentlichen Leben Deutschlands . Hier in Kassel setzte die moderne Gewerkschaftsbewegung schon Ende der 80er Jahre ein, zunächst bei den Klempnern . Gestreikt wurde zum ersten Mal im Jahr 1889 wegen Verkürzung der Arbeitszeit . Der Streik hatte nach einwöchiger Dauer vollen Erfolg . Als 1891 der Deutsche Metallarbeiterverband in Frankfurt am Main gegründet wurde, lösten sich die Fachgruppen der Klempner, Schlosser und Dreher, die in Kassel damals bestanden, auf und traten am 1 . August zum Zentralverband über . Seitdem ist die Mitgliedschaft ständig gestiegen; sie erreichte ihre größte Zahl Ende 1923 bei 16 .816 Mitgliedern . Kassel und sein wirtschaftliches Leben sind in hohem Maße abhängig von dem Geschäftsgang der seit über 100 Jahren am Orte befindlichen Lokomotivenfabrik von Henschel & Sohn und den beiden Waggonfabriken; demgemäß auch die Entwicklung unseres Verbandes . Nur sehr, sehr schwer fasste der Verband bei Henschel & Sohn Fuß . An Bewegungen um Verbesserung der Arbeitsbedingungen konnten vor dem Kriege nur solche geringfügiger Art durchgeführt werden, obwohl die Arbeitsverhältnisse keineswegs die besten waren, und die Arbeiter ständig unter einem hohen Druck standen . [am Rande: H[enschel] &[und] S[ohn], viel Arbeit und wenig Lohn!] Zweimal explodierte es bei Henschel & Sohn aber doch, und zwar in Rothenditmold; einmal in den 90er Jahren und einmal im Jahre 1912 . Weitere Kreise zogen diese Bewegungen aber nicht . Wohl erhielt die Organisation, besonders durch die letzte Bewegung, einen starken Impuls . In wenigen Wochen traten 1 .000 Henschelaner dem Metallarbeiterverband neu bei; allzu viel[e] sind davon damals nicht geblieben . Überhaupt die Treue zur Organisation! Bereits vor dem Kriege gab es fast keinen Metallarbeiter in Kassel,
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der nicht schon dem Verbande angehört hatte . Die Fluktuation war zeitweise erschreckend, und unsere lieben Frauen [am Rande: „Anwesende natürlich ausgeschlossen“] waren nicht immer ganz unschuldig daran . Aber ein Stamm, und kein kleiner, tüchtiger und erfahrener Verbandskollegen, war immer vorhanden . Sie waren das Gerippe der Organisation, diejenigen, welche allen Stürmen Trotz boten und unentwegt an die Bewegung glaubten . Sie haben Recht behalten, und ich freue mich, gerade heute auch wieder so viele der alten Freunde hier zu sehen, mit denen ich manche ernste Beratung gepflogen habe, wenn es galt, den Verband über Klippen zu bringen und Wege zu finden, wie die Mutlosen aufgemuntert und Rückschläge abgewehrt werden konnten . Wie viel damals gerade auch bei Henschel & Sohn noch zu tun war und wie außerordentlich bescheiden in ihren Ansprüchen die Kollegen oft waren, zeigt die Tatsache, dass bei der Henschel‘schen 100 Jahr-Feier die Arbeiter sich nicht einmal dazu aufraffen konnten, von der Firma die Bewilligung [am Rande: „eines Arbeitsausschusses, Speisesaals“] eines Sommerurlaubs zu verlangen . Mit einer einmaligen, nach Anciennität abgestuften Geldspende, ein Paar Zigarren und einigen Butterbrötchen am Tage der Feier waren die Kollegen zufrieden . Zufrieden ist vielleicht zu viel gesagt; sie waren mutlos und hatten nicht das Vertrauen in die eigene Kraft . Immerhin gab es Henschelaner, die wegen der Ferienforderung ihre Verbandsbücher abgaben, weil sie ihre Geldgratifikation gefährdet glaubten . Die Unternehmer der Casseler Metallindustrie gehörten nie zu den Fortschrittlern; die Arbeiterorganisation war ihnen ein Gräuel . Wie sie noch während des Krieges eingestellt waren, zeigt ein uns auf den Tisch geflogener Brief des Direktors Witthöft von Henschel & Sohn [am Rande: „Es handelte sich damals um ein paritätisches Arbeiten mit den Unternehmern im Kriegsausschuss der […]24 zwecks Regelung der Lohnund Arbeitsbedingungen“] vom 3 . Juni 1916 an das stellvertretende Generalkommando des 11 . Armeekorps, in dem sich folgende Stelle befand: Ganz anders liegen die Dinge in hiesiger Gegend . Unsere einheimische in Stadt und Land vielfach durch Grundbesitz ansässige Arbeiterschaft verhält sich in der Mehrzahl ablehnend gegen die sozialdemokratische Verhetzung, die natürlich hier ebenso wie überall in skrupelloser Weise betrieben wird . Die Hetzversammlungen waren nur schwach, nur von dem Pöbel unter den Arbeitern besucht . Alle jahrelangen Versuche des Metallarbeiterverbandes, hier Streiks anzuzetteln, haben bisher keinen Erfolg gehabt, weder bei uns noch bei den anderen hiesigen Werken . Hier verkehren noch Fabrikbesitzer und Arbeiter ohne Vermittlung des Metallarbeiterverbandes miteinander . Der Verband wird hier seitens der Arbeitgeber als fremdes Gebilde angesehen, mit dem sie keinerlei Verkehr pflegen, da er sich mit verwerflichen Mitteln und durchaus unbefugter Weise zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer einzudrängen sucht . Unsere ordentlichen Arbeiter bitten uns um Schutz vor den Belästigungen der Organisierten . 24
Dies Wort konnte nicht entziffert werden .
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Für unsere hiesige Industrie ist es bei dieser Sachlage unmöglich, mit Vertretern von Arbeiterverbänden in einem Kriegsausschuss oder einer ähnlichen Einrichtung irgendwelche Verabredungen über Lohn-, Kündigungs- und andere Verhältnisse zu treffen, denn die Verbände haben keine Befugnisse dazu . Wir würden, wenn wir anders handeln wollten, unseren ordentlichen zuverlässigen Arbeitern, denen wir stets abrieten, sich zu organisieren und die zum großen Teil tatsächlich nicht organisiert sind, treulos in den Rücken fallen und sie sämtlich in die Arme des Metallarbeiterverbandes treiben .‘
Sie werden fragen, warum ich so auf die Vergangenheit Bezug nehme? Nicht in selbstgefälliger Absicht, um zu zeigen, was wir Alten alles getan haben, sondern um den Jungen zu sagen, dass unsere Bewegung eine unwiderstehliche, sieghafte ist und sich trotz aller, auch der heftigsten Widerstände stärkster Gewalten durchsetzt und weiter durchsetzen wird . Gewiss ist es manchmal zum Verzweifeln, und ich weiß, dass wir auch gerade jetzt wieder in einer schlimmen Zeit leben . Doch dräut der Winter noch so sehr, es muss doch Frühling werden! So sind heute die Zeiten endgültig vorüber, wo eine Willkür und eine Behandlung sich austoben konnte, wie sie aus dem eben verlesenen Briefteil sich kundgibt . Damit will ich durchaus nicht gesagt haben, dass nicht auch heute noch der Versuch von Unternehmerseite gemacht wird, nach alten Gewohnheiten ihre Betriebe zu führen und die Arbeiter zu behandeln, und Sie in Kassel können auch aus neuerer Zeit wieder ein Lied davon singen . Doch die Zeit der Versagung der Gleichberechtigung ist endgültig vorbei und wird nicht wiederkommen, so starke Kräfte ‚alter Macht und Herrlichkeit‘ sich auch darum bemühen . Und das ist mit das Verdienst der Hunderttausende, die die ganzen Jahre in der Vorkriegszeit namenlos und treu ihre Pflicht im Dienst der aufstrebenden Arbeiterklasse getan haben . [Am Rande: „Und hier in Kassel ist es mit das Verdienst derjenigen, deren Verbandsjubiläum wir heute feiern . Gewiss haben wir auch Gegenden in Deutschland, wo es noch sehr schlimm steht . Bei den Landarbeitern und überall da, wo so gar keine gewerkschaftliche Organisation ist, und die Arbeiter stark abhängig sind . Hier ist Zusammenschluss und Aufklärung das einzig mögliche zur Beseitigung menschenunwürdiger Zustände!“] Seit dem Zusammenbruch Ende 1918 hat sich in Deutschland wesentliches geändert . Wenn auch der Kapitalismus als solcher keineswegs gebrochen am Boden liegt oder gar wesentlich geschwächt ist, so haben die schweren Kriegsjahre die Arbeiterschaft doch zu mehr Selbstachtung und Selbstbewusstsein gebracht, als dass sie sich bei aller wirtschaftlichen Abhängigkeit eine Behandlung gefallen lassen würde, wie sie vor dem Krieg häufig gewesen ist . Und die Änderung der politischen Zustände in Deutschland hat sich doch auch mächtig auf die Beziehungen zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber ausgewirkt . Allerdings sind auch Rückschläge nicht ausgeblieben . Zunächst strömten die Arbeiter in Scharen zu den gewerkschaftlichen Organisationen, insbesondere auch zum M[etall] . A[rbeiter] . V[erband] ., so dass die Mitglieder-
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zahl Ende 1923 in Kassel auf über 16 .000 und im Gesamtverband auf über 1,5 Millionen stieg . Der Tarifgedanke wurde durchgesetzt . Arbeiterausschüsse und Betriebsräte wurden gebildet, und es war selbstverständlich, dass nunmehr auch dem Arbeiter ein Sommerurlaub zugestanden wurde . Doch die Arbeiterschaft war nicht wachsam genug . Vielleicht, dass die Forderungen sich zu leicht durchsetzten . Der Rückschlag, die Reaktion kam, und die wirtschaftliche Not und die Unsicherheit der Verhältnisse ließ viele, insbesondere die jungen, nicht kampferprobten Kollegen an der Organisation irre werden . Auch die leidigen Kämpfe innerhalb der Arbeiterschaft trugen das ihrige zur Lähmung der Stoß- und Abwehrkraft bei . Im Augenblick macht Deutschland und gerade auch Kassel eine wirtschaftliche Krise durch, wie sie bisher noch nicht erlebt wurde . Ich will auf die Ursachen der Krise hier nicht eingehen, sondern mich beschränken zu sagen, dass das Grundübel in dem verlorenen Krieg zu suchen ist, den die deutsche Arbeiterschaft bestimmt nicht verschuldet hat . Nach dem Zusammenbruch hat sie sich vielmehr bemüht, für das deutsche Volk zu retten, was zu retten war und alle willigen Kräfte aufgerufen, am Wiederaufbau zu helfen . Sie hat durch Zusammenberufung der Nationalversammlung das Volk befragt . Die Nationalversammlung hat in Weimar die freieste Verfassung der Welt beschlossen . Deutschland ist eine Republik geworden, und das Volk, das früher fast nur Objekt der Gesetzgebung und der Verwaltung war, hat bestimmt, dass hinfort die Staatsgewalt „vom Volke ausgeht“ . Der Kapitalismus und die wirtschaftliche Not konnten nicht zugleich mit beseitigt werden, das setzte in der wirtschaftlichen Entwicklung einen Stand voraus, der noch nicht vorhanden war, und die politische Alleinherrschaft der einigen Arbeiterklasse in den bedeutendsten kapitalistischen Ländern der Welt . Darauf aber hinzuarbeiten ist Aufgabe der gewerkschaftlichen und politischen Organisationen der Arbeiterklasse der ganzen Welt . [Am Rande: „Das Ziel ist noch zu erreichen .“] Bis dahin wollen wir aber hier in unserem Lande zum größtmöglichen Einfluss und zur Macht zu kommen suchen . Leider stehen noch viele Klassengenossen abseits, viele sogar im gegnerischen Lager . In meiner amtlichen Eigenschaft als Polizeipräsident in Berlin stelle ich immer wieder mit schmerzlichem Bedauern fest, wie verhältnismäßig viele Arbeiter und Angestellte denjenigen Verbänden angehören und nachlaufen, die letzten Endes nichts anderes wollen als die Vorkriegszeit mit aller Hohenzollernund Junkerherrlichkeit schnell wieder herbeizuführen, d . h . sich das Joch wieder aufzuerlegen, das 1918 abgeschüttelt worden ist . Durch die Weimarer Verfassung ist das Schicksal des deutschen Volkes mit in seine Hand gelegt . Aufklärung, unsere Jugend und die Frauen müssen mit dafür sorgen, dass wir es bestimmen können . Allerdings ist damit jedem einzelnen im deutschen Volk zugleich eine ungeheure Verantwortung auferlegt . In dem Tragen dieser Verantwortung sind zurzeit auch Arbeiterkreise etwas allzu ängstlich . Ich meine in der Beteiligung an der Regierung . Gewiss ist es erwünscht und angenehm, allein die Regierung zu führen . Dann kämen Kompromisse nur in Frage, insoweit sie durch die allgemeinen Verhältnis-
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se bedingt sind . Aber zu einer Alleinregierung gehört doch, dass die überwiegende Mehrheit des Volkes dahinter steht . Nach der sozialen Struktur des deutschen Volkes wäre es allerdings möglich, dass die deutsche Sozialdemokratie mehr wie die Hälfte der Reichstagsmandate innehätte . Dass das nicht der Fall ist, beweist, wie ungeheuer viel Arbeiter, Angestellte und Beamte noch abseits stehen und bürgerlichen Parteien nachlaufen . So lange die Sozialdemokratie aber weder im Volke noch im Parlament die Mehrheit hat, muss sie mit anderen Parteien zusammen regieren, auch wenn das bürgerliche Parteien sind . Selbstverständlich kann es sich immer nur um Parteien handeln, die auf dem Boden der Verfassung stehen . Aber von der Möglichkeit, an der Macht teilzunehmen und sie im Verhältnis der eigenen Stärke im Interesse der Arbeiterklasse auszuüben, darf nicht um deswegen Abstand genommen werden, weil etwa nicht alle Blütenträume reifen, und die Verantwortung zu tragen unbequem sein würde . Es ist gerade gewerkschaftlicher Grundsatz, nur das Mögliche zu fordern, das Erreichte zu nehmen und darauf weiterzubauen, um so nach und nach zum letzten Ziel zu gelangen . In letzter Zeit ist viel von der Möglichkeit und besonders auch Notwendigkeit einer Reichstagswahl gesprochen worden, weil die DNVP den beschrittenen Weg nach Locarno aus Parteiinteresse nicht zu Ende gehen wollte . Ich habe von Anfang an eine Reichstagsauflösung nicht für opportun, wohl aber, wenn gehörige Sicherungen festgelegt werden können, die Teilnahme endlich auch wieder an der Reichsregierung für zweckmäßig gehalten . Ich hoffe dringend, dass es dazu kommen wird, damit gerade im Hinblick auf den bevorstehenden schweren Winter die furchtbare Not der breiten Volksschichten durch entsprechende, von uns zu beeinflussende Regierungsmaßnahmen weitestgehend gelindert wird . Opposition ist eine schöne und bequeme Sache, und manchmal auch ganz zweckmäßig . Man kann wunderbare Reden halten und das Publikum, das nicht denkt, für den Augenblick begeistern . Auf die Dauer lockt man damit aber keinen Hund hinter dem Ofen hervor und vor allem, man hilft nicht so, wie man helfen könnte, wenn man selbst in der Regierung und Verwaltung sitzt . Und schließlich ist doch auch allerhand an seit Jahren erhobenen Forderungen der Gewerkschaften, die längst reif sind, zu erfüllen, Wechsel sind einzulösen, deren Einlösung dringlich ist . Ich erinnere nur an das Washington-Abkommen über den Achtstundentag, das noch immer nicht ratifiziert ist, und an das Arbeitsrechtsgesetz, das endlich geschaffen werden sollte . [Am Rande: „Reichstag muss auch ein Gesetz machen, das Ländern Möglichkeit gibt, […]25 zu enteignen .“] Gestern ist im Reichstag in 3 . Lesung der Locarno Vertrag angenommen und der Eintritt Deutschlands in den Völkerbund beschlossen worden . Damit ist ein Werk zum Abschluss gekommen, das zwar nicht zu übertriebenen Hoffnungen für die deutsche
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Das Wort konnte nicht entzifferte werden .
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Arbeiterklasse Anlass gibt, das aber doch ein Anfang auf dem Wege zur Befriedung der Welt und zur Wiederaufrichtung des durch den Krieg zusammengebrochenen Weltverkehrs und der Weltwirtschaft sein kann . Schiedsverträge und Schiedsgerichte zur Regelung internationaler Völkerstreitigkeiten sind eine alte Forderung der Arbeiterinternationale, insbesondere der deutschen Arbeiterschaft . Die Nationalisten aller Länder sind dagegen . Sie wollen Krieg und Menschenmorden, sie wollen als Gewaltmenschen aus Grundsatz Gewaltanwendung wie gegen die eigenen Volksgenossen so auch gegen andere Völker . So sind sie auch gegen den Locarno Vertrag, weil sie der Revanche leben wollen . [Am Rande: „Mit schmerzlichem Bedauern habe ich gestern Abend im Lustgarten in Berlin auch Arbeiter gegen Locarno demonstrieren und somit wieder einmal eine Front mit ihren Feinden bilden sehen .“] So schmerzlich der Friedensvertrag von Versailles auch ist, so schlimm für Deutschland und das deutsche Volk der Verlust deutschen Landes und deutscher Stammesangehöriger sein mag, Deutschland und die Welt können nur im friedlichen Einvernehmen sich wieder emporrichten und nur auf dem Wege der Verständigung von den Folgen des Krieges sich wieder erholen . Konsequent haben die Gewerkschaften [und die Sozialdemokratie]26 ihre Politik auf Verständigung mit anderen Völkern gerichtet, und wenn heute nach jahrelangem Bemühen, nach vielem Hin und Her, nach Rückschlägen und Gewaltakten der ehemaligen Feinde in Locarno ein Vertragsverhältnis unter den Völkern und die Aussicht auf Einbeziehung Deutschlands in den Völkerbund zustande gekommen ist, so sollten alle Verständigen eine solche Entwicklung nur begrüßen . Ohne etwa an Locarno allzu große Hoffnungen zu knüpfen, ist es doch ein Schritt zum Weltfrieden und zur Völkerverständigung und damit ein Hemmnis gegen neue Kriege . Nur sehr langsam wird die Welt von dem ungeheuren Aderlass, den der Weltkrieg verursacht hat, wieder genesen . Wie immer sind auch heute die Leidtragenden die breiten Schichten des Volkes, die mit Not und Elend die Zeche bezahlen . Wir wollen keinen Kohlrübenwinter mehr; wir wollen nicht mehr, dass die Blüte unseres Volkes auf den Schlachtfeldern verblutet, unsere Familien verelenden, und das Kind im Mutterleib schon verdorrt . Wir haben vorhin mit Rührung und Andacht einen von einem unserer Jungen gesprochenen Prolog gehört . Auf unsere Jugend setzen wir unsere Hoffnung und glauben, dass sie ebenso treu zu ihren Idealen steht und für sie kämpft, wie wir es getan haben und immer noch tun, solange wir leben; jeder an seinem Platz . Wenn es zeitweilig auch schlecht geht, und der Kampf mit schweren Opfern für den Einzelnen verknüpft ist, Ursache zum Verzweifeln liegt nicht vor . Wenn wir heute so zurückschauen auf all die Jahre und die Ereignisse, so gewinnen wir doch die Überzeugung, es ist doch erheblich vorwärts gegangen . Wir haben uns einen anderen, besseren Kampfboden geschaffen, den alten Mächten, die uns unterdrückten, ein erhebliches Stück ihrer Macht entrissen, und wir werden noch mehr schaffen, wenn wir einig, uns
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Die Worte „und die Sozialdemokratie“ sind handschriftlich gestrichen
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unserer Kraft bewusst und trotzig sind . Denken wir heute alle der Alten, die bis hierher den gewaltigen Organisationsbau mitgeholfen haben zu errichten und geloben wir, in ihrem Sinne weiter zu arbeiten, unentwegt, unbeirrt, ohne nach rechts noch nach links zu sehen, bis das große Ziel des Sozialismus erreicht ist! Und dräut der Winter noch so sehr mir trotzigen Gebärden, und streut er Eis und Schnee umher, es muss doch Frühling werden!
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Der Staat schützt die Rechte der Bürger Im Preußischen Landtag am 5. November 192627 Soweit die einzelnen Bürger, die politischen Parteien und Verbände die verfassungsmäßigen Grundlagen respektieren, genießen sie unabhängig von ihrer politischen Überzeugung – ob linksradikal oder rechtsradikal – die freiheitlichen Grundrechte. Konspirieren sie gegen die demokratische Republik, sind sie niederzuringen. Diese immer wieder vorgetragene Grundauffassung Grzesinskis wurde anlässlich seiner Haltung zu Organisationsverboten besonders deutlich. In der Folge des ergangenen Verbots der rechtsradikalen paramilitärischen Verbände „Bund Olympia“ und „Wiking Bund“28 seitens der preußischen Staatsregierung kam es zu Misstrauensanträgen gegen den vor wenigen Wochen erst ernannten Innenminister Grzesinski. Er nahm die Gelegenheit wahr, diese parlamentarische Attacke aufgreifend, um grundsätzlich zu den verfassungsmäßigen Rechten der Bürger Stellung zu nehmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich wollte zunächst diese erste sich mir bietende Gelegenheit benutzen, mich dem Hause vorzustellen . Sie werden sagen, das geschehe etwas spät; aber es bot sich vorher keine Gelegenheit . Von meiner Anwesenheit haben Sie ja bereits dadurch Notiz genommen, dass Sie die Freundlichkeit hatten, vor einiger Zeit zu versuchen, mir ein Misstrauensvotum auszustellen . Ich hoffe aber, dass Sie und ich trotz der politischen Gegensätzlichkeiten, die sich naturgemäß oft
Sitzungsberichte des Preußischen Landtags . 2 . Wahlperiode . 214 . Sitzung vom 5 . November 1926 (TOP Ausschreitungen politischer Verbände, Durchsuchungen bei Führern vaterländischer Verbände usw .), Sp . 14888–14896 . 28 Der „Wiking Bund“ (gegründet von Mitgliedern der „Organisation Consul“) und der „Bund Olympia . Deutscher Verein für Leibesübungen“ (1920–1926) (gegründet von Angehörigen des nach dem KappPutsch aufgelösten Freikorps-Regiments Groß-Berlin) waren militärische Wehrverbände, die den Putsch vorbereiteten . Vgl . Fricke (1968): Bürgerliche Parteien, Band I, 190 ff .; Band II, S . 452 f . 27
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in sehr scharfen Auseinandersetzungen dokumentieren werden, die Verhandlungen in Formen werden führen können, wie sie unter gesitteten Menschen üblich sind . […] Ich stimme dem Herrn Abgeordneten Maretzky durchaus zu, wenn er die so gewordene Antwort im Allgemeinen für nicht ausreichend, nicht befriedigend hält .29 Sie haben ein Recht, von mir zu verlangen, dass solche Ausschreitungen, die von links und von rechts vorgekommen sind, nicht nur, wenn sie von links kommen, Herr Abgeordneter Maretzky, sondern auch, wenn sie von rechts kommen, unmöglich gemacht werden, dass vorgebeugt wird . Die Polizei hat die Aufgabe, vorbeugend zu wirken, damit solche Zusammenstöße, die, wie ich zugeben will, sich gerade im Frühjahr dieses Jahres sehr gehäuft haben, in Zukunft nicht mehr erfolgen oder auf ein Mindestmaß beschränkt werden . Im Rahmen des Möglichen ist das auch geschehen, einmal dadurch, dass die Polizei in solchen besonderen Dingen besonders ausgebildet worden ist, zum andern dadurch, dass mein Herr Amtsvorgänger die Voraussetzungen für so schlimme Ausschreitungen weggenommen hat durch das Stockverbot und dadurch, dass Veranstaltungen, die die öffentliche Ruhe und Ordnung so stören konnten, dass die Polizei sie nicht hätte beherrschen können, verboten wurden, dass bei der Ausübung verfassungsmäßiger Rechte, die nicht eingeschränkt werden können und sollen, die Polizei, soweit es sich um Demonstrationszüge handelt, diese Züge leitet, soweit es sich um Versammlungen handelt, diese außerhalb des Versammlungsraumes überwacht – innerhalb besteht nicht das Recht der Überwachung – und dafür sorgt, dass Zusammenstöße mit politisch anders gerichteten Personen oder Verbänden nicht stattfinden . Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Dr . Maretzky hat gesagt, die Polizei ist zahlenmäßig zu schwach, um allen diesen Dingen nachgehen zu können bzw . so vorbeugend zu wirken, dass überhaupt nichts mehr in dieser Hinsicht passiert . Ich stimme Herrn Dr . Maretzky darin zu . […] Aber, meine Damen und Herren, Sie wollen auf etwas ganz anderes hinaus . Sie wollen darauf hinaus, dass Veranstaltungen, wie sie von den Kommunisten, dem Roten Frontkämpferbund gelegentlich getroffen werden, überhaupt von der Staatsbehörde, von der Polizei verboten werden . Nein, meine Damen und Herren, da knüpfe ich zunächst an die Schlussworte des Abgeordneten Maretzky an: Welche Maßnahmen gedenkt die Regierung zu treffen, um das verfassungsmäßige Recht der Staatsbürger den Staatsbürgern zu gewährleisten? Dieses verfassungsmäßige Recht der Staatsbürger besteht nicht nur auf der einen Seite, gehört nicht nur einem Teil der Staatsbürger, sondern sämtlichen Staatsbürgern, und die Regierung und die Polizei haben die Verpflichtung, jedem einzelnen die Ausübung dieses staatsbürgerlichen Rechtes, die Ausübung des Vereinigungsrechtes, des Versammlungsrechtes zu gewährleisten . […] Meine Herren, Herr Maretzky sagt, dass, wenn man die Kommunisten und die Roten Frontkämpfer wie bisher weiter wirken lasse, so werden sie zu irgendeiner Zeit
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Oskar Maretzky (1881–1945), DNVP, MdL 1924–1932 .
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eine so starke Macht bilden, dass sie eine Gefahr für den Staat darstellen . Ich schätze diese Gefahr nicht so hoch ein, wie der Herr Abgeordnete Maretzky . Ich gebe durchaus zu, dass eine gewisse Gefahr in jeder radikalen Agitation und nicht nur in der linksradikalen Agitation liegt . Ich habe aber nach meiner Kenntnis der staatlichen Machtverhältnisse die Überzeugung, dass es mit staatlichen Mitteln heute verhältnismäßig leicht gelingt, jedem gewaltsamen Vorhaben irgendeiner Gruppe mit Erfolg entgegenzutreten und ein solches Vorgehen niederzuschlagen . Wenn Sie darüber irgendwie noch im Zweifel sein konnten, so glaube ich, haben die Erfahrungen des Frühjahrs dieses Jahres doch die Richtigkeit dieser meiner Auffassung gezeigt . Das Verbot der beiden militärisch aufgezogenen Organisationen Wiking und Olympia, das Eingreifen der Polizei auf Grund vorliegender starker Verdachtsmomente gegen Personen, die gegen die Republik konspirierten, haben bewirkt, dass die Gefahr vom Staat abgewendet worden ist . […] Meine Herren, soweit irgendwelche Gruppen oder Personen versuchen, die Staatseinrichtungen auf gewaltsamem Wege umzustürzen, werden sie von der Staatsregierung und von der Polizei mit den schärfsten Mitteln bekämpft werden . Soweit sie sich im Rahmen ihrer verfassungsmäßigen Befugnisse halten, wird man auch die Radikalen, und zwar – ich denke das bis zur letzten Konsequenz durch – die Linksradikalen wie die Rechtsradikalen schützen müssen . (Zuruf rechts: ‚Ist nicht wahr! ‘)
Wenn Sie mir dauernd zurufen, das sei nicht wahr, so weise ich auf Zeugnisse Ihrer eigenen Fraktionsmitglieder hier im Hause hin, die besagen, dass ich in meiner Eigenschaft als Polizeipräsident von Berlin seinerzeit in einer sehr kritischen Situation auch die rechtsradikalen Demonstrationen ausdrücklich geschützt habe, wofür mir diese Organisationen und auch Abgeordnete dieses Hauses ausdrücklich ihren Dank ausgesprochen haben . Also, meine Herren, die Polizei hat die Aufgabe, dem Staatsbürger die Ausübung seiner verfassungsmäßigen Rechte zu gewährleisten und ihn dabei zu schützen . […] Wenn der Rote Frontkämpferbund eine militärische Organisation im Sinne des Wiking-Bundes und der Olympia wäre, würde ich keinen Augenblick zögern, diese Organisation genauso wie jede andere zu verbieten . Der Umstand, dass der Rote Frontkämpferbund seinen Mitgliedern Uniformen anzuziehen gestattet, der Umstand, dass der Rote Frontkämpferbund regelmäßige Demonstrationen in Berlin und anderwärts veranstaltet, der Umstand, dass der Rote Frontkämpferbund große Ausflüge nach auswärts macht, ist kein Beweis dafür, dass er gegen das Gesetz von 1921 und das Republikschutzgesetz verstößt . Ich möchte mir den Vorwurf nicht zuziehen, dass ich ohne ausreichende gesetzliche Grundlage eine Organisation verbiete, die sich im Rahmen der verfassungsmäßigen Rechte hält .
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Der Staatsgerichtshof wird nochmals Gelegenheit haben, zu dieser Frage [gemeint: Verbot des Bundes Olympia] Stellung zu nehmen, da ich Berufung gegen den Entscheid des Staatsgerichtshofs eingelegt habe . (Zuruf rechts: ‚Der beste Beweis Ihrer Objektivität!‘)
Ich wüsste nicht, wie weit ich irgendwie dagegen verstoßen hätte . Mir scheint das selbstverständlich zu sein . Wenn eine Berufung möglich ist, habe ich nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, wenn das Urteil meiner Überzeugung nicht entspricht, eine höhere Instanz anzurufen . Die höhere Instanz ist in diesem Falle nicht einmal eine über dem Staatsgerichtshof stehende höhere Instanz, sondern der gleiche Staatsgerichtshof, aber in der vollen Besetzung, wie es das Gesetz vorschreibt, also ein legales, einwandfreies und richtiges Verfahren .30 Also, ich habe keinen Anlass, eine Organisation zu verbieten, die nicht strafbare Handlungen begeht als Organisation oder sonst gegen die Gesetze verstößt . Wenn Sie in der Lage sind, den Beweis dafür anzutreten, so steht nichts im Wege, mir die notwendigen Materialien und Unterlagen vorzulegen . Ich frage doch einmal Sie von der Deutschnationalen Partei, ob Sie diesen Staat erhalten wollen . Ihre ganze Bewegung geht doch darauf hinaus, den Staat zu stürzen . Sie wollen ihn nicht gewaltsam stürzen . Sie suchen auf dem Wege der verfassungsmäßigen Rechte die Änderungen im Staat herbeizuführen, die Sie für richtig halten . […]
Das am 12 . Mai 1926 vom preußischen Staat ergangene Verbot des „Bundes Olympia“ war vom Staatsgerichtshof am 13 . Oktober 1926 wieder aufgehoben worden . Dagegen legte die Regierung Widerspruch ein . Dieser Widerspruch war auch deshalb erfolgreich, weil er mit dem Artikel 177/78 des Friedensvertrages (Verbot militärischer Betätigung) vorgetragen wurde, gegen den das Beschwerderecht ausgeschlossen war . „Gerade diese Maßnahme bot der Reaktion die Möglichkeit zur neuen Entfachung der Hetze gegen die Republik, indem sie demagogisch erklärte, die Regierung unterdrücke mit Hilfe des ‚Feinddiktats‘ die ‚nationale Bewegung .‘ “ Vgl . Fricke (1968), Bürgerliche Parteien, Band II, S . 452 .
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Polizeiliche Durchsuchungen ohne Ansehen der Person Im Preußischen Landtag31 Heinrich Claß (1868–1953), Justizrat, war Vorsitzender des völkisch und antisemitisch orientierten „Alldeutschen Verbandes“. Die polizeilichen Hausdurchsuchungen bei Claß und anderen Alldeutschen sowie prominenten Wirtschaftsführern nach Putschgerüchten fanden im Mai 1926 statt. Grzesinski, im Oktober 1926 erst Innenminister geworden, sah sich Angriffen wegen dieses Polizeieinsatzes ausgesetzt. Im Dezember 1926 nahm er in einer Erklärung zu dem Vorgang Stellung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Frühjahr dieses Jahres haben unter anderem auch bei einer Reihe von Wirtschaftsführern polizeiliche Durchsuchungen stattgefunden . Diese Durchsuchungen sind in der Öffentlichkeit, in der Presse und hier im Landtag wiederholt eingehend besprochen worden . Sie waren hier im Hause zuletzt am 5 . und 6 . November Gegenstand der Erörterung . Ich bin damals von den verschiedensten Seiten gefragt worden, wie das Beweismaterial, das bei diesen Durchsuchungen gefunden worden ist, bei der Staatsanwaltschaft oder bei dem Herrn Oberreichsanwalt Bewertung gefunden habe, und man hat wiederholt der Überzeugung Ausdruck gegeben, dass diese Durchsuchungen eine positive Unterlage nicht gehabt hätten . Ich habe bereits in meinen Ausführungen am 6 . November gesagt, dass ich abschließend zu diesen Angriffen und Erörterungen noch nicht Stellung nehmen könne; ich habe es aber bereits damals beklagt, dass durch gewisse Maßnahmen auch prominente Personen in Mitleidenschaft gezogen worden sind . Ich bin zu meiner großen Freude heute in der Lage, über meine Ausführungen vom 6 . November hinausgehen zu können . Ich habe mich inzwischen bei dem Herrn Oberreichsanwalt nach dem Stande der Angelegenheit erkundigt . Der Herr Oberreichsanwalt hat mir auf meine Anfrage mitgeteilt, dass er auf Grund der bei den Durchsuchungen am 11 . und 12 . Mai 1926 gefundenen Beweisstücke ein Ermittlungsverfahren lediglich gegen den Justizrat Claß eingeleitet habe .32 Nach der damals gegebenen Sachlage ist den Behörden und Personen, welche die Durchsuchungen für notwendig hielten, und den beteiligten Polizeibeamten, die Durchsuchungen in weiterem Umfange vorgenommen haben, wegen dieses Vorge-
Sitzungsberichte des Preußischen Landtags . 2 . Wahlperiode . 227 . Sitzung am 4 . Dezember 1926, Sp . 15670 f . 32 Gegen Heinrich Claß wurde eine Voruntersuchung wegen Verdachts der Vorbereitung eines Hochverrats eröffnet . Im Oktober 1927 wurde die Voruntersuchung abgeschlossen und mangels Beweisen kein Hauptverfahren eröffnet . Eine gewaltsame Beseitigung der Weimarer Verfassung wurde ihm nicht nachgewiesen . 31
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hens ein Vorwurf – wie ich schon damals gesagt habe – auch heute nicht zu machen . Es ist besonders insofern einwandfrei gehandelt worden, als die nach dem pflichtgemäßen Ermessen gebotenen Durchsuchungen ohne Ansehen der Person durchgeführt worden sind . Auf der anderen Seite stehe ich heute nicht an, den Männern, die keinerlei staatsgefährliche Pläne verfolgt haben, mein Bedauern darüber auszusprechen, dass sie durch polizeiliche Maßnahmen in Mitleidenschaft gezogen worden sind, die durch die Sorge für die Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung im Staate veranlasst waren .
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Für die deutsch-französische Freundschaft Ansprache in Köln am 11. Januar 192733 In seiner Rede anlässlich der Einführung des neuen Regierungspräsidenten in Köln am 11. Januar 1927 sprach Innenminister Grzesinski eingehend im Sinne des Außenministers Gustav Stresemanns dafür, „dass zwischen den beiden großen Völkern, Deutschland und Frankreich, das Trennende und Hemmende endlich beseitigt werden müsse, dass beide Völker angewiesen sind, in einem freundschaftlichen Verhältnis miteinander zu arbeiten und zu leben.“
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der heutige Tag bedeutet für mich die Erfüllung des Wunsches, als Preußischer Minister des Innern möglichst bald eine weitgehende und persönliche Fühlung mit allen Kreisen der Bevölkerung aufzunehmen . Es ist mir eine selbstverständliche und gern geübte Pflicht, meinen ersten Besuch der Rheinprovinz, insbesondere dem besetzten Gebiet abzustatten . Dass ich bei dieser Gelegenheit zeitig den neuen Regierungspräsidenten des Bezirks einführen konnte, war ein glückliches Zusammentreffen . Ich danke Ihnen, Herr Regierungspräsident, für die freundlichen an mich gerichteten Begrüßungsworte und freue mich, besonders auch hier in Köln, der größten Stadt des deutschen Westens, im Kreise der führenden Persönlichkeiten des Regierungsbezirks sein zu können . Die geistigen und wirtschaftlichen Kräfte des Westens sind für die Gestaltung des öffentlichen Lebens Gesamt-Deutschlands von größter Bedeutung . Hier im Rhein-
ISSG G 2140: Rede anlässlich der Einführung des neuen Regierungspräsidenten in Köln am 11 . Januar 1927 . – [Den Beleg für das Datum finde ich nicht .] Es kann sich nur um Johann Markus Hans Elfgen (1889–1968) gehandelt haben, der am 21 .12 .1926 auf Vorschlag des Preußischen Innenministers Grzesinski zum Regierungspräsidenten in Köln ernannt worden war . Elfgen wurde vom NS-Staat im April in den Ruhestand versetzt, da er auf Grund seiner Mitgliedschaft im Zentrum als „belastet“ galt . – Typoskript, 10 Seiten, DIN A5, zahlreiche (z . T . doppelte) Unterstreichungen mit blauem und rotem Stift .
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land fließen die geistigen Strömungen zweier großer Kulturländer zusammen und bringen eine überaus glückliche Mischung von Lebensführung und Anschauung der hiesigen Bevölkerung hervor . Es ist deshalb kein Zufall, dass viele hervorragende Männer des öffentlichen Lebens aus dem Westen unseres Vaterlandes kommen, dass hier der Ausgangspunkt befruchtender und schöpferischer Ideen war . Denn im Rheinland hat stets eine besonders rege und tätige Anteilnahme am öffentlichen, kulturellen und politischen Leben bestanden . So fand denn auch die große politische Freiheitsbewegung in unserem Vaterlande in der Mitte des vorigen Jahrhunderts hier ihre starken Quellen und Triebe . Der alte Obrigkeitsstaat konnte ja den Bedürfnissen dieser Provinz und ihrer Bevölkerung, in der so lebendige Kräfte im Staatsleben nach oben strebten, nicht gerecht werden . Der neue Staat, die demokratische deutsche Republik, gibt heute dem volkreichen Westen auch das notwendige Gewicht und den notwendigen Einfluss bei der Gestaltung der Staatspolitik . Durch die Weimarer und preußische Verfassung ist allen kulturellen und weltanschaulichen Kräften im Volk die Freiheit der Entfaltung verbürgt und damit auch dem Verlangen der Mehrheit der rheinischen Bevölkerung endlich entsprochen . Die preußische Staatsregierung ist bestrebt, die in der Verfassung verankerten Rechte der Bevölkerung in weitestem Umfange zu sichern . Sie hat die Pflicht und erfüllt sie, den neuen Staat und sein Grundgesetz gegen alle verfassungswidrigen und feindlichen Absichten und Maßnahmen zu schützen . Um den friedlichen, durch innere Unruhen nicht gestörten Aufbau unseres Volkes zu sichern, betrachte ich den Schutz des Staates gegen alle gewaltsamen Umsturzversuche mit als die vornehmste Aufgabe meines Ressorts . Dabei kann und darf es für mich und die Polizei als Organ des Staates keine Rücksicht auf Stellung oder Ansehen der Person geben . Zur Erfüllung ihrer staatspolitischen Aufgabe erwartet die Staatsregierung aber die vorbehaltlose Unterstützung aller der Teile der Bevölkerung, ohne Unterschied der Weltanschauung, die mit ihr den friedlichen Aus- und Aufbau des Vaterlandes und seine politische und wirtschaftliche Erstarkung wollen . Denn die aus gesundem Volkstum hervorquellenden Kräfte und ihre Zuwendung zum Volksstaat sind die Voraussetzung zu seiner Erhaltung und Erstarkung . Tätiges Bekenntnis zum Staat hat sich in den vergangenen schweren Jahren der Besetzung und bei der Abwehr separatistischer Bestrebungen am Rhein glänzend bewährt . Die Bevölkerung des Rheinlandes kann sicher sein, dass diese heldenmütige Leistung, die selbstlos von allen und insbesondere gerade auch von der großen namenlosen Masse vollbracht wurde, nie vergessen werden wird . Ein erheblicher Teil der Rheinprovinz muss leider noch heute für das Staatsganze die Lasten der Besatzung tragen . Trotz der Besonnenheit der Bevölkerung der besetzten Gebiete birgt der Aufenthalt fremder Besatzungstruppen in einem friedlichen Lande die Gefahr von schweren Konflikten in sich . Die bedauerlichen Vorfälle der letzten Wochen haben das wiederum bewiesen . Die jahrelange Besetzung eines hoch entwickelten Kulturlandes mit friedlicher und gerade auch Freiheit liebender Bevölkerung ist unerträglich . Jeder, der ernstlich die Befriedung der Verhältnisse am Rhein und die Verständigung der großen Kulturvölker will, muss die Forderung erhe-
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ben, dass die Besetzung deutschen Gebietes durch fremdes Militär so bald wie möglich ein Ende nimmt . Der Herr Reichspräsident hat am Neujahrstage in der Erwiderung auf die Begrüßungsansprache des Doyen des diplomatischen Corps, des hochverehrten Nuntius Pacelli, ausdrücklich Bezug genommen auf den starken Aufschwung des Gedankens des Friedens und der internationalen Zusammenarbeit im letzten Jahre, das durch den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund sein Gepräge erhalten hat . Der Reichspräsident sprach von der Schicksalsgemeinschaft der Völker, der engen Verflechtung ihrer politischen, wirtschaftlichen und geistigen Lebensnotwendigkeiten und gab der Überzeugung Ausdruck, dass die Bestrebungen der Völkerverständigung auf der Grundlage der Gerechtigkeit und der Gleichberechtigung mit allen Kräften fortgesetzt werden müsste . Das Ziel müsse sein, das allgemeine Wohl der Menschheit zu pflegen und zu fördern, um eine wahre Friedensgemeinschaft der Völker zu erreichen . Diese Worte des ersten Repräsentanten des deutschen Volkes sind der preußischen Staatsregierung und dem deutschen Volke aus der Seele gesprochen, sie sind auch bei unserer Nachbarnation erfreulicher Weise nicht ohne Widerhall geblieben, auch drüben mehren sich die Stimmen, die fordern, dass zwischen den beiden großen Völkern, Deutschland und Frankreich, das Trennende und Hemmende endlich beseitigt werden müsse, dass beide Völker angewiesen sind, in einem freundschaftlichen Verhältnis miteinander zu arbeiten und zu leben . Zum ersten Male wird auch in Frankreich von einer Seite deutlich ausgesprochen, von der man es in dieser Eindeutigkeit bisher nicht immer zu hören gewöhnt war, dass mit Locarno, mit einer aufrichtigen Verständigungspolitik sich die Fortsetzung der Rheinlandbesetzung nicht verträgt . Diese Stimmen geben unseren Wünschen und Gefühlen vollen Ausdruck, entsprechen durchaus den Grundsätzen, nach denen in den letzten Jahren unsere Außenpolitik geführt worden ist . Wenn auch in den allerletzten Tagen diese Stimmen durch andere wieder etwas zurückgedrängt worden sind, so möchte ich trotzdem oder gerade deswegen hier an dieser Stelle heute nochmals der Hoffnung Ausdruck geben, dass hüben und drüben sich immer mehr die Einsicht durchsetzt, dass zwischen großen Kulturvölkern es nur geben kann ein friedliches Wetteifern in gemeinsamen großen Aufgaben, und dass die Zeit ein für alle Mal der Vergangenheit angehören möge, in der man glaubte, Meinungsverschiedenheiten zwischen den Nationen durch unendliches Unglück über die Menschheit bringende blutige Gewalt aus der Welt schaffen zu können . Das ganze unbesetzte Deutschland muss es als seine vornehmste Pflicht betrachten, dieses wahrhaft nationale Ziel unserer Außenpolitik zu unterstützen, damit auch für die heute noch besetzten Gebiete recht bald die Stunde der Befreiung schlägt . Die erfolgreiche Fortsetzung der Politik von Locarno und Thoiry kann aber dann gefährdet werden, wenn gewisse Kreise im Lande glauben, die nationale Gesinnung in Erbpacht genommen zu haben und sie durch Spielereien in militärähnlichen Vereinen
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bekunden zu müssen .34 Bei all solchem Tun sollte jeder Deutsche stets erst prüfen, ob er dadurch nicht vielmehr die die Besatzung erduldenden deutschen Landesteil[e] schwer schädigt . Ich habe nicht die Außenpolitik des Reiches zu vertreten und bin ja auch nicht Reichsminister. Aber an meinem Teil als preußischer Minister des Innern will ich dazu beitragen, dass die Welt die Überzeugung bekommt, dass die deutsche Politik wirklich eine offene und ehrliche ist und im Innern unseres Vaterlandes nichts vor sich geht, was als im Widerspruch stehend angesehen werden könnte mit dem, was unsere Reichsvertreter in ihren Verhandlungen mit dem Ausland vereinbart bzw. in Aussicht gestellt haben.35 Die Staatsregierung sieht es als eine der vornehmsten Pflichten an, so lange deutsches Land besetzt ist, alles zu tun, um der von der Besatzung betroffenen Bevölkerung in ihren Nöten beizustehen, und die Lasten auf das Staatsganze zu verteilen . Wenn diese notwendige Hilfeleistung nicht immer in dem Umfange möglich ist, wie wir alle es möchten, so liegt es daran, dass dem ganzen Staat durch den Kriegsausgang schwere Wunden geschlagen sind, die bis heute und bis auf lange Zeit hinaus nicht geheilt sind . Aber gerade die große Not der Nachkriegszeit hat auch das Zusammengehörigkeitsgefühl im preußischen Staat gestärkt und gefestigt . Gemeinsame Leiden hat das Verständnis zwischen Osten und Westen, Süden und Norden gefördert unter Achtung und voller Wahrung der gegenseitigen berechtigten und bewährten Stammeseigentümlichkeiten . Diesen Weg des inneren Ausgleichs weiter zu beschreiten, sieht die preußische Staatsregierung als bedeutsame Aufgabe im Dienste an der gesamten deutschen Nation an . In der Zuversicht, dass dieses Bemühen gerade hier am Rhein, dank der großen nationalen Vergangenheit und der besonders politischen Aufgeschlossenheit seiner Bewohner, freudiges Verständnis und tätige Unterstützung findet, trinke ich auf das Wohl des Rheinlandes .
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Der Staat sichert das friedliche Demonstrationsrecht Im Preußischen Landtag am 23. März 192736
Ich habe den dringenden Wunsch, dass die Justizbehörden die gefassten Landfriedensbrecher die ganze Strenge unserer Strafgesetze endlich fühlen lassen, ohne Ansehen der Person, gleichgültig, ob links- oder rechtsstehend . Die Reichsverfassung und die Die Bemerkung könnte auf die „Geländespiele“ des „Stahlhelm – Bund der Frontsoldaten“ zielen; dieser führte 1929 solche militärähnlichen Übungen im Rheinland durch, die zum zeitweisen Verbot durch die Preußische Staatsregierung führte . 35 Die hier hervorgehobenen Sätze sind als einzige nicht nur blau, sondern auch mit rotem Stift unterstrichen und an der Seite durch einen blauen Strich hervorgehoben . 36 Sitzungsberichte des Preußischen Landtags . 2 . Wahlperiode . 263 . Sitzung am 23 . März 1927 (TOP Haushalt des Ministeriums des Inneren), Sp . 18349 ff . 34
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Reichs- und Landesgesetze sichern jedem einzelnen in Deutschland, vielleicht mehr als in irgendeinem anderen Lande, weiteste Betätigung seiner Meinung durch Schriften, durch Reden , durch Versammlungen, durch öffentliche Aufzüge, durch Bilden von Vereinen zu . Ich habe nicht die Absicht, diese Meinungs- und Diskussionsfreiheit irgendwie zu beschränken . Im Gegenteil, ich will und werde jeden schützen, der seine Ansichten kundtun will, gleichgültig, welche Ansichten das sind . […] Wenn Sie die Befürchtung hatten, dass Ihre Veranstaltungen gestört würden, – (Abg . Kasper: ‚Ich habe noch nie um polizeilichen Schutz bei Ihnen gebeten! Schwindel ist das!‘ – Abg . Eberlein: ‚Das ist eine Unwahrheit!‘37)
Ihr Leugnen schafft die Tatsache nicht aus der Welt, dass die Kommunistische Partei sowohl bei meinem Herrn Amtsvorgänger als auch bei mir wiederholt um polizeilichen Schutz gebeten hat . Gerade Ihr Roter Frontkämpfertag Pfingsten 1926, um den Sie wegen der öffentlichen Meinung gegen diesen Tag so sehr besorgt waren, ist nur dadurch möglich geworden, dass ich die Öffentlichkeit gewarnt und Ihnen den von Ihnen zu beanspruchenden polizeilichen Schutz gewährt habe . Ich mache Ihnen ja gar keinen Vorwurf daraus; Sie haben genau wie jeder andere Anspruch auf Schutz Ihrer Demonstrationen, und ich bin bereit, Ihnen jeden Schutz zu gewähren . Aber genauso wie Sie haben auch andere Anspruch auf diesen Schutz . Ich werde Ihnen entgegentreten und Sie bekämpfen, wenn Sie nicht die Versammlungsfreiheit ganz allgemein auch anderen zugestehen . Ich will also in weitestem Maße Versammlungs-, Koalitions-, Demonstrationsfreiheit sicherstellen und schützen . Mit allen Mitteln werde ich durch die mir unterstellten Organe diejenigen bekämpfen, die ihrerseits die Demonstrationsfreiheit anderer stören und hindern wollen . Meinungs- und Diskussionsfreiheit gilt nicht nur für eine Gruppe sondern für alle, und es ist Aufgabe der Staatsgewalt, der Staatsorgane und der Staatspolizei, dieses verfassungsmäßige Recht unter allen Umständen zu schützen und sicherzustellen . Personen und Vereinigungen – ich habe im Augenblick keine besondere Gruppe im Auge, sondern spreche absichtlich ganz allgemein –, die sich zum Ziel setzen sollten, durch Terrorakte in dieses verfassungsmäßige Recht anderer einzugreifen, werde ich bekämpfen lassen und werde Vereinigungen, die sich an eine staatliche Ordnung absolut nicht gewöhnen können, zur Auflösung bringen . Der Anlass zu den Vorgängen am verflossenen Sonntag war ja, dass Angehörige der Nationalisten Angehörige des Roten Frontkämpferbundes im Eisenbahnwagen überfallen, mit Waffen bearbeitet und erheblich verletzt haben . Ich werde gerade dieser Nationalistischen Arbeiterpartei38 in nächster Zeit um deswegen die allergrößte AufHugo Eberlein (1887–1944), KPD, MdL 1921 bis 1933 . Wilhelm Kasper (1882–1985), KPD, MdL 1924– 1933; vgl . Weber (1968): Kommunismus II, S . 101 f ., S . 176 . 38 Nicht nur hier, sondern auch in anderen Reden spricht Grzesinski nicht von der „Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei“, von der hier unverkennbar die Rede ist, sondern von einer „Nationalisti37
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merksamkeit zu widmen haben, weil ihre Schriften darauf hindeuten, dass sie die Absicht haben, durch Organisierung und Bewaffnung von Stoßtrupps Versammlungen Andersdenkender zu stören und durch Terrorakte anders gerichtete Versammlungen unmöglich zu machen . Der Polizeipräsident von Berlin hat am verflossenen Sonntag im Anschluss an die Vorgänge Durchsuchungen vorgenommen und am Tage darauf zwei Versammlungen der Nationalistischen Arbeiterpartei auf Waffen durchsuchen lassen . In der Versammlung am 21 ., an der etwa 100 Personen teilgenommen haben, ist gefunden worden, was Sie da unten an einem Brett angeheftet finden . […] Es ist ein ganz unerträglicher Zustand, dass Staatsbürger in Städten wie Berlin und Köln zeitweise nicht mehr unangefochten ihres Weges gehen können, nur weil ein Trupp verhetzter Jungen glaubt, sich durch Gewaltakte betätigen zu müssen . Und ich kann einen Polizeibeamten nicht an seinem Platz lassen, der, obwohl er diese geschlossenen Trupps mit der unverkennbaren Absicht zu Ausschreitungen ziehen sieht, nicht eingreift . Leider ist die Polizei nicht so stark und an Zahl nicht so groß, dass jeder Zusammenstoß verhindert werden kann . […] Angesichts der Ruhestörungen der letzten Tage ist die Frage aufgeworfen worden, ob das seinerzeit ergangene Stockverbot, das die Selbsthilfe bei Überfällen angeblich unmöglich macht, nicht aufgehoben werden könnte . Ich darf sagen: Ich denke gar nicht daran, dieses Stockverbot aufzuheben . Ich werde im Gegenteil dafür sorgen, dass noch schärfer als bisher jedwede Bewaffnung von Demonstranten und in Versammlungen verhindert wird . Es ist nicht Aufgabe des einzelnen Staatsbürgers, anstelle der Staatsorgane ganz willkürlich von sich aus aufzutreten . Wie sich die radikalen Elemente bewaffnen, zeigen ja die Vorgänge am Sonntag, insbesondere in Groß-Lichterfelde-Ost . Der Polizeipräsident hatte recht, als er weiter nach Waffen suchen ließ, und der Erfolg war auch, wie ich mir bereits vorhin hinzuweisen erlaubte, das, was Sie sehen . Waffen zu tragen ist Sache der staatlichen Organe . Ich würde es am liebsten sehen, wenn es gelänge, Waffen Privatpersonen überhaupt abzunehmen, das heißt, wenn es möglich wäre, dass auch Waffenscheine nicht mehr ausgestellt zu werden brauchten . Wenn niemand Waffen hat, kann niemand jemanden totschlagen . Wenn jemand keine Waffen hat, wird sein Mut, einen anderen anzugreifen, ganz erheblich sinken, und der Mut dieser jungen Leute, andere zu überfallen, steigt mit der Stärke der Bewaffnung .
schen Arbeiterpartei“ , so als ob er die programmatische Inanspruchnahme der Hitlerpartei, „deutsch“ und „sozialistisch“ zu sein, nicht anerkennen wollte .
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Gegen die private Bewaffnung von Bürgern Im Preußischen Landtag am 1. Juli 192739 In Arensdorf / Kreis Lebus (Brandenburg) war es im Juni 1927 zu Angriffen des „Werwolfs“, „Stahlhelms“ und von Einwohnern auf einen Zug des „Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold“ bei der Durchfahrt der Reichsbannerleute durch Arensdorf, die sich auf der Fahrt zum 3. Gautag nach Frankfurt (Oder) befanden, gekommen. Ein 19-jähriger Reichsbanner-Mann wurde erschossen.
Meine Damen und Herren, ebenso wie der Herr Justizminister bedaure auch ich lebhaft die Vorfälle des verflossenen Sonntags . Ich bedaure insbesondere, dass die Zusammenstöße in Arensdorf ein Menschenleben gekostet und auch schwere Verletzungen anderer Personen im Gefolge gehabt haben . Ich bedaure solche Zusammenstöße überhaupt, und wie ich das früher schon wiederholt von dieser Stelle aus getan habe, möchte ich auch meine Ausführungen mit dem Hinweis beginnen, dass die Zusammenstöße veranlasst sind durch eine leider, wie mir scheint, nicht so leicht zu bekämpfende Intoleranz bei den Parteien . Bevor ich auf die Einzelheiten eingehe, will ich als durchaus selbstverständlich hinstellen, dass die Erschießung des Reichsbannermannes in Arensdorf, als sie in Frankfurt a . O . bekannt wurde, dort eine ungeheure Erregung unter den versammelten Reichsbannerleuten hervorgerufen hat . Ich möchte von dieser Stelle aus allen den Herren, die sich in Frankfurt a . O . durch persönliches energisches und rücksichtsloses Eintreten bemüht haben, insbesondere dem Herrn Reichstagsabgeordneten Wels und dem Kollegen Hörsing, den Dank dafür aussprechen, dass es ihnen gelungen ist, die Absicht der mit recht erregten Reichsbannerkameraden, zur Demonstration nach Arensdorf zu ziehen, unausgeführt zu lassen .40 Ich erkenne das auch als die Pflicht der beiden Herren an . Ich wünschte aber, dass in allen Parteien führende Personen sitzen möchten, die ein solches Einwirken auf die Massen, die hinter ihnen stehen, ebenfalls als ihre Pflicht erachten würden . […] Wenn z . B . in Bezug auf Arensdorf in einer Zeitung, die in diesen Tagen auch deshalb zitiert worden ist, am Schluss eines langen Artikels gesagt wird: Es erübrigt sich, zu den halbamtlichen Meldungen noch etwas hinzuzufügen . Die hier berichteten Tatsachen beweisen zu Genüge, wo die Angreifer und Friedensbrecher zu su-
Sitzungsberichte des Preußischen Landtags . 2 . Wahlperiode, 307 . Sitzung am 1 . Juli 1927, Sp . 21562– 21570 . (TOP Überfälle auf Mitglieder des Roten Frontkämpferbundes, auf Mitglieder des Reichsbanners und auf Mitglieder von rechtsgerichteten Organisationen usw .) 40 Otto Hörsing (1874–1937), SPD, war Oberpräsident der preußischen Provinz Sachsen und Vorsitzender des Reichsbanners Schwarz-Rot Gold, MdL 1924–1933 . – Otto Wels (1873–1939), Vorsitzender der SPD, MdR 1919–1933 . 39
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chen sind . An und für sich ist es freudig zu begrüßen, dass sich die gesunde bäuerliche Bevölkerung gegen die Ausbreitung der roten Pest tatkräftig wehrt .
so sind das Ausführungen in der ‚Deutschen Zeitung‘, die jedes Verantwortlichkeitsgefühl vermissen lassen . Ich darf voranstellen, dass es nach der Reichsverfassung das Recht eines jeden Staatsbürgers ist, für seine Ansicht einzutreten, dass es ihm, sofern er sich keiner strafbaren Mittel bedient, sofern er nicht durch die Art seiner Betätigung mit dem Strafgesetz in Konflikt kommt, ausdrücklich gestattet ist, Propaganda für seine Ideen zu treiben, und dass es keinem anderen Staatsbürger und keiner anderen Gruppe zusteht, ihn mit Gewaltmitteln davon abzuhalten . Meine Herren, das gilt für jeden, das gilt in Bezug auf die Absichten von links, in Bezug auf die Absichten der Mitte und in Bezug auf die Absichten von rechts . […] Es ist sehr billig, meine Herren, den preußischen Innenminister anzugreifen und ihm die Verantwortung für Vorgänge zuzuschieben, die draußen im Lande geschehen . Natürlich: Ich bin parlamentarisch verantwortlich und bin verpflichtet, für diese Dinge dem Landtage Rede und Antwort zu stehen; Sie haben ein Recht, mich zu fragen, was ich getan hätte, um solchen Vorfällen vorzubeugen . Wenn Sie, meine Herren, aber Ihre politische Voreingenommenheit einen Augenblick beiseite ließen, müssten Sie zugeben, dass es keine Macht der Erde gibt, die solche Erscheinungen draußen im Lande, mögen sie einzeln oder in Massen auftreten, von vorneherein verhindern könnte . Es kann immer nur ein bedingtes Vorbeugen stattfinden; es kann immer nur, wenn die Dinge sich zugespitzt haben und Zusammenstöße erfolgten, ein Eingreifen der Polizeiorgane nach Maßgabe ihrer Kräfte, nach Maßgabe ihrer Zahl, nach Maßgabe ihrer örtlichen Zuständigkeit und nach Maßgabe ihrer örtlichen Anwesenheit stattfinden . Wenn dann diese Zusammenstöße erfolgt sind, dann bleibt nichts übrig, als dass die Täter nach eingehender Untersuchung den Gerichten zugeführt und abgeurteilt werden, und dass sie ihre Strafe verbüßen . Das ist der normale und einfache Gang der Dinge, den Sie, meine Herren, genauso kennen wie ich . Sie sollten es also wirklich unterlassen, mich hier dauernd persönlich haftbar zu machen und zu fragen, was geschehen sei . Sie wissen, dass die Polizeiverwaltungen immer und immer wieder angewiesen worden sind, Vorkehrungen zu treffen, damit Zusammenstöße vermieden würden . Jetzt im Sommer finden nun einmal, mehr als im Winter, eine Reihe von Sammelzusammenkünften von Leuten aus den verschiedensten Orten des Landes statt . Da ist es richtig, erneut einen Appell an die Parteiführer und die Führer der Organisationen zu richten, für Ruhe zu sorgen . Da gilt es, Toleranz zu üben und auf die eigenen Anhänger dahin einzuwirken, dass sie nicht provozieren und sich auch nicht provozieren lassen, insbesondere darauf hinzuweisen, dass Selbsthilfe nicht am Platze ist . Jeder Partei- oder Organisationsführer muss darauf hinwirken, dass eine vollkommene und allgemeine Entwaffnung durchgeführt wird . In dem Augenblick – und auch das habe ich schon wiederholt bis zum Überdruss betont –, wo Sie die Selbsthilfe predigen,
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werden Sie ganz naturgemäß auch die anderen Parteien wiederum zur Abwehr nötigen, und es wird eine allgemeine Prügelei daraus entstehen . Ich habe bei einer anderen Gelegenheit hier in diesem Hause den Parteien den Rat gegeben, sie möchten sich zusammensetzen und zu erreichen suchen, dass Demonstrationen ohne eine allgemeine Prügelei durchgeführt werden . So viel ich weiß , ist von dieser meiner Mahnung nur in ganz vereinzelten Fällen Gebrauch gemacht worden; nur in wenigen Orten hat man ein Übereinkommen getroffen; ich bin aber nicht unterrichtet, inwieweit es überhaupt durchgeführt worden ist . Mir scheint, dass eine gewisse Angst vor den eigenen Anhängern die Führer hindert, auf ihre Massen mit ihrer ganzen Autorität entsprechend einzuwirken . Die Polizei kann und wird nichts anderes tun, als nach Maßgabe ihrer Kräfte Sicherungen schaffen; wenn diese versagen, wird später die Bestrafung der Ruhestörer erfolgen müssen, soweit strafbare Handlungen vorliegen . Ich und auch mein Herr Amtsvorgänger haben die Anweisung gegeben, dass in allen Fällen, in denen auf Grund des Vereinsgesetzes oder auch des Gesetzes betreffend die Ausführung des Friedensvertrages Waffenbesitz, Waffenverbreitung oder Waffenanwendung festgestellt wird, die Ortspolizeibehörden die Befugnis zur Auflösung der Ortsgruppe dieser betreffenden Verbände haben . Ich habe keinen Zweifel darüber gelassen, dass ich Ortspolizeibehörden, die nach eingehender Prüfung in dieser Weise vorgehen, in jeder Weise decken werde; ich decke infolgedessen auch das Verbot der Ortsgruppe des Roten Frontkämpferbundes in Dortmund . Ich decke und habe gedeckt die Auflösung der verschiedenen Ortsgruppen der nationalistischen deutschen Arbeiterpartei [gemeint ist die NSDAP] und werde weiter gehen, wenn mir das als zweckmäßig erscheinen sollte . […] [Es folgen Ausführungen, die die Aufrechterhaltung des Stockverbots begründen, und solche, die auf den erhöhten Polizeieinsatz zum Schutze der Versammlungsfreiheit hinweisen.]
Es ist dann mit Recht kritisiert worden, dass auch in Arensdorf wieder Schusswaffen gebraucht worden sind, und erst dadurch ein Menschenleben vernichtet worden ist . Seit längerer Zeit wird von den Faktoren der Reichsgesetzgebung ein Gesetzentwurf beraten, der bezweckt, die Produktion, den Handel, die Abgabe und den Gebrauch von Waffen anderweitig reichsgesetzlich zu regeln . Ich habe den Wunsch, dass diese Regelung in dem Sinne erfolgt, dass es möglich wird, die Waffenproduktion, den Waffenhandel und den Gebrauch von Schusswaffen mehr als bisher zu kontrollieren, und dass Personen Schusswaffen möglichst nur zum Dienstgebrauch in die Hände bekommen . Ich habe den dringenden Wunsch, dass Zivilpersonen möglichst überhaupt keine Waffen führen . […]
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Die Polizei als Freund und Helfer Zur Eröffnung der 6. Preußischen Polizeiwoche am 17. Oktober 192741 Bericht des amtlichen Pressedienstes des Staatsministeriums über die Ansprache des Innenministers bei der Eröffnung der 6. Preußischen Polizeiwoche Im Auditorium Maximum der Universität Berlin. Grundsätzliche Ausführung des neuen Auftrags für die Polizei im demokratischen Staat. Infolgedessen müsse heute der Polizeibeamte sich anders zur Bevölkerung einstellen, müsse er sich bewusst sein, dass er Helfer und Freund, nicht Vorgesetzter des Publikums sei. Diese preußischen Polizeiwochen dienten der fachlichen und politischen Bildung und Weiterbildung. Sie waren Teil der Reform der aus dem Obrigkeitsstaat stammenden Polizei mit Blick auf eine demokratisch überzeugte und moderne Polizei.
