Der unüberquerbare Rubikon: Eine phänomenologische Psychopathologie der Willensstörungen 9783495817186, 9783495489765


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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
A. Einleitung
B. Die phänomenologische Methode
C. Propädeutik: Phänomenologische Psychologie des Wollens (Kap. I–V)
D. Klinik: Phänomenologische Psychopathologie der Willensstörungen und Psychotherapie des Willens (Kap. I–VI)
B. Die phänomenologische Methode
1. Vom Phänomen zur Phänomenologie
2. Methodische Probleme
C. Propädeutik: Phänomenologische Psychologie des Wollens
I. Das Wollen als psychisches Vermögen
1. Die Besonderheiten des Wollens
2. Das Wollen als komplexes Vermögen
(1) Denken können
(2) Fühlen können
(3) Innehalten können
(4) Sich vorstellen können
(5) Sich entschließen können
(6) Sich bestimmen können
3. Zusammenfassung
II. Die Strukturmomente und Phasen des Wollens
1. Strukturmomente des Wollens
a) Konation
(i) Lebensdrang und Antrieb
(ii) Leiblich-vitale Bedürfnisse
(iii) Seelisch-emotionale Bedürfnisse
(iv) Geistig-kulturelle Bedürfnisse
b) Suspension
c) Volition
2. Phasen des Wollens
a) Prädezisionale Phase
b) Dezisionale Phase
c) Postdezisionale Phase
(i) Planung des Willens (Sequenzierung)
(ii) Umsetzung des Willens (Konversion)
(iii) Beibehaltung des Willens (Persistenz)
3. Zusammenfassung
III. Die Zeitstruktur des Wollens
1. Zeitphänomene
a) Zeitperspektiven
b) Zeitebenen
c) Zeitdimensionen
(i) Die Vergangenheit
(ii) Die Gegenwart
(iii) Die Zukunft
2. Zeit und Wollen
a) Die dynamische Doppelstruktur
b) Das Zeitgefälle
3. Zusammenfassung
IV. Das Wollen in Situationen
1. Das situative Geflecht
a) Eigener Leib
b) Stimmung
c) Räumliche Verortung
d) Vergangenheit und Zukunftsbezug
e) Verflochtenheit mit dem Anderen
2. Die bedingte Freiheit der Situation
(1) Die situative Bedingtheit des Wollens
(2) Das Erleben des So-oder-anders-Können
(3) Psychopathologische Einschränkung der Entscheidungsfreiheit
3. Die Kairós-Situation
4. Zusammenfassung
V. Selbstbestimmung im Wollen und Handeln
1. Die personale Ebene der Selbstbestimmung
a) Authentizität
(i) Die hermeneutische Methode
(ii) Die existentielle Methode
b) Selbsttranszendenz
c) Offenheit
2. Die volitionale Ebene der Selbstbestimmung
a) Intuition
b) Besonnenheit
c) Entschlossenheit
d) Beharrlichkeit
3. Zusammenfassung
D. Klinik: Phänomenologische Psychopathologie der Willensstörungen und Psychotherapie des Willens
I. Die melancholische Abulie
1. Welterleben in der schweren Depression
2. Selbsterleben in der schweren Depression
a) Verlust geistig-kultureller Bedürfnisse
b) Verlust seelisch-emotionaler und leiblich-vitaler Bedürfnisse
c) Verlust von Antrieb und Lebensdrang
3. Zusammenfassung
II. Die Impulskontrollstörungen
1. Besonderheiten der Impulskontrollstörung
2. Impulskontrollstörungen im Spektrum psychischer Erkrankungen
a) Affektive Störungen
b) Schizophrenie
c) Essstörungen
d) »Abnorme Gewohnheiten«
3. Impulsivität bei Störungen der Persönlichkeitsstruktur
a) Antisoziale Persönlichkeitsstörung
b) Emotional-instabile Persönlichkeitsstörung
4. Zusammenfassung
III. Die Zwangsstörungen
1. Die Zwangsstörung als Inhibitionsstörung
a) Starker Antrieb und schwache Suspension
b) Der Charakter des Unsinnigen und Störenden
2. Zwangsgedanken
a) Zwangsgedanken mit Ängsten vor Verunreinigung
b) Zwangsgedanken mit aggressivem Inhalt
c) Zwangsgedanken mit sexuellem Inhalt
3. Die Zwangshandlungen
a) Wasch- und Reinigungszwang
b) Kontrollzwang
c) Ordnungszwang
d) Das »Schlafzeremoniell«
e) Zähl- oder Rechenzwang
4. Zusammenfassung
IV. Die pathologische Ambivalenz
1. Die Begriffsgeschichte der Ambivalenz
2. Der Begriff der Ambivalenz
3. Die pathologische Ambivalenz
a) »Psychotische« Ambivalenz
b) Die »neurotische« Ambivalenz
4. Zusammenfassung
V. Psychopathologie des Zukunftsbezugs
1. Eingeengter Zukunftsbezug
2. Unterbrochener Zukunftsbezug
3. Erlöschender Zukunftsbezug
4. Unsteter Zukunftsbezug
5. Unbestimmter Zukunftsbezug
6. Sprunghafter Zukunftsbezug
7. Fremdbestimmter Zukunftsbezug
8. Zusammenfassung
VI. Skizze einer Psychotherapie des Willens
1. Die »Schulung des Willens«
a) Die Ebene der Konation: Stärkung der Motivation
(i) Motivation durch Vergangenheit und Zukunft
(ii) Motivation durch Imagination und Suggestion
b) Die Ebene der Suspension: Stärkung der Selbstkontrolle
c) Ebene der Volition: Stärkung der Entscheidungsfähigkeit
(i) Sich entschließen können
(ii) Planen können
(iii) Umsetzen können
(iv) Beharren können
2. Selbstbestimmtes Wollen im Fokus der Therapie
a) Die sinnzentrierte Methode
b) Die hermeneutische Methode
c) Die existentielle Methode
3. Zusammenfassung
E. Schlusswort
1. Zusammenfassung der Ergebnisse
2. Ausblick und abschließende Bemerkungen
Literatur
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Der unüberquerbare Rubikon: Eine phänomenologische Psychopathologie der Willensstörungen
 9783495817186, 9783495489765

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Schriftenreihe der

D

Daniel Broschmann

Der unüberquerbare Rubikon Eine phänomenologische Psychopathologie der Willensstörungen

https://doi.org/10.5771/9783495817186

ER .

B

Schriftenreihe der D

https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Der Autor: Dr. med. Daniel Broschmann wurde 1987 in Berlin geboren. Von 2006-2015 studierte er an der Universität Heidelberg Medizin und Philosophie. Die vorliegende Dissertationsarbeit verfasste er zwischen 2011 und 2015. Seit 2015 ist er als Arzt und Therapeut am Universitätsklinikum Göttingen und Fachklinikum Tiefenbrunn tätig.

https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Daniel Broschmann Der unüberquerbare Rubikon

https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

D Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Anthropologie, Psychiatrie und Psychotherapie (DGAP) Herausgegeben von Thomas Fuchs, Thiemo Breyer, Stefano Micali, Boris Wandruszka Band 7

Alle Beiträge zu dieser Reihe durchlaufen vor der Annahme ein peer-review.

https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Daniel Broschmann

Der unüberquerbare Rubikon Eine phänomenologische Psychopathologie der Willensstörungen

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48976-5 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81718-6

https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Vorwort

In einer liberalen Gesellschaftsordnung, wie der unseren, in der Ideale von Selbstbestimmung, Selbstüberwindung und Willensstärke zu allgemeingültigen Maximen erhoben werden und zugleich volitionale Erschöpfungszustände deren Kehrseite bilden, verwundert es, dass wir im wissenschaftlichen Diskurs kaum noch etwas mit den Begriffen des Wollens und Willens anzufangen wissen. Zwar ist die Jahrtausende alte Debatte um die Willensfreiheit in den letzten Jahren durch einige breit publizierte neurobiologische Forschungsergebnisse neu entfacht worden und die Frage, ob und unter welchen Bedingungen wir willentlich und frei handeln, in aller Munde. Jedoch fehlt es in Philosophie, Psychologie und Psychopathologie an systematischen Untersuchungen darüber, mit welchen Phänomenen des Willens wir es denn eigentlich zu tun haben, und in welcher Weise diese beeinträchtigt sein könnten. Dabei wäre es gerade heute an der Zeit, dieses Thema in einem interdisziplinären Wissenschaftsdiskurs wieder neu auf die Agenda zu setzen und einen Reflexionsprozess darüber anzustoßen, was wir von früheren und aktuellen Untersuchungen lernen und welche Schlussfolgerungen wir daraus ziehen können. Einen Beitrag dazu zu leisten, stellt Ziel und Zweck dieser Untersuchung dar. Als klinisch arbeitender Phänomenologe freue ich mich besonders, dass 2016 nun auch das phänomenologische Frühwerk von Paul Ricœur Le volontaire et l’involontaire in deutscher Übersetzung erschienen ist, sodass ich hoffe, dass nun auch der phänomenologische Diskurs über das Wollen einen neuen Impuls erhalten wird. Persönlich möchte ich mich in erster Linie bei Prof. Thomas Fuchs bedanken, der mir mit seiner phänomenologischen Grundhaltung stets ein Vorbild war, mich im Werdegang der Arbeit sehr unterstützt hat und ohne den sie nicht möglich gewesen wäre. Überdies danke ich ganz herzlich den Mitarbeitern der Sektion »Phänomenologische Psychopathologie und Psychotherapie« an der Heidelberger Universitätsklinik für Allgemeine Psychiatrie, die mir mit Rat und 7 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Vorwort

Tat zur Seite gestanden haben. Hervorheben möchte ich dabei Damian Peikert, Daniel Vespermann und Lukas Iwer, die mich mit ihren fundierten wissenschaftlichen Kenntnissen sehr unterstützt haben und ohne deren unermüdliche Feinarbeit die Publikation undenkbar gewesen wäre. Weiterhin gilt mein besonderer Dank Jana Bartz, die mir zu jedem Zeitpunkt des Arbeitsprozesses eine mentale wie emotionale Stütze war und die mir durch ihre Geduld und durch viele oft sehr intensive Diskussionen sokratische Geburtshilfe für meine Gedanken geleistet hat. Meiner Familie, allen voran meinen Eltern und Großeltern, danke ich für die ideelle und materielle Unterstützung und zuletzt Herrn Lukas Trabert und dem Team des Karl Alber Verlags für die gelungene Zusammenarbeit bei der Publikation. Es ist schön, zu sehen, dass das Wollen manchmal zum Ziel führen und man am Ende eines langjährigen Denkweges ein Buch in den Händen halten kann. Göttingen, den 21. 1. 2018

Daniel Broschmann

8 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Inhaltsverzeichnis

A.

Einleitung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

B. 1. 2.

Die phänomenologische Methode . . . . . . . . . . . . . Vom Phänomen zur Phänomenologie . . . . . . . . . . Methodische Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19 20 23

C.

Propädeutik: Phänomenologische Psychologie des Wollens .

27

I. 1. 2. 3.

Das Wollen als psychisches Vermögen Die Besonderheiten des Wollens . . . Das Wollen als komplexes Vermögen Zusammenfassung . . . . . . . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

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27 28 36 42

II. 1.

Die Strukturmomente und Phasen des Wollens Strukturmomente des Wollens . . . . . . . a) Konation . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Suspension . . . . . . . . . . . . . . . . c) Volition . . . . . . . . . . . . . . . . . Phasen des Wollens . . . . . . . . . . . . . a) Prädezisionale Phase . . . . . . . . . . . b) Dezisionale Phase . . . . . . . . . . . . c) Postdezisionale Phase . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . .

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44 45 46 49 52 53 54 57 59 62

Die Zeitstruktur des Wollens Zeitphänomene . . . . . . a) Zeitperspektiven . . . . b) Zeitebenen . . . . . . . c) Zeitdimensionen . . . .

. . . . .

. . . . .

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65 66 68 70 72

2.

3. III. 1.

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. . . . .

9 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Inhaltsverzeichnis

2.

3. IV. 1.

2. 3. 4. V. 1.

2.

3. D. I. 1. 2.

3.

Zeit und Wollen . . . . . . . . . . a) Die dynamische Doppelstruktur b) Das Zeitgefälle . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . .

. . . .

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77 78 79 80

Das Wollen in Situationen . . . . . . Das situative Geflecht . . . . . . . . a) Eigener Leib . . . . . . . . . . . b) Stimmung . . . . . . . . . . . . c) Räumliche Verortung . . . . . . . d) Vergangenheit und Zukunftsbezug e) Verflochtenheit mit dem Anderen Die bedingte Freiheit der Situation . . Die Kairós-Situation . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . .

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82 83 85 86 87 88 89 90 94 95

Selbstbestimmung im Wollen und Handeln . Die personale Ebene der Selbstbestimmung a) Authentizität . . . . . . . . . . . . . . b) Selbsttranszendenz . . . . . . . . . . c) Offenheit . . . . . . . . . . . . . . . Die volitionale Ebene der Selbstbestimmung a) Intuition . . . . . . . . . . . . . . . . b) Besonnenheit . . . . . . . . . . . . . c) Entschlossenheit . . . . . . . . . . . . d) Beharrlichkeit . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . .

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97 98 98 101 103 104 104 105 106 107 109

Klinik: Phänomenologische Psychopathologie der Willensstörungen und Psychotherapie des Willens . . . . . . . .

111

. . . .

Die melancholische Abulie . . . . . . . . . . . . . . . Welterleben in der schweren Depression . . . . . . . . Selbsterleben in der schweren Depression . . . . . . . a) Verlust geistig-kultureller Bedürfnisse . . . . . . . b) Verlust seelisch-emotionaler und leiblich-vitaler Bedürfnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verlust von Antrieb und Lebensdrang . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

. . . .

116 118 120 120

. 122 . 124 . 127

Inhaltsverzeichnis

II. 1. 2.

3.

4. III. 1.

2.

3.

4. IV. 1. 2. 3.

4.

Die Impulskontrollstörungen . . . . . . . . . . . . . . Besonderheiten der Impulskontrollstörungen . . . . . Impulskontrollstörungen im Spektrum psychischer Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Affektive Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Abnorme Gewohnheiten . . . . . . . . . . . . . . Impulsivität bei Störungen der Persönlichkeitsstruktur a) Antisoziale Persönlichkeitsstörung . . . . . . . . . b) Emotional-instabile Persönlichkeitsstörung . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . .

133 133 135 137 138 139 141 143 145

Die Zwangsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . Die Zwangsstörung als Inhibitionsstörung . . . . . . a) Starker Antrieb und schwache Suspension . . . . b) Der Charakter des Unsinnigen und Störenden . . Zwangsgedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zwangsgedanken mit Ängsten vor Verunreinigung b) Zwangsgedanken mit aggressivem Inhalt . . . . . c) Zwangsgedanken mit sexuellem Inhalt . . . . . . Zwangshandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wasch- und Reinigungszwang . . . . . . . . . . b) Kontrollzwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ordnungszwang . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das »Schlafzeremoniell« . . . . . . . . . . . . . e) Zähl- und Rechenzwang . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . .

147 149 150 151 153 153 154 155 156 156 158 158 160 161 161

Die pathologische Ambivalenz . . . . Die Begriffsgeschichte der Ambivalenz Der Begriff der Ambivalenz . . . . . Die pathologische Ambivalenz . . . . a) »Psychotische« Ambivalenz . . . b) »Neurotische« Ambivalenz . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

163 164 167 169 170 173 176

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. 129 . 130

11 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Inhaltsverzeichnis

V. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Psychopathologie des Zukunftsbezugs Eingeengter Zukunftsbezug . . . . Unterbrochener Zukunftsbezug . . Erlöschender Zukunftsbezug . . . . Unsteter Zukunftsbezug . . . . . . Unbestimmter Zukunftsbezug . . . Sprunghafter Zukunftsbezug . . . Fremdbestimmter Zukunftsbezug . Zusammenfassung . . . . . . . . .

. . . . . . . . .

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VI. Skizze einer Psychotherapie des Willens . . . . . . . . 1. Die »Schulung des Willens« . . . . . . . . . . . . . . a) Die Ebene der Konation: Stärkung der Motivation . b) Die Ebene der Suspension: Stärkung der Selbstkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Ebene der Volition: Stärkung der Entscheidungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Selbstbestimmtes Wollen im Fokus der Therapie . . . . a) Die sinnzentrierte Methode . . . . . . . . . . . . b) Die hermeneutische Methode . . . . . . . . . . . . c) Die existenzielle Methode . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. 1. 2.

. . . . . . . . .

178 180 182 184 185 186 187 188 190

. 192 . 194 . 195 . 198 . . . . . .

199 205 206 207 208 209

Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . Ausblick und abschließende Bemerkungen . . . . . . . .

211 212 214

Literatur

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

12 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

A. Einleitung

Die vorliegende Arbeit verfolgt im Wesentlichen zwei Anliegen, die eng miteinander verbunden sind: ein klinisches und ein philosophisches. Das Hauptanliegen der Arbeit ist ein klinisches. Es beruht auf der Einsicht, dass psychiatrische Krankheiten auch als Einschränkungen der Freiheit 1 verstanden werden können, nämlich der Freiheit des Entscheidens und der Selbstbestimmung und somit auch als Einschränkungen des Wollens. Der schwer depressive Patient verharrt nämlich nicht willentlich in seinem Bett – auch wenn er gern wollte, er kann nicht aufstehen. Auch der Patient mit Waschzwang, der sich die Hände das zwanzigste Mal mit einem Desinfektionsmittel reinigt, oder die Borderline-Patientin, die erfolglos gegen den Impuls ankämpft, sich mit der Rasierklinge selbst zu verletzen, erleben einen Drang, den sie nicht, oder aber nicht lange, willentlich unterdrücken können. Eine Willensstörung liegt auch bei der schizophrenen Patientin vor, die in ihrer Ambivalenz keine Entscheidung treffen kann und daher in endloser Grübelei zu keinem Entschluss kommt. Bei diesen psychischen Erkrankungen handelt es sich auch um Pathologien des Wollens, die die Freiheitsgrade der Betroffenen in erheblichem Maße einschränken, und Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie können geradezu als Disziplinen verstanden werden, die es sich zur Aufgabe machen, Patienten von solchen inneren Beschränkungen und Zwängen zu befreien. Da Wollen und Selbstbestimmung aber zumeist nicht Gegenstand psychopathologischer Forschungen sind, fehlt es an systematischen Überlegungen, die es ermöglichen, Willensstörungen konzeptuell zu erfassen und ggf. auch zu operationalisieren. Dazu will diese Arbeit einen Beitrag leisten. Bereits Wolfgang Blankenburg (1978, 143) bestimmte den Gegenstandsbereich der Psychopathologie in der Beschreibung der »Beeinträchtigungen von Freiheitsgraden im Erleben- und Sichverhaltenkönnen«.

1

13 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Einleitung

Um die Grundzüge einer Psychopathologie des Wollens zu entwickeln, bedarf es eines theoretischen Fundaments. Es ist zunächst zu klären, was unter Wille und Wollen zu verstehen ist, welche Komponenten sie aufweisen und wie sie in den menschlichen Alltag eingebettet sind. Hier wird das zweite, das philosophische Anliegen der Arbeit deutlich: nämlich eine geeignete Methode zu finden, um die formalen Strukturen des Wollens zu beschreiben und die Verwobenheit von Wollen, Zeit und Selbstbestimmung als wesentliche Aspekte der conditio humana offenzulegen. Eine Gefahr für dieses Unternehmen besteht darin, ins Fahrwasser von prinzipiellen Debatten um Willensfreiheit und Determinismus zu geraten. Zwar gehört das Bewusstsein des Entscheiden-Könnens oder Anders-Könnens wesentlich zum Wollen, doch geht es hier nicht um den Beweis dieser Freiheit zu verschiedenen kontrafaktischen Möglichkeiten – statt einer Metaphysik des Willens liegt der Fokus der Arbeit auf einer Psychologie des Wollens. Um ein solches Vorhaben zu realisieren, erwies sich die phänomenologische Methode als geeignet. Diese von Edmund Husserl formulierte Methode stellt einen Ansatz zur Erforschung des Subjektiven dar und ist für die Psychopathologie seit Karl Jaspers Allgemeiner Psychopathologie (Jaspers 1913) bis hin zur gegenwärtigen Entwicklung v. a. deskriptiv-phänomenologisch geprägter Diagnosemanuale 2 stets von Bedeutung gewesen. Im Folgenden möchte ich mein Vorgehen in den Abschnitten B–D der Arbeit kurz umreißen und zugleich den roten Faden aufzeigen, der die genannten Grundanliegen miteinander verbindet, nämTrotz ihrer positivistischen Methodik gehen die Diagnosemanuale ICD-10 und DSM-V doch immer noch auf eine deskriptive Phänomenologie zurück, wie sie von Karl Jaspers (1912/1963; 1913/1965, 47 ff.) beschrieben wurde: »Die Phänomenologie hat die Aufgabe, die seelischen Zustände, die die Kranken wirklich erleben, uns anschaulich zu vergegenwärtigen, nach ihren Verwandtschaftsverhältnissen zu betrachten, sie möglichst scharf zu begrenzen, zu unterscheiden und mit festen Terminis zu belegen. Da wir niemals fremdes Seelisches ebenso wie Physisches direkt wahrnehmen können, kann es sich immer nur um eine Vergegenwärtigung, um ein Einfühlen, Verstehen handeln, zu dem wir je nach dem Fall durch Aufzählung einer Reihe äußerer Merkmale des seelischen Zustandes, […] hingelenkt werden können. Dazu helfen uns vor allem die Selbstschilderungen der Kranken, die wir in der persönlichen Unterhaltung provozieren und prüfen, am vollständigsten und klarsten gestalten können, die in schriftlicher, von den Kranken selbst verfaßter Form oft inhaltlich reicher, dafür aber einfach hinzunehmen sind. Wer selbst erlebte, findet am ehesten die treffende Schilderung. Der nur beobachtende Psychiater würde sich vergebens zu formulieren bemühen, was der kranke Mensch von seinen Erlebnissen sagen kann.«

2

14 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Einleitung

lich das philosophische einer phänomenologischen Psychologie des Wollens und das klinische einer phänomenologischen Psychopathologie von Willensstörungen.

B. Die phänomenologische Methode Zu Beginn der Untersuchung müssen einige methodische Überlegungen vorweggenommen werden. Zur Erforschung eines Phänomens wie des Willens bedarf es einer Methode, die es erlaubt, auch das subjektive Erleben in die wissenschaftliche Allgemeinheit zu überführen. Dabei wird deutlich werden, warum die phänomenologische Methode einerseits für ein solches Unterfangen prädestiniert ist, andererseits aber auch, welche Schwierigkeiten damit einhergehen.

C. Propädeutik: Phänomenologische Psychologie des Wollens (Kap. I–V) In den ersten Kapiteln des propädeutischen Teils der Arbeit setze ich mich mit der phänomenologischen Struktur des menschlichen Wollens auseinander, die die theoretisch-philosophische Voraussetzung für die klinischen Unterscheidungen im zweiten Teil bilden wird. • In Kapitel I und II wird das Wollen als ein psychisches Vermögen beschrieben und im Anschluss an die bedeutenden willensphänomenologischen Analysen von Alexander Pfänder (1900/1963) und Paul Ricœur (1950/1966) von anderen Vermögen unterschieden. Im Verlauf der Untersuchung wird es dann besser möglich sein, die formale Struktur des Wollens offenzulegen und dabei drei Strukturmomente und drei Phasenabschnitte voneinander abzugrenzen. Kapitel III präsentiert eine phänomenologische Untersuchung der Zeit, die einer Strukturanalyse des Wollens als eines zeitlichen Phänomens vorausgehen muss. Eine Phänomenologie der Zeit setzt sich immer schon mit der subjektiven Zeit auseinander, also der erlebten und »gelebten Zeit« (Minkowski 1933/1971a). Diese subjektive Zeit kann weiterhin in drei Zeitdimensionen und zwei Zeitebenen unterschieden werden. Von diesen Unterscheidungen ausgehend, lässt sich dann die Zeitstruktur des Wollens als dynamische Doppelstruktur oder auch als ein Zeitgefälle beschreiben. 15 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Einleitung



In den Kapiteln IV–V wird es schließlich darum gehen, das Wollen noch deutlicher in das intersubjektive Netz der alltäglichen Situation einzubinden. Menschliches Wollen kann überhaupt nur erfahren werden, da wir als Menschen in Situationen bedingter Freiheit leben, die der Wollende gestalten und in denen er auf momentane Gegebenheiten reagieren muss. Dazu muss ein Situationsbegriff erarbeitet werden, der uns besser zu verstehen erlaubt, wie in biographisch bedingten Situationen Prozesse authentischer Selbstbestimmung durch das Wollen möglich sind. Dafür spielt insbesondere die Analyse sogenannter Kairós-Situationen, der »günstigen Gelegenheit«, eine wesentliche Rolle. Denn dies bietet erst die Grundlage, um verschiedene Aspekte selbstbestimmten Wollens und Handelns genauer untersuchen zu können.

D. Klinik: Phänomenologische Psychopathologie der Willensstörungen und Psychotherapie des Willens (Kap. I–VI) Die Kapitel im zweiten Teil gestalten sich komplementär zum ersten Teil: Während in den Kap. I–IV den Strukturmomenten entsprechend typische Willensstörungen behandelt werden, setzt sich das Kap. V mit einer Psychopathologie des willentlichen Zukunftsbezugs auseinander. Eine solche Untersuchung knüpft an das Konzept der Willensstörungen an, das noch vor etwa hundert Jahren von zentraler Bedeutung für die Psychopathologie war. 3 Dabei bleibt der klinische Bezug durch Fallbeispiele aus der psychopathologischen Literatur und der klinischen Praxis gewahrt. Dies ist von großer Bedeutung, wenn abschließend eine Psychotherapie des Willens skizziert wird. • Kapitel I beschreibt die melancholische Abulie bzw. depressive Willenslosigkeit, bei der es zu einer Verarmung des Trieblebens kommt. Der Kranke selbst hat dann kein Interesse mehr an der Welt und verliert nach und nach seine leiblichen Bedürfnisse. Er Während in den psychopathologischen Arbeiten des beginnenden 20. Jahrhunderts das Konzept der Willensstörungen breit rezipiert wurde, kam es durch die Dominanz insbesondere neurobiologischer und behavioristischer Paradigmen in der Psychologie und Psychiatrie in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem Bedeutungsschwund des Konzeptes. Eine historische Übersicht über die Ursprünge des Konzeptes der Willensstörungen in der Psychopathologie liefern Berrios & Gili (1995).

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Einleitung









kann nicht mehr wollen, da er Antrieb und Lebenskraft verloren hat. Dieses Nicht-mehr-wollen-Können geht in der Krankheit mit dem Verlust des Bewusstseins für das eigene leibliche Können und einem ausgeprägten Insuffizienzgefühl einher. In den Kapiteln II–III werden Störungen der Inhibitionsfähigkeit dargestellt, genauer die Impulskontrollstörungen und die Zwangsstörungen. Innerhalb des dargestellten Spektrums der Impulskontrollstörungen werden vor allen Dingen die antisoziale und die emotional-instabile Persönlichkeitsstörung betrachtet. Bei den Zwangsstörungen wird eine Analyse charakteristischer Zwangsgedanken (Ängste vor Verunreinigung, aggressive oder sexuelle Tendenzen) und Zwangshandlungen (Wasch-, Kontroll-, Ordnungs- und Zählzwang u. a.) im Mittelpunkt stehen. Als typische Störung der Willensbildung wird im Kapitel IV die pathologische Ambivalenz herausgearbeitet. Dabei kommt es zu einer übergreifenden Tendenz dauerhafter Unentschiedenheit in Bezug auf die sich anbietenden Handlungsoptionen, was zu Gefühlen der Ohnmacht und Identitätsunsicherheit führt. Im weiteren Verlauf werden insbesondere die »psychotische« und die »neurotische« Ambivalenz als typische Formen der willentlichen Ambivalenz untersucht. Kapitel V widmet sich einem anderen Ansatz der Psychopathologie des Wollens. Dabei stellt die herausgearbeitete dynamische Zeitstruktur des Wollens das idealtypische Modell dar, an dem sich Beeinträchtigungen des willentlichen Zukunftsbezugs, die bei verschiedenen psychischen Erkrankungen (u. a. bei der Depression oder der Alzheimer-Demenz) auftreten, bemessen lassen sollen. Zuletzt wird in Kapitel VI die vorangegangene Untersuchung von Wollen und Selbstbestimmung als Grundlage für die Skizze einer Psychotherapie des Willens dienen: einerseits verstanden als eine »Schulung des Willens«, bei der Störungen zu identifizieren und durch ein spezifisches »Willenstraining« auszugleichen sind; andererseits als Fokussierung auf die Emanzipation zum eigenen, selbstbestimmten Wollen und Handeln.

Mit dieser Untersuchung möchte ich eine neue Perspektive auf den Zusammenhang von Wollen, Zeit und Freiheit eröffnen und aufzeigen, wie Störungen an den unterschiedlichsten Stellen dieses fein justierten Gleichgewichts zu fundamentalen Funktionseinbußen des 17 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Einleitung

Wollens und damit zu einem existenziellen Leiden führen können. Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie können durch ein vertieftes phänomenologisches Verständnis des Wollens helfen, dieses Leiden zu lindern und dem Patienten neue Freiheitsspielräume ermöglichen.

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B. Die phänomenologische Methode

Man soll öfters dasjenige untersuchen, was von den Menschen meist vergessen wird, wo sie nicht hinsehen, und was so sehr als bekannt genommen wird, dass es keiner Untersuchung mehr wert geachtet wird. 4

Das primäre Anliegen dieser Arbeit ist es, das Wollen als ein psychisches Vermögen zu untersuchen, das durch psychische Erkrankung beeinträchtigt sein kann. Zur Erforschung dieser Willensphänomene bedarf es einer geeigneten Methode, die es ermöglicht, auch das subjektive Erleben des Wollens und seiner spezifischen Störungen zu beschreiben, zu differenzieren und damit mitteilbar zu machen. Die Phänomenologie erscheint hierfür besonders geeignet. Seit der für die Psychiatrie bahnbrechenden Veröffentlichung von Jaspers Allgemeiner Psychopathologie (Jaspers 1913) hat in erster Linie die deskriptiv-phänomenologische Forschungsrichtung einen festen Platz in der psychopathologischen Erforschung des Subjektiven. Diese Tradition deskriptiv-phänomenologischer Typologie wurde dann durch K. Schneider (1950/1987) fortgesetzt und lässt sich, natürlich nur in Ansätzen, über heutige Ordnungsversuche psychopathologischer Systeme (Payk 2002/2010, Scharfetter 1976/2010) bis zum ICD-10 und DSM-V weiterverfolgen. Neben einer deskriptiven, d. h. in erster Linie beschreibenden Phänomenologie gab es jedoch in der Psychiatriegeschichte auch die Traditionslinie einer eidetischen Phänomenologie, der es darum ging, das »Wesenhafte« (griechisch eidos: Wesen), in diesem Fall eines Krankheitsbildes zum Ausdruck zu bringen. Dies wird in den Arbeiten u. a. von Binswanger (1933, 1960), Tellenbach (1961/1976, 1987) und von Gebsattel (1939/1963, 1954) deutlich. Die Dieser scharfsinnige Aphorismus des Physikers Georg Christoph Lichtenberg (1765–71/1984, 32) nimmt die Grundhaltung der Phänomenologie bereits voraus.

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Die phänomenologische Methode

hier verwendete Methode bewegt sich zwischen diesen beiden Polen und greift ein Vorgehen auf, das Blankenburg (1980, 1991) als differentiell-typologische Methode beschrieben hat. In der vorliegenden Arbeit soll mit eben diesem Ansatz der Versuch unternommen werden, ausgehend von einer grundlegenden Untersuchung des Wollens, eine phänomenologische Psychopathologie der Willensstörungen zu umreißen. Dafür sollen hier zunächst die Strukturmerkmale der phänomenologischen Methode dargestellt (1.) sowie deren Probleme aufgezeigt und damit auch Fehlerquellen eingegrenzt werden (2.).

1.

Vom Phänomen zur Phänomenologie

Seit der Veröffentlichung von Husserls Logischen Untersuchungen 1901 (Hua XVIII–XIX), die die phänomenologische Forschungsrichtung begründeten 5 , haben es sich Phänomenologen immer wieder zur Aufgabe gemacht, die »Sachen selbst« zu beschreiben, um schließlich das Typische herauszuarbeiten. Von Beginn an ging es dabei nicht nur um explizit gegebene Forschungsgegenstände, sondern auch um implizit Gegebenes, was zwar im Alltag als selbstverständlich erscheint, jedoch bis dahin mit anderen Methoden nicht zu untersuchen war, wie es z. B. in Husserls Analyse des inneren Zeitbewusstseins (1969) vorgeführt wird. Bereits Heidegger sah in der Phänomenologie aber weniger einen »Standpunkt« oder eine geistesgeschichtliche »Richtung« als vielmehr eine Methode (Heidegger 1927/2006, 27). Unabhängig von der philosophiegeschichtlichen Formulierung hat der Begriff der Phänomenologie seine etymologische Herkunft im Griechischen und ist zusammengesetzt aus phainomenon und logos. Während logos wie etwa im Wort »Biologie« zumeist als »Lehre« oder »Wissenschaft« übersetzt wird, ist der Begriff des Phainomenon mehrdeutiger. Das Wort kann entweder das »Sichan-ihm-selbst-Zeigende«, das »Erscheinende« oder auch nur das »Scheinbare« meinen 6 . Im Gegensatz zur Verwendung in der antiken Der Begriff der Phänomenologie wurde zuvor bereits im präkantischen Rationalismus etwa im Umkreis Christian Wolffs oder von Hegel (1806/1986) in seiner Phänomenologie des Geistes in einem anderen Sinne verwandt. Die Etablierung der Phänomenologie als wissenschaftlicher Methode geht aber auf Husserl zurück. 6 Diese Unterscheidung wird besonders deutlich von Heidegger (1923/2006, 28 f.) und in der Folge von Blankenburg in seinem Aufsatz Phänomenologie als Grundlagendisziplin der Psychiatrie (1991) herausgearbeitet. 5

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Vom Phänomen zur Phänomenologie

Philosophie, etwa bei Platon und Aristoteles 7 , bezieht sich der Phänomenbegriff in der phänomenologischen Forschung aber auf den ersten Sinn und unterscheidet sich somit grundsätzlich von seiner privativen Auslegung als trügerischer Schein, der auf hinter ihm stehende Dinge verweist (ebd.). Es sind also die Phänomene selbst, so wie sie dem Bewusstsein begegnen, die die Phänomenologie beschäftigten. Am ehesten kann »Phänomenologie« also als Wissenschaft von dem »Sich-an-ihm-selbst-Zeigenden« übersetzt werden, sodass hierunter eine wissenschaftliche Methode verstanden werden kann, die versucht, von der vorurteilsfreien Beschreibung dessen, was im Erleben gegeben ist, zu grundlegenderen Aussagen zu gelangen, ohne dabei bereits theoretische Annahmen vorauszusetzen. In den Worten des französischen Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty hieße das: »Die Wirklichkeit ist zu beschreiben, nicht zu konstruieren oder zu konstituieren.« (Merleau-Ponty 1945/1974, 6)

Vorrangiges Anliegen der phänomenologischen Methode ist es, die Phänomene, so wie sie dem Menschen in der Lebenswelt begegnen, ernst zu nehmen und daher so genau wie möglich zu erfassen. Jedoch können diese Phänomene durch Vorurteile, die, so Husserl, der »natürlichen Einstellung« entstammen, verdeckt sein (Hua III/1, 65). Um sich in der Untersuchung nicht durch solche Vorurteile leiten zu lassen, bedarf es bei der Beschreibung der Phänomene einer Urteilsenthaltung, die von jeder weltanschaulichen Vorannahme wie überhaupt jeglicher Existenzsetzung Abstand nimmt. Diese methodische »Einklammerung« der eigenen impliziten Grundannahmen wurde von Husserl mit dem griechischen Begriff der Epoché bezeichnet (ebd.). Diese Urteilsenthaltung ist kein Postulat einer selbsttransformativ-religiösen Praxis, wie z. B. im Zen-Buddhismus, sondern Konsequenz eines wissenschaftlichen Ideals. Das Urteil soll erst am Ende der Untersuchung getroffen werden, bis dahin muss sich der Phänomenologe in Urteilsenthaltung und Offenheit gegenüber dem Begegnenden üben. Auch Heidegger (1927/2006, 36) betont in seinen methodologischen Betrachtungen, dass es nichts hinter den PhänoSo führt etwa Aristoteles in seiner Metaphysik über das bloß Erscheinende aus: »Überhaupt aber ist es unstatthaft, von der Erfahrung aus, daß die irdischen Dinge als in Veränderung begriffen und niemals in demselben Zustand beharrend erscheinen, eine Entscheidung über die Wahrheit geben zu wollen.« (Aristoteles, Metaphysik, 1063a); Vgl. dazu auch das »Höhlengleichnis« in Platons Politeia, Buch 7.

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Die phänomenologische Methode

menen gebe, dass diese für sich selbst stünden, jedoch als Phänomene oftmals »verdeckt« seien. Eine solche alltägliche Verdeckung durch Vorurteile und Vormeinungen in der »natürlichen Einstellung« erfordert damit vom Phänomenologen die nur äußerst schwer einzunehmende Haltung weltanschaulicher Neutralität. Die Bedeutung der phänomenologischen Epoché für die psychopathologische Forschung wurde schon sehr bald nach der Ausformulierung dieser Grundhaltung von philosophisch interessierten Psychiatern erkannt und fand Eingang in die eigene Disziplin. So schreibt Jaspers in der Allgemeinen Psychopathologie: »es ist eine immer neue Mühe und ein immer von neuem durch Überwindung der Vorurteile zu erwerbendes Gut: diese phänomenologische Einstellung.« (Jaspers 1913/1965, 48)

Während die Grundhaltung der Epoché von allen Phänomenologen geteilt wird, betont Blankenburg (1980, 1991), dass es in der phänomenologisch orientierten Psychopathologie einen Dissens in Bezug auf den Stellenwert der Phänomene gibt. Auf der einen Seite gebe es die Position, dass es unbegrenzt viele psychische Phänomene gibt, die für sich stehend einer empirischen Wissenschaft als Grundlage dienen können. Dieser als deskriptive Phänomenologie bezeichnete Ansatz wurde als Teil der »verstehenden Psychologie« von Jaspers (1912/1963, 1913/1965) entwickelt. So schreibt Jaspers (1912/1963, 328) über die deskriptiv-phänomenologische Methode: »Man soll sich von jedem seelischen Phänomen, jedem Erlebnis Rechenschaft geben, das in der Exploration der Kranken und in ihren Selbstschilderungen zutage tritt.« Es komme dabei darauf an, sich die seelischen Zustände zu vergegenwärtigen, nach Verwandtschaftsverhältnissen aufzugliedern, sie scharf zu begrenzen und mit festen Termini zu belegen (Jaspers 1913/1965, 47). Auf der anderen Seite werde die Position vertreten, dass diese beschriebenen Phänomene nur den Anfang einer Untersuchung darstellen können, an deren Ende das Konstitutive oder das »Wesenhafte« der Phänomene erscheine. Dieser als konstitutiv-eidetische Phänomenologie bezeichnete Ansatz wurde ursprünglich ebenfalls von Husserl (Hua III/1) entwickelt und etwa in den Studien der anthropologischen Psychiater Ludwig Binswanger (1933, 1960) und Hubertus Tellenbach (1961/1976) aufgegriffen. Binswanger schreibt daher auch in seiner phänomenologischen Studie Melancholie und Manie:

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Methodische Probleme

»Damit ist bereits angedeutet, dass das Wort ›phänomenologisch‹ hier natürlich nicht im Sinne der deskriptiven Phänomenologie der ›subjektiven Erscheinungen des Seelenlebens‹ gemeint ist, wie es in der Psychopathologie von Jaspers der Fall ist, sondern in dem ganz anderen Sinne der reinen und transzendentalen Phänomenologie Husserls.« (Binswanger 1960, 9 f.)

Neben der deskriptiven Phänomenologie als Tatsachenwissenschaft und der eidetischen Phänomenologie als Wesenswissenschaft wurde von Wolfgang Blankenburg (1980) noch ein dritter, vermittelnder Weg vorgeschlagen: die Phänomenologie als eine differentiell-typologische Methode. Dabei ist das vorläufige Ziel aber nicht, das Wesen der Phänomene zu ermitteln, sondern lediglich das Typische durch eine wechselseitige Abgrenzung und Erhellung verschiedener Phänomene herauszuarbeiten (Broschmann 2014). Diese Methode führt dann zu sinnhaft geordneten phänomenologischen Typen und damit weder zu nebeneinanderstehenden Entitäten ohne Sinnzusammenhang, noch zum übergeordneten Wesen der Phänomene. Für die vorliegende Untersuchung, in der das Typische des Wollens und verschiedener Willensphänomene herauszuarbeiten ist, erscheint diese von Blankenburg erarbeitete Methode als die am besten geeignete. Methodologisch folgt hieraus, dass die Phänomene zunächst mit all ihren Aspekten beschrieben werden müssen. Im Anschluss sollen in einer vergleichenden Zusammenschau Gemeinsamkeiten und Unterschiede, (Dis-) Kontinuitäten und Wesentliches sowie jeweils Unwesentliches herausgearbeitet werden, um die phänomenalen Zusammenhänge darzustellen. So kann es in Folge der Differenzierung der Phänomene gelingen, »Sicht« Stück für Stück in »Einsicht« zu überführen (Blankenburg 1991, 93).

2.

Methodische Probleme

Jede Auseinandersetzung mit Fremdpsychischen, das heißt mentalen Zuständen anderer Personen, muss sich dem Problem stellen, dass der Forschungsgegenstand per definitionem nicht gänzlich mit dem eigenen bewussten Erleben in Deckung gebracht werden kann. Dieser grundsätzlichen Asymmetrie 8 zwischen Eigenpsychischem und Der Phänomenologe Dan Zahavi (2003/2009) schreibt über die Asymmetrie: »[…] es handelt sich hierbei um eine Subjekt-Subjekt-Beziehung, insofern der Andere gerade in seiner subjektiven Unzulänglichkeit erfahren wird.«

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Die phänomenologische Methode

Fremdpsychischem muss man sich im phänomenologischen Vorgehen bewusst sein. Fremdpsychisches kann oft nur indirekt wahrgenommen werden, wie Jaspers (1913/1965, 47) schreibt, vielmehr drückt es sich im impliziten Verhalten des Anderen aus: seinen Handlungen, seinem Stimmtimbre, seiner Gestik und Mimik. Neben diesen Ausdruckswahrnehmungen und der Auseinandersetzung mit der Biographie des Patienten ist der phänomenologische Psychopathologe angewiesen auf die Selbstschilderungen des Patienten. Der informative Gehalt solcher Schilderungen ist jedoch abhängig von einer Reihe von Voraussetzungen, die nicht notwendigerweise bei jedem Patienten und in jeder Gesprächssituation gegeben sein müssen: Zunächst muss der Patient sein eigenes Erleben genau beobachten, dann muss es zum Zeitpunkt des Gesprächs wiedererinnert werden können, ferner muss der Patient bereit sein, über sein Erleben Auskunft zu geben und schließlich muss er überhaupt in der Lage sein, dieses Erleben zu artikulieren. Aufgrund dieser Problematik schreibt Blankenburg kritisch: »Bis heute ist die Frage, wie und wodurch wir zu wissen glauben, was in einem anderen Menschen […] vorgeht, nicht zureichend geklärt.« (Blankenburg 1991, 96)

Dass Fremdpsychisches grundsätzlich nicht in gleicher Weise erfahren wird wie Eigenpsychisches, heißt jedoch nicht, dass es nicht Möglichkeiten gibt, die Bedingungen für das phänomenologische Interview zu verbessern. Dafür ist es hilfreich, auf einige Grundsätze zu achten: Es ist zunächst wichtig, Patienten auszuwählen, die freiwillig und offen über ihr psychisches Erleben berichten und die sprachlich auch in der Lage sind, dieses adäquat in Worte zu fassen. Dann ist es sinnvoll, eine Gesprächssituation herzustellen, in der sich der Patient wohlfühlt, das heißt einerseits das Interview in einem angenehmen Raum durchzuführen und anderseits als Interviewer dem Patienten mit Neugierde, Aufmerksamkeit, Wertschätzung und Unvoreingenommenheit zu begegnen. Eine solche Haltung sollte dazu führen, dass alles, was der Patient zum Ausdruck bringt, ebenso wie seine Verhaltensäußerungen, bewusst wahrgenommen und festgehalten wird. Weiterhin kann es von Nutzen sein, das Interview mit offenen Fragen zu beginnen, die im Verlauf um Nachfragen zu konkreten Beispielen des Alltags ergänzt werden. Diese Voraussetzungen sollen es ermöglichen, ein vollständigeres Bild von der Situation des Gegen-

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Methodische Probleme

übers zu erhalten, sodass dessen Erleben und Verhalten in seiner Bedeutung deutlicher hervortreten. Die phänomenologische Methode behauptet aber nicht, nur subjektive Erlebnisse festhalten zu können, sondern ebenso auch zu verallgemeinernden Aussagen fähig zu sein. Auch wenn die Erkenntnis seelischer Phänomene keine apodiktische (unzweifelhafte) Evidenz für sich in Anspruch nehmen kann, wie etwa die mathematischer Sachverhalte, so geht es der phänomenologischen Methode dennoch darum, Aussagen mit intersubjektiver Gültigkeit zu treffen (Husserl Hua I, 13 ff.). Aus dem Gegebenen werden also typische Phänomenzusammenhänge herausgearbeitet und gegeneinander abgegrenzt. Eine phänomenologische Analyse kann jedoch keine Letztgültigkeit beanspruchen und ist nie abgeschlossen, da die beschriebenen Phänomenzusammenhänge immer wieder hinterfragt werden und sich an der Lebenswelt messen lassen müssen. Daher ist, wie bei allen empirischen Verfahren, die die möglichst genaue Beschreibung, Charakterisierung und damit Erfassung ihres Forschungsgegenstandes zum Ziel haben, die »Möglichkeit des Irrtums […] Teil der Evidenzerfahrung«, wie Dan Zahavi über Husserls phänomenologische Methode schreibt (Zahavi 2003/2009, 33). Phänomenologische Erkenntnisse sind also solcherlei, die vorübergehend und in der Entwicklung begriffen sind und jederzeit korrigiert werden können. Daher gehört zum phänomenologischen Methodenbewusstsein immer schon eine selbstkritische Einstellung. In den Worten Merleau-Pontys (1945/ 1974, 18), eine der Vordenker der Phänomenologie, ist diese selbst »endloser Dialog, endlose Meditation, und gerade wenn sie ihrer Absicht treu bleibt, wird sie nie wissen, wohin es geht.« In diesem Geiste stellt die nachfolgende Untersuchung einen Beitrag zu einem solchen endlosen Dialog dar, ohne zu wissen, wie die Reise der phänomenologischen Psychopathologie von Willensstörungen weitergehen wird.

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C. Propädeutik: Phänomenologische Psychologie des Wollens 9 I. Das Wollen als psychisches Vermögen

Von Willen sprechen wir erst, wo die Klarheit des »ich wähle« da ist. 10

In seiner Allgemeinen Psychopathologie formulierte Jaspers (1913/ 1965, 98), dass der Begriff des Willens nur dann verwendet werden könne, wenn zuvor eine »Wahl und Entscheidung in irgendwelcher Art« erlebt wird. Das Gefühl, durch das Wollen frei über die eigenen Handlungen bestimmen zu können, ist ein spezifisch menschliches. 11 Wollen-Können ist eine evolutionäre Entwicklungsleistung, die sich in der Individualentwicklung des Menschen erst durch die komplexe Interaktion mit Mitmenschen herausbildet. Prozesse wie die Verbalisierung von Gefühlen und Wünschen, die Identifizierung mit Vorbildern, die Übernahme anderer Perspektiven oder die Verinnerlichung von Regeln und gesellschaftlichen Normen tragen dazu bei, dass sich Willensprozesse bereits in den ersten Lebensjahren herausbilden. Somit kann »Wollen« als eine sich in sozialer Interaktion herausbildende Fähigkeit des Menschen verstanden werden, eine willentliche Entscheidung (den »Willensentschluss«) zu treffen und diese in die Tat umzusetzen. Der Anthropologe Arnold Gehlen (1940/2004, 32) erachtet dies sogar als das specificum humanum schlechthin: Der Mensch kann und muss handeln. Das handelnde Wesen Mensch, muss seine Zukunft antizipieren und abwägen, Willensentscheidungen treffen und diese in die Tat umsetzen, da ihm kein Instinktapparat zur Verfügung

Der Begriff der »phänomenologischen Psychologie« geht ebenfalls auf die gleichnamige Studie Husserls zurück (Husserl Hua IX). 10 Jaspers (1932/1973, 151) 11 Da es sich um eine phänomenologische nicht ontologische Auseinandersetzung handelt, soll es hier nicht um die Frage gehen, ob der Mensch tatsächlich über Willens- bzw. Entscheidungsfreiheit verfügt oder nicht. 9

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Das Wollen als psychisches Vermögen

steht, um die komplexeren (sozialen) Situationen des Alltags zu meistern. Durch angeborenes Temperament und Auseinandersetzung mit Mitmenschen und Umwelt erwirbt jede Person so im Laufe ihrer Individualentwicklung die Fähigkeit, sich willentliche Handlungen vorzustellen, zu planen und umzusetzen. Durch ihr Wollen und Handeln ist es Menschen dann auch möglich, sich ihre »Mitwelt« (z. B. Freunde, Partner und Kollegen) auszuwählen und sich von diesen Personen wiederum selbst beeinflussen zu lassen. Durch dieses handelnde Engagement im sozialen Geflecht wählt sich der Mensch indirekt selbst. Diesen wechselseitigen Prozess der Beeinflussung zwischen dem handelnden Menschen und seiner Mit- und Umwelt hat Merleau-Ponty (1945/1974, 515) zum Ausdruck gebracht, als er schrieb: »Wir wählen unsere Welt und die Welt wählt uns.« Das Wollen ist also nicht als ein metaphysisches Prinzip zu untersuchen, wie es beispielsweise Arthur Schopenhauer versteht, der »jede Kraft in der Natur als Wille gedacht wissen« will (Schopenhauer 1819/1977, 156). 12 Vielmehr soll das Wollen als psychisches Vermögen des Menschen verstanden werden. 13 Es wird also im Folgenden darum gehen, dieses Vermögen phänomenologisch zu untersuchen. Dazu werden zunächst die Besonderheiten des Wollens gegenüber anderen Vermögen herausgearbeitet (1.) und sodann die verschiedenen Willensphänomene und ihr Einfluss auf das Wollen beleuchtet (2.).

1.

Die Besonderheiten des Wollens

Phänomenologisch betrachtet ist das Wollen ein intentionales Vermögen des Menschen. Intentional ist das Wollen nach Husserl

In seiner Schrift Jenseits von Gut und Böse kritisierte bereits Friedrich Nietzsche (KSA V, 31 f.) die metaphysische Auslegung des Willensbegriffes u. a. bei Schopenhauer: »Die Philosophen pflegen vom Willen zu reden, wie als ob er die bekannteste Sache von der Welt sei; ja, Schopenhauer gab zu verstehen, der Wille allein sei uns eigentlich bekannt, ganz und gar bekannt, ohne Abzug und Zuthat bekannt. Aber es dünkt mich immer wieder, dass Schopenhauer auch in diesem Falle nur gethan hat, was Philosophen eben zu thun pflegen: dass er ein Volks-Vorurtheil übernommen und übertrieben hat.« 13 Als »Vermögen« können seit Aristoteles (Über die Seele II, III) aktive Potenzen oder Fähigkeiten des menschlichen Seelenlebens bezeichnet werden, zu denen klassischerweise auch das Denken und Fühlen gezählt werden. 12

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Die Besonderheiten des Wollens

(Hua XIX/1) 14 , da es Bewusstsein von etwas ist – nämlich von einem Gewollten, auf das die Aufmerksamkeit des Wollenden ausgerichtet ist. Der Vorgang der Willensbildung ist stets mit Bewusstsein begleitet, auch wenn unbewusste Prozesse eine Rolle spielen können. Im Wollen richtet sich der Mensch mit »wollendem Blick-auf« ein intentionales Objekt (Husserl Hua III/1), das als Willensziel bezeichnet werden kann. Dieses Willensziel oder Gewolltes ist aber, im Gegensatz zum Gedachten beim Denken oder zum Gefühlten beim Fühlen, in der unmittelbaren Gegenwart für den Wollenden nicht verfügbar. In einer Situation wird ein Gewolltes als Zu-Erstrebendes in der Zukunft gesetzt, wodurch sich die Gegenwart als Mangelzustand bzw. Negativität am Gewollten darstellt. Mit der Bestimmung eines Willenszieles entsteht also das, was der Feldpsychologe 15 Kurt Lewin (1936) als ein »gespanntes System« bezeichnet hat: Da es am Gewollten in der Gegenwart mangelt, richtet der Wollende einen intentionalen Bogen (Merleau-Ponty 1945/1974, 188 ff.) auf das Willensziel 16 und dieser Spannungszustand entspannt sich erst durch die Erfüllung oder Verwerfung des Willenszieles. Durch diesen gespannten willentlichen Bogen kann dann auch »ein gewisses Verhalten in der Zukunft« gesichert werden (Lewin 1963/2012, 316). Dabei kann das Verhalten genauso gut in einem Tun wie in einem Nicht-Tun bestehen, ebenso wie das Willensziel auch positiv wie negativ sein kann, d. h. also Gewolltes oder Nichtgewolltes. Das Wollen umfasst demnach alle vier Konstellationen. 1. Etwas tun, um das Gewollte zu erreichen: z. B. Trainieren, um einen Wettkampf zu gewinnen. 2. Etwas nicht tun, um das Gewollte zu erreichen: z. B. auf Partnerschaft und Sexualität verzichten, um als Priester das Zölibat zu erfüllen. 3. Etwas tun, um das Nichtgewollte zu vermeiden: z. B. Demonstrieren, um ein Gesetz zu verhindern.

Nach Husserl (Hua III) bezeichnet »Intentionalität« nicht ein vorsätzliches Streben, sondern das implizite und explizite Ausgerichtet-sein auf die Welt. 15 Als Feldpsychologie wird eine Richtung der Gestaltpsychologie bezeichnet, welche psychische Prozesse ähnlich physikalischer Felder durch unterschiedliche Anziehungskräfte im »psychischen Feld« bestimmt sieht. 16 Motivationspsychologisch wurde der durch das Willensziel hervorgerufene erlebte Mangelzustand auch in Abgrenzung zu originären Bedürfnissen als »Quasi-Bedürfnis« (Lewin 1959, 1963/2012) bezeichnet. 14

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Das Wollen als psychisches Vermögen

4.

Etwas nicht tun, um das Nichtgewollte zu vermeiden: z. B. nicht falsch zu parken, um einen Strafzettel zu vermeiden.

Insofern handelt es sich beim Nichtwollen auch um ein Wollen, nämlich ein negatives Wollen, genauso wie durch den Psychologen Alexander Pfänder (1900/1963, 65 ff.) ein Widerstreben auch als negatives Streben bezeichnet wird. Dieses Nichtwollen kann also entweder darin bestehen, dass eine Person etwas nicht tun will oder dass sie etwas tun will, damit ein Zustand nicht eintritt. Während beim positiven Wollen die Person ein Willensziel erstrebt und es durch ihr Handeln herbeiführen will, ist sie beim negativen Wollen darauf ausgerichtet, durch Nichthandeln oder Gegenhandeln ein Nichtgewolltes zu vermeiden. Das Wollen ist also zunächst zu bestimmen als ein auf die Zukunft bezogenes Streben zur Erfüllung eines Gewollten oder zur Vermeidung eines Nichtgewollten, das durch ein bestimmtes Verhalten, also Tun oder Nicht-tun, herbeigeführt oder vermieden werden soll. Dabei handelt es sich zunächst nur um eine erste formale Bestimmung des Wollens, die eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung darstellt. Denn ein Streben zu einem künftigen Zielobjekt umfasst auch Triebe, Bedürfnisse, Wünsche und Hoffnungen. Von diesen Strebungen unterscheidet sich das Wollen jedoch kategorial, sodass die phänomenologische Analyse an dieser Stelle nicht stehenbleiben kann. Gegen Instinktverhalten sowie Trieb- oder Gewohnheitshandlungen grenzt sich das Wollen auf der einen Seite ab, da es ein Streben ist, das – wie von Jaspers (1913/1965, 98) gezeigt wurde – durch ein Moment der Wahl und Entscheidung ausgezeichnet ist. Das Wollen ist somit ein intentionales Vermögen auf ein zuvor frei bestimmtes Gewolltes oder Nichtgewolltes, das dem Wollenden im Moment der Entscheidung möglich erscheint. Daher wird ein als Wollen bezeichnetes Streben auch zu allen erfahrenen Bedürfnissen in einem Distanzverhältnis stehen müssen, um zwischen diesen frei wählen zu können. Es existiert also beim menschlichen Wollen ein Freiraum oder »Hiatus« (lateinisch: Spalt oder Kluft) zwischen den Bedürfnissen und Trieben einerseits sowie den Willenshandlungen andererseits, worauf besonders Autoren der philosophischen Anthropologie wie Gehlen (1940/2004, 332) und Plessner (1975, 291) hingewiesen haben. Im Gegensatz zu reinen Instinkt- oder Triebhandlungen ist es beim menschlichen Wollen nämlich möglich, Bedürfnisse auszusetzen, zu 30 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die Besonderheiten des Wollens

verwerfen oder aufzuschieben. Durch dieses Vermögen des AußerKraft-Setzens von Strebungen, wird erst ein Raum für die Wahl zwischen verschiedenen Entscheidungsmöglichkeiten aufgespannt, ohne dass die Bedürfnisse sich unmittelbar in Handlungen aktualisieren. Auf der anderen Seite grenzt sich das Wollen gegen das Hoffen und Wünschen ab, da es ein Streben ist, das den Wollenden als Akteur aktiv in die geplante Handlung einbezieht. »Jedes Wollen ist ein Tun-Wollen«, wie Pfänder (1900/1963, 80) in seiner Phänomenologie des Wollens schreibt. Während der Wünschende oder Hoffende sein Schicksal abwartend hinnimmt, wird es vom Wollenden selbst »in die Hand« genommen und durch sein Handeln beeinflusst. Das bedeutet, dass die Person über das implizite Wissen verfügt, dass sie durch eigenes Zutun das Gewollte herbeiführen kann. Wollen ist ein aktives Vermögen, insofern es durch leibliche Disposition in der Wirkmacht der wollenden Person zu stehen scheint und schließlich auch handlungswirksam werden kann. Als solches ist es zugleich immer schon potentielles Handeln. Denn während reines Denken immer Denken und reines Wünschen immer Wünschen bleiben muss, ist das potentielle Handeln mit dem Wollen verwoben, da es im Entscheidungsprozess stets vorausgeahnt wird. Der Wollende ist so immer auch ein potentiell Handelnder in der Welt, weshalb das Wollen nicht nur passives Erleben, sondern auch aktives Gestalten ist. 17 Als potentiell Handelnder muss der Wollende somit bereits zwei implizite Grundannahmen über sein Können treffen, wie der Psychologe Albert Bandura (1977) dargelegt hat: Zum einen muss der Wollende glauben, dass das Willensziel erreichbar ist; zum anderen, dass es durch sein Handeln (d. h. durch sein Tun oder Nicht-tun) erreichbar ist. 18 Die Verwobenheit von Wollen und Handeln führt zu einer weiteren Besonderheit des Phänomens: der Inkorporation des Wollens und damit der wechselseitigen Beziehung zwischen Wollen und Leiblichkeit 19 , auf die besonders Paul Ricœur (1950/1966, 86 ff.) in seinem phänomenologischen Frühwerk Le volontaire et l’involontaire hingeMotivationspsychologisch (Bolles 1972; Heckhausen 1977) kann man das Wollen als ein Vermögen betrachten, das mit niedriger Situations-Ergebnis-Erwartung und hoher Handlungs-Ergebnis-Erwartung einhergeht. Es wird also nicht erwartet, dass sich ein Ergebnis von allein einstellt, sondern nur durch eigenes aktives Handeln. 18 Dies bezeichnet Bandura als »Ergebniserwartung« und »Wirksamkeitserwartung«. 19 Dabei wird der »Leib« im Anschluss an Husserl (Hua I, S. 99), Plessner (1975, 294) und Merleau-Ponty (1945/1974) als der »subjektive« Körper bezeichnet, der bei allen Erfahrungen implizit miterlebt wird. 17

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Das Wollen als psychisches Vermögen

wiesen hat. Dementsprechend ist Wollen ein in besonderer Weise durch den Leib fundiertes Vermögen: Der Mensch gründet seine willentliche Entscheidung auf implizitem Wissen über die eigenen leiblichen Fähigkeiten und setzt die getroffene Entscheidung dann durch sein leibliches Handeln um. Beim Wollen besteht also ein anderes Fundierungsverhältnis zum Leib als beim bloßen Denken, Fühlen oder Wahrnehmen. Während bei den letzteren Seelenvermögen der Leib lediglich die Voraussetzung darstellt, wird beim Wollen auch mit dem Leib gerechnet. Husserl (Hua I, 105) beschreibt das Phänomen des impliziten Rechnens mit dem eigenen Leib auch als die Grunderfahrung des »Ich kann oder könnte«. Das Wollen wird also durch das Können fundiert, da das Gewollte »durch mich wirklich werden soll« (Pfänder 1900/1963, 110). 20 Die Verwirklichung des Willenszieles durch leibliches Handeln wird wiederum durch Strukturen des impliziten Leibgedächtnisses (Fuchs 2008a) mit bewirkt: Je öfter die Person in einer Situation gewesen ist, umso eher weiß sie implizit, wie etwas gemacht wird (»knowing how«) und desto leichter fällt ihr die Umsetzung eines mit solchen Handlungsabfolgen verbundenen Willens. Dies betrifft nicht nur den Umgang mit bestimmten Situationen, bei denen innerhalb von Millisekunden eine implizite Einordnung stattfindet, sondern auch die Interaktion mit anderen Personen. Durch unsere bisherigen Erfahrungen mit anderen Menschen wissen wir bereits bei der ersten Begegnung, mit was wir beim Gegenüber zu rechnen haben, wie wir uns zu verhalten haben und ob sich eine resonante Beziehung ergeben wird. 21 Leibliche Gewohnheiten erleichtern also sowohl unseren Umgang mit den Mitmenschen als auch allgemein das Handeln, ohne dass dies der Person bewusst ist. Durch sie wird ein situatives Im-Fluss-sein ermöglicht, bei dem sich der Wollende flexibel den jeweiligen Bedingungen anpassen kann und dem Aufforderungscharakter (Lewin 1959) einer Situation, das heißt also seinen besonderen Erfordernissen, gerecht werden kann. Leibliche GewohnheitsDieses Rechnen mit dem eigenen Leib wurde motivationspsychologisch durch das »Anstrengungs-kalkulationsprinzip« (Kukla 1972; Meyer 1973) formuliert: Es besagt, dass die Person durch den Schwierigkeitsanstieg einer Aufgabe auch planen wird, sich vermehrt anzustrengen. Kommt es also zur Umsetzung des Wollens, dann ist die Person darauf eingestellt, seinen Leib entsprechend der zu erwartenden Situation zu gebrauchen. 21 Dies bezeichnet der Entwicklungspsychologe Daniel Stern (1991) auch als implizites Beziehungswissen. 20

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Die Besonderheiten des Wollens

bildung ermöglicht also eine Eigenaktivität des Leibes, die die Voraussetzung dafür bildet, dass die Aufmerksamkeit in der Situation auch dorthin gelenkt werden kann, wo sie benötigt wird. 22 Gerade dieser »Spontaneitätscharakter« des Wollens stellt für Pfänder (1900/1963, 119 f.) eine besondere Auszeichnung gegenüber anderen Strebungen dar. Das implizite Wissen um die eigenen leiblichen Fähigkeiten kann sich aber auch im Handeln durch Überschätzung oder Fehleinschätzung als unzutreffend erweisen und dann zum Misserfolg führen. Gerade Hindernisse, die die Umsetzung des Wollens erschweren, können dazu zwingen, das Wollen anzupassen oder gar ganz zu verwerfen. Für gewöhnlich nehmen Hindernisse und Widerstände dabei eine Doppelfunktion ein: Einerseits stellen sie eine Hürde dar, an der der Wollende auch scheitern kann, andrerseits ermöglichen sie aber überhaupt erst das, was hier als Willensgefühl bezeichnet werden soll. Ein solches Willensgefühl entsteht durch einen Spannungszustand, d. h. umso eher, je mehr Anstrengung aufgebracht werden muss, um einen Widerstand zu überwinden. Es ist dagegen umso geringer vorhanden, je weniger Anstrengung die Hindernisüberwindung erfordert. 23 Durch das Willensgefühl spürt der Wollende seinen willentlichen Spannungsbogen, der durch ihn selbst auf Erfüllung drängt. Dieser auf die Zukunft zum Willensziel hin gespannte Bogen kann als eine energetische Kraft erlebt werden, die mit einem hohen Grad seelischer Konzentration und leiblicher Anspannung einhergeht. In den phänomenologischen Beschreibungen von Ach (1910) wurde dieser Zustand auch als Determinierende Tendenz bezeichnet. Damit ist die Tendenz gemeint, die auf die Realisierung des Willens ausgerichtet ist und den Wollenden, nachdem der Willensentschluss gebildet wurde, in seinem Handeln bedingt oder eben »determiniert«. 24 Sowohl willentliche Spannkraft als auch die Bewertung des HindernisVgl. dazu die Arbeiten von v. Cranach et al. (1980, 86 ff.) und Heckhausen (1987c, 132 ff.). 23 Dieser Konflikt in der Bestimmung eines Willenszieles, der zwischen Überforderung bei der Wahl zu hoher Ziele und Unterforderung bei der Wahl zu niedriger Ziele besteht, lässt sich motivationspsychologisch auch durch das »Risikowahl-Modell« von Atkinson (1957) ausdrücken. 24 Schopenhauer hat dieses Gefühl des Determiniert-seins als Beleg gegen die Entscheidungs- oder Willensfreiheit und für den metaphysischen Determinismus eines »Willens zum Leben« genommen, ohne dabei herausgearbeitet zu haben, dass diese Selbst-Determination postdezisional auftritt. 22

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Das Wollen als psychisches Vermögen

ses hängen dabei sowohl von Persönlichkeitseigenschaften des Wollenden als auch von der jeweiligen Situation ab. Allerdings kann mit dem Begriff der Willensstärke aus der Alltagssprache eine langandauernde und starke Spannkraft einer Person bezeichnet werden, weshalb diese in der Lage ist, auch überdurchschnittlich hohe Hindernisse zu überwinden. Eine letzte Besonderheit des Wollens als eines psychischen Vermögens besteht in seiner Wirkmächtigkeit. Im Wollen und Handeln kann die Person selbst ihren Einfluss auf die jeweilige Umwelt erfahren und gewinnt dadurch ein Bewusstsein ihrer selbst als eines wollenden und handelnden Akteurs. Willentliche Handlungen ermöglichen Veränderung und führen so zu dem Erleben, das Bandura (1977) als Selbstwirksamkeit bezeichnet hat, nämlich dem Gefühl, etwas durch den eigenen Willen bewirken zu können, was sich wiederum im Erwartungshorizont des eigenen Könnens niederschlägt. Ein solches Erleben von Beeinflussbarkeit und Veränderbarkeit durch die eigene Person verschließt sich aber aufgrund negativer Beziehungserfahrung dem Erfahrungshorizont vieler psychisch Kranker, so ist z. B. bei der chronischen Depression aufgrund widriger Entwicklungsbedingungen das Erwarten der eigenen Unwirksamkeit bzw. die sogenannte erlernte Hilflosigkeit (Seligman 1979/2010) 25 Grundbestandteil der Pathologie (McCullough 2015). Der depressive Patient erwartet, dass sich seine bisherigen negativen Beziehungserfahrungen wiederholen und dass er durch sein eigenes Verhalten keinen Einfluss auf das Gegenüber nehmen kann. Dadurch fühlt er sich der Welt schutzlos ausgeliefert, weshalb er selbst keine Anstalten unternimmt, seine Situation zu ändern und damit die Grundannahme seiner vermeintlichen »Hilflosigkeit« bestätigt. Während Menschen, die sich in einer psychischen Krise befinden, oftmals das Gefühl haben, auf der Stelle zu treten und nicht voran zu kommen, erleben wir für gewöhnlich unsere alltägliche Lebenswelt als durch unser Wollen veränderbar. Durch gelingende Veränderungen (Entwicklungsziele und Leistungen wie z. B. ein Abitur erwerben oder einen Marathon laufen) können wir Selbstwert aufDas Konzept der erlernten Hilflosigkeit von Martin Seligman und Steven Maier beschreibt den zunächst im Tierversuch beobachteten Umstand, dass ein Ausgesetztsein gegenüber willkürlichen Bedingungen und einer wenig schutzgebenden Umwelt zum Erleben führt, diese Umwelt nicht selbst beeinflussen zu können. Diese Grundannahme bestätigt sich durch die Passivität in zwischenmenschlichen Beziehungen.

