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German Pages 264 [256] Year 2022
Felix Maas
Politik zwischen Innovation und Machbarkeit Street-level-Experimente im Bereich der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen in Berlin
Politik zwischen Innovation und Machbarkeit
Felix Maas
Politik zwischen Innovation und Machbarkeit Street-level-Experimente im Bereich der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen in Berlin
Felix Maas TU Berlin Berlin, Deutschland Zugl.: Berlin, Technische Universität, Diss., 2021
ISBN 978-3-658-38334-3 ISBN 978-3-658-38335-0 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-38335-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Eggert Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Danksagung
An dieser Stelle möchte ich allen Personen danken, die auf verschiedene Art und Weise dazu beigetragen haben, dass diese Arbeit für mich zu einem machbaren Problem wurde. Zuallererst möchte ich Jan-Peter Voß danken, der als Betreuer und Erstgutachter den langen Prozess bis zur Fertigstellung dieser Arbeit von Anfang an begleitet und geprägt hat. Durch die vielfältigen Impulse und seine neugierige Begleitung hat er mir immer wieder spannende Wege aufgezeigt und vor allem mein Vertrauen in die eigene Arbeit gestärkt. Ein besonderer Dank gilt ebenso Sybille Münch, die als Zweitgutachterin die vorliegende Arbeit bereits im Entstehungsprozess durch zusätzliche Perspektiven bereichert und mich noch rechtzeitig an die Vorteile einer übersichtlichen Textgestaltung erinnert hat. Danken möchte ich auch den vielen Personen, die das lebendige und inspirierende Umfeld am DFG Graduiertenkolleg „Innovationsgesellschaft heute“ an der Technischen Universität Berlin geprägt haben sowie der DFG für die finanzielle Förderung des Vorhabens. Besonders hervorheben möchte ich die Sprecher des Graduiertenkollegs Arnold Windeler und Ingo Schulz-Schäffer, danken möchte ich zudem Susann Schmeißer, Melanie Wenzel, Dominika Hadrysiewicz, Uli Meyer, Miira Hill, Eric Lettkemann und Silke Kirchhof, die durch ihren unermüdlichen Einsatz das intellektuelle Umfeld und die ganz praktischen Voraussetzungen für die Arbeit am Graduiertenkolleg geschaffen haben. Ein ganz besonderer Dank gilt allen Kollegiat*innen, die die vielen schönen Erfahrungen auf dem Weg noch schöner und die zahlreichen Krisen erträglicher gemacht haben. Diese Arbeit wäre nicht möglich gewesen ohne die vielen engagierten Personen, die mich dazu eingeladen haben, ihre alltägliche Arbeit forschend zu begleiten. Ein ganz besonderer Dank gilt allen Verantwortlichen, Freiwilligen,
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Danksagung
Teilnehmenden, Besucher*innen und Freunden der Gärtnerei sowie den Mobilen Bildungsberater*innen für geflüchtete Menschen, allen Ratsuchenden sowie allen am Projekt beteiligten Personen, die nicht müde geworden sind ihre Erfahrungen und ihre Gedanken mit mir zu teilen. Danken möchte ich auch meinen Kolleg*innen aus der Beratungsstelle zu Bildung und Beruf in Friedrichshain-Kreuzberg und Mitte sowie meinen Kolleg*innen der Migration Policy Research Group an der Universität Hildesheim. Insbesondere danke ich Danielle Gluns, Hannes Schammann, Petra Bendel, Sonja Reinhold, Miriam Schader und Nina-Sybil Klüppel, die mich bei meiner praktischen und wissenschaftlichen Arbeit abseits der Dissertation begleitet und mir dabei immer die nötigen Freiräume für die Fertigstellung der Arbeit gewährt haben. Ein besonderer Dank gilt auch Sybille Strobel, welche die mühsame Arbeit auf sich genommen hat das Manuskript auf Fehler und Unachtsamkeiten zu prüfen. Schließlich danke ich meiner Familie und meinen Freunden, die mich auf dem langen und anstrengenden Weg bis zur Fertigstellung dieser Arbeit begleitet und unterstützt haben. Insbesondere danke ich meinen Eltern Franziska Maas und Leonhard Maas sowie Mustafa Fadhil, Nora Rigamonti, Georg Fischer, Malte Möck, Daniel Schobert, Caroline Schwarz, Christopher Dathe, Richard Krause, Sara Krause und Felicitas Heßelmann, die durch manch guten Rat, viele kluge Einfälle und die nötige Ablenkung immer für mich da waren. Berlin im Mai 2022
Felix Maas
Zusammenfassung
In der vorliegenden Dissertation wird am Fall der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen in Berlin untersucht, wie auf lokaler Ebene in einem Kontext von Wandel und Ungewissheit mit neuen integrationspolitischen Ansätzen experimentiert wird. Dazu wird der Street-Level-Ansatz von Michael Lipsky um Aspekte der interpretativen Policy-Analyse und der Science and Technology Studies erweitert. Experimente auf dem Street-level können so als komplexe soziale Prozesse im Hinblick auf ihre Dynamik und Situiertheit untersucht werden. Im Zentrum steht die Frage, in welchem Verhältnis der experimentelle Prozess auf dem Street-level erstens zu den vorläufigen Lösungsansätzen steht, mit denen experimentiert wird, sowie zweitens zu den Problemen und Zielgruppen, die durch die Lösungsansätze adressiert werden sollen. Empirisch basiert die Untersuchung auf einer Vorstudie zu Bildungsund Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen in Berlin sowie auf einer umfangreichen ethnographischen Untersuchung zweier Integrationsprojekte im Zeitraum zwischen 2016 und 2018. Das methodische Vorgehen orientiert sich an der Situationsanalyse nach Adele Clarke. Die Studie zeigt, dass die untersuchten Integrationsprojekte seit dem Jahr 2015 ein Gelegenheitsfenster nutzen konnten, um in ihrer alltäglichen Arbeit mit neuen Ansätzen im Bereich der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration zu experimentieren. Diese Street-level-Experimente (SLEs) knüpfen an bereits erfolgreich erprobte Ansätze und Kooperationen aus der Vergangenheit an und können so in einer durch Wandel und Ungewissheit geprägten Situation relativ schnell pragmatische Lösungsansätze bereitstellen. Im Verlauf der SLEs werden aber nicht nur die Lösungsansätze, sondern auch Zielgruppen und Problemdefinitionen fortlaufend verändert, neu interpretiert und angepasst. Diese Veränderungs- und
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Zusammenfassung
Anpassungsprozesse sind eng mit den Anforderungen und Anknüpfungsmöglichkeiten der politischen Arena, der spezifischen Herangehensweise der beteiligten Akteur*innen, des experimentellen Settings und der Phase des experimentellen Prozesses verwoben. SLEs können daher als situierter Prozess der Aushandlung von machbaren Problemstellungen beschrieben werden, in dessen Rahmen Problemdefinitionen, Zielgruppen und Lösungsansätze ko-konstruiert- und immer wieder neu aufeinander abgestimmt werden. Durch die SLEs wird ein politischer Raum geschaffen, der sich teilweise unabhängig vom politisch-administrativen System entwickeln kann (SubPolitisierung). Gleichzeitig wird politisches Handeln im Rahmen der SLEs durch die Betonung neutraler und gegenstandsbezogener Verfahren und Lernprozesse verschleiert. Insofern gerät Politik im experimentellen Prozess zwischen dem Streben nach Innovation und Machbarkeit häufig aus dem Blick und wichtige Entscheidungen, zum Beispiel über die Ausgestaltung des experimentellen Settings, werden in der Regel nicht als politische Entscheidungen behandelt (DePolitisierung). Ausnahmen werden dort sichtbar, wo sich politisches Handeln gut in die spezifische Herangehensweise der beteiligten Akteur*innen integrieren lässt (Re-Politisierung).
Abstract
Using the case of educational and labor market integration of refugees in Berlin, this dissertation examines how new policy approaches are experimented with at the local level in a context of change and uncertainty. For this purpose, Michael Lipsky’s street-level approach is extended by aspects of interpretative policy analysis and science and technology studies. Street-level experiments can thus be studied as complex social processes in terms of their dynamics and situatedness. The central question is how the experimental process relates, first, to the preliminary solutions being experimented with and, second, to the problems and target groups that the solutions are intended to address. The empirical material consists of a preliminary study on educational and labor market integration of refugees in Berlin as well as on an extensive ethnographic study of two integration projects in the period between 2016 and 2018. The methodological approach is based on the situational analysis by Adele Clarke. The study shows that since 2015, the studied integration projects have been able to take advantage of a window of opportunity to experiment with new approaches to educational and labor market integration in their day-to-day work. These street-level-experiments (SLEs) build on approaches and collaborations that have been successfully tested in the past and can thus provide pragmatic solutions in a situation characterized by change and uncertainty. In the course of the SLEs, not only the approaches to problem solving, but also target groups and problem definitions themselves are continuously changed, reinterpreted and adapted. These processes of change and adaptation are closely interwoven with the requirements and possibilities of the policy arena, the past and specific approach of the actors involved, the experimental setting and the phase of the experimental process. SLEs can thus be described as a situated process of negotiating doable problems.
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Abstract
Through the SLEs, a political space is created that can partially develop independently of the political-administrative system (sub-politicization). At the same time, political action within the framework of SLEs is obscured by the emphasis on neutral and object-related procedures and learning processes. In this respect, politics often gets lost from view in the experimental process between the pursuit of innovation and doability. Here, important decisions, for example about the design of the experimental setting, are usually not treated as political decisions (de-politicization). Exceptions become visible where political action can be integrated into the specific approach of the actors involved (re-politicization).
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Street-level-Experimente: Forschungsstand und Analyserahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Rolle des Street-levels im politischen Prozess . . . . . . . . . . . . . 2.2 Experimentelle Governance-Arrangements und Street-level-Experimente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Eine differenzierte Perspektive auf Street-level-Experimente . . . . 2.4 Sensibilisierende Konzepte für die Analyse von Street-level-Experimenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Methodologischer Rahmen und methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . 3.1 Fallauswahl und Untersuchungszeiträume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Die Gärtnerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Mobile Bildungsberatung für geflüchtete Menschen . . . . . 3.2 Das Theorie-Methoden-Paket der Situationsanalyse . . . . . . . . . . . . 3.3 Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Datenauswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Das Abwehrregime der deutschen Flüchtlingspolitik . . . . . . . . . . . 4.2 Nützlichkeit als neues Leitkonzept deutscher Flüchtlingspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 „Berliner Diversitäten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 13 16 20 25 35 40 43 43 46 48 50 53 66 75 80 81 85
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Inhaltsverzeichnis
4.4 Arena der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Charakterisierung der Arena durch die beteiligten Akteur*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Zwischen Nützlichkeitsorientierung und Abwehrpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 SLEs für die Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Mobile Bildungsberatung für geflüchtete Menschen in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Beratung zu Bildung und Beruf – Das Berliner Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Experimentieren im Rahmen der MoBiBe . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die Gärtnerei Berlin – Ein Projekt für und mit Geflüchteten . . . 5.2.1 Der Gärtnerei-Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Experimentieren im Rahmen der Gärtnerei . . . . . . . . . . . .
91 93 101 110 113 114 115 120 126 130 134
6 Zur Situiertheit von SLEs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Anknüpfung an Positionen, Ansätze und Deutungsmuster in der Arena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Rückgriff auf bestehende Ansätze und frühere Kooperationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Beratung, Bildung, Kunst und Projektorganisation – Soziale Welten der SLEs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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7 SLEs und die Konstruktion machbarer Problemstellungen . . . . . . . . 7.1 Vom WiA-Büro „im Wohnzimmer der Geflüchteten“ zum Ladengeschäft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Von einer schwer erreichbaren Zielgruppe zur Willkommensklasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Von einer Zielgruppe mit vielen Problemen zur problematischen Zielgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Konzeptionelle Betrachtung und Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . .
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190 198
8 Zur politischen Dimension von SLEs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Politik auf dem Street-level und im experimentellen Prozess . . . . 8.2 Sub-Politisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 De-Politisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
207 208 210 212
141 148 154 172
179 186
Inhaltsverzeichnis
XIII
8.4 Re-Politisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Postdemokratiediskurs vs. Governancediskurs . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6 Plädoyer für eine Reflexivität und Diversität der experimentellen Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
214 216 218
9 Zusammenfassung und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
223
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Abkürzungsverzeichnis
Asylpaket II BA BAMF CfC Dublin III EG GD REGIO GFK GT HKW IAB IHK IOSM IQ k.o.s LEA LAF LAGeSo MoBiBe NPM OECD P:iB QBM
Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren Bundesagentur für Arbeit Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Culture-for-Competitiveness-Ansatz Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates Experimental Governance Generaldirektion Regionalpolitik und Stadtentwicklung der Europäischen Kommission Genfer Flüchtlingskonvention Grounded-Theory-Methodologie Haus der Kulturen der Welt Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Industrie- und Handelskammer Informierter, Orientierter, Strukturierter, Motivierter Integration durch Qualifizierung Koordinierungsstelle Qualität Landesamt für Einwanderung Berlin Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten Berlin Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin Mobile Bildungsberatung für geflüchtete Menschen in Berlin New Public Management Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Partnerschaften in der Bildungsberatung Qualitätsrahmen für Beratung zu Bildung und Beruf in Berlin
XV
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SenAIF SenBJF SenIAS SLB SLE SLO STS TAZ UNESCO UNHCR WiA-Büro
Abkürzungsverzeichnis
Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen Berlin Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie Berlin Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales Berlin Street-level Bureaucracy Street-level-Experiment Street-level Organization Science and Technology Studies Berliner Tageszeitung Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen Willkommen in Arbeit-Büro
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 2.1 Abbildung 2.2 Abbildung 3.1 Abbildung 3.2
Schematische Darstellung der analytischen Perspektive auf SLEs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schematische Darstellung machbarer Problemstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ungeordnete Situations-Map – Streitpunkt: Gemeinschaftsgarten vs. Privatparzellen . . . . . . . . . . . . . . Geordnete Situations-Map – Streitpunkt: Gemeinschaftsgarten vs. Privatparzellen . . . . . . . . . . . . . .
33 41 70 71
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Einleitung
Angesichts transnationaler Herausforderungen wie der Klimakrise oder der Flucht von Millionen Menschen vor anhaltenden Kriegen und anderen Katastrophen werden seit einiger Zeit neue Formen des Regierens diskutiert, die sich besser für die Lösung der unübersichtlichen Problemkonstellationen unserer Zeit eignen sollen als etablierte Regierungsformen. Während hierarchische Systeme im Umgang mit den genannten Herausforderungen als wenig geeignet angesehen werden (Sabel/Zeitlin 2012), gelten vor allem experimentelle Ansätze als vielversprechend, um mit der wahrgenommenen Zunahme von Komplexität und Ungewissheit in zahlreichen Politikfeldern umgehen zu können. So haben in den vergangenen Jahren experimentelle (Sabel/Zeitlin 2008, 2012; Eckert/Börzel 2012; Verdun 2012; Búrca et al. 2014; Wolfe 2018; Geuijen et al. 2020), polyzentrische (Ostrom 2010; Cole 2015; Voß/Schroth 2018) und tentative (Kuhlmann et al. 2019) Governance-Formen in unterschiedlichen Politikfeldern an Bedeutung gewonnen.1 Im Zusammenhang mit diesen experimentellen Governance-Formen wird der alltagspraktischen Arbeit in lokalen Kontexten eine besondere Bedeutung beigemessen. So sollen Städte als „Experimentierraum“ (Aderhold et al. 2015) oder „urbane Reallabore“ (Howaldt et al. 2017: 153) vermehrt zur Entwicklung neuer politischer Lösungsansätze beitragen. In diesen lokalen und dezentralen „Reallaboren“ sollen vor allem die Praktiker*innen „zu aktiven Gestaltern [werden], 1
Im Jahr 2018 wurden experimentelle Governance-Arrangements in einem gemeinsamen Forum des Ausschusses für regionale Entwicklungspolitik der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und der Generaldirektion Regionalpolitik und Stadtentwicklung der Europäischen Kommission (GD REGIO) zur Förderung eines innovationsorientierten Policy-Ansatzes für Städte und Regionen diskutiert. In einem begleitenden Dokument zu dem Forum werden experimentelle Governance-Arrangements als Ziel und Priorität der GD REGIO formuliert (Wolfe 2018).
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 F. Maas, Politik zwischen Innovation und Machbarkeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-38335-0_1
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Einleitung
die sich und ihre Umwelt reflektieren, alternative Handlungsoptionen erproben und dazu bewusst auf experimentelle Praktiken zurückgreifen“ (Howaldt et al. 2017: 154). Charles Sabel und Jonathan Zeitlin definieren experimentelle Governance-Arrangements als ein „[…] recursive process of provisional goal-setting and revision based on learning from the comparison of alternative approaches to advancing them in different contexts“ (Sabel/Zeitlin 2012: 169). Die Definition spiegelt die ihr zugrunde liegende Idee wider, dass durch eine Vielzahl dezentraler Ansätze unterschiedliche realweltliche Erfahrungen im Sinne der Prinzipien des muddling through (Lindblom 1959) und learning by doing (Dewey 1997) im Umgang mit vage und vorläufig formulierten Zielen gemacht werden, um dann aus diesen Erfahrungen auch über den jeweiligen Kontext hinaus zu lernen und auf dieser Grundlage sowohl die Ziele als auch die Lösungsansätze weiterzuentwickeln. Dieser Form der dezentralen und experimentellen Politikgestaltung werden mehrere Vorteile gegenüber anderen Formen der Policy-Produktion attestiert. Im Vordergrund steht die Annahme, dass in einer von Komplexität, Ungewissheit und Wandel charakterisierten (Um-)Welt schnell und flexibel auf die unterschiedlichen Bedürfnisse in zahlreichen heterogenen Kontexten reagiert werden müsse. Dies gelinge nur durch die kontextsensible Vorgehensweise im Rahmen einzelner dezentral und tentativ entwickelter Ansätze. Zudem brauche es die Bereitschaft, fortlaufend sowohl aus Fehlern als auch aus erfolgreichen Versuchen zu lernen und auf Basis dieser Lernerfahrungen weiterzuarbeiten (Sabel/Zeitlin 2012). Experimentelle Governance-Arrangements werden am deutlichsten von hierarchischen Formen des Regierens abgegrenzt. Bei Letzteren bestehe eine unüberbrückbare Differenz zwischen Policy-Formulierung in einem Machtzentrum und der Implementation im Policy-Prozess (Sabel/Zeitlin 2012). Im Gegensatz dazu werden experimentelle Governance-Arrangements als besonders anpassungsfähige Form des Policy-Lernens beschrieben, die beispielsweise in kollaborativen Netzwerken aus staatlichen und nichtstaatlichen Akteur*innen im Zuge gemeinsamer Lernprozesse zu wettbewerbs- und erfahrungsbasierten Innovationen führen (Sabel/Zeitlin 2012; Geuijen et al. 2020). Mit der Förderung experimenteller, polyzentrischer und tentativer GovernanceArrangements ist häufig das Anliegen verbunden, dass im Zuge kontextsensibler Experimente vielfältige, lokalspezifische Antworten auf komplexe Problemlagen und Herausforderungen gefunden werden und durch kontextübergreifende Lernprozesse übertragbare Policy-Innovationen entstehen. Dieser hohe Anspruch basiert auch auf vereinfachten Annahmen über experimentelle Prozesse und experimentelles Lernen, die aus dem Bereich wissenschaftlicher Laborexperimente bekannt sind und auf die politischen Experimente übertragen werden.
1
Einleitung
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So wird erstens häufig davon ausgegangen, dass neue politische Ansätze in unterschiedlichen lokalen Kontexten im Sinne einer zufälligen Variation unabhängig von translokalen Bedingungen entstehen können. Zweitens würden sich in einem quasinatürlichen Selektionsprozess diejenigen Ansätze durchsetzen, die sich am besten für die Lösung von objektiv bestehenden Problemstellungen eignen. Drittens wird davon ausgegangen, dass Erfolge und Misserfolge in einzelnen experimentellen Kontexten außerhalb dieser Kontexte wahrgenommen werden und dort zu Lerneffekten führen (Eckert/Börzel 2012; Voß/Schroth 2018). Angesichts dieser Vorannahmen und hohen Erwartungen besteht die Gefahr, dass Experimente als Methode idealisiert werden und vor allem unter den Gesichtspunkten der erhofften Effekte, also der Hervorbringung von robusten Policy-Innovationen, bewertet werden, anstatt die sozialen Prozesse genauer in den Blick zu nehmen, in die sie eingebettet sind und von denen vielfältige, auch nicht intendierte Effekte ausgehen können. Voß und Schroth setzen angesichts der verbreiteten Ansprüche an politische Experimente dem evolutionistischen ein differenzierteres Verständnis experimenteller Prozesse entgegen, welches die sozio-materielle Einbettung von Experimenten und die damit einhergehenden Lernprozesse stärker berücksichtigt (Voß/Schroth 2018). Experimente werden in dieser Perspektive nicht als eine neutrale Methode verstanden, um unterschiedliche kontextsensible Lösungsansätze für objektiv bestehende Problemstellungen zu testen und weiterzuentwickeln, sondern als sozialer Prozess, der durch seine sozio-materielle Einbettung einer spezifischen Wirklichkeit Aufmerksamkeit und Geltung verleiht (Voß/Simons 2018; Voß/Schroth 2018). Die vorliegende Arbeit greift dieses differenzierte Verständnis experimenteller Prozesse auf und richtet den Fokus auf den sozialen Prozess des Experimentierens und dessen situative Einbettung. Die Arbeit widmet sich dabei insbesondere jenen experimentellen Prozessen, die auf dem sogenannten Street-level, also in direktem Kontakt mit den Adressat*innen von Politik, durchgeführt werden (Lipsky 1980; Brodkin 2011). Dieses Phänomen der lokalen politischen Experimente wird im Folgenden in Anlehnung an Michael Lipskys Street-level-Ansatz (Lipsky 1980) als Street-level-Experiment (SLE) bezeichnet. Lipsky hatte bei seiner Forschung zur sogenannten Street-level Bureaucracy (SLB) vor allem große staatliche Strukturen vor Augen, die über ihren direkten Kontakt zu den Bürger*innen – den Adressat*innen von Politik – das Bindeglied zwischen Politik und Zivilgesellschaft bilden. Sie können durch den vorhandenen Ermessensspielraum auf dem Street-level maßgeblichen Einfluss auf die tatsächlichen Auswirkungen von Politik in der Praxis ausüben. Lipsky definiert Street-level-Bürokraten als „public service workers who interact directly with citizens in the course of their jobs,
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1
Einleitung
and who have substantial discretion in the execution of their work” (Lipsky 1980: 3). Dazu zählen beispielsweise Polizist*innen, Lehrer*innen, Sozialarbeiter*innen oder Bedienstete in Behörden, die mit Bürger*innen im Kontakt stehen. Mit ihrem Konzept der Street-level Organizations (SLO) entwickelt Evelyn Z. Brodkin den Ansatz weiter. Sie berücksichtigt dabei die großen Veränderungen an der Schnittstelle zwischen Staat und Bürger*innen seit den 1980er Jahren, indem sie vor allem auf die Privatisierung von staatlichen Aufgaben und den Bedeutungszuwachs neuer Managementstrategien auf dem Street-level verweist. Damit geraten neben den staatlichen Strukturen auch private beziehungsweise zivilgesellschaftliche Akteur*innen in den Blick des Street-level-Ansatzes. Beispiele für SLOs sind somit nichtstaatliche Betreiber*innen von Unterkünften für geflüchtete Menschen oder private Bildungsträger*innen, die staatliche Programme wie die Integrationskurse umsetzen. Brodkin betont, dass SLOs und die darin handelnden Akteur*innen zwar nicht aktiv und intentional den Inhalt von Politik bestimmen, aber im Rahmen ihrer alltäglichen Arbeit indirekt Politik und deren Folgen gestalten. Deshalb spielen sie im politischen Prozess eine entscheidende Rolle und können als „de-facto policymakers“ (Brodkin 2011: 253) bezeichnet werden. Mit dem Konzept der Street-level-Experimente rückt nun die aktive und intentionale Gestaltung neuer politischer Ansätze ins Zentrum des Interesses. Diese Ansätze werden in direktem Kontakt mit ihren Adressat*innen entwickelt und auf der Grundlage der gemachten Erfahrungen fortlaufend angepasst.2 Die Fragestellung In der vorliegenden Arbeit wird untersucht, wie auf dem Street-level und in einem kontroversen, von Wandel und Ungewissheit geprägten Bereich mit neuen politischen Ansätzen experimentiert wird. Ganz konkret beinhaltet dieses ‚wie‘ viele unterschiedliche Fragen, die in ihrer Gesamtheit auf den komplexen und vielfältigen Alltag des Experimentierens auf dem Street-level abzielen: Wie gehen die involvierten Akteur*innen mit der Ungewissheit und den alltäglichen Herausforderungen des Experimentierens auf dem Street-level tatsächlich um? Wie gelangen sie an die nötigen (finanziellen) Ressourcen? Wie gewinnen sie Kooperationspartner*innen und Unterstützer*innen für ihre Vorhaben? Wie sieht der Umgang mit politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen aus? Wie werden die Experimente im Alltag auf dem Street-level organisiert? Was soll wie und durch wen probiert, beobachtet, gemessen und gelernt werden? 2
In eine ähnliche Richtung gehen die Überlegungen bei Arnold (2015), der die Rolle der Policy-Entrepreneure nicht nur bei hohen Regierungsbeamten sieht, sondern auch bei den handelnden Akteur*innen auf dem Street-level.
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Einleitung
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Mit einer detaillierten empirischen Untersuchung von SLEs soll zu einem differenzierteren Verständnis dieser experimentellen Prozesse beigetragen werden, indem sowohl der widersprüchliche und komplexe Alltag des Experimentierens auf dem Street-level als auch die Situiertheit und die damit einhergehende spezifische Ordnung der Experimente berücksichtigt werden. Die experimentellen Prozesse auf dem Street-level sind in der vorliegenden Arbeit somit nicht als neutrale, objektive Methode zur Generierung kontextsensibler Problemlösungen und robuster Policy-Innovationen konzipiert, sondern als komplexe soziale Prozesse, die in unterschiedliche soziale und materielle Bezugssysteme eingebunden sind. Vor diesem Hintergrund rückt in konzeptioneller Hinsicht die zentrale Forschungsfrage nach dem Verhältnis zwischen Street-level-Experimenten und deren Gegenständen in den Fokus der vorliegenden Arbeit: In welchem Verhältnis steht der experimentelle Prozess auf dem Street-level erstens zu den Lösungsansätzen, mit denen experimentiert wird, sowie zweitens zu den Problemen und Zielgruppen, die durch die Lösungsansätze adressiert werden sollen? Mit der Betrachtung von Street-level-Experimenten als komplexe soziale Prozesse richtet sich die Aufmerksamkeit schließlich auch auf eine politische Dimension von Street-level-Experimenten, die in der Diskussion über experimentelle Governance-Arrangements bisher nur wenig Beachtung findet. Wenn, wie im Fall der Street-level-Experimente, Entscheidungen über neue Ansätze für die Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen zunehmend in zahlreichen dezentralen Experimenten auf dem Street-level getroffen werden, sollte auch nach der Rolle von Politik im Rahmen dieser experimentellen Prozesse gefragt werden. Der Fall In der vorliegenden Arbeit werden Street-level-Experimente am Beispiel der Bildungs-3 und Arbeitsmarktintegration4 geflüchteter Menschen in Berlin in den 3
Bildungsintegration wird auf den Bildungsbereich außerhalb der frühkindlichen Bildung und der Bildung im Rahmen der Regelschulen (Primär- und Sekundarbereich) eingegrenzt. Unter den Begriff fallen damit insbesondere Prozesse und Maßnahmen im Rahmen von Sprachkursen, Aus- und Weiterbildungen und anderen Formen der Erwachsenenbildung sowie der Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen. 4 Der Begriff der Integration ist im wissenschaftlichen und politischen Diskurs umstritten und wurde in der Vergangenheit sehr unterschiedlich verwendet. Integration kann auf der einen Seite des Spektrums die wirtschaftliche und soziale Konvergenz im Hinblick auf unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche bezeichnen. Das heißt, dass Integration für die Angleichung statistischer Werte wie Arbeitslosenquote, Durchschnittsverdienst, Bildungsgrad, Wahlverhalten etc. zwischen zwei oder mehreren Gruppen steht. Bei der Beschreibung dieser Konvergenz spielt die Aufgabe bestimmter kultureller oder religiöser Werte durch einzelne Gruppen in der Regel keine zentrale Rolle. Auf der anderen Seite des Spektrums
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Jahren 2015 bis 2017 untersucht. Als im Sommer 2015 zahlreiche Menschen nach einer langen Flucht vor Krieg und politischer Verfolgung Städte und Gemeinden in Deutschland und anderen europäischen Ländern erreichten, waren diese kaum auf die bevorstehenden Aufgaben vorbereitet. Nur durch einen großen lokalpolitischen und zivilgesellschaftlichen Einsatz konnte die Erstversorgung der Ankommenden in diesem „langen Sommer der Migration“ (Hess et al. 2017)5 zumindest teilweise gewährleistet werden (Speth/Becker 2016; Schammann/Kühn 2016). Nach der anfänglichen Fokussierung auf Nothilfemaßnahmen und auf die Unterbringung von Geflüchteten wurde spätestens seit Anfang 2016 der geeignete Umgang mit den längerfristigen Folgen der Zuwanderung diskutiert. Ein Aspekt in diesem Zusammenhang war die Verbesserung des Zugangs zu Bildung und Arbeit für geflüchtete Menschen. Die politische und gesellschaftliche Gestaltung der Teilhabe von geflüchteten Menschen an Bildung und Arbeit in Deutschland kann mit Blick auf die vergangenen Jahre seit 2015 insofern als wicked (Rittel/Webber 1973) oder unstructured (Hoppe 2002) problem angesehen werden, als vergleichsweise wenig Wissen und wenig Erfahrungen in diesem Bereich vorhanden waren, sich die Situation schnell und zum Teil unvorhersehbar wandelte und viele unterschiedliche Akteur*innen mit sich zum Teil widersprechenden Interessen und Vorstellungen beteiligt waren (Morner/Misgeld 2016; Maas 2017). Neben der allgegenwärtigen Ungewissheit war der Handlungsdruck insbesondere auf der lokalen Ebene zu spüren, wo die Folgen von Untätigkeit unmittelbar sichtbar wurden und das Gefühl der persönlichen Verantwortung wegen des direkten Kontakts zu den geflüchteten Menschen besonders ausgeprägt war (Aumüller et al. 2015; Gesemann/Roth 2017; Geuijen et al. 2020). Gleichzeitig eröffneten sich in dieser Situation Gestaltungsspielräume für die Akteur*innen auf der lokalen Ebene und damit ein Gelegenheitsfenster, um mit neuen Ansätzen in den
kann das Konzept der Assimilation verortet werden, welches zwischen Werten und Überzeugungen von Zugewanderten und der Bevölkerung der Einwanderungsländer unterscheidet und den Prozess der Übernahme dieser Werte durch die Zugewanderten beschreibt. Zum umstrittenen Integrationsbegriff siehe Münch (2018). In der vorliegenden Arbeit wird kein eigener Integrationsbegriff gewählt. Stattdessen wird Integration als häufig verwendeter deutungsoffener Feldbegriff der unterschiedlichen Akteur*innen aufgegriffen, die sich auf dem Street-level aus unterschiedlichen Perspektiven mit der Teilhabe geflüchteter Menschen an Bildung und Arbeit befassen. 5 Mit der Bezeichnung „langer Sommer der Migration“ (Hess et al. 2017) werden die einschneidenden Ereignisse bezeichnet, die vor allem im Sommer und Herbst 2015, aber auch in den darauffolgenden Monaten an den EU-Grenzen, auf den unterschiedlichen Routen der Geflüchteten und an den Orten ihres Ankommens in Europa und vor allem in Deutschland abliefen.
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unterschiedlichen Bereichen der Aufnahme von Geflüchteten allgemein (Geuijen et al. 2020; Schammann 2020) und speziell auf dem Feld der verbesserten Teilhabe von Geflüchteten an Bildung und Arbeit zu experimentieren.6 Die lokalen Experimente wurden durch ein gesteigertes Interesse an ‚innovativen‘ Flüchtlingsprojekten begleitet, welches sich seit 2015 in den Medien, in politischen Handlungskonzepten, im Rahmen der Projektförderung von Stiftungen und der Verleihung von Innovationspreisen zeigte. Internetplattformen wie thechanger.org oder startnext.com präsentierten die „innovativsten Berliner Flüchtlingsprojekte“ (Thechanger.org 2015) beziehungsweise „6 innovative Flüchtlingsprojekte auf Startnext“ (Startnext.com 2015), die Robert Bosch Stiftung förderte „innovative Projekte aus der Praxis, die in der beruflichen Förderung und Qualifizierung von Flüchtlingen und Asylsuchenden neue Wege gehen“ (Robert Bosch Stiftung 2016b) und elf der hundert ausgezeichneten Projekte des Wettbewerbs der Initiative Deutschland – Land der Ideen 2016, die sich zum Ziel macht, „innovative und herausragende Ideen sichtbar zu machen“ (Deutschland – Land der Ideen 2016a), waren Projekte, die direkt oder indirekt mit der Teilhabe von Geflüchteten an Bildung oder Arbeit befasst sind (Deutschland – Land der Ideen 2016b). Die Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen in Berlin eignet sich besonders für die Fragerichtung der vorliegenden Arbeit, da sie in den vergangenen Jahren geprägt war von tiefgreifenden Wandlungsprozessen, zahlreichen beteiligten Akteursgruppen, gesellschaftlichen sowie politischen Auseinandersetzungen und vielen Formen der Ungewissheit (Aumüller 2016; Knuth 2016; Maas 2017; OECD 2017; Wiedner et al. 2018). Zudem sind in Berlin zwischen 2015 und 2017 auf dem Street-level zahlreiche neue Initiativen und Projekte entstanden, die im Schatten einer Verwaltungskrise (Hahlen/Kühn 2016) die vorhandenen Gestaltungsspielräume nutzen konnten und mit neuen Ansätzen auch auf dem Feld der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen experimentierten (Thechanger.org 2015; Maas 2017; Yurdakul et al. 2018). In der Einleitung zum Sammelband „So schaffen wir das. Eine Zivilgesellschaft im Aufbruch“, in dem „90 wegweisende Projekte mit Geflüchteten“ (Rudloff et al.
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Bereits vor dem langen Sommer der Migration haben große europäische Städte, Gemeinden, ganze Regionen, aber auch einzelne Stadtteile vermehrt Verantwortung für die Aufnahme und Integration von zugewanderten Menschen übernommen. Dieser local turn (Jorgensen 2012) im Bereich der europäischen Zuwanderungs- und Integrationspolitik wurde durch die lokalen Experimente im Kontext des langen Sommers der Migration weitergeführt und weiter auf nichtstaatliche beziehungsweise zivilgesellschaftliche Akteur*innen ausgeweitet.
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2017) vorgestellt werden, beschreibt Werner Schiffauer den experimentellen Geist der zahlreichen zivilgesellschaftlichen Projekte und Initiativen wie folgt: „Wenn man die Projekte Revue passieren lässt, kommt eine bemerkenswerte Freude an Innovation zum Ausdruck […]. Zum Teil entsteht der Eindruck, dass die mit der Ankunft der Geflüchteten gegebenen Herausforderungen dazu führen, dass neue, bisher wenig begangene Wege ausprobiert wurden; zum Teil waren sie der Anlass, um Ideen, die schon existierten, neue Schubkraft zu geben und sie allgemein bekannt werden zu lassen […]. Es liegt am Charakter des Probierfelds, dass nicht alle Projektideen sich durchsetzen und Bestand haben werden. Es scheint jedoch hier ein Aspekt von Lust aufzuscheinen; Lust daran, sich ‚neu zu erfinden’ – im wahrsten Sinne eine Aufbruchsstimmung. Damit einher geht eine gewachsene Risikobereitschaft, der Wunsch, etwas zu wagen, was auch schiefgehen kann.“ (Schiffauer 2017: 18–19)
Im Rahmen der vorliegenden Arbeit werden exemplarisch zwei Street-levelExperimente aus dem Bereich der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen in Berlin untersucht. Dabei handelt es sich zum einen um die Mobile Bildungsberatung für geflüchtete Menschen in Berlin (MoBiBe), ein Beratungsnetzwerk, dessen Arbeit vom Land Berlin finanziert und durch mehrere nichtstaatliche Projektträger aus dem Bereich der Bildungsberatung umgesetzt wird. Bei dem zweiten Street-level Experiment, der Gärtnerei, handelt es sich um ein künstlerisches und sozialraumorientiertes Bildungsprojekt, das im Untersuchungszeitraum bis Herbst 2017 größtenteils durch die Bundeskulturstiftung gefördert wurde und von Trägern der kulturellen Bildung sowie einem Architekturkollektiv umgesetzt wurde.7 Der Beitrag zur Forschung Mit der vorliegenden Arbeit wird an die Street-level-Forschung in der Tradition von Michael Lipsky und Evelyn Z. Brodkin angeknüpft, ergänzt um die Forschungstradition der interpretativen Policy- und Implementationsforschung sowie die Forschung zu politischen Experimenten im Bereich der Science and Technology Studies (STS). Somit soll ein kritischer Beitrag zu der noch jungen Debatte über experimentelle, polyzentrische und tentative Governance-Arrangements und Policy-Experimente auf dem Street-level geleistet werden. Der Street-levelAnsatz, der sich ursprünglich auf die Umsetzung von Policy-Programmen in
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In der ersten regulären Förderperiode zwischen Juli 2015 und Dezember 2016 übernahm die Kulturstiftung des Bundes die Förderung. Mit Beginn der zweiten Förderperiode im Januar 2017 wurde die Stiftung Deutsche Jugendmarke Hauptförderin des neuen, übergreifenden Projektes Coop Campus.
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konkrete Maßnahmen im Rahmen staatlicher Strukturen (SLB) und nichtstaatlicher Auftragnehmer*innen sowie neuer Management-Technologien (SLO) beschränkt, wird insofern erweitert, als mit SLE ausdrücklich Experimente in den Blick gefasst werden. Das Interesse gilt nicht mehr, wie es in der klassischen Implementationsforschung der Fall ist, ausschließlich der Umsetzung von politischen Ideen und Konzepten in konkrete Maßnahmen, sondern auch der Umsetzung von Erfahrungen aus konkreten Maßnahmen in politische Konzepte. Im Zentrum steht also das komplexe wechselseitige Zusammenspiel zwischen politischen Konzepten und konkretem Handeln auf dem Street-level. Ein Beitrag zur interpretativen Policy- und Implementationsforschung wird geleistet, indem inhaltlich insbesondere das Street-level in das Blickfeld rückt. Die Arbeit führt methodologisch sensibilisierende Konzepte aus dem Umfeld der Chicagoer Schule der Soziologie sowie aus dem Bereich der STS ein, um die Untersuchung der Ko-Konstruktion von Zielgruppen, Problemen und Lösungsansätzen im Alltag der SLEs zu ermöglichen. Es wird auch die Debatte über experimentelle Governance-Arrangements insofern ergänzt, als die soziale Praxis des Experimentierens sowie die Situiertheit von Experimenten ernst genommen werden und dadurch eine größere Sensibilität gegenüber der problemkonstruierenden Dimension von Street-level-Experimenten entsteht. Schließlich plädiert die Arbeit für eine verstärkte Aufmerksamkeit für die politische Dimension von Street-level-Experimenten und für die Fragen nach Macht und Legitimation im Kontext dieser Form der Politikproduktion. Dies scheint insbesondere dann geboten zu sein, wenn man der These der Vertreter*innen tentativer und experimenteller Governance-Arrangements zustimmt, dass diese Form des Politikmachens in Zeiten zunehmender Komplexität und Ungewissheit an Bedeutung gewinnen wird (Wolfe 2018). Wenn Politik also zunehmend in vielen dezentralen Experimenten auf dem Street-level und nicht in den klassischen politischen Machtzentren ‚gemacht‘ wird, dann muss auch der politischen Organisation der lokalen und dezentralen Experimentierfelder mindestens das gleiche Interesse gewidmet werden, wie es seit Langem die politische Organisation jener Machtzentren erfährt. Das Forschungsdesign Die Arbeit folgt in ihrem methodologischen Vorgehen dem interpretativen Forschungsparadigma und nutzt in erster Linie die methodischen Werkzeuge aus dem Theorie-Methoden-Paket der Situationsanalyse nach Adele Clarke, die an der Grounded-Theory-Methodologie (GT) ansetzt, diese aber um postmoderne Ansätze sowie Ansätze aus dem Bereich der Science and Technology Studies erweitert (Clarke 2012). Im Zentrum der praktischen empirischen Arbeit
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steht eine ethnografische Vorgehensweise in Verbindung mit Mapping-Verfahren, die dabei helfen, komplexe Situationen im Hinblick auf ein noch vages Forschungsinteresse zu erfassen und dabei unterschiedliche situative Elemente wie Akteur*innen, Orte, Technologien, Körper oder Diskurse etc. in ihrer Relation zueinander zu betrachten. Datenerhebung und Datenanalyse wechseln sich bei einem solchen Vorgehen in einem iterativen Prozess ab und informieren sich gegenseitig. Prinzipiell kann die Datenerhebung bei der vorliegenden Arbeit in zwei Phasen unterteilt werden: In einer ersten Phase wird durch Schreibtischrecherchen und Expert*inneninterviews die Arena der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration von geflüchteten Menschen in Berlin erkundet, um sich in einer zweiten Phase durch teilnehmende Beobachtung, Hintergrundgespräche und Dokumentenanalysen von prozessproduzierten Daten über einen längeren Zeitraum tiefer mit zwei Streetlevel-Experimenten befassen zu können. Bereits beim Erheben der Daten werden diese nach dem typischen Vorgehen der GT mithilfe der qualitativen Datenanalysesoftware MaxQDA kodiert und durch die oben erwähnten Mapping-Verfahren in Relation zueinander gesetzt. Ausgehend von den Situations-Maps werden die für das Forschungsprojekt relevanten Elemente der Situation herausgearbeitet und Fallgeschichten rekonstruiert, die Auskunft über den sozialen Prozess des Experimentierens auf dem Street-level und dessen Situiertheit geben. Der Aufbau der Arbeit Nach dieser Einleitung folgt ein Kapitel zu Forschungsstand und Analyserahmen der vorliegenden Arbeit. Ausgehend vom Street-level Bureaucracy-Ansatz nach Lipsky (1980) und dessen Weiterentwicklung zum Street-level Organizations-Ansatz bei Evelyn Brodkin (2011) werden zunächst Ansätze aus dem Bereich der Policy- und Implementationsforschung beschrieben, die sich mit der Frage auseinandersetzen, wie im direkten Kontakt mit den Adresat*innen von Politik politische Programme in konkretes Handeln auf dem Street-level umgewandelt werden. Danach wird näher auf die Steuerungsversuche eingegangen, mit welchen den vorhandenen Ermessensspielräumen bei der Umsetzung von Policy-Programmen in konkretes Handeln auf dem Street-level begegnet wird. Daran anschließend werden neue experimentelle Governance-Arrangements von den zuvor skizzierten Steuerungsversuchen abgegrenzt und in Anlehnung an die Tradition der Street-level Forschung der neue konzeptionelle Ansatz der Street-level-Experimente dargelegt. Vor dem Hintergrund zentraler Überlegungen aus den Bereichen der Science and Technology Studies und der interpretativen Policy-Forschung werden sodann Fragen in Bezug auf eine politische Dimension
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von Street-level-Experimenten formuliert. Das Kapitel endet mit der Beschreibung der drei zentralen sensibilisierenden Konzepte, die den empirischen Teil der Arbeit als Such- und Ordnungsmuster anleiten und strukturieren: machbare Problemstellungen, Arenen und soziale Welten. Im dritten Kapitel wird das konkrete methodische Vorgehen bei der empirischen Erhebung und Auswertung der Daten beschrieben. Im Zentrum steht die Auseinandersetzung mit dem Theorie-Methoden-Paket der Situationsanalyse nach Adele Clarke (Clarke 2005, 2012), den zugrunde liegenden Ansätzen der GT-Methodologie und den zum Einsatz kommenden Mapping-Verfahren. Danach werden die einzelnen Aspekte des Forschungsdesigns wie Fallauswahl und Untersuchungszeitraum, Instrumente der Datenerhebung und der Datenauswertung beschrieben und diskutiert. Der empirische Teil der Arbeit ist nach den drei sensibilisierenden Konzepten Arenen, soziale Welten und machbare Problemstellungen geordnet. Kapitel vier behandelt mit der Neuausrichtung der Flüchtlingspolitik in Deutschland seit 2015 (Schammann 2017) und berlinspezifischen Deutungsmustern der kosmopolitischdiversitären Metropole (Lanz 2011) den politischen und diskursiven Rahmen der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen in Berlin seit 2015 und damit die politische Arena, in die die Street-level-Experimente eingebunden sind. Das Ziel der darauffolgenden Kapitel besteht darin, durch eine dichte Beschreibung der untersuchten SLEs deren Situiertheit und die damit einhergehenden spezifischen Ordnungsmuster der SLEs in den Blick zu nehmen. Dafür werden zunächst die beiden SLEs vorgestellt und die darin stattfindenden experimentellen Prozesse beschrieben (Kapitel 5). Danach wird die Situiertheit der experimentellen Prozesse aufgezeigt und systematisch beschrieben, wie insbesondere die Bezugnahme auf bestehende Positionen, Ansätze und Deutungsmuster in der Arena, der Rückgriff auf bestehende Ansätze und Kooperationen aus der Vergangenheit der involvierten Akteur*innen sowie die spezifische Herangehensweise der beteiligten sozialen Welten den experimentellen Prozess prägen (Kapitel 6). Schließlich wird anhand von drei prozessorientierten Fallgeschichten der komplexe, widersprüchliche und vielfältige Alltag des Experimentierens auf dem Street-level in den Blick genommen und gezeigt, wie im Prozess des Experimentierens immer wieder machbare Problemstellungen konstruiert werden und wie sich die Ausrichtung der Machbarkeit je nach der Phase, in der sich die SLEs befinden, stärker an der Arena oder stärker am Street-level orientieren (Kapitel 7). Im achten Kapitel werden die politische Dimension der Experimente auf dem Street-level und die Fragen nach Macht und Legitimation herausgearbeitet. Im abschließenden neunten Kapitel werden die Ergebnisse zusammengefasst und anschließende Fragestellungen werden formuliert.
Street-level-Experimente: Forschungsstand und Analyserahmen
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Zum Einstieg in dieses theoretische Kapitel sei zunächst ein Blick auf die Praxis der Bildungs- und Arbeitsintegration geflüchteter Menschen seit 2015 geworfen. Er macht deutlich, dass vor allem in der Anfangsphase die Orte der lokalen Aufnahme- und Integrationsarbeit zu den Zentren politischer und gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit wurden – jene Orte, an denen man sich angesichts eines generell wahrgenommenen Handlungsdrucks und einer als allgegenwärtig empfundenen Ungewissheit den Herausforderungen pragmatisch stellen musste (Schiffauer 2017; Yurdakul et al. 2018; Geuijen et al. 2020). Im Verlauf des „langen Sommers der Migration“ (Hess et al. 2017) wurde diese Form des dezentralen und lokalen Ausprobierens und Experimentierens nicht nur als Notlösung hingenommen, sondern auch von Seiten der Politik als Chance zur Bewältigung der Situation gesehen und gezielt gefördert: „[…] die Situation wird unübersichtlicher, deshalb behördlich […] und politisch auch schwerer zu steuern. Die Chancen werden damit aber auch größer, und das heißt, wir müssen punktgenauer, vernetzter agieren. Und dann ist die Chance im Prinzip, dass wir – oder dass es uns gelingt, in dieser Stadt nicht nur unseren sozialen Frieden und unseren Wohlstand zu erhalten, sondern dass diese Stadt lebenswerter wird und bunter wird.“ (Interview – Vertreter*in einer Berliner Landesbehörde)
Chancen für die Entwicklung hin zu einer lebenswerteren und bunteren Stadt entstünden demnach vor allem durch „punktgenaueres“ und „vernetzteres“ Handeln.
Ergänzende Information Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, auf das über folgenden Link zugegriffen werden kann https://doi.org/10.1007/978-3-658-38335-0_2.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 F. Maas, Politik zwischen Innovation und Machbarkeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-38335-0_2
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Dieses Handeln wird im Sommer 2015 und im Laufe der folgenden Jahre insbesondere bei der Arbeit von Organisationen sichtbar, die auf dem sogenannten Street-level1 in direktem Kontakt mit den jeweiligen Adressat*innen von Politik stehen und vor Ort mit neuen politischen Ansätzen experimentieren. Ein*e Vertreter*in der Berliner Regionalstelle einer Bundesbehörde beschreibt im Interview, wie das experimentelle Vorgehen auf dem Street-level im Idealfall aussehen könnte: „[…] dass wir alle miteinander uns bewegen und miteinander auch lernen dürfen, und miteinander auch Fehler machen dürfen, dann gibt’s auch gar nicht eine kritische Situation, wo man sagt, Mensch das läuft jetzt irgendwie schief, na klar muss man ein wachsames Auge behalten, auch was momentan auch eine große Herausforderung ist, dass die Informationen fließen, also allen Beteiligten die notwendigen Informationen zur richtigen Zeit im richtigen Umfang zur Verfügung stehen, aber ich glaube auch da brauchst du irgendwie eine Toleranz, man muss nicht immer alles wissen, aber ich bin dafür, Dinge auszuprobieren […].“ (Interview – Vertreter*in der Berliner Regionalstelle einer Bundesbehörde)
Im Zitat werden vor allem Flexibilität, Lernbereitschaft, Fehlertoleranz und ein freier Informationsfluss als Bedingungen für den Erfolg des experimentellen Vorgehens benannt. Im weiteren Verlauf des Interviews wird zudem deutlich, welche Vorstellungen mit dieser Form des experimentellen Vorgehens verbunden sind: „[…] und alles andere wird sich, glaube ich, mit Zeitablauf dann irgendwann herausschälen. Es wird auch Dinge geben, wo wir sagen, ne das hat sich jetzt gar nicht etabliert, davon müssen wir uns verabschieden. Es wird auch Initiativen geben, die gar keinen, wenn man so will, Markt haben, die irgendeine Idee hatten, die sie vielleicht zu einem bestimmten Zeitpunkt als relevant bewerteten, aber am Ende des Tages nicht nachgefragt wurde […].“ (Interview – Vertreter*in der Berliner Regionalstelle einer Bundesbehörde)
Im Interviewabschnitt wird das experimentelle Vorgehen wie ein evolutionärer Prozess beschrieben, in dessen Verlauf sich nur einige Ansätze durchsetzen. Insbesondere die Metapher des „Herausschälens“ sowie des Marktes, aber auch die auffallende Passivkonstruktion in den Sätzen verweisen auf die Vorstellung eines 1
Als Street-level bezeichnet Michael Lipsky jenen Bereich, in dem politische Programme in konkretes Handeln transformiert werden, sei es in Form von Leistungen, die eine Lehrkraft, ein*e Sozialarbeiter*in oder ein*e Sachbearbeiter*in im Sozialamt erbringt, oder in Form von Sanktionen, die ein*e Polizist*in oder ein*e Mitarbeiter*in des Ordnungsamtes verhängt. Entscheidend sei, dass die Mitarbeitenden auf dem Street-level in direktem Kontakt mit den Adressat*innen von Politik stehen (Lipsky 1980).
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quasi-natürlichen Prozesses, an dessen Ende sich – entsprechend der natürlichen Selektion – die am besten angepassten Ansätze durchsetzen werden. Eine solche experimentelle Form der dezentralen Politikentwicklung in direktem Kontakt mit Zielgruppen und Adressat*innen sowie die damit verbundenen Vorstellungen eines quasi-natürlichen Selektionsprozesses der Politikproduktion ist keine Ausnahme im Bereich der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen, sondern steht exemplarisch für „eine neue politische Kultur des Experimentierens“ (Böschen et al. 2017: 21) in unterschiedlichen Politikfeldern. So seien in den vergangenen Jahren viele lokale Regierungen dazu übergegangen, „[…] den üblichen Modus des Planens und Entscheidens durch einen reflexiven und tentativen Politikmodus zu ersetzen. ‚Governance Experimentation‘ (Hoffmann 2011)2 zielt auf Gestaltung, tut dies aber im lokalen Versuchsmodus und bindet dabei Wissens- und Praxisakteure ein. Häufig wird der experimentelle Modus genutzt, um sektorübergreifende Instrumente und Strategien zu erproben und zu entwickeln.“ (Reusswig/Lass 2017: 318)
Mit dem experimentellen Vorgehen in Urban Labs, Reallaboren oder Living Laboratories (Böschen et al. 2017) werden häufig von vorneherein zahlreiche Vorteile gegenüber anderen Politikmodi verbunden, ohne allerdings einen genaueren Blick auf das spezifische experimentelle Setting, die jeweiligen experimentellen Prozesse und die konkreten Ergebnisse des Experimentierens zu werfen (Voß/Schroth 2018). Experimente werden dabei meist als Black Box betrachtet, in der die vielfältigen experimentellen Prozesse verborgen bleiben. Sie werden zudem eher als objektive Methode oder als Lösung per se präsentiert und weniger als komplexer sozialer Prozess verstanden, der in einem spezifischen Kontext von spezifischen Akteur*innen auf eine spezifische Art und Weise und für spezifische Zwecke vorangetrieben wird. Im folgenden Kapitel soll deshalb ein Analyserahmen entwickelt werden, der es erlaubt, die Black Box mit dem Etikett „Street-level-Experiment“ zu öffnen, um zu einem differenzierten Verständnis der experimentellen Prozesse auf dem Street-level beitragen zu können. In den folgenden Abschnitten werden zunächst jene Forschungsstränge diskutiert, die sich seit den frühen 1980er Jahren mit den organisationalen Strukturen auf dem Street-level und deren Rolle im politischen Prozess auseinandergesetzt
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Das Buch von Hoffman „Climate governance at the crossroads. Experimenting with a global response after Kyoto“ ist im Jahr 2012 erschienen und wird im Gegensatz zur Angabe im Zitat im vorliegenden Literaturverzeichnis auch so aufgeführt (Hoffmann 2012).
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Street-level-Experimente: Forschungsstand und Analyserahmen
haben. In Abgrenzung zu der klassischen Top-down-Perspektive in der Implementationsforschung wird in einem ersten Schritt der Street-level Bureaucracy-Ansatz nach Michael Lipsky (Lipsky 1980) skizziert. Er erklärt die Akteur*innen auf dem Street-level zu Policy-Makern, da sie bei der Umsetzung von politischen Ideen in politisches Handeln den vorhandenen Ermessensspielraum auf dem Street-level nutzten, um mit den spezifischen Anforderungen an ihre Arbeit besser umgehen zu können. Damit geraten die zahlreichen Akteur*innen auf dem Street-level als politische Akteur*innen in den Fokus der Policy- und Implementationsforschung. In einem zweiten Schritt wird die Weiterentwicklung durch Evelyn Z. Brodkin zum Street-level Organizations-Ansatz (Brodkin 2011) erörtert. Brodkin berücksichtigt vor allem die Veränderungen, die mit der Privatisierung öffentlicher Aufgaben und dem Einsatz neuer Management-Technologien seit den 1980er Jahren einhergehen und stellt die politische Dimension des Einsatzes neuer Governance-Instrumente heraus. Damit gerät zusätzlich das organisationale Setting auf dem Street-level in den Fokus der Analyse. In einem weiteren Schritt werden jene Konzepte diskutiert, die direkt an die Street-level-Ansätze anschließen oder aber auch einen deutlicheren Perspektivwechsel vollziehen, indem sie sich mit der Rolle von Street-level-Organisationen als Orte dezentraler Experimente und Lernprozesse auseinandersetzen, die im Rahmen experimenteller Governance-Arrangements Policy-Innovationen hervorbringen sollen (Ostrom 2010; Sabel/Zeitlin 2012; Kuhlmann et al. 2019). Im Anschluss an die Forschung zu Street-level-Organisationen und unter Berücksichtigung von neueren Perspektiven aus der interpretativen Policy- und Implementationsforschung sowie den Science and Technology Studies wird schließlich eine vertiefte Auseinandersetzung mit den experimentellen Prozessen auf dem Street-level und deren Situiertheit vorgeschlagen. Das Kapitel endet mit der Entwicklung eines Analyserahmens für eine differenzierte Untersuchung von Street-level-Experimenten.
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Die Rolle des Street-levels im politischen Prozess
Lange betrachtete die Politikwissenschaft Organisationen auf dem Street-level, wie zum Beispiel Schulen, Polizeibehörden oder Bürgerämter, wenn überhaupt, lediglich als Orte der Implementation politischer Vorhaben und Programme und nahm dabei typischerweise eine Perspektive ein, wonach politische Entscheidungen in einem Machtzentrum getroffen werden und Organisationen auf dem Street-level beziehungsweise die dort tätigen Akteur*innen diese Entscheidungen umsetzen (Pressman/Wildavsky 1973; van Meter/van Horn 1975;
2.1 Die Rolle des Street-levels im politischen Prozess
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Weingast/Moran 1983). In dieser klassischen Top-down-Perspektive der Implementationsforschung wird deutlich zwischen einem Zentrum der institutionalisierten Politik und den vielen Orten der Umsetzung in der Peripherie unterschieden. Während also Policy-Produzent*innen in politischen Machtzentren wie Parlamenten, Ministerien oder anderen übergeordneten Organisationen politische Entscheidungen treffen, werden diese in der Peripherie beziehungsweise auf dem Street-level von Policy-Arbeiter*innen in politisches Handeln, beispielsweise in Form des Regelunterrichts an Schulen, der Verfolgung und Ermittlung von Straftaten oder der Ausstellung von Dokumenten umgesetzt. Der Analysefokus richtet sich entsprechend vor allem auf die Fähigkeit von Entscheidungsträger*innen in den Machtzentren, eindeutige Entscheidungen zu formulieren und die ordnungsgemäße Implementation und Umsetzung der politischen Entscheidungen zu überwachen (van Meter/van Horn 1975). Policy-Produktion und Implementation werden als voneinander getrennte Prozesse angesehen, deren genauer Verlauf meist im Verborgenen bleibt (Pülzl/Treib 2007). In kritischer Auseinandersetzung damit entstanden Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre diverse Bottom-up-Ansätze der Implementationsforschung, die den Analysefokus auf die Orte der Implementation selbst richteten. Pülzl und Treib fassen die veränderte Sichtweise wie folgt zusammen: „They rejected the idea that policies are defined at the central level and that implementers need to stick to these objectives as neatly as possible. Instead, the availability of discretion at the stage of policy delivery appeared as a beneficial factor as local bureaucrats were seen to be much nearer to the real problems than central policy makers.“ (Pülzl/Treib 2007: 92)
Michael Lipsky, der als einer der wichtigsten Vertreter der Bottom-up-Ansätze gilt, entwickelte in den 1980er Jahren mit dem Street-level bureaucracy-Konzept eine neue Perspektive auf jene Organisationen, die auf dem Street-level Policy in politisches Handeln umwandeln (Lipsky 1980). Policy wird dabei laut Lipsky zumindest teilweise von den Akteur*innen, die mit der Umsetzung der Policy auf dem Street-level betraut sind, angepasst, übersetzt und geformt. Da formale Policies in Form von Gesetzen, Verordnungen oder Programmen in der Regel das Produkt ausgehandelter Kompromisse zwischen unterschiedlichen politischen Positionen darstellen, sind sie laut Lipsky geprägt durch mehrdeutige und widersprüchliche Intentionen, Ziele und Anforderungen, die bei der Umsetzung in konkrete politische Handlungen in Einklang gebracht werden müssen. Für die Auflösung der Widersprüche ist notwendigerweise ein gewisser Ermessensspielraum auf dem Street-level vorhanden und durch die konkrete Ausgestaltung
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Street-level-Experimente: Forschungsstand und Analyserahmen
dieser Ermessensspielräume werden die Akteur*innen auf dem Street-level zu De-facto-Policy-Produzent*innen (Lipsky 1980). Laut Lipsky erschweren allerdings einige charakteristische Bedingungen der Organisationen, die auf dem Street-level Policy in politische Handlungen umwandeln, die alltägliche Arbeit der beteiligten Street-level-Akteur*innen. Um unter den erschwerten Bedingungen sinnvoll arbeiten zu können, entwickeln die Akteur*innen häufig Coping-Strategien, die ihre alltägliche Arbeit erleichtern beziehungsweise überhaupt erst möglich machen. Diese Coping-Strategien beeinflussen die Nutzung des vorhandenen Ermessensspielraums in systematischer Art und Weise und bringen so eine charakteristische Street-level-Praxis hervor, die sich bei einer Vielzahl von Street-level-Organisationen in ähnlicher Weise beobachten lässt und dadurch zum eigentlichen Gegenstand der Street-level-Perspektive wird.3 „The Street-level perspective virtually flipped the script of conventional policy research, focusing not on what formal policy seemed to require, but on what organizations actually did in the name of policy.“ (Brodkin 2012: 943)
Evelyn Z. Brodkin sieht ebenfalls in der Auflösung von Policy-Widersprüchen eine zentrale politische Rolle der Organisationen auf dem Street-level. Wenngleich die Akteur*innen auf dem Street-level nicht immer im Bewusstsein handeln, politische Entscheidungen zu treffen, ist laut Brodkin ihr alltäglicher Umgang mit den vorhandenen Ermessensspielräumen durchaus insofern politisch, als die Konsequenzen dieses Umgangs unmittelbar die politischen Erfahrungen der Policy-Adressat*innen beeinflussen. Brodkin bezeichnet die Übersetzung von uneindeutiger Policy in eindeutiges Handeln auf dem Street-level daher als politics of practice (Brodkin 2011). Die Entscheidungen darüber, wer in einer bestimmten Situation staatliche Leistungen erhält, wer für sein Handeln sanktioniert wird, wessen Anliegen gehört werden oder wessen Rechte durchgesetzt werden, unterliegen laut Brodkin einer erheblichen Beeinflussung durch 3
Ein großer Teil der Studien, die an den Street-level-Ansatz von Lipsky anknüpfen, kommt zu dem Ergebnis, dass die Akteur*innen auf dem Street-level in der Regel nur mit unzureichenden Ressourcen ausgestattet sind, um ihren Aufgaben angemessen nachzukommen und deshalb unterschiedliche Coping-Strategien entwickelt werden, die die Umsetzung politischer Programme auf dem Street-level systematisch beeinflussen können (Lipsky 1980; Smith/Donovan 2003; Lindhorst/Padgett 2005; Brodkin 2012). Zum Beispiel ignorierten laut einer Studie von Lindhorst und Padgett die interviewten Sozialarbeiter*innen häufig explizit geäußerte Bedürfnisse der Betroffenen von häuslicher Gewalt, da sie diesen mit den gegebenen zeitlichen Ressourcen nur unzureichend begegnen könnten (Lindhorst/Padgett 2005).
2.1 Die Rolle des Street-levels im politischen Prozess
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die Art der Nutzung des vorhandenen Ermessensspielraumes auf dem Street-level (Brodkin 2011, 2013). Brodkin betont in diesem Zusammenhang, ähnlich wie Lipsky, dass typische Muster der Nutzung des Ermessensspielraumes auf der organisationalen Ebene entstehen, die infolge ihres systematischen Einflusses auf die Umsetzung von politischen Konzepten in konkretes Handeln politische Bedeutung erlangen. Entscheidend sei also weniger der Einzelfall auf dem Street-level, der durch den vorhandenen Ermessensspielraum ermöglicht werde und die für Gesetze, Verordnungen und politische Programme notwendige Vereinfachung und Verallgemeinerung ausgleiche. Vielmehr sei die systematische (häufig unbewusste) Nutzung des Ermessensspielraumes wichtig. Diese Nutzung werde nicht in erster Linie von jenen Individuen bestimmt, die durch die Policy adressiert würden, sondern durch andere, systematischere Faktoren, die in erster Linie auf der organisationalen Ebene zu suchen seien. Brodkin richtet noch deutlicher als Lipsky den analytischen Fokus auf „organizational settings“ (Brodkin 2015), welche die Art und Weise der Nutzung des Ermessensspielraums auf dem Street-level prägen. Dabei modernisiert sie den Ansatz von Lipsky maßgeblich, indem sie die organisationalen Veränderungen auf dem Street-level und die Veränderung der Governance-Strukturen seit den 1980er Jahren einbezieht (Brodkin 2011). Diese für den Ansatz entscheidenden Veränderungen fallen in eine Zeit, in der vor allem in Großbritannien und den USA das Misstrauen der Öffentlichkeit gegenüber staatlicher Regierung allgemein und großen staatlichen Behörden im Besonderen zunimmt (Moynihan 2008). In der Folge beauftragen Regierungen immer häufiger nichtstaatliche Organisationen mit der Umsetzung von politischen Vorhaben und Programmen auf dem Street-level. Diese Hinwendung zu nichtstaatlichen Organisationen kann als Teil eines größeren Wandlungsprozesses seit den späten 1970er Jahren betrachtet werden, auf den einige Jahre später mit der Bezeichnung New Public Management (NPM) Bezug genommen wurde (Gruening 2001). „From an analytic perspective, NPM marks a departure from ‚old’ public management premises of command and control, turning instead to approaches largely constructed around inducements […]. These approaches implicitly accept discretion as an inherent – at times even necessary – feature of implementation in a devolved and decentralized policy world. But they also recognize that discretion may be used in ways that can either support or thwart policy initiatives.“ (Brodkin 2011: 254)
Um ungewünschte Policy-Outcomes durch die Nutzung des Ermessensspielraums auf dem Street-level zu verhindern, werden gleichzeitig mit der Hinwendung zu nichtstaatlichen Akteur*innen neue Management-Technologien eingeführt.
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Street-level-Experimente: Forschungsstand und Analyserahmen
Dadurch soll eine effektive Umsetzung politischer Vorhaben auch durch nichtstaatliche Organisationen gewährleistet werden. An die Stelle eines klassischen bürokratischen Modells mit mehr oder weniger klar definierten Vorgaben, deren Umsetzung mittels hierarchischer Strukturen kontrolliert wird, tritt somit ein komplexes System von Anreizen und Sanktionen. Es ist geprägt von einem Wettbewerb zwischen den beauftragten Organisationen um (finanzielle) Ressourcen und soll über begrenzte Projektlaufzeiten, Berichtspflichten und (kennzahlenbasierte) Leistungsmessung mit den notwendigen Informationen versorgt werden (Brodkin 2011; Soss et al. 2011). Die beschriebenen Entwicklungen bilden laut Brodkin die Grundlage für ein spezifisches organisationales Setting, das wiederum spezifische Muster der Nutzung des Ermessensspielraums und damit eine spezifische Street-level-Praxis hervorbringt, die sich durchaus von der Praxis des klassischen Street-level Bureaucracy-Ansatzes unterscheiden kann. Infolge der verbreiteten Veränderungen des organisationalen Settings auf dem Street-level werden laut Brodkin indirekt politische Entscheidungen getroffen, die häufig nicht als solche wahrgenommen und diskutiert werden, aber dennoch enorme Auswirkungen auf das Leben der Policy-Adressat*innen haben können, da sie die Art und Weise der Nutzung der Ermessensspielräume systematisch beeinflussen.
2.2
Experimentelle Governance-Arrangements und Street-level-Experimente
Im Zuge der Verbreitung des New Public Managements wurden nichtstaatliche Organisationen und neue Management-Technologien im Vergleich zu staatlichen Behörden und deren bürokratischen Strukturen häufig als flexibler, anpassungsfähiger und innovativer beschrieben (Hoggett 1991; Soss et al. 2011). Insbesondere nichtstaatliche Street-level-Organisationen könnten durch ihre Nähe zu den Adressat*innen deren Bedürfnisse und die lokalen Gegebenheiten von politischen Maßnahmen besser verstehen und so passfähigere und damit auch innovativere Ansätze entwickeln (Soss et al. 2011; Arnold 2015). Zudem führe der Wandel von staatlichen zu nichtstaatlichen Street-level-Organisationen zu mehr Konkurrenz und Wettbewerb zwischen den einzelnen Organisationen und zu einer größeren Diversität der Angebote (Smith/Lipsky 1993; Sabel/Zeitlin 2008, 2012). Dies führe wiederum zu einer effektiveren und effizienteren Leistungserbringung, zu
2.2 Experimentelle Governance-Arrangements …
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weiteren Service-Innovationen und zu einer größeren Wahlmöglichkeit für die Leistungsadressat*innen.4 Vor dem Hintergrund dieser Erwartungen hat sich in einigen Politikfeldern der Auftrag an Street-level-Organisationen erweitert: Neben der Umsetzung von Policy in konkretes politisches Handeln tritt mehr und mehr die dezentrale Produktion von Policy-Innovationen, um trotz der häufig wahrgenommenen Ungewissheit und anhaltender Wandlungsprozesse die Passung und Effizienz politischer Ansätze zu gewährleisten. Das Modell, wonach formale Policy auf dem Street-level umgesetzt und in konkrete Handlungen transformiert werden soll, wird durch eine mehr oder weniger offen gestaltete Leitlinien- und Förderstruktur ersetzt, die in Bezug auf ein bestimmtes Politikfeld oder einen Regelungsbereich lediglich vage Ziele oder einen groben Rahmen für diverse Maßnahmen auf dem Street-level vorgibt. Soss et al. beschreiben diesen Modus und die daran geknüpften Hoffnungen für die Policy-Produktion wie folgt: „Devolution should free local actors to experiment with diverse service delivery approaches in response to local needs. Statewide performance feedback should provide local actors with the data they need to learn from their own mistakes and achievements, identify successes in other regions, and emulate best practices. Competitive performance pressures should provide local actors with strong incentives to make use of this information, learn from other regions, and adopt program improvements that work.“ (Soss et al. 2011: 207)
Unter dem Stichwort Experimental Governance (EG) beschreiben einige Autor*innen, dass immer häufiger Governance-Ansätze um rekursive Modi polyzentrischer Experimente (Eckert/Börzel 2012; Sabel/Zeitlin 2012; Búrca et al. 2014) im Sinne pragmatischer Problemlösungsmodi (Lindblom 1959) und pragmatischer Politik- und Lernkonzepte (Dewey 1927, 1997) erweitert werden. In ähnlicher Weise werden unter den Stichpunkten polyzentrische Governance (Ostrom 2010; Cole 2015; Thiel et al. 2019) beziehungsweise tentative Governance (Kuhlmann et al. 2019) neue Governance-Formen beschrieben, die sich insbesondere durch die Dezentralisierung politischer Entscheidungen, die Einbindung vielfältiger lokaler Erfahrungs- und Anwendungskontexte, eine vorläufige Herangehensweise sowie lokale und übergreifende Lernprozesse auszeichnen. So würden bei diesen Governance-Arrangements lediglich provisorische Rahmenkonzepte bereitgestellt, um dann in unterschiedlichen experimentellen Settings 4
Die skizzierten Erwartungen an Privatisierung und neue Management-Technologien stimmen in hohem Maße mit den Versprechungen überein, die häufig mit der Etablierung experimenteller Governance-Arrangements in Verbindung gebracht werden (Sabel/Zeitlin 2012).
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Street-level-Experimente: Forschungsstand und Analyserahmen
Lösungsansätze, Interessen und Werte kreativ miteinander zu verbinden. Die kreativen Verbindungen würden dann in der Praxis erprobt, weiterentwickelt und durch verteilte Lernprozesse wiederum in die provisorischen Rahmenkonzepte integriert. Bei experimenteller Governance soll also aus praktischen Erfahrungen in diversen lokalen Umgebungen (Ostrom 2010) sowie durch eine tentative (Kuhlmann et al. 2019) sowie rekursive (Sabel/Zeitlin 2010, 2012) beziehungsweise eine reflexive (Voß et al. 2006; Voß/Simons 2018) Vorgehensweise gelernt werden. Auch Sabel und Zeitlin beschreiben experimentelle Governance-Formen idealtypisch als iterativen Kreislauf, in dem (1) relativ vage und vorläufig formulierte Rahmenziele in der Regel gemeinsam von Akteur*innen aus Politik und der lokalen Praxis und unter Einbeziehung relevanter zivilgesellschaftlicher Akteursgruppen ausgehandelt und formuliert werden. (2) Dezentralen Organisationen wird dann ein relativ großer Gestaltungsspielraum eingeräumt, um diese breit formulierten Ziele auf ihre eigene Art und Weise zu erreichen. (3) Als Bedingung für die vergleichsweise große Autonomie müssen diese Organisationen regelmäßig Bericht über ihre Arbeit erstatten und sich mit den anderen Organisationen austauschen, sodass die Arbeit und Leistung verglichen und auf ihre Wirksamkeit bei der Erreichung der vorläufig formulierten Ziele hin begutachtet werden können. Fällt die Begutachtung negativ aus, so ist die jeweilige Organisation angehalten, geeignete Maßnahmen zur Korrektur der Missstände zu ergreifen. (4) Die Ziele, die Zielvereinbarungen und die Form des Austausches unterliegen selbst einer fortlaufenden Begutachtung und Anpassung durch die beteiligten Akteur*innen oder eigens für diesen Zweck bestimmter Organisationen. Rahmenkonzepte werden als living-documents konzipiert, die mittels Abgleich mit der Praxis kontinuierlich überprüft und angepasst werden. Diese Anpassungsprozesse finden im Idealfall in offenen Foren und unter Einbeziehung von Vertreter*innen der lokalen Organisationen sowie relevanter zivilgesellschaftlicher Akteur*innen statt (Sabel/Zeitlin 2012).5 5
Die idealtypische Beschreibung der experimentellen Governance-Arrangements liest sich auf den ersten Blick wie eine technische Beschreibung eines neutralen Prozesses, der durch die tentative, dezentrale und rekursive Vorgehensweise schlicht auf kontextspezifische Erfahrungen und kontextübergreifendes Lernen ausgerichtet ist. Allerdings wird beim genaueren Lesen insbesondere der Punkte drei und vier erkennbar, dass in dem Ansatz bestimmte Formate wie ein vergleichbares Berichtwesen, eine (quantifizierende) Leistungsmessung und Begutachtungsgremien angelegt sind. Brodkin beobachtet bei ihrer Untersuchung von SLOs ebenfalls eine Tendenz zur Vereinheitlichung, was die Ausgestaltung des organisationalen Settings angeht (Brodkin 2011). Während also eine Diversität der experimentellen Einheiten angestrebt wird, scheint der Ansatz gleichzeitig eine spezifische Art und Weise des Experimentierens voranzutreiben. Die Forschung zu SLEs und SLOs zeigt allerdings, dass dies zu
2.2 Experimentelle Governance-Arrangements …
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„Governance processes organized according to these principles may be considered experimentalist in the philosophical sense of American pragmatists like John Dewey (Dewey 1927) because they systematically provoke doubt about their own assumptions and practices; treat all solutions as incomplete and corrigible; and produce an ongoing, reciprocal readjustment of ends and means through comparison of different approaches to advancing common general aims.“ (Sabel/Zeitlin 2012: 170)
Die Bewegung hin zu experimentellen Governance-Arrangements beruht laut den Vertreter*innen der Ansätze auf der Annahme, dass in einer turbulenten, durch Wandel, Schnelllebigkeit und Ungewissheit geprägten Welt klare Regeln zu schnell obsolet werden und politische Entscheidungszentren nicht mehr in der Lage seien, angemessen auf die wechselnden Bedingungen und die Anforderungen vielfältiger lokaler Kontexte zu reagieren (Sabel/Zeitlin 2012; Geuijen et al. 2020). Um ihren Zweck zu erfüllen, müssten politische Programme und Maßnahmen auf die Bedürfnisse von diversen lokalen Zielgruppen zugeschnitten und immer wieder an Veränderungen angepasst werden. Die Entwicklung individueller Lösungen und vergleichbarer Instrumente zur Leistungsmessung sowie die Bereitschaft, kontinuierlich Wissen über gelingende Praxis zu generieren, anzupassen und zu verbreiten, mache somit den Kern experimenteller Governance aus (Sabel/Zeitlin 2012). Sabel und Zeitlin unterscheiden Experimental Governance nicht nur von den klassischen hierarchischen Steuerungsformen, sondern auch von anderen, neueren Steuerungsformen, die das Prinzipal-Agenten-Modell ihrer Ansicht nach reproduzieren. Dies gelte etwa für die Ansätze des NPM, da experimentelle Governance-Arrangements im Gegensatz zu NPM nicht auf der Vorstellung einer klaren Trennung zwischen Policy-Ansätzen und administrativer Umsetzung basieren, sondern auf der fortlaufenden Aushandlung zwischen Zielen und Maßnahmen durch einen sich auf mehreren Ebenen wiederholenden Kreislauf von provisorischer Rahmensetzung, lokaler Suche nach Lösungen und erneuter Anpassung des Rahmens. „In a world where ‚principals’ are uncertain of what precisely their goals should be and how best to achieve them, they must be prepared to learn from the problemsolving activities of their ‚agents’. Hence ‚principals’ can no longer hold ‚agents’ reliably accountable by comparing their performance against predetermined rules, since the more successful the latter are in developing new solutions, the more the rules themselves will change.“ (Sabel/Zeitlin 2012: 176)
einer systematischen Beeinflussung des Handelns auf dem Street-level beitragen kann (siehe Abschnitt 2.1).
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Street-level-Experimente: Forschungsstand und Analyserahmen
Somit ist es insbesondere die rekursive Schleife zurück zu den vorläufig formulierten Zielen sowie deren Anpassung im Lichte der Erfahrungen aus der Praxis, die als das Kernstück experimenteller Governance-Formen angesehen werden können. An dieser Stelle treten auch die Akteur*innen auf dem Street-level als eigentliche Policy-Produzent*innen auf den Plan. Sie nutzen nicht nur den vorhandenen Ermessensspielraum, um vorgegebene Ziele durch konkrete Maßnahmen umzusetzen, sondern schöpfen eher einen Gestaltungsspielraum aus, um im Rahmen ihrer alltäglichen Arbeit neue und praxistaugliche Lösungen für die situative Problemkonstellation zu entwickeln, die in den vage formulierten Rahmenkonzepten noch nicht berücksichtigt waren. Somit entscheiden die Akteur*innen auf dem Street-level nicht mehr alleine darüber, welcher Person aus dem Kreis der Policy-Adressat*innen eine bestimmte Leistung zusteht, um damit auf ein bestimmtes Problem zu reagieren. Vielmehr treten Entscheidungen über den Kreis der Adressat*innen, die Art der Leistung und das Problem an sich in den Vordergrund der Arbeit auf dem Street-level. Der reflexive Umgang mit den neuen Governance-Arrangements sowie die experimentelle Designs selbst erfahren bislang weder in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung noch bei der praktischen Umsetzung viel Aufmerksamkeit. Dabei weist die Forschung in der Tradition des Street-level-Ansatzes auf die (häufig nichtintendierten) Folgen des organisationalen Settings auf dem Street-level hin und betont darüber hinaus die politische Dimension der Arbeit, die auf dem Street-level erkennbar wird. Die vorliegende Arbeit setzt hier an und verfolgt das Ziel einer vertieften empirischen Analyse experimenteller Prozesse auf dem Street-level, um den wohlklingenden Versprechungen6 , die bisher die Auseinandersetzung mit experimentellen Formen des Politikmachens dominieren, eine differenziertere Perspektive entgegenzusetzen. Sie fasst lokale politische Experimente genau in den Blick und rückt darüber hinaus die politische Dimension 6
Die häufigsten Versprechungen, die mit experimentellen Governance-Arrangements in Verbindung gebracht werden, können wie folgt zusammengefasst werden: Die besondere Nähe zu den Zielgruppen beziehungsweise Adressat*innen von Politik sowie die kontextspezifischen Kenntnisse darüber, was vor Ort funktioniert, führen zu passungsfähigeren und bedarfsgerechteren Ansätzen. Durch das rekursive Vorgehen und die Möglichkeit, Ziele und Ansätze immer wieder im Lichte der lokalen Erfahrungen anzupassen, können experimentelle Governance-Arrangements schnell und flexibel auf Veränderungen reagieren. Viele dezentrale Experimente generieren unterschiedliche Ansätze, reagieren dabei flexibel auf veränderte Anforderungen und Rahmenbedingungen und testen vor Ort, was sich als robust und hilfreich bewährt und was nicht funktioniert. Durch Vernetzung der vielen dezentralen Experimente kann aus Fehlern und Erfolgen auch über die einzelnen Kontexte hinaus gelernt werden und erfolgreiche Ansätze können auf andere Kontexte übertragen werden. (Sabel/Zeitlin 2012)
2.3 Eine differenzierte Perspektive auf Street-level-Experimente
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wieder in den Fokus, die häufig hinter einem Schleier aus wissenschaftlicher Neutralität, evolutionistischen Vorstellungen einer freien Variation und Selektion und rationalistischen Innovations- und Effizienzversprechungen verborgen bleibt.