Im Auditorium Maximum der Universität Berlin eröffnete am 17 . Oktober morgens der Preußische Minister des Innern Grzesinski die von der Verwaltungsakademie Berlin in Verbindung mit der Freien Vereinigung für Polizei- und Kriminalwissenschaft veranstaltete 6 . Preußische Polizeiwoche .42 Nach Worten des Dankes an die Veranstalter führte der Minister, wie der Amtliche Preußische Pressedienst mitteilt, aus, dass die große Zahl der Teilnehmer (über 400) Zeugnis für den Bildungsdrang der Preußischen Polizeibeamtenschaft ablege . Die Polizeiwochen seien aus der Polizeibeamtenschaft heraus geschaffen worden in der Erkenntnis, dass die Polizei fortgesetzt selbst an sich arbeiten müsse, wenn sie den Anforderungen der heutigen Zeit genügen wolle . Die heutige Polizei habe in ganz anderem Rahmen zu arbeiten als in früherer Zeit . Der demokratische Staat habe die Bevölkerung zu steigendem Selbstbewusstsein erzogen, so dass sie nicht mehr sich bevormunden und kommandieren lasse, wie es im alten Staat der Fall gewesen sei . Infolgedessen müsse heute der Polizeibeamte sich anders zur Bevölkerung einstellen, müsse er sich bewusst sein, dass er Helfer und Freund, nicht Vorgesetzter des Publikums sei . Diese notwendige polizeiliche Einstellung erfordere einen der heutigen Zeit angepassten Werde- und Bildungsgang der Polizeibeamten, an dem seit Bestehen der heutigen preußischen Polizei sowohl von den Behörden wie von der Beamtenschaft fleißig gearbeitet werde . Wenn man die heutige Polizei mit der Polizei der Vorkriegszeit vergleiche, so sei ein erfreulicher Wandel und eine beträchtliche Entwicklung festzustellen . Dieses geänderte Verhältnis in der Einstellung von Polizei zu Volk und Volk zu Polizei käme nicht nur in dem Verhalten der beiden
IISG: G 2141 . Typoskript 1 Blatt DIN A4 . Veröffentlichung des „Amtlichen Preußischen Pressedienstes“ des Staatsministeriums, Wilhelmstraße 64 vom 17 . Oktober 1927 unter der Überschrift „Eröffnung der 6 . Preußischen Polizeiwoche . Rede des Innenministers .“ 42 Die Verwaltungsakademie Berlin wurde am 14 . Oktober 1919 gegründet und ist bis heute für die Ausund Weiterbildung der Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes und von Beschäftigten kommunaler Betriebe und Einrichtungen zuständig . 41
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gegeneinander zum Ausdruck, sondern fände auch seine Anerkennung in der Beurteilung der preußischen Polizei durch Fachmänner des Auslands . Aber das Erreichte dürfte nicht zum Stillstand verleiten, sondern es müsse weiter gearbeitet werden; freiwillige Weiterarbeit an der Aus- und Fortbildung der Polizeibeamtenschaft sei dabei ein nicht zu entbehrender Faktor . Der Polizeibeamte müsse sich stets bewusst sein, dass er der sichtbare Vertreter des Staates nach außen hin sei . Nach seinem Auftreten werde zum Teil auch der Staat beurteilt; deshalb hätten besonders die Organe des Staates, die mit dem Publikum in dauernder enger Fühlung ständen, die doppelte Pflicht, im Benehmen und Verhalten niemals zu vergessen, dass sie im Dienste – sei es im Innen- oder im Außendienst – stets als Repräsentanten des Staates aufträten . Vornehmste Pflicht der Polizei sei, Ausschreitungen und Verstößen gegen Gesetze vorzubeugen . Vorbeugen aber kann die Polizei nur dann, wenn sie im hohen Maße das Vertrauen der Bevölkerung genießt, wenn das Publikum die Überzeugung hat, dass polizeiliche Maßnahmen nur getroffen würden zu seinem Schutze, zu seinem Wohle . Auch dieses kann nur erreicht werden, wenn im Rahmen der heute als abgeschlossen anzunehmenden Polizeiorganisation unaufhörlich an der Vervollkommnung und an dem Ausbau des polizeilichen Wissens und der Polizeitechnik gearbeitet wird . Diesem Ziele soll und wird auch die 6 . Preußische Polizeiwoche dienen . Der Minister des Innern wünschte der Polizeiwoche, die er für eröffnet erklärte, einen für Lehrer und Hörer ersprießlichen und erfolgreichen Verlauf .
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Grundzüge einer demokratischen Kulturpolitik im Osten Vortrag in der Volkshochschule in Hindenburg am 26. April 192843 Aus einem Vortrag in der Volkshochschule in Hindenburg (Oberschlesien). Ausführlich geht der Innenminister auf die besondere Rolle der Provinz Ostpreußen ein, schildert eingehend die Aktivitäten Preußens und des Reiches in der Ostförderung und schließt mit den Kulturproblemen, insbesondere dem des Ausbaus der Schulen, auch der Volkshochschulen, des Theaters, Bibliothekswesens der Musik und Kunst. Eingangs geht Grzesinski kurz auf den in jenen Tagen laufenden Stettiner Fememordprozess gegen den Freikorps-Führer Edmund Heines ein und weist die Behauptung eines in diesem Prozess aufgetretenen Zeugen,
IISG G: 2140 . Typoskript mit einigen handschriftlichen Einfügungen und zahlreichen Unterstreichungen mit blauem oder rotem Stift . 22 Blatt DIN A4 . Auf der ersten Seite o . rechts steht „Hindenburg, den 26 .4 .28, 20 Uhr, Vortrag im Abschlusskursus der Volkshochschule“ . Auf der ersten Seite o . links berechnete Grzesinski die Zeit für seinen Vortrag; er multiplizierte 22 (Blatt) × 110 Sekunden und kam auf 40 1/3 Minuten .
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dass Mitglieder der preußischen Regierung Aufträge zu diesen Mordtaten erteilt hätten, mit Entschiedenheit zurück. Einige ausgewählte Abschnitte aus diesem Vortrag werden im Folgenden wiedergegeben.
[…] Wenn ich nunmehr hier über staatliche Kulturarbeit im Osten spreche, so will ich vorausschicken, dass weder der Westen noch der Osten Preußens einen Vorrang vor dem andern haben . Pflicht des Reiches und des Staates ist es, nach Möglichkeit dafür zu sorgen, die Nöte und Leiden der östlichen, nördlichen und westlichen Gebiete, die als Folgen des Friedensvertrages der neuen Grenzziehung entstanden sind, zu lindern und den Provinzen und Selbstverwaltungskörpern kräftigen Beistand bei dem Aufsuchen neuer Hilfsquellen und Arbeitsgebiete zu leisten . Der Preußische Minister des Innern ist nicht Minister für den Osten, Norden oder den Westen, sondern hat die Pflicht, sich dafür einzusetzen, dass die beschränkten Mittel des Staates gerecht und ausgleichend nach Maßgabe der vorhandenen Not verteilt werden . Osten, Norden und Westen sind Teile eines großen Ganzen und aufeinander angewiesen . Weder der Osten Preußens noch der Westen können für sich allein leben und gedeihen, nur im Zusammenhalten und im gegenseitigen Verstehen und Unterstützen werden sie als Teile des Ganzen sich erholen können von den schweren Folgen des verlorenen Krieges . Der deutsche Osten, und ich spreche heute Abend nunmehr nur von ihm, in so verschiedene Gebiete er geographisch und politisch auch zerfallen mag, ist doch durch das gleiche Schicksal mehr als früher zu einem großen einheitlichen Begriff geworden . Wirtschaftlich, kulturell, sozial und politisch haben unsere Ostprovinzen unter den Folgen des Krieges und des Versailler Vertrages schwer zu leiden gehabt, leiden noch heute darunter und sind trotz aller Anstrengungen der Bevölkerung des Ostens nicht in der Lage, aus eigener Kraft die vorhandene Notlage zu überwinden . Gewiss sind die Verhältnisse Ostpreußens, der Grenzmark Posen-Westpreußen, Ober- und Niederschlesiens und der Grenzgebiete Pommerns und Brandenburgs nicht völlig gleich . Aber bei aller Verschiedenartigkeit im Einzelnen, in der wirtschaftlichen Struktur, in der Größe der Leiden, ist schließlich die Ursache für die Not allerdeutschen Ostgebiete die gleiche . Und darum möchte ich schon an den Anfang meiner Ausführungen stellen, was eigentlich erst eine Schlussfolgerung darzustellen hätte . Eine Abhilfe für den notleidenden Osten kann nur dann Erfolg haben, wenn man sich nicht auf Hilfeleistungen für einzelne Gebiete und Teile beschränkt, sondern wenn die Gebiete des Ostens ohne Rücksicht auf Verwaltungsgrenzen als ein Ganzes angesehen und zusammengefasst werden . Gerade im Interesse der östlichen Gebiete ist eine solche Systematisierung der Ostpolitik Preußens und des Reiches erforderlich . Denn die zur Verfügung stehenden Mittel sind beschränkt und eine Verzettelung ohne einheitliche bestimmte Richtlinien würde nur zur Folge haben, dass mit den zur Verfügung stehenden Mitteln noch nicht einmal das Mögliche erreicht wird . Als Ergebnis meiner verschiedenen dienstlichen Ostgrenzen-Reisen im Vorjahre habe ich dem Preußischen Staatsministerium unter dem 7 . Juli 1927 eine umfangreiche Denkschrift vor-
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gelegt und in dieser besonderen Wert darauf gelegt zu betonen, dass eine großzügige, nach einheitlichen Gesichtspunkten geführte Ostpolitik ein dringendes wirtschaftliches und nationales Erfordernis und die Voraussetzung für eine wirksame Abhilfe ist . Das Staatsministerium hat dem zugestimmt . Es kommt also darauf an, Ostpolitik nach einem bestimmten, auf Jahre hinaus festgelegten Plan zu betreiben, sich auf eine Politik der langen Sicht einzustellen . Der Ausgang des Krieges hat im gesamten Osten unseres Vaterlandes neue Verhältnisse geschaffen, er hat auch jenseits der Grenze Altes zerstört und Neues gebildet . Für uns gilt es, aus dem in den deutschen Ostgebieten nicht durch unseren Willen geschaffenen Zustand nach Maßgabe unserer Kräfte das möglichst Beste zu machen . Nicht nur die deutschen östlichen Grenzmarkgebiete, sondern ganz Preußen und Deutschland sind sich klar und einig darüber, dass es der Bevölkerung des Ostens nicht möglich sein wird, die erlittenen Schäden aus eigener Kraft gut zu machen und zu beheben . Ein Teil der im Osten herrschenden Not ist als unmittelbare Kriegsfolge zu betrachten . Reich und Preußen haben ihre Pflicht, hier tätig helfend einzugreifen, anerkannt, haben es aber nicht bei diesem Anerkennen gelassen, sondern durch die Tat bewiesen, dass es ihnen mit der Absicht zu helfen ernst ist . Nicht immer kann das Wollen mit dem Können in völligen Einklang gebracht werden, denn über allen Plänen steht sowohl im Reich wie in Preußen die bittere Notwendigkeit, aufs äußerste hauszuhalten mit den Mitteln, die ja von der gesamten deutschen Bevölkerung aufgebracht werden müssen . Und es ist ja wohl nicht notwendig besonders zu betonen, dass die uns infolge des verlorenen Krieges auferlegten Lasten an sich schon so hoch sind, dass alle Kräfte angespannt werden müssen, um trotzdem Staat und Wirtschaft lebensfähig zu erhalten . Es darf bei der Wertung aller Hilfsmaßnahmen überhaupt nie übersehen werden, dass Deutschland den Krieg verloren und neben den sonst entstandenen Fürsorgelasten jetzt im Beharrungszustand pro Jahr 2 .500 Millionen Reichsmark auf Jahre hinaus in bar an die ehemaligen Kriegsgegner zahlen muss, was etwa die Hälfte der Summe des gesamten Bruttoetats des Reiches in der Vorkriegszeit ausmacht . Und noch eines möchte ich kurz gleich jetzt hervorheben . Der nach dem Zusammenbruch 1918 entstandene deutsche Volksstaat, vor allem der Freistaat Preußen, der aufgebaut ist auf den Grundsätzen sozialer, demokratischer und republikanischer Anschauungen, muss es ablehnen, eine Ostmarkenpolitik alten Stils einer […]44politik zu treiben, die ja auch seinem innersten Wesen entgegenstehen würde . Die Ostmarkenpolitik der Vorkriegszeit hat viele verhängnisvolle Fehler begangen, da sie vor allem mit den Mitteln des Zwanges und des Druckes arbeitete . Ihre Ziele, die Ausrottung und Unterdrückung von Minderheiten, verwirft der heutige Staat bewusst und verurteilt Bestrebungen solcher Art aufs schärfste, ob sie nun innerhalb oder außerhalb der deutschen Grenzen zu finden sind . Das Ziel unserer heutigen Hilfsmaßnahmen und
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Nicht entzifferbares Wort .
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Bestrebungen für den und im deutschen Osten kann nur sein: den Staatsbürgern aller sozialen Schichten das Leben in ihrer östlichen Heimat lebenswert zu gestalten, die durch die neue Grenzziehung entstandenen Schäden zu lindern und zu heilen und im friedlichen Wettbewerb mit fremdsprachiger Minderheiten kulturellen Zielen zuzustreben . Nur dadurch kann die deutsche Kultur gehalten und gefestigt werden . Dieses friedfertige Wetteifern mit Angehörigen fremdsprachigen Minderheiten und anderer Kulturen ist das Lebensrecht jedes Volkes und durchaus in Einklang zu bringen mit der peinlichen Wahrung der Rechte, die Reichs- und Staatsverfassung sowie die internationalen Abmachungen den fremdsprachlichen Minderheiten ausdrücklich gewähren . Jeder Zwang und jede Bedrückung verstößt gegen den Geist der Verfassung und internationale Verträge, die den Schutz von Minderheiten zum Inhalt haben . So ist unsere heutige Politik im Osten etwa das Gegenteil von dem, was sich im deutschen Osten die früheren Machthaber im deutschen Lande zum Ziele setzten . Wir wollen erhalten und aufbauen auf dem, was uns geblieben ist, wolle niemand in seinen Rechten zu nahetreten und bedrohen, solange er sich den für alle Staatsbürger ohne jeden Unterschied geltenden Gesetzen fügt und für sich nur beansprucht, was recht und billig ist und was ihm zusteht . Auf dieser Basis allein kann, glaube ich, hier im Osten wie überhaupt eine segensreiche und von Erfolg begleitete Arbeit geleistet werden . Nur wenn alle Kräfte in der Bevölkerung in diesem Sinne zusammengefasst werden und sich an das Werk machen, dann wird dem Osten und unserem gesamten Vaterland endgültig Hilfe geschafft werden können . […] [Grzesinski stellte im Folgenden die Nachkriegslage in den östlichen Provinzen eingehend, besonders die Situation Ostpreußens, dar.]
Eine Provinz ist dabei ganz besonders schwer betroffen und geschädigt: Ostpreußen . Ostpreußens Nöte werden im Rahmen der Ostfragen immer eine besondere Stelle einnehmen, weil die Provinz Ostpreußen infolge der Abschnürung durch den Korridor völlig vom Mutterlande abgeschnitten ist und ihr dadurch Sonderlasten auferlegt sind wie keinem anderen deutschen Gebiete . Ostpreußen hat nicht nur den Zusammenhang mit dem einst zu ihm gehörigen Gebiete durch Errichtung von Grenz- und Zollmauern verloren, sondern auch die direkte Verbindung mit dem Mutterlande eingebüßt, mit dem es an keiner Stelle mehr zusammenhängt . Der Korridor hat um diese deutsche Provinz eine Fessel geschlossen, die seine Wirtschaft zum Erliegen zu bringen droht . Die insulare Lage Ostpreußens gibt Ostpreußen unter den anderen Not leidenden östlichen deutschen Gebieten eine besondere Stellung . Deshalb muss Ostpreußens Not im Rahmen der gesamten Ostmarkenpolitik stets besonders gewürdigt werden . Ich bin sicher, dass die Bewohner der übrigen östlichen Gebiete Preußens und Deutschlands diese besondere Lage Ostpreußens stets anerkennen und verstehen
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werden, so sehr sie auch unter den Nöten ihres eigenen engeren Heimatgebietes leiden und seufzen werden . […] [Anschließend begründete Grzesinski die Verpflichtung der besonderen Förderung des Ostens seitens der preußischen Regierung und verteidigte sich gegen Kritik und Vorwürfe.]
Nicht auf die mehr oder weniger erschöpfende Darlegung der Einzelheiten kommt es an, sondern ganz einfach auf die Erkenntnis in den östlichen Gebieten sowohl wie in den übrigen Gebieten unseres Vaterlandes, dass die Nöte und Leiden des Ostens letzten Endes auch Nöte und Leiden unseres gesamten Staates sind, dass das deutsche Volk einfach um seine Selbsterhaltung willen es sich nicht gestatten kann, hier im deutschen Osten die Verhältnisse, so wie sie nun einmal geschaffen sind, treiben zu lassen . Geht der Osten zu Grunde, ist auch das übrige Deutschland verloren! Diese Erkenntnis hat sich jetzt wohl in allen maßgeblichen Teilen der Wirtschaft, der Politik und der Regierung durchgesetzt . Dass dem so ist, ist nicht zuletzt dem Wirken der preußischen Staatsregierung und der preußischen Verwaltungsbehörden zu danken, die schon gleich in der ersten Zeit nach dem Zusammenbruch unermüdlich daran gearbeitet haben, überall Auge und Ohr zu öffnen für die Notlage der östlichen Gebiete, für die Verpflichtung des gesamten übrigen Deutschlands, hier helfend einzuspringen . Die Preußische Staatsregierung hat in den vergangenen Jahren immer wieder betont, dass der größte Teil der in den Ostgebieten entstandenen Nöte unmittelbar zurückzuführen ist auf die Folgen des Krieges, auf die uns auferlegten neuen Grenzen als Nachkriegsfolgen . Hierfür hat das Reich, also ganz Deutschland, dass ja zugleich 4/7 Preußen ist, den Schadensersatz zu übernehmen . Und mit allem Nachdruck ist von der Preußischen Staatsregierung stets der Grundsatz vertreten worden, dass das Reich die Schadensersatzpflicht hat und dass es sich nicht dabei um Geschenke oder mitleidige Gaben handle, sondern um die Erfüllung einer moralischen und einer Rechtspflicht . Dass Preußen an dem Wiederaufbau des Ostens selbst aus eigenen Mitteln mitzuhelfen gewillt ist und sich verpflichtet fühlt, hat es ebenfalls stets bekundet und auch durch die Tat bewiesen . In den letzten Jahren hat auch das Reich seine Verpflichtung zur Gutmachung der Schäden anerkannt und sowohl in den Jahren 1926 wie 1927 bereits erhebliche Mittel gezahlt . Und auch für das Jahr 1928 sind ja namhafte Mittel für eine Hilfsaktion für den Osten bereitgestellt . Es ist also eine tendenziöse Stimmungsmache, wenn behauptet wird, Reich und Staat haben nach dem Zusammenbruch die östlichen Gebiete vernachlässigt, ja, mit Absicht verkümmern lassen wollen . Das Gegenteil ist richtig . Ich will auf die besonderen Vorwürfe, die gerade in diesem Zusammenhang gegen die preußische Staatsregierung gerichtet werden, nicht näher eingehen . Aber eines möchte ich in diesem Zusammenhang sagen: Wenn von einer kulturellen und wirtschaftlichen Rückständigkeit im Osten geredet wird, wenn die Bevölkerung der östlichen Gebiete diese selbst empfindet und sie zurückführt auf eine
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gewisse Vernachlässigung des Ostens von Seiten der zentralen Regierungsstellen, so muss hinzugefügt werden, dass die Vernachlässigung des Ostens in sozialer, kultureller und wirtschaftlicher Beziehung der Zeit vor dem Krieg angehört . […] [Grzesinski entwickelt im Folgenden seine Vorstellungen einer systematischen Förderung der Ostgebiete, von der Eisenbahn- und Tarifpolitik, der Steuer- und Finanzpolitik bis hin zum Ausbau des Wasserstraßennetzes und zu Stromunterhaltungs- und Regulierungsmaßnahmen. Von großer Wichtigkeit ist ihm die Schul- und Bildungsfrage.]
Dabei darf und kann man bei aller gebührenden Anerkennung der überragenden Wichtigkeit der Wirtschaft gerade im Rahmen der stets von mir geforderten und vertretenen großzügigen und planvollen Ostpolitik nicht die Kulturprobleme des Ostens vergessen . Das gesamte Schulwesen des Ostens muss ausgebaut und bedeutend gehoben werden . Gerade dieses Gebiet lag vor dem Krieg sehr im Argen . Die Verkümmerung der Schulverhältnisse im gesamten Osten war im alten Preußen geradezu sprichwörtlich geworden . Einsichtige und vorausschauende Männer haben auf die dadurch für den Osten und für ganz Deutschland drohenden Gefahren häufig und nachdrücklich, aber leider vergeblich hingewiesen . Eine gute und systematische Schule, die selbst in kleinsten Dörfern den geistigen und kulturellen Mittelpunkt nicht nur für die heranwachsende Jugend, sondern auch für die erwachsenen Bewohner bilden kann, ist der beste Wegbereiter für jegliche Kulturpolitik . Die preußische Staatsregierung hat nach dem Kriege die Wichtigkeit der Schule durchaus erkannt und sich bemüht, auf diesem hier so sehr im Argen liegenden Gebiete Wandel zu schaffen . Mit welch großen Schwierigkeiten aber gerade auf dem Gebiete des Schulwesens und des Schulbauwesens zu kämpfen ist, ist ja bekannt . Denn zu den durch die Jahrzehnte lange Vernachlässigung an sich schon mangelhaften Zuständen kam noch hinzu, dass durch die neue Grenzführung eine Unzahl von Schulgebäuden uns genommen, jahrelang Schulgebäude ihrem eigentlichen Zweck entzogen wurden, weil sie für die Unterbringung von Flüchtlingen zur Verfügung gestellt werden mussten . Dadurch war natürlich ein Aufbau und ein Ausbau auf diesem Gebiete unendlich behindert . Aber gerade weil hier der Notstand besonders schlimm war, muss und wird mit verdoppelter Kraft an seine Beseitigung herangegangen werden . Preußen ist arm geworden und kann sich infolgedessen Luxusbauten nicht gestatten . So muss natürlich auch beim Bau von Schulen heute sparsam gewirtschaftet werden . Sparsam, d . h . unter Vermeidung unnötigen und zwecklosen Beiwerkes . Immerhin wird der Notwendigkeit Rechnung getragen werden müssen, dass auch die Schulbauten im Äußeren wie in der Ausstattung dazu beitragen, dass gerade auch den Kindern der Armen, die ohnehin eine ziemlich freudlose Jugend in nicht immer angenehmen Wohnräumen verbringen, ein Gefühl für das Ästhetische und ein Verlangen nach Schönem und Gutem durch die Umgebung anerzogen wird . Sparsamkeit verhindert auch nicht, dass Schulen mit hellen und freundlichen Räumen
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neben dem Unterricht auch zweckmäßig so eingerichtet werden können, dass sie auch der schulentlassenen Jugend noch zum Aufenthalt und zu geselligen und belehrenden Zusammenkünften dienen können . Ohne Staatshilfe kann auch das Berufs-, Fach-und Fortbildungsschulwesen in Stadt und Land nicht fortgeführt werden . Sie wissen, dass gerade auch diesem Zweige des Bildungswesens der preußische Staat im Osten seine besondere Fürsorge hat angedeihen lassen . Der erzieherische und kulturelle Wert dieser Fortbildung ist von der preußischen Staatsregierung stets anerkannt worden . Denn durch Vertiefung und Verbreitung des Wissens um deutsche Kultur und deutsches Können wird die beste Grenzlandpolitik im Osten gemacht . Hierzu gehören auch alle Maßnahmen und Unterstützungen, die der Staat den Volkshochschulanstalten, den Theatern und all den Vereinigungen, die sich die Pflege des Büchereiwesens, der Musik und Kunst zur Aufgabe gemacht haben, angedeihen lässt . Liebevolle Fürsorge für diese kulturellen Einrichtungen, ihre Ausgestaltung und Verbreiterung sind ein weiteres Mittel, um deutsche Kultur den Angehörigen kultureller Minderheiten im guten Lichte erscheinen zu lassen . Wird deutsche Kunst, deutsche Wissenschaft auf diese Weise auch den Angehörigen der Minderheiten als kennen-und begehrenswert erscheinen, so wird ein Wetteifern in edlen Darbietungen verschiedener Kulturen schließlich zum Besten der gesamten Bevölkerung der östlichen Gebiete sein . […] [Grzesinski behandelt anschließend das Wohnungs- und Gesundheitswesen.]
Ich wollte Ihnen mit diesen kurzen Strichen gezeigt haben, dass ich, und mit mir die gesamte Preußische Staatsregierung, der Auffassung bin, dass Ostpolitik, dass Grenzlandpolitik nur sinnvoll ist, wenn Hand in Hand mit den Maßnahmen wirtschaftlicher Art auch die Arbeit am Aufbau und der Verbreiterung deutscher Kultur geht . Dass auch hier auf kulturellem Gebiete im ganzen Osten planvoll gearbeitet werden muss, dass man erst die kulturelle Basis zu schaffen hat, wenn man nach oben bauen will, ist klar . Theater und Konzerte, wissenschaftliche Vorträge haben keinen Zweck, wenn den breiten Volksmassen nicht durch sorgfältige Schulpflege ermöglicht wird, an diesen Darbietungen wirklich mit Verständnis und mit Genuss teilzunehmen . Wissen und Können müssen allen deutschen Staatsbürgern mitgeteilt werden . Jedenfalls muss jeder die Möglichkeit haben, sich auch geistig das Rüstzeug zu verschaffen, mit dem er tätig am deutschen Geistesleben mitarbeiten und teilnehmen kann . Preußen hat gerade in seiner neuen Staatsform als demokratisch-republikanischer Volksstaat ein Lebensinteresse daran, in jedem einzelnen Staatsbürger im Osten das Bewusstsein zu erwecken, dass er Mitglied eines Volkes von Kultur und geistigem Können ist . Denn politische Reife und politische Urteilsfähigkeit sind unzertrennlich verknüpft mit Wissen und Bildung . Und der demokratische Staat arbeitet nur an seiner Vertiefung, an der Verbreiterung seiner Basis im Volksbewusstsein, wenn er alles daran setzt, hier in den östlichen Gebieten Preußens den Staatsbürgern zu ermöglichen, an den Werten geistigen Fortschritts lebendig und gestaltend, aufnehmend und verstehend mitzuarbeiten .
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Preußen als Hort des demokratisch-republikanischen Staatsgedankens Ein Bericht über den Wahlkampfauftritt Grzesinskis in Magdeburg 192845 Vor den Reichstagswahlen und den preußischen Landtagswahlen am 20. Mai 1928 trat Innenminister Grzesinski mehrfach öffentlich auf. Unter der Überschrift „Auf zum Kampf! Die Trommel ruft. Die Banner wehn! Rüstet zum Wahltag 20. Mai. Das Volk empfängt seinen Minister“ und neben einer Zeichnung eines endlosen, unter Trommelschlag und schwenkenden Fahnen schreitenden Demonstrationszuges berichtete die sozialdemokratische „Volksstimme“ zwei Tage später ausführlich über die Versammlung und zitierte dabei unverkennbar ganze Passagen aus der Rede Grzesinskis. Da das Manuskript dieser Rede nicht ermittelt werden konnte, geben wir diesen Bericht der Zeitung hier wieder.
Vor dem Kriege war ein preußischer Staatsminister mindestens gottähnlich . Von der herrschenden Junkerklasse war er hundertmal geprüft auf vaterländisch-monarchistische – lies junkerliche – Gesinnung . Für ihn war das Volk ein Dreck, die Beamten mussten ihm geistesverwandt und untergeben sein . Wehe, wenn einer von ihnen einen Anflug von freiheitlicher Gesinnung offenbarte . Ohne Gnade wurde er zur Strecke gebracht . Die Blaublütigen, die Junker herrschten durch das Dreiklassenwahlunrecht und ließen keinen andern an dieser Herrschaft teilhaben . Natürlich war das keine Futterkrippenwirtschaft … Die ist erst ein Gewächs der Revolution . Als am Ende des furchtbaren Völkermordens das Volk aufstand und den ganzen Plunder der feudal-kaiserlichen Herrschaft ins Meer ewiger Vergangenheit warf, musste auch die Junkerherrschaft in Preußen einem demokratisch-republikanischen Regierungssystem Platz machen . Seit dem November 1918 gibt es keine Junkerminister mehr in Preußen; seit dieser Zeit bestimmt das souveräne Volk, wer an der Spitze seines Staates stehen soll . Seit dem November 1918 ist das für die Junker unglaubliche Wirklichkeit: Männer des Volkes regieren – und nicht schlecht im Interesse der Gesamtheit . Sie haben neben vielen andern Zöpfen aus Urvätertagen auch den Zopf einer Beamtenwirtschaft verbrannt, der nur echt preußische Untertanen in der Verwaltung duldete . Und seit dieser Zeit gibt es eine Futterkrippenwirtschaft … So behaupten es wenigstens die Deutschnationalen, vor allem bei Wahlzeiten . Wenn das Volk kraft der Demokratie selbst bestimmt, wie es regiert sein will, dann nimmt es an den Geschicken des Staates Anteil, dann hat es vor allem auch ein Interesse daran, aus dem Munde seiner Regierungvertrauensleute Rechenschaft über ihre Tä-
Aus: Volksstimme . Tageszeitung der Sozialdemokratischen Partei im Regierungsbezirk Magdeburg 39 . Jg ., Nr . 101, Beilage zur Volksstimme, vom Sonntag, 29 . April 1928 . (zitiert nach IISG: G 2141) . Vorhanden war dort nur die erste Seite des Berichts, die mitten in einem Satz endet . Weder im Stadtarchiv Magdeburg noch in der Digitalfassung der „Volksstimme“ bei der Friedrich-Ebert-Stiftung ist diese 1 . Beilage erhalten .– Die im Bericht gesperrt oder verstärkt hervorgehobenen Worte und Passagen werden hier kursiv gesetzt .
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tigkeit zu hören . So hatte denn die Magdeburger Sozialdemokratie zum Freitagabend den preußischen Innenminister, den Genossen Albert Grzesinski zu einer öffentlichen Versammlung eingeladen . Die Reklametrommel wurde zu dieser Versammlung nur wenig gerührt . Ein paar Tage klebten Plakate an den Säulen und dann erschienen in der ‚Volksstimme‘ einige Ankündigungen . Und doch kamen die werktätigen Männer und Frauen zu Tausenden, um ihren Minister zu hören, ja ihren Minister. Schon lange vor 8:00 Uhr war der große ‚Hofjäger-Saal‘ dicht besetzt . Im Garten hatten eine Abteilung und die Spielleute des Reichsbanners Aufstellung genommen . Ein kurzes ‚Achtung!‘ klingt in den Frühlingsabend . Die freiwilligen Soldaten der Republik begrüßen mit dem Reichsbannermarsch ihren Kameraden, ihren Genossen, ihren Kampfgefährten, der mit ihnen aus Kümmernis und Dunkelheit die Republik, die Demokratie, dieses heiligste Recht des Volkes geborgen hat . Im Saale wurde Genosse Grzesinski unter den Klängen der Internationale stürmisch begrüßt . Dieses Händeklatschen, dieses Hochrufen kam vom arbeitenden, demokratischen Volke und galt dem Volksminister, galt einem Manne, der sich ohne Examina hochgearbeitet hat, der mit fester Hand die Staatsgeschicke zu lenken versteht, galt dem Sohne des Volkes . Die Ausführungen des Genossen Grzesinski wurden mit größter Ruhe angehört . In der Diskussion betätigten sich zwei Kommunisten und ein Parteiloser als Spaßmacher . Ihre lebhaften mit Armbewegungen begleiteten Versuche, ihren Kohl und ihren Dreck gegen die Sozialdemokratie loszuwerden, beantworteten die Versammlungsbesucher mit lautem, unmissverständlichem Lachen . Die Kommunisten haben aus der Versammlung die deutliche Lehre mit nach Hause nehmen können, dass die Magdeburger Arbeiter von ihnen nichts mehr wissen wollen; als Genosse Grzesinski in seinem Schlusswort aufforderte, am 20 . Mai den kommunistischen Arbeiterzersplitterern durch restlose Stimmabgaben für die Sozialdemokratie einen Denkzettel für ihr Treiben zu geben, erntete er stürmischen Beifall . Die Versammlung war ein Erfolg für die Sozialdemokratie; sie war nach der BeimsVersammlung die zweite große Kundgebung für die praktische Arbeit der Sozialdemokratie .46 Die Versammlung wurde vom Magdeburger Konzert-Orchester und von den Arbeitersängern eingeleitet . Genosse Wittmaack47 eröffnete die Versammlung . Die Wahlbewegung nimmt immer stärkere Formen an . Immer deutlicher wird dabei die Volksstimmung: Am 20 . Mai bekommt die Reaktion eine vernichtende Niederlage . Dann nahm Genosse Grzesinski, wiederum stürmisch begrüßt, das Wort . Am 20 . Mai bestimmt das deutsche Volk, wie in den nächsten vier Jahren der politische Kurs im Reich, in Preußen und einigen anderen Ländern gesteuert werden soll . Es gilt bei diesen Wahlen, das nach den Inflationswirren 1924 verloren gegangene Terrain wieder-
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Hermann Beims (1863–1931), SPD, Oberbürgermeister in Magdeburg (1919–1931) . Ernst Wittmaack (1878–1942), SPD, MdL 1919–1933 .
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und Neues hinzu zu erobern . Uns Sozialdemokraten wäre es lieb gewesen, wenn die preußischen Landtagswahlen unabhängig vom Reiche stattfinden würden, um einmal eine von Reichseinflüssen ungetrübte Volksabstimmung über unsere Tätigkeit in der Preußenregierung zu bekommen . Wir würden dabei sehr gut fahren . Andererseits haben wir die Hoffnung, dass die Erfolge und Ergebnisse der preußischen Regierungsarbeit auch bei den Reichstagswahlen für sozialdemokratische Stimmabgabe werben, damit eine solche fruchtbringende Arbeit auch im Reiche möglich ist . Es gibt Leute, die reden und schreiben von Wahlmüdigkeit. Sie behaupten, das Volk würde zu oft an die Wahlurnen gerufen . Sie gehen dabei von der verkehrten Ansicht aus, dass die Wahlen nicht zur Ausübung des Stimmrechts, sondern zur politischen Selbstverantwortung erziehen sollen, und deshalb muss recht oft das Volk befragt werden .48 Die Reichs-und Länderverfassungen geben dem deutschen Volke das freieste Wahlrecht, sie geben ihm damit das weiteste Recht, über sein politisches Geschick selbst zu entscheiden, sie legen ihm damit aber auch die schwere Verantwortung auf, dieses Recht im Interesse des werktätigen Volkes richtig zu gebrauchen . Die Sozialdemokratie hat sich als demokratische Partei mit Freude der politischen Aufklärung des Volkes gewidmet . Hoffentlich erntet sie am 20 . Mai reichlich von dieser Saat . Unser Wahlkampf richtet sich hauptsächlich gegen den Rechtsblock unter Führung der Deutschnationalen . Es gilt heute genauso wie in den Tagen nach dem RathenauMord das Wort des damaligen Reichskanzlers Joseph Wirth: ‚Der Feind steht rechts!‘
Die Deutschnationalen sind die schlimmsten Feinde des Volkes . Sie haben es mit Geschick verstanden, ihr wahres Gesicht hinter einem Schleier von Redensarten einigen Volkskreisen zu verbergen . Durch die Presse in der Provinz lassen sie auf dem Land und in der Kleinstadt immer und immer wieder die Meinung verbreiten, sie seien auch eine Volkspartei . Aber gerade die Handlungen der Deutschnationalen als Regierungspartei im Reiche haben den Beweis erbracht, dass sie niemals so volksfeindlich waren wie heute . Fünf Vierteljahre waren die Deutschnationalen in der Reichsregierung . Die Bilanz dieser Bürgerblockregierung ist: Sie hat die Zölle und damit den Brotpreis erhöht; die Geschädigten sind die Arbeiter, Angestellten, Beamten, die Handwerker und Gewerbetreibenden und die Bauern, den Nutzen haben die Großgrundbesitzer . Sie hat die Massensteuern vermehrt und die Besitzenden entlastet, sie hat die Arbeitszeit verlängert, sie hat den Phöbus-Skandal geschehen lassen und das Millionengeschenk an die Ruhrindustriellen gedeckt . Die Sozialdemokratie hat mit aller Kraft gegen diese Schädigungen angeVermutlich gibt dieser Satz Grzesinskis Rede nicht richtig wieder; die Aussage erschließt sich m . E . nicht . Vielleicht hat Grzesinski gesagt oder sagen wollen: „Sie gehen dabei von der verkehrten Ansicht aus, dass die Wahlen ausschließlich zur Ausübung des Stimmrechts gedacht sind, nicht jedoch auch zur politischen Selbstverantwortung erziehen sollen, weshalb sie recht oft stattfinden können .“
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kämpft, ihr ist es zu danken, dass das Volk nicht noch größere Lasten aufgepackt bekommen hat, dass es den Hungerriemen nicht noch enger schnallen muss .49 Die große Sehnsucht der Deutschnationalen ist es seit der Revolution, wieder in die preußische Regierung zu kommen, das 1918 verschwundene Paradies der Junkerherrschaft wieder erstehen zu lassen . Durch Reden und Schriften der Deutschnationalen zieht sich wie ein roter Faden das Stoßgebet: Was nutzen uns Ministersessel in der Reichsregierung, wenn wir in Preußen nichts zu sagen haben! Trotz bereitwilligster volksparteilicher Hilfe ist es den Deutschnationalen nicht möglich gewesen, die preußische Regierungsgewalt wieder an sich zu reißen . Die Weimarer Koalition ist in Preußen so festgefügt, dass sich die Deutschnationalen daran die Zähne ausgebissen haben . Die große Bedeutung, die die Deutschnationalen der preußischen Regierung beimessen, ist für uns Sozialdemokraten nur ein Beweis für ihre Wichtigkeit, sie ist ein Zeugnis dafür, wie recht die Sozialdemokratie getan, dass sie ihre Position in der Preußenregierung mit allen Mitteln gehalten hat . Preußen ist ein Machtfaktor in der deutschen Politik . Die Sozialdemokratie ist in richtiger Erkenntnis dieser Tatsache immer bestrebt gewesen, in der Preußenregierung drin zu sein, manchmal nur, trotzdem sie die stärkste Landtagsfraktion ist, nur mit einem Minister . Einmal war die Sozialdemokratie kurze Zeit in Preußen nicht in der Regierung . Es war vom April bis November 1921 beim Kabinett Stegerwald-Dominicus . Von diesem Kabinett ist genug republikanisch-demokratisches Porzellan zerschlagen worden . Das darf nie wieder vorkommen! Preußen ist und muss ein fester Hort des demokratisch-republikanischen Staatsgedankens sein! Man sollte meinen, alle Parteien links von der Deutschen Volkspartei sind davon durchdrungen . Dem ist nicht so . Ginge es nach den Kommunisten, wäre Preußen schon längst kein republikanisches Instrument mehr! Die Kommunisten haben in letzter Zeit am eigenen Leibe spüren müssen, wie gefährlich eine preußische Regierung mit einem Keudell und Hergt als Minister sein könnte .50 Den Kommunisten scheint es in ihrem blinden Hasse gegen die Sozialdemokratie nicht bewusst zu werden, dass sie die Verbündeten der Reaktion im Kampfe gegen Volkswohl und Freiheit sind . Immer haben die Kommunisten gegen die preußische Koalitionsregierung im Bunde mit den Deutschnationalen und der Volkspartei angekämpft . In den letzten Tagen haben sie eine Stellung eingenommen, die auf keine politische Kuhhaut geht . Bei den Verhandlungen über das von Keudell geplante Verbot des Roten Frontkämpferbundes im Reichstagsausschuss haben sie dem deutschnationalen Keudell zu einem Siege verholfen, haben sie so abgestimmt, dass das Verbot bestehen bleibt, haben sich also selbst geschlachtet . Das hindert natürlich die kommunistischen Zeitungen nicht daran, kühn
Es handelte sich um ein geheimes Marine-Aufrüstungsprogramm, das in Folge des Zusammenbruchs der Finanzkonstruktion bei der Film-Phöbus-AG publik wurde . 50 Walter von Keudell (1884–1973), DNVP, Landrat in Königsberg, am Kapp-Putsch beteiligt, MdR (1924–1930), Reichsminister des Innern (1927–1928) . – Oskar Hergt (1869–1967), DNVP, MdR (1920– 1933), Reichsjustizminister (1927–1928) . 49
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zu behaupten, die Sozialdemokraten wären am Verbot des Roten Frontkämpferbundes schuldig . Schon um der Wahlbewegung willen würde sich kein Sozialdemokrat finden und den Rot-Frontkämpfer-Bund auflösen . Denn ein Verbot wirkt doch nur so, dass aus Protest gegen dieses Verbot manch einer kommunistisch wählt . Das ist ja auch der Zweck der Keudell‘schen Übung: Die Kommunisten sollen eine zugkräftige Wahlparole erhalten, damit die Sozialdemokratie Stimmen nach links abgeben muss . Den Deutschnationalen liegt daran, die Kommunisten zu stärken auf Kosten der Sozialdemokraten . Denn sie sind mit ihren dauernden Weltrevolutionsreden ungefährlich; gefährlich ist nur die Sozialdemokratie mit ihrer praktischen Arbeit. Die Sozialdemokratie hat sich von jeher auf praktische Arbeit eingestellt . Praxis und Vernunft haben ihrer Betätigung immer die Richtung gegeben . Und nur dadurch ist der ständige, unaufhaltsame Aufstieg der Arbeiterklasse möglich gewesen . Die Rechtsparteien haben in den letzten Jahren nichts unversucht gelassen, um die Arbeiter der Sozialdemokratie abspenstig zu machen . Das ist aber ein Versuch geblieben; sie haben damit eine klägliche Pleite erlebt . Mehr denn je vertraut die Arbeiterschaft ihre Geschicke der Sozialdemokratie an, gerade durch die Beweise praktischer erfolgreicher Arbeit in Preußen . Die Arbeiterschaft lässt sich mit den schönsten Versprechungen nicht auf die nationalistische Leimrute locken . Sie vergisst nicht das monarchistische System der Vorkriegszeit; sie vergisst nicht die 12 Jahre Sozialistengesetz und die Polizeischikanen gegen die Arbeiterbewegung und ihre Führer . Die Arbeiter vergessen nicht, dass sie vor dem Kriege von der preußischen Verwaltung und in starkem Maße durch das schändliche Dreiklassenwahlrecht auch von der politischen Betätigung ausgeschlossen waren . Auch noch im Kriege, als die Arbeiter auf den vielen Schlachtfeldern Leben und Gesundheit opferten, als sie mit ihrem Blute bekannten, dass sie ihr Vaterland wirklich lieb hatten, dass sie keine vaterlandslosen Gesellen waren, wurde es durch die Junker verhindert, dass in Preußen das Volk durch gleiches Wahlrecht politisch mündig gesprochen wurde . Dieses himmelschreiende Unrecht hat zum guten Teil die Novemberrevolution veranlasst [?]51 . Rund 10 Jahre hat das Preußenvolk das gleiche Wahlrecht und es hat sich bewährt . Die Arbeiterschaft hat … [Hier endet die erste Seite; eine weitere Seite war nicht zu ermitteln].
Offensichtlich ein Schreibfehler; ursprünglich lautete der Satz vermutlich: «Dieses himmelschreiende Unrecht hat zum guten Teil die Novemberrevolution beseitigt .»
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Polizei und mediale Öffentlichkeit Vortrag auf der Polizeiwoche in Köln am 192852 Eröffnungsvortrag für die Preußische Polizeiwoche in Köln, die von der „Freien Vereinigung für Polizei- und Kriminalwissenschaft“ als Fortbildungseinrichtung für Polizisten veranstaltet wurde. Zur Selbsterziehungsaufgabe des einzelnen Polizeibeamten und über die notwendig enge Zusammenarbeit zwischen Polizei und Presse.
Meine sehr geehrten Herren! Mit Freuden nehme ich die Gelegenheit wahr, hier in Köln, der Hauptstadt des Rheinlandes, die Preußische Polizeiwoche zu eröffnen . Die große Zahl der Teilnehmer, die sich hier wie bei den vorigen Polizeiwochen eingefunden hat, legt beredtes Zeugnis ab für den Bildungsdrang der Polizeibeamtenschaft, die erfreulicherweise jede Gelegenheit benutzt, um ihr Wissen zu vervollkommnen . Gerade die Einrichtung der Polizeiwochen ist für die preußische Polizei ehrend, denn sie sind von der preußischen Polizeibeamtenschaft selbst geschaffen worden aus der Erkenntnis, dass eine moderne Polizei im heutigen Staate fortgesetzt selbst an sich arbeiten müsse, wenn sie den an sie herantretenden Anforderungen genügen wolle . Damit zeigten die Polizeibeamten auch als Einzelpersonen ihre innige Verbundenheit mit der Behörde und ihr Streben, auch als Einzelne mitzuarbeiten am Aufbau und der Hebung des Ganzen . Dieses Bedürfnis, Erziehung- und Bildungsarbeit an sich selbst zu leisten, führte zur Gründung der ‚Freien Vereinigung für Polizei und Kriminalwissenschaft‘, die mit Unterstützung des Preußischen Ministeriums des Innern für die Fortbildung der Polizeibeamten aller Sparten sich große und bleibende Verdienste erworben hat . Stillstand ist Rückschritt – das gilt für jeden Beruf, das gilt aber vor allem für den Beruf des Polizeibeamten, der als staatliches Exekutivorgan tausendfach mit der Bevölkerung täglich in enge Berührung kommt . Die Polizei ist verknüpft mit Wirtschaft und Technik, mit jeder Erscheinungsform des öffentlichen Lebens . Und so wie diese dauerndem Wandel unterworfen sind, so muss die Polizei ebenfalls ständig sich bemühen, mit allen Fortschritten und Änderungen auf diesen Gebieten Schritt zu halten, wenn sie ihre ungeheuer vielseitigen Aufgaben wirklich erfüllen will . Im neuen Preußen, das entsprechend dem erst jetzt wieder erneut bekundeten Willen seiner Bevölkerung demokratisch-republikanisch regiert wird, kann das Exekutivorgan des Staates selbstverständlich ebenfalls nur im gleichen Sinne aufgebaut und tätig sein .53 Und es
IISG: G 2140 . Typoskript 5 Seiten DIN A4 mit einigen handschriftlichen Einfügungen . Vortrag anlässlich der Eröffnung der Polizeiwoche in Köln am 3 . Juni 1928 . Die im Manuskript unterstrichenen oder gesperrt hervorgehobenen Worte sind hier kursiv wiedergegeben . 53 Die Koalitionsregierung setzte unter Ministerpräsident Otto Braun ihre Tätigkeit fort; die SPD hatte bei den Landtagswahlen am 20 .5 .1928 4,1 % der Stimmen hinzugewonnen, während Zentrum und DDP geringe 52
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ist das beste Lob, das man der Polizei sagen kann, dass ihr Streben stets darauf gerichtet ist, eine ‚Volkspolizei‘ zu werden, die jenen Beigeschmack des Schreckens und der Furcht verloren hat, der im Polizeistaat einst der Polizei anhaftete . Die heute notwendige Einstellung der Polizei zur Bevölkerung habe ich wiederholt gekennzeichnet als das Verhältnis von Helfer und Freund . In die Polizei des heutigen preußischen Staates darf nie Einzug halten der Geist der Überheblichkeit, der nur zu oft geneigt ist, im Publikum nur Untergebene zu sehen, sich selbst als Vorgesetzte zu betrachten . Es ist viel schwerer den Polizeidienst zu versehen freundlich und zuvorkommend, helfend und fördernd als befehlend und barsch anweisend . Solche Fähigkeit kann aber nur erworben werden in dauernder eifriger Arbeit an sich selbst, sowohl des einzelnen Beamten wie der Gesamtheit der Polizeibeamtenschaft . Ein Mittel, dieses Ziel zu erreichen, ist Vorsorge zu treffen, dass die Polizeibeamtenschaft selbst vom Staat und von ihren Vorgesetzten gut behandelt wird . Das zu erreichen ist mein ernstestes nie erlahmendes Bestreben . Siehe den ‚Herr‘ Erlass!54 Denn wie man in den Wald hineinruft, hallt es wieder heraus . Das [bes]te Mittel ist die Selbsterziehung . Es ist mir eine Freude feststellen zu können, dass in der Einstellung der Polizei zum Volke und umgekehrt das gegenseitige Vertrauen immer mehr zum Ausdruck kommt . Aber das bis heute Erreichte darf uns nicht dazu verleiten auszuruhen, sondern kann nur ein Ansporn sein zu weiterer Arbeit . Dabei kann die freiwillige Mitarbeit in der Aus- und Fortbildung der Polizeibeamtenschaft nicht entbehrt werden . Überall muss der Polizeibeamte sich bewusst sein, dass er der sichtbare Vertreter des Staates nach außen hin ist . Das Verhalten des Polizeibeamten in der Öffentlichkeit wird häufig genug Maßstab für die Beurteilung des Staates selbst . Deshalb muss der Polizeibeamte im Benehmen und Verhalten in und außer Dienst nie vergessen, dass er in sich verkörpert ein Stück staatlicher Autorität . Nur das mit Achtung gepaarte Vertrauen der Bevölkerung kann es der Polizei ermöglichen ihre Aufgabe durchzuführen . Polizeiliche Maßnahmen jeder Art werden nur dann Erfolg haben, wenn die Bevölkerung die Überzeugung hat, dass sie getroffen werden zu ihrem Wohle, zu ihrem Schutz . Es ist deshalb für die Polizei eine Lebensfrage, dass sie mit den Organen der öffentlichen Meinung zusammenarbeitet, dass beide weitgehendes Verständnis für die gegenseitige Arbeit aufbringen . Die diesmalige Polizeiwoche tagt in Köln aus Anlass der Internationalen Presseausstellung . Das ist sehr gut so; Sie haben Gelegenheit, sich diese wertvolle Ausstellung, die wegen ihrer kulturpolitischen Seite auch für die Polizei besonders verdienstvoll ist, eingehend anzusehen . Sie können sich wertvolle Anregung aus der Ausstellung mit
Verluste verzeichneten . 54 Zahlreiche preußische Polizeioffiziere setzten eine alte Militärtradition fort, indem sie ihren Untergebenen die Anrede „Herr“ verweigerten und stattdessen die dritte Person Singular bevorzugten . Die daraufhin 1928 erfolgte Anordnung des Ministers schloss jede weitere Diskussion aus; vgl . Leßmann (1989): Schutzpolizei, S . 198 .
Polizei und mediale Öffentlichkeit
nach Hause nehmen, vor allem auch, wie es nicht gemacht werden soll . Das Verhältnis von Polizei und Presse, wie es im alten Staat war, darf so nicht mehr sein . Polizei und Presse im demokratischen Volksstaat gehören im Gegenteil auf das engste zusammen . Nur wenn sie sich unterstützen bei ihrer Arbeit, wird das Wohl der Allgemeinheit gewahrt bleiben . Die Wahl des Tagungsortes Köln soll bewusst eine Betonung des besonders engen Verhältnisses zwischen Polizei und Presse sein . Im demokratischen Staat erfüllt die Presse gegenüber der öffentlichen Meinung eine im höheren Sinne – ich möchte sagen – polizeiliche Aufgabe . In ihr schlägt der Pulsschlag des täglichen Lebens, die Presse gibt wieder die Sorgen, Nöte und Wünsche des Volkes auf allen Gebieten . Sie ist das Sprachrohr der öffentlichen Kritik, sie ist auch der Wegbereiter für Fortschritt und Besserung, auch wenn sie sich in einzelnen Organen und im Einzelfall manchmal überschlägt, oder in nicht voller Kenntnis aller Tatsachen an der Polizei, vom Standpunkt der Polizei gesehen, ungerechte Kritik übt . Alles Streben der Polizei nach Vertrauen der Bevölkerung, alle ehrliche und nachdrückliche Arbeit der Polizei an sich selbst hätte nichts fruchten können, wenn nicht die Presse bereitwillig in erster Linie daran mitgearbeitet hätte, ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Polizei und Bevölkerung herzustellen . Die Polizei ist sich der Bedeutung und der Macht der Presse wohl bewusst . Sie hat diese oft genug auch am eigenen Leibe gespürt . Aber gerade deshalb muss und wird es das Bestreben der Polizei sein, mit der Presse stets innige Fühlung zu halten, mit ihr zusammenzuarbeiten, sich ihrer Unterstützung und Hilfe zu bedienen . Die Internationale Presseausstellung hier in Köln zeigt in ihrer Größe, in der Vielseitigkeit ihrer Darbietungen, welche Unsumme von Kopf-und Handarbeit Tag für Tag im Dienste der Presse vollbracht wird . Sie gibt allen Beschauern dadurch ein überwältigendes Bild von dem, was die Presse heute ist . Und die Preußische Polizeiwoche, die Erkenntnisse und Wissen des Polizeibeamten vertiefen will, ist nach Köln gekommen, damit die Teilnehmer der Polizeiwoche aus dieser gewaltigen Presseschau lernen . Je mehr Polizei und Presse voneinander kennen und verstehen, desto mehr werden sie sich auch gegenseitig schätzen . Ich wünsche daher der Preußischen Polizeiwoche in Köln, dass sie und ihre Arbeit dazu beitragen mögen, das innige Verhältnis zwischen Presse und Polizei noch enger zu knüpfen . In diesem Sinne erkläre ich die Polizeiwoche für eröffnet und wünsche ihrer Arbeit den besten Erfolg .
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Zur kommunalen Amtsverfassung Ansprache am Preußischen Landgemeindetag-West 1928 in Münster55 Offenbar stärkte das preußische Gesetz vom 27. Dezember 1927 die Selbständigkeit des gewählten ehrenamtlichen Gemeindevorstehers gegenüber derjenigen des meist hauptberuflich tätigen Bürgermeisters. Im zweiten Teil seiner Rede nahm Minister Grzesinski klar Stellung gegen die im Rahmen der Verwaltungsreform diskutierte These einer Abschaffung der ländlichen Staats- und Gemeindeverfassung. Im dritten Teil erläuterte er sein Verständnis kommunaler Selbstverwaltung.
[…] Es ist mir, nachdem ich schon im vorigen Jahre aufgefordert worden bin, anwesend zu sein und zu reden, was mir damals leider nicht möglich war, heute eine besondere Freude, Ihren Verhandlungen, wenigstens zu Beginn, persönlich beiwohnen zu können . Ich begrüße das umso mehr, als ich der kommunalen Verwaltung auf dem Gebiete, das durch Ihren Verband vertreten und umschlossen wird, ein ganz besonderes dienstliches Interesse entgegenbringe, ist doch das Gebiet der westlichen Amtsverfassung dasjenige, in dem die kommunale Verwaltung des sogenannten platten Landes sich am stärksten entwickelt und, man kann dies mit großer Freude und Genugtuung feststellen, auch die größten Erfolge gezeitigt hat . Noch im vorigen Jahre bestand in Ihren Kreisen eine erhebliche Unruhe über die Zukunft dieser Amtsverfassung, hervorgerufen dadurch, dass die Anregung gegeben worden war, auch in der Rheinprovinz und in der Provinz Westfalen eine grundsätzliche Entscheidung der Provinzen darüber herbeizuführen, ob die Amtsverfassung gehalten werden soll oder nicht . Ich nehme an, dass die Quelle für die Beunruhigung nunmehr fortgefallen ist, seitdem der Landtag durch das in Verbindung mit der Kommunalabteilung meines Ministeriums zustande gekommene Initiativgesetz vom 27 . Dezember 1927 die westliche Amtsverfassung neu geregelt und damit bestätigt hat .56 Andererseits hat allerdings gerade dieses Gesetz in Ihren Kreisen doch auch mancherlei Bedenken ausgelöst . Manche glauben, dass die Neuregelung besonders in der Rheinprovinz eine Verschiebung der Zuständigkeit des Bürgermeisters und des Gemeindevorstehers gebracht hat, die für die kommunale Verwaltung nicht von Vorteil sein könnte . Soweit es sich um die Verwaltung der einzelnen Gemeinden, insbesondere der Amtsverfassung handelt, bestand und besteht der Vorzug dieser Verfassung IISG: G 2140 . Ansprache vor dem Landgemeindetag-West am Montag, 4 .Juni 1928 (Münster) . Es sind zwei weitgehend gleichlautende Fassungen erhalten . Typoskripte DIN A4, jeweils 8 Seiten; davon eine (vollständige) Entwurfsfassung, die andere vorgetragene Fassung auf S . 2 unvollständig . 56 Preußische Gesetzessammlung Nr . 43: Gesetz über die Regelung verschiedener Punkte des Gemeindeverfassungsrechts vom 27 .12 .1927 (dem berühmten Gesetz, in dem die Auflösung der Gutsbezirke verordnet wurde) legte in § 3 fest: „Gemeindevorstand ist, auch in der Rheinprovinz, der Gemeindevorsteher . Er beruft die Gemeindevertretung und führt den Vorsitz mit vollem Stimmrecht .“ 55
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in der glücklichen Mischung zwischen der ehrenamtlichen Tätigkeit des Gemeindevorstehers und der in vielen Fällen hauptamtlichen Tätigkeit des Bürgermeisters . In der Rheinprovinz kam diese Mischung nicht zum Ausdruck, weil Bürgermeister und Gemeindevorsteher identisch waren, in der Provinz Westfalen dagegen hat diese seit langer Zeit bestehende Mischung zu den besten Erfolgen geführt . An dieser Mischung hat das neue Gesetz in der Grundtendenz nichts geändert . Was es geändert hat, besteht lediglich darin, dass die Gemeindevorsteher in Westfalen eine größere Selbständigkeit bekommen haben und dass in der Rheinprovinz der Gemeindevorsteher eine Selbständigkeit bekommen hat, die er bisher überhaupt nicht besaß . Im Übrigen ist die Stellung des Bürgermeisters die gleiche geblieben . Ich verstehe, dass manchem die Änderung des Gewohnten, in das er eingelebt war, zunächst fremd und bedenklich erschien . Man gewöhnt sich so schwer an Neues, aber eine Änderung, die in der Linie der richtigen Entwicklung liegt, wird aus solchen Gründen jedenfalls nicht aufzuhalten oder zu verwerfen sein . Trotz der eingetretenen Änderung wird die Zusammenarbeit zwischen Gemeindevorsteher und Bürgermeister nach wie vor denkbar eng sein müssen . Der Unterschied ist der, dass der Bürgermeister nicht mehr der Vormund des Gemeindevorstehers, sondern sein sachverständiger Mitarbeiter und Berater sein soll . Ich glaube, dass im neuen demokratischen Staate ein solches Verhältnis keine schlechte Voraussetzung für die gedeihliche Zusammenarbeit sein wird; im Gegenteil dies auch noch umso mehr, als nach dem neuen Gesetz beide, Gemeindevorsteher und Bürgermeister, ein gleichartiges Mandat besitzen als gewählte Vertrauensleute der Bevölkerung . Meine Herren! Ich weiß, und auch aus den Ausführungen Ihres Herrn Präsidenten klang das bereits hervor, dass im Augenblick noch eine andere Frage Sie sehr stark beschäftigt, die Frage der kommunalen Neugliederung, die in den Regierungsbezirken Düsseldorf, Münster und Arnsberg vorbereitet wird . Diese Frage berührt Sie deshalb so stark und muss Sie stark berühren, weil es sich dabei nicht nur um einzelne kommunale Grenzänderungen handelt, sondern weit darüber hinaus auch um die grundsätzlichen Fragen einer kommunalen Rationalisierung, die zugleich auch ein Stück praktischer Verwaltungsreform ist, von der außerordentlich viel seit Jahren gesprochen wird, und von der Sie vom neuen Parlament allerhand erwarten . Es ist dies eine Art Verwaltungsreform, bei der insbesondere der Ausgleich zwischen Stadt und Land, das heißt zwischen städtischer und ländlicher Verfassung gefunden werden muss . […] Worauf es aber grundsätzlich und allgemein ankommt, und worauf ich selbst auch den größten Wert lege – ich sage das hier bewusst und ganz ausdrücklich und damit es gehört werde – ist, dass die ländliche Verfassung, wie sie in den Landgemeinden, Ämtern und Landkreisen verkörpert wird, als solche erhalten und an und für sich als gleichberechtigt anerkannt bleibt (Bravo!) . Die These, dass im eigentlichen Industriebezirk für Landkreise und damit auch für Landgemeinden grundsätzlich kein Raum mehr sei, scheint mir, so wie die Entwicklung bis heute gegangen und für die nächste Zukunft zu übersehen ist, nicht richtig zu sein (Bravo!) . […]
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Man spricht seit einigen Jahren sehr viel von der Selbstverwaltung und davon, dass die Staatsregierung, die Regierung des republikanischen Preußen, diese Selbstverwaltung unter allen Umständen anerkennen, achten, stützen und fördern müsse . Ich habe nie ein Hehl aus meiner Einstellung zur Selbstverwaltung gemacht, und dies auch aus tiefster innerer Überzeugung auf dem Städtetage in Magdeburg und bei jeder sich bietenden Gelegenheit immer wieder betont . Ich kann aufgrund dessen, was ich Ihnen nun sagen werde, also nicht in den Verdacht kommen, ein Gegner der Selbstverwaltung zu sein oder auch nur den Wunsch zu haben, sie in irgendetwas beeinträchtigen zu wollen, zumal ich selbst in der Kommunalverwaltung jahrelang aktiv tätig gewesen bin und um die Selbstverwaltung gegen Versuche, sie zu beeinträchtigen, gekämpft habe . Aber, meine Herren, unter Selbstverwaltungskörper verstehe ich eine Gemeinschaft sich selbst verwaltender Bürger, und ich fürchte sehr, dass bei der Entwicklung, die in Preußen eine Reihe von Großstädten nehmen, nach dem Noch-Größer-Werden dieser Städte diese Selbstverwaltung, so wie ich sie auffasse, die Möglichkeit, dass die Bürger der Gemeinde wirklich an der Verwaltung teilhaben, nicht mehr in vollem Umfange gewährleistet ist (sehr richtig!) . Ich sehe so sehr viel kleine, durchaus lebenskräftige und lebensfähige Gemeinden, die der Eingemeindung zum Opfer gefallen sind, zum Opfer fallen mussten, deren Bewohner nachher – nicht durch Schuld einzelner Personen, sondern infolge der verwaltungsrechtlichen Verhältnisse gemäß der kommunalen Gesetzgebung – sich nicht mehr so aktiv an der nunmehr gemeinsamen Gesamtverwaltung der neuen Kommune beteiligen konnten, wie sie das früher zum Nutzen ihres Gemeinwesens gewohnt waren . Bei der Beratung des Frankfurt-Gesetzes ist ja der Versuch gemacht worden, für eine Stadt, die mit eingemeindet werden musste, einen Weg zu finden, um ihr eine gewisse Selbstständigkeit innerhalb der Gesamtverwaltung noch sicherzustellen . Ich vermag im Augenblick nicht zu übersehen, ob dieser Weg der richtige ist . Ich vermag auch nicht zu übersehen, ob man nicht doch noch einen besseren Weg finden kann . Vielleicht werden die Erörterungen über die neuen Gesetze, die dem neuen Landtage vorgelegt werden, neue und bessere Wege finden, vielleicht auch nicht . Wir wollen diesen ersten Versuch abwarten . Aber worauf es mir ankommt und ich glaube, auch ihnen und jedem wirklichen Freunde der Selbstverwaltung, er mag auf dem Lande oder in der Stadt, Mittel- oder Großstadt wohnen, ist, dass die Verwaltung eines Gemeinwesens so sein muss, dass man von einer wirklichen Selbstverwaltung der Gemeindemitglieder reden kann . Wogegen man sich wenden muss, ist, glaube ich, eine Überhandnahme der kommunalen Bürokratie . Sie ist sicherlich von den besten Absichten beseelt . Jeder einzelne an seinem Platze wünscht sicherlich nichts Besseres, als seinem Gemeinwesen zu dienen, aber noch viel mehr als ein Beamter dem Gemeinwesen dient, dient dem gesamten Gemeinwesen, wenn die Gemeindemitglieder als solche recht stark, mittelbar und unmittelbar, die kommunale Verwaltung beeinflussen können . Ich habe in der Zeit meiner Amtstätigkeit wiederholt Gelegenheit gehabt zu sehen, wie gerade das demokratische Gemeindewahlrecht in Preußen in den schwere Not lei-
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denden kleinen Landgemeinden und kleinen Städten die Voraussetzung für das Aufblühen dieser Gemeinden trotz schwerster Not dadurch geschaffen hat, dass eben alle mit Rat und Tat helfen konnten und sich in guten Anregungen den Rang abzulaufen suchten, um dem Ganzen zu dienen, als dass ich wünschen möchte, dass dieser Zustand, der ohnehin für eine große Anzahl von städtischen Einwohnern nicht in dem erwünschten Maße aufrechterhalten werden kann, noch unnötig weiter geschmälert wird .
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Eine der Wirklichkeit verbundene Verwaltung Vortrag vor dem „Verein Berliner Kaufleute und Industrieller“ 192857 Auszüge aus einem Vortrag vor dem „Verein Berliner Kaufleute und Industrieller“, in dem der Minister sein Verständnis vom Auftrag der Verwaltung im neuen Staat darlegte.
