Politik der Psyche: eine Einführung in die Psychopathologie des Politischen 3851321561


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Politik der Psyche: eine Einführung in die Psychopathologie des Politischen
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Thanos Lipowatz

Politik der Psyche Eine Einführung in die Psychopathologie des Politischen

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THANOS LIPOWATZ

Politik der Psyche Eine Einführung in die Psychopathologie des Politischen

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I Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Lipowatz, Thanos: Politik der Psyche : eine Einführung in die Psychopathologie des Politischen / Thanos Lipowatz. - Wien : Turia und Kant, 1998 ISBN 3-85132-156-1

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Publiziert mit Unterstützung des Deutsch-griechischen Vereins «Philadelphia» und der «Stifung Griechische Kultur»

ISBN 3-85132-156-1 ©Verlag Turia + Kant, 1998 Verlag Turia + Kant A-l 190 Wien, Weinberggasse 17 http://www.netway.at/turia.kant/ i

Inhalt Inhaltsübersicht I. GRUNDBEGRIFFE DER PSYCHOANALYSE

LI.

Einführung

1.2.1. Grundbegriffe der Semiologie 1.2.2. Zum Zeichenbegriff 1.2.3. Die zwei Achsen der Sprache 1.3.1. 1.3.2. 1.3.3. 1.3.4. 1.3.5.

Die Mechanismen des Unbewußten Der Begriff des Unbewußten Der Narzißmus, das Imaginäre, der andere (a) Das Gesetz, das Symbolische, der Andere (A) . Die Realität und das Reale

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II. FORMATIONEN DES UNBEWUSSTEN

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II. 1.1. Massenpsychologie und Identifizierung I II. 1.2. Die Strategie der Propaganda und der kollektiven Suggestion . II. 1.3. Symbolische und imaginäre Führer . II. 1.4. Die öffentliche Meinung und die Masse 11.2. Das Gerücht .................................................................... 11.3. Über das Phantasma 11.4.1. Die Angst 11.4.2. Politische Folgen der Angst .

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DI. ÜBER DIE IDEOLOGIE

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III. 1. 111.2. 111.3. 111.4. 111.5. 111.6. 111.7.

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Mentalität und Ideologie Über die Identifizierung II Jenseits der Identifizierung Das Reale in den sozialen Verhältnissen . Die vier Diskurse Über den Mythos Die Zweideutigkeit der Moderne und der Postmoderne

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IV. RASSISMUS, ANTISEMITISMUS, NATIONALISMUS

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202 Der Rassebegriff ........................................................ Das rassistische Vorurteil und die rassistischen Reaktionen............................................................................... 206 rv.3. Der Rassismus und der Antisemitismus nach 1945 ... 217 IV.4. Biologische, sozio-ökonomische, psychologische 223 Interpretation des Rassismus .......... IV.5. Die kulturelle und die psychoanalytische 230 Interpretation des Rassismus ....................... 240 IV 6. Nation, nationale Identität, Nationalismus 247 IV.7. Das Ethische und das Politische .................

TV. 1. IV.2.

Anmerkungen Bibliographie

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Inhaltsübersicht

Das Buch stellt eine systematische Einführung in den Gegen­ stand der politischen Psychologie in einer psychoanalytischen Perspektive dar. Dabei gibt es keine «kollektive Seele» unabhän­ gig von der Seelen der Individuen, die ein Kollektiv bilden. Die Individualpsychologie ist jedoch gleichzeitig eine Sozialpsycho­ logie, denn die Psyche des Subjekts existiert von Anfang an nur im Verhältnis zum anderen. Andererseits sind die Hauptmo­ mente des Politischen die Macht bzw. die Herrschaft und das Gesetz, die sowohl die Mikro- als auch die Makroebene der so­ zialen Realität strukturieren. Die politische Psychologie hat zum Gegenstand die Analyse der psychischen Prozesse der politisch handelnden und denkenden Subjekte. Die «psychopathologische» Perspektive bedeutet hier­ bei eine methodologische Entscheidung für eine psychoanalyti­ sche «Hermeneutik». Für die Psychoanalyse sind die Handlun­ gen und die Worte der Subjekte Träger eines «anderen Sinns», der auf unbewußte psychische Mechanismen des Begehrens und der Abwehr hinweist, die sich in Grenzsituationen «zeigen». So ermöglicht das Studium der «pathologischen» Fälle und der «Ausnahmen» von der Regel die Enthüllung der Struktur und der Funktionen der Psyche. Die adäquate Analyse der Struktur und der Funktionen der Psy­ che verlangt eine Theorie des Subjekts, die die menschlichen Verhältnisse nicht verdinglicht, sondern sie als Sinnträger be­ greift. Die psychoanalytische Hermeneutik ist jedoch sowohl von der philosophischen Hermeneutik als auch von der Phänomeno­ logie verschieden. Dies, weil im Unbewußten das Primäre nicht der (bewußte) Sinn und die Welt (die «Realität») sind, sondern der «Nicht-Sinn» (der Signifikant) und das «Reale» (die Grenz­ erfahrungen). So sind erst der Un-sinn und das Reale die Mög­ lichkeitsbedingungen für die Existenz des Sinns und der Welt. Das Unbewußte enthält keinen rationalen Sinn, sondern Signifi­ kanten (Worte, Zeichen) und Bilder (Signifikate, Vorstellungen), die sich gemäß bestimmter Regeln konstituieren und verdrängte

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Wünsche artikulieren, die zum Bewußtsein zurückdrängen. Die unbewußten Prozesse äußern sich aber immer marginal als Symptome, d. h. als jene «merk-würdigen» Erscheinungen die die Sinnkontinuität der Alltäglichkeit wiederholt unterbrechen. Macht und Herrschaft, Gewalt, Aberglaube, Vorurteile, Irratio­ nalismus, Phantasmen der Rache, der Rivalität, des Aus­ schließens usw., Angst, Fanatismus, Gerüchte, Rassismus, kol­ lektive Hysterie und Paranoia usw., all dies findet seine tiefere Erklärung und Einheit in den unbewußten Prozessen, die es mit­ gestalten. In diesem Buch wird von der Psychoanalyse Freuds und Lacans ausgegangen, weil sie den kritischen Ansprüchen der Philosophie und der Methodologie besser genügt. Die Me­ thode insistiert hier auf der Vermeidung jeder Art von Reduktionismus (sexueller, biologischer, sozioökonomischer, archetypi­ scher, psychologischer Natur). Gerade um das zu vermeiden, wird der Sprache und dem Sprechen eine besondere, strategi­ sche Bedeutung beigemessen. Das Buch besteht aus vier Teilen. Im Teil I «Grundbegriffe der Psychoanalyse», im Abschnitt 1.2., wird die These vertreten, daß weder die Psyche der Subjekte auf die «sozialen» Phänomene, noch die letzteren auf die bewußten psychischen Verhaltenswei­ sen der Individuen zu reduzieren sind. Das Verhältnis zwischen den beiden «Räumen» ist nicht kausalistisch und eindimensio­ nal strukturiert, sondern wird immer durch das Wort und die Sprache vermittelt. Dieser Abschnitt analysiert, orientiert an den Arbeiten von Roman Jakobson, die Struktur und das Funktionie­ ren des Sprechens, dank derer die Sprache ihre Differenzierungs- und Vermittlerfunktion erfüllt, indem sie gleichzeitig die «Subjekte» und die «Gesellschaft» konstituiert. Im Abschnitt 1.3. werden der Begriff und die Grundstrukturen des Unbewußten als System-«Input» betrachtet. Wenn das Unbe­ wußte, unter anderem «wie eine Sprache strukturiert ist» (Lacan), dann hat dies die Existenz des Begehrens und der Negati­ vität zur Folge. Der Abschnitt analysiert den Begriff des Unbe­ wußten, das Imaginäre, das Symbolische und das Reale. Es wird hierbei die Kritik des Behaviorismus, der psychoanalytischen In­ terpretationen, die die Rolle der Sprache nicht gebührend berücksichtigen, sowie der soziologistischen Vereinnahmung der Psychoanalyse betont. Diese kritische Herangehensweise er­ möglicht die Formulierung der dialektischen Natur des Verhält­ nisses der Individuen mit dem sozialen Ganzen in dem sie leben, daß sie der Vermittlung durch die Sprache verdanken.

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Im Teil II «Formationen des Unbewußten» werden die «Pro­ dukte» der unbewußten Prozesse als System-«Output» betrach­ tet. Sowohl in diesem als auch im ersten Teil wird die «Interfe­ renz» des Unbewußten in der politischen Realität aufgezeigt. Im Abschnitt II. 1. werden die Mechanismen der Identifizierung analysiert (sie werden noch einmal unter III.2. als «Identifizie­ rung II» weiterentwickelt), denn sie sind eines der Hauptmo­ mente bei der Bildung von Gruppen und Massen. Die Identifizie­ rung wird hier nur verständlich, weil im vorangehenden Teil die Dialektik zwischen dem Begehren und dem Gesetz analysiert wurde. Die Identifizierungsprozesse spielen somit eine grundle­ gende Rolle in der Politik und in allen sozialen Aktivitäten. Die Möglichkeit der Manipulation der Subjekte (etwas, das sie selber unbewußt wünschen) nimmt aber in dem Maße zu, in dem diese eine «Masse» bilden. So kann die Problematik der Demokratie genauer erfaßt werden, insofern die charismatischen Führer, der Populismus, der Fanatismus usw. aus einer einfältigen und nai­ ven Auffassung von Demokratie stammen. Die Faszination der Macht kann aber nicht einfach aus äußeren, nicht psychischen Faktoren, erklärt werden. Im Abschnitt II.2. wird die Rolle des Gerüchts bei der Bildung von Massen untersucht; sein Studium zeigt, daß eine «aufge­ klärte» Haltung ihm gegenüber nicht ausreicht, da das Gerücht Bestandteil von jeder Kommunikationsform ist. So kennt es jede Öffentlichkeit und die Subjekte werden von ihm fasziniert; die Frage ist dann, welche Haltung ein Subjekt ihm gegenüber ein­ nehmen soll. Im Abschnitt II.3. werden die Struktur des Phan­ tasmas und seine wesentliche Rolle bei der Konstituierung des Begehrens der Subjekte analysiert. Das Phantasma funktioniert auf der individuellen Ebene; die Mythen sind dann Formen von kollektiven Phantasmen (im Abschnitt III.6. wird dann die Funk­ tion des Mythos in Zusammenhang mit der Ideologie weiter un­ tersucht). Im Abschnitt II.4. schließlich wird noch die Angst ana­ lysiert. Jede Veränderung der Lebensverhältnisse erzeugt bei den Subjekten Angst vor der Freiheit; ihre Überwindung fördert die psychische Differenziertheit, während die Unterwerfung unter die Angst zu einer psychischen Regression und zur Unterwer­ fung unter einen «Retter» führt. Jede politische und militärische Konfrontation hat immer die Produktion von Angst bei Freund und Feind zum Ziel, eine Demokratie jedoch kann nur existie­ ren, wenn die Gegner auf das Mittel des Terrors verzichten.

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Der Teil III «Über die Ideologie» geht der Frage nach den Bedin­ gungen der Entstehung von Ideologien in der Psyche der Sub­ jekte nach. Im Abschnitt III. 1. wird der Unterschied der Menta­ litäten von den Ideologien untersucht. Die Alltäglichkeit und der Erlebnischarakter der Mentalität unterscheidet sie sowohl vom Phantasma und vom Mythos als auch von der Ideologie. Die Mentalität ist dem gegenüber ein Wissensdisksurs, der Elemente der Tradition und der kollektiven Gewohnheiten enthält, ohne die eine Kultur nicht existieren kann. In den Abschnitten III.2. und III.3. wird wieder der Prozeß der Identifizierung untersucht. Hier geht es aber um die vertiefte Artikulation zwischen dem Be­ gehren, den Phantasmen, den Identifizierungsformen und dem Genießen der Subjekte. Da alle kollektiven Macht- und Herr­ schaftsverhältnisse auf imaginären Identifizierungen basieren, erzeugen sie auch Ideologien. Es stellt sich aber die Frage nach der Möglichkeit eines Jenseits der imaginären Identifizierungen. Dies ist nur dann möglich, wenn die Subjekte von ihren phantasmatischen Fixierungen, die jene Identifizierungen tragen, zu­ mindest partiell Abstand nehmen und sich weitgehend an dem Signifikanten des ethischen Gesetzes in seiner reinen Form orientieren, d. h. auch die Erfahrung einer «symbolischen Kastration» und des symbolischen Mangels machen. Dies wird weiter im Abschnitt III.4. verfolgt. Den Mangel indi­ viduell und kollektiv anzunehmen, heißt auf Herrschafts­ ansprüche zu verzichten und ein Sublimierungs- bzw. Zivilisa­ tionswerk schaffen zu können. Politisch kann das nur in einer Demokratie realisiert werden, die in der Lage ist, ständig die Ideologien in Frage zu stellen. Diese können aber nicht abge­ schafft werden, denn sie entstehen zwangsläufig als eine kollek­ tive phantasmatische Verschleierung des Realen in den sozialen Verhältnissen, d. h. jenes «Restes» und jener «Lücke», die durch keine symbolischen Mittel erklärt und legitimiert werden kön­ nen. Der Rest aber ist die Unmöglichkeit der «Schließung» des Sozialen, d. h. der endgültigen und totalen Überwindung der Spannungen, Gegensätze, Spaltungen und Widersprüche, die verhindern, daß eine Gesellschaft je ein «harmonisches Ganzes» sein könnte. Im Abschnitt III.5. werden der Lacansche Begriff des Diskurses und die vier idealtypischen Lacanschen Diskurse vorgestellt. Diese Diskursformen sind notwendig, um das Wesen der Ideolo­ gien genauer zu erfassen. Denn die Diskurse sind Vermittlungen

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zwischen den existenzialen Kategorien der Psychoanalyse (Psy­ chose, Perversion, Neurose) und den sozialen Kategorien; sie sind besondere Konfigurationen des Verhältnisses des Begeh­ rens der Subjekte zum anderen. Die Ideologien artikulieren dann eine historische kollektive Form jenes Verhältnisses. Im Abschnitt III.6. wird der Mythosbegriff genauer analysiert. Für die politische Psychologie bedeutet das, daß jede politische, gei­ stige, oder sonstige Herrschaftsform gemäß einem Mythensy­ stem funktioniert, mit dem sie ein dialektisches Verhältnis un­ terhält. Aber nicht jeder Mythos erzeugt Herrschaft: Ein künstle­ rischer Mythos ist eine symbolische Form jenseits von Herrschaft und Ideologie. Diese interne Unterscheidung ver­ weist auf ein anderes Verhältnis: jenes zwischen Mythos und Vernunft. Aber innerhalb der letzteren gibt es wieder eine in­ terne Unterscheidung, nämlich jene zwischen der kritischen, emanzipatorischen und der instrumentellen Vernunft. Im Abschnitt III.7. wird schließlich das Verhältnis von Moderne und Postmoderne untersucht und seine Folgen für die Erschei­ nungsformen der Ideologie berücksichtigt. Die Änderungen im Alltag infolge der Herrschaft der Massenmedien können aber nicht zu apokalyptischen und nihilistischen Schlußfolgerungen führen. Die «Krise der Ideologien», der Relativismus und die Be­ liebigkeit, die damit einhergehen, bedeuten nicht, daß die «Rea­ lität» und die Subjekte «verschwunden» sind, sondern nur, daß die Illusionen, die letztere über sich und die Realität machen, anders als bisher funktionieren. Der Teil TV «Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus» handelt von synthetischen Phänomenen, die nur interdisziplinär unter­ sucht werden können, so werden die Arbeiten von Historikern, Soziologen, Psychologen, Psychoanalytikern usw. berücksich­ tigt. Die Abschnitte über Rassismus und Antisemitismus (IV. 1-5) enthalten zunächst historische Aspekte der neueren europäi­ schen Geschichte, in denen die Dialektik der Aufklärung und der Prozeß der Entfremdung deutlich wird. Diese Aspekte werden in der Folge biologisch, soziologisch und psychologisch interpre­ tiert. Hier werden die entsprechenden Theorien sowie ihre Gren­ zen dargestellt. Die methodologische Hauptfrage ist dabei die Artikulation der verschiedenen Interpretationen miteinander: Das Phänomen des Rassismus entsteht aus der «Konjunktion» von sozialen und psychischen Ursachen, aber die sozialen Ursa­ chen «erklären» das Phänomen nicht, sondern sie sind der Anlaß

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dafür, daß gewisse Tendenzen (Phantasmen und Ängste), die schon unbewußt in der Psyche der Subjekte vorhanden sind, sich manifest artikulieren können. Diese Problematik führt schließlich zur kulturellen und psycho­ analytischen Interpretation des Phänomens. Hier wird unter­ sucht, wie die Psyche jedes Menschen sich um gewisse Grundp­ hantasmen und Verwerfungsängste herum konstituiert wird, so daß diese unter gewissen Bedingungen den Kern einer psychi­ schen und sozialen Störung bilden. Der Rassismus und der Anti­ semitismus setzen aber andererseits die Existenz eines mytholo­ gischen Diskurses, einer Ideologie und einer Intellektuellen­ schicht voraus, die jenen Phantasmen und Ängsten zur Artikulation verhelfen. So spielen hier die Geschichte und die kulturelle Tradition eine wesentliche Rolle. Ob Rassismus und Antisemitismus wieder erstarken oder nicht, hängt wesentlich von der Existenz von symbolisch und praktisch wirkenden Gegenkräften ab. Im Abschnitt IV.6. wird das Phänomen der Nation, der nationa­ len Identität und des Nationalismus untersucht. Wie das Wort sagt, ist die nationale Identität eine offene Summierung von ge­ schichtlich stattgefundenen und stattfindenden symbolischen und imaginären Identifizierungen. In diesem Abschnitt werden die historisch entstandenen unterschiedlichen Modelle von na­ tionaler Identitätsbildung miteinander verglichen: Der aufkläre­ rische Verfassungspatriotismus steht dem romantischen Ge­ meinschaftsgeist gegenüber. Der historische Sieg des ersten über den zweiten ist aber nicht garantiert, vielmehr ist die ständige Überwindung der geschlossenen kollektiven Identitäten ver­ langt, will man einen Rückfall in die Barbarei verhindern. Im Abschnitt IV.7. wird schließlich die Frage nach dem Verhält­ nis zwischen dem Ethischen und dem Politischen aus einer psy­ choanalytischen Sicht gestellt. Diese Frage bezieht sich auf die Dialektik des Begehrens und der Gesellschaft, so wie diese sich als ein Geschichtsprozeß ohne Telos, ohne vorgegebenes Ziel und Ende zeigt. Aber die Subjekte machen hier innerhalb be­ stimmter kollektiver Formen gewisse traumatische Erfahrun­ gen; indem sie zunächst versuchen, ihr Begehren (d. h. auch ihre verschiedenen Interessen) zu befriedigen, verfallen sie den Phan­ tasmen von Ganzheit, Vollkommenheit, Allmacht, Allwissen und Verwerfung des anderen. Der Mangel, jene fundamentale Erfah­ rung, die die symbolische Dimension der Sprache in die spre­ chenden Subjekte einführt, wird nachträglich durch die Sym-

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ptome und die Fetische der Kultur hindurch als die «Negati­ vität» der menschlichen Existenz begriffen. Es kommt nur dar­ auf an, diese Negativität nicht als reine Destruktivität, sondern als jene Kraft zu begreifen, welche zur Entstehung des Neuen beiträgt. Die Frage nach einer «anderen» Politik und nach einer Ethik der Anerkennung des Mangels im anderen, d. h. die Ent­ deckung eines nicht neurotischen und nicht perversen Begeh­ rens des Subjekts, ist das, was der Schlußabschnitt formuliert.

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I. Grundbegriffe der Psychoanalyse

I.l. EINFÜHRUNG

Die politische Psychologie verlangt die Erläuterung einer Reihe von Begriffen, die in der Alltagssprache einen verschwommenen Sinn haben. Jede Wissenschaft wäre überflüssig, wenn ihre Be­ griffe von Anfang an schon gegeben und eindeutig wären: Die Wissenschaft wählt bestimmte Wörter aus, deren Sinn noch nicht eindeutig ist, und überläßt es der Dynamik des methodi­ schen Denkens, allmählich das Feld zu bestimmen, innerhalb dessen diese Wörter Geltung erlangen. Wenn in der Folge Be­ griffe wie «Struktur», «Differenz», «Vermittlung» usw., verwen­ det werden, kann niemand erwarten, daß sie von Anfang an ex­ akt bestimmt werden. Andererseits, je reicher das semantische Feld und je zweideutiger der Sinn eines Wortes sind, desto mehr be-greift es die menschlichen Dinge. Im Gegensatz zur sorglosen Alltagssprache jedoch (zu der auch der politische Diskurs gehört), die dem Urteil der sprechenden Subjekte Fallen stellt, haben die wissenschaftliche, philosophische und psychoanalyti­ sche Sprache gemeinsam, daß sie sich vom gemeinen Wortge­ brauch distanzieren, und deren Grenzen und Zweideutigkeit be­ wußt handhaben. Von der «politischen Psychologie», als einer besonderen Wissen­ schaft zu sprechen, bedeutet zweierlei: Es «gibt» ihren Gegen­ stand, und der Forscher hat die richtige Methode gewählt, d. h. den «Blick» gefunden, der zum richtigen Verstehen des Gegen­ standes führt. Was bedeuten «Gegenstand» und «Blick»? Die vul­ gäre, empiristische Wahrnehmung des Gegenstandes glaubt ge­ wöhnlich, daß der Gegenstand etwas «Zuhandenes», Greifbares ist, das eine klare und stabile «Identität» und «Substanz» besitzt. So erscheint die «Welt» als eine Summe solcher «Gegenstände», als ein Haufen Steine. Die wissenschaftliche Wahrnehmung ist abstrakter und differenzierter: Sie verlangt vom Forscher stän­ dig «mißtrauisch» (methodologisch, nicht ontologisch) bezüg­ lich des «gesehenen» und der Urteile, die es begreifen, zu sein.

16 Nur die wiederholte Untersuchung und der gegenseitige Ver­ gleich zwischen dem Blick und den Schlußfolgerungen können die Richtigkeit des Denkens (im Dialog mit anderen Forschern) garantieren. Der «Gegenstand» «existiert» nicht als ein «Ding», als eine ontologische «Substanz», sondern er ist ein «Schnitt» in der «Realität». Aus didaktischen und methodologischen Grün­ den werden hier bestimmte metaphorische Redeweisen und Schemata verwendet: So wird ein besonderer Wissensgegen­ stand durch einen besonderen Schnitt bestimmt. Diesen Schnitt bestimmt jedoch die jeweilige Richtung des Forscherblicks, d. h. der wissenschaftliche oder philosophische Diskurs, der diesen Blick ermöglicht. «Existiert» die politische Psychologie ? Das Prädikat «politisch» suggeriert dem Leser die Idee, es gäbe mehrere «Psychologien»: eine politische, soziale, religiöse, Gruppen-, Kinder-, Männer-, Frauenpsychologie usw. Es handelt sich aber um ein Mißver­ ständnis und um einen zweideutigen Begriff, denn Psychologie ist die Wissenschaft, die zunächst die Struktur und die Funktio­ nen der psychischen «Welt» (Metapher!) der Subjekte unter­ sucht. Diese Struktur und diese Funktionen sind bei allen Men­ schen isomorph; das, was sich ändert, sind die Formen, mit de­ nen sie sich in der Geschichte der Individuen und der Gruppen erscheinen: Jedes Individuum (bzw. jede Gruppe) hat seine un­ verwechselbaren, absolut individuellen Besonderheiten, die aber «existieren», nur weil die Struktur der Subjektivität universell existiert. Die «politische Psychologie» hat keinen besonderen Gegenstand, und sie geht vom Studium der Struktur der Sub­ jekte aus; in der Folge aber interessiert sie sich für das Funktio­ nieren der Struktur innerhalb des Rahmens der sozialen und po­ litischen Institutionen und Tätigkeiten. Es wäre korrekter von Politik und Psychologie zu sprechen. Die politische Psychologie «existiert» auch in einem anderen Sinn nicht: Es «gibt» keine kollektive «Seele» (oder «Psycholo­ gie», wie es mißbräuchlich in der Alltagssprache ausgedrückt wird). Das Wort «existieren» ist eines der subtilsten: Man kann annehmen, daß jede Konstruktion in der Einbildungskraft «existiert», deswegen ist große Vorsicht geboten bei der Handha­ bung der Modalitäten des Wortes «existieren». Der Begriff «Seele» (Psyche) ist kulturell und ideologisch sehr beladen und er meint gewöhnlich unterschiedliche Dinge. Ob die Seele «exi­ stiert» oder nicht, können und wollen wir hier nicht beantwor­ ten. Als vorläufiger Begriff und Metapher kann sie jedoch zu-

17 nächst brauchbar sein: Hier wird damit die «psychische Rea­ lität», die sogenannte «innere Welt» eines Individuums mit Fleisch und Blut und Sprachbegabung gemeint. Ihr Gebrauch unter anderen Bedingungen stellt eine Metapher dar, die ge­ wöhnlich dem Denken Fallen stellt. Was die «Seele» meint, kann hier schon gesagt werden: Wenn man im Alltag von der «Seele» spricht (individuell oder kollektiv), dann meint man die Phantas­ men der Subjekte. Die «kollektive Seele» ist ein kollektives Phan­ tasma, eine Menschengruppe hat keine «Seele» unabhängig von den Seelen ihrer Mitglieder, aber sie produziert Phantasmen und Identitäten, die die Illusion der «Gemeinschaft» als einer Sub­ stanz schaffen. Es gibt keine einheitliche Wissenschaft von der Seele. Die Psy­ chologie, die Psychiatrie, die Psychoanalyse und die Psychothe­ rapie sind vier unterschiedliche Methoden des Zugangs zu den seelischen Phänomenen. Dies kommt daher, daß jedes Wissen die Existenz von subjektiven Trägern voraussetzt, die aber im­ mer historisch kontingente Besonderheiten aufweisen: An einem bestimmten Ort, zu einer bestimmter Zeit, erforschen bestimmte Individuen innerhalb bestimmter Institutionen bestimmte Gegenstände mit bestimmten Methoden. Die Verhältnisse zwi­ schen diesen sechs Variablen können zu vielen Konstellationen führen, die sich entweder gegenseitig ergänzen oder bekämpfen. In dieser Arbeit wurde der psychoanalytische Ansatz bevorzugt, so wie er durch Sigmund Freud konzipiert und durch Jacques Lacan weiterentwickelt wurde. Die Gründe dieser Wahl werden weiter unten verständlich; denn die Psychoanalyse ist der ein­ zige Zugang zu der psychischen Welt, der gleichzeitig die Sub­ jekte respektiert. Folgen dieser Wahl sind die methodologische Ablehnung des Reduktionismus, des (absoluten) Determinismus, der Ontologisierung und der Verdinglichung der psychischen Phäno­ mene. a) Der Reduktionismus bedeutet die Reduktion, d. h. die kausale Rückführung bestimmter Phänomene auf andere, einfachere Phänomene, die sich aber auf einer anderen epistemologischen Ebene situieren. Reduktionismus ist die vulgäre materialistische «Erklärung» psychischer Phänomene aus biologischen oder so­ zialen (bzw. ökonomischen) Gründen. Ein psychisches Phäno­ men «existiert» nicht allein, sondern nur innerhalb eines psychi­ schen Feldes in Zusammenhang mit anderen, gleichgearteten Phänomenen. Ein methodologisches Grundprinzip der sozialen

18 (und jeder anderen) Wissenschaft, so wie es Emile Dürkheim formulierte, ist, daß «Erklären» und «Verstehen» eines Phäno­ mens seine Inbeziehungsetzung mit anderen bekannten Phä­ nomenen innerhalb des gleichen, gemeinsamen Feldes, das der Forscherblick wissenschaftlich bestimmt, bedeutet. Das biologi­ sche Substrat wird in dieser Arbeit stets vorausgesetzt, liegt aber außerhalb unseres Blickfelds, insofern es «stumm» bleibt; in der politischen Psychologie liegt die Reduktionismusgefahr entwe­ der in der Reduktion des Psychischen auf die sozialen und politi­ schen Phänomene, oder umgekehrt. Die Produktions-, Herrschafts- und Familienverhältnisse «erklären» nicht einfach die psychische Struktur der Subjekte; umgekehrt «erklären» die be­ wußten Ziele, die Phantasmen und die Wünsche der Individuen nicht einfach die «Gesellschaft». Die Psychoanalyse reduziert darüber hinaus keinesfalls die psychischen oder die sozialen Phänomene einfach auf die «Sexualität». Dies stellt ein hart­ näckiges Vorurteil dar, das früher jedoch von vielen Freunden und Feinden der Psychoanalyse geteilt wurde. Psyche und Gesellschaft sind jedoch keine total füreinander fremden Räume: Die psychischen Strukturen «erscheinen» auf einer «Meta-»Ebene innerhalb der sozialen Strukturen wieder; ihre Beziehung zueinander wird aber nicht durch einen groben Kausalitätsbegriff wiedergegeben. Die «Gesellschaft» (und die Politik) sind nicht «Ursache» der Psyche, und auch das Gegenteil gilt nicht. b) Der absolute Determinismus impliziert, daß alle Phänomene eines bestimmten Forschungsfeldes vollständig durch ein Netz logischer Beziehungen erklärt werden können; hier fehlen die unbestimmbaren Faktoren wie die Kontingenz, die Wahrschein­ lichkeit, der unerklärliche «Rest» X. Das Verstehen und das Er­ klären der Kulturphänomene mittels anderer gleichgearteter Phänomene verlangt einerseits die Lokalisierung bestimmter Strukturen und Funktionen, andererseits aber auch das Bewußt­ sein ihrer Grenzen und ihrer Relativität. Die psychische Struk­ tur, die hier analysiert wird, «erklärt» nicht die Besonderheit eines Individuums, weil das Individuum nie an sich vollständig «erklärt» werden kann (der rastlose Versuch, dies zu tun, bedeu­ tet eine Vergewaltigung der Individualität). Die sozialen Struktu­ ren erklären nie die Psyche ihrer Mitglieder; die psychische Struktur existiert vor der sozialen Struktur und besitzt eine Pla­ stizität und eine Elastizität, mit denen sie Veränderungen verar­ beiten kann, aber nicht passiv im Ertragen der sogenannten

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«Umwelt», sondern vielmehr indem die Subjekte auf sie «ant­ worten»: Die Umwelt «schafft» nicht die psychische Struktur. Die kleine Hoffnung auf Autonomie und Freiheitsmöglichkeit der Menschen impliziert sowohl die Existenz von Regeln, als auch die Existenz von Leerstellen, von «Löchern» im (äußeren) sozialen und im (inneren) psychischen Determinismus. c) Die Ontologisierung, als eine idealistische Denkweise, sieht die Dinge wie «Wesenheiten», «Substanzen», oder «Essenzen» an, als etwas, in dem etwas «anderes», «wesentlicheres» steckt. Diese Denkart behält eine gewisse Verwandtschaft mit dem ar­ chaischen, magischen Denken, und der menschliche Geist hatte viel Mühe sich davon zu befreien. Der ganze Versuch des eu­ ropäischen Denkens seit dem 13. Jahrhundert besteht in der Bemühung, die Ontologisierung zu überwinden und in den Mit­ telpunkt der Forschung statt der Substanz das Auffinden und Analysieren der differenziellen Beziehungen und der Strukturen zwischen den Phänomenen zu setzen. d) Die Verdinglichung in den Humanwissenschaften impliziert einerseits die Ontologisierung der Beziehungen zwischen den Menschen und andererseits ihre absolute Veräußerlichung. D. h. die subjektive, innere Dimension dieser Beziehungen verschwin­ det zugunsten ihrer «objektiven», äußeren Dimension. Die Sub­ jekte erscheinen als «Faktoren», oder «Träger» der sozialen «Ver­ hältnisse», die so einen «naturhaften» Charakter bekommen, ähnlich den Beziehungen zwischen zwei materiellen Körpern. Hier geht es um die Versteinerung und Fetischisierung der sozia­ len Verhältnisse. Dieser Punkt veranlaßt uns, das Problem des Forscherblicks ge­ nauer zu stellen. Vereinfachend kann man sagen, daß in den Na­ turwissenschaften der Forscherblick immer das Beobachten der Phänomene von außen bedeutet; diese sind dem Forscher we­ sentlich fremd, aber sie «interessieren» ihn. Zwischen der psy­ chischen und der sozialen Realität existiert dagegen eine eigen­ artige Umkehrbeziehung, d. h. eine Differenz der Blickrichtung. Die Analyse der sozialen Phänomene geht immer, wie bei den Naturphänomenen, von der äußeren Beobachtung aus und bleibt für die Psyche der Individuen notwendig äußerlich. Die Organisation einer Wirtschaft, einer Verwaltung oder eines Staa­ tes, können diese Dimension nicht vernachlässigen. Die dadurch implizierte bewußte Vernachlässigung der subjektiven Dimen­ sion führt in der Folge zur Verdrängung und Verkennung eines «Rests», der jene «unbedeutende Quantität» ist, die in akkumu-

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lierter Form als Unbehagen, Protest, Empörung schließlich in die Krise und Spaltung des sozialen Ganzen führt. Die Analyse der psychischen Phänomene beginnt umgekehrt mit der Untersuchung der inneren psychischen Strukturen, die be­ züglich der sozialen Strukturen autonom sind. Das Sehen und das Hören des Forschers beginnt von «innen»: Er hört die Worte und die Gründe und erliest die Symptome des Subjekts. Hier ge­ ben wir eine vorläufige Definition des Subjekts: Ein Subjekt hat einen Körper und es spricht, es ist ein «sprechender Körper». Ein Körper sein bedeutet hier zweierlei: Das Subjekt hat einen sexuell markierten, gespaltenen Körper, der auch sterblich ist. Da es spricht, weiß es darum und so kennt es die Erfahrung des Begehrens und der Angst. Daß das Subjekt spricht, impliziert eine Grunddifferenz zu den Tieren: Sexualität und Sterblichkeit haben einen wesentlich anderen Charakter bei den Menschen und sind gleichzeitig die Materialien mit denen auch das Wort gebaut wird. Diese Feststellungen reichen nicht aus, um ein Subjekt genauer zu «bestimmen», denn es lebt immer in einer Gesellschaft, die durch die Konstanten der Arbeit und der Macht einerseits und des Wortes und des Gesetzes andererseits definiert wird. Die Notwendigkeit der rationalen Organisation der Beziehungen der Subjekte mit ihresgleichen und der Natur, führt die Subjekte aber dazu, einen wesentlichen Teil ihrer Psyche zu vergessen und zu verdrängen (obwohl er vor der Sozialisation nicht «exi­ stiert»). Wenn die Subjekte andererseits ständig in ihrem absolu­ ten Subjektivismus eingesperrt bleiben, verlieren sie das Gefühl und das Maß der Realität und sie können nicht überleben. Der Weg der Forschung der subjektiven Struktur verläuft umgekehrt wie deijenige der Erforschung der sozialen Struktur: Er beginnt «innen», um nach «außen» zu gelangen. Die zwei Wege bedingen einander, aber sie kommen nicht zur Deckung. Es gibt noch eine Möglichkeit: Die Subjekte verlassen nicht leicht und freiwillig ihre innere «Welt», die Welt der Phantasie und der Träume, die die Welt der ersten Kindheit war. Die Kunst entspringt aus jener privilegierten psychischen Funktion der Subjekte, infolge derer sie nicht gezwungen sind gegenüber der oft prosaischen Realität total zu kapitulieren oder zu verzwei­ feln. In der Analyse der Differenz zwischen dem psychischen und dem sozialen Raum wurden hier einige anthropologische Kon­ stanten erwähnt: Sexualität, Sterblichkeit, Sprache, Arbeit,

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Macht, Phantasie. Diese Begriffe sind universell: Solange Men­ schen existieren, existieren sie auch alle gleichzeitig. Früher (heute noch) bestand eine Form des Rassismus darin, drei Kate­ gorien von Menschen nicht als «volle» Subjekte anzuerkennen: die primitiven Völker, die Psychotiker und die Kinder. In diesen drei Kategorien erscheinen die psychischen Strukturen in ihrer besonderen Nacktheit und Reinheit, so daß die anderen Men­ schen sich selbst nur über die Bekanntschaft mit diesen «ande­ ren» (die sie potentiell in sich tragen) erkennen können. Hier muß schon die besondere Bedeutung der Sprache als Spre­ chen betont werden. Das Sprechen ist jene privilegierte anthro­ pologische Differenz, die die Position des Dritten, d. h. der Ver­ mittlung zwischen den Subjekten, oder zwischen den Subjekten und der Gesellschaft, oder zwischen den Subjekten und sich selbst, impliziert. Hier sind Differenz und Vermittlung die zwei grundlegenden theoretischen Begriffe. Der Mensch ist jenes We­ sen des nur als ein System von Vermittlungen «existiert», d. h. er definiert und versteht seine «Natur», bzw. er existiert nur durch die Vermittlungen der Sprache, selbst dann, wenn er sich gegen sie auflehnt. Der Mensch hat keine andere Substanz, er ist Sub­ jekt der Sprache, ihr unterworfen, und nur so hat er ein Verhält­ nis zu sich, zu den anderen, zu der Gesellschaft, und zu der Na­ tur. Seine «innere» Welt existiert nur in dem Maße, in dem er fähig ist, symbolisch (sprachlich), das was er fühlt und denkt, zu äußern; obwohl fühlen, denken und wollen mit dem Sprechen nicht identisch sind, «existieren» sie für den Menschen nur, weil er spricht. Und er spricht immer zu einem anderen, selbst wenn er im Stil­ len sich an sich selbst wendet. Das Wort hat ein doppeltes Ge­ sicht: es artikuliert und organisiert die psychische Welt, aber auch die soziale Welt; die Arbeits- und Machtverhältnisse existie­ ren nicht ohne das Sprechen. Bei ihnen geht es aber um einen anderen Diskurs als um denjenigen zwischen den Subjekten oder in den Subjekten. Diese unterschiedlichen Diskurstypen sind nicht aufeinander reduzierbar. . Das nicht ontologische Verstehen des Subjektbegriffs geht davon aus, daß es eine Struktur symbolischer Beziehungen in der Zeit­ lichkeit, gebunden an einen individuellen Körper, darstellt. Ein Subjekt «ek-sistiert» nur als ein sprechendes, sich erinnerndes, denkendes, begehrendes, wollendes Wesen, nicht «an sich». Hier interessiert jenes Feld, das das Symbolische genannt wird, das aus dem Sprachsystem, das eine bestimmte Menschengruppe

22 spricht, besteht, denn es gibt keine einheitliche, universelle Sprache, sondern mehrere, historisch entstandene Sprachen. So ist dann das Verhältnis zwischen den Individuen und der Gesell­ schaft immer ein vermitteltes, ein Dreieckverhältnis zwischen den Subjekten, der Sprache und der Gesellschaft. Das Symboli­ sche aber enthält nicht nur die gesprochene, verbale Sprache, die seinen «Kem» ausmacht, sondern ebensosehr die Schrift, die Bilder und die Rituale, sowie die Gewohnheiten, allgemein alle Regeln und Gesetze, die die sozialen und geistigen Tätigkeiten und Produkte kennzeichnen.

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1.2.1. GRUNDBEGRIFFE DER SEMIOLOGIE

Die Begriffe «System» und «Gestalt», die heute in der Wissen­ schaft akzeptiert werden, haben mit der romantischen Ansicht am Anfang des 19. Jahrhunderts, gemäß der jede Ganzheit der «Ausdruck» eines bestimmten «Geistes» oder einer bestimmten «Seele», seiner «Ursache», sei, nichts zu tun. Entsprechend die­ ser Auffassung werden die verschiedenen Sprachen der Völker als Produkte ihrer jeweiligen «kollektiven Seele», als besondere «lebende Wesen» mit einer «Bestimmung» und einer immanen­ ten «Zweckhaftigkeit» angesehen; die nationalistische Ideologie hat auf Grund solcher Betrachtungen zu einem Krieg zwischen den Sprachen mit dem Zweck der gegenseitigen Unterordnung geführt. Aber die «kollektive Seele» oder das «kollektive Unbe­ wußte» existieren nicht, es ist ein Phantasma in den Köpfen der Menschen, mit negativen Folgen. Die wissenschaftlichen Begriffe der Gestalt, des Systems und der Struktur verwerfen diese Ansichten: Das, was existiert, ist ein formelles Netz von Beziehungen1 zwischen Elementen, das ana­ lysiert werden kann, und es existiert latent in den Köpfen der sprechenden Subjekte; letztere aber bilden sich nachträglich ein, daß sie an einem besonderen kollektiven «Geist» teilneh­ men. Wir führen hier einen Strukturbegriff ein, so wie er seit dem An­ fang des 20. Jahrhunderts sich in der Mathematik und in der Lo­ gik durchgesetzt hat. Die Struktur ist somit eine Gesamtheit von Beziehungen zwischen den Elementen eines Systems. Dieses Sy­ stem kann unterschiedlichen, kontingenten Veränderungen un­ terworfen sein, es verliert jedoch seine «Identität» nicht (außer wenn es sich auflöst), in dem Maß in dem es gewisse Konstanten

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III I

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beibehält. Letztere sind für die Bestimmung des Systems ebenso wichtig wie die Variablen, während die internen Systemverände­ rungen gewissen Regeln gehorchen. Eine kontingente, äußere Veränderung führt zu einer Kette von inneren Transformatio­ nen, welche die Umstrukturierung des ganzen Systems zum Er­ gebnis haben. Die Sprache ist ein offenes, flexibles und komplexes System: sie wird in drei Untersysteme unterteilt; es sind das a) die phonologische Ebene der Produktion der Töne und der Wortaussprache (wobei die leitende Funktion dem wahmehmenden Ohr zufällt); b) die morphologische Ebene der Bildung der Wörter und Sätze, die den Gegenstand der Grammatik und der Syntax umfaßt; schließlich c) die Ebene der Semantik und Pragmatik, in denen die Sinnentstehung und die logischen Beziehungen, als auch die Verhältnisse zwischen den Worten, den Subjekten und den Din­ gen untersucht werden. Es existiert eine hierarchische Reihe zwischen c, b, a: Das höchste, semantische und pragmatische Niveau dominiert und organisiert die niedrigeren Niveaus, nur so kann Sinn entstehen. Eine Folge des systemischen Charakters lautet, daß wenn ge­ wisse kontingente Veränderungen auf der phonologischen und der morphologischen Ebene stattfinden, dann verursachen diese seitens des Systems eine Kettenreaktion, so daß das System glo­ bal dazu tendiert, sich auf einer anderen Ebene neu zu organi­ sieren.2 So ist jede Veränderung eine Funktion des gesamten Sy­ stems und es koexistieren immer Archaismen und Modernis­ men, d. h. die drei Zeitmomente,3 als auch «fremde» Elemente aus anderen Sprachen: Eine homogene und reine Sprache exi­ stiert nicht, und sie wäre eine tote und arme Sprache. Jede Spra­ che existiert nur durch die Vielzahl ihrer Ebenen hindurch: Die eine Ebene verweist ständig auf die andere, dies ist insbesondere in der Kunst der Fall. Die «Kunst» existiert nicht, es gibt nur die Künste und die verschiedenen Diskurse, von denen jeder voll­ ständig und «unvollkommen» ist, denn keiner kann das «Ganze» erfassen und die anderen dominieren. Die Elemente eines Sprachsystems existieren nur vermittels ih­ rer gegenseitigen «Opposition»/Negation, d. h. ihres Unter­ schieds zu allen anderen: Sie existieren nicht an sich, jedes ist die Voraussetzung des anderen und gleichzeitig seine Aussch-

Nachbarschaft zu anderen Wörtern gerät.'

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Die Relativität und die gegenseitige Bestimmung der Elemente (Zeichen) auf allen Sprachebenen müssen richtig verstanden werden: a) Die Relativität bedeutet nicht, daß «alles relativ ist», sie be­ deutet nur, daß die Zeichen niemals isoliert bestimmbar sind, sondern sie verlangen immer die Berücksichtigung der Gesamt­ heit der Oppositions- und Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen ih­ nen. Diese «Gesamtheit» wird in der Wissenschaft durch die je­ weilige Forschungsabsicht definiert. b) Dies wird klar bei jeder Übersetzung und jeder Textinterpreta­ tion. Der «Sinn» besteht immer aus zwei Teilen: aus der «Bedeu­ tung» eines Wortes und aus der Gesamtheit seiner Beziehungen zu anderen Wörtern innerhalb eines bestimmten semantischen Feldes. Der Sinn «schwebt zwischen» den Wörtern und Wörter­ reihen. c) Der systemische Charakter verwirft die reduktionistische An­ sicht, ein Subjekt sei die «Quelle» der Worte. Umgekehrt exi­ stiert des Wortgeflecht vor jedem Subjekt und weist ihm einen Platz im System der Sprache zu, indem es es benennt. Anderer­ seits kann ein Wort niemals die einfache «Widerspiegelung» eines «Objekts» sein: Das Wissen über einen Gegenstand ist im­ mer partiell und durch das Sprachsystem, das theoretische Be­ griffssystem bzw. die subjektiven Entscheidungen «gebrochen». d) Die Rolle des Systems kann negativ, konservativ und er­ stickend werden. Dann suchen die sprechenden Subjekte Risse im Zeichengeflecht, in denen sie sich freier logieren können, so verändern sie das System und gewinnen eine adäquatere Ansicht der Dinge. e) Die Subjekte sind von der «Beschaffenheit», dem Geflecht, dem Text/Textil der Sprache abhängig; sie «erkennen» sich selbst nur wenn sie dieses Geflecht kennen, darüber hinaus noch die Besonderheiten, durch die sie sich ausdrücken. Das Sprachsy­ stem ist kein «Instrument», die Sprache ist vor allem ein Me­ dium, eine «Atmosphäre» in der die Subjekte symbolisch leben und «atmen». Je differenzierter die gesprochene Sprache eines Subjekts ist, je mehr feine Unterschiede es wahrnehmen kann, desto reicher wird seine Erkenntnis über sich selbst und die an­ deren sein können. Ein grobes und einfaches Vokabular (wie oft in der politischen Propaganda) bedeutet auch ein grobes und einfältiges Subjekt. Der seelische Reichtum und die Freiheit eines Subjekts ist immer eine Funktion des Sprachsystems, sie verwirklichen dessen Möglichkeiten.

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25 f) Die Freiheit des Subjekts äußert sich in seiner Fähigkeit mit den Elementen und Ebenen der Sprache zu «spielen», z. B. im Humor, in der Ironie, im Witz, in der Relativität der Begriffe ent­ sprechend der Situation, im Übergang von der Metapher zum Begriff und umgekehrt. Der Mangel an Freiheit äußert sich im­ mer im Mißbrauch und in der Perversion der Begriffe und folgt dem umgekehrten Weg wie der freie Sprachgebrauch, etwas das einfach und naiv denkende Menschen verführt. Die Sprache als Zeichensystem und als Sprechen, Rede, Diskurs wird intersubjektiv konstituiert, d. h. vermittels von Beziehun­ gen und Differenzen; sie wird weder durch eine «Volksseele» ge­ sendet, noch ist sie die Summe von individuellen Sprechakten.5 Der bewußte Sprachgebrauch für individuelle und kollektive Zwecke bedeutet immer eine Instrumentalisierung und eine Ver­ armung der Sprache, darin besteht die Zeichenfixierung der Sprache. Aber die Sprache bzw. das Sprechen haben noch eine andere Dimension, sie haben eine Universalität, die gleichzeitig der Individualität ermöglicht sich zu artikulieren. D. h. die Spra­ che hat weder nur zu «informieren», noch den Subjekten bloß die «Kommunikation» zu ermöglichen, indem diese sich gegen­ seitig ihre bewußten Absichten äußern. Sie gibt den Subjekten die Möglichkeit ihre eigene Geschichte zu evozieren und sich wiederzuerinnern, den Sinn ihrer Gedanken und Taten zu ver­ stehen. Diese «Selbsterkenntnis» setzt immer den anderen voraus, sie ist keine «Introspektion», aber der andere identifiziert sich nicht einfach mit dem Mitarbeiter, Gegner oder Diskussionspartner innerhalb des gewöhnlichen sozialen Rahmens: Die Gesell­ schaft, die durch die Arbeit, das Gesetz und die Herrschaft bzw. Macht bestimmt wird, kann nicht mit dem Anderen einfach gleichgesetzt werden. Die gesprochene Sprache ist aber ein fle­ xibles Mittel/Medium, innerhalb dessen jeder Sprecher, indem er spricht, seine Spuren, seinen Stil hinterläßt; diese Spuren sind seine Persönlichkeit. D. h. eine unpersönliche, anonyme (büro­ kratische, technokratische) Sprache verdrängt und vergißt das Subjekt. Das Sprechen der Subjekte konstituiert sich durch eine Reihe von Diskurstypen,6 die ihre Besonderheit je nach der Posi­ tion des anderen in ihm finden. Diese dialogischen Beziehungen sind Verhältnisse der Nachfrage und des Angebots von Worten seitens der Subjekte, während jedes Wort und jede Rede des Subjekts immer auch einen Gegenstand von Anerkennung und Zensur bzw. Kritik seitens des anderen bedeutet. Der metaphori-

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sehe Sprachgebrauch von Begriffen aus der Ökonomie und der Politik ist nicht zufällig: Es gibt eine Verwandtschaft zwischen diesen sozialen Dimensionen und dem Diskurs der Subjekte, der ihre Möglichkeitsbedingung darstellt.7 Die Sprache ist als eine geistige und körperliche Kompetenz un­ bewußt konstituiert.8 Die Fähigkeit der Kinder, gewisse Unter­ scheidungen und Regeln der Sprache spontan zu verwenden, zeigt, daß hier ein Prozeß stattfindet, der nie bewußt von außen gesteuert werden kann. Der Andere (zuerst die Mutter und der Vater) ist immer der notwendige und okkasionelle Anlaß der Sprache, er ist aber nie ihre «Ursache», ihr «Schöpfer». Der An­ dere ist notwendig, weil nur vermittelt über ihn, eine Übertra­ gung gefühlsmäßiger Bindungen des Kindes an die Erwachsenen stattfindet, welche die erste und stärkste Motivation zum Spra­ cherwerb darstellt: Die Anrufung, Bitte, Herausforderung des Anderen zwingt das Kind, die Struktur und die Funktion der Sprache zu entdecken. Die Sprache der ersten fünf Lebensjahre und ihr Inhalt an Phantasmen und Erfahrungen macht die Struktur und den Inhalt des Unbewußten aus, und dies bleibt für immer die Grundbasis der Psyche des Subjekts. Die Sprachstruktur existiert von Anfang an in ihren Grundbe­ standteilen als elementare Gestalt vollständig; die spätere Aus­ differenzierung bedeutet die weitere Entfaltung der Möglichkei­ ten derselben Struktur. Andererseits ist die Sprache nicht nur die Tätigkeit des sprechenden Subjekts, sondern ebensosehr der «passive», rezeptive Zustand des Hörens (und Interpretierens); der passive Zustand gilt auch im Fall in dem ein Subjekt zum Gegenstand des Diskurses für andere wird. Der Andere spielt im­ mer die notwendige Rolle des Geburtshelfers dieses Prozesses. Das Unbewußte aber ist unter anderem strukturiert wie eine Sprache;9 es ist nicht ein Chaos, das die Gesellschaft organisiert.

1.2.2. ZUM ZEICHENBEGRIFF

Wir haben bisher den systemischen Charakter der Sprache und das Verhältnis des Subjekts zu der Sprache erwähnt. Hier wer­ den wir den Zeichenbegriff analysieren. «Ein Zeichen ist die un­ zertrennliche Einheit zwischen dem Signifikanten und dem Sig­ nifikat, und es ist immer in einer Kette anderer Zeichen inte­ griert, die bestimmte Subjekte und Objekte miteinander in Beziehung setzen».10 Diese Definition ist sehr allgemein und

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27 breit, kann aber einen Rahmen für unsere Betrachtungen abge­ ben. Das Zeichensystem existiert logisch vor den Einzelzeichen. Das «merkwürdige» Paradoxon des Zeichens besteht darin, daß es eine Kombination aus einem «Material» (Stimme, Bewegung Empfindung) mit einer «Form» darstellt, die zusammen mit dem Material (dem Körper) eine «Bedeutung» entstehen läßt. Die materielle Äußerung ist der Signifikant, die Bedeutung ist das Signifikat. Das Verhältnis zwischen ihnen ist nicht einfach und transparent, weil es nicht absolut und konstant bleibt. Fer­ dinand de Saussure betonte gerade den willkürlichen, arbiträren Charakter11 des Zeichens, d. h. ihren konventionellen, fiktionellen, unbewußten und nichtnatürlichen Charakter; von hier aus stammt die geschichtliche Existenz vieler Sprachen, als auch ihre wesentliche Äquivalenz untereinander. Aber die Willkür be­ trifft nur den Anfang der Bildung der ersten differenziellen Sprachverhältnisse eines Kindes, denn die nachfolgenden Ver­ hältnisse sind schon an den vorangehenden orientiert. «Willkürlich» bedeutet die Tatsache, daß «weiß» (als Signifikat) «weiß» (als Signifikant) genannt wird, aber seitdem «weiß» un­ bewußt eingeführt wurde, kann (und darf) es nicht mit «schwarz» verwechselt werden. Es gibt nie eine Transparenz und absolute Isomorphie zwischen den Zeichen und den Din­ gen, und deswegen kann es auch nie eine, adäquate, einheitliche, universelle Menschheitssprache geben, die alle Dinge genau so «benennen» würde, wie sie «sind». Dieser Gedanke beschäftigt die Menschen seit der Zeit des Mythos vom Turm zu Babel. Dies weil die Zeichen nicht durch die einfache Benennung isolierter, einfacher Dinge, sondern durch ihren unaufhörlichen Kombina­ tionsreichtun «Sinn» erzeugen. Die Bedeutung, das Signifikat, die eine «Vorstellung», ein psy­ chisches Produkt im Kopf des Hörers und Zuschauers ist, wird oft mit dem «Objekt» verwechselt, das entweder «außerhalb» des Subjekts als ein natürlicher Gegenstand existiert, oder «inner­ halb» des Subjekts liegt, aber keine Vorstellung, sondern z. B. der Trieb ist. Das «Objekt» kann selten genau isoliert und lokali­ siert werden. Hier interessieren uns die anderen Subjekte (ihre Worte und Taten) als «Objekte» (des Begehrens), als auch unser eigenes «Selbst» als «Objekt» (des Narzißmus). Die Tatsache, daß der Mensch das «Sprechwesen» ist, bedeutet, daß er die Fähigkeit besitzt, sich selbst durch den «Kristall» der Sprache hindurch zu analysieren, und sich wie einen anderen zu betrach­

ten.

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Die Sinnentstehung vermittels der Zeichen enthält immer die Gefahr der Verkennung und des Vorurteils: Die Zeichenkombi­ nationen finden in jeder Sprache, gemäß strengen Regeln der Selektion und Kombination auf allen Ebenen statt. Diese Regeln sind spezifischer Natur, denn sie enthalten immer die Möglich­ keit der Ausnahme und der Veränderung im Gegensatz zu den Naturgesetzen. Die Sprachgesetze sind aber das Vorbild jeder Regel und jedes Gesetzes der Kultur und der Gesellschaft; die Wechselwirkung der Gesellschaft mit der Sprache ist ein abge­ leitetes Phänomen. Deswegen sind das Symbol/Zeichensystem und die psychische «Welt» kein bloßes Gesellschaftsprodukt; die Gesellschaft ist selbst auch ein Sprachprodukt. Die Möglichkeit der Verkennung und des Vorurteils stellt das schwierige Problem des «Verhältnisses mit der Realität» und der Wahrheit dar. Die «Wahrheit» ist dann ein Prozeß und kein fertiges Produkt (Dogma), der die Existenz der Verkennung und der Lüge impli­ ziert, denn dieser Prozeß schreitet dialektisch fort und endet nie. Die «Wahrheit» existiert nicht als die «reine», «transparente» und «ganze» Wahrheit; der Prozeß ihrer Findung arbeitet sich durch die Verkennungen des Subjekts hindurch, insofern dieses sich daran macht etwas zu erkennen. Andererseits bedeutet die Wahrheit für das Subjekt keine bloße Entsprechung (Adäquat­ heit)12 des Signifikats (der Bedeutung) mit dem Referenten (dem «Objekt» von dem die Rede ist). Diese Adäquatheit wäre immer noch die klassische Definition der Wahrheit und des Zeichens in den (klassischen) Naturwissenschaften. Für die menschlichen Dinge erlaubt die Wahrheit die Möglichkeit einer widersprüchli­ chen «Koexistenz» und eines Kompromisses zwischen zwei oder mehreren Bedeutungen oder Situationen: Der Charakter der Wahrheit, insofern diese das Subjekt «existentiell» berührt, ist immer zweideutig und nicht rein oder total und endgültig. Für pragmatische Zwecke aber läßt sich diese der Wahrheit imma­ nente Spannung teilweise auflösen. Ein imaginäres Wesen wie ein Engel oder ein Teufel «existiert» nur im Rahmen eines metaphorischen Diskurses, denn sie sind Produkte dieses Diskurses (mit realen Folgen für die Menschen die an sie glauben).13 Es gibt immer Menschen, die an die «reale» Existenz dieser Wesen glauben, während andere, aufge­ klärte Menschen meinen, daß sie diese Wesen mit der Naturwis­ senschaft widerlegen können; aber sie ignorieren den metapho­ rischen Diskurs und seinen symbolisch-imaginären Impakt auf die Menschen.

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Die systemische Natur der Sprache hat viele Folgen, die nicht sofort erkannt wurden. Ein Zeichen, damit es funktionieren und «Sinn» erzeugt werden kann, verweist ständig auf ein anderes Zeichen. Genauer, ein Signifikant «gleitet» ständig auf dem Sig­ nifikat und dadurch verändert sich die Sprache. Von hier aus stammt die Faszination und das Unbehagen infolge der Zwei­ deutigkeit der Worte und Ausdrücke: Was bedeutet genau ein be­ stimmtes Wort oder ein bestimmter Satz? Bedeutet er vielleicht etwas anderes als das, was wir meinen? Das Subjekt arbeitet durch die Sprache hindurch, um im richtigen Moment den rich­ tigen Sinn zu finden, aber letzterer existiert nicht im Kopf des Subjekts, bevor dieses ihn konstruiert. Das Denken ist ein stiller, innerer Dialog; die Auffassung, daß man angeblich zuerst eine Idee «konzipiert» und sie dann mit Worten «ausdrückt» (als ob die Worte ein sekundäres Instru­ ment wären), ist ein Alltagsmythos. Denn jedes Subjekt lernt zu­ erst sprechen und dann bewußt denken. Die «Vernunft» bedeu­ tet, daß zunächst der sprachliche Ausdruck die Wahrheit des Subjekts verrät, d. h., seinen Aufrichtigkeitsgrad gegenüber sei­ nen inneren Widersprüchen, sowie denen der Welt. Der sprachli­ che Ausdruck ist somit nicht etwas äußerliches und sekundäres, im Gegenteil. Hierauf basiert auch die ästhetische Dimension der Sprache: Im schlechten Geschmack betrügt das Subjekt sich selbst und die anderen. Schlechter Geschmack bedeutet hier die Verschönerung der Risse, Widersprüche und Mängel der Rea­ lität, ihre Verleugnung, Idealisierung, Vereinfachung, etwas das vulgär, lächerlich und unmoralisch sein kann, somit eine Quelle der Ideologie. In der klassischen Zeichendefinition von Ferdinand de Saussure sind die Phoneme phonetische Fakten oppositioneller, relationeller und negativer Natur.14 Die Sprachzeichen verdanken allge­ mein ihren sprachlichen Wert nicht ihrem absoluten, positiven Inhalt, sondern vor allem ihrem relativen Ort innerhalb des Sprachsystems. Infolge der oppositionellen Zeichennatur evo­ ziert die eine Seite der Differenz die andere, sie setzt sie bewußt oder unbewußt voraus (das Anwesende das Abwesende, das Weiße das Schwarze usw.). Aber der Begriff der Differenz muß hier präzisiert werden. Denn die Differenz heißt je nach Fall Distinktion (Unterscheidung), Opposition, Widerspruch (Kon­ tradiktion), Polarisierung. Die Distinktion betrifft einfach die Möglichkeit der Wahrnehmung einer Differenz, während die Opposition von Saussure und Jakobson als allgemeiner Begriff

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verwendet wird. Hier ziehen wir aus theoretischen Gründen den Begriff der Differenz vor, der auch eine «Verschiebung» bedeu­ ten kann. Es gibt aber zwei Typen von Differenz:15 den Widerspruch, z. B. ab- und anwesend, weiß und nicht-weiß, indem der eine den an­ deren Zustand auf logische (oder symbolische) Weise aus­ schließt; die Polarisierung, z. B. weiß und schwarz, in der die zwei Seiten die extremen Zustände eines Falls darstellen, der sich in zwei Teilen total gespalten hat, d. h. ohne jegliche (sym­ bolische) Vermittlung. Hier schließt die eine Seite die andere auf eine spannungsvolle und dynamische, kriegerische Weise aus. Der Widerspruch setzt also das Wort und die Möglichkeit eines Kompromisses voraus, während die Polarisierung einen natur­ wüchsigen Charakter erhält; die Polarisierung bedeutet in menschlichen Beziehungen Gewalt und Barbarei, ohne die Mög­ lichkeit ihrer Überwindung, sie impliziert auch die schlechte Wiederholung der gleichen Verhältnisse. Sie bedeutet psycho­ analytisch die paranoide Spaltung des Subjekts in ein «Ich» und ein «Über-Ich», das das «Ich» verfolgt. Dieses Modell existiert oft in der Geschichte der Religionen und der Politik als Dualismus und Manichäismus.

1.2.3. DIE ZWEI ACHSEN DER SPRACHE

Betrachten wir folgende drei Sätze:

Mein Unser Die

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Vater Pappi Sonne

liest betrachtet scheint

die eine

Zeitung Blume

Die zwei ersten Sätze haben die gleiche Struktur, während der dritte Satz eine andere Struktur besitzt. Alle diese Sätze können von jedem der deutschen Sprache mächtigen Subjekt gebildet werden. Um sie zu bilden, muß es zuerst eine Auswahl aus dem Schatz der Wörter und Regeln, die es in seinem Gedächtnis ge­ speichert hat, treffen, und dann das eine Wort nach dem ande­ ren, gemäß der richtigen Reihenfolge und der entsprechenden Betonung, aussprechen, d. h. eine bestimmte Kombination von Zeichen konstruieren. Eine eventuell unterschiedliche Betonung bestimmter Wörter und bestimmte Variationen der Kombinatio­ nen genügen, um den Sinn zu verändern. Wir könnten obiges Beispiel mit beliebig vielen Sätzen, gleicher oder unterschiedli-

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eher Struktur, die schriftlich eine Liste von oben nach unten er­ geben, verlängern. So füllen wir ein ganzes Blatt aus> das auf diese Weise gleichzeitig ein Koordinatensystem bildet. Die zwei aufeinander senkrecht stehenden Achsen sind die verti­ kale Achse der Synchronie und die horizontale Achse der Diachronie. Die Synchronie ist das System der Beziehungen zwi­ schen den Zeichen, die potentiell alle gleichzeitig koexistieren: Ein sprechendes Individuum hat in jedem Moment das gesamte System der Regeln und den Reichtum der Wörter latent in sei­ nem Gedächtnis gespeichert. Wenn es sich zu sprechen entschei­ det, dann wählt es unbewußt die passenden Zeichen im gespei­ cherten symbolischen Material aus und bildet dann den Satz. Dieser ist eine bestimmte Zeichenkombination, die den Über­ gang in die Diachronie darstellt. Der ständige Gebrauch der Sprache übt aber eine Rückwirkung auf ihren synchronen Cha­ rakter aus: Bestimmte kontingente oder bewußte und schöpferi­ sche Veränderungen in ihrem Gebrauch verändern schließlich auch ihre synchrone Struktur. Die Differenz Statik - Dynamik ist nicht mit der Differenz Synchronie - Diachronie identisch. Die Dynamik wirkt sich langsam aus und die Sprache braucht meh­ rere Generationen, damit bestimmte Änderungen sich ereignen und stabilisieren. Die Struktur der o. e. Sätze16 weist gewisse grammatikalische Ähnlichkeiten und Oppositionen/Differenzen auf: im ersten Satz ist das erste Wort ein Artikel, das zweite ein Substantiv, das ein bestimmtes Verwandtschaftsverhältnis anzeigt, das dritte ein Personalpronomen usw. Andererseits ist der Artikel und das Substantiv in den beiden ersten Sätzen männlichen Geschlechts, während es im dritten Satz weiblichen Geschlechts ist und einen Naturkörper bezeichnet, der darüber hinaus, im Gegensatz zu den zwei ersten Sätzen, eine intransitive Tätigkeit ausübt. Die Gesamtheit aller «ähnlichen» (analogen) Sprachkategorien wird als Paradigma bezeichnet, während ein bestimmter sinnvoller Satz ein Syntagma darstellt. Die Gesamtheit aller Sätze kann so­ mit gemäß den zwei Achsen analysiert werden, so wie das auch in der musikalischen Partitur der Fall ist. Saussure und Jakobson entfalteten alle Möglichkeiten der Sprach- und Textanalyse dieses Modells, das sich für das Denken als sehr fruchtbar erwies (solange es nicht zu einem Dogmatis­ mus und zu einer strukturalistischen Ideologie führt). Das gilt generell für alle Sprachebenen und alle Typen von Zeichen und Symbolen. Die Beziehungen und Regeln, die diese Achsen orga-

=3

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32 nisieren, sind auch die Bedingungen der Logik und der Subjekt­ struktur. In der Folge beschreiben wir eine Liste von einander zugeordneten Begriffspaaren, die der einen oder der anderen Achse angehören. PARADIGMATISCHE ACHSE

SYNTAGMATISCHE ACHSE

Auswahl Substitution Ähnlichkeit od. Opposition Metapher Spraache (langue) System, Code Verdichtung

Kombination Kontext Kontiguität (Nachbarschaft) Metonymie Sprechen, Wort, Diskurs Botschaft Verschiebung

Im o. e. Beispiel können wir vom ersten zum zweiten Satz über­ gehen, indem wir jeden Satzteil Wort für Wort durch ein ande­ res, ähnliches oder gegensätzliches Wort substituieren. Aber jedes neue Wort steht in einem bestimmten Kontext anderer Wörter, es befindet sich in der Nachbarschaft des vorigen und des folgen­ den Wortes; so bilden alle Wörter zusammen einen neuen Sinn. Dieses Sprachspiel kann stärker verändert werden, wenn man die syntaktische Struktur des Satzes, d. h. den Kontext und die Kontiguität verändert (wie im Übergang vom zweiten in den dritten Satz). Die Sprache als System (Code) bildet gleichzeitig (synchron) die Gesamtheit aller partiellen Mengen von ähnlichen/differenten Wörtern sowie die Menge ihrer syntaktischen Regeln. Das Sprechen, das (gesprochene) Wort, der Diskurs als eine konkrete Botschaft (die sich an den Anderen richtet) ist die jeweils realisierte Möglichkeit des offenen Systems der Sprache. Besondere Bedeutung haben hier die zwei «Modi» der Sprache, die Metapher und die Metonymie, derer Bildungsregeln Aristote­ les in seiner «Poetik» und «Rhetorik» zuerst analysierte. (Natür­ lich situiert sich die Metapher auf der paradigmatischen Achse, aber sie wird auf der syntagmatischen Achse ausgesprochen). Gemäß einer ihrer Definitionen17 ist Metonymie: «Die Ersetzung eines Terms durch einen anderen entsprechend einer Konti­ guitätsbeziehung» (wobei «Term» alles mögliche sein kann, nicht nur ein Wort, sondern auch ein Buchstabe, ein Bild, eine Sache, insofern «alles» zum Zeichen werden kann). Eine Nachbar­ schaftsbeziehung bilden die Verhältnisse zwischen Ursache und Wirkung, Mittel und Zweck, Teil und Ganzes, Form und Inhalt, Instrument und Handlung usw. In diesen Beziehungen existiert keine zwingende «Ähnlichkeit» zwischen den zwei Seiten.

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Gemäß ihrer Definition ist Metapher:18 «die Substitution zweier Terme, die in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen, durch zwei andere Terme, deren Verhältnis zueinander zu dem ersten Verhältnis ähnlich ist». So enthält auch die mathemati­ sche Analogie eine qualitativ metaphorische Beziehung: a/b = c/d. In der Sprache aber impliziert eine Analogie etwas zusätzli­ ches: die Ähnlichkeit der Terme untereinander. Der Begriff der «Homologie» oder der «Isomorphie» ist jedoch genauer bei der Beschreibung der Metapher. Andererseits muß man die logi­ schen Urteile gemäß den Analogieschlüssen vermeiden, denn sie führen gewöhnlich zu falschen Ergebnissen; so ersetzt der meta­ phorische Diskurs nicht den (exakten) analytischen Diskurs, er entspricht bloß anderen, aber wesentlichen und irreduzierbaren Subjektansprüchen. Die Metapher konstituiert immer eine Struktur auf zwei Ebenen: der manifesten und der latenten. Auf der ersten situieren sich die neuen Terme, während auf der zwei­ ten die alten Terme ihren Platz finden. In dem Moment in dem aber eine Metapher gebildet wird, hinterläßt sie dann ihre Spu­ ren auf den Termen die sie gebildet haben, so daß sie schon einen anderen Sinn erhalten: Hierin besteht die schöpferische Macht des metaphorischen Diskurses, der sehr vielfältig und subtil in seinen Formen sein kann. Sowohl die Metonymie als auch die Metapher sind «Beziehungs­ geflechte» und keine «Substanzen» - die erste geht in die zweite über und umgekehrt. Klassischer Fall von Metonymie ist die Verwendung des Teils statt des Ganzen, z. B. die Verwendung der Stimme oder der Photographie oder der Unterschrift oder eines Eigentumsobjekts einer bestimmten Person an Stelle ihrer «selbst» (wobei dies Bild auf Grund seiner (partiellen) Ähnlich­ keit mit der Person, auch den Charakter einer Metapher hat; ein Künstlerporträt kann aber ganz und gar «unähnlich» sein und das «wahre» (unbewußte) Gesicht zeigen, siehe das «Porträt von Dorian Gray»). Metonymisch ist die Beziehung der Wörter zu den Dingen, die sie benennen, oder zu den Körpern, die sie aus­ sprechen. In der Bildung der Ideologien und der Vorurteile spielt das Gleiten von einem Urteil über den Teil zu einem Urteil über das Ganze eine wichtige Rolle (wobei das Urteil selbst den Cha­ rakter einer Metapher hat): z. B. ein Afrikaner stiehlt etwas, «also» sind «alle Afrikaner» Diebe. An einem einfachen Beispiel kann man die Struktur der Meta­ pher verdeutlichen, das ist der Fall, wenn man das Alter als «Le­ bensabend» bezeichnet. Man könnte auch die Umkehrmetapher

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verwenden: den Abend als das «Alter des Tages» bezeichnen. Eine charakteristische Eigenschaft der Metapher besteht im Chi­ asmus, d. h. darin, daß sie eine «X-Struktur» besitzt. Das wird folgenderweise deutlich, wenn man alle vier Terme explizit auf­ schreibt: Alter/Leben verhält sich wie Abend/Tag. Das Alter (das man in der Metapher als Wort nicht ausspricht) verweist auf das Zusammenbringen der zwei Terme «Abend» und «Leben», die quer zu den zwei Wortpaaren liegen, Wobei der vierte Term «Tag» ebenfalls latent mitgedacht wird. Ein metaphorisches Ver­ hältnis haben die Bilder zu den abgebildeten Objekten. Der All­ tagsgebrauch der Sprache tendiert dazu, durch die Wiederho­ lung und die Gewohnheit die Subjekte zu überreden, daß es zwi­ schen dem Namen und der benannten Sache eine «Ähnlichkeit» existiert. Dies gilt für jede Definition und jede Attributzuschrei­ bung. Die Hauptmetapher ist aber der Name des Subjekts, für es selbst und für alle anderen Subjekte, die es anrufen. Der Name unterscheidet sich psychisch von allen anderen Wörtern; er funktioniert als Signifikant und nicht als bloßes Zeichen, das be­ stimmte Eigenschaften des Subjekts zu- oder beschreibt (das kann dann sekundär geschehen). Alle Wörter haben mehr oder weniger einen metaphorischen Charakter, das bedeutet, daß sie entsprechend der Situation durch andere «ähnliche» Wörter ersetzt werden können, indem aber der Sinn von Sätzen mehr oder weniger verändert wird. Im Gegensatz zur Metapher ist ein Begriff etwas (relativ) stabiles, genaueres, ohne Zweideutigkeiten (relativ), das auch exakte quantitative Bestimmungen enthält und aufhört, einen ständig gleitenden Sinn zu haben (z. B. «Sprechwesen»: «alle Menschen sind Sprechwesen»). Die Metonymie und die Metapher sind empirisch als die zwei Achsen der Sprache und des Sprechens nachgewiesen worden: In seiner Aphasie-Studie zeigte Jakobson, gestützt auf Neurolo­ giestudien, daß es zwei Idealtypen von Aphasie19 gibt. In dem einen Typ wird die Fähigkeit des Patienten gestört, gewisse Wör­ ter oder ihre Synonyme zu finden, im anderen Typ wird die Fähigkeit der Kombination von Wörtern zu einem Satz gestört. Die zwei Achsen spielen jedoch eine wesentliche Rolle bei der Analyse des Code der Bekleidung, der Küche, der Benennung der Pflanzen und Tiere und Steine, der Magie, der Rechtsurteile und Folterarten, der Mythen, der Kunststile usw., in der Anthro­ pologie, in der Literatur- und Kunstgeschichte, in der Benen­ nung der Töne, Farben (kulturelle Relativität der symbolischen

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Bedeutung der Farben), in der Mode und schließlich in der Psy­ choanalyse. Die Tiere haben eigene Systeme der Kommunikation und Infor­ mation, aber sie kennen das «Wort» nicht. Das Wort bedeutet einen qualitativen Sprung.20 a) Das Wort ist schöpferisch, weil konventionell, d. h. nicht na­ turgebunden, sondern historisch. Das Sprechen, der Diskurs er­ findet und verändert Codes, während bei den Tieren die Bot­ schaft mit dem Code zusammenfällt. b) Das Wort kann die abwesenden Sachen vorstellen. c) Das Sprechen konstituiert sich mittels der Hierarchie der Sprachebenen. d) Das Sprechen verwendet Sätze, indem es die Affirmation und die Negation einführt. e) Das Sprechen kann die Hierarchie umkehren und negieren.

Die Konstituierung der Subjekte und der Gesellschaft mittels des Wortes hat auch eine andere wichtige Folge. Marcel Mauss, in seinem Essay über die Gabe21, und in dessen Folge Claude L6viStrauss haben festgestellt, daß jede Gesellschaft grundsätzlich aus drei Kreisläufen des Austausches von «Symbolen» (im brei­ ten Sinn des Wortes) konstituiert wird. Dies ist eindeutig bei den primitiven Gesellschaften (die noch ohne sozioökonomische Klassen, Waren und Schrift organisiert sind): Es gibt den Aus­ tausch von Gütern (Geschenken), Menschen (Frauen, zwecks Heirat) und Wörtern (Mythen). Die auszutauschenden Güter sind «Luxusobjekte»: Der eine Stamm schließt Frieden und ein Bündnis (das sehr fragil sein kann) mit dem anderen, indem er mit ihm kollektiv Geschenke (Potlatsch), Ehegattinnen und Mär­ chen und Mythen austauscht; er versucht auch dabei, ihn mit Geschenken zu überbieten, was zu einer Eskalation und rituel­ len Destruktion allen Überschusses führen kann oder auch zu «beleidigenden Mißverständnissen» und zu Krieg. Die friedens­ stiftende Rolle dieser symbolischen Beziehungen (insofern die Geschenke zu Signifikanten geworden sind) kann also schnell in ihr Gegenteil umkippen: Es genügt, daß der eine Stamm sich be­ leidigt fühlt, weil der andere seine Geschenke nicht angenom­ men hat oder weil er nicht die Geschenke bekam, die seiner ho­ hen Meinung über sich selbst entsprachen, oder weil der andere Stamm die Frauen des ersten Stammes entführte oder seine ge­ heimen heiligen Sprüche und Zauberformeln entwendete; es genügt das alles, damit der Krieg zwischen ihnen wieder an-

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fängt. In den «entwickelten» Kulturen spielt sich ähnliches bei der Geschenkvergabe und bei allen Verhandlungen ab. Diese Ge­ schenke können ein mächtiges Machtinstrument zugunsten der Beeinflussung, Erpressung und Bestechung der anderen sein. Nur eine christlich sublimierte und romantische Vorstellung der Gabe und der gratis geschenkten Gnade führte über diesen ge­ schlossenen Tauschhandel hinaus. Alle diese Tauschformen weisen aber eine strukturelle Besonder­ heit auf, die den Grund für die Spaltung des Subjekts und der Gesellschaft22 infolge und innerhalb der Sprache hergibt. Diese Spaltung ist nur für die Menschen und ihre Freiheitsmöglichkeit charakteristisch. a) Jede Güterproduktion basiert auf der Konstruktion von Werk­ zeugen, damit andere Werkzeuge erzeugt werden. Es gibt also eine interne Differenz, die eine Metaebene einführt und einen be­ sonderen ersten Sinn stiftet. b) Jede Sprache basiert auf sich voneinander unterscheidenden phonologischen Elementen, den Phonemen, die an sich keinen Sinn haben, aber sie werden verwendet um Satzeinheiten zu bil­ den, die ihrerseits schon Sinn erzeugen (Dialektik von Sinn und Unsinn). c) Jede menschliche Beziehung impliziert das Begehren nach und die Identifizierung mit dem anderen. Des universelle Inzeßtverbot zwischen Eltern und Kindern bzw. zwischen Geschwi­ stern bildet die Möglichkeitsbedingung dafür, daß es den (kon­ struktiven) Mangel gibt, damit eine offene und unbegrenzte Kommunikation der Menschen, jenseits der geschlossenen For­ men des Stammes und der Familie (oder der Nation, der Gruppe usw.) geschehen kann (Dialektik der Regel und der Ausnahme). Diese drei Besonderheiten zeichnen das Reich der Kultur gegen­ über dem Reich der Natur, dem Dschungel, aus. Die Kräfte der Produktion und Reproduktion tragen den Stempel der Sprache, d. h. des symbolischen Gesetzes.

1.3.1. DIE MECHANISMEN DES UNBEWUSSTEN

Das richtige Verständnis der Psychoanalyse ist untrennbar ver­ bunden mit der Diskursanalyse, denn sie kann eine Reihe von psychischen Phänomenen nicht anders erklären. Die Verken­ nung ihrer Arbeitsweise führt immer zu einer Verkennung der

37 psychoanalytischen Theorie, denn so vergißt man die Art und Weise in der Freud und seine Schüler eine Reihe von Phänome­ nen und Begriffen entdeckten. Die Psychoanalyse wird zur Ideo­ logie, wenn die aufklärerische Intention vergessen wird: Das Subjekt lernt, daß ihm etwas fehlt und daß immer etwas fehlen wird, und es wird besser für es sein zu akzeptieren, mit diesem Wissen zu leben, ohne aber, das was fehlt, dem anderen oder der «Gesellschaft» aufzubürden und ohne zu versuchen, das feh­ lende mittels Herrschaftspraktiken abzuschaffen. Dieses Wissen geht mit einer Befreiung von innerpsychischem Druck einher, wodurch das Subjekt freier in seinem Verhältnis zu sich selbst, zu dem anderen und zu der Gesellschaft, und damit auch dispo­ nibler für einen Emanzipationskampf in der Gesellschaft wird. Die Psychoanalyse wurde in den USA «verwässert» und ideologi­ siert vermittels ihrer Unterwanderung durch die «Ich-Psychologie», die bei jedem Subjekt das Strukturelement des Mangels verdrängt und somit das Subjekt dazu bringen will, eine schein­ bare innere «Harmonie» und kleinbürgerliche Anpassung an die Gesellschaft zu erreichen. Andererseits haben alle totalitären Re­ gime (Faschismus, Stalinismus) die Psychoanalyse verfolgt, weil sie die Abschaffung der Freiheit und des Gesetzes durch sie de­ nunziert. Wir präsentieren hier ein von Freud analysiertes Beispiel, das alle uns interessierenden Elemente enthält. Es ist das erste in seinem Buch «Psychopathologie des Alltagslebens» (1904).23 Dieses Buch, in der gleichen Zeit wie die «Traumdeutung» und der «Witz» geschrieben, gibt ein wesentliches Beispiel für die Fruchtbarkeit der Freudschen Methode. Die Psychopathologie des Alltags besteht in einer Reihe von Fehlhandlungen der Sprache/Schrift (Lapsi), Wortvergessen, Fehlem, Unachtsamkeit, Un­ fällen, unbedachten Handlungen usw., wie sie alle Subjekte ge­ legentlich produzieren. Freud fand hinter all diesen merkwürdi­ gen Fällen einen «Mechanismus», der sie entsprechend gewissen Regeln erzeugt: das Unbewußte. Dieser Mechanismus hat aber eine allgemeine Geltung, denn er produziert gleichermaßen die Träume, die Witze, die neurotischen Symptome, die Phantasmen der Perversionen, die Wahnbilder und Delirien der Psychose, und allgemein die Phantasmen. Wir präsentieren das Schema von Freud.