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Die Besonderheiten des Wollens

bauen und uns fortan aber auch in diesen Fähigkeiten überschätzen. Misserfolg und bereits scheinbares Scheitern kann uns auch fundamental entmutigen und unseren Selbstwert in Frage stellen oder aber unseren Ehrgeiz entfachen. 26 Wollen und Selbstwertgefühl hängen also eng miteinander zusammen. 27 Im alltäglichen Handeln bildet der Wollende ferner Gewohnheiten aus und sammelt Erfahrungen, was zu Stabilität und Orientierung führt und sowohl das Selbstverhältnis als auch das Weltverhältnis der Person beeinflusst. Zusammenfassend können also folgende Eigenschaften des Wollens benannt werden: (1) Das Wollen ist ein intentionales Vermögen, das immer auf ein in der Zukunft liegendes Willensziel oder Gewolltes ausgerichtet ist, dass durch eigenes Handeln (Tun oder Nicht-tun) herbeizuführen ist. (2) Dabei ist das Wollen stets mit einer freien Wahl und Entscheidung für ein Willensziel verbunden, die durch das Außer-KraftSetzen von Bedürfnissen ermöglicht wird. (3) Die Erfüllung des Willenszieles scheint für den Wollenden möglich zu sein. Das implizite Wissen über die leiblichen Fähigkeiten fundiert den Willensentschluss und der Leib ist zur Umsetzung dieses Entschlusses nötig. (4) Dabei kann sich das implizite Wissen auch als Fehleinschätzung erweisen, sodass ein Willensziel aufgrund von Widerständen und Hindernissen durch eigenes Handeln nicht erreicht werden kann. (5) Durch solche Widrigkeiten entsteht andererseits auch das Willensgefühl, das als die Spannkraft des intentionalen Bogens (Merleau-Ponty 1945/1974) erlebt wird. (6) Wird das Wollen dann in tatkräftiges Handeln umgesetzt, so zeigt sich seine Wirkmächtigkeit, da es sowohl die Welt als auch die Person selbst verändern kann. Durch die Wirkmächtigkeit des Wollens wird die eigene Selbstwirksamkeit (Bandura 1977) in der Welt erlebt. Einen Einfluss auf die Bewertung von Erfolg und Misserfolg hat das, was als »Kausalattribution« (Weiner 1972) bezeichnet wird, nämlich ob der Mensch die Ursache dafür in sich selbst oder in der Umwelt erkennt. 27 So schrieb Kierkegaard (1849/2010, 50): »Je mehr Bewusstsein, desto mehr Selbst; je mehr Bewusstsein, desto mehr Wille; je mehr Wille, desto mehr Selbst. Ein Mensch, der gar keinen Willen hat, ist kein Selbst; aber je mehr Wille er hat, desto mehr Selbstbewusstsein hat er auch.« 26

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Das Wollen als psychisches Vermögen

In diesen ersten Annäherungen konnten wir das Wollen als ein spezifisches psychisches Vermögen charakterisieren, das sich in vielfacher Hinsicht von anderen Vermögen unterscheidet. Doch um das Wollen als ein komplexes Vermögen zu begreifen, sind die verschiedenen Willensphänomene im Folgenden noch klarer herauszuarbeiten.

2.

Das Wollen als komplexes Vermögen

Friedrich Nietzsche kritisiert in Auseinandersetzung mit metaphysischen Willenskonzepten seiner Zeit, so etwa Schopenhauers, dass die Verwendung des Willensbegriffes auf dem Vorurteil beruhe, dass man immer schon zu wissen glaube, was er bedeute (KSA V, 31 ff.). Dagegen meine man mit »Wollen« eigentlich eine Vielzahl verschiedener Phänomene: »Wollen scheint mir vor Allem etwas Complicirtes, Etwas das nur als Wort eine Einheit ist […] sagen wir: in jedem Wollen ist erstens eine Mehrheit von Gefühlen, nämlich das Gefühl des Zustandes, von dem weg, das Gefühl des Zustandes, zu dem hin, das Gefühl von diesem »weg« und »hin« selbst, dann noch ein begleitendes Muskelgefühl […] Wie also Fühlen als Ingredienz des Willens anzuerkennen ist, so zweitens auch noch Denken: in jedem Willensakte giebt es einen kommandierenden Gedanken […] Drittens ist der Wille nicht nur ein Complex von Fühlen und Denken, sondern vor Allem noch ein Affekt: und zwar jener Affekt des Commando’s.« (Nietzsche, KSA V, 31 f.)

Diese Kritik am Willensbegriff wurde dann auch von Motivationspsychologen aufgegriffen. Kurt Lewin schreibt etwa: »Mit dem Terminus ›Willen‹ pflegen […] sachlich sehr verschieden gelagerte Fakten und Probleme bezeichnet zu werden: z. B. Entscheidung; Vornahme; Selbstbeherrschung; Abgrenzung gegen Umwelt; Konzentration; Ausdauer […].« (Lewin 1970, 10)

Diese Kritik Lewins am Willensbegriff führte unter anderem dazu, dass dieser für die motivationspsychologische Forschung bis heute eine eher untergeordnete Rolle spielt. 28 Im ersten Teil der Untersuchung wurde – entgegen der Annahmen von Nietzsche und Lewin – gezeigt, dass der Willensbegriff

Ein geschichtlicher Überblick zum Einfluss, den Lewins Arbeiten auf die Motivationspsychologie hatten, findet sich bei Heckhausen (Heckhausen 1987b).

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Das Wollen als komplexes Vermögen

aufrechterhalten bleiben kann und dem Wollen die Stellung eines eigenständigen psychischen Phänomens zugestanden werden muss. Phänomenologisch konnte das Wollen nämlich als ein intentionales Vermögen sowohl gegen traditionell entgegengesetzte Phänomene wie Wahrnehmen und Fühlen (Zukunftsbezug), als auch gegen verwandte Phänomene wie reine Gewohnheits- und Triebhandlungen (Moment der Wahl und Entscheidung) oder Hoffen und Wünschen (Realisierung durch Handeln) abgegrenzt werden. Dies kann als Beleg für die Eigenständigkeit des Wollens als Phänomen gelten. Auf der anderen Seite ist jedoch den Kritikern des Willensbegriffes zuzustimmen, dass das Wollen aus einer Vielzahl von Einzelaspekten besteht, die es zu einem komplexen Phänomen machen. Folgt man den Analysen Pfänders, dann kann schon allein die klassisch philosophische Dreiteilung von Wollen, Denken und Fühlen nun nicht mehr aufrechterhalten werden. Feinsinnig schreibt dieser: »Denn es gibt […] kein Wollen, in dem nicht ein Denken und Fühlen einen wesentlichen Bestandteil ausmachten.« (Pfänder 1911/1963, 125 ff.)

Da jedoch noch andere Komponenten zum Wollen gehören, kann eine phänomenologische Untersuchung an dieser Stelle nicht abbrechen, sondern muss, wie gesagt, tiefer dringen und wichtige Willensphänomene in den Blick nehmen.

(1) Denken können Im Gegensatz zur klassischen Dreiteilung der Seelenvermögen stellt auch das Denken eine Komponente des Wollens dar und ist beteiligt am Prozess der Entscheidungsbildung und Umsetzungsplanung. Denken ist sowohl ein passiv-prozessuales 29 als auch durch die Verinnerlichung von Sprache ein aktiv-strukturierendes Vermögen. Durch das Denken können gemachte Erfahrungen sprachlich verdichtet und als Abstraktionen wiederum mit Vorstellungen verknüpft werden. Gedanken können Klarheit und Struktur in Abwägungsprozesse hineinbringen, aber auch durch dysfunktionale Denkmuster (»Grübeleien«) Ambivalenzen bedingen und Entscheidungsprozesse hemmen. Auch wenn das Denken eine wichtige Funktion im WillensSo formuliert Nietzsche (KSA V, 30 f.) etwa den unbewussten Denkprozess eines »Es denkt in mir«.

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Das Wollen als psychisches Vermögen

bildungsprozess einnimmt, so ist seine Bedeutung oftmals (z. B. im Deutschen Idealismus) überbewertet worden. Eine rationale Erwägung von Gründen sowie von Vor- und Nachteilen (»Vernunftentscheidung«) kann zwar eine Klärung vor sich und Anderen herbeiführen, jedoch werden Gründe nie im gleichen Maße als tragend erlebt wie die eigene Intuition bzw. das »Bauchgefühl«. In vielen Fällen stellen Begründungen sogar »Rationalisierungen« dar, um die eigenen Willensentscheidungen zu rechtfertigen. Ist jedoch ein Entschluss gebildet, so wird dieser durch einen leitenden Gedanken zur Ausführung gebracht. Aber auch die Umsetzung des Wollens ist stark vom Denken abhängig: So sind es strategische Erwägungen und der planende Umgang mit dem eigenen Wissen, der die Realisierung eines Willenszieles ermöglichen kann.

(2) Fühlen können Auch Gefühle sind für den Prozess der Willensbildung und -umsetzung von entscheidender Bedeutung: Zunächst können sie im Spüren von Bedürfnissen das Wollen leiten. Sie können aber auch im Prozess des intuitiven Vorfühlens (Fuchs 2008b) verschiedener Situationen und Wertigkeiten, die Herstellung eines handlungsleitenden Gefühls der Stimmigkeit bedingen und schließlich durch die Handlungsrealisierung im Gewinn von Lust und Unlust 30 künftiges Verhalten beeinflussen. Gefühle haben eine enge Verwandtschaft zu anderen inneren »Bewegungen«, was die etymologische Nähe der Begriffe »Emotion« und »Motivation« erklärt. Negative Gefühle (Angst, Ekel) stoßen ab vom Nichtgewollten, positive Gefühle (Freude, Lust) drängen hin zum Gewollten. Depressive Patienten, deren Welt an emotionaler Farbe verloren hat, sind in ihrem Gefühlsleben verarmt oder werden oft darin bestimmt von Trauer, Angst, Schuld und Scham, wodurch auch der Willensprozess mit beeinträchtigt ist. Dagegen ist der Maniker in seinen Gefühlen zumeist überschwänglich, voller

Bereits in der griechischen Antike, etwa bei Platon oder Epikur, wurden die Affekte von Lust und Unlust als Antriebe des menschlichen Handelns bestimmt. Lust und Unlust entstehen u. a. bei der Befriedigung von Grundbedürfnissen wie etwa bei Nahrungsaufnahme oder Sexualität. Eine grundsätzliche Bestimmtheit des Menschen durch das Lustprinzip, dem das »Es« folge, wurde von Sigmund Freud (GW XI) formuliert.

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Das Wollen als komplexes Vermögen

Euphorie, Freude oder Gereiztheit, wogegen er handlungshemmende Gefühle wie Angst, Schuld oder Scham selten verspürt: Mit dem Resultat, dass der Patient sich in der Anzahl seiner Handlungen überschlägt, während er zuvor in der Depression wie gelähmt war. Dieser Einfluss von Stimmungen und Gefühlen auf das Wollen und Handeln zeigt sich bei der bipolaren Störung wie unter einem Vergrößerungsglas, denn auch wir erleben in unseren alltäglichen Willensfunktionen starke emotionale Schwankungen, ohne diesen Schwankungen in ihrem Aufkommen und ihrer Intensität ohnmächtig zu erliegen.

(3) Innehalten können Wie bereits aufgezeigt wurde, ist das Gefühl der Entscheidungsfreiheit ein zentraler Aspekt des Wollens gegenüber Triebhandlungen. Dieses setzt einen Möglichkeitsspielraum voraus, der erst durch das menschliche Suspensionsvermögen (suspendere, lateinisch: »in der Schwebe lassen«) entsteht. Strebungen zu suspendieren, heißt dabei nicht zwangsläufig, sie zu verwerfen, sondern nur sie in der aktuellen Situation außer Kraft zu setzen oder zurückzustellen, um damit die basale Möglichkeit einer Ja-oder-Nein-Entscheidung zu haben. Diese Entaktualisierung entlastet den Menschen von dem Drängen der Bedürfnisse und eröffnet ihm überhaupt erst die Möglichkeit, denkend auf das Handeln Einfluss zu nehmen und sein Handeln auf die jeweilige Situation abzustimmen. Das Suspensionsvermögen, d. h. die Fähigkeit Handlungsimpulse und Gefühle auszusetzen, wird in der Kindheitsentwicklung durch psychodynamische Prozesse wie die Identifikation mit den Eltern, die Übernahme von Regeln und Normen, die Fähigkeit zur Perspektivübernahme sowie das Annehmen einer dezentralen Metaperspektive ausgebildet und ermöglicht überhaupt erst die Erfahrung eines psychischen »Binnenraumes« (Fonagy 2004/2015). Dagegen ist es manchen Patienten aufgrund negativer Beziehungserfahrung (z. B. Patienten mit einer schweren Persönlichkeitsstörung) sowie einer dadurch bedingten mangelhaften Ausbildung des Impulskontrollvermögens oft gar nicht möglich, innezuhalten und Gründe abzuwägen, sodass dysfunktionale Verhaltensmuster den Alltag bestimmen. Auf der anderen Seite kann aber auch die Möglichkeit des Innehaltens durch ein Übermaß inhibierender und hyperreflexiver Prozesse zu einer neurotischen Ambivalenz führen, sodass der Wollende gar nicht ins Handeln kommt, da jede Strebung 39 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Das Wollen als psychisches Vermögen

außer Kraft gesetzt und jeder Grund für eine Handlung in Frage gestellt wird.

(4) Sich vorstellen können Unter einem Vorstellungsvermögen wird die Fähigkeit verstanden, sich verschiedene erlebte Situationen der Vergangenheit und mögliche Situationen der Zukunft zu vergegenwärtigen. Dabei ist die Fähigkeit, sich etwas vorstellen zu können, eng mit dem Denken als auch mit dem Fühlen verknüpft. Jedes Wollen benötigt ein Vorstellungsvermögen, das zu Beginn der Willensbildung zunächst vage Vorstellungen hervorruft und mit Entschluss und Planung sich zu einer klaren Gestalt verdichtet. Vorstellungen stellen eine Synthese erinnerter Situationen und vorausgeahnter Bedingungen dar und ermöglichen damit den eigenen Erwartungshorizont als einen orientierenden Vorausgriff auf das Künftige. Dabei erschafft das Vorstellungsvermögen vor dem inneren Auge eine noch nicht bekannte Zukunft, die so oder anders sein kann. Die Fähigkeit, sich eine andere Zukunft imaginieren zu können, ist eine kreative Leistung, die den engen Rahmen der faktischen Situation überschreiten hilft und damit den eigenen Freiheitsspielraum vergrößert. Oft ist es überhaupt erst ein starkes Bild von der Zukunft, das es ermöglicht, eine als brutal erlebte Gegenwart zu ertragen, wie dies z. B. von Holocaust-Überlebenden (Frankl 1946/2009a) berichtet wird. Manchmal ist es auch ein durch die Identifikation mit Vorbildern ausgebildetes Selbstideal, d. h. ein Bild, wie man gern wäre, das Menschen zu beeindruckenden Willenshandlungen befähigt. In jedem Fall bereichert das imaginative Feld der Fantasie und Vorstellungskraft das menschliche Wollen und stellt einen unverzichtbaren Teilaspekt des Willensbildungsprozesses dar.

(5) Sich entschließen können Damit der Prozess der Willensbildung auch zu einem Ende finden kann, muss nach einer Phase des Vorstellens und Vorspürens sowie des Nachdenkens und Abwägens ein Entschluss herbeigeführt werden. Ohne Entschluss kann es kein Wollen geben, da nur dieser in der Lage ist, aus verschiedensten noch nicht gerichteten Strebungen 40 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Das Wollen als komplexes Vermögen

einen handlungsleitenden Willen zu formen. Die Umsetzung des Wollens bedarf nämlich der Klarheit für ein gewähltes Willensziel. Sich entschließen zu können, bedeutet, in der Lage zu sein, sich nach einem Abwägungsprozess einen volitiven Ruck zu geben und damit den Entscheidungsprozess auch jederzeit beenden zu können. Entschlossenheit kann zu einer größeren Wirkmächtigkeit führen und ermöglicht in Situationen, in denen die Zeit drängt, eine Entscheidung auch im rechten Moment zu treffen. Sich nicht entschließen zu können, wie etwa in der neurotischen Ambivalenz, kann zu quälenden Gedankenschleifen ohne Handlungsrelevanz führen, in denen jeder sich ausbildende Handlungsimpuls wieder außer Kraft gesetzt wird und die Person das Gefühl verspürt, auf der Stelle zu treten. Aber auch ein frühzeitig getroffener Entschluss kann mit Schwierigkeiten behaftet sein, indem nämlich der Möglichkeitsspielraum zu früh eingeschränkt und eine Entscheidung unter äußerem Druck oder innerem Zwang getroffen wird, die den bestehenden Freiheitsspielraum einengen. Intuitiv den rechten Augenblick zu finden, damit der Prozess der Willensbildung zwar zu einem Ende kommt, jedoch nicht zu früh abgebrochen wird, ist eine Fertigkeit, die erlernt werden muss. Auch wenn das rechte Maß für den Zeitpunkt der Entscheidung sowohl von der individuellen Rhythmik als auch von der jeweiligen Situation abhängt, so ist es in erster Linie das intuitive Gespür, das ein rechtzeitiges Sich-entschließen-Können ermöglicht.

(6) Sich bestimmen können Für die Umsetzung des Wollens ist es nicht nur von Bedeutsamkeit, sich rechtzeitig zu entschließen, sondern sich auch durch den Entschluss bestimmen zu lassen. Ach (1910) sprach davon, dass der Wollende eine »Determinierende Tendenz« habe, die auf die Erfüllung eines Willenszieles drängt. Dadurch, dass der gespannte Willensbogen auf das Gewollte ausgerichtet wird, kann der Handlungsspielraum der Gegenwart eingeschränkt sein. Insbesondere dann, wenn die Umsetzung des Wollens mit unlustbehafteten Gefühlen verbunden ist oder die Umsetzung über einen langen Zeitraum geschieht, ist es notwendig, sich das Willensziel, und damit auch ein positives Bild von der Zukunft, klar vor Augen zu führen. Das bedeutet aber auch, dass es bei einigen Willensakten von Bedeutung sein kann, dass das Wollen von einem »Affekt des Commando’s« (Nietzsche KSA V, 32 f.) 41 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Das Wollen als psychisches Vermögen

begleitet wird, damit es handlungswirksam werden kann. Der Wollende muss sich also gelegentlich selbst befehlen, um die Willensanstrengung aufbringen zu können, bestehende Hindernisse oder Widerstände zu überwinden, oder »bei der Sache« zu bleiben und den Vorsatz beizubehalten. Es kann nämlich immer wieder vorkommen, wenn einerseits die Anziehungskraft des Willenszieles zu gering ist, andererseits die Kraftanstrengung und Mühsal zu groß wird, dass die willentliche Spannkraft erschlafft. Durch die Fähigkeit, sich selbst zu bestimmen und das Handeln zu befehlen, kann sich der Wollende immer wieder zur Tat zwingen und dadurch den Spannungsbogen zum Willensziel herstellen oder erneuern. Das Vermögen, sich durch den eigenen Vorsatz selbst zu bestimmen bzw. zu befehlen ist bei jedem Menschen und bei jeder Situation sehr unterschiedlich ausgeprägt. Auch kann es vorkommen, dass besonders »willensstarke Menschen« durch ein Übermaß an Kraftanstrengung langfristig in einen Zustand von willentlicher Erschöpfung hineingeraten, wenn es auf der anderen Seite zu wenige Möglichkeiten zur Entspannung und Erholung gibt.

3.

Zusammenfassung

Die erste phänomenologische Analyse grenzt sich bewusst von einer Metaphysik des Willens ab und ermöglicht einen Umriss des Wollens als eines psychischen, intentionalen Vermögens. Dabei ist das Wollen auf die Zukunft ausgerichtet, ist leiblich fundiert, bietet einen bewussten Entscheidungsspielraum und bezieht den Wollenden als künftigen Akteur mit ein. Das Wollen ist in der Lage, Einfluss auf die Um- und Mitwelt zu nehmen, wodurch sich wiederum der Wollende selbst verändert und bietet diesem die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, d. h. durch ihn selbst kann etwas wirklich werden. Das Wollen kann also als ein heterogenes Phänomen beschrieben werden, dass aus einer Vielzahl unterschiedlicher Willensphänomene besteht. Dabei gelingt es nicht mehr, eine klare Trennlinie zwischen anderen psychischen Vermögen wie Denken und Fühlen herzustellen. Vielmehr spielen diese in den komplexen Prozess der Willensbildung und -umsetzung hinein. Es konnte gezeigt werden, dass das Wollen getragen ist von verschiedenen affektiven und kognitiven Aspekten: So spielen einerseits Prozesse des Fühlens (wie z. B. das Vorspüren, das Kohärenzgefühl 42 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Zusammenfassung

sowie Gefühle von Lust und Unlust), des Vorstellens (der Zukunft oder von Selbstidealen) sowie des Denkens (im Abwägen von Gründen, im Klären, Strukturieren und Planen) eine nicht unerhebliche Rolle. Denken, Fühlen und Vorstellen sind mit dem Willensprozess verwoben und bedingen sich wechselseitig. Andererseits wird das Wollen aber auch durch Aspekte des Innehaltens (zur Bildung eines Entscheidungsraumes und Ermöglichung von reflexiven Prozessen), des Entschließens (zur Beendung der deliberativen Phase und zur Handlungsinitiierung), sowie des Sich-Bestimmens (indem der Entschluss handlungsleitend wird und Verpflichtungscharakter bekommt) gebildet. Damit wird deutlich, dass es sich beim Wollen nicht nur um ein heterogenes, sondern auch um ein dynamisches Phänomen handelt. Diese Heterogenität und Dynamik soll im nächsten Kapitel noch klarer zum Ausdruck kommen, wenn im nächsten Schritt der Untersuchung die verschiedenen Strukturmomente und Phasenabschnitte herausgearbeitet werden. Dadurch soll die Beschreibung des Wollens weiter an Kontur gewinnen und ein Begriffsinstrumentarium ermöglichen, das für die nachfolgende Untersuchung verschiedener klinischer Phänomene hilfreich sein kann.

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II. Die Strukturmomente und Phasen des Wollens

Von abwägenden Moderatoren des Wählens sind wir im Handumdrehen zu einseitigen Partisanen unseres Wollens geworden. 31

Im ersten Schritt der Untersuchung wurde deutlich, dass es sich beim Wollen um ein durchaus heterogenes Phänomen handelt, an dem eine Vielzahl von Komponenten sichtbar gemacht werden konnten. Wollen zu können, ist ein komplexer Vorgang, der Fähigkeiten erfordert, die erworben werden und weiterentwickelt werden müssen. Die dargestellten Komponenten stehen erst einmal ungeordnet nebeneinander und benötigen im zweiten Schritt eine Ordnung oder Struktur, damit weiter mit ihnen gearbeitet werden kann. Eine Ordnung der Willensphänomene kann in zwei Richtungen erfolgen: Zum einen kann im Anschluss an psychoanalytische Konzepte (Freud GW XI) eine eher räumliche Vertikalstruktur herausgearbeitet werden, die sowohl eine unbewusste, eher affektiv und triebhafte »Tiefenschicht« besitzt, als auch eine bewusste, rationale und willentliche »Höhenschicht«. Dies ist freilich eine Konzeption, die hier nur als Orientierung dienen kann, da eine Verräumlichung psychischer Prozesse die Gefahr birgt, den leiblichen und intersubjektiven Aspekt des Psychischen bzw. hier des Willentlichen zu vernachlässigen und dabei die Metapher vom psychischen »Binnenraum« allzu wörtlich zu nehmen (Gödde und Buchholz 2011). Besser passt daher ein modernes Verständnis der Dialektik des Unwillentlichen und Willentlichen aus progressivem Angetrieben-sein und retardierendem Innehalten-können, das den Freiraum für den volitionalen Prozess der Willensbildung und -umsetzung bietet. Ein solches Konzept bildet den ersten Ordnungsversuch für die Willensphänomene und orien-

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Heinz Heckhausen (1987a, 3)

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Strukturmomente des Wollens

tiert sich an den phänomenologischen Untersuchungen von Thomas Fuchs (2016) (1.). Die zweite Ordnungsmöglichkeit stellt eine eher zeitliche Horizontalstruktur dar, wie sie u. a. von Kurt Lewin (1959) und Heinz Heckhausen (1987) entwickelt wurde. In dieser Tradition können verschiedene Phasen des Wollens unterschieden werden, die durch den Willenenschluss abzugrenzen sind: zunächst eine Phase vor dem Entschluss (prädezisional), dann eine Phase des Entschließens (dezisional) und schließlich eine Phase nach der Entscheidung (postdezisional), d. h. der Planung und Umsetzung des Wollens (2.).

1.

Strukturmomente des Wollens

Einerseits verfügen Menschen über angeborene und erworbene Bedürfnisse, die ihr Wollen mitbestimmen, andererseits können sie aber auch die Fähigkeit erlernen, Bedürfnisse zurückzustellen. Daher schrieb auch Heckhausen (1989, 12), dass der Mensch nicht »Gefangener seiner wechselseitigen Motivationsprozesse« sei. Das bedeutet in der Konsequenz, dass Triebe und Bedürfnisse zwar wichtig für Willensprozesse sind, jedoch das Wollen selbst kein Trieb ist. Der Mensch kann somit mit Nietzsche (KSA V, 81) als »nichtfestgestelltes Tier« bezeichnet werden, da er ein Lebewesen ist, das nicht auf seine bloßen Instinkt- oder Triebhandlungen festgelegt ist. Auch das Wollen ist nicht auf einen Trieb oder ein Bedürfnis »festgestellt«, vielmehr spielen auch kreativ-intuitive und rational-reflexive Prozesse eine wichtige Rolle. Eine phänomenologische Untersuchung des Wollens, die verschiedene Strukturmomente berücksichtigt, wurde in den letzten Jahren insbesondere durch den phänomenologischen Psychopathologen Thomas Fuchs (2016) formuliert: Dieser unterscheidet nämlich eine Komponente des Angetrieben-Werdens (die Konation), eine Komponente des Außer-Kraft-Setzens von Strebungen (die Suspension oder Inhibition) und eine Komponente der Entscheidungsbildung und -umsetzung (die Volition). Auf der Grundlage dieser Unterscheidung soll das begriffliche Fundament für die weitere Untersuchung gelegt werden.

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Die Strukturmomente und Phasen des Wollens

a)

Konation

Mit dem Begriff der Konation (von lateinisch conatus = Streben) kann die Vielzahl an Strebungen bezeichnet werden, die den Menschen in seinem Wollen mitbestimmen und zum Handeln motivieren. Zum konativen Begriffsfeld können Antrieb, Drang, Triebe, Bedürfnisse, Impulse, Interessen, Wünsche, Neigungen und Motive gerechnet werden, wobei diese auch in einem engen Beziehungsverhältnis zu den Affekten und Emotionen stehen 32 und bei der Umsetzung in Handlungen auch als Motivationen zu bezeichnen sind. 33 Der Anthropologe Arnold Gehlen hat in seinen Untersuchungen zum Ausdruck gebracht, dass der Mensch nicht über eine feststehende Antriebsstruktur verfügt, sondern dass »die menschlichen Antriebe […] entwicklungsfähig und formbar« sind und damit auch imstande sind, »den Handlungen nachzuwachsen« (Gehlen 1940/2004, 336). Dass die Antriebsstruktur des Menschen wandlungsfähig ist, liegt daran, dass durch das Suspensionsvermögen eine Möglichkeit besteht, in Distanz zu angeborenen Bedürfnissen und Trieben zu treten. Diese Entwicklungsfähigkeit des menschlichen Trieblebens ermöglicht auch die Herausbildung komplexer sozialer, kultureller und religiöser Bedürfnisse wie etwa das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung, politischer Partizipation oder metaphysischer Aufgehobenheit. Insbesondere der humanistische Psychologe Abraham Maslow (1981/2010) hat mit seiner Bedürfnispyramide versucht, diesem breiten Spektrum der menschlichen Konationen gerecht zu werden. Aus phänomenologischer Perspektive können verschiedene Ebenen der Konationen voneinander unterschieden werden. Zunächst ist ein allgemeiner und undifferenzierter Lebensdrang und Antrieb zu beschreiben, der den energetischen Untergrund aller weiteren Bedürfnisse und Triebe bildet (i). Die weitere Beschreibung der spezifischen Bedürfnisse und Triebe orientiert sich begrifflich an einem vertikalen Schichtensystem 34 , anhand dessen eine Schicht des LebenInteressant ist in diesem Zusammenhang auch die Etymologie von Emotion: émotion, französisch = bewegt und erregt werden (von lateinisch emovere). 33 Daher beschäftigt sich die Motivationspsychologie auch mit der Verursachung von willentlichen Handlungen. 34 Eine ontologische Unterscheidung solcher verschiedener Ebenen oder »Schichten« findet sich etwa bei N. Hartmann (1941, 1949), M. Scheler (1928/2010) oder K. Jaspers (1913/1965). In unserem Fall wollen wir jedoch keine fundamentalontologische Unterscheidung, sondern eine reine Phänomenbeschreibung einzelner Konationen 32

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Strukturmomente des Wollens

dig-Organischen, eine Schicht des Seelischen und eine Schicht des Geistigen voneinander unterschieden werden. Demnach können eine Ebene leiblich-vitaler (ii), eine Ebene psychisch-emotionaler (iii) und eine Ebene geistig-kultureller Bedürfnisse (iv) beschrieben werden. Eine solche Unterscheidung hat jedoch nur eine hermeneutische Funktion und ist nicht in der Lage, das gesamte Spektrum der Konationen abschließend zu erfassen. (i)

Lebensdrang und Antrieb

Das Phänomen, dass alles Lebendige auf Ausdehnung, Entfaltung und Entwicklung ausgerichtet ist, wurde in der Lebensphilosophie als allgemeiner Lebensdrang beschrieben. Wie Henri Bergson (1907/ 1927) gezeigt hat, richtet der Lebensdrang oder élan vital jedes Leben auf die Zukunft aus und wirkt in die Zukunft, ohne schon konkrete Objekte seiner Bezogenheit vorzugeben. Ein solcher Drang 35 kann als unterste Ebene der Konationen verstanden werden und stellt ein Streben dar, das zunächst noch ohne Inhalt ist. Mit dem begrifflichen Konstrukt des »Antriebs« (althochdeutsch: triban = treiben) wird dagegen im psychologischen Sprachgebrauch die je eigene dynamischvitale Grundenergie des Menschen bezeichnet. Diese ist abhängig von der bio-psychischen Konstitution, die intra- und interindividuell schwanken kann. Der Antrieb findet seinen Ausdruck in der Lebendigkeit, Schnelligkeit und Tätigkeit der Person und muss, wie auch der Lebensdrang, als den einzelnen Bedürfnissen und Trieben vorgelagert betrachtet werden. Ohne Lebensdrang und Antrieb kann es letztlich keine Willensprozesse geben, da auch diese eine energetische Grundlage benötigen. (ii) Leiblich-vitale Bedürfnisse Bedürfnisse, die sich durch ihre originär evolutionäre (Arterhalt) oder biologische (Selbsterhalt) Bedeutung auszeichnen, können auch als leiblich-vital bezeichnet werden. Leibliche Bedürfnisse heißen so, vornehmen. Dabei wird, anders als etwa bei Nicolai Hartmann, keine Aussage darüber getroffen, ob es »niedere« oder »höherwertige« Bedürfnisse und Triebe gibt; so ist z. B. der Sexualtrieb nach unserer Auffassung nicht einem geistigen Bedürfnis, etwa einem Erkenntnisdrang, unterzuordnen. 35 Max Scheler (1928/2010) nennt einen solchen Drang auch »Gefühlsdrang«: der Begriff ist aber eher irreführend, da er somit auch Pflanzen Gefühle zuspricht.

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Die Strukturmomente und Phasen des Wollens

da sie sich durch den Leib bemerkbar machen und durch diesen auch zu befriedigen sind. Der Psychopathologe Christian Scharfetter (1976/2010, 304 f.) unterscheidet unter ihnen homöostatische und nicht-homöostatische Bedürfnisse. Homöostatische Bedürfnisse drängen auf ein Gleichgewicht im Organismus, haben eine selbsterhaltende Funktion und sind nur geringfügig aufschiebbar: Zu ihnen zählen u. a. Hunger und Durst, Atmungstrieb oder Schlafbedürfnis. Nicht-homöostatische Bedürfnisse dagegen sind eher aufschiebbar, da deren biologische Bedeutung nicht im Selbsterhalt, sondern im Arterhalt zu liegen scheint. Zu ihnen zählen Bedürfnisse wie der Sexualtrieb oder das Schutzbedürfnis gegenüber Säuglingen. Auch wenn es beim Menschen eine Veranlagung zu beidem gibt, so haben sich diese doch unter dem Einfluss der sozio-kulturellen Bedingungen verändert und können demnach sehr unterschiedlich ausgebildet sein. (iii) Seelisch-emotionale Bedürfnisse Bedürfnisse, die auf einen Gefühlszustand abzielen sowie zumeist auch in zwischenmenschlichen Beziehungen hervorgerufen und befriedigt werden können, werden seelisch-emotionale Bedürfnisse genannt. Der Psychiater Kurt Schneider hat diese daher auch als Triebe des Herzens (Schneider 1950/1987, 78) bezeichnet, da das Herz seit der Antike als Symbol für das menschliche Gefühlsleben gilt. Beispiele für seelisch-emotionale Bedürfnisse können u. a. sein: das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung, das Bedürfnis nach Wertschätzung und Angenommen-werden, das Bedürfnis nach Distanz oder Nähe, das Bedürfnis nach Macht, Kontrolle und Einflussnahme 36 oder das Bedürfnis nach Pflichterfüllung und Verantwortungsübernahme. Manchmal ist die Erfüllung seelischer Bedürfnisse jedoch nicht nur vom jeweiligen Moment abhängig, vielmehr hängt diese von der gesamten Lebenssituation ab. Solche Bedürfnisse werden dabei als weniger leibnah und nur in seltenen Fällen als in gleicher Weise dringlich erfahren wie leiblich-vitale Bedürfnisse.

36 Friedrich Nietzsche (KSA IV, 149) hat bekanntlich in seinen Schriften sogar allem Lebendigen einen Willen zur Macht unterstellt. So legt dieser etwa seinem Zarathustra folgende Worte in den Mund: »Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern – so lehr ich’s dich – Wille zur Macht!«

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Strukturmomente des Wollens

(iv) Geistig-kulturelle Bedürfnisse Als Geist 37 kann der die einzelnen Personen übersteigende kulturelle Bereich bezeichnet werden, der über die Sprache auch das Denken beeinflusst. Geistig-kulturelle Bedürfnisse können als eigene Ebene beschrieben werden, die nur unzureichend durch die Sublimierung 38 (lateinisch sublimare: hochheben, anheben) anderer, vermeintlich »niederer«, Bedürfnisse zu verstehen ist. Demnach können solche Bedürfnisse als geistige Bedürfnisse beschrieben werden, bei denen die einzelne Person die eigene lebensweltliche Situation auf etwas Übergeordnetes hin übersteigt und auf dieses bezogen ist. Als geistig-kulturelle Bedürfnisse können demnach u. a. das Bedürfnis nach moralisch-ethischem Handeln, das Bedürfnis nach metaphysischer Aufgehobenheit und Sinnhaftigkeit sowie das Bedürfnis nach politischer oder gesellschaftlicher Teilhabe beschrieben werden.

b)

Suspension

Als Suspensionsvermögen wird die durch zwischenmenschliche Interaktion erwerbbare Fähigkeit bezeichnet, psychische Strebungen außer Kraft zu setzen (lateinisch suspendere: in der Schwebe lassen). John Locke (1690/1981; I, 4, §47) sah als prominenter Vertreter des britischen Empirismus gerade in der Fähigkeit zu suspendieren (to suspend) das Wesentliche der menschlichen Freiheit, d. h. nämlich »bei der Verwirklichung und Befriedigung irgendeines Wunsches innezuhalten und mit allen andern Wünschen der Reihe nach ebenso zu verfahren«. 39 Aus psychodynamischer Sicht kann die Fähigkeit zur Suspension bzw. Inhibition u. a. durch die empathische Spiegelung der Eltern, durch die Benennung und äußere Regulation von Gefühlszuständen, durch die Präsenz eines stabilen und »haltenden«

Etwa in der Begriffstradition von Georg F. W. Hegel (1806/1986), Wilhelm Dilthey (1961) und Nicolai Hartmann (1949, 175 ff.). 38 Wie diese etwa bei F. Nietzsche KSA IX, 486) und S. Freud (GW XVII, 77 ff.) als Mechanismus einer vorgestellten psychischen Hydraulik beschrieben wurde. 39 Neurophysiologisch wurde das Suspensionsvermögen mit dem Begriff der »frontalen exekutiven Kontrollfunktion« bezeichnet, die aus hemmenden Bahnen vom Frontalhirn zum Limbischen System bestehen (Lurija 1992, 199 ff. ; Kornhuber & Deecke 2009, 34 ff. ; Libet 2008). Libet bezeichnet diese Kontrollfähigkeit auch als »Veto-Funktion« des Frontalhirns. 37

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Die Strukturmomente und Phasen des Wollens

Gegenübers 40 , durch die Entwicklung einer Perspektivübernahmefähigkeit sowie die Verinnerlichung von Rollenvorbildern, Normen und Regeln erworben werden (Fonagy 2004/2015). Ein solches Suspensionsvermögen ermöglicht es dem Kind, im Laufe der Individualentwicklung Freiheitsgrade zu erwerben und ein psychisches »Innenleben« zu entwickeln. Da Bedürfnisse und Triebe entkräftet werden können, aktualisieren sich diese auch nicht zwangsläufig in der unmittelbaren Gegenwart und drängen auf Umsetzung, sondern können zu einem späteren Zeitpunkt oder verschoben auf ein anderes Gewolltes in Erscheinung treten. Solche Entwicklungsschritte ermöglichen Kindern erst die Fähigkeit, die Welt immer weiter zu erkunden, d. h. sind Grundlage einer spezifisch menschlichen Weltoffenheit. 41 Aus einer phänomenologischen Perspektive können zwei Grade der Hemmung von Strebungen unterschieden werden: nämlich zum einen ein allgemeines In-der-Schwebe-Halten bzw. Rückstellen und zum anderen ein negierendes Verwerfen von Handlungsimpulsen (Gehlen 1965, 77). Durch das Rückstellen sind die Strebungen noch nicht aufgehoben, sondern eben außer Kraft gesetzt oder entaktualisiert, also gegenwärtig nicht mehr handlungswirksam. Als Verwerfen von Handlungsimpulsen kann dagegen deren endgültige Negation 42 verstanden werden, sodass diese auch nicht mehr zu einem späteren Zeitpunkt in Handlungen umgesetzt werden können. Mit dem Begriff der Suspension wird also vielmehr die erste allgemeinere Form des Hemmen-Könnens, nämlich das Rückstellen oder Außer-KraftSetzen bezeichnet, das die anschließende Entscheidung zur Negation und Affirmation noch offen lässt. In welchen Punkten das menschliche Suspensionsvermögens für das Wollen von Bedeutung ist oder sein kann, kann wie folgt skizziert werden. (1) Ohne Suspension bliebe das Erleben und Verhalten stets nur auf die Gegenwart bezogen und von dieser bestimmt. Alles, was sich So spricht Donald Winnicott (1976/2008) etwa vom holding der Mutter, welches es dem Kleinkind erlaube einen psychischen »Binnenraum« zu entwickeln. 41 Nach Scheler (1928/2010, 28 ff.) stellt sich der Willensakt als ein »Hemmungsakt« eines »non fiat« dar, durch den der Mensch mit der Distanzierung von der jeweiligen Umwelt »Weltoffenheit« gewinnen kann. Diese entwickelt sich durch eine charakteristische Kluft (»Hiatus«) zwischen Trieb und Handlung. 42 Kant hat diese Inhibitionsfähigkeit auch als »Abbruch aller meiner Neigungen« (Kant GMS, 27, BA 15) beschrieben und darin einen wesentlichen Aspekt der menschlichen Willensfreiheit gesehen. 40

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Strukturmomente des Wollens

der Person aufdrängt – jedes Bedürfnis, jeder Handlungsimpuls und jeder Affekt – würde unmittelbar im Verhalten zum Ausdruck kommen. Damit wäre kein intentionaler Spannungsbogen auf eine selbst gestaltete Zukunft möglich und die Person von den eigenen Strebungen bestimmt. Eine Person ohne Fähigkeit zur Inhibition wäre der jeweiligen Situation ausgeliefert, ohne die Möglichkeit zu haben, diese auf Ziele und Zwecke in einer vorgestellten Zukunft hin zu übersteigen. (2) Die Fähigkeit zur Suspension ermöglicht eine Distanz zwischen Impuls und Handlung, die eine erste Voraussetzung für Entscheidungsprozesse darstellt. Dadurch ist die Person nicht den eigenen Bedürfnissen ausgeliefert, sondern kann zwischen verschiedenen Möglichkeiten in einer offenen Situation wählen. Der Mensch kann somit als ein Lebewesen betrachtet werden, welches sich auf eine Zukunft hin entwerfen und sich in seinen Handlungen zu einem gewissen Grade auch selbst bestimmen kann. (3) Das Suspensionsvermögen ermöglicht außerdem ein breites Spektrum menschlicher Bedürfnisse, da durch frei gewähltes Verhalten auch neue Bedürfnisse entstehen können. Wie Gehlen schreibt, sei die menschliche Antriebsstruktur imstande, »den Handlungen nachzuwachsen« (Gehlen 1940/2004, 336). Da es nur wenige starre Instinktmuster im menschlichen Triebleben gibt, können Bedürfnisse durch Gewohnheitsbildung entstehen oder durch Vorlieben verfeinert werden. Mithilfe des In-derSchwebe-Haltens besteht auch die Möglichkeit der Sublimierung vorher bestehender Bedürfnisse: Dabei handelt es sich um eine gesellschaftlich bedingte unbewusste Verschiebung der Bedürfnisse leiblich-vitaler auf geistig-kulturelle »Lustobjekte«. (4) Schließlich kann der willentliche Zukunftsbezug nicht nur ermöglicht, sondern auch beibehalten werden. Dabei kann der Willensentschluss sowohl bei der Entscheidung als auch bei der Umsetzung gegen andere Handlungsmöglichkeiten abgeschirmt werden und somit der intentionale Spannungsbogen gegen alternative Strebungen aufrechterhalten werden. 43 Das Suspensionsvermögen ermöglicht also sowohl die Ausbildung als auch die Realisierung des Wollens. Nach dem Psychologen Julius Kuhl (1983) sind diese beiden Aspekte der Suspension als »Selektionsmotivation« und »Realisierungsmotivation« zu beschreiben.

43

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Die Strukturmomente und Phasen des Wollens

Die kulturell bedingte Möglichkeit zur Suspension kann aber auch negative Folgen mit sich bringen: So kann eine übermäßige Hemmung von Bedürfnissen auch einen Verlust der Lebendigkeit und Spontaneität bedingen. 44 Zwar stellt ein Nichtwollen eben auch eine Form des Wollens dar, doch eben nur eine negative bzw. privative. Eine stetige Hemmung von Bedürfnissen und Trieben, im Gegensatz zu einem stark normativ beeinflussten und rigiden Handeln (bspw. beim Typus melancholicus nach Tellenbach), kann so zu einer Beeinträchtigung des Lebensdranges führen und Zustände von Erschöpfung und Depressivität hervorbringen. Dagegen ermöglicht das Suspensionsvermögen beim psychisch Gesunden auch ein positives Wollen, bei dem auch reflexive und kreative Mechanismen eine Rolle spielen können. Ein solcher komplexer Prozess der Entscheidungsbildung und –umsetzung, in den auch Aspekte des rationalen Abwägens und intuitiven Vorspürens einfließen, soll im Folgenden als Volition bezeichnet werden.

c)

Volition

Der Begriff der Volition (von lateinisch velle oder englisch volition: Wollen) beschreibt das Wollen im engeren Sinne: nämlich den Prozess der Entscheidungsfindung und die Realisierung des Willens durch Planung und Umsetzung. Ein solcher Prozess wird einerseits ermöglicht durch Konationen, die den nötigen Antrieb zum Handeln bieten, anderseits durch das Suspensionsvermögen, das der Person einen Freiraum für Wahl und Entscheidung erlaubt. Die Volition kann dann in drei Phasen eingeteilt werden, auf die weiter unten noch eingegangen wird. Dabei tritt der Wollende zunächst in eine Entscheidungsspirale ein, in der sich einzelne Aspekte des Vorfühlens, Vorstellens und Denkens durchdringen und nach einer Zeitspanne des Mit-sich-zurate-Gehens im besten Fall ein Gefühl der Stimmigkeit erzeugen (Fuchs 2008b). Das Wollen wird dabei einerseits durch Motivationen bedingt, die der Person bewusst wie unbewusst sein können, andererseits wird es aber auch durch Gründe bedingt, die die Person bewusst gegeneinander abzuwägen hat, bevor eine Entscheidung getroffen werden kann. Sprachlich ist zwischen der VerEin solcher Asketismus kann in den Worten Hartmanns (1949, 105 f.) auch als »Raubbau am Leben« beschrieben werden

44

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Phasen des Wollens

ursachung und der Begründung des Wollens zu unterscheiden: Damit ist gemeint, dass das Wollen durch die Möglichkeit der Wahl und Entscheidung sowohl durch die Person – als Autor der Handlung – begründet, als auch durch unbewusste Motive verursacht sein kann. Als volitional zu bezeichnen sind im Besonderen auch Handlungen, bei denen die Überwindung von Hindernissen oder die Inkaufnahme negativer und unlustvoller Konsequenzen notwendig wird. Solche Handlungen gehen mit einem starken Willensgefühl einher und können es notwendig machen, dass die Person sich selbst zum Handeln zwingt. Hat die Person eine Kompetenz für die Überwindung von Hürden oder Hindernissen entwickelt und erträgt so den unlustvollen Affekt, der mit solchen Handlungen einhergeht, so kann dies auch als eine volitionale Kompetenz (Rheinberg & Vollmeyer 2012, 212) oder in der Alltagssprache als »Willensstärke« bezeichnet werden. Ohne ein gewisses Maß an volitionaler Kompetenz ist z. B. der Alltag eines arbeitstätigen erwachsenen Menschen kaum zu bestreiten, doch ist diese Kompetenz entwicklungsbedingt bei jeder Person sehr unterschiedlich ausgeprägt. Anderseits kann nicht nur ein Übermaß an Suspension von Bedürfnissen zum Erlahmen von Lebendigkeit und Tatkraft führen. Auch ein Übermaß an Willenshandlungen gegenüber einem zu geringen Anteil lustvoll-regressiver Verhaltensmuster sowie eine allzu starke Diskrepanz zwischen Volitionen und Konationen können langfristig zu einer volitionalen Erschöpfung (Muraven & Baumeister 2000) führen, d. h. zu einer Erschöpfung der willentlichen Energie, die eben auch für das alltägliche Handeln notwendig ist. 45

2.

Phasen des Wollens

Jedes Wollen lässt sich durch Retrospektion auf den zeitlichen Verlauf in drei Abschnitte einteilen: in a) eine Phase der Entscheidungsbildung (prädezisionale Phase), b) eine Phase der Entschlussfassung Eine solche volitionale Erschöpfung wird als gesellschaftliches Phänomen beispielsweise durch Alain Ehrenberg (1998/2008) oder durch Byung-Chul Han (2014) beschrieben. Dadurch werden auch Zustände des »Burn-out« in der heutigen Arbeitswelt erklärt. Dabei ist der Burn-out aber keineswegs ein Gegenwartsphänomen, so wurde etwa im Zuge von Beschleunigungsprozessen zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch von der »Neurasthenie« als eines willentlichen Erschöpfungssyndroms gesprochen.

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Die Strukturmomente und Phasen des Wollens

(dezisionale Phase) und c) eine Phase der Realisierung des Willensentschlusses (postdezisional Phase). Diese Unterscheidung wurde zuerst in den motivationspsychologischen Arbeiten Kurt Lewins (1959, 95 f.) vorgenommen und ermöglicht es, den Willensentschluss als Dreh- und Angelpunkt des Willensaktes zu betrachten. Eine Wiederaufnahme und Weiterentwicklung erfuhr das Phasenmodell durch die Metapher von Caesars Überquerung des Rubikons kurz vor Beginn des römischen Bürgerkrieges (Heckhausen 1987c, 121 ff.). 46 In diesem Modell der Arbeitsgruppe um Heinz Heckhausen wird der Willensakt in eine Phase diesseits des Rubikons, eine Phase der Überquerung des Rubikons und eine Phase jenseits des Rubikons unterschieden. Prädezisional oder »diesseits des Rubikons« heißt demnach die Phase, in der eine Entscheidung ansteht und verschiedene Handlungsoptionen realitätsorientiert (Heckhausen 1987a, 6) vorgestellt, vorgefühlt und durchdacht werden. Dezisional heißt die Phase der »Überquerung des Rubikons«, d. h. der Ausbildung eines Entschlusses (auch Willensentschluss oder Wille genannt), in der die Vielzahl von Möglichkeiten durch eine volitionale Strebung abgelöst wird. Postdezisional oder »jenseits des Rubikons« heißt die realisierungsorientierte Phase (ebd.) der vorausschauenden Planung und situationsgerechten Umsetzung des Willens bis zum Zeitpunkt der Erfüllung oder Verwerfung des Willenszieles.

a)

Prädezisionale Phase

Als prädezisonal wird die Phase des Willensaktes bezeichnet, in der eine Entscheidung ansteht und ein Willensentschluss herbeigeführt werden soll. In Bezug auf die Entscheidung ist es unerheblich, ob es sich dabei um ein Willensziel handelt, das in der unmittelbaren oder weiter entfernten Zukunft zu »verorten« ist, oder das von Bedeutung für den weiteren Lebensweg sein kann oder nicht. Das Wort »Entscheidung« kann etymologisch verstanden werden als eine Befreiung von einer als situativer Ambiguität bezeichneten Spaltung und ver-

Der Rubikon ist ein Fluss in Norditalien, den Caesar 49 v.Chr. mit seinen Armeen überquert hat, um einen Bürgerkrieg zu beginnen und seinen Herrschaftsanspruch über das Römische Reich geltend machen zu können. Nach Plutarch soll er gesagt haben: »Hochgeworfen sei der Würfel«, »iacta esto alea« (Heckhausen 1987a, 6). Bekannt ist der Ausspruch als »Alea iacta sunt« (Die Würfel sind gefallen).

46

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Phasen des Wollens

weist auf die räumliche Metapher einer Wegscheide. Im einfachsten Sinne ist damit also die Befreiung von einem Zwiespalt (»Zweigespaltenheit«) gemeint, also eine Wahl zwischen zwei sich ausschließenden Möglichkeiten. Eine Entscheidung kann also entweder eine Wahl für oder gegen ein Willensziel oder eine Wahl zwischen mehreren sich ausschließenden Handlungsoptionen darstellen. Im Falle einer situativen Ambiguität kann es dazu kommen, dass eine stimmige Entscheidung nicht sofort »von der Hand« geht, d. h. dass die entgegengesetzten Zielvorstellungen zunächst als gleichwertig erlebt werden und keiner Handlungsoption der Vorzug gegeben werden kann. Eine solche Ambiguität kann verschiedene Ursachen haben und durch verschiedene Valenzen bzw. Wertigkeiten bestimmt sein, die in der motivationspsychologischen Literatur detailliert beschrieben wurden 47 . Stehen in einer solchen Situation verschiedene Wertigkeiten im Konflikt miteinander, dann kann diese mit Thomae (1960, 18) auch als eine multivalente Situation bezeichnet werden. In einer multivalenten Situation besteht kein eindeutiger Vorzug für eine Strebung, sodass sich die Person in einem Zustand der Desorientierung befindet, in dem der Zukunftsbezug unterbrochen und das »psychische Feld« mehrdeutig ist (Thomae 1960, 62 f.). Dabei oszilliert der Wollende zwischen verschiedenen Möglichkeiten und gelangt zu keiner endgültigen Lösung des bestehenden Konflikts. Solche Entscheidungssituationen wurden in der Philosophiegeschichte oftmals durch das Beispiel von Buridans Esel 48 verdeutlicht, der verhungern musste, da er sich nicht zwischen zwei gleich großen und gleich weit entfernten Heuballen entscheiden konnte. 49 Lewin (1931, 11 ff.) beschreibt etwa unterschiedliche Formen bewusster Konfliktmuster: Entweder werden beide Möglichkeiten als gleichwertig positiv (»Appetenzkonflikt«), als Wahl zweier Übel als gleichwertig negativ (»Aversionskonflikt«) oder als Wahl für oder gegen eine Möglichkeit als positiv und negativ zugleich bewertet (»Appetenz-Aversionskonflikt«). Eine weitere Ursache situativer Ambiguität kann darin bestehen, dass nicht nur eine Möglichkeit, sondern mehrere Möglichkeiten mit positiven und negativen Valenzen belegt sind, was als »doppelter Appetenz-Aversionskonflikt« (Miller 1944) bezeichnet wurde. 48 Buridans Esel ist eine oft wiederholte Anekdote in der Philosophiegeschichte für die Entscheidungsfreiheit, die aber selbst nicht bei Johannes Buridan nachzulesen ist, sondern ihm zugeschrieben wird. 49 Dieses oft verwandte Sinnbild für die Willensfreiheit ist freilich insofern problematisch, als willentliche Entscheidungsprozesse im engeren Sinne nur den Menschen betreffen und es sich nicht um gleiche Möglichkeiten, sondern lediglich um als gleich47

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Die Strukturmomente und Phasen des Wollens

Um trotz der Multivalenz der Situation zu einer Entscheidung zu gelangen und nicht wie der entscheidungsunfreudige Esel vor den frischen Heuballen zu verhungern, versucht der Wollende durch innere Probierbewegungen (ebd., 62) eine Klärung für die Zukunft herbeizuführen. Dieser Prozess läuft jedoch nicht geradlinig ab, sondern spiralförmig fortschreitend, wie Fuchs (2008b, 337) darlegt. In einem solchen spiralförmigen Entscheidungsprozess durchdringen sich dann unbewusste und bewusste Elemente auf eine kreativ-dynamische Weise und ermöglichen dem Wollenden, schrittweise zu einem Gefühl der Stimmigkeit zu gelangen. Versucht man den Entscheidungsprozess phänomenologisch zu beschreiben, so kann dieser folgendermaßen dargestellt werden: Mit einem Vorwissen um die situativen Bedingungen werden die verschiedenen Möglichkeiten durchdacht. Ein solches Denken ruft Vorstellungen hervor, bei denen bereits erlebte Situationen in Bezug auf die erwartete Zukunft in einen neuen Kontext gerückt werden. Jedes Vorstellen ist aber immer auch mit einem Einfühlen in oder Vorfühlen für die möglichen Situationen verbunden. Die Person vollzieht einen tastenden und ahnenden Vorgriff der verschiedenen Möglichkeiten, um zu einer stimmigen Wahl zu gelangen (Thomae 1960, 56) und das selbst auferlegte Moratorium beenden zu können. Im Verlauf können dann andere Personen um Rat gefragt, weitere Informationen über die situativen Bedingungen eingeholt und in Gesprächen verschiedene Möglichkeiten diskutiert werden. Dies kann dabei helfen, den Entscheidungsprozess voranzutreiben und eine Tendenz innerhalb einer solchen Situation herauszubilden. Bestenfalls stellt sich schließlich ein Gefühl der Stimmigkeit und Kohärenz für eine Möglichkeit ein und die Entscheidung kann durch intuitives Gespür 50 getroffen werden. Mit einer solchen Wahl kann dann auch ein klarer Zukunftsbezug wiederhergestellt und der zuvor unterbrochene Lebensweg weiter beschritten werden. Kann jedoch trotz großer Anstrengung über einen längeren Zeitraum kein Stimmigkeitsgefühl herbeigeführt werden, so ist ein krisenhafter Prozess möglich. Die Divergenz zwischen dem Bewusst-

wertig erlebte Handlungsoptionen handelt. Doch kann Buridans Esel gleichwohl als eine Metapher für die Ambiguitätssituation bei willentlichen Entscheidungsprozessen gelten. 50 Eine solche intuitive Entscheidungsfindung wird in der Alltagssprache auch »Bauchgefühl« genannt.

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Phasen des Wollens

sein des Sich-entscheiden-Müssens und der Unfähigkeit der Entscheidungsfindung kann dann zum Gefühl innerer Zerrissenheit, ja Verzweiflung führen. Drängt jedoch die Zeit und muss trotz der eigenen Unentschlossenheit ein Entschluss gefasst werden, so können auch andere Wege beschritten werden, um eine Entscheidung herbeizuführen. Neben der Möglichkeit einer intuitiven Willensbildung können noch die folgenden Entscheidungsstrategien benannt werden: (1) Die vermiedene Entscheidung: Die Entscheidung kann ausgesetzt und gar nicht getroffen werden. Die Person lässt die Situation ungenutzt und der Konflikt wird durch die äußeren Bedingungen oder andere Personen entschieden. (2) Die abgetretene Entscheidung: Die Person kann sich die Entscheidung auch abnehmen lassen. Entweder delegiert sie die Entscheidung an einen anderen Menschen und beteiligt sich mit der Wahl der Person zumindest indirekt an der Entscheidung oder sie gibt die Entscheidung vollständig ab, indem z. B. die Würfel fallen gelassen werden und damit der »Zufall« entscheidet. (3) Die vernünftige Entscheidung: Die Entscheidung kann allein durch das Abwägen von Gründen getroffen werden. Dabei führt sich die Person die Vor- und Nachteile vor Augen und entscheidet sich für die in dieser Hinsicht günstigste Variante. Geht jedoch die rationale Entschlussfindung mit keinem intuitiven Gespür einher, kann die Entscheidung trotzdem schwerfallen, denn den Gründen fehlt dann das nötige Gewicht. (4) Die willkürliche Entscheidung: Die Person kann auch irgendeine Entscheidung treffen und zu dieser durch bloße Willkür gelangen. Damit ist gemeint, dass die Person den einzelnen Möglichkeiten eigentlich indifferent und ohne jede Präferenz gegenüber steht, dann jedoch eine beliebige Entscheidung trifft. Somit hätte bei einer Willkürentscheidung jeder der Möglichkeit genauso gut der Vorzug gegeben werden können.

b)

Dezisionale Phase

Der Willensentschluss stellt den Abschluss der Entscheidungsbildung dar (Thomae 1960, 20) und ist als Entschließen als eigenständige Phase zu beschreiben, nämlich als sogenannte dezisionale Phase. Die dezisionale Phase ist dabei sowohl eine Phase des Einschnitts als auch des Übergangs. 57 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die Strukturmomente und Phasen des Wollens

Einschneidend ist das Sich-Entschließen, da im Moment des Willensentschlusses das Wollen strukturiert wird und somit das Gefühl von Vagheit durch Klarheit, Desorientiertheit durch Orientierung sowie Ohnmächtigkeit durch Wirkmächtigkeit abgelöst wird. Der Charakter des Entschlusses hat etwas Plötzliches und Ruckhaftes, er stellt eine Zäsur im Willensprozess dar und erinnert dabei sogar ein wenig an einen »Staatsstreich« (Bergson 1889/2006, 119). Nach dem Entschluss ist von einem Moment zum anderen alles anders als zuvor: Für den Wollenden sind »die Würfel gefallen«, er ist nun nicht mehr zögernd oder nachdenklich, sondern drängt mit seinem ausgebildeten Willen auf Umsetzung. Dieser Zäsurcharakter in Richtung Handlungsorientierung ist der Grund, warum das Wollen oftmals mit militärhistorischen Ereignissen wie der Überquerung des Rubikons veranschaulicht wurde. Er beschreibt die bloße Gegenwärtigkeit einer entstandenen Zielorientierung, die motivationspsychologisch auch mit dem Begriff des Aktuellen Moments (Ach 1910) veranschaulicht wurde: Dass nämlich ich mich als Wollender (»Ich!«), zu diesem gegenwärtigen Zeitpunkt (»Jetzt!«) zu einer Entscheidung durchgerungen habe und diese auch umsetzen werde (»Wirklich!«). Mit diesem Einschnitt gibt es auch einen Übergang, nämlich als einen Wechsel der Einstellung. 51 An die Stelle der grübelnden Ungewissheit und des Gefühls innerer Zerrissenheit, das dem Wollenden als eine Last des Entscheiden-Müssens vorkommen kann, tritt nun ein klarer Handlungsentwurf, der das innere Chaos beseitigt und die eigene Wirkmächtigkeit wiederherstellt. Ist der Rubikon überquert, so ist der Wollende nicht mehr realitätsorientiert, sondern in erster Linie realisierungsorientiert. Zugespitzt formuliert Heckhausen: »Von abwägenden Moderatoren des Wählens sind wir im Handumdrehen zu einseitigen Partisanen unseres Wollens geworden.« (Heckhausen 1987a, 3)

Während die Person zuvor zwischen verschiedenen Möglichkeiten hin und her schwankte, diese gegeneinander abwog und noch handlungsunfähig war, entsteht mit dem Willensentschluss ein »fiat!«Gefühl 52 , wie es William James (1890/1950, 501 ff.) bezeichnet hat: das Gefühl, dass durch mich etwas geschehen wird. Mit diesem Eindrücklich wird dieser in den Bekenntnissen von Augustinus (Conf. VIII, 12, 29) geschildert, wenn er schreibt: Schließlich aber »strömte mir Gewissheit als ein Licht ins kummervolle Herz, dass alle Nacht des Zweifelns hin und her verschwand.« 52 Lateinisch für »Es werde geschehen«: so bezeichnet James (1890/1950) den volitiven Ruck durch den Entschluss. 51

58 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Phasen des Wollens

Wechsel verlagert sich auch der Schwerpunkt der Kraftanstrengung: Diese wird nicht mehr in den Prozess des In-Frage-Stellens, Nachdenkens und intuitiven Vorspürens gesteckt, sondern dient nach dem Entschluss sowohl der Abschirmung alternativer Möglichkeiten als auch der Handlungsumsetzung. 53 Wohingegen also vor dem Entschluss realitätsorientiert Wissen und Meinungen herangezogen werden, um zu einer guten Entscheidung zu gelangen, wird diese nach dem Entschluss kaum mehr in Frage gestellt. Der Rubikon ist nun überschritten und nur in seltenen Fällen führt ein Weg zurück.

c)

Postdezisionale Phase

Hat der Wollende dann einen Entschluss getroffen, findet eine gedankliche Neuausrichtung statt und der intentionale Bogen wird auf das künftige Willensziel hin gespannt. Nach der Passage des Rubikons befindet sich die Person somit auf der realisierungsorientierten Seite des Willensaktes. Die Realisierung des Wollens in der postdezisionalen Phase kann nach Petzold und Sieper (2008, 551) in drei Abschnitte unterteilt werden: Planung, Umsetzung und Beibehaltung des Willens. Alle Phasen des Wollens können aber nur in der retrospektiven Betrachtung als sukzessive Zeitabschnitte klar voneinander abgegrenzt werden und stehen zueinander in einem eher dynamischen Wechselwirkungsverhältnis. (i)

Planung des Willens (Sequenzierung)

Bevor der Willensentschluss sinnvollerweise in Handlungen umgesetzt werden kann, bedarf es einer angemessenen Planung. Geplant werden muss dabei, welche Handlungsschritte zur Realisierung des Willens notwendig sind, wie diese in eine zeitliche Reihenfolge zu bringen sind und welchen Zeitraum diese jeweils einzunehmen haben. Dabei bringt die gegenwärtige Situation den Wollenden in einen zeitlichen Zugzwang: Denn wenn die Umsetzung ansteht, so muss er eine Klarheit dafür entwickelt haben, in welcher Situation und unter Nach Julius Kuhl (1983) gelingt Personen die Rubikon-Passage besser, die handlungsorientiert sind, also auf die Umsetzung eines Soll-Zustandes ausgerichtet sind. Dagegen neigen lageorientierte Personen eher zur Reflektion der Umstände, die sie in die Situation gebracht haben.