Meine sehr geehrten Herren! Ihrem Wunsche, im Kreise der Vorstandsmitglieder des Vereins Berliner Kaufleute und Industrieller einen Vortrag zu halten, bin ich sehr gern nachgekommen . Zwar ist der heutige Zuhörerkreis für mich als politischen Minister und Parlamentarier ein wenig ungewöhnlich und fremd . Und wenn ich auch an öffentliches Reden gewöhnt bin, so bin ich doch – ich will es nicht leugnen – ein wenig befangen, wenn ich daran denke, dass Sie, hervorragende Führer des Berliner Handels und der Industrie, von mir heute etwa besonders wesentliche und grundsätzliche Ausführungen erwarten könnten . Darin müsste ich Sie allerdings enttäuschen . Denn es ist nicht meine Absicht, Ihnen hier eine Art Kolleg über Verwaltung und Verwaltungsreform, über die Frage Einheitsstaat oder Föderativsystem, über Zentralisation oder Dezentralisation zu halten, sondern ich möchte vielmehr gerade mit Ihnen, als den Männern der Wirtschaft und des praktischen Lebens, plaudern über Verwaltung und Verwaltungsangelegenheiten . Denn ich lege Wert darauf, dass die Verwaltungsbehörden und die Verwaltungsbeamten in engster Fühlung mit dem wirklichen Leben stehen . Was ist natürlicher, als dass ich die Gelegenheit gerne benutze, auch einmal vor einem derartig zusammengesetzten Hörerkreis die Grundsätze der Verwaltungsarbeit, wie ich sie befolgt sehen möchte,
IISG: G 2140 . Vortrag vor dem Verein Berliner Kaufleute und Industrieller am 5 . [?] Juni 1928 . Typoskript 14 Bl . DIN A 4 mit zahlreichen handschriftlichen Einfügungen ganzer Sätze sowie wenigen Unterstreichungen . Auf der ersten Seite oben folgende handschriftliche Notiz für die Sekretärin: „Frl . Ku[rch?]! Dies ist in der besprochenen Art abzuschreiben und mir am 5 .6 .28 mit dem noch in der Mappe befindlichen Material auf meinen Schreibtisch zu legen . G . 31 .5 . Die Sekretärin vermerkte darunter mit Bleistift: „erl . 4 ./6 .28 Ku“ .
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zu entwickeln . Und dafür, dass Sie mir die Gelegenheit zu meinen nachfolgenden Ausführungen geboten haben, danke ich Ihnen herzlich . Auch das Verständnis für die Verwaltungsarbeit muss gegenseitig sein! Und so wie ich mir im neuen deutschen Staat Verwaltungsbehörden nur wirklichkeitsverbunden denken kann, so erhoffe ich von der Demokratie und dem parlamentarischen System auch ein Wecken des Verständnisses in Wirtschaft, Handel und Industrie für die Leistungen der Behörden und des Verwaltungsapparates . Für Sie, meine Herren, ist das Wort Behörde und Bürokratie fast zu einer Einheit geworden, ja, wahrscheinlich zu mehr, zu einem Begriffe des Schreckens, zu etwas, das Ihnen in Ihrer Tätigkeit überall unnötig Schranken und Hemmungen aufzuerlegen scheint . Gestatten Sie, dass ich ein wenig in eigener Sache – denn der Preußische Minister des Innern ist ja Chef der Verwaltung des größten deutschen Landes – das Wort zur Verteidigung ergreife . Ich, der ich selbst in der Verwaltung ein ‚Außenseiter‘ bin und zunächst nur widerstrebend und mit starken inneren Hemmungen Beamter wurde, glaube auf Grund fast zehnjährigen Wirkens innerhalb der Reichs- und preußischen Staatsverwaltung an doch immer stark hervorragenden Stellen sagen zu dürfen, dass die Verwaltung besser ist als ihr Ruf . Es ist zunächst in jeder Behörde, insbesondere in den Zentralbehörden, eine Unsumme an Kenntnissen und Erfahrungen zusammengetragen, und es handelt sich meist nur um die richtige Auswertung durch die geeigneten Personen . Ich will es mir versagen, zu untersuchen, ob der ungünstige Ruf der Behörden in Deutschland vor dem November 1918 vielleicht gerechtfertigter oder begründeter war . Aber auf eines möchte ich doch hinweisen, was die Verwaltung des heutigen Staates wesentlich von der des alten Staates unterscheidet . Die Verwaltungsbeamtenschaft vor dem Kriege wurde gebildet von einer fast völlig homogenen Bevölkerungsschicht, ergänzte sich fast ausschließlich aus den konservativen Kreisen des Großgrundbesitzes und des Adels . Nicht nur die leitenden Männer der alten preußischen Verwaltung, sondern die gesamte preußische Verwaltungsbeamtenschaft wurden systematisch ein Jahrhundert lang im streng konservativen, antidemokratischen Sinne erzogen, waren in alten Anschauungen gefangen und naturgemäß jedem modernen Gedanken wenn nicht schon von vorneherein ablehnend, so doch zögernd gegenüber eingestellt . Die Preußische Verwaltung musste gemäß der Struktur des ganzen Staates konservativ sein, hielt zäh am Alten fest . Entsprechend dieser Gesamteinstellung war auch das Verhalten der Behörden gegenüber der Wirtschaft und Technik, die infolge ihrer in Riesenschritten vor sich gehenden Entwicklung sich jeden Augenblick umstellen mussten, wenn sie konkurrenz- und lebensfähig sich erhalten wollten . Nun ist zwar nach dem November 1918 der Verwaltungsapparat im Großen und Ganzen unverändert in den neuen Staat, in die demokratische Republik übernommen worden . Denn die Arbeit der Staatsverwaltung ging ja weiter, ein Stillstand der Staatsmaschine hätte zu den schwersten Schädigungen des Staatsganzen und des gesamten Volkes geführt . Ich setze hier den Aufbau der Preußischen Staatsverwaltung als bekannt voraus und will deshalb auf seine Gliederung im Einzelnen nicht näher
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eingehen . Geändert aber hat sich der Geist innerhalb der preußischen Behörden und nicht zuletzt durch die Aufnahme von Menschen in den Beamtenapparat, die nicht durch die übliche Beamtenlaufbahn hindurch gegangen sind . Im politischen Leben nennt man diese Leute etwas herabsetzend die ‚Außenseiter‘ . Über die Notwendigkeit einer gründlichen und vielseitigen Fachausbildung, meine Herren, brauche ich mich hier nicht zu verbreiten . Es ist auch überflüssig, den törichten Vorwürfen entgegnen zu wollen, die behaupten, dass im neuen Deutschland Fachwissen und Fachausbildung an Geltung zugunsten ‚parteipolitischer‘ Erwägungen verloren hätten . Daran ist richtig allein, dass wir im neuen Staat uns freihalten vor einer unberechtigten Überschätzung des ‚Fachmannes‘ in der Verwaltung . Es gibt übrigens keinen eigentlichen Fachmann in der Verwaltung . Die Verwaltungsarbeit ist so außerordentlich vielseitig, so vielseitig wie das ganze wirtschaftliche und soziale Leben es fordert, dass auch die Verwaltungsbeamten letztimmer Spezialisten sind und zum Teil lange Zeit zur Einarbeitung auf einem neuen Arbeitsgebiet brauchen . Aber im alten Staat war die höhere Verwaltungsbeamtenschaft neben der Offiziersschaft der erste Stand im Staat . Und es ist begreiflich, dass bei einer solchen bewusst gepflegten Anschauung eine starke Überheblichkeit in den Behörden und bei den Beamten gegen jedermann sich herausbildete, sodass häufig der Eindruck entstehen konnte, dass die Bevölkerung für die Behörden und nicht umgekehrt die Behörden für die Bevölkerung vorhanden waren . Mit dieser Anschauung, meine sehr geehrten Herren, haben wir in den letzten zehn Jahren allerdings versucht kräftig aufzuräumen . In einer Demokratie muss es zu den selbstverständlichen Grundsätzen jedes Beamten gehören, dass er und seine Arbeit im Dienste des Volksganzen steht, dass der Beamte Diener der Allgemeinheit ist und überall sich als solcher fühlen und benehmen muss . In einem anderen Sinne als früher muss die Beamtenschaft sich als bevorrechtigt fühlen . Sie darf niemals vergessen, dass es ein Vorzug ist, Dienst am Volksganzen zu leisten, dass solch ein Recht auch ganz besondere Pflichten auferlegt . In der Verfassung von Weimar heißt es: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus . Das bedeutet im parlamentarisch-demokratisch regierten Staat, dass der gesamte Verwaltungsapparat sich als im Dienste des Volkswillens stehend betrachten muss, dass er auch dem Sinne nach allein sich als Vollstrecker des in Gesetzen niedergelegten Willens der Volksvertretung betrachten muss . Die Bürokratie ist und darf nur sein ein Mittel zum Zweck und nicht, wie vielleicht früher einmal, Selbstzweck, als willenloses Organ in der Hand einzelner Machthaber . Es wäre nun vermessen, wenn ich hier ausführen wollte, es sei bereits restlos gelungen, den gesamten Behörden- und Beamtenapparat im Sinne der oben skizzierten Ausführungen zu beeinflussen und umzugestalten . Ich weiß genau, dass etwas, was in einem Jahrhundert und mehr organisch gewachsen ist, nicht in zehn Jahren beseitigt und umgebildet werden kann . Aber, meine Herren, es kommt ja bei allem zunächst und in erster Linie auf die Tendenz an . Und die Tendenz in den maßgeblichen Stellen der Verwaltung seit dem November 1918 ist die, die Behörden und die Beamtenschaft des Staates dem Leben der Bevölkerung, in Industrie und Handel möglichst nahe zu
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bringen, sie mit den Erfordernissen des praktischen Lebens so vertraut wie möglich zu machen . Behörden und Verwaltung sind dazu da, der Bevölkerung zu helfen und die Wirtschaft zu fördern und zu unterstützen und wenn einmal Zweifel über die Auslegung gewisser Bestimmungen bei der Behörde bestehen, dann, wie ich mich einmal ausgedrückt hatte, stets das Vernünftige zu tun . Um eine so eingestellte Beamtenschaft zu erhalten, ist es nötig, dass die Beamtenschaft nicht ein abgeschlossener, wirklichkeitsfremder Körper ist, sondern dass in ihr vertreten sind Menschen aus allen Kreisen und Schichten der Bevölkerung, die ein offenes Auge und ein starkes Verständnis haben für die Bedürfnisse und Erfordernisse des Volkes in allen seinen Teilen . Und weil im neuen Staat die Notwendigkeit erkannt ist, gerade der Verwaltungsbeamtenschaft frisches neues Blut zuzuführen, deshalb konnte nicht darauf verzichtet werden, auf leitende Posten Menschen zu setzen, die in ihrem bisherigen Lebensgang bewiesen haben, dass sie für das wirtschaftliche und soziale Leben Verständnis und Fähigkeiten besitzen . Gerade vor Ihnen, meine Herren, brauchte ich eigentlich die Notwendigkeit einer solchen ‚Blutauffrischung‘ der Verwaltungsbeamtenschaft nicht ausführlicher zu begründen . Wo anders als in Handel und Industrie ist es von jeher üblich gewesen, dass man vor allem die Fähigkeit und die Tüchtigkeit eines Menschen bewertet, ohne groß zu fragen, ob er seine Kenntnisse auch in einem vorgeschriebenen Lehr-und Bildungsgang erworben hat?! Und gerade in den Kreisen der Wirtschaft müsste es freudig begrüßt werden, dass im heutigen Staat man sich nicht mehr damit begnügt, die leitenden Verwaltungsposten nur mit bewährten Beamten zu besetzen, sondern dass man wieder und wieder zurückgreift auf Kräfte, die sich im Wirtschaftskampf als fähig und tüchtig erwiesen haben . Durch eine solche Ergänzung des Verwaltungsbeamtentums ist auch der Beamtenschaft gedient und schon gewährleistet, dass die Verwaltung sich nicht wirtschaftsfeindlich, sondern wirtschaftsfreundlich einstellt, dass etwa auftauchende bürokratische Hemmungen im Einvernehmen beseitigt werden . Durch Bedürfnisse der Kriegs-und Nachkriegszeit ist in Deutschland mehr als in einem anderen Lande die Macht des Organisationswesens in Politik und Wirtschaft, auf Arbeitgeber-und Arbeitnehmerseite, in Landwirtschaft, Industrie, Handwerk und Handel ausgebaut worden . Man mag es beklagen wegen der erheblich stärker gewordenen Bedeutung spezieller Interessen gegenüber den allgemeinen Interessen, man kann das aber auch begrüßen, weil die Vertretung der sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen Gruppen doch weit ausgeglichener und abgeklärter erfolgen kann und zweifellos auch vielfach erfolgt . Ein moderner Behördenapparat muss alle diese Strömungen kennen, fähig sein, mit ihren Vertretern zusammenzuarbeiten, sie anzuhören und im Differenzfall ausgleichend zu wirken . Und noch mehr: Menschen, die in ihrem bisherigen Wirkungskreis Mängel und Fehler des Behördenganges und des Behördenaufzuges am eigenen Leibe gespürt haben, werden als Verwaltungsbeamte weitaus eher geneigt sein, auf eine Abstellung dieser Fehler hinzuwirken, mit daran zu arbeiten, dass eine veraltete Behördengliederung beseitigt oder zweckmäßiger gestaltet wird .
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Und damit habe ich bereits ein Gebiet berührt, dem am heutigen Abend ebenfalls ein Teil meiner Ausführungen gelten sollen . Nämlich der Forderung nach Reform der öffentlichen Verwaltung . […] Die Forderung nach Reform der öffentlichen Verwaltung ist fast in allen Staaten, in denen die Kriegsfolgen finanziell schwer zu fühlen sind – und das ist fast überall der Fall – nachdrücklich erhoben worden . Das Ziel soll sein, einmal die Kosten des Verwaltungsapparates zu vermindern und ferner seine Leistungen zu steigern . [Grzesinski entwirft das Modell einer kleinen, weil überschaubaren Verwaltung. Im Folgenden einige Auszüge.]
[…] Es ist ein Irrtum und zwar ein weit verbreiteter Irrtum anzunehmen, dass eine Verwaltungsreform, eine Vereinheitlichung des Deutschen Reiches wesentliche Ersparnisse bringen würden . Die Aufwendungen für die Verwaltung selbst machen nur einen relativ sehr kleinen Teil der Gesamtsummen des Etats aus . Deshalb ist die Forderung nach Abschaffung oder Einschränkung der Verwaltung und ihrer Organe meist nur politisch, kaum aber ökonomisch zu begründen . […] Man muss sich immer vor Augen halten, welche Aufgaben eine Behörde im Lande draußen zu erfüllen hat, bevor man den bestehenden Apparat kritisiert . Die Verwaltungsbehörden des Preußischen Staates sollen die Staatshoheitsinteressen vertreten, den politischen Willen der Zentralregierung durchführen, die Verwaltung ihres Bezirks straff zusammenfassen und die verschiedenen Ressortinteressen ausgleichen . Dabei muss stets an die Unterordnung der einzelnen Sonderinteressen unter das allgemeine Staatswohl gedacht werden . Besonders wichtig aber für jede Verwaltungsbehörde ist die ständige, lebendige Fühlungnahme mit der Bevölkerung, um eine Bürokratisierung nach Möglichkeit zu verhindern . Um dieses Ziel zu erreichen, ist es aber notwendig, dass ein Behördenchef seine Behörde selbst übersehen kann, dass der Verwaltungsbezirk nicht so groß ist, so dass praktisch nur ein Regieren vom ‚grünen Tisch‘ möglich wird . Gerade im Interesse der Bevölkerung selbst liegt es, dass ihre Vertreter aus allen Schichten die Möglichkeit haben, mit dem Leiter und den Angehörigen einer Verwaltungsbehörde ständig in Verbindung zu treten . Ein wirkliches Eingehen und Versenken in die Bedürfnisse der Bevölkerung, der Wirtschaft eines Bezirkes ist eben nur möglich, wenn dieser Bezirk nicht allzu groß ist . Nur dann können die Verwaltungsbehörden wirklich verwalten: Das heißt nämlich, vorbeugen und vorsorgen, nahende Schwierigkeiten erkennen und sie aus dem Wege räumen . Der Verwaltungsbeamte muss die Entwicklungstendenzen in seinem Bezirk beobachten, um zur rechten Zeit Maßnahmen treffen oder anregen zu können . […] [Modernisierungen und Vereinfachungen der Verwaltung seien allerdings notwendig; dies wurde von ihm hier näher dargestellt.]
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Zu den Aufgaben eines politischen Staatsbeamten
So meine ich denn, meine sehr geehrten Herren, dass die Diskussion um Unitarismus oder Föderalismus, um Zentralisation oder Dezentralisation akademisch sicherlich manches Nützliche zu Tage fördern wird . Für die praktischen Bedürfnisse des Augenblicks – und dieser Augenblick wird sich über Jahre erstrecken – halte ich eine zielbewusste und energisch Vereinfachung der Verwaltung in dem oben skizzierten Rahmen sowohl für die Bevölkerung und Wirtschaft, aber auch für die Behörden für das allein Nützliche und Mögliche .
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Zu den Aufgaben eines politischen Staatsbeamten Ansprache zur Einführung des Oberpräsidenten der Provinz Niederschlesien In Breslau am 3. September 192858
Sehr geehrter Herr Oberpräsident! […] Sie stehen zu lange im öffentlichen Leben, als dass ich nötig hätte, Ihnen Ausführungen über die Aufgaben eines hohen politischen Staatsbeamten zu machen . In Ihrer früheren Stellung als preußischer Finanzminister und in Ihrem letzten Amt als Regierungspräsident in Lüneburg haben Sie gezeigt, dass Sie sich der großen Verantwortung, die ein hohes Staatsamt für seinen Träger mit sich bringt, durchaus bewusst sind . Das war ja auch der Grund, warum ich gerade Sie dem Staatsministerium und das Staatsministerium Sie dem Provinzialausschuss als Oberpräsident der wertvollen und wichtigen Provinz Niederschlesien vorgeschlagen haben! Außerdem gibt Ihnen ja auch Ihre politische Überzeugung einen Fonds, aus dem heraus Sie im Interesse des Staats- und Volks-Wohls reichlich schöpfen können . […] Durchgeführt ist im Wesentlichen auch die im Gesetz vom 27 . Dezember 1927 angeordnete Auflösung der Gutsbezirke . Wie ich zu meiner Freude feststellen kann, ist die Durchführung in der Mehrzahl der Fälle im völligen Einvernehmen mit den unmittelbar Beteiligten und nach größtenteils übereinstimmenden Vorschlägen der Provinzialstellen erfolgt . Die Beschlüsse des Staatsministeriums über die Auflösung der Gutsbezirke sind dem Oberpräsidium zum Teil bereits zugegangen . Im Übrigen werden Sie Ihnen in der Hauptsache noch im Laufe dieses Monats zugestellt werden . Durch den Fortfall der weit mehr als 2000 bisher selbständigen Bezirke Ihrer Provinz wird eine sehr erhebliche Vereinfachung der allgemeinen Verwaltung eintreten . Die Auflösung wird zugleich auch endlich der Einwohnerschaft der Gutsbezirke das lang versagte IISG: G 2141 . Ansprache Grzesinskis anlässlich der Einführung Hermann Lüdemanns (1880–1959), SPD, als neuen Oberpräsidenten der Provinz Niederschlesien am 3 . September 1928 vormittags in Breslau, der Provinzhauptstadt . Ein Typoskript DIN A4, 4 Seiten, des Amtlichen Preußischen Pressedienstes, das die Rede im Wortlaut veröffentlichte, liegt vor .
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Für Friedrich Ebert
kommunale Wahlrecht geben und ihr damit die Möglichkeit bieten, sich am öffentlichen Leben auch in der kleinsten Zelle des Staates, der Gemeinde, zu beteiligen . […] Noch eins, Herr Oberpräsident, möchte ich zum Schluss sagen . Sie sind in der Ihnen von der Staatsregierung anvertrauten Provinz Vertreter der Preußischen Staatsregierung, Sie sind ihr politischer Beamter und Vertrauensmann in der Provinz und Sie sind der Staatsregierung dafür verantwortlich, dass sowohl die eigene Verwaltung, wie die Verwaltungen, deren Oberaufsicht Ihnen obliegt, in dem von der Staatsregierung für erforderlich gehaltenen politischen Sinne geführt werden . Als Repräsentant des Staates haben Sie aber auch, unbeschadet Ihrer eigenen politischen Überzeugung ausgleichend zu wirken . Sie müssen dafür sorgen, dass die Behörden und ihre Mitglieder sich stets bewusst bleiben, Diener und nicht Bevormunder, Förderer und nicht Hemmer des Volkes zu sein! Die versammelten Mitarbeiter haben sicher den besten Willen zur Mitarbeit in diesem Sinne und werden Sie unterstützen . Ich wünsche Ihnen, dass zwischen Ihnen und Ihren Mitarbeitern sich ein gutes, vertrauensvolles Verhältnis herausbilden möge . Für die Führung der Geschäfte in der Provinz sind aber Sie, Herr Oberpräsident, der Staatsregierung persönlich verantwortlich . Richtschnur für Ihr Handeln ist das allgemeine Wohl, das Interesse der gesamten Bevölkerung der Provinz und des Staates . Dabei, Herr Oberpräsident, bitte ich Sie, Ihre Initiative und Verantwortungsfreudigkeit, die mir bekannt ist, und die m . E . überhaupt mit zu den ersten Beamtenpflichten gehört, rege zu betätigen . Sie können Ihr großes Verständnis für die Sorgen, Nöte und Bedürfnisse aller Schichten der Bevölkerung im Dienste des Ganzen ausreichend durch Handeln zeigen . Ich wünsche Ihnen ein gedeihliches und befriedigendes Arbeiten zum Wohle der Provinz Niederschlesien, zum Wohle der Republik Preußen und zum Wohle unseres ganzen deutschen Volkes!
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Für Friedrich Ebert Rede bei der Enthüllung eines Ebert-Denkmals in Bleicherode59
Volksgenossen! Kameraden! Republikaner! Als im November 1918 nach viereinhalbjährigem beispiellosen Ringen die deutsche Front zusammenbrach, – als in plötzlicher Erkenntnis der verzweifelten Lage, in die politische Unfähigkeit und Dünkel der Herrschenden Deutschland geführt hatte, das deutsche Volk seine längst überfälligen Fürsten und Herrscher kurzer Hand entfernte, – als überall Verderben und Not, völliger Zusammenbruch und Chaos Volk und IISG: G 2140 . Rede bei der Denkmalsenthüllung (Ebertdenkmal) am 23 . September 1928 nachmittags 14 ½ Uhr in Bleicherode am Harz . Typoskript DIN A5, 8 Seiten mit zahlreichen Unterstreichungen mit rotem oder blauen Stift und einer handschriftlichen Einfügung .
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Für Friedrich Ebert
Vaterland bedrohten – da wusste der letzte kaiserliche Kanzler, Prinz Max von Baden, keinen Ausweg als den: Einem Mann aus dem Volke das Steuerruder des Staates in die Hand zu geben, Friedrich Ebert . Monarchie und Junkerherrschaft hatten versagt, der Abgrund drohte Staat, Volk und Wirtschaft zu verschlingen, die einstigen Machthaber, die lange Jahrzehnte sich auch noch so berechtigten Forderungen der Arbeiterschaft nach gleichberechtigter Teilnahme an der Regierungsgewalt eigensinnig verschlossen und sie ständig bekämpft hatten, waren davongelaufen und verschwunden . In der Not dieser unendlich schweren Tage wusste man den Weg zu finden zu denen, die vor dem Kriege als Vertreter der Interessen der arbeitenden Massen ständig beschimpft und als Deutsche zweiten Grades angesehen, auch sogar noch während des gewaltigen kriegerischen, blutigen Ringens nicht als gleichberechtigt behandelt worden waren . Und der Mann aus dem Volk, der seine Gaben und seine Arbeit von früher Jugend in den Dienst seiner Klassengenossen gestellt hatte, der die Aufgabe seines Lebens allein in dem Kampf für das Wohlergehen des Volkes sah, versagte sich selbstverständlich nicht in diesen trüben, schicksalsschweren Tagen der riesengroßen Aufgabe, für die sowohl die Vertreter des einstigen Deutschlands wie seine Mitkämpfer und Freunde allein ihn berufen hielten . Der Bau des alten deutschen Staates brach mit dem Ende des Weltkriegs zusammen, das deutsche Volk gab sich die Rechte, um die ein ständig wachsender Teil des Volkes Jahrzehnte lang gerungen, und Friedrich Ebert, ein Führer der Sozialdemokratie längst schon vor dem Zusammenbruch, nahm nach dem Willen nunmehr der ungeheuren Mehrheit des ganzen deutschen Volkes die Last auf sich, in jenen Tagen, Monaten und Jahren den Staat und seine Geschicke zu führen und zu lenken . Mit ihm trat die deutsche Arbeiterschaft ein in die Verantwortung des Staates zu einer Zeit, die zu den schlimmsten Perioden der deutschen Geschichte gehört . Noch sind nicht ganz zehn Jahre seit jenen Novembertagen verflossen . Und doch scheint es uns, wenn wir uns die Tage des Entstehens der Deutschen Republik lebendig in die Erinnerung zurückrufen, als müsste die Spanne Zeit, die seitdem verstrichen ist, viel länger, viel größer sein . Tausendfältiges Geschehen, Wirren und Aufruhr, Verzweiflung und Auseinanderstreben pressten sich in kurze Monate und Jahre . Und heute sind überall die Zeichen des Aufbaus, ruhiger, schaffender Arbeit in Staat und Wirtschaft, Werke des Aufstiegs und der fortschreitenden Entwicklung zu sehen und zu spüren . Dass das deutsche Volk nach einem viereinhalbjährigen Kriege, nach so fast völligem Verbrauch seiner Kräfte so bald wieder zur staatlichen Stabilisierung und zum wirtschaftlichen Aufstieg kam, das ist nicht zuletzt das Verdienst des Mannes, dessen Gedenken hier ein einfacher Stein ehren soll . Als schlichter Arbeiter ist Friedrich Ebert geboren, als Arbeiter hat er als werdender Mann gelebt und gewirkt, ein schlichter Mensch ist er geblieben auch in jenen Zeiten, da ihn das Vertrauen des Volkes auf den höchsten Posten stellte, den es in der Deutschen Republik zu vergeben hatte . Und es ist der Stolz der deutschen Arbeiterschaft, dass es einer der ihren war, der in jenen schlimmen Zeiten 1918/1919 sich als ein wahrer Staatsmann erwies, als ein Mann, des-
Für Friedrich Ebert
sen ruhige, sichere Hand es verstand, den Staat durch alle Fährnisse zu leiten und zu erhalten . Der erste Präsident der Deutschen Republik war mit Recht und naturnotwendig ein Mann aus dem Volke . Und dieser Mann aus dem Volke hat gezeigt, welche Unsumme von Kräften und von Begabungen im Volke schlummern, die der zusammengebrochene Obrigkeitsstaat nicht verstanden hat, im Dienst des Vaterlandes auszuwerten und zu gebrauchen . Friedrich Ebert hat als Präsident die schwersten Jahre der Deutschen Republik erlebt und erlitten . Still und ohne viel Aufhebens ist er den Weg gegangen, den Pflichttreue und Liebe zum Volke, aus dem er kam, ihm vorschrieben . Es war ein steiniger Weg, ein Leidensweg, den er gehen musste, verhöhnt und beschimpft von Kreisen der Bevölkerung, die die schlichte Größe dieses Mannes damals nicht erkennen und achten wollten und vielleicht auch nicht konnten, und auch von den eigenen Freunden nicht immer verstanden . Friedrich Eberts Verdienst um den Aufbau und Ausbau der Deutschen Republik, um die Erhaltung des deutschen Vaterlandes gehört der Geschichte an . Langsam beginnen auch Verleumdung und Hass, die bei seinen Lebzeiten die Gegner des neuen Staates verbreiteten, sich zu verflüchtigen . Immer weitere Kreise des deutschen Volkes erkennen, dass dieser Mann aus dem Volke ein wirklicher Führer und Förderer seines Volkes war, dessen ganze Größe erst spätere Generationen voll würdigen werden . Wir deutschen Republikaner wissen, dass Friedrich Ebert die Deutsche Republik nicht nur hat begründen helfen, sondern dass er es war, der diese Republik mit Klugheit und Geschick gehalten und gesichert hat in den stürmischen Tagen, in denen es mehr als einmal nahe daran war, dass der deutsche Volksstaat zugrunde gerichtet wurde . Wir wissen, dass Friedrich Ebert Gesundheit und Leben dahingegeben hat im Dienst an der Sache, die auch die unsrige ist: Der Sache des Volkes, die allein in der demokratischen Republik wahrgenommen und vertreten werden kann . Friedrich Ebert ist früh, viel zu früh, dahingegangen, aber das Werk, für das er gearbeitet hat, lebt, sein Geist wirkt fort und wirbt Tag für Tag dem deutschen Volksstaat neue Anhänger und neue Bekenner . Friedrich Eberts Name wird nicht vergehen, solange es eine deutsche Nation gibt . Der schlichte Gedenkstein, dessen Hülle gleich fallen wird, soll daher auch nicht so sehr für Friedrich Ebert zeugen – das ist nicht erforderlich –, als vielmehr dafür, dass das republikanische Deutschland in Dankbarkeit seines ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert gedenkt, in jener Dankbarkeit, die Friedrich Ebert bei seinen Lebzeiten oft so schmerzlich vermissen musste . Ein Sohn des Volkes war Friedrich Ebert und als Sohn des Volkes wollte er leben und sterben . Sein Name ist uns allen Symbol geworden für unser Wirken für die die Deutsche Republik, deren Bestand seine Arbeit galt . Dem Mann des Volkes und seinem Werke gilt unser Gelöbnis . Die Hülle falle! Der einfache Stein sei ein Zeichen dafür, dass das republikanische deutsche Volk den ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert nicht vergessen wird, dass der deutsche Volksstaat unerschütterlich feststeht . Friedrich Eberts Vermächtnis hütet das deutsche Volk!
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Zur Demokratisierung der kommunalen Selbstverwaltung Rede auf dem Städtetag in Breslau 192860 Innenminister Grzesinski fordert erneut die Abgabe der nicht typisch polizeilichen Tätigkeiten (z. B. Wohlfahrt, Fürsorge) an die kommunale Selbstverwaltung und sieht die Bürgernähe und Bürgerbeteiligung bei der großstädtischen Verwaltung in Gefahr, wenn nicht durch Dekonzentrierung der Verwaltung dem grundsätzlich entgegengearbeitet wird. Im Grunde eine weitsichtige Vorwegnahme der späteren Einrichtung der Ortsbeiräte bzw. Ortsbezirke.
[…] Ich habe im Sommer dieses Jahres dem Preußischen Staatsministerium eine Denkschrift über die Verwaltungsreform vorgelegt und werde, sobald die Preußische Staatsregierung über die grundsätzlichen Fragen Beschluss gefasst haben wird, was – wie ich hoffe – in kürzester Zeit geschehen sein wird, die Entwürfe der verschiedenen Gesetze fertigstellen lassen . Bei dieser Verwaltungsreform wird das Verhältnis des Staats zu den Gemeinden in verschiedenen Richtungen zu revidieren sein . Zunächst wird eine weitgehende Dezentralisierung der Staatsverwaltung ins Auge zu fassen sein . Ich denke dabei nicht nur an einzelne Spezialgebiete, deren Überweisung als Selbstverwaltungsangelegenheit schon lange auf der Tagesordnung steht und kaum einem anderen Widerstand begegnet als dem aus einem gewissen Ressort Partikularismus geborenen . Ich denke vor allem an das Gebiet der Polizei, nicht in dem Sinn, als ob wirkliche polizeiliche Funktionen als Selbstverwaltungsangelegenheit übertragen werden sollten; denn darüber möchte ich keinen Zweifel lassen, meine Damen und Herren, die Polizei muss Staatsangelegenheit bleiben – als daran, dass mit dem Namen ‚Polizei‘ heute noch manche Aufgaben bezeichnet werden, die in Wirklichkeit nicht Polizei, sondern Wohlfahrt, Fürsorge oder etwas Ähnliches sind . Hier ist eine reinliche Scheidung dringend notwendig und das, was hierbei als nichtpolizeiliche Angelegenheit ausscheidet, das soll meiner Ansicht und meinem Wunsche nach als Selbstverwaltungsangelegenheit dezentralisiert werden . Die Gemeindeverfassungsgesetze, die ein Kernstück der preußischen Verwaltungsreform darstellen sollen und darstellen müssen, beabsichtige ich wesentlich anders zu behandeln als das bisher geschehen ist . Ich glaube nicht, dass es die Aufgabe der Gemeindeverfassungsgesetze des neuen Staates sein soll, in kasuistischer Weise alle Zweifelsfragen zu lösen, die sich aus der bisherigen Verwaltungspraxis, Rechtsprechung und der Literatur ergeben haben . Für viel wichtiger halte ich eine klare Feststellung der Begriffe, der Funktionen und der Zuständigkeiten . Sehr vieles von dem, was jetzt in Dutzenden von Paragraphen steht, kann der örtlichen Regelung, der Satzung, IISG: G 2140 . Rede von Herrn Minister Grzesinski zum Städtetag in Breslau am 25 .9 .1928 . Typoskript DIN A4 15 Seiten, mit zahlreichen Unterstreichungen mit rotem oder blauem Stift, einigen Streichungen und wenigen Einfügungen .
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der Geschäftsordnung, dem Gebrauch überlassen werden . Was die Staatsaufsicht anlangt, so soll jede Bevormundung vermieden werden . Was lediglich Sache der örtlichen Selbstverwaltung ist, was in seinen Konsequenzen über den örtlichen Kreis nicht hinausgeht, dafür soll allein die örtliche Selbstverwaltung zuständig und verantwortlich bleiben, auch, um eine Ihrem Verbande sehr nahestehende Persönlichkeit zu zitieren, für Dummheiten auf eigene Kosten . Wo dagegen eine Angelegenheit nicht nur örtliche Bedeutung besitzt, wo die allgemeinen Interessen stark berührt werden, wo insbesondere das Interesse des Staates als solchen in Frage kommt, wird eine Einwirkung des Staates nach wie vor unentbehrlich bleiben . Denn es würde dem Begriff der Autonomie und auch der Stellung, die die kommunale Selbstverwaltung im Rahmen des Staatsganzen einnimmt, widersprechen, wenn sie sich mit dem übergeordneten Staatswillen, von dem sie ihre Existenz herleitet, in Widerspruch und in Gegensatz setzen würde . Für die städtische Verfassung selbst werden grundlegende organische Änderungen kaum mehr in Betracht kommen, nachdem das Gemeindewahlgesetz und neuerdings das Gesetz über die Regelung einiger Punkte des Gemeindeverfassungsrechts die wesentlichsten Folgen der Neuordnung für die Demokratisierung der Kommunalverwaltung bereits gezogen haben . Ein organisatorisches Problem aber wird uns, meine Damen und Herren, in der nächsten Zeit gerade für die großstädtische Verfassung eingehend beschäftigen, das ist das der Dekonzentrierung der großstädtischen Verwaltung . Ich bitte Sie dringend, die Bedeutung dieser Frage nicht zu unterschätzen und zu verkennen . Es handelt sich hierbei meiner Ansicht nach nicht um eine Frage kommunaler Verwaltungsroutine, sondern um ein Problem, das an die Wurzel der kommunalen Selbstverwaltung heranreicht, und deren gute Lösung im Interesse gerade der Entwicklung der Großstädte und einer gesunden großstädtischen Verwaltung liegt . Großstädte, deren Einwohnerzahl eine bestimmte Zahl, deren Gebiet eine bestimmte Größe überschreitet, insbesondere Großstädte, die nicht im Wege natürlichen Wachstums zonenmäßig sich erweitert haben, sondern durch Zusammenschlüsse bisher selbständiger, vielleicht gleich großer und gleich bedeutender Gemeinwesen entstanden sind, behalten oder haben nicht immer das, was die Voraussetzung der örtlichen Selbstverwaltung ist: die Bedeutung einer örtlichen Gemeinschaft . Geht diese oder das Gefühl dafür verloren, so ist das, was dann entsteht, keine kommunalörtliche Selbstverwaltung in dem Sinne, den ihr Schöpfer der Freiherr vom Stein ihr beilegte – der Sinn, der die preußische Selbstverwaltung durchdrungen und zu ihrer Blüte gebracht hat, der Sinn, dessen sie niemals wird entraten können . Da wir aber mit solchen Großgemeinden als einer gegebenen Tatsache und als Produkt einer natürlichen Entwicklung zu rechnen haben, so müssen wir versuchen, auch in ihnen die Bedeutung der örtlichen Gemeinschaft und den Sinn dafür lebendig zu erhalten . Wo dies bei einer vollständigen Konzentrierung der städtischen Verwaltung, wie sie die jetzige Städteordnung allein kennt, nicht möglich ist, wird kein anderer Weg bleiben als der der Dekonzentrierung . Dabei wird
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der konzentrierten Verwaltung selbstverständlich alles das gelassen werden müssen, was nur einheitlich geregelt werden kann . Was einer dekonzentrierten exekutiven Verwaltung fähig und bedürftig ist, wird dann den örtlichen Bezirken überlassen bleiben können, in denen die örtliche Gemeinschaft wieder zu ihrem Recht kommt . Dieser Gedanke hat bei der Erörterung der letzten Eingemeindungsgesetze im Preußischen Landtag bereits eine erhebliche Rolle gespielt, und es ist im Großfrankfurt-Gesetz der Versuch gemacht worden, ihn in die Tat umzusetzen . Es bedarf Ihrer wertvollen Mitarbeit und Erfahrung, damit der richtige Weg gegangen und auch vermieden wird, dass die teilweise Dekonzentration etwa eine Erschwerung der städtischen Verwaltung im Gefolge hat . Meine Damen und Herren! Ich spreche als ein überzeugter Freund der Selbstverwaltung, auch der großstädtischen Selbstverwaltung . Mir liegt sehr viel daran, hier mit Ihnen und nicht gegen Sie zu arbeiten . Es gilt Vorsorge zu treffen, dass nach den großen Umgemeindungen die großstädtische Selbstverwaltung ihre Bedeutung einer Verwaltung durch die Ortsbürger nicht verliert . Es dürfen keine reinen Verwaltungsbezirke geschaffen werden, die des lebendigen Mitarbeitens einer heimatbewussten Bevölkerung entbehren . Mit kleinen Mitteln der Verwaltungskunst ist es hier nicht getan . Man muss das Problem klar erkennen und dann die Konsequenzen ziehen . Geschieht dies nicht, so wird der Leidtragende die kommunale Selbstverwaltung sein . Ich hoffe zuversichtlich, dass der Städtetag dem Gebot der Stunde gegenüber nicht die Augen verschließen wird . […] [Anschließend ging Grzesinski eingehend auf Probleme der kommunalen Neugliederung, besonders in den westlichen Provinzen, ein.]
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Zur Zivilisierung der Polizei Im Preußischen Landtag am 3. Oktober 192861 Über die Beseitigung der aus dem Militär tradierten Disziplin und ihr entsprechender Umgangsformen in der Polizeiausbildung und Polizeiführung im demokratisch-republikanischen Staat.
Dann glaubte Herr Kollege Borck, eine Verschiedenheit in der Formulierung meiner Erlasse und der Aufnahme, die die Erlasse gefunden haben, feststellen zu können .62 Er
Sitzungsberichte des Preußischen Landtags . 3 . Wahlperiode . 12 . Sitzung am 3 . Oktober 1928 (TOP Vorfälle in Berlin-Charlottenburg am Pfingstsonnabend), Sp . 588 f ., S . 591 . 62 Eldor Borck (1888–1951), DNVP, war einer jener preußischen Offiziere, die 1919 in den Polizeidienst wechselten . 1921 wurde er Major der Schutzpolizei in Berlin . Er gründete die ‚Vereinigung der Polizeioffiziere Preußens‘ und war zeitweilig deren Vorsitzender . Aus Protest gegen die Demokratisierung der Polizei 61
Zur Zivilisierung der Polizei
erwähnte das Achtung-Rufen, den Erlass, der verbietet, dass noch bei Eintritt eines Vorgesetzten in den Stuben Achtung gerufen wird . Mir ist bisher nicht zu Ohren gekommen, dass dieser Erlass nicht so durchgeführt worden ist, wie er gemeint war . Was ich mit diesem Erlass beabsichtigte, ist klar, und darüber konnte sich auch niemand im Zweifel sein; denn der Inhalt des Erlasses ist mit den Regierungspräsidenten und Polizeipräsidenten sehr eingehend erörtert worden . Ich wollte unter allen Umständen eine militärische, für die Polizei unerwünschte Formalität aus der Polizei herausbringen . Derjenige Leiter einer Polizeischule, der Leiter eines Kommandos oder einer Polizeiunterkunft, der Disziplin und Ordnung nicht anders aufrechterhalten kann oder sie gefährdet sieht, wenn nicht mehr Achtung gerufen wird, wenn ein Vorgesetzter kommt, gehört nicht an diesen Platz . Ich werde ihn morgen beseitigen, wenn eine derartige Einstellung tatsächlich vorhanden sein sollte . Sie ist aber nicht vorhanden . Richtig ist, dass bis zur Durchsetzung dieser Übung gegenüber einer alten Gepflogenheit einige Zeit vergeht . Aber zur Disziplin gehört eine solche formal-militärische Disziplin jedenfalls nicht . Ich stehe auf dem Standpunkt – und dieser Standpunkt hat sich im Laufe der Zeit doch auch erfreulicherweise in der Polizei durchgesetzt –, dass man durch persönliches Vorbild des Vorgesetzten, durch ein verständiges Zusammenarbeiten mit den Beamten auf allen irgend nur möglichen Gebieten den Grad von Disziplin und von gegenseitiger Achtung und Kameradschaftlichkeit herbeiführen kann, der allerdings notwendig ist, um auch eine Polizeigemeinschaft und Polizeibereitschaft ordnungsmäßig im Interesse der Erfüllung ihrer Aufgaben zu führen . Ich habe allerdings eine etwas andere Auffassung über Disziplin, über Kommandieren und über Dinge, die die Polizei betreffen, als Sie . […] [im späteren Verlauf der Debatte:]
Ich weise dann noch mit aller Entschiedenheit einen Ausspruch über Waffenanwendung zurück, den der Herr Abgeordnete Borck im Zusammenhang mit seinen übrigen Ausführungen hier getan hat . Unter Bezugnahme auf die Übergriffe der Kommunisten gegenüber den Polizeibeamten glaubte er sagen zu müssen, dass auch er es für bedauerlich halte, wenn von der Waffe Gebrauch gemacht wird; aber das muss unter Umständen sein, denn der Feind, der sich im Inneren gegen den Staat wendet, ist genauso schlimm oder noch schlimmer zu bewerten als der außen stehende Feind . Meine Herren! Diesen Grundsatz lehne ich ausdrücklich ab . Ich versuche alles, um zu vermeiden, dass gegen eigene Volksgenossen, die ich niemals als ‚innere Feinde‘ ansehe, gleichgültig, wo sie stehen, der Staat mit Machtmitteln auftreten muss . Die hatte er 1923 seinen Abschied genommen, da er eingesehen habe, „dass für einen ausgesprochenen Soldaten kein Platz mehr in dieser Fachpolizei ist .“ Er galt als der Polizeiexperte der DNVP-Fraktion im Preußischen Landtag und hat Grzesinski mehrfach im Landtag offen als vaterlandslosen Gesellen beleidigt . Leßmann (1989): Schutzpolizei, S . 208–210 .
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Silvesterbetrachtung 1928
Erziehung der Polizeibeamten und der Öffentlichkeit soll dahin gehen, dass beide erkennen, dass sie aufeinander angewiesen sind und Waffen nicht gebraucht werden . Ich bedauere jeden Waffengebrauch und habe eine Milderung durch den neuen Schießerlass herbeigeführt . Allerdings wird man unter Umständen gegen Störer der öffentlichen Ruhe und Ordnung mit den erforderlichen Mitteln nachdrücklich vorgehen . Aber ich betrachte die Volksgenossen nicht als einen inneren Feind, der schlimmer ist als der äußere, sondern höchstens als irregeleitete Volksgenossen . So wird die Polizei eingestellt werden, und so wird ihre Erziehung weiter erfolgen .
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Silvesterbetrachtung 1928 Rundfunksendung am 31.Dezember 192863
In diesem Augenblick hallen die Straßen, die Lokale und auch die Wohnungen nicht nur Berlins, sondern ganz Deutschlands wider von den fröhlichen Rufen und Glückwünschen ausgelassener froher Menschen: Prosit Neujahr! Tönt es von überall . Was ist der Grund zu diesem Treiben, in dem sich sonst ernste und erwachsene Menschen fast wie die Kinder benehmen und herumtollen, Fremde anrufen und mit ihnen scherzen, was die meisten in ihrem sonstigen Alltagsleben als ganz unmöglich und ungehörig von sich weisen würden? An sich doch nur der Wechsel eines Datums, ein Monat, ein Jahr geht zu Ende, ein neuer Monat, ein neues Jahr wird begonnen . Ist das allein zu ungehemmter Fröhlichkeit Grund? Ab und zu – so liegt es in der Natur des Menschen – müssen die Menschen, müssen die Massen sich austoben, müssen sie, unbeschwert von den Gedanken und Sorgen um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sich der Stimmung eines Augenblicks hingeben können, sich vergnügen und jubeln wie Kinder, die herumtollen, unbeschwert von dem Tun und den Aufgaben des Tages . Es ist der im Menschen erfreulicherweise tief wurzelnde sieghafte Optimismus, der in der Silvesternacht all überall die Massen fröhlich macht und hochstimmt, es ist die Hoffnungsfreudigkeit, die die Erfüllung der vielen Wünsche und Sehnsüchte des Einzelnen wie der Gesamtheit im neuen Jahr ganz unbestimmt erwartet . Lebensbejahung und Lebensfreudigkeit bedeutet der Silvesterfrohsinn . Ohne diese beiden, ohne den festen Glauben an die Zukunft ist kein Schaffen, kein Arbeiten möglich . Ohne sie wäre das deutsche Volk auch in seinem politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbau noch nicht so weit, wie es heute ist . Wohl lasten die Folgen des fürchterlichen Krieges noch auf uns, und es gibt trotz der vielen heute Frohgestimmten doch auch sehr viele, die in bitterer materieller und seelischer Not sind . Ihnen allen, dem IISG: G 2140 . Typoskript DIN A4, 2 Seiten, die letzten acht Zeilen handschriftlich ergänzt . Oben rechts handschr .: Berlin, den 31 . Dez . 1928/ 1 . Jan . 1929, nachts 0 .30 Uhr im Voxhaus . – Vermutlich handelte es sich um einen Rundfunkbeitrag .
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ganzen deutschen Volke wünsche ich Befreiung von Not und schwerem Druck, wünsche ich ein frohes neues Jahr . Und wenn ich hier heute auch als preußischer Staatsminister zu Ihnen, meine Damen und Herren, spreche, so lassen Sie mich in Bezug auf das größte deutsche Land Preußen, das nach Fläche und Bevölkerung fast 2/3 von Deutschland umfasst, noch weiter den Wunsch anfügen, dass es auch fernerhin sein möge ein Staat großzügiger, geordneter, guter Verwaltung, ein Hort der deutschen Einheit, der demokratischen, republikanischen Reichs- und Staatsauffassung mit ihren modernen, freiheitlichen Grundsätzen, dem es im Jahre 1929 gelingen möge, sein großes Werk der inneren Reform zum Wohle unseres schönen Vaterlandes gut zu vollenden . Glück auf für 1929!
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Zu den entgleisten politischen Demonstrationen Im Preußischen Landtag am 9. Februar 192964 Über die Notwendigkeit der Überwachung bestimmter politischer Versammlungen und der Begleitung politischer Demonstrationen durch die Polizei
[…] Aus den Reden, besonders der radikalen Vertreter im Hause, klang verschiedentlich heraus, dass Deutschland und Preußen besonders mit ihrer Polizei ein Staat der Unterdrückung und von einem Geist beherrscht sei, wie er kaum sonst in der Welt existiere . Das sagt man so leichthin, führt dafür eine Reihe angeblicher Beispiele an, und dann geht die Sache so in die Welt hinaus und wird meist recht kritiklos aufgenommen . Ich möchte demgegenüber die Wahrheit feststellen . In Deutschland hat auf Grund der Verfassung und der Gesetze jeder volle Vereinsfreiheit, volle Redefreiheit, und alle Pressebeschränkungen, Plakatbeschränkungen sind gefallen . Von der Autokratie, von der Herr Prelle sprach, kann wirklich nicht geredet werden .65 Also man kann hier in Deutschland und Preußen reden und schreiben, sich versammeln, demonstrieren, soviel man will, mehr als man früher je gekonnt hat . Auch von einer Unduldsamkeit der Behörden kann bei objektiver Betrachtung der Dinge nicht geredet werden . Deutschland ist tatsächlich das freieste Land der Erde . Wie überall in der Welt ist natürlich diese Freiheit begrenzt durch das Interesse der Staatsbürger, der Allgemeinheit und selbstverständlich insoweit, als die Wahrnehmung eines eigenen Rechts nicht ein anderes Gesetz verletzen darf . Sitzungsberichte des Preußischen Landtags . 3 . Wahlperiode . 45 . Sitzung vom 9 . Februar 1929 . [TOP Haushalt des Ministeriums des Innern], Sp . 3381–3387 . 65 Johannes Karl Wilhelm Gustav Prelle (1875–1947), Deutsch-Hannoversche Partei (DHP), Mitglied der „Deutschen Fraktion“, MdL 1919–1932 . 64
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Der Schutz dieser Gesetze ist zugleich das Gesetz zum Schutz Andersdenkender . Im Falle strafbarer Handlungen muss und wird eingeschritten werden, gleichgültig gegen wen . Und wenn eine ungleichmäßige Behandlung, die Abgeordneter Kaufmann gestern dadurch herzuleiten versuchte, dass er einen Erlass des Regierungspräsidenten anführte, wonach nationalsozialistische Versammlungen durch zwei Beamte überwacht werden, andere Versammlungen aber nicht, so geht dieser Schluss fehl .66 Es besteht keine Verpflichtung zu überwachen, es besteht ein Recht zu überwachen . Dieses Recht erschöpft sich nach der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts dadurch, dass nicht mehr als zwei Beamte zur Bewachung entsandt werden sollen . Aber, meine Damen und Herren, der Staat, der die Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung sicherzustellen und mit seinen Organen zu wahren hat, muss sich über das Treiben der Staatsbürger informieren , und wenn einzelne Gruppen von Staatsbürgern durch ihr ganzes Auftreten, ihre Reden, ihr Schreiben, ihre Versammlungen Anlass zu dem Verdacht geben, als könnten sie strafbare Handlungen begehen oder vorbereiten, dann wäre es ein Pflichtversäumnis der Behörden, wenn sie sich nicht durch ausreichende Information von der Richtigkeit einer solchen Annahme überzeugen würden . Die einzige Möglichkeit zur Information bei Versammlungen ist deren Überwachung . Sie darf nicht in der Weise erfolgen, wie es früher geschehen ist, dass der Beamte sich an den Vorstandstisch setzt, die Pickelhaube neben sich legt und sich, wenn irgendjemand etwas Bedenkliches sagt, erhebt und die Versammlung für aufgelöst erklärt . In der Weise darf das nicht geschehen, und geschieht auch nicht . Aber warum wehren sich denn die Herren so sehr gegen diese Überwachung? Sie tut ihnen doch nichts! Wenn sie nicht wirklich strafbare Handlungen begehen oder vorbereiten wollen, wenn sie durch ihre Reden nicht gegen die Gesetze verstoßen wollen, brauchen sie doch die Überwachung nicht zu fürchten . Nein, in der Überwachung von Versammlungen liegt nicht eine ungleichmäßige Behandlung, sondern das ist nur eine Vorsorge des Staates, von der nicht abgegangen werden kann . Die Unduldsamkeit liegt jedenfalls nicht bei den Staatsorganen, sondern auf einer ganz anderen Seite . Sie liegt bei den radikalen Personen und Verbänden, die nicht dulden können, dass auch andere Meinungen bestehen . Gerade deswegen hat ja die Polizei mehr zu tun, als es sonst nötig wäre . Nun ist hier heute einen Antrag eingebracht worden, in dem von der Staatsregierung eine Statistik darüber verlangt wird, wie viele Verbände an Zusammenstößen beteiligt sind, wer die Schuld im einzelnen trägt usw . usw . Sie werden das Verlangen beschließen, die Statistik wird zusammengestellt werden, und Sie werden einen Überblick bekommen . Aber diese Statistik wird nicht vollständig sein können, weil ja nicht in allen Fällen eine gerichtliche Feststellung erfolgt sein wird . Es können also nur die ersten polizeilichen Feststellungen geliefert werden, daher wird diese Statistik nicht
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Dr . Franz Alexander Kaufmann (1863–1932), DNVP, MdL 1919–1932 .
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lückenlos sein; damit müssen Sie von vornherein rechnen . Aber Sie werden auch aus dieser Zusammenstellung schon ersehen, dass absichtlich organisierte Überfälle einzelner Verbände und einzelner Personen in ziemlich großer Zahl vorliegen, und dass gerade die radikalsten Organisationen am unduldsamsten sind . Herr Kollege Metzenthin hat gestern ganz nett und rund und schön gesagt, wir sollten einmal überlegen, ob nicht die polizeiliche Begleitung von Demonstrationszügen eingestellt werden kann .67 Ja, sehr verehrter Herr Kollege, das überlegen wir seit Jahren . […] Wenn Sie einmal eine eingehende Besprechung mit den Sachbearbeitern im Polizeipräsidium hätten, würden Sie erkennen, dass sich die Verbände auf eine neue Polizeitaktik immer wieder genau einstellen, so dass es dauernd eines Studiums der polizeilichen Organe bedarf, was nunmehr die Polizei zum Schutze der Minderheit oder der Demonstranten tun muss, um Angriffe von anderen abzuwehren und die Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten . Ich würde diese Begleitung und Bedeckung am liebsten noch heute einstellen lassen . Denn das ist ja gerade, wie auch die Statistik erweist, die größte Inanspruchnahme der Polizei, die sie von den übrigen Aufgaben abzieht, die sie aber im Interesse von Sicherheit und Ordnung auf sich nehmen muss . Wenn ganz generell oder auch nur in der Mehrzahl der Fälle eine solche Zurückziehung der Polizei erfolgen würde, dann wären Mord und Totschlag die Folge, und Demonstrationen könnten überhaupt nur noch da stattfinden, wo die Demonstranten die Mehrheit bilden . Aber überall da, wo sie demonstrieren wollten, wo sie in der Minderheit sind, wäre faktisch jede Demonstration, also jede Ausübung eines verfassungsmäßigen Rechtes rein unmöglich . So haben sich die Verhältnisse leider entwickelt . Meine Herren, Sie sehen immer nur die Demonstrationen, die in den Zeitungen angekündigt sind, ob da mal ein Stahlhelmtag, ein Rotfrontkämpfertag oder diese oder jene große Organisation an einem bestimmten Sonntag oder Feiertag oder an einem bestimmten Wochentag aus irgendeinem Anlass auftritt; Sie sehen aber nicht, dass z . B . in jedem Stadtviertel hier in Berlin täglich Demonstrationen sind und täglich Überfälle erfolgen, worauf dann die Zeitungen große Berichte bringen von neuen Zusammenstößen, neuen Überfällen auf die Polizei usw . Das ist die Praxis, in die Sie sich bitte auch einmal hineinversetzen wollen . Die Überwachung würde ich gern einstellen, wenn jeder die Duldsamkeit gegenüber dem andern übt, die nach der Verfassung doch eigentlich die Voraussetzung für die Rechte ist, die die Verfassung jedem Staatsbürger gewährt . Vielleicht darf ich auch hier einmal einen Vorschlag machen oder auf eine Erfahrung hinweisen, die ich gemacht habe, oder auf etwas, was ich gesehen habe . In Amerika hat jeder die Möglichkeit, eine Versammlung unter freiem Himmel auf der Straße, auch im Verkehrsknotenpunkt, abzuhalten . Er stellt sich auf eine Bank oder auf einen Wagen und fängt an zu reden . Worüber er reden will, steht auf einem Plakat . Ebenso ist es übrigens in England, im Hydepark in London . Er fängt also an zu reden und
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Erich Metzenthin (* 1883; † nach 1932), DVP, MdL 1921–1932 .
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sammelt 50, 100 bis 1000 Menschen um sich, je nachdem . Bei religiösen Versammlungen, bei Versammlungen, wo ein religiöses Thema erörtert wird, ist eine Genehmigung notwendig . Meine Herren, in diesen Versammlungen finden Sie sehr viele Gegner des Redners, hören aber keinen einzigen Zwischenruf, keine einzige Gegenrede . Wer seine Meinung äußern will, geht an die nächste Straßenecke hin, sammelt dort Leute um sich und redet dort . Man geht von dem Grundsatz aus, dass jeder das Recht hat, seine Meinung zu äußern, und dass jeder das Recht hat, diese Meinung sich anzuhören, dass er aber nicht das Recht hat, dem andern wegen seiner Meinung böse zu sein oder ihn zu unterbrechen . Das heißt, meine Herren: Jeder duldet jeden . Erst dazu müssen wir kommen, dazu muss die Selbsterziehung, dazu müsste die Erziehung der einzelnen Parteien führen, dann würden wir die Zusammenstöße nicht haben, dann würden wir auch die polizeiliche Überwachung nicht notwendig haben, die heute noch erforderlich ist und weswegen wir, Herr Kollege Barteld68, auch die Bereitschaften brauchen, die wir nicht auflösen können, weil wir so junge Leute nicht im Einzeldienst auf die Straße stellen können, die wir dann aber auch nicht auflösen können, weil wir uns nicht in Situationen begeben dürfen, die die Gefahr von Vorgängen heraufbeschwören, wie sie im Sommer 1927 in Wien passiert sind .69 Aber zu dieser Duldsamkeit, von der ich eben sprach und die ich für notwendig halte, haben wir es bisher nicht gebracht . Was soll man sich aber auch wundern, meine Herren, wenn man hier im Parlament sieht, dass niemand eine andere Meinung vertragen kann, und dass gleich sehr lärmende und wenig schöne Zwischenrufe erfolgen, wenn ein Redner eine andere Meinung zum Ausdruck bringt! Also Duldsamkeit auf allen Gebieten wäre im Interesse der politischen Erziehung, auch im Interesse der Ruhe und des Friedens und der Entwicklung der politischen Meinungen für jede Partei jedenfalls das Gegebene . Meine Herren, Stinkbomben, Totschläger, Versammlungssprengungen, Überfälle, Aufreizung zur Gewalt, Überfälle auf Polizeibeamte sind doch wahrhaftig keine sehr überzeugend wirkenden politischen Argumente . […] Militärischer Drill erfolgt vielleicht hier und da einmal; geduldet wird er aber nicht, und es wird sofort Abhilfe geschaffen, sobald von einem solchen Drill an der Zentralstelle oder auch an den Mittelstellen etwas bekannt wird . Was versteht man aber eigentlich unter militärischem Drill? Der eine sieht schon das gewöhnliche Turnen und den Sport als Drill an, weil er keine Lust zum Turnen hat, obwohl es gesund und zweckmäßig für ihn wäre, und der andere hält schon eine einfache Ordnungsmaßnahme für Drill . Wo wirklich Drill erfolgt, wird er, wie ich bereits gesagt habe, abgeschafft .
Johann Adam Heinrich Barteld (1876–1963), DDP, DStP, MdL 1919–1932 . Der Brand des Wiener Justizpalastes 1927, auch die „Julirevolte in Wien“ genannt, begann am 15 . Juli 1927 als Unmutsäußerung gegen ein als skandalös empfundenes Urteil eines Geschworenengerichts und endete mit Polizeischüssen in die demonstrierende und das Justizgebäude angreifende Menge . Es gab 84 Todesopfer unter den Demonstranten und fünf auf Seiten der Polizei; dazu hunderte Verletzte auf beiden Seiten .
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Es gilt, die Polizei zu einer Polizei und nicht zu Militär zu machen, und mit militärischen Drillmaßnahmen erzieht man keine Beamten, die man später auf Menschen loslassen soll . Diese einfache Überlegung, die auch meiner Überzeugung entspringt, sollte mich vor solchen Angriffen schützen, wie sie hier wieder gegen mich gerichtet worden sind . […] Jedenfalls bemüht sich das Ministerium und jeder Beamte in der Polizei, das Beste herzugeben und im Sinne einer modernen humanitären und vernünftigen Richtung und im Sinne des Willens des Parlaments den Dienst für Staat und Volk auszuüben und die jungen Kräfte in diesem Sinne heranzuziehen . Einzelne Übergriffe werden bei einem Polizeikörper von 82 .000 Beamten immer vorkommen und werden nicht zu vermeiden sein . Wenn hier an den Offizieren Kritik geübt worden ist, so will ich feststellen, dass die Offiziere der Schutzpolizei ebenso gut ihren Dienst verrichten wie die übrigen Beamten der Polizei, dass sie genauso mit ganzer Seele beim Dienst sind und im vollen Umfange, nach bestem Wissen und Gewissen versuchen, ihren Mann zu stehen wie die andern . Es ist unrichtig und töricht, im Parlament und außerhalb auf den Polizeioffizieren ständig herumzuhacken . Es gibt keine Behördenorganisation, bei der es nicht Untergebene und Vorgesetzte geben muss und wo der eine befiehlt, der andere zu gehorchen hat . Wo der Offizier, der Vorgesetzte sich allerdings Übergriffe zuschulden kommen lässt, wird er bestraft werden müssen auch nach dem Willen der Offiziere selbst . Genauso wird aber auch der Unterbeamte bei Verfehlungen bestraft werden, der sich gegenüber wehrlosen Gefangenen und dem Publikum Übergriffe erlaubt . Eine gleiche gerechte Behandlung aller Beamten ist überhaupt die Voraussetzung für gutes Wirken und Ansehen der Polizei und für ihren Ruf .