2.3
Eine differenzierte Perspektive auf Street-level-Experimente
Neuere Steuerungsformen wie experimentelle beziehungsweise polyzentrische und tentative Governance-Arrangements werden nicht ausnahmslos als geeignete Ansätze in Zeiten von zunehmender Komplexität und Ungewissheit angesehen oder als unerschöpfliche Quelle für robuste Policy-Innovationen idealisiert. Zahlreiche Studien haben sich im Anschluss an Michael Lipsky und Evelyn Z. Brodkin mit nicht intendierten Folgen und politischen Effekten von Privatisierung und neuen Management-Technologien auf dem Street-level auseinandergesetzt (Considine 2000, 2003; Lynn 2001; Lindhorst/Padgett 2005; Dias/MaynardMoody 2006; Moynihan 2006, 2008; Radin 2006; Jewell 2007; Soss et al. 2011; Brodkin 2011, 2015, 2016). Sie verweisen einerseits auf einen nicht einlösbaren Steuerungsoptimismus und betonen dabei neben den nicht intendierten Folgen von Monitoring und wettbewerbsorientierter Leistungsmessung vor allem die eingespielten Routinen auf dem Street-level sowie unrealistische Erwartungen im Hinblick auf Lernbereitschaft und Lernfähigkeit vor dem Hintergrund von Wettbewerb und begrenzten Ressourcen. Andererseits wird auf die strukturellen Auswirkungen der neuen Steuerungsformen auf Verteilungsentscheidungen hingewiesen und damit eine politische Dimension hervorgehoben, die auf einem ressourcenorientierten Politikverständnis basiert gemäß Lasswells berühmter Frage „Who gets what, when and how?“ (Lasswell 1936). In der Forschung wird auf Folgen der Beziehungen zwischen Staat und nichtstaatlichen Street-level-Organisationen hingewiesen, insbesondere auf die nichtintendierten Folgen von neuen Management-Technologien wie Monitoring, Leistungsmessung und Wettbewerb zwischen beteiligten Organisationen auf dem Street-level. Moynihan zeigt beispielsweise, dass Governance-Instrumente wie Leistungsindikatoren durch unterschiedliche lokale Akteur*innen durchaus unterschiedlich genutzt werden können und dass dies häufig in einer Art und Weise geschieht, die mit spezifischen Interessen der involvierten Akteur*innen auf dem Street-level in Verbindung stehen (Moynihan 2008). Zudem führe Leistungsdruck und Wettbewerb nicht automatisch zu Leistungsinnovationen und Effizienzsteigerung, da Veränderungen nicht ohne Weiteres durchgesetzt werden können, Lernprozesse nur schleppend vorangehen und lokale organisationale Routinen
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Street-level-Experimente: Forschungsstand und Analyserahmen
sowie lokale organisationale Kulturen Widerständigkeit gegenüber Wandel und Anpassung beweisen (Moynihan 2006, 2008). Leistungsmessung und Wettbewerb können aber auch deshalb zu nichtintendierten und nichterwünschten Folgen führen, weil einzelne Organisationen in ihren Leistungsinnovationen Wettbewerbsvorteile sehen und daher nicht an interorganisationalen Lernprozessen, wie sie im Rahmen der experimentellen Governance-Ansätze vorgesehen sind, interessiert sind (Soss et al. 2011). Auch können durch kennzahlenbasierte Steuerung Arbeitsabläufe und Zielgruppen so angepasst werden, dass sie zwar den Erfordernissen der Leistungsmessung genügen, gleichzeitig aber den weitergefassten Policy-Intentionen widersprechen oder von diesen ablenken (Radin 2006; Soss et al. 2011). Schließlich würden häufig gerade jene Adressat*innen politischer Maßnahmen bevorzugt behandelt, die einen schnellen Erfolg für die lokalen Organisationen versprechen und etwa im Rahmen der (kennzahlenbasierten) Leistungsmessung für ‚gute Zahlen‘ sorgen. Adressat*innen, die möglicherweise mehr Ressourcen benötigen, werden somit tendenziell eher von Leistungen ausgeschlossen (Considine 2003; Soss et al. 2011).7 Insgesamt weisen diese Studien darauf hin, dass vor allem jene Bereiche der Arbeit auf dem Street-level an Bedeutung gewinnen, die auch tatsächlich beobachtet und gemessen werden – beziehungsweise solche, die im Rahmen des vorherrschenden Governance-Arrangements beobachtbar und messbar und damit wichtig erscheinen.8 Unter den Bedingungen von knappen Ressourcen und Zeitmangel wird dagegen jenen Bereichen, die nicht der Beobachtung unterliegen, weniger Aufmerksamkeit zuteil, selbst wenn es sich dabei um eigentliche Kernaufgaben der Street-level-Organisationen handelt (Considine 2003; Radin 2006; Soss et al. 2011). In einigen Fällen lässt sich auch ein heimlicher oder offener Widerstand der Street-level-Arbeiter*innen gegen neue Management-Technologien wie Leistungsmessung, Berichtspflichten oder Wettbewerb im Allgemeinen beobachten, sei es aus Gründen der Überforderung oder aus moralischen Erwägungen und einem Verantwortungsgefühl gegenüber den Policy-Adressat*innen (Dias/Maynard-Moody 2006). Allerdings betonen die Autor*innen zugleich die relative Machtlosigkeit und den geringen Einfluss der Akteur*innen auf dem Street-level, wenn es darum geht, das organisationale Setting so zu gestalten, 7
Diesen Mechanismus beschreibt bereits Lipsky unter dem Begriff creaming (vgl. Lipsky 1980). 8 Die Anpassung der Street-level-Praktiken an die Vorgaben der Leistungsmessung bezeichnet Brodkin als meeting the numbers (Brodkin 2011).
2.3 Eine differenzierte Perspektive auf Street-level-Experimente
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dass die Street-level-Praktiken zu den eigenen Vorstellungen und Erwartungen an ihre Arbeit passen. Darin zeigt sich allerdings eine zentrale Gefahr für den Erfolg experimenteller Governance-Arrangements. Wenn die Akteur*innen auf dem Street-level nicht ausreichend in die Gestaltung und Transformation des organisationalen Settings einbezogen werden, könnten die kontextspezifischen Lösungsansätze sowie die erhofften Lerneffekte verpuffen. Insgesamt zeigen die Arbeiten, die in kritischer Absicht an den Street-level-Ansatz anknüpfen, dass Instrumente des NPM und EG einen flexiblen und zielgerichteten Umgang mit den individuellen Anliegen und Bedürfnissen der Policy-Adressat*innen auf dem Street-level behindern können (Lindhorst/Padgett 2005; Jewell 2007; Brodkin 2011; Soss et al. 2011). Somit werden nicht nur die Vorteile des vorhandenen Ermessensspielraumes gefährdet, sondern die Zielsetzung der Förderung von Innovationen und Effizienzsteigerung als solche aufs Spiel gesetzt. Neben der skizzierten Kritik an der Funktionsweise der neuen GovernanceArrangements und deren nicht intendierten oder unerwünschten Auswirkungen werden die häufig suggerierte Rationalität und politische Neutralität der Ansätze und die damit einhergehenden Folgen kritisiert (Lynn 2001; Brodkin 2006; Radin 2006; Brodkin 2011). Im Fokus steht dabei die Rahmung von (gesellschaftlichen) Problemen und Herausforderungen als Folgeerscheinungen der Rationalisierung beziehungsweise der Effizienzsteigerung. Eine solche Rahmung, die durch Instrumente des NPM und experimentelle Governance-Arrangements vorgenommen werde, trete an die Stelle einer Rahmung von Problemen als politische Probleme, die mit Fragen eines pluralistischen Meinungsstreits sowie der (demokratischen) Legitimation verbunden wäre. Dies verschleiert den Charakter der Arbeit auf dem Street-level, der ein politischer sei: „In practice, the policy work of Street-level organizations is political work to the extent that it effectively determines who gets what and how, thus constituting a form of policy politics (i.e., the politics of what policy should be). Consequently, managerial strategies should be understood as political when they alter informal Street-level practices in ways that have substantive and distributive consequences for the production of policy, whether intentional or inadvertent […].“ (Brodkin 2011: 254–255)
Die Studien in der Tradition des Street-level Ansatzes folgen in ihren ontologischen und epistemologischen Grundannahmen überwiegend einem positivistischen Verständnis, das die Rolle von Symbolen und kulturellen Mustern sowie deren Deutung bei der Umsetzung von politischen Konzepten in konkretes politisches Handeln weitgehend ignoriert und von objektiv bestehenden Problemen ausgeht, zu deren Lösung die Akteur*innen auf dem Street-level mehr oder weniger erfolgreich beitragen können (Pülzl/Treib 2007). Im folgenden Abschnitt wird
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Street-level-Experimente: Forschungsstand und Analyserahmen
gezeigt, warum die positivistischen Annahmen zu einer verzerrten Perspektive auf Street-level-Experimente führen können und welchen Beitrag die Erkenntnisse interpretativer Ansätze im Bereich der Policy- und Implementationsforschung zu einer differenzierteren Analyse von Street-level-Experimenten leisten können. Arbeiten aus dem Bereich der interpretativen Policy- und Implementationsforschung verweisen auf die zentrale Rolle von Interpretation und Deutung im politischen Prozess (Fischer/Gottweis 2012). Der Vorstellung von Politik als rationalem, interessengeleitetem und zielorientiertem Problemlösungsprozess wird ein komplexeres Verständnis gegenübergestellt, das die Vielfalt und Widersprüchlichkeit politischer Prozesse betont und bedeutungsgebende Systeme wie Symbole, Metaphern und Erzählungen berücksichtigt (Münch 2016). Interpretative Ansätze der Policy- und Implementationsforschung stehen in der Tradition des interpretativen Paradigmas der Soziologie und teilen die Annahme, dass gesellschaftliche Wirklichkeit als ein Ergebnis interaktiver Interpretationsprozesse angesehen werden kann (Keller 2012). Diese Ansätze weisen darauf hin, dass in Bezug auf ein Phänomen häufig unterschiedliche, uneindeutige und sich teilweise widersprechende Deutungen und Interpretationen parallel bestehen, die erst durch die bedeutungsgebenden und interpretierenden Aktivitäten der involvierten Akteur*innen hervorgebracht werden. Der Fokus dieser Ansätze richtet sich daher weniger auf die Frage, wie es zu Unterschieden zwischen Policy-Intention und politischem Handeln kommt oder warum bestimmte politische Probleme auf dem Street-level nicht adäquat gelöst werden. Vielmehr geht es um die Frage, welche Bedeutung politischen Vorhaben auf dem Street-level zugeschrieben wird beziehungsweise wie politische Probleme, Ziele, Intentionen etc. gedeutet und interpretiert werden (Yanow 1996) und wie dementsprechend einzelne Maßnahmen im Vollzug der Ermessensentscheidungen ausgerichtet oder verändert werden. Für die Deutungs- und Interpretationsprozesse werden kollektiv erzeugten Bedeutungskontexten – etwa im Sinne von Meads Diskursuniversum (Mead 1934; Mead/Morris 1972) oder Strauss‘ sozialen Welten (Strauss 1978, 1993) – eine zentrale Rolle zugeschrieben, die im Rahmen von Deutungs- und Interpretationsprozessen als situationsspezifische Deutungsmuster und Interpretationsrepertoires gewisse Anknüpfungspunkte bieten. Politische Probleme können in einer solchen Perspektive sowohl als situativ wie auch kulturell geprägt angesehen werden.9 9
Kultur kann dabei mit Eckstein als „the variable and cumulatively learned patterns of orientations to action” definiert werden (Eckstein 1997: 26). Hoppe spricht sich zudem für einen umfassenderen Kulturbegriff aus, der über gelernte kognitive Muster im Sinne von Bedeutungen, Normen, Werten und Symbolen hinausgeht. Kultur sei einerseits als Art und Weise zu begreifen, wie Welt gemacht wird, also in welcher Art und Weise welche Konzepte
2.3 Eine differenzierte Perspektive auf Street-level-Experimente
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Betrachtet man zum Beispiel die vielfältigen Organisationen, die auf dem Streetlevel experimentieren und dabei eine neue politische Praxis hervorbringen, wird deutlich, dass sie in der Regel nicht nur zu diesem Zweck gegründet wurden. Hingegen haben sie eine Vorgeschichte: Sie sind häufig aus sozialen Bewegungen, aus der Zivilgesellschaft oder aus staatlichen Organisationen hervorgegangen, als Reaktion auf bestimmte historische Ereignisse oder soziale Bedürfnisse entstanden, haben oder hatten eine für ihre Arbeit charakteristische Zielgruppe. Oft wurzeln sie in einem bestimmten gesellschaftlichen beziehungsweise professionellen Bereich. Sie verfügen daher von Anfang an über eine spezifische organisationale Kultur, welche die Definition von Problemen, die Auswahl und Definition von Zielgruppen, die Art und Weise des Experimentierens mit möglichen Lösungsansätzen und die möglichen Lern- und Lösungsstrategien mitprägt (Darrow 2015). Interpretative Ansätze widersprechen zudem einer klaren Trennung zwischen Politikformulierung in einem kontextübergreifenden politischen Raum und der Implementation in einzelnen Kontexten. „In contrast, it assumes that prior debates and policy meanings have an impact on policy execution as they influence implementers’ understanding of the policy problem.“ (Pülzl/Treib 2007: 100) Insofern werden die Deutungen und Interpretationen auf dem Street-level nicht nur durch diverse kontextspezifische Sinnhorizonte beeinflusst, sondern es bestehen jeweils vielfältige Anschlussmöglichkeiten an kontextübergreifende Deutungsmuster und Interpretationsrepertoires der jeweiligen Policy-Diskurse, welche das Verständnis der zu lösenden Probleme mitprägen. Eine interpretative Perspektive auf Street-level-Experimente berücksichtigt demnach kontextspezifische ebenso wie kontextübergreifende Deutungsmuster und Interpretationsrepertoires und trägt so zu einem differenzierten Verständnis der experimentellen Prozesse auf dem Street-level bei. Mit Blick auf die Forschung zu experimentellen beziehungsweise polyzentrischen Governance-Formen unterscheiden Voß und Schroth zwei Hauptstränge: einen positivistisch-utilitaristischen und einen pragmatistisch-interpretativen Strang (Voß/Schroth 2018). In beiden würden Experimente als Lösungsversuche für wahrgenommene Probleme verstanden; es gebe eine vorläufige Erprobung und schrittweise Anpassung von Ideen in der Praxis. Ein grundlegender Unterschied und Kategorien verwendet werden, um unterschiedliche Phänomene begreifbar zu machen. Andererseits sei Kultur als Lebensstil zu begreifen, der sich sowohl als spezifische MenschMensch-Interaktion als auch als Mensch-Artefakt und Mensch-Natur Interaktion beobachten lasse (Hoppe 2002.).
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Street-level-Experimente: Forschungsstand und Analyserahmen
bestehe jedoch im Verständnis des Experiments: Der positivistisch-utilitaristische Zugang sehe Experimente als Prozess der Annäherung an eine objektiv bestehende Realität, der pragmatistisch-interpretative als einen Prozess der Verwirklichung einer neuen Realität. Aus positivistisch-utilitaristischer Perspektive müssen zudem im experimentellen Prozess Konflikte nicht politisch gelöst werden, da Entscheidungen erfahrungs- und evidenzbasiert getroffen werden und auf die Anforderungen einer unabhängig von den beteiligten Akteur*innen bestehenden Realität reagieren. Aus pragmatistisch-interpretativer Sicht beruhen Entscheidungen im experimentellen Prozess dagegen auf dem Prinzip der Einstimmigkeit oder Gleichheit. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass soziale Interaktionen im Rahmen der Experimente auf Freiheit, symmetrischen Machtbeziehungen und der Möglichkeit gegenseitiger Verständigung beruhen und abweichende Positionen durch kommunikatives Handeln (Habermas 1981) oder gegenseitige Anpassung (Lindblom 1965) zum Ausgleich gebracht werden können. In beiden Strängen spiele, so Voß und Schroth, die Betrachtung widerstreitender Interessen und vorhandener Machtasymmetrien keine große Rolle (Voß/Schroth 2018). Darüber hinaus wird den profaneren Herausforderungen bei der Durchführung von Experimenten nur wenig Aufmerksamkeit zuteil. Was passiert im experimentellen Prozess, wenn durch die Heterogenität der involvierten Akteur*innen die Voraussetzungen für kommunikatives Handeln und eine gegenseitige Anpassung nicht ohne Weiteres gegeben sind oder wenn im Alltag auf dem Street-level Widerstände und Anforderungen auftreten, die in den experimentellen Prozess integriert werden müssen? Der differenzierte Blick auf die alltägliche Praxis des Experimentierens mit all seinen Herausforderungen und Unwägbarkeiten gehört zu den Hauptthemen der Science and Technology Studies. Die sogenannten Laborstudien von Knorr-Cetina (1984, 1995) sowie Latour und Woolgar (1986) führten schon vor vielen Jahren zu der Erkenntnis, dass Experimentieren immer ein genuin sozialer Prozess ist, bei dem die Entscheidungsfindung tief in historisch gewachsene kulturelle und institutionelle Muster mit asymmetrischen Beziehungen und etablierten Machtpositionen eingebettet ist. Experimente finden nicht nur in einem spezifischen gesellschaftlichen Kontext statt, sondern sind auch in spezifische materielle Konfigurationen eingebettet (Voß/Schroth 2018). Als angemessene Methode, um die experimentelle Arbeit in Laboren zu erforschen, schlugen die Autor*innen eine
2.3 Eine differenzierte Perspektive auf Street-level-Experimente
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ethnografische Vorgehensweise vor10 , die allerdings nicht mehr zur Untersuchung ‚fremder‘ und ‚exotischer‘ Stämme eingesetzt werden sollte, sondern zur Untersuchung der eigenen, vertraut scheinenden Welt: „Whereas we now have fairly detailed knowledge of myths and circumcision rituals of exotic tribes, we remain relatively ignorant of the details of equivalent activity among tribes of scientists, whose work is commonly heralded as having startling or, at least, extremely significant effects on our civilization.“ (Latour/Woolgar 1986: 17)
Der neue und ‚fremdmachende‘ Blick auf das vermeintlich Bekannte deckt wichtige Zusammenhänge auf. Unter Laborbedingungen – also unter Einsatz von technischen Apparaten, Chemikalien, Versuchstieren etc. – würden vorhandene Elemente neu angeordnet und mithin manipuliert. Die Ergebnisse würden dann nach langwierigen Aushandlungs- und Stabilisierungsprozessen als gesicherte Resultate in wissenschaftlichen Publikationen erscheinen und dort unter weitgehender Auslassung der komplexen Herstellungsgeschichte präsentiert (Krauss 2006). Bei den Laborstudien handelt es sich aber nicht notwendigerweise um den Pauschalvorwurf, dass die Wissenschaft Fakten konstruiere. Vielmehr geht es ihnen „[…] um eine genaue Rekonstruktion der Übersetzungsleistungen, Transformationen, Kontrollapparate in ihrer Verfertigung durch Wissenschaftler“ (Krauss 2006: 433). Diese Rekonstruktion verdeutlicht allerdings, dass es sich vermutlich weder bei den Experimenten in wissenschaftlichen Laboren noch bei jenen im politischen Bereich um neutrale Verfahren der Annäherung an einen bereits bestehenden Gegenstand oder um die neutrale Entwicklung von Lösungsansätzen für bereits bestehende Probleme handeln kann. Entsprechend kann auch bei den dezentralen politischen Experimenten auf dem Street-level in vielfältigen lokalen Kontexten nicht ohne Weiteres von einem neutralen Beobachtungs- und Lernprozess ausgegangen werden, an dessen Ende die objektiv beste Lösung für ein unabhängig von den Experimenten bestehendes Problem steht. Ebenso wenig kann ohne Weiteres von einem freien und gleichberechtigten Aushandlungsprozess ausgegangen werden, an dessen Ende unterschiedliche Positionen und Sichtweisen über vorhandene Probleme in gemeinsam anerkannte Lösungsstrategien integriert werden. Stattdessen sollten die Experimente auf dem Street-level als komplexe soziale Prozesse empirisch untersucht werden, um mehr über ihre
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Ein entsprechender Vorschlag für die differenzierte Untersuchung von Policy stammt von Vincent Dubois: „We can see that such ethnographic fieldwork not only provides policy analysis with more precise and nuanced information, but is a key tool in shedding light on the fundamental contradictions of this policy.“ (Dubois 2009: 232)
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Street-level-Experimente: Forschungsstand und Analyserahmen
sozio-materielle Situiertheit und ihre Rolle bei der Gestaltung von spezifischen Realitäten lernen zu können. Damit in Zusammenhang steht schließlich der Vorwurf fehlender (demokratischer) Legitimation im Rahmen dezentraler Policy-Experimente (Voß/Schroth 2018). Anknüpfungspunkt ist einerseits die Kritik an Entpolitisierung und den damit verbundenen Gefahren der Verschleierung von politischen Entscheidungen, die auch im Street-level-Ansatz vorgebracht wird. Andererseits wird eine kritische Sicht auf die Privatisierung politischer Aufgaben aufgegriffen, die im Fall von experimentellen Governance-Formen bis hin zu einer Privatisierung politischer Meinungsbildungs- und Entscheidungsfindungsprozesse reicht, die sowohl außerhalb des öffentlichen Raumes als auch außerhalb der demokratisch gewählten Organe stattfinden können und damit dem formaldemokratischen Zugriff entzogen sind (Voß/Simons 2018). Verfechter*innen der experimentellen Governance-Ansätze sehen gerade in experimentellen Governance-Ansätzen eine Antwort auf die seit Langem bestehenden Legitimationsdefizite hierarchischer Regierung. Die demokratisch legitimierten Institutionen seien in einer Gesellschaft, die immer komplexer und vielfältiger werde, nicht (mehr) in der Lage, die Umsetzung der delegierten Aufgaben in ausreichendem Maße zu kontrollieren. Wenn sie aber öffentlich sichtbar immer wieder ihre Rahmensetzung auf der Grundlage von dezentral verteilten Experimenten anpassen und erneuern müssten, könnten sie auf Grundlage dieser Anpassungsleistungen von einer größeren Öffentlichkeit beurteilt und zur Rechenschaft gezogen werden. Sabel und Zeitlin sprechen in diesem Zusammenhang von einer directly deliberative polyarchy (Sabel/Zeitlin 2012). Damit betonen sie erstens den deliberativen Charakter von experimenteller Governance, da die bestehende politische Praxis durch den Austausch von Argumenten infrage gestellt und noch einmal überdacht werden könne. Zweitens betonen sie den direkten Charakter des deliberativen Prozesses, da die Argumente direkt aus der politischen Praxis entwickelt würden, welche wiederum in den lokalen Organisationen verortet sei. Somit könnten die unmittelbaren Reaktionen der Adressat*innen einbezogen werden. Schließlich betonen sie die Machtverteilung auf viele dezentrale Organisationen, was zu der Berücksichtigung diverser Kontexte im experimentellen Lernprozess beitrage (Sabel/Zeitlin 2012). Ansätze wie jene von Sabel und Zeitlin gehen anscheinend davon aus, dass unterschiedliche Perspektiven im Rahmen der experimentellen GovernanceArrangements durch kommunikatives Verstehen und gegenseitige Annäherung miteinander in Einklang gebracht werden und mittels kollektiver Lernprozesse zu Interessenausgleich und Politikinnovationen führen. Hingegen betonen Ansätze mit Bezug zu den Science and Technology Studies die entscheidende Rolle
2.3 Eine differenzierte Perspektive auf Street-level-Experimente
33
von kultureller Präkonfiguration und Machtasymmetrien im experimentellen Prozess (Voß/Schroth 2018). Die Gefahr der Entpolitisierung von GovernanceArrangements könne daher gerade durch diejenigen Ansätze verstärkt werden, die in einem evolutionistischen Sinne davon ausgehen, dass experimentelles Lernen als Prozess des rationalen Austausches von Argumenten unterschiedlicher Akteur*innen angesehen werden kann, an dessen Ende sich die besten Argumente – und damit die am besten geeigneten politischen Instrumente – durchsetzen. Gegen diesen Deliberationsoptimismus sprechen die Erkenntnisse aus dem Umfeld der STS, die zeigen, dass die Art und Weise, wie experimentiert wird und wie beziehungsweise was aus den Experimenten gelernt werden kann, in erheblichem Ausmaß kulturell und situativ geprägt ist. Experimente, ganz gleich welcher Art, machen demnach nicht einfach sichtbar oder erfahrbar, was bisher verborgen war, sondern sie konstruieren neue Realitäten, die auch davon geprägt sind, was die Experimente sichtbar machen wollen und können (Voß/Simons 2018) (Abbildung 2.1).
Street-level-Ansatz
Science and Technology
Interpretative
Fokus auf Akteur*innen auf
Studies
Policy-Forschung
dem Street-level und deren
Fokus auf die alltägliche
Fokus auf Interpretation und
Umgang mit den vorhandenen
Praxis des Experimentierens
Deutung im experimentellen
Ermessensspielräumen
Fokus auf die materiellen
Prozess
Fokus auf das organisationale
Konfigurationen, in welche
Fokus auf kollektiv erzeugte
Setting auf dem Street-level
die experimentellen Prozesse
Interpretations- und
eingebettet sind
Deutungskontexte
Fokus auf Gefahren
Fokus auf Komplexität und
der Depolitisierung
Widersprüchlichkeit experimenteller Prozesse
Abbildung 2.1 Schematische Darstellung der analytischen Perspektive auf SLEs
Um ein differenziertes Verständnis der Street-level-Experimente zu entwickeln, ist ein empirisches Vorgehen erforderlich. Es gilt im Detail zu untersuchen, wie die als situierte Prozesse aufgefassten Experimente durch die involvierten
34
2
Street-level-Experimente: Forschungsstand und Analyserahmen
Akteur*innen auf dem Street-level durchgeführt und wie und vor welchem soziomateriellen Hintergrund dabei Probleme, Zielgruppen und mögliche Lösungsansätze konstruiert werden. Brodkin misst der Situiertheit des Street-levels eine große Bedeutung zu. Sie sieht ihren Ansatz daher nicht nur in der Tradition von Lipskys Forschung zur Street-level Bureaucracy, sondern auch in jener der Chicagoer Schule der Soziologie, die dem organisationalen Setting beziehungsweise der Situiertheit traditionell viel Gewicht bei der Untersuchung des Sozialen gibt: „A second tradition is associated with the Chicago school of sociology in that it grounds analysis of social relations in particular settings in order to give it depth and context. In this case, the analysis of policy processes is located in specific organizational settings in order to develop a deeply-contextualized understanding of how they are formed and what they do. This approach sees Street-level organizations as politically-embedded, both reflecting and refracting the larger environment in which they operate.“ (Brodkin 2015: 7)
Brodkins SLO-Ansatz allein eignet sich allerdings nicht als Analyserahmen, da die entscheidende Größe des organisationalen Settings zu vage bleibt und, abgesehen vom Verweis auf die Chicagoer Schule der Soziologie, fast ausschließlich durch die Auseinandersetzung mit einzelnen empirischen Beobachtungen als analytisches Konzept greifbar wird. Im nächsten Abschnitt soll daher kurz auf die durch den symbolischen Interaktionismus und die Chicagoer Schule der Soziologie beeinflussten organisationssoziologischen Arbeiten von Anselm Strauss und die in dieser Tradition stehenden sensibilisierenden Konzepte11 eingegangen werden: das Konzept der machbaren Problemstellungen (doable problems), der sozialen Welten (social worlds) und der Arenen (arenas). Gemeinsam schaffen sie einen Analyserahmen für eine differenzierte empirische Untersuchung von Street-level-Experimenten.
11
Herbert Blumer stellt die Form der sensibilisierenden Konzepte (sensitizing concepts) definitiven Konzepten (definitive concepts) gegenüber: „A definitive concept refers precisely to what is common to a class of objects, and by the aid of a clear definition in terms of attributes or fixed bench marks […]. A sensitizing concept lacks such specification […]. Instead, it gives the user a general sense of reference and guidance in approaching empirical instances. Whereas definitive concepts provide prescriptions of what to see, sensitizing concepts merely suggest directions along which to look.“ (Blumer 1954: 7) Blumer folgend werden mit den sensibilisierenden Konzepten Vorschläge gemacht, wie auf ein bestimmtes Phänomen geschaut werden kann. Damit wird kein definitives und falsifizierbares Konzept an die Empirie herangetragen, sondern es werden Vorschläge unterbreitet, die sich mit Blick auf die Daten als mehr oder weniger hilfreich erweisen können.
2.4 Sensibilisierende Konzepte für die Analyse …
2.4
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Sensibilisierende Konzepte für die Analyse von Street-level-Experimenten
Wenn man sich dafür interessiert, wie politische Experimente auf dem Street-level durchgeführt werden, muss man sich fragen, wie die involvierten Akteur*innen dort konkret mit den unterschiedlichen alltäglichen Herausforderungen des experimentellen Prozesses umgehen. In diesem Zusammenhang stehen für die Beteiligten unter anderem folgende Fragen im Vordergrund: Wie kann die Finanzierung der Street-level-Experimente gesichert werden? Wie können wichtige Akteur*innen in den experimentellen Prozess eingebunden werden? Wie kann der Ort, an dem das Experiment verankert ist, sinnvoll genutzt werden? Wie kann mit Ungewissheit umgegangen werden? Welche Ansätze werden ausprobiert und wie beziehungsweise anhand welcher Maßstäbe kann entschieden werden, ob sie vielversprechend und erfolgreich sind? Die Suche nach den Antworten auf diese und weitere Fragen während der alltäglichen Arbeit im Rahmen der SLEs kann mit Fujimura (Fujimura 1987) und Clarke und Fujimura (Clarke/Fujimura 1992) als das Generieren von machbaren Problemstellungen (doable problems) beschrieben werden. Das Begriffspaar ‚machbare Problemstellungen‘ wird hier als Übersetzung für doable problems verwendet. Die Verbindung aus Machbarkeit (doability) und Problemen (problems) verweist dabei nicht nur auf die Bedeutung von situativer Machbarkeit bei der Auswahl von Problemlösungen – in diesem Fall könnte man besser von machbaren Problemlösungen sprechen – sondern auf die Bedeutung von situativer Machbarkeit für die Problemdefinition und Auswahl bestimmter Probleme in der jeweiligen Situation. Damit wird an die sozialkonstruktivistische Soziologie sozialer Probleme angeknüpft, die auf den Zusammenhang zwischen vorhandenen oder wahrgenommenen Lösungsmöglichkeiten und der Problemkonstruktion in einer bestimmten Situation oder einem spezifischen Zusammenhang hinweist (Spector/Kitsuse 2006). Fujimura untersucht am Beispiel der Krebsforschung, wie doable problems in einem neuen und von Ungewissheit geprägten Forschungsfeld hergestellt werden. Unter doability – also Machbarkeit – versteht sie „the alignment of several levels of work organization“ (Fujimura 1987: 258 [Hervorhebung im Original]). Für das Feld der Krebsforschung unterscheidet sie drei wichtige Ebenen, die miteinander in Übereinstimmung gebracht beziehungsweise aufeinander ausgerichtet werden müssen: das Experiment (experiment), das Labor (laboratory) und die soziale Welt (social world). Die Ebene des Experiments ist im Labor verortet und meint die unterschiedlichen konkreten Arbeitsschritte und Arbeitsprozesse, die im Forschungsprozess in einem Labor stattfinden. Das Labor ist die Organisation der
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2
Street-level-Experimente: Forschungsstand und Analyserahmen
Gesamtheit aller einzelnen Experimente, die an einem Ort und in der Regel von einer bestimmten Gruppe von Wissenschaftler*innen durchgeführt werden. Die soziale Welt ist der größere sozialweltliche Kontext, in welchen die Labore eingebettet sind. Die Ebene der sozialen Welt wird hier nicht im Sinne des Konzeptes von Strauss (1978) und Clarke (1991) verstanden, vielmehr bezieht sich Fujimura damit eher auf das gesamte Feld, die Arena der Krebsforschung. „Achieving doability thus means that investigators simultaneously align or fit their research problems across experimental or other research capacities, laboratory/work site organization and overall direction, and the broader world of fiscal, scientific, and extrascientific support and interest.“ (Clarke/Fujimura 1992: 8)
Um die Machbarkeit von Problemstellungen gewährleisten zu können, müssen also die Anforderungen auf diesen drei Ebenen aufeinander abgestimmt werden. Dies gelingt im Wesentlichen durch das aktive Manipulieren und (Neu-) Ausrichten der verschiedenen Elemente in der Situation: „At the heart of constructing doable problems lies actively manipulating and articulating the various elements in the research situation.“ (Clarke/Fujimura 1992: 9) In diesem Prozess werden also unterschiedliche Elemente auf den drei Ebenen des (Forschungs-) Projektes so manipuliert, verändert und arrangiert, dass verschiedene Möglichkeiten, Anforderungen und Hindernisse auf den drei Ebenen ‚verbunden‘ werden und machbare Problemstellungen entstehen. Manipulierbare Elemente reichen dabei von theoretischen Ansätzen und Konzepten über Methoden und Forschungsinstrumente bis hin zu den Forschungsgegenständen selbst. Vor dem Start eines Forschungsprojektes versuchen die an der Planung beteiligten Akteur*innen Ideen daher so zu entwickeln, dass sie unter den gegebenen Bedingungen von signifikanten Anderen als wertvoll und unterstützenswert angesehen werden. Die Ausrichtung des Projektansatzes an den imaginierten Erwartungen signifikanter Anderer sowie den zugrunde liegenden Problemen endet allerdings nicht mit dem Beginn der Projektlaufzeit: „[…] this crafting is not merely a precommitment activity but continuous throughout the project as the problem is constructed and reconstructed along with attendant reorganizing over time. Things can also fall apart at any time, and may or may not be patched together again to continue the work.“ (Clarke/Fujimura 1992: 8)
Wenn machbare Problemstellungen erzeugt wurden, sind sie also keineswegs stabil, sondern sie können (und müssen) im Hinblick auf unterschiedliche Ereignisse und Herausforderungen im Projektverlauf immer wieder angepasst und verändert werden (Fujimura 1987).
2.4 Sensibilisierende Konzepte für die Analyse …
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Das sensibilisierende Konzept der machbaren Problemstellungen richtet den Fokus auf die Erzeugung von Machbarkeit im komplexen und dynamischen Alltag der untersuchten Street-level-Experimente. Im Zentrum steht zum einen die Frage, wie unter den Voraussetzungen von Ungewissheit in der Planungsphase der Experimente die Perspektive machbarer Problemstellungen geschaffen wird. Zum anderen fasst das Konzept in den Blick, wie im fortlaufenden Prozess der Experimente immer wieder aufs Neue machbare Problemstellungen generiert werden, welche Akteur*innen – aber auch welche nichtmenschlichen Aktanten – involviert sind und welche Ebenen dabei berücksichtigt werden (müssen). Neben der Ebene des Experimentes, das in Anlehnung an die Aufteilung bei Fujimura die konkreten Arbeitsschritte umfasst, die auf dem Street-level stattfinden, wird für die Untersuchung von Street-level-Experimenten zwischen der Ebene der sozialen Welten und der Ebene der Arena unterschieden. In Bezug auf die Frage der Erzeugung machbarer Problemstellungen im Rahmen von Street-level-Experimenten kann das Konzept der sozialen Welten Aufschluss darüber geben, wie die charakteristischen Aktivitäten der an den Experimenten beteiligten Akteur*innen sowie deren geteilte Orientierungen, Räume, Gegenstände, Technologien und Organisationsformen in die Herstellung von Machbarkeit einfließen. Tomatsu Shibutani, der im Rahmen seiner Arbeit zu Bezugsgruppen (reference groups)12 die interaktionistischen Konzepte der Situationsdefinition und der Perspektive verbindet, formuliert bereits in den 1950er Jahren den Rahmen für spezifische kulturelle Interpretationsrepertoires, die auf der Mesoebene wirksam werden. Demnach entwickeln Akteur*innen ihre Perspektive in einer gegebenen Situation nicht völlig eigenständig, sondern eingebunden in die Interaktionsprozesse unterschiedlicher Gruppen. Die so über die Zeit internalisierten Perspektiven beeinflussen wiederum die Definition einzelner Situationen (Shibutani 1955). Die Bezugsgruppen sind laut Shibutani in ein kulturelles Areal eingebunden, das in der modernen Massengesellschaft durch seinen kommunikativen Charakter und die verfügbaren Medien nicht zwingend ortsgebunden ist und relativ spezifische Formen annehmen kann. In diesem Zusammenhang führt er erstmals den Begriff der sozialen Welt ein und nennt vier dafür charakteristische Aspekte, auf die sich später Anselm Strauss in seiner Konzeption bezieht: Soziale Welten beinhalten demnach erstens eine mehr oder weniger regelgeleitete, wechselseitige Bezugnahme der Akteur*innen aufeinander, zweitens eine spezifische Form der Organisation und drittens gewisse 12 Als Bezugsgruppe oder reference group bezeichnet Shibutani eine Gruppe, die eine bestimmte Perspektive bereitstellt, welche den zentralen Referenzrahmen des Handelns ihrer Mitglieder bildet (Shibutani 1955).
38
2
Street-level-Experimente: Forschungsstand und Analyserahmen
kulturelle Eigenheiten; viertens sind die Grenzen einer sozialen Welt weder geografisch noch durch Mitgliedschaft bestimmt, sondern ergeben sich durch die Grenzen der effektiven Kommunikation (Strauss 1978). Erst Anselm Strauss – und in einer etwas abgewandelten Form Howard S. Becker – entwickelte ein systematisches Konzept sozialer Welten, das in der Folge unter anderem von Adele Clarke weiterentwickelt wurde. Clarke definiert soziale Welten in Anlehnung an Strauss als „[…] groups with shared commitments to certain activities, sharing resources of many kinds to achieve their goals, and building shared ideologies about how to go about their business“ (Clarke 1991: 131). Die von Clarke betonte wesentliche Erweiterung der Strauss’schen Konzeption im Vergleich zu Shibutani besteht in der Berücksichtigung von ‚Greifbarem‘ wie Körper, Technologien, Orte und vor allem Aktivitäten als konstituierende Bestandteile sozialer Welten. Mit dem Ansatz werden Gruppen bzw. kollektive Akteur*innen in den Blick genommen, die nicht in erster Linie durch eine formelle Organisation konstituiert sein müssen. In jeder sozialen Welt ist dagegen mindestens eine primäre Aktivität auffallend und es gibt mindestens in Bezug auf einen substanziellen Bereich typische Verhaltensweisen. Strübing weist auf die Bedeutung sozialer Welten für die Orientierungen und das Handeln der involvierten Akteur*innen in unterschiedlichen Handlungskontexten hin. Es handele sich bei sozialen Welten um einen „[…] sozialen Zusammenhang, zu dem Akteure dauerhaft oder phasenweise ein intensives [commitment] entwickeln und der in vielfältigen Handlungskontexten für die Akteure handlungsleitend ist – oft ohne daß dies in den Situationen ‚gewußt‘ wird“ (Strübing 1997: 372). Soziale Welten seien dabei „dauerhaftere, wenngleich ebenfalls in stetem Wandel befindliche soziale Konstrukte“ (Strübing 1997: 372).13 Dauerhaft sind sie auch und hauptsächlich deshalb, weil sie nicht auf „soziale Konstrukte“ reduziert, sondern auch in materialisierter Form – etwa als Werkzeuge, Technologien oder Räume – gedacht werden. Insofern könnte man in Anlehnung an Strübing besser von dauerhafteren und dennoch in stetigem Wandel befindlichen sozio-materiellen Konstrukten sprechen.
13
Der Ansatz wird auch von Strauss antideterministisch und dynamisch gedacht und betont damit „the creative potential of individuals and groups acting in the face of social limitations“ (Strauss 1978: 120).
2.4 Sensibilisierende Konzepte für die Analyse …
39
Das sensibilisierende Konzept der Arenen bezieht sich auf die sozialen Welten, die sich mit einem bestimmten Problembereich wie der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration von geflüchteten Menschen befassen und darüber mit anderen sozialen Welten in Austausch treten. Es lenkt den Blick zudem auf ein Set an Symbolen, Regeln, Strukturen, Organisationen und Inhalten, das selbst Gegenstand der Aushandlung zwischen den beteiligten sozialen Welten ist, gleichzeitig aber auch die Art und Weise beeinflusst, wer oder was als Problem, Zielgruppe und Lösung anerkannt wird und wie Probleme, mögliche Zielgruppen und Lösungsansätze definiert werden. Daher kann dieser Ebene bei der Generierung von machbaren Problemstellungen im Prozess der Street-level-Experimente ebenfalls eine entscheidende Bedeutung beigemessen werden. Aufbauend auf dem Ansatz der sozialen Welten kann eine Arena zunächst allgemein als eine Folge der Überlappung von unterschiedlichen sozialen Welten bei der gemeinsamen Auseinandersetzung mit einem bestimmten Thema angesehen werden. In diesem Sinne ist eine Arena „[…] a field of action and interaction among a potentially wide variety of collective entities […]. In arenas, all the social worlds that focus on a given issue and are prepared to act in some way come together.“ (Clarke 1991: 128) Laut Strübing sind Arenen auf Probleme bezogene Interaktionen zwischen oder in sozialen Welten (Strübing 2007), „[…] soziale Orte, an denen RepräsentantInnen unterschiedlicher sozialer Welten miteinander in Aushandlungsprozesse verwickelt sind“ (Strübing 1997: 372). Reibungen und Konflikte, die sich im Zentrum einer Arena finden – und die bei Strauss durchaus auch produktiv aufgefasst werden –, bilden die Grundlage für Aushandlungsprozesse und längerfristig betrachtet für Wandlungsprozesse in der Arena (Clarke 1991). Mit dem Konzept der Arena werden politische Prozesse als dynamische und vielschichtige Prozesse in den Blick genommen, bei denen unterschiedliche Akteur*innen und Akteursgruppen mit unterschiedlichen Perspektiven über eine Vielzahl von lokalen Kontexten hinweg, aber bezogen auf ein bestimmtes Themengebiet oder einen Streitpunkt, in eine gemeinsame und wechselseitige Diskussion über Problemdefinitionen und Problemlösungsmöglichkeiten treten.
40
2.5
2
Street-level-Experimente: Forschungsstand und Analyserahmen
Zwischenfazit
Die vorgebrachte Kritik an der Auseinandersetzung mit experimentellen Governance-Arrangements und die offenen Fragen zu Street-level-Experimenten können in einem Forschungsansatz aufgegriffen werden, der die komplexe Dynamik der experimentellen Prozesse in den Blick nimmt. Experimente werden als soziale Prozesse begriffen, die Teil einer spezifischen sozio-materiellen Konstellation, das heißt situiert sind. Durch die Untersuchung von Street-levelExperimenten als situierte soziale Prozesse bezieht der Forschungsansatz auch Macht und Interessen sowie Fragen der Legitimation als genuine Bestandteile experimenteller Prozesse ein und hat somit eine politische Dimension, die bei der Auseinandersetzung mit experimenteller Politikgestaltung in der Regel wenig Beachtung findet. Für eine analytisch differenzierte Untersuchung der Situiertheit experimenteller Prozesse auf dem Street-level wird im Folgenden auf die Situationsanalyse nach Clarke (2012) und auf die sensibilisierenden Konzepte der machbaren Problemstellungen (Fujimura 1987; Clarke/Fujimura 1992) sowie der sozialen Welten und Arenen (Strauss 1978; Clarke 1991) zurückgegriffen (Abbildung 2.2). Damit richtet sich die Untersuchung konkret auf die Konstruktion von machbaren Problemstellungen (für die Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen) auf dem Street-level (in Berlin) unter Beteiligung spezifischer sozialer Welten (wie der kulturellen Bildungsarbeit oder der Bildungs- und Berufsberatung), im Kontext einer Arena (in der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration aus verschiedenen sozialen Welten heraus angegangen wird). Im folgenden Kapitel wird die empirische Umsetzung des dargestellten Forschungsansatzes beschrieben und diskutiert.
2.5 Zwischenfazit
41
Problemstellung machbar
Arena
Soziale Welt
Street-level
Problemstellung nicht machbar
Abbildung 2.2 Schematische Darstellung machbarer Problemstellungen
3
Methodologischer Rahmen und methodisches Vorgehen
In diesem Kapitel werden die Auswahl der empirischen Gegenstände und des methodologischen Rahmens begründet und das konkrete methodische Vorgehen im Verlauf der empirischen Studie beschrieben. Nachfolgend soll die komplexe Dynamik von politischen Experimenten auf dem Street-level als soziale Praxis betrachtet werden. Um diese komplexe Dynamik der SLEs erfassen zu können, ist eine differenzierte Untersuchung deren Situiertheit erforderlich. Über die alltägliche Arbeit auf dem Street-level hinaus müssen daher weitere Elemente, zum Beispiel rechtliche Rahmenbedingungen, kulturelle und diskursive Elemente sowie räumliche und materielle Gegebenheiten und deren Zusammenwirken, in den Blick genommen werden, sofern sie für die komplexe Dynamik der SLEs eine Rolle spielen. Als methodologischer Rahmen für dieses Vorhaben eignet sich die Situationsanalyse nach Adele Clarke (Clarke 2005, 2012), die als Theorie-Methoden-Paket das empirische Vorgehen strukturiert. In den folgenden Abschnitten wird zunächst die konkrete Fallauswahl und die Festlegung der Untersuchungszeiträume diskutiert, danach wird kurz die Situationsanalyse als methodologischer Rahmen vorgestellt, bevor schließlich das empirische Vorgehen im Rahmen der Situationsanalyse im Einzelnen beschrieben wird.
3.1
Fallauswahl und Untersuchungszeiträume
Die vorliegende Arbeit kann als Fallstudie im Sinne einer empirischen Untersuchung verstanden werden, die ein gegenwärtiges Phänomen eingehend in seinen realweltlichen Kontexten untersucht. Die Datengrundlage ist vielfältig und trägt durch die Berücksichtigung unterschiedlicher Datenquellen und -sorten zu einem differenzierten Verständnis des Falles bei. Die Datenerhebung orientiert sich in
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 F. Maas, Politik zwischen Innovation und Machbarkeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-38335-0_3
43
44
3
Methodologischer Rahmen und methodisches Vorgehen
erster Linie am Forschungsinteresse und an vorläufigen konzeptionellen Überlegungen, die im Forschungsprozess immer wieder wechselseitig angepasst und verändert werden (Yin 2009). Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich genauer um eine erweiterte Fallstudie1 , bei der die Street-level-Experimente im Bereich der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration über einen längeren Zeitraum im Hinblick auf ihre komplexe Dynamik untersucht werden: „At the complex end of the continuum is the extended case study. This is a further elaboration of the basic study of case material for it deals with a sequence of events sometimes over quite a long period, where the same actors are involved in a series of situations in which their structural positions must continually be re-specified and the flow of actors through different social positions specified. The particular significance of the extended case study is that since it traces the events in which the same set of main actors in the case study are involved over a relatively long period, the processual aspect is given particular emphasis. The extended case study enables the analyst to trace how events chain on to one another and how therefore events are necessarily linked to one another through time.“ (Mitchell 1983: 194)
Mitchel unterstreicht in dem Zitat den prozessualen Charakter von erweiterten Fallstudien und macht zugleich auf die Veränderungen des Falls im Beobachtungszeitraum aufmerksam, die damit zum zentralen Beobachtungsgegenstand in dieser Form der Fallstudie werden können. Erweiterte Fallstudien können (wie bei der vorliegenden Arbeit) auch aus mehreren Einzelfällen bestehen, deren Analyse laut Yin durch eine vergleichende Perspektive zu gemeinsamen, fallübergreifenden Schlussfolgerungen führen können (Yin 2009). Die vergleichende Perspektive zielt dabei allerdings nicht auf die fallweise Isolierung einzelner Variablen, um deren Einfluss in einem Kausalzusammenhang zu bestimmen, sondern auf Plausible Conjectures (Boswell et al. 2019), also auf plausible Mutmaßungen, die fundierte Aussagen über die untersuchten Gegenstände und Zusammenhänge ermöglichen und mittels vergleichender Herangehensweise an das umfangreiche empirische Material gewonnen werden. Peregrine Schwartz-Shea und Dvora Yanow (2012) warnen vor Begriffen wie Fallvergleich oder Fallauswahl in postpositivistischen Forschungsansätzen, da sie ein verzerrtes Bild über den Forschungsprozess und das Verhältnis zwischen Forschenden und den Forschungsgegenständen suggerierten – zum Beispiel hänge es von der Perspektive der Forschenden ab, was überhaupt zum Fall erklärt werde oder ob zwei Fälle als ähnlich oder als kontrastierend angesehen würden. Im Gegensatz dazu wollen Boswell, Corbett und Rhodes nicht auf eine vergleichende 1
Mitchel unterscheidet drei Formen der Fallstudie, die geeignete Illustration, die soziale Situation und die erweiterte Fallstudie (Mitchell 1983).
3.1 Fallauswahl und Untersuchungszeiträume
45
Perspektive verzichten und sprechen sich daher für eine spezifische Form des Vergleichens aus, die die Annahmen postpositivistischer Ansätze integriert: „We can be left with an unpalatable choice between shoe-horning in ill-fitting ‘case selection strategies’ grounded in positivist assumptions, or obscuring the comparative element of the project altogether […]. What is needed, and what we seek to provide […] is a distinctively interpretive language for adopting and adapting comparative case selection.“ (Boswell et al. 2019: 57)
Für einen interpretativen Ansatz schlagen sie allgemein gehaltene Strategien zur Fallauswahl vor, die insgesamt auf der Einsicht beruhen, dass im Rahmen einer abduktiven Herangehensweise Entscheidungen bezüglich des Forschungsdesigns und der Fallauswahl nicht final vor dem eigentlichen Forschungsprozess getroffen werden können, sondern in einem iterativen Prozess mit zunehmender Kenntnis des Forschungsfeldes und Konkretisierung der Forschungsfragen eruiert, widerrufen und verändert werden sollten (Boswell et al. 2019). In der vorliegenden Arbeit war die Fallauswahl daher in mehrere Schritte untergliedert: In einem ersten Schritt wurde mit der Bildungs- und Arbeitsintegration geflüchteter Menschen in Berlin ein für das Forschungsinteresse geeigneter politischer Bereich gewählt, in dem mit großer Wahrscheinlichkeit experimentelle Prozesse auf dem Street-level erwartet werden konnten.2 In einem zweiten Schritt wurde dieser Bereich im Rahmen einer Vorstudie näher betrachtet, um geeignete Initiativen und Projekte für eine ethnografische Untersuchung auswählen zu können. Als Auswahlkriterien diente in erster Linie der experimentelle Charakter der Projekte und die übergreifende Zielsetzung, innovative Integrationsansätze auf dem Street-level hervorzubringen. Zusätzlich sollten sich die ausgewählten Initiativen und Projekte sowohl in Bezug auf die involvierten Akteur*innengruppen als auch in der Art und Weise des Experimentierens unterscheiden. Aus diesem Grund wurde ein Projekt aus dem Bereich der Bildungsberatung ausgewählt, das überwiegend durch staatliche Mittel finanziert wird, und ein weiteres Projekt aus dem Bereich der kulturellen Bildung, das stärker in der Zivilgesellschaft verankert ist. Abgesehen von den genannten Auswahlkriterien waren für die letztendliche Fallauswahl die Laufzeit der Projekte sowie der mögliche Feldzugang für die 2
Zum einen gab es in den Bereichen der Aufnahme und Integration geflüchteter Menschen in den Jahren seit 2015 ein beachtliches Gelegenheitsfenster für experimentelles Handeln auf dem Street-level (Schiffauer 2017; Geuijen et al. 2020), wobei die Themen Bildung und Arbeit eine zentrale Rolle einnahmen (Aumüller 2016; Gesemann/Roth 2016; OECD 2017). Zum anderen wird Berlin als Stadt eine besondere „Experimentierfreudigkeit“ (Reusswig/Lass 2017: 313) zugeschrieben.
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3
Methodologischer Rahmen und methodisches Vorgehen
ethnografische Forschung von Bedeutung. Schließlich wurden im Verlauf der ethnografischen Forschung und mit Spezifizierung der Fragestellung unterschiedliche Situationen für die teilnehmende Beobachtung ausgewählt. Die skizzierte Strategie der Fallauswahl ermöglicht zu beobachten, wie in unterschiedlichen Situationen mit den (alltäglichen) Herausforderungen des Experimentierens auf dem Street-level umgegangen wird, welche Praktiken zum Einsatz kommen und in welche (übergreifenden) Prozesse die Arbeit auf dem Street-level eingebettet ist. Simmons und Smith fassen das Forschungsinteresse hinter einer solchen Fallauswahl in Abgrenzung zu einem klassischen politikwissenschaftlichen Vergleich wie folgt zusammen: „Where political scientists typically compare similar or dissimilar outcomes, ethnographically oriented comparison highlights political processes – that is, the dynamics and practices that shape political life – as the proverbial outcome of interest.“ (Simmons/Smith 2019: 352)
Im folgenden Abschnitt werden die beiden ausgewählten SLEs kurz vorgestellt, bevor dann genauer auf das konkrete Vorgehen bei der Datenerhebung und der Datenauswertung im Rahmen der Situationsanalyse eingegangen wird.
3.1.1
Die Gärtnerei
„Im Grunde genommen geht es um die Frage, wie wir zusammenleben wollen. Dieser Frage gehen wir auch bei diesem Projekt nach. Es entfaltet sich schrittweise und ist als Ort des Lernens sowie als lernender Ort angelegt.“ (Schlesische27; Raumlaborberlin 2017)
Das künstlerische, am Stadtraum orientierte Projekt Die Gärtnerei war ein Kooperationsprojekt einer Einrichtung im Bereich der kulturellen Bildung, des Jugendkunst- und Kulturzentrums Schlesische 27 und des Architekturkollektivs raumlabor.berlin, das auf einem ehemaligen Friedhofsgelände in Berlin Neukölln umgesetzt wurde. Die ersten Ideen zum Projekt entstanden Ende des Jahres 2014. Im Jahr 2017 wurde die Gärtnerei in das übergreifende Projekt Coop Campus integriert. Ab dem Jahr 2015 wurden auf dem Gelände der Gärtnerei neben Gartenarbeit, kleineren Kiezfesten und Abendveranstaltungen auch Sprachkurse und berufsvorbereitende Workshops für eine kleinere Gruppe von geflüchteten Menschen angeboten.
3.1 Fallauswahl und Untersuchungszeiträume
47
Die Zielgruppe für die Sprachkurse und Workshops bestand zu Beginn des in vorliegender Arbeit geschilderten Projektverlaufs im Kern aus zehn bis zwölf jungen Männern, die größtenteils aus westafrikanischen Ländern über Italien nach Berlin gekommen waren und aufgrund der Dublin-III-Verordnung (Dublin III)3 überwiegend keinen rechtlichen Anspruch auf ein Asylverfahren in Deutschland hatten. Sie waren von den meisten Programmen im Bereich der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration in Deutschland ausgeschlossen. Die Sprachkurse und die berufsvorbereitenden Workshops wurden von einem kleinen Team von Projektmitarbeiter*innen organisiert und zum größten Teil von freiwilligen Helfer*innen und den Projektmitarbeiter*innen durchgeführt. Zudem sollte das Projekt Unterstützung und Orientierung in alltagspraktischen Fragen bieten und Möglichkeiten des Zusammenlebens in der wachsenden Stadt ausloten. Durch einen kooperativen und sozialräumlich orientierten Ansatz sollte ein Ort des gemeinsamen Arbeitens und des Zusammenlebens für geflüchtete Menschen, Nachbar*innen, Künstler*innen und andere Interessierte entstehen. Das Projekt konnte im Zeitraum zwischen Frühjahr 2016 und Herbst 2017 durch eine teilnehmende Beobachtung sowie Interviews und Dokumentenanalysen untersucht werden. Der Feldzugang konnte durch einen Dokumentarfilm über das Projekt hergestellt werden, bei dem der Erstgutachter der vorliegenden Arbeit als Interviewpartner eingeladen wurde. Die Feldforschung wurde in großen Teilen gemeinsam mit einer weiteren Doktorandin des Graduiertenkollegs der Deutschen Forschungsgemeinschaft „Innovationsgesellschaft heute. Die reflexive Herstellung des Neuen“ durchgeführt, die sich im Rahmen ihres Dissertationsprojektes vor allem für die Verbindung von ästhetischen und politischen Praktiken bei der Arbeit mit geflüchteten Menschen in der Gärtnerei interessierte. Insgesamt gestaltete sich der Feldzugang als relativ unkompliziert, da das Projekt als offener Ort für alle Interessierten aus der Nachbarschaft gedacht war und so die Rolle als freiwilliger Projektteilnehmer eingenommen werden konnte. In dieser Rolle war die teilnehmende Beobachtung insbesondere in allen Bereichen des Projektalltags sowie während unterschiedlicher öffentlicher Veranstaltung jederzeit
3
Die Dublin-III-Verordnung (Dublin III) ist eine Verordnung der Europäischen Union, die regelt, welcher Staat für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig ist. Die Verordnung gilt für die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sowie für Norwegen, Island, die Schweiz und Liechtenstein. Dublin III orientiert sich bei der Bestimmung des zuständigen Landes am Kindeswohl und am Schutz der Familie, indem der Aufenthalt von Familienmitgliedern oder engen Verwandten berücksichtigt wird. In den meisten Fällen greift aber das Kriterium der Ersteinreise, nach welchem jener Staat für das Asylverfahren zuständig ist, in dem die schutzsuchende Person das erste Mal die EU-Grenze überschreitet. (Koehler 2018).
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3
Methodologischer Rahmen und methodisches Vorgehen
möglich. Zusätzlich konnte die Teilnahme an Teammeetings der Projektmitarbeiter*innen und an Planungs- und Organisationstreffen der Projektverantwortlichen auf Anfrage realisiert werden.
3.1.2
Mobile Bildungsberatung für geflüchtete Menschen
„Also, die mobile Beratung an sich hatten wir vorher auch schon, dass wir so eine aufsuchende Beratung für bestimmte Gruppen gemacht haben, die eben vollkommen entwurzelt waren, aber das war eben- sie sind schwer zu finden, diese Menschen. Und jetzt haben wir bei den Geflüchteten sozusagen spezifiziert und haben mit der mobilen Beratung für die Geflüchteten am Oranienplatz angefangen und das war so die erste Spielgruppe, wenn man das so nennen darf.“ (Interview – Projektsteuerung 1)
Ende 2015 gab die damalige Senatorin für Arbeit, Integration und Frauen die Idee einer mobilen Bildungsberatung für geflüchtete Menschen in Berlin öffentlich bekannt. Damit sollte ein zentrales Beratungsnetzwerk für die Bereiche der Bildungs- und Berufsberatung geflüchteter Menschen ins Leben gerufen werden. Schutzsuchende in Berlin sollten so früh wie möglich erreicht werden, um vorhandene Potenziale frühzeitig erfassen zu können und eine entsprechende Bildungsberatung anzubieten, die dabei hilft, diese Potenziale zu entfalten. Wie im Eingangszitat zu lesen ist, sollte mit dem Konzept an die mehrjährige Erfahrung der mobilen Bildungsberatung für schwer erreichbare Zielgruppen angeknüpft werden. Das Merkmal der Mobilität sollte übernommen und das Konzept durch die Erfahrungen der Berater*innen vor Ort an die besondere Situation von geflüchteten Menschen angepasst werden (SenAIF 2016a). Ursprünglich waren die Berliner Volkshochschulen als Beratungsorte vorgesehen, da man davon ausging, dass dort geflüchtete Menschen relativ frühzeitig im Rahmen von Sprachkursen angetroffen werden könnten. Darüber hinaus sollten Geflüchtete ab Anfang 2016 in sogenannten Willkommen in Arbeit Büros (WiA-Büros) direkt vor Ort in den Unterkünften aufgesucht und beraten werden. Das erste WiA-Büro wurde in einem der Hangars des ehemaligen Flughafens im Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg eröffnet, in welchem sich zu diesem Zeitpunkt die größte Berliner Notunterkunft für Geflüchtete mit mehr als 2 000 Bewohner*innen befand. Die WiA-Büros sollten als Beratungsort für die MoBiBe sozusagen „direkt im Wohnzimmer“4 der Geflüchteten dienen. Darüber hinaus
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Diese Formulierung stammt von einem mobilen Bildungsberater, der im Rahmen einer Informationsveranstaltung im WiA-Büro Tempelhof mit Gästen des Deutschen Instituts
3.1 Fallauswahl und Untersuchungszeiträume
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sollten sie für weitere Angebote, die sich direkt an Geflüchtete richten, offenstehen und im Sinne eines „Kompetenzzentrums“ (Interview – Projektsteuerung 2) Angebote und Informationen bündeln, damit die Geflüchteten entsprechend ihrer individuellen Situation und ihrer jeweiligen Bedürfnisse vor Ort unterstützt werden können. Die MoBiBe ist Teil der Dachmarke Berliner Beratung zu Bildung und Beruf (SenIAS 2018). Ab 2015 wurde sie zunächst über außerplanmäßige Mittel des Landes Berlin im Rahmen des Masterplans Integration und Sicherheit finanziert, heute kommen die Mittel von der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales. Die MoBiBe befindet sich im Verantwortungsbereich der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales (SenIAS) (vormals Arbeit, Integration und Frauen), Abteilung Arbeit und berufliche Bildung. Insgesamt waren zum Datenerhebungszeitraum mehr als 30 mobile Bildungsberatende in unterschiedlichen Beratungseinrichtungen beschäftigt, die wiederum von unterschiedlichen Trägern der Bildungsberatung betrieben wurden. Das Angebot der MoBiBe wurde bis Ende des Jahres 2020 durch das Projekt Partnerschaften in der Bildungsberatung (P:iB) koordiniert, das von der SenIAS für diesen Zweck beauftragt wurde (P:iB 2018). Die MoBiBe in Berlin konnte im Zeitraum zwischen Frühjahr 2017 und Frühjahr 2018 untersucht werden. Im Vergleich zur Gärtnerei war der Feldzugang im Fall der MoBiBe und der WiA-Büros schwieriger, was unmittelbar mit der komplizierten Projektstruktur aus Senatsverwaltung, Bildungsberatungsträgern und einzelnen Beratungseinrichtungen zusammenhing und zusätzlich durch die bürokratische Kultur der zuständigen Senatsverwaltung sowie der privaten Bildungsberatungsträger verstärkt wurde.5 Zunächst wurde noch im Rahmen der Vorstudie bei den Interviewpartner*innen in der Senatsverwaltung nach einem Feldzugang zu Projekten gefragt. Erst nach mehrfachem Nachhaken wurde der Kontakt zu einem der involvierten Bildungsberatungsträger hergestellt. Auf Trägerebene wurde danach ein Hospitationsvertrag abgeschlossen, der sowohl eine Datenschutzerklärung als auch ein Verbot der aktiven Mitarbeit beinhaltete. Schlussendlich erhielt ich Zugang zu einer der Beratungseinrichtungen des Trägers, in dessen Team ich durch den Hospitationsvertrag integriert worden war. Nun konnte ich den mobilen Bildungsberater*innen in ihrem Arbeitsalltag folgen und zusätzlich an Mitarbeiterschulungen, Teammeetings und Koordinationstreffen für Urbanistik das Projekt der MoBiBe vorstellte (Beobachtungsprotokoll – MoBiBe vom 05.05.2017). 5 Insgesamt vergingen zwischen dem ersten Interview in der zuständigen Senatsverwaltung und dem Beginn der teilnehmenden Beobachtung knapp fünf Monate.
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3
Methodologischer Rahmen und methodisches Vorgehen
mit Vertreter*innen der zuständigen Senatsverwaltung, des Koordinationsprojektes der WiA-Büros sowie der anderen Bildungsberatungsträger teilnehmen.6
3.2
Das Theorie-Methoden-Paket der Situationsanalyse
In diesem Abschnitt wird die Situationsanalyse vorgestellt, die die Prozesse der Datenerhebung und -auswertung im Rahmen der vorliegenden Arbeit strukturiert hat, bevor im Abschnitt danach im Einzelnen auf die Datenerhebung und -auswertung eingegangen wird. Die Situationsanalyse ist eine Theorie- und Methodenperspektive, die an Strauss und Corbin (1996) anknüpft. Insbesondere Clarke hat deren Grounded-Theory-Methodologie (GT) mit neueren, postpositivistischen Impulsen aus den Gender-Studies, den Science and Technology Studies und der Diskursanalyse weiterentwickelt (Clarke 2012; Strübing 2014; Clarke 2005) mit dem Ziel, Theorieansätze der Postmoderne in der Praxis der qualitativen Sozialforschung zu etablieren. Clarke wendet sich gegen positivistische, unikausale, rationalistische und anthropozentrische Sichtweisen und will der Komplexität sozialer Phänomene stärker Rechnung tragen (Clarke 2012). Empirisch lässt sich diese Komplexität anhand von Situationen erfassen, wobei sich Clarke gegen einen Dualismus von Situation und Kontext wendet und einen umfassenderen Situationsbegriff wählt: „Die Bedingungen der Situation sind in der Situation enthalten. So etwas wie ‚Kontext‘ gibt es nicht. Die bedingenden bedingten Elemente der Situation müssen in der Analyse selbst spezifiziert werden, da sie für diese konstitutiv sind und sie nicht etwa nur umgeben, umrahmen oder etwas zur Situation beitragen. Sie sind die Situation.“ (Clarke 2012: 112 [Hervorhebungen im Original)
Die Situation als relationales Gefüge, das erst durch die aufeinander bezogenen Elemente konstituiert wird, kann nicht unabhängig von der Fragestellung, vom Gegenstand der Forschung und von den empirisch beobachteten Vorgängen bezüglich der Fragestellung und des Gegenstandes bestimmt werden. Das bedeutet zugleich, dass die Rolle der forschenden Person, ihr (Vor-)Wissen, ihre Herangehensweise, also auch die eingesetzten methodischen Werkzeuge, die Situation mitkonstituieren. Clarke schlägt typische Elemente vor, die bei der Konstituierung der meisten Situationen eine mehr oder weniger wichtige Rolle einnehmen 6
Ab März 2018 war ich selbst in einer anderen Beratungseinrichtung als mobiler Bildungsberater für geflüchtete Menschen tätig. Die Datenerhebung endet mit Beginn des Beschäftigungsverhältnisses.
3.2 Das Theorie-Methoden-Paket der Situationsanalyse
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können, und bedient sich dabei den Elementen der klassischen Bedingungsmatrix der GT (Strauss/Corbin 1996). In ihrer beispielhaften Matrix zählt sie zu den Bedingungen räumliche und zeitliche Elemente, individuelle und kollektive menschliche Elemente, nichtmenschliche Elemente, polit-ökonomische Elemente, diskursive Konstruktionen von Akteuren, organisationale und institutionelle Elemente, bedeutende Streitpunkte, lokale bis globale Elemente, soziokulturelle Elemente, symbolische Elemente, populäre und andere Diskurse. Diese beispielhaften Kategorien müssen nicht in jeder Situationsanalyse berücksichtigt werden. Sie dienen aber als Suchperspektive für relevante konstituierende Bestandteile in der jeweiligen Situation (Clarke 2012). Neben der theoretischen und methodologischen Aktualisierung der GT wird auch das praktische Vorgehen des offenen Kodierens (Glaser/Strauss 2008; Strauss/Corbin 1996; Strübing 2014) und der Erstellung einer Bedingungsmatrix in der Situationsanalyse durch eine Form des Kartierens (mapping) von Situationen erweitert (Clarke 2012). Im Zentrum des Vorgehens, das Clarke als Forschungstechnik auf die frühen Arbeiten der Chicagoer Schule der Soziologie zurückführt, steht das Aufzeigen von relevanten Elementen, Relationen und Analyserichtungen im Verlauf des Forschungsprozesses. Die Mapping-Verfahren sind daher nicht ans Ende der Forschung verschoben, sondern können und sollen immer wieder im Laufe des Forschungsprozesses angewendet und aktualisiert werden. Beim Mapping handelt es sich allerdings auch nicht um die Erstellung von Mind-Maps im Sinne der Visualisierung eines Brainstormings, das der eigentlichen empirischen Forschung vorangestellt ist. Bei den Maps werden dagegen in jeder Phase des Forschungsprozesses konkrete Bezüge zum empirischen Material hergestellt (Clarke 2012). Somit schließt die Anfertigung der Maps an den Prozess des offenen Kodierens nach der GT an (Glaser/Strauss 2008; Strauss/Corbin 1996; Strübing 2014). Ziel ist, all jene Elemente in der SituationsMap abzubilden, die für die Beantwortung der Forschungsfrage herangezogen werden sollen. Clarke unterscheidet drei Map-Typen: Die einfache Situations-Map, die Map sozialer Welten und Arenen sowie die Positions-Map (Clarke 2012). Die Situations-Map dient der Ordnung unterschiedlicher relevanter Elemente, beispielsweise nach menschlichen Akteur*innen, nichtmenschlichen Artefakten, räumlichen Entitäten oder Interaktionen. Zudem lassen sich durch die SituationsMap einzelne Elemente fokussieren und in Relation zu anderen Elementen setzen, um zum Beispiel unterschiedliche Zusammenhänge und Perspektiven sichtbar zu machen. Bei den Maps sozialer Welten und Arenen soll aufgezeigt werden, welche Akteursgruppen, Organisationen und Arenen besonders relevant für die untersuchte Situation in Bezug auf die Fragestellung sind. Schließlich wird in
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3
Methodologischer Rahmen und methodisches Vorgehen
den Positions-Maps die Darstellung wichtiger Positionen in Bezug auf die in der Situation verhandelten Themen angestrebt. Über die Arbeit mit Maps sozialer Welten und Arenen schreibt Strübing zusammenfassend: „Maps Sozialer Welten und Arenen sind insbesondere für die Analyse von in Arenen stattfindenden Aushandlungen zwischen Sozialen Welten von Bedeutung. Gerade hier liegt ein Ansatzpunkt für diskursanalytische Perspektiven, denn in Aushandlungen innerhalb und zwischen Sozialen Welten wird vielfältig auf Diskurse referiert, etwa indem sie zur Legitimation eigener Positionen und Praktiken in Anschlag gebracht werden, die Legitimation der Diskursbeiträge anderer Sozialer Welten diskreditiert wird oder indem Diskurse mit den in den jeweiligen Arenen produzierten diskursiven Formationen erzeugt, reproduziert und modifiziert werden. Analytisch besonders aufschlussreich sind, darauf weist Clarke hin (2012, S. 151), Tätigkeiten des Grenzziehens zwischen verschiedenen Sozialen Welten, das Herstellen von Legitimation sowie die Etablierung von legitimen Repräsentanten Sozialer Welten.“ (Strübing 2014: 109)
Die Situationsanalyse weist also einige Gemeinsamkeiten mit anderen Forschungsperspektiven aus der postpositivistischen Sozialforschung, etwa der wissenssoziologischen Diskursanalyse, auf (Keller 2007, 2011). Insbesondere das Dispositivkonzept und die Idee einer Ethnografie der Diskurse (Nadai/Maeder 2005, 2008) folgen der Situationsanalyse in ihrem Versuch, die Komplexität sozialer Situationen – beispielsweise durch die Einbeziehung von symbolischen, materiellen und räumlichen Aspekten – abzubilden. Diese Ansätze vermitteln in ähnlicher Form zwischen deterministischen und voluntaristischen Engführungen und betonen somit die gleichzeitige Situiertheit und Kreativität sozialen Handelns. So werden die Prozesshaftigkeit sozialer Phänomene, die gegenseitige Bedingung von Mikro- und Makroebene beziehungsweise insgesamt die Infragestellung dieser Unterscheidung, die Dezentrierung des Subjektes und die stärkere Einbeziehung von nichtmenschlichen Aktanten betont. Damit gehen Clarkes Überlegungen über einen klassischen interpretativen Ansatz hinaus, welcher sich der verstehenden Rekonstruktion der Deutungen von Akteur*innen verschreibt. Vielmehr wird der Bezug zu praxeologischen Ansätzen und zu Ansätzen in der Tradition der Akteur-Netzwerktheorie deutlich, welchen Clarke selbst wie folgt beschreibt: „Nichtmenschliche Aktanten konditionieren die Interaktionen in der Situation strukturell durch ihre spezifischen Materialeigenschaften und -anforderungen sowie durch unsere Verpflichtungen ihnen gegenüber. Ihre Handlungsmacht ist allgegenwärtig. Die Situationsanalyse berücksichtigt explizit sowohl auf materielle als auch auf diskursive Weise die nichtmenschlichen Elemente in der erforschten Situation.“ (Clarke 2012: 104)
3.3 Datenerhebung
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Clarke betont mit der Formulierung „diskursive Weise“ die Bedeutungsebene nichtmenschlicher Elemente. Sie verweist damit auf den symbolischen Interaktionismus und eine interpretative Perspektive, aus der die Beschaffenheit eines jeden Objektes aus der ihm zugewiesenen Bedeutung besteht (Blumer 1980). Das heißt, auch ein nichtmenschliches Element wie ein Stuhl oder ein Computerprogramm hängt in seiner Bedeutung von der Person ab, für die es ein Objekt darstellt. Clarke weist aber unter Rückgriff auf die Science and Technology Studies darauf hin, dass der bedeutungsgebende Prozess nicht alleine von den menschlichen Akteur*innen ausgehe: „Ein zentrales Argument in der Wissenschafts- und Technikforschung betonte, das Nichtmenschliche und das Menschliche seien kokonstitutiv – zusammen konstituieren sie die Welt und einander.“ (Clarke 2012: 104) Welche Aufmerksamkeit den menschlichen und nichtmenschlichen Aktanten zuteilwerde, bestimme vor allem die Perspektive der Forschenden und deren Erkenntnisinteresse. Die Situationsanalyse ermöglicht durch die Offenheit gegenüber vielfältigen Ansätzen die Verknüpfung unterschiedlicher analytischer Zugänge zu den Forschungsgegenständen und kann dadurch unterschiedliche Aspekte einer Situation in den Blick nehmen und zueinander in Relation setzen. Clarke verweist allerdings auf die Anforderungen des jeweiligen Forschungsprojektes und der Fragestellung. Letztlich sei es davon abhängig, welcher Stellenwert unterschiedlichen Ansätzen im jeweiligen Projekt zukomme, welche Daten auf welche Art und Weise erhoben werden sollten und was bei der Datenauswertung in den Analysefokus gerückt werde (Clarke 2012).
3.3
Datenerhebung
Die Datenerhebung im Rahmen der vorliegenden Arbeit kann in mehrere Phasen unterteilt werden, die im tatsächlichen Forschungsprozess teilweise nacheinander und teilweise parallel verliefen. Zu Beginn des Forschungsprozesses wurde in einer Vorstudie ein Überblick über die lokalpolitische Arena der Bildungsund Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen in Berlin erarbeitet, der zentrale Akteur*innengruppen, Themen- und Problemvorstellungen sowie konkrete Reaktionen und Lösungsansätze der unterschiedlichen beteiligten Akteursgruppen sichtbar machen sollte.7 Im Rahmen der Vorstudie wurden sechs leitfadengestützte Interviews mit Expert*innen (Hopf 1979; Gläser/Laudel 2010; Helfferich 2014) aus dem Bereich 7
Siehe hierzu auch Maas (2017).
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3
Methodologischer Rahmen und methodisches Vorgehen
der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration von geflüchteten Menschen in Berlin geführt. In ihrem Grundlagentext über qualitative Sozialforschung unterscheidet Christel Hopf (1979) zwischen „[…] Experteninterviews, in denen die Befragten als Spezialisten für bestimmte Konstellationen befragt werden [und] Interviews, in denen es um die Erfassung von Deutung, Sichtweisen und Einstellungen der Befragten selbst geht“ (Hopf 1979: 15). Durch die Aufteilung des Interviewleitfadens in mehrere Abschnitte wurden in der vorliegenden Arbeit beide Anliegen verfolgt, allerdings mit Hauptfokus auf der Erfassung von Deutungen und Sichtweisen der Befragten. Dennoch wurde insbesondere in den ersten vier Abschnitten der Interviews auch das Wissen der Befragten als Spezialist*innen genutzt, um einen Überblick über die Strukturen, Akteur*innen und sonstige Informationen zum Bereich der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen in Berlin zu erhalten.8 Die Interviews sollten im Hinblick auf vorhandene Deutungsmuster und narrative Strukturen untersucht werden. Dies wurde gewährleistet, indem vor allem die Fragen im abschließenden Teil des Interviews so offen formuliert waren, dass sie zum freien Erzählen über zentrale Themen und Konzepte im Bereich der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration anregten. In diesem Zusammenhang wurde vor allem den Ausführungen zum methodischen Vorgehen bei Stephan Lanz gefolgt, der im Rahmen seiner Arbeit zum Integrationsdiskurs in Berlin mit der Interviewtechnik weniger auf die Ermittlung von Fakten denn auf die „Rekonstruktion von Interpretationsrepertoires“ (Lanz 2007: 230) abzielt. Die ersten Interviewpartner*innen wurden nach einer ausführlichen Schreibtischrecherche und nach der Durchsicht politischer sowie medialer Dokumente ausgewählt, zusätzlich haben die Expert*innen im Verlauf der ersten Interviews auf weitere geeignete Interviewpartner*innen hingewiesen. Interviewt wurden • leitende Mitarbeiter*innen der für die Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen zuständigen Senatsverwaltung, • Mitglieder einer in Berlin aktiven zivilgesellschaftlichen Organisation, die sich in unterschiedlichen Projekten für das Bleiberecht geflüchteter Menschen einsetzt, • Mitarbeiter*innen einer für die Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen relevanten Berliner Landesbehörde,
8
In diesem Zusammenhang sollte beachtet werden, dass auch die Aussagen über ‚wichtige‘ Akteur*innen oder ‚das typische‘ Vorgehen von der jeweiligen Perspektive der Befragten abhängt. Insofern ist der Übergang zwischen Deutungen und Wissen fließend.
3.3 Datenerhebung
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• Angehörige der Berliner Regionalstelle einer für die Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen relevanten Bundesbehörde und • Vertreter*innen zweier Berliner Unternehmensverbände. Die Interviews fanden zwischen Mai und November 2016 statt und dauerten zwischen 50 und 90 Minuten. Vier der Interviews wurden in digitaler Form aufgezeichnet und transkribiert, bei einem Interview wurden aufgrund terminlicher Schwierigkeiten die Fragen schriftlich beantwortet (zivilgesellschaftliche Organisation) und ein weiteres Interview wurde auf Wunsch der interviewten Person nicht aufgezeichnet (Berliner Unternehmensverband 2). Zu diesem Interview liegt ein ausführliches Gesprächsprotokoll vor, das anhand eigener Notizen unmittelbar nach dem Interviewtermin angefertigt wurde.9 Alle Expert*innen haben während des Interviews oder im Nachgang zusätzliches Material zum Themenfeld ausgehändigt, das ebenfalls für die Vorstudie und die Erstellung einer Übersicht über den Bereich der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen in Berlin herangezogen werden konnte. Direkt im Anschluss an das Expert*inneninterview im Unternehmensverband 2 wurde die Teilnahme an einer Informationsveranstaltung für kleine und mittelständische Unternehmen aus Berlin zum Thema Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten ermöglicht. Zusätzlich fanden am Rande von mehreren öffentlichen Veranstaltungen zum Thema Flucht und Arbeit informelle Gespräche mit Vertreter*innen aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft statt. Die Inhalte dieser informellen Gespräche sind ebenfalls in die Beschreibung der lokalen Arena der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration von geflüchteten Menschen in Berlin eingegangen. Die Fragen, die im Rahmen der Expert*inneninterviews gestellt wurden, basieren auf einem Interviewleitfaden. Nach einer Einstiegsfrage, die den persönlichen Werdegang und die Aufgaben der befragten Person in Bezug auf die Bildungsund Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten klärte, wurde in einem ersten Teil nach Veränderungen im Aufgabenspektrum und dem Umgang mit diesen Veränderungen gefragt. In einem zweiten Teil wurde das persönliche Verständnis
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Vor dem Beginn der Interviews wurden die interviewten Personen gefragt, ob sie der Aufzeichnung und Transkription der Interviews zustimmen. Nach erfolgter Zustimmung wurde eine unterschriebene Datenschutzerklärung überreicht. Zusätzlich wurden die Interviewten darum gebeten, eine Einverständniserklärung zu unterzeichnen, die die Verwendung der Informationen aus dem Interview in anonymisierter Form gestattet. Bis auf die interviewte Person beim Berliner Unternehmensverband 2 haben alle Interviewten die Einverständniserklärung unterzeichnet.