53

59 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die Strukturmomente und Phasen des Wollens

welchen Bedingungen er in welcher Art und Weise handeln muss. 54 Oftmals besteht die Planung in einer dreigliedrigen Perspektive, wie sie Assagioli (1982/2008, 159 f.) in seinen Arbeiten zur Psychotherapie von Willensstörungen entwickelt hat: eine kurzfristige, mittelfristige und langfristige Perspektive. Mit der langfristigen Perspektive wird das zu erreichende Willensziel in den Blick genommen und der geschätzte Zeitraum des Handelns überblickt. Mit der kurzfristigen Perspektive wird die nächste Handlung vorgestellt, die erfolgen muss, damit das langfristige Ziel erreicht werden kann. Je näher dabei die umzusetzende Handlung rückt, umso deutlicher muss dem Wollenden sein, was er als Nächstes zu tun hat. Eine untergeordnete Rolle nimmt die mittelfristige Perspektive ein, die meist eine nur vage Vorstellung der nachfolgenden Handlungsschritte in den Blick nimmt. Im Gegensatz zur kurzfristigen Perspektive kann diese aber auch noch vage bzw. undeutlich sein, da sie nicht unmittelbar umgesetzt werden muss. In manchen Fällen des Wollens gibt es jedoch keinen konkreten Zeitpunkt des Handelns: In solchen Fällen wartet der Wollende auf eine günstige Gelegenheit, um den Entschluss umzusetzen (Rheinberg & Vollmeyer 2012, 118). Das Wollen wird dann erst handlungswirksam, wenn geeignete Voraussetzungen gegeben sind. 55 (ii) Umsetzung des Willens (Konversion) Das Wollen wird durch Handlungen in die Tat umgesetzt, auf welche dieses als »potentielles Handeln« immer bezogen ist. Wie weiter oben beschrieben, ist das Wollen ein in doppelter Weise inkorporiertes Vermögen: Die Person rechnet mit ihrem Leib (Husserl Hua I, 105: »Ich kann oder könnte«) und handelt als ein Leib, der durch Gewohnheitsbildung eine Eigenaktivität oder Spontaneität erlangt (Ricœur 1950/ 1966). Tritt also der geplante Zeitpunkt ein oder besteht die günstige Gelegenheit, dann folgt die Person der eigenen »fiat«-Tendenz (James 1890/1950, 501) und realisiert den Willensentschluss, indem sie situative Bedingungen nutzt oder bestehende Hindernisse überwindet. Jede Situation besitzt jedoch mit den involvierten Personen und der je Motivationspsychologisch wurde die Planung als »Durchführungsintention« gefasst, welche die »Zielintention« des Willensentschluss zu ergänzen hat (Gollwitzer 2006; Lewin 1959). 55 Solche Situationen werden im Folgenden auch als Kairós-Situationen beschrieben. 54

60 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Phasen des Wollens

eigenen Umwelt ein charakteristisches Gepräge, wodurch ein Aufforderungscharakter (Lewin 1963/2012) entsteht und das eigene Handeln im »psychischen Feld« mit bedingt wird. Zwischen diesen beiden Polen, d. h. einerseits dem zu erreichenden Willensziel und anderseits dem Aufforderungscharakter der Situation, kann ein Spannungsfeld bestehen, das es erfordert, die bewusste Intentionalität und Aufmerksamkeit flexibel anzupassen und zu verlagern. Insbesondere erfordert dieser Spagat, dass die Aufmerksamkeit immer wieder auf Aspekte des Handelns hingelenkt wird, die noch nicht »in Fleisch und Blut übergegangen« sind, d. h. die noch wenig geübt sind und die damit eine Herausforderung für den Wollenden darstellen (Heckhausen 1987b). Eine solche flexible Aufmerksamkeitsverlagerung ermöglicht es auch immer wieder retardierende Momente in die Kette der Willenshandlungen einzubauen und dabei die Energie dorthin zu lenken, wo sie im Moment am meisten benötigt wird. Dies ermöglicht dem Wollenden auch bei schwer zu erreichenden Willenszielen zum Erfolg zu gelangen. Die Erfahrung von Erfolg und Misserfolg wiederum ermöglicht einen eigenen Erfahrungshorizont in der Welt, der wiederum Einfluss auf das Selbstwerterleben und das Gefühl leiblichen Könnens nimmt. Somit ermöglicht jede Handlung wiederum Sedimentationen im Leiblichen und Psychischen, die die Grundlage für künftiges Handeln bilden. Insbesondere erfolgreiche Handlungen führen dabei zu einer positiven Erfahrung von Selbstwirksamkeit, d. h., dass ich als wollende und handelnde Person in der Lage bin, Einfluss auf den Lauf der Welt zu nehmen. (iii) Beibehaltung des Willens (Persistenz) Gerade bei langfristigen Willensprozessen genügt es oftmals nicht, dass eine einmalige Handlung zum gewünschten Ergebnis führt. Manchmal kann ein Willensziel erst durch jahrelange Arbeit herbeigeführt werden, z. B. wenn der gewünschte Beruf nur durch ein Studium ergriffen oder ein Roman nur durch die tägliche Schreibtätigkeit fertiggestellt werden kann. Dies erfordert von der Person Ausdauer, Hartnäckigkeit und Beharrlichkeit – insbesondere dann, wenn trotz hohem Willensaufwand nur wenige Erfolge zu verzeichnen, aber alternative kurzfristige Ziele erfolgsversprechender sind. Reicht der intentionale Spannungsbogen weit in die Zukunft, so sind Wiederholungen, überdauerndes Engagement und Frustrationstole61 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die Strukturmomente und Phasen des Wollens

ranz von der Person gefragt. Denn es kann auch immer wieder zu Rückschlägen, Misserfolgen und anderen Widerfahrnissen kommen, die für den Wollenden zu Hürden und Hindernissen werden können. Dabei ist es mitunter notwendig, dass zur Realisierung solch langfristiger Zielvorstellungen bewusste wie unbewusste »Strategien« angewandt werden. Einerseits kann das Handeln gegen andere Motivationen abgeschirmt und »Handlungskontrolle« betrieben werden (Kuhl 1983): Dies erfordert die Suspension anderer Handlungsimpulse, die umso stärker sein muss, je energischer der Impuls auf Umsetzung drängt. Andererseits kann die Spannkraft des geschwächten intentionalen Bogens durch den Imperativ eines »Sich-selbst-Befehlens« wieder erneuert werden. Manche Willensziele erfordern jedoch auch die Geduld, auf den rechten Augenblick warten zu können, wenn sich die situativen Bedingungen schlichtweg als günstiger erweisen.

3.

Zusammenfassung

Es soll versucht werden, den bisherigen Gang der Untersuchung zu rekapitulieren. Mithilfe der phänomenologischen Methode konnte das Wollen im ersten Kapitel als ein psychisches Vermögen untersucht werden, das intentional strukturiert ist, da der Wollende Bewusstsein von seinem Willensziel entwickelt. Dieses Vermögen ließ sich einerseits von anderen psychischen Vermögen abgrenzen: Als solches ist es durch ein Gefühl der freien Wahl und eines willentlichen Entscheidungsspielraums gekennzeichnet (Jaspers 1913/1965). Zudem zielt das Wollen immer auf ein in der Zukunft befindliches Willensziel ab, dessen Erfüllung durch den Wollenden als eines handelnden Akteurs möglich erscheint. Dabei rechnet der Wollende mit seinem leiblichen Können und realisiert das Gewollte mithilfe leiblicher Dispositionen und Gewohnheiten (Ricœur 1950/1966), was ihm die notwendige Spontaneität ermöglicht. Hindernisse und Hürden, die sich dem Wollenden dabei während des Handelns in den Weg stellen, können zu einem stärkeren Willensgefühl, aber auch zur Erfahrung des Scheiterns führen. Durch die Möglichkeit der Realisierung des Gewollten ist das Wollen ein Vermögen, das auch eine gewisse Wirkmächtigkeit besitzt: Durch das willentliche Handeln ist die Person in der Lage, Veränderungen in der Welt herbeizuführen. Ist sie dabei erfolgreich, so kann das Gefühl des leiblichen Könnens verstärkt werden und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit entstehen. 62 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Zusammenfassung

Es konnte ferner gezeigt werden, dass das Wollen ein komplexes Vermögen ist, das Komponenten des Vorstellens, Fühlens, Denkens, Außer-Kraft-Setzens, Sich-Entschließens und Sich-Bestimmens aufweist. Das Wollen als ein komplexes Vermögen konnte im zweiten Kapitel nach zwei Seiten hin genauer untersucht werden. Einerseits konnten mit Fuchs (2016) drei Strukturmomente des Wollens beschrieben werden: die Konation, die Suspension und die Volition. Als Konation wurde das Moment eines vorausgehenden AngetriebenWerdens und Ausgerichtet-Seins bezeichnet. Die dem Wollen als energetische Basis zugrunde liegenden Bedürfnisse und Triebe konnten mit Gehlen (1940/2004) als entwicklungsfähig, formbar und den Handlungen nachwachsend charakterisiert werden. Dabei konnten ein allgemeiner Lebensdrang und Antrieb sowie eine Ebene leiblichvitaler, seelisch-emotionaler und geistig-kultureller Bedürfnisse unterschieden werden. Im Wesentlichen überschneiden sich die dargestellten Untersuchungsergebnisse mit den Beschreibungen von Maslow (1981/2010) eines breiten Spektrums verschiedener menschlicher Bedürfnisse. Als Suspension wurde weiterhin die Fähigkeit des Menschen bezeichnet, innezuhalten und diese Bedürfnisse und Triebe außer Kraft zu setzen. Das Suspensionsvermögen ist in der Lage, eine Kluft zwischen Trieb und Handlung zu schaffen und ermöglicht so den eigentlichen Freiheitsspielraum des Wollens. Neben der Negation (non fiat) und der Affirmation (fiat) von Strebungen ist so auch die Volition, das Wollen im engeren Sinne, möglich: Intuitiv-spürend und abwägend-reflektierend kann die Person ihren Willen so selbst bestimmen und dadurch Urheberschaft über den Willensprozess erlangen. Bestimmt werden kann der Willensentschluss dabei sowohl durch bewusste Gründe als auch durch Ursachen, die der Person nicht bewusst sein müssen. In der Betrachtung des volitionalen Aktes der Bildung des Willens und seiner Umsetzung, konnten nach Lewin (1959) und Heckhausen et al. (1987) drei Phasen unterschieden werden: eine prädezisionale Phase der Entscheidungsbildung (»diesseits des Rubikon«), eine dezisionale Phase des Entschließens und eine postdezisionale Phase des Planens, Umsetzens und Beibehaltens des Willens (»jenseits des Rubikon«). Prädezisional werden in einer multivalenten Situation (Thomae 1960) zunächst verschiedene Möglichkeiten vorgestellt, vorgefühlt und durchdacht, wobei die Antizipation der Möglichkeiten in der Entscheidungsspirale bestenfalls in ein Gefühl der 63 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die Strukturmomente und Phasen des Wollens

Kohärenz und Stimmigkeit mündet (Fuchs 2008b), d. h. das Gefühl, dass diese Handlungsoption zu mir passt und ich diese darum auch will. Ist eine sogenannte »Bauchentscheidung« aber nicht möglich, so muss eine andere Strategie der Entscheidungsfindung gewählt werden: z. B. kann die Entscheidung durch Aussetzen, Abtreten an Andere, Gründe-Abwägen sowie durch bloße Willkür getroffen werden. Die dezisionale Phase bildet die Zäsur und den Übergang: Plötzlich ist der Entschluss gefasst, das Wollen restrukturiert und auf die Umsetzung ausgerichtet. Während der Wollende in der prädezisionalen Phase nur realitätsorientiert ist, ist er in der postdezisionalen Phase nun auch realisierungsorientiert. In der postdezisionalen Phase werden nun Voraussetzungen, Zeitpunkt und Art und Weise des Handelns geplant (Sequenzierung), wobei immer mehrere Perspektiven im Blick zu behalten sind (Assagioli 1982/2008). Während der Umsetzung (Konversion) wird der Entschluss realisiert. Dafür sind die situativen Bedingungen und der Aufforderungscharakter der Situation zu berücksichtigen sowie konkurrierende Einflüsse abzuschirmen. Schließlich muss sich die Person bei langfristigen Willenszielen auch weiterhin motivieren und auf seinem Wollen beharren können (Persistenz), wofür mitunter Eigenschaften wie Hartnäckigkeit, Ausdauer, Frustrationstoleranz und Geduld erforderlich sind.

64 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

III. Die Zeitstruktur des Wollens

[…] denn der Wille […] ist ebenso offensichtlich unser geistiges Organ für die Zukunft wie das Gedächtnis für die Vergangenheit. 56

Bisher konnte gezeigt werden, dass es sich beim Wollen um ein psychisches Phänomen handelt, das als ein komplexes intentionales Vermögen gut in seinen Strukturmomenten und Phasenabschnitten zu beschreiben ist. In der nun folgenden Analyse soll die Zeitstruktur des Wollens selbst untersucht werden, die – wie Paul Ricœur (1950/ 1966) aufzeigt – nur unzureichend durch die sukzessive Phasenfolge von Entscheidungsbildung, Entschlussfassung und Willensumsetzung beschrieben werden kann. Eine Analyse der Zeitstruktur des Wollens ist dabei sowohl für ein Verständnis von Prozessen der Selbstwahl und Selbstbestimmung (Kap. V) als auch für die psychopathologische Beschreibung von Störungen der willentlichen Zeitigung und der Zukunftsbezogenheit von Bedeutung. Auf den für den Menschen so bedeutsamen Zusammenhang von Zeit, Freiheit und Wollen wurde insbesondere von Vertretern der existentiellen Phänomenologie wie M. Heidegger (1927/2006), M. Merleau-Ponty (1945/ 1974) und J.-P. Sartre (1943/2009) sowie ihrer lebensphilosophischen und anthropologischen Vordenker wie M. Scheler (1927) und H. Bergson (1889/2006) hingewiesen. Um eine Phänomenologie der willentlichen Zeitstruktur zu entwickeln, können daher gerade diese Autoren richtungsweisend sein. Warum ist nun das Wollen in besonderer Weise ein zeitliches Phänomen? Dafür sind vier Gründe auszumachen: Es ist erstens der Fall, da in der Retrospektion auf den Willensakt drei verschiedene Phasen abgegrenzt werden können, wie in Kapitel II dargestellt ist. Die Ausbildung und Realisierung des Willens kann als ein sukzessi56

Hannah Arendt (1979/1989, 16)

65 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die Zeitstruktur des Wollens

ver zeitlicher Prozess beschrieben werden. Zweitens ist die menschliche Existenz selbst eine Zeitspanne zwischen Geburt und Tod, weshalb auch die Inhalte des Wollens durch den je einmaligen Augenblick beeinflusst sind. Jedes Wollen entwickelt sich in der Auseinandersetzung der Person mit den eigenen besonderen biographischen Gegebenheiten, mit der eigenen begrenzten Lebenszeit. Drittens ist Wollen ein psychisches Vermögen, dass – wie bereits aufgezeigt – immer auf die Zukunft ausgerichtet ist. Dabei wird die Zukunft explizit geplant, gestaltet und erwartet, wodurch der willentliche Spannungsbogen auf die Zukunft gerichtet bleibt und durch den impliziten Zukunftsbezug im gegenwärtigen Handeln umgesetzt wird. Viertens ist jedes Wollen nicht nur auf die Zukunft, sondern auch auf die Gegenwart bezogen: Ein Entschluss kann sich nur in der jeweiligen Gegenwart ausbilden, doch muss es in der Gegenwart auch die rechte Gelegenheit zum Handeln geben. Das Wollen scheint also in eine komplexe Zeitstruktur eingebettet, die auch bedeutsam für die Persönlichkeitsentwicklung ist. Um diese Zeitstruktur besser verstehen zu können, wird in einem ersten Schritt ein Begriffsinstrumentarium vorgestellt, das in der Lage ist, die wichtigsten Zeitphänomene zu beschreiben (1.). In einem zweiten Schritt wird dann die Zeitstruktur des Wollens unter zwei Gesichtspunkten näher charakterisiert: Zum einen wird diese als eine dynamische Doppelstruktur, zum anderen als ein Zeitgefälle beschrieben (2.). Damit wird es möglich sein, die Zeitlichkeit des Wollens nicht nur als eine sukzessive Abfolge von Phasen zu beschreiben, sondern ein realitätsgetreues Bild von der Dynamik des Wollens zu zeichnen.

1.

Zeitphänomene

Die Untersuchung der Zeit stellt nach wie vor eines der schwierigsten wissenschaftlichen Unterfangen dar. Bei Augustinus finden sich die treffenden und daher viel zitierten Worte: »Was ist also ›Zeit‹? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.« (Augustinus Conf. XI, 14, 17)

Betrachtet man nicht die »objektiv« messbare Uhrzeit, sondern die subjektiv erlebte Zeit, so entzieht sich diese als Untersuchungsobjekt der Betrachtung. Warum aber verhält es sich so? 66 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Zeitphänomene

Zum einen stellt die Zeit ein dynamisch-fließendes Phänomen dar und ist damit nur schwer in Worte zu fassen, da Sprache zu einer Vergegenständlichung neigt, die einen bestimmten Aspekt beleuchtet, während andere Aspekte verdeckt werden. Das sprachliche Denken erweise sich als unfähig »das Werden zu erfassen«, schreibt Eugène Minkowski (1933/1971a, 28) in seiner lebensphilosophisch inspirierten Arbeit Die gelebte Zeit. Zum anderen ist die Zeit ursprünglich kein Gegenstand außerhalb des Menschen, sondern ein Lebewesen wie der Mensch ist im gewissen Sinne selbst die eigene Zeit und gestaltet diese auch. Zum dritten kommt eine solche Untersuchung immer zu spät, da die zu betrachtende Zeit stets wieder zur Vergangenheit geworden ist, d. h. jede Reflexion auf die Zeit findet in Retrospektion auf bereits vergangene Zeit statt. Obwohl es also nicht restlos und komplikationslos möglich ist, »die Zeit« mit einer begrifflichen Unterscheidung »einzufangen«, so scheint dies doch in Hinblick auf die nachfolgende Untersuchung der willentlichen Zeitstruktur ein notwendiges Unterfangen zu sein. Eine phänomenologische Untersuchung kann dabei trotz der Komplexität des Phänomens unterschiedliche Komponenten der Zeit beschreiben, wenn sie in vereinfachender räumlicher Metaphorik eine Unterscheidung in Zeitperspektiven, Zeitebenen und Zeitdimensionen vornimmt. 57 An dieser Stelle soll vorab ein kurzer Überblick über die Phänomene gegeben werden. Als Zeitperspektiven können die beiden Betrachtungsebenen auf die Zeit bezeichnet werden: auf der einen Seite die subjektive Zeit – die erfahrene, erlebte und gestaltete Zeit, auf der anderen Seite die objektive Zeit – die messbare Uhrzeit und Zeit der physikalischen Zeitrechnung. Auch wenn in einer phänomenologischen Untersuchung der Schwerpunkt stets auf der subjektiven Zeit liegt, so ist diese jedoch nicht losgelöst von Zeitrechnung und chronometrischer Zeitrhythmik, sondern mit der objektiven Zeit in verschiedenartiger Weise verbunden. Mit Fuchs (2013a) können außerdem zwei verschiedene Zeitebenen entlang einer imaginären zeitlichen Vertikalachse beschrieben werden: eine untere fundierende Ebene der impliziten Zeit des unmerklichen Fließens und eine obere fundierte Ebene der expliziten Zeit des bewussten zeitlichen Bezogen-seins. Zuletzt kann im Gegensatz zur »Vertikalachse« der ZeitDiese Unterscheidung orientiert sich an den Zeitanalysen von Kupke (2009), der für die verschiedenen Phänomene allerdings andere Begriffe (Zeitmodelle, Zeitdimensionen, Zeitschichten) gebraucht.

57

67 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die Zeitstruktur des Wollens

ebenen noch eine »Horizontalachse« der Zeitdimensionen beschrieben werden. 58 In der Gegenwart kann die Person einerseits auf diese selbst bezogen sein, anderseits kann sie in dieser u. a. durch das Erinnerungsvermögen auf die Vergangenheit und u. a. durch Erwartung und Entwurf auf die Zukunft bezogen sein.

a)

Zeitperspektiven

Der Zeitbegriff wird für gewöhnlich mit der objektiv-chronometrischen Zeit gleichgesetzt, wie sie durch Aristoteles (Physik IV, 11) definiert wurde: »Die Messzahl von Bewegung hinsichtlich des ›davor‹ und ›danach‹«. Damit liefert Aristoteles eine weitverbreitete Definition der physikalischen Zeit als Messzeit, die gezählt und mit der gerechnet werden kann. Hinsichtlich des gegenwärtigen abgrenzbaren Zeitpunktes schreibt Aristoteles weiter: »Das Jetzt ist aber eine (solche) Grenze, und man kann ein begrenztes Zeitstück herausgreifen.« (Aristoteles Physik IV, 11, 219b)

Die Zeit ist für Aristoteles ursprünglich eine unendlich gestreckte und homogene Zeit, die in gleichmäßige Stücke von Jetzt-Punkten unterteilbar ist und die daher mithilfe der Uhr gemessen werden kann. Dieses Zeitverständnis ist bis heute das vorherrschende geblieben: Die objektiv-chronometrische Zeit gilt als die ursprüngliche Zeit und von dieser leitet sich unser Verständnis der subjektiven Zeit ab. Kurzweil bedeutet demnach, dass die erlebte Zeit im Vergleich zur objektiv gemessenen Zeitspanne kurz andauert, Langeweile, wenn sie dagegen verhältnismäßig zu langsam voranschreitet. Die subjektive Zeit wird also im allgemeinen Common Sense bestimmt als das Verhältnis von Zeiterleben zur Uhrzeit. Von diesem Common Sense hebt sich jedoch das phänomenologische Zeitverständnis ab. Paradigmatisch dafür ist die Auffassung Maurice Merleau-Pontys (1945/1974, 480), dass auch das Subjekt als Zeit begriffen werden müsse. Zwar leugnet die phänomenologische Forschung nicht die Bedeutung der chronometrischen und physikalischen Zeit, doch wählt sie methodisch einen anderen Zugang. Ausgangspunkt ist für sie die andauernde Zeitlichkeit des Subjekts, Eine solche Unterscheidung stellt eine notwendige »Verräumlichung von Zeit« dar, wie sie von Bergson (1889/2006) kritisiert wurde.

58

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Zeitphänomene

die »gelebte« und erlebte Zeit, sowie die resonante Zeit des rhythmischen und synchronen Mitschwingens mit Anderen. Zeit ist somit kein abstrakter Gegenstand außerhalb des Menschen, sondern der Mensch ist selbst auch Zeit. Diese subjektive Zeit ist nicht losgelöst von der Zeit anderer Menschen, sondern intersubjektiv verwoben, was wiederum die Grundlage für die Zeitrechnung bildet. Diesen Zusammenhang hat insbesondere der Phänomenologe Martin Heidegger (1927/2006, 413) verdeutlicht: »Die Einteilung vollzieht sich […] mit Rücksicht auf das die Zeit Datierende: die wandernde Sonne […]. Seinem regelmäßig wiederkehrenden Vorbeiziehen trägt das in die Welt geworfene […] sich Zeit gebende Dasein Rechnung.« (Heidegger 1927/2006, 413)

Die subjektive Zeit ist nämlich immer schon bezogen auf den zyklischen Rhythmus von Tag und Nacht sowie der Jahreszeiten. Um Zeit aber nun besser abgleichen zu können ist man zur Zeitrechnung übergegangen und hat so den Tag, den wiederkehrenden Wechsel zwischen hell und dunkel, in 24h à 60 min eingeteilt. Dadurch wurde es dem Menschen besser möglich, Zeit zu planen, Termine zu vereinbaren, durch richtiges »Timing« die Uhrzeit immer mehr auszunutzen und damit letztlich auch gesellschaftliche Beschleunigungsprozesse voranzutreiben (Rosa 2005/2014). Das neuzeitlich kapitalistische Credo »Time is money« wurde schließlich erst möglich, nachdem eine möglichst genaue Zeiteinteilung gefunden war. Die mit der chronometrischen Zeit verwandte physikalische Zeit des Aristoteles, als eine unpersönliche Zeit aus unendlich vielen Jetzt-Punkten, stellt dagegen einen Abstraktionsbegriff dieser intersubjektiven Uhrzeit einer gemeinsamen Zeitrechnung dar. Somit ist die objektive Zeit der Uhrzeit und Messzeit nicht etwa abzulehnen, sondern als menschliches Konstrukt zu charakterisieren, das – obwohl es eben kein ursprüngliches Phänomen ist – die alltägliche Lebenswirklichkeit mitgestaltet. Auch wenn das Erleben und Gestalten von Zeit immer wieder auf die objektive, d. h. chronometrische und physikalische Zeit bezogen ist, so mag eine solche Einordnung über das Verhältnis der subjektiven zur objektiven Zeit an dieser Stelle genügen.

69 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die Zeitstruktur des Wollens

b)

Zeitebenen

Bevor sich der Mensch bewusst auf Zeit beziehen kann, ist er bereits in ihr involviert. Max Scheler hat das prägnant ausgedrückt mit der Formulierung: »Zeitlichkeit ist […] eine Tätigkeitsform, ehe sie Anschauungsform ist.« (Scheler 1927, 307)

Zunächst steht der Mensch der Zeit also nicht wie einem Gegenstand gegenüber oder empfindet ihr schnelles oder langsames Vergehen, sondern ist selbst ein In-der-Zeit-sein, d. h. er erlebt sich als ein zeitlich-andauerndes und zeitgestaltendes Lebewesen. Der tragende Grund der Existenz ist also ein fortwährender Zeitfluss, der noch vor aller Reflexion und Bezugnahme auf die Zeit besteht. Demnach sind zwei verschiedene Zeitphänomene zu benennen, die mit Fuchs (2013a) entlang einer imaginären »Vertikalachse« als zwei Ebenen der Zeitlichkeit unterschieden werden können: eine präreflexiv-fundierende Ebene der impliziten Zeit, d. h. einer Ebene des unbemerkten Fließens, Dauerns und Währens von Zeit, und eine reflexiv-fundierte Ebene der expliziten Zeit, d. h. der bewussten Bezugnahme auf die Zeit. Während der größten Zeitspanne über den Tag hinweg wird Zeit nicht explizit erfahren, sondern von der Person nur implizit als ein begleitendes Andauern oder Fließen erlebt. Weder ist sich der Radfahrer seiner einzelnen Körperbewegungen, der Pianist des Spiels seiner Hände, noch der Gesprächsteilnehmer jedes einzelnen Wortes bewusst. Erstaunlicherweise müssen diese Handlungen nicht geplant werden, sondern gehen einfach »von der Hand« und vervollständigen sich im Handeln wie von selbst. In all diesen Tätigkeiten findet keine bewusste Wiedererinnerung und kein überlegendes Vorausblicken statt, sondern die Person befindet sich bei ihrer Tätigkeit im Fluss: Sie hat einen unmittelbaren Nachklang des soeben Getanen und eine vage Erwartung des unmittelbar Kommenden. Diese Zeiterfahrung ist somit keine Aneinanderreihung von aristotelischen Jetzt-Punkten, sondern die ursprüngliche Erfahrung einer Dauer (französisch: la durée) wie sie Henri Bergson (1889/2006) beschrieben hat. 59 Eine ähnliche Beschreibung des zeitlichen Andauerns findet sich bei William James: Der Phänomenologe Hermann Schmitz (2014, 48) fand für den Begriff der Dauer auch die Beschreibung eines »in Weite ergossenen Dahinwährens«.

59

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Zeitphänomene

»Die praktisch erkannte Gegenwart ist keine Messerschneide, sondern ein Sattelrücken mit einer gewissen ihm eigenen Breite, auf den wir uns gesetzt finden und von dem aus wir nach beiden Seiten in die Zeit hineinblicken. Die Einheit des Aufbaus unserer Zeitwahrnehmung ist eine Dauer, die einen Bug und ein Heck […] hat.« (James 1886/1993, 32 f.)

Während der Mensch also in die Lebensbewegung einbezogen ist, erlebt er die Gegenwart nicht als punktförmig, sondern als erstreckt und andauernd, sodass es ihm unmöglich zu sein scheint, dingfest zu machen, wo sie beginnt und aufhört. Eine ähnliche Beobachtung wie Bergson und James machte auch Husserl (Hua X) in seiner Analyse des »inneren Zeitbewusstseins«, das er aus nachschwingenden (Retentionen) und vorgreifenden Elementen (Protentionen) zusammengesetzt sieht. Am Beispiel einer Tonfolge stellte er fest, dass der letzte Ton einer Melodie retendiert wird, das heißt, dass er noch festgehalten wird und andauert (ebd., 19). Je weiter der Ton aber in die unmittelbare Vergangenheit rückt, umso weiter ziehe sich die vergangene Melodie zusammen und »schatte sich ab« (ebd., 32), das bedeutet, sie wird immer undeutlicher im Bewusstsein behalten, bis sie schließlich verschwindet. Diese stetige »Abschattung«, die den fließenden Übergang von der Gegenwart zur unmittelbaren Vergangenheit ausmacht, nennt Husserl auch den retentionalen Schweif (ebd., 24). Die vergangenen Momente schwingen also in der Gegenwart noch nach und verflüchtigen sich dann irgendwann. Aber nicht nur die Retention ist Teil der aktuellen Gegenwart, sondern auch die Protention (ebd., 30): Darunter versteht Husserl den vagen intentionalen Erwartungshorizont der unmittelbar antizipierten Zukunft. Über den so beschriebenen zeitlichen Spannungsbogen schreibt Viktor von Gebsattel: »Die Zukunft wird herangelebt, bevor sie erlebt, gedacht oder beachtet wird.« (von Gebsattel 1939/1963, 363)

Die implizite Zeit wird also als eine Erstrecktheit in der Gegenwart erlebt, die auf die unmittelbare Vergangenheit und Zukunft ausgreift, sich aber nach beiden Seiten »abschattet« und damit das Gefühl zeitlicher Kontinuität ermöglicht. Als explizite Zeitlichkeit kann die Zeit bezeichnet werden, die bei klarem Bewusstsein geplant, erwartet und erlebt wird. Somit zählen zur expliziten Zeit die bewusste Erwartung der Zukunft und die Wiedererinnerung der Vergangenheit, der Entwurf einer bestimmten Zukunft, die jähe Gegenwärtigkeit des plötzlichen Widerfahrnisses und 71 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die Zeitstruktur des Wollens

das zähe Andauern der nicht vergehenden Zeit bei Langeweile. Es gibt also zumindest zwei Situationen, in denen Zeit explizit erfahren wird: einerseits, wenn ein unmittelbar erwartetes Erleben irritiert wird. Zum Beispiel, wenn ein Hilfeschrei das eben noch ruhige Dahinfließen der Zeit zerreißt, oder wenn wir vergebens auf jemanden warten, der nun nicht erscheint. Andererseits kann Zeit auch in der bewussten Bezugnahme auf Vergangenheit und Zukunft explizit werden. Zum Beispiel, wenn man von der eigenen Lebensgeschichte erzählt, oder sich eine bestimmte künftige Situation ausmalt.

c)

Zeitdimensionen

Da der Mensch ein sprachliches Abstraktionsvermögen entwickeln kann, lebt er im Gegensatz zu den meisten anderen Lebewesen nicht ausschließlich in der Gegenwart, sondern kann sich auch explizit auf Vergangenheit und Zukunft beziehen. Menschen können Erinnerungen wieder hervorrufen und empfinden Gefühle wie Reue über verpasste Chancen, Schuld durch unrechtes Verhalten oder Schwermut über die Vergänglichkeit. Auch in Bezug auf die Zukunft können, neben freudigen oder hoffnungsvollen Gefühlen, Sorge und Angst vor gefürchteten Bedrohungen vorherrschen. Stets ist der Mensch in seiner Gegenwart auf Zukunft und Vergangenheit ausgerichtet, schließlich muss er doch immer wieder eine eigene Lebensgeschichte erzählen, d. h. berichten woher er kommt und wohin er geht. Neben der »Vertikalachse« von impliziter und expliziter Zeitlichkeit kann somit noch eine »Horizontalachse« der drei Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beschrieben werden. Die Erstrecktheit der Zeit auf diese Dimensionen ist einerseits eine Chance, da der Mensch dadurch die Lebenszeit aktiv gestalten und sich an Erlebtes bewusst erinnern kann, andererseits aber auch die Ursache von Gefühlen wie Sorge, Schuld und Angst. Die horizontale Zeitlichkeit ist der Grund für das Gefühl des Menschen, »zur Freiheit verurteilt« zu sein (Sartre 1943/2009, 838; 1946/2010, 155). Es entsteht aus dem Bewusstsein, nicht über die eigenen biographischen und sozialen Vorbedingungen entscheiden zu können, trotzdem aber für Entscheidungen Verantwortung tragen zu müssen. Zudem ist der Mensch aller Wahrscheinlichkeit nach auch das einzige Lebewesen, das sich seiner eigenen Endlichkeit gewahr ist, auch wenn diese Tatsache für ihn zumeist nur implizit von Bedeutung ist. Denn meist gewinnt diese End72 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Zeitphänomene

lichkeit erst durch Grenzsituationen wie Krankheit, Alter und Tod (einer geliebten Person) eine schmerzhaft explizite Bedeutung. Bei der Erfahrung der Zeitdimensionen vermischen und beeinflussen sich diese gegenseitig in der gegenwärtigen Situation. Die Gegenwart kann nur deshalb in einem bestimmten Licht erscheinen, da diese sich auf dem Hintergrund der eigenen Vorgeschichte und des eigenen Zukunftsentwurfes abzeichnet: Gegenwart verlangt Vergangenheit und Zukunft. Ein bestimmter Zukunftsentwurf ist nur dann stimmig, wenn dieser nicht losgelöst vom bisherigen Lebensweg ist. Auch die Erinnerung und Erzählung einer vergangenen Situation ist nicht in jedem Augenblick des Lebens dieselbe, sondern hängt wesentlich von der Gegenwart und dem Zukunftsentwurf ab. Diese Verwobenheit der drei Zeitdimensionen hat Heidegger als Gleichursprünglichkeit bezeichnet und dies folgendermaßen erläutert: »Alle drei Dimensionen der Zeit sind gleichursprünglich, denn es gibt keine ohne die andere, alle drei sind für uns gleichursprünglich offen. Bald ist die eine, bald die andere Dimension maßgebend, auf die wir uns einlassen.« (Heidegger 1987/2006, 61).

Diese dynamische Verwobenheit und Gleichursprünglichkeit widerspricht dem allgemeinen Verständnis einer sukzessiven Aufeinanderfolge und soll im Blick behalten werden, wenn im Folgenden die Zeitdimensionen entlang dieser chronologischen Reihe dargestellt werden. (i)

Die Vergangenheit

Die Vergangenheit ist nicht isoliert und ohne Bezug zu den anderen Zeitdimensionen zu betrachten, sondern wie Jean-Paul Sartre (1943/ 2009, 222) schreibt, »von ihrem Ursprung an eine gewisse Gegenwart und eine gewisse Zukunft gebunden.« Für die Person ist die Vergangenheit in zwei Weisen von Bedeutung: zum einen in dem, was Heidegger (1927/2006) Geworfenheit nennt, zum anderen in der Erinnerung. Als Geworfenheit bezeichnet Heidegger die Grunderfahrung des Menschen, dass er sich immer in Situationen vorfindet, die geworden sind und die sich aus der Vergangenheit ableiten (ebd., 135). Jede Person wird in eine Gesellschaft und Familie mit ihren jeweiligen soziokulturellen Bedingungen geboren und wird durch diese in be73 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die Zeitstruktur des Wollens

stimmter Weise geprägt. Außerdem ist sie »in die Seinsart des Entwerfens geworfen« (ebd., 145). Dies bedeutet, dass jede Person auch die Freiheit besitzt, sich zu ihrer je eigenen Situation in gewissem Grade in ein Verhältnis zu setzen und sich dadurch auch selbst zu bestimmen. Jeder Entwurf und all das, was eine Person in der Vergangenheit getan und erlebt hat, wird aber in der Gegenwart wiederum zum Teil der eigenen Geworfenheit – so sind die erworbenen Fertigkeiten, die gebildeten Gewohnheiten und die äußeren Bedingungen der aktuellen Situation Teilaspekte der gegenwärtigen Vergangenheit. Daher schreibt Sartre auch, dass Menschen »ihre Vergangenheit zu sein« (Sartre 1943/2009, 228) und für die eigene Vergangenheit Verantwortung zu übernehmen haben. In etwas anderer Weise ist die Vergangenheit in Form des Erinnerns für die Gegenwart von Bedeutung. Erst mit der Ausbildung des autobiographischen Gedächtnisses in der Kindheitsentwicklung (Markowitsch & Welzer 2005, 14) ist der Mensch in der Lage, Narrationen zum eigenen Leben zu entwickeln und eine kohärente Lebensgeschichte zu erzählen. Ferner können erst so einzelne Situationen der Biographie herausgegriffen und erinnert werden. Die Erinnerung an Vergangenes ermöglicht es, eine eigene Identität zu entwickeln, Verpflichtungen einzuhalten und Bedürfnisse aufzuschieben. Die Anwesenheit der Vergangenheit in der Gegenwart durch die Erinnerung ermöglicht ein kohärentes Selbstbild und macht erst so den Menschen zu dem Lebewesen, »das versprechen darf« (Nietzsche KSA V, 291). (ii) Die Gegenwart Die Gegenwart ist die einzige Zeitdimension, die nicht schon gewesen ist oder erst noch aussteht, sondern die tatsächlich in der Situation gegenwärtig ist. Auch ist die Gegenwart die einzige Zeitdimension, in der alle anderen Zeitdimensionen erlebt werden und in der ein erinnernder Rückgriff auf die Vergangenheit oder ein entwerfender bzw. erwartender Vorgriff auf die Zukunft stattfindet. Zumeist wird die Gegenwart dabei als eine erstreckte Dauer erlebt, die der Person nur implizit bewusst wird und für die gern die Metapher des Fließens oder Strömens verwendet wird. Eine explizite Bezugnahme auf die Gegenwart ist eher selten, weshalb bereits Pascal in seinen Pensées schreibt: »Wir halten uns niemals an die gegenwärtige Zeit« (Pascal Pensées, 170). Vielmehr sei der Mensch, so Pascal, immer auf Zu74 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Zeitphänomene

kunft oder Vergangenheit ausgerichtet und dabei aus unterschiedlichen Gründen nicht in der Lage, die tatsächliche Gegenwart zu ertragen – sei es, weil diese ihn langweile, oder aber weil er sich durch diese bedroht fühle. Dass die Gegenwart als »nicht bewusst erlebt« beschrieben wird, ist auch heute noch eine gängige Beschreibung. Es gibt jedoch Situationen, in denen ein bewusster Gegenwartsbezug stattfindet: Zum Beispiel im Widerfahrnis des Fremden, Neuen oder Bedeutsamen, das in den Zeitfluss eintritt und das unmittelbare Dauern der Gegenwart durch ein jähes Auftauchen irritiert. Der Begründer der sogenannten »Neuen Phänomenologie« Hermann Schmitz hat versucht, ein solches Widerfahrnis als eine primitive Gegenwart zu charakterisieren, in der sich die Erstrecktheit der Zeit auf ein Minimum des Ich-hier-jetzt 60 reduziert: »Sie ereignet sich im plötzlichen Einbruch des Neuen, der die gleitende Dauer des Dahinlebens und Dahinwährens zerreißt und ins Vorbeisein verabschiedet […].« (Schmitz 2014, 46)

Ein expliziter Gegenwartsbezug kann aber auch aktiv durch eine bewusste Offenheit und Aufmerksamkeit für die Gegenwart entstehen. Eine solche Gegenwärtigkeit zu schaffen, ist Teil der selbsttransformativen Übungen wie dem Zen-Buddhismus oder Vipassana-Meditation und spielt in der aktuellen Psychotherapie unter den Stichworten »Achtsamkeit« bzw. »Mindfulness« eine wichtige Rolle (Bohus & Wolf-Arehult 2012, Anderssen-Reuster & Meibert 2013). Für willentliche Selbstbestimmungsprozesse sind Situationen von Bedeutung, in denen aufgrund der momentanen Bedingungen ein Möglichkeitsspielraum entsteht, der nur in der Gegenwart genutzt werden kann. In solchen Situationen müssen sowohl ein passives Moment (Widerfahrnis) als auch ein aktives Moment wie Offenheit oder Entschlossenheit in eine günstige Wechselwirkung treten. Nur so kann die Person den rechten Augenblick auch »beim Schopfe« greifen (Kap. IV) und die Selbstwirksamkeit tatsächlich erleben.

Bei Schmitz (2014, 46) besteht die primitive Gegenwart aus der Struktur »HierJetzt-Dasein-Dieses-Ich«.

60

75 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die Zeitstruktur des Wollens

(iii) Die Zukunft Die Vergangenheit ist bereits gewesen und die Gegenwart dauert an. Die Zukunft ist das, was noch nicht ist. In der Gegenwart steht sie immer schon aus, ist noch nicht Faktizität, sondern Möglichkeit. In lebensphilosophischer Hinsicht kann formuliert werden, dass alles Lebendige, insbesondere aber das menschliche Wollen, auf die Zukunft ausgerichtet ist. Daher schreibt Scheler: »Die Gerichtetheit einsinniger Art auf die Zukunft ist der Existenzart des Lebens wesentlich.« (Scheler 1927, 308)

Auch Heidegger ist der Auffassung, dass der Zukunftsbezug innerhalb der Zeitdimensionen für den Menschen eine Sonderstellung innehat, so schreibt er in Sein und Zeit: »Die ursprüngliche und eigentliche Zeitlichkeit zeitigt sich aus der eigentlichen Zukunft, so zwar, dass sie zukünftig gewesen allererst die Gegenwart weckt. Das primäre Phänomen der ursprünglichen und eigentlichen Zeitlichkeit ist die Zukunft.« (Heidegger 1927/2006, 329)

Damit ist angedeutet, dass der Zukunftsbezug eine herausragende Bedeutung für den Menschen hat, dass dieser ihn antreibt und daher seine gelebte Zeit (Minkowski 1933/1971a) wesentlich bestimmt. Es können insbesondere zwei Weisen beschrieben werden, durch die die Person einen expliziten Zukunftsbezug herstellen kann: zum einen durch eine identitätsstiftende Aktivität, die in der Existenzphilosophie Heideggers (1927/2006) und Sartres (1943/2009) als Entwurf bezeichnet wurde, zum anderen durch das passiv-vorausschauende Erwarten der eigenen Zukunft. Heidegger (1927/2006, 145) schreibt in Sein und Zeit, dass der Mensch in die »Seinsart des Entwerfens geworfen« ist. Das Entwerfen gehört also zu den grundsätzlichen Bedingungen des Menschen. In Sartres Worten ist dieser »dazu verurteilt, frei zu sein. Verurteilt, weil er sich nicht selbst geschaffen hat, und dennoch frei, weil er, einmal in die Welt geworfen, für all das verantwortlich ist, was er tut.« (Sartre 1946/2010, 155).

Mit dem Begriff des Entwurfs 61 ist also das dialektische Gegenstück zur Geworfenheit dargestellt: Die Geworfenheit bietet die situative Hier werden die Termini in einem weiteren, nicht-ontologischen Sinne gebraucht; für Heidegger selbst bestand der »primäre Entwurf« vorrangig in der freien Wahl

61

76 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Zeit und Wollen

Voraussetzung für das Entwerfen, das sich wiederum zu dieser ins Verhältnis setzt und von ihr abstoßen kann, sodass wiederum eine neue Geworfenheit geschaffen wird. Entwurf und Geworfenheit bilden somit ein dialektisches Gegensatzpaar, das sich sowohl wechselseitig ergänzt als auch eine spezifisch menschliche Abstoßungsdynamik hervorbringt. Durch den Entwurf ist die Person immer mehr als ihre gegenwärtige Situation, sie ist sich selbst vorweg und kann durch den Zukunftsbezug die aktuelle Gegenwart mitbestimmen. Andererseits kann die Person die bevorstehende Zukunft auch erwarten, sei es, weil sie diese in einer bestimmten Art und Weise entworfen hat, sei es, weil sie etwas auf sich zukommen sieht, was sie nicht beeinflussen kann. Mit der Erwartung einer bestimmten Zukunft ist der gegenwärtige Versuch gemeint, sich aufgrund der momentanen Situation eine Möglichkeit vorzustellen, diese vorauszuahnen und vorzuspüren. Dabei vermischt sich – wie bereits dargestellt – die Erinnerung bereits erlebter Situationen mit dem Wissen über das Künftige, und ermöglicht so ein vages »Bild« der Situation und der eigenen Rolle in dieser. Da im Vorhinein nicht alle Informationen vorhanden sind und nicht jede Bedingung bedacht werden kann, handelt es sich dabei um eine Antizipation von Wahrscheinlichkeiten. Daher ist in der Erwartung immer auch eine »Unbestimmtheitsmarge« (Sartre 1943/2009, 875) enthalten, also eine gewisse Ungewissheit oder geplante Unplanbarkeit, die einberechnet werden muss. Während der Entwurf eine aktive Bezugnahme auf die Zukunft darstellt, der die Wahrnehmung und Gestaltung der Gegenwart beeinflusst, handelt es sich beim Erwarten um eine passive Bezogenheit, durch die man abwartend auf eine mehr oder weniger wahrscheinliche Zukunft blickt.

2.

Zeit und Wollen

Konnte bisher ein begriffliches Instrumentarium der Zeitphänomene erarbeitet werden, so ist es nun möglich, die Zeitstruktur des Wollens differenzierter zu beschreiben als durch eine chronologische Abfolge von drei Phasenabschnitten: Einerseits hängt Wollen als ein psychisches Vermögen sehr eng mit einem Phänomen zusammen, das seines eigenen Seinkönnens, welches durch das Bewusstsein der Endlichkeit als »Vorlaufen zum Tode« erschlossen werden kann.

77 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die Zeitstruktur des Wollens

Minkowski (1933/1971a) als gelebte Zeit bezeichnet hat. Willensprozesse strukturieren die gelebte Zeit und haben, ebenso wie diese, einen charakteristischen Zukunftsbezug, sodass das Wollen als ein »Organ für die Zukunft« (Arendt 1979/1989, 16) bezeichnet werden kann. Durch das Wollen wird die eigene Lebenszeit geplant, gestaltet und damit nicht nur erlebt, sondern eben auch gelebt. Andererseits kann die Zeitstruktur des unbeeinträchtigten Wollens charakterisiert werden durch zwei Wesensmerkmale, die nachfolgend als dynamische Doppelstruktur und als Zeitgefälle des intentionalen Spannungsbogens beschrieben werden. Diese beiden Beschreibungen sind erklärungsbedürftig und sollen nachfolgend erläutert werden. Auf Grundlage dieser Strukturanalyse wird später noch zu zeigen sein, inwiefern diese beiden Phänomene die zeitliche Grundstruktur des Wollens ausbilden und in welcher Weise das fragile Gleichgewicht der dynamischen Doppelstruktur, im Sinne einer Psychopathologie des Zukunftsbezuges, auch störungsanfällig sein kann.

a)

Die dynamische Doppelstruktur

Der Begriff der dynamischen Doppelstruktur meint das Phänomen, dass das Wollen stets zwischen den beiden verschiedenen Polen der zwei dargestellten Zeitachsen hin und her pendelt: entlang der »Horizontalachse« der Zeitdimensionen zwischen Zukunfts- und Gegenwartsbezug, und entlang der »Vertikalachse« der Zeitebenen zwischen expliziter und impliziter Zeitlichkeit. Diese »vier« Pole der willentlichen Zeitstruktur beeinflussen sich wechselseitig und ermöglichen so die dynamische Plastizität des Wollens. Auf der einen Seite besteht also die Dynamik zwischen Zukunfts- und Gegenwartsbezug. Der Wollende gelangt auf der Grundlage gegenwärtiger Bedingungen zu einem Willensentschluss und Zukunftsentwurf. Der Entwurf ermöglicht wiederum eine klare Antizipation der künftigen Situation und der eigenen Handlungsschritte, die für ein erfolgreiches Wollen vonnöten sind. Dieses Handeln führt wiederum dazu, dass eine neue gegenwärtige Situation eröffnet und herbeigeführt wird. Diese Gegenwart muss jedoch nicht der zuvor antizipierten Zukunft entsprechen, können sich doch die Bedingungen zu diesem Zeitpunkt verändert haben: Es können sich in der Zwischenzeit andere Möglichkeiten ergeben haben, die einen Aufschub oder eine Modifikation des Entwurfes sinnvoll erscheinen las78 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Zeit und Wollen

sen, oder ein Hindernis bzw. ein Widerfahrnis verunmöglicht das Wollen, wodurch ebenfalls eine Anpassung nötig ist. In jedem Fall kann die sich neu ergebene gegenwärtige Situation eine Readaptation des willentlichen Zukunftsentwurfs nötig machen. Somit ist also auf der zeitlichen Horizontalebene ein dynamischer Umgang zwischen Gegenwarts- und Zukunftsbezug hilfreich, damit der Wollende in seinem Handeln erfolgreich ist. Auf der anderen Seite besteht eine Dynamik zwischen expliziter und impliziter Zeit. Im Entwerfen, Planen, Strukturieren und Adaptieren der Willensziele befindet sich der Wollende auf der Ebene expliziter Zeit. In der Umsetzung des Gewollten ist die Person aber angewiesen auf leibliche Gewohnheiten und ein Leibgedächtnis (Fuchs 2008a). Die Umsetzung der Handlungen kann auf dieser Ebene impliziter Zeitlichkeit durch Komplikationen ins Stocken geraten oder sich als schlicht unmöglich erweisen. Verlangt die Situation nach einer Problemlösung, dann ist der Vollzugsmodus der impliziten Zeit ungenügend, um den situativen Anforderungen gerecht zu werden. Die Person »kippt« dann in die explizite Zeit, um eine Antwort auf diese neue Situation zu finden.

b)

Das Zeitgefälle

Ein zweites Wesensmerkmal der Zeitstruktur des Wollens neben der dynamischen Doppelstruktur ist das zeitliche Gefälle. Mit dem Begriff des Zeitgefälles ist ein Phänomen gemeint, das durch den Willensentschluss entsteht und sich kaskadenartig entlang des ausgebildeten »Spannungsbogen« bis zur Erreichung des Willenszieles zieht. Eine solche Zeitkaskade wird entlang des intentionalen Bogens vom Zukunftsentwurf, zur Planung und Umsetzung des Willens aufgespannt, und stellt ein realisierungsorientiertes Spannungsgefälle vom expliziten Zukunftsbezug bis hin zum impliziten Gegenwartsbezug dar. Mit dem Zukunftsentwurf entsteht nämlich eine »fiat«Tendenz (James 1890/1950, 501 ff.), die es dem Wollenden ermöglicht, das Wollen unmittelbar in die Tat umzusetzen: Den Wollenden drängt es zur Realisierung des Willens und durch den gebildeten Entschluss wird die zuvor vorgestellte Möglichkeit zu einem regelrechten Bedürfnis (Lewin 1959). Damit ist umschrieben, dass ein zeitlicher Automatismus in Kraft tritt, der sich als eine »determinierende Tendenz« (Ach 1910) Bahn bricht, sobald der eigene Wille ausgebildet 79 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die Zeitstruktur des Wollens

ist. Dieser Automatismus orientiert sich von Ferne auf Nähe, d. h. einerseits von der expliziten zur impliziten Zeitlichkeit, andererseits von der Vorstellung einer Zukunft bis hin zur unmittelbaren Umsetzung in der Gegenwart. Kann oder will der Wollende aber aufgrund von Hindernissen oder anderer widrigen Bedingungen seinen zuvor gebildeten Willen nicht umsetzen, dann ermöglicht ihm wiederum die dynamische Doppelstruktur einen flexiblen Umgang mit der neu entstandenen Situation. 62 Die Geschicklichkeit des Wollenden wird durch eben diese flexible Zeitstruktur des Wollens ermöglicht, d. h. nicht mit dem Kopf durch die Wand zu wollen, sondern seine Willensziele und – entwürfe flexibel den jeweiligen Gegebenheiten anpassen zu können. Das bedeutet, dass nicht immer auf die Phase der Entschlussbildung auch die Willensumsetzung folgen muss, sondern dass Willensentschlüsse auch zurückgestellt oder angepasst werden können. Eine solche situationsangemessene Geschicklichkeit willentlichen Handelns kann – ebenso wie die willentliche Umsetzungsstärke beim Leistungssport – geübt werden und ermöglicht es dem Menschen, sich in sozialen Situationen frei zu bewegen und dabei sowohl mit alltäglichen Frustrationen als auch mit den Bedürfnissen der Mitmenschen leichter umgehen zu lernen. Sich mit seinem Wollen frei in der Zeit zu bewegen, ist eine Fähigkeit, die erst durch die Möglichkeit zum inhibierenden Belohnungsaufschub entsteht. Somit ermöglicht das menschliche Suspensionsvermögen erst ein Frei-sein in der Zeit. Dass beim Menschen aber Zeit und Freiheit eng miteinander verknüpft sind, ist eine Einsicht, die bereits bei Bergson (1889/2006) zu finden ist.

3.

Zusammenfassung

Um die Zeitstruktur des Wollens besser begreifen zu können, wurden verschiedene Zeitphänomene betrachtet. Diese können als »Komponenten« jener Zeiterfahrung begriffen werden, die gleichursprünglich in der Gegenwart vorliegt. Als Zeitperspektiven wurden die beiDass ein allzu starrer Zukunftsbezug ohne Rücksicht auf die Gegenwart oftmals nicht sinnvoll sein kann, hat auch der kastilische Dichter Machado (1917/ 2001) in seinem Gedicht »Caminante« versucht auszudrücken: »Wanderer, es gibt keine Wege, Wege entstehen beim Gehen.«

62

80 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Zusammenfassung

den Blickwinkel auf die Zeit beschrieben: die subjektive und die objektive Zeit. Während es sich bei der objektiven Zeit um die messbare Uhrzeit und physikalische Messzeit handelt, ist subjektive Zeit das Erleben und Gestalten von Zeit. Die Untersuchung der subjektiven Zeit ist in zwei Richtungen erfolgt – einerseits entlang einer »Vertikalebene« von zwei Zeitebenen, andererseits entlang einer »Horizontalebene« von drei Zeitdimensionen. Als Zeitebenen sind mit Fuchs (2013a) eine fundierende implizite Zeitebene und eine fundierte explizite Zeitebene unterschieden worden. Dabei stellt die überwiegende Zeiterfahrung im Laufe des Tages das Fließen und Dauern der impliziten Zeit dar, während der explizite Zeitbezug vor allem dann vorkommt, wenn ein plötzliches Ereignis den »Alltagstrott« irritiert oder wenn die Zeit bewusst geplant wird. Zuletzt wurde mit den Zeitdimensionen der jeweilige Bezug auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft deutlich: Während die Vergangenheit als Geworfenheit (Heidegger 1927/2006) und Erinnerung für die Person von Bedeutung sein kann, ist die Gegenwart durch bewusste Aufmerksamkeitslenkung oder aufgrund eines plötzlichen Ereignisses bewusst erlebbar. Aus ihr heraus kann die Zukunft als Entwurf gestaltet oder als Erwartung erfahren werden. In der Auseinandersetzung mit diesen Zeitphänomenen wurde die Zeitstruktur des Wollens als dynamische Doppelstruktur sowie als Zeitgefälle charakterisiert. Die dynamische Doppelstruktur lässt sich durch eine Pendelbewegung zwischen den Polen der »Horizontalachse« (zwischen Gegenwarts- und Zukunftsbezug) und der »Vertikalachse« (zwischen expliziter und impliziter Zeitebene) beschreiben. Durch den Entwurf kann ein Zukunftsbezug hergestellt werden, der eine neue Gegenwartserfahrung ermöglicht, die es wiederum notwendig machen kann, den Zukunftsbezug zu ändern. Auch hier findet ein dynamisches Wechselspiel statt, nämlich zwischen dem vorausschauenden Entwerfen auf der expliziten und dem leiblichen Handeln auf der impliziten Zeitebene. Mit dem Begriff des Zeitgefälles wurde eine Struktur beschrieben, bei der es durch den Entschluss zu einem kaskadenartigen Gefälle vom expliziten Zukunftsentwurf zur impliziten Umsetzung in der Gegenwart kommt. Aufgrund dieses Gefälles drängt der einmal gefasste Entschluss auf seine Erfüllung.

81 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

IV. Das Wollen in Situationen

[…] es gibt Freiheit nur in Situation, und es gibt Situation nur durch die Freiheit. 63

In der bisherigen Untersuchung konnte gezeigt werden, dass das Wollen als psychisches Vermögen aus bestimmten Strukturmomenten und Phasenabschnitten (Kap. I und II) besteht, und dass seine Zeitlichkeit eine dynamische Doppelstruktur aufweist (Kap. III). Dagegen wurde bislang außer Acht gelassen, dass das Wollen und Handeln in umgrenzten Situationen, sowohl für die biographisch wichtigen Prozesse der Selbstwahl und Selbstbestimmung als auch für die eigene Selbstrelativierung und Selbstbegrenzung, z. B. zugunsten der Bedürfnisse von Anderen, übergeordneter Ideale oder einer gemeinschaftlichen Willensbildung, von herausragender Bedeutung ist. Eine Untersuchung des Situationsbegriffes scheint daher für das immer schon situativ verankerte Wollen notwendig zu sein. Die bedingte Situation ermöglicht die Handlungsmöglichkeiten. Zwischen diesen findet eine Wahl statt, was die Voraussetzung für Selbstbestimmungsprozesse darstellt. Die Freiheit zur Selbstbestimmung ist somit nicht eine unbedingte, wie sie der Deutsche Idealismus konzeptualisiert (Kant GMS, 59, BA 64), sondern eine situativ bedingte, wie sie bei Sartre (1943/2009, 845) und Jaspers (1932/1973, 203) beschrieben wurde. Die situativ bedingte Freiheit besitzt im Gegensatz zur unbedingten zwei Einschränkungen: Zum einen handelt es sich bei diesem freien Wollen nicht um ein apersonales und zeitloses Phänomen, sondern um das Wollen einer Person mit ihrer je eigenen Geworfenheit, zum anderen ist dieses Wollen einbezogen in das intentionale Geflecht sozialer Interaktionen. Im Anschluss an diese existenzphilosophischen Arbeiten zur Situationsethik wird ein Situationsbegriff eingeführt, der als Grundlage 63

Sartre (1943/2009, 845)

82 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Das situative Geflecht

für die nachfolgende Untersuchung des selbstbestimmten Wollens und Handelns dienen kann (1.). Außerdem wird der Begriff der bedingten Freiheit in der Situation konzeptualisiert und von idealistischen Konzepten einer unbedingten Freiheit oder materialistischen Konzepten einer Bedingtheit ohne jede Freiheit abgegrenzt (2.). Zuletzt wird der »günstige Augenblick« der sogenannten Kairós-Situation als eine für die biographische Selbstwahl und Selbstbestimmung außergewöhnliche Situation dargestellt (3.).

1.

Das situative Geflecht

Jeder Mensch wird in eine bestimmte soziokulturelle Umgebung geboren, d. h. in eine bestimmte Gesellschaft, Zeitperiode und Familie. Dieser Umstand wurde in der zuvor entwickelten Phänomenologie der Zeitlichkeit mit Heidegger (1927/2006, 135) als Geworfenheit beschrieben. In der Kindheit ist er abhängig von der familiären und institutionellen Obhut und dabei angewiesen auf Unterstützung, Wertschätzung, Schutz und Orientierung. Werden ihm diese verwehrt, so kann dies zu einer Beeinträchtigung in der Persönlichkeitsentwicklung führen und psychische Krankheit bedingen. Mit der Erwachsenwerdung gewinnt der Mensch mehr und mehr Entscheidungsmöglichkeiten und ist gezwungen, eine eigene Identität auszubilden. Er muss sich also mit dem Älterwerden zu sich selbst und zu seinen Handlungen in ein Verhältnis setzen, d. h. ein Selbstverhältnis ausbilden. Aus einer kognitiven Meta-Ebene muss er klären, was er als Person eigentlich will, wie er handeln möchte und was für ein Mensch er sein will. In der Sprache Heideggers (ebd., 12, Herv. i. Orig.) geht es ihm als Dasein »in seinem Sein um dieses Sein selbst«. Der sich zu sich selbst verhaltene Mensch, der eingebunden ist in ein Geflecht sozialer Beziehungen, sorgt sich um seine Zukunft und hat diese durch seine Entwürfe selbst zu gestalten. In seiner Geworfenheit muss der Mensch sich entwerfen, weil er zu dieser »Freiheit verurteilt« ist (Sartre 1943/2009, 838; 1946/2010, 155) und es für ihn schließlich keine Möglichkeit gibt, sich nicht zu wählen. Denn auch die Entscheidung, sich nicht zu entscheiden, ist schließlich eine Entscheidung – wenn auch keine, die mit der Erfahrung von Selbstwirksamkeit einhergeht. Das Wollen ist also dasjenige psychische Vermögen, durch das Entscheidungen in die Tat umgesetzt werden können. Da aber die 83 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Das Wollen in Situationen

gesamte menschliche Existenz ein »Sein in Situationen« ist, wie Jaspers (1932/1973, 203) schreibt, findet auch das Wollen in Situationen statt und ist somit situativ verortet. Nie ist der Mensch außerhalb der Situation: Tritt er aus einer Situation heraus, tritt er in eine neue ein. Der Begriff der Situation (lateinisch situs: Ort, Stelle) beschreibt das durch den gegenwärtigen raum-zeitlichen Bezugspunkt des personalen Leibes sich eröffnende Geflecht sozialer, struktureller und kultureller Bedingungen, in das der Mensch immer schon involviert ist und ihm erst seinen Möglichkeitsspielraum öffnet. Diese situative Verstrickung mit den Mitmenschen meint Merleau-Ponty, wenn er schreibt: »In unentwirrbarer Konfusion sind wir der Welt und den Anderen beigemischt.« (Merleau-Ponty 1945/1974, 516)

Die Situation stellt also ein interaktionelles Geflecht von oftmals unüberschaubaren Bedingungen und fremden Intentionalitäten dar, in dem Wollen entstehen kann und in dem gehandelt werden muss. Situationen bieten sowohl Möglichkeiten des Handelns und können selbst durch willentliches Handeln erschlossen werden. Wenn alle Willensentscheidungen in Situationen getroffen werden und künftige Situationen hervorbringen, dann ist Sartre zuzustimmen, wenn er das Paradox der Entscheidungsfreiheit so formuliert: »[…] es gibt Freiheit nur in Situation, und es gibt Situation nur durch die Freiheit« (Sartre 1943/2009, 845, Herv. im Orig.). Die durch das Wollen gegebene Entscheidungsfreiheit zwischen verschiedenen Möglichkeiten ist eine bedingte und keine unbedingte Freiheit, da die Person immer nur zwischen situativ bedingten Möglichkeiten wählen kann. Jede Situation hat aber auch einen bestimmten Aufforderungscharakter, wie ihn Lewin (1959) beschrieben hat: Es gibt immer Entscheidungen, die aufgrund gegenwärtiger Umstände dringlicher zu treffen sind und das eigene Handeln stärker beeinflussen, z. B. dann, wenn eine Person nach einem Herzkreislaufstillstand wiederbelebt werden muss. »Die Situation zwingt nach Raum und Zeit zur Wahl«, schreibt auch Jaspers (1932/1973, 161) und meint damit dasselbe: nämlich, dass die Person auf die jeweiligen Bedingungen im situativen Geflecht antworten muss und damit zum Handeln aufgefordert wird. Durch ihr Handeln nimmt die Person dann wiederum Einfluss auf die eigene Lebenswelt und mit ihrem eigenen Engagement auch indirekt auf sich selbst sowie das eigene Selbstverhältnis. 84 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Das situative Geflecht

Im Folgenden müssen die einzelnen Aspekte des situativen Geflechts etwas entwirrt und deutlich gemacht werden, wie diese für das Wollen und Handeln in Situationen von Bedeutung sein können. Dabei geht es um die Phänomene: a) der eigene Leib, b) die Stimmung, c) die räumliche Verortung, d) Vergangenheit und Zukunftsentwurf sowie e) die Verflochtenheit mit dem Anderen.

a)

Eigener Leib

Der Leib ist die conditio sine qua non jeder Situation, da der Mensch ohne ihn nicht an der Lebenswelt teilhaben könnte. Er ist Ausgangspunkt der eigenen und gemeinsamen Welterfahrung. Durch ihn empfindet, sieht, fühlt, erlebt und gestaltet der Mensch seine Welt. Er ist als eine leibliche Existenz in die Welt geworfen und verliert mit dem Tod des Körpers seine Lebensgrundlage. Durch den Leib ist der Mensch mit anderen Menschen verbunden oder fühlt sich von diesen abgestoßen, antwortet etwa auf ein Lächeln oder Schulterklopfen mit der ihm eigenen Gestik und Mimik und kann mit dem Anderen mitfühlen oder mitschwingen. Diese Zwischenleiblichkeit (MerleauPonty 1994) ist die grundlegende menschliche Erfahrung einer impliziten Beziehungs-Musikalität, die den Rhythmus vorgibt für Anziehung und Abstoßung bzw. Resonanz und Dissonanz mit Anderen (Gödde und Buchholz 2011). Sie besteht als symbiotische Beziehung mit der Mutter bereits vor der Geburt und in den ersten Lebensjahren, entwickelt sich durch Prägung der frühen Bezugspersonen weiter und bringt durch Interaktion mit den Mitmenschen ein implizites Beziehungswissen (Stern 1991) hervor, welches in jeder Situation eine schnelle Antwort auf das Beziehungsangebot des Gegenübers ermöglicht. Neben dieser grundlegenden Beziehungshaftigkeit des Leibes, ist der Leib das fundamentale Vehikel des menschlichen ZurWelt-Seins (französisch: être-au-monde), wie Merleau-Ponty (1945/ 1974) schreibt, und seine Bedürfnisse bestimmen ihn in seinem Streben und Widerstreben. Leibliches Können fundiert ferner das Wollen in der Situation, sodass mit dem Leib gerechnet und gehandelt werden kann und muss (Ricœur 1950/1966, 86 ff.). Nur das, was auch dem Urteil nach den eigenen leiblichen Fähigkeiten entspricht, ist nicht nur zu wünschen, sondern auch zu wollen und nur der Wille, der auch dem tatsächlichen Können entspricht, kann dann auch realisiert werden. Ist das leibliche Können aber, wie etwa bei einer schwe85 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Das Wollen in Situationen

ren körperlichen Erkrankung, beeinträchtigt, so ist auch der Spielraum des Wollens und Handelns deutlich eingeschränkt und der Wollende gewinnt das Gefühl, nicht mehr auf ihn zählen zu können. Auf der anderen Seite kann er aber durch die Potentialität des Leibes andere Willensziele und leibliche Fertigkeiten entwickeln, die ihm im Idealfall eine Anpassung an die beeinträchtigende Lebenssituation ermöglichen.

b)

Stimmung

Situationen haben durch ihre Stimmung eine ganz spezifische Färbung, von der man sich »anstecken lassen« kann, etwa durch die ausgelassene Heiterkeit einer Cocktailparty oder die Schwermut einer Beerdigung. Auch kann sich die Person selber, unabhängig von der jeweiligen Situation, in einer »schlechten Laune« oder freudigen Stimmung befinden und damit wiederum Einfluss auf ihre Situation nehmen. Stimmungen haben somit eine gewisse Wirkmächtigkeit und befinden sich in einem Übergangsfeld zwischen einem eher intersubjektiven Pol wie bei der Atmosphäre oder dem Stimmungsklima und einem eher subjektiven Pol wie bei der Laune oder Befindlichkeit (Fuchs 2013b). Sie stellen den tragenden Grund des affektiven Erlebens dar, der die Welt in einem bestimmten Licht und einer besonderen Tönung erscheinen lässt, d. h. sie haben eine welterschließende Funktion. Dies meint Heidegger, wenn er formuliert: »Die Stimmung hat je schon das In-der-Welt-sein als Ganzes erschlossen und macht ein Sichrichten auf […] allererst möglich.« (Heidegger 1927/ 2006, 137)

Die Stimmung erschließt mit ihrer spezifischen Tönung die Situation als ganze und lässt den Raum als »gestimmten Raum« mit seinem intentionalen Geflecht in einer bestimmten Färbung erscheinen. Wie Otto F. Bollnow in seiner Untersuchung über Das Wesen der Stimmungen schreibt, handelt es sich bei der Gemütsstimmung »um eine solche durchgehende Übereinstimmung des ganzen Menschen, der in seinen verschiedenen Saiten gleichmäßig auf einen bestimmten ›Ton‹ gestimmt ist« (Bollnow 1941/2009, 26). Eine fröhliche und heitere Stimmung geht mit einer Entspannung einher, führt zur Weitung der Wahrnehmung und ermuntert zum überschwänglichen Wollen, eine ängstigende und furchterregende Stimmung dagegen führt zu 86 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Das situative Geflecht

Anspannung, Einengung der Wahrnehmung und kann das eigene Wollen hemmen. Dabei ist aber auch die gereizte oder bedrückte Verstimmung oder stimmungslose »Entstimmung« eine Stimmung und zwar eine solche, die die ganze Situation verschließen kann, sodass Möglichkeiten am Ende ungenutzt bleiben. Das verschließende Wesen der Entstimmung wird – wie der Phänomenologe Stefano Micali (2013, 2014) dargelegt hat – besonders in der Depression deutlich, wenn Patienten nur noch qualvolle Eintönigkeit erleben, und dadurch nicht mehr in der Lage sind, sich von Stimmungen »anstecken zu lassen« oder Situationen für sich zu nutzen.

c)

Räumliche Verortung

Der Ort ist die Stelle von Raum und Zeit, an der sich die Person befindet, und die durch eine charakteristische Um- und Mitwelt ausgezeichnet ist mit ihren jeweiligen Mitmenschen, Lebewesen und Gegenständen. Ein Ort verweist einerseits auf der Makroebene auf eine spezifische Umgebung, d. h. also auf eine Stadt, Region oder Nation mit ihren kulturellen, klimatischen und strukturellen Eigenheiten, auf einer Mikroebene anderseits aber auch auf den Raum und Platz, in oder an dem ich mich befinde, mit seinen besonderen Gegebenheiten. In Hinblick auf das eigene Wollen und den Entwurf bietet der Ort durch diese besonderen Gegebenheiten entweder die Möglichkeit zum Handeln oder verhindert diese gerade. In diesem Sinne schreibt Sartre über den Platz: »Er wird durch die räumliche Ordnung und die besondere Natur der ›Dieses‹ definiert, die sich mir auf dem Welthintergrund enthüllen.« (Sartre 1943/2009, 846)

Entwürfe und Willensentschlüsse sind entscheidend dafür, ob die situative Verortung als hinderlich oder nützlich erscheint und somit eine Anpassung des Entwurfs notwendig macht. Ein bestimmter Platz oder Raum kann in Hinblick auf einen Entwurf sinnvoll erscheinen, für einen anderen jedoch nicht. Ein Landhaus mit Seeblick kann ein guter Ort zur Erholung sein, jedoch aufgrund des Fehlens einer nahen Bibliothek ein denkbar schlechter für das Verfassen eines wissenschaftlichen Textes. Ein bestimmter Platz nimmt Einfluss auf das Wollen, indem seine Szenerie einen Aufforderungscharakter bietet und zum Handeln drängt, z. B. indem sie Bedürfnisse weckt oder zu 87 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Das Wollen in Situationen

Aktivitäten einlädt. Der Mensch organisiert die Gegenstände seiner unmittelbaren Umgebung »auf Nähe«, erschafft Werkzeuge, deren er sich bemächtigen kann, und macht sich die Dinge zuhanden, wie Heidegger (1927/2006) sagt. Diese Zuhandenheit stellt einen Vollzugsmodus des In-der-Welt-seins dar, das die Gegenstände des Raumes nach ihrer Nutzbarkeit für etwas bewertet und damit seinen eigenen »gelebten Raum« (Binswanger 1932/1994) organisiert. Im Gegensatz zum physischen Raum kann dieser gelebte Raum damit nicht quantitativ vermessen werden, sondern stellt ein dynamisches intentionales Netz der Person in Bezug auf die Verfügbarkeit der Dinge dar. So erleben wir den uns unbekannten Nachbarn, der im gleichen Wohnblock nur wenige Meter entfernt lebt, als weiter entfernt, als eine geliebte Person, die in etwas größerer Entfernung wohnt.

d)

Vergangenheit und Zukunftsbezug

Sowohl die Vergangenheit und die eigene Geworfenheit als auch der Entwurf haben Einfluss auf die Situation und das eigene Wollen in der Gegenwart. Die Vergangenheit sedimentiert sich, wie beschrieben, einerseits in leiblichen Fähigkeiten, Erfahrungen, Dispositionen, Beziehungsmustern und Bedürfnissen, die eine Geschichte des Leibes im Sinne eines impliziten Leibgedächtnisses (Fuchs 2008a) bilden. Andererseits hinterlässt die Person durch ihre besondere Vergangenheit »Spuren« der Faktizität in der Welt, für die sie die Verantwortung zu übernehmen hat. Eine Straftat kann, obwohl viele Jahre zurückliegend, eine Verbeamtung oder Tätigkeit im Staatsdienst unmöglich machen. Eine verpasste Gelegenheit der Versöhnung, kann noch im hohen Lebensalter zu schweren Selbstvorwürfen führen, obwohl die andere Person schon längst nicht mehr lebt. Wir können von der Vergangenheit eingeholt werden, erinnern wir uns an ein früheres Ereignis. Die faktische Vergangenheit geht der gegenwärtigen Situation voraus und konfrontiert uns entweder durch den Anderen oder durch das eigene Gedächtnis immer wieder mit der je eigenen Lebensgeschichte. Während die Vergangenheit gewesen ist und als solche der gegenwärtigen Situation vorausgeht, ist die Zukunft noch nicht, kann jedoch durch den je eigenen Entwurf die Situation in einem besonderen Licht erscheinen lassen. Neben diesen partiellen Zukunftsentwürfen tagtäglicher Projekte beeinflusst das grundsätzliche Selbst- und Weltverständnis die Situation und nimmt Einfluss 88 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Das situative Geflecht

auf ihre Wahrnehmung und Gestaltung. In existenzphilosophischen Termini kann ein solches vorausgehendes Selbst- und Weltverständnis als »primärer Entwurf« (Heidegger 1927/2006, 324) oder »Initialentwurf« (Sartre 1943/2009, 792) bezeichnet werden.

e)

Verflochtenheit mit dem Anderen

»Dasein ist wesenhaft Mitsein« schreibt Heidegger (1927/2006, 120). Das bedeutet, dass der Mensch, noch ehe er ein gesellschaftlicher Akteur ist, sich in einem Geflecht sozialer Bezüge vorfindet, das ihn in seiner Persönlichkeitsentwicklung beeinflusst. Gerade prägende Bezugspersonen wie Eltern, nahe Verwandte, Lehrer und Freunde üben in ihren verschiedenen Rollen einen unterschiedlich starken Einfluss aus und behindern oder bestärken die Person in ihrem Wollen und Handeln. In der Situation spielen diese prägenden Einflüsse als interaktionelle Beziehungsmuster zum Anderen eine wichtige Rolle. Ohne sich dessen bewusst zu sein, »weiß« man schon, ob man sich sympathisch ist oder nicht, ahnt auch wie sich das Gegenüber verhalten und wie man selbst darauf reagieren wird. Vielleicht erinnert uns das Gegenüber an den großen Bruder, mit dem man herumblödelt oder den man aufziehen kann, oder an die eigene fürsorgliche Mutter, gegenüber der man sich ohne Weiteres in die Kinderrolle begeben kann. Dieser grundlegende Mechanismus ist für die Interaktion miteinander in der gegenwärtigen Situation von herausragender Bedeutung und wird in der Psychoanalyse als Übertragung und Gegenübertragung bezeichnet (u. a. Ermann 1995/2004, 407 ff.). Jedoch darf nicht vergessen werden, dass auch die Anderen ihre je eigene Vergangenheit und Zukunftsentwürfe immer schon mitbringen, die nicht notwendigerweise mit den eigenen Interessen und Projekten übereinstimmen müssen. Vielmehr ist dies nur sehr selten der Fall und es überwiegen Situationen der Differenz. D. h. wir betreten die Situation aus unterschiedlichen Herkünften stammend und müssen zur Herstellung einer gemeinsamen Zukunft unsere Entwürfe davon aufeinander abstimmen. Dissens ist, doch Konsens soll sein. Dies führt innerhalb der konkreten Situation zu Aufschub, Relativierung und Neuanpassung des eigenen Wollens. Andererseits kann aber auch nur der eigene Wille dazu führen, dass die Entwürfe der anderen Personen verworfen, aufgeschoben oder angepasst werden. Wenn das Wollen also nicht weltfremd und realitätsfern sein soll, 89 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Das Wollen in Situationen

erfordert die soziale Situation mit ihrem intentionalen Geflecht also vom Wollenden eine ständige Feinabstimmung.