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Zur Verächtlichmachung des politischen Gegners Im Preußischen Landtag am 1. März 192970 Wieder einmal war ein Antrag, dem Minister das Vertrauen zu entziehen, eingebracht worden. Antragsteller war Dr. Friedrich von Winterfeld71 und Gen. (DNVP). Angeblich sei der Minister nicht gewillt, „ausreichende Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des Landfriedens zu treffen.“ Anlass war die Ermordung eines Mitglieds des „Stahlhelm“ durch „Rotfrontkämpfer“. In einem eigenen Antrag wies der Abgeordnete Paul Gotthold Schwenk72 (KPD) die vor Klärung des Sachverhalts erfolgte Presseerklärung der Polizei zurück, bei dem Täter habe es sich um ein Mitglied des Rotfrontkämpferbundes oder der KPD gehandelt. Grzesinski wies den Vorwurf zurück und verwies darauf, dass leider solche Mordtaten polizeilich nicht verhindert werden können. „Wollen Sie wirklich im Ernst behaupten, dass man auch solche Gewalttaten, Tötungen, deren leider der Pankower Mord nur eine von vielen ist, mit polizeilichen Mitteln verhindern kann? Wer das behauptet, tut es aus politischer Demagogie.“ Dann nahm er grundsätzlich zu Fragen des politischen Umgangs Stellung und führte unter anderem Folgendes aus:
Meine sehr verehrten Damen und Herren, da es sich bei den folgenden Beratungen um einen Misstrauensantrag handelt, der gegen meine Person gerichtet ist, möchte ich in der Diskussion über diesen Urantrag der deutsch-nationalen Fraktion nicht sprechen, sondern es den Fraktionsrednern überlassen, sich hierzu zu äußern . Ich kann das umso mehr, als die Herren Antragsteller es ja auch nicht für richtig gehalten haben, eine große Anfrage an mich zu richten, sondern mit ihrem Urteil sofort fertig waren und daraus die Berechtigung herleiten, das Haus aufzufordern, sich ihren Schlussfolgerungen einfach anzuschließen . Aber der Sache wegen, um die es sich handelt – nicht meinetwegen –, kann ich nicht umhin, mich zunächst einmal zu der in diesem Antrag erneut angeschnittenen Frage der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung in PreuSitzungsberichte des Preußischen Landtags . 3 . Wahlperiode . 55 . Sitzung am 1 . März 1929 (TOP Misstrauensantrag gegen den Herrn Minister des Inneren), Sp . 4369 ff . Der auf Sp . 4369 wiedergegebene Antrag (Drucksache 1610) im Wortlaut: «In der Nacht vom 22 . zum 23 . Februar ist nach Pressemeldungen wieder ein Mitglied des Stahlhelms von Rotfrontkämpfern ohne vorhergehenden Streit aus dem Hinterhalt erschossen worden . Auch dieser Mord ist ein weiteres Zeichen dafür, dass die milde Behandlung der kommunistischen Kampforganisationen durch den Preußischen Minister des Innern das politische Verbrechertum immer mehr anwachsen lässt und die Sicherheit in Stadt und Land völlig untergräbt . Die verschiedenen Erklärungen des Herrn Ministers des Innern bei den Beratungen seines Haushalts haben leider erwiesen, dass der Herr Minister nach unserer Auffassung nicht gewillt ist, ausreichende Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des Landfriedens zu treffen . Der Landtag wolle daher beschließen: Der Landtag entzieht dem Minister des Innern das Vertrauen .» 71 Dr . jur . Friedrich von Winterfeld (1875–1949), DNVP, MdL . 72 Paul Gotthold Schwenk (1880–1960), KPD, MdL . 70
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ßen, insbesondere in Berlin, und zu dem Treiben der radikalen uniformierten Verbände und derer, die dahinter stehen, zu äußern, obwohl ich das bei den verschiedensten Anlässen hier im Landtag und außerhalb reichlich oft getan habe . Ich will diese meine Stellungnahme vielleicht auch deshalb vorweg darlegen, damit die Debatte eine gewisse Grundlage erhält . Ferner will ich den Fraktionen davon Kenntnis geben, wie die Staatsregierung zu den häufigen, auch von ihr sehr bedauerten Zusammenstößen, Gewaltakten, Rohheitsdelikten, Überfällen, gegenseitigen Tötungen unduldsamer politischer Gegner steht . Zunächst möchte ich eine kurze Sachdarstellung des Vorgangs geben, wie er sich nach den polizeilichen Ermittlungen ergibt . […] Es ist ja nicht das erste Mal, dass politisch Andersdenkende dem Gegner, nur weil er eine andere politische Überzeugung hat als sie selbst und diese nach außen hin durch Abzeichen, durch Uniform, durch Kleidung bekundet, tätlich angreifen, überfallen, misshandeln oder gar töten . Und diese Gewalttaten kommen nicht nur von einer bestimmten politischen Richtung und Organisation; sie verteilen sich auf die radikalen Verbände und Parteien der äußersten Rechten und der äußersten Linken . Ich will hier nicht eine Liste und Gegenliste aufstellen . Es ist ja auch ganz gleichgültig, ob die im Laufe der letzten Jahre verübten Gewalttätigkeiten häufiger von Angehörigen der radikalen Rechten oder der radikalen Linken ausgeübt worden sind . Ich weise nur deshalb darauf hin, weil die Herren Antragsteller den Pankower Mord an dem Stahlhelmmann Herbert Kleyer auf die von mir den kommunistischen Organisationen gegenüber geübte angeblich milde Behandlung zurückführen . Mit dem selben Recht, meine Herren, könnte man sagen, dass die Vorgänge, die politischen Morde in Ahrensdorf, in Welzow, in Küstrin, die eine Zeitlang dauernden regelmäßigen Überfälle auf dem Kurfürstendamm in Berlin zurückzuführen seien auf die milde Behandlung der Rechtsverbände und der Nationalsozialisten durch mich und die mir unterstellte Polizei . Ich könnte diese Aufzählung beliebig verlängern . Im Augenblick sind mir einige 20 Fälle gegenwärtig, in denen Nationalsozialisten oder Stahlhelmer tätliche Überfälle auf Angehörige anderer Parteien ausgeübt haben . Es sind mir […] einige 30 Fälle bekannt, wo Kommunisten oder der Rote Frontkämpferbund Überfälle auf Andersdenkende verübt haben, ohne jeden Anlass, nur weil diese durch Abzeichen dartaten, dass sie eine andere politische Überzeugung haben . Auch hierbei sind zum Teil Menschenleben vernichtet worden, ist Gesundheit und Eigentum friedlicher Bürger beschädigt worden . […] Das neue Deutschland, der demokratische Volksstaat Preußen, ist in seiner Verfassung und nach seinem Aufbau doch der freieste Staat der Welt . Jeder kann hier frei und ungehindert für seine politische Überzeugung werben . Das gerechteste Wahlrecht sichert jeder Mehrzahl von Staatsbürgern Einfluss und Vertretung gemäß ihrer wirklichen Bedeutung . Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit sind in der Verfassung garantiert und werden durch die Verwaltungsexekutive des Staates geschützt .
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Ist es nicht für ein politisch freies Volk mit dieser freien Verfassung beschämend, dass es immer wieder nötig ist, durch polizeiliche Verbote, Umzugsverbote, wie es hier in Berlin notwendig war, Zeitungsverbote, diese Rechte zeitweise aufzuheben aus Gründen der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit? Von dem Verantwortungs- und Pflichtbewusstsein, das diese weitgehenden Rechte bei den deutschen Staatsbürgern voraussetzen, ist oftmals leider sehr wenig zu spüren . Wir müssen aber in Deutschland, und zwar auch im Interesse unserer Weltgeltung, dazu kommen, dass für jeden Staatsbürger die Achtung vor der Überzeugung des anderen, der unbedingte Respekt vor der politischen Betätigungsfreiheit auch politisch anders eingestellter Staatsbürger oberstes Gesetz wird . Gerade die Polizei würde es ja am allermeisten dankbar empfinden, wenn es heute nicht mehr nötig wäre, Versammlungen und Umzüge schützend zu begleiten, weil immer die Gefahr besteht, dass Angehörige anderer politischer Richtungen diese Demonstrationen, diese Versammlungen angreifen, stören oder sprengen . Es ist kein Ehrenzeugnis, wenn wir uns gestehen müssen, dass wir heute leider noch nicht so weit sind . Im Gegenteil hat die politische Verhetzung und Unduldsamkeit gegen Andersdenkende in letzter Zeit unerhörte Formen angenommen, Formen, die ihre letzten Auswirkungen in Mordtaten wie denen in Pankow und Arensdorf zeitigen . Was soll man zur Aufrichtigkeit Ihrer Verurteilung des Mordes in Pankow sagen, wenn man zu gleicher Zeit im ‚Fränkischen Kurier‘, eine Zeitung Ihrer Richtung, aus Anlass des Erinnerungstages der Ermordung von Kurt Eisner liest: Und auch die Hoffnung möge am heutigen Gedenktage ausgesprochen werden, dass unserem Volke wieder Männer wie Graf Arco entstehen möchten, die, wie er, unter Einsatz ihrer ganzen Persönlichkeit und, wenn es sein muss, ihres Lebens dafür einstehen, dass unser Volk wieder frei und glücklich werde .73
Das bedeutet doch die Verherrlichung des politischen Mordes! Die Beschimpfungen und Verdächtigungen des politischen Gegners in Versammlungen und Presse, die Methode, bei den eigenen Anhängern die Anschauung zu erwecken, als sei der politische Gegner verächtlich, sein Handeln antinational, wie Sie es auch mit der Landesverratshetze wieder tun, und nur von niederen Motiven und nicht von idealen Beweggründen geleitet, führen dazu, dass es den Angehörigen solcher Verbände dann verdienstvoll erscheint, ihre politischen Gegner auf jede Art und Weise zu bekämpfen . Aus der Nichtachtung und Verachtung der politisch Andersdenkenden heraus entspringt dann die Überzeugung, dass die Störung von Versammlungen
Kurt Eisner (1867–1919), USPD . Bekannt wurde er vor allem als Anführer der Novemberrevolution von 1918 in München . Vom 8 . November 1918 bis zu seinem gewaltsamen Tod war er der erste Ministerpräsident des Freistaats Bayern . – Anton Graf von Arco auf Valley (1897–1945), deutsch-österreichischer Adliger und Offizier, ermordete aus monarchistischen, deutsch-völkischen und antisemitischen Motiven Kurt Eisner am 21 . Februar 1919 .
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und Umzügen politisch anders eingestellter Staatsbürger ein berechtigtes Mittel des politischen Kampfes sei, dass die gewalttätige Bekämpfung der Angehörigen anderer politischer Überzeugungen gegebenenfalls zum Rüstzeug der Politik gehört . Von Gewalttaten dieser Art bis zum Mord ist dann naturgemäß nur ein kleiner Schritt . Meine Damen und Herren, die dringend nötige politische Toleranz und Achtung vor der Überzeugung anderer kann mit polizeilichen Mitteln und polizeilichen Kräften nicht erreicht werden; es muss Aufgabe der politischen Parteien und Organisationen sein, ihre Anhänger zu dieser selbstverständlichen Duldung anderer Überzeugung zu erziehen . Ich habe schon zu Anfang gesagt, dass ich das unglückliche Opfer des Vorfalls in Pankow tief beklage; die Täter sind gefasst und werden durch Richterspruch ihre verdiente Strafe erhalten . Aber ist es vielleicht nicht hier auch so, wie so häufig bei politischen Verbrechen, dass es gar nicht die eigentlich Schuldigen sind, die dann vor den Richter gestellt und verurteilt werden? Schuldig in höherem Sinne sind, wie bei fast allen politischen Gewalttaten, die Führer und Hetzer, die in den meist jungen Leuten den Hass gegen den politischen Gegner großgezogen haben, und die es mit aufreizenden Reden und Darstellungen dazu gebracht haben, dass junge Menschen einander blutig und tot schlagen, bloß weil sie verschiedener politischer Einstellung sind . Solche Hetzer gehen dann frei und ungeschoren umher, während ihre Opfer die Folgen ihrer Bluttat in den Gefängnissen oder Zuchthäusern büßen müssen oder am Boden liegen . In Pankow ist ein junger Mensch, der dem Stahlhelm angehört, getötet worden; die Täter gehören der Kommunistischen Partei an . Häufig sind die Täter aber auch Angehörige radikaler Rechtsverbände, und die Angegriffenen sind Angehörige republikanischer und anderer Organisationen . Wie dem auch sei, die Täter und Betroffenen büßen in allen Fällen für das, was durch Verhetzung und Verblendung andere verschuldet haben . Wie schlimm es in letzter Zeit mit der Verhetzung der politischen Gegner getrieben worden ist, dafür möchte ich Ihnen doch eine allerdings übel duftende Blütenlese nicht vorenthalten, die ich mir aus der letzten Zeit habe zusammenstellen lassen . Dabei sind die persönlichen Verleumdungen und Herabziehungen einzelner Personen noch längst nicht einbegriffen . […] Die ‚Deutsche Zeitung‘ schreibt: Das Maß ist voll … durch diese nächtliche Bluttat der Kette der feigen Meuchelmorde der kommunistischen Banditen ein neues Glied hinzugefügt … das ist die dunkle Schreckensherrschaft des Auswurfs der Menschheit, das ist der organisierte Meuchelmord eines feigen Gesindels … Verbrechertum der Rotfrontbanditen … nächtliche Gewaltherrschaft der Rotfrontbanditen .
[…] Und genauso, wie von rechts gehetzt worden ist, in Ausdrücken genau so wird auch von links gehetzt . Es heißt in der ›Roten Fahne‹ vom 23 . Oktober 1928:
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Sozialfaschistische Mordbuben … Bluttat in Welzow aufgeklärt … Nationalsozialistische Revolverhelden .
Und weiter heißt es: Hitler im Sportpalast … Führer der nationalsozialistischen Banditenpartei . … Der Bandit Goebbels … Clown Hitler … Die Partei des Banditentums …
Weiter heißt es: Öffentliche Protestversammlung gegen die Mordüberfälle der Hitler-Banditen … Heraus zum Massenprotest … Faschistische Mordbanden … Faschistische Mordbuben … Faschistisches Pack … Nationalsozialistische Banden … Provokateur Zörgiebel … Faschistische Arbeitermörder … Überfall auf die 3 RFB-Mitglieder durch Faschisten … Rowdys .
Das ist ein Niveau, das man in der radikalen Presse rechts und links findet, das man sich verbitten sollte, das sich die politische Öffentlichkeit mit aller Entschiedenheit verbitten müsste . Das sind Ausdrücke, das ist eine Schreibweise auf der radikalen Seite links und rechts, die naturgemäß zu den furchtbaren Unglücken führen müssen, die wir hier dauernd, wenn sie geschehen sind, allerseits auf das tiefste beklagen . Mit diesen unwürdigen Methoden des politischen Kampfes muss endlich Schluss gemacht werden! Jede politische Partei, die von ihren Ideen durchdrungen ist und nicht nur vorgibt, das Wohl der Volksgenossen und des Volksganzen im Auge zu haben, hat im Interesse ihrer Anhängerschaft, im Interesse unseres Volkes und Landes die heilige Pflicht, diesen Ungeist der Faust und der Gewalt als politisches Kampfmittel zu verdammen . Die Liste der Opfer ist lang, und schon viel zu lang für ein Volk, das sich wie das deutsche mit Stolz zu den politisch reifen und mündigen Völkern zählt . Je sachlicher der politische Kampf geführt wird, je mehr er getragen wird auch von der Achtung und Überzeugung der anderen, desto eher wird es möglich sein, aus dem politischen Kampf der Überzeugungen die Polizei und ihre Vorsichtsmaßnahmen ganz fern zu halten, was jedenfalls mein dringender Wunsch ist . Wer von der Richtigkeit und Sieghaftigkeit seiner Ideen durchdrungen ist, kann getrost auf jede Anwendung der Faust verzichten . Mit der Faust wird er sein Ziel auch nie erreichen, sondern alle anständigen Menschen nur von sich abstoßen . Meine Damen und Herren, ich richte von diesem Platz aus meine Bitte und meinen Ruf an die Anständigen und Überzeugten jeder Parteirichtung, politische Auseinandersetzungen in Zukunft nur mit geistigen Waffen auszutragen und sich gegen diejenigen energisch zu wenden, welche sich ohne Prügel die Politik nicht mehr vorstellen können . Erst dann wird die verfassungsmäßig für jeden Staatsbürger gewährleistete politische Meinungsfreiheit und Betätigungsfreiheit in vollem Umfange zur Wirklichkeit werden .
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[Der Antrag des Abgeordneten von Winterfeld und Gen. (DNVP) wurde ebenso abgelehnt wie der Antrag des Abgeordneten Schwenk und Gen. (KPD].74]
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Das zum 1. Mai nicht aufgehobene Demonstrationsverbot Im Preußischen Landtag am 13. Mai 192975 Wieder einmal wurde ein Misstrauensantrag gegen Innenminister Grzesinski von Seiten der KPD-Abgeordneten gestellt. Anlass waren die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Kommunisten, die trotz des seit dem 1. Januar 1929 verhängten Demonstrationsverbots in Berlin an öffentlichen Kundgebungen und Umzügen festhielten. Knapp 14 Tage später nach den Ausschreitungen und Zusammenstößen am 1. Mai 1929 in Berlin mit zahlreichen Toten und Verletzten (dem sogenannten „Blutmai“) kam es im Preußischen Landtag zu einer Debatte, in der auch Innenminister Grzesinski eine auf den eingehenden Polizeibericht gestützte Darstellung der Vorgänge gab. In dieser von zahlreichen Zwischenrufen seitens der kommunistischen Abgeordneten sowie von Seiten des Präsidiums ihnen erteilten Ordnungsrufen und Ausschlüssen mehrfach unterbrochenen Debatte wurden dem Innenminister Grzesinski schwerste persönliche Beleidigungen wie „Lügner“, „Schwindler“, „Provokateur“, „Anwalt der Polizeisadisten“, „Arbeitermörder“, „Da steht die Fratze eines Arbeiterverräters“, „Pfui Teufel, Arbeitermörder“, „Sadist“, „Sie scheinen nur bis zur dritten Klasse gekommen zu sein!“ oder „Bluthund“ zugerufen, was zu mehreren Ausschlüssen von KPD-Abgeordneten aus der Sitzung führte. Einen Ordnungsruf erhielten die Abgeordneten Hugo Eberlein, Ernst Grube und Dr. Ernst Meyer, einen zweiten Ordnungsruf erhielt Robert Neddermeier. Nach dem erhaltenen zweiten Ordnungsruf wurden aus der laufenden Sitzung ausgeschlossen die Abgeordneten Wilhelm Obendieck, Paul Hoffman, Adolf Deter, Johanna Ludewig, Hermann Schubert und Friedrich-Carl Schulz. Für diese und acht weitere Sitzungstage wurden „wegen fortgesetzter Verletzung der Ordnung des Hauses“ ausgeschlossen die Abgeordneten Paul
Sitzungsberichte des Preußischen Landtags . 3 . Wahlperiode . 58 . Sitzung am 5 . März 1929 (TOP Misstrauensantrag gegen den Herrn Minister des Inneren), Sp . 4691: «Das Ergebnis der Abstimmung ist folgendes . Es sind im ganzen 351 Karten abgegeben worden . Die Mehrheit ist 176 . Mit Ja haben gestimmt 140, mit Nein 211 . Der Antrag Drucksache Nr . 1610 ist als abgelehnt . (Bravo! Bei der Soz .-Dem . P . und den D . Dem .) .» 75 Sitzungsberichte des Preußischen Landtags . 3 . Wahlperiode . 85 . Sitzung am 13 . Mai 1929 (TOP war: Maidemonstrationen, Misstrauensantrag gegen den Ministerpräsidenten und den Minister des Innern), Sp . 6885–6917 [32 Spalten] . Zur Rolle Albert Grzesinskis im Rahmen der Vorgeschichte des 1 . Mai 1929 vgl . Albrecht (1999): Grzesinski, S . 264 ff . 74
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Wojtkowski, Ernst Wollweber, Heinrich Rau, Wienand Kaasch, Hans Jendretzky und Karl Abel; letzterer erhielt Hausverbot.76
[…] Mit dem Demonstrationsverbot vom Dezember 1928, mit dem auch der Herr Abgeordnete Kasper begann, hat der Polizeipräsident von Berlin durchaus in meinem Sinne gehandelt . Dieses Demonstrationsverbot war unbedingt erforderlich, weil anders eine Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung in den Straßen Berlins nicht mehr zu gewährleisten gewesen war . Der Polizeipräsident von Berlin hatte damals vor dem Demonstrationsverbot bereits gewissermaßen als Warnung, ähnlich meiner Warnung vom März, darauf hingewiesen, dass er die dauernden Beleidigungen der Polizei seitens der Kommunisten und Roten Frontkämpfer sowie auch seitens der Nationalsozialisten, also Beleidigungen von links und rechts nicht dulden könne, und dass er warne . […]77 Meine Damen und Herren, das Demonstrationsverbot war durchaus begründet, weil es ein unmöglicher Zustand in einem geordneten Staat ist, dass Staatsbürger organisiert und einzeln sich gegen Staatsbeamte vergehen, sie überfallen und ihr Leben gefährden . Meine Damen und Herren, dieses Demonstrationsverbot ist in der Öffentlichkeit, in der gesamten Presse Berlins im allgemeinen, mit Ausnahme der ‚Roten Fahne‘ und der ‚Welt am Abend‘, als eine Erleichterung begrüßt worden . Es war eine Erleichterung, allerdings nur eine vorübergehende; denn die Überfälle setzten bald wieder ein, sodass ich nicht nur im Hinblick auf die Vorgänge hier in Berlin, sondern im übrigen Preußen unter dem 23 . März d . J . meine allgemeine Warnung an die Verbände richten musste, nachdem ich bereits von dieser Stelle aus am 1 . März gewarnt und meine Stellung zu den Verbänden und ihren Übergriffen klar bekundet hatte . Meine Damen und Herren, die Kommunisten haben aus dieser Warnung ein einseitiges, subjektives und ungerechtes Vorgehen gegen den Roten Frontkämpferbund und die Kommunisten herausgelesen und haben nun ihrerseits gegen die Maßnahmen der Polizei insbesondere hier in Berlin Maßnahmen getroffen . […] Die Kommunisten haben infolgedessen in geheimen Zirkularen ihren Mitgliedern die Weisung gegeben, trotz Verbot zu demonstrieren . Die roten Frontkämpfer und die Kommunisten sind mit Anweisungen in Bezug auf Demonstrationsverbote versehen worden, sich über Maßnahmen der Behörden unter allen Umständen mit Gewalt hinwegzusetzen . […] Es ist soeben bezweifelt worden, dass seitens der Kommunistischen Partei Anweisungen gegeben worden sind, gegen die Gesetze und Anordnungen der Polizei zu ver-
Zu den hier aufgeführten kommunistischen Abgeordneten des Landtags vgl .: Von Hindenburg (2017): Biographisches Handbuch . 77 Die in eckigen Klammern angedeuteten Auslassungen betreffen Zwischenrufe bzw . Antworten Grzesinskis auf diese, von denen im Folgenden nur solche aufgenommen wurden, die für das Verständnis seiner darauf bezogenen Aussagen notwendig sind . 76
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stoßen . Ich darf aus einem Rundschreiben der Bundesführung des Roten Frontkämpferbundes vom 21 . März 1929 folgenden Satz verlesen: Selbständiges Auftreten der KPD und des RFB für unsere Losung bei gleichzeitiger Anwendung aller Mittel zur Organisierung der Einheitsfront von unten, Durchbrechung aller Verbote des bürgerlichen Staates muss der leitende Gesichtspunkt für die Vorbereitung unserer diesjährigen Maidemonstration sein .
Sie haben den Mut gehabt, als ich die entsprechende Behauptung aufstellte, mir ‚Lüge‘ zuzurufen; nun sehen Sie, wie die Dinge bei Ihnen liegen . Im Übrigen braucht man sich nur den Inhalt der ‚Roten Fahne‘ vor dem 1 . Mai zu vergegenwärtigen, um sich klar darüber zu sein, dass die Lüge auf einer ganz anderen Seite zu finden ist . Es ist ganz zweifellos, dass die Aufrechterhaltung des Demonstrationsverbotes am 1 . Mai in einer Stadt wie Berlin mit der starken Arbeiterbevölkerung durch die in Frage kommenden Stellen die allergrößten Bedenken haben musste, und dass selbstverständlich eingehend geprüft worden ist, ob das Demonstrationsverbot für diesen Tag nicht aufzuheben ist . Meine Damen und Herren, es ist sehr ernstlich nach allen Richtungen hin geprüft worden, und nach dieser ernstlichen Prüfung sind der Polizeipräsident und ich zu der Überzeugung gekommen: Die Aufhebung des Demonstrationsverbots kommt unter keinen Umständen in Frage . Sie kommt deswegen nicht in Frage, weil das Verhalten der Kommunisten und des Roten Frontkämpferbundes keine Gewähr dafür gibt, dass während des 1 . Mai alles in Ruhe und Frieden abgehen würde . Es kam ja auch den Herren gar nicht darauf an, ruhig und friedlich zu demonstrieren, wie es die Gewerkschaften seit Jahren getan haben . Meine Herren, es ist eine feige Demagogie von Ihnen, die Schuld den Behörden zuschieben zu wollen . Sie haben die Schuld . Sie sind verantwortlich für die Leichen . Sie alle miteinander gehören auf die Anklagebank . Sie gehören ins Zuchthaus . Sie gehören vor den Richter gestellt . […] Während des Monats April sind infolge von Überfällen seitens der Kommunisten und des Roten Frontkämpferbundes hier in Berlin 22 Beamte zu Schaden gekommen, unter denen fünf von Ihren Organisationen so schwer überfallen und geschlagen worden sind, dass sie noch heute im Krankenhaus liegen . […] Meine Damen und Herren, lediglich die Vorsorge, dass es nicht zu größeren Blutvergießen und Zusammenstößen kommt, hat den Polizeipräsidenten von Berlin veranlasst, das Demonstrationsverbot trotz schwerer Bedenken am 1 . Mai nicht aufzuheben . Es ist natürlich nachträglich nicht ganz einfach, zu sagen, dass bei Aufhebung des Verbots derartige Zusammenstöße wie in der Kösliner Straße und in Neukölln nicht zu verzeichnen gewesen wären . Aber bei der ungeheuren Zuspitzung der Gegensätze innerhalb der Gewerkschaften zwischen dem der Sozialdemokratischen Partei ange-
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hörenden Teil und dem kommunistischen Teil, der Sozialdemokratischen Partei und der Kommunistischen Partei und dem Rotfrontkämpferbund hier in Berlin musste auch aus den Erfahrungen des Vorjahres mit Naturnotwendigkeit ein schwerer Zusammenstoß gefolgert werden . Meine Damen und Herren, es ist nämlich nicht so, dass es im vorigen Jahre bei der Demonstration nicht zu Zusammenstößen gekommen sei . Damals sind bereits 700 Verhaftungen vorgekommen, und die Gewerkschaften haben mit Recht erklärt, dass sie sich ein derartiges provokatorisches Vorgehen seitens der Kommunisten und des Rotfrontkämpferbundes innerhalb der Mai-Demonstration durch aufreizende und beschimpfende Transparente und Plakate nicht wieder gefallen lassen würden . Dieser Zusammenstöße innerhalb einer Menschenmenge von Hundertausenden hätte die Polizei naturgemäß nicht Herr werden können; sie hätte infolge der Angriffe, die auf sie gerichtet worden wären, schießen müssen, und das Blutbad wäre entsetzlich geworden . Meine Damen und Herren, gewiss, das wollten die Kommunisten, darauf legten sie es an . Sie wollten den sozialdemokratischen Polizeipräsidenten, sie wollten den sozialdemokratischen Innenminister dazu bringen, dass er in seine eigenen Parteifreunde hineinschießen lässt . Sie wollten, dass durch eine solche Politik die Sozialdemokratie bei den Arbeitern in Misskredit gebracht wird . Dazu, meine Herren, waren wir nicht dumm genug, um Ihnen (zu den Komm .) dabei den Steigbügel zu halten . […] [im späteren Teil der Rede]
Also, meine Damen und Herren, morgens um 10 Uhr haben hier in Berlin die Gewerkschaftsversammlungen stattgefunden, die von etwa 100 000 bis 150 000 Menschen besucht waren . Die Kommunisten hatten nachmittags 3 Uhr 20 Saalversammlungen, die insgesamt von ungefähr 20 000 Menschen besucht waren . Dann fanden abends die sozialdemokratischen Festveranstaltungen wie alljährlich am 1 . Mai statt . Der Rote Frontkämpferbund hatte die Losung ausgegeben, am 1 . Mai nicht in Uniform zu erscheinen, im Übrigen aber den Drahtzieher für Durchbrechung des Demonstrationsverbots in Berlin zu bilden . Meine Damen und Herren, mit dieser Parole haben die Kommunisten nicht einmal in ihren eigenen Reihen eine Gefolgschaft, einen Anhang und Anklang gefunden . […] Mit welcher Gewissenslosigkeit seitens der Kommunisten vorgegangen ist, das zeigen ja zwei Notizen der ‚Welt am Abend‘ vom 30 . April, eine große falsche Notiz, dass das Demonstrationsverbot aufgehoben sei, und eine zweite Notiz, dass ein Befehl an die Schutzpolizei ergangen sei, keine Karabiner mitzunehmen . Man hat also mit allen Mitteln versucht, die Massen auf die Straße zu locken . Trotzdem ist Ihnen das nicht gelungen, trotzdem ist der Mai-Demonstrationsversuch der Kommunisten ganz kläglich gescheitert, trotz ‚Welt am Abend‘ . […]
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Meine Damen und Herren, trotz dieser Herauslockung seitens der ‚Welt am Abend‘ ist es den Demonstrationsversuchen der Kommunisten am 1 . Mai im Verlaufe des Tages nicht gelungen, eine nennenswerte Anzahl von Kommunisten auf die Straße zu bringen . Das beweist jedenfalls, dass die Kommunisten mit ihren Gewaltabsichten nicht das Proletariat, nicht einmal ihre eigenen Leute hinter sich hatten . Eine ganze Anzahl von Ansammlungen, teilweise 50 Teilnehmer, teilweise bis 2 .000, sind von der Polizei mit Leichtigkeit auseinandergestreut worden . Die Polizei brauchte nur mit Lastkraftwagen zu kommen, sie brauchte nur mit dem Wasserschlauch zu kommen, und die Demonstranten verließen fluchtartig den Platz . Insgesamt sind etwa 8 .000 bis 10 .000 Straßendemonstranten in Berlin von der Polizei gezählt worden . Im Laufe des Tages fanden eine Reihe von kleineren Zusammenstößen anlässlich Auflösung der kleinen Demonstranten- und Demonstrationszüge und des Herausziehens von Versammlungsteilnehmern aus den kommunistischen und aus den anderen Versammlungen statt, kleinere Zusammenstöße am Hackeschen Markt, bei Kliems Festsälen und am Senefelder Platz . Bei diesen Zusammenstößen ist es tatsächlich zu den ersten Schießereien gekommen, und zwar – meine Damen und Herren, ich bitte Sie, Obacht zu geben – die Polizei hat in diesen Fällen zuerst geschossen . Das sind die ersten Schüsse, die hier in Berlin gefallen sind, und zwar hat die Polizei geschossen, weil sie von den Kommunisten und Rotfrontkämpfern überfallen worden ist . Und zwar hat der Inspektionsführer am Hackeschen Markt und Schönhauser Tor selbst von der Waffe Gebrauch machen müssen, weil er mit wenigen Polizeibeamten von einer Rotte von einigen hundert Kommunisten bedrängt worden ist . […] Also, meine Damen und Herren, es sind tatsächlich bereits im Laufe des Mittags im Zusammenhang mit den Demonstrationen Zusammenstöße erfolgt, bei denen die Polizei geschossen hat, bei denen die Polizei hat schießen müssen, um sich ihres Leibes und Lebens gegenüber den Angriffen zu wehren, welche täglich von kommunistischer Seite auf Polizeibeamte ausgeführt worden sind . Die Angriffe sind erfolgt, teilweise, indem man die Polizeibeamten bedrängte, indem man sie umringte, indem man sie schlug und mit Steinen nach ihnen warf, indem man mit Schlagringen arbeitete und mit Messern auf die Polizeibeamten losging . Gegen ¼ 4 nachmittags fielen im Bezirk Neukölln bei Räumung der Hermannstraße aus einzelnen Häusern Schüsse auf die vorgehende Polizei . Durch Steinwürfe wurden bei dieser Gelegenheit vier Beamte nicht unerheblich verletzt . Wenige Zeit später wurde im Bezirk Alexanderplatz an der Kreuzung Linienstraße mit der Weydinger Straße versucht, eine Barrikade zu errichten; die vorgehende Polizei wurde dabei aus einem Neubau beschossen . Kurze Zeit vorher war in dem Bezirk Wedding nahe dem Nettelbeckplatz, in dessen angrenzenden Straßen der Polizei an diesem Tage schon wiederholt Widerstand geleistet worden war, gleichfalls auf die Polizei geschossen worden .
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Ich zitiere weiter aus dem Polizeibericht: Während es gelang, am Bülowplatz sehr schnell Ordnung zu schaffen, nahmen die Verhältnisse in Neukölln und am Wedding nach Eintritt der Dunkelheit immer ernstere Formen an . In beiden Stadtgegenden musste die Polizei von der Schusswaffe Gebrauch machen, um sich der heimtückisch aus Fenstern heraus und von Dächern herab schießenden Aufrührer zu erwehren . In Wedding lag der Hauptwiderstandspunkt in der Wedding- und Kösliner Straße, wenngleich auch vereinzelt aus Häusern in der Parkstraße, am Nettelbeckplatz, in der Wiesen- und Uferstraße geschossen wurde . In der Abenddämmerung wurde von den Aufrührern an der Kreuzung der Kösliner mit der Weddingstraße aus Straßenbaumaterial (die Kösliner Straße wird zurzeit kanalisiert) eine Barrikade gebaut und aus den anliegenden Häusern unter starkem Feuer gehalten . Hier war der Gruppenführer von Nord gezwungen, seine mit Karabinern ausgerüstete Gruppenreserve einzusetzen .
Ich habe schon erwähnt, dass die Dachschützen auf frischer Tat ertappt worden sind! […] Größeres Ausmaß nahm der bewaffnete Widerstand in den Nachmittagsstunden des 1 . Mai in der Hermannstraße und deren Nebenstraßen an . Hier war immer wieder ein Räumen der vorgenannten Straßenzüge unter Abgabe von einzelnen Pistolenschüssen erforderlich, da dieser große Bezirk nicht, wie es im Norden (Kösliner Straße) möglich war, seinem Schicksal überlassen werden konnte . Die Polizei musste die gewaltsame Durchstreifung dieses großen Bezirks aufrechterhalten, da von hier aus ein Übergreifen des bewaffneten Aufruhrs in andere Bezirke zu fürchten war und weiterhin Tätlichkeiten gegen Andersdenkende und Plünderungen unter allen Umständen vermieden werden mussten . Während so im Norden im Verlaufe der Nacht nur vereinzelt Schüsse gewechselt wurden, musste sich die Polizei im Neuköllner Bezirk der zahlreichen Dach- und Fensterschützen durch lebhaftes Feuer erwehren .
Soweit der Polizeibericht, und soweit die Situation in der Stadt Berlin in den hier in Frage kommenden Bezirken . […] Ich bedaure außerordentlich, dass ich meine Ausführungen, die zunächst eine Sachdarstellung bilden sollten, nicht im Zusammenhang geben kann, und befürchte, dass einigen von Ihnen die Begründung für das Verhalten der Polizei nicht mehr im Zusammenhang gegenwärtig ist . Ich kann aber dem Hause nicht zumuten, meine Rede oder einen Teil davon noch einmal anzuhören, und muss Sie um Entschuldigung bitten, wenn ich nunmehr an der Stelle fortfahre, wo ich jetzt soeben leider wieder habe abbrechen müssen . Ich will jedenfalls feststellen: Trotz der unerhörten Provokationen, die die Polizeibeamten seitens der Kommunisten und der Roten Frontkämpfer im Lauf des 1 . Mai haben erdulden müssen, sind die Beamten nicht sonderlich nervös geworden . Sie haben im Gegenteil ihre Ruhe bewahrt und haben von der Schusswaffe solange keinen Gebrauch gemacht, so lange mit anderen Mitteln der Widerstand, der ihnen entgegen-
Das zum 1. Mai nicht aufgehobene Demonstrationsverbot
gesetzt wurde, zu brechen gewesen ist . Es ist gerade deswegen – und das möchte ich wiederum der von mir schon erwähnten Presse in Berlin und auswärts ausdrücklich sagen – vom Polizeipräsidenten zum ersten Male der Versuch gemacht worden, nicht nur Gummiknüppel zu benutzen und von der Schusswaffe möglichst abzusehen, sondern die Demonstranten auch durch Wasser zu zerstreuen, um möglichst ohne Lebensgefahr und ohne Verletzungen die Staatsgewalt, die Autorität, den Willen des Staates zur Geltung zu bringen . Meine Damen und Herren, als aber von allen Seiten auf die Polizeibeamten geschossen wurde, als Barrikaden gebaut wurden – diese Tatsache ist doch nicht aus der Welt zu schaffen – und als die Beleuchtung in ganz Neukölln einfach unterbrochen wurde – ich meine natürlich in den Bezirken Neuköllns, in denen gekämpft wurde – Dunkelheit herrschte, hat die Polizei mit Recht ganz nachdrücklich geantwortet . Es ist hier und da der Gedanke aufgetaucht, man hätte doch zunächst Schreckschüsse abgeben können . Meine Damen und Herren, es sind auch im Laufe des Tages einige Schreckschüsse abgegeben worden . Ich will aber bemerken, dass auch durch Schreckschüsse eine ganze Anzahl Opfer zu beklagen sind, die weit entfernt vom Schauplatz der Kämpfe waren […] Die 25 Opfer, die bei den Maiunruhen den Tod gefunden haben, sind sicherlich zu beklagen, sind ein sehr trübes Ergebnis der Maitage . Niemand beklagt diese Opfer mehr als die Staatsregierung, sie weist aber mit Entschiedenheit die Verantwortung für diese Toten zurück und misst sie denjenigen zu, die entgegen den staatlichen Anordnungen die Menschen in diese Kämpfe hineingetrieben haben . In der Vorkriegszeit hat sich – ich betone das noch einmal und nehme damit auf einen Zwischenruf Bezug, der mir vorhin gemacht wurde – die alleinige Arbeiterpartei, die Sozialdemokratische Partei, niemals mit ungesetzlichen Mitteln politische Rechte zu erkämpfen gesucht; sie hat in ihren Versammlungen und bei Demonstrationen unter freiem Himmel in einem einzigen Falle für das Wahlrecht das notwendige Interesse bekundet und die Öffentlichkeit auf politisch Fehlendes aufmerksam gemacht . Sie hat sich aber niemals mit Waffengewalt oder auch nur durch positive Angriffe auf Polizeiorgane vergangen . Im Gegenteil: Wo zweideutige Elemente Versuche dieser Art machten, sind sie ausgewiesen worden und die Sozialdemokratie ist von ihnen entschieden abgerückt . Bebel, Liebknecht und Paul Singer würden sich im Grabe umdrehen, wenn sie von dem heutigen Tage und von den Maiunruhen erführen, und wenn sie hörten, dass sich ausgerechnet die Kommunisten auf sie berufen . Nein, meine Damen und Herren, davon kann keine Rede sein . […] Denn letzten Endes ist es doch ein Verbrechen, entgegen dem staatlichen Verbot die Massen auf die Straße zu jagen, nachdem die maßgebenden Organisationen der Arbeiter von diesem Verbot ausdrücklich Kenntnis genommen und ausdrücklich in Aufrufen bekundet haben, dass man sich an dieses Gebot unter allen Umständen zu halten habe . Nein, meine Damen und Herren, im Staat, gleichgültig in welchem Staat, regiert nur einer, nämlich die Regierung und ihre Organe, getragen von der Mehrheit des Parlaments . Ob das dem einen oder anderen passt, ist eine Sache für sich .
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Aber solange dieser Staat und diese Regierung da sind, werden sie sich durchsetzen, und solange ich an dieser Stelle stehe, werde ich mit der rücksichtslosesten Energie meine Organe anweisen, gegen diejenigen vorzugehen, die mit ungesetzlichen Mitteln Staatsautorität und Staatseinrichtungen zerstören und untergraben wollen . […] Die Maßnahmen der Polizei in den Maitagen waren im Übrigen absolut zwangsläufig . Nachdem feststand, dass es sich um einen Machtkampf gegen den Staat handelte, ist rücksichtslos gegen diejenigen, die diesen Staat bekämpfen und die Staatsgewalt stören wollten, vorgegangen worden . […] Es wird hier so dargestellt, als ob die Polizei willkürlich und ganz ohne Not, ganz aus dem Blauen heraus sich betätigte und aus bösem Willen gegen die Staatsbürger vorgegangen sei . Ach nein, der Polizeiberuf ist wirklich gerade durch die Taktik der radikalen Organisationen links und rechts im Laufe der letzten Jahre, vornehmlich gerade auch seit den Wehrverbänden für den einzelnen Polizeibeamten recht gefährlich geworden . In den Maitagen, sagte ich bereits, sind 51 verletzt worden . Die Vorgänge im April haben 22 Verletzte gebracht . Wenn ich die Statistik aus dem Wegweiser für 1927 für 1928 ergänze, so will ich für beide Jahre folgende Verlustziffern für die Polizeibeamten verlesen: 641 nicht dauernd dienstunfähige, Schwerverletzte, 7 dauernd dienstunfähige und 18 tote Polizeibeamte .
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Lucifer ante Portas! Im Preußischen Landtag am 9. Juli 192978 Grzesinski warnte vor den Versuchen, gewaltsam die Verfassung zu beseitigen und verteidigte seine im Rahmen einer großen Veranstaltung des Reichsbanners gehaltenen „Frankfurter Rede“, die wieder einmal zu einem der zahlreichen Misstrauensanträge gegen ihn geführt hatte. Ein besonderer Anlass für seine Ansprache war die Tatsache, dass sich im Reichstag wenige Tage zuvor keine Mehrheit für die Verlängerung des Republikschutzgesetzes von 1922 gefunden hatte. Der Minister zitierte ausführlich und wörtlich aus seiner inkriminierten Frankfurter Rede; auf diese Weise ist ein Hauptteil der Frankfurter Rede erhalten. Ministerpräsident Otto Braun ging auf beide Anfragen nicht näher ein und begründete dies verfassungsrechtlich: „Was die Große Anfrage […] der Abgeordneten Dr. von Winterfeld und Fraktion über die Rede betrifft, die der Herr Innenminister bei der Reichsbannertagung in Frankfurt gehalten hat, so sieht die Staatsregierung keine Veranlassung, zu dieser Rede Stellung zu nehmen. Nach Artikel 46 der
Sitzungsberichte des Preußischen Landtags . 3 . Wahlperiode . 96 . Sitzung am 9 . Juli 1929 (TOP Misstrauensanträge), Sp . 8038–8044 .
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preußischen Verfassung sind die Minister für ihre Tätigkeit nur dem Landtag verantwortlich. Das Staatsministerium muss in seiner Gesamtheit jedenfalls ablehnen, sich in die Rolle des Zensors über die außeramtliche Tätigkeit der einzelnen Minister drängen zu lassen. Soviel über diese Angelegenheiten!“
[…] Aber mit der gleichen mangelnden Objektivität, mit der Sie der Handlung der Staatsregierung in Bezug auf die Studentenunruhen begegnet sind, stehen Sie den Ausführungen gegenüber, die ich bei der großen Reichsbannerveranstaltung auf dem Römerberg in Frankfurt a . M . gemacht habe . Ich kann nicht behaupten, dass in den Großen Anfragen falsch zitiert worden ist; aber es ist unvollständig zitiert worden . Wenn man meine Rede vollständig liest und den Worten unvoreingenommen gegenübersteht, dann wird es Ihnen gehen, wie es dem Herrn Kollegen Schwarzhaupt gegangen ist, der wenigstens einen Teil meiner Ausführungen an sich für durchaus berechtigt hielt .79 Ich werde mir erlauben, und zwar mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten, den entscheidenden Teil meiner Ausführungen vorzutragen . Ich bitte zu verzeihen, dass ich das tue . Aber da es sogar in einer Kleinen Anfrage verlangt wird, scheint mir die Bekanntgabe doch zweckmäßig zu sein . Meine Rede ist auch keineswegs so aus dem Handgelenk gehalten worden, und die kritisierten Sätze waren auch kein Lapsus von mir . Ich habe mir sehr wohl überlegt, was ich sagte, wie ich auch ganz allgemein sagen kann, dass meine Reden, die ich öffentlich halte, meist vorher sehr genau überlegt sind, und ich habe in diesem Fall ausdrücklich das, was ich sagte, beabsichtigt zu sagen . Ich bitte Sie nunmehr um etwas Gehör: Am letzten Donnerstag ist im Deutschen Reichstag für die unveränderte Verlängerung des Republikschutzgesetzes die notwendige Zweidrittelmehrheit nicht erreicht worden, und das Gesetz ist gefallen . Auf den Bänken der extremen Rechten wie der äußersten Linken ertönte darüber brausender Jubel . Die Radikalen aller Richtungen glauben nunmehr ihre Zeit gekommen, – die Zeit, in der sie ohne Furcht vor Verstößen gegen gesetzliche Bestimmungen diesen Volksstaat und seine Verfassung, seine Farben, seine Führer herabsetzen, schmähen und beschimpfen können . Ach, diese Armen im Geiste! Aber auch welch Jämmerlichkeit der Gesinnung kommt in einer solchen Einstellung zum Ausdruck, die sich darüber freut, dass nunmehr niedrige Herabsetzung der Staatsform und der Farben, die für Millionen und Abermillionen Deutsche Symbol sind, straffrei ist . Über solche Gegner werden wir mit einem Achselzucken hinwegsehen . Wir sind uns bewusst, dass nicht Gesetze und Paragraphen einem Staat den Schutz vor Übergriffen und Schmähungen allein verleihen können . Das Gesetz zum Schutze der Republik ist entstanden im Jahre 1922, als feige Mörderhand den Reichsminister Rathenau fällte und vorher Erzberger ermordet worden war . Damals forderten der Druck und die Empörung der Volksmassen ein Gesetz, das die beispiellose Hetze zu Gewalttaten gegen Männer, die der Republik dienten, un79
Wilhelm Schwarzhaupt (1871–1961), Deutsche Volkspartei, MdL 1921–1933 .
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möglich machte . Und damals, wie schon einmal 1918, wagten die Radikalen der Reaktion nicht, sich dem Volksverlangen zu widersetzen . Damals brauchte man ein Gesetz, um Umsturzversuche der republikanischen Staatsform, der Weimarer Verfassung schon im Keime zu verhindern . Ich glaube nicht daran, dass Vorgänge, wie sie noch in den Jahren 1922 und 1923 möglich waren, sich heute wiederholen könnten . Die Republik steht heute anders da als in jenen Not- und Kampfjahren, und das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold hat gezeigt in seiner Millionenorganisation, welche Massen bereitstehen, um jeden Angriff gegen die Republik zurückzuschlagen . Auch die Machtmittel des Staates sind gefestigt, – organisch und vor allem personell .
Selbstverständlich, das ist sehr wichtig; das ist eine meiner Hauptaufgaben: organisch und vor allem personell . Es gibt keinen Zweifel darüber, dass – gleich wie die Situation auch sei – in der Polizei Preußens jeder Beamte, hoch oder niedrig, Wachtmeister oder Offizier, alles daran setzen wird, Gesetz und Verfassung zu schützen . Aber, Kameraden und Volksgenossen,
Kameraden, jawohl; ich bin Reichsbannermitglied – Ich sagte vorhin schon, dass alle Paragraphen und Gesetze, und wenn sie noch so scharfe Bestimmungen enthielten, nutzlos sind, wenn in der Republik nicht die Republikaner den Willen haben, stark zu sein und sich durchzusetzen gegenüber allen ihren Gegnern . Dass dieser Wille in der deutschen Republik lebe, dass er gewaltig emporflamme allen Gegnern zum Trotz, dafür zu sorgen, ist unsere Pflicht und ist unser heiliges Recht . Wir brauchen nicht die rohe Gewalt, wir sind überzeugt davon, dass die Ideen weit stärker sind als alle Mittel des Zwanges und der Brutalität . Gerade im Kampfe der Geister – und das soll ein politischer Kampf sein – entscheidet nicht das Rüstzeug der Barbaren, sondern Kraft der Überzeugung und des Geistes .
Das ist meine Überzeugung, und der habe ich damals Ausdruck gegeben . Warten Sie nur ab! Ich komme noch auf den von Ihnen so sehr geliebten Laternenpfahl! Meine Herren, ich habe ‚auf ‘ gesagt, nicht ‚an‘ . Ich habe dann weiter gesagt: Und in diesem Zusammenhang, Kameraden, auch ein Wort zur Diktatur . Die Diktatur ist die Regierungsform der Gewalt, die sich ein Volk, ganz gleich welches, heute nur gefallen lässt, solange es sie sich gefallen lassen muss . Für das deutsche Volk wäre die Diktatur das Eingeständnis der Unreife und der inneren Schwäche – eine Beleidigung für das hochaufgeklärte deutsche Volk . Wer heute in Deutschland eine andere als die demokratische republikanische Regierungsform fordert, eine Änderung der jetzigen, will nichts anderes als die Beschneidung der heutigen Volksrechte, will, dass wie in der Vorkriegszeit, zu unserer aller Nachteil, eine reaktionäre Minderheit über das arbeitende Volk nach Besitzinteressen regiert . Das wird nie mehr, bestimmt nie mehr auf die Dauer eintreten . Aber der Schrei
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nach einem Diktator ist im Grunde nichts anderes als das Eingeständnis der selbstgefühlten eigenen Unzulänglichkeit . Nun gut, mögen Deutschnationale, Nationalsozialisten, KPD, und wie das reaktionäre Parteigewimmel noch heißt, glauben, dass sie einen Diktator nötig haben . Aber mögen sie sich in allem Ernst gesagt sein lassen: Die deutsche Arbeiterschaft, die in ihren politischen und gewerkschaftlichen Organisationen in langen Jahrzehnten eine mühselige Erziehungsarbeit zur Mitarbeit und Mitverantwortung im Staate geleistet hatte, denkt gar nicht darin, sich eine andere als demokratische Verfassung gefallen zu lassen . Die deutsche Arbeiterschaft lässt sich nicht mehr wie vor 1918 gegen ihren Willen lenken . Jeder derartige Versuch würde kläglich scheitern an dem einmütigen und geschlossenen Widerstand der Arbeitnehmerschaft und der demokratischen Organisation der Republik, des Reichsbanners . Und auch das sollen sich die Befürworter und Lobredner einer Vorherrschaft gesagt sein lassen: Die unendliche, bewundernswerte Langmut, die im Jahre 1918 die Massen des deutschen Volkes denjenigen gegenüber geübt haben, die ihnen solange die geforderten politischen Rechte und Freiheiten vorenthielten und sie drangsalierten, und die geübt werden musste nach Lage der besonderen Verhältnisse damals, diese Langmut wird nicht mehr geübt werden . Es ist im Reichstag neulich von rechts das Wort von ‚legal an den Laternen aufhängen‘ gefallen . Man sollte mit solchen Bemerkungen vorsichtig sein, sie könnten anregen . Die deutsche Arbeiterschaft will diejenigen, die frevelhaft auch nur den Versuch machten, ihre politischen Rechte mit Gewalt anzutasten und auf Kosten des Volkes eine Vorherrschaft aufzurichten, diesmal wirklich an die Laternenpfähle aufknüpfen und sich von niemandem dabei in den Arm fallen lassen .
Es ist außerordentlich bedauerlich, dass diese einfachste Redewendung einer Erläuterung bedarf . Das spricht nicht für Ihr politisches Einsehen! Wir lassen uns die politische Selbstverantwortung und das politische Selbstbestimmungsrecht nicht rauben . Wenn es vorübergehend aber nicht anders gehen sollte, dann kommt allein nur die Diktatur der organisierten Massen des arbeitenden Volkes in Frage, die in den Gewerkschaften und im Reichsbanner zusammengeballt sind .
Das ist die Rede oder der Teil der Rede, der von den verschiedensten Seiten entstellend, in jedem Fall unvollständig zitiert und zum Gegenstand der Kritik gemacht wurde . Ich frage Sie, wenn Sie wirklich objektiv folgen und einen politischen Gegner objektiv anhören können, ob das eine Aufforderung an die Gewalt ist! Das ist im Gegenteil eine Warnung, Gewalt gegen den Staat anzuwenden und ihn auf gewaltsamem Wege sich dienstbar zu machen in der Hoffnung, dass man dann eine Vorherrschaft aufrichten könnte . Die Voraussetzungen, von denen Sie sprechen, nämlich: Was macht denn dann die Polizei? Sind ja dann längst nicht mehr vorhanden, weil ich davon ausgehe, dass vorübergehend die Polizei und die Staatsgewalt hätten überwältigt sein können . Und da sage ich allen denjenigen, die hinter den Umsturzleuten stehen und hoffen, dass sie als Arbeitgeber oder sonst als Privatbesitzer in einem neuen Staate besser als in dem jetzigen republikanischen Staate fahren könnten, sie haben dann noch lange nicht
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gewonnen . Wenn diese Herrschaften glauben – deshalb ist auch meine Rede mit gehalten worden –, dass sie durch Geldhingaben die radikale Bewegung fördern könnten und für sich beim Umsturz einen Erfolg versprechen, so ist das ein Irrglaube, weil sich eben die deutsche Arbeiterschaft eine Diktatur nicht gefallen lassen würde, und weil sie dann allerdings diese Gewaltherrschaft, die keine verfassungsmäßige Herrschaft sein würde, die auch nicht verfassungsmäßig, sondern verfassungswidrig zustande gekommen wäre, stürzen würde . (Abg. Dr. Ponfick: ‚Sie könnte doch verfassungsmäßig werden!‘) 80
Eine gewaltsame Änderung der heutigen Verfassung unter normalen Verhältnissen ist eben eine gewaltsame und keine normale Änderung der Verfassung . Sie wäre niemals rechtsgültig . (Abg. Dr. Ponfick: ‚War sie 1918 rechtsgültig?‘)
Im Jahre 1918 war es ein Zusammenbruch, und die alten Staatshüter waren einfach davongelaufen . Sie danken es der deutschen Arbeiterschaft und auch den Kreisen des damals schon republikanisch gesinnten Bürgertums, dass sie die Regierung in die Hand genommen und den Staat gerettet haben . […] Von dem, was in der Rede in Frankfurt/Main gesagt worden ist, etwas zurückzunehmen oder einzuschränken, liegt also gar kein Anlass vor . Es war eine Warnung an alle diejenigen, die, wie Sie es heute sogar von Abgeordneten, die die Interpellation begründet haben, insbesondere von dem Herrn Abgeordneten Dr . Ponfick, gehört haben, durchaus mit der Möglichkeit eines gewaltsamen Umsturzes rechnen, und die bei jeder sich bietenden Gelegenheit, wenigstens im Kleinen, versuchen, durch Gewaltanwendung Andersgesinnte zu unterdrücken und sie körperlich schwer zu schädigen, um sich politisch durchzusetzen . Dass die großen politischen Parteien das nicht mitmachen und davon abrücken, weiß ich . Aber sie dulden gern, dass die kleineren Parteien, die Nationalsozialisten und die Kommunisten, das tun . Eine solche Gewaltpolitik wird sich bestimmt nicht durchsetzen . Es ist aber notwendig, dass sich auch die breitesten Schichten des arbeitenden Volkes klar darüber sind, und dass es ihnen auch klar gemacht wird, dass sie im heutigen Staat die Machtmittel haben, die ihre Rechte schützen und die es verhindern, dass gewaltsame Umstürze erfolgen . Gegen einen gewaltsamen Umsturz der heutigen Verhältnisse, gegen eine Beeinträchtigung der Rechte der breiten Schichten des Volkes werden sich nicht nur die
Dr . Hans Ponfick (1883–1946), Christlich-Nationale Bauern- und Landvolkpartei (CNLB), MdL 1928– 1932 .
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Arbeitnehmerkreise der Sozialdemokratischen und Kommunistischen Partei, sondern auch die Arbeitnehmerkreise der Demokratischen Partei und des Zentrums bis weit in die deutschnationalen Kreise hinein wehren, sie werden gemeinsam dagegen eine Front bilden, und es wird sich ihnen das intellektuelle und liberale Bürgertum anschließen . Es wird, wie ich glaube, auch aus den Ausführungen der Herren Schwarzhaupt und Dr . Boelitz herausgehört zu haben, eine staatsumstürzende Überrumpelung bestimmt sofort zurückgedrängt werden .81 Sie sollten aber von solchen Putschversuchen mit einer viel größeren Entschiedenheit abrücken! (Lebhafte Zurufe rechts: ‚Wo sind denn solche Versuche?‘)
Dann würde es sich erübrigen, derartige Reden zu halten, wie ich sie jetzt zu halten genötigt war . Die Vorkommnisse der Jahre 1920, 1921, 1923 und im Mai 1929 und die Reden und Absichten der Nationalsozialisten und ihre Bewegung auf dem Lande sind Dinge, die ich als Minister des Innern nicht unbeachtet vorübergehen lassen kann . Ich weiß nicht, wieweit sie Boden finden werden . Wahrscheinlich längst nicht so viel, wie die Herren selbst erhoffen! Aber ich habe die Pflicht, die Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen . […] Dass das Republikschutzgesetz gefallen ist, meine sehr verehrten Damen und Herren, das mag man bedauern . Der Staat als solcher wird dadurch nicht tangiert . Ich glaube aber, alle diejenigen, welche den Staat als solchen bejahen, müssten das Republikschutzgesetz um deswegen fordern, weil sie es im Interesse des Ansehens des Staates nicht dulden können, dass der Staat, seine Einrichtungen und seine Führer straflos verleumdet und beschimpft werden . Deswegen das Republikschutzgesetz! Der Staat an sich braucht das Republikschutzgesetz nicht . Aber die Frankfurter Rede musste gehalten werden, und was darin gesagt worden ist, war richtig .
Dr . Otto Boelitz (1876–1951), DVP, MdL 1919–1932, Wissenschaftsminister im Kabinett Otto Braun 1921–1925 .
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Zum Kampf um die politische Macht Entwurf einer Rede vor Sozialdemokraten im Dezember 193082
Genossinnen und Genossen! Ich soll heute vor Ihnen über ein Thema sprechen, das lehrreich und wichtig wie kein anderes ist . Sie wollen von mir etwas hören über den Kampf um die Macht und werden vielleicht erstaunt sein, wenn ich Ihnen sage, dass ich hierzu nichts Neues, sondern nur Altes und Selbstverständliches vorzubringen habe . Allerdings ist das Alte und Selbstverständliche – das muss offen ausgesprochen werden – noch immer nicht Gemeingut der Arbeiterschaft geworden, und selbst in unserer Partei hört man leider nur allzu oft kräftige Worte und dunkle Reden und vermisst das Augenmaß und die Einsicht, die in dieser Sache nun einmal notwendig ist . Was heißt das: ‚Kampf um die Macht‘? Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Arbeiterschaft ist leider immer noch in Revolutionsromantik befangen und stellt sich unter dem Kampf um die Macht so etwas vor wie den Kampf auf der Straße und der Barrikade . Immer wieder hört man von den kommunistischen Arbeitern Redensarten wie etwa: ‚Lasst sie nur kommen, wir werden sie schon auseinanderhauen!‘ Das ist natürlich völliger Unsinn, denn noch niemals in der Geschichte hat eine Volksmenge die bewaffnete Macht des Staates, solange sie noch fest in der Hand der Machthaber war, auseinander gehauen . Es gibt Revolutionslegenden, genauso wie es patriotische Legenden gibt, und alle diese Legenden sind gefährlich, weil sie irreführen und unsicher machen . Das schöne Bild von Delacroix, das in vielen Zimmern unserer Parteigenossen hängt, auf dem man sieht, wie die jungfräuliche Freiheit, die rote Fahne schwingend, das kämpfende Volk über die Barrikaden hinweg zum Siege führt, ist nur ein schönes Bild und nichts weiter . Der berühmte Sturm auf die Bastille in der französischen Revolution von 1789 ist in Wirklichkeit gar nicht vom Volke durchgeführt worden, sondern von der Artillerie der nationalen Garde, die zu den Revolutionären übergegangen war, die Bastille zusammenschoss und die Trümmer dem Volke überließ . Nicht anders die französische Julirevolution von 1832, die trotz des heldenhaften Kampfes der Revolutionäre nur dadurch entschieden wurde, dass Truppenteile den Dienst versagten oder gar zu den Revolutionären übergingen . Im Jahre 1848 ist die deutsche Revolution an der Wehrfrage gescheitert, indem die bewaffnete Macht auf Seiten der alten Machthaber stand und im geeigneten Augenblick die alten Verhältnisse wiederherstellte . Nur in Baden, wo die Armee zu den Revolutionären übergegangen war, konnte sich die Revolution über ein Jahr lang halten, und ging erst dann zugrunde, als die preußische Armee über die badische siegte . Das gleiche Bild ergibt die russische Revolution von 1905 . Noch deutlicher beweist der russische Umsturz von 1917 und der IISG: G 2177 . Typoskript, 6 Seiten mit handschriftlichen Ergänzungen und durchgehend vielen Unterstreichungen . Als Überschrift: „Entwurf für kurze Rede am 13 .12 .30, 8 Uhr, im Lokal Seebad, Mariendorf, Sozialistischer Abend .“ Und sein Hinweis: „Nicht benutzt“ .
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deutsche Umsturz von 1918 meine Behauptung . Der Kampf um die Macht kann also nicht mir nichts dir nichts auf der Straße und auf der Barrikade ausgefochten werden, und wer den Arbeitern so etwas erzählt, ist ein Dummkopf oder ein Verbrecher . Aber auch der berühmte Generalstreik, mit dem einige Phantasten den Kampf um die Macht herbeiführen wollen, ist in Wirklichkeit nicht das Mittel, um eine Entscheidung zu erzwingen . Er ist vielleicht ein Mittel! Es gibt auch eine Generalstreiklegende, die wir zerstören müssen . Einmal ist es keineswegs richtig, dass der Kapp-Putsch lediglich durch den Generalstreik niedergerungen wurde, obwohl in der damaligen Lage der Generalstreik sicher ein Wesentliches zur Niederlage der Kapp-Rebellen beigetragen hat . Wir wissen, dass es auch falsch ist, zu glauben, dass ein Generalstreik jeder Zeit zu entfesseln wäre, wenn nur die Organisationsleitung den nötigen Willen dazu hat . Der Generalstreik ist gar kein organisatorisches Problem, sondern ein psychologisches, letzten Endes also ein politisches Problem . [Am Rande handschriftlich: „Erörterung vor dem Kriege!“] Wir haben aber noch etwas ganz anderes zu beachten . Die Waffe des Streiks ist heute nicht mehr die gleiche wie vor Jahren . Sie ist durch die Spaltung der Arbeitnehmerschaft sehr abgestumpft, was man bei nüchterner politischer Betrachtung in Rechnung stellen muss . [Am Rande handschriftlich: „Einmütigkeit der Arbeiter 1920“ und „KPD“] Hinzu kommt, dass der Streik mehr in der Defensive als in der Offensive Bedeutung hat, dass man also günstigenfalls einen Anschlag abwehren, nicht selber aber, wie die Kommunisten behaupten, zu einem beliebigen Zeitpunkt sich die Macht erkämpfen kann . […] Unsere Aufgabe ist es, die tatsächlichen Machtfaktoren richtig zu erkennen, sie in ihrer Bedeutung richtig abzuschätzen und den Kampf um sie mit allen wirklich tauglichen Mitteln zu führen . Über einen der wichtigsten Machtfaktoren habe ich bereits gesprochen: die bewaffnete Macht . Wir haben unverzeihlicher Weise gerade dieser Frage so gut wie gar keine Aufmerksamkeit zugewendet und uns vielmehr in eine durchaus unsozialistische Wehrfeindlichkeit hineinschwätzen lassen, die sich verhängnisvoll für unsere Politik ausgewirkt hat . Wir haben uns selber und damit der deutschen Republik einen Bärendienst erwiesen, dass wir im Jahre 1919 die Reichswehr nicht mit wirklicher Liebe und mit eigenen Kräften aufgebaut haben . Darüber ist heute kein Zweifel mehr möglich . Sehr viel besser haben wir uns in der Frage der Polizei verhalten, wo die Massen unserer Anhänger ausreichendes, wenn auch nicht restloses Verständnis gezeigt haben . Auch um die Verwaltung haben wir uns tapfer gekümmert, sind aber gerade hier auf Missverständnisse in unseren eigenen Reihen gestoßen, gegen die ich mich wenden möchte . […] Unser Kampf um die Verwaltung ist ein Kampf um die Macht, ist aber auch ein Kampf gegen das Privileg der früher herrschenden Klassen . Das bedeutet selbstverständlich, dass wir tüchtige Republikaner, vorausgesetzt, dass sie wirklich tüchtig und ehrlich sind, in möglichst viele Dienststellen bringen müssen, auch wenn sie einmal
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nicht die vorgeschriebene Ausbildung haben . Das bedeutet Verjüngung und Verlebendigung des Verwaltungsapparates, bedeutet einen Kampf gegen Bürokratismus und träge Gewohnheit . Und wer solche Beamte als Parteibuchbeamte beschimpft, dem antworten wir, dass ein Parteibuch sicher nicht schlechter ist als die Mitgliedskarte eines studentischen Korps oder einer studentischen Burschenschaft . Auf der anderen Seite aber dürfen wir nicht glauben, unserer Sache dadurch dienen zu können, dass wir mir nichts dir nichts alle diejenigen, welche sich Republikaner nennen, in den Verwaltungen zu fördern haben . Wir dürfen es nicht dulden, dass unter der Parole Republikanisierung der Verwaltung Kriecher- und Strebertum von uns selber hochgezüchtet wird . Wir würden dann auch keine Freude erleben, denn beim ersten Windstoß liefen sie davon . Jeder Beamte, der glaubt, mit seiner republikanischen Gesinnung besser voranzukommen als mit seinen Leistungen ist ein Schaden für die Republik und für die Demokratie . Denn darüber, Genossinnen und Genossen, müssen wir uns einig sein: Die von Republikanern, von Sozialdemokraten geführten Verwaltungen müssen absolut einwandfrei sein, müssen sauber arbeiten, ja besser, erheblich besser arbeiten als die anders geführten und die früheren Verwaltungen . Nur so, aber auch nur so, wird die Bevölkerung erkennen, dass mit dem Vormarsch des sozialistischen Gedankens auch eine Wendung zum Nützlichen und Zweckmäßigen stattfindet . Ich nehme alle Fälle von Unkorrektheit, die in den letzten Jahren in den Verwaltungen vorgekommen sind, außerordentlich ernst und bin eingeschritten . Es ist völlig kindlich, wenn man sich damit trösten will, dass die meisten Verfehlungen von Kommunisten oder von Deutschnationalen oder anderen uns nicht gerade freundlich gesinnten Parteigängern begangen worden sind . Die Bevölkerung verlangt mit Recht, dass eine von Sozialdemokraten nachhaltig beeinflusste Verwaltung sauber funktionieren muss, und dass Schädlinge irgendwelcher Art rücksichtslos ausgemerzt werden müssen . Sozialdemokratisch geführte Behörden müssen ein Muster an Leistungsfähigkeit sein, sie müssen modern, zweckmäßig, elastisch, unbürokratisch arbeiten und der Bevölkerung beweisen, dass durch Sozialdemokraten ein neuer, frischer Zug in die Verwaltung hineingekommen ist . Gelingt das, dann haben wir alle gute Aussicht im Kampf um die Verwaltungsmacht und damit in unserem Kampf um eine wesentliche gesellschaftliche Machtposition . Entscheidend für unseren Kampf in der Verwaltung bleibt die Leistung der Verwaltung, das müssen wir uns alle merken . Zum Schluss noch eins . Immer wieder höre ich in Parteikreisen die Bemerkung, als ob die vielen politischen Opfer, die wir der Republik und ihrem Ausbau dargebracht haben, nichts mit einer wirklichen Arbeiterpolitik mehr zu tun hätten . Ich muss einer solchen Ansicht mit aller Schärfe widersprechen; denn sie ist nicht nur falsch, sondern auch gefährlich . Es gibt keinen Gegensatz zwischen Arbeiterpolitik und Staatspolitik . Wir haben diesen Staat geschaffen und ausgebaut, nicht nur um unseres Vergnügens willen, sondern um der deutschen Arbeiterschaft eine Heimat zu bereiten . Wir haben diesen Staat geschaffen, um einmal die Arbeiterschaft mit seiner Hilfe von dem Druck der Ausbeutung, der Knechtschaft und Not zu befreien . [Am Rande handschriftlich:
Zur neuen rechtlichen Stellung der Frauen
„Und was wir getan haben, kann sich wirklich sehen lassen . 1913: 1300 Mill ., 1929: 7500 Mill .83 Und Rechte .“] Wir kämpfen um diesen Staat, weil wir wissen, dass in dem Augenblick, da die schwarz-rot-goldene Fahne sinkt, die rote Fahne des Sozialismus mit fällt . Wir müssen uns klar sein, dass Republik und Arbeiterschaft auf Tod und Leben miteinander verbunden sind . Und wenn wir den faschistischen und bolschewistischen Feind der Republik geschlagen haben, dann ist die Stunde nahe, dass die Arbeiterschaft aller Berufe und Stände in einem freien, reinen und besseren Deutschland leben und arbeiten kann .