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3
Methodologischer Rahmen und methodisches Vorgehen
von Bildungs- und Arbeitsmarktintegration, von rechtlichen und anderen Rahmenbedingungen der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration, vom Prozess der Bildungs- und Arbeitsmarkintegration in Berlin sowie von bestehenden und neu eingeführten Instrumenten und Maßnahmen in diesem Bereich erfragt. In einem dritten Teil wurde geklärt, wer die relevanten Akteur*innen in diesem Bereich sind und mit welchen Akteur*innen eine Zusammenarbeit oder ein aktiver Austausch stattfindet. Zusätzlich wurde nach der Einschätzung der Zusammenarbeit, nach konkreten Vernetzungsanstrengungen und nach Gründen, die für oder gegen die Zusammenarbeit mit anderen Akteur*innen sprechen, gefragt. In einem abschließenden Teil kamen relativ offen sowohl die Einschätzung der derzeitigen Situation und der Zukunft in Bezug auf die Bildungs- und Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten als auch das allgemeine Verständnis von Zuwanderung, Integration, Vielfalt und Diversity zur Sprache. Je nach Interviewpartner*in wurden einzelne Fragen hinzugenommen, die spezifische Aspekte und Arbeitsbereiche der jeweiligen Person betrafen. Zusätzlich wurden an einigen Stellen klärende oder vertiefende Nachfragen gestellt (Helfferich 2014). Für die Vorstudie wurde zudem ein umfangreicher Textkorpus mit zentralen Dokumenten aus dem Bereich der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration von geflüchteten Menschen in Berlin zusammengestellt und analysiert. Dazu zählen neben offiziellen Integrationskonzepten des Senats von Berlin sowie einzelner Senatsverwaltungen vor allem Sitzungsprotokolle aus dem Abgeordnetenhaus von Berlin sowie Anträge und Anfragen einzelner Fraktionen und schließlich Stellungnahmen unterschiedlicher Akteur*innen aus dem Bildungs- und Arbeitsmarktbereich sowie von zivilgesellschaftlichen Gruppen zu den Integrationskonzepten des Landes. Die Lokalberichterstattung dreier großer Tageszeitungen mit verschiedener politischer Ausrichtung wurde für den Zeitraum Januar 2014 bis Dezember 2016 mit der Schlagwortkombination Flucht und Arbeit durchsucht. Die entsprechenden Artikel gingen in den Textkorpus ein. Die Vorstudie umfasste also im Detail: • Sechs leitfadengestützte Expert*inneninterviews mit leitenden Mitarbeiter*innen der zuständigen Senatsverwaltung, einer Landesbehörde, der Regionalstelle einer Bundesbehörde, einer zivilgesellschaftlichen Organisation, von zwei Unternehmensverbänden (vier Audio-Transkripte, ein schriftliches Interview und ein Gedächtnisprotokoll). • Schreibtischrecherche und Analyse von 25 Policy-Dokumenten (Strategiepapiere, Anträge und Anfragen, Plenar- und Ausschussprotokolle des Abgeordnetenhauses und der zuständigen Senatsverwaltungen; Strategiepapiere und Stellungsnahmen von NGOs im Zeitraum zwischen 03/2015 und 09/2016)
3.3 Datenerhebung
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sowie von 143 Zeitungsartikeln zum Thema Flucht und Arbeit aus Lokalredaktionen der BZ (66), der Berliner Zeitung (46) und der TAZ (31) im Zeitraum zwischen 01/2014 und 12/2016. Auf die Vorstudie folgte die Erhebung umfassender ethnografischer Daten über die Arbeit auf dem Street-level, und zwar erstens mittels teilnehmender Beobachtung in zwei ausgewählten Integrationsprojekten sowie zweitens im Zuge ethnografischer Interviews und problemzentrierter Hintergrundgespräche mit Projektmitarbeiter*innen. Durch die teilnehmende Beobachtung (Thierbach/Petschick 2014) der experimentellen Prozesse im Alltag einzelner Integrationsprojekte sollten die multiplen Wirklichkeiten auf dem Street-level erfahrbar und damit beschreibbar gemacht werden. Die teilnehmende Beobachtung der alltäglichen Praxis sowie das Aufspüren von weiteren Daten, welche Auskunft über die Beschaffenheit einzelner lokaler Handlungszusammenhänge bieten können, wird unter dem Begriff der ethnografischen Forschung zusammengefasst (Gobo 2008; O’Reilly 2012; Knoblauch 2014; Breidenstein et al. 2015). Karen O’Reilly beschreibt Ethnografie als eine Forschungspraxis „[…] that evolves in design as the study progresses; involves direct and sustained contact with human beings, in the context of their daily lives, over a prolonged period of time; draws on a family of methods, usually including participant observation and conversation; respects the complexity of the social world; and therefore tells rich, sensitive and credible stories.“ (O’Reilly 2012: 28)
Die so beschriebene ethnografische Forschungspraxis fügt sich nahtlos in die Forschungspraxis postpositivistischer Ansätze wie der Situationsanalyse ein und eignet sich für die differenzierte Untersuchung der experimentellen Prozesse auf dem Street-level als situierte soziale Prozesse. Sie zeichnet sich durch die flexible Anpassung des Forschungsdesigns im Verlauf eines iterativen Forschungsprozesses, durch Methodenpluralismus, den Fokus auf lokale und translokale Kontexte der Bedeutungsproduktion, die Einbeziehung nichtmenschlicher Elemente und die Anerkennung einer komplexen sozialen Realität aus (Gobo 2008; O’Reilly 2012). Die teilnehmende Beobachtung über einen längeren Zeitraum hinweg spielt im Rahmen der ethnografischen Forschung eine wichtige Rolle und gilt als bevorzugte Methode zur Erfassung der alltäglichen Realität (Knoblauch 2014), die auch in der vorliegenden Arbeit im Fokus steht. Mit dieser Form der Datengewinnung können laut Christmann „authentische Einblicke in die komplexen sozialen Aktivitäten und kommunikativen Handlungen der untersuchten Akteure“ (Christmann
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3
Methodologischer Rahmen und methodisches Vorgehen
2016: 82) gewonnen werden. Insofern eignet sich der ethnografische Ansatz, um der Frage nachzugehen, wie im Alltag der Projekte experimentiert wird. Ethnografisches Forschen als persönliche Erfahrung ist stark geprägt von der eigenen Position des Forschenden im Forschungsfeld und die Form der Konservierung der Erfahrungen und Beobachtungen in Beobachtungsprotokollen beziehungsweise deren Repräsentation durch dichte Beschreibung (Gobo 2008). Ethnografisches Forschen entzieht sich folglich den Anforderungen der Objektivität. Aus diesem Grund müssen hier Gütekriterien angelegt werden, die einerseits ein Bewusstsein für die Methodologie und die möglichen Aussagen über den Forschungsgegenstand verlangen, andererseits ein Mindestmaß an Transparenz und Nachvollziehbarkeit bedingen. In anderen Worten: Es müssen sowohl die vielfältige Ausprägung menschlicher Erfahrung und die komplexe, teils widersprüchliche und schlecht artikulierbare Form von Praxisfeldern anerkannt werden als auch die ‚Produktionsbedingungen‘ und wichtige Entscheidungen im Forschungsprozess, Gewichtungen und Suchbewegungen möglichst transparent artikuliert werden (Gobo 2008). Im Zentrum steht dabei die Auseinandersetzung mit der persönlichen Involviertheit und deren Bedeutung für die ethnografische Arbeit. Eine gute Möglichkeit, um die persönliche Involviertheit und die eigene Perspektive im Forschungsprozess transparent zu machen, ist die Anfertigung von autoethnografischen Notizen. Das folgende Beispiel zeigt, wie die eigenen Gefühle und Bedürfnisse im Forschungsprozess sichtbar gemacht werden können, um zum einen deren Einfluss auf bestimmte Interpretationen bei der Auswertung der Daten in Erwägung ziehen zu können und zum anderen zusätzliche Erkenntnisse über das Feld zu generieren: Beobachtungsprotokoll – Gärtnerei vom 10.03.2017 Nachdem wir noch knappe zwei Stunden im Garten gearbeitet haben, gehe ich mit I. zurück zum Steinmetzhaus. Wir trinken einen Tee und unterhalten uns zu zweit. Er erzählt mir, dass er sehr verzweifelt ist. Da er über Italien nach Deutschland gekommen ist, müsste er eigentlich zurück nach Italien. Dort war er auch schon letztes Jahr, doch durch die Bemühungen der Projektverantwortlichen der Gärtnerei konnte er wieder zurück nach Berlin. In Italien sieht er keine Perspektive. Dort war er in einem Camp untergebracht, in dem er niemanden kannte und in dem er nichts tun konnte. Er überlegt wieder nach Afrika zu gehen. Auch dort weiß er nicht, was er machen
3.3 Datenerhebung
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soll, aber im Moment sieht er auch in Deutschland keine Chance oder Perspektive mehr. Er hatte mit sehr vielen Rückschlägen zu kämpfen und hat jetzt kaum noch Hoffnung, dass sich für ihn eine Perspektive auftut. Er sagt, dass ja vielleicht doch noch was passiert bis zum nächsten Monat. Ich sage zu I., dass es mir sehr leid tut, und ich sage „that‘ ‘ fucked up“. Er antwortet: „Yes, it’s fucked up“ […] Ich fühle mich unglaublich schlecht und hilflos und versuche einfach zuzuhören und Verständnis zu zeigen. Der normale Modus, in dem ich bisher in ähnlichen Gesprächen war, greift hier nicht. Normalerweise geht es darum, wo man eine Beratungsstelle finden kann, einen Platz für einen Sprachkurs, eine Tandempartnerin oder eine Gruppe, die Fußball spielt. Wie man die Erlaubnis für ein Praktikum bekommt, eine Bewerbung schreibt oder wie man bei WG-Gesucht ein Zimmer findet. Wenn ich dann nicht weiß, was zu tun ist, kann ich bei Google nachschauen, weiß eine Anlaufstelle oder kann auf eine andere Person verweisen. In diesem Gespräch weiß ich überhaupt nicht, was ich sagen soll. Diese Selbstbeobachtung und das erdrückende Gefühl der Machtlosigkeit und das Gefühl, dass man so schnell wie möglich aus dem Gespräch raus will und hier keine Verantwortung haben will, weil man selbst keine Perspektive oder keinen Ausweg sieht, scheint mir sehr wichtig zu sein auch für die Frage, warum im Projekt einige Veränderungen oder Entwicklungen so stattgefunden haben, wie sie stattgefunden haben. Ich denke mir, dass die Perspektivlosigkeit für die Projektlogik wie Gift ist. Auch die Auseinandersetzungen und Konflikte über die fehlende Motivation und das fehlende Engagement der Geflüchteten im Projekt hängt möglicherweise damit zusammen. Die Verantwortung wird in den einzelnen Situationen auf die Geflüchteten übertragen, sie müssen dann Potenzial, Motivation und Hoffnung nach außen zeigen und performen, obwohl das in dieser Form kaum möglich ist.
Zudem eigenen sich autoethnografische Aufzeichnungen für den transparenten Umgang mit schwierigen Situationen im Forschungsprozess insbesondere auch,
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Methodologischer Rahmen und methodisches Vorgehen
was die Produktionsbedingungen der Daten angeht. Im folgenden Abschnitt sollen einige Schwierigkeiten im Forschungsprozess kurz dargestellt werden. Die größte Schwierigkeit im Forschungsprozess war im Fall der mobilen Bildungsberatung, wie bereits oben angedeutet, der Feldzugang allgemein, der insbesondere aus der komplexen organisationalen Struktur des SLEs sowie den verteilten Verantwortlichkeiten resultierte. Zudem gestaltete sich zu Beginn der teilnehmenden Beobachtung der Zugang zu einzelnen als vertraulich eingestuften Situationen, beispielsweise Koordinierungstreffen der Projektleitenden mit Vertreter*innen aus der Senatsverwaltung, als schwierig. Häufig wurde mir vor allem von den verantwortlichen Personen ein Spannungsverhältnis zwischen Interesse an Forschungsergebnissen und Sorge über eine zu kritische Bewertung vermittelt. Ein Beobachtungsprotokoll einer Situation, in der ich zum ersten Mal mit einer Projektleitung ins Gespräch komme, gibt diese Sorge folgendermaßen wieder: Beobachtungsprotokoll – MoBiBe vom 28.04.2017 […] C möchte aber gerne wissen, wie ich dann darüber schreiben werde und wie kritisch das werden kann. Der Grund für Cs Nachfrage, so sagt C, ist, dass ich erst bei der Senatsverwaltung war und dort wurde gesagt „aha da ist ein interessanter Typ, der über die WiAs forschen möchte und jetzt schicken wir den gerne in die Praxis und dann sind wir auch interessiert, was der so schreibt“. Wenn ich jetzt aber zu kritisch bin, könnte das Probleme für die Praxisebene geben, weil diese immerhin ihr Geld vom Land bekommt.
In dem Beobachtungsprotokoll wird eine häufig auftretende Problematik von teilnehmender Beobachtung im Kontext von Organisationen beschrieben, da der Feldzugang meistens über die verantwortliche Leitungsebene einer Organisation erfolgen muss und die Akteur*innen auf der operativen Ebene die forschende Person als Agent*in der Leitungsebene ansehen und eine mögliche Kontrolle oder negative Konsequenzen infolge der teilnehmenden Beobachtung befürchten (Gobo 2008; Breidenstein et al. 2015). Im Rahmen der Street-level-Experimente verstärkt sich diese Skepsis möglicherweise noch, weil insgesamt ein hoher Grad an Ungewissheit vorherrscht, im Alltag viel improvisiert werden muss und ständig alle Bereiche der SLEs unter Beobachtung stehen (sollen), um im Verlauf des Experimentierens angepasst und weiterentwickelt werden zu können. Insofern geben die Schwierigkeiten beim Feldzugang auch einen Hinweis auf das
3.3 Datenerhebung
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Innenleben der SLEs und weisen auf Verunsicherung und gewisse Anforderungen hin, welchen sich die beteiligten Akteur*innen in ihrem Arbeitsalltag stellen müssen. Während die skizzierte Sorge im Vorgespräch mit der Projektleiterin mehr Raum einnahm, wurde sie bei der teilnehmenden Beobachtung der alltäglichen Arbeit der Berater*innen nicht geäußert. Insgesamt konnte im Laufe der teilnehmenden Beobachtung relativ schnell ein Vertrauensverhältnis zu allen Beteiligten aufgebaut werden, was die Sorge über eine ‚Komplizenschaft‘ zwischen Leitungsebene und forschender Person deutlich verringerte. Trotzdem kam es im Laufe des Feldaufenthaltes immer wieder zu Situationen, in denen die Frage meiner Anwesenheit strittig war oder zumindest kurz angesprochen wurde. Ein Beispiel dafür ist die Teilnahme an einem Koordinationstreffen, an dem Vertreter*innen des Koordinationsprojektes P:iB, alle Projektleitungen sowie Vertreter*innen der Senatsverwaltung zusammenkommen, um sich über die aktuelle Arbeit und Entwicklung der MoBiBe sowie der WiA-Büros auszutauschen. Beobachtungsprotokoll – MoBiBe vom 27.06.2017 Ich komme kurz vor 9 Uhr an. C ist noch nicht da und hat mich im Vorfeld auch nicht angemeldet, weil C erst gestern beim Teammeeting die Idee hatte, dass ich spontan mitkommen könnte. Deshalb versuche ich zuerst herauszufinden, wer in dem Konferenzraum für die Veranstaltung verantwortlich ist. Bei wem ich mich also vorstellen sollte und bei wem ich dann noch mal nachfragen kann, ob ich bei dem Treffen teilnehmen darf. Ich stelle mich bei einer Frau vor, die gerade im Konferenzraum einen Laptop aufbaut. Sie sagt gleich, dass sie nicht entscheiden könne, ob ich teilnehmen darf, dass ich eine andere Mitarbeiterin fragen müsse. Sie zeigt mir die verantwortliche Mitarbeiterin und ich gehe zu ihr, stelle mich noch mal kurz vor und sage, dass ich mit C. verabredet bin. Die Mitarbeiterin scheint nicht sehr begeistert von der Idee zu sein, dass ich an dem Koordinationstreffen teilnehme. Sie sagt, dass auch Interna besprochen werden und dass sie erstmal mit der Bereichsleiterin sprechen müsse. Inzwischen ist C. angekommen und begrüßt mich und die Mitarbeiterinnen, die sich gerade darüber unterhalten, ob ich teilnehmen kann. C. sagt,
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Methodologischer Rahmen und methodisches Vorgehen
dass sie die Idee ganz spontan hatte und dass sie mich deshalb nicht angemeldet habe. Sie betont aber, dass ich ja das Okay aus der Senatsverwaltung und vom Träger habe und dass das auch gewünscht ist, dass ich mir solche Runden anschaue. Die drei Frauen besprechen sich noch einmal untereinander, dann geht C. zu einer anderen Frau, die schon im Konferenzraum am Tisch Platz genommen hat. Ich bekomme mit, dass das die verantwortliche Mitarbeiterin für die Steuerung der MoBiBe in der Senatsverwaltung ist. C. fragt bei ihr noch mal nach, ob es okay ist, wenn ich teilnehme und dass ich ja einen Vertrag mit dem Träger unterschrieben habe und da auch eine Datenschutzerklärung unterschrieben habe, dass ich also nicht Namen und Interna einfach nach außen geben dürfe. Die Mitarbeiterin von der Senatsverwaltung willigt ein und C. kommt dann noch mal zu mir und sagt, dass ich gerne teilnehmen darf.
Der Zugang gestaltete sich mit der Zeit einfacher, weil Vertrauen zu den Beteiligten aufgebaut werden konnte und die Rolle als forschende Person klar kommuniziert wurde. In diesem Zusammenhang konnte schnell vermittelt werden, dass zum Beispiel keine evaluierende Aufgabe erfüllt wird, sondern ein Forschungsinteresse an übergeordneten Prozessen besteht. Darüber hinaus konnte ich die Beobachtung machen, dass ich nach einer gewissen Zeit in vielen Situationen als Beobachter quasi unsichtbar wurde. Zum Beispiel war ich zwar am Anfang einer halbtägigen Schulung als Beobachter sichtbar, indem ich mich in einer Vorstellungsrunde offiziell in meiner Rolle als Wissenschaftler und teilnehmender Beobachter zu erkennen gab, allerdings ging man rasch zum gewöhnlichen Ablauf der Veranstaltungen über und nach wenigen Minuten spielte der Fakt, dass eine teilnehmende Beobachtung stattfand, für die Anwesenden kaum noch eine Rolle. Um in kritischen Situationen oder bei kontroversen Themen nicht wieder mehr Aufmerksamkeit auf die Beobachtung zu lenken, habe ich versucht mich in solchen Situationen möglichst unsichtbar zu machen, indem ich etwa keine Notizen anfertigte, keine Fotos machte oder nicht unmittelbar klärende Fragen stellte. Die beschriebenen Schwierigkeiten beim Feldzugang und beim Zugang zu einzelnen Beobachtungssituationen bergen zwar die Gefahr, dass der beobachtenden Person wesentliche Aspekte verborgen bleiben oder verheimlicht werden. Doch
3.3 Datenerhebung
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können sie im Forschungsprozess selbst als wichtige Erfahrungen und Erkenntnisse behandelt werden. So wird durch diese Situationen sichtbar, wie transparent beziehungsweise intransparent mache Prozesse ablaufen und welche Bereiche der Öffentlichkeit eher zugänglich sind und welche nicht. Es tritt zutage, wo und mit welcher Beteiligung wichtige Entscheidungen getroffen werden. Auch zeigt sich immer wieder eine gewisse Verunsicherung, die einerseits mit der vorhandenen Ungewissheit in der Arena zusammenhängt und andererseits durch den organisationalen Aufbau der Street-level-Experimente bedingt ist. So ergibt sich das Bild einer gewissen Spannung zwischen dem Anspruch der Offenheit und Transparenz, der mit den Vorstellungen des experimentellen Lernens einhergeht, und dem Bedürfnis nach geschützten Räumen für Improvisation und Fehler. Im Fall der Gärtnerei war der physische Zugang zu allen Beobachtungssituationen im Vergleich zur MoBiBe zwar relativ unkompliziert, allerdings ergaben sich im Prozess der teilnehmenden Beobachtung vor allem praktische Schwierigkeiten wegen der Vielzahl an gesprochenen Sprachen im Alltag der Gärtnerei. Aufgrund meiner nur rudimentär vorhandenen Französischkenntnisse und meiner nicht vorhandenen Arabischkenntnisse waren für mich häufig vor allem die Inhalte von Nebengesprächen nicht zugänglich. Allgemein wurde zwar im Alltag der Gärtnerei viel Wert auf die Kommunikation in deutscher Sprache gelegt und ein Großteil der Kommunikation fand auf Englisch statt oder wurde simultan in mehrere Sprachen übersetzt, trotzdem gab es Situationen, in denen ich auf eine nachträgliche Übersetzung angewiesen war. Beobachtungsprotokoll – Gärtnerei vom 20.04.2016 Aufgrund meiner schlechten Französischkenntnisse verstehe ich nur einzelne Teile der Ansage. Nach dem Essen lasse ich mich beim Spülen über Inhalte aufklären, die ich nicht verstanden habe.
Aus den genannten Gründen war ich im Verlauf der teilnehmenden Beobachtung häufig darauf angewiesen, wie der dargestellte Auszug aus einem Beobachtungsprotokoll illustriert, mir Übersetzer*innen für bestimmte Situationen zu suchen. Zugleich konnte ich den Umstand des verbalen Nicht-Verstehens dafür nutzen, stärker auf Verhaltensweisen und nichtsprachliche Interaktionen mit anderen Elementen der Situation zu achten. Dennoch sind mit Sicherheit infolge der Sprachbarriere wichtige Informationen und vor allem Perspektiven verloren
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Methodologischer Rahmen und methodisches Vorgehen
gegangen, da jede Übersetzung (zumindest, wenn sie nicht durch die sprechenden Personen im Nachhinein selbst vorgenommen wird) eine andere Perspektive auf die Situation darstellt. Darüber hinaus ist es möglich, dass in einer Situation bewusst Informationen durch die Verwendung einer bestimmten Sprache zurückgehalten werden sollen. Auf der anderen Seite sind Vielsprachigkeit und die Notwendigkeit der Übersetzung wiederum charakteristisch für die Situation im Feld. Sie gehören nicht nur für die teilnehmende Beobachtung, sondern auch für alle anderen Teilnehmer*innen zum Alltag in der Gärtnerei. Die teilnehmende Beobachtung ist unmittelbar mit dem Anfertigen von Feldnotizen verbunden (Gobo 2008; Breidenstein et al. 2015). Sie dienen der Verschriftlichung und der Konservierung der beobachteten Sequenzen und machen eine spätere Analyse der Beobachtungen und des Erlebten möglich, sind aber gleichzeitig auch ein Werkzeug der Selbstreflexion im Forschungsprozess. Dazu werden neben der möglichst neutralen Beschreibung von Beobachtungen im Sinne eines Ereignisprotokolls auch persönliche Wahrnehmungen, theoretische Überlegungen oder methodische Schwierigkeiten notiert, die in den einzelnen Beobachtungssequenzen auffallen. Dies kann zur Interpretation und Einordnung der niedergeschriebenen Beobachtungen beitragen. Darüber hinaus macht das Protokoll die ständige Involviertheit der forschenden Person in den sozialen Situationen sichtbar, die Gegenstand der Forschung sind. In welcher Art und Weise Feldnotizen angefertigt werden können, hängt unter anderem davon ab, wie aktiv oder passiv die Teilnahme an einer Situation ist und in welchem Ausmaß eine bestimmte Situation durch das Anfertigen von Notizen (oder von Ton- oder Bildaufnahmen) beeinflusst werden könnte (Gobo 2008). Die Bandbreite reicht von der Anfertigung eines detaillierten Beobachtungsprotokolls (oder sogar von Ton- und Bildaufnahmen) in der Situation selbst bis hin zur Anfertigung von Notizen, die erst im Nachgang einer Beobachtungssequenz am eigenen Schreibtisch oder auf dem Weg dorthin notiert werden. Die Produktionsbedingungen der Feldnotizen im Rahmen der beobachteten SLEs sahen höchst unterschiedlich aus. Ein Hospitationsvertrag beschränkte die teilnehmende Beobachtung im Rahmen der MoBiBe auf eine einigermaßen passive Beobachtung, die am ehesten mit einer frühen Phase eines Praktikums vergleichbar ist. Der oder die Beobachtende folgt einer erfahrenen, eingearbeiteten Person im Sinne des shadowing (Czarniawska 2007) im Arbeitsalltag und nimmt an Beratungsgesprächen, Informationsveranstaltungen, Teammeetings etc. teil, ohne selbst aktiv einzugreifen. Diese Form der Beobachtung, die durchaus Nachfragen beziehungsweise den Informationsgewinn durch Gespräche etc.
3.3 Datenerhebung
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zulässt, hatte vor allem den Vorteil, dass ich ideale Voraussetzungen für die Anfertigung von Notizen und Beobachtungsprotokollen hatte, wie folgender Ausschnitt illustriert: Beobachtungsprotokoll – MoBiBe vom 27.10.2017 Ich bin heute zum zweiten Mal im WiA-Büro in Lichtenberg. Ich habe mich mit Ö. verabredet. Sie bietet mir einen Platz an ihrem Schreibtisch an. Die Situation ist für mich ideal. Ich kann direkt an meinem Laptop arbeiten und wenn etwas Interessantes passiert, kann ich kurz in mein Dokument mit dem Beobachtungsprotokoll wechseln und etwas aufschreiben.
Diese Produktionsbedingungen führten dazu, dass ich quasi in Echtzeit sehr detaillierte Beobachtungsnotizen anfertigen konnte und beispielsweise in der Lage war, im Rahmen von Teamsitzungen oder Schulungen sogar wörtliche Zitate zu notieren. Gleichzeitig war es schwieriger, die ablaufenden Prozesse durch eine aktive Teilnahme selbst nachzuempfinden und sich dadurch einer emischen Perspektive anzunähern. In der Rolle als freiwilliger Projektteilnehmer war im Fall der Gärtnerei eine aktive teilnehmende Beobachtung insbesondere in allen Bereichen des Projektalltags sowie während unterschiedlicher öffentlicher Veranstaltung jederzeit möglich. Zusätzlich konnte die Teilnahme an Teammeetings der Projektmitarbeiter*innen und an Planungs- und Organisationstreffen der Projektverantwortlichen auf Anfrage realisiert werden. Die vergleichsweise starke Einbindung in den Alltag vor Ort – sei es im Rahmen von Gartenarbeit, von Deutschunterricht oder der Vorbereitung und Durchführung von Veranstaltungen – kennzeichnet den wesentlichen Unterschied zwischen den Bedingungen der teilnehmenden Beobachtung in der Gärtnerei und jenen in der MoBiBe. Das Anfertigen von Notizen und Beobachtungsprotokollen war während der Beobachtungssessions in der Gärtnerei nur sehr eingeschränkt möglich, so konnte ich häufig lediglich kurze Notizen in Form von Stichpunkten im Notizbuch meines Handys festhalten oder musste diese Arbeit in kurzen Pausen oder nach der Beobachtungssession erledigen. Vor allem nach anstrengenden Arbeitseinsätzen im Garten oder nach Abendveranstaltungen war eine zeitnahe Anfertigung der Feldnotizen nicht immer möglich. Häufig nutzte ich allerdings die lange Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln von der Gärtnerei zu meiner Wohnung für skizzenhafte Beobachtungsnotizen, die dann so schnell wie möglich in einem Beobachtungsprotokoll ausformuliert wurden.
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Methodologischer Rahmen und methodisches Vorgehen
Die teilnehmende Beobachtung und die damit verbundene Anfertigung von Feldnotizen wurden ergänzt um ethnografische Interviews im Sinne von spontanen Befragungen im Alltagskontext sowie längere leitfadengestützte Interviews (Helfferich 2014); zudem wurden zahlreiche Fotos vom Projektalltag gemacht und schriftliche Erzeugnisse gesammelt. Neben der projekteigenen Produktion von Texten in Form von Flyern, Broschüren, Posts in sozialen Medien oder Blogbeiträgen etc. wurde für die Analyse auch die mediale Berichterstattung über die Projekte im Zeitraum der teilnehmenden Beobachtung als natürliche Dokumente im Feld berücksichtigt (Salheiser 2014). Insgesamt war die Datenerhebung nicht auf Vollständigkeit oder Repräsentativität der erhobenen Daten ausgerichtet, sondern zielte auf eine möglichst breite und vielfältige Darstellung des Experimentierens auf dem Street-level. Die erhobenen Daten durch die ethnographische Untersuchung der SLEs umfassten im Detail: • Vier problemzentrierte Hintergrundinterviews mit involvierten Akteur*innen (Audio-Transkripte). • 33 Beobachtungsprotokolle aus teilnehmender Beobachtung (SLE 1 = 15; SLE 2 = 18). • Schriftliche Dokumente (Anträge, Konzepte, Berichte, Broschüren, Flyer und Zeitungsartikel) und Fotos aus dem Alltag der SLEs.
3.4
Datenauswertung
Für die Organisation der Datenerhebung, die Verknüpfung der unterschiedlichen Datensorten und die Strukturierung und Durchführung der Datenanalyse wurde auf Codier- und Mapping-Verfahren der Situationsanalyse nach Clarke (Clarke 2005, 2012) zurückgegriffen. Während des gesamten Forschungsprozesses wurden die erhobenen Daten in Anlehnung an die Verfahren der GT unter Berücksichtigung der situationsanalytischen Neuerungen kodiert. Der große Vorteil dieser Vorgehensweise liegt darin, dass sie sich für die Analyse von Daten aus unterschiedlichen Erhebungskontexten eignet (Christmann 2016). Datenerhebung und Datenauswertung können beim praktischen Vorgehen im Rahmen der Situationsanalyse nicht in zwei eindeutig getrennte Phasen unterteilt werden; im Zuge eines iterativen Forschungsprozesses wechseln sich Phasen der Datenerhebung und -auswertung immer wieder ab. So kann beispielsweise aufgrund der bereits gesichteten und ausgewerteten Daten entschieden werden,
3.4 Datenauswertung
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welche Situationen für die weitere teilnehmende Beobachtung ausgewählt werden sollten. Andererseits können die eigenen Interpretationen und Schlüsse im Laufe des Forschungsprozesses immer wieder hinterfragt und im Lichte der neu gewonnenen Daten überprüft und angepasst werden. Die erhobenen Daten gilt es kontinuierlich neu zu sichten, durch die Mapping-Verfahren anzuordnen, zu interpretieren, daraus neue Fragen und Perspektiven zu entwickeln und so, in einem iterativen Prozess, eine plausible Sicht auf einzelne Aspekte der Forschung zu formulieren, die nicht als finale und einzig gültige Interpretation angesehen wird, sondern Raum für Veränderungen bietet und nicht zuletzt auch nach dem vorläufigen Abschluss des Forschungsprozesses in Form des Textes dem Leser und der Leserin in erster Linie einen begründeten Deutungsvorschlag macht (Clarke 2012; Strübing 2014). Im ersten Schritt werden bereits während der Datenerhebung die erhobenen Daten durch eine qualitative Datenanalysesoftware (hier: MaxQDA) erfasst und in einem ersten Materialdurchlauf Zeile für Zeile gelesen. Dabei werden einzelne Codes, häufig in vivo, vergeben und im weiteren Prozess des Kodierens zu Kategorien gruppiert. In der vorliegenden Arbeit wurden folgende Situationselemente als Kategorien aus den vergebenen Codes gebildet: diskursive Elemente (z. B. Afrikabild, Nachhaltigkeitsgedanke, Ideal der Durchmischung); rechtliche Elemente (z. B. Asylverfahren, Arbeitserlaubnis, Ausbildungsduldung); Akteur*innen und Akteur*innengruppen (z. B. freiwillige Helfer*innen, Berater*innen, Politik/Verwaltung); Aktivitäten (z. B. aktivieren, Fuß fassen, Wissen vermitteln); nichtmenschliche Elemente (z. B. Flyer, Putzplan, donation Kiosk); räumliche Elemente (z. B. Neukölln, Garten, Unterkunft für Geflüchtete, WiA); zeitliche Elemente (z. B. Sommer, Vorgeschichte); Konstruktion von Geflüchteten (z. B. geringe berufliche Vorkenntnisse, unausgeschöpftes Potenzial, fluchtspezifische Vorkenntnisse); Konstruktion von Problemen (z. B. Sprachbarriere, Isolation, fehlende Perspektiven); Selbstbeschreibungen der SLEs (z. B. exploratives Vorgehen, Campaigning, Interdisziplinarität). Auf Basis dieser Kodierung wurden im weiteren Forschungsprozess immer wieder Situations-Maps erstellt, indem zuerst Elemente einer Situation auf einer ungeordneten Map visuell dargestellt wurden, um sie danach zu ordnen und zueinander in Beziehung zu setzen. Der zweite Schritt entspricht ungefähr dem Schritt des axialen Kodierens im Rahmen der Vorgehensweise nach der GT, bei dem einzelne Situationselemente fokussiert werden, um dann typische
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Methodologischer Rahmen und methodisches Vorgehen
Beziehungen zu anderen Elementen herauszuarbeiten (Clarke 2012; Strübing 2014).10 Zu Beginn des Analyseprozesses wurden vor allem Maps zu einzelnen Beobachtungssituationen im Alltag der SLEs angefertigt. So entstanden zahlreiche Situations-Maps beispielsweise zu Fachaustauschen und Schulungen, zu Koordinations- und Visionstreffen oder zu Beratungssituationen und Workshops in Willkommensklassen etc. Zusätzlich wurden zu wichtigen Dokumenten wie dem Fachkonzept der MoBiBe (SenAIF 2016a) oder dem Projektantrag der Gärtnerei (Schlesische27 2015) einzelne Maps angefertigt. Darüber hinaus wurden Situations-Maps erstellt, die darauf abzielen, das gesamte SLE über einen längeren Zeitraum hinweg zu kartieren. Neben den einfachen Situations-Maps wurden für beide SLEs Maps sozialer Welten und Arenen angefertigt. Damit werden auch im Mapping-Verfahren die sensibilisierenden Konzepte aufgegriffen, die den Analyseprozess der vorliegenden Arbeit anleiten und strukturieren.11 Die analytische Arbeit mit Situations-Maps in einzelnen Beobachtungssituationen soll im Folgenden an einem Ankerbeispiel veranschaulicht werden: Bei der Beobachtungssituation handelt es sich um ein Meeting des Projektteams der Gärtnerei vom 15. Februar 2017 in den Räumen eines der beiden Projektträger. An dem Meeting nahmen die Projektverantwortlichen der Projektträger sowie die hauptamtlichen Projektmitarbeiter*innen teil, die vor Ort in der Gärtnerei arbeiteten. Ehrenamtliche oder freiwillige Helfer*innen sowie die Teilnehmer*innen des Projektes nahmen nicht teil. In dem Meeting kamen organisatorische Fragen und teilweise die zukünftige Entwicklung des Projekts zur Sprache. Der Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll bezieht sich vor allem auf Letzteres. 10
Die Identifizierung von Schlüsselkategorien, die im Rahmen des selektiven Kodierens stattfindet, spielt dagegen im Rahmen der Situationsanalyse eine untergeordnete Rolle, da bei diesem Schritt häufig komplexe Zusammenhänge zugunsten eines eingängigen Erklärungsmodells vereinfacht dargestellt und auf eine oder wenige Schlüsselkategorien reduziert werden. Dies widerspricht dem Vorgehen im Rahmen der Situationsanalyse, da es hier eher darum geht, die vielfältigen und mitunter auch widersprüchlichen Zusammenhänge einer Situation aufzuzeigen und ggf. einzelne für die Forschungsfrage relevante Zusammenhänge herauszugreifen und näher zu beschreiben (Clarke 2012). 11 Im Rahmen der Vorgehensweise nach der Situationsanalyse kommt dem Verfassen von Memos während des gesamten Kodier- und Mapping-Prozesses eine wichtige Bedeutung für die Datenanalyse zu. Die Memos dienen dazu, die Interpretationen, Deutungen und Erkenntnisse im Laufe des Forschungsprozesses festzuhalten und somit den Erkenntnisprozess zu dokumentieren. Sie sollen aber auch dabei unterstützen, einen Überblick über die Daten und die einzelnen Analyseschritte zu bewahren und den späteren Schreibprozess anleiten. Memos können sowohl zu bestimmten Dokumenten oder Abschnitten als auch zu einzelnen Situationselementen, sozialen Welten, Arenen beziehungsweise zu ganzen Maps verfasst werden. (Clarke 2012.)
3.4 Datenauswertung
Beobachtungsprotokoll – Gärtnerei vom 15.02.2017 Das nächste zentrale Thema betrifft die Frage nach gemeinschaftlichen Flächen und einzelnen Parzellen, die von Personen mehr oder wenig privat genutzt werden können. S. sagt, dass die Leute sowohl gemeinsame Flächen als auch Einzelflächen haben wollen. „Gemeinschaft ist gut, aber manche wollen ihren persönlichen Erfolg sehen.“ (S.) E. spricht sich gegen die Trennung in einzelne private Parzellen aus. B. hält sich in der Diskussion zurück und verfolgt die Situationen aufmerksam. E. sagt, dass man die „mein/ dein“ Unterscheidung verhindern sollte. Da entstünden Grenzen, die man gar nicht erwartet hätte, und es wäre schön, diese aufzulösen. E. erzählt eine Beispielgeschichte: In der Gärtnerei waren mal syrische Frauen, die dann nur so für sich gekocht haben und dann auch nur ihre eigenen Sachen gegessen haben. Man wollte gar nicht die Sachen der anderen probieren und mal etwas Neues erfahren. S. macht auf einen anderen Punkt aufmerksam und sagt, dass man Verständnis für die Bedenken von E. haben kann, dass S. aber aus Erfahrung wisse, dass es gerade mit Flüchtlingen ein wichtiges Thema ist, etwas Eigenes zu haben. Gerade, wenn man alles verloren hat, sei es immer eine gute und besondere Erfahrung, etwas für sich zu haben, für das man dann auch verantwortlich ist. […] S. sagt, dass es auch eine Gruppe gibt, die wichtig für den Antrag sei und die eine eigene Fläche haben möchte. Das müsse man auch beachten. Das seien auch Leute, die Verantwortung übernehmen. B. sagt jetzt, dass es nicht wünschenswert sei, wenn jeder seinen eigenen Kuchen backt. Wenn man den Garten öffnen will, müsse man sich aber etwas überlegen. Räumliche Lösungen, die gut funktionieren. B. schwebe eine Art Integration einzelner Teile ins Gesamtgefüge vor. Als Beispiel nennt B. das Allmende Kontor auf dem Tempelhofer Feld.
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E. spricht über die Arena am Ende des Steges, die ein guter Treffpunkt sein könnte. Raumlabor wollte die lineare Struktur auf der einen Seite des Steges, N. wollte die Barockgärtenstruktur, sagt S. Es sei wichtig, mit welchen Bildern man aus der Garten- und Parkgestaltung assoziativ arbeite. E. sagt, dass man sich ja Parzellen vorstellen könne, wo man auch noch mal Treffpunkte drin hat. Strukturen, die dann in den „privaten“ Bereichen wieder Versammlungspunkte sind.
Bei der Kartierung und Analyse einzelner Situationselemente stehen nach einer ersten Auflistung in der ungeordneten Situations-Map (Abbildung 3.1) für die geordnete Situations-Map (Abbildung 3.2) vor allem folgende Leitfragen im Vordergrund: Welchen übergreifenden Elementen einer Situation können die einzelnen Situationselemente zugeordnet werden? Wie können die einzelnen Elemente charakterisiert und beschrieben werden? In welchem Verhältnis stehen die Elemente zu anderen Elementen in der Situation?
Abbildung 3.1 Ungeordnete Situations-Map – Streitpunkt: Gemeinschaftsgarten vs. Privatparzellen. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Clarke (2012: 137))
3.4 Datenauswertung
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Abbildung 3.2 Geordnete Situations-Map – Streitpunkt: Gemeinschaftsgarten vs. Privatparzellen. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Clarke (2012: 138–139))
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Methodologischer Rahmen und methodisches Vorgehen
Abbildung 3.2 (Fortsetzung)
Mithilfe der ungeordneten und der geordneten Situations-Map kann beispielsweise die Diskussion im Rahmen eines Teammeetings über die Aufteilung des Gartens in mehrere Privatparzellen (räumliches Element) im Zusammenhang mit der Vorstellung betrachtet werden, dass es für geflüchtete Menschen wichtig sei, etwas Eigenes zu besitzen, da sie häufig durch die Flucht alles verloren haben (Konstruktion von Geflüchteten) sowie mit dem Wunsch, bestimmte Gruppen für die Arbeit in der Gärtnerei zu gewinnen, die für den Erfolg des Projektantrages (nichtmenschliches Element) von Bedeutung sein könnten. Gleichzeitig wird in der Situation eine Spannung sichtbar zwischen den semiprivaten Gartenparzellen (räumliches Element) und dem Ideal der Durchmischung, welches an einen Segregationsdiskurs in der Arena der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration in Berlin anknüpft (diskursives Element). Anhand des skizzierten Beispiels wird sichtbar, dass die Kartierung der Beobachtungssituation eine bestimmte Perspektive auf die Situation entwirft. Einige Elemente scheinen für das Forschungsinteresse von geringerer Bedeutung zu sein und werden so beispielsweise in der geordneten Situations-Map zwar aufgeführt, aber nicht mehr genauer beschrieben (z. B. Barockgartenstruktur). Dagegen werden bei anderen Elementen relevante Aspekte aus anderen Beobachtungssituationen mit aufgeführt, sofern sie für die Situation und vor dem Hintergrund der Forschungsfrage interessant erscheinen (z. B. die Erläuterungen zum neuen
3.4 Datenauswertung
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Projektantrag und zur Öffnung des SLEs für neue Zielgruppen, die nicht allein aus dem Auszug aus den Beobachtungsnotizen hervorgehen). Mit Blick auf die Frage, wie im Verlauf der Experimente machbare Problemstellungen hergestellt werden, rücken schließlich einige wenige Elemente in den Fokus der Situationsanalyse. So wird durch die geordnete Situations-Map deutlich, dass es infolge der Konstruktion des Problems als Problem der räumlichen Gestaltung gelingt, die unterschiedlichen Perspektiven und Anforderungen in der Situation in Ausgleich beziehungsweise in Übereinstimmung zu bringen. Hier zeigt sich bereits der Übergang von den Situations-Maps zur Map sozialer Welten und Arenen. Richtet sich der analytische Fokus – wie in der vorliegenden Arbeit – insbesondere auf situiertes Handeln beziehungsweise situierte Prozesse des Experimentierens, so können mit den sensibilisierenden Konzepten der sozialen Welten und Arenen auch und vor allem Elemente auf der Meso-Ebene der Situation in den Blick genommen werden. Dafür können die einzelnen Elemente der Situations-Map bestimmten sozialen Welten oder einer bestimmten Arena zugeordnet werden. Dadurch tritt zutage, welche soziale Welten und Arenen in der jeweiligen Situation eine relevante Rolle spielen. Der Analyse sozialer Welten und Arenen in einer Situation liegen laut Clarke unterschiedliche Leitfragen zugrunde. Zum Beispiel die Fragen nach der Arbeit oder Hauptaktivität einer jeden Welt, nach der Selbstbeschreibung in ihren Diskursen, nach häufig eingesetzten Technologien, wichtigen Orten und typischen Organisationsformen. Bei der Analyse von Arenen stehen unter anderem Leitfragen nach den beteiligten sozialen Welten, nach Streitpunkten, wichtigen Themen und Kontroversen aber auch nach auffallenden Leerstellen im Diskurs im Mittelpunkt (Clarke 2012). Die Leitfragen für die Analyse sozialer Welten und Arenen können nicht allesamt anhand einzelner Beobachtungssituationen beantwortet werden. Sie müssen über mehrere Situationen hinweg rekonstruiert werden. Darüber hinaus kann Sekundärliteratur für die Maps sozialer Welten und Arenen hinzugezogen werden, sofern sie sich hinreichend klar auf die rekonstruierten sozialen Welten und Arenen bezieht (Clarke 2012). Hauptsächlich für die Analyse der Arena der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration von geflüchteten Menschen in Berlin wurde zusätzlich zu den erhobenen Daten aus der ethnografischen Untersuchung der SLEs auf die Daten aus der Vorstudie sowie auf Sekundärliteratur zurückgegriffen (vgl. Kapitel 4). In geringerem Ausmaß gilt das ebenso für die Analyse und Beschreibung der beteiligten sozialen Welten (vgl. Kapitel 5). Clarke verweist auf den groben und unvollständigen Charakter von Maps Sozialer Welten und Arenen: „[…] die Map von Sozialen Welten/Arenen porträtiert häufig, was Park (Park 1952) […] als die ‚Big News‘ der interessierenden Situation bezeichnete“ (Clarke 2012: 150). Dennoch erarbeite man sich als
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Methodologischer Rahmen und methodisches Vorgehen
forschende Person durch diese Maps einen wichtigen Überblick „über die Strukturierung des Handelns in der betreffenden Situation“ (Clarke 2012: 155). Davon ausgehend gilt es dann, analytische Schwerpunkte zu setzen und beispielsweise den Fokus auf die Arbeit einer bestimmten sozialen Welt oder auf bestimmte Prozesse in und zwischen den sozialen Welten und Arenen zu richten. In der vorliegenden Arbeit wird der analytische Fokus ausgehend von den SituationsMaps und den Maps sozialer Welten und Arenen auf die Konstruktion machbarer Problemstellungen (Fujimura 1987; Clarke/Fujimura 1992) im Verlauf der Experimente auf dem Street-level gerichtet. Die übergeordnete Leitfrage bei der Arbeit mit den Maps lautet daher, wie und wodurch im Rahmen der Experimente die unterschiedlichen Elemente so manipuliert, angepasst, umgedeutet und (neu) angeordnet werden, dass die Anforderungen der drei Ebenen Arena, soziale Welten und Street-level in Übereinstimmung gebracht werden können. Auf Basis der Arbeit mit Situations-Maps und Maps sozialer Welten und Arenen wird in der vorliegenden Arbeit die experimentelle Entwicklung und Umsetzung neuer politischer Ansätze als Prozess der Generierung machbarer Problemstellungen im Rahmen von Street-level-Experimenten untersucht. Die SLEs sind in ein spezifisches Arrangement aus sozialen, kulturellen und materiellen Ordnungen eingebettet, dessen Rolle bei der Erzeugung machbarer Problemstellungen mithilfe des sensibilisierenden Konzeptes der sozialen Welten rekonstruiert werden kann. Die SLEs und die beteiligten sozialen Welten sind zudem in einen größeren Zusammenhang aus politischen und wissenschaftlichen Diskursen sowie rechtlichen Rahmenbedingungen eingebettet, die durch das sensibilisierende Konzept der Arena Berücksichtigung finden. Die Situiertheit der SLEs spiegelt sich im Aufbau des empirischen Teils der Arbeit wider. Zunächst wird die Arena der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen in Berlin mit ihren zentralen Positionen und Streitpunkten beschrieben. Danach werden die SLEs mit besonderem Fokus auf die daran beteiligten sozialen Welten vorgestellt. Darauf folgt schließlich die detaillierte Beschreibung der Erzeugung machbarer Problemstellungen anhand von drei rekonstruierten Prozessen der experimentellen Politikgestaltung auf dem Street-level.
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Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen in Berlin
Anfang des Jahres 2018 sorgte die Leiharbeitsfirma Social-Bee, die gerne das Image eines ‚hippen social Start-ups‘ pflegt, mit einer provokanten Kampagne für Aufsehen. Unter dem Titel „soft skills can come the hard way“ wollte Social-Bee Aufmerksamkeit erzeugen für die besonderen Erfahrungen und Fähigkeiten, die geflüchtete Menschen für Unternehmen in Deutschland wertvoll machen könnten. Mit der Unterstützung der Werbeagentur Jung von Matt/Neckar wurde eine Plakatkampagne in großen Städten, eine Videokampagne und eine Internetseite erstellt, die sich mit der Aufforderung „employ refugees“ direkt an Unternehmen richten sollte. Ein Besucher oder eine Besucherin dieser Seite wird mit folgender Botschaft begrüßt: „500.000 Geflüchtete in Deutschland suchen einen Job. 2015 haben mehr als eine Million Flüchtlinge Deutschland erreicht. Trotz großer Versprechungen haben 29 DAXUnternehmen bis 2016 gerade mal vier Geflüchtete eingestellt. Und das, obwohl viele von ihnen ihre Fähigkeiten bereits bewiesen haben. Auf der Flucht.“ (Social Bee 2018)
Darüber, was es mit den Fähigkeiten auf sich hat, welche die Geflüchteten laut Social-Bee auf der Flucht unter Beweis gestellt haben, erfährt man beim Weiterlesen mehr: Ein Mann mit schwarzem Schnurrbart und in einem grauen Hemd blinzelt die Betrachter*innen der Internetseite an. Daneben ist vor grauem Hintergrund in dünnen Linien die Landesgrenze von Eritrea umrissen. Darüber steht, dass es sich bei diesem Mann um Zeray aus Eritrea handelt. Vor der Brust von Zeray steht in großen Buchstaben: „Ich bin teamfähig.“ Die Aussage wird in einem zweiten Schriftzug untermauert: „Ich habe mit 85 Menschen in einem Schlauchboot überlebt.“ Ein weiteres Beispiel aus der Kampagne: Naser aus Afghanistan. Er sei belastbar. Bewiesen habe er diese Eigenschaft an der Grenze
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 F. Maas, Politik zwischen Innovation und Machbarkeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-38335-0_4
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Bildungs- und Arbeitsmarktintegration …
zur Türkei, wo er drei Tage ohne Essen ausharren musste. Oder Bangalie aus Sierra Leone. Er sei zielorientiert und habe dies ebenfalls auf der Flucht unter Beweis gestellt, als er drei Monate zu Fuß unterwegs war. In einem kurzen Video schildern weitere Protagonist*innen die Erfahrungen, die sie auf der Flucht gemacht haben. Im Hintergrund werden eindrückliche Bilder von zerstörten Städten, überfüllten Booten und militärischen Grenzposten gezeigt. Untermalt werden diese Bilder durch eine bedrohlich wirkende Musik, wie man sie aus Kriegsreportagen im Fernsehen kennt. In dem Video zu den Fluchterfahrungen von Qutayba aus Syrien berichtet dieser Folgendes: „Ich bin in Homs geboren. Viele von meinen Freunden wurden getötet wegen des Krieges. Deswegen bin ich weggegangen. Man muss in so einer Situation Entscheidungen treffen [Im Video erscheint ein Schriftzug mit dem Begriff ‚Entscheidungsstärke‘]. Wir mussten 120 Kilometer nach Saloniki laufen im Wald. Es hat fünf Tage gedauert. Ich habe viel Durchhaltevermögen [Im Video erscheint ein Schriftzug mit dem Begriff ‚Durchhaltevermögen‘]. In Mazedonien, die Polizei war hinter uns. Sie haben uns als Zeuge mitgenommen. Ich bin stressresistent [Im Video erscheint ein Schriftzug mit dem Begriff ‚Stressresistenz‘]. Ich bin sehr motiviert bei Ihnen zu arbeiten.“ (Social Bee 2018 [eigene Transkription])
Den letzten Satz spricht Qutayba direkt in die Kamera. Dabei blickt er einerseits eine fiktive Arbeitgeberin an, bei der er wie nach einem anstrengenden Auswahlverfahren im Vorstellungsgespräch gelandet ist, um im abschließenden Satz noch einmal seine persönliche Motivation zu beteuern. Er spricht aber auch die Zuschauer*innen der Kampagne an, das heißt eine Gemeinschaft von Zuschauer*innen, die die Gesellschaft des Aufnahmelandes repräsentieren. Die Botschaft könnte wie folgt zusammengefasst werden: ‚Ich, der geflüchtete Mensch, habe durch meine Fluchterfahrungen besondere Fähigkeiten unter Beweis gestellt, die für den Arbeitsmarkt des Aufnahmelandes und die gesamte Gesellschaft von Nutzen sein können und ich bin motiviert diese Fähigkeiten auch für diese Gesellschaft einzubringen.‘ Durch die vielen Gesichter der Kampagne wird dieses ‚Ich‘ zu einem allgemeinen ‚Wir‘, zu einer Gruppe an Menschen mit besagten Eigenschaften. Dass sich die Kampagne nicht nur an die Unternehmen und damit die potenziellen Kund*innen der Leiharbeitsfirma richtet, sondern auch den Anspruch erhebt, Teil einer gesellschaftlichen Debatte zu sein, zeigt folgendes Statement des Art-Directors der Kampagne: „Four online films and outdoor media in major cities showed the refugees’ stories and skills. Leading to employ-refugees.de, were we provided further information and
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a way to contact Social-Bee. The campaign did not only address HR executives. Via facebook and press, it also brought the sensitive subject back into a nationwide discussion.“ (Kaun 2018)
Mit der provokanten Kampagne haben Social-Bee und Jung von Matt/Neckar im Jahr 2018 begehrte Preise, unter anderem bei den wichtigen Branchen-Awards des Art Directors Club für Deutschland e. V. in der Kategorie ‚Ganzheitliche Kommunikation‘ gewonnen. Das Medienecho war groß, inhaltlich allerdings gespalten. Die wohlwollende Position erkennt in der Kampagne einen wertvollen Beitrag zur Integration von Geflüchteten in Deutschland, weil Geflüchtete nicht als gefährliche oder problematische Gruppe dargestellt werden, sondern als Menschen, die mit ihren Fähigkeiten etwas zur sogenannten ‚Aufnahmegesellschaft‘ beitragen können. Diese Botschaft, so die Hoffnung, helfe dabei, Vorurteile und Hürden auf dem Weg zu einer Beschäftigung abzubauen, und ermuntere Unternehmen aktiv die Fähigkeiten und Potenziale von Geflüchteten zu nutzen, indem sie diesen eine Chance geben. So schreibt etwa die Deutsche Welle: „[…] die Gründer von Social-Bee [haben sich] etwas ganz besonders überlegt: Eine Aufklärungskampagne soll Unternehmen die Scheu vor Mitarbeitern wie Masood nehmen. Die Botschaft der Kampagne: Wer eine gefährliche Flucht hinter sich gebracht hat, der schafft auch den Einstieg ins Berufsleben – und zwar mit links […]. Diese gezielte Provokation sagt den Vorurteilen in vielen Personalabteilungen dieser Republik den Kampf an, und sendet vor allem ein Signal: Mit Fluchterfahrung ist man kein schwächerer Kandidat auf dem Arbeitsmarkt.“ (Fuchs 2018)
Was von der Deutschen Welle als „Aufklärungskampagne“ beschrieben wird, die den „Vorurteilen in vielen Personalabteilungen dieser Republik“ entgegenwirken solle, betrachten kritische Stimmen, beispielsweise von einer Kommentatorin der Berliner Tageszeitung (TAZ), als zynische Kampagne, die Geflüchtete einer ökonomischen Verwertungslogik unterwerfe und dadurch dem universellen Menschenrecht auf Asyl widerspreche, das „die Unterscheidung zwischen nützlich und unnütz nicht kennt.“ (Vogel 2018) Unabhängig von der Bewertung kann die Kampagne als paradigmatischer Fall für eine Perspektive auf Flucht und geflüchtete Menschen angesehen werden, die im Kern darin besteht, dass Flucht nicht länger (vordergründig) als ein Phänomen größter persönlicher und kollektiver Not angesehen wird und dass geflüchteten Menschen entsprechend nicht (in erster Linie) unter dem Gesichtspunkt ihrer Schutzbedürftigkeit begegnet wird. Dagegen wird Flucht (auch) als Chance für eine alternde Aufnahmegesellschaft angesehen, die von den Fähigkeiten der Schutzsuchenden profitieren kann. Den geflüchteten Menschen wird
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entsprechend unter dem Gesichtspunkt ihrer Nützlichkeit für die Länder und Regionen, in denen sie ankommen, begegnet. Diese Perspektive verbindet das Argument der Nützlichkeit mit dem Bild einer Willkommenskultur. Sie wendet sich also nicht direkt gegen die Perspektive der Schutzbedürftigkeit, die sie abzulösen scheint, sondern gegen die Positionen der Abschottung und Fremdenfeindlichkeit des erstarkten Rechtspopulismus in Europa und spricht sich für den Abbau von Vorurteilen, die Förderung von Integration und die Anerkennung kultureller Diversität aus. Die Nützlichkeitsorientierung im Diskurs über Flucht und deren Folgen kann als vergleichsweise neue Position in der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema charakterisiert werden (Schammann 2017). Sie hat die lange vorherrschende Defizit-Orientierung eines Abwehrregimes deutscher und europäischer Flüchtlingspolitik (Thränhardt 2015) nicht gänzlich abgelöst, doch vor allem in den Jahren nach 2015 die deutsche Flüchtlingspolitik und den Diskurs über Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen geprägt. Dennoch ist sie nur eine von vielen teilweise widersprüchlichen Orientierungen im Bereich der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration seit 2015 (Schammann 2017; Jäger/Wamper 2017). In den folgenden Abschnitten werden die verbreiteten kollektiven Vorstellungen und Deutungen sowie rechtliche Regelungsmuster und Akteurskonstellationen bezogen auf die Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen skizziert. Nach einer kurzen Einführung zu den übergreifenden Orientierungsrahmen deutscher Flüchtlingspolitik und deren Veränderungen in den vergangenen Jahren wird der Fokus zunächst auf Berlin als Sinnhorizont einer spezifischen Migrations- und Integrationspolitik gerichtet, bevor die Schwerpunkte der Arena, die Akteurskonstellation sowie zentrale Themen und Kontroversen im Diskurs über Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen in Berlin näher beschrieben werden. Das Kapitel beruht auf den Ergebnissen der Vorstudie (siehe Abschnitt 3.3.). Es dient zugleich als Ausgangspunkt für die Situationsanalyse im Rahmen der beiden ausgewählten Street-level-Experimente, indem hier die Grundzüge einer politischen Arena der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen in Berlin sowie die übergreifenden Policy-Diskurse skizziert werden. Anselm Strauss hat in einem seiner späten Werke – Continual Permutations of Action (Strauss 1993) – versucht, die Vorstellung von transsituativen, soziale Welten überspannenden Diskursen mit seinen Konzepten der sozialen Welten und Arenen und den darin stattfindenden Interaktionen zu verbinden. Dabei unterscheidet er zwischen (1.) der grundlegenden symbolisierenden Dimension von Interaktionen, die durch das Eingebundensein in soziale Welten informiert ist
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Bildungs- und Arbeitsmarktintegration …
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und dabei „[…] the contextual conditions for action and its immediate meaning“ (Strauss 1993: 159) bereitstellt, und (2.) „large-scale symbolizations“ (Strauss 1993: 162) oder „collective symbolizations“ (Strauss 1993: 167), „[…] that cannot be in their total gestalt precisely traced to specific social worlds […]. The origins of these symbolizations lie in more general conditions – economic, social, political, geographic perhaps, and in the varying contingencies that these conditions set for different collectives or aggregations of people“ (Strauss 1993: 166–167).
Als Beispiel nennt Strauss die kollektiven Vorstellungen über Zuwanderung und soziale Mobilität in den USA und hinterfragt, wie diese nach und nach in unterschiedliche Bereiche der Gesellschaft vordringen. Er zählt folgende charakteristische Merkmale kollektiver Symbolisierungen auf: „They are constituted by a cluster of overlapping but often inconsistent or antagonistic symbolizations. They are global – many images that cover a lot of symbolic territory. The various symbolizations seem to get put together in different combinations, at different times and places, and by different collectivities; that is, the clusters are flexible. Though they have roots in past structural conditions, they are wonderfully adaptable to emergent new conditions […]. Said another way, the clusters of symbolization over the years is found useful by successive generations, who can find meaning in some version of it within their own lives. Its global, flexible, adaptable features, in fact, permit users to treat it like a smorgasboard, taking from it what suits their tastes.“ (Strauss 1993: 167)
Als reisende Konzepte (Bal 2012) gelangen die hier skizzierten übergreifenden Orientierungen, Themen und Kontroversen in die alltägliche Arbeit im Rahmen der SLEs, können dort von den jeweiligen sozialen Welten und deren Angehörigen bei der Erzeugung von machbaren Problemstellungen aufgegriffen und entsprechend den eigenen Ansichten und örtlichen Gegebenheiten interpretiert, angepasst und transformiert werden. Die kollektiven Vorstellungen über Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen werden in diesem Kapitel zunächst in einem größeren Rahmen skizziert und in Beziehung zu rechtlichen Regelungsmustern und Akteurskonstellationen gesetzt, bevor der Blick genauer auf jene kollektiven Deutungen gerichtet wird, die in den letzten Jahren in Berlin1 an Bedeutung gewonnen haben. 1
Nicht nur Anselm Strauss hat auf die spezifischen Symbolwelten von Städten wie Chicago hingewiesen (Strauss 1993). Studien zur „Eigenlogik der Städte“ haben gezeigt, dass Städte häufig über eine ihr eigentümliche Sinn- und Symbolwelt verfügen, die sich mehr oder weniger deutlich von jenen anderer Städte unterscheidet und lokale Praxisfelder in einer Stadt
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4.1
Bildungs- und Arbeitsmarktintegration …
Das Abwehrregime der deutschen Flüchtlingspolitik
Zwar war das Ausmaß der Zuwanderung von Geflüchteten nach Deutschland in den Jahren 2015 und 2016 größer als jemals zuvor (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2016, 2017), dennoch gab es auch in der Vergangenheit immer wieder höhere Zuwanderungszahlen. So wurden beispielsweise im Jahr 1992 in der Folge der Jugoslawienkriege ca. 440.000 Asylanträge in Deutschland gestellt (OECD 2017). Für diese Geflüchteten stellte sich der Zugang zum Arbeitsmarkt ungleich schwieriger dar als heute, da einerseits die Anerkennungsquoten deutlich niedriger waren und die meisten aus dem ehemaligen Jugoslawien fliehenden Personen häufig nur eine Duldung erhielten, andererseits im Rahmen eines institutionalisierten Abwehrregimes (Thränhardt 2015) den Asylbewerber*innen und Geduldeten in den ersten Jahren nach ihrer Einreise der Zugang zum Arbeitsmarkt verwehrt blieb. Aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage und der hohen Binnenmigration nach der Wiedervereinigung sowie der massiven Widerstände in der Bevölkerung wirkten Politik und Behörden auf eine schnelle Rückkehr der Geflüchteten in ihre Herkunftsregionen hin. Der Zugang zum Arbeitsmarkt sowie Angebote zur Verbesserung der Teilhabe an Bildung und Arbeit wurden nicht als notwendig erachtet und eher als unliebsamer Anreiz für die Geflüchteten gesehen, langfristig in Deutschland zu bleiben: „Integration war für Asylbewerber offiziell nicht intendiert, ihr Zuzug sollte nicht ermutigt werden. Das zwischen 1980 und 1993 geschaffene sehr restriktive Regime für Asylbewerber und Geduldete wirkte desintegrativ. Es hinderte Asylbewerber daran, Initiativen zu entwickeln und ihr Leben produktiv zu gestalten.“ (Thränhardt 2015: 10)
Zu den wesentlichen Elementen des restriktiven Regimes zählt Thränhardt das gesetzlich geregelte Arbeitsverbot, die Wohnortzuweisung und Beschränkung der Bewegungsfreiheit, die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften, Absenkung der Sozialleistungen und Sachleistungen anstelle von Geldleistungen, die eingeschränkte Gesundheitsversorgung und die Abschaffung der Sprachförderung für Asylbewerber*innen und Geduldete (Wolken 1988; Thränhardt 2015). Dieses vergleichsweise teure und ineffiziente Abwehrregime seit den 1990er Jahren füge sich in die allgemein anerkannte Verknappungspolitik in Bezug auf das Arbeitskräfteangebot in Deutschland seit der Ölkrise 1974 ein, von dem nicht nur Asylbewerber*innen und Geduldete, sondern auch andere Zuwanderungsgruppen beeinflussen kann (Berking/Löw 2008; Löw/Terizakis 2011; Frank 2012, 2014; Barbehön et al. 2015).
4.2 Nützlichkeit als neues Leitkonzept deutscher Flüchtlingspolitik
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betroffen waren. Zudem lässt sich dieses restriktive Regime insofern in die Politik der europäischen Staaten einordnen, als diese seit dem Anstieg der Zahlen Ende der 1970er Jahre um eine möglichst niedrige Attraktivität für Geflüchtete konkurrierten (Thränhardt 2015). Trotz der Kritik an der deutschen Asylpolitik – beispielsweise durch den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), der bereits 1983 die Praxis in Deutschland als „in Europa einmalige Abschreckungsmaßnahmen gegen Asylbewerber“ (zitiert in: Thränhardt 2015: 14) bezeichnete – blieb dieses Abwehrregime bis in die 2010er Jahre weitgehend bestehen (Scherr 2018). Entsprechend kam der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen im politischen und wissenschaftlichen Diskurs in Deutschland kaum Aufmerksamkeit zu. Dies hat sich im Verlauf des „langen Sommers der Migration“ (Hess et al. 2017) schlagartig geändert. Seit 2015 ist das Thema in das Zentrum des medialen, politischen und wissenschaftlichen2 Interesses gerückt. Außerdem war und ist die Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen zahlreichen Veränderungen unterworfen und daher insgesamt von einer starken Dynamik gekennzeichnet (OECD 2017; Wiedner et al. 2018).
4.2
Nützlichkeit als neues Leitkonzept deutscher Flüchtlingspolitik
In einem Aufsatz zu den grundlegenden Ansätzen der Flüchtlingspolitik in Deutschland vertritt Hannes Schammann die These, dass mit der öffentlichen Debatte über Flucht und Asyl ab 2015 und den seither vollzogenen Gesetzesänderungen auch in diesem Bereich der Migrations- und Integrationspolitik Nützlichkeitserwägungen und damit einhergehend das Leistungsprinzip 2
Die Forschungstätigkeit zu Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten in Deutschland war in der Vergangenheit relativ überschaubar. Spätestens seit dem Jahr 2015 hat sie allerdings deutlich zugenommen, was vermutlich auf die wachsende öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema Flucht in Deutschland allgemein zurückgeführt werden kann (Wiedner et al. 2018). Es gab beispielsweise mehrere Themenpanels zu Flucht und Arbeit im Rahmen der ersten Konferenz des Netzwerks Flüchtlingsforschung in Osnabrück 2016, die Einrichtung eines Arbeitskreises zu Flucht und Arbeit im Netzwerk Flüchtlingsforschung sowie zahlreiche Veröffentlichungen in den vergangenen Jahren zum Thema (Hendrichs 2016; Wursthorn 2015; Knuth 2016; Schammann/Kühn 2016; OECD 2017; Bauer 2015; Blossfeld 2016; IAB 2016a; Brücker et al. 2016; IAB 2016b; Geiger 2016; Gesemann/Roth 2016; Worbs/Bund 2016; IAB 2017; Körtek/Reidel 2016; Robert Bosch Stiftung 2016a). Einen umfassenden Überblick über den Forschungsstand mit Fokus auf die deutsche Forschungslandschaft bieten Johansson (Johansson 2016) und Wiedner et al. (Wiedner et al. 2018).
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Bildungs- und Arbeitsmarktintegration …
an Bedeutung gewonnen hätten. In diesem Zusammenhang spricht Schammann von einer „meritokratischen Wende“ (Schammann 2017: 741) in der deutschen Flüchtlingspolitik: „Kurz gesagt: Die deutsche Flüchtlingspolitik vor 2015 orientierte sich stark an den Defiziten, das heißt in diesem Fall: an den politisch anerkannten Schutzbedarfen der Zugewanderten. Potenziale für den deutschen Arbeitsmarkt oder die Gesellschaft generell blieben weitgehend unberücksichtigt.“ (Schammann 2017: 747)
Die Orientierung am Leistungsprinzip und an Nützlichkeitserwägungen sei, wie Schammann betont, keineswegs neu für die Migrations- und Integrationspolitik westlicher Länder. Hauptsächlich die Fachkräftedebatte der vergangenen Jahre sowie die (neo)liberalen Reformen der deutschen Sozialpolitik haben zum Bedeutungsgewinn meritokratischer Positionen auch in der Migrations- und Integrationspolitik beigetragen (Schammann 2017; Holzberg et al. 2018). Im besonderen Bereich der Asyl- und Flüchtlingspolitik sei die Orientierung an Nützlichkeit und individueller Leistung aber vor 2015 kaum in Erscheinung getreten, da sie hier klassischerweise in einem Spannungsverhältnis zum Prinzip der Schutzbedürftigkeit stehe, die laut Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) allein maßgeblich für die Aufnahme von Geflüchteten sei. „Versteht man im Sinne des bisher Umrissenen unter Leistung den tatsächlichen oder anzunehmenden Erfolg auf dem Bildungs- und Arbeitsmarkt, so spielt sie in den internationalen Regelungen zum Flüchtlingsschutz, und hier vor allem der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), keine Rolle. Maßgebend ist hier allein die Schutzbedürftigkeit. Wenn man also Leistung nicht als besonderen Grad der Schutzbedürftigkeit definiert, so hat Flüchtlingspolitik ihrem Grundsatz nach frei zu sein von meritokratischen Erwägungen. Schutz erhält, wer Schutz braucht – und nicht, wer ihn sich verdient. Eine Ausnahme macht die GFK nur, wenn die jeweilige Person die ‚öffentliche Sicherheit und Ordnung‘ des Aufnahmelandes bedroht (Art. 32 GFK).“ (Schammann 2017: 745–746)
An dieser Stelle weist Schammann eher beiläufig auf einen weiteren Aspekt der nützlichkeitsorientierten Flüchtlingspolitik hin, der bisher vor allem in dem Debattenfeld der Sicherheitspolitik verhandelt wurde. Die Nützlichkeitserwägungen werden hier in ihr Gegenteil verkehrt – es geht gewissermaßen um die ‚Nicht-Nützlichkeit‘ – und die Gefährdung der „öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ wird zum entscheidenden Kriterium. Sogenannte ‚Gefährder‘ und ‚ausländische Straftäter‘ geraten dabei in den Fokus, aber auch diejenigen, denen unterstellt wird, dass sie lediglich ‚in die Sozialsysteme‘ einwandern würden
4.2 Nützlichkeit als neues Leitkonzept deutscher Flüchtlingspolitik
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(Holzberg et al. 2018). Hier zeigt sich die Kehrseite einer an Humanressourcen und individuellen Potenzialen orientierten Flüchtlingspolitik, wie sie für die generelle Migrations- und Integrationspolitik etwa von Stephan Lanz, Michael Meuser und Katharina Bodirsky charakterisiert wird (Lanz 2011; Bodirsky 2012; Meuser 2013). Schammann stützt seine These der meritokratischen Wende mit dem Hinweis auf Gesetzesänderungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht seit 2015. Unter den restriktiven Änderungen aus dem Asylpaket II, das Anfang des Jahres 2016 in Kraft trat, lassen sich unter dem Gesichtspunkt des Spannungsverhältnisses von Schutzbedürftigkeit und Nützlichkeit laut Schammann vor allem zwei hervorheben: Erstens wurde für die Gruppe der subsidiär Schutzberechtigten der Anspruch auf Familiennachzug ausgesetzt, was in der öffentlich geführten Debatte vor allem mit der Überlastung der Sozialsysteme in Verbindung gebracht wurde. Zudem wurde beschlossen, dass gesundheitliche Gründe einer Abschiebung nicht grundsätzlich entgegenstehen. Dagegen müssen die von Abschiebung Bedrohten künftig selbst nachweisen, dass eine medizinische Versorgung im Herkunftsland nicht in angemessener Form möglich ist (Schammann 2017). Am deutlichsten zeige sich die meritokratische Wende allerdings im Rahmen des sogenannten ‚Integrationsgesetzes‘, das im September 2016 in Kraft trat. Schon in der Begründung des Gesetzespakets werde deutlich, woran sich die Gesetzesänderungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht orientieren: „[Der] Schwerpunkt [liegt] auf dem Erwerb der deutschen Sprache sowie einer dem deutschen Arbeitsmarkt gerecht werdenden Qualifizierung der betroffenen Menschen. Je früher damit begonnen wird, umso höher sind die Erfolgsaussichten. Der deutsche Arbeitsmarkt benötigt eine Vielzahl von Fachkräften. Dieser Bedarf kann auch durch die nach Deutschland kommenden schutzsuchenden Menschen teilweise abgedeckt werden.“ (Deutscher Bundestag 2016: 1; Schammann 2017: 749–750)
Auffällig ist, dass der Sprachgebrauch bei der Bezeichnung der geflüchteten Menschen als die „schutzsuchenden Menschen“ noch dem alten Paradigma folgt, was für die Maßnahmen und Ziele nicht mehr gilt. Zudem spielen nicht nur Nützlichkeitserwägungen an sich eine wichtige Rolle, sondern eine Verbindung der Flüchtlings- und Asylpolitik mit der Arbeitsmarktpolitik wird angestrebt. Arbeit wird somit auch in Bezug auf die Integration zum entscheidenden Faktor erklärt (Schammann/Kühn 2016; Schammann 2017). Ein weiteres Beispiel für diese Verschränkung ist die Umsetzung der von den Arbeitgeberverbänden und Kammern seit längerer Zeit geforderte 3+2-Regelung, die unter der Bezeichnung der ‚Ausbildungsduldung‘ in die Flüchtlingspolitik aufgenommen wurde. Dabei sollen geflüchtete Menschen, deren Asylantrag
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Bildungs- und Arbeitsmarktintegration …
abgelehnt wurde, die sich aber in einer Ausbildung befinden oder unmittelbar vor dem Beginn einer Ausbildung stehen, für die Dauer dieser Ausbildung und für zwei weitere Jahre der Berufsausübung eine Duldung erhalten, die dann in einen regulären Aufenthaltstitel münden kann. Die geflüchteten Menschen können sich somit „ihr Bleiberecht trotz Ablehnung durch einen Erfolg auf dem Ausbildungsmarkt verdienen“ (Schammann 2017: 750). Eine meritokratische Wende und damit eine stärkere Ausrichtung an Leistung und (ökonomischer) Nützlichkeit äußern sich nicht nur in den von Schammann angeführten Gesetzesänderungen, sondern auch allgemeiner im öffentlichen Diskurs über Flucht und deren Folgen in Deutschland seit 2015. So zeigen beispielsweise Studien zur Medienberichterstattung in Deutschland (Holzberg et al. 2018) und zur Arbeit mit Geflüchteten (Zakariás/Feischmidt 2020), dass der Diskurs über die Aufnahme und Unterstützung von geflüchteten Menschen seit 2015 stark durch eine Logik der diservingness3 geprägt ist. Einerseits entscheiden die individuelle Leistung und Motivation, andererseits die Einschätzung einer potenziellen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit sowie liberaler Werte über (un)diservingness im Kontext der Aufnahme und Unterstützung von geflüchteten Menschen: „[…] the German discourse of the ‚refugee crisis‘ shifts attention from the geopolitical context and reasons for migration and displacement to the benefits and burdens that refugees are presumed to pose to the host country.“ (Holzberg et al. 2018: 547) Was in dem einleitenden Beispiel der Social-Bee-Kampagne als neues Bild und neue Vorstellungs- und Denkweise der Nützlichkeit beschrieben wurde und bei Schammann als meritokratische Wende bezeichnet wird, hat eine längere Vorgeschichte in den migrations- und integrationspolitischen Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre. Es handelt sich um einen Wechsel auf der diskursiven Ebene vom Problem- oder Defizitansatz zum Potenzial- oder Ressourcenansatz in der Migrationspolitik (Baraulina 2007; Gesemann/Roth 2009; Rodatz 2012; Meuser 2013; Münch 2018). Zugleich bleiben weitere Positionen aktuell: das (lange vorherrschende und seit Kurzem wieder verstärkte) Abwehrregime der europäischen Flüchtlingspolitik in Verbindung mit nunmehr sagbaren nationalistischen und rassistischen Haltungen ebenso wie die menschenrechtliche Orientierung an der Schutzbedürftigkeit. Dies lässt sich unter anderem anhand der zentralen Themen und Kontroversen in den Diskursen über Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen zeigen (siehe Abschnitt 4.4.). In Berlin ist der 3
Der Begriff deservingness stammt ursprünglich aus der Sozialpolitikforschung und bezieht sich auf die Frage, aufgrund welcher Kriterien welchen sozialen Gruppen Ansprüche auf Leistungen (des Sozialstaats) zugeschrieben werden (van Oorschot 2000).
4.3 „Berliner Diversitäten“
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Wandel von einem Problem- oder Defizitansatz zu einem Potenzial- oder Ressourcenansatz zusätzlich eng mit einem Dispositiv der kosmopolitisch-diversitären Metropole (Lanz 2011) und den entsprechenden stadtspezifischen Narrativen und Problemdiskursen verbunden, wie im folgenden Abschnitt näher beschrieben wird.
4.3
„Berliner Diversitäten“
Stephan Lanz unterscheidet aus historischer Sicht drei zentrale Migration/StadtDispositive, welche die Auseinandersetzung und den Umgang mit Zuwanderung und ihren Folgen in Berlin strukturiert haben. Für ihre jeweilige Entstehung und Ausprägung spiele neben rechtlichen und politisch-kulturellen Rahmenbedingungen auf der nationalen Ebene das urban meaning4 (Castells 1983) der Stadt eine wichtige Rolle (Lanz 2011). Dem Dispositiv der national-homogenen Großstadt liege die Idee der Nation als „Abstammungs- und Kulturgemeinschaft“ (Lanz 2011: 128) zugrunde. Demnach werde Berlin als krisenhafter Ort des Proletariats und als jugendliche Kulturstadt entworfen, in der Migrant*innen als Fremdkörper gelten. Dies zeige sich unter anderem im räumlichen Ghetto-Diskurs und in einem auf Nation und Ethnie bezogenen Kulturbegriff, der Exklusionsprozesse entlang nationaler und ethnischer Zugehörigkeit fördere. Seit den 1980er Jahren existiere das Dispositiv der multikulturell-differenziellen Metropole parallel zum alten Dispositiv. Die essentialistische Vorstellung von Kultur und das jugendliche Image blieben erhalten, aber Migrant*innen würden nicht mehr vornehmlich als Fremdkörper angesehen. Neben die Leitvorstellung der Homogenität trete das Prinzip der kulturellen Vielfalt, die beispielsweise bei Veranstaltungen wie dem Karneval der Kulturen zur Schau gestellt werde, die aber weiterhin in Relation zu einer „mehrheitsgesellschaftlichen Leitkultur“ (Lanz 2011: 128) bewertet und zur Not eingehegt werden müsse. Um die Jahrtausendwende folge dann das Dispositiv der kosmopolitisch-diversitären Metropole, das sich vom essentialistischen Kulturbegriff und einer klaren Differenzierung zwischen einem ethno-kulturellen 4
Manuel Castells definiert urban meaning „as the structural performance assigned as goal to cities in general (and to a particular city in the inter-urban division of labour) by the conflictiv process between historical actors in a given society“ (Castells 1983: 303). Damit wird hier mehr als bei Lanz die konflikthafte Hervorbringung des urban meaning und eine bestimmte der Stadt zugeschriebene Funktion betont, die durch das urban meaning determiniert werde. Urban meaning und urban function bringen bei Castells gemeinsam die urban form hervor, also „the symbolic spatial expression of the processes that materialize as a result of [urban meaning and urban function]“ (Castells 1983: 303).
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4
Bildungs- und Arbeitsmarktintegration …
‚Wir und die Anderen‘ verabschiede. Zudem komme es zu einer Ökonomisierung des Bildes von Berlin als „global bedeutender jugendlicher Kulturmetropole und [zur] Vorstellung einer durch soziale, kulturelle, ethnische und nationale Diversität charakterisierten städtischen Gesellschaft“ (Lanz 2011: 129). Wo vor allem im Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung und vor dem Umzug der Bundesregierung von Bonn nach Berlin das Image noch von einem Szenario des Verfalls dominiert war, sei jetzt der Aufstieg zu einer Weltstadt im Gange und Berlin entdecke ihr kulturelles Kapital. Es präsentiere sich nach außen zunehmend als Ort der (sub-) kulturellen Vielfalt und erhöhe damit nicht zuletzt seine Attraktivität für die durch Richard Florida (2003) beschworene kreative Klasse (Lanz 2011).