2.

Die bedingte Freiheit der Situation

Wie ist nun aber das Verhältnis zwischen der Situation und der Willens- bzw. Entscheidungsfreiheit zu bestimmen? Ist der Mensch nicht durch seine situativen Bedingungen eingeschränkt und unfrei? Gibt es am Ende keine Freiheit? Um eine Antwort zu bekommen, soll zunächst die philosophische Debatte zur Willensfreiheit grob skizziert werden, ohne dabei die einzelnen Positionen zu berücksichtigen. Der metaphysische Begriff der Willens- bzw. Entscheidungsfreiheit kann sowohl negativ wie positiv formuliert werden. Entweder kann er negativ die Freiheit von Zwang und Bedingtheit meinen, sodass eine Willensbildung trotzdem möglich ist, oder er kann positiv als die Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten verstanden werden. In jedem Fall handelt es sich bei dieser Freiheit um das angenommene Vermögen des Menschen einer hinderungsfreien Willensbildung (Seebaß 2006), das ein Anders-Entscheiden-Können unter gleichen Bedingungen unterstellt. Ein solches So-oder-anders-Können wurde bereits von Aristoteles (u. a. Nikomachische Ethik) beschrieben und von Kant (1793/1968) definiert als die »Freiheit, nach welcher die Handlung sowohl als ihr Gegenteil in dem Augenblicke des Geschehens in der Gewalt des Subjekts« steht. Kernproblematik der Jahrtausende alten Debatte ist also die Fragestellung, ob diese Freiheit tatsächlich existiert oder eine Illusion darstellt, ob und unter welchen Bedingungen wir willentlich und frei handeln können und wie das Verhältnis zwischen Freiheit und Determination zu denken ist (Keil 2007). Auf der einen Seite findet sich die Position der Unvereinbarkeit von vollständiger Determination und absoluter Freiheit. Gilt das Kausalitätsprinzip ausnahmslos, so kann nur ein monolinearer Weltverlauf beschrieben werden, der keine Abweichung und somit kein Anders-Können zulässt: Alles folgt stringent aufeinander und es gibt keine andere Möglichkeit außer der bestehenden. Diese Position wurde sowohl von theologischen, fatalistischen als auch materialistischen Autoren vertreten und findet ihre Ausformulierung als ein Dämon, der in der Lage ist, diesen kausalen Weltverlauf zu überblicken (Laplace 1814/1932). In den letzten Jahren wurde diese These auch als 90 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die bedingte Freiheit der Situation

neurobiologischer Determinismus vertreten (Roth 2011, 2013; Singer 2003, 2004), der eine Determination des Menschen durch sein Gehirn postulierte, da in Experimenten motorische Bereitschaftspotentiale im Cortex zeitlich vor dem willentlichen Bewegungsimpuls gemessen werden konnten (Libet-Experimente). Die Befunde konnten jedoch in der Folge relativiert werden – so wurde aufgezeigt, dass das gemessene Bereitschaftspotential nur einer unspezifischen Bewegungsvorbereitung dient (Herrmann et. al. 2008) und noch bis zu 200 Millisekunden vor der Bewegungsauslösung durch ein »Veto« unwirksam gemacht werden kann (Schultze-Kraft et. al. 2016). Auf der anderen Seite wurde in erster Linie von Kant die idealistische Position einer unbedingten Freiheit formuliert, die dem Reich der Zwecke und Gründe einer »intelligiblen Welt« entspringe und damit ein anderes Kausalitätsverständnis nötig mache als das Kausalitätsprinzip der Naturgesetze in der empirischen Welt. Aber auch unterschiedliche existenzphilosophische Autoren (Camus u. a.) waren fasziniert von der bedingungslosen Selbstwahl des Menschen in einem »acte gratuit« und betonten seine metaphysische Ungebundenheit. Als dritter Weg neben dem absoluten Determinismus und Libertarismus wurde schließlich eine Vereinbarkeit von Freiheit und Determination (Locke 1690/1981, Hume 1748/2015) postuliert, die jedoch das Prinzip strenger Kausalität und des freien So-oder-andersKönnen abschwächte und v. a. Kategorien wie Urheberschaft, Willentlichkeit, Zurechenbarkeit und Zugänglichkeit für Gründe freier Entscheidungsprozesse anführte. Diese Position wurde als Kompatibilismus bezeichnet. Bieri, der in seiner Schrift Das Handwerk der Freiheit zuletzt für die Vereinbarkeit von Bedingtheit und Freiheit argumentierte, erläutert dies folgendermaßen: »Eine Bewegung von jemandem ist dann und nur dann eine Handlung, wenn der Betreffende ihr Urheber ist. Er ist dann und nur dann ihr Urheber, wenn der Bewegung ein Wille zugrunde liegt.« (Bieri 2007, 35)

Demzufolge, so Bieri, sei auch Urheberschaft die erlebte Bedingtheit durch den eigenen Willen. Damit ist jedoch weder der libertarische Freiheitsbegriff des So-oder-anders-Können gemeint, noch der deterministische Begriff einer Gesamtkausalität des Weltverlaufes. Da hier nicht eine Metaphysik der Willensfreiheit, sondern eine Psychologie des Wollens im Mittelpunkt stehen soll, kann es nicht darum gehen, die Debatte in vollem Umfang nachzuzeichnen. An 91 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Das Wollen in Situationen

dieser Stelle soll es genügen, auf die ausdifferenzierte Argumentation von Keil (2007) zu verweisen, der die verschiedenen Standpunkte zur Willensfreiheit in seiner Arbeit dargestellt und selbst eine sehr alltags- und phänomennahe libertarische Position entwickelt hat. Für die weitere Untersuchung und aus Sicht einer phänomenologischen Psychologie, Situationsethik und Psychopathologie sind jedoch einige Aspekte aus diesem Diskurs von Bedeutung und sollen kurz dargestellt werden:

(1) Die situative Bedingtheit des Wollens Das Wollen ist nicht Teil eines monolinearen Kausalitätsprinzips wie es durch die Materialisten beschrieben wurde und es ist nicht losgelöst von kausaler Bedingtheit wie Kant (1781/ 1998) es in seiner Beschreibung der »intelligiblen Welt« konzeptualisiert hat. Das Wollen ist nicht »rein«, sondern es ist bedingt: durch Bedürfnisse und Triebe, durch Gründe und Motive, durch das Leibgedächtnis und das leibliche Können, durch die Vergangenheit und Geworfenheit, durch das Weltverständnis und den Zukunftsentwurf, durch die anderen Personen, aber auch durch die Verortung mit ihren jeweiligen Gegebenheiten. Wollen ist in vielfacher Hinsicht bedingt, aber das bedeutet nicht in erster Linie Hindernis, Einengung und Zwang, sondern überhaupt erst die Voraussetzung und die Möglichkeit zum Wollen und Handeln. Ein apersonales, zeitloses und unbedingtes Wollen kann vielleicht eine »regulative Idee« (ebd.) sein, sie ist aber sicher kein deskriptiv beschreibbares Phänomen. Entscheidungsfreiheit ist somit immer nur denkbar als eine bedingte Freiheit in der Situation zwischen verschiedenen Möglichkeiten. Weder gibt es absolute Freiheit, noch absolute Bedingtheit, sondern Freiheitsgrade bilden sich im Laufe der Persönlichkeitsentwicklung in Abhängigkeit von bedingten Situationen.

(2) Das Erleben des So-oder-anders-Können Zwar stellen auch Urheberschaft und Zurechenbarkeit wichtige Aspekte des Wollens dar, jedoch muss, wie bereits Jaspers (1913/1965) dargestellt hat, Wollen immer auch mit dem Erleben einhergehen, unter gleichen Bedingungen alternativ handeln zu können. Würde 92 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die bedingte Freiheit der Situation

dieses Gefühl nicht bestehen, dann würden sich auch Gefühle von Urheberschaft und Selbstwirksamkeit als Illusionen entpuppen, da es keine Entscheidungsmöglichkeit gibt und streng genommen auch niemanden, der sich entscheiden kann. Unser alltägliches Verständnis vom Wollen ist jedoch eins, das eine Verantwortlichkeit des Handelns unterstellt: Ich als Person habe mich so oder so entschieden, ich habe so oder so gehandelt und muss dafür eben auch »gerade stehen«. Die situative Bedingtheit des Wollens ist somit keine, die der Person die Entscheidungsfreiheit nimmt, sondern überhaupt erst die Voraussetzung für ein So-oder-anders-Können. Situative Bedingtheit und Freiheit stellen also nicht grundsätzlich entgegengesetzte Prozesse dar, sondern Bedingungen bilden die Voraussetzung zum Handeln, sodass gesagt werden kann, dass Bedingtheit und Freiheit miteinander »Hand in Hand« gehen. Im Gegenzug heißt dies jedoch nicht, dass es nicht auch manche Bedingungen (somatische Krankheit, psychisches Leiden, physisches Eingesperrt-Sein) gibt, die die Person stärker einschränken als andere und die damit auch die Entscheidungsfreiheit und das Wollen beeinträchtigen können.

(3) Psychopathologische Einschränkung der Entscheidungsfreiheit Es gibt Situationen, in denen das So-oder-anders-Können der freien Willensbestimmung Einschränkungen erfährt, was sowohl zivil- als auch strafrechtlich von Bedeutung ist. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn bei psychiatrischen Erkrankungen entweder die kognitiven oder motivationalen Voraussetzungen beeinträchtigt sind (Habermeyer & Sass 2002). Die Entscheidungsfreiheit kann z. B. dann eingeschränkt sein, wenn es zu schweren Bewusstseinsstörungen, Orientierungsstörungen oder formalen Denkstörungen kommt, die es unmöglich machen, das »Für und Wider« abzuwägen und einen Willensentschluss frei auszubilden und umzusetzen. Insbesondere bei schweren Willensstörungen wie dementiellen Erkrankungen, Delirien, wahnhaften Psychosen oder schweren Depressionen kann eine solche Störung der freien Willensbildung und damit auch die Geschäftsunfähigkeit im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) oder eine eingeschränkte Strafbarkeit im Sinne des Strafgesetzbuches (StGB) festgestellt werden.

93 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Das Wollen in Situationen

3.

Die Kairós-Situation

Im Laufe unseres Lebens gibt es also immer wieder diese Situationen, die für die Selbstbestimmung von hoher Bedeutsamkeit sind: die Berufswahl oder die Wahl des Wohnortes, die Begegnung mit einem künftigen Lebenspartner oder einem wichtigen Freund. Dabei kann während einer kurzen Zeitspanne etwas Neues in den Alltag einbrechen, sich ein anderer Sinngehalt andeuten und durch veränderte Bedingungen ein unvorhergesehener einmaliger Möglichkeitsspielraum für das eigene Handeln entstehen. Um die Entwicklungschancen zu nutzen, muss in solchen Situationen die günstige Gelegenheit ergriffen werden, obwohl die Konsequenzen des Handelns nur erahnbar sind. Solche im Vorhinein nicht berechenbaren Situationen wurden in der griechischen Antike nach dem griechischen Gott καιρός auch als Kairós-Situationen bezeichnet. Der Kairós wurde ikonographisch als eine männliche Gottheit mit Flügeln dargestellt, die an ihrer Stirn einen Haarschopf trägt und an ihrem Hinterkopf eine kahle Stelle hat (Kerkhoff 1973, 260). Dies bedeutet, dass der »rechte Augenblick« zwar ein »Gottesgeschenk« darstellt, aber flüchtig ist. Daher muss auch die Gunst der Stunde genutzt und die Gelegenheit »beim Schopfe« gepackt werden. Ist der rechte Augenblick jedoch vorüber, so erwischt der Handelnde nur noch den kahlen Hinterkopf und hat damit die entscheidende Möglichkeit verstreichen lassen. Etymologisch hat der Begriff seine Wurzeln in der Webkunst, wie Theunissen in seinem Werk Pindar darstellt (Theunissen 2008, 802). Dort nennt man den Kairós den kurzen Moment der Öffnung, da die Schussfäden eingefädelt werden müssen. Wird dieser Moment verpasst, so kann die Arbeit nicht fertiggestellt werden. Den Kairós zu nutzen, bedeutet daher die Könnerschaft, in einem Geflecht von verschiedenen Akteuren, Intentionen und Bedingungen das Richtige im rechten Augenblick zu tun. Aufgrund der eigenen situativen Verwobenheit und Involviertheit, kann die Person den rechten Augenblick oft nicht instantan selbst reflektieren, sondern erst in der retrospektiven Betrachtung als solchen bestimmen. Die Könnerschaft, die Gunst der Stunde zu nutzen, besteht also aus drei für das selbstbestimmte Wollen und Handeln wichtigen Aspekten: in der Offenheit für die sich anbietenden Möglichkeiten, einem intuitiven Gespür für die rechte Entscheidung und schließlich in der Entschlossenheit zu handeln. Der Kairós ist ein kurzlebiger, bedeutender, aber oftmals unscheinbarer Moment, der vom selbst94 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Zusammenfassung

bestimmt Handelnden erkannt werden und entschlossen ergriffen werden muss. Prägnant formuliert Theunissen (2008, 824) über den Kairós: »Was in der Zeit an der Zeit ist, nimmt von der Zeit nicht viel in Anspruch«.

4.

Zusammenfassung

Dem Psychiater und Begründer der Existenzanalyse und Logotherapie Viktor E. Frankl ist zuzustimmen, wenn er schreibt: »Selbstverständlich ist der Mensch determiniert […] er ist nicht frei von Bedingungen, er ist überhaupt nicht frei von etwas, sondern frei zu etwas, will heißen zu einer Stellungnahme gegenüber all den Bedingungen.« (Frankl 1946/ 2009b, 51)

In diesem Sinne konnte festgestellt werden, dass sich die menschliche Freiheit, willentliche Entscheidungen zu treffen und diese umzusetzen, nicht vom Begriff der bedingten Situation loslösen lässt. Weder gibt es einen Willen, der unabhängig von der Person mit ihrem Leib und ihrer Geworfenheit existiert, noch kann der freie Wille als unbedingt betrachtet werden, da nur eine sinnvolle Wahl zwischen verschiedenen situativen Bedingungen getroffen werden kann. Neben dem eigenen Leib, der Stimmung, der Vergangenheit und dem Zukunftsentwurf gelten auch der jeweilige Ort und die intentionale Verflochtenheit mit dem Anderen als Aspekte der Situation, die in toto einen bestimmten Aufforderungscharakter für die Person haben. Es gibt also immer wieder Handlungsoptionen, die dringender erscheinen als andere, doch bedeutet dies nicht, dass zwischen ihnen keine freie Wahlmöglichkeit besteht. Die freie Entscheidungs- und Willensbildung ist dabei auf beides angewiesen: auf die bedingte Situation mit ihren Möglichkeiten, sowie das So-oder-anders-Können, das sich im Laufe der Persönlichkeitsentwicklung herausbildet. Es gibt bestimmte biographische Situationen, die nicht im Vorhinein zu durchschauen sind, jedoch eine Könnerschaft erfordern, den rechten Augenblick zu ergreifen. Diese Kairós-Situationen können jedoch nur genutzt werden, wenn die Situation als eine einmalige und besondere wahrgenommen und beherzt ergriffen wird. Gerade im Ergreifen dieser Kairós-Situationen zeigt sich die so kurze Zeitspanne des Möglichkeitsspielraums, der für Prozesse der Selbstbestimmung und Selbstwahl von so großer Bedeutung ist. So können 95 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Das Wollen in Situationen

auch die Eigenschaften Offenheit, intuitives Gespür und Entschlossenheit benannt werden, die die Grundlage für selbstbestimmtes Wollen und Handeln zu sein scheinen. Diese und andere Facetten sollen im Folgenden unter die Lupe genommen werden.

96 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

V. Selbstbestimmung im Wollen und Handeln

[…] wir sind also Wanderer, Kompass und das neue Land zugleich. 64

Jedes Wollen und Handeln der Person ist in Situationen verortet und damit auf die situativen Bedingungen bezogen. Wie wir gesehen haben, ist Wollen und Handeln abhängig vom eigenen Leib, der Stimmung, der eigenen Vergangenheit, dem konkreten Ort mit seinen Dingen und beteiligten Personen. In diesem situativen Geflecht besitzt die Person eine bedingte Freiheit der Entscheidung und des Handelns, denn es gibt »Freiheit nur in der Situation« (Sartre 1943/2009, 845, Herv. i. Orig.). Wie kann nun aber anhand dieser Erkenntnis ein selbstbestimmtes vom alltäglichen oder gar fremdbestimmten Wollen und Handeln unterschieden werden? Zunächst der Versuch einer Definition von Selbstbestimmung: Darunter soll hier verstanden werden, dass eine Person sich selbst zur Aufgabe macht und sich auf authentische, intuitive und besonnene Weise selbst wählt (das Selbst bestimmt sich selbst). Dagegen soll hier nicht der alleinige Tatbestand beschrieben werden, dass einer Person Handlungsfreiheit gewährt wird und aufgrund dieser nur eine willkürliche Entscheidung trifft (d. h. nicht nur: das Selbst bestimmt etwas). Der Münchener Philosoph Robert Spaemann (1996/2006, 210) hat daher die Selbstbestimmung auch als die Entfaltung einer eigenen Tendenz charakterisiert und damit das Ideal eines ausgezeichneten Wollens und Handelns beschrieben. Dieses Ideal, das uns qua Person durch unser Wollen ein »gelingendes Leben« (Aristoteles Nikomachische Ethik) zu führen veranlasst, ist genauer in den Blick zu nehmen. Damit wird freilich deutlich, dass der Gegenstandsbereich die Grenzen der Phänomenologie überschreitet, und methodisch erweitert werden muss um eine Ethik 64

Ernst Bloch (1936/1985, 335)

97 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Selbstbestimmung im Wollen und Handeln

des rechten Wollens und Handelns. Eine solche ethische Analyse ist die Vorarbeit für eine Psychotherapie des Willens, die nicht nur in der Lage ist, strukturelle Mängel auszugleichen, sondern Ressourcen und Fähigkeiten der Person nutzt, um eine Emanzipation von Einflüssen der Fremdbestimmung zu ermöglichen. Im Detail können folgende Aspekte der Selbstbestimmung benannt werden: Authentizität, Selbsttranszendenz, Offenheit auf personaler Ebene, Intuition, Besonnenheit, Entschlossenheit und Beharrlichkeit auf volitionaler Ebene.

1.

Die personale Ebene der Selbstbestimmung

a)

Authentizität

Als authentisch (griechisch authentikós: echt) bezeichnet man eine Person, die sich in ihrem Wollen und Handeln durch die eigenen echten Bedürfnisse, Neigungen und Interessen und nicht ausschließlich durch gesellschaftliche Konventionen und andere Personen leiten lässt. Authentisch ist eine Person für Andere, wenn die Diskrepanz zwischen dem äußeren Erscheinen und der inneren Motivlage möglichst gering ist, wenn sie also das tut, was ihr selbst entspricht. Eine solche Echtheit oder Eigentlichkeit (Heidegger 1927/2006, 42) der Persönlichkeit steht zunächst im Spannungsverhältnis zum Begriff der Person. Dieser entstammt nämlich ursprünglich dem Theaterspiel der antiken Griechen und Römer, die die Maske oder Rolle des Schauspielers als πρόσωπον (prosopon) oder persona bezeichneten. 65 Eine Person zu sein, bedeutet also zunächst das Gegenteil der Eigentlichkeit, nämlich Rollen in der Gesellschaft zu spielen und sich gemäß den Konventionen zu verhalten. Dabei muss die Person mitunter sogar mehrere Rollen einnehmen und diese miteinander in Einklang bringen, z. B. die Rolle in der Familie, im Berufsleben oder in einem Verein. Rollen spielen zu müssen, kann dabei eben bedeuten, die eigene Tendenz – also die eigenen Bedürfnisse, Neigungen und Interessen – hinter den Rollenanforderungen zurückzustellen. Wenn die Person sich trotz der Rollenanforderungen authentisch verhalten möchte, so muss sie einerseits in der Lage sein, sich Zur Etymologie des Personenbegriffs siehe Spaemann (1996/2006, 30 ff.) und Fuchs (2002, 239 f.).

65

98 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die personale Ebene der Selbstbestimmung

von diesen zu distanzieren und dabei Konventionen gegebenenfalls auch zu modifizieren (ebd., 130), andererseits aber auch ein Wissen über die eigene Motivlage besitzen. Für den Prozess der Selbstaneignung werden im Folgenden zwei Methoden beschrieben: die hermeneutische durch Bieri (2003/2009) und die existentielle durch Heidegger (1927/2006). Bei der hermeneutischen Methode geht es darum, im Gespräch mit Anderen die eigenen Wünsche und Wertvorstellungen zu artikulieren und diese im Hinblick auf ihren Ursprung in der eigenen Vergangenheit zu verstehen und zu bewerten. Bei der existentiellen Methode geht es dagegen darum, ein Bewusstsein für den Stellenwert des gegenwärtigen Wollens zu erlangen, indem dieses an der Endlichkeit, also der Begrenztheit der Lebenszeit, bemessen wird. Durch beide Methoden kann ein Verständnis für das Eigentliche, also das, was die Person eigentlich will, erreicht und Einflüsse von Fremdbestimmung relativiert werden. (i)

Die hermeneutische Methode

Die eigenen Wünsche und Motivationen sind der Person oft nicht bewusst, da diese in einem Verdrängungsprozess durch Selbstideale einerseits und gesellschaftliche oder familiäre Normen andererseits überdeckt werden (psychoanalytisch auch als »Über-Ich« bezeichnet). Bereits Nietzsche (KSA V, 247 f.) schrieb, dass sich jeder selbst der Fernste sei, womit gemeint ist, dass die Person keinen bevorzugten Zugang zu ihrem »Innenleben« hat. Dass der Mensch keinen privilegierten Zugang zu sich selbst hat, formuliert Nietzsche auch an anderer Stelle, indem er die eigene Psyche als eine Festung beschreibt: »Der Mensch ist gegen sich selbst, gegen Auskundschaftung und Belagerung durch sich selber sehr gut verteidigt, er vermag gewöhnlich nicht mehr von sich als seine Außenwerke wahrzunehmen.« (Nietzsche KSA II, 318)

Diese uneinnehmbare »Festung«, die die Psyche für Nietzsche darstellt, ist nur durch die Beobachtungen und Interpretationen anderer Menschen einzunehmen. Eben dies stellt den Ausgangspunkt des psychodynamischen Ansatzes dar, den Freud durch die Psychoanalyse eingeführt hat. Dass unbewusste Wünsche und Motivationen in einer Selbstaneignung durch den Therapeuten bewusst gemacht werden sollen, hat Freud (GW XV, 86) zusammengefasst in dem Leitspruch: »Wo Es war, soll Ich werden.« 99 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Selbstbestimmung im Wollen und Handeln

Die Methode der hermeneutischen Auseinandersetzung des Wollenden mit sich selbst wurde insbesondere von Bieri (2003/2009, 381 ff.) 66 sehr genau ausgearbeitet. Dabei schlägt Bieri für die Aneignung des eigenen Willens eine Trias aus Artikulation, Verstehen und Bewerten vor. Möglich wird sie durch die Sprache und die Fähigkeit, dadurch »einen inneren Abstand« aufzubauen (ebd., 382). Die Selbstaneignung besteht demnach darin, dass eine Person befähigt wird, ihre Wünsche zu artikulieren, diese hinsichtlich ihrer biographischen Ursachen zu verstehen und schließlich so zu bewerten, dass sie schließlich in der Lage ist, sich mit dem eigenen Willen zu identifizieren. Dabei geht es für Bieri »um die Genauigkeit und Tiefe der Artikulation, die eine größere Reichweite des Verstehens vorbereitet, das wiederum zu einer Bewertung führen kann, die uns erlaubt, in größerem Umfang aus einem Willen heraus zu leben, den wir gutheißen können.« (Bieri 2003/2009, 408)

Authentisch ist also eine Person, die weiß, warum sie so handelt, wie sie handelt, und die ihre eigenen Wünsche und Motivationen genau kennt und verstanden hat. Findet jedoch keine reflektierende Selbstaneignung statt und wird daher das eigene »Innenleben« nicht verstanden, dann wird das Handeln durch ein Wollen motiviert, das unauthentisch sein kann. (ii) Die existentielle Methode Anders als Bieri wird für Heidegger 67 Authentizität nicht durch einen Selbstreflexionsprozess, sondern durch die Vergegenwärtigung der Endlichkeit ermöglicht. Das Dasein habe als eigentliche Existenz die Möglichkeit, sich selbst zu gewinnen oder, als uneigentliche Existenz, sich selbst zu verlieren (Heidegger 1927/2006, 42). Ein Mensch, der sich selbst »zu eigen« ist, führe eine eigentliche Existenz, wohingegen ein Mensch, der sich ausschließlich durch die Konvention bestimmen lasse, uneigentlich lebe. Eine uneigentliche Existenz führen, bedeutet für Heidegger nicht, sich gemäß der Konvention zu verhalten, sondern schlichtweg kein Bewusstsein für Konvention und Eigenheit Ein ähnliches Ziel wie Bieri verfolgen die psychodynamischen Ansätze in der Nachfolge u. a. von Freud, Adler und Jung. 67 Die hier vorgestellte Eigentlichkeitskonzeption ist eine mögliche Deutung, die sich v. a. an der Darstellung von Anzenbacher (2003, 237 ff.) orientiert und bewusst die metaphysische Dimension ausklammert. 66

100 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die personale Ebene der Selbstbestimmung

entwickelt zu haben, also keine Wahl bezüglich seines Wollens getroffen zu haben. Eine Person, die eine uneigentliche Existenz führt, übernimmt keine Verantwortung für ihr Leben, sondern lässt sich durch das »Man« bestimmen: »Das Man ist überall dabei, doch so, dass es sich auch schon immer davongeschlichen hat, wo das Dasein auf Entscheidung drängt.« (Heidegger 1927/ 2006, 127).

Eine solche Person, die sich ausschließlich durch die Konventionen bestimmen lässt, fühlt sich nicht dafür verantwortlich, ihr Leben bewusst zu führen und kann daher noch keine Wahl getroffen haben, was für ein Mensch sie sein möchte (ebd., 268). Um sich aus diesem uneigentlichen Existenzmodus zu befreien, bedarf es für Heidegger des »Vorlaufens zum Tode« (ebd., 260 ff.). Dieses ist eine Vergegenwärtigung der eigenen Endlichkeit und damit ein Bewusstmachen dessen, wie die Person ihr künftiges Leben bis zu ihrem vorgestellten Ende führen will. Heidegger formuliert diesen Prozess als eine Antizipation der Zukunft: »Weil das Vorlaufen in die unüberholbare Möglichkeit alle ihre vorgelagerten Möglichkeiten mit erschließt, liegt in ihm die Möglichkeit eines existenziellen Vorwegnehmens des ganzen Daseins, das heißt die Möglichkeit, als ganzes Seinkönnen zu existieren.« (Heidegger 1927/2006, 264).

Damit ist jedoch nicht gemeint, dass es möglich ist, die eigene Zukunft, geschweige denn den eigenen Tod, vorauszusehen. Vielmehr meint das »Vorlaufen zum Tode« die Vergegenwärtigung des begrenzten Möglichkeitsspielraumes der Zukunft, die zu einer authentischen Entscheidung bezüglich der Priorität des gegenwärtigen Wollens und Handelns führen kann. Ein solches Endlichkeitsbewusstsein kann jedoch auch, wie Blankenburg (1989/2007) es vorgeschlagen hat, durch das Einnehmen der Futur-II-Perspektive erreicht werden, indem die Zukunft als bereits vergangen vorgestellt und im Rückblick das Wesentliche, was geschehen soll, erzählt wird.

b)

Selbsttranszendenz

Der Begriff der Selbsttranszendenz (von lateinisch transcendentia: das Übersteigen) wurde durch Viktor Frankl eingeführt und meint den dialektischen Gegensatz zur reflexiven Selbstbezogenheit, näm101 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Selbstbestimmung im Wollen und Handeln

lich das Selbst-übersteigen-Können der eigenen begrenzten Perspektive auf einen übergeordneten Wert oder Sinn. Unter Selbsttranszendenz versteht Frankl: »den grundlegenden anthropologischen Tatbestand, dass Menschsein immer über sich selbst hinaus auf etwas verweist, das nicht wieder es selbst ist, auf etwas oder auf jemanden.« (Frankl 1946/2009b, 213)

Diese selbst-übersteigende Wertorientierung kann durch die Wertschätzung einer anderen Person, das Erfüllen einer bestimmten Rollenerwartung, die Bezogenheit auf ein langfristiges Projekt oder auch das Einnehmen einer religiösen Haltung entstehen. Selbsttranszendenz ist möglich durch eine Distanznahme von sich selbst und die grundsätzliche Weltoffenheit (Scheler 1928/2010) des Menschen. Unter Weltoffenheit versteht Scheler, dass der Mensch im Gegensatz zu anderen Lebewesen entbunden ist von einer konkreten Umwelt und einem dominierenden Triebleben und dagegen frei sich auf ganz Verschiedenes in der Welt beziehen kann. Mit dem Selbstüberstieg kann auch eine Verantwortungsübernahme einhergehen: für den anderen Menschen, das Projekt oder das Ideal, auf die die Person bezogen ist. Diese durch Selbsttranszendenz erreichte Dezentralisierung und Selbstrelativierung ermöglicht es der Person, sich selbst zu vergessen (Frankl 1946/2009b, 213), sinnhafte Erfahrungen in der Welt zu machen und sich dabei zur Persönlichkeit zu entwickeln. Durch die selbsttranszendente Verantwortungsübernahme in der Welt übernimmt die Person auch Verantwortung für ihr eigenes Leben. Dieser Auffassung ist auch Robert Spaemann, wenn er formuliert: »Das Wovor der Verantwortung für das eigene Leben als Ganzes kann nicht ein Teil dieses Lebens selbst sein: ein Interesse, eine Leidenschaft, ein anderer Mensch oder ein eigenes Ideal.« (Spaemann 1996/2006, 177)

Paradoxerweise kann sich die Person oft dann selbst bestimmen, wenn sie sich selbst übersteigt und daher von sich absehen lernt. Je weniger sich eine Person selbst intendiert, also zum Zweck ihres Wollens und Handelns macht, je mehr sie fähig ist, sich als Teil einer Gemeinschaft zu verstehen und in dieser auch Verantwortung zu übernehmen, desto eher ist sie auch in der Lage, ein starkes und bewusstes Selbst auszubilden.

102 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die personale Ebene der Selbstbestimmung

c)

Offenheit

Offenheit ist die Eigenschaft, unvoreingenommen gegenüber der Welt, anderen Personen sowie der Kritik an der eigenen Person zu sein, und sich damit auch auf neue Erfahrungen einlassen zu können. Für die phänomenologische Forschungsrichtung stellt die Offenheit einen wichtigen wissenschaftlichen Zugangsweg dar, den Husserl auch als Epoché (griechisch ἐποχή: Zurückhaltung) bezeichnet hat. Bei der Epoché hält sich die Person in ihrem Urteil über eine Sache, in das für gewöhnlich auch Vormeinungen und Vorurteile einfließen, zurück. Eine solche Zurückhaltung, wie sie Husserl für die Phänomenologie fordert, stellt auch einen Aspekt des selbstbestimmten Wollens und Handelns dar: Nur wenn sich die Person auch von Vorurteilen freihalten kann, ist es ihr nämlich auch möglich, neue Erfahrungen zu machen und sich dann in anderen Rollen zu erproben. Auch in der Spätphilosophie Martin Heideggers wird die Offenheit als ein wichtiger Aspekt der menschlichen Freiheit verstanden. So schreibt dieser: »Vielmehr ist der Mensch als Offenständigkeit ein Offenständigsein für das Vernehmen von Anwesenheit und von Anwesendem, als Offenheit für die Dingheit.« (Heidegger 1987/2006, 272)

Offenheit bedeutet bei Heidegger die Dinge und Menschen, denen die Person begegnet, nicht zu vereinnahmen, sondern sie im Sein-lassen erst einmal für sich selbst bestehen zu lassen (Heidegger 1943/1997, 16). Die Offenheit als Zurückhaltung von Vorurteilen und Interesse an neuen Erfahrungen kann der Person in vielfacher Weise Selbstbestimmung ermöglichen. Zum einen bleibt die Person dadurch aufgeschlossen gegenüber Kairós-Situationen, die sich im Nachhinein als biographisch bedeutende Entscheidungssituationen herausstellen. Dann führt sie zu einer unvoreingenommenen Haltung gegenüber anderen Personen und ermöglicht dadurch eine bewusste Begegnung, bei der der Andere als Du ernst genommen werden kann, wie Buber (1923/1995, 27) schreibt. Diese offene und bewusste Kommunikation mit dem Anderen wurde von Jaspers (1932/1973, 58) auch als existenzielle Kommunikation bezeichnet. Eine solche existenzielle Kommunikation erweitert das Verständnis von Selbst und Welt und zeigt der Person neue Handlungsperspektiven auf. Zuletzt führt Offenheit aber auch dazu, angemessene von unangemessener Kritik zu unter103 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Selbstbestimmung im Wollen und Handeln

scheiden, die Kritikpunkte der Anderen zu ertragen und ernst zu nehmen, sodass eine Arbeit an unpassenden oder dysfunktionalen Verhaltensmustern möglich wird. Dies ist sowohl für das Gleichgewicht innerhalb des sozialen Geflechts einer Gemeinschaft als auch für die Umsetzung der eigenen Ziele von großer Bedeutung.

2.

Die volitionale Ebene der Selbstbestimmung

a)

Intuition

Für die Entscheidungsbildung spielt die Intuition (lateinisch intueri: angeschaut werden, im Sinne von »ahnendes Erfassen«), die oftmals auch als »Bauchgefühl« bezeichnet wird, eine wichtige Rolle. Wie im Kap. II aufgezeigt wurde, versucht die Person, verschiedene Möglichkeiten vorzufühlen und ein Gefühl der Stimmigkeit für eine der Optionen herbeizuführen. Bei der Intuition handelt es sich um die für die Selbstbestimmung wichtige Fähigkeit, in einem komplexen situativen Geflecht eine stimmige und passende Entscheidung zu treffen, obwohl die meisten Informationen nicht bekannt sind. Auch der kanadische Psychotherapeut und Begründer der Transaktionsanalyse Eric Berne beschreibt die Intuition als ein implizit ahnendes Erfassen: »Eine Intuition ist Wissen, das auf Erfahrung beruht und durch direkten Kontakt mit dem Wahrgenommenen erworben wird, ohne dass der intuitiv Wahrnehmende sich oder anderen genau erklären kann, wie er zu der Schlussfolgerung gekommen ist.« (Berne 1991, 36)

Die durch langjährige Erfahrung ausgebildete Intuition stellt also ein durch das bisherige Erleben im Leibgedächtnis 68 verankertes implizites Wissen dar, das es der Person ermöglicht, eine Situation innerhalb einer kurzen Zeitspanne wesenhaft zu erfassen und ihre Komplexität zu reduzieren. In biographisch wichtigen Entscheidungssituationen, wie beispielsweise Kairós-Situationen, führt zumeist nicht das Abwägen von Gründen zu einer besonders selbstbestimmten Entscheidung, sondern die Intuition, die ein implizites Wissen dafür vermittelt, welche Möglichkeit am ehesten den eigenen Neigungen, Bedürfnissen Der Begriff des Leibgedächtnisses wurde von T. Fuchs (2008a) entwickelt. Auch stellt dieser in seiner Arbeit die impliziten leiblichen Strukturen heraus, welche ein intuitiv-holistisches Erfassen der Situation ermöglichen.

68

104 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die volitionale Ebene der Selbstbestimmung

und Interessen entspricht. Solche Entscheidungen, die eher aus einem intuitiven Stimmigkeitsgefühl heraus getroffen werden, geben den Handlungen den »Stempel unsrer Person« (Bergson 1889/2006, 144) und gehen mit einem starken Freiheitsgefühl einher: »Wir sind dann frei, wenn unsere Handlungen aus unserer ganzen Persönlichkeit hervorgehen, wenn sie sie ausdrücken.« (Bergson 1889/2006, 135)

Durch die Intuition bekommt die Person also ein ahnendes Gefühl dafür, welche Entscheidung am ehesten der eigenen Persönlichkeit entspricht. Kommt ein solches intuitives Stimmigkeitsgefühl jedoch nicht auf, obwohl eine Entscheidung ansteht und getroffen werden muss, so muss auf einem anderen Wege ein Entschluss gefasst werden (Kap. II). Für biographisch wichtige Entscheidungen, in denen es um Möglichkeiten der Selbstbestimmung geht, spielt jedoch die Intuition eine entscheidende Rolle.

b)

Besonnenheit

Die Besonnenheit (griechisch: sophrosyne, σωφροσύνη) ist die Fähigkeit, in Situationen von hoher Komplexität und Schwierigkeit sich auf das Wesentliche zu besinnen, d. h. mit der nötigen Gelassenheit und bei klarem Verstand eine begründete Entscheidung zu treffen. Neben der Intuition stellt die Besonnenheit einen weiteren wichtigen Aspekt der selbstbestimmten Entscheidungsfindung dar, da diese voreilige und unüberlegte Entschlüsse verhindert. Besonnen handelt derjenige, der sich in Geistesgegenwart zum Handeln entschließt, d. h. derjenige, der das entscheidende Wissen über eine Situation erwirbt und nach einer Phase des Mit-sich-zu-rate-Gehens und des GründeAbwägens zu einer vernünftigen Entscheidung gelangt. In seiner Entlarvung des Gorgias argumentiert Sokrates, dass derjenige geringe Macht besäße, der nur tue, was er wolle, aber nicht wisse, was er wolle, da er somit auch keine Macht über sich selbst habe (Platon Gorgias 466a-468e). So schreibt auch Spaemann im Anschluss an Sokrates: »Nur wer weiß, was er tut, tut, was er will« (Spaemann 1996/2006, 27). Explizites Wissen kann die Person sowohl über sich selbst, also die eigenen Fähigkeiten und Bedürfnisse, als auch über die Bedingungen der Welt erlangen. Das erworbene Wissen kann dazu beitragen, dass sich die in einer Entscheidungssituation gegebenen Handlungs105 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Selbstbestimmung im Wollen und Handeln

möglichkeiten mit ihren Bedingungen vor dem »inneren Auge« aufklären und die Entscheidung erleichtern 69 . Bereits Aristoteles hat dargestellt, dass der Mensch als vernunftbegabtes Lebewesen nicht nur aus einer »Augenblickslaune« (Aristoteles Nikomachische Ethik III, 4, 1111b) heraus handeln könne, sondern auch mit Vorsatz (griechisch: prohairesis, προαίρεσις), das bedeutet mit »Überlegung und Denken« (Aristoteles Nikomachische Ethik III, 4, 1112a). Während der Erwerb von Wissen und das besonnene Nachdenken eine Klärung der Situation bewirken können, so gibt es doch kein bloßes Determiniert-werden durch Gründe. 70 In einem Abwägungsprozess können zwar Gründe aufgeführt werden, jedoch sind diese durch die Auswahl und Gegenüberstellung bereits von der Person intuitiv gewichtet. Zudem haben die meisten Gründe auch keinen nötigenden Charakter, sondern bieten lediglich eine Unterstützung für den inneren Entscheidungsprozess.

c)

Entschlossenheit

Als Entschlossenheit bezeichnet man die für die Selbstbestimmung wichtige Fähigkeit einer Person, sich in einer für die Entscheidung angemessenen Zeitspanne, trotz eines Mangels an Wissen, entschließen zu können und die Entschlüsse trotz Widerständen und Hindernissen in die Tat umzusetzen. Eine Person, die sich sehr schnell zum Handeln entschließen kann, gewinnt durch das willentliche Handeln ein Gefühl von Selbstwirksamkeit in der Welt und erlangt dadurch auch ein Bewusstsein von sich selbst. 71 Nur eine Person, die auch einen Willen ausbilden kann, der ihr entspricht, kann sich auch selbst bestimmen. Auch für Heidegger gehen Entschlossenheit und Selbstbestimmung miteinander einher. 72 So schreibt dieser über den Zusammenhang von Entschlossenheit und Selbst:

Besonnenheit kann deshalb auch mit Michel Foucault (1984/1990, 53) als eine Haltung der Aufklärung betrachtet werden, welcher diese besonders bei Kant vertreten sah. 70 Dieser nicht-determinierende Einfluss von Gründen wurde von Jürgen Habermas (1994) als der »zwanglose Zwang des besseren Arguments« beschrieben. 71 Dies drückt Kierkegaard (1849/2010, 50) in der Formel aus: »je mehr Wille, desto mehr Selbst« 72 In der Konzeption von Heidegger wird die Entschlossenheit durch das »Vorlaufen 69

106 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die volitionale Ebene der Selbstbestimmung

»Das eigentliche Auf-sich-zukommen der vorlaufenden Entschlossenheit ist zumal ein Zurückkommen auf das eigenste, in seiner Vereinzelung geworfene Selbst.« (Heidegger 1927/2006, 339).

Auch wenn das Endlichkeitsbewusstsein gerade bei wichtigen Entscheidungssituationen helfen kann, Prioritäten besser zu setzen, so muss es doch keine notwendige Voraussetzung für Entschlossenheit sein. Wohingegen Entschlossenheit zur Erfahrung von Selbstwirksamkeit beiträgt, verhindert dagegen gerade die neurotische Unentschlossenheit den Prozess der Selbstbestimmung. Den Zusammenhang von Unentschlossenheit und Selbstschwäche hat insbesondere Jaspers aufgezeigt: »Entschluss und Selbstsein sind eines. Unentschlossenheit überhaupt ist Mangel an Selbstsein; Unentschlossenheit in diesem Augenblick zeigt nur an, dass ich mich noch nicht selbst gefunden habe.« (Jaspers 1932/1973, 181)

Der Unentschlossene kann sich nämlich nicht für eine Zukunft entschließen und für diese Verantwortung übernehmen, da in seinem ambivalenten Zögern die möglichen Entwürfe gleichwertig bleiben und sich somit auch keiner durchsetzen kann. 73 Durch die neurotische Unentschlossenheit werden Möglichkeiten des Handelns versäumt und damit auch günstige Augenblicke verpasst. Gerade Situationen, in denen es notwendig ist, die Gelegenheit »beim Schopfe« zu ergreifen, erfordern ein hohes Maß an Entschlossenheit.

d)

Beharrlichkeit

Im Gegensatz zur Entschlossenheit meint Beharrlichkeit oder Persistenz (lateinisch persistere: verharren, beharren) die Fähigkeit einer Person, einen einmal getroffenen Entschluss über eine lange Zeitspanne trotz Hindernissen und Rückschlägen verfolgen zu können. Die Beharrlichkeit erfordert damit eine starke Zukunftsbezogenheit

zum Tode« ermöglicht, das als eine Art Bewusstsein für die eigene Endlichkeit verstanden werden kann. 73 So schreibt auch Paul Ricœur (1950/1966, 137, eig. Übers.): »Im Zögern bin ich Viele und so bin ich nicht«.

107 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Selbstbestimmung im Wollen und Handeln

der Person, die Fähigkeit, für einen Zukunftsentwurf Verantwortung übernehmen zu können, die jeweilige Gegenwart im Lichte der Zukunft zu sehen und daher kontinuierlich für diese zu arbeiten. Eine Person, die beharrlich ist, verfügt dabei sowohl über Frustrationstoleranz, aber auch über Geduld, Ausdauer und Hartnäckigkeit. Damit ermöglicht die Beharrlichkeit oftmals die Erfüllung des Willens und kann, wenn dieser authentisch ist, zur Selbstbestimmung der Person beitragen. Der norddeutsche Philosoph und Pädagoge Friedrich Paulsen hat eine Beschreibung für die Beharrlichkeit gefunden. Sie sei »die Kunst des Willens, Beschwerden und Anstrengungen aller Art, die zur Erreichung der eigenen Zwecke erforderlich sind, auf sich zu nehmen und anhaltend zu ertragen.« (Paulsen 1897, 24 f.)

Damit hat die Beharrlichkeit für die Persönlichkeitsentwicklung einen hohen Stellenwert, da sie es ermöglicht, sich über eine lange Zeitspanne einem Willensentwurf verpflichtet zu fühlen und sich für diesen zu engagieren. Wie bereits aufgezeigt wurde, ist es insbesondere die Zukunftsorientierung, die für die dynamische Doppelstruktur des Wollens und damit für das Engagement in der Zeit von vorrangiger Bedeutung ist. Eine solche langfristige Zukunftsorientierung ist aber nur einem Lebewesen möglich, das seine Versprechungen über die Dauer erfüllen kann, das heißt: dem Menschen 74 . So schreibt auch der französische Existenzphilosoph Gabriel Marcel : »Das Engagement ist also nur einem Wesen möglich, das sich nicht mit seiner Augenblickssituation verwechselt […] das sich demnach in seinem Werden gewissermaßen transzendent auffasst und das für sich bürgt.« (Marcel 1968, 45)

Selbstbestimmung ist also nur dem Menschen durch sein BeharrenKönnen auf den je eigenen Zukunftsentwürfen und die damit einhergehende Entfaltung der eigenen Tendenz möglich. Sind die eigenen Entwürfe jedoch unauthentisch, so kann die Beharrlichkeit auch zu einer stumpfsinnigen und sinnentleerten Tätigkeit führen, die Jaspers (1932/1973, 160) auch als »entleerten Rest des fleißigen, regelmäßigen, maschinenhaften Menschen« bezeichnet hat. Beharrlichkeit kann somit nie allein den Prozess der Selbstbestimmung ermög-

Nach Nietzsche (KSA V, 291) ist der Mensch deshalb auch das Lebewesen, »das versprechen darf.

74

108 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Zusammenfassung

lichen, sondern ist dabei immer auf den zuvor gewählten authentischen Willen angewiesen.

3.

Zusammenfassung

Die phänomenologische Strukturanalyse des Wollens und der Zeitlichkeit lässt einen Aspekt unbeachtet: nämlich, dass die Person sich durch ihr Wollen selbst bestimmen kann. Um auch diese Thematik zu beleuchten, wurde in diesem Kapitel die Willensanalyse um eine ethische Beschreibung des Ideals von Selbstbestimmung als Aspekt »gelingenden Lebens« erweitert. Dazu wurde zunächst begrifflich herausgearbeitet, dass es nicht um die durch Handlungsfreiheit mögliche Willkürentscheidung geht, sondern um die Wahl seiner selbst, die mit der Entfaltung einer eigenen Tendenz einhergeht. Im Anschluss an die Entwicklung eines Situationsbegriffes, der die bedingte Freiheit in den Mittelpunkt der Untersuchung genommen hat, und der Beschreibung einer besonderen Form von Situation, nämlich der des günstigen Augenblickes, der sogenannten Kairós-Situation, konnte nachvollzogen werden, wie Freiheit zur Selbstbestimmung in der bedingten Situation denkbar ist. Zumindest sieben verschiedene Momente des selbstbestimmten Wollens und Handelns konnten beschrieben werden, von denen in Momente der personalen Ebene und Momente der volitionalen Ebene unterschieden wurde. Auf der personalen Ebene finden sich die Momente der Authentizität, Selbsttranszendenz und Offenheit. Als Authentizität ist die Eigenschaft bezeichnet worden, sich durch die eigenen echten Bedürfnisse, Neigungen und Interessen leiten zu lassen. Mit Frankl (1946/ 2009) wurde als Selbsttranszendenz die Gerichtetheit der Person über sich selbst hinaus verstanden, bei der es gelingt, sich durch die Beschäftigung mit Dingen in der Welt auch selbst zu vergessen und weiterzuentwickeln. Offenheit ist dargestellt worden als die Fähigkeit, sich auf andere Menschen einlassen sowie neue Erfahrungen und Chancen ergreifen zu können. Auf der volitionalen Ebene sind verschiedene Fähigkeiten der Person in Hinblick auf das eigene Wollen dargestellt worden: Dazu gehören Intuition, Besonnenheit, Entschlossenheit und Beharrlichkeit. Als Intuition wurde dabei die Fähigkeit bezeichnet, Entscheidungen aus einem »Bauchgefühl« zu treffen, während als Besonnenheit galt, sich in Situationen von hoher Komplexität auf das Wesentliche 109 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Selbstbestimmung im Wollen und Handeln

zu konzentrieren und mit »klarem Verstand« zu handeln. Schließlich wurde die Entschlossenheit als eine Fähigkeit charakterisiert, sich in einer kurzen Zeitspanne und trotz eines Mangels an Wissen zu entscheiden, und mit Beharrlichkeit diesen einmal getroffenen Entschluss trotz Hindernisse über eine lange Zeitspanne umsetzen zu können.

110 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

D. Klinik: Phänomenologische Psychopathologie der Willensstörungen und Psychotherapie des Willens

Nachdem in der theoretischen Vorbetrachtung das Wollen als psychisches, zeitliches, situatives und emanzipatorisches Phänomen untersucht wurde und ein Begriffsinstrumentarium für verschiedene Willensphänomene entwickelt werden konnte, wird es nun darum gehen, die bisherigen Untersuchungsergebnisse auf die Klinik anzuwenden: Es soll zum einen eine Psychopathologie der Willensstörungen entwickelt und zum anderen aufgezeigt werden, inwiefern diese Erkenntnisse die Grundlage einer Psychotherapie des Willens bilden können. Aufgrund der guten Anwendbarkeit für die klinische Praxis soll die Unterscheidung der Strukturmomente Konation, Suspension und Volition, wie sie bei Fuchs (2016) zu finden ist, den theoretischer Hintergrund für die Beschreibung ausgewählter Willensstörungen (Kap. I–IV) bilden. Sodann wird die Beschreibung der Zeitlichkeit des Wollens als dynamischer Doppelstruktur mit einem charakteristischen Zukunftsbezug als Vorlage für eine Psychopathologie der Zukunftsbezogenheit dienen, wie sie im Kap. V entwickelt wird. Eine solche Psychopathologie der Zukunftsbezogenheit knüpft an die phänomenologischen Untersuchungen von Zeitpathologien u. a. von Eugène Minkowski (1933/1971a), Erwin Straus (1928/1963), Viktor von Gebsattel (1939/1963) und Ludwig Binswanger (1960) an, nutzt jedoch das breite Begriffsinstrumentarium aus der propädeutischen Vorarbeit für eine differenziertere Beschreibung der unterschiedlichen klinischen Phänomene. Abschließend wird es in Kap. VI darum gehen, eine Psychotherapie des Willens zu entwerfen, die einerseits die phänomenologische Strukturanalyse entlang von Momenten und Phasen und andererseits die ethische Beschreibung des selbstbestimmten Wollens und Handelns mitberücksichtigt. Eine solche Psychotherapie des Willens ermöglicht eine Anknüpfung an Überlegungen aus verschiedenen psychotherapeutischen Schulen und kann im Anschluss an die integrativen Ansätze von Roberto Assagioli (1982/2008) und Hilarion Petzold (2008) als ein Willens111 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Klinik: Phänomenologische Psychopathologie der Willensstörungen

training verstanden werden oder aber in der Tradition von psychodynamischen 75 und humanistischen Konzepten 76 als Emanzipationsprozess, der ein authentisches oder selbstbestimmtes Wollen zum Zweck hat. Zunächst zur phänomenologischen Psychopathologie der Willensstörungen (Kap. I–V): Willensstörungen stellten noch vor hundert Jahren in den Arbeiten von Eugen Bleuler (1916), Emil Kraepelin (1913) oder Karl Jaspers (1913/1965) ein bedeutendes psychopathologisches Konzept dar (Berrios & Gili 1995). Auch wenn Werner Janzarik (2004, 2008) zuletzt eine strukturdynamische Konzeption des Willens vorgelegt hat, in der die »Autopraxis« oder Selbsttätigkeit dynamisch befrachteter Strebungen in Wechselwirkung mit einem hemmenden »Desaktualisierungsvermögen« tritt, so blieb doch bislang eine eingehendere psychopathologische Konzeptualisierung oder gar Operationalisierung von Willensstörungen aus. Die nachfolgende Übersicht (s. Abb. 1) stellt dagegen einen Entwurf für ein psychopathologisch ausdifferenziertes Spektrum von Willensstörungen dar, die sich aus der zuvor entwickelten phänomenologischen Strukturanalyse ableiten lässt. Die psychopathologischen Untersuchungen in Kap. I–IV werden aus der Vielzahl struktureller Willensstörungen vier Störungsbilder als Beispiele herausgreifen und darstellen: die melancholische Abulie bzw. depressive Willenslosigkeit als Störung der Konation in Kap. I, die Impulskontrollstörungen und Zwangsstörungen als Störungen des Suspensionsvermögens in Kap. II–III und die pathologische Ambivalenz als Störung der Volition in Kap. IV. Die im Kap. I behandelte melancholische Abulie stellt eine Willensstörung mit Konationsverminderung dar, die sich somit durch eine Verarmung des Trieblebens, des Angetrieben-Werdens und Ausgerichtet-Seins auszeichnet und die insbesondere bei der schweren Depression beschrieben werden kann. Ebenso kann es bei der chronischen Schizophrenie zu Negativsymptomen wie Apathie, Anhedonie oder Abulie (Häfner & Nowotny 1995; Eggers & Bunk 1997) kommen, die der Klinik der depressiven Willenslosigkeit sehr ähneln. Es kann nicht die ganze Bandbreite psychodynamischer Autoren mit emanzipatorischem Ansatz aufgelistet werden, da die Emanzipation zumeist Zweck psychodynamischen Arbeitens ist. Exemplarisch aufzuführen wären u. a. die Arbeiten von Sigmund Freud (GW XI), von Donald Winnicott (1976/2008) oder in den letzten Jahren von Gerd Rudolf (2014). 76 Aus der humanistischen Psychotherapie wären als Autoren u. a. Viktor Frankl (1946/2009b), Carl Rogers (1977/2013) oder zuletzt Irvin Yalom (1989) zu nennen. 75

112 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Klinik: Phänomenologische Psychopathologie der Willensstörungen

Darüber hinaus kann ein Konationsverlust ebenfalls im Bereich neurologischer Erkrankungen im Falle von Schädigungen verschiedener Hirnregionen (v. a. Frontalhirn-, Basalganglien- oder Thalamusläsionen) auftreten (Mummenthaler 2008). Im Gegenzug dazu kann eine Steigerung der Konation bei manischen Episoden, z. B. im Rahmen einer bipolaren Affektiven Störung oder sowohl von stoffgebundenen als auch von – ungebundenen Abhängigkeits- und Suchterkrankungen beschrieben werden. Bei den letztgenannten Erkrankungen kommt es jedoch nicht wie bei der Manie zu einer generellen Antriebssteigerung, sondern zu einer Überhandnahme der einzelnen Triebregungen. Als typische Störungen des Suspensionsvermögens werden dann in den Kap. II–III die Impulskontrollstörungen und Zwangsstörungen untersucht. Impulskontrollstörungen kommen im gesamten Spektrum psychiatrisch-psychosomatischer Erkrankungen vor, u. a. bei Essstörungen wie der Bulimie (Johnson & Connors 1987; Vitousek & Manke 1994), bei Suchterkrankungen (Haller 2010) oder bei »abnormen Gewohnheiten« wie der Trichotillomanie oder Kleptomanie (Lammel et al. 2008). Daneben stellt die Impulskontrollproblematik ein wesentliches Merkmal bei strukturellen Defiziten der Persönlichkeitsstruktur wie dem Aufmerksamkeitsdefizit-HyperaktivitätsSyndrom (Groß et al. 2015) oder der antisozialen und emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung (Herpertz & Saß 1998; Herpertz 2001) dar. Eine solche Störung der Impulskontrolle und Affektregulation bei schweren Persönlichkeitsstörungen oder bei einem ausgeprägten ADHS kann neben genetischen Dispositionen auch entwicklungspsychopathologische Ursachen haben, wie z. B. das Fehlen eines wertschätzenden und begrenzenden Gegenübers als Identifikationsmöglichkeit. Ebenfalls durch einen Mangel an Suspensionsvermögen gekennzeichnet sind Zwangsstörungen (»obsessive-compulsive disorders«), in deren Folge es den Patienten nicht gelingt, habitualisierte Gedanken oder Handlungsimpulse, die zumeist mit der Verarbeitung von Angstsymptomen im Zusammenhang stehen, zu hemmen. Anders als bei den Persönlichkeitsstörungen werden diese Handlungsimpulse aber als unsinnig oder gar verrückt erlebt, d. h. als »ich-dyston« (Frosch & Wortis 1954). In der Schizophrenie schließlich kann es sogar zum Erleben einer Fremdbeeinflussung des Willens kommen, sodass Gedanken und Handlungen gar nicht mehr der eigenen Urheberschaft (»agency«) zugeschrieben werden können (Scharfetter 1976/2010). Andererseits kann wiederum auch eine 113 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Klinik: Phänomenologische Psychopathologie der Willensstörungen

übermäßige Hemmung in schizophrenen Bannungszuständen erscheinen, die sich bis zum katatonen Stupor steigern kann. Abschließend wird als typische Störung der Volition, d. h. der Willensbildung und -umsetzung, in Kap. IV die pathologische Ambivalenz dargestellt. Seit Bleuler (1911) wird damit ein Zustand bezeichnet, in dem gegensätzliche Handlungstendenzen unvermittelt nebeneinander bestehen, ohne dass eine Entscheidung herbeigeführt werden kann. Diese bewusst erlebte Ambivalenz ist dabei vom Begriff eines unbewussten Ambivalenzkonfliktes zu unterscheiden, wie er seit Freud (u. a. GW XI) in der psychodynamischen Erklärung von Konfliktpathologien Anwendung findet. Prinzipiell kann eine bewusste Ambivalenz zwar auch förderlich sein, um etwa ungewollte Konsequenzen einer andernfalls vorschnellen Entscheidung zu berücksichtigen. Pathologische Formen der Ambivalenz, die sich in quälender Handlungsverzögerung oder sogar -unfähigkeit äußern, treten insbesondere bei der Schizophrenie (Benedetti 1983) oder bei neurotischen Konflikten auf. Willensstörungen können sich auf der Ebene der Volition darüber hinaus als kognitive Beeinträchtigungen wie z. B. bei der Alzheimer-Demenz oder als Intentionalitätsstörungen wie beim »dysexekutiven Syndrom« darstellen, das bei Schädigung des dorsofrontalen Kortex (Damasio 1995/2004) auftritt. Die hier vorgestellten Kasuistiken entstammen dabei der psychopathologischen Literatur und klinischen Interviews, die in den Jahren 2012–2015 mit Patienten der Allgemeinen Psychiatrie Heidelberg durchgeführt wurden. Sie ermöglichen einen Einblick in das Erleben der betroffenen Patienten und stellen damit das methodische Fundament einer phänomenologischen Psychopathologie der verschiedenen Willensstörungen dar.