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]Signorjelli |i |Bo|tticelli | ]Her|zegovina und» I |Bo|snfen~~

l|Herr| was soll man sagen ... I--------- ► Tod und Sexualität

lBo]l|traffio]

^_^]Trafoi |

(verdrängte Gedanken)

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Freud erwähnt hier einen Vorfall, der ihm während einer Bahn­ reise im Jahre 1898 begegnete. Er saß mit einem ihm unbekann­ ten Mitreisenden im Abteil einer Eisenbahn, die von Ragusa (Dubrovnik) nach einer Stadt in der Herzegovina fuhr. Während der Reise drehte sich die Diskussion um die Italienreisen und Freud fragte seinen Mitreisenden, ob er die berühmten Fresken von ... im Dom von Orvieto gesehen hätte. Hier vergaß Freud er­ staunt den Namen jenes italienischen Renaissancemalers; er ver­ suchte ihn in seiner Erinnerung zurückzurufen, aber statt des­ sen erinnerte er sich an die Namen zweier anderer bekannter italienischer Maler aus der gleichen Zeit: Botticelli (1444-1510) und Boltraffio (1467-1516). Ein anderer, ohne den Scharfsinn von Freud, hätte diesen Lap­ sus nicht ernst genommen und würde sich mit einer oberflächli­ chen und harmlosen Erklärung begnügen. Der vergessene Na­ men war Signorelli (1445-1523). Eine einfache Erklärung wäre eine Rationalisierung, die sich das Pränomen aus der Besonder­ heit des Namens oder infolge der (bewußten) psychologischen Umstände, auf die es sich bezog, zu «erklären» bemühen würde. Dies genügte aber Freud nicht: Er versuchte das Phänomen zu analysieren und er besann sich darauf, daß er kurze Zeit davor mit seinem Mitreisenden sich über die Sitten der Türken in Bos­ nien und Herzegovina unterhielt. Wenn sie schwer krank wur­ den und der Arzt nichts mehr tun konnte, dann antworteten sie ihm fatalistisch: «Herr, was soll man sagen? Wenn Gott es ge­ wollt hätte, würdest Du ihn gerettet haben». Freud analysierte hier die Wörter wie chemische Formeln und fand folgende Asso­ ziationskette: Signor(elli), Her(r), Her(zegovina) und Bo(snien), Bo(tticelli), Bo(ltraffio). Die Gedankenreihe bezüglich der Türken in Bosnien störte die folgende Reihe bezüglich Signorelli. Dies hatte einen Grund: Freud wollte auch einen anderen Fall erwähnen. Wenn die Tür­ ken unter Potenzstörungen litten, verzweifelten sie dann und

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39 sagten dem Arzt: «Herr, wenn die Potenz schwindet, dann hat das Leben keinen Sinn». Freud wollte das aus Taktgründen dem anderen nicht sagen und verdrängte dadurch einen Gedanken. Aber die Verdrängung hatte noch einen Grund. Einige Wochen vorher, während Freud sich in der Stadt Trafoi befand, bekam er die Nachricht, daß ein Patient von ihm wegen Sexualstörungen sich das Leben genommen hatte. Aber dieser traurige Vorfall war ihm im Moment der Diskussion nicht bewußt. Unbewußt bilden Trafoi und (Bol)traffio eine (anagrammatische) Reihe, die die verdrängten Gedanken von Freud mit dem Namen Boltraffio verbinden. Freud hatte im Kopf die berühmten Fresken von Signorelli, aber er fand den Namen nicht. Diese Fresken stellen das Jüngste Ge­ richt dar, das Urteil Gottes des Herrn: Die «guten» werden be­ lohnt, während die «bösen» (Ausbeuter, Geldgierige, Huren, Verprasser usw.) sehr plastisch und sinnlich-sadistisch von Dämo­ nen gepeinigt werden. D. h. es geht um die Darstellung der Grundtriebe in ihrem Verhältnis zum Gesetz und zum Wort: den Eros und den Thanatos. Nach diesen Analysen formulierte Freud die Arbeitshypothese, daß das Vergessen des Namens nicht zufällig war, sondern es gab ein unbewußtes Motiv dafür. Aus Methodengründen muß hier der Begriff des Zufälligen er­ läutert werden; das bedeutet zuerst, daß etwas ohne einen «be­ deutenden» Grund geschieht (aber es gibt immer einen Grund). Ein nicht zufälliges Verhältnis ist notwendig, d. h. ein nicht cha­ otisches, sondern organisiertes und vorhersehbares Verhältnis. Die Realität ist immer eine Mischung aus beidem. In unserem Fall existiert das Zufällige auf der bewußten Ebene weiter, aber jedes menschliche Erleben findet auf zwei unterschiedlichen Ebenen statt, auf der unbewußten und auf der bewußten Ebene. Das, was dem Bewußten als zufällig erscheint, ist nicht notwen­ digerweise für das Unbewußte zufällig, denn letzteres kann zunächst nie vorhergesehen und geplant werden und ist die Quelle der Spontaneität (aber auch der Zwangsmechanismen). Das Unbewußte äußert sich immer wie ein «Störsender» dazwi­ schen und bringt unerwartet gute oder schlechte Überraschun­ gen mit sich. So wird das Paradoxon aufgelöst, daß ein Phäno­ men gleichzeitig zufällig und notwendig ist. Der Begriff der Dif­ ferenz ist hier wichtig: Es geht um zwei strukturell verschiedene Ebenen, die der Alltagsdiskurs verwechselt. In der Erklärung des Namensvergessens betont Freud, daß er et­ was vergessen wollte und statt dessen etwas verdrängte, das ist

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ein Unterschied. Aber er wollte etwas anderes als den Namen Signorelli vergessen: Das waren gewisse unangenehme Gedan­ ken bezüglich seines Verhältnisses zum Leben (Sexualität) und zum Tod, Gedanken, die er nicht erwähnt. Dieses «etwas» entfal­ tete in seinem Unbewußten seine autonome Dynamik mit dem Ergebnis, daß Freud von seiner bewußten Absicht abgelenkt wurde. Die Namen Botticelli und Boltraffio bildeten so eine Übersetzung, ein Substitut des Namens im Sinne eines Kom-promisses, der einen Widerspruch und eine Ambivalenz verdeckt: Die zwei Namen erinnern sowohl an das, was Freud vergessen wollte (Tod, Sexualität), als auch an das, woran er sich erinnern wollte. Der Kompromiß bedeutet, daß die Intention Freuds et­ was zu vergessen, weder mißlang, noch ganz gelang, und diesen Charakter tragen alle Handlungen und Symptome der Subjekte. Das Schema von Freud reproduziert die Grundmechanismen des Unbewußten: die Verdichtung und die Verschiebung. Die zwei Silben «Signor» bekamen durch ihre Übersetzung ins deutsche Herr eine vielfache Beziehung zum verdrängten Gedanken (Ver­ dichtung). Signor ist eine Übersetzung, eine Über-tragung des verdrängten Gedankens. Andererseits bildet der Sprachausdruck «Herzegovina und Bosnien» eine Brücke, über welche der unbe­ wußte Wunsch unabhängig vom «Inhalt» sich verschob', von Her(zegovina) gelangte er zu Bo(snien), das eine neue Verdich­ tung bildete: Botticelli und Boltraffio (wobei letzterer Name selbst wieder eine Verdichtung enthält: Bo und traffio (Trafoi)). Wichtig ist hier die Tatsache, daß für die Bildung eines Namens­ substituts schon eine Reihe genügen würde. In unserem Beispiel existieren aber mehrere Reihen gleichzeitig und dies führt zu einer stabileren Bildung von Substituten in der psychischen Realität. Diesen Mechanismus nennt Freud «Überdeterminie­ rung»,24 und er spielt auch in der sozialen Realität eine wichtige Rolle. Die soziale Realität überlappt sich mit der physischen Realität und verdoppelt sie metaphorisch, während der systemische Me­ chanismus der einen schon genügt, damit gewisse Phänomene zustande kommen: Jedes Phänomen ist somit einerseits ein Kompromiß widersprüchlicher Tendenzen, während es anderer­ seits die Überdeterminierung mehrerer Ebenen darstellt. Dies ist besonders klar bei der Ideologiebildung: Die Herrschaftsverhält­ nisse werden durch die Phantasmen der Subjekte überdetermi­ niert. Die soziale Realität ist keine «Ursache» oder «Widerspie­ gelung» der psychischen Realität (und umgekehrt), sondern die

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eine übersetzt die andere ständig in einem endlosen Kreis von Interpretationen und Mißinterpretationen und (zeitlichen und topischen) Verschiebungen und Entstellungen. Die verdrängten Gedanken «existieren» andererseits nicht unab­ hängig von ihrer Übersetzung mittels der Symbole, der Signifi­ kanten: In unserem Beispiel bilden der Name Signorelli und sein Vergessen den Vorwand, damit der verdrängte Gedanke sich äußert. D. h. das verdrängte Element (Gedanke und Trieb) hat einen dynamischen Charakter und drängt zur Rückkehr an die Oberfläche des Bewußtseins; dies geschieht immer in der Form der Verkleidung mittels der Verdichtungen und Verschiebungen, infolge der psychischen und der sozialen Zensur (die miteinan­ der nicht identisch sind). Das, was das Bewußtsein eines Subjekts als «Sinn» betrachtet, gilt für das Unbewußte nicht: Letzteres hat die Eigenschaft, daß es sich für das Bewußtsein durch den Un-sinn äußert, d. h. durch das Spiel mit den Buchstaben und den Silben, ohne den eventuellen bewußten Sinn dieser Signifikanten-Kombinationen (Wörter und Sätze) zu berücksichtigen oder indem das Unbe­ wußte sie auf eine «verfremdete» Weise verwendet. Jeder Unsinn ist aber nicht ein Produkt des Unbewußten: Im Alltag produzie­ ren die Subjekte ständig bewußt Unsinn. Durch den Unsinn, d. h. den Witz, das Paradox, das Symptom, läßt das Unbewußte einen «anderen», vergessenen Sinn hören, d. h. hier funktioniert die Dialektik von Sinn und Unsinn (nicht des Irrationalen): Jeder (bewußte) Sinn setzt einen unbewußten «Unsinn» oder eine «Verrücktheit» voraus, welche er negiert (bzw. verdrängt). Oft ist dieser Unsinn «vernünftiger» als der Sinn, der meistens die psy­ chischen und sozialen Zwänge reproduziert. Der Mechanismus des Unbewußten unterscheidet somit nicht zwischen dem «Normalen», dem «Verbrecherischen», dem «Pa­ thologischen» und den «Schöpferischen»: Diese Unterscheidun­ gen verlangen nach zusätzlichen Kriterien. Die Unterscheidung normal/pathologisch ist jedoch z.T. problematisch geworden, weil sie medizinische und physikalische Begriffe außerhalb ihres semantischen Feldes verwendet, ohne sie metaphorisch zu ver­ stehen; so wird sie wiederholt zum Mißbrauchsinstrument für politische Unterdrückungsmaßnahmen: Religiöse, politische oder intellektuelle und kulturelle Dissidenten werden oft als «pathologische» Subjekte angesehen (Inquisition, Faschismus, Stalinismus).

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Das, was aber in der klinischen Praxis als «Abweichung» be­ trachtet werden kann, ist das Ausmaß der Tendenz zur SelbstZerstörung: Die Subjekte enthalten ein unterschiedlich starkes Selbstzerstörungspotential (und parallel dazu der Zerstörung des Anderen). So haben die «normalen» Subjekte ein «Mittel­ maß» an Selbstzerstörungstendenzen. Andererseits kennzeich­ nen sich oft die «schöpferischen» Subjekte und die seltenen Ta­ lente vor allem durch einen starken erotischen Trieb gegenüber den Objekten ihres Interesses, so daß sie «um jeden Preis» ent­ schlossen sind, ihr Werk gegen alle Widrigkeiten zu verteidigen und nicht vor dem ersten Hindernis zu kapitulieren. Oft aber existiert hier der tragische Fall, in dem die starke Kreativität nur dann etwas leistet, wenn das Subjekt gleichzeitig sich selbst zer­ stört: Hier verlangt das Werk ein Selbstopfer. Das Beispiel Signorelli stellt die zwei Achsen der Sprache deut­ lich dar. Die zwei Mechanismen des Unbewußten, die Verdich­ tung und die Verschiebung, sind nichts anderes als die Form, die die Metapher und die Metonymie im Unbewußten annehmen. Die Verschiebung25 betrifft immer den Gegenstand des Begeh­ rens, der ständig sich verschiebt und verändert, entweder er selbst oder seine Äußerungen. Sie bedeutet hier genauer die Ver­ schiebung des psychischen «Schwerpunkts» vom Notwendigen zum Zufälligen, vom Ergebnis zur Ursache, vom starken zum schwachen, vom Bedeutenden zum Unbedeutenden, vom Großen zum Kleinen, vom Ziel zum Mittel, vom Zentrum zur Peripherie, von der Negation zur Affirmation, vom Ganzen zum Teil, und umgekehrt. Auf diese Weise wird das Bewußtsein (und die Zensur die es mit sich bringt) «unterwandert» und das Ob­ jekt des unbewußten Begehrens kommt «unbemerkt» durch und wird nur für erfahrene Augen und Ohren verraten. Freud er­ wähnt viele Beispiele,26 wie die einsame Jungfer, die ihre Liebe auf die Tiere überträgt, den Junggesellen, der fanatischer Brief­ markensammler wird, den Soldaten, der mit seinem Leben ein Stück farbiges Tuch verteidigt (die Fahne), Othello, der patholo­ gisch eifersüchtig wurde, nachdem er das Handtuch von Desdemona fand, den Fetischisten, der einen Körperteil bzw. einen Gegenstand, der mit ihm in Nachbarschaft steht, «anbetet», schließlich den Paranoiker, der jedes zufällige Ereignis, als etwas gesetzmäßiges ansieht, das sich bewußt und ausschließlich gegen ihn richtet. Das «Komplott der dunklen Kräfte» ist in der sozialen und politischen Psychologie ein bekanntes Phänomen: der Antisemitismus, der Populismus, die Verfolgung der natio-

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43 nalen, religiösen, sprachlichen und sozialen Minderheiten, all dies bedeutet die Verschiebung der Aggressivität bestimmter Be­ völkerungsgruppen auf den Anderen, und gleichzeitig die Ver­ schleierung der realen durch eine imaginäre Ursache. Hier müssen besonders vier Fälle erwähnt werden: a) Die Verwechslung von Ursache und Wirkung ist eines der Pro­ bleme des wissenschaftlichen Denkens, welches überwunden werden muß. Die «Alltagslogik» sieht in der Regel die Verhält­ nisse zwischen den Sachen verkehrt: D. h. sie sieht sie so, wie sie sie sich wünscht. Das bildet den Ursprung der Mythologien und der Vorurteile. b) Die richtige Einschätzung des Verhältnisses Teil/Ganzes spielt eine große Rolle, weil in der Regel die Subjekte sich mit dem Teil begnügen müssen, sie können nie «alles» (d. h. die imaginären Ansprüche und Totalerwartungen) realisieren, immer fehlt et­ was, und nur weil etwas fehlt, begehren die Subjekte etwas. Der Gegenstand des unbewußten Wunsches ist immer abwesend für das Bewußtsein. Die Sophismen und die Denkfehler rühren oft von der falschen Induktion her, während umgekehrt nur eine korrekte Induktion fehlerhafte Verallgemeinerungen wie z. B. «(alle) Amerikaner sind Imperialisten», «(alle) Sozialisten sind Stalinisten», «(alle) Türken sind Barbaren» usw. widerlegen kann. Solche Sätze entsprechen dem Problem der «Volksseele». c) Die Verschiebung des psychischen Schwergewichts vom Ziel aufs Mittel findet statt, wenn das Mittel zum Selbstzweck und verselbständigt wird, etwas sehr gewöhnliches im Alltag. Ande­ rerseits ist nicht jeder Gegenstand, den die Menschen erreichen wollen, ein «Mittel» zum «Zweck»; es gibt die höheren, sublime­ ren Verhältnisse der Menschen zu sich selbst, zu den anderen und zu den Produkten des Geistes, welche sich nicht instrumen­ talisieren lassen, sie dienen keinem «Zweck» und sind ein Selbst­ zweck. Die Kritik der instrumentellen Vernunft aber bedeutet keineswegs ihre Dämonisierung und totale Ablehnung. Sie ist immer in ihrem Bereich legitim und wird nur dann problema­ tisch wenn sie über ihre Grenze hinausgeht. Eine Art der Verschiebung ist auch die Rationalisierung.27 Ein Mensch haßt z. B. den anderen und als «Erklärung» dafür unter­ stellt er ihm böse Absichten, während umgekehrt, weil er den an­ deren haßt, deswegen unterstellt er ihm böse Absichten. Dies ist in der Politik sehr gewöhnlich: Die eine Partei «rechtfertigt» ihre Tätigkeit mit den unterstellten bösen Absichten des Gegners oder des Feindes. Wenn es beide Parteien gleichermaßen tun, als

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ob der andere das eigene Spiegelbild wäre (siehe das Imaginäre), dann werden beide zwanghaft zu einer Überbietung und Eskalie­ rung der Lüge und der Gewalt verführt. d) Eine andere Form des Verhältnisses Signifikant/Signifikat ist das Verhältnis zwischen den Aussagen und der Aussage. Ein Hauptmerkmal des Unbewußten besteht darin, daß in ihm der Signifikant bzw. das Aussagen dominieren, während das Signifi­ kat oder die Aussage ins Bewußtsein übergeht. Das sprechende Subjekt ist deswegen konstitutiv gespalten und «existiert» nur dadurch, daß es und wie es sich «äußert» und nicht sosehr was es äußert (oder nicht). Diese Spaltung wird klar, wenn z. B. das Subjekt, obwohl es «gute» Absichten hat, dennoch auf die Art und Weise wie es sie äußert bzw. realisiert, das Gegenteil er­ reicht. Die Psychoanalyse beginnt immer mit dem Hören dessen, was die Subjekte gewöhnlich vernachlässigen: Das «daß» und das «wie» und nicht das «was» sind der Schlüssel zum weiteren Verstehen ihrer unbewußten Wünsche. Die Verdichtung28 als metaphorischer Diskurs betrifft das ge­ samte Spektrum der Rhetorik und Ideologie, so wie es bewußt und unbewußt «plausible» Rede- und Denkschemata erzeugt, die das Subjekt verführen und den anderen zwingen sich mit dem Sprecher/Schreiber zu identifizieren. Die Identität des Sub­ jekts (welche mit dem Begehren, die zwei wichtigen Dimensio­ nen des Subjekts darstellen) hat wesentlich einen metaphori­ schen Charakter: Das Subjekt «konstruiert» unbewußt und be­ wußt eine Identität nur vermittels seiner Identifizierung mit «jemand anderem», mit einer Reihe «anderer». Die Verdichtung ist jedoch eine «halb gelungene» Metapher, in der sich ein Term halb versteckt und somit unbewußt einen neuen Sinn erzeugt, der die verdrängten Wünsche verrät. Aber hinter der Verdich­ tung steckt das Subjekt selbst, das nicht wagt, offen das Objekt seines Begehrens einzugestehen und es damit vor der Indiskre­ tion des anderen schützt. Die Gegenstände der Herrschaft oder des Besitzes, oder des reli­ giösen Kultes oder des sexuellen Begehrens werden immer zu Gegenständen des metaphorischen Diskurses, der aber auch in die Ideologie bzw. Mythologie führt. Dies weil alle Gegenstände unbewußt gleichen Ursprungs sind; es geht um die nie zu befrie­ digende Anstrengung des Subjekts, eine Identität zu konstru­ ieren, indem es sich an einen Gegenstand anlehnt, den es für das Absolute hält.

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Verdichtung ist die Ironie: Die subtilste Art der Negation (oder der Lüge) ist etwas affirmativ auszusagen, aber in einem beson­ deren Kontext, so daß einer, der «sieht» und «hört», den «Sinn schnappt». Verdichtung ist jede ambivalente Beziehung zu et­ was, d. h. wenn das Subjekt gleichzeitig etwas liebt und haßt (der starke Haß oder die starke Empörung gegen etwas verhül­ len oft das Gegenteil, und umgekehrt). Hier existiert die Ten­ denz, die Differenz abzuschaffen, so entstehen die mythischen, widersprüchlichen Wesen wie das «Androgyn», der «Herma­ phrodit», die «Zentauren», die phallische Mutter, das Wort «Na­ tionalsozialismus» usw., welche auf imaginäre Weise die unmög­ liche Synthese zustande bringen will (und im letzteren Fall mit der Katastrophe endete). Diese Verdichtungen erzeugen einen neuen Sinn und Phantasmen. Der Mythos des Androgynen bei Plato z. B. repräsentiert die unmögliche sexuelle Harmonie für die Menschen, für die immer «etwas fehlt» und die deswegen auch etwas begehren. Verdichtung ist immer jedes neurotische Symptom: Das Subjekt «existiert» hier nur als Symptom (das seine Identität ausmacht). Aber das Objekt seines Begehrens hat einen ambivalenten Cha­ rakter (Fetisch): Der Gläubige betet das Idol an und gleichzeitig fürchtet (haßt) er es.29 Besonders deutlich ist die Struktur des hysterischen Symptoms,30 das ein Indiz für einen innerpsychi­ schen Konflikt ist; dafür reicht nicht ein äußerer Anlaß aus, um sich zu äußern. Ein hysterisches Symptom (z. B. Ekel, Erröten, Aufregung, Handbewegungen, Lähmung, Erblinden, Taubwer­ den usw.) stammt nie aus einem Erlebnis oder Phantasma, son­ dern ist jedesmal durch die Erinnerung an frühere Erlebnisse oder Phantasmen überdeterminiert. Das hysterische Symptom ist eine eigenartige Befriedigungs­ form eines unbewußten Wunsches. Ein äußerer Anlaß reaktualisiert eine Erinnerung, die eine bestimmte assoziative Beziehung zu einem vergangenen Erlebnis oder Phantasie hat; so bildet sich eine Brücke zwischen dem aktuellen, anwesenden Anlaß und der vergangenen, abwesenden, traumatischen «Ursache». Die Struktur des hysterischen Symptoms ist in ihrer einfachen Form folgende: A/B = C/D; hier ist B die gegenwärtige Abwehr gegen etwas (A), während D die vergangene Abwehr gegen etwas (C) ist. Diese einfache Beziehung von zwei Oppositionen (4 Terme) überdeterminiert und wiederholt sich auf anderen Schichten der psychischen Geschichte, so wie sie im Unbewußten niederge-

46 schrieben ist. Das wesentliche hier ist, daß der stärkste und trau­ matischste Konflikt (Opposition) die Abwehr gegenüber Befrie­ digungsformen der Triebe im ersten Kindesalter (bis fünf Jah­ ren) betrifft, d. h. es betrifft die unvermeidliche, nachträgliche Verdrängung der kindlichen, polymorph perversen Sexualität.31 Die gleiche Form der Überdeterminierung bestimmt auch das Verhältnis der Subjekte zum sozialen Raum: Die Massenhysterie gegen angebliche innere oder äußere Feinde, entsteht dadurch, daß bestimmte Anlässe (Reden, Ereignisse) eine übertriebene Bedeutung für Menschen bekommen, deren persönliche Ge­ schichte bestimmte traumatische, psychisch nicht aufgear­ beitete Stellen aufweist. Weil aber jedes Subjekt, ohne es zu wis­ sen, solche Punkte aufweist, so kann jeder irgendwann mehr oder weniger einer Hysterie erliegen. Die unproportionalen (übertriebenen, «leidenschaftlichen») Reaktionen von Menschen auf politische Ereignisse verraten, daß sie noch nicht gelernt ha­ ben, gegen sich eine Distanz zu bewahren, und ihre Person bzw. die der anderen, von den kollektiven Problemen, gemäß der Ver­ nunft zu trennen. Sie reagieren übertrieben als Erwachsene, aber sie reagieren «normal» als «Kinder».

1.3.2. DER BEGRIFF DES UNBEWUSSTEN



Das korrekte Verstehen und Verwenden des Begriffs des Unbe­ wußten ist von großer Bedeutung, denn er wird in der Alltags­ sprache oft auf eine vulgäre und unkontrollierte Weise verwen­ det. Das Unbewußte in der Freudschen Theorie kann nur mittels eines bestimmten Modells des psychischen Mechanismus ver­ standen werden, in dem das Bewußtsein nicht mit der Psyche identisch ist. Bis heute herrscht jedoch oft in den Sozialwissen­ schaften und in der Philosophie die (hierarchische) Auffassung, daß das Bewußtsein (und das Selbstbewußtsein) das Endziel der Tätigkeiten der Subjekte ausmacht. Hier ist also das Bewußtsein das psychische Zentrum, um das herum es einen Vorhof der «Unbewußtheit» gibt; viele sprechen vom «Unterbewußten» und verwechseln es mit dem Unbewuß­ ten. Aber das «Unterbewußte»32 existiert nicht (wenn es das Freudsche Unbewußte gibt), es ist eine populistische Auffassung der Psychoanalyse, die darin steckt. Das «Unterbewußte» bedeu­ tet etwas, das «unter» dem Bewußtsein situiert ist, von dem es

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aufklärerische Bedeutung des Freudschen Modells entspricht wissenschaftstheoretisch dem Keplerschen Modell in der Astro­ nomie, das die Entdeckung von Kopemikus auf den Begriff ge­ bracht hat. Außerdem, wie Freud betont, bedeutet nach der Kopernikanischen und der Darwinschen Theorie, die Psychoana­ lyse die dritte narzißtische Kränkung des neuzeitlichen Menschen. Das Unbewußte «enthält» topisch das Bewußtsein, es ist wie eine elliptisch umschlossene Fläche, deren einen Brenn­ punkt das Bewußtsein besetzt hält, während der andere Brenn­ punkt leer bleibt. Das Bewußtsein ist also vom Zentrum «ent­ thront», denn es ist «dezentriert» in seiner Position. Andererseits hat zwar das Bewußtsein einen «Vorhof» (das Vorbewußte, den Ort der Sprache nach Freud), aber der wesentliche Unterschied ist ein anderer: der zwischen dem Unbewußten und dem Be­ wußtsein. Diese Differenz kann nie überwunden werden und das letzte Wort hat immer das Unbewußte, das nicht abgeschafft werden kann, auch in einer «besseren» Welt nicht. Das Verhältnis zwischen dem Unbewußten und dem Bewußtsein ist ein zweideutiges Verhältnis von Dialog und Antilog, weder ein Verhältnis von Ursache und Wirkung (Widerspiegelung), noch ein Verhältnis von Mitteln und Zwecken (Funktionalität). D. h. die «Kommunikation» des Bewußtseins mit dem Unbe­ wußten geschieht mittels der Signifikanten, der Symbole aller Art, die ständig vom einen Ort in den anderen zirkulieren und damit einen Dialog des gespaltenen Subjekts mit sich selbst und dem anderen ermöglichen. Das, was im Unbewußten außer dem Bewußtsein existiert, sind die Triebe der Liebe und des Todes, die nur mittels der Symbole dem Bewußtsein bekannt werden. Aber die Triebe sind nicht die Instinkte der Lebewesen, der Tiere, denn die Triebe koexistieren von Anfang an in ihrer Differenz mit dem Sprechen. Der Mensch ist von Anfang an der Sprache «unterworfen» (Sub-jekt), die schon das Unbewußte prägt, denn dieses ist unter anderem wie eine Sprache bzw. Schrift struktu­ riert (siehe die Verdichtung und die Verschiebung). Der Mensch ist nicht «als Mensch» halb Tier, halb Geist (gemäß dem ideali­ stischen Dualismus von Körper und Geist/Seele), sondern er ist jener biologisch und kulturell unangepaßte sprechende Körper, ohne auf Instinkte fixiert zu sein, der aufgrund seiner exzentri­ schen Mangelhaftigkeit eine unbegrenzte Fähigkeit zur Freiheit und zur historischen (nicht naturmäßigen) Entwicklung besitzt. Das Wort, als Sprechen und als rationales Denken, ist die durch­ lässige Grenze zwischen dem Unbewußten und dem Bewußtsein

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oder zwischen dem Liebes- und dem Todestrieb, und ohne seine Vermittlung ist nichts menschlich (dies gegen die irrationalisti­ schen Thesen: Das Unbewußte ist nicht das Irrationale). Der Bei­ trag von Freud wird wesentlich verkannt, wenn die Rede von «Unterbewußtsein» und «Instinkten» ist, denn für ihn ist das Un­ bewußte ein Übergang vom Körper in den Geist, der auf beidem seinen Stempel hinterläßt; es überwindet den klassischen Dua­ lismus33 (Platon, Descartes), aber es behält die Differenz zwi­ schen dem Unbewußten und dem Bewußtsein, die die Bedin­ gung ihres Dialogs ist. Unabhängig vom psychischen Unbewußten gibt es zwei Fälle von Unbewußtheit, die nicht mit ihm verwechselt werden dür­ fen. a) Es gibt immer das biologische Substrat des Körpers, das nor­ malerweise unabhängig vom Bewußtsein funktioniert: das Ner­ vensystem, das System der Reproduktion und der Abwehr der Organismuszellen usw. Es gibt auch Restinstinkte. Dieses biolo­ gische Substrat ist dann der Gegenstand des Diskurses der Hy­ giene und der Medizin. b) Es gibt die nicht-bewußten und nicht kontrollierbaren Pro­ zesse in der Gesellschaft: die Produktionsmechanismen, den Markt, die Regierung, die Bürokratie, die Kulturinstitutionen, die Traditionen usw. Ihr nicht kontrollierbarer Charakter (aber nicht in einem absoluten Sinne, denn sie sind alle nur ausdiffe­ renzierte Subsysteme) rührt von ihrem komplexen Charakter her sowie aus der Unmöglichkeit, «alles» zu kontrollieren (ein para­ noides Phantasma, das ein allmächtiges und allwissendes SuperSubjekt voraussetzt und totalitär wirken würde). Die kulturelle und gesellschaftliche Unbewußtheit verschränkt sich immer mit dem Unbewußten der handelnden und sprechen­ den Subjekte; an diesem Punkt wirken die Religionen und die Ideologien. Dies weil die sozialen Phänomene nie außerhalb des Sprechens existieren, mittels dessen sie die Wünsche und die Ängste der Subjekte in einen anderen Ort «über-setzen». Jede Analyse der sozialen Phänomene und jede Handlungsabsicht setzt die Fähigkeit zur Trennung des Subjektiven vom Sozialen voraus, nur sö kann ein Dialog und Antilog zwischen ihnen ent­ stehen. Daß die Menschen Geschichte «machen», aber daß die Ge­ schichte sie auch «macht», zu dem, was sie sind (wobei «ma­ chen» hier eine metaphorische und nicht instrumentelle Bedeu­ tung hat, die in beiden Fällen aber unterschiedlich ist), ist die

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Voraussetzung der sozialen Wissenschaft und der politischen Praxis. Die erste setzt einen Gegenstand, der (relativ) unabhän­ gig von den bewußten subjektiven Absichten ist, voraus, während die zweite relativ autonome Individuen voraussetzt, die fähig sind, in den «Sachen» zu intervenieren. Die Subjekte schwanken notwendig zwischen diesen zwei Polen, die nie auf­ einander reduzierbar sind, und diese Differenz konstituiert ihre Spaltung, die auch zu Konflikten führen kann. Die gleiche For­ mel gilt auch für die psychische Realität: Das Unbewußte «schafft» das Subjekt, aber der zentrale Gedanke und das Anlie­ gen der Psychoanalyse besteht im Satz von Freud: «Wo Es war, soll ich werden», d. h. da, wo das Unbewußte naturwüchsig wal­ tete, auch durch die Illusion des starken Ich oder Über-Ich hin­ durch, dort ist meine ethische Pflicht als Subjekt anzufangen zu ek-sistieren und mich in meiner Differenz zu den diversen inne­ ren und äußeren Zwängen zu setzen. Dieser Satz umfaßt das Programm der Psychoanalyse: Er bedeu­ tet nicht, daß ich versuchen muß auf voluntaristische Weise et­ was zu werden, sondern, daß ich geduldig den anderen (in mir und außerhalb meiner) höre und sehe, und entschlossen in die Verhältnisse aktiv eingreife, ohne das Wort und die Vernunft zu vergessen. Diese Differenz zwischen Handeln und Hören ist die Grundlage für jede Form von Dialektik, die die paranoide und objektivistische Geschichtstheorie überwindet; für die erste Theorie gilt, daß die Geschichte von «dunklen Kräften» bewußt total kalkuliert und inszeniert wird, während für die zweite Theorie die Geschichte eine einfache Verlängerung der natürli­ chen Evolution darstellt. Nach der Erläuterung des Begriffs des Unbewußten soll sein Funktionieren beschrieben werden. Seine Existenz impliziert folgendes: Eine Vorstellung, die einen Trieb vertritt, der nicht be­ friedigt werden kann oder darf, wird nicht zerstört, sondern vom Bewußtsein verdrängt und findet «anderswo», im Unbewußten, einen Ort, wo sie eingeschrieben wird und von wo aus sie die Ge­ legenheit sucht, um ins Bewußtsein zurückzukehren und auf an­ dere Weise, entstellt, befriedigt zu werden.34 Die Grundbegriffe sind hier: Vorstellung, Trieb, Vertretung, Verdrängung, Wieder­ kehr, in ihnen ist die Dynamik des Unbewußten enthalten. Vorstellung und Vertretung (representation) sind synonyme Be­ griffe: Ein Signifikant vertritt immer das Subjekt für einen ande­ ren Signifikanten, der seinerseits das Objekt des Triebes desi­ gniert.35 Das Wort «Vorstellung» ist hier der Freudschen Termi-

50 nologie entnommen und ist heute mißverständlich, da es dem Signifikat entspricht. Deswegen ist der Lacansche Signifikant heute ein adäquaterer Ausdruck der Verhältnisse im Unbewuß­ ten. Die Signifikanten «vertreten» die Objekte der Triebe, so daß die zweiten für den Menschen nicht ohne die ersteren «existie­ ren»: Signifikant und Triebobjekt sind gleichursprünglich. Die menschliche Sexualität ist nur scheinbar der tierischen Sexua­ lität «ähnlich», was die erste verändert, ist die Vermittlung des Wortes, die bewirkt, daß jeder empirischer Gegenstand begeh­ renswert sein kann, weil er fehlen (real oder imaginär), abwe­ send sein kann. Es liegt aber in der Natur der Sprache, alles für den Menschen zum Objekt des Fehlens und der Einbildung zu verwandeln, denn sie benennt die abwesenden Sachen und sie verunmöglicht jeden unmittelbaren Zugang zu ihnen. Diese Dia­ lektik des Wortes mit dem Begehren existiert bei den Tieren nicht, ist aber die Quelle der Phantasie und der Abstraktion, d. h. des metaphorischen und des analytischen Diskurses. Der Funktionsmechanismus des Unbewußten ist universell und gilt sowohl bei den «normalen» als auch bei den «nicht-norma­ len» Menschen. Der Beitrag der Psychoanalyse liegt darin, daß sie die wesentliche Gleichartigkeit der Psyche aller Menschen aufgezeigt hat, obwohl sie gerade die jeweils individuelle Aus­ prägung der Psyche bei jedem Menschen zum Mittelpunkt ihrer Praxis gemacht hat. Die Dialektik der Psychoanalyse besteht darin, daß die Lapsi, die Symptome usw. für ihre Erklärung ihre Inbeziehungsetzung mit anderen unbewußten Gedanken und Phantasmen sowie Handlungen verlangen, und dies hat zwei Folgen: das Aufscheinen eines neuen Sinns und die Möglichkeit einer erfolgreichen praktischen Intervention in die Symptom­ struktur (Veränderung bzw. Sublimierung).36 Das Unbewußte stellt die innere Äußerlichkeit der Subjekte dar, und zu ihrer Erforschung ist die geeignete Methode erforderlich; es ist die freie, assoziative Rede, die sich an den anderen richtet, jeden anderen, der der Sprache mächtig ist. Der psychische Me­ chanismus besteht wesentlich aus zwei Gruppen von Elementen: Aus den Signifikanten und Bildern und aus den Trieben (die sich bewußt als Gefühle äußern). Die Triebe können aber niemals als solche zu Objekten des Bewußtseins werden, sondern nur ver­ mittels der Bilder und Signifikanten die sie bewußt repräsentie­ ren.37 Ein Trieb kann leicht verkannt werden, weil er mittels der Ver­ drängung des Signifikanten, der ihn vertritt, gezwungen wird,

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51 sich an eine andere Signifikantenkette «anzulehnen», so daß das Bewußtsein hier die Verhältnisse verkennt. Freud hat die Triebe in den Lebens-/Liebestrieb und den Todes-/Destruktionstrieb unterteilt.38 Der Liebestrieb ist aber zusammengesetzt infolge der zuerst sich manifestierenden kindlichen Sexualität, die den Geschlechterunterschied noch nicht wahmimmt. Lacan hat die Erkenntnisse Freuds darin systematisiert, indem er von vier Par­ tialtrieben spricht, denen je ein spezifisches Partialobjekt zuge­ ordnet wird. Die «Objekte» sind nicht empirische Objekte, sie sind «unerreichbar» als solche, aber sie bilden immer den Kem der Phantasmen, die alle empirischen Objekte für das Begehren mit Bildern und Vorstellungen einkleiden. Dem Oraltrieb entspricht die Mutterbrust (nicht: die Mutter) als Objekt, dem Analtrieb das Exkrement, dem Trieb des Sehens der Blick (nicht: das Bild), dem Trieb des Hörens die Stimme (nicht: das Wort). Die Sexualität der Erwachsenen integriert mehr oder weniger diese «Objekte» und stellt sie unter den Primat des «Phallus», der nicht das männliche Glied ist, sondern der Signi­ fikant des Begehrens überhaupt, und somit der Signifikant des Mangels, d. h. der sexuellen Differenz der Geschlechter. Diese sind jedes für sich genommen unvollständig, aber auch zusam­ men genommen bilden sie keine «Harmonie», da das Sprechen sie verunmöglicht. Die Partialtriebe sind aber der Stoff, aus dem die Zivilisation gebaut wird, denn sie müssen sublimiert, d. h. transformiert werden mittels der Signifikanten. Dies geschieht nie vollständig, und ihre mangelhafte Umsetzung kann dann zur Perversion oder zur Neurose führen. Auf jeden Fall aber bedeu­ ten diese «Objekte» nicht nur körperliche Teile und Empfindun­ gen, sondern ebensosehr geistige und ethische Tätigkeiten und Eigenschaften. Ein Sexualtrieb kann nicht «unterdrückt» werden (repression ist eine Schlechte englische Übersetzung des Wortes «Verdrän­ gung»); er kann im Fall der Verdrängung des Signifikanten zum Objekt der Hemmung werden, und plötzliche Verlusterlebnisse lösen Ängste aus, die dann zu der Hemmung führen und als Symptom sich äußern. Wichtig ist hier die Strukturdifferenz zwi­ schen Signifikant und Trieb: Die Signifikanten (S) sind psychi­ sche Besetzungen der Erinnerungsspuren, während die Triebe den Entladungsprozessen (Ausdruck, Handlung) des Subjekts, das sie als Gefühle erlebt, entsprechen. Diese Differenz ent­ spricht derjenigen zwischen den zwei Achsen der Sprache: Die paradigmatische Achse ist die Achse des Gedächtnisses, der Ver-

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gangenheit, während die syntagmatische Achse, die Achse des Handelns in der Gegenwart ist, die aber schon die Zukunft unter der Berücksichtigung der Vergangenheit enthält: Jede Zukunft ist die Ankunft (avenir) von Etwas und eine partielle Wiederho­ lung der «Vergänglichmachung» der Gegenwart. Der «Sinn» ent­ steht nachträglich, wenn ein Satz, eine Handlung «vollendet» ist, und zur Vergangenheit schon gehört. Die Signifikanten (S) aber existieren in allen drei Modi der Zeitlichkeit und damit stellen sie die Einheit der Identität und des Begehrens der Subjekte her. Diese strukturelle Differenz ist keine «Substanz»- oder «Inhalts»differenz: Die gleichen Materialien der Triebe und der Signifi­ kanten zirkulieren von der einen Achse zur anderen und von einem Subjekt zum anderen. Dies ermöglicht auf der kollektiven Ebene die Differenz zwischen Ideologie (Weltanschauung) und Religion, Kunst oder Mentalität zu verstehen. Das Subjekt ist immer gespalten: Es erlebt den unbewußten Teil seiner selbst als etwas «fremdes»; dies ist «normal» und reduziert sich gerade nicht auf die pathologischen Fälle von Selbstentzweiung. Das Bewußtsein dominiert (nicht absolut) und zensiert die Triebe und die Signifikanten nach innen (als Gefühle) und nach außen (als Körperbewegungen).39 Das Bewußtsein ist jedoch kein «Or­ gan» der Außenwelt: Das Unbewußte selbst «drängt» spontan zur Bewußtseinsbildung, und gZezc/z-zeitig unterwandert sie es (denn es kennt den Widerspruch nicht). Das Bewußtsein «existiert» innerhalb des Raums des Unbewuß­ ten, obwohl das erste dazu tendiert das zweite zu vergessen. Die Subjektspaltung entsteht auf der primären Ebene der Triebe und bildet gleichzeitig die Existenzbedingung der Signifikanten: Der sexuelle Trieb spaltet sich selbst, ein Teil von ihm wendet sich gegen den anderen Teil,40 und dies bedeutet, daß es den To­ destrieb gibt, d. h. das was die spontane Negativität im Men­ schen ausmacht. Der Todestrieb muß hier richtig verstanden werden: Es gibt seine (selbst-)destruktive Form und es gibt seine «konstruktive» Form. Letztere bedeutet die Destruktion-imDienst-des-Lebens, die Trennung und Negierung als Bedingung des Aufbaus der Kultur und des Lebens. Beide Formen aber kön­ nen sich miteinander vermischen. Auf der Ebene der Signifikanten bedeutet die (konstruktive) Ne­ gativität die «Negation», das Nein-sagen-Können-und-Wollen; auf der Ebene der persönlichen Geschichte bedeutet sie die Trennung des Kleinkindes von der Mutter. Diese Trennung führt das Kleinkind dazu, aufzuhören ein Parasit der Mutter zu sein;

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sie muß im späteren Leben bei vielen Anlässen wiederholt wer­ den. Die Trennung führt in die Psyche des Kleinkindes die Kate­ gorie der Negation ein; auf der Ebene des Unbewußten ist das die sogenannte Urverdrängung*' die die Möglichkeitsbedingung aller späteren Verdrängungen schafft, d. h. auch der Entstehung des Bewußtseins und der (mehr oder weniger) «normalen» Psy­ che. Diese «dramatische» Entwicklung (da sie in jedem Moment gefährdet und gestoppt werden kann) in der Geschichte jedes Subjekts beschreibt Freud als «Gegenbesetzung» des Lebens­ triebs: Damit der chaotische und uferlose Lebenstrieb eine Form bekommt, muß er sich selbst beschränken und das erlebt das Subjekt traumatisch. Das zukünftige Bewußtsein hält von An­ fang an einen Teil des Sexualtriebs «gefangen» und wendet es gegen den Rest, indem es unbewußt den Todestrieb dazu be­ nutzt. Um den Triebbegriff genauer zu begreifen, muß erwähnt wer­ den, daß im Unbewußten ursprünglich der Liebestrieb (Sexua­ lität, Sozialität) und der Todestrieb (Selbstdestruktivität und Ag­ gressivität) nebeneinander und diffus koexistieren; der eine kann plötzlich in den anderen übergehen, die Liebe wird zum Haß, oder koexistiert mit ihm, das ist für die Vernunft etwas Skan­ dalöses. Die weitere Entwicklung der psychischen «Welt» (die sich auf der kollektiven Ebene der Kultur, unter Bewahrung aller Unterschiede, wiederholt) bedeutet die Einführung einer «Ord­ nung» (der Vernunft oder/und der nichtidentifikatorischen Liebe) in den Raum der Triebe durch eine Differenzierung und Um-grenzung. Die Negation ist immer eine doppelte'. Eine Ableh­ nung gewisser roher Aspekte der kindlichen Sexualität (die spä­ ter in die Sexualität der Erwachsenen mehr oder weniger inte­ griert bzw. in Kulturwerken sublimiert wird) und gleichzeitig eine Ablehnung der Gewalt (zuerst innerhalb des eigenen Stam­ mes, später universell). Später werden die sexuelle Liebe, die sublimierte Liebe (Agape) und die Gewaltformen ausdifferen­ ziert, es wird der Anspruch formuliert, daß die Gewalt durch das Gesetz (die Vernunft) und die Liebe kontrolliert bzw. überwun­ den werden muß. Die psychische Zensur entsteht früher und unabhängig von der sozialen und politischen Zensur (dies gilt nicht absolut). Hier herrscht oft eine Konfusion in der Diskussion darüber; jede die­ ser zwei Zensurformen besitzt ihre eigene Dynamik, und die so­ ziale Zensur existiert nur infolge der vorgängigen Existenz der psychischen Zensur; letztere schafft die Fähigkeit zur Verdrän-

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gung. Die soziale Zensur kann und soll beschränkt und verän­ dert werden, die psychische Zensur zwar auch, aber sie kann nicht «abgeschafft» werden. Denn sie entspricht der Diskretion und dem Schutz der «geheimen», privaten Aspekte der Psyche jedes Individuums, das mit jedem Mittel gegen die Indiskretion und Manipulierbarkeit seitens der anderen geschützt werden muß. Die psychische Zensur entspricht der Abwehr gegen die Psychosen, natürlich wenn sie gewisse Grenzen nicht über­ schreitet, weil sie dann ins Gegenteil umschlägt; die Aufhebung der psychischen Zensur entspricht aber der Aufhebung und Zer­ störung der Vernunft, die die Dominanz des selbstzerstöreri­ schen Chaos im Menschen zur Folge hat; dies kann aber einen gewissen ästhetischen Reiz haben, jede Beschönigung des Wahns oder der Gewalt hat jedoch einen ideologischen, nihilisti­ schen Charakter. Andererseits hat die psychische Zensur einen plastischen Charakter: Sie muß nur in einem bestimmten, ele­ mentaren Maß strukturell da sein, d. h. als die Fähigkeit zur Schani und zum moralischen Gewissen (Schrecken und Ekel sind noch ursprünglichere Formen). Sie darf aber nicht als ein tyrannisches Über-Ich, als der innere Polizist und Selbstfolterer existieren. Die übersteigerte Selbstdisziplin (die zur Selbstre­ pression führt) hat die gleichen katastrophalen Folgen wie die fehlende Selbstdisziplin. Jedes Herrschaftssystem fördert die psychische Zensur und nutzt sie aus. Man darf aber nie die strukturelle Differenz beider Zensuren vernachlässigen; die Bekämpfung der sozialen Zensur setzt immer die Existenz eines moralischen Gewissens und einer Scham bei den Individuen voraus, sonst ist ihr Protest und Wi­ derstand dagegen ein Akt der Willkür. Die Individuen müssen zwischen beiden Ebenen unterscheiden können; der Terroris­ mus (religiöser, rechter, linker) ist jener psychische «Kurz­ schluß» (individuell und kollektiv), bei dem das moralische Ge­ wissen gerade durch seine Hypertrophie zusammengebrochen ist, und die soziale Willkür mittels der absoluten Willkür der kal­ ten Gewalt bekämpft. Wir erwähnen jetzt die Hauptmerkmale des Unbewußten: a) Das Unbewußte kennt nicht die Verneinung und die logische Verwerfung des Widerspruchs;42 b) Es wird durch die ständige Beweglichkeit und Veränderlich­ keit der Triebe gekennzeichnet;43 c) Es kennt nicht die Zeitlichkeit und die zeitgemäße Reihe der Ereignisse;

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d) Es berücksichtigt nicht die soziale und die natürliche Realität, sondern sucht nur die Lust und den Genuß;45 e) Es hat einen starken plastischen Einfluß auf den Körper.46 All dies hat bestimmte Folgen für die Subjekte. Andererseits ver­ sucht das Unbewußte Substitute für alle in ihm «fehlenden» Funktionen. Das zeigt die Traumanalyse; das Unbewußte hat eine «schwache» Ordnung und diese «nicht strenge» Logik hat schließlich das letzte Wort, gerade dann wenn die starke Logik des Bewußtseins sie ignorieren will. Zu a) Daß das Unbewußte die Negation nicht kennt, bedeutet, daß es gleichzeitig (oder nacheinander) die Affirmation und die Negation nebeneinander setzt. Das geschieht in Träumen und Mythen, in denen die Toten leben, ohne aufzuhören tot zu sein usw. Das Unbewußte «kennt» den Tod nicht, vergißt nichts, un­ terscheidet nicht die Lüge von der Wahrheit (drängt aber wohl zur Wahrheit/Enthüllung, wenn das Subjekt lügt, und umge­ kehrt verhüllt es einen Teil der Wahrheit, wenn das Subjekt sie aussprechen will), kennt den «Sinn» nicht, den es vom «Unsinn» (Wortspiel) nicht unterscheidet, kennt den Unterschied der Ge­ schlechter nicht. Das Unbewußte ist die Bedingung der Dialektik und der Ästhetik, seine «Inkonsequenz» kann durch die Ausdif­ ferenzierung der Diskurse in mehreren Ebenen aufgelöst werden (für das Bewußtsein): Der «lebende Tote» (Vampir usw.) kann in der Phantasie «leben», aber nicht in der «Realität», so bekommt das Wort «Leben» zwei unterschiedliche Bedeutungen. Die Dif­ ferenzierung ist die Vernunft, die auch im Unbewußten veran­ kert ist (als Signifikantenkette), aber dort nicht dominiert. Die Vernunft ist jedoch nicht mit dem bewußten Ich identisch, sie ist fundamentalerer Natur. Das Fehlen an Widersprüchlichkeit be­ deutet vor allem die Koexistenz von Liebe und Haß auf der glei­ chen Ebene, während die Urverdrängung psychisch die Opera­ tion darstellt, die die logische Negation einführt.47 Zu b) Die Beweglichkeit der Signifikanten erscheint mittels der Verschiebung und der Verdichtung. Das Unbewußte ist «poeti­ scher» Natur und kennt nicht die Begriffe, den analytischen und «vernünftigen» Diskurs; die Begriffe bedeuten eine Fixierung der Metaphern, aus denen sie stammen, und ihre genaue Umschrei­ bung mittels des systematischen Vergleichs mit der «Realität». Aber jeder Begriff, insbesondere die theoretischen Begriffe, stammt aus Metaphern, und das Unbewußte «übersetzt» sie ent­ weder als Metaphern oder als Buchstabenspiel.

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Zu c) Das Nicht-Wissen von der Zeit bedeutet nicht, daß das Un­ bewußte keine Geschichte hat, im Gegenteil, es ist die Akkumula­ tion des historischen Gedächtnisses des Subjekts, das immer «le­ bendig» ist und in die Gegenwart und die Zukunft hineinreicht mittels der Wiederholung der Symptome und der Wiederkehr der verdrängten Signifikanten. Aber das Unbewußte behält weder die logische noch die zeitliche Reihe der Phänomene, sondern organisiert sie ständig um, mit dem Ziel, die immer (partiell) un­ erfüllten Wünsche, durch die in ihm gespeicherten Spuren zu ar­ tikulieren, und es verwendet diese Materialien anders, metapho­ risch und metonymisch, wie im Film, mit Rückblenden, ohne Berücksichtigung der Zeitfolge. Die «Wahrheit» des Subjekts artikuliert sich nur so. Die U-topie ist der Nicht-Ort, der der Nicht-Zeit des Unbewußten entspricht: Der Zeitraum in dem jede Art von Widerspruch fehlt, ist das «Paradies» und die «Hölle» in einem. Zu d) Die Ersetzung der äußeren Realität durch die innere (psy­ chische) Realität, bedeutet das Nicht-Wissen des Mangels’, im Unbewußten fehlt nichts. Aber durch Trauerarbeit kann der Mangel partiell darin eingeschrieben werden. Hierin besteht der zweideutige Charakter des Unbewußten: Das Subjekt kann im Namen des Lustprinzips48 die äußere Realität (insofern sie ihm Widerstand leistet) als trocken, repressiv und langweilig verwer­ fen. Aber hier kann das Subjekt entweder Recht, oder Unrecht oder beides haben (auf unterschiedlicher Ebene). Wer entschei­ det hier? Denn das Realitätsprinzip ist andererseits der Schutz gegen Autismus und Selbstverlust; hier eröffnet sich der Raum für den ethischen Diskurs. Zu e) Der plastische Einfluß des Unbewußten auf den Körper führt in die Symptome der Hysterie, Hypochondrie, Psychoso­ matik, oder in die Halluzinationen; es geht um die halboffene Grenze zwischen dem Biologischen und dem «Menschlichen». Die Existenz des Unbewußten hat schwerwiegende Folgen für die geistige, schöpferische Tätigkeit und die Wahrnehmung der geistigen Produkte durch das Subjekt. Die Lektüre eines Textes «berührt» das Subjekt nur dann wenn es ihm Lust bereitet und ihm die Gelegenheit gibt, in den Wörtern und zwischen den Zei­ len, das wiederzufinden, was es immer sucht: die Lösung der Rätsel, die es immer ist. Wenn es bei der Lektüre Schwierigkei­ ten empfindet, dann bedeuten diese immer, daß das Subjekt auf etwas antwortet, das ihm unangenehm zu erfahren ist, und des­ wegen es unter Hemmungen und Verdrängungen leidet. Die

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Schwierigkeit eines Textes bedeutet, daß die Lektüre das erste Mal mangelhaft war und Lücken hinterließ. Eine Wiederholung der Lektüre ist erforderlich, und einen Text der einem etwas zu sagen hat, liest man wieder. So findet das Subjekt etwas darin, das es immer gesucht hatte, im Gegensatz zu den flachen und einfachen Machwerken, die man leicht vergißt. Daraus kann eine Strategie des Lesens entwickelt werden: Der Text muß intel­ lektuell und ästhetisch anziehen, das Subjekt «identifiziert» sich mit dem Text, bleibt vor den «leeren» Stellen (den schwierigen Stellen) nicht stehen und verzweifelt daran nicht, sondern es fährt fort zu lesen und versteht nur einen Teil; es wiederholt dann das gleiche Unternehmen mehrere Male. So führt es einen Dialog mit dem Text, macht Entdeckungen und schließlich ist das Subjekt fähig, selbst etwas neues zu erzeugen: einen neuen Text.

1.3.3. DER NARZISSMUS, DAS IMAGINÄRE, DER ANDERE (a)

Freuds Denken ist durch mehrere Phasen hindurchgegangen, während dessen sich die Grundbegriffe der Psychoanalyse all­ mählich herausbildeten (das Unbewußte, die Wiederholung, die Übertragung, der Trieb). Freud hat am Anfang die Existenz von zwei Trieben angenommen: den Sexualtrieb und den Selbster­ haltungstrieb (zu dem der Aggressionstrieb gehört). Der erste orientiert sich an der Suche eines Objekts, um dadurch einen Wunsch zu befriedigen, während der zweite das «Ich» mit seiner Abwehrtendenz und dem Streben nach Herrschaft über die Na­ tur und die Menschen vermittels der Arbeit und des Krieges be­ setzt. Hier wird schon der Unterschied zwischen Begehren und Identität deutlich. In der Praxis aber gibt es einen Übergang und eine Mischung zwischen ihnen. Dieses erste Modell ist zu ein­ fach, um die Feinheit der seelischen «Welt» erfassen zu können; so differenzierte es Freud anschließend in zwei Stufen weiter. Die Entdeckung des Narzißmus (1914)49 bedeutete einen Wende­ punkt für die psychoanalytische Theorie und Praxis. Er bedeu­ tet, daß das «Ich» (das nicht mit dem Bewußtsein oder dem Sub­ jekt identisch ist) nicht nur die verdrängende, zensierende, rea­ gierende, abwehrende Instanz ist, sondern vor allem anderen zuerst ein Objekt der Liebe für das Subjekt selbst ist. Es ist sein liebstes Objekt, bis zu dem Punkt, daß das Subjekt alles andere

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vergessen kann. So wurde die erste Triebunterscheidung relati­ viert. Der Narzißmus wird wiederbelebt und verewigt vermittels des Verhältnisses der Eltern zu ihren Kindern. Dies in dem Maße in dem sie ihre Kinder «anbeten». Aber auch jedes erotische oder freundschaftliche Verhältnis impliziert eine «Verblen­ dung»: Der andere ist Projektionsfläche für die «frommen Wün­ sche» des Subjekts, d. h. es sieht ihn so, wie es sich wünschen würde, daß der andere sei, nämlich «vollkommen», weil diese Vollkommenheit die Anerkennung und die Bestätigung seines ei­ genen Wunsches nach «Vollkommenheit» ist. Dieser war aber schon der Wunsch der Eltern, und dann ihrer Eltern usw. Die Umkehrung davon, die Vernachlässigung und die mangelhafte Liebe/Idealisierung der Kinder seitens der Eltem/Erzieher, führen jedoch die Kinder in die Neurose bzw. Psychose (wie das mit den Asyl- und Gefängnisinsassen häufig der Fall ist; ihre aso­ zialen Symptome zeugen von der psychischen Verwahrlosung). Die narzißtische Idealisierung des anderen (und des Selbst) ist bis zu einen gewissen Grad notwendig und unvermeidlich; wenn sie jedoch ein bestimmtes Maß übersteigt, dann wird sie so (selbst-)destruktiv wie ihr Gegenteil, das Fehlen der Idealisie­ rung. Der Kem des «Ich» besteht aus dem Gefühl der Allmacht und der Allwissenheit, welches ein unauslöschlicher Rest der Kindheitsphantasmen bleibt. Dieses Gefühl projizieren die Men­ schen anfangs nach außen, auf die Götter, später auf die großen Männer, und hier ist der Ursprung jeder Form von Macht und Herrschaft. Der Größenwahn und die Verwerfung der Realität «so wie sie ist» kennzeichnen vor allem die Psychotiker. Diese Haltung existiert auch bei den Kindern und den primiti­ ven Völkern (ohne, daß diese beiden Menschengruppen psycho­ tisch wären). Die Tendenz der Primitiven und die Tendenz aller Menschen, die in einer Masse integriert sind, nach Leichtgläu­ bigkeit, Personen- und Objektenkult, Fanatismus, Hysterie usw. sind charakterisiert durch die Überschätzung der Macht der Wünsche und der seelischen Vorgänge. Es geht um die «All­ macht der Gedanken»,50 den Glauben an die magische Kraft der Wörter, d. h. um die seelische Haltung, die die «Wirksamkeit» der Magie bedingt. Die Magie, die etwas anderes als die Religion ist, existiert immer latent als eine Denkweise, und jedes Versa­ gen der Vernunft kommt ihr zugute und verstärkt sie wieder. Freud hat dann schließlich den Todestrieb (1920)51 entdeckt, der etwas grundlegenderes ist als der Aggressionstrieb: Er ist vor al­ lem anderen die selbstdestruktive Tendenz jedes Menschen, die

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sich dann als Hang zur Destruktion der Außenwelt und der an­ deren Menschen äußert. Diese Tendenz ist ein Aspekt des Nar­ zißmus: Die höchste narzißtische Befriedigung ist der Selbst­ mord, weil hier das Subjekt sich von der «störenden» Präsenz der anderen «befreit». Diese «wilde Dialektik» der Triebe kann nur durch eine andere Dialektik, die Dialektik der Vernunft (oder der nicht identifikatorischen Liebe) verwandelt und einge­ schränkt werden. Die religiösen und politischen Terroristen, in­ dem sie die Vermittlung der Vernunft verwerfen, reproduzieren die primitive Gewalt sowie den Mythos der Gewalt. Die Befriedigung des Todestriebes (welche nicht unvermeidlich ist wie die des Liebestriebes) ist immer sehr stark, wenn sie in ihrer «reinen», «ästhetischen» Form stattfindet, denn sie bedeu­ tet eine tiefe narzißtische Befriedigung. Die Faszination des Fa­ schismus und der Gewalt besteht gerade hierin, denn der Fa­ schismus betrachtet die Politik und die Gewalt als einen «ästhe­ tischen» Gegenstand. Der selbstdestruktive Trieb mäßigt sich und verändert seine Richtung auf zwei Weisen; entweder orien­ tiert er sich an äußeren Objekten, an der Herrschaft der Natur (die nicht mit Zerstörung identisch ist), an der biologischen Be­ friedigung der Überlebensbedürfnisse; das schließt auch die legi­ time Herrschaft über Menschen ein. Oder er orientiert sich als Sublimierung an höheren Kulturformen, die die symbolische Mangelerfahrung erlauben: Dichtung, Kunst, Philosophie, Wis­ senschaft, Religion, oder als (immer kurzlebige) Erfahrung der Versöhnung mit dem anderen. Die Sublimierung gilt aber nur dann als solche, wenn jene Tätig­ keiten von instrumentellen Zwecken frei sind. Das schließt je­ doch den Narzißmus des kreativen Menschen ein; der Unter­ schied zum elementaren oder neurotischen Narzißmus liegt darin, daß das sublimationsfähige Subjekt es versteht, trotz sei­ nes Narzißmus eine Erfahrung des Mangels produktiv umzuset­ zen. Die Destruktivität ist aber immer die Unfähigkeit und die Weigerung des Subjekts, den Mangel, der infolge des Sprechens für den Menschen konstitutiv ist, zu akzeptieren. Der Narzißmus stützt sich auf einer konkreten klinischen und empirischen Erfahrung, die Lacan im Spiegelstadium 52 beschrie­ ben hat. Jedes neugeborene Kind beginnt im Alter von ca. 6-18 Monaten plötzlich die «Einheit» seines Körpers wahrzunehmen, d. h. das Körperbild als imaginäre Identität, welche in den Mo­ naten davor nicht existierte. Diese Wahrnehmung wird ermög­ licht, falls das Kind vor einen Spiegel gehalten wird, ist aber kein

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biologisch determinierter Reifungsprozeß. Das Kind «erkennt» «sich selbst», «sein» Bild im Spiegel als seines, etwas, das kein Tier tut, d. h. es «adoptiert» sein Bild. Dieses Erlebnis führt dann das Kind zum Jubilieren und zum Gefühl der Allmacht, indem es versucht zu stehen und seinen bis dahin unkoordinierten Kör­ per zusammenzuhalten. Aber es wendet sich dann an den Ande­ ren (Mutter, Vater oder ein anderer Erwachsener), um in seinem Blick die Anerkennung und die Bestätigung (das Lob) seiner «Großtat» zu finden. Dieser anerkennender Blick des Anderen (groß A) ist schon etwas, das auf das Symbolische hinweist. Der Spiegel hat hier eine metaphorische Bedeutung: Es handelt sich nicht um eine mechanische, biologische, äußere Ursache; der Spiegel ist der andere (klein a) das ähnliche Wesen, durch dessen Bild das Subjekt sein «Selbst» findet. Das «Selbst», das «Ich», die «Seele» ist dann die Verlängerung des körperlichen «Ganzen», das in dieser Stufe erscheint. Dieses «Stadium» ist kein Reifungsstadium, sondern ein konstitutives Moment des Subjekts, das was Lacan die Instanz des Imaginären nennt; das Schicksal des Menschen ist, daß er sich unvermeidlich vom Bild des anderen gefangennehmen läßt. Dies weil das Verhältnis des Subjekts zum Bild des anderen, das auch sein Selbst ist (insofern das Selbst auch nur ein Bild im Spiegel, wie das Bild des anderen, ist), ein ambivalentes Verhält­ nis von Anziehung und Abstoßung, von Liebe und Haß bedeutet. Hier haben ihren Ursprung der Neid, die Eifersucht, die Nei­ gung zu Herrschaft und Selbstbeherrschung (nicht: Selbstdiszi­ plin), die Konkurrenz, die Neigung zur Anarchie, die die Umkeh­ rung der Neigung zu Herrschaft ist. Allgemein gilt, daß jede Vor­ zeichenumkehrung, jede Polarisierung im menschlichen Denken und Handeln, sowie die Dominanz der Figur des schönen Ganzen, des Einen als des Ganzen, die Dominanz des Ima­ ginären bedeutet. Das Subjekt ist fasziniert vom Bild des anderen und seiner selbst, es verliebt sich in es und sucht oder findet in ihm eine imaginäre Vollkommenheit, aber das Subjekt verliert sich gleich­ zeitig, «entfremdet» sich in diesem Bild; so fühlt es sich unter­ drückt und gestört, weil es in der Tat in Abhängigkeit von jenem Bild geraten ist. So tendiert das Subjekt dazu, das Bild zu zer­ stören, und hier liegt das Drama des Sadismus, des Masochis­ mus, der Paranoia, der gegenseitigen Quälerei und Verführung in einer dualen Beziehung. Diese kann Konkurrenz, Antagonis­ mus Kampf um Anerkennung (die immer auf einer Verkennung

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basiert) sein, d. h. ein Verhältnis zwischen Brüdern, Eltern und Kindern, sich Liebenden, Freunden, Kollegen, Genossen usw. Das Bild des anderen kennt nicht den anderen, als den sprechen­ den Anderen mit dem man Übereinkommen kann, und kennt ebensowenig die Differenz des Geschlechts und die Differenz zwischen Leben und Tod. D. h. es kennt nicht die Unvollkom­ menheit des Menschen als einer «exzentrischen Positionalität» in der Natur, ebensowenig den Mangel und den Tod. Statt dessen «polarisiert» das Imaginäre auf der einen und «totalisiert» es auf der anderen Seite die Subjekte und die Objekte; so kennt es statt der Differenz und des Mangels nur die vielen «Differenzen» des Prestige, der Macht und des Eigentums: kompakte Einheiten, zwischen denen eine Polarisierung herrscht. Der andere ist immer der gleiche, das imaginäre Bild der Pola­ rität, oder der Fülle ohne Mangel, des Ganzen, das das Eine ist; es provoziert den Schrecken der «lebenden» Toten, oder der to­ ten «Lebenden», die Verführung des «androgynen» Transvesti­ ten, die todesträchtige Faszination des Narziß, der sich in sein Bild im Wasser verliebte und sich dann im See ertränkte. Das Imaginäre ist trotz alledem ein notwendiges Moment, weil ohne es das Subjekt zum Chaos der Psychose (Schizophrenie) regrediert; hier gilt wie immer die Notwendigkeit des Maßes: Der starke Narzißmus führt zur Paranoia, d. h. zur ebenfalls psy­ chotischen Spaltung (die nicht mit der «normalen» Subjektspal­ tung zu verwechseln ist) des Subjekts zwischen «sich selbst» und dem «anderen», seinem Verfolger, der sein gedoppeltes «Selbst» ist (oder vervielfältigt: viele Spiegel, viele Individuen in der Masse). So ist für das, was «ich» tue, immer der «andere» «schuld», dem ich meine Schuld auflade. Ich schlage ihn und sage: «du hast mich geschlagen» (Transitivismus), und ich unter­ stelle ihm böse Absichten, die meine bösen Absichten sind, die ich auf ihn verschoben (projiziert) habe und damit meine Ge­ walt gegen ihn rationalisiere. Der andere ist immer der Fremde, der Komische, der Merkwürdige: Er ist schuld, weil er fremd, an­ ders ist, unabhängig davon was er tut. Das Subjekt konzentriert hier seine diffuse Aggressivität auf eine Kategorie von Menschen oder Sachen, die auf diese Weise seine Aggressivität ihm gegen­ über personifizieren und vertreten. Sie erscheinen als «dunkle Mächte» (Okkultismus, Terrorismus) und es herrscht eine Perso­ nifizierung aller Verhältnisse in der Natur und in der Kultur (Fe­ tischkult), als auch die Fixierung auf äußere, physiognomische Merkmale (Vorurteile, Rassismus gegenüber denjenigen, die

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eine andere Hautfarbe, Nasenform, Augenform usw. als das nar­ zißtische Vorbild der Gruppe haben). Andererseits führt der feh­ lende Narzißmus zum vielfachen Zerstückeln der Schizophrenie: Hier verschwindet die elementare Einheit des Geistes und des Körpers (seines Bildes in der Vorstellung des Subjekts über sich selbst); das Subjekt erlebt die alptraumhaften Halluzinationen des zerstückelten53 Körpers, hört Stimmen, sieht Erscheinungen usw. Das Phantasma des zerstückelten Körpers (das in vielen Verbrechen realisiert wird, bzw. als Metapher in Zeiten der Auf­ lösung des «sozialen Körpers» Angst und Panik auslöst) steht hinter der Anziehung bzw. Abstoßung der Gewalt. Dreierlei muß hier betont werden: 1) Das «Ich» ist imaginärer Herkunft (wie auch das «Über-Ich», sein «Herr»), und ist der Ort der Abwehr und der Verkennung der Realität. Gegen die klassische Philosophie, die das Ich als die Instanz des Bewußtseins und des Wissens betrachtet, entlarvt die Psychoanalyse das Ich als das, was das Begehren des Sub­ jekts verkennt (das das Ich vertritt). Sowohl der Egoismus als auch der gewöhnliche Altruismus (die Sorge um «sein Seelen­ heil») sind Formen der Verkennung. 2) Hier hat ihren Ursprung die «Entfremdung» in der HerrKnecht-Dialektik (in der «Phänomenologie des Geistes» von He­ gel): Der Herr ist der andere des Knechts und umgekehrt; der Knecht wünscht unbewußt oder bewußt den Herrn zu ersetzen und ihn zu töten, so verewigt er aber die Herrschaft und die Ge­ walt (Lumpenproletariat). Der Herr ist andererseits abhängig vom Knecht, weil er dessen Dienste und Wissen nötig hat. Das Verhältnis von Herr-Knecht hat zwar universelle Bedeutung; hi­ storisch ist es aber in der traditionellen Gesellschaft lokalisiert, so daß das Verhältnis Kapitalist-Proletarier eine andere, abstrakt und über Sachen vermittelte Herrschaft voraussetzt, die starke anale Züge trägt. Das Verhältnis Herr-Knecht basiert auf der unbewußten Tendenz zu herrschen und sich zu unterwerfen, die jeder Mensch in sich trägt, nämlich einen «Polizisten», das Über-Ich, in seinem Inne­ ren zu haben, das sein Ich kontrolliert, und ihm vorschreibt, was er tun soll. Wie kann dieser tödliche und sterile Dualismus über­ wunden werden? All die Modelle des dualistischen (und holisti­ schen) Denkens in Religion und Politik werden durch diesen Mechanismus geprägt (siehe die Konkurrenz zwischen Kirchen, Nationen, Parteien, Gruppen usw.). Es ist nicht nur ein Phäno­ men, das man bei Kindern, Primitiven und Verrückten beobach-

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tet, sondern es existiert gleichermaßen bei den sogenannten Er­ wachsenen, «zivilisierten» und «normalen» Menschen. Die Zivi­ lisation besteht in der kontinuierlichen Bemühung um Mäßi­ gung des Imaginären und um Veränderung seiner Figuren; ihre Ergebnisse sind jedoch immer zerbrechlich und zweideutig, da es auch die Gegentendenzen gibt, so besteht immer die Regressi­ onsgefahr und die Möglichkeit des Rückfalls in die Barbarei. 3) Der Begriff der Identität hat hier ihren Ausgang. Das Subjekt bekommt im Laufe seines Lebens eine «Identität», indem es sein «Selbst» mit dem idealen Bild von einem anderen identifiziert und es nach dessen Muster unbewußt «konstruiert», wobei es gleichzeitig ein anderes Bild, das Bild des «Fremden», mit dem es sich negativ identifiziert, verwirft. Das Subjekt verwirft als «fremdes» all das was seine geschlossene und «harmonische» Welt stört. Hier sieht man die grundsätzliche Ambivalenz in der Beziehung zum anderen und zum fremden; das Subjekt «liebt» und «haßt» gleichzeitig den anderen. Es wird aber nicht von außen «beeinflußt», es nimmt nur jene Elemente, welche es schon innerlich begehrt, wahr. Die Vulgärpsychologie des Alltags (Zeitungen, Medien, Cafes, etc.) erwähnt ständig die Bedeutung des «Charakters» oder der «Rolle» des Subjekts. Das ist die Kumulierung vieler (guter und schlechter) Eigenschaften und Teilmerkmale, mittels der Wie­ derholung und der Gewohnheit. Der subtilste Fall von Verken­ nung und Verdrängung der Realität und des Begehrens besteht in der (guten oder schlechten) Gewohnheit. Diese kann zwar für den bewußt organisierten Alltag der Subjekte in der Gesellschaft unentbehrlich und nützlich sein; so versuchen die Subjekte «ge­ wöhnlich» irgendeine «Identität» zu haben, so wie sie der an­ dere verlangt. Der andere ist aber hier die «Gesellschaft» mit ihren Zwängen (Gruppen, Familie, Klasse, Nation etc.), d. h. der «Durchschnittsbürger» mit dem «gemeinen Verstand» und dem Massenkonformismus. Die Identität ist der «Agent» der Gesellschaft, wie auch das Über­ leb in der Seele des Menschen; aber die andere Dimension des Subjekts ist das Begehren. Dieses läßt sich nicht vorschreiben, sondern nur die Identität. In der modernen Gesellschaft be­ schweren sich gewöhnlich die Individuen darüber, daß sie «Iden­ titätsprobleme» haben und so verschieben sie das eigentliche Problem. Der Begriff des Begehrens führt statt dessen weiter, mittels seiner Dialektik. Es gibt «verrückte» oder «absurde» Wünsche, diese sind jedoch nicht das «letzte Wort» des Subjekts,

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denn solange es «lebt», begehrt es, und solange es begehrt, lebt es; so sucht es ständig und gelegentlich findet es jenes Objekt, das den Wunsch befriedigt, der das Subjekt zum «existieren» bringt. Dies geschieht nur dann, wenn das Subjekt sein Begehren mit dem Anspruch des anderen nicht identifiziert. Die irrationalen Wünsche sind dafür ein Indiz, daß sie durch «Identitätspro­ bleme» verhüllt und dadurch verkannt werden: Nur die Arbeit mit dem Symbolischen gegen diese Probleme ermöglicht die Entdeckung des wirklichen Begehrens, d. h. der Freiheit des Subjekts. Das Fehlen an Freiheit besteht für das Individuum darin, daß es Kompensationen für seine (realen oder imaginären) Mängel sucht und findet, d. h. es versucht sie zu überdecken, um für sich oder den anderen das imaginäre Bild der angeblichen Fülle und Vollkommenheit herzustellen. Hier hat seinen Ursprung der so­ genannte «Minderwertigkeitskomplex» (bzw. sein Gegenteil), der kein Freudscher Begriff ist, sondern ideologischen Ur­ sprungs ist. Es ist die Haltung des Knechts (oder des Kleinbür­ gers), der seinen Herrn beneidet, ebensosehr tut das der niedere Beamte gegenüber dem höheren Beamten, der Neureiche gegen­ über dem Aristokraten, der eine Mann gegenüber dem anderen Mann usw., denn der erste will den zweiten ersetzen. Dies, an­ statt zu begreifen, daß bei niemandem der Mangel fehlt, daß der soziale Kampf (um Gerechtigkeit) einen anderen Sinn hat, daß die sozialen Konventionen immer ein ideologisches Klima schaf­ fen, dem sich die Individuen freiwillig unterordnen, denn sie wollen Erfolg, Prestige, Macht und Reichtum haben. Dies, weil sie nicht begriffen haben, daß das Problem anderswo liegt, und weil sie ihr eigenes Begehren noch nicht entdeckt haben, unab­ hängig davon, was der «andere» will. Wenn man nur auf der Ebene des Imaginären bleibt, dann bleibt man einer eindimensionalen Sicht der psychischen und der so­ zialen Phänomene verhaftet. Was die Möglichkeit einer Über­ windung dieser Sicht schafft, ist das Wort, das die inneren und äußeren Herrschaftsverhältnisse in Frage stellt: sowohl das ana­ lytische als auch das metaphorische Wort.

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1.3.4. DAS GESETZ, DAS SYMBOLISCHE, DER ANDERE (A)

Die Analyse des Imaginären hat gezeigt, daß in ihm die Subjekte unweigerlich in der Sackgasse landen. Die einzige Möglichkeit den Teufelskreis der dualen Auseinandersetzung mit dem ande­ ren (bzw. der ganzheitlichen Verschmelzung mit ihm) zu durch­ brechen, besteht darin, daß ein Anderer, ein Dritter existiert, der zwischen den zwei Gegnern oder Feinden vermitteln5* wird (ohne jedoch die Differenz zwischen ihnen abzuschaffen). Der Andere erfüllt seinen Status nur, wenn er spricht, wenn er die Regeln des Sprechens akzeptiert und sie durch Überzeugungsar­ beit und mit friedlichen aber dezidierten Mitteln bei den beiden anderen durchsetzt. Jeder Gegner hat aber schon den Anderen vor sich, in dem Maße wie der eine und der andere sprechen. Die gleiche Rolle spielt jedoch ein drittes Subjekt, das den Anderen sichtbar vertritt. In der Psychoanalyse ist das Unbewußte zunächst der Dritte, jener merk-würdige Fremde, der die Schwächen des «Ich» und des «Über-Ich» entblößt. Lacan hat die Konsequenzen analysiert, die das Vorhandensein des Symbolischen für das Subjekt und die Gesellschaft hat. Das Subjekt verwendet hier die Sprache nicht instrumentell und funktional (das in jeder Gesellschaft in den Arbeits- und Organi­ sationsverhältnissen stattfindet), sondern im Gegenteil, das Sub­ jekt befindet sich gänzlich in der Sprache, die ein Medium ist, das es «umschließt». Das Bedürfnis nach Artikulation ist für das Subjekt die Notwendigkeit, sein Begehren und seine Angst durch das Sprechen zu äußern; es ist die älteste und fundamentalste Erfahrung des Subjekts, und sie beginnt beim «Anfang», im Mo­ ment der Geburt, d. h. sie ist keine «Phase» die nach dem Spie­ gelstadium kommt, sondern sie koexistiert mit ihm. Das Subjekt ist schon «in» der Sprache, im Symbolischen, vor seiner Geburt, passiv, von dem Moment an, in dem es ein Objekt des Begehrens (oder der Verwerfung) seiner Eltern wird; diese sorgen dafür, daß es einen Namen bekommt sowie einen Platz in der Gesellschaft: Sein «Schicksal» ist schon vor seiner Geburt (teilweise) festgelegt. Die erste aktive Erfahrung des Subjekts mit dem Wort, ist der Schrei des Neugeborenen, das die Hilfe des Anderen, der Mutter, des Vaters (oder ihrer funktionalen /symbo­ lischen Substitute) herbeiruft. Der Schrei (der vieles bedeuten kann) bildet mit dem Stillsein, dem Schweigen, eine erste se-

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mantische Opposition, die schon die Sprache als System struk­ turiert. Der Andere erscheint hier als derjenige der entweder an­ wesend sein und (mit Nahrung, Streicheln und Worten) helfen kann, oder abwesend und damit Objekt der Sehnsucht und des Begehrens sein kann: Diese semantische Opposition ist der Weg, durch den das Wort in das Subjekt eingeschrieben wird. In der Präsenz überlappt sich das Symbolische mit dem Imaginären: Der Andere wird gleichzeitig der andere, der verführerisch, ab­ stoßend, unterdrückend oder indifferent sein kann. Die Hauptfunktion des Symbolischen besteht in der Altemanz zwischen Präsenz und Absenz des Anderen, als auch in ihrer Wiederholung. Die Abwesenheit ist das Hauptmerkmal des Sym­ bolischen. Unter «Abwesenheit» ist hier die Abwesenheit des «Dings», ursprünglich der Mutter für das Kleinkind (unabhängig vom Geschlecht). Aber das Spiel Präsenz-Absenz bildet allge­ mein den Stoff der Sprache; indem der Mensch die Sachen be­ nennt, «entfernt» er sie, er kann sie immer benennen, während sie abwesend sind, und dies ist das Hauptziel der Sprache: die Befreiung von der aufdringlichen Präsenz der Sachen. «Sache» ist hier der andere Mensch oder der eigene Körper des «Ich» oder allgemein die Existenz von Etwas. Freud beschreibt, wie es das Kleinkind vermittels des Spiels schafft, seine Angst gegenüber dem Fehlen der Mutter, allgemein dem Mangel, zu beherrschen (es gibt aber auch das Gegenteil: die Angst vor ihrer aufdringlichen, bedrückenden Präsenz); von da an wird das sein Existenzmodus sein. Der Mangel ist ein Er­ gebnis der Existenz der Sprache, während sie andererseits den Grund für jedes Begehren und jede Kreativität hergibt; der «Mangel des Mangels» bedeutet dann den Tod des Subjekts, das mit Angst darauf reagiert, diese ist gerade der Mangel des Man­ gels. Das Subjekt sucht immer und ersetzt das, was fehlt, mit et­ was anderem, es erfindet es symbolisch. Aber diese Ersetzung ist keine imaginäre Kompensation, wenn sie nicht dahin tendiert den Mangel zu verdrängen, sondern ihn kreativ zu verschieben. Freud beschreibt55, wie ein Kleinkind (sein Enkel) die Gewohn­ heit hatte, verschiedene Objekte zu verstecken, z. B. Spulen mit Fäden. Es sprach aber gleichzeitig den Vokal «o-o-o-o» während es anschließend rannte und die Spule, die an einem Faden hing, wiederfand, und fröhlich schrie «Da». Das Kind wiederholte das Spiel viele Male, und die semantische Opposition «o-da» be­ deutete hier «Fort-Da». Es inszenierte somit die wiederholte Al­ temanz von Absenz/Präsenz der Mutter und gleichzeitig führte

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es die Sprache als ein Mittel zur Beherrschung der Situation ein. Die Sprache ist das einzige Mittel, das durch das Gedächtnis Ge­ schichte schreibt, infolgedessen auch eine symbolische Identität gibt, jenseits der imaginären Identifizierung mit dem anderen; das Subjekt überwindet somit seine Angst, denn es sucht eine symbolische Stütze, um «existieren» zu können (als Mensch). Das Kleinkind triumphiert über seine Angst, indem es selbst die Absenz der Mutter inszeniert. Gleichzeitig entfernt es sich von ihr und von der dualen, imaginären Beziehung zu ihr und schafft durch die Sprache und die Handlung einen anderen Raum, den Raum des Anderen, der der Ort des Vaters als eigener symbolischer Funktion ist. Der symbolische Vater ist nicht not­ wendigerweise der biologische Vater, er ist derjenige, der das Kind von der Mutter als der Dritte trennt.56 Die Erfahrung der Abwesenheit ist ebenfalls die symbolische, metaphorische Erfahrung des Todes, die erste Begegnung mit seiner Möglichkeit und kontingenten Unvermeidlichkeit. Lacan formulierte dies, indem er sagte, daß das Symbol (der Signifi­ kant) der «Mord der Sache» sei; von dem Moment an beginnt das Subjekt die Sache zu «begehren». Begehrenswert ist etwas, nur weil es abwesend sein, fehlen kann.51 Eros und Thanatos sind hier «Zwillingstriebe», die aber, damit das Subjekt leben kann, durch das Wort vermittelt werden müssen: Das Subjekt wieder­ holt die gleiche Bewegung unter immer neuen Formen, mit dem Ziel, das «verlorene Objekt» zu erfinden; das war die Mutter, nicht «an sich», sondern die aus der Kindheit. Die Fähigkeit des Subjekts zum Genießen und zur Emanzipation setzt die Operation seiner Trennung vom anfänglichen Objekt so­ wie die Überwindung des Phantasmas der paradiesischen Fülle und Vollkommenheit voraus. Jedes demagogische Versprechen von Macht, Reichtum, Fülle, Unvergänglichkeit, Unsterblichkeit, Apathie usw. ist eine Form dieses Phantasmas, das die unter­ schiedlichen sozialen Mythen der Herrschenden und der Be­ herrschten konstituiert. Ihr psychischer Grund ist aber infantiler Natur. Das Akzeptieren des Wortes als des hauptsächlichen Mit­ tels zur Kommunikation und zur Besinnung bedeutet vor allem anderen die Ablehnung der blinden Gewalt und der blinden Triebe, und die Annahme des Mangels, welcher anstatt das Ge­ nießen zu verhindern, ihm überhaupt eine Form verleiht, indem er ihm eine Grenze setzt. Die Abwesenheit bedeutet auch Abstand, die symbolische Di­ stanz von den Sachen; die Selbstdistanzierung des Subjekts ist et-

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was anderes als die «Entfernung» des imaginären Bildes des an­ deren. Dieses verlangt seine «Entfernung», die ihm eine Aura verleiht und es somit zum Gegenstand der fetischistischen Anbe­ tung oder des Hasses macht, d. h. Gegenstand eines positiven oder negativen Vorurteils. Die Subjekte beten an und unterwer­ fen sich einer Person, die sie nicht aus der Nähe kennen, und sie hassen «ohne Grund» diejenigen, die sie nicht kennen. Jeder Emanzipationsversuch der Menschen aus repressiven ge­ sellschaftlichen Verhältnissen mißlingt notwendigerweise und reproduziert sie, in dem Maße die Menschen die Differenz zwi­ schen dem Symbolischen und dem Imaginären bei sich selbst nicht begriffen haben; sie müssen die imaginären Formen der sozialen Institutionen in Frage stellen, aber sie gleichzeitig von den symbolischen Formen unterscheiden und ihre eigenen Phantasmen von Allmacht und Gewalt in Frage stellen. Weil es immer dieses doppelte Mißverständnis gibt, deswegen gibt es immer die Notwendigkeit eines neuen Beginns und der Wieder­ holung der Anstrengung durch jede neue Generation. Das «Sub­ jekt» ist ein «Produkt»58 der Sprache, die seine symbolische Möglichkeitsbedingung darstellt. Es handelt sich um eine nicht informative Sprache, sondern zuerst um eine evozierende Spra­ che der Besinnung. Es ist die Dimension, in der das Subjekt zu sich selbst und zum Anderen spricht, jenseits des anderen, d. h. der imaginären Projektionen und des «Theaters», das es notwen­ digerweise spielt (Lügen, Inszenierungen, Sophismen, Ostentationen usw.). Hier stellt sich die Frage nach der Wahrheit, als eines Schnitts in der Kette der bewußten und unbewußten Lü­ gen. Die «unschuldigste» Art der Lüge ist die Verdrängung des Begehrens und der Identität des Subjekts durch sein «Ich». Man muß hierbei zweierlei unterscheiden; das Subjekt, immer gespal­ ten, ist ein Produkt der Sprache, während das «Ich», immer einheitlich, ein Produkt der Phantasmen und der sozialen Ein­ flüsse und Repressionen ist, selbst dann, wenn ihnen das Sub­ jekt widersteht. «Produkt» bedeutet hier ein Verhältnis zwischen zwei Signifi­ kanten. Das Subjekt, um eine Konsistenz zu haben, identifiziert sich ursprünglich mit einem Anderen: dem «Ichideal» (dem Va­ ter, oder der Mutter, bzw. ihren Substituten). In der Folge exi­ stiert das Subjekt nur, insofern es im Dialog, in einem Verhältnis zum Anderen steht, dem er seinen Namen präsentiert. Die Subjektspaltung rührt von der Tatsache her, daß es ein Ver­ hältnis zwischen zwei Signifikanten ist und daß die unauslösch-

69 liehe Differenz zwischen dem Unbewußten und dem Bewußtsein existiert. Diese Differenz verschiebt und reproduziert sich auf mehreren Ebenen: in der Sprache und in der Gesellschaft. In der Sprache ist es die Differenz zwischen dem Signifikanten und dem Signifikat, oder zwischen dem wie der Aussageform und dem was der Aussage.60 Das Subjekt tendiert immer dazu, hinter dem Inhalt seiner Worte oder Taten zu verschwinden; das, was es dazu bringt seine Existenz nicht zu vergessen, ist die Konti­ nuität der Existenz seines Körpers und sein Name61 und sein Ge­ dächtnis (unbewußtes und bewußtes Wissen). Das, was es aber wirklich «begehrt» und «ist», scheint im wie seiner Worte und Taten durch, d. h. in der Inkonsistenz und in der Differenz (Ver­ schiebung, Verdichtung und Entstellung) zwischen ihnen. Die Identität setzt die Differenz Unbewußtes/Bewußtsein voraus und kann sie nicht auslöschen, sondern nur scheinbar, mit List und Gewalt. Die Differenz drückt sich im sozialen Raum als die Differenz zwischen der Herrschaft und dem Gesetz aus. Sie ist wesentlich und wurde bei Marx, Nietzsche und Weber bewußt übersehen: Es ist die Differenz zwischen dem Imaginären und dem Symbo­ lischen. Das Gesetz setzt das Wort und den Anderen voraus. Un­ ter Gesetz verstehen wir hier nicht den positivistischen, bloß le­ galistischen Begriff des Gesetzes, sondern allgemein, sowohl das ungeschriebene als auch das geschriebene Gesetz in ihrer Ein­ heit und Differenz, als den Prozeß der unaufhörlichen Neuein­ schreibung des Gesetzes mittels der Reformen und Revolutionen und der Überwindung seiner Idealisierung. Das Gesetz bindet die Subjekte durch das gegenseitige Versprechen der Einhaltung des gegebenen Wortes: Sie ver-antworten sich dem Anderen im Sym-bol (Vertrag, Kontrakt) und im Syn-tagma (Verfassung, Konstitution), welche eine bestimmte Form der Gerechtigkeit garantieren, die immer unvollkommen und historisch bedingt ist, aber die Willkür des Einen oder der Vielen ausschließt bzw. einschränkt. Das Gesetz stellt die Herrschaft in Frage, zumindest die nicht le­ gitime Form von ihr: Das Recht auf gewaltsamen Widerstand gegen die Willkür rührt von hierher, es bedeutet aber nie die sek­ tiererische und kalte Gewalt der Terroristen gegen Personen und Institutionen der Republik und des Rechtsstaates. Die anar­ chisch-terroristische Gewalt ist ebenso willkürlich wie die dikta­ torische Gewalt und sie «legitimiert» sich mit der scheinbaren Gleichsetzung der immer unvollkommenen Demokratie mit der