Exkurs: Diversität als neues Leitkonzept in der Migrations- und Integrationspolitik großer Städte In den vergangenen Jahrzehnten hat sich vor allem in großen Städten ein potenzial- und ressourcenorientierter Blick auf Zuwanderung etabliert, der eng mit dem politischen Leitkonzept der diversen oder vielfältigen Gesellschaft verknüpft ist (Vertovec 2012). Chantal Munsch unterscheidet in Bezug auf Diversität zwei Hauptkonzepte (Munsch 2010). Unter diversity politics versteht sie Ansätze, die sich mit dem Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlicher Herkunft und/oder Lebensweise befassen. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Zusammenhang zwischen Vielfalt, Macht und sozialer Ungleichheit. Unter managing diversity subsumiert sie demgegenüber Ansätze, die vor allem im Kontext ökonomischer Überlegungen zum Tragen kommen und bei denen es darum geht, die Ressourcen einer heterogenen Gruppe oder Population optimal zu nutzen (Munsch 2010). Alle Ansätze verbindet häufig die Tendenz, Vielfalt und Unterschiede gegenüber Gleichheit zu bevorzugen.5 Laut Sybille Münch fand der Begriff diversity im deutschsprachigen Raum zunächst Eingang in die Privatwirtschaft. „Diversity Management soll hier das bestmögliche Ausschöpfen von Humanressourcen ermöglichen, wobei unklar ist, ob die Diversitätsrhetorik die ältere Praxis der Gleichstellung positiv oder negativ beeinflusst.“ (Münch 2017: 46) Erst später, vor allem durch den Einfluss der Europäischen Union, wurde Diversität auch im deutschsprachigen Raum zu einem Leitkonzept für Schulen, Behörden, Museen und ganze Städte. Besonders Letztere haben Diversität im vergangenen Jahrzehnt häufig als politisches Leitkonzept
4.3 „Berliner Diversitäten“
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etabliert. Diversität wird nicht nur als wertzuschätzende Tatsache und Realität der Stadt angesehen, sondern es gilt, Diversität und den toleranten Umgang damit als einen wichtigen Faktor für die Anziehung der begehrten kreativen Klasse zu fördern (Florida 2005). Die Kombination unterschiedlicher Erfahrungen und Wissensbestände, aber auch die Irritationen und das Infragestellen bestehender Routinen werden nun als Quelle für neue Ideen, kreative Problemlösungen und Innovationen gesehen (Leadbeater 2008; Wood/Landry 2008). Damit einher geht die Fokussierung auf das Individuum und bestimmte Gruppen als Träger*innen bestimmter (kultureller) Merkmale, die als Ressource für die Wettbewerbsfähigkeit der Stadt genutzt werden sollen (Bodirsky 2012; Meuser 2013). Mit dem neuen Berlinbild entstehe laut Lanz auch ein neuer Einwanderungsdiskurs, der auf der Vorstellung von dynamischen, selbstverantwortlichen und kreativen Subjekten beruhe, die zur Steigerung der (kulturellen) Attraktivität Berlins beitragen: „Im Gegensatz zu den 1920er Jahren, in denen ‚Ausländer‘ als unerwünschte oder zumindest suspekte Fremdkörper galten, und zu den 1980er Jahren, als sie als ethnisch-kulturell ‚Andere‘ auf Abstand zum ‚Eigenen‘ gehalten wurden, erstarkte in diesem Rahmen erstmals ein Diskurs, der kein natio-ethno-kulturelles Eigenes mehr von einem ‚Anderen‘ abspaltet, sondern nationale, kulturelle, ethnische ebenso wie soziale Diversität als charakteristisches Merkmal einer Metropole deutet und für förderungswürdig erklärt.“ (Lanz 2011: 125)
5 In den USA war diversity zunächst ein Begriff der Bürgerrechtsbewegung, die sich gegen die Diskriminierung und den verbreiteten Rassismus gegenüber people of color richtete. Durch die sogenannten affirmative actions seit den 1960er Jahren war der Begriff somit eng verbunden mit der Herstellung von Chancengleichheit für häufig benachteiligte und diskriminierte Gruppen, sei es auf Grund der Herkunft, der Hautfarbe, der Religion, des Geschlechts, des Alters, der Gesundheit oder der sexuellen Orientierung (Salzbrunn 2014). Danach wurde der Diversity-Begriff relativ schnell von ökonomischen Akteuren aufgegriffen. Unter dem Stichwort des Diversity-Managements sollten durch den richtigen Umgang mit Vielfalt in einer Belegschaft Vorteile für das jeweilige Unternehmen erzielt werden. Die Vielzahl der Bezugsrahmen macht Diversität seither zu einem umkämpften Konzept, das in unterschiedlichen Diskursen zur Aktualisierung sehr unterschiedlicher Deutungsmuster und Narrative beiträgt (Vertovec 2012; Lees 2003).
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Zuwanderung und kulturelle Diversität werden also im Rahmen des Dispositivs der kosmopolitisch-diversitären Metropole zu einem ökonomischen Faktor für die Stadtentwicklung. Das neue Migration/Stadt-Dispositiv schreibt sich laut Lanz auch in die Vorstellung des städtischen Raumes ein und deutet diesen entsprechend der dispositiven Rationalität um. Die Problematisierung von räumlicher Segregation und die Gegenüberstellung von Ghettos bzw. ghettoartigen Quartieren, die von einer Normalität abweichen, werde abgelöst durch die Vorstellung von weltoffenen und bunten Stadtteilen, „deren selbstverständliche, hochgradig fluide Internationalität weder im Sinne einer Arbeitermigration noch im Sinne einer dauerhaften Einwanderung an das klassische deutsche Bild von ‚Migration‘ gekoppelt ist“ (Lanz 2011: 126). Aber auch das dritte Migration/Stadt-Dispositiv ersetze die vorherigen Dispositive nicht vollständig, sondern ergänze sie. So werde das Thema vermeintlicher Parallelgesellschaften und Ghettos beispielsweise in Bezug auf den Bezirk Neukölln aktualisiert und analog zu nationalen und internationalen Entwicklungen konstruiere man vor allem muslimische ‚Andere‘ im Diskurs der vielfältigen Stadt (Lanz 2011).6 Der Diskurs über die Wertschätzung und Förderung kultureller Diversität in der Stadt wird von Lanz auch mit dem Diskurs über den aktivierenden Sozialstaat, der vor allem mit der rot-grünen Bundesregierung ab dem Jahr 1998 einsetzte, verknüpft. Die Konzentration auf Probleme und Defizite im Rahmen (städtischer) Migrations- und Integrationspolitik seit der Jahrtausendwende werde durch einen eher potenzial- und ressourcenorientierten Ansatz ersetzt. Ihm zufolge wird dann von gelungener Integration gesprochen, wenn Individuen ohne Sozialleistungen auskommen und selbstständig ihre Teilhabe am städtischen Leben organisieren. Zentral für die städtische Integrationspolitik werden hier die Bereiche Bildung und Erwerbsarbeit, die der Entfaltung und Ausschöpfung individueller Potenziale dienen: „Dem Dispositiv der kosmopolitischen Metropole liegt so eine Vorstellung zugrunde, die eine kulturelle, soziale und ethnische Vielfalt individueller Stadtbewohner als gesellschaftlich bereichernd und ökonomisch nützlich versteht, daraus resultierende soziale Ungleichheiten aber in Kauf nimmt und die Individuen als unternehmerische, für ihre materielle Existenz selbst verantwortliche Subjekte adressiert.“ (Lanz 2011: 127)
Lanz entwickelt in seiner Beschreibung des Dispositivs der kosmopolitischdiversitären Metropole die Grundzüge eines idealen Subjekts in der kosmopolitischen Stadt. Beispielsweise kann der Culturepreneur als Modellsubjekt der 6
Zu Narrativen eines antimuslimischen Rassismus siehe Yasemin Shooman (2014).
4.3 „Berliner Diversitäten“
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kreativen Start-up-Metropole Berlin dienen. Das ideale Subjekt, das sich als Folie für die Bewertung von Neuankommenden heranziehen lässt, zeichne sich durch eine jugendliche Dynamik, Flexibilität, Offenheit und eigenverantwortliches Handeln aus. Durch seine Wanderungsbewegung bringe es neue Ideen, Impulse und Potenziale in die Stadt, die es vor Ort im Austausch mit ‚gleichen Anderen‘ zur Entfaltung bringt. Hier scheint zumindest die Möglichkeit zu bestehen, dass nicht alle Zugewanderten gleichermaßen als Teil der kosmopolitischen Metropole angesehen werden und dass die anderen Migration/Stadt-Dispositive für diese ‚anderen Anderen‘ weiterhin wirken. An diese Überlegung knüpft Catharina Bodirsky mit ihrer Analyse des Culture for competitiveness-Ansatzes (CfC) an, den sie anhand von Policy-Dokumenten der Europäischen Union und Berlins rekonstruiert (Bodirsky 2012). Der Ansatz baut laut Bodirsky auf folgendem international populärem Policy-Argument auf: „[T]oday’s global economy is increasingly knowledge-based and innovation is more and more central to competitiveness. Thus, competitiveness relies on appropriately skilled ‚human capital‘ that can contribute creatively to innovation. Successful economies have to form and attract such creative workers, and because culture – the arts, human development, and ways of life – is central to their creativity and lifestyle, policy-makers need to foster it. This includes support for creative and cultural industries, openness to immigration (of the right kind), and diversity-sensitive integration of migrants. As the argument goes, using culture for competitiveness in this way will lead to economic growth and consequently to more jobs.“ (Bodirsky 2012: 456)
Der CfC-Ansatz beruht auf einer Kombination aus städtischer Förderung der Kultur- und Kreativwirtschaft, Förderung der Zuwanderung von hochqualifizierten Arbeitskräften und diversitätsorientierten Strategien der Integration von ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘. Die drei voneinander getrennten Bereiche eine das Konzept der kulturellen Diversität und die Individualisierung von Kultur als persönliche Ressource bzw. persönliches Potenzial (Bodirsky 2012). Die skizzierte Argumentation von der Förderung kultureller Ressourcen über die Freisetzung von Kreativität, das dadurch steigende Innovationspotenzial und schließlich die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der Stadt oder Region in einer globalisierten und auf Wissen basierenden Ökonomie zeigt sich paradigmatisch in den planerischen Leitbildern der kreativen (Landry 2000; Florida 2003;
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Florida 2005) und interkulturellen Stadt (Wood/Landry 2008).7 Diesen Leitbildern folgend, empfehlen sich Policy-Strategien, die auf die Durchmischung und Veränderung kultureller Formen abzielen (Bodirsky 2012). Die Kombination der Argumente von Florida mit den Ideen von Wood und Landry führt laut Bodirsky zu einem Policy-Ansatz in Städten, der zum Zweck der Steigerung des Innovationspotenzials auf ein kosmopolitisches und tolerantes Klima abziele und „intercultural integration strategies“ (Bodirsky 2012: 459) verfolge. Der CfC-Ansatz zeige sich, so Bodirsky weiter, beispielhaft in der Regionalentwicklungs- und Integrationspolitik Berlins. Entlang der Funktionen, die Kultur im CfC-Ansatz für die Wettbewerbsfähigkeit einer Stadt bei der Förderung von Kreativität und der damit einhergehenden Steigerung von Innovationsfähigkeit erfülle, entstünden unterschiedliche Rollenbilder, die als eher nützlich oder schädlich für die städtische Wettbewerbsfähigkeit angesehen werden. „The CFC approach constructs forms of difference that are seen to resist cosmopolitan city flair and contribution to economic productivity not as diversity to be supported but problem to be overcome […]. The valuing of competitiveness thus interlinks with a normative construction of the good citizen-subject as diverse which […] constructs hierarchies of belonging and demarcates people and places for differential forms of state intervention.“ (Bodirsky 2012: 462)
Bei der Unterscheidung zwischen problematisierten und gewünschten Gruppen bezieht sich Bodirsky auf die Arbeit von Thomas Hylland Eriksen (2006). Die entgegengesetzten Dimensionen im öffentlichen Diskurs über die kulturelle Vielfalt in modernen Gesellschaften bezeichnet Eriksen als Diversität (diversity) und Differenz (difference). Diversität wird dabei definiert als „largely aesthetic, politically and morally neutral expressions of cultural difference“ (Eriksen 2006: 14). Differenz dagegen 7
Der kreative Sektor und damit vor allem die kreative Klasse und deren Humankapital sind laut Florida die zentralen Faktoren für wirtschaftlichen Erfolg einer Stadt oder Region. Policy-Strategien, die zu mehr Toleranz, Offenheit und einem kosmopolitischen Flair führen und damit die Attraktivität der Stadt für die kreative Klasse erhöhen, seien daher die geeigneten Mittel für eine auf Wirtschaftswachstum und Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtete Stadtpolitik, so Florida (2003). Mit ihrer Argumentation für die interkulturelle Stadt bauen Wood und Landry laut Bodirsky auf der humankapital- bzw. ressourcenorientierten Argumentation von Florida auf und ergänzen diese durch die Idee, dass kulturelle Diversität in der Stadt nicht nur indirekt über die Anziehung der kreativen Klasse zu mehr Kreativität und damit mehr Innovationspotenzialen führe, sie betonen darüber hinaus Prozesse des interkulturellen Dialogs und Austauschs als Quellen für Kreativität (Wood/Landry 2008; Bodirsky 2012).
4.4 Arena der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration …
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„[…] refers to morally objectionable or at least questionable notions and practices in a minority group or category, that is to say notions and practices which are held to (i) create conflicts through direct contact with majorities who hold other notions, (ii) weaken social solidarity in the country and thereby the legitimacy of the political and welfare systems […], and (iii) lead to unacceptable violations of human rights within the minority groups.“ (Eriksen 2006: 14)
Während Diversität im öffentlichen Diskurs anerkannt und gefördert werde, gelte Differenz als Hauptursache für soziale Probleme und Spannungen im Zusammenhang mit Migration in der Gesellschaft (Eriksen 2006). Anhand ihrer Untersuchung von Policy-Dokumenten in Berlin untermauert Bodirsky die diskursive Unterscheidung zwischen willkommener Diversität und problematischer Differenz (Bodirsky 2012). Lanz und Bodirsky betonen in ihren Studien zu Berlin, dass Diversität als Leitkonzept lokaler Zuwanderungs- und Integrationspolitik an Bedeutung gewonnen hat. Sie weisen auf die Verbindung zum ressourcenorientierten Potenzialansatz hin, der Zuwanderung unter bestimmten Voraussetzungen mit ökonomischen Vorteilen für die Zielorte in Verbindung bringt, die über den Nutzen einer Fachund Arbeitskräftesicherung hinausgehen. In diesem Zusammenhang sehen die Autor*innen einerseits eine Ausrichtung des Konzepts auf das Individuum, andererseits eine an den (ökonomischen) Nutzenerwartungen orientierte Unterteilung in willkommene Diversität und problematische Differenz. Letzteres lässt sich auch im Rahmen der neu entstandenen lokalpolitischen Arena der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen in Berlin aufzeigen, ist hier aber mit fluchtspezifischen Diskursen verschränkt und unterliegt dadurch einer eigenen diskursiven Strukturierung. Im folgenden Abschnitt wird die lokalpolitische Arena der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen in Berlin näher betrachtet. Dazu wird auf Basis der Ergebnisse der Vorstudie und weiterer Sekundärliteratur auf die Leitfragen der Arenaanalyse nach Clarke (vgl. Abschnitt 3.4.) eingegangen. Der Abschnitt fasst zusammen, was den Schwerpunkt der Arena ausmacht, welche Akteur*innen beziehungsweise Akteursgruppen aktiv sind und welche zentralen Themen und Kontroversen den Diskurs der Arena prägen.
4.4
Arena der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen in Berlin
In den Jahren 2015 und 2016 erreichte die Zahl der in Deutschland und Berlin schutzsuchenden Menschen ein historisches Hoch (Bundesamt für Migration und
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4
Bildungs- und Arbeitsmarktintegration …
Flüchtlinge 2017).8 Im Zuge der öffentlichen Auseinandersetzung mit Fluchtmigration und deren Folgen sind auf mehreren Ebenen und in unterschiedlichen Bereichen Veränderungen in Gang gesetzt worden (OECD 2017; Wiedner et al. 2018). So kann auch in Berlin der deutliche Bedeutungszuwachs einer lokalpolitischen Arena konstatiert werden, die sich seither verstärkt um die Themen Arbeit und Bildung mit Bezug auf geflüchtete Menschen formiert hat (Aumüller 2016; Gesemann/Roth 2016; Knuth 2016; Schammann/Kühn 2016; Maas 2017; OECD 2017; Wiedner et al. 2018; Schader 2020; Schammann 2020). Ab Anfang 2015 hat sich der Berliner Senat intensiver mit der Zuwanderung und der Aufnahme von Geflüchteten befasst. So wurden auf einer Klausursitzung im Januar 2015 Eckpunkte eines Konzepts für die Versorgung- und Unterbringung von geflüchteten Menschen beschlossen. Dieses Konzept sollte „ein grundsätzliches Handlungsgerüst für die konzeptionelle Ausgestaltung der Flüchtlingsaufnahme“ (Der Senat von Berlin 2015) darstellen. Es war nicht als vollständiger Maßnahmenkatalog gedacht, sondern sollte in den folgenden Monaten „[…] durch konkrete Maßnahmen angereichert und fortentwickelt […]“ werden (Der Senat von Berlin 2015). Bereits im Oktober 2014 hatte die damalige Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen (SenAIF) eine Arbeitsgruppe für die Aufnahme und Integration geflüchteter Menschen eingerichtet, deren Tätigkeit auf die Überprüfung und Verbesserung der vorhandenen Strukturen in Berlin abzielte. Die inhaltliche Arbeit wurde in Untergruppen für bestimmte Handlungsfelder gebündelt und die vorläufigen Ergebnisse in „umsetzungsorientierte Steuerungsgruppen der Senatsverwaltungen übergeben“ (Der Senat von Berlin 2015). Für den Bereich der Arbeitsmarktintegration war die ‚Lenkungsgruppe Arbeitsmarktintegration Geflüchteter‘ zuständig, in die lokale Stakeholder aus dem Bereich der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration in Berlin einbezogen wurden. Im April 2015 beschloss der Senat auf Vorlage der damaligen (SenAIF) dann weitere konkrete Maßnahmen zur Förderung der Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen, darunter die Erhöhung der eingesetzten Landesmittel für Sprachkurse, den Einsatz von Integrationslots*innen und von Bildungsberater*innen. Anfang des Jahres 2016 lag eine erste Version des „Masterplans Integration und Sicherheit“ (SenAIF 2016b) vor, in dem Fragen der sozialen und gesellschaftlichen Teilhabe geflüchteter Menschen zur Diskussion standen. Zudem wurde der Themenbereich Sicherheit als zentrales Handlungsfeld im Zusammenhang mit der Aufnahme und Integration geflüchteter Menschen in Berlin 8
Im Jahr 2015 nahm das Land Berlin 55.000, im Jahr 2016 noch insgesamt 27.247 Geflüchtete neu auf (Die Beauftragte für Integration und Migration Berlin 2019).
4.4 Arena der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration …
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benannt (SenAIF 2016b). In zahlreichen Gesprächsrunden zwischen den Vertreter*innen der jeweiligen Senatsverwaltungen und diversen Akteur*innen aus der Berliner Stadtgesellschaft wurde der Masterplan in den Folgemonaten weiterentwickelt und im Rahmen einer öffentlichen Dialog-Konferenz im April 2016 konnten sich alle Interessierten in themenspezifischen Workshops an der Weiterentwicklung des Masterplans beteiligen. Die Ergebnisse der Gesprächsrunden und der Dialog-Konferenz sowie mehrere eingesendete Stellungnahmen sollten in die finale Fassung des Masterplans einfließen und die Ziele und aufgeführten Maßnahmen sollten einmal pro Jahr in einem Umsetzungsbericht überprüft werden.9 Für die Umsetzung der Maßnahmen wurden 2016 und 2017 zusätzliche Mittel zum Berliner Landeshaushalt zur Verfügung gestellt (2016: 42 Mio Euro; 2017: 109 Mio. Euro). Das im Dezember 2018 vom Senat beschlossene „Gesamtkonzept zur Integration und Partizipation Geflüchteter“ löste den „Masterplan Integration und Sicherheit“ schließlich ab (Die Beauftragte für Integration und Migration Berlin 2019).
4.4.1
Charakterisierung der Arena durch die beteiligten Akteur*innen
Die Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen in Berlin wird im empirischen Material stets als besonders komplexer und langwieriger Prozess beschrieben. So heißt es beispielsweise im „Masterplan Integration und Sicherheit“: „Die Integration in den Arbeitsmarkt ist je nach Lebensphase und Unterstützungsbedarfen der Geflüchteten ein sehr komplexer Prozess, der individuell unterschiedlich und in der Regel in mehreren aufeinander folgenden Stufen erfolgen muss. Dabei ist oftmals auch von einer längeren Dauer des Eingliederungsprozesses auszugehen.“ (SenAIF 2016b)
9
Unter der Überschrift „Flankierende Maßnahmen des Landes zum Regelsystem“ (SenAIF 2016b) wurden mehrere Maßnahmen genannt, die zum Teil bereits in den Monaten zuvor initiiert worden waren, um wichtige Aufgaben im Bereich der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen zu übernehmen, die nicht durch die vorhandenen Regelstrukturen abgedeckt werden konnten. Das übergreifende Anliegen dieser Maßnahmen bestand laut Masterplan darin, „[…] den Prozess der Arbeitsmarktintegration frühzeitig zu beginnen und die hohe Motivation der Geflüchteten schnell zu nutzen und die vorhandenen Angebote sinnvoll vor Ort zu verbinden“ (SenAIF 2016b). Darunter befindet sich auch die mobile Bildungsberatung für geflüchtete Menschen in Berlin.
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Ausführungen zur Bildungs- und Arbeitsmarktintegration weisen zudem häufig auf die Vielzahl der beteiligten Akteur*innen hin, die im Integrationsprozess auf Vernetzung und Zusammenarbeit angewiesen seien, um der Komplexität der Aufgabe gerecht werden zu können: „Arbeitsmarktintegration setzt ein breites Spektrum an Maßnahmen voraus, von der Beratung, Kompetenzfeststellung, Anerkennung ausländischer Abschlüsse über Qualifikation, Vermittlung, die Klärung rechtlicher Fragestellungen und Begleitung. All dies kann nicht durch Einzelne abgedeckt werden, sodass es der Aufgabenteilung und entsprechender Vernetzung bedarf.“ (Interview – Vertreter*in einer zivilgesellschaftlichen Organisation aus Berlin)
Der Verweis auf die Vielfalt der Akteur*innen sowie die Notwendigkeit von Vernetzung, Kooperation und Austausch der Akteur*innen findet sich als zentrales Charakterisierungsmerkmal der Arena in fast allen Interviews und analysierten Dokumenten. Dabei wird immer wieder auch eine ebenen- und sektorenübergreifende Zusammenarbeit zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteur*innen betont, wie in folgendem Zitat aus dem „Masterplan Integration und Sicherheit“: „Die Kammern und Verbände stehen hierbei in engem Kontakt mit dem Senat und der Regionaldirektion Berlin – Brandenburg der Bundesagentur für Arbeit, der Ausländerbehörde sowie dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Bei der Koordination der Aktivitäten der Wirtschaft vor Ort werden die Bezirke frühzeitig einbezogen und nehmen eine zentrale Rolle ein.“ (SenAIF 2016b)
Staatlichen Akteur*innen wird in diesem Prozess vor allem die Rolle der Entscheidungsträgerin zugeschrieben, die aus den vielfältigen Erfahrungen der unterschiedlichen beteiligten Akteur*innen verbindliche Regeln und Strukturen schaffen solle: „Die Vernetzung mit staatlichen Akteuren sollte insbesondere genutzt werden, um beständig Ergebnisse und Expertise der Projektarbeit in die Politik einfließen zu lassen.“ (Interview – Vertreter*in einer zivilgesellschaftlichen Organisation aus Berlin) Die Formulierung „Expertise der Projektarbeit“ verweist darauf, dass in den vielen Projekten Erfahrungen in direktem Kontakt mit den geflüchteten Menschen gesammelt sowie Maßnahmen und Ansätze ausprobiert werden. Projektbeteiligte eignen sich somit eine Expertise in einem Bereich an, der ansonsten durch fehlende Erfahrungen und fehlendes Wissen charakterisiert ist.
4.4 Arena der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration …
Exkurs: Akteurskonstellation im Bereich der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen In der Arena der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten sind zahlreiche unterschiedliche Akteur*innen beteiligt, was einerseits an den ohnehin heterogenen Bereichen der Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik liegt und andererseits noch durch das föderale System in Deutschland verstärkt wird. In einem Expert*inneninterview wird mit Blick auf die Verwaltungsabläufe und die Vielzahl der Akteur*innen, die in die Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen involviert sind, betont, dass es sich um ein relativ komplexes und selbst für Verwaltungsmitarbeiter*innen unverständliches, veränderliches Gefüge handelt: „[…] diesen Personen können Sie nicht vermitteln, dass sie in aus Ihrer Sicht einem Verfahren stecken, wo wir aber schon aufgrund der kommunalen Struktur der Föderalismus und der bundesbehördlichen Zuständigkeiten im Prinzip bis zu sieben verschiedene Akteure haben mit sieben verschiedenen Dolmetschern, Verfahrensabläufen, Formblättern und so weiter. Das versteht ja schon kein Deutscher, das versteht häufig auch kein Verwaltungsmitarbeiter, zumal es sich ja alle drei Monate wesentlich ändert.“ (Interview – Vertreter*in einer Berliner Landesbehörde)
Aus einer formal-institutionellen Perspektive ist der Bund in erster Linie für den Rechtsrahmen verantwortlich und entscheidet etwa über Regelungen zu Sprachkursen und zum Arbeitsmarktzugang. Auf der behördlichen Seite ist mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) eine Bundesbehörde aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern und für Heimat für die Durchführung der Asylanträge und für die Förderung der Integration durch die sogenannten Integrationskurse verantwortlich. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) gehört dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales an und spielt bei der Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten eine entscheidende Rolle, da sie Unterstützungsleistungen für die Arbeitssuche sowie für Weiterbildungen und Qualifizierung anbietet. Die BA ist in zehn Regionaldirektionen unterteilt, die für die jeweilige Region Arbeitsmarktmaßnahmen umsetzt. Auf lokaler Ebene sind zudem mehr als 150 Arbeitsagenturen für die lokale Umsetzung und Erbringung von Leistungen zuständig.
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Die Bundesländer sind im föderalen System unter anderem für die Politikfelder Kultur und Bildung zuständig und verantworten die Einhaltung des Rechtsrahmens. Zudem können sie eigene Integrationsmaßnahmen auf regionaler Ebene durchführen und eigene Förderprogramme auflegen. Diese Möglichkeit wird von zahlreichen Bundesländern beispielsweise in Form von Integrationskonzepten, zuwendungsfinanzierten Maßnahmen und Pilotprojekten genutzt (Gesemann/Roth 2015). Berlin ist als Bundesland somit formal zuständig für die Umsetzung der bundesgesetzlichen Regelungen zum Arbeitsmarktzugang von Geflüchteten. Daran beteiligt sind neben der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales (SenIAS) (bis 2016 Arbeit, Integration und Frauen) und der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie (SenBJF): das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) (im Jahr 2016 aus Teilen des Landesamtes für Gesundheit und Soziales [LAGeSo] neu hervorgegangen), das Landesamt für Einwanderung (LEA) – vormals die Ausländerbehörde – und das Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo). Gemeinsam mit der Berliner Zweigstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), der Regionaldirektion Berlin/Brandenburg der Bundesagentur für Arbeit (BA) beziehungsweise den einzelnen Arbeitsagenturen in Berlin und den Jobcentern stellen sie den behördlichen Teil der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration in Berlin dar. Die Kommunen können ebenfalls als wichtige Akteure im Bereich der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration angesehen werden, wenngleich sie formal vor allem die bundes- und landesrechtlichen Vorgaben umsetzen müssen (Gesemann/Roth 2016). Sie haben aber mitunter einen großen Ermessensspielraum bei der Anwendung der gesetzlichen Regelungen, weil viele Gesetzestexte einen Interpretationsspielraum lassen und teilweise im Widerspruch zu anderen Vorschriften stehen. Zudem gibt es infolge der zahlreichen Reformen in den vergangenen Jahren noch wenig Erfahrungen mit der Rechtsprechung und häufig keine etablierte Umsetzungspraxis. Schließlich haben vor allem größere Kommunen zum Teil weitreichende eigene Strukturen entwickelt, weil sie nicht auf die langsameren Entscheidungsprozesse des Bundes und der Länder warten wollten oder eigene Interessen vor allem im Bereich
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der Aufnahme und Unterbringung von geflüchteten Menschen verfolgen, die teilweise der politischen Position des Bundes entgegensteht (Schammann/Kühn 2016; Engel et al. 2019; Kühn/Münch 2019). Möglichkeiten für eine eigenständige kommunale Bildungs- und Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten bestehen vor allem in der Bildung und Unterstützung von Kooperationsstrukturen mit anderen Bildungs- und Arbeitsmarktakteur*innen beispielsweise im Rahmen der Einrichtung von zentralen Anlaufstellen und Beratungseinrichtungen (Schammann/Kühn 2016). Auch das Thema Spracherwerb kann als kommunale Aufgabe angesehen werden, „da die Integrationskurse zwar vom BAMF verantwortet und finanziert, vor Ort aber von verschiedenen Trägern durchgeführt werden“ (Schammann/Kühn 2016: 22). Die Volkshochschulen als größter Anbieter befinden sich in der Regel in kommunaler Trägerschaft. Geflüchtete mit geringen Deutschkenntnissen benötigen aber auch bei der Beantragung und Kursauswahl Unterstützung, die teilweise von kommunalen Akteur*innen geleistet wird. Obwohl die formale Zuständigkeit für die Bildungs- und Arbeitsmarktintegration nicht schwerpunktmäßig bei den Kommunen liegt, wurde dieser Bereich von den involvierten Akteur*innen auf der lokalen Ebene als eine der zentralen Aufgaben angesehen, die im Zusammenhang mit den hohen Zuwanderungszahlen der Jahre 2015 und 2016 in Angriff genommen werden mussten. So hielten laut einer Umfrage von Gesemann und Roth rund 76 Prozent der befragten Kommunen die „Schaffung von Zugängen zum Arbeits- und Ausbildungsmarkt“ für sehr wichtig oder wichtig (Gesemann/Roth 2016). Durch die Besonderheit des Stadtstaates konzentriert sich das Engagement der Bezirke in Berlin auf die Teilnahme an Kooperationsstrukturen, die auf Landesebene eingerichtet wurden. So wurden beispielsweise Vertreter*innen der Bezirke in die Lenkungsgruppe Arbeitsmarktintegration Geflüchteter entsandt und Mitarbeiter*innen der Jobcenter saßen in den neuen Büros des Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten. In der Arena der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen sind auch einzelne Betriebe, Kammern und Wirtschaftsverbände sowie private Bildungsträger, zivilgesellschaftliche Initiativen und andere Projekte in freier Trägerschaft beteiligt (Speth/Becker
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2016; Woellert et al. 2016). Diese nichtstaatlichen Akteur*innen setzen teilweise staatliche Programme und Maßnahmen wie Sprachkurse oder Beratungsangebote um und/oder werden durch staatliche Mittel gefördert. Teilweise werden sie aber auch durch nichtstaatliche Organisationen wie Stiftungen oder Vereine gefördert und gehen aus zivilgesellschaftlichen Initiativen hervor. Vertreter*innen der nichtstaatlichen Organisationen beschreiben ihre Rolle im Rahmen der Expert*inneninterviews vor allem als unterstützend für die sogenannten Regelinstitutionen in unruhigen Zeiten. Um strukturelle und institutionelle Hürden für die geflüchteten Menschen auf dem Arbeitsmarkt abbauen zu können, müsse der Staat aufgrund der fehlenden Erfahrung zumindest übergangsweise durch nichtstaatliche Akteur*innen unterstützt werden. Ausdrücklich wird betont, dass vorhandene Angebote nicht bei der Zielgruppe ankommen würden, was nichtstaatliche „Beratungs-, Qualifizierungs- und Vermittlungsstrukturen außerhalb der Regelinstitutionen“ (Interview – Vertreter*in einer zivilgesellschaftlichen Organisation aus Berlin) notwendig mache. Der Bereich der zivilgesellschaftlichen Initiativen und Projekte in freier Trägerschaft hat unter anderem durch die wachsende Aufmerksamkeit für das Thema Flucht und den Anstieg des freiwilligen Engagements in diesem Bereich (Lewicki et al. 2017), in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen. Hier geht es in erster Linie um Beratungsleistungen, offene Sprachkurse oder Sprachcafés und die Aktivierung persönlicher Netzwerke für die Vermittlung in berufsvorbereitende Praktika, Ausbildung, Beschäftigung oder sonstige Qualifizierungsangebote. Insgesamt sind in Berlin sowie in anderen Städten und Gemeinden im Zeitraum zwischen 2015 und 2017 viele Initiativen und Projekte entstanden, die auf dem Street-level mit neuen Ansätzen im Bereich der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen aber auch in anderen Bereichen der Aufnahme und Integration geflüchteter Menschen experimentieren (Speth/Becker 2016; Woellert et al. 2016; Hess et al. 2017; Schiffauer 2017). In Bezug auf die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen von Bildungsund Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen verweist das empirische Material durchgängig auf eine Situation der Ungewissheit und des Wandels, wobei in den Beschreibungen die Ungewissheit sowohl auf fehlendes Wissen und
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fehlende Erfahrungen als auch auf die fortlaufende Veränderung der Rahmenbedingungen zurückgeführt wird. Letzteres zeigt sich paradigmatisch in folgender Situation während eines Interviews: Memo zum Interview – Vertreter*in eines Berliner Unternehmensverbandes Während des Interviews übergibt mir die interviewte Person eine Broschüre, in der der Asylprozess für die Mitglieder des Unternehmensverbandes anschaulich dargestellt und beschrieben wird. Während der Übergabe betont die interviewte Person mehrfach, dass dieses Wissen eigentlich nicht sinnvollerweise als Broschüre gedruckt werden sollte, da sich die Abläufe in so kurzer Zeit verändern. Schließlich bringt die interviewte Person die Situationsbeschreibung der ständigen und schnellen Veränderung sehr anschaulich auf den Punkt, indem sie sagt: „[…] weil, es ist ja klar bei dem Thema Arbeitsmarktintegration durch die Volatilität der Gesetze; in dem Moment wo ich es drucke, ist es schon veraltet“.
Im gleichen Interview wird die Situation wie folgt beschrieben: „Klar man weiß nicht so, die Welt ist ja so dermaßen unsicher geworden, dass wir gar nicht wissen, was sich an Rahmenbedingungen ändern kann.“ (Interview – Vertreter*in eines Berliner Unternehmensverbandes) Dabei fällt auf, dass nach der Einschätzung eine Veränderung stattgefunden hat (unsicher geworden) und die Beschreibung durch den Begriff „Welt“ eine umfassende Dimension erhält, die impliziert, dass man sich der Situation kaum entziehen kann. Zudem wird der besondere Charakter von Ungewissheit betont, da sich die Veränderung der Rahmenbedingungen nicht vorhersehen lässt. Es wird also eine Situation beschrieben, die neu entstanden ist, die kaum auf einen bestimmten Kontext eingegrenzt werden kann und die sich durch fehlendes Wissen in Bezug darauf auszeichnet, welche Rahmenbedingungen sich in der Zukunft verändern werden. Die einzige Gewissheit scheint darin zu bestehen, dass sich Rahmenbedingungen, also eigentlich als grundlegend und stabil geltende Strukturen, verändern werden. Mit Blick auf mögliche Hindernisse bei der Beschäftigung geflüchteter Menschen wird in einer Broschüre der Industrie- und Handelskammer (IHK) Berlin unter anderem die rechtliche Ungewissheit betont:
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„Besonders aufhorchen lässt dabei, dass die befragten Unternehmen kaum interne oder betriebliche Faktoren als mögliche Hindernisse für die Beschäftigung Geflüchteter ausmachen. Vielmehr werden primär unzureichende Sprachkenntnisse der Geflüchteten, Unklarheit über die Aufenthaltsdauer, Ungewissheit über rechtliche Regelungen zur Beschäftigung von Geflüchteten, die schwierige Bewertung der Qualifikationen sowie der bürokratische Aufwand bemängelt.“ (IHK Berlin 2016)
Matthias Knuth bezeichnet den rechtlichen Rahmen des Arbeitsmarktzugangs für Geflüchtete pointiert als „Baustelle“ oder „Ruine“ – je nachdem, „ob man dieses bizarre Gebilde für reparaturfähig hält oder ob man einen Totalabriss und Neubau für unvermeidlich erachtet“ (Knuth 2016: 10). Vor allem betont er, ähnlich wie die interviewten Expert*innen, die Unübersichtlichkeit und Widersprüchlichkeit, die er darauf zurückführt, dass drei unterschiedliche Logiken den gesamten Rechtsrahmen durchziehen: Die erste Logik beruhe auf der alten Annahme, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei und dass deutsche Arbeitnehmer*innen auf dem Arbeitsmarkt vor ausländischen Arbeitnehmer*innen geschützt werden müssten. Diese Logik spiegele sich in Arbeitsverboten, Vorrangprüfung, eingeschränkter Mobilität und anderen restriktiven Regelungen wider.10 Die zweite Logik, wonach der deutsche Arbeitsmarkt für (qualifizierte) Zugewanderte geöffnet werden sollte, zeige sich nur „in einem punktuellen Drehen der Stellschrauben“ (Knuth 2016: 10), aber nicht in einer grundlegenden Umgestaltung des Rechtsrahmens.11 Schließlich werde angesichts des steigenden Unmuts über Zuwanderung in großen Teilen der Bevölkerung wieder eine symbolische Schließungs- und Abschreckungspolitik betrieben, die die Widersprüchlichkeit der Regulierungen noch erhöhe.12 Die fehlende Rechtssicherheit durch die „Volatilität der Gesetze“, den widersprüchlichen Rechtsrahmen und die Ungewissheit bezüglich des zukünftigen Aufenthaltsstatus von Geflüchteten, die sich noch im Asylverfahren befinden, werden auch im Rahmen einer Stellungnahme des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) als häufig auftretende Hindernisse für Geflüchtete bei der
10
Siehe hierzu das von Thränhardt (2015) beschriebene Abwehrregime deutscher und europäischer Flüchtlingspolitik. 11 Siehe hierzu die von Schammann (2017) beschriebene meritokratische Wende in der deutschen Flüchtlingspolitik. 12 Migrations- und Integrationspolitik allgemein kann als fragmentiertes Politikfeld betrachtet werden, das durch unterschiedliche Logiken geprägt ist. Rosenblum und Cornelius unterscheiden zum Beispiel zwischen den drei Orientierungsrahmen Sicherheit, Ökonomie und Identität bzw. Kultur, die in der Migrationspolitik immer parallel verhandelt werden, was zu Widersprüchen im Politikfeld führen kann (Rosenblum/Cornelius 2012).
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Aufnahme einer Beschäftigung beschrieben (IAB 2017). In der gleichen Stellungnahme wird zudem die je nach Bundesland und Region variierende Anwendung der Regelungen kritisiert.13 Dies habe in der Vergangenheit bei Unternehmen und Geflüchteten zu zusätzlicher Rechtsunsicherheit geführt. Zusätzlich zum anhaltenden Wandel der Rahmenbedingungen, aber teilweise auch durch diesen bedingt, werden in den Interviews fehlende Erfahrungswerte im Bereich der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration von geflüchteten Menschen hervorgehoben. So sei die Diskussion am Anfang durch „viel Halb- und Unwissen“ (Interview – Vertreter*in eines Berliner Unternehmensverbandes) geprägt worden. Zum Zeitpunkt des Interviews, das im Mai 2016 geführt wurde, sieht die interviewte Person eine Veränderung: „Jetzt, inzwischen ist die Diskussion auf einem höheren Niveau, weil man jetzt noch einiges verstanden hat.“ (Interview – Vertreter*in eines Berliner Unternehmensverbandes)
4.4.2
Zwischen Nützlichkeitsorientierung und Abwehrpolitik
Vor allem aufgrund der lang anhaltenden Medienpräsenz des Themas Flucht und Integration kam es nach 2015 zu einer regelrechten Dynamisierung des politischen und diskursiven Raums rund um Migration und das Leben in einer postmigrantischen Gesellschaft (Jäger/Wamper 2017). In zahlreichen Verschiebungen und Verschränkungen des Diskurses wurden seit den 1950er Jahren vorgebrachte Bilder über Zuwanderung und Integration teilweise auf eine neue und spezifische Art verknüpft. Im folgenden Abschnitt sollen daher kurz zentrale Themen und die darin typischerweise wirkenden Bilder, Erzählungen und Deutungsmuster skizziert werden, die die diskursive Dimension der neuen lokalpolitischen Arena bilden. Als im Sommer 2015 die Medien häufig freiwillige Helfer*innen zeigten, wie sie an Bahnhöfen die ankommenden Geflüchteten begrüßten und bei der Erstversorgung unterstützten, wurde der Begriff ‚Willkommenskultur‘14 als Bild
13
Siehe auch Schammann (2015) zu Unterschieden lokaler Politikgestaltung in der Leistungsgewährung für Asylsuchende. 14 Münch weist darauf hin, dass mit dem an Besucher*innen erinnernden Begriff der ‚Willkommenskultur‘ Parallelen zum ‚Gastarbeiterdiskurs‘ sichtbar werden (Münch 2018). Zuwanderung wird dadurch als vorübergehender Zustand gedacht, an dessen Ende die Zugewanderten wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Zudem werde beim Reden über eine ‚Willkommenskultur‘ an die für den deutschen Migrationsdiskurs typische Gegenüberstellung von Migrant*innen und der Aufnahmegesellschaft angeknüpft (Münch 2018).
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greifbar und vielfach auch als Gegenentwurf zur lange vorherrschenden Abschottung vor Geflüchteten und Asylsuchenden herangezogen (Jäger/Wamper 2017). Das zunehmende zivilgesellschaftliche Engagement und der Einsatz zahlreicher Privatpersonen überall dort, wo staatliche Stellen überfordert waren oder schlicht untätig blieben, wurde als neue zivilgesellschaftliche Bewegung gelobt (Lewicki et al. 2017). Die dargestellte Menschlichkeit stand nicht nur den rassistischen Pogromen der 1990er Jahre entgegen, sondern grenzte auch vom massiven Widerstand gegen Zuwanderung in anderen europäischen Staaten ab (Speth/Becker 2016; Woellert et al. 2016; Schiffauer 2017). Die lokale Medienberichterstattung in Berlin griff das Thema der ‚Willkommenskultur‘ ebenfalls auf und produzierte Bilder der offenen Stadtgesellschaft, die vor allem in Gestalt der freiwilligen Helfer*innen zahlreicher Willkommensinitiativen eine neue Held*innenfigur fand. Diese Held*innen zeigten, anders als die überforderten oder unwilligen staatlichen Akteur*innen, die notwendige Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft. Sie wurden zum Hauptgegenstand von Reportagen, in denen den geflüchteten Menschen, wie im nachfolgend zitierten Ausschnitt aus der Berliner Tageszeitung, als Schutz- und Hilfsbedürftige eine passive Nebenrolle zugeschrieben wurde: „Jeden Morgen erreicht ein Zug mit etwa 200 bis 300 Geflüchteten den Bahnhof Schönefeld. Angekommen in der Stadt, werden sie von etwa zwanzig Polizisten und Soldaten, die Gesichter teilweise hinter schwarzen Gesichtsmasken verdeckt, durch die Bahnhofsflure geführt. Ein trister Anblick, doch tun sich zwischen den Uniformierten auch eine Handvoll Freiwilliger mit Namensschildern hervor. Mit einem Lächeln im Gesicht begrüßen sie die Geflüchteten und bieten ihre Hilfe an. Es sind freiwillige Unterstützer der Gruppe ‚Train of hope‘, die hier jeden Morgen für die Geflüchteten da sind. Eine von ihnen ist Sarah Ebensperger. Seit sechs Uhr ist die freiberufliche Heilpraktikerin heute bereits auf den Beinen, um rechtzeitig bei der Ankunft der Züge in Schönefeld dabei zu sein. Mehrmals in der Woche engagiert sie sich in Schönefeld. ‚Ich möchte den Geflüchteten einen angenehmen Empfang bereiten und ihnen mit dringend Notwendigem helfen‘, sagt die junge Frau Anfang 30. ‚Es kommen regelmäßig Mütter mit ihren Babys mit völlig durchnässten Windeln zu mir, die tagelang keine Möglichkeiten hatten, diese zu wechseln‘, erzählt sie. ‚Die Menschen sind teilweise so verzweifelt, sie fallen mir in die Arme und geben mir Dankesküsse, weil ich ihnen einen neuen Pullover oder eine neue Hose geben kann.“ (Lüddemann 2016)
Eine gegenteilige, negative Bewertung des zivilgesellschaftlichen Engagements ließ nicht lange auf sich warten. Mit dem Begriff ‚Gutmenschentum‘ wurde das Engagement der freiwilligen Helfer*innen zum naiven Einsatz für die gute Sache abgewertet. Die ‚Willkommenskultur‘ wurde als Ursache für eine ‚Sogwirkung‘ ausgemacht. Sie bringe mehr Menschen auf der Flucht nach Deutschland und trage so zu einer Überforderung der sogenannten ‚Aufnahmekapazitäten‘ und
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der Gesellschaft insgesamt bei (Jäger/Wamper 2017). So kam also eine neue Deutung der ‚Willkommenskultur‘ hinzu. Zu Beginn vor allem als Gegenbewegung zu einem menschenfeindlichen und rassistischen Abwehrregime gelobt, wurde sie nun so dargestellt, dass sie einer nüchternen Realpolitik entgegenstehe, die allein Ordnung und Sicherheit wiederherzustellen imstande sei. Sowohl die große Bedeutungszumessung des zivilgesellschaftlichen Engagements als neue ‚Willkommenskultur‘ als auch die Abwertung desselben als naives oder sogar gefährliches ‚Gutmenschentum‘ stehen in direktem Bezug zur Einordnung der Ereignisse zwischen 2015 und 2016 als ‚Krise‘. In diesem Zusammenhang wurde insbesondere der Begriff der ‚Flüchtlingskrise‘ (Hahlen/Kühn 2016) zur prägenden Überschrift, die in ihrer allgemeinen Form als Ursache die steigenden Zahlen der in Deutschland ankommenden Geflüchteten fokussierte. In einer etwas differenzierteren Version tauchte der Krisenbegriff vor allem im wissenschaftlichen Diskurs als ‚Verwaltungskrise‘ auf. Damit wurde auf die ungeeigneten Verwaltungsstrukturen hingewiesen, die als überfordert und überlastet beschrieben und wahrgenommen wurden (Hahlen/Kühn 2016). In Berlin konzentrierte sich der Diskurs um eine ‚Flüchtlingskrise‘ neben der Thematisierung von Schwierigkeiten bei der Unterbringung vor allem auf die Beschreibung der Situation am Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo), wo sich die neu in Berlin angekommenen Menschen registrieren mussten. So wird im Lokalteil der Berliner Zeitung die Situation vor dem LAGeSo wie folgt beschrieben: „Zurück, zurück, alle zurück!, rufen die Sicherheitsmänner in den roten T-Shirts. Zwei sind auf die Absperrgitter gestiegen, damit die Leute sie besser sehen. Einer drängt sich in die Schlange der Wartenden hinein, um zu verhindern, dass sie immer weiter drängen. ‚Zurück‘ dürfte für viele das erste deutsche Wort sein, das sich ihnen einprägt. Dabei wollen sie nicht zurück. Sie sind Flüchtlinge, sie wollen rein. Rein nach Deutschland. Zuerst aber rein ins Gebäude des Landesamts für Gesundheit und Soziales (Lageso) in der Turmstraße in Moabit. Nach und nach versuchen die Mitarbeiter des Lageso, sich auf die Lage einzustellen. Es gelingt ihnen kaum. ‚Die Massen sind nicht zu bewältigen‘, sagt ein Mitarbeiter.“ (Bombosch 2015)
Der Krisendiskurs verweist auf die Vorstellung einer Ausnahmesituation, eines außergewöhnlichen Zustandes, der insbesondere durch ein ungeordnetes Sondervorgehen und durch Notfallmaßnahmen gekennzeichnet ist. Während die Betonung von Ungewissheit und Wandel auf der einen Seite einen außergewöhnlichen Einsatz unterschiedlicher Akteur*innen hervorrufen konnte und unkonventionelle Lösungsansätze ermöglichte, führte der Krisendiskurs auf der anderen Seite vor allem zu Debatten über die Grenzen der Belastbarkeit. So schreiben Jäger und
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Wamper in ihrer Analyse des deutschen Flucht- und Migrationsdiskurses im Jahr 2015 zusammenfassend: „Der Flucht- und Migrationsdiskurs von 2015 ist durchzogen von der Konstatierung bzw. Befürchtung von denormalen Zuständen: Steigende Migration bedinge Kriminalität, höhere soziale Ungleichheit, Rassismus und auch die Terrorgefahr in Deutschland steige. Die Anwesenheit von Geflüchteten gefährde die nationale Einheit, so werden existenzielle Bedrohungen konstruiert. Der Fluchtdiskurs ist ein Krisendiskurs […].“ (Jäger/Wamper 2017: 111)
Im Rahmen eines solchen Krisendiskurses liegt es nahe, dass nicht jene Menschen die Rolle der Betroffenen einnehmen, die vor Krieg und politischer Verfolgung fliehen, sondern die Bevölkerung in Deutschland oder allgemein der Zielländer mit ihren überlasteten staatlichen Strukturen. Diese Zuteilung der Rolle der Betroffenen zeigt sich auch in einer Verschiebung des Diskurses in Bezug auf die Asylgesetzgebung seit 2015. Während im Sommer 2015 noch das Recht auf Asyl für alle Menschen aus Kriegsgebieten sowie für politisch Verfolgte betont wurde, mehrten sich in der Folge die Forderungen nach der Einschränkung des menschenrechtlich garantierten Schutzes zugunsten einer ‚Obergrenze‘ (Klein 2017). Zudem wurde eine ‚Beschleunigung der Asylverfahren‘ gefordert, um die überlasteten Behörden zu entlasten und die angehäuften Verfahren möglichst schnell abzubauen.15 Das Ziel der Beschleunigung der Asylverfahren ging einher mit einer Unterteilung der Geflüchteten nach Herkunftsländern, um für diejenigen mit einer ‚guten Bleibeperspektive‘ das Asylverfahren sowie den Integrationsprozess zu beschleunigen, während diejenigen mit einer ‚schlechten Bleibeperspektive‘ durch besonders lange Verfahren, den Ausschluss von integrationsfördernden Leistungen oder die zentrale Unterbringung abgeschreckt werden sollten. Diese Unterscheidung wurde allerdings in der politischen Debatte scharf kritisiert. So stellt beispielsweise ein*e Vertreter*in einer zivilgesellschaftlichen Organisation im Interview fest:
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Thränhardt betont, dass es für die Akzeptanz in der Bevölkerung ebenfalls Nachteile haben könne, wenn Geflüchtete über Monate oder Jahre auf eine Entscheidung warten und in dieser Zeit „unbeschäftigt sind und versorgt werden“ (Thränhardt 2015: 20). Die erzwungene Untätigkeit habe somit nicht nur auf die persönliche Situation der Geflüchteten und deren Teilhabe an Bildung und Arbeit negative Auswirkungen, sondern möglicherweise auch auf die öffentliche Debatte über die Zuwanderung von Geflüchteten.
4.4 Arena der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration …
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„Sehr problematisch ist allerdings die eingeführte Differenzierung nach Flüchtlingen mit und ohne Bleibeperspektive. Damit wird eine Entscheidung vorweggenommen, die erst am Ende des Asylverfahrens stehen kann. Gleichzeitig dauern die Asylverfahren sehr lange und Geflüchtete mit sog. schlechter Bleibeperspektive werden trotz langer Verweildauer systematisch von der Arbeitsmarktintegration ausgeschlossen.“ (Interview – Vertreter*in einer zivilgesellschaftlichen Organisation aus Berlin)
Darüber hinaus wurden immer mehr Herkunftsländer als ‚sicheres Herkunftsland‘ eingestuft, was die Chancen auf ein individuelles und faires Asylverfahren für die Menschen aus diesen Ländern deutlich verringerte. Begründet wurde die wiedererstarkende Abwehrpolitik gegenüber geflüchteten Menschen aus den ‚sicheren Herkunftsländern‘ unter anderem mit effizienteren Verfahren, wie im Masterplan Integration und Sicherheit nachzulesen ist: „[…] zur Gewährleistung einer konsequenten Strafverfolgung, aber auch zur Steigerung der Effizienz bei Rückführungen ist die Transparenz über den Aufenthaltsort der Geflüchteten ein wichtiger Faktor. Dazu gehört auch die zentrale Unterbringung von Personen aus sicheren Herkunftsländern mit geringer Bleibeperspektive.“ (SenAIF 2016b)
Während sich die Debatte über die Aufnahme von Geflüchteten, die Erstversorgung und Unterbringung sowie über die Asyl- und Migrationspolitik vor allem um Willkommenskultur, Krise und Abschottung drehte, war die Diskussion über Integration und den längerfristigen Umgang mit Migration und Zuwanderung stark von (ökonomischen) Nützlichkeitserwägungen und einer ‚Kulturalisierung‘ des Diskurses geprägt. Der Leitbegriff Integration wurde in erster Linie als Integration in ein Arbeitsverhältnis oder entsprechend fördernde Maßnahmen wie Sprachkurse, Ausbildungen, Weiterbildungen etc. verstanden (Schammann/Kühn 2016). Der verstärkte Blick auf die (ökonomische) Nützlichkeit von geflüchteten Menschen für Berlin war dabei eng mit dem Diskurs über den Fachkräftemangel verknüpft. So findet sich schon in einem Artikel von 2014 im Lokalteil der Berliner Tageszeitung die Feststellung: „Berlin braucht Fachkräfte. Jedes Jahr bleiben Hunderte Ausbildungsplätze unbesetzt, besonders handwerkliche Betriebe sind betroffen. Gleichzeitig wohnen in Berlin Tausende junge Menschen, die gerne einen Beruf erlernen oder eine Arbeitsstelle finden würden, aber immer wieder auf Schwierigkeiten stoßen: Etwa 18.000 geflüchtete Menschen von 18 bis 25 Jahren, die über eine Arbeitserlaubnis verfügen, gebe es in Berlin, sagt die Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD). 25 von ihnen erproben jetzt in einem am Montag vorgestellten Pilotprojekt, wie Flüchtlinge und Ausbildungsplätze zusammenkommen können.“ (Gürgen 2014)
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Bildungs- und Arbeitsmarktintegration …
Der Artikel zitiert Stephan Schwarz, Präsident der Berliner Handelskammer, mit der Aussage: „Das Projekt lohnt sich für die Flüchtlinge, die eine Perspektive erhalten können, und es lohnt sich für die Handwerksbetriebe, die so ihre Ausbildungsplätze an motivierte Menschen vergeben können.“ (Gürgen 2014) Diese hier zum Ausdruck kommende Beschreibung von Bildungs- und Arbeitsmarktintegration als Win-win-Situation für Geflüchtete und die Berliner Wirtschaft ist typisch für die Orientierung an Nützlichkeit. Die Quellen spiegeln wider, dass vor allem die Integration von gut ausgebildeten Fachkräften als Chance für den Berliner Arbeitsmarkt und als mögliche Lösung für den demografischen Wandel und den Fach- und Arbeitskräftemangel angesehen wurde. So finden sich häufig Beiträge, die bestimmte Zuwanderungsgruppen anhand von Bildungsdaten von anderen Zuwanderungsgruppen unterscheiden, wie in der Berliner Tageszeitung aus dem Jahr 2016: „Unter den syrischen Asylsuchenden sind nach bisherigen Erhebungen mit 20 bis 25 Prozent etwa doppelt so viele AkademikerInnen wie beim Durchschnitt der Flüchtlinge. Solche Fachkräfte bekommt Deutschland quasi geschenkt, in ihre Ausbildung investierte das Land keinen Pfennig.“ (Wierth 2016)
Die Beschreibung von Geflüchteten als Personen oder Gruppen, die Träger*innen eines gewissen Potenzials sind, gehört, wie am Beispiel der Social-Bee-Kampagne gezeigt wurde, zu den typischen Erzählmustern im (ökonomischen) Nützlichkeitsdiskurs. Zu dieser Erzählung gehört die Betonung bestimmter Fähigkeiten und Erfahrungen, die die Personen ‚mitbringen‘, und die Frage, inwiefern sie diese Fähigkeiten oder Erfahrungen entfalten und nutzen können. Im Rahmen der Erzählungen wird problematisiert, dass bestimmte Hürden die Entfaltung der Potenziale verhindern. Beispielsweise wird darauf hingewiesen, dass das Asylverfahren lange dauert und eine fehlende Arbeitserlaubnis der Entfaltung im Weg steht, oder es wird, wie hier in einem Artikel der B.Z., beschrieben, dass bestimmte Qualifikationen nicht anerkannt werden oder dass es nur die Möglichkeit gibt, weit unterhalb der eigentlichen Qualifikation eine Arbeit oder Ausbildung zu finden: „Ramez etwa studierte in seiner Heimat in Homs Business Administration. Seine bisherigen Leistungen werden jedoch nicht anerkannt. Vor demselben Problem steht Rajwana Bernieh, die in Damaskus Biomedizin studierte. ‚Es ist zwar frustrierend, mit der Ausbildung bei null zu beginnen‘, sagt sie, ‚aber ich sehe es als neue Chance‘.“ (Heine 2016)
4.4 Arena der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration …
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Die Opfer der Erzählung sind einerseits die Geflüchteten, die an der gesellschaftlichen Teilhabe und folglich an der Entfaltung ihrer Potenziale gehindert werden. Andererseits ist indirekt die Gesamtgesellschaft betroffen. Durch die Hürden, die der Entfaltung von Potenzialen im Weg stehen, wird laut diesem Narrativ verhindert, dass Geflüchtete sich als ‚wertvolle‘ Fach- und Arbeitskräfte einbringen können, um so einen Beitrag zur Gesellschaft leisten zu können. Die Antiheld*innen sind somit diejenigen, die für die bestehenden Hürden verantwortlich sind. Dabei handelt es sich häufig um Politik und Verwaltung, die Gesetze und Regelungen verantworten, die ein schnelles Asylverfahren, eine rasche Erteilung der Arbeitserlaubnis oder die Anerkennung von Qualifikationen verhindern. Helden sind diejenigen, die gegen diese Hürden kämpfen, oder die Geflüchteten, die es trotz aller Hürden meistern, ihre Potenziale gewinnbringend zu entfalten (Jäger/Wamper 2017). Bereits im Verlauf des „langen Sommers der Migration“ 2015 (Hess et al. 2017) wurden die Stimmen, die auf den arbeitsmarktpraktischen Nutzen von Fluchtmigration hinwiesen, mehr und mehr verdrängt von Äußerungen über kulturelle Aspekte im Zusammenhang mit der Einwanderung von Menschen, die aus Ländern mit einem großen muslimischen Bevölkerungsanteil nach Deutschland fliehen. Der vieldeutige Integrationsbegriff wird in den Quellen, in denen sich dieser Diskursstrang abzeichnet, eher im Sinne der Assimilation verwendet, wodurch das Deutungsmuster einer Leitkultur aufgerufen wurde, die durch eine spezifische Sozialisation von Geflüchteten gefährdet werde. So heißt es im Berliner Masterplan Integration und Sicherheit etwa: „Die Ängste, die Minderheiten wie Jüdinnen und Juden, aber auch LSBTI, mit dem Zuzug von Geflüchteten aus der Region des Nahen Osten artikulieren, müssen ernst genommen werden. Der Schutz dieser Minderheiten muss genauso gewährleistet werden wie der Schutz der Geflüchteten selbst. Israel-bezogenem Antisemitismus und Trans- und Homophobie, die aufgrund der politischen Sozialisation tief verankert sein können, muss frühzeitig entgegen gewirkt werden.“ (SenAIF 2016b)
In diesem Zusammenhang wurden typische konservative Werte bisheriger Leitkulturdebatten in bemerkenswerter Weise durch progressiv-liberale Werte ersetzt. So wurde die bestehende Leitkultur mit liberalen und menschenrechtlichen Errungenschaften gleichgesetzt und einer als rückständig beschriebenen Sozialisation der geflüchteten Menschen gegenübergestellt. Dabei wurden insbesondere Werte wie die Gleichberechtigung der Geschlechter, Religions- und Meinungsfreiheit, Pluralismus und Toleranz betont. So betont auch die damalige Senatorin für Arbeit, Integration und Frauen in einem Interview in der Berliner Zeitung:
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Bildungs- und Arbeitsmarktintegration …
„Dass sich die Wertvorstellungen der Geflüchteten nicht immer mit unseren decken, ist ein großes Problem. Da müssen wir klare Worte finden. Es wäre eine falsch verstandene Willkommenskultur, wenn man da wegschaut. Ich werde auch in Flüchtlingsunterkünften weder Gewalt an Frauen noch Homophobie tolerieren. Bei unseren Werten darf es keine Kompromisse geben.“ (Kalayci zit. nach Treichel 2015)
Die Problematisierung kultureller Unterschiede wurde begleitet durch die Problematisierung von Parallelgesellschaften. Damit konnte an den seit Jahrzehnten in Berlin verankerten Diskurs über Ghettoisierung und Parallelgesellschaften (Lanz 2011) angeknüpft werden, wie in folgendem Auszug aus der B.Z. anhand von Zitaten eines Vorstandsmitgliedes der Bundesagentur für Arbeit sichtbar wird: „Der BA-Vorstand befürchtet durch ungesteuerten Zuzug eine Gettoisierung in bestimmten Bundesgebieten, insbesondere in Metropolregionen wie Berlin. Außerdem Parallelgesellschaften, fehlende Sprachkenntnisse, steigende Arbeitslosigkeit und Schwarzarbeit. Becker: ‚Viele zieht es in Regionen, in denen schon Communitys mit gleicher/ähnlicher Nationalität oder/und kulturellem Hintergrund (...) leben.‘ Der ungesteuerte Zuzug könne jedoch ‚langfristige soziale und gesellschaftliche Herausforderungen mit sich bringen (...), die aktuell als risikobehaftet bewertet werden müssen‘.“ (Petersen 2016)
Bemerkenswert ist vor allem, wie hier die Kehrseite der Nützlichkeitsorientierung – die ‚Nicht-Nützlichkeit‘ (siehe Abschnitt 4.2.) – über das Sprechen der unterschiedlichen „Kulturen“ oder über drohende „Parallelgesellschaften“ adressiert wird. Der BA-Vorstand wird in Bezug auf ökonomische Themen relativ konkret (fehlende Sprachkenntnisse, steigende Arbeitslosigkeit und Schwarzarbeit). Bei gesellschaftlichen Themen ist dies meist anders; hier wird eher ein diffuses Bild der Herausforderungen und des Risikos gezeichnet (Jäger/Wamper 2017). Durch die Verschränkung des Flucht- mit einem kulturellen Diskurs, der sich vor allem auf antimuslimische Deutungsmuster konzentriert, wurden insbesondere zwei weitere Stränge in den Fluchtdiskurs eingewoben. Zum einen handelt es sich um den bereits angedeuteten Geschlechterdiskurs und zum anderen um jenen über Terrorismus und Kriminalität. Beide Stränge gewannen durch medial stark wahrgenommene Ereignisse wie die Übergriffe in der Kölner Silvesternacht 2015/2016 oder die Anschläge in Paris 2015, in Brüssel 2016 und in Berlin 2016 an Bedeutung (Scherr 2018). Jäger und Wamper sprechen bei der Verschränkung von Flucht- und Geschlechterdiskurs von einer Ethnisierung sexistischer Einstellung, „wenn davon
4.4 Arena der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration …
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ausgegangen wird, dass Geflüchtete Geschlechtergerechtigkeit erst lernen müssten, während die deutsche Gesellschaft als geschlechtergleichberechtigt dargestellt wird“ (Jäger/Wamper 2017: 112). Die Verschränkung der beiden Diskurse festige zudem die Imagination der geflüchteten Person als muslimischen Mann. Dabei nimmt der muslimische Mann die für Erzählstrukturen typische Rolle des Bösewichts beziehungsweise des Täters ein, dem die deutsche Frau – oder in einer abgewandelten Form die muslimische Frau – als Opfer gegenübersteht. Die Vorstellung von der geflüchteten Person prägte sich infolge der genannten Ereignisse noch genauer in eine bestimmte Richtung aus. Geflüchtete wurden als junge und „allein reisende“ muslimische beziehungsweise arabische Männer definiert und in einen Kriminalitätsdiskurs überführt. Spätestens mit den Anschlägen in Paris im November 2015 avancierte der ‚Terrorismusdiskurs‘ zum festen Bestandteil des Redens über Flucht nach Europa und Deutschland und die Integration der Geflüchteten. In Bezug auf Fluchtmigration wurde das unkontrollierbare Risiko hervorgehoben, dass unbemerkt islamistische Terroristen als Geflüchtete nach Deutschland gelangen könnten. In Bezug auf das Ankommen und Leben der Geflüchteten in Deutschland wurde Terrorismus als Folge von gescheiterter Integration gedeutet. Terrorismus und die Gefahr von Terroranschlägen wurden somit zum ultimativen Schreckensszenario in Bezug auf die negativen Auswirkungen von Flucht nach Deutschland stilisiert (Klein 2017). Im Berliner Masterplan Integration und Sicherheit, der die sicherheitspolitische Orientierung in der Debatte über Flucht nicht nur prominent im Namen trägt, sondern Sicherheit auch in einem umfangreichen Kapitel als zentrales Handlungsfeld der Berliner Flüchtlingspolitik behandelt, wird unter der Überschrift „Gefährdung durch einreisende islamische Gewalttäter“ folgendes Bedrohungsszenario beschrieben: „Die Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus ist unverändert hoch, was u. a. durch Reisende von und nach Syrien begründet werden kann. Daneben ist auch mit noch unentdeckten Zellen innerhalb des Flüchtlingszuzugs zu rechnen. Neben dem so genannten Islamischen Staat (IS) ist auch die Bedrohung durch Al Qaida nicht zu vernachlässigen.“ (SenAIF 2016b)
In einer alltäglicheren Variante beschrieb der ‚Kriminalitätsdiskurs‘ die Zuwanderung von Geflüchteten als Bedrohung für die deutsche Gesellschaft. Eindrückliche Metaphern wie beispielsweise jene der Naturkatastrophe veranschaulichen die existentielle Bedrohung – ähnlich wie in der Asylrechtsdebatte der 1990er Jahre. „Flüchtlingsströme“ und „Flüchtlingswellen“ haben die Grenzen „zum Einstürzen“ gebracht und „Massen“ von „unkontrollierbaren“ jungen muslimischen
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Bildungs- und Arbeitsmarktintegration …
Männern bedrohen nicht nur „schutzlose“ Frauen, sondern führen im schlimmsten Fall zum „Untergang des Abendlandes“. Mit drastischen Worten wird auch der damalige Innensenator Henkel in der Berliner Zeitung zu den Vorfällen in Köln zitiert: „Henkel nannte es mit Blick auf die Vorfälle in Köln ‚unerträglich und zutiefst verstörend, wie kriminelle Sexbanden hier mitten in unserem Land Jagd auf Frauen machen konnten‘. Wer Frauen derart erniedrige, könne kein Teil unserer Gesellschaft sein. ‚Diese Täter gehören hart bestraft und dort, wo es geht, auch abgeschoben‘, sagte der Innensenator.“ (Kopietz 2016)
Angesichts des Bedeutungszuwachses von Bewegungen wie Pegida sowie rechter Parteien und Organisationen wurden nationalistische und rassistische Positionen häufig als Folge der zunehmenden Zuwanderung von Geflüchteten beschrieben. Die Forderung nach einer strengen Flüchtlingspolitik wurde zum Teil mit der Annahme legitimiert, dass man so rassistischen Positionen ‚den Wind aus den Segeln nehmen‘ könnte. Insgesamt verschob sich das Sagbarkeitsfeld in die Richtung rassistischer Positionen, während Rassismus im Diskurs als wachsende Gefahr an den „Rändern der Gesellschaft“ (Jäger/Wamper 2017: 114) gleichzeitig problematisiert und als Problem externalisiert wurde. Schließlich wurde mit dem Verweis auf einen steigenden Unmut über Zuwanderung in großen Teilen der Bevölkerung wieder eine symbolische Schließungs- und Abwehrpolitik betrieben, die die Widersprüchlichkeit der Regulierungen erhöhte (Knuth 2016).
4.5
Zwischenfazit
Die Herausbildung einer politischen Arena der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen in Berlin kann vor dem Hintergrund der aufkommenden Orientierung an Nützlichkeit in der deutschen Flüchtlingspolitik betrachtet werden. Diese steht wiederum im größeren Kontext des Wandels von einer defizitorientierten zu einer potenzialorientierten Migrationspolitik in Deutschland. Einerseits hat die (ökonomische) Nützlichkeit und Leistung im Zuge einer meritokratischen Wende (Schammann 2017) die Schutzbedürftigkeit, wie sie in der GFK niedergelegt ist, als dominante Orientierung deutscher Flüchtlingspolitik zumindest teilweise ersetzt. Andererseits hat der Blick auf die (ökonomischen) Potenziale von geflüchteten Menschen dazu beigetragen, dass das lange vorherrschende Abwehrregime zumindest kurzzeitig von einer durch große Teile der Gesellschaft getragene Willkommenskultur abgelöst wurde. In
4.5 Zwischenfazit
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Berlin und anderen großen Städten hat zusätzlich das Leitbild der kosmopolitischdiversitären Metropole dazu beigetragen, dass Bildungs- und Arbeitsmarktintegration, anders als in den Jahren vor 2015, zu einem zentralen Thema lokaler Flüchtlingspolitik avancierte. Integration wird dabei als komplexer, langwieriger Prozess beschrieben, an dem eine Vielzahl unterschiedlicher Akteur*innen beteiligt sind und dessen Rahmenbedingungen in hohem Maße von Wandel und Ungewissheit geprägt sind. Aus Sicht der beteiligten Akteur*innen ergibt sich daraus die Notwendigkeit der ebenen- und sektorübergreifenden Kooperation, wobei den staatlichen Akteur*innen vor allem die Rolle der Entscheidungsträgerin und Anbieterin von Regelstrukturen zukommt. Da diese aber (noch) nicht auf die besonderen Anforderungen der geflüchteten Menschen eingestellt seien, bedürfe es der pragmatischen Unterstützung und Expertise von nichtstaatlichen Akteure*innen, die direkt mit der Zielgruppe zusammenarbeiten und auf dem Street-level mit neuen Ansätzen experimentieren. Beim genaueren Blick auf zentrale Themen und Kontroversen in der neuen lokalpolitischen Arena zeigt sich, dass Willkommenskultur und die Orientierung an (ökonomischer) Nützlichkeit durchaus umstritten sind und in einem Spannungsverhältnis zu einem Krisendiskurs und einer Kulturalisierung des Flüchtlingsdiskurses stehen. Sowohl der Krisendiskurs als auch die Kulturalisierung des Flüchtlingsdiskurses verweisen auf die ‚Nicht-Nützlichkeitsorientierung‘ und fokussieren auf die Gefahren für die Aufnahmegesellschaft. Die Konzentration auf diese Kehrseite der Nützlichkeitsorientierung macht neue Kategorisierungen und Grenzziehungen sichtbar. Während mit Blick auf den Krisendiskurs zwischen ‚guter‘ und ‚schlechter‘ Bleibeperspektive unterschieden wird und die Kategorie der sogenannten sicheren Herkunftsländer an Bedeutung gewinnt, wird hinsichtlich der Kulturalisierung die Unterscheidung zwischen einer willkommenen Diversität und einer unerwünschten Differenz betont. Was Anselm Strauss feststellt, wenn er am Beispiel der Zuwanderung und sozialen Mobilität in den USA die transsituativen und sozialen Welten überspannenden Diskurse analysiert, trifft auch für die transsituativen Diskurse in der Arena der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen zu: Diese Diskurse entspringen zwar spezifischen historischen Bedingungen, wie der Aufnahme sogenannter Gastarbeiter*innen im Nachkriegsdeutschland oder dem wachsenden Standortwettbewerb zwischen großen Städten unter den Bedingungen einer globalen Wissensgesellschaft, sie bleiben dabei aber stets so allgemein, vage und flexibel, dass sie leicht auf neue Bedingungen übertragen und angepasst werden können.
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Bildungs- und Arbeitsmarktintegration …
In den folgenden Kapiteln werden die skizzierten übergreifenden Orientierungen, Themen und Kontroversen wieder aufgegriffen. Es wird gezeigt, welche Rolle sie in der alltäglichen Arbeit im Rahmen der SLEs spielen, wie sie dort von den jeweiligen sozialen Welten und deren Mitgliedern bei der Erzeugung von machbaren Problemstellungen genutzt und entsprechend den eigenen Ansichten und örtlichen Gegebenheiten interpretiert, angepasst und transformiert werden.
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SLEs für die Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen
Im folgenden Kapitel werden die beiden Street-level-Experimente erläutert, die im Rahmen einer ethnografischen Untersuchung im Zeitraum zwischen April 2016 und März 2018 begleitet wurden. Die ethnografische Untersuchung basiert auf Daten, die mittels teilnehmender Beobachtung und problemzentrierter Interviews mit involvierten Akteur*innen erhoben wurden. Zusätzlich wurden zahlreiche schriftliche Dokumente wie Flyer, Broschüren, Projekt- und Fachkonzepte, die im Zusammenhang mit den SLEs entstanden sind, recherchiert und ausgewertet. In einem geringeren Ausmaß konnte auf Sekundärliteratur zu den SLEs beziehungsweise deren Umfeld zurückgegriffen werden. Die Datenerhebung und -auswertung erfolgte, wie in Kapitel 3 beschrieben, mithilfe der Situationsanalyse nach Adele Clarke (Clarke 2012). Die übergreifenden Fragen lauten, wie im Kontext einer kontroversen und durch Ungewissheit geprägten politischen Arena auf dem Street-level mit neuen politischen Ansätzen experimentiert wird und wie dabei Probleme und Zielgruppen definiert sowie Lösungsmöglichkeiten hervorgebracht werden. Vor diesem Hintergrund ist das Ziel der beiden folgenden Kapitel, die Situiertheit und die damit einhergehenden spezifischen Ordnungsmuster zweier SLEs in den Blick zu nehmen. Dafür werden zunächst die Mobile Bildungsberatung für geflüchtete Menschen in Berlin (MoBiBe) und die Gärtnerei Berlin im Detail vorgestellt (Kapitel 5). Danach folgt die Beschreibung der Situiertheit der beiden SLEs mit Bezug auf die lokalpolitische Arena der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen in Berlin sowie in Bezug auf die involvierten sozialen Welten (Kapitel 6).
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 F. Maas, Politik zwischen Innovation und Machbarkeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-38335-0_5
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5.1
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SLEs für die Bildungs- und Arbeitsmarktintegration …
Mobile Bildungsberatung für geflüchtete Menschen in Berlin
„Der Anspruch war, Geflüchtete, die in Berlin ankommen, möglichst ab dem ersten Tag, so hieß das, also schnellstmöglich sag’ ich jetzt mal, letztendlich eine Kompetenzerfassung angedeihen zu lassen, vorhandene Fähigkeiten, Kompetenzen, Abschlüsse und so weiter zu erheben und ihnen entsprechend eine Bildungsberatung dann zukommen lassen zu können, die dann dementsprechend Orientierung gibt, die in erste Systeme vielleicht einführt, die letztendlich auch beim Ankommensprozess hilft. Daraufhin ist dann im Oktober 2015 die Idee entstanden, natürlich erstmal so nah wie möglich an den Geflüchteten dran zu sein, sprich eben also vor Ort zu beraten, diesen mobilen Charakter der Bildungsberatung, den es ja schon seit vielen Jahren gibt, also von den Lernläden beispielsweise 2006 umgesetzt schon, quasi auf die Zielgruppe der Geflüchteten anzupassen und in die Volkshochschulen zu gehen. Damit hat es dann sozusagen angefangen, es gab dann eine Pilotphase mehrerer Wochen und dort hat man dann erst einmal geschaut: Kommen wir überhaupt an die betroffenen Personen heran über diesen Weg.“ (Interview – Projektsteuerung 2)
Angesichts der steigenden Anzahl von Geflüchteten sowie der wachsenden politischen und medialen Aufmerksamkeit für die Fluchtthematik seit dem „langen Sommer der Migration 2015“ (Hess et al. 2017) erhöhte sich der Druck auf die politischen Entscheidungsträger*innen in Berlin, geeignete Maßnahmen für den Umgang mit Flucht und deren Folgen in der Stadt zu entwickeln (Interview – Projektsteuerung 1). Neben der anfänglichen Konzentration auf Nothilfemaßnahmen und Maßnahmen im Bereich der Versorgung und Unterbringung wurden frühzeitig Versuche unternommen, die Teilhabe der Geflüchteten am sozialen und gesellschaftlichen Leben in der Stadt zu erleichtern. Zu den Schwerpunkten in diesem Zusammenhang zählten neben der Bereitstellung von zusätzlichem Sprachunterricht durch Landesmittel vor allem Beratungs- und Unterstützungsangebote für die Vorbereitung der Geflüchteten auf den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt (Schammann 2020). Bereits im Jahr 2015 rief die damalige Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen mit der Idee der Mobilen Bildungsberatung für geflüchtete Menschen in Berlin ein trägerübergreifendes Beratungsnetzwerk für die Bereiche der Bildungs- und Berufsberatung ins Leben. Dem lag die Idee zugrunde, Schutzsuchende in Berlin so früh wie möglich zu erreichen, um vorhandene Potenziale in Form von spezifischen Fähigkeiten, Kompetenzen und formalen Qualifikationen zu erfassen und eine entsprechende Bildungsberatung anzubieten, die dabei hilft, diese Potenziale zu entfalten (Interview – Projektsteuerung 2). Mit dem Konzept der MoBiBe wollte die Senatsverwaltung auf die Erfahrungen des Berliner Modells zur Beratung zu Bildung und Beruf zurückgreifen,
5.1 Mobile Bildungsberatung für geflüchtete Menschen in Berlin
115
das bereits auf eine „30-jährige Entwicklungsgeschichte der Etablierung von Weiterbildungs- und Bildungsberatung“ (Schröder 2018: 6) verweisen kann und seit 2006 mobile Bildungsberatung für schwer erreichbare Zielgruppen anbietet (Knelke et al. 2014). Der mobile Charakter der Bildungsberatung sollte übernommen und das Konzept durch experimentelle Lernprozesse in der Praxis an die besondere Situation und die Bedarfe von geflüchteten Menschen in Berlin angepasst werden (SenAIF 2016a). In der ersten Konzeption wurden als Orte für die MoBiBe die Berliner Volkshochschulen ausgewählt, da dort, so der Gedanke, geflüchtete Menschen relativ frühzeitig nach deren Ankunft im Rahmen von Sprachkursen angetroffen werden könnten. Ende 2015 forderte die zuständige Senatorin, dass geflüchtete Menschen darüber hinaus direkt vor Ort in den Unterkünften aufgesucht und beraten werden sollten. In diesem Kontext wurde die Idee der Willkommen-in-ArbeitBüros in der Öffentlichkeit bekannt und innerhalb kürzester Zeit umgesetzt. Die WiA-Büros sollten direkt an Erstaufnahmeeinrichtungen angesiedelt sein und als zentrale Beratungsorte für die MoBiBe sowie für weitere öffentlich geförderte Beratungsangebote, die sich an geflüchtete Menschen in Berlin wenden, zur Verfügung stehen (SenAIF 2016b). Sie sollten nicht nur Räumlichkeiten für die Gespräche bieten, sondern zudem Infrastruktur bereitstellen, von kleinen geteilten Arbeitsplätzen für die Beratenden, über einen Internet- und Druckerzugang, bis hin zu umfangreichen Informationsmaterialien. Sie wurden darüber hinaus als Ort für Informationsveranstaltungen und unterschiedliche Workshops konzipiert.1
5.1.1
Beratung zu Bildung und Beruf – Das Berliner Modell
Das Konzept der mobilen Bildungsberatung ist eng mit dem Berliner Modell der Beratung zu Bildung und Beruf verbunden (SenIAS 2018). In den vergangenen Jahren hat Bildungsberatung im Kontext der europäischen Strategie zum lebenslangen Lernen als unterstützendes Instrument der Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik deutlich an Bedeutung gewonnen. Durch die Formulierung von
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Im vorliegenden Forschungsprojekt konnte der Zugang zum neuen Ansatz der MoBiBe über die WiA-Büros und über eine der lokal verankerten Beratungseinrichtungen gewährleistet werden. Mit dem Projektträger wurde vereinbart, dass die Berater*innen über einen längeren Zeitraum bei ihrer alltäglichen Arbeit begleiten werden können. Zudem konnten Veranstaltungen des Schulungsprogramms besucht werden, das von P:iB für die mobilen Bildungsberater*innen angeboten wird. Schließlich wurde die Teilnahme an netzwerkübergreifenden Koordinationstreffen und Informationsveranstaltungen ermöglicht.