114 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Klinik: Phänomenologische Psychopathologie der Willensstörungen

Abb. 1: Die wesentlichen Willensstörungen anhand der drei Strukturmomente Strukturmoment

Art der Willensstörung

Konation

Mangel • Melancholische Abulie bei der schweren Depression oder der chronischen Schizophrenie • Neurologische Erkrankungen wie Hirnschädigungen im Bereich des Frontalhirns, der Basalganglien oder des Thalamus Übermaß • Manische Episode bei einer bipolaren Störung • Abhängigkeits- und Suchterkrankungen

Suspension

Mangel • Impulskontrollstörungen (z. B. beim ADHS, beim Raptus catatonicus oder melancholicus, bei Essstörungen, bei der antisozialen und Borderline-Persönlichkeitsstörung) • Zwangsstörungen als intrusive Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen Übermaß • Schizophrene Bannungszuständen bis hin zum katatonen Stupor • Hirnschädigung im Bereich des orbitofrontalen Cortex

Volition

• Ambivalenz (schizophren, depressiv, neurotisch) • Kognitive Störungen mit Beeinträchtigung der Reflexionsfähigkeit und Situationsübersicht (z. B. Demenz) • Intentionalitätsstörungen (»Dysexekutives Syndrom«) • »Willensschwäche« (z. B. durch Erledigungsblockade oder Aufschieben bei der Prokrastination)

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I. Die melancholische Abulie

Meine Erlebniswelt verdorrte und verkümmerte […] meine Welt war zusammengeschrumpft auf das Bett zum Schlafen, auf die Liege. 77 Frau H. (Kasuistik 1): Die 66-jährige Patientin Frau H. leidet seit vier Jahren an schweren depressiven Episoden mit Suizidgedanken. Die Patientin lebt als gebürtige Südamerikanerin seit ihrer Jugend in Deutschland. Vor ihrer Erkrankung arbeitete sie als Lektorin und Lehrerin für Fremdsprachen an verschiedenen Sprachinstituten. Die depressiven Episoden bringt sie in Zusammenhang mit Ausgrenzungserfahrungen und der Kündigung durch den Arbeitgeber. Seitdem liegt die Patientin tagsüber zumeist im Bett oder sitzt teilnahmslos in der Gegend. Dabei klagt sie über Antriebs- und Lustlosigkeit: »Ich habe überhaupt keinen Antrieb mehr. Ich habe keine Lust mehr, irgendwas zutun, ich will nur noch rumliegen. Ich stehe auf, ich dusche mich, ansonsten mache ich nichts mehr.« Früher sei sie dagegen ein richtiger Wirbelwind gewesen. Ebenso sei der Wille verschwunden: »Ich habe keinen Willen mehr, ich bin unfähig, auch nur die geringste Entscheidung zu treffen.« Unangenehme Entscheidungen schiebe sie vor sich her, sodass sich die »Sachen« ansammeln würden. Sie sträube sich dagegen, Verpflichtungen einzugehen. Selbst Einkäufe oder kleine Spaziergänge seien für sie eine Qual. Auch ihre Interessen seien verloren gegangen: »Früher bin ich eine richtige Leseratte gewesen, heute schaffe ich es dagegen nicht, eine Seite zu lesen.« Von 66 Lebensjahren habe sie 50 Jahre Ballett getanzt. Seit dem Einbruch der Erkrankung habe sie auch daran keine Freude mehr, es sei ihr alles gleichgültig geworden. Auch das Essen schmecke ihr fad und sie könne es nicht richtig genießen. Der Alltag erscheine ihr insgesamt als monoton und qualvoll.

Unter einer Abulie (ἀβουλία, griechisch: Willenlosigkeit) wird jenes psychopathologische Phänomen verstanden, das dem Patienten aufgrund einer konativ-affektiven Störung unmöglich werden lässt, Entscheidungen zu treffen und sich zum Handeln zu motivieren. Damit 77

Piet Kuiper (1991, 80)

116 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die melancholische Abulie

unterscheidet sich die Abulie von der als Akrasie (ἀκρασία, griechisch: Willensschwäche) bezeichneten Labilität des Wollens, in deren Folge der Patient zwar in der Lage ist, einen Willen auszubilden, diesen jedoch aufgrund von subjektiv empfundenen Widrigkeiten oder attraktiveren Zielen kurz- oder langfristig nicht umzusetzen vermag. Emil Kraepelin beschreibt in seinem Werk Psychiatrie das Erleben in abulischen Zuständen wie folgt: »Solche Kranken […] erkennen die Nothwendigkeit dieser oder jener Handlung auf das Klarste, aber sie können dieselbe nicht ausführen, weil sie ›nicht wollen können‹.« (Kraepelin 1887, 122)

Die Abulie als Nicht-wollen-Können, also als verminderte Fähigkeit zur Willensbildung und -umsetzung, kann bei verschiedenen neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen beschrieben werden: Sie tritt nicht nur bei schweren Depressionen auf, sondern auch bei verschiedenen Hirnschädigungen (etwa bei Läsionen der Basalganglien, des Thalamus oder des Frontalhirns; Mummenthaler 2008) oder in der Folge einer Negativsymptomatik bei der chronischen Schizophrenie (Häfner & Nowotny 1995; Eggers & Bunk 1997). Phänomenologisch ist die Abulie jedoch nicht nur als ein Symptom einer bestimmten Erkrankung zu verstehen, sondern als eine grundlegende Abwandlung des menschlichen In-der-Welt-Seins (Heidegger 1927/2006), die sowohl zu einer Verarmung des Weltals auch des Selbsterlebens führt (Binswanger 1932/1994; Tellenbach 1987). Insbesondere die bei schweren depressiven Episoden vorkommende Abulie, die hier im Anschluss an die Arbeiten der anthropologischen Psychiatrie als melancholische 78 Abulie bezeichnet werden soll, eignet sich gut zur Untersuchung einer konativen Störung des Wollens. Diese macht sich nämlich sowohl in einer verminderten Ansprechbarkeit durch die »Außenwelt« als auch in einem Ausbleiben von eigenen Antrieben, Bedürfnissen und Interessen bemerkbar. Da Welt- und Selbstpol des menschlichen Daseins gleichursprünglich miteinander verwoben sind, verweisen diese auch in der Krankheit aufeinander. Insofern wird verständlich, was Tellenbach (1987, 20)

Die schwere Depression wurde bis Ende des 19. Jahrhunderts als »Melancholie« bezeichnet. Daran knüpft auch die anthropologische Psychiatrie an, u. a. bei Binswanger (1932/1994) oder Tellenbach (1987). Vgl. dazu (Schmidt-Degenhard 1983). In den aktuellen Diagnosemanualen DSM-V und ICD-10 wird der Begriff dagegen nur noch als »melancholischer Subtyp« der Depression gebraucht.

78

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Die melancholische Abulie

meint, wenn er schreibt, dass »die innere Verarmung zur Leere und die Verarmung der Welt zur Leere korrespondieren.« Im Folgenden wird zunächst das Welterleben (1.) und dann das Selbsterleben (2.) in abulischen Zuständen bei schweren Depressionen beschrieben, um im Anschluss beide miteinander in ihrem Zusammenhang darzustellen (3.).

1.

Welterleben in der schweren Depression

In seinen Analysen in Sein und Zeit beschreibt Heidegger die Stimmung als einen Grundmodus des menschlichen Daseins, der das »Inder-Welt-sein als Ganzes« erschließt und ein »Sichrichten auf« möglich macht (Heidegger 1927/2006, 137). Der Bezug zur Welt wird demnach allererst durch Stimmungen ermöglicht. In depressiven Episoden befindet sich der Patient auch in einer bestimmten Stimmung – nämlich einer Verstimmung, die Stimmung wird in diesem Fall als »gedrückt« oder »gereizt« beschrieben. In schweren Fällen weicht auch diese negative Stimmung, sodass es dem Patienten nicht mehr möglich ist, überhaupt eine bestimmte Stimmung zu erleben, sodass die Welt insgesamt als monoton, farblos, trostlos und unbelebt wahrgenommen wird. Ein solcher Mangel an Stimmung wurde in phänomenologischen Untersuchungen auch als »Ent-stimmung« bezeichnet (Micali 2013, 2014). Da die eigene Welt normalerweise als gestimmt erlebt wird, wirkt sich folglich auch die Verstimmung und Entstimmung in depressiven Episoden auf das Welterleben aus. Kraepelin bietet folgende Beschreibung des Welterlebens eines depressiven Patienten an: »Die Welt ist ihm eine andere geworden als früher, nicht nach ihrem äußeren Scheine […] aber nach ihrem Wesen; es ist alles todt für ihn und ohne inneres Leben.« (Kraepelin 1887, 214)

In der schweren Depression wird die Welt als sinnentleert und leblos erlebt, die Patienten fühlen sich, einer Formulierung von Jaspers folgend, wie »tot mit wachem Auge« (Jaspers 1913/1965, 93). Die eigene Welt hat ihren Anmutungs- und Aufforderungscharakter verloren, sie ist ärmer geworden an Qualität und Intensität. Schwer depressive Patienten beschreiben, dass sie durch nichts mehr angesprochen werden, es ist ihnen als hätte sich ein Grauschleier auf alles gelegt, als sei vom vorhergehenden Leben nur noch eine »Schein- und Schatten118 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Welterleben in der schweren Depression

welt« (Griesinger 1876, 229) übrig geblieben. Hubertus Tellenbachs Patient M.B.K. verglich dieses Gefühl damit, ein »letztes dürres umhergetriebenes Blatt in einer herbstlich erstorbenen Welt« zu sein (Tellenbach 1987, 28). Das Erleben der Welt als trist, öde, monoton und sinnentleert geht zudem mit einer Verengung der alltäglichen Lebenswelt einher, die mit einem Verlust an Offenheit und Weite des »psychischen Feldes« korrespondiert. In daseinsanalytischen Begrifflichkeiten beschrieb Medard Boss (1975, 476) diesen Resonanzverlust als Verlust der »Offenständigkeit und Ansprechbarkeit für Anwesendes«; im Vokabular des strukturdynamischen Ansatzes wurde diese Verengung als »dynamische Restriktion« (Janzarik 1988, 105 f.) bezeichnet. Einen Eindruck von der depressiven Weltverarmung vermittelt auch die Schilderung des selbst betroffenen Psychiaters Piet Kuiper in seinem autobiographischen Buch Seelenfinsternis: »Doch der Strahlenkranz von Geschichten und Phantasien um die Dinge verblich, meine Assoziationen wurden ärmer, und so verloren die Dinge ihren »Mehrwert«. Das Bewusstsein, das wie ein Strom sein kann, in den Bäche münden und der sich wieder verzweigt, wurde zu einem armseligen Rinnsal. Meine Erlebniswelt verdorrte und verkümmerte […] meine Welt war zusammengeschrumpft auf das Bett zum Schlafen, auf die Liege.« (Kuiper 1991, 80)

Diese Verengung der alltäglichen Lebenswelt und des »psychischen Feldes« auf das Nötigste geht umgekehrt auch mit der Unfähigkeit einher, Situationen selbst zu gestalten. Tellenbach beschreibt in seinen phänomenologischen Analysen zum Raum des täglichen Lebensvollzugs, dass in der Depression ein Unvermögen auszumachen sei, »den Raum zu leben« (Tellenbach 1987, 39). So können depressive Patienten den Eindruck haben, dass eine Kluft zwischen ihnen und der Welt besteht, da sich keine Beziehung mehr zu den Dingen herstellen lässt. Die Dinge werden als weit weg erlebt, sie »rücken […] geradezu aus ›dem Raum‹ heraus und in unerreichbare Ferne« (Binswanger 1960, 35). Eindringlich beschreibt der Patient A.D., wie sich dieses Gefühl auch im Kontakt mit anderen Menschen abzeichnet: »Es war, als ob meine Seele oder mein Herz so weit weg wäre. Ich hatte den Eindruck, dass im Moment des Risses jede innere Verbindung zwischen mir und den anderen Menschen abgebrochen war. Ich konnte die anderen nicht verstehen und die anderen konnten mich nicht verstehen.« (Tellenbach 1987, 15)

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Die melancholische Abulie

2.

Selbsterleben in der schweren Depression

Die beschriebene Verarmung und Verengung des Welterlebens korrespondiert in der melancholischen Abulie mit einer Verarmung der eigenen Konationen, sodass im In-der-Welt-sein schwer depressiver Patienten die Leere des Welterlebens nicht mehr von der Daseinsleere zu trennen ist (Binswanger 1932/1994, 149; Tellenbach 1987, 20). Diese Verarmung von »Außenwelt« und konativ-affektiver »Innenwelt« des Patienten ist dementsprechend als gleichursprünglich zu bezeichnen. Dieser konative Aspekt der »Innenwelt« wurde, ausgehend von einem Schichtenmodell 79 , in – entlang ihrer Komplexität aufsteigend – konative Ebenen differenziert: zunächst eine Ebene des allgemeinen Antriebs und Lebensdrangs, sodann eine Ebene der leiblich-vitalen (z. B. Sexualtrieb), der seelisch-emotionalen (z. B. Machttrieb) und schließlich der geistig-kulturellen Bedürfnisse (z. B. spirituelles Bedürfnis). 80 Die konative Verarmung findet nun zugleich auf allen Ebenen statt, macht sich aber zunächst auf den höheren Ebenen bemerkbar: Zuerst ist also ein Rückgang geistiger Bedürfnisse zu beobachten, durch den die betroffenen Patienten z. B. weniger Kulturveranstaltungen besuchen oder eigenen Interessen nachgehen, während leibliche Bedürfnisse, wie z. B. der Hungertrieb, zwar ebenfalls zurückgehen, jedoch erst bei fortgeschrittener Erkrankung vollständig ausbleiben, bis schließlich zuletzt der eigene Antrieb derart gemindert ist, dass es nicht einmal mehr möglich erscheint, das Bett zu verlassen.

a)

Verlust geistig-kultureller Bedürfnisse

Im Laufe des Lebens entwickelt jeder Mensch Vorlieben und Interessen, die einer komplexen Konstellation geistig-kultureller Bedürfnisse entspringen. Im Gegensatz zu überlebenswichtigen biologischen Bedürfnissen wie dem Hunger- oder Sexualtrieb fallen solche Präferenzen individuell sehr unterschiedlich aus. In der fortschreitenden Depression wird zumeist als erstes ein Verlust gerade solcher aus geistigen Bedürfnissen entspringender Vorlieben und Interessen beWie dies etwa von N. Hartmann (1941,1949) entwickelt wurde. In der Psychologie und Psychopathologie wurden ähnliche Schichtenmodelle bspw. auch von Maslow (1981/2010) und Jaspers (1913/1965, 265 f.) beschrieben

79 80

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Selbsterleben in der schweren Depression

klagt. Bereits Kraepelin beschrieb den Verlust geistig-kultureller Bedürfnisse bei depressiven Patienten: »Theater, Concerte, Geselligkeit, Vergnügungen, die bis dahin mit Eifer cultiviert worden waren, lassen ihn kalt oder ekeln ihn sogar an; die Arbeit, das Geschäft, der Beruf, der seine Freude war, erscheint dem Kranken jetzt fade und trostlos […] Er weiß und fühlt, dass es in ihm öde und leer geworden ist, dass er sein Interesse und seine gemüthliche Regsamkeit verloren hat.« (Kraepelin 1887, 214)

Deutlich wird dies auch im Falle der in der einführenden Kasuistik vorgestellten Frau H., die bis zu ihrer depressiven Erkrankung über 50 Jahre lang leidenschaftliche Balletttänzerin war, dann aber unvermittelt das Tanzen aufgab. Auch andere Patienten beschreiben den Verlust bisher für ihr eigenes Leben bedeutsamer Interessen und Vorlieben durch die Depression: Frau G.: Also ich habe früher so viel Musik gemacht – Klarinette und Gitarre gespielt. Aber in der Depression fehlt mir einfach die Kraft und Energie dazu. Auch habe ich viel Sport gemacht – war oft Spazieren oder bin Schwimmen gewesen. Heute interessiert mich das alles nicht mehr. Herr H.: Sport war mein Leben. Habe immer Skispringen, Handball oder Fußball im Fernsehen verfolgt. Dann habe ich selbst viel Sport gemacht und war lange Jahre Fußball-Trainer in unserem Dorf. Irgendwie ist mir die Begeisterung dafür verloren gegangen. Herr V.: Ich bin immer gern zur Akademie für Ältere gegangen und habe da Kurse belegt. Als dann die Depression begann, habe ich es aufgegeben, ich konnte mir ja doch nichts mehr merken und ich schämte mich vor den ganzen Menschen.

Oftmals ist Interesselosigkeit ein erstes Anzeichen einer depressiven Erkrankung, was sich dann darin äußert, dass die Patienten ihre Begeisterung für eine bisher langverfolgte Passion verlieren, sei diese im kulturellen, musikalischen, sportlichen oder intellektuellen Bereich. Selbst bei vielfältig interessierten Menschen wie Piet Kuiper bleibt es nicht aus, dass sie in der Depression auch ein bis dahin sehr stark ausgeprägtes Erkenntnisinteresse an der Welt verlieren können: »Nimmt man erst einmal sein tägliches Leben auf, dann geschieht immer etwas, das einen stimuliert. Während des Spazierganges mit den Hunden sieht man eine seltsame Pflanze, über die man etwas wissen will, oder man sieht ein Gewächs, das man kennt, das aber anders aussieht als sonst, und man will wissen, warum das so ist […] Damit war es für mich vorbei. Ich schlug nichts mehr nach, mein Kopf war nicht mehr in Ordnung. Ich be-

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Die melancholische Abulie

stellte kein Buch mehr, ich dachte, ich begriff es ja doch nicht mehr.« (Kuiper 1991, 84 f.)

Eine solche Verarmung geistiger Bedürfnisse stellt für eine Person, die zuvor über ein breites Interessenspektrum verfügte und eine starke Neugierde besaß, eine erhebliche Einengung der eigenen Lebenswelt dar und somit können die Betroffenen bereits in diesen frühen Stadien der Erkrankung von Angehörigen als wesensverändert wahrgenommen werden.

b)

Verlust seelisch-emotionaler und leiblich-vitaler Bedürfnisse

Eugen Bleuler schrieb über den zunehmenden Verlust von Bedürfnissen und Trieben in der Depression: »Die zentrifugalen Funktionen liegen sehr stark darnieder« (Bleuler 1916, 353). 81 In depressiven Episoden fühlen die Patienten nicht mehr jene Strebung, die sie, metaphorisch gesprochen, »nach außen« zieht, sodass umgekehrt die Tendenz vorherrschend ist, sich nach außen abzuschotten und in sich selbst zurückzuziehen. Wenn also depressive Patienten kein Bedürfnis verspüren und keinen Lustgewinn mehr daran haben, unter anderen Menschen zu sein, kann dies als ein erstes Zeichen für die Verarmung des Spektrums seelisch-emotionaler Bedürfnisse verstanden werden. Unter seelisch-emotionalen Bedürfnissen können Bedürfnisse verstanden werden, die auf einen Gefühlszustand abzielen und zumeist in zwischenmenschlichen Beziehungen hervorgerufen und erfüllt werden können. Solche Bedürfnisse wurden vom Psychiater Kurt Schneider (1950/1987, 78) auch als Triebe des Herzens bezeichnet und umfassen etwa soziale Bedürfnisse nach Geselligkeit, Anerkennung, Zuneigung, Verantwortung, Sicherheit, Pflichterfüllung, Machtausübung und Einflussnahme. Der Verlust dieser seelischemotionalen Bedürfnisse wird von Betroffenen und Angehörigen als einschneidend erlebt und führt oft zum sozialen Rückzug und zum Abbruch zwischenmenschlicher Beziehungen Frau G.: Wir haben ja immer gern Gäste gehabt, mein Mann und ich. Aber in der Depression habe ich sehr zurückgezogen gelebt und das hat meinen

Als Zentrifugalkraft wird in der Physik die Fliehkraft bezeichnet, welche bei der kreisförmigen Drehung eines Gegenstandes um eine feste Achse auftritt und diesen wie den Sitz bei der Fahrt im Kettenkarussell nach außen zieht.

81

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Selbsterleben in der schweren Depression

Mann schon sehr stark bedrückt. In den Zeiten habe ich es einfach nicht verkraftet. Herr Vo.: Ich habe mich eingeigelt so gut es ging. Auch wenn ich was zu erledigen hatte, dann habe ich das früh morgens erledigt. Zu Hause habe ich mich immer wohler gefühlt als wenn ich unterwegs war. Herr V. : Ich war wie ein anderer Mensch, habe alle Kontakte eingestellt. Ich habe früher Veranstaltungen bei einer Akademie besucht. Und als dann so was Schlimmes kam, dann bin ich nicht mehr zur Akademie gegangen und habe keine Kontakte zu Mitmenschen mehr gehabt. Frau Z. : Über die Jahre habe ich mich immer mehr zurückgezogen: Ich bin dann gar nicht mehr weggegangen bis zu dem Extrem kurz vor der Klinik, wo ich die Wohnung auch nicht mehr verlassen konnte. Also irgendwann auch nicht mehr bis in die Waschküche runter, weil ich hätte gar niemanden mehr begegnen können.

Eine solche typische Einengung der Lebenswelt mit Rückzug aus der Öffentlichkeit wurde von Tellenbach auch als Inkludenz bezeichnet (Tellenbach 1961/1976, 124 ff.). Mit Fortschreiten der depressiven Erkrankung sind aber zunehmend auch grundlegendere Bedürfnisse betroffen, die für das rein körperliche Überleben notwendig sind. Solche Bedürfnisse, die durch ihre evolutionäre oder biologische Dringlichkeit gekennzeichnet sind, wie etwa Hunger, Durst, Atemantrieb, Defäkations- und Schlafbedürfnis oder Sexualtrieb werden hier als leiblich-vitale Bedürfnisse bezeichnet. In der schweren Depression sind auch diese für das physische Wohlbefinden wichtigen Bedürfnisse geringer ausgeprägt, so ist das Schlafbedürfnis oftmals auf ein Minimum reduziert, was die Patienten sowohl über Einschlaf- als auch über Durchschlafstörungen klagen lässt und zugleich den SchlafWach-Rhythmus außer Kraft setzt. Vor allem aber sind Hungerund Sexualtrieb durch die Erkrankung stark vermindert, was dazu führt, dass die Mahlzeiten von vielen depressiven Patienten als fade und geschmacklos erlebt werden, der Appetit deutlich verringert ist und nur aus Pflichtgefühl oder auf Drängen der Angehörigen und des Pflegepersonals gegessen wird. Frau H.: Essen, wozu essen? Es schmeckt doch eh alles gleich. Wenn man mir Pappe geben würde, wäre das kein Unterschied für mich. Das ist doch kein Zustand!

Auch libidinöse Bedürfnisse spielen kaum mehr eine Rolle im Leben der depressiven Patienten: Die sexuelle Attraktivität des Partners wird nicht mehr erlebt, was die Partnerschaft zusätzlich stark belasten

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kann und dann oft zu schweren Schuldgefühlen und einem verminderten Selbstwertgefühl der Betroffenen führt. Frau Z. : Sexualität war während der depressiven Phasen kein Thema mehr. Es war leider keine Frage des Wollens sondern des Könnens. Darunter hatte natürlich mein Freund zu leiden, aber er hat versucht, mich zu verstehen.

Ein solcher Verlust von vitalen Grundbedürfnissen mit Symptomen wie Libidoverlust, frühmorgendlichem Erwachen, deutlichem Appetit- und Gewichtsverlust wird in der Literatur auch als Depression mit »somatischem Syndrom« oder »melancholischer Subtyp« der Depression beschrieben (Lieb & Frauenknecht 2009, 162). Während ein »somatisches Syndrom« bei leichten und mittleren depressiven Episoden nur bei einigen Patienten auftritt, wird dieses bei schweren Episoden immer beschrieben.

c)

Verlust von Antrieb und Lebensdrang

Mit der zunehmenden Verarmung der Bedürfnisse geht auch eine Verminderung des Antriebs einher. Als Antrieb wird das psychologische Konstrukt einer dynamisch-vitalen Grundenergie bezeichnet, die ihren Ausdruck in der Lebendigkeit und Tätigkeit der Person findet (Scharfetter 1976/2010, 261). 82 Während bei leichten und mittleren depressiven Episoden zunächst eine Verarmung des Antriebs oder Lebensdrangs zu beobachten ist, kommt es im Verlauf von schweren depressiven Episoden zu einer vollständigen Antriebslosigkeit. In solchen Zuständen ohne jegliche Lebenskraft verliert der Patient das basale Gefühl des »Ich kann oder könnte« (Husserl Hua I, S. 105), das jedes Wollen begleitet, wodurch sich der Patient nicht mehr in der Lage sieht, sich auf den eigenen Leib zu verlassen, sodass sich ein »Gefühl der Insuffizienz« (Jaspers 1913/1965, 210) und Ohnmacht ausbreitet. Viktor von Gebsattel vertritt sogar die Auffassung, dass es keine Depression ohne ein solches Insuffizienzgefühl gäbe und dass dieses Gefühl sich auf alle Lebensbereiche auswirke: »Es gibt doch buchstäblich nichts, wovon der Depressive gegebenfalls behauptet, dass er es nicht könne [sic]. Er kann nicht leben und nicht arbeiten, In der Lebensphilosophie wurde ein solcher Antrieb auch als Lebensdrang oder élan vital (Bergson 1907/1927) bezeichnet.

82

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Selbsterleben in der schweren Depression

aber auch nicht defäzieren oder urinieren, nicht essen, nicht atmen, nicht sehen, nicht riechen, nicht sich anziehen und ausziehen, nicht aufstehen und nicht ins Bett gehen, nicht verstehen, nicht denken, nicht sich entschließen usw.« (von Gebsattel 1939/1963, 363)

Antriebslosigkeit und das Gefühl des Nichtkönnens führen schließlich dazu, dass die Patienten den ganzen Tag im Bett liegen bleiben, ohne den Elan zu entwickeln, etwas anderes zu tun. Es kann dabei eine regelrechte »Bettsucht« entstehen (Kraepelin 1887, 219). Da die Lebenskraft ausbleibt, die uns für gewöhnlich den Alltag ermöglicht, erfordert jede Aktivität in dieser Phase der Erkrankung eine besondere Überwindung, wird jede kleine Entscheidung aufgeschoben, kommt es zu keinem Willensentschluss mehr, bis der Patient das Vollbild einer melancholischen Abulie aufweist. Frau G.: Ich war immer erschöpft, müde, lustlos. Ich habe am liebsten nur noch auf der Couch gelegen, Vorhänge zu, bin nicht mehr ans Telefon, nicht mehr an die Haustür gegangen. Die Depression ist dann irgendwann einfach zu stark gewesen. Herr V. : Ich habe alles liegen gelassen und keine Briefe mehr beantwortet. Und dann bin ich um 7 ins Bett und habe die Vorhänge zugemacht. Ich hatte keinen Antrieb mehr. Ich bin tagelang im Bett geblieben, nicht mehr aufgestanden und nur raus, um zu essen. Frau G.: Ich wollte nur im Bett sein. Ich wollte von niemandem was. Alle sollten mich in Ruhe lassen […] Ich habe alles so schleifen lassen. Nichts machen, alles schleifen lassen, ist typisch. Hab auch nichts eingekauft, hat mich überhaupt nicht interessiert. Am liebsten sollten mich alle in Ruhe lassen. Herr H.: Man hat sich verkrochen. Mir fiel alles schwerer. Meine Familie meinte damals – Du hast Dich verändert. Bei alltäglichen Handlungen bin ich ins Stocken geraten, habe alles verschoben. Man hat den Drang zu allem verloren.

In schweren depressiven Episoden kann neben der Antriebslosigkeit noch die Antriebshemmung hinzukommen. Ein solches Phänomen beschreibt auch Kuiper in seinem Buch Seelenfinsternis: »Da man zu absolut nichts Lust hat, kommt man auch zu nichts, und dazu tritt ein Symptom auf, das man als »Hemmung« bezeichnet. Auch wenn man etwas tun will, man kann es nicht. Es ist, als ob man von einer unsichtbaren Kraft davon zurückgehalten wird.« (Kuiper 1991, 22)

Als Antriebshemmung wird ein psychopathologisches Phänomen bezeichnet, bei dem der Patient sich trotz depressiver Antriebsverarmung noch zum Handeln entschließen kann, sich bei der Umset125 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die melancholische Abulie

zung jedoch gehemmt fühlt. Im Gegensatz zur Antriebslosigkeit, bei der keine Handlungsmotivation vorhanden ist, besteht im Falle der Antriebshemmung eine Motivation, die allerdings nicht ausreicht, um das Handeln zu vollziehen, sodass »das Erleben von Gebremstwerden und innerem Widerstand« (Payk 2002/2010, 179) bestimmend ist. Auch Tellenbachs Patientinnen (Tellenbach 1961/1976, 151 ff.) schildern eine solche Antriebshemmung . Caroline, Fall 16: Man fühlt sich immer umgedreht und will doch nicht mitmachen […] Ich sage mir: Du musst etwas tun; aber während ich es sage, setze ich mich trotzdem auf den nächsten Stuhl und starre vor mich hin. Sowie ich allein war, mache ich es so, und dabei spürte ich, wie dieses Hin und Her zwischen Wollen und Nichtwollen an meinen Nerven riss. Maria B., Fall 37: Wenn ich die Arbeit machen will, so ist etwas in mir, was dagegen schafft. Vorher ging alles Hand in Hand, da hatte ich eins ins andere einkalkuliert. Ich wälze mich nachts und grüble über das, was ich kochen soll am nächsten Tag und was für Arbeiten ich tun müsste. Oft stehe ich morgens ganz gut auf und will mit einigem Mut an die Arbeit; aber dann geht es einfach nicht.

Das hier bestehende Gefühl, dass sich der eigene Körper dem Willen entgegenstellt und keine Anstrengung zur Umsetzung ausreicht, lässt die Hemmung als besonders qualvoll erleben. Das Phänomen, dass der eigene Leib nicht mehr das natürliche, transparente Medium des Zur-Welt-seins (Merleau-Ponty 1945/1974, 103) darstellt, sondern sich der eigenen Verfügbarkeit entzieht, wurde von Fuchs (2005) auch als »Korporeifizierung« bezeichnet. Depressive Antriebshemmung und Korporeifizierung kommen auch in den nachfolgenden Schilderungen zum Ausdruck. Frau Z. : Das war ein Gefühl: dieses Nicht-hochkommen morgens – das war als hätte ich Blei in den Adern. Es war schon ein Erfolg in die Vertikale zu kommen. Frau G.: Es ist quälend, weil ich ja im Grunde weiß, was ich kann, aber es dann doch nicht schaffe. Es ist so, als wären mir in der Depression Fesseln angelegt. Herr H.: Es gibt dann immer einen Verhinderer, der sich gegen mich stellt. Ich will etwas tun, kann es aber nicht tun.

Im Zuge der Antriebshemmung können die Patienten folglich das Gefühl entwickeln, als arbeite der Körper gegen sie und versperre ihnen den natürlichen Lebensvollzug: gerade so, als hätten sie »Zentnergewichte auf den Schultern«, »Blei in den Adern« oder als seien ihnen »Fesseln angelegt«. Damit ist dann die Spontaneität des natür126 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Zusammenfassung

lichen Lebensvollzugs für den Patienten insgesamt außer Kraft gesetzt, was wiederum die Hoffnungslosigkeit des Patienten verstärken kann, da auch bei Ausbildung eines eigenen Willens dieser ja nicht umzusetzen ist.

3.

Zusammenfassung

In Zuständen von schwerer Depression kann eine völlige Verarmung des Welt- und Selbsterlebens beschrieben werden (Binswanger 1932/ 1994; Tellenbach 1961/1976). Die Verarmung des Welterlebens kann von der Verstimmung bis hin zur Entstimmung (Micali 2013, 2014) reichen, wodurch die eigene Welt als trist, monoton, öde und sinnentleert erlebt wird. Dies führt zu einem Selbstempfinden des Patienten, dass er »tot mit wachem Auge« (Jaspers 1913/1965, 93) sei: Er hat seine emotionale Ansprechbarkeit verloren, ist nicht mehr offen für Begegnendes, gestaltet seinen Alltag nicht mehr aktiv und zieht sich immer weiter aus dem öffentlichen Leben zurück. Diese Begrenzung und Verengung der Lebenswelt wurde von Tellenbach (1961/ 1976, 124 ff.) auch als Inkludenz bezeichnet. Mit dieser Verarmung des Welterlebens und der Verengung der Lebenswelt geht auch ein Verlust der Konationen einher. Dabei sind zunächst geistig-kulturelle Bedürfnisse betroffen, wodurch entsprechende Interessen im kulturellen, musikalischen, sportlichen und intellektuellen Bereich aufgegeben werden. Im weiteren Verlauf kommt es zu einem Verlust seelisch-emotionaler Bedürfnisse, weshalb sich Patienten verstärkt von zwischenmenschlichen Beziehungen zurückziehen. Mit dem »somatischen Syndrom« wird anschließend auch ein Verlust leiblich-vitaler Bedürfnisse erkennbar: Das Schlafbedürfnis verringert sich, der Appetit ist vermindert und libidinöse Bedürfnisse treten kaum noch auf. Zuletzt kann dies in völlige Antriebslosigkeit, einem »Gefühl der Insuffizienz« (Jaspers 1913/1965, 93) einmünden, verbunden mit einer Antriebshemmung, in deren Folge der Leib unverfügbar geworden ist und sich als Widerstand dem Wollen entgegenstellt. Tritt das Vollbild einer melancholischen Abulie auf, bedeutet dies, dass der Patient unfähig geworden ist, einen eigenen »Willen« auszubilden und somit weder soziale Anforderungen erfüllen, noch alltägliche Entscheidungen treffen kann. Auch Frau H. schildert im eingangs vorgestellten Fall, dass, obwohl sie zuvor vom Temperament 127 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die melancholische Abulie

ein »richtiger Wirbelwind« gewesen sei, sich eine Gleichgültigkeit der Welt gegenüber breitgemacht habe und sie keinerlei Antrieb mehr besäße. Auch wenn sie die meiste Zeit ihres Lebens aktive Balletttänzerin gewesen sei, habe sie so nun auch das Tanzen aufgegeben. Nunmehr liege sie den Großteil des Tages herum und selbst geringfügigste Aufgaben wie etwa Einkäufe und Spaziergänge seien ihr zur Qual geworden. Außerdem sei ihr Wille verschwunden, wodurch sie unfähig sei, Entscheidungen zu treffen. Ein solcher Zustand der melancholischen Abulie wird verständlich, wenn er als von einer totalen Welt- und Selbstverarmung ausgehend begriffen wird. Einer Patientin wie Frau H. ist daher nicht durch die Aufforderung nur »ernsthaft wollen zu müssen« geholfen. Da sie nämlich nicht wollen kann, verstärkt ein solcher Appell lediglich das Schuldgefühl, selbst für die Erkrankung verantwortlich zu sein.

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II. Die Impulskontrollstörungen

Das Besondere ist das Triebhafte, das Nicht-anderskönnen, das sich manchmal schon darin ausdrückt, dass die Kranken […] vollständig unfähig sind […], sich die unsinnigen Folgen ihres Handelns vorzustellen. 83 Frau D. (Kasuistik 2): Die 31-jährige Patientin Frau D. befindet sich zum Zeitpunkt des Interviews mit einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung in stationärer Behandlung. Anamnestisch findet sich eine Bindungstraumatisierung und komplexe Traumafolgestörung nach multiplem Missbrauch in der frühen Kindheit durch den Stiefvater. Die Patientin berichtet von mehreren Suizidversuchen und regelmäßigem selbstverletzendem Verhalten durch Verbrühungen im Intimbereich, Schläge des Kopfes gegen die Wand und Aufschneiden der unteren Extremitäten. Sie sei den ganzen Tag unter Anspannung: »Ich bin wie ein Vulkan – ich brodele, und dann explodiere ich halt auch von Zeit zu Zeit!« Die Impulse entstünden von einem Moment zum anderen und seien für sie und andere nicht berechenbar. In diesen Situationen komme es manchmal zu fremdaggressiven Durchbrüchen, zumeist aber zu einem als unkontrollierbar erlebten Drang, sich v. a. durch scharfe Gegenstände wie Rasierklingen oder Scheren selbst zu verletzen. Daneben beschreibt sie andere impulsive Bewältigungsmechanismen der Anspannungszustände wie etwa übermäßiges Shopping auf Internetportalen, impulsives Weglaufen oder das unrechtmäßige Entwenden von Wertgegenständen.

Impulskontrollstörungen wurden bereits in den Anfängen der modernen Psychopathologie zu den Störungen des Wollens gezählt (Berrios & Gili 1995). Als Impuls (von lateinisch impulsus: Anstoß, Antrieb) wird eine unreflektierte Strebung bezeichnet, die sich durch ihr plötzliches Auftreten und ihre hohe Intensität auszeichnet (Herpertz 2001; Herpertz & Saß 1997). Patienten, die wie Frau D. eine Impulskontrollproblematik haben, fühlen sich demnach von ihren Handlungsimpulsen überwältigt und können diese trotz langfristig negati83

Bleuler (1916, 419)

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Die Impulskontrollstörungen

ver Konsequenzen schlecht kontrollieren. Die Impulse können von den Patienten somit entweder gar nicht oder nur unter starker Anstrengung für einige Zeit zurückgehalten werden, bis diese sich nach mehreren erfolglosen Kontrollversuchen trotzdem »Bahn brechen«. Das kontrollierende Suspensionsvermögen, das für gewöhnlich in der Lage ist, starke Triebregungen und Strebungen zu entkräften und außer Kraft zu setzen, ist bei dieser Willensstörung entweder strukturell nicht ausgebildet (etwa bei einer schweren Persönlichkeitsstörung oder beim ADHS) oder zeitweise aufgrund physiologischer Bedingungen (u. a. Schlafmangel, Drogenabusus sowie übermäßiger Alkohol- oder Kaffeekonsum) oder einer psychischen Erkrankung (z. B. einer Schizophrenie, Suchterkrankung, Manie oder Essstörung) deutlich vermindert. Im Folgenden soll ein Überblick über Impulskontrollstörungen als einer willentlichen Inhibitionsproblematik gegeben werden. Zunächst werden daher die Besonderheiten der Impulskontrollstörung beschrieben, die darin bestehen, dass ein Zuviel an Handlungsimpuls auf ein Zuwenig an Suspensionsvermögen trifft und dass die Person zum Zeitpunkt der Handlung mit dem eigenen Impuls übereinstimmt (1) 84 . Sodann wird gezeigt, dass Impulskontrollstörungen nicht auf eine Gruppe psychischer Störungen beschränkt sind, sondern im gesamten Spektrum psychiatrisch-psychosomatischer Krankheiten und Syndrome auftreten können (2). Abschließend werden Impulskontrollstörungen bei Patienten mit einer strukturellen Problematik wie der emotional-instabilen oder antisozialen Persönlichkeitsstörung untersucht (3).

1.

Besonderheiten der Impulskontrollstörung

In der deutschsprachigen Psychiatrie gehen erste psychopathologische Beschreibungen der Impulskontrollstörung als Willensstörung auf Kraepelin zurück. So schreibt dieser über Patienten mit einem »impulsiven Irresein«, dass »die Widerstandsfähigkeit des Individuums gegen äußere und innere Antriebe herabgesetzt« sei, wodurch »dem Drängen augenblicklicher Impulse dauernd die Herrschaft über Dies ermöglicht dann auch die diagnostische Abgrenzung gegenüber den Zwangsstörungen, welche die Patienten als unsinnig oder störend, d. h. als ich-dyston, erleben (Frosch & Wortis 1954).

84

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Besonderheiten der Impulskontrollstörung

seinen Willen ermöglicht« werde (Kraepelin 1887, 128). An anderer Stelle formuliert Kraepelin, dass die Problematik dieser Patienten in dem »Mangel einer Herrschaft über die allerdings vielfach in pathologischer Stärke und Richtung entwickelten Triebe« bestehe (ebd., 528). Auch wenn der Sprachduktus dem damaligen Zeitgeist entspricht, so hat dieses von Kraepelin Ende des 19. Jahrhunderts beschriebene Phänomen eines Missverhältnisses zwischen einem starken Handlungsimpuls und einem schwachen Suspensionsvermögen in seinem Sachgehalt nicht an Aktualität verloren und stellt auch heute noch den deskriptiven Kern für das Verständnis von Impulskontrollstörungen dar (Buss & Plonin 1975; Herpertz & Saß 1997). In der psychopathologischen Forschung hat sich in der Folge insbesondere der Psychopathologe Werner Janzarik mit diesem Missverhältnis von Handlungsimpuls und Suspensionsvermögen auseinandergesetzt und versucht dieses in den Begrifflichkeiten des strukturdynamischen Ansatzes zu fassen (Janzarik 1988, 1995, 2004) 85 . Janzarik bezeichnet im Rahmen dieser Konzeption als Struktur die gegenüber wechselnden Situationen überdauernden Eigenschaften einer Person, die sich je nach Perspektive als Identitätskern, individuelles Wertgefüge oder Gesamtheit von langfristigen Repräsentationen charakterisieren lassen (Janzarik 2004, 1053). Diese Struktur der Persönlichkeit ist jedoch nicht abgeschlossen und statisch, sondern inhärent dynamisch, mit anderen Worten, konativ-affektiv aufgeladen und drängt deshalb im »psychischen Feld« auf Aktualisierung. Damit es aber nicht zu einer als »Autopraxis« bezeichneten ständigen Entladung von Handlungsimpulsen als sich aktualisierenden Bereitschaften kommt, bedarf es wiederum eines Vermögens, das unterdrückt, abweist, auswählt, gestaltet und lenkt und das in dieser Konzeption als »Desaktualisierungsvermögen« bezeichnet wird (Janzarik 2004, 1056). Ein solches Desaktualisierungsvermögen setze ein kulturell bedingtes »intaktes seelisches Gefüge« Die strukturdynamische Konzeption greift feldpsychologische aber auch psychodynamische Erwägungen auf und formuliert damit ein eigenständiges psychopathologisches Modell für das Auftreten psychischer Erkrankungen. Auch wenn die strukturdynamische Konzeption einen spannenden psychopathologischen Ansatz zur Beschreibung psychischer Phänomene liefert, so ist diese nicht durch ein phänomenologisches Vorgehen sondern eine spezifisch »strukturdynamische« Metatheorie gekennzeichnet. Die Analysen der strukturdynamischen Konzeption können daher nur z. T. aufgegriffen werden und bedürfen für unseren Kontext stets einer phänomenologischen Einordnung.

85

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Die Impulskontrollstörungen

(Janzarik 1995, 94) voraus und sei dann in der Lage, Triebbedürfnisse und Impulse zu kontrollieren, was zugleich die Bedingung dafür ist, auch langfristige Ziele zu verfolgen (Janzarik 2008, 568). Was also zuvor als ein Missverhältnis von starkem Handlungsimpuls und schwachem Suspensionsvermögen bezeichnet wurde, ist in der strukturdynamischen Konzeption einerseits als eine strukturelle Schwäche zur Desaktualisierung und andererseits als zu stark dynamisch aufgeladene Struktur gefasst, deren Bereitschaften im »psychischen Feld« auf Aktualisierung drängen. Mit seiner strukturdynamischen Konzeption liefert Janzarik ein psychopathologisches Pendant für das psychodynamische Konzept der Strukturpathologie (Clarkin, Yeomans & Kernberg 2008; Rudolf 2012), die von der Konfliktpathologie abzugrenzen ist. Dabei versucht Janzarik gleichfalls, Aspekte der Gefühlsregulation und Impulskontrolle bei der Beurteilung der Persönlichkeitsstruktur zu berücksichtigen (OPD-2 2006/2014). Ein anderer für eine phänomenologische Analyse relevanter Aspekt der Impulskontrollstörung besteht darin, dass die Handlungsimpulse zumeist nicht wie bei der Zwangsstörung als befremdlich erlebt werden, sondern dass sich die Person zu einem gewissen Grad mit diesen identifiziert. Bleuler beschrieb bereits 1916 ebenfalls im Sprachduktus des beginnenden 20. Jahrhunderts dieses Phänomen: »Das Besondere ist das Triebhafte, das Nicht-anders-können, das sich manchmal schon darin ausdrückt, dass die Kranken oft trotz guter Schulintelligenz vollständig unfähig sind, anderes zu denken, sich die unsinnigen Folgen ihres Handelns und die Möglichkeiten, es nicht zu tun, vorzustellen. Sie fühlen also auch keinen Zwang, sondern handeln aus ihrer Natur heraus.« (Bleuler 1916, 419)

Im Gegensatz zu Zwangserkrankungen werden die Handlungen im Nachhinein zwar oft bereut oder zumindest kritisch bewertet, jedoch fühlt sich die Person zum Zeitpunkt der Handlung teilweise oder vollständig im Einklang mit dem Impuls. Dieses Phänomen, dass impulsive Patienten zum Zeitpunkt des Handlungsimpulses zumeist mit diesem übereinstimmen oder dass die Patienten »aus ihrer Natur heraus« handeln würden, wurde in der psychopathologischen Forschung auch als »Ich-Syntonie« bezeichnet und gegenüber der »IchDystonie« u. a. bei Zwangsstörungen abgegrenzt (Frosch & Wortis 1954).

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Impulskontrollstörungen im Spektrum psychischer Erkrankungen

2.

Impulskontrollstörungen im Spektrum psychischer Erkrankungen

Impulskontrollstörungen, die die oben dargelegten Kriterien (1) starker Handlungsimpuls und schwaches Suspensionsvermögen; (2) IchSyntonie erfüllen, sind nicht auf bestimmte psychische Störungen beschränkt, sondern sind weithin vorzufinden und lassen sich für das gesamte psychiatrisch-psychosomatische Krankheitsspektrum beschreiben (Herpertz & Saß 1997). Dabei ist jedoch die Art des Impulses so unterschiedlich wie die dahinterstehende Motivation: So kann impulsives Verhalten z. B. der Spannungsregulation dienen, durch positive Anreize oder durch Vermeidung negativer Konsequenzen verursacht, aber auch durch manische Selbstüberhöhung oder durch Gefühle von Minderwertigkeit bedingt sein. Ebenso kann impulsives Verhalten bei psychotischen Erkrankungen wie der Schizophrenie oder dem Delir, bei Essstörungen wie der Bulimie oder der Binge-Eating-Störung, bei sexuellen Deviationen und Paraphilien, bei Abhängigkeits- und Suchterkrankungen (u. a. von Drogen, Alkohol, Medikamenten oder Computerspielen), beim ADHS bzw. ADS oder bei Persönlichkeitsstörungen wie der emotional-instabilen oder antisozialen Persönlichkeitsstörung beschrieben werden. Als eigenständiges Krankheitsbild werden die Impulskontrollstörungen im ICD-10 allerdings nur als »abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle« (F63) klassifiziert. Unabhängig von der gestellten Diagnose ist jedoch psychopathologisch von Fall zu Fall zu entscheiden, ob eine Handlung aus einem plötzlichen, intensiven und nicht mehr kontrollierbaren Handlungsimpuls heraus vollzogen wurde. Die z. T. der psychopathologischen Literatur entnommenen Fallbeispiele sowie eigene Kasuistiken sollen im Folgenden einen Eindruck vom Spektrum der Impulskontrollstörungen geben.

a)

Affektive Störungen

Im Rahmen affektiver Störungen können Impulskontrollstörungen sowohl bei depressiven als auch bei manischen Episoden beschrieben werden. In der schweren Depression ist es das impulsive Verhalten während eines sogenannten »Raptus melancholicus«, das von Therapeuten und Angehörigen gefürchtet wird: Aus einem Zustand hochgradigerer psychomotorischer Gehemmtheit heraus, kann sich plötz133 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die Impulskontrollstörungen

lich ein starker suizidaler Handlungsimpuls entwickeln, der bis hin zum Suizidversuch oder zur Selbsttötung führen kann (Erkwoh & Huber 2009). Oft ist ein solcher Handlungsimpuls begleitet von Gefühlen der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung sowie von einem intensiven ängstlichen Affekt (Westphal 1910). Folgende eigene Fallbeispiele unterstreichen dies: Herr St. befindet sich zur Nachbehandlung einer schweren depressiven Episode auf einer offen geführten Station für Affektive Störungen. Als er nach der Morgentoilette auf das angekippte Fenster blickt, überfällt ihn der suizidale Impuls, dorthin zu stürmen, es aufreißen und aus dem 3. Stock herunterzuspringen. Bevor er das Fenster erreicht hat, kann er jedoch vom Zimmernachbarn abgehalten werden und vom Pflege- und Therapeutenteam auf die beschützend geführte Station begleitet werden. Frau M. sitzt aufgrund akuter Suizidalität nach Trennung von ihrem Partner regungslos im Überwachungszimmer der Akutstation. Als es zu einem Personalwechsel kommt, zieht sie sich im Bruchteil einiger Sekunden den Schnürsenkel aus dem Schuh und versucht sich damit zu erdrosseln. Sofort ist das Pflegepersonal zur Stelle, um der Patientin den Schnürsenkel zu entwenden und sie von der Strangulation abzuhalten.

Über den Suizidversuch in Folge eines Raptus einer 43-jährigen Patientin berichtet auch der Berliner Psychiater und Neurologe Wilhelm Griesinger: »Am 24. Juli dieses Jahres aber […] sitzt sie nachmittags […] auf dem Flur ihres Hauses und beschäftigt sich mit Nähen. Plötzlich und ohne die geringste Veranlassung springt sie auf und ruft: »Ich muss mich ersäufen, ich muss mich ersäufen«, rennt darauf fort und gerade zu dem nicht weit von ihrer Wohnung entfernten Wallgraben der Stadt, in den sie sich auch ohne Zögerung hineinstürzt.« (Griesinger 1876, 262)

Häufiger noch als bei der schweren Depression sind Impulskontrollstörungen bei manischen Phasen einer bipolaren Affektiven Störung zu beschreiben. Diese äußern sich mitunter derart drastisch, dass, durch einen augenblicklichen Einfall zu einer impulsiven Handlung hingerissen, der Patient damit seine gesamte berufliche und soziale Zukunft zu gefährden droht. Eine 50-jährige Patientin schildert ihr Erleben und Verhalten im Rückblick auf eine manische Phase: »Während einer manischen Phase steht man unter einer starken Spannung. Sie ist körperlich fühlbar als eine Art brodelnde Energie in der Mitte unter dem Zwerchfell. Von da kann sie zu Kopfe steigen und in schauerlichen Wutausbrüchen explodieren. Man sieht buchstäblich rot, man empfindet sehr aggressiv, man ist unfähig, sich zu zügeln. Vorübergehend ist man fast

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Impulskontrollstörungen im Spektrum psychischer Erkrankungen

wie von Sinnen […] Man schmeißt mit dem Geld nur so herum […] Ich habe einmal an einem Vormittag für 1800 eingekauft! Lauter reinseidene Blusen und ganz teure Pullover, einen juwelenbesetzten Gürtel, spitzenbesetzte Negligees, bestickte Saris.« (Tölle & Windgassen 2009, 248 f.)

Zwei weitere eigene Kasuistiken typischer manischer Verläufe bilden das Ausmaß der Impulsivität ebenfalls ab: Frau R. ist eine pflichtbewusste, ordentliche und fürsorgliche Patientin, die oft aus einem inneren Harmoniebedürfnis ihrem Gegenüber zustimmt und selten Ärger zum Ausdruck bringt. Während ihrer hypomanen Phasen folgt sie dem Impuls, einen Optiker aufzusuchen und sich eine neue Brille zu kaufen, was der Ehemann der Patientin nicht verstehen kann. Frau R. ist nämlich bereits im Besitz von ca. 250 Brillen, die sich zu Hause bereits überall stapeln. Während sich Herr U. in der Depression schweren Selbstbeschuldigungen und Selbstvorwürfen aussetzt, geht ihm in der Manie alles leicht von der Hand und er ist zu allem in der Lage. Als Angestellter führt er sein Kleinunternehmen durch impulsive Entscheidungen mit teuren und riskanten Investitionen an den Rand der Insolvenz. Als er gekündigt wird, überzeugt der Familienvater den Verkäufer einer repräsentativen Sportwagen-Filiale, ihm den ausgestellten Wagen zu überlassen und fährt damit ins Ausland. Dort kann die Polizei den Patienten stellen, nachdem dieser mit bis zu 200 km/h über die Landstraße gefahren war.

In manischen Phasen lassen sich die Patienten, getragen von einer euphorischen Grundstimmung, durch einen plötzlichen Einfall oder eine Augenblickslaune leiten. So werden z. B. Käufe getätigt, durch die sich die Patienten hochgradig verschulden, flüchtige sexuelle Beziehungen eingegangen, durch die langjährige Partnerschaften in Frage gestellt werden und lebensgefährdende Aktivitäten unternommen.

b)

Schizophrenie

Schizophrene Wahnvorstellungen können ebenfalls zu unberechenbaren impulsiven Handlungen führen: In paranoid-halluzinatorischen Schüben kann sich der Kranke von einer fremden Macht verfolgt wähnen oder durch eine Eingebung zu einer »großen Tat« auserwählt fühlen. So berichtet Klaus Conrad in seinen gestaltpsychologischen Analysen des Wahns über einen Soldaten, der im akuten psychotischen Schub die Stimme seiner Ehefrau hört: 135 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die Impulskontrollstörungen

»Am 12. 9. 41 fiel er auf der Wache durch sein sonderbares Benehmen auf. Er sprang plötzlich von seiner Pritsche, auf der er gelegen, aber nicht geschlafen hatte, nahm Gewehr und Stahlhelm und ging ins Freie […] Er redete verworren und musste mit Gewalt in den Wachsaal gebracht werden. Dort fing er an zu toben, warf sich gegen die Türen, brüllte dauernd unverständlich, griff die Pfleger an, biss sich selbst in die Hand, stieß unartikulierte Laute aus, konnte nur mit Mühe überwältigt werden.« (Conrad 1959/ 2011, 187 f.)

Trotz anderer Grunderkrankung kann es genauso wie beim »Raptus melancholicus« affektiver Störungen in katatonen Stadien der Schizophrenie auch zu plötzlichen Erregungszuständen kommen, die von einem intensiven Angstaffekt begleitet sind. Dabei ähneln sich die Beschreibungen solcher Zustände, da auch in der katatonen Schizophrenie das Ausbrechen in eine unerwartete Aktivität aus völliger psychomotorischer Hemmung heraus beobachtet werden kann. So berichtet der deutsch-britische Psychiater Wilhelm Mayer-Gross über den Erregungsausbruch bei einem katatonen Patienten: »Der anscheinend regungslose, völlig gebundene Kranke springt ganz plötzlich aus dem Bett, bewegt sich frei und ungezwungen, zerschlägt eine Fensterscheibe, ohrfeigt den Bettnachbarn, versucht sich aufzuhängen […] Er kehrt in seine frühere Stellung zurück, als ob nichts geschehen wäre.« (Mayer-Gross 1932, 406)

Im Gegensatz zum »melancholischen« ist das Handlungsspektrum beim »katatonen« Raptus jedoch deutlich größer und besteht nicht ausschließlich aus eigen- oder fremdgefährdendem Verhalten. Solche Beispiele von katatonen Erregungsausbrüchen gibt auch E. Bleuler in seiner Arbeit Dementia praecox oder die Gruppe der Schizophrenien: »Plötzlich springt der Patient auf, zerschlägt etwas, greift mit großer Gewandtheit und Kraft jemanden an oder stellt irgendetwas im Saal anders, als es vorher war. Ein Katatoniker erwacht aus der Starre, radelt im Hemd drei Stunden lang herum, fällt und bleibt kataleptisch im Straßengraben liegen.« (Bleuler 1911, 176)

Jedoch sind Wahn oder Katatonie nicht die einzigen Beispiele schizophrener Psychosen in denen es zu impulsiven Handlungen kommt. In der Literatur werden auch völlig kontingente und sinnlose Impulshandlungen beschrieben. So berichtet etwa der Psychiater Arthur Kronfeld über eine auch für den Patienten im Nachhinein völlig überraschende Handlung:

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Impulskontrollstörungen im Spektrum psychischer Erkrankungen

»Damals hatten wir eine gesellige Zusammenkunft. Auf dem Heimwege packte mich ganz plötzlich, wie aus heiterem Himmel […] die Idee: du musst mal in den Kleidern durch den Fluss schwimmen. Es war kein Zwang, von dem ich mir Rechenschaft gab, sondern einfach ein kolossaler heftiger Impuls, so dass ich mich keine Minute besonnen habe, sondern direkt hineingesprungen bin.« (Kronfeld in: Jaspers 1913/1965, 98)

Impulskontrollstörungen lassen sich folglich bei schizophrenen Psychosen in unterschiedlicher Ausprägung aufweisen: sie können völlig erratisch sein, als Eingebung von Stimmen oder »fremden Mächten« in wahnhaft-halluzinatorischen Zuständen oder aber als »Raptus catatonicus« aus Zuständen völliger psychomotorischer Hemmung heraus beobachtet werden. Dabei führt das desintegrierte Strukturniveau, wie es durch die psychodynamische Diagnostik des OPD-2 charakterisiert wird, dazu, dass weder Affekte noch Handlungsimpulse reguliert werden können und diesen zudem das Erlebnis der Handlungsurheberschaft mangelt, sodass sich die Patienten nicht mehr als »Herren des eigenen Handelns« erleben, sondern vielmehr als fremdgesteuert durch Impulse, die nicht dem eigenen »Ich« zugerechnet werden können.

c)

Essstörungen

Im Gegensatz zur Anorexie, die dadurch definiert ist, dass verbunden mit einer Körperschemastörung die Nahrungsaufnahme vermindert ist, zeichnet sich die Bulimia nervosa (griechisch βουλιμία: Ochsenhunger) gerade durch impulshafte Essattacken (Johnson & Connors 1987; Vitousek & Manke 1994) aus. Rainer Tölle und Klaus Windgassen schildern entsprechend das Erleben eines 28-jährigen Patienten: »Ich unterliege einem, äh, permanenten Essdrang oder Esszwang. Ich, hm, möchte also ständig Nahrung in mich aufnehmen, und komme mit dem Quantum, das ich zu den Mahlzeiten kriege, nicht aus, muss mich also immer gewaltsam zurückhalten, beherrschen […] Aber das funktioniert eben nur eine ganz kurze Zeit. Und durch irgendwas wird dann dieser, äh, Essdrang besonders stimuliert, und ich habe das Gefühl, es nicht mehr aushalten zu können. Und dann esse ich eben unbegrenzt weiter, so lange, bis der Magen nichts mehr fassen kann.« (Tölle & Windgassen 2009, 100 f.)

Die Patienten spüren demnach einen starken Esstrieb, den sie nur für kurze Zeit unterdrücken können und dem sie dann nachgeben müs-

137 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die Impulskontrollstörungen

sen, was zu impulsiven »Fressattacken« führt, die sie zunächst ein Übermaß an Nahrung konsumieren lassen, um diese bei nächster Gelegenheit wieder zu erbrechen. Obwohl die Patienten sich während der Handlung noch im Einklang mit dem Handlungsimpuls befinden können, ist diese im Nachhinein deutlich scham- und schuldbehaftet, weshalb sich im Nachgang nicht selten Reueempfindungen einstellen.

d)

»Abnorme Gewohnheiten«

In die deutschsprachige Psychopathologie fanden die impulsiven Willensstörungen über die nosologische Systematik Kraepelins Einzug, die u. a. durch Jean Esquirol 86 beeinflusst wurde. Diese Entwicklung bildet sich auch in der Ordnungsstruktur heutiger internationaler Klassifikationssysteme ab. Im ICD-10 werden so unter der Kategorie F63 »Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle« ganz verschiedene impulsive Störungen zusammengefasst. Als Beschreibung heißt es dazu: »Sie sind durch wiederholte Handlungen ohne vernünftige Motivation gekennzeichnet, die nicht kontrolliert werden können und die meist die Interessen der betroffenen Person oder anderer Menschen schädigen. Die betroffene Person berichtet, aufgrund von dranghaften Impulsen zu handeln.« (ICD-10; Dilling & Freyberger 2011, 255)

Unter »abnormen Gewohnheiten« werden im ICD-10 vier unterschiedliche impulsive Störungsbilder aufgelistet: das pathologische Spielen (»Gambling«), das Brandstiften (»Pyromanie«), das Stehlen (»Kleptomanie«) und schließlich das Haareausreißen (»Trichotillomanie«). Im Folgenden soll als Beispiel für eine »abnorme Gewohnheit« näher auf die Pyromanie (von griechisch πύρ: Feuer, μανία: Raserei) eingegangen werden, die eine Form der Serienbrandstiftung bezeichnet, der das Erleben eines unwiderstehlichen Drangs zum Feuerlegen vorausgeht. Die nachfolgende Kasuistik eines 29-jährigen Patienten stammt aus dem Jahre 1965:

Esquirol hatte die »Monomanie« als heute verworfenes Konzept eines »Einzelwahns« eingeführt und damit verschiedene Impulskontrollstörung das erste Mal beschrieben. Dies wurde durch Kraepelin aufgegriffen. Heute noch übrig geblieben davon ist die Endung »-manie« bei den verschiedenen abnormen Gewohnheiten.

86

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Impulsivität bei Störungen der Persönlichkeitsstruktur

»Innerhalb eines dreiviertel Jahres legte der Proband jedes Mal nach dem selben [sic] Muster 6 Brände. Nachdem sich seine […] missmutig-sorgenvolle Grundstimmung unter Alkohol nicht gebessert hatte, kam ihm das erste Mal auf dem Heimweg von der Gastwirtschaft, die letzten Male noch im Lokal der Gedanke, etwas anzuzünden. Er betrat dann stets Hauseingänge oder Toreinfahrten und entzündete dort Lagerndes […] In der Exploration […] gab der Proband an, dass es jedes Mal »über mich gekommen« sei und er sich, sobald es brannte, besser gefühlt habe.« (Barnett 2008, 14)

Nach dem Forensiker Winfried Barnett (2008) können bei pyromanische Patienten zwei Typen von Motivationslagen beschrieben werden: einerseits junge und kognitiv beeinträchtigte Patienten, die einen Lustgewinn am Feuermachen verspüren, und andererseits ältere und oft alkoholisierte Patienten, die – wie im aufgeführten Beispiel – durch das Legen eines Feuers chronisch negative Gefühlszustände wie Frust, Neid, Eifersucht, Wut und Ärger abbauen. In der forensisch-psychiatrischen Fachliteratur wurde jedoch wiederholt in Frage gestellt, ob es sich bei »abnormen Gewohnheiten« wie der Pyromanie tatsächlich um Störungen der Impulskontrolle im engeren Sinne handelt. Während einige Autoren die Auffassung vertreten, es handele sich z. B. bei der pathologischen Brandstiftung um eine Impulskontrollstörung (Lewis & Yarnell 1951, S. 79 f.; Schneider 1950/1987), so wird jedoch die pauschale These, dass die Person zum Zeitpunkt der Handlung nicht anders könne, heute in der Fachdiskussion eher kritisch bewertet (Barnett 2005, 2008). Von forensisch-psychiatrischer Seite wird daher derzeit für eine Umbenennung der ICD-10-Kategorie geworben, da die Benennung als »Impulskontrollstörungen« eine unzulässige Verallgemeinerung und Pathologisierung des Spektrums »abnormer Gewohnheiten« darstelle (Lammel et al. 2008). Letztlich drückt sich in diesen Bestrebungen die bei jeder psychischen Störung gegebenenfalls strafrechtlich relevante, jedoch nicht immer leicht zu entscheidende Abwägung aus, ob es sich dabei nur um eine starke, aber noch kontrollierbare Neigung des Patienten gehandelt hat, die er auch hätte außer Kraft setzen können.

3.

Impulsivität bei Störungen der Persönlichkeitsstruktur

Wie bereits eingangs dargelegt, können Impulskontrollstörungen entweder aufgrund einer psychischen Erkrankung für eine bestimmte 139 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die Impulskontrollstörungen

Zeitspanne auftreten oder sie können als impulsive Verhaltensdisposition bei einem ADHS (Groß et al. 2015) oder einer Persönlichkeitsstörung (Herpertz & Saß 1997) bestehen. Die psychopathologische Unterscheidung von Impulskontrollstörungen bei »originären Krankheitszuständen« und bei abnormen Persönlichkeiten 87 wurde von Kraepelin in der 8. Auflage seines Lehrbuchs Psychiatrie (Kraepelin 1913) eingeführt. Schneider hat diese Unterscheidung aufgegriffen und zu bestimmen versucht, welche Eigenschaften eine abnorme Persönlichkeit erfüllen muss: Die Kriterien leiten sich hierbei jedoch nicht aus dem Grad der Abweichung von einem Werturteil oder einer Idealnorm ab, sondern beinhalten, dass die Personen von einer »gesellschaftlichen Durchschnittsbreite«, das heißt vom »Üblichen, Gewohnten, Durchschnittlichen« abweichen (Schneider 1936, 29). Im Besonderen sind nach Schneider aber solche Personen als persönlichkeitsgestört zu bezeichnen, »die an ihrer Abnormität leiden oder unter deren Abnormität die Gesellschaft leidet« (ebd., S. 30). Diese Beschreibung findet sich offenbar auch in der ICD-10 wieder, wenn dort die Autoren schreiben, dass die sogenannten Persönlichkeitsstörungen »beinahe immer mit ausgeprägtem Leiden und sozialen Beeinträchtigungen« einhergingen (Dilling & Freyberger 2011, 234). Als Impulskontrollstörungen der Persönlichkeitsstruktur sind fortdauernde Probleme der Suspension starker Impulse zu beschreiben, die mit persönlichem Leiden und einer Belastung des Umfelds einhergehen. Sie entwickeln sich als Strukturpathologien einerseits aus einer angeborenen impulsiven Veranlagung, andererseits aber auch durch eine unzureichende Hilfestellung der Erziehenden bei der Verarbeitung von intensiven Affektzuständen (Fonagy 2004/ 2015) sowie bei der Verinnerlichung eines überdauernden Wertgefüges. Solche Strukturpathologien mit Störung der Impulskontrolle und Affektregulation können sowohl beim ADHS als auch bei Persönlichkeitsstörungen beschrieben werden, weshalb es auch diagnostische Überschneidungen gibt: So weisen über 70 Prozent der Patienten mit einem ADHS eine schwere Persönlichkeitsstörung auf (Habermeyer et. al 2009). Im Spektrum der Persönlichkeitsstörungen sind insbesondere zwei Patientengruppen zu nennen, die diese StöKraepelin spricht hier von »psychopathischen Persönlichkeiten«. Heutzutage wird der Begriff »psychopathisch« nur in der Alltagssprache auf die antisoziale Persönlichkeitsstörung angewandt.