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Diktatur. Aber entweder ist das, was sich Demokratie nennt, eine Demokratie oder sie wird nie existieren; die (rechten und linken) Terroristen sind Idealisten, sie anerkennen den Mangel und das Gesetz nicht. Die Folge des Terrorismus ist die Abschaffung bzw. die Einschränkung der Demokratie und die Einsetzung eines totalitären Einparteienstaates, und das hat verheerende psy­ chische Folgen, denn die Menschen «gewöhnen» sich daran, die Gewalt als «normal» und «unvermeidlich» anzusehen. Die per­ manente Krise der Demokratie und der Kultur im 20. Jahrhun­ dert mit der Anomie, Kriminalität und Entfremdung, die sie kennzeichnen, führen zu einer Unterhöhlung der Demokra­ tie von innen her: Denn auch hier wird das Gesetz nicht respek­ tiert. Ein sophistisches Argument der Terroristen behauptet, daß gegen die staatliche Gewalt, die Gewalt der organisierten Indivi­ duen einen Widerstandsakt darstellt. Aber in der Demokratie ist der Staat nicht etwas monolithisches und es gibt in ihr andere Mittel des Widerstands gegen die Willkür; die extreme Haltung ist eine imaginär-dualistische, apokalyptische Haltung gegen­ über dem «anderen» im Spiegel. Diese Polarisierung basiert auf der Ideologie aller Terroristen seit dem 20. Jahrhundert, auf der vitalistischen, holistischen Ganzheit, der «organischen» Konsi­ stenz einer Gesellschaft ohne Differenzen und Gegensätze, einem totalitären Phantasma, das den Kompromiß, die Vermitt­ lung, die Verhandlung ausschließt. Das Gesetz kann pervers werden, wenn es diktatorisch wird: Es hat dann nicht die Form des Verbots, sondern die der Vorschrift. Die totalitäre Willkür verbietet nicht, sondern sie schreibt den Individuen vor, was sie tun «müssen», hierin besteht der ganze Unterschied. Das Gesetz ist andererseits ein Diskurs, es muß im­ mer interpretiert und jede Entscheidung mit rationalen Argu­ menten legitimiert werden. Diese Legitimierung ist keine bloße imaginäre «Rationalisierung» (kann es aber werden, wenn das Gesetz zum Komplizen und Instrument der Herrschaft wird). All das ist nicht selbstverständlich: Die Begriffe des Rechtsstaates und der Demokratie sind «polemische» Begriffe und sie wurden im 20. Jahrhundert durch die Theorie und die Praxis des Fa­ schismus und des Stalinismus in Frage gestellt. Das Bild des an­ deren kann die Subjekte anziehen, wenn es ihnen den Eindruck von Allmacht und Vollkommenheit vermittelt; die Subjekte un­ terwerfen sich leicht, weil sie unbewußt strukturell in ihre Kind­ heit regredieren, in der ihre Eltern ihnen als allmächtig erschie-

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nen sind. Diese Tatsache nutzt jede Diktatur und jeder populisti­ scher Führer aus. Was sind die Ideale, die Ansprüche der Demokratie? Die Macht der Demokratie ist gleichzeitig ihre Ohnmacht: Sie setzt «er­ wachsene» Bürger voraus, so wie sie in der Praxis nie sein kön­ nen. Die Demokratie verwirft aber die Ideologie der Vollkom­ menheit und der Herrschaft: In der Praxis verfällt sie aber auf Herrschaftspraktiken und Interessenkonzentration, sowie auf Freiheitsmißbrauch, während die Bürger in dem Maße, in dem sie nicht auf ihrer Höhe stehen, da sie an partikularistische In­ teressen gebunden sind, sich nach etwas «anderem sehnen» und die Demokratie untergraben. Sie aber existiert nur als Prozeß und nur wenn Demokraten existieren, die ihr Wort einhalten und den Geist der Gesetze respektieren, d. h. wenn sie vertrau­ enswürdig sind. Die Zivilisation konstituiert sich durch den Tausch von Gütern, Menschen und Ideen, was sie aber organisiert und zusammen­ hält ist das Gesetz, die Gesamtheit der Regeln, die alle mehr oder weniger einhalten. Das Gesetz ist ein Basismerkmal der Ge­ sellschaft, es ist aber nicht immer «gerecht» entsprechend unse­ ren Vorstellungen. Der Gerechtigkeitsbegriff hat sich erst in den letzten 3 000 Jahren entwickelt, und er ist eine unnahbare Idee; sie drängt die Menschen dazu, das Gesetz wiederholt neu zu schreiben und zu korrigieren, und nur durch dieses Bemühen, bzw. durch sein Versagen, existieren der «Fortschritt» und der «Rückschritt». Der Gerechtigkeitsbegriff existiert jedoch nicht ohne sein widersprüchliches Verhältnis zur Freiheit des Indivi­ duums; das entspricht der Dialektik des Gesetzes und des Begeh­ rens: ohne Gesetz existiert kein Begehren, und ohne Begehren kein Gesetz. Die soziale Klassenspaltung rührt daher, daß die Individuen in ihrem Narzißmus dazu gedrängt werden, Allmacht zu suchen und willkürlich zu handeln; so wollen sie die bestehenden Ge­ setze und die Gerechtigkeit ihren partikularen Interessen unter­ ordnen, und weil sie von diesen geblendet werden, glauben sie, daß das Gesetz eine Form der Machtausübung sei. Diese Mei­ nung vertreten Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten und politischen Gruppen, und das ist ein Hinweis darauf, daß die soziale Welt nicht einfach in zwei Lager unterteilt ist: in die «guten» Unterdrückten und die «bösen» Unterdrücker. So ist jede Konfrontation zwischen gegensätzlichen Ansichten und In­ teressen ein «Spiel» mit mindestens vier «Partnern», die auch

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diagonal miteinander ringen. Der Fanatismus, der Wille zur Macht und die Rache führen zur Verdunkelung jedes gerechten Anliegens; der Akzent verschiebt sich vom Zweck zum Mittel, das in Widerspruch zum ursprünglichen Ziel gerät und zum Selbstzweck wird. Das ist das Schicksal aller bisherigen «demo­ kratischen» und «linken» Politik gewesen. Das Gesetz hat schließlich eine strukturelle Bedeutung, weil es den «Schalter» zwischen dem «Innen» und dem «Außen» bildet; es konstituiert sowohl die innere (psychische) Welt als Sprache und ethisches Gesetz, als auch die äußere Welt: Als Organisie­ rung der Gesellschaft und der Kultur62 (nicht nur die geschriebe­ nen Gesetze, sondern auch die ungeschriebenen Regeln des Ver­ haltens, der Sitten, der Herrschaftsbeziehungen, der Ideologie, der Mentalität usw.), als auch die logische Struktur der Natur. Die innerpsychischen, gesellschaftlichen und kulturellen Störun­ gen und Konflikte sind immer auch als Störungen der Formulie­ rung, der Interpretation und der Einhaltung des Gesetzes zu ver­ stehen. Die kulturelle Regel unterscheidet sich wesentlich von der Naturregel darin, daß die erste trotz der Übertretungen und der Ausnahmen geschichtlich sich entwickelt und damit exi­ stiert, während die zweite, im Fall des Determinismus, keine Übertretung kennt und sich nicht entwickelt. Dies wird deutlich, wenn jedes totalitäre Regime dazu tendiert, die kulturellen mit den biologischen oder den logischen Geset­ zen gleichzusetzen; so betrachtet es jede geistige und politische Andersheit und Dissidenz als eine biologische Krankheit oder als eine physikalische Störung, die mit jedem Mittel gewaltsam li­ quidiert werden muß. In Wirklichkeit bedeutet jede Andersheit immer, daß etwas «anderes» verdrängt oder unterdrückt wurde und nach einer Diagnose und einem Dialog und nicht nach einem Asyl oder einem KZ verlangt. Die Dissidenz kann aber auch bewußt und aus einem bösen Willen heraus herkommen. Die psychische Fundierung des Gesetzes setzt die Gesamtheit der Sprachregeln voraus: Ein Subjekt, insbesondere der sprach­ schöpferische Dichter, fühlt den «Druck» der Sprache, den Zwang, den sie ausübt, damit sie etwas «korrekt» ausdrückt, was das Subjekt existentiell «beschäftigt». Es bleibt aber immer ein Rest übrig, der nicht artikulierbar ist; dies braucht nicht auf ro­ mantische Weise ein «Aufstand» gegen die Sprache oder die Kul­ tur allgemein zu werden, oder zur Unterschätzung der Sprache zu führen; im Gegenteil, dieser Rest drängt immer zu neuen Ausdrucks formen und zur Kreativität. Der Rest ist das «Ding an

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sich», es hat keine konkrete Gestalt und verschiebt sich ständig; es ist das mythische, unerreichbare «Objekt», das die Unsterb­ lichkeit, die Vollkommenheit, die Allmacht und das Allwissen verleihen würde. Die Zivilisation wird dann notwendigerweise auf Fetischen aufgebaut, die dieses «Objekt» des Begehrens ma­ terialisieren und verdinglichen: Reichtum, Macht, Prestige, Wis­ sen. Der Rest weist psychisch auf das «verlorene» Objekt, das alle an­ deren Objekte vertritt. Dieses Objekt als das «Ding» ist die Mut­ ter des Säuglings und des Kindes bis zum Alter von fünf Jahren. Inzest bedeutet die unmittelbare, phantasmatische Besetzung dieses Objekts, d. h. die Abschaffung der Sprache, der Distanz, und das ist auch der Tod oder der Wahnsinn oder das Verbre­ chen. Inzest existiert als seltenes, marginales Phänomen, das die Regel bestätigt; er geschieht im Fall des Mißbrauchs der kindli­ chen Sexualität durch die Erwachsenen. Aber das Phänomen hat vor allem eine symbolische Bedeutung: Die Rückkehr des Sub­ jekts (des Kinds) in den Bauch der Mutter, d. h. die Bildung eines imaginären Ganzen, der Harmonie, die der Vater, der Dritte, der das Wort und das Gesetz einführt, notwendigerweise stört. Jede noch so primitive Zivilisation stützt sich auf dem In­ zestverbot, explizit oder implizit (dessen Kem erst in unserer Ge­ sellschaft seine reine Form erhalten hat, primär als Inzest mit der Mutter). Dies zeigt sich in Zeiten von Kultur und Wertekri­ sen, wenn die Subjekte auf romantische und mystische Weise gegen die «Unterdrückung» durch jede Regel «revoltieren» und die Abschaffung von allen Tabus verlangen; im Grunde wollen sie die Eroberung des «Höchsten Guts», der Mutter, und somit die Rückkehr ins Tierreich. Diese Revolte ist ein Symptom des­ sen, was Freud das «Unbehagen in der Kultur» nennt.63 Lacan hat für das Gesetz folgende Formulierung: «Nicht alles ist möglich», und er verwendet den Begriff der symbolischen Ka­ stration anders als Freud. So ist sie hier keine Verstümmelung, sondern eine symbolische Handlung, bzw. ein Wort, die z. B. bei den primitiven Völkern und auch später, in den Pubertätsriten zu beobachten ist. Sie besteht in der Einsicht, daß, weil der Mann den sichtbaren Phallus besitzt, deswegen auch dazu ten­ diert zu glauben, er hätte «alles»; entsprechend dem infantilen Phantasma glaubt er, daß ihm «nichts fehlt». Die symbolische Kastration bindet die Subjekte an das Gesetz (siehe die Be­ schneidung bei den Juden), sie erinnert sie daran, daß nicht alles erlaubt ist und daß die Männer nicht weniger als die Frauen

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(aber anders) den Mangel erleben. Demgegenüber haben die Frauen einen leichteren Zugang zur Wahrheit der psychischen Welt und tendieren weniger dazu, die äußere Welt zu beherr­ schen und zu erkennen, es sei denn, daß sie infolge der Emanzi­ pation zu Konkurrentinnen der Männer in diesem Bereich wer­ den (was sich freilich negativ auf das erotische Verhältnis zwi­ schen den Geschlechtern auswirkt). Die Fähigkeiten und Präferenzen der zwei Geschlechter sind, bei aller Gleichheit, un­ gleichmäßig, asymmetrisch verteilt, so daß es nie eine «Harmo­ nie», eine «Ganzheit», außer in der Einbildung, zwischen beiden geben kann (es sei denn nur punktuell); dies ist aber kein «Krieg» und kein Geschlecht ist jemals «besser» als das andere. Die Struktur der Wahrheit besteht darin, daß jedes Subjekt im­ mer nur die «halbe Wahrheit» besitzt, denn diese hat einen dia­ lektischen Charakter: Sie verlangt zwei Subjekte, die aber immer in ihrem Begehren und ihrer Identität unterschiedlich sind; aber nur so haben sie sich etwas zu sagen. Die Suche nach der Wahr­ heit ist ein dialogischer Prozeß und sein Ergebnis ist immer un­ vollständig, als solches aber zählt es und muß es ernst genom­ men und nicht auf postmoderne Weise relativiert und beliebig gemacht werden. Das Wort und das Gesetz, die den Mangel in das Subjekt ein­ führen, schaffen das Begehren. Hier findet jedoch eine Begriffs­ konfusion statt. Es müssen deswegen drei Begriffe voneinander unterschieden werden: das Begehren, der Anspruch und das Be­ dürfnis. Die Ur-sache des Begehrens des Subjekts ist das Begeh­ ren des Anderen’, das Subjekt will, daß dem Anderen etwas fehlt, und erwartet, daß sein Mangel mit dem Mangel des Anderen zur Deckung (was immer nur partiell und punktuell gelingt), d. h. zur Begegnung beider kommt. Das Subjekt begehrt nur, weil es spricht und sich dabei etwas einbildet; infolge dessen imaginiert es irgendwelche fehlenden Objekte oder Zustände, die es in der Realität sucht und partiell (oder nie) wiederfindet. Wenn es sie aber dabei «erobert» und «besetzt», dann verschwinden ihre ero­ tischen und geistigen Dimensionen. Die Hauptursache des Begehrens ist das Begehren selbst, als Pro­ zeß und als Zustand: Das Schlimmste für ein Subjekt ist, nichts zu begehren oder daß man von ihn nichts begehrt oder daß sein Begehren nicht «seines» ist, sondern ihm mittels Identifizierung mit einem anderen zustandegekommen ist. Die Lösung für diese Sackgasse ist, daß immer ein Wunsch unerfüllt bleibt. Das Ziel eines konkreten Begehrens ist das Genießen, entweder körper-

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lieh oder geistig. Das Objekt oder die Ur-sache des Begehrens ist metonymisch: Es ist nie einheitlich, sondern in der Vielzahl und es verschiebt sich auf mehreren Registern.64 Psychoanalytisch ist das «Objekt» immer ein Objekt der Partialtriebe, somit ist es nicht mit den empirischen Objekten identisch. Im Unterschied zum Begehren bedeutet der Anspruch etwas an­ deres:65 Es geht um die Tatsache, daß das Subjekt immer die An­ wesenheit des Anderen, des Vaters verlangt, der es wie die Mut­ ter beruhigen kann; aber dadurch gerät das Subjekt gleichzeitig in Abhängigkeit vom Anderen, das ist auch der Preis für jede Identifizierung. Der Andere stellt immer Ansprüche an das Sub­ jekt: Es soll gewissen Idealen entsprechen, infolge deren das Subjekt als liebenswürdig (nicht: begehrenswert) d. h. «gut», «moralisch» usw. erscheint. Hierin liegt der Grund für alle pädagogischen Werte und für die Moral. Der Anspruch des An­ deren (genitivus subjectivus und objectivus) ist die Matrix für jede Identifizierung mit ihm, d. h. er hat eine metaphorische Be­ deutung, denn das Subjekt benötigt eine Metapher, um damit sich selbst einen Namen zu geben, woran es sich halten kann. Der Anspruch kann auch in der Ökonomie als Nachfrage inter­ pretiert werden. Es gibt eine Antinomie zwischen dem Begehren und dem An­ spruch: Das Begehren benötigt die Entdeckung des Mangels des Anderen (Gen. subj. und obj.) und will aufhören, die Ansprüche des Anderen zu erfüllen und ihn als allmächtig und vollkommen zu betrachten. Dies wird auch in dem Fall deutlich, in dem viele Mütter ihre Kinder mit Nahrung, Streicheln, Gefälligkeiten usw. «vollstopfen», um zu vermeiden, daß in ihnen der Mangel und das Begehren sich kund tun, denn dann werden sie autonom. Das gleiche gilt für die übergroßen Forderungen ethischer, ästhetischer, kognitiver Natur an die Kinder: Ihr Begehren ver­ schwindet hinter dem Anspruch des Anderen. Das Subjekt stützt sich auf der Dialektik zwischen dem An­ spruch und dem Begehren: Auf der einen Seite setzt das Begeh­ ren den Anspruch voraus, um ihn zu überwinden (nicht: übertre­ ten), auf der anderen Seite kann aber das Begehren in die Sack­ gasse der ewigen Suche und des Versagens einer Befriedigung gelangen (oder der Befriedigung mittels des neurotischen Sym­ ptoms, wobei die Nichtbefriedigung den klassischen Fall der hy­ sterischen «Befriedigung» darstellt). Dies alles geschieht, weil jede Befriedigung immer partiell bleibt, wegen der ständigen Re­ produktion des Mangels, die Möglichkeit einer Befriedigung ist

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aber immer vorhanden. Das Subjekt imaginiert, will immer das «andere»: Eine vulgäre Form davon ist der Wunsch nach konti­ nuierlichem und wechselndem Güterkonsum. Das Subjekt bleibt oft unbefriedigt oder zieht kompensatorische Befriedigungsformen vor. Hier kann der Anspruch des Anderen wieder einen anderen Sinn bekommen: Die Dialektik des Begeh­ rens und des Gesetzes ist nicht das letzte Wort in der Biographie eines Menschen; über dem Begehren und dem Gesetz, aber nicht außerhalb von ihnen, existiert etwas anderes. Der Anspruch des Anderen erscheint hier nicht mehr als Imperativ und Verlangen, sondern als geduldige Mahnung zum Verzicht auf absurde Wün­ sche und als Öffnung für das Wort des Anderen und die An­ nahme des Mangels. Dieses Mahnen hat eine andere Qualität als der zuerst erwähnte Anspruch, der eine Identifizierung mit dem Anderen und dem Ideal des Ich voraussetzt; es hat eine andere Qualität, weil es nach der ent-täuschenden Erfahrung den «blin­ den» Identifizierungen und den «blinden» Wünschen eintrifft. Die Dialektik des Gesetzes und des Begehrens oder die Dialektik des Anspruchs und des Begehrens konstituiert die psychische Realität und die soziale Welt. Die sog. «materiellen» Bedürf­ nisse, die jede Gesellschaft mittels der Arbeit, mit dem Zweck ih­ rer Befriedigung, konstituieren, sind ursprünglich etwas ande­ res: die Not-xvendigkeitbb des biologischen Überlebens in einer immer feindlichen Natur; sie bedeuten ein Abwenden der Not. Die innere seelische Dialektik des Begehrens und des Gesetzes «erobert» aber die Bedürfnisse vom ersten Moment an und ver­ wandelt sie in «menschliche» Wünsche und Ansprüche, d. h. in Interessen (im doppelten Sinn: interessante Ziele des Begehrens und Ersatzziele zur Machtbefriedigung). Weil die Menschen sprechen und phantasieren, haben sie keine bloßen «Bedürf­ nisse» (wie die Tiere), und nur weil sie etwas begehren und be­ anspruchen, sind sie nie mit einem minimalen, standardisierten Nahrungs- und Kleidungsmittel zufrieden, sondern sie phanta­ sieren und begehren ständig neue Geschmacksformen und neue Mittel zu ihrer Befriedigung, die zu Objekten der Akkumulation, der Ausbeutung, der Herrschaft, des Kults, aber auch des Wis­ sens, der Ästhetik, der Mystik, der Erotik usw. werden. D. h. der «Luxus» ist der Antriebsmotor der Erfindung und der Entfal­ tung der Ökonomie (neben der Vermeidung von Not und Schmerz).

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1.3.5. DIE REALITÄT UND DAS REALE

Die bisherigen Analysen hatten zum Ziel zu zeigen, daß die Sub­ jekte immer gleichzeitig in zwei Realitäten leben: in der (inne­ ren) psychischen und in der (äußeren) sozialen und natürlichen Realität. Diese beiden Realitäten «kommunizieren» miteinander, aber sie behalten ihre Autonomie und der Übergang von der einen in die andere ist immer problematisch. Nur die verschie­ denen Störungsformen in ihrem Verhältnis geben uns Indizien, mit denen wir sie rekonstruieren und ihre Eigenart und Existenz begreifen können. Freud spricht zunächst vom Lustprinzip,61 wenn er das Haupt­ merkmal der unbewußten Prozesse bestimmen will. Später hat er den Trieb eingeführt und er postulierte den Triebdualismus. Der Todestrieb ist zuerst die «Verblendung», die Negativität und die Absolutheit des zunächst grenzenlosen und ungeschiedenen Lebenstriebs, und in dem Maße, in dem dieser sich in der Folge nie vom Narzißmus lossagt, verwandelt er sich in sein Gegenteil, den Todestrieb.. Freud stellt fest, daß das neugeborene Kind ur­ sprünglich der äußeren Realität unangepaßt ist und ganz vom Lustprinzip dominiert wird: Es sucht nur die lustvolle Befriedi­ gung seiner Bedürfnisse und vermeidet jede unangenehme äußere und innere Spannung. Dieser Zustand wird aber peri­ odisch durch innere, endogene, biologische Bedürfnisse (Hun­ ger, Durst usw.) gestört, die den Anderen in den Vordergrund stellen, durch den sie befriedigt werden. Wenn aber ein Zustand von innerem Druck ohne äußere Befrie­ digung da ist, dann tendiert das Kind dazu eine ältere Befriedi­ gungserfahrung phantasmatisch zu wiederholend von hier stammt die Sucht (Selbstbefriedigung) im Gebrauch von Betäu­ bungsmitteln. Die Ent-täuschung (Frustration), d. h. der Mangel erscheint aber irgendwann und das Kleinkind verläßt mehr oder weniger seine rein phantasmatische Befriedigung, denn sonst würde es in den Teufelskreis der Überbietung der Halluzinatio­ nen und der Selbstzerstörung geraten. Statt dessen beginnt es zu «verstehen», daß der übrig gebliebene Umweg, in der Anerken­ nung der äußeren Realität und in ihrer Veränderung vermittels des Signifikanten und der Arbeit besteht. So bekommt es Vor­ stellungen nicht nur vom lustvollen, sondern auch vom Wirkli­ chen, d. h. es entdeckt das Realitätsprinzip.69

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Dies hat Folgen, denn das Subjekt fährt fort, unbewußt vom Lustprinzip dominiert zu sein: von nun an wird es immer zwi­ schen den zwei «Prinzipien» gespalten sein70 (realer Mangel) und es wird versuchen den Abstand zwischen ihnen kreativ oder destruktiv zu überbrücken, und sie miteinander zu vermitteln. Der Todestrieb lauert an zwei Stellen: einerseits von der Absolut­ heit des sexuellen Triebs und des Narzißmus her, andererseits durch die Absolutheit ihrer Unterdrückung durch die instru­ mentelle Vernunft, d. h. die Herrschaft des «Nützlichen» und des «Funktionalen» (was eine andere Form des Narzißmus bedeu­ tet). Hier wird die kritische Vernunft (und die nicht identifikatorische Liebe) einerseits zum Maß der Artikulation71 zwi­ schen den beiden Trieben und andererseits zwischen ihnen und der äußeren Realität (Vernunft als Sprechen, Denken und Dich­ ten). Die äußere Realität bedeutet zuerst (und immer) den Kampf (nicht den Zerstörungskrieg) gegen die Natur vermittels der Ar­ beit, d. h. das Funktionieren des Bewußtseins. Später erhielten die Beziehungen der Menschen mit der Natur einen immer ver­ mittelter Charakter, weil dann die Institutionen, das Wissen, die Ideologie und die Arbeitsteilung sich immer mehr entwickelten. Aber die «Gesellschaft», wird sie noch so komplex, wird nie die psychische «Welt» ersetzen; sie steht immer in Dialog/Antilog mit ihr, während sie von ihr beeinflußt wird. D. h. die Differenz zwischen Subjektivität und Sozialität ist nicht totalisierbar und (restlos) dialektisierbar, auch in der «besten» Gesellschaft nicht (die es nicht geben kann und darf). Die Ansprüche der Gesell­ schaft bekommen einen halb realen und halb imaginären Cha­ rakter und sie tragen gleichzeitig den Stempel des Wortes und des Gesetzes (des Symbolischen), d. h. sie reproduzieren alle Strukturelemente der psychischen «Welt». Das Realitätsprinzip führt zur Entwicklung des Bewußtseins, des bewußten Gedächtnisses, Urteilens, Denkens, Wollens und Handelns. Aber alle diese Funktionen existieren schon unbe­ wußt, und vor allem eine Funktion bleibt immer von der Kon­ trolle der äußeren Realität frei: die Phantasie. In dieser ist der Übergang vom Unbewußten ins Bewußtsein bruchlos; sie ist ein konstitutives Element der Träume, der Halluzinationen, der Symptome, aber auch der Religion, der Kunst, der Wissenschaft, der Technik usw. Im psychoanalytischen Sinne werden wir aber von (unbewußten) Phantasmen sprechen.

79 Die Sexualtriebe haben ein privilegiertes und enges Verhältnis zu den Phantasmen, und sie machen eine besondere Entwick­ lung, im Unterschied zur Verstandes- und Vernunftfähigkeit durch. Die anthropologische Besonderheit der Gattung Mensch besteht darin, 1) daß er, im Unterschied zu den Tieren, eine Frühgeburt ist, d. h., er ist ein biologisch hilfloses und unfertiges Wesen, aber bis zum Alter von fünf Jahren, hat er alle Triebe und Phantas­ men sowie das Sprechen vollständig entwickelt; er ist aber biolo­ gisch und verstandesmäßig noch nicht «reif». Die «Beschleuni­ gung»72 der Frühgeburt wird aber von einer «Verlangsamung» und Unterbrechung gefolgt. 2) Es ist die Latenzzeit, während der die Triebe (körperlich) «sta­ gnieren» (im Alter von 6 bis 13 Jahren) und die Verdrängung der kindlichen Sexualität sich durchsetzt; infolgedessen werden die Neugier und das Interesse für das Wissen begünstigt und ent­ wickelt. Die Latenzzeit endet mit dem zweiten,73 endgültigen Neuanfang des Sexuallebens in der Pubertät, in der die (guten oder bösen) Fixierungen und Verdrängungen der frühen Kind­ heit unter anderer Form wiederkehren. Diese Eigenart des Se­ xualtriebs führt zu ihrer Unabhängigkeit vom Realitätsprinzip, das Anstrengung, Arbeit und bewußtes Wissen bedeutet. Keine wirksame Tätigkeit und kein Werk von Qualität können ohne Mühe zustande kommen: Die Menschen haben «gelernt», das Realitätsprinzip in die Dienste des Lustprinzips und umgekehrt zu stellen. Jede Vorstellung, die dem Subjekt unangenehm ist, wird ver­ drängt; die Verdrängung funktioniert immer in zwei Richtungen: Es wird immer etwas Unangenehmes verdrängt, sei es von der äußeren, sei es von der inneren Realität. Aber die Verdrängung ist keine bloße Folge der gesellschaftlichen Repression, sondern nur ihre notwendige Bedingung (aber nicht hinreichende). Die Herrschaft strebt danach, entweder das «richtige Maß» an Ver­ drängung zu intensivieren oder es zu vermeiden. Die schwache, aber auch starke Stelle der psychischen Realität besteht in der Selbständigkeit der Phantasie. Die kindliche, poly­ morph perverse Sexualität und die Aggressivität verursachen un­ angenehme Reaktionen. Die Kultur strebt danach, beide zu transformieren, macht aber ständig Kompromiße, mißlingt oder regrediert partiell. Dies weil jedes Subjekt begreifen kann, was das «richtige» ist, dennoch unbewußt oder bewußt vom «ande-

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ren», vom Gegenteil angezogen wird. Die Kultur «unterdrückt» nicht die Sexualtriebe generell, sondern vor allem die infantile Sexualität und die Aggressivität (wenn sie sie nicht, wie im Fall der Herrschaft, fördert). Dies war und ist das Ziel aller «universalistischen» Religionen wie das Christentum, der Islam und der Buddhismus, wie auch der Weltanschauungen der Aufklärung und des Sozialismus. Sie reproduzieren jedoch die Aggressivität auf einer anderen Ebene, insofern sie sich gegen den «anderen» (inneren und äußeren) ab­ schließen. Die Einschränkung der kindlichen74 (nicht: der weibli­ chen) Sexualität bringt sie dazu, Quelle und Material der Subli­ mierung zu werden. Kunst, Technik, Wissenschaft, Philosophie, Politik, Religion verändern und verschieben die Objekte der Par­ tialtriebe unter dem Primat des Signifikanten, des Symboli­ schen. Die Neurosen sind demgegenüber das Ergebnis der Wir­ kung der verschiedenen Hindernisse der Sublimierungsarbeit75 und ihres Mißerfolgs: Hier spielt auch die kulturelle Unter­ drückung eine Rolle. Die Sublimierung ist etwas anderes als die Verdrängung oder die Idealisierung, sie setzt ein anderes, diffe­ renziertes Verhältnis zur Sprache; die erste Sublimierung ist das Sprechen, d. h. sie ist nichts fremdes für das Subjekt, das immer eine Einheit von Trieben und Worten ist. Die entwickelte Sublimierung bezweckt die Befreiung von der unmittelbaren Sorge der Nützlichkeit, der Sicherheit, die das le­ gitime Merkmal der sozialen Realität sind. Aber die Sublimie­ rung setzt die Existenz der «prosaischen» Realität voraus, damit die Differenz zu ihr existiert; das Fest, das Spielen, die Gabe, das Geschenk, die Generosität, das ästhetische Genießen, die Freundlichkeit, die Höflichkeit, die Erfindung usw. all dies «exi­ stiert» weil sie selten sind und mit dem Gegenteil, dem «Reich der Notwendiglkeit», eine Opposition, eine Differenz konstitu­ ieren; und entweder ist das alles immer möglich, oder es wird nie existieren. Die unbewußten Prozesse sind der Kontrolle durch das Realität­ sprinzip nicht unterworfen: Eine Vorstellung hat eine psychi­ sche Realität, weil sie als Vorstellung (Signifikantenkette, Phan­ tasma) «existiert»; für das Unbewußte «existiert» sie wie die äußere Realität; ein Wunsch identifiziert sich mit dem Befriedi­ gungserlebnis. Siehe die «frommen Wünsche», die Verwechs­ lung der eigenen Wünsche mit der «Realität». Die kulturelle Realität ist freilich etwas Zusammengesetztes: Sie enthält immer auch die festgeronnenen Erlebnisse unserer und der früheren

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Generationen realisierten und nicht realisierten Wünsche. Es ist schwer die unbewußten Phantasmen von den Erinnerun­ gen, die später unbewußt wurden, zu unterscheiden. Man darf die Rolle der Phantasmen gemäß den Kriterien der äußeren Rea­ lität nicht unterschätzen, weil sie eine wesentliche Rolle beim Zustandekommen der neurotischen Symptome (und der Subli­ mierungsleistungen) spielen; es ist nicht nötig, ein neurotisches Schuldgefühl anders als durch ein Phantasma zu erklären, weil man kein reales Verbrechen entdeckt hat. Selbst dann, wenn es eine äußere Ursache geben würde, wäre ihre Wirkung wieder durch ein Phantasma vermittelt. Die Phantasmen sind der Stoff der psychischen Realität, weil sowohl sie, als auch das Verhält­ nis des Subjekts zur realen, empirischen Welt, vermittels der Phantasmen funktioniert.76 Das Verhältnis des Subjekts zur Realität ist immer doppelt pro­ blematisch, denn es hat immer mehr oder weniger Illusionen, sowohl über seine innere, als auch über seine äußere Welt. Das Auffinden einer Orientierung besteht im kritischen Kommen und Gehen, im Geben und Nehmen, zwischen den zwei Welten, vermittels des Verhältnisses zum sprechenden Anderen, der sich «in» und «außerhalb» des Subjekts befindet. Der reale Andere gibt das Maß der (Selbst-)distanzierung und der Differenz. Es gibt z. B. bestimmte Fälle äußerer Gefahr und Bedrohung, die das Subjekt dazu drängen, sich gegen sie zu verteidigen. Das Subjekt wird hier jedoch nicht wie ein Tier mit Reflexen oder in­ stinktiv reagieren; es wird zuerst ein Bild (eine Vorstellung) der Situation in sich formieren, indem es sich mehr oder weniger für eine Handlung entscheidet. Dieser Prozeß geht in drei Schrit­ ten vor: Erst kommt das «SeZzen» der Situation, dann ihr «Verste­ hen» (Entschlüsseln), und schließlich das «Entscheiden» Hier interveniert die persönliche Vergangenheit, die Geschichte des Subjekts, sein unbewußtes und bewußtes Gedächtnis. Es vergleicht die Situation mit den vergangenen Fällen, dabei wer­ den Phantasmen, Ängste und Wünsche mobilisiert. Wenn das Subjekt in der Vergangenheit von phobischen Symptomen oder von Verfolgungswahn heimgesucht wurde, dann wird dies es dazu bringen, dort eine «tödliche» Gefahr zu wittern, wo die Ur­ sache und der Anlaß lächerlich sind; wenn es dann falsch inter­ veniert, wird es vielleicht die Situation verschlimmern. Umge­ kehrt kann das Subjekt sich selbst für «unbesiegbar» halten und keine Schutzmaßnahmen in einer schwierigen Situation treffen; so wird es die reale Gefahr unterschätzen.

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Hier sieht man die ganze Breite des Problems: Es gibt nie abso­ lut «objektiv» gegebene Situationen, sondern sie bedürfen im­ mer einer Deutung, und dies ist doppelt nötig, wenn die Realität des Menschen selbst wieder aus Symbolen/Handlungen mit Sinn bestehen; denn sie sind keine bloßen physikalischen Phä­ nomene, die als solche keiner Deutung bedürfen. Das Subjekt in­ terpretiert immer den Anderen und sich selbst, wenn es handelt; sein «Selbst» hat es jedoch relativ spät in der Geschichte ent­ deckt. Die naiv materialistische Auffassung tendiert dazu, das eine oder das andere oder beides zu vergessen, d. h. zu verdrän­ gen. Um das alles zu «erfahren», reicht weder das Wissen noch das Wollen, sondern die Öffnung gegenüber dem Anderen, d. h. man muß das Begehren und den Widerstand des Anderen verste­ hen (entschlüsseln) und entsprechend sich entscheiden. Diese «Erfahrung» kann eine perverse Form annehmen, wenn sie in den Dienst der Herrschaft (oder des Todestriebs) gestellt wird. Die führenden politischen, militärischen, geistlichen und geisti­ gen Persönlichkeiten sind immer fähige «Psychologen». Sie be­ wegen sich immer auf der Gratwanderung zwischen zwei Ab­ gründen: Ihre Fähigkeiten ermöglichen ihnen auch ihren Mißbrauch; andererseits, wenn sie Angst vor ihrer Macht und ihrem Mißbrauch bekommen und bewußt deswegen ihre Fähig­ keit hemmen, dann verlieren sie sie. Die Realität des Subjekts hat einen zwiespältigen und tragischen Charakter: Man läuft in kritischen Momenten immer Gefahr, so oder so zu «verlieren» (aber auf verschiedenen Ebenen). Eine andere Sicht der Dinge, die harmloser, eindimensional und hedonistisch-pragmatisch ist, führt zu Illusionen: Das Subjekt entdeckt nur dann «wer es ist», wenn ihm die ethische Dimension der Entscheidung, jen­ seits von Dezisionismus und Voluntarismus, klar wird. Jedes Entscheiden impliziert ein Negieren. Der logische Term der «Negation» verdeckt ein vielschichtiges Phänomen, das von vielen Schichten der «Negativität» konstituiert wird. Wir unter­ scheiden hier allgemein zwischen der logischen Negation, der Verdrängung, der Verleugnung und der Verwerfung. Diese Reihe ist von der leichteren bis hin zur schwersten Form der Negati­ vität gerichtet. In der Negation11 äußert das Subjekt etwas, indem es das Wort «nein», «nicht» hinzufügt. Unbewußt kann das be­ deuten, daß das Subjekt die Bejahung wünscht, aber weil es der Andere nicht akzeptiert, deswegen findet das Subjekt dann einen realitätsstiftenden Kompromiß: Es sagt es trotzdem aus, aber es negiert seinen Wunsch mit dem Wort «nicht». Siehe dazu die Be-

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deutung des Witzes oder des Humors. Wir haben hier eine Subli­ mierungsleistung, bzw. eine Form der Realitätsbewältigung, die keine Anpassung an die Verhältnisse zu sein braucht. Die Verdrängung 13 kann gelungen (Ideologie) oder wie in der Neurose mißlungen («halb gelungen») sein. Der statistische Durchschnitt der Mehrheit der Menschen (oder auch: die Mehr­ heit der Alltagshandlungen und Worte jedes Menschen) ver­ drängt mittels der Gewohnheit und des Konformismus alles, was «stört». D. h. die Menschen «sehen» und «hören» bestimmte Sachen nicht, und so können sie «ruhig schlafen»; nur, sie sehen ab und zu gewisse merkwürdige Träume. Die (volle) Verdrän­ gung mißlingt meistens und die verdrängte Vorstellung, der Sig­ nifikant, kehrt in verstellter Form als Symptom und als mit ihm verbundenes Phantasma wieder. Die verschiedenen Formen der Phobie, der Hysterie und der Zwangsneurose gehören hierher, und die Subjektspaltung ist hier intensiver als bei den nicht oder wenig neurotischen Individuen. Die konstitutive Spaltung des Subjekts, die «optimal» in der Sublimierung zur Sprache kommt, bekommt hier eine klinische Bedeutung: Das Subjekt meidet und verdrängt ein Stück Realität und dies bedeutet gleichzeitig, daß es ebenfalls einen Teil seiner Triebe und Wün­ sche verdrängt. Was es eigentlich verdrängt ist der Mangel, als ein konstitutiver Bestandteil der (äußeren und inneren) Realität des Menschen. Die Spaltung wird tiefer in der Perversion 19 Die Perversen wagen die Phantasmen zu verwirklichen, von denen die Neurotiker nur träumen. Sie zahlen aber dafür einen Preis: Sie verleugnen einen Teil der Realität in der Gegenwart, sie weigern sich, sie «so zu sehen wie sie ist» und sie inszenieren eine «andere» «Realität» in der Praxis, indem sie ihre Phantasmen realisieren und vermittels der Fetische (Idole) genießen. Letztere bekommen hier die Rolle der Symptome in der Neurose. Aber die Subjekte werden hier periodisch von Angst heimgesucht, die sie verdrängen; das, was alle verleugnen ist wieder der Mangel. Die Nichtanerkennung des Mangels kommt aus der menschlichen Neigung, den Tod, die Geschlechterdifferenz, die Differenz des Individuums von der Gruppe, allgemein jede Differenz, nicht wahrhaben zu wollen. Durch den (ungehemmten) Narzißmus wollen die Subjekte ent­ weder durch List oder durch Gewalt oder durch beides die Sa­ chen beschönigen. Das Phantasma des harmonischen Ganzen, in dem «nichts fehlt», ist die Matrix aller Phantasmen, Mythen und Ideologien.

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Wenn schließlich diese Tendenz noch stärker wird, dann landet das Subjekt in der Psychose™ (Paranoia, Depression, Manie, Schizophrenie), wo die Spaltung zur Zerstückelung und Zersplit­ terung des Subjekts, mittels der Verwerfung eines Teils der äuße­ ren und der eigenen inneren Realität zustande kommt. So wird dieser Teil «ganz fremd», es entfremdet sich dem Subjekt. Im Unterschied zur Perversion, konstruiert hier das Subjekt eine andere, künstliche Welt an der Stelle der verworfenen, an die es «glaubt»; gleichzeitig verliert es in ihr seine Identität, die ausein­ anderfällt. In dieser «Welt» herrschen Götter und Dämonen, in deren Händen das Subjekt zum Spielball wird. Die Götter und Dämonen «existieren» nicht als eine «Realität» (außer in der Kunst, die eine sublimierte Tätigkeit voraussetzt), sie sind ein­ fach die verselbständigte psychische Realität der entfremdeten Subjekte, die ihnen gegenüber in der Form von Halluzinationen erscheint. Die Konstituierung einer «anderen» Welt in der Psy­ chose, stellt jedoch einen Schritt dar, eine wenn auch imaginäre Identität wieder zu finden, um die Spaltung zu überwinden (ihre psychotische Form). All diese Fälle existieren auch im politischen Leben, nicht nur in offensichtlichen Krisensituationen oder in den Ideologien. Sie existieren vielmehr indirekt, leise, durch den Stil, die Denk- und Handlungsweise der Subjekte. Ihre Phantasmen haben die glei­ che Struktur mit derjenigen in den verschiedenen Fällen der Realitätsverneinung. Das Verhältnis zwischen der sozialen und der psychischen Welt ist jedoch vieldeutig: die kollektive Hyste­ rie, Perversion und Paranoia implizieren nicht unbedingt hyste­ rische, perverse oder paranoide Individuen, d. h. solche die we­ gen ihrer kindlichen Vorgeschichte die entsprechenden Sym­ ptome vorweisen. Umgekehrt, weil alle Menschen die Möglichkeit aller Formen der Realitätsvemeinung und -Vermeidung in sich bergen, deswegen genügt ein äußerer und zufälliger kollektiver Auslöser, der jenes Potential, unabhängig von der persönlichen Vorgeschichte, mo­ bilisieren kann. Dies bedeutet auch, daß wenn der äußere Anlaß aufhört, dann die Symptome verschwinden können (es sei denn, sie haben sich inzwischen verselbständigt). Bevölkerungsschichten deren soziale und ökonomische Lage prekär ist, finden oft unbewußt eine leichte Erklärung dafür, in­ dem sie den «Schuldigen» imaginär lokalisieren: eine (religiöse, nationale usw.) Minderheit oder Sekte, oder die «Fremden» allge­ mein. Dies geschieht auch bei bestimmten Befreiungsbewegun-

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gen. Es ist die infantile Reaktion: Die Subjekte sind hier nicht fähig oder willens sich anzustrengen, um die Sachen zu begrei­ fen und zu ändern, im Gegenteil, sie personifizieren sie und da­ durch «konkretisieren» und vereinfachen sie sie. Im paranoischen Phantasma der Terroristen ist der «andere schuld » als konkrete Person oder Gruppe. Weil die Terroristen die Existenz von abstrakten sozialen Verhältnissen in der moder­ nen Demokratie, aber auch ihre Mängel nicht akzeptieren wol­ len, deswegen verspüren sie ihr gegenüber mindestens so viel Haß wie gegenüber der Diktatur. Sie akzeptieren keine Verhand­ lungen und die friedliche Lösung von Konflikten, sie haben kein Vertrauen in die Zusammenarbeit mit anderen sozialen Kräften, sie erkennen die anstrengende Arbeit zum Zweck der Verände­ rung der sozialen Verhältnisse nicht an; so personifizieren sie wie die Primitiven oder die Kinder die Probleme und sie proji­ zieren sie in beliebige Opfer, die liquidiert werden, um das Phan­ tasma einer «reinen» Gesellschaft zu befriedigen, in der das Ab­ solute herrscht. Indem die Terroristen den anderen töten, spüren sie eine narzißtische Allmacht (das gleiche gilt, wenn sie Selbst­ mord verüben: immer ist das «System» schuld daran); ihre poli­ tischen Argumente sind nachträgliche Rationalisierungen ihrer Handlungen. Eine Regierung verschweigt oft die Wahrheit über unangenehme Situationen vor den Bürgern; das ist nicht nur der Fall, wenn es darum geht, partikulare Interessen zu verteidigen, sondern auch weil sie Angst hat, daß die Bürger hysterisch darauf reagieren werden. So werden sie sie dafür verantwortlich machen, daß sie die unangenehme Wahrheit ausspricht. Sie identifizieren somit die reale Ursache mit demjenigen, der sie zum Ausdruck bringt. Die Schwäche jeder Demokratie, die sich nicht auf der Selbstdis­ ziplin der Bürger und der Regierenden stützt, besteht darin, daß die letzteren aus wahltaktischen Gründen auf imaginäre Weise zu Gefangenen der Hysterie der ersten werden; selbst wenn sie ursprünglich gute Absichten hatten, ziehen sie am Schluß den Betrug als ein Mittel des Regierens vor. Der Mangel und die Spaltung sind das, was die Subjekte in allen individuellen und kollektiven Strategien der Realitätskonstruk­ tion zu überwinden trachten, insofern sie sich weigern, sich da­ mit auseinanderzusetzen und produktiv zu werden, indem sie den Mangel und die Spaltung anerkennen. Diese weisen aber auf das Nichtidentische im Menschen hin, auf denjenigen irreduzier­ baren Rest, der nicht totalisierbar und dialektisierbar ist. D. h.

86 das Imaginäre und das Symbolische, vermittels der Phantasmen und der Sublimierung schaffen es nie ganz, jenen Rest zu absor­ bieren. Dieser ist die Summe der (traumatischen, seltenen) Grenzerfahrungen der Subjekte mit der Liebe, dem Tod, dem Genießen, dem Leiden, dem Wahn, der Sprache. Dies nennt Lacan das «ReaZe»;81 es ist der «harte» Kern der psychischen wie der äußeren Realität, nämlich der eigene Körper in seinem schlichten und einfachen Da-sein. So ist der Körper auch ein «Ding» dies- und jenseits der Benennung und seines Bildes, von dem die Objekte der Partialtriebe nur Fragmente sind, die aber der Realität des Alltags ihre Konsistenz verleihen. Andererseits beziehen sich diese Partialobjekte auf die kindliche Vergangenheit der Subjekte, und als solche sind sie endgültig vergangen und unmöglich wieder zu «besitzen». Die Sublimie­ rung und die Phantasmen bilden einen Rahmen für jene Ob­ jekte, damit sie für das Subjekt erträglich werden, denn die nackte Präsenz des Realen ist mit Angst verbunden und bedeutet immer eine Erfahrung am Rande des Todes. Der Versuch ihres bewußten Herbeiführens wird entweder in der Mystik oder im Terror ausprobiert; er hat somit mit dem Irrationalen und der psychischen Regression zu tun, die imaginär dominierte Ersatz­ bilder und Handlungen erzeugt, in denen das Symbolische und das Gesetz (die Vernunft) ausgeschaltet werden. Das Reale ist das Unmögliche, das immer verhüllt bleiben soll, und als solches die Ur-sache des Begehrens darstellt; anders aus­ gedrückt, das Subjekt, das spricht, hat für immer die Unmittel­ barkeit seines Körpers verloren, und deswegen wird es produk­ tiv. Das Reale ist aber weder die Natur noch das Göttliche. Die Realität jedoch ist immer eine Synthese zwischen dem Ima­ ginären, dem Symbolischen und dem Realen; je nachdem wie die Gewichte auf diesen drei Registern verteilt sind, bekommt die Realität eine jeweils andere, besondere Ausprägung.

II. Formationen des Unbewußten II.1.1. MASSENPSYCHOLOGIE UND IDENTIFIZIERUNG I.

Damit die Masse anfängt, als eine psychische Einheit zu existie­ ren, muß der Zustand von Chaos und Indifferenz überwunden werden, der ursprünglich in einer zufälligen Menschenmenge herrscht. In dieser Menge dominieren nebeneinander und alter­ nieren miteinander Indifferenz, Freundschaft, Konflikte. Die Masse gibt diesem «Haufen» eine Elementarstruktur. Dafür muß eine Voraussetzung erfüllt werden: Die verschiedenen Indivi­ duen müssen etwas Gemeinsames haben, z. B. ein gemeinsames Interesse (egoistisches oder sublimiertes), ein gemeinsames ge­ liebtes oder gehaßtes Objekt oder Symptom, in jedem Fall eine gemeinsame Gefühlsrichtung. Als Folge davon stellt sich dann die Fähigkeit der wechselseitigen Beeinflussung ein. Freud hat in seinem Buch «Massenpsychologie und Ich-Analyse» zwei strukturelle Momente unterschieden: das gemeinsame «etwas», woran sich die Subjekte symbolisch orientieren, weil es sie an­ zieht oder abstößt, und die wechselseitige Beeinflussung, die eine Identifizierung miteinander bedeutet.1 «Identität» verleiht ihnen das gemeinsame «etwas»: Es ist die Uniform, die den Sol­ daten «schafft», und ihn dazu bringt, sich als ein Mitglied einer Menge zu unterscheiden, die sich «Armee» nennt. Das gleiche gilt für die Kirche. Diese zwei klassischen (bei Freud sind sie traditionellen Charak­ ters) Massenbeispiele (zu denen das der Partei hinzuzufügen wäre) sind jedoch komplizierte Organisationen, die schon eine komplexe Struktur aufweisen: eine Hierarchie (vertikale Bezie­ hungen) und Kooperation/Arbeitsteilung (horizontale Beziehun­ gen), als auch den Begriff der geregelten und spezifisch legalen Beziehungen innerhalb ihres Rahmens. Das Element der «Masse» ist aber wesentlich, es ist das «klebende», zusammen­ haltende Element, ohne das die anderen Momente nicht existie­ ren können; es ist jedoch das primitivste Element. Seine «reine» Form sind die «Bande» eines charismatischen Führers, zu dem

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die Mitglieder eine persönliche Gefühlsbeziehung haben. Die Masse ist ebenfalls Objekt der soziologischen Analyse, hier inter­ essieren uns aber nur gewisse Merkmale; unter einer Masse wer­ den auch alle Figuren zusammengefaßt, die als: Clique, Gruppe, Horde, Gemeinschaft benannt werden. Im Rahmen der Masse erweckt ein Zeichen/Symbol (Signifi­ kant), das ein Gefühl repräsentiert, in demjenigen, der es wahr­ nimmt (sieht, hört), das gleiche Gefühl, und zwar um so stärker, je mehr Individuen es teilen. Freud betont, daß die Masse in den Individuen den Eindruck einer unbegrenzten Macht und in ihren Gegnern den einer unüberwindbaren Gefahr2 erweckt; sie repräsentiert scheinbar die Menschheit, und so usurpiert sie ihre Autorität, als eines Trägers des Gesetzes. Diese Autorität besteht darin, daß man als Individuum oder partikuläre Gruppe ihre Strafe befürchtet und ihr zuliebe gewisse Einschränkungen auf sich nimmt. Das Machtphänomen in der Masse hat seinen Ursprung darin, daß in Krisenzeiten sich oft gewisse charismatische Individuen auffinden, die nach außen jenen «besonderen» Zug3 repräsentie­ ren, den die anderen unbewußt suchen, um einen Halt zu fin­ den. Der primitivste Fall ist der des Kommunalismus (Gemein­ schaftsgeist) und des Populismus, in denen es in der Masse keine differenzierten Individuen mehr gibt (oder Gruppen, Minderhei­ ten), so daß die Individuen sich in ihr verlieren. Hier existiert je­ des Individuum nur als ein Teil der Masse, außerhalb von ihr «existiert» es nicht', in diesem Fall fühlt es sich unnütz, ohn­ mächtig und arm. Dies geschieht, wenn in den Individuen keine persönlichen Fähigkeiten und Ansprüche sich herausgebildet haben. Die Masse bedeutet hier: Spiegelung des einen in den an­ deren und aller gemeinsam in den Führer (der ein toter Führer oder sein Stellvertreter oder ein informeller Führer sein kann); diese Spiegelungen halten alle als «Ganzes» zusammen, und ab­ sorbieren bzw. neutralisieren die Differenzen unter ihnen; so konstituiert sich eine «organische Ganzheit». Je mehr ein Subjekt entwickelt, differenziert und gebildet ist, de­ sto weniger neigt es dazu, «vermaßt»' zu werden.4 Aber die Sub­ jekte sind fragile Wesen: Eine schwierige, unsichere Situation genügt, und die Ängste und die Aggressivität führen es dazu, auf sein rationales Urteil und seine guten Absichten zu verzichten; die Masse gewährt ihm statt dessen eine «Heimat», selbst und gerade dann, wenn das Subjekt kriminelle Zwecke verfolgt. Die Dynamik der Masse macht keinen Halt vor den Klassen und Par­ teienunterschieden; die Geschichte hat bisher gezeigt, daß viele

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89 «Intellektuelle» gleichermaßen hysterisch und fanatisch sein können wie die «einfachen» Leute. Die Rolle der führenden Persönlichkeiten und der Führer für die Massenbildung rührt daher, daß sie Träger gewisser Züge (Zeichen/Symbole) und daß sie rücksichtsloser und «entschlosse­ ner» sind.5 Ideen und Objekte spielen zwar auch eine ähnliche mobilisierende Rolle, aber es wird immer die Präsenz einer (oder mehrerer) Person benötigt, weil schließlich die Identität eines Menschen (oder einer Gruppe) auf die Dauer nur mittels der Ide­ alisierung und der Identifizierung mit einem anderen Menschen stattfindet. Die gleiche Idealisierung begleitet notwendigerweise auch jede persönliche oder erotische Beziehung: Die Begeiste­ rung für den Anderen, die führende Persönlichkeit, den Leader, oder das Vorbild, das Idol (den Star), enthält immer sublimierte erotische Momente, unabhängig vom Geschlechtsunterschied. Die Masse nivelliert, sie kennt den Geschlechterunterschied nicht, sie hat einen narzißtischen Charakter. Das Bild vom «Organismus», das die Masse erzeugt, impliziert die Vorstellung des Führers als des «Kopfs» und der Mitglieder als der «Zellen» oder «Organe»; dies entspricht einem klassi­ schen Mythos des konservativen Denkens: Es geht um das Phan­ tasma des «Ganzen», das vollkommen, allmächtig und allwis­ send ist, und dem sich die Subjekte als Individuen unterwerfen und opfern müssen, Was «außerhalb» ist oder gerät, tendiert dazu als ein «Abfall», als ein Verräter, Apostat, Dissident, Frem­ der, angesehen zu werden. Der Abfall, als das «böse Objekt», ver­ dichtet die Aggressivität der Gruppe und spielt eine Rolle für ihre (imaginäre) Konsistenz: Jede Homogenität und Harmonie ist somit problematisch. Hier gilt die Ambivalenz der Triebe: Der Abfall ist der Doppelgänger des Führers. Der Tote, der Fremde, der König6 sind bei den primitiven Völ­ kern sakrale Personen und rufen ambivalente Gefühle von Be­ wunderung und Furcht hervor; so kann auch die fanatische Fi­ xierung auf den Führer plötzlich in ihr Gegenteil umschlagen und zu seiner Tötung führen, wenn er den Eindruck erweckt, daß er nicht mehr den bedeutenden «einzigen Zug», die Quelle des Charismas, und der magischen, d. h. hypnotischen Macht besitzt. Ursprünglich hatte diese (phallische) Macht (und hat im­ mer unbewußt) zwei Seiten: sie ist körperliche und geistige Kraft (Fähigkeit) und hieraus stammen die zwei Funktionen der mi­ litärischen und religiösen (auch der gesetzgeberischen) Herr­ schaft.

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Die kleinen Knaben phantasieren ihren Vater als ein allmächti­ ges Wesen und dies erweckt in ihnen ambivalente Gefühle: Auf der einen Seite bewundern und lieben sie ihn, sie wollen das «gleiche werden» wie er, indem sie sich mit ihm identifizieren, andererseits fürchten und haßen sie ihn, weil er ihnen be­ stimmte Sachen verbietet und vor allem die enge Beziehung zu der Mutter, was einen sexuellen Wunsch bedeutet. Beide Wün­ sche (der Vaterbeseitigung und des Mutterbesitzes) sind unver­ meidlich und notwendig in ihrem Zustandekommen; aber die katastrophale Lösung des Problems (wie beim antiken Ödipus) ist nicht unvermeidlich. Das ambivalente Verhältnis mit dem Va­ ter existiert bei den primitiven Völkern zwischen den Stammesmitgliedem und ihrem Führer, der den individuellen Vater «re­ präsentiert»; dies gilt weiter dort wo das Familienmodell (als tra­ ditionelle Monarchie oder Diktatur) weiter gesellschaftlich dominiert. Es wäre eine Illusion zu glauben, daß diese Tendenz in der De­ mokratie verschwinden würde. Das ödipale Konfliktmodell ist eine unvermeidliche und notwendige Station in der Geschichte des Subjekts allgemein; letzteres kann in der Folge sich nur dann weiter differenzieren, indem es für sich selbst auf das All­ machtsphantasma des Einen verzichtet. Dies erst führt das Ge­ setz ein, gegen die Willkür des Einen oder der Vielen. Die Indivi­ duen und die Gruppe können sich die Mühe und die Gefahren der Auseinandersetzung mit dem Einen oder den Vielen nicht «ersparen», weil nur diese Erfahrung die Subjekte jenseits des Imaginären konstituiert. Die Demokratie als auch die Vernunft sind immer die Negation ihres Gegenteils, sie existieren sonst nicht; sie setzen sie also voraus und sie benötigen sie. Daher kommt das Unbehagen in der Demokratie: Die Mühe ist groß und das Ergebnis gering, es geht aber nicht anders. Die Diktaturen sind im Gegensatz dazu «volkstümlich», weil sie immer imaginäre Lösungen verspre­ chen und imaginäre Sündenböcke anbieten. Diese Opfer absor­ bieren die Aggressivität der Gruppenmitglieder, die sie sonst gegen den Führer umleiten würden. Diese Mechanismen sind freilich im Schoß der Demokratie schon präsent, in Form von populistischen, rassistischen, nationalistischen oder fundamen­ talistischen Diskursen und Ritualen. Wie kann die Ambivalenz der Gefühle der jungen Männer über­ wunden werden? Nur wenn sie den Vater (oder seinen Repräsen­ tanten) symbolisch töten,7 und nur so überwinden sie das Phan-

91 tasma seiner Allmacht. Hier endet aber nicht das «Drama», weil die Söhne selbst allmächtig werden wollen; deswegen verschafft die real vollzogene Mordtat (kollektiv oder individuell, falls sie stattfindet) dem Täter das Gefühl von Allmacht. So verewigt je­ der reale (nicht symbolische) Mord die Gewalt und die Willkür. Der symbolische Mord bedeutet etwas anderes: den Selbstver­ zicht des Mörders auf das Allmachtsphantasma, seine symboli­ sche Kastration, d. h. die Erneuerung des Gesetzes. Die für die psychische und die soziale Welt wichtige symbolische Operation «Vatermord» mißlingt oft (wie in der heutigen Massengesell­ schaft) oder bleibt unvollendet auf primitiver Stufe stehen: Die Kriminalität, die Ausbeutung und die Unterdrückung stammen von hierher (ein realer Mord ist ein mißlungener Versuch eines symbolischen Mordes, eine mißlungene Erwartung des Neuen). Wenn diese symbolische Operation gelingt (dem Vater oder dem politischen Führer «nein» sagen, weil er selbst nicht in der Lage war, «nein» zu seiner eigenen Willkür und zu der Willkür der an­ deren zu sagen), dann wird der Vater zum Signifikanten.8 Der Name des Vaters, bzw. der tote Vater, ist ein Symbol, das das Ge­ setz, und den Anspruch auf Gerechtigkeit trägt; der symbolische Mörder identifiziert sich mit ihm und spürt Reue, weil die Re­ volte gegen den Vater, selbst wenn sie «gerechtfertigt» ist, immer auch imaginäre Rache und Neidphantasien enthält. Durch die Reue bekommt das Subjekt ein Gewissen gegenüber allen Men­ schen. Diese Universalisierung ist aber das Werk von Jahrhun­ derten und sie ist noch nicht eine allgemeine Realität; ursprüng­ lich (und weitgehend noch heute) gilt die Reue und die «Brüder­ lichkeit» nur innerhalb des Rahmens der Gruppe oder der Clique (Kirche, Nation, Klasse, oder Bande). Der andere, der Fremde ist noch nicht «ganz» Mensch. Die Masse ist die primitive Struktur sowohl der Gesellschaft als auch der Psyche (neben der Familie); der Erwerb einer individu­ ellen Identität ist eine mühsame und zerbrechliche Errungen­ schaft der Kultur. Ursprünglich hatten nur die Zauberer, die geistlichen und weltlichen Führer eine «Persönlichkeit», und sie fühlten und dachten für die Gesamtheit. Der Anspruch auf ein individuelles Gewissen wurde in der Geschichte zum erstenmal von den jüdischen Propheten (Jeremia) und den griechischen Philosophen (Sokrates) erhoben. Seitdem wurde dies, trotz aller Regressionen, zum universalen Anspruch. Stoizismus und Chri­ stentum einerseits, Aufklärung und Sozialismus andererseits, stellen Stationen dieser Entwicklung dar, die alles andere als ab-

92 geschlossen oder mißlungen zu betrachten ist; sie geriet aber sehr stark in Gefahr durch den Faschismus und den Stalinismus im 20. Jahrhundert. Die «Massenseele» bedeutet folgendes: Das Individuum hemmt sein Urteil und sein Begehren unter dem Druck und den An­ sprüchen der Masse und der Gemeinschaft, die zu außerordent­ lichen Leistungen von Heroismus, aber auch zu Verbrechen fähig ist. Solange es Kriege und Nationalstaaten gibt, wird auch die Masse unvermeidlich sein. Aber das Maß der Zivilisation wird durch den abnehmenden Grad der kriegerischen Mobilisie­ rung gemessen, sei es in Kriegs- oder in Friedenszeiten; die Pazi­ fisten können ebensosehr gewalttätig sein wie die Militaristen. Die Masse als «Clique» im jugendlichen Alter ist notwendig; das junge Individuum weiß nicht, was es will, es benötigt, abgesehen von der Leitung durch die Erwachsenen, die Gruppenorientie­ rung während einer bestimmten Phase. Wichtig ist hier, daß es nicht uninteressant ist, welche Qualität diese Gruppen haben. Wenn die Erwachsenen aus Unfähigkeit oder Indifferenz die Jungen ihrem Schicksal überlassen, zugunsten des Profits und des Konsums, dann verwildern die Cliquen (Punks, Freaks), sie werden zu «Stämmen» und «Banden», ein Zeichen des Verlas­ senseins seitens der Gesellschaft und des Mangels an Solidarität und Werteorientierung. D. h. die Qualität dei* Jugenderziehung ist eine Funktion des Verhältnisses, das die Erwachsenen ihnen gegenüber haben. Freud gibt folgende Definition der Masse9: Sie kommt dann zu­ stande, wenn eine Anzahl von Individuen an die Stelle ihres (in­ dividuellen) Ichideals das gleiche Liebesobjekt setzen, und infol­ gedessen ihre Ichs miteinander identifizieren. Das «Ichideal» (das nicht mit dem Idealich zu verwechseln ist) ist für jedes Indi­ viduum notwendig, damit dieses eine Identität entwickeln kann. Es existiert aber ein Unterschied zwischen dem Massenideal und dem Ichideal’. Das erste ist die äußere, primitive Form des zwei­ ten, mit dem es schließlich in Konflikt gerät. Denn ursprünglich existiert nur das Massenideal, das individuelle Ichideal ist eine spätere Entwicklung und es ist ungleichmäßig entwickelt, wie auch das Gewissen. Im Massenideal dominiert das imaginäre Element, während im (verinnerlichten) Ichideal das Symboli­ sche dominiert. Das Verhältnis Führer-Geführter in der Masse ist hypnotischer, suggestiver Natur:10 'Willen besitzt nur der Führer und dieser stößt nur an die Gewissensgrenzen der Geführten, wenn diese so

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etwas vorher entwickelt haben. Wie in der Hypnose ordnet sich der Geführte dem Führer unter, läßt sich gläubig jedesmal von seinen Argumenten überzeugen und wagt nicht ihn zu verlassen (dies gilt auch gegenüber einer kollektiven Parteiführung), weil er in jenem die Züge (wieder-)findet, die er bewundert. Dies gilt besonders in Zeiten wirtschaftlicher, politischer oder kultureller Krise, während der die Subjekte hysterisiert werden: Sie suchen nach einer Stütze, sie schwanken zwischen jeder Art extremer und irrationaler Situationen und sehnen sich schließlich nach einer Sicherheit, die sie scheinbar in einem Führer und einer Gruppe finden. Die Unterwerfung ist das Gegenteil der kritischen Selbstdisziplin gegenüber Autoritäten, die das Subjekt selbst beschloß zu befol­ gen, weil sie es freier gegenüber inneren und äußeren Abhängig­ keiten werden lassen. Diese Freiheit impliziert immer eine Unsi­ cherheit: Die Autorität ist kein Dogma, das für alles eine Antwort hat, sie impliziert das Akzeptieren des Mangels jeglicher totaler Wunschbefriedigung. Die Unterwerfung der Vielen unter den Einen (und des Individuums unter die Gruppe: Das «Eine» kann der «Gruppengeist» sein) schafft immer den Brüderlichkeitsmy­ thos: Eines der archaischen Phantasmen der Subjekte ist der Wunsch des Vatermordes seitens der Brüderhorde. Der religiöse Antisemitismus hat hier seinen Ursprung; aber es sind nicht «die Juden», die Jesus getötet haben, sondern alle Menschen töten Gott, und nur so werden sie «Brüder», und ha­ ben es nicht weiter nötig, Menschen zu töten. Dies gilt aber nur, wenn die Menschen bewußt dies verstanden haben und willent­ lich sich dazu bekennen. Eine wirkliche universale Brüderlich­ keit ist etwas anderes als der Haß auf Andersartige und Anders­ gläubige; sie setzt das Jenseits der identifikatorischen Liebe (in der partikularen Masse und in der Familie) und die Diskretion des einen Menschen gegenüber dem anderen voraus; d. h. den Respekt seiner Individualität und seiner Freiheit außerhalb des Konformismus jeglicher Gruppe. Die hier analysierte Masse impliziert eine bestimmte Form so­ zialer Verhältnisse; neben ihr existieren auch andere, kompli­ ziertere und differenziertere Formen, mit denen die Masse so­ wohl koexistieren als auch in Konflikt geraten kann. Sie hat auch ein ambivalentes Verhältnis zur Familie; einerseits scheint es, daß die Masse die Koexistenz mit dem Familienmodell be­ günstigt. Andererseits aber existiert ein wesentlicher Unter­ schied zwischen ihnen; die Familie (insbesondere die moderne

94 Kleinfamilie) begünstigt die Individualität, indem sie das Indivi­ duum zwingt, gegenüber seinem Begehren und seiner Identität Stellung zu nehmen, wenn es sich gegen den Anspruch und das Begehren der Eltern auflehnt. Eine «ideale» Form eines «harmonischen» sozialen Verhältnis­ ses («klassenlose» Gesellschaft oder «Volksgemeinschaft») gibt es nicht; verschiedene Formen, die immer Mängel aufweisen, koexistieren miteinander, und je nach Situation können sie un­ vermeidlich oder nützlich sein. Trotzdem ist es gerechtfertigt zu hoffen, daß die Masse im Rahmen einer entwickelten Demokra­ tie, aufhören wird relevant zu sein; in diesem Rahmen verlieren sich die Individuen nicht, denn sie haben starke innere Stützen (und äußere), die sie gegen jegliche hysterische Identifizierung mit einem Führer gefeit machen. In der Alltagssprache hat die «Masse» jedoch eine andere Bedeu­ tung: Sie bedeutet einen «Haufen», d. h. die Menge atomisierter Individuen, die beziehungslos und indifferent zueinander ste­ hen. Diese «Masse» wird als das Produkt der kapitalistischen und bürokratischen Gesellschaft angesehen. (Marx hat freilich eine andere Vorstellung von «Masse»; er meint die «bewußten» Massen von Proletariern, die sich gegen den Ausbeutungsme­ chanismus der kapitalistischen Gesellschaft auflehnen. Es ist ein totalisierender Begriff, der nicht frei von Idealisierungen und Homogenisierungen ist). Ein solcher Zustand ist nicht absolut: Er existiert partiell oder am Rand und ist von historischen Fak­ toren abhängig. Jenseits von Haufen, Masse und Familie existieren die sozialen, politischen und kulturellen Institutionen und die bürokratischen Apparate; diese überwinden die unverbindliche Haufenanonym­ ität und die hysterische Massenidentität und verleihen dem Hau­ fen, der Masse und der Familie einen stärkeren Organisations­ grad. Im Rahmen eines bürokratischen Apparats erfinden die Subjekte immer informelle Beziehungsnetze, die die formellen Verhältnisse überwinden. Aber ein Merkmal der Apparate bleibt die Tatsache, daß ihre Mitglieder sich hassen und immer in einem Konkurrenzverhältnis zueinander stehen. Die bürokratische und kapitalistische Gesellschaft hat ein dia­ lektisches Verhältnis zur Massenhysterie: Sie erzeugt ein Unbe­ hagen und eine Isolierung, so daß die Subjekte sich nach einer «Gemeinschaft» sehnen: Der Fußball und das Fernsehen schaf­ fen solche Gemeinschaften, sowie einen Diskurs, der die Indivi­ duen interessiert, obwohl er Unsinn erzeugt.

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Der Totalitarismus ist verschieden von allen anderen Modellen,11 seine Natur liegt in der gleichzeitigen Perversion der Masse, der Institutionen und der Apparate (er ist weder eine einfache Dikta­ tur, noch ein einfacher autoritärer Staat). Wie das Wort sagt, gibt es hier eine Konvergenz von Masse, Institutionen und Apparaten zu einem «Ganzen», im Rahmen dessen die Individuen total von einem terroristischen, bürokratisierten Apparat kontrolliert wer­ den, der zur «Institution» geworden ist, indem er die herkömm­ lichen Institutionen ersetzt und verdoppelt. Indem dieser Appa­ rat (Partei, Propaganda, Polizei) das Monopol der Macht und der Ideologie besitzt, versucht er nicht nur die Handlungen, son­ dern auch die Gedanken und die Sprache der Menschen zu kon­ trollieren und zu reglementieren. Dieses System hat eine homo­ loge Struktur mit der Psychose und der Paranoia: Es herrschen das allgemeine Mißtrauen und die Lüge. Die Menschen lügen hier nicht nur, sondern sie glauben auch daran. Aber weil die Vorstellung vom «Ganzen» und «Vollkommenen» ein regressives Phantasma darstellt, so kann nur die Trennung der verschiede­ nen Machtzentren die notwendige Existenzbedingung der indi­ viduellen Freiheit und der Demokratie sein. Die Beseitigung des totalitären Systems bereitet große Schwierigkeiten und muß un­ ter Opfern erreicht werden; aber strukturell ist dieses System al­ les andere als monolithisch anzusehen, denn es wird von vielen kontingenten Faktoren und internen Konflikten durchzogen. Das «Ganze» bleibt immer eine Fiktion.

II.1.2. DIE STRATEGIE DER PROPAGANDA UND DER KOLLEKTIVEN SUGGESTION

Damit die Massen mobilisiert werden, reichen weder die Gewalt, noch die Vernunft aus, sondern werden die imaginären12 Ele­ mente der Verführung benötigt. Je entwickelter die politische Kultur eines Landes ist, desto mehr verschwindet das Gewalt­ moment, nimmt die Verführbarkeit ab und dominiert die Ver­ nunft. Die Verführung ist ein wesentliches Moment des Prestiges des Führers, der die Fähigkeit besitzt, den Massen eine «bes­ sere» Realität vorzugaukeln und das Banale in etwas Außeror­ dentliches zu verwandeln. Diese phantastischen Momente wir­ ken immer neben und mit instrumentellen, egoistischen Kal­ külen der Massen, die einen schließen die anderen nicht aus. Dieser Mechanismus funktioniert immer ambivalent, unabhän-

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gig von den «guten» oder «bösen» Zielen der Masse: Jede Begei­ sterung und jede wirksame Mobilisierung der Masse verlangt, daß die Ziele idealisiert und verschönert erscheinen, unabhängig davon, ob es sich um Verbrechen oder Befreiungstaten handelt. Der erfolgreiche Führer ist derjenige, der sich selbst suggeriert,13 während er die Massen suggeriert; er muß an seine Rolle «glau­ ben» und sich mit ihr identifizieren, viel intensiver als ein Schauspieler, weil letzterer immer das Bewußtsein hat, daß er außerhalb der Bühne, ein «anderer» Mensch ist. Das Moment der Idealisierung des Massenführers und der Massenziele, ist ein konstitutiver Bestandteil der Massenpsychologie. Die Struktur der letzteren, so wie sie Freud definiert hat, hat Folgen: a) Die Identifizierung der Individuen untereinander findet nur als Folge eines gemeinsamen Merkmals zwischen ihnen, hier der Liebe zum Führer, statt; so führt das Mitgefühl und die Sympa­ thie nicht zur Identifizierung, sondern umgekehrt, die letztere führt zur ersten. b) Die Installierung eines äußeren Objekts, des Führers an der Stelle des Ichideals14 der Mitglieder der Masse, bedeutet eine psychische Regression. Dies weil das psychisch differenzierte Subjekt kein Massenideal, sondern ein individuelles Ichideal be­ sitzt, zu dem es ein distanziertes Verhältnis hat. c) Die Verführung ist eine Folge der Idealisierung, die narzistischer Natur ist. Das Subjekt verschiebt im Verliebtsein, in der Hypnose und in der Masse seinen Narzißmus auf den Anderen, so daß der andere ihn verführt. Dies gilt sowohl für das sexuelle Objekt, als auch für das Objekt der Identifizierung. Das Wort «Objekt» ist psychisch immer zweideutig. Wichtig ist hier, daß das «Objekt» nicht einfach als «Körper» fasziniert, son­ dern weil es immer auch Träger von Merkmalen ist, die einen symbolischen Charakter haben. Deswegen ist es möglich, wenn das Individuum psychisch erwachsen und differenziert ist, daß es aufhört, sich auf Personen zu fixieren und anfängt, sich an Ideen und Symbolen zu orientieren. Der Begriff der Verführung beschränkt sich nicht auf Körper und Sachen, sondern betrifft ebensosehr Signifikanten und Ideen. Die Faszination ist hier eine Art «Aura», die das Bild der Sache oder der Idee ausstrahlt; sie hängt aber zusammen mit den Parti al Objekten der Triebe, die mit den Objekten einhergehen. Die Führeridealisierung impliziert, daß um seine Person herum Mythen und Legenden entstehen. Hier ist interessant, das Bei­ spiel von Hitler zu erwähnen.15 Hitler übte eine gewaltige charis-

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matische Ausstrahlung aus, die fähig war bis zum Kriegsende alle politischen Gegensätze und Konflikte imaginär zu über­ brücken. Aber das Führerbild war von der realen Person Hitlers unterschieden; er bot sich jedoch selbst für solch eine Trennung an. Sein «Bild» war das brillante Ergebnis der Arbeit der Propa­ gandisten des Nationalsozialismus; es würde freilich erfolglos bleiben, wenn es nicht gewisse volkstümliche «Erwartungen» seiner Zeit erfüllen würde: die Nostalgie nach einem heroischen, messianischen Führer. Die Elemente des Hitlermythos implizieren unter anderem einen starken Populismus und Gemeinschaftsgeist, die lange vor Hitler verbreitet waren. Der Mythos besagte, daß Hitler der Garant der Staatsautorität war und «rücksichtslos» das «Recht und die Ord­ nung» durchsetzte; daß er integer und jenseits von partikularen oder individuellen Interessenfixierungen war und nur vom Wunsch, «dem Volke zu dienen», bewegt war; daß er die Arbeits­ losigkeit radikal überwand; daß er den Extremisten in der eige­ nen Partei Mäßigung aufzwang; daß er rücksichtslos, aber gemäß den Rechtsordungen, die «Staatesfeinde» und die «Volks­ verführer» bekämpfte; daß er ein mutiger und erfolgreicher Di­ plomat war und später ein «genialer Heerführer» wurde; daß er die nationale Würde Deutschlands gegen den «Schandfrieden» von Versailles wiederherstellte. In der zweiten Kriegshälfte, ab 1942, begann langsam die Zersetzung des Mythos, aber die Be­ völkerung, mittels einer typischen Spaltung des Situationsbilds, projizierte die Schuld für die moralische und politische Kata­ strophe auf die Partei und die SS. Die Propagandastrategien beziehen sich auf die imaginäre Orga­ nisation des Raums, der Zeit und des Wortes.16 Die Vorführun­ gen und die Rituale, die Inszenierungen und das optisch-akusti­ sche Timing des Auftretens der Führer und der Geführten, sind Bestandteile der Propaganda. Die Rituale sind religiösen Ur­ sprungs,17 die versammelten Massen nehmen mit Innigkeit ge­ meinsam an einem «Sakrament» der Präsenz und Kommunikation/Kommunion des völkischen Geistes teil; ihre Teilnahme ist notwendig, es ist das populistische Element der «volksherr­ schaftlichen» Teilnahme. Der feierliche Charakter dieser politi­ schen Liturgie verlangt die Verwendung aller Art von Symbolen und Bildern, und die Konzentration der gemeinsamen Aufmerk­ samkeit auf einen Punkt. Um den Idealtypus dieser Prozesse zu studieren, muß man die klassischen Fälle der Massenmobilisierung aufsuchen, wie das

98 selten in den funktionierenden demokratischen, liberalen und industriellen Ländern stattfindet. Es findet aber z.T. im Rahmen von sportlichen und Konzertveranstaltungen statt. Eine Aus­ nahme bilden hier die Versuche der religiösen Sekten, der extre­ mistischen Organisationen und der populistischen Parteien, diese Rituale in demokratischen Ländern wieder lebendig zu machen. Die politischen Liturgien haben zum Ziel, die Ge­ führten zur Aktion zu drängen und ihnen ihre Gruppenidentität zu stärken, indem sie gemeinsam Handlungen begehen, die sie aneinander binden (als Komplizen): z. B. Mordversuche, Atten­ tate, Vandalismen, Kult, Hysterie, Liquidierung von «Abtrünni­ gen» usw. Aber die «Liturgie» muß das alles beschönigen; alle diese Handlungen implizieren ein gespaltenes Subjekt (eine Spaltung paranoider, perverser oder neurotischer Struktur): Das «gute» Objekt ist der Führer und die Gruppe, das «böse» Objekt alle anderen außerhalb der Gruppe. Die Zerstörung des «bösen» Objekts bedeutet eine imaginäre Identifizierung mit dem «guten» Objekt: z.B die Verbrennung der Bücher von Marxisten, Psychoanalytikern oder jüdischen Autoren durch die National­ sozialisten am 10. 5. 1933, oder die Zerstörung und Plünderung von jüdischen Läden und Synagogen in der «Kristallnacht» am 9./10. 11. 1938, oder die Besetzung der US-Botschaft durch die Schiiten in Teheran im Jahr 1979. Andererseits kann die Erstürmung der Bastille am 14.7.1789 auf diese Liste gesetzt werden. Aber der symbolische Gehalt all die­ ser Fälle ist unterschiedlich: In den drei ersten Fällen geht es um Handlungen von Haß, Fanatismus und Paranoia, während es sich im letzteren um eine Widerstandshandlung handelt. In allen Fällen aber gibt es keinen realen Nutzen, und keine strategische oder ökonomische Bedeutung, es gibt nur eine symbolisch-ima­ ginäre Bedeutung; die Ausrottung der Juden durch Hitler hatte keinen «praktischen Nutzen»» für das Regime, im Gegenteil schadete sie ihm. Die Plünderung aber des jüdischen Eigentums durch die Nationalsozialisten «nützte» ihnen nur persönlich. Man darf nicht die Opfer mit dem Begriff des «Sündenbocks» identifizieren, wie das fälschlicherweise geschieht. Denn dieser hatte mit dem religiösen Opfer zu tun; wie es im alten Testament berichtet wird, wählten die alten Juden einmal im jahr zwei Böcke, auf die sie symbolisch ihre Sünden luden: Den einen op­ ferten sie, während sie den anderen in die Wüste verjagten, in «Gottes Hand» entliessen, und von hierher stammt die Bezeich­ nung. Ähnliche Rituale hatten alle Völker. Bei den alten Grie-

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chen gab es z.T. in einigen Städten die Sitte, einen häßlichen oder armen Mann oder einen Verbrecher zu wählen, ihn während eines Jahres auf Staateskosten zu «mästen», um ihn dann von allen Bürgern gemeinsam an einem bestimmten Tag zu steinigen und aus der Stadtmauer hinaus zu jagen. Dieser Mensch hieß «pharmakos»18 (Pharmakon bedeutet Gift und Me­ dikament). Gewöhnlich enthüllt das Sühneopfer seinen ambivalenten Cha­ rakter; es ist gewöhnlich ein Tier, oder ein Mensch, körperlich unversehrt, unschuldig, d. h. ohne körperliche, geistige, oder moralische Mängel, was es in die Lage versetzt, «die Sünden der Welt» zu tragen. Dies bedeutet aber nicht, daß die Sühneopfer aufhören, weltliche Wesen zu sein: Viele Helden der griechi­ schen und der germanischen Mythologie haben einen körperli­ chen Fehler, der sie von den gemeinen Sterblichen unterschei­ det; wie die Opfer, sind sie «Mittler» zwischen den Göttern und den Menschen. So ist unbewußt jeder Führer für seine Geführ­ ten ein potentielles Opfer, deswegen muß immer wieder für ihn ein Ersatzopfer gefunden werden, daß in der Form des bösen Objekts getarnt wird. Abgesehen davon werden alle Gruppen­ mitglieder zu «Opfern» für das Ganze angehalten; hier wird die heidnische Opferideologie voll restauriert. Die Rolle des bösen Objekts ist eine andere; es hat keine Reini­ gungsfunktion, es muß liquidiert werden. Demgegenüber ist es in den archaischen Phantasmen der Vater, der geopfert (getötet) wird, um dann als Signifikant wieder aufzuerstehen, er ist dann der Name des Vaters, und im Bewußtsein der Söhne nimmt er noch weiter die Form des Ichideals und des Gewissens an. Jenes Vatertötungsphantasma wird aber meistens durch ein anderes, bewußtes Phantasma verdrängt: durch die Kindertötung. Der Führer, als der «Sohn», ist derjenige, der im Namen des Vaters (oder des Volks) die Gruppe regiert, er läuft aber Gefahr, eines Tages das gleiche Schicksal wie der Vater zu erleiden, unabhän­ gig davon, ob er «schuld» hat oder nicht; auf jeden Fall wird er aber dann in den Augen seiner enttäuschten Anhänger ein «Ver­ sager» sein. Eine differenziertere Gesellschaft schafft die Menschenopfer ab und ersetzt sie durch Tieropfer. Später wurden auch diese durch das «moralische Opfer» des Subjekts ersetzt. Aber die Ge­ schichte aller Völker weist Elemente von Regressionen auf; poli­ tische Verbrechen und Morde auf kollelktiver Ebene zeigen, daß das Moment des Menschenopfers und das Element der Verfol-

100 gung und der Rache oft wieder an die Oberfläche gelangen. Der Königsmord vereinigt beide Elemente. Das religiöse Opfer hat immer einen «positiven», symbolischen Charakter für eine Gruppe, es gibt ihr eine «Identität». Im Gegensatz dazu hat das politische Verbrechen aus ideologischen Gründen (wie auch im Fall des religiösen Fanatismus) einen paranoiden und unsozia­ len Charakter. Das Wort, die Stimme, der Blick und das Bild, spielen eine wich­ tige und ambivalente Rolle in der Propaganda.19 Sowohl Hitler als auch Gandhi mobilisierten die Massen, der erste war für die Gewalt, der zweite gegen sie. Hitler kultivierte bewußt den Per­ sonenkult, während Gandhi ihn bewußt mied. So sieht man, wie die Verwendung der gleichen Mittel, je nach der Absicht, die da­ hinter steckt, zu ganz anderen Ergebnissen führt. Das, was einen alltäglichen Satz in einen verführerischen Satz verwandelt,20 ist die Summe all jener, verbaler oder nicht verba­ ler Elemente, welche dem Satz eine «magische Aura» verleihen; sie bringen die Individuen dazu, unter der hypnotischen Wir­ kung der Licht- und Toneffekte, des Blicke und der Stimme, in archaische psychische Situationen zu regredieren. Kein Subjekt kann je sicher sein, daß es unter besonderen Bedingungen nicht «magisch» reagieren würde, weil niemand genau weiß, welche Art Ängste und Phantasmen der frühen Kindheit er in sich birgt. Das Prestige, die «Aura» des Führers, seine autoritäre, entschlos­ sene Haltung, seine Rhetorik, sind konstitutive Elemente der Propaganda. Genauer, die Herrschaftsrhetorik21 impliziert einige Merkmale wie die kategorische Bejahung und die Wiederholung einer Idee, die Inszenierung fiktiver Fragen und Antworten sei­ tens des Führers und die Vermeidung eines echten Dialogs, die Wiederholung trivialer Gemeinplätze, die paradoxerweise, anstatt Langeweile zu erzeugen, den Zweck haben, die Geführten einzu­ schläfern. Die Wiederholung hat, wie in der Dichtung, den Cha­ rakter des Ewigen, des rhythmischen Spiels, der Wiederkehr des Infantilen. Andererseits wird sie gebraucht, um Slogans und Formeln zu konstruieren wie: «Freiheit oder Tod», «Es lebe die Nation», «Tod dem Imperialismus». Die Formeln22 prägen sich durch die Wiederholung im Kopf ein, sie verlangen nicht jedesmal nach einer kritischen Interpreta­ tion, sie werden «selbst-verständlich», so daß sie hypostasiert werden und die Geführten haben den Eindruck, daß die For­ meln unmittelbar «die Sache selbst» ausdrücken. Jede Diskus­ sion über den «Inhalt», ob der Sinn der Formel der richtige sei

101 oder nicht, hat keinen «Sinn», weil die Formel magisch funktio­ niert, als ein Signifikant, der beschwört und zur Tat drängt, zu einer rituellen Handlung, die die Realität nicht ändert, wenn nicht auf imaginäre oder zerstörerische Weise. Die Formeln und die Slogans konstituieren den Kem des Gerüchts, der Vortuteile, der Verleumdung. Hier herrscht eine idealistische Sicht über das Verhältnis der Zeichen zu den Dingen, die Ansicht, daß die «Dinge» von selbst durch die Formeln sprechen, während in Wirklichkeit konkrete Menschen unter konkreten Bedingungen von Macht, Begehren und Angst, die Dinge benennen und beschreiben, d. h. die Bezie­ hungen unter ihnen. Indem sie sie aber benennen, bestimmen sie sie gleichzeitig. Die Sprache der Stereotypen, der Clichys, hat bewußt oder/und unbewußt den Zweck, die Geschichte, die Zeit, die Veränderung und die Kontingenz abzuschaffen. Deswegen die Vorliebe dieser Sprache für pseudologische Formeln, die oft die bürokratische Sprache imitieren; sie mißbraucht dabei die Tatsache, daß die Logik die Summe der Regeln des Geistes ist, die jenseits der Geschichtlichkeit, das Funktionieren des Geistes und des Wortes, als auch das der Gesellschaft in der Geschichte erlaubt. Das Verlangen nach einer «Logik der Geschichte» oder nach der Identifizierung der Geschichte mit der Logik ist absurd, weil hier Logik Konsistenz, Homogenität, Notwendigkeit bedeutet, während die Geschichte außer diesen Elementen, die Inhomoge­ nität und die Kontingenz impliziert. Diese Elemente der Kontin­ genz darf und kann man nicht auf ihr Gegenteil reduzieren. Hannah Arendt betont die Rolle, die die Logik als «identisch» mit der Geschichte,23 im stalinistischen Diskurs gespielt hat; dies entsprang dem Mißverständnis der Dialektik von Hegel und Marx, als auch dem Mißverständnis der Naturwissenschaften. Die autoritäre Formulierung des Dogmas, daß die «Theorie die Dinge wiederspiegelt, so wie sie sind», daß «die Partei die ganze Wahrheit besitzt» und daß «das, was dem System dieser Wahr­ heit widerspricht, im Gegensatz zu den Gesetzen der Geschichte und der Natur steht», hatte die Perversion des Logikbegriffs wie auch der anderen Begriffe zur Folge. Für Stalin bedeutete der Satz: ««Die Klasse der Kulaken ist von der Geschichte zum Verschwinden verurteilt» «logisch», daß er das Recht und die Pflicht besaß, sie physisch zu liquidieren. D. h. das Mißverständnis des Wortes «verurteilt», das als Metapher un­ gefährlich ist, macht aus ihm ein kriminelles Wort: Die Opfer der

102 Periode 1928-33 werden mit 9,4 Mio Toten beziffert. Außerdem waren alle, die mit dem stalinschen System in Widerspruch ge­ rieten, «logisch betrachtet» «irrationale Wesen», d. h. sie mußten in KZs und später in psychiatrische Kliniken eingeführt werden, um mit Elektroschocks und durch Gehirnwäsche «geheilt», d. h. «umprogrammiert» zu werden. Aber diese Denkart übte einen Einfluß auf die Masse der Geführten aus, weil sie nicht durch Fakten und Argumente überzeugt werden, sondern an ein konsi­ stentes, geschlossenes System glauben, das über der Realität schwebt, d. h. es kann durch nichts widerlegt werden. Diese extremen Fälle der Massenpsychologie können immer wie­ derkehren. Gerade in der Religion, insbesondere bei den Sekten geschieht das häufig.