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SLEs für die Bildungs- und Arbeitsmarktintegration …
Rahmenbedingungen auf europäischer Ebene sollten vor allem die Qualität, Professionalisierung und die flächendeckende Zugänglichkeit von Bildungsberatung verbessert werden (Der Rat der Europäischen Union 2008). Berlin reagierte auf die zunehmende Bedeutung der Bildungsberatung unter anderem mit dem Aufbau eines stadtweiten Netzwerks aus unterschiedlichen, schon bestehenden Bildungsund Berufsberatungsangeboten: „[…] strategisches Ziel war es, das in der Stadt bestehende Informations- und Beratungsangebot zum lebenslangen Lernen neu zu strukturieren, ein bedarfsorientiertes, unabhängiges und professionelles Beratungsangebot sicherzustellen und weiterzuentwickeln.“ (Scheffelt 2016: 745)
Die Bildungsberatung in Berlin basiert laut Scheffelt im Wesentlichen auf vier Pfeilern: Sie berät trägerneutral, agiert formal unabhängig von staatlichen Stellen, wird kostenlos angeboten und ist prinzipiell offen für alle Zielgruppen. Grundsätzlich soll sich die Beratung an den individuellen Wünschen und Interessen der Ratsuchenden und an deren persönlicher Situation orientieren. Die Beratung zu Bildung und Beruf ist darüber hinaus insbesondere auf die Beratung von benachteiligten Bevölkerungsgruppen ausgerichtet und zielt darauf ab, die Teilhabe dieser Gruppen an Bildung und Beschäftigung zu erhöhen (Scheffelt 2016). Die Arbeit der Beratung zu Bildung und Beruf ist eingebettet in einen gemeinsamen Professionalisierungs- und Qualitätsentwicklungsprozess, der von der landesfinanzierten Koordinierungsstelle Qualität GmbH (k.o.s GmbH) organisiert und begleitet wird und neben der netzwerkübergreifenden Erarbeitung von Qualitätsstandards und einem umfangreichen Zertifizierungsprozess für die beteiligten Beratungseinrichtungen aus unterschiedlichen Schulungs- und Austauschformaten besteht. Durch den Zertifizierungsprozess und Fortbildungsformate, wie den jährlich stattfindenden Berater*innen-Tag, sollen einheitliche Standards und Kriterien der qualitätsvollen Bildungsberatung geschaffen und gefestigt werden, die beispielsweise den Beratungsprozess oder eine professionelle Beratungshaltung betreffen (Scheffelt 2016). Im Rahmen eines übergreifenden Fachkonzeptes wird als Quelle für die Grundsätze der Bildungsberatung auf folgende OECDDefinition für Bildungs- und Berufsberatung aus dem Jahr 2004 verwiesen: „Der Begriff Bildungs- und Berufsberatung bezieht sich auf Dienste, die Menschen gleich welchen Alters zu jedem Zeitpunkt in ihrem Leben dabei unterstützen sollen, Entscheidungen im Hinblick auf Bildung, Weiterbildung und Berufswahl zu treffen und ihren beruflichen Werdegang zu steuern.“ (OECD 2004: 19)
5.1 Mobile Bildungsberatung für geflüchtete Menschen in Berlin
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Bildungsberatung in Berlin soll für alle Menschen kostenlos zugänglich sein und unabhängig von Aus- und Weiterbildungsanbietern agieren. Die Beratung soll sich an den jeweiligen Bedarfen der Ratsuchenden orientieren. Im Vordergrund steht daher laut Fachkonzept die „Hilfe zur Selbsthilfe, die dazu beiträgt, die Bewusstwerdung über die eigenen Fähigkeiten, die Zielklarheit und Umsetzungskompetenz nachhaltig zu stärken“ (SenAIF 2016a). Um das Angebot für alle Personen gut erreichbar zu gestalten, sollen Beratungen ohne Terminvereinbarungen möglich sein und das Angebot im öffentlichen Raum sichtbar und präsent gehalten werden. Zudem soll die Bildungsberatung einen ganzheitlichen Zugang zum Thema Bildung und Arbeit wählen, der vielfältige Lebenslagen und Problemstellungen in der Beratungspraxis einbezieht, sofern diese Auswirkungen auf den Zugang zu Bildung und Arbeit haben (SenAIF 2016a). Gröning betont eine Spannung zwischen zivilgesellschaftlichen Praktiken auf der einen Seite und staatlichen und normierenden Praktiken auf der anderen Seite, die sich als roter Faden durch die Geschichte der pädagogischen, bildungsund berufsbezogenen Beratung ziehe. Konkret handele es sich um „Formen der personenbezogenen Arbeit […], die normalisierend sind, gleichzeitig aber auch die Funktion haben, die Lebenslagen zu ordnen, Entscheidungen zu fördern und lebensweltliche Ressourcen zu mobilisieren“ (Gröning 2016: 42). Zudem weist Gröning auf die gesellschaftlich verankerten Prinzipien der Lern-, Optimierungsund Verbesserungsanforderungen an das moderne Subjekt in staatlichen wie auch in zivilgesellschaftlichen Kontexten der Beratung hin, die etwa durch die Konzepte des „Arbeitskraftunternehmers“ (Pongratz/Voß 2003) oder des „unternehmerischen Selbst“ (Bröckling 2016) beschrieben werden und von ihr als Gouvernementalität in der Beratung bezeichnet werden (Gröning 2016).2 Eine gesellschaftliche Funktion der Beratung zu Bildung und Beruf sehen insbesondere die staatlichen Akteur*innen, die in ihrer Rolle als Fördermittelgeber*innen mit Blick auf die Beratung zu Bildung und Beruf auch gesamtwirtschaftliche Ziele betonen. So fungiere die öffentlich finanzierte Bildungs- und Berufsberatung in Berlin laut der seit 2016 zuständigen Senatorin Elke Breitenbach „als Motor für gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung“ und entscheide „über die Zukunftschancen und Innovationskraft von Gesellschaft“ (Breitenbach 2018: 3). Die immer wiederkehrenden Schlagworte in diesem Zusammenhang sind Fachkräftemangel und der rasante technologische Wandel, wobei Letzterer das lebensbegleitende Lernen zur grundlegenden Voraussetzung für anpassungsfähige Fachkräfte mache. „Beratung zu Bildung und Beruf gibt 2
Siehe hierzu auch den Aufsatz von Boris Traue (2010) zu Diskursen und Techniken der Beratung.
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SLEs für die Bildungs- und Arbeitsmarktintegration …
Menschen in einer immer komplexer werdenden Welt Orientierung, macht die für sie passenden Angebote sichtbar und unterstützt bei der Entscheidungsfindung.“ (Breitenbach 2018: 3) Sie bietet in dieser Perspektive also Orientierung für die Individuen in einer Welt, die durch ständigen Wandel und zunehmende Komplexität charakterisiert ist, und sichert damit gleichzeitig das Angebot an flexiblen und lernfähigen Arbeitskräften. Auch Peter Schlögel erkennt zwischen Selbstbefähigung der Individuen und Fachkräftesicherung zahlreiche, sich teilweise widersprechende Perspektiven auf die Beratung zu Bildung und Beruf, „[…] die von der Instrumentalisierung für Zwecke der Berufslenkung aus einer arbeitsmarktpolitischen Perspektive (aktuell oft unter dem Stichwort Fachkräftemangel), der bildungspolitisch motivierten Steigerung der Weiterbildungsteilnahme bis zu subjektorientierten Selbstentfaltungsansprüchen reichen können.“ (Schlögel 2018: 7)
Im Rahmen des Netzwerkes der Berliner Bildungsberatung sollen Erfahrungen aus der gemeinsamen Qualitätsentwicklung genutzt werden, um mit Beratungsformaten zu experimentieren, die auf die jeweils spezifischen Herausforderungen reagieren. Dazu gehört auch die Einführung einer Mobilen Bildungsberatung für besonders schwer erreichbare Zielgruppen. Susann Kühnapfel beschreibt diese Beratungsform als „Beratung, die dort hingeht, wo sie gebraucht wird, wo sie nicht erwartet wird, die Perspektiven und Möglichkeiten für die Einzelnen aufzeigt und immer freiwillig bleibt“ (Kühnapfel 2016: 753). Während die Vorläufer dieser aufsuchenden Beratungsform vor allem in medizinischen und sozialarbeiterischen Bereichen zu verorten sind, sollte mit einer mobilen Bildungsberatung erstmals auch im Bildungsbereich ein aufsuchendes Beratungsformat entwickelt werden, das Zielgruppen wie Obdachlose, Suchtkranke oder Patient*innen von Tageskliniken da erreicht, wo sie sich in ihrem Alltag aufhalten. Neben der eigentlichen Beratung zu Themen rund um Bildung und Beruf geht es darüber hinaus um die Heranführung an Unterstützungs- und Hilfsangebote sowie um Orientierung und den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zu den Institutionen des Bildungsbereichs wie Schulen, Universitäten oder Weiterbildungseinrichtungen. Um schwer erreichbare Zielgruppen durch den Beratungsprozess (wieder) an die klassischen Bildungsinstitutionen sowie die flankierenden Unterstützungsangebote heranzuführen, wurde für die mobile Bildungsberatung ein Raumkonzept entwickelt, das zunächst zwischen drei Lebensräumen unterscheidet, um dann gezielt dort anzusetzen, wo positive Bildungsund Beratungserfahrungen am einfachsten erzielt werden können, und um die Klient*innen (es handelt sich ja nicht im eigentlichen Sinne um Ratsuchende)
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gezielt auch an die anderen Räume heranzuführen. Unterschieden wird zwischen sozialen Räumen (Jugendeinrichtungen, Kieztreffs, Nachbarschaftshäuser, Treffpunkte im Freien), wo sich Menschen in der Regel gerne und freiwillig aufhalten; institutionellen Räumen (Schulen, Bibliotheken, Justizvollzugsanstalten, Flüchtlingsunterkünften, Kriseneinrichtungen), die nur zum Teil freiwillig aufgesucht werden, und klassischen Beratungsräumen, in die man sich gezielt mit dem Wunsch nach Beratung und Unterstützung begibt. „Das Raummodell mobiler Bildungsberatung wählt hier einen pragmatischen Ansatz: Im Beratungsprozess wird erkundet, wo der jeweilige Mensch sich gerne und freiwillig aufhält, hier beginnt die Beratung. Aufgabe mobiler Bildungsberatung ist es, in neue Räume zu begleiten. Langfristig können Ratsuchende, die zunächst Vorbehalte gegenüber bestimmten Institutionen haben, mit einer flexiblen Raumnutzung behutsam an klassische Beratungsräume, also Beratungseinrichtungen, herangeführt werden. Durch positive Erfahrungen mit der mobilen Beratung werden Menschen wieder autonomer, indem sie sich jederzeit selbst geeignete Unterstützung holen können.“ (Kühnapfel 2016: 758 [Hervorhebungen im Original])
Im Jahr 2015 wurde die Idee der mobilen Bildungsberatung für schwer erreichbare Zielgruppen als Mobile Bildungsberatung für geflüchtete Menschen (MoBiBe) zu einer neuen Fachberatung im Beratungsnetzwerk weiterentwickelt. Dabei sollte der Ansatz der mobilen Bildungsberatung mit den spezifischen Herausforderungen und Bedürfnissen der in Berlin ankommenden Geflüchteten verbunden werden. In diesem Zusammenhang wurden unterschiedliche zielgruppenspezifische Aspekte in das Konzept aufgenommen, mit denen migrationsbezogene Beratungsangebote in Berlin schon seit vielen Jahren Erfahrungen gesammelt hatten. Dazu zählen unter anderem die Berücksichtigung aufenthaltsrechtlicher Fragen genauso wie sprachliche Hürden sowie persönliche und kollektive Erfahrungen, die mit Flucht und Migration allgemein zusammenhängen. Schließlich gehören dazu auch Aspekte der interkulturellen Sensibilität beziehungsweise des Umgangs mit rassistischen und religionsbezogenen Vorurteilen im Bildungsbereich, auf dem Arbeitsmarkt sowie in der Beratung selbst (Kupfer 2016). Die wahrgenommene Notwendigkeit einer mobilen Bildungsberatung wurzelte in der Annahme, dass geflüchtete Menschen vom Ausschluss von gesellschaftlicher Teilhabe bedroht sind und zudem wenig oder gar nicht mit den Hilfe- und Unterstützungsleistungen an ihrem neuen Wohnort vertraut sind. Zugangsbarrieren bestehen auf Seiten der Zugewanderten, etwa wegen fehlender Informationen zu Beratungsangeboten, aber auch zu Konzepten wie Beratung allgemein sowie infolge von Angst, nicht verstanden zu werden (Çagliyan 2008). Auf Seiten
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der Beratenden beziehungsweise der Beratungsinstitutionen ist beispielsweise die lange Zeit ausbleibende interkulturelle Öffnung der Beratungseinrichtungen als Barriere zu nennen (Gaitanides 2011). Insbesondere mit der Einstellung mehrsprachiger Berater*innen, der Bereitstellung zusätzlicher Dolmetscher*innen sowie mit regelmäßigen Schulungen zu rechtlichen und sonstigen fachlichen Themen und zu einer sogenannten ‚kultursensiblen Beratung‘ wollte man den spezifischen Anforderungen begegnen.
5.1.2
Experimentieren im Rahmen der MoBiBe
Bei der MoBiBe findet im Rahmen zahlreicher formaler und informeller Koordinations-, Austausch- und Schulungsformate ein fortlaufender „TheoriePraxis-Transfer“ (P:iB 2018) statt, bei dem der Austausch von Wissen und Erfahrungen zwischen Berater*innen, Beratungsorganisationen und der zuständigen Senatsverwaltung im Vordergrund steht. Der Rahmen für diesen „Theorie-PraxisTransfer“ wird in seinen Grundzügen in einem übergreifenden Fachkonzept abgesteckt. Zur Rolle des Fachkonzeptes selbst heißt es dort: „Das vorliegende Fachkonzept erläutert das strukturelle und theoretische Verständnis sowie die leitenden Grundsätze im Land Berlin und stellt damit einen Rahmen für eine praktische Ausgestaltung des Angebots der mobilen Bildungsberatung für geflüchtete Menschen dar.“ (SenAIF 2016a)
Das Fachkonzept gibt allgemein Auskunft über Hintergrund, Grundsätze, Aufgaben und Ziele der MoBiBe und beschreibt, wie die unterschiedlichen Ziele umgesetzt werden. Die fortlaufende Weiterentwicklung des Fachkonzeptes und die Einbindung des MoBiBe-Netzwerkes in diesen Entwicklungsprozess sollen eine bedarfsgerechte Anpassung und Weiterentwicklung des Ansatzes unterstützen. „Das Konzept ist unter Mitarbeit des Trägers entstanden, also ich selbst [habe] damals […] unter anderem sogar auch noch mit daran geschrieben und Erfahrungen aus der Praxis einfließen lassen. Das heißt also, es sind ganz viele praktische Elemente erst einmal dort aufgegriffen worden und dieser Ansatz der mobilen Beratung ist tatsächlich eben auch sehr stark dort zum Tragen gekommen, weil eben auch Mitarbeitende mit den Lernläden in diesem Fall eben auch daran mitgewirkt haben und die machen diese mobile Beratung eben schon ganz ganz viele Jahre, das ist einfach ’ne jahrzehntelange Erfahrung mittlerweile. So, das ist das eine, dann wird das sozusagen aufgegriffen und zu einem richtigen Fachkonzept weiterentwickelt. […] es ist halt einfach ein kontinuierlicher Prozess und die Praxis muss weiterentwickelt werden
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und dementsprechend natürlich auch das Fachkonzept. Verbindlichkeit hat jetzt natürlich die aktuelle Version des Fachkonzeptes […] und deswegen orientieren sich die Beratungseinrichtungen und letztendlich alle anderen Akteure, die ja mit in diesem Fachkonzept auch erwähnt sind, ganz klar daran. Es ist aber, denke ich, auch allen Akteuren und Akteurinnen klar, dass das Konzept eben anpassungsfähig ist und dass das Konzept eben nichts in Stein Gemeißeltes ist, weil wir müssen ja auf die Umgebung, auf unser Umfeld reagieren und es wäre, glaub’ ich, fatal, wenn wir das nicht täten. Und wenn wir jetzt sagen würden: Das ist es und das bleibt jetzt viele Jahre so, gerade das Feld der Geflüchteten ist halt einfach ein total schnelllebiges und dem müssen wir halt Rechnung tragen.“ (Interview – Projektsteuerung 2)
Der zitierte Interviewausschnitt beschreibt am Beispiel des Fachkonzeptes das experimentelle Grundverständnis aus Sicht der koordinierenden Person in der Senatsverwaltung, die selbst davor bei einer der beteiligten Trägerorganisationen angestellt war. Die befragte Person betont den vorläufigen und anpassungsfähigen Charakter des Ansatzes, der für ein „schnelllebiges“ Feld wie das der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen als angemessen beschrieben wird. Zentral ist dabei der Hinweis, dass das Fachkonzept explizit nicht als starres Regelwerk angesehen wird, das, einmal gesetzt, für die zukünftige Arbeit der MoBiBe handlungsleitend sein soll. Stattdessen soll das Fachkonzept im Sinne eines lebendigen Dokumentes durch die Beteiligten des Netzwerkes fortwährend an die politischen Erfordernisse sowie an die sich veränderten Rahmenbedingungen und lokalen Gegebenheiten der Beratungspraxis angepasst und weiterentwickelt werden. Die befragte Person beschreibt diesen Anpassungsprozess wie folgt: „Damit hat es dann sozusagen angefangen, es gab […] eine Pilotphase mehrerer Wochen und dort hat man dann erst einmal geschaut: Kommen wir überhaupt an die betroffenen Personen heran über diesen Weg, klappt das mit der Kooperation mit den VHSen, dürfen wir in die Kurse gehen und so weiter und so fort, das Programm vorstellen, können wir da Informationsveranstaltungen geben. Das war sozusagen der Startschuss […]. Die ersten MoBiBes mussten sich da ein bisschen durchkämpfen tatsächlich und von ihren ganz eigenen Erfahrungen zehren, aber dann ist das tatsächlich so initiiert und auch richtig etabliert worden.“ (Interview – Projektsteuerung 2)
Nach einer Pilotphase im Herbst und Winter 2015 wurden nach und nach mehr mobile Bildungsberater*innen bei den einzelnen Beratungseinrichtungen eingestellt, sodass die Zahl der Berater*innen bis Ende 2017 auf über 30 anwuchs. Wie im Interviewauszug beschrieben wird, sollen die MoBiBe wie auch die WiA-Büros fortlaufend an die sich ändernden Rahmenbedingungen angepasst
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und auf der Grundlage der Erfahrungen aus der Praxis weiterentwickelt werden. Diesem Zweck dient ein erheblicher Anteil der Arbeit im Rahmen des Projektes. Die Anpassungs- und Entwicklungsprozesse laufen zum einen auf der Ebene des Personals, also der Bildungsberater*innen selbst, ab, die in regelmäßigen Teamsitzungen und im Rahmen des kollegialen Fachaustauschs über ihre Arbeit, über herausfordernde Fälle, neue Angebote und Projekte in der Arena der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration sprechen. Zum anderen wird der Anpassungs- und Entwicklungsprozess vor allem im Rahmen von Koordinations- und Steuerungsrunden unter Beteiligung von Projektleitenden, Koordinator*innen, Vertreter*innen der Senatsverwaltung und weiteren Kooperationspartner*innen auf der Ebene der Beratungseinrichtungen sowie der Beratungsorte vorangetrieben. Allein aufgrund der verstreuten Einsatzsorte der Beratenden und der diversen beteiligten Beratungsstellen erfordert die MoBiBe einen beachtlichen Koordinationsaufwand, der durch das Koordinationsprojekt P:iB begleitet und gesteuert wird. Formal leisten diese Koordinationsarbeit ein/e zuständige/r Mitarbeiter*in der Senatsverwaltung, die jeweiligen Projektleitenden in den beteiligten Beratungsstellen (Lernläden, Jobassistenzen und Frauenberatungsstellen) und die Koordinator*innen der einzelnen WiA-Büros, wobei aber in hohem Maße auch die Beratenden selbst involviert sind. Aus Sicht der Senatsverwaltung wird die Zusammenarbeit mit den anderen Ebenen in einem Interview als offene Kommunikation beschrieben, die mit regelmäßig stattfindenden Austauschformaten gewährleistet werde (Interview – Projektsteuerung 2). Mit den fachlichen Leiter*innen auf Trägerebene und der Projektleitung des koordinierenden Projektes P:iB finden regelmäßig Abstimmungstreffen statt. Zusätzlich kommen im Rahmen des sogenannten Koordinierungstreffens der MoBiBe Senatsverwaltung, P:iB; die Koordinator*innen der WiA-Büros und die Projektleitenden der Beratungseinrichtungen regelmäßig zusammen. Ziel dieser Koordinierungstreffen ist laut Vertreter*in der Senatsverwaltung, dass ein regelmäßiger Austausch zwischen den unterschiedlichen Akteuren*innen und die Einbindung in laufende Prozesse gewährleistet ist. Auf der Agenda stehen Probleme oder Herausforderungen in der Praxis sowie neue Entwicklungen und Pläne auf der politischen Ebene und in der Senatsverwaltung (Interview – Projektsteuerung 2). Folgender Auszug aus einem Beobachtungsprotokoll gibt einen Einblick in den Ablauf und die typischen Austauschprozesse im Rahmen der Koordinationstreffen:
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Beobachtungsprotokoll – MoBiBe vom 27.06.2017 Das Meeting beginnt mit einer kurzen Vorstellung der neuen Koordinator*innen aus den WiA Büros Lichtenberg und Tempelhof, die ihre Arbeit im Juni aufgenommen haben. Auf die kurze Vorstellung der neuen Koordinator*innen folgen die Berichte aus den WiA-Büros. Den Anfang macht der Koordinator des Büros in Spandau. Er beginnt mit der Einschätzung, dass sich in Spandau der Ramadan nicht auf die Arbeit und die Beratungszahlen ausgewirkt habe. Er berichtet von einer neuen Kooperation mit dem Paritätischen Wohlfahrtsverband und dem Projekt Work for Refugees. Im Rahmen der Kooperation können die Berater*innen auf eine Datenbank mit Ausbildungsplätzen und freien Stellen aus dem Projekt des Verbandes zurückgreifen. Zudem steht bald das sogenannte Unternehmer*innen Frühstück an, das in Kooperation mit dem Projekt der Industrie- und Handelskammer (IHK) Unternehmer integrieren Geflüchtete stattfinden wird. In diesem Rahmen soll es um den Austausch und um Netzwerkarbeit mit Unternehmer*innen gehen. Danach berichtet die neue Koordinatorin aus dem WiA Büro in Tempelhof. Sie sagt zuerst, dass sie das Gefühl hatte, dass sich der Ramadan schon auf die Beratungszahlen ausgewirkt habe, dass sie das aber auch nicht sicher sagen könne, weil sie erst angefangen habe, als der Ramadan schon angefangen hatte.
Im Rahmen der projektweiten Koordinationstreffen nehmen die Projektleitenden der Beratungsstellen vor allem eine repräsentative Rolle ein. Sie vertreten die Anliegen und Interessen der jeweiligen Stelle oder des Beratungsorts und der Bildungsberatenden ihres Teams und tragen Probleme und Erfahrungen aus der Beratungspraxis in die Runde, um dort in Abstimmung mit den anderen Akteur*innen nach Lösungen zu suchen. In Bezug auf die erbrachten Leistungen, die sich beispielsweise in den Beratungszahlen widerspiegeln, stehen die Projektleitenden in diesen Situationen häufig in einem Wettbewerb untereinander und betonen vor allem gegenüber den Vertreter*innen der Senatsverwaltung die Erfolge ihrer Einrichtung.
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Auf der Ebene der einzelnen WiA-Büros finden zudem Netzwerktreffen statt, bei denen es um den Austausch über die Arbeit vor Ort in den Büros geht. Einerseits sollen dadurch gewisse Standards für die WiA-Büros gesetzt werden, was vor allem in deren Entstehungsphase als wichtig erachtet wird, andererseits die zahlreichen unterschiedlichen Akteur*innen an einen Tisch geholt werden, um die Abstimmung zwischen den beteiligten Gruppen zu erleichtern. Teilnehmende an diesen Netzwerktreffen sind alle vor Ort aktiven Beratenden, die Dolmetscher*innen, die Mitarbeitenden der MoBiJobs, Jobcoaches, Vertreter*innen der Senatsverwaltung, Vertreter*innen der Träger und teilweise auch externe Gäste, die ein bestimmtes Projekt oder eine Maßnahme vorstellen möchten. „Das ist tatsächlich ‘ne gute Möglichkeit, um einfach den Austausch zu fördern, ganz konkret zu wissen; was passiert in der Praxis, um dann Rückschlüsse darauf führen zu können; müssen wir hier irgendwie noch mal nachjustieren, müssen wir nachsteuern.“ (Interview – Projektsteuerung 2)
Die Ergebnisse aus den diversen Austauschrunden werden in der Regel über die Projektleitenden in die Teams weitergeleitet und dort unter anderem im Rahmen von Teammeetings besprochen. Während bei den projektübergreifenden Koordinationstreffen in der Regel nur die jeweiligen Projektleitenden beziehungsweise Koordinatorinnen sowie die Mitarbeitenden des Koordinationsprojektes P:iB anwesend sind und neben Erfahrungsaustausch vor allem Angelegenheiten des gesamten Beratungsnetzwerkes und dessen Weiterentwicklung besprochen werden, sind bei den jeweiligen Teammeetings in den einzelnen Beratungsstellen auch die Beratenden selbst anwesend und somit indirekt an der Koordination beteiligt. Allerdings verfügen sie in Bezug auf die Koordination und das Projektmanagement nicht über die gleichen Möglichkeiten wie die Projektleitenden, die das Teammeeting anleiten und durch die Koordinationstreffen einen privilegierten Zugang zu relevanten Informationen haben.3 Die Teammeetings der einzelnen Beratungseinrichtungen dienen einerseits der Projektorganisation und -entwicklung, andererseits vor allem der alltäglichen Beratungsorganisation. Im 3
Die Person, die die Projektleitung der beobachteten Beratungsstelle innehat, übt diese Autorität nur selten offen aus, vielmehr nimmt sie die Rolle einer Moderatorin und Übersetzerin zwischen Berater*innen und der Netzwerkebene ein, die allerdings – wenn beispielsweise die Zeit knapp wird – in der Lage ist, ein Thema abzuschließen, eine Entscheidung zu treffen oder eine Aufgabe zuzuweisen. Die Bildungsberater*innen koordinieren aber in weiten Teilen ihre Arbeit selbst, stimmen sich untereinander ab, machen eigenständig Termine und tragen diese in einen gemeinsamen Kalender ein. Zudem sind sie eigenständig mit der Gewinnung neuer Informationen zur Bildungs- und Arbeitsmarktintegration von geflüchteten Menschen und der Weiterentwicklung der Beratungspraxis beschäftigt.
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Teammeeting werden nicht nur die Neuigkeiten aus den Koordinationstreffen berichtet und deren Auswirkungen auf die Praxis besprochen, sondern allgemeine organisatorische Aufgaben erledigt, wozu im Wesentlichen die Terminund Veranstaltungsplanung und die Dienstplanung gehören. Ein wichtiger Aspekt beim Teammeeting ist zudem die Bedarfserschließung, in deren Rahmen sich die mobilen Bildungsberater*innen über neue Programme und Maßnahmen oder Gesetzesänderungen etc. austauschen, um diese Informationen in zukünftige Beratungen berücksichtigen zu können. Die Teammeetings werden zudem genutzt, um eher informell im Kollegium über konkrete Fälle zu beraten und Expertise bei den anderen Beratenden einzuholen. Somit zeichnet sich im Rahmen des Teammeetings auch der Bereich der Qualitätssicherung und -entwicklung ab. Schließlich sind Evaluation und Controlling wesentlicher Bestandteil des experimentellen Vorgehens im Rahmen der MoBiBe. Für einen Teil dieser Aufgaben beauftragt die zuständige Senatsverwaltung das Koordinationsprojekt P:iB und zusätzliche externe Dienstleister. Allerdings sind auch die jeweiligen Projektleitenden und die Beratenden im Rahmen der Beratungspraxis mit dieser Aufgabe befasst. Die Beratungsdokumentation, welche die Daten für das Controlling bereitstellt, ist festes Element des Ablaufs. So werden während der Beratung unterschiedliche Informationen zu den Geflüchteten und dem Verlauf der Beratung gesammelt und anschließend in das elektronische Dokumentationssystem Casian eingepflegt. Casian ist ein wesentlicher Teil des Controllings der MoBiBe, denn als öffentlich gefördertes Beratungsangebot muss sie systematisch dokumentiert und ausgewertet werden. Die Beratenden tragen personenbezogene Daten in anonymisierter Form sowie Beratungsthemen und erbrachte Beratungsleistungen in das System ein; externe Dienstleistende bereiten sie für die Senatsverwaltung auf. Casian liefert neben den Beratungszahlen Informationen über die erreichten Personen(gruppen) sowie den Verlauf der Beratungen, Themen, Bedarfe und Anliegen. Zusätzlich zur elektronischen Datenerfassung erhalten die Ratsuchenden häufig nach der Beratung kurze Feedbackbögen, die in mehreren Sprachen vorliegen, mit der Bitte, Angaben zur Zufriedenheit mit der Beratung zu machen. Im Rahmen des Feedbacks sollen anhand des IOSM-Modells4 zwei unterschiedliche Bereiche erfasst werden: Erstens wird die Zufriedenheit der beratenen
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IOSM steht für „informierter, orientierter, strukturierter, motivierter“. Das IOSM-Modell ist Bestandteil des Qualitätsrahmens für Beratung zu Bildung und Beruf in Berlin (QBM). Die vier IOSM-Kriterien dienen „[…] im Rahmen der Evaluation in Berlin für Erhebungen von Zufriedenheit beratener Personen und für Erhebungen von (Lern- und Beratungs-) Effekten nach der Beratung“ (k.o.s GmbH 2018).
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Personen mit der Beratung abgefragt. Zweitens sollen Beratungseffekte erfasst werden. Wie bereits im Abschnitt zum Berliner Modell der Beratung zu Bildung und Beruf erwähnt, sind die am MoBiBe-Netzwerk beteiligten Beratungseinrichtungen in einen gemeinsamen Qualitätsentwicklungsprozess eingebunden, den die externe Koordinierungsstelle k.o.s GmbH umsetzt und der die netzwerkübergreifende Erarbeitung von Qualitätsstandards sowie einen eigenen Zertifizierungsprozess für die beteiligten Beratungseinrichtungen umfasst. Im Rahmen des Qualitätsentwicklungsprozesses sollen insbesondere einheitliche Standards und Kriterien der qualitätsvollen Bildungsberatung geschaffen und garantiert werden (k.o.s GmbH 2018). Neben dem einheitlichen Qualitätsentwicklungsprozess und der damit einhergehenden Zertifizierung der beteiligten Beratungseinrichtungen spielen regelmäßige Schulungen für die Beratenden sowie regelmäßige Fachaustausche eine wichtige Rolle für die Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung im Rahmen des Street-level-Experimentes. An etwa sechs Terminen im Jahr organisiert das Koordinationsprojekt P:iB Fachaustausche, bei denen sich die Bildungsberatende über inhaltliche und organisatorische Themen austauschen können und kollegiale Fallberatungen (Galler 2010) stattfinden. Schließlich werden an sechs weiteren Terminen Schulungen durch externe Expert*innen angeboten, die die Beratenden in für die Beratung von geflüchteten Menschen relevanten Themenbereichen weiterbilden sollen. Dazu zählen beispielsweise Schulungen zu den rechtlichen Rahmenbedingungen des Arbeitsmarktzugangs von Geflüchteten, zur Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen und Abschlüssen, zum Umgang mit traumatisierten Geflüchteten in der Bildungsberatung oder zur Kompetenzerfassung bei geflüchteten Menschen.
5.2
Die Gärtnerei Berlin – Ein Projekt für und mit Geflüchteten
„Also du hast etwas geschaffen, du hast was in die Welt gesetzt, von dem du noch nicht so richtig weißt, welchen Weg das jetzt gehen wird. Und ähm- das ist eigentlich diesem utopischen Planen so ganz wesentlich, dass es eine Idee gibt, aber es gibt noch keine Reaktion darauf, ob diese Idee wirklich geht, also muss diese Idee oder das Setzen muss so flexibel sein, dass es auch sich verformen kann nach vorne.“ (Interview – Projektverantwortliche*r)
Die „flexible“ Idee zur Gärtnerei, die am Anfang „in die Welt gesetzt“ wurde, kann als längerfristige Fortführung einer abgeschlossenen Kooperation zwischen
5.2 Die Gärtnerei Berlin – Ein Projekt für und mit Geflüchteten
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den beiden Projektträgern, dem Internationalen Jugendkunst- und Kulturhaus Schlesische 27 e. V. und dem Architekturkollektiv raumlaborberlin, verstanden werden. So schreibt einer der Projektverantwortlichen im Projektbericht: „Katalysator für diesen Prozess war ein temporäres Projekt, der Junipark, den wir 2014 realisierten“ (Schlesische27; Raumlaborberlin 2017). Die Trägerorganisationen hatten im gleichen Stadtquartier 2014 ein einmonatiges Kurzprojekt durchgeführt, eine Installation auf einer Friedhofsbrache, die mittels unterschiedlicher Beteiligungsformate auf Wandlungsprozesse im Quartier hinweisen sollte. Der große Erfolg des Juniparks, vor allem, was die Einbindung der Nachbarschaft betrifft, veranlasste die Projektträgerinnen dazu, gemeinsam ein längerfristiges Vorhaben am gleichen Ort und mit ähnlichen Akteur*innen anzustoßen. „Und eigentlich, die Thematik Geflüchtete ist dann ein bisschen, also gleichzeitig, aber in den Gedanken ein bisschen nachträglich gekommen. […] wir haben gedacht: Eigentlich, das Potenzial ist nicht nur in den Menschen, die in der Nachbarschaft sind, sondern […] [auch in] Menschen, die sich in einer Wartesituation befinden und die nicht die Möglichkeit haben, sich zu beteiligen an irgendwas. Nicht nur finanziell, sondern auch einfach vom Status her. Und zu sagen: Wir machen aus dieser Wartesituation etwas Fruchtbares. Also statt warten etwas aufbauen und damit auch Fuß fassen. Und das hat dann mit der Nachbarschaft, mit diesem Projekt mit der Nachbarschaft auch supergut geklappt, weil darüber, über das gemeinsame Tun […] kommen die Leute in Kontakt, und vernetzen die Leute und lernen sich kennen. Und so bauen sich Brücken […].“ (Interview – Projektmitarbeiter*in 1)
Auf der Internetseite des Projektträgers raumlaborberlin wird das Gärtnereiprojekt prägnanter beschrieben: „Berlin erlebt große Veränderungen. Zusammen mit jungen Menschen, die auf verschiedenen Fluchtwegen Deutschland und Berlin erreicht haben, stellen wir Fragen nach neuen Formen des Zusammenlebens in der Stadt.“ (Raumlaborberlin 2018) Danach folgt die räumliche Verortung: Die Gärtnerei befindet sich im Berliner Bezirk Neukölln und ist dort in einem ehemaligen Steinmetzhaus auf dem Jerusalem-Friedhof V untergebracht. Die Projektteilnehmenden haben einen Garten auf einem brach liegenden Teil des Friedhofs angelegt, „der neben allerhand Bau- und Pflanzarbeiten zu einem kreativen Ort der Begegnung mit Berlinerinnen und Berlinern wachsen soll – ein Thinktank und Ort für soziale Transformationen, der Entspannung für das aufgeladene Thema ‚Flüchtlinge‘ ermöglicht“ (Raumlaborberlin 2018). Ein wesentlicher Aspekt des Ansatzes, den die Gärtnerei verfolgt, besteht in der Gestaltung von Arbeits- und Alltagsroutinen als Beteiligungspraktiken am Leben in der Nachbarschaft und der Stadt. Zusätzlich dient das Projekt
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SLEs für die Bildungs- und Arbeitsmarktintegration …
durch seinen künstlerisch-ästhetischen Ansatz als Plattform für die persönlichen Erfahrungen und Fähigkeiten der beteiligten Geflüchteten und als Ort für Austausch und ästhetische Interventionen in den Stadtraum: „Gemeinsam sollen neue Bilder, Visionen und Praktiken eines gemeinschaftlichen Zusammenlebens entstehen“ (Kulturstiftung des Bundes 2018). Schließlich handelt es sich bei dem Street-level-Experiment auch um eine Umwidmung und Neugestaltung eines Brachgeländes auf dem Jerusalem-Friedhof. „Die Gärtnerei ist künstlerische Installation und dient andererseits zur Berufsorientierung der Flüchtlinge“, erklärt Barbara Meyer, Geschäftsführerin und künstlerische Leiterin der Schlesischen27, in einem Artikel über das Projekt (Scholz 2015). Formal war die Gärtnerei zum Zeitpunkt der Datenerhebung für die vorliegende Studie ein Kooperationsprojekt des Vereins zur Förderung der interkulturellen Jugendarbeit e. V. – Internationales JugendKunst- und Kulturhaus Schlesische27 und des Architekturkollektivs raumlaborberlin. Partner des Projektes war zudem der Evangelische Friedhofsverband Berlin Stadtmitte, der die Räumlichkeiten und das Gelände der Gärtnerei zur Verfügung stellte. In einer Pilotphase im Frühjahr 2015 wurde das Projekt vom Paritätischen Wohlfahrtsverband Berlin durch eine Anschubfinanzierung unterstützt. Einzelne Teilprojekte, Workshops oder Veranstaltungen wurden in Zusammenarbeit mit weiteren politischen und sozialen Akteur*innen durchgeführt oder teilweise durch diese mitfinanziert.5 Zusätzlich bestanden Kooperationen mit kulturellen und sozialen Einrichtungen im angrenzenden Kiez sowie zu Schulen und Willkommensklassen in der Nachbarschaft. Ein regelmäßiger Austausch und eine enge Zusammenarbeit wurde mit anderen Projekten der Schlesischen27 gepflegt. Im Fokus standen dabei vor allem Projekte wie ARRIVO Übungswerkstätten, CUCULA und die Bildungsmanufaktur, die ebenfalls die Themen Migration, Flucht und Teilhabe an Bildung und Arbeit aufgreifen. Personell bestand die Gärtnerei im Datenerhebungszeitraum aus einer Projektleitung, die sich aus Mitarbeitenden beider kooperierenden Trägerorganisationen zusammensetzte, und Projektmitarbeitenden, die formal bei den Projektpartner*innen Schlesische27 und raumlaborberlin angestellt waren und für die Projektkoordination, die Leitung der Werkstätten, die pädagogische Begleitung sowie die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich zeichneten. Künstler*innen boten zahlreiche Workshops an. Zudem gab es neben dem Kernteam, das vor allem in den ersten Projektphasen regelmäßig vor Ort war, einen 5
Zu nennen sind hier z. B. das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit, die Städtebauförderung von Bund, Ländern und Gemeinden, das Stadtentwicklungsprogramm Soziale Stadt, das Quartiersmanagement Schillerpromenade, das Bezirksamt Neukölln von Berlin und die Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen.
5.2 Die Gärtnerei Berlin – Ein Projekt für und mit Geflüchteten
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wechselnden Kreis von Aktiven aus der Nachbarschaft und aus nahegelegenen Unterkünften für geflüchtete Menschen. Mit Beginn der neuen Förderphase wurde das Gelände der Gärtnerei Anfang 2017 in ein größeres Kooperationsprojekt der Schlesischen 27 e. V. mit dem Architekturkollektiv raumlaborberlin integriert. Im Zuge dieser Neuausrichtung des Projektes endete die engere Zusammenarbeit mit dem Kernteam aus zehn bis zwölf jungen Geflüchteten und die Gärtnerei entwickelte sich zu einer offenen Plattform und Spielstätte für unterschiedliche Gruppen wie Vereine, Willkommensklassen oder Kunstprojekte (Schlesische27; Raumlaborberlin 2017). Zum Abschluss dieser Einführung noch ein Blick auf die Kooperationspartner: Das Jugendkunst- und Kulturhaus Schlesische27 versteht sich selbst als „Kunstlabor für junge Leute, die die Welt verändern wollen“ (Schlesische27 2018). Seit über 30 Jahren betätigt sich die Kultur- und Bildungseinrichtung im Bereich der künstlerischen und ästhetischen Bildung von Kindern und Jugendlichen in Berlin. Die Schlesische27 wird vom Land Berlin basisfinanziert und zusätzlich von einem Förderverein finanziell unterstützt. Kulturschaffende aus unterschiedlichen Bereichen sollen gemeinsam „innovative Bildungskonzepte [entwickeln], die auf die schöpferischen Qualitäten und kreativen Veränderungspotenziale von jungen Menschen setzen“ (Schlesische27 2018). Die außerschulische Kultur- und Bildungseinrichtung arbeitet mit zahlreichen Partner*innen aus den Bereichen Bildung, Kunst und Kultur und anderen lokalen und internationalen Initiativen zusammen. Etwa 2 000 junge Menschen nehmen nach Angaben der Schlesische27 jährlich an Programmen der Einrichtung teil. Dabei reicht das Angebot von einzelnen Workshops und Aktionen bis hin zu langfristigeren Projekten (Schlesische27 2018). Der zweite Kooperationspartner raumlaborberlin ist ein loser Zusammenschluss von Architekt*innen, die als Kollektiv beziehungsweise Netzwerk seit 1999 regelmäßig gemeinsame Projekte an der Schnittstelle zwischen Architektur, Stadtplanung und künstlerischer Intervention realisieren. Seinen Sitz hat das Kollektiv im Berliner Bezirk Treptow, unweit der Schlesischen Straße und damit in der unmittelbaren Nachbarschaft der Schlesischen27. Den Kern ihrer Arbeit beschreiben die Architekt*innen in der Adressierung von Stadtraum und gebauter Stadt als „kulturelles Projekt und als Prozess“ (Raumlaborberlin 2018b). Der Fokus liege auf problematischen, schwierigen urbanen Räumen: „Schwierige städtische Orte ziehen uns förmlich an. Orte, die zwischen verschiedenen Systemen, Zeitabschnitten oder Planungsideologien aufgerieben wurden und sich nicht anpassen. Orte, die aufgegeben sind, die übrig bleiben, aber für die Stadtgestalt
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SLEs für die Bildungs- und Arbeitsmarktintegration …
eine nicht unerhebliche Relevanz haben. Diese Orte sind unsere Experimentierfelder. Sie bieten ungenutzte Potenziale, die wir zu aktivieren versuchen. Das öffnet neue Perspektiven für alternative Nutzungsmuster, eine gemeinsame Kultur, urbane Diversität und Differenz.“ (Raumlaborberlin 2018b)
In einem Porträt in der TAZ zum Anlass des 15. Jubiläums des Architekturkollektivs betont Markus Bader, eines der Gründungsmitglieder, die hybride Position des Kollektivs irgendwo zwischen Architektur, Stadtplanung und Kunst: „Wir werden immer als ‚die anderen‘ gesehen: Für die Theaterleute und Künstler sind wir Architekten. Für die Architekten und Stadtplaner sind wir Künstler. Dabei wollen wir das Trennende zwischen all diesen Feldern überwinden.“ (Apin 2015)
5.2.1
Der Gärtnerei-Ansatz
„Was am Anfang vom Projekt passiert ist, heißt, dass man als Planer kommt oder als Künstler oder die Initiatoren, diese Mischung aus Planer, Künstler und so, kommen zusammen und wollen eigentlich ein Bild schaffen, also das kann man auch als Ziel noch mal sagen. Ein Bild zu schaffen, in Zeiten, wo die Medien andere Bilder von Migration transportieren, und man braucht, man hat genug von diesen furchtbaren Fotos und von diesen dramatischen Fotos, die auch existieren, und es ist, man muss sich auch nicht blind machen. Aber ich glaube, man braucht auch Hoffnung, man braucht auch Beispiele, dass ähm Sachen funktionieren können, dass ein Zusammenleben möglich ist, ein Zusammentun möglich ist.“ (Interview – Projektmitarbeiter*in 1)
In dem Interviewauszug wird der ästhetische Ansatz des Projektes hervorgehoben, über den unter den Beteiligten Konsens herrscht. Im Zentrum des Ansatzes stehe die Arbeit an einem Bild, verstanden im weiteren Sinne als Abbildung einer (möglichen) Realität, die im Projektkontext erfahrbar gemacht werden soll. Dieses Bild soll eine potenzielle Zukunft zeigen, die es auf der Grundlage von Erfahrungen, die im Projekt gemacht werden, noch zu gestalten gilt. In dem Zitat wird das Bild zudem als Gegenpol zu gesellschaftlich dominanten Bildern von Flucht und Migration verstanden. Der Fokus liegt deutlich auf einem positiven und hoffnungsvollen Entwurf, der einem negativeren und problembehafteten entgegenwirken soll. Das positive Bild soll als Beispiel dienen, das zeigt, was möglich ist, dass „Sachen funktionieren können“, und soll dadurch andere inspirieren und ermutigen. Die Charakterisierung des Projektes als ästhetisches Konzept der Gestaltung von Bildern einer möglichen Zukunft und von Gegenbildern zu den verbreiteten Bildern in den Medien verweist auf einen künstlerisch-ästhetischen Bereich
5.2 Die Gärtnerei Berlin – Ein Projekt für und mit Geflüchteten
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und auf ein zugrunde liegendes Kunstverständnis, das einer (aktivistischen) Kunst im Sozialen (Beuys/Bonuomo 1987) und vor allem auch im Räumlichen sehr nahe ist. Im Projektbericht wird das künstlerisch-ästhetische Konzept wie folgt zusammengefasst: „Gesellschaftliche Transformationsprozesse verlangen nach Visualisierung. Künstlerinnen und Künstler haben unter Geflüchteten kreative Partner gefunden. Zahlreiche Freiland-Installationen und Public Performances kennzeichnen den Ort. Die Aktionen agieren im Sinne von Beuys’ ‚Sozialer Plastik‘. Soziale Interaktion bekommt einen Spiegel in die Hand und Prozesse werden sichtbar.“ (Schlesische27; Raumlaborberlin 2017)
Im Zitat wird ein erweiterter Kunstbegriff angesprochen, in dessen Rahmen Kunst als grundlegender Teil des menschlichen Tuns allgemein auf die Gestaltung von sozialen Beziehungen und gesellschaftlichen Strukturen ausgerichtet ist. Dieser erweiterte Kunstbegriff beinhaltet folgende Elemente: Erstens wird Kunst weniger als Produkt denn als Prozess verstanden, bei dem das performative Tun und die ästhetische Inszenierung von Handlungen, Bewegungen etc. im Vordergrund stehen. Zweitens ist die Rolle der Künstlerin oder des Künstlers und der Rezipientin oder des Rezipienten häufig nicht getrennt zu denken, vielmehr werden alle am Prozess beteiligten Akteur*innen als künstlerisch schaffende Subjekte begriffen. Drittens soll mit dem Prozess ein gesellschaftlich-gestalterisches Anliegen verfolgt werden, das sowohl konkrete Anliegen und Problemlagen an einem bestimmten Ort betreffen kann als auch große gesellschaftliche Aufgaben und Herausforderungen (Wolfram 2017). Als Kooperationsprojekt des Jugendkunst- und Kulturhauses Schlesische27 und des Architekturkollektivs raumlaborberlin ist die Gärtnerei damit Teil der Berliner Kunstwelt. In dem spezifischen Ansatz des Projektes zeigt sich zudem die Verortung in der Welt der kulturellen Bildung, Kulturpädagogik und Kulturvermittlung (Bockhorst et al. 2012; Fuchs 2016; Weiß 2017; Wolfram 2017), die im Falle der Gärtnerei in den Traditionen der Kunst im Sozialen beziehungsweise der Kunst als soziale Plastik (Beuys/Bonuomo 1987), der public art (Lacy 1995), der community art (Bruyne 2011) und weiterer performativer Ansätze ausbuchstabiert wird und zugleich Merkmale einer experimentellen und intervenierenden Architektur und Stadtplanung übernimmt. Im Zentrum stehen partizipative Prozesse der Ko-Kreation im urbanen Raum, die Laien dazu animieren sollen, eigene Inhalte zu entwickeln, ihre Ausdrucksfähigkeit und Selbstwirksamkeit zu erfahren und selbstständig zu lernen (Wolfram 2017). Künstlerische Tätigkeit wird in der Gärtnerei, ähnlich einer politischen Kampagne, als Aktivismus mit gesellschaftlichem Gestaltungsanspruch verstanden.
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SLEs für die Bildungs- und Arbeitsmarktintegration …
Kunst ist demnach sensibel für aktuelle politische Themen wie Migration oder Gentrifizierung und nimmt tendenziell eine kritische Haltung ein. Vor allem gilt das Hinterfragen von Traditionen, Verhaltensnormen, dominanten Vorstellungen über die Gesellschaft und das Soziale sowie von typischen Lebensentwürfen als wertvolle, legitime künstlerische Betätigung. Die kritische Auseinandersetzung mit den bestehenden Verhältnissen stellt die Verbindung zu einer zweiten Ebene künstlerischer Tätigkeit dar, die für die Arbeit im Gärtnereiprojekt von zentraler Bedeutung ist. Dabei handelt es sich um die künstlerische Intervention in den sozialen Raum, um den bestehenden (materiellen wie immateriellen) Verhältnissen alternative Verhältnisse entgegenstellen zu können. Die künstlerische Aufmerksamkeit richtet sich hier auf marginalisierte Räume und Akteur*innen, deren Position durch einen künstlerisch-emanzipatorischen Ansatz verbessert oder zumindest einer Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden soll, die sich potenziell in die Verbesserung der marginalisierten Positionen involvieren lässt. Kunst ist gesellschaftskritischer Diskurs, die Künstler*innen sind sozial Engagierte, wie Moser als typisch für die Berliner Kunstszene erkennt (Moser 2013). Die praktische Umsetzung bestehe in der Regel aus einem zeitlich begrenzten Projekt, in dessen Rahmen die Kunstschaffenden mit Wissenschaftler*innen, politischen Aktivist*innen oder Sozialarbeitenden kooperieren (Moser 2013). Dies gilt auch für das Gärtnereiprojekt, das neben den Kunstschaffenden die als marginalisiert verstandene Gruppe der Geflüchteten sowie weitere Engagierte – vor allem aus der direkten Nachbarschaft –, die Wissenschaft und Akteur*innen aus angrenzenden Bereichen einbezieht. Während ein solches Experiment aus der Außenperspektive als Teil einer erweiterten Kunstwelt beschrieben werden kann, die in die Berliner Szene eingebettet ist und neben einer ästhetischen Orientierung mindestens einer politischen, sozialen und pädagogischen Orientierung folgt, wird die Gärtnerei aus Innensicht häufig als Brücke oder Zwischeninstanz zwischen Kunst und Bildung beschrieben. Gemäß der Vorstellung von Projektbeteiligten sei sie von klarer zuzuordnenden Ausprägungen der Kunst oder der Pädagogik oder der sozialen Arbeit abzugrenzen: „Es ist ja trotzdem auch ein soziales Projekt, wir sind ja jetzt nicht nur, wir sind ja keine Kunstmanufaktur. Also wir sind ja trotzdem zwischen, ja Zwischenstelle, also zwischen sozialer Arbeit und kultureller, künstlerischer.“ (Interview – Projektmitarbeiter*in 2)
Schließlich ist Kritik und Gestaltung mit dem Ideal der kulturellen Bildung verbunden, die im Sinne einer nachhaltigen Verwirklichung künstlerischer Kritik und Intervention gedacht wird, indem sie vor allem junge Menschen, aber auch die
5.2 Die Gärtnerei Berlin – Ein Projekt für und mit Geflüchteten
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Mitglieder marginalisierter Gruppen dazu befähigt, einen künstlerischen Zugang zu sich und ihrer Umwelt zu finden, sodass Handlungspotenziale entstehen: „[…] es war weniger wichtig, dass jetzt sofort die Möhren wachsen oder irgendwas [lacht], sondern dass Veränderung sichtbar ist auf dem Feld. Und durch ihre eigene Aktion, durch ihr Handeln hat sich da, wurde dieser Steg gebaut, es wurde ne‘ Grasnarbe abgehoben aus diesem jahre- jahrzehntelangen Ruhestand ist plötzlich was erwacht […]. [Die Geflüchteten] sind ja fast in allen Projekten eigentlich so mit handwerklichen Arbeiten auch beschäftigt und nicht, weil das ist jetzt alles ganz natürlich und toll und erdverbunden und so ausschaut, sondern weil in diesen Fähigkeiten ganz viel Potenzial liegt für die Leute auch, zu merken: Ich habe was geschaffen oder ich habe was zustande gekriegt.“ (Interview – Projektverantwortliche*r)
Die Freisetzung von individuellen Potenzialen, die damit einhergehende Stärkung des Selbstwertgefühls und die erlebbare Selbstwirksamkeit bei den Beteiligten werden aus Sicht der kulturellen Bildung nicht nur als Förderung von Individuen oder gar als Selbstzweck angesehen, sondern in einen gesellschaftlichen Kontext gerückt. Die Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) beschreibt kulturelle Bildung als Ressource für die Gesellschaften und Arbeitsmärkte des 21. Jahrhundert, die den Bedarf an kreativen, flexiblen, anpassungsfähigen und innovativen Arbeitskräften zu decken hilft: „Die Gesellschaften des 21. Jahrhunderts verlangen zunehmend Arbeitskräfte, die kreativ, flexibel, anpassungsfähig und innovativ sind, und Bildungssysteme müssen sich auf Grund dieser wechselnden Bedingungen weiterentwickeln. Kulturelle Bildung stattet die Lernenden mit diesen Fähigkeiten aus, die es ihnen erlauben, sich auszudrücken, ihre Umgebung kritisch wahrzunehmen und aktiv an verschiedenen Aspekten des menschlichen Lebens teilzunehmen. Kulturelle Bildung ermöglicht es auch einem Staat die Humanressourcen hervorzubringen, die zum Erschließen seines wertvollen kulturellen Kapitals notwendig sind.“ (UNESCO 2006: 5 [zitiert in:Weiß 2017: 15])
Der ressourcenorientierte und auf Humankapital abzielende Ansatz in der kulturellen Bildung, der im Zitat der UNESCO einerseits auf die Stärkung kreativer, flexibler, anpassungsfähiger und innovativer Individuen ausgerichtet ist und andererseits eine kritische Haltung fördern soll, wird im Rahmenkonzept für Kulturelle Bildung der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie (SenBJF) noch stärker mit der Anerkennung einer diversen Gesellschaft in Verbindung gebracht und mündet in der Entdeckung der eigenen Potenziale:
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SLEs für die Bildungs- und Arbeitsmarktintegration …
„[…] mit der Kreativität des Einzelnen fördert [die kulturelle Bildung] eine der wichtigsten Ressourcen für die Lösung heutiger und künftiger gesellschaftlicher Aufgaben; sie kann Zugehörigkeit schaffen und erkennt gesellschaftliche Diversität als Wert; sie hilft dem Einzelnen, die eigenen Potenziale zu entdecken, Selbstbewusstsein zu entwickeln und selbstbestimmt zu leben.“ (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie 2016)
Im Projektantrag für das Gärtnereiprojekt spiegelt sich dieser ressourcen- oder potenzialorientierte Ansatz der kulturellen Bildung wider: „In neuen Verbindungen zu gesellschaftlichen Prozessen, kultureller Bildung, Unternehmertum und seinen kreativen Vorstadien können unerwartete Zugänge zum verschütteten Erlebnis der Selbstwirksamkeit geöffnet werden – ein wichtiger Motor für Initiativen und Partizipation. Die Gärtnerei eröffnet für junge Flüchtlinge, aber auch für Jugendliche und junge Erwachsene, die aus anderen Gründen ihre Potenziale nicht entfalten können, einen Experimentierraum mit ‚Aussicht‘.“ (Schlesische27 2015)
Der ressourcen- und potenzialorientierte Ansatz ist hier als inklusiver Ansatz formuliert. Wie der „Experimentierraum mit ‚Aussicht‘“ in der Gärtnerei konkret aussieht, thematisiert der nächste Abschnitt.
5.2.2
Experimentieren im Rahmen der Gärtnerei
Die experimentellen Prozesse in der Gärtnerei bewegen sich grundsätzlich zwischen „utopischem Planen“ (Interview – Projektverantwortliche*r) und Improvisieren. Ein grober Rahmen für die organisatorische Form des Projektes ist zwar im Projektantrag für die Kulturstiftung des Bundes erkennbar, allerdings betonen die Beteiligten mehrfach, dass ein ganz wesentlicher Aspekt des Projektes der offene und experimentelle Ansatz selbst ist. So wird im Projektantrag beispielsweise folgende Herangehensweise formuliert: „Die Gärtnerei will sich auf den Pfaden künstlerischer und stadträumlicher Experimente in diese These vertiefen und gemeinsam mit jungen Geflüchteten und Jugendlichen aus der Nachbarschaft im Schillerkiez einen interdisziplinären Probiergarten einrichten.“ (Schlesische27 2015)
Im Verlauf soll immer wieder aufs Neue ausgehandelt werden, wohin sich das Projekt entwickeln kann, welche Formate getestet und beibehalten werden, welche Themen aufgegriffen und welche Akteur*innen in den Prozess eingebunden
5.2 Die Gärtnerei Berlin – Ein Projekt für und mit Geflüchteten
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werden sollen. Im Projektkonzept wird von „Pfaden künstlerischer und stadträumlicher Experimente“ gesprochen; im Rahmen einer Pilotphase, des „Vorprojekts Pioniergarten“, sollen „in Erkundungsgängen mit allen Beteiligten verschiedene Zonen identifiziert“ werden und die Beteiligten immer wieder neue Formate „ausprobieren“ (Schlesische27 2015). Nicht nur im zugrunde liegenden Projektkonzept, sondern auch im weiteren Projektverlauf kann eine explizit offene und auf Exploration, Improvisation und Lernen ausgerichtete Haltung beobachtet werden, die beispielsweise in folgendem Interviewauszug zum Ausdruck kommt: „Und ich glaube, das ist auch ein Merkmal für die Arbeitsweise in der Gärtnerei […] es ist klar, es gibt diese Ziele, diese Richtung, diese Vision, von der ich vorher gesprochen habe, aber es gibt vor allem eine Aufmerksamkeit auf [das], was gerade passiert, und dann, um darauf reagieren zu können, und dann hat man Ideen, und dann wartet man nicht, bis die Idee fertig ist, oder, oder ganz, ganz durchgedacht ist, mit dieser Pilotphase am Anfang, so mit dem Kiosk. Lass’ uns einfach gucken und ausprobieren, und wir haben sowieso jetzt eine Person, also Leute, die Bock haben, das mit uns zu entwerfen und zu bauen […]. Und dann schauen wir: Wenn das […] gut ankommt, dann können wir das vielleicht auch weiterdenken. Aber erst mal ausprobieren und loslegen, eigentlich vor allem loslegen. Aber das ist sehr prozesshaft immer entwickelt worden. Und nicht nur der Kiosk, eigentlich alles.“ (Interview – Projektmitarbeiter*in 1)
Besonders aufschlussreich ist, dass die Projektbeteiligten weniger eine bestimmte Projektidee, ein neues Format oder bestimmte Produkte als besonders hilfreich für die Bearbeitung der wahrgenommenen Probleme beschreiben. Vielmehr werden, wenn es um den innovativen Charakter des SLEs geht, die offene und experimentierfreudige Haltung an sich betont, die Anpassungsfähigkeit und Lernbereitschaft, die vor allem in Kombination mit dem Aufeinandertreffen von zahlreichen unterschiedlichen Akteur*innen zu neuen Ideen und Lösungen führen sollen. „Im Grunde genommen geht es um die Frage, wie wir zusammen leben wollen. Dieser Frage gehen wir auch bei diesem Projekt nach. Es entfaltet sich schrittweise und ist als Ort des Lernens sowie als lernender Ort angelegt.“ (Schlesische27; Raumlaborberlin 2017)
Um als Projekt von den experimentellen Prozessen lernen zu können, finden regelmäßig sogenannte Visionstreffen statt, bei denen sich die Verantwortlichen der beiden Trägerorganisationen gemeinsam mit den Projektmitarbeiter*innen vor
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SLEs für die Bildungs- und Arbeitsmarktintegration …
Ort über die Weiterentwicklung der Gärtnerei austauschen. Ein*e Projektmitarbeiter*in beschreibt den Arbeitsmodus dieser Visionstreffen als Austauschprozess, der zwischen Vision und Umsetzung vermittelt und im Laufe des Experimentes selbst weiterentwickelt wurde: „[…] ich glaub, da haben wir eine positive Entwicklung gemacht, dass wir jetzt, innerhalb dieses Prozesses von anderthalb Jahren es geschafft haben, ich sag mal wir, dass der Austausch zwischen Vision und Umsetzung wirklich schon in dem Treffen auch sich manifestiert […] aber man musste natürlich auch erst mal Erfahrungen machen, okay die und die Ansätze, da haben wir uns verrannt, oder das funktioniert nicht wirklich, da sollten wir anders rangehen und da ist ja auch immer diese Rücksprache wichtig, von der Umsetzung […]. Und ich glaube, diesen Lernprozess haben wir im Projekt ganz gut geschafft.“ (Interview – Projektmitarbeiter*in 2)
Im Interviewauszug wird deutlich, dass der Austausch zwischen Vision und Umsetzung nicht von Anfang an im Rahmen der Visionstreffen gelingen konnte, sondern dass diesem Austausch schon eine experimentelle Phase des trial and error im Projektalltag vorausgehen musste. Taucht man als Beobachter*in in den Alltag des Street-level-Experimentes ein, so entsteht tatsächlich zunächst der Eindruck, dass an allen Ecken und Enden improvisiert und ausprobiert wird. Gleichzeitig finden vor Ort fortwährend Abstimmungs- und Koordinationsprozesse statt, die teilweise – beispielsweise im Rahmen der Arbeit im Garten oder in der Holzwerkstatt – parallel zur eigentlichen Arbeit laufen, aber auch in Form von zahlreichen Teammeetings, Abstimmungsrunden mit Kooperationspartner*innen oder kleineren Planungsrunden abgelöst vom Projektalltag aufgegriffen werden. Die Möglichkeit, im Alltag des SLEs Dinge auszuprobieren, wird von den Projektmitarbeiter*innen als wichtiger Freiraum beschrieben, der es erst möglich macht, in der ständigen Auseinandersetzung mit Visionen und Alltag voranzukommen. Im Projektkonzept wird ein weiterer Schwerpunkt auf die Einbeziehung und Partizipation der Nachbarschaft, aber auch von überregionalen Akteur*innen und Gruppen gelegt. „Gestaltung kreativer Begegnungen mit der Nachbarschaft im Schillerkiez • kontinuierliche Zusammenarbeit, Ferienaktionen und Workshops mit Jugendlichen aus umliegenden Jugendzentren und Schulen • Kooperationen mit OSZ und Hochschulen, Projekttage mit Azubis und StudentInnen • refugee-teacher-Workshops • Mitarbeit internationaler Künstlerinnen und Künstler sowie Partner aus Berliner Kunst- und Kultureinrichtungen • Beratungsboard mit NGOs und Flüchtlingshilfen.“ (Schlesische27 2015)
5.2 Die Gärtnerei Berlin – Ein Projekt für und mit Geflüchteten
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Dadurch soll gewährleistet werden, dass die Nachbarschaft und andere kulturelle und politische Akteur*innen der Stadt an den experimentellen Prozessen beteiligt werden und diese mitbestimmen können. „[…] wir wollen es schaffen, innerhalb der nächsten Jahre die Nachbarschaft mit auf dem Feld zu haben mit Entscheidungen, wie’s hier weitergeht, wir wollen Bewusstsein für diesen Leerraum, für diesen modularen Leerraum entwickeln und ‘ne Lust drauf, dass das Veränderungen durchgeht.“ (Interview – Projektverantwortliche*r)
Ein großer Teil der organisatorischen Arbeit befasst sich daher mit der Organisation neuer Kooperationen, mit Öffentlichkeitsarbeit und mit der Pflege von bestehenden Kooperationsbeziehungen. Für den Austausch mit der Nachbarschaft übernahm ein*e Projektmitarbeiter*in die Aufgabe der Nachbarschaftskoordination. Ein*e Projektmitarbeiter*in ist schwerpunktmäßig mit der Koordination von Besuchen, der Betreuung von Gästen vor Ort und sonstiger Öffentlichkeitsarbeit beauftragt. Wichtige Bestandteile der Projektorganisation sind die Internetseite und die Facebookseite der Gärtnerei, auf welchen regelmäßig über Veranstaltungen und Aktivitäten im Gärtnereiprojekt informiert wird und die gleichzeitig als öffentliches Archiv und als Plattform zur Sichtbarmachung des Projektes dienen. Mit der Beteiligung externer Akteur*innen im Projekt, aber auch unterschiedlicher Kooperationspartner*innen im Projekt selbst geht die Anforderung der Koordination der Gruppen im Projekt einher. Zu diesem Zweck wurden mehrere Projektmitarbeitende mit unterschiedlichen Koordinationsaufgaben betraut. Die Notwendigkeit der Koordination sei offensichtlich, denn: „[…] einfach die Tatsache, dass es zwei Partner, also Projektpartner gibt, braucht schon eine Koordination zwischen den jeweiligen Institutionen. Dann zwischen den Leuten, die im Büro sitzen, die Leute, die hier im Haus sind, zwischen denen, die hier im Haus sind, und denen, die im Garten sind, und die Teilnehmer und die Impulsgruppe, oder wie würde ich uns nennen? […] eigentlich haben sich die Aufgaben multipliziert. Weil, dann gab es plötzlich auch Deutschunterricht zu koordinieren, und auch, wir haben gemerkt, das Gelände ist riesengroß, wir brauchen auch Unterstützer […].“ (Interview – Projektmitarbeiter*in 1)
Im Interviewauszug wird Koordination als notwendiges Mittel für die Zusammenarbeit vieler unterschiedlicher Akteur*innen verstanden. Dazu gehört in erster Linie der Austausch von Informationen zwischen den einzelnen Gruppen im Sinne einer grundlegenden Kommunikation, die einen mehr oder weniger
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SLEs für die Bildungs- und Arbeitsmarktintegration …
reibungslos funktionierenden Projektalltag ermöglicht. Wegen der Heterogenität der beteiligten Gruppen geht Koordination aber über den Austausch von Informationen hinaus: „Aber das Ding ist: Es gab auch viele Koordinationstermine mit der Kirche und mit uns hier, zwischen Werkstattteam und Deutschlehrer, es war meine erste Herausforderung, alle einig zu machen, weiß nicht, ob ich das geschafft habe.“ (Interview – Projektmitarbeiter*in 1)
Die Formulierung „alle einig machen“ weist auf die notwendigen Anpassungsprozesse in einem Projekt hin, bei dem viele unterschiedliche Akteur*innen eine konsensorientierte Zusammenarbeit anstreben. Zwar wird in einzelnen Situationen durchaus abgestimmt und dann die Mehrheitsentscheidung durchgesetzt, in der Regel wird aber im Zuge von Gesprächen und teilweise langwierigen Aushandlungsprozessen eine gemeinsame Entscheidung angestrebt. Diese Form der Entscheidungsfindung kann anhand eines Auszugs eines Beobachtungsprotokolls verdeutlicht werden, das bei einem Teammeeting in der Gärtnerei angefertigt wurde: Beobachtungsprotokoll – Gärtnerei vom 23.06.2016 Heute habe ich die Möglichkeit, an einem Teammeeting der Projektmitarbeiter*innen (Jour Fixe) teilzunehmen. Der Jour Fixe beginnt um 16 Uhr. Es wird kein offizielles Protokoll geführt, es gibt keine Abstimmungen und keine Redeliste o. Ä., auch kein explizites Verfahren. Die Gesprächsführung übernimmt in weiten Teilen M.. N. und P. sind an allen Diskussionen und Entscheidungen mit M. beteiligt. Diese werden nach kurzer Diskussion im Konsens gefällt. T. und M. schalten sich nur sehr selten ein und dann meist nach Aufforderung oder Nachfrage durch die anderen.
Es gibt kaum formale Regeln für die Meinungsbildung, die Entscheidungsfindung und die Ergebnisdokumentation im Teammeeting, allerdings sind die Rollen der Gesprächsführung und die Verteilung der Redeanteile relativ ungleich verteilt. Zur Konsensbildung tragen also teilweise die im Projekt bestehenden Machtverhältnisse bei.
5.2 Die Gärtnerei Berlin – Ein Projekt für und mit Geflüchteten
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Die Arbeit im Gärtnereiprojekt wird auf vielfältige Weise dokumentiert. Eine wichtige Dokumentationsform ist die persönliche Präsentation des Projektes durch die Beteiligten vor Ort in Form von Gartenführungen, Vorträgen und Präsentationen, die im Rahmen von kleinen Festen oder regelmäßigen Veranstaltungen wie dem Café Nana stattfinden. Zudem werden im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit regelmäßig Interviews mit Projektbeteiligten in lokalen und überregionalen Medien veröffentlicht, die häufig – je nach Medium – um Bilder oder Videos vom Projekt ergänzt werden. Auf der Internet- und der Facebookseite des Projektes finden sich Blogeinträge und kürzere Posts von allen möglichen Veranstaltungen und Workshops, die in der Gärtnerei stattfinden. Auch hier spielen visuelle Repräsentationen in Form von Bildern eine herausgehobene Rolle. Bilder werden der schriftlichen Dokumentationsform in der Regel vorgezogen: „Wir machen superwenig schriftlich, es gibt Protokolle von den Gesamtsitzungen, also weil das einfach dann auch Informationen sind, die alle haben müssen. Es gibt superwenig Flyer, superwenig schriftliches Material, es gibt ganz viele Runden eigentlich wirklich. Also wir zeigen uns auch, alle acht bis zehn Wochen gibt’s einfach zusammen essen, kochen und dann gibt’s so ‘ne PowerPoint, wo jedes Projekt mit drei Bildern reinkommt und einfach Stand der Dinge, wo steht man, was sind wichtige Entwicklungen, auch intern gibt es eigentlich immer Bilder aus den Projekten. […] und das nutzen wir und deshalb sind wir ganz schlecht und immer kritisiert, weil wir viel zu wenig Dokumentation machen, schreiben. Aber es macht nichts. Es macht nichts, es ist nur – man füttert nur die Schubladen mit diesem Zeug und die Bäume sterben, aber also viel Effekt hat das nicht.“ (Interview – Projektverantwortliche*r)
Sowohl der künstlerische Ansatz der Gärtnerei als auch der Bezug zur kulturellen Bildung prägen das experimentelle Vorgehen. Es ist von der Offenheit und Spontanität der Projektentwicklung die Rede, die für ein künstlerisches Projekt entscheidend seien. Zugleich werden alle Teilnehmer*innen an unterschiedlichen Stellen in die experimentellen Prozesse einbezogen, indem man sie zum Beispiel auffordert, sich an der Organisation und Weiterentwicklung des SLEs zu beteiligen. Dies geschieht einerseits aus dem Selbstverständnis eines partizipativen Experimentes mit dem Anspruch der Beteiligung heraus, andererseits aber auch mit dem Ziel, diese Organisations- und Planungsprozesse pädagogisch zu vermitteln und individuelle Lernprozesse in diesen Bereichen zu fördern.
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Zur Situiertheit von SLEs
Wie in Kapitel 5 gezeigt wurde, entstehen die Street-level-Experimente nicht in einem luftleeren Raum, sondern sind eingebunden in ein komplexes Ensemble aus Akteur*innen, Aktivitäten, Räumen, Technologien und Konzepten – ein relationales Gefüge aus materiellen und immateriellen Elementen einer Situation (Clarke/Fujimura 1992; Clarke 2012). Die Experimente auf dem Street-level stehen in der Tradition vergangener Projekt- und Kooperationserfahrungen, sie orientieren sich an spezifischen organisationalen Mustern, die durch die je eigene Geschichte der beteiligten Akteursgruppen geprägt und hervorgebracht wurden. Sie sind auf finanzielle Mittel angewiesen, auf Ideen, die mögliche Sponsor*innen überzeugen können, und auf Akteur*innen, die bereit sind, diese Ideen umzusetzen und weiterzuentwickeln. Im Rahmen der Experimente werden auf dem Street-level vorhandene Gegebenheiten aufgegriffen und Gelegenheiten, die sich spontan ergeben, genutzt. Schließlich unterliegen die Experimente auf dem Streetlevel gesetzlichen oder anderen regulatorischen Vorgaben, die bei der Arbeit berücksichtig werden müssen. Im folgenden Kapitel wird diese Situiertheit der Street-level-Experimente in den Fokus gerückt.
6.1
Anknüpfung an Positionen, Ansätze und Deutungsmuster in der Arena
In den folgenden Abschnitten wird zunächst gezeigt, wie die SLEs vor allem im Vorfeld (und zu Beginn) des experimentellen Prozesses mit diversen Anknüpfungsarbeiten beschäftigt sind, um die für die Experimente notwendigen Ressourcen zu akquirieren. Zudem wird gezeigt, welche Strategien gewählt werden,
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 F. Maas, Politik zwischen Innovation und Machbarkeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-38335-0_6
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Zur Situiertheit von SLEs
um in einer von Ungewissheit und Wandel geprägten Arena Vertrauen zu gewinnen, und es wird hinterfragt, welche Folgen für die Situiertheit der SLEs damit einhergehen. Als die Projektverantwortlichen der Gärtnerei von Schlesischer27 und raumlaborberlin Anfang 2015 damit begannen, Ideen für ein Projekt auf ungenutzten Teilen eines Friedhofs in Berlin Neukölln zu entwickeln, war das Thema Flucht noch lange nicht so allgegenwärtig, wie es in den darauffolgenden Monaten der Fall sein sollte. In Berlin wurde der Diskurs über Flucht und Migration in den beiden Jahren zuvor allerdings schon durch verschiedene Protestaktionen auf dem Oranienplatz und in der Gerhard-Hauptmann-Schule in Berlin Kreuzberg geprägt (Schröder 2014; Plöger 2014).1 Das Thema wurde schnell von unterschiedlichen lokalpolitischen Akteur*innen aufgegriffen, da es einen sichtbaren und streitbaren Platz im öffentlichen Raum Berlins einnahm. Auch infolge von parteipolitischen Auseinandersetzungen avancierte es zu einem wichtigen Thema der Berliner Landespolitik und sorgte zeitweise sogar deutschlandweit für Schlagzeilen (Küpper 2012; Plöger 2014). Zahlreiche aktivistische und künstlerische Akteur*innen ließen sich von der Dynamik und Sichtbarkeit der Protestaktionen anziehen und prägten diese in den Jahren 2012 bis 2015 maßgeblich mit. Das Jugendkunst- und Kulturhaus Schlesische27 beteiligte sich als Akteurin des kulturellen und urbanen Raums in Berlin ebenfalls an den anhaltenden Debatten rund um Oranienplatz und GerhardHauptmann-Schule. So war es neben den parteipolitischen Auseinandersetzungen auf Bezirks- und Landesebene schließlich ein Projekt der Schlesischen27, das weit über die Grenzen Berlins hinaus auf sich und die Thematik aufmerksam machte, indem es mit fünf Teilnehmer*innen des Protests einen Modellbetrieb im 1
Die Auswahl der Zielgruppe in der Anfangsphase der SLEs steht dabei interessanterweise sowohl bei der MoBiBe als auch bei der Gärtnerei in enger Verbindung mit den Protesten am Oranienplatz in Berlin Kreuzberg, die noch vor 2015 den Diskurs über Zuwanderung und Integration von geflüchteten Menschen in Berlin geprägt hatten. Auf dem Oranienplatz befand sich in den Jahren zwischen 2012 und 2014 ein Protestcamp von Geflüchteten und Unterstützer*innen, die Veränderungen im Asylrecht und Aufenthaltsgenehmigungen für die beteiligten Geflüchteten forderten. Kurz nach der Eröffnung des Protestcamps auf dem Oranienplatz wurden im selben Jahr zudem Räume in der ehemaligen Gerhard-HauptmannSchule besetzt. Beiden Protestaktionen war ein großer Protestmarsch von Geflüchteten und Unterstützer*innen vorausgegangen, der seinen Ausgangspunkt 2012 in Würzburg genommen hatte und schließlich bis nach Berlin gelangte, um dort in die Besetzungsaktionen zu münden. Thematisch standen dabei Proteste gegen die Unterbringung von Geflüchteten in Sammelunterkünften, die Residenzpflicht und das Arbeitsverbot für Asylsuchende und Geduldete im Vordergrund sowie allgemeiner gegen eine illegalisierende Flüchtlingspolitik und eine zunehmende Abschottung Europas mit tödlichen Folgen vor allem auf dem Mittelmeer (Plöger 2014; Schröder 2014).