87

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Impulsivität bei Störungen der Persönlichkeitsstruktur

rungen regelmäßig aufweisen: Patienten mit einer antisozialen oder einer emotional-instabilen bzw. Borderline-Persönlichkeitsstörung. Besonders Herpertz hat in den letzten Jahren immer wieder auf den Zusammenhang von Impulskontroll- und Persönlichkeitsstörung hingewiesen (Herpertz 2001; Herpertz & Saß 1997). Personen mit einer antisozialen Persönlichkeitsstörung missachten dabei häufig soziale Normen, besitzen nur eine geringe Empathiefähigkeit gegenüber anderen Menschen und haben eine niedrige Schwelle für gewalttätiges – zumeist fremdaggressives – Verhalten. Dagegen können Personen mit einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung durch abrupte Stimmungswechsel, Identitätsunsicherheit, Instabilität zwischenmenschlicher Bindungen und impulsives – zumeist autoaggressives – Verhalten charakterisiert werden. Folglich lassen sich sowohl bei der antisozialen als auch bei der emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung eine Reihe von impulsiven Verhaltensmustern erkennen, etwa die Ausübung von Gewalt gegen andere, Selbstverletzungen, Drogenkonsum, Hochrisikoverhalten oder der frühzeitige Schul- und Ausbildungsabbruch. Aufgrund dieser multiplen impulsiven Verhaltensweisen wurden diese Störungen auch als »multiimpulsive disorder« (Lacey & Evans 1986) bezeichnet.

a)

Antisoziale Persönlichkeitsstörung

Frau De. (Kasuistik 3): Die 21-jährige Studentin berichtet, dass sie seit vier Jahren durch aggressives Verhalten in der Öffentlichkeit auffalle. »Seitdem habe ich ständig randaliert: also Sachen angezündet und Leute geschlagen.« Bereits seit ihrem 12. Lebensjahr bestünden Anspannungszustände, die sie zuvor meist durch Cannabis- und Alkoholkonsum am Wochenende abgebaut habe. Vor vier Jahren habe sie begonnen, sich bei geringfügigsten Anlässen auf der Straße zu schlagen. »Früher habe ich die Leute einfach nur beleidigt und es dann dabei belassen. Heute reicht es, wenn mich einer auf der Straße anrempelt, da denke ich nicht nach, sondern explodiere einfach.« Sie habe schon immer eine leichte »Grundaggression« gehabt, aber heute reiche schon ein geringer Anlass, um »das Fass zum Überlaufen zu bringen«. »Heute bin ich hemmungslos impulsiv und aggressiv. Ich kann mich nicht mehr kontrollieren. Es ist die rasende Wut, die mich bestimmt.« Früher habe sie noch Unterschiede zwischen den verschiedenen Menschen gemacht, mit denen sie eine Schlägerei anfange. Heute prügele sie sich auch mit ihrem Ehemann oder mit nahen Familienangehörigen. Die Impulsivität erlebe sie »als einen Trieb, wie das Tier, das seine Beute erlegt.«

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Die Impulskontrollstörungen

Menschen mit einer antisozialen Persönlichkeitsstruktur wie Frau De. neigen zu fremdaggressivem Impulsdurchbrüchen. Ein solches Verhalten ist anhand verschiedener Aspekte verständlich zu machen, die sich aus der Entwicklungspsychopathologie (Ermann 1995/2004, 183) sowie überdauernden Eigenschaften der Persönlichkeit ergeben: Oft haben dissoziale Patienten in der eigenen Kindheit selbst wenig Wertschätzung und Anerkennung erlebt und müssen sich, um »überleben zu können«, mit den Verhaltensweisen der oft ebenfalls gewalttätigen Bezugspersonen identifizieren. Die Bezugspersonen stellen für die Patienten kein positives Rollenvorbild dar und können weder ein stabiles ethisches Wertegefüge noch Interesse an anderen Personen und deren Gefühlszuständen vermitteln, stattdessen nähren sie die Erwartungshaltung, dass vom Gegenüber »nur Schlechtes« zu erwarten sei und man deshalb selbst »Stärke« zeigen müsse. Sie leben somit in einer Welt des »Jeder frisst jeden« (ebd.). Der Mangel an Empathie (Craft 1966) und das nur wenig ausgebildete Wertgefüge führen bei dissozialen Personen zu verminderten sozialen Signalaffekten wie Schuld- und Angsterleben, sodass auch die Konsequenzen des Handelns als weniger schlimm angesehen werden (Patrick et al. 1993). Die Abwesenheit eines wertschätzenden, auffangenden und tröstenden Gegenübers in der Kindheit führt weiterhin zu Problemen in der Regulation von Selbstwerterleben und Affektzuständen, weshalb solche Patienten oft leichter kränkbar sind und nur über eine niedrige Frustrationstoleranz verfügen, sodass oftmals schon ein geringfügiger Auslöser für einen fremdaggressiven Impulsdurchbruch genügt. Wie Frau De. leidet auch Herr V. an fremdaggressiven Impulsdurchbrüchen: Herr V. (Kasuistik 4): Der 22-jährige Herr V. befindet sich in einer Berufsausbildung. Den Großteil seiner Kindheit verbrachte er in einem Heim für schwererziehbare Kinder. Dort wurde er von den älteren Jungen »gezüchtigt« und habe bald gelernt, dass man es nur weiter brächte, wenn man sich körperlich durchsetze. Seitdem zettle er regelmäßig Schlägereien an: »Die Welt ist für mich ein riesengroßer Fightclub. Ich freue mich, wenn es zu einer Schlägerei kommt, ich verabscheue es, wenn es bei einer Diskussion bleibt.« Immer wenn ihm einer »dumm« komme, dann würde es »halt ausgetragen« werden. Seit einiger Zeit habe er es aber nicht mehr unter Kontrolle, ob es zu Handgreiflichkeiten komme. »Da wird einfach blind drauf losgeschlagen. Das ist so eine normale Reaktion, wie wenn andere Leute etwas Schlechtes essen und sich dann übergeben.« Zuletzt habe er ein paar

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Impulsivität bei Störungen der Persönlichkeitsstruktur

Jugendliche so schwer verletzt, dass diese aufgrund mehrerer Frakturen chirurgisch behandelt werden mussten: »Ich bin mit einem Kumpel durch die Stadt gelaufen, nichts wollend und da war dann so eine Gruppe von sechs Jugendlichen. Die dachten bestimmt, sie müssten vor den Mädchen ›posen‹ und sind uns dumm gekommen. Da haben wir die soweit geschlagen, dass drei von denen ins Krankenhaus mussten.« In solchen Situationen überkomme ihn die Wut. »Es kocht dann was hoch. Ich sage mir dann: Was der sich rausnimmt! Was der sich traut! Und dann sagt mein Kopf ziemlich schnell: Jetzt geht’s los!«.

Die Konstellation aus unzureichenden Regulationsmöglichkeiten von Selbstwerterleben und Affektzuständen, mangelnder Empathiefähigkeit, verringerter Angstreaktion und niedriger Frustrationstoleranz führt zu einem gewaltbereiten und fremdaggressiven Verhalten, wodurch die Personen nicht selten mit dem Gesetz in Konflikt kommen. So werden körperliche Grenzen nicht eingehalten und die Opfer im Affekt nicht selten so lange geschlagen, bis diese bewusstlos sind oder die Polizei verständigt wird. Dies ist der Grund, warum sich Patienten mit einer antisozialen Persönlichkeitsstörung oft am »Rand der Gesellschaft« bewegen und als Gruppe auch innerhalb der Population von Inhaftierten überrepräsentiert sind (Coid 1992; Raine 1993).

b)

Emotional-instabile Persönlichkeitsstörung

Frau U. (Kasuistik 5): Die 30-jährige Frau U. ist aufgrund einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung und einer posttraumatischen Belastungsstörung seit drei Jahren frühberentet. In der Kindheit erlebte sie viel emotionale Ablehnung und Gewalt durch den Vater. Seit dem 8. Lebensjahr leidet die Patientin an Suizidgedanken, seit dem 18. Lebensjahr befindet sie sich aufgrund von selbstverletzendem Verhalten und Suizidversuchen in regelmäßigen Abständen in stationärer psychiatrischer Behandlung. Frau U. berichtet, dass sie sich in einem dauerhaften Anspannungszustand befinde. Einzelne bruchhafte Vorstellungen und Satzfetzen gingen ihr stets durch den Kopf: »Das ist so, als würde man jeden Teil der Vergangenheit in eine einzelne Gondel eines Kettenkarussells setzen und dann das Ganze auf Hochgeschwindigkeit laufen lassen.« Dadurch reiche manchmal ein »Guten Morgen« einer anderen Person, um das »Fass zum Überlaufen zu bringen«. Dabei richte sie die Aggression nicht gegen Andere, sondern zumeist gegen sich selbst. »Wenn ich einen spitzen Gegenstand sehe – ein Messer, eine Schere, eine Glasscherbe oder eine Rasierklinge – dann entsteht in mir die Lust, mich zu schneiden – z. B. am Unterarm oder an den Handgelenken.« Manchmal könne sie die Handlungsimpulse eine

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Die Impulskontrollstörungen

kurze Zeit lang unterdrücken, wenn sie Stresstoleranz-Fertigkeiten einsetze (in eine Chilischote beiße oder sich kalt abdusche). Oft sei die Anspannung aber zu groß, so dass sie dem Schneidedruck nachgeben müsse.

Wie bei der antisozialen Persönlichkeitsstörung liegt auch bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung eine strukturelle Störung der sogenannten »Ich-Funktionen« (OPD-2 2006/2014) vor, die psychopathologisch als eine Beeinträchtigung des Suspensionsvermögens umschrieben wurde. Aufgrund früher aversiver Erfahrungen (sog. Bindungs- und Beziehungstraumata) kommt es zu einer unzureichenden Verinnerlichung positiver Bezugspersonen und damit zu einer nur schwach ausgeprägten Affekt- und Impulskontrolle (Taubner 2015, 98). Die Borderline-Patienten wirken aufgrund der »IchSchwäche« chaotisch, impulsiv und unstet, geraten immer wieder in kindlich-pubertäre Verhaltensmuster. Es ist ihnen zudem nur schwer möglich, eigene Gefühle differenziert wahrzunehmen und adäquat auszudrücken, vielmehr herrscht ein »Gefühlschaos«, das einem »brodelnden Vulkan« oder einem »schnell drehenden Kettenkarussell« vergleichbar ist und es kommt dadurch zu unkontrollierten Anspannungszuständen, die die Patienten durch dysfunktionale Strategien der Gefühlsregulation zu kompensieren versuchen. Neben Symptomen der emotionalen Instabilität und Identitätsstörung stellen Störungen der Impulskontrolle das wichtigste Merkmal der emotional-instabilen oder Borderline-Persönlichkeit dar (Herpertz & Saß 2000; Widiger & Frances 1989; Zanarini et al. 1989). Untersuchungen von Zanarini et al. (1989) zufolge kann bei 99 von 100 BorderlinePatienten irgendeine Form impulsiven Verhaltens beschrieben werden, wozu u. a. Selbstverletzungen, Alkohol- und Drogenkonsum, Störungen des Essverhaltens, impulsive Einkäufe oder promiskuitives Verhalten zählen, aber auch hochriskante und zum Teil parasuizidale Verhaltensweisen wie riskante Verkehrsmanöver oder das Balancieren auf Brückengeländern. Am charakteristischsten für die Borderline-Störung ist dabei das selbstverletzende Verhalten, das bei etwa der Hälfte der Patienten auftritt und überwiegend der Regulation starker Anspannungszustände dient (Herpertz 1995). Die vorausgehenden Gefühle können jedoch nicht differenziert wahrgenommen und zum Ausdruck gebracht werden, vielmehr liegt eine Durchmischung verschiedener negativer Gefühlszustände bzw. eine Dysphorie vor. Während solcher dysphorischer Zustände erleben die Patienten eine stark »diffus-negative 144 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Zusammenfassung

Affektivität« (Westen et al. 1992), die sie nur durch selbstverletzendes Verhalten abzubauen vermögen. Dabei handelt es sich um moderate Selbstverletzungen wie etwa oberflächliche Schnittwunden, Brandwunden, weitflächige Kratzspuren, heftiges Schlagen von Körperteilen, Extraktion von Hand- und Fußnägeln oder die Manipulation von Wunden (Favazza & Rosenthal 1993). Der Handlungsimpuls entsteht dabei von einem Moment zum anderen, wobei nur ein Bruchteil der Patienten in der Lage zu sein scheint, den Impuls über eine kürzere oder längere Zeitspanne hinweg zu kontrollieren (Gardner & Gardner 1975). Das Beifügen der Selbstverletzung stellt für die Patienten dann eine unmittelbare Linderung der Anspannung dar. 88 Insgesamt kann für die emotional-instabile Persönlichkeitsstörung festgehalten werden, dass die strukturelle Impulskontrollproblematik durch eine emotionale Entwicklungsverzögerung bedingt ist. Diese wird auch anhand der Biographie der Patienten deutlich, so stellen z. B. impulsive Schul- und Ausbildungsabbrüche ein häufiges Phänomen dar. Aufgrund ihrer mangelnden Selbstkontrolle gelingt es den Borderline-Patienten also nicht, eine übergreifende Willensorientierung in ihren Tätigkeiten und Beziehungen zu finden, was schließlich eine Fragmentierung der Lebensführung sowie der persönlichen Identität zur Folge hat (Fuchs 2007).

4.

Zusammenfassung

In der Psychiatrie des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts etwa in den bedeutenden psychopathologischen Werken Kraepelins und Bleulers wurden die Impulskontrollstörungen neben der Abulie zu den klassischen Willensstörungen gerechnet (Berrios & Gili 1995). Impulskontrollstörungen stellen eine heterogene Gruppe dar und können im gesamten psychiatrischen Spektrum beschrieben werden. Begleitend zu psychischen Erkrankungen kommen sie etwa bei affektiven Störungen als »Raptus melancholicus« oder manische Sprunghaftigkeit, bei schizophrenen Psychosen im Wahn oder als »Raptus Diese viel beschriebene und sogleich ins Auge fallende »Pathologie« der Selbstverletzung kann zwar bei der Borderline-Symptomatik auftreten, muss es jedoch nicht, zudem ist dieses Verhalten überproportional in bestimmten soziokulturellen Gruppen der Allgemeinbevölkerung ohne Psychopathologie, etwa bei Adoleszenten, wiederzufinden (u. a. Jacobson et al. 2008; In-Albon et al. 2013).

88

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Die Impulskontrollstörungen

catatonicus«, bei Essstörungen als bulimische Ess- und Brechanfälle oder bei »abnormen Gewohnheiten« als pathologisches Spielen (Gambling), Stehlen (Kleptomanie), Brandstiften (Pyromanie) und Haareausreißen (Trichotillomanie) vor. Neben den eigentlichen psychischen Erkrankungen können Impulskontrollstörungen auch als überdauernde strukturelle Verhaltensdisposition etwa beim ADHS oder bei den Persönlichkeitsstörungen beschrieben werden. Insbesondere bei der antisozialen oder der emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung sind Verhaltensweisen einer sogenannten »multi-impulsive disorder« (Lacey & Evans 1986) zu beobachten, wie etwa Alkohol- und Drogenkonsum, selbstverletzendes und gewalttätiges Verhalten oder Hochrisikoverhalten. Besonders den »Borderlinern« gelingt es dabei oftmals nicht, langfristige Zielvorstellungen im Sinne einer überdauernden Willensorientierung durchzuhalten. Der Mangel an Affekt- und Selbstkontrolle führt stattdessen zu Abbrüchen von Beziehungen und Plänen, was den Eindruck einer gewissen Beliebigkeit vermitteln kann und bei den Patienten zu einer Störung der persönlichen Identität führt. Aus phänomenologischer Perspektive stellen Impulskontrollstörungen neben Zwangserkrankungen eine wichtige Gruppe von Störungen des Suspensionsvermögens dar. Dabei kommt es zu einem Ungleichgewicht aus einem zu starken Handlungsimpuls und einem zu schwachen Kontrollvermögen. Allen Impulskontrollstörungen ist dabei gemein, dass die betroffenen Personen ein drängendes und unkontrollierbares Streben erleben, das von einem Augenblick zum nächsten auftritt und dem entweder sofort oder nach einer kürzeren Zeitspanne der inneren Auseinandersetzung nachgegeben wird. Im Gegensatz zu Zwangserkrankungen erleben sich aber die Personen zum Zeitpunkt der Handlung im Einklang mit ihrem Handlungsimpuls. Obwohl es eine »Ich-Syntonie« (Frosch & Wortis 1954) während der Handlung gibt, können im Nachhinein trotzdem Reue- und Schuldgefühle auftreten. Da die Personen aber trotz gutem Vorsatz auch in der nächsten Situation wieder dem Impuls nachgeben, kann sich langfristig ein Gefühl von Ohnmacht und Unfreiheit einstellen, dem psychotherapeutisch zu begegnen ist.

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III. Die Zwangsstörungen

Seine Welt besteht nur aus den Giftschlagen des Harmes, der Sorge, des Schreckens und Unfriedens. Der Welt der Zwangskranken fehlt der friedvolle Untergrund. 89 Herr Z. (Kasuistik 6): Der 52-jährige Patient befindet sich mit einer rezidivierenden depressiven Störung, einer gemischten Zwangsstörung sowie einer kombinierten Persönlichkeitsstörung in stationärer Psychotherapie. In der Kindheit sei er von der Mutter vernachlässigt worden, der Vater sei bereits früh verstorben. Er sei damals oft in schmutziger Kleidung zur Schule geschickt worden, als Toilette habe lange Zeit ein »Dixi-Klo« im Garten herhalten müssen, für die hygienischen Zustände zu Hause habe er sich vor Gleichaltrigen geschämt. Seit der Pubertät habe er Zwangssymptome entwickelt. Herr Z. lege viel Wert auf Körperhygiene, benötige manchmal Stunden, um die einzelnen Waschrituale zu vollziehen. Ganze Wochenenden verbringe er auch mit der Reinigung der Wohnung, habe daher kaum noch Zeit zur freien Verfügung. Herr Z. arbeitet als Busfahrer und sei bereits mehrere Stunden vor regulärem Arbeitsbeginn damit beschäftigt den Bus zu putzen. Es bestehe eine große Angst vor Ansteckung durch Bakterien oder Viren, auch ekele er sich vor Unreinem und Unsauberem. »Ich weiß, dass mein Reinigungsfimmel übertrieben ist, aber ich halte es ansonsten einfach nicht aus.« Herr Z. habe den Eindruck, dass das Leben an ihm vorüberziehe, da er den ganzen Tag in seine Reinigungsrituale eingebunden sei. Gehe er diesen jedoch nicht nach, dann fühle er sich ebenfalls »hundeelend«.

Zwangsrituale und magisches Denken stellen im 2.–3. Lebensjahr ein bedeutsames Übergangsphänomen in der Entwicklung des Menschen dar, finden sich aber auch im Alltag von psychisch gesunden Erwachsenen wieder (Lieb & Frauenknecht 2009). Kleine Kinder können nicht selten erst dann einschlafen, wenn die »bösen Geister« 89

Viktor von Gebsattel (1954, 99)

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Die Zwangsstörungen

aus dem Zimmer vertrieben wurden, die Mutter eine Gutenachtgeschichte vorgelesen und einen Gutenachtkuss gegeben hat. Viele Erwachsene müssen vor dem Verlassen des Hauses wiederholt kontrollieren, ob die Herdplatten ausgestellt oder die Wohnungstür verriegelt ist, auch wenn ihnen dies irrational erscheint. Auch abergläubisches Denken beeinflusst oft unseren Alltag: Eine Katze, die von links nach rechts die Straßenseite passiert, wird von Vielen als Unglücksbringer angesehen; auf dem Bürgersteig haben Personen nicht selten das Gefühl, nicht die Zwischenfugen betreten zu dürfen; die Unterquerung einer offenen Leiter bringt Pech; und am Freitag, dem 13., sollte man schon gar nicht das Haus verlassen. Die weit verbreitete Angst vor Freitag, dem 13., wird auch mit dem etwas umständlichen psychopathologischen Begriff der »Paraskavedekatriaphobie« bezeichnet und führt dazu, dass an diesem Tag statistisch weniger Unfälle im Straßenverkehr auftreten. Manche Hotels und Fluglinien überspringen die »13« sogar bei der Bezifferung von Räumen und Sitzen, da nicht wenige Gäste diese Nummer als »Unglückszahl« ansehen. Im Gegensatz zu diesen Alltagsphänomenen können Zwangssymptome, wie die im Beispiel oben beschriebenen zwanghaften Wasch- und Reinigungsrituale, eine massive Beeinträchtigung im Alltag der Betroffenen darstellen. Nicht umsonst stellt der »Zwang« ein lexikalisches Gegenteil von »Freiheit« dar, was sich dann darin äußert, dass die Patienten die meiste Zeit des Tages unfreiwillig auf die verselbstständigten Gedanken und Rituale verwenden, deren Funktion es zumeist ist, unerträgliche Affektzustände (wie z. B. Ärger, Wut, Angst, Scham oder Ekel) zu verarbeiten und somit eine vorübergehende Kontrollmöglichkeit für solche Gefühlszustände zu bieten (Mentzos 2011, 161). Im fortschreitenden Krankheitsverlauf haben diese Zwangssymptome jedoch die Tendenz selbst außer Kontrolle zu geraten und sich »in Endlosschleife« aktualisieren zu müssen. Insofern kann, genau wie die Impulskontrollstörung, auch die Zwangsstörung als eine Inhibitionsstörung beschrieben werden, bei der das Suspensionsvermögen nicht mehr in der Lage ist, die starken Strebungen unter Kontrolle zu halten und außer Kraft zu setzen (Zaragoza 2006). Im Unterschied zu den Impulskontrollstörungen oder zur zwanghaften Persönlichkeitsstörung werden die Impulse jedoch als »befremdlich« oder »unsinnig« erlebt (d. h. als »ich-dyston«). Nach ICD-10 kann dabei unterschieden werden zwischen sogenannten Zwangsgedanken (Vorstellungen, Impulsen und Ideen) 148 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die Zwangsstörung als Inhibitionsstörung

und Zwangshandlungen, wobei diese nicht selten gemischt auftreten. 90 Die nachfolgende Untersuchung richtet ihr Augenmerk in erster Linie auf die originären »Zwangsneurosen« und ist zweigeteilt: Einerseits werden anhand psychopathologischer Beschreibungen von Carl Westphal bis Kurt Schneider die Besonderheiten der Zwangsstörung als einer Inhibitionsstörung herausgearbeitet (1.). Andererseits wird an Beispielen aus Klinik und Literatur dargestellt, inwiefern bei Zwangsgedanken (2.) und Zwangshandlungen (3.) von Willensstörungen gesprochen werden kann.

1.

Die Zwangsstörung als Inhibitionsstörung

Die erste klinische Beschreibung der Zwangsstörung nahm Jean Étienne Esquirol 1838 unter dem französischen Begriff der »obsession« vor. Im Gegensatz zur obsessiven »Besessenheit«, die psychopathologisch den Schwerpunkt auf das Objekt des Zwanges setzt, hielt in der deutschsprachigen Literatur unter dem Einfluss von Richard von Krafft-Ebbing (1867) und Carl Westphal (1877) der Begriff der »Zwangsstörung« Einzug, der eher den zwingenden Charakter der Vorstellungen, Impulse und Handlungen fokussierte. Die frühen Beschreibungen v. a. durch Westphal haben im Laufe der Jahre nicht an Aktualität verloren und so finden sich diese auch heute noch in ähnlichen Kriterien im ICD-10 wieder, die der Diagnostik des Störungsbildes dienen (Oberbeck & Steinberg 2015). Dabei fällt zunächst auf, dass die Zwangsstörung wie auch die Impulskontrollstörung durch ein unzureichendes Hemmungsvermögen bei sich aufdrängenden Vorstellungen oder Impulsen gekennzeichnet ist (a). In Abgrenzung zu den Impulskontrollstörungen oder der zwanghaften Persönlichkeitsstörung werden diese Bewusstseinsinhalte aber als unsinnig, befremdlich oder störend erlebt (b).

Auch kann psychodynamisch zwischen einer primären oder sekundären Zwangssymptomatik unterschieden werden, denn oftmals entstehen Zwänge als Bewältigungsmechanismus einer depressiven oder schizophrenen Psychose (Mentzos 2011, 163).

90

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Die Zwangsstörungen

a)

Starker Antrieb und schwache Suspension

Bereits Westphal beschrieb die Unfähigkeit der Zwangskranken, die starken Vorstellungen oder Impulse außer Kraft zu setzen: »Unter Zwangsvorstellungen verstehe ich solche, welche bei übrigens intacter Intelligenz und ohne durch einen Gefühls- oder affectartigen Zustand bedingt zu sein, gegen oder wider den Willen des betreffenden Menschen in den Vordergrund des Bewusstseins treten, sich nicht verscheuchen lassen, den normalen Ablauf der Vorstellungen hindern und durchkreuzen.« (Westphal 1877)

Es handele sich demnach bei Zwangsvorstellungen um Bewusstseinsinhalte, die sich gegen den eigenen Willen aufdrängen, die sich aktualisieren und Bahn brechen, obgleich sie eigentlich von der Person nicht gewollt sind. Auch bei Bleuler findet sich eine dem Gehalt nach ähnliche Beschreibung der Zwangsvorstellungen und -handlungen: »Zwangsideen, Zwangsvorstellungen sind Ideen, die sich gegen den Willen des Kranken mit oder ohne äußeren Anlass beständig aufdrängen.« (Bleuler 1916, 63) »Zwangshandlungen sind bewusste Handlungen gegen den eigenen Willen auf einen inneren Antrieb hin.« (ebd., 106)

Eine auch noch heute gültige Definition des Zwangs stammt von Kurt Schneider, der den überdauernden Aspekt des Drängens noch stärker in den Fokus nahm: »Zwang ist, wenn jemand Bewusstseinsinhalte nicht loswerden kann, obschon er sie gleichzeitig […] als ohne angemessenen Grund beherrschend oder beharrend beurteilt.« (Schneider 1950/1987, 50 f.).

Zwangssymptome haben nach Schneider also etwas Beherrschendes oder Beharrendes, was die Freiheit des Zwangskranken im erheblichen Maße einschränken kann. Ihrem Drängen kann demnach vom Kranken nur wenig entgegengesetzt werden, sodass Gedanken gedacht werden, Handlungen getan werden müssen, obwohl sich der Kranke mit ganzem Willen dagegen sträubt. Vielmehr gewinnt der Kranke den Eindruck, dass die Willensanstrengung gegen die Vorstellungen und Impulse sogar oftmals das Gegenteil bewirkt, nämlich dass diese dadurch eher noch stärker in Erscheinung treten und seinen Alltag beherrschen (von Gebsattel 1954, 115). Auch Sigmund Freud beschrieb das Ohnmachtsgefühl der Pa-

150 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die Zwangsstörung als Inhibitionsstörung

tienten, dass der Zwang nicht außer Kraft zu setzen ist, sondern nur auf ein anderes Objekt verschoben werden kann: »Er kann […] nicht anders; was sich bei der Zwangsneurose zur Tat durchsetzt, das wird von einer Energie getragen, für die uns wahrscheinlich der Vergleich aus dem Seelenleben abgeht. Er kann nur eines: verschieben, vertauschen, anstatt der einen dummen Idee eine andere, irgendwie abgeschwächt setzen, von einer Vorsicht oder Verbot zu einem anderen fortschreiten, anstatt des einen Zeremoniells ein anderes ausführen.« (Freud GW XI, 267)

Das Beherrscht-werden durch die eigenen Zwangsantriebe führe schließlich zum Erleben der eigenen Unfreiheit: »Das Ganze läuft in eine immer mehr zunehmende Unentschlossenheit, Energielosigkeit, Freiheitsbeschränkung aus.« (ebd.) Das Erleben der Unfreiheit infolge des Zwangs beschreibt auch von Gebsattel (1954) in seiner Studie über Die Welt der Zwangskranken: Der Anankast sei ein »Verfolgter und Gehetzter«, ihm folge der »Feind auf der Ferse nach«, er kämpfe »mit einem Schatten«, der er selbst sei (ebd., 89). Ohne die Möglichkeit willentlicher Kontrolle entwickele sich so ein »expansives Eigenleben«, das die Freiheit der Person mehr und mehr einenge: »Eine Verarmung der Freiheit setzt sich nun in der Festlegung belangloser Akte oder Teilakte und deren Reihenfolge durch, Variationen gibt es nicht, Abwandlungen des Tuns sind verboten und schuldhaft.« (von Gebsattel 1954, 113)

Allen hier dargestellten Beschreibungen des Zwangs ist also gemein, dass die sich stark aufdrängenden Vorstellungen und Impulse ein Gefühl der Unkontrollierbarkeit begleitet und somit die Bewusstseinsinhalte nicht außer Kraft gesetzt werden können, vielmehr wird in scheinbar paradoxer Weise erlebt, dass durch einen Widerstand gegen die Zwänge diese eher noch verstärkt werden. Die »Verschiebung« auf ein anderes Zwangsobjekt stellt für den Zwangskranken dagegen nicht selten den einzigen Freiheitsspielraum dar, auf diese starken Strebungen zu reagieren.

b)

Der Charakter des Unsinnigen und Störenden

In den psychopathologischen Beschreibungen von Westphal bis zum ICD-10 taucht durchgängig die Beschreibung eines weiteren Merkmals der Zwangssymptomatik auf: Die Vorstellungen werden als stö151 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die Zwangsstörungen

rend, sinnlos oder befremdlich, d. h. als »ich-dyston«, erlebt, was sie wiederum von den Impulskontrollstörungen oder der anankastischen Persönlichkeitsstörung unterscheidet (Frosch & Wortis 1954). Bereits bei Westphal wird beschrieben, dass die Person die Zwänge als »abnorm« und »fremdartig« erlebt, sodass der Eindruck bestünde, sie wären dem gesunden Bewusstsein entgegengesetzt. Jaspers (1913/1965, 113) formuliert sogar, dass bei Zwangshandlungen das »Bewusstsein von der Fremdheit der Triebregung, das Bewusstsein, dass die Triebregung dem eigenen Wesen überhaupt nicht entspricht, dass sie sinnlos und unverständlich ist« besonders charakteristisch sei. Auch Freud beschreibt diesen Aspekt aus seiner Arbeit mit Zwangskranken: »Nun denken Sie aber nicht, dass Sie dem Kranken etwas leisten, wenn Sie ihm zureden, sich abzulenken, sich nicht mit diesen dummen Gedanken zu beschäftigen […] Das möchte er selbst, denn er ist vollkommen klar, teilt ihr Urteil über seine Zwangssymptome, ja er trägt sie Ihnen entgegen. Er kann nur nicht anders.« (Freud GW XI, 266 f.)

Zwangskranke wissen um die Unsinnigkeit und Abnormität ihres Erlebens, aber das Wissen allein hilft ihnen nicht dabei, sich davon zu befreien. Im Gegensatz zu Westphal und Jaspers, die die Vorstellungen und Impulse als gänzlich fremdartig beschreiben, wird dies insbesondere von Bleuler und Schneider relativiert. Bleuler (1916, 63) charakterisiert die Zwangssymptome dadurch, dass sie zwar durch die Person als unrichtig erkannt würden, jedoch trotzdem – anders als beim psychotischen Erleben – der Persönlichkeit nicht fremd seien. In ähnlicher Weise formuliert Schneider: »Der Inhalt ist nicht ichfremd, er befremdet nur durch seine Unsinnigkeit oder sein störendes Beharren.« (Schneider 1950/1987, 50)

Insofern ist es treffender zu sagen, dass die Person zwar weiß, dass die Impulse und Vorstellungen zu ihr selbst gehören und sie somit nicht als dem Ich-Bewusstsein entzogen erlebt werden, dass sie diese jedoch loswerden möchte, da ihr Ausmaß und beherrschender Charakter als unsinnig, befremdend, störend oder beeinträchtigend wahrgenommen wird. Eine pathologische Zwangssymptomatik liegt demnach immer dann vor, wenn Zwänge aufgrund ihrer Intensität, Dauer und Häufigkeit nicht mehr zu kontrollieren sind und in der Folge die Person selbst in ihrem täglichen Denken und Handeln derart beeinflussen, dass hierdurch ein Leidensdruck entsteht. Nicht selten weitet sich dieser Lei152 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Zwangsgedanken

densdruck aber auch auf nahe Angehörige oder Partner aus, vor allem dann, wenn sie in das Zwangssystem des Kranken einbezogen sind und dadurch ebenfalls in ihrem Alltag Einschränkungen erfahren.

2.

Zwangsgedanken

Als Zwangsgedanken (englisch: obsessions) können Vorstellungen oder Ideen beschrieben werden, die sich dem Patienten gegen seinen Willen aufdrängen, jedoch werden diese dabei nicht als Eingebung von Anderen oder als von außen kommend erlebt, wie etwa bei einer Ich-Störung in der Schizophrenie, sondern als eigene Gedanken. Die Patienten versuchen, sich den Gedanken zu widersetzen oder sie zu ignorieren, allerdings stellt sich dadurch keine Besserung ein. Diese Gedanken werden zudem oftmals als quälend und unsinnig erlebt, auch schämen sich die Betroffenen oft dafür, weshalb sie diese erst bei fortgeschrittener Erkrankung mitteilen. Nicht selten steht dann auch die Angst im Mittelpunkt, selbst »verrückt zu werden«, da Zwangsgedanken meist im Zusammenhang mit der Angst stehen, etwas falsch gemacht zu haben, also nicht den Ansprüchen gesellschaftlicher Moralvorstellungen und Normativität genügen zu können. Folglich besteht die Welt der Zwangskranken aus Verboten und Gefahren, sodass ihr »der friedvolle Untergrund« zu fehlen scheint (von Gebsattel 1954, 99). Häufig haben Zwangsgedanken entweder Kontaminations- oder Verunreinigungsängste (a) oder aber die Befürchtung aggressiver (b) oder sexueller (c) Triebimpulse zum Inhalt. Auch kann es in der Folge von Zwangsgedanken zu Zwangshandlungen wie Wasch- und Kontrollzwängen, gedanklichen Ritualen oder aber zu Vermeidungsverhalten kommen.

a)

Zwangsgedanken mit Ängsten vor Verunreinigung

Eine häufige Befürchtung von Zwangskranken ist es, mit etwas »Schmutzigem« oder »Unreinem« in Kontakt gekommen zu sein oder sich mit einem Virus (z. B. HIV) infiziert zu haben. Der Wunsch, rein und sauber zu sein, hängt oft mit der Angst vor Krankheit und Tod zusammen, wie dies auch an von Gebsattels Beispiel der 38-jährigen Musikstudentin I. G. deutlich wird: 153 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die Zwangsstörungen

»Das Gebot der Keuschheit macht ihr viel zu schaffen. Jede Berührung des eigenen Körpers oder eines Gegenstandes, der mit ihrem Körper auch nur in indirekte Berührung kam, z. B. eine Nadel mit der sie einen Knopf an die Hose annähte, wird zur »Unkeuschheit«. Dabei heißt »unkeusch« nur das, was mit der Notdurft in näherem oder ferneren Zusammenhang steht […] Als sie nach F. kam, stand im Mittelpunkt der Zwangskrankheit Angst vor allem, was mit Tod und Toten zusammenhängt, und zugleich eine Besessenheit durch diese Inhalte […] Alles, was länglich, viereckig, stumpfwinkelig ist, bedeutet »Sarg« und muss vermieden werden […] Die Analyse ergibt immer wieder, dass alles »Schlechte« und »Verbotene« mit dem Tod in Zusammenhang steht und ihn bedeutet – z. B. darf sie keinen Satz aussprechen, in dem etwas Verneinendes vorkommt, denn alles »nein«, »nicht« usw. bedeutet Tod.« (von Gebsattel 1954, 79)

Im Fall der Patientin I. G. besteht eine starke Angst davor, etwas Falsches oder Verbotenes zu tun und sich dadurch zu verunreinigen. Stark ausgeprägt sind die Befürchtungen, durch Verschmutzung oder Ansteckung unsauber, in ihren Worten, »unkeusch« zu werden. Das Gefühl von einer Fliege berührt worden zu sein, die möglicherweise auf Hundekot gesessen hat, führt zu einem unerträglichen Ekelgefühl, sodass die Patientin einen Spaziergang beenden muss (ebd., 92). Sie ist von einer fundamentalen Unsicherheit erfasst: Sei es eine falsche Bewegung und die drohende Kontamination durch Bakterien, ein falscher Tritt auf einen verbotenen Stein oder ein falsches Wort – überall lauern Schmutz, Krankheit und Tod im Alltag. Eine sorgenvolle Grundhaltung und fehlendes Vertrauen in die Welt begleiten die Patientin jeden Tag, da jedes Handeln schwerwiegende Folgen haben könnte und so fühlt sich die Zwangskranke, als stünde sie stets in der Nähe des Abgrunds.

b)

Zwangsgedanken mit aggressivem Inhalt

Eine weitere häufig auftretende Befürchtung besteht darin, einer anderen Person etwas angetan zu haben oder ihr etwas antun zu werden. Dabei spielen die Unterdrückung feindseliger Impulse, die Norm, Andere nicht zu verletzen oder gar zu töten, und die Angst vor den sozialen Folgen einer solchen Tat eine wichtige Rolle. Der eine Patient muss sich z. B. den Ablauf des Tages genau vor Augen führen, um kontrollieren zu können, nicht »aus Versehen« einem anderen Menschen ins Gesicht geschlagen zu haben. Ein anderer Patient hat panische Angst

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Zwangsgedanken

vor Küchenmessern, da er vielleicht im Affekt der eigenen Mutter das Messer in die Brust stoßen könnte. Eine weitere Patientin muss bei der Fahrt mit dem Auto im Rückspiegel beobachten, ob sie soeben einen Menschen überfahren hat oder sich wiederholt die Strecke vergegenwärtigen, um sich zu vergewissern, auch ja keinen Fehler begangen und jemanden übersehen zu haben. Schließlich kann es auch vorkommen, dass die gewissenhafte Ehefrau Angst bekommt, dass sie aus Unachtsamkeit etwas Giftiges ins Essen getan hat und dadurch den Ehemann vergiftet hat. Diese Befürchtungen können jedoch nicht selten auch magischer Natur sein: Ein Patient von Mentzos (2011, 160) berichte z. B. von der Angst, den eigenen Vater zu töten, wenn er das Licht ausmacht, weshalb ein kompliziertes Zwangsritual nötig wurde. Allen aggressiven Zwangsgedanken gemeinsam ist demnach die Befürchtung eines Kontrollverlustes, etwas Unrechtes oder Verbotenes getan zu haben oder noch zu tun. 91

c)

Zwangsgedanken mit sexuellem Inhalt

Auch Ängste, einer verbotenen sexuellen Triebregung stattgegeben zu haben, finden sich häufig als Inhalt von Zwangsgedanken wieder. Freud verstand sogar die Abwehr sexuell abnormer Wünsche und sadistischer Impulse als generellen Ursprung der Zwangsneurose (GW IX, 328 ff.). Ist eine solche Generalisierung auch nicht haltbar, so gibt es dennoch nicht wenige Patienten, die Zwangsgedanken sexuellen Inhalts haben: Der eine Patient hat so die Befürchtung, über Nacht homosexuell geworden zu sein und seinen Bruder unsittlich berührt zu haben, weshalb er von diesem immer wieder die Rückmeldung bekommen muss, dass nichts vorgefallen sei. Ein anderer Patient hat den Zwangsgedanken, in der Öffentlichkeit onanieren zu müssen und dabei »aus Versehen« eine fremde Frau zu schwängern. Ein Patient Westphals (1877) hat die Angst, seine tote Großmutter im Grab missbraucht zu haben, was dazu führen kann, dass ein solcher Patient immer wieder zu dem Grab geht, um zu schauen, ob es noch verschlossen ist. Oft lassen sich solche Zwangsgedanken auf die Angst vor Kontrollverlust über die eigenen Triebe und die Angst vor Beschämung Aus psychodynamischer Sicht können diese Befürchtungen unbewussten tabuisierten Wunschfantasien der Person entsprechen.

91

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Die Zwangsstörungen

zurückführen, d. h. auch auf die Vorstellung, was denn passieren würde, wenn man sich selbst in eine solche Lage brächte und von der Gesellschaft dafür verurteilt würde.

3.

Die Zwangshandlungen

In Abgrenzung zu Zwangsgedanken können Zwangshandlungen (englisch: compulsions) als ritualisierte, stereotype Handlungsmuster beschrieben werden, die der Patient beständig wiederholen muss, obwohl er diese eigentlich als unsinnig, quälend oder unnötig erlebt. Zwangshandlungen stellen dabei zumeist einen Verarbeitungsmechanismus eines vorausgegangenen Zwangsgedanken dar und dienen der Regulation eines unangenehmen Gefühlszustandes von Unruhe, innerer Anspannung und Angsterleben. Wird ein solches Zwangsritual aus irgendeinem Grund unterbrochen oder fehlerhaft umgesetzt, so muss es erneut durchgeführt werden bis die Anspannung abgeklungen ist. Oft treten bei Zwangskranken zudem mehrere Zwangsgedanken und Zwangshandlungen zugleich auf. Bereits Bleuler (1916, 64) wies folglich darauf hin, dass es die ansteigende Angst sei, die es dem Zwangskranken unmöglich mache, den Zwangsimpuls zu ignorieren oder außer Kraft zu setzen. Mentzos (2011, 160) beschreibt diesen Zustand als »eine ängstlich gefärbte innere Spannung, die schließlich so unerträglich wird, dass er [der Patient] sich doch seinen Zwängen beugen muss.« Da die Bandbreite von Zwangshandlungen sehr groß ist, sollen hier nur einige häufig auftretende Zwänge dargestellt werden: der Wasch- und Reinigungszwang (a), der Kontrollzwang (b), der Ordnungszwang (c), das »Schlafzeremoniell« (d) und schließlich der Zählzwang (e).

a)

Wasch- und Reinigungszwang

Wie auch der Busfahrer Herr Z., der Tage mit der Reinigung des Hauses verbringt und seinen Bus jeden Morgen vor Dienstantritt sorgfältig putzt, leidet auch die Patientin E. Sp. in einer Kasuistik von von Gebsattel an einem Reinigungszwang: »Ihr Verhalten entwickelte sich in der letzten Zeit vor ihrer Einweisung in F.

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Die Zwangshandlungen

zu einer untragbaren Störung, da sie oft ganze Nächte hindurch nicht nur sich, sondern auch Gegenstände wusch und von den anderen immer rücksichtsloser eine Berücksichtigung ihrer Zwänge forderte. In F. fiel ihr auf, dass sie nicht in der Lage war, ihre Koffer auszupacken und ihre Gegenstände einzuräumen. Um das zu können, hätte sie den Schrank im Zimmer waschen müssen – es war ein Biedermeierschrank, der innen mit buntgemusterten Papier beklebt war und sich nicht waschen ließ […] So kam es, dass sie viele Wochen in einem weißen Waschkleid herumlief, das von Woche zu Woche immer schmutziger wurde. Sie nannte es selbst ihr »furchtbares Wahnsinnskleid« […] Auch in F. kam sie zuerst in späten Nachtstunden zu Bett, teils wegen des Waschzwangs, teils wegen ihres sog. »Rumfummelns«. Es handelte sich dabei um einen schweren Rekapitulationszwang, der sie dazu veranlasste, alle Begebenheiten, Gespräche, Verrichtungen des Tages unzählige Male durchzudenken und zu wiederholen, wobei sie eigene Verrichtungen, z. B. das Waschen eines Gegenstandes immer wieder agieren musste […] Ihr Waschzwang hatte sich aus einer krankhaften Angst vor Hunden in früher Jugend entwickelt. Dass Hunde durch Lecken auf den Menschen Würmer übertragen können, hatte ihr in der Kindheit einen unauslöschlichen Eindruck gemacht.« (von Gebsattel 1954, 77 f.)

Am Beispiel der Patientin E. Sp. wird deutlich, wie der Zwangsgedanke mit der Angst vor der Verunreinigung durch Würmer sich zu ritualisierten Zwangshandlungen und Vermeidungsverhalten verselbstständigt. Die Wasch- und Reinigungszwänge dominieren das Leben der Patientin, sodass sie Tag und Nacht um den Gedanken der Unsauberkeit kreist. Dies zeigt sich auch darin, dass Patienten mit Waschzwängen die Handlungsschritte aufs Genaueste planen: Die Körperabschnitte müssen in einer bestimmten Reihenfolge mit Seife oder Desinfektionsmittel gewaschen werden; oft müssen die Waschungen 20–30 Mal vorgenommen werden und dauern nicht selten über mehrere Stunden an. Berührungen von Verunreinigtem, manchmal aber auch nur der Gedanke an »Unreines«, führen dazu, dass das Ritual wieder und wieder durchgeführt werden muss, was häufig zu Mazerationen der obersten Hautschicht führt, die Haut wirkt gereizt und übermäßig beansprucht durch die vielen Tenside und Waschmittel, die die Hautbarriere zerstören. Auch Kleidung, Wohnung oder Arbeitsplatz werden permanent gereinigt, um den Kontakt mit Bakterien oder Viren zu verhindern. Dadurch werden die Patienten vollständig von ihrem Zwang in Anspruch genommen, verlieren ihr soziales Umfeld und ziehen sich im weiteren Verlauf immer mehr aus dem öffentlichen Raum zurück. 157 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die Zwangsstörungen

b)

Kontrollzwang

Neben Waschzwängen sind auch Kontrollzwänge (sog. CheckingVerhalten) klinisch sehr verbreitet. Das nachfolgende Beispiel der Patientin Frau J. verdeutlicht, wie quälend solche Zwänge sein können: Frau J. (Kasuistik 7): Die Patientin ist Musikerin und arbeitet als Klarinettistin in einem Orchester. Sobald sie zu Proben oder Konzerten muss, nimmt sie sich den Klarinettenkoffer vor, baut die einzelnen Teile des Instrumentes zusammen und auseinander. Da sie Befürchtungen hat, dass sie dort nicht in vollständiger Montur erscheint, wiederholt sie den Vorgang wieder und wieder. Hat sie genügend Sicherheit entwickelt, dass auch ja alle Teile im Koffer sind, muss sie kontrollieren, ob die Herdplatten ausgedreht sind und sie wichtige Wertgegenstände wie Schlüssel und Portemonnaie in der Tasche hat. Sobald sie aus der Tür getreten ist, muss sie diese wieder und wieder abschließen. Etwa nach dem 20. Mal ist sie sich sicher, dass die Tür abgeschlossen ist, und nun steigt die Angst wieder auf, dass sie die Einzelteile der Klarinette womöglich doch nicht vollständig beisammen hat, sodass sie erneut beginnt, den Koffer zu durchschauen. Dieses Ritual kann sich jeden Morgen mehrere Stunden hinziehen.

Das Kontrollverhalten, zu prüfen, ob Wohnungs- oder Autotür abgeschlossen sind, Portemonnaie und Schlüssel noch in der Tasche stecken oder Herdplatte und Elektrogeräte ausgestellt sind, gehört zum Alltag der meisten Menschen, da eine Fehlleistung manchmal fatale Folgen haben kann. Schließlich kann in die Wohnung eingebrochen werden oder das Haus abbrennen und Wertgegenstände wie Portemonnaie und Schlüssel können entwendet werden. Daher ist ein Checking-Verhalten im Alltag durchaus sinnvoll. Beim pathologischen Kontrollzwang wird dagegen das Ausmaß der Wiederholungen als unsinnig und quälend empfunden, die die Person stereotyp durchführen muss, um die Angst vor Kontrollverlust zu vermindern. Sie hat dann selbst die Kontrolle über das Kontrollverhalten verloren und wird vielmehr von diesem in ihrem Alltag bestimmt.

c)

Ordnungszwang

Tölle & Windgassen schildern die Fallgeschichte eines 22-jährigen Patienten, bei dem verschiedene Handlungen wie Sachenpacken, Ankleiden, Waschen oder Toilettengang nach einem streng ritualisierten Ordnungssystem erfolgen müssen: 158 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die Zwangshandlungen

»Zunächst musste ich, äh, im jugendlichen Alter, so 12, 13, verschiedene Sachen besonders gründlich machen. Darauf basiert im Grunde genommen die ganze Zwangslogik. Dass ich gründlich die Schultasche packen musste, dass ich die Bücher in einer bestimmten Reihenfolge reinlegte, die Kanten alle parallel liegen mussten, dass es einen ordentlichen Eindruck machte […] Und, äh, es ging dann schließlich in der Entwicklung so, dass ich, äh, dass sich das auf das Umziehen und Anziehen ausweitete. Das heißt, wenn ich also einen Socken anzog, musste ich den also stundenlang immer gerade rücken und gerade ziehen, sodass ich für einmal Ankleiden und Waschen, äh, ein bis zwei Tage brauchte. Und das ’ne fürchterliche Quälerei für mich war […] Dazu kommt dann noch, dass das mit der Toilette sich ebenfalls sehr gesteigert hat. Dass ich also manchmal einen Tag, zwei, drei Tage oder so, auf der Toilette gesessen habe. Und dann das Abwischen bzw. das Schließen der Kleidung dann wieder, und äh, Abziehen dann, muss ich auch besonders lange auf den Abzug und immer wieder drücken, weil ich mich auch überzeugen muss, ob ich wirklich alles weggespült hab. Wenn ich lese, muss ich dann immer wieder gucken, ob ich auch wirklich, äh, das Wort, was ich jetzt gelesen habe, muss ich dann genau nochmal Buchstabe für Buchstabe kontrollieren […] Das ist ja das Dumme eben an der Sache, dass ich verstandesmäßig wohl die Sache voll und ganz durchschaue und weiß, das ist Unsinn, was ich da tue.« (Tölle & Windgassen 2009, 91)

Der Patient muss den ganzen Tag über ein Ordnungssystem erfüllen, jede Verrichtung muss mit hundertprozentiger Sorgfalt und Gründlichkeit durchgeführt werden. Es darf im Handlungsablauf zu keinerlei Irritationen kommen: So muss die Kleidung richtig angelegt, die Schultasche in der richtigen Reihenfolge ordentlich bepackt sein, die Toilette nach der Benutzung sauber hinterlassen und die Worte gründlich gelesen werden. Die Angst, eine Tätigkeit fehlerhaft oder ungenügend verrichtet zu haben, erzeugt bei dem Patienten starke Schuldgefühle. So dienen Ordnungszwänge oftmals dazu, dass die Patienten ein Gefühl der Kontrolle über die Handlungsabläufe bekommen und ihre Angst vor Fehlern und Imperfektion abbauen können. Werden diese ritualisierten Handlungsabläufe jedoch durch andere Personen gestört oder sind diese dem eigenen Empfinden nach nicht gründlich genug verrichtet, so müssen die Betroffenen erneut mit den Zwangshandlungen beginnen.

159 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die Zwangsstörungen

d)

Das »Schlafzeremoniell«

Ein spezielles Ordnungssystem, das ebenfalls oft berichtet wird, ist das Einschlafritual, das manche Menschen vor dem Zubettgehen vollziehen und bei Zwangskranken abendfüllend sein kann. Dabei wird sich u. a. nach einer bestimmten Ordnung aus- und Schlafkleidung angezogen, Zahnpflege nach einem bestimmten Muster betrieben, zum Bett gegangen, der Wecker zurechtgerückt und angestellt, die Vorhänge vorgezogen, eine tickende Uhr oder ein leuchtender Gegenstand außer Reichweite gebracht, der Nachttisch zurechtgerückt, ein sogenanntes »Nachthupferl« genommen, genau zehn Seiten im Buch gelesen usw. Auch Freud beschreibt minutiös das Einschlafzeremoniell einer 19-jährigen Patientin, wovon hier ein Auszug wiedergegeben wird: »Unsere Patientin schützt als Motiv ihrer nächtlichen Vorsichten vor, dass sie zum Schlafen Ruhe braucht und alle Quellen des Geräusches ausschließen muss. In dieser Absicht tut sie zweierlei: Die große Uhr in ihrem Zimmer wird zum Stehen gebracht, alle anderen Uhren aus dem Zimmer entfernt, nicht einmal ihre winzige Armbanduhr wird im Nachtkästchen geduldet. Blumentöpfe und Vasen werden auf dem Schreibtische so zusammengestellt, dass sie nicht zur Nachtzeit herunterfallen, zerbrechen und so im Schlafe stören können […] Für andere Bestimmungen des Zeremoniells wird die Anlehnung an das Ruhegebot fallengelassen. Ja, die Forderung, dass die Türe zwischen ihrem Zimmer und dem Schlafzimmer der Eltern halb offen bliebe, deren Erfüllung sie dadurch sichert, dass sie verschiedene Gegenstände in die geöffnete Tür rückt, scheint im Gegenteil eine Quelle von störenden Geräuschen zu aktivieren. Die wichtigsten Bestimmungen beziehen sich aber auf das Bett selbst. Das Polster am Kopfende des Bettes darf die Holzwand des Bettes nicht berühren. Das kleine Kopfpolsterchen darf auf diesem großen Polster nicht anders liegen, als indem es eine Raute bildet; ihren Kopf legt sie dann genau in den Längsdurchmesser auf die Raute. Die Federdecke […] muss vor dem Zudecken geschüttelt werden, dass ihr Fußende ganz dick wird, dann aber versäumt sie es nicht, die Anhäufung durch Zerdrücken wieder zu zerteilen.« (Freud GW XI, 272 f.)

Der Prozess des Zubettgehens und Einschlafens bekommt hier einen fast schon sakralen Charakter und stellt »eine Wissenschaft für sich« dar. Es besteht die Angst, dass es durch eine Störung der vorgeschriebenen Ordnung bzw. Reihenfolge zu Irritationen im seelischen Gleichgewicht kommt und dadurch »keine Ruhe« mehr gefunden werden kann. Kommt es doch einmal zu Veränderungen, dann kann das tatsächlich solange qualvolle Anspannungszustände nach sich zie160 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Zusammenfassung

hen, bis jener Punkt erreicht wird, an dem das Gleichgewicht als wiederhergestellt gilt.

e)

Zähl- oder Rechenzwang

Manche Zwangskranke haben den Drang, alles zu zählen, was in größeren Mengen vorkommt, so z. B. Pflastersteine auf dem Asphalt, Wagons einer Eisenbahn, Äpfel an einem Gemüsestand etc. Andere führen eine Zählung von eins bis zu einer Million durch, zählen rückwärts oder zählen nur die Primzahlen und wenn sie dabei gestört werden, reagieren sie ärgerlich und müssen den Zählprozess von Neuem beginnen. Wiederum andere Patienten führen im Kopf Rechenaufgaben durch, die keinerlei praktischen Nutzen haben. Diese Zähl- und Rechenzwänge lassen solche Patienten verschroben wirken und verhindern, dass sie sich vollständig oder auch nur ein wenig auf die Anforderungen des Alltags konzentrieren können. In der Regel hat das Zählen und Rechnen für die Patienten aber eine stabilisierende Funktion, gibt ihnen Halt und schützt vor einem befürchteten Chaos. 92 Zahlensysteme bieten kompensatorisch eine gewisse innere Ordnung an, die nicht aus den Fugen zu bringen ist: Schließlich folgt auf die Zahl 134 immer die 135 und die Quadratwurzel aus 289 ist immer 17.

4.

Zusammenfassung

»Zwänge« und magische Gedanken sind im Rahmen der kognitiven Entwicklung in den ersten Lebensjahren zu beobachten und in funktionaler Form auch bei gesunden Erwachsenen anzutreffen. Pathologische Zwänge hingegen stellen wie die Impulskontrollstörungen eine Form der Willensstörung dar, bei der das Suspensionsvermögen nicht in der Lage ist, eine starke und beharrende Strebung außer Kraft zu setzen. Stattdessen kommt es bei dem Versuch, einem Zwang den eigenen Willen entgegenzusetzen, dazu, dass unerträgliche Anspannungs- und Gefühlzustände mit Angst oder Ekel entstehen und sich der innere Drang in Form einer Zwangssymptomatik So beschrieb z. B. der berühmte Mathematiker John Nash Zähl- und Rechenzwänge kurz bevor er in die schizophrene Psychose abglitt.

92

161 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die Zwangsstörungen

durchsetzt. Ihren Namen erhält sie daher im Deutschen anders als im Französischen oder Englischen (»obsession«) nicht vom Zwangsinhalt, sondern durch den zwingenden Charakter der Störung. Daneben besteht ein weiteres Merkmal der Zwangsstörung darin, dass die Intensität und Häufigkeit des Zwangs als unsinnig, befremdlich oder störend (»ich-dyston«) erlebt wird. Zwar werden Zwangssymptome nicht als gänzlich ich-fremd, d. h. als eingegebene oder allgemein von außen kommende Gedanken und Impulse, beschrieben, allerdings werden diese als quälend erlebt und es besteht ein Leidensdruck, da sie eine nicht unwesentliche Einschränkung im Alltag der Betroffenen darstellen. Ein Überblick der psychopathologischen Literatur von Westphal bis zum ICD-10 konnte zeigen, dass seit 150 Jahren gerade diese beiden Merkmale als wesentliche Kriterien für die Störung angesehen werden: die mangelnde Inhibitionsmöglichkeit des starken Dranges (1) und das Erleben der Unsinnigkeit der Zwänge (2). Des Weiteren wurde eine Differenzierung nach Zwangsgedanken und Zwangshandlungen vorgenommen: Während »Zwangsgedanken« Vorstellungen und Gedanken umfassen, die oft Befürchtungen darstellen, gegen eine Norm oder Regel verstoßen zu haben, stellen »Zwangshandlungen« zumeist Kompensationsmechanismen solcher Ängste dar. Dabei werden bestimmte Rituale in der immer gleichen stereotypen Weise wiederholt, solange bis Angst und Anspannung nachgelassen haben. Häufig können sich Zwangsgedanken z. B. in Ängsten vor Verunreinigung oder in aggressiven und sexuellen Inhalten ausdrücken, während für die Zwangshandlungen der Wasch- und Reinigungszwang, der Kontrollzwang, der Ordnungszwang, das Schlafzeremoniell sowie der Zähl- und Rechenzwang beispielhaft sind. Alle Formen pathologischen Zwangs stellen Willensstörungen dar, die die Betroffenen in erheblicher Weise in ihrer Freiheit einschränken. Aufgrund der Scham der Patienten werden diese Willensstörungen oft erst spät diagnostiziert, sind aber dringend psychotherapeutisch behandlungsbedürftig.

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IV. Die pathologische Ambivalenz

So kämpften zwei Willen miteinander […] und ihre Zwietracht zerriss mir die Seele. 93 Herr I. (Kasuistik 8): Der 29-jährige Patient befindet sich mit einer rezidivierenden depressiven Störung und einer ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung in stationärer psychotherapeutischer Behandlung. Aufgrund der Unfähigkeit, Entscheidungen innerhalb eines angemessenen Zeitraums zu treffen, komme es im Alltag zu erheblichen Schwierigkeiten. Dies sei insbesondere dann der Fall, wenn eine negative Konsequenz drohe, z. B. wenn durch das Gegenüber Beschämung oder Ablehnung zu erwarten sei. Diese angstbedingte Entschlussunfähigkeit führe zu einer langfristigen Handlungsunfähigkeit. Herr I. verpasste so zunächst die Einschreibefrist zum Studium und konnte sich auch in den Folgejahren nicht zu einer Bewerbung durchringen. Es vergingen einige Jahre bis sich der Patient erfolgreich immatrikulieren konnte. Um dann nicht weiter bei den Eltern wohnen zu müssen, hatte er den Wunsch, eine finanzielle Unterstützung zum Wohnen zu beantragen. Jedoch stellte sich dies als größere Hürde dar: »Als ich Wohngeld beantragen sollte, fingen meine Probleme im Studium an. Dann sollte ich dafür noch einen gültigen Ausweis beantragen. Dann war ich mir nicht mehr so sicher, ob ich das Studium durchziehen werde und das hat sich dann verhakt bei mir. Am Ende habe ich gar nichts gemacht.« Aufgrund von im Vorhinein nicht absehbaren Komplikationen, falle dem Patienten jeder Entschluss schwer und die Entscheidungsbildung sei für ihn im hohen Maße unangenehm. Der Vorsatz während der Therapie zum Ausgleich mehr Sport treiben zu wollen, konnte aufgrund negativer Gedanken nicht in die Tat umgesetzt werden: »Ich war auf die Idee gekommen, Joggen zu gehen. Dann fing der Ärger an! Erst war ich unsicher, wo und was für Laufschuhe ich kaufen sollte. Ich hatte große Hemmungen in ein Sportgeschäft zu gehen. Dann habe ich mir überlegt, ob ich überhaupt Sport machen will, und am Ende habe ich es einfach sein gelassen.«

93

Augustinus (Conf. VII 5,10)

163 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die pathologische Ambivalenz

Das Phänomen der Ambivalenz des Wollens (lateinisch ambi: beide, valere: Wert haben, gelten) bzw. der Ambitendenz (lat. tendere: spannen) wurde erstmals von Eugen Bleuler (1911) beschrieben. Darunter kann die Disposition einer Person verstanden werden, in Wahlsituationen aus mindestens zwei Handlungsoptionen regelmäßig eine überdurchschnittlich lange Zeitspanne für eine Entscheidung zu benötigen oder trotz einer Phase längeren Abwägens keinen Willensentschluss herbeizuführen. Im Gegensatz zur normalen Ambivalenz in Entscheidungssituationen fühlt sich der Patient mit einer pathologischen Ambivalenz wie gelähmt und kann weder nach einem Prozess des Mit-sich-zu-Rate-Gehens und Vorspürens eine Präferenz angeben, noch auf anderem Wege zu einem Entschluss (z. B. durch eine Willkürentscheidung) gelangen. Es ist der Person, wie Augustinus (Conf. VIII 5,10) schildert, als würden »zwei Willen« miteinander einen Kampf austragen, ohne dass einer der beiden die Oberhand gewinnen kann und sich folglich eine Patt-Situation einstellt. Da alle Möglichkeiten als gleichwertig erlebt werden, gelingt es dem Ambivalenten somit trotz großer Anstrengung nicht, sich zum Handeln zu entschließen. Um die pathologische Ambivalenz als eine Willensstörung zu untersuchen, soll wie folgt vorgegangen werden: Zunächst werden anhand eines kurzen Aufrisses der Geschichte des Ambivalenzbegriffs bei E. Bleuler und S. Freud die beiden unterschiedlichen Verwendungen des Begriffes gegenübergestellt (1.). Sodann wird eine für die phänomenologische Psychopathologie anschlussfähige Darstellung der Ambivalenz vorgeschlagen (2.). Weiterhin werden Kriterien beschrieben, die in Zukunft dabei helfen können, die pathologische Ambivalenz bei psychiatrischen und psychosomatischen Erkrankungen zu erkennen (3.). Abschließend werden zwei Störungsbilder dargestellt, die regelmäßig mit einer pathologischen Willensambivalenz einhergehen: zum einen die bei der Schizophrenie zu beschreibende »psychotische Ambivalenz« (3.a) und zum anderen die oft bei strukturell weniger beeinträchtigten Personen vorkommende »neurotische Ambivalenz« (3.b).

1.

Die Begriffsgeschichte der Ambivalenz

Der Begriff der Ambivalenz wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstmals von Bleuler im Kontext der psychopathologischen Beschrei164 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die Begriffsgeschichte der Ambivalenz

bung der schizophrenen Psychose eingeführt. In der Folge diente dieser Begriff unter dem Einfluss Freuds als Beschreibung für den unbewussten neurotischen Konflikt und wurde zu einem Terminus technicus im psychoanalytischen Diskurs. Zuletzt gelangte der Ambivalenzbegriff durch seine Popularisierung in die Alltagssprache und verlor aufgrund seiner breiten Verwendung zunehmend an Klarheit und Präzision. Eugen Bleuler beschrieb das Phänomen der Ambivalenz erstmals 1911 als ein Grundsymptom 94 der Schizophrenie, bei der er als Ursache des sogenannten »Spaltungs-Irreseins« eine »Assoziationsstörung« vermutete und über die er schrieb: »Die Assoziationen verlieren ihren Zusammenhang. Von den tausend Fäden, die unsere Gedanken leiten, unterbricht die Krankheit in unregelmäßiger Weise da und dort bald einzelne, bald mehrere, bald einen großen Teil.« (Bleuler 1911, 10)

Die Patienten seien in Zuständen der Ambivalenz daher auch nicht in der Lage, entgegengesetzte Gedanken, Gefühle und Willenstendenzen in die personale Identität zu integrieren, vielmehr stünden diese unvermittelt nebeneinander. Wie unversöhnlich diese Gegenüberstellung zu verstehen ist, lässt sich an Bleulers Beschreibung der schizophrenen Ambivalenz als jener »Neigung der schizophrenen Psyche, die verschiedensten Psychismen zugleich mit negativem und positivem Vorzeichen zu versehen« (ebd., 43), erkennen. Unterformen dieser assoziativ bedingten Ambivalenz seien eine intellektuelle (bei Gedanken), eine affektive (bei Gefühlen) und eine voluntative (beim Wollen) Ambivalenz. Während die affektive und voluntative Ambivalenz jedoch in verminderter Form ebenfalls beim Neurotiker und bei psychisch gesunden Personen vorkämen, sei gerade die intellektuelle Ambivalenz für die Schizophrenie besonders charakteristisch (Bleuler 1914, 105 f.). Als intellektuelle Ambivalenz bezeichnete Bleuler das Nebeneinanderbestehen sich widersprechender Urteile über eine Sache, die demnach zugleich bejaht und verneint werde, z. B. »wenn ein Kranker behaupte, die Person X zu sein und dies gleichzeitig leugne« (Bleuler 1911, 44). Die affektive Ambivalenz wiederum sei ein Zustand, bei dem eine Vorstellung »zu gleicher Zeit

Die vier Grundsymptome (die sogenannten 4 A’s) der Schizophrenie sind nach Bleuler (1911, 10 ff.): Assoziationsstörung, Ambivalenz, Affektverflachung und Autismus.