II.1.3. SYMBOLISCHE UND IMAGINÄRE FÜHRER Die Geschichte wird nicht ohne große Männer gemacht; diese Feststellung ist nicht mit der Auffassung identisch, daß nur die großen Männer Geschichte «machen». Das, was die Geschichte bewegt, ist der Dialog zwischen den Führern und den Massen: Dieser Dialog ist ein strukturell notwendiges Element des politi­ schen Lebens, ohne ihn gibt es keine politische Kultur. Hier ist es wichtig herauszubekommen, ob in diesem Dialog das Symbo­ lische oder das Imaginäre dominieren, d. h. ob er ein Pseudodia­ log ist oder nicht. Dies bestimmt die Form, die die Wahl und die Kontrolle der Führer annimmt, d. h. das System der Repräsenta­ tion und der Partizipation der Bürger. Sowohl die mystische Identifizierung des Führers mit seinen Anhängern, als auch die mystische Unmittelbarkeit an der Basis ohne Vermittlungen und Gewaltenteilung, zerstören den politischen Dialog, die Differenz und die kreative Spannung, die die letzte einführt. Weil dieser Dialog zerbrechlich ist und ständig hinter den Leidenschaften und den Interessen der Bürger «im Massenzustand» zu ver­ schwinden droht, deswegen müssen wir die Qualität der Führer differenzieren. Diese Differenzierung kann nur symbolischer Natur sein, und sie hat reale Folgen. Es gibt zwei24 Idealtypen von politischen und religiösen Füh­ rern, die in der Geschichte oft miteinander koexistieren: auf der einen Seite sind es die Propheten des Alten Testaments, die Ge­ setzgeber und Gründer von Religionen und Städten im antiken

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Griechenland, Rom, Westeuropa, die Erneuerer von Religionen und Staaten: Moses, Jesus, Paulus, Mohammed, Karl der Große, Luther, Cromwell, Marx, Gandhi usw. Alles Persönlichkeiten, die nicht idealisiert werden dürfen, widersprüchliche Personen mit großen Fähigkeiten, die auch nicht dämonisiert werden dürfen. Auf der anderen Seite sind die Tyrannen, Demagogen, Diktato­ ren, Könige mit magischen Kräften, Shamanen, Zauberer, Prie­ ster. In der «Massenpsychologie», geschrieben nach dem ersten Welt­ krieg (1921), analysiert und ergänzt Freud seinen Untersu­ chungsgegenstand von vor dem Krieg in «Totem und Tabu». In beiden Büchern geht es um das Phänomen des autoritären Füh­ rers und der gefügigen Masse, so wie es in der Geschichte vorge­ kommen ist, etwas das oft unvermeidlich war. In den letzten Jahren seines Lebens seit 1934, in der Zeit des Triumphes des Nationalsozialismus und des Antisemitismus, analysierte Freud, in Kontinuität und in dialektischer Negation des «totemisti­ schen» Führers, die Rolle von Moses als Gründer des Monotheis­ mus. Dies ist nicht zufällig, weil sowohl der Nationalsozialismus als auch andere Zeitströmungen die Rückkehr zum Paganismus und zum Polytheismus predigten, indem sie seine angebliche Überlegenheit gegenüber dem Monotheismus, als einer «jüdi­ schen Konspiration», lobten. Unter Polytheismus meinten sie vor allem die Verwerfung der Vernunft zugunsten des «Lebens» und der «Rasse». Man braucht aber nicht an eine Religion zu glauben, um ihre Eigenschaften festzustellen: Das Element, das Freud in «Der Mann Moses und die monotheistische Religion» betont, ist «der Fortschritt in der Geistigkeit»25 und das Verbot der Konstruktion und der Anbe­ tung der Bilder (Idole); der Monotheismus enthält also das, was das Wesen des Symbolischen ausmacht. Das Symbolische ent­ wickelte sich in seiner reinen Form auf der religiös/ethischen Ebene bei den alten Juden, während es sich bei den alten Grie­ chen und Römern auf der politisch-philosophischen Ebene ent­ wickelte. Die Persönlichkeit von Moses stellt das Vorbild jedes nicht tyran­ nischen Führers dar, und die Grundsätze die Moses formulierte, kehrten in großer Intensität bei den Propheten wieder. Das Stu­ dium der Führertypen führt zu Folgerungen bezüglich der Periodisierung der Geschichte, zu deren Erhellung die politische und religiöse Psychologie eine bedeutende Rolle spielen; es geht um die Verbreitung, das In-Vergessenheit-geraten und die Wie-

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dergeburt der Grundsätze, die gewisse große Führer zu einem bestimmten Zeitpunkt in ein Volk oder eine Gruppe eingeführt haben. Der «Verfall»' und die «Pervertierung» einer Botschaft bei den Epigonen und Nachkommen ist zwar nicht fatal, aber auch nicht zufällig, denn jedes anspruchvolles Programm von Grundsätzen kann falsch verstanden und realisiert werden, weil es immer sowohl gegen organisierte Interessen, als auch gegen seelische, kulturelle Gewohnheiten stößt. Die Geistigkeit des Monotheismus26 besteht darin, daß in der mosaisch/jüdischen Tradition, das Wort des Anderen und nicht die Inszenierung seiner Präsenz im Vordergrund steht, und das bedeutet, daß die Subjekte die Ideen und nicht ihre Träger re­ spektieren sollen. Darüber hinaus versuchen die symbolischen Führer die Tendenz ihrer Anhänger, sie nachzuahmen, zu ver­ hindern. Moses hat zwar eine strenge Moral durchgesetzt (gegen viele Widerstände), aber das war die Bedingung für die Heraus­ bildung der Identität27 eines Volkes, die ihm die Kraft gab, in der Zukunft alle Arten von Katastrophen zu überleben. Die wieder­ holten Rückfälle der alten Juden in den Polytheismus zeigen, daß es oft Widerstände und Reaktionen gegen das Programm dieser «Kulturrevolution» gegeben hat, das die narzißtischen Illusionen nicht schmeichelt, sondern die Wahrheit ausspricht. D. h. es verlangt moralische Opfer, die Anerkennung seiner Gren­ zen durch jeden, die Anerkennung der Individualität jedes Sub­ jekts durch die Gemeinschaft, und es verlangt ebenso die Exi­ stenz von Pflichten und Rechten für alle zugunsten einer gerech­ ten Gesellschaft. Was Moses verwarf war die Wildheit, die «Willkür, die Verach­ tung des anderen, der Gebrauch von Gewalt und Magie durch die Führer und Priester, d. h. den Personenkult. Im Polytheismus ist die Person des Führers «heilig» (geweiht), d. h. er partizipiert am Göttlichen; im Monotheismus ist das unmöglich. Wie die Ge­ schichte gezeigt hat, bedeutete der Monotheismus später die notwendige Bedingung der europäischen Demokratie. Die ur­ sprüngliche christliche Gemeinschaft hatte den Inhalt des Pro­ gramms von Moses und den Propheten, bereichert mit einer weiter entwickelten Botschaft, wiedereingeführt. Aber die tragi­ sche Geschichte des Christentums besteht darin, daß im 4. Jahr­ hundert, unter dem Druck der Legalität und des Masseneintritts, das Christentum z. T.zu totemistischen und halbmagischen Mo­ dellen regredierte. Diese Regression geschah unter den histori­ schen Bedingungen einer orientalischen Despotie: Die Person

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105 des Kaisers im Orient (Byzanz) war «heilig», so wie das mit Alex­ ander (dem Großen) und Augustus schon begonnen hatte. Dies führte dann auch zu der Sektenbildung im Mittelalter und in der Renaissance, die die Komplizität von Kirche und Kaisertum in Frage stellte: im Osten Bilderstürmer, Paulizianer, Bogomilen, im Westen Katharer, Apokalyptiker, Millenaristen usw. Die imaginären Führer haben die Aura der Allmacht28 und sie wollen, daß die Masse sich mit ihnen primär identifiziert (siehe die Kulturrevolution in China, während der alle eine Mao-Pla­ kette trugen). Anstatt die Wahrheit zu sagen, d. h. die Grenzen der Realität aufzuzeigen, versprechen sie den Massen Wunder, Wirtschaftswachstum ohne Anstrengung, nationale Eroberun­ gen, öffentliche Prestigebauten, demagogische Befriedigung al­ ler Gruppen gleichzeitig. Die Errungenschaften gelingen nicht als Folge einer Anstrengung, als «Belohnung»29 des Ichs der Bür­ ger seitens ihres Über-Ichs, sondern als List und Betrug zuun­ gunsten anderer, oder ihrer eigenen Zukunft. Diese abenteuerliche Politik (Napoleon I und III, Lassalle, Mus­ solini, Hitler, Stalin, Mao, Tito usw.) erzeugt unbewußt bei allen Bürgern einen zunehmenden Mangel an Selbstrespekt. Die Bür­ ger im Zustand der Masse respektieren sich selbst nur mittels ih­ rer Identifizierung mit den «brillanten» Taten und den Verspre­ chungen des Führers, obwohl sie wissen (oder ahnen), daß Ge­ walt und Betrug dahinter stecken. Dieser Zustand akkumuliert Unbehagen, Angst und Schuldgefühle, die sich periodisch gegen angebliche äußere und innere Feinde richten. In diesen Fällen sind die Diktatoren (oder die führenden Parteicliquen) beson­ ders «empfindlich» bezüglich der nationalen «Würde», weil sie die letzte Stütze bietet, um die Aufmerksamkeit der Massen von den Problemen abzulenken. Die chauvinistische und imperiali­ stische Politik zahlt sich zunächst immer aus: Wenn die Bürger materiell und psychisch in den Massenzustand regrediert sind, kehren sie nicht so leicht um, sie sind selbst Gefangene (ver­ führte) ihrer Führer, und sie haben die Flucht nach hinten ange­ treten bis zur Katastrophe, die sie dann gewaltsam aufwecken wird. Die (reale oder imaginäre) Existenz eines gemeinsamen, nationalen Feindes, schafft gerade das gemeinsame Merkmal, das sonst in einer zerrissenen Gesellschaft nicht mehr existiert. Es gibt eine enge Beziehung zwischen der Politik und der Reli­ gion in dem Maße, in dem gewisse Mythen und gewisse auto­ ritäre Beziehungen zwischen Führern und Geführten existieren. Das sieht aber anders aus bei den charismatischen symbolischen

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Führern, die ein Prestige haben, weil sie gespaltene Subjekte30 auf eine manifeste Weise sind, und in ihrer Person intensiv das ausdrücken, was jeder potentiell ist, aber nicht konsequent aus­ gebildet hat. Die psychische Dialektik in der Geschichte besteht in der Durchsetzung des Einen gegenüber den vielen Anhängern, die sich gegen ihn aufgelehnt haben (real oder imaginär), aber dann auch in seiner Ersetzung durch einen aus den vielen: Der charismatische symbolische Führer hat gleichzeitig die Merk­ male beider. Er besitzt die Merkmale der Position und der Nega­ tion, d. h. der Stiftung des Neuen einerseits, die eine willkürliche und autoritäre Tat ist, und der Selbstbeschränkung, der Verwei­ gerung des Personenkults andererseits. Diese Dialektik gilt in er­ ster Linie für die monotheistischen Religionen und nicht für alle. In dem Maße, in dem der Kult herrscht, wie in der asiati­ schen Despotie, im Absolutismus oder in der Diktatur, wird die Subjektspaltung verdrängt und dominiert die paranoide Spal­ tung zwischen dem imaginären Bild des Einen, allmächtigen und allwissenden und seinen Widersachern. Es gibt jedoch einen wesentlichen Unterschied zwischen den realen und den weltlichen Religionen (des Nationalismus, Kom­ munismus, Faschismus): Die ersten versprechen den Menschen Erlösung und Glück in einer transzendenten Welt und Zeit, die die existentielle Dimension der Menschen betrifft. Im Mono­ theismus (genauer im westlichen Christentum und im Juden­ tum) ist die Differenzierung und die Trennung zwischen dem Heiligen und dem Profanen möglich, so daß die Irrationalität des Glaubens nicht innerhalb der Gesellschaft und in der Politik reproduziert werden muß, denn dort soll und kann die Vernunft herrschen. Bei den weltlichen Religionen gilt diese Unterschei­ dung nicht, weil hier die narzißtische Selbstvergottung des «Menschen» gilt: Das war das irrationale Ergebnis der «Dialek­ tik der Aufklärung», das die Aufklärung und den Sozialismus be­ gleitete. So erschienen die Ideologien des Fortschritts und des dialektischen und des historischen Materialisnus, die den Men­ schen Erlösung und Glück auf Erden versprechen, indem sie jede Differenz zwischen dem Transzendenten und dem Weltli­ chen, oder zwischen der existentiellen und der sozialen Dimen­ sion der Subjekte abschaffen. In diesen Fell sind die traditionel­ len Religionen «menschlicher» als die weltlichen, die im Namen der «Nation», des «Volkes», der «Rasse», des «Proletariats», oder der «Partei» Millionen Meschen Erlösung und Glück verspra-

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chen und sie wiederholt in die Katastrophe, die Enttäuschung und die eindimensionale Lebensauffassung führten. Die weltlichen Religionen erfüllen, wie die wirklichen Religio­ nen, drei Funktionen:31 sie bieten eine Weltanschauung an, die die Phänomene erklärt und dem sozialen und historischen Ganzen einen Sinn gibt; sie identifizieren die Individuen mit dem sozialen Ganzen; sie verhüllen ein «Geheimnis» das ihnen Kraft und Aura verleiht. Dieses Geheimnis, das religiösen Ursprungs ist, stützt die Macht und die Herrschaft aller autoritärer Parteien und Gruppen: Das Geheimnis existiert aber nicht, weil kein kon­ kretes «Ereignis» dahinter steckt. Dieses Paradox, als Möglich­ keitsbedingung einer autoritären Organisation, verhüllt nach­ träglich gewisse Handlungen, die geschehen, weil es das «Ge­ heimnis» gab, und weil die Orgenisationen einen Grund zur Verheimlichung haben: Verbrechen, Säuberungen, Korruption usw. D. h. zuerst wird das Geheimnis als Haltung und bloßer Signifikant geschaffen, als die psychologische Haltung der abso­ luten Herrschaft, und danach seine «Ursache». In einem relativ kontrollierten Grad gilt dies für alle Organisationen: Jede Machtkonzentration führt zu Geheimnistuerei, welche ihrerseits Mißbrauch begünstigt, den sie hinterher zu verhüllen trachtet. Dies rührt vom Phantasma des Kollektivmordes des Vaters (Füh­ rers) durch die Anhänger (Söhne) her und wird jedesmal mobili­ siert, wenn eine Organisation oder eine Institution gegründet wird: Die Mitglieder können noch so demokratisch gesinnt sein, sie fühlen sich alle als «mitschuldig» für eine «unbestimmbare» Tat, denn es existiert immer etwas oder jemand, das/der ausge­ schlossen wird. Jeder Wechsel von Führerpersönlichkeiten, Ver­ waltungen, Regierungen, Präsidentschaften usw., bedeutet einen symbolischen Mord. Die Parole «der König ist tot, es lebe der König» verhüllt die Botschaft «der König ist tot, es leben die Mörder».32 Die bisherige Analyse hat die Beziehung zwischen dem Einen und den Vielen, dem Führer und den Geführten berücksichtigt. Es gibt aber eine dritte Dimension, die dieses duale Modell er­ gänzt: Es sind die Zustände dazwischen und die Vermittlungen. Diese Rolle spielen oft die dynamischen Minderheiten,33 die so­ wohl mit dem Einen als auch mit den Vielen in Konflikt geraten können. Ihre Rolle war und ist bedeutend in der Geschichte, und sie haben sie oft «beschleunigt». Max Weber hat ausführlich die Rolle der religiösen Minderheiten analysiert, die oft gleichzeitig nationale und sprachliche Minderheiten waren. Sie haben als

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ein fremder Körper im Rahmen eines breiten Kulturraums eine Rolle gespielt, die sie in der Wahrnehmung vieler als das «böse» Objekt erscheinen ließ, dem sie unterstellten, es möchte die vie­ len «beherrschen». Unter dem Wort «Herrschaft» versteckte sich oft die Angst vor einer kulturellen Überlegenheit der Minderheit. II.1.4. DIE ÖFFENTLICHE MEINUNG UND DIE MASSE

Die Kommunikation, so wie sie in der Masse stattfindet34 infor­ miert nicht über gewisse Ereignisse, sie ist keine einfache Infor­ mation, sondern ein Medium, das einen Code und gleichzeitig gewisse Mythen verbreitet. Wenn die traditionelle, orale Kom­ munikation früher die Masse charakterisierte, so transformierte die moderne Kommunikation die Masse in ein «Publikum» (der Presse, des Rundfunks, des Fernsehens). Der Monolog war geschichtlich vor35 dem Dialog da: Ursprüng­ lich sprach nur der Vater/Führer und befahl den anderen seinen Willen; das ist der Diskurs des Herrn, der Autorität. Der Dialog wurde später entdeckt, als ein Ergebnis36 der Freiheit und der Gleichheit: Die Diskussion ist das Gegenmittel zur autoritären Herrschaft. Der autoritäre Monolog erträgt keinen Widerspruch oder Zweifel, er erkennt keinen anderen Diskurs an. Der wirkli­ che Dialog war zuerst eine Errungenschaft der Aristokratie, der wenigen adeligen kultivierten Personen, und erst später wurde er zum Anspruch und zur Errungenschaft des demokratischen «Publikums», der Öffentlichkeit. Er blieb aber immer eine unsi­ chere und zerbrechliche Errungenschaft, weil zu oft viele den Monolog des Führers vorziehen, der sie hypnotisiert und ihnen Sicherheit gibt, ihre Zweifel zerstreut, sie «aufklärt» und «führt». Das Modell der Diskussion begann seine Macht zu verlieren,37 als die Medien anfingen zu dominieren: die Massenpresse, der Rundfunk und das Fernsehen im 20. Jahrhundert. Jede techni­ sche Innovation zerstörte die Diskussion, weil sie eine be­ stimmte «Objektivität» bezüglich der Ereignisse aufzwang, und keinen Platz für die Diskussion und die Entfaltung dialogischer Kriterien zur Beurteilung der Informationsqualität übrig ließ. Die Kunst des Diskutierens begann zugunsten einer Ideologie der Objektivität zu schwinden, die das subjektive Moment der Auswahl, der Betonung und der Darstellung der Informationen, verdrängte.

109 Die Entwicklung der Presse in den liberalen Ländern Europas im 19. Jahrhundert führte jedoch größtenteils zum Erscheinen einer bestimmten publizistischen Deontologie, die vom objekti­ ven und kritischen Geist der Wissenschaft inspiriert war. Die se­ riösen Zeitungen in den westeuropäischen Ländern und in Nor­ damerika garantieren bis heute die Qualität ihrer Informatio­ nen: Sie verbreiten weder Mythen noch Propaganda. Folglich muß jede Kritik, die an den Medien geübt wird, immer zwei Qualifikationsniveaus unterscheiden. Das eine, fundierende, ver­ langt eine elementare Integrität, Ernsthaftigkeit, Wahrheitsliebe und Unabhängigkeit von direkten ideologischen, politischen und ökonomischen Beeinflußungen oder Zielsetzungen. Alle poli­ tisch «engagierten» Zeitungen und die Skandalpresse erfüllen diese Bedingung nicht. Das zweite, höhere Qualitätsniveau wird erreichbar, wenn die einfachen o. e. Ansprüche erfüllt werden; hier betrifft die Kritik allgemeine, indirekte und abstrakte Probleme des Code, der Form, und der Darstellungsart. Die Problematik auf dieser Ebene wird in einer Demokratie nicht aufhören zu existieren und sie mindert nicht die Existenzberechtigung der Presse. Es ist nicht zumutbar, wenn Zeitungen hohen Niveaus mittels Argu­ menten, die dem des niedrigeren Niveaus entsprechen, angegrif­ fen werden: Die «korrekten» Zeitungen können nur liberal und pluralistisch sein, was ihrer Radikalität keine Grenze setzt. Die kritische Haltung all dieser Analysen betrifft, jenseits all des­ sen, was hier erwähnt wurde, die kollektive psychologische Be­ deutung der Existenz (nicht des Inhalts) der Medien: Je niedriger das Niveau des Inhalts liegt, desto intensiver ist die negative psy­ chologische Beeinflußung. Diese besteht im Phänomen der Mas­ senbildung,36 die dadurch zustande kommt, daß ein bestimmtes Publikum die gleiche Zeitung, die gleiche Zeitschrift (oder auch das gleiche Buch) liest: Dies schafft dem Publikum eine Identität und gibt ihm das Gefühl der Allmacht, einen Charakterzug der Massenpsychologie. Dies bedeutet, daß der Journalist mehr oder weniger die Vorurteile der Hörer und Zuschauer schmeicheln wird. Andererseits mindert die Existenz der Presse die Gelegen­ heiten einer Diskussion und eines Meinungsaustausches zwi­ schen den Bürgern: Statt dessen wird das Schauspiel der Pole­ mik dargeboten. Die Diskussion wird wieder zum Privileg der Gebildeten und Spezialisten oder sie bleibt als ein archaisches Relikt einer traditionellen (nicht kritischen) Mentalität in den Dörfern (solange es dort kein Radio oder Fernsehen gibt).

110 Die Kritik der Tagespresse darf nicht zur falschen Verwerfung des geschriebenen Wortes führen, im Gegenteil. Im 18. Jahrhun­ dert speiste sich die freie Diskussion aus der Lektüre von Büchern. Die Fähigkeit und die Lust am Lesen bilden einen we­ sentlichen Schritt zur Differenzierung des Symbolischen und zur Befreiung von der ausschließlichen Herrschaft des Verbalen. Das Erscheinen des Radios und des Fernsehens im 20. Jahrhun­ dert bildet bis zu einem gewissen Grad eine kulturelle Regres­ sion, in dem Maße in dem sie die Bedürfnisse (Wünsche und An­ sprüche) der weniger Gebildeten befriedigen und sie damit auf ein passives und eindimensionales Sehen/Hören fixieren, ohne die Fähigkeit des Sprechens, Schreibens, Lesens, Abstrahierens. Das Verdrängen des Diskutierens aus der Presse, dem Radio und dem Fernsehen bringt dieses nicht ganz zum Verschwinden; es reproduziert39 sich auf einer sekundären Ebene, vermittels der Bildung «ihres» Publikums und der Diskussionen bezüglich der Medieninhalte. Bestimmte Analysen haben gezeigt, daß die Me­ dien nicht direkt auf die Individuen wirken, sondern daß ihr Einfluß in zwei Stufen wirkt: Zuerst bilden sich kleine Gruppen von Lesern und Zuschauern (Hörem), in denen sich «Meinungs­ führer» (opinion leaders) herauskristallisieren, und danach, ver­ mittels der Gruppe und des Führers, werden erst die Individuen beeinflußt. Die Medien funktionieren also oft als Quelle von symbolischen und imaginären Elementen, die zuerst in einer Gruppe «materialisiert» werden. Dieser Mechanismus betrifft aber nur die Massenbildung. Der Rhythmus der verschiedenen Medien führt die Massen zu einem Schwanken40 zwischen einem Zustand der Konzentration (Diskussion im Publikum, Film) und einem Zustand der Zer­ streuung (Presse, Radio, Fernsehen). Diese Alternanz hängt mit der Polarisierung41 und der Asymmetrie zwischen den Zuschau­ ern und den Protagonisten zusammen: Beide Phänomene haben die ständige «Sehnsucht» nach einer Fortsetzung des Sehens/Hörens zur Folge, weil sie künstlich eine Frustration, ein Fehlen an Befriedigung kultivieren, das zu einer Sucht führt. Die Veränderungen, die die Medien (das Radio und insbeson­ dere das Fernsehen) in die Massen eingeführt haben, sind:42 1) Die physische Konzentration der Massen in einem Ort hörte auf notwendig zu sein, im Gegenteil ist das Telepublikum ver­ streut. Die «Psychologie» dieses Massentyps ist geeignet für Be­ fragungen, Interviews, statistische Analysen des Alltagsverhal­ tens, des Marktes, der politischen Meinungen usw. Das Erschei-

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nen des Radios nach dem ersten Weltkrieg führte jedoch in Eu­ ropa nicht so eindeutig zu diesen Tendenzen wie in den USA. Im Gegenteil, Radio, Film und Presse verstärkten in der Zwi­ schenkriegszeit das traditionelle Phänomen der Masse, etwas das der Faschismus und der Stalinismus propagandistisch aus­ nützten. 2) Die Medien senken43 das intellektuelle Niveau des Publikums durch die Vereinfachung der Informationen und die Suggestion, die die erste impliziert. Die Gestaltung einer Zeitung organisiert ihre Einzelheiten um ein zentrales Thema: Es muß einen zentra­ len Punkt geben, ein Hauptthema, das im Mittelpunkt steht. Hier gibt es die Reproduktion des «einen» Zugs des Führers, der auf der Ebene der Signifikanten mittels der Suggestion die Masse dominiert: Ein Hauptsignifikant dominiert alle anderen (z. B. eine erschütternde Nachricht oder der Leitartikel). Die Streuung des Publikums und die symbolische Vermittlung des Mediums haben jedoch zum Ergebnis, daß das Publikum «weniger mobil» und «moderater» als die Masse in der Straße ist. Aber hier glaubt jeder, daß er mit einer großen Menge die gleiche Idee teilt. Der Gedanke gewisser Leute, daß ein in den Kulissen verstecktes «Hirn» die Medien dirigiert ist naiv. Es ist der Übertragungsmechanismus der Medien selbst, der dem ge­ ringsten Journalisten eine große Resonanz verschaffen kann. 3) In der öffentlichen Meinung bilden sich Strömungen,44 denn sie ist nicht monolithisch. Die Medien funktionieren normal, wenn es Pluralismus und Demokratie gibt. Der Mißbrauch der Medien in diktatorischen und totalitären Regimen, mit dem Zweck der Gehirnwäsche der Massen, schafft die Strömungen ab. Die Medienbeschreibung, die hier formuliert wird, bezieht sich auf den Fall des Pluralismus, und die Existenz von vielen unabhängigen Medienzentralen verunmöglicht das Aufkommen einer manipulierten Masse. Aber die «Meinung» einer «Strö­ mung» im Publikum verursacht immer Probleme in der Demo­ kratie. Dies, weil die öffentliche Meinung zwischen der Tradi­ tion, den Vorurteilen, dem Glauben einerseits und der Vernunft und der persönlichen Meinung andererseits liegt. In dem Moment, in dem die traditionelle Gesellschaft überwun­ den wird, beginnt die praktisch unlösbare Frage nach dem Ab­ stand zwischen der Meinung und dem ungeprüften Wissen, zwichen der «Ansicht» und der Wahrheit, zu existieren. Die Wahr­ heitssuche impliziert den Willen und die Fähigkeit der kritischen Informations- und Entscheidungskontrolle, etwas das viele Bür-

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ger nicht tun. So werden die Spaltung und die Spannung zwi­ schen der Meinung (doxa) und der Vernunft (logos) nie auf­ hören, die Antriebskraft der politischen Kultur in der Demokra­ tie zu sein; die Qualität der Demokratie hängt vom Maß des Ab­ stands zwischen diesen zwei Polen ab. Der Versuch jedoch der (platonischen) Diktatur der Vernunft bzw. der Wahrheit und der Abschaffung der Meinungen führt immer zum stalinistischen Totalitarismus oder zur Theokratie; wenn die größte Wahrheit praktisch und ausschließlich dominie­ ren will und die Existenz des Zweifels und des «anderen Diskur­ ses» ausschließt, führt sie zu Situationen der paranoischen Ver­ folgung aller durch den «Einen», der die «Wahrheit» «besitzt». Die Kommunikation «schafft» andererseits die Meinungen, ein imaginäres Produkt, die Tendenz hat, sowohl gegen die Tradi­ tion als auch gegen die Vernunft45 zu sein. Es enthält somit ein hysterisches Moment, so daß es leicht zum Objekt einer demago­ gischen Ausbeutung und des Populismus wird, insofern es nicht durch die Vernunft kontrolliert wird. Letzterer Fall gilt, wenn im Fernsehen der schrankenlose Wett­ bewerb dominiert; der Druck der Profitmaximierung führt zur Anpassung an den «kleinsten» gemeinsamen Nenner im Ge­ schmack und Verstand des Publikums. Dies gilt für die verschie­ denen «populären» Programme, es gilt nicht so einfach für die Nachrichtensendungen; hier wird das staatlich-öffentliche Fern­ sehen gezwungen, nicht ein bloßes Sprachrohr der Regierung zu sein. 4) Die Klassenunterschiede verlieren ihren traditionellen Sinn: Die Existenz der Medien schwächt und verstellt46 sie. Die Unter­ schiede im Publikum reproduzieren nicht direkt die Klassenun­ terschiede, während die Zeitungen oder die FS-Medien, die einen «Klasseninhalt» haben, ihre Überzeugungskraft verlieren, denn sie haben einen dogmatischen und lehrerhaften Ton. Dies bedeutet nicht, daß es keine Klassen gibt; aber die Unterschiede zwischen ihnen sind komplexer und undeutlicher als im 19. Jahrhundert und werden durch das Phänomen der Masse und der öffentlichen Meinung überdeterminiert. D. h. es ist von Be­ deutung, wze die Protagonisten selbst ihre Klasseninteressen wahmehmen und wie letztere durch die Vermittlungen hindurch präsentiert werden. Die Gegensätze zwischen den Klassen ver­ wandeln sich immer in Konflikte zwischen mehr oder weniger organisierten Massen, und dies bedeutet Konflikte zwischen Lei­ denschaften, Mythologien und Ideologien.

113 Die Existenz des Publikums hat Folgen auch für die politischen Parteien: Um «Erfolg» zu haben, um «Ereignisse» zu schaffen, sind sie gezwungen, durch die Presse, das Radio und das Fernse­ hen bekannt zu werden.47 So organisieren sie ständig ihr Pro­ gramm und ihr Publikum um: Aus den Massenparteien sind «Publikumsparteien» geworden. Der zeitgenössische Populis­ mus hat die Medien nötig. Die alte populistische Partei bestand aus den Anhängern und dem Führer, die neuen Parteien des Publikums bestehen aus kontinuierlich sich wandelnden Gruppenkoalitionen, bei denen die Medienkontrolle eine wichtige Rolle spielt; so setzen sich in den Wahlen nicht so sehr die fähigen Politiker oder die Pro­ gramme durch, sondern die «photogenen» Politiker, die einen größeren Erfolg in den Femsehshows haben. Der Politiker ver­ liert so für immer seine Persönlichkeit und sein Gewissen, er wird zum bloßen «Doppelgänger» und Simulacrum der ima­ ginären Bilder und Wünsche des Publikums; der Dialog mit ihm ist nicht mehr möglich. So verliert die Politik ihren Sinn und wird zum Spektakel, das eine imaginäre Leinwand ist, die das Schauspiel der Herrschaft präsentiert und verhüllt, das von einer Oligarchie gespielt wird. Das Machtspiel verlangte immer nach einem Schauspiel, dies ist nicht neu; aber die Demokratie wird in dem Maße unterwandert in dem dieses Schauspiel von der großen Bürgermehrheit tole­ riert und akzeptiert wird. Diese Gefahr existiert, nur daß die Warnungen der dogmatischen und traditionell kritischen Grup­ pen zu nichts führen; auf Grund ihrer Holzsprache haben sie die Veränderungen in der Realität nicht verstanden. Das Prestige, das heute von einem Politiker verlangt wird,48 ist eine Variante des Charismas, mit dem traditionellerweise die Führer die Massen bewegten. Der Machtbegriff enthält sowohl die Macht über die Körper der Menschen, vermittelt über die Gewalt oder Gewaltandrohung, als auch die Macht über die See­ len der Menschen mittels der Verführung und dem Charme. Dies bedeutet nicht, daß das Prestige immer etwas negatives, oder zu verwerfendes sei. Demokratische Politiker wie Franklin D. Roo­ sevelt oder Willi Brandt besaßen dieses Prestige, das nicht iden­ tisch war mit dem von Mussolini, Hitler oder Stalin. Aber diese Ausstrahlung ist ungleichmäßig verteilt, denn nur wenige besit­ zen sie; eine Demokratie, die sie pflegt oder nötig hat, selbst wenn der Partei- oder Regierungschef selbstkritisch und diffe­ renziert denkt, ist nicht republikanisch genug. Die zeitgenössi-

114 sehe Mediendemokratie ist nicht republikanisch, denn die Me­ dien überschwemmen das Publikum mit dem Starkult,49 der so­ wohl die Politiker als auch die Fußballspieler oder die Schau­ spieler umfaßt. Der Idolverbrauch wird beschleunigt, denn die Idole sind den Gesetzen der Erneuerung und Wiederholung der Mode unter­ worfen, die ein Grundphänomen der «Publikumsgesellschaft» darstellt; der Prestigeverbrauch bedeutet, daß auch die Idole konsumiert werden, es gibt also ein imaginäres «Prestigekapi­ tal» das sich mit seinem Gebrauch verbraucht. Hierin bestehen Gefahren für eine zeitgenössische Demokratie,50 die eventuell zuerst latent und dann manifest zu einem totalitären System de­ generieren kann; die Elemente dafür sind da, aber sie sind ver­ streut. Vor allem aber geben die Medien den Führern die Mög­ lichkeit, enorme Massen zu mobilisieren, was früher undenkbar war. Das Idol ist etwas anderes als das Vorbild: Das erste entspricht dem imaginären «Idealich», dem narzißtischen Bild des ande­ ren, der die Projektion des Selbst ist, während das zweite, das Vorbild, das «Ichideal» ist, die symbolische Stütze im Anderen, der mit seinem Wort sich an das Subjekt wendet. Aber er spricht zu ihm auf eine bestimmte Weise, die die Vermassung und die dogmatische «Wahrheit» ausschließt. Die zeitgenössischen de­ mokratischen Führer sind sich dessen bewußt, dennoch müssen sie sich dem Mediensystem beugen, was ihrem demokratischen Charakter eine Grenze setzt. Der neue Typus des Publikumsführers51 erschien schon während der französischen Revolution: Journalisten wie Marat, Desmoulins usw. wußten mit ihren Artikeln, die halb scharfsinnige Ana­ lysen, halb Appelle und Warnungen waren, die Massen zu mobi­ lisieren, die sich noch nicht zu einem «Publikum» verwandelt hatten. Aber das Publikum spiegelt die Fähigkeit seiner Inspira­ toren wieder,52 während die Massen mehr die unbewußten Phan­ tasmen und Ängste ihrer Kultur wiedergeben. Dieser Unter­ schied ist nicht belanglos: Die bisherige Medien- und Publikum­ skritik impliziert, daß das Publikum besser als die Masse ist. Gegenüber der Bürgergesellschaft sind beide abzulehnen, aber ihr Unterschied bleibt. Die Joumalistenmacht53 kann sehr weit gehen, in dem Maße in dem die Journalisten das Charisma des Hypnotiseurs, das Wis­ sen der Schwächen des Publikums besitzen: Voyeurismus, Klatsch, Schamlosigkeit, Indiskretion, Neid, Haß, Angst usw. Die

115 Mobilisierung der Generosität und der guten Gefühle «zahlt» sich dagegen nicht aus, denn sie führt nicht sehr weit in der Poli­ tik: Die «guten» Gefühle lassen sich nicht «organisieren», denn sie verlangen ein individuelles Engagement, Verantwortlichkeit und Selbstaufopferung, alles Dinge, die die modernen und post­ modernen Menschen scheuen. Umgekehrt läßt sich die Enthüllung der «bösen» Gefühle leicht organisieren, denn sie ist das Ergebnis einer psychischen Re­ gression der Masse oder des Publikums. So wird der latente De­ struktionstrieb freigelegt: Man kann immer jemanden denunzie­ ren oder öffentlich verleumden, mit dem Ergebnis, daß das Op­ fer zum Sündenbock des Publikums wird, mit dem Ziel, andere, wirkliche Verbrechen des Publikums selbst zu verhüllen. Die Verleumdung54 ist dabei das symbolische Moment: Die Strategie der Macht und des Marketing beruhen auf der Möglichkeit das Publikum zu betrügen, nicht etwa auf naive Weise, sondern mit indirekten, subtilen und kalkulierten Mitteln, und mit der Teil­ nahme und Komplizenschaft des Publikums. Die Suggestion des Publikums ist eine Kunst: Es ist die Fähigkeit, dessen Aufmerk­ samkeit mittels «Enthüllungen», Skandalen, Übertreibungen und Wiederholungen zu gewinnen. Letzteres führt zur Stereotypenbildung’. Beispiel dafür sind die Stereotypen der stalinschen «Holzsprache», wie sie in den steri­ len und langweiligen Presseartikeln am Werk war. Trotz der Lan­ geweile lasen sie die Anhänger mit religiösem Emst: Dies erklärt das Rätsel, denn in diesen Artikeln wiedeholten sich zum x-ten Mal jene Dogmen, die den Glauben der Anhänger nährten, sie intellektuell einschläferten und ihnen psychische Sicherheit an­ boten. Wenn die Stereotypenwiederholung gemeinsam mit der Komplizenschaft des Publikums (d. h. der Ausnutzung der Angst und des vorhandenen latenten Schuldgefühls) sowie mit der Desinformation zum offiziellen Herrschaftsinstrument wird, dann sprechen wir von «Gehirnwäsche».

II.2. DAS GERÜCHT

Daß die Psyche der Subjekte mittels der Signifikanten und der Phantasmen funktioniert, hat konkrete Folgen für die politische Psychologie. Die Formen, die die Kommunikation unter den Menschen annimmt sind konstitutiver Bestandteil der Bildung der Ideologien und der politischen Kultur. Die heutigen Medien

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reproduzieren das, was immer schon zirkulierte: eine Mischung aus Informationen und Gerüchten/Mythen. Die Bildung der poli­ tischen Meinung und die Vernunft der Bürger verlangten immer die Urteilskraft, d. h. die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen der Information und dem Gerücht. Dieser Anspruch gilt zwar als Imperativ, aber kann nie in der Praxis realisiert werden, denn jede Urteilsbildung begnügt sich nicht mit der bloßen Reproduk­ tion von Informationen über «harte Fakten»; sie verlangt auch ihre Bewertung gemäß bestimmter vorgegebener Denksche­ mata, die immer Elemente von Vor-urteilen enthalten. Die Gerüchte sind die Vorurteile, die in einer Gesellschaft zirkulie­ ren und zur Bildung von Mythen und Ideologien führen. In der Geschichte hatten die Gerüchte oft mit den Aufständen der Bevölkerung zu tun; sie hatte immer einen Grund dazu, denn sie war unzufrieden, aber die Anläße der Aufstände, ihre Mittel und ihre Gründe waren oft imaginär und unverhältnis­ mäßig. Das Gerücht war und ist immer Bestandteil jeder vorin­ dustriellen Kultur, aber es existiert auch in den Industriegesell­ schaften, bloß hier wechselt es die Form: Es ist die Skandal­ presse, aber auch die offizielle Presse aller diktatorischen Regime, die bewußt bestimmte Gerüchte verbreiten. In den vorindustriellen Gesellschaften fehlen zwei wesentliche Elemente der modernen Gesellschaft; erstens, die Menschen le­ ben isoliert in ihrer Stadt oder in ihrem Dorf, denn es gibt nicht das dichte Straßennetz, sowie die Informationsmedien. Zwei­ tens, die große historische Veränderung, die mit der Industriali­ sierung eintrat, setzte voraus, daß alle Menschen mehr oder we­ niger rationell denken (wollen), d. h., daß sie die Ereignisse von den phantastischen Geschichten unterscheiden, und das bedeu­ tet, daß sie die Fähigkeit erwerben, zwischen der Realität und ihren frommn Wünschen und Ängsten zu unterscheiden. Beides zusammen führte in die heutige Gesellschaft, in der der allgemeine Anspruch nach korrekter Information gilt, die weder mit der Unterhaltung, noch mit der Demagogie identisch ist. Die technische Entwicklung der Verkehrs- und Kommunikations­ mittel ist ein Ergebnis der Herrschaft der Rationalität. In der klassischen Zeit des 17. und 18. Jahrhunderts hofften zwar die Vertreter der Vernunft, daß die Menschen durch sie automatisch zu einer menschlicheren und würdigeren Gesellschaft geführt würden. Nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts wissen wir aber, daß die Rationalisierung der Gesellschaft nicht notwendig zu diesem Ziel führt, sondern umgekehrt, die Perversion der kri-

117 tischen Vernunft zur Dominanz der instrumentellen Vernunft, zu unerhörten Mitteln der Bürgerbeherrschung führt. In den traditionellen Gesellschaften aber hören die Menschen nicht auf, neugierig zu sein, und nach «Neuigkeiten», einer Mi­ schung aus Informationen und Mythen, zu verlangen. Eine wichtige Rolle spielen hier die Informanten: alle diejenigen Men­ schengruppen mit großer Mobilität wie die Reisenden, die Händler, die Söldner, die Bettelmönche, die Studenten, die Schauspieler, die Pilger, die Bettler usw. Große Rolle spielen hier die großen Bevölkerungsverschiebungen infolge von Kriegen, die Entwurzelung und die Deportation von großen Massen. Für die Menschen in den Industrieländern während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind die Probleme, die heute die «Dritte Welt» und Osteuropa beschäftigen, undenkbar: Pro­ bleme, die Anlaß zu wilden Spekulationen und Gerüchten geben, denn sie bleiben chronisch ungelöst. Westeuropa durchlief eine lange Übergangsperiode, bis es soweit war, die,verschiedenen Ängste zu überwinden. Die Rolle des Gerüchts muß geschichtlich in diesem Klima situiert werden;55 und es herrschte trotz aller Versuche der Rationalisten, es zu zähmen. Eine vorläufige Definition des Gerüchts wäre fol­ gende:56 ein Gerücht entsteht aus einer Akkumulation von Un­ behagen und ist das Ergebnis einer geistigen Prädisposition, die sich aus der Akkumulation von vielen verschiedenen Bedro­ hungen oder Unfällen und Katastrophen konstituiert. Die Angst besteht in der Erwartung eines bösen Ereignisses, und dies geschah früher,57 als die Autorität der Regierung sich auflöste. Das Gerücht bedeutet58 genauer die Lokalisierung einer Gefahr mittels ihrer Benennung, mit dem Ergebnis der Überwindung eines unerträglichen Zustands. Die Benennung der «Schul­ digen» hatte das Treffen von praktischen Maßnahmen zum Ziel.59 Das Gerücht, als ein herrenloses Wort,60 funktioniert nach den Gesetzen des Unbewußten. Es kann sich jederzeit gegen diejeni­ gen wenden, die es auszubeuten suchen. Es geht um ein «Geräusch», «Flüstern», Kommentar, Klatsch, der schrecklich wirksam und bösartig ist, das Gefühle mobilisiert, die sich auf keine Information beziehen bzw. auf keinem Wissen basieren, sondern es besteht in der unaufhörlichen Zirkulation des Flü­ sterns, das das soziale (und individuelle) Imaginäre reprodu­ ziert. Das Gerücht ist aber gleichzeitig ambivalent: Es ist glei­ chermaßen das Hauptmittel der oralen Kommunikation vom

118 Mund ins Ohr, das in alle sozialen Klassen und Schichten ein­ dringt. Es ist ein Element der Sozialität, das Gefallen am «Gespräch» das gleichermaßen zur mythischen Rede, zur Bildung von Le­ genden, Traditionen und Epen führte. Hier gibt es eine Schwie­ rigkeit: Wie alle psychischen Phänomene, wie die Angst oder der Rassismus, ist das Gerücht (oder das Vorurteil, oder die Ideolo­ gie) ein Phänomen, das jeder direkt kennt und es hängt von den psychischen und sozialen Bedingungen ab, wieweit dieses Phä­ nomen die eine oder die andere Form annehmen wird, kann je­ doch niemand voraussehen oder planen; vielmehr ist man ver­ pflichtet, eine kritische Haltung einzunehmen. Bei aufgeklärten Wissenschaftlern existiert eine Naivität,61 in dem Maße in dem sie das Phänomen auf die Verpflichtung der Wissenschaft beschränken, es zu «verstehen», mit dem Ziel sei­ ner «Bekämpfung» und der «Heilung» des sozielen Körpers. Sie verstehen hier nicht das unbewußte und das reale Substrat und die Gründe des Phänomens: Die soziologische und die psycholo­ gische «therapeutische» Technik heilt nur die Symptome. Während des 2. Weltkrieges stellten die US-Psychologen Allport und Postman in den USA fest,62 daß die Gerüchte die Moral der Bevölkerung unterminierten und Haß gegen die Gemeinschaften der Japaner, Deutschen und Italiener erzeugten. So betrachteten sie das Gerücht ausschließlich als eine «gefährliche» Lüge und nicht als eine Kommunikationsweise, die in jeder Gesellschaft existiert. Letzteres bedeutet, daß auch die «guten», demokrati­ schen Meinungen ebenfalls Elemente von Gerüchten enthalten, die oft «umkippen» und ihre «andere» Seite zeigen können, nämlich einen autoritären und rassistischen Inhalt. Die kurz­ sichtige Methode der gutwilligen Forscher besteht in der positi­ vistischen Parole: etwas wissen, um es vorauszusehen, um es zu kontrollieren. Es geht aber hier um eine instrumentelle Haltung, unabhängig davon, ob ihre Intentionen gut sind oder nicht, denn dieser Diskurs verdrängt das Unbewußte der Menschen («alles» ist nicht kontrollierbar) und es kann mit einem umgekehrten Vorzeichen durch eine Diktatur verwendet werden. Allport und Postman empfahlen63 verschiedene Maßnahmen, die die US-Regierung im Kampf gegen den Faschismus treffen mußte: Die Bevölkerung sollte Vertrauen in ihre Führer haben und nicht an nicht-offizielle Informationen glauben. Der Mangel an Arbeit und die Eintönigkeit des Alltagslebens führen ebenfalls zu Gerüchten und Klatschgeschichten.

119 Es gibt viel «Schwachsinn» im sogenannten «Gemeinverstand», im «gesunden Menschenverstand», in der «Weisheit des Volkes» (z.B, im Spruch: «Kein Rauch ohne Feuer»); aber das Gerücht (der Rauch) besitzt nicht die Logik der Vernunft, sie entspricht nicht notwendigerweise einem realen Ereignis (dem Feuer), es verlangt weder nach Beweisen, noch nach Bekenntnissen, und jeder Versuch seiner Widerlegung verstärkt es, und dies alles, weil es, wie der Traum, eine imaginäre/gefühlsmäßige Befriedi­ gung eines archaischen Wunsches darstellt, der nicht anders be­ friedigt werden kann.64 Das Gerücht ist diffus, anonym, unver­ antwortlich, vulgär, böswillig, verleumderisch, aggressiv; es geht um die Furcht vor jedem, durch «jemanden»» Schaden zu erlei­ den: vergiftet, betrogen, verraten, geschlagen, vergewaltigt, ver­ folgt, bestohlen usw. zu werden. Damit ist es insbesondere in ge­ schlossenen Gesellschaften und Gemeinschaften wirksam: Dar­ auf basiert die schwarze Magie und die Hexenverfolgung. All dies bezieht sich auf verdrängte Wünsche. Es gibt Musterbeispiele einer Gerüchtsanalyse; wir erwähnen hier das «Gerücht von Orleans».65 Dieser Fall ereignete sich während der zweiten Woche vom Mai 1969 und folgende Ereig­ nisse bildeten den realen Kem des Gerüchts: erstens die Veröf­ fentlichung der Entführungsgeschichte einer jungen Frau mit­ tels der Verwendung von Drogen in Grenoble in einem Skan­ dalblatt. Dieses Ereignis, an sich ohne besonderen Wert, spielte die «Katalysatorenrolle» für das Gerücht. Zweitens, während der gleichen Zeit fand die Eröffnung eines Ladens für Damenklei­ dung mit Modenschau in den mittelalterlichen Gewölben des Ladens (die die Phantasie anregen) statt. Aber der Hauptkonkur­ rent des Ladens war jüdischer Herkunft. Das sind die realen Ele­ mente. Einige Tage später verbreitete sich das Gerücht, daß «im Keller eines jüdischen Ladens junge Frauen unter Drogeneinfluß ver­ schwinden, und sie sind bestimmt für arabische Harems». Die Reaktionen der fortschrittlichen Öffentlichkeit waren folgende: Untersuchungen seitens des «Le Monde» und des «Le Nouvel Observateur», antirassistische Protestversammlung in Orleans. Aber diese Reaktionen, indem sie die Aufmerksamkeit des Publi­ kums auf den Fall lenkten, hielten das Gerücht aufrecht. Gleich­ gültig ob und was die Presse schrieb, blieb das Gerücht beste­ hen. Hier muß die Rolle der Presse und des Fernsehens betont wer­ den, denn sie intervenieren in Prozessen, die nicht mehr in tradi-

120 tionellen, sondern in modernen Gesellschaften stattfinden. Dies, insofern in der zeitgenössischen Gesellschaft immer soziale Schichten und Individuen existieren, derer Alltagsleben das Auf­ tauchen und Verbreiten von solchen Gerüchten begünstigen. Die Zeitungen spielen die Rolle des Vermittlers und Verstärkers des Gerüchts, über das man nicht weiß, wie es zustande kam. Die Rolle der Presse ist immer wirksam, aber ambivalent,66 die Zei­ tungen und das Fernsehen verkaufen Skandale oder enthüllen sie: Es gibt immer den Voyeurismus und die Schadenfreude des Publikums. Andererseits ist es unmöglich zu wissen, ob das «Gerücht von Orleans» länger als einige Tage lang existieren würde ohne seine Verbreitung durch die Presse. Die Untersu­ chungen (polizeiliche, journalistische) und die Dementis speisen nur das «Monster», denn es gibt immer viel mehr latente Rassi­ sten als man denkt. Letztere Feststellung reicht nicht aus; jedes rassistische Phan­ tasma verdeckt einen unerfüllten Wunsch; in Orleans gaben be­ stimmte junge Frauen in Interviews zu, daß das Gerücht ihre Phantasien erregt hätte und bewußt Situationen herbei führten, die scheinbar «günstig»67 für eine Entführung waren; was wäre spannender in einer langweiligen Provinzstadt mit kleinbürgerli­ chen Gewohnheiten? Unter dem Schutz der Anonymität können die unmöglichsten Vorurteile und Phantasmen öffentlich kund­ getan werden (z. B. der Wunsch zu stehlen äußert sich oft als eine «antikapitalistische» Ladenplünderung). Wie in der Mas­ senpsychologie wird während der Zirkulationszeit des Gerüchts jegliche Moralzensur abgeschafft und das Verhalten der Men­ schen bekommt einen Symptomcharakter, d. h. es ist ein Kom­ promiß zwischen zwei gegensätzlichen Tendenzen (wie bei den jungen Frauen oben). Das Gerücht von Orleans enthüllte hier die kollektive unbewußte «Logik» der Kommunikation:68 es geht um den Mythos der Frauenemanzipation, des modernen Lebens und der modernen Stadt, in einen Raum, wo die Spannung zwischen dem traditionellen Provinzialismus und dem Modernismus la­ tent existiert, eine Spannung, die durch die Nachbarschaft zu Paris verschärft wird. Das Gerücht ist bestimmten Wandlungen unterworfen, die eine Reihe von kognitiven Mechanismen voraussetzen. Diese Mecha­ nismen sind:69 a) Die Auslassung', die ursprüngliche Botschaft ist reich an Infor­ mationen, aber es findet ein großer Informationsverlust statt. Die «interessanten» Informationen und Details, die ab- und zu-

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nehmen, werden ergänzt, und verdichtet bis zu dem Punkt, an dem sich ein fester Kem des Mythems herausbildet, der die un­ bewußten Phantasmen und Wünsche befriedigt und interessiert. Hier funktionieren Filter der Präferenz: Die Interessierten hören und sehen das, was sie schon erwarten. b) Die Intensivierung'. Die symbolischen Elemente werden ver­ stärkt und bis zur Karikatur polarisiert, gemäß dem Modell: alle guten Sachen auf der einen, alle schlechten Sachen auf der an­ deren Seite. Dies ist der Fall für das Unbewußte, wenn es durch die Abwehrmechanismen hindurchwirkt: Die innere Furcht wird auf einen angenommenen «Verfolger» projiziert, der eindeutig außerhalb der Gruppe, zu der man gehört, situiert wird, so daß der Angriff auf ihn «legitimiert» wird. c) Die Verallgemeinerung ist das Merkmal aller Vorurteile; sie fin­ det gemäß der vorherigen Existenz bestimmter Stereotypen statt, die mündlich zirkulieren, gemäß den Erwartungen oder Vorur­ teilen der Gruppe. d) Die Lokalisierung70 der Gerüchtquelle in Personen, die einem Zeugen nahestehen, der als direkter Zeuge angesehen wird: «X hat mir gesagt, daß Y, der anwesender Zeuge war, ihm folgen­ des erzählte». Diese Kette (besser: die Reihe der imaginären Spiegel) scheint nicht mehr als drei oder vier Ringe zu enthalten. Es herrscht die Leichtgläubigkeit gegenüber dem Informanten und nicht das Vertrauen in die symbolische Informationsüber­ mittlung. Der Gerüchtträger hat nie genug Beweismaterial, um ein Gerücht zu beweisen. e) Die Überspezialisierung ist notwendig, damit das Gerücht plausibel erscheint: Der andere wird verführt und seine Wider­ stände werden besiegt, wenn man allgemein akzeptierte, be­ kannte und richtige Details hinzufügt. So basiert das Gerücht auf dem «Nichts». Was das Gerücht zum Zirkulieren bringt,71 ist, daß es das Ziel hat, die Furcht zu artikulieren, ihr ein Gesicht zu geben, nur so wird diese erträglicher. Es hat das Aussagen des Begehrens und der Angst zum Ziel, als auch die Benennung und Anzeige eines «Sündenbocks», und wird von der Notwendigkeit getrieben, die die Individuen spüren, durch den Ausschluß des anderen, sich untereinander solidarisch zu fühlen. Die Gerüchte, wie die My­ thologien und die Ideologien, sind Produkte der Massenbildung: Sie erzählen die sozialen Spannungen, so wie sie die psychi­ schen Spannungen von jedem mobilisieren, aber sie erzeugen sie nicht.

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Das Gerücht bietet den kollektiven Phantasmen eine dramati­ sche Inszenierung an und treibt die Menschen zu kollektiven Handlungen an. Aber auch die «positiven kollektiven Handlun­ gen» (z.B, eine Befreiungsrevolution) funktionieren auf die glei­ che Weise, aber nur wenn in ihnen die Vernunft die Oberhand gewinnt. Das Gerücht intensiviert und polarisiert die Situatio­ nen: Die Ohnmacht des Einzelnen in der Masse wird der All­ macht des Einen, der der Spiegel der kollektiven Macht ist, gegenübergestellt. Andererseits geben die «Sündenböcke» allen die Illusion, daß sie «unschuldig» sind. In der Folge wird hier ein Beispiel für die bewußte Manipulation von Gerüchten aus der jüngsten polnischen Geschichte analy­ siert.72 Am 13. 12. 1981 fand in Polen ein Militärstaatsstreich statt, nachdem es zu großen Arbeitermobilisierungen gegen die herrschende KP gekommen war, die unfähig war, mit der Situa­ tion fertig zu werden und die Armee um Hilfe herbeirief. Am 19. 12. verbreitete die französische Nachrichtenagentur AFP73 die Nachricht vom Tod von Tadeusz Mazowiecki, Berater der strei­ kenden Arbeiter in den Werften von Gdansk, Berater von L. Walesa und späterer Ministerpräsident im Jahre 1989. Niemand konnte jedoch diese Nachricht in Paris kontrollieren, die aus einem Land im Ausnahmezustand stammte. Daß die Nachricht von der AFP verbreitet wurde, bedeutete, daß es sich um eine ernst zu nehmende Information handelte, und sie schien auch wahrscheinlich zu sein. Das Militärregime dementierte diese für es unangenehme Information nicht. Die Gegner des Regimes mobilisierten sich und protestierten, aber sie wiederholten nur die gleiche Nachricht. Nach einigen Tagen dementierte die Mi­ litärregierung und versuchte die westlichen Journalisten lächer­ lich zu machen mit der Behauptung, sie «verbreiteten Lügen».74 Die Angst der Demokraten hörte auf75, als die Zeitung «Le Monde» die Todesnachricht am 1. 1. 1982 denentierte. Dann stellte sich die Frage, wie dieses Gerücht sich verbreitete: Es gab nicht genug Indizien, daß die polnische Regierung selbst die falsche Nachricht lanciert hätte. Aber sie nutzte sie sehr geschickt aus, seitdem sie verbreitet wurde, indem sie so reagierte, wie es oben geschildert wurde. Das Gerücht tauchte auf, als Mazo­ wiecki nach seiner Verhaftung von den anderen Gefangenen iso­ liert wurde. Die Regierung hatte aber die Taktik gewählt, Gerüchte über Folterungen und Krankheiten bestimmter Ge­ fangener zirkulieren zu lassen, um sie dann «heil» der Öffent­ lichkeit vorzustellen.

123 Hierin liegt die Psychotechnologie76 als eine perverse Verwen­ dung der politischen Psychologie: Jedesmal, wenn ein totalitäres Regime glaubwürdig eine Nachricht dementiert, gelingt es ihr, das Vertrauen in die Informationen aus unabhängigen Quellen zu unterminieren. So zerstört es die Glaubwürdigkeit jeder In­ formation, die nicht von der Regierung stammt und verstärkt ihre Autorität. Dies alles, weil die Gerüchte dazu dienen, die wirklichen Folter- und Hinrichtungsfälle zu verheimlichen. Wir sehen hier die Inszenierung der Wahrheit: Daß die Wahrheit (die Verwerfung des falschen Gerüchts) wirksamer als jede Lüge sein kann, wenn sie dazu dient, eine andere Wahrheit zu verdecken. Abgesehen davon trägt die Lokalisierung des Interesses auf be­ kannte Persönlichkeiten immer zu ihrer Rettung bei, während die Fälle von anonymen Gefangenen oft vergessen werden, die häufig unmenschlich behandelt werden.77 Gegenüber der Tücke und der Falschheit der Experten des psy­ chologischen Krieges muß man zuerst jedes Gerücht verwerfen.™ Im vorliegenden Fall jedoch mußte man zuerst das Gerücht ver­ breiten, um das Leben von Menschen zu retten, die in Gefahr waren, und dann versuchen, es zu bestätigen. Dies, weil das tota­ litäre Regime die Haltung des Publikums testen will, ob es bereit ist, gegenüber Verbrechen zu reagieren oder nicht: In dem Fall, in dem man nicht reagiert, weil man die Information für ein falsches Gerücht hält, hat dann das Regime nocht mehr Freiheit, wahre Informationen über wirkliche Morde vor der Öffentlich­ keit als Gerüchte aussehen zu lassen. Diese Problematik führt zurück zu bestimmten Kommunika­ tionsregeln:79 1) Eine Information wird um so glaubwürdiger, je mehr sie präexistierenden Erwartungen und Ängsten entspricht und das In­ teresse weckt. 2) Eine Information zirkuliert leicht, wenn sie in ein präexistierendes Denk-, Glaubens- oder Vorstellungsschema integriert wird. Diese Regeln reichen nicht aus, um die Gründe des Erfolges eines Gerüchts zu erklären. Es muß betont werden, daß die Kommunikation zwischen den Menschen ursprünglich nicht aus Informationsgründen geschieht, sondern mit dem Ziel der Reali­ sierung der persönlichen Genugtuung und Lusterzeugung mit­ tels der Beeinflußung des anderen. Dies ist der Grund, warum der «Inhalt» (oder die Information) oder die Aussage weniger

124 zählt als die Art, das Aussagen der Information, d. h. die subund objektive Situation. 3) Der Erfolg der Zirkulation eines Gerüchts ist größer, wenn sie eine große Menschennenge80 befriedigt. Hier verstärkt das Mas­ senphänomen das Gerücht und setzt die Existenz von Konflikten zwischen den Werten und den Haltungen oder den Widerspruch zwischen den Prinzipien und den Handlungen voraus. Jeder Zu­ stand von Unruhe, Unsicherheit und Angst setzt einen solchen Widerspruch voraus, denn die Individuen erwarten angstvoll eine Information, die der Unsicherheit ein Ende bereiten kann, positiv oder negativ. Diese Information gewinnt jedoch mehr Au­ torität und wird glaubwürdiger in dem Maße, in dem sie weit zirkuliert und so die «Anerkennung der Menge», der Gruppe oder der Masse gewinnt; dies weil ein isoliertes Individuum sich nie ganz sicher fühlt. Der Einfluß der «großen Zahl» wird eben­ falls sichtbar im Fall der Wiederholung einer falschen Informa­ tion: Die Tatsache, daß sie bloß ständig wiederholt wird, führt dazu, daß sie geglaubt wird. Dies war auch die Taktik von Goeb­ bels, der auf der ständigen Wiederholung bestimmter Lügen in­ sistierte: Der «Glaube» bezieht sich hier auf ein «Realitäts»-Delirium. Das gleiche geschieht mit Revolutionären, die den Kontakt mit der Realität verloren haben und an ihre Parolen und Slo­ gans, die sie ständig wiederholen, glauben, als ob sie die Wirk­ lichkeit wären. Das Massenphänomen funktioniert hier schließlich in dem Maße, in dem das Gerücht gegen imaginäre Feinde die Massen mobilisiert. Die Kritik an der Konsumgesellschaft aus dem Jahre 1968 wurde fortgesetzt und verstärkt im Rahmen der ökologi­ schen Bewegung, mit dem Ergebnis, daß viele Konsumenten ein Schuldgefühl haben: die Angst gegenüber der «Vergewaltigung» der «Mutter-Natur», die sich «rächen» wird. Dies irrationale Ge­ fühl von vielen ist eine unvermeidliche Folge der rationalen Kri­ tik und sie begleitet sie: Hier scheint wieder der ambivalente Charakter jeder Emanzipationsbewegung durch, die gewöhnlich von ihren Anhängern idealisiert wird. Die «schuldbeladenen» Konsumenten (die das Unbehagen in der Kultur auf diese Weise verschieben) beginnen hier bestimmte Kategorien von Produkten pauschal und undifferenziert in den «Geist des Bösen» zu verwandeln oder, umgekehrt, bestimmte andere Produkte als «gut» zu betrachten, weil sie das «Heil» bringen: siehe das vegetarische Essen (aus «Überzeugung»), die Kräutertherapie usw., die «Gesundheit», «Schönheit», «Potenz»

125 usw. schenken sollen. Hier haben wir eine Regression in die ma­ gische Denkweise, als auch die unbewußte Wiedereinführung von Nahrungstabus und Fastenritualen. Der Konflikt zwischen den Ereignissen8', die die Subjekte wahr­ nehmen und den Gefühlen, die sie erleben, ist oft sehr stark bei Individuen, die nicht sehr differenziert sind: Wenn man ir­ gendwo eine Explosion hört, wird man hinterher verschiedene Gerüchte hören und in Panik geraten. Um die Panik zu überwin­ den, muß eine «Erklärurg» dafür gefunden werden: Wenn diese schwer oder unmöglich zu finden ist, dann ersetzt ihre Funktion imaginär eine «teuflische Kausalität»,82 die infantile Phantas­ men regressiv erfüllt. Die kollektive Phantasie beschäftigt sich ständig mit Sexualmorden und Gewaltakten, die unerklärt blei­ ben: Es sind die erfolgreichsten Medienstories. Diese Phantas­ men existieren latent in jedem, und verursachen Angst, die in Erzählungen einfließt, die gleichzeitig die verdrängten bzw. per­ versen Wünsche der Subjekte wiedererwecken. Die Texte und Abbildungen83 (Photos, Fernsehen, Kino usw.) sind die Orte, wo kollektive Halluzinationen projiziert werden, wie die Gerüchte bezüglich bestimmter Inszenierungen; jenseits der Vergewaltigungs- und Mordszenen spielen bei bestimmten sozialen Schichten die Szene von der «Rettung», d. h. von über­ natürlichen Wundern, oder die Szene vom «Glück», d. h. vom Erfolg (im Lotto usw.) eine große Rolle. Das Subjekt wird von seinen Trieben überflutet und verleugnet die Realität, indem es seine Aggressivität nach außen projiziert. Das Gerücht wird in dem Maße, in dem es die psychische und soziale Realität domi­ niert, von der psychischen Regression mittels der Verleugnung der Realität charakterisiert, als einer Folge der Projektion der verdrängten, unerträglichen Wünsche und der Halluzination nach außen. Im Gegensatz dazu schafft die genaue Information den Konflikt mit der Realität, ohne die psychische Regression einzuschränken. Es ist ein Zeichen von Gedankenlosigkeit,84 wenn jemand das wiederholt was er hörte, daß die «anderen sagen», und mit «ja» zu antworten, wenn jemand sucht, die Existenz einer Botschaft zu bestätigen. Jeder ist somit verpflichtet dem anderen Erläute­ rungen zu geben bezüglich der Glaubwürdigkeit der Informati­ onsquelle und ihres mehr oder weniger beweisbaren Charakters. Nur so kann eine vorbeugende Strategie gegen die Entstehung von unkontrollierbaren Gerüchten, die immer nur den Herr­ schaftsverhältnissen dienen, realisiert werden. Aber jedes kriti-

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sehe Wissen und Handeln kann immer in sein Gegenteil perver­ tiert werden.

II.3. ÜBER DAS PHANTASMA

Im politischen wie im ästhetischen Raum werden dadurch My­ then produziert, daß die Ängste und Wünsche der Individuen aufs Kollektiv projiziert werden und umgekehrt. Die Zweideutig­ keit und Ambivalenz dieser Wünsche sind der Kern, um den herum die Phantasmen sich kristallisieren. Die Forderung nach der symbolischen Aufarbeitung der Phantasmen bedeutet weder die Ablehnung der Kulturtradition noch die Fixierung auf der Vergangenheit, sondern sie besteht in der Wette, daß es möglich ist und es sich für das Subjekt «lohnt», nicht in den Phantasmen zu verbleiben. Ihre Bewältigung bedeutet keinesfalls, daß eine nüchterne, langweilige, phantasielose Rationalität sich über al­ les ausbreiten würde, im Gegenteil. Dieser Vorwurf ist der letzte Vorwand, um einer als unerträglich empfundenen Realität nicht auf den Grund zu kommen und sie zu ändern, sondern ihr zu entfliehen und sie ästhetisch zu verklären. Denn Bewältigung von Phantasmen bedeutet auch, Risiken und Anstrengungen auf sich zu nehmen, deren Ausgang nicht im vor­ aus garantiert werden kann. Und das ist schwer in einer Zeit, in der viele alles auf Sicherheit und unmittelbaren materiellen Er­ folg setzen. Die phantasmatische Wirkung aller ausschließlich geschichtsund gesellschaftsorientierten Erklärungen liegt darin, daß sie für die Handlungen der Subjekte einen Rahmen abgeben, in dem die Subjekte als solche verschwinden, d. h. sich als vergessene und ausgeschlossene in Szene setzen. Ausbeutung und Herr­ schaft, Erziehung und Milieueinfluß sind die abstrakten Wesen­ heiten, die daran «schuld» sein sollen, daß die Menschen angeb­ lich so sind wie sie sind. Aber politisches Handeln ist kein bloßes Fortschreiben von geschichtlichen Prozessen, sondern umge­ kehrt, diese bilden sich immer nachträglich durch jenes Han­ deln. Die Subjekte schaffen ihre Zukunft und Geschichte wirk­ lich, nur wenn sie die phantasmatischen Erklärungen für ihre ei­ genen und ihrer Ahnen Handlungen überwinden. Die Solidarität alles Menschlichen liegt darin, die pathologi­ schen, normalen und außerordentlichen Erfahrungen mit der

127 Lust und dem Leiden als Strukturen homolog und miteinander prinzipiell vergleichbar zu halten. Freud gebraucht immer das Wort «Phantasie» oder,, seltener, «das Phantasieren», dagegen nie das Wort Einbildungskraft. In der französischen Psychoanalyse hat sich das Wort «Fantasme» eingebürgert und teilweise als «Phantasma» seinen Weg ins Deutsche gefunden. Freud hat, um den allgemein traumatischen Charakter der menschlichen Sexualität zu erklären, zuerst die Theorie von der sexuellen Verführung als ein real angenommenes Ereignis in der frühen Kindheit vertreten. Entgegen den Kulturalisten bestand für ihn das psychische Rätsel darin, daß die Unlust an der Se­ xualität nicht bloß durch äußere Verbote und Normen verur­ sacht wird, sondern umgekehrt, die intern eingebauten Unlust­ quellen jene Verbote nachträglich verstärken.85 Freud suchte eine explizite Beziehung zwischen Sexualität und Verdrängung und fand keine inhaltliche Bestimmung, sondern nur ein zeitli­ ches Verhältnis von «zu früh» (Geborenwerden) und «zu spät» (in die Pubertät kommen), von zu wenig und zu viel an Irrita­ tion. Das Verhältnis zwischen zwei Zeiten blieb dann, trotz spä­ terer Änderung der Theorie, eine Konstante des Freudschen Denkens. In dieser ersten Konzeption bezeichnete es gleichzeitig ein dialektisches Außen-Innen-Verhältnis: War die «Erweckung» der Sexualität von außen durch den Anderen zustande gekom­ men, so reaktivierte die spätere Erinnerung von innen jene Irri­ tation und führte zu Schutzreaktionen. Diese erste Erklärung führte auch zu einer Reihe von Widersprüchen: Sie postulierte nämlich den Mythos der kindlichen Unschuld, des Fehlens einer kindlichen Sexualität. Sie setzte außerdem ein Außen voraus, be­ vor es die Differenz Innen/Außen gab.86 Freud stellte aber weiter in Zusammenhang mit der Entdeckung der sexuellen Ätiologie der Hysterie fest, daß nicht eine reale traumatische Verführung seitens der Eltern bzw. der Erzieher notwendigerweise den Ursprung des Symptoms bildete, son­ dern, daß vielmehr spätere Verführungswünsche oder Erlebnisse des Subjekts phantasmatisch auf einen mythischen Ursprung projiziert werden. Er betonte, daß «erst spätere Erlebnisse den Anstoß zu Phantasien geben, die auf die Kindheit zurückgrei­ fen».87 Im Artikel über die «Ich-spaltung im Abwehrvorgang»88 beschreibt er, wie bei einem kleinen Knaben eine sehr frühe Wahrnehmung erst nachträglich durch eine von der Kinderpfle­ gerin ausgesprochene Drohung traumatisierend wirkte. Weder

128 die Wahrnehmung noch die Drohung für sich genommen, hät­ ten das Trauma allein zustande gebracht, sondern erst das kon­ tingente Zusammenwirken beider vermittels der Erinnerung, gab der alten Wahrnehmung einen Sinn. Daraus bildete sich dann als Schutz vor der Gefahr ein Fetisch, der zum Kristallisa­ tionspunkt der Phantasmen wurde. Die Entdeckung der spontanen, kindlichen Sexualität war der entscheidende Schritt Freuds weg von der Fixierung auf ein äußeres Ereignis, hin zu der Erklärung durch ein inneres, kon­ stitutionelles Faktum. Diese Entdeckung stellte ihn vor neue Probleme, nämlich vor die Frage nach der biologischen Her­ kunft der Sexualität, einer Herkunft, die er nie als eine Unmittel­ barkeit akzeptieren wollte, denn er suchte eine Realität besonde­ rer, spezifisch menschlicher Art zu definieren. Der weitere Fortschritt ergab sich durch die analytische Arbeit selbst. Die Tatsache, daß die Phantasmen nicht nur Material zum Analysieren sind, sondern ebensosehr ein Ergebnis der Analyse darstellen, nämlich den latenten Inhalt des Traums oder des Symptoms, führte dazu, in gewissen Phantasmen eine Kon­ sistenz festzustellen, die aus ihnen die spezifisch psychische Rea­ lität bildete, die weder auf individuelle Erlebnisse noch auf indi­ viduelle Einbildungen allein basiert. Zu dieser Erkenntnis kam Freud in der Zeit, da er die symbolische Strukturierung des Un­ bewußten in der Traumdeutung, im Witz usw. entdeckte, wobei das Phantasma selbst jenen symbolischen Operationen das Ge­ wicht der psychischen Realität verlieh. In dem Sinne unterschei­ det er zwischen drei Arten von Realität: die äußere (materielle) und zwei «innere»; die eine von diesen ist als imaginäre, rationa­ lisierende zu begreifen, während die eigentlich psychische, un­ bewußte Realität, die der Phantasmen ist.89 Hatte Freud in den Phantasmen die psychische Realität erkannt, so hörte er nicht auf nach dem Ursprung dieser immer-schonda-gewesenen Realität zu fragen. In den Urszenen nahm er wie­ der, in verwandelter Form, das Motiv des Ereignisses auf und da­ mit ebenfalls die zwei Zeiten des Traumes. Nur, daß jetzt das Er­ eignis nicht mehr eine Handlung, die das Subjekt ausführt oder erleidet, bedeutet, sondern nur eine Beobachtung von bestimm­ ten Situationen. Aber diesen Urszenen kommen die Urphanta90 sien entgegen. Fast gleichzeitig versuchte er die Frage nach dem Ursprung der Phantasmen zu beantworten, 91 indem er zäh am Realismus fest­ hielt, statt einer biologischen eine phylogenetische Erklärung zu

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finden, also eine pseudobiologische, evolutionistische Begrün­ dung. Aber seine Intention war eine andere; sie wird durch den Begriff «Schema» manifest. Die Verallgemeinerbarkeit und die Typisierung der Urphantasmen deuten auf die Wirkung der Struktur in der psychischen Realität, etwas, das durch die sym­ bolischen Operationen des Unbewußten klar wurde. Diese Urp­ hantasmen sind vier: Fusion (mit dem Mutterkörper), Urszene (Beobachtung der Koitusszene der Eltern), Verführung, Kastra­ tion. Was Freud hier anspricht ist die Feststellung, daß das indi­ viduelle Imaginäre nicht den Kern des Unbewußten ausmacht, aber ebensowenig irgendein partikulares, kollektives, «völki­ sches» Imaginäres, sondern nur das Universelle. Er war aber gegen eine Überwucherung von Phantasmen, d. h. es gibt nicht hinter jeder geistigen Operation ein Phantasma und hinter jedem Phantasma einen besonderen Trieb. Es gibt näm­ lich eine mehrdeutige, elliptische nichtlineare Zuordnung zwi­ schen Trieben, Phantasmen und bewußtem Denken und Han­ deln, jedes Moment ist durch die anderen vermittelt. Er erwähnt in zwei Passagen alle wichtigen Elemente, die die Dynamik und die Komplexität eines Phantasmas ausmachen: «Die Phantasien stammen aus nachträglich verstandenen Gehör­ tem, sind natürlich in all ihrem Material echt. Sie sind Schutz­ bauten, Sublimierungen der Fakten, Verschönerungen dersel­ ben, dienen gleichzeitig der Selbstentlastung. Ihre akzidentielle Herkunft stammt vielleicht von den Onaniephantasien. Eine zweite wichtige Erkenntnis sagt mir, daß das psychische Ge­ bilde, welches bei der Hysterie von der Verdrängung betroffen wird, nicht eigentlich die Erinnerungen sind, denn kein Mensch ergibt sich ohne Grund einer Erinnerungstätigkeit, sondern Im­ pulse, die sich von den Urszenen ableiten».92 Und weiter: «Die Phantasiebildung geschieht durch Verschmelzung und Ent­ stellung analog der Zersetzung eines chemischen Körpers mit einem anderen zusammengesetzten. Diese erste Art der Entstel­ lung ist die Erinnerungsfälschung durch Zerteilung, wobei gerade die zeitlichen Verhältnisse vernachlässigt werden. (...) Das eine Teilstück der gesehenen Szene wird dann mit einem Teilstück der gehörten zur Phantasie vereinigt, während das frei gewor­ dene Teilstück eine Verbindung eingeht. Damit ist ein ursprüng­ licher Zusammenhang unauffindbar gemacht. Durch die Bil­ dung solcher Phantasien (in Erregungszeiten) hören die Erinne­ rungssymptome auf. Dafür sind unbewußte Dichtungen vorhanden, die der Abwehr nicht unterliegen».93

130 Freud fügt an anderer Stelle hinzu94, daß Phantasmen «Vorbau­ ten» sind, die eine Schutzfunktion für das Subjekt erfüllen, in­ dem sie eine zeitlich auseinanderliegende Reihe von nachträg­ lich traumatisch wirkenden Ereigniselementen oder Ereignis­ sen, wie die Beobachtung des elterlichen Koitus - die Urszene durch bestimmte Operationen symbolisch entstellen und ent­ schärfen. Die besonderen Phantasmen, die zu Symptomen oder zu Kreativität oder zu beidem führen und allgemein jedem Sub­ jekt die Marke seiner Einmaligkeit einprägen, zeugen von passiv erlittenem Einbruch irgendwelcher Ereignisse, die in der frühen Kindheit unverstanden und damit gewaltsam blieben. Was und wie das geschieht, kann man nur teilweise erkennen, es müssen aber keinesfalls aus der Sicht der Erwachsenen gewaltsame Er­ eignisse sein. Freud betont immer wieder, daß es zwar irgendwelche Ereig­ nisse sein müssen, aber auch, daß sie unauffindbar sind; er ist überzeugt von ihrer Existenz durch ihre nachträgliche Wirkung, aber es ist unmöglich an sie, sowohl real als auch ideell heranzu­ kommen. Dies hat weitreichende Konsequenzen; es bedeutet, daß jede Suche nach der Eigentlichkeit, dem «wahren Sein», dem Ur-sprung sinnlos ist, denn hinter einem Phantasma steckt ein anderes, es sei denn, man gibt die Suche nach der ersten Ur­ sache auf und dekonstruiert die Phantasmen. Jede Rede vom «wirklichen» oder «natürlichen» Menschen, jede Unmittelbar­ keit, ist ein Mythos. Das Phantasma ist ein Vorbau vor dem Ab­ grund des Realen, des Unbekannten, der zwar verschiebbar ist, aber es entsteht immer ein neues Phantasma des unverstande­ nen Rests. Dies weist auf zweierlei hin: auf die notwendige, phantasmatische Vermitteltheit jeder Realität für die Menschen und auf die partielle, fragmentierte, aber wirkliche Veränderlichkeit der Realität. Die Unmöglichkeit, die Ursprünge zu erreichen, bedeu­ tet keinesfalls, daß das Reale nicht existiert, das wie auch immer vermittelt (und sei es im Medienspektakel), sich in seiner Frag­ mentierung und Veränderlichkeit bemerkbar macht. Die Fragmentierung des Realen verweist auf die Mehrdimensionalität der Zeit und der Schauplätze. Wenn das Unbewußte keine eindimensionale, reversible Zeit kennt, so heißt das nicht, daß es keine Geschichte hat. Die Elemente des Phantasmas wer­ den aus mehreren Zeitmomenten herausgeholt und zu einem neuen Gebilde kombiniert. Aber der entscheidende Zeitaspekt liegt in der Nachträglichkeit und der partiellen Wiederholung des

131 phantasmatisch konstruierten Ereignisses. Die Nachträglichkeit ist nur durch die Funktion des Symbolischen denkbar; was aber in der gängigen Literatur als «Symbol» bezeichnet wird, ist ei­ gentlich ein Phantasma, und es darf nicht mit dem Symboli­ schen verwechselt werden. Die Hauptschwierigkeit in der Analyse eines Phantasmas besteht in seiner scheinbaren Einheit; es täuscht einen stabilen Ur­ sprung, ein einheitliches reales Ereignis vor. In Wirklichkeit läßt es sich als eine relativ einfache Kombination von Elementen zer­ legen, die aus einer stabilen Formel mit auswechselbaren Teilen besteht. Dieses Verfahren kann aber nicht das einzige Mittel einer Analyse von komplexen Kulturprodukten sein; umgekehrt kann es als Mittel dazu beitragen, ideologische Produkte und Herrschaftsverhältnisse in ihrer Armseligkeit und phantasmatischen Struktur zu durchschauen und sie damit von symboli­ schen Beziehungen und geistigen Produkten zu unterscheiden. Freilich ist es meistens so, daß ideologische Produktionen Teile von geistigen Werken sind und diese verdanken oft jenen ihre Existenz, ohne jedoch darin aufzugehen. Wenn eine Tätigkeit und ein Produkt eine Wunscherfüllung darstellen und von einem Phantasma geleitet werden, so können sie es doch in dem Maße transzendieren, in dem sie es dekonstruieren, auch wenn dies nur partiell möglich ist. Die Stabilität weist auf die wiederkehrende Inszenierung hin, de­ ren Modell die Urszene bleibt. Oft ist es ein Verb, das in allen Personen, Zeiten, Modi vorkommt. Die Instabilität bezieht sich auf die auswechselbaren Objekte des Begehrens, hinter denen sich Fragmente des Realen verbergen. Das Phantasma der Ver­ führung in der Hysterie lautet: «Ein Vater verführt eine Toch­ ter». Eine Transformation desselben ergibt: «Eine Tochter ver­ führt einen Vater».95 Es handelt sich immer um dieselbe Szene. Dieses Phantasma ist ein Vorbau, ein Bildschirm zwischen dem Subjekt und dem Realen. Das Subjekt selbst kann überall stecken, nämlich hinter einem oder mehreren syntaktischen Ele­ menten des Satzes. Das Phantasma ist anonym und zeitlos, die Personen, die darin vorkommen, sind mythische Figuren, Masken, genauso wie im Traum. Es spielt sich in der unbestimmten Zeit des Imperfekts ab, im Gegensatz zu den Tagesresten, die es enthält, die datier­ bar sind und auf bestimmte, benannte Personen bezogen wer­ den können, d. h. symbolisch einzuordnen sind.96

132 Die Transformationen der Formel weisen auf die kombinatori­ sche Struktur des Phantasmas hin. Das ist das unerschöpfliche Gebiet der Permutationen und Variationen desselben Themas, so wie es durch sprachliche und nichtsprachliche Elemente zur Verfügung steht. Die verschiedenen Varianten erscheinen als Se­ quenzen, als eine Serie von Inszenierungen nach einem kinematographischen Prinzip.97 Die Kombinatorik zeigt sich genauer an den Umkehrungen und Umwandlungen, die in den dargestellten Situationen stattfinden. Diese Schlüsseloperation hat Freud aus­ führlich im Artikel: «Triebe und Triebschicksale» analysiert.98 Verkehrung ins Gegenteil ist die eine Operation: statt aktiv passiv und umgekehrt. Er erwähnt auch eine dritte Form, reflexiv, in Anlehnung an die Form des griechischen Verbs. Die andere Ope­ ration ist: Wendung gegen die eigene Person: Objektwechsel. Das Phantasma dient der Wunscherfüllung, ist aber nicht das Objekt des Begehrens, sondern es bildet den Schauplatz, die Vorbzw. Darstellung, in der das Subjekt den Zugang zum Objekt des Begehrens findet. Das Phantasma betrifft das Inszenesetzen des Subjekts und in den Maße, in dem es einer Wunscherfüllung dient, ist es der Sprache unterworfen, es ist als Text in seinen De­ formierungen und Entstellungen vorhanden, wobei dieser Text eine Ra/iwenbedingung für die Situierung des Subjekts darstellt. Das Szenario selbst ist nicht restlos interpretierbar. Darin liegt der Hauptunterschied zum Symptom: Ist dieses als Kompromiß­ bildung im Prinzip interpretierbar, so ist das Phantasma ein Mischling, der sich an der Grenze zwischen der unbewußten Ur­ sache und ihrer Wirkung in der Vorstellung einnistet. Dies verweist auf die metonymische Natur des Objekts des Be­ gehrens, das eine symbolische Bewegung ist, die über sich selbst hinausgeht. Vermittels des Phantasmas stellt sich dem Begehren eine Einkleidung jener unsichtbaren, unnennbaren Restobjekte vor, die den Trieben zugeordnet werden. Hinter dem Bild der ewigen Wiederkehr bzw. der absoluten Historizität steht die Wiederholung des Begehrens.99 Das endlose metonymische Glei­ ten des Objekts ist nicht das letzte Wort der Psychoanalyse, nicht das Suchen, sondern das Finden ist das Ziel. Die Wiederholung der phantasmatischen Situationen würde den Charakter einer unentrinnbaren Fatalität nahelegen, hätte Freud nicht gerade sein Begehren darin investiert, die Wahrheit in der Geschichte des Subjekts, durch es selbst entbergen zu lassen. Wahrheit bedeutet hier nicht die Übereinstimmung der Idee mit dem Ding, sondern die Feststellung der Nichtübereinstimmung,

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des Nichtidentischen. Ein Subjekt hat insofern Geschichte, als es die Reihe der gelungenen oder mißlungenen Versuche darstellt, an diese Wahrheit heranzukommen. Die Beschäftigung mit der Geschichte geschieht nur, um ein Stück Freiheit für kommendes Handeln zu erreichen. Und der Geschichte auf die Spur zu kom­ men heißt, Mythen und Phantasmen nach einer Operation der Dekonstruktion auf den Begriff zu bringen. Dieses Vorgehen ist identisch mit dem Vorgehen der Wissenschaft, ohne aber in Szi­ entismus zu verfallen. Die Frage, die sich hier stellte, ist, inwiefern die Analyse eines Phantasmas oder eines Mythos, selbst ein Mythos sei. Diese scheinbare Komplizität von Psychoanalyse und Mythologie hat C. G. Jung zu seiner Grundlage gemacht und so der Psychoana­ lyse unverdient Feinde und Freunde zugeführt. Freud verding­ licht aber die Mythen nicht, er fand kein kollektives (völkisches) Unbewußtes, die Phantasmen hören nicht auf, Fragmente des Realen zu verbergen. Sie sind erst in der Sprachstruktur möglich und sie bilden den Zugang zum Alltagsleben. Insofern die erlebte Geschichte meistens phantasmatisch von den tätigen und lei­ denden Subjekten vorgestellt wird, ist sie auch Stoff für Dekonstruktionen. Die Analyse der Mythen und Ideologeme bedeutet einerseits die Analyse des symbolischen Materials, das sie konstituiert, ande­ rerseits die Lokalisierung der «gemeinen Plätze» aus denen die den Ideologemen zugrunde liegenden Phantasmen bestehen. Es geht um folgende Phantasmen: - Der zerstückelte Körper (metaphorisch zerfällt der soziale Körper) - Das harmonische, vollkommene «Ganze/Eine», die Abschaf­ fung der Differenz, des Mangels, der Heterogenität, des Todes, des Bösen, des Häßlichen, der Zeit, der Geschlechterdifferenz; die Utopie der vollkommenen, homogenen Gesellschaft - Das autonome «Ich», das sich selbst beherrscht und die Welt beherrscht, als ein geschlossenes, transparentes System - Der dualistische «ewige Krieg» zwischen dem «einen» und dem «anderen», dem «Guten» und dem «Bösen» - Der Ausschluß eines Teils aus dem «Ganzen», die Opferung des Teils für das Ganze, der Mangel an Form/Stil, die Verwerfung des Rests, des «Abfalls» - Die harmonische «Ergänzung» des «männlichen» mit dem «weiblichen» «Prinzip»

134 - Der Ur-sprung der Welt und der Dinge, die «Urszene», die Quelle des Ganzen, der «Anfang» - Das endgültige Urteil und das «letzte Gefecht» zwischen den «Guten» und den «Bösen», das Jüngste Gericht - Die Verführung des Subjekts durch den «anderen» und umge­ kehrt - Der Besitz des besonderen, «magischen» Objekts, oder Wortes, das Schönheit, Jugend, Unsterblichkeit, Erfolg, Reichtum, All­ wissen, Allmacht garantiert - Die Kastration als Verstümmelung und Opfer, als Strafe und Schuldenbegleichung - Das Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit und Unterdrückung zwischen dem Subjekt und dem anderen - Die selbstdestruktive Abhängigkeit von Gewohnheiten, der Teufelskreis der Wiederholung, Überbietung, Steigerung, Akku­ mulation des Gleichen - Das Verhältnis zwischen Verfolger-Verfolgtem (Unglaubwür­ digkeit, Mißtrauen, Böswilligkeit, Querulantentum) - Die selbständige Existenz und Wirkung von übernatürlichen Wesen außerhalb der Welt der Sprache und der Phantasie - Die absolute Notwendigkeit, das allmächtige Schicksal, die ab­ solute Kontingenz, die ewige Wiederkehr des Gleichen, die Un­ terwerfung des Willens unter das «Schicksal» und seine Auslö­ schung in ihm - Der Familienroman der Neurotiker - Das göttliche Kind, die phallische Mutter, der allmächtige, dro­ hende Vater - Die Fusion mit dem All, der Natur, der Mutter (die Rückkehr in den Bauch der Mutter) - Die Überlegenheit des «Inhalts», der «Substanz» über die «Form» und umgekehrt - Die Transparenz und die (Selbst-) Unmittelbarkeit des Seins.