6.1 Anknüpfung an Positionen, Ansätze und Deutungsmuster in der Arena
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Bereich Design und Möbelbau bildete. Das unter dem Namen CUCULA bekannt gewordene Projekt begann mit der Produktion eines unlizenzierten Designobjektes – eines Stuhls von Enzo Mari – und verbaute darin Teile von Schiffswracks, die von der Insel Lampedusa stammten und von der lebensgefährlichen Überfahrt über das Mittelmeer zeugen sollten. Das Projekt bestand im Wesentlichen aus einer Holzwerkstatt und einem Bildungsprogramm mit Deutschunterricht und sollte die Geflüchteten auf eine Ausbildung in Deutschland vorbereiten. Auf der projekteigenen Internetseite wird der Ansatz wie folgt beschrieben: „CUCULA kann als experimenteller Gestaltungsraum verstanden werden, der Prozesse im Kleinen ausprobiert und iterativ anpassen kann. Die gemeinsame Produktion eröffnet Geflüchteten die konkrete Perspektive, ihre Zukunft vorzubereiten und ihre Ausbildung selber zu finanzieren. Das Projekt unterstützt die Teilnehmer finanziell, sozial, rechtlich und in ihrer Weiterbildung. CUCULA setzt dabei auf die Motivation und das Potenzial jedes Einzelnen und organisiert das Fundament für einen realen betrieblichen Rahmen.“ (CUCULA e.V. 2019)
Das Projekt bezog sich nicht nur auf die Problembeschreibungen der Protestaktionen in Berlin, sondern bediente sich insbesondere den strukturierenden Merkmalen und Deutungsmustern des Potenzialansatzes im deutschen Zuwanderungsund Integrationsdiskurs des vergangenen Jahrzehnts, indem es den Fokus auf die Stärken und Talente der Geflüchteten lenkte. Die Initiierung des neuen Street-level Experiments Gärtnerei ging also von einem der kooperierenden Projektträger*innen des CUCULA-Projektes aus, konnte an zentrale Ansätze dieses Projektes anknüpfen und daraus sogar ganz konkret Teilnehmer*innen rekrutieren. Zugleich galt es aber im Vorfeld erneut, geeignete Finanzierungsmöglichkeiten für das neue Vorhaben zu finden, und die Ansätze mussten auf das Thema Gartenarbeit, die besondere Örtlichkeit der Friedhofsbrache, die Anforderungen der zuständigen Friedhofsverwaltung und die umliegende Nachbarschaft hin angepasst werden. Während sich die Träger des Gärtnereiprojektes aktiv um geeignete Finanzierungsmöglichkeiten bemühen mussten, beauftragte die zuständige Senatsverwaltung die Beratungsträger der mobilen Bildungsberatung im Jahr 2015 mit der Erprobung eines neuen Ansatzes für die Zielgruppe der geflüchteten Menschen. Sie waren damit von Beginn an in die Zuwendungsstruktur des Landes Berlin eingebunden. Zudem war die Berliner Flüchtlingspolitik – und damit auch die zuwendungsfinanzierte mobile Bildungsberatung – nach 2015 Teil eines berlinweiten Masterplans. Der Masterplan Integration und Sicherheit gab auf der einen Seite gewisse Handlungsfelder vor und formulierte für diese Felder jeweils übergreifende Ziele, auf der anderen Seite räumte er zusätzlich zu den regulären
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Zur Situiertheit von SLEs
Haushaltsmitteln Gelder für die Umsetzung ein (Die Beauftragte für Integration und Migration Berlin 2019). Aber auch im Fall der mobilen Bildungsberatung musste aus den vage formulierten Zielen konkretere Ideen und Ansätze entwickelt und durch Projektkonzepte der Beratungsträger Zuwendungen beantragt werden. Gleichzeitig waren Mitarbeitende aus den Beratungsstellen und dem koordinierenden Projekt gemeinsam mit der zuständigen Senatsverwaltung an der Erarbeitung eines netzwerkübergreifenden Fachkonzeptes beteiligt. Außer mit der Anknüpfung an die jeweiligen Förderstrukturen, welche die notwendigen finanziellen Ressourcen sichern sollten, befassten sich die Projektverantwortlichen beider SLEs von Anfang an damit, um die Unterstützung einer großen Anzahl weiterer Akteur*innen zu werben. Bei der Gärtnerei musste beispielsweise die Friedhofsverwaltung davon überzeugt werden, einen brach liegenden Teil des Friedhofs zur Verfügung zu stellen, zudem mussten Vereine und Schulen aus der näheren Umgebung von der Attraktivität einer Kooperation mit dem neuen Projekt überzeugt werden und schließlich musste genügend Neugier in der direkten Nachbarschaft geweckt werden, damit im Garten die für den Ansatz elementare Öffentlichkeit entstehen konnte. In ähnlicher Weise war auch die MoBiBe auf Interesse und Anschlussfähigkeit an mögliche Kooperationspartner*innen angewiesen, etwa um geeignete Orte für die mobile Beratung zu finden. Angesichts der vielen unterschiedlichen Akteur*innen auf dem Feld der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration von geflüchteten Menschen in Berlin galt es zudem sicherzustellen, dass das eigene als relevantes Angebot wahrgenommen wurde. Die Analyse der schriftlichen Dokumente und Interviews zeigt, dass in beiden SLEs vor allem zu Projektbeginn an verbreitete Positionen und Diskurse im Bereich der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen in Berlin angeknüpft wurde. Insbesondere in den Projektanträgen – im Fall der MoBiBe im zugrunde liegenden Fachkonzept – und in der Kommunikation nach außen bedienen sich die Street-level-Experimente den verbreiteten Erzählweisen und Deutungsmustern eines potenzial- und ressourcenorientierten Ansatzes im Flüchtlings- und Integrationsdiskurs der vergangenen Jahre. In den beiden SLEs werden allerdings unterschiedliche Aspekte aufgegriffen, die jeweils anschlussfähig an die jeweilige Herangehensweise der beteiligten Akteursgruppen sind. So wird im Fall der Gärtnerei eher die Inszenierung und Sichtbarmachung der vorhandenen Potenziale durch künstlerische und kreative Betätigung in den Vordergrund gerückt, während im Fall der MoBiBe auf die möglichst frühzeitige Anerkennung und Entfaltung vorhandener Fähigkeiten und Kenntnisse abgezielt wird. Wirft man einen Blick in den Projektantrag der Gärtnerei, der noch vor Projektbeginn eine erste Orientierung in Sachen Grundsätze und Zielstellung bietet,
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so zeigt sich hier zunächst eine Offenheit und Multiperspektivität, die auch an anderen Stellen immer wieder im Zusammenhang mit der Charakterisierung des Projektes betont wird. Die Annäherung an das Thema Flucht soll laut Antrag die Frage aufwerfen, was Menschen benötigen, die sich in der ungewissen Situation des noch nicht vollständig Angekommen-Seins befinden, deren Alltag durch die widersprüchlichen Anforderungen der Ungebundenheit und „Entwurzelung“ (Schlesische27 2015) auf der einen Seite und durch starke Abhängigkeit von Versorgung und gesetzlichen Rahmenbedingungen auf der anderen Seite geprägt ist. Zugleich soll das Thema Flucht aus der Perspektive der Stadt beleuchtet und gefragt werden, wie Orte und die dort etablierten Strukturen und Akteur*innen mit den ankommenden Geflüchteten umgehen (können). Die grundlegende Haltung gegenüber Migration und Flucht wird mit Bezug auf den Medienphilosophen Vilém Flusser im Projektantrag als affirmativ und produktiv formuliert. So seien nach Flusser „Flüchtlinge nicht nur gesellschaftliche Outsider, sondern auch Vorboten einer neuen Zukunft, Migration sei eine schöpferische Tätigkeit“ (Schlesische27 2015). Damit wird im Projektantrag an den in Berlin fest verankerten potenzialorientierten Ansatz im Bereich der Migrations- und Integrationspolitik angeknüpft und im Rahmen der Problembeschreibung im Wesentlichen danach gefragt, was einer freien Entfaltung der „schöpferischen Tätigkeit“ entgegenwirkt. Aber mit welchem Ansatz wird dieser grundlegenden Problembeschreibung begegnet? Im Gespräch mit einem*r Projektmitarbeiter*in, das im Jahr 2016 kurz vor dem Ende der ersten Förderperiode geführt wurde, wird konkreter als Hauptziel des Gärtnereiansatzes formuliert, eine Öffentlichkeit zu schaffen für einen Ort, für die geflüchteten Menschen, die an diesem Ort wirken, und für deren individuelle Geschichte: „Ich glaube, das eine Hauptziel dieses Projekts, so würde ich es mal ganz persönlich beschreiben, war, […] auf diesen Ort aufmerksam zu machen, auf die Menschen, die hier sozusagen sind, teilnehmen und das Ganze eben auch miteinander schaffen, aufmerksam zu machen, sprich, auf deren individuelle Geschichte auch, weil jede Fluchtgeschichte ist individuell geprägt. Da sollte man nicht verallgemeinern, und ich glaube, das wurde geschafft. Also natürlich war das Ziel auch, einen Garten zu gestalten oder ein Gelände aus einer Brachfläche, komplett zu transformieren, und aber gleichzeitig auch einen Begegnungsort, dieser Begegnungsort, der ist eben auch wichtig für diesen Austausch.“ (Interview – Projektmitarbeiter*in 2)
Interessanterweise gibt der Interviewauszug erste Hinweise auf die Art und Weise, wie auf den Ort und die beteiligten Menschen aufmerksam gemacht, also Öffentlichkeit hergestellt werden soll. Zum einen kommt die Sichtbarmachung
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individueller Geschichten zur Sprache. Somit geht es um einen Kernbestandteil der kulturellen Bildung, die es den Individuen ermöglichen soll, die eigenen Potenziale zu entdecken, indem Fähigkeiten des Ausdrucks durch künstlerische Erzähl- oder Darstellungsformen eingeübt und erprobt werden (Weiß 2017). Auf der anderen Seite soll durch die Schaffung eines Begegnungsortes Austausch und damit Öffentlichkeit durch einen räumlichen Ansatz entstehen. Darin zeigt sich primär der räumliche Ansatz des beteiligten Architekturkollektivs raumlabor.berlin. Schließlich wird im Projektantrag explizit der Anspruch formuliert, geflüchtete Menschen als wissende Subjekte zu begreifen, die in der Lage sind, Teile ihres Wissens – beispielsweise über landwirtschaftliche Methoden in ihrer Herkunftsregion – an andere weiterzugeben (Schlesische27 2015). In diesem Zusammenhang werden Ansätze wie zum Beispiel „refugee-teacher-Workshops“ (Schlesische27 2015) genannt, mit denen in der Gärtnerei experimentiert werden soll. In Gesprächen mit den Verantwortlichen auf der Ebene der Senatsverwaltung und der Beratungsträger sowie mit den Berater*innen wurde immer wieder deutlich, dass die MoBiBe auf Grundsätzen und Zielen beruht, die einerseits vom allgemeineren Ansatz der öffentlich geförderten Bildungsberatung in Berlin geprägt sind und andererseits aus der spezifischen Situation von Geflüchteten hervorgehen. Am deutlichsten finden diese Grundsätze und Ziele im Fachkonzept zur mobilen Bildungsberatung für geflüchtete Menschen in Berlin ihren Niederschlag, das unter Mitarbeit der Akteur*innen aus der Praxis der Bildungsberatung entstanden ist (SenAIF 2016a). Grundlage der MoBiBe, so heißt es im Fachkonzept, sei die Bildungsberatung nach dem Berliner Modell, wie es im gemeinsamen Rahmen-Arbeitsmarktprogramm BerlinArbeit in seinen Grundzügen formuliert wird. Allgemein bestehe das Ziel der Bildungsberatung darin, „Menschen mit ihren unterschiedlichen Voraussetzungen und Lebensbedingungen darin zu unterstützen, sich über eigene berufsbezogene Zielvorstellungen, Interessen, Qualifikationen und Fähigkeiten klar zu werden und diese für ihre berufliche Entwicklung besser zu nutzen“ (SenAIF 2016a). Bemerkenswert ist bei der Beschreibung der Grundsätze im Fachkonzept, dass nicht nur die Bedürfnisse der Ratsuchenden, sondern auch wirtschaftliche und standortbezogene Interessen bei der Beratung berücksichtigt werden sollen. So soll Bildungsberatung die „Weiterbildungsbereitschaft aller Bürgerinnen und Bürger, und die Motivation neuer Zielgruppen zu Bildungsaktivitäten bzw. Weiterbildungsbeteiligung“ (SenAIF 2016a) fördern und somit durch den „Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit
6.1 Anknüpfung an Positionen, Ansätze und Deutungsmuster in der Arena
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von Bürgerinnen und Bürgern […] zur Sicherung des Fachkräftebedarfs der Wirtschaft“ (SenAIF 2016a) beitragen.2 Mit Blick auf die Zielgruppe der geflüchteten Menschen wird die „berufliche und gesellschaftliche Integration und Teilhabe“ (SenAIF 2016a) als übergreifendes Ziel formuliert. Dafür sollen den geflüchteten Menschen sowohl die Bildungslandschaft als auch der Arbeitsmarkt nähergebracht und zudem die unterschiedlichen Möglichkeiten aufgezeigt werden, die sich für sie ergeben.3 Im gesamten Beratungsverlauf sollen die Berater*innen laut Fachkonzept dabei „insbesondere Diversity- und Gender-Standards einbeziehen und sichern“ (SenAIF 2016a). In der weiteren Ausführung wird das konkretisiert als Information und Beratung unabhängig von persönlicher Herkunft, Kultur, Geschlecht und Sprache. Zudem gelte es, „die Vielfältigkeit und Heterogenität der geflüchteten Menschen zu berücksichtigen und zu respektieren“ (SenAIF 2016a). Die Herstellung von Anschlussfähigkeit an verbreitete Deutungsmuster ist eine wichtige Strategie der Street-level-Experimente bei der Einbindung in eine übergreifende politische Arena, die Ressourcen wie finanzielle Mittel oder (öffentliche) Grundstücke verspricht. Hier suchen die relevanten Akteur*innen die Auseinandersetzung oder den Austausch zu einem zentralen issue. Sowohl der Ansatz der kulturellen und ästhetischen Bildung (Weiß 2017) als auch der Ansatz der Bildungsberatung (OECD 2004), die dem jeweiligen SLE zugrunde liegen, sind anschlussfähig an einen potenzial- und ressourcenorientierten Ansatz und ermöglichen einen Transfer der entsprechenden Deutungsmuster aus der Arena der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen in die jeweiligen Projektansätze. Ähnlich verhält es sich mit dem Deutungsmuster der Nützlichkeit in der Arena. Nützlichkeitserwägungen, sei es in Bezug auf die 2
Diese Formulierung macht eine mögliche Spannung zwischen Beratung, die sich an den Wünschen und Bedarfen einzelner Personen ausrichtet, und Beratung, die die Aktivierung zur Sicherung des Fachkräftebedarfs zum Ziel hat, sichtbar. 3 Im Einzelnen beinhalten die übergeordneten Ziele laut Fachkonzept folgende Schritte: Die Erfassung vorhandener Erfahrungen, Qualifikationen und Kenntnisse durch ein standardisiertes Verfahren. Die Erarbeitung und Beschreibung persönlicher Ziele und Perspektiven ohne diskriminierende Einschränkungen. Die Anfertigung eines Plans, um den Zielen näher zu kommen, und die Übermittlung von Informationen zu passenden Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten oder Arbeitsangeboten. Die Gestaltung von Übergängen in (Aus-) Bildung und oder Beruf inklusive Sprachkurse. Die Unterstützung im konkreten Bewerbungsprozess. Die Weiterleitung an entsprechende Stellen beziehungsweise die Kontaktaufnahme zu anderen Akteur*innen im Feld der Bildungs- und Arbeitsintegration in Berlin. Als Beispiele werden im Fachkonzept das IQ-Netzwerk, die JobPoints, das Bleiberechtsnetzwerk bridge, ARRIVO, die Volkshochschulen, die Jobcenter, die Arbeitsagenturen, weitere Bildungsträger und zuständige Anerkennungsstellen für die Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen und Abschlüssen genannt (SenAIF 2016a).
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Zur Situiertheit von SLEs
Bekämpfung des Fachkräftemangels oder auf die Förderung von Kreativität durch Vielfalt und den interkulturellen Austausch, spielen in beiden Projekten eine wichtige Rolle – vor allem, wenn es um die öffentliche Darstellung des jeweiligen Ansatzes geht.
6.2
Rückgriff auf bestehende Ansätze und frühere Kooperationen
Für beide SLEs kann gezeigt werden, dass die Anknüpfungsarbeit nicht nur mit Blick auf die übergreifende Arena und die darin zirkulierenden Positionen, Ansätze und Deutungsmuster erfolgt. Vielmehr gibt es auch einen Rückgriff auf bereits erfolgreich erprobte Ansätze und Kooperationen der Vergangenheit. So wurden sowohl bei der MoBiBe als auch bei der Gärtnerei Teile des jeweils zugrunde liegenden Ansatzes aus vergangenen Projekterfahrungen der Träger übernommen und erfolgreiche Kooperationen weitergeführt. Die beiden Trägerorganisationen des Gärtnereiprojektes haben bereits beim Vorgängerprojekt Junipark kooperiert und dort in einem ähnlichen Setting mittels räumlicher und künstlerischer Interventionen mit Konstellationen des zukünftigen Zusammenlebens und -arbeitens in der Stadt experimentiert. Zudem hat die Schlesische27 vor allem im Rahmen des CUCULA-Projekts Erfahrung mit der Arbeit mit geflüchteten Menschen gesammelt und durch einen Ansatz der kulturellen Bildung öffentlichkeitswirksam Potenziale junger geflüchteter Menschen aufgezeigt. Die Initiierung des Street-level-Experiments Gärtnerei und insbesondere die Auswahl der ersten Kerngruppe von Geflüchteten, die als Teilnehmende von dem neuen Ansatz profitieren sollten, stand in unmittelbarem Zusammenhang mit den Erfahrungen aus- und der Einbindung in die Proteste der Jahre 2012 bis 2014 und knüpfte in weiten Teilen an den Ansatz des CUCULA-Projektes an. Diese Anknüpfungsbemühung wird im Projektantrag der Gärtnerei deutlich, in dessen Rahmen die Problembeschreibung stark auf die politisch und rechtlich erzwungene Passivität der geflüchteten Menschen abzielt und von unterdrückten Potenzialen ausgeht, die durch die Gestaltung eines gleichermaßen künstlichen wie künstlerischen Raumes der Zusammenarbeit und Kreativität freigesetzt werden sollen. In dem Zusammenhang rückt vor allem die von Perspektivlosigkeit geprägte Lebenssituation der geflüchteten Menschen in den Vordergrund: „Viele Flüchtlinge in Berlin sind mit der schwierigen Lage konfrontiert, dass ausländerrechtliche Verfahren, die oft jahrelang dauern, ihr Leben auf ‚Warten‘ reduzieren. Ein riskantes Vakuum entsteht und unter der verordneten Untätigkeit entwickeln
6.2 Rückgriff auf bestehende Ansätze und frühere Kooperationen
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sich nachhaltige Störungen und Traumata, die ihre Zukunftschancen empfindlich beschneiden. Zu viele bleiben sitzen, resignieren.“ (Schlesische27 2015)
Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der MoBiBe, die größtenteils durch Bildungsberatungsträger umgesetzt wird, die bereits Teil eines berlinweiten Netzwerks der landesfinanzierten Bildungsberatung sind und zum Teil mehr als zehn Jahre Erfahrung im Bereich der Bildungsberatung vorweisen können. Dazu kommt die langjährige Erfahrung mit Ansätzen einer mobilen, also aufsuchenden und niedrigschwelligen Bildungsberatung für schwer erreichbare Personengruppen wie wohnungslose Menschen oder Menschen mit psychischen Erkrankungen. Auf diese Erfahrungen verweist folgender Interviewauszug: „Also die mobile Beratung an sich hatten wir vorher auch schon, dass wir so eine aufsuchende Beratung für bestimmte Gruppen gemacht haben, die eben vollkommen entwurzelt waren, aber das war eben-, sie sind schwer zu finden, diese Menschen. Und jetzt haben wir bei den Geflüchteten sozusagen spezifiziert und haben mit der mobilen Beratung für die Geflüchteten am Oranienplatz angefangen und das war so die erste Spielgruppe, wenn man das so nennen darf. So und haben versucht unser Angebot dort unterzubringen so. Das hat mehr oder weniger funktioniert, einfach man muss ja erstmal die Gruppe kennenlernen, man muss mitkriegen, welche Sprachen man beherrschen muss. […] in jeder Beratungsstelle gibt es irgendjemanden, der irgendeine weitere Fremdsprache beherrscht. Aus diesen Beratern, die wir in den einzelnen Beratungsstellen haben, haben wir sozusagen-, die sind dann ausgeschwärmt in die einzelnen Einrichtungen, um die Leute zu erreichen. Und sozusagen dieses Grundkonstrukt, wir haben unsere vorhandene Beratungsstruktur sozusagen aufgemöbelt, ertüchtigt, dass wir eben die neuen Gruppen erreichen.“ (Interview – Projektsteuerung 1)
Die zitierte Aussage macht deutlich, dass bei Einführung der mobilen Bildungsberatung keineswegs feststand, welche Problemstellungen durch den neuen Beratungsansatz bearbeitet oder gelöst werden könnten. Die Zielgruppe war noch relativ vage definiert, ihr Auftauchen auf der politischen und öffentlichen Agenda recht neu. Doch wird zum einen sichtbar, dass bereits bestehende Ansätze genutzt und ein ‚angebotsorientiertes‘ Vorgehen gewählt wurde, bei dem das Ziel darin bestand, das Angebot „dort unterzubringen“. Zum anderen zeigt sich vor allem das experimentelle Verständnis des Ansatzes, wenn von der „Spielgruppe“ gesprochen wird, die quasi als Versuchsobjekt für die Erprobung und Weiterentwicklung des Beratungsansatzes dienen sollte. Die beschriebene Anknüpfungsarbeit im Sinne eines Rückgriffs auf bereits erprobte Ansätze und Kooperationen macht deutlich, dass der experimentelle
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Prozess nicht bei null beginnt. Es werden nicht in einem spezifischen Anwendungskontext für bestehende Probleme einer bestimmten Zielgruppe durch eine iterative Vorgehensweise und experimentelle Lernprozesse möglichst passende Lösungsansätze entwickelt. Stattdessen handelt es sich um einen ko-konstruktiven Prozess, in dessen Rahmen sich bereits bestehende Ansätze sowie vage Vorstellungen über Problemstellungen und Zielgruppen gegenseitig konstituieren und einander annähern. So werden insbesondere jene Merkmale der vorläufig und vage imaginierten Problemstellungen und Zielgruppen betont, die zu den erfolgreich erprobten Ansätzen passen beziehungsweise damit erfolgversprechend bearbeitet werden können. Mit Bezug auf das Berliner Modell der Bildungsberatung wird beispielsweise betont, dass Bildungsberatung von geflüchteten Menschen insbesondere „eine Flexibilität sowohl örtlich als auch in Bezug auf die Ansprache und Angebotsgestaltung [benötige]. Dies beinhaltet, dass die Beratungsleistungen direkt oder nah an den Aufenthaltsorten der geflüchteten Menschen bzw. nah zu ihrem bisherigen Umfeld angeboten und dass diese im Besonderen an ihren Bedarfen und Bedingungen ausgerichtet werden“ (SenAIF 2016a).
Die grundlegende Annahme im Vorfeld und in der frühen Phase des SLEs, die im Fachkonzept, aber auch in Interviews und Gesprächen immer wieder auftaucht, besagt, dass geflüchtete Menschen nicht in ausreichendem Maße durch Angebote der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration in Berlin erreicht werden. Es bedarf in den Augen der verantwortlichen Akteur*innen daher einer gezielten Ansprache und eines niedrigschwelligen Zugangs. Aus diesem Grund solle die Beratung an jenen Orten angeboten werden, an denen die geflüchteten Menschen leben und lernen, wie es im Fachkonzept heißt. Der bereits erprobte Ansatz der mobilen Beratung eigne sich dafür, die hervorgehobenen Bedarfe zu erfüllen. Die bereits in anderen Anwendungskontexten erprobten Ansätze werden allerdings nicht einfach auf die neuen Kontexte oder auf neue Zielgruppen übertragen, sondern an vorläufig und vage formulierte Auffassungen von Problemstellung und Zielgruppe adaptiert. Für diese Anpassungsprozesse eignen sich insbesondere Bezüge zur übergreifenden Arena. Deutlich zeigt sich die mehrdimensionale Situiertheit der SLEs bereits zu Beginn des experimentellen Prozesses allerdings nicht nur, indem die SLEs Arenabezüge herstellen oder auf die eigene Erfahrung in anderen Anwendungskontexten verweisen, sondern da sie im Rahmen der Ko-Konstruktion von Problemen, Zielgruppen und Lösungsansätzen unterschiedliche situative Bezüge miteinander verbinden. Im Vergleich zur standortgebundenen Bildungsberatung wird bei der MoBiBe beispielsweise das Thema
6.2 Rückgriff auf bestehende Ansätze und frühere Kooperationen
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Sprache als Herausforderung für die Beratung in den Mittelpunkt gerückt, da laut Fachkonzept geflüchtete Menschen in der Regel noch nicht über ausreichende Deutschkenntnisse verfügen. Dieser Sprachbarriere soll einerseits durch die gezielte Einstellung von mehrsprachigen Bildungsberater*innen entgegengewirkt werden, andererseits sollen zusätzlich Dolmetscher*innen zu Beratungen hinzugeholt werden, die zum einen optimale Beratungsergebnisse durch ihre sprachliche Übersetzungsleistung ermöglichen, zum anderen häufig dank ihres Wissens und ihrer persönlichen Erfahrungen die Beratungssituation und das Beratungsergebnis durch kulturelle Übersetzung positiv beeinflussen können. Während eine standortgebundene Bildungsberaterin vor allem Kenntnisse über das Berliner (Aus-)Bildungssystem und den Arbeitsmarkt besitzen und vermitteln müsse, komme für die Arbeit der MoBiBe laut Fachkonzept ein relativ komplexer Ausländer-, Asyl- und Aufenthaltsrechtlicher Rahmen hinzu, der Auswirkungen auf den Zugang zu Bildungsangeboten und Arbeit habe und daher in der Beratung seinen Niederschlag finden müsse. Dieser rechtliche Rahmen habe sich zudem in den vergangenen Jahren immer wieder geändert, sodass eine konstante Schulung der Berater*innen gewährleistet werden müsse. Hinzu kommen laut Fachkonzept häufig besondere „persönliche Rahmenbedingungen“ (SenAIF 2016a) der Geflüchteten, die für die Beratung eine Rolle spielen. So seien prioritäre Anliegen wie Gesundheit, Familiennachzug oder Unterkunft zu beachten und durch die Vermittlung zu weiterführenden Beratungsangeboten zu unterstützen (SenAIF 2016a). Schließlich verweist das Fachkonzept auf die Anforderungen einer geschlechterspezifischen Bildungs- und Berufsberatung: „Die jeweiligen Besonderheiten in der Beratung geflüchteter Frauen und Männer sind ausdrücklich durch ein geschlechtersensibles Beratungskonzept, dass [sic] Frauen einen tatsächlichen gleichberechtigten Zugang zu den Beratungs- und Bildungsangeboten ermöglicht, zu gewährleisten.“ (SenAIF 2016a)
Die Gender-Standards richten sich sowohl an die Berater*innen selbst als auch indirekt an die geflüchteten Menschen. So sollen in allen Beratungen Frauen „in der aktiven Teilhabe am Arbeitsmarkt“ (SenIAS 2016) gestärkt werden. Männern „sind – so erforderlich – die Werte der gleichberechtigten Teilhabe am Arbeitsleben von Frauen zu vermitteln und sie sind darin zu bestärken, dieses auch im familiären Zusammenhang zu unterstützen und dieses bei ihrer eigenen Arbeitsmarktintegration mit zu bedenken“ (SenAIF 2016: 10). Schließlich sollen die Berater*innen geflüchtete Frauen dazu ermutigen, ihre Rechte auf Bildung und Schutz vor Gewalt wahrzunehmen (SenAIF 2016a).
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Das Gärtnereiprojekt knüpft im Bereich der Problembeschreibung und Zielgruppenkonstruktion an die Proteste und das Vorgängerprojekt CUCULA an. Zudem übernimmt es seinerseits direkt, wie schon zuvor CUCULA, Teilnehmer*innen des Protestes in sein Kernteam. Dabei handelt es sich überwiegend um junge Männer, die in unterschiedlichen westafrikanischen Staaten aufwuchsen und teilweise über mehrere Jahre von Westafrika über Nordafrika nach Italien und dann nach Deutschland gelangt sind.4 „Diese Zeit der Siedlungsideen für den Jerusalem-Brachenteil, die fiel zusammen mit zunehmend vielen jungen Flüchtlingen, die bei uns im Haus angekommen sind. Wir hatten damals mit so ganz ungesicherten Leuten dieses CUCULA Start-Up auf die Beine gestellt, das ging also immer darum: Was kann man tun, wie kann man Teil von der Stadt bleiben, wenn man hier hängen bleibt, vorerst, und keine formalen Sicherheiten hat, auch keine sozialen Absicherungen durch Asylbewerberleistung, das war die Problematik der vielen Leute, die über Lampedusa angekommen sind, hier hochgewandert sind und in Deutschland gar nicht untergekommen sind in den üblichen Strukturen.“ (Interview – Projektverantwortliche*r)
Die Einbeziehung geflüchteter Menschen als Teilnehmer*innen der Gärtnerei und der potenzialorientierte Ansatz stehen demnach mit einem anderen Projekt der Schlesischen27 in enger Verbindung. In der Konzeption des SLEs entsprach die Kombination aus Gartenarbeit, Bauwerkstatt und Bildungsprogramm sowie der Fokus auf ein ästhetisch-künstlerisches Konzept, das in der Lage sein sollte, eine große öffentliche Reichweite zu entfalten, dem Ansatz von CUCULA. Beide Projekte verfolgten das Ziel, unentdeckte Potenziale freizulegen und im Stil einer Kampagne einer größeren Öffentlichkeit zu präsentieren. „Ein wichtiges Orientierungsprojekt für die Gärtnerei ist die Möbelmanufaktur CUCULA (cucula.org). Seit Herbst 2013 konnten fünf junge Afrikaner, die über Lampedusa nach Europa und Berlin geflüchtet sind, in der improvisierten Manufaktur wichtige Grundlagen für ihre Zukunft selber erarbeiten. Alle, die das Team begleiten, können erleben, wie ein kreativer und strukturierter Alltagsrahmen mit lebendigen Tentakeln zu Kunst & Design, Bildung und Arbeitswelt stabilisierend wirkt. Die fünf Trainees der Möbelmanufaktur haben heute weitaus bessere Chancen für die Erlangung eines stabilen Aufenthaltsstatus und sehen der Zukunft positiver entgegen. Gleichzeitig hat die Stadtkultur und die Berliner Kreativindustrie ein ungewöhnliches StartUp erhalten, das Mut macht für weitere Experimente.“ (Schlesische27 2015) 4
Aufgrund von Dublin III hatten diese jungen Männer in Deutschland zum Zeitpunkt der Initiierung der Gärtnerei keinen regulären Zugang zu Bildung und Arbeit und waren von einer Rückführung nach Italien bedroht (Koehler 2018). Es handelte sich somit um eine Gruppe, die in besonderem Maße zur Passivität gezwungen war und deren gesamte Lebensumstände durch ein hohes Maß an Ungewissheit gekennzeichnet war.
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In diesem zitierten Absatz aus dem Projektkonzept der Gärtnerei wird CUCULA direkt als Orientierungsprojekt herangezogen und eine einschlägige Lösungsmöglichkeit für die zuvor formulierte Problembeschreibung vorgestellt, die die Gärtnerei aufgreifen möchte. Die Betonung liegt auf dem improvisierten Charakter des Projektes und der Fähigkeit der Projektteilnehmer*innen, sich eigenständig eine Zukunftsperspektive zu erarbeiten. Die Mischung aus einem strukturierten Alltagsrahmen sowie Ansätzen aus dem Bereich der kulturellen Bildung gelten hierfür als günstig. Bemerkenswert erscheint zudem die Betonung der durch das Projekt gewachsenen Chancen auf einen stabilen Aufenthaltsstatus. Damit werden entsprechend der meritokratischen Wende in der Flüchtlingspolitik die Bereiche Bildung und Arbeit mit aufenthaltsrechtlichen Fragen verbunden, noch bevor diese Verbindung durch die Reformen der Jahre 2015 und 2016 gesetzlich stärker verankert wurden. Hervorzuheben ist auch der letzte Satz, der auf die für Berlin sehr bedeutende Kreativindustrie verweist und zusätzlich das Schlagwort Start-up aufgreift. Diese Zuordnung des CUCULA-Projektes zur Berliner Kreativindustrie findet sich auch im folgenden Interviewauszug: „[…] die Manufaktur von CUCULA war ein Gegenentwurf zu den elenden Opferrollen der Geflüchteten von Lampedusa, das war dieses Kippen und so ein, eine Verlagerung des Themas in einen ganz anderen gesellschaftlichen Bereich, nämlich in die Kreativwirtschaft, die erstmal nichts Soziales an sich hat, also man vermutet da nicht die Flüchtlingshilfe, sondern das muss schon richtig cool und gut sein, wenn die es schaffen, da ein Bein auf den Boden zu kriegen. Also rausgehen in andere Gesellschaftsfelder und Rollen kippen ist auch eine Form von Performance, wenn man so will.“ (Interview – Projektverantwortliche*r)
CUCULA, an dem sich die Gärtnerei orientiert, wird also einerseits im Bereich der kulturellen Bildung und Berufsvorbereitung verortet, aber auch als Bestandteil der Berliner Kreativindustrie und Start-up-Szene beschrieben, einem Sektor, der symbolisch für die Berliner Erfolgs- und Wachstumsgeschichte der vergangenen Jahre steht (Lanz 2011). Auch hier zeigt sich eine deutliche Bezugnahme auf den Potenzialansatz und eine Verortung im Rahmen der kreativen Stadt, die in hohem Maße von Zuwanderung geprägt ist und sich durch Vielfalt an Möglichkeiten für einen kulturellen Austausch auszeichnet. In beiden Street-level-Experimenten erfolgt ein Anschluss an bestehende Ansätze und Kooperationen, die vorhandene Vorstellungen über Probleme, Zielgruppen und Lösungsansätze in die neue Situation einbringen. Gleichzeitig werden zentrale Positionen, Ansätze und Deutungsmuster aus der übergreifenden Arena aufgegriffen und für die Weiterentwicklung der bestehenden Ansätze
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in einem ko-konstruktiven Prozess genutzt. Geprägt ist Letzterer allerdings nicht alleine durch Arenabezüge und Erfahrungen, die in der Vergangenheit in ähnlichen Projektzusammenhängen gemacht wurden, sondern auch durch die jeweils spezifischen Formen der Zusammenarbeit, der Art und Weise, wie Probleme und Zielgruppen definiert und wie mit ihnen umgegangen wird.
6.3
Beratung, Bildung, Kunst und Projektorganisation – Soziale Welten der SLEs
Die ethnografische Untersuchung der SLEs im Rahmen der Situationsanalyse zeigt, dass die involvierten Akteur*innen situationsabhängig in unterschiedliche soziale Bezugssysteme eingebunden sind, die gut mit dem sensibilisierenden Konzept der sozialen Welten nach Anselm Strauss (Strauss 1978, 1993; Clarke/Star 2008) in den Blick genommen werden können. So lassen sich analytisch mehrere soziale Welten differenzieren, die für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit von größerer Bedeutung sind und sich in erster Linie anhand von Aktivitäten und Verpflichtungen voneinander abgrenzen lassen. Die erste soziale Welt im SLE der mobilen Bildungsberatung bildet sich um die Aktivität der Beratung selbst und kommt insbesondere in konkreten Beratungssituationen, aber auch im Rahmen von Schulungen und Fachaustauschen unter den Berater*innen zum Tragen. Die zweite soziale Welt konstituiert sich um die Aktivitäten der Projektorganisation und zeigt sich im Wesentlichen in Situationen wie Koordinations- und Netzwerktreffen und Teammeetings.5 Bei der Untersuchung des Gärtnereiprojektes wird ebenfalls deutlich, dass die Teilnehmer*innen in der Gärtnerei im Alltag in unterschiedliche soziale Welten eingebunden sind. Das SLE Gärtnerei beruht auf Ansätzen der kulturellen Bildung und der partizipativen Gestaltung urbaner Räume, die erstens auf die soziale Welt der Kunst – etwa im Rahmen von Performances im Garten – verweisen. Zweitens haben sie starke Bezüge zu einer sozialen Welt der Bildung, die vor allem in Situationen wie dem Deutschunterricht, der Holzwerkstatt oder dem Café Nana einen Orientierungsrahmen schafft. Als dritte soziale Welt, die als Bezugssystem Orientierung für bestimmte Teile der Arbeit in der Gärtnerei stiftet, kann wieder die Projektorganisation
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Die Beschreibung einer sozialen Welt der Projektorganisation im Rahmen der MoBiBe ist vor allem in Abschnitt 5.1.2. eingeflossen und wird in Abschnitt 6.3. nicht erneut vorgenommen.
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genannt werden, die primär in Teammeetings, in Visionsrunden, aber auch in Alltagssituationen zum Tragen kommt.6 Im folgenden Abschnitt wird exemplarisch anhand des empirischen Materials die Einbindung der SLEs in diverse soziale Welten aufgezeigt. Anhand einiger Beispielsituationen, die während der Feldaufenthalte beobachtet werden konnten, wird beschrieben, wie je nach Situation bestimmte soziale Welten einen Orientierungsrahmen für das Handeln der involvierten Akteur*innen auf dem Street-level bereitstellen und dadurch auch den experimentellen Prozess und die darin stattfindende Aushandlung von Problemen, Zielgruppen und Lösungsansätzen anleiten. Es geht dabei nicht um die detaillierte Beschreibung und Abgrenzung der unterschiedlichen sozialen Welten, die in den beiden SLEs aktiv sind. Vielmehr soll an dieser Stelle anhand des empirischen Materials eine weitere Dimension der Situiertheit von SLEs aufgezeigt werden. Der enge Schuh und der Schuhlöffel Beobachtungsprotokoll – MoBiBe vom 27.6.2017 Im Rahmen eines Koordinationstreffens der Projektleiter*innen der mobilen Bildungsberatung und der Koordinator*innen der Willkommen-in-Arbeit-Büros wird – wie häufiger im Projektverlauf – über den umstrittenen Namen der Willkommen-in-Arbeit-Büros diskutiert. Anlass ist die Einrichtung einer Arbeitsgruppe zur Namensänderung durch die zuständige Senatsverwaltung. Der Name wird von vielen der Projektleiter*innen als Schnellschuss aus dem langen Sommer der Migration 2015 und als politisches Erbe der früheren Senatorin für Arbeit Integration und Frauen angesehen, die seit den Wahlen zum Abgeordnetenhaus im Herbst 2016 nun einer anderen Senatsverwaltung vorsteht. Inhaltlich wird der Name vor allem aufgrund der falschen Erwartungen kritisiert, die dieser bei vielen Geflüchteten hervorrufe. So wird von einer Projektleiterin eine in unterschiedlichen Situationen wiederkehrende Geschichte eines Geflüchteten erzählt, der mit Anzug und Krawatte in
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Die Beschreibung einer sozialen Welt der Projektorganisation im Rahmen der Gärtnerei ist vor allem in Abschnitt 5.2.2. eingeflossen und wird in Abschnitt 6.3. nicht erneut vorgenommen.
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eines der Büros gekommen sei und ein Vorstellungsgespräch erwartet habe, an dessen Ende er – wenn er Glück hat – mit einem Arbeitsvertrag das Gebäude wieder verlassen könnte. Diese falsche Erwartung führe – so die Befürchtung unter einigen Projektleiter*innen – häufig zu Enttäuschung und Frustration bei den Geflüchteten. Die Frage lautet deshalb, welcher Name die eigentliche Arbeit der mobilen Bildungsberatung in den Willkommen-in-Arbeit-Büros angemessen beschreiben könnte, beziehungsweise grundlegender, wodurch sich die Arbeit der mobilen Bildungsberater*innen auszeichnet, was die zentralen Aktivitäten sind und welche Aufgaben und Ziele verfolgt werden. Eine Projektleiterin macht den Vorschlag, man könne das ganze doch Schuhlöffel nennen. Denn irgendwie sei die Arbeit doch so wie die eines Schuhlöffels. Man hilft den Geflüchteten – wie einem Fuß – in das enge und komplizierte Arbeits- und Bildungssystem in Deutschland – also den engen Schuh. Sofort wird die Stimmung im Raum heiter und aufgebracht zugleich und eine andere Projektleiterin sagt etwas bestürzt, dass man auf keinen Fall etwas mit Füßen machen dürfe. „Füße sollte man lieber ganz raushalten“, denn Füße seien in vielen Kulturen ein Tabuthema.
Wenngleich der Vorschlag der Projektleiterin keine Zustimmung findet, weist er doch auf wichtige Aspekte der sozialen Welt der Beratung hin. Der Schuhlöffel verweist auf ein Selbstbild, das man in erster Linie als Helfer*innenidentität beschreiben könnte. Der Fokus der Arbeit liegt demnach auf einem schwierigen Vorgang, bei dem einer Person oder Gruppe externe Hilfe gewährt werden soll. Auch im Hinblick auf die typische Problemdefinition im Rahmen der sozialen Welt gibt die beschriebene Situation einen interessanten Hinweis. Die Problemursache liegt nicht allein bei den Ratsuchenden, also den Geflüchteten selbst – oder, um im Bild zu bleiben, bei den Füßen –, sondern vor allem bei dem engen Schuh, also den Rahmenbedingungen eines vor allem für Geflüchtete komplizierten Arbeits- und Bildungssystems in Berlin. Unterstützung und Beratung kann dabei helfen, das komplizierte System besser zu verstehen sowie Zugänge und Handlungsoptionen aufzuzeigen. Der Kern der Beratung ist demnach eine Unterstützungsleistung, die im Wesentlichen aus der Vermittlung von Informationen und Wissen über ein kompliziertes, undurchsichtiges System und damit aus einer
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Orientierungsleistung besteht. Das vermittelte Wissen und die erhaltene Orientierung sollen die Ratsuchenden dann als Ressource für den Erfolg am Bildungsund Arbeitsmarkt selbstständig nutzen. Achtung, Kultur Die Reaktion der Anwesenden auf den Namensvorschlag macht auf einen weiteren wichtigen Aspekt der zu beschreibenden sozialen Welt aufmerksam. Eine zentrale Anforderung an die Beratung von geflüchteten Menschen ist demnach die Sensibilität für kulturelle Themen und Tabus. Interkulturelle beziehungsweise transkulturelle Kompetenz und die Sensibilität für kulturelle Unterschiede werden als zentraler Bestandteil der Beratungsarbeit und als Voraussetzung für die legitime Mitgliedschaft in dieser Welt angesehen. Man will interkulturelle Problemlagen vermeiden und das Aufspüren derselben ist neben der Vermittlung von Orientierungswissen und von Informationen eine wichtige Aktivität. Das Problem heißt Unwissenheit Die zentrale Aktivität der Beratung im Sinne einer Vermittlung von Orientierungswissen und Informationen prägt nicht nur den Beratungsprozess, sondern hat darüber hinaus einen strukturierenden Einfluss auf unterschiedliche Problematisierungsprozesse in der Welt der Bildungs- und Berufsberatung. Im Rahmen einer Schulung zu Minijobs für die mobilen Bildungsberater*innen werden beispielsweise die im Zusammenhang mit geringfügiger Beschäftigung stehenden Schwierigkeiten vor allem als Wissens- und Informationsprobleme definiert. Zudem zeigt sich, wie Wissens- und Informationsdefizite als Merkmal der Zielgruppe betont werden. Beobachtungsprotokoll – MoBiBe vom 05.09.2017 Der inhaltliche Teil der Schulung beginnt mit Definitionen von Minijobs und einer Art klassifikatorischen Einordnung in unterschiedliche Arbeitsverhältnisse. Danach folgt die Vorstellung der Kernergebnisse einer Studie von Carsten Wippermann aus dem Jahr 2012, die sich mit den Effekten von Minijobs auseinandergesetzt hat. Darin heißt es laut S., dass Frauen durchschnittlich acht Jahre in Minijobs kleben bleiben, dass nur 14% den Übergang in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung schaffen, dass berufliche Dequalifizierung üblich sei, da viele Minijobs außerhalb
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des eigenen Berufsfeldes ausgeübt werden. Insgesamt diene der Minijob somit nicht als Brücke in den ersten Arbeitsmarkt, sondern halte im Gegenteil viele Beschäftigte davon ab. Jetzt fragt S. in die Runde, was denn so typische Herausforderungen sind „für die Menschen, die zu uns kommen“, damit meint sie die Zielgruppe der MoBiBe. Aus der Runde kommen folgende typische Herausforderungen und Probleme: Arbeitserlaubnis, Orientierung, Sprache, Qualifizierung, Anerkennung, Aufenthaltsstatus, Image bei Arbeitgebern, Unwissenheit/Unkenntnis der Arbeitsrechte; Gerüchte […].
Dem Schulungsformat entsprechend, beginnt der inhaltliche Teil mit grundlegenden Informationen zum Thema Minijobs wie Definitionen, Abgrenzung zu anderen Formen der geringfügigen Beschäftigung sowie Ergebnissen einer Studie zu berufsbiografischen Effekten von Minijobs. Danach soll das Thema vor dem Hintergrund der Zielgruppe der mobilen Bildungsberatung näher betrachtet werden. Die Frage nach den typischen Herausforderungen für geflüchtete Menschen führt zur Benennung folgender Problemstellungen: Es werden aufenthaltsund arbeitsrechtliche Herausforderungen genannt, wie die eingeschränkte Arbeitserlaubnis vieler Geflüchteter, die Schwierigkeiten bei der Anerkennung von Qualifikationen, die im Ausland erworben wurden, oder Schwierigkeiten, die in Zusammenhang mit dem häufig ungewissen Aufenthaltsstatus der Ratsuchenden stehen. Zudem kommen Herausforderungen zur Sprache, die im Zusammenhang mit der individuellen Qualifikation oder den Sprachkenntnissen stehen, es werden gruppenbezogene Vorurteile bei Arbeitgeber*innen als Problem genannt und schließlich Wissens- und Informationsdefizite und Orientierungsschwierigkeiten. Im weiteren Verlauf der Schulung geraten mehr und mehr die letztgenannten Punkte in den Fokus, während die anderen Herausforderungen nicht mehr thematisiert werden. Beobachtungsprotokoll – MoBiBe vom 05.09.2017 Der nächste Programmpunkt betrifft das Arbeitsrecht […]. Die Praxis der Rechtsanwendung und die geringe Klagewilligkeit, aber vor allem Unwissen über die eigenen Rechte,
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führen zu einer deutlichen Schlechterstellung von Minijobbern, was die Arbeitsrechte, vor allem Arbeitsschutzrechte und Kündigungsrechte etc. angeht. Praktiken, die zum Alltag vieler Minijobber*innen gehören, wie die Arbeit auf Abruf, große Arbeitszeitschwankungen oder Arbeit ohne Urlaubs- und Krankengeld, seien eigentlich laut Arbeitsrecht nicht vorgesehen, gegen sie werde aber viel zu selten vorgegangen […]. Immer wieder wird jetzt betont, dass Unwissenheit das Hauptproblem sei und dass zusätzlich die Praxis sich nicht ändere, weil sich niemand traut zu klagen. „Alle nehmen das so hin. Was ist das Problem? Minijobber fühlen sich als kleine Aushilfen“ sagt S. […]. Zudem denken viele, bei einem Minijob habe man selbst und die Arbeitgeber*innen weniger Abgaben. Das sei aber nur sehr bedingt richtig […]. Schließlich gebe es noch ein Problem, was die Bekanntheit von Alternativen wie den Midijob angeht […].
Probleme im Zusammenhang mit Minijobs werden im Rahmen der Schulung so definiert, dass man sie aus Sicht der Bildungs- und Berufsberatung mit den zur Verfügung stehenden Mitteln gut bearbeiten und lösen kann. Denn sie werden nicht etwa als Probleme eines auf Flexibilisierung ausgerichteten Arbeitsmarktes oder als problematische Diskriminierungspraktiken beschrieben, sondern in erster Linie mit Unwissenheit und falschen Informationen in Zusammenhang gebracht, also als Wissens- und Informationsprobleme definiert. Die naheliegende Problemlösungsstrategie ist somit die Vermittlung von Wissen und Informationen durch Beratung. Was ist eigentlich ein Fall? Die beteiligten Akteur*innen imaginieren und konstruieren im Rahmen unterschiedlicher Situationen fortwährend die Zielgruppe der SLEs, so wird beispielsweise im Rahmen der Schulungen für die Berater*innen durch externe Expert*innen kollektiv an der sozialen Konstruktion der Zielgruppe gearbeitet. Auf die abstrakte Definition eines Geflüchteten, die als Teil der Konstruktion der Zielgruppe angesehen werden kann, folgt am Ende der Schulung eine Beschreibung mehrerer Beispielfälle. Diese Beschreibung verweist auf eine
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differenziertere Form der Konstruktion, die sich einerseits an den Regeln der Fallkonstruktion der pädagogischen und sozialen Arbeit orientiert und andererseits fluchtspezifische Kategorien und Deutungsmuster einbezieht. Beobachtungsprotokoll – MoBiBe vom 04.05.2017 Die Schulung beginnt mit der Frage, was eigentlich ein Flüchtling sei. Als mögliche Definitionen werden von der Referentin einerseits eine umgangssprachliche Definition genannt: „Person, die ihre Heimat verlässt, um vor einer Gefahr zu fliehen“ und eine juristische Definition nach der Genfer Flüchtlingskonvention: Als Flüchtling wird anerkannt wer „[…] aus der begründeten Furcht vor Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will […].“ Die Referentin weist darauf hin, dass der juristische Begriff sehr eng sei und sie in der Schulung von einem weiten Flüchtlingsbegriff ausgehen werde.
Geflüchtete werden hier sehr abstrakt definiert, und zwar einmal durch eine spezifische Handlung in der Vergangenheit – sie haben ihre Heimat verlassen – und zusätzlich durch eine bestimmte Handlungsmotivation – sie wollen einer Gefahr entfliehen. Im Grunde beruht auch die ausführlichere Definition der GFK auf diesem Muster, wenngleich zusätzliche Spezifizierungen eingeführt werden. Beobachtungsprotokoll – MoBiBe vom 04.05.2017 Auf jeder Folie ist jetzt ein konkreter Beispielfall dargestellt. Zunächst werden dabei Geschlecht, Alter, Herkunft, Aufenthaltsdauer in Deutschland und rechtlicher Aufenthaltsstatus genannt. Zum Beispiel: Ein Mann, 17 Jahre alt, aus Syrien, seit einem Jahr in Deutschland, unbegleiteter minderjähriger Flüchtling (UMF). Danach
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werden zusätzliche Informationen bezüglich seiner Bildungsbiografie und seiner Ziele und Wünsche beschrieben, zum Beispiel, dass er sehr motiviert sei, sehr fix Deutsch gelernt habe und den Hauptschulabschluss geschafft habe und dass er seine Familie im Herkunftsland finanziell unterstützen wolle und deshalb Arbeit suche. Die Referentin fragt in die Runde, wie die Berater*innen vorgehen würden. Eine Beraterin aus dem Publikum sagt, sie würde jetzt eine Ausbildung schmackhaft machen und versuchen darauf hinzuwirken, dass der junge Mann nicht gleich einfach eine Hilfstätigkeit annimmt, da dort die Arbeitsbedingungen und die Aufstiegschancen schlechter seien. Die Ausbildung habe zusätzlich den Vorteil, dass man über diesen Weg die Chancen auf eine Aufenthaltserlaubnis erhöhen könne. Sie würde also versuchen diese Vorteile näher zu bringen und auch das System der dualen Ausbildung in Deutschland erklären.
Der Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll zeigt beispielhaft, dass sich die soziale Welt der Beratung durch den Einsatz einiger zentraler Techniken auszeichnet. Zum Teil sind sie einer der übergreifenden Welten der Bildung und der Sozialen Arbeit entlehnt, zum Teil werden sie durch das Fachkonzept und die vorangetriebene Standardisierung im Rahmen einer übergreifenden Welt der zuwendungsfinanzierten Projekte in Berlin nahegelegt. Eine solche Technik besteht aus der Konstruktion von Fällen nach dem Person-in-Umwelt-Ansatz der Sozialen Arbeit (Hare 2004). Dabei werden entlang der gängigen Unterscheidungsmerkmale (Alter, Geschlecht, Bildung und Qualifikation, Berufserfahrung, Herkunft, Dauer des Aufenthaltes in Deutschland, Sprachkenntnisse und Aufenthaltsstatus) Modellfälle konstruiert und mit entsprechenden Maßnahmen und Entscheidungen im Rahmen der Beratung verknüpft. Diese Beispiel- oder Modellfälle werden einerseits zur Orientierung und Zuordnung von Wissensbeständen in der konkreten Beratungssituation genutzt. Andererseits finden sie Anwendung beim Austausch von Fach- und Beratungswissen unter den Bildungsberater*innen oder der Vermittlung von Wissen im Rahmen von Schulungen zur Weiterbildung der Berater*innen durch externe Expert*innen, wie im Verlauf der Beobachtungssequenz deutlich wird. Die Beschreibung der Mitglieder der Zielgruppe folgt in diesem Abschnitt Merkmalen, die typisch für die Fallkonstruktion in der sozialen Welt der Beratung
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sind und so teilweise auch im Rahmen einer anderen Technik, der Beratungsdokumentation mit dem elektronischen Datenerfassungssystem Casian, erhoben werden. In Casian werden die geflüchteten Menschen anhand von Alter und Geschlecht, Herkunftsland, Aufenthaltsdauer in Deutschland und rechtlichem Aufenthaltsstatus erfasst. Weitere Eigenschaften von Interesse sind Qualifikationen und berufliche Erfahrungen, Sprachkenntnisse und die vorhandenen Zertifikate. Diese Form der Konstruktion von Geflüchteten als Modellfälle abstrahiert von den einzelnen Geflüchteten und dient als Orientierung und Hilfe bei der Zuordnung von Wissensbeständen in der Beratungssituation vor Ort sowie vor allem zum Austausch und zur Vermittlung von Wissen und Informationen in den Schulungssituationen oder im Rahmen des Austausches zwischen einzelnen Berater*innen. Wir sind nicht das Jobcenter In der konkreten Beratungssituation treten die Mitglieder der Zielgruppe dagegen nicht nur als Fall, sondern als Kund*innen auf, die Informationen und Entscheidungshilfen nachfragen. Die Bezeichnung der Mitglieder der Zielgruppe als Kund*in taucht sowohl im Fachkonzept der mobilen Bildungsberatung als auch in der alltäglichen Kommunikation zwischen den Projektleitenden und den Beratenden auf und ist Teil des Berliner Modells der Beratung zu Bildung und Beruf. Mit dieser Bezeichnung soll u. a. die Wahrnehmung und Beachtung von „individuellen Bedürfnissen und Wünschen“ (SenAIF 2016a) gefördert werden. Allerdings wird die offizielle Bezeichnung als Kund*in von manchen Beratenden auch abgelehnt, die im Beratungsalltag den Begriff Ratsuchende bevorzugen (Beobachtungsprotokoll – MoBiBe vom 27.10.2017). Vor allem im Rahmen von Schulungen und fachlichen Austauschtreffen mit externen Akteur*innen, die in den Bereichen Flucht, Migration, Integration oder Bildung und Arbeit in Berlin tätig sind, taucht die Bezeichnung der eigenen Zielgruppe als Kund*innen seltener auf. Häufiger finden sich hier Klient*in, Ratsuchende*r oder Teilnehmer*in. In der Ablehnung der Bezeichnung Kund*in äußert sich unter anderem die gewünschte Abgrenzung der sozialen Welt der Bildungsberatung von staatlichen Strukturen der Beratung zu Bildung und Beruf, insbesondere zur Arbeit der Jobcenter. Diese Abgrenzungsarbeit zeigt sich auch in der Beschreibung der eigenen Tätigkeit, der Aufgaben und Ziele. Eine Beobachtungssequenz, in der ein Mitglied der sozialen Welt der Beratung die eigene Tätigkeit vor Teilnehmenden einer wissenschaftlichen Tagung zum Thema ‚lokale Arbeitsmarktintegration‘ beschreibt, verdeutlicht dies:
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Beobachtungsprotokoll – MoBiBe vom 05.05.2017 Die mobile Bildungsberatung beschreibt C. als Netzwerk von Expert*innen im Bereich der beruflichen Bildung. Dabei seien die Berater*innen in der Lage, in zahlreichen unterschiedlichen Sprachen zu beraten, zusätzlich könnten sie auf qualifizierte Dolmetscher*innen zurückgreifen. Die mobile Bildungsberatung biete speziell für Geflüchtete Informationen, um sich beruflich weiterzubilden. Im Zentrum stünden dabei Beratungen zu und Vermittlungen in Ausund Weiterbildung, Umschulung, Sprachkurse, Nachqualifizierungen und Bewerbungen. Die Ziele der mobilen Bildungsberatung beschreibt C. als Hilfe zur Selbsthilfe und Empowerment auf dem Deutschen Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Am Anfang sei die Aufklärung über das Deutsche Berufs- und Bildungssystem am wichtigsten. Allgemein laufe eine Beratung wie folgt ab: Zuerst werden die persönlichen Wünsche und Ziele identifiziert. Danach werden Vorerfahrungen und Vorkenntnisse erhoben. Dann gehe es darum herauszufinden, was die persönlichen und familiären Hintergründe sind, ob es Kinderbetreuungsverpflichtungen oder einen Krankheitshintergrund etc. gibt. C. betont, dass es im Unterschied zu der Arbeit in den Jobcentern bei der mobilen Bildungsberatung darum gehe, viel zuzuhören und dann zu schauen, welche Ziele und Möglichkeiten bestehen und welche Schritte zu gehen sind, um die identifizierten Ziele vor dem je spezifischen persönlichen Hintergrund erreichen zu können. Am Ende stellt er die rhetorische Frage: „Was macht uns einzigartig?“ und beantwortet sie wie folgt: „Wir gehen aktiv auf unsere Kunden zu. Wir bieten geschützte Räume für vertrauliche Beratung. Alles ist kostenlos und basiert auf Freiwilligkeit. Es gibt keine Sanktionen. Durch die Senatsfinanzierung besteht Neutralität und Unabhängigkeit von einzelnen potenziellen Arbeitgebern.“
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In der geschilderten Situation wird die Abgrenzungstätigkeit an den Übergängen zu anderen sozialen Welten deutlich, die laut Strauss zu den charakteristischen Prozessen in und zwischen sozialen Welten zählt (Strauss 1978). Die Arbeit der Bildungs- und Berufsberatung wird hier in erster Linie von der Arbeit der Jobcenter beziehungsweise der Agentur für Arbeit abgegrenzt. Diese Abgrenzung wird insbesondere über die Aktivität des Zuhörens markiert, die repräsentativ für den Umgang mit den persönlichen Wünschen, Interessen und Vorstellungen der Ratsuchenden verstanden werden kann. Weitere Besonderheiten, die laut Beschreibung des Bildungsberaters die mobile Bildungsberatung in Berlin charakterisieren, grenzen das Angebot zusätzlich vom Angebot der Jobcenter ab (Freiwilligkeit, geschützte Räume, Fehlen von Sanktionen, Neutralität), zeigen aber auch den Unterschied zu anderen Angeboten der Bildungs- und Berufsberatung auf (aufsuchender Ansatz, kostenlos, Unabhängigkeit von potenziellen Arbeitgeber*innen). Schaut alle her, wir machen eine Kampagne Die zentrale Aktivität im Zusammenhang mit der künstlerischen Arbeit in der Gärtnerei ist das Sichtbarmachen von bisher Verborgenem. Dies geschieht sowohl durch die Verbindung von bisher Unverbundenem als auch durch die Inszenierung von dem, was häufig größerer Aufmerksamkeit entzogen bleibt. Die Aktivität des Sichtbarmachens bezieht sich vor allem auf die als marginalisiert gedachte Zielgruppe der Geflüchteten und die unterschiedlichen Probleme und Schwierigkeiten, die den Alltag der imaginierten Zielgruppe prägen. Allerdings sollen nicht primär die Probleme der geflüchteten Menschen sichtbar gemacht werden, sondern vor allem die Potenziale und Fähigkeiten, deren Entfaltung im Rahmen der Problemnarration durch die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen behindert wird. Somit stehen zwei künstlerische Techniken im Zentrum der Kunstwelt in der Gärtnerei: die Erzählung (der Geflüchteten über sich, ihr Leben, ihre Herkunftsregionen, ihre Flucht etc.) und die Performance (der Fähigkeiten und Potenziale der Geflüchteten in unterschiedlichen, alltäglichen wie außeralltäglichen Bereichen). „[…] es gibt aber auch die Idee eigentlich der Künstlerinnen und Künstler und des Hauses auch mit den Vorerfahrungen mit den Jugendlichen, dass man das Feld nutzen kann, um ein Bild zu setzen. Die Vorstellung von den Leuten, grad von den afrikanischen Leuten auch [...] ja eben dieses Drama, hier anzukommen, abzuhängen, nichts zu tun, schnorren, dealen, also das ganze Klischee, was nicht nur Klischee ist, sondern auch Wahrheiten hat, also wie können wir gemeinsam ’ne andere Vision ausprobieren und das geht eben über das Bild, deswegen was das Entwickeln des Landschaftsgartens mit dieser Truppe eigentlich ’ne Art Campaigning […]. Also so sind das wichtige
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Prozesse, die nur über die, ja, über die Visualität eigentlich passieren. Insofern ist es nicht zufällig, eben ästhetisches- ein ästhetisches Prinzip auch und nicht ein diskursives Prinzip, wenn man vor Ort mit diesen Bildern der Veränderung arbeitet. Das ist eigentlich die Aufgabe auch und die Chance von künstlerischen Interventionen, dass sie anders als alle anderen Bereiche und auch als die Sozialarbeit direkt auf Wahrnehmung zusteuern können.“ (Interview – Projektverantwortliche*r)
Der Interviewauszug macht deutlich, dass zu Beginn des Projektes die Situation der eher zufällig ausgewählten Kerngruppe entsprechend der Ausrichtung des CUCULA-Projektes als verallgemeinerbare Problembeschreibung in das Projektkonzept übernommen wird. In dieser frühen Phase liegt eine solche Problembeschreibung nahe, die vor allem auf erzwungene Passivität, Untätigkeit und Perspektivlosigkeit fokussiert. So stellt sich das Ausgangsproblem für das Konzept der künstlerischen Intervention in den öffentlichen Raum den Projektinitiator*innen der Schlesischen27 und von raumlabor.berlin dar. Die skizzierte Problembeschreibung und die damit in Verbindung stehende Konstruktion der Zielgruppe eignet sich, um den künstlerischen Ansatz von anderen Ansätzen, etwa der Sozialen Arbeit, abzugrenzen. Im Sinne einer Kampagne wird öffentlichkeitswirksam ein Bild von Transformation und Produktivität gezeichnet, welches einem Bild von Passivität, Perspektivlosigkeit, Drama und Kriminalität gegenübergestellt wird. Besonders aufschlussreich ist in der oben zitierten Interviewpassage, dass eine Verbindung zwischen Bild und Realität beziehungsweise zwischen Klischee und Wahrheit aufgebaut wird, die sowohl auf der Seite des gesellschaftlich vorherrschenden Bildes, „was nicht nur Klischee ist“, als auch auf der Seite des Gegenbildes, das in der Gärtnerei gezeichnet werden soll, „gemeinsam ‘ne andere Vision ausprobieren“, besteht. Die künstlerische Intervention greift in die Realität ein, sie ist deshalb mehr als ein Beitrag zu einer Debatte. Das Potenzial der Zielgruppe, ihre Produktivität, wird in der Gärtnerei unmittelbar erfahrbar. Insofern ist der künstlerische Ansatz der klassischen Sozialarbeit in den Augen der Projektverantwortlichen überlegen. Es entsteht ein Holzsteg, es entstehen Beete. Auf dem ehemaligen Friedhofsgelände entsteht durch die Arbeit der geflüchteten Menschen etwas Neues, Lebendiges. Wir sind jetzt da Die Beteiligten heben in den Gesprächen häufig die spannende Anfangszeit des SLEs hervor, in der zwar niemandem klar gewesen sei, wohin die Reise im Verlauf des Experimentes genau hingehen und was dort eigentlich passieren solle, in der aber viel Interessantes passiert sei, was immer wieder zu neuen Möglichkeiten und Ideen geführt habe. Im folgenden Interviewauszug beschriebt N. diese Anfangsphase als Prozess des Ankommens und der Aneignung:
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„Und dann waren wir wieder im Haus und dann wurden Overalls, so Mal-Overalls verteilt, so, OK: Ein Team da, ein Team da, und ich habe alle bekommen, die Französisch sprechen konnten. Und wir haben ein paar Stunden einfach alles so gewaschen und bemalt. Und, es war das erste, so, das erste: Wir sind da. Für mich gab es mehrere ‚wir sind jetzt in der Gärtnerei, wir sind da‘. Das war das erste. OK, wir dürfen das streichen, so, das ist unsere, wir dürfen hier etwas machen. Das war das erste, und dann gab es, das Feld wurde gepflügt, so nochmal: Wir sind da auch. Und dann haben angefangen die Sachen im Garten zu wachsen, und dann haben wir angefangen, diesen Steg zu bauen, dann gab es das erste Fest, das ‚Wir-sind-da‘-Fest eigentlich, dieses Einweihungsfest vom Projekt. Also, ich finde diese Aneignungsphasen vom Projekt waren super spannend, […] es war wirklich so wie eine neue, die Aufregung von ‚eine neue Wohnung einrichten‘, aber im Stadt-Maßstab, und zu 20 Menschen.“ (Interview – Projektmitarbeiter*in 1)
Auch in diesem Interviewauszug wird die Sichtbarkeit der Veränderungen hervorgehoben, die vor allem in der frühen Projektphase überall vonstattengingen. Es wird aber zusätzlich der Aspekt der Aneignung betont, der am Beispiel der Renovierungsarbeiten im Steinmetzhaus und am Beispiel der Transformationsprozesse im Garten beschrieben wird. Mit dem sogenannten ‚Wir-sind-da‘-Fest wird zudem auf eine der wichtigen Techniken in der Welt der Kunst hingewiesen, mit der noch mehr Sichtbarkeit für die künstlerischen Interventionen hergestellt werden soll. Im Rahmen von Festen und Veranstaltungen wird einer größeren Öffentlichkeit gezeigt, was auf dem ehemaligen Friedhofsgelände entstanden ist, welche Produktivität also von der Zielgruppe des SLEs ausgeht. In diesem Zusammenhang sollen die Mitglieder der Zielgruppe immer wieder selbst als sichtbare und wissende Subjekte mit eigener Geschichte, mit Erfahrungen und Fähigkeiten auftreten und sich den Besucher*innen und Gästen wie einem Publikum präsentieren. Dies geschieht in besonderer Weise im Rahmen eines regelmäßig stattfindenden Veranstaltungsformats, dem Café Nana, bei dem die Geflüchteten zu sogenannten refugee-teachern werden und den Gästen unterschiedliche Themen, häufig mit Bezug zu ihren Herkunftsregionen, näherbringen sollen. Aber auch bei anderen öffentlichen Veranstaltungen auf dem Gärtnereigelände spielt die Sichtbarkeit der geflüchteten Projektteilnehmer*innen und ihrer Arbeit eine wichtige Rolle. Das Beispiel des folgenden Auszugs aus den Beobachtungsprotokollen illustriert, wie die Projektmitarbeiter*innen diese Prozesse des Sichtbarmachens aktiv fördern:
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Beobachtungsprotokoll – Gärtnerei vom 22.05.2016 Danach geht P. ans Mikrofon und bittet alle ‚Jungs‘7 auf den Steg, um sich dort kurz den versammelten Gästen im Garten vorzustellen. Es dauert bestimmt fünf bis zehn Minuten bis alle ‚Jungs‘ und ein Großteil der Leute, die regelmäßig im Projekt mitarbeiten, auf dem Steg stehen. Die ‚Jungs‘ sollen sich jetzt auf Deutsch vorstellen. Vorstellen bedeutet: Sie sollen ihren Namen sagen und woher sie kommen.
Wir sind ein Teil der kreativen Stadt Die Sichtbarkeit der Teilnehmer*innen spielt auch außerhalb des Alltags eine wichtige Rolle. Die Gärtnerei ist Teil einer übergreifenden Kunst-Welt in Berlin, die sich vor allem im Rahmen von größeren Kunst- und Kulturveranstaltungen wie 48 Stunden Neukölln zeigt. In diesem Rahmen werden, ähnlich wie bei den Festen auf dem Gelände, einerseits das SLE insgesamt und Arbeiten, die im Verlauf des SLEs entstanden sind, präsentiert. Zudem werden die Gäste im Rahmen von Workshops und anderen Formaten in den künstlerischen Prozess vor Ort einbezogen. Außerhalb des Gärtnereigeländes in Neukölln tritt das SLE auf anderen Kunstevents und Veranstaltungen in Erscheinung. Ein Beispiel ist die künstlerische Gestaltung für das Haus der Kulturen der Welt im Rahmen des TAZ-Labs 2016 durch Beteiligte der Gärtnerei. Diese Form der Gastauftritte finden meistens im Rahmen von Veranstaltungen statt, in die die beiden Trägerinstitutionen Schlesische27 und raumlabor.berlin anderweitig involviert sind. Eine Form der Sichtbarkeit ist zudem infolge der Begleitung der Gärtnerei durch die Dokumentationsfilmer*innen Constanze Fischbeck und Sascha Bunge gegeben, die von Beginn an über den Zeitraum von mehreren Monaten den experimentellen Prozess auf dem Gelände der Gärtnerei begleitet haben. Durch mehrere öffentliche Vorführungen von Filmmaterial im Garten stellen sie selbst ein Element des künstlerischen Projektprogramms dar. Schließlich werden die projekteigene Website und vor allem die Facebookseite als Plattform genutzt, um die Sichtbarkeit 7
Die Bezeichnung „Jungs“ ist im SLE Gärtnerei eine Bezeichnung für die Gruppe aus jungen Männern, die größtenteils aus westafrikanischen Ländern über Italien nach Berlin gelangt sind und in der ersten Antragsphase der Gärtnerei als primäre Zielgruppe des Ansatzes angesehen werden können. Die Bezeichnung wird vor allem durch die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen im Projekt verwendet, teilweise aber auch von anderen Akteur*innen im Projekt übernommen.
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des Projektes zu erhöhen und das Geschehen im Projekt einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Facebookseite wird einerseits genutzt, um auf Feste, Workshops oder weitere Angebote der Gärtnerei aufmerksam zu machen, andererseits wird mit Fotogalerien und der Verlinkung von Medienberichten die künstlerische Arbeit im Projekt präsentiert. Motivation und Pünktlichkeit – „hier funktioniert es anders“ Als Projekt der Schlesischen27 mit einem Bildungsauftrag ist die Gärtnerei auch in die Welt der Bildung, genauer: in die Welt der Bildung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund eingebunden. In diesem Zusammenhang sind vor allem die regelmäßig stattfindenden Sprachkurse und die Workshops in den Bereichen Holzverarbeitung und Gartenarbeit zu nennen, in deren Rahmen sowohl für die eigentliche Zielgruppe als auch für Schulklassen aus der Nachbarschaft und andere Jugendgruppen praktische Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt werden sollen. Zusätzlich wird mit der Veranstaltungsreihe Café Nana, die im Verlauf des SLEs entstanden ist, ein besonderes Bildungskonzept umgesetzt. Hier treten die Geflüchteten im Sinne des refugeeteaching-Ansatzes als Lehrende auf und geben ihr Wissen im Rahmen von Vorträgen oder Gartenführungen an Gäste der Gärtnerei weiter. Schließlich werden über das Projekt Kontakte zu anderen Bildungseinrichtungen oder Betrieben hergestellt, um den Geflüchteten Hospitationen8 zu vermitteln, die ihnen einen Einblick in unterschiedliche berufliche Felder erlauben. Beobachtungsprotokoll – Gärtnerei vom 28.04.2016 An vier Tagen in der Woche findet in der Gärtnerei am Vormittag Deutschunterricht für Geflüchtete statt. Der
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Hospitationen haben sich als Format etabliert, da sie in einigen Fällen trotz der rechtlichen Hürden einen ersten Zugang zur Arbeitswelt ermöglicht haben. Im Interview berichtet ein*e Projektmitarbeiter*in: „Und so gab es auch mehrere Erfahrungen von Hospitationen. Also Hospitation ist wie Praktikum, aber für Leute, die nicht arbeiten dürfen, weil sogar für ein Praktikum muss man eine Arbeitserlaubnis haben. Und über das Netzwerk vom Schlesi und Raumlabor wurden dann Betriebe, oder ja, Betriebe, Firmen, Unternehmer gefunden, die Lust auf diese Erfahrung hatten. Und dann haben manche Jungs, also eigentlich fast alle von dieser Kernphase, haben alle ein paar Wochen in einem Betrieb verbracht. Und es ist natürlich einerseits sehr motivierend zum Deutschlernen gewesen, aber andererseits ist es auch ein bisschen verzweifelnd gewesen, weil sie dann zurück in der Gärtnerei waren und gemerkt haben, wie das ist, in der Arbeitswelt, und wie das sein könnte, aber ohne zu wissen, wie lange es noch dauert, bis das passieren kann, ob es passieren kann.“ (Interview – Projektmitarbeiter*in 1)
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Unterricht beginnt um 9:30 Uhr und geht bis 12:00 Uhr. Nach der Hälfte der Zeit gibt es eine fünfzehnminütige Pause. Für den Deutschunterricht werden die Geflüchteten anhand ihrer Deutschkenntnisse in zwei Gruppen aufgeteilt. Am Unterricht können auch Geflüchtete teilnehmen, die bei anderen Projekten der Schlesischen27 – wie CUCULA e.V. oder ARRIVO – arbeiten. Außerdem kommen seit Kurzem auch einige Geflüchtete aus nahe gelegenen Unterkünften zum Sprachkurs. An diesem Donnerstag wurde der Unterricht von M. vorbereitet. Sie hat CUCULA mitgegründet und ist dort verantwortlich für den pädagogischen Bereich. Sie hat Unterrichtsmaterialien für zwei Gruppen vorbereitet, davon unterrichtet sie die ‚Anfängergruppe‘, die Übungen auf dem Sprachniveaus A1.1 machen. Eine weitere ehrenamtliche Deutschlehrerin unterrichtet die ‚Fortgeschrittenen‘. Ich setze mich zu der Gruppe mit M. Mit dabei sind auch zwei der ‚Jungs‘, die ich schon kennengelernt habe. Die Gruppe wächst langsam an. Um 9.30 Uhr sind wir noch weniger als fünf Personen. Bis zur Pause sind wir etwa zehn Personen in der ‚Anfängergruppe‘. Immer, wenn jemand dazu kommt, weist M. kurz auf die Uhrzeit hin oder sagt, dass der Unterricht eigentlich um 9:30 Uhr beginne. Während sie das sagt, lächelt sie. „Du bist fast pünktlich“; „Wir beginnen normalerweise um 9.30 Uhr“. Bei einem der Teilnehmenden klingelt das Handy. M. sagt in einem bestimmten, aber freundlichen Ton: „Handys leise!“
Der Sprachunterricht wird größtenteils von ehrenamtlichen Helfer*innen durchgeführt, die zu dem Zweck an einem oder mehreren Tagen in der Woche in die Gärtnerei kommen. Für den Unterricht in der Gärtnerei wird keine besondere Ausbildung oder Qualifikation erwartet. Dadurch sind viele der ehrenamtlichen Helfer*innen relativ unerfahren in der Arbeit mit Geflüchteten und im Unterrichten von Deutsch als Fremdsprache. Lehr- und Lernmaterial bringen einige selbst mit. In den Workshop-Räumen, die als Lernorte für den Sprachunterricht dienen, entsteht im Verlauf des SLEs nach und nach eine Materialsammlung von Lehrbüchern, Wörterbüchern und anderen Hilfsmitteln für den Sprachunterricht.
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Zudem wird der Deutschunterricht in den Alltag des Projektes integriert. Überall im Steinmetzhaus findet man Plakate oder kleine Klebezettel, auf denen beispielsweise Zeichnungen von Lebensmitteln neben dem jeweiligen Wort zu sehen sind oder das deutsche Wort für das Möbelstück zu lesen ist, auf dem der Zettel klebt. Während der Deutschunterricht eher aus den alltäglichen Kommunikationsschwierigkeiten heraus entstanden ist – im Projektkonzept wird lediglich die Idee eines Paten-Modells erwähnt, das auch zur Unterstützung beim Deutschlernen dienen soll –, war ein Bildungsprogramm im Zusammenhang mit der Gartenarbeit von Beginn an vorgesehen. Dementsprechend gibt es eine vorgesehene Projektstelle, die als pädagogische Leitung für die Planung und Durchführung des pädagogischen Angebots zuständig ist. Die Vermittlung von Wissen in den Bereichen Gartenbau und Holzverarbeitung und in weiteren Bereichen, die im Laufe des Projektes eher zufällig hinzugekommen sind, kann unterteilt werden in einen theoretischen und einen praktischen Teil. Ersterer findet häufig in den WorkshopRäumen statt und führt kurz in ein bestimmtes Thema ein, zum Beispiel das Pikieren und Einpflanzen von Setzlingen oder die Grundlagen des Imkerns. Am Ende dieser theoretischen Einführungen wird dann gemeinsam der praktische Arbeitseinsatz im Garten oder in der Werkstatt geplant. Es werden einzelne Aufgaben verteilt und Gruppen gebildet. In der Praxis wird dann nach dem Prinzip learning by doing in der Werkstatt oder im Garten praktisches Wissen vermittelt. Zusätzlich zum Erlernen der Sprache und zur Vermittlung von handwerklichen Fähigkeiten und Fertigkeiten gehört laut einer Projektmitarbeiterin die Vermittlung von kulturellen Praktiken und Werten im Bereich der Arbeitswelt in Deutschland zu den wesentlichen Bildungszielen. Dazu gehöre beispielsweise die Vermittlung von Werten wie Pünktlichkeit, was das oben zitierte Beobachtungsprotokoll bestätigt: „[…] die Gärtnerei macht kein Ausbildungsprojekt, aber war, also versucht, für eine Ausbildung vorzubereiten, über normal Sprache, diese unterschiedlichen Tätigkeiten, die man in der Gärtnerei lernen konnte, und auch über einfach die, eine regelmäßige und pünktliche Beschäftigung, einfach auch zu verstehen geben, dass es hier anders funktioniert, und dass hier pünktlich sein ist nicht ein Luxus, sondern eine Regel, und solche Sachen eigentlich, ja?“ (Interview – Projektmitarbeiter*in 1)
Interessant ist an diesem Interviewausschnitt die Betonung eines einheitlich gedachten ‚hier‘, das „anders funktioniert“ als das imaginierte ‚dort‘ der Herkunftsregionen der Mitglieder der Zielgruppe. In der Welt der Bildung wird damit die Gärtnerei – anders als in der Welt der Kunst – zu einem ‚typischen‘ Ort, der für das ‚hier‘ steht und die Werte und Regeln, die mit diesem ‚hier‘ verbunden sind, vermitteln soll. Damit unterscheidet sich die Bildungswelt in einem
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wesentlichen Punkt von der Kunstwelt, in der die Gärtnerei dezidiert als ‚Sonderort‘ gedacht wird, die ein Gegenbild zu den in der Gesellschaft vorherrschenden Bildern gestalten und zeigen möchte. „eine Möglichkeit, von denen auch zu lernen“ Wiederum eine Ausnahme und Besonderheit in der sozialen Welt der Bildung ist das monatlich stattfindende Café Nana.9 Es handelt sich um eine Veranstaltung, bei der die Gärtnerei ihre Türen für Nachbar*innen und andere Interessierte öffnet und unterschiedliche Aspekte der eigenen Arbeit vorstellt. Hier wird das Format – wie der Garten selbst – nicht nur als Lernort, sondern auch als Begegnungsort und Ort des Austausches zwischen den Mitgliedern der Zielgruppe und der Nachbarschaft konzipiert. Die am Projekt beteiligten Geflüchteten halten zunächst Vorträge über ihre Arbeit oder ihre Herkunftsländer, danach findet in der Regel ein gemeinsames Abendessen statt, das den Gästen kulinarische Spezialitäten der jeweiligen Herkunftsländer näherbringen soll. Zusätzlich werden Touren durch den Garten angeboten und Arbeiten ausgestellt, die in Gärtnerei-Workshops entstanden sind. Der Abend endet mit einem Fest auf dem Gelände. „Und es war auch die Möglichkeit, die Teilnehmer auf der Bühne zu haben. Also nicht nur dieses […] ich lerne, ich bekomme Wissen, ich bekomme eigentlich. [Sondern] das umzudrehen und zu sagen, eigentlich, es ist nur, Du bist in meinem Land, deswegen weiß ich mehr als Du, wie das funktioniert, aber eigentlich weißt Du auch genauso, so viel. Du bist ungefähr so alt wie ich, Du hast so viel Wissen, so viel Erfahrung, so viel erlebt, ich will auch davon wissen. Also um, für mich war das ein Moment, wo man wieder dieses Gleichgewicht vielleicht, ne, also ne, das ist auch falsch, also dieses Gleichgewicht war da in den Augen, aber wo man, vielleicht wenn man manchmal das Gefühl hatte, ähm, dass wir, also ... Ne, es war einfach eine ... Also ich weiß nicht, wie ich das gut sagen soll, eine Möglichkeit, von denen auch zu lernen. Weil man im Alltag das umkehrt. Das war das Umgekehrte vom Alltag.“ (Interview – Projektmitarbeiter*in 1).
Zur Sprache kommt nicht nur die gezielte und gewünschte Umkehrung der etablierten Wissensverhältnisse im Rahmen eines Veranstaltungsformates, sondern auch die Einordnung dieser Umkehrung als außeralltäglich, die bei der interviewten Projektmitarbeiterin mit Formulierungsschwierigkeiten einhergeht, da sie möglicherweise dem Ideal eines ausgeglichenen Verhältnisses wieder den Alltag 9
Der Name Café Nana kann von der in vielen Sprachen verbreiteten Bezeichnung für Minze abgeleitet werden. Er wurde für das Format ausgewählt, da im Garten Minze angebaut wurde, die häufig für die Zubereitung von Getränken und Speisen im Rahmen der Veranstaltungen verwendet wurde.
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eines asymmetrischen Verhältnisses in der sozialen Welt der Bildung entgegenstellt.10 Gleichzeitig verweist die Projektmitarbeiterin gleich zu Beginn des Auszuges auf die Kunstwelt, wenn sie sagt, dass es darum gehe, die „Teilnehmer auf der Bühne zu haben“. Hier kommt es zu einer Überschneidung der unterschiedlichen sozialen Welten: Während das Café Nana als Teil der Bildungswelt versucht, die alltäglich etablierten Wissensverhältnisse einmal umzukehren, steht für das Café Nana als Teil der Kunstwelt vor allem die Sichtbarkeit und Inszenierung der Projektteilnehmer und deren Potenziale im Fokus.
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Zwischenfazit
Das vorliegende Kapitel zeigt, dass die Auswahl von Problemen, Zielgruppen und Lösungsansätzen innerhalb der untersuchten Street-level-Experimente als kokonstruktive Prozesse angesehen werden können, die in mehrfacher Hinsicht situiert sind. Im Rahmen dieser Prozesse müssen die beteiligten Akteur*innen die vorhandenen Möglichkeiten und Anforderungen aus unterschiedlichen Bereichen berücksichtigen und miteinander in Übereinstimmung bringen. Welche Problemstellung auf welche Art und Weise in einem Street-level-Experiment bearbeitet wird, steht in Zusammenhang mit a) der übergreifenden politischen Arena und den dort verbreiteten Diskursen und Positionen, den rechtlichen Rahmenbedingungen und den vorhandenen (finanziellen) Ressourcen; b) der Vergangenheit der beteiligten Akteur*innen, den bereits erfolgreich erprobten Ansätzen und Erfahrungen mit bestimmten Kooperationspartner*innen und c) mit den sozialen Welten, in die diese eingebunden sind, samt der dafür typischen Aktivitäten, Organisationsformen, Interpretations- und Deutungsmuster und Techniken. Machbare Problemstellungen werden generiert, indem die Möglichkeiten und Anforderungen der unterschiedlichen Bereiche miteinander in Übereinstimmung gebracht oder besser: aufeinander abgestimmt werden. Das Generieren machbarer Problemstellungen beginnt, wie insbesondere in den Abschnitten 6.1. und 10
In diesem Zusammenhang kann auch auf die im Alltag des SLEs geläufige Bezeichnung der Kerngruppe aus jungen Männern als „die Jungs“ hingewiesen werden, die tendenziell gegen die Vorstellung eines Verhältnisses auf Augenhöhe bzw. gegen die Vorstellung eines ausgeglichenen Wissensverhältnisses spricht.