94

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Die pathologische Ambivalenz

mit angenehmen und unangenehmen Gefühlen betont sei« (ebd., 43), was z. B. der Fall ist, wenn der eigene Ehepartner in einer »Hassliebe« zugleich gehasst und geliebt werde. Einen Sonderfall der Gefühlsambivalenz stellt nach Bleuler die voluntative Ambivalenz oder Ambitendenz dar, da hier Willenstendenzen von gegensätzlichen Gefühlen beherrscht werden und diese in eine Handlungsunfähigkeit einmünden, wenn also »Entschlüsse durch Gegenentschlüsse im Entstehen oder an der Ausführung gehindert« (Bleuler 1914, 104) würden: Ein Patient würde z. B. gleichzeitig die Klinik verlassen wollen und ebenfalls darum bitten, da bleiben zu dürfen. Freud überführte Bleulers Ambivalenzbegriff in die Psychoanalyse, wandelte ihn dabei aber entsprechend des theoretischen Rahmens ab: Einerseits verwendete Freud den Begriff ausschließlich für die »Gefühlsambivalenz«, andererseits handelt es sich bei den beschriebenen Ambivalenzkonflikten ausschließlich um unbewusste Konflikte. Die erste Form einer solchen Ambivalenz stelle die Haltung gegenüber der Mutter während der Autonomieentwicklung in den ersten drei Lebensjahren dar (Freud GW XV, 106 ff.): Während die Mutter einerseits Geborgenheit, Sicherheit und Liebe gebe, stehe diese auch der Entdeckung der Welt im Wege. Während des vierten und fünften Lebensjahres entwickele sich außerdem eine Ambivalenz gegenüber dem gleichgeschlechtlichen Elternteil, da dieser die aufkommenden sexuellen Bedürfnisse behindere: So stehe der Vater dem Jungen und die Mutter dem Mädchen beim Ausleben der Geschlechtstriebe im Wege (Freud GW XV, 132 ff.). Im Erwachsenenalter müsse dagegen im westlichen Kulturkreis ein Übermaß an Gefühlsambivalenz als pathologisch gelten (Freud GW XIV, 528 ff.; GW IX, 85 ff.). Ein hoher Grad an Ambivalenz sei somit »eine besondere Auszeichnung neurotischer Personen« (Freud GW VIII, 373). Bei diesen Personen gebe es einen unbewussten Konflikt gegenüber dem Liebesobjekt, da dieses zugleich bewusst geliebt und unbewusst gehasst würde. Der Konflikt bestehe daher in einem »Widerstreit zwischen Mächten, von denen die eine es zur Stufe des Vorbewussten und Bewussten gebracht hat, die andere auf der Stufe des Unbewussten zurückgehalten worden ist« (Freud GW XI, 449 f.). 95

In der psychoanalytischen Praxis kann, so Freud, dieser Konflikt dann als »Widerstand« des Patienten gegen den Therapeuten wieder aufbrechen und müsse herausgearbeitet werden (Freud GW XI, 453 ff.)

95

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Der Begriff der Ambivalenz

2.

Der Begriff der Ambivalenz

Vergleicht man die unterschiedlichen Ausdeutungen des Ambivalenzbegriffs, so fällt auf, dass sie nicht die gleiche Form des Konfliktes (von lateinisch confligere: zusammenstoßen) in den Blick nehmen. Während Bleuler ein bewusstes Phänomen des sich widerstreitenden Nebeneinanderbestehens von Gedanken, Gefühlen und Willenstendenzen beschreibt, versucht Freud einen unbewussten Konflikt als Ursache bewusster Symptome zu ermitteln. Der Konfliktcharakter der Ambivalenz erscheint in Freuds Konzeption demnach nicht als bewusst erlebter Widerstreit, sondern ergibt sich aus der Abspaltung eines entgegengesetzten Gefühls von einem (psychischen) Objekt, das entweder ins Unbewusste verdrängt oder auf ein anderes Objekt verschoben wird (Freud GW XIV, 130 ff.). Der Konflikt könne also nicht ausgetragen werden, da, wie Freud dies eindrücklich formuliert, die beiden Tendenzen »so wenig zueinander kommen wie in dem bekannten Beispiel der Eisbär und der Walfisch« (Freud GW XI, 450). Der typische »Ambivalenzkonflikt« des Neurotikers bestehe somit in unterschiedlichen Einstellungen zu einer Person, die innerhalb des topischen Modells unterschiedlichen psychischen Regionen, nämlich einerseits dem »Ich« und andererseits dem »Es«, angehören würden (Freud GW XVII, 79 ff.). 96 Eine bewusste Ambivalenz trete meist gar nicht auf, da sich die widerstreitenden Tendenzen nicht auf gleicher Ebene träfen. Auch Bleuler trägt in der Auseinandersetzung mit Freud dem Umstand Rechnung, dass unbewusste Prozesse einen Einfluss auf die Ambivalenz nehmen können (Bleuler 1914), allerdings bleibt bei ihm der Begriff der Ambivalenz für Konflikte reserviert, die von einer Person bewusst erlebt werden. Nach Jaspers (1913/1965, 2) ist nur das »wirkliche bewusste psychische Geschehen« der Gegenstand der psychopathologischen Forschung. Da die Psychopathologie somit das tatsächlich Beschreibbare zum Forschungsobjekt hat und nicht auf die hermeneutische InterDas topische Modell gehört zum Kernstück der Freud’schen Psychoanalyse. Danach wären drei psychische Repräsentanzen zu unterscheiden: das Über-Ich, das Es und das Ich. Das Über-Ich stellt demnach die psychische Repräsentanz dar, die auf Regeln und Normen verweist, in der aber auch Gewissen und Ich-Ideale verankert sind. Das Es repräsentiert dagegen in erster Linie libidinöse, triebhafte psychische Strebungen, welche von der Person zumeist abgewehrt werden. Schließlich stellt das Ich die psychische Repräsentanz dar, welche vom Realitätsprinzip geleitet wird und welche zwischen dem Es und dem Über-Ich vermittelt.

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Die pathologische Ambivalenz

pretation der Krankheitsgenese abzielt, wird für die nachfolgende Untersuchung der psychopathologische Ambivalenzbegriff Bleulers leitend sein. Ein Phänomen wird also nur dann als voluntative Ambivalenz bzw. Ambitendenz bezeichnet werden, wenn regelmäßig sich widerstreitende Willenstendenzen als gleichwertig erlebt werden und die Person daher in Entscheidungssituationen eine unverhältnismäßig lange Zeitspanne für einen Entschluss benötigt. Bei dem so gefassten Ambivalenzbegriff bleibt trotzdem, wie Bleuler es formuliert, »in seiner Begrenzung eine Unklarheit«, insofern er auch auf normales Erleben anwendbar bleibt (Bleuler 1914). Eine größere analytische Tiefenschärfe ist deshalb zu erreichen, wenn festgehalten wird, dass prinzipiell jede Form der so bestimmten Ambivalenz in zweierlei Hinsicht beschrieben und ausdifferenziert werden kann: einerseits nämlich nach ihrem zeitlichen Verlauf und andererseits nach der Art des zugrundeliegenden Konfliktes. Im Hinblick auf den zeitlichen Verlauf kann nach dem amerikanischen Psychotherapeuten James Bugental (1969) eine sequentielle von einer simultanen Ambivalenz unterschieden werden. Als sequentiell (lateinisch sequens: folgend) lässt sich ein Zeitverlauf dann beschreiben, wenn sich die entgegengesetzten Tendenzen in einer (zeitlichen) Abfolge abwechseln, was sich dann darin äußert, dass die Möglichkeiten für den Betroffenen oszillieren, ohne dass eine der Möglichkeiten handlungsleitend werden kann. Diese Form der Ambivalenz ist typischerweise bei »neurotischen« Erkrankungen anzutreffen. Während sich also die sequentielle Ambivalenz durch ein Hin-und-Her-Pendeln auszeichnet, liegen bei der simultanen Ambitendenz (von französisch simultane und spätlateinisch simultaneus: gleichzeitig) beide Willenstendenzen zugleich vor und stehen sich unvermittelt gegenüber. Eine solche Ambivalenz kann bei jeder Person ein augenblickliches, starkes Gefühl des Unbehagens hervorrufen und führt bei schizophrenen Patienten zu einem qualvollen und nicht aufzulösenden Dauerzustand. Eine weitere Unterscheidung der Ambivalenz kann nach Art des zugrundeliegenden Entscheidungskonfliktes erfolgen, nämlich durch die Beschreibung der bestehenden sich widerstreitenden Wertigkeiten 97 . Nach Lewin (1931) und Miller (1944) können im Wesentlichen vier Konfliktkonstellationen beschrieben werden: Zum einen können zwei Möglichkeiten gleichermaßen als positiv bewertet werden (Appetenz-Konflikt), wie etwa im Gleichnis von »Buridans Esel«, zum anderen können auch beide Möglichkeiten als negativ betrach-

97

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Die pathologische Ambivalenz

3.

Die pathologische Ambivalenz

Jede der drei von Bleuler beschriebenen Arten der Ambivalenz (des Fühlens, des Wollens und des Denkens) kann, wenn sie ein bestimmtes Maß überschreitet, als krankhaft bewertet werden. Der »normalen« Ambivalenz, die nicht mit einer dauerhaften Handlungsunfähigkeit einhergeht, kann dabei sogar eine positive Funktion eingeräumt werden, so schreibt Bleuler über die Bedeutung der normalen Ambivalenz für die menschliche Psyche: »Die normale Ambivalenz und namentlich die Ambitendenz, die zu jedem Antrieb einen Gegenantrieb schafft oder damit eine Wahl respektive eine Überlegung erzwingt, hat ihre große Bedeutung in den psychischen Mechanismen. Die Psyche reguliert […] die feinere Anpassung dadurch, dass sie ein Gleichgewicht schafft.« (Bleuler 1911, 306)

Dass die Ambivalenz im Normalfall die Funktion habe, die Person von voreiligen, unüberlegten Urteilen und Entscheidungen abzuhalten und damit eine »Feinregulation« bewirke, teilt auch C. G. Jung: »Erfahrungsgemäß stellen sich auch bei jedem Entschluss als nächste Assoziationen die Kontraste ein. Normalerweise hindern die Kontraste nie, sondern fördern die Überlegung und nützen dem Handeln.« (Jung 1907/1971, 74 f.)

Als »normale« Ambivalenz kann nach Bleuler und Jung also eine primär nützliche, in der Persönlichkeit angelegte Disposition zum Entscheidungsaufschub verstanden werden, die der Vermeidung voreiliger Schlüsse dient. Die voluntative Ambivalenz muss also nicht immer pathologisch sein, sondern ist dies nur, wenn zusätzliche Bedingungen erfüllt sind, die beide Autoren zu umschreiben versuchen. Einerseits bestünden nämlich bei der pathologischen Ambivalenz die Willenstendenzen »unverbunden nebeneinander«, sodass das Gefühl entstehe, es gäbe zwischen diesen einen unüberbrückbaren »Riss« (Bleuler 1914, 95). Andererseits bestehe in krankhaften Zuständen die Unfähigkeit, die Synthese aus diesen entgegengesetzten Positio-

tet werden (Aversions-Konflikt), sodass sich für die Person die Entscheidung als die sprichwörtliche Wahl zwischen »der Pest« und »der Cholera« darstellt. Schließlich kann es aber auch noch Situationen geben, in denen eine Möglichkeit (AppetenzAversions-Konflikt) oder aber mehrere Möglichkeiten sowohl mit positiven als auch mit negativen Bewertungen verbunden sind (doppelter oder mehrfacher AppetenzAversions-Konflikt) und diese sich deshalb insgesamt die Waage halten.

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Die pathologische Ambivalenz

nen herbeizuführen und somit ein integrierendes »Fazit« zu ziehen (ebd., 106). Dauert nun der Zustand eines unentschiedenen Nebeneinanders oder pendelnden Nacheinanders von Willenstendenzen über eine längere Zeitspanne an, so können sich nach Jung tiefgreifende Identitätsstörungen entwickeln. In einer an die Beschreibung von Augustinus erinnernden Formel fasst Jung diese Konsequenz wie folgt zusammen: »Es hat sich ein Wille gegen den anderen empört, womit der neurotische Zustand, das ›Uneinssein mit sich selbst‹, gegeben ist.« (Jung 1911/1971, 221)

Im Anschluss an die Überlegungen Bleulers und Jungs können an dieser Stelle vier Kriterien formuliert werden, die für die Diagnose der pathologischen Ambivalenz maßgeblich sind: (1) Es wird im Verhältnis zu der Bedeutsamkeit des Entscheidungskonflikts eine unverhältnismäßig lange Zeitspanne für einen Willensentschluss benötigt. (2) Es wird dauerhaft über einen Mangel an »Energie« geklagt, den Konflikt durch einen Entschluss zu beheben. (3) Die Unfähigkeit, ein »Fazit« zu ziehen, führt schließlich zu einer langfristigen Handlungsunfähigkeit der Person und zum Gefühl eigener Ohnmacht. (4) Schließlich geht damit eine innere Zerrissenheit und Zwiegespaltenheit einher, die die Identität der Person bedrohen kann. Diese Kriterien erlauben es, die pathologische von der »normalen« Willensambivalenz zu unterscheiden. Eine »normale« Ambivalenz besteht demnach dann, wenn der Konflikt der Situation angemessen ist und nur kurzfristig anhält, durch einen Entschluss lösbar ist und nicht zur Handlungsunfähigkeit führt.

a)

»Psychotische« Ambivalenz

Herr E. (Kasuistik 9): Der 38-jährige Herr E. wird seit seinem 18. Lebensjahr mit der Diagnose einer katatonen Schizophrenie psychiatrisch behandelt und befand sich seitdem bereits vier Mal in stationärer Behandlung. Vor dem Klinikaufenthalt sei es erneut zu einem psychotischen Zusammenbruch gekommen. Der Patient berichtet, dass ihm die ambulante Therapie zu nah gegangen sei und dass er sich nicht mehr von der Psychotherapeutin habe abgrenzen können. Das habe ihn derart überfordert, dass

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Die pathologische Ambivalenz

er am Ende nicht mehr gewusst habe, was er tun solle: »Ich wollte zur Arbeit und wollte es nicht, ich wollte zu meiner Partnerin und wollte es nicht – plötzlich war zu jedem Ich-will ein Ich-will-nicht da.« Daraufhin konnte Herr E. mehrere Tage nicht mehr aus dem Haus gehen und sei »wie ein Tiger im Käfig« in der Wohnung auf und ab geschritten. Als Ursache dafür benennt der Patient das Erleben einer grundsätzlichen Ambivalenz: »Die meisten Sachen sind gehupft wie gesprungen. Das eine ist richtig, das andere ist aber auch richtig.« Entscheidungen seien für ihn schon immer eine Qual gewesen, dieses Gefühl habe sich seit dem psychotischen Zusammenbruch jedoch noch verstärkt und er drehe sich nur noch »im Kreise«. Dies zeige sich auch nach einem Kurzausflug bei der Rückfahrt mit der Tram zur Klinik: »Es gibt da drei Haltestellen. Wenn ich an der ersten aussteige, dann ist das der kürzeste Weg. Wenn ich später aussteige, dann habe ich ein bisschen Abwechslung. Bei jeder Haltestelle sage ich mir: ›Hier steigst Du jetzt aus‹ und bleibe am Ende doch sitzen. Solange bis ich an der letzten Haltestelle bin und aussteigen muss. Dann habe ich keine Wahl mehr.«

Wie bereits dargestellt, wurde der Ambivalenzbegriff 1911 von Bleuler in seinem Werk Dementia praecox oder die Gruppe der Schizophrenien zur Beschreibung eines Grundsymptomes der Erkrankung eingeführt. In einem späteren Aufsatz zur Ambivalenz von 1914 schreibt Bleuler: »Unter den Geisteskrankheiten ist es fast nur die Schizophrenie (Dementia praecox), deren Symptomatologie die Ambivalenzmechanismen benutzt, diese aber in so ausgiebigem Maße, dass man versucht ist, zu vermuten, es seien ausschließlich ambivalente Komplexe, die […] eventuell sogar das Manifestwerden der Krankheit bedingen können.« (Bleuler 1914, 104)

Auch wenn eine ätiopathogenetische Konzeption des Ambivalenzkonfliktes als Ursache der schizophrenen Erkrankung umstritten ist, so muss der pathologischen Ambivalenz im Rahmen der Schizophrenie doch immerhin eine Sonderstellung zugestanden werden, da sie hier wie unter einem Vergrößerungsglas beobachtet werden kann: Dabei tritt die Ambivalenz zumeist als eine simultane Zwiegespaltenheit in Erscheinung und wird oftmals von einer ausgeprägten Identitätsstörung begleitet. Diese entsteht dadurch, dass die widerstreitenden Tendenzen zeitgleich »unverbunden nebeneinander« (Bleuler 1914, 95) bestehen und eine starke Handlungsbeeinträchtigung sowie das Gefühl innerer Zerrissenheit bedingen. Die simultane Ambivalenz ist der Grund, warum ein Patient zugleich etwas essen und es zugleich nicht will, ein anderer Patient die Psychiatrie verlassen und

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Die pathologische Ambivalenz

es doch nicht will, ein dritter sich ertränken und es doch nicht will. 98 Wie Herr E. so klagt auch der schizophrene Patient Herr P. über eine tiefgreifende Ambivalenzproblematik: Herr P. (Kasuistik 10): Der Patient ist 30 Jahre alt und befindet sich mit der Diagnose einer paranoiden Schizophrenie bei langjährigem Drogenabusus in teilstationärer Behandlung. Im akuten psychotischen Schub habe er den Gedanken gehabt, dass er über Social Media Sportergebnisse vorhersehen könne. Schließlich habe er sich verfolgt und beobachtet gefühlt, da er wähnte, dass seine »Gabe« zu einer Gefahr für den Sportbetrieb geworden sei. Neben dieser inhaltlichen Denkstörung in Form einer Wahnsymptomatik berichtet Herr P. über eine Unfähigkeit sich zu entscheiden, die seit der Psychose aufgetreten seien: »Wenn ich in den Supermarkt gehe, dann brauche ich immer mehrere Runden. In der ersten Runde schaue ich mir die Produkte an, die ich eventuell nehmen könnte. In der zweiten ist dann meist die Tendenz stärker, andere Produkte zu nehmen. Und so drehe ich solange eine Runde nach der anderen, bis ich meine Freundin anrufe, die mir sagt, was ich in den Einkaufswagen zu legen habe.« Sein Hauptkonflikt bestehe jedoch darin, dass er nicht wisse, ob er mit dem Drogenkonsum aufhören solle oder nicht. »Es fällt mir schwer bei meinem Entschluss zu bleiben. Ich weiß einerseits, dass das Gift ist, aber andererseits entspannt es mich. Ich kann aus dem Wissen keine Konsequenz ziehen, ich brauche dann immer Rücksprache mit meiner Therapeutin, die mir sagt: ›Hören Sie endlich auf damit!‹«

Bei beiden Patienten, Herrn E. (Straßenbahnfahrt) und Herrn P. (Supermarkteinkauf), kann anhand der formulierten Kriterien eine pathologische Ambivalenz festgestellt werden, da der Entscheidungskonflikt eine unverhältnismäßig lange Zeitspanne andauert, der Entschluss nicht selbständig herbeigeführt werden kann und die Ambivalenz zu einer Handlungsunfähigkeit führt. Wenn den Patienten die Entscheidung nicht durch einen äußeren Zwang oder eine andere Person abgenommen werden würde, so würden sie in diesen alltäglichen Situationen zu gar keinem Entschluss kommen. Dies kann zu ausgeprägten Krisen führen, die aus Identitätsproblemen und Orientierungslosigkeit resultieren und die als charakteristisch für die Schizophrenie angesehen werden können. Benedetti beschreibt etwa einen qualitativen Unterschied zwischen der schizophrenen und anderen Formen der Ambivalenz: Während nämlich die »neurotische« Ambivalenz normalerweise nicht die Persönlichkeit bedrohe, könne die schizophrene Ambivalenz zu einer Zerstörung der »Selbstidenti98

Die aufgezählten Beispiele wurden von Bleuler (1911, 43 f.) übernommen.

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Die pathologische Ambivalenz

tät« führen (Benedetti 1983, 124 f.). Dadurch entstehe in der Schizophrenie oftmals ein Gefühl von »unendlicher Leere« und Sinnlosigkeit, das bei keiner anderen Form der Ambivalenz so deutlich auftrete (ebd., 125). 99 Neben dieser für die Schizophrenie typischen Ambivalenz kann noch eine psychopathologische Unterform beschrieben werden, die Bleuler als »Negativismus« bezeichnet hat (Bleuler 1911, 44). Unter Negativismus (von lateinisch negativus: verneinend) versteht dieser nämlich »eine Anzahl Symptome […] die alle das Gemeinsame haben, dass eine Reaktion, die im positiven Sinne zu erwarten gewesen wäre, negativ abläuft« (ebd., 158). Damit ist gemeint, dass der Patient etwas anderes macht, als das, was er selbst oder eine andere Person will oder erwartet. So kann eine Patientin beispielsweise versichern, dass sie nichts vom Kuchen eines Mitpatienten zu nehmen beabsichtigt, und sich trotzdem bedienen; ein anderer Patient kann nur durch gegenteilige Befehle zur gewünschten Handlung gebracht werden und ein dritter Patient streicht über seinen Mantel, obwohl er eigentlich seine Haare kämmen wollte. 100 Auch bei dieser Form der »psychotischen« Ambivalenz stehen sich widerstreitende Willenstendenzen gegenüber, insofern entweder trotz eines bereits gefassten Willensentschlusses nichts (passiver Negativismus) oder aber etwas anderes, oft auch das Gegenteil des Intendierten, getan wird (aktiver Negativismus).

b)

Die »neurotische« Ambivalenz

Herr Er. (Kasuistik 11): Der 28-jährige Herr Er. befindet sich mit einer rezidivierenden depressiven Symptomatik mit Antriebsarmut und Ambivalenzproblematik sowie einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung in stationärer Behandlung. Nach dem Abitur studierte der Patient Soziologie in Georgia (USA), brach das Studium aber aufgrund von »enttäuschten Erwartungen« ab. Auch ein anschließendes Physiotherapie-Studium in Deutschland brach Herr Er. im dritten Semester ab, da er die Anforderungen nicht mehr erfüllen konnte. Aktuell sei sich der Patient unsicher, ob er das Studium wiederaufnehmen solle: »Ich schwanke da. Früher war ich überzeugt, dass Physiotherapie das Beste für mich ist. Dann war ich nicht Benedetti prägte daher für das schizophrene Erleben auch die Metapher von den »Todeslandschaften der Seele« (Benedetti 1983). 100 Diese Beispiele wurden von Bleuler (1911, 158 f.) übernommen. 99

173 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die pathologische Ambivalenz

mehr überzeugt, also habe ich es auch nicht mehr gemacht. Wenn Sie mich jetzt fragen, würde ich sagen, dass es gut wäre, wenn ich das Studium fortsetze.« Ein anderer Konflikt bestehe in Bezug auf seine Partnerschaft: »Einerseits liebe ich meine Partnerin, andererseits würde ich gern mal was Neues ausprobieren und mich auf eine bisexuelle Dreiecksbeziehung einlassen. Beides geht aber nicht, sodass ich mich nicht entscheiden kann.« Neben diesen sehr grundsätzlichen Konflikten käme es auch im Alltag immer wieder zu Ambivalenzsituationen. Als Herr Er. von Freunden besucht wurde, sollte er einen Weg vorschlagen: »Anstatt dann klar zu sagen ›Wir sollten jetzt da runter gehen‹, habe ich herumgedruckst und Sachen gesagt wie ›Ich denke, es könnte gut sein, dass wir dort möglicherweise auf eine interessante Straße kämen‹«.

Im Gegensatz zur »psychotischen« kommt es bei der »neurotischen« Ambivalenz wie im Falle von Herrn Er. nicht zum Nebeneinanderbestehen verschiedener Handlungstendenzen; vielmehr schwankt die Person zwischen den verschiedenen Möglichkeiten, was nicht zwangsläufig zur Handlungsunfähigkeit führt, jedoch kann sich diese ebenfalls bei neurotischen Konflikten entwickeln. Als »Neurose« (von griechisch νεῦρον: Nerv; »Nervenkrankheit«) wurde in Abgrenzung zu einer Psychose in der Zeit von Freud eine milde Form psychischer Erkrankung verstanden, bei der ätiologisch ein innerpsychischer Konflikt angenommen wurde (Freud GW XVII, 79 ff.). Somit kann unter einem in diesem Sinne sehr weit gefassten Begriff der »neurotischen« Ambivalenz eine Form der Willensambivalenz verstanden werden, die sich auf der Grundlage eines Widerstreits unbewusster Strebungen entwickelt hat. Bereits zu Beginn der Erläuterungen zur Ambivalenz wurde deutlich, dass Freud den Begriff der Ambivalenz im Gegensatz zu Bleuler primär zur Bezeichnung eines unbewussten Konfliktes verwendet hat, was ihm dann auch erlaubt zu behaupten, dass ein hoher Grad von Gefühlsambivalenz »eine besondere Auszeichnung neurotischer Personen« sei (Freud GW VIII, 373). Der pathogene Konflikt des Neurotikers bestehe in einem Widerstreit zwischen Kräften, die sich nicht auf der gleichen Ebene befänden und die mithilfe des Analytikers bewusst gemacht werden sollen (Freud GW XV, 84 ff.). Derlei unbewusste Konflikte können sich bei neurotischen Störungen in bewussten Ambivalenzkonflikten äußern und treten insbesondere bei Persönlichkeitsstörungen, aber auch bei Zwangsstörungen oder Depressionen auf (Burkhardt 2002, 93). Der nachfolgende Fall stellt ein Beispiel für eine sogenannte »ekklesiogene Neurose« (Peters 1997) dar. Darunter wird eine psychische 174 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die pathologische Ambivalenz

Störung verstanden, die durch eine rigide religiöse und sexualitätsfeindliche Erziehung bedingt ist: Frau V. (Kasuistik 12): Die 33-jährige Frau V. wurde aufgrund einer gemischten Zwangsstörung und einer rezidivierenden depressiven Störung mit histrionischer Persönlichkeitsstörung frühberentet. Zur Zeit des Interviews befindet sie sich bereits zum fünften Mal in stationärer Behandlung. Die gesamte Familie sei Mitglied der Sekte »die Zeugen Jehovas«, weshalb sie seit der Kindheit nach den strengen Regeln und Normen der Gemeinde leben musste. Als Zwangshandlungen können ein Waschzwang mit einer rigiden Wiederholung von Reinigungsritualen und ein Kontrollzwang, auch ja nichts Unrechtes getan zu haben, beschrieben werden, so bspw. die Rückversicherung nichts geklaut oder niemanden auf der Straße überfahren zu haben. Auf der Ebene der Zwangsgedanken finden sich aufdrängende Gedanken mit sexuellen, blasphemischen und aggressivem Inhalt. Die depressive Dekompensation der Patientin kann ebenfalls aus religiös bedingten Gewissenskonflikten und der daraus resultierenden Ambivalenz verstanden werden. Frau V. habe sich in einen Arbeitskollegen verliebt, der jedoch kein »Zeuge Jehovas« war. Da ihre Religionsgemeinschaft die Ehe mit einem »Nicht-Zeugen« zwar nicht verbiete, aber trotzdem als problematisch ansehe, sei sie in Zweifel geraten. »Ich habe mich dann gefragt, kann ich mit diesem Mann Kinder bekommen? Was würde er den Kindern sagen, warum er selbst nicht ›Zeuge‹ sei? Würde mein Glauben nicht durch einen Nichtgläubigen aufgeweicht? Hätte er denn eine Chance, in den Himmel zu kommen? Das waren so schwerwiegende Fragen, dass ich hin und her überlegt habe und dadurch wie gelähmt war.«

Die »ekklesiogene« Problematik der Patientin ergibt sich daraus, dass einerseits die Forderung, die Gebote der Religionsgemeinschaft zu erfüllen, und andererseits das Bedürfnis, eine sowohl in zwischenmenschlicher als auch sexueller Hinsicht erfüllende Partnerschaft zu führen, hier in einem unauflöslichen Konflikt zueinander stehen. Ein solcher Ambivalenzkonflikt erinnert an die Schilderungen Freuds in seiner Schrift Totem und Tabu (Freud GW IX): Das Tabu führe nämlich nicht nur zur Furcht vor der Strafe, sondern auch zum Begehren, das Verbotene zu tun. Das mit einem solchen Verbot belegte Individuum will dabei aber »diese Handlung […] immer wieder ausführen, es sieht in ihr den höchsten Genuss, aber es darf sie nicht ausführen, es verabscheut sie auch« (ebd., 39 f.). Ein solcher Konflikt, der in einem religiösen Tabu wurzelt, kann also ebenfalls eine pathologische Ambivalenz bedingen, die zu lähmender Handlungsunfähigkeit und einer übergreifenden Identitätsproblematik führt.

175 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die pathologische Ambivalenz

4.

Zusammenfassung

In diesem Kapitel wurde dargestellt, welche Bedeutung der von Bleuler eingeführte Begriff der voluntativen Ambivalenz für den Bereich der Willensstörungen zuzumessen ist. Bleuler (1911, 1914) beschrieb die Ambivalenz als eines der vier Grundsymptome der Schizophrenie und verstand unter der willentlichen Ambivalenz einen bewussten Entscheidungskonflikt, in dessen Folge ein Willensentschluss aufgrund des Vorliegens gleichwertiger Tendenzen nicht zustande kommen kann. Ein solcher ambivalenter Entscheidungskonflikt muss jedoch nicht pathologisch sein und kann sogar eine regulative Funktion besitzen, die es zu allererst ermöglicht, eine hinreichend abgewogene Entscheidung herbeizuführen (Bleuler 1911; Jung 1907/1971). Dieser regulative Charakter »normaler« Ambivalenzzustände zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht durchgehend auftreten und zudem nicht zur völligen Handlungsunfähigkeit führen, wohingegen eine pathologische Ambivalenz als Störung der Volition dann vorliegt, wenn die Person dazu disponiert ist, regelmäßig eine unverhältnismäßig lange Zeitspanne für die Entscheidungsbildung zu benötigen, ohne diese willkürlich beenden zu können, weshalb es schließlich zu Handlungsunfähigkeit und Identitätsproblemen kommen kann. Dass die hier dargestellten Kriterien einer pathologischen Ambivalenz in der Beschreibung bestimmter psychopathologischer Krankheitsbilder wiederzufinden sind, wurde anhand der Schizophrenie als auch den »neurotischen« Erkrankungen, wie etwa leichteren Persönlichkeitsstörungen, Zwangsstörungen oder leichten depressiven Phasen, sehr deutlich. Während für neurotische Erkrankungen, die anhand unbewusster psychodynamischer Konflikte konzeptualisiert werden, ein sequentieller Ablauf typisch ist, aufgrund dessen der Patient zwischen verschiedenen Möglichkeiten hin und her schwankt, lässt sich die schizophrene Ambivalenz vielmehr als ein simultaner Konflikt verstehen. Darunter kann eine »Pattsituation« vorgestellt werden, bei der mindestens eine Tendenz und ihre Gegentendenz zugleich erlebt werden, ohne dass einer der Strebungen der Vorzug gegeben werden kann. Diese psychotische Ambivalenz kann weiterhin dahingehend präzisiert werden, dass sie auf grundlegendere psychische Strukturen ausgreift und es daher nicht selten zu ausgeprägten Identitätsstörungen und Gefühlen innerer Leere kommen kann (Benedetti 1983). Aufgrund des breiten Spektrums von Erkrankungen, bei denen eine pathologische Ambivalenz beschrieben werden 176 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Zusammenfassung

kann, muss festgehalten werden, dass sie auch noch 100 Jahre nach Bleulers erstmaligen Untersuchungen von hohem analytischen Wert für die Psychopathologie ist.

177 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

V. Psychopathologie des Zukunftsbezugs

Alles was im Leben eine Richtung in der Zeit hat, hat Elan, wirkt in die Zukunft, geht voran. 101

Im bisherigen Gang der Untersuchung wurden Willensstörungen als psychische Störungen beschrieben, bei denen die Strukturmomente des Wollens aus dem Gleichgewicht geraten sind: So zeichnet sich die Abulie durch einen Konationsmangel aus, sind Impulskontrollstörung und Zwangsstörung wesentlich durch Inhibitionsdefizite geprägt und liegt der Ambivalenz eine Volitionsstörung zugrunde. Eine weitere Möglichkeit, Willensstörungen zu untersuchen, besteht nunmehr darin, diese als Zeitpathologien zu verstehen. Im Abschnitt C.III wurde aufgezeigt, dass Wollen und Zeitlichkeit eng miteinander verwoben sind, da der Mensch durch sein Wollen Zeit selbst gestalten und sich durch seine Verankerung in der Zeit auch selbst entfalten kann. Da das Wollen selbst wiederum eine komplexe Zeitstruktur und eine charakteristische Zukunftsbezogenheit aufweist, müssen auch Willensstörungen mit einer Veränderung des Gestalten- und Erleben-Könnens von Zeit einhergehen. In diesem Sinn hat Peter Bieri in Das Handwerk der Freiheit (2003/2009) auf den grundlegenden Zusammenhang von Zeitgestaltung und Freiheitserleben hingewiesen und dabei den Versuch unternommen, verschiedene Typen des Umgangs mit Zeit herauszuarbeiten, wobei die Möglichkeit zur Gestaltung von Zeit als Gradmesser für eine Beeinträchtigung des freien Wollens gelten sollte. Eine Analyse der Zeiterfahrung diene, so Bieri (ebd., 127), als »Leitfaden für das tiefere Verständnis der Erfahrung von Freiheit und Unfreiheit«. In der Geschichte der Psychiatrie ist insbesondere in den anthropologisch-phänomenologischen Arbeiten von Minkowski, Binswan-

101

Eugène Minkowski (1933/1971a, 45)

178 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Psychopathologie des Zukunftsbezugs

ger, Straus und von Gebsattel 102 der Zusammenhang von Störungen der gelebten Zeit und der Erfahrung von Unfreiheit herausgearbeitet worden. Der Begriff der »gelebten Zeit« entstammt der Beschäftigung Minkowskis (1933/1971a) mit der Philosophie Bergsons (1907/ 1927, 1889/2006), der die Gerichtetheit des Lebens in einem als élan vital bezeichneten schöpferischen Streben begründet sah. Während diese Lebenskraft normalerweise durch einen Zukunftsbezug bestimmt werde, sei diese in Zuständen schwerer Depression gestört und der »Elan« angehalten (Minkowski 1933/1971b, 131 ff.). In ähnlicher Weise ist auch für Straus (1928/1963, 341) die Ausrichtung des Lebens mit einem immanenten Zukunftsbezug verknüpft, der mit einem Gefühl des Wirken-Könnens einhergehe und dafür sorge, dass biologische Potenzen entfaltet werden können. Diese Ausrichtung auf die Zukunft werde mit wachsender »vitaler Hemmung« in der schweren Depression versperrt und weiche schließlich einem Gefühl der Determination durch die Vergangenheit. Auch von Gebsattel (1939/1963) stellt die Bedeutung des Zukunftsbezugs für den Lebensvollzug heraus 103 . Dieser Lebensvollzug sei jedoch bei psychischen Störungen wie der Konfliktneurose oder der schweren Depression unterbrochen, was dann in einen Stillstand des Werdens münde (ebd., 355 ff.). Folglich können Willensstörungen – im Anschluss an die anthropologische Psychopathologie der gelebten Zeit und die Überlegungen Peter Bieris – als Störungen der Zeitlichkeit und insbesondere des Zukunftsbezugs verstanden werden. In der vorangegangenen phänomenologischen Analyse (C.III) zeigte sich, dass die Zeitlichkeit des Wollens eine charakteristische dynamische Doppelstruktur aufweist: die strukturelle Möglichkeit, in seinem Wollen flexibel zwischen Zukunfts- und Gegenwartsbezug sowie expliziter und impliziter Zeitebene zu wechseln. Solchermaßen kann die Gegenwart in den Dienst des Zukunftsentwurfs gestellt und dieser umgekehrt an die gegenwärtigen Bedingungen angepasst werden. Psychische Störungen hingegen können zu einem Ungleichgewicht und einer Inflexibilität der Zeitstruktur des Wollens führen, sodass diese Dynamik gestört ist. 102 Von Thorsten Passie (1995) wurden diese Autoren auch als »Wengener Kreis« bezeichnet. 103 So schreibt von Gebsattel (1939/1963, 363): »Die Zukunft wird herangelebt, bevor sie erlebt, gedacht oder beachtet wird. Der Lebensbewegung ist die Richtung auf die Zukunft immanent.«

179 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Psychopathologie des Zukunftsbezugs

Im Rahmen einer Psychopathologie der Zukunftsbezogenheit, die für ein erweitertes und vertieftes Verständnis der Willensstörungen unabdingbar ist, sollen an dieser Stelle zumindest sieben verschiedene Typen unterschieden werden: 1. Eingeengter Zukunftsbezug 2. Unterbrochener Zukunftsbezug 3. Erlöschender Zukunftsbezug 4. Unsteter Zukunftsbezug 5. Ungewisser Zukunftsbezug 6. Sprunghafter Zukunftsbezug 7. Fremdbestimmter Zukunftsbezug Im Folgenden soll jedes dieser pathologischen Zeitverhältnisse und deren Zusammenhang zur Willensproblematik kurz dargestellt werden.

1.

Eingeengter Zukunftsbezug

Durch die konativ-affektive Verarmung in der schweren Depression verengt sich auch der Zukunftsbezug, sodass die Zukunft keine oder nur noch eine bedrohliche Rolle im Zeiterleben des Patienten spielt. Die Zukunftserfahrung büßt so ihre »Fülle und Mächtigkeit« 104 (Binswanger 1960, 44 f.) ein und die konative Ausrichtung auf die Zukunft schwindet, was darin resultiert, dass keine Pläne mehr geschmiedet werden und die Zeit nicht mehr durch den Patienten selbst strukturiert wird: Der Möglichkeitsspielraum verringert sich. Sofern es überhaupt noch einen Zukunftsbezug gibt, so blickt der Patient nicht mehr freudig und hoffnungsvoll in die Zukunft, stattdessen erlebt er diese als eine Bedrohung oder »feindliche Macht« und kann so dem »Blick nach vorn« keinen Sinn mehr abgewinnen (Minkowski 1933/1971b, 24). Ein 40-jähriger Patient beschreibt dies wie folgt: »Ich habe das Zeitgefühl verloren, kann nicht sagen, ob ich schon Wochen oder Monate hier bin. Unheimlich lang kommt das mir vor. Der Abend

104 Damit meint der Autor die primäre Ausrichtung auf die Zukunft, welche in der Depression geringer wird. In einer gewissen Weise behält die Zukunft natürlich ihre »Mächtigkeit« bei, insofern nämlich, dass sie versperrt ist und dadurch bedrohlicher und auch »mächtiger« wird.

180 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Eingeengter Zukunftsbezug

kommt nicht […] Die Zukunft vor mir ist wie eine Bedrohung.« (Payk 1979, 100)

Die Zukunft wird nicht mehr als Möglichkeit zur Entfaltung und Entwicklung erlebt, sondern nur noch als ein Medium des »Wenigerwerdens und Abnehmens« (von Gebsattel 1939/1963, 356). Von einigen Patienten wird sogar beschrieben, dass sie nicht mehr in der Lage sind, die Zukunft zu antizipieren, was als eine vollständige Blockade oder »Versperrung« des eigenen Zukunftsbezuges beschrieben werden kann (Kloos 1938; Straus 1928/1963). Eine Patientin von Jaspers schildert ein solches Zukunftserleben: »Ich kann nichts mehr voraussehen, als wenn es keine Zukunft mehr gäbe. Ich meine immer, es hört jetzt alles auf und morgen ist überhaupt nichts mehr.« (Jaspers 1913/1965, 72)

Dagegen wird die Gegenwart als monotone Wiederholung des ewig Gleichen erlebt (Straus 1928/1963, 343). Nichts regt den Patienten mehr an, er hat seine Resonanzfähigkeit und die Dinge ihren Aufforderungs- und Anmutungscharakter verloren, sodass die Gegenwart nicht mehr als an sich sinnhaft erlebt werden kann und da es keine Zukunftsentwürfe mehr gibt, können diese auch kein Licht mehr auf das Momentane werfen. Die gegenwärtige Zeit erscheint so als zähflüssig und qualvoll verlangsamt, wie auch an der Klage eines 33-jährigen Patienten zu erkennen ist: »der Tag geht so langsam […] ich sehe auf die Uhr und er ist immer noch nicht herum, es ist fünf Uhr. Früher ging alles rasch, jetzt schleicht die Zeit nur so dahin […] Nichts geht mehr voran. Ich frage mich, ob es überhaupt noch eine Zukunft gibt.« (Payk 1979, 100)

Da der von der Zukunft und der Gegenwart ausgehende Möglichkeitsraum schwindet, kreist der Patient zunehmend um die von ihm verpassten Möglichkeiten, sodass Selbstvorwürfe und Selbstbeschuldigungen den Großteil eines auf die Vergangenheit fixierten Grübelns bestimmen. Die Zeit wird zunehmend als eine Ansammlung von Schuld erlebt, die der Patient auf sich geladen habe. Dies kommt auch in den beiden nachfolgenden Schilderungen zum Ausdruck: »Ich begreife, dass die Zeit vergangen, die Vergangenheit als Anklage aber noch gegenwärtig ist. Ich verstehe, dass vom Beginn unseres Lebens an alles bis in die kleinsten Einzelheiten in den Kellern unter der Folterkammer aufbewahrt wird.« (Kuiper 1991, 155)

181 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Psychopathologie des Zukunftsbezugs

Daher resümiert er: »Das eigentliche Wesen der Zeit ist untilgbare Schuld.« (ebd.). Ähnliches formuliert auch Tellenbachs Patient Reinhold P.: »Wenn ich dann geschafft habe, ist mir immer das gekommen, was ich verkehrt gemacht habe. Ich habe es nicht vergessen, nicht abschütteln können. Und wenn ich gedacht habe, es geht, auf einmal ist mir das Bild wieder vor Augen gewesen.« (Tellenbach 1961/1976, 83)

Mit zunehmend eingeengtem Zukunftsbezug wird also auch der Einfluss der Vergangenheit stärker. Straus (1928/1963, 347) erkennt dabei einen direkten Zusammenhang: »Je fester dem Depressiven die Zukunft verschlossen ist, desto stärker fühlt er sich durch das Vergangene überwältigt und gebunden.« Die Vergangenheit könne sogar als eine »determinierende Kraft« beschrieben werden (Straus 1928/ 1963; von Gebsattel 1939/1963), wobei in erster Linie die Beschreibung eines Gefühls gemeint ist. Eindrücklich wird ein solches Erleben auch von den folgenden Patientinnen geschildert: »Ich lebte mein Leben zurück […] die Gegenwart war aus – ich verlor mich im Zurückleben.« (Frankl 1946/2009, 268)

Das gleiche Phänomen bringt auch Tellenbachs Patientin J.F. zum Ausdruck: »Dieses Rückwärtsdenken ist auf einmal dagewesen […] Die Rückideen, die krieg ich nicht mehr weg.« (Tellenbach 1961/1976, 144)

Mit zunehmender Dominanz der Vergangenheit über die anderen Zeitdimensionen und dem sich stetig verringernden Einfluss von Zukunft und Gegenwart verliert auch das Wollen und Handeln an Bedeutung für den Alltag. Der Patient ist dann nicht mehr in der Lage, sein Leben aktiv durch geplante Handlungen in der gegenwärtigen Situation zu gestalten, sondern ganz auf das Bedauern der verpassten Möglichkeiten und falschen Entscheidungen der Vergangenheit ausgerichtet.

2.

Unterbrochener Zukunftsbezug

Auch bei Zwangserkrankungen ist ein erhebliches Ungleichgewicht zwischen den jeweiligen Zeitdimensionen auszumachen, da Gegenwart und Zukunft nicht flexibel gestaltet werden können. Dabei wird

182 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Unterbrochener Zukunftsbezug

der Zukunftsbezug in der jeweiligen Gegenwart unterbrochen, indem sich aus der Vergangenheit stammende wiederkehrende Gedanken oder Handlungsimpulse desselben Inhalts aufdrängen. Mitscherlich sieht daher bei der Zwangserkrankung auch eine »Herrschaft der Vergangenheit über Gegenwart und Zukunft« (Mitscherlich 1963). Im Gegensatz zur schweren Depression ist ein Wollen und Handeln zwar noch möglich, jedoch wird dieses durch die als unaufschiebbar wahrgenommene Vermeidung bzw. Realisierung vergangenheitsdominierter Gedanken und Handlungsimpulse gestört, die im Alltag stereotyp wiederholt werden müssen und oft der Verringerung von starken Affektzustände dienen. Von Gebsattel schildert in seiner phänomenologischen Studie über die Zwangsstörung auch den Waschzwang des 17-jährigen Patienten H.H.: »So besteht die Morgentoilette aus hundert genau voneinander abgesetzten Einzelbewegungen: Jetzt die Hände ins Wasser, erst die linke, dann die rechte, dann heraus die eine, hebe sie hoch bis zum Wasserhahn, dann zur Seite, dann herunter auf die Seife […] Die Zahl der Einzelbewegungen, z. B. beim Waschen oder Abtrocknen ist festgelegt; festgelegt ist auch aufs Genaueste ihre Aufeinanderfolge. Damit das Programm eingehalten werden könne, ist es zweitens notwendig, mit hellgespannter Aufmerksamkeit alle Bewegungen zu kontrollieren […] Jede unterlaufende Ungenauigkeit wird als schuldhaft empfunden und führt entweder zu Waschungen oder zu einer Wiederholung, oder, wenn diese praktisch undurchführbar ist, zu einem »Durchdenken«, d. h. zu einer Rekapitulation mit gedanklicher Korrektur des unterlaufenen Fehlers.« (von Gebsattel 1954, 107)

Von Gebsattel ist der Auffassung, dass Patienten mit starken Zwangshandlungen nicht in der Lage seien, Handlungen zu einem Abschluss zu bringen, sodass sich die »Perfektform« nie einstelle (ebd., 112). Stattdessen komme der Patient nicht mehr von den eigenen Ritualen los und müsse sein Programm wiederholen, da das Vergangene nicht abgeschlossen werden könne, so schreibt er: »drängt es heran und fordert den Anankasten an, wie den Gesunden die Zukunft fordert« (ebd.). Über die Zwangserkrankung schreibt auch Bieri, dass es den Patienten nicht möglich sei, eine Erfahrung der eigenen Zukunft zu machen, da die Zukunft nur als eine Wiederholung des Gleichen, nämlich des »monotonen zum voraus [sic] berechenbaren Willens«, erlebt werde (Bieri 2003/2009, 141). Insbesondere situative Möglichkeiten werden von den Patienten dadurch krankheitsbedingt nicht erlebt, sodass sie in den meisten Situationen nicht spontan handeln können. 183 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Psychopathologie des Zukunftsbezugs

3.

Erlöschender Zukunftsbezug

Bei der Alzheimer-Demenz fällt zunächst auf, dass die Patienten zeitlich desorientiert und aufgrund dessen nicht mehr in der Lage sind, Ereignisse in ein strukturierendes »Zeitgitter« einzuordnen (Payk 1979, 78; 2002/2010, 152). Während die nahe Vergangenheit vergessen wird, wird der explizite Zukunftsbezug immer geringer und erlischt mit Zunahme der Erkrankung, sodass sich demente Patienten als von expliziter Vergangenheit und Zukunft abgeschnitten erleben. Wie Minkowski formuliert, entfaltet sich die Zeit »im Leeren«, nämlich so, als ob es eben keine nahe Vergangenheit und Zukunft mehr gebe (Minkowski 1933/1971b, 214). Auch die Gegenwart ist in fortgeschrittenen Stadien nicht mehr erinnerbar, sodass Kraepelin (1887, 491) über die Demenz schreiben kann, dass »die Gegenwart fast spurlos, ohne zu haften, an dem Kranken vorüber« geht. Trotz dieser zeitlichen Orientierungsstörung sind demente Patienten oftmals in erstaunlicher Weise in der Lage, eine Situation intuitiv zu erfassen und auf ihre persönliche Weise mit den eigenen Unzulänglichkeiten umzugehen. Der Schriftsteller Arno Geiger beschreibt in seinem Buch Der alte König in seinem Exil eine dafür typische Situation mit seinem dementen Vater: »Eines Tages überredeten wir den Vater zu einem Spaziergang […]. ›Bist du schon öfters hierher zum Spazieren gekommen?‹, fragte er mich. ›Manche Leute kommen nur hierher, um die Aussicht zu genießen.‹ Mir kam das seltsam vor, und ich sagte: ›Ich komme nicht wegen der Aussicht hierher, ich bin hier aufgewachsen.‹ Das schien ihn zu überraschen, er zog eine Grimasse und meinte: ›Ach, so‹. – Da fragte ich ihn: ›Papa, weißt du überhaupt, wer ich bin?‹ Die Frage machte ihn verlegen, er wandte sich zu Katharina und sagte scherzend mit einer Handbewegung in meine Richtung: ›Als ob das so interessant wäre.‹.« (Geiger 2011, 73 f.)

Während Patienten mit einer Alzheimer-Demenz oftmals sehr geschickt darin sind, den Gedächtnisverlust zu überspielen und ihre Erkrankung zu bagatellisieren, gelingt es ihnen mit zunehmender Schwere der Erkrankung jedoch nicht mehr, ihre Zeit sinnvoll zu strukturieren. Langfristige Ziele verlieren mit der Zeit an Bedeutung und auch die Realisierung des vorsätzlichen Wollens ist irgendwann unmöglich, da die Absicht im Handlungsvollzug schlichtweg vergessen wird. Aufgrund des erlöschenden Zukunftsbezugs ist es nicht mehr möglich, die Gegenwart im Lichte einer bestimmten Zukunft zu betrachten oder die Zukunftsentwürfe an die jeweilige Gegenwart 184 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Unsteter Zukunftsbezug

anzupassen. Vielmehr bleibt schwer dementen Patienten zuletzt nur noch das Bewusstsein der eigenen raumzeitlichen Verortung, die Minkowski (1933/1971b, 206) auch in der Formel des »Ich-hier-jetzt« zusammengefasst hat. Ohne expliziten Zukunftsbezug ist das Wollen dann nur noch auf das jeweils Nötigste beschränkt.

4.

Unsteter Zukunftsbezug

Der Zukunftsbezug ist dann als unstet zu bezeichnen, wenn stets nur impulsiv aus dem jeweiligen Moment heraus gehandelt wird, ohne dass die langfristigen Folgen der Handlung bedacht werden. Ein solches Verhalten zeichnet sich somit durch den Mangel eines übergreifenden Zukunftsbezugs aus und kann im Erwachsenenalter als pathologisch bezeichnet werden, gehört aber bei Kindern bis zum sechsten Lebensjahr zur normalen Entwicklung, da ein Belohnungsaufschub erst erlernt werden muss (Gorrenstein & Newman 1980). Wenn also der gegenwärtige Augenblick den Zukunftsbezug dominiert, ohne dass die jeweilige Gegenwart auch der Zukunft untergeordnet werden kann, dann handelt es sich um einen unsteten Zukunftsbezug, wie er typischerweise in der Gruppe der Impulskontrollstörungen vorzufinden ist. Zu diesen werden unter anderem die abnormen Gewohnheiten, der Raptus melancholicus oder aber schwere Persönlichkeitsstörungen gezählt. Herpertz schildert den Fall einer Impulskontrollstörung bei einer Patientin mit einer BorderlinePersönlichkeitsstörung: »Eine 28-jährige Patientin suchte die stationäre Behandlung wegen einer Vielfalt selbstschädigender Verhaltensweisen auf. Bereits seit dem 14. Lebensjahr fügte sie sich selbst Schnitt- und Brandverletzungen zu, Arme und Beine waren übersät von Narben. Ab dem 17. Lebensjahr geriet sie immer wieder in Alkoholexzesse, in denen sie sich bis zur Besinnungslosigkeit betrank […] Neben diesen selbstschädigenden Verhaltensmodi berichtete sie auch über heftige Wutausbrüche mit der Zerstörung von Gegenständen und vereinzelten fremdaggressiven Handlungen, letzteres besonders gegenüber dem Ehemann. Ausbildungen zur Krankenschwester und Erzieherin hatte sie abgebrochen, nachdem zunächst vielversprechende Kontakte zu Kolleginnen und Vorgesetzten im Streit geendet waren.« (Herpertz 2001, 39)

Die fehlende langfristige Zukunftsbezogenheit des Handelns führt zu erheblichen sozialen und persönlichen Nachteilen: So ist es bei der 185 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Psychopathologie des Zukunftsbezugs

Borderline-Persönlichkeitsstörung nicht ungewöhnlich, dass die Patienten häufig die Schule schwänzen, Ausbildungen abbrechen oder den Partner wechseln (Herpertz 2001, 73). Dies liegt daran, dass stark affektiv getönte Handlungsimpulse erlebt werden, die nicht durch ein Suspensionsvermögen außer Kraft zu setzen sind und sich daher Bahn brechen. Einerseits können die Patienten dabei die Zukunft nicht langfristig voraussehen und planen, andererseits können sie die gegenwärtigen starken Bedürfnisse auch nicht im Lichte der Zukunft relativieren und sich von diesen distanzieren. Während also infolge dementieller Erkrankungen der explizite Zukunftsbezug erlischt, führt die Impulskontrollstörung dazu, dass dieser stets von einem gegenwärtigen Impuls abhängig und die Zukunft damit immer an die unmittelbaren Regungen gebunden bleibt. Auch wenn die Patienten einen Willen ausbilden, so ist das Wollen doch durch eine Kurzfristigkeit gekennzeichnet, die nicht selten zu einer Vielzahl negativer Konsequenzen im Alltag führt.

5.

Unbestimmter Zukunftsbezug

Die pathologische Ambivalenz weist nun einen Zukunftsbezug auf, der als unbestimmt beschrieben werden kann. Darunter wird, gemäß den psychopathologischen Untersuchungen Bleulers (1911, 1914), eine Verhaltensdisposition von Personen verstanden, in Entscheidungssituationen eine unverhältnismäßig lange Zeitspanne für den Willensentschluss zu benötigen, oder sich sogar überhaupt nicht entschließen zu können. Die Personen sind dabei zwar ständig gedanklich mit der eigenen Zukunft beschäftigt, jedoch nicht in der Lage, ein klares Bild von ihr zu gewinnen, da sie sich nicht für eine bestimmte Möglichkeit entschließen können. Ein solcher Zustand der Unentschlossenheit und des Zweifelns wirkt sich lähmend auf die Gestaltung der momentanen Gegenwart aus und führt daher, wie bereits dargelegt, langfristig zu Handlungsunfähigkeit und Identitätsstörungen. Nach Bugental (1969) werden zwei Arten von Ambivalenz unterschieden: die sequentielle und die simultane Ambivalenz. Einen typischen Fall von sequentieller Ambivalenz schildert dieser am Beispiel seiner Patientin Mabel, die einerseits ihren Ehemann Greg nicht verlassen möchte, andererseits aber auch in Hal verliebt ist:

186 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Sprunghafter Zukunftsbezug

»Wenn Mabel also zu Hause mit Greg war, war sie sich jeweils des reichhaltigen Lebens mit ihm bewusst und fragte sich dann, ob sie in Versuchung geführt werden könnte […] Wenn sie mit Hal zusammen war oder vielleicht nur weg von Greg, wurde sie jeweils von Pein überwältigt, da sie wusste, wie stark ihre Gefühle für Hal waren und ihre Sehnsucht nach dem anderen Leben, das sie haben würde, wenn sie zu ihm ginge.« (Bugental 1969, zit. nach Yalom 1989, 371 f.)

Mit der sequentiellen Ambivalenz, die vor allem bei »neurotischen« Erkrankungen auftritt, geht ein eher dynamischer Verlauf einher, da die Person zwischen verschiedenen Zukunftsentwürfen schwankt, ohne dass eine endgültige Entscheidung getroffen werden kann. Die Zukunft kann somit zwar nicht klar vorgestellt werden, jedoch endet dies zumeist nicht in einer »Pattsituation« mit vollständiger Handlungslähmung. Dagegen kommt es bei Zuständen simultaner Ambivalenz in der Schizophrenie zu starken Handlungsbeeinträchtigungen und Identitätsstörungen, da zwei Möglichkeiten gleichzeitig »unverbunden nebeneinander« bestehen (Bleuler 1914, 95). Der solchermaßen unbestimmte Zukunftsbezug in der pathologischen Ambivalenz führt so zu einem Gefühl innerer Zerrissenheit und aufgrund der Unklarheit des Zukunftshorizonts zur Unfähigkeit, der eigenen Lebenszeit durch sein Wollen und Handeln eine Gestalt zu verleihen.

6.

Sprunghafter Zukunftsbezug

Bei manischen Patienten kann eine Zeitstruktur beschrieben werden, deren Zukunftsbezug sich durch den jeweiligen Gegenwartsbezug ständig verändert. Manische Patienten springen im Denken und Handeln von einem zum nächsten Zukunftsentwurf, überschlagen sich, ohne aber in der Lage zu sein, sich ein konkretes Willensziel zu erarbeiten. Vielmehr handelt es sich in den Worten Binswangers um ein »arbeitsloses Erspringen und Wiederfahrenlassen bestimmter Positionen« (Binswanger 1933, 195). In manischen Phasen erscheint dem Patienten die Welt als wandlungsfähig, nachgebend und ohne Lastcharakter (ebd., 59), weswegen ihm alles möglich erscheint, Probleme nicht vorausgesehen werden und die Welt wie durch eine »rosa Brille« erlebt wird. Es ist den Patienten, als hätten sie ihr Willensziel bereits erreicht, indem sie es äußern, was auch Blankenburg nahelegt, wenn er schreibt: Der Patient »lebt und erlebt sich immer schon in der 187 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Psychopathologie des Zukunftsbezugs

Erfüllung dessen, was er erwartet.« (Blankenburg 1992/2007, 255). Deutlich wird dies am Beispiel der 32-jährigen Elsa Strauß: »Heute […] verließ sie um 6.00 Uhr das Sanatorium, spazierte ungefähr zwei Stunden lang umher und kam an einer Kirche vorbei, wo ein Gottesdienst abgehalten wurde. Sie ging zum Organisten, und während er spielte, lobte sie sein Spiel und wollte von ihm Orgelstunden haben. Sie verließ dann die Kirche und kam an einem Sportplatz vorbei, wo Jungens [sic] Fußball spielten. Sie mischte sich ins Spiel und wurde dabei von den Jungens ausgelacht.« (Binswanger 1960, 77 f.)

Im Gegensatz also zum zwangskranken Patienten, der nicht mit der Handlung abschließen kann und auch die »Perfektform« (von Gebsattel 1954, 112) nicht erreicht, hat der manische Patient bereits in der Vorstellung der zukünftigen Handlung das Gefühl, diese vollzogen zu haben. Indem manische Patienten von einem Entwurf zum anderen springen, fühlen sie sich wie in einem Freiheitsrausch. Die Patienten können nicht bei einer Aktivität verweilen, sind aufenthaltslos und leben in der »reinen Aktualität« ihrer Projekte (Binswanger 1960, 115). Ein solches Verhalten führt dazu, dass langjährige Partnerschaften aufgrund flüchtiger Beziehungen in die Brüche gehen, Immobilien trotz Zahlungsunfähigkeit erworben werden und neue unerfüllbare Arbeitsverhältnisse aufgenommen werden. Infolge derartiger »lebensgeschichtlicher, gedanklicher und sozialer ›Sprünge‹« (ebd., 114) steht der Patient am Ende einer manischen Phase nicht selten vor den Trümmern seines bisherigen Lebens, woran sich dann oft eine depressive Phase anschließt, in der sich der Zukunftsbezug wieder verengt und die Vergangenheit als dominant erlebt wird.

7.

Fremdbestimmter Zukunftsbezug

Zuletzt ist noch eine Zeitstruktur zu beschreiben, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die betroffene Person nicht in der Lage ist, ihre eigene Zukunft zu entwerfen und die Gegenwart daran auszurichten. Da die Person nicht in der eigenen, sondern in der »fremden Zeit des Hörigen« (Bieri 2003/2009, 132) lebt, kann diese Form des Zukunftsbezugs als fremdbestimmt bezeichnet werden. Psychopathologisch lassen sich zwei typische Störungsbilder eines solchen fremdbestimmten Zukunftsbezugs anführen: zum einen die anhaftende Abhängigkeit bei der dependenten Persönlichkeitsstörung und zum 188 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Fremdbestimmter Zukunftsbezug

anderen die angepasste Regelhörigkeit (»Hypernomie«) beim Typus melancholicus (Tellenbach 1961/1976, 67 ff.). Die nachfolgende Kasuistik einer 63-jährigen Patientin beschreibt zunächst den Fall einer dependenten Persönlichkeitsstruktur. »Ohne ihren Mann sei sie eben völlig hilflos […] Sie habe seine Überlegenheit, seine Erfahrungskraft sehr bewundert […] Sie seien gut aufeinander eingespielt gewesen: Sie habe den Haushalt geführt und die 3 Kinder versorgt, er habe in allen wichtigen Entscheidungen die Richtung angegeben und Finanzen, Versicherungen und Ähnliches verwaltet. Sie habe sich immer auf ihn verlassen können und bei jeder wichtigen Entscheidung seinen Rat eingeholt […] Nach seiner Berentung habe er mehrere Reisen geplant, auf die sie ihm zuliebe mitgegangen sei, obwohl sie sich aus Reisen nichts mache.« (Lieb & Frauenknecht 2009, 305)

Da sich dependente Personen gegenüber einer dominanten Person unterwürfig verhalten, lassen sie sich von dieser auch in ihrem Wollen und ihren Zukunftsentwürfen bestimmen. Als Typus melancholicus wurde eine von Hubertus Tellenbach umschriebene prämorbide Persönlichkeitsstruktur schwer depressiver Patienten bezeichnet, die sich in einem hohen Leistungsanspruch, einem Hang zur Ordentlichkeit und einem hohen Maß an Gewissenhaftigkeit äußert (Tellenbach 1961/1976, 67 ff.). 105 Diese Eigenschaften sind auch in Tellenbachs Beschreibung des 32-jährigen Verwaltungsangestellten Friedrich St. wiederzufinden: »Bei der Aufnahme […] bezeichnet ihn die Ehefrau als »immer ruhig, fleißig, intelligent, sehr gewissenhaft und genau, präzise in seiner Arbeit als Buchhalter« […] Nach der Remission gab der Patient folgendes an: Das pflichtbewusste Wesen habe er von seiner »schwernehmenden« Mutter »geerbt«. Er habe sich in der soliden häuslichen Ordnung sehr wohlgefühlt, die sich in seiner Ehe fortgesetzt habe. In seinem Beruf sei er immer sehr akkurat und strebsam gewesen […] Zum Beruf: »Das ist meine Welt – der Schwerpunkt meines Lebens.« (Tellenbach 1961/1976, 129 f.)

Die Persönlichkeitsstruktur des Typus melancholicus führt nun dazu, dass das Wollen wiederum sehr stark durch Konventionen bestimmt

105 In der psychiatrischen Forschung konnte sich jedoch nicht erhärten, dass es die eine prämorbide Persönlichkeitsstruktur schwer depressiver Patienten gibt, wie sie von H. Tellenbach beschrieben wurde. Jedoch wurde in den letzten Jahren mit dem Konzept der depressiven Persönlichkeitsstörung bzw. mit der Beschreibung der chronisch depressiven Störung der Versuch unternommen, prädisponierende Persönlichkeitseigenschaften als Risikofaktoren für eine depressive Erkrankung zu bestimmen.

189 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Psychopathologie des Zukunftsbezugs

ist, was sich auch in der Strukturierung der Zeit ausdrückt. Eine solche Anpassung an die Normen einer Gesellschaft und ein »distanzloses Befolgen von Rollenvorschriften« kann als »hypernomisches Rollenverhalten« bezeichnet werden (Kraus 1975, 370 f.).

8.

Zusammenfassung

Wollen und Zeit sind aufs Innigste miteinander verwoben und insbesondere der Zukunftsbezug ist ein wesentliches Charakteristikum des Wollens. Im Rahmen einer idealtypischen phänomenologischen Beschreibung lässt sich die Zeitstruktur des Wollens als eine dynamische Doppelstruktur verstehen, die es einer Person ermöglicht, flexibel zwischen Zukunfts- und Gegenwartsbezug sowie zwischen expliziter und impliziter Zeitlichkeit zu pendeln. Ändern sich die situativen Bedingungen oder ergeben sich neue Möglichkeiten des Handelns, kann der Zukunftsentwurf so an die Gegenwart angepasst werden. Ebenso ist es möglich, die jeweilige Gegenwart im Lichte eines bestimmten Zukunftsentwurfes zu betrachten und durch Ausdauer und Beharrlichkeit für die Umsetzung des Willenszieles zu kämpfen. Auch der Wechsel zwischen expliziter Planung der Zukunft und impliziter Umsetzung in der Gegenwart gehört zum Kern der Zeitstruktur des Wollens. Liegt jedoch eine Störung der gelebten Zeit (Minkowski 1933/ 1971b) vor, dann dominiert ein Aspekt der Zeit die anderen, wodurch es zu einem Ungleichgewicht in der dynamischen Doppelstruktur kommt. All diesen Störungen ist dabei gemein, dass die Zeit durch eine strukturelle Inflexibilität nicht mehr aktiv selbst gestaltet und gelebt werden kann. Mit dem Entwurf einer Psychopathologie des Zukunftsbezugs wurde hier den Versuch unternommen, das Spektrum willensbezogener Zeitstörungen zu umreißen. Ein Übergewicht der Vergangenheit kann beim eingeengten und unterbrochenen Zukunftsbezug festgestellt werden: In der Depression wird der Zukunftsbezug zunehmend geringer und Handlungsmöglichkeiten in der Gegenwart werden verpasst, während die eigene Vergangenheit zur dominierenden Zeitform wird. Dahingegen wird der Zukunftsbezug beim Zwangskranken unterbrochen, da in der Gegenwart immer wieder Gedanken und Handlungsimpulse der Vergangenheit wiederkehren, die eine freie Entfaltung in der Zeit unmöglich machen. 190 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Zusammenfassung

Ein Übergewicht der Gegenwart lässt sich wiederum beim erlöschenden und unsteten Zukunftsbezug feststellen: Während der erlöschende Zukunftsbezug in der Demenz dazu führt, dass die unmittelbare Vergangenheit und Zukunft zunehmend in Vergessenheit geraten, sodass der Patient nicht mehr zu komplexen intentionalen Handlungen in der Lage ist, ist der unstete Zukunftsbezug in der Impulskontrollstörung durch die Dominanz momentaner Handlungsimpulse gekennzeichnet, die trotz langfristig negativer Konsequenzen in der Zukunft nicht außer Kraft gesetzt werden können. Ein Übergewicht der Zukunft schließlich lässt sich aus dem unbestimmten und sprunghaften Zukunftsbezug ableiten. Der unbestimmte Zukunftsbezug in der pathologischen Ambivalenz korrespondiert mit der ständigen Auseinandersetzung um zukünftige Möglichkeiten, wobei der Zukunftsbezug vage und die Gegenwart ungenutzt bleibt, da sich die Person nicht für ein Willensziel entscheiden kann. Der Maniker wiederum geht in Form eines sprunghaften Zukunftsbezugs unvermittelt von einem Willensziel zum anderen über und erlebt sich bereits in der Erfüllung seiner Ziele. Abschließend wurde der fremdbestimmte Zukunftsbezug als Zeitstörung des Willens beschrieben, die es der Person aufgrund einer »Hörigkeit« gegenüber Anderen oder Normen unmöglich macht, die Zeit durch eigene Entwürfe zu gestalten.