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Zur neuen rechtlichen Stellung der Frauen Vortrag in einer sozialdemokratischen Frauenversammlung 193184
In der heutigen Zeit der Not, von der die Arbeiterfrau besonders hart getroffen wird, hören wir vielfach die Ansicht, dass die Frau nichts in der Politik zu suchen habe . Die Frau habe doch mit ihren täglichen Sorgen und Nöten den Kopf so voll, dass sie außerstande sei, sich um politische Fragen zu kümmern . Unbezweifelbar ist die Zahl der Indifferenten, der Gleichgültigen und Abseitsstehenden bei den Frauen besonders groß . Sie hat, wie es scheint, in letzter Zeit nicht abgenommen, ja man muss sogar feststellen, dass die Feindschaft gegen die Politik bei gewissen Frauen noch gestiegen ist . Das hat seine begreifliche Ursache in der wüsten Art und Weise, wie in letzter Zeit der politische Kampf verroht und entartet ist . Diese Frauen sagen mit Recht, dass die wüste Hetze und die öde Verleumdung sowie die zahlreichen blutigen Gewalttaten sie abstießen . Sie schließen aus der allgemeinen Verwilderung der politischen Auseinandersetzung, dass sie als Frauen im politischen Treiben nichts zu suchen hätten . Auf der anderen Seite wird den Frauen, vielleicht nicht mit Unrecht, vorgeworfen, dass sie die großartige politische Befreiung, die der neue Staat ihnen gebracht habe, nicht zu nutzen verstanden hätten . Immer wieder hören wir die Frage: Was hat die Frau schon aus den staatsbürgerlichen Rechten gemacht, die ihnen der Staat von Weimar gebracht Die abgekürzten Worte hinter den Zahlen beziehen sich auf die sozialpolitischen Leistungen der Republik . In einer spätere Rede führte er aus: „Die Leistungen der deutschen sozialen Einrichtungen sind grandios . Nach den amtlichen Berichten über die deutsche Sozialversicherung wurden für soziale Zwecke (Krankenversicherung, Unfallversicherung, Invaliden-Angestellten-knappschaftliche Pensionsversicherung, Arbeitslosenversicherung) im Jahre 1913, also im reichen Kaiserreich, 1 .370 Millionen Mark, im Jahre 1930 aber von der armen Deutschen Republik rund 7 .500 Millionen Mark aufgebracht .“ (s . unter Nr . 36 „Zur politischen Geschichte der Weimarer Republik“) Welche Rechte er mit den Worten „Und Rechte“ meinte (vermutlich Arbeiterschutzgesetze), bleibt unklar . 84 IISG: G 2150 . Typoskript DIN A4, 9 Seiten, mit mehreren handschriftlichen Ergänzungen bzw . Änderungen sowie zahlreichen Unterstreichungen mit rotem oder blauem Stift . Als Überschrift handschriftlich: „Frauenversammlung 20 .4 .31, 6 . Kreis, Kreuzberg-Berlin, Orpheum, Hasenheide 32/38 . Zwei größere Passagen sind mit Bleistift gestrichen (im Text jeweils kursiv hervorgehoben) . 83
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hat? Es ist gar nicht zu leugnen, dass keineswegs einflusslose Gruppen am Werke sind, um der Frau den staatsbürgerlichen Rang wieder zu nehmen, den sie mit dem 9 . November 1918, vor allem aber auch durch den 11 . August 1919, dem Tage der Weimarer Verfassung, bekommen hat . Wehe, wenn die Frauen durch ihre eigene Gleichgültigkeit und Trägheit das Treiben dieser Kreise unterstützen . Hier ist Gefahr im Verzuge, und die Frauen müssen begreifen, dass es von ihnen selbst abhängt, ob die volksfeindlichen und fortschrittsfeindlichen Bestrebungen dieser Art Wirklichkeit werden oder nicht . Ein großes Unglück ist es, dass viele Frauen nicht begreifen, wie grundlegend sich ihre staatsbürgerliche Stellung im neuen Staate gewandelt hat . Ein noch größeres Unglück ist es, dass manche Frauen diese Veränderungen zwar begreifen, sie aber für gleichgültig und unwesentlich erachten . Diese Verständnislosigkeit, diese Trägheit gilt es mit allen nur möglichen Mitteln anzugreifen und niederzukämpfen . Noch immer ist in der Welt die Gleichgültigkeit und die Trägheit der größte Feind des Guten, des Zukünftigen gewesen . Alle Frauen, die auf ihre Menschenwürde achten, sollten sich nach Kräften dagegen zur Wehr setzen, dass sie durch diese Gleichgültigkeit und Trägheit zu den mächtigsten und stärksten Hilfstruppen der Reaktion werden, die ja wahrhaftig ihre Ziele weit genug gesteckt hat . Kein Zweifel ist darüber möglich, dass sie alle, die heute den Kampf gegen die moderne Frau führen, gleichgültig, ob sie nun das Hakenkreuz oder den Stahlhelm tragen, auf ein gemeinsames Ziel hinaus wollen: auf die Entrechtung der Frau und Herabdrückung zur Staatsbürgerin zweiter Klasse . Die Sozialdemokratische Partei hat in jahrzehntelangem Kampf das Recht der Frau auf staatsbürgerliche Gleichberechtigung verfochten und schließlich, als sie dazu die erste Möglichkeit bekam, sofort auch durchgesetzt . Sie hat das getan, trotz mancher Bedenken, denn es war vorauszusehen, dass sehr viele Frauen, einmal mit dem Wahlrecht und der staatsbürgerlichen Anerkennung ausgestattet, die gewaltige Arbeit, die die Sozialdemokratie um die Befreiung der Frau geleistet hat, nicht anerkennen würden . Es ist leider unbestreitbar, dass viele Frauen die gewaltige Waffe des Wahlrechts und der staatsbürgerlichen Gleichberechtigung nur benutzt haben, um der Sozialdemokratie, als der einzigen und ausschließlichen Vorkämpferin ihrer Rechte, in den Rücken zu fallen . Trotz alledem hat die Sozialdemokratie an ihren Grundsätzen festgehalten und sich auch durch vorübergehend auftretende Rückschläge nicht in ihrem Ziele beirren lassen . Die Sozialdemokratie hat erkannt, dass ohne die volle Gleichberechtigung der Frau in Staat, Wirtschaft, Politik und Kultur neue Formen des menschlichen Zusammenlebens, künftige Formen der menschlichen Gesellschaft sich niemals verwirklichen lassen . Die Sozialdemokratie hat erkannt, dass alle kommende Neugestaltung der Welt von der tatkräftigen Mitarbeit der Frau ausgehen muss . Und das große Ziel der Befreiung, das der Sozialismus den werktätigen Massen gezeigt hat, muss ja in allen Lebenskreisen, nicht nur in Wirtschaft und Politik, sondern auch in Familie, Haus und Hof verwirklicht werden . Ich sage es noch einmal, die Neugestal-
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tung der Welt, die Neuformung des menschlichen Zusammenlebens kann nur mit der Frau, keineswegs ohne die Frau, auf gar keinen Fall gegen die Frau geschaffen werden . Haben die Frauen dies allenthalben begriffen? Haben sie verstanden, welch große geschichtliche Sendung auch auf ihnen liegt und wie viel von ihnen und ihrer Arbeit abhängt, damit eine neue, bessere Zukunft geschaffen werden kann? Die Frage kann leider heute nicht durchweg bejaht werden . Überaus schmählich ist es, dass hunderttausende von Frauen noch immer bei den Wahlen Parteien ihrer Stimme geben, die sich mit üblen Fälscherkünsten aller Art als revolutionär gebärden, während sie in Wirklichkeit nichts anderes sind als heuchlerische, falsche und finstere Reaktionäre . Es ist unbegreiflich, dass es immer noch Frauen genug gibt, die den sogenannten Nationalsozialisten ihre Stimme und ihre Gefolgschaft geben . Haben diese Frauen noch immer nicht begriffen, dass diese sogenannten Nationalsozialisten weder national noch Sozialisten sind? Es muss daher auch vor Frauen einmal eindeutig ausgesprochen werden, und ich sage es auch hier an dieser Stelle wieder, dass schon die Firma, unter der die Hakenkreuzleute auftreten, eine einzige Irreführung ist . Wer so wie die Hitler-Partei die Nation in ihren ärgsten und schlimmsten Stunden überfällt und bedrängt, wer Unruhe und Verzweiflung schürt, wer in allen bisherigen Schicksalsstunden der Nation der Nachkriegszeit so abseits gestanden hat, wie es die Hakenkreuzler getan haben, hat alles Recht verwirkt, sich national zu nennen . Und sie haben erst recht kein Recht, sich Sozialisten zu nennen, denn sie wollen keine Zukunft, so sehr sie auch immer davon sprechen, sie wollen nichts Neues, wollen keine wirkliche Befreiung des Menschen aus der grässlichen Welt von heute, sondern nichts anderes als die finsterste Vergangenheit . Aufgabe der Frau ist es, allen Verwirrungen zum Trotz, die die ungeheure Not nur zu leicht anrichten kann, sich ein klares Bild von dem zu machen, was ihre besondere Aufgabe ist . Denn der Sozialismus wird nicht nur in den Betrieben und nicht nur in den Parlamenten erstrebt, sondern auch in der Familie, wo die Frau als Hausfrau und Mutter, als Leiterin der häuslichen Wirtschaft und als Erzieherin der Kinder eine unendlich hohe und schöne Aufgabe für Gegenwart und Zukunft zu erfüllen hat . Diese Aufgabe kann die Frau nicht erfüllen, wenn sie nur als Staatsbürgerin zweiter Klasse gewertet wird . Sie kann sie nicht erfüllen ohne regen Anteil am öffentlichen Leben, sie muss Mitstreiterin und Mitkämpferin des Mannes werden, muss lernen, sich auf der politischen Wahlstatt genauso zu bewegen wie der Mann und darf nicht dem Schicksal ach so vieler Leidensgenossinnen verfallen, hinter Kochtopf und Strickstrumpf zu versauern und zu verbittern . Ich will damit nicht sagen, dass die Tätigkeit in Küche und Hauswirtschaft die Frau an sich niederziehen und unterdrücken müsse . Ich will aber sagen, dass die Frau so wenig Sklavin des häuslichen Betriebs sein soll wie der Mann nicht Sklave des industriellen Betriebs sein will . Fasst die Frau ihre Aufgabe als Hausfrau und Mutter richtig auf, so erschließen sich ihr tausend Probleme, die sie mitten hinein führen in die kämpfende Welt des Sozialismus . Mit dem häuslichen Wohnraum, mit der Wohnung selber fängt es schon an . Die Frau muss es sein, die die heilige Un-
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zufriedenheit, von der Lassalle schon spricht, gegen schmutzige, dunkle Wohnhöhlen wachhält, die die Forderung nach Licht, Sonne und Luft erhebt, die um des Familienlebens willen auf dem Achtstundentag besteht, der allerdings nicht nur dem Manne, sondern auch der Frau zukommen soll und zukommen muss . Die Frau muss es sein, die die Bedeutung der Technik im Haushalt mit fortschrittlichem Geiste erkennt. Soll die Frau aufhören, Sklavin des eigenen Haushalts zu sein, die abgeschnitten vom geistigen Ringen der Umwelt in dem Wust der kleinlichen täglichen Sorgen untergeht, so muss sie es sein, die den neuzeitlichen Methoden der Hauswirtschaft freie Bahn bricht. Merkwürdigerweise hat ja die Hauswirtschaft seit Jahrhunderten ihre Methoden kaum geändert, und die Ergebnisse der modernen Technik sind der Hausfrau nur mangelhaft zugutegekommen. Wenn heute die Parole ausgegeben wird ‚Rationalisierung der Hauswirtschaft‘, so ist diese Parole eine gut sozialistische Parole, denn sie bedeutet praktische Befreiung der Frau von der endlosen, nie aufhörenden Arbeitsqual, sie bedeutet Zeitgewinn, und gerade Zeit ist es ja, was nach dem schönen Wörtchen von Richard Dehmel dem proletarischen Menschen von heute fehlt: ‚Wir brauchen ja nur eine Kleinigkeit, um so frei zu sein wie die Vögel sind, nur Zeit‘.85 Wenn im kommenden Monat die Bauausstellung am Berliner Funkturm eröffnet wird, so muss es gerade die Arbeiterfrau sein, die mit brennendem Interesse und tiefem Verständnis dem Kampf des neuen Deutschlands um bessere Formen des Wohnens und Lebens folgen muss . Die Arbeiterfrau muss Verständnis haben, wenn die freien Gewerkschaften gewaltige Anstrengungen unternehmen, um das Problem des billigen, gesunden und hellen Arbeitswohnraumes zu lösen . Sie gerade ist berufen, in diesem Kampfe an vorderster Stelle zu stehen, denn sie hat die praktischen Erfahrungen, kennt die Sorgen und Nöte aller Arbeiterfrauen und muss kühn voranschreiten, um allen ihren Leidensgefährtinnen neue Wege zum menschlichen Glück ebnen zu helfen. Die Fragen des Bauens und die Fragen der Technik muss sie beherrschen lernen und zeigen, wie das moderne Wohnen ohne Ausbeutung und Knechtung der Mieter, mit einfachen und zweckmäßigen technischen Hilfsmitteln berufen ist, die Gestaltung einer zukünftigen Gesellschaftsform vorzubereiten. Wenn Lenin, der Führer der russischen Revolution, das Wort geprägt hat, dass Landwirtschaft plus Elektrizität gleich Sozialismus ist, so könnte man dies Wort in unserem Zusammenhang füglich abwandeln und sagen, dass Hauswirtschaft plus Elektrizität, Frau plus Technik zum Sozialismus führt. In den gleichen Zusammenhang gehören Fragen der Ernährung, die zunächst einmal Fragen des menschenwürdigen Einkommens sind und um dessentwillen schon die Frau zu einer wirklichen Gefährtin und Kampfgenossin des arbeitenden Mannes werden muss. Für eine sozialistische Frau sind die Zeiten vorbei, wo die Speisen schlecht und recht nach Gewohnheit und vielfach auch nach Gedankenlosigkeit bereitet wurden. Die Arbeiterfrau, die einerseits sparen muss wie nie und andererseits aus den wenigen Möglichkeiten des schmalen Kü-
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Der hier kursiv hervorgehobene Absatz ist im Original mit Bleistift diagonal durchgestrichen worden .
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chenzettels so viel herausholen muss, wie es nur geht, diese Frau muss von Jugend an mit den Erkenntnissen der modernen Ernährungswissenschaft vertraut sein. Sie muss – nochmals sei es gesagt – alle einfachen, zweckmäßigen und billigen technischen Hilfsmittel beherrschen, sie muss, in einem Wort, auch hier die Revolution des Haushaltes durchführen und helfen, dass eine neue Generation besser, gesunder und freudiger heranwächst wie die frühere.86 Außerordentlich zahlreich sind also die Aufgaben, die der Frau als Hausfrau und Mutter gestellt sind . Noch immer soll es vorkommen, dass Arbeiterfrauen dem gewerkschaftlichen Kampfe ihres Mannes nur mit zweifelhaftem Verständnis folgen . Damit muss es ein für alle Mal vorbei sein . Sie müssen begreifen, dass die Lebensbedingungen ihres Mannes ihre eigenen Lebensbedingungen und zugleich die Lebensbedingungen ihrer Kinder darstellen . Sie müssen darüber hinaus begreifen, dass sie in ihrem eigenen häuslichen Wirkungskreis eigene Aufgaben des Fortschritts und der Neuerung zu lösen haben, Aufgaben, bei denen sie berufen sind, dem Manne gegenüber führend voranzugehen und die Trägheit und Gedankenlosigkeit, die viele Männer bei der Beurteilung häuslicher Dinge an sich haben, zu überwinden . Beim Kampf um Licht und Sonne, beim Kampf um ein Stückchen Garten, beim Kampf um Wärme und Licht und Sauberkeit und Ordnung hat die Frau eine gewaltige Aufgabe zu erfüllen . Am schönsten und größten aber ist die Aufgabe der Frau als Mutter und Erzieherin der Kinder . Gerade diese Aufgabe kann sie in der alten Rolle der Untertänigkeit und Unterwürfigkeit nicht durchführen . Sie soll ja mehr tun, als den Kindern nur das sogenannte gute Betragen beibringen . Sie soll ihre jungen Seelen verstehen, sie soll die werdenden Charaktere formen, sie soll über die körperliche und seelische Gesundheit der Heranwachsenden wachen, und wiederum kann sie das nur, wenn sie in lebendigem Zusammenhang mit allem Kulturgeschehen steht . Die reaktionären Parteien, die so gerne die Mutterschaft als das höchste Gut der Frau preisen, haben gar nichts, aber auch gar nichts getan, um der Frau die Verwirklichung dieses hohen Amtes zu ermöglichen . Sie haben die Frau vom öffentlichen Leben abgesperrt, haben sie um ihr Menschenrecht an Bildung und Wissen betrogen, haben ihr Aufklärung und Belehrung vorenthalten und sie so zur Sklavin, statt zur Gleichberechtigten im Hause gemacht . Mit allen Fasern ihres Herzens muss die Arbeiterfrau lernen, sich gegen solches Unrecht aufzulehnen, und das nicht nur um ihrer selbst, sondern mehr noch um ihrer Kinder willen . Üble Verleumder haben uns Sozialisten nachgesagt, dass wir das hohe Amt der Frau als Mutter missachten und erniedrigen wollen . Genau das Gegenteil wollen wir . Wir wollen die Frau so frei, so stark und wissend machen, dass sie, vielleicht zum ersten Male in der Geschichte, dieses Amt als Mutter ganz und gar auszufüllen im Stande ist . Darum eben verlangen wir die Teilnahme der Frau am politischen Leben, die Teilnahme der Frau am kulturellen Leben, verlangen wir den Kampf gegen die er-
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niedrigende häusliche Not, gegen Wohnungselend und Hunger . Und darum fordern wir, dass die Frau stark, gesund, frei und wissend werde, damit ihre Kinder wirklich die Träger einer kommenden zukünftigen Gesellschaft sind . Im Kampf gegen alles häusliche Elend muss die Frau an vorderster Front stehen . Hier darf sie nicht nur Mitläuferin im Kampfe sein, sondern muss Führerin werden . Sie muss es sein, die auch die wilden Ausschreitungen des Alkoholkapitals mit unterbinden hilft, das Elend und Verbrechen unter die Ärmsten der Armen bringt, und die Frau muss es sein, die zweckmäßigere und bessere Formen der Alkoholbekämpfung findet, als die des staatlichen Alkoholverbotes, dessen Misserfolg nach den Erfahrungen in Amerika und Finnland für mich feststeht . In diesem Zusammenhang ein Wort über die Frage der Geburtenregelung . Der Kampf gegen den bekannten § 218 (R[eichs] .St[raf] .G[esetz] .B[uch] .) ist auf allen Fronten wieder lebhaft entbrannt . Man möchte ihn unterbinden, aber ich sage offen, dass ich diesen Kampf begrüße . Dennoch scheint mir, dass im Eifer des Kampfes vielfach Parolen herausgegeben werden, die geradezu falsch und geradezu verderblich sind . Nicht darum geht es, die gedankenlose Freiheit der Abtreibung wiederherzustellen, sondern darum, ein Gesetz zu Fall zu bringen, dass die Abtreibungen nicht verhindert hat, aber zu einem Ausnahmegesetz gegen die Armen, für die Reichen geworden ist . Wir alle wissen, dass eine ärztliche Entfernung des werdenden Menschen im Mutterleibe immer gefährlich ist, auch da noch, wo der sachkundigste Arzt und der wohlwollendste Menschenfreund am Operationstisch steht . Wir wissen sehr wohl, dass es das Gesundeste und Schönste ist, wenn die werdende Mutter ihrem Kinde auch das Leben zu geben vermag . Darum verlangen wir, dass den Müttern auch die Möglichkeit gegeben wird, Mütter zu werden, dass sie gesunde, starke Kinder in hellen, sauberen Wohnungen zur Welt bringen und erziehen können, und wir wissen ganz genau, dass wir dann, ohne den Strafrichter zur Hilfe zu rufen, den wirksamsten Kampf gegen die Abtreibung führen, der überhaupt zu führen ist . Alle diese Fragen kann die Frau nur lösen, wenn sie aus ihrer Passivität, ihrer Gleichgültigkeit und ihrer inneren Trägheit heraustritt . Sie soll nicht nur Verständnis haben für den politischen Kampf des Mannes, sondern sie soll selber mit Herz und Seele an diesem Kampfe teilnehmen . Sie soll wissen, dass in dieser schweren Gegenwart um eine bessere und reinere Zukunft gerungen wird, und sie soll zugleich mit dem Manne lernen, an die gewaltige Verheißung des Sozialismus zu glauben, der allen Menschen, die guten Willens sind, statt des harten Reiches der Notwendigkeit von heute ein Reich der Freiheit, Würde und Schönheit verheißen hat .
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Die Polizei sichert den Sozialstaat Vortrag bei der Vereinigung für polizeiwissenschaftliche Fortbildung 193187
„Das Thema, meine sehr verehrten Damen und Herren, das Sie mir gestellt haben und das von der wirtschaftlichen Seite der Tätigkeit der Polizei berichten soll, ist unter allen möglichen Themen, die ein Polizeifachmann behandeln kann, sicherlich das schwierigste, weil es das umstrittenste ist . Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen ist es in der Literatur nur verhältnismäßig wenig behandelt worden . Große Werke, in denen zusammenhängend diese Frage behandelt ist, existieren nicht . Außer einer großen Anzahl Artikel in Fachzeitschriften über Spezialfragen ist nichts vorhanden . In den letzten Jahren ist zweimal versucht worden, das Thema ‚Polizei und Wirtschaft‘ zusammenhängend darzustellen . Einmal von Julius Hirsch und Dr . C . Falck in der Abegg‘schen Polizeischriftensammlung ‚Die Polizei in Einzeldarstellungen‘ .88 Dann von Dr . Friedensburg im Heft 4 der Wirtschaftspolitischen Zeitfragen .89 Beide Arbeiten sind 1926 erschienen . Ich habe mich vielfach auf die Friedensburg’sche, auf genauer Kenntnis der Polizeipraxis beruhende Schrift gestützt, die ich Ihnen auch sonst zum Nachlesen sehr empfehle . Beginne ich meine Erörterungen mit Feststellungen rein tatsächlicher Art, so ist es natürlich, dass ich Ihnen wenig Neues bieten kann . Beginne ich aber mit Erörterungen grundsätzlicher Art, so begeben wir uns gar bald auf ein Gebiet, von dem politische Anschauungen und politisches Glaubensbekenntnis nicht leicht ferngehalten werden können . Auch Ihnen wird es von vorneherein klar sein, dass hinter dem Thema ‚Polizei und Wirtschaft‘ das größere und bedeutendere Thema ‚Staat und Wirtschaft‘ auftaucht, in welchem, man kann es ruhig aussprechen, die Schicksalsfragen dieses ganzen Jahrhunderts eingeschlossen sind . Es ist nicht zu verkennen, dass jeder, und sei es der vorsichtigste, polizeiliche Eingriff in das Wirtschaftsleben eine Tätigkeitssphäre der Einzelpersönlichkeit berührt, die nach den bislang noch immer geltenden und keineswegs überwundenen Anschauungen die ureigensten Freiheitsrechte eines jeden Staatsbürgers umschließt . Weite Kreise unseres Volkes halten noch immer daran fest, dass das Recht auf uneingeschränkte wirtschaftliche Betätigung, das Recht auf Freiheit und Schutz des Eigentums ein Grundrecht sei, das nicht nur vor willkürlichen Übergriffen einzelner, sondern auch vor dem legalen Zugriff des Staates und seiner Organe bewahrt werden muss . Aber hier fängt die Problematik schon an, und wenn IISG: G 2150 .Titel: Die Polizei im Dienste der Wirtschaft . (Vortrag gehalten bei der Vereinigung für polizeiwissenschaftliche Fortbildung am 19 . Mai 1931, 12 .30 Uhr) . Typoskript DIN A5, 55 + 1 Seiten mit handschriftlichen (Tinte) Ergänzungen, Streichungen und zahlreichen Unterstreichungen mit rotem und blauem Stift . 88 Julius Hirsch und C . Falck, Polizei und Wirtschaft (=Die Polizei in Einzeldarstellungen, herausgegeben von W . Abegg, Heft 5) Gersbach: Berlin 1926 . 89 Ferdinand Friedensburg, Wirtschaft und Polizei (= Wirtschaftspolitische Zeitfragen, 4 . Heft) . Glöckner: Leipzig 1926 . 87
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wir uns die heutige Praxis ansehen, so finden wir, wie Schritt um Schritt die Freiheit der privaten Wirtschaftssphäre durch die beaufsichtigende und regulierende Tätigkeit des Staates eingeschränkt wird . Diese Entwicklung, die der Liberalismus alten Schlages so erbittert bekämpft hat, ist nicht von heute, sie hat sich in jahrzehntelanger Entwicklung auch schon vor dem Kriege Bahn gebrochen, [sie] schickt sich allerdings an, in der heutigen Zeit sich zu vertiefen und zu verbreitern . Wie schwierig das hier angeschnittene Problem geworden ist, zeigt schon ein Blick auf die Reichsverfassung, wo der Artikel 153 zwar das Eigentum unter den Schutz der Verfassung stellt, gleichzeitig aber Vorsorge trifft, dass die eben noch garantierte Freiheit des Eigentums durch Enteignung mit und sogar ohne Entschädigung eingeschränkt oder gar aufgehoben werden kann . Die zwingenden Umstände, die zu dieser Entwicklung geführt haben, sind Ihnen nicht unbekannt . Das System der schrankenlosen Wirtschaftsfreiheit, wie es früher einmal in der Theorie gefordert wurde, hat sofort seine Schranken darin gefunden, dass der zügellose Wirtschaftskampf aller gegen alle zur Vernichtung der gesellschaftlichen Ordnung zu führen drohte . Aber selbst die Fesselung der Zügellosigkeit, die der Liberalismus auch seinerseits vom Staate verlangt hat, hat nicht genügt . Es hat sich im Laufe der Entwicklung gezeigt, dass das freie Walten der wirtschaftlichen Kräfte eine ganze Reihe wesentlicher gesellschaftlicher Funktionen nicht zu erfüllen im Stande war . Überall, wo wir heute den staatlichen Eingriff in das Wirtschaftsleben auf dem Wege über die Polizeigewalt in Tätigkeit sehen, überall da hat sich herausgestellt, dass das freie Walten der wirtschaftlichen Kräfte die notwendige gesellschaftliche Versorgung nicht in zureichendem Maße sicherstellen konnte . Wenn wir also heute eine polizeiliche Nahrungsmittelkontrolle haben, eine Bau- und Feuerpolizei und vieles andere mehr, worauf ich im Laufe dieses Vortrags noch eingehen werde, so deshalb, weil die so oft in hehren Tönen gepriesene wirtschaftliche Selbstständigkeit des Individuum[s] nur dahin führt, dem schrankenlosen Egoismus des Einzelnen Tür und Tor zu öffnen . Man mag zu einer Entwicklung, die die wirtschaftliche Freiheit des einzelnen einengt oder gar aufhebt, grundsätzlich stehen wie man will . Man wird jedoch zugeben müssen, dass ein großer Teil der heute vom Staat ausgeübten Wirtschaftskontrolle der übergroßen Mehrheit der Staatsbürger bereits vollkommen selbstverständlich geworden ist, so selbstverständlich sogar, dass ein gelegentlicher Mangel in den Kontrollen und Zwangsmaßnahmen des Staates zu dem leider recht beliebten Ruf in der Öffentlichkeit führt: ‚Wo bleibt die Polizei!‘ [am Rande handschriftlich: „Bankenkontrolle“] So ist z . B . die Tätigkeit der Polizei, die auf den Schutz der Arbeitskraft gerichtet ist, bei uns fast selbstverständlich geworden, und wir vernehmen es mit Erstaunen, dass in anderen Ländern, z . B . in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, noch um Maßnahmen gerungen wird, über die sich heute in Deutschland kein Mensch mehr den Kopf zerbricht . So gibt es noch heute in den Vereinigten Staaten keine Möglichkeit, die Kinderarbeit einzuschränken oder gar zu beseitigen . Erst im Vorjahre hat das höchste Gericht der Vereinigten Staaten ein Gesetz, das die Kinderarbeit verbot, als
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verfassungswidrig aufgehoben, da die Verfassung der Vereinigten Staaten die Freiheit jedes Staatsbürgers auch auf wirtschaftlichem Gebiete garantiere und auch die Beschäftigung von Kindern ein wesentlicher Teil der wirtschaftlichen Freiheit sei, der dem Individuum nicht entzogen werden dürfe . Es ist wohl auch noch in Erinnerung, dass ebenfalls das höchste Gericht in U . S . A . das Arbeitszeitgesetz eines Staates, welches den 8-Stundentag verordnete, aufhob, weil es aus den gleichen Gründen verfassungswidrig sei . Es ist gut, an derartige Dinge zu erinnern, damit wir wieder einmal begreifen lernen, wie sehr mancher soziale Fortschritt und manche segensreiche Tätigkeit des Staates in Deutschland, die von vielen gleichgültig hingenommen wird, in anderen Ländern noch Gegenstand erbitterter Kämpfe ist . Allgemein ist zu sagen, dass in dem Maße, in dem die heutige Wirtschaftsordnung ihre Aufgabe, den einzelnen mit den lebensnotwendigen Gütern zu versehen, nicht mehr vollkommen gerecht wurde, die Aufgaben des Staates erheblich gewachsen sind . Die gewaltige soziale Gesetzgebung, durch die sich die deutsche Republik an die Spitze aller Länder der Erde gestellt hat, haben dem Staat eine Fülle von Aufgaben und eine Fülle von Arbeit überantwortet, die er vor dem Kriege auch nicht annähernd in diesem Maße gekannt hat . Ich sage also, dass die Polizei als Organ des Staates dem schrankenlosen Walten der Wirtschaftskräfte Grenzen setzt, und dass sie durch ihre manchmal auch harten und manchmal auch weitgehenden Eingriffe das Recht der Allgemeinheit gegenüber dem einzelnen zu sichern hat . Mit dieser Feststellung dürfte umrissen sein, um was es sich grundsätzlich bei der wirtschaftlichen Tätigkeit der Polizei handelt . Denn dass die Polizei selber nicht im eigentlichen Sinne wirtschaftet, also nicht selber Wirtschaftsunternehmer ist, das darf ich, meine sehr verehrten Zuhörer, als bekannt voraussetzen . […] Die Haupttätigkeit der Polizei auf wirtschaftlichem Gebiete ist die regelnde . Sie beruht, nochmals sei es gesagt, auf dem Grundsatz, dass der schrankenlosen Ausnutzung des Eigentums und der schrankenlosen Betätigung des wirtschaftlichen Erwerbstriebs im Interesse der Gesamtheit Grenzen gezogen werden müssen . Diese Tätigkeit war schon einmal noch sehr viel größer als heute . Ich meine, als während des Krieges und bis 1926 die notwirtschaftliche Gesetzgebung in Kraft war . Sehen wir uns im Einzelnen diejenigen Tätigkeitsgebiete der Polizei an, bei denen sie kraft gesetzlichen Auftrages in das Getriebe der Wirtschaft eingreift . Allgemein ist da zunächst zu sagen, dass die nachdrücklichste Beschränkung des Eigentums und des Erwerbs von Seiten des Staates im Bürgerlichen Gesetzbuch selbst liegt, in dem die wirtschaftlichen Rechte des Individuums genau umschrieben, damit aber zugleich auch genau umgrenzt und eingeschränkt sind . Das ist eine Selbstverständlichkeit, die manchmal nicht beachtet wird, obwohl sie von grundsätzlicher Bedeutung ist . Die Einschränkung des wirtschaftlichen Rechtes des einzelnen durch Gesetz ist ja keine Erscheinung von gestern und vorgestern . Sie ist uralt und entsteht eigentlich schon mit der Bildung jedes geordneten Gemeinwesens . Dennoch ist zu beachten, dass sich mit
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der geschichtlichen Entwicklung der Umfang jener regelnden und einschränkenden Gesetzgebung gewaltig vermehrt, zugleich aber auch ihre Bedeutung für die Rechtssphäre des einzelnen und für das Interesse der Allgemeinheit . Ich unterstreiche das ausdrücklich, weil neuerdings bei manchen Leuten die Meinung aufgekommen ist, dass die nachdrückliche Beschneidung der individuellen Eigentumsrechte und der individuellen Erwerbstätigkeit eine bösartige Missgeburt erst der Nachkriegszeit sei . Das ist nicht richtig . Richtig ist vielmehr, dass die Bedeutung und die Tragweite der staatlichen Regelung durch Gesetz und Verordnung außerordentlich gestiegen ist, und dass allein deshalb, weil der Zustand mangelhafter Regelung außerordentliche Gefahren für die Allgemeinheit heraufgeführt hat . Neu ist vielleicht der Gedanke, der heute in starkem Maße Gesetzgebung und Verwaltung beherrscht, dass es Aufgabe des Staates sei, bei seiner regelnden Tätigkeit den Schutz des wirtschaftlich Schwachen vor dem wirtschaftlich Starken zur Geltung zu bringen . Wenn auch dieser Gedanke früher schon lebendig gewesen ist, so hat doch erst die Nachkriegszeit bewiesen, dass ein mangelhafter Schutz des wirtschaftlich Schwachen nicht nur vom moralischen Standpunkt aus beklagenswert ist, sondern eine Gefährdung der allgemeinen Interessen darstellt, wie sie unter Umständen ärger kaum gedacht werden kann . Greifen wir nunmehr die Einzelheiten der polizeilichen Wirtschaftsarbeit heraus und sehen zu, auf welchen besonderen Gebieten die Polizei ihre wirtschaftsregelnde Tätigkeit ausübt . [Im Folgenden verdeutlicht Grzesinski einzelne für den Zusammenhang typische Arbeitsfelder. Er beginnt mit der „Nahrungsmittelpolizei“, dessen „Gewerbeaußendienst“ kontinuierlich umfangreiche Kontrollen durchführt.]
Insgesamt wurden auf den verschiedensten Gebieten im Jahre 1930 über 150 .000 Kontrollen ausgeführt gegen 139 .000 im Jahre 1929 . 24 .375 Verwarnungen sind erteilt und 4 .784 Strafanzeigen erstattet worden . Die Gesundheitspolizei kontrolliert die Ärzte, Apotheken und Drogerien, bekämpft und verhütet die Seuchen durch Zwangsimpfung und ermöglicht die Reinerhaltung des Trinkwassers . […] Sie wissen, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass große Teile der Industrie, besonders der chemischen Industrie, aus wirtschaftlichen Gründen ihre Abwässer unmittelbar in die Flussläufe entlassen . Die dadurch eintretende Vergiftung der Flussläufe, die nicht nur zum Fischsterben und damit zur erheblichen wirtschaftlichen Schädigung führt, sondern auch den weiteren industriellen Gebrauch des Wassers unmöglich machen kann, ist von außerordentlicher Bedeutung . […] Im Allgemeinen denkt man ja bei den Mitteln, die die Polizei zur Durchführung ihrer Aufgaben anwendet, in erster Linie an die Zwangsgewalt . Bei Verkehrsangelegenheiten ist ein neues Mittel hinzugetreten: die Erziehung und Belehrung . Dieses
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Mittel soll allerdings, das ist unser aller Wunsch und Wille, auch auf anderen Gebieten polizeilicher Tätigkeit immer mehr Eingang finden . […] Mit Vergnügen kann ich feststellen, dass der Verkehrs-Schupo in wachsendem Maße von der Bevölkerung als Freund und Helfer betrachtet wird . […] [Die sehr weitgehenden Rechte der Gewerbepolizei z. B. bei der Gründung und Überwachung von Betrieben und Firmen, bei Approbationen und Konzessionen u. a. werden von Grzesinski ausführlich dargestellt.]
Alles in allem kann man sagen, dass die Befugnisse der Gewerbepolizei trotz des in der Verfassung und in der Reichsgewerbeordnung vorgesehenen Grundsatzes der Gewerbefreiheit sehr weitgehend sind . Sie sind – gerade bei der Gewerbepolizei kann man das besonders gut zeigen – notwendig, um das Interesse der Gesamtheit gegenüber dem privaten Erwerbsstreben zur Geltung zu bringen . […] [Viel Raum widmet er der Baupolizei]
In engstem Zusammenhang mit dem bisher Vorgetragenen steht die Tätigkeit der Baupolizei, der vor allen Dingen die keineswegs immer dankbare Aufgabe zufällt, die unheimlichen Bausünden einer früheren Zeit wieder gut zu machen . Heute zweifeln nur noch wenige daran, dass die massenhafte Errichtung von Mietskasernen mit dunklen, stickigen Höfen wahre Wohnhöllen geschaffen hat, in denen unendlich viel an seelischen und moralischen Werten vernichtet worden ist . Man kann nicht scharf genug aussprechen, dass heute der Staat in der Beaufsichtigung des Bauwesens besonders ernste Pflichten zu erfüllen hat, die nicht nur der körperlichen Sicherheit der Bewohner, sondern auch ihrer moralischen und seelischen Sicherheit zugutekommen sollen . Jeder Polizeibeamte weiß, in welch starkem Maße die Kriminalität, die Aufsässigkeit und Widerspenstigkeit der Bevölkerung gegen polizeiliche Anordnung vom Wohnungselend her beeinflusst wird . Jeder Polizeibeamte weiß, wie sich der Charakter einer Wohngegend sofort ändert, wenn in früher vorhandene Elendsquartiere Breschen geschlagen werden . Die Baupolizei hat die schöne Aufgabe, für Luft, Licht und Sonne, Trockenheit und Wärme in den Wohnungen der Bevölkerung zu sorgen, wobei sie nicht nur der Gesundheit, sondern auch der Sicherheit und der Volksmoral dient . Einer planlosen und zügellosen Entwicklung auf dem Baumarkt kann heute niemand mehr das Wort reden, und eine sachverständige Baupolizei sollte überall begrüßt werden . […] [Feuerpolizei, Wasserpolizei und andere Tätigkeitsgebiete werden dargestellt. Abschließend geht Grzesinski eingehend auf den Arbeiterschutz ein.]
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Die Polizei hat aber auf dem Gebiete des Arbeiterschutzes noch mehr zu tun als die Durchführung der gesetzlichen Bestimmungen zu gewährleisten . Sie hat neben dem Schutze von Leben und Gesundheit der Arbeitenden auf die Wahrung von Sitte und Anstand im Betriebe zu halten . Sie muss weiter der schrankenlosen Ausbeutung der Arbeitskräfte entgegenwirken und hat zu diesem Zweck die tariflich und gesetzlich festgelegten Höchstarbeitszeiten zu kontrollieren . […] Ein alter Satz sagt, dass die Polizei die Mutter der Verwaltung sei, und meine bisherigen Ausführungen sollten Ihnen die Wahrheit dieses Satzes bestätigen: Kein Gebiet des wirtschaftlichen, aber auch persönlichen Lebens bleibt von der polizeilichen Regelung unberührt, und die Ansprüche, die an den Polizeibeamten gestellt werden, wachsen fort und fort . Von der Wiege bis zum Grabe steht der Mensch gewissermaßen unter Polizeiaufsicht – im guten Sinne natürlich . Der Polizeibeamte aber, der heute seinen Dienst an Volk und Staat mit Erfolg verrichten will, muss nicht nur die alten Tugenden des Beamten mitbringen, Pflichttreue und Gewissenhaftigkeit, sondern darüber hinaus ein aufgeschlossener und kenntnisreicher Mensch sein, der in lebendiger Beziehung zu den Volksgenossen und ihrer Tätigkeit steht . Das Maß an Wissen, das heute vom Polizeibeamten verlangt werden muss, wächst von Tag zu Tag . Es besteht die Gefahr, dass der einzelne dem Übermaß an Aufgaben, die ihm täglich gestellt werden, nicht gewachsen sein kann, wenn er nicht die Möglichkeit einer vertieften und verbesserten Fortbildung erhält . Dabei möchte ich eine Bemerkung nicht unterlassen: Über alle Kenntnisse hinaus kommt es darauf an, dass der Polizeibeamte ein fühlender und verstehender Mensch ist, der Gesetze und Verordnungen nicht nur dem Buchstaben, sondern vor allem auch dem Sinne nach anzuwenden im Stande ist . Gewissenhaftigkeit und Korrektheit tuen not, noch mehr nottut Kenntnis und Bildung, am notwendigsten aber ist der freie und aufrechte Mensch mit klarem Blick für die Nöte des einzelnen und die Aufgaben des Ganzen . Denn die Polizei kann und soll mit ihren Befugnissen helfen und fördern; sie kann aber auch immensen Schaden anrichten . Wie im menschlichen Leben überhaupt, so auch in der Polizei, sollte der Satz nicht vergessen werden, dass der Mensch das Maß aller Dinge ist, dass die freie, aufrechte und klare Persönlichkeit allein im Stande ist, den gewaltigen Problemen unseres Jahrhunderts gerecht zu werden . Die Eingliederung der Wirtschaft als Dienerin der Gesamtheit in das lebendige Volksganze ist mit eine Aufgabe der Polizei, und der Beamte, der diese Aufgabe lösen soll, muss ein ganz besonderer Mensch sein . Mag sein, dass wir manchmal vor der Größe der vor uns stehenden Aufgaben erschrecken . Wir werden und müssen sie meistern mit dem Bewusstsein, dass schwere Zeiten noch immer ganze Männer gefunden haben .
Entschiedene Abwehr bei tätlichen Angriffen gegen Polizisten
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Entschiedene Abwehr bei tätlichen Angriffen gegen Polizisten Ansprache bei der Trauerfeier für Paul Zänkert90 Am 19. Mai 1931 kam Polizeihauptwachmeister Paul Zänkert vom Polizeirevier 72 (Prenzlauer Berg) auf dem Senefelder Platz ums Leben, als er versuchte, einen kommunistischen Überfall auf eine Gruppe von Angehörigen des „Stahlhelm“ zu verhindern. Einen Monat später, am 30. Juni 1931, fiel Polizeioberwachtmeister Emil Kuhfeld an der Spitze eines Überfallkommandos, als er versuchte, einige hundert Kommunisten auseinanderzutreiben, die sich in der Frankfurter Allee zusammengerottet hatten. Beide Todesfälle empörten sowohl die Polizei als auch die Bevölkerung. Tausende von Berlinern gaben Zänkert das letzte Geleit, und auch Polizeipräsident Grzesinski war anwesend. Über Kuhfelds Beerdigung hieß es in der Vossischen Zeitung vom 8. Juli 1931: ‚Noch niemals hat ein Polizeiwachtmeister ein solches Leichenbegräbnis erhalten ... Dies war Berlins Protest gegen den Straßenterror.‘“91
Sehr geehrte Frau Zänkert, sehr geehrte Trauerversammlung! Wer es noch nicht gewusst hat, konnte aus den ergreifenden Worten des Geistlichen erkennen, welch wertvolles Menschenleben ruchlose Hände hier vernichtet haben . Mordbuben haben einen hochachtbaren Polizeibeamten bei der Ausübung seines harten und schweren Staatsdienstes getötet . Die radikalen Parteien nennen das heute politischen Kampf . Politischer Kampf ist gewiss nötig und muss auch sein . Mit der Waffe in der Hand ist der politische Kampf jedoch gemeines Verbrechen, wogegen der Staat mit allen seinen Machtmitteln einzuschreiten hat . Die Schüsse auf den Getöteten, an dessen Grabe wir jetzt trauernd stehen, sind, wie ja fast stets in solchen Fällen, feige aus dem Hinterhalt abgegeben worden . Die Täter haben sich ihrer Festnahme noch durch die Flucht entziehen können; wir werden aber den oder die Täter und hoffentlich auch ihre Hintermänner finden, ergreifen und dann hoffentlich schneller und schwerer Bestrafung zuführen können . Milde und Nachsicht ist hier nicht am Platze . Für Mord, gerade auch für Mord an Beamten im Dienst aus angeblich politischen Gründen gibt es keine wie immer geartete Entschuldigung . Wann endlich wird sich eine geschlossene Front aller Anständigen und Gesitteten bilden, die von Parteimördern und den dahinter stehenden Parteien geschlossen abrückt, und diese verruchte Art des politischen Kampfes infamiert!
IISG: G 2150 . „Rede am Grabe des von Kommunistenhand am Freitag, den 29 . Mai angeschossenen und verstorbenen Polizeihauptwachtmeisters Zänkert am Dienstag, den 2 . Juni, nachm . ½ 6 Uhr .“ Typoskript DIN A4, 3 Seiten . 91 Zitiert nach: Hsi-Huey Liang, Die Berliner Polizei in der Weimarer Republik (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 47), Berlin 1977, S . 126 f . 90
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Die Fälle, in denen Polizeibeamte bei Ausübung ihres Dienstes mit der Waffe in der Hand angegriffen werden, mehren sich . Hie und da ist die Meinung geäußert worden, als seien die Beamten dagegen fast schutzlos . Ich erkläre aber am offenen Grabe eines unserer besten Polizeiwachtmeister, dass jeder Beamte, der beschimpft oder gar angegriffen wird, nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht hat, sich rücksichtslos – auch vorbeugend – mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen . Wer einen im Dienst befindlichen Beamten tätlich angreift, greift den Staat an; dann gibt es aber nur entschiedene Abwehr und ich werde das decken . Wir haben alle gesehen, welch furchtbaren Jammer der Familienangehörigen und Freunde des Ermordeten die Tat ausgelöst hat . 20 .000 Beamte der Polizeiverwaltung Berlin sind ergriffen durch die Tat, und nicht nur die Familie, wir alle miteinander haben einen schweren Verlust erlitten . Ich habe Ihnen, verehrte Frau Zänkert, bereits in einem Brief mein Beileid und meine Entrüstung über die Tat zum Ausdruck gebracht und auch bereits bemerkt, dass es kaum möglich sein wird, Ihren Schmerz zu lindern . Wenn es überhaupt eine Linderung gibt, dann ist es vielleicht die Tatsache, von der Sie sich ja auch überzeugen konnten, dass die Trauer um den Tod Ihres Gatten eine allgemeine ist . Die Polizeiverwaltung Berlin hat einen pflichttreuen Beamten verloren . Ehren wir sein Andenken, indem wir in aufopfernder Pflichttreue weiter unseren schweren Dienst verrichten .
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Zum preußischen Volksentscheid 1931 Rede zum Volksentscheid gegen die Preußische Regierung vom August 193192 Die Rede muss wenige Tage vor dem Volksentscheid gegen die Preußische Regierung, der am 9. August 1931 stattfand, gehalten worden sein. Das Volksbegehren war vom im Jahr zuvor wieder zugelassenen ‚Stahlhelm-Bund der Frontsoldaten‘ erfolgreich eingeleitet worden; verschiedene rechtsgerichtete Verbände und Parteien wie die DNVP, DVP schlossen sich an; dem Volksentscheid schlossen sich später NSDAP und KPD an. Flankiert wurden das Volksbegehren und der Volksentscheid von den Zeitungen des Hugenberg-Konzerns (Berlin). Der Volksentscheid erreichte mit 37,1 % das geforderte Quorum nicht; dies sah mindestens
IISG: G 2150 . Ohne Titel; auf der ersten Seite oben: ‹Aug .[ust] 1931› und ‹8 .15› . Typoskript, 32 Seiten DIN A 4 mit vielen Unterstreichungen (Rot- oder Blaustift) und mehreren handschriftlichen Ergänzungen, Streichungen und Korrekturen . Zwischen den Seiten 7 und 8 des Originals ist ein Blatt eingeschoben, auf dem Vf . sich mit Bleistift verschiedene Punkte bzw . Worte notiert hat, die z . T . schwer entzifferbar sind . Erkennbar sind z . B .: «Stahlhelmverbot aufgehoben», «Warum nicht Stahlhelmverbot in Berlin» .
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50 % der Stimmberechtigten vor. Der Ort und die Versammlung, in der die Rede gehalten wurde, konnten nicht ermittelt werden. Die grundsätzliche politische Fragen sozialdemokratischer Politik aufgreifende Rede wird im Folgenden im Ganzen wiedergegeben.
Genossinnen und Genossen! Werte Versammlung! Sie sind hier zusammengekommen, um gegen ein Unternehmen zu protestieren, dass sich Volksentscheid nennt, das aber in Wirklichkeit sehr wenig mit dem Volke zu tun hat . Sie sind zusammengekommen, um zugleich Ihre Stimme zu erheben für das neue Preußen, das wir geschaffen haben, dieses Preußen der Ordnung und Stetigkeit, des Aufbaus und des sozialen Fortschrittes, das sich seiner Leistungen nicht nur nicht zu schämen braucht, sondern sich ihrer rühmen kann . Volksentscheid – eine gute Sache, wenn ein politisch und geistig mündiges Volk die Mittel der Demokratie nutzt, um seinen Willen in ernsten Fragen zum Ausdruck zu bringen . Handelt es sich hier aber wirklich um das Volk? Wie denn, wenn das Volk gar nicht selbst aus eigenem Entschluss die Waffe des Volksentscheides benutzt, sondern nur von andern vorgeschoben eine Entscheidung herbeiführen soll, die sicher keine Entscheidung des Volkes ist? Volk kann auch missbraucht werden, und wenn es je missbraucht werden wird, dann gerade hier . In Wirklichkeit ist dieser Volksentscheid kein Entscheid des Volkes, sondern eine Entscheidung, die die abenteuerlichen Drahtzieher dieses unglücklichen Unternehmens erzwingen wollen . Will man sehen, wer in Wirklichkeit diese zweifelhafte Aktion auf dem Gewissen hat, die sich heute nicht mehr allein gegen Preußens Regierung, sondern gegen Deutschlands Rettung richtet, so muss man nicht in die Volksversammlungen gehen, in denen eine betörte Wählerschaft in einem Phrasennebel sondergleichen betäubt wird, sondern man muss einen Blick hinter die Kulissen dieses Unternehmens werfen, um erkennen zu können, wer dort sein teuflisches Spiel mit Deutschlands Schicksal treibt . Genossinnen und Genossen, werte Versammlung! Reißen wir einmal den Vorhang zurück, der die Hintergründe dieses Sturmlaufes gegen Preußen und Deutschland verbirgt und wir stoßen auf eine Gesellschaft, die gewiss allerlei darstellt, aber nur kein Volk . Da sitzen die wohlbekannten Herren Hugenberg, Seldte und Hitler, deren Anwesenheit vielleicht nicht überraschend ist, da sie ja vorgeben, Volksführer zu sein . Aber neben ihnen und hinter ihnen sitzen andere, vorsichtig verborgen, nur gelegentlich auftretend, die das Volk nicht sieht, die aber für den Charakter und den Sinn dieser Aktion entscheidend sind . Darf ich Ihnen eine Liste dieser ‚erlauchten‘ Gesellschaft übermitteln? Da ist in erster Linie der nicht ganz so unbekannte Rittmeister außer Dienst von Morozowicz, der als Führer des Brandenburger Stahlhelms offenbar berufen ist, das Brandenburger Volk zu vertreten . Diesen Herrn von Morozowicz kenne ich persönlich nicht . Nur einmal, es war im Winter 1928/29, hat er meine Aufmerksamkeit als damaligen Minister des Innern auf sich gelenkt, als er in einer feurigen Rede in seinem Stahlhelm-Hassgesang versicherte, der Stahlhelm werde der Republik,
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der Verfassung und dem parlamentarischen System das Genick umdrehen . Unser Genosse Severing hat damals dem mutigen Volksführer eine Antwort gegeben, der ich nur zustimmen kann: ‚Herr von Morozowicz soll aufpassen, dass ihm nicht das Genick umgedreht wird!‘ Er meinte damit natürlich keinerlei Gewalttat, sondern nur dasselbe, was Herr von Morozowicz damals meinte und heute wohl noch meint, wenn er das Stahlhelm-Volksbegehren in Gang gebracht hat . Aber Herr von Morozowicz sitzt nicht allein in dem halbdunklen Hintergrund des Volksentscheides . Da sitzen noch andere Leute, Volksmänner sozusagen, die zweifellos
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Abb. 3: Faksimile (Ausschnitt) aus dem Manuskript seiner Rede zum preußischen Volksentscheid im August 1931 (s. Nr. 30 seiner Reden). International Institute of Social History, Amsterdam: Nachlass A. Grzesinski G 2150.
berufen sind, dass arbeitende, darbende und geduldige Volk Preußens und Deutschlands zu repräsentieren . Da ist zum Beispiel Prinz August Wilhelm, kurz ‚Auwi‘ genannt . Offenkundig ein Mann aus dem Volke, der das Recht hat, der Volksregierung Preußens Vorwürfe zu machen . Da ist Prinz Albrecht von Hohenzollern; Freiherr Hermann von Lüningk; Graf Beissel von Gymnich; Generalleutnant Erich von Beckedorff; Vizeadmiral Freiherr von Dalwigk zu Lichtenfels; Freifrau von Schönberg, geborene von Savigny; Freiherr von Schönberg auf Tammenhain; Rechtsanwalt von Savigny; Graf Brühl; Freiherr von Schorlemer; Herzog von Ratibor; Freiherr Alfred von Landsberg-Velen; Graf von und zu Bodmann; Graf Ferdinand Hoensbroech; Freiherr von Stotzingen; General der Artillerie von Gallwitz; General der Infanterie von Hutier; Exzellenz Bischof-Pascha . – Sie sehen, werte Versammlung, man kann sich vor lauter Männern aus dem Volke kaum retten . Aber blicken wir noch weiter: da sehen wir unsere Generäle Mudra und von Einem und wie die Volksführer alles sonst noch heißen . Und ganz besonders schön ist das Wiedersehen mit einem alten Kämpen der faustdicken preußischen Reaktion: dem alten Oldenburg-Januschau, der vor dem Kriege den Reichstag mit dem berühmt gewordenen Leutnant mit zehn Mann auseinanderjagen wollte . Das also ist das Volk, das den Volksentscheid macht . Wenn die Liste noch ergänzt werden soll, nichts steht im Wege, sie stundenlang zu verlängern .
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Und mitten in dieser illustren Hofgesellschaft von einst – wen sehen wir da, wer kommt denn da – wer bewegt sich, zwar noch ungeschickt, aber mit dem Bemühen, fleißig zu lernen: unser Teddy Thälmann, der rote Reitergeneral von Moskau! Jawohl, sie sind alle glücklich zusammen, und mit Hakenkreuz und Sowjetstern, mit Stahlhelm, Hammer und Sichel soll es nunmehr losgehen gegen die verfluchte Republik . Genossinnen und Genossen, das ist kein Volksentscheid, das ist ein Volksbetrug! Sehen wir uns einmal auch die Verbände an, die in diesem Volksentscheid zusammen marschieren . Da ist neben dem Stahlhelm und den Nationalsozialisten, wie könnte es anders sein, die liebe Deutsche Volkspartei, die noch immer dabei war, wenn in Deutschland irgendetwas schief ging . Diese Partei hat zwar einmal auch einen wirklichen Führer gehabt, den großen93 Stresemann, den wir, wenn auch seine politischen Gegner, achten und ehren . Aber die gleiche Partei hat diesem ihrem Stresemann sein krankes, von Sorgen und Mühen geplagtes Leben zur Hölle gemacht . Jedenfalls ist sie jetzt dabei . […] Natürlich kann es nicht fehlen, dass dieser stolzen Männerschar auch die Frauen zur Seite treten . Da haben wir den ‚Bund Königin Luise›‘, den ‚Nationalverein deutscher Frauen‘, den ‚Deutschen Frauenkampfbund‘ und, um alle Schrecken auf die Spitze zu treiben, die ‚Reichsvereinigung Deutscher Hausfrauen‘ . Daneben gibt es aber auch andere, sozusagen gemischte Verbände, in denen Männer und Frauen unter dem Kommando der Hohenzollernprinzen an der Wiederholung der militärischen und politischen Katastrophen des Kaiserreichs arbeiten . Seltsame Vereine gibt es da, die sonst kein Mensch kennt, die aber diesmal auch mitspielen dürfen . Da gibt es einen ‚Preußenbund‘, einen ‚Bund der Deutschen‘, einen ‚Bund deutsche Tat‘, einen ‚Bund für deutsche Lebenserneuerung‘, einen ‚Bund für Nationalwirtschaft und Werksgemeinschaft‘, einen ‚Deutschen Orden‘, einen ‚Norddeutschen Ring Schwarz-weiß-rot‘, einen ‚Deutschen Bund‘, einen ‚National-Club‘, eine ‚Kaisertreue Jugend‘ und wie sie alle heißen . Auch eine ‚Arbeitsgemeinschaft für vaterländische Aufklärung‘ hat sich eingefunden und der ‚Hauptverein der Konservativen‘ darf nicht fehlen . Wir sehen sie so recht alle vor uns, in Gehröcken und Zylindern, die Regenschirme geschultert, die Vereinsschärpe um den Bauch gebunden und den großen, großen Klempnerladen auf der breiten Brust . So haben wir uns wahrhaftig das Volk vorgestellt, das am kommenden Sonntag entscheiden soll . Und wer ist wieder mittendrin? Wer macht den hohen Herrschaften von einst wiederum die Straße frei? Wer stellt das Volk, dass die andern nicht haben – die K . P . D .! So sind sie nun alle zusammen, Generäle und sogenannte Arbeiterführer, und wollen das mühsame Werk, das Preußens republikanische Regierung in zwölf Jahren auf-
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Im Original ist „großen“ durchgestrichen .
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gebaut hat, niederreißen . Sie kommen mit gewaltigen Reden, sie kommen mit lautem Drohen . Hören wir, was der schon genannte Herr von Morozowicz uns zu sagen hat: Die Stunde ist gekommen, wo unser Tun und Handeln darüber entscheidet, ob die spätere Geschichtsschreibung dieser Tage uns den Ehrentitel schenken wird, die geistigen Erben des 3 . Armeekorps, des ‚Korps des Prinzen Friedrich Karl von Preußen‘ gewesen zu sein .
Dieser Herr von Morozowicz, der das 3 . Armeekorps beerben will, und die Irrlehre des internationalen Klassenkampfes und der feigen pazifistischen Völkerverbrüderung bekämpft, dieser Herr von Morozowicz redet seine treuen Kommunisten wie folgt an: Die Sache des Volkes ist unsere Sache! Nationalismus ist nicht Reaktion, sondern aufgebaut auf den heiligsten Werten einer ruhmvollen Vergangenheit . Wir wollen aufbauen auf der preußischen Staatsidee im Sinne von Potsdam und Königsberg . So werden wir auch dem im Weltkrieg geleisteten Brudereid des Frontsoldaten nachstreben, die deutsche Arbeiterschaft zum vollberechtigten Glied einer neuen deutschen Volksgemeinschaft zu erheben . Und so helfe uns Gott zum inneren Frieden in unserem Volke!
Und Morozowicz schließt seine liebevolle Mahnung an die Bolschewisten rechts und links mit dem schönen Sprüchlein: Hie guet Brandenburg allewege! Das also sind die Leute, die behaupten, dass sie Preußens und Deutschlands Zukunft hinter sich haben, und das sind die Leute, die mit einem solchen Schwall von Phrasen das preußische Volk betören wollen, damit es sich zum Vorspann und Helfershelfer für ihre dunklen Zwecke missbrauchen lässt . Was haben sie uns in Wirklichkeit vorzuwerfen? Herr von Morozowicz, und nicht er allein, sondern die anderen Aufruffabrikanten mit dazu, versichern uns, dass sie den inneren Frieden in Deutschland wiederherstellen wollen . Sie sind, wie man sieht, auf dem besten Wege dazu . Wir aber fragen Sie, wer denn in dem schwer leidenden und kämpfenden Deutschland den inneren Frieden gebrochen hat? Wer hat das republikanische Preußen, das republikanische Deutschland, seine Staatsmänner und seine Symbole mit Schmähungen und Verleumdungen der niederträchtigsten Art verfolgt? Wer hat die privatesten Dinge zum Gegenstand der schmutzigen Erörterung gemacht? Wer hat unentwegt gelogen und verleumdet? Das sind die Herren vom Hakenkreuz, die Herren vom Stahlhelm und vom Sowjetstern gewesen . Sie haben geschrien und gehetzt, während wir gearbeitet haben, und sie sind es gewesen, gerade sie, die die fürchterliche Entwicklung der deutschen Wirtschaft in den letzten Wochen und Monaten auf dem Gewissen haben . Es gibt nun Leute in unseren Kreisen, gute und bewährte Republikaner, zuverlässige Sozialisten, die auf das Geschrei und die Hetze der Gegenseite nicht weiter antworten . Diese Leute erklären mit gutem Grund, dass es unmöglich sei, sich mit Gegnern vom Schlage Hitlers oder Seldtes sachlich zu unterhalten . Sie weisen darauf hin, dass diese wuterfüllten Ankläger des neuen deutschen Staates sachlich nichts vorzubringen hätten, und dass aus den wilden Kampfreden gegen das ‚marxistische‘ Preußen
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nichts weiter herauszuhören sei, als die Wut der früher Bevorrechtigten, die sich mit dem Gedanken nicht abfinden wollten, dass sie heute nicht mehr zu sagen haben, als jeder andere Staatsbürger . Es ist in der Tat schwer, in dem Kampfgeschrei gegen den ‚Marxismus‘ sachliche Feststellungen zu entdecken . Ein bekannter englischer Journalist (Voigt im Manchester Guardian) hat neulich geschrieben, dass es in Deutschland nur zwei politische Parteien gäbe: die Sozialdemokratie und das Zentrum, und zwei Religionen: die nationalistische und die kommunistische . Mit dieser witzigen Einteilung des deutschen Volkes in Politiker und Fanatiker versucht unser englischer Freund den Mangel an politisch wertvoller Auseinandersetzung in Deutschland zu erklären . Er will seinen englischen Lesern auseinandersetzen, warum es in Deutschland so schwer ist, politische Fragen sachlich, anständig und mit einem vernünftigen Ergebnis zu besprechen . Er will sagen, dass man sich mit religiösen Fanatikern nicht unterhalten kann, da sie ja, nach einem Wort des Kirchenvaters Tertullian, an alles glauben, was unsinnig ist . Zweifellos steckt in dieser Charakterisierung Deutschlands ein richtiger Kern . Aber es muss immer wieder gesagt werden, dass die Republik und die republikanischen Parteien, die Sozialdemokratische Partei zuallererst, die Lügen und Verleumdungen der Gegner viel zu lange mit vornehmen Achselzucken übergangen hat, anstatt deutlich und drastisch zu antworten . Wir haben uns zwar oft gesagt: Das Volk muss ja schließlich einen Unterschied erkennen zwischen denen, die reden und denen, die arbeiten, und muss einsehen, wie unsinnig gewisse Behauptungen und Unterstellungen sind . Wir wissen heute, dass eine solche Annahme zu optimistisch ist . Wir wissen auch, dass Lüge und Verleumdung, Hetze und Entstellung die radikalen Parteien in Deutschland erst zu dem gemacht haben, was sie heute sind . Nehmen wir Kommunisten und Nationalisten die Möglichkeit zum Lügen – was bleibt dann noch von ihnen zurück? Wir müssen also einmal heraus aus unserer Reserve, heraus aus unserer nicht immer angebrachten Vornehmheit und nach dem Worte Goethes handeln: „Nur die Lumpen sind bescheiden!94“ . Wir wollen einmal die gewaltige Arbeit aufzeigen, die in zwölf Jahren in Preußen und Deutschland geleistet wurde . Zunächst noch die Abwehr eines ganz allgemein gehaltenen Vorwurfes, in dem sich Hitler, Hugenberg und Thälmann ganz besonders einig sind . Sie alle sagen, dass sie in der Republik terrorisiert würden, dass man ihnen ihre Freiheiten verkümmerte, dass sie in einem Zuchthausstaat lebten und dass sie nichts anderes zu erdulden hätten, als die Sozialisten unter dem Sozialistengesetz . Darauf können wir nur antworten: ‚Habt Ihr eine Ahnung!‘ Selbst unter der Herrschaft der Pressenotverordnung können heute gegen die Republik, gegen die Demokratie, gegen die Staatsmänner des Volksstaates Dinge behauptet und geschrieben werden, die in jeder anderen Demokratie, vor allem aber in jedem Diktaturstaat der Erde unmöglich wären . Herr Dr . Goebbels hat sich ja
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Im Original durchgestrichen .