6.4 Zwischenfazit
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6.2. dargelegt wurde, bereits vor dem eigentlichen Start der Experimente. Vor allem, um die benötigten Ressourcen einzuwerben und geeignete Kooperationspartner*innen zu gewinnen, musss es im Vorfeld des Experimentierens zumindest annährungsweise gelingen, die Möglichkeiten und Anforderungen der unterschiedlichen Ebenen so in Übereinstimmung zu bringen, dass die erfolgreiche Bearbeitung der Problemstellungen mit einer ausreichend hohen Wahrscheinlichkeit in Aussicht gestellt werden kann. In einer von Ungewissheit und Wandel charakterisierten Situation erscheint diese Aufgabe zu Beginn der Street-levelExperimente ausgesprochen herausfordernd. Zwar beschreiben etwa Geuijen et al. für die Niederlande gerade eine solche Situation als Gelegenheitsfenster, welches von unterschiedlichen lokalen Akteur*innen genutzt werden kann, um mit neuen politischen Ansätzen zu experimentieren (Geuijen et al. 2020). Allerdings zeichnen sich die von Geuijen et al. untersuchten Street-level-Experimente ebenfalls dadurch aus, dass die unkalkulierbare Ungewissheit in ein kalkulierbares Risiko umgewandelt werden muss, indem bereits seit Langem ausgearbeitete Ansätze auf eine als neuartig wahrgenommene Situation angewendet und Kooperationen bevorzugt werden, die auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit in der Vergangenheit zurückgreifen können: „Firstly, it was linking already well-developed alternatives to suddenly emerging problems […]. A second crucial aspect was the establishment of public-private partnerships that were an extension of, and built on, existing alliances between the municipal partners and NGOs. This enabled the creation of a partnership in which some of the partners already knew each other, trusted each other and were able to build on earlier methods.“ (Geuijen et al. 2020: 258)
Die Einbindung bereits erprobter Ansätze und Kooperationen lässt sich in ganz ähnlicher Weise bei den hier untersuchten Street-level-Experimenten beobachten. Der Ansatz der mobilen Beratung wurde bereits Jahre vorher für andere Zielgruppen umgesetzt. Die Sichtbarmachung von Potenzialen in der Gärtnerei in Form von Kampagnen ebenso wie die Verbindung von praktischer Arbeit, Deutschunterricht und künstlerischer Intervention haben ihr Vorbild in dem Projekt CUCULA, das wie die Gärtnerei ebenfalls durch die Schlesische27 umgesetzt wurde. Auch wurde in beiden Fällen auf lange bestehende Kooperationen vertraut, um eine verlässliche und vielversprechende Zusammenarbeit zu fördern. Mit Blick auf die beteiligten sozialen Welten kann auf eine weitere Dimension der Situiertheit von SLEs aufmerksam gemacht werden. Wie in Abschnitt 6.3. gezeigt, bedingen sich die Auswahl und Konstruktion von Problemen, Zielgruppen und Lösungsmöglichkeiten nicht nur gegenseitig, sondern sie sind in erheblichem Maße durch die beteiligten sozialen Welten und die spezifische Art
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und Weise, wie diese mit ihrer Umwelt interagieren, geprägt. Der Beratungsansatz, der dem Konzept der mobilen Bildungsberatung zugrunde liegt, ist eng mit den gesellschaftlich verankerten Prinzipien der Lern-, Optimierungs- und Verbesserungsanforderungen an das moderne Subjekt verknüpft (Gröning 2016). So wird die Beratung als ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ aufgefasst, die möglichst früh nach der Ankunft in Berlin dazu beitragen soll, die Fähigkeiten und Potenziale der geflüchteten Menschen zu fördern. Insbesondere die verantwortliche Senatsverwaltung betont als Fördermittelgeberin eine gesellschaftliche Funktion der Bildungsberatung, die „als Motor für gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung“ bezeichnet wird und „über die Zukunftschancen und Innovationskraft von Gesellschaft“ entscheide (Breitenbach 2018). Die immer wiederkehrenden Schlagworte in diesem Zusammenhang sind der Fachkräftemangel und der rasante technologische Wandel, der das lebensbegleitende Lernen zur Voraussetzung für anpassungsfähige Fachkräfte macht. Der Ansatz geht aus der Welt der Beratung zu Bildung und Beruf in Berlin hervor und knüpft an eine auf Nützlichkeit ausgerichtete Integrationspolitik an, die nicht zuletzt arbeitsmarktpolitische Ziele verfolgt. Im SLE Gärtnerei spielt ein für Berlin typischer künstlerischer Ansatz eine zentrale Rolle, bei dem Kunst als gesellschaftskritischer Diskurs und Künstler*innen als sozial engagierte Menschen (Moser 2013) aufgefasst werden. Im SLE soll an einem positiven Gegenbild zu den in der Gesellschaft verbreiteten Bildern über Flucht gearbeitet werden. Die geflüchteten Menschen werden in diesem Prozess als kreative Partner*innen von Künstler*innen bezeichnet, die durch kulturelle Bildung einen künstlerischen Zugang zu sich und ihrer Umwelt ausbilden und damit neue Handlungspotenziale freisetzen können. Der Ansatz entspringt mithin der Berliner Welt der Kunst und der kulturellen Bildung, orientiert sich an deren grundlegenden Vorstellungen, verfolgt deren Hauptaktivitäten, nutzt deren Organisationsformen, Techniken und Artefakte. Als Teil der Berliner Kunstwelt und aus dem Verständnis von Kunst als gesellschaftskritischem Diskurs heraus wird in der Gärtnerei an einem positiven und produktiven Gegenbild von Flucht gearbeitet. Die geflüchteten Menschen sollen in ihrer produktiven, kreativen und bereichernden Eigenschaft sichtbar gemacht werden, indem sie an den kreativen Prozessen beteiligt werden, anstatt sie durch Arbeitsverbote und den Ausschluss von Bildungsmöglichkeiten auf Warten, Untätigkeit und Passivität zu reduzieren. Als Teil der Welt der kulturellen Bildung fördert die Gärtnerei zudem die Stärkung kreativer, flexibler und anpassungsfähiger Individuen mit einer kritischen Haltung sowie die Wertschätzung für kulturelle Diversität und interkulturellen Austausch. Das Anliegen besteht darin, einerseits individuelle Potenziale sichtbar zu machen, Selbstbewusstsein sowie das Gefühl von
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Selbstwirksamkeit zu stärken, andererseits hinsichtlich der Gesellschaft „[…] die Humanressourcen hervorzubringen, die zum Erschließen […] wertvollen kulturellen Kapitals notwendig sind“ (UNESCO 2006: 5 [zitiert in: Weiß 2017: 15]). Auch in diesem Ansatz kommt eine Orientierung an Nützlichkeit zum Vorschein, wobei hier deutlicher an den Culture for Competetiveness-Ansatz (Bodirsky 2012) angeknüpft wird, gemäß dem eine diversitätsorientierte Integrationspolitik als Teil einer Standortpolitik betrieben wird, die auf die Förderung eines innovationsfreundlichen Umfelds ausgerichtet ist. Nicht nur die Auswahl von Ansätzen und Kooperationspartner*innen, von Zielgruppen und der Art und Weise der Problemdefinition, sondern auch das experimentelle Setting selbst ist entscheidend durch die kulturelle Präkonfiguration beziehungsweise die beteiligten sozialen Welten geprägt (vgl. Abschnitt 5.1.2 und Abschnitt 5.2.2). Dies betrifft u. a. die Entscheidungen darüber, was in das Blickfeld des Experimentierens fällt, wie beobachtet, gemessen und bewertet wird und was auf welche Art und Weise daraus gelernt wird. Den Rahmen für dieses experimentelle Vorgehen im SLE mobile Bildungsberatung steckt im Wesentlichen ein übergreifendes Fachkonzept ab, welches selbst im Laufe des experimentellen Prozesses und der auf dem Street-level gemachten Erfahrungen Anpassungen und Weiterentwicklungen unterliegt. Durch die Beratungsdokumentation und das elektronische Dokumentationssystem Casian werden für das gesamte Beratungsnetzwerk standardisierte Daten zu den Ratsuchenden, den Beratungsanliegen sowie zum Beratungsvorgehen erhoben. Diese Daten werden von den einzelnen Beratungsstellen in Monats-, Quartals- und Jahresberichten zusammengefasst und seitens einer externen Dienstleisterin für die zuständige Senatsverwaltung ausgewertet. Zusätzlich können die Ratsuchenden mithilfe eines standardisierten und in mehreren Sprachen vorliegenden Evaluationsbogens die Beratung nach dem IOSM-Modell bewerten. Die Ergebnisse der Evaluationsbögen werden gemeinsam mit Informationen zu den mobilen Beratungsorten und den Netzwerkkontakten vom Koordinationsprojekt P:iB in einem Quartalsbericht veröffentlicht. Die einzelnen Beratungseinrichtungen sind in einen gemeinsamen Qualitätsentwicklungsprozess nach dem Berliner Modell der Beratung zu Bildung und Beruf eingebunden. Zudem tauschen sich die beteiligten Akteur*innen im Rahmen unterschiedlicher Koordinations- und Austauschrunden eher informell über Herausforderungen und Verbesserungspotenziale auf dem Street-level aus, stimmen die Herangehensweise ab und entwickeln so den Ansatz in Auseinandersetzung mit der Arbeit auf dem Street-level und im Austausch mit den jeweils anderen Beratungseinrichtungen weiter. Es finden netzwerkübergreifende Lernprozesse auf der Ebene der Berater*innen statt, und zwar vor allem im Rahmen von regelmäßigen Fachaustausachen und Schulungen und bei der gemeinsamen
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Zur Situiertheit von SLEs
Arbeit in den WiA-Büros. Die standardisierte Beratungsdokumentation und das Berichtswesen tragen zu einer Quantifizierung der Beobachtung und Auswertung des experimentellen Prozesses bei. Insbesondere Beratungszahlen gelten als Gradmesser für einen erfolgreichen Ansatz beziehungsweise für erfolgreiche Versuche, den Ansatz weiterzuentwickeln,11 und die aggregierten Daten über die Ratsuchenden sowie über die Beratungsthemen werden bei der Anpassung des Beratungsansatzes berücksichtigt. So wird die Erfassung von Fallzahlen im Rahmen des elektronischen Erfassungssystems Casian sowie das Erfassungssystem selbst mit seinen strukturellen Vorgaben relevant und spielt bei der (Re-) Definition von Problemen, Zielgruppen und Ansätzen eine wichtige Rolle. Im Fall der Gärtnerei wird ein Fokus auf die Erzeugung von Öffentlichkeit und (medialer) Sichtbarkeit gelegt, was einen großen Einfluss auf die Definition von Erfolg und Misserfolg im experimentellen Prozess hat. Die damit zusammenhängenden Wahrnehmungs- und Lernprozesse finden zum einen im Rahmen von öffentlichen Veranstaltungen statt, die darauf abzielen, unterschiedliche zivilgesellschaftliche Akteur*innen in die Prozesse einzubeziehen. Zum anderen laufen sie in Form von häufig informell einberufenen Meetings im Alltag des SLEs und in formelleren Visionstreffen der Projektmitarbeiter*innen ab, in deren Rahmen unter Rückbezug auf die Erfahrungen auf dem Street-level neue Visionen und Vorhaben für die weitere Arbeit auf dem Street-level entwickelt werden sollen. Welche Aspekte des Ansatzes ‚funktionieren‘ und beibehalten werden sollen und welche verändert werden müssen, hängt von deren jeweiligem Beitrag zu einem öffentlich sichtbaren Bild ab, das Motivation, Kreativität und Produktivität widerspiegelt. Die Sichtbarkeit von Passivität, Perspektivlosigkeit und mangelnder Motivation wird als Problem für den Ansatz angesehen. Insgesamt zeichnet sich ab, dass vor allem zu Beginn der SLEs Machbarkeit in Aussicht gestellt wird, indem an verbreitete Positionen und Sichtweisen in der übergreifenden Arena sowie an erfolgreich erprobte Ansätze und Kooperationen angeknüpft wird. Die Konstruktion von machbaren Problemstellungen endet allerdings nicht mit der Sicherung der notwendigen Ressourcen, sondern wird im Laufe der Experimente weitergeführt und bezieht zunehmend Elemente auf dem Street-level ein. Damit geht die fortlaufende Aushandlung von Problemen, Zielgruppen und Lösungsansätzen einher. Diese Anpassungsprozesse können einerseits auf Veränderungen auf den unterschiedlichen Ebenen zurückgeführt werden, andererseits ist die Konstruktion machbarer Problemstellungen 11
Die Beratungszahlen spielen vor allem deshalb eine so wichtige Rolle, weil sie ein vermeintlich objektives Erfolgskriterium darstellen und die Beratungseinrichtungen ihnen eine wesentliche Bedeutung im Wettbewerb um finanzielle Ressourcen zuschreiben.
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immer vorläufig, da antizipierend verschiedene Annahmen über die Beschaffenheit von Arena, sozialen Welten und Street-level-Praxis getroffen werden, die sich im Verlauf der Experimente als unangemessen oder als ungenau erweisen können. So können vor allem auf dem Street-level immer wieder Gelegenheiten und Widerstände auftreten, die so nicht vorhergesehen wurden und die vorübergehende Machbarkeit der Problemstellungen infrage stellen. Im folgenden Kapitel wird näher darauf eingegangen, wie die Machbarkeit der Problemstellungen auch im weiteren Verlauf der Experimente immer wieder neu generiert werden muss und welche Auswirkungen das auf die (Re-)Definition von Problemen, Zielgruppen und Lösungsansätzen haben kann.
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SLEs und die Konstruktion machbarer Problemstellungen
Was passiert, wenn zwar zu Beginn der SLEs erfolgreich machbare Problemstellungen in Aussicht gestellt wurden, im Verlauf der Experimente aber auf dem Street-level Hindernisse auftreten, die die Machbarkeit der zugrunde liegenden Problemstellung infrage stellen oder wenn sich auf dem Street-level neue Gelegenheiten bieten, die bisher bei der in Aussicht gestellten Machbarkeit noch nicht berücksichtigt wurden? In den folgenden Beschreibungen des experimentellen Prozesses wird aufgezeigt, wie die Konstruktion machbarer Problemstellungen und damit der ko-konstruktive Prozess der Aushandlung von Problemdefinitionen, Zielgruppen und Lösungsansätzen im weiteren Verlauf der SLEs fortgeführt wird.
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Vom WiA-Büro „im Wohnzimmer der Geflüchteten“ zum Ladengeschäft
Ende 2015 machte die für die MoBiBe zuständige Senatorin den Vorschlag, dass geflüchtete Menschen direkt vor Ort in den Unterkünften aufgesucht und beraten werden sollten, um die geflüchteten Menschen so früh wie möglich erreichen zu können. In diesem Zusammenhang wurden die Idee sowie der Name der Willkommen-in-Arbeit-Büros lanciert. Die WiA-Büros sollten nicht nur als Beratungsort für die MoBiBe „direkt im Wohnzimmer“1 der Geflüchteten dienen, sondern auch für weitere Angebote in den Bereichen Bildung und Arbeit, die sich direkt an Geflüchtete richten, offenstehen und im Sinne eines „Kompetenzzentrums“ (Interview – Projektsteuerung 2) für die Belange von Geflüchteten Angebote und Informationen bündeln. 1
Vgl. Fußnote 4 in Kap 3.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 F. Maas, Politik zwischen Innovation und Machbarkeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-38335-0_7
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SLEs und die Konstruktion machbarer Problemstellungen
„[…] und dann ist das erste Büro tatsächlich, man kann wirklich sagen, aus dem Boden gestampft worden. Also das ging dann ganz ganz schnell, war auch echt ein enormer Prozess für alle Beteiligten denke ich, also das so aus dem Ärmel zu schütteln und dann stand tatsächlich Ende Januar das erste WiA-Büro in Tempelhof, quasi bei den Hangars. Und dieser Prozess hörte dann so schnell erstmal nicht auf, weil Ende April ist dann ja schon das zweite WiA-Büro in Lichtenberg entstanden. Und dann hat man sich tatsächlich ein kleines bisschen mehr Zeit genommen, in Anführungsstrichen, und hat dann Anfang September das dritte entstehen lassen in Spandau.“ (Interview – Projektsteuerung 2)
Die WiA-Büros sollten konzeptionell zu Beginn vor allem zwei Anliegen miteinander verbinden: Zum einen sollten an einem Ort mehrere öffentlich geförderte Projekte im Bereich der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration2 zusammenarbeiten, damit die Geflüchteten entsprechend ihrer individuellen Situation und ihrer jeweiligen Bedürfnisse an einem zentralen Ort unterstützt werden können. Zum anderen war in den Augen der verantwortlichen Akteur*innen eine gezielte Ansprache und ein niedrigschwelliger Zugang notwendig, damit die geflüchteten Menschen möglichst frühzeitig erreicht werden können. Aus diesem Grund sollte die Beratung an jenen Orten angeboten werden, an denen die geflüchteten Menschen leben und lernen, wie es im Fachkonzept der mobilen Bildungsberatung heißt (SenAIF 2016a). Innerhalb kürzester Zeit wurde das neue Konzept umgesetzt, sodass bereits im Januar 2016 das erste WiA-Büro in einem Hangar des ehemaligen Flughafens im Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg eröffnet wurde, wo sich zu diesem Zeitpunkt die größte Berliner Notunterkunft für Geflüchtete mit mehr als 2.000 Bewohner*innen befand. Bereits Ende April 2016 öffnete das zweite Büro im Bezirk Lichtenberg ebenfalls in einer großen Notunterkunft, das dritte folgte im September 2016 im Bezirk Spandau. Anders als bei den beiden vorherigen wurde der Spandauer Beratungsort jedoch nicht mehr direkt in die Räume einer Notunterkunft integriert, beispielsweise in der nahe gelegenen SchmidtKnobelsdorf-Kaserne, sondern in der zwei Kilometer entfernten Altstadt in einem 2
Dazu zählen neben der MoBiBe die mobilen Berater*innen der Jobpoints (MoBiJob), die einerseits ein Netzwerk zu unterschiedlichen Arbeitgeber*innen bereitstellen und andererseits konkrete Stellenausschreibungen aushängen und Stellen vermitteln; die Job Coaches für Geflüchtete, deren Ansatz sich in Anlehnung an die Arbeit mit Langzeitarbeitslosen durch eine intensivere Begleitung einzelner Personen über einen längeren Zeitraum auszeichnet und in der Regel nicht bei der Vermittlung in eine bestimmte Maßnahme oder ein Praktikum, eine Ausbildung, ein Studium oder eine reguläre Stelle endet. Schließlich sollten Integrationslots*innen in den WiA-Büros aktiv sein, deren Arbeit eher an der Schnittstelle zwischen Sozialberatung und Fachberatung angesiedelt ist. Es gab zudem die Überlegung, dass Vertreter*innen des IQ-Netzwerkes Angebote zur Anerkennungsberatung vor Ort machen.
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Ladengeschäft untergebracht. Die Idee einer zentralen Anlaufstelle direkt am Ort des Ankommens und im sprichwörtlichen „Wohnzimmer“ der geflüchteten Menschen wurde zugunsten einer räumlichen Lösung verworfen, die ungefähr den Beratungsorten der schon lange in Berlin etablierten Bildungsberatung entsprach. Im Verlauf des darauffolgenden Jahres wurde das erste WiA-Büro in Tempelhof geschlossen und das zweite Büro in Lichtenberg verließ die Räumlichkeiten in der Notunterkunft und bezog ein Ladengeschäft in Lichtenberg, das in der folgenden Beobachtungssequenz beschrieben wird. Beobachtungsprotokoll – MoBiBe vom 24.10.2017 […] Das Willkommen-in-Arbeit-Büro (WiA) in Lichtenberg ist ein kleines Ladengeschäft mit einem größeren Eingangsbereich, einem Büroraum im hinteren Teil, einer kleinen Küche und einem Badezimmer. Das Büro verfügt über große Schaufenster zur Straße und eine Tür, die den größeren Eingangsbereich direkt zur Straße hin öffnet. Draußen an der Hauswand ist das Schild der Willkommen-in-Arbeit-Büros zu sehen, auf dem Gehweg steht ein Aufsteller, der ebenfalls auf den Beratungsort hinweist. Der Eingangsbereich ist, ähnlich wie in den anderen WiA-Büros, mit großen Beratungstischen, Stühlen und einigen Aufstellern für Flyer und Broschüren ausgestattet. Auch die üblichen Aushangwände mit Stellenanzeigen der Jobpoints sind an einer Wand zu sehen […].
Sowohl die zuständigen Senatsverwaltungsmitarbeitenden als auch die Koordinator*innen und Berater*innen betonen, es habe einen ausdrücklichen politischen Willen zur Einrichtung von WiA-Büros gegeben. Der zeitliche Vorlauf für die erste Eröffnung Anfang 2016 sei sehr gering gewesen. Der Wunsch der Berliner Politik, Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, habe dazu geführt, dass ein noch unausgereifter Ansatz vorzeitig an den Start gehen musste. „So, Willkommen-in-Arbeit-Büros. Da haben wir knapp vor einem Jahr das erste auf dem Flughafen Tempelhof eröffnet und das war eine – das war politischer Wille. Da hatten wir sehr geringen Vorlauf und das macht es schwer, um es mal so auszudrücken. Weil, wie gesagt, das war politischer Wille, wir müssen hier was tun, es muss ein Zeichen gesendet werden, wir machen eine Beratungsstelle auf dem Flughafen
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Tempelhof auf, weil ja auch damals der Flughafen Tempelhof sehr im Fokus stand […].“ (Interview – Projektsteuerung 1)
Entscheidungen wie die Platzierung des ersten Büros direkt in den Hangars des ehemaligen Flughafens, die aus Sicht der Verwaltungsmitarbeiter*innen vor allem einer politisch nützlichen Öffentlichkeitswirksamkeit dienten, mussten später zurückgenommen werden. Es rückten Erwägungen in den Vordergrund, die laut Verwaltung, Projektkoordination und Berater*innen die Machbarkeit des SLEs gewährleisten konnten. Für die Suche nach einem geeigneten Standort für das dritte WiA-Büro in Spandau stand dann mehr Zeit zur Verfügung. Im folgenden Interviewauszug beschreibt ein*e Verwaltungsmitarbeiter*in diesen Suchprozess und skizziert die damit einhergehenden unterschiedlichen Erwägungen: „Dann hatten wir – also wir sind ja ständig am Gucken: Wo sind Großunterkünfte, wo funktioniert was, wie können wir’s tun? Und haben das dritte Büro in Spandau eröffnet Anfang September und wollten ursprünglich in die Mertensstraße, das ist ’ne alte Zigarettenfabrik, das haben wir uns da angeguckt und haben eigentlich für uns entschieden: Das ist kein guter Ort. Einfach weil die Infrastruktur dieses Heimes – das ist eine Fabrikhalle. Da sind keine abtrennbaren Räume vorhanden, um eine vertrauensvolle Beratung zu machen […]. Aber die Heimleitung hat gesagt: Ja, wir würden gerne und haben aktiv danach gesucht, um das zu ermöglichen, also wenn da auf der anderen Seite jemand steht, der unbedingt was für seine Bewohner machen will, dann soll man das auch tun, aber im Endeffekt hat es sich aus Brandschutzund Umbaugründen dann zerschlagen […]. Wie gesagt, in der Zigarettenfabrik hatten wir ein ungutes Gefühl, hat sich dann eh zerschlagen, dann sind wir in die SchmidtKnobelsdorf-Kaserne, da haben wir gesagt: Hier ist schön, hier würden wir gerne was bereitstellen. Es sind Kasernengebäude da, die aus unserer Sicht an sich sofort beziehbar wären, aber da hat auch wieder der Brandschutz gesagt: Nee, ist nich’ […]. Es war dann der Vorschlag, auf dem Gelände einen Container aufzustellen und dort die Beratung durchzuführen und da haben wir aus fachlicher Sicht gesagt: Nee, das machen wir nicht. Weil auf zehn Quadratmeter im Blechgehäuse, das ist kein Willkommen, das geht nicht, das funktioniert nicht.“ (Interview – Projektsteuerung 1)
Der erste Ort erschien demnach nicht geeignet, weil die räumliche Situation keine Beratung nach den Standards der Berliner Bildungsberatung zuließ. Weil sich aber die Heimleitung der Unterkunft in der ehemaligen Zigarettenfabrik aktiv für ein dortiges Beratungsbüro einsetzte, waren die schlechten Voraussetzungen für eine vertrauensvolle Beratung zunächst zweitranging. Bei diesem und bei einem zweiten Objekt war letztlich der Brandschutz ausschlaggebend für das Scheitern des Vorhabens, obwohl dort die Voraussetzungen für die Beratung aus Sicht der Verwaltungsmitarbeiter*innen gegeben waren. Die Eröffnung
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eines Beratungscontainers wurde wiederum aus fachlicher Sicht als ungeeignet empfunden. „[…] Haben uns deshalb entschieden, in der Fußgängerzone in der Jüdenstraße ein Willkommen-in-Arbeit-Büro zu eröffnen. Das weicht jetzt von dem ursprünglichen Konzept ab, dass wir sozusagen eigentlich in die Unterkünfte reingehen wollen und jetzt machen wir’s eigentlich wieder so, wie wir’s bei unseren ganzen anderen Beratungsstellen haben, nämlich wir gehen in die- zur Laufkundschaft. Also so haben wir’s ja mit den Lernläden gemacht, so machen wir’s mit den Jobassistenzen rundherum, es ist eigentlich wieder das gleiche Konzept, das hatte damit zu tun, weil dort ein Raum zur Verfügung stand, der sowieso einem unserer Träger gehörte und wir mussten schnell reagieren, haben gesagt: Probieren wir’s einfach mal und das wird angenommen. Weil die Leute auch gerne aus ihrer Unterkunft rausgehen, sie gehen unter die normale Bevölkerung und haben einen Termin irgendwo, wo sie direkt beraten werden und ja, es funktioniert besser.“ (Interview – Projektsteuerung 1)
Mit der Entscheidung, das dritte WiA-Büro nicht mehr direkt in den Räumlichkeiten einer Unterkunft zu eröffnen, sondern in einem Ladengeschäft in der Fußgängerzone der Spandauer Altstadt, wird ein zentraler konzeptioneller Aspekt der WiA-Büros aufgegeben. Nun wird auf eine räumliche Anordnung zurückgegriffen, die bei den Trägerorganisationen der MoBiBe, d. h. den öffentlich geförderten Bildungs- und Berufsberatungseinrichtungen in Berlin, seit Jahren etabliert ist. Während die Entscheidung für den konkreten Ort pragmatisch mit dessen Verfügbarkeit begründet wird, wird die Veränderung des Ansatzes anders legitimiert: einerseits durch den Verweis auf die Tradition der Lernläden und Jobassistenzen, andererseits mit dem Argument, dass der neue Ort von den geflüchteten Menschen „angenommen wird“ und besser „funktioniert“. In diesem Zusammenhang wird ein Bedürfnis der Zielgruppe neu in den Diskurs eingeführt: Die geflüchteten Menschen wollen die Unterkunft gelegentlich verlassen, sie „gehen unter die normale Bevölkerung und haben einen Termin irgendwo“, sie möchten ein „normales“ Leben führen. Die ursprüngliche Vorstellung einer schwer erreichbaren Zielgruppe, die Beratungsangebote nicht selbstständig aufsucht und die deshalb direkt an jenen Orten aufgesucht werden muss, wo sie sich in ihrem Alltag aufhält, wird ersetzt durch die Vorstellung einer Zielgruppe, die lieber das alltägliche Umfeld Unterkunft verlassen möchte und sich an den Gewohnheiten der „normale[n] Bevölkerung“ orientiert. Diese Umdeutung der Bedürfnisse und Wünsche der Zielgruppe erfolgt, ohne dass diese dazu befragt wird, aber sie passt zur neuen räumlichen Ausrichtung der Beratungsorte. Und diese neue Ausrichtung funktioniert nicht zuletzt deshalb, weil sie den Vorstellungen, Anforderungen und Bedürfnissen der unterschiedlichen
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sozialen Welten entspricht, die an den Aushandlungen im Rahmen der Experimente mit dem neuen Beratungsansatz und der Auswahl und Gestaltung der Beratungsräume beteiligt sind. Deutlicher als im oben zitierten Interviewauszug differenziert eine weitere befragte Person zwischen der Idee, die dem Ansatz ursprünglich zugrunde lag, und der Machbarkeit des Ansatzes: „Also wir hatten ja – und das war damals absolut richtig so – angedacht, dass eben die WiA-Büros in den Unterkünften selbst sein sollen, weil es natürlich Sinn macht, die Leute dort abzuholen, wo sie sind, also dieser ganz sozialpädagogische Ansatz letztendlich ja. Wie sich aber herausstellte, hat das ja mannigfaltige Probleme mit sich gezogen und deswegen ist man dann irgendwann davon abgerückt.“ (Interview – Projektsteuerung 2)
Die befragte Person sieht den ursprünglichen Ansatz weiterhin als richtig an, erwähnt allerdings, dass damit Probleme einhergingen, die zur Veränderung der Ansätze führten. Im weiteren Verlauf des Interviews wird dann allerdings wieder der erfolgreiche Wandel von den WiA-Büros in den Unterkünften zu den WiA-Büros in Ladengeschäften mit den Bedürfnissen der Zielgruppe in Zusammenhang gebracht: „[…] und es hat natürlich auch was mit Stigmatisierung zu tun, das sag’ ich deswegen, weil Geflüchtete haben – denke ich – irgendwann das Bedürfnis, einfach nur ankommen zu wollen, und die möchten nicht direkt wieder in ’ne Notunterkunft gehen müssen, wo ihnen dann eine Beratung zuteilwird. Insofern ist es schon auch gut und auch jetzt wichtig gewesen, in diesem ganzen Prozess als, sag’ ich mal, relativ neutrale Beratungseinrichtung auch aufzutreten, das ist einfach ein Ladenlokal […].“ (Interview – Projektsteuerung 2)
Die kurze Einlassung „denke ich“ verweist darauf, dass es sich bei der Deutung der Wünsche und Bedürfnisse der geflüchteten Menschen um die eigene Vorstellung der interviewten Verwaltungsmitarbeiterin handelt. Diese Deutung kommt allerdings nicht nur in den Interviews zum Tragen, sondern taucht nach der Etablierung der neuen WiA-Büros in den Ladengeschäften immer wieder im Alltag der Beratungsprojekte auf. In der folgenden Beobachtungssequenz aus einem Teammeeting einer Beratungseinrichtung werden zum Beispiel die besseren Beratungszahlen im neuen WiA-Büro in Lichtenberg auf die neue Deutung der Bedürfnisse der Zielgruppe zurückgeführt.
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Beobachtungsprotokoll – MoBiBe vom 11.09.2017 Im Gegensatz zum WiA Tempelhof läuft WiA Lichtenberg sehr gut, berichtet S. Es finden viele Beratungen mit Geflüchteten statt, die aus anderen Unterkünften dorthin kommen. Die Projektleiterin vermutet, dass es jetzt viel besser läuft, weil das Büro nicht an eine Unterkunft angegliedert ist. Jetzt sei die Hemmschwelle viel geringer, wenn man nicht gerade in dieser Unterkunft wohnt. Diese Form der Büros ist ihrer Meinung nach viel besser geeignet.
Allerdings spielen einige Aspekte der ursprünglichen Zielgruppenkonstruktion im neuen räumlichen Setting weiterhin eine Rolle, sie verschwinden also nicht vollständig, sondern treten bei der Gestaltung der neuen räumlichen Situation in einem Ladengeschäft weiterhin zutage. In einem Koordinationstreffen weist beispielsweise die Koordinatorin des neuen WiA-Büros in Lichtenberg darauf hin, dass jetzt mehr Werbung für das Angebot des Büros gemacht werden müsse. Beobachtungsprotokoll – MoBiBe vom 27.06.2017 Die Koordinatorin des WiA Büros berichtet, dass der Beratungsbedarf enorm sei, das Wissen über das Angebot der mobilen Bildungsberatung in den WiA-Büros unter den geflüchteten Menschen aber gering. Man müsse die ‚Leute an die Hand nehmen‘. Die Lage des Ladengeschäftes sei ideal. Es ist nicht nur nah an der Unterkunft, sondern auch direkt am Ausgang der Haltestelle der U-Bahnlinie 5 und deshalb gut zu erreichen. Man müsse nur den Weg zum Büro weisen. Zum Beispiel durch einen Aufsteller oder Pfeile auf dem Boden […].
So, wie nach dem Wechsel zum neuen räumlichen Setting die Aspekte der Erreichbarkeit der Zielgruppe in neuer Form diskutiert werden, lassen sie sich mit Bezug zum alten räumlichen Setting nachträglich problematisieren, dem Motto folgend: ‚So niedrigschwellig und leicht zugänglich war die Beratung in den Unterkünften eigentlich auch nicht‘:
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„In Tempelhof waren es zum Beispiel auch noch die Zugangsschwierigkeiten wirklich im haptischen Sinne, also durch eine Zugangsschleuse beispielsweise, so wie eben bei einem Flughafen tatsächlich selbst. Wo die Leute ihre Tasche und ihre Jacke abgeben müssen und ihren Pass sogar, was ja wiederum auch ja andere Assoziationen für Geflüchtete mit sich bringt: Wie, ich muss meinen Pass abgegeben, ich möchte meinen Pass nicht abgeben […]. In Lichtenberg war’s die neunte Etage damals in einem riesigen Hochhaus, da verirrt sich halt jetzt auch niemand unbedingt hin.“ (Interview – Projektsteuerung 2)
Die Vorstellung über die Wünsche und Bedürfnisse der Zielgruppe wird nicht einfach an die neue Situation angepasst, sondern rückblickend die alte räumliche Situation anders bewertet: Weil das räumliche Setting in den Unterkünften ebenfalls nicht geeignet war, die Anforderungen der ursprünglichen Zielgruppenkonstruktion zu erfüllen, erscheint der Wandel der Zielgruppenkonstruktion als unproblematisch. Die neue räumliche Lösung der Ladengeschäfte bedient in der Erzählung der befragten Akteur*innen die Bedürfnisse der Zielgruppe in jedem Fall besser.
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Von einer schwer erreichbaren Zielgruppe zur Willkommensklasse
Die zuständige Senatsverwaltung gibt für die etablierte Bildungsberatung nach dem Berliner Modell jeder Beratungseinrichtung bestimmte Beratungszahlen vor. Diese Vorgaben werden von den Projektleitenden gemäß der jeweiligen Arbeitszeit auf die einzelnen Berater*innen verteilt, sodass jeder Berater und jede Beraterin ungefähr weiß, wie viele Beratungen sie oder er pro Arbeitstag durchführen muss, um die vorgegebenen Kennzahlen zu erreichen. Das Controlling der Beratungskennzahlen wird technisch durch das elektronische Dokumentationssystem Casian umgesetzt und zusätzlich im Rahmen von projektinternen Personalgesprächen und Teambesprechungen, Monats-, Quartals- und Jahresberichten sowie netzwerkübergreifend in Koordinations- und Steuerungsrunden kommuniziert. Als neues Projekt mit experimentellem Charakter hatte die MoBiBe in den ersten Jahren keine konkreten Kennzahlenvorgaben. Allerdings werden die Beratungszahlen mit Casian erfasst und in Form von Monats-, Quartals- und Jahresberichten von den Beratungseinrichtungen an das Koordinationsprojekt P:iB und an die Senatsverwaltung weitergegeben. Zudem lässt sich beobachten, dass in den Koordinationstreffen Richtwerte für die Beratungseinrichtungen kommuniziert werden, die über die Teammeetings auch an die jeweiligen Berater*innen
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weitergegeben werden. Kennzahlen sind also weder vorgegeben noch Teil der Projektanträge, sie werden aber als Richt- und Vergleichswerte kommuniziert, technisch erfasst und im Rahmen von Berichten dokumentiert. Beobachtungsprotokoll – MoBiBe vom 08.05.2017 C. stellt noch die aktuellen Beratungszahlen vor. Im letzten Monat wurden 143 Personen beraten, im Monat davor 180 Personen. Der große Unterschied liege vor allem an Urlauben von Berater*innen. Der angestrebte Mindestwert sei 130 Beratungen pro Monat […]. Beobachtungsprotokoll – MoBiBe vom 26.06.2017 Nach einer kurzen Pause geht es in der kleineren Runde weiter mit der Besprechung der Themen, die nur direkt mit der mobilen Bildungsberatung zusammenhängen. C. weist zuerst darauf hin, dass bald das zweite Quartal ende und dass unbedingt die Beratungen ins Erfassungssystem Casian eingetragen werden müssen.
Aufgrund der Praxis der Dokumentation jeder einzelnen Beratung, der Thematisierung der Beratungszahlen in den Teammeetings sowie der Zuarbeit für die Erstellung der Monats-, Quartals- und Jahresberichte sind den Beratenden in ihrem Alltag die aktuellen Beratungszahlen ständig präsent. Zudem sind alle denkbaren Vergleiche möglich und bekannt – mit dem Vormonat, dem Vorjahresmonat oder mit anderen Beratungseinrichtungen. Angesichts der kurzen Projektlaufzeiten von einem Jahr und der entsprechend befristeten Arbeitsverträge schauen die Berater*innen häufig mit Sorge auf die Zahlen. Beobachtungsprotokoll – MoBiBe vom 07.07.2017 Bevor ich losgehe, sprechen wir noch kurz über die Finanzierung der MoBiBe, die immer auf ein Jahr begrenzt ist. Ö. erzählt, dass die Finanzierung im letzten Jahr auf Kosten der standortbezogenen Beratung ausgeweitet wurde. Dass aber jetzt die Beratungszahlen langsam zurückgehen und dass deshalb unklar sei, wie das weitergeht. Es gebe die grobe Vorgabe, dass durch die mobilen Bildungsberater*innen, die
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SLEs und die Konstruktion machbarer Problemstellungen
über den Standort angestellt sind, pro Monat 130 Beratungen durchgeführt werden müssen. Im vergangenen Monat waren es aber nur 105. Das führe dazu, dass die Versuche, neue Beratungskund*innen in Unterkünften und Sprachkursen zu gewinnen, ausgebaut werden.
In Bezug auf die Zahlen tritt häufig eine strategische Haltung zutage. Das heißt, dass sowohl auf der Ebene der Berater*innen selbst als auch auf jener der Beratungseinrichtungen Strategien entwickelt werden, um die kommunizierten Richtwerte zu erreichen. Im folgenden Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll vom 11. September 2017 ist beispielsweise festgehalten, dass für die Teammeetings einer Beratungseinrichtung ein neuer Tagesordnungspunkt mit der Überschrift ‚Netzwerkarbeit‘ eingeführt wird. Unter diesem Punkt soll demnach zukünftig über den Aufbau von Kontakten zu unterschiedlichen Unterkünften und anderen Projekten und Initiativen berichtet werden, um dort die mobile Bildungsberatung anzubieten oder auf das Angebot aufmerksam zu machen. Beobachtungsprotokoll – MoBiBe vom 11.09.2017 Als nächster Punkt folgt der ‚große Batzen Netzwerkarbeit‘. Es werden nach und nach einzelne Unterkünfte genannt und dann wird in die Runde gefragt, wie der Kontakt aussieht und was die Berater*innen dort tun […]. M. berichtet über die Beratung in einer Unterkunft. Er beschreibt das Format dort als ‚Schnellberatung‘. Das heißt, dass sie mit einem Stehtisch und Aufsteller im Foyer der Unterkunft stehen und relativ kurz über das Angebot der MoBiBe informieren, um danach, wenn Interesse besteht, weitere Beratungstermine zu vereinbaren, zu denen die Geflüchteten dann in die Beratungseinrichtung oder in eines der WiA-Büros kommen können.
Die vergleichsweise geringen Beratungszahlen führen also dazu, dass die Netzwerkarbeit und die Akquise durch einen neuen Tagesordnungspunkt in der wöchentlichen Teamsitzung in den Fokus rücken. Zudem veranlassen sie die Etablierung neuer Beratungsformate, durch die neue Ratsuchende gewonnen werden sollen – was die Beratungszahlen erhöhen würde. So wird bei der sogenannten ‚Schnellberatung‘ nicht nur über das Angebot der MoBiBe informiert, um
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neue Beratungskund*innen zu akquirieren; vielmehr werden die ‚Schnellberatungen‘ selbst schon als Beratung dokumentiert und erhöhen die Zahlen, obwohl die Anforderungen an einen Beratungsablauf durch diese Form des Erstgespräches an einem Stehtisch im Foyer einer Unterkunft kaum erfüllt sind. Ein weiteres beobachtetes Beispiel für den strategischen Umgang bei der Annäherung an kommunizierte Beratungszahlen ist die Kooperation mit einem Freiwilligennetzwerk in einer Unterkunft. Dieses Netzwerk wollte eine Ausbildungsinitiative für Bewohner*innen der Unterkunft durchführen und wählte dafür nach eigenen Kriterien geeignete Kandidat*innen aus. Berater*innen und Dolmetscher*innen der MoBiBe sollten mit einer Bildungsberatung vor Ort die ausgewählten Geflüchteten auf den Bewerbungsprozess für Ausbildungsberufe vorbereiten. Dank dieser Kooperation konnten in kurzer Zeit und mit vergleichsweise geringem Akquiseaufwand mehr als zwanzig Beratungen durchgeführt werden. In einer Nachbesprechung mit einem der Freiwilligen im Teammeeting offenbarten sich mehrere Konflikte mit der im Fachkonzept niedergelegten Beratungspraxis. Erstens war die Beratung ausschließlich auf die Bewerbung um Ausbildungsplätze ausgerichtet und somit kaum mit einem offenen Beratungsprozess vergleichbar, der sich in erster Linie „[…] an den Bedarfen, den Interessen und den beruflichen Zielen und Möglichkeiten der beratenen Personen“ (SenAIF 2016a) orientiert. Zweitens wählte das Freiwilligennetzwerk fast ausschließlich Männer aus, was der gezielten Förderung der Teilhabe von Frauen an Bildung und Arbeit entgegensteht. Als die Projektleiter*in nach dem Treffen darauf angesprochen wurde, berichtete sie, dass es häufiger Meinungsverschiedenheiten mit Ehrenamtlichen gebe, was Beratungsmethode und -ziele angehe, dass es allerdings wichtig sei, ein gutes Verhältnis zu ihnen aufrechtzuerhalten, da sie gut vernetzt seien. Neben den beschriebenen Strategien im Umgang mit geringen Beratungszahlen, kam es mit den erstmals stagnierenden oder rückläufigen Beratungszahlen vermehrt zur Einführung neuer Gruppenberatungsformate, die zu Themen wie ‚Berufsorientierung‘, ‚Bewerbung‘ oder ‚das Bildungssystem in Berlin‘ beispielsweise in Willkommensklassen durchgeführt wurden. So konnte ich mehrere mobile Berater*innen bei einem Berufsorientierungsworkshop in einer Willkommensklasse an einem der Berliner Oberstufenzentren begleiten. Dort wurden in einem mehrstündigen Workshop etwa 20 Schüler*innen zum Übergang von Schule in Ausbildung und Beruf beraten, Berufsbilder vorgestellt und auf individuelle Fragen eingegangen. Zudem wurde kurz das Beratungsangebot der mobilen Bildungsberatung erläutert und es wurden Folgetermine mit einigen der Schüler*innen vereinbart. Nach der Veranstaltung wurde pro Schüler*in jeweils eine Beratung in Casian eingetragen. Dadurch konnten relativ schnell und
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SLEs und die Konstruktion machbarer Problemstellungen
mit geringem Akquiseaufwand mehrere Beratungen pro Berater*in dokumentiert werden. Insgesamt kann beobachtet werden, dass die Dokumentation und die Auseinandersetzung mit Beratungszahlen im Alltag der Beratenden und der Projektleitenden zu einem verstärkten Fokus auf Netzwerk- und Akquisetätigkeiten führt und darüber hinaus neue Beratungs- und Dokumentationsformen mit Blick auf eine Steigerung der Zahlen entwickelt werden. Insofern trägt die Dokumentation zur Bekanntmachung des Beratungsnetzwerkes sowie zur Entwicklung neuer Beratungsformate bei. An den beschriebenen Beispielen zeigt sich allerdings auch, dass sich durch die neuen Formate teilweise die Zielgruppen ändern, etwa wenn vermehrt einfacher zu erreichende Personen oder Gruppen berücksichtigt werden. Durch die Orientierung an den Zahlen werden Beratungsansätze und Zielgruppen immer wieder neu ausgehandelt, und zwar hauptsächlich nach einem Muster, das es erlaubt, die geforderten oder gewünschten Zahlen zu erreichen.3 Es handelt sich hierbei um teils bewusste, teils unbewusste Anpassungsstrategien, bei denen etwa mittels Vereinfachung von Abläufen oder der Neudefinition bestimmter Aufgaben und Ziele meist kennzahlenbasierte Vorgaben erreicht oder übertroffen werden. Diese Anpassungsstrategien können gewünschte Effekte sowohl auf die Beratungspraxis als auch hinsichtlich der Erfüllung der bestehenden Rahmenziele haben, z. B. wenn infolge einer verstärkten Netzwerk- und Akquisetätigkeit mehr Ratsuchende erreicht werden. Die Anpassungsstrategien können aber auch durch Veränderungen in der Beratungs- und Dokumentationspraxis zu nicht gewünschten oder nicht intendierten Folgen in Bezug auf die vorher gesteckten Ziele führen, beispielsweise wenn schwer erreichbare Personen oder Personengruppen zu einem Problem für die Erfüllung der Zielvorgaben werden.
7.3
Von einer Zielgruppe mit vielen Problemen zur problematischen Zielgruppe
Spätestens in der zweiten Gartensaison im Frühjahr und Sommer 2016 konnte das Gärtnereiprojekt als lebendiger Kunst- und Bildungsort für Geflüchtete, Nachbar*innen und Gäste auch über den lokalen Schillerkiez und Neukölln hinaus eine beachtliche Öffentlichkeit erzeugen. Mehrere lokale und überregionale Medien hatten über das Projekt berichtet, die Facebookseite hatte mehr als 1.000 3
Brodkin spricht in diesem Zusammengang von dem häufig bei kennzahlenbasierter Steuerung beobachteten Anpassungsphänomen „meeting the numbers“ (Brodkin 2011: 265).
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Follower und zu Veranstaltungen auf dem Gärtnereigelände kamen zahlreiche Besucher*innen. Auf dem Gelände fanden zahlreiche Workshops teilweise mit internationalen Gästen und Gruppen, zum Beispiel aus Polen, den USA, Australien und Italien, statt. Die Gärtnerei beteiligte sich an dem Kunstevent 48 Stunden Neukölln und übernahm die Verantwortung für die künstlerische Gestaltung im Haus der Kulturen der Welt (HKW) während der einmal im Jahr stattfindenden Veranstaltung TAZ-Lab. Während die Sichtbarkeit des Projektes und der Teilnehmer*innen zunahm und damit einhergehend zahlreiche Events und Aktionen geplant, organisiert und durchgeführt werden mussten, traten längerfristige Schwierigkeiten zutage. So machten viele der Teilnehmer*innen in den vor Ort stattfindenden Deutschkursen aus Sicht der Projektmitarbeiter*innen und der ehrenamtlichen Helfer*innen vergleichsweise wenig Fortschritte. Bei der Suche nach Praktika und Ausbildungsplätzen stellte sich immer wieder der rechtliche Status der beteiligten Personen als hohe Hürde dar, die sich nur in wenigen Fällen in komplizierten und langwierigen Aushandlungsprozessen zwischen Projektträgern und zuständigen Behörden mithilfe von Anwält*innen überwinden ließen. Ebenso wenig konnte die aufenthaltsrechtliche Ungewissheit bei einigen der Projektteilnehmenden aufgelöst werden. Zudem erforderte ein großer Garten viel Arbeit, die vor allem in Frühjahr und Sommer täglich anfällt, und auch die Organisation und Gestaltung des Projektalltags, die Zubereitung von Mahlzeiten, die Reinigung der Projekträume, die Bewirtung von Gästen, die Organisation von Arbeitseinsätzen, die Vorbereitung von Veranstaltungen etc. brachten einen hohen Arbeitsaufwand für alle Projektbeteiligten mit sich. Einerseits war viel Einsatz von den Projektmitarbeiter*innen gefordert, andererseits erschien viel Einsatz und Unterstützung durch die Kerngruppe aus Geflüchteten nötig. In dieser Phase, in der die öffentliche Sichtbarkeit des Projektes immer mehr zunimmt, gleichzeitig aber kaum Verbesserungen bei der persönlichen und rechtlichen Situation vieler Projektteilnehmenden eintreten, während der Arbeitsaufwand für die bloße Aufrechterhaltung eines funktionierenden Projektalltags relativ groß wird, kann eine zunehmende Problematisierung der Einstellungen und des Verhaltens einzelner Projektteilnehmer*innen beobachtet werden.
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SLEs und die Konstruktion machbarer Problemstellungen
Beobachtungsprotokoll – Gärtnerei vom 23.06.2016 Im Gespräch geht es hauptsächlich um die Arbeit der ‚Jungs‘ in der Gärtnerei und dass in letzter Zeit das Engagement der meisten spürbar nachlasse. Anlass ist eine Besprechung der ‚Jungs‘ mit N., die vor dem Teammeeting stattgefunden hat und die anscheinend sehr schwierig und kontrovers verlaufen ist. Danach seien die ‚Jungs‘ alle gegangen […]. Unabhängig von den einzelnen TOPs [Tagesordnungspunkte] durchzieht das gesamte Meeting die Thematik des fehlenden ‚Commitments‘ bzw. des fehlenden Engagements der meisten ‚Jungs‘. Vor allem in Zusammenhang mit den Veranstaltungen und den anfallenden Aufgaben, aber auch in Zusammenhang mit der Planung der Bepflanzung bzw. Gestaltung des Gartens spielt dieses Thema eine zentrale Rolle. Zum Beispiel berichtet S., dass die meisten ‚Jungs‘ keine Blumen anpflanzen wollen. ‚Blumen sind ein Schockwort‘, so S. In den Gesprächen über die ‚Jungs‘ wird auch deutlich gemacht, dass einige doch sehr aktiv sind und reflektiert mit ihrer Situation und ihrer Chance in der Gärtnerei umgingen, dass das aber nicht auf alle zutreffe. M. betont, dass es aber auch schwierig für die ‚Jungs‘ sei, mit ihrer Situation klarzukommen und dass man auch Verständnis für ihre Position haben müsse […].
Im Vordergrund der Problematisierungsprozesse stehen die Themen Engagement und Motivation. Manche Beteiligten am Meeting fordern generell mehr Engagement ein oder beklagen fehlendes Engagement oder mangelnde Motivation. Zwei spezifische Argumentationsmuster sind häufig, die teilweise auch miteinander in Verbindung gebracht werden: Erstens wird gegenüber den ‚Jungs‘ ein Anspruch auf Engagement und Motivation erhoben, der daraus resultiert, dass ihnen im Rahmen des Gärtnereiprojektes eine Chance geboten werde. Diese Chance müsse aber durch das persönliche Engagement der Teilnehmer*innen ergriffen werden. Zweitens wird das Engagement Einzelner ins Verhältnis zu dem Engagement der anderen Teilnehmer*innen gestellt, was unter anderem zur Folge hat, dass Fragen nach der Verteilungsgerechtigkeit aufkommen. Wer verdient die Unterstützung im Projekt? Müssen diejenigen belohnt werden, die sich durch ihre persönliche
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Motivation besonders hervortun? Und müssen diejenigen sanktioniert werden, die weniger für das Projekt leisten? Vor allem im Zusammenhang mit der Organisation des Projektalltags und dem Deutschunterricht findet die Problematisierung der Motivation und des fehlenden Engagements vielfältige Gelegenheiten zur Anknüpfung und Artikulation. Die alltäglichen Problematisierungsprozesse zeigen sich etwa bei der Diskussion über den gemeinsamen Putzplan für die Räumlichkeiten des Projektes oder im Rahmen des Deutschunterrichtes, wenn einzelne Teilnehmer*innen zu spät kommen. Die Problematisierung des fehlenden Engagements im Projektalltag ist nicht frei von Klischeebildern über unpünktliche junge Männer aus Afrika beziehungsweise über eine Kultur der Pünktlichkeit in Deutschland. Eine derartige Kulturalisierung zeigt sich beispielsweise in folgendem Interviewauszug: „Aber ein großes Problem, was immer geblieben ist, war, was schon in der Zeit da war, ist, dass die Jungs immer zu spät gekommen sind zum Unterricht. Und ich dachte Ok, ich verstehe das, andere Kultur, aber trotzdem, man kann nicht von Freiwilligen erwarten, dass sie jeden Tag eine halbe Stunde auf Leute warten […].“ (Interview – Projektmitarbeiter*in 1)
Die Problematisierung von Teilen der Kerngruppe geht häufig, wie auch im Beobachtungsprotokoll beschrieben wurde, mit relativierenden und differenzierenden Aussagen über das Engagement und die Motivation der Teilnehmenden einher. M. zeigt in der weiter oben beschriebenen Situation zum Beispiel Verständnis für die schwierige Lage der Projektteilnehmer, und betont, dass einige sehr aktiv seien. Zwar wird Verständnis für die schwierige Lage der Projektteilnehmer geäußert und eingefordert, aber durch die Unterteilung in aktivere und weniger aktive Teilnehmer die individuelle Verantwortung jedes Einzelnen betont. Im Rückblick auf die Veränderungen im Projektverlauf beschreibt N., dass die Angebote, die das Projekt bereitgestellt hat, häufig nicht als Chance verstanden, sondern teilweise als lästige Pflicht oder Aufgabe wahrgenommen worden seien: „Also generell ist alles gut gelaufen, im Alltag und so […]. Aber das, das Angebot wurde nicht, das wurde mitgemacht, aber ich glaube, man hätte darüber, oder sie, ich will nicht [mit dem] Finger pointieren, aber sie hätten darüber viel mehr lernen können, die hätten wirklich, ich glaube, ich glaube oft wurde schon das als ‚Muss‘, also das ist jetzt ganz, ganz ehrlich, aber, es wurde manchmal als ‚Muss‘ wahrgenommen, und nicht als Chance. Also es gab diese Phasen schon, und es gab nicht dieses Verständnis, zu denken: ‚Wir machen, ich organisiere gerade diese Werkstätten nicht für
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mich, sondern für, damit ihr etwas lernt‘, und etwas, also manchmal gab es ein bisschen dieses ‚Ja, wir müssen so hart arbeiten, die Gärtnerei will so viel von uns‘ und, also ich glaube, diesen Austausch, den die Gärtnerei angeboten hat, so die Möglichkeit, sich zu beschäftigen und darüber zu lernen, gegen tatsächliche Beschäftigung und Arbeits-, in Anführungszeichen, so Stunden zu leisten, dieser Austausch wurde oft nicht verstanden, oder nicht gut verstanden, oder nicht von allen. Also manche haben das gut verstanden eigentlich, da kann ich nicht so generell sprechen, aber von mehreren wurde es nicht verstanden.“ (Interview – Projektmitarbeiter*in 1)
N. spricht hier nicht in erster Linie von fehlender Motivation, sondern von Verständnisproblemen und differenziert zwischen einigen Teilnehmern, die dieses Angebot als Chance verstanden haben und anderen, die es als Pflicht aufgefasst haben. Auch in diesem Abschnitt wird ein impliziter Anspruch gegenüber den Projektteilnehmern erkennbar, der sich möglicherweise durch den besonders hohen persönlichen Einsatz und das persönliche Engagement aller Projektmitarbeiter*innen verstärkt. Dieser implizite Anspruch führt im Projekt immer wieder dazu, dass die Einstellung und das persönliche Verhalten der Teilnehmer daraufhin betrachtet oder befragt werden, wie sie mit den Angeboten des Projektes umgehen, wie sie diese wahrnehmen und welchen persönlichen Einsatz sie zeigen. Die sichtbare Motivation und das persönliche Engagement werden so zu Gradmessern des ‚guten Projektteilnehmenden‘, der seine Chance nutzt, aktiv wird, sich einbringt, von sich und seiner Geschichte erzählt und die Potenziale entfaltet, die er mitbringt. Für diesen ‚guten‘ Projektteilnehmer wird im Verlauf der Problematisierung einer der ehemaligen Teilnehmer als Modellsubjekt herausgestellt, indem er immer wieder als Vorzeigeteilnehmer erwähnt wird und als Beweis dafür dient, dass es möglich ist, die Angebote des Projektes für sich zu nutzen und dadurch eine eigene Perspektive zu entwickeln, wenn nur die persönliche Motivation und der individuelle Einsatz stimmen. Beobachtungsprotokoll – Gärtnerei vom 9.11.2016 […] S. spricht in diesem Zusammenhang auch über B., der am Anfang Teil der Gärtnerei war, aber relativ früh schon zu ARRIVO gewechselt ist und mittlerweile eine Ausbildung zum Lackierer macht. S. sagt, dass B. ja so etwas wie der Vorzeigerepräsentant der Gärtnerei sei. Als Begründung erklärt er, dass B. die Fähigkeit besitze, gut über sich reden zu können bzw. seine Geschichte erzählen zu können.
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Die hier herausgestellte Fähigkeit, „gut über sich reden zu können“, wird in ähnlicher Weise auch von anderen Projektmitarbeiter*innen hervorgehoben: Beobachtungsprotokoll – Gärtnerei vom 23.06.2016 N. fällt ein, dass B. auch bei Interviews oder Aufnahmen mit der Presse sehr professionell war und ein sehr gutes Bild abgegeben habe und dass bei dem letzten Interview mit dem Deutschlandfunk ohne B. die Performance der ‚Jungs‘ eher süß gewesen sei. Aber sie müssten das auch lernen.
Neben dem Merkmal des persönlichen Engagements und dem Verständnis des Angebotes als Chance wird also auch die Fähigkeit der öffentlichkeitswirksamen Selbstpräsentation herangezogen, um zwischen den Projektteilnehmern zu differenzieren. In der gleichen Zeit, in der die Problematisierungs- und internen Differenzierungsprozesse zutage treten, öffnet sich das Projekt für weitere Geflüchtete, die vor allem aus der nahegelegenen Notunterkunft in den Hangars des ehemaligen Flughafens Tempelhof in die Gärtnerei kommen. Diese werden von einem der Projektmitarbeiter als ‚neue Playergruppe‘ von der ‚alten Kerngruppe‘ unterschieden (Beobachtungsprotokoll – Gärtnerei vom 15.02.2017). Eine andere Projektmitarbeiterin sieht in der Erweiterung der Zielgruppe eine Chance für die Motivation der alten Kerngruppe: „Und in der Zeit hatten wir Teilnehmer, die im Flughafen Tempelhof untergebracht waren, auch inkludiert, oder eben begrüßt in der Gärtnerei, so als erweitertes Team, und da gab es eine Ebene, eine neue Dynamik, eine neue Motivation, weil es gab die langfristigen Teilnehmer am Projekt, die zeigen wollten, zu den Neuankommenden, dass es ihr Projekt ist und die Neuankommenden waren viel pünktlicher und hatten viel mehr Energie und viel mehr Lust, die Sachen zu machen, so. Es gab eine, eigentlich das war ein bisschen die Hoffnung, das hat funktioniert, eben noch mal die Motivation durch diese kleine Konkurrenz, aber einfach so gegenseitiges Anstecken.“ (Interview – Projektmitarbeiter*in 1)
In dem Zitat werden die Aspekte Motivation, Pünktlichkeit, Dynamik, Energie und Lust mit der neuen Gruppe in Verbindung gebracht, also all jene Aspekte, die zuvor in Bezug auf die ‚alte Kerngruppe‘ problematisiert wurden. Dazu kommt
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SLEs und die Konstruktion machbarer Problemstellungen
die Idee einer Konkurrenzsituation, die gefördert werden soll, um die Motivation der ‚alten Kerngruppe‘ wieder zu erhöhen. Die Neuankömmlinge beginnen schnell damit, im Garten eigene Beete anzubauen, ein syrischer Künstler verwandelt einen der Workshop-Räume im Steinmetzhaus in ein Atelier und die neuen Projektteilnehmer*innen beteiligen sich aktiv an der Organisation des Alltags in der Gärtnerei. Sie kochen, organisieren kleine Veranstaltungen und laden Gäste in die Gärtnerei ein. In der nachträglichen Reflexion über die Entwicklung der Zielgruppe erwähnt eine Projektverantwortliche den besseren rechtlichen Status der neuen Gruppe und weist darauf hin, dass sich dadurch die hohen Anforderungen an das Projekt, beispielsweise bei der Beschaffung von Wohnraum, reduzierten: „[…] weil zunehmend dann syrische und afghanische Leute dazugekommen sind oder Pakistani, also junge Leute, die tatsächlich ausländerrechtlich viel bessere in Anführungs- und Schlusszeichen Bedingungen hatten, wo erstmal eine Grundsicherung da ist, wir hatten ja parallel zur Gärtnerei auch ‘ne recht große Wohnung finanziert in Reinickendorf, weil das ja – also wenn das so ein Gesamtkonzept ist, kann man nicht die Leute am Abend vor die Gärtnerei stellen und sich für den neuen Tag freuen, wenn’s kalt ist draußen, also so ganz rudimentäre Sachen mussten auch immer mit abgedeckt werden und mit dem wechselnden Kernteam, wo mehr syrische junge Leute dazu kamen, sind solche extremen Anforderungen nicht mehr da gewesen.“ (Interview – Projektverantwortliche*r)
Die wahrgenommenen Unterschiede, was die Motivation und das persönliche Engagement der Mitglieder der einzelnen Gruppen angeht, wird allerdings im Projektalltag kaum mit der rechtlichen Situation und den damit einhergehenden Unterschieden, was Zugang zu Wohnraum, Bildung, Arbeit angeht, in Verbindung gebracht. Stattdessen wird im Nachhinein die Passungsfähigkeit von Projekt und alter Zielgruppe infrage gestellt. Beobachtungsprotokoll – Gärtnerei vom 09.11.2016 M. erzählt mir, dass jetzt ein paar der ‚Jungs‘, die sich auch offiziell im Asylverfahren in Deutschland befinden, auf längere Sicht über ARRIVO in eine Ausbildung kommen sollen. Der große Vorteil bei ARRIVO sei laut S., dass es dort einen verpflichtenden und offiziell anerkannten Sprachkurs gebe und diese Sprachkurse seien nun mal jetzt die Voraussetzung, um eine Ausbildung machen zu können. Auf der anderen Seite seien die Bedingungen bei ARRIVO viel realistischer. Dort würde den
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‚Jungs‘ so einiges, was sie hier gebracht haben, nicht durchgehen. Und sie wären auch mit den Problemen mehr konfrontiert, die im Alltag in den Betrieben vorzufinden sind wie Rassismus, und müssten lernen, damit umzugehen.
Noch deutlicher wird die Beschreibung von Problemen bei der Passung zwischen Projekt und ‚alter Zielgruppe‘ in folgendem Interviewauszug: „Workshops ist super weit weg, von was sie kennen. Und das scheint alles so SpaßBeschäftigung zu sein. Und eigentlich haben sie andere Sorgen, die wollen einen Job, die wollen Geld, die wollen sich hier niederlassen, eine Wohnung haben, und verstehen nicht, wie ein paar Stunden pro Woche im Garten tätig sein oder Kosmetikprodukte, Sachen aus dem Garten zu machen, die da weiterbringen kann. Und obwohl wir das immer wieder vermittelt haben, ich glaube, man hätte das noch mehr vermitteln müssen. Aber ich sage das, ich sage nicht, dass ich bedaure, wie das funktioniert, also wie das gelaufen ist, weil wir hätten das nicht anders machen können […]. Also der, ich glaube, wie sozial das Projekt wird, wurde uns am Anfang nicht bewusst, und deswegen war das nicht im Projekt oder im Antrag mitgedacht.“ (Interview – Projektmitarbeiter*in 1)
Im Interviewauszug werden Punkte angesprochen, die gegen eine Passungsfähigkeit von Projektansatz und erster Kerngruppe sprechen. Die Workshops im Gärtnereiprojekt werden als unbekanntes und weit von der Lebensrealität der Kerngruppe entferntes Format beschrieben, das nicht ohne Weiteres mit den Bedürfnissen nach einer regulären Beschäftigung in Einklang zu bringen sei. Insbesondere der Vermittlung zwischen Projektansatz und Bedürfnissen der Zielgruppe sei im Projektverlauf aber nicht ausreichend Aufmerksamkeit gewidmet worden. Eine soziale oder sozialarbeiterische Komponente, die stärker zwischen einem auf öffentliche Sichtbarkeit ausgerichteten Projekt und der Lebensrealität der Zielgruppe vermittelt, sei im Projektantrag nicht berücksichtigt worden. Wenn ein*e Projektmitarbeiter*in sagt: „wir hätten das nicht anders machen können“, spricht diese*r also von den Projektbeteiligten eines künstlerischästhetischen Projektansatzes, die als Mitglieder der Welt der kulturellen Bildung nur unzureichend auf die anhaltende Frustration und Perspektivlosigkeit durch aufenthaltsrechtliche Ungewissheit und Arbeitsverbote eingehen können. Während der Ansatz zu Beginn der Projektlaufzeit in Anlehnung an das Vorbild CUCULA gerade für Personen ohne Arbeitserlaubnis und gesicherten Aufenthaltsstatus die Möglichkeit einer Betätigung und Sichtbarmachung von
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SLEs und die Konstruktion machbarer Problemstellungen
Fähigkeiten bieten sollte, wird die herausfordernde Lebenssituation dieser Personen im Verlauf des Projektes mehr und mehr zum Hindernis für einen auf öffentliche Sichtbarkeit ausgerichteten Projektansatz erklärt. Den großen Einfluss allein der rechtlichen Situation auf die Machbarkeit von Integrationsansätzen beschreibt ein*e Vertreter*in einer Berliner Landesbehörde wie folgt: „Sie können sich als Zivilgesellschaft die tollsten Integrationsprozesse in den Arbeitsmarkt überlegen, in dem Moment, wo der Gesetzgeber die Ausländerbehörde verpflichtet, die Betroffenen mit der Nebenbestimmung ‚Erwerbstätigkeit nicht gestattet‘ zu versehen, sind diese Personen zwingend von dieser Chance ausgeschlossen.“ (Interview – Vertreter*in einer Berliner Landesbehörde)
Zunehmende Problematisierungsprozesse im Alltag eines Projektes, das viel Arbeit und Energie von allen Projektbeteiligten fordert, und die Differenzierung zwischen motivierten und weniger motivierten Projektteilnehmern führen zu einer Individualisierung von Problemursachen und schließlich zu einer Öffnung des Projektes für geflüchtete Menschen, die – auch dank eines gesicherten Aufenthaltsstatus – mehr Motivation für die Mitarbeit entwickeln können.
7.4
Konzeptionelle Betrachtung und Zwischenfazit
Knorr-Cetina und Fujimura haben in ihren Studien über die Arbeit in wissenschaftlichen Laboren auf die Bedeutung von Tinkering im fortlaufenden Prozess des Experimentierens hingewiesen (Knorr-Cetina 1984; Fujimura 1987). Unter Tinkering kann in diesem Zusammenhang eine pragmatische oder opportunistische Vorgehensweise verstanden werden, bei der das genutzt wird, was gerade zur Hand ist. Diese verfügbaren ‚Materialien‘ werden dann den jeweiligen Situationen angepasst. Pickering spricht im Zusammenhang mit dieser experimentellen Praxis von „oppertunism in context“ (Pickering 1984). Auch im praktischen Vollzug wissenschaftlicher Arbeit werde häufig das genutzt, was eine bestimmte Situation bietet, seien es bestimmte Geräte, Verfahren, Stoffe oder sonstige Ressourcen. Die Herausforderung besteht stets darin, dass das vorgefundene ‚Material‘ so manipuliert und (neu) kombiniert wird, dass es der aktuellen Aufgabe, dem aktuellen Ziel des experimentellen Prozesses dient (Clarke/Fujimura 1992).
7.4 Konzeptionelle Betrachtung und Zwischenfazit
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Bei den Schilderungen der frühen Projektphase der MoBiBe zeichnet sich der Tinkering-Prozess deutlich ab. So waren beispielsweise mehrere WiA-Büros direkt in den Unterkünften für geflüchtete Menschen geplant, um die Menschen dort so schnell wie möglich erreichen zu können. In der alltäglichen Praxis auf dem Street-level erwies sich dieser Ansatz aus diversen Gründen als schwierig und bei der Suche nach alternativen Orten stießen die verantwortlichen Akteur*innen aus Senatsverwaltung und Beratungseinrichtungen immer wieder auf Hindernisse, die den Alltag der Beratung erschweren würden oder eine Realisierung der Beratung vor Ort verhinderten. In dieser Situation ergab sich die Gelegenheit, Räumlichkeiten eines Trägers in der Spandauer Innenstadt zu nutzen, „[…] weil dort ein Raum zur Verfügung stand, der sowieso einem unserer Träger gehörte und wir mussten schnell reagieren, haben gesagt: Probieren wir’s einfach mal […]“ (Interview – Projektsteuerung 1). Die Machbarkeit der Problemstellung ändert sich an dieser Stelle vor allem auf der Ebene des Streetlevels, da die frühzeitige und niedrigschwellige Erreichbarkeit der Zielgruppe, wie sie von unterschiedlichen Akteur*innen gefordert und im Fachkonzept formuliert wurde, als Vorteil der Beratung vor Ort in den Unterkünften zunächst wegfällt. Widerstände bei der alltäglichen Umsetzung des Ansatzes auf dem Street-level erfordern diese Neukonfiguration. Die Räumlichkeiten sind in der Situation der Suche zur Hand, sie können relativ kurzfristig als WiA-Büro der neuen Generation umgewidmet werden. Die Gelegenheit wird nicht zuletzt deshalb im doppelten Wortsinn wahrgenommen, weil sie dem räumlichen Setting der etablierten Beratungsstellen in Berlin entspricht. „[…] Das weicht jetzt von dem ursprünglichen Konzept ab, dass wir sozusagen eigentlich in die Unterkünfte reingehen wollen und jetzt machen wir’s eigentlich wieder so, wie wir’s bei unseren ganzen anderen Beratungsstellen haben, nämlich wir gehen in die- zur Laufkundschaft. Also so haben wir’s ja mit den Lernläden gemacht, so machen wir’s mit den Jobassistenzen rundherum, es ist eigentlich wieder das gleiche Konzept […].“ (Interview – Projektsteuerung 1)
Machbarkeit ist somit auf der Ebene der Street-level-Praxis und der Ebene der beteiligten sozialen Welten gegeben. Die Veränderungen betreffen aber auch die Ebene der politischen Arena, in der vor allem infolge der Initiative der Senatorin die Unterkünfte als Orte der Beratung in den Fokus gerückt wurden. Zudem spielen vor dem Hintergrund eines potenzialorientierten Ansatzes – und im Gegensatz zum alten Abwehrregime der deutschen Flüchtlingspolitik – die frühzeitige und
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SLEs und die Konstruktion machbarer Problemstellungen
niedrigschwellige Ansprache der Zielgruppe eine wichtige Rolle, die als vorläufiges Ziel auch im zugrunde liegenden Fachkonzept niedergelegt ist. Um die Ebene der politischen Arena mit den beiden anderen Ebenen in Übereinstimmung zu bringen, wird mit Ad-Hoc-Arrangements reagiert, indem einzelne Elemente reorganisiert werden. Bei Veränderungen, die auf eine Neuausrichtung der Ansätze in Richtung Street-level-Praxis und soziale Welt weisen, wie die WIA-Büros in Ladengeschäften, werden nicht alle Aspekte der ursprünglichen Problemstellung aufgegeben (frühzeitige und niedrigschwellige Erreichbarkeit der Zielgruppe), sondern die Ansätze werden kurzfristig an die neue Ausrichtung angepasst. So soll beispielsweise durch eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit die Sichtbarkeit der neuen WiA-Büros erhöht werden, damit sich die frühzeitige Erreichbarkeit der Zielgruppe weiterhin gewährleisten lässt. Zudem werden Arenabezüge aus früheren Versionen der Ansätze, die nach einer Änderung die Ausrichtung an der Arena gefährden (Frühzeitige Erreichbarkeit der Zielgruppe) durch andere Arenabezüge ersetzt. Dieser Prozess der De-Legitimierung und Re-Legitimierung (‚Geflüchtete wollen, so wie alle anderen auch, lieber Beratungseinrichtungen außerhalb von Unterkünften besuchen‘; ‚Unterkünfte sind ein stigmatisierender Ort, an den die geflüchteten Menschen nicht zurückkehren wollen‘) passt einerseits die Konstruktion der Zielgruppe an die Erfordernisse der machbaren Problemstellung an und verändert andererseits die Konstruktion der Problemstellung so, dass der neue Ansatz zu den Erfordernissen der Zielgruppe passt. Dies geschieht vor allem dadurch, dass bestimmte Problemaspekte sowie Eigenschaften der Zielgruppe abgewertet werden (‚geflüchtete Menschen werden vor allem in der ersten Phase nach ihrer Ankunft nicht durch die etablierten Beratungsangebote im Bereich der Bildungsund Berufsberatung erreicht‘), während andere Problemaspekte und Eigenschaften der Zielgruppe aufgewertet werden (‚geflüchtete Menschen sehnen sich nach einem normalen Leben und möchten so schnell wie möglich den stigmatisierten Ort der Unterkunft verlassen‘). Tinkering, Ad-hoc-Arrangements sowie Deund Re-Legitimation ermöglichen so die dynamische Konstruktion von machbaren Problemstellungen im Verlauf der Street-level-Experimente. Dadurch werden nicht nur die Ansätze, mit denen experimentiert wird, weiterentwickelt, sondern in einem ko-konstruktiven Prozess verändern sich auch die zugrunde liegenden Probleme sowie die jeweiligen Zielgruppen im Verlauf der Herstellung von Machbarkeit.4 4
Mit Blick auf das Beispiel der WiA-Büros könnte argumentiert werden, dass sich die Bedürfnisse der Zielgruppe in der Zeit seit dem Jahr 2015 verändert haben und dass ein
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Die Vorstellung, dass die Erfahrungen auf dem Street-level unabhängig von den Street-level-Experimenten selbst gemacht werden und in einem reflexiven Prozess zur Anpassung der vorläufig formulierten Ziele beitragen können, scheint mit Blick auf die skizzierten Prozesse nicht zuzutreffen. Vielmehr kann von einer Ko-Konstruktion zwischen Experiment und Street-level-Erfahrungen ausgegangen werden, da nur jene Erfahrungen relevant gemacht werden, die zur Aushandlung von machbaren Problemstellungen beitragen können. Tinkering, die Herstellung von Ad-hoc-Arrangements, De- und Re-Legitimierung sind dabei die zentralen Prozesse, die bei der fortlaufenden Aushandlung von machbaren Problemstellungen im Alltag der Street-level-Experimente beobachtet werden können. Dabei kann es sich selbstverständlich um überlappende Prozesse handeln, die analytisch zwar voneinander getrennt werden können, in der Praxis aber gleichzeitig und miteinander verschränkt ablaufen. Werden Street-level-Experimente als Prozesse der Aushandlung von machbaren Problemstellungen begriffen, so muss der häufig formulierten Annahme widersprochen werden, dass sich die neuen Ansätze im Verlauf der Experimente automatisch an ihre Gegenstände beziehungsweise die ‚tatsächlichen‘ Bedürfnisse ‚der‘ Zielgruppen und die ‚tatsächlichen‘ Problemstellungen auf dem Street-level annähern. Die ethnografische Untersuchung der SLEs zeigt dagegen, dass im Verlauf des Experimentierens Lösungsansätze, Zielgruppen und Problemdefinitionen fortlaufend verändert und aneinander angepasst werden.
großer Teil der geflüchteten Menschen die Erstaufnahmeeinrichtungen verlassen hat und in kleineren Gemeinschaftsunterkünften oder eigenen Wohnungen lebt und jetzt lieber eine Beratungseinrichtung in einem Ladengeschäft aufsuchen möchte. Die Veränderung des räumlichen Ansatzes regiert also auf die Veränderung der Bedürfnisse der Zielgruppe. Gegen dieses Argument spricht bereits, dass auch in den Jahren nach 2015 zahlreiche Schutzsuchende neu nach Berlin kamen und zuerst in Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht wurden. Noch wichtiger ist aber die Beobachtung, dass es sich bei der Anpassung der Ansätze eben nicht um eine Kausalbeziehung zwischen sich verändernden Problemen und Bedürfnissen der Zielgruppe (Ursache) auf der einen Seite und darauf reagierende Lösungsansätze (Wirkung) auf der anderen Seite handelt, sondern um ein wechselseitiges Zusammenspiel, bei dem unter anderem auch Veränderungen auf Seiten der Lösungsansätze zu einer Anpassung der Zielgruppen oder zu einer Umdeutung der zugrundeliegenden Probleme führen können.
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SLEs und die Konstruktion machbarer Problemstellungen
Im Verlauf der Street-level-Experimente können zudem mehrere Phasen beobachtet werden, in denen der gemeinsame Ausrichtungsprozess jeweils eher mit einem Fokus auf die Anforderungen der übergreifenden Arena oder mit einem Fokus auf die Anforderungen der Street-level-Praxis erfolgt. So wird hauptsächlich in der frühen Planungs- und Initiierungsphase der Experimente Anforderungen der Arena Rechnung getragen, um Ressourcen in Form von Projektförderung und öffentlicher Aufmerksamkeit zu erhalten oder Kooperationspartner*innen und Unterstützer*innen zu mobilisieren. In dieser Phase kann man von einem ‚ArenaFokus‘ bei der Aushandlung von machbaren Problemstellungen sprechen. Aus dieser Perspektive wird zum Beispiel die anfängliche räumliche Fokussierung auf die Hangars des Tempelhofer Feldes verständlich. Die Wahl dieses Orts erscheint unter Arena-Gesichtspunkten nachvollziehbar, da die Hangars zu dieser Zeit in der Berliner Öffentlichkeit ein Symbol für die Aufnahme von geflüchteten Menschen in der Stadt waren. Dass gerade das erste WiA-Büro schon früh unter den verantwortlichen Akteur*innen der Senatsverwaltung und der Bildungsberatung als aus politischem Aktionismus hervorgehender wenig praktikabler Beratungsort angesehen wurde, hatte in dieser frühen Phase der SLEs dagegen wenig Bedeutung für die Aushandlung machbarer Problemstellungen. Anders sieht es dagegen aus, wenn im Verlauf der Street-level-Experimente ein funktionierender Arbeitsalltag entstehen muss, wenn es also stärker um die Etablierung der entwickelten Ansätze geht und Erfolge mit den neuen Ansätzen erzielt werden sollen. So zeigt sich beispielsweise im Fall der Gärtnerei, dass der Garten durch die Sichtbarkeit der wachsenden Pflanzen und die direkte Verwertbarkeit der Ernte bei öffentlichen Veranstaltungen hervorragend dafür geeignet ist, die Produktivität der zum Warten gezwungenen Geflüchteten aufzuzeigen und somit auf die Problematik der Untätigkeit durch Beschäftigungsverbote einer Zielgruppe hinzuweisen, die aufgrund ihres aufenthaltsrechtlichen Status kaum Zugang zu Arbeit und Bildung hat. Damit wird zugleich auf die Potenzial- und Ressourcenorientierung in der Migrations- und Integrationspolitik der vergangenen Jahre Bezug genommen und auf Nützlichkeitsaspekte im Zusammenhang mit Zuwanderung verwiesen. Im fortlaufenden Alltag auf dem Street-level erfordert der Garten aber einen hohen kontinuierlichen Arbeitsaufwand, das gleiche gilt auch für den Ansatz des SLEs, der einer Kampagne gleicht, die immer wieder durch neue Kooperationen, Workshops und Veranstaltungsformate auf die Herstellung von Sichtbarkeit angewiesen ist. An der rechtlichen Situation der jungen Männer aus Westafrika ändert sich gleichzeitig wenig, die aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen sind relativ unbeeindruckt von den Bemühungen im Rahmen des
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Experiments. In dieser Phase kann von einem ‚Street-level-Fokus‘ gesprochen werden. Wie wir gesehen haben, besteht der Kern der Konstruktion machbarer Problemstellungen im Verlauf der Street-level-Experimente aus den Praktiken des Tinkerings, der Ad-hoc-Arrangements sowie der De- und Re-Legitimation. Diese Praktiken orientieren sich nun stärker als die Konstruktion von machbaren Problemstellungen in der frühen Phase der SLEs an der Praktikabilität der Ansätze im Alltag auf dem Street-level. Dabei geht es um konkrete Anforderungen an die bestehenden Räumlichkeiten wie die Barrierefreiheit der Beratungsorte, um Arbeits- und Öffnungszeiten der eigenen Einrichtungen und kooperierender Organisationen, um die Erfordernisse des Gartens und der unterschiedlichen Pflanzen je nach Jahreszeit und Wetter oder um Anforderungen hinsichtlich der eingesetzten Veranstaltungsformate wie das Einkaufen, Zubereiten der Speisen und Aufräumen der Küche vor, während und nach einer Abendveranstaltung. Gesichtspunkte der Machbarkeit auf dem Street-level gewinnen im Projektverlauf an Bedeutung, während der Stellenwert der Arena-Aspekte abnimmt. Das bedeutet nicht, dass Anforderungen der unterschiedlichen Ebenen bei der Aushandlung von machbaren Problemstellungen keine Beachtung mehr finden. Allerdings verschiebt sich der Fokus von einer Ebene auf die andere – ein Prozess, der im Verlauf der Experimente nicht nur in eine Richtung gedacht werden kann. Steht beispielsweise die erneute Einwerbung von Fördermitteln an, kann es durchaus wieder zu einer Verschiebung zugunsten der Arena-Anforderungen kommen. In welcher Art und Weise Anforderungen der Arena und des Streetlevels wahrgenommen und interpretiert werden und auf welche Art und Weise damit umgegangen wird, hängt in allen Phasen der Experimente maßgeblich von den involvierten sozialen Welten und deren Mitgliedern ab, da diese spezifischen Aktivitäten nachgehen, eine spezifische Organisationsweise pflegen und spezifische Deutungs- und Interpretationsmuster teilen. Die Gewichtung der Ebenen ist demnach bei der Aushandlung von machbaren Problemstellungen variabel. Des Weiteren kann eine strategische Betonung des einen oder anderen Aspekts beobachtet werden. Welcher Aspekt betont wird, hängt davon ab, welche Anforderungen eines in einer bestimmten Situation relevanten Teils der Arena oder der Street-level-Praxis Berücksichtigung finden müssen:
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SLEs und die Konstruktion machbarer Problemstellungen
„[…] es war immer schwierig, ein einziges Ziel zu beschreiben. Und deswegen, je nach Besuch in der Gärtnerei, habe ich das immer angepasst, ob wir das, ob wir mit soziologischen Studenten unterwegs waren oder mit Architekten, oder je nach[dem], mit wem man spricht. Weil: Es gibt einfach diese Meilensteine, so stadtplanerisch, so kulturell, das Soziale. Und je nach Ansprechpartner, aber natürlich auch je nach Zeit, je nach Phase sind die anders.“ (Interview – Projektmitarbeiter*in 1)
Demnach passt die Projektmitarbeiterin in der Gärtnerei die Darstellung der Ziele an die Erwartungen der jeweiligen Besucher*innen an. Diese Anpassung geht allerdings über eine zielgruppenorientierte Kommunikationsstrategie hinaus. Sie entspricht dem offenen Charakter der Street-level-Experimente, die eben nicht ein im Voraus festgelegtes Ziel verfolgen, sondern in einer Vielzahl von aufeinanderfolgenden Situationen an der Aushandlung von machbaren Problemstellungen arbeiten. Die Gewichtung der Ziele kann sich immer wieder wandeln – u. a. in Abhängigkeit der Beobachter*innen, die sich für das SLE interessieren. Schließlich machen sich im Verlauf der Street-level-Experimente die widerständigen und schwer veränderbaren Elemente der Arena wie Aufenthaltsgesetze und Verwaltungsvorschriften immer stärker bemerkbar. Zum Beispiel kommt die Simulation einer Perspektive im geschützten Rahmen der Gärtnerei auf Dauer nicht gegen die Perspektivlosigkeit durch eine fehlende Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis außerhalb der Projektgrenzen an. Aufgrund der Widersprüche zwischen Street-level-Ansatz und Arena werden im Falle der Gärtnerei aus Zielgruppen mit Problemen problematische Zielgruppen, deren Motivation im Alltag schwindet und die kaum Stoff für Erfolgsgeschichten bieten können – Geschichten, die sowohl für die Projektberichte als auch für die Erzeugung von Öffentlichkeit von großer Bedeutung sind. Im Fall der MoBiBe zeigt sich die Widerständigkeit beispielsweise im Berichtswesen und dem kennzahlenorientierten Controlling durch die zuständige Senatsverwaltung. Besonders schwer erreichbare Zielgruppen, die eigentlich im Fokus einer mobilen Bildungsberatung stehen, können unter Umständen aus dem Blick geraten und durch Zielgruppen ersetzt werden, die leichter zu erreichen sind, um konstant hohe oder ansteigende Beratungszahlen vorweisen zu können. Experimente und Gegenstände beeinflussen sich somit gegenseitig und dynamisch über Zeit und Raum. Je nach Situation wird dabei der Gegenstand stärker anhand der Arena-Anforderungen oder stärker mit Blick auf die Street-level Anforderungen definiert. Gleichzeitig können es immer wieder unterschiedliche Aspekte der Arena oder der Street-level-Praxis sein, die bei der Aushandlung von Machbarkeit in den Blick geraten. In allen Situationen – sowohl bei einem
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Arena-Fokus als auch bei einem Street-level-Fokus – nimmt die Ebene der beteiligten sozialen Welten eine entscheidende Rolle ein, weil sie in systematischer Art und Weise mit darüber bestimmt, welche Aspekte der Arena-Anforderungen und der Herausforderungen auf dem Street-level bei der Aushandlung von machbaren Problemstellungen berücksichtigt werden und wie damit umgegangen wird.