191 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

VI. Skizze einer Psychotherapie des Willens

Veränderung ist das Geschäft der Psychotherapie, und therapeutische Veränderung muss sich in Handlung ausdrücken. 106

Zuletzt wird es darum gehen, die Ergebnisse der bisherigen Untersuchungen und die hierbei eingeführten Unterscheidungen zum Wollen auch für die Psychotherapie fruchtbar zu machen. Allgemein lässt sich feststellen, dass Kenntnisse der Motivationspsychologie und so auch einer phänomenologischen Psychologie des Wollens für jede Form der Psychotherapie von Belang sind: So können sie helfen, zu verstehen, was den Patienten zur Therapie motiviert oder wie im weiteren Verlauf eine Änderungsmotivation zu erreichen ist (Hartmann & Kuhl 2004, 33; Kanfer et al. 1996, 205 ff.). Grundsätzlich bedarf jede Form von Psychotherapie, so sie zielführend gestaltet werden soll, mindestens zwei unabdingbarer Motivationen: eines Therapeutenwillens, sich auf den Patienten einzulassen und eines Patientenwillens, Veränderungen im eigenen Denken und Handeln herbeizuführen. Eine therapeutische Beziehung ist demnach nur dann erfolgreich, wenn auch beide Seiten gewillt sind, an dieser Beziehung mitzuarbeiten. Mit den Worten Yaloms (1989, 348) lässt sich auch sagen, dass »Therapie insoweit effektiv ist, wie sie den Willen des Patienten beeinflusst«. Das bedeutet, dass Psychotherapie immer dann zum Erfolg führen kann, wenn sie den Eigenwillen des Patienten stärkt und willentliche Fähigkeiten wie Entscheidungsstärke, Zeitstrukturierung, Umsetzungskraft und Beharrlichkeit fördert. Doch obwohl die Willensthematik für die Psychotherapie unverzichtbar erscheint, gab es in der Vergangenheit nur wenige Autoren, die diese zum Gegenstand ihrer Betrachtungen gemacht haben: Besonders hervorzuheben sind die Arbeiten von Otto Rank (Die Willens106

Irvin Yalom (1989, 341)

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Skizze einer Psychotherapie des Willens

therapie, 1926/2006), Roberto Assagioli (Die Schulung des Willens, 1982/2008) oder Irvin Yalom (Existentielle Psychotherapie, 1989). Weiterhin ist seit den Untersuchungen der Gruppe um Heinz Heckhausen (1987 u. a.) in den letzten Jahren der Wille als Thema der psychologischen Forschung wieder stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt, so etwa in den Arbeiten zur »Selbststeuerung« von Julius Kuhl und Klaus Hartmann (2004) oder im Rahmen des »integrativen« Ansatzes von Hilarion Petzold und Johanna Sieper (2004, 2008). Trotz der Arbeiten der genannten Autoren konnte die Willensthematik in der Psychotherapie bis heute nicht den ihr angemessenen Stellenwert erreichen und ist daher auch für die Psychotherapie-Forschung eine randständige Thematik geblieben. Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Gründe: Zunächst wurde die Willensthematik in den Schriften der Begründer von Psychoanalyse und Verhaltenstherapie systematisch ausgeblendet, was noch heute einen Schatten auf den gesamten psychotherapeutischen Diskurs wirft. So kritisierte Otto Rank bereits 1926 innerhalb des psychoanalytischen Paradigmas, dass der Wert von Wille und Bewusstsein in den Arbeiten Sigmund Freuds geleugnet und das Wollen ausschließlich als »Widerstand« gegen den Therapeuten gedeutet werde (Rank 1926/2006, 284). 107 Während die Psychoanalyse also in ihren ersten Jahren die Person vor allem durch Unbewusstes und Triebe bestimmt sah, behandelte die auf den theoretischen Voraussetzungen des Behaviorismus fußende Verhaltenstherapie mentale Prozesse wie das Wollen lange Zeit als »Black Box«. Der zweite wesentliche Grund besteht in der begrifflichen Unschärfe: Unter dem Wollen wurden stets unterschiedliche Sachverhalte verstanden, sodass dies den psychotherapeutischen Diskurs erschwerte. So betonten einige Autoren eher den motivationalen Aspekt (der »Wille« als ein Trieb), andere den inhibitorischen Aspekt (der negative »Wille«, das Nein-Sagen-Können), wiederum andere den volitionalen Entscheidungs- und Umsetzungsaspekt (der positive oder kreative »Wille«). Ferner wird von einigen Autoren das Wollen auch mit Prozessen der Sinnstiftung (Frankl 1946/2009) sowie der Selbstbestimmung identifiziert (Hartmann & Kuhl 2004). Allerdings haben die vorangegangenen Untersuchungen gezeigt, dass das Wollen nicht nur einen dieser Aspekte besitzt, sondern sich aus allen Komponenten zusammensetzt. 107

Eine ähnliche Kritik wurde auch von Anna Freud (1936/1973) geäußert.

193 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Skizze einer Psychotherapie des Willens

Im Folgenden ist mithilfe dieser bisher vorgenommenen phänomenologischen Unterscheidungen eine Psychotherapie des Willens 108 zu skizzieren. Wie jede Psychotherapie, die sich in die humanistischanthropologische Tradition einreiht, muss eine solche Willenstherapie ein kontrolliertes Gleichgewicht zwischen den Eigenheiten der zwischenmenschlichen Begegnung und einer operativen Methodik finden (Binswanger 1934/1994, 208; Jaspers 1950, 465). Der Therapeut sollte also einerseits, wie es Rogers (1977/2013) betont, die andere Person nicht nur als Patienten, sondern in erster Linie als ein menschliches Gegenüber ernst nehmen und ihr mit Echtheit, Kongruenz und Wertschätzung begegnen, andererseits aber auch über Werkzeuge verfügen, die Willensstörung gezielt zu diagnostizieren und zu behandeln. Diese Willensstörungen lassen sich dabei im Wesentlichen in zwei verschiedene Arten unterteilen: zum einen in die formalen Störungen des Wollens, bei denen Probleme in der Bildung oder Umsetzung von Willenszielen bestehen, zum anderen in die Störungen der Ausbildung selbstbestimmter und somit authentischer Willensziele. Während bei formalen Willensstörungen die gestörten Aspekte (Strukturmomente und Phasen) identifiziert und in einer Schulung des Willens, wie sie von Assagioli (1982/2008) vorgeschlagen wurde, trainiert werden müssen (1.), zielt die Therapie zur Selbstbestimmung darauf ab, einen Emanzipationsprozess in Gang zu setzen, bei dem der Patient mithilfe des Therapeuten herauszufinden lernt, was seine wichtigsten Bedürfnisse sind und welche Ziele er in seinem weiteren Leben zu deren Erfüllung verwirklichen will (2.). Nachfolgend werden einige ausgewählte Methoden einer so umrissenen Willenstherapie vorgestellt.

1.

Die »Schulung des Willens«

Die Willensschulung ist ein von dem italienischen Psychotherapeuten und Begründer der Psychosynthese Roberto Assagioli (1982/ 2008) entwickeltes Verfahren, bei dem der Therapeut die Art der Willensstörung zu diagnostizieren hat und mit dem Patienten Übungen 108 Diese stellt zunächst einen Entwurf für die Therapie insbesondere von leichten Willensstörungen dar, bei denen der Patient noch dazu in der Lage ist, in den Prozess der Psychotherapie selbst einzuwilligen und am eigenen Willen zu arbeiten.

194 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die »Schulung des Willens«

durchführt, die ihm bei der Bewältigung dieser Störung helfen. Dies erfordert vom Therapeuten genaue Kenntnisse über die Strukturen des Wollens: »Auch wenn nicht jedes Stadium des Willens bei einer Willenstat wichtig ist, so müssen wir doch in allen Stadien bewandert sein, um unter verschiedenen Umständen wirksam zu handeln.« (Assagioli 1982/2008, 122)

Eine für die Willensschulung brauchbare Unterscheidung der Strukturen des Wollens wurde im Abschnitt C.II entwickelt: Dabei wurden die Strukturmomente a) Konation, b) Suspension und c) Volition von den volitionalen Phasenabschnitten der (i) Entscheidungsbildung und des Entschließens sowie des (ii) Planens, des (iii) Umsetzens und des (iv) Beharrens unterschieden. Die Aufgabe des Therapeuten ist es dementsprechend, durch gezielte Fragen Defizite in jedem dieser Bereiche zu überprüfen und zur jeweiligen Willensstörung die passenden Übungen auszuwählen. Im Folgen werden einige diagnostisch zielführende Fragen 109 und Übungen vorgestellt.

a)

Die Ebene der Konation: Stärkung der Motivation

Um beurteilen zu können, ob sich das Willensproblem auf der Ebene der Konation bzw. Motivation befindet, können folgende Fragen gestellt werden: Fehlt Ihnen oftmals der Antrieb zum Handeln? Können Sie sich diese Antriebslosigkeit erklären? Bei welchen Situationen erleben Sie einen Antriebsmangel? Reicht Ihre Motivation manchmal für langfristige Willensziele nicht aus? Welche Bedürfnisse und Interessen sind Ihnen wichtig? Haben Sie aktuell weniger Interessen als zuvor? Was können Sie besonders gut und was macht Ihnen im Leben Freude?

Die Antworten auf Fragen solcher Art können einen Anhalt dafür geben, ob der Patient unter einer Motivationsstörung leidet. Motivationspsychologisch ist allgemein festzuhalten, dass der Patient umso motivierter ist, etwas zu tun, je mehr er sich mit der Handlung identifiziert, je eher er sich die positiven Konsequenzen seiner Handlungen vorstellen kann und diese Handlungen daher attraktiv findet 109 Die Entwicklung von standardisierten Fragebögen zum Willensthema für die Psychotherapie könnte daher eine in Zukunft noch zu leistende, lohnenswerte Aufgabe darstellen.

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Skizze einer Psychotherapie des Willens

(Kuhl & Hartmann 2004, 50; Kuhl & Martens 2013, 21). Der Therapeut sollte dem Patienten daher in den Übungen die Möglichkeit geben, selbst positive Gedanken und Bilder zu entwickeln. (i)

Motivation durch Vergangenheit und Zukunft

Sowohl die Reflexion auf die Vergangenheit als auch auf die Zukunft kann zur Motivation verhelfen. Bei der Reflexion auf die Vergangenheit versucht der Therapeut herauszufinden, welche Ressourcen der Patient besitzt, indem er ihn zu positiven Erfahrungen in seinem Leben befragt. Auf diese Weise soll herausgefunden werden, welche Erfolge der Patient bereits in seinem Leben erreicht hat, bei welchen Aktivitäten er das Gefühl von Selbstwirksamkeit erlebt hat und welche Aktivitäten ihm Gefühle von Zufriedenheit, Freude und Erfülltheit bereitet haben. Ausgehend von diesem Wissen können dann einerseits die positiven Erlebnisse jederzeit wieder ins Gedächtnis gerufen werden (»Das habe ich geschafft«, »Dazu bin ich in der Lage«, »So etwas kann ich«) und so auch als Leitbild für den Erfolg des Wollens gelten, andererseits können sie aber auch als Anhaltspunkte für die eigene Prioritätensetzung dienen. Aktivitäten, die mit einem starken Gefühl von Selbstwirksamkeit einhergegangen sind, sollten, sofern es möglich ist, auch für das gegenwärtige Wollen eine große Rolle spielen (»Da konnte ich etwas bewegen, das hat mir Freude bereitet – so etwas möchte ich wieder machen!«). Fällt es dem Patienten jedoch schwer, sich an Positives zu erinnern, so kann er auch beauftragt werden, ein Tagebuch anzufertigen, in dem er die positiven Erlebnisse des Tages festhält, die anschließend zusammen mit dem Therapeuten ausgewertet werden (Kuhl & Martens 2013, 108). Die Reflexion auf die Zukunft kann wiederum dadurch die Motivation fördern, dass dem Patienten klar wird, dass seine Lebenszeit begrenzt und daher auch seine Möglichkeiten endlich sind. Existenzialhermeneutisch fundierte Übungen, in denen Themen wie der Tod oder die eigene Endlichkeit reflektiert werden, stellen hier in besonders prägnanter Weise eine Möglichkeit dar, aus der Reflexion auf die Zukunft eine Motivation abzuleiten, die das authentische Handeln bestärken kann. 110 Manchmal kann es für die Motivation aber auch bereits hilfreich sein, den Patienten zu bitten, sich vorzustellen, wo er

110

Weiter unten wird dies als existenzielle Methode noch ausführlicher dargestellt.

196 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die »Schulung des Willens«

in einer bestimmten Zeitspanne – etwa in fünf oder zehn Jahren – stehen will und wo nicht. (ii) Motivation durch Imagination und Suggestion Die Fähigkeit des Menschen, durch Fantasie und Vorstellungsvermögen Bilder vor dem »inneren Auge« entstehen zu lassen, kann den Willensprozess stark beeinflussen. Dazu kann es z. B. förderlich sein, Biographien bedeutender Persönlichkeiten zu lesen, die dem Patienten mit ihrer Willensstärke als Vorbild dienen (Assagioli 1982/ 2008, 41). Es kann aber auch helfen, sich für das eigene Leben wichtige Personen vorzustellen, wie sie einem beim Handeln zur Seite stehen, oder denen man »im Geiste« von den künftigen Erfolgen berichtet und dafür Anerkennung bekommt. Dies kann z. B. ein verstorbener Großvater oder ein ehemaliger Lehrer aus der Schulzeit sein, zu dem man eine besonders gute Beziehung hatte. Eine weitere Möglichkeit durch Imaginationen die Motivation für das Handeln zu stärken, sind symbolische, willensstärkende Bilder. So kann sich der Patient z. B. vorstellen, ein bestimmtes Tier wie etwa ein Löwe zu sein oder sich mit einem Sportler wie einem Läufer oder Stabhochspringer identifizieren. Diese willensstärkende Verbundenheit können auch vorgestellte Naturbilder wie eine Welle oder ein Berg hervorrufen, indem der Patient die mit diesen Bildern verknüpfte Kraft oder Erhabenheit auf sich überträgt. Neben Imaginationen können auch suggestive Sprichwörter und Leitsprüche als Quelle der Motivation dienen und für das Wollen eine Kraft entfalten. Insbesondere wenn sich die Person mit einem bestimmten Satz besonders identifizieren kann, sollte dieser aufgeschrieben werden und für die Person sichtbar sein und in schwierigen Situationen bewusst wiedererinnert werden. Assagioli (ebd., 151) schlägt demgemäß vor, dass sich die Person vor Augen führt, dass sie nicht nur einen Willen besitzt, sondern selbst ein Wille ist: »Ich bin ein Wille; ich bin ein bewusster, starker, dynamischer Wille« (ebd., 154). Solange die Worte eine motivierende Kraft haben, ist es aber unerheblich, ob es dabei explizit oder nur implizit um das Willensthema geht, solche Sprichwörter können beispielsweise folgende sein: »Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg!«, »Sei überzeugt, dass das Unmögliche möglich ist« oder »Man kann noch weit gehen, wenn man müde ist.« Oftmals ist es wirkungsvoll, wenn die Aussprüche bedeutender Personen gewählt werden, mit denen sich der 197 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Skizze einer Psychotherapie des Willens

Patient identifizieren kann, so beispielsweise: »Die Hauptsache ist, dass man ein großes Wollen habe und Geschick und Beharrlichkeit besitze, es auszuführen« (Goethe), »Stärke erwächst nicht aus körperlicher Kraft, sondern aus unbeugsamen Willen« (Gandhi), oder »Nichts wächst erfreulicher auf Erden als ein hoher, starker Wille« (Nietzsche).

b)

Die Ebene der Suspension: Stärkung der Selbstkontrolle

Um zu prüfen, ob eine Störung auf der Ebene des Suspensionsvermögens, d. h. der Impuls- und Affektkontrolle, vorliegt, können folgende Fragen zielführend sein: Fällt es Ihnen schwer, einem Reiz für eine gewisse Zeit standhalten zu können? Sind Sie in der Lage, Ihre Handlungsimpulse zu kontrollieren? Sind Sie leicht von Handlungen ablenkbar, die Sie sich vorgesetzt haben? Fahren Sie manchmal regelrecht »aus der Haut«? Erkennen Sie sich manchmal nicht mehr wieder, wenn Sie etwas aus einem Impuls heraus machen und schämen Sie sich dafür? Können Sie auch einmal »Nein« sagen, wenn Sie um etwas gebeten werden, was Sie nicht wollen?

Auch ein schwach ausgeprägtes Suspensionsvermögen kann gezielt durch Übungen trainiert werden. Der Patient kann zum Beispiel angeleitet werden, sich jeden Tag für eine gewisse Zeitspanne einem unwiderstehlichen »Stimulus« auszusetzen und diesen auszuhalten: So kann er eine Tafel Schokolade vor sich auf den Tisch legen und versuchen, kein Stück zu essen, oder sich als Raucher zu einer Gruppe rauchender Personen stellen und versuchen, keine Zigarette anzuzünden. Die Zeitspanne und der Schwierigkeitsgrad der Übung können dann im Laufe der Zeit langsam gesteigert werden. Wenn dem Patienten dies anfänglich schwer fällt, kann er versuchen, sich ein Stoppschild vorzustellen oder sich die negativen und positiven Folgen seines Handelns vor Augen zu führen: »Wenn ich jetzt die Zigarette rauche, dann werde ich mich morgen auch nicht zurückhalten können und dann sterbe ich mit 50 Jahren an einem Herzinfarkt!» 111 Sich die negativen Folgen des eigenen Handelns vorzustellen, kann also helfen, sich von einer Handlung abzuhalten, die 111 Diese Methode wurde bereits von Kant beschrieben, wenn er empfiehlt, sich einen Galgen vorzustellen, an dem man gehängt werde, wenn man sich der schlechten Neigung hingebe (KpV, S. 140, A54).

198 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die »Schulung des Willens«

man im Nachhinein bereuen würde. Gleichwohl ist es für die Inhibition eines Handlungsimpulses aber nicht nur wichtig, sich zu verdeutlichen, was in Zukunft nicht eintreten sollte, sondern sich ebenso die positiven Folgen vor Augen zu führen (Kanfer et al. 1996, 72), so kann sich der Patient sagen: »Wenn ich jetzt, statt eine Zigarette zu rauchen, jeden Tag einen Apfel esse, dann lebe ich länger und gesünder.« Daneben kann bei starken Beeinträchtigungen der Impulskontrolle die verhaltenstherapeutische Technik der »Stimulus-Kontrolle« (Batra 2013, 83) angewandt werden, die darin besteht, dass die Person den Stimulus, der eine Handlung provozieren kann (z. B. Zigaretten oder Schokolade), im Vorhinein auch aus dem Weg schaffen kann.

c)

Ebene der Volition: Stärkung der Entscheidungsfähigkeit

Als Volition wurde der gesamte Prozess der Willensbildung und -umsetzung bezeichnet, der durch Konation und Suspension ermöglicht wird und sich in drei Phasen einteilen lässt: eine Phase der Entscheidungsbildung (prädezisional), eine Phase des Entschließens (dezisional), an die sich dann die Phase der Realisierung (postdezisional) anschließt. In all diesen volitionalen Stadien können Willensstörungen auftreten, das heißt (i) als Entschlussunfähigkeit, (ii) als Unfähigkeit des Planens, (iii) des Umsetzens und (iv) des Beharrens. (i)

Sich entschließen können

Um die Entschlussfähigkeit (Dezisionalität) des Patienten zu prüfen, sind folgende Fragen zielführend: Brauchen Sie regelmäßig überdurchschnittlich lange, um eine Entscheidung zu treffen? Grübeln Sie viel, ohne zu einem Entschluss zu gelangen? Empfinden Sie es als Qual, sich nicht entscheiden zu können? Fällt Ihnen das Entscheiden eher bei alltäglichen oder bedeutsamen Entscheidungen schwer? Zögern Sie Entscheidungen manchmal heraus? Lassen Sie sich Entscheidungen gern von anderen Menschen abnehmen?

Die Fähigkeit, sich in einer »multivalenten Situation« (Thomae 1960) in einer angemessenen Zeitspanne für ein bestimmtes Willensziel entschließen zu können, ist, wie gezeigt wurde, insbesondere für die Selbstbestimmung wichtig, so schreibt auch Jaspers (1932/1973, 181): »Entschluss und Selbstsein sind eines. Unentschlossenheit überhaupt 199 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Skizze einer Psychotherapie des Willens

ist Mangel an Selbstsein.« Liegt nun eine Störung der Entschlussfähigkeit vor, so kann diese auf drei verschiedenen Wegen verbessert werden. Diese Dreiteilung leitet sich von der Tatsache ab, dass immer ein intuitives Moment, ein rationales Moment und auch ein willkürliches Moment am Entscheidungsprozess beteiligt sind, sodass diese drei Anteile auch jeweils gestärkt werden können. Diesen jeweiligen Ansatzpunkten sollte der grundsätzliche Versuch vorausgehen, dem Patienten vor Augen zu führen, dass zwar das Entscheiden mit einer Selbstbegrenzung einhergeht, da alternative Wahlmöglichkeiten verpasst werden, aber gar keine Entscheidung zu treffen, hingegen dazu führen würde, dass alle Wahlmöglichkeiten verpasst werden. Soll nun die Intuition des Patienten trainiert werden, so kann man ihn bitten, sich die Möglichkeiten so genau wie möglich auszumalen: »Welche Rolle werden Sie in der Situation spielen?«, »Wie wird die Resonanz Ihrer Freunde sein?«, »Welche Folgen könnte Ihr Handeln haben?«, »Worauf könnten Sie sich dann freuen?«. Der Patient wird dadurch ermuntert, sich durch gezieltes Nachfragen die verschiedenen Situationen und die damit verbundenen Folgen auszumalen. Dabei soll der Patient darauf achten, bei welcher Option das größte Stimmigkeitsgefühl auftritt (»Würden Sie sich mit der Entscheidung wohl fühlen?« oder »Würde diese gut zu Ihnen passen?«). Die zweite Methode, Entscheidungen zu erleichtern oder trotz eines Mangels an Stimmigkeit zu einem Entschluss zu gelangen, ist die Stärkung des rationalen Moments mithilfe des Anfertigens von »Pro-Kontra-Listen«, wodurch für jede Möglichkeit die verschiedenen Vor- und Nachteile klar vor Augen gestellt werden. Dies kann dazu führen, dass der Person die wesentlichen Aspekte der Entscheidung klarer erscheinen als zuvor und somit Entscheidungen mit größerer Besonnenheit getroffen werden können. Um den Prozess der Selbstbestimmung nicht zu gefährden, sollte die Stärkung des rationalen Moments nie isoliert erfolgen, sondern immer mit einer Stärkung des intuitiven Moments einhergehen. Zuletzt kann bei besonders unentschlossenen Personen auch das willkürliche Moment banaler oder alltäglicher Entscheidungen trainiert werden. Zentral ist hierbei, dass sogenannte »Buridan-Situationen« aufgesucht werden, bei denen die verschiedenen Möglichkeiten gleichwertig erscheinen und eine Entscheidung daher keine hohe Relevanz beanspruchen kann. Wenn z. B. beim Betreten eines Cafés mehrere Tische unbesetzt sind, dann soll der Patient eine Entschei200 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die »Schulung des Willens«

dung für einen Tisch treffen, die im Nachhinein nicht mehr rückgängig gemacht wird; wenn auf dem Weg zur Arbeit mehrere Straßen zum Ziel führen, soll bewusst eine willkürliche Entscheidung zwischen diesen getroffen werden, ohne dabei immer den gewohnten Weg zu wählen. Es ist wichtig, dass der Patient erkennt, dass er immer und überall die Möglichkeit hat, sich so oder anders zu verhalten und dass er von dieser Wahlmöglichkeit im Alltag auch Gebrauch zu machen lernt. (ii) Planen können Um die Fähigkeit zu überprüfen, ob eine Person in der Lage ist, das eigene Wollen über eine längere Zeitspanne zu planen und auch schrittweise umzusetzen (Sequenzierung), bietet es sich an, folgende Fragen zu stellen: Verfolgen Sie bei der Umsetzung Ihres Wollens einen bestimmten Plan? Fällt es Ihnen schwer, Ereignisse, die weit in der Zukunft liegen, im Voraus zu planen? Wissen Sie bei Ihren langfristigen Zielen immer, was als Nächstes zu tun ist? Behalten Sie bei Ihren Handlungen auch das langfristige Ziel im Blick? Haben Sie manchmal das Gefühl, unstrukturiert zu sein? Geraten bei Ihnen Termine leicht durcheinander? Haben Sie manchmal das Gefühl, Ihren eigenen Terminkalender nicht einhalten zu können?

Für die Umsetzung des Wollens ist die Planung von großer Bedeutung. Nach Assagioli (1982/2008, 158) ist insbesondere eine »dreifokale Sicht« notwendig, d. h. die Person sollte sowohl das langfristige Ziel, den nächsten Schritt als auch die dazwischenliegenden Abschnitte im Blick haben. Der Therapeut hat demzufolge die Aufgabe, durch Nachfragen mit dem Patienten zu erarbeiten, was das langfristige Ziel sein soll und welche Mittel zur Erreichung er wählen will, sodass der Patient am Ende ein Wissen darüber besitzen sollte, bis wann er das Ziel erreicht haben will, welche Mittel dafür wann erforderlich sind und was für ihn deshalb als Nächstes zu tun wäre. Um dies zu leisten, bietet sich eine methodische »Verräumlichung von Zeit« 112 an, bei der die Zeit als eine Strecke aufgefasst wird, auf welcher dann die einzelnen Termine gesetzt sind. Zur besseren Veranschaulichung kann dies durch ein Schaubild oder mithilfe eines 112 Diese wäre natürlich mit Bergson (1889/2006) als alleiniges Zeitverständnis zu kritisieren. Hier stellt die »Verräumlichung der Zeit« vielmehr eine therapeutische Strategie dar.

201 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Skizze einer Psychotherapie des Willens

Kalenders geschehen. Solche Planungshilfen erhöhen die Übersichtlichkeit dessen, was noch zu tun ist, um das langfristige Ziel zu erreichen, woraus sich aber auch ergibt, dass für die Planung langfristiger Willensziele auch kurzzeitige Zwischenziele einzuführen sind, damit sich bereits nach einiger Zeit kleine Erfolgserlebnisse einstellen und diese Erfolge dann auch gewürdigt werden können (Kuhl & Martens 2013, 130 ff.). Ist jedoch der nächste Schritt zeitlich nicht genau bestimmbar, dann sollte die Person zumindest wissen, welche Bedingungen zum Handeln erfüllt sein müssen. Diese Bedingungen können dann ebenfalls zur Veranschaulichung in einem Schaubild festgehalten werden. (iii) Umsetzen können Liegt die Willensstörung auf der Ebene der Umsetzung, dann können diagnostisch folgende Fragen gestellt werden: Haben Sie Probleme dabei, Willensentschlüsse zu realisieren? Lassen Sie Widerstände schnell an Ihrem Entschluss zweifeln? Lassen Sie sich oft durch unerwartete Vorkommnisse frustrieren oder können Sie mit diesen spontan umgehen? Wählen Sie sich Ziele, die vom Schwierigkeitsgrad eher zu hoch oder zu niedrig liegen? Bei welchen Handlungen konnten Sie in der Vergangenheit Ihren Willen nicht realisieren?

Aus Sicht der Willenstherapie ist zu betonen, dass nicht allein das Gedachte, sondern vorrangig das Getane von Bedeutung ist. Wie bereits Pfänder (1900/1963, 80) formulierte: »Jedes Wollen ist ein TunWollen.« Insofern geht es von therapeutischer Seite aus darum, den Patient in die Lage zu versetzen, seinen Willen umzusetzen. Zunächst ist dafür zu hinterfragen, ob die Ziele und geplanten Handlungen für den Patienten überhaupt realisierbar sind oder ob der Patient vielleicht »zu viel« will, da das Wollen immer den eigenen »realistischen Möglichkeiten« entsprechen (Assagioli 1982/2008, 157) und nicht die eigenen Fähigkeiten übersteigen sollte. Sind die Ziele tendenziell zu hoch gesetzt, so kann der Patient gebeten werden, sich ähnliche Ziele vorzustellen, die jedoch im Schwierigkeitsgrad niedriger einzustufen sind. Nicht alle, aber doch einige Willensziele lassen sich auch leichter realisieren, wenn andere Menschen mit einbezogen werden, weil hiermit auch die Schwierigkeit der Willensumsetzung gesenkt werden kann. Sind die Ziele realisierbar, dann besteht eine erfolgreiche Strategie zur Umsetzung von Willenszielen darin, den Patienten an202 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Die »Schulung des Willens«

zuleiten, sich sowohl die positiven Folgen des Handelns als auch die mit diesem Handeln verbundenen Schwierigkeiten zu vergegenwärtigen (Oettingen 1997). Ein solcher Fokuswechsel ermöglicht sowohl die für das Wollen wichtige Verstärkung des positiven Affekts als auch die Aktivierung des Absichtsgedächtnisses (Kuhl & Hartmann 2004, 54). Weiterhin können alle Methoden der Motivation dienlich sein, die eine Erhöhung des positiven Affektes und eine Spannung des »intentionalen Bogens« bewirken: Sowohl Übungen zur Imagination (ein Vorbild, ein Sportler oder ein Naturbild) und Autosuggestion (»Ich kann das wirklich!«, »Ich mach das jetzt!« oder »Die Würfel sind gefallen!«), wie sie bereits vorgestellt wurden, als auch das Einnehmen einer geraden Körperhaltung, das Tragen formeller Kleidung (einen Anzug oder Blazer) oder aber die Belohnung im Anschluss an das erreichte Ziel können zur Realisierung bestimmter Willensziele beitragen. Die Realisierung des Wollens kann ebenfalls dadurch trainiert werden, dass der Patient sich jeden Tag beliebige Unlust bereitende oder mit Willensanstrengungen einhergehende Handlungen vornimmt und diese dann mit vollkommener Aufmerksamkeit und Intensität umsetzt: Zum Beispiel können entsprechende Handlungen darin bestehen, schwere Sportübungen zu machen, früh am Morgen aufzustehen, eine Tätigkeit besonders langsam durchzuführen oder Dinge zu tun, die angstbesetzt sind. Wenn auf diese Weise die Fähigkeit zur Willensumsetzung verbessert wird, kann dies zugleich die Person in dem Gefühl bestärken, dass sie auch in der Lage ist, schwierige Aufgaben selbst zu meistern. (iv) Beharren können Ob eine Störung der Fähigkeit, auf einer einmal getroffenen Entscheidung langfristig zu beharren (Persistenz), vorliegt, kann durch folgende Fragen eingegrenzt werden: Fällt es Ihnen schwer, sich für langfristige Vorsätze und Ziele motivieren zu können? Lassen Sie sich leicht durch eigene Impulse oder andere Menschen von langfristigen Zielen abbringen? Lassen Sie sich leicht frustrieren, wenn bei langfristigen Projekten Erfolge auf sich warten lassen?

Als Beharrlichkeit beschreibt Paulsen (1897, 24 f.), wie dargestellt wurde, »die Kunst des Willens, Beschwerden und Anstrengungen aller Art, die zur Erreichung der eigenen Zwecke erforderlich sind, auf 203 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Skizze einer Psychotherapie des Willens

sich zu nehmen und anhaltend zu ertragen.« Auf einem Entschluss beharren zu können und ihn trotz Hindernissen und Rückschlägen umzusetzen, erfordert Ausdauer, Hartnäckigkeit und Geduld (Assagioli 1982/2008, 34) sowie eine hinreichend große Frustrationstoleranz. Zudem ist die Beharrlichkeit mit einer starken Zukunftsorientierung verbunden, da sie dem langfristigen Entwurf eine größere Bedeutung zukommen lässt als einem spontanen Handeln, das der momentanen Gegenwart entspringt. Solchermaßen sollte der Therapeut bei Störungen der Persistenz versuchen, die Fähigkeit zur Selbstmotivation des Patienten zu stärken, um es ihm zu ermöglichen, seine Spannkraft wiederherzustellen. Wie auch bei Störungen der Willensumsetzung kann dies durch Autosuggestion und Imagination sowie durch das Vorstellen der positiven Folgen des erfolgreichen Handelns erreicht werden. Eine sich besonders zur Stärkung der Beharrlichkeit eignende Imaginationsübung wird von Ferrucci (1986/2011, 105 f.) beschrieben: Der Patient wird dabei angeleitet, sich einen Hügel vorzustellen, auf dem das Ziel in symbolischer Weise thront. Weiterhin soll der Patient sich vorstellen, wie ein Weg zu diesem Ziel hinaufführt und sich am Wegesrand allerlei Möglichkeiten der Ablenkung und verschiedene Personen befinden, die den Patienten von seinem Ziel abbringen wollen. Zuletzt soll sich der Patient vorstellen, wie er souverän den Weg hinaufgeht und sich nicht von den am Wegesrand stehenden Personen von seinem Ziel abbringen lässt. Beharrlichkeit kann weiterhin mithilfe einer guten Anleitung zur Planung des Wollens erreicht werden: Es ist wichtig, dem Patienten zu verdeutlichen, dass er nicht nur das langfristige Ziel im Blick haben sollte, sondern sich auch kurzfristige Ziele setzen muss, um immer wieder Erfolgserlebnisse zu haben (Kuhl & Martens 2013, 130). Solche Zwischenziele können dann in Schaubildern dargestellt werden, sollten bei Erfolg belohnt werden und können im Rückblick immer wiedererinnert werden. Kommt es im Laufe der Zeit trotzdem zu Misserfolgen und werden diese als entmutigende Rückschläge aufgefasst, so kann der Therapeut kognitive Techniken zur Neubewertung negativer Erlebnisse anwenden, indem der Patient beispielsweise lernt, diese nicht als Niederschläge, sondern vielmehr als unangenehme Aspekte eines notwendigen Lernprozesses zu betrachten.

204 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Selbstbestimmtes Wollen im Fokus der Therapie

2.

Selbstbestimmtes Wollen im Fokus der Therapie

Eine Willenstherapie, die – wie sie bislang dargestellt wurde – allein darauf abzielt, die formalen Strukturen des Wollens zu trainieren, berücksichtigt nicht, dass es auch Willensziele geben kann, die fremdbestimmt sind. Wird nämlich der Patient in der Umsetzung eines fremdbestimmten Wollens geschult, dann kann das dazu führen, dass, wie Jaspers (1932/1973, 160) dies ausdrückt, nur »der entleerte Rest des fleißigen, regelmäßigen, maschinenhaften Menschen bleibt.« Sicherlich kann der Therapeut nur bis zu einem gewissen Grad und nie vollständig beurteilen, ob es sich bei einem Willensziel um ein Ziel handelt, das selbstbestimmt oder fremdbestimmt ist. Jedoch bietet die Therapie einen günstigen Rahmen, die Frage zu stellen, ob die gewählten Ziele wirklich authentisch bzw. in verhaltensmedizinischer Fachterminologie »selbstkongruent« sind, das heißt, ob sie »weitgehend mit eigenen Bedürfnissen, Werten und Überzeugungen übereinstimmen« und sich der Patient mit diesen identifizieren kann (Kuhl & Hartmann 2004, 48). Wie wir weiter oben aufgezeigt haben, kann Authentizität als ein wesentliches Merkmal selbstbestimmten Wollens verstanden werden. Selbstbestimmung durch authentisches Wollen bedeutet, dass die Person im Wollen und Handeln eine eigene Tendenz (Spaemann 1996/2006, 210) entfalten kann, dass die Willensziele echt und nicht aufgezwungen sind und damit eben auch, dass die Person sich von fremdbestimmenden Einflüssen (wie etwa von Ängsten, Zwangsimpulsen, dominanten Menschen oder gesellschaftlichen Konventionen) distanzieren kann. Insbesondere Vertreter humanistischer und existenzieller Psychotherapieverfahren 113 haben diese Befreiung von fremdbestimmenden Einflüssen zu einem wichtigen Ziel der je eigenen Therapieverfahren erklärt. Exemplarisch für diese Auffassung von Psychotherapie formuliert etwa Rollo Mey: »Ich meine, dass es Zweck der Psychotherapie ist, Menschen zu befreien. Sie soweit wie möglich von Symptomen zu befreien […] Sie (wiederum: soweit es geht) von Zwängen zu befreien, die sie arbeitssüchtig machen, von Zwängen, selbstzerstörerischen Gewohnheiten zu folgen […] Aber vor allem sollte die Funktion des Therapeuten meines Erachtens darin be-

113 So z. B. Viktor Frankl, Carl Rogers, Abraham Maslow, Erich Fromm, Rollo Mey oder Irvin Yalom.

205 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Skizze einer Psychotherapie des Willens

stehen, dass er Menschen zu der inneren Freiheit verhilft, ihre eigenen Möglichkeiten wahrzunehmen und zu erleben.« (Mey 1985, 31)

Psychotherapie hat nach Mey die Aufgabe, den Patienten von inneren und äußeren Zwängen zu befreien und ihn dadurch zu befähigen, seinen eigenen authentischen Willen zu erleben und umzusetzen. In eine ähnliche Richtung geht auch Yalom (1989, 395), wenn er schreibt: »Daher besteht die Aufgabe des Therapeuten nicht darin, Willen zu erzeugen, sondern ihn freizusetzen.« Im Folgenden wird gezeigt, wie diese verschiedenen Akzentuierungen einer Freisetzung des eigenen authentischen Willens sich in drei zu unterscheidenden Methoden abbilden lassen: a) einer sinnzentrierten, b) einer hermeneutischen und c) einer existentiellen Methode.

a)

Die sinnzentrierte Methode

Als sinnzentrierte Methode soll hier ein Ansatz verstanden werden, bei welchem der Patient gezielt nach Erlebnissen befragt wird, bei denen er die Erfahrung von Sinnhaftigkeit und Stimmigkeit gemacht hat. Es geht also im ersten Schritt darum, herauszufinden, ob und bei welchen Gelegenheiten Gefühle von tiefer Befriedigung, Erfülltheit und Zufriedenheit erlebt worden sind. Um die Wiedererinnerung zu erleichtern, können exemplarische Situationen vorgeschlagen werden, so beispielsweise im Beruf, in der Familie, bei Naturerlebnissen oder Kulturveranstaltungen. Der Zugang zu sinnhaften Erlebnissen kann auch erreicht werden, indem der Patient nach Interessen, Freizeitaktivitäten oder Personen befragt wird, mit denen er sich identifizieren kann. Genauso lässt sich die Frage in einem zweiten Schritt andersherum stellen, sodass der Patient gebeten wird, zu berichten, bei welchen täglichen Aktivitäten gerade kein Gefühl von Sinnhaftigkeit und Stimmigkeit, sondern vielmehr Gefühle von innerer Leere, Sinnlosigkeit, Einsamkeit und Unzufriedenheit aufkommen. Sowohl bei Situationen, in denen Sinnhaftigkeit als auch bei denen Sinnlosigkeit erlebt wird, sollte danach gefragt werden, warum der Patient glaubt, in solchen Situationen so und nicht anders zu empfinden. In einem dritten Schritt kann der Patient dann gebeten werden, sich vorzustellen, welche Tätigkeiten ihm in der Zukunft ein Gefühl von Sinnhaftigkeit geben könnten, was anhand eines Gedankenexperiments erfolgen kann, in dem imaginativ alle Hindernisse und Wider206 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Selbstbestimmtes Wollen im Fokus der Therapie

stände beiseite geräumt werden, sodass es allein in der Hand des Patienten liegt, zu entscheiden, wer er sein, welchen Beruf er ausüben und was er tun würde.

b)

Die hermeneutische Methode

Erinnerte Erlebnisse oder Zukunftsfantasien, die mit einem starken Gefühl von Sinnhaftigkeit einhergehen, können auf Strukturen subjektiver Bedeutsamkeit verweisen, die für das authentische Wollen und Handeln des Patienten eine entscheidende Rolle spielen. Oftmals sind solche Erlebnisse jedoch vom Patienten nicht willkürlich erfahrbar oder erinnerbar, sodass ein psychodynamischer Ansatz notwendig werden kann, um zu klären, was der Patient wirklich will. Das Ziel ist hierbei, in einen Prozess der Selbstreflexion zur Selbstaneignung zu gelangen, was gleichbedeutend ist mit der Aufklärung und Bewusstwerdung der eigentlichen Wünsche und Motivationen. Dieser Prozess wurde von Bieri in seinem gleichnamigen Buch auch als ein Handwerk der Freiheit beschrieben. Für Bieri (2003/2009, 408) ist dieser Prozess entlang einer Trias aus Artikulation, Verstehen und Bewerten von Wünschen strukturiert, sodass der Patient durch gezielte Fragen in seine bislang von ihm selbst uneinnehmbar gemachte »Festung« (Nietzsche KSA II, 318) hineingeführt wird, indem eine Reflexion darüber stattfindet, wie sich ein bestimmtes Verhalten oder bestimmte Wünsche und Motivationen biographisch erklären lassen. Diesen im Leitspruch Freuds (GW XV, 86) kondensierten Gedanken »Wo Es war, soll Ich werden« bringt auch Gerd Rudolf zum Ausdruck: »Menschen gewinnen einen Einblick in ihr Leben, in ihr Schicksal, in ihre individuell gestaltete Persönlichkeit, in ihren inneren psychischen Raum […] Darin liegt auch ein emanzipatorischer Akt, der es notwendig und möglich macht, die Gewordenheit der eigenen Existenz zu akzeptieren, anstatt sich auf wohlwollende Fügung oder Benachteiligung durch das Schicksal oder himmlische Mächte beziehen zu müssen.« (Rudolf 2014, 14) 114

Der emanzipatorische Akt der psychodynamischen Methode besteht für Rudolf darin, die Gegenwart aus dem »Skript« der eigenen Vergangenheit heraus zu verstehen und in einem »Akt der neugewonne114 Auch für Jürgen Habermas (1973, 348 f.) ist Emanzipation das zentrale Erkenntnisinteresse der Psychoanalyse.

207 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Skizze einer Psychotherapie des Willens

nen Freiheit und Verantwortung« (ebd.) zu dieser Vergangenheit eine Stellung zu beziehen. Wer besser verstehen kann, warum er so handelt wie er handelt und weiß, wie mancher Wunsch oder manches Bedürfnis biographisch gewachsen ist, kann eben auch eher beurteilen, ob es sich dabei um ein authentisches Wollen und Handeln handelt oder nicht.

c)

Die existentielle Methode

Neben dem hermeneutischen Ansatz wurde bereits der existentielle Ansatz als eine Methode vorgeschlagen, um einen Zugang zum »eigentlichen« Wollen einer Person zu erhalten. Die Grundlagen des existenziellen Ansatzes sind in Heideggers Analysen zur Bedeutung des Todes in seinem Werk Sein und Zeit angelegt (Heidegger 1927/ 2006). Eine Vergegenwärtigung der Endlichkeit führe dazu, so Heidegger, dass der Mensch sich von Konventionen distanzieren und so Verantwortung für die eigene Existenz mit ihren Möglichkeiten übernehme könne (ebd., 264). Hierauf aufbauend hat Frankl die existenzialhermeneutischen Annahmen im Rahmen der Psychotherapie ausformuliert, sodass er, ganz dem Gedankengang Heideggers folgend, schreibt: »Die Verantwortung des Menschen, deren Bewusstwerdung die Existenzanalyse sich so angelegen sein lässt, ist eine Verantwortung angesichts der Einmaligkeit und Einzigartigkeit je seiner Existenz; das menschliche Dasein ist ein Verantwortlichsein angesichts seiner Endlichkeit.« (Frankl 1946/ 2009, 129)

Um sich die Verantwortlichkeit angesichts der Endlichkeit ins Bewusstsein zu bringen, empfiehlt Frankl z. B. eine Imaginationsübung durchzuführen (ebd., 120): Der Patient solle sich vorzustellen, dass er seinen eigenen Lebensabend verbringt, dabei die eigene Biographie in den Händen hält und gerade im Kapitel des gegenwärtigen Lebensabschnitts liest. Wie durch ein Wunder habe der Patient aber nun die Möglichkeit, das nächste Kapitel seiner Lebensgeschichte selbst weiter zu schreiben. Die durch diese Imaginationsübung ermöglichte, bewusstere Lebensführung bringt Frankl (ebd.) in dem einfachen Prinzip zum Ausdruck: »Lebe so, als ob du zum zweiten Mal lebtest und das erste Mal alles so falsch gemacht hättest, wie du es zu machen – im Begriffe bist.« (ebd.)

208 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Zusammenfassung

Die Technik, die Gegenwart und unmittelbare Zukunft aus dem Lichte einer Futur-II-Perspektive (»Es wird gewesen sein«) zu betrachten, hat Blankenburg (1989/2007, 235) zusammengefasst in der Formulierung: »Die Bewegung […] ist die eines Vorausspringens – um alsdann wieder zurückzuspringen […].« Ein solches doppeltes Springen ermöglicht es, der Prioritätensetzung in der Gegenwart mit größerer Klarheit zu begegnen. Um Endlichkeit und Tod zu vergegenwärtigen, können jedoch auch verschiedene andere Übungen geeignet sein. So kann eine Imaginationsübung darin bestehen, den Patienten zu bitten, sich die eigene Beerdigung vorzustellen, bei der er in einer Rede sein Leben rekapitulieren lassen und dabei die bedeutendsten Aspekte herausstellen soll. Als hilfreich kann sich hier erweisen, den Patienten anzuleiten, in einer solchen Trauerrede auch eine Gewichtung der jeweiligen Aspekte vorzunehmen, um ein Gespür für die Wertigkeit einzelner Lebensbereiche (Beruf, Partnerschaft, Familie, Interessen etc.) zu bekommen. Eine weitere Methode schlägt Yalom (1998) vor: Dabei bittet der Therapeut den Patienten, die eigene Lebenslinie zu zeichnen und auf dieser einzutragen, an welchem Punkt sich dieser gerade zu befinden glaubt und damit abzuschätzen, wie viel Lebenszeit ihm noch bleiben wird. Auch kann die Problematik der menschlichen Endlichkeit noch schärfer akzentuiert werden, indem der Patient gebeten wird, sich vorzustellen, dass er von seinem Hausarzt eine schwere finale Krebsdiagnose gestellt bekommt und nur noch wenige Monate zu leben hat. Welches Szenario im Einzelnen auch vorgestellt werden mag, all diesen Übungen ist gemein, dass der Patient damit konfrontiert wird, dass die eigene Lebenszeit begrenzt und daher die verbleibende Zeit sinnvoll zu nutzen ist.

3.

Zusammenfassung

Um zu zeigen, inwiefern die bisher herausgearbeiteten Willensphänomene auch für die Psychotherapie bedeutsam sein können, wurden zuletzt einige Grundzüge einer Psychotherapie des Willens erarbeitet. Diese ist jedoch primär für Patienten und Klienten gedacht, die in der Lage sind, einer solchen Therapie zuzustimmen und selbst auch an ihrem Willen zu arbeiten – also vorrangig für Patienten und Klienten mit leichteren Willensstörungen. Eine solche Therapie in der Tradition vorrangig humanistischer Psychotherapieverfahren bewegt 209 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Skizze einer Psychotherapie des Willens

sich dabei in dem Spannungsfeld von operativem Vorgehen und zwischenmenschlicher Begegnung. Um dieser methodischen Ausgangssituation gerecht zu werden, sind insbesondere die von Rogers (1977/ 2013) betonten Grundsätze für eine gute psychotherapeutische Beziehung wie Echtheit, Wertschätzung und Kongruenz von großer Bedeutung. Für die hier vorgeschlagene Psychotherapie des Willens, können prinzipiell zwei Vorgehensweisen unterschieden werden: Liegt eine Störung im Bereich der formalen Struktur des Wollens vor, so ist der betroffene Teilaspekt durch gezielte Fragen zu bestimmen und durch entsprechende Übungen zu trainieren. Dieser kann sich auf der Ebene der Konation bzw. Motivation, der Suspension und der Volition befinden. Ferner kann sich eine Störung der Volition auf der Ebene der Entscheidungsfindung, der Planung, der Umsetzung und des Beharren-könnens befinden. Für den Fall, dass die Problematik jedoch in einer mangelnden Selbstbestimmung der Person, d. h. in der Unfähigkeit besteht, einen authentischen Willen auszubilden, wurden drei weitere Methoden vorgeschlagen. Zum einen kann die Person mithilfe der sinnzentrierten Methode danach befragt werden, welche Aktivitäten ihr in der Vergangenheit ein besonderes Gefühl der Sinnhaftigkeit gegeben haben und die ihr in der Zukunft ein solches Gefühl geben können. Dann kann mit der hermeneutischen Methode ein Selbstreflexionsprozess der Artikulation, des Verstehens und der Bewertung der eigenen Wünsche (Bieri 2003/2009) stattfinden. Zudem können unter Anwendung der existentiellen Methode die Bedeutsamkeit des gegenwärtigen Handelns und der gegenwärtigen Zukunftspläne im Verhältnis zur eigenen Endlichkeit vor Augen geführt werden. Die hier angeführten Unterscheidungen und Übungen bieten zwar keine erschöpfende Darstellung einer Psychotherapie des Willens, können aber dennoch als erste Anregungen verstanden werden, wie eine solche Therapie vor dem Hintergrund eines phänomenologisch aufgeklärten Willensbegriffs zu gestalten ist.

210 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

E. Schlusswort

Merleau-Ponty formulierte über die menschliche Freiheit in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung: »Der Begriff der Freiheit selbst erfordert, dass unser Entschluss in die Zukunft eindringt, dass etwas durch ihn vollbracht wird, dass der nächstfolgende Augenblick aus dem vorangegangenen Vorteil zieht und von ihm […] herbeigeführt wird.« (Merleau-Ponty 1945/1974, 497)

Von dieser Freiheit habe ich hier Gebrauch gemacht, um philosophische, psychologische, psychopathologische und psychotherapeutische Erkenntnisse zusammenzuführen und damit das Verständnis für ein psychisches Vermögen zu verbessern, das uns im ersten Moment allzu bekannt erscheint: das Wollen. Obwohl wir im Alltag ständig auf Willensprozesse angewiesen sind und auf diese zurückgreifen müssen, wenn wir das eigene Leben selbstbestimmt gestalten wollen, so wissen wir doch nur in groben Umrissen, was es damit auf sich hat. Es ist wie mit der Betrachtung eines spätimpressionistischen Gemäldes: Von Weitem erscheinen die Konturen des Gegenstandes klar und eindeutig, doch je näher man herankommt, umso undeutlicher und heterogener wird das Bild. Diese Arbeit sollte daher einen Beitrag dazu leisten, unser Bild vom Wollen klarer werden zu lassen und dafür einerseits den Zusammenhang von Phänomenen wie Zeit, Freiheit und Selbstbestimmung verdeutlichen sowie andererseits klinische Schlussfolgerungen aus den vorgenommenen Unterscheidungen ziehen. Zunächst möchte ich die wichtigsten Ergebnisse der phänomenologischen Untersuchung des Wollens und der Willensstörungen zusammenfassen (1). Schließlich ende ich mit einigen abschließenden Überlegungen und einem Ausblick, der zeigt, inwiefern diese Erkenntnisse anschlussfähig für weitere wissenschaftliche Diskurse sein können (2).

211 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Schlusswort

1.

Zusammenfassung der Ergebnisse

In der vorliegenden Arbeit wurden eine Fülle wichtiger philosophischer und psychopathologischer Themen angeschnitten und diese in Hinblick auf eine Psychologie des Wollens und eine Psychopathologie der Willensstörungen nutzbar gemacht. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass der Bereich des Wollens und Willens auch mit all seinen Facetten erschöpfend dargestellt wurde. Aufgrund der nahezu unüberschaubaren Fülle der hierfür einschlägigen Literatur, kann das auch nicht Anspruch einer solchen Arbeit sein, sodass es eher darum ging, einen breiten Überblick von den philosophischen Grundlagen des Wollens bis hin zur Psychopathologie der Willensstörungen des beginnenden 20. Jahrhunderts zu geben und so zu zeigen, dass diese historischen Arbeiten eine gegenwärtige Forschung bereichern können, deren ›Willensvergessenheit‹ einen zentralen und wirkmächtigen Bestandteil unseres (Selbst-)Erlebens aus den Blick verloren hat. Der Gang der Untersuchung soll nun noch einmal grob umrissen werden, um die wichtigsten Ergebnisse der Arbeit kenntlich zu machen: • Das Wollen stellt ein eigenständiges psychisches Vermögen dar und kann einerseits gegenüber anderen Vermögen wie Denken, Fühlen oder Wahrnehmen abgegrenzt werden; andererseits wurde deutlich, dass das Wollen als ein komplexes Phänomen auch verschiedene Komponenten aufweist. • In einer Analyse des Wollens konnten drei Strukturmomente (Konation, Inhibition und Volition) und drei Phasenabschnitte (prädezisionale, dezisionale und postdezisionale Phase) offengelegt werden. Die getroffenen Unterscheidungen erwiesen sich im Hinblick auf eine Psychopathologie der Willensstörungen und Psychotherapie des Willens als fruchtbar, weil sich auf diese Weise in den verschiedenen Störungsbildern erkennen ließ, inwiefern deren Symptomatik mit Beeinträchtigungen und umgekehrt Therapiemöglichkeiten des Willens verbunden sind. • Daneben konnte als Zeitstruktur des Wollens eine dynamische Doppelstruktur herausgearbeitet werden, bei der der Wollende in der Lage ist, flexibel zwischen Zukunfts- und Gegenwartsbezug sowie expliziter und impliziter Zeitlichkeit zu wechseln. Damit wurde die Vorarbeit für eine Psychopathologie des Zukunftsbezugs geleistet und gezeigt, dass dieses Gleichgewicht 212 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Zusammenfassung der Ergebnisse













der dynamischen Doppelstruktur des Wollens bei verschiedenen psychischen Erkrankungen gestört sein kann. Das Wollen konnte ferner als ein Phänomen beschrieben werden, das nicht losgelöst von Bedingungen ist, sondern das sich überhaupt erst vor dem Hintergrund situativer Bedingungen herausbilden kann. Somit ist dargestellt worden, dass das Wollen nicht per se durch diese Bedingungen eingeschränkt ist, sondern dass Situationen überhaupt erst die Möglichkeit bedingter Freiheit bieten. In Bezug auf den Prozess der Selbstbestimmung ist die besondere Situation des günstigen Augenblicks (KairósSituation) herausgestellt worden. Ebenso wurde aufgezeigt, dass selbstbestimmtes Wollen und Handeln eine besondere Form des Wollens darstellt, in der es zur Ausbildung einer »eigenen Tendenz« kommt und das durch verschiedene Eigenschaften (u. a. Offenheit, Authentizität, Selbsttranszendenz, Intuition etc.) zu charakterisieren ist. Zur Unterscheidung der Willensstörungen wurden einerseits Störungen der drei Strukturmomente und andererseits Störungen der Zukunftsbezogenheit herausgearbeitet. Die Störungen der Strukturmomente wurden anhand der melancholischen Abulie, der Impulskontrollstörungen, der Zwangsstörungen sowie der pathologischen Ambivalenz untersucht. Die melancholische Abulie oder Willenslosigkeit in der schweren Depression wurde als eine Störung der Konation beschrieben, die zu einer Welt- und Selbstverarmung führt und mit einem Verlust des Gefühls leiblichen Könnens einhergeht. Die Impulskontrollstörungen wurden als Störungen des Suspensionsvermögens charakterisiert, bei denen ein Zuviel an Konation auf ein Zuwenig an Inhibition trifft. Zudem konnte dargestellt werden, dass die Person sich bei der Impulskontrollstörung zum Zeitpunkt der Impulshandlung im Einklang mit dieser befindet. Während Impulskontrollstörungen im gesamten Spektrum psychischer Erkrankungen beschrieben werden können, sind sie als überdauerndes Merkmal der Persönlichkeitsstruktur jedoch insbesondere bei der emotional-instabilen und antisozialen Persönlichkeitsstörung vorzufinden. Bei den Zwangsstörungen konnte ebenfalls eine unzureichende Inhibition bei gleichzeitig starker Konation beschrieben werden. Im Gegensatz zur Impulskontrollstörung konnte jedoch dargestellt werden, dass die Zwangskranken die Gedanken, Impulse 213 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Schlusswort







2.

und Handlungen als unnötig, störend oder befremdlich erleben. Sowohl die Zwangsgedanken als auch die Zwangshandlungen sind als Willensstörungen identifizierbar. Zuletzt konnte die pathologische Ambivalenz als eine Willensstörung charakterisiert werden, die sich dadurch auszeichnet, dass entgegengesetzte Tendenzen abwechselnd oder gleichzeitig nebeneinander bestehen und dadurch kein Entschluss herbeizuführen ist, was dann zu Gefühlen von Ohnmacht und zu Identitätsstörungen führen kann. Es wurden weiterhin zwei verschiedene Formen der Ambivalenz unterschieden: zum einen die »psychotische Ambivalenz« bei der Schizophrenie und dann die »neurotische Ambivalenz«, die u. a. bei leichteren Persönlichkeitsstörungen oder bei leichteren depressiven Phasen auszumachen ist. Im Anschluss an die Arbeiten zur Zeitpathologie von Minkowski, Straus und von Gebsattel wurde auch eine Psychopathologie des Zukunftsbezugs entwickelt, womit zugleich Störungen der dynamischen Doppelstruktur des Wollens herausgearbeitet wurden. So ließ sich zeigen, dass der Zukunftsbezug in der Depression als eingeengt, bei der Zwangsstörung als unterbrochen, bei der Demenzerkrankung als erlöschend, bei der Impulskontrollstörung als unstet, bei der Ambivalenz als unbestimmt, bei der Manie als sprunghaft und bei der dependenten Persönlichkeitsstörung sowie beim Typus melancholicus als fremdbestimmt beschrieben werden kann. Abschließend ist eine Psychotherapie des Willens skizziert worden, die einerseits darin besteht, Beeinträchtigungen im Sinne einer Schulung des Willens zu identifizieren und zu verbessern sowie andererseits im Anschluss an Überlegungen humanistischer und psychodynamischer Autoren den Patienten von verschiedenen Arten der Fremdbestimmung zu emanzipieren und ihn damit zum selbstbestimmten Wollen und Handeln zu befähigen.

Ausblick und abschließende Bemerkungen

Es soll nun kurz umrissen werden, in welche Richtung die dargestellten Ergebnisse anschlussfähig sind und inwiefern weiterführende Fragestellungen entwickelt werden können: 214 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Ausblick und abschließende Bemerkungen





Philosophischer Diskurs zur Willensfreiheit: Auch wenn der Fokus der Arbeit nicht auf einer metaphysischen Auseinandersetzung mit der Willensfreiheit lag und nicht die Freiheit des Sooder-anders-Könnens gegen den physikalischen oder neurobiologischen Determinismus verteidigt werden sollte, so bleibt doch die Frage, inwiefern die Untersuchungsergebnisse nicht auch für diese Debatte von Belang sein könnten. Schließlich konnte dargestellt werden, dass es nicht nur Freiheit oder Determination als sich gegenseitig ausschließende Optionen gibt, sondern vielmehr verschiedene »Freiheitsgrade« in Abhängigkeit von der bedingten Situation anzunehmen sind, die bei psychischer Erkrankung eingeschränkt sein und sich entsprechend auch in der Zeitstruktur des Wollenden widerspiegeln können. Auch die Analyse eines selbstbestimmten Wollens und Handelns, das es der Person ermöglicht, eine »eigene Tendenz« zu entwickeln, spricht für eine Graduierung von Freiheit. Hieraus lässt sich also die Frage ableiten, ob nicht die empirische Evidenz von »Freiheitsgraden« für die grundsätzliche Möglichkeit des So-oderanders-Könnens spricht oder ob diese im Gegenteil doch auch Teil der »Illusion von Freiheit« ist, der die meisten Menschen nach Ansicht einiger deterministisch gesinnter Autoren unterliegen. Entwicklungspsychologie und –psychopathologie: Es wurde aufgezeigt, dass die Willensfunktionen nicht von Geburt an vorliegen, sondern sich unter bestimmten Einflüssen im Laufe der Kindheitsentwicklung herausbilden. Diese Ausbildung des Wollens steht in engem Zusammenhang mit der Fähigkeit des Kindes, Bedürfnisse außer Kraft zu setzen, Impulse zu kontrollieren und Gefühle zu regulieren. Im psychodynamischen Kontext werden diese Fähigkeiten auf das Vermögen zur Perspektivenübernahme (»Mentalisierung«) zurückgeführt, das sich im Kontakt mit einer primären Bezugsperson ausbilden kann, die in der Lage ist, sich in den Zustand des Kindes hineinzuversetzen, unangenehme Gefühlszustände zu »containen« und ein Interpretationsangebot zu machen. Hieran schließen sich demnach die Fragen an, unter welchen Bedingungen die Ausbildung von Willensfunktionen möglich ist und welche Umwelteinflüsse wiederum hinderlich für die Entwicklung eines ausgeprägten Willens sein können.

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Schlusswort







Empirische Psychologie und Psychiatrie: Es liegt ebenfalls nahe, zu untersuchen, wie die dargestellten Ergebnisse einer phänomenologischen Psychologie des Wollens mit Untersuchungen aus dem Bereich der Motivationspsychologie verknüpft werden können. Zwar konnten die Arbeiten u. a. von Lewin, Heckhausen und Kuhl einer phänomenologischen Untersuchung zugänglich gemacht werden, jedoch stellt sich dann auch umgekehrt die Frage, inwiefern nicht auch die Motivationspsychologie von differenzierten phänomenologischen Beschreibungen profitieren könnte. Wie eingangs dargestellt, bieten sich aber auch für die empirische Psychiatrie Anschlussmöglichkeiten: So könnte die vorgenommene phänomenologische Unterscheidung in Strukturmomente und Phasen des Wollens in einer psychometrischen Testdiagnostik operationalisiert und damit Willensstörungen »messbar« gemacht werden. Auch wenn ein solches Vorgehen methodenkritischer Vorsicht bedarf, so könnte eine Testdiagnostik für die Praxis ein geeignetes Instrument darstellen, um Beeinträchtigungen des Wollens in kurzer Zeit zu identifizieren und zu quantifizieren. Psychotherapieforschung: Wie bereits erwähnt, stellt die Willensthematik eine symptomatische Leerstelle in der Psychotherapieforschung dar. Prinzipiell kann ein Verständnis von Willensprozessen für jede Form von Psychotherapie von Vorteil sein. Auch eine spezielle Psychotherapie des Willens bestehend aus einer »Schulung des Willens« und einem Emanzipationsprozess hin zum eigenen authentischen Wollen kann sich als anschlussfähig erweisen, sowohl für eine Verhaltenstherapie bzw. kognitive Verhaltenstherapie als auch für psychodynamische und humanistische Therapieverfahren. Hierfür wäre zu prüfen, welche therapeutischen Techniken bei welcher Form der Willensproblematik hilfreich sind und bis zu welchem Grad Beeinträchtigungen durch Übungen ausgeglichen werden können. Weiterhin wäre zu fragen, inwiefern Psychoedukation und eine Schulung des Willens auch als präventive Maßnahmen zur Vorbeugung von psychischen Erkrankungen sinnvoll sein können. Soziologie, Ethnologie und Politologie von Willensbildungsprozessen: Mit den vorliegenden Analysen befinden wir uns im Bereich der phänomenologischen Psychologie des individuellen Wollens. Jedoch bleibt zu fragen, in welcher Weise Erkenntnisse auf individueller Ebene nicht auch von Bedeutung für das Ver-

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Ausblick und abschließende Bemerkungen

ständnis von Willensbildungsprozessen in Gruppen, z. B. am Arbeitsplatz, in Familien, in Wohngemeinschaften oder bei demokratischen Entscheidungen, sein können. Auf soziologischer oder ethnologischer Ebene ergibt sich die Frage, in welchen Regionen der Welt welche Form der »Willenskultur« verbreitet sind, wie diese sich gebildet haben und mit welchen Vor- und Nachteilen solche Kulturen einhergehen. Hieran anschließen müsste auch in Betracht gezogen werden, inwiefern nicht auch im Fortschrittsdenken liberaler Demokratien eine kulturrelative »immanente Willenslogik« enthalten ist, deren Ideale der Selbstüberwindung, Selbstoptimierung und Selbstbeherrschung als allgemeingültige Maximen Verbreitung finden und damit auch zu charakteristischen Phänomenen wie Resonanzlosigkeit (Rosa 2016), Erschöpfung (Ehrenberg 1998/2008) und Müdigkeit (Han 2014) führen. Diese Überlegungen führen dann zu der Herausforderung, was für eine Art von Willenskultur als Norm für eine Gesellschaft geeignet sein kann, damit Menschen den Eigenwillen auch zugunsten der Gruppe oder des Unwillentlichen relativieren können, sodass solche Phänomene der Überforderung eben nicht auftreten. Dies sind nur einige Vorschläge wie das interdisziplinäre Potential des Willensthemas genutzt werden könnte. Am Ende der Untersuchung sollte jedenfalls eines deutlich geworden sein: Auch wenn uns das Wollen als alltäglich, natürlich und selbstverständlich erscheint, das ist es nicht. Wollen zu können, also in Freiheit handeln zu können, stellt eine komplexe Fähigkeit dar, die von der frühen Kindheit bis ins Erwachsenenalter hinein erworben und geübt werden muss. Das Vermögen personaler Freiheit als einer komplexen Verknüpfung von Fähigkeiten zum Aufschub von Bedürfnissen und Impulsen, zur besonnenen Überlegung und zur Berücksichtigung einer übergeordneten, insbesondere intersubjektiven Perspektive ist zwar als biologische Möglichkeit angelegt, bedarf aber der Ausreifung im Kontext geeigneter Sozialisationserfahrungen. Gerade ein Gegenüber, das als Identifikationsfigur dienen kann und das in der Lage ist, sich in das Kind hineinzuversetzen, mit ihm intensive Gefühlszustände zu verarbeiten, ihm Grenzen zu setzen sowie die Talente und Fähigkeiten zu befördern, kann als Katalysator für ein starkes Wollen dienen. Auf diesem Wege ist es möglich, dass sich eine Fähigkeit zur Hemmung starker Strebungen ausbildet, ohne dass die 217 https://doi.org/10.5771/9783495817186 .

Schlusswort

konativ-affektive Komponente des Wollens ausgebremst wird und ein übergreifendes steuerndes und planendes Willensvermögen entstehen kann. Diese Willensfunktionen sind für den Menschen insbesondere deswegen erforderlich, um die primär dominierende Eigenperspektive zugunsten einer übergeordneten Perspektive zu relativieren und so auch zu einem moralisch verantwortlichen Akteur zu werden. Als Fähigkeit der Selbstbestimmung, Selbstrealisierung, aber auch Selbstrelativierung stellt der Wille eine zentrale Grundlage für ein gelingendes Leben dar. Jedoch besteht auch immer die Gefahr mit »dem Kopf durch die Wand« zu wollen, d. h. nicht im rechten Augenblick zu handeln oder sich durch überschießende Selbstdisziplinierung und Selbstoptimierung in einem »Willenskrampf« zu verausgaben, sodass schließlich Erschöpfung und Überforderung drohen. Das Willentliche ist von herausragender Bedeutung für ein selbstbestimmtes Leben, aber es ist immer auch angewiesen auf das Unwillentliche als dessen dialektischen Gegenpart. Die Person muss in ihrem Leben sowohl im richtigen Moment in der Lage sein, »die Zügel in die Hand« zu nehmen als auch sie wieder loslassen zu können, um Kraft und Energie zu schöpfen. Willensleistungen nehmen in unserer Gesellschaft einen großen Stellenwert ein, weshalb Fehlentwicklungen und Störungen der Willensfunktionen umso stärker ins Gewicht fallen. Eine differentielle Phänomenologie und Psychopathologie des Willens kann dazu beitragen, solche Beeinträchtigungen in der psychiatrischen, psychosomatischen und psychotherapeutischen Praxis zu identifizieren und mit dem Patienten an einer Stärkung seiner Willensfunktionen zu arbeiten.

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