II.4.1 . DIE ANGST

Die Angst erscheint immer im Zusammenhang mit einem Ver­ lust (gleichgültig ob der Gegenstand des Verlustes der Mangel selbst ist oder nicht). Wir kennen schon eine Reaktion des Sub­ jekts nach dem Verlust eines Gegenstandes: die Trauer. Man trauert nicht nur über den Verlust einer geliebten Person oder eines Gegenstandes, sondern auch über den Verlust von Ge-

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legenheiten, von bestimmten Vorstellungen/Bildern von sich selbst, von Handlungen die man getan oder nicht getan hat, von Haltungen die man bezog oder nicht, so daß der Verlust einer Person oder eines Gegenstandes (infolge von Tod, Katastrophe oder Trennung) nur ein Indiz für etwas anderes ist, das man su­ chen und finden muß. Hier müssen wir die Begriffe Angst und Trauer genauer bestimmen. Wenn ein Baby statt der Mutter eine fremde Person anblickt, dann entwickelt es Angstgefühle. Nicht nur das: Indem es an­ fängt zu weinen zeigt es, daß es Schmerz empfindet. Das, was es ursprünglich nicht «versteht», ist, daß nach einer Abwesenheit der Mutter ihre erneute Anwesenheit folgen wird (oder die An­ wesenheit einer anderen Vertrauensperson). Der erste «Sinn», den es «begreift», ist dann, wenn die Mutter mit ihm das «Ver­ steckspiel» spielt,100 das in der Folge das Kind selbst inszenieren wird. Hier sieht man wie das Symbolische als die Alternanz An/Abwesenheit in die Psyche eingeführt wird. Es müssen zwei Grenzsituationen in der Lebenserfahrung des Kindes lokalisiert werden. Die eine trifft ein, wenn die Mutter aus Indifferenz, Haß oder Strenge das Kind willkürlich sich selbst überläßt; die andere, wenn sie es nie «in Ruhe läßt», aus übertriebener Sorge, Ängstlichkeit oder Nachgiebigkeit (gegen­ über dem Weinen oder dem Eigensinn des Kindes). Beide Situa­ tionen, Abwesenheit als verwahrlosender Verlust, Anwesenheit als erstickende Präsenz, haben das gleiche Ergebnis zur Folge: die Nichteinführung, den Mangel des symbolischen Spiels (An/Abwesenheit) in die Psyche des Kindes, mit der Konsequenz, daß das Kind Angst und (Selbst-)Aggressivität entwickelt, die im Grenzfall zur Psychose wird. Im frühkindlichen Alter existiert die «Mutter» nicht: Es gibt nur ihre Brust, die für die Psyche des Kleinkindes einen Teil seines eigenen Körpers ausmacht: Der «Schnitt» geht zwischen dem «Substrat» Mutter einerseits und dem Kind plus der Brust der Mutter andererseits. Das Kind hat nicht nur vor der Abwesen­ heit der Mutter Angst, sondern auch vor ihrer bedrückenden Präsenz, die alptraumhaft werden kann. Hieraus entsteht das Phantasma des paranoiden Verfolgungswahns: Das Subjekt spal­ tet sich in zwei Teile, die Aggressivität, die der eine Teil gegen die Mutter äußert, wird auf ein anderes Individuum projiziert, das als der Verfolger des anderen Teils erscheint. In dieser primären Stufe macht das Kind automatisch eine trau­ matische Erfahrung, wenn es eine Abwesenheit, einen Verlust

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der Mutter gibt, insofern es Hunger spürt, und nicht gestillt wer­ den kann. Die erste Voraussetzung der Angstentwicklung ist der Verlust der Wahrnehmung der Mutter, die für die Psyche (im Un­ bewußten) mit dem Verlust des Gegenstandes selbst äquivalent ist.101 Hier spricht man noch nicht von Verlust der Mutterliebe. Später «lernt» das Kind, daß das Objekt Mutter existiert auch wenn es abwesend ist, jedoch kann es «geärgert» und «böse» über es sein, so daß die zweite Voraussetzung der Angstentwick­ lung in der Folge der Liebesverlust seitens des Anderen ist102 (der auch den Verlust von Anwesenheit impliziert). In diesem Fall hat die Angst eine andere Funktion: Sie wird zum Signal der Erwartung einer imminenten Verlustdrohung. Nach dem Verlust fühlt das Kind einen psychischen Schmerz und die Angst entsteht nachträglich, als eine Reaktion der Erwartung einer eventuellen erneuten Nichtbefriedigung der Bedürfnisse des Kindes, und im Sinne einer Verschiebung, als eine Abwe­ senheit des Anderen, der in der Regel diese Bedürfnisse befrie­ digt. Hier wurde eine Unterscheidung zwischen zwei Angsttypen ge­ macht: Es gibt die automatische Erzeugung einer stärkeren un­ angenehmen Erregung des Körpers und des Geistes gegenüber einem gegenwärtigen Ausnamezustand, den wir traumatisch nennen, und die Erzeugung einer schwächeren unangenehmen Erregung gegenüber einer zukünftigen «Verlustgefahr», die den Charakter eines Warnsignals hat. (Das Signal ist kein Signifikant und erzeugt keinen «Sinn» metaphorischer Natur, der interpre­ tierbar wäre; es ist ein «versteinertes» Zeichen, das mit mehr oder weniger direkten Reaktionen der Psyche zu tun hat). Die erste, traumatische Erfahrung des Subjekts ist seine Geburt, die Erstickungsgefahr während der Geburt und der hohe Reiz der Atemluft. Das Subjekt hat jedoch in dem Moment noch keine konstituierte Psyche, so daß es subjektiv keine Wahrneh­ mung des Ereignisses behält: Geburt und Tod sind keine Erfah­ rungen, die im Unbewußten eingeschrieben werden, sondern die Phantasmen darüber beziehen sich auf die Geburt und den Tod des Anderen. Aber die traumatische Erfahrung der Geburt bildet objektiv das Vorbild für jeden Traumatismus, körperlichen oder geistigen, d. h. für jede erschütternde Erfahrung, die direkt den (psychophysischen) Narzißmus des Subjekts berührt. Dies be­ trifft die Traumata des Körpers infolge von Unfällen/Krankheiten als auch infolge von Orgasmusstörungen (Coitus interruptus, langjährige Enthaltsamkeit usw.).

137 Wie o. e. ist die andere Gefühlsreaktion auf einen schon stattge­ fundenen Verlust des Gegenstandes die Trauer,103 die sich unter dem Einfluß der Realitätskontrolle bildet, und vom Subjekt ver­ langt, es soll sich von seinem geliebten Objekt trennen, weil es nicht mehr da ist. Die Trauer ist eine psychische Arbeit mit dem Ziel, daß das Subjekt seine erotische Triebbesetzung von seinem ehemaligen Objekt abzieht, um den Weg für eine eventuelle künftige Neubesetzung frei zu machen. Die Trauer ist eine not­ wendige und unvermeidliche psychische Funktion, die den Stempel des Schmerzes trägt: Kein Subjekt entfaltet eine diffe­ renzierte Psyche, wenn es nicht wiederholt die Trauererfahrung macht. Diese Erfahrung ist auch ein Indiz, daß die Angst über­ wunden wurde; wenn trotzdem die Angst weiterbleibt, dann ha­ ben wir den Fall von Melancholie und Depression. Die Angst gegenüber dem eventuellen Verlust einer geliebten Person (oder eines Gegenstandes) bedeutet, daß das Subjekt be­ fürchtet, daß wenn dieser konkrete Gegenstand verloren geht, dann wird auch seine existentielle Stütze in einem Universum von unzähligen Objekten und Möglichkeiten, denen gegenüber es sich schwach, unsicher und unbeholfen fühlt, verloren gehen. Die Welt erscheint «leer» und die Trennung bzw. der Verlust er­ scheint als «Entleerung» und nicht als Beginn einer möglichen neuen Objektbesetzung. Freud betont, daß ein Verliebter sein Selbst «entleert», weil er seinen ganzen Narzißmus in den ande­ ren investiert.104 Aber das richtige Verstehen der psychoanalyti­ schen Begriffe verlangt das Begreifen der Zweideutigkeit des Wortes «Mangel» bzw. «Abwesenheit». Das Spiel von An- und Abwesenheit bedeutet, daß es den Signifi­ kanten, die Sprache, den Anderen gibt. Das Wort des Anderen (bzw. an den Anderen) ist auch die Vermittlung zwischen der in­ neren und der äußeren Realität, aber es verlangt einen Preis: Es verunmöglicht die Unmittelbarkeit aller Dinge für das Subjekt. Diese Entfernung bedeutet einen Verlust, einen Schnitt, der gleichzeitig die Möglichkeitsbedingung von jedem Begehren darstellt. D. h. der Mangel ist Voraussetzung des Begehrens. Wenn ein Objektverlust erwartet wird, bedeutet die dabei auftre­ tende Angst dem Subjekt, daß sein Begehren eventuell «leerlau­ fen» wird und unbestimmt lang unbefriedigt bleiben kann. Aber es gibt auch den anderen, zweiten Fall wo das Begehren selbst zu verschwinden droht: Es ist die Angst vor dem « Vollen» (nicht der Leere). Dessen Vorbild ist die erstickende, sorgenvolle Mutter, die keinen Mangel, also kein Begehren des Kindes entstehen

138 läßt; es ist die psychotisierende Mutter, die auch die Nichtexi­ stenz des Vaters impliziert. Das Kind reagiert dann mit Mager­ sucht und Anorexie, um auf diese (selbst-) destruktive Weise den Mangel doch herbeizuführen. Man kann auch die Angst als den «Mangel des mangelnden Objekts» bezeichnen; die zwei Fälle sind, erstens der Mangel des Objekts selbst, zweitens der Mangel des Mangels im Objekt (das Begehren selbst). Wobei Begehren hier auch die nichtsexuelle Liebe mitenthält. Die Angst entsteht und dauert, solange die Subjekte nicht akzep­ tieren, die Prüfung der Trauer und des Schmerzes zu bestehen, sondern dauernd versuchen imaginäre Lösungen zu finden und damit ihrem wirklichen Begehren Hindernisse in den Weg zu legen. Dieses Hindernis meiner Begehrenserfüllung ist immer ein anderes Begehren, das ich nicht kenne oder nicht überwin­ den kann: Es ist meine unbewußte Abhängigkeit vom Anderen, die es mir unmöglich macht, mein eigenes Begehren zu ent­ decken. Die Angst ist Angst vor dem unbekannten Begehren des Anderen; ich habe Angst, weil ich nicht weiß, was er von mir will: Ich weiß nicht welcher Art Objekt ich für das Begehren des Anderen dar­ stelle,105 und er weiß es auch nicht. Der Andere erscheint als et­ was, das mich total beherrscht; dies, weil er selbst nicht weiß, was er will (partiell, unbewußt). Aber ich kann unbewußt sein Begehren erraten und er meines, hierin besteht eine immer asymmetrische Beziehung zwischen mir und dem Anderen, eine Beziehung, die durch nichts auf die Dauer garantiert wird, eine Beziehung, die nur dann existieren kann, wenn man nicht ver­ sucht, sie künstlich zu garantieren und zu «versichern», sondern die Gefahr ihres Mißverstehens und ihres Verlustes auf sich nimmt. Um dem Anderen zu begegnen muß ich mich zuerst von meinen Abhängigkeiten familiärer, sozialer oder geistiger Natur emanzi­ pieren, denn sonst reproduziert jeder andere, der mir zufällig be­ gegnet, die schon vorhandenen Abhängigkeiten. Auf einer primären, unbewußten Ebene sucht das Subjekt die Unabhän­ gigkeit; wenn das aber unvermittelt ins Bewußtsein drängt, dann kann es sich als Bindungsangst äußern. Aber gleichzeitig fürch­ ten sich die Subjekte bewußt davor, sich von ihren Abhängig­ keitsbeziehungen zu trennen. Sie lehnen die Beweglichkeit der Triebe im Unbewußten unvermittelt ab, sie «sehen» nicht, daß die Anlehnung an «etwas» nur eine vorläufige Hilfskonstruktion

ist, und nicht «alles».

139 Von dem Moment an, von dem das Subjekt fürchtet, etwas zu verlieren, das es schon «hat», ist sein unbewußter Wunsch schon anderswo; es hat Angst vor seinen «Errungenschaften», und will sich schon von ihnen befreien. Aber er erlebt bewußt das Gegen­ teil davon, es hängt um so angstvoller an ihnen, denn es hat Angst, für eine gewisse Zeit mit leeren Händen da zu stehen. Hierin liegt der tiefere Grund des Konservatismus der Menschen (seiner Triebe) und der «hohe Preis» der Freiheit, die Angst vor der Freiheit (Die Angst hat keinen, konkreten, empirischen Gegenstand, sondern nur den Mangel selbst; demgegenüber hat die Furcht immer einen konkreten Gegenstand). II.4.2. POLITISCHE FOLGEN DER ANGST

Die Angst stellt ein Hindernis für das Entscheiden dar. Deswegen ist ihre politische Bedeutung immer reaktionärer Natur, gleich­ gültig ob sie auf der Rechten oder der Linken auftaucht: Sie ver­ hindert immer die Entscheidungsfreiheit der Individuen, die so unter einem inneren Zwang stehen.106 Die Prädisposition zur neurotischen Angst existiert mehr oder weniger bei allen Men­ schen; wenn äußere Gefahren auftauchen, dann wird in den In­ dividuen die existierende latente Angst mobilisiert (sowie das unbewußte Schuldgefühl), und unter bestimmten Bedingungen kann eine Depressions- und Verfolgungsangst entstehen.107 Die politischen und sozialen Differenzierungen zwischen den Klas­ sen und Gruppen können nicht von sich aus die Phänomene des Politischen und des Sozialen erklären. Die unterschiedlichen In­ teressen der Gruppen situieren sich zunächst auf der Ebene des Bewußtseins. Jede Gesellschaft kennt Konflikte verschiedener Art, aber diese setzen ein psychisches Substrat voraus, das sich in jeweils besonderen Formen der Angst manifestiert. Die Angst verschont keinen, sowohl Linke als auch Rechte können dem Ir­ rationalen und der Gewalt verfallen. Die Angst kann folgende drei Rollen spielen: a) als neurotisches oder psychotisches Gefühl der Bedrohung in der Gegenwart führt sie zur (Selbst-)destruktion und zur Läh­ mung, Panik, irrationalem Übergang zur Tat; b) als Signal warnt sie vor einer möglichen künftigen Gefahr, und so gibt sie den Subjekten die Möglichkeit, geeignete Maßnah­ men zu treffen; c) sie ist mit den vorigen Fällen verbunden, aber sie erscheint jetzt als etwas in der Vergangenheit Überwundenes, so bildet sie

140 eine Reinigungsprüfung für diejenigen, die sie überwunden ha­ ben. Diese Erfahrung ist wertvoll, weil sie die Freiheit gründet und bestärkt.108 Wie in einem früheren Kapitel schon erwähnt wurde, kommt der Mechanismus der Massenbildung um den Preis des Verzichts auf eine kritisch denkende Individualität zustande. Aber dieser Mechanismus ist auch sehr «wirksam», gerade weil er eine psy­ chische Regression der Massenmitglieder impliziert. In den modernen liberal-demokratischen Gesellschaften funk­ tioniert die Masse nicht nur nach dem klassischen Führerprin­ zip. Das führende Element ist struktureller Natur, nicht eine Per­ son, sondern ein Sigifikant, ein Symbol, eine Institution, ein An­ liegen, eine Idee. Aber es stellt sich allgemein die Frage, ob es alternative Formen zur Masse gibt, aber selbst wenn es sie gibt, hört die Unvermeidlichkeit der Masse nicht auf, entweder weil sie objektiv notwendig wird (wie in Kriegssituationen), oder weil sie subjektiv unvermeidlich wird, wenn die Bürger ein niedriges Bildungs- und Individuierungsniveau aufweisen. Die Altemativlösungen sind im wesentlichen zwei: einerseits die Familie, oder das Liebes-, bzw. Freundespaar, andererseits die sich selbst verwaltende Arbeitsgruppe in der Produktion und der Verwaltung, in denen ein gewisses Maß an Identifizierung unter­ einander ohne Fanatismus und Feindbilder erreicht wird. Die großen Organisationen und Institutionen bürokratisieren sich mit der Zeit und entfremden sich von ihren Mitgliedern, so daß sie oft zu Massenbildungen regredieren,109 wenn sie die vorhan­ denen Organisationen erneuern wollen. Die Begeisterung für den charismatischen Führer, der Populis­ mus, der Nationalismus und die Gemeinschaftsideologie ent­ springen dieser Quelle. Max Weber entwickelte die Problematik der Wechselbeziehungen zwischen den unterschiedlichen For­ men sozialer Organisation und Herrschaft, während Jacques Lacan eine Diskurstypologie110 vorschlug. Das Gesuchte bleibt eine Bürgergesellschaft (civil society), in der das Kollektive und das Individuelle nicht miteinander konkurrieren; dies ist in der Pra­ xis weder selbstverständlich, noch unmittelbar realisierbar. Im Abschnitt über die Identifizierung wurde eine erste Differen­ zierung zwischen den zwei Typen der imaginären, personenfi­ xierten und gefühlsmäßigen und der symbolischen, nicht ratio­ nalitätsfeindlichen Identifizierung gemacht. Aber es gibt eine zweite Differenzierung innerhalb der gefühlsmäßigen Identifi­ zierung; das ist der Fall, wenn diese in einer kleinen Gruppe von

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Freunden und Mitarbeitern stattfindet, von denen jeder eine ent-. wickelte Persönlichkeit, Individualität und ein Verantwortungs­ gefühl besitzt. In diesem Fall hat die Gruppe einen kooperativen und kommunikativen Charakter, was sie aber nicht daran hin­ dert, in ihrem Schoß führende Persönlichkeiten anzuerkennen; aber die Mitglieder ordnen sich nicht dem Führer oder dem Gruppengeist kritiklos unter; dies im Gegensatz zu der Masse, die einen «cäsaristischen» Charakter111 besitzt, d. h. sich ima­ ginären Führern unterordnet. In der Praxis gibt es meistens Mischfälle: Autoritäre Führer können auch Züge eines symboli­ schen Führers, während demokratische Führer Züge eines ima­ ginären Führers besitzen können. Die Elemente, die zu Angstträgern auf der politischen oder reli­ giösen oder sozialen Bühne werden, sind: die cäsaristische, ima­ ginäre Identifizierung der Massen mit dem Führer und eine be­ stimmte Denk- und Sprechweise, die «schlechte Konkretisie­ rung»"2 genannt werden kann. Bei der letzteren geht es um die «Verschwörungstheorie» in der Geschichte, gemäß der die Ge­ schichte immer von verschiedenen Geheimorgenisationen und dunklen Mächten, die die Machtergreifung durch eine Minder­ heit bezwecken, «gemacht wird». Diese paranoide Theorie ist sehr verbreitet, weil sie den «Vorteil» hat, eine «konkrete» Er­ klärung der Dinge abzugeben, indem sie einfach, ohne vertiefte Analyse der Phänomene, eine «Ursache», einen «Schuldigen» in einer Person oder Menschengruppe lokalisiert. Wie beim Vorurteil gilt hier, daß egal, was die «Angeklagten» tun, diese immer «schuldig» sind, denn wenn sie nicht das Böse tun, so wie es die Mehrheit erwartet, dann wirft sie ihnen Heuchelei, Lüge und böse Absichten vor. Diese Theorie stammt aus der Zeit des Animismus und der Magie113 und erhielt sich auch in der Re­ ligion, solange letztere von der Aufklärung unberührt blieb. Wenn der Zustand bestimmter Schichten oder einer ganzen Ge­ sellschaft, infolge äußerer oder innerer Gefahren, in die Krise gerät, dann mobilisiert die Gefahr die Angst, so daß sich immer gewisse Individuen oder Gruppen finden, die der noch diffusen Angst eine paranoide Form geben, indem sie einen Feind benen­ nen. Die Benennung selbst erleichtert die Situation, denn so weiß man «wer schuld ist». Hierbei ist jede Theoriefeindlichkeit reaktionär, denn nur der kritische Diskurs, die Überprüfung der Rolle des Gerüchts, die Kontrolle der ungeprüften Informatio­ nen mit empirischen Daten und logischen Regeln sowie mit der Motivationsfrage der betroffenen Subjekte kann die schlechte

142 Konkretisierung überwinden. Diese Prozedur impliziert eine Ar­ beit, die einen nüchternen und ausgebildeten Verstand, sowie politische Vernunft (prudence) verlangt. Aber die Leidenschaf­ ten, die frommen Winsche, die kurzsichtigen Interessen und die Ängste verführen die Menschen dazu, sich mit Phantasmen und ideologischen Erklärungen der sozialen und politischen Phä­ nomene zu begnügen. Abgesehen davon brauchte die menschliche Psyche mehrere Jahrtausende um den dialektischen Charakter der Realität zu begreifen; ursprünglich glaubten die Menschen, daß die Dinge entweder von verschiedenen individualisierten Kräften wie Göt­ tern oder Dämonen beherrscht werden, oder umgekehrt blind einem universellen Weltgesetz, wie dem Schicksal, der Heimarmene, der Notwendigkeit (Ananke), oder dem Zufall (Tyche) ge­ horchen. Die Geschichte der Philosophie bzw. der Religion zeigt gerade die Bemühungen, jene beide Ansichten in Frage zu stel­ len. Gewöhnlich fallen die Menschen der einen oder der anderen An­ sicht zum Opfer. Während sie einsehen sollten, daß die «Ursa­ chen» nicht der willentlichen Willkür bestimmter Subjekte ent­ stammen, sondern gewissen abstrakteren, allgemeinen Tenden­ zen struktureller oder historischer Natur entspringen, «sehen» und überschätzen sie nur die bewußten Handlungen in der Ge­ schichte (deren Verlängerung die Handlungen der «Komplot­ teure» und «Manipulateure» sind). Andererseits dort, wo die Subjekte konkret handeln dürften, glauben sie oft, daß «nichts zu machen ist», weil angeblich (göttliche, natürliche, oder ge­ schichtliche) «objektive Gesetze» keine Intervention der Sub­ jekte erlauben. Es geht hier gerade um die Problematik von Marx und Freud: Der Mensch «macht» seine Geschichte, aber er ist nicht ihr absoluter Herr, weil er in sich immer ein geschichtli­ ches Erbe trägt, das ihn übersteigt und das er anerkennen muß, ohne ihm hörig zu werden. Die dialektische Beziehung zwischen der subjektiven Praxis und dem objektiven Wissen kennzeichnet das Verhältnis der Subjekte zur Realität, und sie treffen immer «daneben», wenn sie die Dinge verkennen, was partiell immer der Fall ist. Die schlechte Konkretisierung bietet als Diskurs ein Kriterium dafür, um rechtzeitig die Angstentwicklung zu lokalisieren und zu diagnostizieren. Bevor z. B. Chomeini in den Iran zurück­ kehrte, liessen sich viele (Intellektuelle oder nicht) durch seine Versprechungen über eine «Änderung» verblenden und nur we-

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nige verstanden, indem sie seine Reden genau lasen, daß es sich um ein theokratisches, totalitäres Programm handelte. Die Mas­ sen im Zustand der Angst, gleichgültig woher diese kommt, pro­ jizieren ihre oft elende Situation auf gewisse «Personen» und sie personifizieren die Geschichte. Die imaginäre Feindbildung entspringt auch einem realen trau­ matischen Ereignis (Krieg, Naturkatastrophe, Hunger, Epide­ mie, Anarchie, Unterdrückung), das sich aber symbolisch an­ derswo verschiebt und verdichtet, indem es Bilder, Symbole, und Worte verwendet, d. h. es funktioniert wie das Unbewußte im Falle der Träume, der Symptome und der Phantasmen. Die paranoide Geschichtstheorie hat die Umwandlung der realen Angst in eine neurotische Angst zum Ziel.114 Dies geschieht in der Praxis durch die absolute Selbstverleugnung und den Selbstver­ zicht durch die Idefitifizierung mit dem Führer, der mit seiner Clique große Vorteile davon hat, denn er wird zum «Retter» und «Heiland» der Masse. Der Diskurs des Herrn115, von dem hier die Rede ist, bildet die ge­ naue Umkehrung des psychoanalytischen bzw. kritischen Dis­ kurses. Die Psychoanalyse hat umgekehrt die Umwandlung der neurotischen Angst mit symbolischen Mitteln in die reale Angst und anschließend iher Überwindung zum Ziel, nicht aber durch Identifizierung mit dem Analytiker, sondern mittels der Mobili­ sierung der Dialektik zwischen dem Gesetz und dem Begehren. Der Diskurs des Herrn bildet sich jedoch nie bewußt als «Mani­ pulation»,oder «Verschwörung», er ist ja ein symbolisches und gefühlsmäßiges Verhältnis zwischen dem Herrn und dem Knecht. Das Gefühl wird aber erst dann klar, wenn eine solche Bildung zerfällt: Dann tauchen Panik und anschließend Trauer und Melancholie auf.116 Der Diskurs des Herrn hat viele Varianten: je «auserwählter» und geliebter der Knecht bzw. das Exekutionsorgan ist, desto mehr wird er geprüft. Um ihn an sich eng anzubinden, mobili­ siert der Herr die Angst und verfolgt auf sadistische Weise das stereotype Modell der Bildung einer «künstlichen Neurose» und Abhängigkeit: Zuerst muß der zukünftige Knecht erniedrigt und in den Zustand von körperlichem, psychischem und sozialem Elend geraten, d. h. seine bisherige Identität bzw. Würde verlie­ ren. In der Folge erscheint der Herr in der zweiten Phase als «barmherzig» und als «Wohltäter» und erhöht seinen auserwähl­ ten Diener über der übrigen Masse und gibt ihm eine neue Iden­ tität117, die aus der Identifizierung mit dem Herrn stammt. So

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144 benehmen sich die tyrannischen und charismatischen Führer gegenüber ihren Mitarbeitern, Ministern, Generälen usw., während die sog. «Gehirnwäsche» insbesondere der Schaffung von «neuen Menschen» mit einer «neuen Mentalität» (siehe die . stalinistische Zeit) dient; bei ihr wird das «Schwarze» zum «Weißen» und umgekehrt, weil der Wille der Partei118 es verlangt. Die Propaganda, das Ritual, die Inszenierung, die Rede bilden die symbolischen und imaginären Instrumente zur Etablierung und Verewigung einer cäsaristischen Herrschaft. Das 20. Jahrhun­ dert zeigte darüber hinaus, daß im Stalinismus, zusammen mit den sakralisierten Personen von Marx, Engels, Lenin und Stalin, gleichzeitig die Herrschaft des Partei- und Polizeiapparates funktionierte. Die Geschichte ist voll von Beispielen der Konstruktion der Verschwörungstheorie und von charismatischen Führern. Ins­ besondere entstanden sie im Zusammenhang jeder revolu­ tionären bzw. konterrevolutionären Bewegung zwischen dem 14. und dem 19. Jahrhundert. 119 Besonderes Interesse zeigen drei Formen der Dämonisierung des anderen im 20. Jahrhun­ dert: die Angst vor einer kommunistischen, kapitalistischen oder jüdischen Verschwörung.120 Die antikommunistische Hysterie nach dem 2. Weltkrieg hatte ihren Ursprung nicht nur in realen Ursachen, sondern auch im damals verbreiteten Glauben, auch vieler Intellektueller, an die unbesiegbare Macht der bewußten Manipulation der Massen durch die Propaganda und die Verschwörungen. Damals wurde die Tatsache verkannt, daß die Machtergreifung der KPs in Ost­ europa nur dank der Anwesenheit der Roten Armee und nicht in­ folge der bloßen Intrigen der Kommunisten stattfand.121 Die Angst der Stalinisten vor einer «Kapitalistenverschwörung» bedeutete andererseits nicht nur, daß es Subversionstätigkeiten gab. Die Propaganda verfolgte das primäre Ziel, das stalinisti­ sche Terrorsystem zu legitimieren. Dies weil der Terror program­ matisch das Basisinstrument zur Verwaltung des totalitären Sy­ stems war, und die Angst, die dieses erzeugte, führte zwangsläu­ fig zur Identifizierung der Massen mit Stalin und der KP.122 Was den Antisemitismus in Deutschland vor und nach 1933 be­ trifft, so muß man feststellen, daß die Angst infolge der Nieder­ lage und der Krise nach dem 1. Weltkrieg, ihn wesentlich begün­ stigte. Aber das Moment der Niederlage darf nicht überbewertet werden, denn auch bei den Siegern, insbesondere in Frankreich, gab es Antisemitismus. Die Krise war tiefer und sie hatte schon

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in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts begonnen, so daß der Krieg und seine Folgen selbst mehr ein Ergebnis als eine Ursa­ che von ihr war, aber in der Folge verschärfte er sie. Aber bis 1920 war der Antisemitismus in Deutschland nicht verbreiteter als in anderen Ländern.123 Erst Hitler begriff, daß er, um die Massen, unabhängig von ihren Klassenunterschieden (in erster Linie die verunsicherten kleinbürgerlichen und Beamtenschich­ ten) zu gewinnen, methodisch den Haß und den Neid gegen einen Feind, mittels des Terrors und der Propaganda verwenden mußte.124 So transformierte er die diffuse Angst in eine neuroti­ sche Angst und einen Verfolgungswahn. Die Juden waren ein leichtes Opfer, denn sie gaben den Ein­ druck stark zu sein, weil sie in den Augen der Neidischen «erfol­ greich» waren. Letztere aber interpretierten den Erfolg als das Ergebnis einer bewußten Herrschaftsabsicht, während sie von Konkurrenzgefühlen und Phantasmen der Kastration und dem Ausschluß auf der sexuellen, beruflichen, nationalen, geistigen und religiösen Ebene beherrscht waren. Der ökonomische und soziale Konkurrenzgrund war weder der einzige, noch der wich­ tigste: Zwischen dem sozioökonomischen Zustand und dem An­ tisemitismus gibt es keine unmittelbare Beziehung, sondern ein Verhältnis der Überdeterminierung. Alle sozialen Schichten wa­ ren und sind anfällig dafür; es ist gerade der soziale und natio­ nale Abstieg und die Phantasmen, die mit ihnen Zusammenhän­ gen, sowie die Bedrohung, die ihn ankündigt, die die Angst ver­ ursachen. Die Angstbereitschaft ist latent immer da; um manifest und ak­ tuell zu werden, bedarf sie eines äußeren Anlaßes (nicht: Ursa­ che), der sie aufweckt und mobilisiert.125 Im sozialen Raum kön­ nen allgemein eine soziale und eine politische Angstform von­ einander unterschieden werden. Was die Angst selbst betrifft, äußert sie sich entweder unmittelbar in den intersubjektiven Verhältnissen (Familie, Freunde, Geliebte) oder mittelbar in den religiösen Verhältnissen (wobei hier keine Priorität gesetzt wer­ den soll). Die Religion ist immer, bevor sie zur Rationalisierung der soziopolitischen Herrschaftsverhältnisse dient, eine Verlän­ gerung und Integration der Begehren und Ängste der Sub­ jekte.126 Die soziale Form der Angst entstammt der Entfremdung, d. h. dem Kontrollverlust der Individuen über die Prozesse, die Er­ gebnisse und die Bedingungen ihrer Handlungen im Bereich der Produktion und Verteilung der Arbeitsprodukte und der Dienst-

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leistungen. Hier kann man leicht in romantische Phantasien ver­ fallen, weil die Subjekte nie «Herren» ihrer Wünsche sind, denn diese sind unbewußt verankert, während die sozialen Funktio­ nen, wegen ihrer Komplexität, vorher nicht total kontrolliert werden können. Die Frage muß jedoch anders gestellt werden. Die Entfremdung erschien historisch um 1760 in England mit der industriellen Revolution und bedeutete einerseits die Herr­ schaft der Technik und andererseits die Verelendung der Arbei­ ter und ihre Atomisierung. Vor dieser Situation gab es zwei mög­ liche Reaktionen: Die erste der Romantiker und der utopischen Sozialisten, war eine Regression in die Ideologie der «heilen» Ge­ meinschaft. Diese Reaktion war re-aktionär, denn sie setzte den Verzicht auf die Individuierung voraus, sowie die Unterordnung unter die geschlossene Gruppe, als auch den Verzicht auf die Universalität des Menschen (seine «unendlichen Wünsche»). Die zweite Reaktion war positivistisch-technokratischer Natur: Sie glaubte und glaubt, daß die stetige Entwicklung der (positi­ ven, Natur-) Wissenschaften und der Technik alle Probleme der Gesellschaft und der Menschheit lösen würde. Die Anhänger die­ ser Ansicht sehen nicht die Katastrophe der Städte, der Natur und der Kultur, d. h. die Vorherrschaft der instrumentellen Vernuft. Gegenüber diesen zwei Positionen war die Haltung von Marx folgende:127 weder die eine, noch die andere, sondern eine dialek­ tische Überwindung beider (was weder selbstverständlich ist, noch einfach der «Mittelweg» zwischen ihnen). Marx adoptierte zwar die Kritik der Sozialisten, aber andererseits akzeptierte er auch die unvermeidliche Entwicklung des rationalen Geistes und der Universalität, die die Entwicklung der Produktivkräfte, des Wissens und der sozielen Beziehungen prägen. Aus der marxschen Sicht bedeutet jede romantische Position über «to­ tale», integrierte Arbeitsformen und «Menschenverwirklichung» mittels der heutigen Arbeitsverhältnisse, eine reaktionäre Lö­ sung, d. h. die allgemeine Ablehnung der Arbeitsteilung und der Leistungshierarchie bedeuten eine historische Regression. Das bedeutet nicht, daß Arbeitsteilung und Leistungshierarchie in der modernen Gesellschaft nicht begrenzt werden können, son­ dern, daß dies im bestimmten jeweils historischen Rahmen zu geschehen hat. Andererseits bedeutet das alles nicht, daß es nicht immer schon Möglichkeiten für eine kreative (nicht einfach produktive, nützli­ che) Arbeit und für das Spiel (nicht einfach: Zerstreuung in der

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147 «freien Zeit») gibt. Marx sah richtig, daß das «Reich der Frei­ heit» jenseits des «Reichs der Notwendigkeit» existiert. Aber diese zwei «Reiche» koexistieren immer (wie bei Freud das «Lustprinzip» und das «Realitätsprinzip») und sie werden es auch in der Zukunft mehr oder weniger tun, unter verschiede­ nen Formen, und diese Differenz konstituiert auch die Spaltung der Subjekte. Indem sich in dieser Differenz Herrschaftsbeziehungen breit machen und sie pervertieren, entsteht das eigentliche Problem, denn eine Sache ist die soziale Notwendigkeit zur Arbeit und eine andere der Arbeitszwang infolge von Herrschaftsbeziehun­ gen. Andererseits bildet die Existenz des Marktes und der gere­ gelten (gemäß dem Gesetz) Konkurrenz keine Entfremdung. Denn die Marktmechanismen entspringen aus der Struktur des sozialisierten Begehrens, das auf dem Moment der imaginären Spiegelung und des Tausches basiert. Der Prozeß des Begehrens beschränkt sich freilich nicht darauf, denn er wird vom Symboli­ schen dominiert, d. h. er überwindet tendenziell das Imaginäre und sucht und findet den Anderen anderswo, an den «Rändern» des Sozialen. Wenn die Subjekte es so nicht schaffen, dann ver­ fallen sie dem Fetischismus, der Neurose und der Angst. Das gleiche gilt auch im sozialen Rahmen (und hierin besteht die Grenze von Marx, der die Zukunft der Moderne «idealistisch-ro­ mantisch» beschrieb): Die Konkurrenzverhältnisse auf dem Markt (nicht: im Kapitalismus, der ein historischer «Überbau» des Marktes ist), sind die gleichen wie in jeder Gruppe oder Ge­ sellschaft (Club, Partei, Clique usw.), in denen das «unerreich­ bare» Objekt des Begehrens zirkuliert. Jedes Subjekt, individuell oder kollektiv, steht vor einem Di­ lemma: entweder die Dialektik des Gesetzes und des Begehrens zu akzeptieren und die etablierten Herrschaftssysteme in Frage zu stellen, oder im imaginären Wettbewerb total aufzugehen und sich den Fetischen der Macht und der Sicherheit unterzu­ ordnen. Die soziale Angst erscheint nicht128 im Fall des legitimen und geregelten Wettbewerbs, sondern dann, wenn dieser will­ kürlich stattfindet und das Gesetz des Dschungels, d. h. des Stär­ keren, herrscht. Soziale Angst entsteht auch, wenn eine soziale Identität in Frage gestellt wird: Es ist das Problem aller aufge­ stiegener (neuer) Angestellten und Kleinbürgerschichten, aber auch der absteigenden (alten) Schichten. Im ersten Fall geht es um den «Roman des Neurotikers»,129 der «bessersituierte El­ tern» sucht; dies erzeugt jedoch auch Schuldgefühle wegen des

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«Verrats» an der Herkunftsklasse der Eltern und dies zeigt sich nach außen als Aggressivität gegen die «alten Familien», die sich hinter einer pseudorevolutionären, populistischen Phraseologie verbirgt. Im zweiten Fall entsteht die depressive oder persekutorische Angst, daß sie vom Glück «verlassen» wurden, oder daß «die Ge­ sellschaft an allem schuld ist» (oder die Juden, die Freimaurer, die Fremden usw.), d. h. es herrscht das Phantasma des «verlas­ senen Kindes» und es entsteht Neid, versteckt hinter einer pseu­ dorevolutionären linksradikalen oder rechtsradikalen Phraseolo­ gie. Die soziale Angst entsteht aus der Ohnmacht (Mangel an Macht, d. h. an Beteiligung an der Macht bzw. dem Eigentum) in die einer fällt, wenn er in Abhängigkeit von anderen gerät. Das glei­ che geschieht in Krisenzeiten, als auch bei denen, die «nicht ver­ stehen», was geschieht, d. h. welche die Gründe ihres Abstiegs sind. Sie halten sich nostalgisch an das Alte und suchen einen Feind, der als der Schuldige die Ereignisse bewirkt und so zum Agriffsziel wird. Analog zur sozialen Angst gibt es die nationale, sprachliche, religiöse und rassistische Angst, wenn gewisse Gruppen sich von imaginären Feinden bedroht fühlen, wobei alle diese Formen sich überlappen können. Die politische Entfremdung stammt aus der Entpolitisierung und der Apathie gegenüber den gemeinsamen Anliegen.130 Hier müssen verschiedene Gründe der Apathie voneinander unter­ schieden werden: Ein erster Fall ist dann, wenn die Subjekte meinen, daß die Politik per definitionem eine Angelegenheit von rücksichtslosen Politikern und Cliquen ist, somit interessiert sie nicht jeden. Der zweite Fall ist der epikuräische Fall, der meint, daß das Ziel des Menschen sein Privatleben und das Glück in der Apathie, d. h. in der Vermeidung der Leidenschaften und unan­ genehmen Erregungen liegt; das bedeutet die Vermeidung der Aufregungen und Sorgen, die die politischen Interessen verursa­ chen. Aber es gibt noch einen dritten Fall, der der wichtigste und gefährlichste ist: Er tritt dann auf, wenn die Subjekte bewußt die Politik aus einer Haltung des Verzichts heraus verwerfen, weil sie meinen, daß sie keinen Einfluß auf die gemeinsamen Sachen ha­ ben können, daß sie nichts ändern können. Dies führt zu einem qualitativen Verfall der Politik, und so überläßt man den politi­ schen Raum den schlechteren und rücksichtsloseren Politikern und dies führt zur Lähmung des Staates und des politischen Dis-

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kurses. So kann die politische, zusammen mit der sozialen Ent­ fremdung zur Suche nach einem Retter führen. In diesem Fall bilden sich die «Vollksbewegungen», die aber ir­ gendwann gezwungen werden, die Angst und den Neid, die sie antreiben, zu institutionalisieren und zu Parteien zu werden. Die Machtergreifung ist für eine Bewegung leicht, während die Er­ haltung der Macht schwieriger ist und ein gewisses Maß an Ra­ tionalisierung verlangt. In den Fällen eines totalitären Regimes jedoch verwenden die Herrschenden zwei Mittel: die Propaganda (Verschwörungstheorie) und den Terror,131 und die Geschichte hat gezeigt, daß diese Regime fähig sind, lange zu überleben, wenn sie nicht von außen angegriffen werden. Jedes politische System basiert bis zu einem gewissen Grad auf der Furcht; im demokratischen System und im Rechtsstaat ist jedoch diese Furcht eine reale Angst, denn sie ist die Furcht der Bürger vor dem Gesetz. Im Gegensatz dazu existiert in einem diktatori­ schen bzw. totalitären Regime die Angst, die bewußt zu einer neurotischen Angst verwandelt und zu einer paranoischen bzw. depressiven Angst gesteigert wird. Eine perverse Art, bewußt Angst zu erzeugen und aufrechtzuer­ halten, besteht in der künstlichen Schaffung von Schuldgefühlen mittels des Begehens eines gemeinsamen Verbrechens. Thukydides132 erwähnt, wie im antiken Sparta die Spartaner einmal die robustesten Heloten betrogen und sie gemeinsam umgebracht hatten; so erzeugten sie bei den Heloten die Furcht und bei den folgenden Spartanergenerationen die Notwendigkeit einer stän­ digen «Solidarität» gegenüber den Heloten. Plutarch133 erwähnt andererseits in seiner Lykurgus-Biographie, wie die jungen Spar­ taner während ihrer Ausbildung gezwungen wurden, in den sog. «Krypteia», während der Nacht die Heloten zu überraschen und wie wilde Tiere zu töten, und dies wurde als Beispiel von «männ­ lichem Mut» angesehen. Dostojewski134 gab andererseits in den «Dämonen» das Vorbild für jeden Terroristen (religiösen, nationalistischen, rechten oder linken) an: Die Gruppe «schweißt» sich mittels des Mordes an einem Opfer zusammen, das immer als der Vertreter einer «dun­ klen» Macht erscheint: der «Abtrünnige», der «Dissident», der Vertreter des Teufels, des Staates, des Kapitals usw. Die Menta­ lität der Terroristen135 wird durch den Verlust des Verhältnisses zur Realität und zum inneren Gesetz bestimmt. Die Liquidierung der Juden, der Zigeuner, der Nomaden, der gei­ stig Behinderten, der Homosexuellen durch die Nationalsoziali-

150 sten, zeigte die Rolle auf, die die Angst dabei gespielt hat. Weil alle diese Taten unter völliger Geheimhaltung begangen wurden; dies bis zu dem Punkt, daß sie die offiziellen Dokumente nicht beim Namen nennen oder nur unvollständig und verschlüsselt. Dies zeigt, daß die Moralregeln nicht aufhörten, im Sozialen aber auch im Unbewußten der Henker zu existieren. In jedem Menschen existiert die Prädisposition zur Angstent­ wicklung, entweder als Kastrationsangst oder als Angst vor Lie­ besverlust. Oft besteht das dämonische Element darin, daß die Existenz eines unbewußten Schuldgefühls nachträglich zu einem konkreten Verbrechen führen kann, denn dieses «erleich­ tert»136 das präexistierende Schuldgefühl, indem es ihm einen konkreten Gegenstand anbietet, als auch die Möglichkeit einer Strafe, die vom Verbrechen «reinigt». Der perverse Gebrauch des dämonischen Elements in der Politik besteht im Begehen von Verbrechen im Namen des Führers, der Nation, der Klasse, der Kirche, der Partei usw., danach im Auftauchen einer neuen Schuldangst und so weiter. So steigert sich der Teufelskreis der Katastrophe, der nur mit der Selbstzerstörung aufhört.137

III. Über die Ideologie

III.1. MENTALITÄT UND IDEOLOGIE

Die Analyse der Ideologie aus einer psychoanalytischen Perspek­ tive setzt ihre Lokalisierung in Beziehung auf die psychische Struktur voraus. Die wesentliche Differenzierung, die Freud ein­ führte, ist diejenige zwischen dem Unbewußten und dem Be­ wußtsein, die Lacan Spaltung des Subjekts nennt. Diese Diffe­ renz gilt universell, so müssen hier für unseren Zweck zusätzli­ che Differenzierungen eingeführt werden. Wenn Freud von «Vorbewußtem» spricht, dann meint er einen «Vorhof» des Be­ wußtseins und nicht eine unabhängige Schicht der Psyche. Das Vorbewußte spielt aber eine vermittelnde Rolle und ist deswegen bedeutend für die Analyse der Kulturphänomene. Dies, weil der psychoanalytische Zugang zu den Kulturphä­ nomenen auf methodologische Grenzen stößt. Der Forscher kann nicht das Unbewußte der betroffenen Individuen direkt kennen, die eine Gruppe bilden. Das Unbewußte «verrät» sich aber in ihren Symptomen und Phantasmen und diese hinterlas­ sen ihrerseits ihre Spuren in der Alltagskultur} d. h. in den Vor­ urteilen, im Aberglauben, in den Gemeinplätzen, Gewohnheiten, Mentalitäten,2 Praktiken, Wissensarten und Glaubensformen; alle diese Formationen besitzen einen latenten Charakter, was ihre Struktur betrifft: Sie werden nicht bewußt erzeugt, sind aber auch nicht direkte Abkömmlinge des Unbewußten. Hier würden wir die latenten historischen Kulturformen situieren, aber auch die Diskurstypen (nach Lacan), d. h. jene Diskurse, Praktiken, Wissensarten und Überzeugungen, die «halbbewußt» funktionieren und den Stempel des Unbewußten tragen, aber auch bewußt organisierte Diskurse und Praktiken erzeugen kön­ nen. In Gegensatz dazu verrät sich das Unbewußte der Individuen durch die «existentialen» Formen der Psychose, der Perversion und der Neurose, bzw. durch die Phantasmen, die sie begleiten.3 In diesen drei Strukturformen der Existenz des Begehrens, be-

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kommt die Spaltung des Subjekts jeweils eine andere Form, je nach der Strategie der Vermeidung des Mangels: Verwerfung des Hauptsignifikanten in der Psychose, Verleugnung des Mangels in der Realität in der Perversion, Verdrängung des Begehrens in der Neurose.4 Die Struktur des Unbewußten hinterläßt jedoch ihren Stempel auf dem Vorbewußten und auf dem Bewußtsein. Auf der bewußten Ebene können wir die Sublimierungsformen 5 (Kunst, Religion, Institutionen, Wissenschaft, Philosophie) von den Ideologien als jenen parasitären Diskurs (einen «Überbau»), der alle Sublimierungsformen begleitet, unterscheiden. Die Sub­ limierung konfrontiert sich auf produktive Weise mit dem Man­ gel des Subjekts. Dies geschieht mittels der logischen Negation6 und der Trauerarbeit; die Subjekte akzeptieren hier, daß die Objekte des Begehrens nicht jenes Etwas sind, das sie immer schon suchen, sondern daß sie keine andere Wahl haben, als die Produkte ihrer Kreativität mit dem Stempel des Mangels zu ak­ zeptieren. Das Beziehungsnetz, das das Forschungsfeld hier konstituiert, spannt sich zwischen den Diskursen, den Menta­ litäten und den Ideologien einerseits, zwischen den Ideologien, den Sublimierungsformen und den Mentalitäten andererseits auf. Die Ideologie besteht wesentlich aus den Rationalisierungen der Interessen der gesellschaftlichen Gruppen; deswegen verwendet sie Mythen und Sophismen und verschiebt, verdichtet und ver­ kehrt die Perspektiven. Die Ideen oder die Theorien sind aber et­ was verschiedenes. Das strukturelle Merkmal der Ideologie be­ steht in der illegitimen, unbegründeten Identität des Besonderen oder des Individuellen mit dem Allgemeinen oder dem Univer­ sellen. Die Mentalitäten/Traditionen und die Religion sind etwas ande­ res, das in der Zeit weiterbesteht und das sich auf das kollektive Gedächtnis und die Geschichte einer sozialen Gruppe bezieht. Die Mythen spielen hier eine wesentliche Rolie, aber weder die Religion noch die Tradition lassen sich auf die Mythen reduzie­ ren. Die Religion bezieht sich auf existentielle Fragen (Leben, Tod, Schuld, Angst, Weltordnung usw.) und das gilt nicht für die Ideologie. Aber die Religion funktioniert praktisch wie eine Ideo­ logie. In der Realität der Herrschaft gibt es immer einen Über­ gang von der Mentalität/Religion zu der Ideologie und eine Mi­ schung. Aber die strukturelle Differenz verschwindet nicht; bei den Individuen sprechen wir anstatt von Mythen von Phantas­ men.

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Die Mentalitäten bilden eine «Vorstufe» der Ideologien, ohne daß der Übergang von der einen zu der anderen notwendig wäre. Als ein besonderer Modus des menschlichen Wissens gehen die Mentalitäten den Ideologien strukturell und historisch voraus. Dies weil die Mentalitäten ein soziales und psychisches Phäno­ men darstellen, das sich in allen historischen Perioden zeigt, während die Ideologien eine Erscheinung der Moderne und ih­ rer Vorläufer sind. Als vorgefertigte Rationalisierungen der so­ zialen Widersprüche und der Herrschaftsverhältnisse, werden die Ideologien von den Individuen, nicht bloß auf Grund von ökonomischen Interessen oder wegen der Propaganda, ange­ nommen. Die Ideologien lehnen sich an die Inhalte der Menta­ litäten an, ohne daß dies vollständig die Frage beantwortet, warum die Ideologien akzeptiert werden. Die Organisierung einer Mentalität zur Ideologie setzt die «Bewußtwerdung» bestimmter Gemeinplätze voraus, die im Alltag als «selbstverständlich» und in einer Vielfalt von Konnotationen, als stillschweigende Unterstellungen und Annahmen und Bilder zirkulieren. Diese Bewußtwerdung setzt auch eine Reihe von Be­ dingungen voraus, wie die Existenz einer Gruppe von Intellektu­ ellen, seien sie «organische» oder «schwebende», die den Menta­ litätselementen eine bewußte Form verleihen. Dies kann sowohl im metaphorischen Diskurs (Schriftsteller), als auch im analyti­ schen Diskurs (Theoretiker) geschehen. Diese Elemente können «Mytheme» oder «Ideologeme» (schwebende Signifikanten) ge­ nannt werden: Sie bestehen aus kontingenten Stereotypen, Vor­ urteilen, Resten (nach Pareto) und Spuren des kulturellen und zivilisatorischen Erbes und der Geschichte einer Gruppe, und sie beinhalten archaische (Legenden, Überlieferungen usw.) und moderne Elemente (Gewohnheiten, Interessen usw.). Sie enthal­ ten sowohl den obskurantistischen als auch den instrumentellen Diskurs (die «schlechte» Varianten des metaphorischen bzw. analytischen Diskurses sind), die sich gegenseitig stützen. Die Mentalitäten enthalten auch die Phantasmen des Unbewußten, die sich hinter all den erwähnten Elementen verstecken. Ande­ rerseits können auch die Elemente einer entwickelten Ideologie, in einem bestimmten historischen Moment, in Elemente einer Mentalität umgedeutet werden. Ein modernes Beispiel dafür sind die Haltung und das Verhalten der Neonazi-Skinheads in Deutschland in den 90er Jahren. Ent­ gegen einer verbreiteten Annahme, sind diese Jugendlichen keine «Nazis», denn sie haben keine bewußte «Ideologie». Ihre

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Haltung stammt aus einer «Mentalität», die sich aus einer hete­ rogenen Mischung aggressiver (postpubertärer) Phantasmen, Identitätsstörungen, aus der Unfähigkeit der symbolischen Ver­ arbeitung ihrer Triebe, aus archaischen und modernen Mythen (z. B. daß «alles erlaubt ist», oder daß «der Stärkere sich durch­ setzt») zusammensetzt, und eine Reihe von Wissensformen und Feststellungen bezüglich ihrer zerrütteten familiären, wirt­ schaftlichen, sozialen und politischen Situation enthält. Darüber hinaus hat der Gebrauch von politischen Symbolen (NS) mehr den Charakter der Provokation seitens postpubertierender Ju­ gendlicher gegenüber den Erwachsenen (die sie ihrem Schicksal überlassen haben), und diese Provokation konstituiert eine dy­ namische, kriminelle, jugendliche Kultur. Diese Jugendlichen werden zum Zielobjekt der Propaganda sei­ tens bewußt organisierter Neonazigruppen, und in diesem Fall können sie dann wahrscheinlich eine Ideologie annehmen. An­ dererseits muß das Verhalten dieser Jugendlichen als ein Sym­ ptom «gelesen» werden, das die Geschichte der Familie, der Schule und der anderen Institutionen, in denen sie sich bewe­ gen, berührt. Die Auflösungserscheinungen der Gesellschaft, die hier erscheinen, sind eine Folge des Individualismus, des Aus­ falls der Rolle des symbolischen Vaters,7 der Konsumhaltung, der Herrschaft der Medien und des Sozialdarwinismus, die in der deutschen Gesellschaft, neben den Abwehrkräften einer demo­ kratischen Öffentlichkeit, dominieren. Die Mentalität befindet sich am Kreuzweg zwischen dem Unbe­ wußten und dem Bewußtsein, dem Kollektiven und dem Indivi­ duellen.8 Sie bilden auch eine Verbindungsinstanz nicht nur zwi­ schen den sozioökonomischen Lebensbedingungen und den Ideologien,9 sondern auch zwischen der Kultur (als Lebensweise und Praxis) und der Ideologie. Zwischen ihnen existiert ein Zwi­ schenraum von Bedeutungen, Erfahrungen, von Andeutungen, ein Raum primärer und vorbewußter Familiarität des Sozialen und des Politischen, von wo aus jeder unvollständige Versuch einer Sinngebung durch die gespaltenen Subjekte ihren Ausgang nimmt. Dieser Raum ist der Raum der Mentalitäten; die Ideolo­ gien konstituieren sich in diesem Raum. Die Ideologien finden ihre ausgebildetste Form in der Moderne, obwohl sie Vorläufer in früheren Kulturen haben. Die Moderne ist ein globaler kultureller Rahmen, innerhalb dessen die Psyche mittels einer spezifischen Wahrnehmung der Zeit und der Ge­ schichte existiert. Diese Vermittlung bedeutet, daß die psychi-

155 sche Struktur keine absolute Konstante ist, sie existiert nicht außerhalb der Zeitform. Die Zeit aber erzeugt keine neue Struk­ tur, sondern nur eigene Formen. Das bedeutet, daß während die Struktur des Unbewußten für die Subjekte identisch bleibt, die Geschichte ihre Spuren auf der Ebene des Bewußtseins und des Unbewußten hinterläßt. Die Psyche «hat» und «hat nicht» Ge­ schichte, sie «ist» die Zeitlichkeit als Struktur. Die Wahrnehmung der Zeitlichkeit bleibt nicht unverändert, sondern sie bildet ein wichtiges Kriterium für das Selbstver­ ständnis der Menschen in der Kultur.10 Die Psychoanalyse, als Produkt und Symptom der Moderne, setzt eine bestimmte «ent­ wickelte» Individualität des Subjekts voraus, aber auch den Ver­ such, es zu befähigen, selbst die Abenteuer seines Begehrens in seiner persönlichen Geschichte zu verstehen. Für das Verstehen der kollektiven Phänomene wie die Ideologie muß man die kol­ lektive Geschichte berücksichtigen, d. h. die Art, wie die Zeit sich historisch strukturiert. Wir können hier im wesentlichen drei11 Stationen unterscheiden: die zyklische, die lineare und die gebrochene Zeit, die sich auch partiell überlappen können. Die zyklische Zeit strukturiert die Zeitlichkeit der primitiven ar­ chaischen Gesellschaften, aber auch der großen traditionsorien­ tierten Kulturen. Die lineare, eschatologische Zeit des jüdischen und christlichen Monotheismus strukturiert die Zeitlichkeit des traditionellen westlichen Mittelalters, als auch der frühen, klas­ sischen Moderne, in der die Entzauberung der Welt und die Entsakralisierung der Religion stattfinden. Die gebrochene und radi­ kal entzauberte Zeit erscheint am Ende des 19. Jahrhunderts als die Zeit der radikalen Moderne, die auch die Postmoderne (die eine Variante der Moderne darstellt) oder die Spätmodeme be­ trifft. Die gebrochene Zeit bricht die Konsistenz und Homoge­ nität der eindimensionalen Zeit und artikuliert die Verflechtung der drei Momente der subjektiven Zeitlichkeit, ohne einen über­ greifenden Hoffnungshorizont. Diese Zeit hat die Psychoanalyse im modernen gespaltenen Subjekt entdeckt.

III.2. ÜBER DIE IDENTIFIZIERUNG II.

Der Begriff der Identifizierung kann nicht ohne seine Beziehung zu den Begriffen12 des Begehrens und des Genießens verstanden werden. In der Psychoanalyse hat die methodische Konstruktion der Psyche den Prozeß der Identifizierungen zum Ausgangs-

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punkt. Die zwei anderen Prozesse des Begehrens und des Genießens, koexistieren mit ihm von Anfang an. Die Besonderheit des Unbewußten besteht u.a. darin, «wie eine Sprache» strukturiert zu sein. Das, was für das Unbewußte exi­ stiert, sind nicht die Begriffe, die Inhalte, sondern die Wörter selbst, die Signifikanten. Besondere Bedeutung hat jener Mo­ ment, in dem die noch unbestimmte Intentionalität des Körpers (die Triebe) sich mit der Signifikantenkette zu verbinden gezwun­ gen wird, um etwas, ein Bedürfnis, zu artikulieren. Diesen Punkt nennt Lacan einen «Steppunkt»: Die Signifikanten gleiten stän­ dig und verschieben sich.13 Es gibt aber irgendwann die Notwen­ digkeit des Halts und der Fixierung der Wortkette an gewissen strategischen Punkten, die die Existenz des sprechenden Sub­ jekts selbst andeuten. Letzteres existiert nur insofern es spricht. Seine Besonderheit besteht darin, daß es eine leere Stelle im Dis­ kurs bildet, etwas das in der ursprünglich anonymen und sinnlo­ sen Kette der Wörter fehlt, das uns nachträglich, nach der Fixie­ rung der Signifikantenkette durch einen Hauptsignifikanten, Sinn bekommt. Das Ergebnis der Beziehung eines (neugeborenen) menschli­ chen Wesens mit der präexistierenden Signifikantenkette (die die sprechende Mutter und der sprechende Vater zuerst vertre­ ten) ist ein «Subjekt», das nur als ein abwesender Signifikant, als ein Etwas existiert, das sich in das System der schon existieren­ den Worte nicht integrieren läßt.14 In seiner Biographie jedoch wird es für das Subjekt später notwendig sein, einen Platz in der symbolischen Wortkette, die auch das Wort der sozialen Ord­ nung ist, zu finden. Um solch einen Platz zu finden, muß sich das Subjekt mit einem schon vorhandenen Signifikanten S iden­ tifizieren (dessen Träger bestimmte Personen sind), damit es in der Folge später selbst einen neuen S erfinden kann, auf Grund dessen es erst als «Subjekt» existieren wird. Der erste Akt des «Erscheinens» des Subjekts besteht in seiner Anrufung'5 als ein Subjekt seitens des Anderen. Die Geburt eines Kindes ist schon symbolisch (und imaginär) von den Eltern im symbolischen Feld, in dem sie sich bewegen, vorbereitet worden. Der Ort des Steppunktes ist der Ort des Anderen, der durch seine Anrufung das Subjekt fixiert. Das Subjekt wird zu einer Aufgabe aufgerufen, zu etwas berufen. In diesem besonderen Ort des An­ deren wird der Anspruch des Anderen formuliert, der einen drängenden Charakter hat; es geht um einen «Hauptsignifikan­ ten» d. h. um einen besonderen Signifikanten, der die anderen

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schwebenden S organisiert und dominiert, indem er ihnen Kon­ sistenz und Sinn vermittels der Namensgebung des Subjekts und seiner Aufgabe verleiht.16 Ohne dieses «Initium», den Gündungsakt (die Taufe), würde das Subjekt (und die Gesellschaft als Ganzes) nicht ihre notwendige Konsistenz erhalten und in der Psychose landen. Ohne diesen Gründungsakt, der die Möglich­ keitsbedingung der späteren Identifizierungen schafft, würde es kein Subjekt geben. Dieser Hauptsignifikant ist der «Name des Vaters», und entspricht der ersten Identifizierung bei Freud, die nichts mit dem Ödipuskonflikt zu tun hat. Der Hauptsignifikant funktioniert im ideologischen Raum (wie auch im theoretischen Raum) mittels der Bildung eines be­ stimmten Sinns. Der Hauptsignifikant «Kommunismus» z. B. gibt einer Reihe von Wörtem/Signifikanten wie «Demokratie», «Freiheit», «Staat» usw. einen bestimmten Sinn, während ihnen der Hauptsignifikant «Liberalismus» einen anderen Sinn ver­ leiht.17 Darüber hinaus weist der Hauptsignifikant eine andere Besonderheit auf: Der «Sinn» (und die «Bedeutung») wird im­ mer nachträglich18 gebildet, wenn das «letzte Wort» eines Satzes (einer Handlung) ausgesprochen worden ist. Das Subjekt setzt S oder vollzieht Handlungen, und nur nachträglich versteht es «wirklich», was es gesetzt/getan hat. Dies wird in allen Fällen klar, in denen sich unvorhergesehene und unerwünschte Ergeb­ nisse einstellen. Die Kontrolle, die das Subjekt sich «selbst» und den Dingen aufzuerlegen versucht (die Kontrolle des Über-Ich über das Ich), mißlingt immer partiell wegen dieser zeitlichen Retroaktion und der Kontingenz, die diese impliziert; jede Kon­ trolle enthält ein Element von «Eile» und «Verblendung», ist aber unvermeidlich. Wenn die Retroaktivität das primäre Auftauchen des Sinns kenn­ zeichnet, so bildet sich sekundärerweise die umgekehrte Illusion, die auch in der psychoanalytischen Übertragung existiert. Es geht um die (im philosophischen Sinn) realistische Denkweise, d. h. die Illusion, daß die Bedeutung eines bestimmten Wortes «in» ihm von Anfang an als seine Essenz existiert. Für einen tra­ ditionellen Kommunisten existiert z.B, die «wirkliche Freiheit» «wesentlich» im Gegensatz zur bloß formalen bürgerlichen Frei­ heit. Vorher wurde aber (in seinem Unbewußten) schon die nachträgliche Fixierung des Wortes «Freiheit» durch das Wort «Kommunismus» vollzogen.19 Diese Fixierung funktioniert erfol­ greich nur, wenn ihre Spuren verwischt werden, d. h. die Weise und der Zeitpunkt ihres Geschehens.20

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Der Ort des Steppunkts, der Fixierung der schwebenden S durch einen Hauptsignifikanten ist der Ort des Code der Sprache, der Ort des Anderen (denn «irgendein anderer», der an das Subjekt das Wort richtet, repräsentiert jedesmal ihm gegenüber den Sen­ der der Gesamtheit der Sprache). D. h. aber, daß der Fixierungs­ punkt nachträglich die Gesamtheit der S einem bestimmten Code unterordnet. So wird die synchrone Natur des Code inner­ halb der Diachronie der Botschaften immer durch einen beson­ deren S repräsentiert. So hat jede Sprache einen besonderen Punkt, an dem sie aufhört eindimensional zu sein und enthält einen Bruch, sie wird selbstreferentiell (Meta-sprache); sie ent­ hält also den Punkt, an dem die Sprache selbst zu ihrem eigenen Gegenstand wird. Dieser Punkt der Selbstreferenz und Abstrak­ tion existiert von Anfang an in jeder Sprache,21 sonst kann diese nicht funktionieren und Sinn erzeugen. Durch seine Einführung in die S-Kette, wird jedes Subjekt in die symbolische Identifizierung mit einem besonderen Zug des An­ deren (der den Charakter eines Hauptsignifikanten besitzt) ver­ anlaßt, damit es irgendein Kennzeichen erhält, das ihm eine «Identität» konstruiert, sonst kann das Subjekt nicht als Subjekt existieren.22 Diesen Prozeß beschreibt Freud in der zweiten Iden­ tifizierung aus der «Massenpsychologie». Dieser «Zug» bezieht sich auf einen Anspruch des Anderen, der dem Subjekt einen Na­ men gibt, der von ihm eine bestimmte Haltung verlangt. Ande­ rerseits aber existiert der Narzißmus der Subjekte, das Ima­ ginäre (genauer: ein Moment davon), das sich zuerst im schönen Bild des Körpers und in der Folge im Bild des Selbst als «Einbil­ dung» äußert. Hier verfängt sich das Subjekt in seinem idealen Bild, das ebenfalls die Spiegelung des Bildes des anderen ist; so verliert und entfremdet sich das Subjekt im Bild des anderen, in­ dem es in Abhängigkeit von und in ambivalenter Haltung (Haß­ liebe) zu ihm gerät.23 So gibt es außer der hier zuerst besproche­ nen symbolischen, auch die imaginäre Identifizierung.24 Ihr Unterschied ist struktureller Natur und ihre Lokalisierung stammt aus den Arbeiten Lacans, der die Freudschen Begriffe differenzierte und systematisierte.25 Die imaginäre Identifizie­ rung bedeutet für das Subjekt die Identifizierung mit jenem Bild, in dem es sich selbst als «liebenswürdig» erscheint (das, was ihm gefällt zu sein). Im Unterschied dazu identifiziert sich das Subjekt in der symbolischen Identifizierung mit jenem Ort, von wo es aus der Andere sieht und von wo aus das Subjekt sich selbst so beobachtet, wie es sein möchte (im Konjunktiv). Die

159 Identifizierung findet hier also nicht mit dem Bild, sondern mit dem Blick und dem Ort des Anderen statt. Sie hat einen indirek­ ten und abstrakten Charakter.26 Die gewöhnliche Auffassung von der Identifizierung betont ein­ seitig die «Nachahmung» von Vorbildern. Dies ist nicht richtig und führt zu Mißverständnissen. Einerseits ist der Zug des Ande­ ren, mit dem die symbolische Identifizierung stattfindet, ge­ wöhnlich versteckt, unbewußt. Es ist kein strahlender, manife­ ster Charakter, sondern umgekehrt eine Schwäche und ein Nachteil. Andererseits findet die imaginäre Identifizierung im­ mer unter der Dominanz der symbolischen Identifizierung statt. So setzt jedes Rollenspiel einen anderen voraus, für den dieses Spiel gespielt wird. Es gibt aber immer die Distanz zwischen dem, wie ich «mich» sehe (direkt, bewußt) und den Ort, von wo aus ich «mich» sehen möchte (indirekt, unbewußt). Wenn Char­ les Dickens die Welt der Armen als eine Welt edler Gefühle dar­ stellt, verrät dies seine Identifizierung mit den Blick der herr­ schenden Klasse in der viktorianischen Ära, die vom schlechten Gewissen geplagt wurde. Andererseits, wenn Milos Forman in Filmen der stalinistischen Ära die Menschen aus den Volks­ schichten mit bösen und niedrigen Gefühlen zeigt, dann unter­ miniert dies radikal die stalinistische Identifizierung mit dem schönen Bild und das Schauspiel, das die Nomenklatura sehen möchte.27 Die Differenz in den zwei Identifizierungen wird im Gebrauch von Pseudonymen deutlich: Wenn es um den Namen geht, dann handelt es sich um eine imaginäre Identifizierung, wenn da­ gegen der Nachnamen ersetzt wird, so geht es um eine symboli­ sche Identifizierung. Das Pseudonym «Stalin» z. B. bezeichnet nicht den «stählernen» Charakter von Dschugaschwili, sondern seine Identifizierung mit den (unterstellten) «stählernen» Geset­ zen der Geschichte. Der Nachname impliziert den symbolischen Namen des Vaters. Die ideologische Rolle des Namens zeigt sich darin, daß er immer als «Taufname» und nicht als Eigenschafts­ beschreibung funktioniert.28 Selbst wenn er Elemente einer Be­ schreibung enthält, verselbständigt er sich und funktioniert wie ein «reiner» Signifikant: Hier haben wir es mit dem Glaubens­ phänomen zu tun. Der orthodoxe Kommunist glaubt in jedem Fall, daß der Kommunismus das bestmögliche Modell darstellt, selbst wenn alle Indizien vom Gegenteil zeugen. Das Subjekt schwankt ständig zwischen der imaginären und der symbolischen Identifizierung, ein Schwanken, das um eine

160 «Leerstelle» herum stattfindet, das einen Rest übrigläßt: die Frage des Subjekts nach dem Begehren des Anderen.29 Bisher war die Rede vom Anspruch des Anderen. Aber dieser Anspruch läßt Fragen und «Argwohn» bezüglich der «wahren» Absichten des Anderen entstehen. «Was will der Andere von mir wirklich»? Die Frage konfrontiert das Subjekt mit der Angst. Denn es gibt einen Abstand zwischen der Aussage und dem Aussagen des An­ deren, woraus der Mangel und das Begehren entspringen. Dies äußert sich in der Unsicherheit bezüglich des «unheimlichen» Begehrens des Anderen.30 Die Antwort des Subjekts auf die Frage, die das Begehren des Anderen entstehen läßt, ist das Phantasma. Also jenes unbe­ wußte «Drehbuch», das die unheimliche Lücke, die das Begeh­ ren des Anderen manifestiert, ausfüllt.31 Für die Rassisten und Antisemiten ist das Begehren der Juden unheimlich, weil es um das Begehren des Anderen par excellence geht, um den Gott (den Vater) des Monotheismus, der radikal jegliche imaginäre Identifizierung (mit Bildern und Idolen) verbietet und die radi­ kale Konfrontation mit der Leere und dem Mangel verlangt, die das Begehren durch das Gesetz garantieren. Die imaginäre Ant­ wort des Antisemiten ist, daß die Juden «Komplotte schmieden» um die Weltherrschaft zu erringen. Im politisch-sozialen Raum dominieren die aggressiven Phantasmen im Unterschied zum privaten Bereich. Aber auch im politischen Raum zirkulieren unbewußt erotische Phantasmen.32 Das Phantasma als Abwehr bedeutet etwas anderes: Es schützt das Subjekt davor, «zu nah» an das Ding (das Absolute)33 zu kommen, dessen erste Figur die Mutter der Kindheit, das verbo­ tene Objekt par excellence für beide Geschlechter darstellt. Das Phantasma aber funktioniert immer mit Resten und Ersatzele­ menten des Dings, sonst «erstickt» das Subjekt. Das Begehren erlischt, wenn das Subjekt «zu nah» an das Ding tritt: Dies be­ deutet dann jede totale und endgültige Wunscherfüllung, in der der Mangel, die Differenz und die Abwesenheit fehlen. Ein «voll­ kommenes» erotisches Verhältnis und eine «vollkommene» Ge­ sellschaft bedeuten genau dies. Aber sie sind strukturell unmög­ lich und praktisch katastrophal, weil das Ding (das Reale) das Unmögliche ist. Paradoxerweise aber ist es auch verboten, untersagt.34 Die Leere des Dings35 deutet das höchste Genießen an, wenn es dieses gäbe. Das Genießen ist der Schlüsselbegriff, der die bishe­ rigen Analysen über die Identifizierung und das Begehren er-

161 gänzt. Das Genießen, das ein «normaler Sterblicher» haben kann, ist nur möglich, weil das höchste Genießen des Dings das Unmögliche ist. Dies ist nicht selbstverständlich. Das Subjekt dreht sich ständig um den Punkt des Unmöglichen herum, in­ dem es Ersatzfiguren dafür findet und erfindet. Die verschiede­ nen Fetische der Macht, der Religion oder der Ökonomie versu­ chen, die Fragmente des Dings zu erpressen und zu materialisie­ ren, mittels der Verleugnung des Mangels. Andererseits bedeutet in der Neurose die Verdrängung der eigenen Wünsche und ihre partielle Rückkehr mittels der Symptome etwas: Für die Indivi­ duen funktionieren die Symptome und die Phantasmen, die sie begleiten, als «Sicherheitsventile», und der Versuch ihrer radika­ len Aufhebung führt die Subjekte immer in angstbeladene Situa­ tionen, denn sie werden dann unmittelbar mit dem Todestrieb, in seiner nihilistischen Form konfrontiert. Nicht selten (immer) «lieben» die Subjekte ihre Symptome, ihr Elend und ihre Unterdrückung, so wie die Bürger einer korrup­ ten Gesellschaft Angst haben, sie zu verändern, denn dies würde für sie unvorhergesehene und beunruhigende Folgen haben. Die Entlarvung der Ideologien und der Phantasmen verlangt immer viel Mut und einen Preis. Die korrupte und gewalttätige Gesell­ schaft, in der jeder Komplize von jedem ist, in der das Gesetz, die Grenze und der Mangel nicht respektiert werden, bedeutet, daß das Ding, das höchste Genießen oder die Erfahrung des Schreckens, unterschiedslos zu nah herangetreten, in den Alltag eingegangen sind. Hier scheint die Möglichkeit einer Krise des Gesetzes und der Kultur durch, begleitet von apokalyptischen und destruktiven Phantasmen unnennbarer Gewalt, von Terror und Anomie (im Sinne Dürkheims). Dieser Kulturzustand er­ zeugt das perverse Phantasma des Dualismus zwischen dem «Geist» und dem «Körper», wobei diese beliebig mit dem «Bö­ sen» gleichgesetzt werden. Diese imaginäre Polarisierung ent­ steht aus dem Vergessen der Tatsache, daß zwischen dem realen Genießen und dem symbolischen Begehren keine strukturelle Identität existiert, sondern eine Differenz.36 Aber das eine ist dem anderen nicht fremd. Daß jedes Genießen partiell eine «Unterwanderung» des Gesetzes und des Wortes impliziert, bedeutet nicht, daß letztere nicht der Dialektik des Begehrens und des Genießens «dienen». Die Nicht-identität des Genießens mit dem Begehren um-schreibt das Unmögliche eines sexuellen «Verhältnisses» , d. h. die strukturelle Unmöglichkeit ihrer Einschreibung in ein vollständiges und vollkommenes Mo-

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dell von Beziehungen, in dem der Mangel fehlt (die Kontingenz, das Unerwartete, die Unsicherheit). Das sexuelle Verhältnis kann in seiner realen Unvollkommenheit und Endlichkeit nie den Charakter eines Gegenstandes bekommen, den das wissen­ schaftliche Wissen beschreibt, denn es impliziert immer das un­ berechenbare Element der Kontingenz und wird durch die be­ drohliche latente Präsenz des Realen unterminiert. Die mysti­ sche Erkenntnis (Gnosis)37 und die «Weisheit» der traditionellen Kulturen entspringen jedoch der Illusion eines möglichen «har­ monischen» Verhältnisses. Das sexuelle Verhältnis impliziert in seiner Tatsächlichkeit die Existenz der Differenz zwischen den zwei Geschlechtern, d. h. das, was in der Perversion zum Objekt der Verleugnung wird (siehe die Ideologien gewisser Homosexu­ eller und Feministinnen), während es im ideologischen Diskurs auch im Rassismus erscheint. Die erotischen Phantasmen ver­ decken die Leere, das Unmögliche des sexuellen Verhältnisses: Ohne sie würden die Subjekte nichts begehren, aber wenn sie ih­ nen total nachgeben, dann entrichten sie dafür den Preis.

III.3. JENSEITS DER IDENTIFIZIERUNG

Die bisherigen Analysen haben eine besondere Bedeutung, weil in der späteren Phase der psychoanalytischen Theorie von Lacan dem Realen ein besonderes Gewicht beigemessen wird. Für die Psyche des Subjekts geht es um den eigenen Körper, den «blin­ den» und «stummen» Sitz des Genießens (auch des «geistigen»), des Schmerzes und des Todes. Hier geht es um das «Jenseits des Lustprinzips» von Freud38, d. h. um die Formen, die der Tod und der Todestrieb für die Existenz annehmen, jenseits der Identifi­ zierung, des Begehrens und des Symbolischen, aber immer mit Bezug auf diese. Wenn das Symptom eine Verdichtung darstellt, dann kann es «gelesen», «interpretiert», «erklärt» und gelegentlich geheilt» werden. Die Insistenz vieler Symptome zeigt jedoch ihren realen Kem auf: Denn sie sind organisiert um ein Fragment des Realen, d. h. des Genießens und des Leidens, und das bedeutet auch im­ mer einen «historischen Kompromiß» für die Psyche des Sub­ jekts. Jedes Symptom manifestiert die Identität des Subjekts, je­ nen Punkt, in dem es ein relatives Gleichgewicht bezüglich der notwendigen Illusionen gefunden hat, damit es «leben» kann. Das ist der Punkt, bis zu dem der Mut des Subjekts angesichts

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163 des «schwarzen Lochs» des Realen, das es zu verdecken hat, reicht. Während die symbolische Dimension die Dialektik impli­ ziert, d. h. den Widerspruch und die Vermittlung, konstituiert das Reale das Jenseits der Dialektik, jenes Element, das von kei­ ner Vermittlung absorbiert werden kann und einen trägen, störenden Charakter hat. Alle sozialen und politischen Beziehungen enthalten als konsti­ tutives Element eine unbewußte Illusion, sonst könnten sie nicht funktionieren.39 So verdecken sie den fundamentalen Mangel, den das Reale ausdrückt, der per definitionem außerhalb des So­ zialen bleiben muß und welcher die Unfähigkeit eines «Schließens» des Sozialen im Sinne eines selbstreferentiellen Sy­ stems bestimmt. Demgegenüber werden wir in den Träumen mit dem Realen konfrontiert, nicht mittels einer Illusion, sondern mittels der Verdichtungen, Verschiebungen und Entstellungen der metaphorisch/metonymischen Schrift des Unbewußten. Das Reale scheint nicht innerhalb des gewöhnlichen Alltags durch, sondern halb verdeckt in den Träumen (und in der Kunst, Philo­ sophie, Religion). Umgekehrt ist das Leben kein Traum, sondern das Bewußtsein der Träume des Subjekts macht das Leben leb­ bar.40 Dies, weil die außeralltäglichen, seltenen Fälle, in denen das Reale flüchtig in der Realität aufblitzt, immer einen trauma­ tischen und unerträglichen (Grenz-)Charakter haben.41 In der Realität schaut das Subjekt dem Realen nicht zu, sondern es er­ leidet es auf seinem Körper, als Existenz, als den harten, uner­ bittlichen Kern der Alltäglichkeit, der Zeitlichkeit: das Seinzum-Tode, die Geschichtlichkeit, das Unheimliche. Diese Analysen sind von Bedeutung für die kritische Betrachtung der Ideologie. Dies, weil sich die meisten Analysen auf der Ebene der symbolischen und der imaginären Identifizierung und der Anrufung der Subjekte bewegen.42 Die Anrufung funktioniert immer nachträglich. Indem es durch die Ideologie angerufen wird, bildet sich das Subjekt nachträglich ein, daß es immer schon dazu «prädestiniert» war zu werden, was es geworden ist, während es sich in Wirklichkeit um ein kontingentes Ereignis handelt, das die Ideologie in eine Teleologie verwandelt.43 Die Di­ mensionen der Identifizierung und der Anrufung erschöpfen nicht die Problematik der Ideologien, noch beantworten sie die Frage, «warum die Ideologien akzeptiert werden». Es gibt also eine Dimension «jenseits der Anrufung», die das Begehren und das Genießen (nicht: die Lust) enthält.