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laut gerühmt, dass er es verstände, haarscharf an der Notverordnung vorbei zu schreiben . Und ich gebe gerne zu, dass wir im Polizeipräsidium Berlin nicht sonderlich bemüht gewesen sind, die nervöse Stimme des kleinen Goebbels dem staunenden Volke allzu oft vorzuenthalten . Es ist eine dreiste Unwahrheit, wenn die Faschisten rechts und links sich heute über Unterdrückung beklagen . Vor einiger Zeit war einmal der kommunistische Abgeordnete Münzenberg bei mir, um für eine von ihm beabsichtigte politische Wohltätigkeitsveranstaltung weitgehende polizeiliche Genehmigungen zu erhalten . Ich fragte damals Herrn Münzenberg, ob er bereit sei, dafür einzutreten, dass die sozialdemokratische Arbeiterwohlfahrt in Russland ähnliche Rechte erhielte, wie die Internationale Arbeiterhilfe in Deutschland . Eine Antwort auf diese Frage habe ich nicht erhalten . Die Herren Diktaturfreunde sind sonderbare Heilige . Sie wollen den Staat stürzen, die Demokratie vernichten, die Sozialdemokraten und mit ihnen alle Republikaner terrorisieren und umbringen – sie verkünden das alles in Ausnutzung der demokratischen Rechte, die man ihnen allzu reichlich überlassen hat und beschweren sich dann, wenn sie einmal einen auf die Finger kriegen . Wenn die Herren versichern, dass ihnen der heutige Zustand nicht passt, so erwidere ich Ihnen, dass der auch mir nicht passt . Diese Art von Liberalismus, die in unserer heutigen Verfassung verankert ist, scheint auch mir einer Korrektur bedürftig, und zwar in dem Sinn, dass eine politische Meinung zwar wirklich frei sein muss, nicht aber eine politische Verleumdung . Es passt mir nicht und das wird auch keinem anderen Freunde der Demokratie und des Volkes passen, dass die Meinungsfreiheit sich zur Schimpffreiheit, und die Versammlungsfreiheit zur Krawallfreiheit entwickelt hat . Die Meinung muss frei sein, nicht aber die Verleumdung . Und wer die Pflichten der Demokratie nicht anerkennt, soll auch ihre Rechte nicht haben . Ich weiß, dass ich damit nicht meine Privatmeinung ausspreche, sondern das, was Millionen von sozialdemokratischen Arbeitern seit Jahr und Tag fühlen, seit Jahr und Tag fordern . Wenn die Herren heute erstaunt sind, dass ihnen mit einem Male ihr allzu loses Mundwerk in diejenigen Schranken zurückgewiesen wird, die nun einmal in einem geordneten menschlichen Zusammenleben notwendig sind, so kommt ihr Erstaunen vielleicht daher, dass sie allzu lange unbestraft verleumden durften . Sie sind zum Beispiel erstaunt darüber, dass man mit einem Male die preußische Regierung nicht mehr des Hochverrates zeihen könne, was man allerdings zwölf Jahre hindurch – ich sage leider – widerspruchslos und straflos hat durchgehen lassen . Wenn wir uns etwas vorzuwerfen haben, so ist es unser Glaube, dass man mit verständiger Duldung die Gegner des neuen Staates eines Besseren belehren könnte . Ich habe diesen Glauben allerdings nie gehabt . Es war allerdings, das muss ich hinzufügen, nicht nur der Glaube an die Belehrbarkeit und Anständigkeit unserer Gegner, die uns gehindert haben, zuzugreifen . Maßgebend war auch das Fehlen einer wirklich zuverlässigen Handhabe im Kampf gegen politische Beleidigungen, gegen politische Verleumdungen und gegen politische Ausschreitungen in Wort und Tat . Diese Handhabe haben wir versucht mit dem Republikschutzgesetz zu erhalten und sie hat, wie die Erfahrung gelehrt, nicht
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völlig ausgereicht . Diese Handhabe ist nunmehr nach den beiden Notverordnungen des Herrn Reichspräsidenten gegen politische Ausschreitungen etwas zuverlässiger und wirksamer geworden, auch wenn man einzelne Formulierungen der infrage stehenden Notverordnung beanstanden mag . Wenn wir jedoch etwas Ernsthaftes an beiden Verordnungen auszusetzen haben, so ist es vor allem dies, dass sie um Jahre zu spät kommen und daher viel schärfer ausgefallen sind, als es früher vielleicht notwendig gewesen ist .95 Ich selber habe seit Jahren den Standpunkt vertreten, dass eine Republik und eine Demokratie nur möglich ist, wenn sie den Mut zur Strenge, zur Härte aufbringt, und ich darf wohl sagen, dass ich mit diesem meinen Standpunkt leider nicht überall auf Verständnis gestoßen bin . Umso dringender scheint mir heute die Feststellung, dass nur eine strenge Republik und eine harte Demokratie auch eine freie Republik und eine freie Demokratie sein kann . Wir haben als Sozialdemokraten in den Jahrzehnten vor dem Kriege die Auffassung immer bekämpft, als ob eine Demokratie gleichbedeutend sei mit Zügellosigkeit, und diese unsere alte Auffassung wird heute mehr denn je bestätigt . Der hohe Gedanke der Demokratie ist doch der, dass Menschen verschiedenen Glaubens und verschiedener Auffassung nebeneinander leben und miteinander arbeiten können . Das aber setzt voraus, dass die Freiheit der Meinung, die Freiheit der Werbung und die Freiheit des Denkens nicht missbraucht wird . Man soll und muss in dem demokratischen Staate jedem politischen, jedem weltanschaulichen Gedanken Ausdruck geben können, aber man muss sich klar sein, dass die Staatsbürger dieses hohe Gut selbst vernichten, wenn sie die Freiheit der Meinung zur Hetze und Lüge und zu gröblichen Beleidigungen ausnutzen . So geht es nicht, und je rascher mit einem solchen Zustand Schluss gemacht wird, umso besser ist es für Demokratie und Republik . Wir führen also einen Kampf gegen Verleumdung und Hetze, und wir wollen diesen Kampf damit enden, dass die Meinung der anderen nicht unterdrückt, aber zur Sachlichkeit gezwungen wird . Tut man das aber, so zeigt sich schon heute, wie ungeheuer arm die sogenannte ‚Opposition‘ an ernsten kritischen Einwänden gegen unsere Arbeit im Freistaat Preußen ist . Die Herren sagen, es sei in Preußen nichts geleistet worden . Mit dieser Behauptung stimmt es schlecht überein, wenn sie in ihrer Presse einen Sturmlauf entfesseln gegen angeblich überflüssige Schulen, die sie ‚Schulpaläste‘ nennen, gegen die Soziallasten usw . In Wirklichkeit ist in Preußen schon etwas geleistet worden, nur passt den Herren das Geleistete nicht und das können wir ihnen gerne Die erste Notverordnung des Reichspräsidenten „zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen“ wurde am 28 . März 1931 (RGBl 1931 I, S . 79–81) erlassen . Die zweite folgte am 17 . Juli 1931 (RGBl 1931 I, S . 371) und ermöglichte einen unmittelbaren und sofort umzusetzenden staatlichen Eingriff in die Pressefreiheit . Der § 1 dieser Verordnung lautete: „Der verantwortliche Schriftleiter einer periodischen Druckschrift ist verpflichtet, auf Verlangen der obersten Reichs- oder Landesbehörden oder der von ihnen bestimmten Stellen Kundgebungen sowie Entgegnungen auf die in der periodischen Druckschrift mitgeteilten Tatsachen ohne Einschaltung oder Weglassung unentgeltlich aufzunehmen .“ Der Abdruck hatte unverzüglich zu erfolgen, und eine Entgegnung in der gleichen Nummer war unzulässig .
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nachfühlen . Wir haben allerdings von unseren eigenen Leistungen wenig gesprochen, leider – ich führte das oben schon aus . So wissen heute nur wenig Menschen, wie außerordentlich weitgehend zum Beispiel die preußische Landarbeiterfürsorge, die Bauernansiedlung und die Anliegersiedlung gewesen ist . Wer von ihnen, Genossinnen und Genossen, weiß, dass in Preußen jede Woche 3–4 neue Dörfer entstehen, die durch Aufteilung von Großgrundbesitz geschaffen werden – jedes Dorf zu 48 Bauernstellen gerechnet . Das sind 9–19 Dörfer im Monat, nur 150 Dörfer in einem Jahre . Wer von Ihnen, Genossinnen und Genossen, weiß, dass in Preußen seit den Zeiten Friedrichs des Großen bis zum Zusammenbruch des Kaiserreiches nicht ein Viertel dessen an Neusiedlungen geschaffen wurde, was seit 1919 der preußische Freistaat geleistet hat? In Wahrheit hat, nachdem Friedrich der Große zum letzten Male in Preußen siedelte, die Neusiedlungstätigkeit erst 1886 wieder eingesetzt und hat von 1898 bis 1918 sage und schreibe 250 .000 Hektar Fläche nutzbar gemacht . Dagegen hat der preußische Staat von 1919 bis 1930 nur 600 .000 Hektar Fläche durch Siedlung erschlossen und damit etwa das 7 1/2-fache der Vorkriegssiedlungen geleistet . Im Jahre 1930 sind 15 neue Dörfer entstanden, im Jahre 1931 werden es über 200 neue Dörfer sein, jedes Dorf mit 50 Stellen, mit Schulen, Kirchen, Wegen usw . […] Die Auflösung der Gutsbezirke, die ich seinerzeit als Minister des Innern durchführte, hat zum ersten Male den Weg frei gemacht für eine Gemeindepolitik nach modernen Gesichtspunkten in den vielfach elenden Bauerndörfern, die bislang unter der Vormundschaft ihres Gutsherren standen, und wo die Einwohner kein Gemeindewahlrecht hatten . Was erst mit Hilfe des Gemeindewahlrechts geschaffen, ist eine Sehenswürdigkeit für die ganze Welt geworden . Was an Schulbauten, an Krankenhausbauten, an Wege- und Straßen- und Wohnungsbauten in ganz kurzer Zeit vollbracht wurde, übertrifft um ein Vielfaches die ganzen Arbeiten, die das Königliche Preußen in einem ganzen Jahrhundert ausführte . Es wird gegen all dies manchmal eingewandt, dass die infrage kommenden Leistungen nicht unmittelbare Leistungen des Staates, sondern Leistungen der Gemeinden, der Kreise, der Provinzen oder genossenschaftlichen Verbände seien . Genossinnen und Genossen! Wir selber müssen lernen, diese Leistungen als einheitliche zu betrachten; ohne die Initiative des Freistaates Preußen und seiner Regierung, ohne seine weitgehende demokratische Verfassung, ohne den Willen und die Mitarbeit aller infrage kommenden von sozialem Geiste erfüllten Verwaltungsbehörden wäre dies alles gar nicht möglich gewesen . Denn vor dem Kriege ist auf diesem Gebiet kaum etwas geschehen, was den heutigen Leistungen an die Seite gestellt werden könnte . Die Gegner selber gehen in ihren Angriffen ja auch weiter . Sie greifen ja nicht nur die Regierungen und die hinter ihr stehenden Parteien an, sondern, wie sie so schön sagen, das ganze System . Nun wohl – dieses System sind wir, und unsere Parteigenossen waren es, ob sie in der Regierung saßen oder im Landtag, ob sie an der Spitze der Provinzen, der Kreise und der Gemeinden standen, ob sie in den Provinziallandtagen, den Kreistagen oder den Gemeindevertretungen arbeiteten, die mitgeholfen haben, trotz Not und Geldmangel, die ersten entscheidenden Schrit-
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te zur Modernisierung Preußens mitzutun . Wenn Preußen sich vom Standpunkte der preußischen Gutsbezirke fortentwickelt hat und ein moderner, fortschrittlicher Staat geworden ist, so ist das dem republikanischen Preußen zu danken . Dass sich die Junker mit ihrem nationalsozialistischen und kommunistischen Anhang dagegen auflehnen wollen – wer will es ihnen von ihrem Standpunkt aus verübeln? Diese Leute mit ihrem dünkelhaften Hass gegen alles Neue und Fortschrittliche, und vor allem gegen die aufstehende Arbeiterschaft, sind ja seit über einem Jahrhundert bekannt . Wir haben am 29 . Juni den 100-jährigen Todestag des Freiherrn vom Stein gefeiert, den heute die Nachkommen derer von Marwitz, die den Freiherrn vom Stein mit ihrem tödlichen Hass verfolgten, für sich in Anspruch nehmen wollten . Genau wie damals der große Reformator Preußens von den Junkern und ihrem Anhange in bodenlosem Hass verfolgt wurde, genauso haben wir uns diesen Hass zugezogen und müssen uns seiner erwehren . Hören wir diese Sätze, die der sattsam bekannte Marwitz damals gegen Stein schrieb: Dies waren also die Verräter, und Stein war ihr Haupt . Er fing nun mit ihnen die Revolutionierung des Vaterlandes an, den Krieg der Besitzlosen gegen das Eigentum, der Industrie gegen den Ackerbau, des Beweglichen gegen das Stabile, des krassen Materialismus gegen die von Gott eingeführte Ordnung, des Nutzens gegen das Recht, des Augenblicks gegen die Vergangenheit und Zukunft, des Individuums gegen die Familie … Als ob die bekriegten Kategorien, das Eigentum, der Ackerbau, die stabilen Verhältnisse, die alte Ordnung, das Recht, die Gemeinschaftlichkeit der Standesgenossen und das Prinzip der Tugend und Ehre die Ursachen unseres Falles gewesen wären! Und deswegen gab er das Land dem Feinde preis!
Ich frage Sie, werte Versammlung, ist das nicht wortwörtlich genau derselbe Ton, der heute aus den tobenden Blättern der Volksentscheidsparteien uns entgegenschallt? Reden sie nicht auch wieder vom alten Preußen, das man vor den ‚Marxisten‘ retten müsse, vom ‚bedrohten Eigentum‘, von der ‚bedrohten Familie‘, von der ‚bedrohten Religion‘? Und reden sie nicht auch wieder vom ‚alten Preußentum‘, das man schützen müsse? Ihnen aber hat der Freiherr vom Stein eine Antwort gegeben, der ich nichts hinzuzufügen habe . An den Grafen Münster schrieb er: Es tut mir leid, dass Euer Exzellenz in mir den Preußen vermuten … Ich habe nur ein Vaterland und das heißt Deutschland!
Der letzte Teil des Satzes, der von dem Vaterlande spricht, das Deutschland heißt, der wird wohl auch von den Junkern gern zitiert; aber der erste Teil des Satzes, der da lautet Es tut mir leid, dass euer Exzellenz in mir den Preußen vermuten,
wird unterschlagen .
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Und derselbe Stein hat es den Junkern wieder an anderer Stelle so deutlich gegeben, wie nur etwas: Was kann man erwarten von den Einwohnern dieser sandigen Steppe, die doch eigentlich nur zu Korporals und Kalkulatoren gemacht sind .
Und dann sagte er es den Herren noch grober . Er nennt sie dünkelvolle, egoistische Halbwisser, Menschen, die nach Stellen, Vorteilen und Gehaltszulagen streben, ein Haufen bösartiger oder dummer Schreier, welche die durch die Notwendigkeit gebotenen Opfer nicht tragen wollen, sondern jedes Mittel ergreifen, um sich den Lasten zu entziehen und sie auf die Schultern ihrer Mitbürger zu wälzen …
Schärfer und richtiger kann kein Sozialist dieselben Herren zeichnen, die heute um des angeblich bedrohten Preußens willen gegen das wahrhafte Preußen, das Preußen des Fortschritts, der Entwicklung und der sozialen Fürsorge ankämpfen . Die Junker von damals, die den Freiherrn vom Stein als Revolutionsjuden schmähten, und die Junker von heute sind dieselben geblieben, nur ihr Anhang hat sich verändert: die Kommunistische Partei, die als Helfershelfer und Lakai den Junkern zur Seite gesprungen ist . Aber sehen wir weiter: Ist wirklich nichts geleistet worden? Da ist der Landbund mit großen Aufrufen zum Volksentscheid an die Öffentlichkeit getreten, und sein Vorsitzender, Graf Kalkreuth, hat der Preußischen Staatsregierung bewusste Sabotagepolitik an der Osthilfe vorgeworfen . Wollen wir dagegen einmal die Tatsachen sprechen lassen . Im Jahre 1928 hat die Preußische Staatsregierung 5 Millionen Mark Kredite für die Landwirtschaft, 1,5 Millionen Mark für die Industrie und 10 Millionen Mark für die allgemeine Lastensenkung zur Verfügung gestellt . Außerdem hat Preußen zu gleichen Teilen mit dem Reich die Bürgschaft für eine Auslandsanleihe von 30 Millionen Mark übernommen . An den Gesamtleistungen der Ostpreußenhilfe vom Jahre 1928 in Höhe von 98,5 Millionen DM ist Preußen allein in Höhe von 30 Millionen Mark beteiligt . Außerdem sind aus dem preußischen Grenzfonds 7,14 Millionen Mark Sondermittel für den Osten ausgezahlt, von denen etwa 3 Millionen Mark auf die Volksschullasten-Senkung fielen . Schließlich hat Preußen auf 2,8 Millionen Mark Grundvermögenssteuer in Ostpreußen verzichtet . Graf Kalkreuth aber sagt: ‚Nichts geleistet, bewusste Sabotagepolitik!‘ Im Jahr 1929 hat Preußen für 42 Millionen Mark Kreditvorschüsse und Bürgschaften übernommen und zwar wiederum zu gleichen Teilen mit dem Reich . Außerdem wurden 18 Millionen Mark für die Neusiedlung und Anliegersiedlung zur Verfügung gestellt . Von den Gesamtleistungen aufgrund des Ostpreußen-Hilfe-Gesetzes in Höhe von 110 Millionen Mark entfallen 34 Millionen auf dem preußischen Anteil . Graf Kalkreuth aber sagt: „Nichts geleistet, bewusste Sabotagepolitik!“ Auch im Jahre 1930 hat die preußische Staatsregierung 10 Millionen Mark zur Verfügung gestellt und im Jahr 1931 Bürgschaftsverpflichtungen in Höhe von 200 Millionen Mark übernommen . Weiterhin hat Preußen und das Reich zu gleichen Teilen Bürg-
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schaften in der Höhe von 250 Millionen Mark übernommen, insgesamt Bürgschaftsverpflichtungen in Höhe von 231,25 Millionen Mark . Graf Kalkreuth aber sagt: „Nichts geleistet, bewusste Sabotagepolitik!“ Außer den genannten Mitteln hat Preußen rund 50 Millionen Mark aufgewandt, um bedeutende Notstände zu beseitigen . Hierunter fallen die Beträge für zusammengebrochene Industrieunternehmen, die ‚Schichau-Werft‘, ‚Union-Gießerei‘, ‚Komnikbetriebe‘ und sonstige Unternehmungen . Insgesamt wurden außer den eben genannten Mitteln regelmäßig große Ausgaben in den preußischen Etat eingestellt, sodass von 1924–1930 auf dem Wege über den ordnungsgemäßen Etat nicht weniger als 1,5 Milliarden haushaltsmäßiger Mittel für den Osten bereitgestellt wurden . Graf Kalkreuth aber sagt: „Nichts geleistet, bewusste Sabotagepolitik!“ Die neuen Verbündeten des Grafen von Kalkreuth, die Kommunisten, hatten bis vor ganz kurzer Zeit die Dinge richtig gesehen . Sie waren über das junkerliche Betrugsmanöver genauso im Klaren wie wir . Noch am 21 . Juli, genau an dem Tage, an dem das Zentralkomitee der kommunistischen Partei sich entschloss, die kommunistischen Arbeiter dem ‚Stahlhelm‘ als Hilfstruppen zuzuführen, erschien in dem KPD Bezirk Ostpreußen, verfasst von dem Kommunisten Landtagsabgeordneten Grobis ein Aufruf, der sich gegen das hetzerische Treiben der Hugenberg – Hitler – Seldte wandte . In diesem Aufruf wird von dem ‚Volksentscheid‘ gesprochen, der im Auftrage der Bourgeoisie eingeleitet wurde . Dieser ‚Volksentscheid‘ sei genauso volksbetrügerisch, wie der ‚Volksentscheid‘ gegen den ‚Young-Plan‘ . Dieselben Kreise, so sagt der kommunistische Aufruf, die heute zum Volksentscheid rufen, haben gegen das arbeitende Volk einen ungeheuren Ausplünderungsfeldzug eröffnet, und deshalb heiße die Parole für die gesamte werktätige Bevölkerung: ‚Keiner beteiligt sich an der Abstimmung!‘ Über was haben sich die Kommunisten nun zu beschweren? Sie beschweren sich genauso wie die Nazis über die Polizei, und ich muss sagen, dass es mir leid täte, wenn sie die Polizei auch noch lobten . Jawohl, die preußische Polizei ist unter stärkster Anteilnahme der Sozialdemokratie organisiert worden, und wir sind stolz darauf, sie zu einer schlagkräftigen, starken Waffe des neuen Staates gemacht zu haben . Im Übrigen ist es nicht sehr konsequent von den Kommunisten und auch nicht konsequent von den Nazis, sich über die Polizei zu beschweren; denn diese beiden Parteien streben doch einen Staat an, in dem die Polizei weitaus mehr zu sagen und weitaus mehr zu bedeuten hat als heute in Deutschland . Wer als politisches Ziel nichts anderes kennt als den Polizeiknüppel, der tut unrecht daran, gegen den Polizeiknüppel zu protestieren . Da werden zum Beispiel in kommunistischen Zeitungen in demagogischer Weise die Etatsmittel der preußischen Polizei – übrigens viel zu hoch in der Zahl – verglichen mit den Summen Kinderspeisung- und Tuberkulosebekämpfung . Es wird da erzählt, dass die Kirche 80 Millionen Mark erhält, aber die Kinderspeisung nur 720 .000 Mark, und die Tuberkulosebekämpfung erhalte nur 760 .000 Mark . Diese ganze Etatsaufstellung ist nichts anderes als eine dummdreiste Verdrehung, berechnet für Leute, die nicht lesen und nicht denken können . Und ich bedaure den Herrn kommunistischen
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Etat-Politiker, der derartige Albernheiten in seiner Zeitung losgelassen hat . Steht denn alles, was an Kinderfürsorge in Preußen geschieht, im Etat nur unter dem Posten ‚Kinderspeisung?‘ Will der kommunistische Etatreferent nicht auch die unzähligen direkten und indirekten Ausgaben erwähnen, die der preußische Staat und die preußischen Provinzen, preußischen Kreise und Gemeinden für die Kinderfürsorge auswerfen? Und glaubt der kommunistische Etatkritiker, dass die Tuberkulosebekämpfung einzig und allein mit den 760 .000 Mark gemacht würde, die im Etat stehen? Wer erhält denn die Hunderte und Aberhunderte von klinischen Anstalten, wer bezahlt denn die Forschungsstätten an den zahlreichen Universitäten, wer hat denn den Bau der unzähligen Walderholungsheime und Tuberkulose-Heilstätten, die in Preußen zu finden sind, veranlasst? Der dummdreiste Fälscher, der das kommunistische Volksentscheids-Material zurecht macht, glaubt die Tatsache ausnutzen zu können, dass an der Durchführung der Kinderfürsorge, an der Durchführung der Tuberkulosebekämpfung nicht nur der Staat selbst in vielerlei Gestalt, sondern die Provinzen, die Kreise und Gemeinden und Körperschaften öffentlichen Rechts geldmäßig und organisatorisch beteiligt sind . Er scheint seine Anhänger als miserable Analphabeten einzuschätzen, wenn er glaubt, mit einer derartigen Darstellung durchzukommen . Auf diese Richtigstellung, die leider so grob ausfallen muss, wie sie jetzt eben ausgefallen ist, hat mir jüngst ein Kommunist geantwortet, dass die zahlreichen und außerordentlichen Leistungen, von denen ich eben sprach, nicht vom Staat, nicht von der Öffentlichkeit, sondern von den Bürgern bezahlt wurden . Ja, in aller Welt, was sollte der Staat und die öffentlichen Körperschaften für anderes Geld ausgeben als das ihrer Bürger? Bilden sich die kommunistischen Schlauberger vielleicht ein, dass der Sowjetetat nichts von seinen Bürgern nimmt und kostenlos ihnen alles gibt? Wo kann er es sonst hernehmen? Das Geld des Staates ist das Geld der Staatsbürger, und es kommt darauf an, dass durch entsprechende Gesetzgebung und durch entsprechende Verwaltung die Geldopfer der Staatsbürger richtig angewandt werden . Ich glaube, Genossinnen und Genossen, dass wir uns auch in Preußen mit richtigen und zweckentsprechenden Geldausgaben sehen lassen können . Dessen ungeachtet wollen wir ruhig zugeben, dass wir als Sozialdemokraten uns manche Geldausgabe auch in Preußen anders gedacht haben . Aber wir sind nun einmal nicht allein, und haben nicht nur in der Regierung darauf zu achten, dass wir, solange die Mehrheit des Volkes nicht hinter uns steht, auf den Willen anderer Menschen, anderer Bevölkerungsgruppen mit anderer Gesinnung gleichfalls Rücksicht zu nehmen haben . Die Herren vom Stahlhelm und die Herrn Nationalsozialisten reden zwar mit Vorliebe von einem ‚marxistischen‘ Preußen mit roter Mehrheit . Ich frage Sie: Wo hat es diese rote Mehrheit in Preußen je gegeben? Wir wollen nicht verhehlen, dass uns eine solche Mehrheit sehr angenehm wäre, dass wir um eine solche Mehrheit kämpfen und dass wir alle Anstrengungen machen, auf dass eines Tages eine solche Mehrheit uns zur Verfügung steht . Und wir wollen hinzusetzen und sagen, dass mit einer sozialdemokratischen Mehrheit Preußen in vieler Hinsicht von uns anders, nach unserer Ansicht noch besser verwaltet würde .
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In diesem Zusammenhang wollen wir auch von der materiellen und seelischen Not sprechen, in der sich heute Millionen unserer Volksgenossen befinden . Dieses Elend glauben die Volksentscheidsparteien von Hugenberg bis Thälmann für sich ausnutzen zu können . Auf dieses dreiste Vorhaben hin haben wir eine einfache Antwort bereit . Die Not und das Elend, die heute nicht nur über Deutschland, sondern über die ganze Welt gekommen sind, sind einzig und allein die schrecklichen Folgen des Weltkrieges, der den Hugenberg, Hitler und Seldte und nicht zuletzt Herrn Thälmann schon wieder aus dem Gedächtnis entschwunden zu sein scheint . Wir müssen ins Land hinausgehen und den Hungernden sagen, dass sie deshalb hungern, weil das wahnwitzige Abenteuer des Krieges die Wirtschaft der ganzen Welt aus ihren Fugen gebracht hat . Wer heute in der Qual der Not aufschreit, der bedanke sich bei denen, die den Weltkrieg auf ihrem Gewissen haben . Es gibt gewiss keine Alleinschuld Deutschlands am Weltkriege, aber es gibt eine Gesamtschuld der Kabinette und Fürstenhöfe, der sich kein Land und kein Volk entziehen kann . Wenn aber die Kriegspolitiker alten Schlages heute zum deutschen Volke sprechen und ihm Erlösung und Befreiung aus seiner Not verheißen, dann wollen wir ihnen sagen: ‚Ihr habt vor 1914 und während des ganzen Weltkrieges genug Gelegenheit gehabt, zu zeigen, was ihr könnt . Die Ergebnisse eurer Kunst haben wir von 1914–1918 gesehen . Das deutsche Volk hat genug von eurer Politik und es pfeift auf Befreier, die bislang nichts anderes zu Wege gebracht haben, als Katastrophen über Katastrophen . Über die Not des Volkes wollen wir reden – jawohl! Wir wollen deshalb auch reden von einer Wirtschaftsordnung, die bei vollen Scheuern die Menschen verhungern lässt .‘ Die Herren meinen zwar, an dieser Ordnung seien nicht sie, sondern der ‚Marxismus‘ Schuld, der in Preußen und in Deutschland Triumphe gefeiert hat . Uns Marxisten ist von solchen Triumphen leider noch nichts bekannt . Wir fragen die Herren deshalb: Ist es ‚Marxismus‘, wenn das ganze Land an der Überfülle von Lebensmitteln beinahe erstickt und dennoch die arbeitenden Massen kaum das Notwendigste zum Leben erwerben können? Ist es ‚Marxismus‘, wenn die Läger in den Fabriken mit Waren aller Art überfüllt sind und auf der andern Seite das Volk von den wichtigsten Gütern entblößt ist, wie nur je, ohne etwas von den überfüllten Lägern erhalten zu können? Ist es ‚Marxismus‘, wenn Millionen von Volksgenossen sich nach einem anständigen Heim sehnen, gesunde, helle, trockene Wohnungen brauchen und auf der anderen Seite Zehntausende von Bauarbeitern feiern müssen, die unbenutzten Baumaterialien verkommen und das statt mehr, immer weniger gebraucht wird? Ist das ‚Marxismus‘? Nein, das ist der Kapitalismus! Aber hören wir doch, was die anderen uns zu versprechen haben! Nach einer Mitteilung des christlichen Gewerkschaftsblattes ‚Der Deutsche‘, das in seiner ganzen Einstellung nach ein gewiss unverdächtiger Zeuge ist, hat in Aachen auf einer Volksparteilichen Versammlung für den Volksentscheid der Aachener Stahlhelmführer Dr . Busch folgendes ausgeführt:
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Man wird, wenn der Volksentscheid gelingt, zu Hungerlöhnen arbeiten müssen . Der 12-Stunden Tag wird Tatsache werden . Die Arbeitsdienstpflicht wird bis zur letzten Konsequenz durchgeführt . Man wird wieder lernen müssen, Schwarzbrot zu essen . In den Arbeitslagern wird man sich mit 20 Pfennigen Stundenlohn begnügen müssen . Man wird die Männer zur Zwangsarbeit in die Fabriken führen .
Diese Töne des Herrn Dr . Busch sind uns nichts Neues, haben doch schon die Herrn vom Reichsverband der Deutschen Industrie dem deutschen Volke empfohlen, dass es sich emporhungern müsse, und Herr Dr . Hugenberg hat sich wiederholt in ähnlicher Richtung geäußert, nicht nur für sich, sondern für die anderen . Was die Herren von rechts mit dem Volksentscheid wollen, ist für jeden, der sehen will, klar . Neu ist an der Sache nur, dass sich auch die Kommunisten zu ähnlichen Zielen bekennen . Sie wollen das zwar nicht wahrhaben und versichern das Gegenteil; aber wer mit einem Dr . Busch zusammen zur Wahlurne geht, muss sich schon darüber klar sein, dass die Ziele des Herrn Dr . Busch mit kommunistischer Hilfe zur Durchführung gelangen sollen . Infolgedessen werden die Kommunisten auch nicht ableugnen können, dass die anderweitigen Ziele des ‚Stahlhelms-Volksentscheids‘ mit ihrer Hilfe erreicht werden sollen . In der Stahlhelm-Korrespondenz finden wir zum Beispiel in einem Aufsatz von Dr . Lübbert: ‚Wir fordern … eine großzügige allgemeine Dienstpflicht …‘ In der gleichen Korrespondenz wird von Edgar Jung ausgeführt: ‚Dass der Stahlhelm in einer klugen Vereinigung von nüchterner Machtpolitik und langfristiger Erneuerungsarbeit diese Aufgabe, die Macht des Marxismus zu brechen, führend übernommen hat, bleibt ein großes Verdienst .‘ Und die Schlesische Zeitung vom 29 . Juni, die es gewiss wissen muss, versichert: ‚Es geht um nicht mehr und nicht weniger als darum, die Macht des Marxismus zu brechen mit seinem verheerenden Einfluss auf unsere Innen- und Außenpolitik, auf Staat, Kirche und Schule .‘ Die Bundeszeitung der Stahlhelm vom 2 . August proklamiert: ‚Wir wollen den Staat grundlegend soldatisch umformen – von Preußen her .‘ Das also ist es, was uns von den Erfindern dieses Volksentscheides versprochen wird, und die Kommunisten haben sich entschlossen, ihnen dabei zu helfen . Man kann schon sagen, dass selten ein Reform- und Erneuerungsprogramm dürftiger, dafür umso reaktionärer ausgefallen ist als dieses . Man hat zwar von Stahlhelm-Seite neuerdings auch die Parole von der nationalen Eigenwirtschaft, von der sogenannten Autarkie in die Debatte geworfen . Das soll heißen, dass Deutschland unabhängig vom Ausland sich ernähren und unabhängig vom Ausland Handel treiben soll . Kein Wunder, dass angesichts eines solchen Unsinns sogar weit rechtsstehende Wirtschaftskreise in Verzweiflung geraten sind und den törichten Wirtschaftsdilettanten, die unter dem Zeichen von Hakenkreuz und Stahlhelm dem deutschen Volke einen derartigen Unfug einreden wollen, volkswirtschaftliche Belehrungen erteilen . Das deutsche Volk ist zu zwei Dritteln ein Industrievolk und sein Schicksal hängt vom Schicksal der Wirtschaft ab . Wenn es aber ein Industrievolk ist, so ist es abhängig von ausländischen Kre-
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diten, abhängig von ausländischen Rohstoff- und Absatzmärkten, und ausgerechnet ein solches Volk soll zur nationalen Eigenwirtschaft zurückkehren! Dabei übersehen diese Wichtigtuer völlig, dass selbst Völker, deren Wirtschaft vorwiegend Agrarwirtschaft, deren Bevölkerung vorwiegend Bauernbevölkerung ist, ein isoliertes Dasein außerhalb der Weltwirtschaft nicht führen können . Man darf also schon fragen: Ist das wirklich alles, was Hakenkreuz und Stahlhelm dem deutschen Volke zu geben haben? Die Kommunisten versichern zwar, dass sie genau das Gegenteil wollen . Nicht Brechung des Marxismus, sondern Stärkung des Marxismus, nicht Kapitalismus, sondern Sozialismus, – wenn sie das aber wirklich wollen, warum gehen sie dann zu dem Volksentscheid, den die Herren vom Stahlhelm und die Herren vom Hakenkreuz begonnen haben und gerne durchbringen möchten? Wir sehen den verzweifelten Anstrengungen der einheitlichen reaktionären Front von Hitler bis Thälmann mit aller Ruhe entgegen . Was wir geleistet haben, darauf können wir stolz sein und wir werden uns diesen Stolz durch niemand nehmen lassen . Insbesondere aber möchte ich den Herren Überpatrioten von der Rechten eines sagen: Sie behaupten, dass sie die wahre Vaterlandsliebe gepachtet hätten und dass wir nichts anderes seien als eine Horde vaterlandsloser Gesellen . Darauf möchte ich eines erwidern . Als das Vaterland wirklich in Not war, 1918/1919, wo sind da diese Patrioten gewesen? In jener Zeit, da sich diese Herren feige verkrochen haben, haben wir Volk und Staat aus dem ungeheuren Chaos herausgeführt, für das nicht wir, sondern unsere Patentpatrioten verantwortlich sind . Als am 11 . November 1918 die militärische und politische Niederlage Deutschlands besiegelt war, die eine der größten Niederlagen und Katastrophen aller Zeiten gewesen ist, da haben die Herren uns neidlos das ungeheure, kaum menschenmögliche Maß an Arbeit überlassen, das es zu leisten galt, um das Äußerste und Ärgste von unserem Volke abzuwenden . Wir waren es, die die Grenzen des Landes mit den wenigen Mitteln, die uns geblieben waren, gehalten haben; wir waren es, die die Abstimmungskämpfe in Nord-Schleswig, in Westpreußen, Ostpreußen und der schlesischen Grenze organisiert haben, die mit einem glücklichen Ergebnis für Deutschland endeten . Will es jemand wagen, diese geschichtlichen Tatsachen abzustreiten? Gewiss – wir haben die Bildung des polnischen Korridors und den Verlust von Teilen Oberschlesiens nicht verhindern können; aber dafür möge sich das deutsche Volk bei denen bedanken, die die furchtbare Katastrophe des Krieges mit heraufbeschworen und verlängert haben . Wir aber haben damals dem Toben der Verzweiflung einen festen Damm entgegengestellt und haben das Land, das sich in Fieberzuckungen aufbäumte, zur Ruhe wieder zurückgeführt . Wir haben aber noch mehr getan . Wir haben uns nicht mit der Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung begnügt, sondern in Preußen und im Reich, ja in allen deutschen Ländern ein gewaltiges gesetzgeberisches Werk geschaffen, das vor allen Dingen daraufhin abgestellt war, den Zopf der alten Verwaltung zu beseitigen . Wir haben in Preußen die Großgemeinden geschaffen, auch gegen Rechte und K . P . D ., und damit die kommunale Verwaltung einfacher, moderner und durchgreifender gestaltet; wir haben die Gutsbezirke
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aufgelöst und wir haben in der preußischen Schutzpolizei eine Staatsgewalt aufgebaut, die treu zum republikanischen Staat und seinen Symbolen steht . Mögen sie über diese preußische Polizei, mögen sie über die preußische Verwaltung schimpfen, soviel sie wollen, mögen sie über Unterdrückung schreien und Knechtung – wir sagen ihnen ins Gesicht, dass sie lügen . Wir haben ihnen nicht ihre Meinungsfreiheit genommen, aber sie wollen uns unsere Meinungsfreiheit nehmen, das ist der Sinn des Volksentscheids, den niemand verleugnen, niemand verwischen kann . In Wirklichkeit fühlen sie sich gar nicht unterdrückt, in Wirklichkeit machen sie sich sogar darüber lustig, dass die Republik vielfach so duldsam und so tolerant gewesen ist . Darf ich Ihnen, werte Versammlung, einen Beweis vorlegen? Der bekannte Putschist Plass, der frühere Sekretär des Kapitäns Ehrhardt, schreibt in einem Brief an einen Leipziger Herrn96: Wir sind uns von vornherein klar darüber, dass wir selbst als Inhaber der Macht uns viel energischer zur Wehr setzen würden gegen Angriffe als die heutigen Machthaber, die durch humane Ideologien zerfressen sind . Die Angekränkeltheit ist aber für uns, die wir die politische Macht erobern wollen, ein willkommener Angriffspunkt, den wir uns kräftig zu Nutze machen wollen .
Ich kann dazu auch heute nur wieder sagen, dass er sich in Bezug auf die Krankheiten, von denen die Inhaber der preußischen Staatsgewalt befallen sein sollen, ganz erheblich irrt . Jawohl, wir sind für Toleranz, aber wir wissen die Grenzen der Toleranz zu finden! Jawohl, wir sind für Menschlichkeit, aber wir wissen auch die Grenze der Menschlichkeit zu finden, die immer dann gegeben ist, wenn Menschlichkeit zur lächerlichen Schwäche und unwürdigen Nachgiebigkeit entartet . Darum wissen wir auch, dass es darauf ankommt, aus der Republik von heute eine stärkere Republik von morgen zu machen, eine feste Republik, die keine Schwäche kennt und allen Gewalten der wirtschaftlichen und politischen Reaktion mit Entschiedenheit entgegentritt . Darum werden wir nicht ruhig zusehen, dass die Republik im Reich und die Republik Preußen von radikalen Fanatikern zur Ohnmacht verurteilt wird . Noch heute gilt das schöne Wort Eduard von Simsons, dass er am 11 . April 1859 im preußischen Abgeordnetenhaus gesprochen hat: Aber der ohnmächtige Staat ist viel entsetzlicher als der allmächtige . Er wird notwendigerweise zum Gegenstand der Verachtung seiner Angehörigen und nichts hat eine ähnliche Fähigkeit, die Angehörigkeit der Staatsbürger, die heilige Treue, den tiefen Herzensgehorsam gegen den Staat aufzulockern und zu zerstören, als wenn der Staat sich zur Lösung seiner Aufgaben ohnmächtig erweist .
Hartmut Plaas (1899–1944), zeitweise Adjutant von Hermann Ehrhardt, des Führers der rechtsradikalen Terrorbande „Organisation Consul“ kann hier nur gemeint sein .
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Das ist ein richtiges Wort, und darum sagen wir, dass die Republik fest und entschieden sich ihren Gegnern entgegenstellen muss . Diese Festigkeit und Entschiedenheit darf sich aber nicht nur auf politische Fragen erstrecken, sondern – das ist unsere Forderung – auch auf wirtschaftliche und soziale Fragen . Was soll man dazu sagen, dass dieselben Wirtschaftskreise, die jahrelang den Staat von Weimar als lästiges Hindernis bezeichneten, sich heute hilfesuchend an eben diesen Staat wenden? Man hat mit Recht von der Sozialisierung der Pleiten gesprochen – ein bedenkliches und Ärgernis erregendes Verfahren, das von der großen Masse der Bevölkerung nicht verstanden wird . Wie haben die sogenannten Wirtschaftsführer gegen die Gebote des heutigen Staates mobil gemacht, wie haben sie daran mitgearbeitet, um eine aufsässige Stimmung in gewissen Kreisen der Bevölkerung zu erzeugen – das alles ist den Herren nicht zum Guten ausgeschlagen . Vor allen Dingen aber haben einzelne von ihnen durch Finanzierung des deutschen Faschismus eine schwere Schuld auf sich geladen, die sich heute rächt . Nun ist offenkundig geworden, dass eine einfache Wiederherstellung der sogenannten freien Wirtschaft nicht mehr infrage kommen kann . Gerade in diesem Punkt müssen wir nunmehr von der Republik Entschiedenheit des Handelns und Klarheit des Wollens verlangen . Wir müssen aber auch verlangen, dass die sachlich falsche und Verstimmung erregende Politik der einseitigen Lastenabwälzung auf die breiten Massen ein Ende findet . Wir fordern dies nicht nur um der Gerechtigkeit willen, sondern weil wir wissen, dass die Zerstörung des deutschen Binnenmarktes unaufhaltsam fortschreitet, wenn man nicht endlich den wahnsinnigen Unternehmerparolen von Lohnkürzungen, Gehaltsabzug und Massenentlassung festen Widerstand entgegensetzt . Entschiedenheit und Klarheit ist darum heute vonnöten, und die Wählerschaft kann sich darauf verlassen, dass wir Sozialdemokraten es daran nicht fehlen lassen . Was aber Preußen angeht, dazu nur noch ein kurzes Wort: Wir Sozialdemokraten haben das Urteil der preußischen Arbeiterschaft und das Urteil der gesamten preußischen Wähler nicht zu fürchten . Ein gewaltiges Maß an organisatorischer und sachlicher Arbeit liegt hinter uns und unsere Gegner haben nicht bewiesen, dass sie in der Kritik, geschweige denn in der sachlichen Arbeit bessere Wege zu zeigen wissen . Und darum, werte Versammlung, werden wir den Angriff auf Preußen als einen Angriff gegen die Republik überhaupt mit aller Kraft, mit aller Leidenschaft abwehren . Wir werden den Angriff der andern mit dem Gegenangriff beantworten und dem deutschen Volke zu zeigen haben, wie hier nicht Preußens Zukunft, aber Preußens finsterste Vergangenheit sich auf den Weg macht, um das Erwachen des Volkes und seine staatsbürgerliche Freiheit zu zerstören . Wir werden auf der Hut sein und überall, wo es auch Not tun, ihnen allen, von Hugenberg bis Thälmann, die richtige Antwort zu geben wissen .
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Die Wahl zwischen Demokratie und Faschismus Aus Ansprachen vor Versammlungen des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold im August 1931 Wenige Monate nach seinem Rücktritt als Preußischer Innenminister im Februar 1930 war Grzesinski erneut zum Polizeipräsidenten von Berlin ernannt worden. In zahlreichen öffentlichen Veranstaltungen, besonders bei Wahlen und Abstimmungen, trat er öffentlich auf. Er war z. B. bei vier großen Veranstaltungen des Reichsbanners – und dies innerhalb weniger Wochen – Hauptredner. Am 9. August sprach er auf der Verfassungsfeier des Reichsbanners Charlottenburg, am 16. August vor dem Reichsbanner Breslau, am 13. September beim Gautreffen des Reichsbanners Hamburg und am 3. Oktober beim Reichsbanner Braunschweig.97 Die Reden enthielten vielfach gleiche Botschaften: Immer ging es ihm um den Wert der Weimarer Verfassung, die Leistungen der Preußischen Regierung und die Warnung vor den Republikfeinden, besonders vor der unmittelbaren faschistischen Gefahr. Im Folgenden zwei Auszüge, die einerseits das Verhalten der KPD, zum andern die Rolle des Staates der Weimarer Verfassung akzentuierten. Aus der Ansprache auf der Verfassungsfeier des Reichsbanners in Charlottenburg am 9. August 193198
[…] An diesem Volksentscheid gegen den ‚Marxismus‘ hat sich die Kommunistische Partei beteiligt, dieselbe Kommunistische Partei, die immer wieder behauptet hat, den Kampf gegen den Faschismus führen zu wollen . Diese Tat der Kommunistischen Partei ist das Schamloseste, das je in der Politik verübt wurde . Sie beweist, dass die kommunistische Parteileitung offen in das Lager der Konterrevolution hinübergeschwenkt ist, sie beweist, wie abgrundtief verlogen der ganze revolutionäre Phrasenschwall der Kommunisten gewesen ist . Von dem Gegner von rechts trennen uns klare Grundsätze, aber der Gegner von links ist der Verräter und Deserteur im eigenen Lager . Die Schande der Kommunistischen Partei, die an diesem Volksentscheid wider den Mar-
97 Die hier nicht wiedergegebenen Reden in Hamburg am 13 . September 1931 und in Braunschweig am 3 . Oktober 1931 sind im IISG verwahrt: IISG: G 2150 . Typoskript 31 Seiten, mehrere Streichungen und handschriftliche (mit Tinte) Einfügungen . Auf der ersten Seite steht: „Hamburg, den 13 . September 1931, 15 Uhr, auf der Moorweide, Gautreffen des Reichsbanners zur Bürgerschaftswahl am 27 .9 .31 .“ – IISG: G 2150 . 32 Seiten Typoskript, eingeschoben 3 handschriftlich beschriebene Seiten (3a, 27a, 30a), zahlreiche Unterstreichungen und Einfügungen mit rotem oder blauem Stift . Auf der ersten Seite: „Öffentliche Kundgebung Reichsbanner, SPD u . Rpubl .“ Als Titel: „Rede des Polizeipräsidenten am Sonnabend, den 3 . Oktober 1931, 20:00 Uhr, vor dem Reichsbanner in Braunschweig im Konzerthaus . 2 .500 [Zuhörer?]“ . 98 IISG: G 2150 . Typoskript 16 Seiten DIN A5 mit handschriftlichen Ergänzungen . Auf der ersten Seite handschriftlich: „Verfassungsfeier Lunapark 9 .8 .31, ¾ 7 Uhr, Reichsbanner Charlottenburg .“ Eine zweite, weitgehend wortgleiche Fassung, jedoch nicht vollständig, liegt dort bei .
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Abbildung 4: Faksimile (Ausschnitt) aus dem Manuskript seiner Rede vor dem Reichsbanner Breslau am 16. August 1931 (s. Nr. 31 seiner Reden). International Institute of Social History, Amsterdam: Nachlass A. Grzesinski G 2150.
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xismus teilnahm, ist von nun an nicht wegzuwischen . Ich habe den Eindruck, dass die politisch geschulten Arbeiter der KPD den Parolen der Leitung nicht folgen werden . Mancher mag sich dennoch über diesen offenen Übergang der kommunistischen Partei in das Lager der Gegenrevolution gewundert haben . Derjenige, der die Kommunistische Partei genau kennt, wird sich auch über den heutigen Schandstreich nicht wundern . Wo auch immer die Kommunistische Partei in Europa aufgetreten ist, (…, Ungarn, Italien, usw .) ist sie Schrittmacherin des Faschismus gewesen . (In Preußen im Landtag stets mit Rechts gegangen . Misstrauensanträge) . Es kommt nicht auf die revolutionären Phrasen der Kommunisten, es kommt auf ihr praktisches Wirken an . Auf sie ist das alte, wohl bekannte Wort des Generals Tilly anzuwenden: ‚Auf die Fäuste sollt Ihr ihnen gucken und nicht aufs Maul!‘ . Die geschichtliche Rolle der kommunistischen Internationale ist seit zehn Jahren keine andere gewesen, als die Rolle des Provokateurs für den Faschismus . Darum sage ich aber auch, dass die Gefahr, die von den Kommunisten ausgeht, keine revolutionäre Gefahr, sondern eine konterrevolutionäre Gefahr, eine faschistische Gefahr ist . Es ist nicht wahr, dass wir in Deutschland zu wählen hätten zwischen einer Demokratie und dem Sowjetsystem . In Wahrheit haben wir in Deutschland nur eine einzige Wahl, die Wahl zwischen Demokratie und Faschismus . Retten wir die Demokratie, so retten wir auch den Kampf um den Aufstieg des schaffenden Volkes, dann bewahren wir das Volk vor Niedergang und erneuter Unterdrückung . Verlieren wir aber die Demokratie, so verlieren wir sie ganz gewiss nicht an die bolschewistische Internationale, aber mit aller Sicherheit an den faschistischen Zuchthausstaat . Darum kommen wirkliche und die direkte Gefahr für die Republik nicht so sehr von den Kommunisten, sondern von den Faschisten . Die Kommunisten sind nur die bewussten und unbewussten Hilfstruppen der Gegenrevolution . Die Gegenrevolution selbst, die Faschisten, die sind die unmittelbare und direkte Gefahr . […]“ Aus der Ansprache vor dem Reichsbanner in Breslau am 16. August 193199
„Sie haben mich aufgefordert, vor Ihnen über die Grundlagen unserer bisherigen republikanischen Politik zu sprechen, eine Aufforderung, die etwas überstürzt an mich gelangt ist und der ich nur mit Mühe folgen konnte . Dennoch war ich bestrebt, Ihrem Wunsche Rechnung zu tragen und habe daher eine Stunde Zeit für Sie erübrigt, in der ich Ihnen einiges über das bisher Geleistete und über unsere zukünftigen Aufgaben sagen möchte . Es gibt nämlich Republikaner genug, die über das bisher Geleistete eine IISG: G 2150 . Typoskript 33 Seiten DIN A5 mit vielen Unterstreichungen (Rot- oder Blaustift) und mehreren handschriftlichen Einfügungen . – Auf der ersten Seite handschriftlich: «Reichsbanner Breslau 16 .8 .31,? Uhr .»
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derart geringe Meinung haben, dass sie vielfach, wenn auch ohne Absicht, durch ihre harte Kritik an unserer republikanischen Staatsarbeit den Gegnern Material zur Bekämpfung des Volksstaates in die Hand gegeben haben . Ich verstehe dabei durchaus, dass sich die Kritiker mit allgemein gehaltenen Lobpreisungen nicht zufrieden geben wollen und immer wieder darauf hinweisen, dass gerade die Arbeiterbewegung, aus deren Reihen doch die meisten aktiven republikanischen Kämpfer stammen, viel weitgehendere Ziele und viel bessere Ergebnisse erstrebten, als sie heute unter beinahe erdrückenden Bedingungen erreicht wurden . Ein Kritiker, der die hohen, weitgespannten Ziele der Arbeiterbewegung vor Augen hat und dann die mühsam erkämpften Ergebnisse republikanischer Kleinarbeit damit vergleicht, kann leicht zu einer harten Kritik verleitet werden . Eine solche harte Kritik verstehe ich, solange sie wirklich Kritik bleibt, also die Tatsachen kennt und die Tatsachen richtig wertet – nicht verstehe ich eine Kritik, die sich in böswilliger Herabsetzung gefällt und weder Tatsachen kennt, noch die Bedingungen, unter denen eben diese Tatsachen geschaffen wurden . Eine solche Kritik nützt nicht nur dem Gegner . Sie entmutigt und verwirrt die eigenen Kämpfer, verbittert und verärgert Führer und Massen und treibt in die republikanische Front, die einheitlich und fest geschlossen dastehen sollte, Keile der Zwietracht und des gegenseitigen Misstrauens hinein . Lassen Sie mich Ihnen ein offenes Wort sagen, Kameraden: Ich habe, getragen von dem Vertrauen der Massen, viele Jahre meines Lebens an entscheidenden Stellen des öffentlichen Lebens gewirkt und gearbeitet, habe Angriffe der verschiedensten Art aushalten müssen, üble Angriffe, miserable Angriffe; aber ich habe sie abgewehrt und ausgehalten im Bewusstsein eines guten Gewissens und im Bewusstsein, dass die breiten Massen der republikanischen Bevölkerung mein Handeln verstanden und billigen . Ohne dieses Bewusstsein ist aber jeder Führer verloren . Und wenn es selbstverständliche Pflichten der Führer gibt, so gibt es auch – verzeihen Sie diese vielleicht drastische Feststellung – auch Pflichten der Masse gegen die Führer . [Am Rande handschriftlich: „Verhängnisvollstes Wort [Bebels?]: Misstraut Euren Führern! Nein, im Gegenteil, vertraut ihnen! Selbstverständlich nicht blind, aber so, dass sie mit Freude für Euch arbeiten können“] wir sind ja nichts Getrenntes, wir leben ja nicht in verschiedenen Erdteilen, und uns alle bindet ja der gemeinsame Glaube und das gemeinsame Ziel . Wenn auch Sie die eine oder andere Maßnahme einmal nicht verstehen, die einer von uns trifft, die wir an der Spitze des republikanischen Preußens stehen, dann denken Sie bitte nicht nur daran, dass keiner von uns das große Ziel auch nur einen Augenblick aus dem Auge verliert, sondern dass es in der Staatsverwaltung wie in der allgemeinen Politik zahlreiche Schwierigkeiten und Spezialprobleme gibt, deren Kenntnis von uns allen, von jedem, er sei wer er sei, erst mühsam erarbeitet werden muss . [am Rande: Kenntnis des […] Überstürzen . Revolutionärer Umsturz auf allen Gebieten .] Um einmal gleich mitten in die Sache hineinzugehen: Wie oft haben mich als preußischer Minister des Innern und als Polizeipräsident von Berlin meine republikanischen Freunde gebeten und gemahnt, diese oder jene Maßnahme durchzuführen, da ein Ver-
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bot auszusprechen, dort eine Maßregelung vorzunehmen und ähnliches . Wie oft habe ich mich gewundert, dass unsere Freunde offenbar die einfachsten gesetzlichen und verwaltungsrechtlichen Grundlagen nicht kannten, wenn sie derartige Wünsche an mich richteten, ganz abgesehen davon, dass man auch als Polizeipräsident und Polizeiminister auch nicht nur Polizist sein darf . Der Leiter einer Behörde im Volksstaat ist ja kein Autokrat, er kann ja nicht machen was er will . Er ist nicht nur an die allgemeinen Reichs- und Landesgesetze gebunden, sondern auch die Ministerialvorschriften und die seit Jahrzehnten feststehende Spruchpraxis der Verwaltungsgerichtsbarkeit schafft Bindungen der mannigfachsten Art, die nicht zu umgehen sind . Wie oft wurde ich gefragt: ‚Warum darf unter deinen Augen diese Beschimpfung, jene Lüge gedruckt werden, ohne dass du dagegen einschreitest?‘ Ich habe solchen Fragern immer antworten müssen, dass sie die Gesetze doch kennen sollten, aufgrund deren ein Zeitungsverbot möglich ist oder nicht . Es wäre Aufgabe der von uns ja fleißig betriebenen Massenschulung, die Kämpfer in der republikanischen Front besser, als es bislang geschehen ist, mit den Grundfragen des Verfassungsaufbaues und der Staats- und Verwaltungsorganisation bekannt zu machen . Denn nur so wird die Kritik der Masse an der Politik der Parteien und ihrer Führer eine gesunde, sachverständige, treffsichere Kritik sein, und manches Missverständnis und manche gegenseitige Verärgerung wird wegfallen . Eine andere Frage ist, ob wir nicht bei einer derartigen Schulung unserer Anhänger und Freunde, wie ich sie eben fordere, zu Schlussfolgerungen kommen, die mit den allgemeinen Grundsätzen unseres bisherigen Staatsaufbaus nicht ohne weiteres übereinstimmen . Die Weimarer Verfassung, deren Geburtstag wir dieser Tage mit Recht festlich begangen haben, ist geschaffen worden in der Absicht, die freieste Demokratie der Welt zu verwirklichen . Diese Absicht ist gewiss lobenswert; sie hat jedoch dazu geführt, dass man in allzu ängstlicher Wahrung der Freiheitsrechte des Einzelnen der Staatsgewalt die Möglichkeiten des scharfen, sicheren, im Interesse des Ganzen dringend nötigen Zupackens allzu stark beschnitten hat . Wenn ich vorhin sagte, dass viele berechtigte Wünsche der Republikaner an die republikanischen Verwaltungsbehörden nicht berücksichtigt werden können, weil die rechtliche Möglichkeit dazu fehlt, so sollte das heißen, dass wir in unserem Staatsaufbau von vornherein der Staatsgewalt der Republik viel zu enge Grenzen gesetzt haben . Sie sehen, Kameraden, auch ich übe Kritik, und die Kritik, die ich hier vertrete, ist sogar eine harte Kritik . Aber auch das werden Sie einsehen: keine herabsetzende und keine boshafte Kritik, eine Kritik indes, die einmal ausgesprochen werden muss, damit die Republikaner nicht immer wieder glauben, dass durch Nachlässigkeit oder Weichherzigkeit etwas versäumt worden sei, obwohl auch das nicht in Abrede gestellt werden soll . Es gibt in Sachen demokratisch republikanischer Staatspolitik nur zwei Möglichkeiten: Entweder man hält den Schutz des einzelnen vor der Regierung und vor der Verwaltung für das höchste politische Gut – dann muss man die Rechte des einzelnen außerordentlich erweitern und die Rechte der Behörden auf das schärfste begrenzen .
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Ein derartiger Staatsaufbau ist liberal . Er wäre nach dem Grundsatz geformt: laissez faire, laissez aller . Aber einen solchen Staat gibt es nirgends in der Welt, selbst England nicht, wo die Sitten und Gebräuche die […]100 Hemmungslosigkeit eingeschränkt haben . Oder aber man ist der Ansicht, dass eine Republik nur dann nach außen und innen hin sich wirklich durchsetzen kann, wenn man die Behörden dieser Republik mit Rechten und Vollmachten genügend ausstattet, damit sie wirklich die ihnen vom Volke übertragene Macht ausüben können . Viele werden sagen, das ist dann keine Demokratie mehr, sondern eine reine Verwaltungsautokratie . Ich aber sage, das ist doch Demokratie . Denn Demokratie heißt Volks-, d . h . Mehrheitsherrschaft und nicht Minderheitsherr[schaft] . Und die Volksherrschaft wird durch die bestimmten Organe ausgeübt, sodass das Gesamtwohl sichergestellt ist . Ich möchte also meiner Meinung dahin Ausdruck geben, dass wir in der Republik etwas weniger Liberalismus und etwas mehr Demokratie dringend nötig haben . Wenn etwas der Republik in den letzten zehn Jahren geschadet hat, so ist es gewiss nicht das Zuviel an Energie, das aufgewendet wurde, sondern ein Zuwenig, und dieses Zuwenig erklärt sich nicht aus der Schlappheit und Uninteressiertheit der maßgebenden Stellen, sondern fast ausschließlich aus den starken, allzu starken verfassungsmäßigen und verwaltungsrechtlichen Bindungen, die man aus der bösen Erinnerung an den Obrigkeitsstaat, namentlich an Preußen, heraus dem Staate von Weimar und seinen Organen auferlegt hat . Ich bekenne mich rundheraus zu jenem Wort, dass der Abgeordnete Eduard von Simsons am 11 . April 1859 im preußischen Abgeordnetenhaus gesprochen hat wo es heißt: Aber der ohnmächtige Staat ist viel entsetzlicher als der allmächtige . Er wird notwendigerweise zum Gegenstand der Verachtung seiner Angehörigen, und nichts hat eine ähnliche Fähigkeit, die Angehörigkeit der Staatsbürger, die heilige Treue, den tiefen Herzensgehorsam gegen den Staat aufzulockern und zu zerstören, als wenn der Staat sich zur Lösung seiner Aufgaben ohnmächtig erweist .
Seit Jahr und Tag haben die Kameraden vom Reichsbanner gegen den ohnmächtigen Staat aufbegehrt und der Republik Härte und Strenge anempfohlen . Das war ein richtiger Wunsch; aber die Kameraden hätten sich darüber klar sein müssen, dass man Härte und Strenge nur dann verlangen kann, wenn man den Organen der Republik die Möglichkeit dazu gibt . Ich richte aber jetzt die Frage an die Versammlung: ‚Sind die Republikaner in ihrer Forderung nach Härte, Strenge und Entschiedenheit immer konsequent gewesen?‘ Als am 28 . März und am 17 . Juli dieses Jahres zwei Notverordnungen herauskamen, die ich dem Grunde nach längst gefordert hatte und die das Ziel hatten, die politischen Ausschreitungen zu bekämpfen und den Verwaltungsbehörden
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Nicht lesbares Wort .
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stärkere Rechte einzuräumen, hat sich auch bei den Republikanern wiederholt starker Widerstand geregt . Als am 7 . August dieses Jahres die Preußische Staatsregierung nach wohldurchdachtem Entschluss den gesamten preußischen Zeitungen die Veröffentlichung eines Aufrufes auferlegte, da haben auch republikanische Blätter und republikanische Persönlichkeiten vor Ängstlichkeiten und Bedenklichkeiten sich kaum zu helfen gewusst . Das Verhalten war ein In den Rücken fallen . Es gibt auch Republikaner, die gern nach dem Wort handeln: ‚Rin in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln‘ und vor lauter Hü und Hott das Pferd, das den Staatskarren ziehen soll, nur scheu machen, anstatt es anzuspornen . Wollen wir eine gradlinige, durchdachte und den Massen verständliche republikanische Politik, so müssen wir zu allererst den schwankenden Gestalten, den Angstmeiern und Laumeiern in unseren eigenen Reihen den Kampf ansagen . Den Republikanern muss der Wille zur Macht und zur Ausübung der Macht noch erst beigebracht werden .
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Für eine feste staatliche Gewalt Am Verfassungstag vor der Berliner Polizei 1931101
[…] Selten hat das deutsche Volk die Feier seiner Verfassung in so schwerer Stunde begehen müssen, wie gerade heute . Das Wüten der deutschen und der Weltwirtschaftskrise, die seit bald zwei Jahren Opfer über Opfer vom deutschen Volke verlangt, hat in diesem Jahre eine schlimme Zuspitzung erfahren . Schwer sind die materiellen Auswirkungen, schlimmer aber noch sind die seelischen Folgen, die unser ordnungsliebendes, arbeitsames Volk in die schwerste Bedrängnis und Verwirrung gestürzt haben . Tausende und Abertausende von Existenzen wurden vernichtet . Die Not ist ungeheuer gestiegen, und auch die Beamtenschaft hat schwere Opfer bringen müssen, um der Regierung des Reiches und des Landes Preußen die Bekämpfung des wirtschaftlichen Chaos zu ermöglichen . Unter diesen Umständen ist die Stimmung keine reine Festesstimmung, und viele Volksgenossen fragen sich, wie lange dieser Zustand noch dauern soll . Das ist sehr begreiflich, vielleicht auch berechtigt . Nicht aber berechtigt ist die Neigung gewisser Kreise, aus der Sorge um Gegenwart und nahe Zukunft der Mutlosigkeit zu verfallen oder gar der Panik . Das Gedächtnis der Menschen ist schlecht, und das des deutschen
101 IISG: G 2150 . Typoskript DIN A 5, 17 Seiten . “Ansprache vor der Berliner Polizei im Lustgarten am 11 .8 .31, 9 .20–9 .45 Uhr“ . Die Anrede „Hochverehrter Herr Ministerpräsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Berliner Polizei! Liebe Gäste!“ legen es nahe, dass der Preußische Ministerpräsident Otto Braun anwesend war . Wiedergegeben werden hier Auszüge aus dieser Rede .
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Volkes offenbar ganz besonders, ein Mangel, den wir in unserem öffentlichen Leben immer wieder zu beklagen haben . Es ist darum vielleicht nützlich, daran zu erinnern, dass wir schon einmal eine Verfassungsfeier begangen haben, bei der die Not und die Verzweiflung über alles Maß hinaus das deutsche Volk bedrückte und verwirrte . Das war die Verfassungsfeier im Jahre 1923, die unter derart chaotischen Umständen stattfand, dass sie in keiner Weise mit der heutigen Krise verglichen werden könnte . Ich bitte Sie, sich einmal mit aller Deutlichkeit zu erinnern . Die deutsche Währung war nicht nur bedroht, sie war völlig zerrüttet . Die Geldsummen, die ein einfacher Mensch zum Leben benötigte, bewegten sich in astronomischen Ziffern, das politische Gefüge der Republik war aufs schwerste erschüttert, und gleichzeitig hatte der Ruhrkampf Deutschland in ein aussichtsloses und erschöpfendes Ringen hineingezogen, dass ungezählte wirtschaftliche und moralische Opfer und Opfer an Leib und Leben kostete . Damals hing das Schicksal der Republik und mit ihr das Schicksal des deutschen Volkes nur noch an einem ganz dünnen Faden . Dennoch gelang es in überraschend kurzer Zeit, der fürchterlichen Erschütterungen in Wirtschaft und in Politik durch Wahrung der öffentlichen Disziplin, Geduld, festen Willen und klares Wollen wieder Herr zu werden . Sollte, was damals gelang, heute unmöglich sein? Man mag im Augenblick die Dinge so düster sehen, wie man will – eines steht auf jeden Fall fest, dass, wenn man hier überhaupt vergleichen kann, die heutige Lage Deutschlands, trotz aller Not doch besser und weitaus hoffnungsvoller ist, als damals . [handschriftlich, nur z . T . erkennbar: „zumal der Volksentscheid gegen Ordnung und“ …] 1923 war Deutschland isoliert . Die Hoffnung, die viele Vaterlandsfreunde damals auf ausländische Hilfe setzten, war – im kritischen Augenblick wenigstens – eine völlig vergebliche . Heute aber gibt es wohl keine ausländische Großmacht, die nicht begriffen hätte, dass ihr Schicksal und das des deutschen Volkes untrennbar verbunden sind . Das Bewusstsein, dass die Völker aufeinander angewiesen sind, und nicht leben können, wenn nicht allen eine Lebensmöglichkeit eingeräumt wird, ist eben seit jenen schlimmen Jahren doch gewaltig gewachsen . Hinzu kommt, dass in der Zeit, die uns von 1923 trennt, der deutsche Wirtschaftsaufbau trotz seiner heutigen Krankheit sehr große Fortschritte gemacht hat . Deutschland ist heute ein Land, das über einen gewaltigen, fast den modernsten Produktionsapparat verfügt, der seinesgleichen kaum auf der Erde wieder findet . Sie müssen allerdings auch erkennen, dass die Aufgaben der Wirtschaft schwieriger geworden sind, und dass ein freies Wirtschaften ohne Hilfe und Beistand und Aufsicht des Staates, dem Sie, meine Damen und Herren, dienen, nicht mehr möglich ist . Wir leben in einer seltsamen Zeit . Die Wirtschaft leidet nicht an Mangel an Waren sondern an Überfluss . Einem Überfluss, der nicht abgesetzt werden kann und alle wirtschaftlichen Kanäle verstopft; darum ist eine feste, staatliche Gewalt besonders von Nöten, da sie allein imstande ist, die Regelung der verworrenen Verhältnisse sicherzustellen .