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Zur politischen Dimension von SLEs
Betrachtet man die experimentellen Prozesse auf dem Street-level, so sind sie auf den ersten Blick nicht als politische Prozesse erkennbar; das Geschehen scheint vielmehr vollständig von alltäglichen Routinen und organisatorischen Aufgaben geprägt. An einem typischen Tag in der Gärtnerei treffen sich am frühen Vormittag die Projektmitarbeiter*innen und die Teilnehmer*innen der Deutschkurse vor dem zentralen Steinmetzhaus, sie unterhalten sich, kochen Kaffee, rauchen eine Zigarette und verteilen sich dann nach und nach auf die beiden Räume des Hauses, um mit dem Deutschunterricht zu beginnen. Im Deutschunterricht werden anhand eines Arbeitsblattes Vokabeln gelernt. Nach dem Unterricht gehen einige der Teilnehmer*innen gemeinsam in den Garten, um dort die Pflanzen zu gießen und Tomaten zu ernten. Währenddessen kommt eine der Projektverantwortlichen mit Gästen eines Vereins aus der Nachbarschaft auf das Gelände, macht eine kurze Führung und bittet dann die Projektteilnehmenden sich kurz bei den Gästen vorzustellen. Bei der MoBiBe beginnt ein typischer Tag möglicherweise auch mit einem Kaffee in einem der WiA-Büros. Die Berater*innen schauen im Kalender nach, welche Termine an dem Tag anstehen. Danach verteilen sie sich auf die einzelnen Beratungstische, stimmen sich mit der Koordinatorin und den Dolmetschenden bezüglich der Termine ab oder lesen noch ihre E-Mails. Dann beginnen die ersten Beratungen mit der Vorstellung des Beratungsnetzwerkes und des konkreten Beratungsablaufes. Die Beratungsteilnehmer*innen stellen sich kurz vor und schildern ihr Anliegen, es werden Nachfragen erörtert, bestehende Möglichkeiten aufgezeigt und Flyer mit Informationen in der Muttersprache der Beratungsteilnehmer*innen ausgehändigt. Nach den Beratungen am Vormittag gehen einige Berater*innen gemeinsam an eine Volkshochschule und besuchen dort eine Integrationskursklasse, um das Angebot der mobilen Bildungsberatung vorzustellen. Sie verteilen Flyer und ihre Visitenkarten und vereinbaren Beratungstermine. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 F. Maas, Politik zwischen Innovation und Machbarkeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-38335-0_8
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Zur politischen Dimension von SLEs
Politik scheint in diesen idealtypischen Tagesabläufen keine besondere Rolle zu spielen und doch soll durch eine differenziertere Perspektive auf die Streetlevel-Experimente im Folgenden überprüft werden, ob und inwiefern selbst die alltägliche Praxis im Rahmen der untersuchten SLEs als politische Praxis angesehen werden kann. Dazu werden in einem ersten Schritt Politikkonzepte aus der Street-level-Forschung (Brodkin 2011, 2013) und aus dem Bereich der Science and Technology Studies (De Vries 2007; Brown 2015; Voß/Schroth 2018) aufgegriffen. In einem zweiten Schritt wird anhand der Prozesse der De-Politisierung, der Sub-Politisierung und der Re-Politisierung gezeigt, warum es sich lohnt, eine politische Dimension politischer Experimente auf dem Street-level zu betonen. In einem dritten Schritt wird schließlich vor dem Hintergrund von widerstreitenden Governance- und Postdemokratie-Diskursen für mehr Reflexivität und Diversität bezogen auf die experimentellen Prozesse auf dem Street-level plädiert.
8.1
Politik auf dem Street-level und im experimentellen Prozess
Evelyn Brodkin setzt sich in ihrer Forschung mit wohlfahrtsstaatlichen Organisationen auf dem Street-level auseinander und interessiert sich insbesondere für den Einfluss organisationaler Veränderungen – wie Privatisierung, Liberalisierung und Einführung neuer Management-Technologien – auf Entscheidungen über Leistungsverteilungen und Sanktionen. Organisationen auf dem Street-level begreift sie als „sites of policy conflict, wherein politically contested policy projects may be advanced indirectly through administrative means, including through managerial reforms that alter the arrangements and conditions of Street-level policy work“ (Brodkin 2013: 23). Umstrittene politische Vorhaben werden laut Brodkin also nicht allein auf der großen politischen Bühne durchgesetzt, sondern können auch indirekt auf dem Street-level realisiert werden. Dies geschieht, wenn die Logik der umstrittenen Vorhaben in das organisationale Setting auf dem Street-level ‚eingeschrieben‘ ist und so die Nutzung des vorhandenen Ermessensspielraums systematisch beeinflusst. Bezogen auf den eingangs skizzierten SLE-Alltag rücken aus dieser Perspektive Ermessensentscheidungen, etwa über den Zugang zu kostenlosem Sprachunterricht, über die Weitergabe von Wissen und Informationen zu Bildung und Arbeit oder ähnliche Formen der Leistungserbringung (Brodkin 2011), in den Fokus. So stellt sich die Frage, auf welche Art und Weise diese Verteilungsentscheidungen vom organisationalen Setting auf dem Street-level (systematisch) beeinflusst werden. In einer solchen (systematischen) Beeinflussung sieht Brodkin die politische Dimension der entsprechenden
8.1 Politik auf dem Street-level und im experimentellen Prozess
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Organisationen. Sie bezieht sich dabei auf die klassische Definition von Politik nach Harold Lasswell (1936): „The work of SLOs should be understood as deeply political in part because their practice determine ‚who gets what, when, and how‘ […]“ (Brodkin 2013: 24). Gewicht habe diese Erkenntnis vor allem deshalb, weil – anders als beispielsweise im Kontext formaler Gesetzgebungsverfahren – die Ermessensentscheidungen auf dem Street-level häufig im Verborgenen bleiben, lediglich als zufällig oder einzelfallorientiert aufgefasst werden und deswegen in der Regel keinen politischen Konflikt nach sich ziehen und keine politische Mobilisierung ermöglichen (Brodkin 2013). Richtet man den Blick auf die Prozesse im Rahmen von Street-levelExperimenten, so geht die politische Dimension über das von Brodkin adressierte Verständnis hinaus. In politischen Bereichen, die in hohem Maße durch Ungewissheit, Wandel und heterogene Perspektiven geprägt sind und wo in Streetlevel-Experimenten innovative politische Ansätze hervorgebracht werden sollen, werden nicht nur Ermessensentscheidungen über Verteilungsfragen getroffen, sondern Entscheidungen über den aktiven Umgang mit einem Gestaltungsspielraum. Insofern werden durch diese Entscheidungen bestimmte Themen überhaupt erst als (politisch) relevante Themen hervorgebracht. Eine politische Dimension wird hier auch in den Aktivitäten sichtbar, die zur Hervorbringung einer gemeinsamen Realität beitragen (De Vries 2007; Callon et al. 2009; Braun/Whatmore 2010; Brown 2015). Wie vor allem in den Kapiteln 5 und 6 erörtert wurde, haben die Akteur*innen auf dem Street-level das Thema Flucht in einer von Wandel und Ungewissheit charakterisierten Situation für sich entdeckt und damit begonnen, dieses Thema im Rahmen einer experimentellen Herangehensweise mit den ihnen vertrauten Werkzeugen neu zu bearbeiten. „Dies ist politisch, weil hier neue Möglichkeitsräume geschaffen werden, die es erlauben, neue Wege zu gehen. Neues und anderes wird denkbar. Dabei steht die kreative Ausgestaltung des politischen Gemeinwesens im Zentrum. Dies erlaubt eine neue und andere, im wörtlichen Sinn substanziellere Kritik, als es bei einer theoriezentrierten Kritik der Fall ist. Die Projekte zeigen, dass es auch anders geht. Sie zeigen damit gleichzeitig die Defizite politischer und administrativer Praktiken weit wirkungsvoller auf, als es bei einem bloßen Beklagen des ‚Behörden-‘ oder ‚Politikversagens‘ der Fall ist.“ (Schiffauer 2017: 19)
Schiffauer bezieht sich bei seiner Charakterisierung zwar nicht direkt auf die hier untersuchten Street-level-Experimente, aber er hat die Gesamtheit der vielfältigen Initiativen und Projekte im Blick, die vor allem in den Jahren 2015 und 2016 das gesellschaftliche „Laboratorium“ mit einer „bemerkenswerten Freude an Innovation“ belebt haben (Schiffauer 2017: 18). Der Fokus liegt
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8
Zur politischen Dimension von SLEs
hier auf der Hervorbringung und Artikulation politischer Probleme und neuer Lösungsmöglichkeiten abseits der klassischen politischen Institutionen. In diesem Politikverständnis steht nicht zwingend die Durchsetzung kollektiv bindender Entscheidungen im Vordergrund, die durch formale Gesetze oder Verordnungen festgeschrieben und unter Androhung von Sanktionen durchgesetzt werden können,1 sondern das Kritik- und Veränderungspotenzial, das sich laut Schiffauer aus der praktischen Gestaltung von neuen Möglichkeitsräumen ergibt.
8.2
Sub-Politisierung
Sowohl die MoBiBe als auch die Gärtnerei haben seit 2015, wie zahlreiche andere Initiativen und Projekte auf dem Street-level, neue Ansätze für die Verbesserung der Teilhabe geflüchteter Menschen an Bildung und Arbeit entwickelt und umgesetzt. Damit sind sie Teil einer relativ neuen politischen Arena, die auf die Frage der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen ausgerichtet ist – einer Frage also, die vor wenigen Jahren in Politik, Praxis und Wissenschaft ein Nischenthema darstellte, da sie im Schatten eines Abwehrregimes kaum an Relevanz gewinnen konnte (Schammann 2017; Wiedner et al. 2018). Wenngleich diese Initiativen und Projekte Teil einer neuen politischen Arena sind, handelt es sich dennoch um Aktivitäten außerhalb der staatlichen Regelstrukturen. In ihrem Selbstverständnis setzen sie gerade dort an, wo die als starr geltenden staatlichen Strukturen aufgrund der Komplexität und Schnelllebigkeit der Situation nach 2015 keine adäquaten Ansätze und Lösungen bereitstellen. Die Arbeit im Rahmen der SLEs beruht, anders als beispielsweise die der Arbeitsagenturen und Jobcenter oder der Integrationskursträger, höchstens indirekt auf Gesetzen oder politischen Verordnungen. Zwar wurden die Träger der MoBiBe von den zuständigen Senatsverwaltungen des Landes Berlin beauftragt und finanziert, allerdings beruht dieser Auftrag, wie in der vorliegenden Arbeit gezeigt werden konnte, auf vage und vorläufig formulierten Rahmenkonzepten, die flexibel durch die praktischen Erfahrungen auf dem Street-level angepasst und
1
Allerdings können die Ergebnisse der experimentellen Prozesse insofern als kollektiv bindend angesehen werden, als sie (zunächst und zumindest in ihrem konkreten Anwendungskontext auf dem Street-level) in gemeinsame Aktivitäten, Vorstellungen und Werte einfließen, Aussagen über bestimmte Zusammenhänge etablieren und materielle Arrangements bilden, die von den beteiligten Akteur*innen (bis zu einem gewissen Grad) respektiert und übernommen werden müssen, um weiterhin an einer gemeinsamen Realität teilhaben zu können (Voß/Schroth 2018).
8.2 Sub-Politisierung
211
weiterentwickelt werden sollen. Die Gärtnerei ist noch weiter als andere Projekte von staatlichen Regelstrukturen entfernt und entwickelt ihren Ansatz nicht nur unabhängig davon, sondern in Teilen sogar als Gegenentwurf (damit befasst sich Abschnitt 8.4 noch ausführlicher). Ulrich Beck hat bereits seit Mitte der 1980er Jahre mit dem Konzept der SubPolitisierung einen Prozess in modernen Gesellschaften beschrieben, bei dem die politische Gestaltung unterschiedlicher Bereiche zunehmend ohne direkten Bezug zu den repräsentativen Institutionen des Staates betrieben wird. Das heißt, dass sich der politische Gestaltungswille von Bürgerschaft, Unternehmen, Wissenschaft etc. parallel zur reflexiven Modernisierung nicht primär auf die Wahl oder Beeinflussung von politischen Repräsentant*innen richtet, sondern direkter auf die Veränderung und Gestaltung der (eigenen) Lebenswelt zielt: „In der Konsequenz lassen sich politische Entscheidungsprozesse, auf welcher Ebene sie sich auch abspielen, nicht mehr begreifen als die bloße Durch- oder Umsetzung eines von irgendwelchen Führern oder Weisen im Vorhinein festgelegten Modells, dessen Rationalität nicht zur Diskussion steht und das auch gegen den Willen und die »irrationalen Widerstände« untergeordneter Instanzen, Interessen- und Bürgergruppen autoritär durchgesetzt werden kann oder muß. Sowohl die Programmformulierung und Entscheidungsfindung als auch ihre Durchsetzung muß dann vielmehr als ein Prozeß ‚kollektiven Handelns‘ (Crozier/Friedberg 1979) verstanden werden, und das heißt im besten Falle auch: kollektiven Lernens und kollektiver Schöpfung. Wodurch aber zwangsläufig offizielle Entscheidungsbefugnisse politischer Institutionen dekonzentriert werden. Das politisch-administrative System kann dann nicht länger einziger oder zentraler Ort des politischen Geschehens sein. Gerade mit der Demokratisierung entstehen quer zur formalen vertikalen und horizontalen Gliederung von Befugnissen und Kompetenzen Netzwerke der Ab- und Mitsprache, des Aushandelns, Uminterpretierens und möglichen Widerstands.“ (Beck 1986: 312-313)
Street-level-Experimente wie die Gärtnerei oder die MoBiBe können mit den Begriffen von Beck treffend als „Netzwerke der Ab- und Mitsprache, des Aushandelns, Uminterpretierens und möglichen Widerstands“ beschrieben werden. Vor allem in der Phase, in der sie verstärkt mit der Allokation von externen Ressourcen beschäftigt sind, stellen sie eine Verbindung zu verbreiteten Positionen in der politischen Arena her und verweben diese mit eigenen, bereits erfolgreich erprobten Ansätzen zu neuen, vorläufig formulierten Rahmenkonzepten, die sie mit der Unterstützung vertrauter Kooperationspartner*innen dann auf Basis der Erfahrungen auf dem Street-level immer wieder neu anpassen und weiterentwickeln, um sich den komplexen Anforderungen in vielfältigen und heterogenen Kontexten annähern zu können (Sabel/Zeitlin 2012; Wolfe 2018; Geuijen et al. 2020). Dadurch können sie neue politische Ansätze hervorbringen, die zwar mit
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Zur politischen Dimension von SLEs
Bezug zu einer gemeinsamen politischen Arena entstehen, aber keinem direkten Einfluss durch das „politisch-administrative System“ (Beck 1986: 313) ausgesetzt sind. Stattdessen bringen sich die beteiligten sozialen Welten – sei es die der Bildungsberatung oder jene der Kunst und kulturellen Bildung – mit ihrer Art und Weise der Problemdefinition, der Auswahl und Definition von Zielgruppen, der Lösungsansätze mitsamt der dazugehörigen Technologien und Instrumente verstärkt in die politische Gestaltung ein. So schaffen sie einen politischen Raum, der sich zumindest bis zu einem gewissen Grad unabhängig von der großen politischen Bühne entwickelt.
8.3
De-Politisierung
Wenn im Rahmen von SLEs mit neuen politischen Ansätzen in deren Anwendungskontext experimentiert wird mit dem Ziel, politische Innovationen hervorzubringen, dann scheint die Betonung der politischen Dimension dieser politischen Experimente auf den ersten Blick redundant. Man könnte fragen, wozu man sich überhaupt mit der politischen Dimension von SLEs auseinandersetzen sollte (seien sie sub-politisch oder auch nicht), wo es sich doch offensichtlich eben um politische Experimente auf dem Street-level handelt. Es geht jedoch nicht allein um die Frage nach Prozessen der Sub-Politisierung, sondern zugleich um die Frage nach Prozessen der De-Politisierung von eigentlich als politisch geltenden Aktivitäten wie der kollektiven Hervorbringung von und Einigung auf Probleme, Zielgruppen und Lösungsansätze in umstrittenen Handlungskontexten. Mit der Einführung von gesellschaftlichen Reallaboren, Modellversuchen, urbanen Experimenten und anderen Formen experimenteller Politikgestaltung gehen häufig Vorstellungen neutraler, evidenzbasierter und gegenstandsbezogener Verfahren und Lernprozesse einher und infolge der hohen Erwartungen an die innovationsfördernde und problemlösende Kraft der experimentellen Formen rücken Fragen nach Macht, Interessen und legitimen Entscheidungsprozessen in den Hintergrund (Voß/Schroth 2018). Die vorliegende Arbeit verdeutlicht, dass der Formulierung eines Problems und der Ausgestaltung eines innovativen Ansatzes, um mit diesem Problem umgehen zu können, vielfältige Entscheidungen vorausgehen, etwa über mögliche Kooperationspartner*innen, über das experimentelle Vorgehen selbst, über die Auswahl von Ansätzen und Gegenständen, mit denen experimentiert wird, über die Frage, was in dem experimentellen Prozess konkret in den Blick genommen werden soll, welche Methoden dafür eingesetzt werden und was gegebenenfalls als Erfolg oder Misserfolg des Ansatzes
8.3 De-Politisierung
213
gewertet wird und anderes mehr. Experimentelles Wissen kann daher nicht einfach als neutral und losgelöst von seinen Entstehungs- und Anwendungskontexten angesehen werden. Stattdessen sollte man experimentelles Wissen als kontingent, situiert und offen für unterschiedliche Perspektiven und Deutungen begreifen (Latour/Woolgar 1986; Voß/Schroth 2018). In Bezug auf die alltägliche Arbeit auf dem Street-level äußert sich die politische Dimension in der Vielzahl der einzelnen Entscheidungen, etwa über die Erbringung von Leistungen und die damit einhergehenden Ein- und Ausgrenzungsprozesse, wie sie in der Forschung zu Street-level-Organisationen beschrieben wurden (Lipsky 1980; Brodkin 2011) und in der vorliegenden Arbeit am Beispiel der Anpassung der Zielgruppen im Verlauf der SLEs sichtbar werden. Die politische Dimension auf dem Street-level schlägt sich aber noch grundlegender in der Konstituierung der Gegenstände des experimentellen Prozesses selbst nieder. Diese Konstituierung ist zwar vor allem zu Beginn der SLEs nicht unerheblich von der Einbindung der Experimente in eine politische Arena und durch die involvierten sozialen Welten geprägt, wird aber erst im Verlauf der Street-level-Experimente durch die Street-level-Praxis als solche vollzogen. Die ethnografische Untersuchung der Street-level-Praxis und die Erarbeitung von Situations-Maps fördern zutage, welche Vielzahl von Elementen einer Situation auf dem Street-level in Beziehung zueinander gesetzt werden könnten, um den fortlaufenden Prozess des Experimentierens zu gestalten. Einige der Elemente auf dem Street-level bieten sich mehr oder weniger aktiv für die Einbeziehung in den experimentellen Prozess an, während sich andere Elemente mehr oder weniger aktiv der Einbeziehung widersetzen. Im empirischen Teil der vorliegenden Arbeit kann anhand der Beschreibung der Situiertheit der SLEs allerdings gezeigt werden, dass es keineswegs Zufall ist, auf welche Aspekte und Gegebenheiten sich beim Experimentieren das Augenmerk richtet. Was im experimentellen Prozess relevant wird, hängt unter anderem von den beteiligten sozialen Welten und dem konkreten experimentellen Setting ab. Die Konstruktion von machbaren Problemstellungen im Verlauf der Streetlevel-Experimente gelingt, wenn Anforderungen der Situation auf der Ebene der politischen Arena, der involvierten sozialen Welten und der Street-levelPraxis miteinander in Übereinstimmung gebracht werden können, und zwar durch situative Manipulationen, durch die Herstellung von neuen Verbindungen und Anordnungen sowie durch neue Legitimationsmuster. Dieser manipulative und kreative Charakter der Experimente unterstreicht deren politische Dimension. Im experimentellen Prozess wird nicht einfach sichtbar, was ohnehin in der Realität auf dem Street-level vorhanden ist: „Each experiment actively creates, rather than discovers, such realities“ (Voß/Simons 2018: 225). Experimente sind keine unabhängigen Instrumente, mit deren Hilfe wir etwas über bereits objektiv
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8
Zur politischen Dimension von SLEs
bestehende Gegenstände lernen können, um im Anschluss daran bessere politische Entscheidungen zu treffen. Stattdessen lenken sie die Aufmerksamkeit auf bestimmte Elemente einer komplexen und vielschichtigen Situation, während sie im Umkehrschluss – unter der Annahme, dass es sich bei Aufmerksamkeit um eine begrenzte Ressource handelt – dafür sorgen, dass anderen Elementen Aufmerksamkeit entzogen wird. Bereits der Einsatz und das Design von Street-level-Experimenten müssen daher als das Ergebnis politischer Entscheidungen angesehen werden. Nicht zuletzt der Prozess der Sub-Politisierung führt allerdings dazu, dass diese Entscheidungen in der Street-level Praxis kaum als politische Entscheidungen gerahmt werden. Stattdessen sind sie eingebunden in die Aktivitäten der beteiligten sozialen Welten und werden dadurch zum Beispiel als künstlerische, beraterische oder organisatorische Entscheidungen begriffen.2
8.4
Re-Politisierung
Im Rahmen der hier untersuchten Street-level-Experimente ließen sich also erstens eine Sub-Politisierung durch die Beteiligung nichtstaatlicher Akteur*innen an der experimentellen Politikgestaltung und zweitens eine De-Politisierung der experimentellen Prozesse durch die Betonung einer kontextspezifischen und erfahrungsbasierten Herangehensweise aufzeigen. Drittens kann man schließlich eine Tendenz zur Re-Politisierung beobachten. Im Fall der Gärtnerei zeigt sich diese Re-Politisierung insbesondere am Kampagnencharakter und der ausgeprägten Öffentlichkeitsarbeit, die im Rahmen des Experiments vergleichsweise viel Raum einnimmt und mit dem Ziel verbunden ist, ein Gegenbild zu den in der Öffentlichkeit verbreiteten Bildern über Flucht zu gestalten und zu verbreiten. Zugleich spielt die Präsentation des Ansatzes und der 2
Voß und Schroth weisen darauf hin, dass vielen Entscheidungen im Verlauf von politischen Experimenten häufig keine größere politische Bedeutung beigemessen wird, da sie als epistemische Entscheidungen gerahmt und dadurch einer öffentlichen Diskussion entzogen werden Voß/Schroth 2018. Mit Blick auf die Veränderung des organisationalen Settings auf dem Street-level betont auch Brodkin, dass diese Veränderungen in der Regel unter der Rubrik Verbesserung von Abläufen, Effizienzsteigerung oder Qualitätssicherung verhandelt würden, während politische Auswirkungen der organisationalen Veränderungen wenig Beachtung fänden Brodkin 2013. Zudem werden bei der Auseinandersetzung mit experimentellen Verfahren der Politikgestaltung häufig ein vereinfachendes und idealisierendes Verständnis der Generierung von Wissen und Erfahrungen im experimentellen Prozess vermittelt. Allerdings gibt es viele Hinweise darauf, dass selbst wissenschaftliche Fakten eher durch soziale Aushandlungsprozesse als durch die neutrale Anwendung formaler Methoden zustande kommen Knorr-Cetina 1984, 1995; Latour/Woolgar 1986.
8.4 Re-Politisierung
215
Austausch mit anderen Projekten und Initiativen eine große Rolle, um Aspekte des Gärtnerei-Ansatzes auch auf andere Kontexte übertragen zu können. Im Fall der MoBiBe lässt sich zwar kein Kampagnencharakter erkennen. Die projektbezogene Öffentlichkeitsarbeit zielt in erster Linie auf die Sichtbarkeit des Angebots für die Zielgruppe und die relevanten Kooperationspartner*innen ab. Allerdings konnte hier ebenfalls der Versuch beobachtet werden, den neuen Ansatz nicht nur kontextspezifisch weiterzuentwickeln, sondern Lernprozesse über den eigenen Anwendungskontext hinaus zu ermöglichen: zum einen mittels zahlreicher Treffen zum Austausch zwischen Angehörigen des Netzwerkes, Vertreter*innen der zuständigen Senatsverwaltungen und Akteur*innen aus anderen Ländern und Kommunen, zum anderen im Rahmen von Fachtagungen und Veröffentlichungen, die über die Weiterentwicklung des Ansatzes berichten und diesen als BestPractice-Beispiel präsentieren. So konnte unter anderem eine Veranstaltung in einem der WiA-Büros beobachtet werden, in deren Rahmen Teilnehmer*innen einer Konferenz des Deutschen Instituts für Urbanistik zu Gast waren, um das WiA-Büro und die Arbeit vor Ort kennenzulernen. Als Teil der Veranstaltung sollten Vertreter*innen der Beratungsprojekte kurz über ihre Arbeit im WiA Büro berichten und auf folgende Fragen eingehen, die ihnen im Vorfeld per E-Mail zugeschickt wurden: Beobachtungsprotokoll – MoBiBe vom 05.05.2017 Es wäre schön, wenn Ihr kurz auf folgende Fragen, die uns der Veranstalter gesendet hat, eingehen könntet: – Wie bewerten Sie den bisherigen Erfolg Ihrer Arbeit? Was konnten Sie erreichen? – Gibt es Rahmenbedingungen Ihrer Arbeit, die sich ändern müssten, damit Sie noch erfolgreicher sein können? – Was würden Sie aus Ihren Erfahrungen heraus anderen Kommunen zum „Nachmachen“ empfehlen und welche Fehler sollten sie nach Möglichkeit vermeiden?
Der Anspruch der SLEs, mit den im experimentellen Prozess gemachten Erfahrungen Lernprozesse außerhalb des eigenen Anwendungskontextes anzuregen und durch die Übertragung auf andere Kontexte politische Innovationen hervorzubringen, markiert neben der experimentellen, tentativen Vorgehensweise einen
216
8
Zur politischen Dimension von SLEs
zentralen Unterschied zu den Street-level-Organisationen, die im Fokus des SLOAnsatzes bei Brodkin (2011, 2013) stehen. Hier zeigt sich der Gestaltungs- und Veränderungsanspruch, der deutlich über einzelne Ermessensentscheidungen auf dem Street-level hinausgeht.
8.5
Postdemokratiediskurs vs. Governancediskurs
Was bedeutet es aber für die Frage nach der Legitimität der experimentellen Prozesse auf dem Street-level, wenn ein politischer Gestaltungswille außerhalb der formaldemokratischen Institutionen verfolgt und umgesetzt wird? Beck macht ebenfalls auf diese Frage aufmerksam und formuliert daraus eine paradox anmutende Beschreibung moderner demokratischer Gesellschaften: „Überall dort, wo Rechte gesichert, Soziallasten umverteilt, Mitsprachen ermöglicht, Bürger aktiv werden, wird Politik ein Stück weit entgrenzt und generalisiert; parallel wird die Vorstellung einer Zentrierung hierarchischer Entscheidungsgewalt in den Spitzen des politischen Systems zu einer Erinnerung an die vor-, halb- oder formaldemokratische Vergangenheit.“ (Beck 1986: 314)
Aus Sicht des Postdemokratiediskurses, der seit den 1990er Jahren eine zunehmende Aushöhlung (formal-)demokratischer Institutionen anprangert, unterlaufen die an Problemlösung ausgerichteten Verhandlungspraktiken neuer GovernanceArrangements, zu denen auch SLEs gezählt werden können, nicht nur die Willensbildung und Entscheidungsfindung im Rahmen von demokratisch legitimierten Verfahren. Vielmehr erwecken sie durch ihre Outputorientierung zusätzlich den Anschein einer höheren Legitimität, insbesondere in Zeiten, in denen die Zunahme komplexer und nur schwer lösbarer Problemkonstellationen betont wird (Rancière 1997; Crouch 2004; Jörke 2005; Buchstein/Nullmeier 2006; Fischer 2006; Ritzi 2016). Folgt man der Postdemokratietheorie von Rancière, so äußert sich die Aushöhlung der Demokratie in der Auflösung des sich selbst begreifenden Demos unter den Bedingungen der neuen Regierungsweisen, welche die Vorstellung einer auf Konsens zielenden Aushandlung unterschiedlicher Perspektiven und Interessen an die Stelle von sichtbarer Macht und Gegenmacht rücken (Rancière 1997). Aus der Perspektive der Postdemokratietheorie nach Rancière wären neue Governance-Arrangements wie die hier untersuchten Streetlevel-Experimente postdemokratisch, weil sie den Gegensatz widerstreitender Positionen und Interessen ebenso verschleiern wie die (Ungleich-)Verteilung von Macht bei der Durchsetzung der jeweiligen Positionen und Interessen. Ohne eine
8.5 Postdemokratiediskurs vs. Governancediskurs
217
klar erkennbare politische Ordnung falle es aber schwer, diese zu skandalisieren und gegebenenfalls zu verändern (Haus 2012). Es kann bezweifelt werden, dass historisch jemals ein demokratischer Zustand verwirklicht wurde, der dem Ideal postdemokratischer Theorien entspricht. Aus Sicht der Governance-Perspektive erscheint hauptsächlich die Vorstellung einer politischen Ordnung, in der durch demokratische Verfahren und staatliche Intervention entlang einer ununterbrochenen Legitimationskette der Volkswille durchgesetzt wird, als unterkomplex und ahistorisch (Haus 2012). Willensbildung, Politikformulierung und Umsetzung finden in dieser Perspektive in vielfältigen Konstellationen statt, die die traditionellen Vorstellungen von demokratischer Wahl, parlamentarischer Repräsentation und hierarchischer Staatlichkeit nicht ersetzen, sondern ergänzen – und bereits in vergangenen Zeiten ergänzt haben (Benz 2004). Insofern stellt sich weniger die Frage, ob (neue) GovernanceArrangements der Verwirklichung der ‚wahren Demokratie‘ im Sinne einer (Wieder-)Belebung formaldemokratischer Institutionen entgegenwirken, sondern, um die Kritik von Rancière aufzunehmen, wie (neue) Governance-Arrangements wie die hier im Mittelpunkt stehenden SLEs so zu gestalten (oder zu betrachten) sind, dass auch dort eine ‚herrschende Ordnung‘ sichtbar, skandalisierbar und schließlich veränderbar wird. In diesem Sinne müsste eine kritische Perspektive auf diese neuen Governance-Arrangements danach fragen, „[…] inwiefern die Relativierung hierarchischer Formen des Regierens zu einer Abschleifung der semantischen, prozessualen und institutionellen Potentiale der Infragestellung von Machtasymmetrien mit sich bringt bzw. umgekehrt: […] wo sich im Kontext posthierarchischen Regierens neue Potentiale ergeben könnten.“ (Haus 2012: 152)
Bei der kritischen Diskussion der politischen Dimension von Street-levelExperimenten soll nach diesen neuen Potenzialen der „Infragestellung von Machtasymmetrien“ beziehungsweise der Sichtbarmachung und Infragestellung einer Ordnung im Rahmen der Experimente auf dem Street-level gesucht werden. Damit ist nicht die Suche nach großen Ordnungsvorstellungen gemeint, denen die Strukturierung ganzer Gesellschaften obliegt, sondern die eigensinnige Ordnung der Street-level-Experimente, die als Orte der Politikproduktion in Erscheinung treten und damit auch als Orte der politischen Ordnung jenseits des Zentralstaates in den Blick genommen werden müssen.
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8.6
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Zur politischen Dimension von SLEs
Plädoyer für eine Reflexivität und Diversität der experimentellen Prozesse
Zwar werden neue politische Ansätze im Rahmen der Street-level-Experimente einer ständigen reflexiven Betrachtung unterzogen und vor dem Hintergrund der bei der Umsetzung gemachten Erfahrung angepasst, das gleiche gilt aber nur in deutlich geringerem Ausmaß für den Einsatz der Street-level-Experimente und die konkrete Ausgestaltung des experimentellen Vorgehens selbst. So wird beispielsweise das Fachkonzept der mobilen Bildungsberatung auf der Grundlage der Erfahrungen mit dem Beratungsansatz in der Praxis inhaltlich angepasst; der Ansatz wird einem gemeinsamen Qualitätsentwicklungsprozess unterzogen, um Standards der Beratung einführen oder gewährleisten und verbessern zu können; die Arbeit wird systematisch dokumentiert, um Wissen über die Beratungsthemen, die erreichten Zielgruppen sowie über die Anzahl und den Verlauf der Beratungen zu erlangen, und dieses Wissen soll wiederum genutzt werden, um den Ansatz weiterzuentwickeln. Aber wie mit Instrumenten wie dem Fachkonzept, dem Qualitätsmanagement oder dem elektronischen Dokumentationssystem kollektive Vorstellungen über die zugrunde liegenden Probleme, die Zielgruppen und die möglichen Lösungsansätze konstruiert werden, welche Rolle das Format der jeweiligen Instrumente in diesen Konstruktionsprozessen spielen und welche Entscheidungen durch den Einsatz dieser Instrumente getroffen werden, ist kaum Teil des reflexiven Prozesses im Rahmen der Street-level-Experimente. Während die Reflexivität der experimentellen Ansätze also zielgerichtete und punktgenaue, bedarfsorientierte, innovative und effiziente Ansätze verspricht, bleibt eine experimentelle Selbstreflexivität beziehungsweise die reflexive Betrachtung des experimentellen Settings weitgehend aus. Eine kritische Perspektive auf SLEs führt nun zu der Einsicht, dass das experimentelle Setting tendenziell politische Prozesse und Entscheidungen systematisch beeinflusst und gleichzeitig so verschleiert, dass Fragen nach dem legitimen Ablauf dieser Prozesse beziehungsweise dem legitimen Zustandekommen der Entscheidungen nicht aufkommen. Sabel und Zeitlin erkennen zwar an, dass experimentelle GovernanceArrangements an sich nicht demokratisch legitimiert sind, verweisen aber, wie in Kapitel zwei erörtert wurde, auf ihr eigenes Konzept der Directly-Deliberative Polyarchy (Cohen/Sabel 1997; Sabel/Zeitlin 2012). Ihre Annahmen lauten, dass experimentelles Lernen als ein Prozess des rationalen Austausches über dezentral gemachte lokale Erfahrungen zwischen einer großen Anzahl an gleichen oder zumindest vergleichbaren experimentellen Einheiten angesehen werden kann, zu
8.6 Plädoyer für eine Reflexivität und Diversität …
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denen wiederum eine große Anzahl an Akteur*innen Zugang hat.3 Dies trifft auf die Street-level-Experimente, die in vorliegender Arbeit untersucht werden, jedoch nicht zu: Obwohl in der Gärtnerei prinzipiell alle Interessierten Zugang zum Street-level haben und sich am experimentellen Prozess beteiligen können, werden wichtige Entscheidungen von den Verantwortlichen der Projektträger unter Ausschluss der meisten Beteiligten getroffen. Dies geschieht sicherlich nicht unabhängig von den Erfahrungen, die im Alltag auf dem Street-level gemacht werden, wie u. a. der Interviewauszug über den iterativen Lernprozess zwischen Vision und Umsetzung illustriert (vgl. Abschnitt 5.2.2). Allerdings werden in den sogenannten Visionsrunden ebenso Gesichtspunkte in die Entscheidung einbezogen, die der Arena oder den beteiligten sozialen Welten zugeordnet werden können und sowohl strategisch berücksichtigt werden, um beispielsweise weitere Fördermittel einzuwerben, als auch unbewusst in den Entscheidungsprozess einfließen. Darüber hinaus ist die Gärtnerei zwar lose in ein Netz aus vergleichbaren Streetlevel-Experimenten wie CUCULA oder ARRIVO eingebunden, allerdings findet experimentelles Lernen im Austausch zwischen diesen SLEs eher zufällig und unreflektiert statt. Etwas anders sieht es im Fall der mobilen Bildungsberatung aus. Hier besteht ein Netzwerk aus mehr oder weniger vergleichbaren Beratungseinrichtungen verschiedener Träger, die dezentral in ganz Berlin verteilt Erfahrungen sammeln. Diese Erfahrungen tauschen sie auf der Ebene der Berater*innen zum Beispiel im Rahmen der kollegialen Fachaustausche und auf der Ebene der Projektleitungen in Koordinationstreffen aus, um gemeinsam daraus zu lernen. Mit diesem Konzept gelingt es tatsächlich immer wieder, Berater*innen und Projektverantwortliche unterschiedlicher Bildungsberatungsträger an einen Tisch zu holen, obwohl sie in Konkurrenz um finanzielle Zuwendungen durch die zuständigen Senatsverwaltungen stehen. Vor allem auf der Ebene der Berater*innen funktioniert der Austausch über die Arbeit auf dem Street-level und die daraus resultierenden Lernprozesse. Dies zeigen nicht nur die Beobachtungen im Rahmen der Fachaustausche, sondern auch die trägerunabhängige Zusammenarbeit der Berater*innen in der Praxis selbst, die beispielsweise in den WiA-Büros stattfindet. Dagegen scheint auf der Ebene der Koordinationsrunden der Wettbewerb zwischen den Bildungsberatungsträgern sehr wichtig zu sein. Einerseits konnte auch auf dieser 3
Sabel und Zeitlin haben ihr experimentalist Governance-Konzept und den Ansatz der Directly-Deliberative Polyarchy vor allem mit Blick auf internationale politische Systeme wie die Europäische Union entwickelt und haben deshalb zum Teil andere empirische Konstellationen vor Augen (Sabel/Zeitlin 2008, 2012). Allerdings kann auch für diese Konstellationen bezweifelt werden, dass experimentelles Lernen in der skizzierten Form stattfindet.
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8
Zur politischen Dimension von SLEs
Ebene ein Austausch über diverse praktische Themen der alltäglichen Street-levelArbeit beobachtet werden; andererseits nehmen Erfolge, insbesondere, wenn sie sich in den Beratungszahlen ausdrücken, bei Berichten an die Vertreter*innen der verantwortlichen Senatsverwaltungen vergleichsweise viel Raum ein. Inwiefern der Wettbewerb um Zuwendungen auf der Grundlage von Beratungszahlen Lerneffekte zwischen den Bildungsberatungsträgern hervorruft oder behindert, konnte im Rahmen der Arbeit nicht ausreichend untersucht werden. Doch erwies sich, dass der Vergleich der Beratungszahlen auf der Koordinationsebene von den Projektleitenden im Rahmen der Teammeetings auf die Ebene der Beratenden weiterkommuniziert wird und dort in die Entwicklung neuer Strategien und Beratungsformate mündet, mit dem Ziel, die Beratungszahlen zu erhöhen. Der Wettbewerb, d. h. der Vergleich auf Grundlage der erfassten Beratungszahlen, lenkt somit den Fokus auf quantitative Aspekte der Beratung und hat einen spezifischen Einfluss auf den Fortgang des experimentellen Prozesses auf dem Street-level. Anders als bei der Gärtnerei ist der Zugang zur mobilen Bildungsberatung stark reguliert. Die Bildungsberatungsträger spielen eine zentrale Rolle bei der Auswahl der Akteur*innen, die am experimentellen Prozess beteiligt sind. Zudem ist die Zielgruppe selbst, anders als in der Gärtnerei, nur kurzzeitig direkt involviert, nämlich dann, wenn ein*e Angehörige*r an Beratungssitzungen, Workshops oder Veranstaltungen teilnimmt. Sie wird lediglich über die Beratungsevaluation indirekt in mögliche Entscheidungen im experimentellen Verlauf einbezogen. Insgesamt haben die Adressat*innen des Ansatzes aber so gut wie keinen direkten Einfluss auf dessen Weiterentwicklung. Dies sollte mit Blick auf die Legitimation der Entscheidungen, die im Laufe des experimentellen Prozesses getroffen werden, berücksichtigt werden. Demnach ist der direkte Zugang zu den SLEs und vor allem zu deren Entscheidungszentren begrenzt. Insgesamt haben aber relativ viele Akteur*innen zumindest einen indirekten Einfluss auf den experimentellen Prozess und können so die Weiterentwicklung der jeweiligen Ansätze beeinflussen. Die Beteiligungsund Veränderungsmöglichkeiten beziehen sich fast ausschließlich auf die Ansätze und nicht auf das experimentelle Setting beziehungsweise den experimentellen Prozess selbst. Diese Erkenntnis bestätigt die Aussage, die oben zur Reflexivität im Rahmen der SLEs getroffen wurde. Das Experiment bleibt folglich als solches für eine politische Auseinandersetzung weitestgehend unverfügbar, da seine politische Dimension mitsamt den möglichen Machtasymmetrien, Interessenskonflikten sowie den Inklusions- und Exklusionsprozessen wegen der Fokussierung auf Problemlösung in der Praxis kaum in Erscheinung tritt. Die eigene Reflexion des experimentellen Settings scheint zusätzlich erschwert zu sein, wenn man
8.6 Plädoyer für eine Reflexivität und Diversität …
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nach Ansätzen der sozialen Fürsorge und Unterstützung handelt, die selbst den Anspruch auf eine kritische Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Status quo erheben. Dies gilt für beide hier erörterten Beispiele: Das positive Bild der Produktivität im Fall der Gärtnerei soll einem verbreiteten Bild der Passivität und des Elends entgegengesetzt werden; die MoBiBe verfolgt einen Ansatz, der frühzeitig den Zugang zu Bildung und Arbeit ermöglichen soll, anstatt ein als unmenschliches betrachtetes Abwehrregime durch zahlreiche Zugangsbarrieren in der Praxis aufrechtzuerhalten. Sabel und Zeitlin sehen experimentelle Governance-Arrangements als „a machine for learning from diversity“ (Sabel/Zeitlin 2008: 276). Die Diversität bezieht sich dabei auf die experimentellen Einheiten, die vor dem Hintergrund einer von Ungewissheit geprägten Situation innerhalb eines experimentellen Settings unterschiedliche Erfahrungen und damit unterschiedliches Wissen generieren, welches wiederum in die Weiterentwicklung der vorläufig formulierten Ziele des Experiments – und damit einhergehend der diversen Ansätze – einfließen soll. Wenn aber das Ziel darin besteht, möglichst diverse Ansätze für eine von Ungewissheit geprägte Situation zu entwickeln, dann muss Diversität auch auf das experimentelle Setting selbst bezogen werden. Da im Rahmen der Experimente auf dem Street-level fortlaufend an der Erzeugung machbarer Problemstellungen gearbeitet wird und sich erst im Verlauf dieser Arbeit die Gegenstände des Experimentierens herausbilden, spielt das experimentelle Setting eine zentrale Rolle bei der Entwicklung neuer politischer Ansätze. In einer politischen Arena, in der die Politikproduktion aufgrund der wahrgenommenen Ungewissheit vermehrt im Rahmen von Street-level-Experimenten stattfindet, scheint somit vor allem die Diversität der experimentellen Formen an Bedeutung zu gewinnen. Mit vorherrschenden Finanzierungsformen wie der kurzfristigen Projektfinanzierung, mit verbreiteten Managementinstrumenten wie der kennzahlenbasierten Leistungsmessung und mit der Homogenität der beteiligten sozialen Welten geht allerdings die Gefahr einher, dass trotz einer Vielzahl von einzelnen SLEs die Entwicklung von diversen Ansätzen ausbleibt. Street-level-Experimente wie die hier untersuchten können einen wichtigen Beitrag zur Erzeugung von machbaren Problemstellungen in einer von Ungewissheit geprägten Situation leisten. Sie orientieren sich mit ihren neuen Ansätzen an aktuellen Positionen in der politischen Arena, sie knüpfen an Aktivitäten der beteiligten sozialen Welten an, sie nutzen, was ihnen auf dem Street-level zur Verfügung steht, und sie passen die Ansätze fortlaufend auf der Grundlage der im Alltag auf dem Street-level gemachten Erfahrungen an. Dieser experimentelle Prozess verläuft allerdings weder zufällig noch neutral. Das Experimentieren
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selbst sowie die Art und Weise, wie experimentiert wird, konstruiert einen spezifischen Gegenstand, eine neue Realität beziehungsweise ein neues Arrangement aus einer unendlichen Vielzahl von Elementen einer Situation. Insofern können die Street-level-Experimente nicht als neutrale und unpolitische Instrumente des Lernens und der Wissensgenerierung in Bezug auf einen unabhängig von diesem Wissen gegebenen Gegenstand angesehen werden, die dann zu besseren, weil evidenz- und erfahrungsbasierten politischen Entscheidungen eingesetzt werden können. Bereits der Initiierung eines Experiments und der Gestaltung eines experimentellen Settings liegen politische Entscheidungen zugrunde, denen bislang nur wenig Beachtung geschenkt wird. Erst dann, wenn Street-level-Experimente und die Gestaltung des experimentellen Settings als genuin politische Phänomene in den Blick geraten, können Reflexivität und Diversität bezogen auf die Street-level-Experimente selbst und das jeweilige experimentelle Setting verstärkt werden.
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In politischen Bereichen, die von Kontroversen, anhaltendem Wandel und Ungewissheit geprägt sind, werden zunehmend dezentrale politische Experimente gefördert und durchgeführt mit dem Ziel, politische Innovationen direkt in ihrem Anwendungskontext hervorzubringen. Den polyzentrischen, experimentellen und tentativen Governance-Arrangements schreibt man aufgrund ihrer Nähe zum Anwendungskontext, des möglichen Wettbewerbs zwischen lokalen Experimenten sowie der reflexiven und iterativen Vorgehensweise eine ausgeprägte Flexibilität, Kontextsensitivität und innovationsfördernde Eigenschaften zu (Sabel/Zeitlin 2012). Allerdings ließ die wissenschaftliche Forschung zu solchen Governance-Arrangements die komplexe und dynamische Praxis des Experimentierens bisher weitgehend außer Acht. Die vorliegende Studie untersuchte daher am Beispiel der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen in Berlin, wie im Kontext einer kontroversen, durch Wandel und Ungewissheit geprägten Situation auf dem Street-level, also in direktem Kontakt mit den Adressat*innen von Politik, mit neuen politischen Ansätzen experimentiert wird. Im Zentrum stand die übergreifende Frage, wie ganz praktisch im Alltag auf dem Street-level experimentiert wird. Im Einzelnen wurde den Fragen nachgegangen, wie auf dem Street-level mit der vorhandenen Ungewissheit und den alltäglichen Herausforderungen des Experimentierens umgegangen wird, wie im Verlauf der Experimente Probleme und Zielgruppen ausgewählt und definiert und welche Lösungsansätze gesehen und ausgewählt werden und wie in den experimentellen Prozessen bewertet, interpretiert und gelernt wird. In konzeptioneller Hinsicht fragte die vorliegende Studie anschließend nach dem Verhältnis zwischen Streetlevel-Experimenten und deren jeweiligem Gegenstand sowie nach der politischen Dimension von Street-level-Experimenten. Für die Untersuchung von Street-level-Experimenten hat sich die Bildungsund Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen im Zeitraum zwischen 2015 © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 F. Maas, Politik zwischen Innovation und Machbarkeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-38335-0_9
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und 2017 in Berlin als geeignet erwiesen, da in diesem Bereich und zu der Zeit eine erhöhte Aufmerksamkeit für experimentelle Aktivitäten auf dem Streetlevel herrschte. Eine öffentlich diskutierte Verwaltungskrise und die generelle Offenheit für experimentelle Prozesse hatten zu einer Vielzahl unterschiedlicher SLEs geführt. Nach einer Vorstudie über die Bildungs- und Arbeitsmarktintegration von geflüchteten Menschen in Berlin anhand von Dokumentenanalysen und Expert*inneninterviews widmete sich die Studie zwei konkreten SLEs, die zwei Jahre im Zuge einer teilnehmenden Beobachtung begleitet wurden. Des Weiteren basierte die Untersuchung auf Hintergrundgesprächen und Dokumentenanalysen von prozessproduzierten Daten. Beim ersten SLE handelte es sich um ein Bildungsberatungsnetzwerk, dessen aufsuchende Arbeit durch Zuwendungen des Landes Berlin finanziert und von nicht-staatlichen Projektträgern aus dem Bereich der unabhängigen Bildungsberatung umgesetzt wurde. Beim zweiten SLE handelte es sich um ein künstlerisches und sozialraumorientiertes Bildungsprojekt, das größtenteils von der Bundeskulturstiftung gefördert und von Trägern der kulturellen Bildung sowie einem Architekturkollektiv auf einem ehemaligen Friedhofsgelände umgesetzt wurde. Für die Analyse der vielfältigen Daten hat sich die Situationsanalyse nach Adele Clarke (2012) als zielführend erwiesen. Mittels Mapping-Verfahren, die unterschiedliche Situationen im Hinblick auf ihre Komplexität und Dynamik zu erfassen helfen, konnten situative Elemente wie Akteur*innen, Orte, Technologien, Körper, Diskurse etc. in ihrer Relation zueinander betrachtet und in ihrer Entwicklung über einen längeren Zeitraum analysiert werden. Ausgehend von Situations-Maps wurden die für die Beantwortung der Fragen relevanten Elemente der Situation herausgearbeitet und Fallgeschichten rekonstruiert, die den sozialen Prozess des Experimentierens auf dem Street-level und dessen Situiertheit exemplarisch aufzeigen. Die Vorstudie machte deutlich, dass die beteiligten Akteur*innen Bildungsund Arbeitsmarktintegration als komplexen und langwierigen Prozess beschreiben, an dem zwangsläufig viele unterschiedliche Akteur*innen beteiligt sind und dessen Rahmenbedingungen Wandel und Ungewissheit unterliegen. Ein dezentrales und zugleich vernetztes Vorgehen, welches auf innovative Ansätze abzielt, wird als geeigneter Umgang mit dieser Situation gewertet. Die Akteur*innen schreiben vor allem der lokalen Ebene und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen eine zentrale Rolle bei der Entwicklung innovativer Ansätze zu, zumindest, bis die als unflexibel geltenden Regelstrukturen besser auf die Bedarfe der geflüchteten Menschen angepasst sind. Daraus ergibt sich ein gewisser Gestaltungsspielraum für die Akteur*innen auf dem Street-level, der es ihnen erlaubt, mit eigenen Ansätzen der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration zu experimentieren, Dinge in der Praxis auszuprobieren und iterativ an die sich wandelnden
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Rahmenbedingungen und die lokalen Gegebenheiten anzupassen. Insofern kann man auch von einem krisenbedingten Vertrauensvorschuss sprechen, der den handelnden Akteur*innen auf dem Street-level gewährt wird. Die ethnografische Untersuchung der Street-level-Experimente führte allerdings zu der Erkenntnis, dass sich die SLEs vor allem in der Anfangsphase durchaus um das Vertrauen relevanter Akteur*innen bemühen müssen, um die für den experimentellen Prozess notwendigen Ressourcen wie Fördergelder, geeignete Räumlichkeiten oder Unterstützer*innen zu organisieren. Diese Bemühungen lassen sich mit dem sensibilisierenden Konzept der machbaren Problemstellungen von Fujimura (1987) beschreiben. So werden die zugrunde liegenden Problemstellungen der Experimente so formuliert, dass sie die jeweiligen Möglichkeiten und Anforderungen der politischen Arena, der an den Experimenten beteiligten sozialen Welten und des Street-levels sinnvoll und vielversprechend in Übereinstimmung bringen. Dies gelingt den beiden SLEs zu Beginn, indem sie ausdrücklich auf in Berlin verbreitete Vorstellungen über Flucht, Zuwanderung und Integration Bezug nehmen, mit vertrauten Kooperationspartner*innen zusammenarbeiten sowie eigene, bereits erprobte Ansätze auf den neuen Anwendungsbereich beziehungsweise eine neue Zielgruppe übertragen. Beide SLEs knüpfen bei der vorläufigen Problembeschreibung, die dem jeweiligen experimentellen Prozess zugrunde liegt, an den Aspekt der Nützlichkeit an. Die damals aufkommende Orientierung an Nützlichkeit in der deutschen Flüchtlingspolitik (Schammann 2017) steht wiederum im größeren Kontext des Wandels von einer defizitorientierten zu einer potenzialorientierten Migrationspolitik in Deutschland. Im Fall der Gärtnerei liegt der Fokus der Problembeschreibung auf der erzwungenen Untätigkeit vieler Geflüchteter, die der Entfaltung der vorhandenen Potenziale entgegenwirkt und damit das Nützlichkeitsprinzip untergräbt. Für die Bearbeitung dieser beschriebenen Problemstellung eignet sich der Ansatz der kulturellen und ästhetischen Bildung der beteiligten Akteur*innen, der Perspektiven aufzeigen, Selbstwirksamkeit erfahrbar sowie Fähigkeiten und Potenziale sichtbar machen soll. Im Fall der MoBiBe liegt der Fokus der Problembeschreibung auf den unübersichtlichen und schwer zugänglichen Bereichen des Bildungssystems und des Arbeitsmarktes sowie auf dem Fehlen von bedarfsgerechten Beratungs- und Informationsangeboten für geflüchtete Menschen seitens der vorhandenen Regelstrukturen. Für die Bearbeitung der Problematik eignet sich ein Ansatz der aufsuchenden Bildungs- und Berufsberatung, wie er von den beteiligten Beratungseinrichtungen in Form einer mobilen Bildungsberatung bereits für andere Zielgruppen entwickelt und erfolgreich erprobt wurde.
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In beiden untersuchten Fällen wird bei der Umsetzung der SLEs nicht nur auf eigene Ansätze zurückgegriffen, die bereits in anderen Kontexten zum Einsatz kamen, sondern auch auf bereits bestehende Kooperationen, die im Rahmen vergangener Projekte gemeinsame Erfolge erzielen konnten. Dadurch kann noch vor Beginn der experimentellen Prozesse ein gewisses Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der Ansätze und die erfolgreiche Zusammenarbeit der beteiligten Akteur*innen aufgebaut werden. Die beschriebenen Bemühungen, einen Vertrauensvorschuss in einer von Ungewissheit geprägten Situation zu erhalten, verweisen darauf, dass der experimentelle Prozess weder bei null beginnt, noch als neutrale Annäherung an geeignete Lösungsansätze für unabhängig davon bestehende Probleme angesehen werden kann. Die vorliegende Untersuchung zeigt vielmehr, dass die SLEs spezifische Probleme, Zielgruppen und Lösungsansätze in ko-konstruktiven Prozessen hervorbringen. Diese Prozesse sind schon vor dem eigentlichen Beginn der Experimente eingebettet in eine übergreifende politische Arena und in die Historie der beteiligten Akteur*innen, das heißt, sie bauen auf den bereits erfolgreich erprobten Ansätzen und den Erfahrungen mit Kooperationspartner*innen auf. Die detaillierte Untersuchung der SLEs über einen längeren Zeitraum führt zur weiteren Erkenntnis, dass Aspekte der Arena, der beteiligten sozialen Welten und des Street-levels nicht nur zu Beginn des experimentellen Prozesses so miteinander in Übereinstimmung gebracht werden müssen, dass trotz der vorhandenen Ungewissheit machbare Problemstellungen angeboten werden können. Hingegen gilt es angesichts unerwarteter Gelegenheiten und unvorhergesehener Widerstände, die immer wieder im experimentellen Prozess auf dem Street-level auftauchen, aber auch von außen auf den experimentellen Prozess einwirken können, die Machbarkeit der Problemstellungen im weiteren Verlauf des experimentellen Prozesses fortlaufend zu sichern. Dafür werden nicht nur die Lösungsansätze selbst, sondern auch die Probleme und Zielgruppen ständig angepasst. An den beiden SLEs der vorliegenden Untersuchung erweist sich beispielsweise, dass der aufsuchende, niedrigschwellige Charakter des Beratungsansatzes der MoBiBe teilweise an den räumlichen Gegebenheiten und den Zugangsbarrieren der großen Unterkünfte scheitert. Der Wandel des räumlichen Ansatzes der WiA-Büros führt unter anderem dazu, dass diejenigen einfacher an die Beratungsleistung gelangen, die über die notwendigen Ressourcen verfügen, um selbstständig die externen Beratungsorte aufzusuchen. Am Beispiel der Gärtnerei kann gezeigt werden, dass die Anforderungen des Gartens und der regelmäßigen Veranstaltungen zahlreiche Ressourcen binden und man hier, ebenso wie bei dem von Ehrenamtlichen erteilten Sprachunterricht, auf eine hohe Motivation der Teilnehmer*innen angewiesen ist, deren Engagement aber
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aufgrund von Aufenthaltsgesetzen und Verwaltungsvorschriften Grenzen gesetzt sind. Damit vor dem Hintergrund einer restriktiven Gesetzeslage weiterhin eine Erfolgsgeschichte erzählt werden kann, muss daher die Zielgruppe des Ansatzes angepasst werden. Im Rahmen der Experimente auf dem Street-level konnten drei typische Prozesse beobachtet werden, die zur fortlaufenden Generierung der machbaren Problemstellungen beitragen. In Anlehnung an Clarke und Fujimura (1992) lassen sie sich als Tinkering, Herstellung von Ad-hoc-Arrangements sowie DeLegitimierung und Re-Legitimierung bezeichnen. In der Realität überlappen sie sich häufig oder laufen teilweise parallel ab. Beim Tinkering werden während der praktischen Arbeit in den SLEs unterschiedliche Elemente auf dem Street-level genutzt, die gerade zur Hand sind; es werden einzelne Aspekte des Ansatzes so manipuliert, neu kombiniert oder anders als zunächst geplant eingesetzt, dass sie in der konkreten Situation funktionieren, einen Widerstand überwinden, einen Prozess vereinfachen oder in einer bestimmten Hinsicht als Erfolg verbucht werden können. Ein Beispiel ist das neue Format der Kurzberatungen, das sich eher zufällig aus bestimmten räumlichen Gegebenheiten an einem Beratungsort ergeben hat, das aber ohne größeren Aufwand zur Erhöhung der Beratungszahlen beiträgt. Mit der Herstellung von Ad-hoc-Arrangements wird auf Veränderungen einzelner Aspekte im experimentellen Prozess reagiert, um die Machbarkeit der Problemstellungen aufrechtzuerhalten. So wird beispielsweise kurzfristig mehr Aufwand in die Öffentlichkeitsarbeit der WiA-Büros gesteckt, um trotz der Veränderung des räumlichen Konzepts weiterhin genügend Geflüchtete zu erreichen und die Beratungszahlen zu sichern. Schließlich wird mit Prozessen der DeLegitimierung und Re-Legitimierung auf Veränderungen einzelner Aspekte der Ansätze im experimentellen Prozess reagiert, wenn diese Veränderungen die Machbarkeit der Problemstellung gefährden. Eine solche Reaktion sieht so aus, dass bestimmte Aspekte der zugrunde liegenden Probleme oder der Zielgruppen heruntergespielt beziehungsweise abgewertet werden, während andere Aspekte, die besser zur Veränderung der Ansätze passen, besonders betont oder aufgewertet werden. Mithin wird der vormalige Ansatz de-legitimiert und der veränderte Ansatz durch den Bezug auf neue Gesichtspunkte re-legitimiert. Bei der Öffnung der Gärtnerei für andere Zielgruppen bewegt sich beispielsweise der Fokus weg von den aufenthaltsrechtlichen Hürden der alten Zielgruppe hin zu deren fehlender individueller Motivation. Tinkering, Ad-hoc-Arrangements und Desowie Re-Legitimierung ermöglichen die fortlaufende Erzeugung und dynamische Aufrechterhaltung von machbaren Problemstellungen im Verlauf der Street-levelExperimente. In der Folge werden nicht nur die Ansätze, mit denen experimentiert
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wird, weiterentwickelt, sondern in einem ko-konstruktiven Prozess verändern sich auch die zugrunde liegenden Probleme und Zielgruppen. Die Manipulation und kreative Anpassung einzelner Aspekte der Ansätze auf dem Street-level erfolgen nicht rein zufällig, wie es die häufig verwendete Metapher des evolutionären Prozesses nahelegt. Vielmehr sind sie zum Teil davon geprägt, was die beteiligten sozialen Welten im experimentellen Prozess als Gelegenheit oder als Widerstand wahrnehmen oder was durch die spezifische Art und Weise des Experimentierens in den Blick fällt und auf welche Art und Weise mit den Gelegenheiten und Widerständen umgegangen wird. Somit gewinnen je nach experimentellem Setting Aspekte wie das kennzahlenbasierte Monitoring oder die Öffentlichkeitswirksamkeit bestimmter Aktionen an Bedeutung und beeinflussen die Erzeugung der machbaren Problemstellungen. Im Fall der mobilen Bildungsberatung tragen zum Beispiel die standardisierte Beratungsdokumentation und das Berichtswesen zu einer Quantifizierung der Beobachtungen und Auswertungen bei. Für die Frage, ob der Ansatz als Ganzes oder einzelne Bestandteile und deren Weiterentwicklung ‚funktionieren‘, gelten Beratungszahlen als wichtiger Gradmesser. Zudem gehen in die Bewertung und Weiterentwicklung des Ansatzes hauptsächlich jene Aspekte ein, die durch die aggregierten Daten über die Ratsuchenden und die Beratungsanliegen abgebildet werden können. Im Fall der Gärtnerei wird dagegen bei der Bewertung des Ansatzes und einzelner Aspekte ein Schwerpunkt auf den Beitrag zur Erzeugung lokaler und medialer Öffentlichkeit und Sichtbarkeit gelegt. Welche Aspekte des Ansatzes ‚funktionieren‘ und beibehalten werden sollen und welche verändert werden müssen, hängt daher primär von der Einschätzung ab, ob sie ein öffentliches Interesse wecken und in dieser Öffentlichkeit zum Bild einer nützlichen Diversität beitragen. Im zeitlichen Verlauf der Experimente kann bei den beteiligten Akteur*innen zudem in einer Initiierungsphase ein Fokus auf die Arena beobachtet werden. Das heißt, die Aushandlung machbarer Problemstellungen orientiert sich stärker an den in der Arena verbreiteten Vorstellungen über Flucht, Zuwanderung und Integration. Im weiteren Verlauf der Experimente lässt sich dagegen eine Betonung des Street-levels feststellen; mithin orientiert sich die Aushandlung eher an Gelegenheitsstrukturen und Routinen auf dem Street-level. Die zunehmende Fokussierung des Street-levels führt aber nicht dazu, dass die anderen Ebenen bei der Aushandlung von machbaren Problemstellungen keine Rolle mehr spielen, da die Einbindung der SLEs in die politische Arena und die beteiligten sozialen Welten weiterhin besteht. Darüber hinaus erweist sich, dass sich der Schwerpunkt wegen der für Projektfinanzierungen typischen Berichts- und (Neu-)Antragszyklen im Verlauf der Experimente auch wieder auf die Arena verschieben kann.
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Insgesamt zeigt die Untersuchung der experimentellen Prozesse auf dem Street-level, dass im Verlauf des Experimentierens in einer als ungewiss wahrgenommenen Situation nicht nur die Lösungsansätze, sondern auch die Zielgruppen und Problemdefinitionen fortlaufend verändert, manipuliert, neu bewertet und angepasst werden müssen und dass diese Veränderungs- und Anpassungsprozesse eng mit den beteiligten sozialen Welten, dem experimentellen Setting und der jeweiligen Phase des experimentellen Prozesses verwoben sind. Wenngleich die alltägliche Arbeit auf dem Street-level auf den ersten Blick nicht als politisches Handeln erscheint, verdeutlicht die Untersuchung, dass Politik im Sinne der Gestaltung eines spezifischen organisationalen Settings auf dem Street-level und im Sinne von dadurch geprägten Ermessensentscheidungen über Verteilungsfragen sichtbar wird. Darin geht die Studie mit den Erkenntnissen der Street-level-Forschung konform. An der Verschiebung vom Ermessensspielraum auf den expliziten Gestaltungsspielraum der SLEs bei der Entscheidungsfindung und an der Berücksichtigung der ko-konstruktiven Prozesse im Rahmen der Experimente, wird zudem Politik im Sinne der gemeinsamen Arbeit an einem neuen Gegenstand sichtbar. Politik äußert sich hier als gemeinsame Arbeit an einer neuen Realität, die aus einer spezifischen Auswahl, Manipulation und Anordnung der unendlichen Vielfalt von Situationselementen hervorgeht und zumindest für die spezifische Situation auf dem Street-level, aber potenziell auch darüber hinaus, Geltung beansprucht. Gemäß dem Konzept der Sub-Politisierung wird im Rahmen der SLEs ein politischer Raum geschaffen, der sich zumindest bis zu einem gewissen Grad unabhängig von dem entwickeln kann, was in der Alltagssprache als ‚große politische Bühne‘ bezeichnet werden könnte. Zivilgesellschaftliche Akteur*innen, Akteur*innen aus unterschiedlichen Berufsgruppen, Vertreter*innen aus Wissenschaft und Wirtschaft übernehmen dabei Verantwortung für die Gestaltung einer komplexer werdenden Gesellschaft und bringen in den „Netzwerke[n] der Ab- und Mitsprache, des Aushandelns, Uminterpretierens und möglichen Widerstands“ (Beck 1986: 313) ihre eigene Art und Weise der Weltgestaltung ein. Entsprechend dem Konzept der De-Politisierung wird die politische Dimension der SLEs durch die Betonung neutraler, evidenzbasierter und gegenstandsbezogener Verfahren und Lernprozesse tendenziell verschleiert. Bei der Untersuchung der Arbeit auf dem Street-level konnten bis auf wenige Ausnahmen kaum explizite Bezüge auf eine politische Dimension der Experimente beobachtet werden. Insofern gerät Politik im experimentellen Prozess zwischen dem Streben nach Innovation und Machbarkeit aus dem Blickfeld. Für beide SLEs kann zusammenfassend festgestellt werden, dass die Aktivitäten der beteiligten Akteur*innen in
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der Regel keiner politischen Rahmung unterliegen. Ausnahmen werden dort sichtbar, wo Politik als genuiner Bestandteil der beteiligten sozialen Welten integriert ist. In einem geringeren Ausmaß konnte das für die Welt der Bildungsberatung an jenen Schnittstellen konstatiert werden, wo die Erfahrungen aus der Praxis der Bildungsberatung für andere Kontexte nutzbar gemacht werden sollen oder wo Politik mit der Anpassung von Rahmenbedingungen beauftragt wird. Typische Situationen dieser Re-Politisierung sind Netzwerk- und Koordinationstreffen sowie Fachkonferenzen mit Beteiligung von Vertreter*innen der institutionalisierten Politik. Die Beratungsarbeit an sich und die experimentelle Weiterentwicklung des Beratungsansatzes werden dagegen nicht als politische Aktivität gerahmt. Etwas ausgeprägter zeigen sich Prozesse der Re-Politisierung im Fall der Gärtnerei als Teil der sozialen Welt der Kunst in Berlin, deren gesellschaftskritische, sozial engagierte Seite Valerie Moser (2013) beschreibt. Hier tritt in mehreren Situationen der Kampagnencharakter des SLEs in den Vordergrund und die künstlerischen Aktivitäten werden zumindest teilweise auch als politische Aktivitäten gerahmt, die dazu beitragen sollen, bestehende Verhältnisse infrage zu stellen und alternative Verhältnisse denkbar und vor allem erfahrbar zu machen. Sub-Politisierung, De- und Re-Politisierung und die Debatte zwischen Postdemokratie- und Governancediskurs bilden demnach den Hintergrund, vor dem zu klären ist, wie SLEs so ausgestaltet werden können, dass eine politische Dimension oder eine ‚herrschende Ordnung‘ sichtbar und dadurch skandalisierbar und veränderbar werden. Die vorliegende Untersuchung zeigt: Eine politische Dimension tritt erst dann zutage, wenn die Experimente auf dem Street-level als komplexe soziale Prozesse angesehen werden, die in mehrfacher Hinsicht situiert sind und im Spannungsfeld zwischen Innovation und Machbarkeit eine neue Realität schaffen und dieser Geltung verleihen. Da diese Realität in enger Verbindung mit den beteiligten sozialen Welten und dem experimentellen Setting steht, müsste Reflexivität und Diversität bezogen auf die Street-level-Experimente selbst, die beteiligten sozialen Welten und das jeweilige experimentelle Setting verstärkt werden. Durch die Verbindung von Ansätzen aus der Street-level-Forschung, der interpretativen Policy-Analyse und der Science and Technology Studies ließen sich in der vorliegenden Arbeit Experimente auf dem Street-level als komplexe soziale Prozesse begreifen, die weniger auf ihre potenzielle Problemlösungsfähigkeit hin untersucht wurden denn auf ihre Situiertheit und Dynamiken. Mittels Weiterentwicklung des SLE-Ansatzes konnten die analysierten Projektzusammenhänge als Street-level-Experimente konzipiert werden. In der Folge erweitert sich der Blickwinkel des Street-level-Ansatzes von der Umsetzung
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politischer Ideen und Programme in politisches Handeln zu einer praxisbezogenen, kontextsensiblen und tentativen Hervorbringung neuer politischer Ansätze aus der alltäglichen Arbeit auf dem Street-level. Die vorliegende Arbeit ist zudem ein kritischer Beitrag zu einer noch jungen Debatte über experimentelle Governance-Arrangements. Diese Debatte verhandelt experimentelle Ansätze der Politikgestaltung bisher in erster Linie als vielversprechende neutrale und evidenzbasierte Instrumente zur Generierung von robusten Policy-Innovationen in einer zunehmend von Ungewissheit und Wandel charakterisierten Welt. Durch die detaillierte empirische Untersuchung experimenteller Prozesse auf dem Streetlevel rücken die komplexen und vielfältigen Prozesse des Experimentierens sowie deren Situiertheit in den Fokus und SLEs werden als dynamische soziale Prozesse sichtbar. Zu Beginn des Forschungsprojektes war geplant, anhand eines Vergleichs zweier SLEs systematische Unterschiede zwischen staatlich initiiertem und zivilgesellschaftlich initiiertem SLE herauszufinden. Im Verlauf des Forschungsprozesses offenbarte der in die Tiefe gehende ethnografische Blick, dass dieses Vorhaben dem Thema nicht gerecht würde. Die teilnehmende Beobachtung zeigte gerade, dass der Alltag des Experimentierens so komplex und vielfältig ist, dass er kaum auf ein Unterscheidungskriterium wie die Initiatorenschaft zurückgeführt werden kann. Hingegen trat zutage, dass die alltäglichen Herausforderungen und Dilemmata des Experimentierens zu strukturell ähnlichen, wenngleich eigensinnigen Aktivitäten im Umgang mit diesen Herausforderungen führen. Im Laufe des Forschungsprozesses erwies es sich daher als sinnvoller, den Vergleich vom experimentellen Setting und den beteiligten sozialen Welten her zu denken. Durch die ethnografische Herangehensweise bietet die vorliegende Arbeit ein detailliertes Bild der alltäglichen Arbeit auf dem Street-level, der experimentellen Prozesse und der spezifischen Kultur des Experimentierens im jeweiligen lokalen Kontext. Diese detaillierte Sichtweise ist wichtig für eine kritische Auseinandersetzung mit verallgemeinerten Vorstellungen und Annahmen über experimentelle Governance-Arrangements und für das Nachspüren der situativen Verankerung dieser Prozesse. Der Ansatz stößt allerdings dort schnell an seine Grenzen, wo es darum geht, neue und verallgemeinerbare Aussagen über SLEs zu formulieren, die an die Stelle der kritisierten Aussagen treten könnten. Insofern lässt die detaillierte Betrachtung ausgewählter SLEs in einem eingegrenzten politischen Bereich vor allem eine kritische Perspektive auf SLEs zu. Eine solche Herangehensweise kann dazu genutzt werden, ähnliche Formen der Politikgestaltung in anderen Zusammenhängen zu untersuchen, oder sie könnte als Bestandteil der praktischen Anwendung in experimentelle, tentative oder polyzentrische Ansätze integriert werden.
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Als Forschungsgegenstand können Street-level-Experimente sehr heterogene Phänomene umfassen – von experimentellen Prozessen, die eher offen gestaltet sind und sich aus einem Selbstverständnis der praktischen Integrationsarbeit heraus vor allem auf pragmatistische Prinzipien des muddling through und learning by doing beziehen, bis hin zu hochgradig formalisierten Experimenten, die eher einem experimentellen Design nach dem Vorbild naturwissenschaftlicher Laborexperimente oder psychologisch-verhaltenswissenschaftlicher Experimente folgen. Eine systematischere Unterscheidung nach experimentellen Formen, etwa entlang der Formalisierung des experimentellen Settings, wäre daher ein lohnendes Forschungsvorhaben, das an die vorliegende Arbeit anknüpfen würde und beispielsweise danach fragen könnte, wie sich der Formalisierungsgrad der Experimente zum Prozess der De-Politisierung verhält. Mit der mobilen Bildungsberatung und der Gärtnerei standen hier zwei SLEs im Zentrum des Interesses, deren experimentelles Setting relativ spezifisch für den jeweiligen lokalen Kontext ist, wenngleich zumindest das kennzahlenbasierte Monitoring im Fall der MoBiBe als Managementinstrument für die Steuerung von Street-level-Organisationen weit verbreitet ist (Moynihan 2008; Soss et al. 2011; Brodkin 2013). Wenn aber experimentelle Governance-Arrangements beispielsweise von der Europäischen Kommission gefördert werden sollen (Wolfe 2018) oder im Rahmen anderer, groß angelegter Förderlinien des Bundes, einzelner Ministerien oder Stiftungen zum Einsatz kommen, dann könnten spezifische Formen des Experimentierens auf dem Street-level Verbreitung finden und die Erzeugung machbarer Problemstellungen über die Grenzen einzelner lokaler Kontexte hinaus beeinflussen. Aus einer wissenschaftlichen Perspektive ergeben sich daraus weiterführende Fragen danach, wie sich bestimmte experimentelle Formen verbreiten, ob sich bereits – in einzelnen Politikfeldern oder darüber hinaus – bestimmte experimentelle Formen durchgesetzt haben und, falls ja, welche (Neben-)Effekte damit verbunden sind. In praktischer Hinsicht ergeben sich daraus Fragen nach Möglichkeiten des kritischen und reflexiven Umgangs bezogen auf das spezifische experimentelle Setting als integraler Bestandteil der experimentellen Governance-Arrangements. Schließlich hat die weltweite Corona-Epidemie noch einmal eine neue Dimension von Ungewissheit eröffnet. Sie betrifft nahezu alle Lebensbereiche und lässt nicht zuletzt durch die schiere Flut an produzierten Daten und neuen Erfahrungen aus einer unendlichen Vielfalt an lokalen Kontexten an der Nützlichkeit experimenteller Governance-Arrangements für die Überwindung allgegenwärtiger Ungewissheit zweifeln. Dennoch scheinen tentative, polyzentrische und experimentelle Ansätze in dieser Situation sehr gefragt zu sein. So richten
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sich zum Beispiel in der Veranstaltungsbranche oder im Einzelhandel Hoffnungen hinsichtlich einer möglichst schnellen Rückkehr zur Normalität auf diverse ‚Modellversuche‘. Ganze Städte und Regionen werden zu Reallaboren erklärt. Inwiefern dabei die Entwicklung innovativer Lösungsansätze im Vordergrund steht oder nach geeigneten Wegen gesucht wird, um Einschränkungen, die durch übergeordnete politische Ebenen ausgesprochen werden, kreativ zu umgehen, sei dahingestellt. Allerdings ergeben sich aus dem Umgang mit der CoronaPandemie weitere Fragen unter anderem nach den Grenzen und der (politischen) Instrumentalisierung experimenteller Governance-Arrangements. Wie die vorliegende Untersuchung gezeigt hat, können SLEs einen wichtigen Beitrag zur Überwindung einer durch Kontroversen, anhaltende Wandel und Ungewissheit charakterisierten Situation leisten und für einzelne lokale Kontexte relativ schnell pragmatischen Lösungsansätzen bereitstellen. Allerdings werden in diesem Prozess ‚Fakten geschaffen‘ – wie man treffend in der Umgangssprache sagen würde – und nicht nur die Lösungsansätze, sondern auch die zugrundeliegenden Probleme und Zielgruppen der Ansätze werden im experimentellen Prozess immer wieder so verändert und neu angeordnet, dass an die Stelle von lähmender Ungewissheit und einer als krisenhaft wahrgenommenen Situation, zumindest die Aussicht auf machbare Problemstellungen und die Hoffnung auf eine Überwindung der Krise tritt. Insofern betont die vorliegende Untersuchung vor allem die kreative beziehungsweise ‚schöpferische‘ Arbeit an Problemstellungen im experimentellen Prozess auf dem Street-level und trägt dazu bei, dass Politik zwischen dem Streben nach Innovation und Machbarkeit sichtbar bleibt und damit weiterhin skandalisiert und verändert werden kann.
Literatur
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