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Die ideologische Anrufung des Subjekts mißlingt partiell, weil das Begehren und das Genießen das Element der Kontingenz, das Unvorhergesehene und die Inkonsequenz einführen, die das Gesetz unterminieren, aber nicht abschaffen.44 Es gibt immer einen Rest, einen Überschuß, einen Mangel, der sowohl der ideo­ logischen Anrufung, als auch den Phantasmen der Subjekte ent­ kommt; die Phantasmen inszenieren mehr oder weniger diesen Mangel, d. h. das unerreichbare Ding, das unmögliche Genießen, oder das Reale als die konstitutive Spaltung der Konsistenz des Sozialen. Die Kommunikation zwischen den Menschen basiert immer auf «produktiven Mißverständnissen» (und nicht auf irgendeiner vollen Transparenz und Übereinstimmung, die jedoch bewußt verfolgt werden müssen). Die Wahrheit bedeutet die Entbergung und Apokalypse (Ent-hüllung) von Elementen des Realen und der Vergangenheit, aber immer innerhalb des symbolischen Net­ zes, das die Wahrheit unvollkommen artikuliert. Die «Stunde der Wahrheit» ist der Moment der Enthüllung der Schuld und des Todes: der Spuren, die sie in unserem Leben hinterlassen.45 Die Enthüllung impliziert immer eine vorangehende Verhüllung; die Spuren des Realen sind unerträglich. Bezüglich der Gesellschaft bedeutet das Reale das Jenseits, je­ nen Punkt, den es direkt zu erfaßen (zu programmieren oder ab­ zuschaffen) unmöglich ist, der die Möglichkeitsbedingung jedes Sinns in der Welt darstellt. Dieser Punkt erhält verschiedene Formen im ökonomischen, politischen und kulturellen Feld. Das Unmögliche ist die strukturelle Unmöglichkeit (nicht: Unfähig­ keit) der Überwindung der sozialen Widersprüche, so daß eine «vollkommene» und «harmonische» Gesellschaft nicht existie­ ren kann. Die widersprüchlichen und konfliktuellen Machtver­ hältnisse können nie abgeschafft werfen, weil sie die unerreich­ bare Konsistenz jeder Gesellschaft und jedes Subjekts darstellen. Diesen Tatbestand benennen Ernesto Laclau und Chantal Mouffe46 in dem Satz «die Gesellschaft existiert nicht», in dem gleichen Sinn, in dem es keine totale und harmonische Kommu­ nikation zwischen zwei Individuen oder kein «sexuelles «Ver­ hältnis» zwischen den Geschlechtern gibt.47 Das Soziale impli­ ziert immer einen Konsistenzmangel, und um den Punkt des Un­ möglichen herum mißlingt jeder Prozeß einer vollständigen Identifizierung. Dies ist von Bedeutung für die Ideologiediskus­ sion, weil fast alle kritischen Analysen die Ideologie als einen mentalen Zustand begreifen, als ein System von Überzeugungen,

165 das mit der sozialen Realität nicht übereinstimmt. Die Ideologie wird als etwas begriffen, das die Subjekte zwingt, ihre realen Existenzbedingungen als einen Prozeß der Anrufung zu verken­ nen, und infolge dessen verfallen sie bezüglich ihres realen Zu­ stands in Illusionen. Im Gegensatz zu diesen Analysen zwingt uns die Anerkennung der Bedeutung des Realen, die Funktion der Ideologien nicht als eine Illusion, sondern als die «Illusion einer Illusion» anzusehen. Als Verkennung dessen, daß es kein äußeres, geschlossenes Ob­ jekt «Gesellschaft» gibt, und daß die «Gesellschaft» um die Ver­ deckung des unvermeidlichen Bruchs, das das Fragment des Realen erzeugt, herum konstituiert wird.48 Dieses Fragment ist etwas Träges, das jeglicher Absorption seitens der sozialen Ver­ hältnisse widersteht. Es ist ein «Abfall» des «Systems», ein mar­ ginales Element, das es unterwandert, nicht bewußt und gezielt, sondern still und geräuschlos, indem es seine Schließung verei­ telt.49 Dies funktioniert in zwei Richtungen: Es unterminiert so­ wohl die «Herrschenden» als auch die «revolutionären» Verhält­ nisse. «Illusion einer Illusion» will heißen, daß, wenn die Phan­ tasmen der Subjekte ihre notwendige, primäre Lebensillusion sind, damit sie etwas begehren, dann sind die Ideologien eine Il­ lusion über jene Illusion, d.h eine Illusion zweiten Grades, ein Überbau, der prinzipiell dekonstruierbar ist und auch partiell überwindbar sein soll.

III.4. DAS REALE IN DEN SOZIALEN VERHÄLTNISSEN

Die Subjekte werden in der traditionellen Soziologie als etwas bestimmt, das das «System» der sozialen Verhältnisse erzeugt, indem es ihnen einen Platz und eine Rolle zuschreibt. Die umge­ kehrte Auffassung behauptet, daß die Subjekte, als rationale Ak­ teure, ihre Geschichte «bewußt konstruieren». Beide Auffassun­ gen sind einseitig.50 Die erste von ihnen überschätzt das Symbo­ lische und das Imaginäre in den menschlichen Beziehungen, und die Einzigartigkeit der Subjekte verschwindet. Die zweite von ihnen ignoriert das Unbewußte und die Äußerungen des Be­ gehrens. Dieser Widerspruch kann nur dann übenwunden wer­ den, wenn man das Element des Realen einführt. Das geschlossene und saturierte Soziale existiert nicht infolge des Realen. Dies impliziert keineswegs, daß das Reale den Cha-

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rakter des Aktivismus, der Gewalt oder der Herrschaft hat. Noch ist es die Kontingenz, denn es ist das Unmögliche. Der Gegen­ satz und die Widersprüche konstituieren sich immer vermittels der Kontingenzen, aber das Symbolische und das Reale sind et­ was anderes. Die Dimension der Kontingenz hilft in ihrem Zusammenspiel mit dem Realen, die Theorie der Ideologie zu formulieren. Vor den Ideologien kommen die Phantasmen und die symbolischen Konstruktionen als jenes primäre, konstitutive Element, das die Psyche stützt, indem es die leere Stelle des Unmöglichen ver­ deckt und den Mangel inszeniert, so impliziert der besondere Sinngehalt der Ideologien vom Standpunkt der Subjekte die Kontingenz.5’ Aber letztere enthält ihre Bedeutung nur durch ihren Unterschied vom Notwendigen.51 Das Notwendige konstituiert die Gesamtheit der Regeln einer Sy­ stemstruktur, d. h. das Symbolische. Paradoxerweise aber kann dies System nicht funktionieren, wenn nicht zusätzlich ein Aus­ nahmeelement im System existiert, das das Reale repräsentiert. Beispiele dafür sind die Rolle des Monarchen im Staatssystem Hegels, die Rolle des Geldes im System des Kapitals, die Rolle des Opfers in der Religion usw. Dieses kontingente Element ist gleichzeitig ein Stück des Realen, ein heterogenes Element, und dies hat eine besondere Bedeutung, denn nur so bekommt das System eine reale Existenz, sonst ist es ein bloßes theoretisches Konstrukt. Marx analysierte die Logik der «Regel und der Aus­ nahme» im System des bürgerlichen Rechts.53 Die Ausnahme zeigt die Grenzen des Geltungsbereichs der Regel, den sie aber gleichzeitig stützt; die Geschichtlichkeit dieser Beispiele stellt die Tatsache, daß jedes System von sozialen Beziehungen not­ wendigerweise so funktioniert, nicht in Frage. Es gibt kein Sy­ stem, das diesen Widerspruch überwinden könnte, denn letzte­ rer ist im Symbolischen immanent und er repräsentiert das Reale. Das gleiche gilt für jedes sprechende Subjekt: Neben den Signifi­ kanten, die es verwendet, existiert auch das «Ich», das (als Sprachketegorie) den «Namen» des «Körpers» des Subjekts an­ gibt, als etwas, das von keinem System absorbiert wird, sondern dessen Bedingung ist. Die Durchsetzung des Namens und aller Rollen geschieht außerdem immer mittels der Anerkennung des Anderen; stattdessen ist die Selbstbenennung imaginärer Natur: Der König, der «glaubt», ein «König» zu sein ohne die Anerken-

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nung der anderen, ist verrückt, so wie der Verrückte, der glaubt, ein König zu sein.54 Die Analyse der Ideologie von Marx, der die Folgen des Systems denunziert, bleibt eine «symptomale Lektüre». Hier lokalisiert der Kritiker die Leerstellen und die dunklen Punkte im symboli­ schen Geflecht der sozialen Verhältnisse, die Lügen, die Inkonsi­ stenzen, die Widersprüche usw. und sucht die Inkonsequenzen zu denunzieren. Hierin hat die Denunzierung durch Marx ihren Ursprung: die Umkehrung im Bewußtsein der tauschenden Pro­ duzenten in der kapitalistischen Gesellschaft, für die (nach Marx) der Gebrauchswert der Waren als eine Eigenschaft ihres Tauschwertes (des Geldes) erscheint. D. h. das Besondere er­ scheint als Produkt des Allgemeinen, wobei der Träger des Allge­ meinen, das Geld, eine besondere, kontingente Ware ist, die sich jedoch von allen anderen unterscheidet und neben ihnen hypostasiert existiert. Diese symptomale Lektüre lokalisiert den «Irrtum» auf der Ebene des «Wissens» und des «Bewußtseins». L. Althusser hat diese Stufe nicht überwunden, während er andererseits richti­ gerweise das Verstehen des «Fetischismus» der Ware bei Marx kritisierte. Wenn sich die «Sachen als Personen» und die «Perso­ nen als Sachen» verhalten, kann diese Definition der Verselbst­ ändigung der Sachen nicht als Fetischismus interpretiert wer­ den. Althusser55 betonte, daß diese Bezeichnung bei Marx, eine überwundene Auffassung über einen naiven, realistischen Wi­ derspruch zwischen den Personen und den Sachen impliziert. Als ob beide nicht allein übei' das dritte Medium, das Symboli­ sche, das beide nennt, vermittelt, existieren würden. Hier wird eine Vertiefung der Marxschen Analyse verlangt, und man muß gewissen Andeutungen von ihm folgen, die er selbst durch «traditionellere» (materialistische) Analysen verdeckte. Man muß jenseits der symptomalen Kritik der Ideologie gehen. Der «Fetischismus» der Ware besteht nicht einfach in der Hypostasierung der Waren als Personen. Es geht jedoch um das Phänomen der «realen Abstraktion»56 die hier stattfindet, d. h. der «Abstraktion in der Realität selbst», in den Handlungen der Menschen und nicht bloß in ihrem Bewußtsein. Dies ist eine Folge der Tatsache, daß die Subjekte sprechende Wesen sind: Jede Tauschhandlung hat per definitionem einen symbolischen Charakter und erzeugt nachträglich «Sinn» (Wert). Aber hier geschieht ein Paradox, das den phantasmatischen Charakter der Realität bezüglich der tauschenden Sub-

168 jekte impliziert: Letztere können nicht handeln, wenn sie nicht gleichzeitig den Mangel (und das Reale) verleugnen (wie im Feti­ schismus), d. h. die «Realität» wird durch das Phantasma ge­ stützt, das in der Geschichte dann die Form der Ideologie an­ nimmt. Ohne diese notwendige Verkennung würden alle Tausch­ handlungen erlahmen. Diese Verleugnung57 hat die Spaltung der Subjekte (die Marx nennt) zur Folge: Die (Ver-)Käufer wissen in ihrem Bewußtsein, daß das Geld ein Zeichen (nicht: Signifilkant) ist, d. h. sie sind Nominalisten und Skeptiker. Aber was sie in der Praxis tun (die Waren als äquivalent untereinander betrachten) ist, als ob sie glauben würden, daß alle Waren «Hypostasierungen» des Geldes wären, d. h. sie sind Realisten und Metaphysiker. So findet in der Praxis eine «Abstraktion in der Realität» statt, ein paradoxes Phänomen. Die Subjekte werden hier gespalten und so finden wir das Phä­ nomen des Fetischismus in der Psychoanalyse wieder (das Marx nicht kannte), das durch die Verleugnung des Mangels und die Spaltung (perverser Art) des Subjekts begleitet wird. Die Logik des Fetischisten ist: «Ich weiß, daß die Mutter den Phallus nicht hat, aber trotzdem... (glaube ich, daß sie ihn hat und deswegen finde ich seinen Ersatz im Fetisch)». Der zweite Satz in der Klammer wird im Unbewußten lokalisiert, er ist ein verdrängter Glaube, der als Handlung verdinglicht wird; der Fetisch ist der Garant des Genießens, sonst entsteht Angst vor dem Mangel, den jedes sexuelle Genießen impliziert. Andererseits lautet die Logik des Warenbesitzers: «Ich weiß, daß das Geld ein Zeichen ist (es besitzt keine mystische Substanz), aber dennoch ... (glaube ich daß es sie besitzt, deswegen besitzt alles, was mit ihm getauscht wird und es substituiert, «Wert»)». Wichtig ist hier, daß dieser Glaube verdrängt bleiben muß.58 In diesem Fall hätten wir die Psychose dann, wenn jemand tatsächlich an die magische Kraft des Geldes glauben würde, d. h. eines Stücks Metall oder Papier. Umgekehrt führt der totale «Unglaube» an die Funktionalität des Geldes zu der totalen Un­ fähigkeit des Tausches zwischen den Produkten. Diese Analyse sollte zeigen, daß die Realität selbst einen strukturell «perver­ sen» Charakter hat, wenn auch gebrochen, der sich als Element der Ideologie äußert, die sich unmittelbar auf das Genießen und das Reale bezieht. Die ausgearbeitete, bewußte Ideologie des klassischen Liberalismus konstituiert ein System von Ideologemen, die die fetischistische Illusion (das Phantasma hinter der

169 Ideologie) voraussetzen, und die auf der Ebene der Mentalität, des Alltags funktioniert. Die Ideologie und das Phantasma (und der Mythos) «entschä­ digt» uns für die in ihrem Ziel immer mißlingende Identifizie­ rung, nämlich eine volle und totale zu sein. Der Antisemitismus ist jene extreme Ideologie, die eine soziale Identität «organisch schließt». Sicher identifiziert sich die «organische» oder «ge­ meinschaftliche» Organisation einer Gesellschaft nicht mit dem existierenden Modell eines liberalen Rechtsstaates. Aber auch hier existiert immer im Denken vieler Individuen, sozialer Grup­ pen oder politischer Organisationen das Phantasma der «harmo­ nischen» (geschlossenen) «Gemeinschaft», als einer imaginären Kompensierung des «harten» und «prosaischen» Alltags der Mo­ derne. Jedes Nichtidentische und jeder Widerspruch in der Ge­ sellschaft nehmen die Maske der «jüdischen Verschwörung» an, die sie «erklärt».59 Der Jude gibt dem Antisemiten und dem Rassisten die Möglich­ keit, seinen eigenen «Punkt des Unmöglichen» zu repräsentie­ ren. In der liberalen Industriegesellschaft nimmt das Unmögli­ che, das heißt das unlösbare Problem, folgende Form an: Es ist unmöglich, daß es gleichzeitig eine vollständige soziale Sicherheit und eine vollständige ökonomische Freiheit gibt. Allgemein ist es unmöglich in einer offenen Gesellschaft gleichzeitig sowohl den Anspruch auf soziale Kohäsion (und einen Rechtsstaat), als auch den Anspruch auf individuelle Freiheit und Leistung zu befriedi­ gen; weil es aber das Unmögliche gibt, deswegen werden die Menschen erfinderisch. Sie erfinden Insitutionen und probieren Lösungen aus, sie ver­ fallen in Widersprüche und Gegensätze. Die schlimmste Form der Verkennung dieser Strukturtatsachen (wobei die Verken­ nung einen konstitutiven Bestandteil der Realität ausmacht) führt zur paranoiden (voluntaristischen) und perversen Art der Verwerfung und Verleugnung des Unmöglichen und des Ande­ ren. Der «andere» (der Jude, der Fremde, das andere Geschlecht usw., d. h. das unheimliche Genießen des Anderen) bedeutet in seiner Existenz die «lebendige Widerlegung» der «Ablehnung des Mangels», die der Rassist versucht durchzusetzen, deswegen wird der andere für ihn zur Zielscheibe, die Leinwand, auf der der imaginäre «Schuldige» des Mangels projiziert wird. Es genügt nicht die totalitäre «Endlösung» als negative Utopie zu denunzieren,60 denn die totalitäre Ideologie weiß, daß die Endlösung von Auschwitz «utopisch», weil total ist. Aber die Na-

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tionalsozialisten leugnen bewußt diese Tatsache: Hierin besteht der perverse Zynismus und Nihilismus der Rassisten und Fa­ schisten, im Unterschied zur «unschuldigen» Heuchelei (Hyste­ rie) der liberalen Bürger. Die totalitäre Ideologie integriert das paradoxe (merkürdige, fremde) Element an der Stelle, an der das Unmögliche sich befindet, das die Ideologie strukturiert: Dort stellt sie den Fetisch (mit negativem Vorzeichen) des «ande­ ren», des Juden, des Schwarzen usw. hin, der zum Opfer wird. Der positive Fetisch ist hier der imaginäre Phallus der Macht, all die Symbole und Rituale der Macht, Gewalt und Virilität einer paganistischen Ideologie. Damit die Ideologiekritik vollständig wird, muß sie nicht nur die Rolle der Identifizierungsmechanismen lokalisieren, sondern jen­ seits von ihnen, ebenfalls die Rolle des (perversen) Genießens der Massen benennen, zu dem sie diese Ideologie verführt. Gegen eine oberflächliche Auffassung argumentierend, muß man fest­ stellen, daß eine Diktatur und vielmehr ein totalitäres Regime den erotischen Trieb der Massen nicht unterdrücken. Im Gegen­ teil führen sie mittels der Unterdrückung der Freiheiten das Massengenießen in perverse Bahnen. Hier reicht die Analyse der einfachen Massenhysterie bei Freud nicht aus.61 Hitler vw kein väterliches (autoritäres) Ideal für die Massen, sondern der ewig «junge» Bandenführer einer «begeisterten» Ju­ gendbande, der geliebte Sohn der phallischen Mutter Deutsch­ land, die den Vater abschafft. Dies geschah mittels der mysti­ schen Identifizierung mit der Mutter-Erde-Germania-ArischerStamm, und der Abschaffung des (rechtsstaatlichen) Gesetzes und des symbolischen Vaters (der Differenz, des Mangels, der In­ dividualisierung und des moralischen Gewissens). Die Frankfur­ ter Schule, die den Totalitarismus als Produkt des liberalen Ka­ pitalismus begreift, führte zu verhängnisvollen Verkennungen. Der Nationalsozialismus (wie auch der Stalinismus) hat gerade das Gesetz und die Kultur zerstört, die von der vielgeschmähten «bürgerlich-liberalen» Kultur getragen wurden und werden. Weil Hitler das Nichtidentische in der liberalen und sozialdemo­ kratischen Gesellschaft endgültig verleugnen und verwerfen wollte, zerstörte er das Fundament der Zivilisation, das Gesetz des Vaters, das nicht mit der «autoritären Persönlichkeit» iden­ tisch ist. Entfernte Resonanz davon waren der linksradikale Ter­ ror der 70er und 80er Jahre und der rechtsradikale Terror der 90er Jahre in Deutschland.

171 In diesem Fall (ähnliches gilt auch für Stalin) ist der Führer selbst ein Fetisch und verkörpert das sadistische Über-Ich der Masse (das nicht mit dem individuellen Über-Ich, und auch nicht mit dem Ichideal identisch ist).62 Der Begriff des Über-Ich wurde öfters mißinterpretiert; während Freud oft undeutlich ist, indem er das Über-Ich mit dem Ichideal Identifiziert,63 differenziert Lacan zwischen ihnen: Das imaginäre Über-Ich ist nicht das sym­ bolische Gesetz, sondern der Polizist, der in seinen Diensten steht. Das Über-Ich ist grundsätzlich grausam und obszön-. Es verbietet nicht, sondern es schreibt vor, es verlangt nicht nur Ge­ horsam, sondern Unterwerfung, und es verspricht dem Sklaven einen Genuß, mittels dessen es ihn zum Komplizen seines Unter­ drückers macht. Es befiehlt ihm mit den Worten: «Du sollst ge­ nießen!».64 Das Gesetz funktioniert im demokratischen Rechts­ staat nicht so; dieses Regime läuft vielmehr Gefahr durch Zügel­ losigkeit, Straflosigkeit und Korruption unterminiert zu werden. Die Ideologiekritik muß in ihrer Methodologie die Rationalisie­ rungen des Totalitarismus in der Theorie und in der Praxis um­ kehren: Die Juden sind nicht die Ursache der sozialen Wider­ sprüche und Gegensätze, sondern sie sind die Verkörperung der unmöglichen Homogenisierung und Schließung der Gesellschaft geworden, so wie sie alle Nationalismen bezwecken. Die Juden sind das Objekt, in dem sich die soziale Negativität auf mythi­ sche Weise «realisiert» und «hypostasiert». In diesem Fall ver­ werfen die Subjekte den Hauptsignifikanten, der die elementare Konsistenz der Weit und der Psyche, das Urvertrauen in den An­ deren, garantiert.65 Diese Verwerfung hat eine psychotische Struktur: Der verworfene Signifikant kehrt im Realen als Hallu­ zination oder paranoide Konstruktion zurück: als der Verfolger, der böse Vater, der Jude.

III.5. DIE VIER DISKURSE

Die Struktur der Plätze:

Der Agent

Der Andere

Die Wahrheit

Die Produktion

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Der Diskurs ist allgemein eine soziale Beziehung und es gibt keine Gesellschaft ohne die Vermittlung des Wortes. Lacan hat

172 eine spezielle Typologie hierfür entwickelt, mit der man die Viel­ falt der Diskurse analysieren kann. Für ihn konstituiert sich ein Diskurs als eine Kombination von vier Plätzen, in denen sich vier66 verschiedene Signifikanten (S) situieren, die je nach ihrer Position ihre Bedeutung ändern. Der Platz des Agenten kontrol­ liert als der Platz des Begehrens den Platz des Anderen. Diese zwei Plätze begleiten zwei latente Plätze (unten): Der Platz der Produktion (aber auch des Verlustes, der Konsumtion) in den das Verdrängte wiederkehrt, befindet sich «unter» dem Platz des Anderen, während sich der Platz der Wahrheit, in dem die Vor­ aussetzungen jedes Diskurses verdrängt werden, «unter» dem Platz des Agenten befindet. Diese vier Plätze sind für alle Dis­ kurse gleich; das, was sich jedesmal ändert, ist die Verteilung der Signifikanten. 1) Im Diskurs des Herrn61 befindet sich der Hauptsignifikant (Sp der Signifikant der Identifizierung, der den Sinn aller anderen S (S2), die eine Sinneinheit bilden, bestimmt) auf dem befehlen­ den Platz des Agenten; er ist der Herr, der dem Wissen (S2) des anderen (hier des Knechts) befiehlt. Sj verdrängt durch seine (Selbst-)Herrschaft das gespaltene Subjekt ($), das die Wahrheit dieses Diskurses darstellt. Der Herr ist «eindeutig» in seinen Äußerungen, er duldet keinen Widerspruch und tut so, «als ob er wüßte» was er will. In Wirklichkeit weiß er nicht, was er will und deswegen verdrängt er den gespaltenen und zweideutigen Cha­ rakter «seines» Subjekts. Das Subjekt aber kehrt als die ver­ drängte Wahrheit dieses Diskurses vermittels der Produktion eines Rests (Produkts, Opfers) wieder. Der Andere hat das Wissen (S2) und produziert die Mittel des Genußes, die Mehrlust (oder den Mehrwert) a (das Objekt der Partialtriebe, gleichgültig ob sexueller oder sublimierter Natur). Der Herr usurpiert die Mehrlust des anderen, um bei sich selbst den Mangel zu verdecken (das was jedem fehlt, weil man spricht). Der Diskurs des Herrn erzeugt das Phantasma des «ab­ soluten Herrn», es ist aber unmöglich für den Herrn, ewig die Mehrlust des anderen zu usurpieren, denn er ist nicht allmäch­

tig Das Subjekt ist unfähig, das unmögliche Reale und den symboli­ schen Mangel zu akzeptieren; es ist auch unfähig im Rahmen dieses Diskurses an das Objekt ohne Gewalt, Raub und Herr­ schaftsabsicht heranzukommen. So projiziert es auf imaginäre Weise seine Unfähigkeit (der Herr) auf den Anderen, indem er das Phantasma der Allmacht erzeugt, das den Ursprung jeglicher

173 Herrschaft konstituiert. Der Diskurs des Herrn ist der Diskurs der politischen, religiösen, sozialen und kulturellen Wirksam­ keit. 2) Der Diskurs des (universitären) Wissens66 kommt zustande, wenn das Wissen (S2) an den Platz des Agenten gelangt und das symbolische Gesetz (S j), der Hauptsignifikant, auf den Platz der Wahrheit verdrängt wird. Der methodische Zweifel wird hier zum Ausgangspunkt des Wissens (Descartes), das zur Macht und zur Gewissheit gelangt, nachdem es die symbolische Differenz (S|) verdrängt; so konstituiert das Wissen hier einen Diskurs der «Neutralität» und der «Objektivität». Das Verschiwinden der Dif­ ferenz Sj-S2 bedeutet das Verdrängen des ethischen (nicht des physikalischen) Gesetzes, des Todes und der Geschlechterdifferenz. Die verdrängte symbolische Autorität (Sj) kehrt in diesem Dis­ kurs als das tyrannische Über-Ich wieder, das das Subjekt zur unaufhörlichen Akkumulation von Wissen (oder Kapital oder Macht) zwingt. Im Platz des Anderen, der arbeitet, um zu lernen, verbleibt ein Rest (a) des Leidens und der Anstrengung, von dem dann am Ort der Produktion das gespaltene Subjekt ($) als das «Unbehagen in der Kultur» übrig bleibt. Die Macht funktioniert hier anders als im Diskurs des Herrn. Der Diskurs des Wissens ist der Diskurs der wissenschaftlichen, technischen, ökonomi­ schen und pädagogischen Wirksamkeit und Anwendung. Aber jede Organisation und jede Erziehung mißlingen langfri­ stig, denn das bedeutet die unmögliche «Eroberung» des Realen. Andererseits führt die Unfähigkeit des Wissens, das Begehren des Anderen auf geplante Weise zu «erwecken», zur zwanghaf­ ten Erzeugung eines objektiven Wissens und einer instrumentel­ len Praxis. Hier geht es um die instrumentelle Vernunft der Mo­ derne und der universitären Institution. 3) Im Diskurs der Hysterie69 nimmt das «losgelöste» Subjekt ($) am Ort des Agenten Platz und richtet sein Begehren auf die Au­ torität (Sj), die sich am Ort des Anderen befindet; das ($) provo­ ziert sie «zu zeigen, daß sie der Herr ist, d. h. allmächtig». Das Subjekt unterminiert hier die symbolische Arbeit der Autorität (die Sublimierung) und zwingt sie, ein Wissen (S2) zu erzeugen, um ihm, dem $, eine imaginäre Sicherheit und Gewissheit zu verschaffen. Das Subjekt hat «Bedürfnisse» und «Ansprüche» und verwechselt sein Begehren mittels der Identifizierung mit dem Begehren des Anderen. So verdrängt es die Ursache seines Begehrens (a) am Ort der Wahrheit.

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Das gespaltene Subjekt verwirft hier die Möglichkeit einer parti­ ellen Befriedigung seines Begehrens: um die Existenz seines Be­ gehrens zu retten, ergreift es die Flucht vor dem Objekt (a). Letz­ teres aber kehrt als Wissen, Entdeckung, Kunst, Erfindung des Anderen am Ort der Produktion (S2) wieder. Der Andere wird er­ presst, um zu «zeigen, was er tun kann», um zu «beweisen, daß er das Subjekt begehrt und liebt»: Er produziert das Wissen, er­ findet die Werte und unterscheidet das «Gute» vom «Bösen», denn die Unmöglichkeit ihrer absoluten Trennung hysterisiert das Subjekt. Das Wissen, das Produkt dieses Diskurses, ist unfähig einen di­ rekten Zugang zum Objekt des Begehrens zu finden; anderer­ seits ist es für das Subjekt unmöglich, dem Begehren des Ande­ ren zu befehlen. Das verdrängte Objekt kehrt als Symptom und Leiden des Subjekts am Ort der Produktion wieder. Dieser Dis­ kurs produziert das wissenschaftliche Wissen, die Kunst und jede Privatisierung (Familie, Ökonomie). Im Gegensatz dazu re­ produziert der Diskurs des Wissens das Wissen. 4) Im Diskurs der Analyse™ situiert sich das Restobjekt (a) des Be­ gehrens der Psychoanalytiker am Ort des Agenten und erlaubt dem Subjekt ($), das sich am Ort des Anderen wiedererinnert, diesen Rest als die Ursache seines Begehrens anzuerkennen. Aber nicht als Objekt seiner erotischen Triebe, sondern als Er­ gebnis/Abfall des Todestriebes, als reinen Mangel (an Stelle des imaginären Mangels im Diskurs der Hysterie). Das Subjekt reali­ siert sich hier, als das was es ist, jenseits der imaginären Identifi­ zierungen, als ein Nichts das begehrt. So entdeckt es die Voraus­ setzungen seiner Existenz, den Tod und den Z/awprsignifikanten (Sf) als das Symbolische Gesetz, das hier nicht mehr der S der Herrschaft im Diskurs des Herrn ist, sondern der S des Begeh­ rens. Andererseits verifiziert das Subjekt sein Wissen (S2) bezüg­ lich der Mittel des Genießens. Der bestimmende Platz des Objeks in diesem Diskurs hat die Situierung des Wissens (S2) am Platz der Wahrheit zur Folge (Sokrates), während der Hauptsignifikant (Sj) als symbolisches Gesetz (Moses) am Ort der Produktion, jenseits der Phantasmen der Macht, wiederkehrt. Das Gesetz schreibt sich hier durch die Reformen und Revolutionen wieder ein (bis es wieder in den Diskurs des Herrn regrediert). Nur dieser Diskurs erlaubt dem Subjekt ein Wissen über die Wahrheit seines Begehrens zu er­ langen. Diese Wahrheit bedeutet keine Regression des Subjekts in mythische Ursprünge oder die mystische Befreiung vom Tod,

175 oder von der Geschlechterdifferenz oder vom symbolischen Ge­ setz (das ist der Gegenstand des Phantasmas der Gnosis). Das gespaltene Subjekt trägt hier die Last seiner (kollektiven und in­ dividuellen) Geschichte, die es durch die Wiedererinnerung und das Akzeptieren des symbolischen Mangels durcharbeitet. Dieser Diskurs ist aber unfähig, das Wissen bezüglich des Begeh­ rens des Anderen bewußt zu bestimmen; er bildet die Negation des Diskurses des Herrn. Er beschränkt sich nicht auf den psy­ choanalytischen Diskurs, sondern umfaßt alle individuellen und kollektiven Beziehungen, die eine homologe Struktur aufweisen. In ihnen bekommt die symbolische Autorität (des reinen S) einen Platz, der die Freiheit begründet, und so wird sie nicht wie in der Moderne zum Objekt der Verleugnung. Das symbolische Gesetz bildet die Möglichkeitsbedingung für die Existenz einer 'Verantwortlichkeit, die sowohl die Ethik der instrumentellen, zweckrationalen Verantwortung, als auch die Ethik der Gesin­ nung (der Werte) übersteigt, ohne sie aufzuheben. Das symboli­ sche Gesetz führt eine andere Beziehung ein, in der das Subjekt ein Verhältnis zum Anderen als einem Subjekt, und nicht als einem Objekt, eingeht. Der Begriff des Diskurses71 hat eine strategische Bedeutung: Vier Grundsignifikanten alternieren untereinander in einem Kreis von vier Plätzen, so daß vier Diskurstypen daraus entstehen. In diesen Diskursen konstituiert sich das Begehren des Subjekts vermittels des Signifikanten und des Objekts des Genußes. Die vier Diskurse beschreiben die unterschiedlichen Phasen des Kreises der Dialektik des Begehrens in der historischen Welt und tragen den Stempel des Unbewußten; sie sind aber nicht das «Wort» des Unbewußten selbst, das nicht unmittelbar vermittelt werden kann und nicht unabhängig vom Wort des Bewußtseins existiert. Nur der psychoanalytische Diskurs gibt partiell das Wort des Unbewußten wieder, ohne es ganz zu «verraten», und es gibt kein echtes und «eigentliches» Wort des Subjekts. In den drei anderen Diskursen scheint das Unbewußte durch die Sym­ ptome und die Fetische hindurch. Der Diskurs situiert sich hier in einer psychischen Schicht, die nicht direkt das Unbewußte ist, aber auch nicht das Bewußtsein, das die manifesten Äußerungen und die Produkte der Zivilisa­ tion enthält und die verschiedenen Diskurse (im allgemeinen Sinne) erzeugt. Die vier Diskurse bilden aber hier die latente Struktur der unterschiedlichen Diskurse der Individuen oder der

176 Gruppen und tragen zu der Enthüllung der verdrängten Beson­ derheit dieser Diskurse bei. Die vier Diskurse kennzeichnen direkt die Mentalitäten, d. h. die verschiedenen «Stationen» des Begehrens, die jene ausdrücken. Die vier Diskurse und die Mentalitäten situieren sich am selben psychischen Ort. Was hier besonders interessiert, ist das Phäno­ men der Macht und die besondere Art der Vermeidung der Man­ gelerfahrung, die jeder Diskurs impliziert. Jeder Diskurs (außer dem psychoanalytischen) «verrät» das unbewußte Begehren (im doppelten Sinne des Wortes), und verhüllt auf imaginäre Weise den Mangel des Subjekts: Das ist die Macht (während die Herr­ schaft speziell der Diskurs des Herm ist). Diese Verhüllung ist nicht die Ideologie selbst, sondern geht ihr voraus. Die Ideologie erscheint (in ihrem latenten Charakter), wenn die Diskurse von Identifizierungsphänomenen innerhalb einer Gruppe begleitet werden. D. h. die Individuen, die spre­ chen und handeln, konstituieren eine Gruppe, innerhalb der sie sich miteinander identifizieren. Diese imaginäre Identifizierung, als ein sekundäres Phänomen (primär ist das Begehren), erzeugt einen «ideologischen» Diskurs (im allgemeinen Sinne) und die Ideologien speziell, die ein besonderes Begleitphänomen der Kultur darstellen. Die vier Diskurse bilden einen «Kreislauf des Begehrens»72 (so wie Marx vom Kreislauf der Produktion und der Reproduktion des Kapitals spricht). Der Diskurs des Herrn versagt, wenn er der hysterischen Provokation oder dem Wissen des anderen nachgibt. In ersten Fall führt die hysterische Haltung einerseits zur Dominanz des gespaltenen Subjekts, andererseits führt sie zum Verschwinden des Diskurses des Herrn (Zeit der Anarchie, des Bürgerkriegs, der Anomie). Diese Sackgasse der Hysterie (die partiell auch produktiv sein kann) führt notwendig zu zwei Lösungen: Entweder findet sich ein neuer Herr, der «Gesetz und Ordnung» (Leviathan) wiedereinführt und damit den Teufels­ kreis der Macht mit auswechselbaren Personen und Symbolen reproduziert (es ist die Lösung der Dezisionisten: Carl Schmitt); oder führt der hysterische Diskurs zum Diskurs der Psychoana­ lyse und seinen strukturellen Äquivalenten. Hier hat das gespaltene Subjekt die Möglichkeit nur symbolisch, durch das Wort, seine Phantasmen und Symptome zu reprodu­ zieren und mittels der Intervention des Wortes des Anderen, der es hört, eventuell den Diskurs der Hysterie und sein verborgenes Begehren nach der Herschaft des Anderen zu überwinden. Wenn

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auch der psychoanalytische Diskurs die Differenz des Gesetzes mit der Macht und der Herrschaft neustrukturiert, so kann er doch nicht ausreichend und kontinuierlich erhalten bleiben. Er bildet einen bedeutenden aber vergänglichen Schnitt im Spiel von Herrschaft, Wissen und Hysterie. Aber diese Schnitte konsti­ tuieren die Geschichtlichkeit, die eventuelle Abschwächung des Herrschaftsdiskurses und das Auftauchen anderer, gemäßigter ' Formen von ihm. Die Ersetzung des Herrschaftsdiskurses durch den Diskurs des Wissens, bildet speziell das Hauptmerkmal der Moderne; das Wissen ist hier nicht mehr die Willkür des wirklichen Herrn (des feudalen Kriegers), sondern die rationalisierte Macht der Spe­ zialisten, im besten Fall, der Lehrer-Philosophen. Dieses Wissen erzeugt Unbehagen', entweder führt es zur Regression in den rei­ nen Diskurs des Herrn (in moderner Form), oder zum Diskurs der Analyse (Progression), wo das Unbehagen zum Objekt der Analyse wird. Andererseits aber «hysterisiert» der Diskurs des Wissens durch das Unbehagen die Subjekte, wie umgekehrt der hysterische Diskurs durch das Wissen, das er erzeugt, zur Repro­ duktion des Wissensdiskurses führt. So kann jeder der vier Dis­ kurse zu jedem der übrigen drei überführt werden. Der «Alltagsdiskurs» ist ein Mischtypus und enthält eine labile Kombination aller vier Diskurse (oder aller Typen von Diskursen im allgemeinen Sinne), er wird aber regelmäßig durch das Stre­ ben der Subjekte nach Macht und Illusionen dominiert. Dieser (hysterische) Diskurs zeigt, wie die Vorurteile unmerklich gebil­ det werden und wie die «Mikromacht», die Machtverhältnisse im Kleinformat, immer den politischen Diskurs stützen. Das Le­ ben in der Kultur begnügt sich nie mit einem Diskurs - und einen universalen Diskours, einen «Alldiskurs», gibt es nicht. In der Praxis wird die Vielfalt der Diskurse oft zum Grund von Konkurrenz und Konflikt zwischen ihnen, denn jeder Diskurs tendiert dazu, die anderen zu ersetzen. Siehe z. B., den Konflikt zwischen dem metaphorischen und dem analytischen Diskurs. Die vier Diskurse können dann in beiden Formen erscheinen.

III.6. ÜBER DEN MYTHOS

Das richtige Verständnis der Funktion des Mythos in der moder­ nen Gesellschaft verlangt die Erweiterung der historischen Di­ mension des Gegenstandes. Die Schöpfung von Mythen ist eine

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der primären Funktionen des menschlichen Denkens und tritt in allen primitiven Gesellschaften auf, in denen die orale Tradition, vor der Erfindung der Schrift, dominiert. Letztere (wie später die Erfindung des Drucks oder des Kinos) schaffte das Bedürfnis nach Mythenerzählungen nicht ab, sie veränderte bloß ihre For­ men. Die Mythen sind traditionelle Erzählungen? 3 aber nicht alle traditionellen Erzählungen sind Mythen. Man unterscheidet hier zwischen drei Fällen: Mythen, Legenden und Märchen. Alle drei Typen können koexistieren, aber ihre idealtypische Differenzie­ rung ist sinnvoll. Die Märchen?4 die Tiergeschichten, die bäuerlichen Traditionen enthalten einen ganzen Katalog von Sprichwörtern und typi­ schen Geschichten und haben sowohl die Lust am Erzählen und Hören, als auch eine ethisch/pädagogische Funktion zum Ziel. Abenteuer, Intrigen, Entdeckungen, Überraschungen, List, Prü­ fungen, Wunscherfüllungen, große Leistungen mittels magischer Mittel, Schwächen und Heldentaten, Grausamkeit, Konflikte zwischen Vätern und Söhnen usw., all dies konstituiert eine ganze imaginäre Welt, so wie sie primär alle primitiven Agrarge­ sellschaften erleben. Wesentliches Elemerit ist hierbei die Sip­ pendominanz,75 die für alle Aktivitäten den Rahmen abgibt; die Götter (oder Gott) spielen nicht die wesentliche Rolle: Es geht um die Welt der Magie vor dem Erscheinen der Dominanz der Religion (obwohl Magie und Religion immer koexistiert haben). Die «Geschichten» und die Erzählungen haben einen realisti­ schen und unpersönlichen Charakter, der zu «jedem» Subjekt «paßt», d. h. zu den unbewußten Wünschen und Phantasmen von jedem. Diese Elemente überleben als «kulturelles Substrat» bis heute; die «Mythen des Alltags», so wie sie Roland Barthes analysiert hat, gehören hierher. Es geht um die Geschichten aus den verschiedenen Comics und Filmen, oder um die verschiede­ nen Skandalgeschichten mit denen die Boulevardblätter voll sind. Die Märchen existieren immer in der Geschichte und spielen eine ideologische Rolle, d. h. sie können unbewußt verwendet werden, um politische und soziale Zustände oder Mängel zu le­ gitimieren oder zu erklären, in dem Maße in dem allgemeine In­ teressen sich mit besonderen Interessen identifizieren, und um­ gekehrt. Hier gehört z. B. der amerikanische Mythos vom «selfmade man», d. h. daß «jeder», der in den USA damit an­ fängt, «Teller zu waschen», später Millionär werden kann. Eben­ falls die Idee, daß die berühmten Politiker oder Persönlichkeiten

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179 nicht eines natürlichen Todes sterben: Die Könige werden so zu Opfern einer «Vergiftung» oder einige von ihnen werden in der Zukunft «auferstehen», um ihr Volk in den Sieg zu führen, wie Kaiser Friedrich I Barbarossa, oder Kaiser Konstantin XI Palaiologos. Aber diese Beispiele gehören schon zu den Legenden. Die Legende bezieht sich auf eine halbgeschichtliche Tradition: Es geht um einmalige historische Personen oder einmalige hi­ storisch Situationen, nicht um typische, alltäglich sich wieder­ holende Fälle (wie im Märchen). Es gibt z. B. Legenden um Ken­ nedy oder andere «geliebte» oder «außerordentliche» Politiker, wie auch um Hitler oder Stalin. Ein Historiker ist oft in der Lage,die verschiedenen Stufen der Mythisierung historischer Er­ eignisse zu beschreiben. «Ilias» und «Odyssee» bestehen z. B. aus einer Mischung von Legenden, Märchen und Mythen. Hier muß die strukturelle Besonderheit der Mythen unterstri­ chen werden, obwohl das Wort «Mythos» in der Alltagssprache oft als synonyme und allgemeine Bezeichnung all dieser Fälle benutzt wird. Mythos im präzisen Sinne aber ist nur ein Fall von Erzählungen, der sich durch die reiche Phantasie und den Ideenreichtum, den er artilkuliert, auszeichnet, es geht um Ideen, die Grenzerfahrungen lb der menschlichen Existenz, den Tod, das Leben, die Individualität, das Böse, das Göttliche usw., berühren. Der Mythos hat die Tragik der Existenz zum Kern: den Helden, der im Moment des Todes gerechtfertigt wird, d. h. er hat immer einen auserwählten, aristokratischen (idealen) Charakter, aber er zieht uns an, weil jeder sich mit «erhabenen» Handlungen und Personen identifiziert (oder mit ihrem Gegenteil). Der My­ thos erfüllt somit ein wesentliches Bedürfnis der Psyche und der Gesellschaft, denn er bergründet77 beide. Aber sehr leicht wird er Gegegenstand des Mißbrauchs zwecks politischer Rationalisie­ rung und Propaganda. Dieser ideologische Mißbrauch hat jedoch viele Gesichter: Zu ihm gehört auch der Mißbrauch der Rationa­ lität zum Zwecke der Reduktion des Mythos auf einfache Mo­ delle, die die Phänomene der Natur, der Gesellschaft und der Psyche «erklären». Es geht hier um die Verblendung eines in­ strumentellen Diskurses, der die irreduzierbare, poetische Funk­ tion des Mythos jenseits aller Nützlichkeit, nicht anerkennen will (diese Haltung ist das Ergebnis einer bürgerlichen Menta­ lität: der Tyrannei der prosaischen Nützlichkeit). Diese reduktionistische Tendenz findet ihren Ursprung auch im Mißbrauch des Marxismus und der Psychoanalyse; es ist die

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Tendenz alle Phänomene der Kultur auf das ökonomische Inter­ esse oder alle psychischen Phänomene auf den Sexualtrieb zu reduzieren. Diese kausalistische «Erklärung» erklärt nicht den Mythos, denn der Mythos selbst ist ein Erklärungssystem. Aber er ist vor allem ein poetisches Phänomen der Sprache und ent­ hält seinen Zweck in sich als eine autonome Tätigkeit des Gei­ stes. Die Reduktion des Mythos hat nur dann einen Sinn, wenn es darum geht, Mythen und Legenden «schlechten Ge­ schmacks», d. h. ideologischer Natur zu analysieren; der Mythos des tragischen Helden ist ein «guter» Mythos, die Legende von Alexander oder von Cäsar ein «schlechter» Mythos, da es um die Legitimation von Macht geht. Wenn der Mythos eine autonome, poetische Funktion des menschlichen Geistes darstellt, dann bedeutet es andererseits nicht, daß er keinen eigenen, immanenten Zweck erfüllt. Dies hat L6vi-Strauss betont, für den die Mythen (allgemein) die Ver­ söhnung der Gegensätze73 zum (unbewußten) Ziel hat, auf die der primitive Mensch in seinem Leben trifft, sowie die Bildung eines Systems von Vermittlungen, so daß die Fragen, die ihn quälen, symbolisch gelöst werden können. Diese Lösungen können dann an die Stelle von Handlungen treten, als auch eine Anleitung zum Handeln darstellen. Die Versöhnung der Gegensätze und die Vermittlungen sind schon zwei Elemente eines stetigen Über­ gangs zwischen der Vernunft und dem dialektischen Denken ei­ nerseits und dem Mythos andererseits. L£vi-Strauss hat besonders durch die Analyse der Mythen der In­ dianer Nord- und Südamerikas79 jene Themen aufgezeigt, die in anderen Mythologien ebenfalls vorkommen: die Versöhnng zwi­ schen den individuellen Interessen und Ambitionen und den kol­ lektiven Interessen, das Wisen um die Existenz des Todes, die Einschränkung des Wunsches nach Genießen mittels der Beson­ nenheit und der Vorsicht, den Konflikt zwischen den Generatio­ nen und den Geschlechtern, den Konflikt zwischen der Natur und der Zivilisation usw. Diese Widersprüche bekommen für den Menschen «Bedeutung», nicht nur weil sie real existieren, sondern auch weil sie primär den oppositionellen Charakter der Sprachstruktur besitzen. Die Oppositionsbeziehungen zwischen den Phonemen konstitu­ ieren für Lövi-Strauss das Vorbild für das Verstehen der Struktur und des Sinns der Mytheme. So spielt in der griechischen My­ thologie der Gegensatz zwischen der Natur und der Kultur eine große Rolle oder zwischen der Gewalttätigkeit und der Tugend,

181 so wie ihn die Zentauren oder die Heraklesgeschichten darstel­ len.80 Diese Struktureigenschaften «bewegen» die Menschen im­ mer, weil sie die Struktur des Unbewußten reproduzieren, und deswegen können sie sowohl zu ästhetischen Schöpfungsfor­ men, als auch zu demagogischen Verführungsformen führen. So war der Zusammenfall von widersprüchlichen Eigenschaften, die miteinander für die kritische Vernunft unvereinbar sind, in der faschistischen, nationalsozialistischen und stalinistischen Mythologie sehr häufig: Der Faschismus glaubte, die «Fusion» des Nationalismus und des Sozialismus, der Stalinismus, die «Fusion» der Demokratie und des Zentralismus zu sein usw. Die Menschen reproduzieren lustvoll die gleichen Vorbilder, was sie veranlaßt, oft auf der gleichen Sache zu beharren und damit mehr an die Mythen als an die Geschichte zu glauben. Diese Ei­ gentümlichkeit der Mythen immunisiert sie gegen jede Widerle­ gung mittels historischer und logischer Argumente. Derjenige der «glaubt», daß die Politik immer nur autoritäres Handeln, Gewalt und Betrug verlangt, glaubt an den Mythos der ewigen, bösen, menschlichen «Natur», so daß es für ihn keinen Unter­ schied zwischen Diktatur und Demokratie, oder zwischen Kapi­ talismus und Sozialismus gibt, oder er träumt von einer «voll­ kommenen» Gesellschaft, etwas das bequem und unverantwort­ lich ist, denn es kann nie realisiert werden. Die Kraft des Mythos allgemein besteht darin, daß er einen «konkreten» Charakter hat, d. h. er erzählt eine abstrakte Idee durch «Bilder», aber diese sind keine bloße «Korsequenz» der Idee, sondern sie koexistieren von Anfang an mit ihr. Aber dieses Moment darf nicht als der Hauptzug des Mythos hervorgehoben werden (gemäß einer romantischen Tradition). Dies weil jeder abstrakte Begriff vorstellende Elemente und jeder Mythos sche­ matische, abstrakte Elemente enthalten. Die Anziehungskraft des Mythos besteht nicht bloß darin, daß er etwas bildhaft er­ zählt, sondern auch weil er gewisse latente Schemata/Modelle wiederholt, die aus den Grundphantasmen der Psyche stammen. Die bildhaften Elemente und die Wiederholungen ziehen die Subjekte deswegen an, weil ihre Wahrnehmung und ihr Verste­ hen keine Anstrengung und Präzision wie die Vernunft verlan­ gen. Der Begriff des Mythos ist abstrakt nur, wenn man ihn erkennt­ nismäßig untersucht, aber auf der praktischen Ebene hat er kon­ krete Gründe und Folgen, er ist eine Anrufung des Ich des Emp­ fängers, sein Begehren mit dem Begehren des Senders zu identi-

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fizieren und es gemäß dem Wunsch des Senders zu erfüllen. We­ der der Empfänger, noch der Sender sind «dumm», denn beide bezwecken Machtwünsche zu erfüllen: Der Begriff des Mythos enthält ein Herrschaftswissen. Was ihn aber von der Vernunft unterscheidet ist, daß er einen diffusen Charakter81 hat, und aus unbestimmten Assoziationen und unbegrenzten phantasmatischen Möglichkeiten besteht, d. h. er ist eine Verdichtung aus in­ stabilen und widersprüchlichen Bildern. Der Mangel an Klarheit und die Widersprüchlichkeit unterscheiden den Mythos von der Ideologie und der dogmatischen Spekulation, aber vielmehr noch von der Vernunft und dem kritischen Denken. Umgekehrt aber führt die zwanghafte Suche nach Klarheit wieder zu einem Mythos: Es geht um den instrumentellen Diskurs, der nur schein­ bar das Gegenteil des Mythos ist. Der Mythos, als ein ununterbrochener Übergang vom Sinn zur Form, bildet ein Alibi:9,2 der Sinn stellt die Form dar, letztere schafft Distanz zum Sinn. Die Mythenanalyse als kritischer Dis­ kurs führt die Differenz und den Schnitt, die Scheidung zwischen den zwei Ebenen des Mythos ein und analysiert jeden für sich, als auch die Beziehungen zwischen ihnen. So «erklärt» sie die Sachen, während der Mythos sie einfach «feststellt»; deswegen ist jeder, der an den Mythos glaubt, Empirist, der an die Bilder (synthetisches Denken) glaubt, so wie sie als «Ganzes» erschei­ nen. Der Mythos als ein stereotypes und versteinertes Wort/Bild83 bedeutet eine fixierte Verdichtung (Metapher); hier ist aber eine Präzisierung notwendig, denn es gibt viele Arten von Metaphern. Vor allem aber ist der Mythos nicht mit der Verdichtung des Un­ bewußten identisch, vielmehr stellt er ihre fixierten Produkte dar. Der Mythos ist eine Metapher, aber das Subjekt, das an ihn glaubt, versteht ihn «wörtlich», es sieht nicht, daß er unbewußt gebildet wurde: Wenn jemand heute sagt, daß «wir heute in einer zerstörten Umwelt leben», und glaubt, daß in der Tat die «Katastrophe» schon da ist, wie in den Science-fiction Filmen, dann ist er durch die Worte/Bilder verführt worden, die so läh­ mend auf ihn wirken. Nur wenn er verstanden hat, daß die «Ka­ tastrophe» eine Tendenz, eine Möglichkeit und eine Gefahr dar­ stellt, aber nicht ein schon vollendetes Ereignis ist, nur dann wird er die Angst, zu der ihn der Mythos inspiriert, überwinden. Der Mythos ist auch eine Verschiebung (Metonymie) des symbo­ lischen Materials außerhalb seines historischen Kontextes: Die Bilder von Soldaten in Parteizeitungen geben den geeigneten Rahmen für Propagandazwecke ab. Die gleichen Bilder in einem

183 Geschichtsbuch mit wissenschaftlichen Ansprüchen, werden eine andere symbolische Wirkung (Sinn) erzeugen, selbst wenn die Historiker die Präsenz der Soldaten positiv oder negativ be­ urteilen würden. In der Wissenschaft wird der Mythos nicht weggezaubert, sondern er wird verschoben und differenziert, d. h. er wird methodologisch reduziert. Daß sich die Alltagssprache auf der Willkür des Zeichen gründet, schafft auch eine Garantie gegen ihre uferlose mythenbildende Kraft. Das willkürliche weist auf die Existenz der Kontigenz im Herzen der Sprache hin, etwas das jeden Versuch der Bildung von «notwendigen» geschlossenen Systemen, so wie sie der My­ thos konstruiert, vereitelt. Dies, weil der Mythos im Gegensatz zu der primären Alltagssprache (die nur im Durchschnitt primär ist) die Existenz von Analogien und Ähnichkeiten, 84 d. h. den me­ taphorischen Diskurs85 ausbeutet und voraussetzt. Was die Lektüre des Mythos betrifft, gibt es vier unterschiedliche Arten: a) Die zynische Art der bewußten Verwendung von Bildern für die «lebendige» Vorstellung eines Begriffs (z. B. der schwarze Kolonialsoldat, der die französische Trikolore grüßt). Hier wird des Bild einem Begriff unterworfen, es wird ihr «Symbol» (Alle­ gorie). Es geht hier um eine arme Symbolisierung, die Machtin­ teressen dient. b) Wenn der Leser/Zuschauer undifferenziert den Signifikanten als ein Ganzes (Sinn und Form) «konsumiert», dann wird er Zu­ schauer der Anwesenheit, der Parusie des Mythos. Siehe die Ste­ reotypen, in denen sich die nationalistische Ideologie in einer Reihe von Völkern in Osteuropa heute artikuliert: Eine Reihe von Superlativen, von überhöhten Bildern, die das «Wesen» des je eigenen Volkes als das eines «Helden» oder «Märtyrers» und «Opfers» stilisieren, es mit Jesus oder mit Dionysos identifizie­ ren, mit der Aufgabe, «die Welt zu retten». Ein anderer Mythos wird durch die staatliche/militärische Ehrung von religiösen Bil­ dern oder Reliquien in katholischen oder orthodoxen Ländern, in denen die Trennung von Staat und Kirche nicht konsequent vollzogen wurde, weiter aufrechterhalten. Die Fälle a) und b) be­ schreiben auch zwei Möglichkeiten der Entstehung von Ideolo­ gie. c) Wenn der Leser im Signifikanten allein die Existenz eines primären (latenten, unbewußten) Sinns «sieht» und die zwei Ebenen unterscheidet, dann kann er das Alibi durchschauen: Das ist die Funktion des kritischen Diskurses.

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d) Es gibt den Fall der Umkehrung des Falls a), der nur bedingt zur Ideologiebildung beiträgt. Wenn ein Dichter oder Maler, ohne vorgegebene Ideen bewußt darstellen zu wollen, spontan durch ein Wort oder ein Bild eine Idee «symbolisiert», z. B. wenn Eugdne Delacroix die «Freiheit auf den Barrikaden» dar­ stellt. Hier schafft der Maler einen «guten» Mythos, indem er dessen Funktion und Struktur kreativ und kritisch einsetzt. Er kontrolliert aber nicht den Gebrauch seines Produkts und dieses kann dadurch zu einen «schlechten» Mythos herabsinken, wenn es zur Ideologie einer Gruppe wird. Dies bedeutet aber auch, daß selbst im Gedicht oder im Bild ideologische Elemente stecken, die sich für einen ideologischen Gebrauch86 eignen. Der Mythos funktioniert sicher nicht bei denen, die ihn entweder nicht «sehen», weil sie kein Gefühl für den metaphorischen Dis­ kurs haben, oder von vornherein den Sinn des Mythos akzeptie­ ren, so daß sie ihn selbst nicht brauchen; hier geht es um die in­ strumentell denkenden Menschen, d. h. um den «schlechten», unkritischen Diskurs. So kann hier eine vierfache Typologie auf­ gestellt werden, die das Kreuzprodukt von zwei Variablen dar­ stellt: Vemunft/Mythos und kritisch/nicht-kritisch. Die nicht-kritische Lektüre des Mythos bedeutet für den Leser die Konfusion87 zwischen zwei Ebenen: zwischen der realen und der symbolischen Ebene. Dies weil er den Mythos so liest, als ob das Bild (der Signifikant) die physische Ursache, der Grund des Sinns/Inhalts des Mythos sei, was absurd ist, denn das Verhält­ nis zwischen dem Signifikanten und dem Signifikat ist keine Kausalitätsbeziehung. Hier wird eine künstliche, imaginäre Kausalität, die Ereignisse und Ursachen aus semiologischen Werten her induziert, konstruiert. Wie schon oben erwähnt, kann den Mythos potentiell nichts ver­ meiden, alles kann zum Mythos werden. Wir kommen auf die o. e. vierfache Typologie: Mythos (Fetischismus), Mythos (Dich­ tung), instrumenteller Diskurs, kritischer Diskurs. Die Sprache widersteht dem Mythos nicht,88 weil sie die Elemente des Aus­ drucks, des Imperativs und des Konditionals des Ich enthält. An­ dererseits gibt es keine «objektive» Sprache ohne das «Ich» das spricht, und die zweideutige Natur der Begriffe und der Worte bietet sich für jede Art von subjektiven Interpretationen an. Die Dominanz des instrumentellen Diskurses, die das Damokles­ schwert der Moderne geworden ist, basiert auf der heutigen Überlegenheit des Herstellens und Handelns gegenüber dem Nichtherstellen und Nichthandeln, und solange dieses Ungleich-

185 gewicht besteht, gibt es keine Veränderungschance der zeit­ genössischen Zivilisation und der Destruktivität, die sie impli­ ziert. Die Überschätzung der Arbeit und der Aktivität existiert auch bei Marx. Hier können nur die Psychoanalyse und be­ stimmte philosophische Richtungen (Derrida) dazu beitragen, den Blichwinkel zu ändern (ohne daß dies eine Regression in die Vorsokratiker oder den mittelalterlichen Neuplatonismus zu be­ deuten hätte); wenn die Subjekte sprechen, sind sie nicht nur «aktiv» (sprechend), sondern sie ändern periodisch die Haltung und werden «passiv», d. h. «rezeptiv», wenn sie zuhören und nachdenken. Der psychische Rhythmus besteht in der Altemanz von Hören und Sprechen, in der An- und Abwesenheit von Hand­ lungen. Je weniger das Subjekt den Anderen hört, weil es «be­ schäftigt» ist, desto mehr verdrängt es die Wünsche und die Pro­ bleme. Das Verstehen des Mythos geht immer durch seine ständige Dif­ ferenzierung von anderen Diskursen hindurch. Die Festellung, daß jede Ideologie Mythen und Phantasmen impliziert, enthält nur die halbe Wahrheit. Weil die Ideologien eine Zeitlichkeit ent­ halten (selbst wenn sie sie verleugnen), die den Mythos doppelt transzendiert: sowohl strukturell, als auch wegen der Zeitdimen­ sion der Handlungen der Teilnehmer. Der Gebrauch solcher Mytheme wie der o. e. wird zum Gegenstand einer konfliktuellen Interpetation zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen, und dies hinterläßt seine Spuren im «Text». Das konfliktuelle Element existiert schon früher im ambivalenten Charakter des Mythos selbst. Metapher und Begriff sind die zwei notwendigen Pole jedes Denkens: Das Subjekt braucht, um in seiner doppelten Realität (der psychischen und sozialen) zu leben, beide Modi. Aber zwi­ schen beiden sind die Grenzen fließend: Alle theoretischen und exakten Begriffe sind aus Metaphern hervorgegangen, und jeder Begriff kann metaphorisch verwendet werden, wenn er in ein anderes semantisches Feld transportiert wird. «Transportieren» bedeutet auf griechisch «metapherein». Die wissenschaftlichtechnischen Terme tendieren zwar dazu, immer genauer, be­ schränkter und trockener zu werden; demgegenüber aber exi­ stiert auch die umgekehrte Tendenz der theoretischen Grundla­ genforschung der Wissenschaften, die Grundbegriffe immer metaphorischer, d. h. als «Fiktionen» zu verstehen. Die Philosophie und die Psychoanalyse zeichnen sich aber da­ durch aus, daß sie versuchen, beiden Tendenzen gerecht zu wer-

186 den, indem sie alle Übergangsmöglichkeiten zwischen dem me­ taphorischen und dem analytischen Diskurs berücksichtigen. So sind die grundlegenden philosophischen Begriffe immer zwei­ deutig, geschichtlich interpretierbar, und das gibt ihnen ihre Fruchtbarkeit und ihren Charme. Schließlich situieren sich die Literatur und die Künste fast ausschließlich innerhalb des meta­ phorischen Diskurses. Bleibt noch der ideologische Diskurs, der alle anderen überlagern kann; infolge der Legitimation der Herr­ schaft, die er suggeriert, führt er zu einem Mißbrauch sowohl der Begriffe als auch der Metaphern. Ein Begriff setzt die Verneinung voraus: das was nicht ist, als auch die Quantität als etwas vom Qualitativen Unterschiedenes. Der Begriff des Ökonomischen stammt z. B. aus dem (griechi­ schen) «Hausgesetz», d. h. der betriebswirtschaftlichen Organi­ sation einer geschlossenen sozialen Einheit. Aber der Sinn die­ ses Wortes verschob sich später auf ein anderes semantisches Feld und wir können von «Begriff» sprechen, wenn in Theorie und Praxis schon geklärt wurde, was das Ökonomische nicht ist und die gesamte Menge aller es konstituierenden Phänomene bestimmt wurde. In der Praxis wird jeder Begriff auch metapho­ risch gebraucht. Jeder Begriff kann zum Mythos werden, wenn er zum Kristalli­ sationspunkt von unbewußten Assoziationen, Phantasmen und Ängsten wird. Die sog. «Interessen» können von selbst weder die Mythen «erklären», noch sie direkt auferwecken, weil sie sich auf der Ebene des Bewußtseins situieren, während die Mythen die verdrängten Phantasmen des Unbewußten (mittels der Men­ talitäten) mobilisieren, auch und gerade dann, wenn die Sub­ jekte ihre Interessen verfolgen. Dies gilt für jede Art von Interessen, d. h. nicht nur für die in­ strumentellen, partikularen Interessen einer Gruppe, sondern auch für die sog. «objektiven» oder allgemeinen Interessen, die die Vernunft fördert. Hier wird der kritische Punkt, die Schwäche der Vernunft lokalisiert; wenn sie die Spaltung des Subjekts und die Existenz des Unbewußten nicht wahrhaben will, dann regrediert sie in den Dogmatismus oder in den instru­ mentellen Diskurs. Letzterer stellt jene Schwäche bloß: Er schafft in den Subjekten ein «Legitimationsdefizit» und ein Un­ behagen, das die Wiederkehr des schlechten, obskuren Mythos «schlecht» bewältigt, indem er diesen in partikuläre Ideologien einbettet.

187 Das Wort «Interesse» kann dabei zweierlei bedeuten. Entweder das bewußte, Ich-zentrierte Drängen nach Befriedigung der «ei­ genen» narzißtischen Wünsche, die auch im Getriebe der Kultur in der Form von Macht, Eigentum, Wissen, sozialen Beziehun­ gen, Prestige usw. legitimiert und integriert sind. Oder aber das unbewußte, nicht Ich-zentrierte Begehren jenseits der narzißti­ schen Wünsche, das nach Kreativität oder Hingabe an den Ande­ ren verlangt und in Konflikt mit jenen «Interessen» gerät. Wir nennen den zweiten Fall ein «sublimes Interesse»', dieses verträgt sich aber weder mit dem instrumentellen Diskurs (wenn dieser dominiert), noch mit dem obskurantistischen Mythos. Dabei ist die o. e. Unterscbeidung nicht mit der romantischen Unterschei­ dung zwischen dem Intellekt und den Gefühlen identisch, sie steht vielmehr quer zu ihr. Um auf das Vorausgegangene zurückzukehren: Die Rationalisie­ rung der Produktions-, Herrschafts-, und Erziehungsverhält­ nisse «leiht sich» von den Mythen bestimmte Denkmuster aus, um das nicht zu Rechtfertigende zu rechtfertigen. Das Legiti­ mitätsdefizit aber bekommt einen kritischen Charakter, wenn parallel dazu die Ideen und Begriffe im Alltag nicht mehr über­ zeugen, weil sie vom instrumentellen Diskurs unterminiert wur­ den89, (das ist das Problem der zeitgenössischen Demokratie). Dann kehrt mittels der harten Ideologie der harte heidnische Mythos des Opfers und der Gewalt zurück. Hier geht es um den dritten und beunruhigendsten Funktionsmodus des Mythos (ne­ ben dem Mythos als Alltagsdiskurs bzw. Erzählung und dem My­ thos als Rationalisierung).90 Dies ist insbesondere der Fall im 20. Jahrhundert; der «totale» Mythos verdrängt die Begriffe und seine anderen Funktionsmodi. Der Rassenmythos z. B. zerstört die Idee der Nation (im progressiven, nicht romantischen Sinne) durch den Pseudobegriff der «Rasse». Die absolute Intensivie­ rung und Verabsolutierung des Politischen (Carl Schnitt), die damit einhergeht, impliziert die Verleugung und die Abschaffung des Politischen (zugunsten der totalen Polizeiüberwachung). Der heidnische Mythos der Gewalt bedeutet andererseits die Wiederkehr der archaischen Zeit vor der Entstehung der Polis. Das gleiche gilt für den Stalinismus: Die Herrschaft der Partei und der Geheimpolizei verlangen die ständige Wiederholung von Opfern (Säuberungen), bei der die sozialen Klassen und Gruppen zerstört und pseudoaufgehoben werden (Abschaffung der Differenz) zugunsten des Mythos vom «goldenen Zeitalter» und von der vollkommenen Homogenität91, wobei dem Mythos

188 der Verschwörung eine die Massen mobilisierende Funktion zu­ kommt. Der Verschwörungsmythos92 andererseits funktioniert immer mit unterschiedlichem Vorzeichen (positiv oder negativ), je nach­ dem ob es um die «unsrigen» oder die «anderen» geht. Das glei­ che gilt für den Mythos des «Retters»:93 je nach Fall ist er entwe­ der ein Halbgott oder ein böser Dämon (Napoleon I. war erste­ res für die Franzosen und zweites für die Briten). Die Geschichtlichkeit scheint aber in der Verflechtung der Mythen mit der Vernunft durch, z. B. wenn die Idee der Demokratie im Bewußtsein ihrer Anhänger (und Feinde) von den Mythen der Verschwörung und des Retters (Populismus) begleitet wird. Diese Mythen selbst definieren aber die hier erwähnte Ideologie nicht ausreichend, denn das Begriffselement muß noch gleicher­ maßen berücksichtigt werden. "Der schlimmste Fall der Invasion des Mythos in die Politik findet dann statt, wenn die politischen Interessen und die Konflikte, die sie implizieren, einen fundamentalen und existentiellen Cha­ rakter bekommen, und damit ihre Einhegung durch die Ver­ nunft und das Gesetz einbüßen. Dies geschah traditionellerweise mit dem religiösen Fanatismus und dem «heiligen Krieg». Im Zeitalter der Totalitarismen (abge­ sehen vom Wiedererwachen des religiösen Fundamentalismus) und des übersteigerten Nationalismus geschieht dies mittels der Fetischisierung des «Lebens», der «Erfahrung», der «Erlebnisse» und des «Willens zur Macht»94 (was eigentlich ein «Wille zum Tod» und zum Töten ist). Existentiell bzw. «existentialistisch» ist der ambivalente Charakter der («rohen») Triebe bezüglich der intersubjektiven Beziehungen: Hinter der Liebe kann sich Haß verstecken und umgekehrt. Die «Übertragung» dieser Besonder­ heit der ambivalenten und undifferenzierten Psyche auf den kol­ lektiven Raum des Politischen gilt historisch nur für die Monar­ chie (des Ancien Regime) und die Diktatur. Die Demokratie hin­ gegen verwirft a priori diese Übertragung,95 denn sie setzt die Vernunft voraus (was nicht bedeutet, daß die Demokraten hedo­ nistische Egoisten und unfähig zum Engagement sind: Das ist eine Karikatur, die von ihren Feinden bzw. von d^cadents stammt). Alle antidemokratisch gesinnten Rechten und Linken sehnen sich mit Nostalgie nach der Gefühlsambivalenz in der Politik (die damit zum Religionsersatz wird). Der Existentialismus und der Dezisionismus96 entstehen in der Politik, wenn die Bürgergruppen auf hysterische oder paranoide

189 Weise für verschiedene nationale, klassenmäßige oder kulturelle Gegenstände «leiden», denn letztere bekommen in ihren Augen den Charakter von Fragen auf «Leben und Tod». Dies trifft im­ mer in Fällen von imaginären Bedrohungen und Gefahren zu, nicht aber im Fall einer realen Gefahr, wo man entschlossen han­ deln muß. Die Subjekte haben immer die Tendenz, ihre individu­ elle Identität und ihre Ängste auf imaginäre Weise mit der kol­ lektiven Identität und den kollektiven Ängsten zu identifizieren, und umgekehrt: Dies ist auch eines der Hauptprobleme des Poli­ tischen. Heute hat es, infolge der Ausschlachtung der Phantas­ men und Ängste der Bürger durch die Medien, eine spezifische Form angenommen. Ein Ergebnis davon ist der Ausschluß der Differenzen, des An­ dersartigen, des Fremden, wobei heute ein aufgeklärt und ver­ nünftig denkender Mensch schon als «fremd» angesehen wird (von den Snobs und der Kulturschickeria). Dieser immanente Ethnozentrismus kann zu einer letzten Radikalisierung, zum Rassismus führen97 (siehe z. B., die stalinistische «politische Korrektheit» PC in den USA). Die Ideologie verwendet immer den Mythos als jenes Element, das mit dem Unbewußten der Subjekte «spricht» und ihre Phantasmen mobilisiert. Die Über­ windung dieses Falls verlangt eine große psychische und kultu­ relle Anstrengung, bei der das Hindernis der imaginären Identi­ fizierungen rechtzeitig überwunden wird und die Subjekte die Differenz entdecken und akzeptieren (aber nicht als bloße ästhe­ tische Differenz). Die Differenz mit sich, mit dem Anderen, zwi­ schen den Kollektiven und den Individuen, zwischen dem Politi­ schen und dem Kulturellen und dem Ökonomischen; nur dann funktioniert die Bürgergesellschaft (civil society). Die Kraft des Mythos (im negativen Sinne) «unterminiert» die «erhabenen» und abstrakten Ideen von Freiheit, Demokratie, Frieden usw. Diese Ideen existieren als Mythen in dem Maße, in dem sie dazu verwendet werden, um die Herrschaftsabsichten gewisser Staaten und Parteien zu rechtfertigen, und es sind My­ then, die die verblendeten Anhänger verführen; diese «sehen» nicht, weil sie die historisch kontingente Beziehung zwischen einer Idee und der historischen Realität nicht sehen wollen. Diese Beziehung ist die Nicht-Identität, die Differenz; für dieje­ nigen, die die Idee mit der Realität identifizieren, und folglich in einer «schönen Welt» (außerhalb der der böse, häßliche «an­ dere» existiert) auf imaginäre Weise leben, ist es schmerzenhaft und anstrengend diese Differenz wahrzunehmen. Die Naturali-

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sierung im Mythos versetzt gleichermaßen die Menschen in einen Zustand der «Unschuld», weil die Schuld (culpa) in der Natur nicht existiert, genauso wie es keine Geschichte in der Na­ tur gibt (da in ihr das Symbolische fehlt). So konstruiert der My­ thos eine fiktive, idealisierte «Geschichte», eine Erzählung. Der Prozeß der Mythisierung ist immer der gleiche: Ein Signifi­ kant wird fetischisiert und dogmatisiert. Ängste, Phantasmen Erwartungen und Interessen kristallisieren sich auf imaginäre Weise um diese Signifikanten herum, die sich selbst dazu anbie­ ten «mißverstanden» und «idealisiert» zu werden. So führte mei­ stens die christliche Liebe zu einer identifikatorischen Herr­ schaftsbeziehung,98 was sie eigentlich nicht ist. Sie diente oft­ mals dem Ausschluß des «anderen», der nicht zur Gruppe derer gehört, die sich mittels einer imaginären Identifizierung unter­ einander (und dem Führer) «lieben»; so tötet diese identifikatorische Liebe durch Konformismus und Heuchelei jede individu­ elle Besonderheit, Kritik und Initiative. Der Totalitarismus be­ tont andererseits besonders das Element der absoluten Homogenität und der Identifizierung innerhalb der Horde, und betrachtet als «fremd» und «dämonisch», was die Differenz und den Mangel einführt: die persönliche Besonderheit, die Zer­ brechlichkeit des Menschen, den kritischen Geist, die unbeant­ wortbaren Fragen, den Witz usw. Diese Differenz ist natürlich nicht die Hysterie: Nicht jede Provokation und nicht jede Schwäche sind akzeptabel, nämlich wenn sie zur Selbstbestäti­ gung dienen.

III.7. DIE ZWEIDEUTIGKEIT DER MODERNE UND DER POSTMODERNE

Eine erschöpfende Diskussion des Ideologiebegriffs heute kann nicht die Problematik der Postmoderne ignorieren. Dank ihr wurde unsere Wahrnehmung der Sackgassen der Gegenwart ge­ schärft, die sich aus den Antinomien der Moderne ergaben. Das richtige Verstehen der Postmoderne verlangt die Analyse99 ihrer Widersprüche, denn die Haltung, zu der sie führt, schwankt zwi­ schen dem Nihilismus und den Altemativlösungen, die die Psy­ choanalyse nicht verleugnen. Zunächst aber ist die Postmoderne nichts, was der Moderne an sich fremd wäre, sondern sie exi­ stiert in ihr von Anfang an, als ihre «andere» Seite.

191 In der «klassischen» Moderne herrscht die wasserdichte Tren­ nung zwischen dem Subjekt und dem Objekt, die die Existenz ihrer «vollständigen» Identitäten voraussetzt. Im Gegensatz da­ zu begriff die zeitgenössische Moderne100 seit der Mitte des 19. Jahr­ hunderts bis heute, daß es die Möglichkeit der Absorbtion der Differenz nicht mehr gibt, aber sie stellte in den Mittelpunkt der rastlosen, ziellosen Tätigkeit der Subjekte eine Leere, um die herum sich die endlosen Interpretationen und Varianten eines «Textes» drehen, dessen «Original» verloren wurde (seitdem der «Tod Gottes» und dann der «Tod des Menschen» postuliert wur­ den). Diese Haltung zieht radikale Schlüße aus der «Selbstver­ bergung» Gottes (einem alten gnostischen Mythos): Der «verbor­ gene» Gott (Deus absconditus) interessiert sich nicht für die Welt und den Menschen, die zum Spielball des inhaltslosen Wil­ lens zur Macht geworden sind. Diese Form der zeitgenössischen Moderne wird von vielen mit der Postmoderne verwechselt. Letztere wird von vielen als die Situation definiert, in der «Alles möglich» ist, etwas das zweideutig ist. Wenn das bedeutet, daß es keine Differenz zwischen der Wahrheit und der Lüge gibt (wo­ bei die Lüge Element der Wahrheitsfindung ist),101 oder daß es das Gesetz nicht gibt (das in der Psychoanalyse als «Es ist nicht­ alles möglich» definiert wird), dann bleibt in der Tat nichts ande­ res als der Wille zur Macht, d. h. der Sozialdarwinismus. Wenn stattdessen jener Satz die Infragestellung von bisherigen ge­ schlossenen Identitäten (ohne die Abschaffung jeglicher Iden­ tität) und die Existenz von zahllosen Möglichkeiten für die Sub­ jekte anerkennt, dann haben wir eine neue Situation, eine neue Subjektivität,102 in der in großem Maße der Wille zur Macht überwunden werden kann. Wie die antiken Sophisten aber, bewe­ gen sich viele Postmoderne alternierend auf beiden Ebenen und adoptieren damit einen hysterischen Diskurs, mittels dessen sie jene Reaktionen provozieren wollen, welche nachträglich die Verwerfung jeder Verantwortlichkeit von ihrer Seite «rechtferti­ gen» werden. Die zeitgenössische Moderne und die Postmo­ derne sind Varianten der Gnosis, die, obwohl sie mit Gott liebäu­ gelt, ihn indessen auf unterschiedliche Weise verwirft, mittels der Verleugnung des Mangels, die die Unterwerfung unter die Kontingenz, das Opfer, die Gewalt, das Schicksal impliziert. Der «Protest» der Postmoderne manifestierte sich am Anfang der 70er Jahre, als die Grenzen der Erwartungen und der Hand­ lungen der Studentenbewegung von 1968 und der reformisti­ schen Sozialdemokratie sichtbar wurden. Diesmal aber ging der

192 Protest viel weiter, denn er fing die Symptome der allgemeinen Krise der letzten 20 Jahre auf (insbesondere seit dem Zusam­ menbruch des neostalinistischen Systems in Osteuropa); es ist eine Krise der Identität und der Legitimität der gesamten westli­ chen Kultur, eine Krise der Individuen aber auch der kollektiven Formen, eine Krise der Ideen und der Werte. Die «Entdeckung» von Nietzsche und Heidegger und anderer «suspekten» Denkern durch einen Teil der (ehemals) linken Intelligenz markiert hier einen Wendepunkt und entfachte einen Streit zwischen den tra­ ditionellen Rationalisten und den Postmodernen (siehe die De­ batte zwischen Habermaß und Lyotard, die vom «bösen Willen» auf beiden Seiten geprägt war). Dieser Streit führte oft zu steri­ len Polemiken, aber auch zu fruchtbaren Auseinandersetzungen. Die Psychoanalyse selbst wurde zum Streitgegenstand. Die Posi­ tion, die hier Vertretern wird, basiert auf einer Wette: Trotz der Verleugnung der Psychoanalyse durch die moderne und postmo­ derne Kultur könnte die Psychoanalyse eine dritte, alternative Lösung andeuten, die sich weder mit der Postmoderne, noch mit der erneuerten, «kommunikativen» Aufklärung identifiziert. Die Ausgangsfeststellung der Postmoderne bildet das, was in den 50er Jahren viele Soziologen und andere als die «Konsum- und Massengesellshaft», als das «Ende der Ideologien» und als Entpolitiserung der Massen, als den Wandel der Öffentlichkeit103 be­ zeichnet haben. Diese Feststellungen wurden entweder negativ, als der Verlust der «Substanz des sozialen Werdens» oder positiv, als die Befreiung aus traditionellen Fesseln und Illusionen inter­ pretiert. Das Verhältnis zwischen der Politik und der Ideologie bildete einen der Haupt-Gegenstände der Diskussion. Dies weil seit der Aufklärung, die enge dialektische Beziehung zwischen der «Ge­ sellschaft» und den «Ideen»104 als «selbstverständlich» angese­ hen wurde. In den 50er Jahren aber erschien zum ersten Mal das Phänomen der Unterwanderung jener Dialektik. Die Studenten­ bewegung von 1968 war der Versuch der Eindämmung dieser Tendenz, der aber, indem er mißlang, in der Sackgasse endete. Das Problem ist nicht akademischer Natur, es geht um die Frage, inwiefern es «wünschenswert» ist, daß die Politik ein enges Ver­ hältnis mit den Ideen haben sollte oder nicht, denn es gibt Argu­ mente auf beiden Seiten. Das Problem entstand, als der Verdacht auftauchte, daß das Politische und das Soziale selbst sich in Auf­ lösung befinden. Eine Reihe von Symptomen plädieren für diese Interpretation: der Niedergang der universellen Geltung der

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Prinzipien der Aufklärung und die Leere, die die Auflösung der Kulturwerte mittels des verallgemeinerten Warencharakters al­ ler Dinge und Ideen hinterlies, der zunehmende Kohäsionsver­ lust der Gesellschaft mittels gemeinsamer konsensueller Sym­ bole, die Lockerung der traditionellen politischen und parteili­ chen Trennungslinien, die Apathie der Bürger gegenüber den Skandalen und die Berieselung durch die Medien, das Fehlen einer kritischen Haltung, der Niedergang der Öffentlichkeit, die Krise der Universitäten und die Professionalisierung des Wis­ sens, der Mißerfolg des Gewissens und die zunehmende Gewalt­ tätigkeit und Vulgarität, die Zerstörung der Umwelt, die Unre­ gierbarkeit und die Legitimitätskrise, all dies105 konstituieren das Mosaik der allgemeinen Krise der Moderne heute. Diese Symptome verraten eine präzise Haltung: die des Nihilis­ mus. Diese Situation impliziert die Tendenz zur unaufhörlichen Selbstdestruktion (bzw. die Ideologie darüber). All dies erschien nicht auf einmal, noch zerstörte es die Errungenschaften der Moderne. Sie sind sogar nicht den Mißerfolgen sondern den Er­ folgen der Moderne zuzuschreiben. Es geht also um die perver­ sen, nicht erwarteten Folgen des Systems.106 Nach der Beschrei­ bung der Symptome beginnt aber das Problem der Interpreta­ tion, das Folgen für den Begriff der Ideologie hat. Dies, weil aus dem Bisherigen die Unfähigkeit der gesellschaftlichen Kohäsion mittels der herkömmlichen Ideologie zu entnehmen ist. Die «Ideen» (bzw. die Ideologeme, was nicht das gleiche ist) funktio­ nierten als politische Vermittlung mittels der Mythen und der Theatralisierung des öffentlichen Lebens, die sich gleicher­ maßen auf einer «Kulturpolitik» stützte, d. h. auf der Mobilisie­ rung der «Kultur» (der Sublimierungsformen) als eines Binde­ stoffs des Sozialen.107 Hieraus kann man das «Ende» der Ideologien folgern (wobei «Ideologie» ein konfuses Wort ist, das illegitimerweise mit «Kul­ tur» gleichgesetzt wird). Was kommt aber dann an ihrer Stelle? Von grundlegender Bedeutung ist heute die Wirkung der Bilder der Medien (die das geschrieben Wort ersetzen), so daß man von einer «Mutation» der Formen der Ideologie und der Kultur108 sprechen kann. Andererseits kehren die klassischen «harten» Ideologien (Nationalismus, Rassismus usw.) an die Oberfläche zurück, aber auch hier ist das keine reine «Wiederkehr», denn die Medien spielen eine besondere Rolle dabei. Zum großen Teil geht es um Simulationen von Ideologie und um Farce.