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Hier aber beginnt die Aufgabe der Polizei . Nicht, dass ich der Meinung wäre, dass wirtschaftliche und soziale Fragen durch die Polizei gelöst werden müssten oder könnten . Aber der Staat kann nicht handeln, seine vielfach tief ins Leben der Nation eingreifenden Gesetze und Verordnungen nicht durchführen, ohne eine starke, geschlossene Exekutive, die mit Leib und Leben sich für die Kraft und Sicherheit des Staates einsetzt . Ich darf mit Stolz sagen, dass die Berliner Polizei vom ersten bis zum letzten Beamten ihre Aufgabe nie anders aufgefasst hat . So wahr die Republik heute wie gestern die einzige Möglichkeit darstellt, Deutschlands staatliche Existenz in den wiederholten fürchterlichen Erschütterungen der Nachkriegszeit zu sichern, so wahr ist es, dass die preußische und die Berliner Polizei durch ihre aufopferungsvolle, hingebungsvolle Arbeit Staat und Volk immer wieder in den Stunden höchster Not vor dem Hineinstürzen in den Abgrund bewahrt haben . [Es folgt der eingehende Dank an alle Beamten und Mitarbeiter der Polizei in Berlin]
[…] Der Polizeibeamte steht heute leider auch auf schwerem Gefahrenposten . Nicht nur, dass die Not und damit die Nervosität des Volkes seinen Dienst ungeheuer schwer macht . Die Verhetzung, die gewalttätigen Methoden des politischen Kampfes, welche die radikalen Parteien unter unser Volk getragen haben, haben Sie als Polizeibeamte besonders zu spüren bekommen . Denn man ist auch nicht vor tätlichen Angriffen auf die Polizeibeamten zurückgeschreckt . Dabei waren die Angreifer Anhänger von Parteien, deren offizielle Vertreter in den parlamentarischen Körperschaften keine Gelegenheit vorübergehen lassen, ihr angeblich gutes Herz für die Beamten zu bekunden . Neuerdings scheint sogar der gemeine Meuchelmord gegen Polizeibeamte politisches Regel-Kampfmittel geworden zu sein . Sehr viele Beamte haben die ‚Liebe‘ dieser Kreise mit ihrem Leben bezahlen müssen . Ich nenne nur die Namen Zänkert und Kuhfeld, und wir sind dem gütigen Geschick dankbar, dass Fiebig trotz des heimtückischen Schusses mit dem Leben davongekommen ist . Und am Sonntagabend sind die beiden Hauptleute Anlauf und Lenk von hinten nach Verabredung meuchlings erschossen und der Wachtmeister Willig angeschossen worden . Das Grab des Wachtmeisters Zänkert ist gestern von seinen Mördern geschändet worden . Schlimmeres und Verabscheuenswürdigeres ist hier in Berlin, und ich glaube auch in Deutschland noch nicht passiert . Wir wollen heute am Verfassungstage der Toten der Polizei ehrend und dankbar gedenken . Vor allen Dingen der Männer, die ihre Pflichterfüllung, ihre Treue zur Verfassung und zum Volk in jungen Jahren mit dem Leben besiegelten . Die heutige Verfassungsfeier soll für sie eine grandiose Totenfeier sein . Anlauf und Lenk, Zänkert und Kuhfeld, alle haben uns das Vorbild äußerster Pflichterfüllung bis zum Tode gegeben . Diese treuen braven Kameraden und Kollegen sollen uns unvergessen sein . Ihrer und
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aller anderen Gefallenen Andenken wollen wir jetzt durch eine Minute des Schweigens ehren: […] Wir anderen aber wollen unserer Pflicht erneut gedenken und mit Entschlossenheit und Zuversicht das neue Lebensjahr unseres Volksstaates beginnen . Eingedenk der Erkenntnis, dass nur Ordnung im Innern einen Aufstieg des deutschen Volkes gewährleisten kann . Das kommende Jahr wird sicherlich noch höhere Anforderungen an uns alle stellen . Wiederum wird es heißen, Festigkeit der Gesinnung mit Einsicht und Besonnenheit zu verbinden . Mehr denn je ist es unsere Aufgabe, den Gesetzen und Geboten der verfassungsmäßigen Regierung und dem Staate selbst gehorsam, seinen Symbolen Achtung zu verschaffen . Dabei haben wir aber auch die Pflicht, das Volk mit seinen Nöten zu begreifen und für seine Klagen Verständnis aufzubringen . Die Nachkriegspolizei ist eine Volkspolizei und soll es bleiben, trotz manchmal notwendig werdenden, rücksichtslosen Zugreifens, das jedoch nur im Interesse des Ganzen erfolgt . In diesem Dienst am Volksganzen wollen wir nie erlahmen . Wir wollen uns bemühen, auch den Gesetzesbrecher, nicht den Meuchelmörder, zu verstehen und wollen nicht vergessen, dass die ärgsten Feinde jeder staatlichen Ordnung Hunger und Not sind . Darum gilt es, den Dienst jederzeit mit Besonnenheit und Einsicht zu erfüllen und über allen Kampf und Hass der Gegenwart hinaus nicht zu vergessen, dass wir nicht nur Polizei, sondern zugleich Glieder eines Volkes sind, des großen deutschen Kulturvolkes, dass sich in der Verfassung von Weimar ein stolzes Denkmal seiner politischen Mündigkeit gesetzt hat . Aber Besonnenheit und Einsicht werden Schwäche und Farce, wenn sie nicht begleitet sind von Festigkeit der Gesinnung und Sicherheit im Wollen . Der Staatsbürger, der zur Gewalt greift, muss wissen, dass er die überlegene Kraft der Berliner Polizei nachdrücklich zu spüren bekommt . So sehr ich verständige Einsicht und Besonnenheit von allen Beamten immer wieder verlange, so sehr ist harte Entschlossenheit und Rücksichtslosigkeit in der Abwehr dann selbstverständlich, wenn es zum Angriff auf die Beamten, zur offenen Auflehnung gegen die Gesetze oder gar gegen die Verfassung kommt . Ich weiß, Irrtümer sind bei aller Sorgfalt in der Ausbildung und Erziehung der Beamten nicht immer zu vermeiden . Geduld und Nerven der Berliner Polizeibeamtenschaft werden oftmals auf eine äußerste Probe gestellt . Auch der Polizeibeamte ist bei aller gebotenen Selbstbeherrschung schließlich nur ein Mensch, der sich wehrt und wehren soll, wenn er von missgeleiteten Volksgenossen im Büro oder auf der Straße beleidigt oder gar angegriffen wird . Trotzdem heißt es, Ruhe zu bewahren und sich in dem Willen zum raschen, sicheren Entschluss nicht beirren zu lassen . Nur so kann der Polizeibeamte seiner hohen Aufgabe gerecht werden .
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Zum nationalsozialistisch geführten Bürgerkrieg Zwei große Kundgebungen in Stettin am 7. Dezember 1931102 Die sozialdemokratische Massenkundgebung habe alle Erwartungen übertroffen, berichtete der Stettiner „Volksbote“, und fortfahrend: „‘Groß-Stettin‘ war bald nach 10 Uhr überfüllt und musste polizeilich gesperrt werden. Eine im ‚Reichsgarten‘ durchgeführte Parallelversammlung war ebenfalls in wenigen Minuten überfüllt. Hunderte mussten umkehren.“ Grzesinski wurde „von tosendem Beifall schon beim Betreten des Saales empfangen, erneut stürmisch begrüßt, als er ans Rednerpult trat“.
‚Ich bin erfreut‘, so führte er aus, ‚dass ich dem Rufe der Stettiner Parteifreunde gerade in dieser Zeit habe folgen können . In dieser Zeit, die Erinnerungen wachruft, die nicht nur für die Stettiner, sondern für die gesamte pommersche Arbeiterschaft von besonderer Bedeutung sind . Es war im Juli 1919, als ich erstmalig in Stettin weilte . Unruhen herrschten an vielen Stellen Pommerns, es brannte wie heute der Freiheitskampf . Und ich hatte zu untersuchen, wie wieder Ruhe und Ordnung hergestellt werden konnte . Nach mehrtägigen Verhandlungen bin ich damals nach Berlin zurückgegangen, nachdem ich den Belagerungszustand aufgehoben hatte . Das zweite Mal bin ich in der Zeit des Kapp-Putsches hier gewesen – in der die Dinge wesentlich ernster lagen als 1919 . Über ganz Pommern war der Generalstreik verhängt . Das Bürgertum hatte den Verkäuferstreik organisiert und hatte dabei die Reichswehr auf seiner Seite . Die Arbeiterschaft war auf ihre eigene Kraft gestellt. Sie hat dennoch gesiegt! Heute, elf Jahre später, bin ich wieder in Stettin, das ich inzwischen nur einmal auf einer Dienstreise als preußischer Innenminister besucht habe . Die Zeit ist wiederum gespannt bis zum Äußersten . Sie verlangt von uns, dass wir sagen, was wir wollen . Dazu ist not, dass ich frage, ob denn die programmatischen Forderungen der Sozialdemokratie noch in unsere Tage passen, ob es noch richtig ist, was die Partei verlangt . Ohne Zweifel ja . Seien Sie überzeugt, dass das sozialdemokratische Wollen und Handeln den Interessen der Mehrheit des Volkes am besten dient. Was die Sozialdemokratie in den letzten zwölf Jahren getan hat, davon ist nichts zurückzunehmen . Vielleicht hätte sie in manchen Dingen taktisch anders handeln können, doch im großen Ganzen ist das, was sie vollbracht hat, richtig gewesen . Wäre es anders – warum hätten dann unsere Gegner so viele von unseren Forderungen übernommen? Erst mithilfe dieses Diebstahls und mithilfe amerikanischer Organisationsmethoden haben doch die Nationalsozialisten ihre Erfolge erringen können . Mit ihrem verworrenen Programm hätten 102 Wir folgen zunächst dem Bericht im „Volks-Boten“, da er einleitende Passagen der Rede Grzesinskis enthält, die sich nicht im Manuskript finden; offenbar hielt er sie spontan . ISG: G 1252 . Volks-Bote . Organ der Sozialdemokratischen Partei Pommerns 47 (1931), Nr . 286 vom 8 . Dezember 1931, S . 1 .
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sie keinen Hund hinter dem Ofen hervorgelockt, geschweige denn Wähler gewonnen . Außerdem beweist aber auch der Besuch dieser Versammlung, dass das von der Sozialdemokratie aufgestellte Ziel richtig ist und dass sie richtig handelt, wenn sie daran festhält . Sicherlich ist es wahr, dass die Partei augenblicklich in einem schweren Abwehrkampf steht, doch wir haben schon andere Kämpfe bestanden – und wir haben auch schon andere Niederlagen erlitten . Zwar glauben die Anhänger des Faschismus und sie reden es ihren Gläubigen ein, dass sie bereits am Ziel ihrer Wünsche sind . Sie täuschen sich! Ihr Ruf ‚Deutschland erwache‘ hat endlich auch die Arbeiterschaft zur Erkenntnis der großen Gefahr gebracht . Und sie wird sorgen, dass die Nationalsozialisten weder legal noch illegal allein zur Macht gelangen. Das ‚Dritte Reich‘ wird es in Deutschland nicht geben. Herr Hitler und sein Anhang werden sich wieder nach anständiger Arbeit umsehen müssen, statt das Volk mit hohlen Phrasen und Hirnverbranntheiten zu verhetzen . […]‘“ […]103 „Die Führung der NSDAP, allen voran Herr Hitler, hat ja hier zu wiederholten Malen ihre Legalität versichert und sogar zu diesem Thema gerichtliche Eide geschworen . Es ist überflüssig, den Eid eines Mannes besonders zu bewerten, der schon einmal in den kritischen Tagen des November 1923 sein Ehrenwort gebrochen hat und den Bruch dieses Ehrenwortes mit zwingenden äußeren Umständen entschuldigt hat . Noch überflüssiger ist es, die eigentlichen Beteuerungen einer Partei ernsthaft zu überprüfen, die durch ihren prominenten Führer Gregor Strasser im Reichstag erklären ließ, dass sie jeden Einbruch und jedes gebrochene Ehrenwort als erlaubtes Kampfmittel ansehe . Die Schwüre und Versicherungen der Nazis – das steht fest – sind eitel Schall und Rauch und nichts weiter wert als der berühmte Fetzen Papier, von dem schon einmal eine kaiserliche Regierung sehr zum Schaden des deutschen Volkes gesprochen hat . Aber nicht darüber wollen wir uns heute unterhalten . Wenn die Frage der Legalität der Hitlerpartei gestellt wird, denken die meisten an Putsch und Staatsstreich und glauben mit den Eiden des Herrn Hitler die Gefahr einer gewaltsamen Staatsumwälzung als gebannt . Auch ich muss bekennen, dass ich an einen Putsch der Na-
103 Ab hier folgen wir dem Manuskript: IISG: G 2150 . Typoskript; 35 Seiten u . mehrere eingeschobene handschriftlich ausgeführte Seiten . Zahlreiche Unterstreichungen (Rot- und Blaustift) und Einfügungen, von denen einige aufgenommen wurden, wobei die Unterstreichungen kenntlich gemacht wurden . Auf der ersten Seite steht: „Referat des Herrn Polizeipräsidenten in Stettin“ . Auf der ersten Seite des Manuskriptes notierte Grzesinski Hinweise auf seine früheren Stettin-Besuche, mit der er, wie dem Bericht des ‚Volksboten‘ (SPD) über diese Veranstaltung zu entnehmen ist, auch seinen Vortrag einleitete (s . o .) . Grzesinski hatte folgendes notiert: „Ihnen in Stettin kein Unbekannter 1919/1920 .–17 ./18 .7 .19 zwecks Unterstützung der in Preußen ausgebrochenen Unruhen Verhängung Belagerungszustand am 11 .7 . ohne Mitwirkung Oberpräsident . Abwehrstreik Stettiner Arbeiter . Aufhebung des Belagerungszustandes 18 .7 .31 [?] . – Staatsminister Vollmacht v . 18 .3 .20 . alle Maßnahmen zur Wiederherstellung zu ergreifen . Reichwehr mit […] 22 .3 .20 Abschluss“ .
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zis nicht glaube, die Sache ist ihnen zu riskant . Aber, verehrte Anwesende, ich glaube an etwas ganz anderes . Es gibt nämlich zwischen der Illegalität des Putsches und der Legalität des geordneten politischen Kampfes ein Drittes, und das ist die Illegalität des Terrors . Volksgenossinnen und Volksgenossen! Was heute sich in vielen Teilen Deutschlands auf dem flachen Lande vollzieht, das ist zwar kein Putsch, aber praktisch die Außerkraftsetzung der Reichsverfassung und der bestehende Bürgerkrieg . Außerkraftsetzung der Reichsverfassung durch terroristische Maßnahmen der Nazihorden . Was sich heute in zahlreichen Bauerndörfern und kleinen Städten vollzieht, spottet jeder Beschreibung . Dort ist das Versammlungsrecht der Republikaner und Sozialisten so gut wie gänzlich aufgehoben, und wenn es doch benutzt wird, geschieht es unter Gefahr von Leben und Sicherheit . Dort wird, wie schon einstmals Ende des vorigen Jahrhunderts, mit geradezu mittelalterlichen Methoden versucht, die Vorkämpfer der Arbeiterklasse, die getreuen Hüter der Republik zu Fall zu bringen . Die Fälle mehren sich, wo Sozialdemokraten und andere Republikaner unter dem Terror der Nazis um Lohn und Brot gebracht worden sind . Ja der Terror geht noch weiter, er bedroht die Anhänger der Republik buchstäblich mit dem Hungertod . Da werden den Frauen die Einkäufe in den Geschäften verweigert, die Lieferung von Milch, Butter und Brot unterbunden, sodass die Geplagten mithilfe weniger treuer Freunde meilenweit über Land müssen, um die notwendigsten Einkäufe zu besorgen . Da werden Gartenzäune demoliert, Fensterscheiben eingeschlagen, einzelgehende Personen niedergeschlagen, geprügelt und schwer verletzt . Es sind Fälle bekannt geworden, wo einzelne Landarbeiter, da sie als Reichsbanner-Leute und Sozialdemokraten bekannt sind, seit drei Jahren keinerlei Arbeit mehr bekommen haben, nicht, weil keine Arbeit vorhanden wäre, sondern deshalb, weil die von den Nazis terrorisierten Bauern es nicht mehr wagen, diesen Mann bei sich zu beschäftigen . Hinzu kommt zu alledem der gesellschaftliche Boykott . Ärzten, Lehrern, Polizei- und Regierungsbeamten verschließt man die Türen, ihre Frauen kränkt und beleidigt man, Kinder werden in der Schule und auf dem Nachhauseweg gehänselt und geschlagen, ja sogar in einzelnen Fällen ist die ärztliche Hilfe versagt worden . In solchen Orten ist ein geregeltes, durch die Verfassung und die Gesetze geschütztes Organisationsleben kaum noch aufrecht zu erhalten . Es ist so wie 1913 . Den Mitgliedern droht Entlassung aus den Arbeitsstellen, sozialer wirtschaftlicher Boykott, schließlich Überfall und Totschlag . Man schreckt vor den gemeinsten und niedrigsten Verleumdungen nicht zurück, grundlos werden die abscheulichsten Behauptungen, scheußlichsten Verdächtigungen und bösartigsten Beschimpfungen unter dem leichtgläubigen Volke verstreut und das Leben des Einzelnen so vergiftet und zerstört . Selbst die Ehre der Frauen lässt man nicht unangetastet; mit infamem Klatsch zerstört man Ehen, entfremdet Kinder ihren Eltern und bringt so manche geordnete Existenz zu Fall . Unsere Arbeitsgenossen, unsere Reichsbannerkameraden entwickeln ein beispielloses Heldentum dort draußen, wo sie allein stehen und sehnsüchtig Hilfe erwarten .
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Was aber geschieht, wenn einmal einer sich zur Wehr setzt, wenn es einem unter den Zahllosen einmal zu viel wird, wenn er nicht mehr kann, wenn ihm die Nerven reißen und er seinerseits zurückschlägt, wenn er geschlagen wird? Dann tobt die Meute los und spricht vom ‚marxistischen Mord‘ und ‚Reichsbannerbanditentum‘, und eine leichtgläubige und leicht verführte Öffentlichkeit folgt ihnen darin . Volksgenossen, Kameraden! Hier droht im Augenblick größte Gefahr! Nachdem es die Nazis nicht fertig gebracht haben, mit den üblichen politischen Mitteln in unsere Reihen einzubrechen, versuchen sie jetzt mit Methoden mittelalterlichen Terrors Panik in unsere Kampffront hineinzutragen . Was mit dem Stimmzettel nicht geglückt ist und nicht glücken kann und wird, soll mit dem Knüppel, dem Schlagring, dem Dolch und Revolver und moralischen Bestialitäten aller Art erreicht werden . Das Programm ist klar: Gelingt es ihnen, unsere Leute auf dem Lande draußen klein zu kriegen, gelingt es ihnen, in weiten Teilen Deutschlands die Verfassung, Recht und Ordnung wenn auch nicht formell, so doch tatsächlich außer Kraft zu setzen, dann wird versucht werden, diese Taktik der Gewalt auch in die Stadt hinein zu tragen . Hier gilt es, Volksgenossen, Kameraden, sich mit allen nur möglichen Mitteln zur Abwehr einzusetzen . [handschriftlich am Rande: „Aufgabe Reich, Staat, Gemeinde, Polizei“].
Lassen Sie mich, da wir nun mal von den Mitteln der Abwehr sprechen, an eines erinnern . Die Kommunisten haben geglaubt, die terroristischen Methoden der Nazis mit terroristischen Mitteln brechen zu können, und mit den gleichen Mitteln die politische Macht zu erobern . Sie haben auf diese Weise dem faschistischen Gegner der Arbeiterklasse ein enormes Agitationsmaterial in die Hand gespielt, ohne auch nur im Geringsten etwas Tatsächliches gegen die Nazis ausrichten zu können . Wie immer und überall haben die Kommunisten die Grundlehren und Grundsätze der Arbeiterbewegung vergessen, der Arbeiterbewegung, die immer darauf beruhte, dass die Aktionen der Arbeiterklasse nicht individuell, sondern kollektiv sein müssen . Für die Arbeiterbewegung gilt nur die planmäßige und gemeinsame Aktion, nicht die Aktion einzelner . Der Terrorismus ist eine ungeeignete, schädliche, ja arbeiterfeindliche Abwehrwaffe für uns . Die Kommunisten haben ihre ständigen Raufereien mit den Nazis mit dem Ehrennamen eines antifaschistischen Abwehrkampfes bezeichnen wollen . Was sie in Wirklichkeit getan haben, war Rauferei und nicht Abwehrkampf . Ganz gewiss bin auch ich der Ansicht, dass, wenn die anderen schlagen und schießen, können auch wir nicht mit dem Palmenwedel und dem Sofakissen bewaffnet antreten . Aber auch dann muss es sich um die planmäßige, gemeinsame und geordnete Aktion handeln, nicht um das terroristische Abenteuer einzelner wagemutiger Gruppen . Wenn ich vorhin davon gesprochen habe, dass wir mit allen tauglichen Mitteln den Terror der Gegner auf dem Lande brechen müssen, so bedeutet das zunächst ganz deutlich ausgedrückt nichts anderes, als dass wir aus den Großstädten heraus genügend Kräfte über
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das flache Land verteilen müssen, um endlich einmal wieder ein geordnetes Versammlungswesen durchzuführen . Unsere Genossen auf dem Lande brauchen Redner, mehr aber noch, sie brauchen Helfer, die sie unterstützen, um eine Versammlung geordnet zu Ende führen zu können . Sie brauchen einen geübten und disziplinierten Saalschutz, sie brauchen Propagandamaterial, sie brauchen Zeitschriften, Bücher, Flugblätter, sie brauchen auch materielle Unterstützung . Ihr alle müsst helfen, Ihr alle müsst das Äußerste daransetzen, damit der Terror nicht sein Ziel erreicht . Gerade als Antwort auf den nationalsozialistischen Terror müssen wir das Netz unserer Ortsgruppen auf dem Lande dichter und dichter ziehen, müssen Verbindungen herstellen, Nachrichten austauschen und jedem einzelnen Kämpfer da draußen das Gefühl geben, dass er nicht allein steht, sondern auf die Hilfe des gesamten Proletariats rechnen kann . Es ist unsere Aufgabe, mit größter Beschleunigung alles nachzuholen, was bisher versäumt wurde . Das wird an manchen Orten nicht leicht sein, aber ich weiß, dass wir uns nur zu regen brauchen, um sofort ein feiges Zeter- und Mordiogeschrei auf der anderen Seite hervorzurufen . Die Nationalsozialisten, die ausgemachte und kriminell belastete Rohlinge in erheblicher Zahl bei sich organisiert haben, sind, nachdem ihnen die Erfindung des politischen Mordes in Deutschland geglückt ist, außerordentlich empfindlich geworden . Sie weisen heute mit geheuchelter Entrüstung auf ihre sogenannte Totenliste hin und jammern dem ehrsamen Bürger etwas von Schutzlosigkeit und Verfolgung der NSDAP vor . Darum ist es Zeit, die Herren mit schneidender Schärfe daran zu erinnern, dass die Morde an Erzberger und Rathenau von ihnen begangen worden, dass ihre Leute es waren, die den abgrundtiefen gemeinen Vers gesungen haben: Killt ab den Walter Rathenau, die gottverdammte Judensau . Und dass ihre Behauptung von den 200 eigenen Toten aufgelegter Schwindel ist . Sie waren es, die in die politische Auseinandersetzung Deutschlands die Begriffe vom ‚Aufhängen‘, vom ‚Kopfrollen‘, vom ‚Verrecken lassen‘, und wie die Gossenausdrücke nur alle lauten, eingeführt haben . Und wenn wir tausendmal die Gewalttat bei einem politischen Gegner verabscheuen, auch dann verabscheuen, wenn sie einmal aus unseren eigenen Reihen herauskommen sollte, so müssen wir jedoch erklären, dass die intellektuellen Urheber aller politischen Morde, die in Deutschland geschehen sind, auch der Mord an Nationalsozialisten selbst, auf die Nationalsozialisten zurückfallen . Wer die Parole vom ‚Hängen‘, ‚Schießen‘ und ‚Morden‘ ausgegeben hat, der trägt die Verantwortung für alle Dinge, die sich daraus entwickelt haben . Darum erklären wir auch, dass die Hände der nationalsozialistischen Führer vom Blut ihrer eigenen Leute befleckt sind . An unsere Massen aber muss die Mahnung ergehen, die Nerven zu behalten und trotz aller Not, allem wirtschaftlichen Elend sich einen klaren Kopf zu bewahren . Herr
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Hitler hat in Harzburg an seine SA-Leute den Appell gerichtet, die Nerven nicht zu verlieren . Ich sage Ihnen, verehrte Anwesende, dass Hitler und die Seinen ihre Nerven schon fast verloren haben, während wir die unseren behalten werden, weil wir eine gute Sache vertreten und unserer Sache sicher sind . Dennoch werden wir die ungeheuren Gefahren, die uns drohen, nur dann meistern können, wenn endlich einmal der unselige und im gegenwärtigen Augenblick unerhörte Bruderkampf innerhalb des Proletariats beendet wird . Die KPD und SAP begehen das größte Verbrechen an der deutschen Arbeiterschaft und am deutschen Volk . Das zeigt sich gerade jetzt besonders . Zum Glück ist die proletarische Zusammenarbeit von dem bösen Willen verbohrter Eigenbrötler nicht abhängig . Die Einigung einer ganzen Arbeiterschaft unter Führung der Sozialdemokratischen Partei und der Freien Gewerkschaften und des Reichsbanners wird sich in der entscheidenden Stunde elementar vollziehen, und keine noch so kauderwelsche Resolution des ‚EKKI‘, des ‚ZK‘, der ‚Komintern‘, der ‚GPU‘ und ‚SAP‘ wird daran etwas ändern . Dann wird der Augenblick gekommen sein, wo die Arbeiter aller politischen Richtungen und ohne Rücksicht auf ihre Weltauffassung gemeinsam für die unversehrte, nicht verzerrte, unverbogene Republik kämpfen, bis der Bedroher niedergerungen sein wird – für immer! Und wir werden dann einen Staat endlich haben, in dem jeder, der arbeiten will, auch Obdach und Brot hat, in dem das leider vielfach verletzte Recht wieder eine Stelle bekommt und in dem der staatstreue Bürger die Rechte seiner Verfassung auch wirklich voll und ganz in Anspruch nehmen kann . Dafür, Volksgenossen, Kameraden, wollen wir alle unerschütterlich kämpfen .
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Preußen muss für die Arbeiterbewegung gehalten werden Das ‘Kasseler Volksblatt‘ über eine Rede Grzesinskis104 am 6. Februar 1932 Die Funktionärversammlung, die der Ortsausschuss des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes am Sonnabend ins Gildehaus einberufen hatte, war außerordentlich stark besucht. In den Kreisen der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter hat die Bildung der Eisernen Front gegen den Faschismus sehr starken Widerhall gefunden, und die gewerkschaftlichen Hammerschaften, die mit dem Reichsbanner das Fundament der Eisernen Front bilden sollen, werden überall ins Leben gerufen. In Kassel bildete die Funktionärversammlung am Sonnabend den Auftakt zu dieser Arbeit, und der starke Besuch bewies, wie gerade bei den Gewerkschaftsfunktionären der aktive Vorstoß gegen die Nationalsozialisten begrüßt wird.
104 Artikel aus: Kasseler Volksblatt vom 8 . Februar 1932/ 1 . Beilage zu Nr . 32, S . 1 f . Der Artikel war überschrieben: “Die Eiserne Front wächst . Genosse Grzesinski spricht vor Kasseler Gewerkschaftsfunktionären . Die Hammerschaften werden gebildet .“
Preußen muss für die Arbeiterbewegung gehalten werden
Der Ortsausschuss hatte den Genossen Albert Grzesinski als Redner verpflichtet. Er hatte damit einen sehr glücklichen Griff getan, denn Grzesinski besitzt zweifellos tiefen Einblick in die wirtschaftlichen und politischen Dinge, und außerdem hat er als Leiter des Kasseler Gewerkschaftskartells in den Jahren 1913–1920 gezeigt, dass er auch schwierigen Situationen gewachsen ist und für seine Gewerkschaftskollegen etwas herauszuholen weiß. Sein kurzer Rückblick auf die damaligen Kasseler Geschehnisse gab ein Bild davon, was durch gewerkschaftliche Geschlossenheit unter fester Führung erreicht werden kann. Und in seinen ausführlichen und eindrucksvollen Darlegungen zeigte Grzesinski dann, dass die Arbeiterschaft gar keinen Grund hat, den Faschismus zu fürchten, wenn sie sich auf ihre Stärke besinnt und zum Angriff gegen die Nazis und ihre Helfershelfer vorgeht. Freudig stimmten die Gewerkschaftler dem Kampfruf ihres alten Führers zu. Die Versammlung wurde durch den Genossen Ilgen, dem Vorsitzenden des Ortsausschusses, eröffnet mit dem Hinweis darauf, dass nunmehr die Formationen der Eisernen Front gebildet werden müssen.
Genosse Albert Grzesinski begann seine Ausführungen mit einem kurzen Rückblick auf das, was in den Jahren 1913–1920 vom Kasseler Gewerkschaftskartell, das in diesen Jahren unter Grzesinskis Leitung stand, im Interesse der Arbeiterschaft geleistet wurde . Besonders interessant was sein Hinweis darauf, dass bis zum Kriege weder Tarifverträge noch überhaupt Verhandlungen mit den Kasseler Industrieherren möglich waren . Und als nach Inkrafttreten des Hilfsdienstgesetzes die Firma Henschel gezwungen wurde, vor dem Schlichtungsausschuss zu erscheinen, da suchte sich der damalige Direktor Witthöft durch Anpöbelungen Grzesinskis dafür zu rächen, dass ein schlichter Arbeiter jetzt bei Ihnen mitreden wollte . Dieser kleine Rückblick zeigte, dass gerade in der Kassler Industrie die Sicherung der Lohn- und Arbeitsbedingungen durch Tarifverträge noch verhältnismäßig jung ist . Dann wandte sich Genosse Grzesinski dem eigentlichen Thema: Das Kampfjahr 1932, zu . Zwei wichtige politische Entscheidungen fallen in dieses Jahr: die Preußenwahlen und vorher die Wahl des Reichspräsidenten . Die Reichsregierung hat versucht, diese Wahl auszuschalten und durch eine Zweidrittelmehrheit des Reichstags ersetzen zu lassen . Über die Verfassungsmäßigkeit dieses Weges kann man sehr geteilter Meinung sein . Der Versuch ist aber nicht gelungen, die Wahl durch das Volk muss vorgenommen werden, und augenblicklich geht der Streit um die Kandidatenfrage . Die Sozialdemokratie steht in diesem Streit vorläufig Gewehr bei Fuß. Allerdings ist es uns nicht gleichgültig, wer Reichspräsident wird. Im Gegenteil ist auch für uns die Person des Reichspräsidenten von größter Wichtigkeit, denn in seiner Hand vereint sich eine ungeheure Machtbefugnis, und es ist eine Lebensfrage für das deutsche Volk, wie diese Macht angewandt und ausgenützt wird . Bezeichnend ist ja, dass gerade diejenigen, die Hindenburg einst auf den Schild gehoben haben – darunter der Stahlhelm, dessen Ehrenpräsident Hindenburg ist – seiner Wiederwahl zögernd gegenüberstehen . Diese
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Preußen muss für die Arbeiterbewegung gehalten werden
Kreise sind von Hindenburg enttäuscht, weil er durch sein Festhalten an der Verfassung ihre reaktionären Wünsche nicht erfüllt hat. Das ist aber auch ein Beweis dafür, wie wichtig die Person des Reichspräsidenten ist, vor allem in der jetzigen Zeit, wo der Kampf um Bestand und Inhalt der Republik mit vermehrter Heftigkeit geführt wird . Die Reichspräsidentenwahl am 13 . März bildet das Vorspiel zur Preußenwahl am 8 . Mai . Zwei solche Wahlen dicht hintereinander stellen große Anforderungen an den Kampfgeist und den Opfermut der Arbeiterschaft, aber dieser Opfermut muss aufgebracht werden; denn beide Wahlen haben große Bedeutung für die gesamte Arbeiterschaft. Der Reichspräsident hat die Reichsexekutive in Händen, und ein republikanisches Preußen ist die Voraussetzung dafür, dass im Reich nicht noch mehr antisoziale Politik gemacht wird . Bei den Ländern liegt die Ausführung der Reichsgesetze . In der Hand der Länder liegt das Schul- und Bildungswesen, Justiz, Polizei, die gesamte Sozialpolitik mit Ausnahme der Arbeitslosenversicherung und auch die Kommunalpolitik . Preußen umfasst vier Siebentel des Reichs, und es kommt deshalb wirklich sehr viel darauf an, wer in Preußen die Regierung führt . Die Machthaber im alten Preußen wissen sehr wohl, was sie verloren haben, als ihnen das Volk die Macht aus der Hand nahm . Die Macht im Staate geht nur dann vom Volke aus, wenn seine Vertreter die Gesetze nicht nur beschließen, sondern auch ausführen. Das ist ja der Grund für die gehässige Bekämpfung der republikanischen Staatsmänner durch die alten Mächte, dass jetzt die arbeitenden Schichten ihre Geschicke selber in die Hand nehmen wollen . Und es ist die Tragik des deutschen Volkes, das große Teile, die von der Neugestaltung der Dinge Vorteile haben, sich von den demagogischen Verleumdungen der kleinen reaktionären Gruppe einfangen lassen . Man möchte in Preußen die Sozialdemokraten aus der Regierung heraus haben, um die Bahn für die alten Machthaber freizumachen . Der Hass gegen die aufstrebende Arbeiterschaft ist die Grundlage des Kampfes gegen das republikanische Preußen. Die Gefahr liegt nicht so sehr in den Wahlerfolgen der Nationalsozialisten – sie haben trotz wüstester Agitation in keinem der deutschen Länder die Mehrheit erlangt und werden sie auch nicht erlangen – die Gefahr liegt vielmehr darin, dass das politisch vollkommen ungeschulte Bürgertum den Untertanengeist nicht abstreifen kann, und dass es sich in blindem Radikalismus auf die Seite schlägt, die ihm am meisten verspricht . Aber es ist doch bezeichnend für die Sieghaftigkeit des Sozialismus, dass die Nazis ihre Wahlerfolge nur erringen konnten, weil sie – obwohl eine ausgesprochen kapitalistische Partei – in ihrem Namen das Wort ‚sozialistisch‘ eingeschmuggelt haben . Erfreulich ist, dass jetzt die Arbeiterschaft die Gefahr erkannt und zum Gegenstoß ausholt . Die Mehrheit des Volkes gehört den arbeitenden Schichten an, und deren Interessen werden nicht von den Nationalsozialisten vertreten . Tief bedauerlich ist nur, dass neben gewissen Teilen des Bürgertums auch die Kommunisten den Faschisten die Steigbügel halten. Deshalb ist es außerordentlich wichtig und in seiner Bedeutung gar nicht zu überschätzen, dass jetzt alle Kreise der republikanischen Bevölkerung in der Eisernen Front nicht nur eine Abwehr, sondern eine Angriffsfront bilden . Der Nationalsozialismus
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muss scheitern, wenn wir nicht selbst unsere eigenen Kräfte schwächen . Der Kampf gegen Nationalsozialismus und Kapitalismus wird nur Erfolg haben, wenn er von großen, geschlossenen Organisationen geführt wird . Ein Verbrechen an der Arbeiterschaft begehen diejenigen, die diese einheitliche Front zu zersplittern suchen. Von 1918 bis heute haben die Kommunisten durch ihre Zersplitterungstätigkeit der Reaktion die Wege geebnet und den Vormarsch der Arbeiterschaft gehemmt . Das Gerede, man solle die Faschisten an die Macht lassen, damit sie abwirtschaften, ist Unsinn . Wir wissen, dass sie abwirtschaften werden und wollen es deshalb erst gar nicht dazu kommen lassen . Denken wir an Italien, wo seit sieben Jahren der Faschismus herrscht, wo es keine Arbeiterbewegung und keine Demokratie mehr gibt . Denken wir an das Wort des greisen italienischen Genossen Turati bei der Einweihung des Matteotti-Denkmals in Brüssel: ‚Sorgt dafür, dass Ihr nicht weinen müsst, wie wir weinen, weil wir einmal eine Stunde lang die Demokratie gering geschätzt haben! ‘105
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Die furchtbare Gefahr des Nationalsozialismus Vor der „Eisernen Front“ in Magdeburg im Juni 1932106
Genossinnen und Genossen! Kameraden der Eisernen Front! Im Zeichen der Eisernen Front sind wir hier versammelt, die Freiheitszeichen grüßen uns und in Sport und Spiel wollen wir uns und den Gegnern beweisen, dass die sieghafte Kraft der Arbeiterbewegung ungebrochen durch alle Nöte und Schrecken der Zeit bewahrt worden ist . Die Freiheitszeichen der Eisernen Front, die drei Pfeile, grüßen und mahnen uns . Sie erinnern uns daran, dass die Arbeiterbewegung schon manche Zeit des Schreckens, schon manche Zeit der Not hinter sich gebracht hat, und dass die Gegner schon manchmal gehofft haben, dem Arbeitsvolk Deutschlands das Genick zu brechen und immer wieder danebengehauen haben . Die Nationalsozialisten glauben freilich, dass sie diesmal dicht vor dem Ziele ihrer Wünsche stehen . Gewiss, sie haben beträchtliche Wahlerfolge gehabt, und seit zwei Jahren ist die Wählerschaft der nationalsozialistischen Partei erheblich gestiegen . Wären die Nationalsozialisten
105 Filippo Turati (1857–1932), Mitgründer der italienischen Sozialistischen Partei und Kämpfer gegen den aufziehenden Faschismus; er emigrierte nach Paris . – Giacomo Matteotti (1885–1924), Abgeordneter der PSI, der von Faschisten ermordet worden war; wenige Tage zuvor hatte er eine flammende Rede gegen Benito Mussolini gehalten . 106 IISG: G 2154 . Typoskript DIN A 4, 12 Seiten . Auf Seite 1 oben: „Rede in M[a]gd[e]b[urg], 26 .6 .32, 14 .30 [Uhr], im Stadion der Neuen Welt auf dem „Rest“ .
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wirklich eine parlamentarische Partei, wären sie gewillt, die Zahl ihrer Mandate im sachlichen parlamentarischen Kampf einzusetzen, dann würden sie allerdings vieles von dem erreichen können, was sie sich vorgestellt, bzw . ihren Wählern vorgeredet . Da aber die Herren um Hitler noch immer glauben, eines Tages den großen Sprung aus dem Rahmen der Verfassung hinaus tun zu können, so werden sie sich gewaltig irren . Irren ist zwar menschlich, und auch den Nationalsozialisten könnte man einen menschlichen Irrtum verzeihen . Die Irrtümer der Nationalsozialisten aber sind nicht mehr menschlich . Herr Dr . Goebbels hat sich erst am vergangenen Donnerstag wieder als großer Prophet im Sportpalast zu Berlin aufgespielt, und ich muss schon zur Besänftigung dieses Herren daran erinnern, dass seine Prophezeiungen noch immer ein trauriges Ende genommen haben . […] In einer Berliner Sportpalastversammlung hat Dr . Goebbels mit grausigem Zähnefletschen versichert, die SA werde eines Tages sich das Recht auf die Straße nehmen . Nun dieses Recht braucht man sich nicht zu nehmen . Ist da! Geschaffen von SPD 1918 . Durch Betragen der Nazi in Gefahr gekommen . Daher Beschränkung! Wenn aber ungesetzlich dagegen angehen, dann an Polizei und Staatsmacht Köpfe einrennen . Und wenn Nazi von Notwehr sprechen, dann liegt sie auch bei E . F . vor . Und an dem Tage, wo die SA wider Gesetz und Recht sich das Recht auf die Straße nimmt, an dem Tag ist für alle Staatsbürger, also auch für die Eiserne Front das Recht der Notwehr gegeben. Und ich setze mit allem Nachdruck hinzu: an dem Tage, wo die Eiserne Front das Recht der Notwehr gegenüber der SA in Anspruch nehmen kann, an dem Tage gibt es keine SA mehr in Deutschland. […] Mit dem Einbruch der Hitler‘schen Demagogie in die deutsche Politik sind die letzten Reste des politischen Anstandes zerschlagen, die private Ehre des politischen Gegners ist schutzlos preisgegeben, die intimsten familiären Einzelheiten sind einer rohen und obszönen Betrachtungsweise unterzogen worden . Jeder Ausdruck der Gosse, jede Redewendung, die den Sprachschatz der Zuhälter und Dirnen entstammt, ist jenen ‚Politikern‘ gut genug gewesen, die heute drauf und dran sind, Deutschland mit ihrem hysterischen Geschrei in den Bürgerkrieg zu stürzen . Und heute kann ruhig gesagt werden: Noch niemals, seitdem es ein Deutsches Reich gibt, war der Augenblick so gefährlich, so voller Spannung und so voller furchtbarer Gefahren . Genossen und Kameraden! Mit dem Sturz der Regierung Brüning hat ein verhängnisvoller Abschnitt in der deutschen Geschichte begonnen . Wir waren als Sozialisten mit dem Kabinett Brüning wahrhaftig nicht verheiratet . Wir haben seine Politik, die wirtschaftspolitisch und innenpolitisch vielfach nur eine halbe Politik gewesen ist, stets kritisiert . Wir haben keinen Zweifel daran gelassen, dass die Tolerierung Brünings kein Bündnis mit Brüning bedeutet . Dennoch war dieses, jetzt von dunklen Kräften gestürzte Kabinett das
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einzige, das die innere Ruhe und Sicherheit Deutschlands bis zum Austrag der außenpolitischen Auseinandersetzung wirklich hätte gewährleisten können . Die gegenwärtige Regierung hat das für richtig gehalten, den Nationalsozialisten das Uniformtragen wieder zu erlauben . Ich bin gewiss, dass das neue Kabinett geglaubt hat, mit dieser Maßnahme der inneren Beruhigung zu dienen . Ja, das ist das Tragische an der Situation, dass zweifellos die neuen Männer diese zwar loyale, aber völlig falsche Ansicht gehabt haben . Heute sind die Folgen jener Ratschläge, die man bedauerlicherweise dem Herrn Reichspräsidenten gegeben hat, bereits offen zu Tage getreten . Diese Folgen übersteigen die schlimmsten Befürchtungen und haben Deutschland mit einem Schlage in eine schlechthin furchtbare Lage versetzt . Der politische Mord und die politische Gewalttat beherrschen die Straßen . Wir haben heute faktisch bereits den Bürgerkrieg . Bislang ist es der rastlosen Arbeit der Polizei gelungen, das Allerschlimmste zu verhüten . Doch es muss gesagt werden, dass die Dinge nicht mehr weitergehen können . Es ist die merkwürdig falsche und abwegige Ansicht verbreitet, dass den Nationalsozialisten in Deutschland bislang irgendwelches Unrecht geschehen sei . Das ist die Einstellung der Papen-Regierung, daraus ist die Aufhebung des Uniformverbotes und die Rückgängigmachung des SA-Verbotes erwachsen . Aber das hat nur dazu geführt, dass die Nationalsozialisten imstande sind, ihren eigenen Volksgenossen tausendfaches Unrecht zuzufügen . […] Nur wenige Wochen hat sich der Kurswechsel im Reiche erst ausgewirkt und heute schon ist ein Zustand politischer und wirtschaftlicher Bedrohung entstanden, wie ihn die größten Pessimisten kaum je für möglich gehalten hätten . Uns aber erfüllt die Sorge um die deutsche Nation, und wir müssen mit ernstem Nachdruck daran erinnern, was wir so oft unseren Gegnern sagen mussten . Wir mussten Ihnen sagen, dass Deutschland als Staat nur so lange leben wird, solange er als demokratische Republik und als freier Staat seine Existenzberechtigung unter den Völkern der Erde nachweist . Heute ist es bereits offenkundig geworden, dass der Diktaturwahnsinn ganz Deutschland in eine unübersehbare Katastrophe hineinzujagen bestimmt ist . Mit dem Belagerungszustand wird gespielt . Die einen, Verantwortungsbewussten, glauben fälschlicherweise ihn nötig zu haben wegen Ruhe und Ordnung, die anderen um ihr nicht erreichtes Machtziel auf anderen Wegen zu erreichen . Wir haben diese Entwicklung kommen sehen, wir haben vor ihr gewarnt und wir haben manches heruntergeschluckt und zu manchem geschwiegen, obwohl uns die Zunge brannte und wir lieber hätten reden mögen . […] Wenn es zu ernsten Auseinandersetzungen kommen sollte, wird die Eiserne Front handeln und nicht reden . Nicht drohen will ich also, aber warnen, warnen alle Männer und Frauen des Volkes, die sich einen klaren Blick bewahrt haben und wissen, worum es geht; warnen will ich die Behörden und Regierungen und mahnen nicht zuletzt auch den Herrn Reichspräsidenten, in dessen Nähe offenkundig Ratgeber tätig
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gewesen sind, die mit der Ehrlichkeit und Offenheit eines Hindenburg kein gutes Spiel getrieben haben . Ich spreche diese Warnung und Mahnung aus, weil ich es für meine Pflicht halte, für meine Pflicht als Beamter und als Deutscher . Ich weiß nicht, ob meine Worte Gehör finden, ich weiß nicht, ob sie bei denen, die anderer Meinung sind wie ich, Beachtung finden werden . Ich weiß nur eines, dass die Befolgung dieser meiner Warnung die letzte Möglichkeit darstellt, Deutschlands Staat und Deutschlands Volk vor einem großen Unglück zu bewahren . Genossen und Kameraden! Was aber auch immer kommen mag, die Eiserne Front steht fest und sie wird wieder die deutsche Arbeiterklasse retten . Schon einmal, im November 1918, haben wir Deutschland als Staat und Deutschland als Volk vor dem sicheren Untergang gerettet . […]
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Zur politischen Geschichte der Weimarer Republik Eine Rede im Arbeiterleseklub in Kopenhagen 1932107
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Parteifreunde! Ich soll heute zu Ihnen über das neue Deutschland reden (aber nicht über das ganz neue!) . Sie wissen, dass sich seit dem 1 . Juni dieses Jahres dort ein politischer Umschwung von grundsätzlicher Bedeutung vollzogen hat – ich werde zum Schluss darauf noch zu sprechen kommen . Ihre gütige Erlaubnis voraussetzend, darf ich zum besseren Verständnis für Sie meinen Vortrag in der Weise gliedern, dass ich Ihnen zuerst, allerdings nur ganz kurz, über die politische Lage in Deutschland bis 1918 vortrage und dann berichte, was das Deutschland der jungen demokratischen sozialen Republik ist . [Es folgt ein Exkurs zu den sozialen und politischen Verhältnissen im deutschen Kaiserreich. Dann geht Grzesinski auf den November 1918 ein.]
So kam im Oktober 1918 – als dazu noch die bisherigen Verbündeten Österreich und Bulgarien abfielen – der militärische und in seinem Gefolge der politische Zusammenbruch Deutschlands . Der Repräsentant des Regimes war nach Holland, Ludendorff, der Generalquartiermeister der Armee, nach Schweden geflohen . Am 11 . November 1918 wurde in Berlin die Republik ausgerufen und aus den Vertretern der beiden sozialistischen Parteien – der SPD und der USPD – setzte sich der Rat der Volksbeauftrag107 IISG: G 2154 . Typoskript DIN A4, 35 Seiten . Überschrieben auf erster Seite: „Frihed! [Freiheit] Grüße P[artei] .V[orstand] . Rede am 19 .9 .32 im Arbeiterleseklub in Kopenhagen .“ Auszüge werden hier wiedergegeben .
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ten zusammen, welcher die vorläufige Spitze der deutschen Republik bildete . Im Lande traten bei den staatlichen und kommunalen Verwaltungsorganen und bei den Truppenkörpern Arbeiter- und Soldatenräte bzw . Soldatenräte zusammen . Nirgends wurde Widerspruch laut . Infolge der Stimmung im Lande hatte man schon vorher, wenn auch erst im letzten Augenblicke geglaubt, dem Volke Konzessionen machen zu müssen, und so waren in die kaiserliche Reichsregierung bereits im September 1918 Sozialdemokraten berufen worden . Jetzt, nach dem Zusammenbruch erschien es allen im Volke selbstverständlich, dass die gewerkschaftlichen und politischen Führer der SPD die Führung der Regierungsgeschäfte an zentraler Stelle und in der Provinzial- und Lokalverwaltung übernahmen bzw . überwachten . Das Volk erhoffte die Befriedigung seiner Friedenssehnsucht allein noch von der Sozialdemokratie, die sich schon während des Krieges für einen Verständigungsfrieden bemüht hatte . So wickelte sich die Umwälzung des Staates von der Monarchie zur Republik fast überall reibungslos ab – eine ganz unblutig und fast reibungslos verlaufende Revolution war zu verzeichnen . Generalfeldmarschall von Hindenburg, seit August 1916 Oberbefehlshaber aller deutschen Heere, führte das Feldheer hinter die deutschen Grenzen und die Heimat zurück, wo es demobilisiert wurde . Unter Führung der Volksbeauftragten sorgten die Arbeiter- und Soldatenräte für Ruhe und Ordnung und bereiteten die Friedensverhandlungen und die Umstellung der Kriegs- in die Friedenswirtschaft vor . Sie bemühten sich um die Ernährung des Volkes und um Arbeit für das Volk und begannen an den Grundlagen des neuen Staates zu arbeiten . Die Frage, nach welchem System das neue Haus eingerichtet werden sollte, wurde von der SPD mit überwiegender Mehrheit, unter Ablehnung jeder Art Diktatur dahin entschieden, dass nur eine republikanisch-demokratische Staatsverfassung für das neue Deutschland in Frage kommt . Noch bevor der Mitte Dezember 1918 tagende Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte diesen Beschluss fasste, hatten die Volksbeauftragten unter dem 12 . November 1918 mit Gesetzeskraft alle die freiheitliche Entwicklung hemmenden Vorschriften des alten Regimes beseitigt und unter anderem bestimmt, dass das Vereins- und Versammlungsrecht keiner Beschränkung, auch nicht für Beamte und Staatsarbeiter mehr unterliege, dass eine Zensur nicht mehr stattfinde, die Theaterzensur aufgehoben, Meinungsäußerungen in Wort und Schrift frei seien . Die Freiheit der Religionsausübung wurde gewährleistet, die Ausnahmegesetze gegen das Gesinde und die Landarbeiter aufgehoben . Die Arbeiterschutzbestimmungen, welche zu Beginn des Krieges suspendiert worden waren, wurden wieder in Kraft gesetzt . Für alle Wahlen, auch für die zur Konstituante, wurde Männern und Frauen über 20 Jahren das Wahlrecht gegeben . Das Wahlrecht war gleich, geheim, direkt, allgemein, die Stimmen wurden aufgrund des Verhältniswahlsystems ausgewertet . Mit diesen Anordnungen hatte die SPD den praktischen Teil ihres Parteiprogramms, dessen Forderungen sie seit 27 Jahren propagiert hatte, nun, zur Macht gelangt, in die Tat umgesetzt .
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Am 19 . Januar 1919 waren die Wahlen zur Nationalversammlung . Die Wahlbeteiligung betrug 82 2/3 % . 45 ½ % der abgegebenen Stimmen waren sozialistische: 37,9 % SPD, 7,6 % USPD . Die KPD war damals im Parlament noch nicht vertreten . Sie hatte auch Wahlenthaltung proklamiert und kämpfte als ‚Spartakus‘ auf den Straßen Berlins und in der Provinz unter Führung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg gegen die junge demokratische Republik, ‚um die Revolution bis zur Räterepublik weiter zu treiben .‘ Das gelang ihr natürlich nicht, sondern bewirkte lediglich, dass die Sozialisten in der Nationalversammlung die absolute Mehrheit nicht erhielten, an der ihnen nur 5 % der Stimmen fehlten . Infolge der Unruhen in Berlin trat am 6 . Februar 1919 die Nationalversammlung in Weimar, der Stadt Goethes und Schillers zusammen . Sie wählte zunächst Friedrich Ebert zum ersten Präsidenten der Deutschen Republik, bildete das Kabinett Scheidemann-Brockdorff-Rantzau und bestätigte die von den Volksbeauftragten vorher zur Fortführung des staatlichen Lebens erlassenen Verordnungen . Dann machte sie sich an die Beratung der Verfassung nach der Vorlage, welche Professor Dr . Hugo Preuß ausgearbeitet hatte . Am 31 .7 .1919 wurde das Verfassungswerk mit 262 Stimmen der Regierungsparteien (SPD, Zentrum, Demokraten) gegen 75 Stimmen der Rechten und der USPD, also mit weit über ¾ Mehrheit angenommen . Am 11 . August 1919 wurde die Verfassung vom Reichspräsidenten Friedrich Ebert unterzeichnet, der 11 . August ist daher in Deutschland Verfassungstag . Bevor ich in der Entwicklung des neuen Deutschland fortfahre, bin ich zum besseren Verständnis für Sie genötigt, mit ein paar Worten auf die besondere Verfassungsstruktur des Deutschen Reiches einzugehen, die im Auslande so wenig bekannt ist, und von Ausländern selbst bei eifrigstem Studium oft nicht ganz verstanden wird . [Es folgt eine Darstellung der deutschen Staatsverfassung. Dann geht Grzesinski auf die Weimarer Verfassung und die politische Geschichte der Republik näher ein.]
Der zweite Satz des Artikels 1 der Reichsverfassung lautet: ‚Die Staatsgewalt geht vom Volke aus .‘ Wir Sozialdemokraten sind der Meinung, dass die Staatsgewalt nicht schon dann vom Volke ausgeht, wenn das Volk aufgrund, sei es auch des freiesten und vollkommensten Wahlrechts, zum Parlament wählen und dort seine Vertreter die Gesetze schaffen oder ihren Inhalt beeinflussen kann . Dieser Grundsatz des Art . 1 der Verfassung gilt meines Erachtens dann erst als erfüllt, wenn Vertreter aller Schichten des Volkes, sei es durch Wahl, sei es durch Berufung, auch in der Verwaltung Sitz und Stimme haben . Erst dann ist das Selbstverwaltungs- und Selbstbestimmungsrecht des Volkes Wirklichkeit geworden . Diesem Ziel möglichst nahe zu kommen, war in den letzten 14 Jahren die Aufgabe der republikanisch-demokratischen Parteien, insbesondere der SPD in den einzelnen deutschen Ländern und in den Kommunalverwaltungen . Was
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der alte Staat versäumt, bzw . absichtlich unterlassen hatte, nämlich die Vertreter der Arbeitnehmer und kleinen Leute – mit einem Worte die Vertreter der breiten Massen des Volkes – zur Verwaltung heranzuziehen, das haben wir nachzuholen versucht durch eine entsprechende, durch unsere Personalpolitik . In den Kommunen war die Einflussnahme der Einwohner auf die Verwaltungen der Provinzen des Landes, der Landkreise, Städte und Landgemeinden, Dörfer etc . infolge des demokratischen Wahlrechtes und der Bestimmung, dass die ehrenamtlichen Verwalter in den Provinzialausschüssen, Kreisausschüssen, Magistraten und Gemeindevorständen nach dem Verhältniswahlsystem besetzt sein müssen, ziemlich leicht gegeben . Wenn zum Beispiel aufgrund der Kommunalwahlen in Preußen am 17 .11 .1929 in den rund 43 .000 Gemeinden etwa 360 .000 Gemeindevertreter, darunter rund 70 .000 SPD, 5 .350 Stadtverordnete, darunter 1 .450 SPD, 1 .160 Provinziallandtagsabgeordnete, darunter 317 SPD, und 9 .800 Kreistagsabgeordneten, wovon 2 .500 SPD sind, gewählt wurden, so war dadurch auch zugleich den einzelnen Parteien die anteilmäßige Zahl der Sitze in den Verwaltungsorganen dieser Kommunalverbände sicher . Die lebenslänglich angestellten Kommunalbeamten wurden natürlich berufen, aber – soweit die höheren Beamten in Frage kamen, beschloss über ihre Berufung die aus den allgemeinen Wahlen hervorgegangene Körperschaft . In der Staatsverwaltung war die Personalpolitik schwieriger . Auf die mittleren und Unterbeamten konnte sie sich überhaupt nicht, oder nur insoweit erstrecken, als auf den Nachwuchs Bedacht genommen wurde . Auch bei den höheren Beamten wurde natürlich auf geeigneten Nachwuchs gesehen . Die politischen Beamten aber, das sind die Oberpräsidenten, Regierungspräsidenten, Polizeipräsidenten, Landräte und die höchsten Ministerialbeamten wurden mit Ausnahme der letzteren entsprechend der sozialen Gliederung und politischen Zusammensetzung ihres Verwaltungsbezirks nach und nach ersetzt durch Beamte, welche aus Überzeugung auf dem Boden des neuen Staates standen und in ihrer ganzen Einstellung den Bedürfnissen einer sozialen Staatsführung entsprachen . Mit dem Prinzip der Bevorrechtung einer einzelnen Gesellschaftsschicht oder Clique wurde grundsätzlich gebrochen . Maßgebend bei der Berufung der politischen Beamten war in erster Linie natürlich ihre sachliche Eignung für das Amt und dann ihre politische Einstellung . Das Ergebnis dieser Personalpolitik in Preußen in den letzten 14 Jahren war, dass das Adelsmonopol für die höheren Verwaltungs- und besonders für die politischen Beamten völlig gebrochen wurde – es sind kaum noch Beamte vorhanden, die aus Adelsfamilien stammen, und dass von den etwa 540 politischen Beamten den republikanischen Parteien – das sind Sozialdemokraten, Zentrum und Demokraten – etwa 450 angehören, während früher alles stockkonservativ war . Zwischen schweren Kämpfen – auch Bürgerkriegen – im Innern und ebenso schwerem Ringen auf außenpolitischen Gebiete vollzog sich in Deutschland die eben erwähnte personelle Umschichtung des Beamtenkörpers und die allgemeine kulturelle, soziale und wirtschaftliche Aufbauarbeit und Erneuerung .
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Wir hatten in Deutschland seit Ende 1918 eigentlich keinen Tag der Ruhe und sind zur Selbstbesinnung kaum gekommen . Zunächst waren es 1918 die Waffenstillstandsverhandlungen und die Rückführung des Heeres, welche Arbeit alle Kräfte der Nation beanspruchten, dann kamen im Sommer 1919 die Arbeiten um den Vertrag von Versailles, die verschiedenen sich daraus ergebenden weiteren Verhandlungen mit den ehemaligen Kriegsgegnern und die Auswirkungen der diversen Entente-Diktate wegen angeblicher Nichterfüllung vertraglicher Bestimmungen . Die über die RheinlandBesetzung hinausgehende Besetzung von Frankfurt am Main durch die Franzosen im Jahre 1920 schuf neue Bestürzung . Die Ruhrbesetzung mit ihren, für die deutsche Währung katastrophalen Auswirkungen brachte dann die Inflation und die Vernichtung allen wirtschaftlichen Lebens und aller Werte, – eine Goldmark war zuletzt gleich 1 Billion Papiermark; das Geld entwertete unter den Händen – von Stunde zu Stunde . Die Ruhrbesetzung mit ihren Schikanen für die Bevölkerung war politisch und seelisch für das deutsche Volk die schlimmste Zeit seit dem Versailler Diktat . Im Herbst 1923 wurde das Ruhrgebiet von der Besatzung wieder frei, die Mark wurde auf den Goldstandard stabilisiert, was eine erneute Umstellung der gesamten Wirtschaft bedingte . Von 1926–1929 belebte sich die Konjunktur, und das deutsche Volk konnte sich etwas erholen . Seitdem ist es mit der Wirtschaft wieder bergab gegangen; Deutschland steht zurzeit inmitten der Weltwirtschaftskrisis mit seiner Konjunktur und wird mit 5,5 Millionen Arbeitslosen noch am stärksten von ihr erfasst . Die furchtbaren Kriegslasten – Reparationen und inneren Verpflichtungen – halten die deutsche Wirtschaft unter einem besonderen Druck . Auch im Innern des Landes ist der Kampf, ja zum Teil Bürgerkrieg bis zum heutigen Tage ununterbrochen heftig gewesen . Rund 4 .000 Menschen sind in Deutschland seit 1918 diesen Kämpfen zum Opfer gefallen . Im Dezember 1918 und Januar 1919 war der Spartakusaufstand . Am 13 . März 1920 brach der Putsch des Generallandschaftsdirektors Kapp und des Reichswehrgenerals Lüttwitz aus, der zwar nach einer Woche niedergeworfen wurde, aber im Lande doch noch recht lange in blutigen Kämpfen nachzitterte . Ein Jahr später putschten die Kommunisten in Mitteldeutschland, ohne auch nur örtlich etwas zu erreichen . Im Herbst 1923 versuchte Hitler in München und zu gleicher Zeit der Reichswehrmajor Buchrucker in Küstrin zu putschen; beides misslang ebenso wie im Oktober gleichen Jahres ein neuer Versuch der Kommunisten, einen Aufstand zu inszenieren; er flackerte lediglich in Hamburg auf und wurde nach wenigen Tagen niedergeschlagen . Spätere Putschabsichten wurden schon im Keime erstickt, bzw . von der Polizei aufgedeckt, noch ehe sie zur Ausreifung gelangen konnten . Trotzdem ist Deutschland etwa vom Jahre 1924 ab das Ziel aller jener ausländischen Kreise des staatlichen und privaten Lebens gewesen, die lernen wollten, was auf sozialem, wirtschaftlichem, kulturellem, aber auch politischem Gebiete im Reich, in den Ländern und den Kommunalverwaltungen, auf öffentlichem und privatem Gebiete geschaffen wurde .
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Auf reichszuständigem Gebiete wurde unter Mitwirkung der Gewerkschaften aller Richtungen die Sozialgesetzgebung, welche in Deutschland bereits seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bestand, ausgebaut und neue Zweige wurden zu den schon bestehenden angefügt . Das Arbeitsvermittlungs- und Arbeitslosenversicherungswesen, das gesetzlich verankerte Tarifrecht und das Schlichtungswesen in Arbeitsstreitigkeiten sowie das gesetzliche Recht der Mitwirkung der gewählten Arbeiter-, Angestellten- und Beamtenvertretungen bei allen Fragen, die ihr Arbeits- und Dienstverhältnis betreffen, waren nur die hauptsächlichsten Neuschöpfungen auf dem Gebiete der Sozialpolitik . Die Leistungen der deutschen sozialen Einrichtungen sind grandios . Nach den amtlichen Berichten über die deutsche Sozialversicherung wurden für soziale Zwecke (Krankenversicherung, Unfallversicherung, Invaliden-Angestellten-knappschaftliche Pensionsversicherung, Arbeitslosenversicherung) im Jahre 1913, also im reichen Kaiserreich, 1 .370 Millionen Mark, im Jahre 1930 aber von der armen Deutschen Republik rund 7 .500 Millionen Mark aufgebracht . Die Ausgaben für die Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen sind in dieser Summe nicht enthalten . Unter dem Schutze der Arbeitsrechtsgesetze wurde der Durchschnittslohn durch die Gewerkschaften für männliche Vollarbeiter von 69,3 Pfennig im Jahre 1924 auf 107,3 Pfennig im Jahre 1929 die Stunde heraufgebracht . Das Gesamteinkommen an Löhnen und Gehältern war in den beiden Jahren 1924 und 1929 von 35,5 auf 47,4 Milliarden Mark gestiegen . Die Demokratie hat sich also für das Volk gelohnt! Aber nicht nur für die Arbeiter: Von den Verdiensten der Arbeitnehmer und den sozialen Zuwendungen der Anspruchsberechtigten haben alle, insbesondere auch der Mittelstand, Handwerker und Bauern teil, indem diese Beträge sofort in Waren umgesetzt werden und dadurch wieder die Produktion befruchten . Von den Landesverwaltungen wurde im Rahmen ihrer Zuständigkeit – wir haben gesehen, dass dieselbe sehr weit geht – die Staatsverwaltung reformiert und personell den neuen Bedürfnissen und sozialen Erfordernissen angepasst . Die Polizei als wichtigstes staatliches Exekutivorgan wurde ganz neu auf- und ausgebaut, mit modernen technischen Einrichtungen ausgerüstet und voll aktionsfähig gemacht . Die deutsche und insbesondere die Berliner Polizei – die uniformierte Schutzpolizei wie die Kriminalpolizei – steht zur Bekämpfung des Verbrechertums in engster Verbindung mit anderen Polizeiverwaltungen der Welt . Sie hat internationale Bedeutung und genießt in der ganzen Welt großes Ansehen . Eine Reihe neuer Verwaltungsgesetze dienten der Verwaltungsvereinfachung . Durch das Polizeiverwaltungsgesetz zum Beispiel wurde das Polizeirecht auf eine moderne Grundlage gestellt, und es wurde mit einem Federstrich mit zum Teil jahrhundertealten monarchischen Gesetzen aufgeräumt . Durch die Aufhebung der in Preußen noch bestehenden, aus der Feudalzeit stammenden 12 .000 Gutsbezirke wurde die obrigkeitliche Vorherrschaft der junkerliche Gutsbesitzer im deutschen ländlichen Osten 1928 endlich beseitigt, die eineinhalb Millionen Gutsbewohner erhielten das kommunale Wahlrecht, was sie bis dahin noch nicht besaßen .