194 Die Grundfrage die sich hier stellt ist, ob die Ansicht bestimmter postmoderner Theoretiker gilt, daß nämlich die Beschädigungen des zeitgenössischen Nihilismus irreversibel109 sind, und daß die alten Werte des Humanismus, der Aufklärung und des Christen­ tums (bzw. Judentums) nicht mehr gelten. Das würde bedeuten, daß jeder Versuch zu ihrer Erneuerung von vornherein zum Mißerfolg verurteilt wäre und den Charakter einer mißlungenen Verkleidung hätte, die niemanden überzeugen könnte. Diese Hal­ tung unterstellt aber, daß diese «Werte» nicht nur früher existier­ ten, sondern, daß auch früher eine «Realität» existierte, die sich mittels ihrer dialektischen Beziehung mit den Werten (und den Ideen) definierte, wogegen sich heute sowohl die Werte als auch die Realität in ihrer Konsistenz aufgelöst hätten. Wir bestreiten hier nicht die Existenz gewisser neuer Symptome auf der Ebene der Beschreibung. Aber ihre o. e. postmoderne In­ terpretation ist problematisch und unbeweisbar; sie basiert eher auf «Stimmungen» einer bestimmter Intelligenz und sie muß als hyperhistorisch und gnostisch bezeichnet werden. Sie wird nämlich durch die Verabsolutierung der historischen Differen­ zen und die Haltung der radikalen Weltentfremdung gekenn­ zeichnet, und dies von Intellektuellen, die im Prinzip materiell nicht zu leiden haben. Dieses Phänomen ist aus der Religionsgeschichte bekannt. Schon im ersten Jahrhundert nach Christi Geburt verbreitete sich allmählich in den gebildeten Schichten des Römischen Reichs eine pessimistische Haltung gegenüber der Welt, die sich in den verschiedenen Gnosissystemen artikulierte, und die im Gegensatz zur Philosophie, zum Christentum und zum Juden­ tum stand. Seitdem erschien die Gnosis periodisch in verschie­ denen Krisenzeiten der Geschichte, z. B. während dei' Moderne, in der Romantik, im Anarchismus, im Nationalsozialismus usw.110 Die Auffassung, daß die «Realität» nicht existiert, hat eine ge­ naue wissenschaftstheoretische Bedeutung, die aber viele Mißin­ terpretationen begünstigt, daß die Realität für den Menschen nicht «objektiv» existiert, d. h. nicht unabhängig von seinem Denken und Handeln, mittels derer er sie mitkonstituiert, dies wird nur von wenigen Realisten, Materialisten und Empiristen bestritten.111 Jenseits dieser epistemologischen Grenze aber hat das Wort «Realität» keine eindeutige Bedeutung. Die Existenz der Bilder in den Medien und die Änderung der Be­ ziehung der Subjekte zum Wort und zu den Bildern, haben zur

195 Mutation der empirischen Realität in einem bestimmten Sinn beigetragen: Die alte Dialektik der Ereignisse und Werte funktio­ niert nicht, denn sie setzte die relativ stabile Existenz von Iden­ titäten und Vorbildern voraus. Traditionell dominierte also noch ein philosophischer Realismus, der auch zu der «Widerspiege­ lungstheorie» führte. Aber die Inflation und die Manipulation der Bilder zersetzt112 die klaren Identitäten sowohl der Ereig­ nisse als auch der Ideen und der Subjekte. Die Frage die sich stellt, lautet: Wie weit geht diese Auflösung? Das Phänomen der Simulation und des Funktionierens der Bil­ der als Simulacra ist bekannt: Die Bilder werden reine Signifi­ kanten, wenn das eine Bild das Subjekt an ein anderes Bild ver­ weist, und dies ins Unendliche (wie in der Psychose). Aber das Simulacrum ist ein Bild ohne Vorbild,113 Original, d. h. es bezieht sich nicht auf eine «letzte Realität», sondern im Gegenteil, es konstituiert sie, so daß die «Realität» selbst aus Bildern besteht (welche im allgemeinen als «nicht real» angesehen werden, wie die Ideen und die Werte). Die Faszination des Simulacrums hat heute eine größere Kraft als diejenige der Vernunft, insbeson­ dere bei der Jugend. Klassisches Beispiel dafür waren die Insze­ nierungen von Gewalttaten mit Skins seitens der Medien in Deutschland im Jahre 1992. Um diese verwickelte Problematik zu enträtseln, ist bei der Ver­ wendung der Begriffe Vorsicht geboten; die Realität von der hier die Rede ist (wie auch in den Texten der Postmoderne),114 ist nicht das Reale (im Sinne von Lacan). In der Regel werden in vielen Texten diese zwei Begriffe willkürlich synonym verwen­ det.115 Aber das, was für das Reale gilt, gilt nicht für die Realität. Das Reale wird eben mittels der Signifikanten und der ima­ ginären Bilder zur Realität, und dadurch verhüllt. Die Struktur der Realität als das, was durch die Phantasmen, die sie inszenie­ ren, konstituiert wird, nimmt in der Geschichte verschiedene Formen an, verändert sich aber als anthropologische Struktur nicht. Dies ist wichtig, weil sowohl die Form der Realität in der Moderne als auch ihre postmoderne Form sich immer schon in­ nerhalb der konstituierenden Grenzen der Phantasmen bewe­ gen. Diese Formen erscheinen dem Bewußtsein der Subjekte als unterschiedlich, für das Unbewußte sind sie jedoch äguivalent. Es ist auch bekannt, daß die Psychoanalyse selbst sowohl ein Produkt der Moderne als auch ein Element ihrer Infragestellung darstellt, aber sie kann nicht auf die Moderne bzw. die Postmo­ derne reduziert werden.116

196 Welche die geschichtliche Konjunktur auch immer sei, man kann nicht den Schluß daraus ziehen, daß es weder eine Realität (die den Menschen nie total verfügbar ist), noch Identitäten, noch Werte «existieren». All dies existiert in irgendwelcher Form immer, die Frage stellt sich nicht in disjunktiver Form, d. h. ob sie existieren oder nicht existieren. Das, was die Subjekte inter­ essiert, ist vor allem die Wahrheit,1,7 die immer eine Konstruk­ tion ist: halb real und halb symbolisch, und die Form einer Fik­ tion hat. Das, was heute Leere, Angst und Anomie erzeugt, ist die anarchische Infragestellung der Gewißheiten der traditionellen und der modernen Kultur. Hierbei hat die Entwicklung des zeit­ genössischen Kapitalismus eine große Rolle gespielt. Die weitere Frage, die sich stellt, ist, inwiefern diese «Auflösung» etwas ausschließlich «Negatives», oder «Positives», oder etwas Dazwischenliegendes bedeutet. Ohne Zweifel hat sie negative Folgen, die der unvermeidliche Preis für eine neue Kulturepoche ist, aber sie enthält dauernd die Gefahr von Restauration und Rückfällen in die Barbarei. Der Verlust von alten Identitätsstüt­ zen führt in die Panik und in die Anomie, während er gleichzei­ tig die Chance in sich verbirgt, daß die Menschen sich von den Lasten und den falschen Ansichten der Vergangenheit befreien können. Wo ist aber das Wahlkriterium? Die psychoanalytische Position führt weder in die unkritische Restauration der Werte noch in ihre unkritische Auflösung, selbst dann, wenn die Erscheinungen letzteres suggerieren. Dies aber bedeutet an sich «nichts», denn immer wird die Zivilisation durch Auflösung bedroht. Die Psychoanalyse funktioniert als so­ ziale Intervention, Störung, Überraschung jenseits der reinen Kritik. Aber die Psychoanalyse wird heute zum Gegenstand der Verleugnung seitens einer angeblich «unideologischen» Müllzi­ vilisation. Der psychoanalytische Diskurs akzeptiert andererseits die Existenz des Mythos und der Ideologie, aber sie führt nicht in die Passivität und die Verzweiflung, in die Abschaffung des Politischen und des Ethischen, wie das viele Postmoderne fest­ stellen und herbeiwünschen. Das Wesentliche, das die Psychoanalyse heute in die zeitgenössi­ sche Kultur einführt, ist nicht mehr primär die Bedeutung der Sexualität, sondern die des Todes für das Leben der Subjekte.“8 Der Begriff des Symbolischen selbst basiert auf der «Symbolisie­ rung» des Todes. Dies ist (in mythischer Form) etwas selbstver­ ständliches in den archaischen und traditionellen Gesellschaf­ ten, und nur die Moderne stützt sich auf der Verleugnung des To-

197 des (des Mangels, den er einführt und repräsentiert). Während in allen Kulturen die Anerkennung und die rituelle Beschäfti­ gung mit dem Tod ein wesentliches symbolisches Charakteristi­ kum darstellen, stützt sich die moderne Zivilisation, mittels des instrumentellen Diskurses, auf die ständigen Bemühung um seine Auslöschung.119 Dies hat unmittelbare Folgen sowohl für die heutige Verleugnung des Gesetzes, als auch für die zuneh­ mende Kriminalität und Gewalttätigkeit. Über den Tod kann man nicht rational sprechen, seine Auslöschung aber untermi­ niert die Vernunft selbst, denn der verdrängte Todestrieb (der die Unfähigkeit zu lieben bedeutet) kehrt um so heftiger und unkon­ trollierter an die Oberfläche als Anomie zurück. Im Gegensatz dazu schafft sein symbolisches Durcharbeiten als Sublimierung ein Werk, und das impliziert die Anerkennung des Mangels und der Abwesenheit gegen den Nihilismus der rohen und «symboli­ schen» Gewalt (nach Bourdieu). Um auf die Diskussion über die Bilder und die Simulacra in der Zeit der Postmoderne oder, besser, der Spätmodeme zurückzu­ kommen, muß noch festgestellt werden, daß der Machtzuwachs der Medien, außer der Unterwanderung der traditionellen Ideo­ logien (der Aufklärung und des Sozialismus), auch das Funktio­ nieren der Institutionen verändert hat.120 Dies führte zu einer Debatte bezüglich der Medienstrategien, von denen wir uns we­ der entledigen können noch wollen. Alle Strategien sind jedoch nicht gleichwertig. Einerseits sind oft viele Träger des univer­ sitären Wissens und Politiker zu Medienstars geworden, unab­ hängig von dem was sie sagen. Andererseits existieren immer «differenzierte» Medien, die partiell ein kritisches Denken arti­ kulieren, während umgekehrt die «populären» Medien Simu­ lacra des Denkens und des ideologischen Diskurses verbreiten. Die richtige Haltung ist hier weder die Verwerfung noch die Identifizierung mit den Medien (TV), sondern jene Haltung, die sie so betrachtet, «wie sie sind», als eine Industrie, die Bilder ohne Vorbilder produziert (und damit das narzißtische Idealich reproduziert). Die richtige Haltung konfrontiert die Simulacra der Medien, mit denen diese die «Realität bestimmen», mit «Contrasimulacra», ohne sich aber in einem sinnlosen manichäischen Krieg zu verlieren. Die Massenkultur erschöpft sich nicht in der leeren Simulation der Dinge (wie viele glauben), sondern sie zeigt auf das traumati­ sche Fragment des Realen hin: die Leichen der Menschen in den Kriegen, den Katastrophen und den Verbrechen usw. Hier aber

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lauert die Gefahr des Relativismus, d. h. der Anerkennung der vielen, kleinen, empirischen Differenzen (im Plural) und nicht der einen, symbolischen Differenz (die die Spaltung jedes Sub­ jekts impliziert). Die Kontingenz dieser Konstruktionen in den Medien kann in den Relativismus führen, in dem Maße in dem die Subjekte vergessen, daß das Reale existiert, und das ist kein Simulacrum: Der Tod als solcher ist etwas anderes als das Spek­ takel des Massakers in Bosnien, so wie es im TV der europäische Zuschauer präsentiert bekommt (als schnell zu verarbeitendes Ereignisbild, das bald anderen, «unterhaltsamen» Bildern weicht). Diese Dynamik der Bilder funktioniert ideologisch, in­ dem die Zuschauer sich an diese Bilder gewöhnen und sie auf fa­ talistische Weise hinnehmen oder sie selbst reproduzieren oder meinen, daß dies «alles» nur ein Spektakel der westlichen Agen­ turen sei oder daß alles vor dem Tod gleich sei. Es gibt also die ständige Gefahr, daß die Subjekte annehmen, daß es keine Rea­ lität gibt (Verwechslung zwischen dem Realen und dem Ima­ ginären). Die zeitgenössische Auflösung der Werte und Identitäten hat Folgen für das Verhältnis zwischen der «reinen» und der «ange­ wandten» Kunst.121 Die Unterminierung der Differenz nutzlos/nützlich mittels der grenzenlosen Vermarktung ist in der de­ korativen Ideologie der Kunst sichtbar. Die zeitgenössische Kunst konstruiert mit allen möglichen Gegenständen Werke, die wie Fetische funktionieren: Was hier zählt, ist der Geldpreis; und es gilt keine andere Regel für diese Kunst. Der Fetisch funktio­ niert wie die Verleugnung des Mangels und des Gesetzes. Er wird dann in seiner Funktion mit der Werbung gleichgesetzt, die mit allen Mittem versucht, einen angeblichen Gebrauchswert nutzloser Gegenstände zu suggerieren. Dies erreicht die Wer­ bung mittels des Verkaufs von Bildern des Idealichs (das nicht das Ichideal, der Blick des Anderen ist), d. h. des imaginären schönen Bildes des Ichs des Subjekts. Die zeitgenössische Infla­ tion der Bilder vereitelt einerseits jeden Versuch der Konstitu­ tion einer symbolischen Identität, andererseits aber bietet sie ständig neue und vergängliche imaginäre Identitäten mittels der Identifizierungen an, die sie den Subjekten suggeriert. Die nega­ tive Folge dieses Phänomens besteht nicht in einer angeblichen «satanischen» Manipulation der Individuen, sondern in der Auf­ lösung, «Zerstreuung» und Vermeidung der Einkehr und des Nachdenkens, das sie den Subjekten aufzwängt. Die zeitgenössi­ sche Kultur wird durch ein perverses Moment der weichen Ideo-

199 logie des unaufhörlichen Konsums und Genußzwangs gekenn­ zeichnet, im Unterschied zum neurotischen Moment, das die Ideologie und die puritanische Ethik des 19. Jahrhunderts (noch bis ins 20. Jahrhundert hinein) auszeichnete. Auschwitz und Gulag waren keine Zufälle des 20. Jahrhunderts122 und es besteht der Verdacht, daß sie wiederholt werden können (siehe den Krieg in Bosnien), solange ihre Botschaft nicht genü­ gend wahrgenommen wurde und unter den einschläfernden ideologischen Diskursen der Verleugnung des Gesetzes verhüllt werden. «Vor dem Gesetz» ist der Titel einer Parabel von Kaf­ ka,123 in der dem Subjekt, das «das Gesetz sucht», die Antwort erteilt wird, daß das Gesetz nicht in der «Wahrheit» gründet, sondern daß es notwendig ist. Diese Antwort kann zynisch inter­ pretiert werden, daß nämlich Herrschaft und Gewalt die Stütze des Gesetzes sind. Aber das ist eine gnostische, perverse Argu­ mentation, denn es geht nicht bloß nur um das «äußere Gesetz», sondern auch um das innere Gesetz, um das geschriebene Wort und das ungeschriebene Gesetz, in ihrer Verflechtung. Die Metaphysik besteht entweder in der Glorifizierung des Ge­ setzes oder in seiner Verwerfung, bzw. in der Polarisierung zwi­ schen dem äußeren und dem inneren Gesetz (zwischen dem po­ sitiven und dem natürlichen Recht). Sie kann also nicht gleich­ zeitig die Koexistenz der zwei Aspekte des Gesetzes denken. Aber die Differenz zwischen dem «Guten» und dem «Bösen» ist notwendig und erschöpft sich nicht in der Dogmatisierung des Guten, sondern in der Anerkennung dessen, daß in jedem Guten immer auch der Stachel des Bösen steckt, so daß niemand an­ nehmen kann, daß «alle Probleme gelöst werden», oder daß «das Glück existiert». Die Existenz des Bösen hebt jedoch die Pflicht zur Einhaltung seiner Differenz mit dem Guten nicht auf. Die Hybris der Postmoderne besteht nicht nur in der Verleug­ nung der Notwendigkeit des Gesetzes (die sie einfach postuliert), sondern in seiner Gleichsetzung mit seiner perversen Variante (willkürliche Gewalt, Korruption). Der Mythos des «Prozesses» von Kafka124 ist im Unterschied zum «Vor dem Gesetz» ein Bei­ spiel eines postmodernen Textes. Was im «Prozeß» durchscheint ist, wieweit das «Gesetz», d. h. der Apparat, der es repräsentiert und verwirklicht, «korrupt» ist, d. h. durch zügelloses Genießen durchtränkt ist (siehe den Paragraphenfetischismus und die to­ talitäre Verwaltung der gemeinschaftlichen Dinge durch die Bürokratie). Die umheimliche Atmosphäre des Werks entsteht aus der «Materialisierung der Leere», es ist die «Epiphanie» des

200 Realen, nicht bloß eines Fragments von ihm, sondern der de­ pressiven, massiven Präsenz des «Dings» innerhalb der Realität. Was bedeutet das? Die Ansicht, daß «Gott sich verborgen hat» ist richtig nur in «Vor dem Gesetz». Im «Prozeß» ist Gott «sehr nah».125 D. h. der Mensch hat sich selbst vergöttlicht. Das ist die Hybris der Moderne: Deswegen wird er «depressiv» und un­ heimlich. Die Metaphorik des Diskurses ist hier von Bedeutung: Der Mensch, indem er sich selbst vergöttlicht hat, erreichte den äußersten Punkt der Abschaffung des Gesetzes. Psychoanaly­ tisch bedeutet dies die Aufhebung des grundlegenden Verbots des Inzeßts, d. h. des totalen/totalitären Genießens des Höchsten Gutes («Alles ist erlaubt»). Die psychoanalytische Erfahrung und Theorie betonen, daß das, was «zählt» für das Subjekt, das «rechte Maß» des Abstands des Objekts des Begehrens vom Subjekt ist. Das Problem der Post­ moderne ist nicht der «große Abstand» (klassische Moderne), sondern der «sehr kleine Abstand» vom Objekt: die permissive, hedonistische Gesellschaft, die Verflüssigung aller Werte, wie auch der latente Totalitarismus der zeitgenössischen Massende­ mokratien.126 Es geht um den Totalitarismus, der in jeder Demo­ kratie latent vorhanden ist, mittels des Konformismus und des Populismus, der sich in Führern, Bewegungen, Parteien verkör­ pert, die keine symbolische Väter sind, sondern die Reproduk­ tion des grausamen und obszönen Vaters der Horde. So wird die Differenz abgeschafft; die Vielen suchen das erstickende Ge­ nießen in der Masse, mittels der Ausschließung (und der Ausrot­ tung) des anderen, des Fremden, des Dissidenten, desjenigen, der nicht bloß das «Recht auf Differenz» verlangt (das als empi­ rische Differenz im Konformismus intergrierbar ist), sondern die Differenz selbst,ni als das Nichtidentische, das in jedem ist. Weil die Zweideutigkeit der Moderne und der Postmoderne tiefe kulturelle und psychologische Wurzeln hat, tendieren verschie­ dene Gruppen von Menschen dazu, mit dem Konservatismus zu sympatisieren. Der psychoanalytische Diskurs, zusammen mit einer kritischen Theorie des Sozialen, verpflichtet uns, bevor wir den «Unsinn der Massen» und ihre Kultur verwerfen, aus ihren Ängsten und hysterischen Symptomen «etwas anderes» zu hören, das nicht auf die «Autorität» eines «Seins» oder einer «Substanz» verweist. Dieses «etwas anderes» ist das Gesetz und das Begehren, jenseits von Neurose und Perversion. Die psycho­ analytische Position besteht im Anspruch auf Distanzierung von den Ideologien, ohne ihre frontale Ablehnung zu bezwecken. So

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etwas würde die Illusion nähren, daß etwas «authentisches» «existiert», das zum «Ziel» werden könnte.128 So verhilft die Psy­ choanalyse dazu, in jedem konkreten Fall den Mangel zu benen­ nen, um den herum die ideologischen Diskurse gebildet werden.

IV. Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus

IV.1. DER RASSEBEGRIFF

Die Begriffe «Rasse» und «Rassismus» hatten und haben im 20. Jahrhundert unterschiedliche Bedeutungen.1 Um sie korrekt zu verstehen, muß man die «Rasse» von den anderen Typen von Gruppenbildungen unterscheiden, und den Rassismus von ande­ ren Typen des Ausschließens des anderen differenzieren. Das Wort «Rasse» kommt2 aus dem spanischen «Raza» und dem por­ tugiesischen «Ra?a» (13. Jahrhundert): In beiden Sprachen wurde des Wort aus dem Arabischen gebildet, in dem «Ras» den Kopf bedeutet. In den arabischen Nomadenstämmen verleiht je­ des Mitglied dem Wiseen über seine «reine» Stammeszugehörig ­ keit große Bedeutung, die es verpflichtet ist auswendig zu ken­ nen, d. h. sie in seinem «Kopf» zu haben. Dieses traditionelle, mündlich überlieferte Wissen bestimmt den Platz, die Rechte, die Privilegien und die Pflichten von jedem innerhalb des Stam­ mes (der das breite Netz der Verwandtschaftsbeziehungen jedes Individuums bildet), der einen (geistlichen und einen militäri­ schen) Führer (das «Haupt») hat und sich von allen anderen Stämmen unterscheidet (die ein anderes «Haupt» haben). So hat im Stamm jeder eine kollektive Identität, die dem Niveau der noch undifferenzierten individuellen Identität von jedem Mit­ glied entspricht. Man muß von Anfang an die soziale von der biologischen Bedeu­ tung des Wortes unterscheiden. In der Biologie der Tierarten ist die Rasse die Variante einer Gattung und wird definiert durch eine bestimmte Anzahl von gemeinsamen charakteristischen Ge­ nen, die sich von Generation zu Generation erblich reproduzie­ ren, und jede Mischung der Gene kann zu einer neuen Rasse führen. Hier gelten zwei Regeln: Die Kreuzung der Varianten einer Gattung bereichert das «Genkapital» mit neuen Eigen­ schaften, während die reine Reproduktion der gleichen Merk-

203 male nur dann von Bedeutung ist, wenn die Menschen gewisse Merkmale einer Gattung aus Nützlichkeitserwägungen bewußt einseitig heranzüchten wollen. Die menschliche Gattung «homo sapiens» bildet eine Gattung, welche nur einmal, in der Gegend der großen Seen Ostafrikas (Kenya, Uganda, Tanganika), entstanden ist. Heute ist die Hypo­ these der «Monogenese»3 die einzig allgemein akzeptierte Hypo­ these, während in der Vergangenheit auch die «Polygenese», d. h. der vielfältige Ursprung der Menschheit, angenommen wurde. Alle äußeren Differenzierungen der Menschen verdanken sich ihrer Anpassung an verschiedene klimatische Bedingungen, als auch ihren Fortbewegungen in verschiedene geographische Richtungen. Der Klassifizierungsversuch aller menschlichen «Rassen» wurde immer problematischer, indem die Kriterienzahl sich erhöhte und verfeinerte. Im 19. Jahrhundert begann die Klassifizierung mit der Hautfarbe und erfaßte in der Folge verschiedene mor­ phologische Merkmale (Form der Nase, des Gesichts, der Haare, des Schädels usw.), während im 20. Jahrhundert biochemische Elemente hinzukamen, wie die Blutgruppen, die Geschmacksbe­ sonderheiten usw. Wenn man mindestens 20 von diesen Varia­ blen berücksichtigen würde, dann würde man auf eine Million Rassen kommen! Ihre Anzahl schwankt in «vernünftigen» Gren­ zen zwischen 6 und 40, je nach Autor. Die Hautfarbe4 gibt insbe­ sondere kein klares Kriterium her, denn es gibt viele Varianten von weißer, gelber oder schwarzer Hautfarbe. Es gibt im wesent­ lichen 3 große asiatische, 4 europäische und mindestens 10 schwarzen Rassen, während die Juden, wie die Europäer, nicht aus einer Rasse, sondern mindestens aus 4 Rassen gebildet sind. Das Problem entstand historisch aus der Annahme einer «Kau­ salität» zwischen körperlichen und geistigen oder moralischen Eigenschaften, als auch aus der Annahme einer «Hierarchie» zwischen den Rassen. Gewisse empirische Forscher interpretie­ ren noch heute auf naive Weise die statistischen Tebellen,5 in­ dem sie fragwürdige Kategorien verwenden. In Wirklichkeit gibt es keine höheren und niedrigeren Rassen, aber in jeder Menschengruppe gibt es Individuen mit mehr oder weniger entwickelten Fähigkeiten in die eine oder andere Rich­ tung, und die jeweiligen Kulturbedingungen (symbolischer, hi­ storischer Art) fördern oder bremsen selektiv diese Fähigkeiten. Hier muß die Haltung des Rassisten erwähnt werden: Er igno­ riert willentlich die bloß beschreibende Definition der Rasse,

204 weil er an einen Rassebegriff glaubt, der ausschließlich aus so­ ziokulturellen Faktoren, wie «die Neger», «die Juden»,6 be­ stimmt wird. Der moderne Rassist glaubt auch, daß die intellek­ tuellen und moralischen Eigenschaften einer bestimmten Men­ schengruppe homogen sind für alle ihre Mitglieder, und daß diese Eigenschaften die direkte Folge von erblichen physischen und biologischen Merkmalen sind. Hier ist schon die «Rasse» ein mythischer Begriff mit soziologischer Bedeutung: Ihre Ele­ mente sind der Glaube an eine gemeinsame Herkunft ihrer Mit­ glieder und die Feindschaft gegen eine fremde, «andere» «Rasse» (in der Folge erwähnen wir den historischen Rassebegriff und lassen die Anführungszeichen weg: Der undifferenzierte Ge­ brauch des Wortes «Rasse» ist nicht unschuldig, denn er setzt voraus, daß sie «existiert», aber hierin besteht gerade das Pro­ blem, weil die «Rasse» im Sinne des Rassisten nicht existiert). Der Rassist hat von vornherein eine Meinung (ein Vor-urteil) dar­ über, wer der «Feind» und wer der «Freund» ist, so daß es schwer ist, ihm mit Argumenten zu entgegnen, denn es geht um den Glauben und nicht um das Wissen. In Übereinstimmung mit der empirischen Forschung ist jedoch bekannt7, daß: 1) weniger als 1% der Gene biologisch die Rasse bestimmen, und 2) die geistigen/kulturellen Leistungen der Individuen nicht erb­ lich, sondern von kulturellen Faktoren abhängig sind. In allen diesen Fällen muß man vorsichtig und genau mit dem Begriff der «Natur» und der «Kultur» umgehen. Denn sie haben unter­ schiedliche Bedeutungen und eine Geschichte, so daß in einer Diskussion sehr leicht, selbst durch ihren «gutwilligen» (aber unvorsichtigen) Gebrauch, eine Konfusion erzeugt werden kann. Man kann nicht bestreiten, daß es zwischen den verschiedenen Kulturen Unterschiede gibt: Nicht nur identifizieren sich die Werte einer Kultur nicht mit denen einer anderen, sondern ent­ faltet eine Kultur immer einseitig gewisse («gute» oder «schlechte») Fähigkeiten der Individuen und hemmt andere. Man ist verpflichtet alle diese Unterschiede zu akzeptieren, ohne eine absolute, ontologische Hierarchie der Kulturen anzuneh­ men; aber die Einheit des menschlichen Geistes ist nie manifest und direkt gegeben, sondern sie verlangt eine geistige Arbeit, um als indirekte und latente entdeckt zu werden. Die Einheit exi­ stiert nur in den Differenzen, und sowohl die Einheit als auch die Differenzen sind symbolischer oder historischer und nicht realer, natürlicher Art.

205 Der Rassist nutzt immer die Schwächen und Unklarheiten des anderen aus: die verbreitete «humanistische» Vorstellung, die einseitig die Ähnlichkeiten zwischen den Kulturen betont, und die Ansicht, daß die Gleichheit/Einheit der Menschen «physi­ schen» Ursprungs sei. Der Rassist betont immer die kulturellen Unterschiede, die er aber in natürliche (unveränderliche) und hierarchische (ontologische) Beziehungen entfremdet. So be­ stimmt der Rassist die Rasse (historisch, soziologisch) und nicht umgekehrt:8 das Auftauchen des Begriffs Rasse koexistiert mit dem Rassismus. Die korrekte Auseinandersetzung mit dem Ras­ sisten impliziert die Anerkennung der Existenz der Differenzen, so daß man in der Lage sein können wird, ihn mit seinen eige­ nen Argumenten zu schlagen. Was dabei der Rassist nicht wissen will, ist der Begriff der Differenz (im Singular) als der symboli­ schen Differenz, welche alle Subjekte zu allen Zeiten und Orten spaltet und aus ihnen gespaltene Subjekte macht, die den Man­ gel erfahren, auch wenn sie ihn nicht wahrhaben wollen. Denn die Differenzen (im Plural), von denen die Rassisten dauernd re­ den, sind imaginäre, verdinglichte Differenzen, die die Universa­ lität und die Individualität der Subjekte zugunsten der Partikularismen verstellen. Es gibt viele Typen9 der Gruppenbildung in der Geschichte und jedem Typ entspricht eine andere Form des Vorurteils; die «Rasse» ist eine davon, zeitlich die letzte in der Reihe und die schlimmste: In ihr sind Elemente enthalten, die auch in anderen Formen auftauchen. Die Forderung z. B. nach «Reinheit» der Rasse ist etwas anderes als der rituelle Anspruch auf Reinheit der Gläubigen, dem wir in jeder Religion begegnen. Man kann folgende Typen der Gruppenbildung aufzählen, die sich auch überlappen können: Stamm I, (gemeinsame Verwandtschaft und Sprache; primitive Gesellschaft). Stamm II oder Kulturgemeinschaft oder Ethnie (gemeinsame Sprache, gemeinsamer Boden, gemeinsame «Kultur», meh­ rere Stämme I); Kaste (Reinheit religiöser Herkunft, Stände); Religiöse Gemeinschaft (besonders im Monotheismus); Sprachgemeinschaft (überlappt sich mit den anderen); Klasse (wirtschaftlicher Herkunft, moderne Gesellschaft); Nation (politische Gemeinschaft, gemeins. Sprache und Kultur, Moderne; imaginäre Gemeinschaft; realer sozialer Unter­ bau);

206 Rasse (soziologischer Herkunft, ideologisch definiert, Moderne, kein realer Unterbau).

IV.2. DAS RASSISTISCHE VORURTEIL UND DIE RASSISTISCHEN REAKTIONEN

Die rassistische Haltung wird charakterisiert durch die absolute Verwerfung des anderen (gleichgültig wie dieser sich verhält) und das Vorurteil gegen ihn. Sowohl die Feindschaft als auch das Vorurteil bilden ein universelles Merkmal aller Menschen, in dem Maße in dem jeder Feindschaft gegen den anderen fühlen und Vorurteile gegen ihn bilden kann. Worin besteht dann der Unterschied zum Rassisten? Die Bildung eines Urteils, einer Meinung seitens des Subjekts über jemanden oder etwas findet ihren Ausgangspunkt in einen Vorurteil, d. h. gewissen Vorstel­ lungen, die das Subjekt in sich schon trägt. Das Kleinkind bildet sich eine «Meinung» über etwas, indem es verschiedene hetero­ gene Elemente vermischt: gewisse Beobachtungen und Erfah­ rungen, und vor allem das, was es von den Eltern und der Umge­ bung hört und sieht, aber auch bestimmte Phantasmen, Ängste, Halluzinationen. In der Folge, indem es mit der Realität kon­ frontiert wird, fängt es an, diese Elemente voneinander zu unter­ scheiden: Jedes Vorurteil kann zu einer Hypothese werden, die falsifiziert oder modifiziert werden kann. Rassist ist zunächst derjenige, der nie akzeptiert, seine Vorur­ teile einer kritischen Diskussion zu unterziehen, wie es die ande­ ren Menschen tun. Aber das Problem ist nicht einfach, denn es geht nicht nur um ein kognitives Problem: Ein mißtrauischer Mensch (schlechten Glaubens) wird durch kein Argument zu überzeugen sein. Der Rassist ist nicht bloß mißtrauisch gegen­ über dem einen oder anderen Argument, sondern er verwirft den Gebrauch der Vernunft selbst. Deswegen betrifft die Analyse und die Lokalisierung des rassistischen Vorurteils nicht (nur) seinen Inhalt (Information), sondern hauptsächlich seine Form: die rhetorische und logische Art, in der er die Spreche verwendet. Denn er konstruiert einen kompakten, undurchläßigen Diskurs, der ihn vor der Konfrontation mit der Realität und dem Mangel «schützt», denn er spürt Angst davor. Paradoxerweise ist nichts unwahrscheinlicher als das rassisti­ sche Vorurteil. Man kann eine Topik des rassistischen Vorurteils

207 konstruieren, indem man mit relativ harmlosen Formen anfängt und zu extremen Formen gelangt. Beispiel:10 1) «realistische» oder hypothetische Sätze: «Die Juden sind ge­ wöhnlich Händler». 2) Ausdruck der Feindschaft gegen den anderen: «Die Juden töteten Jesus». 3) Absurde und phantastische Sätze: «Die Juden massakrieren Christenkinder». Die Sätze 1) und 2) bilden falsche Verallgemeinerungen, der Satz 3) ist eine Form des Deliriums, ein Vorwand, um die Judenver­ folgung zu legitimieren. Nur die Sätze 2) und 3) sind rassistisch. Der Rassismus ist keine Haltung, die aus dem Unterschied mit den anderen automatisch resultiert; sie bildet umgekehrt einen «Grund». Dieser Grund besteht aus zwei Teilen: einerseits aus imaginären Differenzen (Ereignissen) mit den anderen, die sich andererseits mit imaginären oder realen Unterschieden (oder Ereignissen) verbinden. So bilden die realen Differenzen das Alibi für die Plausibilität der imaginären Differenzen. Der Rassismus impliziert eine universelle Tendenz der Men­ schen zum Ethnozentrismus (Satz I), der nichts anderes ist als der kollektiye Narzißmus jeder Gruppe, die ihre (imaginäre) Iden­ tität mittels der Unterschätzung bzw. Erniedrigung des anderen bestätigt. Dieses primitive Mittel zur Schaffung einer kollektiven Identität ist unter «normalen Bedingungen» «harmlos» und «in­ fantil». Es kann aber immer zur Vorstufe des Rassismus werden und es ist auf jeden Fall nie ein Zeichen von differenzierter Indi­ vidualität bzw. Zivilisation. Die meisten primitiven Stämme sind ethnozentrisch und xenophob; indem sie wenig zahlreich sind und isoliert voneinander leben, haben sie und wollen sie keinen Kontakt mit anderen Stämmen haben, die sie in der Regel unter­ schätzen und vermeiden.11 So halten sie einen Abstand zu ihnen und leben in einem Zustand latenten Krieges und «friedlicher Koexistenz». Aber sie verfolgen nie den anderen (fremden oder Feind) jenseits ihres «Aktionsfeldes», sie wollen einfach die Un­ terschiede zu ihm nicht anerkennen. Nicht jeder Ethnozentrist wird zum Rassisten: siehe die Witze, die jedes Volk über seine Nachbarn oder jede Region über die andere erzählt; die Sitten und Gewohnheiten des anderen er­ scheinen komisch. Auf jeden Fall aber sollte man den Gebrauch des Wortes «Rassist» nicht ungebührlich verallgemeinern und durch inflationären Gebrauch entwerten. Jede Unterdrückung des anderen ist nicht rassistisch, kann es aber werden. Die Diffe-

208 renz mit dem Rassismus ist wesentlich: Der Rassist fügt zu den vorhandenen realen/symbolischen Differenzen, imaginäre (pseudo-biologische) Differenzen hinzu, als auch den Wunsch, sie aus der Welt zu schaffen. G.W. Allport12 konstruierte in seinem Buch «The nature of prejudice» eine Skala der «negativen Handlungen», wobei die schwächere, die jeweilige Vorstufe der nächststärkeren HandJung darstellt, aber viele Individuen hören an einem Punkt auf, ohne weiter zu gehen. Die fünf Fälle sind: 1) Verbale Aggression gegen den anderen; 2) Vermeidung des anderen: (Selbst-)beschränkung des ande­ ren (besonderer Bezirk, Ghetto); 3) Diskriminierende Maßnahmen: Entzug der Rechte des anderen (traditioneller, religiöser Antijudaismus - Ghetto bis 1800); 4) Direkter körperlicher Angriff - Pogrome, Lynchjustiz; 5) Vertreibung, Genozid, Shoah.

Phänomene von Ethnozentrisnus und Xenophobie sind aus der ganzen Geschichte bekannt. Die europäische Geschichte, die Ge­ schichte des Mittleren Ostens und des Mittelmeers (wie auch an­ derswo) ist voll mit solchen Beispielen.13 Die nationalen, kultu­ rellen und religiösen Unterschiede spielen dabei eine große Rolle. Zwei Ereignisse spielten in der Geschichte14 eine große Rolle: die Anerkennung des Christentums als der offiziellen Reli­ gion des (römischen) Staates und die Entdeckung Amerikas. Die Durchsetzung des Christentums hatte die Verfolgung und die Einschränkung der Juden zur Folge. Das Christentum konnte (bis heute) nicht «in die liefe» gehen, sondern ersetzte großteils die alte, paganistische Religion, und identifizierte sich auf ima­ ginäre Weise mit den kulturellen und politischen Herrschaftsver­ hältnissen, die es vorfand und in der Folge legitimierte. Psycho­ logisch aber liegt in der Ablehnung des Judentums durch das Christentum der Konkurrenzneid des jüngeren gegen den älte­ ren Sohn Gottes, wobei die ältere Religion von Moses, gleichzei­ tig die Religion des «Vaters» ist; es bedurfte gewaltiger Anstren­ gung seit der Reformation, dem Humanismus und der Auf­ klärung, um dieser Haltung entgegenzuarbeiten. Aber die Unterdrückung der Juden ging durch mehrere Phasen; bis zum 19. Jahrhundert war der Hauptgrund religiöser Natur; deswegen ist der korrekte Ausdruck dafür «Antijudaismus» und nicht «An­ tisemitismus».

209 Die Entdeckung Amerikas im Jahre 1492 brachte die Europäer mit bis dahin unbekannten Stämmen und Kulturen in Berührung, und zum ersten Mal stellten sie sich die Frage, ob der andere ein Mensch sei oder nicht. Dies gab Anlaß zu theolo­ gischen Debatten in Spanien; die katholische Kirche unter­ stützte aber die menschliche Natur der Indianer (päpstliche En­ zyklika von 1537)15 und ihre Naturrechte. Aber die Ausbeutung Amerikas hatte noch eine.Folge: die Entfaltung des Sklavenhan­ dels mit den Schwarzen aus Afrika, die notwendig für die schwere Plantagenarbeit waren. So wurde auch die Frage nach der menschlichen Natur der Schwarzen gestellt. Dank der Kritik der Aufklärer und der Liberalen setzte sich die Abschaffung der Sklaverei im 19. Jahrhundert durch, insbeson­ dere nach dem US-Bürgerkrieg (1861-65). Aber der Sklavenhan­ del mit Schwarzen (der in Afrika seit Jahrhunderten von arabi­ schen Händlern betrieben wurde und noch wird) war traditio­ nellerweise mit der Institution der Sklaverei allgemein verbunden, als auch mit der Versklavung der primitiven Stämme durch die «entwickelteren» (differenzierteren) Kulturen auf der ganzen Erde. Die alten Griechen (wie auch die Chinesen) hatten eine starke ethnozentrische Haltung, aber in den Kriegen gegen­ einander, versklavte die eine Polis die andere; die Schwarzen wurden jedoch nicht als «Schwarze», sondern als «Sklaven», d. h. als nicht freie Bürger verworfen. Das Erscheinen des Rassismus im modernen Sinne stellt etwas relativ Neues in der Geschichte dar und wurde von einem Para­ dox begleitet. Die ersten Rassentheorien16 erschienen im 18. Jahr­ hundert, dem Jahrhundert der Aufklärung. So erscheint diese Zeit zwischen zwei geistigen Tendenzen gespalten. Einerseits gab es die Kritik gegen die dominierenden (geistigen und politi­ schen) Herrschaftsverhältnisse und an den Glaubensdogmen im Namen der Vernunft und der Gedankenfreiheit. Gleichzeitig da­ mit aber begann auch die Klassifizierung der Menschheit gemäß den empirisch-rationalistischen Methoden der Naturwissen­ schaften. Die zweite Tendenz war Folge der instrumentellen Ra­ tionalisierung des Staatsapparates und des wirtschaftlichen Un­ ternehmens und verselbständigte sich schnell in Bezug auf die Ansprüche der kritischen Vernunft, die die Instrumentalisierung der menschlichen Verhältnisse ablehnt. Diese zwei Diskurse koexistierten (und koexistieren) oft im sel­ ben Subjekt, und das gibt denjenigen, die die kritische Vernunft angreifen wollen den Vorwand, die Aufklärung auf undifferen-

210 zierte Weise mit der instrumentellen Vernunft zu identifizieren (und eine irrationalistische und obskurantistische oder eine an­ archisch-romantische Lösung vorzuschlagen). Voltaire,17 der zu­ sammen mit Rousseau der Hauptvertreter der Aufklärung war, schaffte es gleichzeitig gegen die Sklaverei und gegen die Schwarzen, gegen die Unterdrückung der Nicht-Christen und gegen die Juden zu sein (insofern diese «Traditionalisten» blie­ ben). Dieser Widerspruch erklärt sich aus der dogmatisghen Form, die die Aufklärung damals angenonnen hatte: Um den Dogmatismus der Kirche zu bekämpfen, nahm sie selber eine dogmatische Form an. Die Aufklärung war nicht in der Lage die symbolischen Ele­ mente einer Tradition von den Elementen der Macht, die mit den ersten koexistieren zu unterscheiden. Daraus resultierte die Identifizierung der Religion mit der Ideologie und der Magie (dem Aberglauben). Die radikalen Aufklärer wie auch die radika­ len Sozialisten später, regredierten zu dogmatischen Positionen einer «säkularisierten» Religion (Weltanschauung), die ebenfalls problematisch wurde wie die traditionellen Religionen, denn sie verlangte die universelle Einheit und Homogenität der Men­ schen. Die Differenzierung die im 18. und 19. Jahrhundert fehlte, wurde erst nach 1945 realisiert. Nach den schrecklichen Erfah­ rungen des Faschismus, des Nationalsozialismus, des Stalinis­ mus und des Kolonialismus begannen die denkenden Menschen die traditionelle Aufklärung und den Sozialismus in Frage zu stellen. Die arrogante Selbstsicherheit der Aufklärer und Soziali­ sten, die aus der Überzeugung resultierte, daß sie «das Licht und den Fortschritt» mittels der Abschaffung der Traditionen und der Entwicklung der Technik verbreiteten, nivellierte alle Völker und Kulturen und verleugnete die symbolische Differenz, ohne die es kein Gesetz und keine Kultur gibt. Die heutigen Aufklärer betonen den Respekt des anderen und der Differenz zu ihm, ohne aber relativistisch zu werden: Die Brutalität des traditionel­ len islamischen Rechts wird hier verworfen. In der Vergangenheit gab es Aufklärer, die keine Ausnahmen von den Regeln zuliessen, die sie allen im Namen der «Natur» auf­ zwingen wollten (im Namen des Fortschritts). Damit aber ver­ mischten sie die Vernunft allgemein mit der instrumentellen Vernunft. Dieser naive Rassismus wurde später durch den ei­ gentlichen Rassismus und Antisemitismus, so wie wir sie heute verstehen, ersetzt. Diese Unterscheidung ist wichtig; die zwei

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Vemunfttypen koexistieren immer. Ihr gemeinsamer Nenner ist der instrumentelle Diskurs, aber es gibt einen Unterschied. In der Mitte des 19. Jahrhunderts, parallel mit dem Kampf für die Abschaffung der Sklaverei und der Emanzipation der Juden in Europa, den USA und den Kolonien, und als Folge dieser Kämpfe, entsteht eine ideologische und soziale Reaktion gegen diese Kämpfe. Damit trennten sich die unterschiedlichen Dis­ kurse schärfer voneinander. Der Sieg der Prinzipien der Französischen Revolution von 1789 führte die Nostalgiker des Alten Regimes dazu, für die alten Hierarchien und Ungleichheiten zu schwärmen. Die sozialen Klassen, die das verlangten, waren ein Teil des Adelsstandes, des Priesterstandes, aber auch gewisse kleinbürgerliche Volks­ schichten, sowie Intellektuelle, die Angst vor der freien Konkur­ renz mit den Juden, den Fremden oder, in den USA, mit den Schwarzen hatten. Diese Tendenz war besonders stark im zari­ stischen Rußland, einem Land ohne eine Tradition der Auf­ klärung und der Freiheit und ohne entwickelte Produktivkräfte. Die Entwicklung der liberalen kapitalistischen Wirtschaft führte zu einer Spaltung und zu zweideutigen Ergebnissen. Alle Aufklä­ rer und nicht-utopische Sozialisten wie Marx, betonten die Not­ wendigkeit der Kämpfe im Namen des Fortschritts, d. h. mittels der Anerkennung und Akzeptierung sowohl des liberalen Kapita­ lismus als auch des demokratischen Rechtsstaates. Die Zukunft gehörte für sie der Vervollständigung und Erneuerung der Ratio­ nalisierung der Wirtschaft und der materiellen Erfüllung der po­ litischen Revolution. In Gegensatz zu diesem fortschrittlichen Ansatz tauchte eine neuartige revolutionäre Tendenz mit rückschrittlichem Vorzei­ chen auf, mit dem Ziel, mittels der Infragestellung der Errun­ genschaften der Französischen Revolution, die Probleme der modernen Gesellschaft zu lösen. Diese Tendenz sehnte sich nach der mittelalterlichen und absolutistischen Vergangenheit und mobilisierte alle Unzufriedenen (nicht nur eine bestimmte Klasse wie das Proletariat), aber sie betonte die Gefühle der Ent­ fremdung, des Ausschlußes, des Neides und präsentierte als die Quelle des Übels die Elemente der Differenz und der Beweglich­ keit der Moderne: die Juden, die Schwarzen, die Fremden, die kritischen Intellektuellen, die Minderheiten usw., wobei sie be­ sonders ihre Schwächen hervorstrich und alle ihre Eigenschaf­ ten karikierend hervorhob. Der europäische Nationalismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besaß starke Elemente des

212 Fanatismus und der Fremdenfeindlichkeit. Bestimmte bürgerli­ che und Kleinbürgerschichten konnten die Konkurrenz der Ju­ den nicht ertragen. Sie identifizierten auf imaginäre Weise a) die Existenz des liberalen Kapitalismus, b) des demokratischen Rechtsstaates, c) die Krise der traditionellen Werte, d) die Exi­ stenz der Arbeiterbewegung mit der e) freien Entwicklung der Fähigkeiten und Tätigkeiten der Juden (die vor der Judeneman ­ zipation durch die französische Nationalversammlung im Jahre 1791 nicht erlaubt war), und gleichzeitig betrachteten sie letz­ tere als die «Ursache» der anderen «Übel». So war eine Lösung möglich: An «allem» waren die Juden schuld, ihre Unter­ drückung würde alle Probleme lösen, so sollte eine Einheit «jen­ seits der Klassen» gegen sie geschmiedet werden. Diese historisch/soziologischen Betrachtungen sind notwendig um das Problem allseitig zu verstehen. Heute existieren ähnliche Bespiele in den Ländern der sog. Dritten Welt, bzw. den ehemali­ gen sozialistischen Ländern. In den Ländern Südostasiens re­ präsentieren die Chinesen eine dynamische, unternehmerische Minderheit, wie die Inder in Südostafrika oder die Griechen und Juden in Ägypten bis 1954 oder in der Ukraine bis 1918; dies genügte, damit diese Minderheiten periodisch zum Verfolgungs­ objekt seitens der Landbevölkerung wurden. Aber diese histori­ schen Beobachtungen erklären nur die Existenzbedingungen des Rassismus, nicht die Gründe für seinen Erfolg. Damit der Ras­ sismus existiert, müssen zwei Bedingungen erfüllt werden; jen­ seits der objektiven sozialen Schwierigkeiten, wird auch die sub­ jektive, psychische Disposition zur Bildung eines Feindbildes mit einer konkreten, aber mythischen Gestalt, verlangt. Im Fall der Juden ist es eindeutig: Egal was sie taten, seien sie Kapitali­ sten, oder Revolutionäre, sie waren immer die «Schuldigen». Daß ein Jude, wie jeder Mensch, «gut» oder «böse» sein kann, spielte hier keine Rolle; der Jude war immer «böse» als Jude, der «gute» Jude ist sogar schlimmer und suspekt, denn er ist ein «böser» Jude, der sich versteckt. Es ist für die archaische Logik des Rassisten bezeichnend, daß er das Widerspruchsprinzip nicht kennt. Der Jude ist eine «böse Substanz» und ein «böser Namen», wie in der Magie: Hier funktioniert die Vernunft nicht, die die Phantasmen mit der Realität und den einen mit dem an­ deren Teil der Realität vergleicht, ohne die Phänomene zu hypostasieren. Die psychische Situation der Juden wurde seit dem Ende des 19. Jahrhunderts tragisch und prekär:18 seit 1870-80 tauchte der

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klassische Antisemitismus perallel mit dem aggressiven, impe­ rialistischen Nationalismus aller europäischen Staaten auf. Die Juden durften im Mittelalter keinen einen anderen Beruf außer dem des Geldleihers ausüben; die Folge war, daß die große Mehrheit der Juden sehr arm war (Trödelläden), während eine sehr kleine Minderheit sehr reich wurde. Wie bei anderen Völ­ kern (Polen, Griechen) erhielt die religiöse Führung die Moral der unterdrückten Gemeinschaft und die kollektive Identität des Volkes aufrecht. Die Judenemanzipation, als Folge der Französi­ schen Revolution, gab ihnen zum ersten Mal die Möglichkeit einer echten Bildung gemäß den Vorbildern der Aufklärung; ih­ nen, dem Volk «des Buches», das immer schon einen großen Re­ spekt vor der Schrift besaß. Außerden erhielten sie das Recht auf Ausübung aller Berufe. In diesem Fall aber wollten viele «mo­ derne» Juden keine Beziehung mehr zu der traditionellen (auto­ ritären, patriarchalischen) Gemeinschaft haben und sie schäm­ ten sich wegen ihrer alten Sitten und Bräuche. Sie sahen sie durch die Brille der Aufklärung und sie glaubten, daß die Ver­ leugnung der Tradition ausreichen würde, um sie für die aufge­ klärte öffentliche Meinung salonfähig zu machen. Hierin lag ein tragisches Mißverständnis, denn es wurden nicht nur die Grenzen der Aufklärung klar, sondern auch die Existenz der Gegenaufklärung, das neue Gesicht der Reaktion und des Ir­ rationalismus. Die Gegenaufklärer hatten die Glorifizierung und Idealisierung ihrer Nation, die sie «Rasse» nannten, zur zentra­ len Idee erhoben. Sie betrachteten als negativen Abstoßungspol das störende Element, das «kosmopolitisch» und «internationa­ listisch» war: die Juden. So wurden die Juden zum Schluß zu einer Art «negativer» Gegenrasse, deren Unterdrückung die Vor­ aussetzung für die Erhöhung der eigenen «Rasse», d. h. der ho­ mogenisierten Nation war. Hier sieht man, daß der Antisemitis­ mus nicht mehr ein bloßes Phänomen war, das die sozialen Kri­ sen begleitete, sondern für viele wurde er das notwendige konstitutive Moment ihrer imaginären Identität, mittels derer ihre Nation und ihr Ich sich konstituieren müßte. Im 19. Jahrhundert kam zu den traditionellen antijüdischen Ele­ menten etwas anderes hinzu: die Massen. Dies äußerte sich im starken populistischen Charakter, den der Antisemitismus nun hatte. Der Populismus (Antiintellektualismus, antiintemationalismus) bedeutet, daß «das Volk immer Recht hat, selbst dann wenn es den Untergang und das Irrationale will», und daß «das Volk» die Nivellierung und Homogenisierung aller auf einen

214 kleinsten gemeinsamen Nenner will, d. h. es ist gegen jegliche Differenzierung von Gruppen und Individuen. Der populistische Rassismus gibt dem sozial niedrig Stehenden und dem Versager die Möglichkeit, beim geringsten Anlaß dem «Fremden», dem Andersartigen, der eine bessere soziale Position, bzw. einen größeren Erfolg aufweist, aus der «Volksgemeinschaft» auszu­ schließen. So konstruiert er sich eine imaginäre Identität. Der populistische Antisemitismus bedeutet, daß die Kleinbürger und die Bauern Neid fühlen gegenüber den Erfolgen einer dyna­ mischen Minderheit, die dank ihrer großen Neigung zur Bil­ dung, die anderen Nachteile in der Gesellschaft aufzuwiegen wußte. Populismus und Antisemitismus gehen immer zusam­ men und bildeten die Basiselemente (zusammen mit dem Natio­ nalismus) der kleinbürgerlichen und faschistischen Bewegungen während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (der italienische Faschismus war jedoch ursprünglich nicht antisemitisch). Die Gegenaufklärung, die den Boden für den Rassismus vorbe­ reitete, war gegen die Judenemanzipation. Aber sie stimmte mit der Aufklärung in einem Punkt überein: Sie war neben ihrem Ir­ rationalismus «rationalistisch», sie meinte aber ausschließlich die instrumentelle Vernunft (das gilt für bestimmte Strömungen der «neuen Rechten»). Insbesondere in Frankreich akzeptierte sie nur die eine Seite der Moderne, die technisch-instrumentelle, und sie versuchte sie auf imaginäre Weise mit den konservativen Elementen zu kombinieren (das gilt auch für Italien und Deutschland); sie strebte eine «organische», statische, hierarchi­ sche Gemeinschaft an. So glaubte sie auch, die soziale Frage zu lösen und die Arbeiterklasse in die Gesellschaft der Herrschen­ den zu integrieren. Die Juden befanden sich plötzlich vor ein Dilemma gestellt: Die alten Aufklärer beschuldigten sie, immer noch zu «traditionell» zu sein und sie versprachen ihnen die volle Gleichheit, wenn sie «die alten Kleider wegwerfen würden». Als aber viele Juden daran glaubten und die Moderne ehrlich wählten, dann war es schon zu spät, denn die Gegenaufklärung war schon da; diese aber glaubte im Gegenteil, daß die «gefährlichsten» Juden nicht die «sichtbaren» Traditionalisten, sondern die «unsichtbaren», «assimilierten» Juden seien, denn man könnte sie von den Nicht­ juden nicht mehr unterscheiden. Hier dominierte offensichtlich eine paranoide Denkweise, gemäß der der Gegensatz zu einer anderen Kultur sich nicht auf die symbolische Ebene be­ schränkt, sondern einen imaginären Inhalt bekommt, wobei das

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215 Problem sich auf das «Blut» konzentriert, das kein Kulturele­ ment mehr ist und worin die Individualität des Einzelnen ver­ schwindet. Man sieht hier wie die Identitätsproblematik eine strategische Rolle spielt. Viele assimilierte Juden haben es später bereut, aber umsonst; es wäre besser für ihre psychische Stabilität gewesen, ihre Traditionen nicht verleugnet zu haben, aber auch so wären sie nicht ihren Feinden entkommen. Viele assimilierte Juden zo­ gen den Selbstmord dem unlösbaren Identitätsdilemma vor. Die Gegenaufklärer projizierten ihr eigenes ungelöstes Identi­ tätsproblem auf ihr Opfer: Sie wollten nicht akzeptieren, daß die Differenzen und die Heterogenitäten existieren. Im Gegensatz zu den Aufklärern, die oft alle Unterschiede mittels der Vernunft und der Gleichheit nivellieren wollten, wollten die Gegenaufklä­ rer die Nivellierung durch das Irrationale, durch das «reine Blut» und die «reine Rasse», unter Ausschluß jeglichen nichtidenti­ schen Elements. Während die Aufklärer ihre Einseitigkeit in ih­ rer Polemik gegen die Tradition entfalteten, entwickelten die Gegenaufklärer ihre Positionen im Kampf gegen die Aufklärung: Beide aber behielten das instrumentelle Element. Die großen aufgeklärten Biologen des 18. Jahrhunderts, Linn£, Buffon usw., glaubten, daß die Kulturphänomene ein Ergebnis der natürlichen Merkmale seien: Die weiße Hautfarbe wurde als die Regel/Norm19 angesehen, während die gelbe und die schwarze Farbe als Indiz für Minderwertigkeit galt. Die Klassifi­ zierung der Gruppe fand gemäß einer Mischung von ästheti­ schen, moralischen und biologischen Kriterien statt. Hier ist die Ironie der Geschichte interessant: Ein Materialismus, der die Geschichtsphänomene reduktionistisch mittels der Naturphä­ nomene erklären will, muß zwangsläufig zu diesem Ergebnis kommen, denn er ist nicht in der Lage bei allen Menschen a pri­ ori die Existenz des symbolischen Elements der Sprache anzuer­ kennen; d. h. es ist das, was Kant gegen seine zeitgenössischen Empiristen und Materialisten hervorhob. Das 18. Jahrhundert endete ambivalent: Die zwei Tendenzen fuhren fort zu koexistie­ ren, aber es triumphierten der Szientismus und der Reduktionismus. So öffnete sich der Weg für eine «wissenschaftliche» Rechtferti­ gung der Dominanz der weißen «Rasse» über die übrigen «Ras­ sen». Diese Haltung wurde ursprünglich oft von «guten Absich­ ten» getragen und bis heute fasziniert viele die Ideologie des «wissenschaftlichen Materialismus». Die Evolutionstheorie von

216 Darwin (Ursprung der Arten, 1859) bestärkte diese Tendenzen: es ging wiederum um den ideologischen Gebrauch einer wissen­ schaftlichen Theorie. Sie fügte noch eine problematische Dimen­ sion hinzu: den Artenkampf um das Überleben der Art. Die Ideo­ logen meinten, daß die verschiedenen «Rassen» verschiedenen Tierarten entsprächen, die ewig um die Vorherrschaft gegenein­ ander kämpfen. Die imperialistische Konkurrenz der National­ staaten des 19. Jahrhunderts wurde auf imaginäre Weise auf die biologische Ebene verlagert und man glaubte darin eine Recht­ fertigung gefunden zu haben. Aber dahinter stand ein archai­ sches Denkmodell: der dualistische Mythos des Kampfs der «guten» («arischen») «Rasse» gegen die «böse» («semitische») «Rasse». Neben der Biologie wurde auch die komparative Linguistik im 19. Jahrhundert mißbraucht. Die Entdeckung der strukturellen Verwandtschaft zwischen dem Altindischen (Sanskrit), dem Alti­ ranischen, dem Altgriechischen, dem Lateinischen, dem Altger­ manischen und dem Altslawischen und anderen Sprachen gab Anlaß zu phantastischen Spekulationen und Hypothesen, die die Suche nach einer «gemeinsamen Wurzel» und einem gemein­ samen Ursprung dieser Sprachen zum Ziel hatte. Schließlich wurde die mythische Hypothese einer Sprachenfamilie konstru­ iert,20 die gleichzeitig angeblich eine Rassenverwandtschaft im­ plizierte: die indoeuropäische Rasse. Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts herrschte andererseits die romantische Ideologie, die sich in ihrer extremen Ausformung durch eine doppelte Ver­ werfung der zwei Wurzeln der europäischen Kultur auszeich­ nete: des griechisch/römischen Logos/Ratio und des jüdisch/christlichen Gesetzes. Der Logos und das Gesetz wurden dabei als spätere «repressive Erfindungen» angesehen, die die Ursprünge der «Indogermanen» verdrängten: die Stammensor­ ganisation mit ihrem Blutsmythos. Gleichzeitig erschien sich die indoeuropäische «Rasse» in einem ewigen Kampf gegen die Kräfte des Bösen zu befinden, nämlich gegen die «semitische Rasse», d. h. die Juden. Aber es gibt weder eine indoeuropäische noch eine semitische «Rasse».

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IV.3. DER RASSISMUS UND DER ANTISEMITISMUS NACH 1945

Die Geschichte des Rassismus und des Antisemitismus endete nicht im Jahre 1945, sie änderte nur ihre Form. Der Genozid hinterließ bei den Juden tiefe psychische Traumata, insbeson­ dere auch bei den jüngeren Generationen, die um jeden Preis die Wiederholung des Genozids verhindern wollten, selbst um den Preis der Benachteiligung anderer. Es entwickelte sich bei vielen von ihnen ein starkes Mißtrauen gegenüber Freunden und Fein­ den, so daß viele Juden in der Folge unter dem «Ghetto-Syn­ drom» litten und leiden, d. h. sie fuhren fort zu glauben, daß alle gegen sie sind, und das Differenzierungsvermögen dabei zu ver­ lieren, und das hatte negative Folgen auf das Verhältnis zu ihren Nachbarn in Palästina. Die Gründung des Staates Israel im Jahre 1948 und sein Konflikt mit den Arabern spielten eine große Rolle hierbei. Die intransigente, psychologisch «verständ­ liche» aber imperialistische Politik Israels gegenüber den Ara­ bern (die ihrerseits alles mögliche taten, um den Konflikt zu es­ kalieren) trug von Anfang an zu einer Polarisierung und Steige­ rung der Gewalt auf beiden Seiten bei, als ob sie sich in einem Spiegelverhältnis zueinander stehen würden. Diese Situation führte bis heute in die Sackgasse, trotz starker Widerstands­ kräfte dagegen, aber auch zur Wiedererstarkung des Antisemitisaus hinter der Maske des Antizionismus. Dies geschah sowohl in den arabischen und islamischen als auch in den ex-sozialisti­ schen Ländern und teilweise bei den «neuen Linken» im Westen. Hier wiederholte sich das gleiche Phänomen wie im 19. Jahr­ hundert: das Fehlen an Differenzierungen. Der Fanatismus und die Gehirnwäsche durch die Propaganda führten zur vereinfa­ chenden Phrasendrescherei und zu einseitigen Identifizierun­ gen. Der Kampf zwischen Israel und Palästina ist ein gnadenlo­ ser Kampf auf beiden Seiten, er ist ein nationalistischer Kampf. Der Zionismus, als der Nationalismus des Staates Israel, ist we­ der schlechter noch besser als andere Nationalismen. Er wird solange existieren als die Araber nicht das Existenzrecht Israels anerkennen und die Terroraktionen gegen die Zivilbevölkerung einstellen. Die Europäer und Amerikaner müssen beide Kon­ fliktparteien zwingen, eine friedliche Koexistenz einzugehen

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und die fanatischen und extremistischen Elemente auf beiden Seiten zu entwaffnen. Vor 1989 waren die Juden in den sozialistischen Ländern, die eine lange antisemitische Tradition besitzen, oft Gegenstand von offiziellen Diskriminierungsmaßnahmen. Im Westen wiederum existieren immer diejenigen, die «bedauern, daß Hitler nicht alle Juden umgebracht hat» und dies unabhängig von Nationalität, Alter oder politischer Haltung. Andererseits fanden viele eine einfache Lösung in einem ebenso rassistischen Antigermanis­ mus, z. B. in der Behauptung, daß es in der «Natur» der Deut­ schen läge, Nationalsozialisten zu sein. Aber der Rassismus hört nicht auf, weiter zu existieren, und kein Volk, keine Gruppe und kein Individuum in der Welt ist davor immun. In den 70er Jahren erschien in Frankreich und anderswo die Be­ wegung der sog. «Revisionisten», die die Existenz von Millionen von ermordeten Juden in den KZs bestreiten, mit dem Argument der angeblich unzureichenden Dokumentation und der unzuver­ lässigen Zeugen.21 Wir sahen aber oben, welche die Taktik der Nationalsozialisten war; die Revisionisten gehören zur extremen Rechten und folgen weiter der NS-Taktik, nämlich die Prinzipien und die historischen Zeugnisse, auf denen eine demokratische Gesellschaft basiert, in Zweifel zu ziehen. Abgesehen davon gibt es immer wieder antisemitische Vorfälle in Westeuropa, genauso aber auch gegen Ausländer und Flücht­ linge: Der «Jude» kann jeder sein, der das Bild einer totalen Har­ monie stört. Dies geschieht insbesondere durch Terroranschläge auf Menschen, Gebäude, Friedhöfe, Synagogen usw. Ihre Her­ kunft ist unterschiedlicher Natur; es sind nicht nur explizit fa­ schistische Gruppen die dahinter stehen, sondern auch unreife, verwirrte und desorientierte Jugendliche, denen es an jedem Halt fehlt. Der heutige Rassismus und Antisemitismus findet seine vollendete Form in Handlungen kalter und unkontrollier­ ter Gewalt, so wie diese sich international in der Vernetzung von Terrorgruppen, Waffen- und Drogenhandel äußert. Der interna­ tionale Terror hat hierbei auch mit «Befreiungskämpfen» zu tun, hat sich aber verselbständigt und wurde zum Instrument von unkontrollierten Interessen oder von Propagandaapparaten der Volksdiktaturen in der «Dritten Welt». Die Elemente des Rassismus und Antisemitismus überlebten die Niederlage des Faschismus und paßten sich den neuen Verhält­ nissen und Konflikten der heutigen Welt an. Insbesondere die unvollendete und inkonsequente Bestrafung und Verurteilung der

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Faschisten und ihrer Mitarbeiter nach dem Zweiten Weltkrieg in Ost- und Westeuropa aus Gründen eines kurzsichtigen politi­ schen Kalküls, führte in eine symbolische Leere. Umgekehrt ver­ deckten viele Organisationen der Resistance sowie Individuen, die daran teilnahmen, ihre eigenen Brutalitäten, indem sie die Unmenschlichkeit der Faschisten ausschließlich überbetonten. Der Ethnozentrismus der Gruppen zeigte, wo die Grenzen jeder rationalen und gerechten Auseinandersetzung mit dem Rassis­ mus liegen. Die Differenzierung zwischen Rassismus und Anti­ semitismus einerseits und Ethnozentrismus andererseits, bedeu­ tet keinesfalls, daß der zweite «harmloser» oder «akzeptabel» ist. Im Gegenteil, alle zunehmenden Konflikte religiöser oder natio­ naler Natur in der ganzen Welt, die Gewalt zwischen Gruppen mit partikularistischen, lokalen, Zunft- und anderen Interessen, sind Beispiele von Ethnozentrismus. Vor diesem Hintergrund dürfen die antirassistischen Kämpfe in Europa, Amerika und anderswo nicht ignoriert werden, denn sie spielen eine große Rolle und haben wichtige Veränderungen her­ beigeführt. Eine positive Rolle spielten die Entwicklungen im Rahmen der katholischen und der evangelischen Kirche. Alle Kirchen hatten in der Vergangenheit traditionellerweise einer­ seits den Rassismus und die Pogrome verurteilt, andererseits aber den Antijudaismus gefördert, und gegen Ende des 19. Jahr­ hunderts nahmen viele Individuen und Organisationen, auch die Kirchen, antisemitische Positionen ein. Während der NS-Herrschaft arbeiteten die Führungen beider Kirchen in Deutschland mit dem NS-Regime zusammen. Es gab aber auch eine Minder­ heit in ihrem Schoß, die Widerstand leistete, und viele Men­ schen fanden dabei den Tod. Nach dem Krieg betrachtete die evangelische Kirche die Versöhnung mit dem Judentum als eine fundamentale Aufgabe und betont seitdem alle gemeinsamen Elemente beider Religionen. Die katholische Kirche andererseits tat einen entscheidenden Schritt beim zweiten Vatikanischen Konzil (1962-65), während dessen man aus der Liturgie und der Katechese alle antijüdischen Ausdrücke entfernte, die Jahrhun­ derte lang die Juden den einfältigen Christen gegenüber kollek­ tiv als «Christusmörder» darstellten. In den USA tauchte der Rassismus verstärkt nach dem Ende des Bürgerkriegs auf, als die Forderung der Integration der Schwarzen in die Gesellschaft aufgestellt wurde/2 Terrororgani­ sationen wie der Ku Klux Klan (KKK) in den besiegten Südstaa­ ten wurden gegründet, mit dem Ziel der Einschüchterung der

220 Schwarzen mittels der Lynchjustiz, solange diese nach der Ver­ wirklichung ihrer Rechte verlangten. Die sozialen Schichten, die zum Rassismus tendierten und tendieren, waren verarmte Far­ mer, Ladenbesitzer und Arbeiter, die wirtschaftlich und psy­ chisch ihren sozialen Abstieg befürchteten infolge der Konkur­ renz durch die Schwarzen. Viele Schwarze emigrierten dann in die Nordstaaten, um Arbeit in der Industrie zu finden, sowie frei leben zu können. In den Nordstaaten entstand aber ein anderer, subtiler Rassismus gegenüber den «fremden», farbigen Arbei­ tern, die ohne genügender Ausbildung sind. Dies führte zur zeit­ genössischen Problematik der Xenophobie, aber gab anderer­ seits auch vielen Schwarzen die Möglichkeit der Bildung und Organisierung, insofern diese die Möglichkeiten einer liberalen Gesellschaft wahmahmen. Eine wichtige Rolle gegen den Rassismus spielten die antirassi­ stischen Organisationen der Schwarzen und der Weißen. Hier funktionierten die demokratischen Institutionen und die Tradi­ tion der Menschenrechte der amerikanischen Demokratie, die mit den fortschrittlichen Teilen des Protestantismus verbunden ist. Die 60er Jahre und die Präsidentschaft John F. Kennedys spielten hierbei eine entscheidende Rolle: Es war die Zeit des «Civil Rights Movement» der Schwarzen und der Studentenbe­ wegung (1964-68). Aber alle diese politischen Kämpfe zeigten ihre Grenzen auf der ökonomischen und sozialen Ebene, denn das Rassismusproblem koexistiert in den USA mit der sozialen Frage, ohne aber politisch und psychisch mit ihm identisch zu sein; die Nachkommen der ehemaligen Sklaven erfahren immer noch de facto Nachteile bezüglich ihres ökonomischen Status. Die soziale Dimension des Problems darf nicht zu falschen Schlußfolgerungen führen: Wenn die niedrigeren sozialen Schichten in den USA gleicher Herkunft mit den höheren Schichten wären, dann würde es keinen Rassismus geben. Ande­ rerseits ist der politische Kampf für gleiche Rechte in der Praxis und die friedliche Mobilisierung für die Menschenrechte kein «Überbau» der ökonomischen Konflikte. Jeder Emanzipations­ kampf setzt im Gegenteil drei Strukturebenen, die nicht aufein­ ander reduzierbar sind, voraus. Diese sind: religiöse und geistige Freiheit des Gewissens und Toleranz (englische Revolution), po­ litische Freiheit und Gleichheit (amerikanische und französi­ sche Rev.), soziale und wirtschaftliche Befreiung. Diese drei Ele­ mente sind in dieser zeitlichen Reihenfolge in der europäischen Geschichte erschienen und haben eine strukturelle Bedeutung:

221 Jede Stufe wird durch die nächste begründet, aber jede verlangt die vorangehenden Stufen als ihre Bedingung, sonst bekommt das Ganze keinen Sinn. In den letzten Jahrzehnten bildeten sich in den westeuropäi­ schen Ländern multinationale bzw. multikulturelle Gesellschaf­ ten infolge der Emigration aus den ehemaligen Kolonien bzw. aus Süd- und Osteuropa und den Mittelmeerländern. Es ist eine Situation wie in den USA entstanden. Die Möglichkeiten und Fähigkeiten zur Integration der ausländischen Arbeiter sind un­ terschiedlich: Das Hauptproblem ist hier der Rassismus be­ stimmter Bevölkerungsschichten, die sich durch die Verände­ rungen der modernen Gesellschaft bedroht fühlen und auf ima­ ginäre Weise glauben, daß «die Fremden daran schuld sind», da sie ihnen die Arbeit wegnehmen, während es in Wirklichkeit sich meistens um Arbeiten handelt, die die einheimische Bevölke­ rung ablehnt. Die Emigration der ausländischen Arbeiter ist für ihre Her­ kunftsländer oft eine bequeme und leichte Lösung, um die müh­ same Entwicklung ihrer Wirtschaft und die Bildung eines orga­ nisierten Proletariats zu vermeiden: Wenn sie Weggehen, erleich­ tern sie Scheinlösungen. In den Immigrationsländern werden die ausländischen Arbeiter oft zur Zielscheibe der Rassisten, weil ihr Zusammenleben mit den Einheimischen unter un­ zulänglichen Bedingungen Probleme verursacht. Diese Pro­ bleme sind zum großen Teil ähnlich mit denen, die die innere Emigration verursacht (siehe z. B. Italien), wenn Bauemmassen die Städte auf der Suche nach Arbeit überschwemmen. Dies geschieht weil die Immigranten aus Gegenden stammen, wo autoritäre Sozialverhältnisse herrschen, bzw kinderreiche Familien, Analphabetismus, religiöser Konservatismus und Aberglaube, schlechte hygienische, Wohn- und Kulturverhält­ nisse, das Fehlen an Arbeitsqualifikation, der Mafiaeinfluß usw. dominieren; so üben die Immigranten einen vielfältigen Druck auf die Zielorte aus. Indem sie noch kein Arbeiterbewußtsein ha­ ben, aber schon konsumieren wollen, sind sie bereit, für niedrige Löhne und ohne ärztliche Versicherung und gewerkschaftliche Organisierung die primitivsten und schwierigsten Arbeiten zu tun, oft durch «Verbrechersyndikate» organisiert. Insgesamt bil­ den sie eine Bedrohung für die gewerkschaftlichen Errungen­ schaften und Ansprüche der einheimischen Arbeiter und senken sowohl das Lebens- und Arbeitsniveau als auch das Kultur- und Politikniveau ab.

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I 222 Die Bevölkerungsschichten, die sich durch die Immigranten be­ droht fühlen, sind einerseits die Schichten der wirtschaftlich un­ sicher gestellten, der Dauerarbeitslosen, der unqualifizierten Ar­ beiter, der Unterbeschäftigten, der Kleinladenbesitzer, der So­ zialhilfeempfänger, der Jugendlichen, die versagen, usw. Alle diese glauben, daß die Immigranten «auf ihre Kosten leben»; das ist aber eine Illusion, denn sie leben von ihrer Arbeit, aber weil die Möglichkeiten der staatlich garantierten Sozialzuwendungen immer beschränkter werden, entsteht der Eindruck, daß die Ausländer die Nutznießer sind. Andererseits gibt es die Schichten, die sich nicht wirtschaftlich, sondern psychisch und kulturell bedroht fühlen. Es sind diejeni­ gen, die in den Immigranten die ungehobelten, kulturlosen Bar­ baren erblicken, die das Kultumiveau senken und sich dem billi­ gen Konsum der Wohlstandsgesellschaft massenweise anpaßen. Indes die Immigranten schon Opfer einer anarchischen Ausbeu­ tung sind, erzeugen sie ungewollt Situationen, die die wohlsitu­ ierten Einheimischen provozieren. Dies Problem tendiert aber heute dazu, sich auf alle jungen Arbeitslosen auszudehnen, weil diejenigen, die schon einen Arbeitsplatz gefunden haben, ihn für sich behalten wollen. Die Kriminalitäts- und Anomiesymptome (Alkoholismus, Dro­ gen, geistige Krankheiten), die die psychischen Folgen der Ent­ wurzelung der Menschen in der modernen Gesellschaft implizie­ ren, bilden eine zusätzliche Quelle rassistischer Vorurteile: Viele, anstatt die Gründe zu finden und die Lebensverhältnisse zu än­ dern, erklären diese Phänomene einfach aus der «bösen Natur» der Immigranten, der Fremden, der Jugendlichen usw., die man verjagen oder einsperren sollte, um das Problem zu lösen. Rassistischen Charakter besitzen auch Aktivitäten von Jugendli­ chen, die kulturell, sozial und psychisch entwurzelt sind: In einer offiziell demokratischen und westorientierten Gesellschaft, die andererseits ungleich und schrankenlos konkurrenzorien­ tiert ist, sowie an den Motiven des Konsums und der individuel­ len bzw. familiären und beruflichen «Sicherheit» klebt, betrach­ ten viele Jugendliche diese Situation als erstickend und langwei­ lig. Sie kehren zur Imitation von primitiven Zuständen und zur Bildung von Cliquen und ihren Mutproben und Prestigeritualen, aber auch zum Krieg zwischen den Banden zurück. Die Motive dieser Jugendlichen sind großteils psychischer und nicht materi­ eller Natur. Die Langeweile bringt sie dazu, alles, was die Er­ wachsenen als richtig betrachten (die Prinzipien der Gerechtig-

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223 keit und Gleichheit), als Lüge anzusehen, deswegen benehmen sie sich rassistisch. Wenn sie in der Folge nicht ihre Positionen ändern, laufen sie Gefahr, wirkliche Rassisten zu werden. Für viele von ihnen bedeutet die Existenz von Fremden die Anwesen­ heit von fremden Gruppen Jugendlicher, mit denen sie «Kriegs­ beziehungen» unterhalten. In der modernen Gesellschaft repro­ duziert sich auf diese Weise eine Schicht von marginalisierten Menschen mit latenten oder manifesten rassistischen Elemen­ ten, gleichgültig ob diese sich gegen Ausländer oder gegen an­ dere Bürger äußern. Die geschichtliche Analyse des Rassismus zeigt, daß in verschie­ denen historischen Momenten, die Protagonisten unterschied­ lich waren. In absolutistischen, totalitären und diktatorischen Regimen fördert der Staat selbst diese Momente, während es in demokratischen Gesellschaften gewisse Bevölkerungsschichten sind, die diese rassistischen Tendenzen aufweisen, infolge ihrer sozialen und psychischen Labilität. Schließlich erzeugt aber je­ der Rassismus einen inversen Rassismus; der fanatische Antiras­ sist ist auch ein Rassist.

IV.4. BIOLOGISCHE, SOZIO-ÖKONOMISCHE, PSYCHOLOGISCHE INTERPRETATION DES RASSISMUS

Hier muß die Frage nach dem Ursprung des Rassismus beant­ wortet werden. 1) Die biologische23 Interpretation basiert auf der Beobachtung, daß die aggressive Verwerfung des Anderen, aber auch die Angst vor ihm, bei allen Völkern angetroffen wird, so daß diese Hal­ tung die hypothetische Existenz eines Aggressionsinstinkts beim Menschen wie bei den Tieren rechtfertigt. Diese Ansicht betont einseitig die Gemeinsamkeiten mit den Tieren und vernachläs­ sigt die Elemente der Kultur und der Erziehung bei den Men­ schen; so kann sie zur Auffassung führen, daß der Rassismus ein angeborenes, ewiges Element der menschlichen «Natur» ist, so daß diese Notwendiglkeit sich nicht unter veränderten histori­ schen Bedingungen einschränken läßt. Die umgekehrte Ansicht bedeutet nicht, daß die Elemente der Aggressivität in den Menschen notwendigerweise verschwinden können oder sollen; sie bedeutet nur, daß diese Elemente nicht unverändert bleiben, weder qualitativ noch quantitativ, und die

224 Insistenz auf diese Elemente bedeutet nicht, daß diese einem «Instinkt» zu verdanken sind, denn wie wir wissen, determinie­ ren Instinkte nicht die Haltungen und Handlungen der Men­ schen. Um eine reduktionistische, vereinfachende Interpretation zu vermeiden, muß man den Menschen in seiner komplexen Be­ schaffenheit als Körper und Geist betrachten, und das hat ein­ schneidende Wirkungen auf beide Bestandteile. Es gibt zwei Arten von Aggressivität: a) instinktive Reaktionen auf eine direkte Bedrohung des indivi­ duellen Lebens, b) willkürliche und willentliche Agression gegen andere Men­ schen ohne direkten Anlaß. Der Rassismus betrifft nur den zwei­ ten Fall, der historischer Natur ist. Dies, weil nur die Menschen ihre Mitmenschen ohne zureichenden direkten Anlaß töten; der Mensch ist die (natürlich) unangepaßte Art, in der Artgenossen umgebracht werden. Wie oben erwähnt, bedeutet nicht jede ethnozentrische Ablehnung des anderen schon eine rassistische Re­ aktion; dazu werden noch ein bestimater sozialer Druck und be­ stimmte Denkschemata benötigt. Die biologischen oder nichtbiologischen Ursprünge der Aggres­ sivität zwingen den Forscher, den Streit um die vererbte oder er­ worbene Natur der Aggressivität als falsch und steril anzusehen. Der Rassismus basiert auf der Verschränkung beider Faktoren, aber die Frage wird verschoben, weil es nicht klar ist, was «Um­ welt» bedeutet. 2) Die sozio-ökonomische25 Interpretation überbewertet einseitig die sozio-ökonomischen «Einflüsse» auf die Menschen und die Kinder; es sind hier die «Frustrationen» und die «Mangelerfah­ rungen», die ein Individuum erfährt, die es angeblich zwingen, rassistische Auswege und «Kompensationen» zu finden. Das Problem liegt hier im undifferenzierten Gebrauch des Wortes «Umwelt». Wenn vor allem die Soziologen und Ökonomen vom «Einfluß» der Gesellschaft auf die Individuen reden, vergessen sie, daß es sich immer um eine Arbeitsgesellschaft handelt, die auf Erwachsene wirkt. Aber die wesentliche Bildung der Psyche hat schon vorher stattgefunden, während der ersten fünf Le­ bensjahre, zu einer Zeit, zu der die Arbeit für das Subjekt keine Rolle spielt, sondern nur das Spielen. Für viele marxistische Soziologen26 bedeutet der Rassismus ein­ fach eine Art Ideologie, die das Ziel hat, die Herrschaftsverhält­ nisse zu verschleiern und die wahren Ziele der Emanzipations­ bewegungen der Unterdrückten in die falsche Richtung zu ver-

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schieben. Diese rationalistische Theorie ist nicht befriedigend, denn sie erklärt nicht die spezifische Differenz des Rassismus und die Leichtigkeit, mit der sich die Massen wiederholt solche Ideologien und Mythen zu eigen machen. Der Begriff «notwen­ dig falsches Bewußtsein» als Definition der Ideologie ist mangel­ haft, denn er betont nur das Bewußtsein und nicht das Unbe­ wußte, das die Quelle dieser Phänomene ist. Indem er aus­ schließlich das Bewußtsein betont, legt er einseitig das Gewicht auf das bewußte Interesse der Herrschenden, eine Ideologie die ihnen «nützt», zu verbreiten; aber die Prozesse finden hier unbe­ wußt statt. Wenn die organisierten Arbeitermassen die rassistische Ideolo­ gie überwinden, hören sie dennoch nicht auf, dazu zu tendieren und gespalten zu sein; deswegen sind sie gezwungen, sich stän­ dig anzustrengen, um diese Phantasmen zu überwinden. Hieran ist nicht das «System» schuld; letzteres begünstigt bloß gewisse schon vorher existierende psychische Tendenzen. Der Rassismus gegen die Schwarzen in den USA oder der Antisemitismus in den 20er und 30er Jahren in Europa, bewirkten sicher teilweise eine Verschiebung der Ziele der Arbeiterklasse zu imaginären Zielen hin. Welche war aber die tiefere Bedeutung des Phäno­ mens? Die Soziologen finden dafür mit Vorliebe27 oft die Er­ klärung, daß die Rassisten «enttäuschte Versager» sind, die in­ folge der Ausbeutung oder der Verarmung aggressiv gegen ein mythisches, feindliches Objekt reagieren. Diese Theorie der Fru­ stration berücksichtigt aber weder die historische, kulturelle Di­ mension, noch die subjektive, unbewußte Dimension. Der Rassismus ist nicht die einzige, notwendige Form der sozia­ len Aggressivität; warum werden nicht alle unter den gleichen Lebensbedingungen Rassisten? Andererseits verschwindet der Rassismus nicht, wenn man rational den Massen seinen Ur­ sprung aus sozio-ökonomischen Faktoren «erklärt». Die rationa­ listische Erklärung ist als solche dafür ungeeignet. Die rassisti­ sche Mythologie ist untrennbar mit einer Kulturtradition vetbunden, die bestimmte Werte und Regeln festlegt, die rassistischen Theorien mobilisieren außerdem die unbewußten Phantasmen, unabhängig von und trotz der offiziellen demokiatischen Ideologie der zeitgenössischen Demokratien. Der Rassismus und der Antisemitismus sind für den liberalen Kapitalismus nicht notwendig, denn dieser setzt idealtypiseh den Rechtsstaat und die Demokratie voraus. Der Rassismus und der Antisemitismus sind dagegen das doppelt schwere Erbe der

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traditionellen und der frühkapitalistischen Gesellschaft: die Sklaverei und der Ausschluß der Andersgläubigen. Diese Vergan­ genheit paßte sich dem liberalen Kapitalismus an: Die Sklaverei in den US-Südstaaten war praktisch notwendig für die erste Phase der Industrialisierung in England, genauso wie der Aus­ schluß der Juden praktisch unvermeidbar für den Aufbau des nationalen homogenen Staates in England, Frankreich und Spa­ nien im Spätmittelalter war. Später aber wurden am Anfang des 19. Jahrhunderts die Sklaverei und der Ausschluß der Juden für das entwickelte liberale System überflüßig. Hier begannen der moderne Rassismus und Antisemitismus, nämlich als die Ver­ längerung von überwundenen, vergangenen Herrschaftsverhält ­ nissen auf eine imaginäre Weise. Es bleibt noch das innerpsychi­ sche Moment der unbewußten Disposition gewisser Individuen zum Rassismus zu bestimmen. Die Soziologen haben Schwierig­ keiten damit, denn sie haben keine autonome Theorie des Sub­ jekts: Für sie sind die Subjekte gewöhnlich «Produkte der Ver­ hältnisse». 3) Die Psychologen29 stellen, statt der ökonomischen Bedingun­ gen, die familiären Erziehungsbedingungen der Kinder in den Mittelpunkt. Diese Interpretation füllt anscheinend den Mangel der ökonomischen Theorie aus. Aber es geht um das gleiche kausalistische Denkmodell: einseitige Betonung der sozialen Bezie­ hungen («Umwelt») und der bewußten Erfahrungen in der Gegenwart. Die psychologische Erklärung betont auch die Tatsa­ che, daß die Individuen in ihrer Kindheit «unterdrückt» und «frustriert» sind. So macht eine «autoritäre Erziehung» die Indi­ viduen zu Rassisten. Diese Erklärung, wie die zwei vorangehen­ den auch, ist sehr verbreitet und «beliebt», denn sie ist relativ plausibel und befriedigt die «Gemeinplätze» des Alltags; der Rechten als auch der Linken. Aber die Dinge sind komplizierter; es gibt vor allem mehrere Fa­ milien und Erziehungstypen. Aber selbst wenn die Persönlich­ keit durch die Institutionen «formiert» wird, so funktioniert und reagiert jedes Individuum anders, denn es hat eine unabhängige Psyche, die es dazu veranlaßt, gegen die «Umwelt» Widerstand zu leisten (z. B. als neurotisches Symptom oder als Krankheit). Die Sozialwissenschaften haben sich aber oft in einem sterilen Dilema eingesperrt: entweder «biologische Erblichkeit» oder «soziale Umwelt»; diese Sperrung steht in dem Maße, in dem sie sich weigern, einen dritten Faktor, das Unbewußte, anzuerken­ nen, was gleichzeitig eine strukturelle und eine historische Be-

227 deutung hat. Dies äußert sich auch in der Autonomie des Sym­ bolischen gegenüber dem Sozialen und dem Biologischen. Die einseitige, kausalistische Betonung der «Frustration» als «Ursache» des Autoritarismus und des Rassismus verkennt, daß die Privation und die Frustration Erfahrungen sind, die jedes Subjekt notwendigerweise macht, um sich die Möglichkeitsbe­ dingungen der Sozialität zu erwerben. Es geht um die Reihe der Mangel- und Negationserfahrungen, die mit dem Ende des Stil­ lens an der Mutterbrust und der Erziehung zur Reinlichkeit be­ ginnt. Aber die symbolischen Bedingungen der Sozialität sind nicht mit dem späteren Inhalt der Sozialität identisch; jedes Kind versteht irgendwann einmal, daß ohne Mangel und Enttäu­ schung keine Sozialität, aber auch kein Begehren existieren; dies lernt es insbesondere, wenn es in den ödipalen Konflikt mit den Eltern gerät. Hier kann in dem Maße eine Störung eintreten, in dem die Aggressivität keine symbolische Ausdrucksformen fin­ det (z. B. mittels des Spielens oder der Pubertätsrituale), son­ dern Ersatzpersonen findet, auf die sie sich projiziert. In diesem Fall ist es leicht in Krisenzeiten «Sündenböcke» zu finden. Um Schwarze und Juden zu liquidieren, muß jemand sich selbst ge­ genüber beweisen, daß sie «gefährlich» sind. Diese Projektionen sind aber unbestimmter Natur: Die Beschuldigung hat nie einen klaren und beweisbaren Charakter. Gemäß der psychologischen Theorie,30 ist der Haß des Rassisten seiner «Ich-Schwäche» direkt proportional, d. h. er ist eine Art Neurose; hier geht es um eine «Ich-Psychologie», für die die Au­ tonomie der unbewußten Phantasmen und die symbolische Struktur des Unbewußten nicht existieren. Für sie muß ein Mensch mit sexuellen Frustrationen die Schwarzen wegen «tie­ rischer Triebe» anklagen, während ein Mensch mit übertriebe­ nem Schuldgefühl, die Juden als übertrieben «Gesetzestreu» an­ klagen wird. Diese Theorie beschreibt nur die Phänomene; die übertriebene Aufregung, mit der ein Rassist und ein Antisemit den anderen verwerfen, hat kein Verhältnis zum Anlaß, der unbedeutend ist. Andererseits identifiziert er seine persönliche Integrität mit sei­ ner (nationalen usw.) Gruppe. Hier funktioniert eine imaginäre Identifizierung wie in der Massenpsychologie; diese Identifizie­ rung führt zur Auffindung von «Führern» und «Rettern». Die Ich-Psychologie faßt diese Beschreibungen im Begriff der «auto­ ritären Persönlichkeit»31 zusammen, die in ihrer Kindheit eine repressive Erziehung genoß. Die Frage aber ist: Was ist eine re-

228 pressive Erziehung? Es gibt zwei verschiedene Typen von Erzie­ hung: einerseits die strenge, aber gerechte Erziehung, auf der anderen Seite die willkürliche, brutale, anomische Erziehung. Die sog. «nicht-repressive» Erziehung hat oft einen willkürlichen und anomischen Charakter, so daß das Subjekt in gleicher Weise wie bei der autoritären Erziehung reagiert. Die «autoritäre Per­ sönlichkeit» ist ein Menschentyp, der Hemmungen hat, viele «störende» Dinge verdrängt, kein ausgebildetes moralisches Ge­ wissen besitzt, extrovertiert und konformistisch ist, nur formale Beziehungen zu anderen Menschen hat, die Ideale der Herr­ schenden respektiert und die Macht anbetet, eine «versteinerte», defensive, unveränderte Haltung bei allen Dingen (Stereotypen) hat und von Verfolgungsgedanken heimgesucht wird, indem er die Dinge nicht auseinander halten kann. Gemäß der Ich-Psychologie,33 muß dieser Mensch von seinen El­ tern unterdrückt worden sein und sie unbewußt haßen, aber weil er sich das nicht bewußt machen kann (wegen der psychischen Zensur), deswegen muß er den Haß gegen Minderheiten und marginale Gruppen wenden, die in ihrer Schwäche ein leichtes Opfer darstellen. Die gleiche Haltung kann er jedoch auch gegen alle möglichen Gruppen wenden. Hier bekommt man den Ein­ druck, daß die Konflikte zwischen Individuen nur die Verlänge­ rung innerpsychischer Konflikte sind, das ist aber psychologisti­ scher Reduktionismus . Andererseits assimilieren die Individuen die Aggressivität auf unterschiedliche Weise. Es geht vor allem um ihre Aggressivität, die als Reaktion auf die Aggressivität oder den Mangel der Eltern erscheint. Das Kind reagiert oft unver­ hältnismäßig aggressiv34 gegenüber einer harmlosen Bemerkung der Eltern. Abgesehen davon, findet hier die «Identifizierung mit dem Aggressor» statt: Das Kind identifiziert sich unter normalen Bedingungen mit seinen Eltern, die es «ent-täuschen» und seine Wünsche partiell «untersagen»; so wendet es seine Aggressivität anstatt gegen sie gegen sich selbst (weil es sie auch liebt). So er­ zeugt es ein sadistisches Über-Ich, das sich gegen das masochi­ stische Ich wendet. Hier haben wir die Umkehrung der auto­ ritären Persönlichkeit, denn das strenge Über-Ich bedeutet eine Introversion und ein starkes Gewissen, das in diesen Fällen die Ver/d/gwrzg des anderen verbieten würde. Diese Strenge erscheint jedoch nach außen als Autoritarismus; aber sie hat in Wirklich­ keit nichts mit ihm zu tun. Welche Rolle spielen die sozioökonomischen Faktoren bei der Erzeugung des Rassismus? Diese Frage muß hier wieder neu

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gestellt werden. Waren z. B. alle35 weißen Südafrikaner «ent­ täuscht» und sexuell «frustriert» oder «extrovertiert». Die sy chologie erklärt nur teilweise, wie die Menschen Rassisten wer den können, nicht warum man sie zu Rassisten mac en wi Wie es im vorigen Absatz erläutert wurde, die Hauptbe ingung für die Herausbildung der Rassisten liegt darin, daß sie einem Massen-Über-Ich und nicht einem individuellen Über-Ic ge or chen. Aber das reicht nicht aus für eine vollständige Er ärung des Phänomens. Wenn auch eine bestimmte Gruppe sic r 1 Aufrechterhaltung des Rassismus interessiert, dann ist ieser je doch keine universelle psychische Anlage, die nach au en scheint, weil die Erziehung autoritär war, unabhängig vom err sehenden Zivilisationsmodell: Ein Rassist kann duichaus i derlieb» sein. D. h., die Familie und die Erziehung haben keine größere Bedeutung als die anderen Institutionen und Ideo og (für das Alter nach dem fünften Lebensjahr), so darf man ie . deutung der Erziehung nicht überbewerten, sondern mu sie globalen Modell des Herrschafts- und Wertesystems eine Seilschaft einfügen. , . Diese Modelle verlangen zu ihrer Konzeption und Verbrei g die Existenz einer bestimmten Intelligenz: Der Rassismus scheint, wenn die Rechtfertigung der Sklaverei aufhört, die 077 zielte Ideologie der Herrschenden zu sein. In diesem wie deren Fällen spielen bestimmte Intellektuelle (und Journa is die Rolle des Transformators, weil sie persönlich beson ers sibel» gegenüber den sozialen und kulturellen Verän erung sind, denn sie identifizieren auf imaginäre Weise persönli­ ches Schicksal mit den sozialen und kulturellen Zustän en Nostalgiker einer «verlorenen Sache», erzeugen sie eine gie und eine Mythologie, die auf einer imaginären Ebene de ten Zustand aufbewahrt. So können sie alle diejenigen herum scharen, die, ohne gleichermaßen psychisch sensl sein, auf ähnliche Weise Angst vor historischen Veran e g empfinden, da sie sich als ein Spielball der Gesc ic te

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IV.5. DIE KULTURELLE UND DIE PSYCHOANALYTISCHE INTERPRETATION DES RASSISMUS

4) Die kulturelle Interpretation Man muß eine differenziertere Erklärung des Rassismus formu­ lieren, so wie dieser sich am Kreuzweg zwischen den sozialen und den psychischen Prozessen manifestiert. Diese Mittelposi­ tion zeigt den symbolischen Charakter des Phänomens an. Ge­ wisse kulturelle Veränderungen geraten oft in Widerspruch zu den sozialen Veränderungen, sie haben ihre Autonomie, aber sie erhalten sich dann weiter und passen sich jenen an. Eine gege­ bene Zivilisation37 führt immer ein System von Differenzen und Unterscheidungen (horizontal und vertikal) in eine Gruppe ein. D. h. das System der realen und ideologischen Differenzen re­ produziert das Sprachsystem mit seinen Unterscheidungen. Bei jeder Systemänderung überleben aber ältere Elemente (im histo­ rischen, nicht in linguistischen Sinne des Wortes). So kann nur die Psychoanalyse eine angemessene Erklärung für die irratio­ nale Aufrechterhaltung des Rassismus geben, in dem Moment, in dem dieser aufhörte ein reales Herrschaftssystem zu implizie­ ren. Hier spielt der Naturbegriff3 eine Rolle: Der Rassismus «über­ setzt» die kulturellen Unterschiede in Naturunterschiede. Die Opposition Natur-Kultur wurde im 16. Jahrhundert in Westeu­ ropa wieder aktuell: Das war eine Folge des Judentums und des Christentums, für die es eine absolute Differenz zwischen Gott und der Natur gibt, eine Differenz, die im Mittelalter jedoch nicht zur Entdeckung der neuzeitlichen empirischen und tech­ nisch orientierten Wissenschaft führte. In allen anderen Kultu­ ren aber bildete die Natur einen Teil der Kultur (und das Gegen­ teil), die als ein hierarchisches System von Rechten und Pflichten erschien: Das ist klar im mittelalterlichen Naturrecht der Stän­ degesellschaft im europäischen Feudalsystem.39 Die Naturkata­ strophen erscheinen in diesem statischen Modell als die Folge der Nichtbefolgung der sozialen Regeln, die theologisch und natürlich begründet werden. Seit der Renaissance und der Reformation40 begannen die quali­ tativen Unterschiede zu schwinden, sowohl die horizontalen (zwischen geographischen Regionen, Städten, Zünften, Berufen

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usw. mit ihren besonderen, qualitativen, «malerischen» Traditio­ nen), als auch die vertikalen (zwischen Ständen und hierarchi­ schen, traditionellen Privilegien). Diese Nivellierung fand paral­ lel zur Aufgabe der aristotelischen Physik statt, die einen nicht technischen, hierarchischen und qualitativen Charakter besaß, zugunsten der Physik von Galilei, der die qualitativen und hier­ archischen Unterschiede in der Natur abschaffte mittels einer quantitativen und technischen Anwendung der Naturgesetze. Das Verschwinden der Differenzen innerhalb einer Gruppe und zwischen den Gruppen, hatte gleichzeitig einen demokratischen und individualistischen Charakter; diese Kombination ist einma­ lig in der Geschichte, denn gewöhnlich bedeutet die Demokrati­ sierung in der Praxis Vermassung und Nivellierung, während die individuelle Persönlichkeit traditionellerweise das Privileg von wenigen Angehörigen der herrschenden Klasse oder der margi­ nalen Gruppen war. Die Möglichkeit und die Forderung nach Gleichheit und Individualität {Freiheit) ist die spezifische Diffe­ renz der modernen europäischen Geschichte. In ihr ist nämlich das Individuum nicht mehr nur ein Element einer sozialen Ein­ heit (einer Stadt, einer Zunft, einer Gemeinde), sondern es be­ stimmt sich als solches von Anfang an, jenseits aller Bindungen und Verpflichtungen, und das impliziert auch, allen Gefahren und Unsicherheiten ausgesetzt zu sein, die früher unbekannt waren; aber diese Perspektive gibt den Individuen auch neuar­ tige Erwartungen. Eine Folge dieser Veränderung41 ist der Kapitalismus und die In­ dustrieproduktion, mit den Folgen der Zerstörung der Natur und der Entwurzelung der Menschen aus den Gemeinschaften und den persönlichen Beziehungen, die den Individuen traditio­ nell Sicherheit gegeben hatten, aber um den Preis des Fehlens an Individualität und der Dominanz der hierarchischen Bezie­ hungen. Hier scheint die Dialektik der Aufklärung durch, die Last der Freiheit,42 die für viele unerträglich ist, und diese suchen dann nach verschiedenen «Krücken» und Sicherheitsersatz. Das alles verursachte psychische und kulturelle Reaktionen. Die Ni­ vellierung, als eine billige und wahrscheinliche Version der De­ mokratie, verursachte in jenen, die sozial und psychisch unter dem Verlust der traditionellen Differenzen und der statischen Hierarchien litten oder keine eigene moderne Persönlichkeit ent­ wickelt hatten, weil sie Angst vor der Freiheit verspürten, die Tendenz, einerseits in einer Gruppe, mit der sie sich identifizie­ ren konnten, Sicherheit zu suchen, andererseits aber in der bio-

232 logischen Wissenschaft Argumente zu finden, um die «verlorene Differenz» als «naturgegebene» und nicht als symbolische zu reonstruieren. Der letztere Fall war zusammen mit dem Sozi­ aldarwinismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und in er ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr stark vertreten. Das Attribut «naturgegeben» bedeutet hier eine imaginäre Differenz, ie als solche die Gewalt impliziert. Im Gegensatz dazu impli­ ziert die Akzeptierung des anderen in seiner Besonderheit und Persönlichkeit, die gemeinsame Akzeptierung von Regeln gemäß denen man auf friedliche Weise die Differenzen mittels der Sprac e kodieren wird, d. h. sie sind symbolische Differenzen. ie Krise der modernen Kultur bildet ein Dauermerkmal von ihr, wei auf verschiedenen Ebenen ständig Veränderungen stattfinen und gleichzeitig «alte» und «neue» Elemente koexistieren, abei werden oft strukturell notwendige Elemente wie Gesetz, ertrauen, Höflichkeit usw. als «alt» angesehen. So verewigt sich er Zustand von Anomie und Enttäuschung, der bestimmte Indivi uen zu radikalen, «apokalyptischen» und gewaltsamen Lö­ sungen drängt, während er andere zu der Suche nach alten, sta­ bilen Modellen verführt. n^P k'eSe ^ersuc^e at>er haben zum gemeinsamen Nenner die n ä igkeit zur Handhabung und Auswahl der vorhandenen Diferemzen sowie den leichten Zugang zur Gewalt. Dies, weil die Fe, U Jion’stlsche, «billige» und schnelle Lösung mittels der «Absc a ng» aller Differenzen und der «Reinigung» mittels der Gewalt immer möglich ist. Die hierarchischen (ontologisch begründeten) Differenzen43 bileten in den traditionellen Gesellschaften eine Variante der Dife^nf' ^enc^enz zu ihrer Überwindung in der modernen Gese sc a ist immer partiell und unvollkommen. Eine Demokraie ann und muß die legitime Herrschaftsform akzeptieren, lnS° e^n diese die willkürliche und unbeschränkte Herrschaft verwir , die Illusion der Moderne besteht im Glauben, daß jede symbolische Autorität abgeschafft werden kann, bzw. durch tec nische Verfahren ersetzt. Aber die legitime Herrschaftsform er Demokratie wird von bestimmten Leuten abgelehnt, denn ihnen erscheint die Demokratie selbst als eine Drohung zur ückkehr in eine Homogenisierung und Abschaffung von jegli­ cher Differenz, und das erzeugt in ihnen Angst. Der Rassismus at zum Ziel, Schranken gegen diese Angst zu errichten. ie nivellierenden Tendenzen existieren dennoch in der Demoratie unabhängig von den Phantasmen der Rassisten. Für sie ist

233 jede Demokratie gleichmacherisch, für kultivierte und differen­ ziert denkende Bürger gibt es jedoch viele Arten von Demokra­ tie. Die Nivellierungstendenzen stammen einerseits aus der U4zrenwirtschaft und andererseits aus bestimmten Ideologien. Die Dominanz der Ökonomie und des Geldes bedeutet, daß alle qua­ litativen und symbolischen Differenzen (auch das Gesetz) nivel­ liert werden; es gilt nur die quantitative Gelddifferenz. Während die sozialen Ungleichheiten im Kapitalismus von der Herrschaft des Geldes herrühren, widerspricht dies der kulturellen Nivellie­ rung nicht, in dem Moment, in dem «alles möglich ist», dank dem Geldbesitz, und wo alle gleichermaßen dem Konsum und dem schlechten Geschmack unterworfen sind. Andererseits identifizieren die antinomistischen Vorstellungen gewisser (links-)Radikaler das Gesetz mit der Herrschaft und dem Geld, und so nivellieren sie die Differenzierungen, die für jede Kultur notwendig sind; in ihrer Kritik am Gesetz wollen sie nicht einsehen, daß bei jedem Versuch der Erneuerung einer Ge­ sellschaft es notwendigerweise auch wieder allgemeinverbindli­ che Gesetze und Regeln geben wird, denn endlose Diskussionen und Mangel an Zuverläßigkeit lösen keine Probleme. Die Un­ fähigkeit der zeitgenössischen Demokratien, die sozialen Pro­ bleme schnell und wirksam zu lösen, und die Unterschätzung der Rolle der symbolischen Autorität, führen zur Nivellierung und zur Enttäuschung von der Demokratie. So finden die Rassi­ sten immer einen Anlaß, um hierarchische, traditionelle und au­ toritäre Lösungen zu unterstützen, die ein imaginäres Substitut für die gleichmacherischen Tendenzen bilden. Rassismus existiert auch bei vielen linken Terroristen und «Anti­ imperialisten», denn sie erleben die politischen Gegensätze auf imaginäre Weise, und sie dämonisieren den politischen Feind. Die kalte Ermordung von «Repräsentanten des Kapitals» zeigt den archaischen psychischen Mechanismus der dahintei steckt. Die herrschende Minderheit wird wie eine beherrschte Minder­ heit angesehen und dementsprechend «liquidiert». Der Terrorist kann nicht die Existenz einer anderen sozialen Klasse akzeptie­ ren, gegen die er gegensätzliche Interessen vertritt, sondein ei will sie zusätzlich liquidieren, denn er setzt in phantasmatischei Form eine gerechte Gesellschaft mit einer nivellierten Gemein­ schaft gleich. Der Stalinismus findet hier seine Wurzeln: Er ist der linksradikale Terror, der zum sozial-politischen System ge­ worden ist. Was die «Antiimperialisten» betrifft, so verfallen sie oft in reaktionäre Positionen, denn in der Bekämpfung der Herr-

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schäft der entwickelten kapitalistischen Länder über die halb­ feudalen und autoritären Gesellschaften, verwerfen sie gleichzei­ tig, aus dem Geist einer totalen Negation heraus, die fortschritt­ lichen Elemente des Westens und versöhnen sich oft mit archai­ schen Formen der sozialen Organisation. Der Rassismus ist immer ein Element des Faschismus, die Um­ kehr gilt nicht immer. Der Faschismus war vor allem eine ideolo­ gisch-politische Formation der Zwischenkriegszeit und hatte als Basis den Kult und den Mythos des Staates, indem er der expan­ siven Außenpolitik die Priorität gab. Der heutige Rassismus und die Xenophobie implizieren nicht notwendigerweise diese Ele­ mente, sondern konzentrieren sich auf populistische Forderun­ gen, und betrachten als Hauptfeind die fremden Minderheiten (fremde Arbeiter, oder Immigranten aus der Peripherie und den ehemaligen Kolonien oder aus Gegenden des eigenen Landes, die verarmt sind). Dies bedeutet nicht, daß dieser Rassismus we­ niger gefährlich ist, denn er bildet die Vorstufe zum Faschismus. Die kulturelle Interpretation des Rassismus betont die Angst der Rassisten vor der Abschaffung der traditionellen Differenzen in der demokratischen Gesellschaft: Die «demokratische Nivellie­ rung» bedeutet unbewußt für sie einen «sexuellen Akt», eine schmutzige Mischung der verschiedenen Kulturen, Klassen und Gruppen. Die traditionellen, statischen, hierarchischen Gesell­ schaften haben ein gemeinsames Charakteristikum, daß sie keine Mischung der Menschengruppen akzeptieren jenseits der Grenzen, die ihnen die Hierarchien und die Lokalpatriotismen vorschreiben. Die «Welt» ist ein organisiertes Mosaik, in dem die beweglichen Elemente (Intellektuelle, Händler, Juden) marginal und «suspekt» sind. Die moderne Zeit wird durch einen ambivalenten Prozeß charaktetisiert: Die Demokratisierung blieb und bleibt unvollendet und wird begleitet durch die Bildung von neuen Hierarchien und die Nivellierung bestimmter Differenzen. Die Herrschaft der großen Waren- und Industrieproduktion andererseits begleitete und begünstigte die Demokratisierung, aber auf eine ambiva­ lente Weise. Die Warenproduktion begünstigt die Entwicklung der Privatinitiative, aber nivelliert gleichzeitig viele traditionelle Werte, und führt deswegen zu widersprüchlichen Reaktionen. Der zentralistische und bürokratische Staat fördert andererseits nicht nur die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz, sondern zerstört gleichzeitig die lokalen Unterschiede zwischen den Re­ gionen und den Städten: So entstehen auch hier ambivalente Re-

235 aktionen. Auch die nivellierenden Tendenzen gewisser , sten, die die Unterschiede der individuellen Fähigkeiten Kreativität weder anerkennen, noch die demo ra 1S , mierte Autorität akzeptieren, schließlich die «avantgar 1 ... Verwerfung jeder Art von Werten, all dies führt zu einer Nivell ning, die rassistische Reaktionen begünstigt. Alle o. e. Gründe reproduzieren die Möglichkeit eines dem, g_g sehen, rassistischen Diskurses, der sich immer an ie « ” denen» der Gesellschaft, jenseits der Klassenunterschvede, adressiert, und damit konkurriert er mit der em° ra t und sozialistischen Kritik, aber er pervertiert ihre Argu Er wendet somit die «mechanische» Gesellschaft der^oder" Zeit gegen die «organische Geneinschaft» der Tra i io Rassist ist («organischer») «Antikapitalist», (autoritäre tietatist», (populistischer) «Ökologe» usw. und ' aldarwinist. Er träumt nicht von einer Zukunft, m der die w Sprüche der Gegenwart partiell überwunden sein werden, dern von einer Vergangenheit, zu der die Geschichte re^e sein wird. Darüber hinaus zieht er die Nivellierung er i —i Gemeinschaft») Gemeinschaft») der der in der reinen Rasse (der «organischen Waren- und Geldnivellierung vor. Der Ideologe der Gemein Ge ­ schäft hat keine eigene Meinung und er glaubt an en und an das «Schicksal» der «Rasse». So ist man verp ic e , genüber den Rassisten und Gemeinschaftsgläubigen den as

sehen Liberalismus zu verteidigen. Die realen und/oder imaginären Nivellierungsten enzen er^ gen bei vielen Angst, denn sie werden begleitet von ryna?^ gefühlen der Subjekte, mit ihren Angelegenheiten aktiv on o tiert zu werden. Ohnmacht bedeutet Mangel an Mac t ete gung und die Erfahrung von Machtverlust. Der antiara isc Rassismus ist heute in Frankreich eine Neidreaktion un eine nachträgliche Reaktion auf die Niederlage Fiankreic s un Verlust von Algerien. Das gleiche gilt für die USA un sismus gegen die Schwarzen: Er ist eine Folge der A sc a ung der Sklaverei und der sozioökonomischen Nivellierung gewiss weißer Bevölkerungsschichten. Der Rassismus entwic 'e t sic , wenn eine Gruppe sieht, wie ihre bisher positiv bewertete osition in der Gesellschaft gefährdet wird, weil sie so ihre bisherige Identität real und imaginär verliert. Eine rationale Reaktion würde zu anderen Ergebnissen führen: Die Gruppenmitg ic e würden den neuen Zustand akzeptieren, ohne das Rad der Geschichte zurückdrehen zu wollen und anstatt einen «Schuldi-

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236 gen» zu suchen; würden sie eine neue Identität in der Zukunft finden. Die Hauptfrage aber bleibt:44 warum ist die rassistische Reaktion im 20. Jahrhundert, unter allen möglichen Reaktionen, die an­ ziehendste? Außer der kulturellen Deutung, erklärten die voran­ gehenden Interpretationen nur partielle Ursachen des Phäno­ mens. Hier interessieren aber die Erfolgsgründe des Rassismus und sie können nur im Unbewußten gefunden werden. 5) Die psychoanalytische Interpretation «ergänzt» methodolo­ gisch die kulturelle Interpretation; beide zusammen überwinden die Einseitigkeiten der ersten drei Interpretationen. In jeder Gesellschaft existieren gewisse Individuen, die unbe­ wußt von bestimmten Phantasmen beherrscht werden, die sie anfällig für bestimmte Reaktionen gegenüber der Realität ma­ chen. In dem Maße, in dem die Gesellschaft, in der sie leben, auf unterschiedliche Weise diese Reaktionen begünstigt, spielen diese Individuen offen eine öffentliche Rolle, anstatt daß sie in ihrem privaten Raum beschränkt werden. Darüber hinaus kön­ nen sie aber auch eine Menge von labilen Charakteren beein­ flußen. D. h. die Beziehung zwischen der Gesellschaft und den Individuen hat die Form der «Wahlverwandtschaft» und Selek­ tion. Der Rassismus als Ideologie und Mythologie ist anziehend, weil er starke Stützen im Unbewußten findet, d. h. er befriedigt bestimmte Wünsche und verteidigt sich gegen gewisse Ängste. Hier spielen insbesondere alle vier Grundphantasmen eine Rolle. Eine große Rolle spielt zuerst die Urszene45, bei der das Kind im Alter von 1-3 Jahren, den Koitus der Eltern (oder ande­ rer Menschen oder Tiere) beobachtet, den es aber nicht «ver­ steht»; aber es gibt ihm nachträglich einen «Sinn» und verbindet ihn mit einem Akt von Gewalt, Schrecken und Ausschluß. Das Kind kennt am Anfang nicht die Geschlechterdifferenz und die Urszene zwingt es, sich mit dieser Realität zu konfrontieren. Bei vielen Kindern führt es zu Angsterzeugung, denn gleichzeitig er­ scheint die Möglichkeit des Mißerfolgs der Einführung der Diffe­ renz in die Psyche des Subjekts, wenn die notwendigen Vorstel­ lungen dafür fehlen: Das Kind hat das Symbolische nötig, um diese Differenz psychisch zu verarbeiten. Wenn das Kind sieht, daß andere «etwas unverständliches» tun, an dem es nicht teil­ nehmen kann oder darf, dann kann es sich selbst als einen «ver­ lassenen Rest» der beiden Akteure begreifen. Diese Haltung ist häufig in der Vorgeschichte der Psychose und der Depression. Das Phantasma des Rests wird auch mit der Vorstellung verbun-

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den, daß der Mutter «etwas fehlen kann», und dies «etwas» wird später das eigene «Ich». Wenn das Kind der Mutter fehlen kann, dann ebensosehr die Mutter dem Kind: Im Versteckspiel insze­ niert dann das Kind aktiv die Leidenserfahrung des Mangels und dadurch bewältigt es sie partiell. Von hier stammt die Fähigkeit des Kindes, das «verlorene Ob­ jekt» zu begehren und vermittels der Sprache die Welt zu dif­ ferenzieren. D. h. die Erfahrung des Mangels führt nicht auf fa­ tale Weise zur Fixierung auf die Urszene. Andererseits bedeutet die Anerkennung ihrer Überwindung gleichzeitig die Anerken­ nung der Existenz der Geschlechterdifferenz: Niemand ist die «Ursache seiner selbst», «sein eigener Vater», niemand ent­ stammt nurezwew Geschlecht. Dies bleibt ein narzißtischer My­ thos. Die Verdrängung der Geschlechterdifferenz verbindet sich unmittelbar mit der intensiven Fixierung des Kindes an der Mut­ ter und gleichzeitig mit der Verleugnung oder Verwerfung des Vaters (durch die Mutter). Wenn der Vater unfähig oder nicht­ existent ist, der Dritte zu sein, der das Kind von der Mutter trennt, dann wird das Kind der imaginäre «Phallus» der Mutter. So phantasiert das männliche Kind, daß die Mutter den Phallus «hat»: Hier liegt eine weitere Wurzel des Rassismus und der Frauenfeindlichkeit, denn «eine» Frau ist nicht die «phallische Mutter». Dieses Phantasma der Perversion ist unmittelbai mit dem Urphantasma der Kastration verbunden. Freud verwendet gerade nur im Fall des Fetischismus den Aus­ druck «Vorurteil» 46 D. h. der Fetischist sieht unbewußt, daß die Mutter den Phallus nicht hat, daß es zwei Geschlechter gibt, aber er spaltet sich psychisch auf eine besondere Weise und er verleugnet diese Wahrnehmung, die ihm Kastrationsangst berei­ tet; er konstruiert so Substitute des imaginären Phallus der Mut­ ter, die Fetische, die ihm die Möglichkeit geben zu «glauben» (Vorurteil), daß die «Welt heil und ganz ist, denn nichts fehlt in ihr», also bei ihm selbst fehlt auch nichts. Für den Fetischisten gibt es nur ein Geschlecht: das männliche, denn im Imaginären fehlt dem Mann «nichts», also die einzige Differenz ist nur quan­ titativer Natur: Der Mann kann hier nur mehr oder weniger «Mann» sein. Die Abschaffung der symbolischen Differenz führt zur Bildung des Mythos von der «reinen», unbefleckten Emp­ fängnis, der Selbstempfängnis: «Mein Blut ist rein, denn es wurde nicht vom anderen Blut infiziert». Dahinter steckt auch das inzeßtuöse Urphantasma der Fusion mit der Mutter.

238 Von hier stammen alle Mythen von der göttlichen und reinen Herkunft, z.B. der arischen Rasse usw.; die Sexualität bekommt hier den Charakter des Schmutzes, der Sünde, der Vergewalti­ gung: Die Rassisten werden leicht fanatisch, denn sie erregen sich unbewußt, wenn sie den «anderen» wahmehmen, weil jedes unterschiedliche Individuum (das sich dem Konformismus der Gruppe oder des Geschlechts nicht unterwirft), sie an das für sie Unmögliche und Unheimliche erinnert - an die Existenz der Geschlechterdifferenz. So glauben die Rassisten an ihre Vorurteile, um die Differenz zu verleugnen: Der «andere» ist kein Mensch wie «ich», sondern eine andere, niedrigere oder dämonische Rasse, die dominiert oder liquidiert werden muß. Die Verleug­ nung des Symbolischen bzw. der sexuellen Differenz verbindet sich unmittelbar mit einer psychischen Regression, und das be­ deutet, daß die aggressiven Tendenzen dominieren, entweder al­ lein oder mit den erotischen Trieben zusammen (Sadismus). Der Rassist verleugnet47 leidenschaftlich die Notwendigkeit sei­ nes eigenen Mangels, seiner Grenzen, seiner symbolischen Ka­ stration, seines Todes: Er sehnt sich nach einem utopischen Glück mittels der phantasmatischen Rückkehr in den Bauch der Mutter, wo die Differenz, das Gesetz, der Vater nicht existieren, Dieses Phantasma entspricht der Todessehnsucht, der Domi­ nanz des Todestriebes; letzterer dominiert im Rassismus in zwei Formen: entweder als utopische Sehnsucht nach der Abschaf­ fung jeder Differenz oder als gewaltsame Verleugnung der Diffe­ renz zwischen dem Gesetz und der Herrschaft; für ihn existiert nur eine, willkürliche, diktatorische Herrschaft. Der andere existiert nicht für den Rassisten, deswegen soll jeder reale andere ausgeschlossen bzw. liquidiert werden. Aber der Rassist identifiziert sich auf imaginäre Weise mit dem anderen (Grundphantasma der Verführung) und projiziert auf ihn sein eigenes Begehren. Der Rassist wirft ihm vor, daß er ihn «aus­ schließen» und «bedrohen» will, so wird der andere als solcher für den Rassisten zum Anlaß, den anderen auszuschließen und zu bedrohen. Der andere ist Konkurrent um die Gunst der Mut­ ter (der Nation, des Vaterlandes) in den Augen des Rassisten. An­ dererseits wirft der Rassist den liberalen/sozialistischen Intellek­ tuellen und Politikern vor, sie «begünstigen» immer die auslän­ dischen Arbeiter, die Schwarzen, die Juden, die Homosexuellen usw. Somit bringt sich der Rassist in die Position des «aus­ geschlossenen Kindes» und nährt seinen Neid, der als imaginä­ res Substitut des Klassenkampfes funktioniert. So haben die

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Minderheiten in seinen Augen alle Posten besetzt, die Berufe, die Krankenversicherungen ausgenutzt und überfüllt, die Nation verraten, die Kultur zersetzt usw. Der Rassist hat zwar Angst vor der Anerkennung der Differenz, aber unbewußt sucht er sie. So erscheint er als ein widersprüch­ liches, gespaltenes Subjekt; auf der einen Seite verwirft er jede symbolisch definierte Differenz, indem er «seine Gruppe» homo­ genisiert. Andererseits protestiert er gegen die «Nivellierung» der modernen Gesellschaft, er will absolute (imaginäre), «natür­ liche», hierarchische, ewige Differenzen einführen, er will hinter die Demokratie und den Kapitalismus zurückgehen. Die Diffe­ renz, die er im ersten Moment verleugnet, führt er im zweiten Moment wieder ein: Diese psychische Oszillation ist das beson­ dere Merkmal des Rassisten (und Fetischisten). Der Rassismus hat in allen Menschen Wurzeln,48 denn es ist schwer, nie rassistisch zu denken, weil im allgemeinen kein ra­ tionales Argument ein rassistisches Vorurteil widerlegen kann. Der andere erscheint hier als «unheimlich», und erzeugt Angst, weil der Rassist sich schuldig fühlt, denn er verbindet den ande­ ren (sein Ebenbild) mit dem verbotenen Wunsch der Mutter; der Rassist projiziert seine infantilen und gewaltsamen Wünsche auf den anderen: Der andere ist für ihn ein Tier (der Schwarze ist ein Affe, der Jude ist eine Laus, der Türke ist ein Dummkopf usw.), während die «exotischen» Frauen besonders attraktiv für ihn sind. Das «tierische» Element des anderen verspricht unerhör­ tes, verbotenes Genießen, jede Differenz zum anderen erhält auch einen sexuellen Charakter, das gilt jedoch nicht für die Menschen die keine Rassisten sind. Der Rassist bleibt in einem unlösbaren Dilemma gefangen, das um das Problem der Annahme der symbolischen Differenz loka­ lisiert ist: Er bleibt gefangen in archaischen psychischen Zustän­ den, die gewaltträchtig sind und mit imaginären Identifizierun­ gen mit dem andern zu tun haben. Weil der Rassist den anderen nicht als einen «anderen» akzeptiert, deswegen muß der andere entweder «derselbe» (was unmöglich ist) oder liquidiert werden, eine dritte Lösung gibt es hier nicht. So ist das Verhältnis des Rassisten zu dem anderen paranoider oder fetischistischer Na­ tur, d. h. noch entfremdeter als im Fall der Hysterie und der Neurose. Sein Denkmuster ist: «Entweder alles (Inzeßt) oder nichts (Tod). Es fehlt das Gesetz, das Maß, die Differenz. Daraus können einige Schlußfolgerungen gezogen werden be­ züglich der politischen Auseinandersetzung mit rassistischen

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Gruppen. Die Strategie der Aufklärung und der Widerlegung bzw. der Information ist immer notwendig aber nicht hinrei­ chend» um den Rassismus zu vermeiden. Wenn bestimmte Sub­ jekte an ihn «glauben», dann funktioniert die Vernunft nicht mehr, aber das Gesetz funktioniert unbewußt weiter. Der Rassis­ mus erscheint als politisches Phänomen in Krisensituationen der Gesellschaft, des Gesetzes, der Werte. Wenn eine demokratische Regierung willkürlich und korrupt ist, wenn weder der Staat noch die Bürger die Gesetze achten, dann heißt das für das Un­ bewußte, daß «der symbolische Vater, das Gesetz, nicht existie­ ren, also kann jeder tun, was er will». Dieser Zustand begünstigt den Rassismus, denn er stützt sich auf den Glauben, auf das Vorurteil, daß nur die Gewalt und die Willkür alle Probleme lösen, bzw. das größte Lusterieben garan­ tieren. Es ist das Gesetz des Dschungels und der Halbwelt, ob­ wohl die Rassisten «moralisch» erscheinen. Der Staat verfolgt oft die aggressiven Handlungen der Rassisten nicht oder ist parteisch zugunsten der Rechtsradikalen und das zerstört die Demo­ kratie. Die Rassisten wie die Faschisten protestieren oft, daß die demokratischen Institutionen gegen sie «parteiisch» sind; sie woEen nicht sehen, daß jeder demokratische Rechtsstaat auf dem Ausschluß des Ausschließens und der Einschränkung derje­ nigen, die die anderen ausschiießen weilen, basiert. Das Gesetz ist das: das Verbot der Abschaffung des Mangels und der Diffe­ renz.

IV.6-. NATION. NATIONALE IDENTITÄT. BLkTIONALISMUS

Eine nacbacale Ldenduir ist die acil&cnve luentüär einer be­ stimmten Gruzce. die eine symcciiseh-dmagürare Vermittlung z’.vischen den Individuen Sr*. ihren Alltagsgruppen. und der bud.ee Sie ist eine irrrugurure"’ Vermittlung, weil sie *!~ ~ der notwendigen E.vseenc einer größeren mtegrierten Grunze busiem. die. um. äs Stnh&t tu. ejesüeren. irgendwie die sczziuen iru IfcJnxreuen ^tdersaruche und Sinn Lungen innermiH -e** •Grurrce xerueugnetr. "muK Gie Nanen rat rrrirre*. einen mmmgeniien. mscwselretreie Ie.ee>cg'e unu Je EcTTirrnfTTi nie zze jX uxwersuelk njeer eher euren rrvüiKuiinr uTii icezj.‘?g:v^Leir. Chu «euer eure rui-cnaic iriixe T»;r- re-rer ixuw. -fchnieMr. G upver e^’^e.v hrt sie

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immer den Charakter des Partikularen zwischen dem Individuel­ len und dem Universellen. Das partikulare Element nimmt in der Geschichte verschiedene Formen an, die eine Hierarchie un­ tereinander bilden können. Hier unterscheiden wir mindestens drei Stufen voneinander, die nach oben und nach unten verlän­ gert werden können: übernationale, nationale, regionale Stufe. Die «Identität» einer Gruppe ist hier nie homogen, sondern ge­ spalten, d. h. sowohl zwischen verschiedenen Stufen geteilt (lo­ kal, regional, national, übernational, UNO), als auch zwischen dem «Innen» und dem «Außen» (zwischen dem «Eigenen» und dem «anderen», dem «Fremden»). Der imaginäre Charakter der nationalen Identität wird manifest, wenn Konflikte zwischen den verschiedenen Stufen auftauchen, bzw. wenn ihre absolute Identifizierung untereinander auf gewaltsame Weise versucht wird oder wenn verschiedene nationale Gruppen untereinander konkurrieren. Demgegenüber bildet die Annahme der Differenz5'(der Nicht-Identität) und der Koexistenz der verschie­ denen Ebenen und Situationen die Voraussetzung für die Über­ windung bzw. Einschränkung des imaginären Charakters der nationalen Identität (sowie der anderen Gruppenidentitäten auch). In diesem Fall gewinnt das symbolische Moment die Oberhand. Man muß zwischen den Begriffen Nation, nationale Identität und Nationalismus unterscheiden. Hier werden wir nicht auf die vieldiskutierte Frage eingehen, inwiefern die «Nation» oder die «nationale Identität» zuerst da waren. Unter «Nation» wird nämlich die Existenz einer homogenen geopolitischen staatli­ chen Einheit verstanden, die aber von einer einheitlichen «natio­ nalen» kollektiven Identität der Bürger verdoppelt wird. Letztere bildet eine notwendige ideologische Kohäsionskraft, die der Na­ tion Dauer und Stabilität verleiht, indem sie sie gleichzeitig von anderen, ähnlichen Gebilden ab- und ausgrenzt. Historisch gese­ hen aber gab es öfters den Fall, wo zwar nicht eine nationale, je­ doch eine kulturelle Identität vor der Bildung eines Nationalstaa­ tes da war. Beispiele dafür sind das antike Griechenland bzw. in der Neuzeit die Deutschen bis zur Reichsgründung 1870. Denn die gemeinsamen kulturellen Elemente (Sprache, Verwandt­ schaft, Religion, Sitten) von denen einzelne auch fehlen können, bilden immer neben den geographischen und ökonomischen Strukturen den symbolischen Kem der nationalen Identität. Na­ tionalstaat und nationale Identität, in ihrer Spezifizität, tauchen nur in der Moderne auf und sind mit der Bildung der modernen

242 (absolutistischen) Staatesbürokratie und des einheitlichen («na­ tionalen») Marktes verbunden. Wenn die nationale Identität die «subjektive» Seite und der Na­ tionalstaat die «objektive» Seite derselben Medaille sind, was ist dann der «Nationalismus»? Er ist eine übersteigerte ideologische Form der Bildung und Reproduktion sowohl des Nationalstaates als auch der nationalen Identität, d. h. er ist der Punkt ihrer Fu­ sion, in dem die symbolischen Momente jener beiden Aspekte weitgehend verleugnet werden zugunsten einer phantasmatischen Totalmobilisierung der Massen; hier wird der Kriegsfall auf imaginäre Weise permanent simuliert. Indem der Nationalis­ mus, der verschiedene Abstufungen zuläßt, eine «nationale Rei­ nigung» und eine totale Homogenisierung der Bevölkerung be­ zweckt, schlägt er in Rassismus und Faschismus um. Man kann darüber hinaus die Triade Nation, nationale Identität und Nationalismus psychoanalytisch weiter präzisieren. Die «Nation» ist ein Herrnsignifikant (Sj), an dem die nationale Identität überhaupt orientiert wird; ohne ihn gibt es letztere nicht. Um aber als dominierender Signifikant (im Diskurs des Herrn) zu funktionieren, ist er auf eine Menge von Signifikanten angewiesen (S2), die ihm zeitlich vorausgehen. Es sind die «kul­ turellen» Gemeinsamkeiten einer bestimmten Bevölkerung auf einen bestimmten Territorium. Diese Bevölkerung (als Geflecht von Verwandtschafts- und Produktionsverhältnissen) «existiert» aber als «Nation» nicht, bevor der Herrnsignifikant Sp d. h. der Name der Nation und die Abstraktion und die Verallgemeinerung (von lokalen Fixierungen), die dieser erzwingt, sich durchgesetzt hat. Nun ist aber jede kollektive Identitätsbildung auch auf kol­ lektive Genuß- und Leidenserlebnisse, mittels phantasmatisch inszenierter Rituale wesentlich angewiesen. Der Nationalismus produziert jene narzißtische Energie, die gerade dafür notwen­ dig ist; so kann man sagen, daß er die Nation «schafft». Freilich ist der ganze Prozeß nicht ohne seine Beziehung zum gnostisch umgewandelten, säkularisierten, religiösen Messianismus zu be­ greifen. Es gibt hauptsächlich zwei Typen von nationaler Identität: den «Gemeinschaftsgeist» (Ethnos) und den «Verfassungspatriotis­ mus» (Demos). Diese zwei Formen hatten in der neueren eu­ ropäischen Geschichte ihre Wurzeln in konkreten historischen und kulturellen Konstellationen. Die Aufklärung und die Fran­ zösische Revolution führten zum Begriff des demokratischen Rechtsstaates und der Rechte des Individuums und des Bürgers.

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In diesem (symbolischen) Rahmen bildete die Nation eine Iden­ tität, die eine Bürgergesellschaft (civil society), eine offene Ge­ sellschaft zum Ziel hat, in der die Hoffnung und der Wille exi­ stieren, daß die Gegensätze durch friedliche Verhandlungen ver­ mittelt werden sollen und können. In diesem Fall enthält die nationale Identität auch die Anerkennung des Selbstbestim­ mungsrechts der Völker. Dieses Modell des Verfassungspatriotismus setzte sich in den Ländern Westeuropas und Nordamerikas durch. Aber es hat auch seine schwachen Stellen: Bei seiner Gründung am Ende des Mittelalters als nationale Monarchie in England, Frankreich und Spanien, implizierte es eine gewaltsame kulturelle Homoge­ nisierung der Bevölkerung sowie einen Zentralismus; die soziale Frage blieb, trotz aller sozialen «Fortschritte», ungelöst bzw. durch die Ideologie der «nationalen Einheit» verdeckt, die durch die nationalen Kriege immer wieder verstärkt wurde; die Frage der nationalen und kulturellen Minderheiten wurde zwar besser als anderswo gelöst, aber keinesfalls überwunden; der Kult der «Nation» als einer säkularisierten «Religion civile» hatte zur Er­ gänzung eine imperialistische Politik nach außen verlangt. Die­ ser «patriotische» Nationalismus verlangte ideologisch eine ab­ strakte Gleichheit und Nivellierung aller sozialen und lokalen Gruppen im Namen der Universalität der Vernunft. Hieraus entsprang die Reaktion dagegen, wie sie sich zuerst in der Restauration der Monarchie in Frankreich im Jahre 1814 äußerte. Zur gleichen Zeit erschien in Deutschland und allen Ost- und Südeuropäischen Ländern das romantische Modell des «Gemeinschaftsgeists» des Volkes. In Gegensatz zum Verfas­ sungspatriotismus betonte und betont dieser «gemeinschaftli­ che» Nationalismus die Existenz einer imaginären und ewigen mystischen «Substanz» eines Volkes, die sich von Generation zu Generation durch das gemeinsame Blut, die Erde, die Sprache, die Religion und die Sitten überträgt. Hier existiert nur ein kol­ lektives Subjekt, dem sich die Individuen und die Vernunft un­ terordnen, während charismatische Führer das «Schicksal» der Volksgemeinschaft verkörpern. Das Blut und die Erde5“ sind hier die zwei Fetische und Kultidole, denen die Individuen sich op­ fern; andererseits befinden sich diese nationalen Gemeinschaf­ ten in einem feindlichen Konkurrenzverhältnis zueinander, und haben zum Ziel die «Erlösung» ihrer Bestandteile, die sich noch nicht national befreit haben. Das letzte Moment hat eine beson­ dere Rolle bei der Dominanz dieses Modells in Ost- und Südeu-

244 ropa gespielt. Diese «organische» Gemeinschaft erkennt in ihrem Rahmen keine klassenmäßigen oder kulturellen Differen­ zen an und betrachtet die nationalen und kulturellen Minderhei­ ten, die Juden und die Intellektuellen mit feindlichem Blick. Diese zwei Modelle waren während des 19. Jahrhunderts bis zur Zerschlagung des Faschismus im Jahre 1945 in einem Konkur­ renzverhältnis zueinander, wobei es in der Realität Übergangs­ formen gab und gibt. Westdeutschland konnte sich erst danach endgültig das westliche Modell aneignen. Wenn heute wieder überall in Europa der «Gemeinschaftsgeist» aufersteht, so ist das noch lange nicht so relevant wie in dei' Vergangenheit; aber es hängt von der Entwicklung der Demokratie und der sozialen Frage ab, ob diese Tendenz weiter erstarken wird. Die Ausdehnung der Anwendung dieser Modelle außerhalb Eu­ ropas muß mit einer methodologischen Vorsicht verbunden wer­ den. Es hat aber den Anschein, als ob auch in den Ländern Asi­ ens, Afrikas und Lateinamerikas, der Gegensatz zwischen diesen zwei Modellen sich gewaltsam austrägt. Tribale, imperiale und traditionalistisch/religiöse Widerstände gegen die Moderne äußern sich auch dort in der Vorliebe für einen «Gemeinschafts­ geist» und in der Verwerfung der Menschenrechte als einer «westlichen» Erfindung, hinter dem Alibi des Widerstands gegen die «Kolonialisten» und «Imperialisten». Der heutige Nationalismus in Europa ist einerseits ein Produkt der Auflösung der großen übernationalen Identitäten der UdSSR und Jugoslawiens. Andererseits begann das Phänomen in West­ europa im Jahre 1968 mit den «Mininationalismen» der lokalen und regionalen Minderheiten in Großbritannien, Frankreich, Belgien, Spanien und Italien. Das berühmte «Recht auf Diffe­ renz», das 1968 als Forderung aufgestellt wurde, zeigte mit der Zeit seinen ambivalenten Charakter. Diese regionalen Emanzi­ pationsbewegungen beschränkten sich in der Folge nicht auf ihre «gerechten» Forderungen, und sie radikalisierten sich, in­ dem sie bald einen chauvinistischen, oft rechtsextremen Charak­ ter annahmen; dies, in dem Moment, in dem die Bewegungen von ihren Mitgliedern eine totale Identifizierung mit der Gruppe und eine «Freund-Feind-Beziehung»53 mit dem «anderen» (hier dem betreffenden Nationalstaat) verlangten. Es begann nämlich mit der Fetischisierung der Differenz als et­ was Absolutem, als einer mystischen Substanz, als einer Riva­ litätsbeziehung bis auf den Tod ohne symbolische Einhegung. Diese polarisierte/imaginäre Beziehung mit dem anderen ergänzt

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die totale/imaginäre Identifizierung der Individuen mit der Gruppe; hier ist der andere kein Gegner sondern ein Feind und dazu gehören auch die Dissidenten als innere Feinde. Aber in Westeuropa gibt es auch auf nationaler Ebene partikularistische, antieuropäische Tendenzen, die die Angst verdecken, die die Perspektive einer übernationalen Einigung impliziert. Die Angst entstammt nicht nur Phantasmen, sondern realen wirtschaftlichen und institutionellen Schwierigkeiten, denn die europäische Gemeinschaft hat noch nicht ihren technokrati­ schen Charakter überwunden, sie leidet unter ihrem symboli­ schen Defizit, während andererseits die Einigung die ökonomi­ sche Konkurrenz mittels der unvermeidlichen Rationalisierung der Wirtschaft unter den Mitgliedsländern verstärkt. Die populi­ stische Demagogie gewisser rechter und linker Gruppen kann hier leicht das Bild der «nationalen Gefahr» und Verteidigungs­ syndrome mobilisieren. All dies sind Symptome einer langjährigen Entwicklung der westeuropäischen Länder während der letzten Jahrzehnte. Es geht um die postindustrielle Massengesellschaft und die beson­ deren sozialen und psychischen Probleme, die sie mit sich bringt. Es sind die gleichen Symptome von Anomie,54 Entfrem­ dung und Gesetzesschwund, die auch zum Rassismus führen können. Es gibt einerseits die «Explosion der Ansprüche» und die Vorstellung, daß «alles möglich ist», d. h., daß der Mangel verschwinden kann; dies geht mit der Steigeiung von korporati­ stischen und partikularistischen Forderungen einher. Anderer­ seits aber hegen selbst die Kritiker des Systems (Ökologen usw.) die gleichen Illusionen. Der Partikularismus findet sich bei den sozialen Bewegungen, indem diese von fundamentalistischen und «politisch korrekten» Strömungen dominiert werden. An­ dererseits verfallen sie oft der Vorstellung einer künftigen phantasmatischen «Harmonie», in der alle «gut» sein werden und «nichts fehlen» wird. Die ideologische Krise der letzten Jahrzehnte, die als «Postmo­ derne» erschien, bedeutete das Schwinden der «großen» Ideolo­ gien der Aufklärung und des Sozialismus, die einen universali­ stischen Anspruch hatten. Das Wiedererstarken des Partikularis­ mus, des Nationalismus und des Rassismus ist selbst ein Symptom dieser Situation. Die sozialen Bewegungen wollten in Westeuropa die Lücke der «großen Politik» und der «großen Ideologien» füllen; zum Teil zu Recht, und sie hatten auch damit anfangs Erfolge, die mehr Gerechtigkeit und mehr Freiheiten

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mit sich brachten. Aber sie erreichten Ende der 80er Jahre ihre Grenzen, indem sie oft in Fanatismus, Partikularismus oder Op­ portunismus verfielen («Entideologisierung»). Hinter dem Wort «Entideologisierung» stecken oft widersprüchliche Positionen: entweder eine skeptische Indifferenz und ein unkontrollierter kollektiver Egoismus, oder ein neoromantischer Vitalismus und Irrationalismus. In beiden Fällen dominieren die Verwerfung der universalistischen Werte und der Antiintellektualismus: Alle entdecken das «Besondere» und das «Individuelle» (die sich auch sehr wohl mit dem Neoliberalismus vertragen können) und niemand denkt daran, daß diese ohne das «Allgemeine» bzw. das «Universelle» keinen Sinn haben können. Der Nationalismus ist der Triumph des Besonderen über das All­ gemeine und des Individuellen unter dem Mantel des falschen Allgemeinen. Und er taucht wieder dort auf, wo das dogmatische universalistische Modell des Marxismus zusammengebrochen ist (Osteuropa) oder dort wo das Chaos der egoistischen Partikularismen dominiert (Westeuropa). Der Nationalismus gibt auf je­ den Fall auf eine grobe und «sichere» Art eine Antwort auf eine Reihe von Fragen der sozialen und psychischen Kohäsion, die sich dem Menschen in der Moderne stellen. Viele der Sackgassen der Moderne wären vermeidbar, wenn eine emanzipatorische Politik, die das Symbolische respektiert und den instrumentellen Diskurs einschränkt, in der Zukunft verwirklicht werden könnte. Aber es bleibt ein «Rest» übrig, das «Unbehagen in der Kul­ tur»,55 das immer wieder in jeder Kultur auftauchen wird. Das soll freilich nicht die Versuche einer Veränderung von vornher­ ein diskreditieren; es stellt nur den Horizont aller solcher Bemühungen dar. In Zeiten einer psychischen und kulturellen Krise, fangen die ar­ chaischen, phallischen Elemente der aggressiven Abgrenzung vom anderen an zu dominieren. Aber auch die radikale intellek­ tuelle Skepsis gegenüber der Aufklärung (bzw. dem Christentun) kann auf anderem Weg zum gleichen Ergebnis führen. Ähnlich wie in den Jahrzehnten der Zwischenkriegszeit56 die radikale Verwerfung der Vernunft und das Lob des «Elan vital», des Paga­ nismus, des Irrationalismus und des «Willens zur Macht» domi­ nierten, so ziehen diese Mythologien wieder viele in Ost und West an. Heute haben jedoch die meisten Nationalismen in Westeuropa einen konservativen Abwehrcharakter, der die Xeno­ phobie impliziert und auf einer neurotischen Haltung gegenüber der Herausforderung basiert, die die europäische Integration

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einer multikulturellen Gesellschaft darstellt. Dabei ist der Rassis­ mus, anders als im 19. Jahrhundert, nicht Folge, sondern Ursa­ che des Nationalismus In den Ländern Osteuropas muß man die orthodoxen Länder ge­ sondert analysieren, weil die orthodoxe Kirche den Gegensatz zum Westen besonders forciert (vermittelt über die Intellektu­ ellen). Diese Länder haben seit dem 19. Jahrhundert eine gespal­ tene nationale Identität57 und konnten die Herausforderung der Moderne in ihre Kultur bisher nicht erfolgreich integrieren und verfallen derart der Fetischisierung ihrer fernen Vergangenheit. Die langjährige Dominanz des Stalinismus (oder Titoismus) ver­ stärkte die Entfremdung zu Westeuropa (einen Sonderfall bildet hier Griechenland: obwohl «westlich», dominiert wieder ver­ stärkt, infolge der Orthodoxie, eine antiwestliche Haltung). Die orthodoxe Kirche schaltete sich schon im 19. Jahrhundert mit dem Staat gleich und bildete seitdem eine der Stützen des Natio­ nalismus in diesen Ländern. Aber die Identitätsspaltung exi­ stiert, weil diese Länder schon auf irreversible Weise die Erfah­ rung der Moderne gemacht haben, nur sind sie für sie ungenü­ gend vorbereitet. Dies unter anderem, weil die Orthodoxie keine innerweltlichen Veränderungen, sondern eine außerweltliche Kontemplation der Subjekte fördert, die die «Gemeinschaft» in den Mittelpunkt stellt und weder den individuellen Willen, noch die Menschenrechte und die fundierende Rolle des Gesetzes an­ erkennt. Die Demokratie kann nur existieren, wenn die Vernunft und die Prinzipien der Aufklärung funktionieren; die Forderung nach einer gewissen Ordnung und Kohäsion der Gesellschaft ist je­ doch nicht an sich «reaktionär», es geht nur darum, wie diese Forderung befriedigt wird. Der große Fehler der traditionellen Linken (aller Richtungen) war die Verdrängung der notwendigen Existenz einer nationalen Identität und bestimmter Basiswerte, die unabhängig von taktischen politischen Erwägungen gelten.

IV.7. DAS ETHISCHE UND DAS POLITISCHE

Freud hat den Zugang zum Unbewußten durch die Ent-deckung der besonderen Form des neurotischen (hysterischen) Begehrens im «Ödipuskomplex» gefunden. In dem Maße, m dem alle Sub­ jekte durch einen neurotischen Kem konstituiert sind, entbehrt

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jene Entdeckung nicht der Wahrheit. Dennoch ist die «reine» Struktur des Begehrens nicht mit deren neurotischer Form iden­ tisch; jene Struktur enthält vier Variationsmöglichkeiten: die psychotische, die perverse, die neurotische und die sublimierte Form58. Freud selbst hat weder die Psychosen noch die Subli­ mierungsformen ausreichend theoretisch begründet, und hierin besteht die Leistung Lacans; letzterer hat die Struktur des Be­ gehrens verallgemeinert, und stellte die Frage nach dem «Jenseits des Ödipuskomplexes» (dies in Opposition zum «Anti-Ödipus» von Deleuze und Guattari).59 Hier geht es nicht um ein program­ matisches «Überwinden» des Ödipuskomplexes; alle Subjekte gehen durch diese Bewährungsprobe. Aber ihre Gesamterfah­ rung beschränkt sich nicht nur darin: In einigen Fällen entsteht, infolge der psychoanalytischen Erfahrung und der Sublimie­ rung, ein Spielraum der Freiheit, der die fatale Kette der seeli­ schen und kulturellen Zwänge durchbricht. Dies ist von Bedeu­ tung für das Verstehen der kritischen praktischen Vernunft, denn der Ursprung des Herrschaftsdiskurses sowie der instru­ mentellen Vernunft liegt im neurotischen und im perversen Komplex, d. h. im Unwillen und im Unvermögen des Subjekts, den strukturellen Mangel, als das es konstituierende Moment an­ zuerkennen. Die Anerkennung des Mangels seitens des Subjekts wird jedoch den Ödipuskomplex nie «aus der Welt» schaffen, sie kann ihn jedoch «in Frage» stellen. Der Ödipuskomplex führt zum «Gesetz des Ödipus»: Der Vater untersagt das Begehren des Kindes für die Mutter, und das Kind entdeckt erst dadurch sein Begehren, vermittelt über den Neid und die Konkurrenz mit dem väterlichen Begehren, und infolge­ dessen wünscht es unbewußt dessen Tod. Hier wird das Verbo­ tene «begehrenswert», so daß die permanente Verdrängung der asozialen Wünsche nach Inzeßt und (Vater-)Mord verlangt wird; diese Verdrängung versagt immer wieder, indem der verdrängte Signifikant des Begehrens an die Oberfläche gelangt und sich nicht mit einem Substitut begnügt. Dies erklärt eine Seite der Kultur: den Mechanismus der Herrschaft und ihrer Reproduk­ tion, und sowohl die Herren als auch die Knechte sind auf ima­ ginäre Weise diesem Modell hörig. Freud erwähnt jedoch auch andere Momente, die dieses Modell differenzieren, obwohl er das Begehren an sich mit der besonderen Form, die es in der Neurose annimmt, identifiziert. Er spricht jedoch vom Kastrati­ onskomplex, der etwas anderes als der Ödipuskomplex ist. Er er­ wähnt ebenfalls die Tatsache, daß die Mutter das ursprüngliche

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Objekt des Begehrens des Kindes, noch vor seiner Identifizierung mit dem Vater, darstellt.60 Lacan betont andererseits, daß das Gesetz, das das Begehren konstituiert, nicht das (ödipale) verbietende Gesetz ist.61 Es gibt ein «elementareres» Gesetz, dessen Notwendigkeit aus der Aporie des Begehrens resultiert: Wie kann das Begehren aufrechter­ halten werden, wenn das absolute Objekt (das Ding), nicht verlo­ ren, sondern immer schon abwesend und unerreichbar ist, und deswegen zum Mythos des Höchsten Gutes und des absoluten Genießens (der totalen «Befreiung») führt? Die Antwort von La­ can lautet: Weil das absolute Objekt fehlt, deswegen erhält das Gesetz des Signifikanten das Begehren des Menschen aufrecht, es ist das symbolische Gesetz, das vermittels des Sprechens des Anderen artikuliert wird. Dieses Gesetz ist nicht verbietend, son­ dern artikuliert sich in der Form eines kategorischen Impera­ tivs:62 «Du sollst begehren», oder negativ formuliert: «Du sollst Dein Begehren nicht aufgeben63», bzw. «Nicht-Alles ist möglich». Das Begehren ist aber hier nicht der Inzeßt- und Tötungswunsch (das neurotische Begehren) sondern etwas anderes, es ist der Mut der Konfrontation mit dem Tod, dem Mangel des absoluten Objekts und des absoluten Wissens, es ist die Versöhnung mit dem Mangel und der Unvollkommenheit der Welt {nicht aber mit ihrem Sosein!). Das symbolische Gesetz (das ungeschriebene, ethische und das geschriebene, politische Gesetz) ist das Gesetz der Kastration; im Gegensatz zu Freud, der dem Wort '«Kastration» einen real­ imaginären Inhalt gibt, bedeutet der Begriff für Lacan auf meta­ phorische Weise die unvermeidliche Bewährungsprobe des Sub­ jekts mit dem Mangel (dem Tod des Anderen) und der Subjekt­ spaltung (dem eigenen Mangel). Das symbolische Gesetz bestraft nicht die Übertretung, aber das Subjekt erleidet die «Folgen» seines Nichteinhaltens, indem es in die kausale Dyna­ mik des Imaginären (des Über-Ich und des Ich) hineingerät. Der symbolische Vater führt das Gesetz in das Subjekt ein und verei­ telt den Narzißmus und die Verführung der imaginären (autar­ ken) Dyade von Mutter und Kind (beiderlei Geschlechts);64 so er­ scheint er als der «Dritte», der Träger des Gesetzes (und des Mangels an Unmittelbarkeit). Der Vater mißlingt jedoch oft beim Realisieren dieser Funktion. Das symbolische Gesetz hat zur Folge, daß es keine «Harmonie» und «Komplementarität» zwischen dem Kind und der Mutter, dem Mann und der Frau, dem Menschen und Gott, den Wirt-

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Schaftspartnern usw. gibt; aber diese symbolische Differenz (Di­ stanz) bildet gerade das «Motiv» einer nicht-imaginären Bezie­ hung zwischen den zwei (oder mehreren) Subjekten. Im Alltag jedoch erscheint immer das verbietende Gesetz als eine unver­ meidliche, sekundäre Formation des symbolischen Gesetzes. Dies, weil kein Subjekt in der Realität allein mit der Sublimie­ rung leben kann; die Phantasmen und ihre Verführung, die Schwächen, das Böse, die Angst und der Alltag verlangen und setzen das verbietende und strafende Gesetz gegen die Willkür des Narzißmus durch. Das korrekte Verstehen dieses zentralen Punktes bildet die Vor­ aussetzung zum Begreifen der kritischen Vernunft. Das sexuelle (phallische: Hier hat der Begriff nichts mit dem Männlichen zu tun) Genießen vermeidet nicht seine Abhängigkeit von den Phantasmen der Macht, die die Beziehung des Subjekts mit einem Substitut des Dings «in Szene setzen». Das sexuelle Ge­ nießen enthält immer das Erlebnis der Trennung, der Endlich­ keit, der Abwesenheit, des Mangels, und nur darin hat es auch die gleiche Struktur mit dem sublimierten Genießen, dem «ande­ ren Genießen» (der Frau). «Sexualität» bedeutet Geschlechterspaltung und Bewährung in der Abwesenheit des unerreichba­ ren Dings, ebensosehr aber auch das Vermögen des Genießens durch ein Substitut, das vom realen, sprechenden Anderen ange­ boten wird. Hier kann man schon zwei mögliche problematische Alternati­ ven erahnen, bei denen das Subjekt versucht, die Bewährungs­ probe des Mangels zu umgehen. Die Verabsolutierung der Positivität des sexuellen Genießens führt zur Perversion65 (Fetischis­ mus, Sadomasochismus etc.), in der das Subjekt sich mit dem Objekt des Begehrens des Anderen (der Mutter) imaginär identi­ fiziert und glaubt, es zu seinem Lustinstrument machen zu kön­ nen; gleichzeitig «provoziert» es das Gesetz: Das Subjekt zwingt das Gesetz zur Übertretung (unterstellt Willkür), die für das Subjekt zur Lustquelle wird (Verleugnung des Gesetzes).66 Das Gesetz bekommt hier die Form: «Du sollst genießen!», und das ist die Formel für den Totalitarismus. Auf der anderen Seite ist es umgekehrt; die Verabsolutierung des negativen, mit dem Mangel behafteten Charakters der Sexua­ lität, führt zur Neurose (Hysterie, Zwangsneurose usw.)67, in der das Subjekt sich mit dem Subjekt des begehrenden Anderen (dem realen Vater) imaginär identifiziert (indem es auf ihn seine Allmachtphantasmen projiziert); das Subjekt versucht vermittels

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seiner Unterwerfung unter den hypothetischen Anspruch des An­ deren die Bewährungsprobe des Mangels, die Annahme von Ver­ antwortung usw. durch ein zuviel an «Gehorsam» zu umgehen (Verdrängung des Mangels). Das Gesetz bekommt hier die Form: «Du sollst begehren gemäß dem Anspruch des Anderen». In bei­ den o. e. Fällen verbindet sich das Genießen mit Allmachtphan­ tasmen und reduziert sich zu einer Lust. Diese Interpretation des Lacanschen Denkens ist nicht die ein­ zige. Aber die Abenteuer der Lacanschen Theorie und institutio­ nellen Praxis werden wesentlich durch ein Schwanken be­ stimmt, die sein Denken auszeichnet. Lacan hat nämlich auch die Auffassung vertreten, daß das Gesetz im Befehl: «Genieße!»68 besteht, und so wird er von vielen Anhängern und Feinden ver­ standen. Es ist jedoch nicht selbstverständlich, das Über-Ich (oder das bürokratische Wissen) als die reinste Form des Signifikanten an­ zusehen und das Genießen als eine Wirkung der Transgression des Gesetzes zu verstehen. Ist diese «dämonische» (im Sinne Kierkegaards und Freuds) Auffassung des Genießens die einzig mögliche? Demgegenüber ist aber die Kritik an der Innerlichkeit und am Über-Ich berechtigt. Es ist auch richtig, daß der Signifi­ kant die «innere Äußerlichkeit» des Subjekts darstellt, was dann bedeutet, daß man die kontingenten, äußeren Gesetzesverord­ nungen nicht unterschätzen und ablehnen sollte. Aber eine Entgegensetzung zwischen dem inneren und dem äußeren Gesetz, mit der Tendenz dem äußeren Gesetz den Vor­ zug zu geben (bzw. seine totale Abschaffung zu verlangen), wird problematisch, denn sie reproduziert die alten Probleme mit umgekehrtem Vorzeichen. Muß jedoch nicht ab einem gewissen Punkt die «Abschaffung» des inneren Gesetzes zu einer Art Ano­ mie führen, bei der der Namen des Vaters selbst in Frage gestellt wird? Hier liegt eine Antinomie vor, die so nicht lösbar ist, denn das äußere Gesetz braucht wiederum einen «inneren» Rückhalt (den Glauben), ohne den es überhaupt nicht funktionieren kann, und dieser Rückhalt ist nicht das Über-Ich, sondern der Namen des Vaters. Letzterer ist aber ein reiner Signifikant, bei dem man nicht stehen bleiben kann: Er garantiert den Mangel und das Be­ gehren, aber wohin führt dann in der Folge die Dialektik des Be­ gehrens und des Gesetzes? Es gibt noch andere Alternativen, als daß man nur auf der Ebene der verschiedenen Formen des Ge­ setzes stehen bleibt.

252 Seit der Antike, und in der Neuzeit seit Machiavelli, war immer klar, daß das Funktionieren der Demokratie nach Tugend ver­ langt.69 Aber eine «Verinnerlichung» des republikanischen Ge­ setzes (z. B. bei Rousseau) bedeutet solange nicht die blutige Konsequenz von Saint-Just, so lange das freie Argumentieren von der Kontingenz geprägt wird, nämlich so lange die Subjekte «unverbindlich» über die Politilk «quatschen» und nicht immer konsistent bleiben.70 Die Position der Demokratie ist also «unhaltbar»: Einerseits kann sie nicht ohne die Anerkennung der freien, rational argu­ mentierenden Öffentlichkeit (einschließlich der ideologischen Verkennungen) existieren, andererseits, sobald man dies ausge­ sprochen hat, als Anspruch, als Forderung, sofort der «Abbau» der Demokratie beginnt, weil sich die Errichtung eines tyranni­ schen Über-Ich und eines ideologieproduzierenden Ich abzeich­ net, die jene Freiheit total schützen, bzw. ausnützen wollen. Aber der Ort dazwischen, der Wendepunkt ist nicht das tyranni­ sche Über-Ich selbst, sondern die Inkonsistenz, die Leere. Das reine politische Gesetz kann genauso tyrannisch wie das reine ethische Gesetz werden. Aber wie kann man andererseits vermeiden in eine «Apologie des Bösen» zu verfallen? Zynische und skrupellose Machtpolitiker, als «Demokraten» oder «Kon­ servative» präsentiert, hätten gerade im Namen einer «Realpoli­ tik» jeden ethischen Maßstab in der Politik abgelehnt und dabei auch «Toleranz» in ethischen Dingen gezeigt. Aber der Prozeß der Demokratisierung ist ein konstitutiver Be­ standteil der Moderne, zu der auch die Psychoanalyse gehört.71 Und der Begriff der Gerechtigkeit ist keine bloße ideologische Konstruktion und Rationalisierung und läßt sich nicht auf das Über-Ich reduzieren, sondern ist ein wesentlicher Aspekt des Ge­ setzes. Die Dialektik des Gesetzes und des Begehrens führt in die Dialektik der Gleichheit und der Freiheit; letztere ist ein Produkt der ersten, ein Sinneffekt. Die offen gelassene Frage ihrer Ver­ mittlung wird weiter unten thematisiert. Daß dieser Sinneffekt auch ideologische Aspekte aufweist, kann man nicht bestreiten, aber er läßt sich nicht darauf reduzieren. Diese Problematik führt zu der Frage nach dem Verhältnis des Ethischen zum Politischen; zwischen ihnen gibt es eine Brücke, die das Ethische des Politischen12 darstellt. Im Politischen muß es nicht immer den Diskurs des Herrn geben; den gibt es auch im Alltag der zwischenmenschlichen Beziehungen. Im Hintergrund existiert immer auch das symbolische Gesetz; es erscheint zwar

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253 nicht in seiner «sublimen» ethischen Form, wohl setzt es aber den Machtspielen Grenzen, die ernst zu nehmen sind. Hier ist weiters auf die Unterscheidung, die Kierkegaard zwi­ schen dem «Ästhetischen», dem «Ethischen» und dem «Religiö­ sen» macht, hinzuweisen, wobei ersteres schon durch das Be­ gehren erfaßt wird, wie dieses sich vom Gesetz emanzipieren will. Man könnte auch zwischen einer Ethik I und einer Ethik II unterscheiden.73 Die Ethik I wäre dann die Ethik in der Welt, die Ethik, die auch im Politischen zu verlangen ist. Das ist die antike (stoische) Bürgertugend und Gerechtigkeit, die noch keine In­ nerlichkeit kennt. Sie ist aber auch die Ethik der Rechtfertigung durch die Werke, durch die eigenen Verdienste, und es ist klar, daß diese Ethik nicht mit der Ethik der Psychoanalyse gleichzu­ setzen ist. Wenn für die Psychoanalyse das Reale «diesseits» der Weh liegt, dann läuft sie oft Gefahr, der Versuchung der unpolitischen In­ nerlichkeit nachzugeben. Wenn jedoch die Psychoanalyse die Bedeutung des «äußeren» Gesetzes anerkennt, dann erscheint die nächste Frage: Wie ist es für das Subjekt des Unbewußten möglich, eine «Schaltstelle» zwischen «innen» und «außen» zu finden, die aber keinen «Kurzschluß» durch das Über-Ich dar­ stellt? Hier liegt der Kem der Frage, und die Antwort kann nicht im Bereich des Politischen und nicht im Bereich des Ethischen I liegen. Sie kann nur in der Liebe liegen, die durch das Begehren «induziert» wird, es aber transzendiert. Im Begehren wird das Subjekt zum Symbol,74 es leidet, indem es die Negativität der Zeit erlebt, und es genießt, weil es die Positivität der Zeit erlebt. Dieses Genießen (das auch immer ein Ver­ hältnis zur Welt bedeutet) ist zunächst ein phallisches (sexuelles und machtorientiertes) Genießen, aber es gibt auch das «an­ dere» Genießen der Frau, das sich nicht mehr am Phallus, son­ dern am reinen Signifikanten orientiert, und dessen Ausdruck die Liebe15 und die Kreativität sind (wobei die Frauen auch das phallische Begehren kennen, während den Männern das andere Genießen nicht unbekannt ist). Man sollte sich aber hüten, beide Formen des Genießens gegeneinander auszuspielen: Das phalli­ sche Genießen enthält die Erfahrung der Kastration, die Erfah­ rung der Endlichkeit des geschlechtlichen Körpers, die von Mann und Frau geteilt wird. Demgegenüber setzt das «andere» Genießen, das nie «rein» ist, die Kastration voraus (Sublimie­ rung). Die Liebe16 stellt das eigentliche Überwinden der Phantas­ men dar; sie ist aber etwas anderes als die Idealisierung und die

254 imaginäre Identifizierung mit dem anderen, wie es in der Mas­ senpsychologie und in der Hysterie der Fall ist. Sie ist als eine nicht identifikatorische Liebe das Verhältnis des Subjekts zu einem anderen Subjekt, nicht mehr zu einem Objekt, wie beim Begehren; sie ist ein sich Schenken, ein Gnadenakt und nicht mehr wie beim Anspruch, ein Tauschakt. Es besteht dennoch kein Widerspruch zwischen Begehren und Liebe; nur Neurose und Perversion sind lieb-los, weil sie nicht aufhören zu ver­ führen. Hier darf man vom Religiösen im Sinne Kierkegaards sprechen, oder von Ethik II (der Liebe). Der Begriff des Lacanschen Begeh­ rens weist andererseits auf eine Dialektik der Offenbarung und der Verbergung hin, die auch das Denken des späten Schelling und Kierkegaards77 kennzeichnet. Diese Dialektik ist anderer Struktur als die Hegelsche Dialektik der Identitätsprozesse. Letzteres hat Lacan gewußt78; denn die notwendige, totale Offen­ barung Gottes, sowie die Identitätsaussage «Gott ist der Begriff», umschreiben den Kem der Hegelschen Dialektik.79 Demgegenüber weist Freud, in seiner Schrift über das «Unheim­ liche» selbst auf Schelling hin.80 Bei ihm aber liegt gerade im (partiellen) «Sich-Zurückhalten» Gottes, als einer freien und nicht notwendigen Handlung, die eigentliche Bestimmung sei­ ner Freiheit. Darüber hinaus ist für Schelling das «Wirkliche»81 nicht das «welthaft Wirkliche», sondern wirkt wie ein Blitz in die Weltgeschichte hinein, wie «ein Stillstand der Zeit», ein Ge­ danke, den Benjamin später entwickelt hat.82 Der Begriff der Liebe spielt sowohl bei Hegel als auch bei Schel­ ling und Kierkegaard eine große Rolle. Der junge Hegel hat die Liebe als die Lösung der kantischen Antinomie83 zwischen dem inneren und dem äußeren Gesetz verstanden. Aber diese «Liebe» blieb für ihn auf der Ebene der Liebesmystik, d. h. der Identifi­ zierung mit dem Anderen stehen, deswegen konnte sie nicht zu einer «Begegnung» mit dem (mit dem Mangel behafteten) Ande­ ren führen. Außerdem konnten die Gleichsetzung der Liebe mit der Kategorie der Vermittlung, die Identifizierung von Christus mit der Welt und die Auffassung der Weltgeschichte als einer Selbstentäußerung und Selbsterlösung Gottes, nicht dazu führen, die «Macht der Liebe», von der Freud spricht, ins Zen­ trum der Dialektik zu rücken. Gerade hier liegt die strategische Bedeutung der Liebe: Man wird endlos nach Vermittlungen zwi­ schen dem Gesetz und dem Begehren suchen, solange man nicht begreift, daß die Liebe zur Macht nur durch die Macht der Liebe

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255 zu überwinden ist, und dies transzendiert das Politische, ohne ihm den Rücken zu kehren (Das gleiche gilt für das Verhältnis

Das ist angedeutet mit der existentiellen Praxis der Begegnung bei Kirkegaard.84 Die Liebe nicht als «theoria» sondern als Praxis führt zu einer Rehabilitation des Begriffs «Praxis», wenn man sich überlegt, daß die Psychoanalyse eine Praxis des «vollen Sprechens» (das um den Mangel herum eingeschrieben ist) ist, die Liebestaten induzieren kann (oder auch muß?). Alain Juranville spricht von der «Liebestat»85 des Analytikers gegenüber dem Analysanden, die letzterem ermöglichen soll, seine Verabre­ dung mit dem Realen (nicht) zu verpassen. Diese Auffassung von der Liebe als Geschenk des Anderen (nicht: des Seins) ist bei Kierkegaard noch nicht ausgearbeitet. Denn er ist, trotz seiner Kritilk an Hegel, zu nah am Begriff86 und an der Erfahrung der mystischen Liebe und der Innerlichkeit stehengeblieben, anstatt die dialogische Struktur des Unbewußten zu entdecken. Eine Struktur des Signifikanten, vermittels der die Subjekte erst kon­ stituiert werden, indem sie gleichzeitig in ein Verhältnis des Be­ gehrens und der nicht identifikatorischen Liebe jenseits des Poli­ tischen zueinander gesetzt werden können. Aber dieses Jenseits gibt auch erst den Raum frei, in dem das Politische als die prak­ tische Vernunft sich entfalten kann.

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Anmerkungen

ZU KAPITEL I

1. Vgl. R. Jakobson, «L1 agcncement de la communication verbale», in ders. Essais de linguistique generale II, Paris, 1975, S. 77-90. 2. Vgl. R. Jakobson, in ders., «Principes de phonologie historique», in SW I, S.202-220. 3. Vgl. R. Jakobson, 1929a, SW UI, S. 20. 4. Vgl. R. Jakobson, 1959a, SW II, («Word and language»), S. 261. 5. Vgl. R. Jakobson, SW IV («Slavic epic studies»), 1966. 6. Vgl. J. Lacan, Sdminaire XVII, L' envers de la psychanalyse, Paris, 1991 (Über die vier Diskurse). 7. Vgl. R. Jakobson, SW IV, S. 2. 8. Vgl. R. Jakobson, «Unterbewußte (Subliminal) sprachliche Gestaltung in der Dichtung», in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik I, 1971, S. 101-112. 9. Vgl. J. Lacan, «La Chose freudienne», in: Ecrits, Paris, 1966, S. 431. 10. R. Jakobson, SW I, S. 423. 11. Vgl. R. Jakobson, «Glosses on the medieval insight into the Science of language», 1974, Manuscrit pour une publication de la soci6te de lingui­ stique de Paris. 12. Vgl. M. van Ballaer, Aspects of the Theories of R. Jakobson, Memoir, Katholieke Universiteit te Leuven, 1973, Louvain Lectures. 13. Vgl. R. Jakobson, «Poesie der Gramatik und Grammatik der Poesie», in: Aufsätze zur Linguistik und Poetik, hrsg. von W. Raible, München, 1975, S.247-260. 14. Vgl. F. de Saussure, Cours de linguistique g6n6rale, Paris, 1972, S. 155 f., S. 164. 15. Vgl. G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Th. Lipowatz, Die Verleug­ nung des Politischen, Weinhein und Berlin, 1986. 16. Vgl. F. de Saussure, op. cit., S. 177f., R. Jakobson, SW I, S. 306 f., SW II, S. 242. 17. U. Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, München, 1985, S. 137. 18. Ebenda. 19. Vgl. R. Jakobson, SW II, S. 229f.(«Two aspects of Language and two Types of Aphasie Disturbances»). 20. Vgl. R. Jakobson, «Sur la sp6cificit6 du langage humain», in: L' Arc 60, 1975, S. 3-8. 21. Vgl. M. Mauss, Essai sur le don. CI. Lövi-Strauss, «Introduction ä 1’ ceuvre de M. Mauss», 1950, in: M. Mauss, Sociologie et Anthropologie, Pa­ ris, S. IX-LII.

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257 22. Vgl. E. Holenstein, Roman Jakobsons phänomenologischer Strukturalis­ mus, Frankfurt a. M., 1975, S. 193. 23. Vgl. S. Freud, Zur Psychopathologie des Alltagslebens, Frankfurt a. M.» 1984, S. 13-18. 24. Vgl. S. Freud, Die Traumdeutung, Studienausgabe (SA) II, S. 213, 286f., 293-296, 306-308, 405, 462-484; Der Mann Moses und die monotheisti­ sche Religion, SA LX, S. 554; Zur Ätiologie der Hysterie, SA VI, S.76. 25. Vgl. S. Freud, Zur Psychopathologie des Alltagslebens, op. cit., S. 13f., 16, 44-46, 200f. 26. Vgl. S. Freud, Die Traumdeutung, op. cit., S. 190. 27. Vgl. S. Freud, Totem und Tabu, SA IX, S. 435. 28. Vgl. S. Freud, Zur Psychopathologie des Alltagslebens, op. cit., S, 13f. 103. 29. Vgl. S. Freud, Fetischismus, SA III, S. 388.8 30. Vgl. S. Freud, Hysterische Phantasien und ihre Beziehung zur Bisexua­ lität, SA VI, S. 193; ders. Zur Ätiologie der Hysterie, op. cit., S. 58. 31. Vgl. S. Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Frankfurt a. M., 1961. 32. Vgl. S. Freud, Das Unbewußte, SA III, S. 129. 33. Vgl. S. Freud, op. cit., S. 127. 34. Vgl. S. Freud, op. cit., S. 125. 35. Vgl. J. Lacan, Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewußten, in ders. Schriften II, Olten und Freiburg l.Br., 1975, S. 193-196; U. Eco, Einführung in die Semiotik, München, 1972, S. 76. 36. Vgl. S. Freud, Das Unbewußte, op. cit., S. 126. 37. Vgl. S. Freud, op. cit., S. 136. 38. Vgl. S. Freud, op. cit., S.137. 39. Vgl. S. Freud, op. cit., S. 138. 40. Vgl. S. Freud, op. cit., S. 140. 41. Vgl. S. Freud, op. cit., S. 140. 42. Vgl. S. Freud, op. cit., S. 145. 43. Vgl. S. Freud, op. cit., S. 145. 44. Vgl. S. Freud, op. cit., S. 145. 45. Vgl. S. Freud, op. cit., S. 146. 46. Vgl. S. Freud, op. cit., S. 146. 47. Vgl. S. Freud, Die Verneinung, SA III. 48. Vgl. S. Freud, Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens, SA III. 49. Vgl. S. Freud, Zur Einführung des Narzißmus, SA III. 50. Vgl. S. Freud, Totem und Tabu, SA IX, S. 364f. 51. Vgl. S. Freud, Jenseits des Lustprinzips, SA III. 52. Vgl. J. Lacan, Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion in ders. Schriften I, Olten und Freiburg i. Br., 1973. 53. Ebenda. 54. Vgl. G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a. M. 1970, S. 113-119. 55. Vgl. S. Freud, Jenseits des Lustprinzips, op. cit., S. 224-233; J. Lacan,