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Außerordentliches wurde durch die Umgemeindungsgesetze geschaffen, indem der wirtschaftlichen und bevölkerungspolitischen Entwicklung Rechnung getragen wurde durch Zusammenschließung benachbarter, zusammengehöriger Gemeinden . Im Jahre 1920 wurde durch die Zusammenlegung von acht Städten, 55 Landgemeinden und 23 Gutsbezirken die Reichshauptstadt Berlin in ihrem heutigen Umfange geschaffen, die 88 .348 ha Fläche umfasst und heute rund 4 Millionen Einwohner zählt . Die Städte Königsberg, Breslau, Frankfurt am Main, Wiesbaden, Bielefeld, Altona, Harburg-Wilhelmsburg, Köln, Trier erhielten durch Eingemeindungen umliegender Orte wesentlich erweiterte kommunalpolitisch zweckmäßigere Grenzen . Das größte Umgemeindungswerk seit jeher war aber die Umgemeindungsgesetzgebung, die das wirtschaftliche Herz Deutschlands, Rheinland-Westfalen betraf, wofür 6,4 Millionen Einwohner, das sind 16,6 % der preußischen Bevölkerung auf 800 .000 ha die kommunalen Grenzen den wirtschaftlichen und sozialen Bedürfnissen endlich angepasst wurden . Deutschland hat innerhalb seiner Grenzen noch recht viel Brach-, Sumpf- und Heideland, welches der landwirtschaftlichen Nutzung harrt . Aus nationalen und wirtschaftlichen Gründen in Deutschland selbst Neuland zu gewinnen, war seit Jahrhunderten Ziel und Aufgabe der preußischen Herrscher . Die junge Republik hat auf diesem Gebiete ebenfalls Großes geschaffen . An der Nordsee, in Schleswig-Holstein, in Ostpreußen, in der Lüneburger Heide wurden Quadratkilometer Neuland gewonnen . Für Meliorationen wurden jährlich 33 Millionen Mark ausgegeben, gegen 17 Millionen Mark im alten Preußen . Auf dem Gebiete des Siedlungswesens hat Deutschland und insbesondere Preußen alles bisher Dagewesene in den Schatten gestellt . Während die preußische Ansiedlungskommission in den letzten 30 Jahren vor dem Kriege ganze 22 .000 Siedlerstellen mit insgesamt 310 .000 ha Land geschaffen hat, sind von 1919–1930, also im dritten Teil der Zeit, vom neuen Preußen auf rund 480 .500 ha Land 42 .642 Stellen geschaffen worden; in den letzten Jahren machte das jede Woche fünf neue Bauerndörfer aus . Die Aufwendungen des preußischen Staates für Universitäten, Technische Hochschulen, Theater und Bühnen, landwirtschaftliches Forschungs- und Bildungswesen, Höhere- und Volksschulen sind von 212 Millionen Mark im Jahr 1913 auf rund 615 Millionen Mark im Jahre 1931 gestiegen . Da infolge der Inanspruchnahme aller Materialien, insbesondere Baumaterialien durch die Kriegswirtschaft das Bauen von Wohnungen während mehr denn fünf Jahren völlig unterblieben war, war es eine der vornehmsten Aufgaben des neuen Staates, diesen in die Millionen gehenden Ausfall von Neubauwohnungen auszugleichen durch intensives Bauen durch die öffentliche Hand mit öffentlichen Mitteln . 1 1/4 Millionen Kleinwohnungen sind in den letzten sieben Jahren allein von öffentlicher Hand gebaut worden; für die Landarbeiter entsprechend ihren besonderen Bedürfnissen wurden 52 .000 Wohnungen, darunter 29 .000 Eigenheime erstellt .
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Auf dem Gebiete der Gemeinwirtschaft ist die Entwicklung rapide vorangeschritten . Der Staatsbesitz an Kohlen-, Erz- und Salzgruben, an Domänen und der Forstbesitz sind erheblich vermehrt worden . Die Elektrizitätsversorgung liegt zu 80 % direkt und indirekt in öffentlicher Hand . Die soziale, kulturelle und wirtschaftliche Arbeit der Kommunalverwaltungen ist statistisch nicht zu erfassen, ihre Leistungen sind gewaltig – auf allen Gebieten . Eine nähere Beschreibung darf ich mir ersparen . Alles, was geschehen ist, ist indirekt auf die Demokratie zurückzuführen, die den Massen endlich erlaubte, an der Verwaltung teilzunehmen und Einrichtungen nach ihren Bedürfnissen zu schaffen . […] Gegen die weitgehende Sozialpolitik und die fortschreitende Entwicklung der Gemeinwirtschaft, wie gegen die immer stärkere personelle Inbesitznahme der Verwaltung des Staates und der Gemeinden durch Vertreter der sozialdemokratischen und gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft, die meist nicht den Weg des zünftigen Beamten gegangen, sondern aus freien Berufen, auch aus den Institutionen der Arbeiterbewegung selbst zur Verwaltung gekommen waren, nahmen das Bürgertum und mit drohender Wirtschaftskrise verstärkt auch das schwerindustrielle Unternehmertum Stellung . Die Abneigung gegen das Eindringen der Arbeitervertreter in die Verwaltung ging bis in die demokratischen Kreise, die sich in die Vorstellung hineingelebt hatten, dass sie die Offiziere, die Arbeiterschaft nur die Mannschaften zu stellen habe . So entwickelte sich mit den Jahren in Deutschland eine antisozialistische Bewegung mit antisemitischem Einschlag, die unter dem Rufe ‚Nieder mit dem Marxismus‘ sich fast ausschließlich gegen die Sozialdemokratie richtete und diese und die Juden durch Lüge und Verleumdung für so ziemlich alles verantwortlich machte, was seit 1918 Schlimmes über Deutschland hereingebrochen war . Was an Gutem geschaffen worden war unter der Republik, wurde von den Kritikern zwar gerne in Anspruch genommen, aber sonst ignoriert, verkleinert oder herabgezerrt . Auch an dem verlorenen Krieg sollte die Sozialdemokratie schuld sein, und die Dolchstoßlegende, die das beweisen soll, ist längst nicht tot . Dass die Reichsregierungen der Nachkriegszeit in acht von den 13 Jahren der Republik rein bürgerliche, sozialistenfreie Kabinette waren und dass in den fünf Jahren, in denen Sozialdemokraten überhaupt in der Reichsregierung gesessen haben, sie nur während dreieinhalb Monaten die Mehrheit der Minister gehabt haben, also zum mindesten nicht allein verantwortlich sein konnten, wurde in der Verleumdungskampagne gerne verschwiegen und unterschlagen . Aber der reaktionären Bewegung kamen in der Agitation auf nationalem Gebiete die schweren Bedrückungen, Ungerechtigkeiten und Wortbrüche zugute, welche die Entente-Mächte sich dem besiegten, niedergebrochenen, militärisch ohnmächtigen Deutschland gegenüber haben zu Schulden kommen lassen . Die großen Weltmächte haben sich hier als sehr schlechte Völkerpsychologen erwiesen . Dann war es die ständig steigende materielle Not, welche dem Radikalismus, besonders dem Rechtsradikalismus den starken Zustrom brachte . Das im Grunde sehr
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unpolitische deutsche Kleinbürgertum hatte durch die Inflation sein Vermögen völlig verloren; es war verarmt und verzweifelt; seine Kinder fühlten sich um ihre Zukunft betrogen und machten dafür die Republik verantwortlich . Während die Söhne früher studieren oder sich dem kaufmännischen Berufe zuwenden, die Töchter im Elternhause auf den Mann warten konnten, müssen sie heute dem Erwerb nachgehen . Sie drücken mit den ‚reinen‘ Arbeitern und Angestellten auf den Arbeitsmarkt und leiden materiell und seelisch vielleicht noch mehr, wie ihre neuen Klassengenossen . Aus einem Jahresbericht der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung geht hervor, dass diese ‚Neuarbeiter‘ auch schon zahlenmäßig eine erhebliche Bedeutung haben . Während nach der Bevölkerungsstatistik der jährliche Zuwachs an Erwerbstätigen aus den Reihen der Arbeiter und Angestellten in Deutschland nur 310 .000 betragen konnte, stellte er sich in Wirklichkeit auf 570 .000 [ein] . Es müssen also 260 .000 Menschen mehr als anzunehmen war entweder ins Heer der Erwerbstätigen wieder zurückgekehrt oder ganz neu hinzugekommen sein . Nebenbei bemerkt legen die Zahlen auch Zeugnis ab von der gewaltigen sozialen Umschichtung, welche sich seit Jahren in Deutschland vollzieht – es ist eine wirtschaftliche Revolution von ungeahntem Ausmaße, ein Hinabstoßen bisher Selbstständiger in die proletarische Existenz! Von den alten bürgerlichen Parteien waren diese Mittelstandskreise im Laufe der Jahre wiederholt und aufs tiefste enttäuscht worden . So ist es verständlich, wenn sie sich nun in die Arme politischer Abenteurer warfen, die ihnen alles, auch das Unmöglichste für den Fall der Machtergreifung versprachen . Dann trug noch die schwere Wirtschaftskrise das ihrige zur Radikalisierung der Massen bei . Dieser politische Umschichtungsprozess ging verhältnismäßig schnell vor sich . Schon die letzten Reichstagswahlen am 31 . Juli 1932 hatten die alten, einst so stolzen bürgerlichen Mittelparteien zum Teil völlig, zum Teil bis auf kümmerliche Reste aufgerieben . So sind zurzeit in Deutschland eigentlich nur noch weltanschauliche Parteien vorhanden . Auf dem äußersten linken Flügel steht die von den Sowjets in Russland abhängige Kommunistische Partei; dann kommt die Sozialdemokratische Partei, gegen welche sich der Kampf aller übrigen Parteien richtet; das Zentrum ist mit der Bayerischen Volkspartei die politische Vertretung der deutschen Katholiken, und unter der Führung von Herrn Geheimrat Hugenberg sammeln sich in der Deutschnationalen Volkspartei die Reste der alten Konservativen . Ganz auf dem rechten Flügel steht die nunmehr zur stärksten Partei in Deutschland gewordenen NSDAP, die Partei von Adolf Hitler, die wohl als das Reaktionärste bezeichnet werden kann, was es an politischen Gebilden in Deutschland bisher gegeben hat . Zwischen diesen Parteien wird zurzeit der Kampf um die politische Macht in Deutschland ausgefochten, der zugleich ein Kampf um die soziale, demokratische Republik, ein Kampf um Form und Inhalt der Verfassung von Weimar, ein Kampf: hie Kapitalismus, hie Sozialismus ist . Als Beginn dieses politischen Machtkampfes kann man den 1 . April 1930 annehmen, als das Kabinett des Genossen Hermann Müller – das seit dem 28 .6 .1928 im Amte
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war – zurücktreten musste und das sozialistenreine Kabinett des der Zentrumspartei angehörenden Dr . Brüning an seine Stelle trat . […] Brüning löste im Juli 1930 den im Mai 1928 gewählten Reichstag auf, als dieser die Notverordnung aufhob, welche die erste sozialpolitische Verschlechterung bringen sollte . Der sehr heftige Wahlkampf endete am 14 .9 .1930 mit einer Niederlage Brünings und mit einem großen Wahlerfolge Hitlers . Mit 107 nationalsozialistischen Abgeordneten hatte niemand, hatten auch die Nazi nicht gerechnet . Im Reichstag hätte Brüning keine Mehrheit hinter sich gehabt, wenn die Sozialdemokratie in sture Opposition gegangen wäre, was nach den politischen Vorgängen durchaus natürlich gewesen wäre . Aber um angesichts des Anwachsens der NSDAP ‚Schlimmeres‘ zu verhüten, hat sie von der unentwegt parlamentarischen Opposition gegen das Kabinett Brüning abgesehen und ‚Tolerierungspolitik‘ getrieben . Diese Politik hat der deutschen Arbeiterschaft in den letzten beiden Jahren immerhin den Erfolg gebracht, dass verfassungsmäßig regiert wurde und mehreren der geplanten Verschlechterungen auf sozialpolitischem Gebiete die Giftzähne ausgebrochen werden konnten . Die SPD war auch in ihrer Politik nicht ganz frei . Im Falle zügelloser Opposition konnte das Zentrum die Preußen-Regierung auffliegen lassen . Das war politisch durchaus unerwünscht, denn Preußen war damals noch ein republikanisch-demokratischer Machtfaktor, aber nur in einer Koalition mit dem Zentrum zu halten . Am 30 . Mai 1932, nach einer Amtszeit von 25 Monaten, wurde auch Brüning entlassen und mit Herrn von Papen eine Regierung gebildet, die im Wesentlichen nur das Vertrauen des Reichspräsidenten besaß . Brünings Stellung war im Hinblick auf das weitere Anwachsen der rechtsradikalen Bewegung, das sich bei den verschiedenen Landtagswahlen zeigte, schon seit einiger Zeit unhaltbar geworden . Die Befürworter einer reinen Rechtsregierung fürchteten wohl in Bälde eine Nazimehrheit und im weiteren Gefolge den Rechtsbolschewismus in Deutschland, der sie dann mit Haut und Haaren mitverschlingen würde . Sie trauten wohl auch angesichts der aus den Arbeitermassen kommenden Mitläufer Hitlers und der Fluktuation von Kommunisten zu Nazis den kapitalistenfreundlichen Beteuerungen der Naziagitatoren nicht recht über den Weg . Durch Heranziehung Hitlers zu ‚verantwortungsbewusster Mitarbeit an den Reichs- und Staatsaufgaben‘ glaubten diese Kreise der von ihnen befürchteten Entwicklung vorbeugen zu können . So kam Herr von Papen den Nazis zunächst entgegen . Er verkündete als Regierungsprogramm eine grundsätzliche Abkehr von der bisherigen Staatsführung und sprach davon, dass die Nachkriegsregierungen den Staat zu einem Wohlfahrtsstaat zu machen versucht haben, der abgebaut werden müsse, und dass er die Reinheit des öffentlichen Lebens wiederherstellen wolle . Dann löste er den Reichstag auf, denn Hitler brauchte Neuwahlen . Wenn Herr von Papen sich auf Herrn Hitler verlassen konnte, was dieser ihm zunächst in Aussicht gestellt hatte, kam die Verdoppelung der Zahl der Nazi Abgeordneten im Reichstage auch Herrn von Papen zugute . Auch das erst zwei Monate vorher erlassene Verbot der Privatarmee des Herrn
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Hitler, der Sturmabteilungen der NSDAP, dass ohnehin nur zögernd und widerwillig erlassen worden war, obwohl es mit Staatsnotwendigkeiten und Staatsautorität begründet worden war, wurde wieder aufgehoben . Und zuletzt wurde dem immer stürmischer werdenden Verlangen alle Kreise der deutschen Reaktion, insbesondere auch der NSDAP nach gewaltsamer Entfernung der, nach dem ungünstigen Ausgang der Landtagswahlen am 24 . April 1932 nur noch geschäftsführenden Regierung Braun in Preußen durch Einsetzung eines Reichskommissars aufgrund Art . 48 der Reichsverfassung entsprochen . Herr von Papen und sein Kreis haben falsch kalkuliert . Im Augenblick ist in Deutschland so ziemlich alles zerschlagen . Herr von Papen hat durch die Reichstagswahl nicht nur keine Mehrheit für seine Politik erreicht; mit Ausnahme der 37 Abgeordneten der Deutschnationalen Volkspartei unter 608 Abgeordneten des Reichstags überhaupt und einiger Splitter steht alles gegen ihn in schärfster Opposition; auch die Nationalsozialisten, nachdem der Reichspräsident den Anspruch Adolf Hitlers nach so ziemlich aller Macht im Reiche zurückgewiesen hat . Die NSDAP hat am 31 . Juli mit 230 Abgeordneten ihre Mandatszeit tatsächlich mehr als verdoppeln können, auch die KPD hat zugenommen, ebenso das Zentrum . Die SPD, gegen die sich im Wahlkampfe wieder der Hauptstoß aller Parteien gerichtet hatte, hat gegenüber dem 14 . September 1930 etwas verloren, aber gegenüber den letzten Länderwahlen zum Teil nicht unerheblich aufgeholt . Sehr schlimm ist es aber den Mittelparteien ergangen, die im Reichstag von 1930 noch 123 Abgeordnete hatten und jetzt auf 20 zusammengeschmolzen sind . Auch die anderen Geschenke an die Nationalsozialisten haben nicht die erhoffte Wirkung gehabt . Die Ruhe und Ordnung in Deutschland ist zunächst durch die Aufhebung des Verbotes der Sturmabteilungen der NSDAP keinesfalls hergestellt worden, im Gegenteil, die politischen Gewalttätigkeiten nahmen erheblich zu – weit über 100 Tote und an 500 Schwerverletzte waren in wenigen Wochen zu verzeichnen, sodass eine neue Notverordnung erlassen werden musste, welche Todesstrafe und Sondergerichte für politische Gewalttätigkeiten vorsah . Ich möchte jetzt zunächst eine Zwischenschaltung machen und auf die Vorgänge in Preußen am 20 . Juli 1932 eingehen, die ja nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen politischen Welt, insbesondere bei der Arbeiterschaft Aufsehen und zum Teil Erstaunen erregt haben . Die Wahlen zum preußischen Landtag am 24 . April 1932 waren ungünstig verlaufen . Die Mehrheit, welche die Weimarer Koalition – Sozialdemokraten, Zentrum und Demokraten durch die Wahlen vom 20 . Mai 1928 besaß, war restlos verloren gegangen . Es bestand nur eine Mehrheit von NSDAP und KPD oder NSDAP und Zentrum; beide Mehrheiten kamen nach Lage der Sache für eine Regierungsbildung nicht in Frage . Trotzdem war die alte preußische Regierung Braun – Severing zurückgetreten – ein bestimmt zu erwartendes Misstrauensvotum des Landtages hätte sie übrigens auch dazu gezwungen – um als ‚geschäftsführendes Ministerium‘ die laufenden Geschäf-
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te bis zur Wahl eines neuen Ministerpräsidenten weiterzuführen . Schon als feststand, dass dieser Landtag unfähig sein würde, eine neue Regierung selbst zu bilden, wurde von rechtsradikaler Seite der Ruf nach einem Reichskommissar für Preußen laut, der aufgrund des Artikels 48 der Verfassung berufen werden sollte . Insbesondere die Nationalsozialisten verlangten den Reichskommissar, weil es angeblich unerträglich für sie sei, wenn in Preußen Polizei und Verwaltung bis zum 31 .7 .1932 – dem Tage der Reichstagswahlen – in den Händen der Sozialdemokraten bliebe . So kam der 20 . Juli 1932, der sicherlich mit der schwärzeste Tag in der Geschichte der jungen demokratischen deutschen Republik war . Über Berlin und die Provinz Brandenburg wurde der militärische Belagerungszustand verhängt; die vollziehende Gewalt in diesem Gebiet ging auf den Militärbefehlshaber über; die Schutzpolizei wurde ihm unmittelbar unterstellt; dem Polizeipräsidenten in Berlin, seinem Vertreter und dem Kommandeur der Schutzpolizei in Berlin wurde die weitere Amtsführung untersagt, als sie sich weigerten, sich von ihrem Arbeitsplatze zu entfernen, wurden sie in Schutzhaft genommen . Vorher waren die preußischen Minister ihres Amtes entsetzt und eine kommissarische Regierung gebildet worden . Das Vorgehen der Reichsregierung gegen Preußen ist nach Ansicht der Staatsrechtler und zwar der namhaftesten, verfassungswidrig; deswegen schwebt zurzeit Klage beim Staatsgerichtshof . In der deutschen Sozialdemokratischen Partei und in der Sozialistischen Internationale wird die Frage erörtert, ob von der deutschen Partei nicht Gegenmaßnahmen hätten getroffen werden können und müssen, die geeignet gewesen wären, den schweren Schlag gegen die Republik zu verhindern oder gar rückgängig zu machen . Je länger je mehr verstärkt sich bei uns allen aber die Überzeugung, dass die deutsche Sozialdemokratie am 20 . Juli richtig gehandelt hat, ja nicht anders hätte handeln können . Wir hätten andernfalls in Deutschland den Faschismus bereits in Reinkultur . Reichswehr hätte mit den Sturmtrupps der NSDAP und dem Stahlhelm eine Einheitsfront zur Niederwerfung der Abwehrfront der Arbeiterbewegung gebildet, die in einem, von den Reaktionären seit langem ersehnten Blutbade erstickt worden wäre . Es wäre sicherlich nicht einmal das Allerschlimmste gewesen, wenn die Reichstagswahlen nicht hätten stattfinden können, obwohl wir als demokratische Sozialisten auf die Volksbefragung allergrößten Wert legen mussten . Diese Wahl hat dann auch tatsächlich gezeigt, dass die Reaktion in Deutschland eine Mehrheit im Volke nicht hat und eigentlich nur auf den Bajonetten sitzt, worauf man sich naturgemäß nicht lange aufhalten kann . Aber bei diesem Kampfe hätten wir, nachdem bezüglich des preußischen Landtags bereits eine Vorentscheidung am 24 . April 1932 gefallen und die republikanische preußische Staatsregierung zurückgetreten war, kein Ziel gehabt, welches einen so schweren Kampf, wie er hier unausbleiblich gewesen wäre, hätte rechtfertigen können . Selbst nach einem siegreichen Ausgange dieses Kampfes wäre er wahrscheinlich dadurch schon wieder gegenstandslos geworden, dass sich inzwischen unter dem Eindruck des offenen Bürgerkrieges die Parteien des Bürgertums einschließlich der Nationalsozialisten im Landtage auf eine verfassungsmäßige Regierung geeinigt ha-
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ben würden . Denn in diesem Kampfe, – auch das muss hervorgehoben werden, – wäre die Sozialdemokratie allein gestanden, niemand wäre ihr zur Seite getreten, selbst ihre bisherigen Verbündeten nicht . Auch die süddeutschen Länder, die zwar insoweit auf Preußens Seite waren, als es sich um die Verteidigung ihres Partikularismus handelte, aber um der Demokratie willen keinen Finger krumm gemacht hätten . Ein solcher Kampf, der bestimmt ein sehr blutiger gewesen wäre, wäre unter diesen Umständen eine Frivolität gewesen . Inzwischen überschlagen sich die politischen Ereignisse in Deutschland . Der Termin vor dem Staatsgerichtshof wegen der eben erörterten Vorgänge am 20 . Juli 1932 und der daraus entstandenen Taten des Reichskommissars für Preußen und seines Beauftragten ist jetzt für den 29 . September in Aussicht genommen . Aber diese Vorgänge sind eigentlich längst überholt . Am Montag, den 12 . September, also genau vor einer Woche, ist der erst am 31 . Juli 1932 gewählte Reichstag, kaum dass er sich konstituiert hatte, und gerade als er die Regierungserklärung und das Programm des Herrn von Papen entgegennehmen sollte, wieder aufgelöst worden . Die Auflösung ist unter recht dramatischen – vielleicht kann man auch sagen, etwas komischen Umständen –, vor sich gegangen . Eigentlich wollten nur Kommunisten und die Deutschnationalen die Auflösung, weil sie sich von Neuwahlen etwas für sich versprachen . Die Deutschnationalen hofften, die rein privatwirtschaftlich eingestellten Kreise, die von ihnen weg und zu den Nationalsozialisten bei den letzten Wahlen und insbesondere bei der Reichstagswahl am 31 . Juli geflohen waren, zu einem Teil wenigstens wieder zu sich zurückholen zu können . Die Sozialdemokratie stand der Frage der Auflösung des Reichstages kühl und abwartend gegenüber, schon weil sie einen unmittelbaren Einfluss auf die Ereignisse nicht ausüben konnte . Die Auflösung im Zusammenhange etwa mit den inzwischen erlassenen neuen Notverordnungen des Reichspräsidenten schien ihr auch verfassungsmäßig bedenklich . Aber Nationalsozialisten und Zentrum wollten keine Auflösung . Sie hatten in den letzten Wochen versucht – ob ernstlich mag dahingestellt bleiben – eine Basis für eine parlamentarische Regierung zu finden, denn dass die Regierung Papen im neuen Reichstage nichts hinter sich hatte, war offensichtlich . Die Nationalsozialisten gaben sich, der Not gehorchend und nachdem sie den Anschluss wiederholt verpasst hatten, mit einem Mal den Anschein einer die Verfassung schützenden Partei . Sarkastisch schrieb der ‚Vorwärts‘ am 14 . September über das Bild, dass Nationalsozialisten und Regierung bei ihren gegenseitigen Beschuldigungen, der Verfassung zuwider gehandelt zu haben, abgaben, folgendes: Göring schützt die Verfassung vor Papen, Papen schützt die Verfassung vor Göring . Die deutsche Verfassung ist die bestgeschützte der Welt .
Leider liegen aber die Dinge wesentlich anders . Schon die Begleitmusik der reaktionären Presse zeigt das . Die ‚Deutsche Zeitung‘ schreibt am 13 . September:
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Dieser Reichstag, der erst seine zweite Sitzung abhielt, ist tot und mit ihm ist wahrscheinlich der letzte Reichstag zu Grabe getragen, der unter den heutigen Verhältnissen gewählt worden ist .
In der ‚Deutschen Allgemeinen Zeitung‘, dem nach wie vor offiziösen Organ, schreibt Dr . Fritz Klein unter der Überschrift ‚Der Konflikt‘: Die Brücken sind abgebrochen, wir stehen in der Diktatur .
Und weiter Wer der Auffassung ist, dass es sich bei dem offenen Konflikt zwischen Parlament und Reichsgewalt um eine Zwangsläufigkeit handelt, der auf die Dauer nicht ausgewichen werden könnte, wird auch der Meinung sein, die Neuwahl des Parlamentes sei nicht vordringlich und man müsse der Regierung Zeit zur Fertigstellung der großen Gesetzentwürfe lassen, die der Reichskanzler zur Verfassung- und Wahlreform in seiner Rede angekündigt hat .
Aber auch der Reichskanzler von Papen hat in seiner Reichstagsrede, an der er durch den nationalsozialistischen Präsidenten Göring verhindert wurde, und die er abends im Rundfunk gehalten hat, in Bezug auf die ‚demokratische‘ Verfassung sehr deutlich und unmissverständlich als seine Ansicht und die Ansicht der übrigen Mitglieder der Reichsregierung gesagt, dass wir in Deutschland am geistigen Wendepunkt einer Epoche, am geistigen Wendepunkt des liberalen Jahrhunderts stehen . Die Reichsregierung habe seit dem ersten Tage betont, dass sie ihre historische Mission in der Beseitigung von Konstruktionsfehlern der Weimarer Verfassung erblickte . Die Reichsregierung sei der Ansicht, dass das System der formalen Demokratie im Urteil der Geschichte und in den Augen der deutschen Nation abgewirtschaftet hat, und dass es nicht mehr zu neuem Leben erweckt werden kann . In Aussicht gestellt worden ist eine unmittelbare Willenskundgebung durch das Volk aufgrund einer Volksbefragung über gewisse Punkte der Änderung der Verfassung, über deren Inhalt man sich noch mit den Ländervertretungen verständigen wolle .
Wenn Herr von Papen in seiner Rede immer wieder behauptet, dass die Reichsregierung sich als Vollstreckerin des wirklichen Volkswillens fühle, so dürfte die Regierung sich auch hier wieder vollkommen täuschen . Es kann gar keinem Zweifel unterliegen, dass trotz der antiparlamentarischen Einstellung der Kommunisten und der Nationalsozialisten im Grunde das deutsche Volk die Demokratie will und auch fähig ist, sich selbst zu regieren . Was Herr von Papen im Augenblick unternehmen will, erscheint mir als der letzte Versuch der altpreußischen Herrenschicht, die privatkapitalistische Herrenmacht wieder aufzurichten . Zweifelsfrei ist, dass wir in Deutschland bereits mitten in einem Restaurationsversuch sind, ob er auch zur Monarchie führt, vermag natürlich kein Mensch zu sagen . Mit dem Versuch dazu kann man aber bei der Grundeinstellung aller in Frage kommenden Personen durchaus rechnen . […]
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Ein Rückblick auf die Revolution 1918 Eine Rede am 13. November 1932 in Breslau108 Grzesinski blickt zurück auf vierzehn Jahre engagierten Kampfes für eine demokratisch-soziale Republik.
Auch in diesem Jahre gedenkt die Arbeiterschaft des 9 . November 1918 allein . Obwohl letzten Endes nicht so sehr eine Arbeiter- wie [eine] bürgerliche Revolution überlässt das deutsche Bürgertum das Gedenken der Staatsumwälzung von 1918 allein der Arbeiterschaft . Das Bürgertum selbst verwünscht heute sogar diesen Tag und läuft wieder denen nach, welche es nach dem Zusammenbruch 1918 schmählich verlassen haben, und jubelt in überlieferter Servilität dem reaktionären adligen Junkertum zu . Fast wie nach 1848, wo nur mithilfe der Berliner Arbeiter der Barrikadenkampf im März in Berlin siegreich durchgefochten werden konnte und nur dadurch bürgerliche Freiheiten dem Absolutismus der Hohenzollern abgetrotzt werden konnten . Die Bürger werfen sich der Reaktion aus Angst vor der Selbstständigkeitsbewegung der Arbeiter in die Arme . Feigheit und Ignoranz des Bürgertums sind es auch heute wieder, welche die demokratischen Errungenschaften von 1918 in Gefahr bringen . Das Bürgertum will sich nicht mehr erinnern, dass es 1918 der SPD als Retterin aus Kriegsund Lebensnot zugejubelt hatte und in der Nationalversammlung durch Zustimmung zur Weimarer Verfassung das sanktionierte, was die sozialdemokratischen Volksbeauftragten in der berühmten Verordnung vom 12 . November 1918 politisch in Aussicht gestellt hatten . Heute kämpfen erhebliche Teile des Bürgertums, allerdings auch irregeleitete Naziund Kozi-Arbeiter gegen die Demokratie und gegen das, was sie 1918/19 noch angebetet haben . So haben wir am Gedenktage der November-Revolution wieder einmal für uns wenn auch sehr ernste, so doch politisch klare Verhältnisse . Es zeigt sich, dass das deutsche Bürgertum an politischen Freiheiten und Volksrechten nur wenig Interesse hat . Die SPD ist wieder der Hort von Demokratie und Freiheit – im Innern Deutschlands wie in der Welt . Recht und Gesetz sind zum Schutz zur SPD geflüchtet . Die Revolution von 1918 war eine rein politische und sozialpolitische Revolution, keine wirtschaftliche . Sie war bedingt durch den politischen Zusammenbruch des wilhelminischen Kaiserreiches, der wieder eine Folge der deutschen militärischen Niederlage im Weltkriege war . Die deutsche Revolution von 1918 konnte nur eine poli108 IISG: B 2154 . Typoskript DIN A4, 12 Seiten mit zahlreichen handschriftlichen Unterstreichungen (Blaustift) und Einfügungen (teils mit Feder, teils mit Blaustift) und Ergänzungen am Rand . Auf den Bögen: „Mitglied des Preußischen Landtags, Berlin, Prinz-Albrecht-Straße 5“, Titel: ‚Revolutionsfeier am 13 . November 32 in Breslau‘ .
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tische – demokratische sein, obwohl Sozialisten die Revolutionsregierung in Händen hatten! Der völlige wirtschaftliche Zusammenbruch als weitere Folge des viereinhalbjährigen Weltkrieges schloss sozialistische Maßnahmen im Augenblick aus . Dazu kam, dass durch die Zersplitterung die deutschen sozialistischen Arbeiter nicht in einer Front kämpften, sondern sich gegenseitig befehdeten und zerfleischten . Gegen die Republik Ebert-Scheidemann-Bauer [am Rande: „Wie heute die KPD gegen SPD“]
lautete der Schlachtruf von Spartakus . So musste die SPD von vorneherein mit den Parteien des deutschen Bürgertums Fühlung suchen, welche die politischen Freiheiten zu sanktionieren versprachen, um wenigstens die politischen Rechte der Arbeiterschaft durch Verankerung in der Verfassung zu sichern und den sozialen Aufstieg der breiten Schichten des Volkes zu ermöglichen . Das ist die Tragik der Partei, dass sie, die aus völliger Ausschaltung von der Verwaltung und Verantwortung bis 1918, gewissermaßen aus einer Aschenbrödel-Stellung heraus mit der Staatsumwälzung mit einem Mal und gänzlich unvorbereitet in staatliche und kommunale Macht und Verantwortung kam und an dieser Verantwortung auch ständig beteiligt war . Auch wenn und obwohl sie fast zwei Drittel der Zeit seit 1918 an der Reichsregierung überhaupt nicht beteiligt war . Und das ist letzten Endes auch die Erklärung für die Situation heute, in der sich die SPD in Deutschland befindet . Während sie geschafft und gearbeitet, aufgebaut und mühselig Verantwortung getragen hat, ohne Rücksicht auf politische Parteierfolge, lediglich um des arbeitenden Volkes willen, ist sie von den Radikalen links und rechts, dazu von denen, welche von ihr 1918 vom Throne gestoßen worden sind, mit Erfolg beschimpft und verleugnet worden . [Am Rande: „Warum?– sagt man! Wenn das nicht geschehen, sähe es schlimmer in Deutschland aus.“]
Wir leben in einer sich überstürzenden Zeit und vergessen zu schnell . Nur wenige können den Ereignissen folgen . Was sich seit 1914 in Deutschland und der Welt ereignet hat, sind Umwälzungen, zu denen es früher über Jahrhunderte gebraucht hätte . Unsere Jugend, die nur durch uns Staatsbürgerrechte ausübt und durch den Stimmzettel über sich und uns politisch, sozial und wirtschaftlich indirekt mitbestimmt, weiß überhaupt nicht, wie es 1918 in Deutschland ausgesehen hat – sie ging zum Teil noch in den untersten Klassen zur Schule . Und die älteren Jahrgänge, selbst die den Krieg noch mitgemacht haben, haben bereits wieder vergessen, dass sie der Sozialdemokratie nachgelaufen waren, weil sie von niemand anders denn von ihr Errettung aus tiefster Leibes- und Seelennot erwarteten .
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Diese Kreise, die sich 1918 – obwohl ihr früher auch gegnerisch gegenüberstehend – der SPD angeschlossen hatten, fallen heute ins andere Extrem und laufen der politischen und sozialen Reaktion nach und verfallen politischen Abenteurern anheim . Sie plappern blöd den Ruf politischer Hochstapler und Junkerbarone ‚Nieder mit dem Marxismus‘ nach, ohne zu wissen, was sie sagen und wollen, und ohne zu bedenken, dass sie durch ihre in Indolenz nur eine ‚hautdünnen‘ Herrenschicht dienen, welche unter dem Wort National- und Volksrecht seit Jahrhunderten in Preußen-Deutschland ihre Macht nie anders als zur Wahrnehmung eigener, selbstsüchtiger Interessen und zum Schaden des breiten Volkes gebraucht hat . Bis zum Jahre 1918 waren die breiten Schichten des deutschen Volkes nur Objekt, nur Gegenstand der Gesetzgebung und der Staatsverwaltung . [Es folgt die bereits in früheren Reden ausführlich dargelegte Lagebeschreibung der arbeitenden Klassen im Kaiserreich, an die sich Kriegsende und Novemberrevolution anschließen.]
[…] Aber der Krieg konnte für Deutschland nicht gewonnen werden; die Übermacht seiner Gegner, schon rein zahlenmäßig, aber auch technisch, war zu groß . Dazu kamen im Oktober 1918 der Zusammenbruch und Abfall der Verbündeten . Es ist sehr nützlich, die entsprechenden Dokumente gerade heute wieder hervor zu holen und sprechen zu lassen . Es sind nur wenige, aber schlagende . Am 29 . September 1918 verlangt die Oberste Heeresleitung des Herrn Generals Ludendorff und des Feldmarschalls von Hindenburg die sofortige Herausgabe eines Friedensangebots an unsere Feinde . Als die Regierung des Prinzen Max von Baden dagegen wegen der katastrophalen Wirkungen Bedenken äußert und um Überprüfung des Verlangens wegen des Zeitpunktes bittet, antwortet die Oberste Heeresleitung am 3 . Oktober 1918, gezeichnet von Hindenburg wie folgt: … infolge des Zusammenbruchs der mazedonischen Front, der dadurch notwendig gewordenen Schwächung unserer Westreserven, und infolge der Unmöglichkeit, die in den Schlachten der letzten Tage eingetretenen sehr erheblichen Verluste zu ergänzen, besteht nach menschlichem Ermessen keine Aussicht mehr, dem Feinde den Frieden aufzuzwingen . … Unter diesen Umständen ist es geboten, den Kampf abzubrechen . …
Am 10 . November 1918, großes Hauptquartier, gezeichnet von Hindenburg: … In den Waffenstillstandsbedingungen muss versucht werden, Erleichterungen in folgenden Punkten zu erbringen: 1–9 … Gelingt Durchführung dieser Punkte nicht, so wäre trotzdem abzuschließen .
Dr . Helfferich in seinem 3 . Erinnerungsband (S . 558) über die Erdolchung der Front:
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Die schweren Opfer und Leiden des Krieges, die die Überspannung der Kräfte gegen eine Welt hatten das Volk moralisch und physisch mehr und mehr zermürbt . Das Vertrauen in die staatlichen Autoritäten, die sich den unerhört schweren Anforderungen der Zeit nicht gewachsen gezeigt hatten, war schwer erschüttert .
Dann kam das Friedensdiktat von Versailles und es gab Kreise im deutschen Volke, welche den Kampf dagegen mit den Waffen erneut aufnehmen wollten, und heute behaupten, die Republik habe dabei wiederum versagt . […] Warum kämpfen wir für Weimar? Warum nicht allein für unser eigentliches Ziel, den Sozialismus? Ich will vorher noch eine andere Frage behandeln . Warum bekämpfen unsere Gegner uns? Wenn man unsere Gegner hört, sind wir das Verruchteste, was es auf Gottes weiter Erde gibt . Wir sind an allem schuld: am Verlust des Krieges – trotz der entgegenstehenden Tatsachen, an Inflation, an Bedrückungen durch unsere Feinde und ehemaligen Kriegsgegner, an unserer heutigen Not, kurz an allem . Dabei – ich sagte es bereits – waren wir während der 14 Jahre nach dem Kriege nur während dreieinhalb Monaten in der alleinigen Macht im Reiche und während fünf Jahren überhaupt nur in der Reichsregierung vertreten . In fast neun Jahren haben nur bürgerliche Minister im Reiche regiert und wir waren überhaupt in der Reichsregierung nicht vertreten . Was also ist die Ursache der vereinigten Wut gegen uns? Nun, die SPD hat dem Volke Rechte gegeben – hat es gleichberechtigt gemacht, hat die Vorrechte des Junkertums und des Adels, des Herrentums beseitigt, hat durch Aufhebung der Gesindeordnung und Beseitigung der Entrechtung der Landarbeiter, sowie Aufhebung der 12 .000 aus der Feudalzeit noch stammenden Gutsbezirke diese Volkskreise zu Staatsbürgern gemacht, hat dem Volke ein wirkliches Selbstverwaltungsrecht in Ländern und Kommunen gegeben und damit die Vervollständigung der Freiherrn vom Stein‘schen Reform gebracht, hat aus dem Staat für die Besitzenden eine soziale Republik mit sozialen Einrichtungen ganz unerhörter Art gemacht . Im neuen Deutschland wurde endlich einmal für das Volk regiert . […] Das Wahlrecht für Männer und Frauen über 20 Jahren zwingt, auf die Interessen des Volkes bedacht zu sein . Freies Koalitions-, Vereins- und Versammlungsrecht sowie die Pressefreiheit, Tarifrechte, Arbeitsrecht, Arbeiter-Angestellten- und Beamtenausschüsse . Und diese Rechte wurden nicht nur geschaffen, sondern die SPD hat die Arbeiterschaft durch Erziehung befähigt, sie auszuüben . Daher der Hass der Depossedierten– Entthronten – gegen uns und die Republik von Weimar . Aber das alles ist doch noch nicht Sozialismus?
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Ein Rückblick auf die Revolution 1918
Nein! Aber: Der Kampf der Arbeiterklasse gegen die politische Ausbeutung ist nicht nur ein wirtschaftlicher, sondern notwendigerweise ein politischer Kampf . Die Arbeiterklasse kann ihren ökonomischen Kampf nicht führen, und ihre wirtschaftliche Organisation nicht entwickeln, ohne politische Rechte . In der demokratischen Republik besitzt sie die Staatsform, deren Erhaltung und Ausbau für ihren Befreiungskampf eine unerlässliche Notwendigkeit ist . Sie kann die Vergesellschaftung der Produktionsmittel nicht bewirken, ohne in den Besitz der politischen Macht gekommen zu sein . So sagt unser Heidelberger Programm von 1925, so sagte seit 1891 unser Erfurter Programm, und darum haben wir 1918 die Macht nicht behalten, sondern die Volksentscheidung angerufen, darum haben wir dem Volke demokratische Rechte gegeben, damit es sie zur Überwindung des Kapitalismus anwende . [Am Rande: „Und unser kapitalistischer Gegner [zwei nicht lesbare Worte] besser wie unsere Arbeiter“]
Darum bekämpfen wir aber auch die Kommunisten, weil ihre Methode nicht nur nicht zum sozialistischen Ziel, sondern, wie wir wieder in Deutschland sehen, zur Reaktion, zur Stärkung des Kapitalismus führt, zum Chaos führt . Ohne KPD in einheitlicher sozialistischer Front marschiert hätte die Reaktion in Deutschland nie ihr Haupt zu erheben gewagt, wären wir auf dem Wege zur sozialistischen Wirtschaft schon weit fortgeschritten . Und darum müssen wir weiter für Demokratie und Republik kämpfen . Es gibt kein anderes Rezept! Wir brauchen sie auch zur Wegzehrung für das Proletariat zum Endziel . Die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Hebung der Lage des arbeitenden Volkes ist mit Voraussetzung zur Erreichung unseres Zieles . Es ist auch ein Akt menschlicher Gerechtigkeit . Es wächst hienieden Brot genug für alle Menschenkinder! Es braucht kein Weizen verbrannt, keine Baumwolle vernichtet, keine Kohle auf der Halde ungebraucht zu liegen, kein Wein ins Meer gegossen zu werden . Nicht Diktatur – sie heiße wie immer sie wolle, kein Drittes Reich, kein Sowjetdeutschland – kann uns helfen . Helfen kann sich nur das Volk selbst . Wir stehen auch nicht am Ende der Demokratie – sie hat auch nicht wie Herr von Papen sagt, abgewirtschaftet . Wir stehen in Deutschland erst am Anfang des Kampfes um die Demokratie und damit um den Sozialismus . Und Führerin in diesem Kampfe ist und kann nur sein die SPD . Sie zu überwinden wird niemals gelingen – weder den Baronen, noch Hitler noch Thälmann . Die SPD wird bleiben der stolze ‚Rocher de Bronze‘ der klassenbewussten, demokratisch gesinnten, dem sozialistischen Endziel unbeirrt zustrebenden deutschen Arbeiterschaft .
Meine letzte Wahlrede
[Am Rande: „Frage: Haben wir aber etwas … Sind unsere Führer Schuld an der Entwicklung zu …? Nein!“]
Wir begehen heute zum 14 . Mal den Gedenktag der deutschen Revolution von 1918 . Die politische Entwicklung hat es erforderlich gemacht, dass die Zweige der modernen Arbeiterbewegung sich fester zusammengefunden haben . Seit Anfang des Jahres besteht die Eiserne Front! Partei, Gewerkschaften, Reichsbanner, Genossenschaften, Arbeitersport usw . bilden eine Front von Millionen arbeitender Volksgenossen zur Verteidigung der Volksrechte, zur Erkämpfung des Sozialismus . [Am Rande: „Sind die Methoden richtig? Reichsbanner? Erziehung! Aufklärung Zusammenhänge, nicht an Wunder glauben.“]
Unter dem neuen Banner – dem alten roten Banner mit den neuen drei Pfeilen – in Aktivität, Disziplin und Einigkeit – kämpfen wir . Jung und Alt, Mann und Frau zur Gewinnung des ganzen Arbeitsvolkes, gegen Reaktion und Dunkelmänner, für Verständigung mit allen Völkern der Erde für Frieden, Freiheit und Brot! Unabhängigkeitserklärung USA vom 4 . Juli 1976: Möge die Menschheit doch endlich einsehen, dass sie nicht mit Sätteln auf dem Rücken geboren wird, damit einige legitime Reiter darauf Sporen und Peitsche nach Belieben gebrauchen können . Der Mensch soll seinen Verstand und seine Fähigkeiten ausbilden, auf dass er der Selbstregierung teilhaftig werde, zu der er geboren ist .
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Meine letzte Wahlrede109
Volksgenossinnen und Volksgenossen! Seit am 30 . Januar Adolf Hitler zum Reichskanzler berufen wurde, stehen wir an der Schwelle des Dritten Reiches . Der Beginn ist, dass wir innerhalb Jahresfrist nun zum sechsten Male an die Wahlurne gerufen werden . Wenn die Menschen vom Wählen satt würden, in Deutschland gingen wir am Überfluss zu Grunde . 109 IISG: B 2161 . Typoskript (Durchschlag) 2 Seiten, möglicherweise unvollständig . Die Rede war vermutlich für eine Rundfunkübertragung gedacht; ein Nachweis war von Seiten des DRA nicht möglich . Auf der ersten Seite: «Meine letzte Wahlrede . Auf Schallplatte aufgenommen am 26 . Februar 1933 .“
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Meine letzte Wahlrede
Die diesmalige Wahl soll bewirken, dass die Nationalsozialisten im Parlament die Mehrheit bekommen und die republikanische Front geschwächt wird . Um dieses Ziel zu erreichen, scheint jedes Mittel recht . Zeitungs-, Versammlungs- und Demonstrationsverbote hagelt es nur so gegen alle die, welche ruhig und sachlich die Hitlerregierung und ihre ‚Taten‘ kritisieren . Wenn ich heute zu Euch nicht persönlich spreche, so deswegen, weil in manchen Bezirken gegen mich Redeverbote erlassen worden sind . Ich, der ich Zeit meines Lebens kein höheres Ziel gekannt habe, als Arbeit für das Wohlergehen meiner arbeitenden deutschen Volksgenossen, aus deren Reihen ich stamme, der ich heute noch Staatsbeamter bin, in der Kommunalverwaltung, der Reichs- und Staatsverwaltung, hohe Stellungen in ernstester Notzeit Deutschlands bekleidet und nicht ohne Erfolg innegehabt habe, der ich dreieinhalb Jahre im Lande Preußen Minister des Innern war und Polizeipräsident in Berlin, darf nicht frei und offen reden, obwohl ich auch zum Landtage kandidiere . Von Sicherheit und innerer Stärke der Gewalthaber zeugen solche Maßnahmen bestimmt nicht . Was versprechen sich die augenblicklich Herrschenden von diesen Gewaltmethoden! Glauben sie damit der SPD Abbruch tun zu können? Glauben sie, damit auf die Arbeiter, welche in den Gewerkschaften, Genossenschaften, der Sozialdemokratischen Partei zusammengeschlossen sind, einen anderen Eindruck machen zu können als die Verstärkung des Willens, sich einer undemokratischen Gewaltherrschaft nicht zu beugen? Glauben die Herren Hitler, Göring und Frick nicht auch, dass die moderne Arbeiterbewegung, dass der sozialistische Geist sich mit Polizeimaßnahmen nicht austreiben lässt, sondern die Anhänger nur noch mehr zusammenschweißen muss? Die Sozialdemokratische Partei ist eine Kultur- und Solidaritätsbewegung der lohnarbeitenden Volksmassen in den kapitalistischen Staaten der Erde, die aus der kapitalistischen Misswirtschaft immer neue Kräfte zur Erringung ihres Endzieles: Ersetzung der kapitalistischen Produktionsweise durch die sozialistische, durch und für das Volk, ziehen wird und muss . Auch Adolf Hitler wird an der Unüberwindbarkeit der Sozialdemokratie, des wahren ‚Marxismus‘ scheitern . Der jetzige Kampf gegen uns, die wir im Kampfe groß geworden sind, wird unsere Kräfte mehren, die Zahl unserer Anhänger vervielfachen, uns unserem Siege schnell näher bringen . Beleidigungen und Verleumdungen, mit denen man uns überhäuft, werden in ihrer Übertreibung uns [nicht] nur nicht schaden, sondern auf unsere Gegner zurückfallen . Man schimpft uns ‚Novemberverbrecher‘ . Wir haben 1918, als alles zusammen zu stürzen drohte, und niemand sonst da war, das Steuerruder des deutschen Staatsschiffes ergriffen, um Deutschland vor dem sicheren Untergange zu retten . Dann haben wir das Volk aufgerufen, damit es selbst über seine zukünftige Staatsform bestimme . Es hat sich durch die Nationalversammlung mit Dreiviertelmehrheit zum parlamentarischen, demokratisch-republikanischen System bekannt . Ist das das Verbrechen, welches die Sozialdemokratie begangen hat? Dann bekennen wir uns stolz zu dieser Tat!
Biographische Daten zu Albert Grzesinski
Biographische Daten zu Albert Grzesinski 28 . Juli 1879
Als Sohn des Hausmädchens Bertha Ehlert geboren in Treptow/Tollense (Pommern), vom Stiefvater Thomas Grzesinski adoptiert .
1893–1897
Nach Volksschule in Spandau Metalldrücker- und Gürtlerlehre .
1897–1906
Im Beruf tätig . 1897 Deutscher Metallarbeiterverband, 1898 SPD .
1906–1907
Sekretär des Deutschen Metallarbeiterverbandes (DMV) in Offenbach .
1907–1919
DMV-Sekretär in Kassel .
1913
Vorsitzender des Gewerkschaftskartells in Kassel .
1918/19
Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrates Kassel und Mitglied des 1 . und 2 . Zentralrats der Deutschen Sozialistischen Republik .
1919–1924
Vorsteher der Kasseler Stadtverordnetenversammlung .
Juni bis November 1919
Unterstaatssekretär Kriegsministerium .
November 1919 – März 1921
Reichskommissar des Reichsabwicklungsamtes .
November 1922 – März 1924
Präsident des Preußischen Landespolizeiamtes .
Mai 1925 – Oktober 1926
Polizeipräsident in Berlin .
im
preußischen
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Biographische Daten zu Albert Grzesinski
Oktober 1926 – Februar 1930
Preußischer Innenminister .
November 1930 – [20 .] Juli 1932
Polizeipräsident in Berlin .
5 . März 1933
Emigration von München aus (mit Hilfe Wilhelm Hoegners) über Österreich in die Schweiz (dort keine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung) .
1 . April 1933
Einstellung der Versorgungsbezüge .
24 . Juli 1933
Aus dem Staatsdienst entlassen .
23 . August 1933
Ausbürgerung (mit Bernhard Weiß, Otto Wels, Rudolf Breitscheid, Philipp Schneidemann, Lion Feuchtwanger, Alfred Kerr, Heinrich Mann und Kurt Tucholsky u . a .) .
14 . Juli 1933
Übersiedlung nach Paris (dort bis 27 . Juli 1937); Aktivitäten in verschiedenen Organisationen Geflüchteter .
27 . Juli 1937
Übersiedlung nach New York . Auch dort Aktivitäten in verschiedenen Organisationen Geflüchteter .
seit Juni 1943
Fabrikarbeit (Metalldrücker in einer Knopffabrik, später in einer Schmuckfabrik) .
31 . Dezember 1947
Tod in New York .
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Zur Edition Da Albert Grzesinski als rhetorisch beeindruckender Politiker in und außerhalb der Parlamente eine sehr große Zahl an öffentlichen Reden hinterlassen hat, war für diese Edition eine Auswahl erforderlich . Sehr viele seiner Reden beziehen sich – vertiefend eingehend oder implizit – auf die durch die Revolution 1918 und die verabschiedete demokratische Verfassung geschaffene neue politische Situation . Ihre großen Gestaltungschancen galt es für ihn zu entwickeln und zu sichern . Grzesinski erscheint als Anwalt der politischen Bildung für die junge Demokratie und als überzeugter Botschafter des Weimarer Verfassungswerkes . Ganz offenbar sah er seine Aufgaben darin, der Hörerschaft die epochal neuen Möglichkeiten vor Augen zu führen, die die demokratische Weimarer Verfassung von 1919 enthielt – im Unterschied zur vergangenen Politik des Kaiserreichs, in der Adel und Bürgertum Staat und Gesellschaft dominierten . In seinen Reden wird ein Konzept erkennbar, das wichtige gesellschaftliche und politische Bereiche des öffentlichen Lebens betrifft, gleichsam ein umfassender Wegweiser für die herzustellende Demokratie . Die Bereiche dieses seines Entwurfs für die Republik und deren demokratische Fundierung an einzelnen Beispielen deutlich werden zu lassen, bestimmte die getroffene Auswahl der Reden . Eine dokumentarisch vollständige Wiedergabe aller seiner politischen Reden war nicht angestrebt und hätte – nicht nur bei den parlamentarischen Reden – zu einem anderen Vorhaben führen müssen . Von wenigen Ausnahmen abgesehen werden die Reden nicht im Ganzen, sondern in den thematisch jeweils zusammenhängenden Abschnitten wiedergegeben . Die den jeweiligen Reden vorangestellten Titel wurden vom Herausgeber angefügt . Der Wortlaut der Reden stammt aus den Manuskripten in den nachgelassenen Akten Albert Grzesinskis im „Internationalen Institut für Sozialgeschichte“ in Amsterdam und aus den Niederschriften der Verhandlungen der Verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung 1919–1921 sowie derjenigen des Preußischen Landtages 1921–1932 . Dem Bundesministerium für Justiz und dem Verein Weimarer Republik e .V . danke ich für einen Druckkostenzuschuss .
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Quellen
Quellen
Internationales Institut für Sozialgeschichte, Amsterdam: Nachlass Albert Grzesinski . Preußischer Landtag: Sitzungsberichte der Verfassungsgebenden Preußischen Landesversammlung . Berlin 1919 . – Sitzungsberichte der Verhandlungen des Preußischen Landtags . Berlin 1921,1922, 1926, 1927, 1929 . Preußische Gesetzessammlung 1927 . Kasseler Volksblatt 1919, 1932 . Die Freiheit 1919 . Volksbote 1931 . Organ der Sozialdemokratischen Partei Pommerns 47 (1931) . Volksstimme 1928 . Tageszeitung der Sozialdemokratischen Partei im Regierungsbezirk Magdeburg . (39) 1928 . Vossische Zeitung 1930 .
Literatur
Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933 . Band I . München, New York, London, Paris 1980 . Grzesinski, Albert: Im Kampf um die deutsche Republik . Erinnerungen eines Sozialdemokraten . Herausgegeben von Eberhard Kolb . München 2001, zuerst 1934 . Albrecht, Thomas: Für eine wehrhafte Demokratie . Albert Grzesinski und die preußische Politik in der Weimarer Republik . Bonn 1977 . Bienert, C . Michael und Lars Lüdicke (Hg .): Preußen zwischen Demokratie und Diktatur . Der Freistaat, das Ende der Weimarer Republik und die Errichtung der NS-Herrschaft, 1932–1934 . Berlin-Brandenburg 2018 . Dreyer, Michael und Oliver Lembcke: Die deutsche Diskussion um die Kriegsschuldfrage 1918/19 (Beiträge zur Politischen Wissenschaft, Band 70) . Berlin 1993 . Fricke, Dieter u . a . (Hg .): Die bürgerlichen Parteien in Deutschland . Handbuch der Geschichte der bürgerlichen Parteien und anderer bürgerlicher Interessenorganisationen vom Vormärz bis zum Jahre 1945 . Leipzig 1968 . Wirtschaft und Polizei (Wirtschaftspolitische Zeitfragen, 4 . Heft) . Leipzig 1926 . Goos, Roderich: Das Wiener Kabinett und die Entstehung des Weltkrieges . Mit Ermächtigung des Deutschösterreichischen Staatsamtes für Äußeres auf Grund aktenmäßiger Forschung dargestellt . Wien 1919 . Grossmann, Kurt: Emigration . Geschichte der Hitler-Flüchtlinge 1933–1945 . Frankfurt a . M . 1969 . Heimann, Siegfried: Der Preußische Landtag 1899–1947 . Eine politische Geschichte . Berlin 2011 . Von Hindenburg, Barbara: Biographisches Handbuch der Abgeordneten des Preußischen Landtags . Verfassunggebende Landesversammlung und Preußischer Landtag 1919–1933 (Edition Lang) . 2017 . Hirsch, Julius und C . Falck: Polizei und Wirtschaft (Die Polizei in Einzeldarstellungen, Hgg . von Wilhelm Abegg) . Berlin 1926 . Liang, Hsi-Huey: Die Berliner Polizei in der Weimarer Republik (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 47) . Berlin 1977 .
Quellen
Naas, Stefan: Die Entstehung des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes von 1931 . Ein Beitrag zur Geschichte des Polizeirechts in der Weimarer Republik (=Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20 . Jahrhunderts 41) . Tübingen 2003 . Krause-Vilmar, Dietfrid: Die Stadt und das politische Leben 1918–1933 . In: Flemming, Jens / Krause-Vilmar, Dietfrid (Hg .): Kassel in der Moderne . Studien und Forschungen zur Stadtgeschichte . Marburg 2013, 385–416 . Krause-Vilmar, Dietfrid: Albert Grzesinski und der Kasseler Arbeiter- und Soldatenrat 1918/ 19 . In: Museumslandschaft Hessen-Kassel (Hg .): 1918 . Zwischen Niederlage und Neubeginn . Petersberg 2019, 44–57 . Hagemann, Harald u . a . (Hg .): Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933 . München 1999 . Leßmann, Peter: Die preußische Schutzpolizei in der Weimarer Republik . Streifendienst und Straßenkampf . Düsseldorf 1989 . Schröder, Heinz: Das Ende der Dolchstoßlegende . Geschichtliche Erkenntnis und politische Verantwortung . Hamburg 1946 . Röder, Werner: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien 1940–1945 . Ein Beitrag zur Geschichte des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus . Bonn – Bad Godesberg 1973 . Schulze, Hagen: Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung . Eine Biographie . Frankfurt, Berlin, Wien 1977 . Weber, Hermann: Die Wandlung des deutschen Kommunismus . Die Stalinisierung der KPD in der Weimarer Republik . 2 Bände, Frankfurt a . M . 1969
Bildlegenden
Abbildung 1: Portrait des preußischen Innenministers Albert Grzesinski aus dem Jahre 1927 . Friedrich Ebert Stiftung, Archiv der sozialen Demokratie 6/FOTA044004 . Fotograf nicht bekannt . Abbildung 2: Albert Grzesinski auf der Verfassungsfeier der Berliner Schutzpolizei am 11 . August 1929 . Seine Reden zum Tag der Weimarer Verfassung beschloss ein Hochruf mit erhobenem Arm auf Vaterland und Republik . Bundesarchiv: Bild 102–08224/ Fotograf Georg Pahl . Abbildung 3: Faksimile (Ausschnitt) aus dem Manuskript seiner Rede zum preußischen Volksentscheid im August 1931 (s . Nr . 30 seiner Reden) . International Institute of Social History, Amsterdam: Nachlass A . Grzesinski G 2150 . Abbildung 4: Faksimile (Ausschnitt) aus dem Manuskript seiner Rede vor dem Reichsbanner Breslau am 16 . August 1931 (s . Nr . 31 seiner Reden) . International Institute of Social History, Amsterdam: Nachlass A . Grzesinski G 2150 .
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weimarer schriften zur republik
Herausgegeben von Michael Dreyer und Andreas Braune
Franz Steiner Verlag
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ISSN 2510-3822
Michael Dreyer / Andreas Braune (Hg.) Weimar als Herausforderung Die Weimarer Republik und die Demokratie im 21. Jahrhundert 2016. XIV, 310 S., 10 Abb., 11 Fotos, 3 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11591-9 Andreas Braune / Michael Dreyer (Hg.) Republikanischer Alltag Die Weimarer Demokratie und die Suche nach Normalität 2017. XVIII, 353 S., 4 Abb., 4 Fotos, 3 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11952-8 Andreas Braune / Mario Hesselbarth / Stefan Müller (Hg.) Die USPD zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus 1917–1922 Neue Wege zu Frieden, Demokratie und Sozialismus? 2018. XXXII, 262S., 3 Abb., 7 Fotos, kt. ISBN 978-3-515-12142-2 Michael Dreyer Hugo Preuß Biografie eines Demokraten 2018. XXV, 513 S., 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-12168-2 Albert Dikovich / Alexander Wierzock (Hg.) Von der Revolution zum Neuen Menschen Das politische Imaginäre in Mitteleuropa 1918/19: Philosophie, Humanwissenschaften und Literatur 2018. 347 S. ISBN 978-3-515-12129-3 Andreas Braune / Michael Dreyer (Hg.) Zusammenbruch, Aufbruch, Abbruch? Die Novemberrevolution als Ereignis und Erinnerungsort 2019. XXVI, 326 S., 3 Abb., kt. ISBN 978-3-515-12219-1
7.
Patrick Rössler / Klaus Kamps / Gerhard Vowe Weimar 1924: Wie Bauhauskünstler die Massenmedien sahen / How Bauhaus artists looked at mass media Die Meistermappe zum Geburtstag von Walter Gropius / The Bauhaus masters’ gift portfolio for Walter Gropius 2019. 208 S., mit zahl. Abb., geb. ISBN 978-3-515-12281-8 8. Sebastian Schäfer Rudolf Olden – Journalist und Pazifist Vom Unpolitischen zum Pan-Europäer. Moralische Erneuerung im Zeichen moderner Kulturkritik 2019. 438 S., kt. ISBN 978-3-515-12393-8 9. Sebastian Elsbach / Ronny Noak / Andreas Braune Konsens und Konflikt Demokratische Transformation in der Weimarer und Bonner Republik 2019. XXIII, 354 S., 9 Abb., 4 Tab., kt. ISBN 978-3-515-12448-5 10. Sebastian Elsbach Das Reichsbanner Schwarz-RotGold Republikschutz und politische Gewalt in der Weimarer Republik 2019. 731 S., 3 Abb., 15 Tab., geb. ISBN 978-3-515-12467-6 11. Andreas Braune / Michael Dreyer (Hg.) Weimar und die Neuordnung der Welt Politik, Wirtschaft, Völkerrecht nach 1918 2020. XIII, 326 S., 8 Abb., kt. ISBN 978-3-515-12676-2 12. Daniel Führer Alltagssorgen und Gemeinschaftssehnsüchte Tagebücher der Weimarer Republik (1913–1934) 2020. 378 S., 12 Abb., kt. ISBN 978-3-515-12583-3
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18. Andres Braune / Michael Dreyer / Torsten Oppelland (Hg.) Demokratie und Demokratieverständnis: 1919 – 1949 – 1989 2022. XVI, 180 S., 3 Abb., 3 Tab., kt. ISBN: 978-3-515-13151-3 19. Andreas Braune / Sebastian Elsbach / Ronny Noak (Hg.) Bildung und Demokratie in der Weimarer Republik 2022. XVIII, 306 S., 15 Abb., kt. ISBN: 978-3-515-13272-5 20. Andreas Braune / Tim Niendorf (Hg.) Die Politik in der Kultur und den Medien der Weimarer Republik (in Vorbereitung) 2022. ca. 200 S., kt. ISBN: 978-3-515-13268-8
Albert Grzesinskis politische Bedeutung reicht über seine historische Wirkung im Preußen der Weimarer Zeit weit hinaus. Er kann zu den Wegbereitern der Demokratie in Deutschland gerechnet werden. Dietfrid Krause-Vilmar veröffentlicht erstmals Grzesinskis politische Reden: Sie verdeutlichen seine umfassenden gesellschaftlichen und politischen Perspektiven für den Transformationsprozess aus dem wilhelminischen Obrigkeitsstaat in einen modernen demokratischen Verfassungsstaat. Als Polizeipräsident und als preußischer Innenminister befestigte Grzesinski gemeinsam mit Otto Braun und Carl Severing das sozialdemokratisch geführte „Bollwerk Preußen“ gegen antidemokratische, insbesondere gegen nationalsozialistische Angriffe in überzeugender verfassungstreuer Staatsautorität auch mit Hilfe des staatlichen Gewaltmonopols. Den demokratischen Rechtsstaat galt es gegen seine Feinde zu verteidigen. Grzesinskis unerschrockenes und unabhängiges Eintreten und sein Kampf für eine demokratische Gesellschaftsordnung haben an Gültigkeit nichts eingebüßt und sind bis in die Gegenwart aktuell und von großer Bedeutung.
ISBN 978-3-515-13318-0
9 783515 133180
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